Freder van Holk Die flüsternden Knoten
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel
Verlag KG. Pabe...
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Freder van Holk Die flüsternden Knoten
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel
Verlag KG. Pabelhaus. 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1978 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und
nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg. Franz-Josef-Straße 21,
A-5020 Salzburg
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11. 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 33 96 16 29. Telex 02 161 024
Printed in Germany
September 1978
Scan by Brrazo 03/2006
1.
Auf dem Huacapata, dem großen Platz im Zentrum des Inka-Städchens Cuzco, begann sich nach dem Abflauen der stärksten Mittagshitze das Leben zu regen. Irgendwer sichtete zuerst die beiden silbernen Pfeile, die am blauen Himmel mit rasender Ge schwindigkeit heranschossen. Zwei Flugzeuge. Sie verminderten ihre Geschwindigkeit, zogen in einem mächtigen Kreis um die Stadt herum, senkten sich tiefer und überflogen zum zweitenmal die Neugieri gen. Es handelte sich um eine große und eine kleine Maschine, soviel sahen die Müßiggänger von Cuzco, aber dann war es mit ihrem Wissen auch ziemlich aus. Die Flugzeuge standen nun fast senkrecht über dem Huacapata. Es schien, als schwebten sie an Ort und Stelle. Doch dann sanken die Maschinen tiefer. Unruhig schoben sich die Gaffer von dem großen Platz weg an die Häuser. Besser war besser, und falls die Wahnsinnigen dort oben wirklich die Absicht hatten, auf dem Platz zu landen, konnte allerhand passieren. Sie kamen tatsächlich. Lotrecht wie in einem Lift senkten sie sich. Aus den schiffsförmigen Fahrgestell schoben sich dicke Ballonreifen, endlich setzten die 5
Flugzeuge sanft auf die Steinplatten. Einen Augenblick herrschte fast lähmende Stille, als das feine Surren gänzlich aufhörte. Die Menschen starrten auf die merkwürdigen Maschinen mit ihren tropfenförmigen Rümpfen, ihren kurzen Tragflächen und den langen offenen Röhren. Generaldirektor Belmore von den Aero-Werken in London hätte auf den ersten Blick seine Fabrikate erkannt. Auf den zweiten Blick hätte er allerdings vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenge schlagen und Gott und alle Welt zum Zeugen dafür angerufen, daß es unverzeihlich ist, wenn einer Ge heimnisse für sich behält, mit denen man Millionen verdienen kann. Die Maschinen waren nämlich nach träglich noch durch die Hände eines genialen Kon strukteurs gegangen. Die Schiebetüren der Flugzeuge glitten zurück. Vier Männer sprangen heraus – richtiger: drei Män ner und einer, der es erst noch werden wollte. Der Junge fiel den Zuschauern zuerst auf, dann stellten sie fest, daß einer der Männer ein Hüne war, vermut lich ein Neger. Die beiden anderen waren schlanke Gestalten, die zunächst weiter nicht auffielen. Die Gaffer schoben sich mißtrauisch und neugierig heran. Unerhört von diesen Fremden, mitten in der Stadt den Leuten auf die Köpfe zu fallen. Wo blieb die Guarda Civil? Ah, da kam die Polizei schon herangestürzt, an ih 6
rer Spitze Leutnant Pisco, dessen Mut ebenso stadt bekannt war wie seine Schulden. Die Besatzungen der Maschinen sahen gelassen den Hütern der Ordnung entgegen. »Ah, Señores«, schrie ihnen der Leutnant in vol lem Lauf entgegen, »was fällt Ihnen ein, hier auf die sem Platz zu landen? Wer hat Ihnen die Erlaubnis dazu gegeben? Wir werden Ihnen beibringen …« Einer der Fremden trat einen Schritt vor und brachte den Aufgeregten mit einer kleinen Handbe wegung zum Stillstand. »Wer sind Sie?« fragte er mit lässiger Überlegen heit. Der Leutnant hatte eine barsche Antwort auf den Lippen, aber glücklicherweise warf er rechtzeitig ei nen Blick in das Gesicht des Fremden, und da blieb ihm für einen Weile die Sprache weg. Das war das Gesicht eines königlichen Jünglings, stolz, kraftvoll und doch durch Güte geprägt. Die blonden Haare über der hohen Stirn leuchteten in der Sonne, die Augen redeten eine eindrucksvolle Sprache, und die helle Bronze der Haut schien von innen heraus im Feuer einer hohen Kultur zu leuchten. »Leutnant Pisco«, sagte der Führer der Guarda Ci vil, während er eine Verbeugung mit dem strammen Zusammenschlagen der Hacken zu kombinieren ver suchte. »Ich heiße Sun Koh«, erwiderte der Fremde mit 7
klangvoller Stimme. »Und das hier sind meine Be gleiter. Wir waren leider gezwungen, auf diesem Platz niederzugehen.« Pisco fand sich wieder zurecht und schnarrte: »Das ist nicht gestattet. Sie haben das Leben der Einwohner …« »Nicht im geringsten gefährdet«, unterbrach ihn Sun Koh. »Es gibt bei dieser Stadt weit und breit keinen Flugplatz, wie wir festgestellt haben, so daß uns keine andere Möglichkeit blieb.« »Sie hätten draußen vor der Stadt landen können, dort gibt es genug freie Plätze.« »Aber keinen Schutz für unsere Maschinen. Wir sind hier fremd und möchten die teuren Maschinen nicht unnötigen Gefahren aussetzen. Außerdem schien uns der Platz derartig riesig zu sein, daß für die Bevölkerung von Cuzco genügend übrig bleibt.« »Sie müssen mir zur Wache folgen«, sagte der Leutnant. Über das Gesicht des Fremden ging ein kleines Lächeln. »Eben darum hätte ich Sie soeben gebeten. Wir wünschen den Bürgermeister oder Kommandanten dieser Stadt zu sprechen, damit wir mit ihm eine Vereinbarung treffen können.« »Es wird ihm selbstverständlich Mitteilung ge macht werden.« »Danke. Sie werden uns ohne Umschweife zu ihm 8
führen.« Der Leutnant fühlte sich empfindlich gedemütigt, aber der Wille des Fremden war zu stark, als daß er es gewagt hätte, aufdringliche Fragen zu stellen oder die Leute abführen zu lassen. Er murmelte: »Dann folgen Sie mir, bitte.« Eine Kopfbewegung hielt ihn zurück. »Bitte, geben Sie zunächst Ihren Leuten Anwei sung, das Publikum von den Maschinen fernzuhal ten.« Es geschah. Die peruanischen Polizisten entwik kelten eine geradezu beängstigende Geschäftigkeit. Dann folgten die vier Ankömmlinge durch eine dich te Menschengasse hindurch dem Leutnant auf das breitgelagerte Gebäude im Hintergrund des Platzes zu. Kurz bevor sie es erreichten, traten zwei Männer heraus. Der eine von ihnen war sicher ein Bürger der Stadt. Er war europäisch gekleidet und bewegte sich mit einer gewissen Eleganz. Er mochte vierzig Jahre alt sein. Sein schmales, verlebtes Gesicht mit dem schwarzen Spitzbart wirkte nicht besonders sympa thisch, und von seinen Augen wußte man nicht, ob es die eines Fuchses oder eines Coyoten waren. Leut nant Pisco salutierte respektvoll. Der zweite Mann wirkte eigenartig fremd. Das mochte zunächst an der Kleidung liegen, obgleich die Ankömmlinge schon unter den Zuschauern ver 9
schiedene Leute gesehen hatten, die Landestracht trugen. Die Beine des Mannes steckten in langen Hosen und einer Art Mokassins. Der Oberkörper war durch einen buntgestrickten Überwurf, einen Poncho, ver hüllt. Auf dem Kopf trug er eine runde Kappe, die mit dreieckigen, reich verzierten Zipfeln die Ohren deckte. Auf dieser Kappe saß ein strohgeflochtener Spitzhut mit schmaler, schräger Krempe. Bemerkenswerter aber war noch das Gesicht die ses Mannes. Das war kein Europäer oder Mischling, sondern ein Indianer. Das Gesicht war kräftig und edel geschnitten, die Augen wirkten tief und ruhig, die Haut mit nur wenigen Runen sah aus wie dunkle Bronze. Der Mann mochte fünfzig Jahre alt sein. Ü ber seiner ganzen Erscheinung lag zurückhaltende Würde und eine leise Melancholie. Die beiden Gruppen stießen immerhin unvermutet aufeinander. Sie bemerkten sich, wichen aus und wä ren im nächsten Augenblick vorüber gewesen, wenn nicht ein seltsamer Zwischenfall eingetreten wäre. Der Blick des Indio fiel auf Sun Koh. Der Mann stand einen Augenblick wie vom Schlag gerührt. Seine Augen weiteten sich, und auf seinem verschlossenen Gesicht erschien ein Aus druck ungläubigen Staunens. Sun Koh bemerkte es. Er verhielt den Schritt eben falls und senkte seine Augen in die des anderen. Sei 10
ne Begleiter stoppten, der Leutnant drehte sich er staunt herum – und auf einmal schien der ganze Hu acapata den Atem anzuhalten. Da hob der Indianer die Arme zum Himmel, gleichzeitig brach es aus seiner Brust wie ein Tri umphschrei: »Der Sohn der Sonne!« Und dann folgte ein erschütterndes, kaum hörbares Aufschluchzen tiefster Freude. »Der Sohn der Sonne ist gekommen.« Der Mann senkte die Knie, berührte mit dem Kopf und den ausgestreckten Händen den Erdboden und begann halb feierlich, halb leidenschaftlich zu mur meln. Die Männer starrten betroffen und bestürzt auf den Knienden und auf den Jüngling, dessen Gesicht au ßer tiefem Ernst eine unerklärliche Entrücktheit zeig te. Er begann auch zu sprechen, in der gleichen unbe kannten Sprache, die auch der Indio gebrauchte. Ru hig und gütig und doch befehlend klang es. Der Kniende hob den Kopf, stand auf. Er stellte eine Frage, sanft klang die Antwort zurück. Eine de mütigstolze Verbeugung, dann schritt der Indianer weiter. Auch Sun Koh wandte sich. Seine Freunde fragten nicht, wohl aber drängte sich der schwarze Spitzbart zwischen Sun Koh und die Tür. Er verbeugte sich mit übertriebener Höflichkeit und erklärte: »Ich bitte 11
tausendmal um Verzeihung. Gomez ist mein Name, Rechtsanwalt und Notar. Kommen Sie aus Mexiko?« Sun Koh sah ihn erstaunt an und erwiderte dann mit einer leichten Neigung des Kopfes: »Es könnte sein.« Gomez ließ seine Augen schnell über die ver schiedenen Gestalten gleiten und sagte zögernd: »Ich erwarte nämlich einige Herren von dort, und ich weiß nicht, ob Sie nicht etwa im Auftrag von Señor Juan Garcia kommen. Er teilte mir mit, daß er im Flugzeug hierher zu kommen beabsichtigt. Ist meine Vermutung richtig?« »Ihre Vermutung ist falsch, Señor Gomez.« Das war abschließend gesprochen. Doch der Ad vokat wich nicht. Kurz zuckte es in seinen Augen böse auf, als er so kurz abgewiesen wurde, aber dann war er wieder ganz Liebenswürdigkeit. »Oh, entschuldigen Sie. Übrigens, Sie kennen die sen Indio, wie ich eben bemerkte.« »Nein, ich kenne ihn nicht«, antwortete Sun Koh kühl. »Aber …«, protestierte der andere. »Dann kennt doch Atarasca zumindest Sie.« »Atarasca?« sagte Sun Koh nachdenklich. »Ich höre den Namen zum erstenmal. Wer ist er?« Gomez war ungläubig entrüstet. »Señor, Sie machen sich über mich lustig. Ataras ca ist der Führer der Inka-Indianer, die noch heute 12
verstreut in den Bergen wohnen. Wußten Sie das nicht?« »Nein.« »Aber – was hat dann diese Szene zu bedeuten, die wir eben mitangesehen haben?« »Darüber vermag ich Ihnen keine Auskunft zu ge ben«, sagte Sun Koh zurückhaltend. »Leutnant, der Weg führt wohl durch diese Tür?« Der Rechtsanwalt wich zurück wie von einer Schlange gebissen. Leutnant Pisco beeilte sich vo ranzuschreiten. Sie gelangten durch einen Gang in eine Art Re vierstube. »Bitte, treten Sie hier einen Augenblick ein«, bat Pisco sehr höflich. ,,Ich werde Sie sogleich anmel den.« In dem Zimmer, in das die Vier eintraten, befan den sich drei Personen. Die eine schien ein Wacht meister der Guarda Civil zu sein, die andere ein Un tergebener von ihm und die dritte ein Opfer. Es war ein breitschultriger junger Mann, der auf der Holz bank saß und entrüstet mit gefesselten Händen gesti kulierte. Das Verhör wurde unterbrochen, als Sun Koh mit seinen Begleitern eintrat. Man starrte sie interessiert an, am meisten jedoch der Häftling. Seine Augen wurden rund und groß, und seine Miene spiegelte Überraschung. 13
Ähnlich erging es dem Neger. Er starrte auf den Gefesselten, stürzte dann auf ihn zu und rief voll freudiger Erregung: »Schnuppe, bist du’s wirklich?« »Jack?« Bevor noch die beiden Beamten ein Wort des Wi derspruchs äußern konnten, hatten sich die beiden herkulischen Gestalten bei den Händen und schüttel ten sie, daß es den Zuschauern angst und bange wur de. Überstürzte Fragen und Antworten gingen hin und her, deren Sinn zunächst niemand verstand. Die Szene wurde erst einigermaßen klar, als sich Nimba an Sun Koh wandte und sagte: »Sir, das ist Paul Schnuppe, ein alter Freund. Er war Leichtmatrose auf dem Schiff, auf dem ich zum erstenmal meine Künste als Steward versuchte. Von ihm habe ich Bo xen gelernt.« Sun Koh trat an den Gefangenen heran und reichte ihm die Hand. »Ich freue mich, einen alten Freund Nimbas ken nenzulernen.« Paul Schnuppe schüttelte Sun Kohs Hand mit der Herzhaftigkeit eines Menschen, der unter Wilden auf die erste menschliche Seele trifft. Er sah allerdings recht verdutzt drein, als die schmale Hand des ande ren den derben Griff seiner Pranke so nachdrücklich erwiderte, als ob sie eine Stahlklammer sei. »Freut mich sehr«, versicherte er mit Begeiste rung. »Aber was heißt Nimba? Hast du dich taufen 14
lassen, daß du nicht mehr der alte Jack bist?« »Ungefähr so«, sagte der Neger grinsend. »Du kannst mich aber ruhig weiterhin Jack nennen.« Paul Schnuppe nickte verständnisvoll. »Selbstmurmelnd, mach ich. Wie kommst du denn hierher? Sollst du auch eingelocht werden?« »Nein«, erwiderte Nimba, »aber du bist es an scheinend. Was hast du denn verbrochen?« Der Matrose zuckte mit den Schultern. »Die Kerle hier sind verrückt. Knoten soll ich ge klaut haben, ausgerechnet ich. Knoten, ha!« »Knoten?« Nimba zeigte mit Recht ein verständnisloses Ge sicht. Sein ehemaliger Kamerad hieb mit den gefes selten Händen wütend auf die Barriere. »Jawohl, Knoten – ganz verdammte gewöhnliche schmierige Knoten. Als ob ich verrückt wäre. Die liegen mir dauernd in den Ohren mit ihren blöden Knoten, von denen ich keinen Dunst habe. Doofe Bande!« Sun Koh wandte sich an den Wachtmeister, der mit halberhobenem Arm dagestanden hatte, um den Häftling zurückzureißen. »Wessen wird dieser Mann beschuldigt?« Der Peruaner spannte dienstlich sein Kinn. »Er hat ein Knotenbündel gestohlen.« »Erzählen Sie mir mehr darüber«, bat Sun Koh. Der Beamte war ein höflicher Mensch und nahm wie 15
alle seine Kollegen in diesem Land das Gesetz nicht tragischer, als es unbedingt sein mußte. Deshalb gab er auch bereitwillig Auskunft. »Wir haben ein Museum hier im Ort, Señor, in dem sich viele Einzelstücke aus der Inka-Zeit befin den. Sie wissen, daß die Indios die Ureinwohner die ses Landes waren. In der Sammlung befindet – oder genauer befand sich ein Knotenbündel der Inka, also eine Art Geheimbuch, das aus lauter Lederknoten besteht. Heute morgen hat dieser Mann das Museum besichtigt, und als er es wieder verlassen hatte, fehlte das Knotenbündel.« »Hat man es bei ihm gefunden?« »Nein, er hat es wahrscheinlich versteckt.« »Was sagen Sie dazu?« fragte Sun Koh den See mann. »Aufgelegter Schwindel!« rief Schnuppe erregt, wobei er aufgeregt mit den Armen fuchtelte. »Frei lich war ich in dem Bums drin und habe mir den Zauber angesehen, aber mir ist nicht im Traum ein gefallen, mich an diesem Knotenkram zu vergreifen. Was soll ich denn mit dem Zeug?« »Das klingt nach Wahrheit«, sagte Sun Koh zu dem Beamten. »Ist der Mann auf eine bloße Vermu tung hin verhaftet worden, oder haben Sie Beweise?« »Er ist von einem Zeugen beobachtet worden. Dr. Gomez, ein angesehener Rechtsanwalt unserer Stadt, hat den Burschen zufällig beobachtet, wie er um die 16
Vitrine mit dem Knotenbündel herumgeschlichen ist.« Paul Schnuppe hämmerte wieder beide Fäuste auf das unschuldige Holz und schrie: »Jawohl, hat er, hat er! Aber der Kerl lügt wie die Pest. Selber herumge schlichen ist er, hat ausgesehen, als wollte er mich umbringen, als ich unvermutet auftauchte. Er wird’s wohl selber gewesen sein, der saubere Señor.« Sun Koh, der den Rechtanwalt bereits kennenge lernt und erfahren hatte, daß er mit Juan Carcia in Verbindung stand, dachte sich sein Teil. Er sah aber ein, daß vorläufig nichts Entscheidendes unternom men werden konnte, und beruhigte deswegen: »Wenn Sie unschuldig sind, wird sich das bald her ausstellen. Wir werden dafür Sorge tragen, daß Ihre Angelegenheit gehört wird.« »Ich danke Ihnen, Herr«, erwiderte Schnuppe. »Angenehm ist’s nämlich nicht gerade, hier etwa monatelang festzusitzen und für andere Leute die Schandtaten abzubüßen. Sehen Sie, ich wollte mir mal die Gegend hier näher beriechen – erstens weil es jetzt sowieso nichts auf See ist, und zweitens weil man doch so allerhand hier hört über Goldschätze und so …« »Aha.« Sun Koh lächelte verständnisvoll. »Sie sind also auf Abenteuer ausgezogen und machen nun die unangenehme Erfahrung, daß Abenteuer nicht immer wunschgemäß verlaufen.« 17
»Gewiß, Herr«, gab Schnuppe zu. »Wer denkt denn aber auch, daß man wegen ein paar verdammter Knotenschnüre so in die Verlegenheit kommen kann.« »Laß nur gut sein«, mischte sich Nimba tröstend ein, »wir holen dich hier schon raus, Paul.« Die Tür wurde aufgerissen. Leutnant Pisco er schien auf der Schwelle. »Der Polizeikommandant läßt bitten!« Nach einem kurzen Abschied von dem Häftling folgten Sun Koh und seine drei Begleiter dem Leut nant. Der Polizeikommandant von Cuzco war untersetzt und außerordentlich beleibt. Er saß wie ein ange schmolzener Fettberg in seinem breiten Sessel hinter dem Schreibtisch und musterte aus kleinen, aber gutmütigen Augen die Fremdlinge. Sun Koh stellte sich und die anderen vor. »Das sind meine Freunde Nimba und Hal Mervin, das hier mein Freund und Mitarbeiter Dr. Klaus Gorm. Er hat die Absicht, auf den Höhen der Anden wissenschaftliche Untersuchungen vorzunehmen. Da wir heute unseren Bestimmungsort nicht mehr errei chen können, haben wir es vorgezogen, in Ihrer Stadt eine Rast einzulegen. Wir suchten vergeblich nach einem Flugplatz. Der einzige geeignete Fleck schien dieser große Platz draußen zu sein. Deswegen haben wir es gewagt, dort niederzugehen.« 18
Der Polizeikommandant legte sein Doppelkinn auf die Brust und schnaufte: ,,Ja … Aber wie leicht konnten Sie da jemandem auf den Kopf fallen. Be denken Sie das Unglück, das Sie hätten anrichten können.« Sun Koh lächelte. »Ein Unglück war ausgeschlossen. Unsere Flug zeuge sind so konstruiert, daß sie überhaupt nicht abstürzen können.« »Na ja, mag sein«, räumte der andere wohlwollend ein, »aber es geht doch nicht, daß Sie sich so einfach auf der Huacapata niederlassen. Da könnte ja jeder kommen.« »Das ist hoffentlich nicht zu befürchten. Ich bitte Sie also um die Erlaubnis, Señor Commandante, un sere Flugzeuge über Nacht auf dem Platz belassen zu können. Darüber hinaus wäre ich Ihnen außerordent lich verpflichtet, wenn Sie mir sechs Ihrer Polizisten als Wache für die Maschinen zur Verfügung stellen könnten. Ich bin bereit, Ihnen für dieses Entgegen kommen einen Betrag von tausend Dollar für die Wohlfahrtskasse oder zur Verwendung nach ihrem Ermessen zur Verfügung zu stellen.« Der andere streckte mit blitzschneller Bewegung die Hand über den Tisch, strahlte und sagte mit be wegter Stimme: »Sie sind ein Wohltäter der Mensch heit, Señor. Ihr Angebot ist selbstverständlich ange nommen. Wir werden alles tun, um Ihnen den Auf 19
enthalt in unserer Stadt so angenehm wie möglich zu machen.« Sun Koh gab Nimba einen kleinen Wink. Der Ne ger zog eine starke Brieftasche heraus, öffnete sie und legte dem Kommandanten, der trocken schluck te, eine funkelnagelneue Tausenddollarnote vor die Augen. Ehrfürchtig nahm der Polizeigewaltige sie auf. Eine blitzschnelle Prüfung schien ihn zu befrie digen. Er begann eine lange Dankesrede. Aber Sun Koh unterbrach ihn sehr bald. »Sie sind uns keinen Dank schuldig, Señor Com mandante. Wenn Sie aber unbedingt etwas tun wol len, so empfehlen Sie uns ein gutes Hotel.« Der Dicke lud die vier Besucher sofort in sein ei genes Haus ein, aber das mußte aus bestimmten Gründen abgelehnt werden. Nach einigem Hin und Her fiel der Name eines Hotels, und man verabschie dete sich außerordentlich freundschaftlich voneinan der. * Am anderen Morgen wanderten Sun Koh und seine Begleiter durch die Stadt. Mit jedem Schritt trafen sie auf Wunder. Cuzco war ehemals die Hauptstadt des InkaReiches, jenes hochentwickelten Kulturstaates, der im sechzehnten Jahrhundert von Pizarro mit einer 20
Handvoll Leuten erobert und vernichtet wurde. Das Volk wurde abgeschlachtet, die gewaltigen Bauten wurden zerstört, aber trotzdem blieb noch genügend übrig, um das Gesicht dieser alten Kultur erkennen zu können. Die Wohnungen der Peruaner wirkten wie schmie rige Rattennester in einem herrlichen Tempel – we nigstens hatten die Männer diesen Eindruck, als sie durch die Straßen gingen. Sie sahen wundervolle Fassaden aus prächtigem Steinmauerwerk, das so kunstvoll gefügt war, daß man die Fugen kaum zu erkennen vermochte. Sie saßen auf edlen reinen Sok keln aus der Inka-Zeit, die für die Unendlichkeit ge fügt zu sein schienen, die flüchtigen Lehm- und Stuckarbeiten der jetzigen Bewohner. Die alte Stadt Cuzco, deren Anlage deutlich zu er kennen war, erhob sich auf mehreren übereinander liegenden Riesenterrassen, aus Massen von mühsam zusammengetragener Erde, die von wahrhaft zyklo pischen Steinmauern umschlossen waren. Die Män ner erfuhren, daß das Material hierzu aus den Stein brüchen von Anduhaylillas, siebenunddreißig Kilo meter entfernt stammte. Auf diese weite Entfernung hin mußten die gewaltigen Blöcke allein durch menschliche Kraft befördert werden. Sie wurden sorgfältig behauen und mit tiefeingeschnittenen Ker ben versehen, in die die vorstehenden Zapfen der o beren Steinlagen genau hineinpaßten, so daß kein 21
Mörtel oder sonstiges Bindemittel erforderlich war. Im Gebäude des Dominikanerklosters lernten sie das heiligste Gebäude der früheren Inka-Stadt, den Son nentempel, kennen. Er lag auf einem hohen Plateau über dem Fluß Huatenay. Der Führer, den sich die Männer aus dem Hotel mitgenommen hatten, berich tete, daß einstmals entzückende Gartenterrassen zu ihm emporführten, die mit Skulpturen aus Gold und Silber geschmückt waren. Selbst die Gartenwerkzeu ge, die Spaten und Schaufeln seien aus reinem Silber gefertigt gewesen. Bildnisse von verschiedenen Tie ren aus Edelmetall schmückten die Gärten, und die Menge von Gold, die sich hier überall zeigte, war derart, daß das ganze Stadtviertel als »goldene Stadt« bezeichnet wurde. Die höchste Terrasse bildete einen weiten Hof, der Intipampa – Sonnenfeld – genannt wurde. Die vier Fremden überschritten es in staunender Bewunderung und näherten sich dem alten Tem pelgebäude, das sich auf der einen Seite des Platzes erhob. Seine Mauern waren aus ungeheuren Stein blöcken zusammengefügt. Der geschwätzige Führer berichtete eifrig aus vergangenen Zeiten. »Betrachten Sie diesen Tempel, Señores, es wird nie wieder Großartigeres auf der Welt geben. Sein Inneres war ganz mit Gold ausgekleidet, und in der Mitte der Haupthalle befand sich das Standbild des Sonnengottes in solcher Stellung, daß sich die Strah len der aufgehenden Sonne auf einer großen golde 22
nen Scheibe widerspiegelten. Der Rest des Standbil des war mit glitzernden Edelsteinen bedeckt, wäh rend rings um diese durch die Dunkelheit des Tem pelraums funkelnde Gottheit die prächtig gekleideten Mumien der toten Inkas angeordnet waren. Alle Ge genstände im Sonnentempel waren aus den kostbar sten Metallen angefertigt. Zwölf große silberne Em poren enthielten das heilige Korn, und selbst die Röhren der unterirdischen Wasserleitung bestanden aus Silber. Bei der Plünderung durch die Spanier fiel das Götzenbild als Beute einem gewissen Mancio Serra de Leguicano zu, einem leidenschaftlichen Spieler, der es mit einem einzigen Wurf im Würfel spiel wieder verlor.« Stundenlang ging es durch die Stadt, dann wander ten sie zum Schluß hinaus zu der mächtigen Festung Sacsahuaman, die hoch über der Stadt zwischen den Flüssen Huatenay und Rodadero lag. Ein in den Fel sen geschnittener Fußpfad, der gelegentlich von Treppen unterbrochen wurde, führte von der Schlucht des Rodadero steil empor. Oben angelangt, sahen sie drei kreisrunde Umfassungsmauern überei nanderliegen, unterbrochen von gewaltigen Bollwer ken und Türmen. Man hatte den Eindruck, daß diese Festung ohne moderne Belagerungsgeschütze völlig uneinnehmbar gewesen sein mußte. Neben den drei Eingängen zur äußeren Umfassungsmauer lagen noch die riesigen Felsblöcke, mit denen sie beim er 23
sten Zeichen der Gefahr geschlossen werden konn ten. Die Anhöhe hinter der Festung zeigte Trümmer von langen Stufenterrassen mit reichornamentierten Steinbänken und Nischen, die aus riesigen Granit blöcken gemeißelt waren. Auf einen der Türme in nerhalb der Festung machte der Führer besonders aufmerksam. Hier waren nach seiner Darstellung die sagenhaften Schätze der Inka aufbewahrt worden. Von diesem Turm sollte sich auch der letzte Nach komme der Inka in die Tiefe gestürzt haben, als die Erhebung seines Volkes gegen die Spanier trotz Pi zarros Tod unglücklich verlief. Gegen Mittag kehrte Sun Koh mit seinen Beglei tern in die Stadt zurück. Ihr Weg führte sie an der großen Mauer des Inkarocca vorbei. Dort trafen sie Atarasca. Er saß gegenüber der Mauer, unbeweglich still und schweigend, als sei er zum Standbild erstarrt. Sein Gesicht war verschlossen und glatt wie eine Maske, aber seine dunklen, schwermütigen Augen lagen ausdrucksvoll auf dem zyklopischen Mauerwerk. Es war, als ob er bete oder lese. Unwillkürlich richteten die Näherkommenden die Blicke ebenfalls auf die Mauer. Hal Mervin stieß den Neger an. »Junge, das wären Brocken für dich. Wenn da ei ner einem ollen Inka auf die Hühneraugen geplumpst ist. war’s aus mit dem Tanzen.« 24
Der Führer mischte sich sofort eifrig ein. »Sehr richtig, Señores, sehr richtig. Diese Steine sind die größten, die es überhaupt als Bausteine gibt. Dieser dort ist zum Beispiel rund zwei Meter lang, über einen Meter hoch und sechs Meter tief. Das gibt ein Gewicht von dreißig Tonnen oder sechshundert Zentnern.« Die Größe der Steine war wirklich bewunderns würdig. »Eigentlich merkwürdig«, sagte Klaus Gorm, »diese Riesendinger sind so genau gearbeitet und so sauber aufeinander gelegt, daß man nicht mit einer Rasierklinge in die Fuge hineinkommt, und doch sind sie so unregelmäßig. Da haben wir Mauern ge sehen, bei denen die Steine auf Millimeter gleich groß und schnurgerade aufeinander gelegt sind, Hunderte und Tausende von Steinen zu einer voll kommen gleichmäßigen Mauerfläche. Und hier ist wieder jeder Stein verschieden groß und unregelmä ßig, hat nicht nur vier Ecken, sondern sechs, sieben. Der dort hat sogar zwölf Ecken. Das kommt mir doch wie Absicht vor.« Die Bemerkung war in der Tat berechtigt. Kein Stein glich dem anderen. Hier ein regelmäßiges Viereck, dort ein Ungetüm mit neun Ecken, dann ein Zwergstück mit fünf Ecken, bunt durcheinander, oh ne fortlaufende waagerechte Fugen. Und doch war jeder Stein einwandfrei und scharf behauen. 25
»Das war auch Absicht«, erwiderte der Spanier. »Wie es heißt, wollten die Architekten der Inka die allzu starke Gleichförmigkeit der Mauern vermeiden und wählten deshalb diese regellose Bauart.« Klaus Gorm zog die Stirn in Falten. »Hm, das leuchtet mir aber nicht ein. Deswegen die ungeheuerliche Mühe, unzählige Ecken aus dem harten Stein herauszuhauen? Nein …« Hal Mervin an die Mauer herangetreten. »Wißt ihr, was noch komischer ist?« fragte er. »Da sollen die Inka so tüchtige Baumeister gewesen sein und haben doch ihre Steine halbfertig gesetzt. Noch nicht einmal die Knollen haben sie abgemeißelt. Schlampige Arbeit.« Tatsächlich, an den bewundernswürdig bearbeite ten Steinen befand sich an verschiedenen Stellen Auswüchse. Sie waren ungefähr faustgroß und stan den ungleichmäßig an dem glatten Stein vor. Aber auch dafür wußte der Führer eine Erklärung. »Das waren die Handgriffe, an denen die Steine beim Transport und beim Bau angefaßt wurden. Aus irgendwelchen Gründen wurden sie nicht entfernt.« »Erzähl das mal deiner Großmutter, Opa«, sagte Hal recht unhöflich. »Aber ich – ich bitte Sie …« Der Führer wirkte nun sichtlich verwirrt. Hal wandte sich an die ande ren. »Ist es Unsinn oder nicht? Der will uns weisma 26
chen, daß das Handgriffe gewesen sind. Diese lä cherlichen Knorpel, die man überhaupt nicht richtig anfassen kann. Und dieser Block ist sechshundert Zentner schwer? Wer mag den an diesem einzigen kleinen Knoten hochheben?« Nimba und Klaus Gorm stimmten ihm eifrig bei. Es war wirklich zu unwahrscheinlich. Sun Koh war bei den letzten Worten Hals sehr nachdenklich geworden und starrte nun mit abwe sender Miene auf die Mauer. Seine Begleiter bemerkten bald seinen merkwür digen Gesichtsausdruck und unterbrachen ihre Un terhaltung. War es Zufall, daß der Indianer dort, der nur noch wenige Meter vor ihnen hockte und trotz dem tat, als habe er sie weder gesehen noch gehört, den fast gleichen Gesichtsausdruck zeigte? Nach einer Weile löste sich die Starre. Sun Koh at mete tief auf und wandte sich wieder an seine Freun de. »Ihr habt recht: Die Unregelmäßigkeit und die Höcker haben eine besondere Bedeutung. Ich wußte es, als Hal von Knoten sprach. Das Ganze ist eine Schrift.« »Eine Schrift?« Die Freunde Sun Kohs waren ver blüfft. »Gewiß«, sagte Sun Koh. »Sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Morsezeichen. Die Lage und Größe der Steine, die Zahl ihrer Ecken und die Höcker sind 27
die Elemente der Schrift.« »Sie können sie lesen?« fragte Klaus Gorm zwei felnd. »Ja«, bestätigte Sun Koh. »ich kann sie lesen und habe sie gelesen.« »Sie haben sie gelernt?« Hal riß die Augen auf. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Nein, Hal, wenigstens weiß ich nichts davon. Vielleicht früher einmal in den ersten zwei Jahrzehn ten, von denen ich nichts weiß. Als du von Knoten sprachst, wurde diese Wand für mich zum Blatt eines Buches.« »Es müssen seltsame Geheimnisse sein«, meinte der Neger ehrfürchtig, »die so kunstvoll auf dieser Mauer festgelegt wurden.« »Irrtum, Nimba. Es sind religiöse Anrufungen und Lobpreisungen des Sonnengottes. Nur ein …« Er brach ab, da er sah, daß die Augen des Führers gierig an ihm hingen, als erwarteten sie den Verrat eines Goldschatzes. »Gehen wir«, sagte er kurz. Fünf Schritte weiter hockte Atarasca. Als Sun Koh ihn erreicht hatte, schien er urplötzlich aus seiner Versunkenheit zu erwachen. Er sprang blitzschnell auf und senkte die Knie wieder grüßend. Sun Koh verhielt den Schritt und winkte dem In dianer, sich zu erheben. Und nun begann ein kurzes, schnelles Gespräch in dem den anderen unverständli 28
chen Idiom, dessen Inhalt ihnen Sun Koh erst später wiedergab. »Ich grüße dich, Atarasca«, begann Sun Koh sanft. »Gesegnet sei dieser Tag, an dem der Sohn der Sonne mir Gnade erweist«, erwiderte der Indianer mit dem Stolz des Freien, zugleich aber auch mit der demütigen Scheu des Gottesanbeters. »Du hast gelesen?« »Die Diener der Inka müssen alljährlich einmal vor dieser Mauer beten und die Stimme ihrer Ahnen hören.« »Gibt es noch viele deinesgleichen, die die Sprü che der Gnade lesen können?« Die Schwermut im Gesicht des Mannes vertiefte sich. »Zürne mir nicht, Sohn der Sonne, aber es leben kaum mehr als zweitausend deiner Diener in den Bergen und unzugänglichen Schluchten. Sie schützen das Erbe der Inka und warten geduldig auf den Tag, der ihnen verkündet wurde.« »Euer Blut ist rein geblieben?« »Rein wie die Sonne selbst. Nie hat einer der ver räterischen Weißen unsere Schluchten und Höhen betreten, und nie hat einer unserer Söhne sein Blut mit Gift vermischt. Einsam und treu halten wir Wa che. Wir sehnen uns nach dem Tag, an dem der Sohn der Sonne bei uns sein wird. Wann wirst du uns die Gnade erweisen, Herr?« 29
»Ich werde dich eines Tages bitten, mich zu füh ren. Zuvor aber muß ich hinauf nach Tiahuanaco, an die Ufer des Titicaca-Sees.« »Du willst die Heimat deiner Urahnen auf den In seln im See grüßen?« Auf Sun Kohs Gesicht zeigte sich Verwunderung. »Nicht deswegen kam ich. Ist nicht Cuzco die Heimat der Inka?« »Nein, Herr. Das Reich der Inka wurde auf den In seln Titicaca und Coati vor vielen Tausenden von Jahren begründet. Die Söhne der Sonne wählten die Insel im blauen See zur Erinnerung an ihre Urheimat, die eine große Insel im Weltmeer gewesen sein soll. Erst sehr spät, vor kaum tausend Jahren, wurde diese Stadt errichtet. Der Gott der Sonne gab dem Inka ei nen goldenen Zweig, und wo dieser zur Blüte kom men würde, sollte die neue Hauptstadt des Landes stehen. Das geschah in Cuzco. Aber die alten Stätten im See und in den Bergen wurden heilig gehalten, bis die Spanier kamen und sie zerstörten.« »Also werde ich am See nur noch Trümmer fin den?« »Die Trümmer reden noch heute, Herr. Du ver stehst zu lesen. Und weil du ein Sohn der Sonne bist, darfst du ihren Geheimnissen nachgehen, was uns verboten ist.« Sun Koh deutete mit einer leichten Kopfbewegung zur Mauer. 30
»Dürft ihr den Ort unweit des Quitarasca-Tales, von dem hier gesprochen wird, auch nicht aufsu chen?« Der Indianer war bestürzt. »Nein, Herr, du weißt es doch. Wir bewachen ihn seit Jahrhunderten, aber nur du kannst uns die Er laubnis geben, unsere Augen dorthin zu richten.« »Dann wirst du ihn einst an meiner Seite kennen lernen. Du bleibst noch länger in der Stadt?« »Ich wollte noch heute in die Berge zurückkehren und den Dienern der Sonne von deiner Ankunft be richten, aber wenn du befiehlst…« »Kehre zu den Deinen zurück. Atarasca. Ich werde dich rufen lassen, wenn ich dich brauche. Wo bist du zu finden?« »Du brauchst nicht nach mir zu senden, Herr. Wo auch immer du in den Bergen bist, es genügt, wenn du meinen Namen rufst. Bevor sich die Sonne zwei mal geneigt hat, wird immer ein Diener der Inka un sichtbar in deiner Nähe sein.« Über Sun Kohs Gesicht ging ein Lächeln, das sich wie die leuchtende Sonne auf dem ernsten Gesicht des Indianers widerspiegelte. »Es wird deinen Leuten schwer werden, uns zu folgen. Wir benutzen Flugzeuge.« »Ich sah sie, Herr. Auch der erste Sohn der Sonne kam vom Himmel wie du. Durch die Luft können wir nicht folgen, aber meine Worte gehen schnell wie 31
das Licht über die Berge. Wo du auch immer den Boden berührst, wird einer deiner Diener in der Nähe sein.« Sun Koh verstand, was der andere meinte, und nickte. »Es ist gut, Atarasca. Nun noch eine Frage. Ich sah dich gestern mit einem Bewohner dieser Stadt, einem gewissen Gomez?« Atarasca neigte sein Haupt. »Verzeih es, Herr. Er drängte sich mir auf, als ich hier betete. Man kennt mich in der Stadt. Er wußte, wer ich bin, und daß ich die Sprache der flüsternden Knoten verstehe. Er sagte, durch ein glückliches Ge schick wäre ein Bündel Knotenschnüre in seinen Be sitz gelangt. Er bat mich, sie anzusehen und zu lesen. Ich folgte ihm, denn es ist meine Pflicht, über das Erbe der Inka zu wachen. Es gibt nirgends in diesem Land Knotenschnüre, die ich nicht kenne. Da er von einem neuen Erwerb sprach, fürchtete ich einen Ve rat oder einen Frevel.« »Du sahst die flüsternden Knoten, die er besitzt?« »Ja, Herr. Sie waren mir schon lange bekannt. Sie sind Eigentum der Spanier und lagen bisher in der Sammlung dieser Stadt.« Sun Koh war nicht gerade überrascht. »Ich lernte einen Mann kennen, der um ihretwillen des Diebstahls beschuldigt wurde.« »Er ist unschuldig.« 32
»Warum sagst du nicht für ihn aus?« Atarasca wurde unsicher. »Unsere Gesetze verbieten es, die Angelegenhei ten der Fremden zu den unseren zu machen. Aber wenn du befiehlst, Herr …« »Nein«, sagte Sun Koh sanft. »Ich bin nicht ge kommen, um dich gegen eure Gesetze handeln zu lassen. Die Unschuld jenes Mannes wird sich auf an dere Weise herausstellen. Hast du Gomez die Spra che der Knoten übersetzt?« Der Indianer schüttelte voller Abscheu den Kopf. »Nein, Herr. Das wäre ein Frevel, der den Tod be deutete. Er wird in dem Befehl Atahualpas weiterhin ein Geheimnis der Berge wittern.« Sun Koh neigte den Kopf. ,,Es ist gut. Entbiete den Dienern der Inka meinen Gruß. Leb wohl, Atarasca.« Der hochgewachsene Mann warf sich demütig in die Knie und verharrte in dieser Stellung, bis Sun Koh und seine Begleiter davongeschritten waren. Im Hotel gab Sun Koh seinen Begleitern in we sentlichen Zügen den Inhalt seiner Unterhaltung mit Atarasca wieder. Naturgemäß erregte die Mitteilung über den Verbleib des Knotenbündels einiges Aufse hen. »Was ist das eigentlich, diese Knotenschnüre?« erkundigte sich Hal. »So hochentwickelt die Kultur der Inka auch war«, 33
sagte Sun Koh, »für unsere heutigen Begriffe war sie in einem Punkt recht rückständig. Die Inka kannten keine Schrift. Sie hatten früher eine besessen, aber sie wurde später dem Volk nicht mehr zugänglich gemacht, so daß in den letzten Jahrhunderten Schrei ben und Lesen unbekannte Dinge waren. Wohl aber verfügten die Priester und Führer des Volkes, also die Inka und der Sohn der Sonne, über eine Art Ge heimschrift. Die eine Ausdrucksform dieser sorgfäl tig geheimgehaltenen Schrift habt ihr in der eigenar tigen Mauer kennengelernt. Die gebräuchliche Form waren die Knotenschnüre, die flüsternden Knoten.« »Wie sahen sie aus?« fragte Hal. »Denkt euch ein schmales Brett mit reicher Ver zierung. An diesem Brett hängen dicht nebeneinan der in einem bestimmten System Hunderte von Le derschnüren von durchschnittlich zwanzig bis dreißig Zentimeter Länge. In jeder Schnur befinden sich Knoten, einfach, zweifach oder dreifach geknüpft, weiß, braun oder blau gefärbt. Aus der Stellung der Knoten, aus ihrer Zahl wie der Häufigkeit ihrer Knüpfung und aus ihrer verschiedenen Farbe ergeben sich eine Fülle von Zeichen, die der Kundige genau so als Worte abliest oder besser abtastet, wie wir die Worte in einem Buch.« »Haben Sie ein derartiges Knotenbündel schon einmal gesehen?« fragte Klaus Gorm. »Nein«, sagte Sun Koh ruhig. »Wenigstens kann 34
ich mich nicht daran erinnern. Es hat auch keinen Zweck, darüber zu grübeln. Meine Erinnerung reicht nicht weiter zurück als bis zu der Stunde, da ich mich nachts auf einer Londoner Straße fand. Was vorher war, wird wohl noch lange ein Rätsel bleiben. Ich kenne mich selbst nicht. Täglich mache ich neue Entdeckungen. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß ich jemals hier gewesen bin, und doch habe ich bei jedem Stein das Gefühl, ihn vor unendlichen Zei ten bereits einmal gesehen zu haben. Ich kannte Ata rasca nicht, und doch war mir, als ich ihn sah, als müßte ich sein Herr sein und er der Diener, als sei es Wahrheit, wenn er mich Sohn der Sonne nennt. Und so ist es auch mit der Knotenschrift. Sobald der Na me fiel, schien sie mir etwas Altbekanntes zu sein. Ich bin überzeugt, ich würde die flüsternden Knoten verstehen, wenn ich ein Bündel von ihnen in den Händen hielte.« Eine Weile herrschte Stille, dann meinte Hal: »Wie wäre es mit dem Bündel, das Gomez geklaut hat?« Nimba setzte sofort hinzu: »Wir werden doch Paul Schnuppe nicht im Stich lassen, Sir?« »Natürlich nicht, Nimba. Es kommt schließlich nicht darauf an, ob wir einige Tage früher oder später an unseren Bestimmungsort kommen. Oder drängt es Sie mit Gewalt, Mr. Gorm?« Gorm schüttelte den Kopf. 35
»Die Höhenstrahlen gehen uns nicht verloren. Ich bin durchaus dafür, daß wir zunächst meinem Lands mann aus seinen Nöten helfen. Das einfachste wäre natürlich gewesen, Atarasca hätte Zeugnis abgelegt.« »Ich hätte ihn aber dazu zwingen müssen«, erwi derte Sun Koh, »und ich wollte ihn nicht in Konflikt mit seinen strengen Gesetzen bringen. Es wird sich ein anderer Weg finden.« »Nehmen wir uns den Spitzbart doch vor«, sagte Hal leichthin. »Er wird wohl kaum in eine Pistolen mündung blicken können, ohne aus den Schuhen zu kippen.« Sun Koh lehnte Hals Vorschlag ab. »Wir dürfen nicht vergessen, daß wir bis zu einem gewissen Grad auf die Gastfreundschaft dieses Staa tes angewiesen sind und daß wir deshalb soweit wie möglich seine Gesetze achten müssen. Dein Vor schlag bleibt uns als äußerste Maßnahme. Zunächst müssen wir versuchen, den Beweis für die Gaunerei herbeizuschaffen.« »Aber wie?« »Da gibt es verschiedene Möglichkeiten …« 2. Hal Mervin schlenderte mit der Lässigkeit eines Touri sten mutterseelenallein durch die Straßen von Cuzco. Wie von ungefähr ging er zum zweitenmal an dem 36
Haus vorbei, in dem der Anwalt Gomez seine Woh nung hatte. Und wie von ungefähr lief er ihm in die Arme. »Ah, junger Freund«, sagte er und hielt ihn an. Er sprach spanisch. Doch von dieser Sprache hatte sich Hal bisher kaum mehr als drei Worte und einige handfeste Flüche gemerkt. Er zuckte deswegen mit den Schultern und sagte: »Ich verstehe kein Wort, Señor, reden Sie deutlicher.« Der Rechtsanwalt begann unverzüglich ein ein wandfreies Englisch zu sprechen. »Sie sprechen nur Englisch? Ausgezeichnet. Es ist mir ein Vergnügen, mich wieder einmal in dieser Sprache zu unterhalten, zumal mit einem so intelli genten jungen Mann. Wohin des Wegs? Und warum so allein?« »Weil es mir Spaß macht«, erwiderte Hal. »Schließlich bin ich mein eigener Herr.« Die Augen des Anwalts verrieten sein Interesse. »Aber sicher. Ich habe mich gewundert, daß Sie ge wissermaßen ein Domestike zu sein scheinen, ob gleich Sie das Zeug zu Höherem in sich haben.« »Nicht wahr?« sagte Hal. »Schließlich bin ich alt genug, um nach meinem Geschmack leben zu kön nen. Ich habe es satt, anderen die Stiefel zu putzen.« »Bravo, bravissimo.« Gomez grinste. »Sie gefallen mir, junger Freund. Darf ich Sie zu einem Gläschen in meine Wohnung einladen? Oder fürchten Sie sich 37
vor einem kräftigen Brandy?« Hal schnaubte verächtlich und drückte die Brust heraus. »Sehe ich so aus?« Unter der wortreichen Versicherung, daß das kei neswegs der Fall sei und daß er nicht im geringsten an den männlichen Eigenschaften seines Gastes zweifle, führte Gomez den Jungen in das Haus und in ein Zimmer, das sowohl als Büro wie auch als Schlafraum diente. Er drückte ihn auf einen Stuhl, holte eine Flasche mit zwei Gläsern und schenkte einen grünlichen Likör ein. Nach einem herzhaften Schluck, der Hal wie Höllenfeuer durch die Kehle rann, setzte er zwinkernd das Gespräch fort. »Ein edler Tropfen, nicht wahr? Aber noch nicht der beste. Den bekomme ich erst in den nächsten Ta gen wieder herein. Schade, daß Sie dann nicht mehr hier sind.« »Das ist noch nicht sicher.« Hal gab sich souverän. »Mr. Koh will zwar morgen abreisen, aber ich weiß noch nicht…« »Ah, Sie wollen sich selbständig machen? Recht so. Man soll nicht sein Leben lang Diener bleiben. Für einen geschickten Mann liegt der Reichtum ge wissermaßen auf der Straße. Sie sind auch sicher lange genug bei diesem Herrn?« »Nicht die Rede wert, kaum einige Wochen. Ich habe ihn in England kennengelernt, und wie ich mal rauskommen wollte, schloß ich mich ihm an. Sie 38
müssen wissen, daß er überall herumreist.« »Dann hat er wohl viel Geld?« »En masse, sage ich Ihnen. Mindestens fünfzigtau send Dollar schleppt er immer mit sich herum, ohne das, was er auf der Bank hat. Aber was nützt das un sereinem?« »Manchmal viel«, meinte Gomez bedeutungsvoll. »Fünfzigtausend Dollar sind eine hübsche Summe. Bitte bedienen Sie sich, junger Freund, trinken wir noch ein Gläschen. Er ist wohl nicht zum erstenmal hier?« Hal hob die Schultern. »Leicht möglich. Er weiß jedenfalls gut Bescheid, selbst in den größten Geheimnissen. Heute mittag hat er uns zum Beispiel das Geheimnis der Knotenschrift erklärt und uns gezeigt, wie man solche Dinger liest.« Gomez wurde von Erregung gepackt. »Nicht möglich!« »Warum denn nicht? Ist da was Besonderes da bei?« Der Spanier lachte schrill. »O du verrückte … Das ist das größte Geheimnis hier im Land überhaupt, und wer es besitzt, kann damit Millionen verdienen.« »Nicht möglich.« Hal strahlte. »Da habe ich ja al lerhand Aussichten. Wie stellt man denn das an, Mil lionen damit zu verdienen?« 39
Gomez nahm schleunigst wieder Platz und zwang sich zur Ruhe. »Ich kann mir nicht denken, daß man das so schnell lernt, die flüsternden Knoten zu lesen.« Hal zog eine beleidigte Miene. »Halten Sie mich für blöd? Wenn ich erst mal so ein Ding in die Hände kriege, dann werde ich’s Ihnen schon zeigen.« Der andere sah ihn mit forschendem Mißtrauen an. Nach einer Weile meinte er zögernd: »Nun, der Ver such könnte sofort gemacht werden. Ich habe zufällig ein solches Knotenbündel bei der Hand. Einen Au genblick.« Er ging hinaus. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und legte vor den Jungen ein rechteckiges Brettchen, an das zahlreiche Lederschnüre mit ge färbten Knoten geheftet waren. »So, mein junger Freund, nun können Sie Ihre Kunst einmal versuchen.« Hal starrte auf das Bündel. Er hatte selbstverständ lich keinen Dunst davon, was es für Geheimnisse barg und bereute nun, den vorgesehenen Plan nicht eingehalten zu haben. Da saß er ja schön in der Pat sche. Wenn er dem Mann was zusammendichtete, würde der es bestimmt auf Anhieb merken. Riß er aber aus, schöpfte er erst recht Verdacht, und das Beweisstück verschwand endgültig. Halb gedankenverloren, halb verzweifelt kippte er 40
das dritte Gläschen. Das ließ die Flamme des Aben teuers neu aufschlagen. »Also, was steht nun darin?« drängte Gomez. Hal sprang auf, nahm die Schnüre in die Linke und riß mit der Rechten die Pistole heraus. Er richtete sie auf den zurückfahrenden Spanier. »Daß Sie ein Gauner sind. Sie haben das Knoten bündel gestohlen und lassen dafür einen anderen bü ßen. Rühren Sie sich nicht von der Stelle!« Gomez sah wütend aus, nickte aber fast verständ nisvoll. »Also so wird gespielt. Das habe ich mir gedacht.« Hal vernahm hinter sich ein leichtes Geräusch. Er hörte es eine Sekunde zu spät. Bevor er sich richtig zur Wehr setzen konnte, hatten ihn zwei Männer umklammert. Und dann schnürten sie ihn zusammen, daß er sich nicht mehr rühren konnte. Schließlich drückten sie ihm ein schmutziges Tuch in den Mund und trugen ihn in einen fensterlosen Raum. Pietro Alama galt als berüchtigster Bandenführer Pe rus. Hunderte von Räubereien wurden auf sein Konto gebucht. Wiederholt hatte man versucht, ihn zu fan gen, und ganze Abteilungen der Guarda Civil hatten ihn gejagt. Aber die Wüste ist auf große Entfernun gen hin glatt wie ein Tisch, und außer den Flaschen bäumen mit ihren blauen Kelchen und ihren weißen Blüten hält kein pflanzliches Wesen auf ihr die ver 41
nichtende Glut der Sonne aus. Es gab also keine Möglichkeit, ungesehen an den Banditen heranzu kommen. So gab man nach ständigen Mißerfolgen die Suche nach ihm auf und ertrug ihn als notwendi ges Übel. Im übrigen war Pietro Alama stets gern zu allen Diensten bereit, wenn man ihn entsprechend bezahl te. Und es gab immer wieder einmal Leute, denen ihre Mitmenschen lästig waren. Es war dunkel auf der Huacapata von Cuzco. Wie Riesenvögel standen die beiden Flugzeuge in der Mitte des Platzes. Die sechs Polizisten, denen die Wache anvertraut war, lehnten an den Fahrgestellen und schnarchten. Señor Gomez war ein liebenswür diger Mann, und wenn er den Wächtern zwei Fla schen Schnaps gegen die Nachtkälte schenkte, so war das gewiß erfreulich. Nur müde machte das Zeug, schrecklich müde. Man spürte das Bedürfnis, sich zu setzen und die Augen wenigstens für eine Sekunde zu schließen. Und wenn man dabei einschlafen sollte – wer in dieser guten Stadt würde schon wagen, sich den Flugzeugen zu nähern? Zwei Männer lösten sich von den dunklen Mauern, die den Platz säumten, und eilten auf die Flugzeuge zu. Befriedigt stellten sie fest, daß die Vorarbeit erle digt worden war. Einer schwang sich auf die Trag fläche des größeren Flugzeugs hinauf und suchte nach einer Tür, durch die er eindringen konnte. Er 42
suchte vergeblich. Die Schiebetür ließ sich nicht öff nen. Der Mann sprang mit einem Fluch wieder her unter und verließ zusammen mit seinem Begleiter den Platz. Im schwarzen Dunkel der Kolonnaden stand ein Dutzend Männer. Pietro Alama grunzte zornig, als ihm seine beiden Leute ihren Mißerfolg berichteten. Er wandte sich an Gomez, der neben ihm stand. »Sie versprachen uns die beiden Flugzeuge. Was nützen sie uns, wenn wir sie nicht öffnen können?« »Ich habe nicht damit gerechnet, daß es Schwie rigkeiten geben würde«, verteidigte sich Gomez. »A ber was bedeutet das schon? Wenn Sie die Leute ge fangennehmen, brauchen Sie sie nur zwingen, die Flugzeuge zu öffnen.« »Wenn uns die Zeit dazu bleibt«, murrte Alama. »Wir können uns nicht lange in der Stadt aufhalten. Ich habe keine Lust, mir die ganze Bevölkerung auf den Hals zu ziehen. Aber gut – kümmern wir uns um die Besitzer.« Der Trupp bewegte sich geräuschlos unter den steinernen Gewölben dahin. Niemand hörte ihn. Die Stadt schlief. Kein Mensch ahnte, daß sich Pietro Alama in ihren Mauern befand. Wie Schatten huschten die Banditen in das Hotel hinein, in dem sich Sun Koh und seine Begleiter auf hielten. Sie wußten genau, wo sie ihre Opfer zu su chen hatten. Gomez hatte sie gut instruiert. 43
Klaus Gorm erwachte von einem Geräusch. Irgend etwas Fremdes befand sich im Zimmer. Er fuhr aus dem Schlaf hoch und murmelte geistesabwesend eine Frage. Im gleichen Augenblick ahnte er zwei Gestal ten, die sich auf ihn werfen wollten. Gleichzeitig hör te er aus dem Nebenzimmer eine schnelle Folge von Schüssen. Er warf sich zur Seite, seine Faust fuhr hoch und schmetterte einem Angreifer ins Gesicht. Dann waren jedoch noch mehr Männer über ihm, drückten seine Glieder nieder und begannen, ihn zu fesseln. Nimba, in dem der Instinkt des Naturmenschen noch lebendig war, erwachte eine Sekunde früher als Klaus Gorm und reagierte auch schneller. Er war be reits auf den Beinen, als der erste Mann an ihn he rankam. Seine mächtige Faust schoß vor. Der erste Angreifer brach stöhnend zusammen. Den zweiten holte sich Nimba mit einem Magenschlag. Die bei den anderen warf er gegen die Wand. Als er richtig munter geworden war, gab es schon niemand mehr, der gegen ihn antreten wollte. Am mißlichsten erging es den vier Männern, die bei Sun Koh eindrangen. Sie hatten die Tür kaum geöffnet, als aus dem Dunkel heraus die sanfte Frage kam: »Was wollt ihr?« Sie ließen sich davon nicht abhalten, sondern drangen hastig ein und zogen ihre Pistolen. Einer von ihnen schoß. Das war das Todesurteil für ihn und 44
seine Kameraden. Vier Schüsse folgten dicht aufein ander. Die vier Männer fielen, bevor sie den Mann, den sie überwältigen wollten, noch zu Gesicht be kommen hatten. Sun Koh sprang über die Banditen hinweg zur Tür. Im Gang befanden sich drei weitere Männer, die noch nicht begriffen hatten, was sich abspielte. Zwei schnelle Wischer schleuderten sie an das andere En de des Ganges, dann drang Sun Koh in das Zimmer ein, in dem sich Klaus Gorm befand. Die drei Mann, die auf Klaus Gorm lagen, waren vernünftig genug, die Hände hoch zu nehmen und sich an die Wand zu stellen. Es wurde laut im Haus. Der Wirt kam mit seinen Leuten heraufgestürmt und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Später erschienen auch einige Leute der Guarda Civil. Eine Stunde darauf saß Sun Koh mit seinen Be gleitern dem Polizeikommandanten gegenüber, der sich geradezu mit Feuereifer der Klärung der Ange legenheit gewidmet hatte. Die Flugzeugwache war inzwischen mit Radikalmitteln wieder zu Bewußtsein gebracht worden. Das einzige Brauchbare, was man von ihr erfuhr, war, daß der einschläfernde Schnaps von Gomez stammte. Das Verhör der gefangenen Banditen hatte noch nichts ergeben. Sie schwiegen eisern. Es stand jedoch fest, daß es Leute Alamas waren. 45
»Wir werden ihnen den Prozeß machen«, versi cherte der dicke Kommandant mit Nachdruck. »Wir werden die Kerle hängen. Zu schade, daß wir nicht noch mehr haben.« »Rechtsanwalt Gomez gehört vermutlich zu ih nen«, sagte Sun Koh, aber damit jagte er dem Kom mandanten einen Schrecken ein. »Gomez? Aber, Señor – das ist einer der angese hensten Leute unserer Stadt!« »Der Schnaps kam von ihm. Was liegt näher als der Verdacht, daß er im Auftrag der Banditen han delte?« Der Kommandant wehrte mit beiden Händen ab. »Ein unglücklicher Zufall. Señor Gomez ist ein eh renwerter …« »Dieb!« fiel Sun Koh kühl ein. »Er hat ein Bündel Knotenschnüre gestohlen, und Sie haben den fal schen Mann dafür verantwortlich gemacht.« »Unglaublich!« stöhnte der Dicke entsetzt. »Wie kommen Sie auf diese Vermutung?« »Gomez hat das Knotenbündel dem Inka Atarasca gezeigt, und dieser sprach mit mir darüber.« »Warum hat er nicht Anzeige erstattet? Ohne sein Zeugnis kann ich einen Mann wie Gomez nicht ver dächtigen.« »Es fällt Ihnen schwer, mir zu glauben«, meinte Sun Koh höflich. »Nun gut, das ist wohl verständ lich. Ich würde Ihnen jedoch empfehlen, wenigstens 46
mit Gomez über die Angelegenheit zu sprechen. Sie müssen ja wohl ohnehin aufklären, welche Bewandt nis es mit dem Schnaps hatte.« Der Kommandant nahm den Hinweis bereitwillig auf. »Gewiß, gewiß, ich muß ohnehin mit ihm spre chen. Ich werde ihn am besten gleich herbitten.« Er rief einen seiner Leute herein und erteilte ihm einen entsprechenden Auftrag. Gleichzeitig gab Sun Koh seinen beiden Begleitern Anweisungen. Nimba und Klaus Gorm verließen kurz hinter dem Polizisten den Raum. Zwanzig Minuten später erschien Gomez, tadellos gekleidet und höflich lächelnd. Der Kommandant begrüßte ihn mit einem Wortschwall, der viele Ent schuldigungen enthielt und mit einem Wortschwall beantwortet wurde. Anscheinend berichtete der Kommandant von dem frechen Überfall, der die lie benswürdige Reisegesellschaft betroffen hatte, stellte ausschweifend alles dar, was auch dem dümmsten Polizisten Amtsgeheimnis gewesen wäre und deutete schließlich unter vielen Entschuldigungen an, wel cher ungeheuerliche Verdacht auf Gomez lag. Dieser hatte es wirklich nicht schwer, sich zu verteidigen. »Maria Purissima!« seufzte er theatralisch. »In welch ungeheuerlichen Verdacht hat mich meine Gutmütigkeit gebracht? Bei der heiligen Anna – ich schwöre Ihnen, mein teurer Freund, daß mich reines 47
Mitleid bewegte. Ihre Leute taten mir leid. Es ist schrecklich, so eine lange Nacht in der Kälte zu ste hen und zu frieren. Sie wissen, daß ich ein Herz für meine Mitmenschen habe. Ich stiftete ihnen zwei Flaschen Tequila. Wie konnte ich ahnen, daß die Leute sie auf einen Zug austrinken und sich dann schlafen legen würden? Ich bin untröstlich, wenn ich bedenke, welches Unheil daraus hätte entstehen kön nen. Ewig wird es auf meiner Seele liegen, daß mich meine Gutmütigkeit trieb, gegen die Gesetze des Landes zu verstoßen. Aber Sie werden mir doch nicht im Ernst unterstellen, daß ich mit einer ver dammungswürdigen Räuberbande zusammenarbei te?« Der Kommandant konnte sich nicht versagen, ei nen Blick der Genugtuung zu Sun Koh hinüberzu werfen. Jetzt würde der Fremde sicher einsehen, daß er sich mit seinem Verdacht geirrt hatte. Dann beeilte er sich, den aufrichtig betrübten Gomez zu beruhigen und ihn seiner Hochachtung zu versichern. Schließ lich wandte er sich an den stummen Zuhörer und er kundigte sich voll Eifer: »Nun, Señor, Sie sind jetzt doch auch von der Unschuld dieses Herrn über zeugt?« Sun Koh sagte trocken: »Nicht im geringsten.« Die beiden Señores schienen kurzfristig unter ei nem Nervenschock zu stehen. Dann prasselten sie mit einer Sturzflut von Ausrufen, Versicherungen 48
und Beteuerungen los. Sun Koh blieb jedoch unbe eindruckt. »Ich kann meinen Verdacht nicht beweisen, aber Señor Gomez konnte ihn auch nicht entkräften. Viel leicht fragen Sie ihn jetzt einmal nach dem Knoten bündel.« Der Kommandant hielt einen ganzen Vortrag, worauf Gomez entrüstet leugnete, doch auch das be eindruckte nicht. Sun Koh wandte sich wieder direkt an Gomez. »Sie behaupten, nichts von dem Knotenbündel zu wissen. Sie haben es jedoch dem Inka Atarasca ge zeigt.« »Der Indio ist ein elender Lügner!« entrüstete sich Gomez. »Ich habe mit ihm gesprochen, gewiß, aber das betraf etwas ganz anderes.« »Sie machen mich neugierig«, sagte Sun Koh. Aber Gomez ließ sich nicht in Verlegenheit brin gen. »Ich sagte Ihnen doch schon zu Beginn unserer Bekanntschaft, daß ich einen Herr erwarte, einen gewissen Señor Juan Garcia. Er wünschte das Land zu bereisen und bat mich vor einiger Zeit, ihm Führer zu besorgen. Deswegen sprach ich mit Atarasca. Er kennt die Berge.« »Soso, Juan Garcia«, sagte Sun Koh. »Das ist höchst aufschlußreich.« Er sagte nicht, welche Ge danken ihn bewegten, sondern fragte ziemlich uner 49
wartet: »Wie geht es Hal Mervin?« Ein kaum bemerkbares Zucken, dann hatte sich Gomez gefaßt und tat erstaunt. »Ich verstehe Sie nicht.« »Ich glaube doch«, erwiderte Sun Koh sarkastisch. »Hal Mervin – das ist der Junge aus meiner Beglei tung, Commandante – ging heute gegen Abend in Ihr Haus und hat es seitdem nicht wieder verlassen. Wenn ich nicht irre, führten Sie ihn sogar selbst hin ein, Señor.« Gomez ließ sich nicht austricksen. »Ah, jetzt entsinne ich mich. Sie sprechen von dem jungen Burschen, der sich vor meinem Haus herumtrieb. Richtig, wir kamen ins Gespräch. Er wollte sich gern mal so ein richtiges Peruanerhaus von innen ansehen. Ich tat ihm den Gefallen und führte ihn herum. Er erzählte mit dabei, daß er sich von Ihnen getrennt habe und seine eigenen Wege ge hen wolle. Ungefähr eine halbe Stunde war er bei mir, dann ist er weitergegangen. Ich bin bereit, das bei der Mutter Gottes zu beschwören.« »Die Eide scheinen hier billig zu sein«, bemerkte Sun Koh. Gomez flammte vor Entrüstung. »Commandante, muß man sich hier fortwährend beleidigen lassen? Ich soll das Knotenbündel haben und soll auch noch den jungen Mann bei mir ver steckt halten? Durchsuchen Sie mein Haus sofort, 50
damit dieser schmähliche Verdacht nicht auf mir haf ten bleibt. Sie werden weder das Bündel noch diesen jungen Mann finden.« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgedrückt, und Hal kam grinsend herein. »Das stimmt, weil wir auf und davon sind.« Hinter dem Jungen erschienen Gorm und Nimba. Der Rechtsanwalt wurde fahl. Das Spiel war aus. Ein letzter Versuch war reine Verzweiflung. »Da – da ist er ja«, stotterte er. »Wie können Sie mich beschuldigen, ich halte ihn versteckt? Wer weiß, wo er sich herumgetrieben hat.« Hal stellte sich unmittelbar vor ihn hin und stemm te die Fäuste in die Hüften. »Was? Na, das ist mir in meinem langen Leben denn doch noch nicht vorgekommen. Macht mich besoffen, sperrt mich ein und sagt, ich hätte mich herumgetrieben. Was nisten denn für ulkige Vögel in Ihrem Oberstübchen, Señor?« Sun Koh winkte ab und übernahm nun selbst die Verhandlung. »Gestehen Sie, Señor Gomez, den Jungen gefan gen gehalten zu haben?« Der Gefragte schwieg. »Dann berichte, Hal«, forderte Sun Koh auf. Hal erzählte haarklein seine Erlebnisse. Er be schuldigte den Rechtsanwalt immer mehr und freute sich diebisch zu sehen, wie der Fettberg mehr und 51
mehr zusammensank. Als er fertig war, erhielt Nimba das Wort. Er be richtete mit viel Mimik. »Wir sind hinter dem Polizisten her, Sir. Als Señor Gomez das Haus verließ, hat Mr. Gorm versucht, vorn hereinzukommen. Wenn ich nicht irre, hatte er ein zärtliches Gespräch mit einer alten Vettel.« »Zärtlich ist gut«, warf Klaus Gorm trocken ein, »es war die scheußlichste alte Hexe, die ich mir den ken kann. Sie wollte mich durchaus nicht hineinlas sen. Schließlich war es ja auch nicht mehr nötig.« »Genau, Sir«, fuhr Nimba fort, »die machten näm lich mittlerweile das Haus leer. Dieser Herr hat sei nen Leuten sicher noch Bescheid gepfiffen, bevor er wegging. Es dauerte nämlich gar nicht lange, da schlichen zwei zur Hintertür raus und trugen zwi schen sich einen Sack. Nun hatte ich mich da aber schon hingestellt. Die beiden erschraken nicht schlecht, als ich ihnen die Faust unter die Nase hielt. Der arme Kleine hier hat sich direkt weh getan, so schnell haben sie ihn fallen gelassen.« »Der arme Kleine« quittierte die Bezeichnung mit einem gemurmelten: »Größenwahnsinniges Schwarz fleisch.« Nimba erklärte grinsend: »Sehen Sie, Sir, das ist der Beweis: er hat sich immer noch nicht von dem Fall erholt.« »Weiter, Nimba«, bat Sun Koh. 52
»Ja, also, sie warfen die Arme mit affenartiger Ge schwindigkeit in die Luft und begannen in ihrer ver rückten Sprache zu schnattern. Ich ließ ihnen den Spaß und packte den Sack aus. Wer war’s? Unser Baby natürlich, eingewickelt wie ein Postpaket und einen halben Unterrock im Mund. Der Kleine war todunglücklich, daß er nicht reden konnte. Ich habe ihn befreit. Die Kerle fingen an zu beten oder so was Ähnliches, denn die rutschten auf den Knien her um …« »Kein Wunder«, bemerkte Hal gehässig, »die ha ben gedacht, du bist des Teufels Hausknecht.« » …der ein ausgerissenes Teufelchen wieder ein fängt«, parierte Nimba strahlend. »Also jedenfalls, als ich alles hatte, habe ich ihnen einen Tritt gege ben.« »Marke Düsenjäger«, anerkannte Hal zur Ab wechslung die Leistung seines Busenfeindes. »Die Angelegenheit ist wohl klar?« Sun Koh wandte sich an den Kommandanten. Dieser schnaufte schwer auf, warf einen vernich tenden Blick auf den angesehenen Mitbürger seiner Gemeinde und versicherte diensteifrig: »Vollkom men, vollkommen. Der Kerl wird gehängt werden. Ich lasse den Schuft sofort abführen. Unerhört, und so was hat man für einen ehrenwerten Menschen gehalten. Señor Schnuppe wird sofort entlassen. Un erhört…« 53
Der Mann konnte seine Klappe nicht mehr halten, und Sun Koh und seine Begleiter verließen fluchtar tig das Lokal. »Wo ist denn eigentlich das Knotenbündel geblie ben?« erkundigte sich Sun Koh, nachdem sie ins Ho tel zurückgekehrt waren. Nimba griff grinsend in seine Tasche und langte das Brett mit den Lederschnüren heraus. »Hier ist es, Sir. Sie hatten es mit in den Sack ge packt, in dem Hal lag. Es fiel heraus, und ich steckte es ein.« »Und warum kommt es jetzt erst zum Vorschein?« Der Neger rieb sich verlegen den Schädel. »Ich dachte mir, Sie könnten es vielleicht gebrau chen, Sir, weil doch da allerhand Geheimnisse drin stehen sollen. Wenn Gomez einen Goldschatz oder so was Ähnliches damit finden will, warum dann nicht wir?« Sun Koh schüttelte lächelnd den Kopf. »Sagte Atarasca nicht schon, daß dieses Bündel bedeutungslos sei?« »Daran habe ich nicht mehr gedacht. Was steht denn drin, Sir?« »Ja«, sagte Hal impulsiv, »lesen Sie! Gomez ver langte es von mir, aber ich hatte keine Ahnung.« Auch Klaus Gorm sah erwartungsvoll auf Sun Koh. Sun Koh ließ Nimba das Brettchen zwischen die 54
Hände nehmen und ordnete nachdenklich die Schnü re. Er war im Grunde genommen selbst interessiert, hier wieder eine seiner geheimnisvollen Fähigkeiten, die ihm selbst bisher unbekannt waren, ausprobieren zu können. Minutenlang herrschte tiefe Stille im Zimmer. Dann glitten Sun Kohs Finger leicht über die zahlrei chen Lederschnüre mit ihren unzähligen Knoten, und er begann mit leiser, monotoner Stimme zu sprechen. Es waren nicht viele Sätze, die er sprach, und sei ne Zuhörer verstanden wenig davon. Darum baten sie um eine Übersetzung. »Zu übersetzen ist nicht viel. Das meiste sind Na men. Atarasca hat recht, wenn er die Knoten für be deutungslos hält, aber trotzdem sind sie für uns au ßerordentlich interessant. Es ist ein Rundbefehl, den Atahualpa, der König der Inka, an seine Unterfürsten sandte mit dem Auftrag, einen Teil seiner Goldschät ze in diese Stadt zu schaffen. Ihr müßtet die Zusam menhänge wissen.« »War Atahualpa nicht der Inkakönig, der von Pi zarro ermordet wurde?« warf Klaus Gorm ein. »Ganz richtig«, bestätigte Sun Koh. »Kennen Sie die Geschichte?« Gorm nickte. »Ich glaube schon. Sie hat mich damals mächtig gefesselt, und wir hatten bei der Gelegenheit als Ma thematikaufgabe festzustellen, wieviel Gold der Inka 55
damals dem Spanier als Lösegeld bot. Es ist meines Wissens die wildeste Abenteurergeschichte, die die Weltgeschichte geschrieben hat. Sie klang uns als Jungen unfaßbar. Mit 168 Mann hat dieser Franzisco Pizarro ein riesiges Kulturreich mit fünf Millionen Menschen und einem stehenden Heer von zweitau send Mann erobert und vernichtet, eine Phantastik, die einem Schriftsteller glatt den Hals brechen wür de.« »Wer war Pizarro?« fragte Hal. »Ursprünglich ein Schweinehirt in der spanischen Provinz Estremadura. Mit 38 Jahren erst wurde er Soldat und Seemann und wanderte mit nach Mittel amerika aus, von wo damals der Goldstrom nach Eu ropa strömte und alles berauschte. Er war mutig und verschlagen, besaß eiserne Nerven und nicht die Spur von Gewissen.« »Eine gesegnete Mitgift«, brummte Nimba. »Trotzdem hatte er es mit fünfzig Jahren mit Ach und Krach zu einem kleinen Stück Land in der Nähe von Panama gebracht. Im Jahre 1524 hörte er jedoch, im Süden gebe es Gold. Das trieb ihn an. Er unter nahm mit einem Abenteurer Almagro, einem Kaplan Luque und achtzig Mann auf zwei kleinen Schiffen eine Expedition nach Süden. Sie fanden jedoch nur Sandwüsten, undurchdringliche Urwälder, Sümpfe, Fieber, Schlangen und Moskitos. Als vierzehn Mann umgekommen waren, kehrten sie zurück. Aber Pizar 56
ro gab nicht auf. Nach einem neuen Vertrag mit sei nen Partnern brach er zum zweitenmal auf, ging wei ter nach Süden unter der Führung eines gewissen Ruiz. Sie trafen auf der Gallo-Insel Indianer mit Goldschmuck, fanden in Barbacoas goldhaltige Ströme und sogar einen Smaragdfluß. Sie sahen sich am Ziel. Doch Hitze, wilde Tiere und feindliche Menschen setzten ihnen so zu, daß eine Meuterei ausbrach. Almagro holte Hilfe aus Panama. Als er zurückkehrte, wurden aus den drei Führern dreizehn. Viele Leute hatten sie nicht, vor ihnen aber lag das riesige Inkareich. Außerdem hatten sie keine Voll macht des spanischen Königs und mußten also im Ernstfall als Räuber gelten.« »Und trotzdem zogen sie los?« »Noch nicht. Wenigstens in einem Punkt schafften sie Ordnung. Pizarro unterzog sich der Mühe und reiste nach Spanien. Nach vielen Umständen gelang es ihm, sich mit dem spanischen König zu einigen. Fünf Prozent aller Schätze sollten der Krone gehö ren, das neue Land sollte spanische Provinz sein und mit Pizarro als Generalgouverneur. Nach seiner Rückkehr segelte er von Panama aus los, mit 100 Mann Fußvolk, 77 Mann Kavallerie und zwei klei nen Feldschlangen sowie einem Dutzend Gewehr schützen. Nach drei Wochen Seefahrt landeten sie schließlich in der Stadt Tumbes und begannen mit den Eingeborenen wertlosen Schund gegen Gold zu 57
tauschen. Gold gab es dort im Überfluß.« »Das waren Zeiten«, seufzte Hal. »Pizarro war nicht zufrieden«, fuhr Gorm fort. »Er wollte mehr Gold und Macht. Nun waren damals un ruhige Zeiten im Inkareich. Zwei Brüder stritten sich um die Herrschaft…« »Huascar und Atahualpa«, sagte Sun Koh. »Es waren die beiden Söhne des Inkakönigs Huayana Capac, der 1525 starb.« »Richtig.« Gorm nahm den Faden wieder auf. »Und die beiden kämpften gegeneinander. Pizarro stellte sein kleines Heer zunächst Huascar zur Verfü gung, als dieser jedoch vernichtend geschlagen wur de, wandte er sich an Atahualpa und bot diesem seine Freundschaft an. Er war damals in einer höchst un angenehmen Lage, saß gar nicht weit von hier in der Stadt Caxamalca und war sich nur zu genau bewußt, daß ihn die unzähligen Inka um ihn herum einfach totdrücken konnten. Trotzdem verlor er den Mut nicht. Er gab sich als Gesandten eines unbekannten, mächtigen Königs aus, wußte den Inkaherrscher hin zuhalten und neugierig zu machen, so daß dieser schließlich beschloß, sich die fremden Weißen we nigstens einmal anzusehen. Er folgte der Einladung nach Caxamalca, prunkvoll, mit Gold und Edelstei nen überladen. In seiner Begleitung befanden sich Tausende seiner Edlen, aber kein einziger hatte eine Waffe bei sich. Arglos und voller Vertrauen zogen 58
sie ein. Sie wurden auf dem Huacapata nur von ei nem Mönch und einem Dolmetscher empfangen, von den Spaniern selbst war nichts zu sehen. Der Mönch hielt Atahualpa die Bibel hin und verlangte von ihm, er solle sich taufen lassen. Stellt euch das Gesicht des Inka vor. Er schleuderte das Buch zur Erde und schob den Mönch einfach beiseite. Da krachte ein Schuß – das verabredete Signal. Und dann brachen die Spanier aus den Häusern hervor und schlachteten die Tausende edler Inkas, die ja völlig waffenlos wa ren, einfach ab.« »Gemeine Schufte«, knirschte der Junge. Gorm nickte. »Einer der dunkelsten Flecke in der Geschichte der Eroberung Amerikas. Atahualpa wurde gefan gengenommen. Pizarro versprach ihn freizulassen, wenn er sein Gefängnis bis oben mit reinem Gold füllen lasse und die beiden Nebenräume mit reinem Silber. Das Gefängnis war sechs Meter breit und sie ben Meter lang. Der Inka ging darauf ein und sandte seinen Leuten Nachricht, Gold herbeizuschaffen.« »Eben diese Nachricht habe ich hier in der Hand«, unterbrach Sun Koh und wies auf das Knotenbündel. »Es geht daraus hervor, daß Atahualpa fest davon überzeugt war, nach Erfüllung der Bedingung wieder frei zu kommen.« »Wurde er nicht freigelassen?« »Nein. Das Edelmetall wurde herbeigeschafft, a 59
ber trotzdem sprach Pizarro das Todesurteil über ihn. Im Jahre 1533 wurde er auf dem großen Platz von Caxamalca lebend auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das Schicksal des Inkareiches war damit entschie den. Die 168 Spanier unterwarfen sich das wehrlose Land spielend. Sie töteten und rotteten aus, und was übrig blieb, vermischten sie nach und nach mit den Einwanderern. Aus Menschen, die so geleitet wur den, daß sie sich glücklich fühlten und dabei Wun derwerke von Tatkraft und Ausdauer vollbrachten, wurde eine Schar führer- und haltloser Geschöpfe, die der Untätigkeit und der Verkommenheit verfie len.« »Bis auf die Tausende, die in die unzugänglichen Berge flohen«, ergänzte Sun Koh ernst. »Denn das steht fest: Die Spanier sind nun über vierhundert Jah re in diesem Land, aber trotzdem sind ganz große Gebiete der Hochanden, sind zahlreiche Täler und Schluchten noch völlig unbekannt. Zufall oder Ab sicht? Jedenfalls gehören sicher alle die dazu, in de nen die Nachkommen der Inka die Heiligtümer und Schätze ihrer Vorfahren noch heute hüten. Vielleicht wird uns Atarasca eines Tages führen«, schloß Sun Koh und erhob sich. »Nun aber los, das Knotenbün del muß auf die Kommandantur.«
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3.
Die beiden Flugzeuge schwebten ungefähr fünfhun dert Meter über dem Wasserspiegel des TiticacaSees. In der vorausfliegenden kleinen Maschine befan den sich Sun Koh und Hal Mervin. Sun Koh führte den Steuerknüppel nur lässig, er schaute ebenso wie der Junge interessiert in die Tiefe. »Mann«, rief Hal staunend, »das Wasser hört ja gar nicht mehr auf! Ich habe immer gedacht, das wä re so eine Art besserer Teich. Das sieht nicht so aus, als könnte man ihn durchschwimmen.« »Das würde ich dir auch nicht raten«, sagte Sun Koh. »Der Titicaca-See ist fünfzehnmal so groß wie der Genfer See.« »Allerhand!« Sie schwiegen eine Weile, dann machte Hal eine neue Entdeckung. »Eine Insel, Sir. Scheint ganz hübsch groß zu sein.« »Groß genug, um London darauf zu stellen.« »Sind das nicht Häuser?« Die Maschine ging tiefer und hielt direkt auf die Insel zu. »Ruinen«, stellte Sun Koh mit seinen erheblich besseren Augen fest. »Wahrscheinlich ist das die In sel Titicaca, von der Atarasca sprach.« 61
»Wohnt der Inka hier?« »Atarasca? Nein, er haust irgendwo in den Bergen. Aber er kennt diese Insel.« »Wollen wir landen?« »Nein, wir müssen heute noch nach Sorata. Viel leicht später, wenn Mr. Gorm fertig ist.« »Schade! Tatsächlich, das sind Ruinen. Mächtige Brocken.« »Inkabauten«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Von hier aus sind die Söhne der Sonne vor zweitausend oder mehr Jahren nach Norden gezogen, nach Cuzco hin, wo der Goldzweig des Sonnenkönigs Wurzeln schlug. Hier war der ursprüngliche Mittelpunkt eines Kulturreiches … Was ist das?« Der Motor setzte aus und verstummte. Die Ma schine sackte plötzlich in die Tiefe. Sie stürzte nicht wie ein Stein, aber sie glitt nach dem ersten Ruck in die Tiefe, als ob an der Unterseite eine Faust zerrte. Sun Koh kontrollierte die Instrumente, konnte aber keinen Fehler finden. Die Maschine war völlig in Ordnung. Das Versagen war einfach rätselhaft. Unten glitt in nur noch hundert Meter Tiefe die waldige Insel vorbei, aus deren Grün ausgedehnte Ruinen weiß hervorleuchteten. »Was ist, Sir?« erkundigte sich Hal besorgt. »Irgendein Fehler, den ich nicht finden kann. Drü ben scheint ja alles in Ordnung zu sein.« In der Tat hörten sie deutlich das Dröhnen des 62
größeren Flugzeugs, das etwas seitlich und ein gutes Stück höher flog. »Vielleicht liegt’s am Magnet, Sir?« Sun Koh hob die Schultern. »Vielleicht. Wir werden jedenfalls landen, um den Schaden zu untersuchen. Hoffentlich kommen wir bis zum Ufer.« »Wir können doch auf dem Wasser niedergehen.« »Ja, aber schlechter hantieren.« »Dann landen wir doch gleich auf der Insel.« »Lieber nicht. Die Maschine könnte gänzlich flug unfähig geworden sein. Je näher wir dem Südende des Sees kommen, um so besser, denn dort führt in einiger Entfernung die Bahn nach La Paz vorbei.« Er ging die Armaturen noch einmal durch und ver suchte dann, den Motor wieder in Betrieb zu setzen. Das Erstaunliche geschah – der Motor setzte wieder ein, als wäre nicht das Geringste geschehen. Sun Koh landete trotzdem, sobald er das Südufer des Sees erreicht hatte und passendes Gelände vor sich sah. Die zweite Maschine folgte und setzte in der Nähe auf. Nimba kam herübergelaufen. »Was ist, Sir?« »Nichts!« antwortete Hal, bevor Sun Koh zum Zug kam. »Du sollst nur einmal ein Bad nehmen. Sun Koh meint, der See wäre endlich groß genug, um dir als Badewanne zu dienen.« Nimba grinste gutmütig. 63
»Schade, daß du nicht gleich mitbaden kannst. Wir haben keine Scheuerbürste dabei, und ohne Scheuer bürste geht dein Dreck im Gesicht ja doch nicht ab.« Hal wandte sich empört ab. Anspielungen auf sei ne zahlreichen Sommersprossen konnte er auf den Tod nicht vertragen. Sie waren sein tiefster und ge heimster Kummer, denn ein Held mit Sommerspros sen – das gab es einfach nicht. Er würdigte Nimba keiner Antwort und schlender te davon, um den Gegenstand näher zu zu betrachten, der ein Stück entfernt aus dem Sand ragte. Sun Koh ging mittlerweile mit den beiden anderen Männern sorgfältig die Maschine durch. Sie fanden jedoch nicht die geringste Erklärung dafür, warum sie über der Insel ausgesetzt hatte. »Hal macht Freiübungen«, stellte Nimba etwas später fest. Tatsächlich winkte Hal aus hundert Meter Entfernung eifrig und kam schließlich herangelaufen, als sich die Männer seiner Meinung nach nicht schnell genug in Bewegung setzten. »Da hat einer seine Haustür liegen gelassen«, rief er begeistert. »Das ist ein Ding! Das müssen Sie sich ansehen, Sir.« Sie folgten ihm über die kleine Anhöhe. Vor ihnen bot sich ein erstaunliches Bild. Das Sandfeld unter ihren Füßen setzte sich fort, aber aus dem Sand rag ten bald hier, bald dort steinerne Trümmer heraus. Nicht weit vor ihnen stand ein einzelner Torbogen 64
oder wenigstens der obere Teil eines Torbogens. Er ragte zwei Meter aus dem Sand heraus und besaß eine Breite von ungefähr fünf Metern. Er war über und über mit Skulpturen bedeckt. Genau über der Toröffnung befand sich ein Steinbild des Sonnengot tes, ringsum mit Strahlen umgeben. Er hielt in jeder Hand ein Zepter mit Condorköpfen. Beiderseits von ihm waren in drei Reihen übereinander Reliefs von grotesken Figuren in kniender Stellung eingegraben, die das Gesicht dem Sonnengott zuwandten. Alle diese Figuren zeigten menschliche Arme und Beine, alle waren geflügelt und trugen in den Händen Zep ter. Aber nur ein Teil der Gestalten zeigte Men schengesichter. Die anderen trugen unter den fünf zackigen Kronen Condorköpfe. Die Männer stellten die Einzelheiten erst nach und nach fest. Zunächst fiel ihnen eine bemerkenswerte Einzelheit auf. »Das ist ein einziger Felsblock gewesen«, sagte Klaus Gorm verdutzt zu Sun Koh. »Trachyt, wenn ich nicht irre. Nirgends ist eine Fuge oder eine Bin dung zu entdecken.« Sun Koh nickte. »Ja. Das Tor wurde aus einem einzigen Block her ausgearbeitet.« »Fabelhaft, nicht? Wenn man das Gewicht be denkt, dazu die Entfernung, aus der man ihn wahr scheinlich heranschleppte, möchte man den Hut vor 65
Hochachtung ziehen.« »Ziehen Sie ihn getrost«, sagte Sun Koh lächelnd. »Können Sie sich noch an den Eckstein der Festung Sacsahuaman bei Cuzco erinnern? Ein Block von acht Meter Höhe, vier Meter Breite und drei Meter Tiefe. Das macht ungefähr ein Gewicht von viertau send Zentnern aus. Dagegen ist dieser Torbogen nur eine Kleinigkeit.« »Genügt aber auch. Mir ist es ein Rätsel, wie es die Inka schafften, solche Stücke auch nur von der Stelle zu bewegen. Hunderte und Tausende von Zentnern ohne technische Hilfsmittel und ohne Tiere, nur durch Menschenkraft bewegt? An solchen Brok ken könnten sich sogar unsere heutigen Ingenieure noch die Zähne ausbeißen, obgleich wir doch über ganz andere Mittel verfügen. Damals scheint man mit diesen Lasten wie mit Spielzeugen hantiert zu haben. Unbegreiflich!« Sun Koh nickte. »Mir geht es ganz ähnlich. Sehen Sie, ein Durch schnittsmensch kann ungefähr einen Zentner heben. Dann müßten diesen kleinen Block von geschätzt zweihundert Zentnern bereits zweihundert Menschen anfassen, um ihn überhaupt nur anzuwuchten. Mehr als vierzig können aber bestimmt nicht heran. Und die Angelegenheit wird um so rätselhafter, je größer die Stücke werden. Nicht das Gewicht allein ent scheidet, sondern auch die Angriffsfläche. Man er 66
klärt damit, daß jene Menschen mit Hilfe von Rollen und schiefen Ebenen die Gewichte bewältigten. Dar über kann man sich jedoch streiten. Sicher wurde mit schiefen Ebenen gearbeitet, aber diese waren im Grunde zu flach, um solche Transporte zu erklären. Man kann sich heute Methoden ausdenken, bei denen es auf die Zahl der Menschen, die schiefen Ebenen, die Rollen und andere Mittel nicht ankommt, aber es ist doch sehr fraglich, ob sie tatsächlich angewandt wurden, um diese gewaltigen Bauten mit ihren fu gendicht sitzenden Riesensteinen zu errichten. Man könnte leicht einen Denkfehler begehen. Auch in un serem modernen Bauwesen wird nicht selten mit Rollen, schiefen Ebenen und bloßer Menschenkraft gearbeitet, aber es wäre doch verfehlt, hinter den Großbauten unserer Zeit nur diese primitiven Hilfs mittel zu sehen.« »Hm, die alten Inka hatten sicher auch ihre Ge heimnisse, die sie der Nachwelt nicht überlieferten.« »Eben das meinte ich. Es ging allzu viel verloren, als Pizarro das Reich eroberte. Tatsächlich wissen wir vom alten Inkareich nicht sehr viel, im Grunde nicht mehr als eine Reihe von Äußerlichkeiten. Wir wissen zum Beispiel nicht einmal, warum sich jene Menschen hier oben in der öden, einsamen Höhe von viertausend Metern, unmittelbar an der Grenze des ewigen Schnees, ansiedelten, in einer Höhe, in der die Lunge schon nicht mehr gern atmet, weil die Luft 67
zu dünn ist.« »Und unten liegen die fruchtbaren Ebenen und Tä ler.« »Eben.« »Vielleicht waren die Inka ein Bergvolk?« über legte Nimba laut. Sun Koh hob die Schultern. »Ein Bergvolk? Was bedeutet das? Man kann na türlich annehmen, daß sich das Volk ausgerechnet hier entwickelt hat. Im anderen Fall müssen be stimmte Gründe vorgelegen haben, um es in diese Höhe zu treiben. Das ist schwer zu sagen. Übrigens stammt dieser Torbogen nicht von den Inkas.« »Ganz sicher«, fuhr Sun Koh nachdenklich fort. »Dieses Ruinenstück ist erheblich älter als alle Bau ten der Inkas, die wir bisher gesehen haben. Ich schätze das Alter dieses Torbogens auf rund zehntau send Jahre. Bitte, sehen Sie sich die Skulpturen an. Haben Sie in Cuzco Ähnliches gesehen?« »Das allerdings nicht«, erwiderte Gorm. »Diese geflügelten Könige und Condore habe ich noch nie bemerkt.« »Der ganze Stil ist fremdartig. Das Trümmerstück muß einem Volk zugeschrieben werden, das vor den Inkas hier wohnte.« »Hm. Was bedeuten denn diese Reliefs über haupt?« »Ich bin kein Altertumsforscher und weiß nicht 68
mehr als Sie. Aber vielleicht erahnt man einen Sinn, wenn man die Phantasie bemüht.« »Klar ist natürlich, daß das Bild in der Mitte die Sonne verkörpern soll. Sie hat die Rolle einer Gott heit gespielt. Die Anbetung wird dadurch zum Aus druck gebracht, daß alle anderen Gestalten knien und sich ihr zuwenden. Die Menschengestalten sollen vermutlich die damals herrschenden Könige darstel len.« »Und die Condore?« »Tja, da ist meine Weisheit schon zu Ende. Mögli cherweise ist der Condor ein heiliger Vogel gewe sen?« »Quatsch!« zensierte Hal impulsiv, verbesserte sich aber gleich. »Ich meine, diese Folgerung ist nicht berechtigt. Diese Reliefs stellen doch überhaupt keine Vögel dar, sondern Menschen. Sie sind genau so gezeichnet wie die anderen. Sie haben eben nur Vogelköpfe.« »Also wahrscheinlich handelt es sich dann um symbolische Darstellungen.« »Symbole wofür?« »Wofür? Tja, wofür eigentlich?« »Vielleicht konnten sie fliegen?« sagte Hal. »Von der Fußbank direkt ins Waschbecken«, brummte Nimba. »Oder wie du einst in die Seile«, stichelte Hal zu rück. »Was meinen Sie, Sir?« 69
Sun Koh schwieg eine Weile, dann sagte er nach denklich: »Man kann auf sonderbare Gedanken kommen. Die Phantasie läßt genügend Spielraum. Man kann solche Darstellungen als Spielereien von Primitiven abtun, aber das ist die schlechteste Me thode. Die Schöpfer dieser Bauwerke haben sich et was gedacht und waren vermutlich auch streng ge bunden. Und diese Bauten stammen immerhin aus einer hochentwickelten Kultur. Was erzählen uns eigentlich diese Steine? Zunächst wohl, daß hier vor Tausenden von Jahren, nach der Überwanderung durch die Inkas, ein verschollenes Volk lebte. Seine Gottheit war zweifellos die Sonne. Seine erhabensten Gedanken waren erstaunlicherweise mit der Kunst des Fliegens verbunden. Es fand nichts dabei, seine Könige als fliegende Geschöpfe darzustellen und sie mit gewaltigen Raubvögeln zusammenzuordnen. Dieses Volk hielt sich freiwillig in einer Höhe von viertausend Metern auf, obgleich es hier erschwerten Lebenshaltungskosten gegenüberstand. In einer Zeit, in der in Europa noch Menschen mit Steinbeilen in Höhlen hausten, schuf dieses Volk hier mächtige Bauwerke. Das ist wohl alles, aber jeder einzelne Punkt ist ein abgerundetes Rätsel.« Eine Stunde nach dieser Unterhaltung sahen sie unter sich die Stadt Sorata, die am Fuße des gleich namigen Bergmassivs liegt. Sie landeten in der Nähe der Stadt. In Sorata wollten sie die letzten Kleinig 70
keiten und Lebensmittel einkaufen, bevor sie die ein samen Höhen aufsuchten, in denen Klaus Gorm ar beiten wollte. Merkwürdigerweise bemerkten sie keinen Men schen, obgleich die Ankunft der Flugzeuge eine Sen sation für die Stadt sein mußte. Klaus Gorm blieb mit Hal bei den Maschinen, Sun Koh und Nimba schritten in das Städtchen hinein. Sie passierten mehrere Straßen, ohne ein menschli ches Wesen wahrzunehmen. Die Häuser waren völlig in Ordnung, Türen und Fenster verschlossen. Die verschiedensten Anzeichen verrieten, daß sich hier noch vor nicht zu langer Zeit Menschen aufgehalten hatten, aber trotzdem war die Stadt wie ausgestorben. Unheimliche Stille lag über ihr. Sun Koh und Nimba sahen sich verwundert an. Nachdem sie eine halbe Stunde lang durch alle mög lichen Gassen geschritten waren, kehrten sie um. Als sie fast wieder bei den Flugzeugen angelangt waren, vernahmen sie aus der Ferne einen lauten Schrei, einen Zuruf, der sich mehrmals wiederholte. Sie konnten ihn nicht verstehen, aber sie entdeckten bald den Mann, der ihn ausstieß. Er befand sich in mehreren hundert Meter Entfernung auf einem schmalen Pfad, der außerhalb der Stadt aus den Ber gen herausführte. Sun Koh winkte ihm, doch der Mann war nicht zu bewegen heranzukommen. Er winkte vielmehr zurück. 71
Die beiden Männer eilten zu ihm hin. Es war ein dunkelhäutiger Mann mit breiten Bak kenknochen, eingehüllt in einen schmierigen, ge streiften Poncho, mit einem strohgeflochtenen Hut auf dem Kopf. Seine linke Backe war unförmig an geschwollen, als halte er an dieser Stelle einen Ge genstand im Mund verborgen. »Was ist?« rief Sun Koh ihm auf Spanisch zu. »Verruga! Verruga!« antwortete der Mann ängst lich. »Verruga?« wiederholte Sun Koh erstaunt. Der Indio machte aufgeregte Gebärden. »Jawohl, Verruga. In Sorata steckt die Verruga. Wenn Sie dort hingehen, sind Sie tot.« »Dann müßten wir es bereits sein«, sagte Sun Koh ruhig, »denn wir waren in der Stadt.« »Oh!« Der Mann sprang entsetzt zwei Schritte zu rück. »Dann sei Ihnen die Madonna gnädig.« Sun Koh sah den Mann aufmerksam an. »Ist die Verruga eine Krankheit?« Der andere nickte eifrig. »Eine furchtbare, schreckliche Krankheit. Zuerst kommen die kleinen roten Pünktchen. Dann kommen die Beulen, wie große Warzen. Wem die Madonna gnädig ist, bei dem gehen sie nach außen auf und werden zum Ausschlag. Er ist schrecklich, aber man stirbt nicht an ihm. Wenn sich die Beulen aber nach innen öffnen, dann zerfrißt es den Menschen, und er 72
verfault von innen heraus.« »Das ist allerdings eine schreckliche Krankheit«, sagte Sun Koh. »Wie entsteht sie denn?« Der Indio sah ihn etwas verständnislos an. »Entstehen? Sie ist bald hier, bald dort, wie das Schicksal selbst, ohne daß man es vorher ahnt.« »Ich meinte, wodurch sie entsteht. Sie muß doch irgendeine Ursache haben.« Der Eingeborene machte ein geheimnisvolle Ge sicht. »Die Verruga ist eine Strafe des Himmels. Nie mand weiß, woher sie kommt.« »Auch der Himmel hat seine Mittel.« Das Gesicht des Eingeborenen wurde noch ge heimnisvoller. Er flüsterte jetzt: »O Herr, in dunklen Nächten fliegt ein Moskito durch die Dörfer und sucht sich einen Menschen, der er stechen kann. Und der Mensch stirbt kurz darauf. Er ist zerfressen, ver fault. Wie bei der Verruga.« Sun Koh schüttelte den Kopf. Die Darstellung des Eingeborenen war nicht gerade klar. Die Krankheit, die hier geschildert wurde, hatte mit den drei Seu chen der Menschen eine gewisse Ähnlichkeit, aber sie war doch auch wieder etwas ganz anderes. Sie war nicht Krebs, nicht Lepra und auch nicht Tuber kulose und hatte doch von jeder etwas. Merkwürdig war auch, daß in dieser gesunden frischen Höhe eine derartige Krankheit überhaupt entstehen konnte. 73
Aber es war nicht zu zweifeln, daß sie wirklich e xistierte. Das tote Sorata war der beste Beweis dafür. »Gibt es kein Mittel gegen die Verruga?« fragte er den Mann. Der Eingeborene zuckte mit den Schultern. »Die Ärzte von La Paz kennen keine, aber wenn man vier Kräuter nimmt und daran glaubt, so bewah ren sie einen vor der Verruga. Es sind Kisuar, Jana casha, Nua de gato und Culen.« »Und Sorata wurde verlassen, weil diese Krank heit dort wütete?« »Jawohl, Herr. Wer noch lebte, ist geflohen.« Nimba, der von der ganzen Unterhaltung nichts verstanden hatte, flüsterte Sun Koh fragend zu: »Der Kerl fixt wohl?« Sun Koh gab die Frage an den Mann weiter. Der Indio grinste freundlich und erklärte: »Es ist Koka, Herr.« »Aha.« Sun Koh wußte Bescheid und verzichtete deshalb darauf, den Mann näher auszufragen. Ihn interessier te etwas anderes. »Wo ist die nächste Ortschaft, in der wir Lebens mittel einkaufen können?« Der Mann wies in die Schlucht hinein. »Mein Heimatdorf liegt nur drei Stunden von hier, weiter oben am Berg. Aber auch La Paz ist nicht sehr weit.« 74
»Wir werden unsere Einkäufe in Ihrem Dorf vor nehmen. Das genügt uns. Wir wollen hinauf auf den Sorata.« Das schmutzig-braune Gesicht zeigte unverhohle nes Entsetzen. »Soll das heißen, daß kein Weg hinaufführt?« fragte Sun Koh. »Doch, doch«, versicherte der Indio mit gedämpf ter Stimme, als wage er nicht laut zu sprechen, »aber wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, so benutzen Sie ihn nicht. Der Berg beginnt unter Ihren Füßen zu sprin gen und wirft sie tausend Meter tief in den Ab grund.« Sun Koh lächelte. »Das klingt wie ein Märchen, lieber Freund.« »Nein, nein, es ist so. Ich kenne selbst einen, der es versucht hat. Er ist nie wiedergekommen. Und einmal haben wir eine Ziege auf den Weg getrieben, und ich sah mit meinen eigenen Augen, wie der Berg sie hochwarf und dann hinabstürzen ließ.« »Dann geschieht das Unglück an einer bestimmten Stelle?« »Ja, Herr, über den Condoren.« In Sun Kohs Gesicht trat Spannung. »Wo?« »Wenn der Weg an der senkrechten Wand zu hän gen beginnt, dann finden Sie oben ein paar Steinbil der eingehauen, die von den Geistern der Berge 75
stammen. Von dort an lauert der Tod.« Nach einigen Worten des Abschieds kehrten Sun Koh und Nimba zu den Flugzeugen zurück. Sun Koh teilte seinen Begleitern den Inhalt seines Gesprächs mit. »Ob das alles stimmt, was der Kerl da geredet hat«, meinte Hal. »Wenn ich an den Geisterberg den ke, der den Buckel krumm machen soll wie ein Gaul, wenn er seinen Sonntagsreiter abwirft – das ist ein bißchen starker Tabak.« »Durchaus möglich«, räumte Sun Koh ein, »aber andererseits kann man auch nicht annehmen, daß es bloße Phantasie ist. Irgendein Ereignis muß vorlie gen. Und die Angaben des Mannes klangen sehr be stimmt.« »Vielleicht handelt es sich um eine gefährlich schmale Stelle?« warf Gorm ein. Sun Koh nickte. »Ähnliches dachte ich auch. Die Erwähnung der Condorzeichnungen hat mich jedoch stutzig ge macht. Wir werden uns den Pfad auf jeden Fall anse hen, möglicherweise sogar von oben. Wir wollen aufbrechen.« Der Sorata ist ein Bergmassiv von 6550 Meter Höhe. Sun Koh und seine Begleiter befanden sich seit zwei Tagen 800 Meter unterhalb des Gipfels auf ei nem kleinen Plateau, das wie eine felsige Insel zwi 76
schen den Eisströmen eingeklemmt war. Sie hatten darauf verzichtet, den Berg zu Fuß zu besteigen, da ihnen ja die Flugzeuge zur Verfügung standen. Aber immerhin hatten noch allerlei kühne Kunststückchen dazugehört, um durch das Gewirr der Schluchten und Bergstürze wie durch die Wirbel des brausenden Sturmes hindurch auf dieser geschützten Stelle Fuß zu fassen. Klaus Gorm hatte sofort begonnen, seine Apparate zu montieren. Sun Koh und Hal halfen ihm dabei, während Nimba sich wie gewöhnlich um die Ver pflegung kümmerte. Es war eine schwierige Arbeit, und die Kälte machte sich in dieser Höhe außeror dentlich unangenehm bemerkbar. Die Luft wehte wie Eis von den Gletschern herunter. Und doch mußte man sich zugleich gegen die unbarmherzigen Strah len der Sonne schützen, die die ungeschützte Haut in kurzer Zeit verbrannt hätte. Gegen Ende des zweiten Tages war die mörser ähnliche Apparatur mit allen Zutaten fix und fertig. Am dritten Tag begannen Sun Koh und Hal, sich für ihre Umgebung zu interessieren. Sie gingen den Rand des Plateaus ringsum ab. kletterten am schrof fen Absturz entlang und stiegen ein Stück den Glet scher hinauf, ohne etwas Besonderes festzustellen. Am Nachmittag überquerten sie den Gletscher, der das Plateau von dem eigentlichen Bergmassiv trenn te. 77
Und da stießen sie unvermutet auf einen Weg. Es war unverkennbar ein Weg, den Menschenhand geschaffen hatte. Man hätte ihn unter Umständen so gar als Straße bezeichnen können, wenn er nicht zu schmal gewesen wäre. Aber man sah, daß ihn Men schenhände aus dem Fels gehauen und künstlich ge glättet hatten. Er führte rechts in die Tiefe und links auf die Höhe. Sun Koh und Hal waren verblüfft. Wie konnte sich hier, 5700 Meter über dem Meeresspiegel, ein Weg befinden, in einer Gegend, die anscheinend über haupt noch nicht von Menschen betreten worden war? Sie gingen den Pfad ein Stück aufwärts entlang. Er führte zuerst fast waagerecht, stieg dann in steilen, künstlich herausgehauenen Stufen an und ver schwand schließlich in Serpentinen um den Berg herum. Es war zu spät, um ihn weiter zu verfolgen. Sie beschlossen umzukehren. Als sie wieder ein Stück abwärts gestiegen waren, drehte sich Hal zufällig um. Er faßte Sun Koh sofort am Arm und schrie auf geregt: »Ein Mann, Sir, ein Mann!« Sun Koh fuhr herum. Er sah nichts. Stumm und schweigend drohte der gewaltige Berg. »Wo?« fragte er. »Dort hinter der Felszacke! Jetzt ist er fort.« »Hast du dich nicht getäuscht?« 78
»Nein, Sir, ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Er schaute mit Kopf und halbem Oberkörper vor. Ein großes rotes Gesicht mit wilden Augen.« Sun Koh eilte mit schnellen, federnden Schritten auf die bezeichnete Stelle zu, Hal hastete hinterher. Hinter der Felszacke war niemand zu sehen. Nichts verriet, daß sich hier ein Mensch befunden hatte. »Du mußt dich geirrt haben, Hal«, meinte Sun Koh. »Nein«, beharrte der Junge. »Nun, für heute werden wir umkehren. Morgen läßt sich auch noch feststellen, was es mit deiner Be obachtung auf sich hat.« Sie kehrten ins Lager zurück. Gorm und Nimba waren naturgemäß von der Entdeckung des Weges höchst überrascht. Hals Mann schien allerdings auch ihnen ein recht zweifelhaftes Gebilde zu sein. Nimba konnte sich nicht versagen, einige recht deutliche Anspielungen über die Gefahren des Schwindligwer dens zu machen. Dafür war er der erste, der seine diesbezügliche Meinung ändern mußte. Als er am nächsten Morgen aus der Flugzeugkabi ne herauskletterte, um das Wasser für den Morgentee zu holen, sah er dicht neben dem Flugzeug auf der Erde einen großen Bogen weißen Papiers liegen, der am letzten Abend bestimmt noch nicht dagewesen war. Auf dem Boden lagen einige Steine. 79
Nimba stutzte zwar zunächst, aber er dachte sich nichts Besonderes dabei, als er den Bogen aufnahm. Um so erstaunter war er, als er auf der Rückseite Schriftzeichen entdeckte, einen kurzen Satz in engli scher Sprache: »Bleibt auf dem Plateau, so lange ihr wollt, aber wenn ihr wieder darüber hinaus schnüf felt, soll euch der Teufel holen. Praxler.« Nimba kniff sich in den Arm, aber es änderte sich nichts: die Schrift blieb. Er durchforschte die Umge bung, kratzte sich schließlich am Hinterkopf und kletterte wieder bedächtig ins Flugzeug zurück. »Die Frühpost ist eingetroffen, Sir«, meldete er würdevoll. »Du bist heute recht witzig aufgelegt«, meinte Sun Koh gutmütig. Statt einer Antwort reichte ihm der Neger den Zet tel. Sun Koh las, schüttelte den Kopf und sah Nimba überrascht an. »Was soll das?« Nimba berichtete. Der Zettel ging von Hand zu Hand. Jeder vertiefte sich wie ein vereidigter Schrift deuter in die kräftigen, fast groben Züge, die wie mit einem Pinsel hingehauen waren. »Ohne Zweifel eine Männerschrift«, stellte Sun Koh fest. »Also habe ich doch richtig gesehen«, triumphier te Hal. »Das wäre das erstemal in deinem Leben«, meinte 80
Nimba grinsend. »Einmal ist immer noch besser als überhaupt nicht«, gab Hal bedeutungsvoll zurück. »Wenn ich nicht irre, soll das eine Drohung sein«, meinte Gorm. »Sicher«, bestätigte Sun Koh gelassen, »aber Dro hungen braucht man nicht immer ernst zu nehmen. Mir ist völlig unklar, wer dieser Praxler ist und was er hier oben in dieser Einsamkeit zu suchen hat.« »Vielleicht ein Einsiedler«, schlug Hal vor. »Die suchen sich angenehmere Gegenden aus«, widersprach Gorm. »Außerdem hätte ein Einsiedler wohl kaum ein Interesse daran, uns auf dieses Fleck chen Erde zu beschränken. Praxler … Ich muß den Namen schon gehört haben.« »Vielleicht bekommen wir bald Gelegenheit, den Mann kennenzulernen. Wir werden feststellen, wel che Geheimnisse er zu verbergen hat. Ich war bis jetzt noch nicht fest entschlossen, eine Gipfelbestei gung vorzunehmen, aber nun werden wir den Berg wenigstens soweit besteigen, daß wir erfahren, wohin der Pfad jenseits des Gletschers führt.« Hal freute sich. Klaus Gorm machte ein bedenkli ches Gesicht. »Ich möchte größte Vorsicht empfehlen.« »Natürlich.« Sun Koh nickte. »Wir wollen aber nicht vergessen, daß die Vorsicht nur ein Teil der Tapferkeit ist.« 81
Damit war die Gipfelbesteigung beschlossen. Das Team war sich natürlich darüber im klaren, daß sie zu einem gefährlichen Unternehmen werden konnte. Abgesehen von allen bergsteigerischen Schwierig keiten mußten sie von Sekunde zu Sekunde mit ei nem Überfall durch einen unbekannten Gegner rech nen. Aber das war kein Anlaß für sie zurückzu schrecken. Die zweite Warnung bemerkte Klaus Gorm als er ster. Als er am Nachmittag zufällig den Blick über die Gipfelkette schweifen ließ, sah er auf mehreren Gipfeln Rauchsäulen aufsteigen. Sie verschwanden, wurden wieder sichtbar und verschwanden abermals. Gorm verständigte durch einen Zuruf Sun Koh und die beiden anderen. Sie beobachteten gemeinsam die rauchenden Gipfel. Bald länger, bald kürzer lö sten sich dunkle Fahnen ab. »Das sieht aus wie Morsezeichen«, sagte Gorm. »Lang, kurz, kurz lang, kurz lang …« Sun Koh nickte, während er die Gipfel weiter beo bachtete. »So ungefähr. Nur sind es keine Morsezeichen, sondern Knotenzeichen. Sie wären selbst für einen spanischen Funker sinnlos.« »Atarasca?« fragte Hal. »Ja« »Vielleicht lädt er uns zum Abendessen ein«, meinte Nimba genußsüchtig. 82
Sun Koh lächelte. »Von Abendessen ist keine Rede. Die Zeichen wiederholen immer nur einen Satz.« »Ja?« fragte Nimba. »Es lautet: Atarasca warnt den Sohn der Sonne vor dem Condor.« 4. Die schweren Bergschuhe bissen sich mit jedem Tritt in den Felsen fest. Die Spitze der Eispicke gab beim Aufstoßen jedesmal einen hellen Klang. Die Glet schereisen klapperten dann und wann auf dem Rük ken, der sonst nur leichte Last trug: etwas Proviant, Kletterschuhe und Verbandszeug. Das Seil hing im flachen Bogen zwischen den Männern. Voran schritt Sun Koh. Er prüfte, sicherte und be mühte sich, die ständigen Gefahren, die vom Berg oder von Menschen kommen konnten, zu ahnen. In einigem Abstand folgte Nimba, hinter ihm war Hal, und den Schluß bildete Klaus Gorm. Sie waren alle vier bewaffnet und unablässig auf der Hut. Nach der Überquerung des Gletschers war es ohne Schwierigkeiten auf dem künstlichen Pfad vorwärts gegangen, dann hatten sie einen zweiten Gletscher passiert und befanden sich nun auf der vom Lager abgewendeten Flanke des Berges auf einem von Menschenhand angelegten Pfad. Er war eisfrei, wur 83
de aber zusehends steiler und schmaler. Die Fels wand begann drohend überzuhängen. Der Pfad wur de zum schmalen Band, das auf halber Höhe an einer schroff abfallenden Wand entlang lief. Dreißig Meter voraus verschwand es hinter einem scharfen Vor sprung. Sun Koh blieb stehen und betrachtete prüfend die Umgebung. Da … Was war das dort vorn? Er blickte genauer und ging einige Schritte weiter. In die Felswand war eine Skulptur eingehauen, deutlich sichtbar. Sie ähnelte stark jenen Darstellun gen, die sie am Titicaca-See gefunden hatten, und stellte einen geflügelten Menschen mit einem Con dorkopf dar. »Atarasca warnt den Sohn der Sonne vor dem Condor.« Begann hier die Gefahr? Hatte nicht auch der In dio von einem Condor gesprochen, der die Stelle be zeichnen sollte, an der der Berg sein Opfer forderte? Aber konnte der Indio wirklich diese Stelle gemeint haben? Sun Koh machte seine Begleiter auf die Situation aufmerksam, vergewisserte sich, daß seine Pistole griffbereit war und ging schließlich weiter voraus. Nimba folgte ihm wie bisher am Seil in annähernd zehn Meter Abstand. In ihm arbeitete das unbehagli che Gefühl kommenden Unheils. Wachsam beobach tete er jede Bewegung Sun Kohs. Der kleinste Mus 84
kel in seinem Körper war bereit, blitzschnell zu Fels zu werden, falls es dort vorn ein Unglück geben soll te. Nimba wußte, daß seine Hinterleute zu schwach waren, um die Wucht eines jähen Sturzes abzufan gen. Wenn er nachgab, landeten sie alle zerschmet tert in der Tiefe. Auf ihn kam es an. Sun Koh setzte bedächtig Schritt vor Schritt. Das Felsband war kaum dreißig Zentimeter breit und ver engte sich in der Kurve noch einmal auf die Hälfte. Das machte ihm allerdings nichts aus. Er hätte sich auch sicher gefühlt, wenn es nur drei Zentimeter breit gewesen wäre. Er kam ungehindert bis an den Knick. Einen Au genblick stoppte er, um einen Blick in den gähnen den Abgrund zu werfen. Dann setzte er seinen Fuß weiter nach vorn. Ein Schritt, zwei Schritte … Als er das drittemal mit dem schweren Schuh den Boden berührte, war es, als bäumte sich der Pfad un ter ihm auf, als schnellte der Berg hoch, um ihn in die Luft zu werfen. Nimba sah Sun Koh ruhig und sicher schreiten, sah ihn einen Augenblick verharren und dann den gefährlichen Weg fortsetzen. Die Spur war breit ge nug. Er brauchte sich nicht zu beunruhigen. Der Tritt war sicher und fest. Aber da – was war das? Schnellte sich nicht Sun Koh plötzlich mit Gewalt hinaus? Wollte er etwa ab 85
sichtlich in den Abgrund springen? »Achtung, Nimba!« schrie Sun Koh ihm zu. »Sir!« stöhnte Nimba dumpf, dann wurde die rie sige Gestalt zu einem dunklen Felsblock, zu einem Stück Stein, das zum gewachsenen Fels zu gehören schien. Während Hal und Klaus Gorm sich auf den Boden warfen, um möglichst auch noch Nimba zu sichern, stürzte Sun Koh von dem schmalen Band herunter und fiel wie ein Stein in den Abgrund. In der näch sten Sekunde aber kam schon der mörderische Ruck, der Nimba in den Abgrund nachreißen wollte. Nimba stand –und dann pendelte der Körper Sun Kohs im schrägen Bogen an der Felswand entlang, schlug hart dagegen und schwang wieder zurück. »Pfad beobachten!« rief Nimba nach hinten. Gleich darauf war es, als käme ein höhnisches Ge lächter von jenseits der Kurve. Oder war es das E cho, das so täuschte? Nimba kümmerte sich nicht darum. Er holte mit seinen starken Armen das Seil herauf. Es dauerte nicht lange, da erschien der Kopf Sun Kohs auf der Pfadhöhe, und dann schwang sich Sun koh hinauf. Er hatte sich etwas aufgeschrammt, aber sonst hatte ihm der Sturz nicht weiter geschadet. Er drückte Nimba stumm die Hand. »Was war los, Sir?« fragte der Schwarze besorgt. »Wurden Sie angegriffen?« 86
Sun Koh schüttelte den Kopf. »Nein, angegriffen nicht. Andererseits weiß ich noch nicht recht, wie es zu dem Sturz gekommen ist. Es war kein Hindernis vorhanden. Ich hatte das Ge fühl, daß sich der Berg unter mir aufbäumte und mich in die freie Luft hinauswarf.« »Es sah so aus, als wollten Sie springen.« Sie schwiegen. Sun Koh blickte nachdenklich nach vorn. Nach einer Weile sagte er: »Ich werde es noch einmal versuchen. Paß gut auf, Nimba. Von deiner Standfestigkeit hängt alles ab.« »Sie dürfen sich auf mich verlassen, Sir«, versi cherte Nimba. Sun Koh schritt wieder vorwärts, erst verhältnis mäßig schnell, dann immer langsamer und vorsichti ger. Behutsam näherte er sich der gefährlichen Stelle. Alle seine Sinne waren aufs Äußerste angespannt. Sein Gefühl konzentrierte sich auf seine Füße. Die Gefahr kam von unten. Nimba sah, wie bewußt Sun Koh jeden Schritt be rechnete. Es war nach menschlichem Ermessen un möglich, daß sich ein Unglück ereignen konnte. Trotzdem schmiegte er sich schon jetzt fest mit dem Rücken an und stemmte seine Füße in den Fels. Der entscheidende Augenblick war gekommen. Sun Koh hob den rechten Fuß, setzte ihn langsam nieder und schwang den linken nach. Und wieder war es, als wollte er sich in die Luft schwingen. Und 87
doch war es ein Unterschied gegen vorhin. Die Be wegungen kamen langsamer, unter viel mehr Wider stand, fast wie eine Zeitlupenaufnahme. Aber selbst das genügte auf dem schmalen Band am abstürzen den Felsen. »Achtung!« rief Sun Koh von vorn. Er stürzte, baumelte in den Abgrund hinaus. Er versuchte sich zu halten und sich zurückzuwerfen. Seine Hände griffen im Fallen nach der scharfen Felskante, aber sie glitten daran vorbei, und dann fegte sein Körper im mörderischen Pendelschlag un ter Nimbas Körper hindurch. Nimba stand wie der Fels selbst. Eine Minute spä ter befand sich Sun Koh wieder neben ihm auf dem Pfad, auch diesmal nicht ernstlich verletzt. Sein Kör per hatte den Anprall am Felsen federnd abgefangen. Er winkte auch Hal und Gorm heran. »Dort vorn befindet sich eine merkwürdige Stel le«, erklärte er. »Der Berg bleibt selbstverständlich ruhig, aber die Bewegungsverhältnisse scheinen sich mit einem Schlag zu ändern. Habt ihr schon einmal etwas hochgehoben, das ihr für schwer hieltet, das sich aber dann als sehr leicht erwies? Man wendet unnötig viel Kraft an und verliert darüber fast die Balance. Oder seid ihr schon einmal im Dunkeln eine Treppe hinaufgelaufen und habt euch dabei um eine Stufe versehen? Man denkt, es kommt noch eine Stu fe, hebt das Bein entsprechend und setzt mit Druck 88
auf, und plötzlich entlädt sich der ganze Aufwand in die leere Luft, und man stürzt, weil keine Stufe vor handen ist.« »Kenne ich«, sagte Hal, und die anderen nickten. »Ich habe den Eindruck, daß sich die Schwerever hältnisse plötzlich ändern«, fuhr Sun Koh fort. »Der Körper wird leichter, etwa wie im Wasser. Man hat das Gefühl, daß man zehnmal so stark ist als sonst und daß die Muskeln in ungewöhnlicher Stärke ar beiten.« »Das wäre was für dich, Hal«, brummte Nimba, doch das trug ihm nur einen verächtlichen Blick ein. »Ich denke, daß ich nun die Kurve passieren kann«, schloß Sun Koh ab. »Ich glaube nicht, daß ich noch einmal stürzen werden.« »Sie wollen es noch mal versuchen?« Die anderen waren nicht eben begeistert. »Sicher.« Sun Koh nickte heiter. »Wir ändern jetzt jedoch die Reihenfolge. Du gehst an zweiter Stelle, Hal, Sie, Mr. Gorm, an dritter, und Nimba macht den Schluß.« »Aber …«, setzte Nimba protestierend an, doch Sun Koh fing ihn ab. »Schon gut, Nimba. Ich muß dir die schwerste Ar beit aufbürden. Unter Umständen mußt du uns alle drei halten.« »Ach, so ist das! Ich dachte schon, Sie trauten mir keine Kraft mehr zu.« 89
»Ruh dich nur ein bißchen aus«, stichelte Hal. »Ich werde die Sache schon managen, falls Sun Koh doch wieder stürzen sollte.« »Pah!« »Streitet euch nicht«, mahnte Sun Koh belustigt. »Hör zu, Nimba. Du wirst hier in diese Spalte deinen Pickel einrammen und dich auf alles gefaßt machen. Mein Plan ist folgender: Ich nehme euch beide bis dicht an die kritische Stelle mit vor. Dort verankert ihr euch ebenfalls. Falls wider Erwarten ein neuer Sturz kommen sollte, müßt ihr versuchen, mich ab zufangen. Wenn ich jedoch jenseits der Kurve festen Stand bekomme, folgst du zunächst nach, Hal, dann Sie, Mr. Gorm. Nimba bleibt, bis wir alle drei drüben sind. Und wenn es soweit ist, denkt an das, was ich sagte. Bewegt euch mit äußerster Behutsamkeit und geringstem Kraftaufwand. Jede heftige Bewegung läßt euch in die Luft fliegen oder doch wenigstens das Gleichgewicht verlieren. Das Seil wird straff bleiben, so daß niemand stürzt. Alles klar?« »Jawohl, Sir.« »Dann sichere dich, Nimba.« Nimba trieb den Eispickel mit voller Wucht in die Spalte hinein und preßte sich gegen die Wand. »In Ordnung, Sir.« »Dann vorwärts!« Dicht vor der Krümmung wies Sun Koh den bei den anderen ihre Plätze an. Der Weg war hier schon 90
bedenklich schmal, und der leiseste Schwindelanfall konnte zum Sturz führen. Sun Koh trieb einen der Pickel in eine Schrägspal te und überzeugte sich, daß er fest saß. Damit war alles Menschenmögliche getan. Selbst wenn es die beiden mit abrisse, würde Nimba seinen Platz be haupten. Nun ging er voraus. Es war mehr ein Schleichen als Gehen. Die Knie blieben gebeugt und weich. Nach zwei Schritten spürte er, wie sein Körper plötz lich leicht wurde, wie die geringfügige Arbeit seiner Muskeln schon zum Übermaß zu werden drohte. Un endlich vorsichtig zog er die Füße über den Boden. Sein geschärfter Instinkt nahm mit tausend feinen Fühlern die Witterung des Unbekannten in sich auf und stellte sich ein. Eisern bändigte der Wille die gewohnten Tätigkeiten des Organismus, bändigte jede natürliche Zuckung, die zum Verhängnis wer den konnte. Die Minuten vergingen langsam wie Ewigkeiten, zehn Meter Weg wurden zur Riesenstrecke. Dann ging die Felswand etwas aus der Senkrechten heraus, wurde schräg. Das schmale Band verbreiterte sich zu einer dreieckigen Platte. Sun Koh atmete auf. Hier konnte man wieder fest stehen und das Seil an einer der Felszacken sichern, was besonders wichtig war, denn noch immer wirkte die unbekannte Kraft. 91
Er blieb am Seil, schlang es aber mehrfach um ei nen geeigneten Zacken herum. Dann rief er den Jun gen. Es kam, wie es kommen mußte. Hal begann zu schleichen wie ein pflastermüder Droschkengaul, sprang plötzlich wie ein übermütiges junges Füllen und sackte ein Stück in die Tiefe. Da er straff zwi schen das Seil geklemmt war, konnte er sich schnell wieder aufrappeln und nun den Weg in einem gro tesken Mittelstil zwischen Kriechen, Fliegen und Stürzen weiter zurücklegen. Völlig verwirrt und ei nigermaßen blaß landete er schließlich neben Sun Koh. Bewunderungswürdig war, daß er trotz aller Schrecken keinen Laut von sich gegeben hatte. Klaus Gorm ging es nicht viel besser. Auch er wußte nicht mehr recht, was oben und unten war, als er auf der Platte ankam. Nun war Nimba an der Reihe, aber Sun Koh fürch tete, daß es unklug sein könnte, die Eispickel auf zugeben. Er verständigte daher den Neger und lief zunächst erst mal die Strecke am Seil zurück. Das ging sehr schnell. Es war mehr ein schwebendes Vorwärtshangeln als ein Gehen. Er brachte alle drei Eispickel herüber. Nimba, der nun angeschlichen kam, stürzte eben falls auf den ersten Anhieb. Aber bevor er in die Tie fe sausen konnte, holte Sun Koh das Seil mit einem kräftigen Ruck auf. Der Erfolg war verblüffend. 92
Nimba kam wie ein Känguruh durch die Luft gesaust und landete mit einem einzigen Satz auf der Platte, federte wie auf einem Trampolin mehrere Male auf Händen und Füßen auf und nieder, bis er unter Sun Kohs Nachhilfe endlich zur Ruhe kam. »Wie ein Grashüpfer«, urteilte Hal, der sich schon wieder richtig wohl fühlte. Nimba kam nicht mehr zu einer entsprechenden Antwort, denn schon schrie Klaus Gorm in höchstem Entsetzen: »Achtung! Dort oben!« Es geschah wohl unwillkürlich, daß er Nimba und Hal zugleich in den Felswinkel zurückriß, in dem er selbst hockte. Viel konnte es nicht helfen. An der mindestens mit 70 Grad Neigungswinkel anstehenden Felswand kam ein Steinblock herunter gesaust, groß genug, um ein Dutzend Menschen zu zermalmen. Wie die Faust des Todes stand er schwarz über den aufzuckenden Augen. Es blieb auch nicht eine Spur von Hoffnung, daß er das win zige Plateau verfehlen würde. Das war der Grabstein für alle vier. »Zwei Sekunden – eine Sekunde … In stummem Entsetzen duckten sich die Köpfe. Sun Koh stand frei, das Seil um den Leib, das wieder am Felszacken gesichert war. Und als der Block kam, warf er die Arme hoch. War es die verzweifelte, blinde Reaktion des Kör pers, die ihn dazu veranlaßte? Oder arbeitete sein 93
Instinkt, sein Bewußtsein mit derart unheimlicher Schärfe? Hatte sein Auge erfaßt, daß der Stein nur ein Bruchteil der Fallgeschwindigkeit besaß, der ihm in Anbetracht seiner Masse eigentlich eigen sein mußte? Es war vielleicht für ihn selbst ein Rätsel. Auf jeden Fall warf er die Arme hoch, stemmte sich gewissermaßen gegen das schmetternde Ton nengewicht und bewirkte eine kleine Richtungsver änderung. Und das scheinbar Unmögliche wurde Tatsache. Der Block zerdrückte Sun Koh und seine Begleiter nicht zu Brei, sondern wuchtete kaum schwerer als ein Zentnergewicht auf Sun Kohs stählerne Arme, schwenkte aus seiner Richtung heraus und sauste in die Tiefe weiter. Sun Koh selbst taumelte hinterher, aber das Seil riß ihn wieder zurück. Nach einer Weile sahen Hal, Nimba und Gorm ungläubig verwundert auf. Es dauerte Minuten, bis sie die Sprache wiederfanden, bis die Augen ihren Glanz zurückfanden. »Es ist gut abgelaufen«, beruhigte Sun Koh mit sanfter Stimme ihre rebellierenden Nerven, während er seine Armgelenke massierte. »Meine Arme sind etwas angegriffen, das ist alles,« ,,O Sir«, flüsterte Nimba schließlich, »ich dachte schon, es wäre aus. Wo ist der Felsblock hin?« Sun Koh wies stumm in die Tiefe. Auf den Ge 94
sichtern standen die Fragen jedoch so deutlich, daß er hinzufügte: »Der Stein unterlag den gleichen Ge setzen wie wir. Der größte Teil seines Gewichtes war einfach nicht vorhanden. Er fiel nicht, er schwebte mehr. Und da ich feststand, konnte ich ihn verhält nismäßig leicht aus seiner Richtung bringen.« Das Wunder wurde dadurch um nichts kleiner. Ir gend etwas Seltsames ging hier vor, das noch nie mand so recht begriff. Man grübelte auch nicht dar über, andere Dinge lagen näher. »Der Stein ist absichtlich geworfen worden«, sagte Gorm. »Irgend jemand will uns töten.« »Praxler?« Sun Koh nickte mit düsterer verschlossener Mie ne. »Der Unbekannte macht Ernst.« »Das Schwein!« rief Hal. In Sun Kohs Augen drohte ein gefährliches Feuer. »Ich kenne seine Gründe und Rechte nicht, aber wehe ihm, wenn ich ihn treffe und er kann sich nicht verantworten. Nun geht es natürlich erst recht vor wärts. Seid ihr noch widerstandsfähig genug?« Klaus Gorm antwortete mit ruhiger, freier Stimme: »Wir sind nur Menschen, Sir, und ich gestehe Ihnen offen, daß dieser Augenblick unter dem fallenden Stein die erbärmliche Kreatur in mir hat aufschreien lassen. Aber deswegen sind wir so mutig wie vorher. Im Gegenteil, jetzt erst recht.« 95
Hal und Nimba nickten Beifall. Da man noch immer unter der unbekannten Ein wirkung stand, gab Sun Koh von neuem genaue An weisung für das nächste Stück Weg. Nimba ging wieder als zweiter Mann an das Seil. Die Vorbesprechungen waren unnötig. Nach zwei Schritten hatte Sun Koh plötzlich das Gefühl, daß sein Körper unendlich schwer wurde. Er mußte sich schleunigst umstellen. Und da entdeckte er am Fel sen auch wieder eine Condor-Skulptur. Die gefährliche Zone war durchschritten. * Nach zwei Stunden, die zum überwiegenden Teil mit fortwährender Sicherung und nur zum kleinen Teil mit bergsteigerischen Schwierigkeiten ausgefüllt wa ren, gelangten die vier Männer überraschenderweise in ein kesselartiges Plateau, das nur hundert Meter unterhalb des Gipfels lag und sich von diesem bis zu einem scharfen Grat ausdehnte. Der Weg hörte auf. Die Mulde war mit Eis gefüllt. Aber über das Eis lief eine Spur – unverkennbar die Abdrücke mensch licher Füße. Es war nicht ersichtlich, wohin sie füh ren sollte, aber Sun Koh folgte ihr ohne Zögern. Führte sie nicht zum Gipfel, dann vielleicht zu dem geheimnisvollen Menschen, der hier oben hauste. 96
Nach einer Viertelstunde standen sie vor einer er staunlichen Entdeckung. Das Eis hörte mit einem Schlag auf, fiel senkrecht ab. Sie standen am Rand eines Loches, wobei man die Bezeichnung nicht allzu wörtlich nehmen darf. Es war, als habe jemand mit einem Riesenmesser aus dem zähen Kuchen des ewigen Eises ein viereckiges Stück von annähernd fünfzig Meter Kantenlänge he rausgeschnitten. Über zwanzig Meter tief ging es hinab. Unter aber befand sich ein blühender Garten. Die Männer wischten sich unwillkürlich über die Augen und wandten den Kopf, um festzustellen, daß sie sich tatsächlich noch inmitten der Öde des Hoch gebirges befanden. Denn dort unten grünte und blühte es wundervoll wie auf dem gesegnetsten Stück Erde. Bäume waren nicht da, wohl aber Sträucher mit Beeren, Blumen mit bunten Farbflecken, ein Stück fast reifen Korn feldes, kürbisähnliche Gewächse, verschiedene Ge müse. Ein wahrhaft zauberhafter Anblick. Und mittendrin stand ein kleines Gebäude. Vier Mauern, die aus mächtigen Felsquadern gefügt schienen und den Eindruck machten, als stünden sie Jahrtausende. Auf ihnen lag ein fast nagelneues Dach, waagrecht aus Brettern zusammengefügt und mit Dachhaut gedeckt. Neben dem Häuschen lag ein wirrer Haufen ir 97
gendwelcher Metallteile, von dem noch keine Ein zelheiten festzustellen waren. Aus dem Dach ragte eine lange Metallstange, die mit dünnen Drähten nach vier Seiten verspannt war. Von der Spitze der Stange gingen hauchdünne, schleierartige Gebilde nach den Eiswänden. Sie wa ren vollkommen durchsichtig, nur ein feines Flirren und Glitzern verriet ihre Anwesenheit. Sie wirkten wie dünnes Quarz und doch auch wieder so weich wie Spinnweben. Am genauesten traf wohl Gorm ins Schwarze, als er sagte: »Wenn es keine Sinnestäuschung ist, dann sieht es so aus, als ob sich ein Sonderling, der im Be sitz einer unbekannten Erfindung ist, ausgerechnet hier oben ein Treibhaus angelegt hat.« »Wenn Ihre Vermutung stimmt«, sagte Sun Koh, »bleibt eins doch unerklärlich.« »Nämlich?« »Sehen Sie«, sagte Sun Koh nachdenklich, »daß einer diese Eisschicht aufschmilzt, die erforderliche Wärme schafft und was der Dinge mehr sind, ist er staunlich, aber zur Not begreifbar. Aber woher hat er das Erdreich? Die Pflanzen können doch nicht auf dem nackten Fels wachsen. Hier unter dem Eis gibt es aber unmöglich natürlichen Humusboden, der würde erst in jahrhundertelanger Verwitterung ent stehen. Entweder hat es dieser Mann tatsächlich fer tiggebracht, mehrere hundert Tonnen Ackererde hier 98
heraufzuschaffen oder …« Er zuckte mit den Schultern und schwieg. Es gab einfach keine Antwort auf diese Frage. Dicht vor den Männern führten Stufen im Eis in die Tiefe. Sie schritten hinab, nachdem sich unten auf wiederholte Rufe nichts geregt hatte. Dabei be kamen sie Gelegenheit, das schleierartige Gespinst zu berühren, das bis dicht an die Treppe heranreichte. Es faßte sich wie äußerst dünne Metallfolie an. Man fühlte so wenig von ihm wie man sah, aber trotzdem gelang es Sun Koh nicht, auch nur einen Millimeter davon abzureißen. Sun Koh kam als erster direkt unter den Schleier. Er taumelte, bewahrte sich nur mit Mühe vor dem Sturz und schrie: »Bleibt stehen, es geht uns wie vor hin!« Nimba stemmte sich sofort ein und straffte das Seil, denn immerhin waren es noch über zehn Meter bis hinunter, und ein Sturz hätte unangenehme Fol gen haben können. Sun Koh trat behutsam hinunter. Es wunderte ihn nicht, daß die nächste Stufe bereits aus Stein bestand, ebenso die folgenden. Sein Körper glich sich den veränderten Verhältnissen schnell an. So gelangte er bald nach unten. Denkbar vorsichtig kamen die anderen auf Händen und Füßen nach. Hier unten herrschte ein Wärme, die gegenüber 99
der starren, fauchenden Kälte auf dem Eis geradezu tropisch schien. Sie rissen sich sofort die Schneebril len herunter und gaben dem Körper Luft. Dann gin gen sie auf das Haus zu. Es war ein seltsamer Zug. Nur Sun Koh ging leid lich normal, die anderen taumelten und hüpften auf und nieder und kamen nicht recht ins Gleis. Für Hal war diese merkwürdige Schwerelosigkeit bald ein gefundenes Fressen, zumal ja absolut keine Gefahr bestand. Er machte einen kleinen Satz und stand ohne jegliche Mühe bei Nimba auf den Schul tern, so daß dieser aus seiner bedachtsamen Rolle fiel und infolge seiner jähen Bewegung nun gleich zehn Meter entschwebte. »Mach deinen Mund zu«, sagte Hal grinsend, »sonst rutscht dir schließlich das Gehirn fort.« Der Neger hielt sich krampfhaft an einem Strauch fest und knurrte gehässig: »Dann reiß dein Maul nur recht weit auf, vielleicht hast du Glück, daß dir ein bißchen Hirn hineinfliegt.« Sun Koh und Gorm lachten über die beiden Streit hähne, aber sie prüften zugleich sorgfältig ihre Um gebung. Die Pflanzen machten alle einen etwas fremdartigen Eindruck, aber sie waren echt und stan den auch in weichem, unverkennbar lehmigem Erd reich. Nirgends war eine Menschenseele zu erblicken. Der Eindruck des Hauses war aus der Nähe der 100
gleiche wie aus der Ferne: uralte Steinmauern, ein modernes Dach. Dazu kam als neue Entdeckung eine Art Tür, die aus einem in Haken gehängten Stück Zeltbahn bestand. Die erste Beobachtung, die sie beim Eintreten in das Haus machten, war die, daß sich hier die Schwerkraftverhältnisse abermals änderten. Sie wur den nicht wieder normal, aber man war auch nicht mehr so leicht wie draußen. Das Innere des Hauses bestand aus einem einzigen großen Raum und einem schmalen Nebenzimmer. Der große Raum war einfach eingerichtet, aber es konnte kein Zweifel darüber bestehen daß hier ein Mensch hauste. Eine steinerne Lagerstatt mit einigen Wolldecken, ein glatter Felsblock, der als Tisch die nen mochte, ein rohgezimmerter Holzschemel, einige Regale aus Stein und einige aus Holz mit Schachteln, Dosen und Konservenbüchsen, eine Reihe völlig un bekannter Apparate im Hintergrund. Das war so ziemlich das Wichtigste, was den Männern auf den ersten Anhieb auffiel. Und dazu kam noch etwas. An der Wand, die das Nebenzimmer abtrennte, war riesengroß dieselbe Skulptur in die Quader ein gehauen, die sie nun schon wiederholt gesehen hat ten: der geflügelte Mensch mit dem Condor-Kopf, in der gebeugten Hand den mehrteiligen Stab, den man für ein Zepter halten konnte. Das war eine Bildhau erarbeit, die sicher ebenso alt war wie jene unten am 101
Titicaca-See, wenn sie nicht gar von der gleichen Hand stammte. Außerdem war da ein Buch, das auf dem Stein tisch lag, genauer genommen ein Heft mit schwar zem Umschlag, wie man es bei jedem Schreibwaren händler kaufen kann. Die Blätter dieses Heftes waren zum Teil mit Notizen bedeckt. Und ganz vorn stand auf der Innenseite der Name des Besitzers, groß und ungeschlacht: Praxler. Sie erkannten auf den ersten Blick, daß der Schreiber dieser Notizen der gleiche Mann war, der ihnen die Drohung ins Lager geschickt hatte, sicher auch der gleiche Mann, der den Felsblock ins Rollen gebracht hatte. Nimba und Hal drängten herein. »Es gibt tatsächlich Tomaten hier«, verkündete der Neger strahlend. »Laß lieber die Finger davon«, warnte Sun Koh. »Erstens gehören sie nicht uns und zweitens ist über haupt nicht sicher, ob sie dir gut bekommen. Geh zur Treppe vor und halte Wache. Der Besitzer kann jeden Augenblick zurückkommen.« »Jawohl, Sir.« Nimba verschwand wieder, und Hal schloß sich ihm an. Die beiden Männer waren allein. Ihr ganzes Interesse konzentrierte sich auf das Heft. Hier drin mußte einiges über die Geheimnisse des Einsiedlers stehen. 102
»Ein merkwürdiges Gemisch«, sagte Sun Koh, als er es durchblätterte. »Ein Teil ist in deutscher Spra che abgefaßt, ein anderer in französisch, das meiste weist jedoch Worte und Sätze auf, die durchaus ver ständlich sind. Der Mann muß noch eine Geheim sprache verwenden, je nach Lust und Laune. Dieser Praxler …« »Halt«, rief Klaus Gorm dazwischen, »jetzt fällt mir ein, wo ich den Namen schon mal gehört habe. Einer meiner Professoren erwähnte ihn einmal. Er sprach von einem Schweizer Gelehrten namens Prax ler, der völlig neue Theorien in bezug auf die Gravi tationslehre, also in bezug auf die Schwerkraft und die Anziehung der Erde aufgestellt habe. Richtig, jetzt weiß ich es ganz genau. Der Mann wurde halb für irrsinnig gehalten und wegen seiner ersten Veröf fentlichung derartig ausgehöhnt, daß er nie wieder von sich hören ließ. Ich glaube noch die Verachtung zu hören, mit der mein Professor davon sprach, daß jener Mann die Ursachen der Schwerkraft nicht in der Anziehung der Erdmassen suche, sondern in au ßerirdischen kosmischen Strahlungen.« »Es wäre merkwürdig, wenn wir diesen Mann hier finden würden. Aber wundern wird es mich kaum. Der ganze Spleen hier oben riecht nach Verdrehung und zugleich nach Genie. Wir wollen sehen, was er schreibt.« Er schlug das erste Textblatt auf. Oben stand 103
wuchtig hingemalt ein Datum mit dem Vermerk: »Unter den Schleiern des Condors.« Auf dem zweiten Blatt stand ein Satz: »Vor zehn Jahren verlachte und verspottete mich die Zunft we gen meiner Theorie von der kosmischen Strahlung. Heute suchen sie wie irrsinnig hinter das Geheimnis der Höhenstrahlen zu kommen.« Auf der Gegenseite kam gewissermaßen die Er gänzung: »Laßt die Kerle suchen; mir haben sie das Schweigen beigebracht.« Dann kam ein zusammenhängender Text in deut scher Sprache: »Vor einem Jahr kam der Fremde mit dem schmalen Gesicht und den leuchtenden Augen zu mir. Ich warf ihn hinaus, bevor er noch drei Worte sagen konnte. Er kam wieder, bis ich ihn anhörte. ›Antonius Praxler‹, sagte er zu mir, ›Sie haben sich seit langem mit der kosmischen Strahlung be schäftigt.‹ Ich hatte keine Lust, mich abermals von einem Menschen zum Narren halten zu lassen, und sagte ihm das deutlich genug. Da lächelte er, und von da an war er mein Freund. Es war das erstemal, daß mir das Lächeln eines Menschen gefallen hat. ›Ihre Theorien sind mit höchster Wahrscheinlich keit richtig‹, sagte er. ›Ich erfuhr leider erst jetzt von Ihnen und komme nun, um Ihnen eine Gelegenheit zu geben, Ihre Forschungen unter günstigeren Be dingungen fortzusetzen.‹ 104
›Ich brauche kein Geld‹, erwiderte ich ihm grob. Er schien sich zu amüsieren. ›Sie sollen auch keins erhalten. Kennen Sie den Berg Sorata in den südamerikanischen Anden?‹ ›War noch nie dort‹, gab ich zur Antwort. ›Sie sind ein ausgezeichneter Bergsteiger‹, fuhr er fort. ›Sie werden sich dorthin begeben und den Berg besteigen. Es wird Ihnen sicher gelingen.‹ Es stimmt, daß ich ein leidlicher Bergsteiger bin. Man lernt es, auf die Gipfel zu gehen, wenn man von dem Menschenpack nichts sehen will. Aber daß er so einfach über mich bestimmen wollte, paßte mir durchaus nicht. Das bekam er auch zu hören. Ich ha be noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Er lächelte jedoch nur sanft. ›Das ist Ihre Sache, Antonius Praxler. Falls Sie aber noch genügend Unternehmungslust aufbringen sollten, werden Sie hundert Meter unterhalb des Gip fels eine Mulde finden und in deren Mitte eine eis freie Stelle mit warmen Klima und allerlei Pflanzen wuchs, eine Art verwildertes Treibhaus. Über dieser Stelle liegen vermutlich dünne, glasartige Schleier. Lösen Sie das Geheimnis dieses grünen Flecks und dieser Schleier, und Sie werden alles über die kosmi sche Strahlung wissen.‹ ›Sie sind verrückt‹, meinte ich laut. Es störte ihn nicht. ›Sie werden einen gangbaren Pfad finden, der hi 105
naufführt. Achten Sie auf die Felswände. Sobald sie das Zeichen des Condors bemerken, binden Sie sich an jeden Fuß einen Viertelzentner Blei und seien Sie äußerst vorsichtig bis zur nächsten Felszeichnung. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß die Wahrscheinlichkeit des Absturzes an diesen Stellen fast hundertprozentig ist.‹ ›Klettern sie selbst hinauf‹, sagte ich zu dem merkwürdigen Menschen. ›Ich bin kein Bergsteiger‹, meinte er mit seinem rätselhaften Lächeln. ›Vergessen Sie also nicht, daß die Schleier des Condors das Geheimnis der Höhen strahlung bergen. Versuchen Sie, es zu enthüllen. Und wenn Sie einmal dort sind, können Sie sich gleich um die Geheimnisse des Titicaca-Sees küm mern.‹ ›Ich denke nicht daran‹, schnauzte ich ihn an. ›Leben Sie wohl, Antonius Praxler‹, sagte er ruhig und ging. Ich habe die Tür wütend hinter ihm zugeschlagen, aber der Mann hatte mir tatsächlich einen Floh ins Ohr gesetzt. Es war aus mit mir, bis ich endlich mei ne Koffer packte.« Soweit gingen die Aufzeichnungen in deutscher Sprache. Nun folgten viele Seiten in der unverständ lichen Schrift. Zwischendurch stand einmal ein fran zösischer Vermerk: »Verfluchte Schinderei, aber es lohnt sich.« 106
Dann kamen wieder deutsche Sätze: »Wer brachte die Schleier des Condors auf die Erde? Ich habe meine Untersuchungen nun fast ganz liegen lassen, um dieser Frage nachzuspüren. Ich war unten auf der Insel, aber trotz allem finde ich auch dort keine Lö sung, wenigstens vorläufig nicht. Die Schleier sind Produkte einer Wissenschaft und Technik, die der irdischen Gegenwart um Jahrtausende voraus ist. Gab es auf der Erde schon einmal ein Volk, das so weit war? Und wenn nicht, wer brachte dann die Schleier hier herauf? Sie befinden sich seit Jahrtau senden hier oben. Waren es überhaupt Menschen? Zumindest müssen es menschenähnliche Wesen gewesen sein. Sie besaßen eine Art Flugapparat, des sen anscheinend für alle Ewigkeit sich nicht verän dernden und nicht rostenden Einzelteile draußen lie gen. Sie lebten absichtlich lange Zeit auf dieser Höhe. Etwa deshalb, weil die dünne Luft ihrem Organismus entsprach? Kamen sie von einem Weltenkörper mit dünnerer Atmosphäre? Sie haben sich hier oben einen Bezirk geschaffen, in dem die irdische Schwerkraft teilweise aufgehoben wurde. Er steht noch heute, die Schleier trotzten allem Sturm, Eis und Schnee. An den beiden einzigen Stellen, die bergabwärts wirk lich gefährlich sind, haben sie oben in die Felswand Spalten gebrochen und die Schleier eingespannt, so daß an diesen Stellen die Erdschwere verändert wur de (zu einem Zustand, der für sie normal war?). 107
Aber sie müssen allmählich vom Berg aus auf das Plateau des Titicaca-Sees gezogen sein. Geschah das, nachdem sie – vielleicht erst in Generationen – ihre Körper an die veränderten Verhältnisse angepaßt hat ten? Wo kamen sie her? Waren es gestrandete Welt raumschiffe? Die Reise durch den Kosmos muß leicht sein für ein Volk, das die überall wirksamen Strahlen als Triebkraft nutzbar zu machen versteht. Liegt in den Schleiern des Condors die Erklärung dafür, daß dort unten vor Jahrtausenden so gewaltige Steinmassen bewegt wurden, ohne daß wir heute mehr als eine klägliche Vermutung für die bewegen den Kräfte haben? Rätsel über Rätsel, und jede Lö sung läßt neue entdecken.« Sun Koh ließ das Heft sinken und flüsterte nach denklich: »Er hat recht: Rätsel über Rätsel.« Klaus Gorm machte einen krampfhaften Versuch zu lächeln. »Ich glaube, ich kann meine Untersuchungen ein stellen. Sie sind völlig zwecklose Spielerei. Ich wer de diesen Mann bitten, mich in die Lehre zu nehmen. Meine Höhenstrahlungen sind das, was er kosmische Strahlen nennt. Und er weiß bereits so viel über sie, wie ich in hundert Jahren nicht erfahren werde.« Sun Koh sah ihn aufmerksam an und sagte sanft: »Klaus, Sie sind verzweifelt?« Über das Gesicht des jungen Mannes ging ein Zu cken, dann brach er heraus: »Ja, ich bin es. Nichts hat 108
mich stärker erschüttert als dieser dürftige Einblick in die Arbeit des Antonius Praxler. So ungefähr muß einem Dichter zumute sein, der mit Liebe und Mühe ein Werk geschaffen hat und plötzlich das Werk ei nes Größeren über den gleichen Stoff kennenlernt, dem gegenüber seine Arbeit nur ein schäbiges, kümmerliches Plagiat ist. Ich bin mit Leib und Seele Wissenschaftler. Und ich werde nicht eher ruhen, als bis ich die Erkenntnisse jenes Mannes zu meinen ei genen gemacht habe.« »Nichts ist fanatischer als der Drang zum Wis sen«, erwiderte Sun Koh ruhig. »Versuchen Sie es. Vielleicht braucht Praxler doch einen Schüler?« In Klaus Gorm kämpfte es. »Ich gehöre zu Ihnen«, sagte er schließlich. Sun Koh lächelte gütig. »Das schließt das andere nicht aus.« In diesem Augenblick kam Hal hereingepurzelt. »Sir!« rief er aufgeregt. »Sir! Auf dem Berg ruft jemand um Hilfe. Nimba schickt mich. Von der Treppe aus hört man’s ganz deutlich.« »Praxler?« riefen beide Männer fast gleichzeitig. Sie eilten hinaus, dachten nicht mehr an die Schwerkraftveränderung und stürzten, aber dann ging es um so schneller. Mit zwei Riesensprüngen war Sun Koh an der Treppe angelangt, ein weiterer Satz brachte ihn neben Nimba, der schon außerhalb des Schleiers am oberen Rand stand. Die neue Ver 109
änderung schmetterte Sun Koh förmlich zu Boden, aber in wenigen Sekunden hatte er sich wieder auf die normalen Verhältnisse eingestellt und bewegte sich mit der gewohnten elastischen Sicherheit. Nimba berichtete: »Ein Hilferuf in regelmäßigen Abständen von zehn Sekunden sechsmal hinterein ander, dann eine Minute Pause, dann wieder sechs mal in gleichem Abstand, dann wieder Pause.« »Das ist das alpine Notsignal«, sagte Klaus Gorm, der eben mühsam heranhetzte. Der erste langgezogene Ruf. Er kam aus weiter Entfernung, aber deutlich hörbar. Unverkennbar eine Männerstimme. Nach zehn Sekunden der zweite Ruf. »Wir wollen Antwort geben«, sagte Sun Koh und zog die Pistole. Der erste Schuß krachte hinaus. Sie fanden den Verunglückten zweihundert Meter oberhalb der Stelle, die sie selbst nur unter großen Schwierigkeiten passiert hatten. Die Wand stand hier fast völlig senkrecht und glatt, machte dabei aber ei nen scharfen Knick, der sich nach zehn Metern wie derholte, so daß es fast aussah, als sei aus der senk rechten Wand eine dreieckige Säule, ein halber Ka min herausgeschnitten worden. Sun Koh und seine Freunde hatten sich auf die Oberkante des Felssturzes vorgearbeitet, bis sie sich direkt über dem Verunglückten befanden. Sie sahen 110
jetzt, daß über der oberen Mündung des dreieckigen Einschnitts ebenfalls ein glasartiger Schleier ge spannt war, auf dem noch nicht einmal Schnee und Eis lagen, obgleich es daran hier oben nicht fehlte. Der Fremde lag nur zehn Meter unterhalb auf ei nem kurzen Simsstück, dicht neben dem Einschnitt, genau über der Stelle, an der sich weiter unten die kleine Platte befand. Nimba, Gorm und Hal verankerten sich. Sun Koh legte sich am Seil vor und rief den Mann an: »Sind Sie verletzt?« Er rührte sich nicht, aber seine Stimme kam klar und deutlich heraus: »Ich habe mir das Bein gebro chen. Seid ihr die vier, die vorhin hier unten herum kletterten?« »Ja.« »Dann schert euch zum Teufel und laßt mich in Ruhe krepieren.« Der Mann war hünenhaft gebaut und wog unge fähr zwei Zentner. Die Konturen in seinem Gesicht waren grob und derb, wie mit dem Meißel herausge schlagen, und die Haut spannte sich in verwittertem Rot darüber. »Warum?« erkundigte sich Sun Koh, während er Nimba das Zeichen zum Abseilen gab. »Ich habe euch vorhin den Brocken auf den Kopf geworfen. Ihr habt es nicht mir zu verdanken, wenn ihr noch lebt.« 111
»Das wird uns nicht abhalten, Ihnen zu helfen«, entgegnete Sun Koh und stellte sich vorsichtig neben den Mann. »Rechts oder links, oben oder unten?« »Rechter Unterschenkel«, sagte der Mann wider willig. »Zwei Eispickel und Binden!« rief Sun Koh hin auf. Sie kamen nach einer kleinen Weile am anderen Seilende herab geschlenkert. Sun Koh legte mit ihrer Hilfe eine Notschiene an. Er arbeitete schnell und sicher, aber schweigend. Es fiel kein Wort zwischen den beiden Männern. Erst als er fertig war, sagte er: »Ich nehme Sie über meine Schulter und schaffe Sie hoch. Halten Sie Ihren Körper schlaff.« »Wozu die Umstände?« Sun Koh hob ihn statt einer Antwort behutsam auf, hielt ihn einen Augenblick mit ausgestreckten Armen waagerecht über den Abgrund und legte dann den baumstarken Kerl wie ein kleines Kind über seine linke Schulter. Dort hielt er ihn mit einem Arm fest. Mit dem anderen packte er das Seil, das natürlich auch noch an seinem Körper befestigt war. Ein Ruf nach oben, und dann ging es hinauf. Nimba zog, und Sun Koh stemmte sich von der senkrechten Wand ab und lief sie hinauf, als sei es waagerechter Boden. Oben erkundigte er sich bei dem Verunglückten: »Ist es Ihnen recht, wenn wir Sie nach oben in Ihre Behausung schaffen, oder wollen Sie ins Tal?« 112
Der andere warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und brummte: »Ihr habt also doch schon herumge stöbert. Dann bringt mich halt hinauf.« Nimba übernahm die Spitze, Sun Koh folgte als zweiter mit seiner Last. Der Weg bot keine besonderen Schwierigkeiten mehr. Nur das Eindringen in den Felsengarten gestal tete sich noch etwas schwierig und mußte mit viel Vorsicht vor sich gehen, damit die plötzliche Ge wichtsveränderung dem Verwundeten nicht schadete. Es gelang infolge der außergewöhnlichen Kräfte Sun Kohs und seines feinen Anpassungsvermögens, ihn erschütterungsfrei in seine Hütte zu bringen. Endlich konnte er auf dem Deckenlager niedergelegt werden. Jetzt nahm sich Sun Koh des gebrochenen Beines sorgfältiger an. Er schiente es so sorgfältig, wie es mit den vorhandenen Mitteln nur irgend mög lich war. Praxler verharrte in dumpfem, abwehrendem Schweigen. Seine Lippen waren zusammengepreßt, und seine Augen blieben fast immer geschlossen. Er gab nicht den geringsten Laut von sich. Als Sun Koh fertig war, setzte er sich auf den Rand des Lagers und begann von sich aus in ruhigem Plauderton: »So, ich denke, Ihr Bein wird in einigen Wochen wieder völlig in Ordnung sein. Nun erzählen Sie uns einmal, wie Sie es mit Ihrer Verpflegung und anderen Dingen gehalten haben. Bis auf weiteres 113
müssen Sie ruhig liegen bleiben und sich betreuen lassen.« Der Mann schlug die Augen auf und sagte kalt und finster: »Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich werde mir schon zu helfen wissen. Wenn Sie mir einen Ge fallen tun wollen, so verschwinden Sie so schnell wie möglich.« Sun Koh mußte lächeln. »Sie sind ein Einfaltspinsel, Praxler. Die Men schen haben Ihnen vor Jahren einmal wehgetan, und nun trotzen Sie ein Leben lang wie ein schmollendes Kind.« War es das Lächeln oder waren es die leuchtenden Augen des Jünglings, die den Mann so betroffen machten. Er schwieg, aber in seinen groben Zügen arbeitete es. Nach einer Weile knurrte er: »Die Men schen sind ein widerliches Pack.« Wieder lächelte Sun Koh. »Besonders wenn sie mit Steinen werfen, nicht wahr? Bezogen Sie Ihre Mutter ebenfalls in diese Bezeichnung ein?« Minutenlang währte der Kampf, der sich im Ge sicht Praxlers widerspiegelte. Dann streckte er seine Hand aus und sagte mit einem tiefen Aufatmen: »Sie haben recht. Ich war zu einseitig. Sie haben mir das Leben gerettet, obwohl ich auf das Ihre aus war. Ich danke Ihnen.« Sun Koh drückte Praxlers Hand. 114
»Warum wollten Sie uns den Weg versperren?« »Ich wollte keine Menschen sehen. Hier oben be finden sich einige Dinge, die keine neugierigen Schnüffler vertragen können. Außerdem hielt ich Sie für einige von den Narren, die ihr Geld rausschmei ßen, um die neueste Mode mitzumachen.« »Die neueste Mode?« »Es gibt auch in der Wissenschaft Moden. Zu de nen scheint zur Zeit Höhen- und Erdstrahlung zu ge hören. Es geht um geschäftliche Erfolge, die der Wissenschaft mehr schaden als nützen.« »Was sagen Sie dazu, Mr. Gorm?« fragte Sun Koh. »Herr Praxler sieht das etwas einseitig.« »Wieso, junger Mann?« grollte Praxler. »Es mag Ihnen komisch vorkommen«, sagte Gorm, »aber es gibt tatsächlich noch Wissenschaft ler, die mit dem gleichen Eifer und dem gleichen heißen Bemühen wie Sie hinter den Geheimnissen der Natur herspüren. Ich bin hierher gekommen, um die Eigenschaften der Höhenstrahlung zu erforschen. Ihr Vorteil ist der, daß Sie wissen, was hier oben zu finden ist. Hätten Sie Ihr Wissen nicht so krampfhaft für sich behalten, brauchte unsereiner nicht erst im Dunkeln herumzutappen.« »Ich habe meine Gedankengänge veröffentlicht«, sagte Praxler, »aber wahrscheinlich haben Sie sie gelesen und darüber gelacht und gespottet.« 115
»Kein Wort habe ich gelesen«, entgegnete Gorm. »Das einzige, was ich vor Jahren von Ihnen hörte, war eine kurze Andeutung, die mich nicht veranlas sen konnte, nachzuforschen. Sie wissen so gut wie ich, daß von Ihrer damaligen Schrift wahrscheinlich keine einzige mehr erreichbar sein wird. Man hat sie ausgelacht, Herr Praxler. Seitdem sind bald zwei Jahrzehnte vergangen. Ich gehöre einer anderen Ge neration an als Sie. Unsere Zeiten sind schwerer, un sere Mittel gering, aber unser Forschungsdrang ist ernsthaft und gründlich wie nur irgendeiner. Sie mö gen mich und meinesgleichen allenfalls der Unwis senheit beschuldigen, tun Sie aber mehr, so sind Sie ein selbstgerechtes …« Er hielt inne, aber Praxler vollendete ruhig: »Ekel, nicht wahr? Und Sie sind ein Grobian, aber Sie gefal len mir. Es scheint doch noch Kerle zu geben. Ihr Name?« »Klaus Gorm«, sagte der junge Deutsche und drückte die dargereichte, klobige Hand. Sun Koh machte nun auch gleich sich und die an deren bekannt. »Leben Sie schon lange hier oben?« fragte er dann. »Fast ein Jahr. Sie haben mein Tagebuch gele sen?« »Ja, soweit es lesbar war«, gab Sun Koh freimütig zu. 116
Praxler sah ihn nachdenklich an. Schließlich sagte er: »Nun, dann sind Sie ja so ziemlich im Bilde. Ich habe schwer gearbeitet hier oben. Als ich hoch kam, war hier Wildnis. Ich habe den Garten draußen ge schaffen und außerdem ein gutes Teil der Rätsel ge löst, die hier stecken. Das heißt – gelöst? Das ist na türlich Unfug. Entdeckt allenfalls und mir Gedanken darüber gemacht, mehr nicht. Ich bin noch am An fang der Arbeit, weiß gerade zur Not, daß die schlei erartigen Gebilde die Schwerkraftstrahlen abfangen oder verstärken, je nachdem von welcher Seite man die Geschichte betrachtet, daß die Aktivierung von Wärme dabei erfolgt und noch einige Kleinigkeiten. Es waren zu viele Nebenarbeiten in der ersten Zeit.« »Wie sind Sie überhaupt allein über die Sperre des Condors gekommen?« Auf Praxlers Gesicht erschien ein stolzes Lächeln. »Das war meine schwerste und schönste bergstei gerische Leistung. Sie haben’s ja auch fertig ge bracht. Ich habe es ähnlich gemacht wie Sie, nur hielt bei mir nicht ein Mensch das Seil, sondern ein star ker Stahlhaken, den ich in den Felsen rammte. Wenn Sie zufällig den kleinen Geröllhaufen unter dem Con dor beiseite gestoßen hätten, wäre er Ihnen aufgefal len. Ich sicherte daran das Seil und ging vor. Fünfmal sauste ich in die Tiefe, dann hatte ich den Bogen her aus. Heute gehe ich zwar an dieser Stelle auch noch mit Seilsicherung, aber ich fühle mich sicher.« 117
Sun Koh konnte am besten ermessen, was es für eine Leistung gewesen war. Der Mann mußte über allerhand Zähigkeit und Energie verfügen. Nimba brachte einen zubereiteten Imbiß. Im Laufe des Tages wurde noch viel gesprochen. Praxler taute allmählich auf. Er erwies sich als ein grober Klotz, der aber im innersten Wesen gutmütig war und sogar einen guten Schuß Humor besaß. Die grenzenlose Verbitterung und Menschenverachtung fiel wie ein Eismantel von ihm ab. Er genoß seit lan gen Jahren zum erstenmal wieder die Gesellschaft von Menschen wie ein trockenes Land den ersten Regen. Über die Einzelheiten seiner wissenschaftlichen Untersuchungen schwieg er sich jedoch aus. Er ver suchte aber wenigstens, eine Erklärung zu geben, als das Gespräch eine verfängliche Wendung nahm. »Sehen Sie«, sagte er, »wenn ich darüber zu Laien sprechen würde, wäre das, als wollte ich etwas Un geborenes gewaltsam ans Licht zerren. Es ist noch viel zu viel Annahme dabei. Ahnung und Hoffnung, und es widerstrebt mir, darüber zu spekulieren. Das hieße, einen Hufnagel finden und das Maul aufrei ßen, als ob man bereits auf dem dazugehörigen Pferd säße.« »Es würde mir ganz ähnlich gehen«, stimmte Klaus Gorm zu. »Was ich weiß«, fuhr Praxler fort, »läßt sich allen 118
falls in Zahlen, Berechnungen und wissenschaftli chen Begriffen angeben, nicht aber in der Sprache des Laien. Wenn Sie länger hierbleiben, können Sie sich ja einmal in meine Gedankengänge und Feststel lungen einarbeiten, Herr Gorm.« Der junge Deutsche holte tief Atem. Er wußte das Angebot zu würdigen, zumal von diesem Mann. »Ich wollte Sie ohnehin bitten, Ihnen helfen zu dürfen«, sagte er leise. »Meine eigenen Untersu chungen sind gegenstandslos. Einer von uns muß sowieso hier oben bleiben, bis Ihr Fuß wieder in Ordnung ist. Das möchte ich sein. Ich hoffe, daß Sie in der Zeit meinen guten Willen und die sonstigen Vorbedingungen prüfen können.« Praxler zwinkerte. »Sie sprechen wie ein sanfter Heinrich, mein Lie ber, aber ich habe Sie stark im Verdacht, daß Sie meinen alten Kopf in kurzer Zeit abhalftern. Sie se hen mir verflucht gescheit aus, aber bilden Sie sich keine Schwachheiten darauf ein: Antonius Praxler macht Ihnen schon noch was vor.« »Hoffentlich«, sagte Gorm nun lächelnd. Praxler streckte seine Pranke hin und sagte: »Ver suchen können wir ja, ob es klappt.« 5. Zwei Tage später senkte sich das Flugzeug mit Sun 119
Koh, Hal und Nimba in das Quitarasca-Tal hinein, in dem Atarasca Sun Koh erwartete. Es war gegen A bend. Ringsum auf den Berggipfeln flammten Feuer auf, Signale, die durch die sinkende Nacht lohten. Das Quitarasca-Tal, in dem Atarasca wohnte, lag zwischen den Oberläufen des Apurimac und Uru bamba in einer Hochgebirgsgegend. Man sah von oben, wie zerrissen und unzugänglich die heranfüh renden Schluchten waren, so daß es durchaus ver ständlich schien, wenn die zivilisierte Welt bisher noch nichts von diesen letzten Horden der Inkas wußte. Die Eingänge des Tal waren streng gesichert. Aus dem eigentlichen Bergmassiv sprang ein langer, zweitausend Meter hoher Sporn hervor, der das Tal fast völlig abriegelte. Nach drei Seiten fiel er in schroffen, jähen Abstürzen und wilden Klüften in die Tiefe. Aus ihr führte nur eine in den Felsen gehauene, schmale und vielfach gewundene Treppe an schwindelerregenden Abgründen entlang aufwärts. Sie war hundertfach durch feste Türme gesichert, die auf jedem Absatz und jedem Mauervorsprung stan den. Auf dem Rücken des Sporns befand sich eine Rei he von Befestigungen, die sinnreich durchdacht und angelegt waren. Eine riesige Mauer mit doppelten Türmen und Bollwerken, die bis auf die äußerste Spitze des Felsvorsprungs ging, umgab sie. Sie be 120
stand – wie überhaupt alle Bauten – aus ausgezeich net behauenen und sorgfältig aufeinander gefügten Steinquadern, unter denen riesige Stücke keine Sel tenheit waren. Im Innern der Sperrfeste befand sich eine Gruppe von Bauten, die Sun Koh als Intihuatana (als »Platz, wo die Sonne gefesselt wird«) bezeichnete. Es lag auf der Hand, daß sie astronomischen Beobachtun gen gedient hatten. Auf der Rückseite führte ein stei ler, gefährlicher Pfad um hohe Klippen herum zum höchsten Punkt des Sporns, auf dem wie vor Jahr hunderten bei Gefahr die Feuer loderten. Alles in allem würde es selbst mit modernen Mit teln nicht leicht sein, gegen den Willen der Talbe wohner in das Tal einzudringen. Diese gewaltige Sperrfeste war noch heute kaum zu umgehen. Sun Koh brachte das dem führenden Atarasca ge genüber zum Ausdruck. Dieser nickte und erwiderte ehrerbietig: »Die Diener der Inka würden viele Fein de hier sterben lassen, bevor sie selbst sterben.« Sun Koh sah ihn aufmerksam an. »Dein Herz ist voller Sorge, Atarasca?« Das Gesicht des alten Mannes war düster gewor den. »Es ist wahr«, bekannte er. »Ich fürchte, der Tag wird kommen, an dem hier die letzten Diener der In ka ihr Leben lassen. Die Fremden werden immer neugieriger und zudringlicher.« 121
»Sie sind seit vierhundert Jahren im Land und ha ben euch nicht gefunden«, tröstete Sun Koh. »Die Mischlinge fürchte ich nicht«, erwiderte der Inka ruhig. »Aber es kommen Leute von jenseits des Meeres, sie sind zäh und wachsam, und wenn man einen von ihnen tötet, kommen zehn neue für den einen. Wir haben sie bisher noch immer weit draußen abfangen können, so daß sie von diesem Tal nichts ahnen, aber wir mußten auch schon manches aufge ben, was jahrhundertelang unter unserem Schutz stand.« »Ihr habt die Neugierigen getötet?« »Ja, Herr«, sagte Atarasca einfach, »wir mußten. Und die Bewohner dieses Landes bekamen eine a bergläubische Scheu vor diesen Bergen. Doch die fremden Weißen haben keinen Aberglauben. Sie ha ben Cuzco und alle Städte, sie kennen die Feste von Pissac und die von Ollontay-Tampu, sie entdeckten vor kurzem erst den großen Kampfplatz un Vilca pampa. Wann werden sie uns hier aufspüren?« Sun Koh legte dem Alten die Hand auf die Schul ter. »Noch ist es nicht soweit, Atarasca. Einige Jahre werdet ihr euch noch halten können. Dann werde ich euch zu mir in ein neues Land rufen, in dessen Ber gen ihr wieder frei und groß sein könnt. Werdet ihr meinem Ruf Folge leisten?« Atarasca staunte ungläubig, dann schoß eine sehe 122
rische Freude über sein Gesicht. Er fiel in die Knie und rief atemlos: »O Sohn der Sonne, ist die Zeit so nahe? Von Geschlecht zu Geschlecht raunte bisher die Sage, daß wir dereinst wieder in die Heimat zie hen würden, aus der unsere Ahnen einst kamen. Herr, die Diener der Inka werden den Tag ewig prei sen, an dem du sie zu dir rufst in das ferne Land im Meer, das vor unendlichen Zeiten versank, weil es die Sonne beleidigt hatte.« Sun Koh lächelte. »Ich weiß nicht, wann der Tag kommt, aber es ist mir verkündet worden. Bis dahin geduldet euch. Und nun wollen wir den Rückweg antreten.« Sie stiegen in das Tal hinein, das sich wie ein blü hendes Paradies in diese unwirtlichen Berge schmiegte. Und aus dem Tal wanderten sie wieder hinauf zu Atarascas Heim. Nichts traf allerdings weniger zu als die Bezeich nung Heim. Der Führer der Berginka wohnte in einer gewaltigen Königsburg, in einer Festung, wie sie auf der Erde sicher nicht noch mal zu finden war. Mäch tige Terrassen von jeweils zehn Metern Höhe führten bergaufwärts. Sie bestanden aus bewunderungswür dig gefügten und behauenen Porphyrblöcken, von brennendem, leuchtendem Rot, das sich eindrucks voll majestätisch von dem grauen Fels abhob. Dutzende solcher übereinanderliegender Terras sen, deren Mauerwerk häufig im Zickzack bis zu un 123
zugänglichen Ecken, Vorsprüngen und Felsstufen hinlief, bildeten den Unterbau für die eigentliche Fe ste, einem langgestreckten, zweistöckigen Gebäude. Doch damit nicht genug. Darüber befand sich aber mals eine Gruppe von burgähnlichen Gebäuden, und hier war die eigentliche Wohnung Atarascas und sei ner Angehörigen. Ringsherum aber, so weit das Au ge reichte, erhob sich eine Unzahl von runden Tür men mit zahlreichen Schießscharten. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Aus blick auf das gesamte Tal, wenn auch gerade gegen über das schneebedeckte Bergmassiv den Blick halb versperrte. Übrigens hingen in der schroffen Wand des Massivs an völlig unzugänglichen Stellen noch einzelne Gebäude, die nach den Erklärungen des In ka den verschiedensten Zwecken gedient hatten, aber schon seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt wurden. Eines davon hatte zum Beispiel den für den Sonnen dienst geweihten Jungfrauen als Kloster gedient, ein anderes als Richtstätte. Von ihm aus wurden Verbre cher in den fünfhundert Meter tiefen Abgrund ge stürzt. Atarascas Wohnung selbst bestand aus einer Gruppe von flachen Gebäuden, die um einen ausge dehnten Innenhof herum lagen. Hier verbrachte Sun Koh einige herrliche, aber auch schwere Tage. Die Berginkas kamen, um den Sohn der Sonne zu 124
sehen und zu ehren. Aus den fernsten Gegenden der Anden kamen sie gezogen, diese hochgewachsenen, stolzen Männer, denen man die Rasse auf den ersten Blick ansah. Sie waren alle ruhig und fest in ihrem Wesen, dabei aber ernst und trotz der großen Freude des Tages fast schwermütig. Eines Abends sprach Sun Koh mit Atarasca dar über. »Ich habe nun viele Männer deines Volkes gese hen, Atarasca. Ihr nennt euch Diener der Inka. Seid ihr nicht selbst Inkas?« Atarasca nickte. »Ja und nein, Herr. Du sahst Männer verschiede ner Grade. Seitdem das Reich jedoch zerfallen ist, sind wir alle eins, nämlich Diener unserer Vergan genheit und Diener des Sohnes der Sonne.« »Ursprünglich trug dieser allein die Bezeichnung Inka?« »Ja, aber schon lange, bevor die Fremden ins Land kamen, galt der Name für alle Führer des Volkes.« »Erzähle mir darüber.« »Unser Volk war das glücklichste der Erde. Es gab weder Armut noch Not. Jeder einzelne arbeitete nur für das Reich und erhielt dafür von diesem alles, was er für das Leben brauchte. Jeder arbeitete einige Stunden am Tag, und jeder nach seinen Fähigkeiten, der eine im Steinbruch und der andere in der Gold 125
werkstatt, aber jeder hatte zu essen und zu trinken, Kleidung und Wohnung. Es gab keinen Neid und keine Gier, keinen Streit und keinen Zank. Das Volk besaß keine Zeitungen und keine Bücher. Es kannte auch die Sprache der flüsternden Knoten nicht. Es wurde geführt und geleitet, aber es war glücklich.« »Wer bestimmte die Arbeit des einzelnen?« »Regierungen und Gemeinden legten für das gan ze Jahr fest, welche Arbeiten zu leisten waren. Jeder erhielt von seiner Gemeinde die Arbeit zugeteilt, die von ihm gefordert wurde. Die gesamte Wirtschaft wurde also nach einem einheitlichen Plan geleitet. Das war nützlich, denn dadurch konnte das Volk nicht nur glücklich leben, sondern es wurde auch Großes geleistet.« »Du erwähntest verschiedene Grade, die es in dei nem Volk gab?« »Die Führung des Volkes hing von zwei Ordnun gen ab. Die äußere Ordnung begann mit einzelnen Familien, die gemeinsam wohnten und unter der Lei tung eines Vorstehers eine Dorfgemeinschaft bilde ten. Viele solcher Wohngemeinschaften ergaben ei nen Bezirk, viele Bezirke eine Provinz und die vier Provinzen zusammen das Reich, an dessen Spitze der oberste Inka stand. Die innere Ordnung begann wie der bei der Familie. Alle Familien mit einem ge meinsamen Ahnherrn standen unter der Führung ei nes Familienältesten. Diese, also die Führer der vie 126
len Familienstämme, bildeten einen Rat, dessen Füh rer wieder zu einer Einheit zusammengeschlossen waren. Der oberste und höchste von ihnen war wie der der Sohn der Sonne, der eigentliche Inka. Wo äußere und innere Ordnung zusammentrafen, lag die Führung des Volkes. Der Sohn der Sonne war Gott und Kaiser, die edelsten und ältesten Geschlechter stellten die Oberhäupter der vier Provinzen und so fort.« »Und die obersten Führer des Volkes führten ne ben dem Sohn der Sonne ebenfalls den Titel Inka?« »So war es. Die Führung des Volkes vererbte sich vom Vater auf den Sohn, von einem Geschlecht zum andern, und das war gut für das Volk, denn die Inka handelten weise.« »Und sind diese Männer, die ich in den letzten Ta gen sah, nun Nachkommen der Inka oder des Vol kes?« »Das Volk der Inka ging zugrunde. Es vermischte sich und wurde versklavt. Wir sind Inka, Herr, wenn auch aus verschiedenen Geschlechtern. Meine Ahnen zählten sogar zur Familie der königlichen Inka, die dem Sohn der Sonne am nächsten stand. Als nach dem unglücklichen Bruderzwist, der die Fremden ins Land ließ, Atahualpa starb, flohen unsere Ahnen in die Berge. Sie gründeten die Stadt Vilcapampt, die später wieder aufgegeben wurde. Die Nachkommen jener Flüchtlinge lerntest du in diesen Tagen kennen.« 127
»Und ich bin stolz darauf. Die alte Ordnung ist al so aufgehoben?« »Wir sind Gleiche unter Gleichen. Aber jeder ist für Blut und Leben aller verantwortlich, und alle un terstehen bedingungslos dem, der das Blut des könig lichen Geschlechts weiterträgt.« »Also dir?« »Ja, Herr.« Damit war das Gespräch über eine der merkwür digsten Staatsformen, die auf der Erde existiert hat ten, beendet. Zwei Tage später machte sich Sun Koh mit Ata rasca allein auf den Weg zum Tempel der Sonne. Es war ein beschwerlicher Weg durch das wildeste Ge birge. Von Weg konnte eigentlich keine Rede sein. Atarasca führte auf Grund irgendwelcher Merkzei chen auf schwindelerregenden Pfaden und auf schmalen Gesimsen über Abgründe und setzte seine Füße auf Stellen, auf die sich ein Mensch mit halb wegs gesunden Sinnen nie gewagt hätte. Aber Sun Koh folgte ohne Zögern. Am Spätnachmittag standen sie am oberen Rand einer Schlucht, genauer gesagt eines Felsenkessels, der tausend Meter tief zu einer winzig erscheinenden Talsohle abstürzte, zu einem fast kümmerlichen Fleck, auf dem von oben nur Felstrümmer und einige grüne Stellen zu sehen waren. Atarasca wies nach unten. 128
»Dort in der Tiefe liegt der Tempel der Sonne, der die geretteten Schätze des Inkareiches birgt.« Sun Koh warf einen Blick über die glatten Fels wände. »Ich sehe keine Möglichkeit hinunterzukommen. Wie willst du hier den Abstieg bewältigen?« Atarasca heb die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Es gibt keinen Abstieg, Herr. Ringsum ist auf fünfhundert Meter glatter Fels. Die Schlucht besitzt auch keinen Zugang von unten her. Dort unten wur den Gold und Edelsteine der Inkas vor den Spaniern in Sicherheit gebracht. Als man sie hinuntergeschafft hatte, wurden alle Pfade zerstört und in jahrelanger Arbeit der Berg geglättet, so daß sich nirgends ein Halt finden läßt. Seit Jahrhunderten war niemand dort unten. Und wenn es wirklich noch einen anderen Zugang gab, so ist sein Geheimnis ins Grab gesun ken. Niemand weiß davon.« »Das ist ein Irrtum«, widersprach Sun Koh ruhig. Atarasca prallte erschrocken zurück. Er war ehr lich bestürzt. »Herr?« »Doch, es ist so.« Sun Koh nickte. »Es gibt einen Mann namens Juan Garcia, den wir alle längst tot wähnten, der aber irgendwie ein Unglück heil über stand. Er ist ein Verbrecher, wenn er auch zu den Großen eines Landes zählt. Diesem Mann nahm ich 129
eines Tages Dokumente ab. Unter diesen befand sich ein spanisches Pergament aus der Zeit, als Pizarro hier im Land hauste. Darin berichtet einer der Aben teurer, er hätte einen Indio gefangen und gefoltert, und dieser Mann hätte ihm verraten, daß die Schätze des Landes zu einem neuen Sonnentempel gebracht worden waren. Dieser Tempel liege in einer tausend Meter tiefen Schlucht, die unzugänglich gemacht werden solle. Er selbst hätte Gold mit hineinge schafft, aber auf einem Weg durch den Berg mit den zwei Hörnern. Das war alles, aber ich sehe dort drü ben einen Berg mit zwei Hörnern. Wenn jener Juan Garcia das Dokument auch nicht mehr in Besitz hat, so weiß er doch, daß, falls er lebt, in der Nähe eines zweigipfligen Berges große Schätze liegen. Er wird versuchen, an sie heranzukommen.« »Es wird ihm nicht gelingen«, sagte Atarasca fin ster. »Unterschätze den Mann nicht«, erwiderte Sun Koh ernst. »Aber vorläufig müssen selbst wir um kehren. Es gibt im Augenblick nur einen Weg, um dort hinunterzukommen, nämlich mit dem Flug zeug.« Darauf hatte Atarasca nichts zu erwidern. Er kann te Flugzeuge zu wenig, um die Kühnheit des Planes ermessen zu können. Der Abgrund war nicht viel mehr als ein tiefes Loch, und es gehörten schon ei serne Nerven und eine verwegene Flugkunst dazu, 130
sich dort hinunterzuschrauben. Zwei Tage später wagte es Sun Koh. Er nahm Nimba mit hinunter, weil dieser ihm noch am mei sten nutzen konnte, falls ein Unglück geschah. Hal blieb mit Atarasca, China und einem Trupp anderer Berginkas oben und zitterte mit diesen um das Leben von Sun Koh und Nimba, als sie den silbernen Vogel hinabtauchen sahen. Sie kamen schraubend sicher hinunter, als glitten sie in einer Führung an den Steilwänden entlang. Es bereitete keine Mühe, den Tempel der Sonne zu finden. Er befand sich dicht an der Felswand und war sehr einfach und schmucklos gebaut. Nichts verriet, daß er irgendwelche Schätze barg. Auch im Innern war nichts Auffälliges zu entdek ken. Ein völlig leerer Raum, dessen rückwärtige Wand von glatten Felsen gebildet wurde, glatt we nigstens bis auf ein großes Relief des Sonnengottes, das in den Stein gehauen worden war. Der Fußboden bestand aus behauenen, dicht ge fügten Platten. Merkwürdigerweise schienen die Steinmetze nachlässig gearbeitet zu haben. Fast auf jeder Platte war hier oder dort ein Höcker, ein kleiner Steinbuckel stehen geblieben. Sun Koh sah die Höcker und nickte befriedigt. Das war wieder die Knotenschrift der Inka, deren stein gewordene Sprache er bereits in Cuzco kennenge lernt hatte. 131
Langsam und sorgfältig las er, was die Knoten verrieten. Dann winkte er Nimba und schritt voraus. Dicht neben dem Eingang fand er die beiden Blö cke, die wie überzählig hier liegengeblieben waren. Jeder von ihnen wog einige Zentner. Sun Koh hob den einen aus seinem Moosbett her aus. Nimba nahm den anderen. Dann gingen sie wie der in den Tempel hinein. Sie setzten die Blöcke auf zwei bestimmte Stellen auf. Dann stellte sich Sun Koh auf eine bestimmte Platte an der Wand und drückte mit der flachen Hand gegen die Stirn des Sonnengottes. Eine rechteckige Fläche in der halben Größe des Kopfes wich zurück. Gleichzeitig schwenkte dicht neben Sun Koh ein mannshoher Block um einen Zapfen herum aus der Wand heraus. Der Zugang zum Schatz der Inka war frei. Mit einer Lampe in der Hand trat Sun Koh ein. Er durchschritt einen zwanzig Meter langen, völlig tro ckenen Gang, dann öffnete sich vor ihm eine Höhle. Offen lag hier der Reichtum eines Volkes, das ü ber sagenhafte Schätze verfügt hatte. Es ist eine ge schichtliche Tatsache, daß noch vor vierhundert Jah ren dieses Volk der Inka soviel Gold besaß, daß selbst der einfachste Mann von goldenen Tellern speiste und daß die Kinder mit Goldklumpen wie mit Steinen warfen, ja, daß die wundervollsten Edelstei ne geringschätziger behandelt wurden als bei uns ein 132
gewöhnliches Glasstück. Einen Teil dieser Schätze schleppten die Spanier nach Europa, aber eben nur einen Teil. Wo blieb das andere? Sun Koh stand davor. Hier lagen Tausende von Tonnen reinen Goldes in jeder Form, als Platten, Teller, Krüge, Gefäße, Standbilder und Barren – ein riesiges, rötlich glei ßendes Gebirge aus Gold, Milliarden und Abermilli arden wert. Im Hintergrund entdeckte er einen weiterführen den Gang. Eine zweite Höhle öffnete sich, ebenfalls noch voller Gold, und anschließend noch eine dritte. In dieser standen auch goldene Gefäße und Truhen, bis zum Rand mit Edelsteinen gefüllt. Hunderttau sende wertvollster Edelsteine mußten hier liegen: alles in allem ein Reichtum, mit dem man eine Welt kaufen konnte. Abermals lief ein Gang weiter, aber er schien nun in die Ferne zu führen. Sun Koh vermutete, daß dies der geheime Zugang war, von dem selbst die Inkas nichts mehr wußten. Er folgte ihm nicht weiter, son dern kehrte um. Nimba, der vorsorglicherweise draußen geblieben war, um ein Schließen der Öffnung zu verhüten, at mete auf, als er Sun Koh wiedersah. Und Sun Koh war froh, daß er Nimba die Erschütterung erspart hatte, die ihm der Anblick dieser Schatzkammern hätte bereiten müssen. 133
»Die Schätze der Inka sind vorhanden«, sagte er nur kurz. »Wir wollen ihren Frieden nicht stören.« Sie schlossen den Berg mit aller Sorgfalt, trugen die Steine hinaus und beseitigten jede Spur ihrer Anwesenheit. Sollte es wirklich einmal Fremden ge lingen, hier hinunter zu kommen, so würden sie die Schätze doch nicht entdecken können. Der Aufstieg zur Höhe war ungleich gefährlicher als der Flug in die Tiefe. Sun Koh mußte die Ma schine wiederholt in der letzten Sekunde vom Felsen wegreißen, bevor es ihm gelang, genügend Spiel raum zu bekommen. Er wurde mit Jubel begrüßt. Die Augen der Män ner hingen an seinen Lippen. Er blieb jedoch wort karg. »Der Tempel der Sonne ist unversehrt.« Das war alles, was die anderen von ihm erfuhren. Und sie stellten keine Fragen. Erst später, als er mit Atarasca allein auf der Höhe über dem Quitarasca-Tal saß, kam er darauf zurück. Er gab Atarasca einen kurzen Bericht und schloß mit der Frage: »Was soll mit diesen riesigen Schätzen werden, Atarasca?« »Sie gehören dir, Herr«, entgegnete jener respekt voll. »Sie gehören euch und nicht mir. Ich bin reich ge nug.« »Wir brauchen sie nicht. Und sie gehören wirklich 134
nicht uns, sondern dem Sohn der Sonne.« »Nun gut«, sagte Sun Koh, »streiten wir uns nicht darum. Eines Tages werden sie vielleicht gebraucht, und dann werden wir sie ans Tageslicht holen. Bis dahin müssen sie im Tempel bleiben und geschützt werden.« »Die Inka werden von jetzt an ständige Wache halten.« Sun Koh überlegte. »Im Ernstfall würde das nichts nützen. Ihr seid nicht die Besitzer des Tales, wenigstens nicht nach den Gesetzen des Landes. Aber mir fällt ein Ausweg ein. Ich werde von der Regierung dieses ganze Ge biet kaufen. Dann können wir neugierige Fremde wirksam von hier fern halten.« »Wird der Kauf nicht erst recht auf uns aufmerk sam machen?« Sun Koh lächelte beruhigend. »Ich werde einen Weg wählen müssen, der keinen Verdacht erregt. Du wirst gut tun, mir alle Punkte zu bezeichnen, die das zu kaufende Gebiet umschließen soll. Damit sichern wir euch zugleich eine feste Heimstätte, denn der Staat muß dann von sich aus dafür sorgen, daß ihr unbehelligt bleibt. Ihr seid nicht mehr gesetzlos.« Atarasca machte ein zweifelndes Gesicht. »Ist es wirklich so wichtig, die merkwürdigen Ge setze dieses Landes auf seiner Seite zu haben?« 135
»Außerordentlich wichtig«, sagte Sun Koh mit Nachdruck. »Der Staat ist allein an diese Gesetze gebunden, nicht an eure. Ihr könnt euch jetzt die Ein heimischen fern halten, aber nicht die Ausländer, die vom Staat die Erlaubnis bekamen, in diesem Gebiet zu forschen. Augenblicklich ist dieses Gebiet herren los. Du kannst keinem Ausländer verwehren, in die sen Tälern zu suchen. Wenn du sie tötest, giltst du als Mörder und hast nicht nur den Staat, sondern auch die ganze Welt gegen dich. Bist du aber der Eigentümer dieses Gebietes, so sind die anderen Eindringlinge. Du hast das Recht, sie zu vertreiben, notfalls auch mit Gewalt. Der Staat muß dir dabei helfen, und die ganze Welt wird fin den, daß du im Recht bist.« Atarasca seufzte. »Die Welt ist merkwürdig, aber wir müssen uns wohl in diesen Dingen nach ihr richten. Was du tust, ist gut, und mir wird eine Sorge vom Herzen fallen. Die Gesetze der Fremden scheinen doch nicht alle schlecht zu sein.« »Deine Anerkennung tötet, Atarasca.« Der Notar Dr. J. Romano war ein weißhaariger Fuchskopf, ein Mann, von dem man unwillkürlich erwartete, daß er sich im nächsten Augenblick die Hände reiben würde. Er erkundigte sich mit liebens würdiger Beflissenheit nach den Wünschen seines 136
Besuchers. »Sie wurden mir als der bekannteste Anwalt Li mas empfohlen«, begann Sun Koh. »Ich bitte Sie, mir auf Grund Ihrer Kenntnisse der hiesigen Ver hältnisse einige Auskünfte zu geben.« »Mit größtem Vergnügen«, versicherte Romarro strahlend, denn dieser Kunde sah einwandfrei zah lungsfähig aus. Außerdem war er ein Ausländer, dem man leicht das Doppelte abnehmen konnte. Bei den heutigen Zeiten war das wichtig, und vor allem stell te die junge Donna allerlei Ansprüche. »Ich möchte ein Stück Land von der Regierung kaufen, um eine Pelztierfarm anzulegen. Sie wissen ja, daß die Zucht seltener Pelztiere heute ein gewinn bringendes Unternehmen ist. Es handelt sich um ein wildes, sonst unbenutztes Hochgebirgsgebiet. Bitte beraten Sie mich, wie sich der Kauf am besten be werkstelligen läßt.« Der Anwalt begann sofort zu gestikulieren. »O bitte, nichts ist einfacher als das, Señor. Ich werde einen Schriftsatz anfertigen, ein Kaufgesuch, das bei der zuständigen Behörde eingereicht werden muß. Es wird auf dem üblichen Weg geprüft werden, man wird von uns einige Unterlagen verlangen, eine Verhandlung über den Kaufpreis wird unvermeidbar sein, und dann wird die Transaktion erfolgen. Ganz leicht ist es natürlich nicht, denn Lima ist eine heiße Stadt, in der man sich nicht gern überanstrengt, aber 137
in drei Monaten ist bestimmt alles fix und fertig.« Sun Koh machte eine abwehrende Bewegung. »Das ist ganz ausgeschlossen. Ich fürchte, hier liegt ein Mißverständnis vor. Ich möchte den Kauf innerhalb von drei Tagen abschließen. Bitte beraten Sie mich unter diesem Gesichtspunkt.« Romarro sprang auf und legte sich halb über sei nen Schreibtisch. »Wie sagten Sie? Drei Tage? Das ist unmöglich, völlig unmöglich! Sie kennen Lima und die Behör den nicht.« »Ich hoffe, sie von der angenehmsten Seite ken nenzulernen«, sagte Sun Koh freundlich. »Und ich denke, daß mir Ihre Ratschläge nicht unwesentlich dazu helfen werden. Sie werden mir hunderttausend Dollar wert sein, falls der Kauf in der vorgesehenen Frist rechtskräftig wird.« Der Anwalt fiel langsam in seinen Sessel zurück. Seine Zunge glitt über die Lippen, als wollte sie et was schmecken. Hunderttausend Dollar? So standen die Dinge? Dann brauchte man allerdings keine drei Monate. Hunderttausend Dollar allein an Anwaltsge bühren für eine Pelztierfarm – na na? Aber das war nicht seine Angelegenheit. Er nahm sich Zeit und antwortete mit Bedacht: »Für hunderttausend Dollar läßt sich vielleicht man ches arrangieren, Señor. Selbstverständlich, ganz selbstverständlich. Andererseits – es liegt nicht allein 138
an mir, und vielleicht sind weitere Geldbeträge not wendig – Sie verstehen? Ich nehme an, daß Sie über die erforderlichen Mittel verfügen?« »Gewiß.« »Ausgezeichnet. Geld ist die Hauptsache. Sie wer den sich unmittelbar an den Minister wenden. Mini ster Coleas ist ein guter Bekannter von mir, und mir zu Gefallen wird er Sie bestimmt empfangen …« Diego Coleas war ein Mann, der in die Welt paßte. Er war vor seiner Ministertätigkeit ein guter An walt und Redner gewesen, und er hoffte, das auch später wieder zu sein. Er hatte sich für sein Amt zwei Einsichten mitgebracht, die er bei aller Aufopferung für das Volk nie vergaß. Die erste Einsicht war die, daß die Laufbahn eines Ministers starke Ähnlichkeit mit der eines Boxers besitzt – man hat nur wenige Jahre, bis einen die Konkurrenz erledigt. Und die zweite Einsicht war die, daß selbst ein Minister nicht das Recht hat, sich über andere zu erheben und mit unbestechlicher Tugendhaftigkeit zu protzen, wenn das sonst im Land nicht üblich ist. Seine Partei war stolz auf ihn. Er empfing seinen angemeldeten Besucher in ei nem stilvollen Arbeitszimmer, dessen Entwurf von einem berühmten europäischen Architekten stammte. Dieser hatte seine Arbeit wirklich ausgezeichnet ge leistet. Wie Diego Coleas aussah, konnte er ja nicht 139
ahnen. Tatsächlich war der Minister die einzige Stil losigkeit in dem Raum. Tröstlicherweise kam ihm das Zeit seines Lebens nicht zum Bewußtsein. Er hielt sich mit seiner leicht korpulenten Gestalt, sei nen glatten schwarzen Haaren, seiner sanft geboge nen Nase und seinem etwas groß geratenen Mund für einen ganz passablen Mann. Die Geschmäcker sind nun einmal verschieden. »Sie wünschen ein Stück Land vom Staat zu kau fen«, eröffnete er nach der üblichen, zurückhaltenden Begrüßung die Unterredung. »Das ist allerdings meine Absicht«, bestätigte Sun Koh verbindlich. »Ich möchte im Gebirge eine mo derne Pelztierfarm anlegen. Sie sind wohl orientiert, daß dieser Erwerbszweig Zukunft hat. Die Schwie rigkeit liegt nur immer darin, für die zu züchtenden Tiere die gesündesten Lebensbedingungen zu schaf fen. Ich glaube, daß in den vorgesehenen Gebieten alle Voraussetzungen erfüllt sind. Es ist wohl kaum erforderlich, Sie auf die volkswirtschaftliche Bedeu tung meines Unternehmens aufmerksam zu machen.« »Selbstverständlich nicht. Darf ich hören, welches Gebiet Sie sich ausgesucht haben?« Sun Koh reichte ihm eine Kartenskizze hinüber. »Sie finden es hier eingezeichnet. Es handelt sich um eine Landstrecke zwischen dem Apurimac und dem Urumbamba.« »Donnerwetter«, rief Coleas nach einem kurzen 140
Blick unwillkürlich aus. »Das ist doch ein Gebiet von einigen Tausend Quadratkilometer?« »Ziemlich genau fünftausend Quadratkilometer.« Sun Koh nickte. Der Minister war ganz aufgeregt. »Aber, Señor, das ändert die Sachlage natürlich vollkommen. Ich habe bisher angenommen, es hand le sich um ein kleines Areal in der Größe eines bes seren Gartens. Und nun kommen Sie wegen dieses Riesengebiets, einer kleinen Provinz.« »Hoffentlich bedeutet die Größe des Landstücks keine Erschwerung unserer Verhandlungen?« fragte Sun Koh abwartend. »Aber selbstverständlich, selbstverständlich«, rief Coleas aufgeregt. »Das ist keine interne Angelegen heit mehr, sondern eine Haupt- und Staatsaktion.« »Eben deshalb wandte ich mich direkt an Sie.« Der Minister blickte seinen Besucher lauernd an. »Sie wollen eine Pelztierfarm dort gründen?« »Richtig.« »Warum haben Sie sich dieses Gebiet ausgesucht, warum nicht ein anderes?« In Sun Kohs Gesicht verriet kein Muskel, was er dachte. »Es kann selbstverständlich auch ein anderes Ge biet sein. Ich geriet zufällig dahin und fand es brauch bar. Ich glaube aber, daß sich auch ein Landstrich um den Illimani herum vorzüglich eignen würde.« 141
Coleas runzelte die Stirn. »Um den Illimani her um? Das ist nicht mehr peruanisches Gebiet, das ist Bolivien.« »Das ist mir bekannt. Die Staatsangehörigkeit ist mir völlig gleichgültig. Falls sich diese Verhandlun gen nicht zu einem günstigen Abschluß führen las sen, bin ich morgen in La Paz.« Coleas war von Sun Kohs kühler Ruhe beein druckt und lenkte ein. »Nein – nun, vorläufig stehen wir ja noch am An fang. Sie müssen verstehen, daß bei der Größe des Objekts einige Bedenken nötig sind. Sie wollen näm lich ein Gebiet erwerben, in dem man noch wertvolle Dinge aus der Inkazeit vermutet.« »Das ist mir neu«, erklärte Sun Koh gelassen. Coleas zwinkerte. »Kurz vor Ihrem Eintreten erhielt ich eine telefo nische Mitteilung, die besagt, Sie hätten in jener Ge gend einen Schatz entdeckt und wollten sich die Ber gungsrechte sichern.« Sun Koh lächelte leicht. »Dann muß der Schatz aber sehr weit verstreut lie gen, Exzellenz. Meinen Sie nicht, daß es in einem solchen Fall unklug von mir wäre, große Summen für einen unnützen Landstrich auszugeben, wenn an irgendeiner doch örtlich präzise umrissenen Stelle ein Schatz gefunden worden wäre?« Es war schwer, sich dem Gewicht dieses Argu 142
ments zu entziehen. Trotzdem bohrte Coleas weiter. »Aber es könnte doch der Fall eintreten, daß Sie dort allerhand entdecken …« Sun Koh hob die Schultern. »Das sind Spiegelfechtereien. Ihre Nation ist vier hundert Jahre im Land und hat wahrhaftig Zeit genug gehabt, um alles zu finden, was zu finden war. Ich glaube nicht an die Ernsthaftigkeit Ihrer Andeutun gen.« »Sagen Sie das nicht«, meinte der Minister leb haft, »sagen Sie das nicht. Man hat sich nur noch nicht damit befaßt. Ich kann Ihnen verraten, daß wir neuerdings die gesamten Arbeitslosenunterstützun gen sperren und die Leute in die Berge schicken werden. Es gibt dort Inkagold und vor allem Natur gold immer noch genug, daß es sich lohnt.« »Nicht möglich«, sagte Sun Koh staunend. »Mein Interesse an diesen Dingen ist ziemlich gering. Es wäre mir lieb, wenn sie aus dem Spiel bleiben könn ten.« »Aber wenn Sie nun doch etwas finden?« bohrte der andere. Auf Sun Kohs Stirn erschien eine Falte des Un muts. Ziemlich scharf erklärte er: »Dann habe ich es eben gefunden. Es wird zu meinem Kaufpreis kaum in einem nennenswerten Verhältnis stehen. Aber vielleicht ist es doch besser, ich erwerbe jenes andere Gebiet, auf dem es keine Goldschätze gibt.« 143
Coleas hob beschwichtigend die Hände. »Sprechen wir nicht mehr davon. Sie wollen das Gebiet absperren?« »Nur bis zu einem gewissen Grad«, erwiderte Sun Koh, »soweit es meine Interessen erfordern. Ein Zaun wird natürlich nirgends gezogen werden, doch muß ich mir vorbehalten, unerwünschte Gäste abzu weisen. Ich glaube aber kaum, daß es dort viele Fremde geben wird.« »Sicher nicht«, räumte der Minister ein. »Es ist ein einsames Gebiet. Dann und wann kommen allerdings ausländische Forschungsexpeditionen, um die Kultur der Inka zu erforschen.« »Ich würde ihnen von Fall zu Fall meine Erlaubnis geben, das gekaufte Gebiet zu betreten«, beantworte te Sun Koh die unausgesprochene Frage. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet.« Coleas nickte be friedigt. »Ich glaube nicht, daß grundsätzliche Be denken entstehen können. Sie wollten nun die Ange legenheit sehr bald geregelt haben? Das dürfte frei lich nicht so ohne weiters gehen, da die Volksvertre tung angesichts der Größe des Objekts noch mitzure den hat.« Sun Koh winkte ab. »Ich hoffe, den Kaufvertrag innerhalb von drei Tagen in Händen zu haben. Die Beschleunigung wird nur im Interesse Ihres Landes liegen. Im normalen Verfahren müßte ich das Land schätzen lassen, und 144
ich glaube, angesichts seiner volkswirtschaftlichen Unbrauchbarkeit nicht, daß die offizielle Taxe auch nur im entferntesten an mein Gebot heranreichen wird. Ganz abgesehen davon würde ich mir natürlich für Verhandlungen mit Ihrem Nachbarstaat freie Hand vorbehalten.« Coleas beugte sich vor. »Darf man erfahren, wie hoch Ihr Angebot ist?« »Fünfzig Millionen amerikanische Dollar. Außer dem würde ich mir gestatten, Ihnen für Ihren persön lichen Dispositionsfonds einen Betrag von einer Mil lion zu beliebiger Verwendung zu überreichen, die Hälfte davon sofort zahlbar auf die von Ihnen ge wünschte Bank, die andere Hälfte nach Abschluß des Vertrags.« Der Minister atmete stöhnend auf. Für fünfzig Millionen Dollar bekam der Fremde das Land ohne hin von der Volksvertretung zugebilligt, dem Staat war kein Schaden erwachsen. Wenn der Mann dar über hinaus noch eine Million an einen bedürftigen Minister verschenken wollte, so war es Torheit, nicht mit beiden Händen zuzugreifen. Sun Koh hatte das Angebot mit kühler Zurückhal tung abgegeben. Von Rechts wegen gehörte das Land mit allem Zubehör den Berginkas. Sie waren die Besitzer, die anderen die Eindringlinge, die ihnen unter Hinweis auf irgendein Recht alles abgenom men und sie rechtlos gemacht hatten. Zarte Bedenken 145
waren hier wirklich nicht am Platze. Genug, daß man überhaupt derartige Summen aufbot. Coleas begann nach einer kleinen Pause sehr lie benswürdig. »Sie haben vollkommen recht. Die Höhe Ihres Angebots rechtfertigt die gewünschte Beschleuni gung. Ich werde sofort alles in die Wege leiten und bin davon überzeugt, daß die anderen Mitglieder des Kabinetts ganz meiner Meinung sein werden. In drei Tagen haben Sie den ausgefertigten Kaufvertrag.« Sun Koh nickte. »Ich danke Ihnen für Ihr Entgegenkommen. Der formulierte Vertrag wird Ihnen noch heute durch den Notar Romarro zugehen. Die Stiftung für den Dispo sitionsfond wird darin nicht erwähnt sein, wie über haupt die Höhe dieser Summe außer mir und Ihnen niemand bekannt ist. Darf ich Ihnen jetzt den Scheck für die erste Hälfte ausstellen? Auf welche Bank, bit te?« »Zentralbank New York«, sagte Coleas hastig. So dumm war er nicht, sich eine derartige Summe auf eine peruanische Bank überweisen zu lassen. Das konnte zu leicht durchsickern. Übrigens war der Fremde wirklich ein Prachtkerl. Vollendet taktvoll. Sun Koh schrieb den Scheck aus und stellte dabei eine kleine, boshafte Frage: »Wird nicht Ihre Volks vertretung später Schwierigkeiten machen?« Der Minister versuchte, durch Augenzwinkern ei 146
ne gewisse Vertraulichkeit herzustellen. »Ich bitte Sie. Man wird uns ein Lob erteilen, weil wir so schnell und entschlossen gehandelt haben und dadurch verhüten, daß das Geld und der neue Indu striezweig mit seinen Steuereinnahmen an Bolivien ging. Das Geld ist knapp im Land.« Sun Koh reichte ihm lächelnd das Stück Papier, das einen Wert von einer halben Million darstellte. In seiner Stimme klang sanfte Ironie: »Sehr interessant. Ich darf mich also darauf verlassen, daß übermorgen der Vertrag unterzeichnet vorliegt?« »Durchaus, durchaus«, versicherte Coleas und ge leitete seinen Besucher zur Tür. Am nächsten Vormittag ließ sich ein Señor Antarillo bei Sun Koh melden. Sun Koh sagte zu. Wenige Minuten später trat Gomez, der Anwalt aus Cuzco, mit der Unbefangenheit eines harmlosen Mannes bei ihm ein. »Ah!« sagte Sun Koh erstaunt. »Seit wann haben Sie Ihren Namen gewechselt, Señor Gomez?« Gomez strahlte vor Liebenswürdigkeit. »Eine kleine Notlüge, für die ich um Verzeihung bitte. Ich hatte den Eindruck, daß Sie mein Verhalten in Cuzco mißverstanden haben, und wählte deshalb einen anderen Namen. Möglicherweise hätten Sie mich sonst nicht empfangen.« »Möglich«, stimmte Sun Koh zu. »Und was wün 147
schen Sie?« »Wenn Sie gestatten, daß ich ohne alle Umschwei fe …« »Bitte.« »Dann möchte ich Sie bitten, mich als Teilhaber aufzunehmen.« »Wovon sprechen Sie?« Gomez lächelte hinterhältig. »Nun, ich habe gewisse Beziehungen. Ich hörte, daß Sie beabsichtigen, eine Pelztierfarm zu gründen, und zwar im Gebiet zwischen Apurimac und Uru bamba. Ich hege die gleiche Absicht seit Jahren. Lei der stehen mir nicht die Mittel zur Verfügung, um den Kauf jenes Gebiets genügend zu beschleunigen. Sie werden verstehen, daß ich außer mir war, als ich von Ihren Plänen hörte, da sie das Ende meiner eige nen Zukunftspläne bedeuten könnten. Ich kann Sie natürlich nicht zum Rücktritt bewegen, aber ich hof fe, Sie werden mich als Teilhaber aufnehmen.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ihre Darstellung klingt sehr fadenscheinig.« »Oh, gewisse Firmenbezeichnungen auch. Pelz tierfarm! Weder Sie noch sonst ein Mensch glaubt daran, dort jemals ein Pelztier züchten zu können.« »Und was wünschen Sie dann?« »Nichts als eine Teilhaberschaft – allerdings nicht an Pelztieren, sondern an anderen Dingen, die Sie bei den Berginkas zu finden hoffen. Gold zum Beispiel.« 148
Sun Koh wandte sich um. »Vergessen Sie beim Hinausgehen nicht, die Tür hinter sich zu schließen.« »Sie lehnen ab?« »Ja« »Sie fühlen sich sicher, nicht wahr?« Gomez wur de gehässiger. »Aber vorläufig ist der Kauf noch nicht vollzogen. Ich zweifle nicht daran, daß Sie dem Minister genug geboten haben, aber es gibt Dinge, an denen selbst die Bestechung eines Ministers unwirk sam wird.« »Ja?« »Jawohl. Wenn Sie es ablehnen, mich als Teilha ber aufzunehmen oder mir wenigstens eine entspre chende Entschädigung für meine Verluste zu zahlen, führt mein nächster Weg in die Redaktion einiger Zeitungen. Ich werde mich dort über die neueste Be stechungsaffäre in unserem Land unterhalten, und Sie werden schon morgen in den Zeitungen derartig aufsehenerregende Berichte finden, daß kein Mini ster es wagen wird, Ihnen jenes Gebiet abzutreten.« »Interessant.« Sun Koh wies abermals mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Bitte beeilen Sie sich, da mit Sie recht bald in die Redaktionen kommen.« Gomez blickte ihn verdutzt an. »Sie – Sie wollen tatsächlich ablehnen?« Sun Koh entgegnete: »Sie müssen sich einen ande ren Partner suchen, Señor Gomez, wenn Sie bluffen wollen. Und nun verschwinden Sie. Bis jetzt hatte 149
ich kein Interesse an Ihnen. Sehen Sie zu, daß sich das nicht ändert. Redakteure sind schnell, aber die Polizei ist manchmal noch schneller. Und die Gefängnisse von Lima sind unparteiischer als die von Cuzco.« »Verdammt!« murmelte Gomez enttäuscht und ging hinaus. Minister Coleas war nicht erbaut davon, daß ihn Gomez um eine Unterredung bat, aber er wußte, wann er Rücksicht zu nehmen hatte. Dieser Rechts anwalt aus Cuzco war immerhin nicht unbekannt, besaß in seinem Bezirk einigen Einfluß und konnte bei der nächsten Wahl zu einem wichtigen Mann werden. Er empfing ihn also, wenn auch mit der Zu rückhaltung des viel beschäftigten Politikers. Damit konnte er freilich Gomez nicht beeindrucken. »Ich bin ein Patriot«, teilte Gomez wie ein vor sichtiger Fechter, der zunächst auf Deckung bedacht ist, mit. »Das Wohl unseres Vaterlandes geht mir ü ber alles, und seine Interessen stehen mir höher als mein Leben.« »Ausgezeichnet, wenn vielleicht auch etwas selbst verständliche Grundsätze.« Coleas ging würdevoll auf die üblichen Spielregeln ein. »Ich hoffe, daß es keinen guten Peruaner geben wird, der anders denkt.« Gomez nahm einen neuen Anlauf. »Ich komme in tiefer Sorge um das Wohl unseres Vaterlandes zu Ihnen.« 150
»Sie werden bei mir stets ein offenes Herz finden für alles, was das Wohl unseres Vaterlandes betrifft«, parierte Coleas. »Sie wünschten mich in einer be stimmten Angelegenheit zu sprechen?« Gomez räusperte sich. »Hm, wenn Sie mir erlau ben, als schlichter Bürger frei von der Leber weg zu sprechen …« »Bitte!« »Hm … Ich hörte zufällig, daß ein Ausländer die Absicht hat, ein großes Landgebiet innerhalb der Anden zu erwerben. Soviel mir bekannt ist, handelt es sich um ein Gebiet, das heute vorzugsweise von den Berginkas bewohnt wird. Es ist von uns aus ge sehen noch kaum erforscht. Man vermutet dort mit einigem Recht gewisse Schätze, die einst von den Inkas in Sicherheit gebracht wurden. Diese Schätze sind zweifellos Bestandteil unseres Nationalvermö gens. Mein Besuch entspringt nun der Sorge, daß sie unüberlegt diesem Ausländer übereignet werden könnten.« Coleas Erwiderung kam verbindlich, zugleich aber auch voller Zurückhaltung. »Ihre Sorge ehrt Sie, Señor Gomez, aber erfreuli cherweise ist sie völlig unbegründet.« Gomez markierte freudige Überraschung. »Ah, dann ist also das Kaufgesuch des Ausländers abge wiesen worden?« »Ja und nein. Sie werden verstehen, wenn ich über 151
gewisse amtliche Dinge nicht so offen sprechen kann. Es ist nicht meine Angelegenheit allein, über ein derartiges Kaufgesuch zusagend oder ablehnend zu entscheiden. Wenn Ihnen jedoch daran liegt, will ich Ihnen gern eine entsprechende Mitteilung zu kommen lassen, sobald ein endgültiger Entschluß gefaßt worden ist.« Gomez verbeugte sich. Innerlich fluchte er dar über, daß der Minister so aalglatt war, aber äußerlich zeigte er überströmende Dankbarkeit. »Außerordentlich liebenswürdig, Exzellenz. Es ist mir angesichts dieser Sachlage völlig unverständlich, wie mein Freund, der Redakteur Antarillo, zu einer solch unsinnigen Nachricht kommen konnte. Der Minister horchte auf. »Wovon sprechen Sie?« Gomez spürte mit Befriedigung, wie es an seiner Angel zuckte. Mit sanfter Entrüstung meinte er: »Was glauben Sie wohl, Exzellenz, er behauptet al len Ernstes, Sie hätten in dieser Angelegenheit eine riesige Bestechungssumme empfangen.« Volltreffer. Coleas fuhr aus seinem Stuhl hoch und sank mit blassem Gesicht wieder zurück. Gewaltsam riß er sich zusammen. »Unglaublich. Wie kann er es wagen … Welche Zeitung ist das?« Das Gesicht seines Besuchers war voll tiefen Kummers. »Antarillo ist Korrespondent für verschie dene in- und ausländische Zeitungen.« 152
»Ich war bisher immer geneigt, solche Leute ernst zu nehmen.« Gomez hob die Schultern. »Antarillo ist von seiner Behauptung so überzeugt, daß er morgen in den ver schiedenen Blätter Sensationsartikel darüber bringen will. Ich hatte den Eindruck, daß er glaubt, im Besitz irgendwelcher Beweismittel zu sein.« Der Minister sah eine Million in ein Nichts verge hen. Er stöhnte: »Unmöglich, das muß ein Irrtum sein. Bestechung? Welch ungeheuerlicher Vorwurf!« »Es wird Ihnen sicher leicht fallen, ihn zu wider legen?« »Natürlich – natürlich«, stotterte der Minister. »A ber – der Skandal…« Gomez nickte mitfühlend. »Ich verstehe. Die Menschen haben eine fatale Neigung zum Mißtrauen. Sie werden sich natürlich rechtfertigen, aber man wird trotzdem an Ihnen zwei feln. Irgend etwas bleibt immer hängen.« »Furchtbar, furchtbar«, stöhnte Coleas. »Man muß den Kerl festsetzen. Wo wohnt er?« Gomez hob wieder die Schultern. »Unglücklicherweise ist er amerikanischer Staats angehöriger.« Coleas sank zusammen. Er fluchte innerlich wie ein Hafenarbeiter. Das hatte gerade noch gefehlt. Beweise für die Bestechung waren ja kaum vorhan den, aber wenn der Kerl tatsächlich morgen früh der 153
artige Nachrichten in die Zeitungen brachte, dann war es einfach aus mit dem schönen Geschäft. Er überlegte blitzschnell und begann dann vorsich tig zu tasten. »Hm, sagen Sie, welches Interesse hat denn Ihr Freund an der Verbreitung derartiger Lügen?« »Sensationsartikel werden gut bezahlt.« »Also Geld?« »Gewiß.« Gomez nickte. »Er verdient und ist großzügig genug, sich um die Notwendigkeit eines Widerrufs nicht besonders zu kümmern.« Coleas trommelte mit den Fingerspitzen nervös auf den Tisch. »Hm, hm, Sie werden verstehen, daß mir die Ge schichte peinlich ist. Die Behauptung Ihres Freundes ist natürlich völlig unwahr, aber Sie haben schon recht, wenn Sie sagen, daß die Leute trotz allem zweifeln. Könnte man Ihren Freund bewegen, gegen eine entsprechende Entschädigung seine Veröffentli chungen zu unterlassen?« Gomez sagte zurückhaltend: »Warum nicht, Ex zellenz. Antarillo ist ein Mensch, dem man nur ge nügend bieten muß.« »Dann veranlassen Sie ihn bitte, doch im Laufe des heutigen Tages bei mir vorzusprechen.« »Das wird leider nicht möglich sein. Mein Freund ist zu vorsichtig.« »Schade. Hm, würden Sie dann die Liebenswür 154
digkeit haben, die Angelegenheit mit Ihrem Freund in meinem Sinn zu regeln?« »Ich halte mich dazu für verpflichtet. Ich bitte Sie allerdings, mich nicht in die Lage zu bringen, einen ablehnenden Bescheid zu erhalten.« Die beiden »Ehrenmänner« waren nun beim Kern der Sache. Gomez wußte und Coleas ahnte zumin dest, was er von seinem Gegenüber zu halten hatte. Es ging lebhaft zu. »Würden Ihrem Freund tausend Dollar als Ent schädigung genügen?« »Sehr unwahrscheinlich, Exzellenz. Sie verkennen die Einnahmen eines derartigen internationalen Kor respondenten.« »Das Doppelte?« »Nach meiner persönlichen Schätzung würden fünftausend Dollar angebracht sein.« »Die Sache macht mich zum armen Mann, aber um das Ansehen der Nation nicht zu gefährden, bleibt mir wohl kaum etwas anderes übrig. Darf ich Ihnen einen Scheck über diese Summe ausstellen?« »Bitte sehr.« Drei Minuten später geleitete der Minister seinen Besucher höflich zur Tür. Die Unterredung war be endet. Sie hatte zu dem unter Menschen immerhin seltenen Ergebnis geführt, daß beide Teile hochbe friedigt waren. 155
6.
»Die Kerle führen uns an der Nase herum!« schrie Stenborrough in plötzlich aufflammender Wut und wies nach vorn. »Die Hakenspitze habe ich schon vor zwei Tagen aus der gleichen Entfernung gesehen. Ich lasse mich hängen, wenn wir mehr als zwei Mei len weiter seitlich von unserem damaligen Lager ste hen.« Der Zug stoppte, alles blickte über die flache, ge schützte Senke zu ihren Füßen in der Ferne, auf das majestätische Panorama kilometertiefer Schluchten und zerrissener, schneebedeckter Gipfel. Und dann wanderten die Blicke zu den beiden dunkelhäutigen Indios, die stumm und teilnahmslos an der Spitze standen. »He, wie ist das?« fuhr der schwarze, gedrungene Schotte sie an. Lord Seymour legte ihm von hinten die Hand auf die Schulter und sagte ruhig: »Wir wollen später dar über sprechen. Mein Vorschlag wäre, zunächst an dieser Senke das Lager aufzuschlagen, es ist ohnehin Zeit dazu.« »Schön«, knurrte Stenborrough sanfter. Befehle gingen nach hinten, die Trägerkolonne zog schwach nach vorn, den Hang hinunter und be gann wie alle Tage, Zelte und Feuer herzurichten. Die eigentlichen Teilnehmer der Expedition blie 156
ben oben, warfen sich in das Berggras oder setzten sich auf einzelne Blöcke zu einem weiten Kreis. Eine gefährliche Spannung lag in der Luft. Es waren insgesamt neun Personen. Fünf Männer waren zunächst nur wegen ihrer Berufe bemerkens wert; einer vertrat die Medizin, einer die Botanik, einer die Geologie und zwei die Archäologie. Der sechste Mann war der junge Lord Eningham, ein weltbekannter Sportler. Der siebte Mann war der wütende Stenborrough, Besitzer mehrerer Maschinenfabriken, aus denen er dank der gewissenhaften Arbeit seiner Direktoren Millionen zog. Er stand in der Mitte der dreißig. Man bezeichnete ihn allgemein als gedrungen, obgleich er größer war als mancher andere. Das kam daher, daß seine Gestalt außerordentlich massig und breit war, aber nicht von Fett, sondern von Muskeln. Der achte war Lord Seymour, mit Mitte der fünf zig der Älteste von allen, mehr hager als schlank, mit scharfgeschnittenem Gesicht und hellen Augen. Er war bekannt als ernster Wissenschaftler, dem aber eine rastlose Abenteuerlust im Blut saß, die ihn im mer wieder zu den seltsamsten und bizarrsten Unter nehmungen verleitete. Die neunte Person war die junge Betty Seymour, die einzige Tochter des Lords. Sie hatte von ihrer Mutter die Schönheit und den Liebreiz geerbt. Nur die hellen, fast kühnen Augen stammten von ihrem Vater. 157
Stenborrough, der die Expedition maßgeblich fi nanziell unterstützte, war um Betty Seymours willen mitgekommen. Dasselbe galt auch für den jungen Lord Eningham, der aber auf eigene Kosten reiste. Es hatte Wochen gedauert, bis sie nach Cuzco ge kommen waren. Dort hatten sie Träger und Führer angeworben, dann war die Expedition aufgebrochen. Nichts schien dagegen zu sprechen, daß man sich innerhalb weniger Tage inmitten des geheimnisvol len, verschlossenen Reichs der Inka-Nachkommen befinden würde. Und nun waren sie bereits eine volle Woche un terwegs und hatten immer noch nichts anderes als Berge und Schluchten, Kiefern und Kakteen zu Ge sicht bekommen. Die Indios hatten versprochen, die Expedition nach dem sagenhaften Quitarasca-Tal zu führen. Wenn man aber nähere Angaben von ihnen verlangte, zuckten sie mit den Schultern und schwie gen. Stenborrough sagte: »Ich habe die Geschichte satt. Nach unserer Marschleistung müßten wir schon das ganze Gebirge durchquert haben, statt dessen laufen wir im Zickzack und kommen in Wirklichkeit keinen Schritt vorwärts. Den Bergzipfel habe ich schon vor zwei Tagen aus fast der gleichen Richtung gesehen. Entweder führen uns die Indios absichtlich in die Ir re, oder sie wissen selbst nicht Bescheid.« »Oder die ganze Geschichte vom Quitarasca-Tal 158
und den Kulturstätten der Inka in diesem Gebirge ist überhaupt ein Schwindel«, ergänzte Jonny Ening ham. »Bestimmt nicht«, widersprach Lord Seymour, »dazu lauten die Nachrichten zu bestimmt. In diesem Gebiet müssen sich noch ausgedehnte und zum Teil noch heute bewohnte Inka-Siedlungen befinden.« »Ich bin Ihrer Meinung«, sagte der Archäologe Lowell. »Ich hoffe sogar, hier nicht nur erhebliche Spuren der Inkakultur sondern auch ihrer Vorläufer, der Aimara, zu finden.« Stenborrough wandte sich an Seymour. »Wir müssen uns darüber einig werden, ob wir uns von den Indios weiter an der Nase herumführen las sen.« Der Lord hob die Schultern. »Wir sind auf ihre Führung angewiesen. Die Aus sicht, das Tal durch Zufall zu entdecken, ist sehr ge ring.« »Immer noch größer als die Wahrscheinlichkeit, daß uns diese Gauner an den richtigen Ort bringen.« »Wir wollen sie noch einmal fragen.« Wenig später standen die beiden Indios vor den Männern. Seymour wandte sich an den älteren der beiden. »Callaho, wo ist das Quitarasca-Tal?« Der Mann machte eine unbestimmte HalbkreisBewegung. 159
»Dort, Herr.« »Und wann kommen wir dorthin?« »In einigen Tagen, vielleicht in drei oder vier.« »Hast du überhaupt eine Ahnung, wo das Tal liegt?« fragte Stenborrough. »Ja.« »Warum führst du uns nicht direkt dahin?« Der Indio hob gleichmütig die Schultern. »Die Berge sind schwer und die Schluchten zu tief.« Der Schotte trat dicht an den Mann heran. »So, der Weg ist auf einmal zu schwer. In Cuzco hast du uns erzählt, wir würden innerhalb weniger Tage an Ort und Stelle sein. Ich glaube, du willst uns an der Nase herumführen. Von morgen ab sehe ich dir auf die Finger, und du wirst mich kennenlernen, wenn ich dich bei irgendwelchen Flausen ertappe.« Die beiden Führer wandten sich mit gleichmütigen Gesichtern ab und gingen zu den Zelten hinunter. Eine Weile herrschte in der Runde Schweigen. Dann sagte Lord Eningham: »Wissen möchte ich ja gern, was sich die beiden Burschen denken.« »Wahrscheinlich halten sie uns für Idioten«, knurrte Stenborrough. »Ich bezweifle ernsthaft, daß sie so stark verall gemeinern«, bemerkte Betty Seymour. »Danke«, brummte der Schotte, der sich mit Recht getroffen fühlte. 160
»Was gedenken Sie eigentlich zu tun, wenn uns Ihrer Meinung nach die Indios auch morgen weiter hin in die Irre führen?« erkundigte sich Jonny Ening ham wie beiläufig. »Zum Teufel jagen werde ich sie«, kam bösartig die Antwort, »aber nicht ohne ihnen vorher eine handfeste Tracht Prügel verabreicht zu haben.« »Sie dürfen sich nicht hinreißen lassen«, besänf tigte Seymour. »Vergessen wir nicht, daß wir ohne die Leute ziemlich hilflos sind. Wir müßten umkeh ren, und selbst dann würde es uns nicht ganz leicht fallen, aus dieser Wildnis heraus den Weg wieder nach Cuzco zu finden.« »Das kann mir egal sein. Ich mache das Narren spiel nicht mehr mit. Aber ich werde dafür sorgen, daß uns die Kerle nicht durch die Lappen gehen.« Jonny Eningham wachte mitten in der Nacht auf. Er hatte irgend einen Laut aufgefangen, der ihm ver dächtig erschien. Behutsam erhob er sich, schnallte die Waffe um, verließ das Zelt. Die Nacht war still und klar. Wie ein dunkler Dom stand das Himmelsgewölbe über der bizarren Land schaft. Eningham lauschte. Nach einer Weile erreichte der Klang einer menschlichen Stimme sein Ohr. Es dau erte eine Weile, bis er festgestellt hatte, woher sie kam. 161
Am oberen Rand der Senke, wo der Felsen steil ansprang, bewegte sich ein Schatten. Vorsichtig schlich sich der junge Lord hinauf. Als er noch dreißig Meter von seinem Ziel entfernt war, lösten sich von der Felsenecke zwei Gestalten. Sekundenlang fiel das Mondlicht voll auf ihre Ge sichter. Der eine der beiden Männer war Callaho, der in dianische Führer. Der andere war ein Fremder. Das Gesicht des Mannes war so eigenartig stolz und edel geschnitten, daß er keinen Augenblick lang daran zweifelte, jemanden vor sich zu haben, der nicht zur Expedition gehörte. Callaho machte eine demütige Verbeugung. Der Fremde verschwand im Schatten des Felsens. Eningham blieb unbeweglich liegen, bis der Indio dicht an ihn heran war. Dann sprang er auf und stell te sich ihm in den Weg. Wenn Callaho erschrocken war, so beherrschte er sich gut. Gleichmütig bog er ab und wollte vorüber schreiten. Der Lord faßte ihn am Arm. »Nicht so hastig, mein Freund. Wer war der Frem de, mit dem du sprachst?« »Ein Freund«, erwiderte der Indio ausweichend. »Und?« »Nichts, Herr. Wir haben uns eine Weile unterhal ten.« »Worüber?« 162
»Über Familienangelegenheiten, Herr.« »Wie heißt denn dein Freund?« Ein kleines Zögern, dann kam ruhig die Antwort: »Chiha.« »Ich halte es in deinem Interesse für besser, wenn du dir nicht jedes Wort herausziehen läßt. Also, was ist mit dem Fremden?« Callaho blieb eine Weile stumm, dann sagte er lei se: »Ich will es Ihnen sagen, Herr. Chiha ist einer meiner Freunde, die in den Bergen wohnen. Ich selbst war noch nie im Quitarasca-Tal, obgleich ich das Ihnen gegenüber behauptet habe. Der Weg dort hin ist mir unbekannt, doch war ich sicher, ihn durch meine Freunde zu erfahren. Deswegen traf ich mich mit Chiha und deswegen sprach ich mit ihm.« Diese Begründung war einleuchtend. Eninghams Argwohn schwand. »Weißt du nun den Weg in jenes Tal?« Wieder ein kurzes Zögern, dann nickte Callaho. »Ja, Herr.« »Dein Glück«, meinte der Lord lächelnd, »sonst wäre es dir morgen vermutlich schlecht gegangen. Mister Stenborrough ist nicht gut auf dich zu spre chen.« Der andere erwiderte nichts, sondern verbeugte sich nur stumm und schritt in die Senke hinab. * 163
Am Morgen waren sämtliche Träger spurlos ver schwunden. Innerhalb von zwei Minuten war das Lager alar miert. Man sammelte sich vor Seymours Zelt. Wirr und ratlos gingen die Fragen und Meinungen hin und her. Man hatte angenommen, daß auch die beiden Füh rer weggelaufen seien. Um so erstaunter war man, als plötzlich Callaho vom oberen Rand der Senke her auf die Zelte zugeschlendert kam. Sein Gesicht war ernst, aber von Schuldbewußtsein zeigte es nichts. Er schritt geradewegs auf Lord Seymour zu, den er von jeher als eigentliches Haupt der Expedition be trachtete. Mit einer kleinen Verneigung sagte er: »Die Träger haben in der Nacht das Lager verlassen, Herr, mit ihnen mein Kamerad. Ich bemerkte es erst vorhin und folgte ihrer Spur. Aber sie verlief sich im Felsen.« Stenborrough machte sich zum Sprecher der ande ren, indem er den Indio anfuhr: »Stell dich nocht so unschuldig! Du steckst mit den Kerlen unter einer Decke.« »Dann wäre ich mit ihnen geflohen.« Die im würdevollen Ton gegebene Antwort ver fehlte ihre Wirkung nicht. Nichts wäre leichter für Callaho gewesen, als ebenfalls zu fliehen, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte. 164
»Hast du eine Ahnung, wo deine Kameraden jetzt sind?« wandte sich Seymour an Callaho. »Ich vermute, daß sie nach Cuzco zurückkehren«, erwiderte der Indio sachlich. »Warum sind deine Kameraden geflohen?« »Sie fürchten sich«, war die kurze Antwort. »Sie fürchten sich? Aber warum, vor wem?« frag te der Lord. »Sie fürchten sich vor den Herrn der Berge.« »Wer ist das?« »Die Inkas«, sagte Callaho. »Lächerlich«, warf der Schotte ein. »Als ob wir nicht genügend Gewehre zur Verfügung hätten, um sie zu gebrauchen.« Über das Gesicht des Indios ging ein spöttisches Lächeln. »Die Kugel trifft nur, was der Schütze sieht. Die Herren der Berge aber sieht man nicht.« »Kunststück, bei dem Gelände. Aber wir würden die Burschen schon aufspüren.« »Callaho hat gar nicht so unrecht«, mischte sich Betty Seymour ein. »Mit den Erfahrungen einer Reb huhnjagd wird man hier nicht weit kommen, verehr ter Mister Stenborrough. Unerklärlich ist mir nur, warum die Leute ausgerechnet heute nacht fortge gangen sind. Sie hätten das Vergnügen doch schon vor einigen Tagen haben können.« Der Führer wies mit einer unbestimmten Bewe 165
gung auf das gewaltige Panorama, das sich vor ihnen ausbreitete. »Bis jetzt marschierten wir durch Peru. Hier aber beginnt das ›Verschlossene Reich‹.« »Das Reich der Inka?« »Ja, Herr.« »Warum verschlossen?« fragte Seymour. »Niemand darf ohne Erlaubnis der Inka das ›Ver schlossene Reich‹ betreten. Wer es trotzdem gewagt hat, kehrte nicht wieder oder wurde tot aufgefun den.« »Ermordet?« Ein rätselhaftes Lächeln glitt über Callahos Ge sicht. »Sie waren auf unbekanntem, unwegsamem Pfad abgestürzt, oder der Steinschlag hatte sie getötet.« »Aha.« »Es ist nicht gut, in das ›Verschlossene Reich‹ ein zudringen«, fuhr der Indio nachdrücklich fort. »Die Geister der Toten kommen über die Lebenden.« »War dein Freund von heute nacht ein Inka?« fragte Eningham scharf. Callaho zuckte kaum merklich zusammen. Dann gab er mit fester Stimme zu: »Ja, es war der Inka Chiha. Ich belog Sie, als ich sagte, es sei einer mei ner Freunde gewesen.« »Ist darin ein Unterschied?« »Ja. Ich bin nicht wert, Freund eines Inka zu sein. 166
Die Sünde meiner Vorfahren hat mein Blut unrein gemacht. Ich bin selbst nicht wert, ihr Diener zu sein …« Eningham mußte nun erst die Fragen der anderen Expeditionsmitglieder beantworten, die auf ihn ein stürmten. Er berichtete von seinem nächtlichen Er lebnis, das nun in einem gänzlich neuen Licht er schien. Endlich kam er dazu, den Indio weiter zur Rede zu stellen. »Du hast mir heute nacht die Unwahrheit gesagt, Callaho. Wirst du uns nun verraten, worüber ihr euch dort oben unterhalten habt!« »Der Inka Chiha warnte mich, euch in das ›Ver schlossene Reich‹ zu führen. Und er beauftragte mich, euch zu sagen, daß ihr eher den Tod sehen würdet als das Quitarasca-Tal. Das Wort der Inka ist die Gewißheit des Himmels. Es ist gut, daß die Trä ger davongezogen sind. Sie müssen nun nach Cuzco zurück, und das rettet Ihnen das Leben.« Sekundenlang war es still. Dann fragte Lord Sey mour bedächtig: »Und du meinst, daß wir wirklich umkehren werden?« In den Augen Callahos lag eine verwunderte Fra ge. »Die Träger haben das Gepäck und Lebensmittel mitgenommen, Herr.« »Würdest du uns weiterführen?« »Nein, Herr.« 167
»Laß uns jetzt allein, wir wollen beraten.« Der Indio ging davon. »Nun«, begann Lord Seymour, »was sagen Sie da zu? Ich bitte Sie, eine Entscheidung darüber zu tref fen, ob wir umkehren oder auf eigene Faust in das sagenhafte ›Verschlossene Reich‹ eindringen wol len.« »Wir kehren selbstverständlich nicht um«, sagte Stenborrough mit aller Entschiedenheit. »Traurig ge nug, daß diese Schweinerei überhaupt vorgekommen ist. Wir hätten die Burschen schärfer im Auge behal ten sollen. Wäre ich heute nacht an Eninghams Stelle gewesen, dann wäre das bestimmt nicht passiert.« »Was wollen Sie damit sagen?« fuhr der junge Lord auf. »Er hätte wahrscheinlich die Träger mit Bindfaden zusammengebunden und das Ende um seine große Zehe gelegt«, sagte Betty Seymour. Der Schotte warf ihr einen mörderischen Blick zu und erwiderte bissig: »Jedenfalls hätte ich in einem solchen Fall meine Augen auch noch woanders ge habt als nur bei Ihnen.« »Etwa im Whiskyglas?« fragte die junge Frau mit kühlem Lächeln. »Sie dürfen Ihre Alkoholleiden schaft nicht bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erwähnen, teurer Herr.« Der Schotte wurde förmlich weiß vor Wut. Lord Seymour griff vermittelnd ein. »Wir wollen 168
uns nicht um Vergangenes streiten. Die Tatsachen sind eindeutig. Die nächstliegende Möglichkeit ist die, daß wir umkehren. Dann ist unsere Expedition freilich umsonst gewesen, denn so wie heute wird es uns auch im Wiederholungsfall gehen. Die zweite Möglichkeit besteht wohl nur darin, daß wir ohne Führer und ohne das vorgesehene Material in das un bekannte Land eindringen. Berücksichtigen Sie bitte, daß dann unser aller Leben von unserer Vorsicht und der Zielsicherheit unserer Gewehre abhängt. Wir ste hen unter Umständen gegen Tausende unbekannter Feinde, deren Tüchtigkeit und Tapferkeit vorläufig nicht in Zweifel gezogen werden können. Wir müs sen damit rechnen, daß sie ständig unsichtbar blei ben, daß sie das ihnen vertraute Gelände bis aufs äu ßerste ausnützen. Ich weiß nicht, ob diese Inkas über Gewehre verfügen und sie zu gebrauchen wissen. Wenn es aber der Fall ist, dann ist unsere Chance nicht größer als eins zu hundert, daß wir das Quita rasca-Tal ungefährdet erreichen und später wieder verlassen können. Setzen Sie das bitte voraus und treffen Sie Ihre Entscheidung.« Damit war die Antwort im Grunde genommen schon gegeben. Diese Männer schreckten selbst vor der geringsten Aussicht nicht zurück. Ganz abgese hen davon war es ja noch sehr unzweifelhaft, ob die Dinge wirklich so ungünstig lagen. Bis jetzt kannte man die Inkas und die Drohungen des »Verschlosse 169
nen Reiches« nur aus den Andeutungen Callahos. Wer wußte schon, ob die Bewohner der Berge über haupt den Mut aufbringen würden, diesem geschlos senen Trupp entgegenzutreten. Die größere Gefahr lag wahrscheinlich doch nicht in den Menschen, son dern in der Wildheit des Landes. Und der konnte man Schritt für Schritt zu Leibe rücken. Das waren so ungefähr die Gedankengänge, die die Männer bewegten. Stenborrough sprach sie in seinem gewohnten, hitzigen Temperament als erster aus. »Es ist gar keine Frage, daß wir weiterziehen. Ich lasse mich doch nicht von Kindermärchen erschrek ken. Der erste Inka, der sich sehen läßt, kriegt eine Kugel aufgebrannt. Ich wette, daß sich damit der ganze Spuk erledigt hat.« »Ganz so leicht stelle ich mir das weitere Vordrin gen allerdings nicht vor«, ergriff Lord Eningham das Wort, »aber ich bin durchaus dafür, daß wir die Ex pedition nicht fruchtlos abbrechen, sondern nun erst recht vordringen. Verhungern werden wir ja nicht gerade, wenn das Gepäck auch fort ist. Verzichten wir eben auf unsere Konserven. So viel ich gesehen habe, gibt es hier genügend jagdbares Wild.« »Auch ich bin für Weitermarsch«, sagte Betty Seymour mit heller Stimme. »Jetzt beginnt mich das ganze Abenteuer erst zu reizen.« Einer nach dem anderen erklärte sich für die Fort setzung der Expedition. Nun gab auch der Lord seine 170
Meinung kund, die sich mit der seiner Begleiter deckte. Callaho wurde herbeigerufen und von der Ent scheidung verständigt. Sein Gesicht wurde düster. »Ich habe Sie gewarnt, Herr. Sie gehen in den Tod. Sie werden das ›Verschlossene Reich‹ niemals lebend wieder verlassen. Es liegt nicht in meiner Macht, Sie zurückzuhalten.« »Wohin wirst du gehen?« fragte der Lord ruhig. »Nach Cuzco zurück. Wenn Sie der Welt noch et was zu bestellen haben, so will ich Nachrichten mit nehmen.« »Du scheinst ja von unserem Tod überzeugt zu sein«, rief Stenborrough mißtönig aus. »Ich bin es«, bejahte der Indio mit beeindruckender Sicherheit. Es waren elf Personen, die sich nach einem ausgiebi gen Rasttag auf den Weg machten, um in das »Ver schlossene Reich«, einzudringen. Sie gingen im Gän semarsch hintereinander, voran Stenborrough, dann Seymour, dann dessen Tochter, danach Lord Ening ham und schließlich die anderen. Die Expedition marschierte in einer Höhe von 2500 bis 3000 Metern. Sie folgte einem verhältnis mäßig deutlich erkennbaren Pfad, der zwar mit ei nem europäischen Pfad nichts zu tun hatte, aber im merhin keine besonderen Schwierigkeiten bot. Er 171
schlängelte sich auf halber Höhe an einem Gebirgs kamm entlang, der ziemlich genau von Westen nach Osten lief. Links stürzte eine langgestreckte Schlucht fast tausend Meter tief hinab, rechts stiegen die kah len Wände bald steiler, bald flacher an. Von Feinden, von Inkas hatte man bisher noch nicht das geringste entdeckt. Jonny Eningham holte ein Stück auf, so daß er sich mit Betty Seymour leise unterhalten konnte. »Wie fühlen Sie sich, Miss Betty?« »Ausgezeichnet«, sagte sie lächelnd. »Im Grunde genommen bin ich froh, daß ich nicht an der Spitze zu gehen brauche«, flüsterte er. »Stark entwickelter Selbsterhaltungstrieb?« fragte sie. »Nein, ich freue mich, weil ich Sie immer vor Au gen haben kann.« »Sie sollten Ihre Augen lieber auf die drohenden Gefahren richten.« Er lachte. »Tue ich. Die größte Gefahr für meinen Seelen frieden sind Sie.« »Aber, Jonny, Sie wollen mir doch nicht etwa hier eine Liebeserklärung machen? Einen ungeeigneteren Platz kann ich mir kaum denken.« Er holte noch einen Schritt auf und flüsterte: »Dann werde ich so bald wie möglich für einen ge eigneten Platz sorgen.« 172
»Unterstehen Sie sich.« »Betty!« Sie riß ihn an die Felswand heran und sagte vor wurfsvoll: »Passen Sie lieber auf den Weg auf. Bei nahe wären Sie abgestürzt.« Die Spitze stoppte. Der Pfad, der ganz allmählich zu einem kaum mehr als meterbreiten Felsgesims an einer schroff abstürzenden Platte geworden war, endete abrupt. Der Felsen sprang mit einemmal um wenige Meter im rechten Winkel vor, ungefähr wie der wuchtige Grundpfeiler einer alten Kirchenmauer. Was jenseits war, und wie weit sich der Vorsprung erstreckte, konnte man nicht sehen. Man stand auf dem auffal lend ebenen Weg, der sauber und scharf gegen den Felsen stieß. Dieser selbst war glatt, wie mit dem Messer abgeschnitten. »Eine künstliche Sperre«, sagte Lowell. »Es sieht so aus und dann doch wieder nicht«, meinte Lord Seymour. »Die auffallende Präzision läßt auf Menschen schließen, andererseits besteht aber wohl kaum ein Zweifel, daß das gewachsener Felsen und nicht irgendein künstliches Mauerwerk ist.« Eningham entdeckte in der Wand eine feine, senk rechte Spalte. Sie war kaum sichtbar, zu dünn, um mit der Messerklinge hineinzukommen, aber unver kennbar nicht natürlich entstanden. Eine halbe Stunde lang versuchten die Männer 173
vergeblich, das Geheimnis des Felsvorsprungs zu lösen. Dann gaben sie es auf. Blieb also wirklich nur die Umkehr? Das war un angenehm, denn es bedeutete viele verlorene Stun den. Es war aber auch nicht so schlimm, daß man die Angelegenheit tragisch nehmen mußte. Nur der Schotte fluchte vor Wut. Er hatte es sich angewöhnt, die Expedition als einen Faktor seines persönlichen Ehrgeizes zu betrachten. Er faßte den im Grunde harmlosen Zwischenfall geradezu als erheblichen Angriff auf seine Person auf. Am Nachmittag überquerten sie einen Sattel auf einen anderen Gebirgskamm zu, der sich in südwest licher Richtung in das Land hineinzog. Wieder ka men sie stundenlang vorwärts, ohne daß sich ein Zwischenfall ereignete. Der Weg verlief abermals zwischen Absturz und anstehender Felswand. Er war breiter als der erste, dafür aber häufiger mit Geröll massen überschüttet. Die ansteigende Felswand wurde steiler, ging fast in die Senkrechte über. Der Weg schien sich in der freien Luft zu verlieren. Das war eine optische Täu schung. In Wirklichkeit mußte sich der Pfad dort senken. Stenborrough empfand zum erstenmal wie der Genugtuung. Er war überzeugt, daß sie nur diese sperrenden Kämme überwinden mußten, um dann das sagenhafte Inkaland offen vor sich liegen zu se hen. Für ihn war damit das Ziel erreicht. 174
Von hinten gellte ein Schrei. »Zurück, Stenborrough, zurück!« Der Schotte blickte nach oben. Hundert Meter ü ber sich sah er eine Lawine von Felsblöcken und Trümmerstücken, die zu Tal donnerte. Er warf sich mit einem unartikulierten Laut herum und raste hinter Seymour her, der die Gefahr kaum weniger schnell begriffen hatte. Hinter seinem Rücken prasselte die Steinlawine auf den Pfad. Die Gesichter der Männer waren blaß, als sie die Steinmassen sahen, die den Weg versperrten. Scheußlich, sich vorzustellen, daß man jetzt unter diesen Steinbrocken liegen könnte. »Das ging ja noch einmal glatt ab«, sagte Seymour in einem scherzhaft leichten Ton, um die Spannung zu lösen.« »Verfluchtes Gesindel!« Der Schotte schüttelte drohend die Faust nach oben. »Das nächstemal sind wir am Zug.« »Sie glauben, daß die Inka hinter diesem Steinfall stecken?« fragte Lowell. »Was sonst?« schnauzte Stenborrough. Seine Au gen suchten die Höhe ab. Plötzlich blitzte es in ihnen auf. Hatte er einen der unbekannten Gegner bemerkt? Er riß das Gewehr von der Schulter, warf den Si cherungshebel herum, setzte an und schoß fast senk recht nach oben. Der Knall brach sich dröhnend an 175
der Wand und kam als rollendes Echo zurück. Fast unverzüglich zeigte sich, daß sich auf der Höhe tatsächlich Menschen befanden. Dicht hinter einander knatterten sechs Schüsse. Bevor sich die Mitglieder der Expedition zu einer Reaktion aufgerafft hatten, war es schon wieder still. Sie unterhielten sich flüsternd über den Vorfall und erwarteten insgeheim einen weiteren Angriff, doch dann wies Betty Seymour mit der Hand und rief: »Dort in der Kiefer sitzen ja die Kugeln!« Etwas zurück stand eine verkrüppelte Bergkiefer, deren Stamm schräg über den Abgrund hing, als müßten im nächsten Augenblick die Wurzeln nach geben. In halber Höhe des Stammes befanden sich die Einschüsse. Sie bildeten ein Kreuz. Die Kugeln saßen in völlig gleichem Abstand im Holz. Sie starrten schweigend auf die Einschußlöcher, blickten sich ratlos an. Wieder war es das junge Mädchen, das den Bann brach. »Das dürfte wohl an Ihre Adresse gerichtet sein, Mr. Stenborrough.« »Wieso?« Lord Eningham erklärte es ihm: »Diese Schüsse sind eine Mahnung an Ihre Adresse. Der Mann, der sie abgegeben hat, ist ein Kunstschütze. Er hätte Ih nen die Kugeln ebenso leicht ins Herz setzen können. Es ist besser, wenn Sie das begreifen. Man will uns andeuten, daß wir bei einer Schießerei den Kürzeren 176
ziehen würden.« »Bluff!« entgegnete der Schotte mürrisch. »Kein Bluff«, widersprach jetzt auch Seymour. »Ich bin ebenfalls der Meinung, daß wir nicht ohne Not von unseren Schußwaffen Gebrauch machen sollten. Wir haben Glück, daß diese Inkas keine di rekten Mordabsichten hegen. Sie könnten uns ein fach abschießen.« Der Schotte wies auf die Geröllhalde. »Und das?« »Auch das scheint mir nur zu bestätigen, daß sie uns wohl abschrecken, aber nicht unbedingt töten möchten.« Sie untersuchten das Hindernis nun näher. Viele Tonnen mußten herabgestürzt sein. Es war ausge schlossen, sie aus dem Weg zu räumen, aber es war ebenso ausgeschlossen, sie zu umgehen. Im übrigen war die Sonne mittlerweile so tief ge sunken, daß es höchste Zeit wurde, den Lagerplatz herzurichten. Sie blieben gleich an Ort und Stelle. Der Platz war alles andere als günstig, aber sie konn ten nicht erst nach einem besseren suchen. Es war ausgeschlossen, jetzt umzukehren und stundenlang zurückzuwandern. So richteten sie an der Felswand notdürftig die Schlafstätten her. Feuer konnten sie auch nicht machen, weil es an Holz fehlte. Sie besa ßen jedoch noch genügend Lebensmittel, die sie kalt essen konnten. 177
Am nächsten Tag unternahmen sie den dritten Vor stoß. Nach einem langen Rückmarsch wechselten sie auf einen Kamm hinüber, der zunächst nach Süden führte, um dann winklig abzubrechen und westliche Richtung einzuschlagen. Die Stimmung der Expedition war gedrückt. Die wissenschaftlichen Mitglieder waren durch den Fels sturz und durch die Schußprobe des Unbekannten recht nachdenklich geworden. In Stenborrough hockte eine Wut auf die unsicht baren Inkas, die ihn zum Narren halten wollten, und Lord Seymour wurde von seiner ewig jungen Aben teuerlust vorwärts getrieben. Erst nach der Mittagsrast wurde die Gesellschaft munter. Sie waren schon weit vorgedrungen, mußten bald in westlicher Richtung umschwenken. Die Ge sichter strafften sich, die Augen prüften schärfer den Boden und Himmel. Der Felsen machte eine scharfe Rechtskurve. Stenborrough umschritt sie mit aller gebotenen Vor sicht. Der Weg vor ihm war frei und unverdächtig. In zehn Meter Abstand folgte Seymour, dann seine Tochter, hinter ihr Eningham. Der junge Lord hatte die Ecke gerade passiert, als plötzlich aus der Höhe ein Schrei erklang, wie in Schrecken und Entsetzen ausgestoßen: »Achtung dort unten! Achtung!« 178
Die Köpfe fuhren hoch. Einen Augenblick lang standen alle wie Bildsäulen. Dann begannen sie da vonzurasen. Eningham und die drei anderen vor ihm nach vorn, die Männer hinter ihm zurück. Es war ein Angriff, der dem vom Vortag aufs Haar ähnelte, nur daß er diesmal sichtlich ernst gemeint war. Die Mit glieder der Expedition sahen, wie sich in der Höhe ein gewaltiger Felsblock löste. Als das Donnern der aufschlagenden Steine ihre Ohren erreichte, blieben sie stehen und wandten sich um. Der Weg war völlig verschüttet, von der anderen Hälfte des Trupps war nichts mehr zu sehen. Die vier von der Spitze standen in einer verstörten Gruppe beisammen. Stenborrough lachte wie irr auf und sagte rauh: »Da haben Sie Ihre rücksichtsvollen Inkas. Habe ich nicht schon gestern gesagt, daß die Kerle einfach darauf aus sind, uns so schnell wie möglich zu erledigen?« Niemand hatte Anlaß, ihm zu widersprechen. Der Angriff war zu eindeutig gewesen. Trotzdem sagte Betty Seymour: »Und doch hat jemand aus der Höhe gewarnt. Ohne den Zuruf wären wir jetzt zerschmet tert.« »Unsere Begleiter sind es vielleicht ohnehin«, meinte Lord Seymour bekümmert. »Hat jemand ge sehen, wie weit sich der Steinsturz erstreckte?« Sie schüttelten stumm die Köpfe. 179
»Wir wollen rufen«, schlug Eningham vor. Sie legten die Hände an den Mund und riefen die Namen der anderen, einzeln und alle zusammen. Es kam keine Antwort zurück. Waren sie tot oder nur so weit geflüchtet, daß die Stimmen sie nicht mehr erreichten? Sie prüften die Barriere, aber auch hier ging es wie gestern. Sie war mit ihren Hilfsmitteln einfach un überwindlich. Es blieb ihnen nur der Weg nach vorn. Und dort vorn lauerte der Tod. 7. Hal Mervin lebte in der rotschimmernden Porphyr burg der Inkas wie Gott in Frankreich. Zunächst hat te es ihn etwas irritiert, als Sun Koh mit Nimba allein nach Lima geflogen war, aber dann hatte er sich sehr schnell mit seinem Los abgefunden. Es gab viel zu sehen im Quitarasca-Tal. Geheim nis umwitterte jeden Stein. Und die Inkas behandel ten ihn wie einen König. Sie übertrugen die göttliche Verehrung, die sie dem Sohn der Sonne zollten, ge wissermaßen auch auf ihn. Ein einziger von ihnen, der einige Stunden nach der Abreise Sun Kohs eingetroffen war, sprach leid lich englisch. Er mußte den Dolmetscher machen. Rotacsa, knapp über zwanzig Jahre alt, hatte bald dicke Freundschaft mit dem sommersprossigen 180
Großstadtjungen geschlossen. Der zweite, mit dem sich Hal näher befreundet hatte, war Chiha. Aber Chiha verschwand bereits am zweiten Tag. Hal, der ihn ständig zu sehen gewohnt war, ver mißte ihn bereits am anderen Morgen. »Wo ist China?« erkundigte er sich bei Rotacsa. »Fremde wollen hierher vordringen. Sie waren schon eine ganze Weile gemeldet. Einer der Leute aus Cuzco hat sie eine Woche lang hin- und herge führt. Aber dann merkten sie es. Und nun hat Chiha eingegriffen.« »Na und?« »Chiha ist im Auftrag Atarascas bereits vorgestern abend weg. Er hat noch in der gleichen Nacht veran laßt, daß die Träger und Führer der Weißen nach Cuzco zurückgekehrt sind. Wir hoffen, sie würden ebenfalls umkehren. Aber sie zogen weiter. Da haben wir ihnen gestern nachmittag eine Steinlawine direkt vor die Nase gesetzt, und einer der unseren hat ihnen auch noch gezeigt, wie sicher wir schießen. Sie sind gewarnt. Noch leben sie, aber wenn sie ihr Vorhaben nicht bald aufgeben, dann werden sie sterben. Sie wollen in das ›Verschlossene Reich‹ eindringen, und wenn das erst denen gelungen ist, dann kommen an dere, und dann ist es zu Ende mit uns.« »Unsinn«, murmelte Hal. »Wenn Sun Koh die Kaufurkunde bringt, dann müssen sie umkehren. Führe mich zu Atarasca.« 181
Rotacsa tat ihm den Willen. In Kürze standen sie vor dem Führer der Berg-Inkas. »Du hast mir etwas zu sagen«, empfing dieser den Jungen freundlich. »Ich höre eben von Rotacsa, daß Weiße unterwegs sind und daß ihr sie töten wollt, damit sie nicht hier her kommen können. Das wird Sun Koh gar nicht passen.« Atarasca machte ein betroffenes Gesicht. »Du meinst, daß der Sohn der Sonne zornig sein wird, wenn wir die Eindringlinge bestrafen?« »Jawohl.« Hal nickte heftig. »Ihr könnt doch nicht ein Blutbad anrichten unter Leuten, die euch gar nichts getan haben.« »Wir töten nicht gern einen Menschen«, wehrte Atarasca würdig den Vorwurf ab. »Aber wir müssen uns die Neugierigen fernhalten, und wenn unsere Warnungen nicht genügen, so müssen wir zu stärke ren Mitteln greifen. Der Sohn der Sonne selbst will, daß dieses Land den Weißen unbekannt bleibt.« »Freilich, freilich«, räumte Hal ein, »aber dazu gibt es doch andere Mittel. Sun Koh fährt doch gera de deswegen nach Lima und erwirbt das Land käuf lich, damit er ohne Gewaltanwendung die Leute hi nauswerfen kann.« Der Führer der Berg-Inkas schüttelte den Kopf. »Das Gesetz der Weißen ist uns noch immer zum Nachteil gewesen.« 182
»Das beweist gar nichts«, rief der Junge erregt. »Jedenfalls könnt ihr nicht friedliche Leute töten, wenn man ihnen morgen oder übermorgen nur einen Papierfetzen unter die Nase zu halten braucht, um sie zur Umkehr zu bewegen. Ich rate euch dringend, sie am Leben zu lassen, bis Sun Koh zurückkehrt.« »Du meinst?« fragte Atarasca unsicher. »Bestimmt. Sun Koh wird euch schon den Marsch blasen, wenn ihr so mir nichts dir nichts ein Dutzend Menschenleben auf sein Konto ladet. Haltet die Leu te hin. In ein bis zwei Tagen werden sie nicht gleich eure ganze Herrlichkeit klauen.« Atarasca nickte bedächtig. »Gut, du hast vielleicht recht. Ich werde entspre chende Anweisungen geben. Wie aber, wenn die Fremden meine Leute angreifen?« Hal wußte sofort Rat. »Ich werde mit ihnen reden, werde sie veranlas sen, daß sie sich ruhig verhalten, bis Sun Koh selbst mit ihnen spricht. Kann ich noch heute dorthin kommen, wo sie sich aufhalten?« »Die Charquis werden es in sechs Stunden schaffen.« »Und ich?« »In zwanzig Stunden oder mehr.« »Aber Chiha ist doch innerhalb einer Nacht hinge kommen?« »Er hat sich ebenfalls von den Charquis tragen las sen.« 183
»Wer ist das?« Atarasca lächelte mit einem gewissen Stolz. »Die Charquis sind die Söhne unserer besten Ge schlechter. Im alten Kaiserreich waren es die könig lichen Boten, die in mehreren Staffeln an einem Tag dreihundert Kilometer bewältigten. Noch heute ha ben wir Charquis, aber wie ich dir schon sagte, sind es unsere edelsten Jünglinge. Sie werden schon als Knaben auf den Lauf trainiert und leisten ohne eine Spur von Koka mehr als fünf andere Sterbliche zu sammen. Du mußt dich ihnen anvertrauen.« Hal blickte mißtrauisch. »Etwa Huckepack tragen lassen?« »Nein«, beruhigte Atarasca ihn, »du wirst in ei nem ledernen Beutel getragen, der zwischen zwei Stangen hängt.« »Das stelle ich mir aber verflucht komisch vor«, meinte der Junge. »Doch wenn sich Chiha spazieren tragen ließ, dann kann ich es ja schließlich auch tun.« Eine halbe Stunde später saß Hal Mervin tatsäch lich in dem angekündigten ledernen Beutel, aus dem er mit Brust und Armen herausragte. Die beiden Trä ger waren junge Leute mit schmalen Gesichtern und staubdürren Körpern, an denen bestimmt kein Gramm Fett saß. Rotacsa kam nach einer kleinen Weile in einer ganz ähnlichen Verpackung. Nun ging die Reise los. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sich Hal an das 184
merkwürdige Schwingen gewöhnt hatte. Seine Trä ger liefen mit einer Ausdauer, für die es einfach kei nen Vergleich gab. Sie liefen, liefen, ununterbrochen ohne Pause, immer in dem gleichen, windschnellen Tempo, kaum daß sie es etwas verringerten, wenn es steil hinunter- oder hinaufging. Sie liefen durch die Schluchten, über Höhenrücken, an Abstürzen vorbei, ohne unsicher zu werden, zu schwanken oder zu stolpern. Die Straßen und Wege waren allerdings in einem ausgezeichneten Zustand. Nach einer Stunde hielten sie vor einem winzigen Blockhaus. Dort standen schon vier neue Träger be reit. Sie riefen den Ankommenden einen Gruß zu, luden die Stangen auf ihre Schultern – und weiter ging’s in gleichem schnellen Tempo, eine Stunde lang bis zum nächsten Wechsel. Es war Hal zunächst ein Rätsel, wie die Leute ü berhaupt um den Transport wissen und so schnell bereitstehen konnten. Dann erinnerte er sich aber der rauchenden Berge, der Signale, die auf ihrem Rück flug vom Sorata von Berg zu Berg gezuckt waren, und er verstand, wie fabelhaft auch diesmal das Nachrichtensystem der Berg-Inkas funktionierte. Fünf und eine halbe Stunde nach dem Verlassen der Porphyrburg kletterten Hal und Rotacsa aus ihren ledernen Sänften heraus. Sie befanden sich auf dem Kamm eines Bergrük kens, der auf der einen Seite fast senkrecht in die 185
Tiefe stürzte. Dreihundert Meter tiefer schlängelte sich ein Simsband am Absturz entlang, auf dem sich Menschen bewegten. Rotacsa führte ihn ein Stück weiter zu einer Stelle, wo die abstürzende Felswand einen Knick machte. Er wies auf einen kunstvoll geschichteten Haufen von Felstrümmern, die hinter einem mächtigen Block aufgetürmt waren. Der Block lag dicht am Abbruch. »Dort ruht der Tod für die Fremden.« Hal ging weiter heran – und da geschah es. Er stolperte, fiel und faßte mit den Händen blind drauflos, um nicht abzurutschen. Er griff einen Le derstrang, der am Boden entlang lief, fing an ihm die Wucht seines stürzenden Körpers auf. Ein kaum hörbares, seufzendes Ziehen, dann ruck te der Riemen scharf durch die Hände. Im Bruchteil einer Sekunde begriff er, daß er un glücklicherweise an eines der Haltetaue des großen Steinblocks geraten und daß dieses infolge der plötz lichen Beanspruchung gerissen war. Hals Gewicht war geringfügig im Vergleich zu dem der Fels massen, aber jedenfalls war das Ledertau schon bis zum Äußersten beansprucht worden, hatte schließlich gar eine fehlerhafte Stelle, so daß ein ruckhafter Zugriff die Faser reißen ließ. Hal sah den gewaltigen Stemmblock im Abgrund kippen, ganz langsam, zögernd, wie in Zeitlupe. Un ten aber marschierten ahnungslose Menschen. 186
Da schrie der Junge, wie er noch nie geschrien hat te. Als der Block vollends abkippte, gellte sein Warnschrei in die Tiefe. Und dann donnerte die gewaltige Steinlawine hin unter. Lord Seymour, seine Tochter, Stenborrough und E ningham hatten nach zweistündigem Marsch eine flache Bergkuppe erreicht, die aus dem eigentlichen Massiv hervorsprang. Sie war auf der einen Seite mit Kiefern bestanden, sonst aber kahl und ließ sich zur Not verteidigen. Auf ihrem höchsten Punkt stand ein uralter, schmuckloser Steinbau von geringer Höhe und Flächenausdehnung, in dem die Engländer ent weder eine Art Grabkammer oder eine frühere Wachhütte vermuteten. Ein Eingang war nicht vor handen, und sie verzichteten aus naheliegenden Gründen vorläufig auf eine nähere Untersuchung. Aus Felsblöcken wälzten sie einen Schutzwall zu sammen, hinter dem man sich im Notfall gegen feindliche Kugeln decken konnte. Damit verging die kurze Zeit bis zum Sonnenuntergang. Die Nacht verlief ohne Störung. Am nächsten Morgen stellte sich unabweisbar das Bedürfnis ein, Nahrung zu beschaffen. Lord Eningham nahm sein Gewehr und zog los. Das junge Mädchen hätte ihn gern zurückgehalten, aber sie sah ein, daß jede Äußerung zwecklos gewe 187
sen wäre. Eine halbe Stunde später kam Hal Mervin den Hang hinauf gestelzt, sorglos und unbekümmert, als mache er seinen Morgenspaziergang. Das einzige, womit er sich der Situation anpaßte, war ein weißes Taschentuch, mit dem er gelegentlich durch die Luft wedelte. Stenborrough, der die Wache hatte, sah ihn zuerst. Er richtete sein Gewehr und machte die anderen aufmerksam. »Achtung, da kommt jemand. Er zeigt etwas Wei ßes? Ob das nicht so ein verfluchter Trick ist?« Seymour und seine Tochter spähten den Hang hinunter. Sie erwarteten ihn, ohne sich zu rühren. »Hallo!« rief ihnen Hal im Näherkommen zu, als ob er alte Bekannte beim Nachmittagsspaziergang träfe. »Hallo!« gaben sie matt zurück. Jetzt hatte Hal sie erreicht und stellte sich vor: »Hal Mervin. Wer von Ihnen ist der Leiter der Expe dition?« »Sie sind Engländer?« klang es auf. Hal nickte und wartete. Seine schnellen Augen prüften die Gesichter. Das Mädchen war hübsch, der eine Mann sah aus wie ein vornehmer Lord, aber der dritte gehörte zu der Sorte, denen man mit Vergnü gen eine Stecknadel in den Hintern piekt. Lord Seymour sagte: »Wir sind beide die Führer 188
der Expedition, die leider versprengt wurde. Das ist Mr. Stenborrough, ich bin Lord Seymour, und das ist meine Tochter Betty.« »Sehr erfreut«, sagte Hal. »Wie kommst du hierher?« fragte der Lord. »Du sprichst wie ein Londoner Junge.« »Bin ich auch«, versicherte Hal nicht ohne Stolz. »Augenblicklich bin ich als Gast bei den Inkas.« »Was?« »Dann bist du also der, dessen Stimme uns gestern warnte?« »Nun – ja«, sagte Hal. »Du bist also einer von den Burschen, die uns hier kaltblütig umbringen wollen«, knurrte der Schotte feindselig. »Passen Sie auf, daß Sie nicht vor Freundlichkeit platzen. Hier hat niemand die Absicht, Sie zu ermor den.« Stenborrough erwiderte: »Das hat ganz so ausge sehen.« Hal wandte sich an die beiden anderen und erklär te freimütig: »Es war meine Schuld. Die Inkas hatten dort oben für alle Fälle einen Steinhaufen aufge schichtet, aber er sollte nicht niedergehen. So wichtig waren Sie nun auch wieder nicht – unter uns gesagt. Ich habe aus Versehen die Verspannung zerrissen, und da ist es trotzdem passiert. Gott sei Dank hat es niemand geschadet.« 189
»Die anderen leben?« »Ihre Begleiter? Ja, sie leben. Sie sind nach rück wärts geflüchtet und lagern ungefähr eine halbe Stunde Fußmarsch hinter der Absturzstelle. Keiner von ihnen ist verletzt.« »Und warum kommst du nun zu uns?« erkundigte sich der Lord. Der Junge sprach im gleichen Tonfall weiter. »Die Inkas sprechen nicht englisch. Es ist aber un bedingt nötig, daß jemand mit Ihnen ein Wort redet. Sie wissen hier nicht Bescheid und lassen sich aus Unkenntnis in Dinge ein, die Sie im Grunde genom men nichts angehen.« Stenborrough lachte abfällig. »Es ist so«, sagte Hal entschieden. Er wies mit ei ner Geste über das Land. »Dieses Gebiet zwischen Apurimac und Urubamba ist kein freies Land mehr, das jeder nach Belieben betreten darf, sondern Pri vateigentum. Nach den Gesetzen des Landes darf Privateigentum nur betreten werden, wenn es vom Besitzer gestattet wird. Sie sind hier einmarschiert, ohne den Besitzer dieses Gebiets um Erlaubnis zu bitten. Sie wundern sich hoffentlich nicht, wenn er Sie nun ersucht, Ihren Irrtum wieder gutzumachen und das Gebiet zu verlassen.« Die drei starrten ihn erstaunt an. Stenborrough lachte nach einigen Sekunden laut auf und fragte: »Und wem soll das Land gehören?« 190
»Mister Sun Koh.« »Was ist denn das für ein Gauner?« Hal streckte sich. »Halten Sie gefälligst Ihre Zun ge im Zaum. Sun Koh gehört nicht zu Ihrer Zunft.« Stenborrough zog drohend die Brauen zusammen. »Mach dich bloß nicht mausig, Jüngelchen. Wenn ihr euch einbildet, mich zum Narren halten zu kön nen, seid ihr schief gewickelt.« Hal sagte verächtlich: »Sie sprechen wie ein Kir messchreier.« Stenborrough fuhr hoch. »Wie was – wie was?« »Wie ein Kirmesschreier.« Stenborrough sprang auf Hal zu, griff nach ihm, aber Hal wischte gewandt beiseite, nahm einen Schritt mehr abstand und zog die Pistole. Seymour war schon vor Stenborrough getreten und mahnte streng: »Machen Sie keinen Unsinn, Stenbor rough. Sie gefährden nicht nur Ihr Leben, sondern auch unseres. Wer weiß, wieviel Gewehre im An schlag auf uns liegen. Sie wissen doch, wie diese Leute schießen können.« Der Schotte knirschte mit den Zähnen. »Schon gut. Ich werde den Burschen bei anderer Gelegenheit erwischen.« Hal sagte: »Sie benehmen sich, als ob Sie zu Hau se wären. In Wirklichkeit sind Sie ein Eindringling und leben nur von der Gutmütigkeit anderer Leute. 191
Sie müssen froh sein, wenn Sie unbehelligt wieder nach Cuzco zurückkönnen. Und da wollen Sie uns noch beschimpfen? Ich möchte einmal hören, was Sie sagen würden, wenn ich mich in Ihrer Wohnung so aufführen würde, wie Sie sich hier aufführen.« »Ich finde, er hat gar nicht so unrecht«,mischte sich Betty Seymour ein. »Wir verdanken immerhin seinem Warnruf unser Leben. Und wenn sich dieses Gebiet tatsächlich in Privathänden befindet, dann wird es Zeit für uns, daß wir uns bei dem Besitzer entschuldigen und uns entfernen.« »Wir haben die Genehmigung der Regierung«, wandte Seymour ein. »Sie ist mit dem Verkauf dieses Gebietes erlo schen.« Der Lord pendelte überlegend mit dem Kopf hin und her. »Hm, kann sein, kann sein. Wir befinden uns je denfalls in einer Zwangslage. Wir müßten uns den weiteren Vormarsch mit Gewalt erzwingen, und dazu sind wir wohl kaum in der Lage. Natürlich kehren wir um, wenn der Nachweis erbracht wird, daß wir privates Eigentum betreten haben, aber bis dahin …« »Sie brauchen sich nicht zu entscheiden«, griff Hal ein. »Sun Koh wird sicher erst selber mit Ihnen spre chen wollen. Er wird Ihnen die Verhältnisse klarlegen. Ich möchte nur verhüten, daß bis zu seiner Ankunft unnötige Komplikationen eintreten. Ich verlange des 192
halb von Ihnen auch nur, daß Sie bis dahin nicht versu chen, weiter vorzudringen. Das kann nur einen oder zwei Tage dauern, so daß Sie nicht viel verlieren.« »In dieser Zeit wird kein Angriff erfolgen?« »Nein, dafür bürge ich. Solange Sie hier bleiben, sind Sie frei und ungefährdet.« Betty wandte sich an ihren Vater. »Wir stimmen doch wohl zu, nicht wahr?« Seymour nickte. »Ja, das ist wohl das Vernünftigste. Nur noch eine Frage: Wir besitzen keine Lebensmittel. Einer von uns ist bereits auf der Jagd. Es wird sich nicht ver meiden lassen, daß wir auf Nahrungssuche gehen. Können wir das unbesorgt tun?« Hal nickte. »Sie können es, aber es wird nicht nötig sein. Ich kann Ihnen auf einfachere Weise zu Lebensmitteln verhelfen.« »Nämlich?« »Ich werde nachher mit einigen Inkas zurückkeh ren und Ihnen Lebensmittel bringen. Sie müssen nur dafür sorgen, daß sich der nervöse Mister Stenbor rough ruhig verhält.« Hal kam nach der angegebenen Zeit, hinter ihm Rotacsa und zwei andere junge Inkas mit Lebensmit tel aller Art. Für die beiden Seymour war es ein un vergeßliches Erlebnis, diese stolzen Erscheinungen mit ihrer fremdartigen Tracht und ihren strengen Ge 193
sichtern aus unmittelbarer Nähe zu sehen. Das also waren die geheimnisvollen Berg-Inkas, die Herren des ›Verschlossenen Reichs‹, von denen in den Gas sen von Cuzco geraunt wurde. Die Inkas verneigten sich schweigend. Schwei gend setzten sie ihre Lasten ab und schweigend wandten sie sich wieder zum Gehen. Auch Hal woll te sich gleich wieder zurückziehen, aber Lord Sey mour hielt ihn an. »Einen Augenblick, bitte. Zunächst natürlich unse ren Dank für die Lebensmittel. Aber was mir im Moment wichtiger ist – wie kommt es eigentlich, daß du mit den Inkas so gut befreundet bist? Und wie kommt es, daß Sun Koh Eigentümer dieses Gebiets ist, obwohl es doch immer heißt, daß die Berg-Inkas jeden Fremden als ihren Feind betrachten?« Hal warf sich in die Brust. »Sun Koh ist kein Fremder. Er ist der Sohn der Sonne.« Der Lord prallte förmlich zurück. »Der – Sohn der Sonne? Der – der Gott und Kaiser der Inkas? Ja – aber … Ich verstehe nicht – ich … Aber wenn er ein Inka ist, wieso bist du dann …« »Fragen Sie lieber nicht, Mylord. Sie wollen be stimmt mehr fragen, als ich Ihnen beantworten kann.« Betty wies zum Himmel und rief: »Dort – ein Flugzeug!« 194
Stenborrough reckte sich. »Ah, das ist gut. Wir er halten Hilfe.« »Das ist Sun Koh«, sagte Hal halblaut und lief da von. Eine knappe Stunde später kam ein einzelner Mann den Abhang herauf. Stenborrough richtete das Ge wehr auf ihn, aber Seymour verbat sich das so nach drücklich, daß er die Waffe murrend wieder sinken ließ. Dann blickten alle drei voll Staunen dem An kömmling entgegen. Er kam mit federnden Schritten heran. Sein Körper war schlank und hochgewachsen, schmal in den Hüf ten und breit in den Schultern. Seine Bewegungen verrieten den ausgeglichenen Rhythmus eines durch trainierten Körpers. Er schien die staunenden, prüfenden Blicke nicht zu spüren. »Ich bin Sun Koh«, sagte er. Lord Seymour riß sich zusammen und stellte zum zweitenmal an diesem Tag seine Begleiter und sich vor. Sun Koh lächelte freundlich. »Ich hörte durch den Jungen von Ihnen und bin nun gekommen, um seine Ankündigungen wahrzu machen. Er sagte Ihnen schon, daß Sie sich innerhalb der Grenzen meines Privateigentums befinden. Wol len Sie bitte in diese Urkunde Einsicht nehmen.« 195
Er zog aus der Brusttasche ein dickes Bündel Pa piere und breitete es vor dem Lord aus. Dieser stu dierte die Schriftstücke und Pläne gemeinsam mit seiner Tochter und Stenborrough. Schließlich gab Seymour die Papiere zurück. »Danke. Es bleibt mir nur noch, Sie um Entschul digung zu bitten, daß wir unwissenderweise hier ein gedrungen sind.« »Sie konnten ja nicht wissen, daß das ›Verschlos sene Reich‹ mittlerweile Privateigentum geworden ist. Ich schätze mich glücklich, daß es mir gelungen ist, Sie so schnell von der gesetzlichen Lage zu un terrichten und damit Ihren weiteren Vormarsch auf friedliche Weise aufzuhalten.« »Quatsch«, murmelte Stenborrough giftig. »Bitte?« fragte Sun Koh überrascht. Der Schotte kam mit hochgezogenen Schultern wie ein gereizter Stier einen Schritt näher und knurr te: »Ich will Ihnen mal was sagen, junger Mann: Ich betrachte die ganze Geschichte als einen plumpen Schwindel, mit dem Sie uns abhalten wollen, in die ses Land einzudringen.« Sun Koh musterte den Mann kühl. »Immerhin hat der ›Schwindel‹ die angenehme Eigenschaft, daß er Ihnen das Leben rettet.« Stenborrough schnaufte verächtlich. »Wir wollen mal sehen, wo Ihre Indios bleiben, wenn sie den Mut finden, uns ihre Gesichter zu zeigen. Sie können den 196
Lord bluffen, mich aber nicht. Ich pfeife auf Ihre Pa pierfetzen.« Mit unbewegter Miene erwiderte Sun Koh: »Es steht Ihnen frei, den Versuch zu machen, weiter in das Land einzudringen. Im allgemeinen spricht man wohl in einem solchen Fall von Selbstmord.« »Das ist eine unverschämte Drohung!« »Eine Warnung«, sagte Sun Koh. »Sie werden das ›Verschlossene Reich‹ nicht zu sehen bekommen.« »Jonny kommt!« rief in diesem Augenblick Betty Seymour. Der Lord sah sie überrascht an. »Jonny?« Das junge Mädchen nickte und sagte: »Ja, Dad, Jonny. Dort kommt er.« Sun Koh wandte sich um. Der junge Lord Ening ham lief den Hang herauf. Überrascht verhielt er den Schritt, betrachtete den Fremden. Dann nahm er das letzte Stück in großen Sätzen und schrie freudestrah lend: »Sun Koh – Sie hier? Das nenne ich eine Über raschung!« Schon hatte er die Hand Sun Kohs ergriffen und schüttelte sie kräftig. »Sie kennen Mister Koh?« erkundigte sich der er staunte Lord Seymour. Der junge Mann nickte. »Aber selbstverständlich, es ist die Bekanntschaft, auf die ich am meisten stolz bin. Mister Koh ist der 197
Fremde, von dem ich Ihnen wiederholt erzählt habe, jener, der eines Abends ins Excelsior in London hin einmarschiert kam und dort für kräftigen Wirbel sorgte.« »Ah.« Nun wußten die beiden Bescheid. Sie hatten die Geschichte von Sun Kohs Auftritt in London wiederholt gehört. Sie betrachteten den Fremden jetzt mit ganz neuen Augen. Auf Sun Kohs Vorschlag setzte man sich. Es gab viel zu erzählen. Tatsächlich dauerte es über eine Stunde, bevor einigermaßen das Notwendigste gesagt worden war. Eningham war unermüdlich, und Sun Koh, der den jungen Lord und dessen sympathisches, offenes Wesen sehr gut leiden konnte, ging mehr aus seiner Zurückhaltung heraus, als er sich ursprünglich vorgenommen hatte. Stenborrough blieb die ganze Zeit über mürrisch, war aber insofern wie umgewandelt, als er sich streng zurückhielt und keinerlei Opposition mehr wagte. Am anderen Tag ließ er sich von dem plötzlich wieder auftauchenden Callaho nach Cuzco zurück führen. Wieviel dazu die Erkenntnis beitrug, daß er bei Betty Seymour auch nicht die Spur einer Chance besaß, ließ sich schwer sagen. Am gleichen Nachmittag trafen die anderen Mit glieder der Expedition ebenfalls auf dem Hügel ein. Hal hatte sie mit Nimba zusammen herangeführt. 198
Am anderen Morgen rüstete man sich zum Auf bruch, zur Umkehr. Man hatte mit Sun Koh nicht mehr groß darüber gesprochen, aber es war eine Selbstverständlichkeit, daß man nun das Gebiet räumte. Die Geheimnisse des »Verschlossenen Rei ches« mußten Geheimnisse bleiben. Da erschien Sun Koh mit seinen Begleitern. Er wandte sich an Seymour. »Auf ein Wort, Mylord. Was suchten Sie eigent lich in dieser Gegend?« »Das sagenhafte Quitarasca-Tal«, erwiderte Sey mour mit einem etwas trüben Lächeln. »Sie sollen es kennenlernen«, sagte Sun Koh ernst. Der Lord wurde förmlich blaß. »Sie wollen uns doch den Zutritt in das Tal gestat ten?« »Ja«, sagte Sun Koh ruhig. »Doch hören Sie: Auf dem Gebiet, das ich käuflich erworben habe, leben die Reste eines großes Volkes. Sie sind es wert, er halten zu bleiben, und deswegen muß das Land für die Weißen gesperrt bleiben. Sie müssen unbedingt die Zusage erfüllen, daß alle Ihre Forschungen und Streifzüge sich auf das Tal und einige andere Dinge beschränken. Eine Verletzung dieser Voraussetzung bedeutet für den Betreffenden den Tod. Sind Sie be reit, darauf einzugehen?« Seymour preßte die Hand des anderen und rang nach einem Wort des Dankes. Sun Koh wehrte ab. 199
Sein Gesicht war unbewegter denn je. Es verriet nichts von dem langen Gespräch, das er gestern mit Atarasca geführt hatte. Er wußte, die Mitglieder der Expedition würden schwatzen, wenn sie jetzt mit lee ren Händen zurückkehrten. Besser war, das Gerede der Welt um das sagenhafte Quitarasca-Tal abzu stoppen. Und das sicherste Mittel dazu war, wenn man die Leute in das Tal hineinführte und sie nach Herzenslust darin herumstöbern ließ. Interessante alte Bauten aus uralter Zeit standen dort mehr als ge nügend nach der Beschreibung des Inkaführers. Der einzige Fehler lag darin, daß es eben nicht das Quita rasca-Tal war. Aber die Fremden würden es so nen nen und ihre Entdeckung in der Welt verkünden. So kam es, daß die Welt von der Auffindung des sagenhaften Quitarasca-Tales durch die SeymourExpedition, von der Entdeckung bemerkenswerter Bauten und aufsehenerregender Kulturdenkmäler erfuhr. Das Reich aber blieb verschlossen. ENDE
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Als SUN KOH-Taschenbuch Band 9 erscheint:
Freder van Holk
Trommeln der Hölle
Vier Männer kämpfen sich durch die grüne Hölle des Amazonas – Sun Koh, Nimba, Hal Mervin und der Abenteurer Jerry. Zäh und verzweifelt suchen sie den Weg zum rettenden Gebirge, erdrückt von einer übermächtig wuchernden Na tur, zermürbt vom Fieber, umlauert von Krokodi len, Piranhas, Blutegeln und wandernden Amei senheeren, unablässig verfolgt von Indios, de ren Giftpfeile durch das Dickicht zischen und deren Trommeln den Weg der Verlorenen be gleiten. Vier Männer sind stärker als die grüne Hölle – aber gegen die Tücken des weißen Mannes sind sie machtlos. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschrif ten- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.