Die Falken von Narabedla (FALCONS OF NARABEDLA)
von Marion Zimmer Bradley
1. Irgendwo auf den Klippen über uns hörte ...
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Die Falken von Narabedla (FALCONS OF NARABEDLA)
von Marion Zimmer Bradley
1. Irgendwo auf den Klippen über uns hörte ich einen Vogel kreischen. Ich drehte mich zu Andy um, der knietief im eisigen Strom neben mir stand. „Da hast du deinen Adler. Vielleicht riecht er den Puma, den ich gestern geschossen habe.“ Ich begann meine Leine einzuholen, denn ich wußte, was mein Bruder jetzt tun würde. „Hole die Kamera. Wir werden versuchen, ein paar Bilder zu schießen.“ Wir duckten uns in das niedrige Buschwerk und beobachteten den riesigen Vogel, der in langsamen Kreisen auf den toten Puma niederging. Andy zitterte vor Erregung und hielt die Kamera vor die Brust. „Herrjeh“, flüsterte er, „zwei Meter Flügelspannweite, wenn nicht mehr.“ Der Vogel drehte mißtrauisch den Kopf gegen den Wind und kreischte wieder. Der Adler roch oder sah uns nicht und schwebte nieder auf den Kopf des toten Puma. Zweimal klickte Andys Kamera. Der Adler bohrte den Schnabel in seine Beute. Ein Draht schien rot in meinem Gehirn zu glühen. Der Vogel... Mit einem Sprung verließ ich meine Deckung und rannte über die kleine Lichtung, die uns von dem Adler trennte, und meine Hand griff automatisch nach dem Jagdmesser in meinem Gürtel. Andys Entsetzensschrei war für meine Ohren nur ein Lärm von weither, als der Adler mit schlagenden Schwingen abstrich, umkehrte und enge, wütende Kreise um meinen Kopf zog. Ich spürte, wie der scharfe Schnabel drohend näher kam und stieß mein Messer nach oben. Der Vogel kreischte vor Schmerz, und seine Schwingen klatschten. Ein roter Nebel hüllte mich ein... Das war schon einmal geschehen. Ich hatte schon einmal so gekämpft; um mein Leben gekämpft. Ein hoher Schrei, ein flatternder Schatten — dann war der Adler verschwunden. Andys Hand griff um meine Schulter und schüttelte mich. Seine wütende, angstvolle Stimme war kaum zu erkennen. „Mike! Du verdammter Narr! Ist etwas passiert? Du bist ja wahnsinnig!“ Ich blinzelte und strich mir mit der Hand über die Augen. Ich stand auf der Lichtung, und die Klinge meines Messers war rot vom Blut des Vogels. Ich hörte mich eine sehr törichte Frage stellen: „Was ist denn eigentlich geschehen?“ Durch den roten Nebel sah ich das Gesicht meines Bruders. „Das würdest du besser mir erzählen! Mike, was denkst du dir überhaupt? Mir erzählst du, daß ein Adler Menschen angreift, wenn er sich gestört fühlt. Ich hatte ihn genau im Sucher, und da mußt du wie eine Fledermaus aus einem Kirchturm schießen und mit dem Messer auf den Adler losgehen! Du bist total verrückt!“ Ich ließ das Messer aus der Hand fallen. „Ja“, meinte ich nachdenklich, „dein Bild habe ich ja wohl nun verdorben, Andy. Tut mir leid. Ich wollte nicht...“ Ich kam mir wie ein richtiger Narr vor. Langsam glitt meines Bruders Hand von meiner Schulter, und Andy kniete sich ins Gras, um meine Kamera zu suchen. „Ist schon gut, Mike“, antwortete er leise. „Du hast mich nur zu Tode erschreckt.“ Er stand auf und sah mich fest an. „Ich weiß nicht recht, Mike, was mit dir los ist... Seit einer Woche benimmst du dich wie ein Irrer. Es geht doch nicht um die dumme Kamera, aber wenn du mit bloßen Händen einen Adler angreifst...“ Er warf die Kamera weg und rannte den
Abhang hinunter in Richtung Hütte. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen und bückte mich nach den Stücken von Andys geliebter Kamera. Er mußte sie nach dem Adler geworfen haben, denn ein Tier von dieser Größe... Warum, zum Teufel, hatte ich so etwas Irrsinniges getan? Und Andy hatte ich dauernd in den Ohren gelegen, er solle sich von den großen Vögeln fernhalten. Mein unbändiger Tatendrang war verflogen. Ich kam mir selbst töricht und leichtsinnig vor. Mich wunderte es nicht, daß Andy mich für verrückt hielt; das dachte ich mir nämlich oft genug selbst. Ich schob die kaputte Kamera in meine Gerätetasche und nahm mir vor, Andy bei Gelegenheit eine viel bessere zu schenken. Rasch sammelte ich unsere Angelgeräte ein, verstaute den heutigen Fang und machte mich auf den Weg zur Hütte. Inzwischen war es dunkel geworden, und der selbstgebastelte Dynamo, der unsere Hütte mit Licht versorgte, summte gleichmäßig. Der Duft gebratenen Specks schlug mir entgegen, als ich in das helle Licht der starken, nackten Birne trat. Andy hatte nicht auf den Fisch gewartet. Er stand am Herd und drehte mir den Rücken zu. „Andy...“, sagte ich. „Schon recht, Mike. Setz dich und iß dein Abendessen.“ „Andy, ich kaufe dir eine andere Kamera.“ „Ich sagte doch, daß es in Ordnung ist. Verdammt, so setz dich doch endlich und iß!“ Er sagte lange kein Wort mehr, aber als ich mich zurücklehnte, um meine Kaffeetasse noch einmal aufzufüllen, sprang er auf und lief unruhig hin und her. „Mike“, begann er endlich, „du bist zur Erholung hergekommen. Warum willst du nicht einmal deine ewige Arbeit von dir wegschieben und dich entspannen?“ Angewidert sah er über die Schulter zum Arbeitstisch, auf dem ein wirres Durcheinander von Spulen, Magneten und Drähten herrschte. „Willst du hier vielleicht eine Filiale der General Electric einrichten?“ „Ich kann jetzt doch nicht aufhören“, erwiderte ich ziemlich heftig. „Ich bin einer Sache auf der Spur. Es kann etwas Großes werden, und wenn ich jetzt nicht weitermache, finde ich es vielleicht nie mehr!“ „Muß schon sehr wichtig sein“, meinte Andy säuerlich, „wenn es dich irrenhausreif macht.“ Ich zuckte die Achseln. Darüber hatten wir schon so oft gesprochen, seit sie mich aus dem Regierungslabor hinausgeworfen hatten. Das war unmittelbar vor dem großen Knall. Vielleicht, dachte ich zornig, steure ich wieder auf einen los. Es war mir egal. „Setz dich, Andy“, sagte ich. „Du weißt nicht, was dort passiert ist. Nein, ein militärisches Geheimnis ist es nicht. Als ich meinen Militärdienst hinter mir hatte, war es schon lange freigegeben.“ Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und verbrannte mir dabei den Mund. „Nur für mich natürlich nicht“, fügte ich bitter hinzu. Ich hatte damals in einem Regierungslabor an einem neuen Nachrichtenmittel gearbeitet. Da ich nie fertig wurde, hat es keinen Sinn, in Einzelheiten zu gehen. Es genügt, wenn ich feststelle, daß damit das ganze Radarwesen so überflüssig geworden wäre wie die Postkutsche. Ich hatte einen ganz besonderen supersonischen Kondensator gebaut, bis ich Schwierigkeiten bekam mit einem magnetischen Spulensatz, der sich nicht richtig wickeln ließ. Als das Ding in die Luft ging, hatte ich zwar seit drei Nächten nicht mehr geschlafen, aber das war nicht der Grund, denn wenn ich mich in eine Sache verbissen hatte, brauchte ich keinen Schlaf. Ich war damals auch ganz normal, ein kleiner Nachrichtenmann, der mit Vorliebe an neuen Sachen herumpfuschte; damals waren es noch nicht die unpraktischen Kinkerlitzchen, die mich dann meinen Job kosteten. Man behauptete, ich sei schrecklich überarbeitet, und ich weiß genau, daß sie dachten, mein Kopf sei nicht mehr in Ordnung. Nun, übelnehmen kann ich es ihnen nicht, denn ich dachte ähnlich. Das heißt, ich hätte es gerne selbst geglaubt. *
Begonnen hatte es damals mit einem Kurzschluß im Labor, der sich nicht lokalisieren ließ. Schock nach Schock traf mich, bis ich ganz benommen war. Aber dann bekam ich die Sache wieder hin, und ich konnte mir später gar nicht vorstellen, wieso es gerade bei diesem Schaltkreis zu einem Kurzschluß kommen konnte; der Oszillator mußte irgendwie einen Defekt haben — das dachte ich wenigstens. Aber ich kriegte noch immer ganze Serien Niederfrequenzwellen ab, die ich noch niemals gesehen hatte. Es war auch irgend etwas wie eine Stimme, die aus einem sehr alten, selbstgemachten Kristallempfänger zu kommen schien — nur gab es kein Radiogerät und keine Sprechanlage im Labor, und außer mir hörte niemand diese Stimme. Ich war meiner Sache auch nicht ganz sicher, denn in diesem Augenblick spielten sämtliche Instrumente verrückt. Vierzig Sekunden später knallte ein Stück der Decke auf den Fußboden, und der Fußboden flog zum Dach hinaus. Sie sagten, sie hätten mich halb zerquetscht unter einem Balken herausgezogen. Jedenfalls wachte ich in einem Krankenhaus auf, hatte vier gebrochene Rippen und das Gefühl, ich sei mit Hochspannung geradezu getränkt. Im Bericht hieß es dann, ich sei vom Blitz getroffen worden. Etwas mußte man ja schließlich dazu sagen. Es dauerte ziemlich lange, bis ich mich erholte. Die Rippen und die anderen Verletzungen heilten schneller, als es den Ärzten lieb war. Ich fühlte mich im Krankenhaus nicht besonders unglücklich, hur zitterte ich ständig, wenn ich herumging, und zündete ich mir eine Zigarette an, dann verbrannte ich mich irgendwie. Das ging viele Wochen so. Was mich störte, war das, woran ich mich erinnerte, bevor ich aufwachte. Delirium, hatte man mir erklärt. Aber das konnte nicht stimmen, zog man die Spuren an meinem Körper in Betracht. Elektrizität hinterläßt nicht diese Art von Verbrennungen, auch dann nicht, wenn man vom Blitz gestreift wird; und in dieser Ecke unserer guten alten Erde versieht man die Menschen im allgemeinen nicht mit Brandzeichen. Leider waren die Male, ehe ich sie jemandem außerhalb des Krankenhauses zeigen konnte, verschwunden. Sie waren nicht geheilt, nur verschwunden. Der behandelnde Arzt sah ziemlich verwirrt drein, als ich ihm die Stellen zeigte, wo die Brandmale gewesen waren. Er hielt nicht mich für verrückt, sondern sich selbst. Auch ein Psychiater schnüffelte immer herum und versuchte mich mit psychosomatischen Erklärungen und hochtönenden Worten wie hysterische Stigmata zu beruhigen, aber auch das war nur für den Bericht wichtig. Ich wußte ganz genau, daß das Labor nicht vom Blitz getroffen worden war. Auch der Major wußte es. Das erfuhr ich, als ich mich wieder zur Arbeit meldete. Er redete ununterbrochen, und seine große Feder malte endlose Kreise über die Seiten seines Logbuches; er sah mich nicht einmal dabei an. „Das weiß ich alles, Kenscott. Keine Gewitter in der ganzen Umgebung, keine Radiostörungen innerhalb von tausend Meilen. Aber...“ und hier schob er sein Kinn energisch vor „... das Labor war ein Trümmerfeld, und Sie waren ein ziemliches Wrack. Wir brauchen etwas für den Bericht.“ Das verstand ich selbstverständlich. Was mir ganz und gar nicht paßte, war die Behandlung, als ich die Arbeit wieder aufnahm. Ich kam in eine andere Abteilung und an ein anderes Projekt. Meinen Antrag, die Arbeit an diesen Niederfrequenzwellen fortsetzen zu dürfen, vergaß man; meine Privatnotizen wurden aus meinem Notizbuch gerissen, während ich beim Mittagessen war, und ich bekam sie niemals wieder zu sehen. Sie benützten die nächste sich bietende Gelegenheit, mich nach Fairbank, Alaska, zu versetzen, und das war natürlich das Ende. Am Tag vor meinem Abflug erzählte mir der Major, was ich wissen mußte. Die Worte sagten schon ziemlich viel, sein finsterer Blick sprach Bände. „Ich würde alles ruhen lassen, Kenscott. Hat doch keinen Sinn, sich noch mehr Ärger auf den Hals zu laden. Hintenherum
läßt sich ja sowieso nichts machen. Das nächste Mal ist es nicht nur ein irrer Blitz aus heiterem Himmel, der Ihnen fast den Kopf abreißt, den verlieren Sie nämlich dann todsicher. Wir haben uns überschlagen, um herauszukriegen, woher diese blinde Energie kam und wohin sie wieder verschwand.“ „Dann sind Sie also der festen Meinung, daß es etwas gab!“ Das war wesentlich mehr, als jeder andere von meinem ehemaligen Projekt zugegeben hatte. „Inoffiziell, ja.“ Der Major zog die Stirn in Falten, sah mich aber nicht an. Und dann sprudelte er alles heraus. „Die ganze Geschichte geht darauf hinaus, daß die Erscheinungen nur auftreten, sobald Sie da sind, in Ihrer Abwesenheit geschieht nichts, und wir ahnen nicht einmal, ob es ein Schwindel, ein Poltergeist oder eine übersinnliche Wahrnehmung ist. Egal, was es ist, wir wollen davon nichts mehr sehen, hören, riechen, spüren oder sonstwie wahrnehmen! Kenscott, über dieses ganze Forschungsgebiet haben wir ein Riesenplakat GESCHLOSSEN geklebt. Wenn ich Sie wäre, Kenscott, dann wäre ich froh, daß ich Glück gehabt habe und würde eisern den Mund halten.“ „Eine Botschaft vom Mars war es ja nun wirklich nicht“, meinte ich ohne zu lächeln, und auch er hielt meine Bemerkung nicht für einen Witz. Er sah aber recht erleichtert aus, als ich sein Büro verließ, um meine Schublade auszuräumen. In Alaska ging es eine Weile ganz gut. Man gab mir einen Schreibtischplatz und Überwachungsarbeiten und überhörte es nachdrücklich, wenn ich davon sprach, daß ich wieder praktisch arbeiten wollte. Schließlich schickten sie mich wieder in die Staaten zurück — mit einer Entlassung und dem Rat, mich gründlich zu erholen. Andy versuchte ich es so zu erklären: „Sie sagten, ich sei überarbeitet und brauche dringend Erholung. Vielleicht stimmt es sogar in gewisser Weise. Der Schock hatte etwas Komisches bei mir bewirkt, mich gewissermaßen aufgerissen, wie es die Elektroschockbehandlung tut, die man bei katatonisch Kranken anwendet. Ich scheine jetzt sehr vieles zu wissen, was ich nie gelernt habe. Normale Radioarbeit gibt mir nichts mehr ab. Ich sehe keinen Sinn dahinter. Ab und zu einmal versucht etwas, einen Sinn hineinzubringen, aber dann gelingt es doch nicht. Wenn die Leute über Fliegende Untertassen reden, egal, was sie darunter verstehen, oder wenn sie sagen, der atomare Fallout ändere das Wetter, so war für einige Zeit ein gewisser Sinn dahinter. Nur, weißt du, hatte ich immer das Gefühl, die Leute müßten ja, um nur ein Beispiel zu nennen, gar nicht mit Flugzeugen aufsteigen und Silberjodid versprühen, um das Wetter zu ändern.“ Es fiel mir schwer, die richtigen Worte zu finden für jene vagen Impressionen, die ich ja selbst nicht zu deuten wußte, die sich auch kaum zusammenfügen ließen. Er würde mir ja sowieso nicht glauben, egal, was ich ihm auch erzählte. Ich wollte aber, daß er mir glaubte. Ein Ast kratzte am Fenster der Hütte, und ich sprang nervös auf. „Es begann an dem Tag, als wir in die Berge kamen. Energie, die von irgendwoher kam, verfolgte mich. Sie macht mich nicht bewußtlos. Hast du bemerkt, daß ich es dir überlasse, Lichter an- und auszudrehen? Am Tag unserer Ankunft gab es einen Kurzschluß in meinem Elektrorasierer. Erinnerst du dich, daß ich fünf Sicherungen brauchte, um eine einzige auszuwechseln? Sie schlugen alle durch.“ „Ja, daran erinnere ich mich. Wir mußten in die Stadt fahren und neue kaufen.“ Mein Bruder sah mich verblüfft und ziemlich unbehaglich an. „Mike, hör mal — du machst doch Witze, was?“ „Ich wollte, es wären Witze“, seufzte ich. „Diese Energie dringt in mich ein, und es passiert nichts. Ich bin immun.“ Ich zuckte die Achseln, stand auf, ging zum Radiogerät, nahm einen Stecker und schob ihn in die Steckdose. Dann schaltete ich die Skala ein. „Gib acht“, sagte ich. Ein Instrumentenlicht blitzte auf und wurde dunkel; konfuse Statik knisterte im Lautsprecher. Ich zog die Hand weg. „Dreh mal auf“, sagte Andy unsicher.
„Ist ja aufgedreht.“ Ich drehte an der Skalenscheibe. „Versuche eine andere Station“, drängte Andy. Ich drückte einen Knopf nach dem anderen; es knisterte und knatterte überall. Das Instrumentenlicht blitzte auf und erlosch in einer Reihe winziger Lichteffekte. „Mittags war der Empfang doch wunderbar“, sagte ich. „Du hast doch selbst die Pressekonferenz des Präsidenten mitgehört.“ Ich nahm wieder die Hand weg. „So, jetzt versuchst du es einmal.“ Andy runzelte die Stirn, kam herüber und drückte die Knöpfe. Das Instrumentenlicht brannte richtig und ruhig, und der Ansager meldete eben den Beginn der Fünften Symphonie von Beethoven, der Schicksalssymphonie. Und dann dröhnten die majestätischen Akkorde durch die Hütte: tadadadumm... tadada-DUMM! Mein Bruder starrte mich an, als die Bläser das Sturmthema aufnahmen. Das Gerät war in Ordnung. Ich lauschte der Musik. „Mike, was hast du mit dem Radio angefangen?“ „Ich wollte, das wüßte ich“, seufzte ich und tippte schnell auf den Knopf für die Lautstärke. Beethoven ging in einem statischen Prasseln unter. Ich fluchte, und Andy zog sich langsam zurück. Er starrte das Radio an, dann mich und berührte vorsichtig die Skala. Wieder füllte die Schicksalssymphonie den Raum. Mich fröstelte. „Vielleicht“, sagte Andy verwirrt und ziemlich erschüttert, „wäre es besser, du würdest das Ding nicht mehr anrühren.“ Andy ging bald schlafen, aber ich blieb im Wohnraum, rauchte nervös und hätte gerne etwas zu trinken gehabt, doch dazu hätte ich achtzig Meilen auf schlechten Bergstraßen fahren müssen. Keiner von uns hatte daran gedacht, daß man das Radio ausschalten konnte, und so dröhnte noch immer harter Jazz aus dem Lautsprecher. Ich sah meine Notizen durch, ohne sie aber in Wirklichkeit anzusehen. Ein Blitz, der kein Blitz war. Narben an meinem Körper, schwärende Male, die der Psychiater als psychosomatische Erscheinungen zu erklären versuchte. Der Schrei eines Adlers, der um mich kreist, der in meine Augen zu hacken versucht und zu töten entschlossen ist — und ich verdiente diesen Tod. Was war mir in diesem Augenblick in Erinnerung gekommen, als ich den Adler mit einem Jagdmesser angriff? Ich schloß die Augen und versuchte mich zu erinnern... Ich schob alles von der Oberfläche weg, um das freizulegen, was darunter war... Phantasie? War es ein Bild, das meine Phantasie mir vorgaukelte? Eine seltsame Gestalt in einem weiten Mantel... Zwischen der Gestalt im Mantel und mir eine Frau... eine goldene Frau... Goldenes Haar fiel ihr wie Seide um die Schultern; ihre Augen waren golden, weit offen; sie sahen mich an wie die Augen einer großen Katze. Sie hielt etwas in den Händen. Vision, Traum, Phantasie — plötzlich war die Gestalt verschwunden, und Andys verschlafene Stimme kam aus der Alkovennische: „Sag mal, Mike, willst du die ganze Nacht durchlesen?“ „Wenn ich Lust dazu habe“, antwortete ich fast gereizt und begann wieder herumzulaufen. „Michael! Um Himmels willen, höre doch endlich mit diesem Irrsinn auf und laß mich schlafen!“ Andy war richtig wütend, und ich ließ mich sofort in den Armstuhl fallen. „Tut mir leid, Andy. Entschuldige.“ Wo war jener unfaßbare Teil von mir gewesen, als ich stundenlang unter dem Balken im Labor eingeklemmt lag? Und dann, als ich im Morphiumschlaf im Krankenhaus war? Woher kamen diese Wunden? Und auf welche Weise verschwanden sie so urplötzlich? Noch viel wichtiger: Was war die Ursache, daß ein Radiolabor so explodierte? Strom kann Brände auslösen, und zu starke Radiowellen können Brandwunden erzeugen. Die Elektrizität kann einen Menschen bewußtlos machen, ihn sogar töten. Aber Elektrizität explodiert nicht. Und welch seltsame Körperelektrizität hatte ich, die mich gegen jeden normalen Strom immun machte? Ich hatte es Andy damals nicht erzählt, daß ich den Dynamo im Keller absichtlich kurzgeschlossen und den ganzen Strom durch meinen Körper geleitet hatte. Ich
lebte noch. Es wäre eine höllische Art gewesen, Selbstmord zu begehen, aber mir war absolut gar nichts passiert. Ich fluchte und ließ das Fenster herunterrasseln. Andy hatte recht, und ich sollte besser ins Bett gehen. Entweder war ich verrückt, oder es war sonst etwas nicht in Ordnung, was ein normaler Doktor nicht wissen konnte. Es nützte auch nichts, wenn ich bis zum Morgengrauen hier saß und grübelte. Wenn dieser Irrsinn nicht aufhörte, konnte ich den nächsten Zug nach Hause nehmen und einen Psychiater aufsuchen, und wenn auch das nichts nützte, dann einen erstklassigen Elektrofachmann. Jetzt im Augenblick war es das Vernünftigste, schlafen zu gehen. Automatisch griff ich nach dem Schalter und knipste das Licht aus. Verdammt! Jetzt hatte ich den Dynamo schon wieder kurzgeschlossen! Das Radio schwieg, als sei das ganze Orchester auf einen Schlag tot umgefallen. Sämtliche Lichter in der Hütte gingen aus, aber meine Hand am Schalter knisterte und glomm in einem grünlichphosphoreszierenden Schein, als die ganze Elektrizität durch meinen Körper floß. Ich zuckte und zitterte in einem seltsamen Schock, und ich hörte meine eigenen Zähne klappern. In meinem Gehirn schien etwas aufzuschnappen. Plötzlich hörte ich eine erregte Stimme rufen: „Rhys! Rhys! Das ist der Mann!“
2. „Du bist verrückt“, sagte der Mann mit der müden Stimme. Ich trieb dahin, schwankte körperlos, schwebte über einem unermeßlichen Abgrund. Aus einer summenden Ferne wuchsen zwei Stimmen. Die eine war alt und sehr müde. „Du bist verrückt. Sie werden es erfahren. Narayan wird es ganz bestimmt erfahren.“ „Narayan ist ein Narr“, erklärte die zweite Stimme. Sie war mir auf spukhafte Art vertraut. Ich hatte sie schon gehört. Wo? „Narayan ist der Träumer“, sagte die müde Stimme, „und sie werden wissen, wo der Träumer geht. Aber mache es so, wie du willst. Ich bin alt, und es ist nicht mehr wichtig. Ich will nur, daß dir und Gamine das erspart bleibt, was kommen muß.“ „Gamine...“ Das war die zweite Stimme. „Du bist alt und auch ein Narr, Rhys. Was bedeutet mir Gamine?“ Ich schwamm auf den Stimmen dahin. Eine Million gespannter dünner Drähte summte und sirrte, und mir war, als werde ich von einem riesigen Magneten angezogen, der mich im Nichts festhielt und mich in eine Art Kraftfeld zog, das unter einem Irgendwo lag. Die Stimmen verschwanden und ich schwang frei, als sei eine unsichtbare, unfaßbare Stütze unter mir weggezogen worden; ich fiel, stürzte in einer wirbelnden Bewegung kopfüber in den Abgrund... Trotz allem wußte ich, daß ich unbeweglich dastand und die Hand am Lichtschalter der Hütte hatte — und doch fiel ich durch einen unauslotbaren Raum, den es gar nicht gab... Mit einem schnappenden Geräusch stießen meine Füße auf festen Boden. Mit einem Schlag war ich bei hellem Bewußtsein. Der Wind blies mir kalt ins Gesicht: die Wände der Hütte schienen zu den Sternen geflogen zu sein. Ich stand an einem vergitterten Fenster in der Spitze eines sehr hohen Turmes im Schoß einer hohen, blauen, lichtflimmernden Nacht. Ein bestürztes Gesicht und ein müdes, altes unter einer hohen Kapuze huschten an meinen Augen vorüber, ehe meine Knie nachgaben; im Fallen schlug mein Kopf an die Gitterstäbe des Fensters. *
Ich lag irgendwo im Dunkeln. Ich wußte nicht, daß ich Mike Kenscott war. Ein Alptraum drängender Angst überschwemmte mich. Da war doch etwas, das ich tun sollte; eine Warnung, die ich zu geben hatte... Und ich hatte entsetzliche Angst. Die Dunkelheit wurde dünner und blasser. Vage erkannte ich Umrisse und Gestalten. Ich schwebte durch eine hohe Bogentür in einen schwacherhellten mit blaubrennender Fluoreszenz erfüllten Korridor hinaus. Mein Atem war unnatürlich laut in dieser Stille, aber ich hörte keine Schritte. Ich wußte genau, daß ich sehr leise sein und mich am Rand des Korridors fortbewegen mußte, und gleichzeitig sagte mir etwas Zorniges, Stolzes in mir selbst, daß ich furchtlos und selbstbewußt ausschreiten sollte. Der Korridor war sehr lang, doch ich spürte keine Müdigkeit. Zweimal kam ich an seltsamen Gestalten vorbei, die in Mäntel gehüllt zu sein schienen. Ich wußte, daß sie mich nicht sehen konnten. Vor einem verriegelten Tor blieb ich stehen, und mein ängstlicher Teil ließ mich in traumhafter Panik aufhorchen. Dann hob ich die Hände und machte ein paar seltsame Bewegungen. Geräuschlos schob sich die Tür auf, und ich schritt hindurch. Der Raum war leer und dunkel; ein großes Fenster gab den Blick in eine sternhelle Nacht frei. An den Wänden hingen schlaffe, seltsame, beschwingte Formen. Ohne zu zögern, ging ich zur Wand und hob eines von diesen Dingern herunter... Ein Mantel? Ein toter Vogel? Ich fühlte Federn, leblose Schwingen. Eine eigenartige Furcht bemächtigte sich meiner. Etwas von mir schrie: Was tue ich? Aber ohne mich einen Augenblick dagegen zu sträuben, zog ich das Ding mit den dunklen Federn über meinen Kopf... Es war ein merkwürdiger, schwebender, zeitloser Augenblick, als ich körperlos, kaum mehr als ein winziger Punkt im Bewußtsein, im Raum schwamm. Dann griff ich nach meinem Körper, fand ihn und bewegte die Füße zu einer niederen Couch. Ich stützte mich mit den Händen ab und legte mich darauf. Etwas schien an meinem Körper zu ziehen, fast so, als wolle es mich aus den an mir klebenden Kleidern zerren. Ich wußte irgendwie, daß ich mich dagegen noch nicht wehren durfte. Dann streckte ich mich aus und holte tief Atem... Plötzlich war ich draußen und hob mich mit kräftigem Flügelschlag in die Lüfte. Meine Arme waren riesige Schwingen, und um mich herum waren leerer Himmel und kalte, frische Winde. Ich flog! Der älteste Menschheitstraum, aber ich träumte nicht. Ich spürte den kalten, feuchtigkeitsträchtigen Wind. Es war dunkel, und unter mir zeichnete sich Waldland ab. Das Mondlicht filterte die Farben heraus, aber ganz weit, tief unter mir, sah ich einen hoch aufragenden Turm und das schwarze Fenster, aus dem ich gekommen war. Etwas drängte mich; mein Vogelkörper streckte sich zu einer Pfeillinie, und meine Schwingen breiteten sich zu regelmäßigen Schlägen. Ich flog in östlicher Richtung, sah unter mir Wälder, Sträßchen und Pfade, ein paar Wohnstätten und Farmland. Der Wind strich an meinem Gesicht vorbei. Ich schien seit Stunden zu fliegen, doch Müdigkeit fühlte ich keine. Die Zeit dehnte sich; ich wußte nicht, waren es Minuten oder Tage. Ich flog über Hügel und Täler, bis unter mir im allmählich schwächer werdenden Mondlicht schattengleich Zelte und Hütten auftauchten. Ich drehte gegen den Wind und zog in breiten Spiralen tiefer. Die Dämmerung war nahe, aber der Vogelkörper kannte keine Müdigkeit, und das Herz schlug wie eine unermüdliche Maschine. Aber ich — mein ungreifbares ICH — spürte Angst, Erschöpfung und etwas Bedrohliches. Ich wußte, daß die Dämmerung Gefahr bedeutete, nicht aber, weshalb. Hinunter. Eine rote Linie am Horizont wurde breiter und schüttete schließlich Farbe über die grünen Wiesen. Jetzt konnte ich die Zelte deutlich erkennen, auch die Menschen, die in die Dämmerung traten. Zu spät! Ich hörte meine Stimme als geisterhaften Falkenschrei. Man hatte mich gesehen. Unter mir liefen Menschen in Gruppen zusammen, schrien und deuteten nach oben. „Einer dieser verfluchten Spione!“ Ich sah einen großen, im Dämmerlicht formlosen Mann ohne Gesicht; er kniete nieder und hob etwas wie einen Bogen vor die Brust. Meine Angst
schlug in Wut um. Wie konnte er es wagen! Mit einer Geschwindigkeit, die den Boden unter mir zu einem undefinierbaren Etwas machte, schoß ich nach unten. Die Menschen liefen auseinander, und durch ihr Kreischen hörte ich mein lautloses Gelächter wie einen gespenstischen Vogelschrei... Ein Pfeil sirrte mir entgegen; noch einer. Automatisch wich ich ihnen aus, aber Angst und Staunen wuchsen in mir. Was tat ich hier? Weshalb war ich gekommen? Warum schoß man auf mich, da ich doch gekommen war, um zu warnen... ? Wen zu warnen? Ich sah den Pfeil, versuchte ihm auszuweichen — zu spät! Ich wappnete mich gegen den Anprall. Der Pfeil stieß in meine Brust, aber ich fühlte keinen Schmerz, nur eine Art Druck; dann so etwas wie einen Biß und schließlich den peinvollen Schock. Meine Schwingen erschlafften und fielen zusammen. Ich hörte einen vielstimmigen Schrei von unten, der Freude, Triumph und Erregung ausdrückte. Und dann fiel ich... * Ich lag auf einem schmalen, hohen Bett und wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Der Raum hatte Türen und Gitter. Ich sah einen Spiegel in einem geschnitzten Rahmen und den Deckel einer Truhe. Es war nicht der Raum, in dem ich das Federkleid gefunden — oder geträumt — hatte. Er war hell vom Sonnenlicht, und auf einer Bank am Rande meines Blickfeldes saßen zwei Gestalten. Die eine war ein sehr alter, grauer Mann mit einer hohen Kapuze und einem schweren Gewand, das dem eines tibetanischen Mönches glich. Das Gesicht hatte ich flüchtig unter der Kapuze gesehen, und es paßte zu der alten, müden Stimme, die ich gehört hatte, ehe ich in diesen merkwürdigen Traum hineingetrieben war. Die andere Gestalt war schlanker, jünger und in silberblaue Seidenschleier • gehüllt. Dort, wo das Gesicht sein mußte, war ein opalener Fleck, denn durch die saphirblaue Seide schimmerte Fleisch. Es konnte ein schlanker Junge oder ein junges Mädchen sein. Die Gestalt saß hochaufgerichtet und bewegungslos da. Ich beobachtete sie lange und neugierig unter halbgesenkten Lidern. Als ich blinzelte, erhob sie sich und durchschritt eine der zahlreichen Türen. Fast sofort raschelten Vorhänge und Stoff, und die Gestalt kehrte zurück. Ich setzte mich auf und stellte die Füße auf den Boden. Das Bett, auf dem ich gelegen hatte, war höher als ein Krankenhausbett. Das blauverschleierte Wesen gab mir einen Henkelkrug; ich nahm ihn zögernd. „Weder Droge noch Gift“, erklärte die Gestalt ein wenig spöttisch, und die Stimme verriet ebensowenig wie der verschleierte Körper. Es war eine geschlechtslose Stimme, ein weicher Alt, der ebensogut einer Frau wie einem größeren Jungen gehören konnte. „Trinke und sei froh darüber, daß es keines von Karamys Gebräuen ist.“ Die Flüssigkeit im Krug sah grünlich aus und hatte einen etwas scharfen Geschmack, den ich nicht identifizieren konnte, der mich aber an Anis und Knoblauch erinnerte. Dieses Getränk schien den letzten Rest des Schocks zu beseitigen. Ich gab den Krug leer zurück und sah den alten Mann im Lamagewand an. „Bist du... Rhys?“ fragte ich. „Wohin, zum Teufel, bin ich jetzt geraten?“ Das wollte ich wenigstens sagen, denn ich hörte mir äußerst erstaunt zu, weil ich eine Sprache sprach, die ich noch niemals gehört hatte, aber tadellos verstand. „In welche der neun Höllen Zandrus wurde ich jetzt verschlagen?“ Gleichzeitig wußte ich auch, was ich trug. Ich hatte Federn zu sehen gefürchtet — falls ich noch immer träumte —, doch ich sah keine. Das, was ich anhatte, glich einem altmodischen Nachthemd, das etwa eine Handbreit über meine Lenden reichte und von tiefroter Farbe war. Ein rotes Nachthemd, dachte ich angewidert und kletterte aus dem Bett. Wie war ich überhaupt in ein so komisches Gewand gekommen? Auf keinen Fall hatte ich Lust, mich so
zur Schau zu stellen. „Vielleicht hat jemand die Freundlichkeit, mir zu erklären, wo ich bin“, sagte ich, „und wie ich hierherkam.“ „Adric“, antwortete Rhys mit müder Stimme, „versuche doch, dich zu erinnern. Du bist in deinem eigenen Turm. Man hatte dich wieder in Gewahrsam genommen. Es tut mir leid.“ Seine Stimme klang mutlos. Ich fühlte Schauer meinen Rücken entlang rinnen. Der Ausdruck „in Gewahrsam genommen“ hatte mir einen ziemlichen Schlag versetzt. Ich war also wahnsinnig und irgendwie eingesperrt! Die geschlechtslose Stimme der blauverschleierten Gestalt warf ziemlich sarkastisch ein: „Da Karamy den Schlüssel zu seiner Erinnerung hat, Rhys, mußt du es ihm immer wieder erklären. Uns wird er niemals mehr von Nutzen sein können. Diesmal hat Karamy gewonnen. Adric, versuche doch, dich zu erinnern. Du bist zu Hause, in Narabedla.“ Das klang fast wie Narrenhaus, und es sah auch so aus — rotes Flanellnachthemd oder nicht. Ich schüttelte den Kopf. Langsam ging ich zu Rhys und legte ihm eine Faust auf die Schulter. „Erkläre mir das, bitte: Wer bin ich? Wo bin ich? Du hast mich Adric genannt. Ich bin ebensowenig Adric wie du!“ „Adric, das ist aber kein Witz mehr!“ Die Stimme der blauen Schleier klang zornig. „Nimm doch das Restchen Intelligenz zu Hilfe, das Karamy dir noch gelassen hat! Du hast genug sharig bekommen, um einen tharl damit zu kurieren! Nun, wer bist du?“ Die Bedeutung dieser Worte verstand ich nicht. „Adric“, sagte ich und ließ meine Faust von der Schulter des alten Mannes gleiten. Nein. Ich war Mike Kenscott. Vergiß das nicht und klammere dich daran, du bist Michael Warren Kenscott, sagte ich mir. Berghütte. Anglerferien mit deinem Bruder Andy. Andy! Zweimal zwei ist vier. Der Kreisumfang ist Radius mal pi. Mike Kenscott. Army-Erkennungsmarke 13-48746. Mein Kopf schien zu bersten. „Entweder bin ich verrückt oder ihr seid es. Oder wir sind beide normal, und das Ganze hier ist ein übles Geschäft.“ „Es ist Wirklichkeit“, antwortete Rhys und seine müde Stimme klang mitleidig. „Gamine, er war sehr weit draußen in der Zeit-Ellipse. So weit habe ich noch niemals geforscht. Adric, du mußt zu verstehen versuchen. Das war Karamys Werk. Sie schickte dich sehr, sehr weit in die Zeit hinaus, in eine sehr ferne Vergangenheit, in eine Zeit, da die Welt ganz anders war. Sie hoffte, du würdest verändert zurückkehren — oder wahnsinnig. Oder sie wollte dich vielleicht nur bestrafen.“ „Wofür bestrafen? Wer ist...“ Die müden Schultern hoben sich. „Wie soll ich wissen, was zwischen dir und Karamy ist? Soll ich mich auch darum noch kümmern?“ Seine Augen schienen nach innen zu sehen. „Ich tat, was ich konnte. Jetzt muß ich zu meinem eigenen Turm zurückkehren — oder sterben. Ich habe meine Abwesenheit zu lange ausgedehnt. Gamine, willst du bitte erklären?“ „Natürlich werde ich das.“ In der sexlosen Stimme lag so etwas wie Bewegung. „Geh, Alter.“ Rhys verließ den Raum, ohne noch einmal zurückzuschauen, ohne Abschiedswort. Ungeduldig drehte sich Gamine zu mir um. „Wir verschwenden nur Zeit. Narr, sieh dich doch an.“ Ich ging zu einem Spiegel, der in eine Tür eingelassen war. Über dem roten Nachthemd suchte ich mein vertrautes Gesicht, aber der Anblick erschütterte mich. Das Gesicht eines fremden Mannes sah mir aus dem Spiegel entgegen. Ich klammerte mich an den Spiegelrahmen. Das tat auch der Mann im Spiegel. Aber es war nicht mein Gesicht. Das Gesicht im Spiegel war schmal wie das eines Adlers, dunkelbärtig, mit scharfen, grünen Augen. Und der zum Gesicht gehörende Körper sah lang, mager, muskulös und nicht sehr menschlich aus. Ich kniff die Augen zusammen. Nein, das war nicht möglich! Ich öffnete die Augen wieder. Der Mann im roten Nachthemd war noch immer da. Er sah drein, als sei er ungeheuer verängstigt. Und das stimmte auch. Vom Fenster aus hoffte ich die mir vertrauten Umrisse der Sierra Madre zu erkennen, die hundert Meilen weg sein mußte. Aber zwischen mir und den Bergen lag ein unendlich weites
Land, das ich noch nie im Leben gesehen hatte. Oder hatte ich es in jenem Vogeltraum gesehen? War das ein Traum gewesen? Die Eisenstäbe, das sah ich jetzt, waren Ziergitter, die sich mit einer leichten Berührung auf einen hohen, mit blauem Schiefer ausgelegten Balkon öffneten. Ich stand unmittelbar unter der Spitze eines hohen Turmes. An der Grenze meines Blickfeldes erkannte ich schattenhaft den Umriß eines anderen Turmes. Die Landschaft unter mir lag in einem seltsamen rosablassem Licht; der Himmel war mit einer dünnen Wolkendecke überzogen, durch die vage die Scheibe einer blaßroten Sonne zu erkennen war. Und etwas höher am Himmel stand — nein, ich träumte ganz bestimmt nicht — eine zweite Sonne von so blendender blauweißer Helle, daß ich trotz der Wolken die Augen schließen mußte. Das genügte. Verzweifelt drehte ich mich zu Gamine um. „Wohin bin ich denn geraten? Wo bin ich? In welcher Zeit? Zwei Sonnen — aber die Berge kenne ich.“ Das verschleierte Gesicht hob sich mir entgegen. Aber es war kein Schleier, eher ein schimmernder Film, der Gamines Züge nicht erkennen ließ; eine unsichtbare Persönlichkeit mit einem Körper, jedoch ohne erkennbare Züge. Ja, genau so, als trage eine unsichtbare Person eine sichtbare, seltsame, seidene Umhüllung. Aber das unsichtbare Fleisch war echt; kräftige, warme Finger schlössen sich um meine Schulter. „Du warst wieder in jenen Zeiten vor der zweiten Sonne? Adric, erzähle mir, gab es wirklich nur eine einzige Sonne — vor jener Sintflut?“ „Warte“, bat ich. „Meinst du damit, ich sei in einer anderen Zeit gewesen?“ Die Erregung schwand aus Gamines Stimme. „Ach, es ist egal. Es dürfte sowieso unwahrscheinlich sein, daß du dich erinnern kannst; nein Adric, es war eigentlich so, daß man dich in die Zeit-Ellipse hinausgeschickt hat. Du mußt mit jemandem in jener anderen Zeit Verbindung aufgenommen haben. Vielleicht war dieser Kontakt so intensiv und dauerte so lange, daß du nun glaubst, ein anderer zu sein.“ „Aber ich bin doch nicht Adric!“ fuhr ich auf. Plötzlich fielen mir auch wieder die Worte ein, die ich gehört hatte, als ich langsam wieder ins Bewußtsein schwamm: Das ist der Mann. Die Stimme kannte ich nun. Rhys hatte ihn Adric genannt. „Adric hat mich hierhergesandt. Wie? Vielleicht ist es sein Körper, aber...“ ich sah eine Bewegung in Gamines unbestimmbaren Zügen. „Es konnte niemals bewiesen werden, daß zwei Geister so ausgetauscht werden können. Adrics Körper — Adrics Gehirn. Die Gehirnwindungen, die Gedächtniszentren, die Verhaltensweisen — das alles gehört doch zum körperlichen Gehirn! Du bist Adric. Der Gedanke, du müßtest ein anderer sein, ist eine Illusion des bewußten Geistes. Aber das wird sich geben, Adric. Du bist zu lange geblieben.“ Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Ich war Mike Kenscott. Daran klammerte ich mich verzweifelt. „Das glaube ich nicht. Wo bin ich?“ Gamine machte eine ungeduldige Bewegung. „Oh, du bist Adric von Narabedla und — wenn du wieder ganz du selbst bist — Lord des Roten Turmes.“ „Und wer bist du?“ „Erinnerst du dich nicht?“ „Nein.“ „Ich bin Gamine. Ich bin... eine Zaubersängerin — unter anderem.“ „Das dort draußen sind meine Berge“, sagte ich rauh, „aber ich bin nicht Adric, wer immer das auch sein mag. Mein Name ist Mike Kenscott, und dieser ganze Hokuspokus hier interessiert mich nicht. Nimm diesen Schleier ab und zeig mir dein Gesicht.“ „Ich wollte, du wünschtest dir das wirklich“, antwortete sie langsam, leise und mit tiefer, trauriger Stimme. „Wenn ich glauben dürfte...“ Heiße Wut packte mich; ohne daß ich es beabsichtigte, trat ich einen Schritt vor. „Was bedeutet dir schon, was ich meine? Welches Recht hast du, für diesen alten Narren Rhys zu spionieren? Gehe in dein Haus zurück, Zaubersängerin, ehe du entdeckst, daß Karamys Zauber nicht der einzige ist in Narabedla!“ Bestürzt schwieg ich. Was hatte ich da gewagt? Was hatte ich damit gemeint? Die sexlose Stimme Gamines klang belustigt. „Das hat Adric gesagt. Wer immer deine Seele besetzt hält,
Adric, du bist und bleibst immer derselbe!“ Die schimmernde Seide knisterte und raschelte, als Gamine zur Tür ging. „Karamy ist ihrer Sklavin willkommen!“ Die Tür schlug zu und ich war allein. Ich warf mich auf das hohe Bett und konzentrierte mich verbissen auf Mike Kenscott, indem ich die vagen, verwirrenden Eindrücke ausschloß, die Adric meinem Bewußtsein aufprägte. Ich hatte Adrics Worte gesprochen, oder es waren wenigstens nicht meine Worte gewesen. Jedoch — Adric war ich nicht! Niemals würde ich Adric sein. Ich wagte nicht zum Fenster zu gehen, um nicht diese entsetzlichen beiden Sonnen sehen zu müssen, und nicht einmal die vertrauten Umrisse der Berge wollte ich sehen, um nicht glauben zu müssen, daß... Aber Adrics Erinnerungen ließen sich nicht abweisen; es war das Schuldgefühl einer vernachlässigten Pflicht, ein entsetztes Gesicht — ein Gesicht, kein vager Umriß eines Nichts wie unter Gamines blauem Schleier. Erinnerungen an seltsame Jagden, an einen großen Vogel, der am Sattelknauf hockte und eine rote Falkenkappe trug... Das komische Nachthemd fiel mir wieder ein, das ich noch immer trug. Ohne irgendwie nachzudenken, ging ich zu einer Tür und schob sie auf; schnell nahm ich ein paar Kleider heraus und zog mich an. Seltsam, sie paßten mir; es waren enge Hosen, hohe Gamaschen, eine spitzenbesetzte Tunika und eine Überjacke. Jedes Kleidungsstück im Schrank hatte dieselbe Farbe, jenes dunkle Karmesinrot; einige Sachen waren mit Pelz besetzt, andere mit Gold- und Silberfäden durchwirkt. Lord des Roten Turmes, hatte Gamine gesagt. Ja, so sah ich aus. Im Schrank gab es Messer und Schwerter. Ehe ich noch wußte, was ich tat, hatte ich eines um meine Taille gegürtet. Ich stutzte und beschloß, es dort zu lassen. Es paßte zu dem ganzen Kostüm. Und seltsam, ich paßte irgendwie hinein. Ich trat einen Schritt zurück, um mich ganz im Spiegel zu sehen, als eine andere Tür lautlos zurückgeschoben wurde und ein Mann eintrat. Er war jung, und er hätte auf eine etwas feminine Art sogar recht gut ausgesehen, wäre er nicht so arrogant gewesen. Er war mager, katzenhaft und — das war deutlich sichtbar — irgendwie mit Adric verwandt — also mit mir, und plötzlich wußte ich seinen Namen. „Evarin“, sagte ich. Er bewegte sich so weich, als habe er Katzenpfoten statt Füße. Er war ganz in Dunkelgrün gekleidet, und der Schnitt seiner Kleidung entsprach dem der meinen. Sein Gesicht flimmerte irgendwie, als könne er mit einem bloßen Willensakt eine Barriere der Unsichtbarkeit um sich aufrichten, ähnlich dem Schleier, der Gamines Gesicht verhüllte. Er sah nicht einmal ganz so menschlich aus wie ich — oder Adric. „Ich habe Gamine gesehen“, sagte er. „Sie berichtete mir, du seist aufgewacht und so vernünftig wie je zuvor. Und wir von Narabedla sind nicht so stark, daß wir es uns leisten könnten, ein zerbrochenes Werkzeug, wie du eines bist, wegzuwerfen. Also willkommen zu Hause, Bruder!“ Grimm, Adrics Grimm, kochte in mir; es war entnervend, auf einen Mann wütend zu sein, den ich bewußt noch nie gesehen hatte. Ich trat vorwärts und legte eine Hand auf den Knauf meines Schwertes. Evarin zog sich geschmeidig zurück. „Ich bin nicht Gamine“, warnte er mich, „und ich lasse mich auch nicht wie Gamine mißbrauchen. Vorsicht!“ Aber er griff nicht zu seinem Schwert im Gürtel. „Dann sei vorsichtig“, brummte ich. Was hätte ich sonst sagen sollen? Evarin lächelte. „Warum? Man hat dich doch in die Zeit-Ellipse hinausgeschickt, und jetzt bist du nur noch ein Schatten deiner selbst. Aber zum Streiten bin ich nicht gekommen. Karamy sagt, du sollst freigelassen werden, und deshalb sind die Türen offen, so daß der Rote Turm kein Gefängnis mehr ist. Komm und geh, wie es dir beliebt — auf Karamys Geheiß.“ Er verzog seine Lippen zu einem verächtlichen Grinsen. „Falls du das Freiheit nennen willst.“ „Glaubst du, ich bin wahnsinnig?“ fragte ich langsam. „Wenn es nicht um Karamy ginge — nein, wahnsinnig warst du nie. Aber was bedeutet das
schon? Ich habe alles, was ich mir wünschen kann. Der Träumer gibt mir eine gute Jagd, ich habe reichlich Sklaven, die mich bedienen und sonst — nun, ich bin der Spielzeugmacher. Sonst brauche ich wenig. Aber du...“ Seine Stimme klang verächtlich. „Du, du warst doch einst so mächtig, und jetzt schwimmst du auf der Zeitwoge, wie Karamy es dir befiehlt, und dein Träumer wartet auf den Tag, da seine Macht uns alle zerstören kann!“ Düster starrte ich Evarin an; ich verstand nicht, was er meinte, und in all dem Durcheinander hörte ich nur immer die Worte „Karamy“ und „Träumer“, und doch schienen sie Scham in mir zu wecken. Waren also Emotionen nur eine normale Reaktion von Nervkontakten im Gehirn? Waren sie nicht ein notwendiger Bestandteil jener Persönlichkeit, die ich doch war — also von Mike Kenscott? Oder war ich verrückt und erlebte die Emotionen einer anderen Person namens Adric? Scham, Bedauern, Angst über das, das ich getan haben sollte, aber niemals getan — oder vielleicht nur geträumt hatte? Evarin beobachtete mich, und sein Gesicht verlor ein wenig von der Bitterkeit des Ausdrucks. Er war kaum mehr als ein Junge. „Der geflohene Falke kann nicht zurückgerufen werden“, sagte er leise. „Ich kam nur, um dir zu sagen, daß du frei bist.“ Er drehte sich um, zuckte die Achseln, die ein wenig mißgebildet zu sein schienen, und ging zu einem hohen, vergitterten Fenster. „Das heißt, wenn du das Freiheit nennen willst.“ Ich folgte ihm zum Fenster. Die Nebel verzogen sich; die beiden Sonnen schienen blendend hell, und ich mußte meine Augen vom Himmel abwenden. Links von mir sah ich eine Reihe regenbogenfarbener Türme, sie waren sehr hoch und sahen massiv aus, gleichzeitig aber auch zierlich, da sie in hohen Spitzen ausliefen. Der nächstliegende Turm war so blau wie schimmernder Lapislazuli, der nächste smaragdgrün, andere waren golden, flammenfarben oder violett. Sie standen im Halbkreis um einen waldigen Park, und die vertraute Umrißlinie der Berge weckte andere Erinnerungen. Der blendende Himmel war nicht blau, sondern farblos wie Sonnenlicht, das auf Eis fällt. Abrupt drehte ich mich vom Fenster weg. „Narabedla“, murmelte Evarin. „Die letzte der Regenbogenstädte. Wie lange noch, Adric?“ Ich versuchte die Namen zu erkennen, die er genannt hatte. „Karamy...“, sagte ich zögernd, aber Evarin hatte die Frage herausgehört. „Karamy kann warten. Für dich wäre es besser, sie würde ewig warten“, antwortete er lachend. „Komm mit mir, oder Gamine kehrt zurück. Du willst doch Gamine nicht sehen, oder?“ Das klang ängstlich, und ich schüttelte den Kopf. Nein. Ganz bestimmt wollte ich diesen Spuk nicht noch einmal erleben. Er sah erleichtert drein. „Dann komm doch mit. So, wie ich Gamine kenne, bist du einigermaßen durcheinander — Amnesie. Ich will es dir erklären. Schließlich“, meinte er ein wenig spöttisch, „für meinen einzigen Bruder kann ich doch nicht weniger tun, oder?“ Er öffnete die Tür und bedeutete mir mit einer Geste, ich solle vorangehen. Instinktiv zog ich mich zurück, denn ich wußte ja gar nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Er lachte wieder, ging voran, und ich folgte ihm. Er schritt endlose Treppen hinunter, und ich wunderte mich, warum ich eigentlich nicht verwirrter oder verstörter war. Ich war ein Fremder in einer unglaublichen Welt, trug eines anderen Mannes Kleider, wurde bei seinem Namen genannt und von seinen Freunden — oder Feinden? Wie sollte ich das wissen? — herumgeführt, und trotzdem war ich von einer fast phantastischen Ruhe wie ein Mensch, der in einem Traum die unmöglichsten Dinge ausführt. Ich tat einen Schritt nach dem anderen, überließ mich dem, was Gamine „Gewohnheiten“ genannt hatte und Erinnerungsmuster, die in den Gehirnwindungen eingebettet sind. Muster? Ich hatte Adrics Körper, vermutlich auch sein Gehirn. Und dieses Gehirn schien zu wissen, was zu tun war. Nur ein oberflächliches ICH, ein äußerliches ICH war noch fremd und mit einem Mike Kenscott vermischt. Der unbewußte Adric führte mich. Ich ließ mich führen, denn ich hielt es für klug, Evarin gegenüber Adric zu sein. Wir betraten eine Liftkabine, fuhren nach unten und nahmen mit so atemberaubender Geschwindigkeit Kurven, daß ich gegen die Wand geworfen wurde. Langsam stieg dann die
Kabine wieder. Ich hatte schon längst jedes Richtungsgefühl verloren. Plötzlich schob sich die Tür auf, und wir gingen einen langen, schwacherhellten Korridor entlang. Der Korridor meiner Träume? Von irgendwoher hörte ich die Stimme eines Jungen oder einer Frau mit einem besonders vollen Alt. Gamines Stimme. Die Worte verstand ich nicht, aber Evarin blieb fluchend stehen. Ich glaubte, meinen Namen gehört zu hüben, aber ich wußte es nicht genau. „Was ist das, Evarin?“ Er rief etwas, doch auch das verstand ich nicht. „Komm mit“, forderte er mich auf. „Das ist nur die Zaubersängerin, die den alten Rhys in den Schlaf singt. Du hast ihn doch aufgeweckt? Mich wundert, daß Gamine es erlaubt hat. Der alte Rhys ist seinem letzten Schlaf sehr nahe. Du wirst ihn wohl bald dorthin senden.“ Was sollte ich darauf antworten? Evarin zog mich wieder in eine Kabine, die sofort mit uns in die Höhe schoß. Dann standen wir in einem Raum eines anderen Turmes, der verschwenderisch ausgestattet war. Evarin warf sich auf einen Diwan und bedeutete mir, seinem Beispiel zu folgen. „Und jetzt sage mir doch, in welche Zeit dich Karamy geschickt hatte!“ „Karamy?“ fragte ich tastend. Evarin lachte schallend. „Kann man denn wirklich so verwirrt sein, wie du zu sein scheinst? Das wäre für Karamy ein erstklassiger Witz! Die Hexe des Goldenen Turmes zerstört deine Erinnerungen, sogar deine Erinnerungen an sie!“ Er konnte kaum mehr zu lachen aufhören. Doch dann wurde er unvermittelt wieder ernst. „Was ich vom Träumer verlange, ist nur, von den Sprüchen dieser Hexe frei zu werden! Wir in der Regenbogenstadt sollten wenigstens einander volle Freiheit gewähren. Eines Tages werde ich für sie einen Turm entwerfen, und dann wird sie erkennen, daß ich ein Mensch bin, mit dem sie rechnen muß. Zandru weiß, wie wenig ich von einem Träumer erwarte, und ich bin nicht bereit, seinen Preis zu bezahlen. Aber Karamy ist es egal, was sie bezahlt, und so hat sie“ — er breitete die Arme aus — „über jeden Macht, nur über mich nicht. Sie hatte sogar die Macht, dich in die Zeit-Ellipse hinauszuschicken. Ich möchte nur wissen, wer dich zurückgeholt hat!“ Allmählich kam auf spukhafte Art Sinn in die Geschichte. Irgendwie hatte Adric Karamys Zorn erregt, und Karamy war die Hexe vom Goldenen Turm — was immer das auch zu bedeuten hatte —, und sie hatte ihn aus seinem Körper hinauskatapultiert. Als man dann versuchte, ihn zurückzuholen, hatte man — mich erwischt. Selbstverständlich würde ich das Evarin nicht sagen. Etwas in mir wußte, daß das Bekenntnis einer Schwäche oder Angst zu einer Katastrophe führen mußte. Ich schüttelte nur den Kopf. „Nun jedenfalls bin ich wieder da“, sagte ich, „wenn ich mich auch nicht an sehr viel erinnern kann.“ „An mich erinnerst du dich doch“, antwortete Evarin. „Mich wundert nur, daß sie dir diese Erinnerung gelassen hat. Karamy mochte mich doch eigentlich nie. Sie traute mir nicht.“ Und damit hat sie recht. Der Gedanke kam aus einem Wissensvorrat, den ich willensmäßig nicht anzapfen konnte, der aber trotzdem in mir lag. Ich sagte: „Nur an deinen Namen, an sonst nichts.“ Evarin, das wußte ich nicht, blieb niemals für zehn Minuten derselbe Mensch. Er konnte in einem Augenblick Freundschaft und Treue beteuern und es sogar ehrlich meinen; zehn Minuten später war er imstande, mir die Haut vom lebendigen Leibe zu ziehen und es noch als Witz zu betrachten. Er schien meinen Gedanken zu folgen und lachte. „Nun ja, meinen Namen weißt du, und das ist schon einiges. Nackt ist der bruderlose Rücken, und das gilt für mich ebenso wie für dich, Adric! Sage mir, was du vergessen hast.“ Konnte ich meine Verwirrung schildern? Was konnte ich ihm erzählen, da ich für ihn doch Adric war? Ich mußte Adric sein, denn das war meine einzige Sicherheit, dieser Respekt vor Adric und dem, was er tun konnte. Was konnte ich als Adric überhaupt tun, wie konnte ich weiterkommen, ohne etwas zu wissen? Und wie viele Fragen durfte ich stellen, ohne meine
Hilflosigkeit zu verraten? „Ich hatte meinen Körper für allzulange Zeit verlassen“, antwortete ich schließlich. „Ich kann mich nicht erinnern.“ Eine Sache muß ich aber unter allen Umständen erfahren: „Was sind die Träumer?“ fragte ich. Das war die falsche Frage gewesen; ich wußte es, kaum daß ich sie gestellt hatte. Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich. Er fühlte sich jetzt sicherer in meiner Gegenwart. „Zandru, du warst ja wirklich weit weg, Adric! Du mußt bis in die Zeit vor der Sintflut Zurückgeschickt worden sein!“ Das stimmte. Nur wußte ich nichts über die Sintflut. Ich nickte. „Nun, unsere Ahnen haben nach der Sintflut die Regenbogenstädte gebaut und den Vertrag geschlossen, der die Maschinen vernichtete. In den Regenbogenstädten konnten wir, denen man die Macht anvertrauen durfte, leben und regieren wie immer, aber der Vertrag gab uns die Sicherheit, daß immer weniger Menschen uns verraten konnten. Natürlich gab es ein paar Idealisten, die uns vorwarfen, wir führten sie wieder in die Barbarei zurück, aber die haben ja nie etwas verstanden!“ Evarin schien leidenschaftlich bewegt zu sein. „Wir gaben ihnen doch nur Sicherheit vor Mächten, die sie mißbrauchten! Jetzt leben sie einfach, wie der gewöhnliche Mann leben sollte, und mit Künsten und Techniken, die sie niemals beherrschen lernen, können sie sich nicht mehr befassen.“ Er sah mich an, als erwarte er von mir eine zustimmende Antwort, aber ich sagte nichts. Evarin stand auf und rannte nervös herum. „Was die Träumer sind? Das weiß niemand. Sie wissen es ja selbst nicht. Früher einmal waren es Menschen, oder sie waren wenigstens von Menschenfrauen geboren, von Menschenmännern gezeugt. Man weiß nicht, was diese Wandlung bewirkt. Von zehntausend Menschen wird einer als — Monstrum geboren, als Träumer.“ „Mutationen?“ Das murmelte ich so leise, daß Evarin es nicht verstand. Er fuhr fort: „Manche sagen, die Sintflut selbst und alles, was damit zusammenhing, habe diese Wirkung hervorgerufen. Andere behaupten, in den Träumern seien die Seelen der toten Maschinen. Sie sind menschlich, zugleich aber nicht menschlich. Es sind Telepathen. Sie haben Kräfte, die andere nicht besitzen. Sie können alles kontrollieren — Dinge, Seelen, Menschen. Sie können Illusionen über den Menschen und über Dinge werfen. Sie kämpfen gegen unsere Herrschaft.“ Er setzte sich und brütete vor sich hin. „Vor einem Dutzend Generationen“, sprach er nach einer Weile weiter, „ist es einem unserer Leute aus den Regenbogenstädten gelungen, diese Träumer zu binden. Töten können wir sie nicht, denn sie können sich selbst schützen. Ich weiß nicht, wie sie das machen, daß die auf sie gerichtete Waffe wirkungslos bleibt. Ein gegen sie geführter Schlag richtet sich gegen den Angreifer. Aber wir lernten sie zu binden; im Schlaf sind sie harmlos. Das hätte an sich schon gereicht, aber dann entdeckten wir, daß wir sie, wenn sie schliefen, zwingen konnten, ihre Macht an uns abzugeben. Und so haben wir also die Kontrolle über ihre Kräfte, und damit war ihr Zauber gebrochen.“ In seinen Augen lag ein Anflug von Entsetzen. „Den Preis, den wir zu bezahlen haben, kennst du ja.“ Ich schwieg, denn ich kannte ihn nicht. Evarin sollte weitersprechen. Er schüttelte entschieden den Kopf, und das Entsetzen schwand. „So hat also jeder von uns in der Regenbogenstadt einen Träumer, der seine Kraft aufgibt — für den verabredeten Preis natürlich —, so daß sein Meister volle Handlungsfreiheit hat. Werden die Träumer dann alt, schwindet auch langsam ihre Kraft, und erst dann kann man sie töten. Wenn sie sehr schwach sind, ist es sogar besser, sie von Zeit zu Zeit wachzuhalten, aber nie für zu lange Zeit.“ Er lachte bitter, und plötzlich war sein Gesicht von Wut verzerrt. „Und du hast einen Träumer verloren!“ schrie er. „Einen Träumer, dessen Kräfte noch nicht einmal voll entwickelt waren! Vielleicht ist er im Augenblick noch ziemlich harmlos, aber er ist wach und läuft herum! Eines Tages kommt die Kraft über ihn, und dann zerstört er uns alle.“ Evarins Züge waren nicht mehr arrogant, sondern verzweifelt, voll Angst und Schmerz. „Ein Träumer“, seufzte er, „und du warst schon eins mit ihm gewesen! Verstehst du jetzt, Bruder,
weshalb wir dir nicht trauen?“ Wortlos stand ich auf und ging zum Fenster. Von hier aus sah ich nicht den kleinen, sauberen Park hinunter, sondern auf ein weites, wildes Land hinaus. In der Ferne kräuselten sich seltsame Rauchspuren hinauf in den blendenden Sonnenschein, aber über dem Boden lag ein wattedicker Nebel. Da und dort schimmerte ein See, waren die dunklen Flecken von Wäldern, die ragenden Umrisse von Bergen zu erkennen. Ein großer Vogel hing mit ausgebreiteten Schwingen am Himmel und ließ sich vom Wind treiben. „Dort unten“, deutete Evarin, „lebt der Träumer und läuft herum. Er wartet nur darauf, daß er uns alle vernichten kann. Dort unten...“ Den Rest brauchte ich nicht zu hören, denn den kannte ich. Dort unten ist mein verlorenes Gedächtnis. Dort ist mein Leben. Irgendwo dort unten hatte ich meine Seele gelassen.
3. Ich wandte mich vom Fenster ab. „Rhys ist ein Träumer“, sagte ich langsam. „Und was ist Gamine?“ Evarin nickte, überhörte aber die Frage. „Rhys ist ein Träumer, ja“, antwortete er. „Und er ist schon sehr alt und wird bald sterben. Deshalb wacht er, deshalb geht er auch herum. Aber einmal hat er zu uns gehört, und er war der einzige Träumer, der je innerhalb der Regenbogenstadt geboren wurde. Seiner Sippe tut er nichts zuleide, denn er ist von unserem Blut.“ Evarin räusperte sich. „Deshalb übernimmt Gamine von ihm an Wissen, soviel sein alter, müder Geist nur hergeben will.“ „Aber Gamine?“ Evarin zögerte. „Karamy haßt Gamine“, antwortete er schließlich. „Deshalb bekommt niemand Gamines Gesicht zu sehen. Ich selbst stelle keine Fragen und rate dir, es ebenso zu halten, außer du wendest dich an Karamy.“ Ein Lächeln huschte um seinen sensiblen Mund. „Frage doch Karamy“, schlug er fröhlich vor. „Sie wird dir’s sagen.“ Karamy. Ihr Name war nun so oft gefallen. Die Hexe vom Goldenen Turm. Vielleicht lag ihre Erinnerung auch in einem tiefen Brunnen, und es konnte derselbe sein, der mir Namen und Identitäten eingab, die ich nicht kannte. „Warum haßt Karamy aber Gamine?“ fragte ich. „Mein Bruder, wenn du das nicht weißt, wer soll es dann wissen? Gamine und ich lieben einander nicht besonders, aber über eines sind wir uns einig: Karamys Sklaven sind eine monströse Übertreibung, und du bist ein Narr und etwas noch Schlimmeres, wenn du dafür bezahlst. Karamy ist viel zu machthungrig, als daß sie etwas von ihrer Macht in deine Hände legen würde. Bis jetzt hat sie jeden Kampf mit dir gewonnen. Warum wärst du sonst in deinem eigenen Turm gefangen gewesen?“ „Aber jetzt bin ich doch frei“, wandte ich ein. Er musterte mich neugierig. „Ja. Vielleicht bist du sogar stärker, als ich glaube. Ist das der Fall, könnten wir beide unsere Kräfte zusammenlegen, wenn du glaubst, Karamy sei zu stark. Ich kann dir helfen, dein Gedächtnis wiederzufinden.“ Lautlos kam Evarin an meine Seite. „Schau mal, ich habe dir ein Spielzeug gemacht.“ Er legte einen kleinen, harten Gegenstand in meine Hand, der in silbrige Seide gewickelt war. Neugierig schlug ich das dünne, blausilberne Material zurück, das Gamines Schleiern glich. Einen Moment lang sah ich nur eine verwischte Unsichtbarkeit ähnlich der von Gamines Gesicht durch den Schleier, aber dann erkannte ich eine spiegelglatte Oberfläche, die jedoch nichts zu reflektieren schien; es war eine kalte, glänzende, wolkige Fläche, die von innen her glitzerte. Ich beugte mich darüber, um die Schatten genauer zu sehen, die darüber spielten. Es war seltsam: Durch meine Hand kroch ein Gefühl der Kälte, einer vertrauten, beruhigenden
Kälte. Meine Augen prüften intensiver... Eine kaum merkliche Bewegung lenkte mich ab; Evarin beobachtete mich gespannt. Ein Wieder-Wissen brach in meinen Geist. Evarins tödliches Spielzeug! Ich warf das Ding zu Boden und schleuderte es mit dem Fuß weg. Der verwischte Schimmer schien zu flackern; einen Augenblick lang sah ich einen winzigen Mechanismus, der mit Edelsteinen besetzt war, und dann war das Ding wieder schimmerndes, graues Eis. Evarin war fast an die andere Wand zurückgewichen. Ich sprang ihn an und nahm ihn in einen Zangengriff. „So schlecht ist mein Gedächtnis auch wieder nicht“, knirschte er. „Verdammt, ich stopfe dir das Ding doch noch in die Kehle!“ Plötzlich zerrann sein ganzer Körper zwischen meinen Fingern. Ich tat ein paar verblüffte Schritte zurück, gerade rechtzeitig, als er wieder materialisierte und viel zu nahe neben mir stand. „Ich gehe ja nur bewacht!“ zischte er. „Mein Träumer wacht nicht!“ Er bückte sich nach dem Spielzeug, doch ich stieß es aus seiner Reichweite und bückte mich selbst danach. „Das behalte ich“, sagte ich, wickelte das Ding wieder in die blausilberne Seide und steckte es in die Tasche. Evarin sah mich wütend an, und dann lachte er plötzlich boshaft. „Nun, es war ein recht guter Versuch“, sagte er und schien sich nicht beruhigen zu können. „Ja“, antwortete ich böse. „Das bleibt in meiner Tasche, und du •wirst dich eine ganze Weile nicht unsichtbar machen können. Spielzeugmacher, du verdammte Mißgeburt!“ Ich rannte durch die Tür und knallte sie hinter mir zu. Nun wußte ich auch, wohin ich zu gehen hatte, oder wohin ich gehen wollte. Ein blinder Instinkt führte mich durch einen Irrgarten von Aufzügen, Korridoren und Treppenhäusern. Ich kam an Küchen und Dienstbotenwohnungen vorbei, die ich kaum ansah, weil ich sie kannte. Wäre ich stehengeblieben, um darüber nachzudenken, wohin ich gehen wollte, hätte ich mich hoffnungslos verirrt. Endlich stand ich dann im Freien, und um mich erhob sich der Halbkreis der Türme. Die beiden Sonnen oben, die rote und die weiße, sandten ein seltsames Licht durch die beschnittenen Bäume, die doppelte Schatten warfen. Ein ungewöhnlich kleiner Tagmond lugte über den violetten Turm. Das Gras unter meinen Füßen war richtiges, gewöhnliches Gras, aber die in abgezirkelten Beeten blühenden bunten Blumen kannte ich nicht; sie waren riesig groß, fleischig und viel zu grellfarbig. Links und rechts an den Wegen liefen schmale Gräben entlang. Irgendein Wissen in einem vergessenen Winkel meiner Erinnerung ließ mich die Gräben sehr sorgfältig umgehen. Ich wußte, daß sie einem wichtigen Zweck dienten. Schrille Musik drang von weither an meine Ohren, ein wortloser Sirenengesang, der Gamines Summen glich. Plötzlich wußte ich, daß es die Blumen waren, die sangen. Ja, die singenden Blumen in Karamys Garten — Adric erinnerte sich des Lotosgesangs. Ein Willkommensgesang? Oder ein Lied der Gefahr? Ich war nicht allein im Garten. Männer in gegürteten Kilts, grellfarbig wie die Blumen, liefen hin und her und erweckten den Eindruck züngelnder Flammen. Die alte Eitelkeit erinnerte mich daran, daß Karamy trotz all ihrer Sklaven dem Herrn des Roten Turmes zu huldigen hatte — jetzt und in Zukunft! Schweigend gingen die Männer an mir vorüber. Sie trugen Schwerter, die wie Kinderspielzeuge aussahen. Das war ein Heer von Zombies, von unbeseelten Leibern. Sie salutierten mit abgehackten Bewegungen, als ich vorüberging. Ein hoher Ton summte plötzlich in den Blumen; ich fühlte, wie diese Zombies sich wie ein Ballett in eine Reihe fügten, und in ein Nichts verschwanden. Spielzeugsoldaten, einer wie der andere! Ich sah einen Mann rennen. Mein Ich aus einer anderen Welt dachte kurz an die Märchensoldaten der Königin aus Alice im Wunderland. Aber der Mann war kein Kartensoldat. Er trug dunkle Hosen und ein dunkles Hemd. Das hohe Summen der Blumen — der Blumen? — wurde zum schrillen Kreischen. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß der Mann eine Pfeife zwischen den Zähnen hielt, deren Ton sich mit dem Gesang der Blumen zu jenem schrillen Kreischen mischte. Er sprang über einen Graben und blieb neben mir
stehen. „Adric!“ rief er leise. „Karamy geht herum. Höre dir doch die Blumen an! Ich fürchtete schon, ich müßte den ganzen Turm nach dir absuchen, und Narayan konnte mich nicht so weit schützen!“ Er hob die Hand mit der Pfeife und blies einen fließenden Triller. „Aldoney! Wie freue ich mich, dich zu sehen! Narayan sagte, er wisse, daß du frei bist, aber keiner von uns konnte es glauben. Er ist draußen vor den Toren und schickte mich zu deiner Hilfe. Komm mit!“ Der Anblick des Mannes tippte an einen jener Lebensdrähte in meinem Gehirn. Narayan. Da schlug ein Akkord aus Angst oder Drohung und Gefahr an. Ich kannte ihn. Ich wußte auch die Antwort, auf die er wartete, aber jener kurze Blick in den Spiegel — war es ein Spiegel? — des Spielzeugmachers hatte eine ganze Kette von Handlungen zur Folge, die ich nicht kontrollieren konnte. Ich versuchte meine Hand zu einem freundlichen Gruß auszustrecken, aber zu meinem Entsetzen fühlte ich meine Finger am Knauf meines Schwertes. Und das Schwert flog wie von selbst aus der Scheide. Furchtsam zog sich der Mann zurück. „Adric, nein, das Zeichen...“ Er hob eine abwehrende Hand, krümmte sich vor Schmerz und umklammerte die verletzten Finger. Ich hörte meine eigene zornige, fast unmenschliche Stimme, durch die Evarins dünnes Gelächter klang: „Zeichen? Hier hast du dein Zeichen!“ Der Mann warf sich aus meiner Reichweite, aber sein Gesicht zeigte einen Ausdruck bestürzten Staunens. „Adric, Narayan hat uns geschworen, du seist wieder ganz du selbst.“ Ich mußte Gewalt anwenden, um das Schwert wieder in die Scheide zu schieben; es schien lebendig zu sein und sich wie eine Schlange zu winden. Ich sah die Wunde an, die ich nicht hatte schlagen wollen, sah die züngelnden Köpfe der Blumen hinter ihm. Den Mann, der Narayans Namen auf der Zunge trug, konnte ich nicht töten. Die Blumen bewegten sich, ließen lange, schnurartige Fühler gegen die verletzte Hand des Mannes schnellen. Ein würgendes Gefühl saß mir in der Kehle. „Renne! Schnell, laufe, oder ich kann... !“ schrie ich. Die Blumen kreischten. Der Mann riß entsetzt die Augen auf und schrie. „Karamy! Aieeeee!“ Er taumelte, stolperte am Rand des schmalen Grabens. Ich rief ihm eine Warnung zu — zu spät. Er stürzte über den Graben, und die züngelnden Blumen umfingen ihn kreischend, bis er mit ausgebreiteten Armen zwischen ihnen lag. Ich hörte noch seinen hoffnungslosen Schrei und wandte mich ab. Allmählich wurde das schrille Kreischen zu einem sanften, schnurrenden Summen. Dann war wieder alles ruhig, und die Blüten wiegten sich hinter ihren Gräben im sanften Wind. Karamy kam in Gold und Feuerfarben den Weg entlang, und ich vergaß sofort den Mann, der zwischen den Blumen lag. Von der schimmernden Krone ihres Haares bis zu den Sandalen an den Füßen brannte alles an ihr; bernsteinfarben waren ihre Brauen, und in der Hand hielt sie einen Stab aus Bernstein. Ihr Lächeln war ein Traum. Eine Vision, eine Phantasie, die ich in meiner anderen Welt gesehen hatte. Große Schönheit lahmt alle Gefühle. Ich starrte die Goldene Hexe an, deren schimmernder Stab die Linien meines Gesichts nachzuziehen schien. Alte Gewohnheit hieß mich die Augen abwenden. Karamy lächelte und wandte ihre Katzenaugen dem leblosen Körper zwischen den Blumen zu. „So? Ich dachte doch, daß ich etwas gehört hatte. Wie kam es denn überhaupt so weit?“ Sie ließ mich nicht aus den Augen, und ihr Stock tanzte dazu. Die Blumen begannen wieder zu singen, und zwei der Zombiesoldaten schritten geräuschlos durch den Garten. Sie trugen den Toten weg, und die Musik hörte auf. Karamys Blick hing an etwas, das auf dem Boden lag. Es war eine Pfeife. Karamy berührte sie mit einer Sandalenspitze. „Klug“, sagte sie zornig, „aber nicht klug genug.“ Dann sah sie zu mir empor und breitete ihre schönen Hände aus. „Adric! Adric! Nun bist du kaum frei, und schon belästigt man dich wieder! Das wolltest du doch gar nicht, oder?“
Ich antwortete nicht, denn etwas zuckte durch meine Erinnerungen, um den Namen des Mannes zu finden, den ich zwischen die Blumen hatte geraten lassen. Karamy trat vor mich hin, so daß ich sie ansehen mußte. Ihre liebliche Stimme flüsterte den Namen, an den ich mich allmählich gewöhnte. „Adric, du bist böse? Ich weiß, es war grausam, Evarin in deine Nähe zu lassen, aber was hätte sonst deinen Zorn bewirken können, der allein nur dich wieder zu dir selbst zurückführen konnte? Wir brauchen dich, Adric. Narabedla braucht dich. Wir fühlen uns ohne dich verloren. Du ließest uns allein, um dich mit Rhys und den Sternen einzuschließen! Aber jetzt bist du zurückgekehrt.“ Ihre Hände griffen um meine Schultern und hielten sie fest. „Hast du mich auch vergessen? Oder bist du noch immer mein Geliebter?“ Das klang nicht echt. Ich wollte sie schon eine Lügnerin, eine mörderische Teufelin heißen, aber ich lernte es doch allmählich, meine Schlauheit richtig einzusetzen — die animalische Schlauheit von Adrics alten Gewohnheiten und eine verzweifelte, in die Falle geratene Schlauheit, meine eigene, die aus der Furcht vor dieser fremden, gefährlichen Welt geboren war, deren Spiegel und Blumen lauernder Zauber waren. Und wie sollte ich wissen, was ich als nächstes tun würde? An meinen Händen war Blut, und wenn Adric eine Geisel zweier gegeneinander kämpfender Kräfte war, wie sollte ich wissen, was ich zu tun hatte? Ich mußte mich an der Oberfläche treiben lassen, meinen Ahnungen folgen und sehen, wohin sie mich führten. „Wer könnte dich vergessen, Karamy?“ antwortete ich. Sie war sehr weich, sehr süß und überaus lieblich, als ich sie fest in meinen Armen hielt, während ich um die Erinnerungen rang, die sich nicht zwingen lassen wollten. Karamy ließ die Arme sinken, und damit fiel auch der Mantel verführerischer Lässigkeit. „Du bist immer noch böse, weil ich dich in die Zeit-Ellipse hinausschickte! Weißt du denn nicht, daß es zu deinem eigenen Besten war? Du hast deine Lektion noch immer nicht gelernt!“ „Wenn ich eine zahme Katze wäre, welchen Wert hätte ich dann für dich?“ erwiderte ich. Ich wußte, hier lauerte Gefahr, und ich kannte nur eine Möglichkeit, sie unwirksam zu machen. Es schien Karamy zu gefallen, daß ich sie an mich zog, aber sie blieb auch dann vorsichtig, als ihre Lippen unter den meinen nachgaben. Belog ich sie, oder spielte sie mein Spiel um eine Schattierung besser als ich? Und dabei dachte ich noch immer an die gefährlichen, fleischigen, wiegenden Blumen... „Jetzt können wir Pläne machen“, sagte sie etwas später. „Zuerst also Gamine.“ Sie warf mir einen scharfen Blick zu, doch ich wußte, daß meine Miene ausdruckslos blieb. „Gamine“, fuhr sie fort, „ist immer bei dem alten Träumer. Sie läßt ihn lange wachen. Er ist alt, und er gehört zu unserer Sippe, aber er wird trotzdem zu mächtig. Wir müssen Rhys aus Narabedla wegschicken. Gamine kann ja bleiben, oder, wenn sie will, mag sie ihm auch ins Exil folgen. Aber Rhys hat zu gehen.“ „Rhys muß gehen“, pflichtete ich ihr bei. „Man sollte ihn töten, aber das läßt Gamine niemals zu“, sagte Karamy. „Nun ja, solange Gamine mit Rhys verbunden ist, sucht sie nach keinem stärkeren Träumer. Evarin...“ Sie schnippte mit ihren juwelengeschmückten Fingern. „Sein Träumer schläft tief. Evarin fürchtet seine eigenen Kräfte. Und seine Spielzeuge — vielleicht können sie uns einmal nützlich werden. Mein Träumer wird immer stärker, aber er dient mir!“ Das schöne Gesicht trug den Ausdruck unbarmherziger Wildheit. „Und dein Träumer, Adric vom Roten Turm, läuft frei in den Wäldern herum. Du wirst ihn mit meiner Hilfe wieder binden. Ja, und bis dahin wird mein Träumer auch dir dienen. Ich werde dafür bezahlen, daß du die Macht in die Hände bekommst!“ Fast dieselben Worte, die Evarin gesprochen hatte. Ein Angstschauer überfiel mich und lahmte mich fast. „Du bist zurückgekommen, Adric, und wir brauchen dich!“ fuhr Karamy fort. „Heute nacht noch gehe ich zum Bergfried der Träumer, und du kommst mit. Dann werden wir in die
Wälder gehen, wo dein Träumer ist, und wir werden diese Gefahr für die Regenbogenstadt für immer ausrotten!“ Ihre wilden Augen brannten. „Dann, Adric, wird nichts und niemand in Narabedla, ja, in der ganzen Welt, unsere Macht mehr in Frage stellen!“ Gegen meinen Willen spürte ich, wie die Flamme, die sie entzündet hatte, wuchs. Macht, unbegrenzte, uneingeschränkte Macht und eine schöne Frau mit Zauberkräften in den Fingerspitzen. Adrics Ehrgeiz brannte in mir wie ein verzehrendes Feuer. Goldene Hexe! Jetzt wußte ich, wie die Träumer bezahlt wurden, jetzt kannte ich den Preis, für den sie ihre magischen Kräfte in die Hände der Herren von den Regenbogen legten. Der kleine Teil von mir, der noch immer Mike Kenscott war, zuckte vor Angst und Ekel zurück; der Rest akzeptierte die Erinnerung mit einem Achselzucken, und dann sprach Adric aus mir: „Ich gehe. Ich brauche die Macht so sehr, daß ich sie selbst aus deinen Händen entgegennehme, Karamy. Und dann gehe ich in die Wälder, in denen der Träumer lebt und bringe ihn dir zurück.“ Im gleichen Augenblick jedoch, als ich Karamy in meine Arme riß und meinen Mund auf den ihren preßte, rann ein eisigprickelnder Schauer mein Rückgrat entlang, und meine Augen verengten sich über ihrem goldenen Kopf. „Und dann, Karamy“, sagte ich, aber den Satz vollendete ich nur in Gedanken: Und dann, Goldene Hexe, werde ich auch mit dir abrechnen!
4. Stundenlang suchte ich nach meiner Rückkehr zum Roten Turm nach einem Schlüssel zu Adrics mysteriöser Vergangenheit. Dieser Adric verwirrte mich, denn er kam und ging, wie er wollte, in den Kammern meiner Erinnerungen. Was ist schon eine Identität? Was ist ein Persönlichkeitsbewußtsein? Ich fühlte mich wie Mike Kenscott. Ich erinnerte mich an mein Leben als Mike Kenscott, an meine Kindheit, die Schule, die Armee, an die Arbeit, an Mädchen. Und doch — Evarin, Karamy, der fremde Mann, den ich den Blumen ausgeliefert hatte, kannten mich als Adric, und ihnen gegenüber hatte ich nicht als Mike Kenscott gehandelt. Darüber wollte ich gerne nachdenken, denn sonst überfiel mich wieder diese panische Angst. Grimmig durchsuchte ich den ganzen Raum. Ich fand seltsame Dinge, jedoch nichts, was mir wichtig erschien. Wer Adrics Erinnerungen genommen hatte — wer? Karamy? —, der hatte dafür gesorgt, daß nichts in seiner Umgebung zurückblieb, was das große Rätsel zu lösen vermocht hätte. Was ich wußte, war das: Adric war gefürchtet und verhaßt, und die Narabedlaner trauten ihm nicht — mit einer Ausnahme vielleicht: Evarin, und der nur in einer bestimmten Gemütsverfassung. Alle Narabedlaner, nur Gamine nicht, hatten etwas zu gewinnen, wenn sie vorgaben, Adric freundlich gesinnt zu sein. Ich konnte mir nicht darüber klarwerden, ob Karamys Haltung Liebe war, die Adric nach ihrem Willen formen wollte, oder Rache, die aus dem gleichen Grund Liebe heuchelte. Ich traute Karamy nicht und war froh, daß Adric so dachte wie ich. Der Name Narayan stak wie ein Pfeil in meinem Fleisch. War er Freund? Oder Feind? Die weiße Sonne war untergegangen, und die rote neigte sich dem Horizont entgegen. Ein Diener klopfte leise an die Tür und brachte etwas zu essen. Er war keiner der Zombies aus Karamys Garten, sprach aber mit einem Respekt, der an Angst grenzte. Ich überlegte, ob ich den Mann ausfragen sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Es wäre unvernünftig gewesen, auch nur einen Menschen in diesem Kaninchenbau an Feindseligkeit ahnen zu lassen, wie schwach, verwirrt und meiner selbst unsicher ich war. Sie dachten zwar alle, Lord Adric sei wieder ganz er selbst, und wenn sie sich vor Adric fürchteten, dann hatte ich sicher
eine Weile vor ihnen Ruhe. Zögernd meldete der Mann, ehe er ging: „Die Lady Cynara möchte zu Ihnen kommen, Lord Adric. Darf ich sie hereinbringen?“ Wer, zum Teufel, war nun wieder diese Lady Cynara? Adrics Frau vielleicht? Seine Geliebte? Sonst eine freundlich oder feindlich gesinnte Einwohnerin von Narabedla? Ich hatte jedenfalls genug Sorgen und wollte sie jetzt nicht sehen. „Nein“, antwortete ich nur, und der Mann murmelte etwas und verschwand. Ich saß an dem vergitterten Fenster von Adrics hohem Turm und versuchte Erinnerungen aus jenem fremden Geist herauszuzwingen, dessen Gefangener ich war. Ob es nun ein Erfolg meiner Willensanstrengung oder des kurzen Blicks in Evarins Spiegel war, ob die Person Adric echt war und die von Mike Kenscott nur eine Illusion von Karamys Magie — allmählich kamen Erinnerungen zurück. In jenen alten Tagen, ehe die verschwommenen Vermutungen meinen Geist einzunebeln begannen, war Adric vom Roten Turm ein mächtiger Herr der Regenbogenstadt gewesen. Diese Erinnerungen waren nicht von der Art, wie sie mein Ich als Mike Kenscott begrüßt hätte, doch der Adric in mir fand sie durchaus erfreulich. Wir Herren der Regenbogenstadt waren eine uralte Rasse. Unsere Sippe beherrschte das ganze Land; nur — wir waren eine sterbende Rasse. Immer weniger Kinder wurden den Herren der Regenbogenstadt geboren, und diese wenigen Nachkommen waren zum größten Teil Schwächlinge, die mit den ungeheuren Kräften der gefangenen Träumer niemals zurechtkommen konnten. Adric, dieser Mann von überwältigendem Ehrgeiz, hatte mit einem Schlag gegen sie alle Macht in seine Hände genommen. Zu allen Zeiten und in allen Ländern haben Könige und Diktatoren langsam und methodisch jene ausgerottet, welche ihre Macht zu beeinträchtigen drohten, und Adric machte es ebenso. Und nun sah man in Narabedla zum Herrn des Roten Turmes hinauf, damit er regiere. In der Regenbogenstadt wohnten ständig nur Evarin und Gamine; Evarin spielte mit übler und guter Laune, und Gamine — hatte Adric je wirklich etwas über sie gewußt? — liebte nur die Weisheit. Die paar anderen außer diesen beiden stellten Adrics Führungsanspruch nicht in Frage. Und Karamy! Sie hatte meinen Machtanspruch angezweifelt, und sie war geblieben, um an meiner Macht teilzuhaben. Ich hatte die Macht gewollt und hatte sie — unbegrenzt — von einem neu gebundenen Träumer, der sich nur vage im Schlaf bewegte. Außerhalb von Narabedla huldigte mehr als die Hälfte der bekannten Welt dem Herrn des Roten Turmes. Einige Erinnerungen waren reinster Triumph, andere erschienen Adrics zynischem Denken komisch. Manche der Erinnerungen waren unvorstellbar schrecklich, denn Adric war es von jeher gleichgültig gewesen, was seine Triumphe kosteten, aber selbst ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er den Preis des Träumers kannte. Und dann war diesem wilden, unbeugsamen Mann etwas zugestoßen. Ich wußte nicht, was es gewesen sein konnte. Fließende Bilder zogen durch einen grauen Nebel — ein Kindergesicht unter blondem Haar, das sich in ungläubiger Angst oder Freude hob: eine fliehende, verhüllte Gestalt, die sich, als ich zu folgen versuchte, in den Labyrinthgängen meiner Erinnerungen verlor. Was immer auch geschehen war, es hatte sich in einem Augenblick ereignet, da Adric von Blut und Schrecken als Preis seiner Macht abgestoßen war. Seine magische Kraft — die schlafenden, knapp am Leben gehaltenen Träumer und Mutanten erzwangen durch ihren Geist die Macht für ihn — verlangte nach Energie, die nur aus einer Quelle stammen durfte. Und Adric hatte seinen Träumer absichtlich und großzügig für eine ganze Weile aus dieser Quelle versorgt. Aus einer Laune heraus hatte ich eines Tages eine für dieses Schicksal bestimmte junge Frau gerettet. Die folgenden Erinnerungen waren wieder in einen Nebel gehüllt; trotz größter Anstrengung gelang es mir nicht, diesen Nebel zu durchdringen.
Aber dann war Adrics Macht zusammengebrochen wie ein Triumphbögen, dessen Grundstein man entfernt hatte. Seine Armeen zerstreuten sich, und er selbst schloß sich in seinem Turm ein oder wurde dort gefangengesetzt. Seine Erinnerungen wurden ihm gestohlen, und er war in eine Zeitdimension gegangen oder hinausgeschickt worden, die entweder weit in die Zukunft oder weit in die Vergangenheit reichte. Dort wirbelte er nun in einer Zeit-RaumDimension, bis er irgendwo in den Abgründen jener anderen Zeiten oder Welten auf den Mann gestoßen war, den er selbst als Mike Kenscott kannte. Und da war nun Adric vielleicht entwischt. Er hatte zugegriffen, Mike Kenscott in sein Spinnwebennetz gezogen und ihn gegen sich ausgetauscht. Es muß die perfekte Flucht aus einem Leben gewesen sein, das Adric hassen gelernt hatte; einem Leben, das mit zu vielen Konflikten beladen war, als daß er es hätte ertragen können. Aber ich war Adric... Auch dafür gab es eine Erklärung. Der physische Körper konnte sich nicht auswechseln. Ich hatte Adrics Körper, seine Gehirnwindungen, die synaptisch bedingten Verhaltensformen, seine Gedächtnisbank. Nur sein EGO, sein“ tiberpersönliche, bewußte Identität, die „Seele“, wenn man so sagen will, war die Von Mike Kenscott. Körperlich und dem Gehirn nach war ich Adric. Und in meiner eigenen Zeit, in meinem Raum, lebte Adric in meinem Körper als Mike Kenscott, führte dessen Leben und ging durch dessen Emotionen mit den gleichen Erinnerungslücken und den komischen Schnitzern, die ich hier machte. Nach einer Weile würde sich da und dort das meiste glätten. Aber ich war gefangen. Da ich Adrics Leben lebte, wurde er nun immer stärker in mir, bis ich ganz in seine Persönlichkeit geschlüpft war. Und würde er dann in meiner alten Welt ICH werden? Andy, dachte ich in einem Aufflackern der Angst, was würde er mit Andy anstellen? Nichts. Mit meiner Persönlichkeit konnte er Andy nichts Böses tun, so wie ich mit seiner Persönlichkeit Evarin nicht hassen konnte. Oder doch? Ich hatte heute mein Schwert gegen einen Mann gezogen, der mich „Freund“ genannt hatte, und ich hatte ihn Karamys Blumen ausgeliefert. Ich mußte zurückkehren in meine Zeit und Persönlichkeit. Aber wie? Wie war ich hierhergekommen? Einmal hatte sich meine Lebensbahn mit der Adrics gekreuzt. Oder wie hatte Gamine gesagt? Zeit-Ellipse. Das war doch der Tag gewesen, als sie gemeint hatten, der Blitz habe das Labor getroffen. Achtzehn Stunden lag ich unter dem Balken, später im Drogenrausch im Krankenhaus, und da mußte sein Leben eine Weile mit dem meinen parallel gelaufen sein. Doch die Flucht war nicht völlig gelungen. Etwas hatte ihn in seine eigene Welt zurückgezogen oder getrieben. Er war dann selbst gegangen oder geholt worden. Diesmal schien es gelungen zu sein. War er nun in meiner Jagdhütte in den Bergen und fing einen Fluch zum Abendessen? Wühlte er in meinem Elektromaterial herum? Ich hoffte und wünschte voll Rachsucht, er möge sich ein paar recht heftige und schmerzhafte Elektroschocks holen. Nach dem ersten Kontakt war ein Teil von Adric in mir geblieben. Ich erinnerte mich des Tages, da ich den Adler mit dem Messer angegriffen hatte. Die rote Sonne glühte wie ein glimmender Holzklotz über den Sierras, als einer von Karamys Spielzeugsoldaten mit einer Einladung kam. Kraß ausgedrückt, war es eine Aufforderung an mich, ich solle kommen. Ich hatte immer gedacht, daß diese Zombies — waren es seelenlose Körper? — nicht sprechen könnten. Ich starrte den großen, stämmigen Burschen an; er hatte ein einfaches, rundes, sommersprossiges Gesicht, das vor robuster Gesundheit glänzte; Arme und Brust waren muskulös; nur die Augen erschienen mir leer, der Mund hing schlaff herunter, und als ich ihn fragte, wohin wir gehen würden, wiederholte er nur ausdruckslos: „Die Anwesenheit des Lord Adric wird gewünscht.“ Der Bursche blieb unbeweglich stehen, und erst nach einer Weile dämmerte mir, daß er selbst
keinen Willen hatte und nur auf meinen Befehl wartete. Ich hätte ihm ja am liebsten gesagt, er solle sich zum Teufel scheren, aber ich hätte nicht gewußt, ob er ohne meine Führung diesen Weg fände; oder ob ich wüßte, wohin ich gehen sollte. Automatisch ging ich zu dem Schrank, nahm einen dick mit Pelz besetzten roten Mantel heraus und legte ihn mir um die Schultern. Dann winkte ich dem Soldaten zu; er machte kehrt, und ich folgte ihm durch einen Irrgarten von Gängen und Treppen zu einem langen Korridor. Ich hörte meine eigenen Schritte hallen und dann auch noch einen zweiten, der sich meinem Rhythmus einfügte. Gamine stahl sich aus dem Schatten, ein lautloser, blausilbern verschleierter Geist. Später vernahm ich das leise Tappen von Evarins Katzenschritten, dann folgte ein Mädchen in einem flammenfarbenen Federmantel, schließlich ein zwerghafter Mensch in einem mit dunklem Pelz besetzten Purpurmantel. Der Korridor stieg leicht an, und an seinem Ende schimmerte ein Licht. Unbewußt war ich in einen stolzen, weit ausgreifenden Schritt gefallen. Nun schob ich den Soldatensklaven, der die Kolonne anführte, zur Seite und übernahm selbst die Führung. Und dann öffnete sich vor uns unvermittelt ein weiter, imposanter Hof. Über uns glühte die rote Sonne wie ein Gasfeuer. Auf drei Seiten war der Hof von hohen Säulen eingerahmt, und am gegenüberliegenden Ende führte das Gewölbe eines Bogenausganges in eine baumbestandene Zufahrt, die sich in weiter, schattenhafter Ferne in einem Wald verlor. Zwischen zwei Säulen wartete die schlanke, goldschimmernde Karamy. In ihren Katzenaugen funkelte hungrige Ungeduld. „Du kommst spät!“ „Jetzt bin ich da“, antwortete ich, „und bereit.“ Wofür bereit? Ich wußte es nicht. Karamy winkte den anderen Narabedlanern ungeduldig zu. „Adric ist wieder bei uns. Eure Treue gehört Adric, Kinder des Regenbogens!“ Stumm stand ich neben ihr und wartete. „Lord Idris!“ rief Karamy, und der Zwerg verbeugte sich ruckartig vor mir. „Willkommen zu Hause, Lord!“ Evarins Gesicht war schlau und boshaft, doch seine Stimme schnurrte seidig. „Es ist mir ein Vergnügen, dir wieder zu folgen, Bruder.“ Das flammenfarbene Mädchen sagte nichts, sondern machte einen tiefen Knicks, und die Bewegung glich dem Züngeln einer Flamme. „Adric...“, murmelte sie nur, denn sie war ein scheues Ding, und ihr dunkles Haar wogte und flog, als habe es Flügel. Sanft berührte ich ihre Finger, ließ sie aber sofort wieder los, denn Karamys Augen schienen mir zu drohen. „Du reitest mit uns, Cynara?“ Karamy schien daran wenig Freude zu haben. Das Mädchen in dem flammendroten Mantel hob das Gesicht, antwortete aber nicht. Gamines Stimme summte einen wortlosen Triller, dann trat das Mädchen vor Karamy. „Es ist mein Wille, Karamy. Willst du mein Recht bestreiten?“ Die Spannung lag fast greifbar in der Luft; dann machte Karamy eine wegwerfende Geste. „Was kümmerst du mich, Gamine, mit deinen Zaubersprüchen? Komme, wenn du willst, und bringe mit, wen du willst. In diesem Augenblick wird nicht über Rechte gesprochen.“ Der alte Rhys wurde anscheinend nicht erwartet. Von irgendwoher wurden Pferde gebracht. Pferde in einer Alptraumwelt? Sie sahen aus, wie die Pferde, die ich aus meinem eigenen Leben kannte. Ich hatte noch niemals auf einem gesessen, aber seltsamerweise war ich mit einem einzigen Schwung im Sattel mit diesem seltsamen hornförmigen Knauf. Irgendwie herrschte im Hof trotz der stampfenden Rosse und der Geräusche des Aufbruchs Grabesstille. Karamy hielt sich in meiner unmittelbaren Nähe. Nachdem alle aufgesessen waren, hob sie ihren Bernsteinstab. Die letzten Sonnenstrahlen fingen sich in den Prismen und warfen einen scharfen Strahl reinsten Lichtes in die dunkle Allee. Ein seltsames, halbvertrautes Gefühl packte mich, und ich hob meinen Arm hoch über den Kopf. „Reitet!“ schrie ich. „Reitet zum Bergfried der Träumer!“ Meile für Meile legten wir unter den dunklen, tiefhängenden Ästen zurück. Hinter uns dröhnten die Hufe von Karamys Garde, und dazwischen vernahm ich Gamines flötenhafte Stimme. Der Wind blies durch Karamys goldenes Haar, das sich wie ein schimmernder
Heiligenschein um ihren Kopf legte. Ich warf einen Blick zurück zu den Regenbogen türmen, die jetzt zu dunklen Umrissen vor den schwarzen Schatten der Berge geworden waren. Ein winziger Mond warf einen rosa Schein über den Himmel, und über dem Horizont schob sich eine größere, volle Scheibe zwischen den Bäumen heraus. Die kalte Luft machte mich frösteln. Von den Hufen der Pferde stoben Funken auf. Frost! Und in Karamys Garten hatten die Blumen in tropischer Fülle geblüht! Einen Augenblick lang war ich wieder Mike Kenscott, ein erschreckter, verstörter Mike Kenscott, den die Nähe der goldenen Zauberin und die kalte Nachtluft frösteln ließen. Und es war auch Mike Kenscott, der die Zügel seines Pferdes anzog, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten. „Was ist?“ fragte Karamy. „Nichts!“ rief ich zurück und drückte meinem Tier die Absätze in die Flanken. Guter Gott! Ich war Mike Kenscott, aber Gefangener eines Körpers, der mir nicht gehorchte, eines Geistes, dessen Gedanken und Gewohnheiten mir fremd waren, einer Seele, die mich der Vernichtung auslieferte! Ich war Mike Kenscott und ritt durch einen Alptraum geradewegs in die Hölle!
5. Auch früher hatte ich schon manchmal Angst gehabt, aber das war jetzt eine panische, nervenzerfetzende Angst. Ein Feigling bin ich nicht, und einmal hatte ich vor den Nasen der Vietcongs eine Radarfalle gebaut. Einer realen Gefahr konnte ich durchaus ins Auge sehen. Aber unter zwei Sonnen und einem Paar seltsamer Monde, umgeben von seltsamen, spukhaften Leuten, die meiner Ansicht nach nicht menschlich waren — gut, hier war ich also ein Feigling. Ich bot meinen ganzen Willen auf, um ruhig zu bleiben. Wenn das ein Alptraum war — nun, er hatte seine — wenn auch geisterhaften Schönheiten. Aber ich wußte, daß dies kein Alptraum war. Der Frost biß in mein Gesicht, die Hufe schlugen gegen Steine, und um mich herum waren diese grellen Farben — Träume sind nicht farbig. Ich war wach, hellwach. Und ich lenkte ein Pferd mit meinen Schenkeln, obwohl ich nie im Leben auf einem Pferd gesessen hatte... Zweimal hielten wir kurz an, um die Pferde zu Atem kommen zu lassen, aber noch immer ritten wir unter den dunklen Bäumen dahin. Der Himmel war dunkel geworden, und blasses, bläuliches, fluoreszierendes Mondlicht lag über dem Land. Ich lugte durch das dunkle Laub, denn ich hatte eine vage Hoffnung, die Sterne könnten mir einiges verraten, aber nur der Große Bär war zu sehen. Die anderen Sternbilder hätte ich sowieso nicht gekannt. Allmählich ließ ich mich ein wenig zurückfallen, bis ich zwischen Gamine und dem Mädchen mit dem flammenfarbenen Mantel ritt. Die Zaubersängerin begrüßte mich mit einem angedeuteten Nicken, aber das Mädchen im Flammenmantel warf die Kapuze zurück. Ich sah dunkle Augen in einem reinen, süßen, jungen Gesicht. Am liebsten hätte ich diesen schimmernden Augen zugerufen, daß ich ja gar nicht Adric, der Krieger von Narabedla sei, sondern nur ein armer Kerl, der Mike genannt wurde. Dann drang Gamines musikalische Stimme an mein Ohr. „Du scheinst wieder ganz du selbst zu sein.“ Was sollte ich darauf antworten? Ich schüttelte nur den Kopf. Seltsam, diese Stimme schien voll Sympathie zu sein. „Wenn deine Erinnerung wiederkehrt, dann wirst du dich — vielleicht allzu genau — an den Bergfried der Träumer erinnern.“ „Gamine“, fragte ich, „wer ist Narayan?“ Unter den blausilbernen Schleiern spürte ich eine rasche Bewegung, und ein seltsamer
Ausdruck flog über das Gesicht des Mädchens im Flammenmantel. Aber Gamines Stimme blieb ruhig. „Ich habe noch keinen dieses Namens gesehen. Vielleicht kann Cynara dir antworten, wenn du sie fragen willst.“ Ich sah das Mädchen an. Cynara? Doch ich stellte die Frage nicht, denn der Name Cynara hatte plötzlich wieder einen Draht in meinem Gehirn berührt — oder in dem Adrics. Narayan und Cynara. Wenn ich mich nur erinnern könnte! Was hätte Cynara gesagt, wenn ich dem Diener erlaubt hätte, sie zu mir zu bringen? War es jetzt zu spät, etwas zu erfahren? Ich sah wieder das Mädchen an. Nein! Verdammt, ich wollte Adrics Erinnerungen nicht haben! Cynara hatte ihr dunkles Pony auf gleicher Höhe mit meinem Pferd gehalten. Schlank und hoch aufgerichtet ritt sie im Damensitz, als sei sie so geboren. Unter dem flammenfarbenen Mantel war sie klein, zart und bezaubernd menschlich, das einzige wirklich menschliche Wesen, das ich in dieser Spukwelt gesehen hatte! „Habe keine Angst“, sagte Cynara, und ihre Stimme klang tief und süß und sehr leise, so daß ich kaum die Worte verstehen konnte. „Du mußt nicht gehen. Alles ist vorbereitet.“ „Aber was...“, rief ich, doch sie schüttelte den Kopf und warf mir wegen Evarin, der uns überholte, einen warnenden Blick zu. Karamy drehte sich im Sattel um, winkte mir befehlend zu, und ich versuchte, mich dagegen aufzulehnen. Doch dann drückte ich meinem Pferd die Absätze in die Flanken und ritt vor zu Karamy. Der Weg stieg schon eine Weile an, und wir hielten schließlich auf dem baumfreien Gipfel eines kleinen Hügels. Vor uns lag eine weite Senke von mindestens dreißig Meilen Durchmesser, die ganz mit dichtem, dunklem Wald bewachsen war. An der tiefsten Stelle des Tales war eine Lichtung zu erkennen, aus der ein riesiger Turm ragte. Es war keiner der schlanken, märchenhaften Türme, und er glich auch nicht denen der Regenbogenstadt; es war eine massive Festung mit breiten, trutzigen Zimmern, die sich uralt und schrecklich in den monddurchfluteten Himmel schoben. Der Bergfried der Träumer! Das ist der Wald, in dem der Träumer herumgeht, flüsterte etwas in mir; oder war es Karamy gewesen, die gesprochen hatte? Ihre schlanken Hände hielten fest und energisch die Zügel, und ihr Gesicht war gesammelt und voll Spannung. Ein Teil von mir kannte den Grund ihrer Spannung, ein anderer Teil wunderte sich darüber. Ich war Mike Kenscott, der sich selbst beobachtete und nicht wußte, was er als nächstes sagen oder tun würde. Karamy wandte mir ihr Gesicht zu. „Du mißtraust mir!“ rief sie heftig. „Das fühle ich! Warum?“ „Habe ich denn Grund, dir zu trauen?“ Ich wußte nicht, ob Adric aus mir sprach oder ob ich selbst es war, ein mißtrauischer Mike Kenscott. Ich hatte mit ihrem Zorn gerechnet, aber zu meinem Staunen glitt ein zauberhaftes Katzenlächeln über ihre Züge, und ihre goldenen Augen schimmerten im Licht. „Vielleicht nicht“, murmelte sie, und ihr Lachen hatte den Ton einer goldenen Glocke. Dann wurde sie jedoch unvermittelt heftig. „Adric, wenn du zu grübeln aufhören würdest, wüßtest du, wie sehr ich dich brauche, wie sehr Narabedla deine Kraft und Stärke braucht! Höre, Adric, alles hat sich verändert. Die Leute sind rebellisch und trotzig. Ich kann doch keine Armeen gegen sie führen! Sage doch nur, hatten wir es je nötig, unter Bewachung durch unsere eigenen Wälder zu reiten?“ Evarin lachte spöttisch. „Erst nimmst du Adric alle Macht, und dann beklagst du dich, daß du keine starke Hand hast?“ rief er. „Die Strafe war viel zu gering“, ließ sich die harte Stimme des Zwerges Idris vernehmen, der sein Pferd nach vorne zog. Er funkelte mich wütend an. „Dich hasse ich, Adric, denn du bist ein Verräter! Du hast den Träumer befreit und ihn gegen uns aufgehetzt. Ich sage, du verdientest den Tod!“
„Es war aber, wie du siehst, nicht nötig, daß er starb“, sagte Karamy und sah mich an, als erwarte sie Hilfe von mir. „Du siehst doch jetzt ein, Adric, daß wir dich wieder zur Vernunft bringen mußten, um zu retten, was zu retten möglich war.“ „Sie hat recht“, pflichtete Evarin ihr bei. „Unseren privaten Streit können wir später auch noch austragen. Nun müssen wir gegen eine Rebellion angehen — und gegen einen Träumer. Wenn die Regenbogenstadt überleben soll, dann müssen wir die Vergangenheit ruhen lassen. Was Adric in einem Augenblick des Wahnsinns getan hat, kann er jetzt gutmachen. Wenn du nicht Frieden halten kannst, dann entschließe dich wenigstens zu einem Waffenstillstand.“ „Adric“, flüsterte Karamy, „bringe mich dorthin, wo der Träumer geht.“ Plötzlich wußte ich mit aller Sicherheit, daß ich das tun konnte, weil mich noch etwas mit dem befreiten Träumer verband. „Die Verbindung ist abgebrochen“, ließ mich eine gewisse Vorsicht antworten. „Du hast das Band doch selbst durchschnitten! Das habe ich nicht vergessen.“ Zu meiner Befriedigung erkannte ich eine gewisse Unsicherheit in ihren Katzenaugen. Der Schuß hatte gesessen, und Karamy hatte also wirklich dieses Band zu durchschneiden versucht. Sie glaubte auch, es sei ihr gelungen. Jetzt im Augenblick wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte dieses Band für ihre privaten Zwecke verwenden können. Eine diplomatische Ader hatte diese Frau nicht, denn sie murmelte: „Dieses Band kann wieder geknüpft werden, das Versichere ich dir.“ Ah! Aber ich wußte, was ich von Karamys Eiden zu halten hatte! „Nun, dann knüpfe es doch wieder. Aber zähle nicht auf mich, wenn du glaubst, du könntest deine Taten ungeschehen machen.“ Lange Zeit ritten wir durch den dichten Wald, den ein schmaler, gewundener Pfad durchschnitt. Adric kannte sein Land, und Mike Kenscott lief ein Schauer über den Rücken. Hier hatte er gejagt, aber nicht nach vierfüßigem Wild. Karamy schien meine Gedanken zu lesen, denn sie lachte leise. „Mein Handgelenk hungert nach einem Falken. Du und ich, wir beide werden hier wieder jagen.“ Irgendwie erregten mich diese Worte. Gamines Gesang nahm eine andere Melodie an. Noch immer waren keine Worte zu verstehen, doch ich wußte, daß sie eine Warnung sein sollte. In meinem Nacken zuckte ein Nerv. Unvermittelt beschrieb der Pfad eine steile Kurve. Karamy und ich drückten unseren Pferden die Absätze in die Flanken, sprengten um die erste Biegung, dann um die zweite — und waren in die Falle gegangen, ehe wir es auch nur ahnten. Mein Pferd stieß ein verängstigtes Wiehern aus, stieg und trommelte dann mit den Hufen den Boden. Fluchend und schreiend versuchte ich das Tier zu beruhigen und gleichzeitig Karamy zu warnen, doch für sie war es zu spät; sie flog in hohem Bogen aus dem Sattel. Die anderen waren inzwischen fast vor den spanischen Reitern angelangt. Reiterlose Pferde wieherten und stampften, Flüche, Frauenschreie und das Getrappel eiliger Füße vermischte sich zu einem höllischen Lärm. Ich sprang aus dem Sattel, warf mich gegen Gamines Pferd, ehe es sich im Verhau der Falle verfing, und schrie Evarin und Idris eine Warnung zu. Evarin war mit einem Satz an meiner Seite, und ich riß wie ein Irrer an der Sperre. Doch dann umging ich sie in einem weiten Bogen. Dahinter war der Pfad offen, und Karamy lag bewegungslos da. „Gamine! Evarin!“ rief ich. „Hier ist niemand zu sehen, aber Karamy ist verletzt!“ Idris brach auf seinem Pferd durch das dichte Unterholz. „Ist sie tot?“ fragte er. Ich legte meine Hand auf ihre Brust. „Nein. Das Herz schlägt. Sie ist bewußtlos. Steig ab“, befahl ich, und Idris rutschte aus dem Sattel. Ich hob die Frau auf, aber sie bewegte nicht einmal die Lider. Idris berührte meinen Arm. „Lege sie quer über meinen Sattel“, sagte er. Schwer und schlaff lag sie in meinen Armen, doch sie stöhnte leise, als ich sie über den Sattel legte. Da tat Idris einen Schrei. „Was ist?“ fragte ich scharf. „Ich hörte...“ Ich erfuhr nie, was Idris gehört hatte. Sein Kopf verschwand, als habe ihn eine Riesenfaust abgerissen. Eine harte Hand umklammerte meine Kehle, und in meinem Kopf gingen tausend
Raketen auf einmal los. Ich wußte noch, daß ich ins Unterholz geschleudert wurde und daß dann ein Elefant auf meiner Brust zu hocken schien. Bevor es völlig schwarz um mich wurde, war mein letzter Gedanke: „Jetzt wache ich auf!“
6. Aber das hatte ich nur gedacht. Ich kann nur ein paar Sekunden bewußtlos gewesen sein. Ich hörte Evarin fluchen, und Idris bellte geradezu vor Wut. Karamy kreischte meinen Namen, ich versuchte zu antworten, aber die Stahlfinger schnürten mir die Kehle zu. Der Fall oder was es war, hatte Adric aus mir hinausgeworfen. In meinem Kopf herrschte ein entsetzliches Durcheinander, aber ich war wenigstens ICH und nur noch ein unschuldiger Zuschauer. Evarin und Idris standen auf dem Pfad und warfen vorsichtige Blicke ins Unterholz. Über mir hing das Gesicht eines Mannes, der mich mit dem Gewicht seines Körpers an den Boden fesselte. Er hatte ungefähr die Formen eines Flußpferdes und ein dazu passendes Gesicht. Ich wand mich wimmernd, aber das Flußpferdgesicht kam drohend näher. Im Dickicht erkannte ich zusammengeduckte Gestalten mit Waffen über den Schultern, die sowohl Pfeil und Bogen wie auch Strahlenwaffen sein konnten — oder beides. Wieder begann Nebel mein Gehirn zu umhüllen, und das Gewicht drückte mich zu Boden. Als ich schon glaubte, der Kerl würde mich zerquetschen, bewegte er sich endlich, und dicke, ungeschickte Finger stopften mir einen Knebel in den Mund. Erleichtert atmete ich tief ein, als ich von diesem schrecklichen Gewicht erlöst war. Der Dicke erhob sich schnaufend, aber eine stählerne Spitze kitzelte mich an den Rippen; sie machte drohende Worte überflüssig. Die Narabedlaner waren ein eng beisammen stehendes Häufchen auf dem Weg. Die Scharfschützen rund um mich hielten ihre Waffen noch immer im Anschlag, aber der Dicke wisperte ihnen zu: „Nicht schießen. Hinter ihnen reitet sicher eine Garde drein.“ Ich versuchte einige von Adrics Erinnerungen auszugraben, aber alles, was mir einfiel, war eine Sache aus meinen Fußballertagen; da hatte mich einer von der Gegenmannschaft so angerempelt, daß ich drei Meter weit durch die Luft geflogen war. Adric war weg, völlig weg. Die Narabedlaner unterhielten sieh leise und hatten sich um Gamine geschart, was mich irgendwie verwunderte. Doch auch dieses Staunen verblaßte, als Evarin sein Schwert zog; auch er wagte es jedoch nicht, in das Dickicht einzudringen. Cynara hielt Idris fest. „Nein!“ hörte ich sie rufen. „Wenn du dich bewegst, bringen sie ihn um!“ Ich weiß nicht, wer die beiden Reiter waren, die über das Sträßchen schwärmten. Mich zog man auf die Füße und schleppte mich weg. Hinter mir hörte ich Schreie; Stahl klirrte, farbige Blitze zuckten, und mir tanzten schwarze Punkte vor den Augen, als ich zwischen zwei meiner Gefangenenwärter dahintaumelte. Mein Schwert wurde von irgendeinem aus der Scheide gezogen. Schön, ich hätte ja doch nicht damit umzugehen verstanden, da Adric nicht mehr von der Partie ist, dachte ich. Ein drohend auf meine Brust gerichtetes Messer half mir, mit gefesselten Händen in einen Sattel zu klettern, und dann begann das Pferd unter mir zu rennen. Ich war also sozusagen von der Bratpfanne ins Feuer geraten, denn ich war mir klar darüber, daß ich kaum eine Möglichkeit zur Flucht hatte. Die Geräusche hinter uns erstarben allmählich. Ich hing auf meinem Pferd, und nur Adrics unbewußte Muskelreflexe hielten mich auf dem Tier. Ich glaube nicht, daß ich überhaupt zwei zusammenhängende Gedanken zu denken vermochte, aber nach einer Zeit sah ich, daß wir aus dem Wald herauskamen und offene Feuer vor uns flackerten. Ich klammerte mich mit einer Hand an den Sattelknauf, hob den Kopf und blickte mich um. Wir befanden uns in einem lichten, von hohen Bäumen umstandenen Gehölz, das einer alten Druidentempelstätte glich. Fackeln brannten auf hohen Pfosten, und Wachfeuer flackerten.
Auf der Lichtung standen Zelte, und das Ganze sah aus wie ein Zigeunerlager. Am entgegengesetzten Ende der Lichtung stand ein weißes Fachwerkhaus mit flachem Dach und breiten Türen. Ich schluckte kräftig und rutschte im Sattel herum, denn diesen Platz hatte ich in meinen Träumen gesehen; ich hatte ihn als Vogel überflogen, und ein Pfeil hatte mich getroffen. In meiner Brust fühlte ich einen eigenartigen Schmerz, und ich klammerte mich fester an das Sattelhorn. Aus allen Zelten quollen Männer und Frauen. Unzählige Sprachen schwirrten an meinem Ohr. Den Namen „Adric“ hörte ich von Mund zu Mund laufen. Und dann noch einen Namen: Narayan. Aus einem der größeren Zelte trat ein schlanker, junger, blonder Mann in einem dunkelbraunen, rauhen Gewand und kam auf mich zu. Die Menge zog sich zurück; der Blonde gab einem Mann ein Zeichen, der sofort den Knebel aus meinem Mund nahm, meine Fesseln löste und mir aus dem Sattel half. Erschöpft hielt ich mich am Steigbügel fest. „Irgendwelche Schwierigkeiten gehabt, Raif?“ fragte der junge Mann. Mein riesiger Wärter schüttelte den Kopf. „Die scheinen wir ganz ohne jeden Zauber gefangen zu haben. Sie waren zum Bergfried unterwegs, aber wir haben sie jetzt eine Weile aufgehalten. Die Hexe hatte allerdings ein paar Dutzend von ihrer Garde dabei.“ Der blonde junge Mann schüttelte den Kopf. „Nun, ihr seid ja hoffentlich sicher weggekommen. Ihr habt doch nicht gekämpft?“ „Befehl ist Befehl“, erwiderte der Dicke düster. „Du hast gesagt, wir sollen uns Adric schnappen und wieder verschwinden. Da ist Adric, und wir sind auch da, und die anderen...“ Er fluchte ganz entsetzlich, und der junge Mann mußte lachen. „Du kannst noch früh genug nach Herzenslust kämpfen!“ meinte er. Er trat ganz nahe an mich heran und musterte gelassen mein Gesicht. Dann wandte er sich zu Raif, dem Dicken, um. „Das ist nicht Adric“, sagte er. „Den Mann hier kenne ich nicht.“ Eigentlich hätte ich mich erleichtert fühlen sollen, aber das tat ich nicht, und ich ahnte nicht, weshalb es so war. Endlich aber gab es einmal einen Menschen, der den Unterschied bemerkte. Trotzdem war meine erste Reaktion ein Gefühl zorniger Enttäuschung. Wie wollte er das wissen? Ich war so wütend, als hätte man mich dabei ertappt, daß ich gestohlene Kleider trug. Mein dicker Gefangenenwärter war ebenso wütend. „Wieso meinst du, daß er nicht Adric ist?“ fragte er. „Sag mal, hast du deine Augen in der Tasche? Wir haben ihn mitten aus seiner verfluchten Kavalkade herausgeholt! Wenn der nicht Adric ist, dann fresse ich einen Besen. Wer soll es denn sonst sein?“ „Ich wollte, ich wüßte es“, murmelte Narayan. Der ruhige, feste Ausdruck seiner Augen brachte mich fast aus dem Gleichgewicht. Der Mann war groß, schlank und wunderbar gebaut, und sein hellblondes Haar war geschnitten wie der Pagenkopf eines mittelalterlichen Minnesängers. Seine grauen, ernsten Augen waren gleichwohl freundlich. Er gefiel mir, obwohl er die gleiche Ruhe ausstrahlte, die ich am alten Rhys bemerkt hatte. Fast war ich schon entschlossen, diesem jungen Mann meine Geschichte zu erzählen, denn ich war überzeugt, er würde sie glauben. Allmählich erkannte ich Zweifel in seinen Augen, und seufzend sah er sich im Kreis um. „Adric?“ wandte er sich dann wieder an mich. „Kennst du mich noch? Oder hat dir Karamy auch diese Erinnerung genommen?“ Ich seufzte auch. Die Wahrheit konnte ich ihm doch nicht sagen, noch weniger aber lügen, denn ich war zu erschöpft, als daß ich mir etwas Überzeugendes hätte ausdenken können. Lügen mußte ich aber auf jeden Fall. Nun, aber ich hatte ja eine feine Entschuldigung für jeden Fehler, den ich machte. „Du bist Narayan?“ fragte ich. Der Dicke, der sich noch immer an meinem Ellbogen festhielt, sah Narayan finster an, „Laß ihm nur das nicht durchgehen“, knurrte er. „Ist Brennan zurückgekommen? Nein! Er kennt die Wege um die Regenbogenstadt, und er hat eine Bewachung bei sich gehabt. Frage doch Adric, was er mit Brennan angestellt hat!“ Narayan ließ mich keine Sekunde aus den Augen. „Raif“, antwortete er, „Gefahren gibt es
immer. Du darfst keinen Menschen ungerecht beschuldigen. Und selbst Adric ist nicht zu tadeln, wenn Karamy ihn unter ihrem Zauber hält.“ „Verräter!“ knurrte Raif und spuckte nach mir. Mir fiel vage ein, daß Idris mich ebenso genannt hatte. Die Männer murmelten miteinander, und mein Körper spannte sich in der nun schon fast vertrauten mörderischen Wut Adrics. Nein, nicht schon wieder! Ich dachte an das vertrauensvoll zu mir aufgehobene Gesicht Brennans, fühlte meinen Schwertstreich, hörte seinen Todesschrei... Dieser Adric, dachte ich, ist doch das verrückteste Exemplar auf dieser verrückten Welt. Keiner traut ihm weiter, als er ihn stoßen kann, und man kann es ihnen nicht einmal übelnehmen. Ich ließ das Sattelhorn los und tat benommen einen Schritt vorwärts. „Du kannst mich ja fragen?“ schlug ich zornig vor. „Wenn du nicht Adric bist, wer, zum Teufel bist du dann?“ fuhr mich der dicke Raif an. „Und was hast du mit Brennan gemacht?“ Ich schüttelte den Kopf, denn ich war vor Erschöpfung nur noch halb bei Bewußtsein. Narayan trat einen Schritt auf mich zu. „Hier nicht, Raif“, sagte er und ergriff meinen Arm. „Tretet zurück, Leute. Und du kommst mit.“ Zögernd machten sie eine Gasse für uns frei, und Narayan führte mich zu dem Haus am Rand der Lichtung. Raif und ein weiterer Mann folgten uns, und die anderen zogen sich in die Zelte oder zu ihren Feuern zurück. Ein paar blieben an der Haustür stehen, als wir die Stufen hinaufgingen. In einem großen, holzgetäfelten Raum brannte ein helles Feuer. Von dicken Holzscheiten züngelten die Flammen und schenkten Wärme und Licht. Ich war froh, daß ich zum Feuer gehen durfte, denn meine Glieder waren steif vom Reiten, und die beißende Kälte hatte mich nahezu ausgehöhlt. Eine schlanke Gestalt erhob sich von einem Diwan in der Nähe des Feuers; es war ein dunkelhaariges, zartes Mädchen, dessen Mantel die Farbe von Flammen hatte. „Cynara!“ rief ich erstaunt. „Adric!“ Sie hielt mir beide Hände entgegen, und ich ergriff sie, denn das Mädchen schien der einzige echte Mensch, das einzige echte Wesen überhaupt in dieser Alptraumwelt zu sein. Dann warf sie ihre Arme um meinen Hals und drückte sich fest an mich; nicht leidenschaftlich, nicht sinnlich, eher als wolle sie mich beschützen. Sie hatte also von dem Überfall gewußt. Aber was tat sie hier? Narayan nahm das Mädchen an der Schulter. „Cynara“, fragte er, „was tust du hier?“ „Ich... ich bin ihnen in der Dunkelheit entkommen. Gamine weiß es vielleicht“ aber hier werden sie mich nie linden.“ Er schüttelte den Kopf. „Kleine Schwester, du mußt nach Narabedla zurückkehren. Gäbe es eine andere Möglichkeit, würde ich es dir nicht zumuten. Es wäre zu gefährlich für uns alle, wollten wir dich hierbehalten.“ Er winkte dem dritten Mann zu, der mit uns gekommen war. „Kerrel, du bringst Cynara zu dem Pfad zurück. Aber lasse dich nicht erwischen! Cynara, du sagst ihnen, du hättest dich im Wald verirrt, oder man habe dich gefangen, und du seist entkommen.“ „Nein, ich gehe nicht zurück“, erwiderte sie entschieden, doch ihr Mund zitterte. „Was nützt es, da Adric nun hier ist? Jetzt kann es doch einmal zu einem Ende kommen.“ Sie hielt meine Hand fest, doch ich schüttelte den Kopf. Ich verstand nichts, doch ihr Gesicht sagte genug. Ich legte meinen Arm um sie und fühlte ihr Zittern. Narayan sah sie an, dann mich und seufzte schließlich. „Vielleicht hast du recht. Die Zeit ist gekommen, die uns alles riskieren heißt — entweder um alles zu gewinnen oder alles zu verlieren.“ Er drehte sich zu den Männern um. „Ich spreche mit Adric. Allein.“ Raifs dicke Lippen verkniffen sich trotzig. Im Kampf mußte er ein recht unfreundlicher
Gegner sein. „Wenn er Adric ist und Karamys Teufeleien...“ „Ich stand Adric gegenüber, aber auch Karamy“, unterbrach ihn Narayan und grinste breit. „Raif, verschwinde! Du bist weder mein Kindermädchen, noch mein Leibwächter.“ Widerstrebend zog sich der Dicke zurück. Cynara ließ meine Hand los und setzte sich wieder zum Feuer; das tat mir leid, denn wenigstens sie vertraute Adric... Narayans Lächeln war aufrichtig und freundlich. „Jetzt werden wir uns unterhalten, du und ich. Du kannst mich ebensowenig töten wie ich dich, also halte ich es für besser, wenn wir offen zueinander sind. Warum hast du uns wieder verlassen, Adric? Und was hat Karamy dir diesmal angetan?“ Der Raum drehte sich um mich. Ich streckte eine Hand aus, um nicht zu fallen. Dann schwand die Benommenheit wieder. Narayans Arm lag um meine Schultern, und die Kraft, mit der er mich festhielt, erstaunte mich. Er half mir zu einem Sessel. „Man hat dich ziemlich grob behandelt“, sagte er. „Nun, die Männer hatten natürlich ihre Befehle. Vielleicht waren sie ein bißchen zu eifrig in deren Ausführung. Und wie ich Karamy kenne, standest du sehr lange unter dem Einfluß schwerer Drogen.“ Seine Augen musterten mich nachdrücklich. „Du scheinst nicht sehr glücklich zu sein, daß du wieder hier bist. Aber wenigstens bist du nicht im Kampf gekommen. Vielleicht können wir uns verständigen. Komm, trink etwas. Und wann hast du zuletzt gegessen?“ Ich rieb meine Stirn. „Ich kann mich nicht erinnern“, antwortete ich ehrlich. Die Diener hatten Adric zwar zu essen gebracht, aber ich hatte es nicht angerührt. „Das dachte ich mir. Du siehst halb verhungert aus. Ja, das ist die Wirkung von sharig; ich weiß es ja.“ Er ging in den anschließenden Raum und nahm wohl an, ich würde folgen. Nach den verrückt möblierten Räumen in der Regenbogenstadt war dieser Raum eine wohltuend normale Küche mit Gegenständen, die denen meiner eigenen Welt glichen. Nun, welche Möglichkeiten gibt es schon, einen Herd zu bauen, oder einen Tisch? Der Kühlschrank unterschied sich nur durch eine ovale Tür von den mir bekannten Modellen; ihm entnahm Narayan einige Lebensmittel und goß eine Flüssigkeit in eine seltsam geformte Henkeltasse. Er drückte mich auf einen Stuhl und stellte die Sachen vor mich hin. „Hier iß das“, forderte er mich auf. „Ich kenne doch diese verdammten Drogen. Wenn du gegessen hast, kannst du klarer denken, und wir haben reichlich Zeit, miteinander zu sprechen.“ Er bemerkte, daß ich der Henkeltasse einen mißtrauischen Blick zuwarf, lachte und goß sich aus der gleichen Flasche einen Drink ein. Er setzte sich mir gegenüber und trank langsam. „Fang nur an! Wenn du glaubst, ich wolle dich vergiften, dann kannst du beruhigt sein. Ich würde mindestens so lange warten, bis ich weiß, was Karamy ausgekocht hat.“ Er lachte, und ich lachte mit. Gift? Warum sollte man mich vergiften, wenn man mich in den vergangenen drei Stunden viel leichter mit einem Messer hätte umbringen können? Ich hatte geglaubt, keinen Hunger zu haben, aber nach dem ersten Bissen wußte ich, daß ich halb verhungert war. Es war schon achtundvierzig Stunden her — in einer anderen Welt — daß ich etwas gegessen hatte. Adric mußte, aus meinem Heißhunger zu schließen, noch viel länger gefastet haben. Ich aß alles restlos auf, was auf dem Tisch stand, und Narayan sah mir lächelnd zu. Endlich schob ich den leeren Teller weg, er seine Henkeltasse. „Nun“, begann er dann, „was ist eigentlich geschehen? Du bist Adric — und bist es nicht.“ Jetzt fühlte ich mich besser und kräftiger als je zuvor, seit Adric mich mit Rhys’ Hilfe — warum? — in diese Welt katapultiert hatte. Narayan schien freundlich zu sein, aber auch Evarin hatte diesen Eindruck gemacht. Jetzt mußte ich schnell und überzeugend reden, denn diese grauen Augen musterten mich unablässig. „Ich weiß nicht recht“, sagte ich schließlich. „Ich erinnere mich nur an ganz wenig, denn heute früh kam ich erst im Roten Turm zu mir. Ich glaube wenigstens, es war heute. Man hatte mich befreit. Karamy wollte mich zum Bergfried der Träumer bringen. Dann kamen deine Leute, und ich wußte nicht, ob man mich gefangen oder gerettet hatte. Ich weiß es noch immer nicht.“
Ich starrte ihn verständnislos an, er starrte zurück; ich fühlte geradezu den Streit, den er mit sich selbst führte. Ein vernünftiger, zungenfertiger Adric, dem man wahrscheinlich nicht vertrauen durfte, war etwas anderes als ein verwirrter, erschütterter, unter Drogeneinfluß stehender Mann, von dem man die Wahrheit erwarten konnte. „Ich weiß nicht recht, was ich sagen oder tun soll, Adric“, antwortete Narayan schließlich. „Früher einmal konnte ich deine Gedanken lesen, jetzt kann ich es nicht mehr. Das Band zwischen uns ist nicht mehr so stark, wie es einmal war. Das weißt du selbst.“ Ich nickte. Adrics Gedanken schienen unentschlossen nach rückwärts zu schweifen, als habe Narayan den Schlüssel, um sie aufzuschließen. Dieser Narr, der mich nicht einem scharfen Verhör unterzog, als er die Möglichkeit dazu hatte! Dieser weiche Narr! Mit beiden Händen klammerte ich mich an das Bewußtsein von Mike Kenscott. Welches verrückte Drama wurde jetzt gespielt? „Was hat Karamy getan?“ fragte Narayan. Meine Stimme war so ruhig wie die seine. „Sie schickte mich hinaus in die Zeit-Ellipse.“ Das wußte ich von Rhys und Gamine. „Sie hoffte, ich würde verändert zurückkehren, vielleicht auch wahnsinnig, oder überhaupt nicht. Ich denke, sie wollte, daß ich dich wieder betrüge.“ „Entschuldige“, murmelte er. „Ich vergaß ganz, daß ich...“ Er schluckte und sah mich an. „Warum sagtest du ,wieder betrügen?’ Adric, du hast mich doch befreit. Bei allen Höllen, Adric, sage mir doch, was alles hast du vergessen? Für wen hältst du mich?“
7. Das Feuer im Wohnraum war niedergebrannt; Narayan fachte es frisch an, setzte sich, streckte seine Beine der Wärme entgegen und wartete. Ich konnte nicht stillstehen, denn der Gedanke machte mich nervös, daß ich nicht zu trennen wußte, was meine Erinnerungen waren und was ich mir aus verschiedenen Dingen zusammengereimt hatte. Ich versuchte meine Worte zwischen den beiden Persönlichkeiten in meinem Gehirn genau abzustimmen. Endlich gelang es mir, Adrics Geschichte wenigstens andeutungsweise und mit einiger Logik zu rekonstruieren und war nicht mehr auf die unzusammenhängenden Einzelheiten angewiesen. „Adric hat dich befreit“, sagte ich. „Aber ich bin mir dessen nicht sicher, ob es zu deinem Wohl war, oder ob er damit nur seine eigene Macht gegen die der anderen in der Regenbogenstadt setzen wollte.“ Ja, das war für mich unverständlich, daß Adric, dieser harte, grausame Mann einen Träumer befreit haben sollte und damit gegen seine Sippe und seine eigene Macht verstoßen hatte. Warum? Wüßte ich das, dann hätte ich den Schlüssel zu allem übrigen. Aber das wußte ich nicht. Ich seufzte. „Karamy hat dir mit einem Betrug Adric weggenommen“, fuhr ich fort. „Halb irr schickte sie ihn in den Roten Turm zurück. Karamys Zauber nahm ihm dann seine Erinnerungen und zerriß das Band zwischen dir und Adric.“ „Nicht ganz“, widersprach Narayan und sah in das Feuer. „Ich wußte es, als du aufwachtest. Aber ich konnte selbst nicht in die Regenbogenstadt kommen, um dich zu retten. Du weißt, was dort ist.“ Ich wußte es zwar nicht, doch im Moment erschien mir das unwichtig. „Karamy nahm Adric Gedächtnis und Macht und schickte ihn zurück nach Narabedla, wo er träumen konnte. Sie hoffte, er würde der alte Adric sein, wäre er erst zurück. Karamy fürchtete zwar seine Macht, aber noch mehr brauchte sie diese. Aber es war nicht Karamy...“.. Meine Stimme gehorchte mir nicht mehr recht, denn die blanke Angst, die ich bisher nur mühsam unterdrückt hatte, verbündete sich nun mit meiner Müdigkeit. „Es war nicht Karamy, die mich hierherschickte, denn ich bin ebensowenig Adric wie du. Ich bin in Adrics Körper, ja; ich habe auch einige seiner Erinnerungen, seiner Gedanken, und manchmal bewegt er mich
wie eine Marionette, aber er...“ die Stimme versagte mir plötzlich, und ich wußte, daß ich wie ein hysterisches Kind redete, aber aufhören konnte ich nicht. „Ich bin nicht Adric! Nein, ich bin es nicht, und ich gehöre nicht einmal hierher auf diese Welt!“ Narayan sprang auf, und dann lagen seine stählernen Hände auf meinen Schultern und drehten mich um. „Na gut“, meinte er. „Beruhige dich wieder. Ist schon in Ordnung.“ Ich holte tief Atem. Narayans skeptische Augen ließen mich nicht los, doch er seufzte. Ich konnte seine Gedanken fast erraten. War er jetzt ehrlich, oder plante er einen neuen Verrat“? Ich spürte den Hauch einer Berührung an meinem Arm, und dann hielt Cynara meine Hand und sah mir fest in die Augen. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Ich war mir dessen nicht ganz sicher, aber einmal sah ich deine Augen, die mich aus Adrics Gesicht anblickten.“ Der Zweifel schwand aus Narayans Gesicht. Er nickte. „Ich fühlte, daß du nicht der Adric warst, den ich kannte, aber ich konnte nicht glauben, daß Adric, als er zur Probe kam, mir das antun könnte. Für ihn war es vermutlich ein Ausweg, ein Fluchtweg.“ Er stützte den Kopf in die Hände. „Ja, ein Ausweg“, wiederholte er, und seine Stimme klang plötzlich alt und müde. „Die Erinnerungen zerbröckeln lassen, in eine andere Welt treten, einen fremden Mann an seine Stelle setzen. Eine andere Persönlichkeit. Dann kann es einem ja egal sein, was geschieht.“ Ich schüttelte den Kopf. Innerlich zitterte ich noch immer. „Was wollte Adric mit meinem Leben?“ fragte ich. Er war doch schließlich ein Lord, ein mächtiger Krieger. Konnte er in die Welt eines Mike Kenscott treten, der doch nur ein ganz gewöhnlicher Bürger und Elektrofachmann in einer ganz gewöhnlichen Welt war? „Es war eine Flucht vor dem Unheil, das er geschaffen hatte“, sagte Cynara bitter. „Und alles war umsonst! Wir haben nicht Adric bekommen, sondern einen völlig unschuldigen Fremden.“ Nach langer Zeit sah Narayan auf. „Das ist richtig. Du bist ein Fremder, einer von draußen. Du schuldest uns nichts. Aber meine Männer halten dich für Adric, und sie denken, du wurdest von Karamy gerettet und zu uns zurückgebracht. Etwas anderes könnte ich ihnen niemals glaubhaft erzählen. Oder könntest du es, in Adrics Körper?“ Cynara umfaßte schützend meine Hände. „Sie würden wieder einmal an Karamys Zauber glauben. Narayan, das geht nicht. Sie würden ihn in Stücke reißen. Sie würden ihn für einen ihrer Zombies halten.“ „Du schuldest uns nichts“, wiederholte Narayan. „Aber wärest du vielleicht bereit, noch eine Weile Adric zu bleiben? Sonst...“ „Schön“, sagte ich. „Versuchen will ich’s. Aber was wird hier nun eigentlich gespielt?“ „Das kannst du ja nicht wissen, denn du hast nur einige von Adrics Erinnerungen. Weißt du, wer ich bin?“ „Nicht genau“, antwortete ich. Sicher, ich erinnerte mich einiger Dinge. Narayan mußte etwa dreißig Jahre alt sein und entstammte einer ehrbaren Bauernfamilie, die darüber bestürzt war, einen Träumer als Kind zu haben. Die Eltern waren wie erlöst, als sie ihren Sohn den Machthabern in der Regenbogenstadt übergeben konnten. Noch als Kind hatte man ihn in einer erzwungenen Stasis in den Bergfried der Träumer gebracht, und dort hatte er geschlafen... „Erinnerst du dich an den alten Träumer, der dem Roten Turm diente?“ fragte Cynara. Ja, an ihn erinnerte ich mich — oder Adric. Er war alt, sollte bald sterben, konnte Adric nicht mehr jene Macht vermitteln, nach der ihn gelüstete. Dann wurde er eliminiert. „Ich schlief im Bergfried der Träumer“, sagte Narayan ruhig. „Man weckte mich auf, band mich an dich, und dann wurde ich geopfert. Ich lernte meine Macht zu gebrauchen und sie Adric zu geben.“ In den grauen Augen schwelte Entsetzen. Mir wurde klar, daß Narayan mit den Erinnerungen an das, was er unter dem Zauber von Narabedla getan hatte, seine persönliche, ganz private Hölle hatte. „Adric war sehr stark.“
Ja. Adric hatte die Entwicklung des jungen Träumers gefördert ohne Rücksicht darauf, was es kostete. War es ein Wunder, daß diese Erinnerungen Narayan halb Irr machten? „Nun“, fuhr er, wieder ruhiger geworden, fort, „eines Tages befreitest du mich — oder Adric, um genau zu sein. Ich wüßte nie genau, warum. Vielleicht war es ein Moment der Reue gewesen. Und dann fand ich meine Schwester Cynara wieder.“ Er sah das Mädchen an. Cynara lächelte, als er ihr die Hand auf die Schulter legte, und es war wieder jenes beschützende Lächeln, das ich schon kannte, das mich immer wieder staunen ließ. „Ich war wie ein Kind“, fuhr Narayan fort. „Ich mußte wieder lernen zu leben — sogar die einfachsten Dinge. Allein die Tatsache, daß ich wieder lebte, beanspruchte monatelang meine ganze Kraft. Ich war machtlos, denn man hatte mir beigebracht, meine Kraft nur durch das Opfer zu benützen. Und nun mußte ich lernen, ohne dieses Opfer zu leben. Es war nicht leicht.“ „Warum?“ fragte ich gedankenlos. Narayans Augen waren wie Eis, aber dann fügte seine Antwort das letzte Glied zur Kette meiner Erinnerungen. „Will man diese Kraft benützen, dann kostete es menschliches Leben“, sagte er. Allmählich begann ich zu verstehen. In meiner eigenen Welt hatte ich von Psikräften gehört, von Medien, die Dinge taten, welche jenen, die sie nicht verstanden, als Zauber erschienen. Ich hatte auch gehört, daß solche Kräfte physisch erschöpfend waren, denn sie entzogen dem Medium alle Energie. Allerdings hatte ich geglaubt, ein Kollaps nach einer Seance sei Theater. Die Narabedlaner hatten es anscheinend gelernt, diese Psikräfte zu bändigen und gleichzeitig die Energie, die sie abgaben, gewaltig zu vergrößern. Und das wurde erreicht, indem man die Träumer mit der Lebenskraft lebender Menschen fütterte. Mich schauderte bei diesem Gedanken, und ich ließ mich kraftlos auf einen Sitz sinken. Cynara hielt mich fest. „Nein, schön ist es wirklich nicht“, sagte Narayan, der mich unablässig beobachtete. „Hätte ich je einen Zweifel daran gehabt, daß du nicht Adrie bist, dann wäre er jetzt geschwunden. Du wußtest es wirklich nicht, nein?“ Ich schüttelte den Kopf, denn das Entsetzen hatte mich krank und schwach gemacht. „Nun, ich habe gelernt, ohne die Lebenskraft der Opfer zu leben. Und dann hat man Cynara als Opfer ausersehen.“ Zärtlich sah er seine Schwester an. „Adric befreite sie, rettete sie und gab ihr die Freiheit der Regenbogenstadt Das konnte er tun, denn Evarin war schwach, und Gamine war es gleichgültig. Selbst die Herren des Regenbogens haben gewöhnliche Leute in ihrem Gefolge. Nein, keine Spione, aber immer jemanden, der die Verbindung zwischen Adric und mir herstellt. Und dann war ja noch Rhys da, der alte Träumer.“ Rhys, der einzige Träumer, der je in der Regenbogenstadt geboren war. „Ja, Gamine ist an Rhys gebunden, aber sie ist ziemlich nachlässig und läßt ihn oft sehr lange wachen. Rhys und ich, wir sind oft in Kontakt. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber unsere Seelen können miteinander sprechen.“ „Telepathie?“ murmelte ich. „Nur mit anderen Träumern. Er half mir, als ich lernte, meine Kraft zu gebrauchen. Aber natürlich rührt er nicht den kleinen Finger gegen Narabedla. Er gehört ja dieser Sippe an.“ Als ich im Elektrokoma lag, hörte ich über einen riesigen Abgrund von Zeit hinweg eine Unterhaltung mit an; bruchstückweise nur, aber sie fiel mir wieder ein. Sie werden es erfahren. Narayan wird es ganz bestimmt erfahren. Und dann Adric: Was habe ich mit Narayan zu schaffen? Adric hatte mit Narayan ein Doppelspiel getrieben, und das wollte ich auch gerade aussprechen, aber der junge Träumer redete weiter, und mir fiel Rhys ein. Vielleicht hat Rhys deshalb Adric geholfen, einen Weg aus seiner Welt zu finden, weil dieser auch Rhys geholfen hatte, aus einem unerträglichen Konflikt zu fliehen. War Adric weg, dann brauchte Rhys nicht zu wählen zwischen seiner Sippe und seinem Wunsch, die Träumer frei zu sehen. Vielleicht konnte — ohne Adric — der alte Mann dann den Rest seines Lebens in Frieden verbringen.
„Wir hatten alle vergessen, daß Adric auch einer von Narabedla war; bis er verschwand, bis Karamy ihre Hand ausstreckte und ihn zurückholte. Nach Adrics Verschwinden lag die Hand Narabedlas schwer auf uns. Ohne Adric glaubten wir eine Chance für eine Rebellion zu haben. Ich habe gearbeitet und geplant, du hast es ja gesehen.“ Er biß sich auf die Lippe. „Dann erfuhr ich, daß Adric frei war, und ich schickte Brennan zu ihm, um zu hören, weshalb er nicht zu uns zurückkehrte. Aber Brennan kam nicht mehr wieder.“ Mir war elend zumute, als ich ihm erzählen mußte, was geschehen war. Narayans Gesicht sah hager aus. „Er war ein tapferer Mann“, sagte er leise. „Er wußte, mit welcher Gefahr er rechnen mußte, und er nahm sie auf sich. Dir gebe ich keine Schuld. Du hast Adrics Leben, seine Reflexe, ja fast sogar seine Gedanken aufgenommen, seine Gewohnheiten weitergeführt. Aber jetzt wird er allmählich schwächer in dir, glaube ich. Und ich hoffe es. Wer bist du in deiner eigenen Welt?“ Ich hatte gefürchtet, Adric würde in mir immer stärker werden, bis er mich ganz und gar auslöschte. Hatte Narayan recht? „Mein Name ist Mike Kenscott“, antwortete ich. „Michael.“ „Michael.“ Cynara sprach dieses seltsame Wort langsam aus. Ihre Hand lag noch immer in der meinen. „Und was bist du? Ein großer Zauberer?“ Ich lachte müde, doch als ich ihr Gesicht sah, hörte ich damit auf. „Nein, Mädchen“, sagte ich leise. „In meiner Welt gibt es keinen Zauber.“ Zauber? Darüber mußte ich noch nachdenken. Narayan unterbrach unsere Versunkenheit. „Die Männer werden dich Adric nennen müssen, und sie werden glauben, Adric sei zurückgekommen. Später vielleicht...“ Er zuckte die Achseln. Ich sagte nichts, denn ich fürchtete, daß Adric für mich noch lange nicht erledigt war — oder umgekehrt. Narayan machte Licht. „Es ist schon spät, und du mußt todmüde sein. Die Narabedlaner haben wir gelehrt, sich nachts von unseren Wäldern fernzuhalten, und so müßten wir hier eigentlich ziemlich sicher sein, selbst dann, wenn sie Adric zurückholen wollten. Ehe sie zum Bergfried der Träumer kommen, können sie nicht viel tun. Wenn wir sie von der Quelle ihrer Macht abschneiden können...“ Er lächelte und hielt mir mit einer jungenhaften Geste die Hand entgegen. „Morgen werden wir sehen, was kommt! Michael...“ Ohne zu klopfen trat Raif ein; sein Blick war feindselig. „Ist schon gut, Raif“, sagte Narayan. „Adric ist zu uns zurückgekehrt.“ Das Flußpferdgesicht grinste befreit. „Tut mir leid, Lord Adric, daß ich dich so grob behandelt habe. Aber ich hatte meine Befehle.“ „Ich hätte das auch nicht anders gemacht“, erwiderte ich und schlug in seine dargebotene Pranke. „Suche ihm einen Platz, wo er schlafen kann“, schlug Narayan vor. Ich folgte Raif eine Treppe hinauf, schaute noch einmal zu Cynara zurück und betrat einen leeren Raum. Ein sauberes, jedoch zerwühltes Bett stand da. „Kerrel ist auf Wache“, sagte Raif. „Kommt erst mittags zurück. Du kannst hier schlafen.“ * Ich schlief lange und tauchte endlich aus einem wirren Traum auf, in dem ein Vogel und ein Messer eine Rolle spielten. Andys Gesicht, der blaue Schimmer von Gamines Schleiern, der angstvolle Schrei einer Frau — ich war froh, daß eine sanfte Stimme mich anrief, daß ich Cynaras liebliches Gesicht sah, als ich die Augen öffnete. „Michael, aufwachen! Karamy und Evarin reiten heute, um Adric zu jagen! Um dich zu jagen!“ Noch ziemlich schlaftrunken setzte ich mich auf. Ich verstand nicht einmal, was sie meinte. Doch dann hörte ich eilige Schritte auf der Treppe, bückte mich und zog meine Stiefel an. Narayan schob die Tür auf und zog sich eine braune Tunika über den Kopf. „Cynara hat es dir ja schon gesagt. Ich hatte also recht. Jetzt müssen wir sehr schnell reagieren. Wenn sie eine zu gute Jagd haben...“ In seinen Augen lag tödliche Müdigkeit. Er lächelte bedrückt. „Die
Träumer rühren sich. Ich bin noch nicht ganz frei davon und muß daher vorsichtig sein.“ Ich verstand. Narayan war noch immer auf den entsetzlichen Hunger der schlafenden Träumer im Bergfried eingestellt. Damit war ja zu rechnen. Ich fühlte mich stark und kräftig, und ich konnte wieder denken, wenn auch ab und zu eine nebelhafte Stelle blieb. Was war eigentlich vergangene Nacht geschehen? Wie war ich zum Haus des Träumers gekommen? Jetzt brauchte ich sein Vertrauen, und ich schien es zu besitzen. Ja, das war besser als Karamys Pläne. Verdammte Karamy! Wie kam sie überhaupt dazu, in meinem Gedächtnis herumzupfuschen? Aber jedenfalls war es mir mit dieser fremden Identität gelungen, mich wieder in Narayans Vertrauen zu schleichen. Und Karamy hatte die Frechheit, mir Evarins Teufelsvögel auf den Hals zu hetzen? Mir, Adric, dem Herrn des Roten Turmes! Nun, die Lektion, die ich ihr jetzt erteilen würde, vergaß sie sicher niemals mehr! Dieser verdammte Spielzeugmacher ebensowenig. Oh, Götter des Regenbogens, welchen Unsinn hatte ich vergangene Nacht geredet? „Sie sollen nur mit ihren Vögeln kommen“, sagte ich. „Es hat schon einige Zeit kein Opfer mehr gegeben. Andere Quellen haben sie nicht.“ Der Gedanke machte mich lachen. Karamy, wird dir heute der Zauber knapp? Mußt du dich des verrückten Tandes des Spielzeugmachers bedienen? „Wir fangen sie heute nacht am Bergfried der Träumer.“ Was du aber nicht weißt, Narayan, fügte ich voll geheimer Befriedigung in Gedanken hinzu, ist das, daß du ihnen dort Gesellschaft leistest! Wenn sich meine Rache deiner Kraft gegen die bedient hat, die sich gegen mich verbündeten, kannst du wieder in dein Haus zurückkehren. Träume deine Wachträume — bis ich sie zerstreue... Diesem weichen Narren fiel es nicht ein, sich die Frage zu stellen, ob der Adric von gestern abend der gleiche war wie der von heute morgen. Wir gingen hinunter und nahmen ein eiliges Frühstück. Cynara sah den flammenfarbenen Mantel, den sie in der Regenbogenstadt getragen hatte, griff zornig nach ihm und stopfte ihn in den Kamin. Ihre scheue Schönheit kam in dem einfachen grauen Kleid auch viel besser zur Geltung. Cynara war nicht Karamy, aber sie war hübsch — und sie vertraute mir. Ich sprang auf, ging ins Lager hinaus, und Narayan folgte mir. „Nicht vergessen“, mahnte er mich, „du bist noch immer ein Verräter für sie!“ „Das hätte ich fast vergessen“, erwiderte ich in falscher Demut. „Ich kenne die Wahrheit, und meinem Wort vertrauen sie“, meinte Narayan lächelnd. Er nahm meinen Arm und führte mich so zwischen den Zelten durch. Aus den Gesichtern der Männer schwanden Mißtrauen und Verdacht, als sie uns Arm in Arm dahingehen sahen. „Gib acht auf ihn!“ rief er Raif zu. „Vielleicht wissen es noch nicht alle.“ „Für diesen Unsinn bleibt keine Zeit“, wandte ich ein. „Raif, hole mir zehn beherzte Männer zusammen, die sich nicht fürchten, zur Regenbogenstadt mitzukommen.“ Narayan sah erstaunt drein, doch dann sagte er: „Ich gebe die Befehle, die du wünschest, Adric.“ Ich unterdrückte ein Lächeln. Bald würde ich all das zurückgewinnen, was meine Dummheit verloren hatte. Der Idiot, dem ich vorübergehend meinen Körper geliehen hatte, war mir ja ganz nützlich gewesen, denn er hatte mir Narayans Vertrauen zurückgewonnen. Nun, diese überflüssige Null würde meinen Triumph aber nicht teilen. Auch Narayan nicht.
8. Ich zog den Mantel enger um mich. Alles an mir prickelte vor Erregung. Ich kniete neben Raif und Kerrel auf der Baumplattform. Halb unter mir klammerte sich Narayan an einen Ast. Ich vernahm entfernte Hufschläge und lächelte. Diese Jagd kannte ich. Evarins Vögel waren vielleicht heute nicht übermäßig folgsam. Eine Erinnerung aus einer anderen Welt sagte mir, daß ich einen lebenden Raubvogel mit einem
Messer angegriffen hatte, und darüber mußte ich lächeln. Ich schätzte Möglichkeiten ab. Wer war die Schlinge für mich? Narayan? Nein, er war mein einziger Schutz, bis ich endlich aus diesem Irrsinn herauskam. Außerdem hatte er gelernt, seine Kraft ohne Hilfe einzusetzen. Tat er das auf so kurze Entfernung, konnte er mich damit aussaugen wie eine Spinne ihre Fliegenbeute. Vielleicht Kerrel. Oder Raif. Gegen den Dicken hegte ich sowieso einigen Groll. Ich zupfte an Raifs Ärmel. „Warte auf mich“, flüsterte ich und tat, als wolle ich die Plattform verlassen. Raif ging lächelnd in die Falle. „Hierbleiben, Adric! Narayan hat Befehl gegeben, daß du dich keiner Gefahr aussetzen darfst. Sie wollen ja nur dich!“ Gut, sehr gut. Er meldete sich freiwillig in den Tod. „Wir wollen ein wenig ausspähen“, erklärte ich ihm, „und melden, wenn sie kommen.“ Als ob wir das nicht wüßten! Der Dicke schwang sich auf den Pfad hinunter. Ich hörte seine gedämpften Schritte, die sich immer mehr entfernten. Ich spürte ein Prickeln, als er Narayans Wahrnehmungskreis verließ. Ja, wir waren noch immer aneinander gebunden. Wenn ich nur seine Gedanken lesen könnte! Nein, lieber nicht. Er läse dann ja auch die meinen. Ein grauenhafter, geradezu höllischer Schrei durchschnitt die Stille. Der Dicke war also erledigt. „Raif!“ flüsterte Narayan; sein Gesicht war aschfahl. Wir sprangen auf den Pfad hinunter und rannten vorwärts. Der Vogelschrei warnte mich. Schnell duckte ich mich. Über meinem Kopf schwebte mit ausgebreiteten Schwingen ein großer, scharlachroter Falke und stieß auf mich herab. Narayan schrie. Ich zog blitzschnell eine Falte meines Mantels über den Kopf, riß das Messer aus meinem Gürtel, legte einen schützenden Arm über meine Augen und stieß mit dem anderen nach oben. Der Vogel schwankte, hing in der Luft, beobachtete mich mit lebendigen grünen Augen; auch seine Fänge waren grün. Ich wußte, wer diesen Vogel hatte fliegen lassen! Erneut griff der Falke an. Falke? Den hatte kein lebender Vogel aus einem Ei gebrütet, und ich wußte, wer diese scharlachfarbenen Schwingen geformt hatte! Ich sah, wie Narayan den pistolenförmigen Elektrostab zog. „Fallen lassen!“ schrie ich. „Schnell!“ Der Vogel, der in diesem Augenblick Evarins Macht verkörperte, konnte Pistolenfeuer so leicht umkehren wie Evarin selbst. Er absorbierte die Energie und lud sich damit wieder auf. Nahm der Falke einen einzigen Tropfen meines Blutes auf, dann war ich der Sklave desjenigen, der ihn ausgeschickt hatte. Ich stieß mit dem Messer nach oben und zielte zwischen die Schwingen. Ein paar Männer rannten herbei und zückten die Messer. Der Vogel kreischte, stieg, verhielt in der Luft und beobachtete uns aus intelligenten grünen Augen. Ein zweiter, ein dritter Falke schoß über das Sträßchen, und ich hörte das feine Klingeln kleiner Glöckchen. Drei Vögel mit grünen und goldenen Greifern und in königlich purpurnem Geschirr hingen bewegungslos über uns in der Luft. Weit hinter uns erkannten wir vor der untergehenden roten Sonne drei Gestalten auf Pferden, die bewegungslos — wie die Vögel dort — warteten; Evarin, Idris und Karamy — drei Verräter, die den einen zu fangen versuchten, der ihnen entwischt war. * Sie griffen an. Hinter mir ertönte ein wilder Schrei, und ich wußte, daß einer der Falken Blut aufgenommen hatte. Der Mann rannte über die Lichtung, taumelte und fiel über einen auf dem Sträßchen liegenden Mann. Narayan gab einen würgenden Laut von sich, riß seinen Elektrostab in die Höhe und schoß wie irr auf den gefallenen Mann. „Larno würde niemals zu ihnen gehen wollen“, keuchte er. „Lieber wollte er tot sein.“ Zornig schlug ich ihm die Waffe aus der Hand. „Du Narr! Sie müssen doch eine Beute machen!“ Ich hob die Waffe auf. Larno war schon weit weg. Ich fluchte wütend. Was war
schon ein Mann mehr oder weniger? Rasch sah ich mich um. Die Vögel waren ein Stück abgestrichen. Ich winkte ein paar Männer heran. „Nicht auf die Vögel schießen“, warnte ich sie. „Die Energie eurer Waffen lädt sie nur auf. Benützt eure Messer. Schneidet ihre Schwingen durch, damit sie unbeweglich werden. Und aufpassen!“ Die Falken zogen weite Kreise und stießen wieder herunter. Ich duckte mich, zog meinen Mantel herauf und schlug mit der beschwerten Kante nach ihnen. Unsere Männer wehrten sie mit den Messern ab und verscheuchten sie. Dreimal hörte ich diesen unmenschlichen Schrei, dreimal taumelte einer — kein Mensch mehr — davon und rannte dann den fernen Hügeln entgegen. Ich hörte Narayan schreien und drehte mich um. Er rannte auf mich zu und schlug den Vogel mit den Purpurfängen zurück, der mich mit Schnabel und Schwingen angriff. Die ganze Szene war von alptraumhafter Unwirklichkeit, und Narayan erschien mir als die einzige Realität. Mein Messer holte aus, um seinen Hals zu schützen, sein Messer zog dem Falken eine Schramme quer über den Schnabel, und dann öffneten und schlössen sich die Fänge des Vogels in zuckender Agonie. Und dann schlugen die Fänge zu und rissen eine tiefe Wunde in des Träumers Arm. Schon senkte sich der Schnabel, um das Blut aufzunehmen, aber ich warf mich ungeschützt dazwischen. Im letzten Moment ließ der Vogel von Narayan ab und wandte sich mir zu. Die Intelligenz des Tieres war nicht die eines Vogels; sie war viel gezielter, und mein Messer schützte noch Narayan! Ich griff nach dem sich heftig wehrenden Vogel, denn die Hände des Träumers wurden schon müde. Ich bekam den Hals zu fassen und drehte so lange, bis ich ihn krachen hörte. Auf dem Hügel warf die Zwergengestalt von Idris die Arme in die Höhe; dann sank sie wie ein leerer Sack auf das Hörn ihres Sattels. Narayan seufzte erleichtert, als wir uns aus dem Knäuel lösten und den toten Vogel auf den Weg warfen. Wir sahen einander an, als wir das gelbe Blut abwuschen, und er lächelte noch ein wenig verwirrt und halb im Schock. Oh, verdammt, den Mann mochte ich ja! Jammerschade um ihn. Ich wünschte fast, ich brauchte ihn nicht zu Tranceträumen zurückzuschicken. „Zwischen uns ist jetzt ein Leben“, sagte er ruhig. Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Das ist einer von ihnen. Komm mit!“ rief ich, entriß einem der Männer ein Schwert, schwang es über meinem Kopf, und das schien mir ganz natürlich und richtig zu sein. Wie verschüchterte Hühner sammelten sich die Männer um mich. Die Falken schössen herunter. Aber jetzt hatte mich der Haß erst richtig gepackt, und ich holte gegen die beiden Ungeheuer aus. Dann wurde mir klar, daß die beiden Falken tot zu meinen Füßen lagen. Ihr gelbes Blut floß über die Blätter. Durch einen roten Nebel sah ich Narayans Augen. Sie beobachteten mich, und in ihren grauen Tiefen hockten Angst und Kummer. Ich zwang mich in ein normales Benehmen zurück und ließ das Schwert auf die toten Vögel fallen. „Das war’s“, sagte ich nur. Wir hatten drei oder vier Mann an die Sklaverei der Vögel verloren. Viele hatten Verletzungen von den Fängen, und Narayan stöhnte vor Schmerz. Er wischte einen Tropfen gelben Blutes vom Gesicht. „Das Zeug brennt“, sagte er und zog eine Grimasse. Ich lachte. Das brauchte er mir nicht zu sagen. Wir beide hatten große Brandwunden. Das Zeug, das Evarin als „Blut“ benützte, war tödlich. „Du hast mir das Leben gerettet“, flüsterte Narayan. Ich Narr! Warum hatte ich mich nicht zurückgehalten? Vor menschlichen Angriffen sind die Träumer sicher, aber sie sind außer Gefecht zu setzen... Ich hatte Narayan gerettet, ohne zu überlegen, was ich tat. War das Band zwischen uns noch so stark? „Bist du verletzt?“ fragte er. „Laß mich deinen Arm sehen.“ Doch ich schob ihn weg. Natürlich hatte ich Narayan geschützt, denn ich brauchte ihn noch; ich brauchte ihn stark und unverletzt.
„Schau!“ Einer der Männer deutete nach oben. Sein Gesicht war angstverzerrt. Ein großer Vogel hing über uns, doch dann schlugen seine Schwingen, die ihn zur Regenbogenstadt trugen. Einer der Männer legte einen Pfeil auf den Bogen, aber der Vogel flog zu hoch. Glöckchen und Geschirr schimmerten silberblau. Der Ton der Glöckchen klang wie das spöttische Echo der Stimme der Zaubersängerin. Gamine!
9. Ins Haus zurückgekehrt, nahmen wir eine eilige Mahlzeit ein, versorgten unsere Wunden und versuchten einen neuen Plan zu machen. Die anderen waren nicht müßig gewesen, während wir uns der aufdringlichen Vögel erwehrt hatten. Narayans Armee wuchs ständig und versammelte sich in der großen Landmulde zwischen der Regenbogenstadt und dem Bergfried der Träumer. Es waren ungefähr viertausend Mann, die mit uralten Flinten und Gewehren, mit noch älteren Schwertern, mit Mistgabeln, Sensen und selbst Holzknüppeln bewaffnet waren. Kaum fünfzig von ihnen besaßen solche Elektrostäbe, wie Narayan einen hatte. Geschickt verbarg ich meine Befriedigung über diese Marionettenarmee. Und Narayan bildete sich ein, er könne damit gegen die magische Macht der Regenbogenstadt anstürmen! Ich fühlte, wie mein Mund sich zu einem bitteren Lächeln verzog. Sie vertrauten auch Adric, der den Träumer befreit hatte. Sie hatten mir zugejubelt, als ich mich ihnen zeigte. Auch das war ganz gut. War Narayan erst wieder richtig eingesperrt, dann konnte ich die Macht dieses Führers benutzen, um das einzureißen, was er aufgebaut hatte. „Worüber lachst du?“ fragte Narayan. Wir saßen auf den Stufen des Hauses und sahen dem Lagerleben zu. Seine schläfrigen grauen Augen funkelten in der Tiefe. „Denke daran!“ fuhr er fort. „Der Fluch der Träumermagie wird von diesem Land genommen, die Tyrannei der Regenbogenstadt für immer gebrochen. Denke daran, was das bedeutet! Es heißt Leben und Hoffnung für unzählige Menschen, keine Angst mehr, keine Sklaverei, keine Opfer und Überfälle, keine bösen Vögel... Aber das weißt du ja nicht; selbst mit Adrics Erinnerungen kannst du das nicht wissen.“ Mir fiel ein, daß er mich ja noch für Michael Kenscott hielt. Ganz vage erinnerte ich mich daran, daß Michael Narayan mochte und ihm gegenüber loyal war. Das sind dieselben Narren und Weichlinge... Noch verschwommener war die Erinnerung daran, daß ich diesen Traum geteilt hatte, daß er mir wertvoller erschienen war als das Bewußtsein der Macht. Cynara kam die Stufen herab, beugte sich zu mir herunter und legte ihre weichen Arme um meine Schultern. Ich zog sie ganz zu mir herunter, aber gleichzeitig flammte in mir ein Vulkan des Hasses auf, so daß ich mein Gesicht verbergen mußte. Dieser Mann Narayan war mir ebenbürtig; nein, er war mir überlegen, und dafür haßte ich ihn, weil ich ihn nicht töten konnte, weil er in dieser Gewißheit Risiken einging, auf die ich mich nicht einzulassen gewagt hätte, als mir sein ganzer Zauber zur Verfügung stand. Ich haßte ihn, weil ich wußte, daß sein neuer Machttraum niemanden leiden machte, und ich haßte ihn, weil ich mir vorstellen konnte, was er mit seiner Macht tun würde, war er erst einmal sicher im Bergfried der Träumer und mit jener Energie gespeist, die ihn zwang, alle und alles hemmungslos mir auszuliefern; am meisten haßte ich ihn deshalb, weil ich so schwach gewesen war, seinen Traum zu teilen... „Du sagtest einmal, Michael, in deiner Welt gebe es keinen Zauber“, unterbrach Narayan meine Überlegungen. Nun, soll er sich doch selbst betrügen! Ich zuckte die Achseln. „Vielleicht würdest du die Kräfte meiner Welt als Zauber bezeichnen — bis du sie verstehen lernst“, erwiderte ich.
„Die Falkenjagd... Adric sagte mir einmal, daß der Besitzer des Falkens einem Schock unterliegt, wenn der Vogel zerstört wird“, überlegte Narayan. „Das heißt, daß Idris, Evarin und Karamy für einige Zeit aktionsunfähig sind. Wenn wir sofort zuschlagen...“ „Deine Pläne sind gut, Narayan“, unterbrach ich ihn. „Nur... sie haben einen Fehler: sie lassen sich nicht ausführen. Mit einem Sturm auf die Regenbogenstadt kommst du nicht weiter. Es wäre nicht einmal ein Anfang. Karamys Sklaven könntest du zu Hunderten, zu Tausenden, zu Millionen töten, nicht aber Karamy. Je mehr Sklaven du. tötest, desto mehr braucht sie als Ersatz. Du mußt sie im Bergfried der Träumer schlagen. Das ist der einzige verwundbare Ort.“ Er stellte weder mein Wissen, noch Adrics Erinnerung in Frage. Cynara mußte mich daran erinnern: „Du darfst nicht vergessen, daß Narayan in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. Er kann weder in die Regenbogenstadt, noch in den Bergfried der Träumer gehen, denn Adric konnte, als er ihn befreite, seinen Talisman nicht finden.“ Narayan nickte. „Mir bleibt also keine Wahl. Ich muß sie auf dem Weg zum Bergfried angreifen und dort auf mein Glück hoffen.“ „Wofür hast du deine Armee?“ fragte ich grob. „Um Heuschober zu zerstören? Deine Armee kann mit den Wachen und Sklaven fertigwerden, aber die Narabedlaner müssen im Bergfried gefangen werden. Das ist die einzige Möglichkeit. Ich gehe an deiner Stelle zur Regenbogenstadt und nehme sie!“ „Du?“ Narayan und Cynara wandten sich gleichzeitig mir zu, und ich mußte mir Mühe geben, nicht allzu sicher zu erscheinen. Kenscott mußte ein wenig weicher sein als Adric, denn gerade diese Weichheit hatte ihm Vertrauen eingebracht. Cynaras Augen glühten. „Ja, und ich gehe mit dir, falls dein Gedächtnis versagen sollte!“ Noch besser! Das war ja geradezu großartig! Die Regenbogenstadt war leer bis auf den alten Rhys und vielleicht Gamine, die nicht mit den anderen zur Falkenjagd gezogen war. Vielleicht war sie an den Kämpfen der Narabedlaner untereinander ganz uninteressiert. Aber Narayan schien gewisse Zweifel zu haben. „Das hat Adric auch einmal versucht“, meinte er düster. „Und was geschah? Karamy fing ihn ein und schickte ihn hinaus in die Zeit-Ellipse.“ „Karamy ist doch nicht dort“, wandte ich ein. „Sie und die anderen sind mit deiner Armee beschäftigt.“ Ich hörte mir fast voll Verachtung ihre Pläne und Vorschläge an. Ja, die Narabedlaner waren im Bergfried der Träumer sehr verwundbar. War ich erst mit Narayan dort und hatte dessen Talisman in der Hand, dann brauchte ich mir wegen Evarin, Idris und den übrigen keine Sorgen mehr zu machen. Endlich waren wir auf dem Weg durch die Wälder zur Regenbogenstadt. Cynaras Augen strahlten; in ihrem grauen Kleid sah sie sehr lieblich aus, wenn auch selbstverständlich nicht so großartig wie in ihrem flammenfarbenen Mantel aus Narabedla. Sie war zauberhaft in jedem Sinn des Wortes, und ich versprach ihr unbedacht: „Wir werden gewinnen.“ Es machte mir Spaß, daran zu denken, daß ich sie für den Verlust ihres Bruders entschädigen konnte. War sie erst wieder an die Regenbogenstadt gewöhnt, vergaß sie sicher alles, was jetzt war, um eine angenehme und schöne Gefährtin für mich zu sein. Es war gar kein unerfreulicher Gedanke, dieses Bauernmädchen zur Konkurrenz von Karamy, der Goldenen, zu machen! Aber würde sie mich dann je wieder mit so viel Vertrauen ansehen? Ich verwünschte meine blühende Phantasie und grub meinem Pferd die Absätze in die Weichen. Nach einer Stunde hatten wir die Stelle erreicht, wo die Allee begann, die zur Regenbogenstadt führte. Wir hatten Glück. Auf der Zufahrt war niemand zu sehen, und die Garden standen wahrscheinlich an jenen geheimnisvollen Wegen, die Adric kannte. Wir ritten geradewegs auf die Türme zu, und noch ehe die Dämmerung einfiel, banden wir eine halbe Meile vor der Regenbogenstadt unsere Pferde an. Zu Fuß schlichen wir weiter. „Ich gehe allein hinein“, sagte ich. „Wenn mir etwas passiert, sollst wenigstens du erhalten bleiben.“
Cynara blieb an meiner Seite. Ich sah sie an und runzelte die Brauen. „Ich komme mit“, erklärte sie heftig. „Mich kannst du nicht aufhalten!“ So viel Treue mir gegenüber? Sie konnte mir aber nützlich werden, wenn vielleicht auch nur als Geisel. „Nun, dann komm mit, aber paß auf. Vielleicht sind alle Schießscharten bewacht, und ich weiß noch nicht einmal, wie ich es anstellen werde, hineinzukommen.“ „Narayan“, fragte sie, „kannst du helfen?“ Das Gesicht des jungen Träumers lag im Schatten, da wir unter der hohen Außenmauer standen, doch ich wußte, daß es sehr blaß war. „Vielleicht“, murmelte er fast verschlafen. „Ich versuche es. Brennan kam über diesen Weg hier.“ Er schüttelte den Kopf, als sei er benommen. „Vielleicht versuchst du’s“, meinte ich vorsichtig. „Du weißt doch, ich habe keinen Zauber.“ Langsam bewegten wir uns vorwärts und hielten uns im Windschatten der Wälle. Narayans Füße schienen unsicher zu sein und unter ihm nachzugeben. Er stolperte. Schnell legte ich ihm die Hand auf den Arm. „Du kehrst jetzt besser um“, riet ich ihm. „Wir findenden Weg schon.“ Später brauchte ich Narayan ganz und stark! Dann, wenn er mir gedient hatte! Cynara sah ihren Bruder besorgt an, doch ich lächelte ihr aufmunternd zu. Narayans Gesicht war verzerrt. „Ich weiß nicht, weshalb es so ist“, sagte er schwerfällig. „Je näher ich den Mauern komme, desto... mehr fühle ich... meine Kräfte... schwinden...“ Ich stützte ihn und führte ihn von der Mauer weg. Äußerlich war ich besorgt, innerlich jubelte ich. Jetzt wußte ich, was ich hatte wissen wollen. Solange ich lebte, hatte kein befreiter Träumer einen Fuß in die Regenbogenstadt gesetzt; Rhys gehörte ja zur Sippe und war kein Maßstab. Ich hatte nicht gewußt, wie weit sich Narayan der verbotenen Zone nähern konnte. Vor Generationen, als die Träumer zum erstenmal die Macht der Regenbogenstadt bedrohten, hatte es auch einen Spielzeugmacher gegeben, und er hatte entdeckt, wie die Träumer gebunden werden konnten. Töten konnte man sie nicht. Er hatte in der Regenbogenstadt ein Gerät gebaut — verwaschene Erinnerungen aus Mike Kenscotts Welt zuckten durch mein Bewußtsein, Worte wie Vibration und Subsonics —, und dieses Gerät wirkte ausschließlich auf die Träumer, die an Narabedla gebunden waren. Ein ähnliches Gerät im Bergfried der Träumer hielt sie in ihrem Tranceschlaf. Solange sie Kinder waren, brachte man die Träumer in Kontakt mit diesem Gerät und damit in Rapport mit einem der Narabedlaner, so wie Narayan mit mir. Die Wirkung dieses Gerätes konnte aufgehoben werden, allerdings nur für kurze Zeit, wenn man den Talisman einsetzte. Der Narabedlaner hatte also einen Talisman — Zauber? Vibrationen? —, der seinen Träumer aufwecken konnte, und das geschah zur Zeit des Opfers, denn dann wurde er mit dessen Lebensenergie gespeist, die seine Kraft auf das Zehnfache verstärkte, und sie diente dann dem, der geopfert hatte. War das Zauber? Narayan rieb sich mit der Hand über die Augen. „Hier geht es recht gut. Näher kann ich aber nicht kommen, solange du meinen Talisman nicht findest.“ Glaubte er wirklich, ich würde ihm den Talisman ausliefern? Ja, er war ein Narr, der glaubte, Adric habe ihm nicht nur die Freiheit gegeben, sondern mache ihn nun auch noch frei von der Regenbogenstadt und vom Bergfried der Träumer, damit er uns alle vernichten könnte! Unsicher sah Cynara zu Narayan zurück, als wir uns wieder der Außenmauer näherten. An einer Biegung des Walles gab es ein Türchen, das kaum jemand kannte. Vielleicht war es nicht einmal bewacht. Vorsichtig näherten wir uns und hielten uns im Schutz des Walles. Das Türchen war offen. Es schwang an leise quietschenden Angeln hin und her. Dahinter herrschte schwarze Finsternis. Mit einem Arm hielt ich Cyrana zurück und starrte in das Dunkel. „Es könnte eine Falle sein, Cynara“, murmelte ich. Und ich hatte keinen Zauber! Auf Zehenspitzen huschte ich weiter. Vorsichtig trat ich hinein.
Cynara folgte mir. Ihre leisen Schritte klangen unnatürlich laut. Wir waren in der Regenbogenstadt. Es war ein langer, schmaler, mit Säulen bestandener Hof, dessen Pflaster aus Alabaster bestand. Ein • langer, dunkler Bogengang führte von ihm weg; an dessen Ende zeigte sich ein schwacher Lichtfleck. Eine grünschimmernde Wand, der Smaragdturm, schloß den Hof auf einer Seite ab, und am anderen Ende erhob sich der Blaue Turm. Die Dämmerung dämpfte die Farben, und schon unser Atem schien als Echo zurückzukommen. Ich machte mich auf den Weg zum Roten Turm, und ich fand ihn auch leicht. Wir überquerten offene Höfe mit Blumengärten, Teichen und Brunnen, hielten uns aber immer im Schatten der Gebäude, um nicht gesehen zu werden. Jetzt wußte ich, wo ich war. Noch ein Hof, noch ein Bogengang... Schließlich erhob sich vor uns der Rote Turm; er schimmerte wie eine verglimmende Kohle. Im Hof brannten düstere Lichter. Jetzt atmete ich freier. Ich stand auf vertrautem Boden. Cynara schrie; ich wirbelte herum und zog mein Schwert aus der Scheide. Hinter mir erschien eine geschlossene Reihe, die den ganzen Hof überspannte. Karamys Garden in goldroten Uniformen. Die düsteren Lichter fingen sich in den Stahlspitzen der langen Lanzen, die angriffsbereit auf meine Brust gerichtet waren. Die Gesichter dieser Zombies waren ausdruckslos, ohne Herausforderung, ohne Kampfgier, ohne Erregung. Mechanisch taten sie Schritt vor Schritt. Ich tat einen Schritt rückwärts und ließ meine Augen die Reihe entlanghuschen. Hoffnungslos! Diese Phalanx war nicht zu durchbrechen. „Schnell!“ rief ich Cynara zu. „In den Turm hinein!“ Ich packte mein Schwert, und die Lanzenspitzen kamen immer näher... Einer der Zombies tat einen Luftsprung, griff sich an die Brust, sank zusammen und blieb liegen. Seine Lanze fiel klappernd zu Boden. Ich warf mein nutzloses Schwert weg und griff nach der Lanze. Hinter mir stand Cyrana und hatte Narayans langen Elektrostab in den kleinen Händen. Mit beiden Händen mußte sie das Ding festhalten, um wieder schießen zu können. Die Zombies ließen sich nicht aufhalten und rückten weiter vor. Ich schwang die Lanze und setzte damit zwei von ihnen außer Gefecht. Einem dritten stieß ich die Lanze in die Brust; er starb lautlos. Ich zog ihm die Lanze aus der Brust und lief die Stufen zum Turm hinauf. An mir vorbei zischte prasselnd ein weißer Pfeil, und ein weiterer Zombie fiel tot um. Der Rest der Garde war ratlos. Ich riß Cynara den Elektrostab aus der Hand und schoß. Mehr als die Hälfte war jetzt tot. Der Rest wandte sich wie auf ein geheimes Signal zur Flucht. Ich strich mir über die Stirn und sah mich nach Cynara um. Blaß und zitternd stand sie hinter mir. Ich hatte nicht geahnt, daß sie die Waffe bei sich hatte und sie auch noch zu bedienen verstand! „Sie sind weg“, flüsterte sie, „aber sie können zurückkommen. Ich halte hier Wache, solange du im Turm bist.“ Ich nickte und holte tief Atem. Viel Zeit blieb uns sicher nicht. Karamy hatte sorgfältig alles weggeräumt, was mir Macht über einen der Träumer geben konnte. Trotzdem mußte ich den Talisman suchen. Ich ging von Raum zu Raum, durchforschte alle Winkel meines Gedächtnisses, doch den Talisman fand ich nicht. Schließlich stand ich ganz oben in der Spitze des Turmes. Es war Adrics Sternenraum. Dorthin war ich — wirklich erst vor drei Tagen? — katapultiert worden. Ich stand am Fenster; Adric hatte hier gestanden. Ich verfolgte die Spur meiner Erinnerungen und... „Kenscott!“ sagte eine Stimme hinter mir. Ich wirbelte herum. Den Mann hatte ich noch niemals gesehen. Er sah aus, als komme er aus einer vergessenen Vergangenheit. Solche Wesen hatte ich gesehen, als ich im Nirgendwo der Zeit-Ellipse geschwommen war. Er war groß, glattrasiert und sah kräftig aus. Augen und Haare waren von geradezu lächerlicher Farbe, irgendwie blaßbraun. Er sah zornig aus, wenn sich sein Gesichtsausdruck überhaupt bestimmen ließ.
Aber er sprach klar und ruhig. „Nun, Michael Kenscott“, sagte er, „du hast meinen Platz sehr schön verwaltet. Vielleicht sollte ich dir dafür danken. Du hast Karamy recht gut getäuscht, so daß sie mir die Freiheit gab, und Narayan vertraut mir jetzt sogar. Mit dem Rest werde ich wohl selbst zurechtkommen.“ Er lachte. „Du bist so sehr ICH, daß du nicht mehr zu wissen scheinst, wer, du bist. Seid ihr Schwächlinge! Aber ich kann dich wieder in deinen Körper zurückzwingen.“ Der Kerl war verrückt! Er hatte Lord Adric in seinem eigenen Turm beleidigt, und dafür mußte er, bei Zandrus Bart, bezahlen! Mit einem Wutschrei stürzte ich mich auf ihn, und meine Finger gruben sich in seinen Hals. Ich schrie wieder, als seine Stahlfinger nach mir griffen, nach meinem Hals. Ein krampfhafter Schauer schüttelte meinen Körper. Den kannte ich; er war mir auf schmerzhafte Art vertraut. Ich stand Adric gegenüber! Natürlich verstand ich genau, was los war, während ich in halber Benommenheit darum kämpfte, meinen Todesgriff um meine eigene Kehle zu lockern. Ich war zurück; ich war ICH. Ich war wieder Mike Kenscott. Adric ließ mich los und trat schweratmend einen Schritt zurück. „Danke“, sagte er mit jener harten Stimme, die. solange die meine gewesen war. „Ich hätte es auch nicht besser machen können, also erwürge ich dich nicht.“ Mit einer raschen Bewegung griff er aus, zielte und schoß auf mich. Ein weißer Pfeil schnellte mir entgegen. Ich war überrascht, daß mich nur ein Gefühl der Wärme durchflutete, griff in einem Reflex an meine Brust und ließ mich auf den Boden fallen. Adric schien etwas in seinen Taschen zu suchen, griff zwischendurch nach seinem Schwert, um sich zu überzeugen, daß es noch da war, und brachte schließlich Evarins kleinen Spiegel zum Vorschein. Er war noch in die blausilberne Seide gewickelt. Atemlos beobachtete ich Adric. Würde er hineinsehen? Angewidert warf er ihn mir zu. Ich zuckte nicht einmal, als das Ding meine Stirn traf. Ich fühlte Blut über mein Gesicht tropfen und hörte Adrics festen Schritt, eine knallende Tür — und dann war er verschwunden. Bis heute weiß ich nicht, wie ich dem Tod aus Adrics Waffe entkam, aber ich glaube, der Grund lag darin, daß ich wieder in meinem eigenen Körper war — und in seiner Welt. Nachdem ich Adric zum erstenmal begegnet war, hatte sich meine Reaktion auf irdische Elektrizität verändert. In dieser Welt war ich nicht immun dagegen, aber ich konnte sie, ohne Schaden zu erleiden, absorbieren. Ich wischte das Blut von meiner Schläfe und starrte meine Hände an. Cynara wartete auf mich am Fuß des Roten Turmes, wartete auf mich in Adrics Körper! Das hatte ich ganz vergessen; und auch das hatte ich vergessen, daß ich, von Adrics Erinnerungen überschattet, gegen Narayan und Cynara intrigiert hatte; und ich wußte doch, wie sehr die beiden mir vertrauten! Was würde Adric ihr und Narayan antun? Ich griff nach dem Spiegel und schob ihn in meine Tasche. Eine gespenstische Hast trieb mich an; aus dem Schrank, an den ich mich erinnerte, suchte ich ein kurzes, scharfes Messer aus. Mit dieser Waffe kam ich besser zurecht als mit einem Schwert. Zum Glück erinnerte ich mich an alles, was ich als Adric getan hatte. Aber ich konnte mich auch daran erinnern, was er getan hatte, als er ich war. Also konnte sich auch Adric an alles erinnern, was ich mit Narayan geplant hatte! Oh, diese grauenhafte Vermischung von Persönlichkeiten! Konnte ich mich je wieder darauf verlassen, daß ich ICH war? In großen Sprüngen rannte ich die endlosen Treppen des Turmes hinab. Die toten Zombies lagen noch im Hof herum, aber von Cynara oder Adric konnte ich keine Spur entdecken. „Cynara!“ rief ich laut. Ein spukhafter Schrei antwortete mir, und gefährliche Schwingen schlugen klatschend um meinen Kopf. Ich taumelte und wäre fast gefallen, als einer der mörderischen Falken, ein
blauer, auf mich herabstürzte. Ich drückte mich an die schützende Mauer, doch der Vogel griff erneut an. Ich zückte mein Messer, und der Vogel schwebte weg. Wieder griff er an, und seine Edelsteinaugen glitzerten. Plötzlich wurde mir klar, daß er mich dem Blauen Turm entgegentrieb! Gamine war nicht mit den anderen zur Falkenjagd gezogen! Langsam und vorsichtig bewegte ich mich auf den Blauen Turm zu, und der Vogel folgte mir in einigem Abstand. Versuchsweise tat ich einen Schritt zum Roten Turm, worauf der Falke wieder auf mich herunterschoß und mich mit den Riesenschwingen dem Blauen Turm entgegentrieb. Cynara! Was war mit ihr geschehen? Ich versuchte mich nach ihr umzusehen, aber im Nu steckte ich in einem Wirbel schlagender Schwingen. Atemlos kam ich an den Stufen des Blauen Turmes an und stieg langsam hinauf. Der Vogel trieb mich zielbewußt zur Treppe. Einmal holte ich aus und traf ihn mit dem Messer; sein scharfes Blut brannte auf meiner Haut, aber der Falke hackte nach mir und trieb mich weiter. „Na, schön, verdammt noch mal“, knirschte ich, duckte mich, rannte unter •den Schwingen hindurch und die Treppe hinauf. Hinter mir stürzte der Vogel zu Boden und rollte die Stufen hinunter. Er war tot. Auf der Treppe blieb ich stehen, um Atem zu holen. Was jetzt? Gamine mochte Adric nicht, das wußte ich. Aber Adrics Erinnerungen ließen mich jetzt •im Stich; um Gamine herum war eine verschwommene Leere. Hatte er denn Gamine niemals gesehen? Konnte Gamine mir gegen Adric helfen? Was tat Adric jetzt? Ich hatte ihm gut gedient, Narayans Vertrauen gewonnen, ihn in seinem eigenen Körper befreit, damit er Narayan erneut betrügen und ihn schließlich endgültig vernichten konnte! Ich hatte den Mann, den er befreit hatte, wieder in seine Hände gespielt! Aber ich konnte Adric noch immer , nicht aus ganzem Herzen hassen. Drei Tage und drei Nächte hatte ich in Adrics Körper gewohnt, auch in seinem ; Gehirn. Ich kannte seine Stärken und seine Schwächen, seine Träume und seine Qualen, seine Wünsche und seine Ängste. Nein, ich konnte ihn nicht ganz ^verdammen. i Als er den Träumer befreite, hatte er Gutes getan. Er hatte des Träumers Traum geteilt, der Narabedla aus der Sklaverei der Regenbogenstadt herausführen wollte. Aber warum hatte er sich so verändert? War es Karamys teuflischer Zauber? Der Goldenen Hexe von Narabedla konnte sich kaum ein Mann entziehen. Ein Schatten huschte durch mein Blickfeld. Gamine stand in ihren Schleiern über mir auf der Treppe, und ihre spöttische Stimme klang irgendwie amüsiert: „Wie gefällt dir dieser Körper, Adric? Jetzt bist du endgültig geschlagen! Der Fremde hat sich in deinem Körper mit Narayan zusammengetan, Adric.“ Ihr kaltes Lachen machte mich frösteln. „Nun sieh zu, was du tun wirst!“ „Ich bin nicht Adric!“ brüllte ich. „Er ist wieder in seinem eigenen Körper. Er kam zurück und wird Narayan und Cynara betrügen!“ „Du willst, daß ich dir das glaube?“ fragte Gamine verächtlich. Ich schüttelte vor Wut meine Fäuste. Cynara und Narayan Adrics Gnade ausgeliefert! Plötzlich fiel mir die einzige Person ein, die etwas wissen konnte — Rhys. „Laß mich zu Rhys“, bat ich sie. „Er weiß, daß ich die Wahrheit sage.“ Wie und woher wußte ich das? Gamines spöttisches Lachen fachte meinen Zorn erneut an. „Verdammt, laß mich endlich durch!“ schrie ich sie an und schob Gamine aus meinem Weg. Was immer Gamine war — Frau, Mann, Nichtmensch, Hexe oder Roboter —, menschlich war sie nicht. Stahldrähte schienen sich unter meinen Händen zu krümmen und zu ringeln. Ich kämpfte erbittert, und dann folgte ich einem plötzlichen Impuls und griff nach der Stelle, wo Gamines Gesicht hinter den Schleiern sein mußte. Sie schrie vor Entsetzen und verzweifelter Angst. Nun wußte ich auf einmal, wo ich in diesen zwei Krankenhauswochen gewesen war, als Adric von der Wucht unbekannter Energien und Kräfte fast leblos in meinem Körper wohnte. Ein Instinkt sagte mir, ich solle mich
schnellstens Gamines Griff entwinden, und das tat ich. Ich rannte, als sei die Hölle mit sämtlichen Teufeln hinter mir her. Ich war fast oben, als ich die Schritte der Zaubersängerin hinter mir vernahm. Ich tat einen Satz zur Tür an der Treppe, denn ich spürte die Anwesenheit Rhys’ hinter dieser Tür! Ich warf mich mit dem ganzen Gewicht dagegen, riß an der Klinke — die Tür war versperrt! Hinter mir vernahm ich Gamines Seidenschuhe; hoffnungslos legte ich eine Hand auf die Türklinke, die andere auf Adrics Messer. Wenn es keinen anderen Weg gab... Die Tür ging auf, und ich flog in den Raum. „Nun, Michael Kenscott“, sagte die alte, müde Stimme. „Du bist ein Narr, aber Gamine ist kein Haar besser als du. Ich wußte, daß du nicht stark genug warst, um Adric hinauszudrängen, aber versuchen mußte ich es. Natürlich wußte ich, daß du kommst. Ich weiß auch, wohin Adric gegangen ist. Ich weiß, wo Narayan ist und was sie planen.“ Wütend stand ich wieder auf. Die ruhige Stimme des alten Träumers und die freundlichen Runzeln in seinem Adlergesicht versetzten mich in blinden Zorn. Ich ging auf ihn los. „Was, das wußtest du? Gibt es etwas, das du nicht weißt?“ Gamine war mir gefolgt. Der alte Träumer sah ihr über meine Schulter entgegen. „Ich weiß nicht“, sagte er betrübt, „ob du sie jetzt aufhalten kannst. Ich ließ es zu weit gehen, denn ich wollte Frieden haben; und ich hoffte noch immer...“ Er breitete seine Hände zu einer hilflosen Geste aus. „Ach, es ist ja gleichgültig. Es ist Zeit, Gamine. Du mußt mit Narayan zum Bergfried der Träumer gehen.“ „Nein!“ widersprach Gamine. „Narayan kann nicht dorthin gehen! Sein Talisman ist zerstört! Als Adric Narayan befreite, fürchtete er ihn noch, behielt den Talisman zurück, und Karamy fand und vernichtete ihn.“ Das hatte Adric also gesucht, und ich hatte es nicht geahnt. Hätte ich den Talisman gefunden und ihn Narayan gegeben, dann wäre der Träumer endgültig frei; frei von diesem Gerät. Mein Fachwissen erklärte dieses Gerät als die Quelle elektronischer Wellen, die auf das Gehirn des Träumers abgestimmt waren, so daß er innerhalb des magnetischen Feldes in einen Tranceschlaf fallen mußte. Der Talisman konnte ganz bestimmte elektronische Vibrationen dämpfen, so daß Narayan mit ihm sogar in die Regenbogenstadt, selbst in den Bergfried der Träumer eindringen konnte! Aber der Talisman war zerstört. Adric, dessen Erinnerungen von Karamys Zauber verwischt worden waren, wußte es nicht. Ein Teil von Adrics Macht über Narayan war damit geschwunden. Adric konnte zwar den Talisman nicht behalten, wie er beabsichtigt hatte, aber Narayan war auf alle Zeiten von wahrer Freiheit ausgeschlossen, und seine Kraft konnte er niemals uneingeschränkt einsetzen. War der Talisman ein Vibrationsgerät, das die Kraft des Geistes auffing und konzentrierte? Vielleicht war „zauberhaft“ oder „zauberisch“ das richtige Wort für eine Kraft, die ich nicht verstand. Doch der Talisman wirkte nur zwischen dem schlafenden Träumer und den an ihn gebundenen Narabedlaner, durch den des Träumers Geist die Energie des Opfers aufnahm, die in Macht für seinen Herrn umgesetzt wurde. Der alte Rhys hatte den Kopf in die Hände gestützt; nun hob er langsam seine Augen. „Meiner ist noch da, Gamine. Gib ihm diesen.“ Gamine tat einen entsetzten Schrei, aber Rhys’ Stimme wurde plötzlich scharf wie ein Peitschenschlag. „Du gibst ihm den Talisman! Ich habe noch Macht genug, es zu erzwingen, auch bei dir! Spielt es denn noch eine Rolle, was mit mir geschieht? Ich bin alt, Gamine, sehr alt, und jetzt seid ihr an der Reihe, du und Narayan!“ Gamine schluchzte. Aus den Seidenschleiern der Zaubersängerin kam ein in Isolierseide eingeschlagener Gegenstand zum Vorschein. Sie wickelte ihn aus. Es war ein winziges Schwert; kein Dolch, sondern ein richtiges Schwert, nur in Miniaturausgabe — ein Spielzeug. Es war etwa eine Spanne lang, und der Griff war reich mit blauen Kristallen besetzt. Für den fliehenden Bruchteil einer Sekunde kreuzte ein fremdes Gedächtnis das meine.
Ein solcher Talisman hatte immer die Form einer Waffe, und es waren die Symbole der in der Regenbogenstadt wirksamsten Waffen. Evarin hatte auch dieses Spielzeug gemacht, und Adric hatte ihm dabei zugesehen, als Gamine an den alten Träumer gebunden worden war. Er war so alt gewesen, daß man ihn aus dem Bergfried der Träumer entlassen konnte, und zudem gehörte er ja der Sippe der Narabedlaner an. Gamine hatte nie nach Macht gehungert; sie hatte danach gedürstet, zu Füßen des alten Rhys zu sitzen und seine Weisheit in sich aufzusaugen. Damit hatte Rhys die Freiheit der Regenbogenstadt erworben. „Michael muß ihn aus deinen Händen nehmen“, sagte der alte Mann mit freundlicher Stimme. „Solange du ihn hältst, bin ich an dich gebunden, Gamine. Die Macht muß durch einen Willensakt übertragen werden. Hat Narayan dann das hier in seinen Händen, ist er frei, dahin zu gehen, wohin er will, selbst zum Bergfried der Träumer. Gib ihn Michael, Gamine.“ Das Sprechen schien Rhys ermüdet zu haben. Ich hatte ihm geduldig zugehört, aber meine Augen hingen an dem kleinen Spielzeug in Gamines Händen. Es glitzerte blau. Es schimmerte. Ein merkwürdiger Herzschlag schien darinnen hypnotisch zu pulsieren. Auch Rhys sah das Schwert an. Sein altes Gesicht war angespannt und voll Eifer. „Gamine“, sagte er, „wenn Adric dich gesehen hat, sich deiner erinnert...“ „Ich will, daß er sich meiner erinnert!“ Das war ein fast jammervoller Aufschrei, und Rhys seufzte. „Ich kann nicht sagen, wo und wie dies alles enden wird“, sagte er nach langer Zeit. „Ich bin kein Narabedlaner. Ich könnte mein eigenes Volk zerstören, vernichten. Gamine ist nicht gebunden, und du bist es auch nicht, Michael Kenscott. Vielleicht bin ich ein Verräter, aber als ich geboren wurde, war Narabedla eine schöne, heitere Stadt, die von Verbrechen noch unbelastet war. Ich habe es miterlebt, wie die Macht wuchs und zum Übel wurde, aber jetzt muß dem ein Ende gesetzt werden. Gehe und warne Narayan.“ Gamine blieb neben mir stehen; ihr eifersüchtiger, mißtrauischer Blick hing an Rhys. „Laß mich ruhen, Gamine, und gib ihm den Talisman“, bat der alte Mann mit schwacher Stimme. „Michael, tritt einen Schritt zurück. Ich will nicht, daß ich an dich gebunden werde.“ Ich verstand nichts und blieb stehen. Gamine schob mich zornig weg. „Da hinüber, du Narr!“ rief sie. Fast wäre ich dabei gefallen; schließlich stand ich gut drei Meter von der Couch entfernt, auf welcher sich der alte Rhys in die Kissen gelegt hatte. Eine Hand hatte er auf den Knauf des Spielzeugschwertes in Gamines Hand gelegt. „Meine arme Stadt“, flüsterte er. „Lebt wohl, ihr Kinder des Regenbogens. Eure Türme waren einst so schön unter der zweifachen Sonne.“ Er nahm seine Hand weg und legte sie auf ein Kissen. Mit einer heftigen Bewegung warf Gamine mir den Talisman zu. Ich fühlte einen plötzlichen, stechenden Schock; er war wie ein elektrischer Stromstoß, der meinen ganzen Körper durchzuckte; auch Gamines verschleierte Gestalt zuckte. Das Spielzeug in meiner Hand war plötzlich schwer, als sei es aus Blei, und der vormals so glitzernde Griff war matt und tot. Die Kapuze von Rhys’ Gewand sank über sein Gesicht. Gamine griff nach meinem Arm, und ihre stählernen Finger gruben sich fast bis zum Knochen durch. Sie zog mich aus dem Raum. Durch das Schluchzen der Zaubersängerin hörte ich das Echo eines Seufzers. Es war Rhys’ Lebewohl. Dann rannten wir beide die Treppen hinab, über Höfe und durch Bogengänge, und kamen in jenem Hof wieder heraus, in dem, sich vor zwei Nächten die Kinder des Regenbogens versammelt hatten, um zum Bergfried der Träumer zu reiten. Jenseits des Hofes erkannte ich die Gestalt eines Mannes. Seine braune Tunika war zerfetzt, sein blasses Gesicht mit Schmutz oder Blut verschmiert. Langsam, schwerfällig bewegte er sich wie durch Treibsand, fiel auf die Knie und richtete sich mühsam wieder auf. Dann sah er mich, stützte sich mit beiden Händen auf, starrte mich verständnislos an, bewegte seine Hände... Nach einer Waffe? Zu einer Beschwörung? Die Zeit reichte nicht für Erklärungen. Ich tat einen Satz, der einem Fußballtorwart Ehre
gemacht hätte; Narayan ging endgültig zu Boden und blieb dort liegen. Guter Gott, welcher Wille, welche Kraft hatte ihn in die Regenbogenstadt gezogen, in den Machtbereich jener entsetzlichen Vibrationen, die den Bann über einen Träumer warfen? Seine grauen Augen waren wie tot vor Schmerz, aber Mißtrauen und hilfloser Haß funkelten in ihren Tiefen. „Hör mir zu, Narayan“, sagte ich drängend und hielt ihn an den Schultern fest, „ich gehöre nicht zu Karamys Männern!“ „Cynara, er hat Cynara gefangen“, murmelte er schwach. „Cynara... Wer bist du?“ Nur eiserner Wille hielt ihn noch bei Bewußtsein. „Michael Kenscott.“ Plötzlich wußte ich, was ich zu tun hatte, um meinen guten Willen zu beweisen. „Hier“, sagte ich, „ich habe Rhys gesehen. Er schickt dir das.“ Ich nahm das Schwert aus der Tasche, das Gamine mir gegeben hatte. Seine grauen Augen waren umwölkt, und ich sah, wie schwach er war, aber er nahm das Ding entgegen. In seiner Hand erwachte es zum Leben. Das kleine, juwelenbesetzte Spielzeug funkelte, glänzte und schimmerte in blauen, goldenen, roten, flammenfarbenen und opalen Lichtern. Narayans blasses, erschöpftes Gesicht entspannte sich. Sein Blick wurde klar, und er erhob sich lebhaft, stark und groß auf die’ Füße. Dann holte er tief und erleichtert Atem. „Ich bin frei!“ Es klang fast ungläubig. „Frei! Frei!“ Er schüttelte den Kopf und tauchte aus seiner halbekstatischen Versunkenheit auf. Er schob den Talisman in sein Hemd. „Michael Kenscott“, sagte er und sah mich an. „Ja, das spüre ich. Als Adric kam, da wußte ich, daß er sich verändert hatte.“ „Hat er Cynara gefangen?“ Er nickte grimmig. „Ja. Er überraschte mich und schlug mich bewußtlos. Ich kämpfte, doch er zog mich in den Hof hinein, wo ich machtlos bin. Meine Kraft verließ mich. Cynara hörte mich schreien; sie kam, um mir zu helfen, und er zerrte sie von mir weg.“ Dann sah er an mir vorbei. Gamine kam in ihren leise raschelnden Schleiergewändern auf uns zu und blieb zwei Schritte von Narayan entfernt stehen. Alles an mir spannte sich, aber Narayans graue Augen wurden nur groß und ernst. „Gamine“, sagte er sehr leise. „Endlich von Angesicht zu Angesicht. Gamine.“ „Rhys ist tot. Aber ich bin hier, Narayan, und die Zeit ist gekommen.“ Gamines weiche, süße Stimme war kaum vernehmbar, „Ja, die Zeit ist gekommen.“
10. Mit einem Satz stand ich zwischen der verschleierten Gestalt und dem Träumer. „Ihr könnt hier doch nicht so stehenbleiben!“ rief ich empört. „Adric hat Cynara entführt!“ Cynara, das einzige wirklich menschliche Wesen in dieser Welt, hatte mir vertraut, hatte Adric vertraut und ihn bemitleidet, und er hatte ihr Vertrauen mißbraucht und sie weiß Gott wohin entführt! „Er wird sie zum Bergfried der Träumer bringen“, sagte Narayan zornig. „Das ist die Rache, die er versuchen...“ Die Stimme versagte ihm. „Welchen Vorsprung hat er, Narayan?“ „Ich weiß es nicht genau, denn ich habe keine Ahnung, wie lange ich bewußtlos war. Und wenn wir reiten wie der Wind, wir kommen zu spät.“ Er schloß die Augen in hilfloser Wut. „Wir brauchten Vogelschwingen...“ „Ich habe Vogelschwingen!“ rief Gamine. „Die Falken, Narayan! Evarin hat die Vögel hier zurückgelassen!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Gamine, das geht nicht. Wenn ich Cynara rette, verliere ich die einzige Möglichkeit, die Macht von Narabedla zu zerstören. Ich kann nicht... Sie würde es auch nicht wollen. Wir haben allzuviel riskiert, als daß wir jetzt eines Lebens wegen aufgeben
dürften.“ Grimmig drehte er sich um. „Kommt! Wir reiten zum Bergfried der Träumer.“ Gamine hielt mich fest. „Du, Michael, du kannst Adric aufhalten, Du kannst dich der Falkenschwingen bedienen!“ „Was? Wieso?“ Ein Schwall von Erinnerungen überschwemmte mich, Erinnerungen, die ich für Träume gehalten hatte. Adric, der nicht wußte, ob er ein anderer war oder er selbst, kam von der ZeitEllipse zurück, und Mike Kenscott war nur ein betäubtes Atom in seinem Geist. Adric, dessen Gedächtnis ausgelöscht war, wußte aber aus Instinkt, daß er Narayan warnen mußte, hatte sich, da er keinen anderen Weg wußte, in den Raum mit den Falken geschlichen, einen Vogel genommen, ihn geflogen... Narayan blinzelte mich an. „Wir sehen einen Falken“, sagte er leise. „Raif schoß ihn ab. Also hat Adric tatsächlich versucht, mich zu warnen; es war kurz ehe Karamy ihn wieder unter ihre Gewalt brachte.“ Er sah sehr traurig drein. „Michael, Gamine hat recht. Wir beide werden im Bergfried der Träumer gebraucht, aber du kannst Adric überholen und ihn aufhalten. Fliege als Falke!“ Ich schien innerlich zu gefrieren. Das war eine Wahnsinnsidee, ein spukhafter Traum! Und ich war doch eben erst in meinen eigenen Körper zurückgekehrt und wollte ihn, verdammt noch mal, nicht schon wieder verlassen. Das wollte ich Narayan erklären, aber er wiederholte nur: „Das ist Cynaras einzige Chance, Michael. Ich habe kein Recht, dich darum zu bitten, denn du schuldest uns nichts. Cynaras wegen...“ Gamine zog mich einen Gang entlang, den ich aus meinen Träumen zu kennen und doch nicht zu kennen schien. Eine verzehrende Angst überfiel mich, als ein dunkles Tor sich öffnete und ich die schlaffen Vogelleiber meines Traumes sah. Ein wenig zögernd und nach dem richtigen Gefühl aus meinen Träumen tastend, griff ich nach einem Vogelleib und zog ihn herunter. Es war rotes Flaumzeug, das sich eigentümlich warm anfühlte, nicht kühl und irgendwie trocken wie Stoff oder Federn. Gamine stand dabei und sagte nichts. „Was muß ich jetzt tun?“ fragte ich sie. „Adric wußte, wie er sein Bewußtsein transferieren konnte. Ich weiß es nicht.“ „Ziehe es über deinen Kopf“, antwortete sie ganz leise. „Wie einen Mantel.“ Ich ging offensichtlich ein wenig ungeschickt damit um, denn ich fühlte einen rasiermesserscharfen Kratzer auf meiner Haut, der von einem der Fänge stammte. Gamine gab einen ungeduldigen Laut von sich, und ich zog das Federkleid endlich über die Schultern. Fast sofort hatte ich jenes nicht unangenehme Gefühl, dessen ich mich erinnerte, als werde mein Kopf zu einem riesigen Gasballon, der mich zur Decke des Raumes schweben ließ. Die Falkenschwingen breiteten sich aus, schlugen... Ich hörte noch Gamines Warnruf, aber das erregende Gefühl des Fliegens hatte mich schon gepackt. Ich flog! Meine Augen waren plötzlich unglaublich scharf, sahen neue Perspektiven. Ein ungeschickter Zweibeiner duckte sich, riß dann das Fenster auf, und schon ließ ich mich vom Wind tragen, höher und höher tragen in eine Ekstase des Fliegens... Mein Leben lang war ich an die Erde gebunden gewesen. Und jetzt hatte ich zum erstenmal die Freiheit des Traumes, mich in die Luft zu heben und mich vom Wind tragen zu lassen oder wie eine Wolke im Wind zu stehen. Die Regenbogentürme wurden spielzeugklein. Ein dicker, dunkler Waldteppich schmiegte sich an das Gelände dort unten, und weit, ganz weit am Horizont ein dunkler, hoher Schatten... Der Bergfried der Träumer! Der Anblick weckte mich aus meiner seligen Trunkenheit. Adric brachte Cynara in ernste Gefahr, und ich spielte mit dem Wind, ein sorgloser Vogel... Ich suchte das Land mit meinen Falkenaugen Stück für Stück ab, folgte den Sträßchen und Wegen, die sich wie weiße Bänder durch die Wälder zogen; Adric hatte sicher die geradeste Straße gewählt. Dort! Weiter vorne erkannte ich einen einzelnen Reiter, der auf sein Pferd geduckt
dahinsprengte, und quer über dem Sattel hatte er eine dunkle, schlaffe Gestalt. Adric! Es war Adric! Meine Flüche hörte ich wie einen grellen Falkenschrei, aber den nächsten unterdrückte ich, denn er wäre eine Warnung gewesen. In langgezogenen Spiralen schwebte ich nach unten und konzentrierte mich ganz auf diesen einzelnen Reiter. Nichtmenschliche Berechnungen flackerten durch mein Gehirn. Seinen Körper spürte ich als saftige Wärme, spürte die Bewegung des Pferdes, die mit Muskelkraft den Luftwiderstand überwand, der bloße Nacken des Mannes zog mich wie ein Magnet an. Zuschlagen. Zustoßen! Bewegungslos hing ich im Wind und fächerte meine Federn nur so weit auf, daß ich mich der Geschwindigkeit des Pferdes anpaßte. Ich maß die breiten Schultern mit meinen Vogelaugen, visierte das Ziel an, die Basis seines Gehirns... Aber ich wartete eine Spur zu lange. Vielleicht hatte er einen leisen Flügelschlag vernommen, vielleicht war mein Schatten in sein Blickfeld geraten. Adric richtete sich ruckartig hoch auf und schrie mir wütende Flüche zu. Vorsichtig wich ich ein wenig zurück, beobachtete ihn, zielte auf seine Augen. Seine Reflexe waren blitzschnell, und er kannte dieses Spiel. Eine beschwerte Kante seines Mantels klatschte gegen eine meiner Schwingen, so daß ich um mein Gleichgewicht zu kämpfen hatte. Ich fing mich wieder, aber er hatte schon sein Schwert gezogen, das er um seinen Kopf wirbeln ließ — wie ich es im Traum gesehen hatte. So konnte ich ihn nicht angreifen. Ich mußte etwas anderes versuchen. Die Gestalt über dem Sattel bewegte sich und stöhnte. Cynara! Adric fluchte, und seine Augen huschten zwischen dem Mädchen und meinem gefährlichen Schnabel hin und her. Wenn Cynara ihren Kopf benützen kann, dann muß es ihr möglich sein, ihn abzulenken... Da Cynara sich bewegte, war Adric in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Ich schoß herunter und hörte Cynaras Schrei. Zwischen ihr und Adric kam ich auf, grub meine Fänge irgendwo ein und schlug mit den Schwingen. Adric beugte sich zu weit zurück; das Pferd stieg; Cynara glitt vom Pferd und blieb bewegungslos auf dem Pfad liegen. Adric fing sich wieder und ließ sein Schwert über seinem Kopf kreisen. Ein schriller, gespenstischer Falkenschrei war ein wütender Fluch von mir. Ich zog mich ein wenig zurück, suchte nach einer Blöße, traf ihn mit einer Schwinge; ich schlug mit den Fängen zu. Adric fluchte; an seinem Unterarm sah ich eine lange Schramme. Aber er fing sich schnell wieder und traf mit seinem Schwert eine meiner Schwungfedern. Schmerz fühlte ich keinen, nur panische Angst hatte ich, denn ich mußte verzweifelt um mein Gleichgewicht kämpfen. Langsam setzte sich Cynara auf. Ihre Augen waren angstvoll auf mich gerichtet. Jetzt mußte ich trotz meiner verletzten Schwinge alles riskieren! Wie ein Flugzeug zog ich direkt auf sein Gesicht zu: damit überraschte ich ihn, und er taumelte nach rückwärts. Meine Fänge krallten sich in seine Wangen, mein Falkenschnabel senkte sich zum tödlichen Streich. Zu spät sah ich den nadelspitzen Dolch in seiner Hand, die nach oben zuckte. Er traf eine Schwinge, stieß in mein Herz. Brennendes, giftiges gelbes Blut schoß aus mir heraus. Ich hörte noch Cynaras Schrei, und dann war ich gewesen... Mir war übel, und ich zitterte; mit letzter Kraft klammerte ich mich an den Sattel eines galoppierenden Pferdes. Der Wind schlug mir ins Gesicht, und über mir standen zwei Monde an einem indigoblauen Himmel. Von den Hufen meines Pferdes stoben Funken auf. Ich holte keuchend Atem, schwankte, hielt mich gerade noch fest. Dann wußte ich, daß ich verloren war. Adric hatte den Falken getötet, und ich war wieder zurück in meinem Körper... Narayans fahlblondes Haar flog im Wind; er ritt neben mir, und sein Gesicht war ernst und gesammelt. Gamine an meiner anderen Seite war ein Phantom, ein Spuk in blausilbernem Gewand. „Narayan!“ ächzte ich.
Er zügelte sein Pferd. „Du bist wieder zurück? Was ist geschehen? Adric...“ „Mißerfolg“, antwortete ich bitter, und dann erzählte ich. Narayan sah grimmig drein, aber seine Hand griff um meine Schulter. „Nur Ruhe! Du hast getan, was du konntest, und vielleicht konntest du ihn doch lange genug aufhalten.“ „Wie kam ich nur hierher?“ „Wir brachten dich mit“, erwiderte Gamine scharf. „Genug geredet! Reite weiter!“ Ich klammerte mich wieder an mein Pferd, und allmählich bekam ich sogar ein gewisses Gefühl dafür. Dann vernahmen wir in einiger Entfernung plötzlich Schreie, den Klang von Schwertern und Speeren, einzelne Schüsse, den Schrei eines Falken. Narayan sah verzweifelt drein. „Kerrel und seine Leute sind auf die Garde gestoßen! Sie greifen an!“ Ein Falkenschrei ertönte über Gamines Kopf, und an meinem Rücken spürte ich einen Flügelschlag. Ich holte abwehrend mit dem Arm aus; mein Pferd stieg, und fast wäre ich aus dem Sattel gerutscht. Und plötzlich waren ganze Schwärme von Vögeln über uns, goldene, purpurne, grüne, rote, blaue und flammenfarbene; die Luft war von ihren Flügelschlägen erfüllt. Narayan holte mit dem Schwert aus; Gamine kauerte im Sattel und ließ eine lange Peitsche zischen; es gelang ihr, die Vögel damit abzuwehren, doch ein Fang riß an den blausilbernen Schleiern. Narayan, in einer Hand das Schwert, in der anderen eine Peitsche, schlug um sich, und ich hörte den Todesschrei eines Vogels; nun hatte ich endlich mein Messer in der Hand und stieß damit nach oben. „Der Spiegel!“ schrie Gamine. „Evarins Spiegel! Schnell, sie kommen in hellen Scharen!“ Und das stimmte. Es war ein höllischer Wirbel, aber diese Vögel waren lebende Maschinen, nicht seelenvolle Vögel, wie der meine gewesen war. Alptraum einer aus den Fugen geratenen Wissenschaft, die diese Dinge geschaffen und produziert hatte. Und nur Evarin... Endlich hatte ich den Spiegel gefunden und zerrte die umhüllende Seide weg. Eine nadelscharfe Kralle riß mir das Handgelenk auf, und nur aus einem Instinkt heraus hob ich den Spiegel dem Vogel entgegen. Er taumelte und stürzte herunter. Ein prickelnder Schock lief durch meinen Arm. Ich ließ den Spiegel fallen und tat einen Satz, um ihn aufzuheben. Das Ding war ein vollkommener Konduktor; es zog alle Energie aus dem Körper dessen, der hineinschaute. Darum also hatte Evarin mich — oder Adric — so gedrängt, in ihn hineinzusehen! Die Vögel hatten kein Gehirn, waren reinste Energie, wenn auch unter der Persönlichkeitskontrolle der Besitzer. Die Narabedlaner hatten heute keine Zeit zu einer richtigen Falkenjagd, und Evarin hatte sie nur zu einem letzten, verzweifelten Versuch freigelassen. Ich hielt den Spiegel nach oben; aus dem Augenwinkel heraus sah ich die Blitze, die seine Tiefen durchzuckten, und vor Schmerz krampfte sich mir der Magen zusammen. Ich hielt ihn schräger, und er zog die Vögel an wie eine Kerze die Motten. Ein Schock nach dem anderen zuckte durch meinen Arm, aber ein Falke nach dem anderen fiel schlaff herunter! Eine seltsame Erregung packte mich. Die Energie der Vögel war keine Elektrizität, sondern eine verwandte Energieform, die von meinen Nerven gierig aufgesogen wurde. Und dann stürzten die Vögel zu Dutzenden, zu Hunderten schlaff herunter! Mit einem Schlag ergriffen die restlichen die Flucht. Sie verschwanden in Richtung des schwarzen Schattens, der am Horizont aufragte. Der Bergfried der Träumer rief sie zurück...
11. Dieser Energiestrom hatte mich gestärkt. Jetzt konnte ich allem entgegensehen, was immer
auch kommen würde. Ich schob Evarins Spiegel wieder in eine Tasche, rief Narayan ein Wort zu und ritt weiter. Gamine folgte uns; ihre blausilbernen Schleier waren nur noch Fetzen. Ich erkannte blasses, nacktes Fleisch. Der Kampflärm war nun deutlicher zu hören. Ich vernahm einzelne Schüsse, sah farbige Blitze. Ein Schauer überlief mich, denn die grauenhafte Falkenarmee war nun sicher wieder bei Evarin angelangt. Die Rebellen konnten einen Teil davon töten, aber für jeden toten kamen zwanzig neue nach; neue Sklaven für Narabedla. Was sollte die dürftig bewaffnete Armee Narayans gegen die Wissenschaft eines Spielzeugmachers ausrichten? Narayans Gesicht leuchtete blaß vor Erschöpfung. Ich wußte, was er dachte. Seine Männer kämpften tapfer, aber was war mit seiner Schwester? Unsere Pferde schienen nicht mehr vom Fleck zu kommen. Da überlegte ich, welch ein Narr ich doch war, wenn ich in einen Kampf ritt, der mich nichts anging! Es war ja nicht einmal meine Welt, um die es hier ging. Aber eine andere Stimme in mir sagte mir, daß ich alles, was ich je besitzen würde, heute gewinnen konnte, denn dies war die einzige Welt, die ich erlebte, denn meine eigene würde ich niemals wieder zu sehen bekommen. Niemals! Und Adric konnte, wenn es nach mir ginge, in seiner eigenen Hölle verschmoren oder verrotten... In Wirklichkeit flogen unsere Pferde dem Kampf entgegen! Und dann, seltsam, rasten wir daran vorbei. Wir hatten den Wald verlassen und ritten nun über eine dunkle, hügelige Ebene. Moos dämpfte die Hufschläge, und gelegentlich huschte ein pelziges Tierchen über unseren Pfad. Zweimal scheuchte mein Pferd einen Nachtvogel auf, und erleichtert stellte ich fest, daß es nicht Evarins Vögel waren. Vor dem baumlosen Horizont stand schwarz und riesig der Bergfried der Träumer. Ich hockte geduckt im Sattel, und meine Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Plötzlich spannte sich ein gewaltiger Lichtbogen über den Bergfried. Ein blauer Blitz. Ich hörte Narayan wie in Todesangst stöhnen. Sein Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, gleichzeitig aber von einer schrecklichen Befriedigung gezeichnet. „Das Opfer, ich fühle es“, keuchte er. „Noch immer... speist es mich mit Kraft. Michael!“ Seine Stimme war voll unerträglicher Qual. „Wenn ich... je wieder damit beginnen sollte, für sie... zu arbeiten, dann mußt du mich... erschießen, Michael. Versprich es mir.“ „Oh, Gott!“ stöhnte ich. „Versprich es mir, Michael! Gamine!“ Gamine sprengte heran. Ich hörte ihre süße, leise Stimme. Wieder zuckte der Bogenblitz über den Himmel. Narayan grub dem Pferd die Absätze in die Weichen und raste davon. Die schwarze Silhouette eines Reiters erschien am Horizont. Sein Pferd lahmte, und quer über seinem Sattel lag etwas Dunkles. Ich fluchte, denn ich wußte, wer diese geduckte Gestalt war. Sicher, ich hatte Adric aufgehalten, aber jetzt ritt er zum Opfer, und vor sich auf dem Sattel hatte er Cynara liegen. Der Rest dieses Alptraumrittes ist ein dunkler Fleck in meiner Erinnerung. Ich weiß erst wieder, daß wir am Bergfried unsere Pferde zügelten. Von Adric oder Cynara war nichts zu sehen, von keiner lebenden Person, um genau zu sein. Nur die Bogenblitze zuckten in Abständen von drei oder vier Sekunden über den Himmel. Narayans Gesicht war wie eine Totenmaske, und Gamines Atem kam in schluchzenden Stößen. Mein Körper prickelte und zuckte unter der in der Nacht freigesetzten Energie. Wir glitten von unseren Pferden. Gamine versuchte vergeblich ihre zerfetzten Schleier in Ordnung zu bringen, und nun sah ich endlich ein blaues Auge, das so blau war wie der Blitz, der aufflammte und wieder in sich zusammenfiel. Unter dem riesigen Turm sahen wir wie Zwerge aus. Er war mindestens hundert Meter hoch. Gamine umklammerte meinen Arm. „Horch!“ flüsterte sie. Ich vernahm nur ein tiefes, leises Summen, ähnlich dem Summen eines Bienenvolkes oder von Hochspannungsdrähten, aber die beiden waren wie vom Schlag gerührt. Narayan suchte
nach seinem Talisman, den Rhys mir für ihn gegeben hatte; als er ihn in der Hand spürte, entspannte sich sein Gesicht. Er schloß seine Finger darum, machte einen Augenblick lang die Augen zu und seufzte tief. Über uns erscholl ein Schrei; Narayan steckte sein Spielzeug wieder ein und rannte um den Bergfried; Gamine und ich folgten ihm keuchend. Wir bogen um eine Ecke und standen vor einem steinernen Bogengang. Wir kletterten daran hinauf, duckten uns. Ich griff nach meinem Messer. Durch einen verdeckten Bogengang gelangten wir in den Bergfried. Unter uns hörten wir eine verzweifelte Stimme schreien: „Oh, nein, Adric! Nein! Nein!“ Es war Cynaras Stimme. Mit vereinten Kräften durchbrachen wir die Glasdecke und schwangen uns nach innen. Schließlich standen wir auf einem hohen Sims ungefähr drei Meter über dem Boden des Bergfrieds und sahen auf eine entsetzliche Szene hinunter. Die Goldene Karamy, der Zwerg Idris und Evarin standen vor einem ganzen Ring von Särgen, deren Kristall von innen heraus zu glühen schien. Jeder der Narabedlaner hatte ein winziges, juwelenbesetztes Schwert in der Hand, ein Spielzeug, und in den Särgen... „Die Träumer!“ schrie Gamine gellend. Jetzt erst sahen wir, was Adric tat. Im Ring der Särge erhob sich eine Art Bühne, die auf schauerliche Weise einem Altar glich, und dort standen nackte, leeräugige Sklaven in langen Reihen. Einer nach dem anderen trat vor, tat einen stöhnenden Seufzer, als das winzige Schwert aufzuckte, und dann — gab es den Sklaven nicht mehr. Und Adric schob Cynara vorwärts in den Raum, zwischen den Särgen, zum Opferstein der Träumer! Der Anblick ließ mich alle Vorsicht vergessen. Wir sprangen vom Sims herunter und warfen uns auf die Leiber der lebenden Leichname. Idris bellte einen Befehl; die Sklaven schwärmten aus und versuchten uns mit ihren Leibern zurückzudrängen. Ich schlug, stieß und biß um mich, kämpfte mich zur Spitze des Haufens durch und kam frei. Das genügte. Ich stand auf meinen Füßen und hatte das Messer in der Hand. Hände griffen nach meinen Beinen; ich schlug, trat, stieß, boxte; meine Stiefel trafen nacktes Fleisch, und ich hörte brechende Knochen. Dieses Geräusch stülpte mir fast den Magen um, aber jetzt durfte ich nicht zimperlich sein. Blut lief mir in die Augen. Gamine kämpfte sich frei. Gemeinsam bahnten wir uns mit den Ellbogen einen Weg. Da sprang Evarin mich an. Mein Messer traf seine Schulter, stieß nur knapp an seinem Hals vorbei. Ich fing seinen Talisman auf, als er ihn verlor. Dann standen wir, Narayan, Gamine und ich, endlich Rücken an Rücken im Kreis der Särge. Evarin und die anderen Narabedlaner wichen entsetzt zurück. Denn in den Särgen bewegte sich etwas... Aber Adric war kein Feigling. Wieder packte er Cynara, und dann warf er das Mädchen in einem gewaltigen Schwung mitten in den Lichtbogen des Blitzes. Narayan und Gamine standen wie gelähmt da, aber ich kam frei, tat einen Satz vorwärts, mitten durch den blauen Blitz hindurch! Und mir geschah nichts. Gar nichts. Ich spürte nur ein kleines, angenehmes Prickeln, als ich Cynara mitten in der Luft auffing und sie langsam aus dem Gefahrenkreis herauszog, der sie vernichten konnte. Narayan hob sie aus meinen Armen und trug sie weg in Sicherheit. Dann schlug Adrics großer, schwerer Körper gegen mich, meine Faust traf sein Kinn, und ich hörte ihn grunzen, denn wir kamen dem Zentrum der blauen Energie immer näher. Nun sprang mir Evarin wie eine Katze auf den Rücken. Die Hitze schoß Nadeln durch meinen Körper. Aber dann spannte sich ein blauer Bogen von einer Giebelwand zur anderen, ein schauerlicher Pantherschrei gellte... Und der Spielzeugmacher war verschwunden! Blaues Licht flammte in den Särgen. Idris und Karamy rannten darauf zu und drückten ihre Spielzeugschwerter an die Sargdeckel, doch es war zu spät. Die Spielzeuge in Narayans und Gamines Händen spien blaues Feuer, und Schritt für Schritt zogen sich die Narabedlaner
zurück. Immer weiter... Wie durch Zauber waren die Särge leer, und drei Männer und eine Frau scharten sich um Narayan und Gamine. Ihre Gesichter glichen auf verblüffende Art dem Narayans und dem des alten Rhys. Und nun riß Narayan mit einer weitausholenden Bewegung Gamine die Schleier vom Gesicht. Ein triumphierender Schrei kam von den Lippen der Zaubersängerin, und im Mittelpunkt der Mutanten stand Gamine, die Träumerin, die nie geschlafen hatte, die nie gebunden worden war. Majestätisch stand sie da, eine Frau, schlank, blond und unbeschreiblich schön. Mir fielen Iris und Osiris ein, als ihre blauen Augen funkelten und ihr Arm sich hob, um sich aus den zerfetzten Schleiern zu schälen. Die blauen Blitze verblaßten, und im nächsten Augenblick war der ganze Bergfried der Träumer in zitterndes, glimmendes Regenbogenlicht getaucht. Karamy und Idris zogen sich langsam zurück und versuchten in den Schatten zu entkommen. Nur Adric blieb stehen. Der sah benommen drein; seine Augen hingen an Gamine. Die Regenbogen verschwanden, und die Energie war nicht mehr zu spüren. Die Träumer beobachteten die kauernde Karamy, die ihr Gesicht verhüllt hatte; den häßlichen, geduckten Zwerg, die überglückliche, kniende Cynara und Adric, der Gamine anstarrte, als sei er von einem Bann erlöst. „Rhys hatte recht“, sagte Gamine endlich. „Die Zeit ist gekommen. Jetzt ist sie da. Und was kommt jetzt?“ Die Träumer sahen einander an, doch Gamine schüttelte den Kopf. Ihr langes, blondes Haar flog. „Nein. Warum sollen sie sterben? Er ist ein alter Mann, ein häßlicher Zwerg und ein Narr, der sich nie entscheiden konnte.“ Dann sah sie Adric an. „Auch er ist ein Narr, der nie wußte, was er wollte. Und Karamy. Nein, sie haben jetzt, da wir frei sind, keine Macht mehr. Nicht einmal die Macht hatten sie, mich zu sehen. Habt Mitleid mit ihrer Schwäche. Wir sind ja frei.“ Adric richtete sich hoch auf. Entschlossenheit lag um seinen Mund. Er sah Narayan an und zuckte die Achseln. Dann wandte er sich an Gamine. „Töte mich, wenn du willst“, sagte er. Es war Narayan, der antwortete. „Nein, Adric. Ich will, daß du siehst, was du vorher gesehen hast, was dich wegschickte, was dich zum Wahnsinn trieb. Gamine, zeige ihm doch, was er gesehen hat.“ Langsam trat Gamine auf Karamy zu. „Steh auf, Hexe!“ Karamy stand zögernd auf. In ihren Augen lag keine Hoffnung, in denen Gamines keine Barmherzigkeit. Zwei Augenpaare, katzengelb und leuchtendblau, maßen einander. „Hatte ich nicht recht?“ fragte Karamy endlich und hob ihr schönes, kaltes, stolzes Gesicht. „Ich wußte, daß du uns vernichten würdest, Gamine, daß du unsere Welt zerstörst. Deshalb wollte ich dich in den Tod jagen, selbst wenn es mein eigenes Leben kostete. Was ich getan habe, mußte getan werden!“ Gamine lächelte. „Und dabei bleibst du, Karamy? Egal, ob du damit stehst, fällst oder stirbst?“ Sie wandte sich an die anderen. „Karamy ist schön, nicht wahr?“ Ich glaube, keine Frau auf der Erde war je so schön oder wird je so schön sein wie Karamy war. Karamy, die Goldene. Stolz, hoch aufgerichtet stand sie da, und ihre Löwenmähne schimmerte. Sie sah Adric an, und ich erkannte das Verlangen in seinen Augen. Sie breitete die Arme aus, und Adric ging lächelnd auf sie zu... „Haltet ihn auf“, befahl Narayan barsch. Einer der Träumer machte mit der linken Hand eine Bewegung, und Adric wurde von unsichtbaren Kräften festgehalten. „Das war Karamys Macht!“ rief Gamine mit heller, hallender Stimme. „Aber seht jetzt die Illusion, die ihr Träumer um sie warf, um sie zu schützen! Seht!“ Mit dem kleinen Talisman berührte sich leicht Karamys Haar. Ein Entsetzensschrei brach aus vielen Kehlen. Karamy, die Goldene, die Erlesene! Es gibt keine Worte für die Verwandlung, die sich mit ihr vor unseren Augen vollzog. Mir wurde
übel; Cynara schluchzte leise, aber Adric, der wie versteinert dastehen mußte, konnte nicht wegschauen. Gamines leises, tiefes Lachen war tödlich. „Und doch sollte ich dankbar sein“, murmelte sie spöttisch, „denn Karamys Zauber hat meine wahre Gestalt verborgengehalten. Und jetzt bin ich frei, Karamy, und ich bin eine Träumerin. Soll ich dir meinen Schleier geben, Schwester? Nein? Geh weg!“ Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb, und das, was einmal die Goldene Karamy gewesen war, warf die Arme über die eingesunkenen Augen und floh hinaus in die Nacht. Wir sahen sie niemals wieder... Das war das Ende der Goldenen Karamy. * Wenig später bemerkte ich, daß ich Adric anstarrte und er mich, beide verwirrt, jedoch ohne Feindseligkeit. Cynara trat neben Adric und legte ihm einen schützenden Arm um die Schulter. Ich wandte mich verlegen ab, denn der Mann schluchzte wie ein kleines Kind. Es war zuviel für mich, zuviel an Erschütterung und Anstrengung, zuviel an Schock und Geschehnissen. Ich zitterte am ganzen Körper. „Ruhig!“ flüsterte Narayan mir zu, und seine harte Hand an meiner Schulter bewahrte mich davor, daß ich mich wie ein Tölpel benahm. „Du hast sehr viel für uns getan“, sagte er. „Ich wollte, wir könnten dir danken; nicht für mich selbst, sondern für Millionen von Menschen. Vielleicht finden wir einmal eine Möglichkeit, dich in deine eigene Welt zurückzuschicken. Da aber Rhys und Karamy...“ Adric schien bedrückt, fast eingeschüchtert zu sein, oder demütig vielleicht. Er sah mich an. „Eines Tages wird es einen Weg geben. Wir müssen ihn finden, aber...“ Ich wußte, was sie meinten. Die Magie der Träumer konnte nicht auf die alte Art benützt werden, und jetzt war ihre Kraft eine noch unbekannte Größe. „Inzwischen“, fuhr Adric fort, „... bist du, so scheint mir, an mich gebunden“, ergänzte ich. Wir grinsten einander an. Diesen Mann konnte ich nicht hassen. Wir kannten einander zu gut. Ohne seinen Zauber... Er lachte. „Die Regenbogenstadt ist für uns beide groß genug.“ Narayan sah Adric an, dann mich. Gamine trat zu uns. „Narayan, du wirst gebraucht. Ich kümmere mich um diese beiden.“ Sie deutete auf die erwachten Träumer, die noch ein wenig benommen herumstanden. „Man muß ihnen sagen, weshalb und wie sie geweckt wurden. Sklaven müssen befreit werden, Armeen...“ „Ja, das stimmt“, pflichtete Narayan ihr bei, straffte die Schultern und ging zu seinen Leuten. Ich sah ihm nach und hatte das Gefühl, daß mein einziger Freund hier mich nun verlassen hatte. Aber es war nicht anders möglich. Narayan gehörte zu jenen Menschen, die eine Welt aus den Angeln heben oder sie wenigstens umformen können. Aber sein Blick sagte uns, daß wir daran teilhaben konnten, wenn wir wollten. Gamine nahm meine Hand und führte mich weg. Ich warf Adric und Cynara einen bedauernden Blick zu. Cynara war sehr lieblich, sehr menschlich; vielleicht hatte ich gehofft, daß sie mich eines Tages dafür entschädigen könnte, daß man mich in dieser fremden Welt festhielt, die nicht die meine war. Aber durfte ich das hoffen, da Adric nun wieder er selbst war? Ich stand mit Gamine auf den Stufen des Bergfrieds, und ihre Stimme klang leise und sanft durch die Dunkelheit: „Der alte Rhys hatte gewußt, daß ich mit den Kräften der Träumer geboren war, ehe ich noch an ihn gebunden wurde. Er versteckte mich, half mir, hielt mich in seiner Nähe. Eines Tages entdeckte es Adric. Er machte eine Wandlung durch. Zusammen befreiten wir Narayan. Dann machte mich Karamy zu dem, was ich war, was du gesehen hast. Das schmerzte Adric zutiefst. Es wäre mir gelungen, diesen Schmerz zu heilen — mit der Zeit wenigstens. Aber Karamy behexte ihn. Sie nahm ihm alle Macht und Gedächtnis, all seine Erinnerungen. Vielleicht wird er sich eines Tages daran erinnern, was ich war.“
„Gamine!“ Das war Adrics Stimme, und im nächsten Augenblick kam er herausgerannt, fing die Träumerin ein, schloß sie in die Arme und küßte sie. Sie lachten und weinten zusammen. Cynara folgte ihnen langsam und lächelte befriedigt. Gamine warf mir über Adrics Schulter einen Blick zu. Adric wußte es also. Cynaras Stimme war zärtlich und heiter, als wir die beiden in der Glorie der roten Sonne zurückließen. „Arme Gamine“, sagte sie, „und armer Adric. Ihretwegen paßte ich auf ihn auf, und Narayans wegen. Sie taten mir beide so leid. Michael, ich weiß... Ich wußte, daß du nicht Adric warst...“ Cynara war sehr lieblich, sehr menschlich, und ich erinnerte mich daran, daß ich auf unserem ersten gemeinsamen Ritt in ihre Augen gesehen hatte. Damals hatte ich mich gehaßt, weil ich Adric sein mußte. Ich, ein Fremder in einer Welt, an der ich nicht mitgebaut habe... „Aber das hast du doch!“ erwiderte Cynara leise, und erst jetzt wurde mir klar, daß ich die Worte laut gesprochen hatte. Ich sah zu Adric hinüber, der Gamine in den Armen hielt, und die Sonne des neuen Tages war die Dämmerung seines neuen Lebens. Er hatte seine Welt gefunden. „Es ist auch deine Welt“, versicherte mir Cynara, nahm meine Hand und führte mich die Stufen des Bergfrieds hinab und hinein in einen seltsamen Sonnenaufgang. Ein Schrei löste sich aus den Kehlen der Männer und Frauen, die sich wartend um den Turm versammelt hatten. Ich holte tief Atem und legte meinen Arm um Cynaras Schultern. Dann rief ich Adric, auf daß er mein Glück mit mir teilte...
ENDE