BUZZI * DER GEIST DES FALKEN
GERHARD Buzzi
DER
G E IS T
DES
FALKEN
Scaned by Jingshen
wird herausgegeben von ...
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BUZZI * DER GEIST DES FALKEN
GERHARD Buzzi
DER
G E IS T
DES
FALKEN
Scaned by Jingshen
wird herausgegeben von Hans Christian Meiser.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahine
Buzzi, Gerhard:
Der Geist des Falken / Gerhard Buzzi. - Kreuzungen ;
München : Hugendubel, 2001
(Atlantis)
ISBN 3-7205-2253-9
© Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzungen/München 2001
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Zembsch'Werkstatt, München
Produktion: Maximiliane Seidl
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer,
Germering
Druck und Bindung: Huber, Dießen
Printed in Germany
ISBN 3-7205-2253-9
»Willst du ein Stück mit mir fliegen?«, fragte der Falke. »Gerne«, antwortete ich und schwang mich auf den Rü cken des wunderbaren Greifvogels. »Wohin geht die Reise?«, wollte ich wissen, während der Falke seine Flügel ausbreitete und sich in die Lüfte erhob. »Wir reisen an einen Ort, an dem Träume Wirklichkeit und Seelen zu Regentropfen werden«, sagte er und seine Stimme bekam einen Hauch von Traurigkeit. »Warum die Trauer in deinem Herzen?«, fragte ich verwun dert. »Träume, die zu Leben werden, sind Geschenke des wah ren Glücks.« »Das Glück geht oft dornige Wege«, antwortete der Falke. »Es bedarf einer gewissen Zeit, bis es in unsere Herzen Ein zug hält.« »Wo ist dieser geheimnisvolle Ort, an dem Träume Wirk lichkeit werden?« »Wir befinden uns mitten in ihm«, antwortete der Falke.
Schrittes wanderte Red Hawk durch das Langsamen Gras der Prärie. Es war dunkel geworden und der alte Mann musste vorsichtig gehen, denn seine müden Augen taten sich schwer, den Schleier der beginnenden Nacht zu durchdringen. Der Medizinmann konnte sich die Unruhe nicht er klären, die ihn seit Tagen verfolgte — wie ein Schatten aus der Finsternis, unsichtbar und doch immer zu spü ren, wie ein Windhauch, der säuselnd um seinen Kör per strich. Red Hawk schaute sich von Zeit zu Zeit um, blieb stehen, hielt den Atem an, horchte. Er blickte hinauf zu den Blättern der schmalen Birke, die im Takt der Ele mente dem Schamanen ein Lied sang. Red Hawk kannte die Stimmen der Prärie und des Waldes, sie waren ihm so vertraut wie seine eigene. Er konnte die Zeichen seiner geistigen Helfer deuten, ja er musste sie deuten können, das wurde von ihm erwartet, denn schließlich gehörte das zu den Aufgaben eines Medizinmannes. Aber diesmal sang die Birke ein Lied, das ihm nicht vertraut war, es klang wie fernes Wehklagen, das schwach, aber unaufhörlich vom Wind getragen durch die Äste säuselte. »Die Büffel gehen in die andere Welt, die Mutter hat es gesagt, die Mutter hat es gesagt. Die Hirsche gehen in die andere Welt, l
der Vater hat es gesagt,
der Vater hat es gesagt.
Die Brüder gehen in die andere Welt,
die Winde haben es gesagt,
die Winde haben es gesagt.«
Das Lied flößte dem alten Indianer Angst ein. Sein Blick wanderte hoch in den wolkenverhangenen Him mel, er suchte nach den Sternen, die sich ihm heute nicht zeigen wollten. Eine Schar Fledermäuse flatterte aufgeregt zwischen den Bäumen hin und her, unruhig, getrieben von einer Hast, die Red Hawk so nicht kannte. Er blieb erneut stehen und horchte in die aufkom mende Finsternis. Er konnte die Gefahr fühlen, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, um sich zu gegebener Zeit wie ein unsichtbarer Mantel um seine Schultern zu legen. >Sie ist zum Greifen nah<, sagte er zu sich und langte mit der linken Hand instinktiv hinter sich, um die unheimliche Macht zu packen. Aber seine Hand fuhr ins Leere. Da schrie ein Eichelhäher. Red Hawk erschrak. »Er will mich warnen«, dachte der alte Mann laut, »aber wovor?« Er drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der der Schrei kam. Der Medizinmann wollte den Eichel häher befragen, aber in diesem Moment flog der Vogel über seinen Kopf hinweg und verschwand zwischen den Kronen der schlanken Bäume. Red Hawk beschleunigte seinen Schritt, er wollte sein Tipi erreichen, das Zuhause seiner Familie, das auch sein heiliger Tempel war, sein Gotteshaus, das ihn vor Bösem beschützt.
»Warum ist Vater in den letzten Tagen so unruhig?«, fragte der Junge seine Mutter. »So habe ich ihn noch nie erlebt. Kannst du mir das erklären?« One Star kniete neben der Feuerstelle und schaute gedankenverloren in die züngelnden Flammen des Zelt feuers. Der aufsteigende Rauch füllte das Innere des mächtigen Tipis mit einem zarten Schleier aus. »Dein Vater trägt als Medizinmann seines Volkes eine große Verantwortung«, antwortete die Mutter. »Unser Volk hört auf seine Worte. Das Leben unserer Brüder und Schwester hängt von ihnen ab. Red Hawk weiß, wann die Büffel kommen, die uns Nahrung und Klei dung für den Winter bringen. Die Spirits flüstern es ihm zu, wenn er durch die Welt der Geister wandert, die tief im Süden ihre Heimat haben. Die Last der Ver antwortung ist oft schwerer als ein einzelner Mann auf seinen Schultern tragen kann, aber dein Vater war ein starker Krieger, der keinen Feind zu fürchten brauchte. Dein Herz muss sich um Red Hawk nicht fürchten, er ist beschützt.« Little Bear schaute seine Mutter von der Seite an. Seine Augen wanderten über ihr Gesicht, der Blick streichelte ihre hohe stolze Stirn, wo er einige Augen blicke verweilte, um dann zärtlich über die leicht gebo gene Nase hinunter zu ihrem Mund zu gelangen. Dort suchte der Junge vergeblich nach dem Lächeln, das sei ne Mutter ständig bei sich trug. >Auch sie ist in Sorge<, dachte Little Bear, >aber sie will mit mir nicht darüber sprechen.< Der Junge ging zu seinem Lagerplatz zurück, legte sich behutsam auf das große, schwere Büffelfell und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. Er be obachtete den Rauch, der langsam und träge nach
oben stieg, magisch angezogen von der kalten, klaren Nachtluft. >Der Rauch ist wie mein Leben<, dachte Little Bear. >Er bewegt sich wie eine Schnecke, so langsam und be häbig. Ich möchte ein starker und gefürchteter Krieger werden, wie es Vater früher war. Nicht irgendwann, schon morgen will ich gegen den Feind kämpfen und ihm die besten Pferde stehlen.< Little Bear schloss die Augen. Er sah sich als stolzer Reiter über die Prärie galoppieren. Sein Pferd Shuunka berührte mit den Hufen kaum den Boden, es fegte wie Tate, der Wind, über die Graslandschaft. Little Bear konnte nicht verstehen, dass sein Vater von ihm Geduld forderte. »Du bist noch ein Kind«, sagte Red Hawk, »vertraue der Zeit, sie weiß, wann es recht ist, aus dir einen Krieger zu machen.« Mit dem Bild des stolzen, furchtlosen Reiters schlief Little Bear ein.
»Den vier Winden sende ich meine Stimme, den vier Winden sende ich meine Stimme, Großer Geist, schaue in mein Herz, Großer Geist, schaue in mein Herz.«
Er hörte nicht mehr, wie Red Hawk das Tipi betrat. Der Medizinmann versuchte die Unruhe, die sich tief in seinem Herzen eingenistet hatte, vor seiner Frau zu verbergen. Er ging zu seinem Lederbeutel, der an ei nem Holzgestänge hing. In dem Beutel aus geschmei digem Hirschleder bewahrte Red Hawk seine heiligen Dinge auf. One Star hatte ihn mit bunten Perlen und Stachelschwein-Borsten bestickt. Der Medizinmann entnahm ein Bündel Salbei. Er zündete es an und blies behutsam die Flammen aus, bis sich eine zarte Glut durch die getrockneten Blätter fraß. Der aufsteigende Rauch roch würzig. Schnell ver teilte sich der wohltuende Duft im Rundzelt. Red Hawk fächerte sich den heiligen Rauch zu, rei nigte Kleidung und Körper, dazu betete er:
»Du trägst große Sorgen mit dir«, sagte One Star ohne Umschweife. Sie hatte ihren Mann aus den Augenwin keln beobachtet, sah das Unbegreifliche, das er nicht verstehen konnte. Jemand hatte es in seine Seele ge brannt. »Die Geister sind gegen mich«, sagte Red Hawk mit leiser Stimme. »Sie flüstern mir Botschaften ins Ohr, die ich nicht verstehe, sie singen mir Lieder, die mir Angst machen. Eine dunkle Macht bedroht unser Volk und ich sehe kein Licht, das mir den Weg aus der Finsternis zeigt. Eine große Gefahr lauert vor den Toren unserer Tipis und ich kann sie nicht vertreiben.« Red Hawk wandte sich zu One Star, die noch immer vor dem Feuer saß. Flehend schaute er seiner Frau in die Augen. »Sieh mich an«, bat er, »bin ich schon so alt, dass ich mein Volk nicht mehr beschützen kann?« Seine dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Er nahm die linke Hand von One Star und drückte sie fest an sich. »Fühlst du die Stimme meines Volkes?«, fragte er. »Wakan Tanka, der Große Geist, legte die Schöpfung in mein Herz, er gab mir seine Liebe in Obhut, ich sollte sie hüten und an die Menschen verteilen, wenn die Zeit gekommen ist. Aber wie kann ich Wakan Tanka dienen, wenn er mir Lieder schickt, die ich nicht ver stehe?« One Star spürte die Verzweiflung in Red Hawks Stimme. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte sie sanft. »Wakan Tanka, der Große Geist, würde es nicht zulas
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sen, dass unserem Volk Böses geschieht. Die Spirits ha ben dich nicht verlassen, sie spielen dir einen Streich. Du weißt, da, wo heilige Dinge geschehen, muss auch das Lächeln einen festen Platz in unserem Herzen ha ben — daran wollen dich die Geistwesen erinnern. Du hast viele Tage und Nächte nicht gelacht, die Sorge um unser Volk trieb dich in die Arme der Finsternis. Lache, und die Spirits schicken dir wieder fröhliche Lieder.« Red Hawk lauschte den Worten von One Star. >Sie ist eine weise Frau<, dachte er, >ich sollte mehr auf sie hören. Ihre Worte sind wie reines, klares Quellwasser, das tief aus dem Schoß von Mutter Erde kommt. Ich gehe morgen früh die Sonne begrüßen und mit dem ersten Strahl, der meine Wangen berührt, werde ich tanzen und singen und lachen.< »Du hast Recht«, sagte er zu ihr, »ich mache mir zu viele Sorgen. Der Große Geist liebt unser Volk, er schickte den Büffel, der die Prärie bevölkert. Es sind so viele Tiere, wie Wolken am Himmel, niemand kann sie zäh len. Unser Volk ist mutig und tapfer, die Feinde furchten uns; wir sind die Kinder des Großen Geistes.« Red Hawk nahm seine Frau in den Arm. »Du bist die klügste aller Frauen«, flüsterte er ihr ins Ohr, »ich bin sehr stolz auf dich.« Er strich seiner Frau zärtlich über ihr langes, pechschwarzes Haar und der Duft von Minze und Salbei umschmeichelte die Nase des Medi zinmannes. Er schloss die Augen und ließ die Bilder von damals vor seinen Augen vorbeiziehen. One Star war fast noch ein Kind und er, Red Hawk, schon der Medizinmann seines Dorfes. Seine erste Frau war ge storben, als eine Hand voll Crows über die Tipis der Sioux herfielen. Die Krieger waren nicht zu Hause, nur 12
die Frauen mit ihren Kindern und die Alten hüteten das Feuer.Viele starben im Pfeilhagel der Feinde. One Star war die Tochter des Häuptlings. Die Augen des Vaters glänzten voller Stolz, wenn sie erhobenen Hauptes über den Dorfplatz schritt. Ihr Haar berührte beinahe den Boden. Sie trug ein Kleid aus hellem Reh leder, das über und über mit Hirschzähnen bestickt war. Die jungen Krieger verdrehten jedesmal ihre Köpfe, wenn One Star aus ihrem Tipi schritt, um Wasser aus der Quelle zu holen. Einige der jungen Männer schwangen sich dann auf ihre Pferde, um im Höllentempo an One Star vorbeizu galoppieren. Sie stießen dabei wilde, markerschütternde Schreie aus, rissen nach wenigen Metern ihre Pferde in den Stand, machten kehrt und fegten im Galopp auf das anmutige Mädchen zu, um im letzten Moment nach links oder nach rechts auszuweichen. Jeder von ihnen hoffte auf einen anerkennenden Blick von One Star, aber sie schritt stolz und ohne Angst an den wilden Horden vorbei, ohne einen der Reiter zu würdigen. Das junge Mädchen hatte nur Augen für Red Hawk, den Medizinmann, der seine wilden Jahre längst den Winden übergeben hatte, die seine Heldentaten bis weit hinter den Horizont trugen, um sie dem ewigen Eis und dem Wüstensand zu erzählen. Sie liebte seine ruhige, besonnene Art, sein Herz war klar und rein, sie konnte darin lesen wie in ihrer eige nen Seele. Er spürte ihre Blicke, er konnte ihr Herz po chen hören, wenn sie in seiner Nähe war. Dem alten Mann schmeichelte die Liebe der Jugend und eines Ta ges fasste er allen Mut zusammen und bat den Häupt ling um die Hand seiner Tochter. 13
Die Aufregung im Dorf war groß, schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass ein Medizinmann, der mehr als vierzig Winter erlebt hatte, die junge Tochter des Häuptlings zur Frau nahm. Viele der jungen Krieger gingen an diesem Tage hinaus in die Prärie, um zu trau ern. Zwanzig Winter waren inzwischen vergangen und die Liebe zwischen Red Hawk und One Star war nie erloschen, das Feuer in ihren Herzen brannte lichterloh und wärmte ihre Seelen, wenn außerhalb ein kalter Sturm blies. Little Bear war vor zwölf Wintern auf die Welt gekommen und hatte das Glück des Medizinman nes vollkommen gemacht. Langsam löste sich Red Hawk aus der Umarmung und ging zu seinem Sohn, der schlummernd unter dem dicken Fell lag. Er küsste ihm die Stirn und sagte leise, mit Stolz in der Stimme: »Und du wirst der Tapferste aller Krieger werden.« Red Hawk war müde geworden. Er schlug sein wär mendes Büffelfell zur Seite und legte sich nieder. Der alte Mann schloss die Augen. Er reiste in Gedanken in das Zentrum des Lichts, das tief im Süden lag, dort, wo die Spirits ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Aber statt des Lichts, das sein Herz und seine Gedanken reinigen sollte, drang eine Stimme an sein Ohr, die ihm vertraut war. Der Nordwind sang ihm ein Lied. Zum Schrecken von Red Hawk war es wieder das der Birke. »Die Büffel gehen in die andere Welt,
die Mutter hat es gesagt,
die Mutter hat es gesagt.
Die Hirsche gehen in die andere Welt,
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der Vater hat es gesagt,
der Vater hat es gesagt.
Die Brüder gehen in die andere Welt,
die Winde haben es gesagt,
die Winde haben es gesagt.«
Der Medizinmann hatte keine Kraft mehr, sich gegen den Freund und Verbündeten zu stemmen, er ließ den Nordwind das Lied vollenden, auch wenn es sein Herz in Stücke schnitt. »Die Brüder gehen in die andere Welt,
die Winde haben es gesagt, die Winde
haben es gesagt.«
Der Indianer wurde von der Unheil bringenden Bot schaft in den Schlaf getragen. >Sind die Spirits gegen mich oder bin ich gegen sie?<, dachte er noch, bevor der Schatten der Geisterwelt ihn umhüllte. Die Nacht war noch kurz, als Red Hawk aus dem Schlaf hochschreckte. Er setzte sich auf und hörte hi naus in die Finsternis. Im zarten Schein des herunterge brannten Feuers sah er One Star und Little Bear fried lich schlummern, er hörte ihre regelmäßigen Atemzüge. Vergessen war die Angst und die Verzweiflung, die ihn trieb — der Krieger war in Red Hawk erwacht. Die Kraft der Jugend hatte den Mann nie verlassen, sie hatte nur Winterschlaf gehalten in dem Körper, der über sechzig Wintern trotzte. Der Medizinmann stand leise auf, er wollte seine Frau und seinen Sohn nicht wecken. >Die Gefahr, hinter welcher Maske sie sich auch im mer verbergen mag, mein Tipi hat sie noch nicht er reichte, stellte er erleichtert fest. >Sie schleicht um das 15
Dorf, irgendwo zwischen den Zelten der anderen, ich muss mein Volk warnen. < Red Hawk zog seine Hose aus Hirschleder über und schlüpfte in die bunt bestickten Mokassins. Immer wie der hielt er kurz inne, um zu lauschen. >Warum ist es so ruhig draußen?<, dachte er. >Keines der Pferde wiehert, die Hunde bellen nicht und selbst die Winde schlafen, es ist mir unheimlich,< Red Hawk schlich aus dem Zelt und lief in gebück ter Haltung durch die Nacht. Hastig sah er sich nach al len Seiten um, er wollte dem unheimlichen Feind, der sein Herz so viele Tage lang gequält hatte, ins Auge se hen, er wollte ihn niederringen und in den Staub wer fen. Der Indianer huschte wie ein Puma über die Gras landschaft, lautlos, beinahe unsichtbar. Er durfte sich keinen Fehler leisten, das Leben seines Volks stand auf dem Spiel. Red Hawk sah am Horizont das erste Licht des Tages die Nacht durchdringen, zaghaft noch, schüchtern wie ein junges Reh. Aber wie konnte das möglich sein? Die Zelte seiner Leute erstreckten sich bis zum Horizont, das zarte Licht des Morgens war zwischen den mächti gen Tipis sonst kaum auszumachen und jetzt konnte er jeden noch so zarten Schimmer am Himmel erkennen. Red Hawk blieb wie vom Blitz getroffen stehen, un fähig sich zu bewegen, die Angst schnürte ihm die Keh le zu. Die Zelte waren verschwunden. Wo gestern abend noch die vielen Hundert Tipis gestanden hatten, klaffte jetzt ein schwarzes Loch. >MeinVolk ist ohne uns weitergezogen^ dachte der Medizinmann im ersten Au genblick. >Es hat uns in der Wildnis zurückgelassen, ich bin ein Geächteter. <
Verzweifelt rannte der Mann los in den beginnenden Morgen, bei jedem Schritt schrie er die Namen seiner Brüder und Schwestern in die vier Himmelsrichtungen. »Spottet Egale, warum hast du mich verlassen?« »Running Horse, kehre zu mir zurück, lass uns die Pfeife rauchen!« »Morning Star, meine Schwester, wie kannst du ohne mich weiterziehen, ist dir meine Liebe kein Lächeln mehr wert?« Red Hawk stolperte über die Prärie, gehetzt, verlas sen, von Schuldgefühlen gepeinigt. Verzweifelt sank er auf die Knie, grub mit den Händen die feuchte Erde auf und rieb sich damit das Gesicht ein. »Mutter Erde, warum quälst du mich so?«, flüsterte er ihr zu. »Habe ich Unrecht getan oder habe ich meinem Volk schlecht gedient? Sage es mir bitte, damit ich Süh ne leisten kann und mein Herz wieder rein wird.« Red Hawk bekam auf seine Fragen keine Antwort. Es war gespenstisch still. Der Medizinmann hörte kei nen Vogel zwitschern, keinen Kojoten heulen, er spürte keinen Windhauch auf seiner Haut. Da war wieder die Angst, die sich langsam seiner Seele bemächtigte.
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Inzwischen war es so hell geworden, dass Red Hawk den gesamten Lagerplatz überblicken konnte. Die Tipis waren verschwunden. Nichts deutete darauf hin, dass hier die Heimat seines Volkes war. Der Medizinmann machte sich auf die Suche nach Fußspuren, er wollte wissen, welchen Weg seine Leute genommen hatten. Zu seinem Erstaunen war das knöchelhohe Gras der Prärie an keiner Stelle niedergetreten, kein Pferd hatte »einen Hufabdruck hinterlassen, Red Hawk fand nur die Überreste eines längst erloschenen Lagerfeuers.
Er untersuchte die verkohlten Holzstücke. >Dieses Feuer hat vor vielen Wintern gebrannt<, sagte er zu sich, >und es ist kein Feuer, das von einem Lakota entfacht wurde. Kein Indianer würde in der Wildnis ein so gro ßes Feuer machen.< Von seinem Volk fehlte jede Spur. >Wo sind die Alten und die Kinder geblieben, die Frauen und die Krieger, die Pferde und die Hunde? Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben, hier müssen böse Mächte im Spiel gewesen sein.< Red Hawk hatte inzwischen die Hügelkette erreicht. Er stieg auf die höchste Erhebung, dort, wo er in glück lichen Tagen morgens die Sonne begrüßte. Es war sein heiliger Platz. Der Medizinmann hatte einen Kreis aus Steinen gelegt, in der Mitte war eine kleine Grube aus gehoben, in der ein mächtiger Büffelschädel lag. Die zwei Hörner waren mit bunten Bändern geschmückt, in den Augenhöhlen lagen Salbeibüschel und der Schädel knochen war mit bunten Kreisen, Vögeln und Schild kröten bemalt. Wer an diesem heiligen Ort saß, konnte in der Ferne die Büffelherden ziehen sehen, die am Horizont Staub aufwirbelten. Hier hielt Red Hawk Zwiesprache mit den Geistwesen und mit Wanblee Gleshka, dem ge fleckten Adler, dem heiligsten aller Tiere. Er zog über dem Haupt des Medizinmannes seine Kreise, wenn dieser unter dem Schutz der Spirits für das Wohler gehen seines Volk betete und Mutter Erde für ihre Güte dankte. Aber an diesem Morgen hielt Red Hawk umsonst Ausschau nach den Büffeln und nach Wanblee, dem stolzen Adler, sie waren aus dieser Welt verschwunden, wie sein Volk und die vier Winde. 18
Der Medizinmann lief den Hügel hinunter und steu erte auf den großen Wald zu, der die Heimat vieler Tiere war. Hier lebten der Hirsch und der Habicht, zwei Brü der im Geiste, mit denen sich Red Hawk im Herzen ver bunden fühlte. Sie wollte er fragen, was geschehen war. Keuchenden Schrittes tauchte der Indianer in den Wald ein, die Bäume legten ihre Äste und Zweige um den verzweifelten Mann, boten ihm Schutz. Nun fühlte sich der Medizinmann wohl und geborgen. Er setzte sich auf einen großen Stein und rief nach Bruder Hirsch. »Mein Freund«, sagte er, »ich habe gro ße Sorgen, Schmerz und Kummer lasten auf meiner Seele. Es sind Dinge geschehen, die ich mir nicht erklä ren kann, die Spirits haben mich im Stich gelassen. Er kläre mir, dem unvollkommenen Menschen, was pas siert ist. Du bist klug und stark, deinen Rat habe ich stets befolgt und deine Weisheit bewundert. Ich folgte deinen spirituellen Pfaden, du gabst mir die Kraft zum Heilen und Handeln.« Oft war der Hirsch in Red Hawks Träumen erschie nen, um dem Medizinmann in schwerer Stunde zur Seite zu stehen. Das Tier mit dem mächtigen Geweih warnte den heiligen Mann vor drohender Gefahr, und wenn der Mensch an seinen Fähigkeiten zu Zweifeln begann, teilte der Hirsch gerne seine Kraft und seine Ausdauer mit dem Bruder im Geiste. Red Hawks Blick fiel auf die kleine Quelle, die unter dem bemoosten Stein aus der Erde sprudelte. Er wollte sich hinunterbeugen, um aus ihr zu trinken, um seinen Durst zu stillen. Aber das Wasser schmeckte schal und abgestanden, es war nicht rein und klar wie sonst, es roch nach Tod und Verwesung. 19
R e d H a w k w a r, a ls h ö rte e r d u m p fe s G e m u rm e l, d a s a u s d e r T ie fe d e r E rd e z u ih m d ra n g. E s w a r e in W e h k la ge n , w ie e s d e r In d ia n e r in d ie se m W a ld n o c h n ie ge h ö rt h a tte . D a n n v e rn a h m e r d e u tlic h d ie W o rte : »Die Hirsche gehen in die andere Welt,
der Vater hat es gesagt, der Vater hat es
gesagt.«
D e r M e d iz in m a n n sp ra n g m it e in e m S a tz h o c h , e in e d u m p fe V o ra h n u n g m a c h te sic h b re it, d e r S c h m e rz w ü te te w ie e in W irb e lstu rm in se in e m H e rz e n . E r b e ga n n z u la u fe n . Z w e ige p e itsc h te n ih m in s G e sic h t. S ie h in te rlie ß e n a u f d e r H a u t b lu tige S trie m e n . »Die Hirsche gehen in die andere Welt«, riefen die Bäum e u n d sc h lu ge n m it ih re n A ste n im T a k t a u f d e n In d ia n e r e in . W ie a u f e in e T ro m m e l, a u f d e r m it d u m p fe n S c h lä ge n d a s E n d e d e r M e n sc h h e it e in ge lä u te t w u rd e . D e r In d ia n e r h a s te te d e n k le in e n B a c h e n tla n g , d e r sic h gu rge ln d se in e n W e g d u rc h d a s D ic k ic h t b a h n te . D a s W a sse r w a r ro stb ra u n u n d R e d H a w k k o n n te d a s B lu t d a rin rie c h e n , fü h le n u n d sc h m e c k e n . »M e in L e h re r u n d B ru d e r im G e iste «, sc h rie d e r G e p ein igte, »w as h ab en sie d ir an getan ? « E r sah sch o n vo n w eitem d as U n h eil, d as ü b er d en W ald h erein geb ro ch en w ar. D e r H irs c h la g im e n g e n B a c h b e tt, d ie U n te rs e ite se in e s K ö rp e r w a r a u fge risse n , d ie G e d ä rm e sc h a u k e l ten im W asser, m it jed er klein en W elle klatsch ten sie an e in e n S te in , w ie im T a k t, a ls w ä re n o c h L e b e n in ih n e n . D e r K o p f d e s e in st so sto lz e n T ie re s h in g h a lb a b ge tre n n t z u r S e ite , d ie A u ge n b lic k te n R e d H a w k sta rr e n tge ge n .T ra u e r la g in ih n e n , a ls w o llte n sie d e n M e d i 20
zin m an n fragen : > W aru m h ast d u m ir n ich t geh o lfen ? W aru m w arst d u n ich t h ier, als d as B ö se E in zu g h ielt in unsere friedliche W elt?< D e r K ö n ig d e r W ä ld e r, d a s G e ist- u n d S c h u tz tie r d e s M e d iz in m a n n e s R e d H a w k v o m S ta m m e d e r L a k o ta , v e re h rt u n d ge lie b t v o n d e n L e b e n d e n , w a r in d ie a n d ere W elt gegan gen . E s w ar n iem an d d a, d er ein letztes G e b e t fü r d e n B ru d e r im G e iste sp ra c h . N ie m a n d , d e r m it d e r a u s tre te n d e n S e e le d ie P fe ife ra u c h te u n d s ie u m V e rz e ih u n g b a t, d a m it sie d e n W e g ü b e r d ie R e ge n b o ge n b rü c k e fin d e n k o n n te , d ie in s L a n d d e r T a u se n d Z e lte fu h rt. R e d H a w k w a r ta u b v o r S c h m e rz . E r s tie g in d e n B a c h , u m a rm te d e n to te n H irsc h u n d w e in te b itte rlic h . D ie T rän en sto lp erten ü b er d as m it B lu t verkru stete F ell u n d v e rm isc h te n sic h m it d e m trü b e n W a sse r. D e r M e d iz in m a n n h o lte se in gro ß e s M e sse r a u s d e r m it b u n te n P erlen verzierten S ch eid e. M it lan gsam en B ew egu n gen sc h n itt e r d e n sc h a rfe n S ta h l d u rc h d ie H a u t se in e r U n terarm e — bis das B lut herausquoll. E s w ar seine A rt, der T ra u e r A u sru c k z u v e rle ih e n , u m d e n se e lisc h e n S c h m e rz a u c h p h y sisc h z u sp ü re n u n d S ü h n e z u tu n fü r d ie Q u a le n , d ie se in e m L e h re r a n ge ta n w o rd e n w a re n , v o n w e m a u c h im m e r. »Die Hirsche gehen in die andere Welt,
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gesagt.«
D e r M a n n stre c k te d ie b lu te n d e n A rm e d e m H im m e l e n tge ge n u n d b e te te : »B ru d e r H irsc h , d u h a st m ic h D e m u t u n d D a n k b a r k e it g e le h rt. D u w a rs t e s , d e r m ic h g ro ß u n d s ta rk im 21
Geiste machte. Ich bin deinen spirituellen Pfaden ge folgt, die mich in Höhen führten, von denen ich nicht zu träumen wagte. Du hast mich Wakan Tanka, dem Großen Geist nahe gebracht, durch dich konnte ich sei ne Liebe und Größe spüren. Du nahmst mir die Angst mit ihm zu reden, dafür danke ich dir. Du führtest mich in die Welt der Geistwesen, dort wo die ewige Liebe zu Hause ist. Durch dich, Bruder Hirsch, lernte ich Getan den Habicht, Mato den Bären und die vielen anderen Tiere kennen, die mich auf meinem roten Pfad beglei teten. Nimm mein Blut als Gabe. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, da du in die andere Welt gegangen bist. Gib mir die Kraft weiterzuleben und an das zu glauben, das unser Leben verbunden hat. Wir sehen uns im Land der Tausend Zelte, dort, wo die Ahnen ihre Tipis aufgeschlagen haben. Die Welt wird einsam sein ohne dich mein Lehrer, Führer und Beschützer. Ich be weine dich wie einen Vater, der aus meinem Herzen gerissen wurde.«
>Was mag mit den beiden geschehen sein, welche Macht hat sie ihm aus den Armen entrissen? Vielleicht sind sie in das Lager zurückgekehrt und suchen mich verzweifelt?< Der Medizinmann lief den Weg zurück, er wollte das Tipi vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Der alte Lagerplatz lag vor ihm, einsam und leer, so, wie er ihn morgens vorgefunden hatte. Sein Volk war nicht zurückgekehrt. Der Medizinmann suchte nach dem Tipi seiner Fa milie.>Irgendwo muss der Schein des Lagerfeuers doch ZU sehen sein<, sagte sich Red Hawk und lief den Platz nach allen Seiten ab. Immer wieder rief er die Namen seiner Frau und seines Sohnes in die Nacht hinaus, aber ihre vertrauten Stimmen wollten nicht antworten. Pa nik ergriff den alten Mann, die Angst um Frau und Kind raubte ihm die Besinnung.
Lange Zeit stand der traurige Indianer regungslos vor dem abgeschlachteten Tier. Dann grub er mit den Hän den ein großes Loch in den Waldboden und legte den blutenden Kadaver in das kühle Grab. Den Kopf trennte er ab und steckte ihn auf den starken Ast einer Eibe, damit die Seele des Hirsches einen Ort habe, an dem sie sich ausruhen und Red Hawk mit ihr die Pfeife rau chen könne. Es war inzwischen dämmrig geworden, der Tag ver abschiedete sich leise und glutrot. Red Hawk dachte mit Sehnsucht im Herzen an One Star und Little Bear. Die Erinnerung an seine Familie ließ seine Seele ver kümmern wie eine Blume im ausgedörrten Flussbett.
Es war noch dunkel, als Red Hawk aus einer tiefen Be wusstlosigkeit erwachte. Der Mond schickte sein fahles Licht auf Mutter Erde und tauchte die Prärie in ein ge spenstisches Licht. Red Hawk wusste nicht, wie lange er im feuchten Gras gelegen hatte. Er spürte die Kälte, die sich in seinen Gliedern eingenistet hatte. Sie wühlte sich durch Muskeln und Knochen, wie Ameisen, die fleißig ihr Tagwerk begannen. Mühevoll erhob sich der geschundene Mann, kaum fähig aufrecht zu stehen, versuchte er Hände und Füße zu bewegen. Der gesamte Körper schmerzte, sein Herz schlug schnell wie eine mächtige Pow-Wow-Trommel und seine Seele krümmte sich vor Angst und Gram. >One Star und Little Bear, ich habe euch im Stich ge lassen, wie mein Volk, das ich verloren habe.<
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Mühsamen Schrittes begab sich der Medizinmann erneut auf die Suche nach seiner geliebten Familie. Da machte er im schwachen Licht des Mondes die hohen Stangen seines Zeltes aus. >Es muss ein furchtbarer Sturm gegangen sein<, dachte Red Hawk, >das Tipi steht nackt da, es ist ohne Bespannung.< Vorsichtig schlich er sich an seine Behausung heran. Der Krieger in ihm flüsterte: »Sei auf der Hut, hier sind böse Mächte am Werk, der Feind könnte nahe sein. Die Falle ist ausge legt und du bist der Köder.« Mit vorsichtigen Schritten trat der Indianer in das Innere des Rundzeltes. Auf den ersten Blick war es leer. Nichts deutete darauf hin, dass hier einmal Menschen gelebt hatten, dass hier gelacht und geliebt wurde. Von One Star und Little Bear fehlte jede Spur, sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Red Hawk schaute sich im Inneren des Tipi um. Er suchte nach den alten Schlafplätzen und fand sein gro ßes Büffelfell, das ihm One Star zur Hochzeit geschenkt hatte. Es war das Fell eines großen, mächtigen Büffels, das Haar war lang und kräftig, das Leder weich und an schmiegsam. Zwei Menschen konnten sich darin mühe los einrollen und den kältesten Schneestürmen trotzen. Das Fell lag unter einem wild wuchernden Gestrüpp, halb zugedeckt mit Erde, auf der die ersten zarten Grä ser wuchsen. Der Medizinmann versuchte es hochzu heben. Er musste kräftig daran ziehen, um es Mutter Erde aus der Umarmung zu entreißen. Das gute Stück zerfiel beinahe in seinen Händen, so brüchig war das Leder geworden. Die Haare rieselten zu Boden, dünn und kraftlos, wie die Nadeln einer Lärche, die sich auf den Winterschlaf vorbereitete.
Red Hawk legte das Fell behutsam auf den Boden zurück, wie einen Toten, der auf dem Schlachtfeld ge fallen war und voller Dankbarkeit noch einmal die Lie be eines Lebenden gespürt hat. Ein paar Schritte weiter hing an einem morschen Ast der traurige Rest des bestickten Lederbeutels, in dem Red Hawk seine heilige Pfeife aufbewahrt hatte. >Die Pfeife, wo ist meine heilige Pfeife geblieben<, schoss es ihm durch den Kopf. Panik ergriff den alten Mann, er begann am gesamten Körper zu zittern. >Oh ne meine Pfeife bin ich kein Medizinmann mehr, sie ist das Zentrum meiner Spiritualität, ihr Rauch verbindet mich mit Wakan Tanka, dem großen Geist. Ohne die Pfeife verliert mein Volk seinen Halt im Universum. Wir sind wie lose Blätter, die vom Sturm durcheinan der gepustet und in verschiedene Richtungen getragen werden. Ohne Pfeife sind wir ohne Glauben und Reli gion, ohne Halt und Werte. Ohne Pfeife hört das Volk der Lakota auf zu atmen, zu leben.< Hastig tastete Red Hawk den Boden nach seiner Pfeife ab. Er suchte unter jedem Stein, bog jeden Gras halm zur Seite. Sie war nicht mehr da. Dafür stieß er in der Mitte des Zeltes auf die Feuerstelle, an der One Star noch am Abend zuvor gesessen hatte, um Fleisch zu kochen. An das glühende Herz inmitten der Be hausung erinnerten nur noch ein paar Steine, die er ahnen ließen, dass sie einmal in einem Kreis um das Feuer gelegen hatten. Und dort, wo noch gestern das Holz inmitten von lodernden Flammen sein Leben gab und die Hitze das Gesicht von One Star zart er glühen ließ, hatte sich eine Pfütze aus schmutzigem Wasser gebildet, auf der verkohlte Holzstückchen schwammen.
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Red Hawk kroch auf allen Vieren die nähere Umge bung der längst erloschenen Feuerstelle ab. Noch immer keimte in ihm die Hoffnung, etwas von seiner geliebten Frau zu finden. Vielleicht eine versteckte Botschaft, die er deuten konnte. Da ertasteten seine Hände einen Ge genstand, den er kannte. Er schälte ihn aus der lehmigen Asche, bis er in seinen schmutzigen Händen lag. Es war die Haarspange seiner Frau, die er selbst aus dem Kno chen eines Büffelkalbes geschnitzt und liebevoll bemalt hatte — der Lieblingsschmuck von One Star. Red Hawk drückte den kalten, abgenagten Knochen an sein Herz. Er war von der Sonne ausgebleicht, die zarten Pinselstriche darauf nur noch blasse Erinnerung. »One Star, warum hast du mich verlassen?«, schluchzte Red Hawk. Von Schmerz gepeinigt, setzte er sich auf den ehemaligen Schlafplatz seiner Frau, ihre Haarspange hielt er weiter an sein Herz gedrückt. »Ich habe keine Kraft mehr«, sagte er. »Ich möchte sterben, hier und jetzt.Wakan Tanka, Großer Geist, hole mich nach Hause, welchen Sinn hat mein Leben auf dieser toten Welt? Ich weiß nicht, was meinem Volk und meiner Familie widerfahren ist, erkläre es mir.«
Etwas abseits des Tipi saß eine alte Frau, eingehüllt in Lumpen, die grauen Haare hingen in Strähnen von ih fem schmalen Kopf. Die Haut war fahl und eingefallen, sie spannte sich wie Pergament um die Knochen der Finger. Die alte Frau wiegte ihr Haupt von rechts nach links und summte dabei unaufhörlich dieses Lied: »Die Brüder gehen in die andere Welt,
dir Winde haben es gesagt,
die Winde haben es gesagt.
Die Brüder gehen in die andere Welt,
Red Hawk hat es so gewollt,
Red Hawk hat es so gewollt.«
Red Hawk schreckte hoch, als er das Lied hörte. »One Star, bist du hier?«, schrie er und sprang auf die Beine. Sein Lebenslicht war in diesem Augenblick eine mäch tige Flamme, entfacht von Hoffnung und Sehnsucht. Er lief in die Richtung, aus der die Worte an sein Ohr gedrungen waren. Er musste nicht lange suchen.
Der Medizinmann kam neugierig näher, als er seinen Namen aus dem zahnlosen Mund der alten Frau hörte. •Was habe ich gewollt?«, fragte er und sah ihr forschend ins Gesicht. Red Hawk hatte Angst, dieses alte Weib könnte One Star, seine hübsche Frau sein. Im ersten Licht der sich ankündigenden Sonne konnte der Medi zinmann die Augen der Fremden nur schwer ausma chen. >Es ist nicht One Star<, stellte er erleichtert fest und ein zartes, kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über seine Lippen. »Was habe ich gewollt, alte Frau?«, wiederholte er »eine Frage. »Sage mir, welchem Stamm gehörst du an? Wo ist dein Volk und was weißt du von mir und meiner Familie?« Die Alte beendete ihren Gesang und sah zu Red Hawk hoch, mit leeren Augen, die tief in den Höhlen lugen.
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»Die Brüder gehen in die andere Welt,
die Winde haben es gesagt, die Winde
haben es gesagt.«
>Sie muss wirklich sehr alt sein<, dachte der Indianer, als sie zu sprechen begann. »Du bist Red Hawk, Medizinmann vom Stamme der Lakota«, sagte sie mit leiser, dünner Stimme und die Worte verloren sich in ihrem rasselnden Atem. Ihre schmale Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, die alte Frau bekam nur schwer Luft. >Eigenartig<, sagte Red Hawk zu sich, >ihr Lied konn te ich klar und deutlich hören, als wollte sie mich damit anlocken, und jetzt spricht sie so leise, dass ich ihre Worte kaum verstehen kann. Wer ist diese unheimliche Alte?< »Du fragst dich, wer ich bin?«, entgegnete die Frau. »Ich will es dir sagen. Ich bin die Zeit und es ist lange her, da ich so jung und hübsch war wie deine Frau One Star. Du hast mich so alt und schrecklich hässlich gemacht. Ich müsste dich dafür hassen, aber dein Herz weint ge nug bittere Tränen über den Verlust deiner Familie und die toten Augen des Hirsches sind ein Teil von dir selbst geworden. Tot und gebrochen, vergänglich, wie dein Volk und deine Pfeife, die nicht mehr heilig ist. Selbst der Büffel ist dem Menschen nicht mehr heilig genug. Er hat Mutter Erde verlassen, um sich aufzumachen in eine Welt, in der die Zeit noch unverbraucht ist.« Red Hawk lauschte atemlos den Worten der alten Frau. >Sie kann nicht verrückt sein<, dachte er, >dafür weiß sie zu viel.< »Erzähle mir mehr über mein Volk und meine Fami lie«, bat er die Alte. »Du weißt, welchen Weg sie einge schlagen haben und wo ich sie treffen kann. Mein Herz weint nicht nur bittere Tränen, ich habe mein Liebstes 28
auf dieser Welt verloren. Mein Leben ist sinnlos gewor den, der Große Geist hat mich verstoßen.« Die alte Frau wiegte erneut ihren Oberkörper hin und her, wie ein dünner Baum, mit dem die Winde ih re verbotenen Spielchen trieben. »Mein Leben ist sinnlos, der Große Geist hat mich verstoßen«, wiederholte sie die Worte des Medizinman nes. »Du hast dein Volk und deine Familie ins Verderben geführt«, sagte sie und ihre Stimme wurde um eine Tonlager schriller und höher. »Sie sind an mir vorbeige zogen, hier, direkt vor meinen Füßen. Dein Sohn sah »ich nach dir um, er hatte gehofft, du würdest ihm und One Star folgen, aber du hattest eine Verabredung mit mir. Du konntest deinem Volk nicht helfen. Die Lakota sind von dieser Erde gegangen und mit ihnen die Spi rits und alle Gedanken und Worte, die ihnen heilig wa ren. Sie haben nichts zurückgelassen, bis auf ein brüchi ges Büffelfell und eine von der Sonne ausgebleichte Haarspange. Andere Menschen werden kommen und euren Platz einnehmen. Die Tage, in denen die Zeit noch unschul dig war und das Leben deines Volkes dahinschwebte wie die Flaumfeder des Adlers, sie sind gezählt. Du hast die Zeichen, die ich dir schickte, nicht erkannt, du hast mich so alt gemacht.« Ihre letzten Worte endeten in einem hysterischen Luchen. Es schwoll an wie ein Bach, den der Regen zu einem reißenden Fluss werden ließ. Das kreischende Gelächter schmeckte nach Blut und Rache, nach Ver geltung, Trauer und Tod. Schwarze Wolken türmten sich am Himmel auf, Donner grollten, Blitze fuhren in die Erde. Die alte Frau begann sich im Kreise zu drehen, schneller und 29
schneller. Eine gewaltige Kraft packte Red Hawk, schleuderte ihn hoch in die Lüfte. Von oben konnte er sehen, wie das Weib seine menschliche Gestalt verlor und zu einem wirbelnden Orkan wurde. Die Windhose ergriff den hilflosen Mann und riss ihn mit. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren, sie ver schwand in einer Welle der Vernichtung am Horizont, folgte den Spuren der Lakota, hinüber in die andere Welt. »One Star, Little Bear, mein Volk - für immer verlo ren. Ich liebe euch.« Red Hawk schloss die Augen und erwartete den Tod.
ken, dass er das Tipi verließ. Es war noch dunkel draußen. Die Nacht umfing den Jungen, der mit großen Schritten zum Versammlungs platz eilte. Dort wartete bereits sein Freund Running Bird auf ihn. Die beiden Indianerjungen hatten sich verabredet. Sie waren Blutsbrüder, Kolas, Freunde fürs Leben. Jeder war bereit, das Leben für den anderen zu opfern. Sie wollten an diesem Tag heimlich das Lager verlas sen und ihre erste Heldentat begehen — die Pferde ihrer Feinde, der Ute, stehlen. Viele Monde lang hatten sie darüber gesprochen und Pläne geschmiedet. Es war ein gefährliches Unterneh men. Die Ute lagerten einige Tagesritte entfernt im Sü den, keiner der beiden Jungen kannte den genauen Weg durch das Feindesland. Sollten sie von den Ute beim Diebstahl ertappt werden, war ihnen ein schmerzvoller Tod sicher. Little Bear und Running Bird hatten sich in einer versteckten Senke außerhalb des Lagers ein Vorratsde pot angelegt. Getrocknetes Büffelfleisch und süße, in Fett getauchte Beeren. Sie stopften ihre Packtaschen voll. Ein letzter Blick auf das Lager, dann schwangen sie sich auf die Rücken ihrer Ponys und jagten im ge streckten Galopp hinaus in die endlose Prärie. Die Jungen waren nur leicht bewaffnet. Jeder von ihnen
Bear schlich sich leise aus dem Zelt. Seine Little Eltern schliefen tief und fest, sie sollten nicht mer 30
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trug ein Messer und um die Schulter baumelte der Bogen. Seitlich im Lederköcher steckten eine Hand voll Pfeile. »Unsere Familien werden sich Sorgen machen«, sagte Running Bird, nachdem sie eine Weile geritten waren. Little Bear streckte seine Brust nach vorne und antwor tete: »Sie empfangen uns mit Jubelschreien, wenn wir mit den Pferden der Ute nach Hause kommen. Wir müssen unsere Heldentaten am Feuer erzählen, wie es die Krieger unseres Volkes tun. Die Alten sitzen im Kreis und nicken anerkennend mit den Köpfen. Sie rei chen uns die Pfeife, damit wir schwören, dass es so pas siert ist.« Glutrot schob sich die Sonne aus der Tiefe des Hori zonts in den Himmel über der Prärie. Ein neuer Tag war angebrochen für zwei kleine Helden, die furchtlos ihren Weg gingen, um tapfere Krieger zu werden. Little Bear ritt vorneweg, Running Bird musste sein Pony immer wieder antreiben, um dem Tempo seines Freundes folgen zu können. Pferde stehlen war für die Lakota keine Straftat, vielmehr ein heiliger Akt, den die Geistwesen wohlwollend begleiteten. Die beiden Indianerjungen waren bereits Stunden unterwegs. Die Sonne stand als glühender Feuerball über ihnen am Himmel, Tier und Mensch wurden mü de. Little Bear suchte nach einem geeigneten Lager platz. Er fand ihn am Rande eines kleinen Hügels, der sich aus der Weite der Steppe erhob. Dort gab es Wasser und zahlreiche Bäume, die den Reisenden wohltuenden Schatten spendeten.
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Die Jungen stiegen von ihren schweißnassen Ponys. Sie luden die Packtaschen ab und pflockten die Tiere an. Little Bear und Running Horse sprachen dabei kein Wort, diese Arbeit war ihnen längst zur Routine ge worden. Anschließend legten sie sich ins Gras. Die grü nen Halme empfingen die müden Körper, betteten sie weich und sanft, um ihnen einen erholsamen Schlaf zu ermöglichen. Little Bear wusste, dass sein Pony ihn sofort wecken Würde, sollte Gefahr drohen. Deshalb schloss der Junge ermattet die Augen und schlief sofort ein. Er träumte von einer weißen Wolke, die vom Him mel herabschwebte. Kurz bevor sie die Erde berührte, verwandelte sich die Wolke in einen Falken. Der Vogel letzte sich auf den Ast einen Baumes und beobachtete •ine Zeit lang die schlafenden Indianerjungen. »Willst du ein Stück mit mir fliegen?«, fragte der Fal ke Little Bear. »Gerne«, antwortete dieser und schwang lieh auf den Rücken des wunderbaren Greifvogels. »Wohin geht die Reise?«, wollte er wissen, während der Falke seine Flügel ausbreitete und sich in die Lüfte erhob. »Wir reisen an einen Ort, an dem Träume Wirk lichkeit werden«, sagte er und seine Stimme bekam ei nen Hauch von Traurigkeit. »Warum die Trauer in deinem Herzen?«, fragte Little Bear verwundert. »Träume, die zu Leben werden, sind Geschenke des wahren Glücks.« »Das Glück geht oft dornige Wege«, antwortete der Falke. »Es bedarf einer gewissen Zeit, bis es in unsere Her zen Einzug hält.« Er schraubte sich mit kräftigen Flügelschlägen hoch in den Himmel, wo sie gemeinsam dem Horizont ent 33
gegenschwebten, getragen von den vier Winden, be gleitet von den guten Wünschen des Universums. »Wo ist dieser geheimnisvolle Ort, an dem Träume Wirklichkeit werden?« »Wir befinden uns mitten in ihm«, antwortete der Falke. »Sieh nach unten und du wirst meine Worte ver stehen.« Little Bear blickte in die Tiefe und erschrak. Unter sich sah er viele Menschen, die wehklagend dem Ho rizont entgegenmarschierten. Geschundene Indianer ohne Heimat, verfolgt und gedemütigt. »Das ist mein Volk«, sagte Little Bear erschrocken, nachdem der Falke an Höhe verloren hatte und der Junge in die Gesichter der weinenden Kreaturen schau en konnte. »Ich erkenne meine Familie«, schrie der Jun ge aufgeregt. »Sie sind in Lumpen gehüllt, die ich nicht kenne, wo ist ihre festliche Kleidung?« »Es ist ein Marsch der Tränen«, antwortete der Falke. »Dein Volk verlässt Mutter Erde. Die Lakota gehen in die andere Welt, zu den Ahnen, die bereits auf deine Lieben warten.« »Warum? Wir müssen meinem Volk helfen. Bitte, lass uns sie aufhalten, ich muss meine Familie retten«, flehte Little Bear. »Eine fremde Macht nistete sich in die Herzen der Menschen ein«, sagte der Falke. »Die alten Werte wur den vergessen, Neid und Hass hielten Einzug in die Zelte, in denen einmal die Liebe zu Hause war.« Little Bear hörte kaum auf die Worte des Falken. Er sprang von dessen Rücken und landete inmitten der Menschen, die ihm einst so vertraut waren. Der Junge versuchte sie aufzuhalten. Er stellte sich den Frauen und Männern in den Weg, doch die beachteten den ver
zweifelten Jungen nicht. Little Bear war für sie wie ein Geist, sie gingen durch seinen Körper hindurch. »Komm«, sagte der Falke zu dem Jungen, »ich muss dir noch etwas zeigen«. Little Bear schwang sich erneut auf den Rücken des Vogels. Sie flogen zu dem nahen Wäldchen, in dem Little Bear mit Running Bird den Erdhörnchen nachstellte. »Siehst du dort unten den verzweifelten Mann, der den ermordeten Hirsch beweint?«, fragte der Falke. »Es ist dein Vater Red Hawk. Selbst er, der starke Medizin mann, ist machtlos gegen die Kälte, die Einzug gehalten hat in dem Land, das dem roten Mann geweiht war.« Little Bear beobachtete durch die Wipfel der Bäume, wie sein Vater das tote Tier umarmte, um es anschlie ßend in den Schoß von Mutter Erde zu legen. Der Jun ge sah die Verzweiflung und die Angst in den Augen von Red Hawk. »Warum kann ich nicht zu ihm?«, fragte der Junge. »Warum bin ich wie ein Geist für die Menschen, dass sie mich nicht sehen und hören können?« »Wir befinden uns in einem Traum«, erwiderte der Falke. »Die alltägliche Wirklichkeit ist aufgehoben. Es ist der Traum deines Vaters, der uns einlud, durch Zeit und Raum zu fliegen, um das zu erleben, was ihr Men schen die Zukunft nennt. Red Hawk hat mit seinem Traum diese Zukunft aus dem Schlaf gerissen. Er hat sie zum Leben erweckt und damit das Schicksal deines Vol kes und das der heiligen Dinge besiegelt.« Untätig musste Little Bear mit ansehen, wie sein Va ter zerschunden und blutig in das ehemalige Lager sei nes Volkes zurückkehrte. Er sah ihn verzweifelt nach der heiligen Pfeife suchen und hörte das irre Lachen der alten, zahnlosen Frau.
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»Das ist nun der Ort, an dem Träume Wirklichkeit werden«, sagte Little Bear mit bebender Stimme. »Ich hatte mir diesen Ort glücklicher vorgestellt.« »Das Glück geht oft dornige Wege«, antwortete der Falke. »Wir müssen lernen Vertrauen zu haben, das Glück stellt die Menschen oft auf eine harte Probe. Wer Geduld und Vertrauen aufbringt, dem fliegt es zu und weicht nicht mehr von seiner Seite.« »Wie kann ich Glück empfinden, wenn ich sehe, wie das Schicksal meines Volkes durch einen Traum grausa me Wirklichkeit wird?«, entgegnete Little Bear. »Träume sind Gedankenbilder«, antwortete der Vogel. »Sie entspringen deiner inneren Welt, aus der du deine individuelle Realität gestaltest. Schön und anmutig oder düster und traurig. Du hast die Möglichkeit den Traum von Red Hawk ungeschehen zu machen.« »Ich kann mein Volk und die heiligen Dinge vor dem Untergang retten?«, fragte Little Bear. »Erzähle mir, was habe ich zu tun, um meine Familie wieder glücklich zu machen?« Der Falke blieb dem Jungen die Antwort eine Weile schuldig, ehe er sagte: »Du musst nach dem ewigen Licht suchen. Finde die Flamme, die nie erlischt, sie ist der Schlüssel für deine Sehnsucht.« »Ich mache mich gerne auf, nach diesem Licht Aus schau zu halten, wenn du mir sagst, wo ich mit der Su che beginnen soll«, meinte Little Bear. »Blicke über den Rand des Canons«, belehrte ihn der Vogel. »Mutter Erde ist von Wüsten, Eis und Meeren bedeckt, die Menschen leben auf den Gipfeln der höchsten Berge. Das ewige Licht vermag in der kleins ten Hütte ein Feuer zu entfachen, so hell und strahlend, dass die größten und schönsten Paläste in seinem Schat 36
ten verschwinden. Du musst die weisen Frauen und Männer aufsuchen, die mit den Geheimnissen des Uni versums vertraut sind. Sie können dir sagen, wohin der Weg dich fuhren soll.« Little Bear überlegte lange. Die Worte des Falken be unruhigten ihn. »Ich soll meine Familie und das Land meiner Ahnen verlassen, um das ewige Licht zu fin den?«, fragte er voller Zweifel. »Wer seinem Volk und den heiligen Dingen dient, wird Großes vollbringen«, antwortete der Vogel. »Ver traue dem Lauf des Lebens, die Geistwesen haben auf deinen Wegen Blumen gestreut. Suche die Flamme und befreie deinen Vater von einer Last, die schwer auf sei ner Seele lastet. Warte nicht auf das Unvermeidliche, das Leben zeigt dir den Weg zu vielen Toren. Öffne sie und trete ein in das Reich der Sehnsüchte und Wünsche. In meinem Schatten darfst du gefahrlos wachsen.« Der Falke flog zurück in die Welt der Phantasie, die Little Bear mit seinen Gedanken gemalt hatte. »Dies ist dein Traum«, sagte der Vogel. »Bewahre ihn in deinem Herzen, er wird dir auf deinen weiteren Reisen noch dienlich sein.« »Wirst du mich begleiten?«, fragte der Junge den Fal ken. Dieser antwortete: »Mein Geist hat dein Herz um Einlass gebeten. Beherberge ihn gut und rufe, wenn du meine Hilfe benötigst.«
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Bear erwachte aus einem kurzen Schlaf. Er Little schaute sich um und beobachtete die Ponys, die friedlich neben ihm grasten. Sie fühlten keine Gefahr. Er weckte seinen Freund Running Bird. Der Junge war sofort hellwach. Er sprang auf, sattelte sein Pferd und war wenig später bereit weiterzuziehen. Verwundert blickte er auf Little Bear, der im Gras saß und mit großen Augen in den Himmel starrte. »Los«, sagte er, »wir müssen weiter. Der Tag ist noch hell, die Spuren der Ute sind nicht zu übersehen, wir folgen ih nen bis zur Quelle. Ich habe den Duft ihrer Pferde be reits in meiner Nase, riechst du ihn auch?« »In meinem Herzen hat sich der Geist eines Falken eingenistet«, antwortete Little Bear. »Er hat mich auser koren unser Volk zu retten, ich darf mit dir nicht wei terreiten. Ich muss nach dem ewigen Licht suchen.« Running Bird schaute seinen Freund ungläubig an. »Hat mein Bruder zu lange in der Sonne gelegen?« »Ich kann dir das nicht erklären, ich weiß, das ist sehr schwer zu verstehen. Reite bitte nach Hause zu unse rem Volk und sage meinem Vater, dass ich gesehen habe, wie er den Hirsch beweinte und ihn in den Schoß von Mutter Erde legte. Erzähle ihm, dass ich mich aufma che, den Traum zurückzuholen, um unser Volk und die heiligen Dinge zu retten. Red Hawk wird mich verste hen.« Nur zögerlich schwang sich Running Bird auf sein Pony. »Reite, so schnell du kannst«, sagte Little Bear zu 39
ihm, »schone dein Pony nicht. Sage meinen Eltern, dass ich wiederkommen werde.« Running Bird stieß einen lauten Schrei aus, wendete sein Pferd und jagte den Weg zurück, den sie her gekommen waren. Little Bear blickte der Staubwolke nach, die Running Bird hinter sich herzog. »Zweifle nicht an deiner Aufgabe«, sagte eine Stimme, die Little Bear schon einmal gehört hatte. >Der Falke, es gibt ihn wirklich<, dachte er. >Es war also kein Traum. < »Mein Geist ist zu deinem Herzschlag geworden«, entgegnete der Falke. »Wir sind mehr als Brüder, ich bin ein Teil von dir, deine Seele ist meine Seele, dein Blut ist mein Blut. Du besitzt die Kraft und die Schnel ligkeit eines Falken, behüte und denke an sie voller Dankbarkeit.« »Bin ich auch in der Lage, die Lüfte zu erobern wie ein Falke?«, wollte Little Bear wissen. Die Frage löste in ihm eine gewisse Heiterkeit aus. Ein Mensch, der zum Vogel wird — das gab es nur in den Erzählungen der Alten. Sein Vater hatte ihm die Geschichte eines heiligen Mannes erzählt, der sich in einen Vogel verwandeln konnte. Er stieg hoch in die Lüfte und überquerte Wüsten und Ozeane. »Dieser Mann war wie ein Geist«, hatte Red Hawk gesagt. »Den Menschen begegnete er zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten. Er sprach mit ihnen und heilte sie von ihren Krankheiten.« Little Bear hatte den Erzählungen seines Vaters wenig Glauben geschenkt, sie waren jedoch schön anzuhören. Darum überraschte ihn die Antwort des Falken, als die ser sagte: »Wir, die Vögel waren es, die den Menschen ihre Seele eingehaucht haben. Der Große Geist gab uns 40
den Auftrag dazu. Unser Atem machte sie zu Bruder wesen und verlieh ihnen große Kräfte. Sie ruhen in dir, rufe und aktiviere sie — und du kannst fliegen.« Little Bear lauschte den Worten des Falken. Er spürte, wie sein Blut pulsierte und die letzten Zweifel aus sei nem Herzen gewaschen wurden. Eine Woge des Glücks durchströmte seinen Körper. Er war bereit, die Suche nach dem ewigen Licht aufzunehmen. Ausgelöscht war der wilde Krieger, der den Ute die Pferde stehlen woll te. Der Indianerjunge wusste nun um die Bedeutung seiner Mission, das Volk der Lakota und ihre heiligen Dinge vor dem Vergessen zu bewahren. Er stieg auf sein Pony und machte sich auf den Weg.
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Bear war seit vielen Monden unterwegs. Er Little hatte den Weg nach Süden eingeschlagen, in der Hoffnung, hier auf einen weisen Mann zu stoßen, der ihn zum Ziel seiner Reise fuhren würde. Koter Sand hatte die Prärie mit ihrem saftigen Gras abgelöst. Nur vereinzelt wuchsen Büsche und Sträucher aus dem ausgetrockneten Boden. Es waren keine Blätter an den dürren Ästen und Little Bear fragte sich, wie es die Pflanzen schafften, am Leben zu bleiben. »Sie lieben Mutter Erde«, belehrte ihn der Falke. »Diese Sträucher fristen ihr karges Dasein in Demut und Hingabe mit den Naturgewalten. Sie sind zufrie den. Ein Busch in der Wüste kann kein kraftstrotzender Baum in den Wäldern deiner Heimat werden.« »Was hindert ihn daran?«, wollte Little Bear wissen. Der Falke antwortete: »Er hat Vertrauen zu sich selbst und er liebt die Einsamkeit. Dieser Busch ist ein Ere mit, der die Weisheit in sich selbst sucht und der erfah ren hat, dass wenige Tropfen Wasser das größte Glück auf Erden bedeuten.« Erneut ging ein Tag zur Neige. Little Bear blickte mit Staunen auf die mächtigen Felsen, die sich wie Don nerwesen aus der staubigen Landschaft erhoben. Die Sonne hatte sie in glutrote Farbe getaucht. Die Steine leuchteten wie die Seele eines Feuers. Little Bear suchte nach einer geeigneten Unterkunft für sich und sein tapferes Pony, als er in der Ferne ein 43
fremdartiges Tipi bemerkte. Neugierig ritt der Lakota Junge näher. Es war ein Haus, gebaut aus Holz und Erde. Zwei alte Frauen saßen davor und unterhielten sich. Sie blickten kurz hoch, als Little Bear vor ihnen sein Pony anhielt und abstieg. Die Frauen spürten, dass von diesem jungen Mann keine Gefahr ausging. »Suchst du Futter und Wasser für dein Pferd?«, fragte die eine und lächelte freundlich. Sie trug ein Kleid aus Wolle, an dem kleine blaue Steinchen in der untergehenden Sonne funkelten. Auf fällig war die schwere glänzende Kette, die um ihren Hals lag. In sie waren ebenfalls blaue Steine eingearbei tet. »Ja«, antwortete Little Bear, »der Ritt war lange und staubig und meine Wasservorräte sind aufgebraucht.« »Führe dein Pferd hinter das Haus und gehe den Pfad entlang, da findest du Wasser und frisches Gras«, sagte die Alte und fügte hinzu: »Großvater wartet bereits auf dich.« >Frisches Gras in dieser kargen Landschaft<, dachte der Junge und schüttelte ungläubig den Kopf. Er nahm sein Pony am Zügel und führte es hinter das hölzerne Haus. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. Vor seinen Augen breitete sich im Dämmerlicht des beginnenden Abends ein Canon aus. Schemenhaft er kannte er mächtige Felswände, die links und rechts in den Himmel ragten. Adler ließen sich von den letzten warmen Winden, die von der Erde aufstiegen, nach oben tragen. Mit ihren lauten Schreien hießen sie den Jungen willkommen. In der Mitte der breiten Schlucht schlängelte sich ein Bach, an dessen Ufer saftig grünes Gras wuchs. Für den müden Wanderer, der seit Tagen heißen Staub schlu44
cken musste, war dieses Tal ein Wohnort der Götter. Little Bear führte erst sein Pony zur Tränke, bevor er selbst das Wasser in kleinen Schlucken durch seine aus getrocknete Kehle laufen ließ. Der Junge ließ Shuunka trinken und grasen, er selbst folgte dem Lauf des Baches. Das kühle Wasser hatte seine Lebensgeister geweckt. Der Junge erfreute sich an dem saftigen Grün der Grä ser und beobachtete fasziniert, wie die Blätter an den Büschen und Bäumen im abendlichen Winde tanzten, beleuchtet von Tausenden funkelnden Sternen. »Zu Hause war dir die schlichte Schönheit eines Grashalms nie aufgefallen«, sagte der Falke, »und wann hat ein im Wind tanzendes Blatt je dein Herz gerührt?« »Du hast Recht«, antwortete Little Bear. »Ich musste meine Spuren erst in den Staub der Fremde setzen, um die Anmut eines Blattes im Herzen zu begreifen. Meinst du nicht auch, dass dies ein geeigneter Ort wä re, das ewige Licht zu finden?« »Große Dinge geschehen, wenn man sie nicht erwar tet«, antwortete der Falke. Little Bear wollte ihm ant worten, als er in naher Entfernung ein schwach be leuchtetes Tipi stehen sah. Aus dem Inneren des Zeltes hörte er eine zarte Stimme, die zu den dumpfen Schlä gen einer Trommel sang. »Der heilige Mann«, sagte Little Bear und in diesem Augenblick fielen ihm die Worte der alten Frau wieder ein, die ihn vor dem Haus begrüßt hatte. »Großvater wartet auf dich«, hatte sie gesagt. Ehrfurchtsvoll ging Little Bear an das Tipi heran. Es war mit Figuren und Ornamenten bemalt, die er nicht kannte. Kreise und Ringe, die ineinander übergingen, dazwischen standen Figuren mit kurzen Beinen und
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lang gestrecktem Oberkörper. Auf viereckigen Köpfen trugen sie Federn. Little Bear verharrte eine Weile vor dem Eingang. Er wagte kaum zu atmen, so aufgeregt war er. Die Trom mel verstummte. Es wurde still, bis die Stimme aus dem Inneren des Zeltes sagte: »Trete ein.« Little Bear schob die Decke zur Seite und betrat das fremde Tipi. Das Feuer in der Mitte warf flackernde Schatten auf die Zeltwände, der alte Mann hockte auf dem Boden, die Beine hatte er leicht angezogen. Mit einer Handbewegung deutete er Little Bear an, sich zu setzen. Der Junge nahm ihm gegenüber Platz. Aufmerksam betrachtete er den alten Mann. Er hatte große Ähnlichkeit mit den Alten seines Volkes. Nur wa ren die langen grauen Haare nicht zu Zöpfen gebun den. Dieser Großvater hatte sie mit einem bunten Tuch gebändigt, das um die Stirn gebunden war. Der alte Mann schaute Little Bear fragend an. »Die heiligen Dinge sind in Gefahr«, brach der Junge das Schweigen. »Mein Volk geht in die andere Welt und gerät in Vergessenheit und mit ihm der Büffel und der Hirsch, die unsere Brüder sind. Mein Vater hat es ge träumt.« Der Alte nickte kaum merklich mit dem Kopf. »Die heiligen Dinge sind stets in Gefahr vergessen zu wer den«, antwortete er. »Wie kann ich dir helfen?«, fragte er Little Bear. »Ein Falke sagte mir, ich müsse das ewige Licht su chen, die Flamme, die nie erlischt. Durch sie könnte ich den Traum meines Vaters ungeschehen machen und mein Volk vor dem Untergang retten. Dies ist meine Aufgabe und ich frage dich, Großvater, kannst du mir sagen, wo ich das Licht finden kann?«
»Du hast dir eine schwere Bürde auf deine Schultern gehoben«, antwortete der alte Mann. »Dieses Licht zu finden ist nicht einfach. Schon viele haben sich auf die Suche danach gemacht und sind dabei kläglich geschei tert. Ihnen fehlte es an Demut. Das Licht zeigt sich nicht jedem, es ist äußerst wählerisch. Es hat die Gabe, sich überall verstecken zu können, selbst im kleinsten Kreis am Ende des Regenbogens. Wir, vom Stamme der Diné, gehen eigene Wege auf der Suche nach der Flamme, die auf ewig in den Her zen der Menschen lodern möge, um die heiligen Dinge nicht zu vergessen.« Der Mann öffnete einen Lederbeutel und holte ein Tuch hervor. Darin war eine braune Frucht eingewi ckelt, die der Alte mit seinem Messer in mehrere Schei ben schnitt. Dazu sang er ein Lied. Anschließend hielt er jede einzelne Scheibe hoch gegen den Himmel und murmelte ein Gebet. »Iss«, sagte er zu Little Bear und reichte ihm eine Scheibe. »Die Geistwesen gaben uns diese Frucht, damit wir ihre Sprache sprechen können.Wer sie in Demut zu sich nimmt, der taucht ein in die Welt, die jenseits der Wirklichkeit liegt.« Little Bear nahm die Frucht und steckte sie in den Mund. Sie schmeckte bitter und hatte einen unange nehmen Geruch. Der Junge verspürte großen Hunger und ein saftiges Stück Büffelfleisch wäre ihm lieber ge wesen, als diese ausgetrocknete bittere Frucht, die sein Magen nur widerwillig aufnahm. Der alte Mann gab Little Bear drei Scheiben davon zu essen. Anschließend griff er zur Trommel und begann das Instrument zu be spielen.
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Little Bear verspürte eine leichte Übelkeit, bevor seine Gedanken in einem Meer aus Farben und Lichtern ver sanken. Er hörte die Trommel, die mit jedem Schlag eine andere Melodie spielte. Aus den dumpfen Tönen vernahm er Kinderstimmen, die von weit her kamen, um ihm ein Lied zu singen. Von diesen Tönen getragen, sah er zwei Jungen, die vor einer steilen Felsenklippe standen. Sie hatten ein langes, aus Pferdehaaren geflochtenes Seil in den Hän den. Die beiden blickten in die Tiefe und deuteten auf zwei junge Adler, die in einem Horst hockten. »Wir klettern hinunter und holen die Adlerküken«, sagte einer der Jungen. »Wir nehmen sie mit nach Hau se und ziehen sie groß. Später töten wir die Vögel und tauschen ihre Federn gegen Waffen und Pferde ein.« Der zweite Junge nickte und antwortete: »Wer von uns beiden will den Abstieg wagen?« »Du«, sagte der Freund. »Ich bin schwerer und kräfti ger, ich vermag dich besser zu haken.« Little Bear schwebte in einem Raum, den er bisher noch nie betreten hatte. Er fühlte sich leicht wie eine Feder, die auf einem Luftpolster schaukelte. Er war ohne Körper, aber er konnte sehen und fühlen, er hör te jedes Wort, das die beiden Jungen unter ihm spra chen. Er beobachtete sie aus der Luft. >Ich bin zu hoch<, dachte er, >ich muss tiefer kommen, damit ich sie aus nächster Nähe sehen kann.< Im Nu war Little Bear den beiden so nahe, dass er je des einzelne Haar auf ihren Köpfen erkennen konnte. >Ich bin wie ein Geist mit den Augen eines Falken<, dachte er und betrachtete das Gesicht des kräftigen Jun gen, der das Seil hielt.
l )er andere hatte den Strick um seine Brust gebun den und kletterte vorsichtig die steile Felswand hinab. Little Bear konnte seinen keuchenden Atem hören. Er betrachtete den Jungen näher und erschrak — er selbst war es, der am Seil über dem Abgrund hing. Panik er griff ihn. Verzweifelt versuchte er den Jungen am Arm zu packen oder seinen Füßen einen sicheren Halt zu geben. Doch der spürte die Hilfe nicht. >Was mag geschehen, wenn dieser Junge die Felswand hinunterstürzt und mit zerschmettertem Körper liegen bleibt?<, fragte sich Little Bear. >Bin ich, sein Geist, ebenfalls dem Tode geweiht oder besitzen Gedanken eine Seele, die sie weiterleben las sen? Ist eine Seele in mir, die mich unabhängig von diesem schmächtigen, gebrechlichen Körper macht — bin ich unsterblich? Ist dieser Junge mein zweites Ich oder bin ich lediglich ein Gedanke, der sich aufmachte, andere Welten zu entdecken? Schickte er mich los oder habe ich mich losgerissen aus seiner Seele, die mir ein goldener Käfig war? Warum dieser Freiheitsdrang, diese Sehnsucht nach der Unabhängigkeit, dort, wo die alltägliche Wirklich keit Flügel bekommt? Ist die Welt der Geistwesen die bessere Welt? Fliehe ich vor der Wirklichkeit, weil sie mir feindlich gesinnt ist und ich nach der Freiheit trachte, oder fliehe ich vor dem Unbequemen, weil ich nicht den Mut habe, das Leben mit seinen Grenzen und Gesetzen zu akzeptieren? Kann dieser Junge ohne mich überleben? Ich fühle mich für ihn verantwortlich. Ich kehre zu ihm zurück und löse mich in seiner Seele auf. Nicht für die Ewigkeit, denn meine Grenzen sind wei ter gesteckt als die des Jungen.<
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»Ich habe es geschafft«, rief Little Bear seinem Freund zu, als er festen Boden unter den Füßen verspürte. Stolz blickte er hinauf, um sich den verdienten Applaus abzu holen. Doch statt des Freundes lugte das Gesicht einer alten Frau mit steinernem Gesicht über den Rand der Felsenklippe. Little Bear erschrak und rief: »Kola, mein Freund, was ist da oben geschehen?« Die Alte antwortete mit irrem Gelächter. Sie nahm das rettende Seil und warf es in die Tiefe. »Deine Suche nach dem ewigen Licht hat hier ein Ende«, rief sie Little Bear zu. »Im Horst wirst du die Flamme nicht finden und Red Hawk wird seinen Traum weiterträumen dürfen.« Der Junge blickte sich hilflos um. Er war von steilen Wänden umzingelt und unter seinen Füßen gähnte der tödliche Abgrund.Von hier gab es ohne Hilfe kein Ent rinnen. Angst ergriff den Jungen. Der schmale Felsvorsprung, auf dem er stand, führte geradewegs zum Horst. Wenn er nicht in die Tiefe stür zen wollte, musste er den Weg dorthin wagen. Aber was dann? Wie sollte er sich ohne Waffen gegen die alten Adler zur Wehr setzen? >Sie werden mich töten<, dachte Little Bear. >Sie wer den Rache dafür nehmen, dass ich ihre beiden Küken aus dem Nest holen wollte. Hier endet also meine Reise auf der Suche nach dem ewigen Licht. Welche Ironie des Schicksals. Ich zog aus, um mein Volk und die heiligen Dinge vor dem Vergessen zu retten. Und ausgerechnet der heilige Adler, den wir Wanblee Gleshka nennen, wird meinem Leben ein Ende setzen und dem Traum meines Vaters neue Nahrung geben.< Die beiden Küken beobachteten den Jungen mit neugierigen Blicken. Little Bear hob die Hände gegen
Süden und betete: »Wakan Tanka, Großes Geheimnis, erbarme dich meiner. Ich weiß, ich habe Unrechtes ge i.in. Aber hilf mir, den tödlichen Fängen der Adler zu entfliehen.« Dann wandte er sich dem Horst zu und sagte zu den beiden Jungvögeln: »Ich habe euch fangen und töten wollte. Es ist nicht recht, aus Habgier junges Leben aus /ulöschen. Sollte ich hier mein Leben lassen, werde ich als Vogel weiterleben und diese Botschaft den Men schen bringen. Es ist nie zu spät für die Wahrheit.« Little Bear fühlte sich erleichtert und gestärkt. Da war ein Vertrauen, das er so noch nie gespürt hatte.Vor sichtig tastete er sich an den Horst heran. Die jungen Adler rückten zur Seite und Little Bear setzte sich in das riesige Nest, das mit Zweigen, Gras und Federn ausgelegt war. »Ich werde dem Tod mutig entgegenblicken«, sagte der Junge laut. »Ich habe keine Angst«, schrie er und der l lall des Echos trug seine Stimme ins Land. Es dauerte nicht lange, da erfüllte ein Rauschen und Pfeifen die Luft. Die Eltern waren von der Futtersuche zurückgekehrt. Während das Männchen über dem Nest kreiste und laute Schreie ausstieß, landete das Weibchen im Horst. Little Bear erwartete sein Ende. Das Herz raste, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. An den Tod denken ist eine Sache, ihn vor Augen haben aber die größte seelische Folter. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er jede Bewegung des großen Vogels. Das Weibchen hatte FutUT, einen kleinen toten Vogel für ihre Brut im Schna bel. Aufgeregt hüpfte sie am Rand des Horstes von ei nem Bein auf das andere. Sie drehte ihren Kopf unruhig hin und her, dabei ließ sie Little Bear keine Sekunde
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aus den Augen. Er fühlte sich von dem Blick des Vogels wie an den Marterpfahl gebunden. Nach einiger Zeit legte der Adler seinen Küken den Kadaver zum Fraß vor. Die beiden Jungvögel drehten ihre Köpfe zu Little Bear. Sie gaben ihm zu verstehen: »Wir möchten unser Futter mit dir teilen.« Zögernd rückte der Junge näher an die Vögel heran. War es bloß eine Finte? Das Muttertier blieb ruhig, als Little Bear seine Hand nach dem Fleisch ausstreckte. Das Menschenkind wur de von den beiden Jungvögeln als Bruder angenom men. Sie waren nun Kolas, Freunde fürs Leben. Die Alten adoptierten den Jungen, nahmen ihn wie einen Sohn auf. »Wie kommst du Menschenkind in unser Horst?«, fragte der alte Adler. Little Bear erzählte von dem Traum seines Vaters und von dem Falken, der ihm den Auftrag erteilte, die heiligen Dinge vor dem Vergessen zu be wahren. »Auch ihr Adler seid heilig und in großer Gefahr«, sagte Little Bear mit trauriger Stimme. »Sollte ich das ewige Licht nicht finden, wird mein Volk untergehen und ihr werdet die Menschen auf ihrem letzten Weg in die Welt der Ahnen begleiten. Mein Vater hat den Hirsch beweint, der ihm ein weiser Lehrer war. Ich werde die Adler beweinen, die mich aufnahmen wie einen Sohn.«
Seine Brüder waren zu stattlichen Adlern herange wachsen. Sehnsüchtig blickte Little Bear ihnen nach, wenn sie sich in die Lüfte erhoben, um den Himmel zu erobern. »Sucht nach dem ewigen Licht«, rief er ihnen nach. Sein Herz wurde traurig und schwer. Er sehnte sich nach den Menschen. »Ich will leben«, sagte er seinen Brüdern, »nehmt mich bitte mit.« In seiner Verzweiflung griff er nach den Beinen der Vögel und ließ sich von ihnen aus dem Horst fliegen. Die Adler trugen schwer an der Last ihres Bruders. Sie mussten ihre gesamte Kraft aufbringen, um Little Bear sicher zur Erde zu tragen. »Ich danke euch«, sagte er. »Ich komme wieder und bringe als Geschenk das ewige Licht, damit die heiligen Dinge nicht untergehen und ihr weiterleben könnt, das ist ein Versprechen. Ich lasse meine Gedanken zurück, mit dem Blut des Herzens und den Tränen der Seele. Lebt wohl meine Brüder.« Little Bear schaute seinen Kolas nach, bis sie als win zige Punkte am Himmel verschwanden. »Mutter Erde hat mich wieder«, jubelte der Junge und begann zu tanzen. Er drehte sich im Kreise und stampf te mit den Füßen auf den Boden. Erst zaghaft, dann schneller und fester, bis die Erde unter seinen Tritten erzitterte. Er tanzte ohne Unterlass, selbst als die Nacht hereinbrach.
Die Monde vergingen. Wenn der Indianerjunge im Horst schlief, legten seine beiden Brüder ihre Schwin gen über ihn. Little Bear lebte das Leben eines Adlers. Es war ihm jedoch nicht möglich die Flügel auszubrei ten und in die Freiheit zu fliegen.
Und erneut machte sich sein Geist auf, der Enge des Körpers zu entfliehen. Little Bear sah den Jungen un ter sich tanzen. Doch dieses Mal war er ihm nicht fremd. >Ich empfinde Liebe und Zuneigung für dieses
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Das Bild des tanzenden Jungen wurde zu Farben durchflutenden Trommelschlägen. Dieser Teil der Reise endete dort, wo sie begonnen hatte, im Tipi des Groß vaters vom Stamme der Diné. Little Bear schlug zaghaft die Augen auf und betrach tete den Alten, der ihm freundlich zulächelte. Sanft ver stummte die Trommel. Die Nacht hatte sich längst verabschiedet. Die Sonne wanderte bereits auf die Mitte des Tages zu. »Habe ich so lange Zeit in deinem Zelt zugebracht?«, fragte Little Bear den Alten. »Mit dem heiligen Mahl lösen sich Raum und Zeit auf«, antwortete der Medizinmann. »Alle Kraft geht von diesem Geiste aus, der aus der Frucht kommt, die du auf heilige Art eingenommen hast. Wir erfahren da durch die grenzenlose Weite unseres Daseins. Dieser Geist zeigt dir Bilder von damals und erzählt Geschich ten von Tagen, die kommen werden. Erzähle mir von deiner Reise in die Welt der Spirits.« Little Bear schilderte die Begegnung mit dem Jun gen, der zu ihm selbst wurde, von seinem Leben als Ad ler und von der Erkenntnis, dass der Geist sich nach Freiheit sehnt, die er im Körper nicht findet. Der alte Mann lauschte aufmerksam den Worten des Jungen. Er lächelte, als Little Bear sagte: »Ich nehme
von meiner Reise viele Erinnerungen mit, von denen ich in einsamen Stunden zehren werde. Dem ewigen Licht bin ich jedoch nicht näher gekommen. Ich habe es nicht im Horst der heiligen Adler leuchten sehen, ich werde weiter danach suchen müssen. Ich danke dir für das heilige Mahl und die Gastfreundschaft, die du mir entgegenbrachtest.« l )er alte Mann erhob sich und trat mit steifen Kno chen vor das Zelt. Er blinzelte in die Sonne und sagte zu Little Bear: »Bevor du weiter den Weg der Erkennt nis gehst, sei mein Gast. Die Frauen haben frisches Heisch gekocht, mit Wurzeln und Früchten. Deine Reise in die Welt der Spirits hat Kraft gekostet, du musst dich stärken, ehe du aufbrichst.« Little Bear fühlte den Hunger, der sich in seinen Ein geweiden breit machte. »Diese Einladung nehme ich gerne an«, antwortete er. Der Junge rief nach seinem Pferd, das sofort angelau fen kam. Es hatte Little Bear vermisst. Freudig rieb das Tier seinen Kopf an der Schulter des Jungen. Die Frauc-n warteten bereits auf Großvater und seinen jungen Gast. In dem großen Kessel über dem Feuer dampfte es und der Duft von frisch gekochtem Fleisch löste bei Little Bear nie gekannte Glücksgefühle aus. Das Essen schmeckte köstlich und der Junge aß sich wohlig satt. Auch Shuunka bekam eine Extraportion Mais ab. Nachdem Little Bear seine Vorräte aufgefüllt hatte, verabschiedete er sich von den freundlichen Men srlien. Er bestieg sein Pferd und wollte los, als der Alte zu ihm sagte: »Vergiss deine Brüder nicht. Du hast versproi'hen ihnen ein Geschenk zu bringen. Gelübde sind wakan, heilig, du musst sie erfüllen.«
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menschliche Tempel, der dener Käfig, Ich vermag des Körpers fen. Dies zu der Adler. <
»Das werde ich tun«, antwortete Little Bear und lenkte sein Pferd aus dem paradiesischen Canon. Er schlug den Weg nach Westen ein. Shuunka war ausgeruht und kam schnell voran. Little Bear ließ ihn laufen, ohne selbst auf den steinigen Weg zu achten. Sein Blick wanderte stattdessen hoch in den wolkenlo sen Himmel, wo er vergeblich nach zwei Adlern Aus schau hielt. Der Junge verspürte eine große Sehnsucht nach seinen beiden Brüdern. »Ich liebe euch«, sagte er leise. »Gerne würde ich mit euch fliegen, dem Großen Geist so nahe sein, wie ihr es mir vorgemacht habt. Einst versuchte ich ein tapferer Krieger meines Volkes zu werden. Der Name Little Bear sollte bei den Feinden der Lakota Furcht und Schrecken auslösen. Ihr meine Brüder habt mich De mut gelehrt. Der Krieger Little Bear vergräbt seine blutige Axt, der Adler in mir strebt nach grenzenloser Freiheit und inniger Liebe.« Der Tag verging schnell und bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte Shuunka eine weite Strecke geschafft. Im Schütze einer Felsgruppe schlug Little Bear sein Nachtlager auf. Er entzündete ein Feuer und aß mit großem Appetit das frische Fleisch mit den süßen Bee ren. »Tunkashila, Großvater aller Großväter, Großer Geist, ich danke dir für diesen wunderschönen Tag und ich danke den Frauen für das köstliche Essen«, betete er. Für seine Brüder, die Adler, legte der Junge zwei Stücke Fleisch auf die Spitze eines großen Steines. »Ich bin mächtig stolz auf dich«, hörte er in diesem Moment eine Stimme sagen. Little Bear schreckte hoch. Er hatte den Geist seines geflügelten Freundes im Herzen beinahe vergessen.
»Verzeih«, sagte er, »ich habe auf der Reise durch die Bilder meines Geistes nicht einmal an dich gedacht — und meine Liebe widmete ich den Adlern.« »Oh«, sagte der Falke, »dies haben die Spirits mit Freuden aufgenommen. Du bist in einer Nacht vom Krieger zum Seher gereift. Es war mutig von dir, das heilige Mahl des Alten anzunehmen. Dieser Schritt setzte ein tiefes Vertrauen zu sich selbst voraus. Du warst stark in deiner eigenen Entscheidung. Sich Selbstvertrauen schenken ist die Knospe, die zur Blüte des Lebens wird, es ist das, was die Menschen wahres Glück nennen. Dieses Glück wird nicht vom Verstand geprägt, Vertrauen ist die innere Liebe zu sich selbst.« »Hat wahres Glück auch etwas mit meinem Dasein als Adler zu tun?«, wollte Little Bear wissen. »Gewiss«, antwortete der Falke. »Du lebtest das Leben eines heiligen Tieres, du warst eingebunden in die Alli anz zwischen dem Schöpfer und seinem geflügelten Boten. Das Herz eines Jungen und das Herz dieser prächtigen Vögel schlugen im gleichen Takt, es ist das, was die Menschen wahre Liebe nennen. Liebe ist eine universelle Energie, die von jedem beseelten Wesen Be sitz ergreift, das den Mut hat sie zuzulassen. Liebe geben und Liebe nehmen, in Vertrauen auf die eigene Kraft und Verantwortung, das ist der Trommelschlag, aus dem das Glück geschmiedet wird.« »Ist die Liebe zu meinen Brüdern so, wie die Liebe zu einer Frau?«, wollte Little Bear wissen. »Niemand wird das Geheimnis der Liebe je ergrün den können«, antwortete der Falke. »Liebe und Glück sind grenzenlose Wesen. Sie wollen zum Leben erweckt worden. Sie kommen nicht zu dir, du musst ihren Fähr-
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ten folgen. Ob in den Horst des Adlers oder in die end lose Weite der Wüste. Wer den Spuren des Glücks folgt, hebt die alltägliche Wirklichkeit auf. Reale Welt und Geisterwelt ver schmelzen zu einem Raum. Das Leben des Adlers war eine Etappe auf deiner Suche nach Liebe, Glück und dem ewigen Licht. Findest du das eine, ist das andere nahe. Ich möchte dich auf diesem Weg begleiten, als Freund, als Mahner deines Gewissens. Jedes Geschöpf ist für sein Glück und für seine Liebe, die er anderen entgegenbringt, selbst verantwortlich. Achte den Au genblick und lasse ihn nicht achtlos vorbeiziehen.« Little Bear lauschte der Stimme, die aus seinem Her zen sprach. »Du bist klüger und weiser als die meisten Medizin männer meines Volkes«, sagte er, »welcher Lehrer hat dir dieses Wissen vermittelt?« »Es wird der Tag kommen, da werde ich dir diese Frage beantworten«, entgegnete der Falke. »Übe dich in Geduld und vertraue dir.«
Bear machte es sich auf seiner ausgebreiteten Little Decke bequem. Er starrte in die Flammen seines
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Lagerfeuers, die wie spitze, bläulich gelbe Zungen auf den verkohlten Ästen tanzten — Irrlichter, die durch die Nacht huschten. >Wie erkenne ich das ewige Licht?<, fragte er sich dabei. >Ist es ein Feuer wie dieses, ange facht durch den Wind? Wer hat die Flamme entzündet und warum brennt sie ewig? Was unterscheidet dieses Licht von meinem Feuer, das mich wärmt und die Nacht erhellt? Vielleicht brennt es in einer Höhle, tief unter der Erde, wo kein Regenschauer es auslöschen kann. Und wie komme ich da hin?< Shuunka riss den Jungen jäh aus seinen Gedanken. Das Pferd wieherte aufgeregt, es scharrte mit den Hu fen und tänzelte unruhig hin und her. Little Bear sprang auf. Vorsichtig schlich der Junge zu seinem Pferd. Er strich ihm zärtlich über die Nüstern und sprach beru higend auf Shuunka ein. »Braves Tier, hast du dich erschreckt? Die Nacht ist durchflutet mit den guten Gedanken unserer Freunde, die Angst ist unnötig. Dennoch werde ich über uns wa chen.« Das Pferd wurde ruhiger, sein unruhiger Blick jedoch verriet, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Little Bear kehrte zur Feuerstelle zurück. Er wollte die Flammen löschen, als er einen Blick auf die Decke warf.
Erschrocken fuhr der Junge hoch. Er hatte Besuch von einer riesigen Klapperschlange bekommen. Sie schien sich am Feuer wärmen zu wollen. Little Bear tastete nach einem Stock. Er wollte kein Risiko eingehen und das Tier töten. Mit dem Knüppel in der Hand schlich er an die Schlange heran. »Verzeih, wenn ich dich töten muss«, sagte er leise. »Mein Pferd und ich haben noch einen langen Weg vor uns und ich kann es mir nicht leisten, von dir gebissen zu werden. Ich bete für deine Seele.« Da sprach die Klapperschlange: »Warum willst du mich töten? Ich bin ein Geschöpf des Großen Geistes, wie du auch. Ist mein Leben weniger wert als das dei ner Brüder, für die du Tränen der Liebe vergießt?« »Die Adler haben mein Leben gerettet«, antwortete Little Bear. »Ihre Eltern sind meine Eltern, ich bin ein Sohn von Wanblee Gleshka, dem gefleckten Adler.« »Ich trage kein Federkleid und kann nicht fliegen, bin ich deswegen in deinen Augen ein minderwertiges Geschöpf?«, wollte die Schlange von dem Jungen wis sen. »Gehe mit mir und lebe das Leben einer Klapper schlange. Werde mein Kind, aber töte mich nicht. Menschen, die die Schlangenkraft in sich spüren, ver fugen über einen starken Zauber. Sie tragen die Energie der Schöpfung in sich, für sie gibt es keine Geheimnis se. Es ist die Kraft der weiblichen Energie, es ist die Kraft der Vergebung und der reinen Liebe. Krieger ver gessen oft, dass sie die Güte der Frau in ihren Herzen tragen. Deine Tränen sind Perlen, geformt aus dem feuchten Atem der Frau in dir.« Beschämt legte Little Bar den Stock zur Seite. Er setzte sich ans Feuer und betrachtete die Schlange. Ihre Worte hatten ihn tief berührt.
>Sie sprach die Wahrheit<, sagte er zu sich. >Wir sind Kinder von Mutter Erde, Geschöpfe des Großen Geis tes. Wer mag behaupten, dass der Büffel und der Hirsch heiliger sind als diese Klapperschlange? Wer gibt mir das Recht, sie zu töten und die Adler zu lieben und zu be weinen? Ist mein Herz groß genug, eine Schlange zu lieben?< »Ich würde mich geehrt fühlen, wenn du die Nacht in meinem Lager verbringen würdest«, sagte der Junge zu der Klapperschlange. »Schlafe an meiner Seite, ich werde über dich wachen und das Feuer hüten.« »Ich danke dir«, erwiderte die Schlange. »In deiner Nähe fühle ich mich sicher und geborgen. Du hast ein großes Herz, in dem die Güte ihren Tempel gefunden hat.« »Ich bin auf der Suche nach dem ewigen Licht«, sagte Little Bear. »Im Traum meines Vaters zieht mein Volk in die Spiritwelt, die Welt der Ahnen. Der Falke gab mir den Auftrag, diese Menschen und die heiligen Dinge vor dem Untergang zu retten. Ist dir die Flamme auf dem Weg deiner Wanderschaft irgendwo begegnet?« »Viele Monde von hier entfernt liegt das große Was ser«, entgegnete die Schlange. »Reite zu ihm und lau sche den Wellen, die das Festland besingen. Es sind heilige Lieder. Die Boten des Meeres haben die Kraft von vielen Büffeln und die Spannweite ihrer Flügel übertrifft die der Adler. Lasse dich von ihnen tragen und du wirst dem ewigen Licht einen Schritt näher kommen.« Little Bear schlief vor dem Feuer. Er träumte von ei ner Flamme, die mitten auf dem Wasser tanzte und ihn einlud zu ihr zu kommen. Eine riesige Schlange be schützte das Feuer und stieß den Jungen immer wieder
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an das Ufer zurück. Das ewige Licht war für Little Bear greifbar nahe und doch unerreichbar. Als er am nächsten Morgen erwachte, war die Klap perschlange verschwunden. Er suchte nach ihr. Im fei nen Sand entdeckte er ihre Spuren, die nach Norden führten. Filigrane Linien, wie von einem Künstler in die Natur gezeichnet. Little Bear folgte der Schlangen fährte. Sie führte ihn bis an den Rand einer Steppe mit spärlichem Graswuchs. Dort verlor er die Spur aus den Augen. >Die Fährte fuhrt ins Nichts<, überlegte der Junge, >als wären der Schlange Flügel gewachsene Der Junge fand lediglich Fußspuren eines erwachsenen Menschen. >War die Klapperschlange die Feuerhüterin aus mei nem Traum?<, fragte sich Little Bear. >Aus welchem Grund zeigt sie mir den Weg zum Meer und verteidigt die Flamme mit ihren Giftzähnen, welches Geheimnis verbirgt sich dahinter?< Der Junge räumte das Lager, verwischte die Spuren und sattelte Shuunka. »Auf zum großen Wasser«, sagte er, »ich möchte den Wellen lauschen, wenn sie das Fest land besingen, und der Schlange die Flamme entreißen, die auf dem Wasser tanzt.«
Mond wanderte als Sichel über den Himmel, Derwuchs zu einem feuerroten Kreis und verlor wieder
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an Größe, als Little Bear müde und abgekämpft den Ozean erreichte. Schon von weitem hörte er lautes Donnergrollen. Es waren mächtige Wellen, die sich schäumend ihren Weg aus dem ewigen Wasser bahnten und an den Felsen zerschmetterten, wo sie in einer Wo ge aus Gischt in sich zusammenfielen und als funkelnde Diamanten ihren Weg zurück ins Meer fanden. Dieses grandiose Naturschauspiel beobachtete der Junge mit großen Augen. Er hatte noch nie zuvor so viel Wasser gesehen. Als Kind schwamm er mit seinen Freunden in einem See, der hoch in den Bergen lag. Sie konnten das andere Ufer sehen, und dennoch erschien ihnen dieser See unendlich weit zu sein. Unbesiegbar für die kleinen Schwimmer. Selbst im Kanu reichten ihre Kräfte nicht aus, das andere Ufer zu erobern. Der Junge musste lachen, wenn er die Bilder seiner Kindheit vor Augen sah. »Ich war wie ein Käfer, der die grüne Wiese für den Nabel der Welt hielt. Nicht nur Gedanken sind grenzenlos, auch jeder Schritt kann mich der Erkenntnis näher bringen, dass es keine Gren zen gibt. Ich möchte, hier die Nacht verbringen und morgen weiterziehen«, sagte er zum Falken. »Dieses Meer beflügelt meine Sehnsucht nach dem Ende der Welt. Ich möchte das Wasser rauschen hören und mir vorstellen, die Wellen tragen mich in ein Land, das jen seits aller Vorstellungen liegt.«
Ein geeigneter Lagerplatz war schnell gefunden. Eine Mulde, die von kleinen Felsen unigeben war. Auch Shuunka fand vereinzelte Grasbüschel auf dem stei nigen, sandigen Boden. Genügend Futter für eine Nacht. Little Bear machte es sich in der Mulde bequem. Ein warmer Wind strich aus dem Landesinneren in Rich tung Meer. Der Junge holte seine letzten Fleischreser ven aus dem Beutel. Die Früchte schmeckten bereits leicht säuerlich und das Fleisch war zäh. Aber das störte den Jungen wenig. Er schloss die Augen und lauschte dem Lied der Wel len, das sich stetig wiederholte. Das Anrollen des Wassers glich dem dumpfem Klang einer mächtigen Pow-WowTrommel, die auf den Tanzfesten der Lakota von sechs Männern geschlagen wurde. Das monotone Getöse löste in Little Bear eine Leichtigkeit des Seins aus. In Ge danken flog er mit seinen Brüdern durch die Lüfte. >Frei sein wie ein Vogel<, dachte er, >warum sind die Menschen ständig Gefangene ihrer Grenzen und Tu genden? Wenn ich das ewige Licht gefunden und die heiligen Dinge vor dem Vergessen bewahrt habe, werde ich die Menschen lehren, freier in ihren Gedanken und in ihrem Handeln zu sein.<
mehr sprechen, seine Frau musste ihn pflegen und füt tern. Er fand keinen Gefallen mehr am Leben in der Gesellschaft, selbst ein Pferd flößte ihm Angst ein. Man erzählt sich, dass Lame Wolf während einer Heilzere monie seinen Geist in die Unterwelt ausschickte. Nach einer langen und gefährlichen Reise fand dieser seinen Weg durch das Labyrinth nicht mehr zurück. Er blieb ein Gefangener der bösen Mächte.« »Menschen, die ihren Geist in der anderen Welt las sen, halten das Universum und seine Kräfte in Balance«, setzte der Falke das Gespräch fort. »Die Aufgaben in dieser Welt sind ihnen vermutlich nicht mehr wichtig genug oder sie reisen zu den Ahnen, wo sie mit Verstor benen zusammentreffen. Lame Wolf hat es so gewollt, warum, das wird für ewig sein Geheimnis bleiben.«
Wie frei und unabhängig jedoch darf der Geist sich entfalten, losgelöst von Verstand und Vernunft? »Ist es möglich, dass mein Geist sich in die Welt der Spirits aufmacht und nicht mehr in meinen Körper zu rückkehrt?«, fragte Little Bear den Falken und sagte: »Lame Wolf, er war ein angesehener Medizinmann meines Volkes. Eines Morgens kicherte er wie ein klei nes Kind. Er konnte keine zusammenhängenden Sätze
»Du hast mir versprochen, ich könnte fliegen wie ein Vogel, wenn ich meine Kräfte aktiviere«, wechselte Little Bear das Thema. »Ist das nicht eine wunderbare Nacht, geradezu geschaffen für einen Flug über das end lose Meer? Vielleicht wartet das ewige Licht jenseits des Horizonts auf mich, dort wo die Wellen geboren wer den. Erzähle mir das Geheimnis, wie dem Menschen Flügel wachsen, die ihn an fremde Orte bringen.« »Verbinde dich mit den schäumenden Wellen«, ant wortete der Falke, »höre ihre Botschaft. Lausche den Stimmen, die aus der Tiefe des Ozeans an die Oberflä che dringen, um dir eine Geschichte zu erzählen. Male mit dem Pinsel der Phantasie ein Bild, wie du von Wel len in weite Ferne getragen wirst. So, wie es die Klap perschlange sagte.« Little Bear atmete tief durch und versuchte den Stimmen zu lauschen, die aus der Tiefe des Ozeans ka
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men. Er vernahm lediglich ein Plätschern und Gurgeln. Der Junge ließ sich tiefer hineinfallen in das Urvertrau en des Lebens. Das Meer hörte sein Flehen und schickte seine Wellen, die über ihm zusammenschlugen. Stück für Stück zogen sie Little Bear ins Wasser, bis er in den Quell allen Daseins eintauchte. »Nehmt mich bitte mit auf eurer Reise zu Tod und Wiedergeburt«, sagte er. Behutsam nahmen die Wellen den Jungen auf und trugen ihn auf ihren schäumenden Rücken über die Weite der See. Sie spülten Little Bear an den Strand einer fremden Welt. Der Junge schaute sich um und staunte. >Ich muss in einer riesigen Sandkiste gelandet sein<, dachte er. Sand, so weit das Auge reichte. Sogar die Berge waren aus Sand. Er sah keine Steine, keinen Baum, keine Bü sche, kein Grün. Nur feinen, gelben Sand, der wie Pul ver durch die Finger rieselte. Es war heiß, die Sonne brannte ohne Erbarmen vom tiefblauen Himmel. Little Bear machte sich auf den Weg. Aber wohin sollte er gehen? Er versuchte eine der Dünen zu besteigen. Bei jedem Schritt versank der Jun ge bis zu den Knien im feinen Wüstensand. Nur mit Mühe schleppte er sich bis zur Spitze des Hügels. Oben angekommen, sank Little Bear entkräftet zu Boden. Sein Herz raste und der Atem ging keuchend. Nur mit Mühe kam der Junge wieder auf die Beine. Er musste seine gesamte Kraft aufwenden, um auf dem schmalen Grad der Düne aufrecht stehen zu können. Immer wieder knickte er im feinen Sand ein. >Dieses Land muss die Heimat von schrecklichen Dä monen sein<, ging es Little Bear durch den Kopf. >Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier Menschen leben. < Er wischte sich den Sand aus den Augen und starrte
ungläubig in die Ferne. Im tiefsten seines Herzen hatte er gehofft, die öde Wüste sei lediglich eine kurze Prü fung, die ihm von Unbekannten auferlegt worden war. Doch dieser Anblick ließ ihn verzweifeln. Sanddüne reihte sich an Sanddüne, schäumende Wel len des Ozeans im Tode erstarrt, vergessen von den Le benden. »Wie die heiligen Dinge«, murmelte Little Bear. »Werden die Pfeife, der Büffel, der Hirsch und der Adler auch zu Sand, wenn die Menschen sie vergessen haben? Ist dieses Land etwa der Friedhof der heiligen Dinge? Könnte diese öde Wüste das Ende des Traumes sein, den mein Vater zum Leben erweckte? Lassen mich die Geist wesen teilhaben am Untergang von Mutter Erde?« Dieser Gedanke machte Little Bear traurig. Seine Trä nen wuschen die letzten Sandkörner aus den Augen und fielen mit ihnen zu Boden. Der Atem der Seele ver dunstete im Nu auf dem sengend heißen Untergrund. Verzweifelt dachte Little Bear nach. >Es muss einen Ausweg aus dieser Gluthölle geben. Ich werde meine Brüder, die Adler rufen, sie sollen mir den Weg in die Freiheit zeigen. »Kolas, Freunde, hier stehe ich, Little Bear, und benö tige eure Hilfe«, rief er laut. Holt mich aus diesem Tal der Trauer und der Einsamkeit. Fliegt mich zurück zu meinen Eltern, die auch eure Eltern sind. Lieber lebe ich als Adler im Horst, als hier, im Traum meines Vaters, mit den heiligen Dingen zu Staub zu werden.« Ein leichter Wind nahm die flehende Stimme des Jungen auf und trieb sie vor sich her. »Lieber lebe ich als Adler im Horst, als hier, im Traum meines Vaters, mit den heiligen Dingen zu Staub zu werden«, flüsterte die Wüste.
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Little Bear horchte in die Stille. Da vernahm er ein Pfeifen über seinem Kopf. Er blickte hoch und sah zwei Adler, die ihre Kreise am Himmel zogen. >Meine Brü der, sie haben mein Flehen erhört, sie sind gekommen, um mich zu holen<, jubelte Little Bear. Doch die beiden Vögel schraubten sich höher und höher, entzogen sich den Blicken des Jungen. »Hier bin ich«, rief er und winkte mit den Armen. »Warum fliegt ihr wieder fort? Wir sind Kolas, Freunde fürs Leben, die immer füreinander da sind.« Doch die Adler schienen keine Notiz von ihrem Bruder zu nehmen. Mit kräftigen Flügelschlägen ver schwanden sie hinter zwei mächtigen Sanddünen, die von den letzten warmen Strahlen der untergehenden Sonne in ein zartes Rot getaucht wurden. Little Bear blickte seinen Brüdern nach. »Sie haben mich nicht gesehen«, versuchte er sich zu beruhigen. Der Hitze des Tages folgte die Kälte der hereinbre chenden Dunkelheit. Der Junge stolperte die Düne hi nunter. Er versuchte der Spur seiner gefiederten Freun de zu folgen, die sie als fliegende Schatten in den Sand gezeichnet hatten. Tapfer marschierte der Junge in Richtung untergehender Sonne. Der Sand unter seinen Füßen war fester geworden und er kam gut voran. Doch die glutrote Sonne wollte nicht näher rücken. Little Bear musste hilflos zusehen, wie sie Stück für Stück in dem Meer aus Sand unter tauchte. Bis sie schließlich von dem feinen gelben Staub verschluckt wurde. Mit jedem Schritt wichen die Kräfte aus dem Körper des Indianerjungen. Von Durst und Hunger geplagt, schleppte er sich durch die menschenleere Einöde. Die Kälte lahmte seine Muskeln. Little Bear strauchelte und
fiel zu Boden. Er versuchte sich aufzuraffen, doch die Müdigkeit siegte über den Willen weiterzuziehen. >Hier endet also mein Leben<, dachte Little Bear. >Der Friedhof der heiligen Dinge wird auch meine Grabstät te. Ich folge der Pfeife und dem Büffel, die zu Staub wurden, verlassen von meinen Brüdern und Freunden gehe ich in die Welt der Ahnen.< Er schloss die Augen und sang ein Lied, um den Tod willkommen zu heißen.
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»Ich grüße dich,
die Ahnen haben es gesagt.
Ich grüße dich,
die Tiere haben es gesagt.
Ich grüße dich,
Mutter Erde hat es gesagt.
Ich grüße dich,
sei willkommen in meinem Herzen.«
Wind kam auf. Er blies den feinen, gelben Sand über den Körper des Jungen, der ihn bedeckte wie ein fein gesponnenes Leichentuch. >Ist Geist vergänglich, kann er sterben wie ein menschlicher Körper, der von seiner Seele verlassen wurde? Gedanken verdursten in der Wüste. <
Bear spürte, wie Wassertropfen seine aufgerisse Little nen Lippen benetzten. Eine Hand strich vorsichtig über sein Gesicht und wusch den verkrusteten Sand aus Mund, Nase und Augen. Die Kehle des Jungen war aus getrocknet, jeder Atemzug schmerzte. Er versuchte Ar me und Beine zu bewegen. Nur mühsam gelang es ihm, die Gliedmaßen mit Leben zu erfüllen. »Wasser«, murmelte der Junge. Erneut spürte er das erquickende Nass auf seiner Zunge. Gierig saugte er die Tropfen in seine Mundhöhle. »Mehr«, hauchte er. Dankbar nahm der Junge den Schwall auf und umspül te damit seinen Schlund. Die ersten Schlucke waren ei ne Tortur, doch Little Bear merkte, wie seine Lebens geister zurückkehrten. Er schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht eines Mädchens. Ihre Haut war dunkel, beinahe schwarz. Der Kopf lag eingehüllt in einem dunklen Tuch, das mehrmals um den Hals gewickelt war und seitlich als Schärpe zu Boden hing. Die Fremde trug ein schlichtes, schwarzes Kleid, das den gesamten Körper bedeckte. Ihre nackten Füße steckten in ledernen Mo kassins, die aus einzelnen Riemen zusammengenäht waren. »Wo befinde ich mich und wer bist du?«, fragte Little Bear. »Du bist in meiner Welt«, antwortete die Fremde. Little Bear blickte sich verwundert um. Er lag in ei nem runden Zelt, das nach vorne offen war. 71
»Wie hast du mich gefunden und wie ist dein Na me?«, fragte der Junge das Mädchen, das aufgestanden war, um ein Gefäß von der Feuerstelle zu nehmen. »Mein Büffel wäre beinahe über dich gestolpert«, antwortete sie. »Das Tier blieb mit einem Male stehen und wollte seinen Weg nicht fortsetzen. Ich stieg ab, um nach der Ursache zu forschen, da sah ich dich im Sand liegen.« »Entschuldige meine Neugierde«, erwiderte Little Bear, »du reitest auf einem Büffel?« »Gehe nach draußen, er ist hinter dem Zelt angebun den«, erklärte die Gastgeberin und lächelte. Little Bear erhob sich mühsam und wankte unsicheren Schrittes hinaus in die Wüste, die beinahe zu seinem Grab ge worden wäre. Er ging hinter das Zelt und konnte kaum glauben, was er dort sah. Vor ihm stand ein ausgewachsener Büf fel, ein mächtiges, zotteliges Tier, wie es Little Bear aus der Prärie kannte. Vorsichtig trat er näher heran. Der Büffel scharrte zur Begrüßung mit dem rechten Vorderhuf und rieb seinen mächtigen Schädel an der Schulter des Jungen. Der war auf so viel Zärtlichkeit nicht gefasst und flog in hohem Bogen in den weichen Sand. Nachdem sich Little Bear von seinem Schreck erholt hatte, stellte er sich neben das Tier und kraulte ihm das Fell. »Bist du der letzte heilige Büffel?«, fragte er. »Als Hü ter der heiligen Dinge, die hier zu Staub wurden? Wenn das so ist, hast du ein schweres Erbe angenommen.Ver zeih, das hat mein Vater nicht gewollt. Vergessen und vertrieben aus der grünen Prärie unserer Heimat, büßt du in dieser schrecklichen Einöde für die Sünden der
Menschen. Ich bete für deine Seele, wohin meine Wege auch fuhren mögen.« Little Bear kniete nieder und zeichnete eine Chanu pa wakan, eine heilige Pfeife, in den Sand. Dazu eine Adlerfeder, das Geweih eines Hirsches und die Umrisse einer Trommel. »Behüte diese heiligen Dinge für mich«, sagte er zu dem Büffel. »Behalte sie in Erinnerung und erzähle de nen davon, die den Spuren meines Volkes folgen wer den. Die heiligen Dinge dürfen nicht aussterben.« Dann ging er zurück in das Zelt. Das Mädchen saß auf einer Decke und trank heißen Tee. Sie bot Little Bear eine Schale des dampfenden Getränkes an. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln heraus. >Wie schön sie ist<, dachte er. Ihr Gesicht war fein und zart und in ihren dunklen Augen lag eine Glückselig keit, die von tiefem Frieden geprägt war. Little Bear unterbrach die Stille. »Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten«, sagte er. »Ich würde ihn gerne in meinem Herzen tragen, als Dank für deine wundersame Rettung.« Das Mädchen lächelte geheimnisvoll. »Ist ein Name so wichtig?«, fragte sie. »Gewiss«, antwortete der Junge. »Ich heiße Little Bear. Der Name sagt den Menschen, dass ich die Kraft des Bären in mir trage.« »In meiner Welt spielen Namen keine Rolle«, meinte das Mädchen. »Sie sind wie Sandkörner, die der Wind vor sich her treibt. Doch wenn dein Herz danach dürs tet, mir einen Namen zu geben, so darfst du es gerne tun.« Little Bear überlegte. »Ich rufe dich Wüstenblume«, sagte er. »Du bist anmutig wie eine Blüte, deren Blätter
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im Tau des Morgens zu leben beginnen. Selbst die Wüs te kann dir den Glanz nicht nehmen.« Little Bear war erschrocken über seine Worte. So frei und ungeniert hatte er noch nie mit einem fremden Mädchen gesprochen. Schnell fragte er weiter: »Wie viele Monde lebst du bereits in dieser Wüste?« »Ich habe sie nicht gezählt«, entgegnete sie. »Ich war ein Kind, als ich aus dem Staub geboren wurde. Es war eine kurze Reise hierher, sie dauerte nur einen Wim pernschlag. Die Geistwesen umsorgten mich, sie flo gen mit mir durch Raum und Zeit. Sie lehrten mich, dass die Grenze zwischen dieser Wirklichkeit und der Welt, in der die Menschen ihr körperliches Dasein fristen, ein Tor aus Flaumfedern ist. So zart und fein, das sich sogleich öffnet, wenn du es mit deinem Atem berührst. Ich schreite zwischen den Welten wie ein Wanderer, der bleiben darf, wo es ihm behagt. Ich habe mir diese Wüste auserkoren. Sie ist voller Schönheit und Anmut, sie ist der Thron meines Geists, der aufs Neue in Demut erstarrt, wenn die Wüste ihn zu sich ruft. Du wirst die sen Ort lieben lernen.« »Wie kann ich etwas lieben, das mir beinahe das Le ben genommen hätte«, erwiderte Little Bear. »Die Wüs te ist die letzte Ruhestätte der heiligen Dinge. Sie wer den hier zu Staub, nachdem der Mensch sie vergessen hat.« Das Mädchen lächelte. »Komm«, sagte sie, »es möchte dich jemand kennen lernen.« Die beiden verließen das Zelt. Wüstenblume rief nach dem Büffel, der sofort angelaufen kam. »Schwinge dich auf seinen Rücken«, sagte sie. »Er ist stark, er kann uns beide tragen.«
Little Bear benötigte mehrere Versuche, ehe er sich an dem dichten Fell hochziehen konnte. Das mächtige Tier blieb dabei wie angewurzelt stehen. Kaum saß der Junge auf dem Rücken, spürte er das Mädchen bereits hinter sich. Ich habe sie nicht hochsteigen sehen<, wunderte er
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Die eine strotzte stolz aufgerichtet dem Wind, die andere beugte sich demutsvoll zu Boden, um ihren Tod zu erwarten - in der Hoffnung, als große Welle wieder geboren zu werden. Nach und nach legte die Wüste dem Jungen ihre Seele offen, zeigte sich in ihrer Farbenpracht und Schönheit. Da ging etwas Wildes von ihr aus, eine un bändige Kraft, die unaufhaltsam vorwärts strebte. Und manchmal war es Little Bear, als fühle er ihre Zärtlich keit, getragen von stetig wachsender Zuneigung und Liebe. Die Wüste nahm den Jungen gefangen und sein Herz schlug schneller, wenn er an das Mädchen dachte, das hinter ihm saß. In weiter Ferne bemerkte Little Bear etwas Grünes im Ozean der Stille schimmern. Als sie näher kamen, nahm er die Konturen von Bäumen mit riesigen Blät tern wahr. Um sie herum gruppierten sich Sträucher mit gelben und blauen Blüten. Eine grüne Insel inmit ten der Wüste - der Junge konnte sich an diesem Bild nicht satt sehen. Unter einem der seltsamen Bäume stand ein Zelt, ähnlich dem von Wüstenblume. >Wer hier wohl leben mag?<, dachte sich Little Bear. Im selben Augenblick hatte der Junge festen Boden un ter den Füßen. Verwundert blickte er sich nach dem Mädchen um, es war verschwunden und mit ihr der Büffel. Neugierig erkundete der Junge die Oase. Schließlich stand er vor dem weißen Zelt, das er aus der Luft gese hen hatte.Vorsichtig schob er eine Decke zur Seite und trat ein. 76
In der Mitte des Raumes saß ein alte Frau. Ihre wei ßen Haare hingen in Strähnen bis zu ihrer Schulter, ihr ausgemergelter Körper war in Lumpen gehüllt. An ih ren Füßen trug sie zerschlissene Mokassins. Sie hatte ein freundliches Gesicht, das von tiefen Falten zerfurcht war. »Wüstenblume ist gegangen«, sagte die Alte. »Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, wann sie wieder kommt. Willst du auf sie warten?« »Wo ist sie?«, wollte Little Bear wissen. »Sie ist ein Wanderer zwischen den Welten, niemand weiß, an welchem Ort sie sich gerade aufhält«, antwor tete die alte Frau. »Ich soll dir dieses Geschenk von ihr überreichen.« Die Alte gab dem Jungen einen kleinen Beutel aus Leder. Er war prall gefüllt, lag jedoch leicht in der Hand. »Hüte ihn gut«, mahnte die Alte. »Er ist der Schlüssel zu deiner inneren Glückseligkeit. Verlierst du ihn, wird deine Suche ewig andauern.« Little Bear war neugierig, er wollte den Beutel öff nen und nach dem Inhalt schauen. »Öffne ihn nicht«, sagte die Alte, »es ist ein Medizin beutel. In ihm ist die Kraft, die du stets gesucht hast. Du würdest den Kreislauf des Lebens unterbrechen.« Little Bear hielt inne. Er knüpfte einen Lederriemen .111 dem Beutel fest und band ihn sich um den Hals. Als er wieder hochblickte, war die Alte verschwunden. Der Junge suchte das Zelt nach ihr ab, fand jedoch nicht die geringste Spur. »Die Menschen verlassen mich und ich bleibe alleine zurück«, sagte er leise. Der Junge ging nach draußen und setzte sich in den Schatten eines dieser riesigen Kimme.
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Die Wüste streckte versöhnlich ihre Hand nach ihm aus, so, als wolle sie sagen: »Bleibe in mir, versöhne dich mit der Stille und lausche ihren Worten. Ich mache dir jeden Sonnenstrahl zum Geschenk, reite auf dem Wind, der über die Dünen streicht und verliere dich in den Farben meiner Seele.« Little Bear erinnerte sich an die Worte der alten Frau. »Möchtest du auf Wüstenblume warten?«, fragte sie. Der Gedanke an das schöne, geheimnisvolle Mäd chen ließ sein Herz erbeben. Die Stille wurde lauter, er vernahm deutlich ihre Stimme: »Warte hier auf sie.« Der Junge wollte antworten, da verwandelte sich die Wüste in ein tosendes Meer. Die Sanddünen wurden zu schäumenden Wellen, sie überfluteten die Oase und rissen Little Bear mit sich. Er schnappte nach Luft, das Wasser bemächtigte sich seiner Gedanken und Gefüh le. Er hörte Stimmen, die Wellen formten sich zu ei nem schmalen Tunnel, durch den der Junge hinwegge spült wurde — bis er festen Boden unter den Füßen spürte. Er öffnete die Augen und fand sich in der Mul de wieder, die er zu seinem Nachtquartier erkoren hatte. Seine Hand griff zur Brust, vor der ein kleiner Le derbeutel baumelte. >Der Medizinbeutel von Wüsten blume, ich habe ihn aus der Spiritwelt mitgebracht, ich habe nicht geträumt<, waren seine ersten Gedanken. >Das schöne, geheimnisvolle Mädchen, die Wüste, die alte Frau im Zelt — ich habe mit ihnen gesprochen, sie waren keine Bilder meiner Phantasie, sie waren leibhaf tige Little Bear war so ergriffen von dem Geschehenen, dass er den Medizinbeutel nicht loslassen mochte. Er begriff ihn als heiliges Relikt. 78
Er hörte die Alte sagen: »Hüte ihn gut. Er ist der Schlüssel zu deiner inneren Glückseligkeit. Verlierst du ihn, wird deine Suche ewig andauern.« Der Junge zog einige Male kräftig an dem Leder band, um dessen Festigkeit zu prüfen, dann öffnete er behutsam seine Hand und ließ den Beutel frei. »Hier ist dein Geheimnis gut aufgehoben«, sagte er. Little Bear hörte erneut die Wellen rauschen, die ihn in die Spiritwelt getragen hatten. »Ich danke euch für die wunderschöne Reise«, sagte er und erhob sich aus der Mulde. Der Junge kramte aus seiner Packtasche einen Beutel, in dem getrockneter Salbei aufbewahrt war. Er übergab einige Blätter davon dem Meer und segnete es damit. »Vermagst du einem Menschenkind zu erklären, wa rum die Welt der Spirits jedes Mal eine andere Gestalt annimmt, wenn ich sie besuche?«, fragte Little Bear den Falken. »Das Wasser spülte mich in eine Wüste«, fuhr er fort. »Sie war mir erst feindlich gesinnt, bis ich dem Zauber ihrer Farben erlag. Ich spürte, wie diese Wüste atmete, sie war pures Leben. Warum ist die Spiritwelt einmal Wüste und ein anderes Mal ein Adlerhorst?« »Sie ist das Spiegelbild deiner geistigen Energie«, ant wortete der Falke. »In diesen Welten findest du Antwort auf Fragen, die du deiner Seele gestellt hast.« »Ist es möglich, aus der anderen Welt Gegenstände mit in die alltägliche Wirklichkeit zu nehmen?«, wollte Little Bear wissen und seine Hand ergriff erneut den Lederbeutel, der vor seiner Brust baumelte. »Es bedarf großer Kraft, den Spirits einen Gegen stand zu entlocken«, sagte der Falke. »Erfahrene Medi zinmänner und Schamanen sind dazu in der Lage.«
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>Die Stimme des Falken kennt mein Geheimnis nicht, das ich am Herzen trage<, dachte der Junge. >Gibt es Din ge, die er nicht weiß? Wie sich Liebe anfühlt, oder wie es ist, den Duft eines Mädchens einzuatmen, das hinter dir auf einem Büffel sitzt und sanft deine Haut berührt. Die wahre Liebe bleibt dem Falken verborgen, weil er ein Vogel ist und ich ein Mensch. Ist ein Falke fähig zu lie ben, einzutauchen in dieses Gefühl aus Sehnsucht und Leidenschaft? Wohl kaum. Ich werde ihm nichts von Wüstenblume erzählen, er würde es nicht verstehen.< Zwei Monde blieb Little Bear in Gesellschaft des Mee res, ehe er seine verzweifelte Suche fortsetzte. Der Jun ge lenkte sein Pferd in Richtung Norden. »Das ewige Licht«, flehte er Shuunka an, »bringe mich zu ihm. Meine Kräfte und mein Glaube an das Gute schwinden. Ich habe Sehnsucht nach meinen El tern, ich vermisse die Fürsorge von One Star und den väterlichen Rat von Red Hawk. Ich habe Angst, dass mein Volk mich vergessen hat.« Tränen der Sehnsucht bahnten sich aus seiner kindli chen Seele. »Running Bird«, schrie Little Bear, »hast du mich vergessen? Begegne ich dir in deinen Träumen oder hast du die Erinnerung an deinen Kola so tief ver graben, dass sie den Weg in dein Tipi nicht mehr fin det?« Seine Worte gingen in ein Wehklagen über. »Ich habe versagt«, schluchzte er. »Wie konnte ich mir anmaßen, den Traum eines Medizinmannes in Frage zu stellen? Ein Kind versucht die heiligen Dinge vor dem Verges sen zu retten, wie töricht ich doch war! Mein Volk betrat vor langer Zeit diese Erde. Es stieg aus den Schwarzen Bergen ans Tageslicht, wo es im 80
Winter seine Tipis aufschlug. Die weiße Büffelkalbfrau brachte den Lakota die Pfeife, warum sollte ausgerech net ich das Göttliche bewahren? Ich werde meine Su che abbrechen und nach Hause zurückkehren. Lieber komme ich mit leeren Händen und ertrage den Hohn und den Spott meines Volkes, als dass ich hier in der Fremde an den Tränen meiner Sehnsucht und Schwä che ersticke. »Bringe mich nach Hause«, flüsterte der Junge sei nem Pferd ins Ohr. »Du kennst den schnellsten Weg, trage einen zahnlosen Krieger zum Schlachtfeld seiner Unzulänglichkeiten.« Little Bear gönnte Shuunka wenig Ruhe, er trieb das Tier ständig an, ohne jedoch auf den Weg zu achten. Er vertraute dem Instinkt seines Pferdes, das er als Fohlen von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Shuunka war für den Jungen mehr als ein treuer Wegbegleiter, er war ihm Freund und Spielgefährte, Retter und Tröster in schwierigen Stunden. Erschöpft und hungrig erreichten Pferd und Reiter ein Dorf. Die Häuser waren aus Erde und Lehm gebaut, sie standen in einem großen Kreis und in der Mitte des Platzes brannte ein Feuer. Frauen und Kinder liefen von einer Seite des Platzes zur anderen, es herrschte re ges Treiben und das Gewirr von unzähligen Stimmen lag in der Luft. Hundegebell kündigte die unerwarteten Gäste an. Auf seinem Pferd war Little Bear eine imposante Er scheinung, zumindest für die Menschen in diesem Dorf, die von kleinerem Körperwuchs waren. Die Kin der flüchteten in die Häuser oder versuchten sich hin ter ihren Müttern zu versteckten. 81
Das Kläffen der Hunde lockte auch die Männer aus den Hütten, die mit neugierigen Blicken den jungen Mann beobachteten, als er von dem Pferd stieg. Da er keine Waffen bei sich trug, begegneten ihm die Men schen mit freundlichen Blicken und Gesten. »Du siehst müde aus«, brach eine Frau das Schwei gen. »Wir wollen gerne unser Mahl mit dir teilen, sei unser Gast.« Ein Mädchen löste sich aus der Gruppe. Es nahm Shuunka am Zügel und führte ihn wortlos auf eine na he Wiese, auf der Tiere weideten, die Little Bear noch nie gesehen hatte. Sie waren groß wie Hunde und hat ten ein weißes, lockiges Fell. Die Kinder verloren langsam ihre Scheu vor dem fremden Jüngling. Ein Mädchen kam nahe an ihn heran und gab ihm einen Stoß. Mit großen Augen wartete sie auf seine Reaktion. Little Bear kannte die Spiele der Kinder. Er schnitt eine Grimasse und taumelte rück wärts, als hätte ihn der Prankenhieb eines Bären von den Beinen geholt. Das Mädchen lachte vor Vergnügen und bald war Little Bear von den Kindern des Dorfes umringt. Jedes wollte ihn zu Boden stoßen und mit ihm seine Kräfte messen. Der Junge genoss den Trubel um seine Person, er at mete das Lachen der Mädchen und Jungen ein wie pu re Lebensenergie. >Wie habe ich diesen Rummel vermisst<, freute er sich. Nach dem Kampf saßen sie friedlich rund um das Feuer und stärkten sich mit frisch gebratenem Fleisch und Brot. Little Bear beobachtete eine Frau mit ihrer Tochter, die beiden etwas abseits der Gruppe saßen. Es war das Mädchen, das Shuunka auf die Weide geführt hatte.
Mutter und Tochter nahmen nicht am großen Palaver der Dorfbewohner teil, sondern verzerrten still und mit ernstem Gesicht ihr Essen. Später erhob sich das Mädchen. Sie nahm Fleisch und Brot und stapfte mit der Mahlzeit außerhalb des Dorfplatzes, wo ein einsames Erdhaus stand. Little Bear hatte es im Trubel nicht bemerkt. Das Mädchen ver schwand im dunklen Eingang und kehrte wenig später mit leeren Händen an das Feuer zurück. Dabei warf sie Little Bear Blicke zu, die er nicht zu deuten vermochte. Die Kleine erinnerte ihn an Wüs tenblume. Diese großen braunen Augen, das dunkle Haar, der Gang. Der Junge fasste sich ein Herz und sag te zu ihr: »Du darfst mit meinem Pferd spielen«, sagte er. »Shuunka ist ein gutmütiges Tier, du brauchst keine Scheu vor ihm zu haben.« Das Mädchen blickte seine Mutter fragend an und die nickte kaum merklich mit dem Kopf. Freudestrah lend sprang die Kleine auf und lief zur nahen Koppel, wo sich Pferd und Schafe friedlich die spärlichen Gras halme teilten. Little Bear spürte eine innerliche Erregung, die er sich nicht erklären konnte. Er fühlte sich zu dieser Fa milie hingezogen, als wäre ein unsichtbares Band zwi schen ihnen geknüpft. Der Junge wusste nur nicht, warum. Die Mutter der beiden Mädchen schien ihm vertraut, wie eine Person, die er seit langem zu kennen schien. »Wäre es unhöflich zu fragen, wer in der einsamen Hütte dort hinten lebt?«, fragte er die Frau. Sie versuch te seinen Blicken auszuweichen, schließlich sagte sie mit leiser Stimme: »In jenem Haus wohnt Schlangen frau, sie ist meine Mutter. Ihr Geist hat sie vor vielen
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Sommern verlassenen. Die Leute im Dorf haben Angst vor ihr. Sie sagen, sie sei eine Zauberin, die sich nachts in eine Klapperschlange verwandelt. Mit ihrem Gift töte sie einsame Wanderer, die sie in die andere Welt holt um dort ihre Seelen zu verschlingen.« Little Bear erinnerte sich an die Klapperschlange, die ihn nachts im Lager besucht hatte und ihm auftrug, dem Lied der Wellen zu lauschen. War es diese Frau ge wesen? »Schenkst du dem Geschwätz der Leute Glauben?«, wollte der Junge von der Frau wissen. »Nein«, antwortete diese und ihre Stimme wurde noch leiser. »Meine Mutter ist eine gütige, weise Frau. An manchen Tagen kehrt ihr Geist zurück, dann erzählt sie mir mit klaren Worten von Ereignissen, die gesche hen werden. Sie kennt das Geheimnis der Schöpfung. Sie sagt, der Große Geist antwortet auf ihre Fragen.« Little Bear fühlte eine innere Unruhe. >Bin ich am Ziel meiner Reise angelangt?<, fragte er sich und sein Herz begann vor Aufregung laut zu pochen. >Die einsa me Hütte, die alte Frau, die sich in eine Klapperschlan ge verwandelt — finde ich hier das ewige Licht? Brennt die Flamme, die nie erlischt in diesem Erdhaus?< »Darf ich deine Mutter besuchen?«, fragte Little Bear und es fiel ihm schwer, seine Aufregung zu ver bergen. Er sah das Erstaunen in dem Gesicht der Frau. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du willst meine Mutter besuchen?«, fragte sie ungläubig. »Diese verwirrte Großmutter, nach der die Kinder mit Steinen werfen, die verhöhnt und verspottet wird?« »Ich weiß, dass sie auf mich wartet«, entgegnete Little Bear mit sanfter Stimme. »Unsere Herzen schlagen in
einem Takt. Sie besitzt einen Schatz, den ich seit langem suche.« »Ich darf dir das nicht erlauben«, erwiderte die Frau, du musst unseren Häuptling Tonto fragen, er wird da rüber entscheiden.« »Führe mich zu ihm«, bat der Junge. Der Häuptling war ein kleiner drahtiger Mann. Sein langes schwarzes Haar bändigte er mit einem Tuch, das er um den Kopf gebunden hatte. Little Bear sagte zu dem Mann: »Ich danke dir für den warmherzigen Emp hing und für die Gastfreundschaft, die mir dein Volk entgegenbrachte. Ich möchte nicht unhöflich erschei nen, aber darf ich meinen Dank auch der Bewohnerin der einsamen Hütte dort entgegenbringen? Ich habe ein kleines Geschenk für sie.« Der Häuptling musterte den Jungen. »Es ist für Fremde gefährlich, sich der Hütte von Schlangenfrau zu nähern«, erwiderte Tonto. »Sie ist der schwarzen Magie mächtig und die dunklen Geister sind ihre Begleiter. In den Nächten, in denen der Mond sein volles Licht auf die Erde wirft, verwandelt sich die Alte in eine Klapper schlange. Ich kann nicht zulassen, dass sie dich tötet, um an deine Seele zu gelangen. Ich bin der Häuptling, wa rum willst du mir dein Geschenk nicht übergeben?« Little Bear antwortete: »Mein Vater ist ein angesehener Medizinmann vom Stamme der Lakota. Er sagt, Menschen, die ihren Geist auf Reisen schicken, erfah ren die Gnade des Großen Geistes.Wer sie ehrt und ih nen mit Demut und Respekt begegnet, dem sind die Spirits wohlgesonnen. Mit meinem Geschenk an die Großmutter möchte ich dir, Häuptling Tonto, deinem Dorf und den Menschen, die hier leben, Glück und Reichtum bescheren.«
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Der Mann dachte lange über die Worte des Jungen nach. »In dir steckt die Seele eines weisen Lehrers«, sagte er. »Gehe zu Schlangenfrau, überreiche ihr dein Ge schenk und wir werden sehen, was passiert.« »Ich danke dir«, antwortete der Junge. Inzwischen hatte es sich im Dorf herumgesprochen, dass Little Bear die Hütte von Schlangenfrau aufsuchen wollte. Erwachsene und Kinder hatten sich am Platz eingefunden. Sie sahen dem Jungen nach, wie er sich langsamen Schrittes dem Haus der Zauberin näherte. Little Bear spürte ihre Blicke in seinem Rücken. Die Behausung der alten Frau war in einem erbärm lichen Zustand. Wände und Dach waren notdürftig mit Holz und Erde abgedichtet. Die Hütte stand leicht schräg in einer Grube, in der sich Regenwasser ange sammelt hatte. >Wie kann Tonto es zulassen, dass eine Großmutter so unwürdig hausen muss<, dachte der Junge. Er betrat die baufällige Hütte. »Großmutter«, sprach er laut, »erschrecke nicht. Ich bin Little Bear und bringe dir gute Gedanken und Ge bete mit. Ich habe die Erlaubnis von deiner Tochter und von Häuptling Tonto, dich besuchen zu dürfen.« Der Junge lauschte in die Finsternis. Seine Augen ge wöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit, die ihn umgab. »Warum hast du kein Feuer, das dich wärmt?«, fragte Little Bear die alte Frau, deren Umrisse er kaum wahrnehmen konnte. Sie saß auf dem nackten Boden und starrte in die Richtung, aus der sie die fremde Stimme vernahm. »Warte«, sagte der Junge, »ich bin sofort wieder zu rück.« Er lief über den Platz und zog ein paar brennen 86
de Holzstücke aus dem Feuer. Diese trug er vorsichtig in die Hütte von Großmutter. Bald brannte dort ein kleines Feuer. Warmes Licht durchflutete das Innere des schäbigen Erdhauses. Little Bear setzte sich der alten Frau gegenüber auf den Boden. Im Schein der züngelnden Flammen konnte er ihr Gesicht sehen. Der Junge erkannte die Alte auf den ersten Blick. Ihre weißen Haare hingen in Strähnen bis zum Boden, der ausgemergelte Körper war in Lumpen ge hüllt. An ihren Füßen trug sie zerschlissene Mokassins. Ihr freundliches Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht. Sie sah Little Bear mit leeren Augen an. Nichts in ih rem Blick zeigte ihm, dass sie ihn wiedererkannte. Dagegen spülte die Seele des Jungen Bilder der Er innerung an die Oberfläche. Die schäbige Erdhütte verwandelte sich für wenige Augenblicke in das lufti ge Zelt mitten in der Wüste. Umgeben von hohen Bäumen mit grünen Blättern, die wie riesige Federn vom höchsten Punkt des Stammes baumelten. Little Bear hatte ihnen deshalb den Namen Federbäume ge geben. Er atmete den Duft der Wüste ein und die Liebe ei nes fremden Mädchens, dem er den Namen Wüsten blume gab. Diese Frau war es, die ihn fragte: »Willst du auf sie warten?« Little Bear rückte näher an Großmutter heran. Er nahm ihre Hände und streichelte sie zärtlich. Seine Fin ger fuhren über welke Haut, die sich spröde über müde Knochen spannte. »Erzähle mir von Wüstenblume«, sagte er leise. Da huschte ein kaum merkbares Lächeln über das Gesicht der Alten. Sie erwiderte den Druck seiner Hände.
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So saßen sich die beiden eine Weile stumm und bewegungslos gegenüber. Little Bear, der vergessene Krieger, und Schlangenfrau, deren Geist ruhelos zwischen den Welten wandert, um dort sein Glück zu suchen. »Erzähle mir von Wüstenblume«, bat Little Bear noch einmal. Erneut lächelte die Alte für einen Augen blick, als hätte die Stimme des Jungen ihren Geist aus weiter Ferne zurückgeholt in die einsame Hütte am Rande des Dorfes. Für wenige Augenblicke nur, um das Glück einzufangen, das längst in Vergessenheit ge raten war. Die Lippen blieben jedoch stumm. Nur ihre dunklen Augen leuchteten für den Flügelschlag eines Schmet terlings — ehe sie erneut ins Leere blickten, dorthin, wo kein Sonnenstrahl Herz und Seele wärmt. »Ich bin auf der Suche nach dem ewigen Licht«, er zählte der Junge weiter, in der Hoffnung, noch einmal diesen Glanz in ihre Augen zaubern zu können. »Ich fühle tief in meinem Innersten, dass die Suche hier ein Ende gefunden hat«, fuhr er fort. »Du, Großmutter, kennst den Schlüssel, der mich zu dem Geheimnis bringt, das die Flamme beherbergt. Geduld und Demut waren nie meine Stärke, aber du lehrst mich diese Tu genden auch ohne Worte. Ich weiß noch nicht, welches Schicksal uns verbindet, wo das Band geknüpft wurde, das uns hält. Ich werde auf deine Antwort warten.« Little Bear verstärkte noch einmal sanft den Druck seiner Hände, dann stand er auf und verließ die dunkle Behausung, die ihm zum Tempel der Erleuchtung wur de. Der Junge lenkte seine Schritte vor das Haus von Großmutters Tochter. Seine Seele lag offen, wie ein
Schatz, der aus der dunkler Tiefe ans Tageslicht geholt wurde. Er fühlte sich schutzlos und hatte Angst verletzt zu werden. Little Bear suchte die Geborgenheit einer Familie, er sehnte sich nach Liebe und Zuneigung. Die Begegnung mit Schlangenfrau hatte in ihm ein Tor geöffnet, an dessen schweren Balken er zuvor er gebnislos gerüttelt hatte. Noch wusste er nicht, welcher Zauber sich dahinter verbarg, aber die Schleier lichte ten sich mehr und mehr. Die Frau und ihre Tochter erwarteten den jungen Gast bereits voller Ungeduld. Er sah ihre großen, fra genden Augen und folgte ihnen in das Haus, das sie für ihn mit Gräsern und Blumen geschmückt hatten. Little Bear fiel es schwer über Schlangenfrau zu spre chen. Schließlich fasste er sich ein Herz und erzählte von seiner Geistreise in die Wüste. »Dort traf ich ein Mädchen«, sagte er und seine Stimme wurde schwer mütig. »Sie war wunderschön und der Duft ihrer Haut liegt noch immer wie sanfter Nebel um meiner Nase. Ich sehe sie in jeder Pflanze am Wegesrand, in jedem Vogel über mir und in jedem Stein, der zu meinen Fü ßen liegt. Ich nannte sie Wüstenblume und Schlangen frau schien sie zu kennen. Sie überreichte mir zum Ab schied dieses kleine Geschenk von ihr.« Little Bear holte den Medizinbeutel unter seinem Le derhemd hervor und zeigte ihn seinen Gastgebern, die fassungslos seiner Geschichte gelauscht hatten. Die Frau warf einen kurzen Blick darauf und begann hemmungs los zu weinen. Sie drehte sich zur Seite und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Der schlanke Körper bäumte sich unter dem Schmerz der Erinnerung auf. »Du hast Nalin getroffen«, schluchzte sie, »meine kleine, unschuldige Nalin.«
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»Ich wollte dir mit meiner Erzählung keinen Schmerz zufügen«, sagte Little Bear. »Wie konnte ich ahnen, dass Wüstenblume dich an Nalin erinnert, er zähle mir bitte von ihr.« Die Frau wandte sich wieder dem Jungen zu. Ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. »Verzeih«, schluchzte sie, »aber eine Mutter hört die Stimme ihrer Tochter, auch wenn sie aus der Welt der Ahnen zu ihr spricht.« Der Junge saß wie versteinert vor der weinenden
Frau. Ihre Worte drangen wie aus weiter Ferne an sein
Ohr, eingebettet in Wolken.
»Du meinst«, fragte er ungläubig, »Wüstenblume und Nalin sind eine Person? Ich habe an deiner geliebten Tochter in der endlos weiten Wüste mein Herz verlo ren? Ich bin Nalin in der Welt der Ahnen begegnet«, murmelte Little Bear mit tonloser Stimme. »Daher die ses unsichtbare Band des Schicksals, durch das ich mich von Anfang an mit euch verbunden fühlte.« Überwältigt von ihren Gefühlen nahmen sich Little Bear und die Frau in die Arme. Eine Mutter hatte ihre Tochter verloren und einen Sohn gefunden. »Der Lederbeutel an deiner Brust«, sagte die Frau mit leiser Stimme, »er war im Besitz von Nalin, als sie noch lebte.« »Erzähle mir von ihr«, bat der Junge, während er sich aus der zärtlichen Umarmung löste. »Nalin war unser Sonnenschein«, fuhr die Mutter fort. »Mit ihrem Lachen und ihrer Fröhlichkeit steckte sie die Menschen an, alle im Dorf mochten und verehr ten sie. Nalin liebte ihre Großmutter. Sie war eine starke Medizinfrau, die mit Heilkräutern und Heilpflanzen die Menschen von ihren Krankheiten befreite. Oft war sie mit Nalin unterwegs, um frische Krauter zu sammeln.« 90
Nun war es Little Bear, der wie gefesselt an den Lip pen der Frau hing, um ihrer Geschichte zu lauschen, der Geschichte von Nalin, seiner Wüstenblume. »Das Unheil geschah vor vier Sommern«, erzählte die Mutter weiter. »Großmutter und Nalin waren erneut aufgebrochen. Doch diesmal kehrten sie nicht zurück. Häuptling Tonto schickte Männer aus, die nach den beiden suchen sollten. Sie fanden sie am Rande einer entlegenen Wüste. Nalin war tot und Großmutter wachte neben ihr.« »Wie war Nalin ums Leben gekommen?«, wollte Little Bear wissen. »Sie war aus Versehen auf eine Klapperschlange ge treten und von ihr gebissen worden. Großmutter legte ihr Heilkräuter in die Wunde, aber das Gift war schnel ler. Von diesem Tag an kam der alten Frau kein Wort mehr über die Lippen. Sie schickte ihren Geist in die Welt der Ahnen, um dort Nalin nahe zu sein. Aus dei ner Erzählung durfte ich erfahren, dass sie meine Toch ter gefunden hat. Das macht mein Herz etwas leichter, ich danke dir dafür.« »Häuptling Tonto erzählte mir, dass Großmutter sich bei vollem Mond in eine Klapperschlange verwandelt und nach den Seelen der Menschen Ausschau hält«, un terbrach sie der Junge. »So wird es erzählt«, erwiderte die Frau. »Ich sah ei nes Nachts eine ausgewachsene Klapperschlange aus ih rer Hütte kriechen. Ich denke, es ist ihre Art Buße zu tun. Möglich, dass sie auf der Suche nach der Schlange ist, die Nalin gebissen hat. Sie lebt das Leben einer Klapperschlange, um der Wüste nahe zu sein und den Tod Nalins zu sühnen, sie will den Menschen nichts Moses antun.«
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»Ich weiß«, entgegnete Little Bear. »Schlangenfrau besuchte mich nachts in meinem Lager. Ich wollte sie töten, nicht sie mich. Der Mensch vergießt das Blut der Tiere.« Stille machte sich breit in der kleinen Hütte. Nalin war den beiden in diesem Moment so nahe, dass sie schweigend mit dem Mädchen sprachen, jeder für sich. Little Bear war es, der den Vorhang der Stille zur Seite schob und sagte: »Ich gehe zu Häuptling Tonto und bitte ihn, in eurem Dorf bleiben zu dürfen. Ich habe mit Schlangenfrau einen Pakt getroffen, den ich zu er füllen habe.« Der Junge verabschiedete sich von Nalins Mutter. »Mein Haus ist dein Haus«, sagte sie zu dem Jungen. »Wüstenblume möchte, dass du ihren Platz in unserer Familie einnimmst.« Little Bear drückte die Frau sanft an seine Brust. »Danke, Mutter«, murmelte er mit stockender Stimme. »Mein Herz drängte nach Hause zu meinem Volk, ich hatte Sehnsucht nach One Star und Red Hawk. Ich zweifelte an meiner Mission, ihr gabt mir die Kraft und das Vertrauen zurück, dafür danke ich euch.« Der Junge machte sich auf den Weg zu Häuptling Tonto. Die Kinder des Dorfes folgten ihm diesmal in siche rem Abstand. Für sie grenzte es an ein Wunder, dass der Fremde noch lebte. Tonto war überrascht von der Bitte des Jungen. Er überlegte kurz und sagte: »Dein Wunsch ist ungewöhn lich, ein stolzer junger Krieger der Lakota schlägt sein Tipi in einem kleinen Dorf fern seiner Heimat auf. Vielleicht ist es dein und unser Schicksal, dass die Win de dich hier hergeführt haben. Die Kinder lieben und 92
verehren dich, das ist ein gutes Zeichen. Respektiere unseren Frieden und sei willkommen.« Little Bear zog in das Haus von Nalins Mutter und nahm den Platz von Wüstenblume ein. Er folgte den Spuren, die das Mädchen in den Herzen der Menschen hinterlassen hatte. Für Schlangenfrau baute er eine neue Hütte, größer und geräumiger als die alte Behausung, Die Kinder beobachteten sein Treiben aus sicherer Ent fernung. Bis ein Mädchen zu ihm kam und fragte: »Wa rum baust du für Schlangenfrau ein neues Haus?« »Das alte ist schäbig«, antwortete der Junge. »Groß mutter kann sich nur schwer vor dem Regen schützen. Sie ist müde und sehnt sich wie du nach Sonnenschein und Liebe, warum sollte ich ihr diesen Wunsch verwei gern? Wir sind jung und stark, wir müssen das Alte be wahren, es darf nicht in Vergessenheit geraten.« Das Mädchen zögerte. »Du hast Angst vor Schlan genfrau?«, fragte Little Bear. Sie nickte. »Komme mit mir, ich möchte dir meine Großmutter vorstellen«, sag te er Junge und nahm das Mädchen bei der Hand. Die Kinder hielten den Atem an, als die beiden die Hütte von Schlangenfrau betraten. Das Mädchen sah eine ängstliche, alte Frau auf dem nackten Boden kau rin. Da war keine Spur von bösem Zauber und einer Klapperschlange, die sich heimtückisch um die Beine der Menschen schlängelt. »Diese alte, kranke Frau sucht nach dem Licht in den Herz der Kinder«, sagte Little Bear zu dem Mädchen. "Reiche ihr die Hand und schließe Frieden.« Die Kleine berührte vorsichtig die Finger von Schlangenfrau. »Sie fühlt sich an wie meine Großmut ter« , sagte das Mädchen und lächelte. Anschließend trat
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vor die Türe und sagte zu ihren Freunden: »Sie ist keine böse Klapperschlange, sie hatte Angst vor mir und ich habe ihre Hand gestreichelt.« Vorsichtig kamen die anderen Kinder näher. Nach und nach warfen sie einen scheuen Blick in die Hütte von Schlangenfrau. Der Bann war gebrochen. Am nächsten Morgen brachten die Kinder Geschen ke mit. Warme Decken, Strohmatten und selbst gebas
telten Schmuck. Einige von ihnen blieben in der Hütte
sitzen und erzählten Schlangenfrau wunderschöne Ge schichten.
Für Little Bear waren dies Momente des reinen Glücks. Er sprach zu dem Falken: »Das ewige Licht, nach dem ich suche, um Unheil von meinem Volke ab zuwenden — mir ist, als brenne es momentan in meiner Brust. Sind die strahlenden Augen von Schlangenfrau nicht Licht genug im Dunkel meiner Sehnsucht?« »Denke an den Traum von Red Hawk«, antwortete der Falke, »Dein Vater hat die Zeit in Gang gesetzt. Die zerstörerische Macht, die dein Volk und die heiligen Dinge heimsuchen wird, lässt sich nicht mit der Freude einer alten Frau bekämpfen. Ich fürchte, du musst wei ter nach dem ewigen Licht suchen.« »Du warst mir stets ein weiser Ratgeber«, entgegnete Little Bear. »Schlangenfrau übergab mir in der Wüste den Medizinbeutel mit den Worten: >Er ist der Schlüs sel zu deiner inneren Glückseligkeit<. Dieses Geheim nis gilt es zu ergründen. Das ewige Licht und die Ret tung meines Volkes liegt in den Händen dieser alten Frau. Ihr Geist, der mit Nalin zwischen den Welten wandert, wird mir die Antwort geben, ich werde darauf warten.« 94
Es war eine Vollmondnacht, als Little Bear in das Haus von Schlangenfrau trat. Die alte Frau saß auf den bun ten Decken, die sie von den Kindern geschenkt be kommen hatte. Sie lächelte und ihre Augen strahlten. »Guten Abend, Großmutter«, begrüßte sie der Junge. »Der Schöpfer schenkte uns eine wunderschöne Nacht. Stütze dich auf mich und lass uns mit den Sternen ge hen.« »Es ist die Nacht der Nächte«, antwortete Schlangen frau mit klarer Stimme. »Heute entscheidet sich unser beider Schicksal. Wir müssen den Bestimmungen fol gen, die uns auferlegt wurden.« Little Bear lauschte der vertrauten Stimme. So hatte auch die Klapperschlange zu ihm gesprochen und die alte Frau in der Wüste, wo die heiligen Dinge ihre Ru hestätte haben. »Dein Geist ist zurückgekehrt, Großmutter«, sagte der Junge leise, um den Zauber nicht zu erschrecken. »Er ist ein Suchender, der zwischen den Welten wan dert«, antwortete Schlangenfrau. »Der Tod von Nalin ließ ihn ruhelos werden. Mein Geist hat den Frieden verloren. Er sucht verzweifelt nach dem wahren Glück, das er bereits einmal in Händen hielt und das ihm ent glitten ist.« »Werde ich zum Ruhelosen, wenn mein Geist in der Welt der Ahnen nach Wüstenblume sucht?«, fragte Little Bear. Schlangenfrau schwieg einen Moment, ehe sie ant wortete: »Wer sein Glück nicht in der Wirklichkeit auf spürt, sondern in den Welten, die jenseits des Horizonts liegen, der wird zum ewig Suchenden. Nalin darf nicht zur Quelle deiner Liebe werden. Reise zu ihr, wenn du in ihr deine Bestimmung gefunden hast.Werde nicht wie 95
ich, die Mutter Erde und die Zeit nicht mehr spürt. Die Wirklichkeit muss der Mittelpunkt deines Lebens blei ben.« Die Worte von Schlangenfrau wüteten wie ein Wir belsturm in seinem Herzen. Sie entfachten ein Feuer, das schmerzlich in der Seele brannte. »Du sprichst wahr«, sagte Little Bear schließlich. »Ich habe auf Erden eine Aufgabe zu erfüllen. Ich muss den Traum meines Vaters rückgängig machen, um mein Volk und die heiligen Dinge vor dem Untergang zu bewahren.Verrate mir, wo ich das ewige Licht finde, das mir den Weg aus diesem Traum weist. Du kennst sein Geheimnis.« »Das ewige Licht«, murmelte Schlangenfrau, »es brennt nicht in der Hütte einer Ruhelosen. Kehre zu rück zu deinem Volk. One Star und Red Hawk warten auf deine Rückkehr. Ihre Herzen tragen schwer an der Einsamkeit, die sie ohne dich verspüren. Bevor deine Ankunft in den Tipis gefeiert wird, steige auf den Berg, der sich an der Grenze zur Prärie erhebt. Bete dort vier Tage und vier Nächte zu Wakan Tanka, dem Großen Geist der Lakota. Entsage in diesen vier heiligen Tagen Nahrung und Wasser. Faste den Spirits zu Ehren und warte auf die sechs Wolkenmänner.« Little Bear spürte, dass die Zeit des Abschieds ge kommen war. Er wollte Großmutter noch einmal in die Arme nehmen, ihre welke Haut spüren. Doch die alte Frau war verschwunden, wie in Luft aufgelöst. Der Jun ge blickte sich irritiert in der Hütte um. Da sah er eine große Klapperschlange, die sich durch eine Öffnung nach draußen schlängelte. »Mein Weg führt mich hinaus in die Wüste, wo Nalin zu den Ahnen ging«, hatte Großmutter gesagt. 96
»Finde deinen Frieden und grüße mir Wüstenblume, ich bete für euch«, rief der Junge der Schlange nach. Dann holte er schweren Herzens Shuunka von der Weide. Sein Hab und Gut ließ er im Haus von Nalins Mutter. Er wollte die tapfere Frau und ihr Mädchen nicht wecken und für klärende Worte war die Sehn sucht zu groß. Der Junge brach sofort auf. »Meine Gedanken sind mit euch, ihr lieben Menschen«, sagte er, als sein Pferd die letzte Hütte passiert hatte. »Shuunka, führe uns nach Hause«, flüsterte er dem treuen Tier ins Ohr.
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waren viele Monde unterwegs, als der DieDuftbeiden der Prärie Little Bear aus seinen Gedanken holte. »Wir sind angekommen«, flüsterte er seinem Herzen zu. Grashügel schmiegte sich sanft an Gras hügel. Das Grün stand hoch, es war die Zeit der reifen Früchte. Shuunka lief wie beflügelt, als spürte er die Freude des Jungen. Vor ihnen tauchte der Berg auf, von dem Schlan genfrau gesprochen hatte. Er erhob sich inmitten des Graslandes wie ein steiler Kegel, mit schroffen Fel sen und Bäumen, an denen feste, spitze Nadeln wuch sen. Am Fuße des Berges weideten eine Hand voll Büffel. In ihrer Nähe schlug Little Bear sein Lager auf. Er er innerte sich an die Worte von Großmutter: »Steige auf die Spitze des Berges und bete dort vier Tage und Nächte ohne Nahrung und Wasser zu Wakan Tanka. Faste den Spirits zu Ehren und warte auf die sechs Wol kenmänner.« »Die sechs Wolkenmänner«, sagte der Junge zu sei nem Pferd und tätschelte dabei liebevoll seinen Hals. »Werden sie mir das ewige Licht überreichen?« Er blickte hoch zum Gipfel des majestätischen Ber ges. Entscheidet sich hier das Schicksal meines Volkes und das der heiligen Dinge?<, fragte er sich. Er konnte die Antwort kaum abwarten. Im letzten Dämmerlicht der Sonne machte sich Little Bear auf, den Gipfel des Berges zu erklimmen. Der Anstieg war 99
steil und er musste manche Rast einlegen, um frischen Atem zu schöpfen. Der Mond hatte die Sonne am Nachthimmel abgelöst, als der Junge sein Ziel erreichte. Es setzte sich auf einen Felsen. Ein kühler Wind kam von Norden her und Little Bear hüllte sich in eine löchrige Decke, die ihm noch geblieben war. »Wakan Tanka«, betete er, »du großes Geheimnis, er höre mich. Ich, Little Bear, sitze hier, in Ehrfurcht und Demut. Schicke mir die sechs Wolkenmänner, ich bitte für mein Volk und für die heiligen Dinge. Ich faste den Spirits zu Ehren, so, wie es Schlangenfrau mir aufgetra gen hat.« Die Nacht verging und auch der folgende Tag und die nächste Nacht.Von Hunger und Durst geschwächt, erwartete Little Bear den Morgen und die darauf fol gende Dämmerung. Immer wieder fiel er erschöpft in den Schlaf. Verzweifelt versuchte er die Augen offen zu halten, in panischer Angst, die Wolkenmänner könnten unbemerkt an ihm vorbeiziehen. Der vierte Tag kündigte sich an. Little Bear war der Ohnmacht nahe. »Wakan Tanka, ich habe keine Kraft mehr«, flehte er mit zitternder Stimme. »Wenn du mich retten willst, schicke mir ein Zeichen, ich bin am Ende meines Lebens angelangt. Die Prüfung, die du mir hier auferlegst, ist zu schwer für einen Jungen wie mich. Ihr Spirits, habe ich versagt? Lasst mich sterben und gebt den Weg frei, der mich zu Nalin führt. Sie wartet in der Welt der Ahnen auf mich.« Da vernahm der Junge eine Stimme. »Little Bear, die Wolkenmänner rufen dich, ich führe dich zu ihnen.«
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Der Junge blicke hoch und sah den Falken über sich schweben. »Du, Falke, Geist meines Herzen?«, fragte er erstaunt. »Wakan Tanka hat dein Flehen erhört«, antwortete der Vogel. »Steige auf meinen Rücken, ich bringe dich zu den sechs Hütern der Lelah wakan, der kraftvollen, heiligen Dinge.« Der Falke flog mit Little Bear bis zu einer sanft dahin schwebenden Wolke, in deren Mitte sich ein prächtig bemaltes Tipi erhob. »Sie warten auf dich«, sagte der Vogel und ließ den Jungen absteigen. Der näherte sich vorsichtig dem Zelt, das von zwei Adlern bewacht wurde. Es waren seine Brüder, die ihn willkommen hießen. »Meine Kolas«, flüsterte Little Bear und begegnete ihren Blicken mit tiefer Zunei gung und Dankbarkeit. Dann stieg er durch die kreis runde Öffnung in das Zelt. Es war leer. Der Junge stand eine Weile regungslos auf dem Teppich aus flauschigen Wolkenkindern, als er den dumpfen Laut einer Trommel vernahm, der von außen näher kam. Ein Duftschwall aus Krautern und getrockneten Blumen trug die Laute in das Innere des Zeltes. Es roch nach Disteln und Moos, nach Sonne, Regen und Schnee, nach Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Trommelschlag wurde lauter und mit einem Male betraten sechs alte Männer das Tipi. Sie setzten sich wortlos im Halbkreis um Little Bear. Ihre Körper waren wie durchsichtig, sie schimmerten in einem zar ten Blau, umstrahlt von einem Kranz aus glitzernden Tautropfen, in denen sich das Licht der Sonne brach. Sie hatten schlohweißes Haar, das ihnen über die
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Schulter fiel. Ihre nackten Körper waren in Decken ge hüllt. Einer der Wolkenmänner sprach: »Du hast uns rufen lassen, Little Bear, hier sind wir.« »Ihr weisen Männer«, antwortete der Junge, »ich bin auf der Suche nach dem ewigen Licht, das die heiligen Dinge meines Volkes vor dem Vergessen zu retten ver mag. Das Meer spülte mich in die Wüste, jenem Ort, an dem die heiligen Dinge zu Staub geworden sind, wo die Wünsche und Sehnsüchte meines Volkes begraben liegen. Helft mir, den Traum meines Vaters rückgängig zu machen und die Zeit anzuhalten, damit die Wüste und die heiligen Dinge wieder zu Leben werden. Ich muss mein Volk vor dem Untergang bewahren.« Die sechs Wolkenmänner blickten auf den Jungen, der ohne Scheu vor ihnen stand. Einer sagte zu Little Bear: »Du trägst den Stolz eines Kriegers, die Güte eines Lehrers, die Gabe des Sehers und die Kraft des Heilers in deinem Herzen. Du hast vier Tage und vier Nächte auf diesem Berg gefastet und gebetet. Er soll dir zu Ehren den Namen Bear Butte tragen. Erzähle deinem Volk davon. Sage den Men schen, dass sie hier beten und fasten sollen, um Wakan Tanka und den Spirits nahe zu sein. Der Bear Butte ge hört von nun an zu den heiligen Orten, die es zu ehren gilt. Führe die Frauen und Männer an diesen heiligen Platz, wo der Adler schreit und ihnen den Atem des Schöpfers in die Herzen pflanzt, der den Menschen die Visionen bringt. Der Bear Butte ist die Ruhestätte des Universums auf Erden. Lasst Geschenke zurück für die Spirits, damit eure Wünsche und Hoffnungen in Erfül lung gehen mögen. Es mag der Tag kommen, an dem Fremde die Lakota bitten, am Bear Butte fasten und be
ten zu dürfen. Heißt sie willkommen. Orte, die den Spirits geweiht sind, haben Zugang zu allen Herzen.« Der Wolkenmann sprach erneut: »Little Bear ist in die Welt der Geister und Ahnen gereist, um Unheil von seinem Volk abzuwenden. Die Wüste der Ahnen war nicht die letzte Ruhestätte der heiligen Dinge, wie du dachtest, nicht der Ort, an dem sie zu Staub wurden, sondern du hast sie dort erschaffen. Du warst in der Welt der Ahnen, als die Zeit noch unverbraucht war.« »Ich habe die heiligen Dinge erschaffen?«, fragte der Junge erstaunt. »Der Sturm und der Sand versuchten mir das Grab zu schaufeln, heilige Dinge habe ich dort nicht gesehen.« Der Wolkenmann lächelte gütig. »Erinnere dich«, entgegnete er. »Du hast die heiligen Dinge in den Sand gemalt und den Büffel gebeten sie zu behüten. Er hat es getan, bis zu diesem Tage. Von heute an, Little Bear, wirst du es sein, der die heiligen Dinge hütet und be schützt. Es liegt in deiner Macht, sie vor dem Vergessen zu bewahren.« »Ich vermag euren Worten nicht zu folgen«, sagte der Junge mit stockender Stimme. »Ich bin der Hüter der heiligen Dinge? Sollte ich nicht das ewige Licht von euch überreicht bekommen, das diese würdevolle Auf gabe übernimmt?« »Du hast das ewige Licht bereits gefunden«, antworte te der Wolkenmann, »es ist in dir, die Flamme lodert in deinem Herzen. Die Erkenntnis, dass heilige Dinge be seeltes Leben sind, das behütet und geschützt werden muss, bewahrt sie vor dem Vergessen. Ein Volk, das seine geistigen Wurzeln verfaulen lässt und die heiligen Dinge aus seinem Leben verbannt, geht in die andere Welt, in cm Dasein ohne Demut und Ehrfurcht, ohne Dankbar
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keit und Liebe zu den geistigen Mächten. Der Mensch vergisst die Spirits und die Spirits vergessen ihn.« Ein weiterer Wolkenmann sprach zu Little Bear: »Der Traum von Red Hawk hat dein Schicksal herausgefor dert. Träume weisen dir den Weg in eine Zeit, die kommen wird. Die Flamme in dir leuchtet die dunklen Wege aus, die dem Schicksal vorauseilen. Das Licht der Erkenntnis gibt dir die Möglichkeit, die Pfade zu ver lassen und deine Schritte in eine andere Richtung zu lenken. Es liegt in der Macht des Einzelnen, sein Schicksal abzuwenden, das ihm in Träumen offenbart wird. Du hast es für dein Volk getan, das ehrt dich be sonders. Wir sind gekommen, um dir die heiligen Dinge zu überreichen, die du in der Wüste für die Menschen erschaffen hast. Überreiche mir den kleinen Leder beutel, den du an deinem Herzen trägst.« »Er ist ein Geschenk von Wüstenblume«, entgegnete der Junge, »was habt ihr mit ihm vor?« »Er trägt große Macht in sich«, antwortete der Wol kenmann und streckte seinen Hand aus. Little Bear übergab ihm zögernd den Medizinbeutel. Der Wolken mann öffnete ihn und leerte den Inhalt in seine linke Hand. Es war Sand aus der Wüste, dem Land der Ah nen, als die Zeit noch unverbraucht war. Jeder der Wol kenmänner bekam einen Teil davon ab, den Rest be hielt er selbst in der Hand. Er formte aus dem Sand das Geweih eines Hirsches und sprach: »Ich bin der Geist des Westens, ich bin der Lehrer in deinem Herzen. Der Hirsch war der Ratge ber deines Vaters, sein Wissen soll auf dich übergehen. Dazu reiche ich dir eine Schale mit Wasser. Ehre damit sämtliche Tiere die im Wasser leben. Es ist heiliges Was ser, das kranke Wesen gesunden lässt.« 104
Der zweite Wolkenmann sprach: »Ich bin der Geist des Nordens, ich bin der Krieger in deinem Herzen. Ich bringe den Schnee und den reinigenden Wind.« Er formte aus dem Sand die Adlerfeder. »Diese Feder steht für alle geflügelten Geschöpfe«, sagte er. »Zudem reiche ich dir diesen Bogen mit zwei Pfeilen. Der eine tötet, der andere beschützt. Überlege wohl, welchen der bei den Pfeile du von der Sehne lässt.« Dann sprach der dritte Wolkenmann: »Ich bin der Geist des Ostens, ich bin der Seher in deinem Herzen. Ich forme aus dem Sand die heilige Pfeife. Das Wissen der gesamten Menschheit ist in ihr. Rauche die Chanu pa und bete mit dem Geist, der in den Himmel steigt. Diese Pfeife erinnert dich stets an die Verantwortung, die du gegenüber deinem Volk trägst. Halte sie in Ehren und übergebe sie in Demut und Dankbarkeit der nächsten Generation. Dazu überreiche ich dir diese Flamme, die symbolisch das ewige Licht darstellt, nach dem du so lange gesucht hast.« Es sprach der vierte Wolkenmann: »Ich bin der Geist des Südens, ich bin der Heiler in deinem Herzen. Ich forme aus dem Sand die Trommel, die mit dem Herzen deines Volkes schlägt. Reise mit ihr in die Welt der Geis ter und hole dir Rat von den vierbeinigen Geschöpfen, wenn die Kranken zu dir kommen. Mit jedem Trommel schlag öffnest du die Türe zu den Kräften, die jenseits liegen. Mit der Trommel überreiche ich dir diese Pflan ze. Lasse sie wachsen, damit die nächsten sieben Genera tionen sich an dem Grün der Blätter erfreuen können und sie ausreichend Schatten vor der Sonne haben.« Der fünfte Wolkenmann sprach: »Ich bin der Geist von Mutter Erde. Ich gebe dir den Sand der Wüste zu rück. Er ist der Ursprung allen Lebens und die Quelle 105
der Liebe. Die Erde ist deine Mutter, achte und ehre sie. Wer seine Mutter verletzt, wird die Schmerzen selbst zu spüren bekommen. Erzähle dies den nächsten Genera tionen. Der Sand soll die Menschen daran erinnern, dass die Erde wieder zur Wüste werden kann, wenn sie die Liebe ihrer Kinder nicht mehr verspürt.« Der letzte Wolkenmann war der Geist des Himmels. Er sprach: »Ich forme aus dem Sand deinen Bruder, den Adler. Von heute an ist Wanblee dein geistiger Führer und Begleiter. Er bringt deine Botschaften zu Wakan Tanka, dem Großen Geist. Fliege mit ihm über die Grenzen hinweg, die du dir selbst gesteckt hast. Der Adler gibt dir zu verstehen, dass das Leben grenzenlos ist. Er nimmt die Stelle des Falken in deinem Herzen ein. Von nun an wird der Adler zu dir sprechen.« Da sang der mächtige Vogel dieses Lied: »Metro kab eto-e nmena re waian kajohe Me
hekta beto ina Minari
waian kajohe
Metro kab eto-e namena re waian kajohe
Wamblee gleshka wa
Narixa petsch:o
letsche komo jankelo
Ich bin der gefleckte Adler Schau nach vorne
und du wirst meinen Schatten sehen
wie ich über dir fliege
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Schau nach hinten und du wirst meinen Schatten sehen wie ich über dir fliege denn ich bin die Weisheit des Schöpfers Schau nach vorne und du wirst meinen Schatten sehen Schau nach hinten und du wirst meinen Schatten sehen denn ich bin die Weisheit aller Geschöpfe« Little Bear war zu Tränen gerührt. Mit stockender Stimme sagte er: »Ich danke dir, mein Bruder, für dieses wunderschöne Lied. Ich werde es künftig für dich sin gen, wenn du die Stimme meines Herzens bist. Und ich danke euch, ihr Wolkenmänner, für die wunderbaren Geschenke, die ihr mir vermacht habt. Der Junge blick te dabei auf die heiligen Dinge, die zu seinen Füßen la gen. Er hob die Pfeife auf und betrachtete sie liebevoll. Der Stiel war aus festem Holz geformt, verziert mit blauen und roten Perlen. Der Kopf war aus rotem Stein gearbeitet, in ihm war das Haupt eines Bären zu erken nen. >Ich habe eine Pfeife mit der Kraft des Bären<, dachte der Junge. >Das ist eine gute Medizin.< Die Wolkenmänner fragte er: »Wo ist der Falke, dem ich die Weisheit verdanke und das Licht, in dem ich ste he? Ohne meinen gefiederten Lehrer, Ratgeber und Freund würde ich nicht vor euch stehen, ich möchte ihm dafür danken.« Kaum hatte Little Bear die Worte zu Ende gespro chen, da kam der Falke in das Zelt geflogen. Er setzte sich neben den sechsten Wolkenmann. Doch kaum hat te der Vogel den Boden berührt, verwandelte er sich in 107
eine alte Frau, mit einem Gesicht aus Stein, bewachsen mit Moos und Flechten. Little Bear erschrak heftig, für einen Moment dachte er, sein Herz höre auf zu schlagen. >Ich kenne dieses Weib<, sagte er zu sich, >sie ist mir bereits zweimal begegnet. Sie war die steinerne Alte im Traum meinem Vaters. Sie war es, die über die Tränen von Red Hawk lachte und sich anschließend in einen Wirbelwind verwandelte. Und dieses schlimme Weib, das die Trauer meines Vaters mit Füßen trat und mein Volk verdammte, soll mein Falke gewesen sein, der wei se Lehrer, dessen Stimme in meinem Herzen mich nachts zum Medizinmann werden ließ?< »Deines Vaters Traum hat sie so alt werden lassen«, nahm einer der Wolkenmänner Little Bears Gedanken auf. »Es war die Zeit, die dir zum Lehrer und Ratgeber wurde. Sie gab dir die Erkenntnis, dass große Dinge wachsen müssen. Es ist die Zeit, die euch Menschen lehrt, Vertrauen in den Atem Wakan Tankas zu haben. Es ist nicht die Zeit, die vergeht, es ist der Mensch, der die Vergänglichkeit als Bild seiner selbst sieht. Du kannst dein Schicksal auf erleuchtete Pfade lenken, wenn du Geduld und Vertrauen hast und die Zeit dein Freund ist.« Little Bear betrachtete die Alte. »Du hast in meiner ersten Geistreise das Seil über die Klippen geworfen. Deine Worte waren voller Hass und Abscheu, warum hast du das getan?«, fragte er. »Ich habe dein Schicksal beeinflusst«, antwortete die Alte. »Du warst gezwungen, dich mit den Adlern zu verbrüdern, die Erkenntnis, dass eure Herzen im selben Takt schlagen, musstest du erfahren. Worte können Er fahrungen nicht ersetzen, sie können dich auf dem Weg der Suche nur begleiten.«
Der Junge bekam Mitleid mit der Zeit. »Mein Vater hat das nicht gewollt, dass du so alt wirst«, sagte er. »Ich weiß«, antwortete die alte Frau, »auch ich unter liege meinem Schicksal.« »Wie kann ich dir helfen, es zu verändern?«, fragte Little Bear. »Liebe mich«, antwortete sie. »Liebe und akzeptiere mich so, wie ich dir gegenübertrete.« »Das möchte ich gerne tun«, entgegnete der Junge, »und ich werde den Menschen von dir erzählen. Ich werde ihnen sagen, dass sie nicht hadern sollen mit den Augenblicken, die an einer langen Kette aufgereiht, ihr Leben bedeuten. Wenn sie dem Augenblick achtsam begegnen, wirst du ihr Kola sein.« »Erzähle deinem Volk von deinen Erlebnissen und lasse die Menschen an deinen Erfahrungen teilhaben«, sagte einer der Wolkenmänner zu Little Bear. »Wir ha ben unsere Aufgabe erfüllt, deine liegt noch vor dir. Nimm die heiligen Dinge und gehe damit nach Hause. One Star und Red Hawk sind voller Sorge, erlöse sie von ihren Zweifeln.« Die Wolkenmänner und das Tipi lösten sich auf, wie Nebel, der morgens den Sonnenstrahlen weicht. »Ich möchte dir noch eine letzte Erfahrung mit auf den Weg geben«, sagte die Zeit, die bei dem Jungen ge blieben war. Sie berührte die weiße Wattewolke unter den Füßen von Little Bear. Mit einem Male wurde sie schwarz und dunkel, der Himmel verfinsterte sich, Blitz und Donner entluden sich. »Lebe wohl, Little Bear«, verabschiedete sich die Alte. Die schwarze Wolke zog den Jungen sanft in sich. Er fühlte den Augenblick, als sein Körper sich auflöste und eins wurde mit dem Atem des Schöpfers. Als nackter
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Junge flog er hoch zu den Wolkenmännern, als Regen kehrte er zurück auf Mutter Erde, jeder Wassertropfen beseelt mit dem Geist von Little Bear, dem Lakota. Er benetzte Bäume, Sträucher, Steine, Tiere und Men schen. Er schenkte Leben und brachte den Tod. >Ich bin eins mit allen Lebewesen<, dachte Little Bear. >Ich bin Reh und Maus, Berg und Tal, Prärie und Wüste, Mensch und Geist. Ich kenne keinen Unterschied von Sprache und Herkunft, Hautfarbe und Glaube, ich bin Universum und Unendlichkeit, aufgelöst in Wassertrop fen, eingebettet im Kreislauf des Lebens. Das ewige Licht leuchtet dem, der dies erkennt und erfährt. Ich musste zu Regen werden, um eins zu sein mit den Geschöpfen und ihrem beseelten Dasein. Ich, der Lakota-Junge werde das Licht der Erkenntnis in die Welt tragen.< Als Regentropfen fiel Little Bear auch in das Tipi seiner Eltern. Er spürte sich ankommen und schlug die Augen auf. Er lag in seiner Schlafecke, zugedeckt mit Büffelfel len, die ihn warm hielten. Er blickte in das Gesicht sei ner Mutter, die sich über ihn gebeugt hatte. Plötzlich sprang sie auf, lief vor das Zelt und schrie: »Little Bear lebt, er lebt, er hat seine Augen geöffnet.« Dann kam sie zurückgelaufen, stürzte sich auf ihren Sohn und deckte sein Gesicht mit zärtlichen Küssen ein. »Du lebst«, hauchte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Wakan Tanka hat unsere Gebete erhört«, sagte sie, »er hat dich mir zurückgebracht, ich hatte kei ne Hoffnung mehr.« Das Tipi füllte sich mit Menschen, die Little Bear willkommen heißen wollten. Sein Freund Running Bird kniete sich zu ihm nieder, flüsterte: »Bald können
wir wieder zusammen über die Prärie reiten und Trut hähne jagen, ich habe dich vermisst, mein Kola.« Little Bear versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was war geschehen? Er konnte die Aufregung um seine Per son nicht verstehen. Wo war sein Pferd und wo waren die heiligen Dinge abgelegt, die er von den Wolken männern erhalten hatte? »Warum weinst du, Mutter?«, fragte er. »Hat Run ning Bird meine Nachricht nicht überbracht, dass ich dem Ruf des Falken zu folgen habe, um unser Volk vor dem Untergang zu bewahren?« One Star streichelte zärtlich die Haare aus dem Ge sicht ihres Sohnes. »Eine böse Krankheit hatte sich dei ner bemächtigt«, antwortete sie. »Du lagst viele Monde im Fieber, dein Körper glühte vor Hitze, bis das Leben aus dir wich. Dein Atem war noch schwach zu spüren, doch du warst wie tot, gebettet in einer anderen Welt, die ich nicht kenne und die mir Angst machte. Ich habe Augenblick für Augenblick an deinem Lager Wache ge halten und gebetet — und geweint. Dein Vater tanzte vier Tage in der glühenden Sonne, er bat Wakan Tanka, dieser möge deinen Geist aus der Spiritwelt holen. Er hat es getan, und dafür danke ich ihm.« Red Hawk kam an das Krankenlager seines Sohnes. Er drückte Little Bear an sich. Es war das erste Mal, dass der Junge die Tränen seines Vaters auf der nackten Haut spürte. »Ich habe dich wieder«, stammelte der Medizin mann, »ich habe dich wieder.« Der alte Lakota schämte sich seiner Gefühle nicht. Als er den abgemagerten Körper seines Jungen vorsich tig auf das Lager zurücklegte, sagte er: »Vor dem Tipi fand ich diese Geschenke, jemand Unbekannter muss sie dort niedergelegt haben.«
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Er zeigte Little Bear das Geweih eines Hirsches, eine mit blauen und roten Perlen verzierte heilige Pfeife, eine Adlerfeder und eine Trommel, bemalt mit einem Berg und dem Kopf eines Bären. »Es sind die heiligen Dinge, die mir von den Wolken männern übergeben wurden«, flüsterte Little Bear sei nem Vater ins Ohr. »Ich habe eine weite Reise hinter mir«, fuhr der Junge fort. »Ich habe euch viel zu erzäh len, du musst den Rat der Alten zusammenrufen, unser Volk ist in großer Gefahr.« Und zu seinem Herzen sprach er: »Die heiligen Dinge vor dem Vergessen zu retten ist eine ehrenvolle Auf gabe, der ich mich stellen werde. Die Liebe jedoch steht vor allen Dingen. Ich reite morgen zu Nalin, sie wartet auf mich in einem Erdhaus, dort, wo die Klapper schlange mit einem müden Wanderer das Nachtlager teilt.«
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