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Die Bruderschaft des Schwertes Roman von Austin Osman
Sarrak, der Krieger aus der Hölle, hatte sie gegründet. Er h...
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Die Bruderschaft des Schwertes Roman von Austin Osman
Sarrak, der Krieger aus der Hölle, hatte sie gegründet. Er hatte die Gangs Manhattans ausradiert und nur die Besten unter sich vereint. Sie waren bereit gewesen, die Herrschaft über die Stadt anzutreten. Aber dann war Sarrak gestorben, ermordet worden von einem Vampir. Doch sie würden ihn rächen. Sie würden alle Blutsauger der Stadt vernichten. Sie waren nur Sterbliche, doch sie konnten es schaffen. Denn sie waren Sarraks Erben. Sie waren die Bruderschaft des Schwertes
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Eine Sekunde reichte, um alles zu ändern. Eben noch war der Warteraum der Privatklinik ein friedlicher Ort. Mit seinen sorgfältig gepflegten Palmen, dem plätschernden Springbrunnen, den kunstvollen Wandmalereien und dem Schimmer von Marmor und Edelmetall hätte er perfekt in den exklusiven Palast eines sehr reichen und sehr kultivierten Mannes gepasst. Eben noch saßen Kinder in den liebevoll eingerichteten Spielecken, liefen um den Brunnen oder drängten sich, quengelnd vor Müdigkeit, auf den Schoß ihrer Mütter. Fast alle hatten sie eine dunkle Hautfarbe, denn an diesem Abend war Doktor Gilles wieder für all jene Unterprivilegierten New Yorks da, die sich oder für ihre Kinder niemals eine angemessene medizinische Behandlung leisten konnten. Doktor Gilles öffnete seine Praxis mehrmals in der Woche für diese Bedürftigen, während sich hier ansonsten die Schönen und Reichen die Klinke in die Hand gaben, um wesentlich weniger reich, aber dafür schöner oder gesünder zu werden. Eben noch hatte Cynthia, die Empfangsdame, die sich in ihrem Äußeren der glanzvollen Umgebung anpasste, zum Telefonhörer gegriffen, um einen Termin festzumachen: »Es tut mir Leid, aber es geht wirklich nur um diese Zeit. Wie Sie wissen legen unsere Kunden Wert auf absolute Diskretion, und daher müssten Sie sich schon zu dieser Stunde hierhin bemühen . . . Fein, dann kann ich den Termin also eintragen, Misses ...« Dann riss sie die Augen weit auf, fuhr in die Höhe, um in dieser Position wie eingefroren stecken zu bleiben. Der Telefonhörer entfiel ihren Händen und gab ein ungeduldiges Dauerzeichen von sich. Dann wurden die Mütter aufmerksam, die Kinder schauten zur Tür. Die Eingangstür barst. Brutale Tritte ließen sie erzittern und dann aufbrechen. Die beiden schweren Türflügel wurden aus den Angeln geschmettert, stürzten in den Raum, schlitterten noch ein Stück über den glänzenden Boden. Es war weniger der Lärm oder die Überraschung, als die unverhüllte Gewalt, die hinter dieser Aktion stand, die alle Anwesenden in einen Schockzustand versetzte. Schwarz gekleidete Männer, die Meisten waren noch jung, sprangen durch die Tür und besetzten alle weiteren Ausgänge. Die leise Effektivität, mit der sie vorgingen, wirkte in der einbrechenden Stille wie eine tödliche Bedrohung. Es war die vollkommene Selbstbeherrschung eines Tigers in der Sekunde vor dem Sprung. Die Eindringlinge trugen unter ihren langen Mänteln schwere Messer und Macheten. Einige hatten Pumpguns oder abgesägte Schrotflinten. Quer über der Brust trugen sie Ledergürtel, an denen seltsame spitze Holzpflöcke befestigt waren. 4
Um den Hals hatten sie, als eine Art Abzeichen, ein weißes Tuch gewickelt. Bei zweien oder dreien von ihnen, die nur Lederwesten trugen, konnte man eine Tätowierung an der Schulter erkennen - ein gezacktes Schwert. Während alle anderen wie erstarrt schienen, wirkten die Männer so wie Giftschlangen, die sich durch einen Park von Statuen bewegen. Cynthia war die erste, die wieder zum Leben erwachte. Sie drückte auf den Unterbrecherknopf des Telefons und tippte die Notrufnummer der Polizei ein. Das heißt, sie versuchte es. Bevor sie bis zur zweiten Zahl gekommen war, sprang einer der Männer über die Marmortheke, die Cynthias Sitzplatz abtrennte und stieß die junge Frau zu Boden. Mit einem Ruck riss er die Telefonleitung aus der Wand. Dann beugte er sich betont langsam zu der hübschen Blondine herunter, die leise wimmernd in einer Ecke hockte. Sein Zeigefinger zielte mitten auf ihr Gesicht. »Mach das nie wieder!« Ein weiterer Mann stellte sich zu ihm. Er hielt ein riesiges Schwert in den Händen. »Was ist mit ihr«, fragte er rauh und ließ die Spitze der gezackten Klinge neben Cynthia auf den Boden schlagen. »Gerald, du meinst doch nicht ernsthaft, sie wäre eine von denen . . .?« Es gab keine Antwort. Stattdessen beugte sich der Mann, der mit Gerald angesprochen worden war, ebenfalls zu der Frau hinunter. Für einen Moment schaute er Cynthia an - große dunkelblaue Augen, in denen nun Tränen schimmerten, eine kleine Nase, ein schön geschwungener Mund über einem weichen Kinn, alles umrahmt von glänzenden blonden Locken. Ein Gesicht, in dem alles lag, was sich ein Mann jemals erträumen hatte. Sie ertrug seine lauernde Prüfung, zitternd und schluchzend, die Arme als letzten Schutz um ihre Brust geschlungen, die Beine an den Körper gezogen, als wollte sie sich in sich selbst verkriechen. »Wie schön«, sagte Gerald. Er streckte die Hand aus und strich ihr über die blonden Locken. Sie erschauerte unter seiner Berührung. »Wie wunderwunderschön.« »Bitte«, flüsterte Cynthia tonlos und starrte auf das funkelnde Schwert neben ihrem Gesicht. »Bitte tun Sie mir nichts.« Gerald streichelte ihr Haar. »Aber wie könnte ich dir etwas tun, meine Schöne? Wie könnte ich?« Doch plötzlich holte er aus und schlug ihr mit dem Handrücken über das Gesicht. Ihre perfekte Nase brach knirschend und Blut quoll daraus hervor. Angstzitternd starrte sie ihn aus ihren großen Augen an. Und dann, vor den Augen der Männer, stoppte der Blutstrom und ihre 5
Nase war wieder so makellos wie zuvor. »Wie könnte ich dir je wehtun, meine Schöne«, wiederholte Gerald. Er stieß seinen Partner an, der die Verwandlung mit starrem Entsetzen beobachtet hatte. »Los, Vince, du weißt, was du zu tun hast!« Der Angesprochene griff automatisch zu einem der Holzpflöcke. In diesem Augenblick glitt die Frau aus Geralds Händen. Das blonde Haar, das er eben noch festgehalten hatte, löste sich auf. Die Gestalt Cynthias schrumpfte, sank in sich zusammen, wandelte sich. »Schießt doch«, brüllte Gerald, als eine weiße Maus auf die zertrümmerte Eingangstür zulief. Die beiden Männer, die an der Tür Position bezogen hatten, zögerten keine Sekunde. Ihre Schrotflinten belferten, der Einschlag der gehackten Nägel, mit denen sie ihre Waffen geladen hatten, brachte den Boden zum Erzittern. Scharfkantige Nagelstücke und Marmorsplitter jaulten durch den Raum, zertrümmerten Lampen und Palmenblätter, zerschlugen die Wandmalereien und Stuckverzierungen. Gerald schaute gehässig grinsend auf den Einschlagskrater am Boden. »Tja«, kommentierte er. »Eine süße Maus weniger.« »Woher wusstest du, dass sie eine von denen war?« »Ich wusste es nicht«, antwortete Gerald trocken. »Nicht vor dem Spezialtest. Komm jetzt, wir müssen weiter, bevor die Bullen anrücken.« Er wollte sich zu einer der Türen wenden, die in den Innenbereich der Privatklinik führten. Eine Veränderung im Gesicht von Vince ließ ihn erstarren. Das zufriedene Grinsen, das einen Herzschlag vorher noch die Züge des vielleicht vierzigjährigen Weißen bestimmt hatte, schlug um in ein Signal des schieren Entsetzens. Ein grollendes Knurren erklang aus Richtung der Tür. Ohne sich umzudrehen schob Gerald den gelähmten Vince zum Eingang zurück, wo die beiden Wachen inzwischen nachgeladen hatten. Gerald wusste, welcher Anblick ihn erwartete, wenn er sich nun umdrehte. Und trotzdem nahm ihm der Anblick des Wolfes den Atem. Es war ein riesiges, eisgraues Tier, so groß, dass es sich kaum durch die Tür schieben konnte. Das rauhe Fell schabte leise am Mahagoni des Rahmens entlang, die Krallen kratzten über dem Boden. Die Bestie trat in den Empfangsraum und witterte. Die Rute peitschte wütend hin und her, die Ohren waren hochgestellt, die blutunterlaufenen, rot glühenden Augen schienen nach einem lohnenden Gegner zu suchen. Aus der Kehle drang ein lauerndes Rasseln, als würde zwischen den Flanken des Wolfes ein uralter, grausamer Gott hausen, der sich vergeblich bemühte, seinen Zorn in menschliche Worte zu bannen. 6
Der Wolf bleckte seine grausamen Fangzähne und hob den Kopf. Die Bewegung ließ alles Leben erstarren. Der Blick der Bestie wanderte durch den Raum, suchte, prüfte, wog ab. Jeder, auf den der erbarmungslose Blick aus den roten Augen fiel, merkte, wie sich eine kalte Hand um sein Herz legte, ihm den Atem raubte. Jeder wurde an einen Abgrund geführt, in dem sein schlimmster Albtraum auf ihn wartete und ihm jeden Mut nahm, als wäre er kein Mann mehr, sondern nur noch eine mit stickiger Luft gefüllte Attrappe. Keiner bestand die Prüfung der grollenden Bestie. Keiner außer Gerald Uncle, der das große Schwert umklammerte. Doch jetzt ließ er seine Waffe klirrend zu Boden fallen, riss seinem Nachbarn die Schrotflinte aus den zitternden Händen und legte an. Der Wolf bemerkte die Bewegung und fuhr herum. Sein Brüllen ließ die Wände erzittern. Er überwand mit einem Sprung die Entfernung zu dem korpulenten Farbigen mit dem fein geschnittenen, intelligenten Gesicht, der ihn mit der Waffe zu bedrohen wagte. Und selbst dieser konnte sich der Macht der Bestie nicht entziehen. Gerald Uncle schien zu zögern. Über einen Lauf der Doppelflinte starrte er reglos auf den eisgrauen Schatten, der sich von der anderen Seite des Raumes auf ihn zuwuchtete, bis der stinkende Atem aus dem geöffneten Maul sich wie ein graues Leichentuch über ihn legte. Dann krümmte Gerald den Finger. Beide Läufe schleuderten ihre tödliche Ladung auf die Bestie. Der Rückschlag war so stark, dass die Waffe aus Geralds Händen sprang. Fluchend bückte er sich nach dem Schwert und stieß zugleich seinen Nachbarn an. »Schieß doch, du Trottel.« Aber der Wolf war besiegt. Sein Kopf war in einer blutigen Wolke aus Fleischfetzen, Fellresten und Knochensplittern verschwunden. Der Aufprall der Geschosse traf ihn wie ein Dampfhammer und warf ihn zurück. Der schwere Körper der Bestie drehte sich in der Luft und wäre krachend auf die Brunneneinfassung geprallt. Doch noch in der Luft zerfiel er zu Staub, der sanft zu Boden rieselte. »Los jetzt«, schrie Gerald. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.« Die Truppe verteilte sich jetzt auf die verschiedenen Türen. Keiner machte sich die Mühe, eine Klinke herunterzudrücken. Jede Tür wurde eingetreten. Dann sicherten sie mit militärischer Professionalität den dahinter liegenden Raum, riefen sich gegenseitig ihr »Frei und gesichert« zu und nahmen sich den nächsten Raum vor. Gerald stürmte am Kopf einer Vierergruppe den Gang hinunter. Vince 7
war mit schussbereiter Pumpgun direkt hinter ihm. Sie hatten keinen Plan des Gebäudes bekommen können, ja das Gebäude war sogar auf offiziellen Karten gar nicht aufgeführt. Natürlich konnte man hier von einem besonderen Interesse an Diskretion sprechen. Schließlich mochte es kein Star und kein Sternchen, wenn man es bei einem Besuch in einer renommierten Klinik für plastische Chirurgie beobachtete. Aber Gerald Uncle wusste, dass alle diese Argumente nur vorgeschoben waren. Während er durch den Gang eilte und hinter sich die schweren Stiefelschritte seiner Leute vernehmen konnte, bildete sich ein bitterer Zug um seine Mundwinkel. Er kannte die Wahrheit. Er wusste, welche Macht diese Wesen hatten, wie weit sich ihr Netzwerk in die Politik und Verwaltung der Stadt erstreckte. Und er machte sich keine Illusionen darüber, welche Absichten hinter diesem schweigend und verschwiegen geknüpften Netz standen. Er kam mit seinen Überlegungen nicht weiter, denn nun flog eine Tür auf und ein weiß gekleideter Pfleger erschien. Es war ein junger Mann mit einem hübschen, weichen Gesicht und großen dunklen Augen. Der Pfleger starrte verwirrt auf die heranstürmende Schar. Dann erkannte er die Holzpflöcke an ihren Gurten und er veränderte sich. In seine romantischen Augen trat ein roter Schimmer, er riss den Mund auf und zeigte die langen Zähne des Blutsaugers. Dann fuhr sein rechter Arm zurück, als würde er einen unsichtbaren Stein werfen wollen. Der Arm ruckte nach vorne. Aus der offenen Handfläche löste sich ein Funken und flog auf die Angreifer zu, wuchs und gewann an Helligkeit und wurde zu einem Feuerball. Gerald, auf den das Geschoss gezielt war, konnte sich abducken. Vince, der immer noch hinter ihm war, konnte ebenfalls in der letzten Sekunde seinen Oberkörper zur Seite rucken und gleichzeitig seinen Hintermann wegstoßen. Aber der vierte in der Reihe erkannte die Gefahr zu spät. Der Feuerball traf ihn mitten auf die Brust und warf ihn zu Boden. Die Flammen breiteten sich über ihn aus, als wären sie in einem Behälter gewesen, der nun geplatzt war. Der Mann schrie und wälzte sich auf dem Boden. Noch hielt sein schwerer Ledermantel die Hitze ab, aber der Schock trieb ihm schrille, schmerzhaft hohe Klänge aus der Kehle. Der Vampir lachte höhnisch, als er die Klänge menschlicher Angst und Verzweiflung hörte. In einem Gefühl der Überlegenheit über diese sterblichen Würmer schleuderte er seinen nächsten Feuerball und zielte dabei schlecht. Die Hitze verbrannte Geralds Nacken und kokelte das Haar von Vince an, schlug dann jedoch gegen die Wand, wo das 8
Flammengeschoss kleben blieb, feurige Tropfen auf den Boden sandte und den teuren Wandbehang fraß. Eine weitere Chance bekam der Blutsauger nicht. So würde er niemals mehr die Gelegenheit haben, anderen Höllengeburten von seiner ersten Begegnung mit der Bruderschaft des Schwertes zu berichten. Während sich der dritte Mann um seinen brennenden Kameraden kümmerte, ihn über den Boden wälzte und dann mit seinem Mantel auf ihn einschlug, bis die Flammen erstickt waren, feuerte Vince. Es gab sicherlich nur wenige Männer in den Staaten, die in der Lage waren, mit einem so großen Kaliber und derartiger Munition aus einer so ungünstigen Schießposition zu feuern. Vince gehörte zu ihnen. Er feuerte, traf, bändigte die sich aufbäumende Waffe. Er lud gleichzeitig nach und nahm wieder Ziel - und feuerte erneut. Sekunden waren ein zu grober Maßstab, um die Geschwindigkeit dieser Aktionen zu messen. Vince verfeuerte Munition, die ursprünglich dazu gedacht waren, um afrikanische Büffel aus sicherer Entfernung zu erlegen. Nun wurden sie eingesetzt, um einen amerikanischen Vampir zu töten. Der erste Treffer riss dem Vampir den rechten Arm und die halbe Schulter weg. Er wurde herumgewirbelt, taumelte, stürzte jedoch nicht. Dann kam der nächste Schuss, der mit seinem Donnern das Gebrüll des Vampirs übertönte. Dieser zerfetzte den Oberschenkel des Blutsaugers, seine Beine knickten weg und der Vampir stürzte rücklings zu Boden. »Schluss«, befahl Gerald. »Muni sparen! Nachladen und sichern!« Mit einem Holzpflock in der Hand kniete sich Vince neben den Vampir. Gerald, die Hände auf das Schwert gestützt, stand direkt hinter ihm und beobachtete eiskalt, wie sich der zerschmetterte Körper des Vampirs wieder regenerierte. »Du solltest dir nicht solche Mühe machen«, knurrte Gerald. Vince hob den Pflock. Die Augen des Vampirs weiteten sich vor Schrecken und Schmerz, als der Pflock in sein Herz drang. Ein letzter Schrei erschütterte die Wände, dann wandelte sich die Gestalt des jungen Mannes, der sicherlich vielen Patientinnen den Kopf verdreht hatte, in eine ekelerregende Masse der Fäulnis. Vince hielt sich die Hand vor den Mund und beeilte sich, Abstand zwischen sich und dem stinkenden, schleimigen Fleck zu bringen. Gerald jedoch blieb ruhig stehen und beobachtete in aller Ruhe den Zerfall des Körpers. Als es vorbei war, wandte er sich um. Der vierte Mann stand inzwischen wieder auf den Beinen. 9
»Es geht doch nichts über dickes Leder«, antwortete er, als ihn Gerald nach seinem Befinden fragte. »Gut, Männer! Bringen wir die Sache zu Ende, bevor die Bullen kommen! Denkt dran, inzwischen ist unser Überraschungseffekt vermutlich im Arsch. Also seid auf der Hut!« Vorsichtig arbeiteten sich die Männer der Bruderschaft des Schwertes durch das Gebäude. Sie ließen sich nicht überraschen und wo sie einen Gegner antrafen, waren sie immer in der Mehrzahl. Sie verloren zwei Leute durch einen Gegner, der sich urplötzlich in eine haarige Bestie verwandelt hatte, für die kein Biologe jemals einen Namen gefunden hätte. »Schade eigentlich«, sagte einer der Krieger der Bruderschaft des Schwertes, ein tätowierter Hüne, dessen Gesicht die Spuren vieler Kämpfe, »wenn wir das Arsch weiß färben und ausstopfen könnten, hätten wir ihn der Presse als Yeti verkauft.« Dabei deutete er auf den rasch verwesenden Kadaver. Gerald, das Schwert an die Schulter gelehnt, sah ihn an, als wäre er verrückt. Die Klinik war ein verwinkeltes, mehrstöckiges Gebäude. Es war angefüllt mit den modernsten medizinischen Geräten, es prangte von Luxus, und die Gemälde, die die Wände zierten, hätten für eine eigene Kunstausstellung von Weltklasseformat gereicht. Und es gab eine Eigenschaft des Gebäudes, mit der Gerald Uncle nicht gerechnet hatte - die Schalldämmung war hervorragend. So kam es, dass der Lärm der Schüsse und der kurzen, aber wilden Kämpfe nicht weiter als bis zum nächsten Zimmer drangen, der Überraschungseffekt gewahrt blieb und der Bruderschaft des Schwertes einen entscheidenden Vorteil schenkte. Gerald und seine drei Begleiter drangen bis in den medizinischen Bereich vor. Vorher hatten sie die Krankenzimmer durchsucht. Nur wenige waren belegt, meist von Damen mittleren Alters, deren Gesicht sich hinter dicken Verbänden von einer Verschönerung erholen sollte. Gerald maß den Patienten keine große Bedeutung bei. Diejenigen, die er und seine Leute suchten, brauchten keine Chirurgen, um Heilung zu erlangen. Für ihn war nur das Personal wichtig. Er entdeckte eine dunkelhäutige Krankenschwester, die sich ängstlich in eine Ecke kauerte. Gerald gab seinen Leuten ein Zeichen und sie rammten ihr einen Holzpflock ins Herz. »Scheiße, das war wohl nichts«, kommentierte Vince, als die Frau mit glasigen Augen in die Luft starrte und gar nicht daran dachte, zu verrotten. »Ein bisschen Schwund ist immer«, antwortete Gerald, während er sich das große Schwert wieder an die Schulter lehnte. »Los, weiter! Wir sind 10
bald durch.« »Und wo ist Doktor Gilles? Auf den warst du doch besonders scharf?« »Bin ich immer noch, Vince. Und irgendwo hier ist er. Warts ab und spar dir noch Futter für deine Knarre auf. Wir müssen noch ordentlich Löcher bohren.« Ein Schild über einer grünen Doppeltür verkündete: Medizinischer Bereich, nur für Personal. Hinter der Tür befand sich rechter Hand ein Aufenthaltsraum. Als Gerald ihn betrat, bemerkte er in den Augenwinkeln einen Schatten. Er wirbelte herum und erkannte eine Frau in der Kleidung einer OP-Schwester, die eine Reihe Infusionsnadeln mit einem Desinfektionsspray behandelte. Er nahm das Schwert in die Linke, zog mit der Rechten einen Pflock hervor und näherte sich ihr vorsichtig. Sarraks Schwert war ihr Symbol, aber in Situationen wie diesen war es doch recht störend, fand Gerald. Wenn ich wenigstens damit umgehen könnte. Die Schwester war derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn erst im letzten Moment bemerkte. Zu spät, um der Spitze des Holzpflocks noch auszuweichen. Aber sie reagierte dennoch mit derartiger Geschwindigkeit, dass Geralds Hieb nicht ihr Herz traf, sondern nur die Schulter. Ihr markerschütternder Schrei ließ Gerald instinktiv zurückfahren. Erschrocken ließ er das große Schwert fallen, sodass es krachend zu Boden fiel. Es war nur eine Sekunde, ein Moment, in dem der Selbsterhaltungstrieb über seinen Hass siegte. Dann sprang er wieder vorwärts, ergriff den Stiel des Holzpflocks und riss die Frau herum. Sie taumelte und stürzte zu Boden. An dem metallischen Klacken, mit dem die Waffen durchgeladen wurden, erkannte Gerald, dass seine Leute bei ihm waren. »Sichert die anderen Türen, mit der bin ich gleich fertig.« Noch während er sprach, nestelte Gerald an seinem Gurt und zog einen weiteren Pflock aus der Halterungsschlaufe. Die Frau, die vor ihm lag, sah aus, als sei sie nicht älter als dreißig Jahre. Es war eine hübsche, zart gebaute Brünette. Ihre braunen Augen schauten ihn Hilfe suchend und gleichzeitig verständnislos an. »Warum tun Sie das«, hauchte sie. »Um dich umzubringen, wenn ich es auf den Punkt bringen soll.« »Wir. . . wir tun niemandem etwas zu Leide. Wir wollen helfen . . .« Ihre Augen schienen größer zu werden und entwickelten einen Sog, als wäre Geralds Aufmerksamkeit ein Papierboot, das von einem Strudel angezogen würde. Er schluckte. Ohne es zu wollen, senkte er die Spitze des 11
Holzpflocks, die bisher auf ihr Herz gezielt hatte. »Bitte, helfen Sie mir«, flüsterte die Frau. Diese Stimme . . . zugleich süß und um Hilfe bettelnd, ebenso kindlich wie verführerisch. Und der Blick der braunen Augen drang tief in Gerald Uncles Herz, machte es weich wie Wachs, weckte Erinnerungen und vergessene Gefühle. Gerald senkte den Kopf. Ein Schluchzen stieg in seine Kehle, Tränen begannen seinen Blick zu verschleiern. Verzweifelt schüttelte er den Kopf. Was wollte er hier. Was sollte das alles, all dieses Blut dieses Geschrei, dieser Hass? Mühsam stand er auf. Der Holzpflock in seiner Hand war nichts als ein Fremdkörper, den ihm ein Fremder aufgedrängt hatte. Gerald überlegte. Wer war es nur gewesen? Die Frau begann, sich langsam nach hinten zu schieben. Die Wunde an ihrer Schulter hatte sich geschlossen. Ihre Augen hielten Gerald fest, während sie sich immer weiter von ihm entfernte. Der starrte angewidert auf den Pflock in seiner Hand und ließ ihn fallen. Was hatte er nur getan? Er hatte all diese armen Wesen, die doch nur helfen wollten, vernichtet. Er schauderte. Wie konnte er nur dafür Buße tun. Sein Blick fiel auf das Schwert, das vor ihm auf dem Boden lag - und Gerald Uncle lachte befriedigt auf. Das war die Lösung. So einfach, so köstlich. Langsam bückte er sich, um die Waffe aufzuheben. Er würde sich in sie hineinstürzen, sie sich ins Herz rammen. Seine Hand umfasste den Griff des großen Schwertes .. . Dann zögerte er. Gerald Uncle lauschte. In seinem Inneren vernahm er plötzlich eine andere Stimme. Es war das herrische, heisere Organ eines Kriegers, der von einem Vampir vernichtet worden war. Nicht in einem ehrlichen Kampf besiegt, sondern durch einen weibischen Trick hereingelegt. Jetzt jedoch vernahm Gerald deutlich die Stimme. »Lässt du dich von einem Paar hübscher Augen übertölpeln, du Memme?«, höhnte die Stimme Sarraks. »Nein«, schrie Gerald seine Antwort heraus. Der Bann war gebrochen. Wütend bohrte er seinen Blicke in die flehenden braunen Augen der Frau, die mit jeder Sekunde an Schönheit, an Liebreiz, an Begehrlichkeit zu gewinnen schien. »Nicht schlecht, jedenfalls besser als deine Kollegen mit dem rauhen Fell. Aber immer noch nicht gut genug!«, rief er. Gerald schwang das Schwert in einem Bogen. Er würde ihr den Kopf abtrennen. Das funktionierte genauso gut wie ein Pflock ins Herz. Doch er traf zu tief. Wie durch Butter glitt die scharfe Klinge durch ihren Arm, stoppte erst beim Brustbein. Die Vampirin schrie. Staub, der einmal ein Arm gewesen war, rieselte zu 12
Boden. Fluchend zerrte Gerald Uncle die Klinge frei und schlug ein zweites Mal zu. Diesmal traf er ... »Was war? Du hast lange gebraucht!«, sagte Vince, als sie sich vor der Tür des Operationssaales sammelten. »Ich bin ein wenig in mich gegangen. Fertig? Auf drei. Eins, zwei.. .« Das Krachen der Tür ließ die Anwesenden im OP zusammenzucken. Der Anblick, der sich Gerald Uncle und seinen Leuten bot, schien eine surrealistische Mischung aus alltäglicher Medizinroutine und einem Albtraum zu sein. Ein Operationsteam hatte sich um den Tisch versammelt, auf dem der Körper des Patienten lag. Abgesehen von dem Operationsfeld im Bauchbereich war der Patient abgedeckt. Ein Beatmungsgerät schnaufte im mechanischen Takt, ein Pulsmesser piepste regelmäßig. So weit entsprach alles der Routine, wie sie tagtäglich dutzendweise über Krankenhaus Serien in die Heimkinos gebracht wurde. Die normale Krankenhausserie zeigte allerdings keine Chirurgen, die mit Sektgläsern in der Hand locker plaudernd neben dem OP-Tisch standen. Vor allem nicht, wenn in den Sektgläsern kein Sekt war, sondern Blut. Frisches, köstliches Blut, verfeinert mit dem Aroma von Todesangst. Da war genau der Genuss, den Doktor Gilles am meisten liebte und den er sich in ausreichender Häufigkeit und ganz nach seinem Belieben gönnen konnte, indem er sich den Ärmsten der Armen zuwendete, den Unterprivilegierten einer Gesellschaft, in der nur noch der schnöde Mammon zählte und die Mitmenschlichkeit zu einer aussterbenden Tugend wurde. Wer kümmerte sich schon darum, wenn die Patienten bei den Operationen einen Blutverlust hatten, der einen Mediziner argwöhnisch gemacht hätte? Keiner. Es gab keinen anderen Mediziner, der sich um Gilles Operationsmethoden kümmerte - es sei denn, er gehörte zu der Sorte, die ein gepflegtes Gläschen Blut selbst zu schätzen wussten. Nein, Doktor Gilles hatte alles im Griff. Keiner seiner Patienten war je an Blutverlust gestorben. Alle päppelten die netten Schwestern mit viel Gemüse und einigen Süßigkeiten wieder auf, so dass sie geheilt die Klinik verlassen und in das Loblied des guten Doktor Gilles einstimmen konnten. Und so gönnten sich Gilles und sein Team diesen Genuss, frisch gezapft vom Menschen. Das war der Zustand, den die vier Vampirjäger antrafen. Sofort begannen Geralds drei Gefährten zu feuern. Die Blutsauger brachen getroffen zusammen, doch augenblicklich begannen ihre Wunden 13
wieder zu heilen. Und noch während Vince und die anderen beiden nachluden, stemmte der erste Vampir sich wieder auf die Beine. Gerald sprang vor und hieb mit seinem Schwert - Sarraks Schwert - auf alles ein, was vor ihm auf dem Boden lag. Der da, dieser so ungeheuer seriös wirkende Mann musste Doktor Gilles sein. Der Vampir hatte noch die Zeit, sein schreckliches Gebiss zu entblößen und mit einem Fauchen auf die Beine zu kommen, dann hackte ihm Gerald den Kopf vom Rumpf. Er benötigte drei schlecht gezielte Hiebe, bevor der Vampir starb und anfing, zu verrotten. »Gerald, hau ab, du stehst uns in der Schusslinie«, schrie Vince. Gerald fuhr zurück, hob sein Schwert, an dem seltsamerweise kein Blut klebte, und warf sich hinter einem Metallschrank in Deckung. Hinter ihm krachten die nächsten Schüsse. Vince und die anderen feuerten aus vollen Rohren, bis ihnen die Munition ausging. Über Kimme und Korn zielend erkannten sie aber auch, dass sich die Wunden immer wieder schlossen, und sie merkten, wie ihnen der geballte Hass dieser Höllenkreaturen entgegenschlug - heiß und hell, als hätte man vor ihnen die Tür eines Hochofens aufgerissen. »Scheiße, Munition alle!«, schrie Vince und funktionierte im selben Moment seine Pumpgun zum Knüppel um. Die anderen ließen die Waffen fallen und griffen zu ihren Macheten. »Schluss, die Bullen kommen!« Der gellende Alarmruf von der Tür ließ alle Köpfe herumfahren. Gerald trat mit glitzernden Augen auf den Mann zu. Es war der Hüne mit den Gesichtsnarben. »Die Bullen kommen«, vergewisserte er sich und trat nahe an den Riesen heran, der ihn um mehr als einen Kopf überragte. »Sag ich doch, kam gerade über Funk, sie sind ...« Weiter kam der Mann nicht, denn Geralds Schwert fuhr in seinen Oberkörper, blieb stecken, wurde herausgerissen und fuhr mit tödlichem Schwung erneut los, um das Werk zu vollenden. »Oh, Mann, das ist heftig.« Der Kerl, der jetzt in der Tür erschien, starrte mit großen Augen auf Gerald, der seinen Doppelgänger köpfte und auf den Haufen Staub, der von seinem Spiegelbild übrig blieb. »Mann, Gerald, woher wusstest du, das der nicht ich war?« Gerald Uncle fegte mit seinem Stiefel den Staub, der den Überrest des Gestaltwandlers darstellten, zur Seite. »War nicht so schwer, Bert. Er hat im Gegensatz zu dir nicht nach Bier gestunken. Was liegt an?« Er bekam ein Funkgerät zugereicht und meldete sich. 14
Aus dem Lautsprecher knackte es. »Gerald, bist du es? Die Bullen haben einen Hinweis bekommen. Zwei Streifen sind unterwegs. In drei Minuten werden sie bei euch sein. Was sollen wir tun?« »Das, was wir auch tun - abhauen. Gute Arbeit, Leute, wir sehen uns.« Dann rannten die Männer - oder eher die Jungen - der Bruderschaft des Schwertes hinaus und warfen sich in ihre Wagen. Die Polizeistreife fand eine zerstörte Klinik vor, aus der die Patienten in Panik geflohen waren. »Ein erfolgreicher Tag«, sagte Gerald. Er saß neben Vince, der die schwere Limousine inzwischen zügig, aber nicht übermäßig schnell auf das Hauptquartier zusteuerte. Laut Plan hatten sich alle Wagen an der ersten Kreuzung getrennt und fuhren dasselbe Ziel auf anderen Wegen an. »Wir haben zwei Jungs verloren«, gab Vince zu bedenken. »Ich weiß. Aber ich denke auch in Prozenten. Das Verhältnis von unseren Verlusten zu den ihren ist völlig in Ordnung. Unsere Jungs kannten das Risiko und nahmen es in Kauf. In jedem Krieg gibt es Verluste. Schmerzlich, aber unvermeidbar.« »Wir haben auch einige von unseren Leuten kalt gemacht.« »Pass auf«, Gerald Uncles Stimme bekam einen Unterton, der Vince unwillkürlich hinter dem Steuer zusammenschrumpfen ließ. »Das sind nicht unsere Leute. Du hast gesehen, was im OP los war. Und das war kein Zufall. Diese Typen, hier schau sie dir an, diese beiden da draußen, die da rumknutschen, wo sie ihre Finger bei ihm schon in der Hose hat, und dieser Ladenbesitzer - alle, sie sind nichts als Zuchtvieh. Verstehst du, Vince? Die Menschen sind für diese Vampire nichts anders als eine Mischung aus nützlichen Idioten und Nutzvieh. Warum wurde die Bruderschaft des Schwertes damals wohl gegründet? Warum habe ich die Führung übernommen, als Sarrak besiegt war? Weil wir das Prinzip erkannt haben.« Gerald umklammerte den Griff von Sarraks Schwert mit beiden Händen. Vince fragte sich, wann er seinen Kumpel zum letzten Mal ohne dieses riesige Brotmesser gesehen hatte, als Gerald fortfuhr. »Du kannst mir glauben. Zuerst ist mir auch die Luft weggeblieben. Es war einfach zu unglaublich - wir, die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes sind nichts als Nahrungsvorräte für Blutsauger. Das musst du erst mal in deinem Hirn sortieren. Aber weißt du, was der eigentliche Hammer ist? Den Menschen ist das scheißegal! Stell dich auf die Liberty Plaza und sage denen: >Hört mal, Leute, wir werden von Vampiren beherrscht und der Präsident ist nur eine Marionette und die Medien sind noch korrupter als ihr sowieso schon glaubt !< Meinst du, die würden dich ausreden lassen, bevor du in die Gummizelle kommst? Vergiss es doch. Und darum gibt es nur noch drei Sorten von intelligenten Zweibeinern. Die Blutsauger - die 15
müssen wir vernichten. Jede Sekunde unseres Lebens dürfen wir nur den einen Gedanken haben: Weg mit diesem Höllengezücht! Und dann gibt es die nützlichen Trottel, die bürgerlichen Deppen, die nichts wissen wollen, selbst wenn man sie mit der Nase drauf stößt. Und dann gibt es uns. Wir haben verstanden und wir stehen auf und kämpfen. Und darum, Vince, mach nie wieder den Fehler zu sagen, dass diese menschlichen Zuchtschweinen welche von uns sind. Sie sind uns so egal wie eine tote Fliege an der Wand. Klar?« Vince schaute eine Weile stumm auf die Fahrbahn. Als Gerald sich in Fahrt geredet hatte, hatte er den Griff des Schwertes immer fester umklammert. Vince war das unheimlich. Doch schließlich nickte er. »Keine weiteren Fragen, Gerald.« Wenn Bruce Darkness über die Nachteile des Vampir-Daseins nachdachte, fiel ihm nicht allzu viel ein ... Das heißt doch - einen Nachteil hatte diese Existenzform: Man konnte sich nicht mit einer Tüte Chips und einem Sechserpack Bier vor die Glotze knallen und versumpfen. Von Chips wurde ihm hundeelend. Überhaupt von allem, was er versuchte, zu essen. Und als er letztens den Versuch gemacht hatte, mit Bier zu gurgeln, war das auch nicht so toll gewesen. Der Geschmack war zwar da, aber so eine Dose Lager wegzugurgeln, ohne zu schlucken, war schlichtweg kindisch und passte daher sozusagen nicht zum Thema: ein Mann, seine Chips, sein Bier und seine Glotze. Mal abgesehen davon, dass man vom Biergurgeln mehr Schaum vor dem Mund bekam als ein tollwütiges Nilpferd, und dann sabberte einem der Schaum auf den Latz und man roch wie ein Bierkeller. Außerdem war Bruce der Meinung, dass Bier so richtig reinknallen musste. Entweder Lallen oder Limo. Das was er jetzt gerade machte, Streife fahren, fand er eigentlich auch gar nicht schlecht. Er fuhr gerne mit seinem Motorrad einfach so durch die Nacht. Was ihn viel mehr störte, war der Grund, warum er überhaupt Streife fahren musste. Er hatte geglaubt, dass die Probleme, die er mit Sarrak, dem Krieger aus der Hölle, gehabt hatte, vorbei sein würden, wenn er ihn getötet hätte. Jetzt war Sarrak tot, aber das gewünschte Ergebnis blieb aus. Die Mitglieder der von Sarrak gegründete Bruderschaft des Schwertes, ursprünglich ein Kindergarten von Halbstarken, hatten sich zu ziemlich guten Vampirjägern entwickelt. Und er, Bruce Darkness, durfte jetzt sehen, wie er sie beseitigen konnte. 16
In dieser heruntergekommenen Gegend fiel es leicht, sich zu verstecken. Aber der Vampir war zuversichtlich, dass er sie irgendwann aus ihrem Loch treiben würde. Bruce gab Gas und legte sich in die Kurve. Die Maschine klebte förmlich auf dem Asphalt. Es war ein Genuss, diese Kurve zu fahren und die perfekte Balance zwischen Tempo und Bodenhaftung zu finden. Noch ein wenig mehr Gas und dann in die nächste Kurve. Perfekt! Und dann noch ein wenig mehr ... Woher sollte Bruce auch ahnen, dass genau am Scheitelpunkt der Kurve ein Ölfleck auf der Straße schillerte? Schließlich konnte er im Dunkeln ja auch nicht besser sehen als Sterbliche. Das Hinterrad rutschte weg, die Maschine krachte auf den Boden und schepperte Funken sprühend auf eine Toreinfahrt zu. Die Einfahrt war mit großen Pappkartons, in denen Fernseher transportiert wurden, förmlich zugemauert. Bruce rutschte mitsamt seiner Harley über den Asphalt, dann krachten sie durch die provisorische Mauer, und schlidderten noch ein paar Meter weiter, bevor sie endlich zum Halten kamen. Bruce rappelte sich auf. »Hallo, Leute, lasst euch nicht stören, ich bin gleich wieder weg. Nichts für ungut.« Bruce grinste in die Runde. Er versprühte mehr Charme als drei Präsidentschaftskandidaten zusammen, aber irgendwie kam das bei den Leuten hier im Hinterhof nicht so recht an. Drei starke Scheinwerfer, die von Autobatterien gespeist wurden, tauchten die Szene in ein grelles Licht. Helligkeit und Schatten vermischten sich zu einem Bild voller scharfkantiger Kontraste, das aus einem besonders abgedrehten Underground-Comic stammen mochte. Bruce Darkness kniff die Augen zusammen und warf einen Blick in die Runde. Ein unbestimmtes Gefühl von Gefahr pulste wie ein kalter Strom sein Rückgrat hinab. Es war wie ein leises Knistern von Elektrizität, das die Luft erfüllte. Die Hausfassaden mit ihren vermauerten Fenstern wirkten äußerst unerfreulich. Die Gesichter der Männer und Frauen, die in diesem Hof ursprünglich einen Kreis gebildet hatten, der sich nun öffnete, weil alle auf Bruce starrten, wirkten kaum weniger abweisend. Manchen sah man an, dass sie vom Leben gebeutelt worden waren. Andere hatten die Hochglanz-Visagen, die zu einem Hochglanz-Leben in einem Hochglanz-Viertel gehörten. Allen aber war etwas gemeinsam, und es einte sie wie die Kriegsbemalung eines wilden Urwaldstammes. Bruce brauchte einige Zeit, um herauszufinden, was es war. Schließlich erkannte er es wieder. 17
Es war der blanke Blutdurst. Und nun wurde ihm auch endlich klar, was sich hier abspielte. Bruce erkannte es, bevor die letzten Zuschauer zur Seite wichen und den Blick auf die beiden Männer frei gaben, die in der Mitte des Ringes waren. Der eine lag blutend auf dem Boden und bewegte sich stöhnend hin und her. Seine Bewegungen hatten nichts Koordiniertes mehr, sondern waren nur noch die letzten Reflexe eines zu Brei geschlagenen Gehirns. Der Hinterkopf des Mannes lag in einer Blutlache, die im Licht der Scheinwerfer wie schwarzer Lack schimmerte. Über dem Liegenden, breitbeinig und mit geballten Fäusten, stand ein anderer Mann. Auch sein Gesicht trug die Spuren von Schlägen. Schwer atmend stierte er auf seinen liegenden Gegner. Dann kam ihm langsam zu Bewusstsein, dass sich etwas verändert hatte. »Was ist?«, keuchte er. »Sieg durch Kampfaufgabe«, beschied eine Stimme aus dem Hintergrund. Ein Gemurmel erhob sich. Proteste wurden laut. »Ruhe, verdammt noch mal«, meldete sich wieder die Stimme. »Das Urteil ergeht mit drei zu null Richterstimmen. Es ist offensichtlich, dass der Unterlegene nicht mehr kampffähig war, obwohl er sich noch bewegt. Nehmen wir das als Wink des Schicksals. Der Doc soll sich um ihn kümmern. Die Quoten bleiben unverändert. Und nun . . .« Die Stimme ließ den Satz in einer stummen Drohung ausklingen. Eine Gasse öffnete sich. Während mit leisem Getuschel Geldscheine ausgetauscht wurden, schob sich langsam ein Mann auf Bruce zu. Der Vampir versuchte, ruhig zu bleiben und sandte dem Mann sein bestes Lächeln entgegen. Es war so passend, als hätte man der Sahara einen Drink ausgegeben. »Du hast uns gestört, Kleiner.« Bruce mochte es nicht, wenn man ihn Kleiner nannte. Aber dieser Mann hatte ohne Zweifel eine gewisse Rechtfertigung dafür, denn er war gut anderthalb Köpfe größer als der Vampir. Der Mann trug eine Tarnhose im Tigerstreifenmuster und ein olivfarbenes Unterhemd. Seine Haut wirkte wie eine von Unkraut überwucherte, Graffiti beschmierte Hauswand, denn eine Unzahl von Tätowierungen waren durch seine pelzartige Körperbehaarung mehr zu erahnen als deutlich zu erkennen. Obwohl ihm keine Zeit blieb, sich die Tattoos genauer anzusehen, wurde Bruce sehr schnell klar, dass es keine Herzen mit der Aufschrift »Mamas Liebling« waren. Wäre dieser Mann ein Gebäude gewesen, dann hätte er nur ein Schlachthaus sein können. »Tut mir echt Leid«, beteuerte Bruce mit nur einem Hauch von Ironie. »War nicht meine Absicht. Ich bin auf so einem blöden Ölfleck 18
ausgerutscht. Ich bin gleich wieder weg. Keine Panik. Muss nur meine Kiste anlassen und dann .. . Tschüss.« »Und dann Tschüss«, höhnte der Mann. Der Kerl verbarg seine Absichten so sensibel wie ein elektrischer Stuhl. »Ja, so hatte ich mir das gedacht«, erklärte Bruce und blickte sein Gegenüber übertrieben treuherzig an. »So hattest du dir das gedacht. ..« »Ja, so hatte ich mir das gedacht, Sir.« »Falsch gedacht, Kleiner.« »Hatte ich mir doch gedacht.« Der Tätowierte runzelte die Stirn. »Willst du mich verarschen oder was?« Bruce zuckte die Schultern. »Tut das noch irgendwas zur Sache?« Der Mann vor ihm verunzierte seine Visage mit einem Zähneblecken, das wahrscheinlich ein Lächeln andeuten sollte. »Nein, Kleiner, das tut nichts mehr zur Sache.« »Na schön, nachdem wir das abgeklärt haben, kann ich jetzt wohl gehen.« So viel Frechheit nahm dem Mann erst einmal die Worte. Er verlegte sich auf die Körpersprache und legte seine Baggerschaufelgroße Pranke Bruce auf die Schulter. »Du wirst nirgendwo hingehen«, antwortete er dann. Seine Finger begannen, die Schultermuskeln von Bruce zu kneten und ihre Härte zu testen. »Stimmt, ich Dummerchen! Wieso sollte ich denn gehen, wo ich doch so eine schöne Harley habe. Ja, danke für den Hinweis. Ich hätte das dumme Ding doch tatsächlich getragen, so verschusselt wie ich heute drauf bin!« Bruces Hand tastete über den Arm des Riesen, prüfte und bewertete die Muskulatur. »Wow!«, sagte er grinsend. »Du bist ja echt stark.« »Dir wird das Lachen noch vergehen.« »Nicht solange du vor mir stehst«, versicherte Bruce lächelnd. Der Schlag, der nun kam, hätte ihm den Kopf abgerissen, wenn sein Kopf noch an derselben Stelle gewesen wäre wie eine Sekunde vorher. Da das nicht der Fall war, pfiff die Handkante des Mannes durch die Luft und der Schläger kam durch seine eigene Wucht ins Taumeln. Während sich Bruce mit dem tätowierten Riesen abgab, hatten sich im Hintergrund die Kulissen verändert. Die Zuschauer bildeten eine tuschelnde Mauer, davor hatten vier Männer Position bezogen, die allesamt Reklame für Bodybuilding-Studios laufen konnten. Ihre Gesichter zeigten, dass auch sie schon an diesen illegalen Kämpfen teilgenommen hatten und nun nur auf ein Zeichen warteten, um sich auf den Eindringling zu stürzen. So weit waren die Verhältnisse klar 19
und Bruce hatte nun auch keine Lust mehr auf verbales Geplänkel. »Sag mal, Kumpel, könnte es sein, dass ihr euch mit mir prügeln wollt?«, fragte er zur Vorsicht nach. »Schön, dass du deinen Grips benutzt, so lange wir ihn dir noch nicht aus dem Hirn geprügelt haben. Ja, das war genau unsere Absicht.« »Findest du das nicht ziemlich uncool, so mit fünf gegen einen?« Er dachte scheinbar einen Moment nach. »Na ja, ich kann ja nicht warten, bis ihr Verstärkung bekommt. Also bringen wir es hinter uns!« Die Zeit schien sich zu dehnen wie ein Gummiband. Die Sekunden tropften zäh wie Sirup, im Takt verhaltener Atemzüge. Die vier Männer stellten sich in Position, duckten sich, lauerten, spannten die Muskeln, schoben einen Fuß vor den anderen, bewegten sich langsam vorwärts, um Bruce einzukreisen. Der Tätowierte hielt sich abseits und versank in träge Ruhe, wie ein Krokodil, das im Schlamm neben der Tränke döst. Die Zuschauer drängten sich aneinander und freuten sich auf die Gewalt, die folgen würde. Ihre Gesichter verloren alle individuellen Züge. Sie waren nur noch die Flächen, in denen die glitzernden Augen lagen. Dort spiegelten sich sechs Männer, die im nächsten Moment einander an die Kehle springen sollten. Die Sekunden verrannen, dehnten sich, spannten sich wie Gummiseile. Ein Stöhnen ging durch die Zuschauer, leidend vor Spannung und Blutgier. Endlich! Da war die erste Attacke, die erste Aktion. Die Vier hatten sich mit Blicken verständigt. Vielleicht waren sie es gewohnt, im Rudel zu kämpfen. Jetzt jedenfalls griffen sie Bruce von allen Seiten zugleich an. Der Zusammenprall war ebenso kurz wie einseitig. Ein Faustschlag des Vampirs schmetterte gegen die Brust des einen Angreifers. Der verdrehte die Augen, als seine Rippen krachten und fiel besinnungslos oder tot zu Boden. Der Nächste wurde von einem Ellenbogenstoß gegen die Kehle erwischt. Er klappte einfach röchelnd zusammen. Wenige Augenblicke später rührte er sich nicht mehr. Die restlichen beiden Angreifer zuckten schon instinktiv zurück, wurden aber von dem eigenen Schwung vorwärts getragen. Bruce griff nach ihnen und schmetterte die Schädel krachend gegeneinander. Mit glasigen Augen brachen auch sie zusammen und blieben reglos liegen. Der Tätowierte hatte den kurzen Kampf ohne eine Regung beobachtet. »Ich werde dir das Maul stopfen!«, schrie er jetzt, griff hinter sich und zog ein Messer aus seinem Gürtel. Die beiden Gegner begannen, sich langsam zu umkreisen. Der Tätowierte 20
stieß einige Male mit dem Messer zu. Es waren Finten, keine ernsthaften Angriffe. Er wollte seinen Gegner auf die Probe stellen. Und dieser Gegner war verteufelt schnell. Das Messer wechselte von einer Hand zur anderen, stieß vor, zuckte zurück und setzte blitzschnell zu sausenden Schnitten an. Langsam dämmerte Bruce, was für ein Exemplar er vor sich hatte. Einen Killer, ein zweibeiniges Raubtier, dessen Lebensäußerungen sich darauf beschränkten, der Umwelt Angst einzujagen. Das hier war die neuzeitliche Version des Tyrannosaurus Rex. Das Messer schoss vor wie ein Torpedo, überbrückte schneller als ein Wimpernschlag die Distanz zu Bruce und ritzte seine Schläfe neben dem linken Auge. Reflexartig riss Bruce die Hand hoch, um sein Auge zu schützen, und diesen Moment nutzte sein Gegner, um zuzutreten. Ein Preis für Elegantheit war damit nicht zu erringen, aber der Angriff war effektiv. Und erfolgreich. Der Tritt traf Bruce in die Rippen und schleuderte ihn zurück. Sein Gegner machte sich nicht die Mühe, den Vorteil zu nutzen, sondern hatte lediglich den Oberkörper mitgedreht. Er wollte die Sache nicht allzu schnell beenden. Er wollte seinen Spaß. Jetzt zeigte sich Erstaunen in seinen tiefliegenden, kalten Augen. Er hatte deutlich gespürt, wie die Rippe unter der Gewalt seines Trittes gesplittert waren. Der »Kleine« musste höllische Schmerzen haben, seine Eingeweide mussten durch die Knochenspitzen zerschlitzt worden sein, er musste jetzt schon innerlich verbluten. Musste - aber er stand vor ihm und grinste ihn frech an. »Verdammt! Ich hätte mir die Jackie-Chan-Filme doch öfter anschauen sollen«, sagte Bruce Darkness. »Die Chance hast du verpasst.« »Ach was, die werden doch alle zwei Wochen wiederholt.« Als Bruce den Kopf wendete und seine Schläfe deutlich im Lichtschein zu sehen war, zuckte der Tätowierte zurück. Er wusste, dass dort eine Wunde sein musste. Es hatte geblutet, die Haut war offen. Nun war nichts mehr erkennbar. Zwar klebte noch etwas Blut an der Schläfe, aber eine Wunde war nicht zu sehen. Die Hand, die den Metallgriff des Messers hielt, wurde plötzlich schwitzig. Der Mann war weder intelligent noch gebildet. Aber er hatte den Urinstinkt des Kämpfers, und nun schrie ihm dieser Instinkt seine Warnrufe zu. Die Selbstbeherrschung fiel von dem Mann ab. Zähnefletschend drang er auf Bruce ein, trieb ihn im Kreis, erschöpfte ihn mit Messerattacken, denen blitzschnelle Schläge oder Tritte folgten. 21
Seine Bewegungen waren keiner bestimmten asiatischen oder westlichen Kampfsportart zuzuordnen. Sie folgten dem simplen Prinzip der Begegnung zweier Lebewesen, die sich feindlich gegenüberstehen: Verwirre den Gegner, verletzte ihn und dann vernichte ihn. Während Bruce geduckt auf den Tätowierten schaute und versuchte, die nächsten Attacke zu erahnen, kam Bewegung in die Zuschauer. Je länger der Kampf dauerte, desto mehr saugten sie den Geruch von Aggression und Blut in sich auf und schienen mit jeder Sekunde lebendiger zu werden, als wäre genau das der Dünger, den sie zum Aufblühen brauchten. Einzelne Rufe feuerten den Tätowierten an. Sie nannten ihn »Hulk«, und sie forderten ihn zu Dingen auf, die besser in einen steinzeitlichen Urwald gepasst hätten als in einen Hinterhof jener Stadt, die sich mit der ihr eigenen Bescheidenheit für die wichtigste auf dem Erdball hielt. Hulk begann zu schwitzen. Bruce konnte unter einem Messerangriff durchtauchen und landete einen Treffer auf den linken Bizeps seines Gegners. Er hatte nicht besonders hart zugeschlagen, aber trotzdem schrie Hulk auf. Sein linker Arm hing nutzlos von der Schulter. »Bin ich gut oder bin ich gut?«, rief Bruce. »DU BIST TOT!« Natürlich stellte sich Bruce nun so, dass er an der verletzten Seite des Gegners war. Aber Hulk riss den verletzten Arm wieder hoch, sperrte damit die Möglichkeit zurückzuspringen und rammte mit der anderen Hand das Messer mitten in Bruces Bauch. Der umklammerte den Messerarm seines Gegners, während er sich zusammenkrümmte. Doch dann, zu Hulks großer Überraschung, richtete sich der »Kleine« wieder auf. Seine Linke umklammerte noch immer die Messerhand des Tätowierten. Der Riese versuchte, seinen Arm zurückzuziehen - vergeblich. Seine Faust war gefangen wie in einem Schraubstock. Dann ließ Bruce seine rechte Faust in den Magen seines Gegenübers krachen, drei-, viermal hintereinander. Aber Hulk spürte nur noch den ersten Hieb. Danach spürte er nie wieder etwas. Bruce richtete sich auf und sah sich um. Die Zuschauer starrten ihn an. Dann - begeisterter, jubelnder Beifall. Sie hatten ihren neuen Champion. Sie klopften ihm auf die Schultern, beglückwünschten ihn. Diese Typen, dachte Bruce, sind echt abartig. Schließlich verließen die Leute den Hinterhof, nachdem die Leichen 22
beiseite geschafft wurden. Nur eine Frau stand noch bei ihm, und ihre sechs Meter lange Limousine mit Chauffeur. Sie hatte eine hübsche Figur, die sie sich an sechs Tagen im FitnessStudio erkämpfte, wundervolle gold glänzende Haare, die sie ihren regelmäßigen Besuchen beim angesagtesten Coiffeur der Stadt verdankte, eine niedliche Stupsnase, einladende, schön geschwungene volle Lippen und ein allerliebstes Kinn, die sie einer Kombination aus ärztlicher Kunst und dem Geschick ihres Anwaltes bei zwei Scheidungen von reichen Ehemännern zu verdanken hatte. »Ich liebe Champions«, flüsterte sie, während sie Bruce in den Schritt griff... * Bruce blickte der abfahrenden Limousine nach. Christine, so hieß die Blondine war ganz nett gewesen. Und auch für sie würde es wohl eine schöne Erinnerung sein. Sein Biss, so wie der fast aller Vampire löste ein unbeschreibliches Glücksgefühl aus, wenn er es nicht gerade darauf anlegte, seinem Opfer weh zu tun. Der nette Nebeneffekt dabei war, dass der Biss selbst völlig verdrängt wurde. Dann schaute er auf seine Harley hinab. Sie hatte etwas bei der Rutschpartie gelitten, aber ansonsten war der Abend ein voller Erfolg gewesen. Bruce Darkness prüfte die verbogenen Fußrasten und versuchte, das Metall zurecht zu biegen. Sein Instinkt schlug Alarm, bevor sein Bewusstsein eine Veränderung registrierte. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare langsam aufstellten. Ein kalter Wind schien hinter seinem Rücken zu wehen. Bruce erstarrte in der Bewegung und lauschte. Nein, da war nichts. Der Hof war völlig still, die Straße war still, in den unbewohnten Häusern war alles still und nur aus der Ferne erklang ein Rauschen wie von einer großen Maschine - das Atmen der Großstadt. Kein Lufthauch regte sich. Der Vampir richtete sich auf und schaute sich um. Nichts zu sehen. Aber etwas war da. Etwas, das er nicht sehen konnte. Etwas, das ihn lauernd umkreiste, das ihn beobachtete, einschätzte und beurteilte. Die Stille wurde nur durch das Fiepen einer Ratte aus einer Ecke des Hofes gestört, die ihren Artgenossen die Nachricht von einem reichen Mahl übermitteln wollte. Die Stille wurde zu einem Feind, sie war wie ein Nebel unter dem sich, ein Gegner verbergen konnte. Bleischwer lag sie über dem Hof, unbezwingbar und verlogen wie der hinterhältige Berater eines kranken 23
Königs. Es stand hinter ihm. Bruce konnte die Anwesenheit deutlich spüren. Augen bohrten sich in seinen Nacken, aber als er herumfuhr, sah er nichts als die Reste der Mauer aus Pappkartons. Ein Flugzeug dröhnte im Anflug auf den La-Guardia- oder den KennedyAirport über den Himmel. Unter dem Turbinenlärm, der wie eine Lawine von harten Steinen über die Gegend herabkollerte, glaubte Bruce ein Knurren zu vernehmen. Er fixierte die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien und wartete, bis der Jet nicht mehr zu hören war. Nichts. Eine Täuschung. Aber die Existenz eines Wesens war so deutlich, dass er keinen Zweifel haben konnte. Er hob seine Maschine auf und zuckte im selben Moment zusammen, weil sich unsichtbare Pfeile in seine Haut bohrten. Seine Hände tasteten über die Stelle und fanden keine Wunde. Bruce erkannte nun, um was es ging. Eine Probe. Er griff nach dem Lenker der Maschine. Das Metall war weiß glühend, seine Hände brannten wie Papier, die Flammen verzehrten seine Haut, leckten gierig über seine ganzen Körper, verwandelten ihn in eine einzige Fackel... Es war anstrengend, aber Bruce behielt die Hände am Lenker und verdrängte die Vorstellungen, die sich in seinem Kopf eingenistet hatten. Das war nun kein Vergnügen mehr, der unterhaltsame Teil des Abends war beendet. Ein unbekanntes Etwas warf ihm den Fehdehandschuh hin und kündigte seinen Auftritt an. Bruce schloss die Augen und verließ sich völlig auf sein Gespür. Zuerst empfand er nichts, außer Unwohlsein in dieser selbstauferlegten Dunkelheit und Ausgeliefertsein an einen ebenso unbekannten wie boshaften Feind. Dann registrierte er die Veränderungen in seiner Umgebung Winzigkeiten, ein Hauch. Das Etwas umkreiste ihn immer noch. Es änderte seine Taktik nicht. Bruce wartete, bis er dieses Etwas direkt vor sich spürte, dann schlug er zu. Seine Faust wirbelte durch die Luft, traf dann auf einem Widerstand, als würde sich die Luft an dieser Stelle verfestigen. Ein wütendes Brüllen war die Antwort auf diesen Treffer. Bruce riss die Augen auf. Die Luft begann an einer Stelle zu schillern. Schlieren stiegen auf, als hätte sich dort die Hitze eines Feuers konzentriert. In den tanzenden Schleiern erschien ein Gesicht. Nein, es war kein Gesicht, vielmehr eine dämonische Fratze, eine Maske der Wut und des Hasses zwei tief geschnittene Zornfalten über einer breiten, löwenartigen Nase, verachtungsvoll hochgezogene Augenbrauen über zwei schmalen, schiefliegenden Augen, in denen gelbe Raubtieraugen mit schlangenartig geschlitzten Pupillen glitzerten, ein aufgerissener Mund mit Reißzähnen. Deutlich schimmerte die rötliche Haut des Dämons und die weiße Mähne, 24
die ihm bis zu den Schultern niederfiel. Der Anblick war so erschreckend und überraschend, dass er Bruce Darkness den Atem raubte und keinen Gedanken an einen weiteren Angriff aufkommen ließ. Dafür war nun der Gegner an der Reihe. Ein brutaler Stoß traf Bruce in den Unterleib und warf ihn auf den Rücken. Der Schmerz raubte ihm fast den Verstand, aber seine Reflexe arbeiteten und rissen ihn in eine Rolle hinein, die ihn in sicherer Entfernung von dem letzten Standort des Dämons wieder auf die Beine brachte. Die Fratze war verschwunden und nur ein Rest von Schmerz in seinem Unterleib bewahrte Bruce vor der Frage, ob er nicht vielleicht einer Täuschung aufgesessen war. Verdammt, wie soll ich denn einen Gegner niedermachen, den ich nicht sehen kann?, dachte Bruce missmutig. Immer noch lastete die Stille auf dem Hinterhof. Aber die Hitzeschleier waren deutlich gegen die Helligkeit der Scheinwerfer zu erkennen. Bruce achtete darauf, dass er dieses Zeichen immer im Blick hatte. Vorsichtig tastete er sich rückwärts und gelangte bis zu seinem Motorrad. Hinter seinem Rücken suchten seine Hände nach dem Tankverschluss und drehten ihn auf. Der Dämon kreiste weiter durch den Hof. Das Flimmern der Luft schien sich langsam zu verfestigen, manchmal tauchten für Sekunden die Umrisse einer riesigen Gestalt auf, um sich im nächsten Moment wieder aufzulösen. Hey, er wird sichtbar, dachte der Vampir. Dann will ich mal noch nachhelfen. Bruce fand in seiner Tasche ein Feuerzeug. Dann sprang er ansatzlos hinter die Harley und hob die gewaltige Maschine hoch. Das Benzin spritze aus dem Tankdeckel und verteilte sich in Sekundenschnelle auf dem Hof. Dann flog das Feuerzeug in die nächste Benzinlache, während Bruce schon, das Motorrad auf der Schulter, zur Straße sprintete. Der Hof hinter ihm explodierte förmlich, mannshoch schlugen die Flammen, der erste Scheinwerfer platzte in einem Funkenfeuerwerk. In dem Inferno drehte und wand sich eine riesige Gestalt, fernes Gebrüll drang durch das Knistern der Flammen. »Wir spielen weiter, wenn du dich wieder etwas abgekühlt hast!«, rief Bruce. Es war noch genug Benzin im Tank, um einen schnellen Rückzug zu gewährleisten und der Vampir brauste ab. * Die vier Männer in den etwas altmodischen Livreen deckten im 25
Handumdrehen den Tisch, zauberten exklusives Porzellan und goldenes Besteck aus den mitgebrachten Kisten, stellten Töpfe und Tiegel auf das wertvolle Damasttischtuch. Ein köstlicher Duft breitete sich aus. Lucanor Tomasi wurde erst durch ein dezentes Hüsteln aus seinen Gedanken gerissen. Er stand an dem großen Fenster und schaute auf den Central Park hinab, der zu dieser Stunde von Sportlern und Spaziergängern belebt war. Mit einem knappen Kopfnicken bekundete Tomasi seine Zufriedenheit mit dem Arrangement, unterzeichnete die Rechnung und legte ein opulentes Trinkgeld dazu. Die Vier bedankten sich und verschwanden. Tomasi sog den Duft von Hummerschwanzsuppe und Braten ein, verspürte aber keinerlei Appetit. Aus einem Nebenraum erklang Schnaufen. Eine unförmige, unglaublich fette Gestalt schob sich, gestützt auf zwei Krücken, mühsam durch die Tür und nahm Kurs auf den Tisch. »Warum lässt du immer für sechs Leute decken, Luca, das ist lächerlich«, beklagte sich Nikophorus Pfettner. »Ich kann schwerlich drei Liter Hummerschwanzsuppe bestellen und dann nur für eine Person auflegen lassen. So was würde sich rumsprechen. Und einen Skandal können wir uns nicht erlauben.« »Papperlapapp. Wir können uns alles erlauben!« Pfettner ließ sich vor dem Tisch nieder. Einen Stuhl für seine völlig verfettete Gestalt gab es in der Wohnung nicht, und darum sackte Pfettner nur nach vorne und sank auf die Knie. Ungeduldig wischte er Teller und Gläser vom Tisch. Das Porzellan schepperte auf den Boden, wurde aber von dem weichen Teppich vor dem Zerbrechen gerettet und von einem ergeben seufzenden Tomasi wieder aufgesammelt. Pfettner griff nach der Terrine mit der Suppe und setzte sie an den Mund. Die fettige Brühe lief ihm aus den Mundwinkeln und sickerte auf sein weites Samtgewand, während er gierig trank. Doch er hatte zu hastig getrunken. Pfettner verschluckte sich, hustete, rang nach Luft und wurde blau im Gesicht. Der erschreckte Tomasi war schon auf dem Weg zum Telefon, um einen Notarzt zu rufen, als Pfettner sich wieder beruhigte und nach einem donnernden Rülpsen in meckerndes Lachen ausbrach. Tomasi legte den Telefonhörer zurück und ging zurück in den Wohnraum. Pfettner langte nach der Pfanne und schaufelte mit der Rechten einen kleinen Berg Braten auf seinen Teller, während die andere Unmengen von Nudeln direkt in die Soße schüttete. Dann, beinahe ohne zu kauen, stopfte er sich das Essen in den gierigen 26
Schlund. Innerhalb von Augenblicken, war der Bratenberg auf seinem Teller vertilgt. Und während er fleißig Fleisch nachschaufelte, fuhr ein Löffel mit Nudeln nach dem anderen zu seinem Mund. Tomasi setzte sich in einen Sessel und schaute in den grau verschleierten Himmel. Pfettners Schmatzen und Würgen, unterbrochen von Hustenanfällen, Aufstoßen und Blähungen waren für lange Zeit die einzigen Geräusche. »Haben die Kerle keinen Nachtisch gebracht?«, fragte der Fette dann. »Eis ist noch in der Tiefkühltruhe.« »In welcher?« »In Nummer fünf oder sechs. Ich werde nachschauen. Welche Geschmacksrichtung?« »Alles.« Mit einem letzten Rülpsen beendete Pfettner sein Mahl und griff nach den Krücken. Mühsam, immer wieder stockend und unter lautem Keuchen arbeitete er sich zu der Couch vor. Der Dreisitzer krachte unter der Masse Pfettners, aber er trug sie und schien gerade genug Platz zu bieten, um Pfettners Hüftbreite unterzubringen. »Was ist, Luca?«, fragte er. »Du bist in der letzten Zeit so unruhig.« »Ich frage mich, was du machen willst, Niki.« Pfettner wurde von einem Lachen geschüttelt, das als wellenförmige Erschütterung über sein Hautfett lief. »Das frage ich mich auch.« »Du scheinst nur zu warten.« »Warten ist doch nicht schlecht - auf den fälligen Schlaganfall, oder darauf, dass ich bei dem nächsten Mahl an meiner Fresssucht ersticke.« »Lass den Unfug, Niki. Du weißt, was ich meine.« »Natürlich weiß ich, was du meinst.« »Dann antworte mir. Warum tust du nichts?«, verlangte Tomasi zu wissen. »Du sagst doch selbst, dass ich warte.« »Warten ist Nichtstun.« »Oh, Luca, seit wie vielen Jahren begleitest du mich. Du hast miterlebt, wie ich zweihundert Kilo zugenommen habe, aber du hast von dem Wesentlichen der Magie noch immer rein gar nichts verstanden.« »So mag es sein«, murmelte Tomasi. In diesem Moment wirkte er wie ein Schüler, der bei einer schlecht gemachten Hausarbeit erwischt wird. »Warten, lieber Luca, ist eine Tat. Es ist eine Aktion. Und richtiges Warten ist eine Kunst. Es ist der wichtigste Teil. Warum erlegt der Jäger das Wild? Weil er warten kann. Warum fängt der Angler den Fisch? Weil er warten kann. Warum ist diese Welt in eine Jauche aus Dummheit und fader Geschwätzigkeit getaucht? Weil keiner mehr warten kann! Hab Vertrauen, 27
Luca, und warte mit mir!« »Wie lange, Niki?« »Ich weiß es nicht.« »Aber warten bedeutet nicht aufgeben, oder?« »Nein, warten bedeutet weitermachen. Heute, morgen, in einem Jahr, falls ich dann wider Erwarten noch leben sollte.« »Red nicht so was, Niki.« »Ich bin zwar ein Monster, Luca, aber ich bin nicht blöd. Es ist ein Risiko im Spiel, aber das müssen wir eingehen. Und wenn es mich umhaut - was solls. Du bist einer der reichsten Männer des Staates, ein Beispiel dafür, was aus einem kleinen Raubüberfall auf einen Drugstore alles entstehen kann. Sei ehrlich, dich juckt doch gar nichts mehr. Kauf dir eine Fünfzigmeteryacht und fahre nach Monte Carlo zum Angeben.« »Darum geht es mir nicht. Ich will keine Ölscheichs beeindrucken. Aber dieses Warten macht mich schlichtweg nervös.« »Dann versuche, aus deiner Unruhe Kraft zu gewinnen. Man kann alles zum Positiven wenden. Das, was wir betreiben, nennt sich Magie und ist eine Kunst. Ich muss auf Zeichen warten, auf Gewissheiten, auf den inneren Funken der Erkenntnis. Es reicht nicht mehr, Formeln aus alten Schwarten herzusagen. Über dieses Stadium sind wir hinaus. Wir haben Neuland betreten. Also übe dich in Geduld. Sag mal, Luca, haben wir eigentlich noch von diesem Trüffelkonfekt?« »Fünf Kilo, Niki.« »Na, hoffentlich reicht das für heute Nachmittag!« * Gerald Uncle duckte sich hinter das Armaturenbrett, die Hände locker um den Griff von Sarraks Schwert gelegt. Das Fest war vorbei, eine Reihe schwerer Limousinen verließ das Gelände, fuhr durch das schmiedeeiserne Tor und nahm die Straße in Richtung auf die Brücke. In dieser Gegend war es nicht einfach, ein Haus auszuspähen und sich auf die Lauer zu legen. Es gab regelmäßige Streifen eines privaten Sicherheitsdienstes, die jeden fremden Wagen sofort untersuchten und die Nummer an eine Zentralstelle durchgaben, während ihre widerlichen Dobermänner herumschnüffelten und die Zähne bleckten. Gerald und seine Männer von der Bruderschaft des Schwertes brauchten also Zeit, Geld und Intelligenz, um sich an diesem Sicherheitsdienst, an den allgewärtigen Videokameras, den Wachhunden und an dem Strom führenden Stacheldraht vorbei in diese Welt der Reichen einzuschleichen. Sie hatten die Villa als Mitglieder der städtischen Straßenreinigung 28
beobachtet, waren als Lieferanten eines Partyservice auf dem Gelände gewesen, hatten Hi-Fi-Geräte und Stiefmütterchen geliefert, die Heizung repariert und inzwischen sogar einen Mann in den Sicherheitsdienst eingeschmuggelt. Inzwischen kannten sie das Innere der Villa, wussten alles über die Alarmanlage und wussten ebenfalls, dass ihr Mann alleine in dem Streifenwagen saß, weil er seinen Kollegen pünktlich um zwei Uhr dreißig, nach dessen letzter Meldung an die Zentrale, mit einem Kopfschuss erledigt und in den Hudson entsorgt hatte. Das war genau die Art, wie Gerald seine Aktionen haben wollte: hart, mutig und erfolgreich. Das Funkgerät krächzte. »Der letzte Wagen hat das Gelände verlassen. Zwei Mann auf dem Kiesweg, um das Tor zu schließen und die Sicherung zu überprüfen. Noch ungefähr zwanzig Meter entfernt.« »Gib mir Meldung bei fünf.« »Zehn Meter. Jetzt kommt ein Hund zu ihnen gelaufen. Der weiße kanadische Schäferhund, der auf den Namen Sunny hört. Sie bleiben stehen und leinen den Köter an.« »Vince, Motor an, kein Licht.« »Hältst du mich für dämlich, Gerald?« Das Schwert etwas fester umgreifend, schwieg der einen Moment. »Nein«, sagte er dann. »Tut mir Leid.« »Die Kerle gehen weiter. Der rechte hat Sunny bei Fuß. Sieben Meter, sechs, fünf . ..« »Gib Gas, Vince.« Der schwere Geländewagen sprang vorwärts. Er war schräg gegenüber dem Tor geparkt, sodass Vince nur das Gaspedal herunterdrücken und das Lenkrad gerade halten musste. Der Wagen erwischte die beiden Männer genau in dem Moment, als sie am Tor anlangten und die Flügel schließen wollten. Der schwere Bullenfänger an der Motorhaube krachte gegen das schmiedeeiserne Tor, ließ es scheppernd aufspringen und wirbelte die Männer zur Seite. Der Hund stieß ein klägliches Jaulen aus, das aber schnell verstummte. »Da links, der Kerl kriecht über die Wiese«, rief Vince. Gerald Uncle fühlte Zorn in sich aufsteigen. Sie hatten die beiden Angestellten nicht sofort eliminiert. Wenn dieser Kerl nicht unter Schock stände, könnte er jetzt über sein Funkgerät Hilfe rufen. Zum Glück hatten sie es mit einem Gärtner zu tun, einem richtigen Gärtner und nicht mit einem der Ex-Marines, die in dieser Villengegend gerne als Personal angestellt wurden und daher dachte dieser Mann nicht an sein Funkgerät. »Der andere ist tot«, kam es aus dem Funkgerät. 29
»Sehr gut. Tor schließen und sichern, vier Mann auf das Gelände, Vince und ich gehen ins Haus. Bleibt auf Empfang.« Mit einem Seufzer fiel Gerald Uncle zurück in den Sitz. Die erste Phase war erfolgreich beendet, nun konnte er sich eine halbe Minute entspannen, während Vince den Wagen langsam durch den Park zur Villa rollen ließ. Die Vorderfront des Gebäudekomplexes war dunkel. Genau das hatte Gerald erwartet. Sie umrundeten die Villa und näherten sich dem Hintereingang. Im Obergeschoss waren drei Fenster erleuchtet. Die Dame des Hauses war in ihrem Bad, die Tochter entsprechend in ihrem und der Herr dieses Anwesens befand sich noch in seinem Arbeitszimmer. Das erleuchtete Fenster im Erdgeschoss gehörte zu den Küchenräumen, wo das Hauspersonal noch damit beschäftigt war, das gebrauchte Geschirr in die Spülmaschinen zu räumen. Er wusste genau, was stattfand. Gerald hatte mit seinen Leuten den Plan Dutzende Male durchgespielt, verbessert, ergänzt, neu durchdacht, bis sich diese eine Vorgehensweise mit geradezu schicksalhafter Notwendigkeit herauskristallisiert hatte. So musste es gemacht werden, so würde es laufen. Jeder von ihnen kannte seine Rolle im Schlaf. Alles war an seinem Platz, tausend Mal nachgeprüft. Und doch zeigte schon der erste Einsatz am Tor, dass man immer mit Unwägbarkeiten rechnen musste, die alles in Frage stellte. Gerald umfasste das Schwert neu und atmete tief durch. Das aufdringliche After Shave von Vince fiel ihm in diesem Moment auf. Der Wagen verließ den Weg und rollte auf den Rasen. Hinter einem Fenster bemerkte Gerald einen Schatten. Es war das Bad von Louise, der Tochter. Er kannte das Gesicht des Mädchens aus einigen Illustriertenfotos. Sie drängte sich nie in den Vordergrund, aber mit einem Vater, der auch gesellschaftlich eine große Nummer ist und, so wie heute, rauschende Feste gibt, geriet sie fast zwangsläufig vor die Objektive der Pressefotografen. Sie hatte Gerald sofort an Louise Brooks, eine Schauspielerin aus den 20er Jahren, erinnert. Nicht wegen des gleichen Vornamens, sondern weil sie sich wie Schwestern ähnelten - dasselbe dunkle, kinnlange Haar, dieselben Gesichtszüge, zugleich klug und verträumt und pfiffig und irgendwie - na ja. Jedenfalls war diese Louise Banks ein Mädchen, mit dem Gerald sich gerne getroffen hätte. Ja, er hätte sie gerne getroffen - in einem anderen Leben. In einem Leben, das er sich jetzt nur noch in Träumen ausmalen konnte. »He, Gerald, Muffensausen oder was?« Der Ellbogen von Vince riss Gerald Uncle unsanft aus seinem Brüten. 30
»Verzeihung, war ein bisschen weggetreten.« Sie hängten sich ihre Waffen um, Gerald nahm natürlich zusätzlich das Schwert mit, und betraten die Treppe zur Terrasse. Das Metall klapperte. Aus dem Dunkel kamen sie in das blendende Licht zweier Scheinwerfer, die unter dem Dach angebracht waren und die Terrasse bestrahlten. Reste von Konfetti und Luftschlangen, vergessene Champagnerflaschen und Tanzkarten erzählten von dem Fest, das vor kurzem hier fröhliche Menschen zusammengeführt hatte. Vince blieb stehen. »Schon seltsam, dass ich hier bin«, murmelte er. »Das ganze Leben ist seltsam.« »Nee, ich meine - wirklich. Stell dir vor, wenn mein Vater nicht 'n Säufer gewesen wäre und mich tagtäglich durchgeprügelt hätte und meine Mami nicht 'ne eingefleischte Nutte mit täglich 'nem neuem Schwanz in der Muschi, dann wäre ich nicht zu den Seals gegangen. Und wenn ich nicht diesem Arsch von Leutnant endlich mal die Eier langgezogen hätte, dann hätte ich nicht vier Jahre Bau gehabt. Schon seltsam das!« »Was ist? Willst du aufhören?«, fragte der junge Farbige, das Schwert umklammernd. »Ach Quatsch, bei der Bruderschaft des Schwertes gefällts mir. Irgendwie komfortabler als bei der Army.« Gerald holte eine Chipkarte aus seiner Brusttasche und steckte sie in den Schlitz der Hintertür. Mit leisem Summen sprang sie auf. »War deine Mutter auch 'ne Nutte?«, fragte Vince plötzlich. Wenn er nervös war, wurde er ungewohnt gesprächig. »Nein, sie ist 'ne gute Frau.« »Und dein Dad?« »Bulle.« »Mann, dann ist unser Boss ja geradezu von Adel. Was würdest du machen, wenn du ihm begegnen würdest?« »Ihn umlegen!« »Warum?« »Bullen arbeiten für das System!« Aus dem Funkgerät, das Gerald auf der Schulter, direkt neben dem Kopf trug, kamen die Klarmeldungen der anderen: »Eins auf Position,... zwei auf Position, keine Vorfälle ...« »Gut«, antwortete Gerald. »Schießt sofort und fragt später. Und trennt den Kopf ab oder rammt einen Pflock ins Herz, bevor ihr euch genauer mit dem Objekt beschäftigt!« Zur rechten Hand war die kleine Kammer. Gerald lehnte das Schwert gegen seinen Bauch und schob eine Metallplatte zur Seite. Ein Licht ging an 31
und eine Frauenstimme meldete sich: »Identifizierungssequenz aktiviert, bitte Iriserkennung durchführen, noch zehn Sekundeh .. . zehn .. .« Gerald öffnete die kleine Kühlbox, die er an der Seite trug, stach mit einem spitzen Bleistift in einen kugelförmigen Gegenstand und hielt diesen vor die Linse des Identifikationssystems. Seine Hand zitterte leicht. Endlose Sekunden vergingen. Dann kam wieder die Stimme: »Guten Tag, Mister Robbins. Bitte legen Sie ihren rechten Zeigefinger auf das ID-Feld.« Gerald ließ den Bleistift samt dem darauf aufgespießten Auge fallen und griff erneut in die Kühlbox. Die Hand, die er hervorholte war steif gefroren und von Reif überzogen. Bevor sie den Sicherheitsingenieur Robbins in einem Kellereingang beerdigten, hatten sie der Leiche ein Auge und die Hand entnommen und darauf geachtet, dass die Hand in zeigender Position eingefroren wurde. So brauchte Gerald nur leicht auf die Spitze des Zeigefingers zu hauchen, um den Reif und störende Eiskristalle zu entfernen und die Hand auf das Feld zu drücken. »Danke, Mister Robbins«, ertönte die weibliche Stimme. »Der Zugriff zur Alarmanlage ist gestattet.« Das Haus gehörte ihnen. Mit einem Griff riss Gerald die herunterhängenden Kabel aus den Verbindungen. Vince hatte schon eine Kneifzange in die Hand und kappte die Telefonleitungen. »Wie hübsch, wenn was funktioniert«, kommentierte Gerald. Aus dem Küchenraum drang Geschirrklappern und Gesprächsfetzen. Gerald machte mit der rechten Hand eine Splittergranate scharf, mit der linken drückte er lautlos die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt. Da waren sie alle. Keine Überraschungen. Er kannte die Angestellten mit Namen, er kannte ihre Gewohnheiten, ihre Familien, ihre Hobbys. Und nun kannte er die Stunde ihres Todes. Er warf die Handgranate, sprang zurück hinter die Deckung der Wand, hörte die ohrenbetäubende Detonation. Schreie gellten auf und verstummten. Glas splitterte, Töpfe schepperten von Regalen herunter. Dann sprang er zusammen mit Vince in das Chaos des Raumes, suchte nach den Opfern und hackte die Köpfe ab, um ganz sicher zu gehen. »Eine fehlt noch«, rief er Vince zu. »Sie wird auf der Toilette sein.« Vince zögerte. »Was ist, willst du warten, bis sie abgespült hat?« »Nee, aber wenn sie austreten muss, dann ist sie doch eine von uns und .. .« »Vince, mach dir klar, wo sie gearbeitet hat und was sie den Bullen 32
erzählen kann. Dann darfst du dir selbst noch Mal die Frage beantworten, ob sie eine von uns ist. Ich mache schon mal oben weiter.« Eine Wendeltreppe führte nach oben. Der Gang führte nach links. Gerald griff mit der Rechten nach einem Holzpflock. In der linken Hand hielt er das Schwert Sarraks, und über seiner Schulter hing der Riemen eines Sturmgewehrs. Vier, fünf weite Schritte führte ihn zum Zimmer von Misses Banks. Er trat die Tür ein, sah sie genau gegenüber und rammte ihr in der nächsten Sekunde den Pflock ins Herz. Es war nicht notwendig, den Erfolg dieser Aktion zu beobachten. Der aufsteigende Verwesungsgestank war Beweis genug. Gerald sprang zurück auf den Flur. Von unten ertönte das Krachen einer Granate, gefolgt von Schreien, die unter dem Bellen einer Pumpgun abrupt endeten. Da, eine weiße Gestalt. Es war Louise, die »Daddy, Daddy« schreiend, aus ihrem Bad stürzte. Ein weißer Seidenpyjama umhüllte ihre schlanke, fast knabenhafte Figur. Als sie Gerald erblickte, prallte sie zurück. Er ließ das Schwert fallen, riss sein M-16 Sturmgewehr vom Rücken, zielte und sein Abzugsfinger zögerte. Das Mädchen hob abwehrend die Hände und drückte sich gegen die Wand. Sie war kleiner und zarter, als Gerald gedacht hatte und ihr Gesicht war noch feiner geschnitten als die grob gerasterten Illustriertenfotos ahnen ließen. Es wirkte wie ein Kunstwerk aus Elfenbein, in dem die entsetzt aufgerissenen Augen wie Einlagen aus Ebenholz glänzten. Ihre zarten Brüste zeichneten sich unter dem Seidenstoff ab. Sie schaute auf Gerald und Gerald auf Louise. Sein Mund stand offen und er spürte deutlich den Kloß in seinem Hals. Ein Lichtreflex, so schien es, ließ das Schwert, das vor ihm auf dem Boden lag, aufblitzen. Er bemerkte das kalte Glitzern auf der blanken Klinge nur aus dem Augenwinkel. Dann jagte er die 30-Millimeter-Granate mit Aufschlagzünder in ihre Richtung und warf sich zugleich zu Boden. Die Explosion fegte über den Gang und warf ihm Holzsplitter in den Nacken. Er sprang auf und lief zu ihr. Er hatte einen Volltreffer gelandet. Sie lag leise stöhnend auf dem Rücken und schaute ihn verständnislos an. In diesem Moment fragte er sich, ob sie wirklich eines der Monster war. Zögernd beugte er sich zu ihr und legte mit unwillkürlicher Zärtlichkeit seine Finger auf ihren Mund. Als er die weichen, bebenden Lippen vorsichtig zurückzog, entdeckte er ihr Vampirgebiss. Es lag keine Befriedigung auf seinem Gesicht, als sich Gerald Uncle wieder aufrichtete. Selbst jetzt wirkte sie eher wie ein junges Mädchen, das 33
sich für den Schulabschlussball als Vampir verkleidet hat. Gerald fuhr sich über die Augen und zog die Nase hoch. Verdammt, Gerald, du verplemperst Zeit. Du wirst zum Risiko, dachte er. Er warf einen Blick in das Bad. Das Wasser rieselte noch in das Waschbecken, eine elektrische Zahnbürste lag auf der Fußmatte und summte. Der Duft ihres Parfüms lag in der Luft. Der nächste Raum - ihr Zimmer. Schränke, ein großes Bett, Bücherregale, ein Schreibtisch. Der Computer lief, auf dem Monitor war das Signet eines Internetanbieters. An den Wänden Poster von Robbie Williams und Frank Sinatra, auf der anderen Seite ein vermutlich wertvolles Gemälde, das einen Elfentanz auf einer Lichtung zeigte. Viele Kissen im Laura-Ashley-Stil, Kohorten von Plüschtieren, ein großer Eisbär mit schönen Augen wartete im Bett neben der aufgeschlagenen Decke. Gerald empfand das tief sitzende Bedürfnis zu schreien. Noch nie im Leben hatte er einen solchen Schrei in sich gehabt, und noch nie spürte er den Schmerz so stark, weil seine Kehle wie zugeschnürt war und den Schrei nicht durchlassen konnte. Verdammte Sentimentalitäten, sagte er sich. Ich muss Banks erwischen. Nächster Raum, nur Klamotten, die Kleiderkammer der Tochter. Er ging zur anderen Seite. Dann ging eine Tür auf, und Theodor Banks stand in der Öffnung. Er war riesig, mindestens zwei Meter groß. Man konnte seine überlangen Eckzähne sehen, und er starrte Gerald an, sah ihm direkt in die Augen. Gerald starrte zurück. Er konnte nicht anders. In seiner Welt gab es nur noch diese großen dunklen Augen. Vergessen war das Sturmgewehr in seinen Händen, vergessen war Sarraks Schwert, dass irgendwo im Flur auf dem Boden lag. Gott helfe mir, dachte der junge Farbige, diese Augen fressen mich auf . . . Harte Hände rissen Gerald nach hinten und stießen ihn in Deckung. Vince! Der feuerte eine Gewehrgranate und jagte dann eine Lage Dumdumgeschosse hinterher. Gerald kam wieder zu sich. Er rollte sich zur Wand, zog sich hoch und taumelte zurück in das Arbeitszimmer von Theodor Banks. Dabei machte er einen kleinen Umweg und holte sein Schwert, Sarraks Schwert. Louises Heilung war noch nicht besonders weit vorangeschritten. Sie war wohl nicht besonders mächtig. Banks war von den Treffern bis an die rückwärtige Wand geschleudert worden. Er konnte sich kaum noch rühren. Die Treffer hatten zu großen Schaden angerichtet. Gerald trat zu ihm hin, um ihm den Kopf abzuschlagen. 34
Da bäumte sich Banks noch einmal auf. Was von seiner linken Hand übrig geblieben war, krallte sich um den Hals des jungen Schwarzen. Aufschreiend sprang Gerald zurück, ließ im gleichen Moment das Schwert des Höllenkriegers kreisen. Mit nur einem einzigen, präzisen Hieb durchtrennte er den Hals des Vampirs. Er bemerkte nicht, dass der Blutsauger ihm seine Kette vom Hals gerissen hatte. Wow, er wird mit dem Ding immer besser, dachte Vince. Er sah nicht das seltsame Glitzern in Geralds Augen, ahnte nicht, dass auch er selbst in Lebensgefahr schwebte. Gerald blinzelte, der seltsame Glanz in seinen Augen verschwand. Etwas verwirrt sah er sich um. Dann bemerkte er, dass der Computer noch lief. Entsetzt starrte Gerald auf den Monitor. Was er sah, war atemberaubend. Er hatte manches gewusst, noch mehr geahnt, aber nun war es, als würde er in eisiges Wasser getaucht. Sie waren tatsächlich überall. Sie hatten ihre nützlichen Idioten, dahinter saßen die echten Vertrauensleute und dann kam schon der Erste von ihnen. Banken, Kaufhäuser, Gewerkschaften, Parteien, Medien, Verlagshäuser, Sportleragenturen, Museumsvereine, Ölgesellschaften, Computerhersteller, Softwareproduzenten, Airlines, Polizei, Justiz, Militär . . . Sie waren diejenigen, die die Gesetze machten und diejenigen, die sie brachen. Sie standen auf beiden Seiten und sie profitierten davon und steuerten die ganze Angelegenheit. Geralds Stift flog über das Papier. Er hätte Tage gebraucht, um alles aufzuzeichnen und das verworrene Geflecht von Beteiligungen, Anteilen und Stimmrechten, von Schmier- und Sponsorengeldern und zu entwirren. Aber es gelang ihm zumindest, ein paar wichtige Namen herauszufiltern. Einige waren Decknamen, darin war sich Gerald Uncle sicher. Zum Beispiel einer, der immer nur der Baron genannt wurde. Bei ihm schienen alle Fäden zusammenzulaufen. »Soll ich mich um das Mädchen kümmern«, fragte Vince und riss Gerald damit aus seinen Gedanken. »Nein, mach du den Weg frei. Ich kümmere mich um sie.« Wie betäubt blieb Gerald in dem Raum stehen, während Vince eilig die Treppe herunterpolterte. Er faltete versonnen die Zettel mit seinen Aufzeichnungen zusammen und steckte sie in die Tasche. Dann ging er in den Flur zu Louise, das Schwert des Höllenkriegers lehnte nach wie vor am Computertisch. Er nahm einen Holzpflock und kniete sich 35
neben sie. Ihre Wunden waren fast verheilt , und trotzdem rührte sie sich nicht. Stattdessen schaute sie ihn offen an. In ihrem Blick war nur Schmerz und Erstaunen und etwas anders, das Gerald Uncle nicht definieren konnte. Er schaute sie an, und dann bemerkte er seine Hand, die über ihre Wange streichelte und ihr eine Haarsträhne aus der Stirn strich. »Tut mir Leid«, hörte er sich sagen. Sie lächelte ihn an. »Ist schon okay«, flüsterte sie. »Das Ganze war nicht meine Idee. Ich konnte mir immer was Besseres vorstellen, als auf ewig sechzehn zu sein. Und ich habe nie jemanden verletzen wollen.« »Ja, ich weiß.« »Ich möchte nicht, dass es wehtut.« »Du wirst nichts spüren, das verspreche ich dir.« Etwas Feuchtes rollte über Geralds Wange und fiel auf ihr Gesicht. Sie hob die Hand und legte sie auf seine Wange. »Nicht traurig sein«, flüsterte sie kaum hörbar. »Und mach bitte schnell.« Er schaute ihr in die Augen und legte ihr ebenfalls die Hand auf die Wange, zärtlich wie er noch nie etwas angerührt hatte. Mit der anderen setzte er blitzschnell die Spitze des Pflocks auf ihre Brust und warf sich mit seinem gesamten Gewicht darauf. Er sah Erstaunen in ihren schönen Augen, dann sprang er auf, packte noch das Schwert und rannte wie von Teufeln gehetzt aus dem Haus. Vince ließ den Wagen an und fräste mit durchdrehenden Rädern über den Rasen. Über Funk kamen die Meldungen der anderen. »Eins - drei Personen vernichtet, ein Monster, zwei Diener, keine Verluste .. .« Am vereinbarten Treffpunkt hielten sie an, wechselten ihre bluttriefenden Kleider, räumten die Benzinkanister in die Wagen und zündeten das Benzin. Dann fuhren die Männer der Bruderschaft des Schwertes mit den anderen Wagen und auf getrennten Wegen zum Hauptquartier. Während der ganzen Fahrt umklammerte Gerald Uncle mit aller Kraft den Griff des Schwertes. Dabei bewegte er die Lippen, so als würde er beten, oder sich leise unterhalten. Und irgendwann schwand der gehetzte Ausdruck in seinen Augen . . . * »Schau an, unser Lederjunge spielt mal wieder den Vize. Weißt du, Bruce, irgendwie passt Rindsleder zu dir. Lass dir doch einfach die Haut 36
gerben, dann sparst du sogar das Anziehen!« Katrina Stein sprachs und schickte ihrem verbalen Giftpfeil ein hinreißendes Lächeln hinterher. »Katrina, du bist der Sonnenstrahl in meinem Leben«, gab Bruce Darkness zurück. Die Antwort war klasse. Leider kam sie zu spät, weil Katrina Stein inzwischen ihr wohlgeformtes Hinterteil schon durch eine Bürotür geschoben hatte und Bruce derart um den Genuss seines geistreichen Konters betrog. Diese Frau war so stimmungsfördernd wie ein Magengeschwür! Baron von Kradoc winkte Bruce statt einer Begrüßung gleich zum Besprechungstisch. »Hast du die Zeitungen gelesen«, fragte er, noch bevor er sich gegenüber Bruce niedergelassen hatte. »Äh, ja ... den Sportteil.« Die Augenbrauen des Barons kletterten ein wenig in Richtung seines Haaransatzes. Wortlos langte er nach einer Zeitung und legte sie mit der ersten Seite nach oben auf den Tisch. Die Balkenüberschrift sprang förmlich in die Augen. Bruce überflog kurz den Text und lehnte sich dann zurück. »Das Problem, das diese Zeitungsschreiber haben, besteht eindeutig darin, dass es keine Steigerung von >Gemetzel< gibt«, sagte er dann. »Darum geht es nicht«, sagte der Baron unwirsch. »Hier wurde einer von uns ausgelöscht und zwar nicht irgendeiner. Theodor Banks rang mir die Erlaubnis ab, seine Familie in unsere Reihen aufzunehmen. Ich erlaubte es und gewann dadurch einen absolut treu ergebenen Mitarbeiter. Sein Verschwinden ist ein herber Verlust.« Die Augen des Barons fixierten einen Punkt an der Wand. Seine Kiefern mahlten, das Muskelspiel zeichnete sich deutlich unter seinen mageren Wangen ab. »Es ist zwar ärgerlich, einen treuen Gefolgsmann zu verlieren«, fuhr er fort, »doch es geht um andere Dinge, die nicht persönlich zu betrachten sind. Banks hatte einen sehr weiten Blick auf die Struktur unserer Geschäfte. Er kannte mehr Namen und Verbindungen als die Meisten meiner Untergebenen. Das wird ihm das Leben gekostet haben.« »Marcus von Thule?« Der vampirische Herrscher von Philadelphia streckte schon eine ganze Weile die Finger nach New York aus. »Möglich«, räumte der Baron von Kradoc ein. »Aber unwahrscheinlich. Tatsache ist, dass ich Hinweise habe, dass diese ominöse Bruderschaft des Schwertes möglicherweise erneut die Finger im Spiel hat.« »Ich dachte wirklich, dass die Angelegenheit mit dem Tod ihres 37
Anführers erledigt wäre.« »Sie haben sich neu organisiert, wie du weißt. Die Tat trägt, so weit ich das aus den Zeitungsmeldungen und Polizeiberichten beurteilen kann, ihre Handschrift - militärisch, professionell und absolut rücksichtslos. Sie wollen uns schaden - und vernichten.« »Wenn Banks viel wusste - wie viel hat er unter Umständen verraten?« »Ich würde es gerne wissen. Meinen Namen hat er unter keinen Umständen genannt, da bin ich mir sicher. Was das angeht, habe ich vorgesorgt. Aber es wäre schlimm genug, wenn er unseren Feinden auch nur einen kleinen Einblick in das Wesen meines Imperiums gewährt hätte. Wir können so etwas nicht gebrauchen. Kurzum - du wirst erstens dieses Ärgernis mit der Bruderschaft des Schwertes endlich beseitigen und zweitens für den Schutz von Damian Fallacci sorgen. Du kennst ihn ja. Er ist wichtig für mich und für unsere Arbeit. Zugleich ist er mit geradezu logisch zwingender Notwendigkeit der Nächste, den die Bruderschaft des Schwertes überfallen müsste, um weitere Informationen zu sammeln. Die Sache liegt mir am Herzen, also tue dein Bestes.« »Tu ich doch immer - Herr«, fügte Bruce noch hinzu, als er die Reaktion seines Bosses auf seine Flapsigkeit bemerkte. * Die Pressegeier hatten von der Sache beinahe früher Wind bekommen als die Polizei. Das allein reichte, um Detective Tom Uncle, genannt Onkel Tom, die Halsadern schwellen zu lassen. Und nun blockierten die Kamerawagen die Einfahrt zum Villengelände, und überall standen diese berufsmäßig aufgeregten Bildschirmgesichter und redeten mit Blick in eine Kamera über die Tat, den Tatort und die Täter und weitere Informationen und ein Interview mit der Leiche gab es dann nach der Werbeunterbrechung. »Darf ich diese Typen zum Kotzen finden oder bin ich dann pervers?«, fragte Uncle seinen Fahrer. MacLachnach, der Einfachheit halber stets nur Mac genannt, drehte sich halb um. »Du wärst abartig, wenn du sie lieben würdest.« »Wie sieht es drinnen aus«, fragte Uncle den Beamten, der vor der Tür der Villa Position bezogen hatte. »Tja, ich will mal so sagen - es gibt hier im weiten Umkreis keinen Busch, hinter den nicht in der letzten Stunde jemand gekotzt hätte. Ein Schlachthaus ist eine Idylle dagegen. Soll ich weiter erzählen?« »Nein, danke, jetzt möchte ich doch alles live und in Farbe erleben.« Der schleppende Schritt, mit dem sich Uncle in das Haus begab, strafte 38
seinen Zynismus Lügen. Ein dumpfer Blutgeruch überfiel ihn schon an der Schwelle, als würde das Gemäuer die Grausamkeit konservieren, um jeden Gast damit anzustecken. Kollegen von der Spurensicherung in ihren weißen Overalls kamen ihm entgegen. Obwohl er präzise Fragen stellte und sich Notizen machte, fühlte sich Detective Uncle wie in einem Traum. Dieses Gemetzel konnte nicht wirklich sein. Und wenn es sich tatsächlich als Realität aufspielte, dann gab es eine Schranke in seinem Geist, die sich weigerte, eine solche Erkenntnis passieren zu lassen. Er erfuhr die vorläufige Anzahl der Opfer. »Vorläufig?«, hakte er nach. »Nun ja, es waren Splittergranaten. Kurz gesagt, wir müssen erst einmal das Puzzle zusammensetzen, bevor wir genau sagen zu können, wie viele es in der Küche erwischt hat.« Warum das Verbrechen erst so spät bemerkt wurde? Banks und seine Familie lebte völlig autark. Es konnte sein, dass er sich eine Woche lang nicht meldete und dass keiner seiner Angestellten den Park verließ. Es war also eher Zufall, dass die Tat schon jetzt bemerkt wurde. Es hätte noch Tage dauern können. Banks war verschwunden. Keine Spuren, weder von ihm noch von Frau oder Tochter. »Was ist mit der Alarmanlage? Hatte er überhaupt eine?« Uncles Kollege schnalzte mit der Zunge: »Und was für eine! Allererste Sahne. Ein High-Tech-Meisterwerk.« »War die Anlage ausgeschaltet?« »War sie. Und bevor nun die nächste Frage kommt: Eigentlich konnten nur Banks und der Konstrukteur dieses technischen Leckerbissens die Anlage so verändern, dass sie außer Betrieb war. Es gibt eine Einrichtung für Iris-und Fingerabdruck-Identifikation. Und bevor noch die nächste Frage kommt - Nein, der Konstrukteur war nicht da. Jedenfalls nicht vollständig. Wir haben neben der Anlage ein Auge und eine Hand gefunden. Beides war in einer Kühltasche. Der Techniker war ein menschenscheuer Junggeselle. Es ist niemandem aufgefallen, dass er seit Tagen verschwunden war.« »Will heißen, seine ungenutzten Reste treiben im Hudson?« »Das ist die größte Wahrscheinlichkeit. Ja, Uncle, hier wurde richtig aufgefahren. Eine solche Nummer ist mir noch nie untergekommen.« Raubmord? Unwahrscheinlich, keine Hinweise auf fehlende Kunstwerke, der Tresor wurde nicht angerührt. Also etwas anderes. Entführung? Dann wären nicht alle gleichzeitig verschwunden. Banks soll seine Hand in 39
dubiosen Geschäften gehabt haben. Also vielleicht Mafia? Unfug, er hatte viele Neider. Zu viele Neider, schien es. Uncle wandte sich ab. So war es immer - das unfassbare Grauen wurde durch Worte und Sätze gebannt und man tat so, als wäre damit die Sache weniger schlimm. Ein Fall für die Polizei, die jeden Tag Fälle hat, sonst könnte man sie im kommunalen Haushalt einsparen. Man packte den Horror in verbale Plastiktüten und trug ihn dann wie Leichensäcke vom Tatort. Dann wurde sauber gemacht und am nächsten Tag hechelte die Presse der nächsten unfassbaren Katastrophe hinterher. Uncle bemerkte wieder den Geruch von Blut und Verwesung und hatte die Empfindung, als würde er in der Luft schweben, als gäbe es unter ihm nur eine unauslotbare Tiefe, in der das Böse wartete. Sein Kollege kam zu ihm geschlendert. »Also, wenn wir im Kongo wären, dann würde ich sagen, hier haben sich außerordentlich übel gelaunte Söldner ausgetobt«, urteilte der Chef des Teams der Spurensicherung. »Warum?« »Weil sie militärisch vorgegangen sind. Sie haben Spuren hinterlassen noch und nöcher, das war ihnen schlichtweg egal. Sie haben M-16 verwendet, Splitterhandgranaten - und Holzpflöcke.« Uncle schaute von seinem Notizblock auf. »Habe ich eben Holzpflöcke gehört?« »Das liegt daran, dass ich Holzpflöcke gesagt habe.« »M-16 und Holzpflöcke. Könnte eine rituelle Bedeutung haben. In welchen Leichen wurden die Pflöcke gefunden?« »In allen, die noch einen Kopf hatten. Einer wurde noch im Schlafzimmer von Frau Banks entdeckt, ein anderer auf dem Flur. Auffälliger Verwesungsgeruch, aber kein Opfer. Ach so, das habe ich auch im Arbeitszimmer gefunden. Der beste Hinweis, den wir haben.« Der Kollege präsentierte eine kleine Plastiktüte. Uncle nahm sie in die Hand und untersuchte den Inhalt, während sein Herz zu rasen begann. Er kannte diese Kette und er kannte diesen Anhänger. Gerald! Sein Sohn Gerald trug seit seiner Geburt einen solchen Anhänger an einer solchen Kette! Uncle gab die Plastiktüte zurück und wendete sich der Treppe zu. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Nein, es konnte nicht sein! Gerald war verschwunden, er war in schlechte Gesellschaft geraten, er trieb sich auf der Straße herum, er machte seinen Eltern Kummer. Aber sollte er deswegen an einem solchen Massaker beteiligt gewesen sein? Alleine die Vorstellung war völlig absurd! Es musste Tausende 40
solcher Ketten und Anhänger geben. Und Gerald trug die seine noch um den Hals. Oder vielleicht hatte er die Kette verkauft? Ja, so konnte es sein. Natürlich, er brauchte Geld. Oder er hatte die Kette verloren. Es gab genügend Erklärungen .. . Der Tag hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, als würde noch Rauch und Blutdunst auf seiner Zunge kleben. Uncle versuchte, sich durch einen Roman abzulenken. Seine Frau kannte diese Stimmungen und machte einen Bogen um ihn. Dass sein zweiter Sohn Benni ihn allerdings in Ruhe ließ, kam Tom Uncle nach einer Weile verdächtig vor. »Benni, komm mal her.« Der Junge schlich mit verschränkten Armen zu seinem Vater. »Alles klar, Junior?« »Alles frisch, Dad!« »Also nicht.« »Doch, doch, ich sags doch.« »Pass auf, Benni, meiner Verhörtechnik kann kein Mafiakiller widerstehen, also brauchst du es erst gar nicht zu versuchen. Spucks aus. Hast du dich verknallt, brauchst du Geld, hast du eine Prüfung verhauen oder was hast du sonst verbockt?« Tom Uncle gab seiner Stimme einen gewollt munteren Klang. Die Antwort Bennis brachte ihn dann allerdings zum Verstummen. »Ich habe Gerald getroffen, Dad.« »Du willst mich veräppeln, was?« Die Frage war wie ein letzter Rettungsanker. »Nein, will ich nicht. Wir haben uns zufällig getroffen und er hat mich zu einem Eis eingeladen. Wir haben uns unterhalten. Ich habe ihn gefragt weil du doch immer sagtest, er wäre so eine Art Undercover-Agent.« »Und? Was hat Gerald dazu gesagt?« »Er hat gelacht. Und er hat gesagt, dass es stimmen würde. Er wäre in so einer Art Krieg. Da ginge es ziemlich zur Sache. Aber er sagte, wir müssten gegen die angehen, weil sie uns beherrschen würden.« »Schön, sagte er auch, wer die sind?« Benni knetete seine Finger und schaute zu Boden. »Vampire«, antwortete er dann. Es gelang Tom Uncle, ruhig zu bleiben. »Ach so, Graf Dracula und dergleichen? Sag mal, war dein Bruder auf Drogen?« »Er hat nicht mal ein Bier getrunken. Er sagte, man müsste denen den Kopf abschlagen oder ihnen Holzpflöcke ins ...« »Holzpflöcke?« »Ja, Holzpflöcke, mitten ins Herz, dann lösen sie sich auf. Er wollte, dass ich mitmache. Ich hab ihm gesagt, dass ich dich erst fragen will. Nee, hab ich ihm nicht gesagt, aber ich wollte erst fragen.« 41
»Wollt ihr euch wieder treffen? Wo?« »Er sagte, er würde mich finden.« Tom Uncle sprang auf und legte seine Hände auf die Schultern seines Sohnes. »Benni, du darfst nie wieder mit Gerald sprechen, verstehst du? Das ist ein Befehl. Nie, nie wieder!« An dieser Stelle des Central Parks hielten sich um diese Nachtzeit nur Personen auf, die Lust hatten, überfallen oder vergewaltigt zu werden. Entsprechend unwohl fühlte sich Lucanor Tomasi. Er hielt sich hinter einem Gebüsch versteckt und lauschte angstvoll auf die nächtlichen Geräusche des Parks. Er zuckte zusammen und sprang hysterisch zur Seite, als er plötzlich direkt hinter sich eine Bewegung spürte. Der weiße Anzug der elegant gekleideten Gestalt schimmerte in der Dunkelheit. »Verzeihung, ich ahnte nicht, dass mein Erscheinen solche Reaktionen auslösen würde.« »Soll ich das jetzt glauben, Babriel«, antwortete Tomasi, dem immer noch der kalte Schweiß auf der Stirn stand. »Nein«, antwortete der gefallene Engel. »Lügen gehören zu meinem üblichen Handwerkszeug. Schließlich stehe ich in Diensten des Vaters der Lüge.« Auf dem klassisch schönen Antlitz des weiß Gekleideten erschien ein boshaftes Lächeln und zerstörte die scheinbare Harmonie seiner Züge. »Gehen wir ein Stück«, entschied er. Seine Schritte waren lautlos. Als sie sich einer der spärlichen Laternen näherten, bemerkte Tomasi, dass sein Begleiter keinen Schatten warf. »Was macht unser gemeinsamer Freund Pfettner?«, fragte Babriel nach einer Weile. »Nichts. Das heißt, er frisst sich zu Tode wie schon seit Jahren.« »Nun, lange wird er sich diese Orgien nicht mehr erlauben können.« »Er kann nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden. Im Grunde müsste er schon längst an seinem eigenen Gewicht erstickt sein.« Tomasi schauderte. »Es wäre ein herber Verlust für die Menschheit - und natürlich auch für den Herrn Tomasi, wage ich zu behaupten.« »Verzichten wir auf alles Gerede. Um was geht es, Babriel?«, fragte Tomasi ungeduldig. Die lautlosen Schritte des weiß gekleideten Mannes macht ihn nervös und erfüllte ihn mit einem unbestimmten Ärger, den er sich selbst nicht genau zu erklären vermochte. »Verzeihung, ich vergaß, dass ihr Sterblichen ja nicht so viel Zeit habt wie wir«, spottete der weiß Gekleidete. »Bedauerlich. Wie soll sich ein gutes 42
Gespräch entwickeln, wenn der andere schon nach vierzig Jahren wegstirbt? Nun gut, ich fragte mich, was mit den Plänen geschieht, wenn Pfettner nicht mehr unter uns weilt.« »Wir können sie vergessen!« »Diese Antwort hatte ich befürchtet. Ist sie aber auch korrekt?« »Die Antwort? Natürlich. Keiner kann Pfettner das Wasser reichen. Was er vermag, konnten in der Geschichte der Magie vielleicht zwei oder drei vor ihm. Aber selbst da habe ich Zweifel.« »So einmalig ist unser wohl gerundeter Freund?«, erkundigte sich Babriel lauernd. »So einmalig!« »Aber er hat doch einen Begleiter ... Schüler ... Jünger ... Assistenten ... Freund.. .« »Lassen Sie das Freund weg«, unterbrach Tomasi brüsk. »Ich lasse gerne alles weg, was mit Freund zu tun hat. Ich meine, man sollte auch der Konkurrenz ihr jämmerliches Monopol gönnen. Aber der Rest reicht doch auch. Sie haben Pfettner beobachtet, ihm geholfen. Ja, Sie haben sogar Aufzeichnungen gemacht, Herr Tomasi, obwohl Ihnen ihr Meister das strengstens verboten hatte. Und Sie haben selbst Versuche gemacht. Verzeihen Sie, wenn ich Vermutungen anstelle, aber diese Mädchenleiche in der Bucht von Neapel, die die Polizei mit keiner vermissten Person in Verbindung bringen konnte ... Da hatten Sie doch die Finger im Spiel.« Tomasi antwortete nicht. Er fühlte sich ertappt, gedemütigt und verwirrt. Kein Mensch wusste von seinen Aufzeichnungen und die Sache mit dem Mädchen . . . »Reden wir über Frauenfleisch oder geht es ums Geschäft?«, sagte er schließlich mit rauher Stimme. »Frauenfleisch?« Der gefallene Engel schüttelte sich vor Lachen. »Das ist die Einstellung, die ich liebe. Nur keine falschen Sentimentalitäten. Also Frauenfleisch! Ja, darum geht es. Sie haben sich ein künstliches Weib erschaffen. Sie sind nicht schlechter als Pfettner!« »Dieses Urteil müssen Sie mir schon selbst überlassen, Babriel!« »Warum so bescheiden, Herr Tomasi? Sie sind gut. Sie könnten Pfettner ersetzen. Natürlich nur, falls dieser aus gesundheitlichen Gründen ausfallen sollte.« »Natürlich nur dann!« »Natürlich nur dann .. . Wir denken ja gar nicht erst an die Möglichkeit, Pfettner - auszuschalten? Um selbst das große Ziel zu erreichen? Nicht wahr. ..« Babriel ließ den Satz ins Leere ausklingen. Und wieder spürte Tomasi, 43
wie seine geheimsten Überlegungen durchschaut und beurteilt worden waren. Unwillkürlich schüttelte es ihn. »Pfettner ist noch ausreichend gesund, er hat mir versichert, dass er keineswegs das Ziel aus den Augen verloren hat. Damit gibt es zwischen uns beiden nichts weiter über dieses Thema zu diskutieren«, sagte Tomasi schließlich. Er sprach hastig, als müsste er einen auswendig gelernten Text aufsagen. »Das freut mich zu hören. Warten wir also noch ab. Allerdings darf ich Sie daran erinnern - und es wäre nett, wenn Sie dies auch Herrn Pfettner ausrichten könnten, da dieser sich ja mit gewissen Mitteln vor meinem Besuch zu schützen beliebt - dass meine Zeit zwar unendlich ist, meine Geduld jedoch nicht.« Tomasi, der verbissen nach vorne schaute, merkte erst nach einiger Zeit, dass er wieder allein war. * »Alle sind da«, sagte Vince. Gerald Uncle nickte, packte das große Schwert fester und trat hinaus in die Halle, in der sich die Mitglieder der Bruderschaft des Schwertes versammelt hatten. Bei seinem Anblick straffte sich ihre Haltung. Er ließ seinen Blick über die Männer schweifen. Die meisten waren noch jung, einige fast noch Kinder, aber es gab auch eine Handvoll VietnamVeteranen unter ihnen oder einige, die sich im Golfkrieg einen Namen gemacht hatten und irgendwie in diese Schar gekommen waren. Was hier vor Gerald Uncle stand, war das Menschenmaterial, von dem jeder General träumte. Sie waren kräftig, geschickt, intelligent, grausam, raubgierig, skrupellos und gehorchten ihrem Anführer aufs Wort. »Es gibt Änderungen«, rief Gerald. »Aus Gründen, die ich hier nicht näher zu erklären brauche, muss ich mich besser verbergen. Einige von euch werden mich begleiten. Diejenigen, die es betrifft, wissen Bescheid. Wir gehen, im wahrsten Sinne des Wortes, in den Untergrund. Für die anderen, die oben bleiben, bedeutet das mehr Freiheit, aber auch mehr Verantwortung. Ihr kennt meine Befehle und ihr kennt unsere Ziele. Also schaut auf die Stadtkarte und nehmt euch die Straßen, die uns noch nicht gehören. Also dann, Jungs, wir bleiben in Kontakt.« Er hob das Schwert, die Spitze wies zu Boden, wie zum Gruß an. Dann ging er ohne ein weiteres Wort und ließ seine vor Schock schweigende Truppe zurück. Vince trat an seine Stelle. Sein geübter Kommandoton ließ die Anwesenden noch einmal stocksteif stehen. 44
»Also gut, ich gebe euch jetzt die Namen der Gruppenführer, die sich um den Laden hier kümmern und dann . ..« Ihr Weg führte in das unterste Deck eines Parkhauses, von dort in einen Revisionsschacht und schließlich in einen Rohrtunnel. Gerald nahm den Deckel eines mannshohen Rohres ab, der als tote Zuleitung aus der Tunnelwand zu kommen schien. Er forderte seine Leute auf, hineinzuklettern und setzte als letzter sorgfältig den Verschluss wieder auf. Für eine Weile liefen sie durch das Rohr. Ihre Schritte dröhnten, die Taschenlampen bebten und schwankten in ihren Händen und ließen schwarze Flächen in dem engen Behälter tanzen und springen, als würde sich hier unten der eigene Schatten auf den Besitzer stürzen. Die Luft war heiß, stickig und roch fade nach Beton, Erdgas und Gummidichtungen. Es gab keinen unter ihnen, der nicht schweißgebadet aus dem Rohr herauskroch. Staunend standen sie dann da und versuchten, mit ihren Lampen den Raum auszuleuchten. Es gelang ihnen nicht. Der Lichtkegel verschwand in der unbestimmten Dunkelheit über ihnen. Gerald ging zur Seite. Sie hörten ihn einen blechernen Schrank öffnen, dann knirschten große Schalter und plötzlich war der Raum in Licht getaucht. Nun mussten alle die Augen zusammenkneifen und so erkannten sie erst nach einer Weile die gewaltigen Dimensionen. Die Höhle hatte die Ausmaße einer Kathedrale. Der Eindruck wurde noch durch stählerne Pfeiler verstärkt, die an den Wänden entlangliefen oder auch mitten in der Höhle aus dem Boden wuchsen und in der Decke verschwanden. Gerald Uncle trat zu einem der Stahlpfeiler und klopfte dagegen. »Wisst ihr, was das ist? Das Fundament der westlichen Kultur. Oder, um genauer zu sein, die Grundpfeiler eines Scheiß-Hochhauses, in dem sich in gerade diesem Moment beschlipste Scheißkerle damit beschäftigen, noch mehr Kohle zu machen und dabei so zu tun, als hätte man so was wie Ethik im kalten Herzen. Es geht um Dollars. So weit ist diese Analyse nicht besonders originell. Was aber keiner sagt, ist was anders: Diese Scheißkerle da oben sind nicht die Herren. Die fühlen sich zwar ungeheuer toll mit ihren Armani-Klamotten und Kenzo-Anzügen und Rolexuhren und was weiß ich noch. Und trotzdem sind sie Fuzzis. Verschleißteile. Weil dahinter die wahren Herren stehen. Diejenigen, für die wir nur Zuchtvieh sind. Das gackernde Vieh auf dem Hinterhof, von dem man sich eines für die Suppe herauspickt. Das ist die Wahrheit. Und darum sind wir hier.« Gerald Uncle öffnete die Arme und drehte sich einmal im Kreis. »Hier ist unsere neue Zentrale. Direkt unter dem geldgeilen, abgrundtief schlechten Herzen von Manhattan. O ja, ihr zweibeinige Geldsäcke, wir sind hier unten. Und wir machen euch das Leben schwer. Euch und euren Herren, die 45
das Licht der Sonne genauso scheuen wie wir!« Gerald sagte nichts darüber, wie er dieses Versteck gefunden hatte und wer hier vorher gelebt hatte. Seinen Leuten war es im Grunde auch egal. Sie tuschelten allerdings miteinander und kamen zu dem Schluss, dass sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein ebenso reicher wie verrückter Milliardär hier ein Domizil geschaffen hatte, in dem er den nächsten Atomkrieg zu überleben gedachte. Es gab fließendes Wasser, Strom, sanitäre Anlagen, gefüllte Tiefkühltruhen, eine eigene Notstromversorgung und Kabelfernsehen, das mit mehreren Projektoren kinogroß an die Wände geworfen werden konnte. Sogar die Luft war erstaunlich frisch. »Gar kein übler Schuppen«, stellte Vince fest, als sie sich auf bequemen Sesseln in die Runde gesetzt hatten. Alle hatten ein kühles Bier in der Hand, abgesehen von Gerald, der sich in der letzten Zeit fast nur noch von starkem Kaffee und Chips zu ernähren schien. Vince blickte sich um. »Das hat was von dieser Tafelrunde von dem ollen König . . . ich meine Artus. Ähm, ist dir eigentlich klar, Gerald, dass wir zusammen dreizehn Personen sind? Dreizehn, ähm .. . hübsche Zahl eigentlich.« »Ja, dreizehn ...«, murmelte Gerald, während er das Schwert umklammerte, »genauso sollte es sein.« Tom Uncle fuhr aus dem Schlaf. Er saß senkrecht im Bett, bevor er sich selbst dieser Position bewusst war. Neben ihm lag seine Frau. Sie drehte sich stöhnend um, zog die Decke fester um sich und dann waren nur noch ihre ruhigen Atemzüge zu hören. Uncle wischte sich den Schweiß von der Stirn, stand dann auf und ging in die Küche. Sorgfältig schloss er die Tür, erst dann schaltete er das Licht ein. Seine Hände zitterten, als er sich aus dem Kühlschrank eine angebrochene Flasche Mineralwasser holte. Er schüttete sich ein, lauschte mit in die Hand gelegtem Kopf auf das Knistern und Rauschen der aufsteigenden Kohlensäurebläschen und dachte nach. Er erinnerte sich, dass er in der Nacht über ein endloses Meer von grauer Verzweiflung und Ausweglosigkeit getrieben war. Die Erinnerung an diesen Traum war so frisch, dass er noch den Geschmack von kalter Asche, die in der grauen Luft über dem grauen Meer gehangen hatte, auf der Zunge schmecken konnte. Tom Uncle nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Irgendetwas stimmte nicht mit seinen Geschmacksnerven. Es knirschte förmlich zwischen den Zähnen. Wie war das gewesen? Ja, er trieb dahin, mit bleischwerem Herzen, hoffnungslos, verdammt und verloren in alle Ewigkeit. In den grenzenlosen Tiefen des Meeres wusste er von einem Gewimmel von Schrecken, Ängsten 46
und unbezwingbarer Furcht. Dort waren Wesen, die in ihrer kantigen, gezackten, boshaften Widerwärtigkeit jeden Albtraum verblassen ließen. Sie waren da, hatten eine Form und waren doch nicht fassbar. Sie waren nur eine Stimme, die an einem Telefon Drohungen flüsterte, ein kalter Windhauch, ein Gestank, ein Gedanke von irgendwoher, eine Erinnerung, die man glaubte, erfolgreich verdrängt zu haben. Von draußen drang das Jaulen einer Polizeisirene. Das Geräusch brach sich in den Straßenschluchten, schien sich nicht zu bewegen, floss in Uncles Kopf ein, erfasste seine Gedanken. Der korpulente Mann hielt sich die Ohren zu. Eine tiefe Traurigkeit wallte in ihm auf und machte seine Glieder weich, als wäre er nur eine Figur aus Weißbrot, die in einen Becher Milch gelegt wurde. Er dachte an Benni und an Gerald und die Kette. Er war sicher, dass dieser Anhänger Gerald gehörte. Also war sein älterer Sohn nicht nur ein Gesetzesbrecher, er war vielmehr ein irrer Verbrecher, ein wahnsinniger Schlächter. Und nun hatte er Benni an der Angel, seinen jüngeren Bruder. Tom Uncle legte den Kopf auf die Tischplatte. Das Blut rauschte in seinem Ohr. Dann wusste Tom Uncle, was er zu tun hatte. Er richtete sich auf und saß steif auf seinem Stuhl. Das war es! Die Erkenntnis war so eindeutig und klar, dass er nicht weiter darüber nachdenken musste. Sie stand vor ihm mit der gewichtigen Selbstverständlichkeit der Freiheitsstatue. Er, Tom Uncle, würde nicht zulassen, dass sein Sohn Gerald weiter Schande über die Familie bringen konnte. Er würde als Vater den kleinen Benni vor Gerald schützen. Er würde Gerald töten ... Aus dem Nebenraum hörte sie erregte Stimmen. Senor Tomasi und Senor Pfettner hatten Streit. Rosa beugte sich vor und schob ihren Kopf näher an die offene Tür. Senor Pfettner aß wieder. Der arme Senor! So fromm und so krank. Immer nur essen, weil er früher Mönch war und zu viel gehungert hatte. Das hatte ihr Senor Tomasi erzählt. Sie mochte Senor Tomasi eigentlich mehr als Senor Pfettner. Senor Pfettner war Rosa etwas unheimlich. Er war zu fromm für diese Welt. Tomasi war nett, aber auch - irgendwie etwas unheimlich. Aber anders als Pfettner. »Warum bedrängst du mich?«, hörte sie jetzt das tief dröhnende, rauhe Organ von Pfettner. Er schmatzte lautstark und war daher kaum zu verstehen. »Ich erinnere dich lediglich. Wir hatten eine klare ...« Oh, diese verfluchten Hubschrauber, durchfuhr es Rosa. Warum waren sie 47
nur so laut, dass man solche interessanten Gespräche nicht verstehen konnte »... muss es so sein.« »Willst du mir drohen, Luca?« Oh, der fromme Senor Pfettner konnte ja richtig schreien! Oh weia, wie das dröhnte. Lauter als Kirchenglocken, Madre de Dios! Rosa, das Hausmädchen aus Puerto Rico, schlich sich ein Stück weiter. Lauschen war ungehörig, das war ihr schon klar. Aber wenn man hinterher beichtete, dann sollte die Sache doch in Ordnung sein. »Jeder Tag des Zögerns mindert die Chancen für den Erfolg«, hörte sie jetzt Tomasi sagen. »Ich kann das Werk nur vollbringen, wenn ich so weit bin. Ich bin ein Künstler, geht das nicht in deinen sturen Schädel, Luca! Ich brauche noch eine Zutat, einen Hinweis, eine Gewissheit - egal, wie man es nennen will. Und wenn du mich bedrängst, wird es auch nicht leichter. Oder hat dich dein neuer Freund geschickt, dieser hinterhältige Schmalspur-Luzifer, der unbedingt mit uns Geschäfte machen will?« Himmel! - Was war ein >Schmalspur-Luzifer Rosa war es inzwischen egal. Der Streit konnte dauern. Und das war ihre Chance, eine Scharte auszuwetzen. Pfettner hatte ihr nämlich strengstens verboten, den Andachtsraum zu betreten und dort zu säubern. Und so etwas ließ eine Perle wie Rosa nicht auf sich sitzen. Sauber gemacht werden musste! Senor Pfettner würde es ihr danken. Er wollte sie bestimmt nur vor zu viel Arbeit schützen, die gute, fromme Seele! Während im Hintergrund weiterhin die erregten Stimmen ertönten, schlich Rosa zur Tür des Raumes in dem Pfettner seine Andacht hielt. Sie kannte den Raum: Schwarz verhangen, mit christlichen Symbolen geschmückt und nur mit einem Betpult ausgestattet. Lautlos drückte sie die Tür auf, schob sich durch den Spalt und schloß sie wieder. Im Dunkeln tastete sie nach dem Lichtschalter. Dann erstarrte sie. Sie hatte ein Geräusch gehört. Sie lauschte. Es war völlig still. Die gepolsterte Tür schluckte selbst die wütenden Stimmen der beiden Senores. Aber sie hatte etwas gehört! Mit Sicherheit! Ihre Finger tasteten über den schweren Samtbehang der Wand. Der Stoff rauschte unter ihren Fingern. Wo war der Schalter! Wieso rauschte der Stoff so? Samt rauschte doch nicht auf diese Weise! Nie und nimmer rauschte der Stoff so! Ein Schweißtropfen lief Rosa ins Auge. Sie wischte sich den Augenwinkel und erstarrte. Sie hatte wieder dieses Rauschen gehört. Und sie merkte, dass in diesem Raum etwas nicht stimmte. Etwas lag in der Luft. Eine Spannung, etwas 48
Knisterndes, etwas unbeschreiblich Böses. Mit einem Schrei tastete sie nach der Klinke. Ihre Hand, fuhr in dunkle Leere, sie machte einen Schritt, tastete, taumelte, drehte sich in einem Tanz der Verzweiflung um sich selbst. Sie war nicht mehr in einem Raum, sie war nicht mehr in New York, nicht mehr in den reichen USA, sie war in einem Schreckenstraum, aus dem sie nicht mehr erwachen konnte. Ein Zischen neben ihrem Ohr ließ sie Wimmern. Ihre Haare sträubten sich. Kälte berührte ihre Haut. Sie wollte fliehen, sprang vorwärts. Ihre Hände trafen den Lichtschalter. Die Lampen flammten auf. Sie drehte sich um und begann zu kreischen. Pfettner und Tomasi hatten ihren Streit beendet, ohne ihn beigelegt zu haben. Die Schreie Rosas drangen in ihr verbissenes Schweigen. Die schwarzhaarige Frau rannte durch die Tür. Hinter ihr war eine andere Gestalt - ein übergroßer, muskulöser Mann, schien es. Bei genauerem Hinsehen hätte man erkannt, daß der Mann wie eine Luftspiegelung in seinen Umrissen schwankte. Und man hätte erkannt, dass es kein Mann war. Kein Mensch konnte einen solchen Schädel haben, der unmittelbar aus den Schultern wuchs, nicht diese schuppenartige, rötlich gezeichnete Haut, die den kahlen Schädel umspannte, nicht diese spitzen Ohren, diese schmalen, schräg stehenden Augen mit solchen roten Pupillen. Und auch nicht diese Krallenhände, mit denen der Dämon Rosa von hinten fasste und festhielt. Pfettner schaute träge auf die Frau. Seine fettverqollenen Augen wirkten wie trübe Muscheln, die halb vom Sand verschüttet sind. »Rosa«, sagte er tadelnd. »Ich hatte dich doch so sehr gebeten, diesen Raum nicht zu betreten.« Die Frau stierte ihn nur an, sie war starr vor Angst, ihre Augen waren weit aufgerissen und leblos, als wären sie aus Glas. Tomasi wollte sich einmischen, aber Pfettner ignorierte ihn und nickte dem Dämon zu. »Töte sie!«, sagte er. Tomasi wandte sich ab und starrte mit geballten Fäusten aus dem Fenster, während das Monster sich auf sein Opfer stürzte. Rosas Schreie drangen noch lange an Lucanor Tomasis Ohren. Diese Bestie war nicht dafür bekannt, schnell zu töten. Doch irgendwann endete auch das. Als der Dämon schon lange wieder in seinem Raum verschwunden war, stand Tomasi noch immer unbewegt am Fenster. Er hatte versucht, sich innerlich zu befreien - seinen Geist fortfliegen zu lassen, während sich sein Körper nicht von der Stelle rührte. Es war misslungen. Er war nicht fähig genug. Er musste bleiben und zuhören ... »Arme Rosa«, hörte er Pfettners heisere Stimme, untermischt von lautem 49
Schmatzen. Wütend fuhr Tomasi herum und ging auf Pfettner zu. Er hatte nicht an die Leiche gedacht, die immer noch auf dem Tisch lag, als befände sie sich in einem pathologischen Institut. Rosas Augen blickten starr zur Decke. Ihr Brustkorb war aufgerissen worden. Das Herz fehlte. »Warum musste das sein?«, fragte er. »Du sagst >Arme Rosa< und wirfst sie diesem - diesem - Ding vor. Was soll das?« »Warum fragst du so kindisch, Luca? Rosa hatte ein Verbot ignoriert. So etwas darf man nicht dulden. Und überhaupt, sollte sie etwa überall von meinem Haustier erzählen?« »Es hätte andere Mittel gegeben, ihr die Erinnerung zu rauben. Aber das hier . . . Das war widerlich.« »Stell dich nicht an«, gab Pfettner grob zurück. »Du selbst bist doch auf dem Gebiet des Schützens ein einsamer Könner, nicht wahr, Luca? Also gönne gefälligst auch anderen ihren Spaß. Rosa war nicht mehr zu retten, nimm das zur Kenntnis. Wer die Gesetze der Magie bricht, muss dafür zahlen. Das ist eine Regel, so alt wie die Welt. Nicht jeder, ist für die höheren Stufen der magischen Wissenschaft geschaffen.« Ein Schauder durchzuckte Tomasi. Hatte in Pfettners Worten tatsächlich eine kaum verhüllte Drohung gelegen? Wie konnte er von seinem Treffen im Central Park wissen? Ruhig bleiben, rief sich Tomasi selbst zu. »Nimm es nicht so schwer«, sprach Pfettner weiter. »Rosa war eine nette Person und eine gute Helferin. Aber nun - entweder es gibt keinen Gott, dann gibt es keine Regeln und Gebote, außer denen der Macht und es war sowieso egal. Oder es gibt einen Gott, dann nimmt er sie auf in das himmlische Reich seiner Liebe und sie wird an ihr irdisches Leben zurückdenken wie an eine harte Strafe.« »Du kämpfst immer noch mit ihm, nicht wahr?« »Kämpfen ? Ich? Mit wem?« »Du weißt genau, was ich meine. Du forderst Gott heraus, damit er sich dir zeigt. Wenn dich sein Blitzstrahl treffen würde, dann wäre das der glücklichste Moment deines Lebens.« Pfettner starrte Tomasi einen Moment an. »Ich wäre schon glücklich, wenn du diese Schweinerei hier entfernen würdest, Luca«, sagte er dann. »Ach so, noch eines. Diese ganze Aktion hatte einen sehr positiven Aspekt.« Augenblicklich horchte Tomasi auf. Seine Übelkeit war verschwunden. »Welcher positive Aspekt, Niki?« »Ich weiß nun, welche letzte Ingredienz mir zum großen Werk noch 50
fehlte: Ich brauche ein Kind!« * Damian Fallacci war ein typisches Beispiel für gekonnte Tarnung. Er lebte völlig unauffällig in einem mittelprächtigen Wohnblock in Brooklyn. Nichts an diesem Haus verriet, dass hier ein Wesen mit Macht und Reichtum sein Domizil hatte. Kein Sterblicher, der je die Wohnung betreten -und wieder verlassen - hatte, sah etwas anderes als Mobiliar im durchschnittlichen Kaufhausstil, das offensichtlich schon etwas in die Jahre gekommen war und deutliche Verschleißspuren aufwies. In den hinteren Räumen entfaltete Fallacci den Lebensstil eines sizilianischen Adligen vom Ende des 19. Jahrhunderts - der Phase, in der er seine Jugend als Sterblicher verbracht hatte. Eine Wendeltreppe führte in die oberhalb gelegene Wohnung, sodass nicht nur die Einrichtung, sondern auch die Größe von Fallaccis Behausung durchaus mit einem Palazzo mithalten konnte. Lediglich der Blick auf das Meer fehlte und war durch Ziegelmauern und Flachdächer ersetzt. Die obere Wohnung wurde von einem gewissen Enzo Binardi bewohnt, den zwar kein Hausbewohner je gesehen hatte, der aber in dem anonymen Wohnblock auch nie jemals vermisst wurde. Und selbst Nachfragen konnten Fallacci kaum schrecken. Schließlich gehörte ihm der Bau. Unter diesen Voraussetzungen konnte Bruce Darkness nicht verstehen, warum der Baron solchen Wert auf direkte Bewachung Fallaccis legte. Fallacci seinerseits wirkte ebenfalls nicht sonderlich verängstigt. Im Gegenteil, er pflegte seine aristokratischen Allüren, stellte Bruces Geduld durch langwierige Abhandlungen über die Verblödung der Welt via Mattscheibe auf die Probe und zwang - das war der Tiefpunkt - Bruce dazu, sich von seinen geliebten Lederklamotten zu trennen und in einen Designeranzug zu steigen, der das gepflegte Interieur nicht optisch übermäßig verschlechterte. Natürlich hatte Bruce bei entsprechenden Anlässen bereits einen Anzug getragen, aber das war für die Öffentlichkeit gewesen, wo er ohne feine Klamotten aufgefallen wäre wie ein bunter Hund. Aber hier sollte er in dieser Wohnung nur schick aussehen, weil dieser Affe es so wollte. Einen anderen Grund gab es nicht. Sämtliche Vorschläge, die Bruce hinsichtlich einer verbesserten Absicherung der Wohnung machte, wurden von seinem Schutzobjekt kommentarlos abgelehnt. Was heißt »abgelehnt«? Sie wurden weggebügelt und Fallacci machte bei dieser Gelegenheit deutlich, dass er Bruce für einen viel zu jungen Mann hielt, der viel zu wenig Niveau und absolut keine 51
Ahnung von irgendetwas hatte. Fallacci war vielleicht ein Freund des Barons, aber Bruce teilte ihn in die Kategorie »unheilbares A . . .«ein und war froh, wenn er sich auf einem der gekonnt schäbigen Sessel im Vorraum flegeln konnte und den einzigen vorhandenen Fernseher für sich allein hatte. Die Sendung gefiel ihm ja ganz gut, aber er würde die kleine Blonde besiegen - natürlich. Ob er - Bruce - allerdings auf die Idee mit dem Nagelschießgerät gekommen wäre, erschien ihm selbst zweifelhaft. Aber der Kerl, der plötzlich vor ihm stand, hatte den entsprechenden Geistesblitz gehabt. Er trug einen Drucklufttank am Gürtel, zielte mit seinem zur Waffe umfunktionierten Werkzeug auf Bruce und jagte ein Geschoss nach dem anderen los. Als er sich wütend eins der Geschosse aus dem Arm riss, erkannte Bruce auch, was sich in dem Magazin des Gerätes befand. Es waren große, sorgfältig angespitzte Holzdübel, die jetzt als Miniaturausführungen des klassischen Vampirjäger-Holzpflocks in ihn eindrangen. »Scheiße!«, entfuhr es Bruce. Er stieß sich ab und kippte mitsamt dem Sessel nach hinten über. Zwei weitere Einschläge brachten seine Deckung zum Erzittern, dann setzte das Zischen der Druckluft aus. Bruce stieß sich ab und sprang aus der Deckung. Sein Nacken berührte beinahe die Zimmerdecke. Der Erfolg seiner Aktion war dürftig. Der Angreifer hatte sich blitzschnell durch die Tür zurückgezogen. Der Vampir rannte zur Tür, stoppte kurz davor ab und linste vorsichtig um die Ecke. Wer immer die Angreifer waren, sie hatten sich im Vorfeld bestens mit Informationen versorgt. Sie hatten zuerst die drei Bediensteten zur Hölle geschickt - diese schnell verwesenden Leichname, die er an der Seite sah, ließ daran keinen Zweifel. Jetzt schlichen einige die Wendeltreppe hoch, dorthin, wo Fallaccis pompöses Arbeitszimmer war. Ein Fenster des Raumes stand offen, die Fensterscheibe zeigte einen herausgeschnittenen Kreis. Sie waren also über das Dach gekommen. Einer hatte sich lautlos abgeseilt, die Scheibe zerschnitten, hatte durch das Loch gegriffen und das Fenster von innen geöffnet und so den Einstieg bereitet. Es war so simpel und doch so genial. Und ich habe es nicht verhindert!, dachte Bruce. Na ja, ein Arschloch weniger. Er stutzte. Und ich bekomme richtig Ärger, durchfuhr es ihn. Verdammt! Er stürmte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit in den Raum. Die Wunden der Miniaturpflöcke waren längst verheilt. 52
Es gelang Bruce, einen der Angreifer zu packen und gegen die Kante eines niedrigen Schränkchens zu schmettern. Der Schädel des Sterblichen prallte krachend gegen das Holz, mit weit aufgerissenen Augen taumelte er zurück und stürzte dann zu Boden. Seine Kameraden registrierten diesen Tod kaum. Ihre Attacken kamen verbissen, unerschrocken und auf eine seltsame Art koordiniert, als hätte der Vampir es hier nicht mit einer Gruppe von Menschen zu tun, sondern mit einem einzigen Wesen. Während sie Bruce Darkness von der linken Seite angriffen, zielte von rechts ein Bogenschütze auf ihn. Die 60 Kilo Zuggewicht des Jagdbogens reichten aus, um die schwere Holzspitze des Pfeils tief in die Schulter des Vampirs zu treiben. Sein Schrei wurde erstickt, bevor er überhaupt aus der Kehle stieg. Eine Garotte aus Schneidedraht war um seine Kehle gelegt worden, um ihm den Kopf abzutrennen. Sie hatte ihm bereits die Kehle aufgeschlitzt, bevor Bruce diesem Angreifer die Faust vor die Brust schlagen konnte, sodass dessen Rippen krachend zerbarsten und in sein Herz drangen. Als der Angreifer sterbend zusammenbrach, lösten sich seine Hände von der Garotte. Doch der Vampir kam nicht dazu, wieder in die Offensive zu gehen. In diesem Moment donnerten zwei Sturmgewehre los. Bruces Körper wurde zurückgeschleudert, während die vollautomatischen Waffen immer mehr große Löcher in seinen Körper rissen. Er wurde von den Einschlägen gegen eine Mauer gepresst. Sein Unterkörper und die Beine waren eine einzige blutige Masse. Kurz bevor die Wand hinter ihm unter dem Beschuss einstürzte, endete das Feuer. Wellen von Schmerz und rasten durch den Körper des Vampirs, lähmten ihn mehr und mehr. Aus der zerschlitzten Kehle quoll immer noch Blut, und seine zertrümmerten Beine heilten auch nicht so schnell, wie er es gerne hätte. Mühsam öffnete Bruce die Augen. Über die Wendeltreppe wurde Fallacci heruntergeschleift. Sein Gesicht war entstellt, der Oberkörper war mit Wunden übersät. Die Enden einiger Holzpflöcke ragten aus Schultern und Bauch, und aus seinem blutigen Mund hingen die Fetzen eines Knebels. Zwei Männer hielten ihn an den Beinen und zogen ihn wie einen Sack hinter sich her. Die Metalltreppe dröhnte, wenn Fallaccis Kopf auf den Stufen aufschlug. Sie warfen ihn auf den Boden und fesselten ihn. Ein korpulenter Farbiger mit einem großen Schwert mit gezackter Klinge trat zu ihm. Sarraks Schwert!, durchzuckte es Bruce. 53
»Um ehrlich zu sein«, sagte der Schwertträger, »bin ich etwas enttäuscht, Mister Fallacci. Wichtige Papiere so herumliegen zu lassen . . . Da fehlt jeder Stil. Das ist schlicht und einfach arrogant. Glaubt ihr verdammten Blutsauger eigentlich, alle anderen wäre blöde, nur weil sie kürzere Eckzähne im Maul haben? Ich weiß, dass es für Sie nicht mehr von Interesse ist, aber wenn das so weitergeht, könnte euer Imperium ins Wanken geraten. Ein Koloss auf tönernen Füßen. So viel zum theoretischen Hintergrund. Und nun wünsche ich eine gute Höllenfahrt.« Beinahe gleichgültig ließ er das Schwert herumfahren und säbelte Fallacci den Kopf ab. »Was machen wir mit dem da, Gerald?«, fragte der Bogenschütze und deutete auf Bruce. Der Farbige betrachtete den Vampir einen Moment und drehte sich dann zum Fenster. »Ballert ihm noch ein paar Salven rein und dann gönnen wir diesem Monster den wundervollen Anblick eines Sonnenaufgangs. Dies hier ist die Ostseite, und gleich ist es so weit.« Wieder krachten die Sturmgewehre los. In diesem Moment spürte Bruce eine unsichtbare Anwesenheit. Durch den Schmerz hindurch registrierte er ein Anschleichen, ein Lauern und Beobachten. Es war ganz nah, Bruce konnte es förmlich neben sich spüren und er wurde fast wahnsinnig bei dem Gedanken, dass sich ein Feind unter der Decke der Unsichtbarkeit verstecken und ihm so nahe kommen konnte. Er hörte, wie sich die Angreifer in der Wohnung zu schaffen machten, konnte sie aber nicht dabei beobachten, was sie da trieben. Als die Männer sich durch das Fenster in den Hinterhof abseilten, verschwand mit ihnen auch das unsichtbare Wesen. Für eine Sekunde glaubte Bruce, eine Veränderung zu erkennen - eine Verwirbelung der Luft, aus der ihn eine höhnische löwenartige Fratze angrinste. Doch sofort war sie wieder verschwunden. Der Himmel begann sich im Osten grau zu färben. Bruce fühlte sich in dem langsam stärker werdenden Tageslicht, träge wie ein Reptil an einem Frosttag. »Ich war wohl kurz bewusstlos«, murmelte er, als er bemerkte, dass er gefesselt war. »Lächerlich!« Der Vampir bäumte sich auf und riss die Arme auseinander. Die Kette der Handschellen klirrte . . . Und hielt. »Scheiße!«, fluchte Bruce vor sich hin. Er warf einen kurzen Blick zum Fenster. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Erneut riss er die Handgelenke auseinander. Wieder schaffte er es nicht, 54
die Kette zu zerreißen. Aber hatte sie nicht etwas nachgegeben? Dritter Versuch . . . Endlich hatte der Vampir Erfolg. Klirrend fiel das geborstene Kettenglied zu Boden, und er bekam die Hände nach vorn. Ich muss wohl mal zum Bodybuilding, dachte Bruce. Dann sah er auf. Das Grau des Himmels begann sich mit Farbe vollzusaugen. In der Nähe begann eine Amsel zu singen. Die Sterblichen warteten auf einen perfekten Tag mit blauem Himmel und viel Sonnenschein. Die Zeit lief Bruce davon. Er versuchte gar nicht erst aufzustehen. Seine Beine waren noch zu beschädigt. Er fühlte sich wie eine Robbe, als er nur auf den Händen zur Tür krabbelte. Seine Beine, die er hinter sich herschleifte, zogen eine blutige Spur über den Boden. Bruce Darkness fiel die Langsamkeit seiner Bewegungen auf. Er versuchte, sich den Drill Sergeant aus »Full Metal Jackett« vorzustellen, wie er ihn anbrüllte, beschimpfte und zu mehr Tempo antrieb. Es funktionierte. Bruce konnte schon wieder zufrieden grinsen. Sollte mal keiner behaupten, Filmkenntnisse wären nicht lebensverlängernd! Vorsichtig drückte sich Bruce durch die Tür und kam in den Vorraum. Das Treppenhaus lag an der Westseite, war für ihn also noch begehbar. Oder so ähnlich, dachte Bruce, der, sich immer noch nur auf Händen fortbewegend, versuchte, die Schmerzen in seinen zertrümmerten Beinen ignorieren. Aber irgendwo in diesem Bau musste es einen Keller geben, der dunkel genug war, um sich dort für die Zeit des Tageslichtes etwas Ruhe und Entspannung zu gönnen. Am nächsten Abend würde er wieder fit sein. Der Kasten vor der Tür störte etwas. Aus verquollenen Augen schaute Bruce auf das blinkende Licht. Ein schwarzer Kasten, von dem aus mehrere Kabel in verschiedene Räume zu laufen schienen. Und dieses blinkende rote Licht kam von einer Leuchtanzeige. Bruce kam sich selbst vor wie ein halb blinder Maulwurf und drückte die Nase gegen das Display. Eine Null konnte er entziffern, noch eine Null, dann eine Zehn, nein, jetzt war es eine Neun und jetzt eine Acht, eine Sieben . .. Aha, das war die Sekundenzählung. Sekundenzählung? SEKUNDENZÄHLUNG! Bruce drückte die Tür auf. Er hätte ziehen müssen, aber mit solchen Kleinigkeiten konnte er sich jetzt nicht aufhalten. Krachend splitterte der Rahmen und die Tür polterte in den Flur. Hastig robbte er weiter. Ein Sonnenstrahl fuhr durch seine Schulter wie eine Kreissäge, er hörte seine eigenen Schreie, spürte die Flammen... Er musste hier raus. Mühsam erreichte er ein Fenster. Er 55
wuchtete sich hoch, rammte mit seinem Kopf die Scheibe ein . . . Die Wucht der Detonation presste in förmlich durch das Fenster. Er wirbelte durch die Luft, hörte Splittern und Krachen und stürzte dann, sich überschlagend in den Hof. Der schmutzige Asphalt raste auf ihn zu, ein öliger Fleck schimmerte, in Regenbogenfarben. Der Fleck wuchs, schien ihn anzuspringen, rannte auf Bruce zu, wurde so groß, dass die Welt nur noch aus einem Ölfleck bestand . . . Der Aufprall war mörderisch. Bruce Darkness lag auf dem Bauch, Trümmer hagelten zu Boden, Glassplitter klirrten und tanzten auf dem Asphalt. Er hörte entsetzte Schreie. Leute kamen angerannt, Autos hielten mit quietschenden Bremsen. Eine Frauenstimme schrie. Dann brach ein Mauerstück eines unteren Stockwerkes heraus und hüllte den Hof in Staub. Bruce kroch vorwärts, ohne sich um die Richtung zu kümmern. Dann wurde ihm erst bewusst, dass sich ein Brand durch seine Schulter fraß und er wälzte sich mühsam auf den Rücken, um die Flammen zu ersticken. Ein weiteres Mauerstück löste sich aus der Wand, kippte langsam, wie in Zeitlupe, nach vorne und stürzte dann abwärts, während es sich in einzelne Ziegel auflöste. Bruce lag mit dem Kopf auf dem Boden und schob sich nach vorne. Splitter zerschnitten seine Hand, drückten sich in seine Brust wie Schrapnelle, wühlten sich tiefer als wäre sie gierige Insekten, während er Meter um Meter weiterkroch. Da war etwas. Ein dunkler Schatten auf dem Boden des Hofes. Polizeisirenen, immer mehr Stimmen, immer mehr Schreie. Das Haus hinter ihm schien einzustürzen. Bruce konnte eine Kante erkennen. Blitzartig wurde ihm klar, was er vor sich hatte. Die Bruderschaft des Schwertes war nicht etwa über die Straßen abgehauen. Sie hatten die Kanalisation als Fluchtweg genutzt. Der Letzte von ihnen hatte den Deckel des Zustiegs nicht richtig geschlossen - und so rettete er einem der Feinde das Leben. Mit letzter Kraft schob Bruce Darkness den Deckel weit genug zur Seite, dann stürzte er sich in die Tiefe. Er prallte mit dem Kopf an die Leiter und landete benommen im knietiefen Kanalschlamm. Lange lag Brucs Darkness reglos, eingehüllt von der stinkenden Masse, während schmutziges Wasser über ihn rieselte. Die Heilung brauchte lange und dann hielt ihn die Trägheit des Tages gefangen. Aber hier unten, tief im schwarzen Schlamm vergraben und einen halben Meter unter einer zähflüssigen Brühe fühlte er sich sicher ... Der Zorn des Barons war körperlich spürbar. Die Schwingungen erfüllten den Raum. Genauso wie selbst ein Tauber das Dröhnen einer Glocke 56
bemerkt hätte, spürte Bruce Darkness den Anprall dieser roten Brandung. Baron von Kradoc saß ihm und Katrina Stein gegenüber. Katrina hatte sich zu diesem Anlaß in einen maskulin geschnittenen grauen Anzug gehüllt, der Seriosität und Selbstbewußtsein signalisierte. Selbst ihr Parfüm hatte eine herbe Note. »Hast du eine Entschuldigung für dein Versagen«, fragte der Baron. Die Ruhe in seiner Stimme war so trügerisch wie die dünne Kruste auf einem Lavastrom. Bruce schaute in das schmale Gesicht seines Gebieters. Neben sich hörte er Stoff rauschen. Katrina Stein drehte sich zu ihm und blickt Bruce ostentativ und herausfordernd an. Mit dieser Bewegung hatte sie das Gespräch in ein Verhör gewandelt. Gut, Mädchen, du bist brillant in solchen Dingen, aber unterschätze mich nicht!, fuhr es Bruce durch den Kopf. Seine Antwort kam klar und deutlich: »Nein, Herr.« »Hast du dann wenigstens eine Erklärung.« »Fallacci. ..« »HERR Fallacci...«, fuhr ihm Katrina in die Parade. Bruce wartete auf eine ungeduldige Geste des Barons, aber mit seiner Bewegungslosigkeit hieß er Katrinas Spitze gut. Mit zufriedenem Lächeln wartete sie auf die Reaktion von Bruce. »Fallacci. ..« Hier ließ Bruce eine Kunstpause einfließen. Aber Katrina reagierte nicht. Gut für sie, dachte Bruce. »Fallacci also, er war wenig kooperativ. Ich versuchte, ihn zu Änderungen zu überreden, die seine Behausung sicherer machen würden, aber er lehnte alle Vorschläge ab.« »Entweder es lag an der mangelnden Intelligenz der Vorschläge oder an der mangelnden Fähigkeit zur Überzeugung seitens des Vorschlagenden.« Katrina Stein konnte solche Sätze sagen, als wäre in ihrem reizenden Mund ein endloser Faden, den sie nur herauszuziehen brauchte. »Es war deine Aufgabe, ihn zu schützen«, sagte der Baron von Kradoc. »Wie soll ich einen Selbstmörder davon abhalten, sich in die Tiefe zu stürzen, wenn der nicht mehr am Leben bleiben will?« »Der Vergleich hinkt. Ich akzeptiere ihn nicht. Fallacci war ein kluger Mann und er war ein enorm wichtiger Mitarbeiter.« »Ohne eurem Mitarbeiter zu nahe treten zu wollen - aber Fallacci weigerte sich, überhaupt eine mögliche Bedrohung anzuerkennen. Er hielt mich einfach für einen lästigen Mitbewohner.« »Was für seinen Geschmack spricht«, beeilte sich Katrina Stein einzuwerfen. Baron von Kradoc strich sich über die Stirn. »Mag sein, dass ich ihm die 57
Situation nicht deutlich genug gemacht hatte. Er hielt Bruce für einen Diener...« »Durchaus zu Recht«, flüsterte Katrina, verstummte aber, als sie den strafenden Blick des Barons bemerkte. »Fallacci war ein wenig in der Zeit steckengeblieben. Er sah sich immer noch von sizilianischen Landarbeitern umgeben und weigerte sich, andere Musik außer Verdi zu hören. Schade, ein brillanter Kopf, ein guter Freund, aber leider zu borniert und unbelehrbar. Nun gut.. . Wer waren die Angreifer?« »Mit fast hundertprozentiger Sicherheit die Bruderschaft des Schwertes.« »Wie viele?« »Wenn ich richtig gezählt habe, waren es ursprünglich dreizehn. Als sie verschwanden, waren es weniger.« Baron von Kradoc stand auf. »Finde diese Leute und vernichte sie. Sei gewiss, das nächste Ziel dieser Bande würde ich sein, und daher dulde ich kein Versagen mehr, Bruce, ich bin nicht gewillt, mich persönlich mit diesen Sterblichen auseinander setzen zu müssen.« Als sie auf dem Flur standen, lächelte Katrina Stein Bruce mit ihrem lieblichsten Lächeln an. »Na, HERR Vizepräsident, fängt der Kopf schon an zu wackeln?« »Bei mir sitzt und steht alles fest und prall.« »Du weißt, Mister Vize, dass das Selbstbewusstsein, wie ein Ballon ist allzu prall aufgeblasen neigt es zum Platzen.« »Ich vermute, schönste Katrina, dieses Wissen beruht auf eigener Lebenserfahrung.« »Nein, eher auf der klinischen Beobachtung von Lederlümmeln.« Mit diesem rhetorischen Glanzpunkt beendete Katrina Stein das Gespräch und schritt geradewegs ihrem Büro zu. »Hey, Süße, ich hab noch 'ne Zehnerkarte für die Sonnenbank, darf ich dir die schenken?« Leider brachte Bruce Darkness diesen launigen Scherz erst heraus, als Katrina schon weit genug weg war, um so tun zu können, als hätte sie ihn überhört. Etwas stimmte nicht. Irgend etwas legte sich wie unsichtbarer, zäher Nebel über dieses Viertel, verwirrte ihn, führte ihn in die Irre, behinderte ihn, verzögerte seine Nachforschungen. Aber schließlich fand er das Hauptquartier der Bruderschaft des Schwertes doch. Der Bau war unscheinbar, durchschnittlich, hatte keine sichtbare Hausnummer. Und trotzdem gab es keine einleuchtende Erklärung dafür, 58
dass sich dieses Haus zwischen den Nachbargebäuden zu verstecken schien, als hätte es eine Tarnkappe. Etwas anderes fand Bruce Darkness jedoch auch, und das war viel wertvoller. Es handelte sich um einen stark übergewichtigen Farbigen, der ebenfalls hinter der Bruderschaft des Schwertes her war. Wie Bruce aus einem Mitglied der Gang herausquetschte - und das wortwörtlich -, ging es dem Dicken um einen Kerl namens Gerald Uncle, der anscheinend die Nummer Eins der Bruderschaft des Schwertes war. Nachdem sich Bruce die Mühe gemacht hatte, in seiner Erinnerung dort zu wühlen, wo fest verschlossen seine unangenehmeren Erlebnisse gelagert waren, sah er sich selbst auf dem Boden liegen, gefesselt und jemand fragte, was man mit diesem Typen machen sollte. Und er fügte einen Namen an. Gerald. Der Feind bekam für Bruce ein Gesicht. Der korpulente Farbige war also der Führer der Bruderschaft des Schwertes. Das hatte der Vampir aber bereits gewusst. Sonst würde er wohl kaum Sarraks Schwert mit sich herumschleppen. Aber jetzt war es bestätigt. Und der Dicke, der inzwischen so aussah, als hätte er nächtelang in seinen Klamotten geschlafen, war der Daddy von Gerry-Baby. Der Dicke war trotz seines immer weiter verkommenden Äußeren nicht zu unterschätzen. Bruce brauchte sich nur an seine Fersen zu heften, schon kam er im Kielwasser dieses Mannes näher und näher an die Bruderschaft des Schwertes heran. Es war offensichtlich, dass sich Gerald und seine Leute irgendwohin verzogen hatten, während der Rest der Bande die Geschäfte weiterbetrieb. Zuerst glaubte Bruce, der Dicke wäre jetzt endgültig durchgeknallt, als er beobachtete, wie sich dieser nun an die übelsten Penner wandte, hier eine Flasche Whiskey spendierte, dort einen Dollarschein zückte. Die soziale Masche hatte aber eine klare Zielrichtung. Und der Dicke konnte auch anders ... Als er in der Nacht vorher zwei Kerle, die aus einem Abwasserkanal krochen, freundlich befragte und diese zu wenig kooperativ waren, konnten es Bruce quer über die Straße klatschen hören und die beiden Kanalratten sahen hinterher fast so aus, als hätte Bruce sie freundlich verhört. Der Dicke drückte sich dann selbst in den Kanal, Bruce folgte ihm, verlor aber wegen des großen Abstands, den er einhalten musste, die Spur. Es schien keinen Sinn zu machen, neben dem Kanal zu warten. Also machte sich Bruce auf den Weg, um der oberirdischen Fraktion der Bruderschaft des Schwertes einen Besuch abzustatten. Was er beobachtete, versetzte ihn in Alarmzustand. Die Bande bereitete etwas vor. Sie stahlen Lastwagen und schweißten T-Träger als Rammen vor 59
die Kühler, besorgten sich neue Funkgeräte und stapelten Kevlarwesten. Es sah aus, als wollten sie sich für einen Bürgerkrieg vorbereiten. Egal welcher Konkurrenzgang sie die Hölle heiß machen wollten, ihre Gegner konnten nur so viel Chancen haben wie ein schwächlicher Kakerlak gegen eine Dampfwalze. Der große Kriegszug fand aber nicht statt. Die Trucks verschwanden in Hinterhöfen. Bruce beschlich ein Verdacht, der schließlich zur Gewissheit wurde, als er registrierte, wie sich die Leute der Bruderschaft des Schwertes um unauffällige Beobachtungsposten, Abstellmöglichkeiten für die Trucks und Ähnliches kümmerten. Sie hatten das Empire State Building im Visier. Die Bruderschaft des Schwertes holte zu ihrem endgültigen Schlag aus! Sie waren bereit, die halbe Stadt ins Chaos zu stürzen, um ihren Kameraden den Rücken frei zu halten. Um welche Kameraden es sich dabei handelte, war allzu offensichtlich: Gerald und seine Leute. Und deren Ziel war eindeutig: die Vernichtung des Baron von Kradoc, dem Herrscher des Imperiums. Bruce musste kühl bleiben. Die Aktion würde nicht in dieser Nacht stattfinden. Dass erst jetzt das Netz der Beobachtungsposten rund um das Empire State Building gezogen wurde, machte diese Schlussfolgerung zwingend. Wie lange konnten sie die gestohlenen Trucks verstecken, ohne Gefahr zu laufen, dass sie auffielen? Wie lange konnten sie das Gebäude beobachten, ohne bei der sowieso hochgradig nervösen Polizei Aufmerksamkeit zu erregen? Es lief alles auf ein Datum heraus. Morgen würden sie es tun. In der nächsten Nacht würde der Angriff auf Baron von Kradoc stattfinden! * Für Tom Uncle war es ein Albtraum. Er hatte über die Geschichten von Krokodilen im Abwassersystem immer herzlich gelacht. Jetzt wünschte er, sie wären wahr. Und nur sie und nicht dieses andere, das er mit eigene Augen gesehen, aber nicht verstanden hatte, das zu unglaublich war, um in seinem Denken einen Platz zu finden. Er konnte sich immer noch ins Bett legen und sich einreden, dass das alles nur ein Albtraum war. Aber das würde er nicht tun. Tom Uncle stand am Ende des Bahnsteigs der U-Bahn-Station. Es war einige Minuten vor Mitternacht. Wie in einem schlechten Horrorroman, dachte Uncle bitter, und er brauchte sich nicht zu kneifen, um zu wissen, dass alles wirklich war. Es 60
war die wirkliche, die wahre, glasklare, kantige, unerträgliche Wirklichkeit. Er stand hier und trug eine Pistole in der Tasche, mit der er seinen ältesten Sohn erschießen musste. Unter den Neonröhren herrschte eine flaue, müde Stimmung. Einige Normalbürger warteten auf den Zug, ein Liebespaar knutschte hemmungslos vor sich hin, und ein Obdachloser schlurfte träge zwischen den Leuten umher und bettelte. Uncle wartete, bis der Zug gehalten und wieder losgefahren war. Mühsam kletterte er auf die Gleise und verschwand im Tunnel. Die Schienen gaben ein leises Dröhnen von sich, vor ihm leuchteten noch die roten Rücklichter des Zuges, bevor sie hinter einer Biegung verschwanden. Uncle tastete sich vorwärts, sorgfältig die mittlere Stromschiene vermeidend. Die Luft war stickig und roch nach den heißen Bremsscheiben der Züge und nach Elektromotoren im Zustand der Überhitzung. Das Licht, das von der Station auf die Geleise fiel, wurde schwächer. Uncle holte seine Taschenlampe heraus. Sie funktionierte. Natürlich funktionierte sie. Er hatte sie tausendmal geprüft im Laufe dieses Tages, ebenso wie er seine Waffe geprüft hatte. Sie würde ihn nicht im Stich lassen, wenn es darauf ankam. Wenn es darauf ankam ... Inzwischen hatte er die Biegung erreicht. Der letzte Lichtschimmer der Station verschwand. Dunkelheit hüllte ihn ein. Finsternis, dicht und kompakt wie eine Füllung aus Teer. Das Licht seiner Taschenlampe war nicht tröstlicher als früher die Versicherungen seiner Mutter an ihn, dass es keinen schwarzen Mann gibt, der unter dem Bett lauern kann. Der kleine Tom Uncle wusste, dass da ein schwarzer Mann lauerte, der so eine Art nachgedunkelter Ku-Klux-Klan-Anhänger sein musste. Wieder einmal kämpfte Tom Uncle gegen ein überwältigendes Gefühl der Unwirklichkeit. Er zuckte zusammen, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Starr, den Atem angehalten, lauschte er in die Schwärze. Nur sein eigenes Blut rauschte in den Ohren. Es muss eine dieser verdammten Ratten gewesen sein!, dachte er. Uncle stolperte weiter. Es gelang ihm nicht, seine Schritte mit den Schwellen zu koordinieren. Ein fernes Donnern ließ ihn aufhorchen. Laut Fahrplan durfte jetzt kein Zug fahren. Aber was bedeutete es schon. Es konnten Leerzüge auf dem Weg ins Depot sein oder eine Reparaturmannschaft auf dem Weg zum Einsatz. Das Donnern schwoll an, füllte die Tunnelröhre wie eine dröhnende Wasserflut. Uncle wartete, bis die Frontlichter des Triebwagens durch die Tunnelnacht stachen und er sicher sein konnte, auf welchem Gleis der Zug fuhr. Jemand hatte ihm erzählt, dass die Züge nachts auch auf das Gegengleis geleitet wurden, um Wartungsarbeiten zu ermöglichen. Also 61
wartete er, hüpfte dann auf die andere Seite - eine absurde, dicke, traurige Gestalt mit ungeschickten Bewegungen und kauerte sich an die Tunnelwand. Die Lichter aus den Wagen wirkten wie Zahnreihen, die in die Schwärze bissen, ihn im Vorbeizusehen blendeten und mit metallischem Dröhnen flohen. Als er dem Zug mit den Blicken folgte, glaubte Tom Uncle wieder eine Bewegung zu sehen. War da nicht eine Gestalt? Hockte da nicht eine schwarz gekleidete Figur? Das Licht des Zuges verschwand im Tunnel. Als er sich aufrichtete, kam Uncle ins Schwanken. Für einen Moment verlor er die Orientierung und das Licht schien hinab in einen senkrechten Schacht zu stürzen, der irgendwo tief unten in der Erde enden mochte. »Ist da jemand?« Seine Stimme prallte von den Wänden ab und ergab einen dröhnenden Nachhall. Blödsinn. Uncle, sagte er sich, du drehst durch. Geh weiter! Er achtete auf die Kilometerangaben im Tunnel, wäre aber dennoch beinahe an der Tür vorbeigelaufen. Die Klinke ließ sich kaum herunterdrücken und protestierte mit lautem Quietschen gegen diese Behandlung. Tom Uncle ballte eine Hand zur Faust und hämmerte gegen die Tür. Dreimal schnell hintereinander. Pause und bis zehn zählen. Viermal schnell hintereinander, dreimal mit größerem Abstand. Der Ton rollte durch den Tunnel. Dann wartete er. Seine Ungeduld wuchs. Und zugleich keimte auch so etwas wie Hoffnung auf. Wenn es nicht funktioniert, kannst du nichts mehr machen, sagte er sich. Du brauchst einen Führer, sonst verläufst du dich. Also ist es gut, wenn es nicht klappt. Dann brauchst du deinen Erstgeborenen nicht zu ... Mit rostigem Kreischen öffnete sich die Tür. »Du kommst spät.« Die Stimme klang nicht besser als die Tür. Uncle wollte sich durch den Spalt drücken, wurde aber durch eine schmutzige Hand abgehalten. »Erst das Geld!«, verlangte die Stimme. »Woher weiß ich, dass du mich nicht hier stehen lässt, sobald du das Geld hast?« »Du weißt es nicht!« Seufzend kramte Uncle in seiner Tasche und brachte einen Packen Dollars zum Vorschein. »Gut! Komm! Halte dich hinter mir. Wenn du mich verlierst, bist du verloren!« Die Stimme äußerte das mit der trockenen Selbstverständlichkeit, mit der ein Wetterbericht verlesen wird. Uncle verstand. Hier unten war er im Dschungel und es war klug, dessen Regeln 62
als gegeben anzuerkennen. Sie liefen in schnellem Tempo den schmalen Tunnel entlang, der für Wartungsarbeiten gedacht gewesen sein musste. Irgendwann hatte man die Verkabelung aber so verändert, dass dieser Zugang nicht mehr gebraucht wurde. »Hier lang!« Zweifelnd betrachtete Uncle das Rohr, durch das er kriechen sollte. »Da passe ich nicht durch.« »Entweder hierdurch oder gar nicht.« Als sie mitten in dem Rohr steckten, erklang von fern ein Kreischen. Uncles Führer hielt an. »Hat dich jemand verfolgt?« »Ich weiß es nicht. Ja, ich hatte ein, zwei Mal das Gefühl, aber . . .« »Jetzt war dein Gefühl hinten an der Tür. Beeilung, wenn wir erst im Kanal sind, hängen wir ihn ab. Hast du eine Idee, wer es ist?« Nein, Tom Uncle hatte keine Idee. Er wollte sich auch keine weiteren Gedanken darüber machen, sondern nur noch aus diesen Loch heraus, in dem er sich die Kleidung zerriss und die Knie durchscheuerte. Sein Führer zog Uncle aus dem Rohr wie einen Korken aus der Flasche, hinaus in einen Kanal. Das Wasser stand ihnen bis über die Knöchel, der Untergrund war verschlammt, aber sie konnten wenigstens aufrecht gehen. Jetzt erst wurde Uncle der Gestank bewusst, den sein Begleiter ausströmte. Es war nicht alleine der Mief eines ungewaschenen Mannes. Darunter verbarg sich ein bedrohlicher Raubtiergeruch. Im Lichtkegel der Taschenlampe schaute Uncle auf das Gesicht seines Führers. Er kannte den Mann. Aber jetzt erschrak er wieder vor dieser hässlichen Fratze und fragte sich, welcher Wahnsinn ihn bewogen hatte, sein Leben diesem Monster anzuvertrauen. »Was ist, willst du mich heiraten? Wenn ja, küss die Braut. Ansonsten komm!« Schon nach wenigen Minuten hatte Tom Uncle die Orientierung verloren. Das Rauschen von Wasser füllte seine Ohren, das Platschen ihrer eiligen Schritte, das Fiepen und Rascheln der Ratten. Stinkender Nebel waberte über dem modrigen Abwasser und legte sich als bitterer Geschmack auf die Zunge und schien die Lunge zu verstopfen. Abgrundtiefe Löcher öffneten sich links und rechts, aus denen Wasserfälle rauschten, von der Decke rieselte das Wasser. Der Führer bog um eine Ecke und beschleunigte. Er hatte es jetzt sehr eilig. Mit seiner zerlumpten Kleidung wirkte er wie eine aufgescheuchte Fledermaus. »Wohin so schnell, ihr Hübschen?« 63
Die Frage wurde von einer öligen-sanften Stimme gestellt und schien den Führer gegen eine Wand laufen zu lassen. Er hielt so abrupt an, dass Tom Uncle auf ihn auflief und voller Ekel den schmutzstarrenden Stoff und die ebenso schmutzigen Haare des anderen in seinem Gesicht spürte. Sie befanden sich in einem grottenartigen Sammelbecken, in das aus allen Richtungen Röhren mit schmalerem Durchmesser mündeten. Auch hier lag ein übelriechender Nebel in der Luft. Verstärkt wurde der Effekt durch ein knisterndes Feuer, über dem ein großer Aluminiumtopf stand. Zwei Petroleumlampen spendeten trübes Licht und verstärkten den Dunst. Einige Gestalten erhoben sich und schauten zu Uncle und seinem Führer herüber. Der Mann, der sie angesprochen hatte, schien ihr Anführer zu sein. Sein Anblick ließ Uncle würgen. Es war ein langer, ungemein dürrer Kerl mit einem stoppeligen Kinn, einer Glatze, auf der brauner Schorf wie eine Kappe lag, und mit entzündeten, irre funkelnden Triefaugen. Mit diesen Augen schaute er Uncle mit einer Art von unverschämtem Besitzerstolz an. »Bringst du mir Frischfleisch?«, fragte er Uncles Führer. »Hör mal, Duke, der hier will zum Schah, also lass ihn in Ruhe.« »Diese Antwort war leider falsch, der Kandidat hat null Punkte.« Der Duke schrie es heraus, dass die Wände von dem Echo wankten. Die anderen im Hintergrund hüpften vor Vergnügen wie Paviane. Uncle richtete den Strahl seiner Lampe auf den Topf. In einer grau-grünlichen Soße schwamm etwas. Die Gestalten bemerkten seinen Blick, hoben die Lampen hoch und griffen dann in den Topf. Was sie nach einigem Suchen fanden, wurde mit blödem Lachen hochgehalten. Es war eine pudelgroße Ratte. »Gut abgelagert sind sie sehr schmackhaft«, sagte der Duke. Seine hoch gewachsene Gestalt sackte zusammen, als er sich lauernd Uncle näherte. Auch die anderen kamen näher und bildeten einen Kreis. In die Tasche zu greifen, die Pistole hervorzuholen und zu feuern, war für Uncle eins. Seine ungezielten Schüsse krachten in die Decke und sirrten als Querschläger durch die Grotte. Kreischend hüpften der Duke und seine Kumpane in die kleineren Röhren. Der Führer zog Uncle am Arm und rannte los. »Wie lange noch?«, wollte Uncle wissen. »Gefällts dir nicht? Sind doch nette Leute hier. Dauert nicht mehr lange!« Sie wechselten in einen Kabeltunnel und von dort in einen Stollen, durch den große Rohre liefen. Hier war die Luft fast als gut zu bezeichnen. Ein Licht brannte am Ende des Schachtes. Als sie näher kamen, erkannte Uncle drei Männer, die im Schein der Lampe warteten. Männer? Uncle hatte nur die Zeit, denjenigen zu betrachten, den sein Führer mit Schah ansprach. Eine Krankheit hatte das Gesicht dieses Mannes verändert. Seine Nase war 64
eingefallen, die Lippen wulstig. Uncle hätte es nicht in Worte fassen können, aber dieser Rest eines menschlichen Gesichtes hatte etwas tigerartiges an sich und so überkam ihn das unheimliche Gefühl, einem Tiermenschen gegenüber zu stehen. Ein blonder struppiger Backenbart bestätigte den Eindruck. Selbst sein dunkel-grollendes Organ passte sich dem an. »Sie sind hier in der Nähe«, erklärte der Schah. »Sie sammeln sich. Wir beobachten sie schon seit längerem. Wir wollen sie nicht hier haben. Es ist etwas Böses, das sie umgibt. Es wäre gut, wenn dieser Mensch sie angreift. Wir können es nicht, denn ihre Macht ist zu groß!« Mit einem majestätischen Nicken gab er dem Führer die Erlaubnis, Uncle weiterzubringen. Im Laufen fragte sich Uncle, ob er hinter den Männern tatsächlich diese Frau mit der Kristallkugel gesehen hatte. Sicherlich nicht. Er musste sich getäuscht haben. »Bis hierhin«, sagte sein Führer und blieb stehen. »Wo sind sie?« »Lausche!« Sein keuchender Atem machte es Uncle schwer, in die Stille zu lauschen. Aus den Röhren kam ein Pochen, das wie Trommelsignale wirkte. Dann vernahm er eine Stimme. Durch ein akustisches Phänomen schien dieser Stollen die Stimmen weit zu tragen. Er erkannte die Stimme sofort. Ja, das war Gerald. Der Klang löste in Uncle zugleich Wut und Schmerz aus. Sein Führer war davongehuscht. Egal, nun konnte Uncle den Stimmen folgen. Er musste durch einen schmalen Felsspalt und stand nun in einem nicht mehr genutzten, völlig trockenen Kanalabschnitt. Der Schlamm auf dem Boden war zu Staub zerfallen, der bei jedem Schritt aufwirbelte. Nach links musste er, von dort kamen die Stimmen. Jetzt konnte er schon den Schein der Lampen erkennen. Uncle zögerte, dann machten seine Hände wie mechanische Geräte die notwendigen Bewegungen. Mit einem harten, metallischen Klicken rastete das Magazin ein. Uncle lud durch. Und fuhr herum. Von der anderen Seite her näherten sich zwei schwankende Lichter. Sie kamen so schnell, dass Uncle unwillkürlich an einen Zug dachte. Eine absurde Vorstellung. Aber was war es dann? Zwischen zwei Petroleumlaternen erkannte Uncle eine menschliche Gestalt. Sein Instinkt ließ ihn die Waffe hochreißen... Zu spät. Bruce Darkness machte sich nur die Mühe, den einen Ellenbogen etwas weiter auszufahren und den fetten Schwarzen damit anzustoßen. Es reichte, um Uncle gegen die Wand zu schleudern, wo er ohnmächtig liegen blieb. 65
Der Vampir rannte weiter. Er hatte wichtigere Dinge zu erledigen. Dort standen sie. Die elf verbliebenen Getreuen des Gerald Uncle, des Anführers der Bruderschaft des Schwertes. Bewaffnet bis an die Zähne warteten sie auf den Einsatz. Im Licht ihrer starken Strahler stehend, hatten sie die matten Laternen in den Händen des Vampirs noch nicht entdeckt. Bruce Darkness hielt an. Er durfte sich keinen Fehler erlauben. Nicht noch einmal. Am liebsten wäre er auf die Sterblichen losgestürmt und hätte sie in Fetzen gerissen. Seine Erfahrung sagte ihm, dass er damit sicherlich die falsche Taktik anwenden würde. Sie waren nicht mehr menschlich. Es würde schwer werden, selbst wenn er sie überraschte. Der Zufall nahm dem Vampir die Entscheidung ab. Gerald schaute auf die Uhr und schickte drei seiner Leute los, um etwas zu holen. Stumm und im Gleichschritt gingen sie los. Sie ahnten nicht, was im Dunkeln auf sie lauerte. Der Vampir sprang hoch, packte ein rostiges Rohr und zog sich daran hoch, außerhalb des Lichtscheins. »He, wer hat denn die Laternen hier vergessen?«, fragte einer der drei, als sie die Petroleumlampen erreichten. Die Frage wurde nicht beantwortet. Die drei Männer zögerten einen Moment und schauten sich an. Ein Schatten fiel lautlos auf sie herab. Das Genick des ersten Mannes brach ein Fausthieb des Vampirs, den zweiten griff er wie mit eisernen Klammern. Der dritte Mann war schnell genug, um zu seiner Waffe zu greifen. Der Vampir trat sie ihm aus der Hand und schlug ihm eine Laterne über den Kopf. Das Petroleum lief aus, entzündete sich und floss ihm als bläulich ruckender Flammenmantel über die Schultern. Der Mann begann, um sich zu schlagen, doch seine hektische Bewegungen entfachten die Flammen nur noch mehr. Ein Tritt des Vampirs ließ ihn in die Richtung seiner Kameraden taumeln. Als schreiende Fackel rannte der Mann durch die Kanalröhre. Der Flammenschein wirbelte und zuckte über die Wände. Zwischen seinen Kameraden brach der Mann zusammen und trat wie irrsinnig geworden um sich. Sie wollten ihm helfen, aber durch seine Panik verschlimmerte er die Situation. Sie kamen nicht an den Tobenden heran. Als sie es dennoch versuchten, griffen die Flammen auf Zwei der Helfer über. Hastig sprangen sie zurück und klopften auf die Flammen ein, um sie zu löschen. In diesem Moment begann die Munition, die der brennende Mann am Leib trug, zu explodieren. Querschläger schlugen Funken aus den Wänden, 66
plötzlich detonierte eine Handgranate und riss den brennenden Mann entzwei. Flammen wirbelten umher, die Splitter trafen zwei Nebenstehende und schleuderten sie schreiend und um sich schlagend zu Boden. Staub wirbelte auf und verdeckte die Sicht. Diesen Moment der Verwirrung nutzte Bruce. Dem Mann, den er umklammert hatte, hatte er längst das Genick gebrochen. Elf waren sie gewesen, drei hatte er erledigt, zwei hatte die Splitterwirkung ausgeschaltet, zwei waren immer noch damit beschäftigt, ihre brennenden Kleider zu löschen. Das ergab .. . Bevor Bruce Darkness mit seinen Berechnungen zu Ende war, prallte er in die Gruppe wie ein Schnellzug in eine Schafherde. Er rannte die ersten Gegner einfach über den Haufen und nahm sich dann diejenigen vor, die noch auf ihren Beinen standen. Ein Schwertbruder riss seine Waffe in den Anschlag. Als der erste Schuss krachte, hatte der Vampir jedoch bereits einen Menschen gepackt und als Schutzschild vor sich gehalten. Die Kugeln durchsiebten diesen Sterblichen, trafen dann auch auf Bruce, doch sie hatten zu viel Wucht verloren, um ihm noch ernsthaft schaden zu können. Der Schütze ließ die Waffe sinken und wurde im nächsten Augenblick von der Leiche seines toten Kameraden getroffen, die der Vampir ihm entgegenschleuderte. Er geriet aus dem Gleichgewicht, taumelte nach hinten. Bevor er sich wieder fangen konnte, war der Vampir bei ihm, stieß ihn weiter in die taumelnde Bewegung hinein und sorgte mit einem letzten harten Stoß dafür, dass der Hinterkopf des Mannes mit der Gewalt eines Presslufthammers gegen die Betonröhre krachte. Dann machte Bruce einen schnellen Schritt zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, dass die Machete seinen Kopf verfehlte und Funken sprühend in die Wand einschlug. Für eine Sekunde kämpfte der Angreifer darum, den verkeilten Stahl wieder herauszuziehen. Es war eine Ewigkeit zu lang, denn ein Schlag des Vampirs auf die Brust lähmte ihn und dann wurde sein Kopf gepackt und von zwei unglaublich starken Händen nach unten gerissen, während zugleich das Knie des Vampirs hochschoss und die Stirn des Gegners zertrümmerte. Von der Seite sprang eine flammenumhüllte Gestalt auf den Vampir zu. Dem Mann war es noch nicht gelungen, die Flammen an seiner Kleidung zu ersticken. Nun jedoch hatte er seine Panik überwunden und die größere Gefahr erkannt. Er stürzte sich ohne Rücksicht auf sich selbst auf die Höllenkreatur. Seine brennenden Ärmel umfassten den Vampir, ließen ihn vor Schmerz schreien und irritierten ihn. Für einen Augenblick rangen sie miteinander, 67
ein Vampir und ein in Feuer gehüllter Mensch, dessen Hass ihn alles andere vergessen ließ. Dann wurde der Sterbliche zurückgestoßen, fiel auf den Boden und bevor er sich wieder aufrichten konnte, trat Bruce zu. Den anderen ging es nicht besser. Keuchend wischte sich der Vampir den Schweiß von der Stirn. Elf waren es gewesen ... Er zählte die leblos daliegenden Körper. Wieder wurde er unterbrochen. Eine Unterbrechung freilich, die seine Zählversuche überflüssig machte. Aus dem Dunkel erklang ein rollendes Knurren, wie von einem Raubtier, das sein Revier verteidigt. Im Licht der verstreut herumliegenden Lampen sah Bruce Darkness einen Mann auf sich zuschreiten. Er erkannte ihn sofort. Es war Gerald Uncle. Oder zumindest seine körperliche Hülle. Denn dieser Blick, der den Vampir jetzt durchbohrte, konnte von keinem sterblichen Auge geworfen werden. Gerald trug Sarraks Schwert vor sich her. Aber nicht wie eine Waffe, zu Schlag erhoben, sondern wie ein Messdiener sein Kreuz. Die Klinge leuchtete in einem aggressiven Orange. Und dieses Leuchten hüllte bald auch Gerald ein. Und mit jedem Schritt, den er näher kam, schien der junge Mann zu wachsen, wurde er größer, zugleich unförmiger und ungeschlachter, bis schließlich eine monströse Kreatur, vor Kraft berstend und kochend vor Wut den unterirdischen Gang füllte. Klirrend fiel das Schwert des Höllenkriegers zu Boden. Wieder knisterte die Luft vor Spannung, wieder brandeten Wellen von Energie auf Bruce Darkness ein. Von der Decke her glühten zwei rötliche Augen auf ihn nieder. Mit zornigem Schnauben sog der Dämon die Luft ein, schleifte mit seinem Nacken an der Decke entlang und ließ Staubwolken niederrieseln. Das Schwert lag irgendwo hinter ihm vergessen auf dem Boden. Hier also trafen sie sich zum ersten und letzten Gefecht, fuhr es Bruce durch den Kopf. Der Dämon hatte ihn belauert, als er den Kampf im Hinterhof zu bestehen hatte, er war bei der Bruderschaft des Schwertes gewesen und hatte ihn als Gegner abgeschätzt, und nun bediente er sich der Hülle von Gerald Uncle. Diese Bestie muss sich in Sarraks Schwert verkrochen haben, dachte Bruce. Kein Wunder, dass der Höllenkrieger so gut gewesen war. Bruce neigte zu einem gesunden Selbstbewusstsein, aber er war klug genug, um zu wissen, dass er vielleicht abhauen sollte. Aber dann hätte er nicht einmal versucht, dieses Monster zu besiegen ... 68
Er würde sich bei diesem Gegner eben richtig anstrengen müssen. Eine Chance zur Flucht hatte er sowieso nicht. Da brauchte er gar nicht erst darüber nachzudenken, dass er womöglich verlieren könnte. Bruce sah zu dem Dämon auf, der ihn weit überragte, und schluckte. »Ich darf erst mal 'ne Lebensversicherung abschließen und dann fangen wir an«, sagte der Vampir und bemühte sich um ein charmantes Grinsen. Die Antwort kam umgehend mit der Attacke des Dämons. Der Vampir nutzte seine Beweglichkeit und wich dem Schlag aus. Die gewaltige Kralle des Dämons fuhr in die Betonwand und wurde mit einem gellenden Wutschrei zurückgerissen. Die glühenden Augen suchten nach dem Gegner. Wo war der Vampir? Bruce Darkness hatte sich neben die Leichen geworfen. Im Schutz der Staubwolken suchten seine Finger, sammelten und prüften. Er umklammerte einen schweren Beutel, noch als ihn der Dämon entdeckte und mit einem Tritt wie einen Ball in die dunkle Röhre schleuderte. Die Knochen des Vampirs splitterten, für endlos scheinende Augenblicke lag er gelähmt, schmerzgepeinigt und wehrlos auf dem Rücken. Seine Hände krallten sich immer noch um den Beutel, als läge darin sein wichtigstes Gut. Seine gesamte Konzentration galt seiner Heilung. Zuerst die Beine, er musste wieder auf die Beine kommen, sich bewegen können. Dann die Arme . .. Er duckte sich unter einem Hieb ab, quetschte sich zwischen den Elefantenbeinen des Dämons und der Wand hindurch, ergriff eine auf dem Boden liegende Pumpgun und feuerte. Das wütende Fauchen des Dämons steigerte sich zu einer Raserei, er wankte unter den Treffern, stampfte aber ungerührt weiter, bebend vor Blutdurst, die Wände, die ihn behinderten mit wütenden Schlägen bestrafend. Der Vampir feuerte das Magazin leer. Bei der geringen Entfernung traf jeder Schuss. Dann warf er die Waffe von sich und wollte sich zurückziehen. Doch er stolperte über eine Leiche, fiel auf den Rücken und sah die triumphierende Fratze des Dämons über sich. Die Krallenhände fassten nach ihm, drückten ihn fest wie ein Schraubstock und hoben ihn hoch, dorthin, wo in dem stinkenden Maul die Reißzähne auf den tödlichen Biss warteten. »Gerald?« Was war das? Woher kam diese Stimme? »Gerald?«, drang es aus der Tiefe des Stollens. Grollend hob der Dämon den Kopf und starrte in die Finsternis, dorthin, wo die Stimme herkam. Der Vampir spürte eine Veränderung. Die Kraft des Dämons schien nachzulassen, er schrumpfte und bewegte 69
suchend den Kopf hin und her. Dann blies er sich wieder auf, fand mit wütendem Schreien seine alte Kraft wieder, zerdrückte seinen Gegner, der sich nur noch mit schmerzverzerrtem Gesicht winden konnte. »Gerald, was ist mit dir? Ich bin's, Daddy!« Erneut wechselte der Ausdruck in den Augen des Dämons. Die rote Wut schwand und gab einem verwirrten Suchen Platz. Mit dem lauten Aufstöhnen eines letzten Aufbäumens wand der Vampir einen Arm aus der Umklammerung. Die Hand fuhr in den Beutel, der immer noch an der ändern Hand baumelte. Nachdem Bruce die Hand zurückgezogen hatte, ließ er den Beutel zu Füßen des Dämons fallen und riss sich los. Er machte einen Sprung und warf sich dann in Deckung. Die erste Handgranate in dem Beutel detonierte. Brüllend knickte der Dämon nach vorne und begrub den Beutel unter sich. Als die anderen Sprengsätze nur einen Wimpernschlag später ebenfalls explodierten, war der Kampf entschieden. Mit einem kühlen Blick beobachtete Bruce Darkness, wie der Körper des Dämons schrumpfte und nur noch die verstümmelten Überreste eines Menschen liegen blieb. Dann entdeckte er das Schwert des Höllenkriegers. Es schimmerte nicht mehr, sondern war matt und stumpf geworden. Bruce trat näher, bückte sich und umfasste den Griff. Doch kaum hatte er es berührt, zerfiel es zu Staub ... »Gerald?«, tönte der Ruf durch die unterirdischen Gänge. Der Vampir wandte sich ab und verschwand lautlos in der Finsternis. Sein Auftrag war erfüllt. . . Wer hatte so geschrien? Gerald Uncle schaute gegen die Decke und brauchte eine scheinbar unendlich lange Zeit, um zu begreifen, dass der Schmerz in seiner Kehle etwas mit dem Schmerzensschrei eines Menschen zu tun hatte. Er selbst hatte geschrien. Und nun überfiel ihn auch wieder der Schmerz in dumpfen Wogen. Er konnte seinen Unterleib nicht mehr spüren. Es roch Ekelerregend. Gerald hob mühsam den Kopf und schaute nach unten. Im Lampenschein erkannte er, dass aus seinem Bauch ein seltsames Wirrwarr roter Schlingen ragte, das ihn enorm störte. Er musste aufstehen und seinen Job erledigen. Er musste gegen das Imperium der Finsternis antreten. Aber er spürte seine Beine nicht. Noch einmal überflog er, schnell wie ein Falke, die letzten Jahre. Er erlebte noch einmal die Nacht, in der er sich entschied, von zu Hause wegzugehen. 70
Dieser ganze kleinbürgerliche Mief hatte ihn nicht nur angewidert, sondern wütend gemacht. Dann kam die Gang, das berauschende Gefühl, das Gesetz zu brechen. Dann kam Sarrak und nahm ihn mit sich. Dann spielte er sich als legitimer Nachfolger von Sarrak auf. Es war eine glatte Lüge, aber vielleicht doch wieder nicht, denn Gerald Uncle formte und schmiedete die Bruderschaft des Schwertes und machte sie zu der einzigen Institution, die den Kampf mit dem Imperium der Finsternis aufnahm. Er hörte leise Schritte und ein ersticktes Stöhnen. Tom Uncle konnte den Anblick seines Sohnes kaum ertragen. Beide Beine waren Gerald weggesprengt worden, der Unterleib war aufgerissen. Vorsichtig kniete Tom Uncle neben seinem Sohn nieder und nahm ihn in die Arme. Seit Jahren hatte er von diesem Moment geträumt, hatte gehofft und gebetet, dass ihm diese versöhnliche Geste noch einmal vergönnt sein würde. Und nun hielt er sein sterbendes Kind in den Armen. Gerald bewegte leise den Kopf. Seine Augen strengten sich an, die Blicke auf das Gesicht des Mannes zu richten. Dann glitt ein Lächeln über Geralds Lippen. »Hallo, Dad, lange nicht gesehen.« »Zu lange, mein Sohn.« »Ist alles nicht optimal gelaufen. Ich hatte mir den heutigen Tag auch anders vorgestellt.. .« Die leise Stimme Geralds verstummte. Tom Uncle beugte seinen Kopf über das Gesicht seines Sohnes. Er lauschte und da - Gerald atmete noch. Ein Husten schüttelte den menschlichen Torso, Blut lief über Geralds Lippen. »Dad«, flüsterte er mit letzter Anstrengung. »Hol den Zettel aus meiner Tasche.« Das Stück Papier war von Blut gesprenkelt. Tom Uncle entfaltete ihn. Eine Reihe von Namen und Adressen in pyramidenförmiger Anordnung, miteinander durch Pfeile verbunden. Gerald beobachtete mit fiebrigen Augen seinen Vater. Er sammelte alle Kraft, die er noch in sich hatte. »Dad?«, sagte er. »Ich höre, mein Junge.« »Auf diesem Zettel stehen die Namen der Herrscher. Den ganz oben auf der Liste wollten wir heute töten. Wir haben die Wahrheit erkannt. . . Das Imperium der Finsternis...« Die Stimme Geralds wurde zu einem unverständlichen Murmeln. Tiefer noch beugte Tom Uncle seinen Kopf über seinen Sohn, spürte die weichen Barthaare des jungen Mannes und erinnerte sich in einem Moment kaum erträglichen Schmerzes an den kleinen Jungen mit den samtweichen 71
Pausbacken, der immer mit seinem Daddy schmusen wollte. »Sie beherrschen alles ... Gesetz . .. Politik .. .Unterwelt. . .Wir sind nicht mehr als Zuchtvieh.« Kalter Schweiß trat auf Geralds Stirn. Seine Augen wurden glasig, seine Lippen zitterten, als er sich mit aller Kraft noch einmal zurück in das Bewusstsein kämpfte. »Du musst ihn töten«, flüsterte Gerald. »Du musst - diesen Herrscher erledigen. Es ... es darf nicht sein.« Gerald schluckte und schnappte nach Luft. Seine Haut kalkweiß. Plötzlich war seine Stimme wieder da, so laut und fest, dass Tom Uncle erschrocken zurückfuhr. »Dad? Du hast deine Waffe dabei, stimmts?« »Es stimmt«, gab Tom Uncle zögernd zu. »Gut. Tu mir einen Gefallen. Schieß mir eine Kugel durch den Kopf. Es tut so weh, und ich will nicht, dass diese Monster die Befriedigung haben, Gerald Uncle besiegt zu haben.« »Unsinn«, rief Tom Uncle verzweifelt. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich bringe dich hier raus und die Ärzte flicken dich wieder zusammen.« Er sagte es und bemerkte selbst, dass dieser Satz aus jeder xbeliebigen Fernsehserie stammen könnte, »Dad«, Geralds Stimme wurde leiser, war aber immer noch klar und deutlich. »Hör endlich mal mit diesem Harmonie-Scheiß auf. Weißt du, warum ich abgehauen bin? Weil ich daran erstickte, dich zu sehen, wie du immer höflich warst, immer nett, immer zuvorkommend, immer der Nigger aus dem Süden, brav deinen Job gemacht hast und innerlich ganz hohl wurdest, von dem, was du gesehen hast. Versprich mir, dass du die Sache zu Ende führst! Töte diesen Baron! Und jetzt gib mir eine Kugel. Grüße an Mom und Benni und dank...« Tom Uncle ließ die Waffe fallen. Ein Schluchzen schüttelte seinen ganzen Körper. Er warf sich über seinen toten Sohn und ließ den Tränen freien Lauf. Ja, Gerald hatte ihn so verstanden, wie kein anderer Mensch ihn jemals auf dieser Erde verstanden hatte. Es war ein Segen, das noch erkannt zu haben. Tom Uncle stand auf. Er musste aus der Kanalisation raus. Und er hatte jetzt eine Aufgabe zu erfüllen... ENDE
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Nach Gerald Uncles Tod erhält Bruce Darkness den Auftrag, auch noch die Übrigen der Bruderschaft des Schwertes zu beseitigen. Das Ende der Schwertbrüder ist jedoch sein geringstes Problem. Denn der fette Magier Nikophorus Pfettner steht kurz vor der Vollendung seiner finsteren Pläne.
Das Ende der Schwertbrüder Roman von Austin Osman Der unglaublich fette Magier sah seinen Assistenten an. Der schaffte es erfolgreich, seinen Ekel zu verbergen, während er zusah, wie Nikophorus Pfettner - der Fette - eine Trüffelpraline nach der anderen zwischen seine feisten Lippen schob. Es war, als wäre Kauen unnötig, als würden die nachgestopften Süßigkeiten einfach die vorangegangenen weiterschieben, durch den Rachen und die Speiseröhre direkt in den Magen. Der Magier rülpste laut, bevor er sich an seinen Assistenten wandte. »Bring mir ein Kind, Luca. Es muss von seinen Eltern verkauft worden sein, und es muss Waise sein. Seine Eltern müssen, nachdem sie das Balg versilbert haben, eines gewaltsamen Todes gestorben sein. Das ist das Letzte, was ich für unseren großen Plan noch benötige...« 73