TANIA DOUGLAS
DIE B LUTLÜGE Pour Marc
Dramatis Personae Historische Figuren Anne d'Autriche Regentin von Frankreich L...
41 downloads
579 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
TANIA DOUGLAS
DIE B LUTLÜGE Pour Marc
Dramatis Personae Historische Figuren Anne d'Autriche Regentin von Frankreich Louis XIV. Annes Sohn, noch unmündiger König von Frankreich Jules Mazarin erster Minister Gaston d'Orléans Onkel von Louis XIV. Mademoiselle seine Tochter Louis de Condé Cousin des Königs François de La Rochefoucauld Adliger und Moralist François de Beaufort Adliger Romanfiguren Die Malvoys - Cyprien, Bauer - Fleurent, sein Sohn - Magdelaine, seine älteste Tochter - Innocente, Camille, seine zwei jüngeren Töchter Die Vigueils - Mace, Comte de Rochastre, Adliger - Jehanne, seine Frau - Esther, ihre Tochter - Philippe, ihr Sohn Die Faurepas - Helenus, Duc de Noirlieu, Adliger - Marie-Olympe, seine Frau - Esmond, Raoul, ihre Söhne - Thérèse, ihre Tochter, Ehefrau von - Jacques-Henry d'Arzelles Die d'Arzelles - Jacques-Henry, Adliger, Ehemann von Thérèse de Faurepas - Isabelle, Tochter von Thérèse und Jacques-Henry Die Brannes - Raphaël, Sekretär von Helenus de Faurepas - Conrad, Sohn von Raphaël, Sekretär von Isabelle de Faurepas Timoléon Le Fresne - Koch Marion - Zofe Conde Ignacio de la Borrasca - spanischer Adliger, Fechtlehrer von Beaufort Vicomte Octave de Pleinpont - Adliger, Gefolgsmann von Beaufort
Die Maximen zu Beginn der Kapitel stammen von Herzog Francois de La Rochefoucauld (1613-1680).
Eins Schwächen der Seele sind wie Wunden des Körpers; wie sehr man sich auch müht, sie zu heilen, die Narbe bleibt doch, und jeden Augenblick besteht die Gefahr, dass sie wieder aufbrechen. Januar 1651
»Ho, mes enfants, ho!«, rief der Kutscher auf dem Bock. Das Gefährt kam in einem letzten Ruck zum Stillstand. Marion verschob den Vorhang vor dem Fenster. »Wir sind da, Madame!«, meinte sie. »Sehr schön«, nickte Isabelle ihrer Zofe zu. »Ruf Bernard, er soll den Korb tragen. Aber achte darauf, dass er keine Pastete einsteckt. Letztes Mal fehlten zwei Stück.« Der Schlag wurde geöffnet und das Treppchen aufgestellt. Isabelle setzte ihre Halbmaske auf und streifte ihre Handschuhe über. Conrad de Branne verließ als Erster den Wagen, wandte sich dann um, um ihr zu helfen. Isabelle zwängte ihre bauschigen Röcke durch die schmale Öffnung, ergriff die Hand ihres Sekretärs und entstieg dem Gefährt. Sie sah sich kurz um. Die Kutsche hatte in der Rue Saint-Paul gehalten. Das Haus, das Isabelle aufsuchen wollte, befand sich in einer dieser typischen Pariser Gassen, die für den prächtigen Vierspanner der Faurepas viel zu eng waren. Man war gezwungen, ein paar Schritte zu Fuß zu gehen und sich einen Weg durch die Menschen zu bahnen. Isabelle war es gewohnt, dass ihre Ankunft und die ihrer Dienerschar den Schreiern und Händlern, Bettelmönchen und leichten Mädchen, Passanten und Gesindel, die sich wie ein bunter Strom durch die Rue Saint-Paul schoben, Anlass bot, stehen zu bleiben. Sie störte sich nicht an den neugierigen Gesichtern. Während sie zielstrebig in die dunkle Seitengasse einbog, warf sie einen Blick nach oben. Die fünf Stockwerke der grauen, wettergegerbten Häuser machten es einem nicht leicht, ein Stück Himmel zu entdecken, 3
doch sie erspähte die bleiche Wintersonne hinter dahinjagenden Wolken. Der Wind pfiff durch die Häuserschluchten, zerrte an ihrem Mantel und wirbelte ihr die blonden Locken in die Augen. Dennoch war die Luft schwer, fast greifbar, und der Straßenkot strömte heute einen erdigen, satten Geruch aus, der sich mit den feuchten Ausdünstungen der nahen Seine vermischte. Isabelle fröstelte. Wie stets spürte sie überdeutlich, wenn ein Wetterumschwung bevorstand. Isabelle begegnete Marions fragendem Blick und lächelte. »Es wird heute noch schneien«, meinte sie. »Wir werden uns beeilen.« Isabelle beschleunigte ihre Schritte. Das Wetter würde ihr einen guten Vorwand bieten, bald wieder nach Hause zurückzukehren. Sie hielt ein Seufzen zurück. Sonst freute sie sich immer über ihren wöchentlichen Besuch bei den kleinen Arbeiterinnen von Saint-Paul, doch heute war es anders. Sie hatte heute Nacht kaum Schlaf gefunden. Irgendetwas braute sich zu Hause zusammen, das spürte sie genauso deutlich wie die Masse des Schnees, die über ihren Köpfen hing. Eine unsichtbare Spannung lag seit ein paar Tagen in den prunkvollen Räumen des Hôtel de Noirlieu, eine stille Erwartung. Es war nichts, was Isabelle hätte benennen können, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass es etwas mit ihr zu tun haben könnte, und es führte dazu, dass sie sich nicht gerne längere Zeit von zu Hause entfernte. »Madame, schauen Sie!«, sagte Conrad de Branne und wies zur Seite, auf einen winzigen Laden, der Stiche anbot. »Ist das nicht überraschend?« Das Geschäft war so schmal, dass es nur aus einer Tür und einer zwei Fuß breiten Auslage bestand. Sein Besitzer, dem es offenbar am Herzen lag, auf die Vielfalt seines Sortiments hinzuweisen, hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als zusätzlich zu seiner Auslage die Fassade des Hauses zu nutzen. Dazu hatte er einen Teil seiner bedruckten Blätter auf den massiven Holzladen genagelt, mit dem er nachts sein Geschäft sicherte, und diesen anschließend auf das schmutzgraue Mauerwerk über seiner Tür gehängt. Dort flatterten die Stiche im böigen Wind wie die frisch gewaschenen Servietten der Pariser Wäscherinnen auf der Berge de la Grenouillère. 10
Isabelle verstand nicht sofort, was die Aufmerksamkeit ihres Sekretärs erregt hatte. Die meisten der Abbildungen stellten Heilige dar, wahrscheinlich als Tribut an die Besucher der nahen Kirche Saint-Paul. Doch dann sah sie es auch: Ein Porträt, angebracht zwischen einem kahlköpfigen heiligen Simon, der sich müde auf eine Säge stützte, und einem axtschwingenden Sankt Thaddäus: ein scharf geschnittenes Gesicht, ein Mund, voll und lebenshungrig, über dem ein feiner
Schnurrbart hing, leicht hervorstehende Augen unter hohen, gewölbten Brauen. Isabelle näherte sich dem Bild. »Sie interessieren sich für den Helden von Rocroy, Madame?«, fragte ein Männlein, das flink wie ein Wiesel aus der Höhle seines Geschäfts hervorgeschossen war. Er stellte sich neben Isabelle, legte den Kopf schief, breitete die Hände aus. »Ah, Monsieur le Prince de Conde! Was für ein Mann! Ein Feldherr ohnegleichen! Ein wahrer Prinz Frankreichs! Es ist eine wunderbare Radierung. Darf ich Madame aufmerksam machen auf die kühnen Striche, die den Konturen des Porträts eine unübertroffene Ähnlichkeit mit dem Original verleihen? Und hier ...«, der Mann spreizte die Finger in einer fast zärtlichen Bewegung, «... auf die zarten, gleichmäßigen Schraffu-ren, die diesem edlen Gesicht eine schreiende Lebendigkeit verleihen? Sie werden kaum ein ebenso gutes, geschweige denn ein besseres Porträt des Prinzen in der Stadt finden!« »Da mögen Sie recht haben, Monsieur«, antwortete Isabelle leichthin. »Porträts von Monsieur le Prince de Conde sind nur schwer zu finden in diesen Zeiten.« »Zu Unrecht, wenn Madame mir erlauben, meine Meinung auszusprechen, sehr zu Unrecht! Ein Mann, der unser Land vor der spanischen Invasion rettete, zu einem Zeitpunkt, an dem bereits alles verloren schien! Ein Mann, der...« «... der seit fast einem Jahr im Gefängnis sitzt, Monsieur«, unterbrach Isabelle ihn kühl. »Auf Befehl Ihrer Majestät Anne, der Königinmutter.« »Auf Befehl unseres sehr verehrten ersten Ministers, Monsieur le Cardinal de Mazarin, der befürchten musste, die erfolgreichen Feldzüge von Monsieur le Prince und dessen steigender Einfluss könnten ihn von dem bevorzugten Platz verdrängen, den er bei der Köniii
ginmutter innehat, Madame«, widersprach der Händler mit einer kleinen Verbeugung. Isabelle senkte die Lider. Es war in diesen unruhigen Zeiten nicht klug, sich zu politischen Äußerungen hinreißen zu lassen. »Wie viel möchten Sie für das Porträt haben?«, fragte sie stattdessen. Der Händler schmunzelte, deutete in Richtung von Isabeiles Kutsche, auf deren Schlägen weithin sichtbar das rot-schwarze Wappen der Faurepas de Noirlieus prangte. »Geben Sie mir dafür, was immer Sie möchten, Madame. Ich weiß, dass das Haus Noirlieu eines der wenigen ist, die den wahren Wert von Monsieur le Prince kennen.« Isabelle konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie machte ihrer Zofe ein Zeichen. »Bezahl ihn, Marion. Und dann lass das Porträt nach Hause schicken, ich möchte es Monsieur meinem Großvater schenken.« Ohne zu warten setzte sie ihren Weg fort. »Es ist nicht das einzige Porträt von Monsieur de Conde, das mir heute auffiel, Madame«, murmelte ihr Sekretär, Conrad de Branne, als sie außer Hörweite des Händlers waren. »Glauben Sie, die Verbreitung dieser Porträts könnte eine Bedeutung haben?«, fragte Isabelle. Conrad de Branne neigte den Kopf, offensichtlich geschmeichelt, um seine Meinung gebeten worden zu sein. »Madame, ich bin in Paris geboren und gewohnt, dessen feine Schwingungen aufzunehmen. Nichts, was das Antlitz dieser Stadt verändert, ist ohne Bedeutung. Und die Ersten, die einen politischen Umschwung ankündigen, sind nicht, mit Verlaub, die Herren des hohen Adels, sondern die kleinen Händler, die Handwerker und Tagelöhner. Ich könnte mir vorstellen«, sagte er und senkte die Stimme, »dass es Strömungen gibt, die sich zum Ziel gesetzt haben, Monsieur le Prince de Conde zu befreien.« Isabelle schwieg. Die Noirlieus waren den Condes eng verbunden. Eine solche Strömung konnte auch ihre Familie nicht unberührt lassen. Sie fragte sich, ob die Unruhe, die sie in den letzten Tagen verspürt hatte, etwas mit diesen im Verborgenen gärenden politischen Bewegungen zu tun haben könnte. Als sie jedoch merkte, dass sie vor dem Haus der kleinen Arbeiterinnen anlangten, einem schmucklosen, aber soliden Steingebäude, das der Gemeindekirche Saint-Paul u gehörte, verscheuchte sie alle Gedanken, um sich ganz ihrer jetzigen Aufgabe zu widmen. »Klopf an, Mathieu, und melde uns«, sagte Isabelle einem der beiden Lakaien. Mathieu betätigte den eisernen Türklopfer, und alsbald erschien ein rundliches Dienstmädchen. Das Haus war in seinem Inneren genauso düster wie von außen, doch das lag an der Winzigkeit der Fenster, nicht an der Sauberkeit der Scheiben. Isabelle ignorierte das Summen der vielen Stimmen, das aus einem Raum zu ihrer Linken drang, und bog in den akkurat gefegten Flur ab. Ein paar Sekunden später stand sie einer älteren Frau mit hohlen Wangen und aufwändig besticktem Brusttuch gegenüber, die in einer tiefen Reverenz versank.
»Nun, Madame Muguet, wie geht es Ihren Schützlingen?«, fragte Isabelle freundlich, während sie ihre Maske abnahm. »Sind Sie mit ihnen zufrieden?« »Sehr zufrieden, Madame la Comtesse«, antwortete die Frau, ohne sich ein Lächeln abringen zu können. »Jacqueline und Mabile haben uns vor drei Tagen verlassen. Sie sind als Lehrlinge bei Colin le Vert angestellt worden, sodass wir gestern zwei neue Mädchen aufnehmen konnten.« »Das sind wirklich gute Neuigkeiten. Am besten gehen wir gleich in den Werkraum. Ich bin heute in Eile und kann nicht lange bleiben.« »Aber natürlich«, antwortete die Frau und neigte den Kopf. »Wie gütig von Ihnen, dass Sie uns trotzdem besuchen! Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen ...« Als Isabelle und ihre Gefolgschaft hinter Madame Muguet den Werkraum betraten, verstummten die Stimmen. Etwa vierzig Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren waren hier versammelt. Der Pfarrer von Saint-Paul hatte sie aus den zugleich notdürftigsten und tugendsamsten Familien seiner Gemeinde ausgesucht. Die Mädchen erhielten Arbeit, wurden mit dem Säubern und Ausbessern von Spitze, Wandteppichen oder kostbaren Stickereien beschäftigt und im Zeichnen unterrichtet. Ihre Arbeitszeiten waren so lang wie das Tageslicht, und sie wurden schlecht bezahlt, doch so wurde ihnen das Schicksal erspart, irgendwann einmal von ihren verzweifelten Eltern für ein paar Louis verkauft zu werden. ■3
Von allen wohltätigen Einrichtungen, die die Faurepas regelmäßig unterstützten, waren die kleinen Arbeiterinnen von Saint-Paul diejenigen, die Isabelle am meisten am Herzen lagen. Sie machte ein Zeichen, und Bernard und ihre zwei livrierten Lakaien begannen die Pasteten, Früchte und kleinen Leckereien zu verteilen, die Isabelle sich von ihrem Koch hatte einpacken lassen. Das muntere Geplapper der Mädchen setzte sofort wieder ein. Ihre flinken Hände ließen Kamm, Nadel und Goldfaden fallen und versuchten den Dienern unter Schmeicheleien den Inhalt der Körbe zu entwenden. Bernard, dem Isabelle eingeschärft hatte, Gerechtigkeit walten zu lassen, wehrte sich gutmütig und mit dem zufrieden leuchtenden Gesicht des Mannes, der selten das Glück hat, im Mittelpunkt weiblicher Aufmerksamkeit zu stehen. Madame Muguet runzelte die Stirn angesichts des heiteren Durcheinanders, doch Isabelle wusste, wie dieser Strenge beizukommen war. Auf einen Wink hin händigte Marion der Aufseherin einen Beutel aus. »Grüßen Sie bitte Monsieur lAbbe von mir, Madame. Und vielleicht können Sie mit einem Teil dieses Geldes etwas Feuerholz besorgen. Es ist eisig hier, und wenn Ihre Arbeiterinnen erkranken und ihre Aufträge nicht mehr erfüllen können, werden Ihnen Ihre Kunden davonlaufen.« »Aber natürlich, Madame la Comtesse. Ganz nach Ihrem Wunsch«, lächelte sie zum ersten Mal. »Möchten Sie die zwei neuen Mädchen kennenlernen?« »Mais oui, unbedingt«, nickte Isabelle. Madame Muguet führte sie an eine Mauer, wo ein vergilbter, aber kostbarer Wandteppich aufgehängt worden war. Drei Mädchen standen davor. Als sich die drei umdrehten, traf es Isabelle wie ein Schlag. Sie blieb abrupt stehen und sog scharf die Luft ein. »Madame? Madame la Comtesse? Ist Ihnen nicht gut?« »Doch ... Es ist alles in Ordnung, Madame Muguet«, lächelte Isabelle angestrengt. Noch während tausend angstvolle, wilde Gedanken durch ihren Kopf schössen, gelang es ihr, ihre Züge wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie fing sich schnell... das tat sie stets. »Dies sind Ameline und Marie-Caton. Sie werden von Francine unterrichtet. Sagt Madame la Comtesse dArzelles guten Tag, mes filles«, mahnte Madame Muguet die Mädchen. Zwei von ihnen machten tiefe, unbeholfene Knickse, doch die dritte, diejenige, deren Anblick Isabelle so tief ins Herz schnitt, starrte Isabelle nur mit vor Bewunderung glänzenden Augen an. Wie klein sie war! Sie wirkte jünger, viel jünger als zehn. Als Madame Muguet sie am dünnen Arm packte, um sie in die Knie zu zwingen, winkte Isabelle ab. »Bist du Ameline?«, fragte sie das Mädchen. Die Kleine nickte nur. Sie hatte wirre, braune Locken, die rings um ihre Haube herausguckten, und die ängstlichen großen Augen einer Feldmaus. Jetzt, wo Isabelle Ameline besser sah, verstand sie ihre eigene Reaktion nicht mehr. Eine Ähnlichkeit, mehr nicht. Die Kleine war zu jung, ihre Nase zu spitz. Trotzdem überkam Isabelle der Drang, das Mädchen zu berühren. Sie streckte eine Hand aus, strich über Ame-lines bleiche Wange. »Sind Sie traurig, Madame?«, fragte das Mädchen. Madame Muguet zuckte zusammen. Isabelle lächelte leicht.
»Nein, nur ein wenig nachdenklich«, log sie. »Du erinnerst mich an jemanden. Hast du Geschwister, Ameline?« »Ja, drei. Doch die können noch nichts verdienen. Ich bin die Einzige, die den Eltern hilft«, antwortete das Mädchen und streckte die flache Brust raus. »Ja, ich verstehe gut, dass dich das stolz macht, Ameline«, meinte Isabelle leise. Sie schlug die Augen nieder und wandte sich von dem Mädchen ab. Trauer und eine tiefe, längst vergessen geglaubte Sehnsucht regten sich in ihr. Sie schloss die Fäuste. Es war Zeit, nach Hause zu fahren.
* Eine Stunde später ließ Isabeiles Kutsche den Faubourg Saint-Germain hinter sich und fuhr ratternd über die Pflastersteine unter dem gewaltigen, geschwungenen Torbogen hindurch, auf dem das herzogliche Wappen der Faurepas de Noirlieu prangte. Als sie vor dem hellen, dreiflügeligen Haus hielt, fielen erste Schneeflocken vom stürmischen Himmel. Entgegen Isabeiles Erwartung ließ zu Hause nichts auf irgendwel 6
che besonderen Vorkommnisse schließen. Isabeiles Großmutter war, wie immer, in ihren Zimmern eingeschlossen, und ihr Großvater empfing, so berichtete der Hausmeister mit leicht verächtlichem Tonfall, nur einen namenlosen Besucher, der mit einer Mietkutsche vorgefahren war. Wie so oft war es das Personal, das dem riesigen Haus Leben einflößte. Heiteres Schnattern erklang aus dem ersten Stock, wo die Mädchen das Hauslinnen zusammentrugen. Einmal im Monat wurde die Wäsche abgeholt und zum Reinigen nach Holland geschickt, denn Isabeiles Großmutter schwor auf die Reinheit des holländischen Wassers. Unten warteten ein Schneider und ein Hutmacher darauf, vorgelassen zu werden. Einzig Pere Forbon, der Seelsorger der Familie, achtete auf Isabelle - er lief los, als er sie von Weitem erblickte. Isabelle, der heute Nachmittag nicht nach dem freundlichen, aber endlosen Geschwätz des Geistlichen zumute war, winkte freundlich ab und täuschte Geschäftigkeit vor, indem sie die Flucht in Richtung Küche ergriff. Sie durchquerte zwei in winterlicher Kälte erstarrte, prunkvolle Empfangsräume, um auf schnellstem Wege die hintere der beiden Küchen zu erreichen. Ihre Tür stand wie immer weit offen. »Willkommen, Mademoiselle Isabelle! Setzen Sie sich! Ich habe hier etwas, das Sie unbedingt probieren müssen!«, empfing sie Timoleon le Fresnes warme Stimme. Isabelle trat an einen der Herde. Zwei Küchenmädchen mit erhitzten Wangen machten ihr Platz. Vier Töpfe verschiedener Größe standen hier, zischelten, stießen Dampf aus und schwängerten die Luft mit appetitlichen Düften. Isabelle schnupperte, ergriff eine kleine Kelle und verschob damit den Deckel eines gusseisernen Topfes. Sie schöpfte etwas Sud heraus und kostete mit gespitzten Lippen. »Und?«, fragte Timoleon erwartungsvoll. »Ente.« Isabelle spähte in den dampfenden Spalt des Topfes. »Mit Ihren in der ganzen Stadt gerühmten gerösteten weißen Rübchen.« Sie inspizierte die anderen Behälter. »Dazu Blumenkohl in Knochenmarkbouillon, Schweinezungen ... und pürierter Fisch mit Flusskrebsen.« Sie schloss die Augen, atmete den Duft der Speisen ein und lächelte. »Hmm, köstlich! Doch weshalb so viel Aufwand?« Sie ließ 6
von den Töpfen ab und ging zum Tisch, der lang genug war, um sogar in der riesigen Küche imposant zu wirken. »Ordre de Monsieur le Duc.« Isabelle verzog den Mund. Es schien ihr viel Ehre für einen Gast, der sich noch nicht einmal einen eigenen Wagen leisten konnte. »Ich darf erwarten, dass Sie Hunger haben?«, fragte Timoleon mit einem Lächeln in der Stimme. »Hunger ist gar kein Ausdruck!«, antwortete Isabelle. »Mein Magen schreit schon seit Stunden nach Erlösung!« Seit sie bei ihren Großeltern wohnte, also seit fast acht Jahren, brachte sie den Koch mit ihrem Appetit ins Staunen. Schon in der ersten Stunde nach ihrer Ankunft in diesem Haus hatte sie vor dem versammelten Küchenpersonal ein ganzes Hähnchen, zwei Teller Suppe, einen Laib Brot und einen halben Erdbeerparfait verschlungen. Timoleon ging zum Ofen, der in die Wand neben dem größten Kamin eingelassen war. Er zog eine flache Schaufel heraus, deren Griff er zuvor dick mit einem Lappen umwickelt hatte. Sie war so heiß, dass sie glühte. Er hielt sie ein paar Sekunden über den Brattopf, bis ein Zischen laut wurde.
Dann leerte er den Inhalt des Brattopfes auf einem Teller aus, raspelte noch etwas von einem Zuckerblock darauf und benetzte es mit Orangenwasser. Isabelle sah ihm zufrieden zu. Von Anfang an hatte sie sich in Timoleons Gesellschaft wohlgefühlt. Mit dem lockeren Umgangston, der zwischen ihnen herrschte, hatte Timoleon Isabelle vor sieben Jahren über ihre anfängliche Schüchternheit hinweggeholfen. Für eine junge Frau aus bester Familie geziemte sich dieser Tonfall schon längst nicht mehr, doch Isabelle wollte ihn nicht missen, auch wenn sie und der Koch ihn sich in stiller Übereinstimmung nur dann erlaubten, wenn weder Isabeiles Großeltern noch deren enge Bedienstete zugegen waren. »Et voilä«, lächelte er und präsentierte ihr den Teller. »Lassen Sie es sich schmecken.« Das süße Omelett verströmte einen unwiderstehlichen Duft. Isa-belles Magen knurrte laut. Sie versenkte ihren Löffel in die zarte Eiermischung, die von der glühenden Schaufel gebräunt worden war. Das Omelett war fester, als sie es erwartet hatte. Isabelle schloss die '7
Augen. Ein feiner Mandelgeschmack erfüllte ihren Gaumen, überlagert von einem Aroma von Rosen- und Orangenwasser und dazwischen, als herber Gegensatz, kandierte Zitronenstückchen. »Wie ist es?«, fragte Timoléon, der ihr gegenüber Platz genommen hatte. Er stützte sich auf seine Unterarme und sah sie mit einem leichten Lächeln an, als sie den zweiten Bissen nahm. »Absolut fantastisch!« Isabelle fühlte, wie ihr Magen sich besänftigte und spürte der milden Wärme nach, die sich in ihr ausbreitete. Wie immer genoss sie in vollen Zügen die beruhigende Gewissheit: Ja, auch heute wieder würde sie satt werden. Heute wieder würde sie dem Hunger entkommen, diesem ewig Lauernden... In ihrem Geist erschienen große, spiegelglatte Augen unter dem wirren Schaum dunkler Locken. Ihr Herz zog sich zusammen. Was war bloß in sie gefahren, vorhin, im Haus der kleinen Arbeiterinnen? Der Anblick armer Kinder war in Paris wahrhaft nichts Außergewöhnliches. Also weshalb diese Reaktion? War es diese Spannung, die seit ein paar Tagen im Haus herrschte? Oder war es einfach Sehnsucht? Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie schon seit einer Ewigkeit nichts mehr von Cyprien Malvoy und den Kindern gehört hatte. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Timoléon warm. Isabelle sah überrascht hoch und schüttelte den Kopf. »Nein, Timoléon, es ist alles bestens. Ich musste an meinen Besuch bei den Arbeiterinnen von Saint-Paul denken. Es gibt ein neues Mädchen dort, mit Namen Ameline. Sie gibt vor, zehn zu sein, doch ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, sie hat gelogen, um ihrer Familie zu helfen.« Sie schob den Teller beiseite. »Werden Sie Ihrem Verdacht nachgehen?« »Nein«, sagte Isabelle. »Wenn ein so junges Mädchen sich entscheidet, zehn Stunden und mehr am Tag zu arbeiten, dann hat sie triftige Gründe. Auch wenn ich der Meinung bin, dass Kinder in ihre Familien gehören.« Isabelle verstummte. Ärger wallte in ihr auf. Herr im Himmel, sie war heute schrecklich sentimental! »Sie haben ein wirklich gutes Herz, Mademoiselle«, meinte Timoléon nach einiger Zeit. »Ja, ein wirklich gutes Herz. Sie begnügen sich nicht damit, wie so viele, Münzen in bettelnde Hände zu verteilen. Sie verstehen die Menschen, auch die kleinen, unwichtigen. Und 7
ein verstehendes und sehendes Herz ist tausendmal mehr wert als ein freigebiges.« Isabelle fühlte sich entwaffnet. »Wollen Sie mir etwas sagen, Timoleon?«, fragte sie leise. »Sehen Sie, das ist es, was ich meine«, lächelte der Koch, doch es war ein trauriges Lächeln, ohne eine Spur der Verschmitztheit, die sonst seine Züge erhellte. »Ich mache Ihnen Komplimente, und Sie wischen sie kurzerhand beiseite und steuern direkt auf den Kern zu.« Isabelle schwieg. Timoleons gepflegte, feingliedrige Hand spielte mit einem müden Kohlblatt. Endlich, als sie ihre Frage schon fast vergessen hatte, antwortete der Koch. »Nein, Mademoiselle«, sagte er leise. »Nein, heute will ich weder Sie noch mich mit Beichten belasten. Aber vielleicht eines Tages ... Wenn ich je mutig genug dazu sein sollte ...« Er suchte ihren Blick. »Ich glaube, dass ich mich dann auf Ihre Hilfe verlassen könnte.« Eine Gestalt, die im Rahmen der Küchentür erschien, ersparte Isabelle eine Antwort. »Mademoiselle Isabelle?« Es war Beautru, der Leibdiener ihres Großvaters. Als er Isabelle entdeckte, hob er die Brauen. Er gab sich sichtbar einen Ruck, bevor er mit angezogenen Armen, geballten Händen und kleinen, eiligen Schritten die Küche durchquerte, wie jemand, der ein Hospiz betritt und Angst hat, sich anzustecken. Er wandte sich direkt an Isabelle und näselte: »Mein Herr wünscht, Sie zu sprechen, Mademoiselle!« Isabelle sah stirnrunzelnd auf. »Mein Großvater? Worum geht es?«
»Ich bin sicher, Monsieur le Duc wird Ihnen alles viel besser erklären, als ich es vermag.« Isabelle unterdrückte eine spitze Antwort. Sie mochte Beautru nicht. Er hatte die überlange Oberlippe und die schweren Augenlider eines Laufhundes, ohne eine Spur von dessen Treuherzigkeit. Doch einem Befehl von Helenus widersetzte man sich nicht. Außerdem war alles besser, als am Küchentisch zu sitzen und sich sentimentalen Erinnerungen hinzugeben. Sie stand wortlos und mit unruhigem Herzen auf. 8
Isabeiles Großvater und seine Bediensteten bewohnten den gesamten rechten Flügel des Hotel de Noirlieu. Beautru führte Isabelle in den ersten Stock, in dem sich das Schlaf- und das Empfangszimmer befanden. »Treten Sie ein, Mademoiselle ma fille, und begrüßen Sie unseren Gast!« Helenus de Faurepas, Herzog von Noirlieu, winkte Isabelle ungeduldig herein. »Und Sie, Beautru, schließen Sie diese Tür. Es braucht nicht gleich das ganze Haus an unserem Gespräch teilzuhaben.« Isabelle erblickte Raphael de Branne, den Sekretär ihres Großvaters und Vater ihres eigenen Sekretärs Conrad de Branne. Außerdem befand sich im Raum ein in gedeckten Farben gekleideter Mann, der ihr gespannt entgegensah. Als sie ihn erkannte, konnte sie es kaum glauben. »Monseigneur de La Rochefoucauld!«, rief sie aus. »Sie hier, in Paris? Was für ein Wagnis! Wurde Ihr Haftbefehl aufgehoben, oder flößen Ihnen die Garden der Regentin keine Angst mehr ein?« »Weder noch, Mademoiselle«, antwortete La Rochefoucauld lächelnd und verneigte sich über ihrer Hand. »Doch ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Ersteres eintritt, worauf dann auch meine Angst vor den Garden rapide abnehmen dürfte.« Isabelle musste ebenfalls lächeln. Es war kein Wunder, dass der Herzog Franqois de La Rochefoucauld sich auf die Anonymität eines Leihwagens verlassen hatte, um seinen Besuch abzustatten. Er war einer der engsten Vertrauten des inhaftierten Prince de Conde und einer der meistgesuchten Männer Frankreichs. Isabelle hatte ihn wegen der politischen Wirren des letzten Jahres lange nicht gesehen, doch er war unverändert. Sein Äußeres war eher durchschnittlich, ein brauner Teint, dunkle, tiefliegende Augen und gelocktes, rabenschwarzes Haar. Sein Geist hingegen war es nicht. Das feine, humorvolle Denken des Herzogs verlieh ihm die Fähigkeit, die Ereignisse, in die er verwickelt war und in die ihn sein Geschmack für Abenteuer sich nur allzu gerne verwickeln ließ, zugleich von außen und von innen zu betrachten. Seit Mazarin Conde hatte verhaften lassen, kämpfte La Rochefoucauld pausenlos für dessen Freilassung. Zuerst in der Normandie, dann in der Guyenne hatte er Aufstände angezettelt, um zu versu 8
chen, den Gefangenen freizupressen, allerdings ohne großen Erfolg. Nun also war er hier, in Paris. Es musste einen triftigen Grund geben, dass er das Risiko einer Verhaftung einging. Isabelle dachte an das Porträt, das sie vorhin erstanden hatte, an ihr Gespräch mit dem Händler und ihre latente Unruhe. Ja, alles deutete auf Bewegung hin. Doch was hatten die Noirlieus damit zu tun? »Mademoiselle d'Arzelles, ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt!« Der Herzog wandte sich an Helenus. »Compliment, mon eher! War Ihre Enkelin früher eine vielversprechende Knospe, so ist sie in den letzten Monaten vollends erblüht. Sie werden gewiss Mühe haben, ihre Verehrer abzuwehren.« Helenus gab einen schnarrenden Laut von sich und fixierte Isabelle. »Croyez-vous?« In seinem Tonfall schwangen Überraschung und Misstrauen mit. »Sie wird einmal ein großes Vermögen erben. Das war in meinen Augen stets Anreiz genug, um mich daran zu hindern, mir den Kopf über Äußerlichkeiten zu zerbrechen. Und Ihr Anliegen bestätigt meine Sichtweise.« La Rochefoucauld sah Helenus gespannt an. »Heißt das, Monsieur, dass ich dem Prinzen Ihr Einverständnis mitteilen darf?« Helenus nickte ernst, streckte seinem Gast die Hand hin. »Parfai-tement. Sie können während der schwierigen Verhandlungen, die Sie führen werden, den Namen der Faurepas in die Waagschale werfen.« La Rochefoucauld verbeugte sich tief. »Monsieur de Conde ist Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Monsieur.« »Die Condes haben sich immer auf die Faurepas verlassen können. Und das seit einem Jahrhundert«, antwortete Helenus mit einer Schlichtheit, die seinen Worten nur noch mehr Nachdruck verlieh.
Isabelle wusste, dass dieses nicht nur leere Worte waren. Die Familie der Faurepas war seit mehreren Generationen mit der der Condes in einer Art freiwilligem Vasallentum verbunden. Diese Verbindung wurzelte in vergangenen Generationen, als die protestantischen Faurepas, damals noch einfache Grafen, zusammen mit den Condes gegen die Katholiken gekämpft hatten. Sie hatten mit ihnen die Grauen der Bartholomäusnacht überlebt. Und sie waren mit ihnen aufgestiegen, als Henry de Navarre, der Vetter der Condes, zum König Henry IV. von Frankreich wurde. Inzwischen waren die ii
Faurepas Besitzer des Herzogtums von Noirlieu und gute Katholiken. Sie waren vermögend, einflussreich und theoretisch unabhängig. Dennoch wäre es Helenus nie eingefallen, die Bindung, die zwischen der Familie der Faurepas und der der Condes existierte, zu leugnen. »Sie sind zufrieden? Oder gibt es noch Einzelheiten zu klären?«, fügte Helenus hinzu. In Isabelle erwachte Misstrauen. Es sah Helenus nicht ähnlich, sie in geheime politische Verhandlungen mit einzubeziehen. Weshalb hatte er sie rufen lassen? »Monsieur mon pere, darf ich erfahren, um was es hier geht und inwiefern ich von Nutzen sein kann?«, fragte sie. »Sie haben mit Mademoiselle Ihrer Enkelin noch nicht über die Verhandlungen gesprochen?«, fragte La Rochefoucauld überrascht. »Die Sache erfordert schließlich die größte Diskretion«, schüttelte Isabeiles Großvater den Kopf. »Ja, dann kann ich nur hoffen, dass Ihre Enkelin mit unserer Abmachung einverstanden ist«, meinte La Rochefoucauld und sah Isabelle nachdenklich an. »Daran sollen die Verhandlungen nicht scheitern.« Helenus wischte La Rochefoucaulds Bedenken mit einer Geste beiseite. »Vielmehr sollten Sie vor Monsieur de Beaufort unsere Position mit Überzeugung vertreten können.« Helenus' mächtige graue Brauen zogen sich zusammen. »Meine Enkelin ist inzwischen, so glaube ich, eine würdige Vertreterin des Hauses Noirlieu. Um ganz offen zu sein: Es war nicht immer so. Als ich sie vor sieben Jahren zu mir nahm, befand sie sich in einem Zustand der Verwahrlosung. Doch ich habe weder Mühe noch Kosten gescheut. Seitdem haben sich bei uns unermüdlich die besten Lehrer abgewechselt. Wenn das Mädchen nur einen Bruchteil von dem behalten hat, was man versucht hat, ihm einzutrichtern, ist es gebildeter als so manche uns bekannte Dame.« Isabelle spürte, wie sie vor Zorn und Verlegenheit errötete. Wie sie diese und ähnliche Darstellungen ihres Großvaters hasste! War sie ein Esel, der auf dem Markt feilgeboten wurde? Sie biss die Zähne aufeinander und unterdrückte mit Mühe eine heftige Antwort. »Ja, ich erinnere mich«, sagte La Rochefoucauld. »Sie sind im Peri-gord aufgewachsen, nicht wahr, Mademoiselle?« 9 »Im Haus von entfernten Verwandten ihres Vaters, die sich ihrer annahmen, nachdem ihre Eltern bei einem Bauernaufstand ums Leben gekommen waren, ja«, antwortete Helenus anstelle seiner Enkelin. Isabelle warf ihm einen halb gereizten, halb spöttischen Blick zu, doch der alte Mann fuhr ungerührt fort: »Ehrenwerte und gute Leute, diese Malvoys, doch Sie kennen die Zustände, die bei uns auf dem Land herrschen. Die Landherren sind von ihren Bauern kaum zu unterscheiden.« »Es war sehr lobenswert von Ihnen, sich Ihrer Enkelin anzunehmen, Monsieur«, antwortete La Rochefoucauld höflich. »Besonders da, glaube ich, Ihre Beziehungen zu Ihrem Schwiegersohn etwas ... belastet waren.« »Ich habe d'Arzelles, den Mann, der mir meine Tochter Therese raubte und sie heimlich heiratete, nie mit dem Wort Schwiegersohn beehrt, mon eher«, stellte Helenus klar. »Der Mann war ein raffinierter Intrigant, ein Lügner, dem es gelang, nicht nur meine unerfahrene Tochter, sondern auch meine eigene Frau ...« Helenus unterbrach sich selbst mit einer wegwerfenden Geste. »Genug von all dem. Der Mann ist tot und ich langweile Sie. Alles, was zählt, ist, dass meine Enkelin eine wahre Faurepas ist. Gott sei Dank ist sie ihrem Vater so unähnlich wie nur möglich.« Isabelle verschränkte die Arme. Ärger wallte in ihr auf, weniger wegen der verächtlichen, schon so oft gehörten Rede ihres Großvaters als wegen der ganzen Situation, die sie zwang, stumm zwischen den Anwesenden auszuharren, während über sie geredet wurde, als sei sie nicht vorhanden. Nach einem Blick auf sie räusperte La Rochefoucauld sich. »N'importe, was dieser Mann verbrach, Monsieur«, lenkte er freundlich ein. »Klar ist, Mademoiselle dArzelles ist eine Zierde Ihres Hauses. Und ich bin sicher«, fügte er hinzu, während
wie so oft ein Funke des Spotts in seinen Augen glomm, »auf dem Gebiet der Bildung werden die Fähigkeiten Ihrer Enkelin mehr als ausreichend sein.« Helenus runzelte die Stirn und schüttelte langsam den Kopf. »Ich fürchte, Sie haben recht, Monsieur. Die Verbindung mit dem Hause Vendöme, dem der Herzog de Beaufort entspringt, ist eine sehr ehrenhafte, doch geistreiche Gespräche werde ich mit meinem zukünftigen Schwiegerenkel wohl nie führen können.« *10
Isabelle glaubte sich verhört zu haben. Ihre Zurückhaltung war vergessen. »Beaufort? Ich soll mit dem Herzog de Beaufort verheiratet werden?«, platzte es aus ihr heraus. »Monsieur mon pere, habe ich Ihre Worte richtig gedeutet?« »Das haben Sie«, nickte Helenus kurz. »Ich stehe diesbezüglich seit längerer Zeit mit Monsieur le Prince in Verbindung. Der heutige Besuch von Monsieur de La Rochefoucauld besiegelt das Vorhaben.« Er drehte sich halb zu Raphael de Branne um. »Am besten Sie entwerfen noch heute einen Vorschlag für den Ehevertrag, Branne, damit ich ihn in Ruhe durchsehen kann. Wenn alles gut läuft, Monsieur de La Rochefoucauld, könnten wir uns am Ende dieses Monats im Palais du Luxembourg zur Verlobung treffen.« »Ende dieses Monats?«, rief Isabelle aus. »Aber das ist bereits in zehn Tagen!« »Mademoiselle ma fille, ich wüsste nicht, was eine Zeitspanne von ein oder zwei Wochen für einen Unterschied macht«, entgegnete Helenus beißend. »Von Ihnen wird schließlich nichts anderes verlangt, als sich ansprechend zu kleiden und präsent zu sein. Dafür dürften zehn Tage Vorbereitung ausreichend sein.« La Rochefoucauld räusperte sich erneut. Offenbar fühlte er sich zunehmend unwohl in seiner Haut. »Monsieur, Mademoiselle, Sie müssen meine Unhöflichkeit entschuldigen, doch ich muss Sie nun verlassen.« Er ließ sich von Beautru in seinen Mantel helfen. Kurz darauf verabschiedete er sich - eine Spur zu hastig, wie Isabelle fand. Helenus schickte Branne hinaus, um an dem Vertrag zu arbeiten. »Auch Sie dürfen sich nun zurückziehen«, warf er Isabelle zu. »Ich benötige Sie nicht mehr.« »Nicht?«, stieß Isabelle aus. »Darf ich fragen, weshalb Sie mich überhaupt rufen ließen?« »Nun, jeder der Vertragspartner hat ein Anrecht auf Anschauung des Vertragsgegenstandes, ma fille. La Rochefoucauld kam, um im Namen von Monsieur le Prince um Ihre Hand zu bitten, und da war es nur höflich ihm gegenüber, Sie in seiner Anwesenheit dazuzubitten.« Isabelle hätte ihrem Großvater liebend gerne mitgeteilt, was sie von seiner Höflichkeit hielt. »Wenn es so ist«, fragte sie stattdessen gereizt, »darf ich wohl davon ausgehen, dass auch ich noch einmal meinen Verlobten zu Gesicht bekomme, bevor der Vertrag unterzeichnet wird?« Helenus warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Wozu soll das gut sein? Vertragspartner bin ich in diesem Fall, nicht Sie, auch wenn Ihr Name auf dem Papier stehen wird. Es geht um eine strategische Allianz zwischen den Häusern Vendòme und Noirlieu. Monsieur de Beaufort sowie Ihre Wenigkeit sind nur die Pfeiler, auf welche die Brücke sich stützen wird, die unsere beiden Familien verbinden soll. Und selbst diese Brücke wird nur eine von mehreren Verbindungen sein, die letztendlich Monsieur le Prince de Condé und Gaston d'Orléans vereinen sollen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass Ihre Vorlieben und Wünsche sich neben einem solchen Vorhaben lachhaft ausnehmen.« Isabelle riss die Augen auf. Trotz ihres Zorns konnte sie nicht umhin, so etwas wie Ehrfurcht zu empfinden vor der Tragweite des Plans, der hier von ihrem Großvater angedeutet wurde. »Monsieur le Prince will sich mit Gaston d'Orléans, mit dem Onkel des jungen Königs verbünden? Gegen die Regierung, gegen Mazarin?« Helenus nickte langsam. »Nachdem Monsieur le Prince seit nunmehr einem Jahr vergeblich mit Mazarin verhandelt und diesen zu bewegen versucht, ihn zu entlassen, ist er zu dem Schluss gekommen, dass nur ein Kraftakt ihn aus seiner Zelle in Le Havre befreien kann.« Er fügte nachdenklich und wie zu sich selber hinzu: »Der Herzog d'Orléans repräsentiert eine kolossale Kraft. Seine Geburt stellt ihn schließlich als einen der ersten Anwärter auf den Thron auf. Er wird vom Volk geliebt, vom Parlament respektiert. Und sein Amt als Generalleutnant Frankreichs würde seinem Wort erhebliches Gewicht verleihen, sollte er die Freilassung von Monsieur le Prince fordern.« Er entnahm eine elfenbeinerne Statuette aus dem Sekretär, vor dem er gerade stand, musterte sie eingehend mit seinem scharfen, an einen Raubvogel erinnernden Blick. »Ein kluger Schachzug ist das, wenn er denn gelingt. Ein sehr kluger. Doch wie bei jedem Schachzug ist es
essenziell, dass der Gegner nicht erfährt, was man plant. Auch müssen wir über das Vorhaben striktes Stillschweigen wahren. Das ist Ihnen hoffentlich klar, Mademoiselle ma fille?« Isabelle presste die Lippen aufeinander. Sie machte ein paar Schritte, dachte nach. Heiraten ... Natürlich war Heiraten ein Be 11
griff, über den jede Frau in ihrem Alter nachdachte. Aber so plötzlich? Und dann Beaufort? Beaufort war gewiss der schönste Mann, den sie kannte. Blonde, dichte, mit dem Brenneisen gelockte lange Haare, sehr blaue Augen, ein Porzellanteint und ein einnehmendes, bereitwilliges Lächeln. Man munkelte, Beauforts Geist und seine Bildung stünden weit hinter seinem Aussehen zurück - auch Helenus hatte vorhin so etwas angedeutet. Doch das konnte Isabelle nicht beurteilen, da sie selber nie mehr als ein paar höfliche Worte mit Beaufort gewechselt hatte. Stolz wurde Beaufort nachgesagt, er ging keinem Duell aus dem Weg und war ein Meister in allen körperlichen Übungen. Doch diese Charakterschwäche, sofern es denn eine war, wurde in den Salons mit Nachsicht zur Kenntnis genommen. Schließlich war Francois de Beaufort der zweite Sohn von Cesar de Vendome, einem legitimierten Sohn vom verstorbenen König Henry IV und einer seiner zahlreichen Geliebten. Wenn man der Enkel eines so verehrten Königs war, durfte man im Bezug auf die Ehre wohl etwas empfindlich sein, so die allgemeine Meinung. Was Beauforts politische Ambitionen betraf, so waren diese Isabelle unklar. Beaufort war einer der vielen Höflinge, die sich vom Minister Mazarin um das geprellt fühlten, was ihnen durch ihre Geburt oder ihre Verdienste zustand. Von den vielen Lastern, die Mazarin angehängt wurden, waren grenzenlose Ambitionen, Gier nach Reichtum und Geiz ein nicht geringer Teil. Mazarin hatte heftig mit den Ellenbogen gespielt in den letzten Jahren - und dabei auch den schönen blondgelockten Königsenkel aus dem Umfeld von Annes Regentenstuhl geschubst. Beaufort hatte sich daraufhin einer anderen Macht zugewandt - dem Onkel des noch unmündigen Königs. Seitdem schien Gaston d'Orléans keinen getreueren Gefolgsmann zu haben. Isabelle seufzte. Alles in allem schien Beaufort nicht der schlimmste Edelmann, dem man sie hätte versprechen können. Dennoch fühlte sie sich bei dem Gedanken an diese Heirat unwohl geschweige denn, dass es ihr gelungen wäre, so etwas wie Freude zu empfinden. Doch die Pläne, in die sie ohne ihr eigenes Zutun so plötzlich verwickelt wurde, schienen ihr keinen Ausweg zu lassen. z11
»Sie sprachen von mehreren Verbindungen, Monsieur pere. Darf ich fragen, worüber noch verhandelt wird?« Helenus stellte die Statuette wieder an ihre Stelle zurück. »Mademoiselle ma fille, geheime Verhandlungen haben nun einmal die Eigenart, geheim zu sein. Es ist unüblich, sie im Familienkreis zu erörtern.« Isabelle hob das Kinn. »Monsieur de Beaufort ist ein Anhänger von Gaston d'Orleans, das ist richtig, und durch eine Verbindung zwischen unseren beiden Häusern würden die Condes und die Orleans sich näher kommen. Doch der Onkel des Königs und Monsieur le Prince stehen sich in der Thronfolge zu nahe, um nicht ewig Rivalen zu bleiben. Um beide Familien tatsächlich eng aneinanderzuketten, bedürfte es einer direkten Vermählung ihrer Erben. Der Herzog d'Orleans ist mit Töchtern reich gesegnet, und der Sohn von Monsieur le Prince ist mit seinen sieben Jahren alt genug, um verlobt zu werden. Außerdem gibt es da noch den Bruder von Monsieur de Conde, der noch immer ledig ist...« Helenus de Faurepas hob Einhalt gebietend die Hand. »Genug der Hirngespinste!«, sagte er fest, wenn auch nicht ganz so barsch, wie es sonst oft seine Art war. »Wollen Sie Ihren Scharfsinn unter Beweis stellen? Unser Gast fand vorhin freundliche Worte für Sie. Das dürfte ausreichen. Zu viele Komplimente verderben den Charakter.« Er rieb sich die Mundwinkel, und Isabelle vermeinte, ein Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen. Sie trat beherzt einen Schritt auf ihren Großvater zu. »Monsieur mon pere, diese Heirat...« Helenus' zerfurchtes Gesicht verschloss sich. »Diese Heirat wird stattfinden. Es gibt keinen Weg daran vorbei. Ich stehe mit meiner Ehre dafür ein, mein Monsieur le Prince gegebenes Wort zu halten.« Isabelle spürte, wie ihr Nacken erglühte. Ehre ... Wie eine Drohung schwebte das Wort zwischen ihnen. Helenus' Ehre war sein höchstes Gut. Sie wusste, dass er bereit war, ihr alles zu opfern. »Aber...«
»Mademoiselle ma fille, wie ich schon vorhin zu Monsieur de La Rochefoucauld sagte: Ich ließ Ihnen eine hervorragende Bildung zukommen - weder meine zwei verstorbenen Söhne noch Ihre Mutter 12
haben so viel Zeit mit ihren Lehrern verbracht wie Sie. Ich hoffte, Sie so vor den Fehlern und Torheiten zu bewahren, die Ihre Mutter beging - und die sie letztendlich das Leben kosteten.« Helenus ließ Isabelle nicht aus den Augen. »Sie verstehen die Hintergründe, ma fille, Ihr Geist ist scharf genug, um zu erkennen, wie zwecklos ein Rebellieren unter den gegebenen Umständen wäre - nicht wahr?« Er betrachtete Isabelle, bis diese den Kopf senkte. Als sie den Raum ihres Großvaters verließ, hatte sie das Gefühl, ein kaum tragbares Gewicht sei auf ihren Schultern abgeladen worden.
*
Es war dunkel in dem Raum, in dem der Lakai Philippe zu warten geheißen hatte. Doch es war eine nach Wachs duftende, wohlige Dunkelheit, hervorgerufen von erlesenen Hölzern und dickem Brokat. Es dämmerte bereits. Philippe hatte vergessen, wie kurz die Tage im Januar in diesen Breitengraden waren. Er strich über eine stoffbespannte Truhe, die über und über mit bunter Petitpoint-Stickerei verziert war. Die exotischen Blumen und Vögel leuchteten wie Erinnerungen. Wo war er letztes Jahr um diese Zeit? Sofort spürte er Wärme auf der Haut, und grelle Sonnenstrahlen versengten seine geschlossenen Lider. Er riss die Augen auf, schöpfte tief Luft. Wie göttlich doch dieses Dämmerlicht war! Das Dämmerlicht der Freiheit. Und dennoch ... Er rollte unwillkürlich die Schultern. Ja, sicher, die Wunden waren verheilt. Schon seit Monaten. Er konnte seine Glieder bewegen. Er konnte diesen Raum verlassen, diese Stadt, dieses Land, wann immer er es wollte. Doch war das alleine Freiheit? Konnte man sich frei nennen, bevor ein Versprechen erfüllt, ein Verrat bestraft, Versäumtes nachgeholt worden war? Er hatte seinen Leinensack auf einem Nussbaumstuhl mit hoher Lehne abgelegt. Seine Hand blieb auf dem derben Stoff liegen. Da drinnen lagen sie ... Er konnte ihre Unebenheiten spüren, trotz des Leders, in die er sie geschlagen hatte. Dann richtete er sich auf. z12
Nein. Noch war er nicht frei. »Sind Sie der Herr, der mich zu sprechen wünscht?« Philippe drehte sich mit einem Ruck herum, die Hand bereits am Gürtel, sofort den altbekannten Schmerz der Anspannung in der Kehle. Als er sah, wer sich ihm genähert hatte, atmete er auf. Er ließ seine Rechte wieder von seiner Hüfte gleiten und hoffte, dass der Mann seine Reaktion nicht bemerkt hatte. Er verbeugte sich knapp. »Oui, Monsieur. Philippe de Rochastre.« Der Mann blickte auf, runzelte die Stirn. Er hatte ein langes Gesicht und einen schmalen, aber breiten Mund, um den der Hochmut tiefe Kerben geschlagen hatte. »Octave de Pleinpont. Enchante«, antwortete er langsam. Seine schweren Augenlider schlugen träge. »Nun, was oder wer führt Sie zu mir?« »Ihre Leidenschaft, Monsieur.« Der Vicomte Octave de Pleinpont begnügte sich, eine Braue zu heben. Philippe fuhr fort: »In der Postkutsche, mit der ich heute anreiste, wurde Ihr Name als der eines der engagiertesten Sammler der Stadt gepriesen. Hat man mich richtig unterrichtet?« »Hmm. Sehr schmeichelhaft. Nun, es kommt darauf an, was Sie zu bieten haben. Denn das ist es doch, weshalb Sie hier sind, nehme ich an?« Der Vicomte machte eine wegwerfende Bewegung. »Antike Münzen und Gravuren interessieren mich nicht. Das ist von Menschenhand hergestellter Firlefanz. Den überlasse ich anderen.« Er taxierte Philippe. »Sie sehen wie ein weit gereister Mann aus. Ich nehme an, dass diese Postkutsche nicht nur aus Lyon kam. Das lässt mich hoffen.« Philippe antwortete nicht, knöpfte aber den Kragen seiner abgewetzten Jacke bis zu seiner Brust auf. Er holte das Ledertäschchen hervor, das um seinen Hals hing. Als er es seinem Gastgeber hinhielt, fühlte er, wie die Anspannung seine Finger versteifte. Es kostete ihn Überwindung, das Täschchen loszulassen. Was er hier aus der Hand gab, war sein kostbarster Besitz. Octave de Pleinpont fingerte an dem Kordelzug, der die Tasche verschloss, und ließ deren Inhalt auf seine offene Handfläche rollen.
Er stieß einen erstickten Laut aus, machte einen kleinen Schritt zurück. »Das ist...«Er eilte zu einem der beiden Fenster und hielt die rundliche Form in das Licht. »Jean! Kerzen, und zwar schnell!«, rief 13
er in den Raum. Als ein Diener mit einem Leuchter erschien, hatte Pleinpont an der gänseeigroßen Kugel bereits gerochen, hatte sie befühlt und versucht, durch sie hindurchzublasen. Nach einer letzten, eingehenden Studie bei Kerzenschein, drehte er sich Philippe wieder zu. »Ein echtes Exemplar, wie mir scheint.« »Das ist es.« Philippe hatte die Reaktionen seines Gastgebers sehr genau verfolgt. »Aus dem Okzident?« »Es ist ein echter orientalischer Bezoar, Monsieur. Er stammt von einer persischen Ziege.« »Woher haben Sie ihn?« »Von einem Jungen in Algier.« »Also kam die Postkutsche wirklich von weiter als Lyon«, lächelte Pleinpont dünn. »Von sehr viel weiter, Monsieur.« »Sie waren selber im Reich der Ungläubigen?« »Ich habe nicht vor, Sie mit meiner Lebensgeschichte zu langweilen«, antwortete Philippe kurz angebunden. »Haben Sie Interesse an dem Stück?« »Interesse?« Pleinpont bleckte die Zähne. Sie waren lang und gelb. »Monsieur, genauso gut könnten Sie mich fragen, ob ich daran interessiert bin zu leben! Aber ich werde es Ihnen nicht abkaufen.« »Aber...« Octave de Pleinpont sah ihn prüfend an. Zum ersten Mal fiel etwas von seinem Hochmut ab. Seine schweren Lider hoben sich und deckten bemerkenswert grüne Augen auf. »Hören Sie, Monsieur, Sie beehren mich mit diesem Angebot. Sie haben mir mit Ihrem Besuch bewiesen, dass Sie mir vertrauen. Ich werde Ihnen deshalb die Wahrheit beichten: Ich kann Ihnen dieses Stück nicht bezahlen.« Er lächelte erneut sein dünnes Lächeln. »Es liegt schlicht und ergreifend außerhalb meiner Möglichkeiten.« Langsam, fast andächtig drehte er den Bezoar zwischen seinen langen gepflegten Fingern. »Ich weiß nicht, ob Sie sich über den Wert dieses Objektes völlig im Klaren sind. Ich selber habe noch nie einen Bezoar dieser Güte in dieser Größe gesehen.« Er suchte Philippes Blick. »Das Pulver von orientalischem Bezoar wird in den Apothe 13
ken zu zehn Mal sein Gewicht in Gold gehandelt. Und dieses ist ein Sammlerstück. Zu schade, um es zu zerstören.« Er ließ die Kugel geschickt in seiner Hand hüpfen. Sein Lächeln verbreitete sich. Dann legte er den Schatz sachte und sichtlich bedauernd in Philippes Hand zurück und sagte knapp: »Sie werden sich an höhere Stelle wenden müssen.« Philippe atmete tief ein. Er betrachtete seinen Gastgeber prüfend. »Können Sie mir raten, wen ich in dieser Angelegenheit ansprechen kann?« »Es gibt zwei Sammler in Paris, die Ihnen Ihr Kleinod werden abkaufen können. Der eine ist Monseigneur Gaston d'Orleans, der Onkel unseres jungen Königs. Der andere ist Seine Eminenz, Cardinal Jules Mazarin, unser erster Minister.« Philippe runzelte die Stirn. Pleinpont fuhr fort: »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber Sie erwähnten eben nur kurz Ihren Namen. Sie sagten Rochastre. Sind Sie mit den Vigueil de Rochastre aus der Champagne verwandt?« »Ja, in der Tat.« Philippe hob den Kopf. Er hielt Pleinponts Blick fest, als er fragte: »Kennen Sie meine Familie, Monsieur?« »Nicht direkt, nein.« Der Vicomte schlug die Lider nieder. Er machte eine vage Geste. Seine Stimme klang verändert, als er sagte: »Nur vom Hörensagen ... Es ist schon viele Jahre her.« Philippe fühlte, wie seine Muskeln sich anspannten. Er zwang sich zur Ruhe. Nun was? Ihm war klar gewesen, dass man ihn früher oder später auf seine Vergangenheit hin ansprechen würde. Warum also nicht gleich? Er würde sich an die Blicke gewöhnen müssen, an die Andeutungen, an das vieldeutige Schweigen. Er musste über alldem stehen, wenn er an sein Ziel gelangen wollte. Hatte er nicht gelernt, das, was ihn am empfindlichsten traf, zu ignorieren? Er wollte sich gerade mit einer knappen Verbeugung entfernen, als Pleinpont erneut das Wort ergriff. »Darf ich fragen, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Monsieur, für wen Sie sich entschieden haben?« Philippe sah ihn fragend an, und er erläuterte: »Werden Sie den Bezoar dem Herzog d'Orleans oder Seiner Eminenz vorstellen?« Philippe zog die Stirn kraus. Auf einmal hatte er das Gefühl, eine Prüfung bestehen zu müssen.
14
»Für Gaston d'Orleans«, antwortete er fest und ohne weiter nachzudenken. Es schien die richtige Antwort zu sein. Über Pleinponts Lippen huschte ein Lächeln, er nickte kaum merklich.
Zwei Die Fantasie könnte nicht so viel Widersprüchlichkeiten ersinnen, wie im Herzen jedes Menschen angelegt sind. Januar 1651
»Mademoiselle, schauen Sie!«, rief Marion. Isabelle drehte sich um. Drei Zimmermädchen standen im Raum. Jede hielt eines von Isabeiles schönsten Kleidern vor sich. »Was soll das?«, fragte Isabelle stirnrunzelnd. »Sie sollten eines aussuchen, Mademoiselle«, antwortete Marion und drehte die Mädchen dem Licht zu. »Welches möchten Sie zu Ihrer Verlobung tragen?« Isabelle wedelte mürrisch mit ihrer Haarbürste. »Du kannst selber eins auswählen. Es interessiert mich nicht!« Die Zimmermädchen warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Marion ließ einen ungeduldigen Seufzer hören. »Nein. Ich kann das nicht für Sie tun, Mademoiselle. Nicht zu diesem Anlass!« Sie schüttelte den Kopf. »Seit Tagen frage ich Sie bereits, was Sie heute anziehen möchten. Sie sind mir ständig ausgewichen. Nun aber führt kein Weg mehr daran vorbei. Monsieur le Duc hat schon Befehl gegeben, die Kutsche anspannen zu lassen!« Isabelle zerrte zornig an einem Knoten, der sich in ihren langen Locken eingenistet hatte. Schließlich schleuderte sie die Bürste auf ihr Bett* »Ja, Herr im Himmel, nimm irgendeines, und zieh es mir an! Du hast doch sonst zu allem eine Meinung!«, fauchte sie. Marions Lippen wurden schmal. Sie bekreuzigte sich würdevoll, - hob das Kinn. »Ich weiß nicht, was Sie mit diesem Fluch andeuten wollen, Mademoiselle, und ich glaube auch nicht, dass sich unser Herrgott besonders gerne beleidigen lässt. Wenn Sie mit meinen Diensten unzufrieden sind, bitte ich Sie, es mir deutlich zu sagen.« Isabelle betrachtete ihre Zofe. Sie kannte sie schon seit vielen Jahren - gleich zu Anfang hatte man Marion in ihren Dienst beordert, 14
und sie empfand echte Zuneigung für die dunkelhaarige Frau. Sie mochte scharfzüngig sein und eitler als eine Spitzenhändlerin. Doch ihre Treue und Ergebenheit waren über alle Zweifel erhaben. Isabelle seufzte auf. »Nein ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Du hast recht, Marion. Ich weiß, ich bin seit Tagen unausstehlich.« Marion hob eine Braue und genoss sichtbar Isabeiles Eingeständnis. »Seit von dieser Verlobung die Rede ist«, nickte sie. »Man könnte glauben, Monsieur le Duc habe Sie einem gichtigen alten Lüstling versprochen, so, wie Sie sich benehmen! Dabei schwärmt ganz Paris von Ihrem Bräutigam!« Sie hob die Hände. »Monsieur de Beaufort! Der schönste Mann der Stadt! Der König der Halles!« Isabelle musste trotz ihrer schlechten Laune kichern. »Was sagst du da? Der König der Halles?« »Kennen Sie den Spitznamen vom Duc de Beaufort nicht?«, fragte Marion überrascht. Hoheitsvoll meinte sie: »Ein ehrenvoller Name. Die Marktfrauen der Halles sind die schlimmsten Vetteln der Stadt und nicht ohne Einfluss. Es will schon etwas heißen, wenn sie jemanden in ihr Herz schließen!« Isabelle wurde wieder ernst. Ein Marktkönig. War sie besonders schwierig, weil sie sich nicht für einen Mann begeistern konnte, der die Marktfrauen ins Schwärmen brachte? Sie biss sich voller Reue auf die Lippen. Sie war wirklich die Letzte, die berechtigt war, Hochmut an den Tag zu legen. »Also gut«, sagte sie ergeben. »Ich schlage Folgendes vor: Du gehst mit den Mädchen zu Monsieur le Duc und lässt ihn an meiner Statt entscheiden. Ich werde anziehen, was er für richtig hält.« Marion war anzusehen, dass sie die Lösung nicht befriedigte, doch sie widersprach nicht. Mit einer herrischen Geste fegte sie die Zimmermädchen zusammen in Richtung Tür. Innerhalb von ein paar Sekunden war die ganze Schar in einem Rauschen von Taft und Spitze verschwunden. Isabelle hörte die Zimmermädchen noch im Flur kichern, dann war Stille. Sie sah sich etwas verloren im großen Raum um. Es war ungewohnt, alleine zu sein. Ihr Zimmer war wegen der Vorbereitung auf ihre Verlobung arg in Unordnung geraten. Hüte und Schleier lagen
15
bereit, Spitzentücher bildeten saubere Stapel, Unterröcke plusterten sich auf ihrem Bett auf, Schuhe in allen möglichen Farben standen wie sprungbereit in einer Truhe, die vorhin eigens hineingeschleppt worden war. Isabelle erspähte ihr Frühstückstablett, das verlassen auf einem kleinen, dreifüßigen Beistelltisch wartete. Sie hatte heute noch nichts gegessen, der Appetit war ihr bei dem aufgeregten Getue vergangen. Doch der Tag würde noch lang sein. Sie stieg über ein blaues Seidenband, das sich auf dem Boden kringelte, und näherte sich dem Tablett. Zum Sitzen fehlte ihr die Ruhe, sie schob im Stehen das hauchdünne Porzellandeckelchen beiseite, das die eingemachten Kirschen vor ihren Blicken verbarg. Zimtduft schlug ihr entgegen. Genüsslich schob sie sich eine entkernte Frucht in den Mund. Sie sandte Timoléon einen warmen Gedanken zu. Perfekt, wie immer! Erst als sie zum zweiten Mal ihren Löffel in die Schale tauchte, fiel ihr das Papier auf, das sich halb unter dem Tablett verbarg. Sie zog es neugierig hervor. Ein Brief. Ihr Name war darauf. Weshalb lag er hier, mitten in diesem Durcheinander? Sie legte den Löffel beiseite, brach das Siegel auf. Ein paar Zeilen sprangen ihr entgegen. Schwarze Tinte, eine unbekannte Schrift von spitzer Eleganz. »Mademoiselle«, las sie, »die Wahrheit darf nicht länger verhöhnt werden. Man kann seine Herkunft nicht verleugnen - oder man wird daran zugrunde gehen. Reden Sie mit Monsieur und Madame de Noirlieu. Und kommen Sie in zwei Tagen in die Hauskapelle zur Morgenandacht.« Die Unterschrift fehlte. Isabelle keuchte, schnappte nach Luft. Ein Pochen, nein, ein Dröhnen in ihren Ohren. Sie streckte eine zitternde Hand aus, suchte Halt am Tablett - es rutschte ab, kippte, fiel mit einem Poltern zu Boden. Isabelle stolperte über ein Stuhlbein. Es gelang ihr gerade noch, auf die Sitzfläche zu fallen, bevor ihre Beine versagten. »Doux Jesus, was ist denn hier geschehen?«, erklang es in diesem Augenblick entsetzt von der Tür. Isabelle fuhr zusammen. Marion drang in den Raum, gefolgt von dem Zimmermädchentrio. Marions flinker Blick erfasste im Nu das Tablett, die rote Pfütze der Kirschen auf dem Holzboden, das zerbrochene Geschirr. »Also, wenn Sie Ihre schlechte Laune am Porzellan auslassen wollen ...«, fing sie an, doch kaum hatte sie Isabeiles Gesicht erspäht, rief sie aus: »Ist Ihnen 15
schlecht geworden? Mon Dieu, mon Dieu ...« Sie sprang hinweg, um das Riechfläschchen zu holen. Was dann passierte, ging in einen Nebel über. Isabelle sollte sich später nur noch erinnern, dass sie den Brief hastig in der Tasche ihres Kleides verbarg, dass Hände sie anfassten, ihr die Schläfen mit irgendetwas Scharfriechendem einrieben, während sorgenvolle Stimmen sie umschwebten. Sie merkte, wie ihre Schwäche verschwand, doch stattdessen legte sich etwas Schweres, unsäglich Schweres auf ihre Brust. Sie wurde auf die Beine gestellt, ausgezogen, musste in das jadefarbene Kleid steigen, dass Helenus für sie ausgesucht hatte. Sie wurde frisiert, parfümiert, geschminkt. Perlen legten sich um ihren Hals. Schuhe wurden ihr übergestreift, Handschuhe, darüber kostbare Ringe, ein schweres Armband, das kalte Blitze sandte. Ein weicher Pelzmantel legte sich um ihre Schultern, Isabelle zog ihn sich schutzsuchend über. Und schließlich der Schleier, der wie ein Vorhang über ihr erstarrtes Gesicht fiel und ihr endlich erlaubte, von der Ausdruckslosigkeit zu lassen, an die sie sich so verzweifelt klammerte. Als man sie aus dem Raum schob, leistete sie keinen Widerstand. Ihr Großvater wartete schon auf sie. »Mademoiselle ma fille, Sie sehen blendend aus.« Er nickte ihr zu. »Sie werden das Noirlieussche Haus würdig vertreten.« Sie sah zu ihm auf. Nie ... Nie werde ich es ihm sagen können, dachte sie, und ihr Herz raste erneut in Panik. »Alles in Ordnung?«, fragte Helenus. »Mais oui, alles bestens«, lächelte Isabelle. Conrad de Branne verfolgte die Abfahrt der Kutsche. Er stand noch lange dort, die Fäuste in den Taschen seines Mantels verborgen, selbst, als der Vierspänner schon längst vom regen Betrieb des Fau-bourg Saint Germain verschluckt worden war. Er zog den Kopf in die Schultern, sog die frostige Januarluft ein. Die Sonne ließ die feinen Eiskristalle funkeln, die über Nacht auf den Steinen, den Statuen und dem Pflaster gewachsen waren. Er presste die Augen zu, versuchte, die Kälte in sich aufzunehmen. 15
Versuchte, sich zu beruhigen. Als ein Schauer seine Wirbelsäule hinunterjagte, drehte er brüsk ab und kehrte in das Haus zurück. Erst als er bereits auf der Schwelle ihres dunklen Vorzimmers stand, wurde ihm bewusst, wohin ihn seine Füße getragen hatten. Der Geruch ihrer Haut, vermischt mit dem Parfüm, das sie bevor-
zugte und das an Orangenblüten erinnerte, hing noch in der Luft. Er sog diese ganz eigene Mischung in sich ein, blieb ein paar Sekunden stehen. Dann durchquerte er den Raum, ohne weiter zu zögern. Im Zimmer selbst herrschte ein großes Durcheinander. Überall lag Putz verteilt, und jedes Kleidungsstück sprach vom Reichtum seiner Besitzerin. Er sah sich um, doch außer Marion war niemand anwesend. Er schloss die Tür hinter sich. Die hübsche Zofe hatte ihn nicht bemerkt, und er blieb stehen. Marion schloss eine Truhe, faltete anschließend sorgfältig die hauchdünnen Brusttücher ihrer Herrin und stapelte sie exakt aufeinander. Danach nahm sie sich der Kleider an, die auf dem Bett lagen. Als sie auf dem Weg zum Vorzimmer an einem Spiegel vorbeikam, blieb sie stehen. Sie hielt sich das Kleid ihrer Herrin vor, legte den Kopf schief und musterte sich selbstvergessen. »Es steht dir ausgezeichnet«, lächelte Conrad. Marion fuhr zusammen. Verlegenheit und Hochmut wechselten sich auf ihren Zügen ab. Doch dann siegte ihre Eitelkeit, und sie warf ihm einen koketten Blick zu. »Findest du?« »Unbedingt.« Er trat von hinten an sie heran, strich mit einem Zeigefinger über ihren Nacken. Ihre schwarzen Locken umtanzten seinen Handrücken. Er schob sie zur Seite, küsste ihre warme Haut. Sie drehte den Kopf zu ihm zurück, lächelte. »Aber, aber, Monsieur de Branne, heute so ungeduldig? Noch sind es viele Stunden bis zum Abend ...« »Allzu viele«, gab Conrad ihr recht. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Marions Wangen waren gerötet. Sie hielt sich noch immer das blassblaue Kleid vor. Er spürte, wie sich etwas in ihm regte. »Zieh es an«, sagte er. Marions Augen wurden rund. »Anziehen? Aber ...« »Ich möchte dich darin sehen.« Seine Lippen liebkosten die Stelle hinter ihrem Ohrläppchen. »Was befürchtest du? Die Noirlieus wer 16
den viele Stunden abwesend sein. Wir haben alle Zeit der Welt.« Er legte die Arme über ihre Schultern, seine Hände wanderten bis zu ihrem Dekollete. »Allez, Marion, komm schon«, drängte er. Der Duft des blassblauen Kleides, das Marion an ihre Brust drückte, erreichte ihn. Seine Erregung stieg. »Zieh es an«, wiederholte er mit rauer Stimme. »Ich will dich einmal so sehen, wie meine Träume dich kleiden.« Und er wusste, dass seiner Stimme der unwiderstehliche Klang der Wahrheit zugrunde lag. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte zärtlich. »Was für schöne Sachen du immer sagst ...« Sie streichelte seine Wange. »Also gut. Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder da.« Während Marion sich im Nachbarraum umkleidete, lief Conrad unruhig im Zimmer auf und ab. Zum ersten Mal befand er sich alleine in diesem Raum, wo jeder Gegenstand, jedes Möbelstück, jedes Stück Stoff von der Persönlichkeit und den Vorlieben seiner Besitzerin erzählte. »Nun, schau her.« Marion war wieder erschienen. Sie stemmte die Hände in die Hüften, drehte sich einmal um die eigenen Achse, und der blassblaue Seidenstoff bauschte sich. Die Augen der Zofe glänzten. »Wie gefall ich dir?« Das Kleid steht ihr nicht, dachte Conrad sofort, während seine Lippen sich zu einem bewundernden Lächeln verzogen. Er schnappte sich einen der Hüte, die auf dem Bett lagen, wählte denjenigen mit der breitesten Krempe. »Umwerfend! Du siehst umwerfend aus!«, schwärmte er. Er trat an sie heran, setzte ihr geschickt den Hut auf und verdeckte damit einen guten Teil der dunklen Locken. Dann hielt er ihr eine Dreiviertelmaske aus hellem Samt hin. »Was denn?«, lachte Marion. »Willst du mich verstecken?« »Vor mir könntest du dich nie verstecken«, lächelte er und zog den Schleier herunter, der am Hut befestigt war. »Ich würde deine wunderbaren Augen überall wiedererkennen!« Er fasste sie an den Hüften, drehte sie erneut dem Spiegel zu. »Und jetzt, regardes!«, sagte er. »Sag mir, was siehst du?« Marion antwortete zunächst nicht, doch ihre Brust hob und senkte sich heftig. »Mon Dieu ...«, seufzte sie schließlich auf. »Mon Dieu, ich sehe aus wie sie.« Ein Gefühl, das gleichzeitig Triumph und Qual war, brandete in 16
Conrad hoch. Er schloss die Fäuste. Sein Atem beschleunigte sich, eine kaum zähmbare Erregung bemächtigte sich seiner. Marion wirbelte herum. »Ist es das?«, fragte sie schnell. »Ist es das, was du wolltest? Dass ich wie sie aussehe?«
Er lachte auf, und es klang wie ein Krächzen. »Wie sie? Wozu soll das gut sein?« Seine Hände fingen an, ihre Brüste zu liebkosen. »Ich möchte, dass du siehst, wie schön du bist. Dass du weißt, wie gut dir Seide steht...« Sein Mund redete weiter, formte schmeichelnde Sätze, obwohl sein ganzer Körper nur nach Erlösung schrie, mit einem Verlangen, dessen Wildheit ihn selber erschreckte. »Eine Dame, Marion ... Für mich warst du immer eine Dame ... Seit dem allerersten Mal...« Er fühlte, wie sich der Frauenkörper unter seinen Liebkosungen entspannte, und schob Marion gegen die Wand. »Edle Stoffe, Gold und Edelsteine ...«, flüsterten seine Lippen, während seine Hände den knisternden Stoff hochschoben. Er riss an seiner Hose, und er fühlte, dass auch Marions Erregung wuchs. Seine Begierde wurde bis ins Unerträgliche vom Duft des Kleides angestachelt. Er schloss die Augen, verbarg sein Gesicht im Stoff. Als er in sie drang und sein Verlangen sich endlich in einer Explosion löste, schrie er lauter auf als je zuvor. Seine Erregung verflog so schnell, wie sie entstanden war. Conrad ließ von Marion ab, befreite sich aus ihren Armen. Ihre Maske war verrutscht, ihr Blick entrückt. Sie versuchte, ihn wieder an sich zu ziehen, denn sie hatte noch keine Befriedigung gefunden, doch er konnte sich nicht mehr dazu überwinden, sie anzufassen. Der Zauber war verflogen. Marion rutschte zu Boden und verschaffte sich Erleichterung auf andere Weise. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr dabei zusah, doch heute empfand er keine Freude dabei. Er wandte den Kopf ab. Sein Blick fiel auf etwas, das am Boden lag - ein Brief. Er bückte sich, hob das gefaltete und reichlich zerknitterte Papier auf. Marion riss sich die schief hängende Maske vom Gesicht und stöhnte. Conrad vergewisserte sich, dass die Zofe ganz bei sich war, bevor er den Brief entfaltete. Er las die schwarzen Zeilen drei Mal. Dann sah er stirnrunzelnd auf. 17
Tausend Fragen schössen auf einmal durch seinen Kopf. Er drehte das Papier um. Nichts darin oder darauf ließ auf seinen Absender schließen. »Was liest du da?« Marion hatte begonnen, ihre Kleider zu ordnen. Offensichtlich hatte Conrad ihren Höhepunkt verpasst. Er lächelte sie an und faltete den Brief ohne Hast wieder zusammen. »Es ist ein Brief, er muss aus dem Kleid gefallen sein.« Er hielt ihr das Papier hin. »Am besten steckst du ihn wieder hinein.« »Und was steht drin?«, fragte Marion und kam wieder auf die Beine. Sie sah an sich herunter. »Heilige Jungfrau«, seufzte sie, »das Kleid ist in einem schrecklichen Zustand ... Ich muss es unbedingt plätten, bevor Mademoiselle Isabelle zurück ist! Ich hätte nicht auf dich hören sollen!« Wenn Marion hätte lesen können, hätte Conrad eine Ausrede erfunden, um ihr den Brief vorzuenthalten. So aber händigte er ihn ihr ruhig aus. Sie schob ihn in die Innentasche des Kleides. »Was steht drin?«, fragte sie abermals. »Du hast so fasziniert ausgesehen ...« »Nicht auf mich hören?«, fragte Conrad zurück. »Heißt das, du bereust, was geschehen ist?« Er legte seine Hand an ihre Wange, und sein Daumen liebkoste ihre Haut. Ein Lächeln huschte über Marions Lippen. »Nein, das weißt du doch! Ich habe es noch nie bereut, mit dir zusammen zu sein! In all den Monaten nicht ein einziges Mal!« »Jetzt solltest du dich wieder umziehen, falls die Noirlieus doch früher als gedacht heimkehren.« Er lächelte warm. »Ich möchte nicht, dass du meinetwegen in Schwierigkeiten gerätst!« Sie warf einen erschrockenen Blick auf die kleine Standuhr auf dem Kamin. »Du hast recht... Wartest du auf mich?« »Leider nein. Ich muss noch arbeiten«, seufzte er. Er verabschiedete sich mit einem Luftkuss und eilte aus dem Zimmer. Kaum hatte er den Flur erreicht, hatte er Marion auch schon vergessen. Die graue Echse starrte Isabelle mit einem einzigen ihrer konisch hervortretenden Augen an. Das andere fixierte einen Punkt, der irgendwo hinter ihr lag. 17
Fasziniert beugte Isabelle sich über das seltsame Tier, als ein hohles Geräusch sie aufschrecken ließ. Sie spähte zur Tür am Ende des Raumes, konnte dort aber keine Bewegung ausmachen. Dann gewahrte sie, dass La Rochefoucauld mit gezücktem Degen unter einem ausgestopften Krokodil stand, das an Eisenketten an der hohen Stuckdecke hing. Er klopfte mit der flachen Seite der Schneide auf den Panzer des riesigen Präparats. Erneut erklang das hohle Geräusch, und gelber Staub rieselte herab.
Isabelle musste trotz ihrer Anspannung lächeln. »Was machen Sie da?«, fragte sie. »Glauben Sie, es ist eine Art trojanisches Krokodil, und Königin Anne hat darin ein paar Männer der königlichen Garde versteckt?« »Keineswegs«, antwortete der Herzog mit ernster Miene. Er steckte seinen Degen wieder in die Scheide und wischte sich die gelben Staubkörnchen von den Schultern. »Ich habe meine Theorie bestätigt gefunden, dass aufregende Hüllen meist staubtrockene und langweilige Wesen bergen.« Isabelle lachte auf, und La Rochefoucauld fügte augenzwinkernd hinzu: »Und ich habe Sie aufheitern wollen. Nun bin ich ein rundum zufriedener Mann.« Isabelle wurde sofort wieder ernst. Fürwahr, es bedurfte heute noch etwas mehr als ein paar Bonmots, um sie auf andere Gedanken zu bringen! Erst dieser schreckliche Brief, der sie bis ins Mark erschüttert hatte und nichts weniger als ihre Existenz bedrohte, dann noch ihre kurz bevorstehende Verlobung, hier, im Luxembourg ... Unwillkürlich warf sie einen Blick auf die Tür am Ende des Kuriositätenkabinetts. Hinter diesen polierten Eichenpaneelen von Orleans Palais war Helenus vor geraumer Zeit verschwunden, nachdem er sie geheißen hatte, in La Rochefoucaulds Gesellschaft im Kuriositätenkabinett zu warten. Er führte die letzten Verhandlungen um den Vertrag, der anschließend unterschrieben werden würde. Das seltsame Tier mit den hervorstehenden Augen bewegte sich behäbig. Isabelle näherte sich ihm erneut, auf der Suche nach Zerstreuung. Sie las das kupferne Schild, das am offenen Käfig der kleinen Echse hing. Ein Chamäleon. Sie strich sachte mit dem Zeigefinger über dessen Flanke. Das Tier bewegte sich nicht. Seine Haut war rau. Eine gute, irgendwie tröstliche Empfindung. Ganz so, als berühre man die schwieligen Hände eines Bauern. Isabelle zuckte zu18
sammen. Eines Bauern? Verflixt, dachte sie verzweifelt, sie musste sich beherrschen! La Rochefoucauld deutete auf ein handgroßes Objekt. »Backenzahn eines Riesen, Fundort Sizilien«, las Isabelle laut vor, was auf dem daneben liegenden Kärtchen stand. »Das muss ich unbedingt Monsieur le Prince zeigen, wenn er aus Le Havre zurückkommt«, schmunzelte La Rochefoucauld. »Es wird ihn köstlich amüsieren!« »Glaubt Monsieur le Prince denn nicht an Riesen?«, fragte Isabelle zerstreut. »Es steht doch bereits im Buch Mose ...« La Rochefoucauld schüttelte den Kopf. In gedämpften Tonfall antwortete er: »Wenn Sie mich fragen, so glaubt Monsieur le Prince weder an Gott noch an den Teufel. Der Glaube an ihn selber füllt ihn aus und es reicht ihm, um seinem Leben einen Sinn zu geben.« Isabelle sah überrascht zu ihrem Begleiter auf, doch sie konnte keinen Spott auf seinen Zügen entdecken. Louis de Conde ... Das Schicksal dieses Mannes hatte plötzlich einen starken Einfluss auf ihr eigenes Leben bekommen. Was wusste sie über ihn? Stimmte es überein mit dem, was La Rochefoucauld andeutete? Nachdenklich glitt ihr Blick über eine Reihe dolchartiger Hai-fischzähne. Nach allgemeiner Überzeugung war der Prinz ein militärisches Genie. Sein Mut war legendär, ebenso seine Ungeduld und seine Leidenschaft. Eine Schlacht vor allem hatte ihn berühmt gemacht. Sie hatte vor acht Jahren stattgefunden. Conde war gerade einmal einundzwanzig gewesen. Es hatte schlecht um Frankreich gestanden damals. Französische Soldaten hatten an fast allen Grenzen zu kämpfen gehabt. Und König Louis XIII. war gerade verschieden. Das Land war führerlos gewesen. Der kleine Thronerbe zählte erst fünf Jahre, seine Mutter, die zur Regentin ernannt worden war, war unfähig, das Land zu regieren. Chaos und Unsicherheit drohten. Genau das wollte sich der spanische Feind zunutze machen und rückte mit seinen bunt gemischten, aus ganz Europa stammenden Soldaten nach Rocroy vor, ein Dorf an der Grenze zu den Niederlanden. Seit fast zwei Jahrzehnten dauerte damals bereits der Krieg gegen Spanien an. Wenn Conde die Schlacht von Rocroy verloren hätte, hätte niemand mehr die Invasoren auf ihrem Weg nach Paris aufhalten können, denn Reservetruppen waren nicht mehr vorhanden gewesen. Doch Conde hatte nicht verloren. Er hatte die überzähligen und übermächtigen Feinde entgegen aller Erwartungen vernichtend geschlagen. Anschließend wurde er nur noch der Held von Rocroy oder der Große Conde genannt. Bis die Mutter des kleinen, frischgebackenen Königs Louis XIV, Königin Anne, den Helden nach Paris holte. Sie hatte den Ruhm des Großen Conde für ihre eigenen Zwecke einsetzen wollen. Conde
hatte also angefangen, in der Politik mitzumischen. Und sich alsbald an einer anderen Art von Genie aufgerieben - am italienischen Genie der Verhandlungen und Winkelzüge, personifiziert in Annes erstem Minister, Jules Mazarin. Mazarin hatte es verstanden, Annes politische Ahnungslosigkeit auszunutzen, und sich ihr rasch unentbehrlich gemacht - so sehr, dass bald über die Beziehung zwischen der Königin und dem Minister die wildesten Gerüchte kursierten. Mazarin war geschickt vorgegangen, um sich Annes Zuneigung zu sichern, er hatte ihren Stolz berücksichtigt und es vermieden, sie jemals zu bevormunden. Nachgiebig, stets freundlich und entgegenkommend, so erschien Mazarin jedem, der ihn kennenlernte. Im Grunde seines Wesens aber war der Minister ein überaus ehrgeiziger und egoistischer Mann, der seine privilegierte Position bei der Regentin mit Zähnen und Klauen verteidigte. Condes Ankunft am Hof brachte sämtliche Alarmglocken des Ministers zum Läuten. Insbesondere, da das Volk dem Helden von Rocroy zujubelte - während er selbst in den Gassen von Verwünschungen und Schmährufen verfolgt wurde. Die Unzufriedenheit des Volkes wurzelte in der prekären finanziellen Situation des Landes. Der endlose Krieg forderte seinen Tribut, die Staatskassen waren leer. Trotz all seiner Bemühungen gelang es Mazarin nicht, den Haushalt auszugleichen. Staatsanleihen, Kürzungen der Renten, Verkauf von Ämtern, neuartige Steuern ... Bei jedem erneuten Versuch, Geld in die Staatskassen einzutreiben, hatte sich Mazarin weitere Feinde gemacht: die Bürgerlichen, die Rentner, die Amtsinhaber, die Grundbesitzer, die Händler. Es hatte Aufstände gegeben, nicht nur auf Initiative des Volkes 19
hin, sondern auch auf die des Parlaments, das eine Vertretung des reichen Bürgertums war. Weitere Unzufriedene gesellten sich dazu: Adelige, die sich von Anne zu wenig beachtet oder von Mazarin geprellt fühlten - wie Isabelles zukünftiger Ehemann, der Herzog Francois de Beaufort, zum Beispiel. Dieser bunte Zusammenschluss, der durch sämtliche Stände ging, organisierte sich und gab sich den Namen Fronde, in ironischer Anspielung auf die Schleuder, mit der die Gassenjungen Steine auf die ehrbaren Nacken der Bürgermiliz abfeuerten. Mazarin und Anne nutzten Condes Ruhm, um sich die Gunst des Volkes wieder zu sichern. Louis de Conde unterstützte die Regentin, indem er seine Truppen einsetzte, um die Aufstände zu unterdrücken. Ein paar Kämpfe fanden statt, Verträge wurden unterzeichnet. Conde schien damals am Gipfel seines Ruhmes, der Mann, zu dem die ganze Welt aufblickte, die eherne Säule, auf die sich das Königtum stützte. Er ahnte nicht, dass Mazarin bereits gegen ihn arbeitete, dass der Minister Anne immer wieder vor Augen hielt, wie gefährlich ein übermächtiger Conde sein könnte. Er erfuhr dabei unerwartete Unterstützung von Conde selbst, denn der Prinz, der sich seiner Position, seiner Herkunft und seiner Verdienste sehr bewusst war, legte eine immer unerträglichere Arroganz an den Tag. So kam es, dass, als die Fronde niedergeschlagen schien und wieder Ruhe in den Gassen von Paris eingekehrt war, Louis de Conde verhaftet wurde. Seitdem schmorte der Prinz im Gefängnis. All seine Versuche, mit Mazarin zu verhandeln, waren fehlgeschlagen - der Minister war allzu froh, seinen Rivalen außer Gefecht gesetzt zu haben. Isabelle runzelte die Stirn. »Unter welchem Vorwand wird Monsieur le Prince eigentlich festgehalten? Wessen beschuldigt man ihn?«, fragte sie, während ihre Finger den scharfen Grat eines Schaukastens entlangliefen. »Ha, genau das ist Mazarins Schwachpunkt, Mademoiselle!«, rief La Rochefoucauld aus. »Es gibt keinen Grund! Keine offizielle Anklage, von Beweisen ganz zu schweigen! Und dass Monsieur le Prince von königlichem Geblüt ist, lässt diese Zustände umso skandalöser erscheinen! Wissen Sie ...«, La Rochefoucauld schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf, «... ich bin überzeugt, dass der Prinz entlassen wird. Und wenn Mazarin so intelligent wäre, wie er 19
immer tut, würde er sich tunlichst den Vorteil sichern, Monsieur le Prince die Türen seiner Zelle geöffnet zu haben. Es würde ihm den Ruf eines milden, verzeihenden Mannes bescheren. Eines Ausländers, der sich zwar in Frankreich bereichert, aber dennoch Respekt vor dem französischen Königshaus hat.« Er zuckte lässig die Schultern. »Wenn Mazarin sich nicht beeilt, wird es zu spät für ihn sein. Die Verträge zwischen Monsieur le Prince und den Frondeurs werden heute und in den nächsten Tagen unterschrieben. Dann werden beide Parteien mit geballter Kraft Condes Entlassung fordern.« »Das heißt, es werden die Schreier auf die Straße geschickt - und das Volk aufgehetzt«, präzisierte Isabelle. Sie atmete tief ein. »Monsieur, ich will offen zu Ihnen reden: Es dünkt mich kein gutes
Omen für eine Ehe, wenn sie allein geschlossen wird, um den Nährboden für eine Revolte zu bilden.« »Mit Verlaub, Mademoiselle dArzelles«, antwortete La Rochefoucauld ernst, »das sehen Sie falsch. Diese Ehe soll geschlossen werden, um einem schreienden Unrecht ein Ende zu setzen. Auch Sie kennen das neue Gesetz, das Anne eigenhändig vor zwei Jahren unterschrieben hat, auf Forderung des Parlaments hin: Kein Mensch darf länger als vierundzwanzig Stunden gefangen gehalten werden, ohne seinem Richter vorgeführt zu werden. So steht es im Gesetzbuch. Und Monsieur le Prince, dem ersten Prinzen Frankreichs, wird seit einem Jahr verwehrt, was für jeden menschlichen Abschaum dieses Landes gilt.« Isabelle schwieg, doch ihr Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie nicht überzeugt war, denn der Herzog fügte lächelnd hinzu: »Außerdem ist es noch keineswegs sicher, dass es zu Aufständen kommt. Wir werden natürlich erst einmal verhandeln. Das Volk ist eine schwer zu manipulierende Kraft. Und keiner hat etwas davon, wenn Karossen geplündert und Edelleute auf der Straße belästigt werden.« Isabelle stieß der Zynismus ab, der aus La Rochefoucaulds Worten sprach. Die Verhandlungen wurden ihr immer mehr zuwider, und mit ihnen ihr zukünftiger Bräutigam. Sie dachte an Beauforts Spitznamen. Der König der Halles ... Kein Wunder, wenn Conde bestrebt war, sich einen Mann zu sichern, der vom Volk verehrt wurde. Sie stampfte unwillkürlich auf. 20
Ihretwegen sollte der Prinz alles in Bewegung setzen, um aus seiner Notlage zu gelangen. Aber weshalb sollte gerade ihre Zukunft das Pfand für Condés Freiheit sein? Das konnte und wollte sie nicht einsehen! Doch dann sprang der erpresserische Brief vor ihr inneres Auge, und auf einmal kamen ihr ihre Bedenken und ihre Abneigung gegen die bevorstehende Verlobung lachhaft vor. Sollte jemals ihr Geheimnis gelüftet werden, würde sich ihr Leben unendlich drastischer verändern, als wenn der schöne Beaufort ihr Ehemann würde! »Monsieur de La Rochefoucauld, Mademoiselle dArzelles, bitte entschuldigen Sie das Warten!« Eine kräftige junge Frau war unbemerkt in einem der beiden Türrahmen des Kuriositätenkabinetts erschienen. Isabelle und La Rochefoucauld brauchten nur einen Blick auf die vollen, roten Wangen, auf das blonde Haar und die beeindruckende Hakennase von Orléans' Tochter zu werfen, um in einer tiefen Reverenz zu versinken. »Sie werden erwartet«, winkte Mademoiselle, »kommen Sie mit.« Sie durchquerten zwei Räume, bevor sie in ein Zimmer gewiesen wurden, in dem ein halbes Dutzend Sessel und ein paar Beistelltischchen um einen Kamin gruppiert waren. Isabelle versuchte, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen, als sie mit erhobenem Haupt eintrat. Sie sah sich schnell um. Zwei der Sessel wurden von Gaston d'Orléans und ihrem Großvater in Anspruch genommen. Außer ihnen, Orléans' Tochter und François de Beaufort war niemand zugegen - noch nicht einmal ein Bediensteter. »Treten Sie näher, Mademoiselle dArzelles«, empfing Gaston d'Orléans Isabelle freundlich. Sie gehorchte und versank erneut in einen Hofknicks. Monsieurs gutes Aussehen litt unter einem beginnenden Doppelkinn und der Ruhelosigkeit seiner braunen Augen. Doch seine Züge waren ohne List, und das gerade besichtigte Kuriositätenkabinett zeugte von der Weltoffenheit und der Neugier seines Besitzers. Während Isabelle Monsieur prüfend ansah, wandte sich dieser ihrem Großvater zu. »Was für eine bezaubernde Erscheinung! Noirlieu, mon cher, Sie sind ein vom Schicksal verwöhnter Mann. Ich weiß von den Verlusten, die Sie erlitten. Doch Ihre Enkelin wird Sie für die drei Kinder entschädigen, die Ihnen genommen wurden.« 20
Isabelle erwartete eine sarkastische Antwort, doch zu ihrer Überraschung schüttelte Helenus langsam das graue Haupt. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen widerspreche, Monseigneur. Doch Kinder sind nicht zu ersetzen. Sie wachsen auf, man behütet und erzieht sie, versucht, rechtschaffene Menschen aus ihnen zu machen. Dann kommt die Enttäuschung.« Helenus kniff die Augen zusammen. Nachdenklich fuhr er fort: »Wahrhaftig, nichts hat mich in meinem Leben mehr enttäuscht als meine Kinder. Et pourtant... Sie bleiben unsere Kinder, egal was sie anstellen, und auch ihre schlechten Seiten sind aus uns geboren und ein Teil unserer selbst. Und wem ein Kind stirbt, der verliert unwiderruflich ein Stück von sich.« »Nun, dafür sehen Sie aber noch recht gut beisammen aus, Noirlieu!«, fiel der Herzog de Beaufort ein. Er lachte laut über seine Geschmacklosigkeit. Keiner der Anwesenden lachte mit, doch das
schien Beaufort, der eine Träne aus einem Augenwinkel wischte, nicht zu merken. Er bot einen umwerfenden Anblick in seiner veilchenfarbenen Jacke aus besticktem Tuch, die von gut drei Dutzend Perlmuttknöpfchen geschlossen wurde - Beaufort hatte schon immer gewusst, wie er seine hellen Locken und seinen frischen Teint am besten zur Geltung brachte. «Merci, sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Helenus trocken. Er wandte sich erneut d'Orléans zu. »Monseigneur, ich bin erfreut, dass Sie an meiner Enkelin Gefallen finden. Wie ich es vorhin darlegte, ist sie meine alleinige Erbin. Der Umfang ihres zu erwartenden Vermögens, der Ländereien, Titel und jährlichen Einkommen ist im Vertrag aufgeführt. Hinzu kommt ihre untadelige Abstammung. Es bedarf nur noch Ihrer Unterschrift, dann kann die Verlobung bekannt gemacht werden.« »Wunderbar.« Gaston d'Orléans kratzte sich am Hals. »Monsieur de Beaufort? Was sagen Sie?« »Nun ...« Francois de Beaufort räusperte sich, machte vor Isabelle eine kurze Verbeugung. »Charmant, äußerst charmant. Und, wenn ich mir erlauben darf... Perfekt, in allem.« Er zog ein schneeweißes Tuch aus seiner Jacke, wedelte lässig damit herum. »Ich muss sagen, ich bin sehr erfreut, dass Mademoiselle d'Arzelles blond ist.« Als er merkte, dass alle Anwesenden ihn verständnislos anstarrten, erklärte Beaufort ernst: »Ich selber bin auch blond, wie Sie 21
sehen. Eine schwarzhaarige Frau hätte ich nicht genommen. Ich will blonde Kinder haben.« Isabelle stöhnte innerlich auf, sah sich um. Helenus hatte die mächtigen Brauen zusammengezogen und fixierte seinen angehenden Schwiegerenkel so intensiv, als erwarte er die Pointe eines guten Scherzes. Orleans blickte an die Wand. La Rochefoucauld wippte auf seinen Absätzen und studierte das Parkett. Nur Mademoiselle wich Isabelles Blick nicht aus. Die korpulente junge Frau schnaubte auf und verzog verächtlich den Mund. »Schön, dass Sie so konkret Ihre Wünsche äußern, Monsieur de Beaufort!«, rief sie so unvermutet aus, dass alle zusammenfuhren. »Aber ich bin der Meinung, dass eine Frau genauso zu Wort kommen sollte wie ein Mann. Allzu oft werden die Herren von den weiblichen Reizen geblendet und übersehen den sprühenden Geist, der hinter der lockenden Fassade wohnt!« Mademoiselle, deren lockende Fassade Isabelle mehr an eine Trutzburg denn an einen Tempel des Amor erinnerte, starrte ihren Vater an, doch dieser überhörte die Provokation mit einer Souveränität, die von langer Übung zeugte. Mademoiselle fuhr fort: »Wir sollten also Mademoiselle dArzelles fragen, ob sie für die Unterschrift bereit ist.« »Dazu kann ich mich noch nicht äußern.« Isabelle schüttelte den Kopf. »Ich müsste zuerst Monsieur de Beauforts Füße sehen.« »Meine Füße?«, fragte der Herzog und blickte auf die Spitzenwolke, die aus seinem Schuhwerk quoll. »Ja, Ihre Füße, Monsieur«, antwortete Isabelle. Sie hob eine Braue und fuhr ernsthaft fort: »Vielleicht haben Sie ja Plattfüße. Einen Mann mit Plattfüßen könnte ich nicht akzeptieren.« Mademoiselle wieherte los. »Touche! Mademoiselle dArzelles, Sie gefallen mir!« »Meine Enkelin ist selbstverständlich mit meiner Entscheidung einverstanden«, beendete Helenus das Geplänkel in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Er stand auf. »Treten Sie näher, Mademoiselle ma fille.« Isabelle gehorchte, wenn auch widerstrebend. Er nahm ihre Hand, und Isabelle zuckte zusammen. Sie konnte sich nicht erinnern, Helenus je berührt zu haben. »Monsieur de Beaufort, hiermit vertraue ich Ihnen meine Enkelin an. Wir werden den Vertrag noch ein wenig geheim halten und auf den günstigs 21
ten Augenblick warten, um ihn zu veröffentlichen. Dann werden wir die Verlobung feiern.« Beaufort trat heran, ergriff Isabelles dargebotene Hand, führte sie an seinen Mund. Seine Augen leuchteten in reinem Azur, sein Atem lief über Isabelles Handrücken, sie konnte ihn durch die Spitze ihrer Handschuhe spüren. »Ich danke vielmals, Monsieur de Faurepas, und weiß die Ehre zu schätzen, die mir damit zuteil wird«, antwortete er höflich. Und an Isabelle gewandt, fügte er lächelnd hinzu: »Sie werden sehen, Isabelle, wir werden ein wunderschönes Paar abgeben.« Er lächelte. »Und was meine Füße angeht ... Sie sind, glaube ich, recht ansehnlich.« Isabelle blieb stumm. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie wollte antworten, nein, aufschreien, davonlaufen - doch alles, was sie fertigbrachte, war, ihrem Verlobten ihre Hand so schnell wie möglich zu entziehen.
»Mesdemoiselles, Messieurs«, begann La Rochefoucauld feierlich, »ich bin sonst kein Freund theatralischer Auftritte. Doch heute steht ein glücklicher Mann vor Ihnen.« Er machte eine Pause, atmete tief ein. Dann sah er in die Runde. »Ich glaube, wir sind uns endgültig einig geworden.« Auf einmal war es sehr still. Alle waren ernst. »Es ist ein großer Tag. Ein Tag, der der erste Meilenstein auf dem Weg zu einer Allianz ist, wie es sie in der Geschichte Frankreichs noch nicht gab. Viele ehemals verfeindete Familien haben beschlossen, sich zu vereinen, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Orleans, Conde, Conti, Chevreuse, Beaufort, Noirlieu: Ein paar der besten Häuser dieses Landes haben sich zusammengetan, um Frankreich nicht länger der Willkür eines machthungrigen Italieners zu überlassen. Und ich gestehe, ich bin stolz, an dieser Einigung mitgewirkt haben zu dürfen.« Er lächelte, machte eine Kunstpause und schloss: »Ich darf Sie bitten, sich nun zu den Tischen zu begeben und mit Ihren Unterschriften die Absprachen zu besiegeln.« Isabelles Herz klopfte wild. »Vive le Roi«, rief Beaufort. Alle zuckten zusammen. »Gott steh mir bei«, flüsterte Isabelle. 22
Philippe befand sich seit etwa einer halben Stunde in dem Kuriositätenkabinett von Gaston d'Orleans, und die Zeit war ihm nicht lang geworden. Er schmunzelte. Er war bis heute der Meinung gewesen, schon einiges gesehen zu haben, doch dies war eindeutig der bizarrste Raum, den er je betreten hatte. Es war ihm unmöglich gewesen, sich dessen zugleich morbider und wunderbarer Ausstrahlung zu entziehen. Eines war sicher, dachte Philippe, während seine Hand unwillkürlich an das Täschchen fuhr, das um seinen Hals baumelte, und seine Augen wieder einmal staunend durch den Raum flogen, Octave de Pleinpont hatte ihn zur richtigen Adresse geschickt. Sämtliche Mauern des Raumes waren mit großen gläsernen Schaukästen verstellt. Versteinerungen und Mineralien, ein übermannsgroßer, ausgestopfter Vogel mit stämmigen Beinen und winzigem Kopf, Leichenteile, grauenvolle Missgeburten und Embryos, die in scharf riechenden, gelblichen Flüssigkeiten schwammen, Hörner, Hauer, Stoßzähne, winzige Skelette und Knochen, die jede Vitrine sprengten, Wurzeln, die wie menschliche Körper geformt waren, streng duftende Kräuter mit Zauberkräften, Muscheln und fliegende Fische, Gürteltiere, Käfer und Schmetterlinge, Waffen und nach Tran riechende Haarteile von heidnischen Völkern drängten sich dicht an dicht, während die Decke von Seeungeheuern mit klaffenden Mäulern und schwarzen Augenhöhlen bevölkert wurde. Gottes Welt war voller Wunder, und in diesem Raum drängte sich jedem die Ehrfurcht vor Seiner schöpferischen Kraft auf. Sogar einen alten Bekannten hatte Philippe hier wiedergefunden. Er lächelte, als er im Käfig das Chamäleon entdeckte, doch dann überkam ihn eine seltsame Schwermut. Das letzte Mal, als er eine solche Echse entdeckt hatte, hatten sie sich durch das staubige Laubwerk eines verdörrten Busches angesehen, und die Luft um sie herum hatte geflimmert vor Hitze. Einen kurzen Augenblick lang war es Philippe, als spürten seine Füße noch die Last der eisernen Fesseln, die sie damals trugen. Unwillkürlich bewegte er die Beine. Er atmete tief und lange durch. Philippe langte in den goldenen Käfig, entzog ihm sachte das Chamäleon. Das Tier blieb eine lange Zeit auf seinem Handrücken ho5°
cken. Dann begann es mit behäbigen Bewegungen den Ärmel seiner laubgrünen Jacke zu erklimmen. In dem Augenblick trat die Frau herein. Philippe hob den Kopf, im Glauben, man wolle ihn nun zu Gaston d'Orléans vorlassen, doch er erkannte schnell seinen Irrtum. Die Frau kümmerte sich überhaupt nicht um ihn - ja, sie schien seine Anwesenheit nicht einmal wahrzunehmen, sondern blieb nahe des Eingangs stehen. Er bewunderte den kunstvollen Aufbau ihrer hellen Locken. Ihr Kleid war von einem zarten Grün und musste ein Vermögen gekostet haben, das war selbst für ihn ersichtlich. Er strich unwillkürlich über den verschlissenen Velours seiner geliehenen Jacke. Irgendetwas an ihr ließ in ihm das Gefühl entstehen, dass sie verzweifelt war. Es war kein Gefühl, das man gerne vor einem Fremden offenbarte, das wusste er selber zu genau. Ob er sich zurückziehen sollte? Ein Höfling hätte dies wohl getan - doch er war kein Höfling, und auf Konventionen achtete er schon lange nicht mehr. Und außerdem war da dieses seltsame Verlangen, einmal in ihr Gesicht zu sehen. Hatte er sich nicht vor kurzem geschworen, seinen Wünschen zu folgen, sofern es irgend möglich war? Er hatte so viel nachzuholen!
Er machte bereits ein paar Schritte in die Richtung der Frau, als diese aufstöhnte. Mit einem Sprung war er bei ihr. »Geht es Ihnen nicht gut, Madame?« Sie fuhr herum, sichtlich erschrocken, und das Erste, was er von ihr wahrnahm, waren weit aufgerissene Augen in einer faszinierenden, irisierenden Farbmischung. Es war das Erstaunlichste, was er je gesehen hatte, und er verharrte verzaubert, Auge in Auge mit der Unbekannten, bis ihm auf einen Schlag bewusst wurde, dass sie kurz vor einer Ohnmacht stand. »Kommen Sie, setzen Sie sich.« Er zog sie zu einer gepolsterten Bank, die mitten im Raum stand, und sie gehorchte willig. Kaum hatten sie nebeneinander Platz genommen, als sie heftig zu beben begann. Sie war so bleich, dass sie fast durchscheinend wirkte. Philippe klopfte in aller Eile die Taschen seiner Jacke ab, entzog ihnen dann ein kleines Päckchen. »Tenez, essen Sie!«, sagte er, während er das Päckchen aufschlug, und auf ihren fragenden Blick hin erklärte er: »Zucker. Ich führe immer etwas davon bei mir - es hat mir schon gute Dienste geleistet. Es ist jetzt genau das Richtige für Sie.« Sie schüttelte schwach den Kopf, griff dann aber doch nach einem der braunen Bröckchen. Doch ihre Finger waren ungeschickt, und der Zucker fiel in ihren Schoß. Er hob ihn auf, hielt ihn vor ihre Lippen. Tränen traten in ihre Augen. Sie öffnete folgsam den Mund. Er spürte einen Augenblick die Wärme ihrer Haut, ihr Atem streifte seine Finger, als er den Zucker zwischen ihre Lippen legte. Erneut überkam ihn ein seltsamer Drang, ihre Haut zu berühren. Er zog seine Hand zurück. Sie schloss die Augen, während sie den Zucker in ihrem Mund zergehen ließ, und erlaubte ihm so, sie ungeniert zu betrachten. Hohe Wangenknochen, eine sehr gerade Nase. Ein Kinn, das Mut, Eigensinn und Selbstbewusstsein verriet. Ein erstaunlicher, ausgeprägter Mund. Die Unterlippe voll und breit, die Oberlippe mit keckem Schwung. Verwegenheit lag auf diesen Lippen, zugleich eine Sinnlichkeit, die ihn bei einer so jungen Frau überraschte. Kein hübsches Gesicht, dachte er, nein, ein kühnes und zugleich berückend weibliches Gesicht. Die Fülle der hellen, weichen Locken, die es umrahmten, bildeten einen atemraubenden Kontrast dazu. Dieses engelgleiche Haar und der sehr helle, fast transparente Teint verliehen der Frau etwas Zartes, Unschuldiges, ein Eindruck, der von der geringen Körpergröße der Frau unterstrichen wurde. »Danke, Sie haben mir sehr geholfen.« Die Frau hatte aufgehört zu zittern. Sie lächelte ein wenig, doch das Lächeln war kühl, und ein leichter Unterton machte ihm deutlich, dass er irgendeine unsichtbare Grenze überschritten hatte. Inzwischen hatten ihre Wangen wieder etwas Farbe bekommen. Noch während er sich überlegte, ob das, was ihre Augen funkeln ließ, Interesse oder gar Freundlichkeit war, stieß sie einen kleinen Laut der Überraschung aus. »Da, auf Ihrer Schulter ...«Ihre Rechte fuhr hoch. Sie lachte auf. »Vorsicht, rühren Sie sich nicht!« Philippe erinnerte sich erst jetzt an die Echse. Das Tier hatte es sich nahe seines Kragens bequem gemacht. »Ein Chamäleon«, erklärte er lächelnd, und er fühlte, wie die Narbe auf seiner rechten Wange seinen Mundwinkel etwas nach unten zog. 51
Sie lachte. Es war ein nervöses, helles Lachen, ein Lachen, das befreite. Er musste an ihre Verzweiflung vorhin denken und fragte sich, unter welchem Druck diese Frau stand. Ihre Augen trafen sich und ihr Lachen erstarb so schnell, wie es entstanden war. Stattdessen errötete sie. Er beobachtete gebannt, wie ihre Wangen sich färbten, wie die Röte sie übergoss - und da passierte es. Es explodierte in seinem Magen, heftig und unvermutet. Ein völlig neues Gefühl -etwas, das strahlte, Wärme und Kraft spendete. Er schluckte. »O nein, bitte hören Sie nicht auf«, sagte er schnell. »Sie sehen zauberhaft aus, wenn Sie lachen.« »Es ist unpassend«, schüttelte sie den Kopf. »Lachen ist nie unpassend«, widersprach er. »Als mein Vater starb, zum Beispiel, habe ich schallend gelacht.« Weshalb erzählte er ihr das? Ihr, einer gänzlich Unbekannten? Um ihre Stimme zu hören? Um weiterhin das faszinierende Farbspiel ihrer Augen betrachten zu können? Um zu prüfen, ob der Zauber anhielt? Der Zauber, der seine eigenen Emotionen auf ihrem Gesicht spiegelte? »Das tut mir leid«, sagte sie weich. Er musste sich Gewalt antun, um nicht über ihr Gesicht zu streichen. Der Hunger, sie zu berühren, wurde übermächtig, und er mobilisierte seine ganze verbliebene Selbstbeherrschung, um so
abweisend wie möglich auszustoßen: »Das braucht es nicht. Es ist nichts, dessen ich mich schäme.« Er versagte kläglich. Ihr Blick wurde wissend. »Nein, es tut mir leid, weil Sie verzweifelt waren«, meinte sie leise. Er sah sie nur an, ein paar Sekunden lang sprachlos, entwaffnet wie vielleicht noch nie zuvor. Sie senkte den Blick, und er war ihr dankbar dafür. Ihre Wimpern waren dicht und golden, von einer dunkleren Farbnuance als ihr Haar, die Spitzen, die ihre Wangen beschatteten, gingen in ein helles Blond über. Die ganze Frau war Schattierung, Nuance und Farbspiel, es gab ihr etwas Unfassbares ... Sie hob den Kopf. »Ich muss gehen«, sagte sie. Sie erhob sich langsam. »Man wartet auf mich.« Er sprang ebenfalls auf. Vielleicht verspürte sie das Bedürfnis, sich für seine Hilfe zu revanchieren, denn sie fragte: »Weiß man, dass Sie hier sind? Warten Sie schon lange?« 24
»Ich habe um eine Unterredung bei Monsieur le Due d'Orléans gebeten.« »Oh. Ich fürchte, Sie werden nicht viel Glück haben«, sagte sie bedauernd. »Monseigneur d'Orléans ist beschäftigt.« Sie verzog den schönen Mund zu einem spöttischen Lächeln, doch irgendwoher wusste er, dass der Spott nicht ihm galt. »Eine kleine, intime Feier -man wird Sie heute nicht empfangen.« Ihr Blick huschte prüfend über seine Gestalt. »Vielen Dank nochmals, Monsieur ...« Dankbar wie ein Ertrinkender, dem man ein Seilende zuwirft, zog er den Hut vom Kopf und beugte das Haupt. »Philippe de Vigueil, Madame. Sind Sie sicher, dass Sie keine Begleitung benötigen?« »Ganz sicher.« Sie reichte ihm die Hand. Dann entfuhr ihr eine überraschte Geste. »Das Chamäleon ... Es hat seine Farbe geändert! Ich könnte schwören, dass es vorhin noch grau war!« »Es passt sich seiner Umgebung an«, nickte Philippe. »Nur so kann es überleben.« Ernst fügte er hinzu: »Es besitzt weder scharfe Zähne noch Klauen. Und wenn es auf einen fremden Untergrund übergeht, verschmilzt es mit ihm.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Es ist falsch!«, sagte sie. »Warum tut es das? Wenn ich mich von Luft ernähren würde, würde ich mich niemals verstecken!« Er sah sie prüfend an. »Niemand lebt von Luft alleine, Madame«, antwortete er langsam. »Ich kenne diese Gattung aus ihrer Heimat. Sie muss sich ihre Nahrung erjagen wie andere Tiere auch.« »Tatsächlich? Wie schade!«, meinte sie, sichtlich enttäuscht. Ihre nächsten Worte klangen traurig. »Dann will ich es auch nicht mehr beneiden.« Befremdet fragte er nach: »Beneiden, Madame?« Sie errötete und wich seinem Blick aus. »Erzählen Sie mir mehr über dieses Tier!«, lenkte sie ab. »Bewegt es sich immer so langsam?« »Ja, es wirkt unbeholfen und schutzlos. Doch seine Tarnung ist vollkommen. Hat es einmal die Farbe des Laubes angenommen, in dem es sich versteckt, kann niemand es mehr erkennen.« »Und doch wurde dieses hier gefangen«, meinte sie bedrückt. »Jemand hat es trotz seiner Tarnung entdeckt und aus der Umgebung gerissen, in der es sich sicher wähnte. Und jetzt muss es seine Tage in einem Käfig verbringen, bestaunt und belacht, und es verhungert 24
vor aller Augen.« Sie hob eine Hand, berührte sachte die grüne Echse auf seiner Schulter. Es war eine unbewusste Regung, ein Elan voller Mitleid, der sie ihm auf einmal wieder sehr nahe brachte. Sie duftet nach Orangenblüten, dachte er noch, doch da zog sie auch schon blitzschnell ihren Arm zurück und wandte den Kopf ab. »Ich muss jetzt wirklich gehen ...«, murmelte sie hastig. »Adieu, und ... vielen Dank nochmals.« Sie verschwand wie ein goldener Spuk, huschte aus dem Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er legte eine Hand an seine Schulter, auf die Stelle, die sie berührt hatte. Und ballte plötzlich die Finger zur Faust. Sie hatte ihm nicht ihren Namen gesagt.
* Wenig später war Isabelle im Hôtel de Noirlieu zurück. Sofort schlug sie den Weg zu dem linken Flügel ein. Ihre Großmutter blickte ihr bereits erwartungsvoll entgegen, als sie ihr Schlafzimmer betrat, und winkte sofort eine Dienerin herbei.
»Perette, stellen Sie meiner Enkelin einen Stuhl neben mein Bett. Kommen Sie her, ma fille, und setzen Sie sich. Ich hatte gehofft, dass Sie mich gleich nach Ihrer Rückkehr besuchen würden, und schon in der Küche ein weiteres Essen für Sie bestellen lassen.« Sie war alleine, und Isabelle, die befürchtet hatte, Besucher vorzufinden, atmete zufrieden auf. Zwar hatte Marie-Olympe in acht Jahren kein einziges Mal ihr Zimmer verlassen, doch über Einsamkeit konnte sie nicht klagen, dafür sorgte schon der Name der Faurepas. Weshalb ihre Großmutter sich zurückgezogen hatte, wusste Isabelle nicht. An ihrer Gesundheit konnte es nicht liegen - Isabelle kannte kaum einen gesünderen Menschen. Manche behaupteten, es sei wegen eines Gelübdes, das sie abgelegt hatte. Doch wenn Marie-Olympe auch täglich Père Forbon, den Seelsorger der Familie, empfing, hatte sie noch nie den Anschein gegeben, als sei sie übermäßig fromm. »Mir kam es schon vorhin vor, als ich Sie im Hof sah, als ob Sie einen erhitzten Eindruck machten.« Marie-Olympe hob die gefärbten Brauen. »Sie werden sich doch nicht etwa unziemlich verhalten haben?« Isabelle lächelte. Marie-Olympe bekam trotz ihrer Zurückgezogenheit immer alles mit, was draußen geschah - Spiegel, die verschwenderisch im Raum verteilt waren, sorgten dafür. Isabelle beschloss, direkt ins Ziel zu stoßen. »Non, Madame ma mère, nichts dergleichen. Diesmal ist es, was im Luxembourg geschah, das meine Wangen rötet.« »Erzählen Sie.« Isabelle berichtete knapp von ihrem Besuch bei Monsieur, verlor allerdings kein Wort über Philippe de Vigueil. »Verlobt? Monsieur Ihr Großvater hat Sie verlobt?«, entfuhr es Marie-Olympe. Isabelle betrachtete sie gespannt. Die Reaktion ihrer Großmutter entsprach ihren Hoffnungen. Marie-Olympe wusste nichts von ihrer Verlobung - eine exzellente Voraussetzung, um sie gegen eine Heirat mit Beaufort einzustimmen. »Ja, der Vertrag liegt unterschrieben im Luxembourg«, antwortete sie. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, fragte Isabelle: »Madame ma mère, gibt es einen Weg, der Heirat mit Beaufort zu entkommen?« »Verlobt ... Nicht ein Wort hat er mir davon gesagt. Monsieur mon mari bleibt sich treu ...«, murmelte Marie-Olympe, kaum verhaltenen Zorn in der Stimme. Doch sofort darauf verbannte sie jeden Ausdruck aus ihrem weiß geschminkten, länglichen Gesicht. Sachlich fragte sie: »Was erregt Sie so an dieser Heirat?« »Ich bin noch nicht bereit!«, rief Isabelle aus. »Ich ...« »Das stimmt nicht. Sie sind so bereit, wie eine junge Frau Ihres Alters und in Ihrer Position es nur sein kann.« Marie-Olympe verzog leicht die Lippen. »Ich gestehe, dass ich vor sieben Jahren nicht geglaubt hätte, dass ich diesen Satz jemals würde aussprechen können. Mon Dieu, wenn ich an den Zustand zurückdenke, in dem Sie hier ankamen!« Sie schüttelte mit steifem Nacken den Kopf, ohne die roten Locken ihrer Perücke in Unordnung zu bringen. »Verbrannt die Haut, die Füße schrundig, dazu dieser gelbe Filz auf dem Kopf...« Isabelle blieb stumm. Sie presste die Lippen aufeinander. Verflixt, sie war nicht gekommen, um sich erneut diese Litanei anzuhören. »Und dann diese Manieren ...!« Marie-Olympe schnaubte. »Ma fille, ich war verzweifelt, als ich Sie zum ersten Mal sah, ich gebe es 25
zu. Dennoch: Bald, sehr bald sogar, bewiesen Sie, dass Sie eine Faurepas sind.« Isabelle sah auf, zügelte mit Mühe ihre Ungeduld. »Ich habe Sie beobachtet. Ihre Wissbegierde. Ihre Ausdauer. Ihren Willen, alles zu erlernen, was eine junge Dame mit guter Erziehung ausmacht. Sie sind hart zu sich selber, und das gefällt mir.« »Madame«, sagte Isabelle, »wenn das Ihre Meinung von mir ist, so werden Sie auch wissen, dass ich diese Heirat nicht aus einer Laune heraus ablehne, sondern aus einer tiefen Abscheu heraus, die ich für Beaufort empfinde!« »Sind Sie sich dessen sicher?« Auf einmal klirrte Marie-Olympes Stimme vor Kälte. »Absolut sicher, dass Ihre Ablehnung nicht eher einem zärtlichen Gefühl entspringt, das Sie für einen anderen Mann hegen?« Isabelle schluckte, doch sie hielt ihrem Blick stand. »Absolut sicher, Madame ma mere.«
Marie-Olympe betrachtete sie eine lange Zeit, so intensiv, als versuche sie ihr Innerstes zu erkunden. Isabelle beugte sich ein wenig näher zu ihr herüber. »Ich bin nicht wie Ihre Tochter Therese, Madame ma mere.« »Was meinen Sie damit?« »Monsieur mein Großvater erwähnte vor kurzem, dass meine Mutter damals mit meinem Vater floh und Schande über das Haus brachte.« »Reden Sie nie schlecht über Ihre Mutter, Mademoiselle!«, zischte Marie-Olympe. »Und sprechen Sie nie von etwas, von dem Sie keine Ahnung haben! Ihre Mutter war leidenschaftlich und furchtbar naiv. Doch sie war mutig!« Marie-Olympe nestelte an ihrem Kragen. »Mutiger, als ich es je in ihrem Alter war!«, fügte sie hinzu, nun erheblich leiser. Isabelle betrachtete sie nachdenklich. Ihr Interesse war geweckt. Es war äußerst selten, dass im Hotel de Noirlieu die Rede von Therese war, und das erste Mal überhaupt, dass ihr Andenken von jemandem verteidigt wurde. Wenn Helenus von Therese sprach, war es stets zornig, und Isabelle hatte angenommen, Marie-Olympes Gefühle für ihre Tochter glichen denen ihres Mannes. Sie selber hatte Therese nie gekannt. Diese hatte ihr einziges Kind den Malvoys anvertraut, kurz bevor sie und ihr Mann Jacques26
Henry d'Arzelles dem Bauernaufstand zum Opfer fielen. Sie war das mittlere der drei Kinder von Helenus und Marie-Olympe gewesen und ihre einzige Tochter. Von Thereses älterem Bruder Es-mond wusste Isabelle, dass er mit vierzehn an den Blattern gestorben war. Raoul, der Letztgeborene, war elf, als er sich tödlich verletzte, während er aus einem Fenster kletterte. Über Therese hingegen wusste Isabelle nur, dass sie eine zierliche, schwarzhaarige Schönheit gewesen war - ihr Porträt hing halb versteckt in einer Ecke der Orangerie. »Ma fille, ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Marie-Olympe indessen. »Ich kannte, wie gesagt, die Pläne Ihres Großvaters bezüglich Ihrer Verheiratung nicht. Ich sehe, dass die Angelegenheit Sie bewegt. Und ich habe Verständnis dafür. Lassen Sie erst einmal die Sache auf sich beruhen. Der Vertrag ist, wie Sie berichteten, unterschrieben, diese Tatsache ist nicht mehr zu ändern. Wir geben in einer Woche unseren monatlichen Empfang. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Ihr Großvater diese Gelegenheit nutzen, um Ihre Verlobung bekannt zu machen. Doch damit sind Sie noch nicht verheiratet. Suchen Sie mich erneut nach dem Empfang auf. Wir werden uns dann über das Thema unterhalten. Das Wichtigste ist, dass Sie einen kühlen Kopf bewahren und keinen unüberlegten Schritt unternehmen. Versprechen Sie mir das?« Isabelle senkte den Kopf. Marie-Olympe lächelte bleich. »Hören Sie, ma fille, Beaufort ist eine glänzende Partie. Sie können sich glücklich schätzen. Ihr Großvater hatte in der Vergangenheit, was die Verheiratung unserer verstorbenen Kinder betraf, schon ganz andere Pläne. Wissen Sie, dass er einmal versprach, unsere Kinder mit denen eines Provinzlers niederer Herkunft zu vermählen? Er hatte sogar diesbezüglich eine Unterschrift geleistet -unter Zwang, und in einem feuchttrunkenen Zustand. Für ihn war es anschließend eine Ehrensache, dieser Verpflichtung nachzukommen.« »Haben Sie die Heirat verhindert?« Marie-Olympe überging ihre Frage. »Ich möchte Ihnen wirklich ans Herz legen, mich aufzusuchen, falls Ihre Bedenken bestehen bleiben. Ihre Mutter ist mit ihren Sorgen früher stets zu mir gekommen und hat es nicht bereut.« 26
Isabelle schwieg. Das Angebot klang wenig überzeugend. Obwohl die Worte ihrer Großmutter verständnisvoll schienen, lag keine Spur von Wärme in Marie-Olympes Stimme. Der Himmel hatte sich zugezogen, die bleiernen Wolken hingen tief. Die Luft war stickig und heiß. Die angeketteten Männer hatten die Köpfe auf ihre Hände gesenkt, kauerten über den Rudern. Schweißströme liefen über ihre dreckige Haut, folgten dem Lauf der scharf hervortretenden Rippenbögen. Der beißende Geruch, den die Angeketteten ausströmten, hatte die Fliegen von der nahen Insel angelockt. Das Summen der Insekten erfüllte die stehende Luft, ihre schwarzen Leiber drängten sich eng um die frisch aufgerissenen Wunden und die noch dunkel verkrusteten Narben. Philippe spürte im Rücken ihre wimmelnden Körper, die sich an seinem Fleisch berauschten. Er rührte sich nicht. Er verachtete sie, wie er alles verachtete, was an seinen Kräften zehrte, die Sonne, die Schläge, das Salz, die eisernen Ketten. Das, was an ihm nagte, konnte ihn nicht zermürben, seine Stärke floss durch seine Adern, seine Stärke war ein Teil von ihm selbst, seine Wurzeln, seine Ahnen hatten sie ihm auf ewig verliehen.
Er vermeinte, ein Zirpen wahrzunehmen - Grillen, die den Sommer zelebrierten aus dem olivfarbenen Filz heraus, der die Insel bedeckte. Das sanfte, rhythmische Geräusch rührte an etwas längst Vergangenes - an etwas fast Vergessenes. Bilder platzten in seinem Kopf. Glänzende, lachende Gesichter. Ein Mann, aufrecht, die Redlichkeit und der Stolz in seinen Augen. Wein, der in satten, goldgelben Trauben an den Rebstöcken reifte. Wilde Spiele, das Wasser des Burggrabens, so kalt, dass es einem selbst im Hochsommer den Atem raubte. Fette Erde, rot-weiße Steine, in die ein Wappen eingemeißelt war, ein Land, das ihm Heimat gewesen war. Philippe versank, vergaß die Welt um sich herum, ließ sich fallen, tief, ganz tief, bis das Schwanken des Bodens ihn in die Wirklichkeit zurückrief. Philippes Benommenheit fiel von ihm ab. Er machte einen schnellen Schritt zur Seite, um das Gleichgewicht zu wahren, und die Fuß 27
kette rasselte. Er hob den Kopf, sah sich um. Das Wetter war dabei umzuschlagen. Eine Brise strich über die schlanken Flanken der beiden nebeneinander verankerten Schiffe, über die gerefften dreieckigen Segel, verscheuchte einen Teil der Fliegen. Bewegung entstand fast zeitgleich auf beiden Hecks. Unterdrückte Stimmen, die Anspannung verrieten, wurden laut. Eine Handvoll Janitscharen erschien im Mittelgang von Philippes Galeere, die Männer unterhielten sich in kurzen, gutturalen Sätzen, richteten ein Fernrohr auf den Horizont. Auf einmal ein freudiger Aufruf, das Aufblitzen von Zähnen in den gebräunten Gesichtern, ein unbewusster, fast zärtlicher Griff zu den gebogenen Säbeln. Zeichen wurden zwischen der Galeere und der Brigantine ausgetauscht. Philippe hätte sie verstehen können, doch er gab sich nicht die Mühe. Der gierige Ausdruck der Janitscharen sagte genug. Die Soldaten hatten absichtlich auf der Galeere angeheuert, um die Mannschaft bei ihren Räubereien zu unterstützen und sich auf schnellem Wege zu bereichern, und sahen sich ihrem Ziel offenbar schon sehr nahe. Philippe biss die Zähne aufeinander, bereitete sich darauf vor, die immer gleiche, unzählige Male bereits durchlebte Szene erneut durchzustehen. Er richtete sich weiter auf, bewegte die steifen Muskeln seiner Schultern. Die vier Männer, die am selben Ruder wie Philippe eingeteilt worden waren und im Gegensatz zu ihm auf Bänken saßen, rührten sich nun auch, ebenso die Gefangenen der vor und hinter ihnen gestaffelten Reihen. Ihre schwieligen Finger umspannten die mächtigen Ruder. Redjeb Rais, der Oberbefehlshaber beider Schiffe, stand bereits im Mittelgang. Auch er richtete ein Fernrohr auf den Horizont, auf den Punkt, den er schon seit Stunden beobachtete. Die Brise frischte weiter auf, schlug die Pluderhose um seine stämmigen Schenkel. Ein breites Lächeln sträubte seinen drahtigen rötlichen Schnurrbart. »Ah, da kommt es angeflogen, das zarte Täubchen ...« »Rais, soll ich den Angriff starten?«, fragte der Steuermann und rückte den breiten, mit Pulverhülsen bestückten Gurt um seine Hüften zurecht. Redjeb Rais hob abwehrend die Hand, und der Mann verstummte. 27
Philippe verengte die Augen, erspähte einen Punkt, der sich rasch vergrößerte. Bald konnte er drei Mäste ausmachen, an denen sich viereckige Segel blähten, einen runden Schiffskörper - und eine Flagge, auf der unverkennbar die spanischen Farben prangten. Eine kleine Galione, die den Weg von Barcelona zu den gewinnbringenden Märkten von Sizilien angetreten hatte. »Sie liegt tief im Wasser, Rais!«, schnalzte der Steuermann anerkennend. »Das sind die spanischen Silbermünzen, mit denen das Täubchen gemästet wurde! Unsere Taschen werden bald voll davon sein!« Der Kapitän und beide aus Algier stammende Mannschaften beobachteten gespannt, wie sich das kurze, bauchige Schiff arglos näherte. Philippe sah sich um. Keiner der Mitgefangenen murrte, doch einige Augen glühten. Die meisten der Sklaven hier waren für ihre Kraft und Ausdauer geschätzte Spanier und Italiener. Landsleute anzugreifen fiel immer schwer - auch wenn nur die wenigsten der angeketteten Männer noch in der Lage gewesen sein dürften, so etwas wie Gefühle zu empfinden. Nach ein paar Minuten war es so weit: Redjeb Rais bellte einen Befehl, ein begeisterter Schrei aus vielen Kehlen antwortete. Philippe ergriff das Ruder, holte aus, zog, stemmte zurück ... Gischt schlug über Bord, biss in die Haut, die Augen, und die räuberische Galeere schoss davon, aus der kleinen Bucht heraus, in der sie sich verborgen hatte, auf Abfangkurs des spanischen Schiffes, nur kurz gefolgt von der kleineren Brigantine. Männer keuchten, stöhnten, das Holz unter ihnen
ächzte, der Wellengang nahm zu, die beflaggten Mäste schwankten hin und her hoch über ihren Köpfen. Redjeb Rais knurrte wütend: Die Galione hatte sich nach dem ersten Augenblick der Überraschung schnell gefasst und drehte ab. Sofort nahm die Galeere die Verfolgung auf. Es folgte eine wilde Jagd. Die rundliche Galione war behindert durch ihre schwere Fracht, und die pfeilförmige Galeere der Angreifer durchschoss die Fluten. Doch die viereckigen Segel des spanischen Schiffes erwiesen sich in dem inzwischen stürmischen Wind als Vorteil. Um sich nicht distanzieren zu lassen, mussten die Ruderer an Bord der Piratenschiffe all ihre Kräfte aufbieten. Beschimpfungen und Drohungen prasselten auf die Köpfe der 28
Gefangenen nieder. Der Antreiber zückte einen Stock, setzte ihn ein, schrie, feuerte an, bis seine Halsader anschwoll und der Stock brach. Noch zwei Stöcke wurden verbraucht, dann griff der Mann zur Peitsche. Philippe zog und schob, holte ein, stieß weg, wieder, immer wieder, in seinem Kopf hallten die Schreie wider, ob fremde oder seine eigenen, konnte er nicht sagen. Nur selten erhaschte er einen Blick auf die verfolgte Galione, er wollte es auch gar nicht, was ging ihn das fremde Schiff an, alles, was zählte, war der nächste Ruderschlag, war, dass die Muskeln nicht zitterten, dass der nächste Peitschenhieb nicht ihn traf, sondern den Nachbarn, dass noch Kraft übrig blieb. Langsam, ganz langsam holte die Galeere die Galione auf. Auch die Brigantine hielt sich tapfer, da sie, obwohl sie nur dreißig Ruderer zählte, wesentlich leichter als die Galeere war. Redjeb Rais gab Befehl, die Spanier zu überholen, um ihnen den Weg abzuschneiden, und machte der Brigantine Zeichen, hinten zu bleiben, um eine Flucht des Feindes zu verhindern. Die Galeere schob sich an der Galione vorbei, hatte sie bereits bis zur Hälfte aufgeholt - da lösten sich kleine Wolken von der Bordwand des spanischen Schiffes, und ein dumpfes Grollen erklang. »Kanonen, Rais! Sie schießen auf uns!«, schrie ein Mann am Bug. Wassertrichter schössen auf der Steuerbordseite der Galeere aus der See. Spaße und Schmährufe ertönten, die Mannschaft aus Algier verhöhnte die schlechten Schützen - bis ein ohrenbetäubender Knall sie verstummen ließ. Ein Stück der Reling barst, Männer brüllten auf vor Schmerz, Holzteile flogen durch die Luft. Ein bedrohliches Geräusch ließ Philippe nach oben sehen. Der Fockmast ächzte, schwankte Philippe, der als Einziger in der Reihe stand, nutzte seine geringe Bewegungsfreiheit, um sich auf den Boden zu werfen. Der Mast gab noch einen kurzen, klagenden Ton von sich, bevor er brach. Irgendetwas traf Philippes rechten Oberarm, ein Splitter bohrte sich in seinen Handrücken, ein scharfer Luftzug zischte über seinen Kopf hinweg. Als er sich langsam wieder aufrichtete und sich mühsam aus dem Gewirr von Tauen befreite, das ihn umgab, presste er die Kiefer aufeinander. Er war offenbar der Einzige im Umkreis von fünf Reihen, 6i
der halbwegs unversehrt geblieben war. Verstümmelte Leichen und Schwerverletzte umringten ihn. Zwei der Männer an seinem Ruder waren tot, zwei weitere röchelten. Auf die Ruderer der Bank hinter ihm war die Rah herabgestürzt. Keiner hatte überlebt. Die Reihen vor ihm boten keinen besseren Anblick. Philippe klammerte sich an die Bank neben ihm, als die Galeere in eine bedenkliche Schieflage geriet. Die Rah hing halb über Bord, rutschte immer weiter ins Wasser, das Segel entfaltete sich langsam unter dem Druck der Wellen und bildete ein gefährliches Gegengewicht zum Rumpf. Die befreundete Brigantine schoss an der Galeere vorbei. »Kappt den Mast, und werft ihn über Bord!«, schrie Redjeb Rais. »Die Toten gleich dazu! Und dann verteilt die Sklaven über die leer gewordenen Plätze!« Er ballte die Fäuste. »Ich schwöre, ich werde diese Galione einholen, und wenn ich mich selber ans Ruder setzen muss!« »Aber Rais, wir haben nicht mehr genug Männer!«, rief der Treiber. »Hund, wagst du es, mir zu widersprechen? Ich sage dir, ich werde dieses Täubchen schlachten und ausweiden, und keiner wird mich daran hindern! Setz das geteerte Seil ein, und kein Wort mehr!« Die Mannschaft beeilte sich nun, den Befehlen des Kapitäns zu gehorchen. Im Nu wurde der Mast vom Schiff abgestoßen. Er verschwand in den aufschäumenden Wellen, bald gefolgt von den Körpern der Erschlagenen. Der Treiber kam, um Philippe von seiner Kette zu lösen und ihn an eine andere Bank zu führen, da das Ruder, an dem Philippe gestanden hatte, zerborsten war. »Bei Gott, Franzose, der Allmächtige muss Besonderes mit dir vorhaben, um dich verschont zu haben!«, meinte der Mann in dem Kauderwelsch des Mittelmeerraums, einer Mischung aus
Italienisch, Provenzalisch, Spanisch, Portugiesisch und Arabisch. Er zog hastig die Kette aus dem Ring, der an dem eisernen Reif an Philippes Knöchel geschweißt war. »Allah hat heute ein Wunder an dir vollbracht!« »Gott hat mich nicht auf die Welt kommen lassen, um hier zu sterben, das ist alles«, sagte Philippe fest, obwohl er Mühe hatte, die Worte mit seinen gesprungenen Lippen zu formen. Er wurde unsanft nach vorne gezerrt, an den Stehplatz am Ende einer Bank geführt, die bereits von drei weiteren Männern besetzt war. 6?
Der Treiber höhnte, während er geschickt und schnell weiterarbeitete: »Du besitzt wohl einen besonderen Zauber, der dich unsterblich macht?« Er zog das lose Ende der bereitliegenden Kette durch Philippes Fessel und durch den Ring, der direkt auf dem Schiffsboden angebracht war. »Ich habe Besseres!«, warf Philippe zurück. »Schau her!« Der Treiber sah hoch, und Philippe zeigte ihm die Wunde auf seiner Hand, aus der das Blut quoll. »Das hier«, stieß er aus, »ist der Zauber, der mich unsterblich macht! Das, was Gott mir und meinen Vorfahren verlieh, um uns von anderen zu unterscheiden!« Philippe zog den stark blutenden Handrücken über seine Stirn, seine Wangen. »Siehst du es jetzt auch?«, schleuderte er dem Mann entgegen. »Kannst du es erkennen, das göttliche Zeichen?« Der Mann aus Algier spie auf den Boden. »Du magst einer der kräftigsten Männer an Bord sein, aber der Inhalt deines Kopfes ist so vertrocknet wie ein alter, rasselnder Flaschenkürbis!« Er knurrte: »Ihr seid jetzt nur noch zu viert an dieser Bank! Und dich, Franzose, mache ich dafür verantwortlich, wenn euer Ruder nicht so flink und kräftig arbeitet wie das der anderen! Ich hoffe, das passt noch in deinen leeren Kopf!« Er eilte davon. »Auf was wartet ihr? An die Ruder, holt mir diese spanischen Hunde ein!«, rief Redjeb Rais. Die Seeräuber hatten keine zehn Minuten gebraucht, um ihre Galeere wieder startklar zu bekommen. Die Brigantine hatte die Verfolgung bereits wieder aufgenommen. Obwohl die Spanier nun einen guten Vorsprung hatten, war die Entfernung, die zwischen den Schiffen lag, nicht unüberbrückbar - bei voller Besatzung der Ruderbänke. Durch die Schwerverletzten und Toten fehlten auf der Galeere allerdings über zwanzig Männer. Ihr Ausfall machte sich nur allzu bald bemerkbar bei der Geschwindigkeit, die der Kapitän nun dem Schiff abverlangte. Das geteerte Tau, das nun eingesetzt wurde, um die Sklaven zu züchtigen, riss größere und schmerzhaftere Wunden als die Peitsche, und die Angst davor ließ die Mannschaft ihr Äußerstes geben. Die Galeere flog davon, die Ruder peitschten das Wasser. Philippes Muskeln waren bis zum Reißen gespannt. Auch bei äußerster Kraftanstrengung war es kaum möglich, den fünften Mann am Ruder zu 29
ersetzen. Immer wieder traf ihn das Tau, zerfleischte seinen Rücken, bis er es kaum noch spürte. Ein Nebel umfing ihn, wie in einem Traum nahm er noch wahr, dass Männer vor und neben ihm schluchzten, um Gnade flehten oder einfach nur wortlos zusammenbrachen. Dann verschloss er sich alldem, er zog sich in sich zurück, versank im festen Schlag seines Herzens, im kräftigen Strom, der ihn durchfloss, der ihn schützte und mitriss, bis er sich weit, sehr weit weg von der Galeere entfernt hatte. Auf einmal kippte der Horizont. Männer schrien - Lärm, ohrenbetäubender Lärm, Worte in allen Sprachen, sie alle drückten dasselbe aus, Angst, panische Angst. Dann Wellen, Wasser, das auf ihn zuflog. Philippe schnappte nach Luft. Schimmernde Blasen umwirbelten ihn. Als Philippe zu sich kam, befand er sich bereits unter Wasser. Blaugrün die Welt, Druck auf den Ohren, seltsam gurgelnde menschliche Schreie. Die Strömung, die an ihm riss, der Sog des riesigen Schiffskörpers, seine Haare, die ihn algengleich umtanzten, seine Finger, die sich an etwas festhielten, sich mit aller Kraft fortstießen, und dann -der Ruck, der Schmerz, der ihm durch Beine und Wirbelsäule schoss - die Fußfessel! Er stieß Luftblasen aus, krümmte sich zusammen, der Druck auf seiner Lunge nahm zu, seine Finger zogen, zerrten an den eisernen Gliedern, die ihn noch immer an die Holzplanken ketteten. Seine Finger, unnatürlich bleich im changierenden Licht, in seinem Kopf nur ein Wort - Nein, nein! In seinem Herzen Wut, grenzenlose Wut. Er zieht, zerrt, bleckt die Zähne, Blasen umschwirren seinen Kopf, das Gewicht auf seiner Brust wird unerträglich - und plötzlich das Wunder, die Glieder der Fußkette laufen durch die Öse seiner Fußfessel, eines nach dem anderen, schnell, immer schneller ... Wenig später fischt ihn die Brigantine heraus. Die bauchige spanische Galione ist nur noch ein höhnender Punkt am Horizont. Der triefende Redjeb Rais sieht ihr nach, seine Finger erdrosseln
die Reling. Die meisten freien Männer seiner Mannschaft haben ebenfalls überlebt, sie hocken tropfnass und dicht gedrängt auf den Laufplanken der kleinen Brigantine. Unter ihnen auch der Treiber. Philippe trifft seinen Blick, als er das Deck betritt. Der Mann erbleicht. Philippe achtet nicht darauf. Bis er sich umsieht, auf der Suche 6S
nach seinen Mitgefangenen. Er entdeckt sie nicht. Nirgendwo. Auf einmal werden seine Knie weich, und er muss er sich setzen. Fast zweihundertfünfzig an ihre Planken gekettete Sklaven hat die gekenterte Galeere mit in den Tod gerissen. Fast. Philippe sieht erneut zu dem Treiber rüber. Dieser streckt die Hände in seine Richtung aus, kreuzt die Finger. Das Zeichen gegen böse Geister. Das Zeichen ... Das ... Philippe schreckt hoch. Dunkelheit um ihn herum, nein, nicht ganz ... Drüben glimmt noch ein wenig Glut. Ein Kamin. Dieu du ciel... Nun entdeckt er auch schlafende Körper im Dämmerlicht. Reisende, die sich so wie er nichts anderes als einen Strohhaufen im Schankraum haben leisten können. Doch erst als Philippe erschauert, als die Kälte, die im Raum herrscht, in seine Haut beißt, ist er ganz sicher, dass er der Hölle tatsächlich entronnen ist. Er bewegt die Schultern. Sein Rücken brennt wie Feuer, ganz, als habe seine Haut ein eigenes Gedächtnis, als traue sein Körper seinem Kopf nicht zu, sich zu erinnern, an jeden Schlag, an jede Wunde, als durchlebe er nicht jede Nacht erneut die letzten zehn Jahre. Schwärzer als schwarz ... Wann würde es ihm vergönnt sein, Farbe in seine Träume zu mischen? Er legte sich wieder zurück. Das Stroh raschelte leise. Jemand hustete. Philippe schloss die Augen. Schwor Farben hervor, ein Gesicht.
Drei junge Leute, die sich in der großen Welt gut einführen möchten, müssen sich schüchtern oder verwirrt geben: ein sicheres, gemessenes Auftreten gilt in diesem Fall gewöhnlich als Unverschämtheit. Februar 1651
»Ich fürchte, Sie halten mich für einen misstrauischen Menschen, Monsieur de Vigueil«, sagte Mazarin. »Aber mein Vermögensverwalter Colbert ist äußerst ungehalten, wenn ich, meiner Sammelleidenschaft frönend, Unsummen ausgebe. Umso mehr besteht er darauf, dass die Echtheit einer neuen Errungenschaft geprüft wird.« »Das ist durchaus verständlich, Eminenz«, antwortete Philippe zurückhaltend. Er befand sich seit etwa drei Stunden im berühmtesten Palast der Hauptstadt. Ursprünglich von Armand-Jean de Richelieu erbaut, war dieser nach dessen Tod dem König vererbt worden. Die verwitwete Königin, die den düsteren, zugigen Louvre noch nie gemocht hatte, hatte das Palais Cardinal in Palais Royal umgetauft und war zu Beginn ihrer Regentschaft mitsamt ihren Söhnen in die luxuriösen Gebäude umgezogen. Seit einiger Zeit bewohnte ihn auch ihr erster Minister, obwohl er noch ein eigenes feudales Palais in der Stadt besaß. Nur ein Gang trennte im Palais Royal Mazarins Appartements von denen Annes, was Anlass zu heftigem Klatsch bot. Genau in diesen Appartements stand Philippe jetzt, und die purpurne Gestalt von Jules Mazarin flammte in der späten Nachmittagssonne vor ihm auf. Philippe hatte Schwierigkeiten, den Mann vor sich einzuschätzen. Die übergroße Freundlichkeit des Kardinals, sein einnehmendes Wesen und sein ausgeprägter italienischer Akzent wollten so gar nicht mit dem Bild übereinstimmen, das er sich im Vorhinein von ihm gemacht hatte. Philippes Vater Mace hatte lange Jahre im Dienste von Mazarins 30
Vorgänger, dem großen und furchtbaren Kardinal de Richelieu, gestanden. Seine Erzählungen müssen in mir eine völlig antiquierte Vorstellung davon hinterlassen haben, wie ein erster Minister zu sein hat, dachte Philippe, während er in das gut geschnittene, offene Gesicht des Mannes vor ihm sah. »Darf ich denn hoffen, dass die Prüfung des Bezoar zu Ihrer Zufriedenheit verlief?«, fragte er. »Vollkommen. Ein sehr schönes Stück. Selten sah ich den Magen einer Ziege einen Bezoar dieser Qualität hervorbringen. Weshalb hat Monsieur ihn Ihnen nicht abgekauft?« Philippe sah überrascht auf. »Der Herzog d'Orléans hat ihn nicht in Augenschein nehmen können, Eminenz, da er verhindert war und mich nicht empfangen hat.« »Und da sind Sie anschließend gleich zu mir gekommen«, lächelte Mazarin und nickte freundlich.
Philippes Mundwinkel zuckten angesichts des unterschwelligen Vorwurfs, doch es gelang ihm, sein Lächeln zu unterdrücken. «Monseigneur, ich weile erst seit kurzem in dieser Stadt. Sollte ich einen Fauxpas begangen haben, bitte ich ihn zu entschuldigen.« Mazarin hob abwehrend beide Arme. »Aber nichts dergleichen. Sie haben vollkommen richtig gehandelt. Monsieur ist selbstverständlich immer und in allem der Vorzug zu geben. Doch Sie haben mich neugierig gemacht. Sie kennen Paris nicht, sagen Sie? Aus welcher Gegend Frankreichs stammt Ihre Familie?« »Aus der Gegend von Sainte Ménehould in der Champagne, Eminenz. Das Comté de Rochastre gehört seit vielen Generationen zu unserem Besitz.« »Rochastre ... Ich kann mich nicht entsinnen, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.« »Unsere Familie ist verarmt, Monseigneur.« Die Worte kamen nur noch widerstrebend über Philippes Lippen. »Durch widrige Umstände hat meine Mutter den größten Teil unserer Ländereien verkaufen müssen.« »Und Ihr Vater?« »Mein Vater lebt nicht mehr«, antwortete Philippe knapp. Als er Mazarins aufmerksamen Blick auf sich ruhen spürte, nahm er sich je 31
doch zusammen und zwang sich, in einem umgänglicheren Tonfall hinzuzufügen: »Er starb vor sieben Jahren. Er war lange Zeit im diplomatischen Corps tätig, zu Lebzeiten von Kardinal de Richelieu.« »Ach, vraiment? Nun, da müsste ich ihn doch kennengelernt haben. Ein Diplomat namens Vigueil de Rochastre... Warten Sie...« Mazarin legte die Stirn in Falten. Philippe war bekannt, dass der Nuntius Mazarin seine politische Karriere in Frankreich vor zwölf Jahren begonnen hatte, als er den päpstlichen Dienst verließ, um in Richelieus Auftrag zwischen Spanien und Frankreich zu vermitteln. »Es ist gut möglich, dass Sie sich seiner nicht entsinnen, Monseigneur. Er verbrachte viele Jahre im Ausland«, meinte er mit genug Nachdruck, um, wie er hoffte, das Thema abzuschließen. »Möglich, ja«, stimmte Mazarin nachdenklich zu. »Verzeihen Sie, ich vergeude Ihre Zeit. Ich zahle Ihnen zwanzig Pfund die Unze.« Philippe räusperte sich. »Mit Verlaub, Monseigneur, ich besuchte heute Morgen einige Apotheken. Bezoar-Pulver wird dort nicht unter fünfunddreißig Pfund die Unze gehandelt. Für ein Exemplar dieser außergewöhnlichen Größe dürften fünfundvierzig Pfund nicht zu viel sein.« »Fünfundvierzig? Pardi, Monsieur de Vigueil, ich fürchte, Sie haben die Gerüchte aufgeschnappt, die auf der Straße kursieren und die mich einen reichen Mann nennen. Sie sagten, Sie sind erst seit kurzem in dieser Stadt. Sie kennen das Pariser Volk nicht und seine Art, maßlos zu übertreiben.« »Monseigneur...« »Gerne würde ich Ihnen den von Ihnen geforderten Preis zahlen. Doch leider, leider ...«, Mazarin breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus,«... sehe ich mich außerstande, Ihrem Wunsch nachzukommen. Colbert würde sich strikt weigern, Ihnen eine solche Summe auszuhändigen!« Philippe drückte den Rücken durch. Er hatte die letzte Stunde zusammen mit einem Dutzend anderer Bittsteller verbracht und dabei reichlich Gelegenheit bekommen, die Ausstattung des Empfangsraumes zu bewundern. Die herrlichen Gobelins, die antiken marmornen Büsten, die Zedernmöbel hatten ihn ausreichend über die Vermögensverhältnisse des Kardinals aufgeklärt. 31
»Monseigneur, ich verstehe, dass Sie über mein Angebot zunächst nachdenken möchten«, antwortete Philippe fest. »Gerne werde ich mich nun zurückziehen und zu einem Ihnen genehmen Zeitpunkt erneut vorsprechen.« »Wie zuvorkommend von Ihnen.« Mazarin beugte leicht das Haupt, ein maliziöses Lächeln auf den Lippen. »Ich hätte Ihnen selber bereits einen solchen Vorschlag gemacht, hätte ich nicht geglaubt, Ihnen läge am Herzen, dieses Stück möglichst bald loszuwerden.« Touche, dachte Philippe grimmig. Dieser Mann verfügte offensichtlich über eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Beurteilungsvermögen. »Das ist richtig. Doch ich gestehe, dass mir dieser kleine Aufschub nicht ganz ungelegen kommt«, erwiderte er glatt. »Sie waren vorhin so freundlich, mir zu erläutern, dass Monseigneur d'Orleans in einem solchen Geschäft der Vortritt gebührt. Als frisch Hinzugereister bin ich Ihnen sehr dankbar, es mir erspart zu haben, mich in eine missliche Lage zu begeben. Gleich Morgen werde ich bei Monsieur vorsprechen und mit etwas Glück eine Audienz erwirken.« Mazarin fuhr über seinen Mund. Seine dunklen Augen blitzten auf.
»Dreißig?« »Fünfundvierzig, Monseigneur.« »Gut, gut. In Ordnung. Colbert zahlt Ihnen fünfunddreißig Pfund die Unze aus. Den Rest bekommen Sie in Anteilen an einer meiner Schiffsladungen. In Le Havre liegt eine große Menge schwedischen Kupfers vor Anker, die mir gehört und die einen einträglichen Gewinn verspricht.« Philippe fluchte innerlich. Was, bitte schön, nutzte ihm eine Ladung Kupfer, wenn er dringend bares Geld brauchte? Mal davon abgesehen, dass er sich sicher war, dass die Sache einen Pferdefuß hatte und dass der Kardinal sich seine Unwissenheit zunutze machen wollte, um sich einen Vorteil zu schaffen. Ein unguter Geschmack lag auf seiner Zunge. Am liebsten hätte er dem Minister den verdammten Bezoar vor die Füße geworfen und dem Palais Royal den Rücken gekehrt. Aber wie sollte er andererseits ohne den Erlös überleben, geschweige denn seine Pläne realisieren? 32
Er entgegnete knapp: »Es tut mir leid, Monseigneur. Ich fürchte, dass wir beide unsere Zeit verlieren.« »Wie bedauerlich«, erklang da plötzlich eine Stimme in Philippes Rücken. Mazarins Gesicht erhellte sich. Er verbeugte sich tief. Philippe drehte sich um und tat ein Gleiches, obwohl er keine Ahnung hatte, wer sich ihnen nun näherte. Es war eine in Schwarz gekleidete Frau, auf deren Zügen der Zauber der Jugend längst der etwas strengen Ausstrahlung gewichen war, die oftmals der Nachhall wahrer Schönheit ist. In ihrer weißen Hand schwenkte die Frau einen Elfenbeinfächer mit einer Nonchalance, die von langjähriger Übung zeugte. Sie ignorierte Philippe und wandte sich direkt an Mazarin. »Wenn Sie tatsächlich Ihre letzte Stunde vergeudet haben, Monsieur le Cardinal, bin ich Ihnen sehr böse. Ich erwartete Ihren Besuch für den petit conseil, erinnern Sie sich? Nur ein guter Grund hätte Sie vor dem Zorn schützen können, den ich nun auf Sie habe.« »Majestät, Sie sehen mich zutiefst zerknirscht. Und ich gebe Ihnen in allem recht - nur in einem Punkt muss ich Ihnen widersprechen: Es gibt einfach keinen verzeihlichen Grund, mein Versprechen nicht eingehalten zu haben.« Mazarin beugte den Kopf. »Asche auf mein Haupt, Madame. Ich habe es verdient.« Die Schwarzgekleidete lächelte mit geschlossenen Lippen. Sie legte den Kopf etwas zurück. Ihr sorgfältig gelocktes, kastanienbraunes Haar glitt über ihre Wange. Es war eine Geste, die nicht frei von Eitelkeit war, und Philippe bekam, obwohl er noch immer in gebeugter Stellung verharrte, einen kurzen Einblick auf einen fleischigen weißen Halsansatz. Er holte Luft. Er war unangenehm berührt, doch er hätte keinen konkreten Grund dafür nennen können. Vielleicht lag es daran, dass die Anrede, die Mazarin gebraucht hatte, keinen Zweifel über die Identität der Frau in Schwarz zuließ. Vor ihm musste die Regentin Anne dAutriche stehen, die Mutter des Königs. »Erzählen Sie, was Sie von meinen Appartements fernhielt, Monsieur. Ich möchte wissen, womit Sie Ihre Zeit vergeuden.« »Nichts als menschliche Schwäche, Majesté. Ein Kleinod - ein Bezoar von seltener Güte, der mir von Monsieur hier angeboten wurde.« Mazarin machte ein Zeichen, und ein Diener in Livree trat 7'
hinzu. Er balancierte ein grünes Kissen auf einem Arm, dessen Mitte der Bezoar eindellte. Anne warf nur einen Blick darauf. »Wie viel wollen Sie dafür haben?«, fragte sie Philippe halb über ihre Schulter hinweg, einen kaum wahrnehmbaren Unterton der Verachtung in der Stimme. Philippes Kopf wurde heiß. Er biss die Kiefer aufeinander. Plötzlich beurteilte er sein Verhalten so, wie es seiner Meinung nach jeder Außenstehende tun musste. Alles, womit er sich in den letzten Stunden beschäftigt hatte, war kleinlich und hässlich gewesen. Philippe wurde übel. Mein Gott, kaum war er eine knappe Woche in dieser Stadt, und schon verriet er sich, das Andenken Macés und das erhabenste all seiner Ziele: seine Identität wiederzuerlangen, erneut zu dem Mann zu werden, der er durch seine Geburt einmal gewesen war ... Die Königin wartete noch immer auf seine Antwort. Auf einmal wusste Philippe, was er zu tun hatte. Er verbeugte sich. «Majesté, meine Bitte wird Ihnen vermessen vorkommen. Doch wenn Sie darin einwilligten, diesen Bezoar als die ehrfürchtige Huldigung eines Untertans an seine Königin entgegenzunehmen, würden Sie den glücklichsten aller Menschen aus mir machen.« Annes Züge blieben unbewegt - nichts als ein kurzes Erzittern ihrer Wimpern verriet Philippe, dass sie ihm überhaupt zugehört hatte. Dann jedoch drehte sie sich ihm langsam zu. Der halbe Blick,
mit dem sie ihn bedachte, war eine Mischung aus Spott, Aufmerksamkeit und noch etwas anderem, das Philippe nicht sofort deuten konnte. »Wie lautet Ihr Name?« »Philippe de Vigueil, Comte de Rochastre, Majeste.« »Monsieur le Comte, Sie haben Glück. Jeden anderen würde ich auf der Stelle wegen Majestätsbeleidigung einkerkern lassen. Ihre Anmaßung, mir ein Geschenk machen zu wollen, wird nur von der Frechheit Ihres Glaubens übertroffen, ich könnte ein solches annehmen. Doch wohlan, Ihr Aussehen verrät mir, dass Sie mit den Sitten des Hofes vielleicht nicht vertraut sind. Ich will großzügig sein und ausnahmsweise über die Kränkung, die Sie mir zufügten, hinwegsehen. Sie dürfen sich entfernen.« 71
Philippes Nacken schmerzte vor Anspannung, sein Mund war trocken. Er verbeugte sich wortlos, machte ein paar Schritte rückwärts in die Richtung, in der er die Tür vermutete. Er verschwendete keinen Blick mehr auf das, was er durch so viele Gefahren hindurch gerettet, das, was er während einer tagelangen Seefahrt an seiner Brust getragen hatte und was einmal der Inbegriff all seiner Hoffnungen gewesen war. Um nichts auf der Welt hätte er den verschmähten Bezoar wieder an sich genommen. Anne drehte ihm den Rücken zu und deutete mit ihrem Fächer auf Mazarin. »Sie hatten recht, mon eher. Der Grund für Ihr Nichterscheinen ist mir unerklärlich. Doch ich vertraue nach wie vor Ihrem Beurteilungsvermögen - auch wenn viele am Hof der Meinung sind, mein Vertrauen würde zu weit gehen. Sie erachteten diesen Bezoar als wichtig genug, um Ihren Besuch bei mir zu verschieben - eh bien, so wird er das auch sein. Ich werde ihn mit mir nehmen, von meinem Juwelier fassen lassen und Ihnen dann zurückschicken - er möge Ihnen als Beweis meines Vertrauens dienen.« Philippe bekam gerade noch mit, wie der erste Minister sich unter gestammelten Dankesworten verbeugte. Dann verließ er das Zimmer. Sein Kopf war seltsam leer, als er das angrenzende Vorzimmer durchquerte. Es war ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Er strafte den goldbetressten Lakaien, der auffordernd eine Tür am Ende des Saales geöffnet hatte, mit Missachtung, und stellte sich in einen der tiefen Erker der großen Fenster. Er verhakte die Daumen in seinem Gürtel, ließ die Stirn gegen eine der Querstreben der Scheiben sinken und starrte in das winterliche Eisgrau hinaus, in dem der herrliche Park des Palais Royal gefangen war. Er hatte keine Ahnung, wie lange er da schon stand und auf das kalte Panorama starrte, ohne es wirklich zu sehen, als er hörte, wie irgendwo eine Tür aufgestoßen wurde. Philippe drehte sich nicht um. Er vernahm ein Rufen und Lachen, dann ein Poltern und etwas, was sich wie das übermütige Gerangel einer Horde Kinder anhörte. Das Parkett ächzte, die grellen Stimmen wurden lauter. Philippe löste sich unwillig vom Fenster. Hier würde er keine Ruhe mehr finden. 33
Als er aus dem Erker hervortrat, stand er einem Grüppchen von etwa fünfzehn Menschen gegenüber, zwei Drittel davon Kinder. Die Jungen und Mädchen waren völlig in ihrem Spiel gefangen - eine Art Ringkampf, bei dem sie sich unter Gekicher über den Holzboden schubsten. Am wildesten von allen trieb es ein elf- bis zwölfjähriger Junge, offenbar der Anführer der Bande. Seine feuchten blonden Haare klebten an seinen Schläfen und seine Backen waren vor Eifer gerötet. Plötzlich war es still. Die Kinder hielten inne, stießen sich mit den Ellenbogen an, kicherten. Der blonde Junge löste sich aus der Gruppe und trat forsch auf Philippe zu. »Tiens donc... der Bezoar-Verkäufer!« Er musterte ihn unverhohlen kritisch. Sein vorhin noch so lebendiges und übermütiges Jungengesicht hatte sich in eine nichtssagende, ausdruckslose Maske verwandelt. Es war, als hätte man das Kind ausgetauscht. »Weshalb sind Sie noch hier?« Bevor Philippe sich von dem Staunen erholt hatte, dass dieser Junge offensichtlich bei seinem peinlichen Auftritt vor der Königin anwesend gewesen war, wurde er barsch von einem Mann angefahren, der sich ebenfalls genähert hatte. »Monsieur, erweisen Sie dem König von Frankreich den gebührenden Respekt, je vous prie!« Philippe fühlte sich erbleichen. Er schluckte, zog den Hut, legte ein Knie zu Boden und beugte das Haupt vor Louis XIV »Es war keine besondere Absicht, die mich hier festhielt, Sire«, antwortete er. »Wenn Sie sich noch Hoffnungen machen, sind diese vergebens. Man sagt dem Bezoar schließlich nach, er sei eines der besten Gegenmittel bei Vergiftungen. Seine Eminenz ist ein vorsichtiger und
vorsorgender Mensch. Er wird Ihren Schatz gut verwenden können und ihn Ihnen ganz gewiss nicht zurückgeben.« Ein leichtes Vibrieren verlieh der glatten Stimme einen Hauch von Ironie. »Nein, das habe ich auch nicht angenommen, Sire.« Philippe blickte auf, direkt in blaue Augen hinein. »Wussten Sie, dass in Le Havre ein Schiff mit schwedischem Kupfer festliegt? Madame dAiguillon, die die Festung aus dem Nachlass ihres Oheims, Kardinal de Richelieu, erhalten hat, weigert sich, es 34
auslaufen zu lassen, solange Monsieur de Mazarin seine Schulden bei ihr nicht beglichen hat.« Diesmal war es unverkennbar Spott, der die Mundwinkel des jungen Königs kräuselte. Philippe wunderte sich. Woher hatte der Junge dieses Wissen? Im Gespräch wirkte er reifer, als sein Alter es vermuten ließ. Philippe fragte sich, ob dem Hof bewusst war, wie viel eigener kritischer Verstand sich bereits hinter der glatten Jungenstirn abzeichnete. »Nein, das wusste ich nicht, Sire.« »Trotzdem hätten Sie die Anzahlung und das Kupfer nehmen sollen.« Louis lächelte nicht ohne Bosheit. »Sie haben sich wirklich sehr ungeschickt angestellt. Für Geschäfte sind Sie nicht geeignet. Kein Wunder, dass Ihre Familie verarmte.« »Mit all meinem Respekt, ich halte es nicht für die erste Tugend eines Edelmannes, ein guter Händler zu sein, Sire. Und wenn wir verarmten, dann nur, weil meine Mutter das Opfer eines Verrats wurde, während mein Vater im Dienste Ihres Vaters im Ausland weilte.« «Vraiment? Und was taten Sie in der Zeit? Weshalb haben Sie Ihre Mutter nicht vor diesem Verrat bewahrt?« Philippe verspürte einen Stich in seinem Brustkorb. Er senkte den Blick, holte tief Luft. »Sie haben soeben den Finger auf eine eiternde Wunde gelegt, Majesté. Als ich zwei oder drei Jahre älter war als Sie, war ich von Abenteuerlust besessen. Ich verließ meine Familie, um dieser Lust nachzugehen, obwohl mein Vater mir meine Mutter und meine Schwester für die Dauer seiner Abwesenheit anvertraut hatte. Ich habe sie bis heute nicht wiedergesehen.« Seine Stimme wurde rau. »Diese Jugendtorheit habe ich seitdem zutiefst bereut.« »In meinem Alter? Tatsächlich?«, erklang es hell und noch sehr jungenhaft. Doch dann räusperte sich Louis und fuhr wieder in seiner beherrschten monotonen Weise fort: »Mir scheint, als hätten Sie noch viel zu erzählen, Monsieur. Ich und mein Bruder müssen nun zum Tanzunterricht, sonst hätte ich Sie vielleicht gebeten, mir noch mehr von Ihrer Geschichte zu berichten.« Er wandte sich ab, drehte sich aber noch einmal lautlos auf seinen Strümpfen um. »Ach ja ... wenn Sie das Palais verlassen, sollten Sie den Ausgang nehmen, der in die Rue Bons Enfants mündet.« Er winkte dem dunklen Mann zu. »La Porte, bringen Sie mir meine Schuhe!« 34
Die Kinderschar verließ mitsamt den Dienern das Zimmer. Stille breitete sich aus. Philippe erhob sich schwerfällig. Er wischte kurz über seine Knie und drückte sich den Hut wieder auf den Kopf. Erst als er die Stufen zum Erdgeschoss nahm, holte ihn die Erkenntnis der Konsequenzen seines Handelns ein. Er fasste an seine Brust, eine Geste, die ihm zur Gewohnheit geworden war. Doch statt der beruhigenden, bauchigen Schwere trafen seine Finger nur auf einen leeren Beutel. Leere, in diesem Beutel, in seinem Kopf, in der Börse, die an seinem Gürtel hing. Er presste die Zähne aufeinander. Der Bezoar war einmal der Inbegriff all seiner Hoffnungen gewesen -jetzt war er das Symbol der Verbundenheit zwischen einer Königin und ihrer Kreatur. Philippe bewegte die Schultern in seiner engen Jacke. Sein Rücken brannte. Er ignorierte es und schritt wütend aus. »Monsieur! Sind Sie Monsieur de Vigueil? So warten Sie doch!« Philippe blickte irritiert zurück und hielt an. Er befand sich bereits auf dem gepflasterten Vorhof, der sich zwischen dem Teil der Gebäude, die Mazarin bewohnte, und dem gewaltigen schmiedeeisernen Gitter des Palais Royal erstreckte. Ein schniefender Lakai kam schleppenden Schrittes hinter ihm hergelaufen. »Sie sind es doch, oder?« »Ja, allerdings. Was ...?« »Hier.« Der Lakai hievte Philippe einen sehr großen Beutel in die Arme. Philippe schnappte unter dem Gewicht nach Luft. »Und hier der Brief. Adieu, Monsieur le Comte.« Der Lakai eilte hinweg, mit einer Hand seine Perücke gegen den scharfen Wind verteidigend. Philippe legte sich den Beutel in eine Armbeuge. Er durchbrach das Siegel des Briefes und entfaltete das Papier.
»Monsieur«, las er, »als Geschenk kann ich den Bezoar nicht annehmen. Doch ich kaufe ihn Ihnen ab. Anne.« Philippe pfiff durch die Zähne. Er sah hoch, als er auf die Straße trat. Rue Bons Enfants, stand auf einem Straßenschild zu lesen. 35
Isabelle sah sich diskret um, wie schon unzählige Male vorher innerhalb der letzten Stunde. Die Morgenandacht war vorbei, der Geistliche, der sie zelebrierte, hatte nach einem kurzen Gespräch mit Pére Forbon das Hotel de Noirlieu bereits wieder verlassen. Sie legte ihr Gesicht in ihre Hände. Ihr war kalt. Sie empfand den leeren Raum hinter sich als bedrohlich, lauschte angestrengt. Nichts. Keine Schritte, keine Stimme. Nichts, was Leben oder Bewegung andeutete. Noch nie war ihr aufgefallen, wie still dieser Raum war. Verflixt ... Wo blieb denn der Schreiber des Drohbriefes? Was für ein Spiel trieb er mit ihr? Ihr Blick fiel auf ihre Ringe. Ob der Mensch, der verlangte, dass sie ihren Großeltern ihr Geheimnis preisgab, sich mit einem Rubin zufriedengeben würde? Ob er mehr wollte? Mehr Geld? Oder etwas anderes? Was um alles in der Welt könnte das sein? Isabelle stöhnte auf, ließ ihre Hände auf ihren Schoß fallen. Bei Gott, diese ewigen Fragen würden sie noch verrückt machen! Der Mensch sollte sich zeigen und sagen, was er wollte! Wie sonst sollte sie kämpfen, sich wehren? Sie ergriff ihr Stundenbuch, wie immer, wenn ihr die Zeit in der Kapelle zu lang wurde. Es war eine Kostbarkeit, ein in rotes Leder gebundenes Familienerbstück, das schon zweihundert Jahre zählte. Ihre Großmutter hatte es ihr zur Weihnachtsfeier vor vier Wochen geschenkt. Isabelle liebte es weniger wegen der lateinischen Texte als wegen der zierlichen und akribisch handgemalten Bildbeigaben. Einhörner, Seeschlangen, Wüstentiere und fremdartige Landschaften tummelten sich in fröhlich bunter Unordnung auf den Seiten und boten einen wundervollen Zeitvertreib. Isabelle stutzte, ihr Blick blieb an einer kleinen Echse mit spiralförmig eingerolltem Schwanz hängen. Selbstvergessen strich ihr Zeigefinger über die Miniatur. Doch die Empfindung spendete keinen Trost, diesmal ertastete ihre Haut nur von den Jahren vergilbtes und etwas steif gewordenes Papier. Ob das Chamäleon wieder im Käfig von Gaston d'Orléans hockte und vergeblich darauf wartete, gefüttert zu werden? Sie blätterte schnell um. Die folgenden zwei Seiten sprangen auseinander. Ein Blatt fiel in ihren Schoß. Ein kleines Blatt, sorgfältig gescheitelt. Und darauf eine schwarze Schrift. Isabelle benetzte ihre Lippen, entfaltete ungeschickt das Papier. 35
»Mademoiselle, verzeihen Sie, wenn ich mich vorerst nicht zu erkennen gebe. Ich gestehe, dass mein Mut nicht das Niveau meiner Ambitionen erreicht. Doch meine Schwäche macht mein Anliegen nicht weniger dringlich und ändert auch nichts an meiner Entschlossenheit: Zu lange habe ich geduldet, was ich nach so vielen Jahren zunehmend als schreiendes Unrecht empfinde. Wenn Ihnen etwas am Leben eines Menschen liegt, der, so hoffe ich, Ihnen nicht gleichgültig ist, so folgen Sie meinem dringenden Wunsch: Reden Sie mit Ihren Großeltern. Zeigen Sie meinen Brief. Sonst bürge ich für nichts.« Das Blatt entschwebte Isabelles Händen. Sie starrte es ein paar Sekunden lang an, ohne sich zu rühren, bückte sich dann, hob es auf, ließ es voller Abscheu auf den Nebensitz fallen. Ihr war noch immer kalt, doch trotzdem glühte ihr Nacken. Ihr Blick flog hoch, zu dem kostbaren Kreuz an der Wand. Sie faltete die Hände, rutschte auf die Knie. Doch kein Wort des Gebetes kam über ihre Lippen, und auch das Kreuz verschwamm vor ihren Augen. Stattdessen waren sie plötzlich da: die alten Bilder, die längst vergessen geglaubten Eindrücke und Gerüche. Ein Geruch von verkohltem Holz. Der Pfiff, der den Morgen zerriss. Die Erinnerungen eines dünnen, neunjährigen Mädchens. Wo hatte sie damals gestanden, als sie den Pfiff ihres Bruders gehört hatte? Im Haus? Ja, natürlich. In einer dunklen Ecke des zerstörten Hauses. Sie hatte sich vor Fleurent verborgen. Und nur der Hahn hatte ihm geantwortet. »Magdelaine? Magdelaine, bist du da irgendwo?« Isabelle erschauerte. Wie präsent ihr noch alle Details des damaligen Tages waren! Sie schloss die Augen. Und auf einmal stand sie wieder in den Ruinen ihres Elternhauses. «Sœurette? Nun komm schon aus deinem Versteck. Camille hat mir gesagt, dass du ins Haus gegangen bist.« Jung hatte Fleurents Stimme geklungen, ein wenig sorglos, selbst an diesem Tag. Sie hatte sich nicht gerührt, sondern vorsichtig weitergeatmet, um nicht von dem beißenden Geruch von
Verbranntem zum Husten gebracht zu werden. Doch es hatte ihr nichts genutzt, sich zu verstecken. Auf einmal hatte sich ihr vier Jahre älterer Bruder vor ihr aufgebaut. »Na, da bist du ja endlich!« 36
Wie gut Isabelle sich noch an sein Aussehen erinnerte an diesem Morgen! Schlaksig und sehnig, sonnenverbrannt, die Haare leuchtend blond, die Hände schwielig, die Nägel schwarz und eine dicke Rußschicht auf der Haut. »Was machst du hier? Vater hat uns verboten, im Haus herumzuwühlen! Es ist viel zu gefährlich, das restliche Dach kann jeden Augenblick einstürzen!« Sie hatte die Schultern gezuckt. »Ich kann schon auf mich aufpassen. Vielleicht finde ich ja noch etwas Brauchbares.« »Etwas Brauchbares? In diesem Trümmerhaufen?« Fleurent hatte den blonden Kopf geschüttelt. »He, sœurette ...« Auf einmal hatte seine Stimme weich geklungen. »Du brauchst dich nicht zu verstecken, um zu weinen.« »Ich weine nicht. Es ist der Rauch«, hatte sie widersprochen und sich die Augen gerieben. »Wenn ich etwas finde, werden wir es bestimmt eine Woche lang an die Luft hängen müssen, um den Gestank ...« »Du wirst nichts finden, Magdelaine. Außer dem, was Vater gestern Nacht noch aus den Flammen gerettet hat, ist alles verbrannt. Alles.« Sie hatte geschluckt und gewispert: »Hier, schau mal, man kann unser Bett noch erkennen ...» Sie hatte sich nochmals über die Augen gewischt. »Erinnerst du dich an das Medaillon, das Mama mir schenkte, als sie vor einem Jahr starb? Das mit der Heiligen Jungfrau drauf? Ich hab es getragen. Immer. Jeden Tag seitdem. Ich hab es gestern verloren, als wir alle hinausgerannt sind. Die Kette muss gerissen sein ...« Fleurent hatte sie an sich gezogen. Sie wusste noch genau, wie beißend sein Nachthemd nach Rauch gestunken hatte. »Ja, ich erinnere mich, sceurette«, hatte Fleurent gemurmelt und sie ganz fest gehalten. »Ich erinnere mich gut. Mama hat es sehr gemocht. Es wurde ihr von Madame la Comtesse d Arzelles geschenkt, als Mama deren Tochter Isabelle zur Pflege nahm.« »Ich weiß«, hatte sie geflüstert, und die Erinnerung an die arme Isabelle, an ihre verstorbene Milchschwester, hatte ihr erneut die Tränen in die Augen getrieben. Isabelle ... Dünn, zart, fast durchscheinend war sie gewesen. Ihr Gesicht hatte nur aus Augen bestanden, und wenn sie sich bewegt hatte, war es mit leichten, schwebenden Schritten gewesen, die kaum Abdrücke hinterlassen hatten. 36
Isabelle hatte sie als Erste verlassen. Dann war ihre Mutter gestorben, und jetzt war das Haus abgebrannt. »Magdelaine, werden wir jetzt immer draußen schlafen müssen?« Wie gut, mein Gott, wie gut erinnerte sie sich an diese Frage! Und an die beiden kleinen verschmierten Gesichter ihrer Schwestern, die an der Fensteröffnung erschienen waren ... Isabelle faltete die Hände, presste sie an ihre geschlossenen Augen. Ob das der Augenblick gewesen war, in dem sie realisiert hatte, dass sie und niemand sonst die Verantwortung für ihre Geschwister trug? Sie wusste es bis heute nicht, doch sie hatte sich später oft diese Frage gestellt. Was sie hingegen ganz genau wusste, war, dass sie sich seltsamerweise zugleich schrecklich hilflos und wild entschlossen gefühlt hatte. «Sœurette, komm schnell raus!«, rief da ihr Bruder von draußen. »Neben Vater steht ein Wagen im Hof, den musst du dir ansehen!« Und wie der Wagen ausgesehen hatte! In Isabelle hallte noch heute das Echo ihrer Fassungslosigkeit vor dem unglaublichen Anblick nach. Eine Kutsche hatte im Hof gestanden und vier graue Pferde, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte, waren ihr vorgespannt gewesen. Ihre Beine waren ihr viel zu fein und zierlich für die runden dampfenden Leiber vorgekommen, und sie erinnerte sich noch genau, wie die Tiere ständig die schmalen Köpfe mit den Scheuklappen hochgerissen hatten und wie aufsässig sie auf ihren Trensen gekaut hatten. Die muskulösen Wallache, die blinkenden Scheiben und das selbst durch eine Staubschicht schimmernde Holz der Kutsche hatten abstrus und wie einem Märchen entsprungen gewirkt inmitten der wenigen Habseligkeiten, die die Familie aus dem nächtlichen Brand hatte retten können. Dann war ein Mann vom Bock gesprungen und hatte den Schlag aufgerissen. Isabelle massierte ihre Schläfen. Raphaël de Branne. Sie hatte ihn damals zum ersten Mal in ihrem Leben erblickt, als er vom Innern des Wagens nach draußen gespäht hatte. Heute wusste sie, dass
er sich weder besonders kostspielig noch geschmackvoll kleidete und niemals aufwändiger, als es einem Sekretär zustand, doch damals 37
war sie von seiner Erscheinung überwältigt worden. Waren es seine langen, gelockten und sorgfältig mit einer breiten Schleife zurückgebundenen Haare, die sie am meisten beeindruckt hatten? Seine Seidenstrümpfe, seine blinkenden Knöpfe? Seine so sauberen Schuhe mit den großen Schnallen und den unmöglichen hohen Absätzen? Sie hatte nur dagestanden, mit offenem Mund, und versucht, die eigenen schwarzen bloßen Füße unter dem zu hohen Saum ihres rußverschmierten Nachthemdes zu verbergen. »Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie den weiten Weg von Paris ins Perigord auf sich genommen haben, nur um mich zu besuchen, Monseigneur?« Die Stimme ihres Vaters hatte ernst geklungen und unterlegt von misstrauischem Staunen. »In der Tat, mon brave«, hatte Raphael de Branne geantwortet, und sein Pariser Akzent hatte seltsam in ihren Ohren geklungen. »Es war nicht leicht, Sie zu finden, Monsieur Malvoy. In Corloup konnte mir keiner sagen, wohin Sie gezogen sind ...« »Nun, Sie kennen die Umstände, denke ich«, hatte ihr Vater geantwortet und die Stirn gerunzelt. »Ich hatte Angst um meine Familie. Nach dem, was mit Monsieur und Madame dArzelles geschah, nach den Ereignissen vor acht Jahren ...« »Ja, natürlich. Meine Herrin, Madame la Duchesse de Noirlieu, hat sie nie verkraftet. Madame dArzelles war schließlich ihre einzige Tochter. Jeder wird sich vorstellen können, was es für eine Mutter heißt, ihr Kind unter so tragischen Umständen zu verlieren.« Cypriens Fäuste hatten die Taschen seiner schäbigen Jacke ausgebeult. Bei dem ungewohnten Anblick seines runden Rückens und seines gesenkten Hauptes hatte sich ihr leerer Magen noch mehr verkrampft. »Verzeihen Sie, ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Monsieur...« »Raphael de Branne, pour vous servir...« »Monsieur de Branne, aber weshalb sind Sie gekommen? Es ist, wie gesagt, acht Jahre her, dass die dArzelles umkamen!« »Nun, ganz einfach, ich will die Kleine abholen!«, war die autoritäre Antwort gewesen. »Die Kleine?« »Ja, wie heißt doch noch die Tochter von den dArzelles ... Isabelle, nicht wahr? Mein Herr, Monseigneur le Duc de Noirlieu, wird 37
seine Enkelin zu sich nach Paris nehmen. Natürlich möchte er sich bei Ihnen für Ihre Loyalität und Ihren bewundernswerten Einsatz bedanken.« Raphael de Branne hatte innegehalten und einen Beutel aus dem Wagen geschleudert. »In dieser Börse befinden sich zweihundert Louis. Es ist der Dank meines Herren dafür, dass Sie sich so selbstlos um das Mädchen gekümmert haben.« Cyprien hatte wie versteinert verfolgt, wie der schwere Beutel mit einem metallenen Geräusch schräg hinter ihm in den Lehm gefallen war. Eine leichte Röte war auf seine Stirn getreten. »Aber zweihundert Louis sind sehr viel mehr, als ich in acht Jahren für das Kind hätte auslegen können!« Er hatte sich den blonden Bart gerieben und sich umgedreht. Sein Blick war ruhelos umhergeschweift, hatte die noch immer rauchenden Balken, den trostlosen Hof gestreift, seine Kinder in Nachthemden, die dem Gespräch stumm beiwohnten. »Ich verstehe Ihre Verwirrung«, hatte Raphael de Branne behauptet. »Vielleicht werden Sie die Lage besser einschätzen können, wenn ich Ihnen verrate, dass dieses Kind inzwischen einen hohen Wert für Monseigneur de Noirlieu besitzt. Monsieur Raoul de Noirlieu, der jüngste und leider auch letzte Sohn meines Herren, verschied voriges Jahr.« »Ich verstehe.« Cyprien hatte sich aufgerichtet, die Falten in seinen Augenwinkeln hatten sich vertieft. »Jetzt, wo das Haus der Noirlieus keinen Erben mehr hat, besinnt sich Ihr Herr nach Jahren des Schweigens darauf, dass er noch eine Enkelin besitzt, irgendwo im Perigord. Wie klug von ihm!« Seine Zähne hatten in einer Grimasse aufgeblitzt. »Acht Jahre sind eine lange Zeit, Monsieur de Branne. Vieles kann geschehen ... Vielleicht hätten Sie uns früher aufsuchen sollen.« »Ich habe mich ein wenig umgehört. Es wäre mir sehr unangenehm gewesen, Ihnen dieses Geld vor die Nase zu halten, nur um es Ihnen wieder wegnehmen zu müssen«, hatte Raphael de Branne mit einem Lächeln in der Stimme geantwortet. »Ich habe im Dorf erfahren, dass Unser Herr gütig mit Monseigneur de Noirlieu war und Nachsicht mit seiner - wollen wir es Vergesslichkeit nennen? - hatte. Ich weiß, dass Sie unter den Kindern Ihres Hauses ein neunjähriges Mädchen beherbergen. Der Beutel gehört Ihnen. Doch genug gere-
8z
det. Ich möchte heute noch einen passablen Gasthof erreichen.« Raphael de Branne hatte sich die Handschuhe übergestreift. »Wo ist die Tochter der d'Arzelles?« Der Puls hatte laut in ihren Ohren gedröhnt, und ihre Zunge hatte schlaff wie ein totes Tier in ihrem Mund gelegen. Es war ihr einfach nicht gelungen, den Blick von dem Beutel abzuwenden. Dort hatte ein Schatz gelegen, der sie nicht nur durch diesen, sondern durch viele weitere Jahre bringen würde. Das Ende all ihrer Sorgen, ein Dach über dem Bett ihrer Schwestern ... Sie hatte ihren Vater den Kopf schütteln sehen. Sie hatte seinen Rücken sich erneut runden sehen. Sie hatte Ergebenheit auf seine Stirn treten sehen. Er hatte den Mund geöffnet, Luft geholt... »Hier!« Wie sie gelaufen war! Wie sie sich vor dem Schlag aufgebaut hatte, wie sie sich dem Fremden entgegengestreckt hatte! »Hier bin ich!« Nur ein einziges Mal hatte sie sich umgedreht. Hatte in die ungläubigen, erstarrten Gesichter ihrer Lieben geschaut. Doch nur kurz. Sehr kurz. Und bevor das, was in ihrem Inneren aufschrie, zu laut hatte werden können, war sie in den Wagen gesprungen. »Ich bin Isabelle!« Ein Ruf, ein Schrei, ein Abschied. Isabelle wischte über ihre Augen. Sieben Jahre waren vergangen, seit aus Magdelaine Isabelle geworden war. Es schien ihr unglaublich im Nachhinein, doch niemand hatte jemals irgendeinen Zweifel über ihre Identität verlauten lassen. Ihre Großeltern hatten akzeptiert, dass ihre Enkelin ihre ersten Jahre auf einem Bauernhof verbracht hatte, ihre einzige Veränderung an der Geschichte hatte darin bestanden, dass sie vor der Öffentlichkeit die bäuerlichen Malvoys zu verarmten Landadligen erhöhten. Sieben Jahre. Und jetzt, plötzlich, nach all dieser Zeit, erschien ein Mensch in ihrem Leben, der ihr Geheimnis kannte. Wie war das möglich? Was war schiefgelaufen? Und vor allem: Wie konnte sie ihren Vater und ihre Geschwister schützen? Der zweite Brief stellte eindeutig eine Drohung an ihre Familie dar. Isabelle kämpfte mit Kraft gegen ihre Angst an, versuchte ihre 38
Gedanken zu ordnen, Klarheit zu erlangen. Es war ausgeschlossen, dass sie Helenus und Marie-Olympe den Betrug aufdeckte. Die Konsequenzen einer solchen Enthüllung für sie und ihre Familie wollte sie sich gar nicht erst ausmalen. Wer mochte der Mensch sein, der ihr solche Briefe schrieb? Der erste hatte unter ihrem Frühstückstablett gelegen, ein Platz, der keine Rückschlüsse auf den Verfasser zuließ. Ihr Zimmer war immer offen, der Brief hätte dort auch von einem Küchenjungen deponiert werden können, dem ein Fremder dafür auf der Straße eine Münze in die Hand gedrückt hatte. Der zweite Brief jedoch war in ihr Stundenbuch gelegt worden. Der Erpresser musste demnach jemand sein, der ihre Gewohnheiten kannte. Der wusste, dass sie in dem Büchlein zu blättern pflegte, wenn ihr die Zeit in der Kapelle lang wurde. Sie besaß das Stundenbuch erst seit vier Wochen. Es war also jemand, der sie in letzter Zeit des Öfteren beobachtet hatte, jemand, der aus dem Haushalt stammte und ihr nahestand. Sie sog heftig die kalte Luft ein, kämpfte gegen die Beklemmung an, die sich erneut ihrer bemächtigen wollte. Gut. Sie war auf dem richtigen Weg. Nur nicht den Kopf verlieren. Sie hob den Kopf. Cyprien. Sie musste ihrem Vater schreiben und ihn um Rat bitten. Vielleicht wusste er, wer der Erpresser war. Und auch wenn nicht - es würde gut sein, sich jemandem mitzuteilen. Isabelle faltete den Brief zusammen, steckte ihn ein, erhob sich. Das Stundenbuch nahm sie mit sich. An irgendetwas musste sie sich jetzt festhalten. Die Kirche der Saints-Innocents war nur von mittlerer Größe, doch ihre schwere Gestalt strahlte die Ehrwürdigkeit vergangener Jahrhunderte aus. Ein großer Brunnen lehnte sich an sie, von Mägden und Bettlern umlagert. Seit gestern herrschte mildes Wetter, und nur wenige Eiskristalle hingen noch an den kupfernen Mäulern der wasserspeienden Löwenköpfe. Das Plappern der Dienstmädchen und das muntere Rauschen des Brunnens verstummten, als Philippe einen kleinen Vorbau betrat, 38
der nur aus einem dunklen Gang bestand. Er führte direkt in das Kircheninnere. Philippe blieb kurz stehen, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, das unter dem hohen Gewölbe herrschte.
Als er neben einem Beichtstuhl eine braune Kutte entdeckte, die von einem weißen Haarkranz erhellt wurde, steuerte er auf sie zu. »Guten Morgen, mon pere«, begrüßte er den Pater. »Ah, Sie sind es ...«Der Mönch zog seine weißen Brauen zusammen und kaute auf seiner Oberlippe. »Haben Sie es sich anders überlegt?«, fragte Philippe ruhig. »Nein«, antwortete der Geistliche. »Ich täte es nicht für jeden, aber Sie haben mich gestern überzeugt, dass die Umstände ... Nun ja.« Er gab sich einen Ruck, der ihn um eine Daumenbreite wachsen ließ. Mit einem schnellen Blick auf den Leinensack auf Philippes Schulter fragte er: »Ist es ...?« »Ja, mon pere.« »Hier ist ein Leichentuch, mon fils. Die Schwestern von Sainte-Catherine, die hier die Toten vom Hötel-Dieu bestatten, hatten es liegen gelassen.« Philippe nahm das Tuch aus den Armen von einem der beiden Messdiener, die dem Pater folgten. Er öffnete den Leinensack und brachte das in ihm befindliche Bündel zum Vorschein. Das sorgfältig verschnürte Ziegenleder war schlecht gegerbt worden und an mehreren Stellen brüchig. Er schlug das graue Tuch auf, durchtrennte dann die lederne Schnur, die die Ziegenfelle zusammenhielt. Nur kurz betrachtete er den verblichenen, gelblichen Haufen, der nun frei vor ihm auf dem steinernen Kirchenboden lag. Den Schädel legte er vorerst beiseite. Als Erstes bettete er Oberschenkelknochen und Schienbeine nebeneinander auf das Leichentuch, weil sie die größten und kräftigsten waren. Daneben die Knochen der Oberarme - der rechte Oberarm war leicht verbogen, die Folge eines alten Reitunfalls - und Elle und Speiche beider Seiten. Auf diese die flachen Schaufeln von Hüfte und Schulterblatt, die langen spitzen Rippen, die zum Teil gebrochen waren, die Ringe der Wirbelsäule und endlich die vielen restlichen Knöchelchen, die er separat eingewickelt hatte, um sie nicht zu verlieren. Er betrachtete kurz sein Werk mit hängenden Schultern, horchte 39
in sich hinein, auf der vergeblichen Suche nach einer Empfindung. Dann bemerkte er, dass der Schädel noch abseits lag, ergriff ihn und hielt ihn vor sein Gesicht. Feine Linien liefen auf der gelblichen, glatten Fläche. Ein Loch klaffte ein Stück über der rechten Braue ... nicht besonders groß. Philippe erinnerte sich noch gut an den Stein, der es damals verursachte hatte. Er hatte ihn in die Hand genommen. Ein Stein wie so viele andere. Unauffällig, nicht besonders groß. Behutsam bettete Philippe den Schädel auf den Knochenhaufen. Dann stand er auf und machte einen Schritt zurück. Der Pater winkte, und die beiden bleichen Messdiener zückten Nadel und Faden. Binnen kurzer Zeit war das Leichentuch mit groben Stichen vernäht. Philippe hob das Paket auf den kleinen Altar der Kapelle. Die Knaben entzündeten zwei Kerzen. Philippe kniete auf dem ausgetretenen Steinboden nieder, den Hut in der Hand. Er senkte den Kopf, als der Mönch zum Gottesdienst anhob. Die lateinischen Worte schienen zu kreisen, umschlossen ihn wie die Voluten des Weihrauchs. Teilweise war ihm das, was da vorne geschah, fremd, und viele der Gebete verstand er nicht. Zu lange war es her, dass christliche Rituale einen Teil seines Alltags gebildet hatten, und seinem Lateinunterricht, den er mit vierzehn Jahren so abrupt unterbrochen hatte, hatte er nie nachgetrauert. Dennoch war ihm, als kehre er ein zweites Mal heim, und er fühlte sich ein paar Augenblicke lang geborgen. Der Mönch drehte sich zu Philippe um. »Wir können jetzt auf den Friedhofsplatz gehen. Der Seele dieses armen Sünders wurde Genüge getan. Ich bin sicher, Gott wir ihm gnädig sein und ihn empfangen, auch wenn nie die letzte Ölung seine Stirn berührte.« »Danke.« Sie verließen die Kirche durch ein Portal, das direkt auf den Friedhof führte. Kurze Zeit später stand Philippe mit dem Geistlichen an der Grube, während der Totengräber und sein Gehilfe unter Ächzen das Grab aushoben. Erneut ärgerte er sich über seine Gefühllosigkeit. Schließlich wartete er schon seit Jahren auf diesen Augenblick! Hatte er sich nicht besonders in den verzweifeltsten Stunden geschworen, dass dieses Begräbnis stattfinden würde? Mit einer wütenden Inbrunst, an der er sich immer wieder aufgerichtet hatte? 39
Er hob den Kopf. Ob er nicht mehr fähig war, tiefe Gefühle zu empfinden? Vielleicht hatte er die Zähne zu lange unter der sengenden Sonne zusammengebissen. Vielleicht war sein Inneres genauso entstellt wie sein Äußeres. Aber dafür hatte er überlebt. Er hatte überlebt! Er richtete sich auf, und Stärke durchströmte seine Adern. Er war entkommen. Es war eingetreten, was von Anfang an seine Überzeugung gewesen war: Er war auserwählt gewesen, die Gefangenschaft zu überstehen. Das, was ihn von allen anderen unterschieden hatte, seine ererbte, ureigene Kraft hatte ihn nie im Stich gelassen. Weil Gott nicht gestatten würde, dass das Verbrechen, das an seiner Familie begangen worden war, ungesühnt bliebe. Er war nun frei. Und er hatte Geld genug. Die Zeit der Rache war gekommen. Als Erstes musste er den Aufenthaltsort seiner Mutter und seiner Schwester erfahren. Und dafür sich neu einkleiden. Er hatte bereits gestern beim alten Stadthaus seiner Eltern vorgesprochen, doch die neuen Besitzer hatten ihn dort harsch abweisen lassen. Philippe sah zu seinen Füßen. Erde sprang aus dem Loch in klebrigen Haufen. Er brauchte auch eine anständige Adresse, gleich nachher würde er sich nach einem neuen Quartier umsehen. Und dann Helenus de Faurepas. Philippe kreuzte die Arme. Ein erfolgversprechender Name. Mace hatte ihn oft erwähnt. Der beste und älteste Freund seines Vaters. Wenn seine Mutter in ihrer Not jemanden um Hilfe gebeten hatte, dann den Herzog de Noirlieu und dessen Frau. Sie würden wissen, wo Jehanne und ihre Tochter heute waren. Philippe schloss die Fäuste. Sie würden wissen, ob sie noch lebten. Er musste nur noch einen Weg finden, bis zum Herzog vorzudringen. Der Name Vigueil alleine würde keinen hochnäsigen Bediensteten dazu bringen, ihn zu melden. Philippe hatte sich umgehört. Man sagte, die Faurepas de Noirlieu seien immens reich, sie wurden tagtäglich von Bittstellern belagert. Er musste also jemanden finden, der ihn vorstellte oder ein Empfehlungsschreiben für ihn verfasste. Und sich bis dahin gedulden. Philippe runzelte die Stirn. Er war es nicht gewöhnt zu warten, 40
zu taktieren. Es würde ihm schwerfallen - fiel ihm schon jetzt schwer. Er schaute, ohne sie wirklich wahrzunehmen, den Menschen hinterher, die gleichgültig am Grab vorbeieilten: Die Marktstände der Halles grenzten an die Saints-Innocents, und das kahle Feld bot eine willkommene Abkürzung auf dem Weg dorthin. Die Wäschehändlerinnen hingegen, die unter den Arkaden standen, hatten sich auf dem Friedhof selber eingerichtet. Sie wiegten sich ungeduldig in den Hüften, während sie auf das Ende des Begräbnisses warteten, um ihre Ware erneut in die Arkaden hängen zu dürfen. »Wie breit soll's denn werden?« Philippe blickte an seinen Füßen herunter. Der Totengräber sah aus der Grube empor. »Es ist so«, fuhr dieser fort, »normalerweise haben Sie Recht auf ein fünf mal zweieinhalb Fuß weites Loch.« Er zog die Nase hoch. »Andererseits, wenn man die Größe dieses Bündels sieht...« »Sie können es ruhig kleiner machen«, antwortete Philippe. »Dafür müssten Sie allerdings im Preis nachlassen«, warf eine hochmütige Stimme in seinem Rücken ein. Philippe drehte sich überrascht um. Octave de Pleinpont stand schräg hinter ihm, die Hände im Kreuz verschränkt, und verfolgte, wie der Gehilfe des Totengräbers die stinkende Erde aus der wachsenden Grube schaufelte. Der Totengräber hatte sich auf seine Schaufel gestützt und machte ein griesgrämiges Gesicht. »Aber es gibt keine Regelung, die die Bezahlung eines so kleinen ...« »Schon gut. Sie bekommen genauso viel wie für ein Grab normalen Ausmaßes«, unterbrach ihn Philippe. Die Züge des Totengräbers erhellten sich. »Sehr freundlich von Ihnen, Monsieur. Na ... das hätten wir dann ja bald.« Pleinpont fasste an seinen Hut. »Enchante, Sie wiederzutreffen, Monsieur de Vigueil.« »Ganz meinerseits«, grüßte Philippe zurückhaltend. Er warf ihm einen Seitenblick zu. »Sie gehen spazieren?« Die Brauen des Mannes schnellten in die Höhe. »Spazieren, mon eher?« Er deutete auf die triefnasse Umgebung mit einer Geste, die an Lässigkeit und abwertender Eleganz kaum zu überbieten war, entblößte die langen gelben Zähne. »Hier...? Nein, wirklich nicht. Zum 40
Zeitvertreib gibt es aufheiterndere Orte, selbst die Straßenhunde kommen nur wegen des überragenden Angebots an Knochen in die Saints-Innocents. Wenn man sich hier aufhält, ist es, um Geschäfte zu machen, oder ...«, er warf einen Blick auf das Grab,»... oder um sich von jemandem zu verabschieden.« Er sah Philippe an. »Ein Bekannter von Ihnen?« Philippe sah in das übelriechende Loch hinunter, aus dem nun mühselig der Totengräber und sein Gehilfe krabbelten. Und auf einmal war der Schmerz da. Unvermutet, grausam. Er verkrampfte die Finger in dem Filz seines Hutes und schluckte hart. »Er war mein Vater.« Der Vicomte schwieg, und Philippe war dankbar dafür. Das Bündel wurde versenkt. Der Pater sprach die letzte Segnung aus. Der heftiger werdende Regen verschluckte das Weihwasser, das der Pater verspritzte. Eine Viertelstunde später war die Bestattung vollendet und die Gruppe löste sich auf. Philippe hatte dem Pater einen Obolus in die Hand gedrückt und auch den Totengräber und seinen Gehilfen entlohnt. Die Wäscherinnen legten wieder ihre Waren unter dem schützenden Dach der Arkade aus. »Wie ich hörte, haben Sie Ihre Meinung geändert, seit wir uns das letzte Mal trafen, und Sie bevorzugen es, Ihre Geschäfte im Palais Royal abzuwickeln.« Ein kalter grüner Funke glomm zwischen Pleinponts schweren Lidern. Philippe verneigte sich knapp. »Dann werden Sie auch gehört haben, dass dem Luxembourg mein erster Weg galt, Monsieur, ich es aber verschlossen fand.« Der andere maß ihn mit Blicken. »Hindernisse sind da, um überwunden zu werden, Vigueil. Ein Pferd, das vor jeder Barriere hält, wird nie als Erstes zum Ziel gelangen, sondern als Ackergaul enden.« Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ ihn. Philippe schloss die Fäuste, gleichermaßen verblüfft über die Frechheit Pleinponts und wütend über dessen Zurechtweisung. Sa-crebleu ... War denn jeder in dieser Stadt auf Gedeih und Verderb verdammt, sich ein Lager zu wählen? Was gingen sie ihn an, die Ma-zarins und Orleans dieser Welt? Er hatte nicht vor, ein Parteigänger zu werden. 41
Er beobachtete, wie Pleinpont von ein paar Männern empfangen und willkommen geheißen wurde. Der Vicomte verbeugte sich vor einem von ihnen, wahrscheinlich war es der Anführer der Truppe. Sogar aus der Ferne war ersichtlich, dass dieser ein außergewöhnlich schöner Mann war, sein wallend blondes Haar lugte unter seinem Hut hervor und leuchtete selbst im trüben Licht dieses Februarmorgens. Es wurde viel gelacht in der Gruppe, es gab Schulterklopfen, laute Ausrufe. Einer der Männer zog ein Paket aus seinem Mantel und schnürte es auf. Bedruckte Papiere kamen zum Vorschein, die der Mann an seine Gefährten austeilte. Diese liefen auseinander, verteilten sich über dem Friedhof. Bald hämmerte es in den verschiedensten Ecken. Philippe runzelte die Stirn. Plakate hingen nun auf den Holzpfeilern der Arkaden, und Menschen begannen, sich darum zu versammeln. Er stellte sich ebenfalls dazu. Der gedruckte Text war gleichzeitig ein Bericht über den Verlauf einer Sitzung des Parlaments und ein offener Aufruf zum Aufstand. Anscheinend hatte Gaston d'Orleans während der Sitzung offen die Haft des Prinzen de Conde verurteilt und dessen Freilassung für eine Staatsnotwendigkeit erklärt. Der Herzog d'Orleans, so hieß es, habe verkündet, nicht mehr am Staatsrat teilzunehmen, solange Jules Mazarin dort erscheinen würde. Außerdem habe er dem Vorsteher der Kaufmannschaft und den Anführern der Miliz befohlen, vor dem Palais Royal Wache zu halten, damit die königliche Familie sich daraus nicht entferne. Jeder Bürger von Paris wurde angewiesen, sein Verhalten diesen Umständen anzupassen. Ein Mann vor Philippe las das Plakat mit lauter Stimme vor. Erste Schmährufe auf Mazarin wurden laut, erste Fäuste schössen gen Himmel, Jubelschreie wurden spontan ausgestoßen. Philippe musste schlucken. Er entzog sich der Menschengruppe. Philippe dachte an Jules Mazarin, der ihn vor drei Tagen empfangen hatte. Ob dieser dem Druck seiner Widersacher gewachsen war? Offenbar braute sich ein heftiges Gewitter über der Regierung zusammen. Gaston d'Orleans, der Onkel des Königs, machte also gemeinsame Sache mit den Frondeurs und Conde. Philippe fragte sich, wie lange es ihm gelingen würde, sich aus dem politischen Wespennest herauszuhalten. 9o
Die Plakatanbringer waren verschwunden, wohl um an anderer Stelle ihr Werk fortzusetzen. Die Halles mit ihren bunten Marktständen und den scharfzüngigen Verkäuferinnen waren gerade mal
eine Straße entfernt, sie waren gewiss ein guter Nährboden für aufrührerische Reden. Philippe entschloss sich zu gehen. Er wollte durch die Porte Saint Eustache den Friedhof verlassen, doch als er näher kam, sah er, dass der Durchlass in die Rue aux Fers von einer Menschengruppe verstopft war. Er näherte sich arglos, da er vermutete, dass eines der Plakate den Auflauf verursachte. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, erkannte er seinen Irrtum. Zu seiner Verwunderung stand Pleinpont vor ihm, er war in Begleitung des blonden Anführers. Beide hatten wohl ebenfalls den Friedhof verlassen wollen, doch fünf Männer hinderten sie daran. Auch diese hatten Plakate mit sich geführt, die Blätter lagen zerstreut im Schlamm. Philippe konnte nur wenige Worte entziffern, doch es reichte aus, um seine Vermutung zu bestätigen: Die fünf vertraten das andere politische Lager - Mazarin antwortete bereits auf die Provokation von Orléans und seinen Verbündeten. Eins musste man dem Minister lassen: Er reagierte schnell. Für Philippe war es schon öfters lebensnotwendig gewesen, Menschen rasch einzuschätzen. Die finsteren Mienen der fünf ließen befürchten, dass sie noch ganz anderen Tätigkeiten als dem Anbringen von Plakaten nachgingen. Im Gegensatz zu Pleinpont und seinem Gefährten hatten sie tintenverschmierte, grobe Hände, und ihren knochigen Gliedern war anzusehen, dass sie nicht jeden Tag satt wurden. Sie waren kräftig und entschlossen - und sie waren gereizt worden, vermutete Philippe. Sicherlich waren die bedruckten Blätter nicht durch ihre Ungeschicklichkeit in den Schlamm geraten. Seine Überlegungen wurden von einem der fünf bestätigt, einem Mann mit tiefschwarzem Bart, der mit einem unguten Lächeln ausrief: »He, Schönling, das war aber ein ganz übler Trick von dir!« Pleinponts Freund verzog den Mund zu einem kühlem Lächeln. »Wenn Sie damit andeuten wollen, dass ich schnell und entschieden handelte, so will ich es nicht abstreiten. Andererseits gebührt mir, wie ich befürchte, nur wenig Anerkennung, um die Ordnung dieser 42
Welt wiederhergestellt zu haben: in den Schmutz, was dem Schmutz entsprang.« »Hast du verstanden, was der da faselt, Sanscceur?«, fragte einer der Männer. »Ouais«, bleckte der erste die Zähne. »Der Schönling hat uns beleidigt. Erst schmeißt er unsere Plakate in den Dreck, und dann reißt er auch noch das Maul auf. Ganz schön frech, oder, was meint ihr?« »Sogar reichlich unverschämt, Sanscceur, wenn du mich fragst!«, knurrte ein Dritter. »Unverschämt und dumm«, bekräftigte ein anderer und kreuzte die Arme. Sanscceur grinste, hakte die Daumen in seinem Gürtel ein und stellte die Beine auseinander. »Da hört ihr's: Meine Männer finden euch richtig dämlich, Hochwohlgeboren!«, lachte er laut. Philippe hätte es wohl nicht so drastisch ausgedrückt, doch auch er fand die Vorgehensweise der beiden fragwürdig. Nicht nur, dass Pleinponts Freund die fünf um ihren Lohn geprellt hatte wahrscheinlich würde ihr Auftraggeber ihnen auch noch die verdorbenen Plakate in Rechnung stellen. Die Kerle sahen nicht aus, als würden sie einen solchen Affront ungesühnt lassen. Wenigstens Pleinpont schien über etwas Realitätssinn zu verfügen, denn er beugte sich zu dem blonden Edelmann hinüber und murmelte etwas. Doch sein gut aussehender Begleiter machte nur eine wegwerfende Geste. »Monsieur, was juckt es einen Löwen, wenn Mücken ihn umsir-ren?«, antwortete er laut. »Ich habe diesen Leuten demonstriert, dass sie dem falschen Herrn dienen. Sie werden aus ihrem Schaden lernen und es berücksichtigen, sobald sie wieder zur Besinnung gekommen sind.« Er maß Sanscceur und seine Kumpane mit hochmütigem Blick. »Wir sind nun fertig mit Ihnen, Messieurs. Lassen Sie uns passieren, je vous prie.« »Passieren?«, äffte Sanscceur den Blonden nach, warf den Kopf nach hinten und lachte schallend. »Habt ihr's gehört, Leute? Er will, dass wir ihn passieren lassen!« »Tun wir doch gerne!«, antwortete ein Mann mit aufgeworfener Nase und baute sich vor Pleinponts Freund auf. »Dir wird jetzt eine Menge passieren, Freundchen!« Er zog sein Messer. 91
So wenig sensibel sich der blonde Edelmann im Einschätzen der Situation gezeigt hatte, so erfahren und gewandt erwies er sich im Umgang mit Waffen. Der Dolch, den er plötzlich in der Hand hielt, war lang und extrem spitz. Auch Pleinpont zog ein Stilett. Seine Augenlider schoben sich etwas hoch, doch sein Gesicht blieb unbewegt. Auf einmal blitzten in allen Händen Waffen auf. Der Kampf begann ohne Vorwarnung.
Philippe spannte die Muskeln an und legte die Hände an den Gürtel, während ein warnendes Prickeln über seine Haut lief. Das Bewusstsein einer Gefahr durchzuckte wie ein Blitz seinen Körper. Seine Sinne schärften sich, sein Atem beschleunigte sich kaum merkbar, auch wenn sein Herzschlag kräftig und ruhig blieb. Er verfolgte aufmerksam das Geschehen vor ihm. Pleinpont hatte zwei Kontrahenten, sein blonder Begleiter sah sich drei Gegnern gegenüber. Der gut aussehende Mann war geschickt und schnell. Die Überzahl, gegen die er zu kämpfen hatte, schien ihn nicht zu beeindrucken. Er setzte sein Messer mit Kunst und Freude an der körperlichen Betätigung ein. Die Männer, die ihm gegenüberstanden, kämpften anders, kämpften so, wie Philippe es auch getan hätte: instinktiv und ohne Regeln und sich jederzeit bewusst, dass ihr Leben auf dem Spiel stand. Ein Schrei und ein Poltern von rechts ließ Philippe sich Pleinpont zuwenden. Der Vicomte befand sich in einer heiklen Lage. Er lag am Boden und wehrte sich buchstäblich mit Händen und Füßen gegen seine Angreifer. Sein Gesicht war angespannt, wenn auch ohne Angst, Schweiß stand auf seiner Stirn. Eines seiner Hosenbeine klaffte auseinander, ein langer roter Schnitt blitzte darunter hervor. Philippe traf seine Entscheidung in einer Sekunde. »Was geht hier vor?«, rief er, um von dem Vicomte abzulenken. Die zwei drehten sich um. »Misch dich nicht ein!«, warnte der erste. »Mit dir haben wir nichts zu schaffen!« »Ich war Gast in dem Hause dieses Herren«, erwiderte Philippe. »Sie werden mich in Ihre kleine Runde mit einbeziehen müssen!« »Wie du wünschst«, entgegnete der Mann achselzuckend, wandte sich scheinbar gleichgültig ab, drehte sich dann aber blitzschnell wieder um und holte mit der Waffe aus. 43
Philippe hatte zehn Jahre lang gegen Mitgefangene, Gefängniswärter, Sklaventreiber, Janitscharen und den Abschaum der Straßen von Algier sein Leben verteidigen müssen. Er reagierte routiniert. In einem Sprung stand er an dem Mann. Er ergriff mit beiden Händen dessen rechten Arm, schlug ihm das Messer aus der Faust, schleuderte ihn halb um sich, bis er hinter ihm zu stehen kam, trat ihm mit aller Kraft in die linke Kniekehle und versetzte ihm einen Fausthieb in die Nierengegend. Der Mann stieß einen Schrei aus, der halb Überraschung und halb Schmerz war, stolperte und fiel auf die Knie. Sofort saß ihm Philippes Messer an der Kehle. »Schön sachte, mon ami«, murmelte Philippe dem stöhnenden Mann ins Ohr. »Überleg dir jetzt gut, was du sagen und tun wirst.« »Schon gut«, würgte der Kerl. Philippe erkannte mit Genugtuung, dass Pleinpont seine Intervention genutzt hatte, um wieder auf die Füße zu kommen und einen Gegenangriff zu starten. Der Vicomte fügte seinem Gegenüber eine Verletzung zu, die diesen aufheulen und Reißaus nehmen ließ. Für den blonden Edelmann hingegen spitzte sich die Lage zu. Zwei seiner Gegner hielten seine aufmerksamkeit von vorne gefangen. Der dritte hatte sich von ihnen gelöst und näherte sich ihm jetzt von hinten. »Vorsicht, Monseigneur, hinter Ihnen!«, schrie der Vicomte. Der blonde Mann drehte sich schnell um, wehrte im letzten Augenblick einen Schlag ab. Doch nun setzten ihm die zwei Gegner von vorne verstärkt zu. Pleinpont wollte ihm zur Hilfe eilen, doch seine Beinverletzung hinderte ihn an einem schnellen Einschreiten. Philippe runzelte die Stirn. Die Abwehr des Blonden erlahmte deutlich. Er schlug sich tapfer, war jedoch sichtlich am Ende seiner Kräfte. Es war keine Zeit zu verlieren. »Schnell, dein Messer! Mit der Linken!«, fuhr Philippe den Mann zwischen seinen Beinen an, und verfestigte noch seinen Griff. Der Kerl stöhnte, verzog das Gesicht und fingerte schwer atmend und mit einer Hand an seinem Gürtel herum. »So ist es gut! Schön langsam!« Philippe ergriff die ihm dargebotene Waffe ebenfalls mit der linken Hand. Er legte die fremde Klinge an die Gurgel seines Gefangenen. Dann erfasste er sein eigenes Messer am Klingenende zwischen Zeigefinger und Daumen. Er wartete atemlos, bis die Kämpfenden vor ihm sich günstig präsentierten. 43
Seine Muskeln spannten sich an. Da ...! Im Bruchteil einer Sekunde erkannte er den richtigen Augenblick - sein Arm schnellte vor. Die Klinge flog kreisend durch die Luft, löste einen gellenden Schrei aus. Der Angreifer, der dem blonden Edelmann am nächsten stand, ließ seine Klinge fallen und fasste sich an die blutende Schulter. Er warf Philippe noch einen ungläubigen Blick aus weit aufgerissenen Augen zu, wich
zurück, fiel über ein leeres Fass, rappelte sich wieder auf und stürzte davon, als habe er den Leibhaftigen erblickt. Die zwei übrig gebliebenen kampffähigen Männer sahen sich plötzlich einer Übermacht gegenüber. Sie zögerten nicht lange und machten, dass sie wegkamen. Jetzt blieb nur noch der Mann über, der noch immer mit bleichem Gesicht und steifem Nacken zwischen Philippes Beinen kauerte. Philippe zog ihn hoch, stieß ihn von sich. »Verschwinde von hier, und lass es dir eine Lehre sein! Wenn ich dich noch einmal erwische, bringe ich dich eigenhändig vor den Richter!«, sagte er. Der Mann zog hastig seinen Hut aus dem Schlamm und floh, sichtlich erleichtert. »Parbleu, Monsieur, welch ein Wurf!«, rief der blonde Edelmann aus. »So etwas habe ich noch nie gesehen!« Er klopfte seine Kleider aus, maß erneut mit Blicken die Distanz, die zwischen ihm und Philippe lag. Dann bückte er sich, hob Philippes Messer auf und trat langsam an ihn heran. »Par tous les saints, das nenne ich ein Messer«, staunte er und bewegte das polierte Eisen zwischen seinen Fingern. »Schwer wie Blei. Es sieht so urtümlich aus, so archaisch ...« Er lachte auf und scherzte: »Sie haben die Klinge wohl selbst gemacht?« »Das habe ich in der Tat«, antwortete Philippe ruhig und streckte die Hand nach seinem Messer aus. Doch der Blonde übersah die Geste. »Haben Sie das gehört, Pleinpont? Schauen Sie sich mal dieses Stück Metall an! Damit würde ich den Pferden aus meinem Stall nicht einmal die Hufe auskratzen lassen!« Pleinpont hinkte herbei. Der Vicomte warf einen Blick auf das Messer. »Erstaunlich, in der Tat, Monsieur le Duc. Und auch wieder nicht, wenn man bedenkt, wer dieses Messer besitzt. Monsieur de Vigueil ist mir bekannt dafür, dass sich ungewöhnliche Dinge in seinem Besitz befinden.« Er verbeugte sich vor Philippe. »Monsieur, ich 44
bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Ihre Intervention war höchst willkommen.« »Es war mir eine Freude«, antwortete Philippe, »und eine Selbstverständlichkeit. Schließlich stand ich in Ihrer Schuld, seit Sie so freundlich waren, mich in Ihrem Hause zu empfangen.« »Sie kennen sich?«, hob der Blonde die Brauen. »Dann stellen Sie uns vor, Vicomte! Ich brenne darauf zu wissen, wer dieser Herr ist!« Pleinpont nannte Philippes Namen und stellte seinen blonden Begleiter als den Herzog Francois de Beaufort vor. Philippe konnte seine Überraschung nur schwer verbergen. Ihm war Beauforts Name geläufig, schon in der ersten Stunde seines Aufenthalts in Paris hatte Pleinpont ihn genannt. Hatte denn ein Mann, der bei der Königin und Gaston d'Orléans ein und aus ging, nichts Besseres zu tun, als auf dem Friedhof Plakate anzubringen und sich mit Tagelöhnern herumzuschlagen? »Vigueil de Rochastre, soso. Sehr erfreut«, lächelte Beaufort und klopfte Philippe auf den Rücken, als wären sie bereits seit Jahren die besten Freunde. »Vigueil, ich will, dass Sie mich in drei Tagen besuchen kommen. Um halb zehn in meinem Waffensaal. Sie werden mir beibringen, wie man mit Messern wirft.« Philippe versteifte sich und beherrschte sich nur mit Mühe. Am liebsten hätte er Beauforts Hand heruntergeschlagen. Bereits die bloße Berührung durch einen Fremden war ihm unangenehm, das vertrauliche Geklopfe auf seinem Rücken aber war mehr, als er aushalten konnte. Er verbeugte sich knapp. »Monseigneur, verzeihen Sie, doch ich möchte mich nun verabschieden. Dringliche Geschäfte ...« »Aber natürlich«, lächelte Beaufort gönnerhaft. Mit einem Seufzer sah er an sich herab. »Ich habe vollstes Verständnis - wir müssen schließlich alle dringend an unserer Erscheinung arbeiten. Wir sehen uns also in drei Tagen.« Philippe holte Luft. Es gab kein Entrinnen. Er konnte Beaufort nicht einfach verprellen, ohne ihn sich zum erbitterten Feind zu machen. Und ein Sprössling aus dem Hause Vendòme war ein zu mächtiger Feind für einen Neuankömmling wie ihn, der über keinerlei Protektion verfügte. Er verneigte sich knapp. »Ich werde kommen, Monseigneur.« 44
Vier Wir vergessen unsere Fehler schnell, wenn außer uns niemand von ihnen weiß. Februar 1651
Conrad klopfte an, erhielt aber keine Antwort. Einen irritierten Gedanken an Finot, den halb tauben Diener seines Vaters schenkend, drückte er die Tür auf. Das Zimmer seines Vaters war
dunkel, einzig der Schreibtisch badete im warmen Licht eines Öllämpchens. Raphaels gebeugte Gestalt zeichnete sich davor ab. »Darf ich hereinkommen?« Conrads Vater drehte sich der Tür zu. »Aber natürlich, mein Sohn.« Er deutete auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich. Ich bin gleich fertig, dann können wir reden.« Conrad tat wie geheißen. Der Stuhl knarzte, sein rotes Lederpolster war zerschlissen, die stämmigen Beine zerkratzt. Er gehörte schon seit ewigen Zeiten ihrer Familie und war, soweit Conrad wusste, außer einer bemalten Truhe, dem Kaminbesteck und einer Hutschachtel das Einzige, was sein Vater vor Jahren in das Hotel de Noirlieu übersiedelt hatte - das Einzige, was Raphael nach dem Tod seines Vaters geerbt hatte. Alles andere in diesem Zimmer gehörte den Noirlieus... Bis hin zum Tintenfässchen, das sein Vater so eifrig beanspruchte. Conrad streckte die Beine von sich. Die Feder seines Vaters kratzte auf dem kleinen, eng beschriebenen Buch. Nur noch ein paar Seiten, dann würde es gefüllt sein. So gefüllt wie die achtundzwanzig anderen Hefte, die sich in dem kleinen Regal drängten, das den Platz zwischen den zwei Fenstern einnahm. Achtundzwanzig Hefte gefüllt mit Belanglosigkeiten, mit einem halben Jahrhundert Beobachtungen über das Wetter, mit mitleidigen Kommentaren über die Gichtanfälle des Herzogs und ach so weisen Vorschlägen gegen die Hungersnöte des Mobs. Es machte Conrad krank, daran zu denken, wie viel verlorene Zeit, wie viel vertaner Elan und vergeudete Chancen in diesen Tagebüchern steckten! 45
Conrad knöpfte seine Jacke auf, warf ein Bein über das andere und ließ sich zurückfallen. Ein Geruch von feuchter Tinte erfüllte die Luft, vermischt mit den harzigen Ausdünstungen der Kiefernscheite, die sein Vater gerne im Kamin verheizte, und dem leicht säuerlichen Altmännergeruch, der von dessen Kleidern ausging. Das Öllicht vertiefte die Falten in Raphaels Gesicht, die tausend kleinen Spuren, die siebzig Lebensjahre hinterlassen hatten. Wieder einmal wurde Conrad bewusst, dass sein Vater alt war. Und wieder einmal fragte er sich, wie Raphael die Gewissheit ertrug, dass er bald sterben würde und dass er sein ganzes Leben dem Dienst eines anderen verschrieben hatte. Nicht eines Gottes. Oder einer grandiosen Idee. Nein, eines Mannes, den als Einziges kennzeichnete, unter einer Herzogskrone geboren worden zu sein. Conrad zog die Beine an, rutschte in eine andere Stellung. »Sie sehen zornig aus, mein Sohn.« Raphael de Branne legte die Feder zurück, schob das Heft von sich und nahm die Augengläser von der Nase. »Hatten Sie Ärger mit Ihrer Arbeit?« »Ich hatte noch nie Ärger mit meiner Arbeit, Monsieur mon pere«, gab Conrad zurück. »Also haben Sie Ärger mit sich selber. Oder mit mir«, lächelte Raphael. »Aber nein, es ist nichts. Nur Gedanken ...« »Schön, dass Sie den Weg zu mir gefunden haben. Ich habe schon seit Tagen gemerkt, dass Sie etwas beschäftigt, und gehofft, Sie würden sich mir öffnen.« Er hob das Heft vor sich in Augenhöhe, kontrollierte, ob die Tinte schon getrocknet war, und legte das Buch sorgfältig wieder zurück. Conrad schnippte ein Staubkörnchen von seinen Beinkleidern. Sorgfaltig, ja. Das ganze Leben seines Vaters war sorgfältig gewesen. Ordentlich. Gewissenhaft und treu. Nicht ein Aufbäumen, keine Passion. Nicht ein Funke, geschweige denn ein Feuer. Herrje, hatte Raphael denn nie den Rausch empfunden, der ihn selbst immer wieder durchbrauste? Die Gier, die Unzufriedenheit? Er schloss die Fäuste. Hatte er sie nie gesucht - die Ekstase? Egal, dachte er. Wir sind verschieden. Ich bin jung, ich habe alles noch vor mir. Und ich werde mir alles holen. Auch sie. Vor allem sie! Er sprang auf, begann, im Zimmer hin und her zu laufen. 45
»Mon fils!« Der Ausruf seines Vaters ließ Conrad innehalten. »Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von diesen Gedanken. Oder verlassen Sie mein Zimmer.« »Verzeihung.« Conrad nahm wieder seinen Stuhl ein. Sein Vater hatte recht. Er benahm sich wie ein Trottel. Auf diesem Wege würde er nie etwas von Raphaël erfahren. »Es ist nur...« »Ist es die Verlobung von Mademoiselle dArzelles?«, fragte Raphaël. »Ich kann verstehen, dass Sie beunruhigt sind. Sie bangen um Ihre Stelle?« Conrad konnte gerade noch ein Auflachen unterdrücken. Er senkte seinen Kopf, was als Eingeständnis oder auch als Zeichen seiner Scham gedeutet werden mochte. Seine Stelle! Wenn sein Vater gewusst hätte, wie verdammt gleichgültig diese Stelle ihm war! »Ihre Sorgen sind überflüssig«, redete Raphaël auf ihn ein. »Ich kenne die Noirlieus seit unzähligen Jahren. Ich bin sicher, dass man Sie nicht auf die Straße setzen wird.«
Conrad schüttelte den Kopf. Er verlieh seiner Stimme einen schmerzlichen Klang, als er antwortete: »Sie kennen den Herzog, Monsieur mon père. Das will ich nicht abstreiten. Aber Mademoiselle dArzelles ist weitaus unberechenbarer. Wissen Sie, père, mir ist bewusst geworden, dass meine Herrin mir sehr fremd ist. Wenn ich wenigstens etwas mehr über ihre Geschichte oder die ihrer Eltern erfahren könnte, würde es mich vielleicht beruhigen. Aber so bin ich meinen Fantasien ausgeliefert...« Er warf seinem Vater einen Seitenblick zu. Raphaël hatte sein Kinn in eine Hand gestützt. Gut, dachte Conrad. Ich bin auf dem richtigen Weg. Es war so verdammt schwierig, seinem Vater etwas über die Vergangenheit der Noirlieus zu entlocken, Raphaël war so verflixt ergeben und treu! »Ich fürchte, Ihnen nicht viel helfen zu können. Sie wissen alles, was auch ich weiß - und das ganze Haus.« Er hielt inne. Conrad sah ihn auffordernd an. Raphaël runzelte leicht die Stirn und fuhr langsam und wie widerstrebend fort: »Als ich vor zweiundzwanzig Jahren in den Dienst der Noirlieus trat, war Thérèse de Faurepas, die Mutter von Mademoiselle dArzelles, bereits zehn Jahre alt. Sie war das mittlere der drei Kinder von Monsieur le Duc, ein reizendes, verwöhntes Mädchen. Besonders ihre Mutter, die Duchesse, liebte sie 46
sehr. Doch sie war ein Wildfang. Mit vierzehn Jahren ließ sie sich von Jacques-Henry d'Arzelles entführen und heiraten. D'Arzelles war ein Windhund, ein kleiner Adeliger aus dem Perigord, der sich wohl viel von der Mitgift der Tochter des Herzogs versprach.« »Ich habe gehört, dass Madame la Duchesse selber ihrer Tochter half, unentdeckt zu ihrem Geliebten zu gelangen ...« Raphaels Gesicht verschloss sich. »Auf Gerüchte sollten Sie nichts geben, mon fils.« Er schüttelte den Kopf. »Jacques-Henry d'Arzelles war Madame la Duchesse genauso zuwider wie Monsieur le Duc.« »Aber wenn eine Mutter eine vielgeliebte Tochter von vierzehn Jahren hat, überlegt sie sich doch schon länger, mit wem sie diese verheiraten will!« »Die Frage stellte sich nicht. Mademoiselle Therese war schon seit langem von Monsieur le Duc aufgrund eines alten Abkommens versprochen worden. Und auch wenn dieses Abkommen Madame la Duchesse wenig schmeckte, so lag es doch nicht in ihrer Macht, etwas dagegen zu unternehmen.« Conrad schwieg. Den Bereich der Spekulationen würde Raphael nicht mit ihm betreten wollen, das war ihm klar. Sein Vater würde ihm Fakten erzählen, mehr nicht. Vermutungen musste Conrad wohl selber anstellen. Außerdem war es für seine eigenen Belange nebensächlich, ob Marie-Olympe de Faurepas ihre Tochter Therese in die Arme dieses Abenteurers geworfen hatte. Man kann seine Herkunft nicht verleugnen . . . Dieser Satz aus dem zufällig gefundenen Drohbrief leuchtete noch klar und deutlich vor seinen Augen. Isabelle d'Arzelles hatte sich gefügt, sie war in die Hauskapelle gegangen. Sie war erpressbar, so viel stand fest. Doch weshalb? Es gab etwas Dunkles in ihrer Vergangenheit, in ihrer Herkunft, das er herausfinden musste. Ob sie ein Bastard war? Ob Jacques-Henry d'Arzelles Therese nie geheiratet hatte? Es war die einzige Möglichkeit, die ihm bisher eingefallen war. »Wie ging es weiter?«, fragte er. »Was passierte nach der Flucht von Therese de Faurepas?« Raphael verzog das Gesicht. Das ganze Gespräch behagte ihm offensichtlich nicht. »Man weiß nicht viel über die Zeit nach der übereilten Hochzeit.« IOO
»Ich war sieben damals. Ich erinnere mich noch gut, dass Monsieur le Duc schrecklich getobt hat!«, meinte Conrad. »Er war höchst ungehalten, ja«, korrigierte Raphael in deutlich sachlichem Tonfall. »Er brach jeden Kontakt zu seiner Tochter ab. Und er behielt die Mitgift. Jacques-Henry d'Arzelles hat nie ein Wort mit seinem Schwiegervater getauscht, geschweige denn, dass er einen einzigen Louis von ihm bekommen hätte. Vielleicht hätte sich ihrer beider Verhältnis mit der Zeit normalisiert, doch es kam nicht mehr dazu. Schon zwei Jahre nach der Hochzeit kamen die d'Arzelles in ihrem Schloss um.« Raphael wiegte den Kopf hin und her. »Eine schreckliche Sache. Und eine schreckliche Zeit. Madame la Duchesse war außer sich vor Schmerz. Sie hatte in den vergangenen zwei Jahren bereits sehr unter der Trennung von Therese gelitten. Ihre Tochter war ihr ein und alles.« »Verlässt sie deshalb ihr Zimmer nicht mehr?«, fragte Conrad. Raphael klappte sein Heft zu. »Nein. Es hat damit nichts zu tun. Madame la Duchesse schloss sich erst Jahre später ein.« Er warf Conrad einen scharfen Blick zu.
»Aber die dArzelles hatten noch eine Tochter, und die hatte die Unruhen überlebt. Weshalb nahmen Monsieur und Madame de Faurepas ihre Enkelin nicht sogleich zu sich?« Raphael wischte imaginäre Krümel beiseite. »Die Kränkung, die Therese de Faurepas dem Herzog zufügte, war noch nicht vergessen. Er hatte seine Tochter verstoßen, sie aus seinem Leben ausgeschlossen. Für ihn war sie schon vor ihrem Tod nicht mehr existent. Diese Einstellung übertrug er auf seine Enkelin.« »Also blieb die kleine Isabelle d'Arzelles im Perigord«, spann Conrad die Geschichte weiter. Er lächelte. »Sie hätte dort verhungern können ... Hätte dort sterben können, ohne dass jemand davon gewusst hätte!« »Sie war bei einer braven Familie untergebracht. Es ging ihr gut.« »Wirklich? Woher wusste man das? Hatte sich der Herzog insgeheim über den Verbleib seiner Enkelin erkundigt?«, fragte Conrad beißend. Raphael versuchte erfolglos, sein Unbehagen zu verbergen. »Nein. Er erfuhr es erst, als er mich losschickte, um sie zu holen. Doch das Ergebnis war das gleiche.« IOl
»Ich erinnere mich an Ihre Reise. Isabelle d'Arzelles war damals bereits neun Jahre alt, nicht wahr? Weshalb dieser plötzliche Sinneswandel beim Herzog? Aufgrund einer frommen Anwandlung?« Raphael zögerte mit der Antwort. »Monsieur Raoul war ein Jahr zuvor gestorben.« Conrad nickte. »Richtig. Das letzte Kind von Monsieur le Duc. Und sein letzter Erbe. Plötzlich war Thereses kleine Tochter wertvoll. Der letzte Spross der mächtigen Faurepas ...« »Mon fils, Ihr Tonfall gefällt mir nicht!«, wies Raphael Conrad zurecht. »Sie vergessen, von wem Sie reden und was wir Monsieur le Duc verdanken!« Conrad schlug die Augen nieder und schluckte eine scharfe Antwort hinunter. »Verzeihung, Monsieur mon pere. Sie haben recht.« Er dachte an die Reise seines Vaters, damals, vor langer Zeit. Er selbst war damals siebzehn Jahre alt gewesen, er konnte sich noch gut erinnern, wie gespannt alle im Haus die Rückkehr Raphaels erwartet hatten. Neun Jahre. Neun Jahre, in denen das Kind Isabelle sich selbst überlassen worden war. Wie viel konnte in neun Jahren passieren! »Wie haben Sie sie wiedererkannt?«, fragte Conrad nachdenklich. »Gab es ein Muttermal, ein Wäschestück?« »Nein.« In Raphaels alten Augen glomm gutmütiger Spott. »In neun Jahren wächst jedes Kind aus seinen Windeln heraus.« Er schüttelte den Kopf. »Sie verkennen die Situation, mon fils. Die Mal-voys hatten die kleine Isabelle von Therese zur Pflege bekommen. Sie leisteten Ammendienste, wie es so üblich ist. Als die Unruhen ausbrachen, mussten die Malvoys flüchten. Es war bekannt, dass sie mit den dArzelles liiert waren. Sie fürchteten nicht nur um das Leben des Kindes, sondern auch um ihr eigenes. Sie siedelten sich woanders an und verwischten alle Spuren, die auf Isabelles Identität hätten hindeuten können. Ich hatte damals Schwierigkeiten, die guten Leute überhaupt aufzuspüren, und habe Wochen dafür gebraucht.« Conrad horchte auf. »Ammendienste? Aber keine Dame, die etwas auf sich hält, wird ihr Dekollete dadurch verderben, dass sie einem Kind die Brust gibt! Selbst einer Freundin zuliebe nicht!« Raphaels faltige Wangen röteten sich leicht. »Das ... Das mochte 47
besagter Dame egal sein.« Er schlug mit der Hand auf den Tisch, sichtlich unzufrieden mit sich selber. »Parbleu ... Die Malvoys sind keine Edelleute. Es sind Bauern.« »Bauern? Isabelle d'Arzelles ist auf einem Bauernhof aufgewachsen?«, fragte Conrad verblüfft. »Monsieur le Duc hat die Geschichte etwas geschönt.« Raphael beugte sich vor, sah Conrad eindringlich an. »Es macht keinen Unterschied. Es sind ehrbare Leute, die viele Gefahren und Unannehmlichkeiten auf sich genommen haben, um Thereses Tochter zu retten. Und Sie werden dieses Detail nicht weitererzählen, hören Sie, mon fils? Ich erwarte, nein, ich fordere von Ihnen absolute Diskretion! Haben Sie mich verstanden?« »Oui... Aber ja, natürlich!«, nickte Conrad. Gleichzeitig überlegte er fieberhaft. »Wirklich eine erstaunliche Geschichte. Diese Malvoys müssen herzensgute Menschen sein. Ich hoffe, sie sind für ihren Einsatz belohnt worden.« »Monsieur le Duc war sehr großzügig«, antwortete Raphael knapp und stand auf. Offenbar war ihm die Lust am Reden vergangen. Conrad tat ein Gleiches. Er war es zufrieden - ja, er konnte es kaum erwarten, alleine zu sein.
Bauern, dachte er kurz darauf, als er das Zimmer seines Vaters verließ. Einfache Leute, die hart arbeiten müssen, um zu überleben. Sie nehmen ein Kind auf, für kurze Zeit, wie sie glauben. Doch sie irren sich. Erst nach neun Jahren erkundigt sich jemand danach. Ein Mann, der ihnen viel Geld dafür bietet. Sie übergeben es ihm. Möglich. Möglich, dass es so gelaufen ist. Und dennoch ... Neun Jahre sind eine lange Zeit. Viele Säuglinge sterben, viele Kinder verhungern oder gehen an Seuchen zugrunde. Besonders auf dem Land. Und wahrscheinlich ganz besonders, wenn es nicht das eigene und ein Klotz am Bein ist. Man kann seine Herkunft nicht verleugnen . . .
Welcher Bauer würde seine Tochter nicht verkaufen, um seiner Familie ein erträglicheres Leben zu bescheren? Neun Jahre, dachte Conrad. Ein Alter, in dem ein frühreifes Bauernmädchen schon gewieft genug sein konnte, um alle zu täuschen. Oder? Conrad hielt inne, zerwühlte sein Haar. Trotzdem ... Was für eine 48
Leistung für ein so junges Ding! Was für eine Selbstbeherrschung! War das glaubwürdig? War es wirklich möglich? Auf einmal wurde Conrad schlecht von der Ungeheuerlichkeit dessen, was er sich gerade ausmalte. Eine kleine Bäuerin als Herzogsenkelin! Man stelle sich das mal vor! Der Skandal, wenn es herauskam! Die Konsequenzen! Für den Herzog, die Malvoys, für das betrügerische Bauernmädchen! Conrad zerrte an seinem Kragen. Vorsicht... Er musste vorsichtig sein. Wenn er falsch lag, konnte es ihm den Kopf kosten. Mit Verleumdern wurde nicht zimperlich umgegangen. Er musste seine Theorie prüfen, musste Gewissheit erlangen. Am besten würde es sein, diese Malvoys aufzusuchen, ein wenig auf den Busch zu klopfen und zu sehen, was ihm dabei vor die Füße purzelte. Und wenn er recht hatte ... Conrad spürte ein Ziehen in der Leistengegend. Ein Lächeln sprang auf seine Lippen, er schloss eine Faust. Wenn er recht hatte, dann würde er sie sich holen. Sie würde ihm gehorchen müssen. O ja, das würde sie! Und dann würde sie ihm den Weg ebnen in ein goldenes Zeitalter! Das Ziehen wurde zu einem unangenehm schmerzlichen Druck. Conrad stöhnte leise, rieb sich den Schritt. Eilig schlug er den Weg zu Marions Kammer ein. Isabelle schnitt einen abgeknickten Zweig ab. Als sie ihn in einen Korb werfen wollte, verfehlte sie ihr Ziel. Sie schob eine Locke hinter ihr Ohr und bückte sich seufzend. Die Orangerie übte sonst immer eine beruhigende Wirkung auf sie aus, doch heute nichts dergleichen. Ihr Blick wanderte über die wohlgeordneten Reihen der bepflanzten Kisten und Töpfe. Sie mochte die Orangerie und ihren lebendigen Geruch nach Feuchtigkeit und Erde. Es war erstaunlich mild hier. Ein Heizraum verbarg sich hinter der Nordwand und gab seine Wärme mittels Kanälen ab, die im Mauerwerk versteckt waren. Außerdem war es hell. Der hohe Raum mündete auf den Park und war auf der ganzen Längsseite verglast. Zusätzlich war ihm eine weiße Kiesfläche vorgelagert, die jeden Sonnenstrahl reflektierte. 48
In den letzten Jahren hatte Isabelle der Orangerie viele Stunden gewidmet. Der verglaste Raum schenkte ihr ein kleines Stück Echtheit. Während sie hier arbeitete, bewegten ihre Hände sich wie von selbst und erlangten alte, fast vergessene Fähigkeiten zurück. Der Gärtner störte sie nicht. Andere Bedienstete kamen hier nicht hin, und Helenus auch nur, wenn er erlesene Gäste durch das Haus führte. Und das Beste von allem war: Marie-Olympe hieß es gut, wenn sie sich hier aufhielt, denn Zitrusbäume zu pflegen und Blumenzwiebeln zum Blühen zu bringen waren edle Beschäftigungen. Isabelle warf den Zweig in den Korb zurück. Ja, in diesem Raum fühlte sie sich sonst immer ausgeglichen, hier kam sie meistens zur Ruhe. Doch heute gelang es ihr kaum, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder tauchten dieselben Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Die Bilder eines Briefes. Aber seltsamerweise auch eines Chamäleons. Oft hatte sie in den letzten Tagen in ihrem Stundenbuch das Bild der kleinen Echse aufgeschlagen. Das Schicksal des Tieres im Kuriositätenkabinett von Gaston d'Orleans ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie wusste, dass es schrecklich sentimental war, doch sie fühlte sich ihm verbunden. Und immer, wenn sie an das Chamäleon dachte, tauchte auch sein Bild vor ihr auf. Der glühende, bezwingende Blick, die kleine Narbe, die seinem Mund einen melancholischen Zug verlieh. Isabelle seufzte erneut verstimmt auf, verzog den Mund und gab dem Korb einen Fußtritt. Sie konnte sich mühelos an jede Sekunde ihres Treffens mit Philippe de Vigueil erinnern. An jedes Detail. Wahrscheinlich auch an jeden Atemzug. Wie war so etwas möglich? Und vor allem: Wozu um alles in der Welt sollte das gut sein?
Isabelle schüttelte den Kopf. Sie hatte beschlossen zu vergessen, und das würde sie auch tun. Bisher hatte sie noch alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatte! Und sie hatte wahrhaft genug Sorgen, um sich den Kopf frei zu halten von Fremden, die höchstwahrscheinlich bereits über irgendein Meer den Rückweg in ihre Heimat angetreten hatten! Unzufrieden mit sich selber wandte sie sich wieder den Pflanzen zu. »Mademoiselle!« Marions Stimme schallte unter der gewölbten Decke. Ihre Zofe duckte sich, um unter den Reihen der dunklen °49
Baumkronen hindurchzuspähen. »Mademoiselle Isabelle, es tut mir leid, aber ein junger Mann steht in der Treppenhalle, der Sie zu sprechen verlangt.« »Ein junger Mann?« Isabelle runzelte die Brauen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht gestört werden möchte. Was will er, und wie heißt er?« »Er wollte seinen Namen nicht nennen, Mademoiselle. Also, er sieht nicht wie ein edler Herr aus, aber ...« Marion errötete leicht, «... aber er ist sauber gekleidet und macht einen redlichen Eindruck. Er hat gesagt, Sie hätten seinem Vater geschrieben, und er brächte Ihnen die Antwort mit.« »Um Gottes willen ...«Isabelle warf ihre Schere in einen Blumentopf, zerrte ihre Handschuhe von den Fingern und schleuderte sie aufs Geratewohl in irgendeine Ecke. Im Laufschritt durchquerte sie den verglasten Raum. Als sie von Weitem eine Gestalt im Treppenhaus erblickte, schlug ihr Herz bis zum Hals. »Fleurent?«, rief sie, »Fleurent, bist du es?« Die Gestalt drehte sich ihr zu. Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des jungen Mannes. Er zog seinen verbeulten Hut vom Kopf und schwenkte ihn hin und her. »Mein Gott, Fleurent ...«, keuchte Isabelle und sauste ihrem Bruder entgegen. Sie warf sich in seine Arme. »Eh bien, was für ein Wirbelsturm! Noch genauso wie früher!« Fleurent presste Isabelle an sein Wams, und sie ließ sich glücklich von dem Geruch nach Schweiß, Heu und Mist einhüllen, den er ausströmte. »Du in Paris... Wie wundervoll! Aber...«Isabelle riss sich los und starrte ihren Bruder an. »Ist etwas passiert... zu Hause?« »Aber nein!«, schüttelte Fleurent den Kopf. »Keine Sorge, sceu...« Er hielt inne, räusperte sich und trat einen Schritt zurück. »Keine Sorge, Mademoiselle.« Isabelle biss sich auf die Lippen und sah um sich. Sie ergriff Fleu-rents Hand. »Komm ... Lass uns hier nicht herumstehen. Bist du hungrig?« Fleurent stöhnte sehnsüchtig. »Einen ganzen Hammel würde ich verzehren. Ich bin in aller Frühe aufgebrochen, und seitdem ...« Isabelle zog Fleurent lachend mit sich. 49
»Dann komm mit in die Küche und lass dich verwöhnen. Außer ein paar Mägden und Küchenjungen wird dort im Augenblick niemand sein, und wir können uns in Ruhe aussprechen.« Doch sie irrte sich. Als sie mit ihrem Bruder die Küche betrat, traf sie dort Timoleon an, der an dem großen Tisch saß und sich an einem Zinnbecher festhielt. Isabelle trat überrascht näher. »Timoleon«, fragte sie, »was machen Sie hier? Ist es nicht Ihr freier Nachmittag?« Der Koch hob den kahlen Kopf. »Sieh an, Mademoiselle Isabelle!«, lächelte er. »Hab ich Sie wieder einmal beim Plündern meiner Töpfe erwischt?« »Das haben Sie, Timoleon. Doch heute habe ich eine Ausrede: Ein Gast ist gekommen, der eine lange Reise hinter sich hat.« Sie und der Koch lächelten sich komplizenhaft an. In der Tat hatte sich Isabelle früher regelmäßig des Nachts hierher verirrt. Ein beängstigender, nie zu stillender Heißhunger hatte sie getrieben. Ob aus Heimweh oder um frühere Entbehrungen zu vergessen, wusste sie selber nicht. »Suson!«, rief Timoleon ein Küchenmädchen herbei, »bring dem jungen Herrn hier etwas zu essen! Von jedem etwas, und nicht zu knapp, hörst du?« »Ja, tout de suite«, sagte die Gerufene eifrig. Sie warf Fleurent einen Blick zu und errötete unter ihren Sommersprossen. »Wenn der junge Herr mir folgen wollen, so könnten wir zusammen in die Töpfe schauen, um auszuwählen, was ihm gefallen würde.« Fleurent strahlte. »Nichts würde ich lieber tun!« Isabelle unterdrückte ein Lächeln. Sie musterte ihren hoch aufgeschossenen blonden Bruder, der sich mit Suson über die Kessel beugte. Er sah gesund und kräftig aus, sein längliches Gesicht war offen, sein Lächeln wirkte anziehend. Schon immer war er beim weiblichen Geschlecht beliebt
gewesen. Ob er langsam daran dachte, eine Familie zu gründen? Auf einmal wurde ihr bewusst, wie wenig sie von dem Leben ihres Bruders wusste, und etwas in ihr zog sich zusammen. Sie wandte sich wieder dem Koch zu. Nach kurzem Zögern setzte sie sich ihm gegenüber. »Timoleon, weshalb sitzen Sie hier alleine?« Er verzog den Mund. »Ich denke nach ...«Er zuckte die Schultern. Isabelle sah ihn prüfend an. Sie biss sich auf die Lippen. »Verzei 50
hen Sie, Timoléon. Ich kenne diese Stimmung: Sie waren auf dem Friedhof, nicht wahr?« Timoléon verengte die Augen. »Wussten Sie, dass sich im letzten Monat der Todestag meiner Mutter zum zwanzigsten Mal gejährt hat?« »Nein, das wusste ich nicht«, schüttelte Isabelle den Kopf. Der Koch schnippte eine Brotkrume auf den gefliesten Boden. Isabelle starrte auf seine Hand. Plötzlich begann ihr Herz zu rasen. Tinte ... Schwarze Tinte befleckte Timoléons schöne, elegante Finger. Timoléon konnte schreiben ... Sie rief sich zur Ordnung. Schließlich musste Timoléon als oberster Koch Rechnungen führen und Listen erstellen können. Und dennoch ... Sie spitzte ihre Sinne, verfolgte jede Regung des Kochs, als sie so beiläufig wie möglich sagte: »Eine sehr lange Zeit. Doch eigentlich spielen die Jahre keine Rolle. Man ist immer zu jung, wenn einem die Mutter stirbt. Ich kann Ihre Empfindungen nachvollziehen. Ich selber war acht, als meine Mutter dahinschied ...« »Acht?«, fragte Timoléon. Er runzelte überrascht die Stirn. »Aber Mademoiselle, Madame Therese dArzelles, Ihre Mutter, kam doch um, als Sie noch sehr viel jünger waren, wenn ich mich nicht irre!« Isabelle, die die Luft angehalten hatte, atmete befreit aus. Timoléons Überraschung war echt, darauf hätte sie ihre Hand verwettet. Gott sei Dank, er war nicht der Verfasser der Drohbriefe! »Ich sprach von meiner Ziehmutter«, beeilte sie sich, Timoléon zu antworten. »An meine leibliche Mutter kann ich mich in der Tat nicht erinnern.« Isabelle versuchte nicht, Timoléon zum Bleiben zu bewegen. Als er aufstand, schwankte er leicht. »Sicher möchten Sie mit Ihrem Besuch alleine sein«, sagte er. Sie sah ihm nachdenklich nach, als er die Küche verließ. Irgendetwas lastete auf Timoléons Seele, das war ihr bereits an dem Tag aufgefallen, als La Rochefoucauld so unerwartet aufgetaucht war. Doch was immer es war und so gern sie den Koch auch hatte - sie hatte zu viele eigene Probleme, um sich auch noch mit denen anderer zu beschäftigen. Timoléon hatte recht: Sie wollte mit Fleurent 50
alleine sein. Sie schickte Suson und zwei Küchenjungen aus dem Raum. Ihr Bruder hatte am anderen Tischende Platz genommen. Er starrte mit großen Augen ein halbes Dutzend gut gefüllter Schalen und Teller an. »Wird hier jeden Tag so viel gegessen?«, fragte er, als sie sich zu ihm setzte. »Nein, während der Mahlzeiten ist die Auswahl größer, aber es ist gerade keine Essenszeit. Doch irgendetwas köchelt immer in Timo-leons Töpfen, bis spät in die Nacht hinein.« Fleurent lud sich mit der Linken eine große Portion Stopfleber auf, legte weiße Bohnen und gedünsteten Kopfsalat hinzu, während er sich mit der Rechten ein Brötchen in den Mund schob. »Klingt paradiesisch!«, seufzte er mit vollem Mund. Isabelle rutschte unruhig auf der Bank hin und her. »Erzähl«, drängte sie in gedämpftem Tonfall. »Was machen Camille und Inno-cente? Wie geht es Pap... Wie geht es deinem Vater?« »Nun ... Innocente wird immer vorlauter mit ihren zehn Jahren. Camille ist da viel ruhiger und besonnener. Vielleicht etwas altklug, aber man kann sich mit ihr schon vernünftig unterhalten. Was Vater betrifft...«Fleurent hievte die vor Fett glänzende Stopfleber auf das halbierte Brot, sah sich kurz um und fuhr vertraulich fort: »Er macht sich Sorgen. Dieser Brief, den du ihm geschickt hast ... Ich weiß nicht, was drinstand, er wollte ihn mir nicht zeigen. Aber seitdem macht er den Mund kaum mehr auf.« Isabelle verspürte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte Cyprien in ihrer Not geschrieben und versucht, ihm die Lage zu erklären, allerdings nur in Andeutungen. »Hat er dir eine Antwort mitgegeben?« Fleurent schüttelte den Kopf. »Er sagte, er könne das, was er mit dir besprechen will, keinem Schreiber anvertrauen. Er wollte sich selbst auf den Weg machen, aber ...« Fleurent zog die Nase hoch. »Ich glaube, er wird allmählich alt. Er hatte einen kleinen Unfall, im Herbst ... Nichts
Schlimmes, ein Zugochse hat ihn getreten, während er ihn am Pflug festmachte, und ihm die rechte Schulter ausgekugelt.« Isabelle schalt sich eine Idiotin. Wie hatte sie vergessen können, 51
dass ihr Vater nicht schreiben, sondern nur lesen konnte? Irritiert fuhr sie Fleurent an: »Am Pflug? Wieso steht Cyprien am Pflug? Er leitet eines der größten Gehöfte der Faurepas und führt die Aufsicht über eine Menge Knechte... Er hat es doch gar nicht mehr nötig, solche Arbeiten selber auszuführen!« Fett rann Fleurents Kinn hinunter, und er wischte es mit seinem Handrücken ab. »Du kennst ihn doch! Er ist überzeugt, dass ohne ihn nichts läuft.« »Aber weshalb weiß ich von dem Unfall nichts? Warum habt ihr mich damals nicht benachrichtigt?«, fragte Isabelle und hielt Fleurent ein leinenes Küchentuch als Serviette hin. »Papa wollte es nicht«, antwortete Fleurent. Er warf die Serviette unbenutzt beiseite. »Wir waren beim Bader, der hat die Schulter wieder eingerenkt. Ein paar Wochen lang hatte Papa große Schmerzen, aber dann schien alles wieder in Ordnung. Doch vor einem Monat ist es wieder passiert. Beim Heuschaufeln, durch irgendeine ungeschickte Bewegung.« Fleurent rülpste laut und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Wirklich toll, diese Leber!« »Ja, und? Seid ihr wieder beim Bader gewesen?« »Klar. Der Arm ist wieder drin.« »Heraus mit der Sprache, Fleurent! Das ist noch nicht alles, nicht wahr? Was hat Vater dir noch aufgetragen, mir zu sagen?« Fleurent sah hoch. Auf einmal war er ernst. Er streckte eine Hand aus und legte sie auf Isabelles Rechte. »Nein, du hast recht. Papa will nicht mehr, Isabelle. Das Gut leiten. Er schickt mich, dir das zu sagen.« »Wie, er will nicht mehr? Einfach so? Weil er ein paar Schmerzen hat, während einer Arbeit, die er gar nicht zu tun braucht?« Isabelle schüttelte den Kopf. Auf einmal stieg Zorn in ihr hoch. »Ja ... Habt ihr denn überhaupt eine Ahnung, wie schwer es war, meinen Großvater so weit zu bringen, Cyprien das Gut zu überlassen? Mit was für Engels Zungen ich...« »Wir wissen, was wir deinem Großvater verdanken, Isabelle«, sagte Fleurent mit seltsamer Betonung. Es versetzte ihr einen Stich. Sie senkte den Blick und schloss eine Faust. Fleurents Finger hatten Ölschlieren und grüne Petersilienspuren auf ihrem Handrücken hinterlassen. HO
»Du hast keine Ahnung!«, murmelte Isabelle verbissen. »Natürlich will Cyprien das Gut weiterhin verwalten. Die Landarbeit ist sein Leben - er liebt es! Wenn er das Gegenteil behauptet, dann nur, weil er uns beschützen will! Ich hätte ihm diesen Brief nie schreiben sollen...« »Isabelle!« Fleurents Tonfall war bittend. Sie sah zögernd auf. »Du sagst, ich hätte keine Ahnung... Glaubst du denn, dass du besser Bescheid weißt, was Vater bewegt? Ist dir klar, dass du uns fast acht Monate lang nicht besucht hast?« Isabelle holte Luft. »Ich hatte ... Ich weiß nicht«, stotterte sie. »Ich kann nicht einfach von hier weg, und ...« »Ich glaube, das ist der Grund, weshalb Papa aufgeben möchte, Isabelle. Nicht die Schulter, auch nicht der Brief- er glaubt, du willst uns und die Vergangenheit vergessen.« »Ihn vergessen? Nur weil ich ein paar Wochen nicht da war? Wie töricht! Wie kann er nur eines solchen dummen Gedankens wegen alles aufgeben wollen? Diese wundervolle Arbeit, die er liebt, die Verantwortung, die er trägt, alles, wovon er früher immer träumte?«, rief Isabelle empört aus. »Nein, sœurette. Das siehst du falsch.« Noch immer sprach Fleurent in dem sanften Tonfall auf sie ein, der ihr das Gefühl gab, ein begriffsstutziges Kind zu sein. Sie schnappte sich die verschmähte Serviette und rubbelte sich Öl und Petersilienbrösel von der Hand. »Er hat die Gutsverwaltung nur deinetwegen übernommen. Geliebt hat er diese Arbeit nie.« Isabelle hielt inne. Ihre Blicke trafen sich. »Es ist nicht sein Land, Isabelle«, meinte Fleurent sanfter denn je. »Früher hatten wir eigenes Land. Als Mama noch lebte ... Erinnerst du dich?« »Ja«, nickte Isabelle. »Es war vor der großen Dürre, die so viele Bauern ruinierte.« »Was du gekannt hast, war nur ein Bruchteil dessen, was wir be-. saßen, als du zur Welt kamst, Isabelle. Du kannst dich nicht daran erinnern, aber ich weiß es noch sehr gut, weil ich damals schon fünf war. Es war gutes Land, soeurette«, fuhr er sinnend fort. »Schwarze, tette Erde, in der es vor Regenwürmern nur so wimmelte. Ein Stück Weideland gehörte dazu, sogar ein Bach und ein winziger Wald. Weshalb, glaubst du, haben die dArzelles damals ausgerechnet
Mama als Amme für ihr Neugeborenes erwählt? Wir Malvoys hatten den schönsten und reichsten Hof im Umkreis.« »Das wusste ich nicht.« »Unser Land grenzte an das der dArzelles. Madame Therese dArzelles hatte ein kleines Mädchen zur selben Zeit auf die Welt gebracht wie Mama, doch es kränkelte. Madame dArzelles war überzeugt, es läge an der schlechten Milch der Amme, die sie eingestellt hatte. Als sie dich und deine runden Backen sah, ruhte sie nicht eher, als bis Mama darin einwilligte, auch ihre Tochter Isabelle zu ernähren. Doch da Mama unseren Vater nicht mit der ganzen Arbeit auf dem Hof alleine lassen wollte, um auf dem Schloss der dArzelles zu wohnen, hat sie Madame dArzelles die Bedingung gestellt, dass die Kleine bei uns wohnen sollte.« »Wie kam es, dass wir alles verloren?« »Die Menschen hatten damals im Perigord genauso wenig zu essen wie heute. Aber sie waren noch nicht so abgestumpft. Es gab Unruhen, Aufrufe gegen die Eintreiber der Salzsteuer. Unser Vater hatte sich nicht daran beteiligt, doch unsere Nachbarn schon. Irgendwann hatten die Menschen der Gegend sich so in Rage geredet, dass sie loszogen. Es waren ein paar hundert. Sie wollten nach Perigueux. Auf dem Weg dorthin brannten sie alles nieder, was ihnen unter die Hände kam, auch zwei Schlösser. Die dArzelles kamen dabei um. Als Vater das hörte, zögerte er nicht lange. Schließlich war überall bekannt, dass wir Isabelle bei uns hatten. Er packte das Wertvollste ein, was sich auf unserem Hof befand, und floh mit uns zu einem Verwandten. Eine weise Entscheidung. Als wir nach einiger Zeit zurückkamen, war alles verbrannt. Der große Hof, die Scheunen mitsamt der Ernte und der Saat. Das Vieh war gestohlen, sogar das Korn, das noch auf den Feldern stand, und der kleine Wald waren angezündet worden.« Fleurent zuckte die Schultern. »Vater hat es nie wahrhaben wollen, doch wenn du meine Meinung willst, so war da eine ganze Menge Neid im Spiel. Die Verwüstung war zu vollkommen, um das Ergebnis von ein paar Aufgebrachten auf dem Durchmarsch zu sein. Und die Nachbarn waren nur allzu gern bereit, uns unser Land abzukaufen.« »Vater hat verkauft?« »Zu einem Bruchteil dessen, was das Land wert war, ja. Wir brauchten das Geld, hatten kein Haus mehr. Unsere Notlage wurde schamlos in
ausgenutzt. Heute finde ich, dass es ein Fehler war aufzugeben. Wir hätten bleiben sollen, versuchen sollen, alles wieder aufzubauen. Doch Vater wollte nicht mehr. Er hatte Angst um uns. Danach ging es immer weiter bergab.« Fleurent lächelte. »Vater hat damals begonnen, seinen Stolz zu verlieren, verstehst du? Mit jedem Stück Land, das er verkaufte, ein wenig mehr. Und wenn er nun jahrelang einen Hof bewirtschaftete, der zum Herzogtum de Noirlieu gehört...« »Mein Gott...«, flüsterte Isabelle und fasste sich an die Stirn. »Wie dumm ich doch war... Aber er hat nie etwas gesagt...« »Er wollte nicht undankbar erscheinen.« Isabelle schluckte ein paar Mal und kämpfte gegen das plötzliche Gefühl der Orientierungslosigkeit an, das sie überfiel. Wenn Cyprien nicht einsah, was für eine unglaubliche Chance ihm geboten wurde, was tat sie dann überhaupt hier? Weshalb kämpfte sie tagtäglich mit der Angst, ihr Schwindel könnte auffliegen? Warum unterwarf sie sich der Laune zweier unleidiger alter Menschen? Weshalb ließ sie sich mit einem Laffen verloben, weshalb ... Sie schob Fragen und Zweifel energisch beiseite. »Ich werde zu ihm fahren«, entschloss sie sich. »So bald wie möglich. Morgen geht es nicht, da muss ich mich um die Vorbereitungen für unseren Empfang kümmern, das habe ich Madame mère versprochen, aber übermorgen ...« »Jetzt übertreib nicht, sœurette. So eilig brauchst du es nun auch wieder nicht zu haben.« Fleurent streckte die Arme und räkelte sich. »Ich bin zum ersten Mal in Paris, da will ich doch nicht morgen schon wieder abreisen! Ich möchte endlich einmal erleben, was du so den ganzen Tag treibst. Wie du lebst. Ist ja ein schmuckes Häuschen, das Hôtel de Noirlieu, alle Achtung!« Isabelle runzelte die Stirn und beugte sich vor. »Bitte hör auf, mich sœurette zu nennen, Fleurent«, sagte sie gedämpft. »Ich will dich gerne hier für ein paar Tage aufnehmen, aber du musst vorsichtig sein!« »Ach, was. Du bist die Milchschwester meiner verstorbenen Schwester Magdelaine, oder nicht? Also bist du auch meine Schwester. Jedenfalls hab ich dich genauso gern wie sie!«, schloss Fleurent mit einem treuen Augenaufschlag. »Du weißt ganz genau, was ich meine. Wir werden uns siezen müs...« 52
Fleurent zog Isabelle an sich heran und sprach ganz dicht an ihr Ohr: »Wenn ich verspreche, mein loses Mundwerk im Zaum zu halten, lässt du mich dann dabei sein?« »Dabei sein? Wobei?«, fragte Isabelle alarmiert. Fleurents Atem strich über ihren Hals. Er roch nach Knoblauch. »Na, an diesem Empfang, den du vorbereiten musst.« »An unserer Soiree? Natürlich nicht! Was ist, wenn dir wieder einmal etwas herausrutscht? Das ist viel zu riskant!« »Unsinn!« Fleurent spießte eine ihrer Locken mit seinem Zeigefinger auf. »Schau, sceurette, ich werde hinterher wieder auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Gönn mir das Vergnügen! Ich leihe mir einen Anzug und stelle mich stumm in eine Ecke. Keiner wird auf mich achten... Und wenn doch, bin ich einfach dein Ziehbruder aus der Provinz.« »Aber meine Großeltern haben verbreitet, ich sei bei adeligen Verwandten aufgewachsen, bevor sie mich holten!« Fleurent lachte laut auf. »So? Macht sich wohl nicht so gut, wenn bekannt würde, dass die Enkelin des Duc de Noirlieu in ihrer Kindheit Schafe gehütet hat?« Er zuckte die Schultern. »Dann spiel ich halt einen armen Landadligen.« Er verzog hochmütig die Brauen, spitzte den Mund, streckte geziert seine rechte Fußspitze vor und machte eine tiefe Verbeugung. »Weißt du noch, wie wir als Kinder den alten Chevalier du Boisleau nachäfften? Der, der immer so stolz auf seine Ziegen war? Enchante, Mademoiselle! Stell dir vor, wie Camille und Innocente lachen werden, wenn ich ihnen das erzähle!« Isabelle schüttelte den Kopf. »Fleurent, es ist kein Spiel...« »Wunderbar! Das wird ein Spaß! Danke, Magdelaine!« Fleurent küsste sie auf die Wange, fasste sie an den Händen und begann, sie um sich herum zu wirbeln. »Nenne mich nicht Magdelaine«, protestierte Isabelle dünn. Sie konnte nicht mehr argumentieren, hatte nur noch Angst, zu straucheln und den Boden unter den Füßen zu verlieren. Und irgendwie wurde sie das scheußliche Gefühl nicht los, dass ihr das in der nächsten Zeit öfter passieren könnte. "53
Julio Mazarini hievte die kleine lederne Truhe auf den Tisch seines Arbeitszimmers. Er öffnete das kunstvoll verzierte Vorhängeschloss, das vor dem Deckel hing, mit dem kleinen Goldschlüssel, den er stets bei sich trug, und klappte den knarrenden Deckel auf. Ein leicht muffiger Geruch stieg ihm in die Nase. Zufrieden beugte er sich über den Inhalt. Keiner der Höflinge, die so gerne über seinen Geschmack für erlesene Kostbarkeiten lästerten, hätte ihm geglaubt, wenn er ihnen verraten hätte, dass diese Truhe einen seiner größten Schätze beinhaltete. Sein Blick strich liebevoll über die Rücken der winzigen Heftchen. Viele waren vergilbt, einige hatten Flecken, alle vom Gebrauch stumpfe, abgerundete Seitenränder. Und jedes war von ihm eigenhändig mit Bleistift oder Tinte beschriftet worden, in früheren Jahren in Italienisch oder Spanisch, inzwischen in französischer Sprache. Er griff wahllos eines heraus, blätterte es durch. Begleitet von einem leisen Rascheln sprangen ihm Kommentare, Namen und Gedanken entgegen, festgehalten in seiner unleserlichen Handschrift. Ein hässliches Geräusch ließ Julio aufmerken. Er sah zum Fenster. Etwas Hartes war auf eine der Scheiben seines Arbeitsraumes geprallt. Er ging hin, stellte sich schräg an den Fensterrahmen und spähte nach draußen. Es war ein Stein ... Er lag noch auf der Brüstung. Nicht groß genug, um die schweren Scheiben zu beschädigen und um den Rauch einzulassen, der da draußen von der Straße hochwaberte. »A mort Mazarin! Nieder mit dem Italiener! Vive Conde!« Julio beugte sich vorsichtig vor. Es war eine Rotte von Gassenjungen - Kinder, keines älter als fünfzehn Jahre. Und das, was auf der Straße vor der schmiedeeisernen Absperrung so qualmte, war ein Strohballen - die Kinder quälten sich trotz des Regens ab, ihn anzuzünden. Nein - doch kein Ballen, eher ein Bündel, so geschnürt, dass es eine grobe Gestalt bekommen hatte. »He, da ist einer! Er guckt runter! Am Fenster, in der Mitte!«, schrie ein zehnjähriger Bengel. Sie sahen nun alle zu ihm hinauf, mit ihren Rotznasen und ihren von der Kälte rot gefleckten Backen. Einer der Alteren riss das qualmende Paket hoch und hangelte sich, einem Affen gleich, ein kleines Stück am schwarzen Gitter empor. Jetzt "53
konnte Julio erkennen, dass es sich um eine Puppe handelte. Ein rudimentäres Kreuz ragte aus dem Ende seines rechten Armstummels. Ein roter Fetzen hing um seinen Leib - ein Kleid oder eine Kutte darstellend.
»Tod dem Mazarin! A bas Mazarin!« Julio trat einen schnellen Schritt zurück. Die Horde grölte vergnügt. Julio runzelte die Stirn. Wo war die Garde bloß abgeblieben? Konnte man denn noch nicht einmal hier im Palast seine Ruhe haben? Schlimm genug, wenn sein Wagen auf der Straße mit Unrat beworfen wurde ... Er seufzte. Er war manches gewöhnt seit damals, als Anne die Franzosen vor den Kopf stieß, indem sie ihn zum ersten Minister ernannte. Man hatte ihn stets spüren lassen, dass er unerwünscht war. Doch seit Gaston d'Orleans vor dem Parlament herausposaunt hatte, dass er die Sache der Condes unterstütze, dass bereits Verträge zwischen den einst gegnerischen Parteien unterzeichnet worden waren, dass Heiraten stattfinden würden, hatte sich die Stimmung noch einmal verschlechtert. Ja, seine Feinde hatten sich hinter seinem Rücken geeinigt. Und er hatte es nicht zu verhindern gewusst. Wie unzählige Male zuvor fragte Julio sich, wie ihm so ein Fehler hatte unterlaufen können. Als La Rochefoucauld mit ihm hatte verhandeln wollen, hatte er ihn mit lauen Versprechen hingehalten, getreu seinem Motto, immer nur so viel zuzugestehen, wie unvermeidbar war. Er hatte sich von dem alten Fuchs ausbooten lassen. Jetzt schüttelten sich die gegnerischen Parteien freudestrahlend die Hände, schworen einander ewige Treue und schickten ihre Agenten aus, um das Volk aufzuwiegeln. Julio schaute erneut vorsichtig aus dem Fenster. Die Strohpuppe qualmte lustlos vor sich hin. Die Kinder waren verschwunden. Doch auch die Garde war nach wie vor nirgends zu erblicken. Aber was war dort hinten? Eine Menschenansammlung? Noch mehr Pöbel? Er stellte sich auf die Zehenspitzen, kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt die Straße hinunter. Erst als er bereits seine Nase empfindlich am Glas platt gedrückt hatte, rief er sich zur Ordnung. Er warf einen raschen Blick über seine Schulter und wich hastig vom Fenster zurück. n54
Verstimmt steckte er das Heftchen wieder in die Truhe. Es war weder der rechte Augenblick, in Erinnerungen zu schwelgen, noch derjenige, wegen jeder Kleinigkeit in Panik zu geraten. Er musste an das Tagesgeschäft denken. Er beugte sich über den kleinen Koffer, stöberte in seinen Notizen, überflog die Jahreszahlen. Da! Da war es. Sechzehnhunderteinundvierzig. Zufällig ein Jahr, das ein Meilenstein in seinem Leben darstellte: das Jahr, in dem er den Kardinalspurpur erlangte. Wahrscheinlich waren ihm deshalb auch die Ereignisse, die dieses Jahr sonst noch beeinflusst hatten, so gut im Gedächtnis geblieben. Es musste im Frühling oder Sommer gewesen sein ... Da stand es ja. Julio nickte zufrieden, während er seine Notizen las. Mace de Vi-gueil, Comte de Rochastre. Eine erstaunliche Geschichte, die viel Lärm gemacht hatte. Nun ja. Mal sehen, was sich daraus machen ließ. Er legte das Heftchen zurück und klappte den Deckel zu. Er würde die Truhe mitnehmen im Falle einer Abreise. Er stutzte, von seinen eigenen Gedanken überrascht. Ja, wollte er denn abreisen? Fliehen, alles hier hinter sich lassen? Julio schüttelte den Kopf. Nein. Mochten die Gassenjungen Todesdrohungen schreien, bis sie heiser wurden, mochte seine Kutsche mit Kohlstümpfen beworfen und Mazarin-Puppen an jeder Kreuzung verbrannt werden. Eine Existenz gab man nicht so schnell auf. Was würde im Falle einer Flucht aus seinem wundervollen Palast und den Schätzen werden, die er dort angesammelt hatte? Was mit den herrlichen Stallungen und ihren Krippen aus Eichenholz? Was aus seinen Nichten und seinem Neffen, die er aus seiner Heimat hatte kommen lassen? Und wie lange würde Anne, die ihm heute noch blindlings vertraute, zu ihm stehen, wenn er sie dem Einfluss seiner Gegner überließ? »Eminenz, der Comte de Rochastre ist eingetroffen.« Julio sah auf. Wenigstens war der Mann pünktlich. Nach kurzer Überlegung entschloss er sich, den Comte nicht warten zu lassen. Er wollte es hinter sich bringen. Schließlich hatte er genug anderes zu tun und empfing ihn nur Anne zuliebe. Er winkte dem Lakaien zu. »Schon gut, lassen Sie ihn herein.« »Eminenz!« Der Comte mit den irritierend hellen Augen in dem "54
braunen Gesicht trat ein, die Hände halb geschlossen, der Blick wachsam. Ob er jemals diese angespannte Haltung aufgab? Julio hatte schon bei ihrem ersten Treffen den unangenehmen Eindruck gewonnen, dieser Mann sei jede Sekunde darauf gefasst, sich gegen eine imaginäre Bedrohung zur Wehr zu setzen und ihm notfalls dafür an die Kehle zu springen.
Wie sollte man da ein angenehmes, zivilisiertes Gespräch führen? Julio selber hasste Spannungen. Er bemühte sich stets, eine gepflegte Atmosphäre zwischen sich und seinem Gegenüber entstehen zu lassen, war höflich und zuvorkommend, so schwierig das Thema und so verhärtet die Positionen auch sein mochten. Er seufzte lautlos. Nun ja, wieder so eine Charaktereigenschaft der Franzosen, an die er sich nie gewöhnen würde: diese ständige Bereitschaft, sich in eine Auseinandersetzung zu stürzen. Sie verachteten die Diplomatie und die feine Kunst der Verhandlung, das hatte er oft genug zu spüren bekommen. Ein Mann, der einen anderen wegen einer Lächerlichkeit zum Duell aufforderte, wurde von ihnen bewundert. Jemand wie er jedoch, der sich seit Jahren bemühte, dem Ausbluten Europas ein Ende zu machen, dank dessen schließlich vor drei Jahren der Westfälische Frieden unterzeichnet worden war und der Frankreich ganze Provinzen gesichert hatte, erntete nur Verachtung. Julio ballte die Fäuste. So gesehen war es vielleicht wirklich das Beste, diesem undankbaren Land den Rücken zu kehren! Einzig Richelieu, der ihn an den französischen Hof geholt hatte, hatte seine Fähigkeiten zu schätzen gewusst. Sollten sie ihm doch alle gestohlen bleiben mit ihren egoistischen Forderungen und ihren Strohpuppen! Julio geriet selten in Zorn, doch die Spannung der letzten Tage forderte nun ihren Tribut. Der Mann, der dort drüben mit scheinbarer Gelassenheit so höflich darauf wartete, dass er ihn ansprach, war ein typischer Vertreter dieser selbstsüchtigen Kaste. Sie kultivierten ihren Stolz und merkten dabei nicht, dass sie sich lächerlich machten. Ihm wäre es nicht im Traum eingefallen, ein so kostbares Objekt wie den Bezoar zu verschenken! Und doch gab es immer wieder Menschen, die solch irrationales Gebaren bewunderten. Anne war das beste Beispiel dafür. Ja, sogar diese Frau, die er seit nunmehr acht 55
Jahren begleitete, seit sie zur Regentin ernannt worden war, die er aus dem Verlies der politischen Ahnungslosigkeit befreit hatte, in das ihr verstorbener Gemahl sie verbannt hatte, von der er gedacht hätte, dass sie ein Gespür für öffentliche Stolpersteine entwickeln würde, hatte sich von dem Verhalten dieses Mannes beeindrucken lassen! Julios Handflächen wurden feucht. Herr im Himmel, wie konnte er da Paris verlassen und die Staatsgeschäfte und sein persönliches Glück dieser beeinflussbaren Frau anvertrauen? Nein, er durfte nicht aus Paris fort, sonst war er verloren! Oder er musste sie mitnehmen. So wie vor zwei Jahren, als er zusammen mit ihr und dem jungen König aus Paris geflohen war. Allerdings hatte Conde ihnen damals geholfen ... Sofort erstand in seinem Geiste das Bild von Louis de Conde. Julio rümpfte die Nase. Jung, extrem selbstbewusst und so verdammt erfolgreich auf den Schlachtplätzen ... Es war ihm damals eine gute Idee erschienen, den Prinzen während der Auseinandersetzungen mit den Frondeurs und den Parlamentariern zu benutzen. Doch nur allzu bald hatte sich herausgestellt, dass er sich damit ein Kuckucksei ins Nest gelegt hatte. Kaum war das Friedensabkommen unterzeichnet und der Hof wieder in Paris eingezogen, hatte die Konfrontation mit dem Prinzen begonnen. Immer arroganter war Conde aufgetreten, immer maßloser in seinen Forderungen für sich, seine Familie und seine Freunde. Julio war in ein auswegloses Dilemma geraten: Gab er dem Verlangen des Prinzen nach Ämtern, Geldern und Ländereien nach, würde Conde schließlich übermächtig werden und den Staat bedrohen. Schlug er ihm seine Wünsche ab, könnte der Prinz sich rächen, indem er einen Bürgerkrieg anzettelte - die französische Armee verehrte ihn wie einen Halbgott. Condes alte Soldaten waren ihm hörig, und diejenigen, die nicht unter ihm gedient hatten, würden es kaum wagen, sich dem Sieger von Rocroy entgegenzustellen. Dennoch hatte Julio den Kopf aus der Schlinge gezogen, die Conde für ihn bereitgehalten hatte. Es war ihm nicht eingefallen, dem Prinzen offen zu widersprechen - er hatte sich im Stillen zur Wehr gesetzt. Vor der Öffentlichkeit hatte er es zugelassen, dass Conde ihn in einem Anflug von Übermut derb ans Kinn fasste ... Er 55
war demütig geblieben. Hatte die Augen gesenkt, gelächelt. Hinter den Kulissen jedoch hatte er sich die Zustimmung der Frondeurs und Gaston d'Orléans geholt. Und dann hatte er den ahnungslosen Condé im Palais Royal verhaften lassen. Durch die Erinnerung an diesen genialen Schachzug fühlte Julio sich schon erheblich besser. Er faltete seine Hände. Ja. Er durfte nicht in Panik geraten. Im Moment war er alleine, und alles schien gegen ihn. Aber er besaß noch immer einen unschätzbaren Trumpf: Seine Intelligenz. Er
war schlauer als all die Orléans und Condés, die meinten, ihn ausmanövriert zu haben. Und er konnte warten. Breves po-puli amores: Er war sich sicher, dass das Volk dem Prinzen nicht ewig treu bleiben würde. »Sie schickten mir eine Vorladung, Eminenz? Darf ich erfahren, womit ich Ihnen dienen kann?« Der Comte hatte offenbar die Geduld verloren. Julio biss kurz die Zähne aufeinander, ließ sich seinen Ärger aber nicht anmerken. »Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Natürlich«, lächelte er. »Sie haben sich inzwischen gut in Paris eingelebt?« »Ja, danke der Nachfrage, Eminenz.« Julio beschloss, sich weitere Höflichkeiten zu sparen. Er hatte heute Morgen bereits überlegt, wie er Annes Wunsch, er möge den Comte empfangen, nachkommen könnte. »Schauen Sie mal, ob Sie einen kleinen, einträglichen Posten für ihn finden«, waren Annes Worte gewesen. »Ich weiß nicht, weshalb, aber irgendwie habe ich das Gefühl, es könnte angebracht sein, diesen Mann auf unsere Seite zu bringen.« Julio schnaubte. Einerseits hatten Annes Anlehnungsbedürftigkeit und ihre Weiblichkeit gewiss zu einem Teil dazu beigetragen, ihn in das Amt des ersten Ministers zu heben. Andererseits konnten gefühlvolle Frauen einem das Leben auch unnötig erschweren. Nun ja. Er musste sich fügen. Zwar brachte er diesem Mann keinerlei Sympathie entgegen. Aber jetzt, da seine eigene Position gefährdet war, war es weniger denn je der Augenblick, die Königin zu verärgern. Ihr selber waren die Hände in solchen Angelegenheiten gebunden - offenkundiges Interesse für junge Männer konnte sich Anne nicht leisten. Wenn er Vigueil förderte, war er dreifacher Gewinner: Erstens würde der Comte ihm dankbar sein, und Julio war HO
nicht zu hochmütig, um nicht den Wert der Dankbarkeit jedes noch so kleinen Mannes zu schätzen. Zweitens würde auch Anne zufrieden sein. Und drittens konnte er die Gelegenheit beim Schöpfe packen, um diesen Mann aus Paris zu entfernen. Julio war von Natur aus vorsichtig. Sollte er sich tatsächlich gezwungen sehen zu fliehen, wollte er am Hof keinen Samen hinterlassen, aus dem ein Günstling keimen könnte. Er hatte Probleme genug - und das emotionale Band, das Anne ohne Zweifel mit ihrem ersten Minister verknüpfte, war sein einziger Trumpf. Er räusperte sich. »Monsieur de Vigueil, Sie haben während Ihres letzten Besuches Eindruck auf mich gemacht. Sie sind ohne Zweifel ein Mann von großer Standhaftigkeit. Sie sind zielstrebig, und Sie kennen die Grundzüge des Handelns. Sie verstehen es, Ihre Vorteile auszunutzen ... und sogar Ihre Geschäftspartner zu täuschen, wie Sie es bei Ihrem raffinierten Schachzug vor Ihrer Majestät bewiesen.« Während Julio sprach, beobachtete er sein Gegenüber. Doch dessen Gesicht ließ das Aufleuchten vermissen, das seine Worte hätten hervorrufen sollen. »Um es kurz zu machen: Seit längerer Zeit plane ich die Gründung einer Handelsgesellschaft. Verlässliche Quellen rühmten mir die Korkwaldungen und Korallenriffe der Küste um Algier, deren Ausbeutung beträchtliche Gewinne abwerfen dürften. Was ich bisher noch nicht gefunden habe, ist ein Mann mit Erfahrung, den ich vor Ort schicken könnte, um den Handel in Gang zu setzen. Vor allem müsste er einen Hafen ausfindig machen, in dem man geschützt vor den maghrebinischen Seeräubern die Schiffe beladen könnte. Dann müsste er für die Sicherheit der Konvois sorgen und die Verhandlungen mit den Einheimischen führen.« Julio machte eine Pause, doch sein Gegenüber reagierte noch immer nicht. »Es ist eine Aufgabe, die eine gute Kenntnis der Völker und Länder jenseits des Mittelmeers verlangt. Ein verantwortungsvoller und gut bezahlter Posten, es ließe sich auch über eine Gewinnbeteiligung reden. Ein kluger Mann könnte dadurch in kurzer Zeit wohlhabend werden.« »Ich verstehe.« Das Gesicht des Comte war unbewegt, doch Julio vermeinte überrascht, ein ärgerliches Funkeln in seinem Blick zu erkennen. »Ich bin mir bewusst, dass dieses Angebot eine große Ehre in
für mich ist, Eminenz. Das Vertrauen, das Sie mir entgegenbringen, beschämt und verwundert mich gleichermaßen. Was lässt Sie glauben, ich erfülle die Bedingungen, die ein solcher Posten verlangt?« »Es ist nur eine Vermutung. Doch ich bin sicher, dass Sie keine Mühe haben werden, diese Vermutung in Gewissheit umzuwandeln.« »Es tut mir leid. Ich muss Sie enttäuschen. Aber ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, an mich gedacht zu haben.« »Sie ... Sie lehnen ab?« Julio riss die Augen auf.
»Monseigneur, das Handeln und Vertreiben von Gütern gehört leider nicht zu meinen Begabungen«, antwortete Vigueil trocken. »Manche Begabung bedarf nur der richtigen Motivation«, sagte Julio schneidend. Vigueils Lippen wurden schmal. »Dann fehlt mir wohl auch diese Motivation, Eminenz.« Julio starrte den Mann ein paar Sekunden lang wortlos an. Glaubte denn die ganze Welt, ihn ungestraft demütigen zu können? »Wie schade«, meinte er scharf. »Verzeihen Sie, es muss eine Verwechslung vorliegen. Ich war der festen Überzeugung, Sie müssten der Sohn von Mace de Vigueil sein.« »Das bin ich, Monseigneur. Doch ich wüsste nicht, inwiefern ...« »Sehen Sie es mir nach, wenn ich nun ein paar Fakten aufzähle, die Ihnen nur allzu bekannt sind, doch ich möchte sichergehen, dass wir uns einig sind, worüber wir reden.« Julio kreuzte die Arme über der Brust und fixierte seinen Besucher. »Ihr Vater diente bis vor zehn Jahren im diplomatischen Corps, wenn ich mich nicht irre. Ein geschätzter Mann, der sich dem Land viele Male verdient gemacht hatte. Man sprach davon, ihm den Orden des Heiligen Geistes zu verleihen. Man vertraute ihm so sehr, dass man ihn mit einer äußerst wichtigen geheimen Mission betraute. Es ging um Portugal, nicht wahr?« Julio knetete seinen Unterkiefer, gab vor, kurz überlegen zu müssen. »Ja, ich entsinne mich«, fuhr er fort. »Das Land hatte gerade gegen seine langjährigen spanischen Besatzer revoltiert, eine Revolte, die Frankreich recht gelegen kam, weil es einen Teil der spanischen Kräfte mobilisierte. Also schickte man Ihren Vater nach Lissabon, um die Klauseln für einen Vertrag zwischen Frankreich und Portugal auszuhandeln.« Er lächelte. »Natürlich sollte Spanien nichts von den Verhandlungen erIZZ
fahren. Ihr Vater fuhr also diskret an Bord der Turbulente, einer kleinen, wendigen Fregatte, die Atlantische Küste entlang. Es wurden Präsente mitgeführt, wie es in solchen Fällen üblich ist. Kleinodien, Geschenke des Königs von Frankreich an den Mann, der das unabhängige Portugal regieren sollte. Ein kleines Vermögen.« Julio ließ eine kurze Pause entstehen, bevor er mit bedeutsam erhobenen Brauen weiterredete. »Und jetzt kommt das Seltsame: Das Schiff verschwand - spurlos. Irgendwo außerhalb der französischen Gewässer. Mitsamt seiner Fracht, seiner Besatzung - und Ihrem Vater.« Er schüttelte den Kopf. »Erst Monate später erfuhr man etwas über das Schicksal der Turbulente. Inzwischen war die Allianz zwischen Portugal und Frankreich offiziell. Um diese zu besiegeln, überführte der Marquis de Breze zwanzig unserer Schiffe nach Lissabon. Auf dem Weg dorthin kaufte er ein paar französische Matrosen von Piraten frei. Was sie berichteten, machte viel Lärm am französischen Hof.« Julio ließ Vigueil nicht aus den Augen. »Sie behaupteten, von der Besatzung der verschwundenen Turbulente zu sein«, fuhr er in neutralem Ton fort. »Die Fregatte sei von osmanischen Seeräubern gekapert und mit Mann und Maus verschleppt worden. Nichts Ungewöhnliches so weit. Das eigentlich Unglaubliche war, was sie über Ihren Vater berichteten ...« Waren Vigueils Züge vorhin unbewegt geblieben, hatte sich das jetzt gründlich geändert. Sein Mund bildete nur noch einen schmalen Strich. Seine Brauen waren zusammengeschmolzen, seine Augen gedunkelt, die sternförmige Narbe auf seiner rechten Wange trat weiß hervor. Es war ein Gesicht, vor dem man sich hätte fürchten können. Für Julio allerdings war es nur die Bestätigung, dass er auf dem richtigen Weg war. »Sie schworen, die Seeräuber hätten keine Schätze an Bord der Turbulente entdeckt. Das hätten sie gewusst, weil die Beute kurz nach dem Überfall an Deck unter allen Piraten aufgeteilt wurde. Die Seeräuber seien darüber sogar ziemlich erbost gewesen, so erbost, dass sie nicht nur alle Männer versklavten, sondern auch das Schiff ausschlachteten und versenkten. Der Comte Mace de Vigueil hingegen wurde von dem Kapitän der Seeräuber mit allen Ehren behandelt. Er ging in Algier als freier Mann von Bord. Und die französi 57
sehen Matrosen stimmten darin überein, dass er eine schwere Truhe mit sich führte - und seinen halbwüchsigen Sohn.« »Eminenz, möchten Sie mir nicht erklären, worauf Sie hinauswollen?« »Wie schon gesagt, diese Neuigkeiten machten viel Lärm am Hof. Die Meinungen waren geteilt. Ein paar wenige alte Freunde Mace de Vigueils verteidigten ihn. Doch die überwältigende Mehrheit konnte sich den erdrückenden Beweisen nicht verschließen: Die Geschenke, die der König Mace de Vigueil anvertraute, waren eine zu große Versuchung für ihn gewesen. Er hatte beschlossen,
auszuwandern, den Schatz zu behalten und das Ganze als einen Überfall von Seeräubern zu tarnen. Die Tatsache, dass er seinen halbwüchsigen Sohn mit sich führte, überzeugte alle: Wer setzt ein Kind den Gefahren einer Seereise aus, wenn er nicht glaubt, dass diese Reise seine letzte sein wird und er nie mehr in seine Heimat zurückzukehren gedenkt? Als ein paar Jahre später dann auch noch die Frau und die Tochter von Vigueil de Rochastre verschwanden, mussten auch die letzten Zweifler zugeben, sich in Mace de Vigueil geirrt zu haben.« »Ja, alles ist so einleuchtend und so einfach«, spie Vigueil aus. »Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass es immer wieder Männer gibt, die das kräftezehrende Denken für andere übernehmen? Man braucht sich ihnen nur noch anzuschließen und zu nicken.« »Sie möchten meine Ausführungen ergänzen oder berichtigen?« »Heute nicht. Nicht hier und nicht unter diesen Umständen. Doch ich werde darauf zurückkommen, Eminenz, das versichere ich Ihnen. Eigentlich bin ich nur noch begierig zu erfahren, was Sie von mir wollen.« »Sie sind wenig geübt im höfischen Umgangston, Monsieur de Vigueil. Und Sie machen nicht den Eindruck, als würden Sie sich hier sehr wohlfühlen. Ich fürchte, Sie werden hier keine Freunde gewinnen. Dafür fehlt Ihnen die Geschmeidigkeit. Sie sind nicht anpassungsfähig. Außerhalb des Hofes hingegen, eine Aufgabe erfüllend, in der Sie Ihr eigener Herr sind - dabei könnten Sie ganz andere Qualitäten beweisen.« »Ergebensten Dank!«, warf Vigueil zurück. »Ich gestehe in der Tat, dass Ihre Art, meine Familie in den Schmutz zu ziehen, nur um mich 58
anschließend mit Komplimenten anzufuttern, etwas gewöh-nungs...« »Weshalb sind Sie in Paris, Monsieur de Vigueil? Sie wollen, dass der Name Ihres Vaters rehabilitiert wird, nicht wahr?« Julio beugte sich ein wenig vor. »Ich könnte schon morgen einen Rehabilitationsbrief vom König erwirken. Dann wären Sie frei, und Ihr Name würde erneut im alten Glanz erleuchten. Und vielleicht lockt es Sie dann ja doch noch, in einer Unternehmung die Führung zu übernehmen, in der Sie sich auskennen - in einem Land und einer Gegend, deren Bräuche Ihnen geläufiger sind als die am französischen Hof?« Julio merkte, wie der Comte zögerte. Prächtig, atmete er auf. Das Problem wäre gelöst. Und genauso würde er alle anderen Probleme auch... »Monseigneur, ich fürchte, dass wir keine Geschäftspartner werden können.« Julio hob ruckartig den Kopf. Kein Zorn mehr auf Vigueils Gesicht. Dafür Entschlossenheit und eine Spur von Trauer. »Ich strebe keinen Brief an, den ich einer Beziehung verdanke -dafür lastet die Verleumdung zu schwer auf dem Andenken meines Vaters. Ich will mehr - eine öffentliche Anerkennung, einen Beweis seiner Unschuld. Nicht ein Stück Papier. Sondern Ehre.« Er hob die Brauen. »Und was meinen Mangel an Geschmeidigkeit angeht... Sie mögen ein Experte auf diesem Gebiet sein. Doch ohne respektlos sein zu wollen, wenn ich den meuternden Pöbel auf den Straßen sehe, habe ich nicht das Gefühl, dass diese Fähigkeit im Augenblick sehr gefragt ist.« Vigueil verneigte sich tief. »Adieu, Eminenz.« Er wartete nicht darauf, dass Julio ihn entließ, sondern kehrte ihm einfach den Rücken zu und verließ den Raum. Julio sank auf einen Stuhl. Als erneut ein Stein das Fenster traf, sah er nicht auf.
Fünf Aufrichtigkeit ist Offenheit des Herzens. Bei sehr wenigen Menschen trifft man sie, und die man gewöhnlich sieht, ist nichts als feine Verstellung, um das Vertrauen anderer Zugewinnen. Februar 1651
Der Diener, der Philippe führte, deutete in eine Ecke des Waffensaals. »Monsieur de Beaufort wartet drüben auf Sie, Monsieur le Comte. Folgen Sie mir bitte, ich werde Sie melden.« Philippe betrat die mit hellem Sand gefüllte Arena und sah sich um. Er befand sich in einem sehr weitläufigen, von schlanken Säulen gestützten Raum, an dessen Längsseite eine Tribüne lehnte. Edelmänner hatten sich darauf versammelt, die alle gespannt verfolgten, was unter ihnen geschah. Große staubige Fenster filtrierten die Wintersonne, drei monströse und nicht minder verstaubte Lüster baumelten in unerreichbarer Höhe. Gegenüber der Holztribüne waren alle möglichen Waffen an der grün gestrichenen Holzverkleidung angebracht, von Stöcken und Piken bis hin zu Degen und Pistolen. Sogar einen Köcher samt Bogen konnte Philippe ausmachen.
Lachen erschallte von der Tribüne, Aufmunterungsrufe und Klatschen. Es lenkte Philippes Aufmerksamkeit auf die drei Paare, die inmitten von sandigen Staubwolken miteinander fochten. Beaufort war dabei, zudem zwei Männer, die Philippe sich erinnerte in den Saints-Innocents gesehen zu haben. Der Diener führte Philippe, bis sie nur noch wenige Schritte von den Kämpfenden entfernt waren, und blieb dann abwartend stehen. Philippe spürte die neugierigen Blicke der Männer, die schräg über ihm auf den Holzstufen der Tribüne hockten. Er erkannte Octave de Pleinpont, der sich auf einen Stock stützte, und wandte sich dann wieder Beaufort zu. Der Herzog war in einem Gefecht gefangen, dessen Heftigkeit 59
nicht erahnen ließ, dass es sich um eine Übung handelte. Sein Gegner war einen Kopf kleiner als er, ein hässlicher Mann mit olivfarbe-nem Teint, übergroßer Nase und seltsam dunkelroten Haaren, der nur aus Sehnen zu bestehen schien. Er war extrem wendig und von verblüffender Eleganz. War Beaufort ein exzellenter Fechter, so war dieser Mann ein Künstler auf dem Gebiet. Obwohl Philippe ein Laie im Gebrauch des Degens war, drängte sich ihm das Gefühl auf, Beauforts Gegner beherrsche jederzeit das Geschehen. Der Ruf, den Beaufort ausstieß, bestätigte seine Vermutung. »Paix lä, du Nez! Noch ein Loch in meinem Hemd, und ich ziehe Ihnen die Rechnung meines Schneiders von Ihrem Lohn ab!« Sein Gegenüber sprang sofort zwei Schritte zurück. Er hob die Waffe, salutierte kühl und sagte mit rollendem Akzent: »Ganz wie Sie es wünschen, Monseigneur. Möchten Sie unterbrechen?« »Ja, es reicht für heute.« Beaufort warf einen Arm hoch. »Ach, Vigueil, da sind Sie ja! Schön, dass Sie sich von dem da draußen nicht haben aufhalten lassen!« Er fuchtelte in Richtung Fenster. Philippe wusste, was der Herzog meinte. Er hatte in der Tat Schwierigkeiten gehabt, Beauforts Palais zu erreichen. Die Menschen, die in den letzten Tagen immer wieder in Scharen die Straßen bevölkert hatten, schienen inzwischen den Weg in ihre Häuser ganz vergessen zu haben. Sie zogen in Gruppen umher, die Fäuste geballt, die Nasen in der Luft, wie in der Erwartung eines allein ihnen bekannten Ereignisses. Oft genug loderten Abfallhaufen auf, Passanten waren belästigt, ein paar Läden sogar geplündert worden. Und die Sprechchöre, die aus den Gassen und Schenken drangen, skandierten immer wieder unermüdlich und hasserfüllt denselben Namen: Mazarin. »Treten Sie näher, Vigueil, ich will Sie vorstellen!« Beaufort deutete in die Runde. »Das hier sind der Marquis de la Ferraille und der Comte du Buis. Ihnen gegenüber stehen der Comte de Torban und sein Schwager, der Vicomte de Gennes. Und das hier ...«, er nahm seinen Gegner am Arm,«... ist du Nez. Eigentlich heißt er anders, doch diese spanischen Laute sind wahrhaft unaussprechbar! Sehen Sie ihn sich an, ich finde, sein Spitzname passt zu ihm wie die Nase ins Gesicht!« Er lachte schallend, und seine Gefolgsleute stimmten darin ein. iz59
Philippe grüßte ernst sein Gegenüber, der mit funkelndem Blick antwortete. Er fragte sich, wie lange der kleine Spanier mit der großen Nase sich bereits von Beaufort demütigen ließ. So elegant der Mann sich vorhin bewegt hatte, so steif hing er jetzt am Arm des Herzogs. Philippe erinnerte sich an seine eigene Abwehrreaktion, als Beaufort allzu zutraulich geworden war. Offenbar war er nicht der Einzige, der sich nicht gerne anfassen ließ. »Sie werden Monsieur de Vigueil nachher unterrichten, du Nez, als Gegenleistung für die Stunden, die ich bei ihm nehmen werde«, meinte Beaufort. Dieser maß Philippe mit hochmütigem Blick. »Leider, Monseigneur, sind meine Übungsstunden bereits an andere Herren Ihres Gefolges vergeben«, antwortete er rollend. »Keine Widerrede, du Nez.« Beaufort warf dem Waffenlehrer seinen Degen zu, dieser fing ihn geschickt auf. »Und jetzt zu uns, Vigueil. Haben Sie Ihr Messer mitgebracht?« Wenig später hatten Philippe und Beaufort sich vor einer dicken Holzwand aufgestellt, die als Zielscheibe dienen sollte. »Zeigen Sie her«, sagte Beaufort und streckte seine Hand nach Phi-lippes Messer aus. »Monsieur, ich schlage eine andere Klinge zum Üben vor«, wehrte Philippe ab. »Das Messer hier habe ich selber hergestellt. Es ist meiner Person angepasst. Sie sollten eine Waffe finden, die gut in Ihrer Hand liegt.« »Aber diese ist exzellent«, versteifte sich Beaufort. Philippe zügelte seine Ungeduld. »Lassen Sie es uns ausprobieren. Am besten nehmen Sie mein Messer am Griff zwischen Daumen und Zeigefinger. Versuchen Sie nun, eine ruckartige Bewegung zu vollführen und das Messer festzuhalten.«
Beaufort tat wie geheißen. Die Waffe fiel zu Boden. Der Fechtmeister hob sie auf, wog sie in seiner Hand. »Dieses Messer ist zu schwer für Sie, Monseigneur«, mischte er sich mit herausforderndem Blick ein. Sofort reckte der Herzog das Kinn aus seinem blütenweißen Spitzenkragen. »Es ist eine Frage der Übung«, versuchte Philippe Beaufort zu begütigen. »Beim Werfen gebrauchen Sie Muskeln, die Sie sonst nicht einsetzen.« 60
»Was schlagen Sie vor?«, fragte Beaufort schmollend. »Am besten vorerst ein spitz zulaufendes, aber stumpfes Messer...« »Niemals! So etwas besitze ich nicht!«, warf Beaufort empört ein. »... oder aber ein Messer mit nur einer scharfen Seite, wie eine weniger kräftige Person als Sie es zur Verteidigung einsetzen würde, Monseigneur.« Als endlich ein Messer gefunden war, das Beaufort akzeptieren konnte, ohne sich in seiner Eitelkeit gekränkt zu fühlen, zeigte Philippe ihm, wie er es anfassen sollte. Beaufort stellte sich mit gerunzelter Stirn vor das Zielbrett. Die Herren auf der Tribüne riefen aufmunternde Worte herunter. Der erste Wurf landete im Sand, der zweite prallte an der Holzscheibe ab. Der Spanier trat an Philippe heran. »Geben Sie Acht auf sich, Monsieur«, schnaubte er halblaut. »Herzöge sind immer erfolgreich. Sonst taugen ihre Lehrer nichts!« Beaufort startete einen dritten Versuch. Philippe wandte sich dem Spanier zu, zog seinen Hut. »Verzeihung, Monsieur, ich fürchte, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden. Philippe de Vigueil, Comte de Rochastre.« Der andere hob eine schwarze Braue. Ein spöttischer Funke glomm in seinen Pupillen. »Conde Ignacio de la Borrasca«, erwiderte er mit einer Verbeugung. »Encantado de conocerle«, antwortete Philippe. Borrasca machte eine überraschte Bewegung. »Ganz meinerseits, Senor Comte«, grüßte er. »Mein Kompliment. Sie sprechen die Sprache meines Landes fast so gut wie ein Einheimischer.« »Nicht halb so gut wie Sie Französisch, Monsieur«, meinte Philippe. Zu Beaufort rief er: »Ihr Handgelenk, Monseigneur! Sie müssen es absolut steifhalten! Sonst vollführt Ihr Messer unkontrollierbare Drehungen!« Beaufort runzelte die Stirn und hob zum wiederholten Male seine Waffe auf. »In meinem Land heißt es, nur Halsabschneider beherrschen das Messerwerfen«, lächelte der spanische Comte. »Es sei die Kunst der Schurken.« »In meinem Land sagt man das auch«, antwortete Philippe. 60
Borrascas weiße Zähne blitzten auf. Mit einem Blick auf Beaufort sagte er: »Er hält es zu hoch.« Philippe nickte schmunzelnd. »In der Tat. Der kleine Finger sollte tiefer liegen.« »So tief, dass er das Messer gerade noch berührt«, ergänzte Bor-rasca. »Es erleichtert das Loslassen.« Sie sahen sich an. Borrasca streckte eine Hand aus, Philippe ergriff sie. »Ich freue mich, Sie in die Reihe meiner Schüler aufnehmen zu dürfen, Senor«, lächelte Borrasca. In dem Augenblick ertönte Jubel von Beauforts Seite. Sein Messer stak schwingend in der Einfassung der Wurfscheibe. »Oui! Geschafft!« Beaufort kam mit hübsch geröteten Wangen herbeigeeilt. »Eine gute Leistung, Monsieur le Duc«, meinte Philippe. »Ich habe länger gebraucht, um mein erstes Messer zu platzieren.« »Eine vortreffliche Erfahrung!«, posaunte Beaufort heraus. »Ich fordere jeden dieser hier noch anwesenden Herren auf, es mir nachzumachen! Und Sie, Vigueil«, sagte er und klopfte Philippe kräftig auf den Rücken, »Sie dürfen mich als Dank morgen begleiten.« »Begleiten?«, fragte Philippe wenig erfreut und wich unauffällig außer Reichweite von Beaufort zurück. »Wohin denn, Monseigneur?« »Zu einem kleinen Empfang, der in einem Hotel des Faubourg Saint-Germain stattfindet.« Philippe wand sich. »Um ehrlich zu sein, hatte ich schon ...« »Keine Widerrede, mein Lieber. Sie werden sehen, es wird extrem amüsant sein. Und ganz leger. Musik, hervorragendes Essen, vielleicht ein paar Spiele ...«Er seufzte genüsslich auf. »Die Feste bei den Noirlieus sind berühmt. Wenn Sie es recht anstellen würden, könnten Sie der Clou des Abends werden!« Philippe glaubte, sich verhört haben zu müssen. Mit veränderter Stimme fragte er: »Meinen Sie ... Meinen Sie die Faurepas de Noirlieu, Monsieur?«
»Ach herrje, sollte es etwa noch mehr von ihnen geben?«, fragte Beaufort und lachte auf. Seine Gefolgsleute lachten mit. Wieder landete die Hand des Herzogs auf Philippes Rücken. »Sie sind wirklich köstlich, Vigueil. Ich muss Sie meiner Verlobten vorstellen. Sie wird entzückt sein!« 131
»Sie sind verlobt, Monseigneur? Dann darf ich Ihnen gratulieren!« Beauforts Lippen umspielte ein selbstzufriedenes Lächeln. »Nun, unter uns gesagt ist es noch nicht ganz offiziell. Auch bitte ich Sie, über die Angelegenheit zunächst ebenso Stillschweigen zu bewahren, wie ich es ...« Er unterbrach sich, denn jemand kam in den Waffensaal gerannt. Es war ein Diener, der mit offener Livree auf sie zustolperte. »Geflohen! Er ist geflohen!«, rief er schon von Weitem. Beaufort hob die Nase. »Geflohen? Wer? Doch nicht etwa Monsieur de Conde, jetzt, wo alles nur noch darauf wartet, dass Mazarin ihn entlässt?« »Nein, Monseigneur!«, keuchte der Diener. Er machte vor dem Herzog Halt und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Seiten. »Aber Maz... Mazarin. Er wurde gesehen. Verkleidet, im ... im grauen Anzug. Er ritt mit kleinem Gefolge in die Richtung der Porte de Richelieu.« »Fichtre! Mon brave, für diese Neuigkeit lass ich zwei Fässer Wein springen!« Beaufort strahlte. »Messieurs«, rief er seinen Gefolgsleuten zu, »unsere Aktion in den Saints-Innocents war ein voller Erfolg! Ganz Paris wird uns auf Knien danken! Wir haben den Italiener fortgejagt!« Die Männer jubelten auf, warfen ihre Hüte in die staubige Luft. Einzig Borrasca blieb still. Und Philippe, der die ganze Aufregung kaum wahrnahm. Sein Herz schlug ruhelos. Er konnte es kaum fassen. Morgen. Morgen würde er den alten Freund seines Vaters wiedersehen. Und mit ein wenig Glück erfahren, wo seine Mutter und seine Schwester waren. Er drehte sich Beaufort zu. Am liebsten hätte er dem Mann auf den Rücken geklopft.
* Isabelle lächelte und drehte sich selbstbewusst in ihrem falbenfarbenem Atlaskleid. Sie liebte diese Stimmung, mochte den Duft der Wachskerzen und den Glanz in den Augen der Menschen, das Rascheln der Unterröcke und die leichten, fröhlichen Gespräche. Sie kannte alle Anwesenden und ging auf jeden mit fein dosierten Nu 61
ancen der Freundlichkeit ein. Es waren besonders viele Gäste erschienen heute Abend - sogar solche, die keine Einladung bekommen hatten. Natürlich hatte sie sich nichts anmerken lassen, sondern alle herzlich empfangen. Kurzum: Sie beherrschte wie immer ihre Rolle als Tochter des Hauses perfekt. Dass sie heute nicht dazu kam, sie zu genießen, lag auch an Fleurents Anwesenheit. Bis jetzt konnte sie ihm nichts vorwerfen. Und bei Tisch hatte er sich recht gut benommen - der Tag hatte ihr Gott sei Dank Gelegenheit gegeben, ihm ein paar Tischmanieren beizubringen. Doch alleine sein Dasein beunruhigte sie. Erst der Drohbrief, dann die Verlobung, und jetzt Fleurents Erscheinen ... Es war, als würde die Grenzmauer, die sie so sorgfältig zwischen Magdelaines und Isabelles Welten errichtet hatte, immer mehr Risse bekommen. »Isabelle! Leihst du mir etwas Bleiweiß? Claudine, dieses unnütze Ding, hat meines vergessen, und meine Nase ist grässlich rot geworden in dieser Kälte!« Isabelle und Cécile drehten sich nach ihrer blonden Freundin um. »Nimm meines.« Cécile hielt Ursule ein Porzellantöpfchen mit der Mischung aus Bleiweiß und destilliertem Quecksilber hin. »Du weißt doch, Isabelle bildet sich viel zu viel auf ihren Teint ein, um Bleiweiß zu benutzen. Schau sie dir an, mit ihren blühenden Wangen und ihrer Pfirsichhaut! Sie sieht immer aus, als käme sie gerade von einer Landpartie zurück!« »Mademoiselle Isabelle! Hier stecken Sie also!« Isabelle, die sich gerade mit einem Seidentuch die Lippen polierte, zuckte zusammen. Fleurents lachendes Gesicht erschien neben dem ihren im Spiegel. »Alle suchen Sie schon, Mademoiselle. Es geht um ein Spiel - ein Versteckspiel oder so.« »Willst du uns nicht vorstellen, Isabelle?« Cécile rückte mit glänzenden Augen näher. »Schon vorhin beim Essen fragte ich mich, was du uns da für eine Bekanntschaft vorenthalten hast...« »Das ist Monsieur de Malvoy, Cécile. Mein Ziehbruder. Wir sind zusammen auf dem Land aufgewachsen. Mademoiselle de Gué-ranche, Mademoiselle de Pleutre«, stellte Isabelle vor, indem sie abwechselnd auf Cécile und Ursule deutete.
Sie war sich bewusst, die Vorstellung allzu hastig herunterzuras 133
sein, und ärgerte sich. Weshalb diese Unruhe? Das erfundene Prädikat vor dem Namen der Malvoys war doch kaum der Rede wert. Und der bescheiden, aber korrekt gekleidete Fleurent konnte gut als Landedelmann durchgehen. Vorhin hatten seine schneidige Haltung und sein selbstsicheres Auftreten sogar etwas Stolz in ihr hervorgerufen. »Ja. Mademoiselle Isabelle und ich sind wie Bruder und Schwester«, erklärte Fleurent. »Ihre Eltern und meine waren Freunde, und als Monsieur und Madame dArzelles starben, nahmen wir ihre Tochter natürlich in unserer Familie auf.« Er lächelte breit. Isabelle runzelte die Stirn. Fleurent hatte doch versprochen, sich still zu verhalten! Ihre Geschichte hatten sie nur für den Notfall abgesprochen, nicht, damit er sie noch weiter mit salbungsvollen Worten ausschmückte. Sie schob Fleurent vor sich her und verließ den Raum. »Ich hätte dir nie erlauben sollen, am heutigen Abend teilzunehmen!«, zischte Isabelle. »Aber wieso? Alles läuft doch bestens!« »Ach ja, vraiment?« Isabelle wich zwei Hausdienern aus. Überall hatten sich Pfützen auf dem Parkett gebildet, dort, wo der Schnee von den Sohlen der Gäste bröckelte. Die beiden Diener führten mit ihren lappenbespannten Besen ein kompliziertes Ballett zwischen den Absätzen der Gäste auf, in der Bemühung, den kostbaren Boden zu retten. Eine stumme Gestalt fiel Isabelle auf, ein Mann, der mit einem halb gefüllten Glas an einer Wand lehnte. Sie runzelte die Stirn, als sie Conrad de Branne erkannte. Sie mäßigte ihre Lautstärke. »Diese ewigen Lügen, diese Angst, jeden Augenblick das Falsche zu sagen ... Es ist wie ein Tanz auf dem Drahtseil!« »Aber sceurette, das machst du doch seit Jahren! Du warst immer die Verwegenste von uns allen. Ich dachte, du liebst dieses Spiel!« »Wie bitte?« Eine kleine Gruppe, durch die sie sich schlängeln mussten, zwang sie erneut zum Schweigen. Während Isabelle lächelte, nickte und nach rechts und links Komplimente austauschte, bemühte sie sich, ihren inneren Aufruhr zu besänftigen. Sie erschauerte, drehte sich unwillkürlich um - und erblickte Branne, der noch immer vor sich hin starrte. Seltsam, sie hätte schwören können, dass er sie gerade noch angesehen hatte ... Was war los 134
mit dem Mann? Irgendwie hatte sie die letzte Zeit das Gefühl, ständig über ihn zu stolpern besonders, seit Fleurent im Haus war. Sie drehte sich wieder um. Genug der Hirngespinste! Ihr Sekretär hatte den ganzen Tag Gelegenheit, sie nach Lust und Laune anzusehen. Weshalb sollte er es heimlich tun? Weshalb sollte es ihr plötzlich unangenehm sein, und vor allem: Warum unterstellte sie ihm schlechte Absichten? Trotzdem konnte sie dem Drang nicht widerstehen, den protestierenden Fleurent noch ein wenig schneller vor sich herzuschieben, als müsse sie ihren Bruder schnellstens aus einer Gefahrenzone bringen.
* Im verschneiten Park wurde Isabelle mit erwartungsvollen Mienen empfangen. Ein großer Teil der jüngeren Gäste hatte sich zwischen den aufgestellten Fackeln eingefunden - all diejenigen, die die klirrende Kälte nicht fürchteten. Isabelle erklärte die Belustigung, die sie sich mit Marie-Olympe ausgedacht hatte: eine Art Versteckspiel, bei dem es darum ging, mehrere als flüchtende Mazarins verkleidete Diener zu entdecken und anschließend gefangen zu nehmen, indem man ein von ihnen gestelltes Rätsel löste. Der Vorschlag wurde mit Begeisterung aufgenommen. Die Grüppchen verschwanden zwischen den weiß gekrönten Hecken. Doch Gelächter, Ausrufe und munteres Geplapper zeugten bald davon, dass die Dunkelheit des Parks von Menschen bevölkert war. »Und, kommst du mit suchen?«, fragte Fleurent. Isabelle schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kenne die Verstecke. Und du wirst auch nicht...« »Monsieur de Malvoy, schließen Sie sich mir an?«, flötete Cecile, die gerade aus dem Haus trat. »Mit dem größten Vergnügen!« Fleurent deutete eine Verbeugung an. »In Ihrer Gesellschaft werde ich gewiss ...« Er unterbrach sich und streckte den Arm aus. »Da, schauen Sie! Da drüben läuft einer!« Er ergriff Ceciles Handgelenk. »Kommen Sie mit, er darf uns nicht entkommen!« Cecile bekam gerade noch die Zeit, Isabelle einen Blick aus großen Augen zuzuwerfen, da zerrte Fleurent sie auch schon um eine
135
kastenförmige Eibe, auf der eine dicke Schneeschicht lag. Kaum waren sie verschwunden, als Schreie hinter der Hecke ertönten. »Ah! Mon Dieu!« Isabelle raffte ihre Röcke und lief los. Als sie die andere Seite erreichte, erstarrte sie. Cécile stand etwas abseits da. Sie war recht bleich. Weiter vorne rappelte Fleurent sich mit verdutztem Gesicht wieder aus dem Schnee hoch. Und vor ihm zeichnete sich ausgerechnet Mademoi-selles stämmige Gestalt gegen das dunkle Eibengrün ab ... Fleurent musste sie beim Aufprall gegen die Hecke geschleudert haben. Auf den Rändern vom lädiertem Filzhut der Prinzessin lagerten Reste von Schnee. Hinter ihr bildeten ihre Gesellschafterinnen eine erschrockene Reihe. »Mademoiselle!«, stammelte Isabelle und trat schnell näher. »Ich bin untröstlich. Bitte verzeihen Sie!« »Mademoiselle dArzelles, Mademoiselle de Gueranche«, die Prinzessin schnappte nach Luft und streckte die Brust raus. »Könnten Sie mir erklären, was das alles zu ...« »Verzeihung, Majesté, ich alleine bin schuldig«, unterbrach Fleurent sie. Isabelle stöhnte auf. Dreimal verflucht sei der Augenblick, an dem ich mich von dir überreden ließ, Fleurent!, wütete sie innerlich. Genauso gut hätte ich versuchen können, einen glöckchenbehangenen Esel durch den Abend zu schmuggeln! Und jetzt fährt er Mademoiselle auch noch mit dieser plumpen Anrede über den Mund! Weshalb schreibt er sich nicht gleich mit roter Tinte das Wort Bauerntrampel auf die Stirn? Sie wartete auf einen der zornigen Ausbrüche, für die Mademoiselle berüchtigt war. Doch vorerst begnügte die Prinzessin sich damit, Fleurent scharf zu mustern. »Nun, daran habe ich auch nicht gezweifelt, junger Mann«, antwortete Mademoiselle schließlich. »Wohin so eilig?« »Ich wollte Mazarin nachlaufen, Majestät«, sprudelte es aus Fleurent hervor. »Also, das heißt, nicht eigentlich Mazarin, natürlich, sondern dem Mann ...« Er wurde leiser, streckte die Hand aus. »Er lief in diese Richtung.« Fleurent errötete. Er stockte, fügte schließlich zögernd hinzu: »Sie ... Sie haben ihn nicht zufällig gesehen?« .3 6
Isabelle hätte am liebsten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Die Prinzessin schürzte die Lippen. »Und Ihr Name, kühner Jäger?« Der nicht unfreundliche Ton schien Fleurent neuen Auftrieb zu geben. »Fleurent de Malvoy, Majeste.« Ungeachtet des Schnees legte er schwungvoll ein Knie zu Boden. »Der unglücklichste Mann Frankreichs. Das Missgeschick, ein so wunderschönes Antlitz ...« »Mein Herz, Monsieur.« »Bitte, Majeste?« Fleurent sperrte die Augen auf. »Mein Antlitz wurde von meinem Hut beschirmt. Aber hier ...« Mademoiselle legte eine Hand auf die schneebepuderte Stelle, wo ihre Oberweite ihren Mantel beträchtlich ausbeulte. »Es ist mein Herz, das getroffen wurde.« «Majesté ...«, stammelte Fleurent, erneut errötend. »Ich werde üblicherweise mit Mademoiselle angeredet«, widersprach d'Orléans Tochter fest, aber mit einem Lächeln, das der Zurechtweisung jegliche Schärfe nahm. In dem Augenblick ging Isabelle auf, was für ein unerhörtes Glück ihr Bruder hatte. Er konnte nicht wissen, dass Mademoiselle auf den Thron schielte und sich den jungen König als Gemahl wünschte. Mit der falschen Anrede hatte er sich auf eine sehr geschickte und unschuldige Art eingeschmeichelt. »Ich verzeihe Ihnen Ihr Missgeschick, Monsieur de Malvoy«, fuhr Mademoiselle unterdessen fort. »So viel Eifer bei der Verfolgung dieses Italieners muss ich loben.« Sie lächelte. »Wo, sagten Sie, ist er hingelaufen?« Fleurent drückte den Rücken durch. »Dorthin, Maj... Mademoiselle.« »Nun gut. Dann führen Sie mich hin.« Sie verschwanden zusammen zwischen zwei hohen Zypressen, von einer Schar aufgeregter Hofdamen gefolgt. »Bon, wenn das so ist...«, seufzte Cécile und sah dem ungleichen Paar bedauernd nach. »Ich muss wieder hinein. Mir ist Schnee in den Ausschnitt gefallen ... Brrr! Kommst du mit? »Ja ... Ja, ich komme«, murmelte Isabelle. 137
Vor dem Haus blieb sie stehen, auf dem Absatz, der zu dem Park hinunterführte, und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Tiefblaue Schatten lagen auf dem Schnee. Erste Sterne funkelten am Himmel. Ihr Herz schlug unruhig. Wo mochten die beiden stecken? Hoffentlich verplapperte Fleurent sich nicht! Mademoiselle war ihr wohlgesinnt, aber Rang und Geburt waren ihr ganzer Stolz. Nie würde sie akzeptieren, dass ein Bauernmädchen ungestraft die Gesetze der Stände durchbrach. Mein Gott, wenn alles herauskäme ... Isabelle fröstelte. Sie schlug den Kragen ihres Mantels höher, schmiegte ihre Wangen an das weiche Fell. Ihre Augen glitten über die kunstvoll geschnittenen Hecken, über die streng abgezirkelten, verschneiten Rasenflächen, über die für den Winter trockengelegten Springbrunnen, wo Falbelwesen und Götter vergeblich ihr Spiegelbild suchten. Ein paar Schritte vom Haus entfernt zeugten noch im Fackellicht aufblitzende Eisskulpturen von Timoleons Geschick, nicht nur die Zunge, sondern auch das Auge zu bezaubern. Zu ihrer Linken konnte sie durch die Fenster der Orangerie ihre geliebten Orangenbäume ausmachen, sorgfältig aufgereiht und wohlbehütet in der Wärme der ständig brennenden Kamine. Und in ihrem Rücken die gewaltige Fassade des Hauses, alle Fenster erleuchtet, Geigenklänge von irgendwoher, Gelächter, teure Düfte, gesittete Gespräche. Es war ihre Welt, so lange schon, und sie hätte sich selber belogen, wenn sie behauptet hätte, dass ihr nichts an ihr liegen würde. Ja, sie liebte das alles, sie hatte so lange daran gearbeitet, sich in diese Welt einzufügen, dass der Gedanke, wieder aus ihr herausgeworfen zu werden, unerträglich war. Isabelle ließ den Kopf sinken. Sie wandte sich vom Park ab, und ein Diener riss die große Glastür auf, die sie in den riesigen Empfangssaal einließ. »Ah, enfin! Par ici, Mademoiselle dArzelles! Hierher, je vous prie!« erklang es aus einem Grüppchen nicht weit von Isabelle, in dessen Mitte zwei Diener mit Körben standen. Isabelle seufzte innerlich auf. Es war Beaufort, umringt von seinem privaten Hof junger Männer und schmachtender Damen. Er war also auch gekommen. Nun ja, da ließ sich nichts machen. 138
»Sie müssen mir helfen!«, rief der hübsche Herzog. Isabelle zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Ihr Verlobter hielt ihr ein kleines Strohbündel mitsamt Nadel und Schleife entgegen, das ihm einer der Diener gerade ausgehändigt hatte. Es war neuerdings angesagt, seine politischen Ansichten durch farbige Bänder oder Symbole kundzutun. Zur Feier der neuen Allianzen war Isabelle auf die Idee gekommen, das Stroh, das sich die Frondeurs als Symbol auserkoren hatten, mit isabellfarbenem Stoff zu verbinden. Es war Louis de Condes Farbe und auch die Farbe ihres Kleides am heutigen Abend. Beaufort streckte die Brust heraus und sagte mit einem Augenzwinkern: »Sie sind die Dame des Hauses, bestimmen Sie über mich! Sagen Sie mir, wo Sie das an mir befestigt sehen wollen!« Ein Raunen ging durch die Reihen. Die Damen tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Auf einmal hatte Isabelle das Gefühl, dass der ganze Saal zu ihnen hinüberblickte. Zu allem Überfluss setzte nun auch noch die Musik aus, und es wurde still. Isabelle war klar, was man von ihr erwartete. Ein Erröten, ein verlegenes Abwehren wären die angemessenen Reaktionen auf die plumpe Aufforderung gewesen. Doch Beauforts Selbstzufriedenheit reizte sie. Sie würde sich diesem Laffen nicht unterordnen, auch um des Scheines willen nicht! Sie trat auf Beaufort zu, nahm ihm die Nadel ab und drehte sie kurz zwischen den Fingerspitzen. Dann befestigte sie die Nadel auf seiner linken Brusthälfte. »Ich stecke sie auf Ihr Herz, Monsieur. Dort gehört sie hin, denn jeder hier weiß, dass Sie Ihr Herz auf dem rechten Fleck tragen.« »Wie wahr, wie wahr!« Beaufort presste ihre Hände mitsamt der Nadel auf seine Brust. »Wie gut Sie es doch kennen, Mademoiselle dArzelles! Und ich dachte immer, Sie hätten nicht bemerkt, für wen es schlägt!« »Aber natürlich doch!« Isabelle befreite sich ruhig aus der Umklammerung. Sie lächelte in die Runde. »Ja, ich weiß, für wen Ihr Herz schlägt, und ich bin sicher, jede dieser Damen hier weiß es auch!« »Wie denn?«, fragte Beaufort mit großen Augen. »Eh bien, für Monsieur de Conde, bien sür«, lächelte Isabelle. »Wären Sie sonst hier?« Beaufort errötete, Ursule, die sich hinzugesellt hatte, kicherte laut, die anderen Damen fielen ein. 139
Doch Isabelles Triumph währte nur kurz. François de Beaufort hatte den guten Geschmack, in das allgemeine Gelächter mit einzufallen. »Wie wahr, wie wahr!«, rief er erneut aus. »Und ich hoffe,
dass Sie genauso bereit sind, meine Freunde ins Herz zu schließen, wie ich die Ihren!« Er drehte sich um, suchte in der Menge der ihn umgebenden Edelmänner. »Es gibt da jemanden, den ich Ihnen vorstellen will...« Er ruderte mit dem Arm. »Kommen Sie, Monsieur le Comte, kommen Sie!« Die Anwesenden wichen zurück, um Platz zu machen. »Ach, da ist er ja!« Beaufort zog einen Mann neben sich. »Das ist Philippe de Vigueil, Comte de Rochastre, ma chere«, strahlte er. »Ich bitte Sie, ihm einen ebenso herzlichen Empfang zu bereiten wie mir.« Zum ersten Mal an diesem Abend war Isabelle sprachlos. Ja, es war tatsächlich der Comte de Vigueil, der Zeuge ihres peinlichen Schwächeanfalls im Kabinett von Gaston d'Orléans, der sie nun anlächelte und sich über ihre Hand verneigte. Er hat schon mehr Übung darin, dachte Isabelle. Ein Freund Beauforts... Auf einmal lag ein bitterer Geschmack auf ihrer Zunge. Ihr Blick lief über die schlichte, aber perfekt geschnittene cremefarbene Samtjacke des Comte, über seine Seidenstrümpfe und seine auf Hochglanz polierten Schuhe. Alles saß perfekt, und, wie Isabelle irritiert feststellte, alles stand ihm ausgezeichnet. Wie hatte sie je glauben können, ein luxuriöser Rahmen würde nicht zu diesem Mann passen? Sie musste sehr verwirrt gewesen sein an dem Tag, als sie ihn kennenlernte! Überhaupt ... Wenn sie darüber nachdachte, wie oft sie noch über dieses Treffen nachgesonnen hatte ... An was für lächerliche Details sie sich immer wieder erinnert hatte ... Verwirrt ... Sie war einfach verwirrt gewesen! Nicht zurechnungsfähig! Nicht in der Lage, irgendein objektives Urteil... »Eine Schleife, Madame!« Isabelle zuckte zusammen. Sie befeuchtete ihre Lippen, sah Beaufort befremdet an. »Wie bitte?« Er verzog den Mund. »Nun, meine Liebe, wenn Sie schon kein Wort des Willkommens für Monsieur de Vigueil finden, seien Sie mitleidig, und hängen Sie ihm eine Schleife an!« Er lachte gekünstelt, und die Menge fiel ein. Sie lächelte beherrscht und wandte sich dem unerwarteten Gast 140
zu. »Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, Monsieur le Comte. Natürlich sind Sie hier herzlich willkommen.« »Ich bedauere, Sie derart zu überfallen«, antwortete er. Die Narbe auf seiner Wange zog seinen rechten Mundwinkel etwas nach unten und verlieh seinen Zügen eine Strenge, die ihr zuvor nicht aufgefallen war. »Doch ich gestehe, dass ich es nicht bereue, gekommen zu sein. Ihre Soireen werden allseits gerühmt, und diese übertrifft noch meine Erwartungen.« Er klang distanziert, seine ganze Haltung drückte eine Kühle aus, die sie unerklärlicherweise verletzte. »Das freut mich zu hören.« Sie deutete auf einen der Körbe mit den Anstecknadeln. »Bitte bedienen Sie sich.« Der Comte winkte ab. »Um ehrlich zu sein, bevorzuge ich es, ohne Stroh oder Schleifen auf dem Hut herumzulaufen«, antwortete er. »Und Sie werden verstehen, dass ich meinen neuen teueren Anzug nicht durch ein Loch ruinieren möchte.« Ihre Blicke trafen sich. Isabelle schluckte. »Sie sind sehr ehrlich«, entfuhr es ihr. »Ja«, antwortete er ruhig. »Sollten wir uns darin unterscheiden?« Doch Isabelle hatte nicht vor, sich weiterhin von ihm aus der Fassung bringen zu lassen. Sie war schließlich Meisterin im höfischen Geplänkel. »Es ist ein Vorrecht des weiblichen Geschlechts, nicht ehrlich sein zu müssen, Monsieur! Nicht einmal mit sich selber. Und das ist gut so, denn sonst würden wir jeden Morgen vor dem Spiegel verzweifeln.« »Verzeihen Sie, Madame, wenn ich Ihnen das nicht abnehme. Ich kann mir so eine Verzweiflung bei Ihnen überhaupt nicht vorstellen.« Isabelle spitzte spöttisch die Lippen. Sie warf einen schnellen Blick um sich. Beaufort hatte ihr Schlagabtausch offensichtlich ermüdet, er unterhielt sich mit einer seiner Anhänger innen. Auch die anderen Menschen, die sie umgaben, achteten nicht mehr auf sie. Leise und beißend sagte sie: »Wie schnell Sie dazulernen, Monsieur de Vigueil! Mir scheint, Sie haben sich mit der höfischen Kleidung auch gleich den höfischen Umgangston zugelegt. Sie verteilen bereits Komplimente mit der größten Selbstverständlichkeit. Haben Sie viel geübt?« Sein Blick wurde brennend. Sehr ernst antwortete er: »Nur im Geiste. Und immer nur mit Ihnen.« 141
Isabelle schluckte. Ihr Nacken prickelte und wurde heiß. Gleichzeitig stieg Ärger in ihr auf. Verflixt, Fleurent bereitete ihr Herzklopfen genug am heutigen Abend. Sie konnte es sich nicht leisten, an einer zusätzlichen Front zu kämpfen und ihre Kräfte an Freunde von Beaufort zu verschwenden!
»Nun ja, der heutige Abend wird Ihnen Gelegenheiten genug bieten, diese Eintönigkeit zu durchbrechen«, stellte sie fest. »Ich bin sicher, die Damen um Sie herum werden Ihre Übungen mit Begeisterung aufnehmen.« Sie nickte ihm zu. »Ich muss mich um die Gäste im Park kümmern. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas benötigen.« Sie hatte sich bereits abgewendet, als er sie zurückhielt. »Nun, da wäre schon etwas ...« Sie verharrte widerstrebend. »Ja?«, fragte sie. »Monsieur Ihr Großvater. Sie täten mir einen sehr großen Gefallen, wenn Sie mich ihm vorstellen könnten.« »Oh«, entfuhr es Isabelle. Sie betrachtete ihn verwundert. »Nun, es tut mir leid, doch ich kann Ihnen Ihren Wunsch nicht erfüllen. Monsieur le Duc ist kurzfristig wegen einer dringenden Angelegenheit verreist.« Die Enttäuschung auf dem Gesicht des Mannes war so offenkundig, dass sie einen Schritt auf ihn zu machte. »Es tut mir leid«, wiederholte sie weicher. »Vielleicht kann ich an seiner Stelle ...« »Nein«, schüttelte Philippe de Vigueil entschieden den Kopf. »Das ist nicht möglich.« Sein Gesicht verschloss sich wieder. »Es ist nicht so dringlich. Ein andermal vielleicht.« Er mied ihren Blick. Sie wartete noch ein wenig, doch da er keine Anstalten machte, weiterreden zu wollen, verließ sie ihn.
* Froh, Beaufort unauffällig entkommen zu sein, doch mit seltsam bewegtem Herzen verließ Isabelle den Empfangssaal. Sie zwang sich, ihren Verlobten und seinen Freund Philippe de Vigueil zu vergessen, und richtete mit Kraft ihre Gedanken auf ihren Bruder. Ob er noch da draußen war? Hoffentlich war Mademoiselle seiner inzwischen müde geworden ... 142
Isabelle betrat ein längliches getäfeltes Zimmer, das eine Gemäldesammlung beherbergte und am heutigen Abend verlassen dalag. Es war mit hohen Flügeltüren versehen, die auf eine kleine beschattete Terrasse mit Blick auf den Park mündeten. Als Isabelle ins Freie trat, schlug die eiskalte Luft ihr entgegen und nahm ihr den Atem. Tant pis ... Sie hatte keine Geduld, um nach ihrem Mantel zu schicken. Sie schloss ihre Arme eng um ihre Brust, legte eine Hand auf ihren bloßen Hals, um ihn gegen die Kälte zu schützen, und huschte auf eine der Säulen zu, die den Balkon vom ersten Stockwerk stützten. Hinter ihnen verborgen würde sie unauffällig einen Blick auf den Park werfen können. Der Schatten der Säule war so tief, dass sie den Mann erst entdeckte, als sie nur noch vier Schritte von ihm entfernt war. Sie blieb abrupt stehen. Der Mann drehte ihr den Rücken zu. Er spähte angestrengt in die Nacht hinaus und hatte sich dafür eng an den gerundeten Stein geschmiegt. Er war ohne Hut, doch er hatte sich sorgfältig in seinen Mantel gewickelt. Isabelle zog die Stirn kraus. Der Mann war still und regungslos, er machte den Eindruck, als ob er noch lange hier ausharren wollte. Sie würde sich nach einem anderen Beobachtungsposten umsehen müssen. Lachende Stimmen klangen vom Park herauf, es mussten Menschen ganz in der Nähe sein. Isabelle machte einen Schritt zur Seite. Ihr stockte der Atem bei dem, was sie entdeckte. Schräg unter ihr, in vielleicht dreißig Schritten Entfernung, hob sich Mademoiselles wohlgerundete Gestalt vom Weiß des Schnees ab. Die Prinzessin war bester Laune, ihr ungehemmtes Lachen bewies es. Eine Handvoll Damen begleitete sie. Und der, der so erfolgreich Mademoiselle unterhielt und ihr so selbstverständlich den Arm präsentierte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, war Isabelles Bruder Fleurent. Isabelle sah all ihre Befürchtungen sich bestätigen. Ihr wurde flau im Magen. Nie im Leben würde Fleurent den Schein lange genug aufrechterhalten können! Er, der kaum jemals den väterlichen Hof verlassen hatte, mit einer der ersten Prinzessinnen des Landes ... Unmöglich! Ihr Atem entflog ihr in kleinen, hastigen Schüben. Der Mann vor ihr machte eine Bewegung. Und er?, fragte sie sich. Wer war er? Was 143
wollte er hier, weshalb versteckte er sich? Tausend Gedanken schössen Isabelle durch den Kopf, einer verrückter als der andere. Was war es, das sie verriet? Ein Stein unter ihrer dünnen Sohle? Ein Schimmern ihres falbenfarbenen Kleides oder ein Funkeln der Diamanten, die an ihren Ohren pendelten? Sie wusste es nicht. Tatsache war, dass der Mann hinter der Säule sich blitzartig umdrehte -und sie plötzlich Conrad de Branne gegenüberstand.
Er fasste sich als Erster. »Mademoiselle d'Arzelles!« Viel erkannte sie nicht von seinen Zügen, doch sie hörte seiner Stimme an, dass auch er angespannt war. »Sie sind herausgetreten, um ein wenig Luft zu schöpfen? Ein anstrengender Abend, nicht wahr?« »Ja.« Sie hatte Mühe, ihre Worte zu formen, so kalt war ihr inzwischen. »Doch auch, wie ich glaube, ein recht gelungener.« Mademoiselles selbstbewusstes Lachen stieg in den nächtlichen Himmel. »In der Tat«, antwortete er. »Und Monsieur de Malvoy trägt, glaube ich, nicht unerheblich dazu bei, dass dieser Abend Mademoiselle unvergessen bleiben wird.« Brannes Stimme lag ein Lächeln zugrunde. Und auf einmal wusste Isabelle, dass sie sich geirrt hatte. Es war nicht Mademoiselle, die hier beobachtet wurde, sondern Fleurent! Branne war derart von ihrem Bruder gefesselt, dass er in eisiger Kälte stundenlang hinter einer Säule kauerte! Aber warum? Warum, wenn nicht... Isabelle überlegte fieberhaft. Hatte sie nicht schon den ganzen Abend den Eindruck gehabt, Branne verfolge sie und Fleurent mit seinen Blicken? Ja, befand sich ihr Sekretär nicht in letzter Zeit auffällig oft auf ihrem Weg? Sie fühlte, wie die Angst in ihren Magen griff. Herr im Himmel! Er, er musste der Erpresser sein! Warum sollte sich Branne für den unscheinbaren Fleurent interessieren, wenn nicht, weil er über ihre Identität Bescheid wusste? Ihre Zähne schlugen aufeinander. »Ihnen ist kalt.« Branne näherte sich. »Mon Dieu, Madame, Sie haben ja nichts an! Bitte erlauben Sie!« Mit einem Schwung entledigte sich Conrad de Branne seines Mantels. Auf einmal war er ihr sehr nahe. Es war, als sei Isabelle endgültig zur Eissäule erstarrt. Sie war un 144
fähig, sich zu rühren. Wie gelähmt, stumm und starr ließ sie geschehen, dass Branne ihr den gefütterten Mantel über die Schultern legte. Brannes Geruch drängte sich ihr auf, eine Mischung aus zerkauten Anissamen, Moschus, ihrem eigenen parfümierten Siegelwachs und dem exzellenten Wein, den Timoléon heute Abend ausschenken ließ. Sie hatte Mühe zu atmen. Das Fuchsfell, das auf der Innenseite des Kleidungsstücks angenäht war, lag auf der bloßen Haut ihres Dekolletes. Ihr war, als spüre sie jedes einzelne Härchen des Fells ... Mit äußerster Mühe gelang es ihr, die Zähne auseinanderzubekommen. »Ich ... ich muss gehen ...«, sagte sie. »Aber Sie zittern ja!« So nahe war ihr Branne noch nie gekommen. Sie sah in seine Augen. Er gab sich nicht die Mühe, den Blick zu senken, heuchelte nicht einen Respekt vor, den er offensichtlich nicht mehr für sie empfand - den er vielleicht nie empfunden hatte. Sie starrte ihn an, wie gebannt. Und auf einmal sprangen sie ihr aus seinem Gesicht entgegen. Die Gier. Die Lust. Das ungezügelte Verlangen. Sie machte eine abwehrende Geste. Der Mantel glitt von ihren Schultern, fiel zu Boden. Sie stolperte rückwärts. Drehte sich um und floh. Die Frau, die Philippe fast umgerannt hatte, entschuldigte sich hastig, murmelte irgendetwas Unverständliches, hob den Kopf ... »Sie?«, entfuhr es Isabelle, als sie ihn erkannte. Philippe war bereits zu dem Schluss gekommen, dass dies nicht sein Abend sein würde. Also, mahnte er sich ironisch, konnte es ihn auch nicht weiter verletzen, wenn Isabelle dArzelles zweite Begrüßung genauso kühl ausfiel wie ihre erste. Weshalb hätte es auch anders sein sollen? Sie hatten sich kurz vor einem Chamäleon kennengelernt, und sie war, wie er seit einer knappen Stunde wusste, die Verlobte des wenig geistreichen Beaufort. Nichts, was die Grundlage für eine besonders herzliche Beziehung bilden könnte. Während er seine Hände von ihrem Arm löste, staunte er, wie eisig sich ihre Haut anfühlte. Er betrachtete sie genauer. »Ich ... Es tut mir sehr leid«, stotterte sie. »Habe ich Ihnen wehgetan?« 145
»Nein«, log er und fragte sich, was sie dazu veranlasst hatte, sich mit der Wucht eines Janitscharen auf ihn zu stürzen. Sie war sehr blass, und ihre Lippen waren mehr blau als rot. »Der Nachteil der schönen neuen Kleidungsstücke«, sagte er lächelnd und deutete auf seine Jacke, »ist, dass man viel zu sehr besorgt darum ist, jegliche Gefährdung von ihnen fernzuhalten.« Sie hob ihr blasses Gesicht zu ihm auf und sah ihn verständnislos an. Gold, schoss es ihm durch den Kopf. Lapislazuli. Aber auch Meergrün. »Leider habe ich heute Abend keinen Zucker dabei.«
»Das ist auch nicht nötig, Monsieur.« Sie lächelte gezwungen und machte Anstalten, sich durch die Tür an ihm vorbeizuquetschen. »Da haben Sie recht.« Er trat zur Seite und versperrte ihr erneut den Weg. »Wir werden jemanden rufen.« Er winkte einen der beiden Diener herbei, der gerade zusah, wie der frisch bestückte und erleuchtete Kronleuchter wieder an die Decke gezogen wurde. »Bringen Sie Madame ein Glas mit sehr heißem Wein. Schnell.« »Aber ...«, protestierte sie, während der Diener eilig davontrabte. Sie schnappte nach Luft. Allmählich schien ihr Widerspruchsgeist zu erwachen, denn sie hob ein wenig das Kinn und musterte ihn irritiert. »Monsieur de Vigueil, Gott ist mein Zeuge, dass ich nicht erneut unhöflich zu Ihnen sein möchte, doch ich versichere Ihnen, dass ich durchaus in der Lage bin, mir selber einen Wein bringen zu lassen, wenn mir danach ist.« Sie warf einen unruhigen Blick hinter sich. »Und jetzt lassen Sie mich bitte vorbei.« »Aber nicht doch.« »Wie bitte?«, funkelte sie ihn an. »Ich muss Sie berichtigen. Sie waren nicht unhöflich zu mir, Madame«, lächelte er. »Dafür waren Sie viel zu sehr beschäftigt. Um unhöflich zu jemandem sein zu können, muss man ihn erst einmal wahrnehmen.« Sie sah ihn sprachlos an. Zu seiner Bestürzung sah er, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Augenblicklich bereute er, dass er seinem Ärger über den verdorbenen Abend auf ihre Kosten Luft gemacht hatte. Zum Glück trat nun der Diener mit einem Glas Rotwein näher. Sie nutzte dankbar die Unterbrechung und nahm das dampfende Gefäß mit spitzen Fingern entgegen. Während sie vorsichtig daran 146
nippte, schlug sie die Augen nieder. Als sie nach kurzer Zeit erneut einen Blick über ihre Schulter warf, fragte er sich, ob es möglich war, dass sie sich im eigenen Haus verfolgt fühlte. Ihre Wangen bekamen schnell Farbe durch den Wein, sie lebte sichtlich auf. Sie hob ihr halb leeres Glas in einer Geste, der ein Hauch von Provokation unterlag. »Kann ich jetzt gehen?« »Bien sür«, sagte er beherrscht und machte den Weg frei. Er löschte sorgfältig jegliche Emotion aus seiner Stimme. »Monsieur de Beaufort fragt schon überall nach Ihnen. Er wird entzückt sein.« »Monsieur de Beaufort?« Sie biss sich auf die Lippe. Ihr Blick flackerte. »Er ist noch da?« »Aber ja.« Philippe verbarg seine Fäuste hinter seinem Rücken. »Er vertraute mir auf der Hinfahrt an, dass er große Erwartungen an den heutigen Abend stellt, und diese sind, glaube ich, noch nicht erfüllt worden.« Ihre Hand fuhr an ihren Hals. Sie prallte von der Tür zurück. Sie bedachte ihn mit einem zornigen Blick und kippte mit einem Mal ihren restlichen Wein herunter. »Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«, fragte er verwundert. »Ja!« Sie deutete auf den Raum hinter der Tür. »Gehen Sie zu Ihrem Freund Monsieur de Beaufort und sagen Sie ihm, ich würde bedauern, aber aus seinen Erwartungen würde heute Abend nichts. Sagen Sie ihm das!« Plötzlich kam ihm der Abend nicht mehr so verdorben vor, und er fühlte sich seltsam beschwingt. Irgendwie schien es ihm wichtig richtigzustellen: »Monsieur de Beaufort und ich kennen einander erst seit drei Tagen, Madame. Ich fürchte, ich fühle mich dem Namen des Freundes, mit dem er mich beehrt, noch nicht gewachsen.« »Seit drei Tagen?« Sie hob eine Braue was, wie er fand, zauberhaft aussah. Ihr Zorn schien verflogen. »Was haben Sie denn angestellt, wenn ich fragen darf, um Monsieur de Beaufort derart zu beeindrucken?« »Ich ging ihm zur Hand während eines kleinen Streits zwischen ihm und ein paar Plakatklebern in den Saints-Innocents.« Sie legte den Kopf schief. »Unterliegen Sie so einer Art Zwang? Ausschau zu halten nach Personen, die sich in Not befinden, und ■47
ihnen dann Ihre Hilfe aufzudrängen?« Ihr Lächeln nahm ihrem Spott jegliche Schärfe. Etwas rührte sich in ihm. »Ja«, antwortete er rau. »Der Zwang wurde spontan in einem Kuriositätenkabinett geboren. Und überfällt mich regelmäßig in Ihrer Nähe.« Er hob eine Hand, strich wie zufällig über ihren Ärmel. »Ich mache mich damit unbeliebt.« Er lächelte leicht. »Doch ich war schon immer dafür bekannt, absolut unbelehrbar zu sein.« Er zog den Hut. »Adieu, Madame.«
»Sie gehen?«, entfuhr es ihr. »Ja, es ist... besser so. Aber wir werden uns wiedersehen. Wenn Sie es erlauben, werde ich Monsieur Ihrem Großvater in den nächsten Tagen meine Aufwartung machen.« »Ich würde mich freuen. Allerdings weiß ich nicht, wann er zurück sein wird.« Sie hob den Kopf. »Schade, dass Sie nicht mit Madame meiner Großmutter vorliebnehmen möchten.« »Madame la Duchesse? Aber...«Auf einmal war Philippes Mund trocken. »Man sagte mir, sie würde ihre Zimmer nie verlassen!« »Das stimmt, aber umso lieber empfängt sie und lässt sich von Besuchern die Zeit vertreiben.« Sie betrachtete ihn offen. »Also?« »Gerne ... Sehr gerne!« Sie mochte sich über seine plötzliche Anspannung wundern, doch natürlich zeigte sie es nicht. Stattdessen machte sie ihm mit einem kleinen Lächeln Zeichen, ihr zu folgen. Isabelle war bereits einige Schritte vorausgegangen, als sie merkte, dass Philippe de Vigueil ihr nicht mehr folgte. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass er stehen geblieben war und den Kopf wendete. Dann hob er die Augen. Langsam begann er, sich um die eigene Achse zu drehen. Sie lächelte zufrieden. Dass der Zauber dieses Raumes ihn berührte, machte in ihren Augen einiges wett. Isabelle war an solche Reaktionen gewöhnt, wenn sie Besucher zu Marie-Olympe führte. Sie blinzelte, folgte den Blicken des Comte. Seine Verblüffung war ansteckend. Für ein paar Sekunden gelang es ihr, das Zimmer mit seinen Augen zu sehen. Wie damals, als sie vor sieben Jahren zum ersten Mal Marie-Olympe vorgeführt wurde. 148
Der Raum war kreisrund, nur ein breiter Alkoven wuchs aus ihm heraus. Er war farbenfroh, denn die Wände waren von keinem anderen als dem berühmten Hofmaler Simon Vouet mit heiteren Landschaften, Nymphen, Satyrn und Halbgöttern dekoriert worden. Und er war hoch ... Er erstreckte sich über zwei Stockwerke. Eine Kuppel, die auf einer langen Reihe von Fenstern ruhte, schloss ihn hoch über ihren Köpfen ab. Eine schmale Treppe stieg bis auf die halbe Höhe des Zimmers an und mündete auf einem kleinen, mit einer hölzernen Balustrade bewehrten Absatz. Dort wurden die Musiker untergebracht, an Abenden wie heute. Es war Isabelles erste schöne Erinnerung in Paris: dieser kleine Absatz, sie hier unten und Töne, wie sie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gehört hatte, strahlend und weich wie Engelshaar, Geigenklänge, die vom Himmel auf sie hinabschwebten und ihr Tränen in die Augen trieben. Und dann gab es da noch die übermannshohen Flügelfenster und die vielen venezianischen Spiegel. Große, kostbare Spiegel, mit Bedacht positioniert, damit sie einander das Treiben in der Rue Saint-Germain oder auf dem Hof zuwarfen, sodass man es bequem vom Bett aus verfolgen konnte. Die vielen blanken Flächen bewirkten, dass dieses Zimmer das hellste im ganzen Haus war. Ja, Isabelle liebte diesen Raum. Sie bemerkte, dass Philippe de Vigueil sie beobachtete, und sah zu ihm hoch. »Sie lächeln?«, fragte er. »Ja. Weil die Magie dieses Ortes auch Sie berührt hat. Sehen Sie diese Menschen hier? Viele von ihnen kehren immer wieder hierher zurück, nur um diesen Raum zu bewundern. Er ist in der ganzen Stadt bekannt.« Sie holte tief Luft, breitete die Arme aus. »Es ist wundervoll, nicht wahr?« »Es ist wie ein Traum. Ein bunter Traum...«, sagte er in einem seltsamen Tonfall. »Und tagsüber, wenn es hell ist...« »... Dann springen Sie hier die Bilder an, die die Spiegel sich gegenseitig zuwerfen: vom Haus, vom Treiben auf der Straße, von Ihnen selber... Oft sind es nur Bruchstücke, Ausschnitte... Manchmal trügen sie auch. Wer kann dann noch sagen, was Wirklichkeit, was Schein ist?« Wieder holte sie tief Luft. Leiser schloss sie: »Es ist, als wollten sie einem einflüstern, das Leben nicht so ernst zu nehmen.« 149
Vigueil schüttelte den Kopf. »Nein, Sie irren sich!«, sagte er fest. Er schloss eine Faust. »Das Leben will ernst genommen werden. Es will erkämpft werden, und ich glaube, Sie wissen das. Und Sie stellen sich dieser Herausforderung, wie ich es auch tue.« Isabelle hob überrascht den Kopf. Ihr war, als würde ein kühler Luftzug durch den hohen Raum wehen. Doch in ihr, im tiefsten Grund ihrer Seele, leuchtete ein heller Fleck auf. Und plötzlich war es da: das Gefühl, verstanden zu werden. Ihr wurde warm. »Kommen Sie«, sagte sie leise. »Meine Großmutter liegt dort drüben.«
Sie durchquerten den Raum. Als sie den Alkoven erreichten, der das Lager barg, hatte Isabelle sich wieder so weit gefasst, dass sie ein gelassenes Gesicht zeigen konnte. Es gab keine Bettvorhänge, sondern stattdessen eine zweigeteilte, hölzerne Falttür, die die Bettnische von dem runden Raum abtrennen konnte. Auf die Lamellen hatte ein holländischer Künstler zum Täuschen echte Samtfalten und goldene Troddeln gemalt. Und mitten in dieser Pracht, umgeben von seidenen Bezügen, feinem Leinen und weichen Daunenkissen, und sich trotz der Kälte hoheitsvoll Luft zufächelnd, lag Marie-Olympe de Faurepas. Ein Dutzend Besucher mochte sich im Raum befinden, die Hälfte davon hatte sich hier versammelt. Es war Marie-Olympes ständig präsenter kleiner Hofstaat, alles ältere Menschen, kostspielig gekleidet, mit knotigen Händen und Mundgeruch, die Augäpfel gelb und die Züge starr von der dicken Schicht Bleiweiß, unter denen sie ihre Falten verbargen. Isabelle kannte sie seit Jahren, sie gehörten zu der Einrichtung wie die verschnörkelten Rahmen der Spiegel und die falschen goldenen Troddeln auf der Falttür: Das erste Mal beeindruckten sie einen, später übersah man sie. »Ma fille! Was für eine hübsche Idee, mich besuchen zu kommen!«, empfing Marie-Olympe sie gnädig, und Feu Follet, ihr kleiner Affe, nahm geschickt die Kette in die Hand, die ihn an seinem Ständer fesselte, um einen Purzelbaum zu machen. »Ja, reizend!«, knarrte die alte Madame de Claridon sofort. »Eine so anmutige Enkelin, die Sie da haben, Madame la Duchesse!«, wisperte Monsieur dAlbin und spreizte die Ellenbogen über seinem Stock. iSo
»Und wie sie strahlt! Charmant! Schlichtweg charmant!« Isabelle lächelte. Es war jedes Mal dasselbe. Marie-Olympes Besucher pflegten sich um sie zu scharen wie Spinnen, denen zum ersten mal ein Schmetterling ins Netz gegangen ist. Sie grüßte artig nach rechts und links. »Aber sie ist in Begleitung!« »Oh, ein neues Gesicht...« Die alte Madame de Brasbie brach ab und starrte Vigueil mit offenem Mund an. Isabelle drehte sich dem Bett zu, um Philippe de Vigueil ihrer Großmutter vorzustellen. Doch dann merkte sie, dass diese den Comte wie gebannt anstarrte. Isabelle runzelte die Stirn. Nein, sie irrte sich nicht ... Marie-Olympe saß regungslos und stumm auf ihrem Bett, die Augen weit aufgerissen, die Lippen blutleer. Auf ihren alten, spitzen Zügen wechselten sich fieberhaft Unglaube, Bestürzung und Angst ab. »Madame mere?« Marie-Olympe regte sich nicht. Isabelle beugte sich zu ihr hinab. »Madame mère, ich möchte Ihnen den Comte de Rochastre vorst...« »Was wollen Sie hier?«, fragte Marie-Olympe plötzlich und stieß Isabelle beiseite. Philippe de Vigueil schlug mit den Lidern. »Verzeihen Sie, Madame la Duchesse, ich verstehe nicht.« »Was Sie hier wollen, habe ich gefragt!«, fuhr Marie-Olympe ihn an. »Schickt Ihr Vater Sie? Hat er nicht mehr den Mut, selber seine Forderungen zu stellen?« »Madame, mein Vater ist schon vor vielen jähren gestorben. Und er hat keinerlei...« »So? Dann sind Sie also aus eigenem Antrieb hier?« Marie-Olympe schüttelte wild den Kopf mit der blonden Perücke und zeterte: »Ja, wie der Vater, so der Sohn. Ein würdiges Erbe, das Sie da antreten!« Isabelle brannte der Nacken. Die alten Menschen um sie herum waren starr von der Bemühung, sich nicht ein einziges Wort von dem Streit entgehen zu lassen. Morgen würde die ganze Stadt von dem Skandal erfahren. Sie trat vor. »Madame mère, ich fürchte, der heutige Abend hat Sie überanstrengt. Vielleicht wäre es besser, Ihren Arzt zu rufen, der Ihnen ...« 151
Marie-Olympe schob sie erneut beiseite. »Sie sind hier nicht willkommen, Monsieur«, stieß die alte Frau hart aus. »Nicht in der Vergangenheit, nicht heute und auch morgen nicht. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Ihr Atem ging pfeifend. Sie fasste sich an die Brust. Philippe de Vigueil war sehr weiß geworden unter seiner gebräunten Haut. »Durchaus, Madame. Adieu.« Er verbeugte sich knapp, machte auf den Fersen kehrt und verließ den Raum. Marie-Olympes Blick haftete an ihm, bis er verschwunden war. Dann plötzlich sackte die alte Frau in sich zusammen. Die alten Leute stießen erschrockene Laute aus und scharten sich um das Bett. Der Affe kreischte, schrill und unerträglich. Isabelle zögerte nur eine Sekunde. Dann lief sie dem Comte nach.
»Monsieur! Monsieur, so warten Sie doch!« Philippe de Vigueil blieb auf halber Höhe der Treppe stehen. »Monsieur, ich ...«Isabelle stand nun vor ihm. Auf einmal fehlten ihr die Worte. Sollte sie sich für das Betragen ihrer Großmutter entschuldigen? Ihn bitten zu bleiben? Nichts, was sie sagen konnte, hätte die soeben erlittene Demütigung ungeschehen machen können. Sie breitete hilflos die Hände aus. »Es tut mir leid!« »Schon gut.« Ein kleines Lächeln umspielte Vigueils Lippen. »Gehen Sie wieder nach oben, in diesen wunderschönen Raum ...« »Spotten Sie nicht über mich! Es tut mir aufrichtig leid, was passiert ist, und ich ...« Plötzlich musste sie heftig blinzeln, und sie schluckte. »Ich weiß.« Seine Stimme wurde weicher. »Aber das ist nicht der Ernst des Lebens, Isabelle!« Er ergriff ihre Hand, legte sie auf seine rechte Wange, direkt auf die sternförmige Narbe. Sie zuckte zusammen. »Das hier ist er.« Er ließ ihre Hand los, lief die Stufen hinunter und verschwand im Halbdunkel. Sie blieb ein paar Atemzüge lang stehen wie vom Blitz getroffen. Dann hastete sie ihm abermals nach. Sie durchquerte mehrere Räume, stieß Gäste an, entschuldigte sich, lief weiter. Ihr Herz klopfte rasend. Herr im Himmel, wie konnte ein Mensch so schnell verschwinden? Da, der große Empfangssaal... Sie hastete hinein, schloss die 71
Augen, geblendet von den vielen Lichtern. Da packte jemand ihren Arm. »Ah, da sind Sie ja, meine Liebe!« Sie hielt gerade noch einen Ausruf zurück, drehte sich halb zornig, halb überrascht der Stimme zu und sah sich Beaufort gegenüber. »Ma chère, ich habe Sie schrecklich vermisst. Wo waren Sie bloß die ganze Zeit?« »Das tut mir leid«, lächelte sie gezwungen. »Die Dame des Hauses hat üblicherweise kaum eine freie Minute während eines Festes, das ist leider nicht zu vermeiden.« Sie versuchte, sich mit einer schnellen Bewegung zu befreien, doch Beauforts Griff verfestigte sich nur. »Gleich, ma chère, gleich. Jetzt, wo ich Sie habe, lasse ich Sie nicht so schnell wieder gehen. Nicht vor der kleinen Rede, die ich zu halten gedenke.« »Eine Rede?«, schluckte Isabelle. »Wunderbar! Ich bin sicher, alle werden an Ihren Lippen hängen, Monsieur. So wie ich selber auch. Zuvor muss ich allerdings noch eine sehr dringliche ...« Doch Beaufort hörte ihr nicht mehr zu. Er heftete ein breites Lächeln auf seine Lippen und begann, mit seinem freien Arm über seinem Kopf herumzurudern. «Mesdames, Messieurs, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!« Isabelles Herz galoppierte in ihrer Brust. Die Menge verstummte allmählich, machte Platz, bildete gehorsam einen Kreis um sie und ihren Verlobten. Es war ihr unmöglich, sich weiter gegen Beauforts Griff zu wehren, ohne einen weiteren Skandal am heutigen Abend zu verursachen. Sie schrie innerlich auf vor ohnmächtigem Zorn. Trotz der Selbstbeherrschung, die ihr in den vielen Jahren zur zweiten Natur geworden war, brachte sie es nicht fertig zu lächeln, sondern stand stumm und starr vor Wut da, als François de Beaufort sich nun an die versammelten Gäste wandte. Herr im Himmel, dachte sie erbost, was hatte dieser unmögliche Mensch denn nun schon wieder vor? Musste er sie denn unbedingt am Arm halten, wenn er seine Tiraden schwang? Noch während Beaufort seine Rede begann, suchte sie den Raum mit den Blicken nach Philippe de Vigueil ab. «Mes chers amis, meine lieben Freunde«, begann der hübsche Herzog, »eigentlich sollte heute Abend der Herr des Hauses, mein sehr geschätzter Freund, der Herzog de Noirlieu, das Wort an Sie richten. 71
Doch wie wir wissen, hat Mazarin ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, und er musste kurzfristig verreisen. Womit mal wieder bewiesen ist, dass alles seine Vor- und Nachteile hat.« Er lachte ein wenig, machte eine Kunstpause und fuhr fort: »Nun, ich werde mein Bestes tun, um den Herzog in dieser Angelegenheit würdig zu vertreten. Um ehrlich zu sein: Ich glaube, es wird mir gelingen, denn in Herzensangelegenheiten habe ich einen gewissen Ruf.« Er lachte erneut selbstgefällig, und ein paar Schmeichler fielen mit ein. Isabelle drehte sich Beaufort ruckartig zu. Worauf wollte er hinaus? Eine schreckliche Ahnung stieg in ihr hoch. Sie blickte gehetzt um sich. Es gab kein Entrinnen. Beauforts Rede zog die Menschen aus den Nachbarräumen an. Sie füllten bereits die Hälfte des riesigen Saals und bildeten
einen großen, dichten und unüberwindlichen Kreis um sie und Beaufort. Trotzdem suchte Isabelle verzweifelt nach einem Ausweg. Dann entdeckte sie den Comte. Philippe de Vigueil musste sich bereits auf dem Weg nach draußen befunden haben, als Beauforts Rede ihn zurückgehalten hatte, denn er hatte seinen Mantel übergeworfen. Er arbeitete sich nach vorne, bis er in der vordersten Reihe stand, und verharrte, während Beaufort mit gnadenloser Fröhlichkeit fortfuhr: »Ah, ich sehe, das Wort Herzensangelegenheit hat einige von Ihnen auf gewisse Gedanken gebracht! Wahrscheinlich umso schneller, als sie mich in so zauberhafter Gesellschaft sehen!« Beaufort drehte sich Isabelle zu, schob sie vor sich, ergriff ihre Rechte und legte seinen linken Arm um ihre Schulter. Sie versteifte sich so, dass es wehtat. Sein schweres Parfüm sprang sie an, und sie schnappte nach Luft. In ihrer Verzweiflung suchte sie erneut die Gestalt von Philippe de Vigueil in der Menge. Er war noch da. Ihre Blicke trafen sich. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Augen brannten. »Ich will es kurz machen: Mademoiselle dArzelles und ich sind hoch erfreut, Ihnen unsere Verlobung bekannt zu geben!« Isabelle stöhnte auf, doch ihr Stöhnen ging in den Stimmen unter, die sich nun von allen Seiten erhoben. »Wir werden so bald wie möglich die Hochzeit feiern!« Ein Jubel erhob sich. Beaufort hob beide Arme, drehte sich und rief mit sich überschlagender Stimme: »Und Sie sind selbstverständlich alle dazu eingeladen!« 72
Es gab nun kein Halten mehr. Isabelle wurde gezogen, geschüttelt, Hände streckten sich ihr entgegen, sie wurde weitergereicht, mit Komplimenten überschüttet, mit Blicken abgeschätzt und durchbohrt. Und auf einmal funktionierte sie. Sie setzte sich in Bewegung, gab die richtigen Antworten, bedankte sich, verzog die Lippen, erwiderte nichtssagende Scherze und spielte die Verlegene. Und sie lächelte, bis ihre Mundwinkel wehtaten, als sie Philippe de Vigueil aus dem Saal hasten sah.
Sechs Die Liebe kann man am treffendsten mit dem Fieber vergleichen: Wir sind beiden gegenüber machtlos und müssen ihre Heftigkeit und ihre Dauer hinnehmen. Februar 1651
Isabelles Schritte hallten auf den Pflastersteinen des dunklen Innenhofs wieder. Die feuchtkühle Luft war ein Segen. Bald würde sie den Vorplatz erreicht haben, wo ihre Kutsche auf sie wartete. Sie rieb sich den verspannten Nacken. Endlich nahm dieser Abend ein Ende! Wie endlos er sich doch hingezogen hatte! Sie machte ein paar Schritte, entfernte sich von den gut gelaunten Stimmen, den kultivierten Gesprächen, den munteren Weisen der Flötenspieler und Lauten. Die allgemeine Fröhlichkeit war ihr zuwider. Zu viel lag ihr heute Abend auf der Seele. Am liebsten wäre sie bei dieser Soiree der Gueranche gar nicht erst erschienen. Doch Cecile hatte heute Abend ihre Verlobung gefeiert, und Isabelle hatte keine Möglichkeit gesehen, sich verleugnen zu lassen, ohne ihre Freundin zu brüskieren. Sie hatte Kopfschmerzen. Ein Wetterumschwung stand bevor. Doch auch der Lärm, der sie seit Tagen umgab, die Tausende und Abertausende von Menschenstimmen in Aufruhr, die aus Gassen, Bürgerhäusern, Palästen und Parlament drangen und Paris erzittern ließen, reizten sie. Ja, es war verrückt, aber seit Mazarin nach Saint-Germain geflüchtet war und allen klar war, dass Monsieur le Prince befreit werden würde, stand die Stadt mehr Kopf denn je. Die wildesten Gerüchte wechselten sich ab: Mazarin sammelte eine Armee, um Paris zu belagern, Mazarin wollte den jungen König verschleppen, Mazarin rief die Spanier zur Hilfe oder ritt nach Le Havre, um die Prinzen als Geiseln zu nehmen ... Isabelle war das alles satt. Es verlangte sie nach Stille. Natürlich war ihr bewusst, dass es ein unerfüllbarer Wunsch war. 157
Seit Beaufort ihre Verlobung bekannt gemacht hatte, wurde das Hôtel de Noirlieu von freudestrahlenden Menschen geradezu belagert. Jeder wollte ihr gratulieren, und jeder meinte ihr unbedingt mitteilen zu müssen, dass sie und Beaufort das ideale Paar waren. Ihr Zimmer versank in einem Meer von Geschenken. Sie besaß inzwischen ein solches Sortiment an Handschuhen, dass sie, falls Helenus sie jemals auf die Straße werfen sollte, beste Aussichten hatte, einen florierenden Laden im Palais de la Cité zu eröffnen.
Sie umklammerte ihren Kragen und biss die Zähne aufeinander, während sie ihre Schritte beschleunigte. Ein hellerer Lichtfleck, der vom unruhigen Tanzen mehrerer Fackeln herrührte, tauchte durch einen Torbogen vor ihr auf. Ein paar andere Gäste standen bereits in der kühlen Nacht, um nach Hause zu fahren. Ihr Herz schlug schneller, als sie unter den Wartenden den Comte Vigueil de Rochastre erkannte. Er hatte die Hände im Rücken verschränkt. Sein Gesicht war nachdenklich und ernst. Sie widerstand dem Drang, zu ihm hinüberzugehen - so wie sie ihm schon den ganzen Abend widerstanden hatte. Ja, dieser Abend war misslungen gewesen - in mehr als einer Hinsicht. Was aber hätte sie tun, was hätte sie sagen können, nach dem, was bei Marie-Olympe passiert war? Wie konnte sie diesem Mann noch unbefangen gegenübertreten? Sein Gesichtsausdruck, als Beaufort ihre Verlobung bekannt gemacht hatte, war ihr noch deutlich in Erinnerung. Natürlich war die Geschichte von dem Ausfall der Duchesse de Noirlieu und ihrem anschließenden Zusammenbruch überall kolportiert worden. Isabelle wusste nicht, ob Philippe de Vigueil sich dessen bewusst war, aber seit dem Eklat umgab den Comte eine Aura des Mysteriums. Man war auf ihn aufmerksam geworden, und da man kaum etwas von ihm wusste, dichtete man ihm bereits die abenteuerlichste Vergangenheit an. Seine Art, sich zugleich entwaffnend offen und distanziert zu geben, sein Auftreten, das vor Selbstsicherheit strotzte, dem aber gerade genug höfische Gewandtheit fehlte, um es exotisch wirken zu lassen, seine Gestalt, die sich mit ihren breiten Schultern und den sehnigen Gliedern von der sämtlicher anderer Höflinge abhob, und natürlich die klaren, hellen Augen in dem tiefbraunen Gesicht schienen besonders bei den Damen Anklang zu finden. i58
Isabelle sah heimlich zu ihm hinüber. Philippe de Vigueil hatte den ganzen Abend in charmanter Begleitung verbracht. Vermutlich war ihm überhaupt nicht aufgefallen, dass sie ihm ausgewichen war. Sogar Cécile, um deren Verlobung es schließlich gegangen war, war kaum von seiner Seite gewichen ... Isabelle atmete auf, als sie die Kutsche mit dem Wappen der Noirlieus erkannte, die auf sie zufuhr. Als der Schlag geöffnet wurde, erschien auch eine Mietsänfte für Vigueil. Er sah zu ihr herüber und nickte ihr zu. Weshalb verließ auch er schon so frühzeitig das Fest? Eine Verabredung vielleicht? Isabelle lächelte ihm kurz zu, gab dann aber Zeichen zum Abfahren und stieg schnell in den Wagen. Erschöpft lehnte sie sich in die komfortablen Kissen zurück. Kaum entließ das Tor sie auf die Straße, holte der Lärm sie ein.
*
Isabelle wunderte sich, wie viele Menschen noch in der Dunkelheit unterwegs waren. Sie zwangen die Kutsche, einen behäbigen, langsamen Schritt zu fahren. Viele von ihnen trugen Fackeln, die Häuser und Gesichter in ein unstetes Licht tauchten. Oft stimmte irgendjemand ein Spottlied an, in das alsbald viele Stimmen einfielen. Immer wieder riefen sich die Menschen über die Köpfe hinweg etwas zu. Die Schreie »A bas Mazarin!« und »Vive Conde!« waren allgegenwärtig. Isabelle zog die Vorhänge zu in dem vergeblichen Versuch, sich dem aufgeregten Gewimmel zu entziehen. Die Unruhen dauerten nun bereits seit Tagen an. Die Königin, von der man sagte, sie sei von der Vertreibung ihres ersten Ministers völlig niedergeschmettert, hatte offensichtlich die Macht über das Volk verloren. Es wurde höchste Zeit, dass Louis de Condé wiederkam - schon alleine, damit die Pariser endlich wieder in ihre Häuser zurückkehrten. »Mademoiselle Isabelle ...« Marion war sehr bleich. »Hören Sie das auch? Ich glaube, es gilt uns ...« Isabelle horchte auf. Der Wagen fuhr nicht mehr, schwankte aber hin und her. Die Pferde scheuten. Sie hörten den Kutscher fluchen. »Finger weg, ihr Lumpengesindel! Haut ab, oder ich lass die Pferde steigen!« 159
»Wer ist da in dem Wagen? Wetten, dass ein Mazarin drinnen steckt?« »Die Comtesse d'Arzelles ist's, die von einer Soiree bei den Gué-ranche zurückkommt! Alles Freunde der Prinzen! Und jetzt lasst uns durch!« »Das kann jeder sagen! Freunde der Prinzen brauchen sich nicht hinter ihren Vorhängen zu verstecken, nicht wahr, ihr anderen? Öffnet den Wagen!«
»Untersteht euch, ihr Pack!«, brüllte der Kutscher. Dann hörte man nur noch seine Peitsche knallen. Undeutliche Laute drangen vom Bock in den Wagen hinein. Isabelles Herz klopfte bis zum Hals. Die Kutsche ächzte und senkte sich, und Isabelle und Marion klammerten sich fest. Offensichtlich war die Menge dabei, das Gefährt zu besteigen, um den wehrhaften Kutscher außer Gefecht zu setzen. »Mon Dieu, beschützen Sie uns!«, hauchte Marion und bekreuzigte sich. In dem Augenblick wurde der Schlag auf der der Straße abgewandten Seite aufgerissen. Isabelle und Marion schrien auf. »Raus hier, schnell, bevor es zu spät ist!« Isabelle hatte kaum Zeit, Philippe de Vigueil zu erkennen und erleichtert wieder auszuatmen, als er sie auch schon am Arm gepackt hatte und aus dem Wagen zog. Er winkte mit einer kleinen Fackel. »Vite! Wir müssen uns beeilen, solange sie mit dem armen Kerl da oben beschäftigt sind!« Isabelle erhaschte nur sekundenlang einen Blick auf erhitzte, im Hass verzerrte Gesichter, auf erhobene Fäuste, Knüppel und Mistgabeln. Dann wurde sie von dem Comte in den Eingang eines schäbigen Hauses gezerrt. »Marion! Wo ist Marion?«, fragte Isabelle und wand sich unter seinem Griff. »Wir können sie nicht alleine lassen!« »Ich bin hier, Madame. Es ist alles in Ordnung«, keuchte die Zofe, als sie dazustieß. »Sie werden sich nicht lange mit dem Kutscher zufriedengeben«, meinte Philippe de Vigueil. »Wir müssen in das Haus.« »Halt!«, rief Isabelle, die sich nach wie vor sträubte. »Und Grégoire ... Was machen sie mit Grégoire? Wir müssen ihm helfen! Sie bringen ihn um!« 160
«Grégoire wird nichts weiter passieren, als dass er ein paar Stockschläge abbekommt. Kommen Sie jetzt endlich!« »Nein! Ich lasse niemanden im Stich!« »Verflixt, Madame«, fuhr ihr Begleiter sie an, »Sie unterschätzen ...« »Sie haben uns gesehen!«, schrie Marion. »Nichts wie weg hier!« In der Tat zeigte einer der Aufrührer, ein untersetzter, grobschlächtiger Tischler, dem noch der Gurt mit seinen Werkzeugen um die Hüfte baumelte, in ihre Richtung. »Sie sind entkommen! Dort stehen sie, im Haus! A mort le Mazarin!« Isabelle bot nun keinen Widerstand mehr, als Philippe de Vigueil sie hinter sich her zog. In aller Eile hasteten sie durch einen düsteren Gang, gelangten durch eine Hintertür wieder ins Freie, fanden nach ein paar Fehlversuchen eine andere unverriegelte Tür ... Isabelle stolperte auf ihren hohen Schuhen hinter ihrem Begleiter her, hustete wegen des Qualms der Fackel, quetschte ihr ausladendes Kleid durch schmale Türrahmen, bekam Einblicke in ärmliche Einrichtungen und schmutzige Treppen, auf denen das Ungeziefer davon-huschte, in kahle Feuerstellen und zerschlissene Bettvorhänge. Doch immer, wenn die drei Flüchtlinge ein paar Augenblicke anhielten, um sich auszuruhen, hörten sie erregte Stimmen und das Poltern von Holzschuhen. »So geht das nicht weiter!« Der Comte atmete schnell. »Das Kleid ... Damit sind Sie so langsam und unbeweglich wie eine maurische Schildkröte!« »Vielen Dank!«, keuchte Isabelle. »Das ist das Netteste, das Sie mir heute Abend...« »Da hinein!«, schnitt der Comte ihr das Wort ab und schob sie in ein Zimmer. Isabelle schnappte nach Luft, als sie zwei Menschen entdeckte. Ein Männlein und ein Weiblein erstarrten in dem Licht der Fackel wie zwei Waldeulen, die von den ersten Sonnenstrahlen überrascht wurden. »Ziehen Sie Ihr Kleid aus! Schnell!« Isabelle öffnete schon den Mund, schluckte dann aber ihren Protest herunter. Sie stellte sich vor Marion, damit diese die Schnüre 161
lösen konnte, und rief Philippe de Vigueil zu: »Schauen Sie nicht hin!« Er achtete nicht auf sie, sondern lief mit großen Schritten in dem Raum herum. Isabelle hörte ihn ein paar Worte mit den Alten wechseln, eine Truhe auf- und zuklappen. Als er wieder zu ihr trat, hatte er seine eigene Hose und Jacke gegen ein Hemd, ein unförmiges Wams und eine Kniebundhose getauscht, deren Farbe im unruhigen Licht nicht auszumachen war. Als er sie erblickte, stöhnte er auf. »Mein Gott... Das darf doch wohl nicht wahr sein! Sagen Sie, Madame, wie viele Stunden braucht eine Dame wie Sie, um ein solches Kleid auszuziehen?«
»Dieses wunderbare Kleid besteht aus drei übereinanderliegenden Röcken sowie einem Oberkleid, und alle sind miteinander mit Schnüren verbunden!«, fauchte Isabelle. »Wenn Sie glauben, Sie könnten es schneller ausziehen als Marion, bitte sehr, dann sind Sie herzlich eingeladen!« »Nun, wenn es so ist...« Vigueil zog sein Messer und trat hinter sie. Noch bevor Isabelle wusste, wie ihr geschah, hatte er seine Klinge in ihren Rücken geschoben. Ein paar heftige, kurze Rucke, Marions Aufschrei, das Reißen von Spitze und Stoff... Und Isabelle stand fröstelnd da, nur noch von ihrem leinenen Unterhemd und ihrem Korsett bekleidet. »Und jetzt ziehen Sie das über! Schnell!« Vigueil warf ihr ein Kleid und einen groben wollenen Umhang zu, die er gerade einer der Truhen entnommen haben musste. Isabelle zog sich mit brennenden Wangen und fliegender Hast die Kleidungsstücke über, denn draußen erklang schon wieder das Gepolter ihrer Verfolger. Bevor sie weitereilte, drückte sie dem Weiblein mit dem verschreckten Blick die Überreste ihres schimmernden Ballkleides auf den Schoß. »Verkaufen Sie das, aber lassen Sie sich einen guten Preis dafür geben! Es ist schwerste Atlasseide!« Schon langte Vigueil wieder nach ihr, doch sie hob abwehrend eine Hand. »Einen Augenblick noch!« Mit zwei Griffen zog sie sich die hohen Schuhe von den Füßen. »Jetzt!« Sie kamen nun wesentlich schneller voran. Als sie den Weg aus dem Haus gefunden hatten, blieb Vigueil auf der Schwelle stehen. 75
Das Schauspiel auf der Straße war besorgniserregend. Es drängten sich noch mehr Menschen als vorhin durch die Gassen. An den Fenstern erschienen bleiche Gesichter mit Nachtmützen, die halb irritiert, halb ängstlich an den Fassaden hinunterschauten. »Ich schlage vor, dass wir uns teilen«, meinte Philippe de Vigueil. »Unsere Verfolger werden inzwischen wissen, dass wir unsere Kleidung getauscht haben, und nach drei Menschen suchen.« »Gut«, nickte Isabelle. »Ich danke für Ihre Hilfe, Monsieur. Sie haben uns heute Abend aus einer großen Not...« »Ich lasse Sie nicht alleine nach Hause gehen«, unterbrach sie ihr Begleiter in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Wir werden uns von Ihrer Zofe trennen. Wir fallen auf, wenn wir zusammenbleiben.« Isabelle musterte Marion und musste ihm recht geben. Ihre Zofe hatte sich vorhin nicht umziehen können. Neben Philippe de Vi-gueils und ihrem eigenen schäbigen Äußeren nahm sich die Kleidung der kleinen Zofe geradezu üppig aus. »Sie brauchen sich um mich nicht zu sorgen, Madame«, lächelte Marion. »Ich war schon oft genug alleine in diesen Gassen unterwegs. Mir passiert nichts.« Kaum war Marion in dem Menschenfluss untergetaucht, wurden hinter ihnen auch schon wieder Rufe laut. Vigueil warf einen kurzen Blick hinter sich. »Fichtre, sind diese Kerle hartnäckig!«, knurrte er. »Aber das werden wir bald haben. Kommen Sie.« Vigueil warf ihre Fackel in eine Schlammpfütze, wo sie zischend erlosch. Sie hasteten ein paar Schritte weiter bis zu einem zweistöckigen Fachwerkhaus mit einer großen Einbuchtung. Der Hintergrund der Einbuchtung bestand aus einem wuchtigen Holzladen, den ein Konterfei von Sankt Nikolaus schmückte. Ein riesiges Holzfass, das mit Ketten an der Wand gesichert war, und die über dem Heiligenbild prangenden Worte »Antoine Barri, Maitre tonnelier« verrieten ihnen, dass es sich um die Werkstatt eines Böttchers handelte. Das Fass überragte sie um mehrere Handbreit und bot ein ideales Versteck. Kaum hatten sie sich dahinter verkrochen, spuckte das Haus, das sie gerade verlassen hatten, ihre Verfolger aus. Isabelle und ihr Begleiter beobachteten sie durch den schmalen Spalt, der zwi 163
sehen der Wand und dem bauchigen Holz klaffte. Fünf Männer waren ihnen bis jetzt auf den Fersen geblieben, doch auch sie machten inzwischen einen abgehetzten Eindruck. Der Tischler hatte, wie Isabelle mit Schaudern bemerkte, eine kleine Axt aus seinem Gürtel gezogen. Er spähte mit vor Schweiß glänzendem Gesicht angestrengt die Gasse hoch und runter. Allerdings musste auch er einsehen, dass sein Unterfangen, drei Menschen in dem Strom wiederzufinden, der sich zwischen den Häusern hindurchschob, aussichtslos war. Schließlich machte er eine wegwerfende Geste und bellte etwas, was die anderen nicken ließ. Isabelle verfolgte mit Genugtuung, wie sich die kleine Gruppe von ihnen abwandte und in der Menge verschwand. »Na bitte«, lächelte Philippe de Vigueil.
»Endlich.« Isabelle lehnte sich an den Holzladen und schnappte erlöst nach Luft. »So lange bin ich schon seit Jahren nicht mehr gelaufen.« »Nun, ich hoffe, Sie haben noch ein wenig Kraft. Es ist ein langer Weg von hier bis zum Faubourg Saint-Germain.« Isabelle sah ihren Begleiter mit großen Augen an. »Sie scherzen, Monsieur. Wir befinden uns hier im Nordosten der Stadt, und das Hotel de Noirlieu liegt im Südwesten. Wollen Sie andeuten, dass Sie ganz Paris zu Fuß durchqueren wollen?« Philippe de Vigueil verzog spöttisch den Mund. »Ich glaube nicht, dass Sie in der heutigen Nacht viele Mietkutschen finden werden.« Isabelle schluckte. »Nein, Sie haben recht. Außerdem könnten wir sie nicht bezahlen. Und in unserer jetzigen Kluft wird uns niemand ohne Vorauszahlung mitnehmen wollen. Oder haben Sie Geld bei sich?« »Ich pflege meine Barschaft in meiner Jackentasche aufzubewahren.« »Nun, die beiden Alten werden sich freuen.« Isabelle lächelte. »Und ich lasse immer Marion alles bezahlen - nicht einen Sous habe ich dabei.« »So viel zum Reichtum der Faurepas.« »Erzählen Sie es bitte nicht weiter.« »Sie befürchten, Monsieur de Beaufort würde dann Abstand nehmen?« 164
Die Frage war nicht ohne Schärfe, und die Erwähnung von Beauforts Namen versetzte ihr einen Stich. »Nein.« Sie hob herausfordernd das Kinn und sah den Comte direkt an. »Dafür ist er mir viel zu sehr zugetan.« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Mit großer Leidenschaft, wie ich sehen konnte. Seine Art, sich Ihre Präsenz zu sichern, war recht auffallend.« Der beißende Tonfall des Comte veranlasste sie, das Kinn noch etwas weiter zu heben. »Wir Pariser sind ein leidenschaftlicher Menschenschlag, Monsieur. Und Kämpfernaturen.« »Ja, das wird heute Abend überaus deutlich, en effet«, spottete Philippe de Vigueil und deutete auf die nächste Kreuzung. In deren Mitte war ein schief zusammengezimmerter Galgen aufgebaut worden, an dem eine Strohpuppe in roter Kutte hing. Ein paar Männer standen davor, hatten ein Feuer zu Füßen des Galgen entzündet und grölten: »Was wir euch jetzt sagen, das gilt: Dieses ist das getreue Bild Von Julio, dem ewigen Schuft. Die Fronde meint ernsthaft: Es ist so! Hier hängt er mitsamt seiner Kluft, Er war ein Minister aus Stroh!« Philippe de Vigueil drehte sich erneut Isabelle zu. »Oh oui, es sind in der Tat leidenschaftliche Menschen, die das Herz auf der Zunge tragen und mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten!« Isabelle holte Luft und mahnte sich zur Ruhe. Weshalb ließ sie sich von diesem Mann provozieren? Er hatte sie heute Abend aus einer äußerst prekären Situation gerettet. Sie sollte sich dankbar zeigen und sich nicht von ihm dazu verleiten lassen, ausgerechnet diesen Laffen von Beaufort in Schutz zu nehmen! Er schien zu ähnlichen Schlüssen gekommen zu sein, denn er machte eine knappe Verbeugung vor ihr und fragte betont sachlich: »Darf ich Ihnen nun vorschlagen, den Rückweg anzutreten, Madame?« »Natürlich. Sobald ein kleines Problem gelöst ist«, antwortete Isabelle kühl. Sie hob ein wenig den abgewetzten Saum ihres neu erstandenen Kleides. Darunter wurden ihre Seidenstrümpfe sichtbar, 165
die sich bereits der allgemeinen Schmutzfarbe ihrer Umgebung angepasst hatten. »Ich verstehe. Sie gestatten?«, fragte der Comte. Er beugte sich über sie, und sie zog instinktiv ihren groben wollenen Schal enger um ihre Schultern. Als sie seine Hände auf ihrem Nacken spürte, hielt sie die Luft an. Eine Gänsehaut überlief sie, doch schon wich er wieder einen Schritt zurück. Er präsentierte ihr ein kleines, glitzerndes Häufchen. »Wie viel ist das wert?« Isabelle hob eine Braue. »Das Rubinkollier? Nun ...« Sie verzog spöttisch die Lippen. »Ich würde sagen, auf jeden Fall ein Paar Schuhe!« Er nickte. »Dann sind wir einer Meinung.«
Isäbelle legte die Linke auf seinen Arm, deutete in die Menge und meinte: »Sie! Die Schwangere, da drüben!« Wenig später war Isabelle glückliche Besitzerin eines derben Paars Lederschuhe, die ihr zu groß, dafür aber unendlich bequem waren, und machte sich mit ihrem Begleiter auf den langen Weg nach Hause.
* Isabelle und Philippe de Vigueil liefen beherzten Schrittes nebeneinander her in Richtung Seine. Es war ein langsames Vorankommen, vorbei an Menschen und Hindernissen, die sich ihnen immer wieder entgegenstellten. Immerhin brachte die Nacht es mit sich, dass alle Läden, die sonst mit ihren Auslagen und Schildern die Gassen verstopften, geschlossen hatten und dass weder die ungelenken Wagen der Wasserverkäufer, der Lumpensammler noch der Messerschleifer unterwegs waren. Immer wieder überholten sie Gruppen von Menschen, die sich um Feuer geschart hatten, tanzten, selbst gebrannten Schnaps herumreichten und zum tausendsten Mal schworen, Mazarin den Garaus zu machen. Isabelle spähte angestrengt nach allen Seiten. Es war ein Lärm aus Hunderten von Kehlen. Und plötzlich entdeckte sie es: Ein Menschenmeer, das auf sie zurollte. Sie erbebte und fühlte, wie ihr Begleiter einen Arm um sie legte. ,66
»Sie kommen.« Seine Stimme klang angespannt. Sie sahen sich hastig um. Die Häuser, die sie hier umgaben, machten einen wohlhabenderen Eindruck als diejenigen, in denen sie vorhin Zuflucht gefunden hatten - aber auch einen abweisenderen. Hier lugte niemand aus den Fenstern. Die Fensterläden waren allesamt vorgeklappt, die Türen fest verriegelt. Es gab keinen Ausweg. Der Pöbel näherte sich. Langsam wurden die Worte verständlich, die die Menge jeden zweiten Schritt skandierte: »Le Roi! Le Roi! Le Roi!« Isabelle verkrampfte ihre Finger im Ärmel des Comte. »Verflixt, weshalb musste Cecile sich ausgerechnet heute verloben?« »Haben Sie keine Angst. Sie werden uns nichts tun. Wir gehören zu ihnen.« »Le Roi! Le Roi!« Philippe de Vigueil stellte sich hinter Isabelle, umschloss sie fest mit seinen Armen. Dann erreichte sie die menschliche Welle. Sie wurden geschoben, mitgerissen ... Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mitzulaufen, wenn sie nicht zu Boden geworfen und zertrampelt werden wollten. Isabelles Herz hämmerte wild in ihrer Brust. Sie hatte Mühe mitzukommen, hastete und keuchte. Doch immer, wenn sie ausrutschte, wurde sie von den Armen ihres Begleiters aufgefangen und mitgezogen. Isabelle drückte diese Arme an sich, klammerte sich an ihnen fest. »Le Roi! Le Roi! Le Roi!« Noch immer wusste Isabelle nicht, um was es hier ging und was die Menschen um sie herum so aufgebracht haben konnte. Längst hatten sie die Seine hinter sich gelassen. Sie versuchte, sich zu orientieren. Die Straßen wurden breiter. »Le Roi!« Isabelle zuckte zusammen. Sie hob den Kopf und schrie: »Es geht zum Palais Royal!« Der betroffene Ausdruck auf dem Gesicht des Comte zeigte ihr, dass er sie verstanden hatte. Das Palais Royal - der König. Was ging hier vor? Sie überholten Trommler, die vor einer Taverne standen. Eine Frau in Morgenrock und Nachtmütze stand in ihrer Mitte. Die Tür der Taverne stand offen. Drei unrasierte Männer traten aus dem Gebäude, Bündel von Musketen in den Armen, die sie alsbald began 167
nen zu verteilen. Zwei weitere schleppten unter Ächzen eine dicke Eisenkette heraus. »Die Bürgerwehr!«, rief Isabelle. »Die Bürgerwehr geht unter die Waffen! Das kann nur auf Befehl vom Herzog d'Orleans geschehen sein!« Die kleine Trommlergruppe bog im Laufschritt in eine Nebengasse ein. »Sie werden die Tore der Stadt verriegeln!«, rief der Comte. »Le Roi! Le Roi!« Die Gebäude, die die Straße säumten, wurden zusehends prächtiger. Das imposante Antlitz des Palais Royal tauchte zwischen den Häuserfluchten auf. Sie mieden den Vorplatz mit dem Corps de Garde und bogen in die Seitengassen ein. Schnell waren die Absperrungen überwunden, die des Nachts den Park dem Publikum verschlossen. Der Pöbel
ergoss sich über die geharkten Kiesflächen, stampfte seine Abdrücke in das makellose Grün des Rasens und quetschte sich zwischen den Stämmen der kugelförmig gestutzten Bäume hindurch. Eine sehr hohe, mit steinernen Ornamenten verzierte Mauer schirmte den größten Innenhof des Palais Royal vom Park ab. Sie wurde von sieben riesenhaften Portalen aus feinstem Schmiedewerk durchbrochen. Durch sie bekam man Einblick auf die zweistöckigen Haupttrakte des Palastes, die den Innenhof auf drei Seiten einfassten. Isabelle und ihr Begleiter befanden sich noch immer im vordersten Teil der Menge, die sich nun an den Portalen aufstaute. Die Rufe wurden lauter, als mehrere Dutzend Soldaten der Schweizer Garde im Hof erschienen. »Le Roi! Le Roi!« Das Gebrüll war ohrenbetäubend. Die vorderen Reihen rüttelten aggressiv an den Toren, die hinteren beschimpften die Uniformierten und schoben sich weiter vor. Einige Menschen schrien, weil sie an den schmiedeeisernen Gittern zerdrückt wurden, doch ihre Hilferufe gingen in dem allgemeinen Lärm unter. Auch Isabelle war zwischen Philippe de Vigueil und einem der Tore eingekeilt. Ihr Begleiter stützte sich mit versteiften Armen an den ziselierten Gittern ab. Die Adern an seinen Schläfen traten hervor, während er sich gegen den Druck der Menge stemmte. Isabelle 168
versuchte, ihn zu entlasten, indem sie die gleiche Stellung einnahm und ihren Rücken gegen seine Brust presste. »Lassen Sie nur«, hörte sie den Comte hinter sich keuchen. »Drehen Sie sich mir lieber zu!« Sie wandte sich um. Schweißtropfen perlten an Philippe de Vi-gueils Haaransatz. Sein Atem ging gepresst. Sie sah ängstlich in sein Gesicht. »Ja, das ist gut. Schauen Sie mich an«, nickte er. »Schauen Sie mich nur an. Ihre Augen ... Ich muss Ihre Augen sehen.« Sie schluckte hart, gehorchte wie gebannt. Sein brennender Blick fing sie ein. Er hatte Augen in einem klaren, feuerfarbenen Bernsteinton. Was sie in ihnen las, erschütterte sie bis in die Fußspitzen. Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Er lächelte. »Ja. Ganz genau so.« Mein Gott, was geschah mit ihr? Etwas in ihr zog sich zusammen, weitete sich im nächsten Atemzug aus, bis es über sie hinauswuchs. Es überspülte sie, riss sie mit sich fort, und sie ließ es geschehen, willenlos, ohne Worte. Ihr ganzer Körper schmerzte. Alles, was sie vermochte, war, ihm zugewandt zu verharren, ihn anzusehen, dem Sog dieser Augen zu gehorchen. Sein Atem traf in kurzen Abständen ihre Stirn - sie hingegen bekam kaum noch Luft, und sie stöhnte: »Mon Dieu!« »Sehen Sie mich an, Isabelle! Sehen Sie mich an, hören Sie ja nie auf damit!« Tränen liefen über ihre Wangen, sie schüttelte den Kopf. Da beugte er sich über sie, und seine Lippen berührten ihren Mund. Sie erbebte erneut. Die Welt um sie herum zersprang und fügte sich neu zusammen. Sie klammerte sich an das Gitter in ihrem Rücken, und er verschlang sie, ließ nichts von ihr übrig als ein wild pochendes Herz und die überwältigende Sehnsucht nach mehr. Sie ließ das Gitter fahren, legte ihre Hände um sein Gesicht, liebkoste es, während sein Mund sie gefangen hielt, mitten in diesem brandenden menschlichen Ozean. Ein Ruck der Menge trennte ihre Lippen. Philippe stöhnte, biss die Kiefer aufeinander. Schweiß trat auf seine Stirn. Verzweifelte Schreie wurden laut um sie herum. Philippe knirschte mit den Zähnen. Sie 169
legte ihre Hände auf seine Schultern, fühlte die stählerne Anspannung der Muskeln unter ihren Fingern. Ihre Wangen waren nass, doch noch immer lagen ihre Augen ineinander, noch immer schenkte er ihr diesen Blick, der die verrücktesten Gedanken in ihr entstehen ließ, wie den, dass es ein schöner Tod sein würde, hier, erdrückt in diesen Armen, sein Atem auf ihrem Gesicht, ihre Stirn an seiner Wange ... Wie lange standen sie da, keuchend und schwitzend, die Todesangst im Nacken, das Glück auf den Gesichtern? Sekunden? Minuten oder Stunden? »Peuple de Paris! Hört mich an, ihr braven Bürger!«, schallte es aus dem Innenhof. Das Drängen an den Toren ließ endlich nach. Philippe atmete schwer, löste mit Mühe seine versteiften Finger von den Metallstäben. Isabelle drehte sich dem Hof zu. Sie lehnte sich an
Philippes Schulter, spürte, wie schnell sein Herz schlug. Er legte die Arme um sie, zog sie an sich, und küsste ihr Haar. Ein Mann war zwischen den Soldaten erschienen. »De Souches! Es ist Hauptmann de Souches! Seid still, hört zu, was er zu sagen hat!«, rief eine Stimme von hinten. In der Tat erkannte Isabelle den Befehlshaber der Schweizer Garden von Gaston d'Orleans in dem Mann, der sich mit festen Schritten dem Tor näherte. Seine Züge waren noch strenger als sonst, und seine Augen waren von dunklen Schatten der Übermüdung umrandet. Bei seinem Anblick kehrte Isabelle vollends in die Realität zurück. Monsieur, der seit Tagen jeglichen Kontakt zu der Königin abgebrochen hatte, hatte also mitten in der Nacht seinen Hauptmann zu der Regentin geschickt. Das Volk verlangte nach dem König, die Bürgermiliz schloss die Tore, als solle jemand an der Flucht gehindert werden ... Und Mazarin verharrte in Saint-Germain, wenige Meilen entfernt, trotz der immer massiveren Drohungen, die ihm aus Paris hinterhergeschickt wurden. Eine Ahnung stieg in Isabelle hoch. Sollten der Regentin und dem König die Flucht aus der Stadt gelungen sein? Sollten sie Paris sich selber überlassen haben, trommelten sie bereits eine Armee vor den Stadttoren zusammen, um ihre aufsässigen Untertanen zu belagern, sie auszuhungern? Oder planten 170
sie eine vollständige Unterwerfung, die Einnahme der Stadt durch Waffengewalt, die Plünderung der Häuser, ein gewaltiges Blutbad? Isabelle erschauerte, und sie zog Philippes Arme enger um sich. »Ich habe den König gesehen!«, rief de Souches in dem Augenblick, ganz als habe er ihre stillen Fragen gehört. »Ihre Majestät die Königin gewährte mir Eintritt in sein Schlafgemach.« »Wie könnt Ihr Euch so sicher sein, dass es der König war?«, schrie eine Frauenstimme. »Vielleicht habt Ihr nur den Sohn der Kammerfrau gesehen!« »Er war es!«, rief de Souches. »Ich kenne Seine Majestät. Kehrt heim, ihr braven Leute, in eure warmen Stuben! Macht es wie der König - geht schlafen!« Ein Gemurmel ging durch die Reihen. Die Menschen sahen sich an, diskutierten angeregt mit ihren Nachbarn. Doch da erhob sich erneut eine Stimme, diesmal eine weibliche. »Ich glaub ihm nicht! Ich glaub überhaupt keinem mehr! Ich will selber den König sehen!« »Ja, recht hat sie!« »Wahrscheinlich ist der König schon längst bei dem Italiener und sammelt Männer für die Armee, mit der er uns belagern will!« Isabelle fuhr heftig zusammen, als plötzlich ein junger Mann neben ihr einen Sprung machte und sich an den Gittern des Portals hochangelte. Sofort verfestigte Philippe seine beruhigende Umarmung. »Wir trauen keinem!«, schrie der junge Mann. »Lasst uns den König sehen!« »Ja, den König!« »Le Roi! Le Roi!« De Souches weitere Beschwichtigungsversuche wurden von den Schreien übertönt. Der Hauptmann blieb ein paar Sekunden lang stehen, betrachtete die Menge mit gerunzelter Stirn. Die Soldaten im Hintergrund fassten ihre Musketen. Isabelle schnappte nach Luft, als der Elan der Menschen sie erneut gegen das Tor warf. Ihr Blick huschte verzweifelt über die prächtigen, aber so stillen Fassaden des Palastes. Was ging hinter diesen Mauern vor? Stand dort Anne irgendwo und spähte mit ihren Hofdamen ängstlich auf ihr aufgebrachtes Volk hinunter? Wie sollte das alles enden? »Le Roi! Le Roi!« 171
Isabelle stöhnte auf, denn ein vergoldeter eiserner Dorn bohrte sich in ihren Arm. Philippe versuchte erneut, sie zu schützen, doch es wurde zunehmend schwieriger. Es gelang ihm, sich und sie ein wenig zu drehen, sodass der Dorn nun in seine Seite stach - Platz, die Arme auszubreiten und sich abzustützen, hatte er nicht mehr. Isabelle öffnete den Mund, rang nach Luft, kämpfte gegen Übelkeit an. »Sie dürfen jetzt nicht ohnmächtig werden, Isabelle, hören Sie?« Philippe redete eindringlich auf sie ein. »Ich werde Sie vielleicht nicht halten können ... Sie würden niedergetreten werden!« »Ich weiß«, keuchte sie,«... aber das verflixte Korsett... Sie hätten es zerschneiden sollen wie den Rest...« Er lächelte, beugte sich zu ihr herunter, raunte in ihr Ohr: »Und das sagen Sie mir jetzt? Gott weiß, dass es nichts gab, das ich vorhin lieber getan hätte ...«
Isabelle lächelte, stöhnte aber gleich darauf wieder auf. Sorgenfalten traten auf Philippes Stirn. Sein Körper, der sie wie ein Wall umgab, war erneut starr vor Anspannung, ein unerbittlicher Zug erschien um seinen Mund. Seine Züge verhärteten sich, er senkte den Kopf, konzentrierte offenbar seine ganze Kraft darauf, dem Druck der Menge zu widerstehen. Isabelle verkrampfte ihre Hände um das Schmiedewerk, versuchte in den Innenhof zu spähen. De Souches war verschwunden. Die Rettung konnte nur vom Palast kommen -aber wie hätte diese aussehen können? Da ... Eine Bewegung unter den Schweizer Garden. Ein Unbekannter war unter die Soldaten getreten. Bellte knappe Befehle. Isabelle atmete in kleinen, flachen Zügen. Ihre Kehle war trocken. Hatte Anne befohlen, den Pöbel zu zerstreuen? Wenn ja, würden Philippe und sie zwischen den Fronten stehen ... Die Soldaten näherten sich, stellten sich in zwei Reihen rechts und links vom Tor auf. Isabelle presste Philippes Arm. Er hob den Kopf, sah um sich. Der Pöbel wurde stiller, die Rufe seltener. Plötzlich ließ der Druck nach - eine erste, instinktive Fluchtreaktion der Menge. Philippe wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Isabelle fröstelte. Er legte seine Hand auf ihren Nacken. Sie war warm, und Isabelle schmiegte sich an sie. »Parisiens!«, rief der Mann, der vorhin mit den Soldaten gespro 80
chen hatte, ihnen zu. »Hört mich an!« Er wartete ein paar Sekunden, bis die Menge sich noch weiter beruhigt hatte. Als er fortfuhr, klang er gepresst, und sein Gesicht drückte nichts als Missbilligung und Sorge aus. »Ihre Majestät, die Königin, bat mich, Folgendes mitzuteilen: Sie hat Verständnis für den Wunsch ihres Volkes, den König zu sehen. Um die hartnäckigen Gerüchte auszuräumen, die besagen, dass sie und der König aus der Stadt zu fliehen gedenken, lädt sie ein, sich selber vom Gegenteil zu überzeugen.« Der Mann drehte sich ruckartig um, machte ein Zeichen. Zwei Garden lösten sich aus den Reihen der Soldaten. Sie traten an das Tor, an dem Isabelle stand, und machten sich am Schloss zu schaffen. Ein Raunen ging durch die Menge. Isabelle konnte es kaum fassen: Das Tor wurde aufgezogen! Sie wurde sofort nach vorne gestoßen. Der Pöbel begann, in Richtung Palast zu strömen. »Kommen Sie«, sagte Philippe und nahm ihre Hand. »Die Königin spielt ein gefährliches Spiel. Vielleicht ist es besser, wenn wir dabei sind. Es könnte sein, dass ein kühler Kopf gebraucht wird.« »Wie kann Anne das nur zulassen? Sie muss von Sinnen sein!«, rief Isabelle kopfschüttelnd, während sie durch den Innenhof mehr stolperte als lief, erneut getrieben von dem Menschenstrom. »Oder sehr weise«, entgegnete Philippe. Der Mann, der den Befehl zur Öffnung der Tore gegeben hatte, ging mit steifen Schritten voraus. Ein paar Wachen rahmten die Aufständischen ein. Isabelle war nicht oft im Palais Royal gewesen, doch es reichte aus, dass sie sich orientieren konnte. Und tatsächlich ... Sie wurden allem Anschein nach zu dem linken Flügel geleitet, in die Räume, die der König vom Kardinal de Richelieu übernommen hatte. Angst wallte in ihr auf. Sie sah sich um. Die Menschen stapften durch die getäfelten Räume, passierten mit gerunzelter Stirn Ölgemälde und Tapisserien, zogen den Kopf ein unter den Kristalllüstern, die von den bemalten Decken hingen. Sie hätten sich nicht anders benommen, wenn sie einen von Wölfen heimgesuchten Wald durchquert hätten. Auf einmal fühlte Isabelle sich mit diesen mürrischen, verschlossenen Gestalten verbunden, die sich im Vorübergehen in den nachtdunklen Fenstern spiegelten. Wie gut sie nachempfinden 80
konnte, wie fehl am Platz diese einfachen Menschen sich in dieser pompösen Umgebung vorkommen mussten! Sie erreichten eine Galerie, der ein überdachter Balkon vorgelagert war. Isabelle wusste, dass sie die Appartements der Königin, des jungen Königs und des flüchtigen Mazarin verband. Das herrliche Parkett aus kostbaren Hölzern, welches Rosen und Lilien darstellte, die mit einem Zinnfaden eingefasst waren, ächzte unter der plötzlichen Last. Dann war es so weit: Die Menge stand vor den Zimmern Seiner Majestät. Der Pöbel zögerte kaum merklich. Dann strömte er hinein. Ein paar Schritte noch, ein Vorzimmer, ein Kabinett, eine hohe, zweiflügelige Tür, und dann... das königliche Himmelbett. Ein paar Soldaten stellten sich auf - es war mehr ein Appell als ein effektiver Schutz. Isabeiles Herz klopfte bis zum Hals. Es wurde eng - sie musste Philippes Hand loslassen, wurde von ihm fortgerissen, von der Menge immer weiter vorgeschoben. Die wenigen brennenden Kerzen tauchten das Zimmer in ein warmes, fast intimes Licht.
Anne stand alleine an einem Pfosten des Bettes, sehr gerade, stumm, gefasst und anscheinend furchtlos. Sie war in einen Morgenmantel gehüllt. Ihre dunklen Haare, die bereits von silbernen Strähnen durchzogen waren, lagen schwer auf ihrem Rücken, sie trug keinerlei Schmuck. Nichts an ihrem Äußeren verriet mehr die Königin - umso mehr beeindruckten die Würde und der Stolz, die sie ausstrahlte. Der Raum füllte sich, und Anne war bald umringt. Doch das, worauf alle starrten, war das Lager. Die gedrechselten Pfosten des Bettes schimmerten in einem matten Goldton. Ein azurblauer Himmel schwebte zwischen ihnen. Und hinter den zurückgezogenen Vorhängen lag, ruhig und tief atmend, der junge König. Eine spannungsvolle Stille breitete sich aus. Isabelle suchte Philippe. Sie entdeckte ihn auf der anderen Seite des Lagers. Er hatte offenbar alles um sich herum vergessen, war versunken in die Betrachtung des blonden jungen, der so seelenruhig schlief. Isabelle fühlte, wie ihr Hals sich verengte. Rührung, Erge '81
benheit und tiefer Respekt wechselten sich offen auf Philippes tiefbraunem Gesicht ab. Sie riss sich von seinem Anblick los ... und zuckte zusammen. Ein untersetzter Mann hatte einen silbernen Leuchter ergriffen und stand am Kopfende des Königslagers. Der Tischler! Es war der schreckliche Tischler, der Philippe, Marion und sie vorhin so hartnäckig verfolgt hatte! Der Mann beugte sich über das Bett. Der Soldat, der ihm am nächsten stand, biss die Kiefer aufeinander. Die Knöchel seiner verkrampften Finger hoben sich weiß vom dunklen Holz seiner Pike ab. Der Tischler musterte das schlafende Kind mit zusammengekniffenen Augen. Seine langen, strähnigen Haare wischten über seine Schultern. Alle Versammelten verfolgten nun seine Bewegungen. Und ihre plötzliche Stummheit, nach den Drohungen, die sie gerade noch ausgestoßen hatten, kam Isabelle unerträglich vor. Doch dann bewegte sich jemand, und die Köpfe fuhren herum. Es war Philippe. Er hatte seine Hand erhoben und legte sie auf seinen Hut. Langsam zog er ihn sich vom Kopf. Sein Gesicht war ernst. Er kniete nieder. Ein Flüstern ging durch die Menge. Die Menschen sahen sich an. Plötzlich wirkten sie verlegen. Eine abgehärmte Frau war die Erste, die Philippes Beispiel folgte. Ihre Knie erzeugten ein dumpfes Geräusch, als sie sich schwerfällig auf das Parkett fallen ließ. Ein Mann mit Augenklappe machte es ihr nach, andere folgten ... Nach ein paar Sekunden war das blaugoldene Bett von ergeben gesenkten Häuptern umgeben. »Gott segne unseren König!«, murmelte der Tischler. »Gnade ihm und dem Königreich!« »Jungfrau Maria, beschütze Seine Majestät!« Die Segenswünsche der Aufwiegler erklangen aus allen Ecken. Ergriffene, raue Stimmen, gedämpft in der Bemühung, den Schlafenden nicht zu wecken. Isabelle, die sich ebenfalls niedergekniet hatte, drehte den Kopf. Die Königin war noch blasser als zuvor. Ihr Gesicht verriet Erleichterung, Triumph und Berechnung. Doch im Gegensatz zu allen anderen achtete sie nicht auf das Bett. Isabelle folgte ihrem Blick. Ihr ■ 81
Nacken kribbelte warnend, als sie Philippe in Annes Blickfeld entdeckte. Langsam erhoben sich die Menschen wieder. Die Kopfbedeckungen noch immer in der Hand, begannen sie, aus dem Schlafzimmer zu strömen. Man hörte sie vor der Tür in beschwichtigendem Tonfall auf diejenigen einreden, die keinen Platz in dem Raum gefunden hatten. Anne begann ein Gespräch mit einem der Männer, in einem leichten Plauderton, aus dem die Anspannung kaum herausklang. Isabelle stand auf. Die Zeit war gekommen, möglichst unauffällig zu verschwinden. Erkannt zu werden war das Letzte, was sie sich wünschte. Sie hielt den Kopf gesenkt, als sie der allgemeinen Bewegung folgte und das Schlafzimmer verließ. Isabelle wartete, bis Philippe auf ihrer Höhe war. Als er sie anlächelte, wurde ihr warm. Er legte wie selbstverständlich einen Arm um ihre Schultern, und sie folgten wieder einmal dem Volk, diesmal in die andere Richtung. Ruhig und gesammelt, fast andächtig, verließ der Strom der Handwerker, Tagelöhner, Verkäufer und Marktschreier den Palais Royal. Draußen im Hof gruppierten sie sich, tauschten Eindrücke, erzählten den Wartenden, was sie erlebt hatten. Isabelle und Philippe lösten sich erleichtert von der Menge. Sie nahmen ihren Weg wieder auf.
* Es war inzwischen tief in der Nacht. Der Mond war aufgegangen, doch sein Schein, der in den dunklen Straßen sonst immer willkommen war, wurde heute kaum wahrgenommen. Zu groß war die Konkurrenz der vielen Fackeln und Feuer, die nach wie vor die Gassen belebten. Das Vorwärtskommen war noch schwieriger als vorhin. Das allgemeine Durcheinander, das eben noch geherrscht hatte, war jedoch nicht mehr zu beobachten. Das war hauptsächlich der von Gaston d'Orleans unter die Waffen gerufenen Bürgerwehr zu verdanken. Jedes der sechzehn Viertel von Paris hatte seine eigenen, unabhängigen Milizgruppen. Sie wurden im Normalfall von sechs oder 82
sieben Männern gebildet, die unter den einfachen Handwerkern und Händlern rekrutiert wurden. Ihr Stützpunkt bestand meistens in einem Laden oder einer Schenke, wo sie die eisernen Ketten, Waffen und Munition aufbewahrten, die das Hotel de Ville ihnen zur Verfügung stellte. In Krisenzeiten allerdings konnten sich diese Einheiten bis auf das Zehnfache aufblähen. Sie bildeten dann eine regelrechte Armee von etlichen tausend Mann. Die Miliz war der Bevölkerung willkommen, denn im Gegensatz zu den Garden oder den Soldaten plünderten und bestahlen sie nicht die Menschen, die ihre Nachbarn und Freunde waren. Nach dem Aufruhr des heutigen Abends und Orleans' Appell hatte die Bürgerwehr nicht lange gezögert und ihre eisernen Ketten über die Kreuzungen der größeren Straßen gespannt. Die restlichen Bewohner hatten mitgeholfen und mit Steinen beschwerte Fässer, umgekippte Handwagen und schwere Balken herangeschleppt. Die so verstärkten Absperrungen hätten jeden Reittrupp am Durchsprengen gehindert und bildeten eine wirkungsvolle Abwehr gegen eventuelle Übergriffe der königlichen Garde, falls diese doch noch auf den Gedanken kommen sollte, die Pariser gewaltsam zu befrieden. Gleichzeitig erlaubten die Barrikaden, Wagen anzuhalten, die den Durchlass forderten, und ihre Insassen gründlich zu überprüfen. Falls die Königin je vorgehabt hatte, aus Paris zu fliehen, dachte Isabelle, so hatte sie den Zeitpunkt dafür verpasst. Orleans und die Frondeurs hatten die Stadt fest in ihrer Hand. »Wir sollten eine Rast machen«, meinte Philippe nach längerer Zeit. »Da drüben, am Feuer, wird man uns gewiss Platz machen.« Isabelle hatte inzwischen jeglichen Zeitbegriff verloren. Erst als sie auf einer umgekippten Kiste Platz nahm, realisierte sie, wie erschöpft sie war. »Ich bin gleich wieder da«, sagte Philippe. »Vielleicht kann ich diese braven Leute dazu bewegen, uns etwas zu essen zu geben.« Isabelle stemmte die Hände in den schmerzenden Rücken, während sie verfolgte, wie Philippe ein Gespräch anfing mit einem müde, aber freundlich aussehenden Mann, der ein kleines Kind auf dem Schoß wiegte. Sie unterdrückte ein Gähnen. Sie mussten seit dem Verlassen des Palais Royal mehrere Stunden durch den zähflüssigen Straßenkot 82
gewatet sein. Isabelle war in den Jahren, in denen sie hier wohnte, nicht ein einziges Mal zu Fuß unterwegs gewesen. Ihr Blick fiel auf Philippe, der sich angeregt mit dem Familienvater unterhielt. Er lächelte. So gelöst hatte er noch nie gewirkt. Das undeutliche Licht dämpfte das Weiß der Narbe auf seiner rechten Wange und unterstrich andere Merkmale: den länglichen Kopf, den geschwungenen Haaransatz, die gerade, kräftige Nase, den meist ernsten Mund, den ausgeprägten Unterkiefer. Breite, waagerechte Brauen beschatteten die tiefliegenden, unvergleichlich klaren Augen. Zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Philippe jünger sein musste, als er aussah. Das flackernde Licht des Feuers täuschte über die Tiefgründigkeit seines Blicks hinweg, verwischte die schmalen Falten an seinen Mundwinkeln, mäßigte den scharfen Grat der Nase. Er war wohl nicht älter als Mitte zwanzig. Bei Tageslicht hatte sie ihn zehn Jahre älter geschätzt. Isabelle fiel erst auf, wie intensiv sie Philippe musterte, als dieser sich umdrehte und sie anlächelte. Sie lächelte kurz zurück und blickte um sich. Ein knappes Dutzend Männer und Frauen waren hier versammelt. Sie waren ernst, ihre Wangen gerötet von Feuer und Wein, die noch jungen Gesichter zerfurcht von Sorgen und Entbehrungen. Gesichter ihrer Kindheit. Das Gefühl, das sie vorhin im Palais Royal überkommen hatte, dauerte noch an: ein Eindruck der Zugehörigkeit. Sie runzelte die Stirn. War es das schäbige Kleid, das diese Gefühle in ihr
hervorrief? Fleurents Besuch? Der Mensch, der über sie Bescheid wusste und sie erpresste? Oder Magdelaines drängende Stimme? »Möchten Sie?« Philippe stand neben ihr und hielt ihr etwas hin, das sich bei näherem Hinsehen als ein Stück Brot erwies. Als sie dankend angenommen hatte, setzte er sich neben sie. »Und Sie? Essen Sie nichts?«, fragte Isabelle. »Sie haben es nötiger. Und ich bin es gewohnt, längere Zeit ohne Essen auszukommen.« Isabelle sah hoch. Sie begegnete seinem Blick. Jähe, wilde Sehnsucht überrollte sie. Sie wollte mehr über diesen Mann erfahren, wollte wissen, weshalb er gefastet hatte, was ihm die letzten Jahre zugestoßen war, woher er diese Willenskraft hatte, die seine Züge versteinerte, wie seine Kindheit ausgesehen hatte, ob er Schnee ,83
liebte und Regen ihn traurig stimmte ... Ihre Hand fiel mitsamt Brot kraftlos in ihren Schoß zurück. Sie biss sich auf die Lippen. »Isabelle?« Sie hob den Kopf, doch sie konnte nichts erkennen, denn in ihren Augen schwammen Tränen. »Belle ...« Sein Atem bewegte ihre zerzausten Locken. Er ließ sie weinen, fragte sie nichts, sondern legte seine Hände um ihr Gesicht und zog es an sich. Er küsste ihre feuchten Wimpern, ihre Schläfen. Sie legte ihre Hände auf seine, presste sie gegen ihr Gesicht, wollte versinken in seiner Wärme. Der grobe Stoff seiner Ärmel strich über ihre Wangen. Das Hemd roch nach dem ärmlichen Haus, aus dem es stammte, doch auch nach ihm ... Ein Duft, den sie erkannte - schon immer gekannt hatte? Sie schloss die Augen. Es war gut, dass er nicht nach Erklärungen verlangte. Sie hatte keine Worte für das, was ihr gerade geschah, keine Worte für ihren Aufruhr, für das schmerzliche Ziehen in ihrem Bauch. Sie wusste nur, dass sie nun verletzlich war, verletzlicher als jemals in ihrem Leben. Bisher hatte sie sich immer auf ihre Stärke, auf ihren Mut verlassen können. Das war jetzt vorbei. Sie hatte einen Teil von sich an diesen Mann verschenkt. Und schon jetzt wusste sie instinktiv: Solange er bei ihr bliebe, würde sie aus ihm und sich gleichermaßen schöpfen können, würden sich ihr Mut und ihre Kraft vervielfachen. Solange er bei ihr blieb. Er strich sachte über ihre Brauen, ihren Nasenrücken, ihre Lippen. Ihre Schläfen, ihr Haar. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Endlich«, sagte er. »Endlich kann ich dich berühren, Belle ... So lange schon warte ich darauf!« Er beugte sich über sie, küsste sie zärtlich, spielte mit ihren Lippen. »Ich habe mich danach gesehnt... Vom ersten Augenblick an, als du zwischen den Monstern und toten Tieren von Orléans erschienen bist!« Sie ließ ihn reden, ließ es geschehen, stumm vor Glück. Der Ausdruck seiner offenen, ernsten Zügen schnürte ihr die Kehle zu. Er ergriff ihre Hand, drückte einen brennenden Kuss in ihre Handfläche. Sie erbebte bis in die Fußspitzen. »He, ihr Turteltäubchen! Wollt ihr 'n bisschen Schnaps, um euch abzukühlen?«, rief ein Mann jenseits des Feuers. 83
Es war wie ein Erwachen. Isabelle und Philippe sahen sich an. »Ich glaube, wir sollten weitergehen«, murmelte Philippe. Er warf einen Blick um sich, diesen Blick, den sie schon kannte, der Bereitschaft und Wachsamkeit ausdrückte. Sie spürte, wie sein Körper neben ihr sich anspannte, sich kaum merklich aufrichtete, sie sah, wie seine Rechte unwillkürlich an seiner Seite zuckte. »Lass nur«, meinte sie beschwichtigend und legte eine Hand auf Philippes Arm. Sie lächelte den Mann an. »Schnaps ist immer willkommen«, rief sie zurück. Der Mann ächzte, kam mit einem Ruck auf die Beine und lief mit steifen Schritten um das Feuer herum. »Tenez, les tourtereaux.« Er zeigte lächelnd schwarze Zahnstummel, als er ihnen eine Flasche hinhielt. Isabelle wischte den Hals der ledernen Flasche ab und nahm einen kräftigen Schluck. Der Alkohol schoss sengend durch ihre Kehle, schmeckte nach Selbstgebranntem und längst vergangenen Weihnachtsabenden. »Nicht übel!«, lächelte sie und reichte die Flasche an Philippe weiter. Dieser hob amüsiert eine Braue, nahm ebenfalls einen Zug und händigte ihn wieder seinem Besitzer aus. »Und, wie lange werden Sie hier noch wachen?«, fragte er. Der Mann zuckte die Achseln. »So lang wie nötig. Bis sich alles beruhigt hat.« Er deutete auf ein Fachwerkhaus mit hohem Giebel zu seiner Linken. »Da wohn ich, mit meiner Frau, meinen zwei Töchtern und einem Gesellen. Unten ist eine Werkstatt, die hab ich von meinem Vater übernommen. Korksohlen, bessere findet
ihr nirgendwo in der Stadt.« Er deutete auf Isabelles ausgetretenes Schuhwerk. »Mit Korksohlen in deinen Schuhen hättest du jetzt nicht so kalte Füße, wie du sie bestimmt hast, meine Hübsche. Und schön weich sind sie auch. Hab gute Kundschaft, kann nicht klagen. Sogar hohe Damen lassen bei mir kaufen. Die wollen immer ganz dicke, weil sie größer erscheinen wollen.« Er schüttelte den Kopf. »Hab keine Lust, das zu verlieren. Mir wird keiner meinen Laden plündern. Ich bleib hier und pass auf.« »Und Mazarin?«, fragte Philippe. »Mazarin? Was soll sein mit Mazarin?« Der Mann machte eine obszöne Geste. »Der Italiener ist weg, und das ist gut so. Soll wieder 84
dahin zurückkehren, woher er gekommen ist. Vielleicht kommt die Königin ja wieder zur Besinnung, wenn der Kerl aus dem Land ist. Soll ganz in ihn vernarrt sein, da hört man ja die tollsten Sachen. Kann ich nicht verstehen. Lässt ihn sich bereichern, uns kleine Leute mit Steuern überhäufen - und findet es in Ordnung, wenn er Conde monatelang einsperrt. Ein Sohn Frankreichs sitzt in einer Zelle, während ein Italiener das Land regiert! Hat man dafür Töne?« Er verzog den Mund. »Nee, wenn ihr mich fragt, mit der Königin ist nicht mehr viel los. Hat Frankreich noch nie gutgetan, wenn eine Frau es regierte. War mit der alten Medicis, der Mutter vom alten Louis, nicht anders. Wisst ihr, worauf ich warte? Auf den jungen König. Der wird ja nun dieses Jahr volljährig. Und dann wird alles besser, daran glaub ich fest wie Eisen.« »Ich hoffe von Herzen, dass Sie recht bekommen.« Philippe stand auf. »Aber nun müssen wir weiterziehen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.« »Ja, seht man zu. Ist schon halb vier vorbei, ich hab die Grande Horloge schlagen hören.« Er zwinkerte Philippe zu. »Bring die Kleine nicht in Schwierigkeiten, Bursche, ist ein feines Mädchen, das sieht man ihr an! Und wenn dir der Rat eines alten Kerls etwas wert ist: Heirate sie, so bald du kannst! Ich hab mir die Arlette geschnappt, sobald ich konnte, und es nie bereut!« Isabelle und Philippe dankten ihm für den Wein, verabschiedeten sich von den Menschen, die sie so gastfreundlich aufgenommen hatten, und nahmen ihren Weg wieder auf. Kurz darauf standen sie vor der Seine. Mehrere Lastkähne lagen dort vertäut. Nachdem Philippe geholfen hatte, ein paar Weizensäcke zu löschen, wurden sie von einem Karren mitgenommen. Der Wagen fuhr das Korn zum Marche Saint-Germain, und als Isabelle und Philippe abstiegen, waren sie nur noch ein paar Häuser vom Hotel de Noirlieu entfernt. Sie standen ein paar Atemzüge lang stumm voreinander, seltsam verlegen. »Ich glaube, wir trennen uns am besten hier. Sie gehen voran, und ich folge Ihnen in einigem Abstand, bis Sie zu Hause sind«, sagte Philippe. »Ihre Großmutter würde wenig erfreut sein, wenn sie erführe, mit wem Sie die Nacht verbracht haben.« 84
Isabelle schüttelte den Kopf. »Sie haben mir heute Nacht mehrmals das Leben gerettet, Philippe! Ich bin sicher, Madame meine Großmutter wird das zu schätzen wissen!« Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen. »Dann sind Sie sicherer als ich, Isabelle.« »Aber...« »Ich weiß nicht, weshalb Madame de Faurepas derart gegen mich eingenommen ist. Ich weiß aber, dass die Bitterkeit, die ihr Herz erfüllt, schon sehr lange dort weilen muss und sich gewiss nicht in einer Nacht in Zuneigung verwandeln wird.« Er nickte ihr zu. »Leben Sie wohl, Isabelle.« Sie fühlte, wie Angst und Wut sich ihrer bemächtigten, und schloss die Fäuste. Verflixt, so durfte diese Nacht nicht enden! Ihre Hand schnellte vor, hielt ihn fest. Sie stieß aus, noch bevor die warnenden Stimmen in ihrem Inneren zu laut werden konnten: »Philippe, in ein paar Stunden werde ich meinen Ziehvater auf dem Land besuchen. Ich werde zwei Tage unterwegs sein, niemand außer meinem Ziehbruder und ein paar Bediensteten werden mit mir kommen. Sie würden mir eine sehr große Freude machen, wenn Sie mich begleiten wollten!« Sein Gesicht leuchtete kurz auf. Doch dann schüttelte er den Kopf. »Es wäre verrückt, Isabelle. Ihr Ruf...« »Niemand braucht davon zu wissen. Und wenn doch, sind Sie eben ein guter Freund. Ihr Name braucht nicht vor meinen Großeltern zu fallen. Wir würden nicht alleine sein - aber wir würden zusammen sein!« Er runzelte die Stirn. »Ich habe nachgedacht, Isabelle. Der Mann vorhin am Lagerfeuer hatte recht. Ich bin kein Mann für Versteckspiele und heimliche Treffen.« Er sah sie fest an. »Gott ist mein
Zeuge, dass mir diese Worte nicht leichtfallen, Belle. Und ich weiß, dass ich sie bereuen werde, sobald ich sie ausgesprochen habe. Doch ich kann nicht anders, wenn ich den Respekt vor mir und Ihnen nicht verlieren will.« Er holte Luft, stieß zwischen seinen Zähnen hervor: »Mag sein, dass mein Verhalten schrecklich vermessen ist. Ich bin ein Niemand, ich habe nichts zu bieten außer einer dubiosen Vergangenheit. Aber dennoch ...« Er durchbohrte sie mit seinem Blick. Schließlich brach es aus ihm heraus: »Verflixt, Isabelle, ich bin 85
nicht bereit, Sie zu teilen. Auch nicht mit einem Königsenkel! Deshalb müssen unsere Wege hier auseinandergehen!« »Nein! Was erzählen Sie da für einen Unsinn?« Isabelle konnte es kaum fassen. »Was hat Beaufort hier plötzlich zu suchen? Was schert mich dieser schreckliche Mensch? Ich werde ihm nicht gestatten, sich weiterhin in mein Leben einzumischen! Sie können mich doch nicht dafür bestrafen, dass mein Großvater mich für Condes Freiheit opfert!« Auf einmal bekam ihre Stimme einen Riss. »Und überhaupt... Wer sagt, dass ich diesen Mann heiraten werde? Vielleicht fragt mich ja auch noch einmal jemand nach meiner Meinung! Ich ... Ich ...« Sie konnte nicht mehr weiterreden. Auf einmal schössen Tränen der Wut aus ihren Augen. Sie fühlte sich gepackt. »Soll das heißen, Sie lieben diesen Mann nicht?« Halb zornig, halb weinend schnaubte sie: »Beaufort? Beaufort lieben?« »Sie waren außer sich vor Freude, als er ihre Verlobung verkündete! Ich war dabei! Sie haben gestrahlt wie frisch geschmolzener Smen!« »Wie was?«, schniefte sie. Gereizt schrie sie ihn an: »Wovon reden Sie?« »Wie Butter!«, schrie er zurück. »Alte Butter!« Sein Tonfall wurde leiser. Er riss sich den Hut vom Kopf, strich über seine Stirn. »Man benutzt es ... benutzt es in Algier. Zum Würzen.« »In Algier?«, fragte sie verblüfft. »Sie vergleichen mich allen Ernstes mit ranzigem Fett?« Er betrachtete sie, sah wieder weg. Schließlich stülpte er sich wieder den Hut über die Haare. »Es ist kein ranziges Fett«, murrte er. »Es ist ... Ach, vergessen Sie es.« Isabelle kreuzte die Arme. »Ist Ihnen schon einmal aufgegangen, Monsieur de Vigueil«, fragte sie und zog die Nase hoch, »wie wenig Ahnung Sie von Frauen haben?« Ihre Blicke trafen sich. Plötzlich grinste er. »Glaubst du wirklich?«, fragte er. Auf einmal zog er sie an sich. »Aber küssen ...«, murmelte Isabelle, »küssen kannst du schon ganz gut. Glaube ich.« Und er beeilte sich, es ihr zu beweisen. 85
Sieben Der Verstand kann nicht lange die Rolle des Herzens spielen. Februar 1651
Es war noch früh am Nachmittag, doch die winterliche Sonne neigte sich schon deutlich dem Horizont zu. Es wurde empfindlich kalt -kälter als die letzten Tage. Die eisige Luft biss in Philippes Gesicht. Seine rechte Wange brannte an der Stelle, wo die Haut dünn und empfindlich war. Als er den Kragen seines Mantels noch etwas höher klappte, kribbelten seine Fingerspitzen in den gefütterten Handschuhen. Er schloss die Augen und sog lustvoll die klirrend kalte Luft ein. Ein Duft von Leder und Pferdeäpfeln stieg in seine Nase. »Sie haben heute Nacht wohl nicht viel geschlafen?«, fragte eine freundliche Stimme und riss Philippe aus seiner Versunkenheit. Philippe drehte sich zurück. Isabelles Sekretär hatte zu ihm aufgeschlossen und lenkte sein Pferd neben ihn und Fleurent Malvoy. »Nein«, antwortete Philippe. Er warf einen Blick nach vorne, dorthin, wo zwei Frauengestalten die Spitze ihres kleinen Reittrupps bildeten. Isabelles helle Locken leuchteten unter der späten Sonne unter ihrer dunklen Samtkappe hervor. Sie hatte sich ihrer Zofe zugewandt und hörte ihr aufmerksam zu. »Nein«, wiederholte er sinnend, »das habe ich nicht.« »Ich auch nicht«, lächelte der Sekretär, den Isabelle Philippe heute Morgen als Conrad de Branne vorgestellt hatte. »Der Lärm, der aus den Gassen drang, war einfach zu groß. Ich habe die Nacht zusammen mit meinem Vater beim Kartenspiel verbracht. Der alte Herr schläft sowieso nicht mehr viel. Das Kartenspiel ist die einzige Leidenschaft meines Vaters, müssen Sie wissen.« Branne verzog das Gesicht. »Leider versteht er zu viel davon. Er hat fünf Louis von mir gewonnen!«
Philippe murmelte etwas Passendes und wunderte sich, weshalb Conrad de Branne sich bemüßigt fühlte, Konversation zu machen. 86
»Sie haben wohl die Nacht mit Packen zugebracht«, fuhr Branne im angenehmen Plauderton fort. »Ihre Entscheidung, uns heute zu begleiten, fiel wohl recht kurzfristig?« »In der Tat«, antwortete Philippe ruhig. »Die Aufstände ließen es Mademoiselle dArzelles notwendig erscheinen, zusätzlichen Schutz auf ihrer Reise mitzunehmen. Ich war froh, ihr diese Gefälligkeit zu tun.« »Ein wehrhafter Arm ist immer willkommen, Monsieur de Vigueil. Und wenn Sie mir erlauben: Sie sehen aus, als wüssten Sie eine Waffe zu gebrauchen. Schön, Sie dabei zu haben.« Branne nickte freundlich und trieb sein Pferd an. Er ordnete sich in der Mitte der Kolonne ein, wo er mit einem der Diener, die sie begleiteten, ein Gespräch anfing. Philippe sah ihm sinnend nach. Was hatte der Mann gewollt? Branne hatte ihn auf eine subtile und kaum spürbar gönnerhafte Art auf die Rolle eines Söldners herabgesetzt. Allerdings war Philippe sich nicht sicher, ob es Branne selber überhaupt bewusst geworden war. Entweder Branne fühlte sich in seiner Stellung bedroht und hielt es für notwendig, Philippe zu zeigen, dass er auf der Hut war. Oder aber der Mann hatte Ambitionen, die es ihm nicht ganz zu verbergen gelang. Auf jeden Fall schien er intelligent. Und gut aussehend war er auch - Isabelles Zofe schien nicht abgeneigt. In dem Augenblick strauchelte Malvoys Pferd und riss Philippe aus seinen Gedanken. Der junge Mann blieb im Sattel, wenn auch ohne Eleganz, und brachte das Tier wieder unter Kontrolle. Dabei stöhnte er herzerweichend. Philippe fragte anteilnehmend: »Kopfschmerzen?« »Schrecklich«, lächelte der bleiche junge Mann und verzog das Gesicht. »Jeder Hufschlag hallt in meinem Schädel wider.« Er stöhnte. »Was für eine Nacht...« Philippe schmunzelte. »Verzeihen Sie, Monsieur, doch wenn ich Sie so betrachte, drängt sich mir der Verdacht auf, dass nicht nur der Wein an Ihrem Zustand schuld ist...« Malvoy warf ihm einen schnellen Blick zu. Zu Philippes Erstaunen errötete er. »Verflixt... Ist das so ersichtlich, ja?« Als er Philippes Lächeln begegnete, stöhnte er auf. »Oha, ich muss mich in Acht nehmen! Aber diese Stadt... diese Frauen ... zum Süchtigwerden!« Mal [86
voy zog seinen Hut ab, rubbelte seine Kopfhaut. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihre Beobachtungen für sich behalten würden, Monsieur. Ich ... Also, es war ein kleiner Ausrutscher.« »Selbstverständlich. Es freut mich, dass Sie Ihren Besuch in Paris so glücklich beenden konnten.« Der junge Mann war ganz grün um die Nase. Er zog ein nicht ganz sauberes Tuch aus seiner Tasche und wischte über seine Stirn. »Geht es Ihnen nicht gut, Monsieur?«, fragte Philippe. »Soll ich den Zug anhalten lassen, damit Ihnen Gelegenheit zur Erholung gegeben wird?« »Nein, nein!«, winkte Malvoy ab. Er sandte der Spitze des Trupps einen sorgenvollen Blick zu. »Ich will Isabelle nicht beunruhigen. Außerdem ist es schon spät.« »Sie kennen Mademoiselle dArzelles wohl schon lange.« »Seit einer Ewigkeit«, nickte Malvoy. Er öffnete den Mund, als wolle er noch etwas hinzufügen. Doch dann klappte er die Kiefer geräuschvoll wieder zusammen. Ein Schatten huschte über seine kantigen Züge. Er warf Philippe einen Seitenblick zu. »Und Sie?« Philippe musste erneut lächeln. Isabelle hatte ihm erklärt, dass ihr Ziehbruder vier Jahre älter sei als sie. Doch ohne den hellen Bartflaum, der Fleurent de Malvoys Kinn beschattete, hätte man ihn für den Jüngeren der beiden halten können. »Noch nicht ganz so lange«, antwortete er. Doch dann verengte er die Augen. Er sah nach vorne, wie schon so oft an diesem Tag, erblickte Isabelles Gestalt und musste sich selber widersprechen. Denn er kannte sie. Er hatte sie schon immer gekannt: Sein Vater hatte sie ihm tausendmal beschrieben. Mit vierzehn Jahren ist ein abenteuerlustiger junger Mensch noch bereit, sich den Lebensumständen anzupassen, eine neue Heimat zu wählen, und die Anfänge von Philippes und Maces Gefangenschaft waren nicht ohne Reize gewesen. Mace hatte es seinem Sohn jedoch unmöglich gemacht, Frankreich zu vergessen. Er hatte ihm selbst in den schwierigsten Umständen vorgelebt, was es bedeutete, ein französischer Edelmann zu sein. Niemals hatte er seine Würde verloren. Er war stets der Comte de Rochastre geblieben und nur an zweiter Stelle der Sklave Mace geworden.
Maces größte Waffe aber war das Wort gewesen. Das Reden hatte ihm niemand verboten, und er hatte Philippe von seiner Heimat er . 87
zählt, bis er heiser wurde. Nicht nur vom königlichen Hof, von dem er ein fester Bestandteil gewesen war. Sondern auch von dem Alltag, den Jahreszeiten, dem Land seiner Kindheit. Und von den Frauen. Mace war ein begnadeter Redner gewesen - nicht ohne Grund hatte er in der Diplomatie Karriere gemacht. Er hatte es verstanden, selbst Nebensächlichkeiten mit frischen Farben auszumalen. Und Mace hatte erreicht, was er wollte: Philippe blieb ein Fremder im Land ihrer Gefangenschaft. Er lernte die Sprache ihrer Entführer, er trug ihre Kleidung und war auch den Reizen des Landes, in das sie verschleppt worden waren, nicht verschlossen. Doch Mace verhinderte, dass Philippe je Wurzeln schlug. Zwei Jahre lang. Bis Philippe auf die Galeeren kam, bis seine Träume ihre Farben verloren. Der Schmerz und die Wut, die in dieser Zeit in ihm aufschössen, hätten sowieso jeglichen Ansatz einer Verwurzelung überwuchert und erstickt. Sein Verlangen nach Rache sublimierte seinen Überlebenswillen, gebar seine Besessenheit für den Verrat, der an ihm und seiner Familie verübt worden war, Vergeltung zu fordern. Philippe füllte seine Lungen mit eiskalter Luft und richtete sich im Sattel auf. Seine Freude an dem Ausritt war verblasst. Es überkam ihn das Bedürfnis, sich zu bewegen, wie so oft, seit die Eisen ihn nicht mehr behinderten. Er nahm die Zügel fest in die Hand. Vergeltung, dachte er. Es ist nichts als das Bewusstsein einer noch nicht erfüllten Pflicht. Wenn ich diejenigen zur Verantwortung gezogen habe, die unser Unglück auf dem Gewissen haben, werde ich frei sein. Frei für die Zukunft. Sein Blick fiel erneut auf die Spitze der Reiterkolonne. Er gab seinem Pferd so heftig die Sporen, dass es scheute, bevor es davon-schoss, direkt auf Isabelle zu. Die junge Frau drehte sich ihm überrascht zu. »Welch Ungestüm, Monsieur!«, lächelte Isabelle. Ein Sonnenstrahl entzündete ihr Haar und spiegelte sich in winzigen goldenen Funken in ihren Augen. Sie wartete, bis ihre Zofe sich hatte zurückfallen lassen, und fügte neckend hinzu: »Für jemanden, der mir, wenn ich mich recht erinnere, gestern vorwarf, ich würde ihn von seinem wohlverdienten Schlaf abhalten, scheinen Sie mir noch bemerkenswert wach zu sein!« 87
»Das liegt an den Umständen.« Philippe zog einen Mundwinkel hoch. Er fragte sich, ob diese Frau jemals damit aufhören würde, in ihm diese kleinen, glimmenden Feuer der Sehnsucht zu entfachen, die den ständigen Einsatz seiner Selbstbeherrschung forderten, um zu verhindern, dass sie sich zu Flächenbränden ausweiteten. Verflixt, Philippe, dachte er, du bist auf dem besten Wege, dir die Finger zu verbrennen, und obwohl du das weißt, greifst du womöglich noch mit allen zehn Fingern in die Flammen. Die durchwachte Nacht hatte dunkle Schatten unter ihre Augen gemalt. Ihre Wangen waren noch immer gerötet, doch ihre Haut wirkte fast durchscheinend im kalten Licht. Er fragte sich, wie eine Frau gleichzeitig so viel Stärke ausstrahlen und so zerbrechlich aussehen konnte. »Sie sehen angespannt aus.« Ihr Blick flackerte, und sie ordnete umständlich ihre Zügel. »Sie haben sich eben mit meinem Sekretär unterhalten?« »Unterhalten wäre zu viel gesagt. Wir haben nur wenige Worte gewechselt.« Er sah sie forschend an. »Gibt es Probleme?« Sehr leise antwortete sie: »Nun, ich hatte nicht vor, ihn heute mitzunehmen, wissen Sie. Er könnte derjenige sein, der uns am meisten Schwierigkeiten bereitet.« »Weshalb haben Sie ihn nicht zu Hause gelassen?« »Branne hat heute Morgen vor meinem Großvater seine Verwunderung geäußert, dass ich seine Dienste bei der Überprüfung der Bücher des Hofes meines Pflegevaters nicht in Anspruch nehmen wollte.« Sie lächelte ein wenig, zuckte die Schultern. »Nun ja, es gab kein vernünftiges Argument dagegen, meinen Sekretär mitzunehmen.« »Heute Morgen, sagen Sie?« »Ja, warum?« »Einfach so. Nichts von Wichtigkeit«, wehrte er ab. Gleichzeitig dachte er, dass Branne seiner Sache ziemlich sicher gewesen war, da er bereits in der Nacht gepackt hatte. Also eher ambitioniert als verunsichert, schloss er seine vorherige Einschätzung des Sekretärs ab.
Offensichtlich lag Isabelle noch etwas auf dem Herzen. Sie schwieg eine Weile, während er geduldig abwartete, dass sie sich ihm öffne. Schließlich sagte sie leise, den Blick auf ihre Hände: »Es 88
gibt noch etwas, worüber wir reden müssen, Monsieur. Der junge Mann, der uns begleitet... mein Ziehbruder ...«Ihr Blick schweifte ab, verlor sich in der Ferne. »Meine Großeltern haben verbreitet, ich sei bei einer Familie von Landadligen aufgewachsen, doch es ist falsch.« Sie hob ein wenig das Kinn und sagte herausfordernd: »Die Malvoys sind eine einfache Bauernfamilie. Wir werden heute Nacht nicht auf einem Gut, sondern auf einem Hof übernachten.« Als er darauf nichts erwiderte, sah sie ihn prüfend an. »Weshalb erzählen Ihre Großeltern solche Märchen?«, fragte er sie. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß besser als jeder andere, dass die Umgebung keine Rolle spielt. Das Einzige, was zählt, ist die Geburt. Und Ihre Abstammung kann Ihnen niemand nehmen, auch wenn Sie Ihr ganzes Leben auf einem Bauernhof verbringen oder angekettet in einem finsteren Loch liegen.« Sie antwortete nicht. Er nahm an, sie schäme sich für das, was sie ihm gerade gebeichtet hatte, und fuhr fort: »Es ist das Blut unserer Ahnen, das uns auszeichnet, Madame! Mein Vater hat nicht eher geruht, als bis ich das verinnerlichte.« Er lächelte. »Und Sie sind für mich der entzückendste Beweis, dass er recht hatte.« Er wartete, doch er schien sie nicht überzeugt zu haben. Eine Falte war zwischen ihren Brauen erschienen. »Weshalb haben Ihre Großeltern Sie nicht sofort zu sich genommen, als Ihre Eltern starben?«, fragte er. Sie zuckte die Schultern. »Ich glaube, mein Großvater verabscheute meine Mutter.« Philippe dachte an Marie-Olympe de Faurepas, an ihr welkes, kaltes Gesicht, an den Hass in ihren Augen und die hässlichen Worte, die sie ausspuckte. »Sie sind ein großes Wagnis eingegangen, als Sie mich baten, Sie zu begleiten, nicht wahr?« Sie sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck an, nickte kaum merklich. Sein Hals verengte sich. »Bereuen Sie es?«, fragte er rau. »Keinen einzigen Augenblick.« Ihre unvergleichlichen Augen ruhten offen auf ihm. Philippe schluckte. Moosgrün, dachte er. Ein schillerndes Moosgrün. Aber Amethyst... Amethyst ist auch drin. Weich sagte sie: »Es wird nun tatsächlich nicht mehr lange dauern. Sehen Sie das Dorf mit den tiefen Strohdächern und der mäch 88
tigen Eiche neben der Kirche? Das ist La Chesnee. Kurz dahinter liegt der Hof meines Ziehvaters.« Nach einer knappen halben Stunde machte Isabelle eine Geste, die alles um sie herum zu umfassen schien, und meinte, hier beginne das Land, das die Malvoys bewirtschafteten. »Dann ist das hier also Noirlieu?«, fragte er. Isabelle schüttelte den Kopf. »Nein. Noirlieu befindet sich südlich von Paris. Das hier ist ein Gut von etwa dreihundert Morgen, das meine Großmutter mit in die Ehe brachte. Es ist ein einträgliches Stück Land, doch da es so weit abseits von unseren anderen Ländereien liegt, wollte mein Großvater es schon verkaufen. Ich habe ihn überredet, nichts zu überstürzen und es zunächst einmal mit einem besonders zuverlässigen und ehrlichen Pächter zu versuchen.« »Und Sie haben Ihren Ziehvater mitsamt seiner Familie hier untergebracht. Er muss überglücklich gewesen sein!« »Ja ... das habe ich lange Zeit angenommen«, antwortete sie zögernd. Der Tonfall ihrer Stimme ließ ihn aufmerken, doch sie drehte sich weg. Er sah sich um. Die Felder, die den Weg säumten, erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Sie wurden von frisch beschnittenen Hecken und sauberen Gräben umsäumt. Schwere, lehmige Schollen warteten bereits auf die Frühlingssaat. In einiger Entfernung brach ein Pflug mit vier vorgespannten Pferden die dampfende Erde auf. Krähen umtanzten ihn. Dann kam der Reittrupp an kahlen Obstbaumkolonnen vorbei. Ein halbes Dutzend Männer hatte hohe Leitern aufgestellt und war damit beschäftigt, den Kronen den Frühjahrsschnitt zu verpassen. Auf brachliegende Flächen, auf denen zahllose Schafe unter den wachsamen Augen eines Schäfers winterlich karge Halme kauten, folgten schier endlose Reihen gestutzter Reben. Mehrere kleinere Felder waren streng umzäunt - Gemüsegärten. Schließlich gelangten sie durch ein steinernes Portal in den weiträumigen Hof. Das Hauptgebäude war nicht mit Stroh, sondern solide mit Ziegeln überdacht. Die Wirtschaftsgebäude und das
Haupthaus bildeten ein weitläufiges Rechteck, in dessen Mitte sich ein imposanter Misthaufen und ein Taubenschlag befanden. Es roch 89
nach Holzfeuer, nach Stroh, Gülle und feuchter Erde und immer wieder auch appetitlich nach Zwiebelsuppe. Fleurent Malvoy war vorgeritten und hatte sie angekündigt. Eine Handvoll Menschen hatte sich draußen versammelt und sah ihnen gespannt entgegen. Außer zwei Frauen und einem Mann, die Philippe ihrem Aussehen nach zum Gesinde zählte, entdeckte er zwei Mädchen mit wachen Augen, offensichtlich Schwestern. Die Jüngere war zierlich und vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Die andere war schon so besonnen, dass sie ihre Neugier hinter einem gleichmütigen Ausdruck zu verbergen suchte. Beide trugen saubere weiße Häubchen, unter denen eine Fülle von rehbraunen Locken hervorquoll. Sie drängten sich an einen blonden Mann, der ihnen jedoch im Augenblick keine Beachtung schenkte. Stattdessen wartete dieser, bis sie alle abgestiegen waren, um ihnen dann langsam entgegenzutreten. Von kleinem Wuchs, doch von kräftiger Gestalt, hatte er ein offenes Gesicht, das von strahlend blauen Augen erleuchtet wurde. Philippe hörte ein Stöhnen. Er blickte sich überrascht um. Isabelle stand schräg vor ihm. Sie presste eine Hand an den Mund und schlug heftig mit den Lidern. »Ma fille?« Der blonde Mann war in ein paar Schritten Entfernung stehen geblieben. Er breitete die Arme aus. Isabelle schluchzte einmal auf. Dann warf sie sich hinein.
* »Fünfzehn, sechzehn ... Ja. Sechzehn«, sagte Isabelle. »Hm. Ich fürchte, das ist ein Fehler. Hier sind siebzehn Fässer vermerkt«, sagte Conrad de Branne und deutete mit dem Zeigefinger auf die Liste. Isabelle biss die Zähne zusammen. Verflixt, es konnte doch nicht so schwierig sein, ein paar Fässer zu zählen! Wenn es ihr nur gelänge, ein wenig bei der Sache zu bleiben! »Fangen wir von vorne an«, sagte sie kühl. »Wie Sie wünschen.« Also begann Isabelle erneut, die Reihen abzulaufen. Sie bemühte sich, sich zu konzentrieren, doch es war ihr einfach unmöglich, 89
Brannes Anwesenheit zu vergessen. Das Zusammensein mit ihm hier im Halbdunkel des Weinkellers rief auf unangenehmste Weise die Erinnerung an ihr nächtliches Treffen auf der Terrasse wach und machte sie schrecklich unruhig. Und das Schlimmste war, dass sie das Gefühl hatte, dass er es wusste. Und dass er es über alle Maßen genoss. Isabelle schwenkte grimmig das Öllämpchen, das einzig den Keller erhellte, und machte sich ein neues Mal daran, die vermaledeiten Weinfässer zu zählen. »Madame? Sind Sie hier unten?« Isabelles Herz machte einen Freudensprung, als sie Philippes Stimme erkannte. Erleichterung überschwemmte sie, und sie trat etwas zu hastig hinter der Fassreihe hervor. »Ah, hier sind Sie!«, lächelte Philippe. Er nickte Branne zu. »Ich fürchte, ich störe Sie bei der Arbeit.« »Aber nein«, antwortete Branne höflich. »Eine Unterbrechung wird uns guttun. Wir können etwas Ablenkung gebrauchen, wir waren bereits nicht mehr ganz bei der Sache.« Isabelle ärgerte die Formulierung, die ihrem Zusammensein einen Anstrich der Intimität verlieh. »Sie brauchen meine Fehler nicht auf sich zu nehmen, Monsieur de Branne«, berichtigte sie. »Doch Sie haben recht. Ich habe Sie bereits über Gebühr in Anspruch genommen. Gehen Sie ein wenig hoch, und lassen Sie sich eine Stärkung reichen.« »Es ist sehr großzügig von Ihnen, doch ich kann Sie unmöglich mit der Arbeit alleine lassen«, wehrte Branne lächelnd ab. »Ich werde Sie ersetzen«, mischte Philippe sich ein. »Gehen Sie ruhig.« Branne lachte ein wenig. »Wie Sie möchten. Ich schicke Ihnen Marion herunter, Madame.« »Nicht nötig. Wir kommen alleine zurecht«, widersprach Philippe. »Aber...« Philippe sah Branne fest an. »Monsieur, ich versichere Ihnen, ich werde Mademoiselle dArzelles Ruf nicht mehr schaden, als Sie es selbst soeben getan haben. Wir brauchen keine Anstandsdame.« Conrad de Branne errötete leicht und verneigte sich. »Natürlich. 89
Verzeihen Sie. Ä tout ä l'heure, Madame«, verabschiedete er sich von Isabelle. »Ich hoffe, dass das richtig war«, sagte Isabelle besorgt, als Branne endlich verschwunden war. »Ich kann keine Rücksicht auf die Empfindlichkeit deines Sekretärs nehmen, Isabelle. Den ganzen Tag warte ich bereits darauf, einen Augenblick mit dir alleine sein zu dürfen.« Philippe trat an sie heran, berührte ihre Schulter. »Was habt ihr beide hier gemacht?« Seine Hand war warm und spendete Wohlbehagen. Isabelle spürte, wie sie sich entspannte. »Mein Großvater hat mich beauftragt, ein paar Weinfässer in das Hotel de Noirlieu schicken zu lassen. Mein Ziehvater wird sie auf der Marne nach Paris verschiffen lassen.« Sie hob ihre Liste. »Und gleichzeitig mache ich eine Bestandsaufnahme der neuen Ernte.« Philippe trat auf ein Fass zu und ließ seine Finger über eine Daube laufen. »Auf Rochastre haben wir auch Wein angebaut. Gar nicht so schlechten sogar. Ich war überrascht, heute an so vielen Rebfeldern vorbeigeritten zu sein. Es wird viel davon in der Gegend angebaut.« Er sah sich um. »Hier ist alles genauso ordentlich wie überall sonst auf dem Gut. Dein Großvater hat wirklich einen exzellenten Pächter gefunden.« »Ich habe bemerkt, dass du dich auf dem Gut interessiert umgeschaut hast. Hat es dich an deine Heimat erinnert?« »Nein.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Oder höchstens an das, was Rochastre früher einmal war. Ich war lange Jahre von zu Hause fort. Mein erster Weg, als ich wieder französischen Boden betrat, führte mich nach Rochastre. Es war erschreckend zu erleben, wie schnell ein Land verwahrlost, wenn niemand sich darum kümmert.« »Aber deine Familie?« »Meine Mutter und meine Schwester haben das Land in der ersten Zeit bewirtschaftet, das stimmt. Aber dann ... dann haben sie verkauft - viel, sehr viel. Und nach einiger Zeit mussten sie feststellen, dass das, was geblieben war, nicht mehr ausreichte, um sie standesgemäß leben zu lassen.« »Aber wie konnte das passieren? Was haben sie mit dem Geld gemacht, das sie für das Land bekommen haben mussten?« Er senkte den Kopf, runzelte die Stirn. Die Falten um seinen Mund 90
vertieften sich. Als er wieder hochsah, war Isabelle von der Wut und der Trauer erschüttert, die seine Züge überschatteten. »Sie haben es verschickt, Isabelle. Denn dieses Geld war dazu bestimmt, meinen Vater und mich freizukaufen.« »Freizukaufen?« Sie sah ihn mit großen Augen an. Ihr Hals wurde eng. »Aber... soll das heißen, dass du ...« »Vor knapp zehn Jahren habe ich zusammen mit meinem Vater eine Reise nach Portugal angetreten. Unsere Fregatte wurde auf dem Weg dorthin von osmanischen Seeräubern gekapert. Alle an Bord wurden versklavt.« »Mein Gott...«Ihr Blick blieb unwillkürlich an der Narbe hängen, die auf seiner rechten Wange prangte. Sie hob eine Hand, wollte sie berühren ... Er erfasste ihr Handgelenk, zog ihren Arm sanft, aber bestimmt wieder herunter. »Dein Mitleid ist überflüssig, Isabelle. Alles, was damals geschah, ist allein meine Schuld.« »Deine Schuld?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber Philippe, das ist doch Unsinn! Vor zehn Jahren, sagtest du? Wie alt warst du damals? Fünfzehn? Höchstens sechzehn?« »Ich war vierzehn Jahre alt. Doch Alter spielt bei so etwas keine Rolle.« Isabelle ergriff seine Hand. Sie drehte seine schwielige Handfläche nach oben, legte ihre eigene hinein. »Magst du mir davon erzählen?« Er verzog den Mund, zögerte. Dann hob er die Schultern. »Warum nicht? Es ist kein Geheimnis, und auch nichts, dessen ich mich schämen müsste ...«Er holte Luft. »Mein Vater wurde von Richelieu auf diese Reise geschickt«, begann er langsam. »Mace war Diplomat, ein hoch angesehener Mann, der dem König schon große Dienste erwiesen hatte. Man munkelte bereits, der Orden des Heiligen Geistes sei ihm sicher ...« Philippe wischte über seinen Mund, als wolle er die Bitterkeit davon abstreifen. »Während dieser Mission sollte im Namen des Königs eine geheime Allianz mit Portugal geschlossen werden. Davon wusste ich natürlich nichts. Ich sah nur das Abenteuer einer großen Reise, um die ich meinen Vater schrecklich beneidete.« Er lächelte, doch es war ein Lächeln, das Isabelles Kehle zuschnürte. 90
»Mein Vater vertraute mir die Verantwortung für meine Mutter, meine Schwester und Rochastre an und machte sich auf den Weg. Doch was scherten mich Rochastre und das Landleben? Meine
Mutter war eine kluge Frau und daran gewöhnt, das Gut alleine zu bewirtschaften, wenn mein Vater in Paris weilte, meine Schwester sollte in den nächsten Monaten heiraten. Was sollte da schon groß passieren? Ich folgte Mace heimlich und heuerte in seiner Fregatte an. Als wir zwei Tage unterwegs waren und ich nicht mehr befürchten musste, dass mein Vater kehrtmachen lassen würde, zeigte ich mich ihm.« »Was hat er gesagt?« Ein Lächeln flog über Philippes Gesicht. »Gar nichts. Mace war kein aufbrausender, cholerischer Mann, und Richelieu setzte ihn nicht ohne Grund gerne in Verhandlungen ein, die Besonnenheit und Fingerspitzengefühl erforderten. Nein, mein Vater schickte mich in die Kombüse Gemüse putzen. Dort wurde ich ziemlich seekrank. Ich sah tagelang nichts anderes als Kohl, Rüben und gepökeltes Fleisch. Und Mace nickte zufrieden und meinte, er wolle mir schon noch beibringen, wie aufregend so eine Seereise sei.« Isabelle lachte. »Es hört sich an, als hätte ich deinen Vater gemocht.« »Ja, er war ein großer und weiser Mann. Ich bewunderte ihn.« Sie verhakte ihre Finger mit den seinen, genoss die Wärme seiner Haut und hoffte, dass er weitererzählen würde. Und tatsächlich, nach einer kleinen Pause fuhr Philippe fort: »Als wir überfallen wurden und der Kapitän der Seeräuber die Geschenke fand, die mein Vater für Jean de Bragance, den späteren Jean IV, mit sich führte, fielen ihm fast die Augen aus. Er war natürlich sofort überzeugt, mein Vater sei ein überaus wohlhabender Mann. Nun konnte Mace nicht widersprechen, ohne seine geheime Mission zu verraten und die Verhandlungen platzen zu lassen. Er schwieg also, immer in der Hoffnung, dass man von der Heimat aus eine Befreiungsaktion starten würde.« Isabelle schluckte. »Was geschah mit euch?« »Sara Mostafa, der Besitzer der Fregatte, war ein alter Fuchs. Hätte er seinen Fund herausposaunt, so hätte er den Inhalt der Koffer mit seinen Männern teilen müssen und uns an den Pascha verloren, den 91
Repräsentanten des Osmanischen Reiches, welches nach altem Recht einen Anteil an jeder Beute fordert, die die Seeräuber aus Algier machen. Also machte Sara Mostafa kein großes Aufheben um uns. Als wir in Algier landeten, ließ er uns diskret in sein Haus bringen, als seien wir seine Gäste, nicht seine Gefangenen. Wir durften uns innerhalb des Hauses frei bewegen, mussten nur leichte Arbeiten verrichten, und Sara Mostafa schickte eine Lösegeldforderung nach Hause.« »Und das Lösegeld ...?« Philippe hob die Brauen, zuckte die Achseln. »Es war einfach unbezahlbar. Sara Mostafa hatte unser Vermögen grenzenlos überschätzt. Mein Vater war sich darüber klar, dass meine Mutter es nicht würde bezahlen können. Doch er ging davon aus, dass man ihr an hoher Stelle helfen würde. Schließlich war Mace ja im Dienst des Königs unterwegs gewesen. Ich erfuhr erst vor kurzem von Nachbarn, was damals geschah. Meine Mutter reiste nach Paris, wurde dort überall vorstellig. Doch sie wurde immer wieder vertröstet. Es kursierten Gerüchte. Bösartige Zungen verbreiteten, dass Mace dem Schatz, den er mit sich führte, verfallen war und sich mitsamt dem Gold im Ausland abgesetzt hatte. Und wenn man darüber nachdenkt, war es nicht naheliegend? Hatte er nicht seinen einzigen Sohn mitgenommen - ja, sogar heimlich auf sein Schiff schmuggeln lassen? Meine Mutter weinte, bettelte. Man nahm ihr wohl ihre Verzweiflung ab ... doch man hielt sie genauso für ein Opfer ihres Mannes, wie der französische Staat es war. Sie empfing Mitleid - doch keinen einzigen Louis. Meine Mutter kam zu der bitteren Erkenntnis, dass sie nichts erreichen würde.« Philippe lächelte, fragte leichthin: »Du erkennst nun meinen rühmlichen Part in der Geschichte? Ich war der Beweis für Maces Betrug. Ohne meine Abenteuerlust hätte sich Richelieu vielleicht von der Unschuld meines Vaters überzeugen lassen. Das Lösegeld wäre bezahlt, mein Vater ausgelöst worden - und Rochastre wäre noch das große, stolze Land, das es einmal war.« »Aber Philippe, das ist blanker Unsinn! Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände ...« »Meine Mutter kehrte nach Rochastre zurück«, fuhr Philippe fort, ohne sie zu beachten. Seine klaren Augen waren gedunkelt, starrten 91
auf einen Punkt irgendwo in der Schwärze des Kellers. »Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu verkaufen. Unser Stadthaus in Paris. Und in Rochastre die Mühle, einen großen Teil des Waldes, die besten Äcker, Weinberge. Außerdem nahm sie Geld auf. Als sie mit Mühe und Not alles zusammengekratzt hatte, reichte es gerade aus, und sie schickte es auf die Reise.«
Isabelle fragte behutsam: »Doch ihr seid nicht befreit worden, nicht wahr? Hat dieser Sara Mostafa sein Wort nicht gehalten?« »Sara Mostafa war ein Ehrenmann, auf seine Art. Er hätte uns bestimmt ziehen lassen, wenn er das Geld bekommen hätte. Doch es kam nie in Algier an.« »Was ist passiert?« »Ich weiß es nicht, Isabelle. Das Geld ist spurlos verschwunden. Jemand muss es unterschlagen haben. Alles, was ich weiß, ist, dass meine Mutter es abschickte und monatelang vergeblich auf meinen Vater und mich wartete. Irgendwann gab sie das Warten auf. Sie und meine Schwester Ester packten ihre Sachen und verließen Rochastre. Dieselben Nachbarn, die mir von ihrem Schicksal berichteten, äußerten die Vermutung, sie seien nach Paris gezogen. Seitdem suche ich sie.« Philippe schloss eine Faust. »Doch ich werde sie wiederfinden. Sie werden mir erzählen, wer uns verriet, wer das Lösegeld einstrich. Und dann werde ich Rechenschaft fordern. Auf einem Weg oder einem anderen.« Isabelle betrachtete ihn einen Augenblick lang wortlos. Unerbittlichkeit versteinerte sein Gesicht. Ihr war, als hätte sich etwas Kaltes, Düsteres zwischen ihnen aufgestellt, und sie zog schutzsuchend die Schultern hoch. Sie streckte unwillkürlich die Hand aus, um die Wärme seiner Brust zu spüren. Bedrückt fragte sie: »Und ihr wartetet all die Zeit, dass Geld von zu Hause kam? Jahr um Jahr ... Mein Gott, wie habt dein Vater und du das ausgehalten?« »Mein Vater starb nach drei Jahren. Gott war ihm gnädig. Ich habe ihn heimgebracht, weißt du? Er ruht jetzt in den Saints-Innocents. Das macht mich sehr glücklich.« Philippe lächelte, als sei er in der Tat ein vom Glück begünstigter Mann. Neckend stupste er sie auf die Nase. Sein Lächeln erstarb. Er betrachtete sie stumm, und was sie in seinem Blick las, trieb ihr die Tränen in die Augen. Angst überrollte sie, 92
Angst vor seiner Bitterkeit. Sie zog seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn, rief ihn mit ihren Lippen, beschwor ihn stumm, sich ihr hinzuwenden. Und als sie spürte, wie sein Nacken sich entspannte, wie seine Lippen sich öffneten, wie er ihr nicht nur nachgab, sondern nach ihr verlangte, durchzuckte sie ein heißer Blitz des Triumphes. Ich werde es schaffen, dachte sie voll innerer Überzeugung. Irgendwann wird er die Vergangenheit hinter sich lassen. Irgendwann werden wir meine Träume teilen. Ich habe genug für uns beide. Ich habe genug für die ganze Welt.
*
Isabelle und Philippe lösten sich abrupt voneinander, als sie die Falltür, die zum Keller führte, sich bewegen hörten. Schritte kamen die Treppe herunter. »Isabelle?« »Ich bin hier, Monsieur Malvoy«, rief Isabelle, als sie die Stimme ihres Vaters erkannte, und strich sich die Locken aus dem Gesicht. Cyprien schien nicht besonders überrascht, sie hier mit Philippe alleine anzutreffen. »Haben Sie den neuen Wein probiert, ma fille?«, fragte er. »Ja, vorhin. Er ist wirklich gut.« Cyprien nickte zufrieden. »Monsieur le Duc dürfte zufrieden sein. Wir haben dieses Jahr Klee zwischen die Reben gesät und ihn dann als Dünger untergegraben. Das werd ich nächstes Jahr wieder tun -wenn es ein nächstes Jahr gibt.« Isabelle wandte sich Philippe zu. »Ich fürchte, ich werde hier noch ein wenig zu tun haben, Monsieur. Gewiss wird es für Sie angenehmer sein, sich oben zu den anderen zu setzen und dort auf mich zu warten.« Isabelle tat es um jede Sekunde leid, die sie nicht in Philippes Begleitung verbrachte, doch sie musste unbedingt mit ihrem Vater reden - schließlich hatte sie nur deshalb diese Reise unternommen. Als Philippe sich bereitwillig entfernte, sah sie ihm bedauernd nach. »Und nun, mein Mädchen, erklär mir, was dieser komische Brief sollte, den du mir geschickt hast«, meinte Cyprien sofort, als sich die Falltür hinter Philippe geschlossen hatte. »Ich hab gerade genug verstanden, um nachts kaum noch schlafen zu können. Was ist los?« '92
Cypriens Tonfall war dringend. Ihr Vater war von kleinem Wuchs für einen Mann, und da Isabelle, obwohl sie noch kleiner war, hohe Absätze trug, sah sie genau in seine hellen Augen. Die Sorge, die sie darin entdeckte, rief mit einem Mal all ihre eigenen Ängste ins Bewusstsein zurück. Sie holte tief Luft. »Vater, jemand weiß von unserem Geheimnis!« »Dann hab ich also richtig gedacht.« Cyprien ergriff ihre Hände. »Nun, es musste wohl mal so kommen ... Erzähl.«
Isabelle berichtete von dem Brief, den sie in ihrem Zimmer vorgefunden hatte, und von der zweiten Botschaft in dem Stundenbuch. Sie zitierte aus dem Gedächtnis jede einzelne Zeile. «... Das war vor acht Tagen. Noch habe ich nichts Weiteres gehört. Doch genau das ist das Schlimmste, weißt du? Dieses Warten, dieses Ausgeliefertsein ... Wie soll ich mich gegen einen Menschen wehren, der mich aus dem Verborgenen bedroht?« Isabelle presste ihre Hände aufeinander. »Und dann...«Sie biss sich auf einen Finger. »Und dann?«, fragte Cyprien nach. »Dieser Mann, der mit mir reist, der mit den dunklen Haaren und den blauen Augen ... Er ist mein Sekretär, seit etwa einem jähr schon. Ich habe das Gefühl, er könnte etwas mit der Erpressung zu tun haben.« »Das Gefühl?«, runzelte Cyprien die Stirn. »Wieso? Hat er etwas gesagt, damit du das glaubst? Oder hast du Hinweise, die ihn beschuldigen?« »Nein, eben nicht. Es ist mehr sein Verhalten ... Er ist nicht von Fleurents Seite gewichen in den sechs Tagen, die Fleurent uns besucht hat. Und auch ich ... Ich fühle mich von ihm beobachtet. Der eklatanteste Beweis ist vielleicht, dass er uns heute partout begleiten wollte. Er hat meinen Großvater benutzt, um sicherzugehen, dass ich ihn mitnehmen würde. Dabei weiß ich genau, dass er nichts so sehr hasst wie das Land!« »Aber warum sollte er dich bloßstellen wollen? Dein Unglück würde auch seins sein, er würde seine Stelle verlieren!« Isabelle erinnerte sich an Brannes Gesichtsausdruck auf der Terrasse, und ihre Kehle wurde eng. Er will mich erniedrigen, weil er mich will, Vater, dachte sie. Als Isabelle dArzelles bin ich für ihn unerreichbar. Wenn Helenus seine beschützende Hand von mir 93
nimmt hingegen ... Ihr Herz bäumte sich auf vor Zorn. Doch sie blieb Cyprien eine Antwort schuldig. Es gab Sachen, die eine Tochter ihrem Vater nie beichten würde. Stattdessen sagte sie eindringlich: »Vater, er ist der Sohn von Raphael de Branne! Von dem Mann, der mich damals im Auftrag vom Duc mitnahm! Wenn Raphael de Branne etwas wüsste ... Schon immer gewusst hätte ...« »Du meinst, Raphael de Branne hätte damals von vornherein unseren Schwindel durchschaut? Er hätte dich dem Duc als seine Enkelin präsentiert mit dem Wissen, dass du es nicht bist? Aber warum...?« Isabelle zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte er Angst, als Versager heimzukehren. Vielleicht wollte er es seinem Herrn ersparen, ohne Erben zu sterben. Was weiß ich?« Sie spreizte die Finger. »Es wäre möglich, Vater. Ich war damals neun und nicht in der Lage wahrzunehmen, ob Raphael de Branne mir etwas vorspielte. Ich hatte schreckliches Herzklopfen, als ich in seinen Wagen gesprungen bin. Doch als er mich nicht sofort wieder hinauswarf, war für mich klar, dass er mir meine Lüge abgenommen hatte. Aber heute ... Heute frage ich mich manchmal, wie es sein konnte, dass alles so glatt lief.« Sie sah fest in Cypriens Gesicht. »Sind dir denn nie Zweifel gekommen, Vater? Fragen, wie einem neunjährigen Mädchen ein so kolossaler Betrug gelingen konnte?« Cyprien lächelte. »Nein, ma fille. Du hast dich selbst nicht gekannt! Du warst das außergewöhnlichste Mädchen, das es gab. Wir hatten schlechte Zeiten hinter uns, und du hattest die Verantwortung für deine Schwestern übernommen. Du warst reifer als eine Neunjährige - so reif, wie meine kleine, wohlbehütete Camille es heute mit ihren dreizehn Jahren manchmal noch nicht ist. Du hattest schon damals diesen außergewöhnlichen, lebhaften Charakter, der dich alles mit Passion und Mut in Angriff nehmen ließ. Und du warst von einer Entschlossenheit, die mir manchmal regelrecht unheimlich war.« Isabelle strich über ihr Gesicht. »Vielleicht irre ich mich ja, Vater. Ich suche ja nur nach Lösungen, nach Möglichkeiten. Wenn Raphael de Branne etwas weiß, kann er es seinem Sohn erzählt haben. Es wäre eine simple Erklärung. Doch vielleicht weißt du ja eine andere? Wer könnte sonst noch von Magdelaines Geheimnis wissen?« Ange ld
spannt fragte sie: »Ist dir etwas herausgerutscht - bei einem Besuch von Helenus zum Beispiel, oder vielleicht in der Taverne, bei einem Becher Wein? War es vielleicht Fleurent? Oder haben Camille oder Innocente irgendetwas aufgeschnappt und es weitererzählt?« Cyprien stieß Luft aus. Er schüttelte den Kopf. »Ma petite, du verlangst das Unmögliche! Ich bin mir meiner selbst völlig sicher. Nie würde ich dich in Schwierigkeiten bringen! Aber was deine Geschwister angeht ... Natürlich kann dieser Tollkopf von Fleurent sich verplappert haben - auch
wenn er nie etwas tun würde, um dir zu schaden, denn er liebt dich viel zu sehr. Ob die zwei Kleinen etwas wissen, kann ich nicht sagen. Doch sie kommen normalerweise mit ihren Sorgen zu mir. Und sie haben mich nie angesprochen. Für sie bist du jetzt Isabelle, ihre vornehme Ziehschwester, denn sie waren noch zu klein, um sich wirklich an das zu erinnern, was damals geschah.« Isabelle dachte an ihre zwei Schwestern, die sie neugierig aus der Sicherheit des Nachbarzimmers beäugt hatten, als sie ihre Sachen ausgepackt hatte. Sie waren ihr sehr fremd geworden, und es hatte ihr einen Stich versetzt - doch Cyprien hatte recht. Nichts hatte daraufhingewiesen, dass Innocente und Camille etwas wussten. Isabelle seufzte. »Also bin ich so klug wie vorher.« »Es tut mir leid. Es sieht aus, als ob du nichts anderes tun könntest, als zu warten, bis dieser Mensch sich wieder rührt. Oder aber...«Cyprien warf ihr einen scharfen Blick zu. »Oder aber du machst das, was er will. Und gehst zu Monsieur le Duc.« »Nein!« Isabelle schüttelte heftig den Kopf. »Das werde ich nicht tun. Du kennst Helenus kaum er ist ein boshafter, stolzer und überheblicher alter Mann! Was, glaubst du, wäre seine Reaktion, wenn er von unserem Betrug erführe? Denk doch an Camille und Innocente! Ihr wäret die Ersten, die alles verlieren würden!« »Magdelaine, jetzt hör mir mal gut zu. Ich hab vorgesorgt in den Jahren, seit du uns verlassen hast. Du weißt noch vom Geld, das der Duc mir vor die Füße werfen ließ, als Dank für die Pflege seiner Enkelin? Es ist noch alles da - und sogar noch mehr, denn ich hab gespart. Es reicht für Camille, Innocente und mich ... und auch für dich, wenn du dich dafür entscheiden solltest. Wir würden keine Not leiden.« 201
Isabelle schüttelte den Kopf. Erneut überfiel sie die Furcht vor Helenus' Reaktion, wenn der Betrug bekannt werden sollte. Verstand ihr Vater denn nicht, dass es inzwischen um sehr viel mehr als nur um Geld ging? Wie konnte er annehmen, dass Helenus sich damit zufriedengeben würde, die Malvoys von seinen Ländereien zu vertreiben, wenn ihm aufging, wie schändlich er betrogen worden war? Isabelle schlug die Augen nieder. Was nützte es, ihrem Vater Angst zu machen? Sie fühlte, wie die Verantwortung für ihre Familie noch etwas schwerer auf ihr lastete, und redete sich ein, dass sie es so gewollt hatte. Sie alleine war schließlich die Ursache ihrer jetzigen Schwierigkeiten, ihr eigener Entschluss hatte sie damals in die Kutsche springen lassen. Sie entgegnete: »Aber Vater, deine Arbeit hier... Sogar der Comte de Vigueil bemerkte, wie gut du das alles hier bewirtschaftest. Wenn dir das alles von heute auf morgen genommen würde ...« «... so würde ich dem keine einzige Träne nachweinen«, beendete Cyprien ihren Satz. Seine Stimme wurde weich. »Weshalb, deiner Meinung nach, hab ich die Pacht dieses Landes übernommen, statt mir mit dem Inhalt der Börse von Monsieur le Duc etwas Eigenes zu kaufen? Nur deinetwegen!« »Nein!«, schüttelte Isabelle den Kopf. »Das glaube ich nicht! Ich habe dich nie darum gebeten!« »Das hast du nicht. Doch wie, glaubst du, hätte ich sonst noch in Verbindung mit der Erbin der mächtigen Faurepas bleiben können? Durch das Gut hab ich dich ab und zu gesehen. Wenn du nicht kamst, so war es Monsieur le Duc oder einer seiner Verwalter. Immer aber erfuhr ich, ob es dir gut geht, was du machst. Dieses Gut war die ganzen Jahre hindurch unsere Nabelschnur. Doch jetzt...« Cyprien stockte, schien seine Worte zu suchen. Leise fuhr er fort:»... Du warst über Monate hinweg nicht mehr hier, Magdelaine. Ich mach dir keine Vorwürfe - du hast jetzt das Alter, in dem man sich von den Eltern löst und seinen eigenen Weg sucht. Ich versteh das. Doch dann hab ich auch keinen Grund mehr hierzubleiben.« Er lächelte. »Ich möchte auf meinem eigenen Boden sterben. Mein Traum ist es, einfach umzufallen - mit dem Gesicht zuerst in ein weiches, gepflügtes Feld. Und mit meinem letzten Atemzug den Geruch der feuchten Erde aufzunehmen. Ja, Magdelaine ... das würde mich glücklich machen.« 94
Isabelle weinte. »Nenn mich nicht Magdelaine!« Cyprien strich über ihren Kopf. »Es liegt an dir, dich zu nennen, wie du es willst, ma petite. Überleg es dir und handele danach. Aber tu es nicht mit Rücksicht auf uns. Du hast genug für uns getan. Jetzt tu, was für dich am besten ist. Du bist frei.« Isabelle wischte über ihr Gesicht. »Ich kann nicht zurück, Vater... Ich kann es nicht!« »Nein, das versteh ich. Man braucht dich nur anzuschauen, um das zu wissen ...«Tiefes Staunen lag in seinen Augen. »Mein Gott, meine Kleine ... Du bist so schön, dass es mich vorhin umgehauen
hat!« Er zog sie an sich, flüsterte in ihr Ohr: »Hab ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie stolz ich auf dich bin?« Er drückte sie einmal aus ganzen Kräften. Dann ließ er sie abrupt los. »Und jetzt geh nach oben. Lauf!« Isabelle machte ein paar Schritte. »Isabelle?« Sie drehte sich um. Cyprien stand im Halbdunkel. Seine Stimme klang tief. »Er ist ein guter Mann.« In Isabelles Augen traten erneut Tränen. Auf einmal wusste sie, weshalb sie Philippe heute unbedingt hatte dabeihaben wollen. »Ja, das stimmt, Vater«, antwortete sie mit unsicherer Stimme. »Doch auch er ist stolz, wie all diese Herren es sind. Du darfst ihm nie von Magdelaine erzählen, hörst du?« Isabelle dachte an den Ritt von heute Morgen. An Philippes ernste Stimme. Das Einzige, das zählt, ist die Geburt. Die Geburt... Sie senkte den Kopf. Tränen rannen über ihr Gesicht. »Nein, Vater. Das ist mir klar.« Fluchtartig verließ sie den Keller. Conrad schlenderte auf dem Hof herum. Isabelle dArzelles Vorschlag, sich etwas in der Hofküche servieren zu lassen, in Ehren, doch er hatte nicht vor, Schulter an Schulter mit dem Hofgesinde in ein Zwiebelbrot zu beißen. Lieber wartete er auf das Abendessen. Die Sonne berührte bereits das hohe Dach der Scheune. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis sie sich alle um einen Tisch versammeln würden. Bis dahin konnte er noch versuchen, sein Spiel etwas weiter zu treiben. 95
Ein aufgeregtes Gegacker und Geschnatter ließ Conrad zu dem eingezäunten Rechteck sehen, in welches das Geflügel für die Nacht getrieben wurde. Zwei Mädchen befanden sich vor der Einfriedung und wiesen mit einer dünnen Rute Gänsen, Hühnern und Gockeln den Weg. Als Conrad sah, dass schaumiges, rehbraunes Haar unter ihren Hauben hervorquoll, schlug er ihre Richtung ein. Die Töchter des Bauern waren alleine, frohlockte er. Genau auf so eine Gelegenheit hatte er gehofft. Er schob seinen Hut in den Nacken zurück und lehnte sich lässig neben sie an die Einfriedung des Geflügelhofes. »Schöne, fette Tiere«, eröffnete er das Gespräch. »Man sieht, dass ihr euch gut drum kümmert.« Die Jüngere zuckte die Schultern. »Die Gänsemagd ist krank. Wir machen es nur, bis sie wiederkommt.« Die Ältere musterte Conrad unter halb heruntergeschlagenen Wimpern. Mit einem leichten Ton der Verachtung in der Stimme sagte sie: »Sie ist nicht krank, sie bekommt ein Kind, Innocente. Das habe ich dir doch alles schon mal erklärt.« Das Mädchen blitzte ihre Schwester an. »Aber sie liegt wie tot auf ihrem Strohsack und wimmert und heult. Ich mach das nur, wenn ich krank bin.« »Das ist nicht wahr«, widersprach die Größere mit einem kleinen herablassenden Lächeln. »Du wimmerst und heulst auch, wenn du nicht krank bist und brauchst eine Holzpuppe zum Schlafen. Du bist eben ein kleines Mädchen.« »Dafür steckst du einen Finger in den Mund!«, wütete Innocente. Sie drehte sich Conrad zu und richtete einen Zeigefinger auf ihre Schwester. »Camille ist da schon ganz schwielig, und Vater hat schon mit ihr darüber geschimpft, aber sie tut es immer wieder! Wenn ich ein kleines Mädchen bin, ist sie es auch!« Camille errötete. Ihre Lust, ihrer kleinen Schwester den Hals umzudrehen, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Conrad hatte kein Verlangen danach, diesen kindischen Zänkereien noch länger beizuwohnen. Er würde mehr Chancen haben, etwas zu erfahren, wenn er die beiden trennte. Er entschied sich für die Ältere. »Nun, was ist Schlimmes daran, sich nachts ein wenig zu verwöh 95
nen? Bei uns in Paris haben es junge Damen leichter«, lächelte er das Mädchen an, das sich Camille nannte. »Sie rufen die Verkäufer von oublies ins Haus, die durch die Straßen ziehen mit Körben von ausgesuchten Leckereien.« »Nachts?« Die braunen Augen des Mädchens weiteten sich. »Mais oui. Man braucht nur darauf zu warten, einen von ihnen rufen zu hören. Ein Zeichen, und schon liegen tausend Köstlichkeiten vor einem.«
»So was würde mir auch gefallen!«, seufzte das Mädchen auf. »Nichts einfacher als das! Kommen Sie nach Paris, Mademoiselle, und ich verspreche Ihnen, dass Sie aus dem Staunen nicht mehr herauskommen werden! Für eine junge Dame wie Sie ist das Leben dort voller Wunder!« Die Anrede schmeichelte ihr wie erwartet. Sie reckte ein wenig das Kinn und warf ihrer kleinen Schwester einen Seitenblick zu, um zu prüfen, ob diese auch wahrgenommen hatte, dass andere sie als junge Dame bezeichneten. Mit einer affektierten Miene, von der Conrad sich fragte, woher sie sie hatte, seufzte sie auf. »Nach Paris kommen, ja!« Conrad hatte bereits nachgerechnet, dass die beiden in etwa drei und fünf Jahre alt gewesen sein mochten, als Raphael ihre Familie aufsuchte. Sollte er recht haben, sollte ihre Schwester damals vorgetäuscht haben, Isabelle dArzelles zu sein, glaubten die Mädchen gewiss inzwischen selber daran. Wenn ihr Vater ein kluger Mann war, würde er dafür gesorgt haben. Und Cyprien Malvoy machte nicht den Eindruck, als sei er auf den Kopf gefallen. Auch waren die beiden nur ein Mittel zum Zweck ... »Ich fürchte, wir müssen heim«, sagte Camille mit einem Seufzer. »Es gibt noch viel zu tun in der Küche, um das Abendessen zu richten.« Sie warf Conrad einen Blick zu, der verdeutlichte, dass sie bereits ein ganzes Stück das Land der Kindheit verlassen hatte. Conrad hatte sich schon vielfach von dem Eindruck vergewissern können, den er auf das weibliche Geschlecht machte, und er beschloss, das Mädchen noch ein wenig zu verzaubern. »Wie schade!«, sagte er. »Ich wollte Ihnen gerade noch das Versprechen abnehmen, mich in Paris zu besuchen!« Camille hob das Kinn, und Conrads Herz machte einen Satz. Das war es! Diese herausfordernde und intuitiv weibliche Geste - tau 96
send Mal hatte Isabelle d'Arzelles sie vor seinen Augen ausgeführt. Noch war die Ähnlichkeit der Mädchen mit ihrer Schwester kaum wahrzunehmen. Doch in ein paar Jahren, wenn Camille und Innocente zu Frauen herangewachsen sein würden, würde sie nur schwer zu verheimlichen sein. Ha!, jubilierte er, und seine Handschuhe umklammerten das Gatter, ich habe sie. Ich habe sie! »Was trödelt ihr beiden hier rum? Gibt es nicht genug zu tun?« Die Stimme in seinem Rücken holte Conrad auf den Boden zurück. Cyprien Malvoy erschien an seiner Seite, doch seine Aufmerksamkeit galt alleine seinen Töchtern. »Wir haben die Gänse versorgt«, antwortete Camille. »Man sucht nach euch in der Küche«, war die barsche Antwort. »Wir waren ja schon auf dem Weg!«, erwiderte die stets widerspenstige Innocente, senkte aber die Augen vor dem Stirnrunzeln ihres Vaters. Sie hüpfte auf und warf ihre Rute weg. »Also, ich gehe! Kommst du auch, Camille?« Diese errötete. »Nun, vielleicht möchte Monsieur ja auch mit«, sagte sie bemüht gleichgültig. »Wir haben uns gerade so gut unterhalten ...« »Camille, Monsieur de Branne ist unser Gast und nicht gekommen, um mit euch Rüben zu putzen! Und jetzt kein Wort mehr! Verschwindet!«, befahl Cyprien Malvoy. Conrad traf noch ein bedauernder Blick, dann gehorchten die beiden, Innocente vorausstürmend, Camille mit dem gesitteten Schritt ihres aufkommenden Selbstbewusstseins. »Hübsche Töchter!«, lächelte Conrad. Malvoy antwortete nicht. Sein Gesicht war gerötet und sein Atem ging schnell. Er rüttelte an dem Tor, tat, als müsse daran etwas gerichtet werden, und trat dann einen Schritt zurück. Er warf Conrad einen halben Blick zu und fasste an seinen Hut. »Also dann, Monsieur ... Wir sehen uns zum Abendessen. Wenn Sie die Glocke hören, ist es so weit. Ich hab noch zu tun bis dahin.« »Oh, ich begleite Sie gerne, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe nicht so oft die Gelegenheit, auf dem Land zu übernachten. Für mich ist alles neu hier. Sie werden lachen, doch ich genieße es richtig!« Cyprien Malvoy machte allerdings nicht den Eindruck höchster 96
Heiterkeit. Die kräftigen Fäuste des blonden Mannes schlossen sich. Nach einem kaum wahrnehmbaren Zögern richtete er seine Schritte in Richtung Scheune, und Conrad folgte ihm. In der Scheune ergriff Malvoy eine Leiter. »Ich muss den Taubenschlag ausmisten. Da fällt viel Dreck an. Ich glaube nicht, dass das was für Sie ist«, warf er Conrad entgegen. »Ich werde Ihnen von unten zuschauen«, antwortete Conrad freundlich. »Unterhalten können wir uns dann ja trotzdem.«
Malvoys Gesicht verfinsterte sich noch ein wenig, doch er widersprach nicht. Er schulterte die Leiter und trug sie hinaus. Vor dem Taubenschlag richtete er sie auf. Conrad gestand dem Mann zu, dass er wirklich die beste Möglichkeit gefunden hatte, um ihm zu entkommen. Doch so schnell war er nicht zu entmutigen! »Wie viele Tauben halten Sie eigentlich?«, fragte er nach oben. Ein gedämpftes, aber unüberhörbar ärgerliches Gemurmel drang aus dem Häuschen. »Siebzig Paare.« Conrad bekam gerade noch die Zeit zurückzuspringen, um einer hellen, ätzenden Wolke von Taubenkot auszuweichen. Der Staub trieb ihm die Tränen in die Augen. Er zog eilig ein Tuch aus seiner Tasche und hustete heftig. »Hat Sie's erwischt? Das tut mir aber leid!«, erklang es von oben. Na warte, mon bonhomme, dachte Conrad. »Aber nein, es ist nichts passiert!«, lächelte er und fügte gönnerhaft hinzu: »Sie arbeiten wirklich mit bemerkenswertem Eifer, mon brave!« Malvoy hatte wohl eingesehen, dass er nicht abzuschütteln war. Nach einem Blick nach unten begann er den schwerfälligen Abstieg. Conrad wartete, bis der Bauer wieder auf dem Boden war, um hinzuzufügen: »Überhaupt ist alles hier auf dem Hof in bester Ordnung. Monsieur de Faurepas wird begeistert sein, es von mir zu hören!« »Es wird nichts Neues für Monsieur le Duc sein. Er war immer zufrieden«, antwortete Malvoy. »Ja, man fragt sich, wie Sie das schaffen. Der Hof, die vielen Leute hier, Ihre vielen Kinder ...« »Alle haben eine Aufgabe. Und jeder kennt seinen Platz.« Malvoy stemmte die Fäuste in die Hüften und baute sich vor Conrad auf. »Ja, aber Kinder müssen verheiratet werden. Das ist immer eine 97
schwierige Wahl, die man da treffen muss, nicht wahr?«, lächelte Conrad. Er wedelte mit seinem Tuch über seine Ärmel und seine Schultern, um Reste des Taubendrecks von dem dunklen Stoff zu wischen. »Natürlich möchte man das Beste für seine Kinder. Insbesondere für seine Töchter, denn die muss man ja aus dem Haus geben. Haben Sie schon passende Partien in Aussicht?« »Tüchtige Burschen gibt's hier viele. Ich hab keine Sorge.« »Ach, wollen Sie sich tatsächlich mit Ihrem Umfeld zufriedengeben? Zwei so reizende Mädchen hätten doch gewiss Besseres verdient ... Haben Sie denn keine Ambitionen für sie?« Er faltete sorgfältig sein Tuch wieder zusammen. »Ich selber habe keine Kinder, doch ich könnte mir vorstellen, dass ich nicht ruhen würde, bis sie eine richtig gute Partie gemacht haben.« Er steckte das Tuch wieder in seine Tasche zurück. »Es wird sich was finden, und das wird recht sein«, brummte der Bauer. »Nun ja, Sie haben natürlich bereits einen riesigen Erfolg erzielt. Eine Tochter zu haben, auf die ein Herzogintitel wartet, ist ja wahrhaft nicht zu überbieten!« »Sie ist nicht meine Tochter!«, kam es wie aus der Muskete geschossen. Brav geantwortet, spottete Conrad. Er antwortete nicht, sondern drückte sein Erstaunen mit einer hochgezogenen Braue an. »Sie ist meine Ziehtochter«, fühlte sich Malvoy auch gezwungen richtigzustellen. »Mademoiselle d'Arzelles ist bei uns aufgewachsen.« »Aber wächst einem denn ein Mädchen, das man vom zartesten Alter her kennt, nicht so ans Herz, dass man es als sein eigenes ansieht?«, fragte Conrad überrascht. »Doch, natürlich«, antwortete Malvoy. »Doch es bleibt dabei, dass sie nicht meine Tochter ist.« »Besonders«, führte Conrad seine Ausführungen fort, »da Sie ja eine Tochter im selben Alter verloren haben, nicht wahr?« Malvoy hob schnell den Kopf. Seine Pupillen glitzerten vor Misstrauen. »Ihre Frau hat Mademoiselle d'Arzelles doch als Amme gedient... Da mussten Sie doch eine Tochter oder einen Sohn im selben Alter 97
haben!«, erklärte Conrad und fügte einfühlsam hinzu: »Wie hieß das Kind denn?« Etwas rührte sich auf dem alten, faltigen Gesicht. »Magdelaine«, erklang es. Er senkte den Blick. »Sie hieß Magdelaine.« »Wann ist sie denn gestorben?« »Als ... Als sie zwei war.«
Die Antwort haben Sie nicht so gut geübt, Malvoy, rügte Conrad den Bauern sanft in Gedanken und beobachtete, wie trotz der Kälte Schweiß auf der Stirn des Mannes perlte. »Ich muss die Leiter wegräumen«, sagte der Bauer. »Und dann muss ich noch in den Schweinestall.« Streitlustig deutete er auf Conrads Stiefel. »Wollen Sie da auch mit? Ist allerdings schon ewig nicht ausgemistet worden. Wird Ihre feinen Stiefel bis über die Knöchel versauen, furcht ich.« »Danke, mon brave.« Conrad nickte dem Bauern knapp zu. »Ich will nicht länger Ihre Zeit in Anspruch nehmen. Sie waren wirklich äußerst zuvorkommend. Und so offen!« Er lächelte breit. »Ihre Antworten haben aufs Beste das Bild vervollständigt, dass Ihre beiden charmanten Töchter bereits von Ihrer Familie gegeben haben. Meine Neugier ist gestillt.« Eine Ader schwoll am Hals des Mannes, seine Hände schlossen sich. Er beugte sich kaum merklich vor, eine explosive Mischung aus Zorn und Angst sprühte Conrad aus seinen hellblauen Augen entgegen. Einen Augenblick lang dachte Conrad schon, der Bauer wolle sich tatsächlich auf ihn werfen. Doch auf einmal drehte der Mann ab. Er verließ ihn mit schnellen, steifen Schritten. Conrad zog seine Handschuhe glatt. »Genauso aufbrausend wie seine Tochter«, murmelte er und gab der vergessenen Leiter einen verächtlichen Fußtritt.
Acht Man ist zuweilen weniger unglücklich, von einem geliebten Menschen getäuscht als enttäuscht zu werden. Februar 1651
Als Philippe die Tür zu seiner Wohnung aufsperrte und seine Satteltaschen über einen Stuhl hängte, ging ihm auf, dass er unbedingt einen Diener einstellen musste. Er sah sich um in den vier Zimmern, die er vorige Woche bezogen hatte, und rümpfte die Nase. Die Luft war verbraucht und so kalt, dass sein Atem sichtbar war und Eisblumen die Fensterscheiben überwuchert hatten. Die verrußten Kamine waren verwaist, es lag gerade noch genug Holz da, um für die aufkommende Nacht einzuheizen, und das auch nur in einem einzigen Raum. Die Möbel, die er mit gemietet hatte, waren von solider Machart und nicht ungemütlich, aber der braunrote Himmel über dem Bett starrte vor Staub und die Waschschüssel wies unappetitliche Ränder auf. Alles muss einmal gründlich geputzt und gelüftet werden, dachte er. Keine Frau würde sich hier eine Sekunde lang wohlfühlen. Narr, wies er sich zurecht. Was für Hirngespinste sind das? Sein Blick wanderte unwillkürlich zum Bett. Eine Sekunde lang sah er sie: Rundungen, die die Laken zerdrückten, helle Locken, die über die Kissen liefen, und die Sehnsucht stieß tief in seinen Magen. Dann wandte er sich gereizt ab. Gütiger Gott, wie unrealistisch war er eigentlich? Glaubte er wirklich, eine Frau wie Isabelle würde jemals den Fuß hierein setzen? Beauforts Verlobte? Die einzige Erbin eines steinreichen Mannes, den die letzten politischen Wendungen in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt hatten? Auch einem Mann, der zehn Jahre lang keinen Umgang mit seinesgleichen gehabt hatte, müsste aufgehen, dass Isabelle und er zwei Extreme in ihrer Welt verkörperten. Er begann, Holzscheite in den Kamin des Schlafraumes zu legen, und kämpfte gegen ein ihm unerklärliches Gefühl der Einsamkeit 98
an. Es ist die Wohnung, dachte er. Ein Diener wird Abhilfe schaffen. Und ansonsten sollte ich darauf achten, solche Ausflüge nicht zu wiederholen. Ich befand mich zwei Tage lang in angenehmer Gesellschaft, das ist wahr. Doch wenn es dazu führt, dass ich unfähig werde, auf solche Gesellschaft zu verzichten, wenn daraus ein Bedürfnis entsteht, ist es der falsche Weg. Bedürfnis bedeutet Abhängigkeit, Abhängigkeit bedeutet Schwäche, und Schwäche ist für mich untragbar, solange nicht gerächt wurde, was gerächt werden muss. So einfach ist das. Doch das unangenehme Ziehen in seiner Brust wollte nicht weichen. Er legte Feuer unter die Holzscheite. Sein Blick fiel auf die Narbe auf seinem Handrücken. Er schloss die Augen. Wie lebendig alles noch war - wie greifbar nahe. Seine Vergangenheit bestimmte sein Leben, heute und auch in Zukunft. Das musste er akzeptieren. Alles andere wäre falsch, alle Versuche, diese Vergangenheit zu verleugnen, nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern auch lächerlich und verachtenswert. Dass er nach der zweitägigen Reise mit diesem Gefühl der Leere hier gestrandet war, war der Beweis dafür: Er durfte sich nicht ablenken lassen. Er musste seinen eingeschlagenen Weg weitergehen. Er musste von nun an seine ganze Kraft dafür einsetzen, Ester und Jehanne wiederzufinden. »Verzeihung...«
Philippe schreckte hoch. Mit einem Satz war er auf den Beinen. Er erfasste in einem Blick die vor ihm stehende Gestalt. Hohe Schuhe, ziselierter Degen, die Haltung eines Militärs, die Kleidung eines Höflings. »Sie haben eine Minute, um sich auszuweisen, Monsieur«, warf er dem Eindringling entgegen, ohne sein Messer wieder einzustecken. »Sonst muss ich Sie behandeln wie jemanden mit unlauteren Absichten.« Das Nicken des Mannes fiel mehr als spärlich aus. »Philippe de Montault de Benac, Duc de Navailles, Kapitän der leichten Kavallerie Seiner Eminenz Jules Mazarin«, ratterte er mit geschwellter Brust herunter. Offenbar dachte er nicht daran, seinen reich befederten Hut zu gefährden, indem er ihn in einer solch staubigen Umgebung vom Kopf nahm. »Darf ich annehmen, dass ich es mit dem Comte Vigueil de Rochastre zu tun habe?« 99
Philippes Nicken war ein Spiegelbild dessen seines Gegenübers. »Der bin ich. Darf ich fragen, was mir die Freude unseres Kennenlernen verschafft, Monsieur?« »Bien entendu.« Navailles schob zwei spitze Finger unter seine Jacke. »Ich bin designiert worden, Ihnen einen Brief anzuvertrauen.« Er zog ein versiegeltes Kuvert aus seiner Kleidung und präsentierte es Philippe. Philippe warf einen Blick auf das Siegel und fühlte, wie er erbleichte. Als er hochsah, begegnete er Navailles Lächeln. »Ihre Majestät wartet nicht gerne«, sagte er. »Sie dürfen sich wieder aufrichten, Monsieur de Vigueil!« Philippe tat wie geheißen. Sofort sah er sich mit einem halben Dutzend Augenpaaren konfrontiert. Die einen neugierig, die anderen spöttisch oder nur wachsam. Er ertrug die Musterung mit Gleichmut. »Ich ließ Sie bereits vor über drei Stunden rufen.« »Verzeihung, Majesté. Ich war verreist und habe erst vor kurzem die Vorladung erhalten.« »Sie haben die Tore passiert, Monsieur?« Annes beherrschte Stimme schwankte kaum merklich. Philippe beobachtete die Regentin. Es war bereits das dritte Mal, dass er ihr gegenüberstand. Und jedes Mal hatte er eine andere Frau vor sich gehabt. Das erste Mal hatte sie ihn bei Mazarin überrascht, als er den Bezoar verkaufen wollte. Sie war ihm mehr Frau als Königin erschienen, was ihn unangenehm berührt hatte. Das zweite Mal hatte sie nur halb bekleidet neben dem Bett ihres Sohnes gestanden - und er hatte ihren Mut und ihre Würde bewundert. Und heute ... Die Frau, die ihm heute inmitten ihrer Hofdamen gegenübersaß, war zutiefst verunsichert, obwohl sie es mit allen Kräften zu vertuschen suchte. »Ja, Majeste.« Philippe merkte überrascht, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Er dachte an die Lanzen, die sich durch die Gassen drängten, an die Boote voller Bewaffneter, die die Seine überwach 99
ten, an den Trommelwirbel, der die ersten Frühlingsgesänge der Vögel übertönte. Er warf einen Blick auf den Umriss, der sich im Schatten von Annes Stuhl abzeichnete - sehr aufrecht, bewegungslos. Wie mochte man sich fühlen als zwölfjähriger König, gefangen von seinen eigenen Untertanen? Und er selber hatte zweimal die Tore der Hauptstadt passiert, ohne sich etwas dabei zu denken. »Sie waren also verreist, sagten Sie - nun, vielleicht habe ich mich geirrt.« Annes Finger umschlossen fest den Löwenkopf, der das Ende der Armlehne ihres Stuhles zierte. »Ich glaubte, Sie vor zwei Tagen erblickt zu haben«, sie warf ihm einen scharfen Blick zu, »im Palais Royal.« Philippe wurde wachsam. »Dort war ich, Majeste, in der Tat«, antwortete er langsam. »Ich verreiste erst später.« »Ach - dann waren es also doch Sie, der Monsieur mon fils zu später Stunde seine Reverenz erwies?« Philippe warf erneut einen Blick auf die Gestalt im Hintergrund. Und halb zu ihr, halb zu Anne sagte er: »Ich hatte diese Ehre, Majeste.« »Sind Sie sich dessen sicher? Sie leben noch nicht lange in dieser Stadt, Monsieur. Doch wenn Sie nicht mit Blindheit geschlagen sind, werden Sie wissen, wie es um die Macht des Königs bestellt ist.« Bitterkeit klang in Annes Stimme durch. »Meine höchsten Offiziere haben mich und den König verlassen. Sie versehen nicht mehr ihren Dienst - besuchen aber eifrig das Palais du Luxembourg. Mein erster Minister ist vergrault worden. Man hat mich ...«, Anne schnappte nach Luft und bebte noch im Nachhinein sichtbar vor Empörung, «... mich, die Regentin dieses Landes, gezwungen, eine Mitteilung zu unterschreiben, in der ich die endgültige Entfernung und Enthe-
bung seines Amtes von Monsieur de Mazarin proklamiere. Und dessen nicht genug: An den Straßenecken hängen Plakate des Parlaments, die jedermann dazu aufrufen, Kardinal de Mazarin nach Ablauf einer vierzehntägigen Frist zu jagen und zu töten!« Die vier Hofdamen, die auf Hockern neben ihr saßen, warfen sich unruhige Blicke zu. Anne schlug abrupt ihren Fächer auf. Sie schleuderte Philippe entgegen: »Ich frage Sie noch einmal: Sind Sie sich sicher, dass Sie der Mann waren, von dem wir sprachen, Monsieur?« 100
Philippe erinnerte sich an ein Jungengesicht - bleich, umgeben von sorgfältig gescheitelten blonden Haaren. An einen Mund, ernst und farblos, und darüber fest verschlossene Augenlider. Er dachte an eine Hand, noch schmal, mit schmutzigen Fingernägeln, die sich unmerklich auf dem kostbaren Leinen verkrampfte, als ein derbes Gesicht sich über das Bett beugte. Und an den winzigen Zipfel eines Kragens, der aus der Decke lugte. Der Kragen einer Jacke, angezogen in dem Vorhaben, der Stadt und ihren meuternden Bewohnern zu entfliehen ... Über wie viel Selbstbeherrschung, über wie viel Kraft musste ein Zwölfjähriger verfügen, um die Komödie aufrechtzuerhalten, die seine Mutter inszeniert hatte, um den Pöbel zu beruhigen! Und was für ein König ein Junge mit solchen Qualitäten doch zu werden versprach! Noch einmal bäumte sich das in ihm auf, was ihn zu einem ungebundenen Mann gemacht hatte. Doch es war, als habe es seit jener Nacht nur darauf gewartet, die Waffen niederzulegen. Ergebenheit, Ruhe und Entschlossenheit ließen Philippe aufsehen. Er atmete einmal tief durch. »Majeste, ich war dieser Mann. Und ich werde es immer sein.« Anne sackte ein wenig in sich zusammen. Die Hofdamen tuschelten und beäugten ihn. Der Schatten trat hinter dem Sessel der Regentin hervor. »Das sind schöne Worte, Monsieur. Jetzt liegt es an Ihnen, sie zu beweisen«, sagte Louis' hohe Jungenstimme fest, während Philippe erneut in die Knie ging.
* Isabelle schüttelte über dem Buch mit den Rechnungen den Kopf. »Es ist alles in bester Ordnung, Timoleon«, sagte sie. »Ihre Buchführung ist exzellent.« Timoleon neigte schweigend den Kopf. Seine Hände kneteten unablässig seine flache Mütze. Isabelle, von der ständigen Bewegung irritiert, senkte den Kopf tiefer über das Haushaltsbuch und stützte ihre Stirn auf ihre Hand. Vor ein paar Monaten war sie von ihrer Großmutter in die Aufsicht über den Haushalt eingeführt worden, in Vorbereitung auf ihre 100
spätere Rolle. Als verheiratete Frau, hatte damals Marie-Olympe erklärt, würde sie wissen müssen, wie ein großes Haus zu führen war. Isabelle lächelte Timoleon an. »Sonst noch was?« Sie deutete auf seine malträtierte Mütze. »Sie sehen unruhig aus. Wartet in der Küche vielleicht eine Köstlichkeit auf Sie, die sie nicht länger alleine lassen können? Wir können dieses auch später beenden.« »Nein.« Timoleon schüttelte den Kopf. »Ich neige leider dazu, die Sachen vor mir herzuschieben. Manchmal ist es einfach nötig, etwas zu beenden.« Er hielt die Augen hartnäckig auf die Kopfbedeckung gesenkt, die nun wie tot zwischen seinen eleganten Fingern hing. Auf einmal hatte er ein Blatt in der Hand. »Hier, Madame. Das ... Das ist für Sie.« Er beugte sich vor, so vorsichtig, als stünde nicht der Tisch zwischen ihnen, sondern eine offene Wolfsgrube. »Dieser Brief wird Ihnen bekannt vorkommen«, krächzte Timoleon. »Sie haben ... bereits zwei ähnliche erhalten.« Isabelle öffnete den Mund, holte Luft. Ihre Hand zitterte merklich, als sie das Blatt entgegen nahm. Sie warf einen Blick drauf. Eine feine schwarze Schrift spannte sich über den Bogen. »Madame«, las sie, »leider haben meine bisherigen Appelle keine Wirkung gezeigt. Es bleibt mir demnach keine andere Wahl als die der offenen Begegnung. Im Nachhinein ist mir klar geworden, wie feige mein Verhalten war. Auch trete ich von meiner Bitte zurück, die Sie als Forderung missdeutet haben können. Ich verbleibe für immer, Ihr ergebener Diener, Timoleon le Fresne.« Auf einmal war Isabelles Mund staubtrocken. Sie nahm mehrere Anläufe, um ein Wort zu formen, während das ohrenbetäubende Hämmern ihres Herzens all ihre Versuche zunichte machte, einen Gedanken zu fassen. Branne, es ist nicht Branne, blitzte es in ihrem Kopf auf. Alles, was sie herausbrachte, war schließlich: »Sie, Timoleon? Sie sind der Erpresser?«
»Nein!«, wehrte Timoleon kopfschüttelnd ab. Verzweiflung stand in seinem Gesicht. Er öffnete beschwörend die Hände. »Nein, das haben Sie falsch verstanden! Nie wollte ich Sie erpressen!« Isabelle schloss die Augen. Vor ihren Augen blitzten die Gesichter 101
ihrer Lieben auf, so schrecklich präsent seit ihrer letzten Reise. Nein, dachte sie. Nein. Es darf nicht sein! Blut schoss ihr in den Kopf. Sie fixierte den Koch. »Was wollen Sie erreichen mit diesen Briefen?«, fragte sie heiser. »Wenn Sie Geld möchten, weshalb sagen Sie es nicht?« Timoléon sah aus wie ein Toter, nur die Augen glühten in seinem Gesicht. Nun ruhiger als vorhin antwortete er: »Ich will nichts anderes, als was ich schon zwei Mal von Ihnen verlangte, Madame. Ein Gespräch. In Ihrem Beisein. Mit Monsieur le Duc.« Timoléons Brust hob und senkte sich. »Erinnern Sie sich, als ich Ihnen diesen Winter sagte, dass ich vielleicht einmal Ihre Hilfe und Ihr gutes Herz benötigen würde? Nun, heute ist es so weit.« Er hob die Arme, ließ sie fallen, als sei alle Kraft von ihnen gewichen. »Ich habe mir nie etwas anderes als Ihren Beistand gewünscht, Madame.« Isabelles Kopf war schwer. Ihr Verstand verweigerte hartnäckig jegliche Erklärung. Alles, was sie wusste, war, dass jemand versuchte, ihr Leben und das ihrer Familie zu zerstören. Und dass dieser jemand ein Mann war, den sie geglaubt hatte einen Freund nennen zu können. Noch immer sah sie Timoléon fest an. Sie zwang ein kleines, hartes Lächeln auf ihre Lippen. »Also gut, Timoléon. Wenn Sie nichts weiter sagen wollen, lassen Sie uns die Angelegenheit doch abschließen. Kommen Sie mit. Mein Großvater ist, glaube ich, vorhin heimgekommen.«
* Helenus de Faurepas war damit beschäftigt, verschiedene Handfeuerwaffen zu untersuchen, die in einem rot ausgeschlagenen Ebenholzkasten lagen und ihm von einem Mann in grauem Anzug präsentiert wurden. Er schenkte ihr nur einen flüchtigen Blick. »Treten Sie ein, ma fille!« Als er hinter ihr Timoléon gewahrte, zog er die Brauen zusammen. »Le Fresne? Nicht an Ihren Töpfen?« «Timoléon le Fresne wünscht Sie zu sprechen, Monsieur pere«, sagte Isabelle. Sie streckte die Hand aus, überreichte Timoléons Brief. Sah sich den Arm heben, als hätte sie ihren Körper verlassen, als würde sie neben sich stehen. Kein Zittern, kein Schwanken, kaum ein Zögern ... Gut, dachte sie. Weiter so. ʺ101
Helenus warf einen Blick auf Timoleons Brief. Sein Gesicht verfinsterte sich. Er verabschiedete den Waffenhändler und seinen Gehilfen, wandte sich dann dem Koch zu. »Was hat das alles zu bedeuten?« Timoleon senkte den Kopf. Zu Isabelles Verblüffung bückte er sich langsam, fiel vor Helenus auf die Knie. Dort verharrte er und starrte Helenus Schuhe an, während er seltsamerweise fragte: »Erinnern Monseigneur sich an meine Mutter?« »Ja, natürlich erinnere ich mich an Guillemine«, antwortete Helenus ungeduldig. »Sie war jahrelang unser Küchenmädchen, und wir waren zufrieden mit ihr.« »Vielleicht waren Sie zufriedener mit ihr, als Madame la Duchesse es war.« »Meine Frau hat sich nie über Guillemine beschwert. Doch was sollen diese Fragen? Ihre Mutter ist doch schon lange tot!« »Sie starb vor zwanzig Jahren, Monseigneur. In ihrer Kammer. An einer Krankheit, die sie langsam ersticken ließ. Niemand war bei ihr als ich, als es so weit war. Ich war damals neun Jahre alt.« »Ich entsinne mich. Ich war auf Noirlieu zu der Zeit. Es hat mir nach meiner Rückkehr leid getan zu hören, dass Guillemine gestorben sei.« Timoleon nickte. Er sah auf seine schönen Hände, die nun statt mit der Mütze unablässig mit dem Schlüssel spielten, der an seinem Gürtel hing. Isabelle blickte befremdet von einem Mann zum anderen. Was hatte Timoleons Mutter mit ihr zu tun? »Bevor meine Mutter starb, drang ich in sie, Monseigneur«, fuhr Timoleon fort. »Ich war ohne Vater aufgewachsen, wissen Sie. Mit neun Jahren wünscht man sich zu erfahren, woher man stammt, wessen Sohn man ist... Ich tat dies nicht zum ersten Mal. Doch zum ersten Mal ließ ich nicht locker. Ich hatte große Angst, meine Mutter könne sterben, bevor ich das Geheimnis erfuhr.« »Hat sie gesprochen?«, fragte Helenus nicht ohne Schärfe.
Timoleon hob zum ersten Mal den Kopf. Er nickte. »Ja.« Eine Stille entstand, während der sich die beiden Männer ansahen. Der eine, noch immer demütig kniend, auf seinen Zügen eine eigenartige Mischung aus Herausforderung, Untertänigkeit und tiefem Respekt. Der andere, auf ihn herabblickend, unwillig, ungeduldig - und seltsamerweise auch, so schien es Isabelle, eine Spur verlegen. »Monsieur le Fresne, noch immer verstehe ich nicht, weshalb Sie hier sind. Und weshalb Sie sich erdreisten, meiner Enkelin Briefe zu schreiben. Sie sind ein guter Koch, und ich schätze Ihre Dienste. Doch Ihr Benehmen befremdet mich.« »Ich war verblüfft, als ich den Namen meines Vaters erfuhr, denn es stellte sich heraus, dass ich ihn kannte ... sogar sehr gut kannte. Anschließend, in den Jahren, als ich heranwuchs, malte ich mir aus, wie es wäre, wenn ich von meinem Vater aufgenommen würde.« Timoléon lächelte, doch seine Augen waren traurig. »Später, als ich erwachsen wurde, entstand der Zorn. Ich sah meinen Vater jeden Tag, hatte Umgang mit ihm. Er war ein reicher, geachteter Mann. Doch er ignorierte mich, behandelte mich wie jeden anderen Küchenjungen seines Hauses. Nicht ein Blick, nicht ein freundliches Wort ... So verstrichen die Jahre.« Isabelle hatte es aufgegeben, verstehen zu wollen, und hatte alle quälenden Fragen auf später verschoben. Den ganzen Körper erstarrt in schmerzlicher Anspannung, wartete sie nur noch darauf, dass Timoléons Ausführungen endlich zu einem Ende kämen. »Es war der zwanzigste Todestag meiner Mutter, der mich aufrüttelte«, fuhr Timoléon fort. »Auf einmal hatte ich das Gefühl, ich müsse nun etwas unternehmen, wenn ich mich nicht für immer verachten sollte. Ich überlegte reiflich, wie ich es anstellen wollte. Und entschloss mich, einen Brief zu schreiben. Nicht direkt an meinen Vater, dazu reichte mein Mut nicht. Sondern an die Person, von der ich das Gefühl hatte, dass sie mich unterstützen würde. Und deren Mut und Mitgefühl ich bewunderte.« Er warf Isabelle einen Seitenblick zu. »Ihrer Enkelin.« Nur langsam durchdrangen Timoléons Worte Isabelles schmerzhafte Erstarrung. Unterstützung? Er hatte um ihre Unterstützung gebeten? Der erste Brief, dachte sie. Versuch dich zu erinnern, was in ihm stand. Sie grübelte. Von Wahrheit, die verhöhnt wurde, war da die Rede gewesen. Und davon, dass man seine Herkunft nicht verleugnen konnte. Seine Herkunft... Wessen Herkunft? Ihr wurde heiß. 102
Mein Gott..., stammelte sie lautlos, mein Gott... War es möglich? Möglich, dass das Ganze ein schreiendes Missverständnis war? Dass Timoléon sie nur um Unterstützung gebeten hatte? Dass er keine Ahnung von Magdelaine hatte, dass sie die Erpressung erfunden hatte? Isabelle stolperte zu einem Sessel und ließ sich auf ihn fallen. Ja, möglich war es. Woher hätte Timoléon auch ihr Geheimnis kennen sollen? Conrad de Branne hätte es unter Umständen von seinem Vater erfahren können, aber Timoléon? Herr im Himmel ... Die ganze Aufregung, die schlaflosen Nächte, das Entsetzen, die Furcht, entdeckt zu werden - alles nur eine Folge ihrer Einbildung? Ihre ganze Angst vor Conrad de Branne, ihre Flucht während des Balls ... Ein Ergebnis des schlechten Gewissens einer Betrügerin? Mein Gott, wie dumm sie sich benommen hatte! Und wie ungerecht ihrem Sekretär gegenüber! Tränen der Erleichterung und der Scham traten in ihre Augen. Sie wischte sie hastig fort. Armer Timoléon, sie hatte ihn im Stich gelassen! Nicht er hatte sie, sondern sie hatte ihn verraten! Gerade jetzt, in diesem schwierigen Augenblick, wo er den Mut gefunden hatte, seinen Vater zur Rede zu stellen. Erst jetzt realisierte sie die ganze Konsequenz von Timoléons Enthüllung. Helenus war der Mann, von dem Timoléon sprach. War der Herzog de Faurepas der Vater von Timoléon le Fresne? Isabelles Blick huschte von einem Mann zum anderen. Beide hatten eine riesenhafte Nase, buschige Brauen und feine Hände - damit hörte die Ähnlichkeit aber auch schon auf. Weder hatte Helenus Timoléons auffallend spitze Schädelform, noch war der Charakter des Kochs auch nur entfernt von der arroganten Selbstherrlichkeit des alten Mannes geprägt. Es war nicht mit Sicherheit zu erkennen, ob ein verwandtschaftliches Verhältnis vorlag. »Damals gab ich mich noch der Illusion hin, von meinem Vater anerkannt zu werden«, fuhr Timoléon indessen fort. »Es waren nicht das Geld, nicht die Güter, die mich lockten. Sondern der Wunsch, dass er einmal seine Hand auf meine Schulter legen möge. Und mich bei meinem Namen
riefe. Es schien mir nicht unmöglich. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter verloren. Ich würde niemanden verletzen, niemandem etwas wegnehmen.« Timoléon hob die Brauen. 103
»Ich hatte mir ausgemalt, dass Mademoiselle d'Arzelles mit diesem Brief zu Ihnen und Madame la Duchesse gehen würde, mit der Bitte um Erklärungen. Dass Ihnen, Monsieur le Duc, sofort klar sein würde, um was es sich da handelte. Und dass Mademoiselle d'Arzelles nicht ruhen würde, bis sie die Wahrheit erfahren hätte. Ich verließ mich auf ihr gutes Herz, ihre Unerschrockenheit, ihren Sinn für Gerechtigkeit und ihre Neugier. Und dann, wenn bereits drei Personen eingeweiht waren, so dachte ich, würde es bald das ganze Haus wissen, und die ganze Stadt - bis Ihnen, Monsieur le Duc, nichts anderes übrig bleiben würde, als mich wahrzunehmen. Mich, Ihren Sohn.« Helenus gab einen pfeifenden, verächtlichen Laut von sich, schüttelte den Kopf. Doch Timoleon achtete nicht auf ihn, offenbar allzu froh, sich all das von der Seele geredet zu haben, was ihn sein Leben lang belastet hatte. Sein Rücken streckte sich, seine Augen glänzten in einem fiebrigen Glanz, während er auf eine Reaktion von Helenus wartete. Dieser erwiderte scharf: »Noch habe ich nicht verstanden, was Sie eigentlich anstreben, Monsieur le Fresne. Warum sind Sie hier?« »Um reinen Tisch zu machen. Weil Ihre Enkelin meine Briefe nicht verstanden hat. Und weil ich es mir und meiner Mutter schuldig war.« »Was für ein verdammter Unsinn!«, zischte Helenus. Der alte Mann machte ein paar erregte Schritte, bevor er stehen blieb und den noch immer knienden Koch anfuhr: »Das alles sind nichts als die Hirngespinste einer Magd!« »Monseigneur, meine Mutter hat mir geschworen ...« »Ich erinnere mich an Ihre Mutter, le Fresne. Sie war ein hübsches Ding - und, auch wenn Sie es nicht gerne hören werden, eine Frau, die keinen so schnell abwies.« Timoleon sprang auf. »Mit allem Respekt, Monseigneur...« »Auch wenn es schwer für Sie ist, das zu akzeptieren: Ihre Mutter hat Sie trösten wollen. Sie sagten, Sie seien in sie gedrungen, hätten unbedingt einen Namen erfahren wollen. Nun, mon eher, es ist ganz einfach: Sie hat sich den Namen ausgesucht, der ihrem kleinen Sohn am besten gefallen würde. Vielleicht, weil sie Ihren wahren Vater für 103
nicht vorzeigbar hielt. Oder«, schloss Helenus kalt, »weil sie selber nicht wusste, wer es war.« »Nein!« Timoleon machte einen Schritt auf Helenus zu. »Sie haben kein Recht, das Andenken einer Verstorbenen zu beschmutzen!«, rief er. Noch nie hatte Isabelle ihn so außer sich gesehen. Sie hob beschwichtigend die Hände und sprang zwischen beide Männer. »Monsieur pere, ich glaube, es wäre von Nutzen, wenn Sie dieses Gespräch später fortführten. In der Hitze einer Auseinandersetzung fallen öfters Worte, die anschließend jeder bereut. Ich habe einen Vorschlag zu machen: Vielleicht könnte Monsieur le Fresne zu unserem Maitre d'Hötel erhoben werden. Monsieur le Fresne hat bereits bewiesen, dass er dieser Aufgabe bestens ge...« »Sie haben mich missverstanden, Isabelle«, schnitt Timoleon ihr das Wort ab. »Es geht mir nicht um Geld oder Positionen.« Sehr leise schloss er: »Ich wollte es nur hören ... einmal nur. Das Wort Sohn.« »Ich muss Sie enttäuschen«, meinte Helenus kalt. »Meine zwei Söhne sind verstorben. Weitere habe ich nicht.« Timoleon verharrte regungslos. Es tat weh, in sein Gesicht zu sehen -in die darin leuchtenden Augen eines Kindes, das seinen Traum verteidigt. Dann erloschen die Augen. Der Koch lachte ein wenig. »Monsieur, wir sind verwandt, ob wir beide es wollen oder nicht. Doch eines gestehe ich Ihnen zu: Meine Mutter hätte sich wählerischer zeigen sollen. Dann hätte ich heute einen Vater, den ich respektieren könnte.« »Ich glaube, Sie vergessen sich! Überspannen Sie nicht den Bogen, le Fresne. Es gibt viele Köche in dieser Stadt.« »Wie Sie wünschen. Ich werde mich nicht aufzwingen. Und auf die Mildtätigkeit anderer bin ich schon lange nicht mehr angewiesen.« »Wenn es so ist - angesichts Ihrer langen Vergangenheit in diesem Hause will ich großzügig sein. Drei Monate. Bis zum Frühling werden Sie gewiss eine Anstellung gefunden haben, die Ihren Anforderungen entspricht. Und wir einen fähigen Ersatz.«
Timoleon war sehr bleich, als er sich verbeugte. »Sehr wohl, Monseigneur. Darf ich mich jetzt entfernen? Das Abendessen wartet.« Helenus nickte wortlos. 104
»Monsieur, ist das alles, was die Regentin Ihnen für mich mitgab?« Philippe zuckte zusammen. Verflixt - er war drauf und dran, im Stehen einzuschlafen. »Ja ... Ja, Eminenz«, antwortete er und räusperte sich, denn seine Stimme klang wie ein Reibeisen. Jules Mazarin zerknitterte den Brief, den Philippe ihm ausgehändigt hatte, und nahm seine Wanderung wieder auf. Zehn Schritte zur Tür, wenden, genauso viele Schritte zurück, ein leerer Blick aus dem Fenster ... Philippe wünschte sich, der Kardinal möge mit seiner Wanderung aufhören. Nach zwei Tagen, die Philippe fast ununterbrochen im Sattel verbracht hatte, sehnte er sich nach nichts mehr als nach etwas Ruhe - schon der leichte Schwung der Pendeluhr auf dem kleinen Sekretär reizte ihn. »Es ist nicht zu fassen ... Wie konnte sie nur? Nicht einmal den Versuch hat sie gemacht, noch etwas auszuhandeln ... Nachzugeben, einfach so! Ungeheuerlich! Alles, was ich versuchte, ihr beizubringen ...«, schimpfte Mazarin leise in seiner Muttersprache. Philippe, der jahrelang das Kauderwelsch gesprochen hatte, das überall im Mittelmeerraum benutzt wurde und dem ein guter Teil Italienisch zugrunde lag, verstand genug, um sich den Rest zusammenzureimen. Was für ein anderes Bild der gestürzte Minister abgab als damals, als er von ihm im Palais Royal empfangen worden war! Die wächserne Gesichtsfarbe, der flackernde Blick, der feucht schimmernde Haaransatz... Seit Philippe in Paris angekommen war, hatte er versucht, sich aus den politischen Geschehnissen herauszuhalten. Schließlich verfolgte er ganz persönliche Ziele. Und es war gewiss nicht in einem der Vorzimmer der Orleans, Mazarins oder Beauforts, dass er Ester und seine Mutter wiederfinden und seinen Namen reinwaschen würde. Die schicksalhafte Nacht jedoch, die ihn vor das Bett des jungen Königs katapultiert hatte, hatte seine Einstellung geändert. Dieses Kind hatte ihn berührt und eine Saite in ihm zum Klingen gebracht, die vor langen Jahren von seinem königstreuen Vater gestimmt worden war. Und die Unruhen, die gesperrten Tore, die Plünderungen gaben ihm recht. Philippe hatte genug Ungewissheit erlebt - genug für ein ganzes Leben. Er hatte wohl auf immer die Chance verwirkt, zu einem wohlbeleibten Familienvater zu werden, "104
der stolz den Schwärm seiner Kinder vor sich hertrieb. Doch sein persönlicher Lebensweg hinderte ihn nicht daran, die Vorteile von Ordnung und geregelten Verhältnissen zu erkennen und sich Straßen zu wünschen, auf denen man keine Gefahr lief, vom Pöbel ausgeraubt zu werden. Und der junge Louis, so seine Überzeugung, hatte das Zeug zu einem großen Herrscher - wenn man nicht den Thron zerstörte, bevor er sich überhaupt hatte daraufsetzen können. Ob der Mann, der so unruhig vor seinen Augen seine Runden drehte, der Richtige war, um Louis den Thron zu erhalten, bezweifelte Philippe allerdings. Nichts verband ihn mit diesem Menschen -im Gegenteil. Mazarin hatte versucht, ihn zu erpressen und unter einem fadenscheinigen Vorwand aus Frankreich zu locken. Hätte man Philippe gefragt, so hätte der Kardinal herzlich gerne für immer im Exil verschwinden können. Hätte er im Voraus gewusst, dass man ihn Mazarin hinterherschicken würde, hätte er vielleicht sogar dankend abgelehnt. Doch obwohl Philippe sich für den König entschieden hatte, hatte er noch lange kein Recht, dessen Entscheidungen in Frage zu stellen oder gar zu verurteilen. Und Anne traf nun einmal diese Entscheidungen an Louis' Stelle, solange dieser unmündig war. Also hatte Philippe sich gefügt, als man ihm befahl, Mazarin so schnell wie nur irgend möglich einen Brief zu überbringen. Dass die Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen war, hatte Philippe eingeleuchtet. Niemand kannte ihn, also war auch niemand auf den Gedanken gekommen, er könne eine wichtige Botschaft der Regentin an den verfemten Mazarin in seiner Satteltasche verbergen, als er, sobald die Tore am frühen Morgen geöffnet worden waren, aus der Stadt geprescht war. Zwei Tage lang war Philippe Mazarin hinterhergejagt. Aus Saint-Germain war der Kardinal bereits vor einiger Zeit in die Normandie geflohen. Philippe ritt ihm auf den gewundenen Wegen nach, die dieser genommen hatte, um seinen Verfolgern zu entkommen, bis hierher, in das kleine Städtchen Lillebonne. »Sie kommen direkt aus der Hauptstadt, Monsieur. Ist dort der Zustand tatsächlich so dramatisch, wie er mir hier geschildert wird?« Mazarin war stehen geblieben und schwenkte den Brief heftig hin und her. »Die Tore ...« Philippe schüttelte seine bleierne Müdigkeit ab.
105
»Ein Entkommen aus der Stadt ist absolut unmöglich, Eminenz. Die Wagen, die Koffer, die Schiffe - alles wird gründlichst durchsucht. Ihre Majestät wird stark unter Druck gesetzt. Man überwacht jeden ihrer Schritte. Der König ist ein Pfand, den die Stadt nicht aus der Hand geben wird.« Mazarin warf ihm einen scharfen Blick zu. »Monsieur, Sie beantworten eine Frage, die ich Ihnen nicht stellte. Nie erwähnte ich eine Flucht Ihrer Majestät.« Philippe runzelte die Stirn. Für Spielchen war er nicht in der Stimmung. »Monseigneur, ich bitte um Verzeihung. Ich erinnere mich, dass meine Offenheit Sie bereits früher einmal störte. Doch mit Verlaub - ich selber stand am Lager Seiner Majestät, als das Volk sich daranpresste. Und ich weiß, was ich sah - und wie der König gekleidet war. Es ist Ihr Recht, Ihre Pläne zu verheimlichen und mir kein Vertrauen zu schenken. Auch wenn Seine Majestät es tut und Sie damit seine Beurteilungskraft in Frage stellen. Doch dann möchte ich bitten, mich zu entlassen, Eminenz. Ich habe etliche Tage auf Pferderücken verbracht. Meine Mission ist erfüllt - und ich bin todmüde.« Mazarin war während seiner Rede noch bleicher geworden. »Sie rühmen sich der Offenheit, Monsieur - nun denn. Dann beantworten Sie auch offen meine nächste Frage: Weshalb schlägt mir immer wieder Ihre Abneigung entgegen? Haben Sie durch mich gelitten? Habe ich Ihnen irgendeinen Schaden zugefügt, den Sie mir nachtragen? Was treibt Sie und Ihre Landsleute dazu, einen Menschen mit ihrem Zorn zu verfolgen, einen Menschen, den Sie gar nicht kennen? Nun antworten Sie schon! Fürchten Sie nichts! Nicht mehr der erste Minister steht vor Ihnen - sondern der meistgesuchte Mann Frankreichs!« Mazarin hatte sich in Rage geredet. Seine Augen blitzten, seine Erregung ließ ihn eine kampflustige Stellung annehmen, die ihm gut zu Gesicht stand. Philippe erwiderte ruhig: »Monseigneur, vielleicht trifft Sie einfach die Wut, die jedermann treffen würde, der die Kontrolle über das Schiff verloren hat, dessen Ruder er einmal an sich riss. Was mich betrifft...«Philippe sah Mazarin ernst an. »Ich erwähnte bereits, dass ich während besagter Nacht am Bett Seiner Majestät stand. Sie hingegen waren nicht da. "105
Ein paar Minuten lang hing das Leben des Königs an einem seidenen Faden, Eminenz. Dafür tragen Sie zu einem nicht geringen Teil die Verantwortung. Und das ist unverzeihlich.« Mazarin lachte auf. »Sehr schön, Monsieur de Vigueil. Ich danke für diesen Einblick in Ihre Seele. Und jetzt gestatten Sie mir ein paar offene Worte. Wissen Sie, was Sie mir da brachten?« Er schloss seine Faust und zerknüllte das Papier, das sich darin befand. »Es ist ein Entlassungsbefehl. Ich werde jetzt nach Le Havre reiten und Louis de Conde befreien. Dann, Monsieur, werden Sie erleben, wie ein anderer versucht, das Ruder an sich zu reißen ... und ob er ein besserer Schiffsführer ist als ich. Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei - und warte auf Ihren Bericht.« Mazarin drehte sich ab, ging festen Schrittes zur Tür. Als er die Klinke bereits in der Hand hatte, drehte er sich um. »Monsieur, Sie genießen doch meine Demütigungen ... Ich will Sie der nächsten nicht berauben.« Sein Blick wurde hart, als er Philippe entgegenwarf: »Sie werden mich begleiten. Danach können Sie nach Paris zurückkehren und an der Stelle, die Sie schickte und, wie Sie sagten, Ihnen vollends vertraut, berichten, dass ich ihren Befehl getreu ausgeführt habe. Wir reiten sofort los.«
* »So, Mademoiselle, es ist fertig.«-Marion hob einen versilberten Handspiegel, um Isabelle ihren Hinterkopf zu präsentieren. Ihre stets widerspenstigen Locken hatte sie locker zusammengesteckt. Sie fielen nun in symmetrischen Kaskaden in ihren Nacken. »Das hast du wunderbar gemacht, wie immer!«, lobte Isabelle. »Ich frage mich jedes Mals aufs Neue, wie du es schaffst, dieses wilde Durcheinander in eine Frisur zu verwandeln!« »Nun, heute ist es mir besonders leichtgefallen«, lächelte Marion. »Doch ich fürchte, es liegt an Ihnen: Sie haben den ganzen Morgen schon so etwas Strahlendes an sich ... Heute wird Ihnen alles gut stehen!« Isabelle stand schwungvoll auf. Marion hatte recht. Sie fühlte sich herrlich unbeschwert, seit die Last der Erpressung von ihr genommen worden war. 105
»Weißt du, ob eine Nachricht für mich abgegeben wurde?«, fragte sie ihre Zofe.
»Non, nicht dass ich wüsste«, schüttelte Marion den Kopf. Isabelle ließ sich stumm in das Kleidungsstück wickeln. Warum meldet er sich nicht?, fragte sie sich. Drei Tage ... Seit drei Tagen sind wir wieder zurück. Und nicht ein Wort, geschweige denn ein Brief... Marion machte einem der Stubenmädchen Zeichen. »Hol einen Burschen, der das Feuer neu entfacht.« Sie lächelte Isabelle zu. »Sie haben noch Zeit zu frühstücken bis zur Anprobe.« Isabelle erwachte aus ihren Gedanken. »Anprobe? Welche Anprobe?«, fragte sie und befreite ihre Hände von den Seidenvolants, die üppig aus den Ärmeln des Morgenmantels quollen. »Die Ihres Hochzeitskleides. Die Schneiderin soll in einer halben Stunde kommen. Wobei Sie gewiss mehr Zeit haben. Auf die Pünktlichkeit solcher Leute ist nur selten Verlass.« Isabelle spürte, wie Marion sie beobachtete. Ihre Zofe wusste, dass ihr alles, was die Hochzeit mit Beaufort betraf, zuwider war. Doch Dank ihres neu gewonnen Mutes tat Isabelle die Anprobe als eine lästige Angelegenheit ab, die sie zu nichts verpflichtete. Ein Kleid nähen lassen war das eine. Es anzuziehen, um Beaufort zu heiraten, etwas gänzlich anderes, dachte sie störrisch. Es klopfte an die Tür. Die Zofe öffnete einen Spalt, drehte sich Isabelle dann mit glänzenden Augen zu. »Es ist Monsieur de Branne, Madame.« Wie immer in den letzten Wochen rief die Erwähnung ihres Sekretärs Unwohlsein bei Isabelle hervor. Doch heute wies sie sich energisch zurecht. Sie hatte dem Mann ein Verbrechen angedichtet. Sie stand in seiner Schuld! Es war höchste Zeit, dass sie sich von ihren Vorurteilen löste! Sie hieß noch eine boshafte kleine Stimme stillschweigen, die sie daraufhinwies, dass sie nur ein Negligé trug, und winkte Marion zu. Herr im Himmel, der Mann gehörte zu ihrem Haushalt! Wollte sie sich prüder geben als all die Damen, die tagtäglich ihre Besucher und Lieferanten in ihren Boudoirs empfingen? Selbst Marie-Olympe ließ sich während ihrer Toilette bewundern! »Lass ihn ein, Marion!«, rief Isabelle entschieden. »Ich kann ihm gleich ein paar Briefe diktieren, bis die Schneiderin kommt.« 106
Conrad de Branne trat ein, seinen kleinen Koffer mit den Schreibutensilien unter dem Arm, und grüßte höflich. Wie immer war er sehr sorgfältig gekleidet. Nicht ein Staubkörnchen auf seinen nussbraunen Hosen, der mit einer schmalen Spitzenborte eingefasste Kragen des Hemdes blütenweiß, die hohen Schuhe aufpoliert, die glänzenden schwarzen Haare aus der Stirn gekämmt und mit einer dünnen Samtschleife im Nacken zurückgebunden. Sein Diener hatte ganze Arbeit geleistet. Branne ist wirklich ein außergewöhnlich gut aussehender Mann, dachte Isabelle. Und sein Geist ist, wie ich weiß, auf der Höhe seines Aussehens. Ein Jammer, dass seine Familie verarmte, sonst stünde ihm gewiss eine ansehnliche Karriere am Hof bevor. »Sie können sich einen Stuhl heranziehen und sich neben mich setzen, bis ich fertig bin, Monsieur«, meinte Isabelle. Sie deutete auf den Tisch. Ich habe ihn die letzte Zeit wirklich schlecht behandelt, dachte Isabelle mit einem neuerlichen Anflug schlechten Gewissens und schenkte ihm ein Lächeln. »Schön, dass Sie etwas Zeit haben, Madame. Ich wollte schon seit mehreren Tagen mit Ihnen reden.« »Tatsächlich? Was liegt Ihnen denn auf dem Herzen?« »Nun ... Es geht um mein Gehalt, Madame.« »Um Ihr Gehalt?« Isabelle runzelte leicht die Stirn. »Fühlen Sie sich nicht gut genug bezahlt, Monsieur?« Branne lächelte. »Ich war noch nie einer derjenigen, die ihr Licht unter den Scheffel stellen und Bescheidenheit vortäuschen. Ich darf mich, glaube ich, rühmen, ein pünktlicher und gewissenhafter Mensch zu sein. Ich arbeite sorgfältig, bin höflich und achte stets darauf, dass meine Erscheinung dem Bild entspricht, das man sich von dem Sekretär einer hochgestellten Dame macht.« Die Zimmermädchen kicherten und wechselten beredte Blicke. Branne lächelte ihnen zu. »Oder sehen Sie das anders, Madame?« Isabelle musterte befremdet ihr Gegenüber. »Sie erledigen Ihre Arbeit zu meiner völligen Zufriedenheit, Branne«, antwortete sie zurückhaltend. Branne nickte. »Wunderbar. Nun, dann wird mein Wunsch einer Zuwendung nach einem ganzen Jahr, das ich in Ihrem Dienst verbrachte, vielleicht nicht völlig unerwartet kommen.« zz106
»Und ... In welcher Höhe haben Sie sich diese Gehaltserhöhung vorgestellt?«
Branne wartete, bis die Zimmermädchen sich in einer anderen Ecke des Zimmers aufhielten, und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Ich dachte mehr an gelegentliche Geschenke als Beweise Ihrer Zufriedenheit, Madame. Zweihundert Livres würden meine Sorgen bezüglich des Wertes, den ich in Ihren Augen haben mag, vorerst besänftigen.« Isabelle sog scharf die Luft ein. »Zweihundert Livres!?« Sie lachte auf. »Monsieur, ohne Sie kränken zu wollen, doch für diesen Preis kann ich noch drei weitere Sekretäre anstellen!« »Hmm«, lächelte Branne milde. »Aber keinen von meinem Wert.« Isabelle, die sich ihm gegenüber nicht schon wieder eines voreiligen Urteils schuldig machen wollte, versuchte sein exzentrisches Verhalten zu verstehen. »Haben Sie Geldsorgen, Monsieur?«, fragte sie bemüht freundlich. »Spielschulden vielleicht? Wenn dem so ist, bin ich angesichts Ihrer bisherigen Zuverlässigkeit bereit, Ihnen auszuhelfen.« »Sie unterschätzen mich, Madame. Ich bin kein Hasardeur. Wer wartet schon auf den Zufall, wenn er das Glück erzwingen kann? Sie werden meine Einstellung gewiss verstehen, denn ich glaube, dass Sie dieselbe haben.« Er warf Isabelle einen kalten Blick zu und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Nein, ich habe ein paar Ausgaben vor mir, für die ich das Geld benötige. Zwei bis drei Jacken, Seidenstrümpfe, Schuhe, Bänder, ein Dutzend Kragen, natürlich Hosen ... Mon Dieu, ich werde Ihnen nichts Neues verraten, nicht wahr, wenn ich Ihnen sage, dass gute Schneider nicht viel mehr als Halsabschneider sind?« Isabelle war langsam am Ende ihrer Geduld. »Interessant«, sagte sie frostig. »Und wozu brauchen Sie all diese neuen Sachen?« »Nun, um Ihnen keine Schande zu machen natürlich! Wie sieht es denn aus, wenn Sie mich in die Gesellschaft einführen, und ich trage nichts als ein abgeschabtes Wams?« »Einführen. In die Gesellschaft.« Isabelle schüttelte den Kopf und richtete sich auf. »Hören Sie, Monsieur de Branne, ich versuche die letzten Minuten vergeblich, mir einen Reim auf Ihr Verhalten zu machen. Ich weiß nicht, ob Sie vielleicht zu viel Wein genossen oder 107 schwerwiegende Probleme haben. Wie auch immer: Ihre Vorstellungen und Wünsche sind mir unbegreiflich. Ich fürchte, Sie haben jeglichen Sinn für die Realität verloren.« »Ach... Glauben Sie? Nun, vielleicht liegt es daran, dass Sie meine Wünsche aus einer falschen Perspektive heraus betrachten?« Er lehnte sich vor und artikulierte leise: »Eine Herzogsenkelin mag in der Tat mein Verhalten befremden. Eine Bauerntochter würde dafür gewiss mehr Verständnis aufbringen ...« Es war, als würde die Welt schrumpfen, sich zusammenziehen, als würde ihr Blickfeld sich verengen, bis sie nur noch ihn sah, diesen Mann, sein Gesicht, den Ausdruck darauf, als wenn er vor dem Eingang einer Höhle lauern würde, in deren Tiefen sie urplötzlich geworfen worden wäre. Nein, keuchte etwas in ihr. Nein ...! Es kann nicht sein! Ich habe mich verhört, er hat es nicht so gemeint, ich unterstelle ihm schon wieder Verbrechen, die nie von ihm begangen wurden ... Sie schluckte und sagte tonlos: »Tut mir leid. Es wird nicht besser. Ich verstehe Sie noch immer nicht.« »O doch, das tun Sie.« Ein grausames Lächeln hing an einem von Brannes Mundwinkeln. Sie hob den Kopf. Sie war unfähig nachzudenken, verspürte nur eines: den Instinkt, alles abzuwehren, alles von sich zu weisen, nicht nachzugeben, nicht um einen Zoll. »Nein. Und ich werde Sie auch nie verstehen. Das weiß ich jetzt. Angesichts dieser Umstände wird es das Beste sein, wenn Sie sich eine neue Stelle suchen.« »Natürlich werden Sie etwas Zeit brauchen, um meinem Anliegen nachkommen zu können. Ich bin bereit, bis morgen auf das Geld zu warten. Ich komme dann vorbei, um es abzuholen.« Isabelle stand auf. Mit steifem Nacken sah sie auf ihren Sekretär herab. »Monsieur de Branne«, sagte sie laut, »wir werden uns in dieser Sache nicht einig werden. Doch Sie vergessen Ihre Pflichten. Es ist Zeit, dass Sie an Ihre Arbeit gehen.« Die Zimmermädchen hörten auf, die Bettlaken glatt zu streichen. Marion, die mit einer Bürste den Saum eines ihrer Kleider traktierte, sah erschrocken zu ihnen herüber. »Selbstverständlich, Madame«, antwortete Branne in derselben Lautstärke. Er erhob sich langsam. »Ich habe da ein Schriftstück vor 107
bereitet, vielleicht möchten Sie ein Auge darauf werfen? Es handelt sich um die Pächter, die wir unlängst besuchten - die Familie Malvoy. Wie Sie wissen, hat Cyprien Malvoy sich vor nunmehr acht Jahren des schweren Betruges an Monsieur de Faurepas schuldig gemacht, und ich habe in
dem Brief die Geschehnisse beschrieben. Wenn Sie zu beschäftigt sind, kann ich mich damit natürlich auch direkt an Monsieur le Duc wenden.« Ein paar Sekunden lang maßen sich Isabelle und ihr Sekretär mit Blicken. Dann wandte Isabelle sich brüsk ab und stellte sich mit gekreuzten Armen an ein Fenster. Sie schloss kurz die Augen, versuchte, ihr Herz zu beruhigen und einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie hob das Kinn, als sie Schritte hinter sich hörte. »Was genau wollen Sie?«, stieß sie so leise aus, dass ihre Worte nur für Branne hörbar waren. »Eine kleine Teilhaberschaft, mehr nicht ...«, raunte Branne. Er stand nun so dicht hinter ihr, dass sie ihn zwangsläufig bei der kleinsten Bewegung berührt hätte. »Wenn ich mein Gewissen zum Schweigen verpflichte und davon Abstand nehme, Monsieur le Duc von Ihrem Betrug zu erzählen, mache ich mich mitschuldig und begebe mich für Sie in nicht geringe Gefahr ... Da ist es doch nur gerecht, wenn wir die Beute miteinander teilen, finde ich.« »Die Beute? Was für eine Beute?«, zischte Isabelle gereizt. »Nun, Ihr Leben hier. Das Leben als Enkelin des Herzogs de Noirlieu, das Sie sich ergaunert haben.« Er lachte leise, und der Anisgeruch seines Atems drängte sich ihr auf. »Wir werden teilen. Wie Bruder und Schwester. Sie werden mich zu allen gesellschaftlichen Anlässen mitnehmen und mich bekannt machen. Sie werden mich empfehlen wie jemanden, der Ihnen wirklich am Herzen liegt, und mir dabei die Gelegenheit geben, mich meines Äußeren nicht mehr schämen zu müssen. Sie werden keinen Schritt mehr ohne mich machen. Ich werde als Ihr Vertrauter gelten.« Isabelles Finger verkrampften sich vor Wut. »Wenn ich Sie in der von Ihnen beschriebenen Weise herumreiche, werden Sie sehr bald als mein Geliebter gelten, Branne! Das wissen Sie genauso gut wie ich!« »Glauben Sie?«, lächelte Branne. »Nun, wenn Sie Interesse haben, bin ich gerne bereit, auch in dieser Beziehung ...« 108
»Niemals!«, fauchte Isabelle lauter, als sie es gewollt hätte. Sie atmete schnell, versuchte sich zu beherrschen und spie dann aus, den Blick noch immer starr auf die Welt hinter den Scheiben gerichtet: »Unterstehen Sie sich, mich zu berühren, Branne! Unterstehen Sie sich, auch nur daran zu denken! Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, dass nichts auf der Welt mich dann zurückhalten würde, Sie aus dem Haus jagen zu lassen!« »Sie wissen, was dann passieren würde! Wie hießen noch einmal Ihre hübschen kleinen Schwestern? Camille und Innocente ...?« Sie wirbelte herum und starrte in seine blauen Augen. »Alles hat seinen Preis, Branne! Und es gibt immer etwas auf der Welt, das zu teuer ist! Den Preis für meine Gunst werden Sie in Ihrem ganzen Leben nicht aufbringen können, das versichere ich Ihnen!« Brannes blaue Augen schössen Blitze. Er beugte den Kopf zu ihr herab. »Ich will das, was Sie auch haben. Theaterbesuche. Jagdaus-flüge. Gesittete Gespräche. Prächtige Soireen und prunkvolle Essen. Sie werden mir all das bescheren. Und außerdem noch die vielen hübschen und reichen Damen des Hofes, denen ich es besorgen werde und die mich bis heute keines Blickes gewürdigt haben, wenn Sie mir zufällig begegneten.« Er ballte eine Faust. »Ich habe ein Recht darauf! Tausend Mal mehr als Sie!« Hinter ihnen erklang Marions Stimme. »Madame, die Schneiderin ist angekommen und wartet im Vorraum!« Branne gab Isabelle den Weg frei. Zuvor aber raunte er in ihr Ohr: »Zweihundert Livres. Morgen früh.« Isabelle antwortete nicht. Sie würdigte ihn keines Blickes, bis er sich von ihr abwandte und entfernte. Sie atmete auf und stützte sich unauffällig an der Mauer hinter ihr ab. »Kann ich die Schneiderin jetzt hineinschicken?«, fragte Marion. Isabelle sah auf. Ein seltsamer Ausdruck lag auf dem Gesicht ihrer Zofe. Etwas wie ... Eifersucht? Isabelle erbebte. O ja, dachte sie. Er wird Erfolg haben, wenn ich ihn an den Hof mitnehme. Die Damen werden ihm alle zu Füßen liegen. Und er wird sie alle benutzen, so wie er mich zu benutzen und zu erpressen gedenkt. Angst griff in ihren Magen. Wie soll das alles enden, mein Gott? Wie?
* Philippe kaute mehr pflichtbewusst als hungrig auf einem schlechten Stück Brot, das ein mitleidiger Soldat der Festung von Le Havre ihm zugesteckt hatte. Er schloss kurz die Augen, genoss die frische Brise, die die Festung von der See her erreichte. Sie schmeckte nach Salz und Seetang.
Über ihm erklang Gelächter. Männerstimmen, aufgeräumt und heiter, dazwischen das Klingen von Gläsern und das Scheppern von Geschirr. Die Seeluft wehte die Geräusche von dem Turm hinunter. Vor einer guten Stunde hatte Mazarin ihn betreten, den Freilassungsbefehl in der Rechten und mit dem Schritt eines Mannes, der sich zu seiner eigenen Hinrichtung begibt. Offensichtlich hatten die Gefangenen noch zu speisen gewünscht, bevor sie in die Freiheit traten. Philippe drehte sich etwas in der mit einer Schießscharte durchbrochenen Nische, die er zu seiner Rast ausgesucht hatte. Das Kreischen einer Möwe übertönte kurze Zeit die angeregten Stimmen. Hier konnte er sich wenigstens an die Wand lehnen, um ein wenig auszuruhen. Die schwere Tür, die den Turm des Gefangenen verschloss, wurde aufgerissen. Ein Mann trat mit federnden Schritten heraus. Louis de Bourbon, Prince de Conde, machte seine ersten Schritte in die Freiheit. Philippe musterte den Prinzen neugierig. Dort stand eine Legende, ein Mann, dessen Ruhm bis jenseits des Mittelmeeres gedrungen war. Ein Mann, der Frankreich vor einer Invasion gerettet hatte - und wegen dem dasselbe Land kurz davor war, im Chaos zu versinken. Louis de Conde war stehen geblieben. Seine leicht vorstehenden Augen blinzelten, sein Mund verzog sich zu einem raubtierhaften Grinsen. Er stemmte die Hände in die Hüften, streckte eine gewaltige Adlernase in die Luft und atmete tief und geräuschvoll ein. »Parbleu, was für ein herrlicher Tag, um die Welt neu zu erschaffen!« Er sah sich um, entdeckte Philippe, trat auf ihn zu. »Hola, Soldat, sag mir, kennst du dich aus in Paris?« »Ein wenig, Monseigneur.« »Dann erzähl mir: Stinkt die Seine wie eh und je? Hat Sercot noch sein jeu de Paume? Die Pomme de Pin den besten Wein? Und vor 109
allem: Sind die Frauen dort noch genauso schön wie vor einem Jahr?« Philippe musste lächeln. »Ich kann Ihnen versichern, sie sind noch schöner, Monseigneur!« Conde warf den Kopf zurück und lachte schallend. Er klopfte Philippe auf den Rücken. »Genau das wollte ich hören, Monsieur! Wohlan, dann sollte ich keine Zeit mehr verlieren! Macht das Tor auf!« In dem Augenblick verließ auch Mazarin den Turm, gefolgt von Monsieur de Bar, dem Kommandanten der Festung, sowie vier weiteren Edelmännern. Während das Tor, das den Eingang der Zitadelle verschloss, langsam aufschwang, schloss Mazarin zu Conde und Philippe auf. Ein mildes, ja fast väterliches Lächeln umspielte seine Lippen. Er breitete die Arme aus. »Bien, ich sehe, Monseigneur, Sie haben mit Monsieur de Vigueil bereits Bekanntschaft geschlossen! Wenn ich eben beim Essen an Ihre Freundschaft appellierte, so möchte ich es nicht versäumen, diese Bitte auch auf diesen Mann auszudehnen. Nichts würde mich mehr freuen, als wenn Sie ihm mit der Unvoreingenommenheit begegnen würden, die einem wirklich redlichen und treuen Mann zugestanden werden sollte!« Louis de Condes Hand glitt von Philippes Schulter. »So? Einer Ihrer Männer also?« Conde warf Philippe einen kühl abschätzenden Blick zu. »Sie sind noch nicht lange im Dienste von Monsieur de Mazarin, Monsieur de ...« »Monsieur de Vigueil gehört nicht zu meinen Leuten, Monseigneur.« Mazarin ergriff lächelnd Philippes Schulter, drückte sie kräftig, wie ein Vater, der einen besonders gut geratenen Sohn vorführt. Schelmisch fügte er hinzu: »Zumindest nicht offiziell. Er ist erst seit kurzem in Paris, und ich nahm ihn ein wenig unter meine Fittiche. Leider muss ich nun verreisen und ihn zurücklassen. Sollten Sie sich in Ihrer unendlichen Güte fragen, wie Sie mir für den kleinen Dienst danken könnten, den ich Ihnen heute erwies, indem ich die Tore dieser Zitadelle eröffnen ließ, so würde ich sofort antworten: Halten sie ein wohlwollendes Auge auf Monsieur de Vigueil! Und Sie werden alsbald merken: Sie können ihm ebenso trauen wie meiner eigenen Wenigkeit.« Mazarin verneigte sich tief. 109
»Ja, Ihre Ergebenheit wurde mir im vergangenen Jahr besonders deutlich!«, lachte Conde. »Und nun entschuldigen Sie mich, meine Herren. Eine Kutsche wartet auf mich auf dem Platz da draußen!« Philippe verfolgte, wie Conde sich mit großen Schritten entfernte und die Festung verließ. Mazarin folgte ihm im Laufschritt, redete weiterhin ununterbrochen auf den Prinzen ein, nicht ohne sich mehrere Male zu verbeugen. Beide begaben sich zu einem von Berittenen umringten Wagen. Conde sprang hinein. Die anderen Edelmänner kamen hinzu. Conde wollte den Schlag gerade zuklappen, als Mazarin sich davorstellte. Der Kardinal neigte den Kopf, redete eindringlich auf
Conde ein. Seine Hände untermalten seine Worte. Einzelheiten konnte Philippe nicht verstehen, doch der bittende Tonfall drang bis zu ihm durch. Bravo, Monsieur de Mazarin, dachte Philippe ironisch. Sehr geschickt von Ihnen. Sie müssen fliehen, doch Sie hinterlassen geordnete Verhältnisse. Ein Wort von Ihnen, und schon habe ich einen Feind fürs Leben. Mazarin beugte sich vor, berührte einen von Condes Füßen, drückte einen Kuss darauf, murmelte noch etwas. Ein schallendes Lachen drang aus dem Wagen. Dann jagte die Kutsche auf dem Weg nach Paris davon. »Es lebe der Prinz de Conde!« Isabelle zuckte zusammen. Eine Hand erschien kurz im Fenster ihrer Kutsche. »Ä bas Mazarin!« Isabelle rückte auf der Sitzbank vor, bis sie aus dem Fenster sehen konnte. Staunend überblickte sie das Meer von Köpfen, das um die Kutsche wogte. Die Menschen füllten dicht an dicht die Straßen - es gab kein Vorwärts und kein Zurück. Sie hob den Kopf. Die Fenster der Häuser waren allesamt geöffnet und besetzt. In den Bäumen klammerten sich Trauben von Menschen. Menschen hingen über den Toren, saßen auf den steinernen Pfosten der Kreuzungen, hockten auf den Brunnen, bedeckten die Dächer ... Musik klang aus mehreren Ecken, schräg und vergnügt. Trommeln wirbelten, Freu 110
denschüsse ließen die Taubenschwärme nicht mehr zur Ruhe kommen. Glückliche Gesichter, wohin man auch schaute. »Vive Conde!« Wie immer fühlte Isabelle sich von der Freude einfacher Menschen bewegt. Sie beugte den Kopf aus dem Fenster und winkte zurück. »Vive Conde!«, rief sie ebenfalls. Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken. »Mein Gott, ich glaube, diesmal ist wirklich ganz Paris auf den Beinen!« Sie begegnete einem Paar dunkler Augen, die sie unter mächtigen Brauen hervor anstarrten. »Mademoiselle ma fille, wenn dieses das Betragen ist, das Ihre Lehrer Ihnen mit auf den Weg gaben, so hätte ich das Geld, das ich für diese Herren ausgab, besser vor die armen Irren der Petites-Maisons werfen sollen.« Isabelle musste trotz der Rüge lächeln. »Aber Monsieur pere, empfinden Sie denn gar kein Gefühl der Freude über die Befreiung von Monsieur de Conde?«, fragte sie. »Ma fille, Sie sehen die Welt mit den Augen einer Frau«, entgegnete Helenus in schneidendem Ton. »Frauen verehren Gefühle wie Gottheiten. Sie sind bereit, ihnen alles zu opfern und auch die ganze Welt mit ihnen zu beseelen, um sich in ihr heimischer zu fühlen. Nein, die Befreiung des Prinzen ruft keine Freude in mir hervor. Das Haus Conde ist eines der größten in diesem Land. Es war unehrenhaft für Frankreich, einen seiner Söhne ohne triftigen Grund in einem Gefängnis verkümmern zu lassen. Dieser Missstand hat nun ein Ende gefunden.« Isabelle schüttelte den Kopf. »Unehrenhaft... Wenn Gefühle die Gottheiten des weiblichen Geschlechts sind, so scheint mir, dass es die Ehre ist, die von den Männern angebetet wird.« »Ehre hat nichts mit flüchtigen Gemütszuständen zu tun. Und ist auch nicht allein dem männlichen Geschlecht zu eigen. Ehre wird jedem Menschen in die Wiege gelegt. Und einem rechtschaffenen Menschen auch in sein Grab.« Isabelle wurde nachdenklich. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch über die Heirat mit Marie-Olympe vor zwei Wochen. »Wie weit würden Sie gehen, um Ihre Ehre zu wahren, Monsieur pere? Würden Sie sich ihr zuliebe selber erniedrigen?« Helenus antwortete nicht, doch sein Blick ruhte auf ihr. Isabelle fuhr fort: »Man z110
sagte mir, es sei einmal davon die Rede gewesen, Ihre Kinder mit denen eines Provinzlers unter Ihrem Stand zu vermählen - nur um ein Versprechen zu halten, das man Ihnen unter Zwang abgerungen hatte.« »Ich brauche nicht zu fragen, von wem Sie diese Worte aufgeschnappt haben!«, schnaufte Helenus mit verächtlich verzogenen Lippen. »Ich rate Ihnen: Begegnen Sie den Worten einer verbitterten alten Frau mit Vorsicht! Glauben Sie, ich würde mir Versprechen erzwingen lassen?« Mit finsterer Miene murmelte Helenus: »All meine Schwüre hielt ich, so es in meinen Kräften lag. Mein Leben lang und aus freiem Willen. Und nicht einer dieser Schwüre hat mich erniedrigt. Im Gegenteil! Jedes meiner Versprechen gereichte mir zur Ehre - insbesondere das, worauf Ihre Großmutter
anspielte! Leider verhinderte das Schicksal, dass ich diesen einen Schwur erfüllte. Doch ich versichere Ihnen, wenn Gott heute an mich heranträte und seine Erfüllung verlangte, würde ich es mit Freude tun!« Isabelle senkte den Blick. Auf einmal brandete Angst in ihr hoch. Helenus hatte gerade unlängst sein Wort gegeben - anlässlich ihrer Verlobung mit Beaufort. Sie knetete den Fellmuff, der auf ihrem Schoß ruhte. Egal. Sie würde sich gegen diese Heirat nach allen Kräften wehren. »Monsieur pere ...«, erwiderte Isabelle mit unsicherer Stimme. »Nun, da Louis de Conde befreit ist und die Frondeurs ihren Sieg feiern, ist es, glaube ich, höchste Zeit, über meine Hochzeit zu sprechen.« »So, glauben Sie?« Etwas wie ein Schmunzeln vertiefte die Falten in Helenus' Augenwinkeln. Er zuckte die Schultern. »Nun, warum nicht, apres tout? Die Hochzeit wird jetzt so bald wie möglich stattfinden, da haben Sie recht. Ich hätte den Termin schon früher gelegt, doch Monsieur de Beaufort war als führender Kopf der Fronde bisher zu beschäftigt, um privaten Verpflichtungen nachzukommen. Man sagt, dass er das Palais Royal Tag und Nacht mit seiner Reitertruppe einkreiste, um eine Flucht der königlichen Familie zu verhindern. Sie sehen, Ihrem zukünftigen Gemahl mangelt es weder an Initiative noch an Pflichtbewusstsein«, meinte Helenus beißend. »Er hat sich eine Belohnung verdient. Die Trauung kann diese Woche vollzogen werden.« Z111
»Nein, das kann sie nicht!«, platzte es aus Isabelle heraus. »Wie bitte?« Isabelle schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde Beaufort nicht heiraten, mon pere. Es tut mir leid um Sie und die Verträge und all die Verhandlungen, die geführt wurden, aber... aber es ist unmöglich.« Sie biss sich auf die Lippen, wartete auf Helenus' Wutausbruch -doch nichts. Ihr Großvater saß da, tief in seine Kissen zurückgelehnt, die Hände über dem Knauf seines Stockes gefaltet, die dunklen Raubvogelaugen fest auf sie geheftet. Sekunden des Schweigens verstrichen. Das Knarren der Kutsche, die Rufe des Mannes auf dem Bock und das dumpfe Wogen der Menge bildeten eine unruhige, spannungsgeladene Geräuschkulisse. Isabelle ballte die Fäuste. Hatte Helenus sie nicht verstanden? Nahm er ihre Worte nicht ernst? Da endlich öffnete er den Mund. »O doch, ma fille, Sie werden diesen Mann heiraten. Das versichere ich Ihnen«, sagte er mit der Ruhe, die absolute Gewissheit verlieh. »Sie sollten sich nicht der lachhaften Illusion hingeben, es stünde in Ihrer Macht, diese Heirat zu verhindern.« Er beugte sich ein wenig vor. »Keines Ihrer Argumente wird meinen Entschluss ändern können. Und ganz gleich, was Sie gegen diese Heirat unternehmen, ganz gleich, was Sie gegen sie planen werden: Ihre Rebellion ist aussichtslos.« Er ließ sie nicht aus den Augen. »Sie mögen denken, Sie hätten mir gegenüber einen Vorteil. Den Vorteil, den der Erfindungsgeist und der Tatendrang der Jugend dem Alter voraushaben. Doch dann übersehen Sie den Vorsprung, den meine Erfahrung mir beschafft. Ich hatte bereits einmal eine Tochter in heiratsfähigem Alter. Alle Ihre Einwände hörte ich einst bereits von Therese. Und wenn Ihrer Mutter damals die Flucht gelang, so können Sie sicher sein, dass ich daraus gelernt habe.« Helenus stieß mit seinem Stock auf den Boden der Kutsche. »Ihre Mutter brach mein Wort. Sie werden es nicht tun. Darüber ist keine Silbe mehr zu verlieren.« Isabelles Großvater wandte den Kopf ab, starrte wieder aus dem Fenster. Isabelles Herz schlug bis zum Hals. Sie schloss die Fäuste. Egal, dachte sie verzweifelt. Es musste einen Weg geben! Der kleine Satz tanzte in ihrem Kopf herum, immer und immer wieder. Es musste einen Weg geben. Und den würde sie finden. 23 8
Sie saß da, regungslos, so starr, dass ihr ganzer Körper schmerzte, gegen das ankämpfend, was in ihrer Kehle würgte, während eine endlose Folge von Gesichtern am Fenster vorbeizog, unerträglich langsam, unerträglich fremd. Als es schließlich so weit war, als die Fassade des Palais Royal am Ende des Platzes auftauchte, kostete es sie Mühe, sich zu bewegen. Nach und nach machte der Pöbel Männern Platz, die von ihren Degen als Edelmänner ausgewiesen wurden. Es war Condes Eskorte: über zweitausend Kavaliere, die dem berühmten Befreiten bis Pon-toise entgegengeritten waren und nun hier auf ihn warteten, während dieser seinen ersten Pflichtbesuch bei Anne absolvierte. Denn so sehr sich Anne und Conde auch hassen mochten - die Konventionen mussten gewahrt werden. Conde musste für seine Freilassung danken, Anne blieb nichts anderes übrig, als den Prinzen zu empfangen - und ganz Paris wollte bei einem Wiedersehen dabei sein, das Gesprächsstoff für mehrere Wochen versprach.
Das Vorankommen war nun leichter. Man machte dem Wagen bereitwillig Platz, wenn der Kutscher ihren Namen brüllte und auf das Wappen auf dem Schlag hinwies. Als Isabelle zusammen mit Helenus und einigen Bediensteten ihres Hauses die Stufen zu Annes Appartement nahm, überfielen sie die Erinnerungen. Ob es wirklich erst eine Woche her war, dass sie und Philippe dieselbe Treppe hinaufgestiegen waren, das Herz erfüllt von Furcht und getrieben vom meuternden Pöbel? Heute drängten sich hier die Edelleute. Doch der Unterschied war nur oberflächlich. Auch diese Menschen hätte Anne wohl am liebsten hinauswerfen lassen. Denn auch sie waren gekommen, um die Regentin zu demütigen und sich an ihrer Niederlage zu laben. Wenig später betraten Isabelle und Helenus den Raum, in dem Annes Bett stand. Das Gedränge hier war grauenhaft. Isabelle kannte fast alle Gesichter. Es waren hauptsächlich Frondeurs und Freunde der Prinzen, dazwischen ein paar treue Anhänger der Regentin, die versuchten, das Gesicht zu wahren, und jede Menge Schaulustige. Ihre Freundin Cecile war gekommen, mitsamt ihrem frisch angetrauten, pausbäckigen Ehemann. Mademoiselle mit leuchtend roten Wangen, ob aus Erregung oder Hitze, war nicht zu sagen. Ihr Vater war nicht zu sehen, dafür aber - ja, natürlich war auch Beaufort da, 112
der seinen Schnurrbart zwirbelte und immer wieder seine Locken ordnete, im Kreis seiner Anhänger. Das Summen von Hunderten von Stimmen füllte den Raum. Das Klirren der Degen vermischte sich mit dem Rascheln edler Stoffe. Ein fröhliches Lächeln schien allen Anwesenden auf den Lippen zu kleben, doch es war Bosheit, die die Mundwinkel kräuselte. Es war heiß, die Luft war stickig, geschwängert von den Ausdünstungen schlecht gewaschener Körper. Isabelle musste an sich halten, um nicht gleich wieder kehrtzumachen, und auch Helenus' faltiges Gesicht verzog sich unwillig. Als sie sich bis auf ein paar Schritte Entfernung zu dem Lager der Regentin durchgearbeitet hatten, fing eine freundliche Stimme sie ab. »Monsieur de Noirlieu, wie wunderbar, dass auch Sie noch gekommen sind!« La Rochefoucauld war zu sehr Herr seiner selbst, um in das selbstgefällige Getue der Menge einzufallen. Die Freude, die seine Züge zum Leuchten brachte, war echt. »Ich hielt bereits nach Ihnen Ausschau ...«Er deutete in Richtung des Lagers. »Schauen Sie, mon ami, und genießen Sie es, wie ich es bereits tue! Ah, quel spectacle! Sind wir nicht großzügig all unserer Mühen entlohnt?« Isabelle spähte in die angegebene Richtung. Anne thronte, äußerlich kalt und stolz wie eh und je, auf ihrem prunkvollen Bett. Von allen Anwesenden war sie eine der am wenigsten aufwendig Gekleideten. Auch sie schien von dem ewigen Lächeln angesteckt, das alle Leute hier zur Schau trugen - ein sinnloser und lächerlicher Versuch, die Wut und die Bitterkeit zu verbergen, die ihren Augen einen fiebrigen Glanz verliehen. Isabelle war zu weit entfernt, um Annes Worte in dem allgemeinen Getöse zu verstehen. Doch es waren ihrer nur wenige, gerichtet an einen Mann, der als Einziger die Ruelle, die schmale Gasse neben ihrem Lager, betreten hatte. Annes Gesten waren genauso sparsam wie ihre Worte. Sie wirkte steif, gealtert und verloren in der wogenden Menge, die an ihr Bett brandete. Die Haltung des Mannes, dem sie ihre wenigen Worte hinwarf, drückte Respekt, aber nicht Ergebenheit aus. Auch die berühmtesten Porträtmaler, diese Könige der Schmeichler, hätten sich vergeblich bemüht, die vorspringende Hakennase, das fliehende Kinn und die leicht hervortretenden Augen dieses Mannes in ein gut aus 112 sehendes Antlitz zu verwandeln. Dennoch zog dieses Antlitz alle Blicke auf sich. Während Isabelle Louis de Conde noch nachdenklich betrachtete, verneigte sich dieser. Die Regentin hob die Hand - das Gespräch war beendet. Trotz der strahlenden Gesichter, die ihn eng umringten und um ein Wort, einen Blick bettelten, teilte Conde nun zügig die Menge. Isabelle sah ihn ein paar Worte mit Beaufort wechseln. La Rochefoucauld winkte. Als Conde Helenus erblickte, strahlte er und schlug ihre Richtung ein. »Faurepas, mon ami!« »Monseigneur ...« Helenus verneigte sich, so tief seine steifen Glieder es zuließen. Conde erfasste voller Elan seine Schultern. Das Gesicht des Prinzen wirkte auf einmal lebendig, seine blauen Augen schienen aus eigener Kraft heraus zu strahlen. »Allons, richten Sie sich auf, Faurepas. Keine Verneigungen mehr heute, kein Zeremoniell - nur noch Freude und Fest! Und Freude ist es, die Ihr Anblick in mir hervorruft - Freude und
Dankbarkeit. Ich weiß von La Rochefoucauld, wie Sie sich für mich einsetzten, alter Freund. Es soll Ihr Schaden nicht sein!« »Ich tat es der alten Verbindungen willen, Monseigneur. Nicht in Erwartung irgendwelcher Belohnungen.« »Ich weiß, mon ami, ich weiß es, und das ehrt Sie. Doch dünn gesät waren die Menschen, die mir im letzten Jahr die Treue hielten. Und viele derer, die heute hier stehen, klatschten Beifall nach meiner Verhaftung!« Conde schüttelte den Kopf. »Egal. Genug der trüben Erinnerungen! Monsieur hat heute Abend ein rauschendes Fest im Luxembourg versprochen. Ich rechne fest mit Ihnen!« Helenus neigte das Haupt. »Wenn Sie es wünschen, Monsei...« Helenus unterbrach sich, als Conde einen überraschten Laut ausstieß. »Fichtre, Faurepas, ist das Ihre Enkelin, die schräg hinter Ihnen steht?« »Sie ist es. Monseigneur sind zu gütig, sich ihrer zu erinnern.« Isabelle machte einen Hofknicks. Als sie sich wieder aufrichtete, schlug sie die Augen nieder. »Mon Dieu, Mademoiselle«, murmelte Conde und ergriff ihre 113
Hand, »mir drängt sich der furchtbare Verdacht auf, ich hätte nicht ein, sondern zwei oder drei Jahre im Gefängnis verbracht... Zu kurz scheint mir ein einziges Jahr, um so viel Wunderbares hervorzubringen, um eine Knospe, die ich einst bewunderte, zu dieser strahlenden Lilie erblühen zu lassen!« Isabelle bekam warme Wangen. »Monseigneur, Sie beschämen mich. Ich fürchte, dass Ihre Haft noch erbarmungsloser war, als wir alle hier es ahnten, da schon der Anblick der ersten unscheinbaren Feldblume Sie in Entzücken versetzt!« »Ja, Monsieur mon mari hat vieles nachzuholen.« Eine kleine Frau drängte sich in die Runde. Sofort ging Isabelle wieder in die Knie, und sowohl La Rochefoucauld wie Helenus machten eine tiefe Verbeugung. »Es erfüllt mich mit Freude, wie sehr alle Menschen hier von dem Wunsch beseelt sind, meinen Mann sich wieder heimisch fühlen zu lassen«, lächelte die kleine Frau. »Doch ich muss zur Vorsicht mahnen. Man sagt, gibt man Verhungernden eine fette Gans zu essen, laufen sie Gefahr, daran zu ersticken.« Sie legte ihre Hand auf Condés Arm. »Sie sollten vorsichtig sein, Louis, und sich nicht gleich am ersten Tag übernehmen.« Isabelles Augen weiteten sich. Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die sich im letzten Jahr verändert hatte ... Was war mit der schüchternen, ungeschickten Person geschehen, die man während ihres Verlobungsballs so hohe Absätze hatte anziehen lassen, dass sie beim Tanzen fiel, eine Peinlichkeit, über die der Hof noch heute lachte? Jeder hier wusste, dass Claire-Clémence de Condé ihrem Mann eine hündische, bedingungslose Liebe entgegenbrachte. Er hatte es ihr bisher mit einer Gleichgültigkeit heimgezahlt, die an Verachtung grenzte. Doch die kleine, unscheinbare Frau war über sich hinausgewachsen in den letzten Monaten. Sie war unter abenteuerlichen Umständen nach Bordeaux gereist. Ihre Versuche, dessen Bewohner für die Sache ihres Mannes zu gewinnen, waren sogar eine Zeit lang erfolgreich gewesen - bis die königlichen Truppen in die Provinz gezogen waren und die Ordnung wiederhergestellt hatten. Condé indessen schien über die Verwandlung seiner Frau wenig entzückt. Er ließ den Arm fallen, auf den sie sich stützte. »Ich darf Sie beruhigen«, antwortete er nicht ohne Schärfe. »Meine Haft hat meinen Geschmack nicht geändert. Mein Spruch lautet: 113
Weder fette Gänse noch graue Spatzen. Denn wenn die einen unbekömmlich sind, so sind die anderen allzu fade.« Alle Anwesenden hielten den Atem an vor der derben Zurechtweisung. Claire-Clémence war sehr bleich geworden. »Louis, ich fühle mich unwohl. Bitte führen Sie mich zu unserem Wagen.« »Ich werde einen Ihrer Leute rufen lassen ...« »Nein, Monsieur. Ich benötige Ihren Arm. Jetzt.« Die Stimme der kleinen Frau zitterte merklich. Ihre Augen glänzten verdächtig, doch der störrische Zug um ihre schmalen Lippen verdeutlichte, dass sie nicht bereit war nachzugeben. Es blieb Condé nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er neigte steif den Kopf, bot seinen Arm, entschuldigte sich bei den anderen Anwesenden und verließ den Raum. Das Gemurmel derjenigen, die den Eklat beobachtet hatten, schwoll an. La Rochefoucauld zog Helenus in ein Gespräch hinein.
»Ah, Madame la Comtesse! Ich bin entzückt!«, flötete es in diesem Augenblick von links, und Beaufort tänzelte auf hohen eleganten Schuhen herbei. »Meine Gnädigste, wo waren Sie? Ich verzehre mich seit Tagen vergeblich nach Ihnen!« Isabelle bemerkte, wie Helenus sie beobachtete. Es war Zeit, das Misstrauen ihres Großvaters wieder zu besänftigen. Außerdem hatte Beaufort Philippe als seinen Freund bezeichnet. Ob er etwas über dessen Verbleib wusste? Sie blickte um sich. Alle Menschen hier spielten einen Part in der gigantischen Farce um Condés Rückkehr. Es war an der Zeit, eine eigene Rolle zu übernehmen. War sie nicht Meisterin im Verstellen? Also belohnte Isabelle Beaufort mit einem Lächeln und ließ, wie sie fand, seine Huldigung mit lobenswerter Geduld über ihre Hand ergehen. »Tatsächlich, mon cher? Das tut mir leid. Ich hatte von Ihrem bemerkenswerten Engagement gehört, das Sie pausenlos Runden um das Palais Royal drehen ließ. Haben Sie denn trotz Ihrer wichtigen Aufgaben noch Zeit gehabt, an mich zu denken?« Beaufort, sichtlich geschmeichelt, drückte ein wenig weiter die perlenbesetzte Brust heraus. »Aber ständig, Madame, das versichere ich Ihnen. Ein Vendôme vergisst die Dame seines Herzens selbst im wildesten Waffengetümmel nicht!« ^114
Isabelle berührte seinen Arm, zog ihn ein wenig von Helenus fort und sagte leise: »Ich hoffe sehr, dass Sie sich gut zu schützen wissen. Sie in Gefahr zu sehen, wäre mir unerträglich!« Beauforts blaue Augen glänzten. Er drückte ihre Hand und sagte emphatisch: »Madame ... Diese Worte aus Ihrem Munde zu hören ... Sie machen mich zum glücklichsten Mann an diesem Abend! Zum ersten Mal geben Sie mir das Gefühl, dass mein stetes Flehen Erfolg haben könnte!« Er riss erneut ihre Hand zu seinen Lippen. Doch diesmal hauchte er keinen höflichen Kuss über ihren Handschuh, sondern presste seine Lippen voller Innbrunst auf den zarten Stoff. Die harschen Haare seines blonden Schnurrbarts durchdrangen die Spitze und kratzten unangenehm auf ihrer Haut. »Kann ich also hoffen, dass Sie mich nicht ganz verachten?«, fragte Beaufort. »Monsieur, seit dem Tag, an dem ich Ihnen versprochen wurde, sind Sie mir nie mehr gleichgültig gewesen«, antwortete Isabelle wahrheitsgetreu. »Oh, schöne Isabelle ... Ich werde den Gefahren aus dem Weg gehen! Lieber lasse ich mich von meinen Gefolgsleuten verhöhnen, als dass ich mich die Ursache schimpfen muss für eine einzige Träne Ihrer unvergleichlichen Augen!« »Ihre Gefolgsleute, Monsieur?«, fragte Isabelle, dankbar für das Stichwort. »Es sind die Männer, die Sie auch während unseres Festes umgaben, nicht wahr? Ich kann mir ein solch schändliches Verhalten bei keinem von ihnen vorstellen! Monsieur de Vigueil zum Beispiel, den Sie mir empfahlen, machte auf mich den Eindruck, Ihnen völlig ergeben zu sein!« »Vigueil?« Beaufort schüttelte den Kopf. »Wie überraschend, Isabelle, dass Sie gerade seinen Namen erwähnen! Ausgerechnet von diesem Mann bin ich bitter enttäuscht! Können Sie sich vorstellen, dass er mir vor über einer Woche seine letzte Aufwartung machte?« Also noch vor unserer Reise zu Cyprien, schloss Isabelle enttäuscht. Beaufort lächelte. »Doch es gibt wesentlich Wichtigeres, um das wir uns kümmern sollten. Ihre Freundlichkeit heute lässt in mir den dringenden Wunsch entstehen, endlich vor Gott zu besiegeln, was wir einander bereits versprachen.« Er presste ihre beiden Hände. »Bis 114
gleich, ma chère ... Ich eile, Ihren geschätzten Großvater zu be-circen! »Aber ...«, stieß Isabelle aus und streckte eine Hand aus, um ihn zurückzuhalten. Er salutierte graziös. »Wünschen Sie mir Glück!« Na wunderbar!, schimpfte Isabelle bei sich. So viel zu ihrem Talent, ihre Gesprächspartner zu beeinflussen und ihren Willen durchzusetzen! Vierge Marie, wie hatte sie sich nur so dumm anstellen können? Weshalb war sie nicht gleich mit Priester und im Hochzeitskleid erschienen, wenn sie es doch so eilig hatte, Beauforts Frau zu werden? »Wieder einmal finstere Gedanken?« Isabelle sah sich um und begegnete La Rochefoucaulds feinem Lächeln. Noch bevor sie antworten konnte, fragte er: »Nun, wie finden Sie diese kleine Assemblée? Und vor allem: Was halten Sie von dem Auftritt von Madame de Condé und ihrer Art, das Objekt unserer Begeisterung zu entführen?« Er raunte an ihr Ohr: »Wetten, dass Monsieur le Prince schneller wieder da ist, als ein Wolf Zeit braucht, um sich eine Laus aus dem Pelz zu schütteln?«
»Pfui, Monsieur, wie böse Sie heute sind!«, lächelte Isabelle. Leise sagte sie: »Noch ein paar Worte derselben Gattung, und ich werde schwören, Sie sind der Autor von mindestens einem Dutzend der säurehaltigen Pamphlete, die seit zwei Tagen die Gassen ver-ätzen!« »Ich muss Sie enttäuschen. Der Autor heißt Scarron, und er befindet sich seit kurzem im Dienst von Monsieur le Prince. Nein, ma chère, das, was ich mit meinem kleinen Satz bezweckte, ist etwas ganz anderes. Ich möchte Ihren Blick schärfen.« Isabelle runzelte die Stirn. »Darf ich fragen, in welcher Absicht?« »Nun, sagen wir, um einer jungen Dame zu helfen, die aus politischen Gründen verheiratet werden soll, für ihren Zukünftigen aber nichts als Verachtung empfindet...« Sie schluckte. »Wie soll ich das verstehen, Monsieur? Haben Sie nicht selber dazu beigetragen, die junge Dame und ihren Zukünftigen zusammenzuführen?« La Rochefoucauld lächelte fein. »Politik, ma chère, ist die Kunst des Wandeins. Die Verhandlungen, die Sie ansprechen, führte ich 115
mit der Absicht, Monsieur le Prince aus Le Havre zu befreien. Und dieses Ziel habe ich, wenn mich nicht alles täuscht, erreicht.« Isabelle benetzte ihre Lippen. »Reden Sie!« »Nun, ich fürchte, besagte junge Dame wird keinen Erfolg haben, wenn sie versucht, ihren Großvater umzustimmen. Monsieur le Duc hat schließlich den Ruf eines Ehrenmannes. Wenn sie sich an höhere Stelle wenden würde hingegen ...« La Rochefoucauld sah bedeutsam in die Richtung, in die Louis de Conde verschwunden war. »Ich glaube, dass ihre Aussichten auf Erfolg gar nicht so schlecht stünden.« Er verzog spöttisch den Mund. »Gemeinsames Unglück verbindet. Und weckt Verständnis.« Plötzlich verstand Isabelle, worauf La Rochefoucauld hinaus wollte. Auf einmal wurde ihr heiß. Louis de Conde ... Seinetwegen war der ganze Heiratsvertrag überhaupt erst aufgesetzt worden - er hatte demnach auch die Macht, ihn aufzuheben! Helenus machte sich nichts aus Beaufort. Es ging ihm nur um sein Wort. Es war einen Versuch wert! Wenn sie Louis mit seiner eigenen erzwungenen Ehe konfrontierte und ihm die treuen Dienste der Faurepas in Erinnerung rief, die er gerade noch so gelobt hatte ... Auf einmal hatte sie es eilig. Sie musste Conde abfangen, bevor dieser wieder im Saal auftauchte. Entschlossen trat sie auf Helenus zu. »Verzeihen Sie, Monsieur pere, es dauert mich, Ihr Gespräch zu unterbrechen, doch ich fühle mich unwohl. Diese vielen Menschen, die Luft...« »Sie sehen in der Tat etwas bleich aus, meine Liebe«, mischte Beaufort sich ein. »Wir werden einen Diener rufen und Ihnen einen Stuhl bringen lassen...« Noch bevor Isabelle ablehnen konnte, schüttelte Helenus den Kopf. Sein Gesicht war finster. »Nicht nötig, Monsieur. Ich glaube, es wird das Beste sein, wenn meine Enkeltochter sich nun zurückzieht. Um ganz ehrlich zu sein, kommt mir diese Unpässlichkeit wie gerufen. Ich liebe es nicht, wenn jemand aus meinem Hause Ursache für einen Ehestreit ist. Gehen Sie, Mademoiselle ma fille, ich werde Sie entschuldigen. Vielleicht wäre es sogar von Vorteil, Sie würden während des Empfangs im Luxembourg nicht erscheinen.« Helenus schnitt eine Grimasse, die entfernt einem Lächeln ähnelte. Beißend 115
fuhr er fort: »Offensichtlich wurde Monsieur le Prince zu lange der Natur ferngehalten. Es könnte von Vorteil sein, wenn er andere Blumen auf seinem Weg findet, bis Sie sich wiedersehen. Nehmen Sie die Kutsche. Monsieur de La Rochefoucauld wird mich nach Hause fahren.« Isabelle ließ es sich nicht zweimal sagen. Sie schob sich ohne Hast, aber zielstrebig aus dem überfüllten Raum. Sie überlegte kurz. Claire-Clémence de Condé und ihr Mann hatten gewiss nicht den Hauptweg zu ihrem Wagen eingeschlagen, sondern die Gaffer und Schmeichler gemieden, die überall auf sie lauerten. Entschlossen lenkte Isabelle ihre Schritte in Richtung einer kleinen Tür, die, wie sie wusste, auf eine verborgene Wendeltreppe mündete, die ihrerseits in den kleinsten der Höfe führte. Sie wollte gerade die Türklinke ergreifen, als jemand so unvermutet aus der Öffnung trat, dass sie einen kleinen Schrei ausstieß. »Pardon, Madame, ich wollte Sie nicht...« »Philippe ...?«, rief Isabelle aus. Sie starrte ihn ungläubig an. »Philippe!«
»Isabelle?« Seine Augen leuchteten auf. Er hob seine Arme, als wolle er sie an sich reißen, ließ sie dann aber wieder fallen. Er sah um sich. »Komm, lass uns ein wenig abseits gehen ...« Er zog sie in eine dunkle Ecke, hinter eine bronzene Statue des Gottes Mars. Seine Bernsteinaugen schienen im Halbdunkel zu glimmen, als er sie betrachtete. »Wie schön du wieder aussiehst...«, sagte er warm. Doch dann überflog ein Schatten sein Gesicht, und sein Lächeln wurde schmal. »Du bist also auch gekommen, um dich an der Niederlage der Königin zu freuen?« Der Unterton in seiner Stimme versetzte ihr einen Stich. »Ich bin gekommen, um Louis de Condé willkommen zu heißen, Philippe, das ist alles.« Sie wünschte sich, er würde seine Arme um sie legen. Alle Sehnsüchte der letzten Nächte holten sie wieder ein. Sie berührte ihn. »Philippe, wo warst du bloß die ganze Zeit? Seit Tagen schon ... Seit Tagen ...« Auf einmal versagte ihre Stimme. Sie blinzelte heftig. Er sah sie ernst an. »Es tut mir leid, Isabelle. Ich musste plötzlich verreisen und hatte keine Möglichkeit, dich zu benachrichtigen.« Die Fremdheit, die zwischen ihnen lag und sich nicht verflüchti 116
gen wollte, beunruhigte sie. »Eine ganze Woche lang nicht? Eine Zeile, ein Wort hätten gereicht«, sagte sie und bemühte sich, nicht zu vorwurfsvoll zu klingen. Sie zwang sich zu lächeln. »Nun ja, du hattest wohl deine Gründe.« »Die hatte ich in der Tat«, antwortete Philippe knapp. Sie schluckte. Weicher fügte er hinzu: »Hör zu, Isabelle, ich kann dir nicht erzählen, um was es sich handelte. Nur so viel: Man war so freundlich, an mich zu denken, um einen vertrauensvollen Auftrag zu übernehmen. Ich habe fast eine Woche lang ununterbrochen im Sattel gesessen, bin gerade erst zurückgekehrt und sehne mich, um ehrlich zu sein, nach nichts mehr als einem Bad und einem weichen Bett.« »Und dein erster Weg nach deiner Rückkehr führt dich ins Palais Royal?« Isabelle sah Philippe eindringlich an. »Es ist für sie, nicht wahr? Anne hat dich auf diese Mission geschickt!« Sie schloss eine Faust. Auf einmal verspürte sie tiefe Abneigung gegen die Königin. »Ich hätte es dir damals sagen sollen. Die Königin hat dich erkannt, als du während des Aufstandes vor dem Bett des Königs standest! Es war zu erwarten, dass sie dich ausnutzt!« Sein Gesicht verschloss sich. »Du weißt nicht, wovon du sprichst. Ich lasse mich nicht ausnutzen, Isabelle, das versichere ich dir. Ich werde niemandem jemals mehr erlauben, über mich zu bestimmen. Weder der Königin noch Mazarin, noch ...« Er unterbrach sich, doch er mied ihren Blick. Und Isabelle vervollständigte seinen Satz. Noch mir, dachte sie, und ein kleiner Schmerz verengte ihre Kehle. Philippe fuhr indessen fort: »Wenn ich Anne geholfen habe, dann weil ich an den König glaube. Weil ich den Thron schützen will. Weil dieses alberne Gegacker um uns herum mich anwidert!« Sie lächelte, strich über seine Wange. »Du siehst müde aus«, sagte sie weich. Er ergriff ihre Hand und drückte einen Kuss auf die Innenseite. Die Berührung seiner Lippen jagte einen Schauer des Glücks ihren Rücken hinunter. Isabelle holte Luft. »Hör zu«, raunte sie. »Helenus ist heute Abend auf einem Fest im Luxembourg. Ich muss ihn nicht begleiten, ich habe mich krank gestellt. Wenn du es möchtest, könnten wir uns bei mir zu Hause sehen!« »Und die Duchesse?« 116
»Es wird Nacht sein. Marie-Olympe wird dich in ihren Spiegeln nicht sehen können, wenn du darauf achtest, den Schein der Laternen zu meiden. Es gibt da eine alte Pforte in der Gartenmauer, die niemand nutzt...« Philippe zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, es widerstrebt mir, Isabelle. Es ist unser unwürdig. Dein Ruf, deine Großeltern ...« Isabelle umklammerte seine Hand. »Bitte, Philippe! Bitte komm! Tu es für mich! Ich brauche dich, deine Arme und deine Wärme - du musst mich halten, heute Nacht!« Sie sah, wie er schluckte. Er nickte langsam, ergriff ihre Schultern. »Gut. Ich werde kommen, auch wenn ich weiß, dass es nicht klug ist.« Er sah sie an, mit seinen so klaren, hellen Augen, und endlich stand darin, wonach sie sich schon die ganze Zeit sehnte. »Eh bien, Monsieur de Vigueil«, erklang eine spöttische Stimme, »ich sehe, Monsieur de Mazarin machte sich ganz unnötige Sorgen um Ihr Wohlergehen!« Isabelle schnellte herum. Sie hatte sich nicht geirrt - Louis de Conde hatte tatsächlich den Nebeneingang benutzt. Neben ihr verbeugte sich Philippe.
»Da gebe ich Ihnen recht, Monseigneur«, antwortete er ruhig. »So gut die Worte Seiner Eminenz auch gemeint sein mochten - ich bin es gewohnt, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.« »Und wie ich sehe, nicht nur Ihr Leben«, lächelte Conde. »Sind Sie sich immer bewusst, wonach Sie Ihre Hand ausstrecken?« Philippes Gesicht war ausdruckslos. Isabelles Puls lief unruhig, ihr Blick wanderte von einem Mann zum anderen. Woher kannten sich die beiden? Was hatte Mazarin damit zu tun? Und weshalb diese unterschwellige Feindseligkeit? Philippe antwortete respektvoll: »Nach den Sternen natürlich, Monseigneur, doch das wird Ihnen nichts Neues sein. Sind Sie nicht selber dadurch berühmt worden, dass Sie nach ihnen griffen? Und haben Sie sie nicht für Frankreich vom Himmel geholt?« Louis de Conde sah Philippe scharf an. »Gut geantwortet, Monsieur de Vigueil. Und gut abgelenkt. Doch ich bin ein Feldherr, kein Höfling - auf Ablenkungsmanöver gebe ich nichts.« Er wandte sich an Isabelle. »Tanzen Sie gerne, Mademoiselle dArzelles?« 117
»Tanzen?«, fragte Isabelle überrascht. »Aber ja, Monseigneur. Sehr gerne sogar.« »Nun, so reserviere ich den ersten Tricotet.« Conde lächelte schmal. »Es wird mir eine Ehre sein, Monseigneur. Darf ich fragen, zu welchem Anlass?« »Nun, zu Ihrer Hochzeit natürlich. Ich bin sicher, Sie werden eine entzückende Braut sein.« Condes Blick glitt von Isabelle zu Philippe. »Glauben Sie nicht auch, Monsieur de Vigueil?« Philippe antwortete sehr ernst: »Das wird sie ganz gewiss, Monseigneur.« »Also dann.« Louis de Conde nickte kurz und entfernte sich. Isabelle suchte Philippes Blick, doch sein Gesicht hatte sich wieder verschlossen. »Ich muss jetzt gehen«, sagte er. Isabelle hielt ihn zurück. »Du kommst doch heute Abend?« Seine Brust hob und senkte sich, »ja«, antwortete er, ohne sie dabei anzusehen. »Natürlich.«
Neun Mäßige Leidenschaft lässt durch Trennung nach, große steigert sich noch, so wie die Kerze vom Wind ausgeblasen und das Feuer von ihm entfacht wird. Februar 1651
Die Nacht war eisig kalt und der Regen, der vom Himmel fiel, machte die Kälte noch unangenehmer. Isabelle zog den gefütterten Mantel eng um sich, stellte sich abwechselnd von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte ein einfaches, aber tief ausgeschnittenes Kleid für den heutigen Abend gewählt, und für diese Eitelkeit musste sie jetzt büßen. Die feinen Kiesel knirschten unter ihren Absätzen. Da... Hatte die Pforte sich nicht bewegt? Isabelle versuchte, ihren Blick zu schärfen, die regennasse Dunkelheit zu durchdringen. Sie starrte sekundenlang mit angehaltenem Atem die efeubewachsene Mauer an, in der die unscheinbare Holztür eingelassen war, die den Garten von der Straße abschottete. Nichts ... Und wenn die Tür von außen nicht aufzustoßen war? Sie hatte sie zwar entriegelt, doch sie war lange nicht benutzt worden ... Als sie merkte, dass sie vor Kälte anfing zu zittern, rief sie sich zur Ordnung. Schluss jetzt. Philippe war von irgendetwas aufgehalten worden. Es war völlig unsinnig, hier draußen auf ihn zu warten und sich langsam in einen Eisblock zu verwandeln. Sie konnte sich genauso gut in der Orangerie an das Fenster stellen. Sie warf einen letzten Blick auf die Pforte und schob die Tür des Gewächshauses auf. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie da draußen noch stehen wollen«, empfing sie eine Stimme, als sie ihren nassen Mantel von den Schultern zog. Sie zuckte zusammen. Branne lehnte an einer der Metallstreben, die das Dach stützten. Isabelles Herz raste davon, doch sie hatte ihre Züge unter Kontrolle. Sie warf ihren Mantel über eine steinerne Bank. »Branne? Was wollen Sie?« 117
»Hatten Sie einen anregenden Abend, Madame? Gute Gespräche? Wie geht es Monsieur le Prince? Hat seine Haft ihn sehr mitgenommen?« Branne näherte sich langsam. »Und was sagte die Königin?« Er klebte ein Lächeln auf seine Lippen. »Hat sie die Kröte mit Anstand geschluckt? Gewiss war alles anwesend, was Rang und Namen hat, um ihr dabei zuzusehen, nicht wahr?« Isabelle schüttelte den Kopf. Ihre Nervosität wuchs, Philippe könne gerade jetzt erscheinen. Branne in ihr geheimes Rendezvous einzuweihen war das Letzte, was sie wollte. »Wieso haben Sie mich nicht mitgenommen? Wir hatten doch ein Abkommen geschlossen.« Branne drängte auf sie zu.
Isabelle ballte die Fäuste. »Seien Sie vernünftig, Branne! Sie können doch nicht verlangen, dass Ihnen zuliebe plötzlich sämtliche Konventionen aufgehoben werden!« »Doch, das kann ich!« Branne richtete einen Zeigefinger auf sie. »Sie treten diese Konventionen schließlich jeden Tag mit Füßen! Oder wie nennen Sie es, wenn ein Bauernmädchen einen Königsenkel heiraten will?« Er war ihr nun so nahe, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Leise stieß er zwischen seinen Zähnen hervor: »Sie werden ab jetzt keine Fahrt, keinen Ausgang mehr ohne mich machen. Sie werden das durchsetzen, auch bei Ihrem Großvater, ist das klar?« »Es geht nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen! Verflixt, Branne, vergessen Sie doch vor lauter Ehrgeiz nicht, Ihren Verstand zu gebrauchen!« »Ich erlaube Ihnen Urteile weder über meine Person noch über meinen Verstand!« Er hatte sie so lange zurückgedrängt, dass sie nun an der Wand stand. »Sie werden mir gehorchen, Isabelle!«, stieß er drohend aus. »O ja, das werden Sie! Sonst ...« Er atmete schwer. Etwas flammte in seinem Blick auf, ein schmutziges Licht, das ihr den Magen umdrehte. Er riss sie an sich. Sie stieß nach ihm, doch Branne war ein kräftiger Mann. Auf einmal spürte sie seine heißen Lippen und seine Zunge, die auf ihrer Haut wanderte. Als ein heftiger Schmerz ihre Schulter durchzuckte, schrie sie auf. Sie kratzte, trat... Plötzlich war sie frei. Branne betrachtete sie lächelnd, wischte schwer atmend über seinen Mund. »Das war eine kleine Kostprobe. Das nächste Mal, wenn 151
Sie sich mir widersetzen, werden Sie nicht so glimpflich davonkommen!« Sein Mund verzerrte sich. Er fasste an seine Hose. »Glauben Sie mir, Sie würden die Einzige sein, die es bereuen würde! Ich hingegen ...« Er stöhnte auf, bewegte seine Hand im Schritt. «... ich wünsche es mir fast ...«Er atmete schwer. »Überlegen Sie sich, was Ihnen lieber ist!«, stieß er noch aus. Dann fluchte er und rannte aus der Orangerie. Isabelle sah ihm ein paar Sekunden lang regungslos nach. Dann hastete sie zur Tür, die das Glashaus mit dem Haus verband, und drehte zwei Mal den Schlüssel um. Schnell trat sie an ein großes, steinernes Becken, das stets gefüllt war, und warf sich Wasser ins Gesicht. Sie tunkte ihre Arme ein, wusch sich die Wut von der Haut. Allmählich verlangsamte sich der Schlag ihres Herzens wieder. Sie hob das Kinn. Atmete tief durch. Nahm die warme Luft wahr, den Duft der blühenden Orangenbäume. In der Nähe des Wasserbeckens stand die Bank, auf die sie vorhin ihren Mantel geworfen hatte. Sie lehnte an einem riesenhaften Holzkübel, aus dem der massige Stamm eines knotigen Olivenbaums herauswuchs. Auf diese Bank setzte sie sich mit geradem Rücken. Sie wischte ihre feuchten Locken aus der Stirn, strich ihr Kleid glatt, mit hartnäckiger Sorgfalt, bis alle Falten verschwunden waren. Dann legte sie die Hände in den Schoß. Philippe konnte kommen. Sie brauchte nicht lange zu warten. Erst huschte ein Schatten an den Fenstern vorbei, dann bewegte sich die Außentür, und Philippe trat ein. Sie erkannte ihn an seiner Körperhaltung, noch bevor sie im diffusen Licht seine Züge sah. Diese Haltung passte viel eher zu einem Wolfsfänger als zu einem Gefolgsmann Beauforts. Jäger und Gejagter, dachte Isabelle unwillkürlich. Er ist immer aufmerksam, immer darauf gefasst, angegriffen zu werden. Wie gut ich das kenne! Ob ich ihn deshalb liebe? Weil wir in ähnlichen inneren Welten leben? Weil wir instinktiv spüren, dass wir uns verstehen, ohne alles voneinander wissen zu müssen? Was würde passieren, wenn es einem von uns gelänge, diese Welt hinter sich zu lassen? Denn wir streben doch jede Stunde, jede Minute unseres 118
Daseins nach nichts anderem. Was wäre dann? Würde es uns auseinanderreißen? Oder würde weiterhin dieser Hunger bestehen, der mich überkommt, wenn ich an ihn denke, dieses Verlangen, von ihm berührt zu werden, seine Haut zu spüren, in seine Augen zu sehen? »Bonsoir!«, lächelte er. »Ich hätte dich fast übersehen, so still, wie du hier sitzt!« Er hockte sich vor sie nieder, griff nach ihren Händen, die noch immer in ihrem Schoß ruhten, und betrachtete sie aufmerksam. »Alles in Ordnung, Belle?«, fragte er mit seiner weichen, sonoren Stimme, und leichte Besorgnis schwang in seinem Ton mit. Sie erwiderte sein Lächeln. »Ja. Jetzt bist du da.« »Ich bin spät, es tut mir leid«, entschuldigte er sich. Ihr Lächeln vertiefte sich. »Du kommst genau zum richtigen Zeitpunkt. Es ist immer der richtige Zeitpunkt, wenn ich dich sehe.«
Er blieb ernst, legte eine Hand an ihre Wange. Sie musste schlucken, schloss die Augen, legte ihre Hände an seine und schmiegte sich hinein. Ihr ganzes Wesen sehnte sich nach Zärtlichkeit, nach Vergessen, nach der Kraft, die seiner warmen Haut entströmte. »Isabelle, ich ...«Er stockte. Sie schlug die Augen wieder auf, hielt aber seine Hand fest. »Ich weiß, dass dich etwas belastet. Schon seit dem ersten Mal, als wir uns kennenlernten. Du bist damals nicht grundlos zusammengebrochen. Und auch später, während deines Festes, als du mir in die Arme liefst...«Er zog sie sachte näher. Seine klaren Augen suchten forschend in ihrem Gesicht, und die Wärme, die sie ausstrahlten, schlug einen tiefen Ton in ihrem Herzen an. »Ich wollte dir nur sagen, dass du mir vertrauen kannst. Ich würde alles tun, um dir zu helfen, Isabelle. Wenn du mich lässt.« Auf einmal überrollte sie eine gewaltige Welle der Sehnsucht, ihre Sorgen, ihre Ängste auszusprechen, mitgetragen zu werden von seiner Stärke. Doch dann erinnerte sie sich erneut an Philippes Worte. Alles, was zählt, ist die Geburt, hatte er gesagt. Und hatte nicht auch Cyprien sie gewarnt, Philippe jemals die Wahrheit zu beichten? Sie ballte die Hände, denn solange sie fürchten müsste, alles zu verlieren, solange sie nicht absolut sicher war, dass Philippe sie nicht verachten würde für das, was sie war, würde sie sich ihm nicht öffnen können. Zwar wusste sie, dass ihr Geheimnis zwischen ihnen stehen könnte - dass es aller Wahrscheinlichkeit nach schon zwi 119
sehen ihnen stand, wenn man Philippes Eröffnung berücksichtigte. Mochte sein, dass dieses Geheimnis zu einem Hindernis wuchs, vielleicht sogar zu einer himmelhohen, unüberwindbaren Mauer. Doch lieber lebte sie mit einer Mauer, die sie von Philippe trennte, hinter der sie aber seine Präsenz erahnte, als gänzlich ohne ihn. »Das Wichtigste ist, dass du da bist, Philippe«, sagte sie weich. »Du ahnst nicht, wie viel es mir bedeutet, dich zu sehen. Worte würden nicht halb so viel bewirken, glaube mir.« »Nun, vielleicht änderst du ja deine Meinung, wenn du gehört hast, was ich dir zu erzählen habe.« Er wartete, bis sie ihn ansah, und fuhr dann eindringlich fort: »Es hat sich etwas getan, Isabelle. Ich habe Neuigkeiten ... große Neuigkeiten.« »Hast du etwas erfahren?«, fragte sie mit Herzklopfen. »Ja!« Seine Augen loderten auf. »Isabelle, ich weiß jetzt, wo meine Mutter ist!« Sie öffnete die Lippen. Ihr Magen ballte sich zusammen. »Hast du sie gesehen?« Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber morgen, in aller Frühe, gehe ich in die Visitandines.« »Ein Kloster? Deine Mutter ist in ein Kloster eingetreten? Wie hast du das herausbekommen?« »Die Königin hat es mir erzählt.« »Ich verstehe«, sagte sie nicht ohne Schärfe. »Als Belohnung, nicht wahr? Dafür, dass du für sie deinen Hals riskiert hast.« Sie verzog die Lippen. »Wie großzügig! Sie schickt dich auf eine Mission, auf der du wahrscheinlich unzählige Male Gefahr gelaufen bist, von Feinden ihres geliebten Mazarin am nächsten Baum aufgeknüpft zu werden, und als Belohnung wirft sie dir einen Namen hin, der sie nicht mehr als eine Frage gekostet hat.« Sie zuckte die Schultern. »Anne besucht regelmäßig sämtliche Klöster der Stadt, Philippe! Es dürfte ihr wahrhaft nicht schwergefallen sein, den Aufenthaltsort deiner Mutter zu erfahren!« Er runzelte die Stirn. »Was soll das, Isabelle? Was schert es mich, wie leicht oder schwer es Anne gefallen ist? Für mich wäre es eine Sisyphusarbeit gewesen, sämtliche Klöster zu durchkämmen wenn die Schwestern mich denn überhaupt empfangen hätten. Anne hat mir das kostbarste Geschenk gemacht, was sie mir überhaupt ma 119
chen konnte! Ich würde es gegen keinen Diamanten, gegen kein Gold der Welt tauschen wollen! Verstehst du das nicht?« Isabelle verstand, und sie wusste auch, dass sie im Unrecht war. Doch sie konnte sich nicht helfen: Sie empfand seit kurzem gegen Anne die instinktive Aversion einer Frau gegen eine andere, die Aversion einer Frau, die mit Sorge erlebte, wie eine potenzielle Rivalin sich in das Leben ihres Geliebten einmischte. Nicht, dass sie befürchtete, Anne könne andere Absichten als politische hegen. Doch die Königin hatte rücksichtslos mit Philippes Leben gespielt und würde nicht zögern, es weiterhin zu tun. Und sie hatte es heute zudem geschickt verstanden, Philippe an sich zu ketten, indem sie sich seine Dankbarkeit sicherte. Anne hatte kein Recht dazu! Philippe gehörte ihr, ihr ganz alleine!
Er ergriff ihre Unterarme. Befremdet fragte er: »Kannst du dich denn gar nicht für mich freuen, Isabelle?« Sie blinzelte. »Aber doch!« Sie zog ihm den breitrandigen Filzhut vom Kopf. Sie ließ ihn fallen, zerzauste seine kurzen braunen Haare. »Natürlich freue ich mich!«, beteuerte sie - doch es war nicht Freude, die ihr Herz überschwemmte, sondern Sorge und dunkle Vorahnung. Was würde aus Philippe und ihr, wenn er die Wahrheit von seiner Mutter erfahren haben würde? Immer, wenn Philippe von Vergeltung sprach, versteinerte sich sein Gesicht. Nie war er ihr ferner als in diesen Augenblicken, nie unnahbarer. Er offenbarte dann einen Teil von sich, den sie nicht nur nicht liebte, sondern sogar fürchtete. Sie hatte gehofft, mit der Zeit würde sie dazu beitragen können, diesen düsteren Teil von Philippe einzugrenzen, sie hatte darauf gebaut, dass es ihnen zusammen gelingen würde, seine Vergangenheit zu überwinden. Doch offenbar wollte das Schicksal ihr keine weitere Zeit geben. »Wann gehst du hin?«, fragte sie. »Morgen zur ersten Stunde.« Philippe betrachtete sie ernst. »Ich war vorhin schon dort - deshalb habe ich mich auch verspätet. Ich musste wenigstens einmal die Klostermauern sehen. Natürlich wusste ich, dass es zu spät war, um meine Mutter und Ester zu sprechen, doch ich konnte einfach nicht anders.« Sinnend fuhr er fort: »Es waren die Benediktinerinnen vom Val de Gräce, bei denen die Königin sehr oft zu Besuch ist, die ihr, wie sie sagte, den entscheidenden Hinweis gegeben haben.« 120
Isabelle sagte bemüht sachlich: »Die Visitandines ... Kein Wunder, dass niemand dir bisher weiterhelfen konnte. Es ist ein Orden, der völlig zurückgezogen lebt.« »Ja.« Philippe sah sie intensiv an und griff erneut ihre Hände. »Es könnte unser Glück sein, Isabelle, verstehst du?« Sein Blick wurde brennend, sein Griff schmerzhaft fest. »Isabelle ...«, er räusperte sich. »Isabelle, wenn das alles vorbei ist, werde ich bei deinem Großvater um deine Hand anhalten.« »Oh, Philippe ...« Sie sah ihn aus großen Augen an. Noch bevor sie weitersprechen konnte, strich Philippe über ihre Lippen. »Sage nichts, ma belle«, lächelte er leicht. »Ich weiß alles, was dein Herz bewegt. Ich weiß von diesem Narren Beaufort, von den Verträgen. Ich weiß von der Meinung deiner Großmutter und von Condes Abneigung, weil er mich für eine Kreatur Mazarins hält. Ich weiß, dass die ganze Welt gegen uns ist. Doch wovon ich noch viel mehr überzeugt bin, ist, dass man nie aufgeben darf. Dass sich bisweilen selbst in der auswegslosesten Situation noch eine überraschende Lösung auftut.« Ihre Augen wurden feucht. Philippe strahlte eine greifbare Willenskraft aus, sein Blick war so intensiv, dass sie Mühe hatte, ihm standzuhalten. »Bald, Isabelle«, fuhr er fort, »werde ich meinen Namen reingewaschen haben, und er wird in seinem früheren Glanz erstrahlen. Mein Vater genoss einmal hohes Ansehen bei Richelieu. Ich scheue keinen Vergleich mit Beaufort!« Isabelle schüttelte den Kopf. »Mon amour«, sagte sie heiser, »Beaufort hat heute Nachmittag mit meinem Großvater gesprochen und auf eine baldige Hochzeit gedrängt.« Sie biss sich auf die Lippen und flüsterte: »Sie tafeln heute Abend zusammen. Mein Hochzeitskleid ist fertig, und... O Philippe, es kann sein, dass die Hochzeit morgen schon stattfindet!« Sie erwartete einen enttäuschten Aufruf, eine entmutigte Geste, doch nichts. Nicht eine Sekunde lang schwankte sein Blick. »Ich werde in aller Frühe zu den Visitandines gehen. Dort werde ich die Wahrheit erfahren. Und bewaffnet mit dieser Wahrheit werde ich morgen deinen Großvater um deine Hand bitten.« Sie vermochte es nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten. Gleichzeitig lachte sie. »Morgen, ja. Morgen ...« 120
Ja, sie wollte ihre Sorgen verschieben. Sie hatte nicht Philippes unerschütterliche Ruhe und Zuversicht, aber sie besaß die Kraft und die Fähigkeit zu verdrängen. Seit Isabelle aus ihr geworden war, hatte sie sich abgewöhnt, über den nächsten Tag nachzudenken. Sie war eine Frau ohne Zukunft. Sie war die Bewahrerin des Augenblicks. Und sie würde diesen Augenblick genießen und ihn so lange wie irgend möglich ausdehnen. Heute Nacht wollte sie glücklich sein. Niemand würde ihr die nächsten Stunden jemals wieder rauben können. Sie beugte sich zu Philippe vor und küsste ihn zärtlich.
Als Isabelle mit einem schweren Tablett in die Orangerie zurückkehrte, war Philippe ihrem Rat gefolgt. Er hatte sich seines Mantels und auch seiner Jacke entledigt und die Kleidungsstücke, da sie vor Nässe troffen, über zwei kugelige Orangenbäumchen gebreitet. »Hmm ... Das sieht aber köstlich aus.« Philippe lächelte sie warm an, und sein Anblick ließ ihr Herz höher schlagen. »Helenus besteht immer darauf, dass Timoléon genug für zehn unangemeldete Gäste kocht.« »Ja«, nickte er mit einem halben Lächeln und schaute ganz woanders hin. Seine Finger glitten leicht und wie zufällig über ihre Haut. Sie waren rau, wunderbar rau ... Sie überließ Philippe ihre Hand, und er hob sie an seine Lippen. Er küsste zunächst ihre Fingerspitzen und den Handrücken, drehte dann ihre Hand um. Sein Atem strich über ihre Handfläche, über ihren Puls. Sie schloss die Augen. Als seine Lippen ihr Spiel wieder aufgaben, blinzelte sie wie eine Erwachende. »Du hast...«, sie räusperte sich. »Du hast aber ziemlich viel da-zugelernt seit dem ersten Mal im Kuriositätenkabinett von Monsieur!« Er lächelte. »Du meinst, meine Manieren sind inzwischen salonfähig? Glaubst du, dass ich damit bei Annes Hofdamen Eindruck schinden könnte?« »Zweifellos. Aber wehe dir, du versuchst es!« 121
»Soll das eine Drohung sein?« »Genau.« »Und was willst du tun, wenn ich nicht gehorche?« Sie biss sich lächelnd auf die Unterlippe, rückte auf den Knien etwas näher, bis sie und Philippe sich fast berührten, legte ihre Hände um seinen Hals. Er gab nach, beugte sich vor. Langsam, sehr langsam kamen sie sich näher. Sie sah, wie er schluckte. Ihre Lippen spielten mit den seinen ein leichtes und neckisches, ein zärtliches Spiel. Plötzlich, wie aus dem Nichts entstanden, war es da, ein süßes Ziehen, ein verwirrendes Sehnen ... Noch nie hatte sie Ähnliches verspürt - oder doch? Sie erbebte. Nein ... sie hatte sich geirrt... es war nicht süß, es war wild, unbändig ... Sie schauderte, als er sie packte, an sich drückte - wie schnell sein Herz klopfte! Sein Mund verschlang sie ... sie rief ihn, glücklich, verzweifelt, taumelnd - doch plötzlich nichts mehr - nur noch Kälte, als er sie plötzlich losließ. Sie verharrte, verunsichert und mit großen Augen, schwankte leicht. Vor ihr Philippes Gesicht, aufgewühlt, die Augen gedunkelt. »Mon Dieu, ma chérie...«, meinte Philippe rau. Sie hob die Hände, strich zitternd über ihre Schläfen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Also, ich ... ich schlage vor, dass wir etwas essen«, meinte Philippe mit unsicherer Stimme. Er lächelte. »Dann kommen wir nicht auf dumme Gedanken.« Sie warf ihm einen einzigen Blick zu. Sofort verschwand sein Lächeln. Er machte eine Geste, als wolle er sie erneut an sich ziehen, doch dann fielen seine Arme zurück. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er sanft. »Ich ... Ich weiß nicht«, antwortete sie leise mit bebenden Lippen. »Es ist... ich glaube, es ist Angst.« »Angst?«, wiederholte Philippe tonlos. »Entschuldige, mein Herz. Ich bin ein Tor, ein Trampel, ich ...« »Nein!«, schüttelte sie flüsternd den Kopf. »Nein, Philippe! Nicht Angst vor dir!« Sie schloss ihre Arme eng um sich. »Angst vor mir! Vor dem, was hier in mir steckt... Angst vor dieser Gewalt... der Endgültigkeit... Angst, dass nichts übrig bleibt, falls ...« Sie brach ab, biss sich auf die Lippen, sah ihn aus schwimmenden Augen an. 121
»Isabelle!« Er riss sie an sich. »Das brauchst du nicht! Ich bin da, ich werde immer da sein, das schwöre ich dir!« »Wie kannst du so etwas schwören? Was weißt du schon von mir? Von meinem Wesen? Vielleicht entdeckst du eines Tages etwas, das dir unerträglich ist...« Er durchdrang sie mit seinem Blick. »Ich weiß«, sagte er mit bewegter Stimme, »dass kleine goldene Fünkchen in deinen Pupillen tanzen, wenn du lachst. Ich weiß, dass ich den Rest meines Lebens über die Farbe deiner Augen grübeln werde. Ich weiß, wie der weiche Schatten aussieht, den deine Wimpern werfen. Ich weiß, dass deine Nasenflügel sich weiten, wenn dir etwas missfällt. Ich weiß, dass dein Mund mich ständig ruft und mir keine Ruhe lässt... Ich weiß, dass unsere Seelen sich finden, wenn ich diesem Ruf nachgebe!« Er lächelte, schüttelte den Kopf. Überzeugt schloss er: »Alles andere, Belle, alles
andere ist nebensächlich, glaube mir.« Er wischte über ihre Wangen. Sie verbarg ihre Stirn an seinem Hals, schloss die Augen, atmete den Duft seiner Haut ein, betäubte sich damit, besänftigte ihr Herz, ihre nagende Unruhe. Sie tastete über seinen Rücken. »Dein Hemd ist hinten völlig durchnässt!«, rief sie aus. »Du musst es sofort ausziehen!« Auf einmal versteifte er sich. »Nein, das ist nicht nötig. Es wird auf mir trocknen.« Er lächelte, doch sein Blick war plötzlich wachsam. »Ich habe vorhin etwas zu lange vor diesen Klostermauern gestanden.« Der Wolfsfänger, dachte sie. Da ist er wieder. »Aber Philippe, das ist doch Unsinn! Ich bin sicher, du wirst morgen all deine Kräfte brauchen, bei deinem Wiedersehen mit deiner Familie.« Sie griff nach den Bändern seines Hemdes. »Eine Erkältung dürfte wenig...« »Nein!« Er schnappte nach ihrer Hand, so plötzlich, dass sie zusammenfuhr. »Lass das ... bitte!«, fügte er ruhiger hinzu. Sie sah ihn überrascht an. Er runzelte die Stirn. »Es ist... nicht schicklich. Wenn jemand kommt...« Sie lächelte. »Trotz der abgeschlossenen Tür? Nun, dann ist es um meinen Ruf geschehen, ob du nun bis zur Nasenspitze zugeknöpft bist oder nicht!« Sie überspielte die auf einmal so angespannte Atmosphäre mit munterem Geplapper. »Also, ich finde, für das Wag 122
nis, das ich heute Abend eingehe, schuldest du mir die Freude deines Anblicks!« Sie wollte sich aus seinem Griff befreien, doch es war unmöglich. Seine Hand hielt sie fest wie in einem Schraubstock. Sie verharrte. Er sah sie ernst an, und sie erbebte, denn die Härte, die sie so hasste, schimmerte einen Augenblick durch seine Pupillen hindurch. Was habe ich getan?, fragte sie sich. Welchen Dämon bin ich im Begriff zu wecken? Sie erwartete fast, ihn aufspringen und sich von ihr abwenden zu sehen, doch die Sekunden verstrichen, ohne dass etwas geschah. Schließlich bewegte er die Lippen. Es kostete ihn sichtlich Mühe, die paar Worte auszusprechen, die leise und schrecklich nüchtern daherkamen. »Wenn es das aber nicht ist?« Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie riss die Augen auf. »Wenn es keine Freude für dich ist?«, wiederholte Philippe. Er starrte in die Dunkelheit und sagte fest: »Glaube mir, es ist besser so.« Sie antwortete nicht. Als sie spürte, dass er endlich seinen Griff lockerte, entzog sie ihm sachte ihre Hand. Ihr Mund war trocken. So vorsichtig, als wolle sie ein besonders schreckhaftes Tier berühren, hob sie die Finger an seine rechte Wange. Behutsam zeichnete sie die Konturen der großen hellen Narbe nach. Er sah sie noch immer nicht an, doch er wehrte sie auch nicht ab. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie schluckte mühevoll. Auch als sie an den Bändern seines Hemdes zog, versuchte er nicht, sie daran zu hindern. Sie weitete den Kragen, löste ebenfalls die Bänder an seinen Handgelenken. Sie nahm all ihren Mut zusammen - und zog ihm das Hemd über den Kopf. Plötzlich war ihr, als lege sich eine Hand um ihre Kehle. Sie konnte nicht verhindern, dass ein kleiner, gepresster Luftzug ihren Lippen entwich. Doch sie hatte gelernt, sich zu beherrschen, gelernt, Gelassenheit auf ihre Züge zu zaubern, wann immer es nötig war - und sie wusste, dass er sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie schenkte ihm ein Lächeln. »So, jetzt wird dir gleich wärmer sein«, meinte sie und rückte das Tablett in Reichweite. »Magst du noch etwas Obst?« Er beugte sich wortlos über einen Teller Trauben. Sie legte die Hände in ihren Schoß. Sie gab nicht vor, ihn nicht z6 i
anzuschauen, sondern betrachtete ihn ruhig und offen. Was für ein muskulöser Oberkörper ... Kraftvoll, doch ohne jegliche Spur dumpfer Brutalität. Sie erinnerte sich an die Nacht vor dem Palais Royal, als er sie vor dem gewaltigen Druck der Menge geschützt hatte. Seit damals wusste sie, wie stark er war. Sie bewunderte das Spiel der Sehnen und Muskeln unter seiner Haut, als sein Arm zu einem Becher griff. Wie schön Gott ihn einmal erschaffen hatte! ja, Philippe war ein Zeugnis von Gottes Schöpfung - und der Zerstörungswut der Menschen. Das schwankende Licht der Öllämpchen legte bewegte Schatten unter die unzähligen Narben, die Philippes rechte Seite bedeckten. Sie waren von einer anderen Art als die weiße Stelle in seinem
Gesicht ... Sie formten ein unregelmäßiges Muster aus langen und kurzen, mal tiefen, mal kaum erkennbaren Linien - vermutlich Schnittspuren. Sie begannen auf seiner Schulter, bedeckten seinen rechten Oberarm sowie seine ganze rechte Seite bis zur Hüfte, wo die Beinkleider begannen. Dennoch wusste Isabelle, dass es nicht diese Narben waren, die Philippes Gesicht versteinerten. Die untilgbaren Spuren der Verletzungen, die viel mehr versehrt hatten als nur seinen Körper, prangten auf seinem Rücken und auf seiner rechten Wange. Das eine waren lange, gerade Kerben, die sie nur kurz erblickt hatte, als sie Philippe das Hemd abgestreift hatte. Das andere, die helle, sternförmige Stelle, die sie vorhin berührt hatte und deren Form so seltsam klar und willkürlich war. Brachte man beide in Verbindung, legten sie ein unbarmherziges Zeugnis ab. Es waren Narben, die Isabelle auf Tieren, niemals bisher aber auf Menschen gesehen hatte. Narben, die noch immer einen Kloß aus Trauer und Wut in ihren Hals pressten - Narben, die nur eine Peitsche und ein Brandeisen hinterlassen haben konnten. Isabelle beugte sich über das Tablett, fischte ein kandiertes Stück Ingwer von einem Früchteteller. Philippe hatte sein Mahl beendet. Er wirkte gelöster. Isabelle stand auf, stellte die Essensreste weg. Er sah zu ihr herauf, noch immer schweigsam und ernst, doch nicht hart, nicht verschlossen. Ihre Erleichterung zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, und sie setzte sich neben ihn. Er öffnete den Arm, zog sie an sich mit einer Selbstverständlichkeit, die sie entgültig aufatmen ließ. 123
Eine ganze Weile saßen sie da, wortlos, und genossen die Wärme der Mauer, an der sie lehnten. Es verlangte Isabelle danach, die Hand auszustrecken, ihn zu berühren, doch sie wagte es nicht. »Weißt du, dass du nach Orangenblüten duftest?« Er tauchte sein Gesicht in ihr Haar, und sie hörte ihn tief einatmen. »Es ist mir aufgefallen, schon das erste Mal, als wir uns trafen. Es hat dich mir gleich so vertraut gemacht... hat Erinnerungen in mir wachgerufen. Vorhin, als ich diesen Raum betrat, ist mir klar geworden, woher dieser Duft stammt.« »Erinnerungen?«, fragte sie leise und fügte vorsichtig hinzu: »Dann sollte ich vielleicht lieber ein Parfüm auflegen, um es zu überdecken ...« »Nein«, schüttelte er den Kopf. Er verstummte einige Sekunden und fuhr nachdenklich fort: »Es war nicht alles schlecht, weißt du.« Er warf ihr einen schnellen Blick aus den Augenwinkeln zu. »Was du jetzt an mir siehst, das ist nur ein Teil. Es gab auch Verzauberung, die Lust am Entdecken ...« Er lächelte. Er stellte ein Bein auf, stützte seinen freien Arm darauf ab. »Wenn du vierzehn Jahre alt bist und lebenshungrig, dann kommt dir selbst Versklavung wie ein Abenteuer vor.« Sie runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht«, gab sie zu. »Nun, zum Beispiel wurde ich anfänglich von Sara Mustafa, dem Mann, der uns gefangen hielt, im Sommer in sein Landhaus geschickt. Es war nicht weit. Man musste nur etwa eine Meile laufen, nachdem man die Stadttore passiert hatte, und schon war man da.« Mit verengten Augen fuhr Philippe fort: »Die Gärten um Algier sind die schönsten und am besten bestellten, die ich je gesehen habe.« Sein Arm untermalte seine Worte. »Es gibt Tausende von ihnen, sie bilden einen blühenden, von Pflanzen überquellenden Gürtel um die Stadt. Ihr Reichtum ist unvorstellbar. Überall sind Quellen und Bäche, jedes Grundstück hat sein Haus. Die Menschen aus Algier pilgern jedes Jahr dorthin und verbringen mit ihren Frauen und Kindern den Sommer dort. Dann summen die Gärten vor Leben, die Grillen zirpen unter diesem unglaublich blauen Himmel, die Luft ist erfüllt vom Duft unzähliger Blumen und Kräuter, und das alles wird von den Winden vermischt.« 123
Philippes Hände malten Landschaften in die feuchtwarme Dunkelheit. »Der Küstenwind raschelt in den Palmwedeln, der Wüstenwind aus dem Süden bläst einem seinen trockenen, heißen Atem ins Gesicht und verstreut die Blütenblätter wie bei uns der Herbstwind das Laub. Alles ist Farbe und Duft, alles wächst wie durch Zauberhand. Und für das, was nicht ganz ohne Pflege gedeiht, hat jeder in Algier seine christlichen Sklaven.« Philippe hob eine Braue, schüttelte den Kopf. »Auf Rochastre hatte mich die Bewirtschaftung unserer Ländereien immer fürchterlich gelangweilt. Den Garten von Sara Mostafa hingegen fand ich hinreißend. Ich habe es Mace nie gestanden. Er hätte dafür kein Verständnis gehabt.« Er zog sie an sich. »Wenn das alles hier hinter uns liegt... Wenn ich die Vergangenheit bereinigt habe und wir an die Zukunft denken können...« »Ja, Liebster!«, antwortete Isabelle und schluckte. Doch schließlich zählte nur der Augenblick, nicht wahr? Und Träume erwiesen sich erst in der Zukunft als Lügen. Sie fabulierte weiter: »Dann
reisen wir nach Rochastre und bauen dort alles wieder auf. Wir werden einen wunderbaren Garten haben ...« «... Und eine Orangerie, so wie hier, wo wir uns im Winter verstecken, obwohl wir es dann gar nicht mehr nötig haben.« Er sah lächelnd auf sie hinab und küsste ihre Stirn. Eine Stille breitete sich aus, zärtlich, ein wenig wehmütig, doch voll unausgesprochener Fragen. Isabelle ließ die Minuten verstreichen, erneut innerlich hin-und hergerissen. Schließlich aber fasste sie sich ein Herz. Mit unsicherer Stimme fragte sie: »Willst du mir erzählen, wie es geschah?« Isabelle suchte seinen Blick, aber er hatte den Kopf gesenkt. Sein Schweigen dauerte an. Schon überkam sie die Angst, zu weit gegangen zu sein - doch da erhob sich seine Stimme. »Nachdem zwei Jahre verstrichen waren«, begann Philippe in einem sachlichen Tonfall, doch mit dem gleichen ausdruckslosen Gesicht wie vorhin, »wurde ich zur Strafe, dass kein Lösegeld gekommen war, auf eine von Sara Mostafas Galeeren geschickt. Ich verbrachte zwei Jahre dort. Das sind die Spuren, die du auf meinem Rücken siehst.« 124
Er atmete durch und fuhr ohne Hast fort: »Das hier«, sagte er und fasste an sein Gesicht, »war ebenfalls eine Strafe, doch diesmal für einen Fluchtversuch - meinen ersten. Eigentlich hätte ich dafür vor den Stadttoren Algiers auf einen Haken aufgespießt werden sollen. Ich hatte es verdient, denn ich hatte andere Mitgefangene animiert, bei dieser Flucht mitzumachen. Doch da mein Vater während dieser Flucht umkam, waren meine Richter wohl der Meinung, es sei für mich schmerzlicher, mit meinem Gewissen weiterzuleben, als vier Tage lang am Hafentor zu verenden. Sie begnügten sich also damit, mich zu brandmarken.« Er zuckte die Schultern. »Was den Rest betrifft: Die Abwasserkanäle, durch die ich meinen letzten Fluchtversuch unternahm, mündeten außerhalb der Stadtmauer, ein paar Klafter über dem Strand. Ein Schiff hatte sich die Stelle ausgesucht, um Ballast abzuwerfen -unter anderem auch beschädigte Amphoren. Als ich aus dem Kanal herausglitt, fiel ich auf die Scherben.« Seine letzten Worte verloren sich in der Dunkelheit. Draußen wurde der Regen heftiger - Tropfen klopften an die Scheiben der Orangerie. Es schien, als wollten sie von den Worten ablenken, die noch im Räume schwebten. Nach einer Weile sah Philippe auf Isabelle herunter. »Belle, ist dir nicht gut?« »Doch«, log Isabelle. »Doch, natürlich.« Sie versteifte sich, als er den Arm von ihr nahm, doch er ging nur zu dem Tablett und holte den Weinkrug und das ziselierte Glas. »Komm, trink.« Er hob das Glas an ihre Lippen. Sie zwang sich, den glutroten Wein hinunterzuschlucken. «Très bien.« Nach einer Weile spürte Isabelle, wie der Griff um ihren Hals sich lockerte. Sie sah zu Philippe auf. »Es ist der Wein, den mein Ziehvater geschickt hat.« »Wirklich nicht übel«, nickte er lächelnd. Sie sahen sich an. Isabelle atmete auf, unendlich erleichtert, dass er ihr diese erzwungene Beichte nicht verübelte. »Hmm«, meinte Philippe und strich sachte mit seinem Zeigefinger über die Haut ihres Dekolletes, »eigentlich ist nun der schickliche Augenblick gekommen, mich nach diesem unschicklichen Tête-à-tête zu verabschieden.« 124
Isabelle erschauerte. Blitzschnell überzog sie eine Gänsehaut von Kopf bis Fuß. »O nein, das geht nicht«, schüttelte sie den Kopf. »Deine Sachen sind noch nicht trocken. Und draußen auf der Straße werden überall die Weinfässer aufgeschlagen: Das Volk ist außer Rand und Band. Kein vernünftiger Mensch traut sich um diese Uhrzeit mehr alleine raus.« »Wenn ich vernünftig wäre, würde ich hier nicht sitzen.« »Philippe«, flehte sie, »bitte! Schau, da drüben steht eine Truhe. In ihr befinden sich ein paar Decken, die zur Abdeckung der Pflanzen während der ersten Nachtfröste verwendet werden. Lass sie uns holen!« Er sah kurz in die Richtung. Sie suchte seinen Blick, ergriff sacht seine Hand, legte sie erneut auf ihr Dekollete. Seine Augen weiteten sich im selben Augenblick, als ein Schauer sie durchlief. »AberBelle...« »Geliebter...«, murmelte sie zärtlich und führte seine Hand etwas tiefer. Sein Adamsapfel zuckte, und noch während die gegensätzlichen Gefühle, die in ihm miteinander rangen, sein Gesicht in ra-
scher Folge überschatteten, glitten seine Finger ihre bloße Haut hinunter. Als sie die weiche Umrandung berührten, die ihr Unterkleid bildete, zögerten sie kaum merklich, verschwanden unter dem Batist, bis sie an die feste Grenze des Überkleides stießen. Isabelle seufzte auf. Er sagte nun nichts mehr. Seine zweite Hand legte sich um ihre Hüfte, wanderte über den Stoff ihres Kleides, zögernd und voller Verlangen. Sie drehte sich ein wenig, um ihm die winzigen Haken zu zeigen, die in ihrem Rücken unter dem Stoff verborgen waren. Seine Finger waren ungeübt, und sie empfand Freude darüber. Als er das Kleid gerade genug gelockert hatte, um sie aufatmen zu lassen, hielt er inne und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie wandte sich ihm wieder zu. Er beugte sich über sie und küsste ihren Brustansatz. Sie stöhnte leise, strich über sein Haar, schloss ihre Hände über seinen Nacken. Er zog die schmalen Ärmel herunter, die ihre Schultern bedeckten. Sie beugte sich nach hinten, reichte Philippe ihre Lippen. Als seine Hand sich um eine ihrer Brüste legte, war sie überzeugt, nun den Gipfel der Lust erreicht zu haben. Ihre Brustwarzen verhärteten sich schmerzhaft, gleichzeitig durchzuckte sie ein Blitz des i125
Verlangens, der sie bis ins Mark erschütterte und sich an Philippe halten ließ. Sie riss die Augen auf, überwältigt von den neuartigen Empfindungen, die auf sie einstürmten. Mein Gott, dachte sie, so schön kann es also sein, berührt zu werden... so schön...! Und Tränen schössen in ihre Augen. »Komm!«, sagte er rau. Er ging in die Knie und zog sie zu sich herab. Sie gab nach, auf einmal blind und taub, ihre Beine schlagartig so nachgiebig, dass sie fürchtete zu fallen. Ihre Rechte schnellte vor, nach Halt suchend, fand etwas Hartes, klammerte sich daran, zog es mit sich ... Eine große kupferne Blumenwanne fiel mit dumpfem Poltern um und überschüttete sie beide mit schwarzglänzender Erde. Sie achteten nicht darauf. Er zog sie an sich. Die Bernsteinaugen glommen im matten Schein der Öllämpchen. Kompromisslos. Verlangend. Der Duft, den die Orangenbäumchen ausströmten, verdichtete sich, betäubend, berauschend. Sein Mund fing sie ein. Sie strich über seine Wangen, ihre erdverschmierten Hände hinterließen dunkle Spuren auf seinem Gesicht. Sie sah es, sog mit Wollust den warmen erdigen Geruch auf, der nun von Philippes Haut ausging, rieb sich daran. Die Küsse, die sie tauschten, schmeckten nach Moder und Orangenblüten, ihre Lippen waren süchtig danach. Isabelle griff in die feuchte Erde. Verteilte sie über Philippes nackten Oberkörper. Über seine Brust, seine Schultern, seinen Rücken. Zelebrierte ein noch nie ausgeübtes und doch uraltes heidnisches Ritual. Zeichnete ihn mit ihrer Liebe, nahm ihn in Besitz, überdeckte die tiefen Kerben des erlittenen Schmerzes auf seinem Körper, nahm ihn in ihren Schutz, für alle Zeiten. Er streifte ihre Schuhe ab. Eine seiner Hände glitt ihre Fessel hoch, ihre Wade, liebkoste ihre Kniekehle. Sie benetzte ihre Lippen. Ihre Blicke trafen sich. Seine Hand nahm ihren Weg wieder auf, unter ihren Röcken, auf dem Seidenstrumpf, bis sie auf die zarte Haut der Schenkel traf, und dann weiter, immer weiter, während ihre Augen sich festhielten und Isabelles Finger sich in seiner Haut festkrallten. Der Orangenblütenduft überreizte die Sinne, die Welt schwankte, Isabelle ergab sich, ihr Kopf kippte nach hinten, sie öffnete staunend den Mund, schloss ihn wieder, was wollte sie sagen, nichts, kein Wort in ihr, kein Wort aus der alten Welt, um eine neue zu beschreiben ... Ein Aufschrei, ein Urlaut, erstickt unter lächelnden Männerlippen. 125
Die Nacht verbrachten sie eng zusammengerollt an der warmen Mauer der Orangerie, umgeben von feuchter, modriger Luft, eingehüllt von betäubendem Duft, stumm, erdverschmiert und glücklich. Als Philippe schließlich einschlief, den Kopf auf Isabelles Schoß gebettet, war die Nacht weit fortgeschritten. Ab und zu bewegte Philippe sich, und Isabelle verfolgte schlaftrunken im weichen Schein des einzigen noch brennenden Öllämpchens, wie Träume seine Lider erzittern ließen. Dann strich sie über sein Haar, küsste seine Stirn. Einmal bewegten sich seine Lippen, und sie beugte sich über ihn. »Bunt...«, hörte sie ihn murmeln, tiefes Staunen in der Stimme. »So bunt ...« Seine Brauen zuckten. Dann fiel er in tiefen Schlaf zurück.
Zehn So große Vorzüge auch die Natur schenkt, sie allein macht noch keine Helden, sondern das Schicksal mit ihr im Bund. Februar 1651
Das Zimmer, in das Philippe gewiesen wurde, war von mittlerer Größe und dämmerig, da nur ein einzelnes schmales Fenster es auf der rechten Seite erhellte. Er betrat es mit beschwingten Schritten.
Ein großes Gitter teilte den Raum. Das enge schwarze Flechtwerk schien das gedämpfte Licht zu schlucken, das durch das Fenster fiel. Von der zweiten Hälfte des Raumes war kaum etwas zu erkennen. Auf Philippes Seite warteten zwei Stühle auf Besucher, ein einfaches hölzernes Kreuz stellte den einzigen Wandschmuck dar. »Setzen Sie sich, Monsieur«, befahl die alte Nonne, die Philippe hereingelassen hatte, und wies auf einen der Stühle. Philippe zog seinen Hut, trat an das Gitter, versuchte hindurchzuspähen. Sein Herz schlug bis zum Hals. Da erklang ein leiser, gedämpfter Ausruf aus der Dämmerung jenseits der Absperrung. »Philippe? Mon Dieu, mein Sohn, sind Sie es wirklich?« »Mutter?«, rief Philippe. Er presste sich an das Gitter, bohrte seine Finger hindurch. »Monsieur, setzen Sie sich bitte«, erklang erneut die strenge Stimme hinter ihm. Philippe ignorierte sie. Jetzt, wo seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er zwei Gestalten, die in etwa einem Schritt Entfernung standen. »Sind Sie sicher, dass er es ist, Sœur Marie-Bernard?«, hörte er eine Stimme leise fragen. »O ja, das bin ich! Der Herr sei gelobt! Der Herr sei gelobt bis in alle Ewigkeit für dieses Geschenk!«, rief Jehanne aus. Sie schnellte einen kleinen Schritt nach vorne, berührte das Gitter aber nicht. Nun konnte Philippe sie besser erkennen. Ein nacktes Gesicht, um 126
rahmt von einem weißen Schleier, warme, gütige Augen, in denen das Wasser stand, welke Haut, weiße, gefaltete Hände, von denen er genau wusste, wie warm und weich sie sich anfühlten. »Es ist ein Wunder, nach all diesen Jahren! Fast wollte ich es nicht glauben, aber ... Gott hat für mich alte Frau noch ein Wunder vollbracht!« Jehanne schüttelte den Kopf, hob die Hände an ihr Gesicht und weinte. Philippe verkrampfte seine Finger im schwarzen Flechtwerk, sprachlos, hin- und hergerissen zwischen Wiedersehensfreude und Schuldbewusstsein. Die zweite Gestalt legte einen Arm um Jehanne. »Ester?«, sprach Philippe sie an. Sie hob den Kopf. Es war ein bleiches, ernstes Gesicht. Die dunklen Augen leuchteten groß und tiefgründig. Ester war ein junges Mädchen gewesen, als Philippe sie zum letzten Mal gesehen hatte. Ruhig, fast zu ernst, doch von einer heiteren Gelassenheit, die ihren Umgang angenehm gemacht hatte. Besonders hübsch war sie nie gewesen, doch sie hatte eine Reinheit ausgestrahlt, die sie hatte anziehend wirken lassen. Jetzt musste Ester Mitte zwanzig sein. Ihre Lippen waren dünner als in seiner Erinnerung, ihre Züge hatten den frischen Reiz der frühen Jugend verloren. Sie wirkte noch ernster als früher. »Ich nenne mich jetzt Sceur Joseph-Marie«, antwortete Ester. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Sie sind also zurückgekommen? Sind Sie schon lange hier?« »Schon seit ein paar Wochen. Ich habe Sie beide überall gesucht.« »Was ist mit Ihrem Gesicht passiert? Sie sehen fürchterlich aus!« Philippe schwieg, verunsichert von der unterschwelligen Feindseligkeit, die er aus den Worten seiner Schwester herauszuhören glaubte. »Lassen Sie ihn, ma fille!«, schalt Jehanne sanft. Sie hatte sich inzwischen wieder gefangen. »Wir alle haben uns in den letzten Jahren verändert, nicht wahr? Alles, was zählt, ist, dass wir nun vereint sind.« Sie lächelte. Ihr Gesicht blühte auf vor Freude, und Philippe musste schlucken. »Wir haben uns viel zu erzählen! Lassen Sie uns die Stühle näher an das Gitter ziehen und uns niedersetzen. Als Erstes«, fuhr Jehanne mit bebender Stimme fort, »als Erstes, Philippe, müssen Sie mir von Ihrem Vater berichten! Dass er nicht an Ihrer Seite steht, lässt mich das Schlimmste befürchten!« Ein langes Schweigen entstand. Philippe senkte den Kopf. 126
Er biss die Zähne zusammen, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, so fest, dass seine Kiefer schmerzten. Herr im Himmel... Wie hatte er diesen Augenblick nur herbeisehnen können? Weshalb hatte er sich nie klargemacht, dass während dieses Wiedersehens Unmögliches von ihm verlangt werden würde? Seine Mutter und seine Schwester hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert war. Doch nichts als Leere herrschte in seinem Kopf.
»Vielleicht beginnen Sie doch lieber erst einmal mit Ihrer Abfahrt«, meinte Jehanne sanft. »Damals reisten Sie Ihrem Vater nach und hinterließen uns eine kurze Nachricht. Sie haben sich mit ihm eingeschifft?« »Ja.« Philippe räusperte sich. Er schloss kurz die Augen. Seine Stimme schwankte, als er fortfuhr: »Ja, ich bin ihm nachgereist. Und habe mich an Bord geschlichen, ohne dass Vater etwas bemerkte...« Er atmete ein. Langsam, stockend zunächst, dann selbstverständlicher, kamen sie zum Vorschein, die verhassten Worte. Jedes Wort, jeder Satz verursachte eine kleine Verletzung. Und während Philippe in seinem Bericht fortfuhr, wurde seine Stimme rauer und sein Hals wund. Er hörte erneut das Heulen der Mannschaft und das laute Beten der zwei Priester, als die kleine, wendige Galeere der Seeräuber auftauchte. Das Knirschen der Enterhaken auf dem Holz - das unbändige Gelächter des Anführers, als der französische Kapitän brüllend auf das Abkommen verwies, das zwischen dem Osmanischen Reich und Frankreich bestand. Philippe sah wieder den Arm des Piraten sich erheben, um sich den Turban vom Kopf zu reißen, er erlebte erneut, wie der Angreifer eine Flasche über den Musselinstoff des Turbans zerschlug, es entzündete ... Die Flammen loderten hoch, immer höher noch, als der brennende Stoff, durch einen Pfeil abgeschossen, auf der französischen Fregatte auf geteertes Tuch traf... Philippe spürte noch die ungeheure Hitze, die ihn explosionsartig umgab, fühlte sich wieder gepackt, mitgerissen, kopfunter in den Laderaum der Piraten geworfen. Der Erste wird immer durch die Luke geworfen, hörte er später, es bringt Glück... Dann die Überfahrt, im Bauch der Galeere, die paar Frauen, die 127
mit an Bord gewesen waren, strikt von ihnen getrennt, über ihnen das Ächzen der Mannschaft, unter ihnen das Schlagen der Wellen und von irgendwoher das Blöken eines Schafes. Dreieinhalb Tage später die Ankunft in Algier, ein überwältigender Ansturm auf die Sinne. Verschleierte Frauen, Männer mit drohenden Schnurrbärten, bauschigen Kniebundhosen und spitz zulaufenden Pantoffeln. Und christliche Sklaven ... Sklaven überall, Sklaven, die diese Stadt am Leben erhalten, ein Viertel der Bevölkerung Algiers ist christlich. Farben der Sonne, Farben wie Ockergelb und Palmengrün, Gerüche, die betören und Brechreiz verursachen. Unzählige Moscheen und einige christliche Kirchen. Heiße Dampfbäder, verlockend wie das Paradies, die selbst den Sklaven offenstehen. Die Pest, die pünktlich jeden Sommer kommt und Dutzende dahinrafft. Und er, Philippe, mittendrin, genießt es, auch wenn er nicht lächelt, weil Mace es sehen könnte. Zwei Jahre gehen vorüber, zwei Jahre, in denen Philippe es nicht satt wird, zu erleben, zu riechen, aufzunehmen. Und dann erlischt der Traum, verpufft. Kein Ockergelb und Palmengrün mehr auf der Galeere, auf die man ihn verbannt hat. Nur noch Schmutz, Schweiß, Blut und Schreie. Eine eiserne Kette, am Schiffsrumpf festgeschmiedet. Vier namenlose Leidensgenossen am selben Ruder, unzählige Ruder vor und hinter ihm zweihundertfünfzig Sklaven, die, wie er, von zwei Handvoll schwarzer Kekse am Tag leben. Nichts ist mehr da, was einen am Leben hält. Und dennoch ... Dennoch ist Philippe klar, dass er überleben wird. Er hat es seinem Vater im Geiste geschworen, unzählige Male, seit er angekettet wurde. Denn jetzt versteht er, was Mace so wichtig gewesen war. Etwas trägt ihn, gibt ihm Kraft, während andere zusammenbrechen. Es ist das Wissen um seine Stärke, das Bewusstsein seiner Herkunft, seines Blutes, das ihn schützt. Er gehört nicht hierher, das hat er endlich verstanden. Der Herbst kommt, die Saison der Raubzüge ist vorüber. Im nächsten Frühling sticht die Galeere erneut in See. Philippe überlebt auch das Jahr - sehr zum Staunen Sara Mostafas. Philippe ist achtzehn, gestählt durch die Entbehrungen an Körper und Seele und als Sklave inzwischen zu wertvoll, um ihn auf einer Galeere zu verlieren, selbst wenn das Lösegeld nie auftauchen sollte. vi
Philippe könnte nun das alte Leben wieder aufnehmen, ein Leben in Ockergelb und Palmengrün, es gibt noch viel zu entdecken. Doch dies ist ihm unmöglich. Das Bewusstsein seiner Identität hat ihn überleben lassen. Doch es verhindert nun, dass er sich je wieder der verführerischen Süße dieser fremden Welt hingibt. Es ist ihm klar, dass er fliehen muss. Schon bald ist er auf einem kleinen Fischerboot, das er und sechs Gefährten gestohlen haben. Philippe hat die anderen dazu überredet, es gibt immer Sklaven, die fliehen wollen, es gibt auch immer Glückliche, denen die Flucht gelingt. Alleine kann Philippe die lange Überfahrt nicht schaffen, da Mace alt und gebrechlich geworden ist und nicht mitrudern kann. Mace, der stumm am Bug sitzt, ausgehöhlt von zwei Jahren Sorgen um seinen Sohn. Er wollte nicht mit, wollte keine Last sein, kommt aber
doch, als Philippe sich strikt weigert, ohne ihn zu fliehen. Dann die Entdeckung, Fischer auf der Heimfahrt, die die Nussschale ausmachen und Alarm schlagen. Kurz darauf sind sie wieder da, in der Welt aus Ockergelb und Palmengrün. Viele Menschen sind gekommen, um sie zu sehen, diese Christen, die hatten fliehen wollen, diese Versager. Sie bilden eine Hecke aus Körpern und Köpfen, durch die Philippe und seine Gefährten sich hindurchdrängen müssen, erschöpft, schmutzig, die Wangen versengt von Wasser und Meer. Sie werden verhöhnt, verspottet, ab und zu stößt ein Ellenbogen zu, stellt sich ihnen ein Bein in den Weg, doch nichts Schlimmeres geschieht, weiß man doch, dass die Männer einer Auspeitschung nicht entkommen werden. Nur ihm selber, Philippe, den die anderen als Anführer bezeichnet haben, soll härtere Strafe zukommen. Er wusste es, in den letzten vier Jahren hatte öfters mal ein Körper an den Haken vor den Stadttoren gehangen. Er schreitet voran, mit erhobenem Haupt, sieht die Menge und sieht sie doch nicht, ohne Furcht, einfach ohne Furcht. Und dann bricht Mace zusammen, mit einem Mal, ohne einen Laut. Philippe fällt neben ihm auf die Knie, ebenfalls stumm zunächst. Eine Wunde an Maces Schläfe, klein und wie unbedeutend, seine starr geöffneten Augen, und neben ihm, am Boden, der Stein, der Stein ... Die Menge schart sich um sie, der Steinwerfer steht vorne, er ist noch ein Kind, zwölf, höchstens dreizehn Jahre, magere Beine in roten Hosen, erschrockene Augen. Und Philippe hebt den Stein 128
auf, und er lacht, er lacht, bis ihm die Tränen über die Wangen rinnen, er lacht, bis er glaubt, dass seine Lungen ihm bersten. Natürlich geschieht nichts dergleichen. Denn Philippe lebt, ist verdammt zu leben, wie Mace dazu verdammt war, in einer Welt aus Ockergelb und Palmengrün zu sterben. Bald steht er an seinem heißen Grab, seine Gefährten singen christliche Lieder, er selber bleibt stumm. Nur einmal noch schreit er, als das glühende Eisen seine Wange trifft. Dann verstummt er erneut. Man nimmt Abstand von ihm. Er gilt als seltsam, man weiß nicht, ist er hochmütig oder verwirrt. Neuerdings trägt er immer einen Beutel um den Hals. Drinnen ist ein steinähnliches Gebilde, das er auf Maces Grab fand, oval, ein wenig porös. Philippe weiß nicht, was es ist, doch er weiß, wie es dorthin kam: getragen von mageren Beinen in roten Hosen, die die Flucht ergriffen, als Philippe sich umsah. Die Monate, Jahre nach Maces Tod vergehen irgendwie, im Rhythmus der Jahreszeiten und der Fluchtversuche. Zunächst wird Philippe erneut in den Gärten beschäftigt, darf Oliven ernten, Mauern hochziehen, die Kanäle instand halten. Und Ratten verjagen. Er wirft das Messer nach ihnen, immer und immer wieder - bis er es schafft, eine Ratte aus dreißig Schritt Entfernung auf einen Palmenstamm zu spießen. Die Leistung begeistert seinen Herren, der Ahnungslose, er weiß nicht, dass Philippe für seinen nächsten Fluchtversuch übt. Denn er hat sich ein Boot aus Schilf gebastelt, dessen Inneres mit dem Leder alter Schuhsohlen abgedichtet ist. Es versinkt, kaum dass es das Wasser berührt, da hilft auch kein Messerwerfen. Als Nächstes benutzt Philippe eine Tür, dann Strandgut, das nach einem Sturm herangeschwemmt wurde. Alle Versuche schlagen fehl. Sara Mostafa ist es leid. Das Lösegeld hat er aufgegeben, der rebellische Sklave macht nichts als Ärger. Er hat keine Mühe, für Philippe einen guten Preis auf dem Basar zu erzielen. Philippes neuer Herr setzt ihn am Hafen ein. Philippe löscht jetzt Ladungen, dichtet Schiffsrumpfe mit Werg und Pech ab, schleppt Lasten. Er verbringt die Nächte im Bagne, einer Art offenem Gefängnis, in dem die meisten Sklaven der Stadt über Nacht eingesperrt werden. Eine Kirche befindet sich darin sowie Tavernen, die von Sklaven betrieben werden, die eine relative Freiheit genießen und 128
ihren Herren nur ein monatliches Entgelt zahlen müssen. Eine seltsame Gemeinschaft. Alle Sprachen, alle Nationalitäten treffen sich an diesem Ort, sogar die Bewohner Algiers verirren sich immer wieder hierher, um im Schutz der schmuddeligen Mauern den Wein zu trinken, den ihre Religion ihnen verbietet. Philippe löst sich allmählich aus seiner Stummheit, Bekanntschaften entstehen, fast schon Freundschaften. Mit diesen Bekannten plant er seinen letzten, aberwitzigen Fluchtversuch. Achtzehn Männer sollten an ihm beteiligt sein, Franzosen, Malteser, Italiener, Holländer und Griechen, alles erfahrene Seeleute. Durch die Abwasserkanäle soll es gehen. Sie fliehen während der Nacht. Ein bröckelndes Stück Mauer im Bagne wird erweitert, Essig hilft, den Mörtel zu lösen. Einer der Sklaven arbeitet tagsüber für einen Schmied: Dessen Hammer zerschlägt nun ihre Ketten, der laute Aufprall gedämpft durch mehrere Stofflagen. Sie schlüpfen durch die Öffnung aus dem Gefängnis, von ihrem Wächter unbemerkt, ihre schlechten Decken
nehmen sie mit. Sie zerstreuen sich, jeder kennt seine Aufgabe. Als sie sich an der Öffnung des Abwasserkanals wieder treffen, sind die Arme beladen: ein Dutzend Ruder, ein kleiner Sack Kekse, ein bisschen Obst, etwas Wasser, ein paar Werkzeuge und Messer - und der Sack, den Philippe auf dem Rücken trägt, gefüllt unter Sternenglanz und dem Geheul der Hunde. Als die anderen nun zögernd vor dem stinkenden schwarzen Schlund stehen, lässt Philippe sich als Erster hinunter. Es stinkt bestialisch, doch wie erwartet passt er gut durch die Öffnung, sie haben tagsüber heimlich mit Fassreifen Maß genommen. Er rutscht, gleitet durch Abscheuliches, Namenloses, treibt die quiekenden Ratten vor sich her, zwei Säcke vor den Bauch gepresst, einer davon mit Orangen gefüllt - und plötzlich, die Befreiung, Sternenhimmel, der freie Fall, die Scherben -, er erstickt im letzten Augenblick seine Schmer-zensschreie, beißt sich fest, Blut und Orangensaft füllen seinen Mund. Er rappelt sich hoch, horcht, der Stadtwächter bleibt ruhig. Hastig stößt er die Scherben weg, der Sand klebt, sein Blut pappt zu dunklen Klumpen zusammen, und schon spuckt das Loch den nächsten Flüchtling aus. Bald daraufhaben sie ein Boot ausgesucht unter denen, die nicht weit vom Strand auf der See dümpeln. Sie schwimmen hin, das Salzwasser foltert die Wunden, doch noch 129
immer müssen sie lautlos sein, Philippe beißt sich fest, beißt und beißt, er glaubt, seine Kiefer nie mehr lösen zu können. Sie haben Glück, sie finden ein paar Vorräte und einen Kompass an Bord vor. Sie basteln ein Steuer mit drei Rudern, nähen ein Segel mit ihren Decken. Acht Männer sind immer am Rudern, acht ruhen sich aus, einer sitzt am Steuer, ein anderer hockt unter dem Spritzdeck bei Kerzenschein und kontrolliert den Kurs auf dem Kompass. Es geht nach Norden, so weit die Winde und Kräfte der Männer es zulassen. Die Überfahrt wird zum letzten Kraftakt. Es mangelt an Wasser, an Nahrung. Als Land vor ihnen auftaucht, die schroffen Umrisse der Insel Mallorca, muss man ihn aus dem Boot tragen, das Steuer gewaltsam aus seinen Fingern lösen. Doch Philippe erholt sich schnell. Als die Quarantäne vorbei ist, löst sich die Flüchtlingsgruppe auf. Philippe arbeitet, jetzt als freier Mann, spart für die Überfahrt nach Frankreich. Und fast genau zehn Jahre nachdem er heimlich seinem Vater gefolgt war, betritt Philippe wieder seine Heimat. Auf dem Rücken ein Sack, um den Hals ein Stein, von dem er erst zufällig in einer Taverne in Marseille erfahren wird, dass er wertvoll sein könnte. Sein erster Weg führt ihn nach Rochastre. «Seigneur, pardonnez à l'humble pécheur...«, murmelte eine heisere Stimme. Verzeiht dem Sünder, Herr... Philippe drehte sich um. Die alte Nonne betete, in sich versunken. Hatte sie seine Beichte mitgehört? Er fuhr über sein Gesicht. Hatte er das alles gerade geträumt? Hatte er tatsächlich all die Worte ausgesprochen, die ihn erfüllten? Seine Seele so bloßgelegt, wie er sich fühlte? Er spähte durch das Gitter. Ester und seine Mutter sahen ihn an. Sie hielten sich an den Händen. »Er ruht in den Saints-Innocents, Mutter«, schloss Philippe. »Auch er ist zurückgekommen.« Jehanne nickte langsam. »Ja. Es ist gut. Alles ist gut.« »Ist es das wirklich?«, fragte Philippe. »Sie und meine Schwester hier, in den Visitandines ...« »Doch, das ist es, Philippe. Wir haben den Frieden gefunden. Wir haben aufgehört zu kämpfen, uns gegen Gottes Willen aufzulehnen, 129
und das hat uns gerettet. Man war sehr gut zu uns hier. Die Schwestern haben uns voller Liebe aufgenommen.« »Aber weshalb ein Kloster?« »Ich hatte nicht das Herz, das Schloss, in dem Ihr Vater und ich glücklich gelebt hatten, verfallen zu sehen. Das, was ich verkaufte, um das Lösegeld aufzubringen, ließ uns genug zum Leben, doch mehr nicht. Als ein Sturm ein Loch in das Dach brach, stand meine Entscheidung fest. Ich verpachtete das Land und zog mit Ester hierhin. Es ist ein milder Orden - kein Schweigen, kein hartes Liegen auf Holzpritschen, nichts, was das Leben einer alten Frau unerträglich macht. Wir sind von der Außenwelt abgeschlossen, doch was hatte die Außenwelt uns noch zu bieten?« Sie lächelte. »Dass Sie heute hier sind, bestätigt meinen Entschluss.« »Und Sie, Ester? Was ist mit Ihnen? Sie sollten heiraten, als ich wegging ...« »Meine Mitgift war ein Teil des Lösegeldes, Philippe«, antwortete Ester trocken. »Wie hoch, schätzen Sie, ist das Interesse an einem Mädchen im heiratsfähigen Alter, das noch nicht einmal fünftausend Livres mitbringt?« »Sceur Joseph-Marie, bitte«, mahnte Jehanne ihre Tochter.
«Quoi donc? Mein Bruder hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren! Haben wir uns nicht seinen Bericht angehört?« »Geht es Ihnen wirklich um die Wahrheit?«, fragte Jehanne leise. »Oder nur um Ihren Schmerz? Die Bitterkeit, die Ihr Herz erfüllt, bekümmert mich.« »Ester hat recht, Mutter«, widersprach Philippe düster. »Ich möchte alles wissen!« Er beugte sich vor, fragte eindringlich: »Deshalb möchte ich Sie nun bitten zu erzählen, was während meiner Abwesenheit geschah. Wie verfuhren Sie mit dem Lösegeld? Wem vertrauten Sie es an? Und vor allem: Wer ist der Mann, der unser Unglück ausnutzte, um sich aufs Schändlichste zu bereichern?« Ester und Jehanne wechselten einen Blick. Ester biss sich auf die Lippen. »Es sollte nach Italien gehen«, antwortete Jehanne, den Blick auf ihren Schoß gerichtet. »Nach Livorno. Zu einem Juden, der mit einem in Algier lebenden Glaubensgenossen in Verbindung stand und viel Erfahrung mit dieser Art von Handel hatte.« 130
»Der Name dieses Mannes?« »Salvago«, antwortete Ester. »Sein Name ist ohne Relevanz«, meinte Jehanne fest. »Er hat das Geld nie bekommen!« »Aber wo ist es denn dann geblieben?«, drängte Philippe. Wieder ein Blick zwischen den beiden Frauen. Jehanne antwortete: »Der von mir ausgesandte Bote wurde auf dem Weg nach Italien abgefangen und getötet. Es war ein Raubüberfall, wie er in unserem Land jeden Tag ein Dutzend Mal stattfindet, Philippe. Ein übler und sehr trauriger Zufall.« Philippe bemerkte, wie Ester die Lippen zusammenkniff. »Möchten Sie etwas hinzufügen, Ester?«, fragte er. Seine Schwester sah fest in seine Augen. »Der Bote war nicht alleine. Sechs gut bewaffnete Männer begleiteten ihn.« »Sie meinen, diese Begleiter könnten den Boten ...?« »Nein«, schüttelte Ester den Kopf. »Es waren gute Leute. Alte Soldaten, redlich und kampferprobt, gut bezahlt und bis an die Zähne bewaffnet. Außerdem war ihnen nur befohlen worden, den Boten zu schützen. Sie wussten nichts von dem Lösegeld. Was ich meine, ist, dass es kein normaler Raubüberfall war.« »Sceur Joseph-Marie ...!«, warf Jehanne vorwurfsvoll ein, doch diese ließ sich nicht beirren. »Kein Wegelagerer wird das Risiko eingehen, einen solchen Trupp anzugreifen, wenn er nicht überzeugt ist, dass dieser etwas Lohnens-wertes mit sich führt!«, behauptete sie, und ihre Augen sprühten vor Zorn. »Die Männer sind des Nachts attackiert worden. Sie übernachteten bei einem Flößer, in dessen Haus. Und seine Tür wurde nicht aufgebrochen.« Sie warf ihrer Mutter einen Blick zu. »Ich habe das Protokoll gelesen, das nach dem Überfall aufgenommen wurde.« »Ein Stück Papier!«, schüttelte Jehanne den Kopf. »Ma mère, wir sind verraten worden! Jemand hat die Tür geöffnet, derselbe, der verriet, was der Trupp mit sich führte!«, widersprach Ester heftig. »Weshalb wollen Sie das partout nicht wahrhaben?« »Weil es keinen Unterschied macht!«, antwortete Jehanne. Ihre Finger verknoteten sich, und sie sackte ein wenig zusammen. »Es macht keinen Unterschied, Sceur Joseph-Marie!«, sagte sie tieftraurig. »Sie sind tot, alle tot, und es ist meine Schuld!« 130
Philippe schluckte. »Tot?«, fragte er. Ester hatte tröstend einen Arm um ihre Mutter gelegt, doch ihr Blick war fest, als sie Philippe ansah. »Sie sind alle umgekommen, Philippe. Der Bote und die Männer. Es war ein Massaker ...« Kurz verschleierte sich ihr Blick, doch dann gewann sie ihre Fassung wieder. »Jemand wollte absolut sicher sein, dass es keine Zeugen gab!« »Alle!« Jehanne öffnete ihre Hände in einer Geste der Ohnmacht und Fassungslosigkeit. »Es ist furchtbar, dass das Lösegeld gestohlen wurde. Doch dass so viele Menschen durch meinen Befehl umkamen, werde ich mir nie verzeihen.« »Wen verdächtigen Sie?«, fragte Philippe seine Schwester. »Den Boten!«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Sceur Joseph-Marie!«, rief Jehanne, diesmal sichtlich ärgerlich. »Julien alleine wusste von dem Geld! Und Julien konnte die Tür von innen öffnen!« »Julien ...?«, fragte Philippe. Er schluckte hart, und seine Stimme klang noch rauer als vorhin, als er sagte: »Ich kenne nur einen Julien ...«
»Julien Gosse, ja«, sagte Ester. »Der Neffe von Mutters Zofe. Julien Gosse, mit dem Sie unzählige Male spielten, als Sie noch Kind waren.« Böse sagte sie: »Julien ist mit Ihnen aufgewachsen, Philippe. Und er hat das Leben auf dem Schloss genossen. Als Sie plötzlich weg waren, hatte er keinen Vorwand mehr, seine Tage bei uns zu verbringen, und musste sich wieder auf die Kate beschränken, die er mit seinem griesgrämigen alten Vater teilte. Wir haben uns keine Gedanken darüber gemacht, wie schwer ihm diese Umstellung fiel. Und ob er uns vielleicht sogar deswegen hasste.« Sie zögerte, zuckte die Schultern. Sanfter und mit veränderter Stimme fügte sie hinzu: »Er schien uns der ideale Mann, um ihn auf die Reise zu schicken, Philippe! Wir kannten ihn schon so lange. Er war so absolut vertrauenswürdig!« Tränen glitzerten in ihren Augen, und sie senkte schnell die Lider. Philippe schlug mit den Händen an das Gitter. »Das war er auch!«, rief er. »Julien war mein Freund! Er mochte gutes Essen, er schätzte das Schöne, das stimmt, aber ...« Er überlegte, schüttelte den Kopf. »Ich behaupte nicht, dass Sie sich irren, Ester. Menschen ändern sich. Doch ich bin mir sicher, dass Julien nicht alleine auf den Gedan 131
ken gekommen ist, das Lösegeld stehlen zu lassen. Er war mittellos. Woher hätte er die Handlanger kennen sollen, die ihm halfen, wovon sie bezahlen können? Er war ein bequemer Mensch, keiner, der große Pläne machte und bereit war, sich für ihre Durchführung anzustrengen. Nein«, bekräftigte Philippe, »er kann es nicht alleine gewesen sein. Jemand hatte zusätzlich die Hände im Spiel.« Er suchte auf Esters Zügen, doch diesmal sah sie ihn nur ratlos an. Auch Jehanne meinte: »Ich weiß nichts von einem weiteren Menschen, mein Sohn, glauben Sie mir.« Ihr besorgter Blick traf ihn. »Ich sehe Sie noch sehr verstrickt in die Vergangenheit. Ich verstehe das, denn Sie sind eben erst zurückgekehrt. Sie hatten nicht so wie wir beide die Möglichkeit, sich mit unserer heutigen Situation abzufinden, und Sie tragen die Spuren des Unrechts, das Ihnen widerfahren ist, auf Ihrem Körper. Schon lange habe ich kein Recht mehr, Ihnen Ratschläge zu erteilen. Doch ich wünschte mir, Sie würden die Gedanken der Rache und Vergeltung aufgeben, die ich hinter Ihren Fragen erahne.« »Aufgeben?«, fragte Philippe. Er stieß sich vom Gitter ab, machte ein paar schnelle Schritte. »Bei Gott, Mutter, Sie wissen nicht, wovon Sie reden!« Ein empörter kleiner Ausruf von hinten bestrafte seinen Fluch, und Jehanne senkte beschämt den Blick. Alleine Esters dunkle Augen begleiteten seine ruhelose Wanderung. »Wenn ich aufgegeben hätte, stünde ich nicht vor Ihnen! Haben Sie mir zugehört vorhin? Haben Sie das? Wo, Ihrer Meinung nach, wäre ich heute, wenn ich mich nicht an der Hoffnung nach Rache festgebissen hätte? Und was, glauben Sie, würde Vater dazu sagen?« »Aber Philippe ...«, flehte Jehanne. »Nein!«, rief Philippe. »Herrje, Mutter, es muss doch irgendetwas geben, das mir helfen könnte! Ein Indiz, eine Beobachtung, ein aufgeschnapptes Wort!« Er erfasste das Gitter erneut. »Parbleu, verstehen Sie denn nicht? Julien ist tot, seine Gefolgsleute auch! Wer soll mir weiterhelfen, wenn nicht Sie oder Ester? Wer, wenn nicht meine eigene Familie?« Er rüttelte wütend an dem verfluchten eisernen Flechtwerk. »Wer?«, schrie er noch einmal. Jehanne erbebte. »Philippe, bitte nicht!«, flehte sie. »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie sich nun zurückziehen, mein Sohn«, mischte sich die Nonne aus dem Hintergrund energisch ein. 131
»Sie wissen doch etwas!«, schrie Philippe, fast ohnmächtig vor Zorn. »Sie müssen etwas wissen! Mutter, weshalb tun Sie das? Wollen Sie mich strafen, ist es das? Für meine Torheit, das Unglück, das ich über uns brachte?« »Nein, o Gott, nein!«, flüsterte Jehanne. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren voller Tränen. Kaum hörbar sagte sie: »Ich tue es, weil ich Sie liebe, mein Sohn!« »Mutter!«, flehte Philippe. Sein Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war. Er fiel auf die Knie. »Mutter, es gibt da eine Frau ... Ich will sie heiraten, doch...« Er hob die Hände. »Wie soll eine Frau jemals jemanden wie mich zum Mann nehmen? Einen Mann ohne Ehre?« Eine Glocke läutete. Jehanne schüttete den Kopf. »Die Vergangenheit muss ruhen! Lassen Sie sich von Gott führen, Philippe! Sein Wille ist nicht die Rache, sondern Vergebung und Verzicht!« »Mutter!«
Jehanne erhob sich. »Kommen Sie, Sceur Joseph-Marie! Die Glocke läutet zum Gebet.« Sie warf Philippe einen letzten Blick zu. »Sie müssen wieder lernen zu vertrauen, mein Sohn! Vertrauen Sie unserem Schöpfer, legen Sie Ihr Schicksal in Seine Hand! Sie haben genug gekämpft für drei Leben. Sie haben die Stärke genutzt, die Gott Ihnen verlieh, und damit Sein Wohlgefallen erlangt. Jetzt ist es an der Zeit, Großmut zu beweisen. Ergeben Sie sich, Philippe! Öffnen Sie Ihre Seele!« Sie drehte sich um und hastete aus dem Raum.
* Isabelle stand stumm vor dem Spiegel. Leider musste sie Marion recht geben. Diese neuen, horizontal verlaufenden Verschnürungen, die an ihrem Ausschnitt begannen und sich verjüngend bis zum Ansatz des Rockes fortsetzten, machten eine wundervolle Figur. Ihre Schneiderin hatte gesagt, die Brandebourgs seien von den Uniformen deutscher Soldaten übernommen worden. Sie holte Luft. Wenn schon Kriegskleidung, dann doch besser ein Kettenhemd! Sie hätte etwas Schutz wahrhaft gebrauchen können, bei dem, was heute auf sie zukommen würde! 132
Marion stieß einen spitzen Schrei aus. »Die Diamanten! Wir haben die Diamanten vergessen! Monsieur le Duc hat ausdrücklich verlangt, dass Sie sie heute tragen!« Sie warf einem bereitstehenden Hausmädchen zu: »Vite! Hol mir die Schmuckschatulle, die auf dem Bett liegt! Ich hörte, wie Monsieur le Duc bereits Befehl gab, die Pferde anspannen zu lassen, wir müssen uns beeilen!« Isabelles Magen zog sich zusammen. Ja, unten stand Helenus und wartete. Wartete auf ihr Erscheinen, um mit ihr zum Palais de Conde zu fahren. Louis de Conde, Beaufort würden zugegen sein. Man würde ihr eine Feder in die Hand drücken, irgendjemand würde einen Segen aussprechen - sie ballte die Fäuste. Philippe ... Mein Gott, wo blieb er bloß? Den ganzen Tag schon wartete sie auf ihn und seinen Bericht. Er hatte doch versprochen ... Sie zuckte zusammen, als Marion ihr das kalte, gleißende Geschmeide um den Hals legte. »Was machen Sie da, Mademoiselle?«, rief Marion, als Isabelle an der Kette zerrte. »Es ist zu eng!«, rief Isabelle am Rande der Tränen. »Nimm es wieder ab! Ich bekomme keine Luft!« Marion drehte sich zu den drei Mädchen um, die auf Befehle warteten, und klatschte in die Hände. »Verschwindet! Raus mit euch!«, rief sie. Dann wandte sie sich wieder Isabelle zu. »Mademoiselle«, sagte sie sanft, fasste sie an den Schultern und drehte sie zum Spiegel. »Schauen Sie sich an! Schauen Sie sich einen Augenblick mit fremden Augen an!« Isabelle sah glasklare Steine wie Tautropfen auf heller Haut funkeln, einen Hals, der schlank aus dem Kragen wuchs, die Fülle blonder Locken, die das Oval eines Gesichtes umrahmten. Sie sah eine selbstbewusste Stirn, hohe, waagerechte Brauen. Leicht schräge Augen, in ihnen Trotz und Verzweiflung. Eine gerade Nase, ausgeprägte Wangenknochen. Einen breiten, vollen Mund. Ein Kinn, eine Spur zu fest und kühn. »Sehen Sie sie jetzt auch? Diese wundervolle Braut?«, flüsterte Marion. Isabelle riss die Augen auf, stieß einen erstickten Schrei aus. »Nein! Die bin ich nicht!«, rief sie, wirbelte herum und stürzte aus 132
dem Zimmer. Sie hastete durch den ersten Stock, hörte Marion hinter sich rufen, stellte sich taub, suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Da, die Treppe ... Sie war schon fast im Erdgeschoss, als sie den Disput hörte. »Ich möchte doch nur ein paar Worte mit Ihrer Herrin sprechen!« »Es tut mir leid, Monsieur de Vigueil. Gerne werde ich melden, dass Sie vorgesprochen haben, doch Mademoiselle dArzelles ist leider unabkömmlich.« Isabelle stolperte vor Erleichterung. »Beautru!«, rief sie atemlos, »Lassen Sie Monsieur le Comte sofort herein! Und ich verbiete Ihnen in Zukunft, Besucher in meinem Namen fortzuschicken, ohne mir vorher Bescheid zu geben!« Beautrus Oberlippe erzitterte. »Monsieur le Duc wartet bereits in der Kutsche, Mademoiselle!« »Komm!«, rief Isabelle und packte Philippe bei der Hand. Sie zog ihn hinter sich her bis in einen kleinen Salon, warf die Tür hinter ihnen zu. »Gott sei Dank bist du gekommen!«, rief sie und warf sich in seine Arme. »Das ganze Haus spielt verrückt, Helenus hat sich tatsächlich in den Kopf gesetzt, mich heute mit Beaufort zu vermählen ...!« Sie sah zu ihm hoch. »Warum sagst du denn nichts? Hast du mich nicht verstanden?« Sie
stockte, sah ihn genauer an. Ihr Herz sprang wild in ihrer Brust. Philippes Gesicht war grau, seine sonst so klaren Augen wie erloschen. »Was ist los? Weshalb stehst du stumm da, weshalb umarmst du mich nicht?«, fragte sie verängstigt. Er mied ihren Blick. »Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, wenn du Beaufort heute noch heiratest«, sagte er tonlos. »Dann haben wir es wenigstens hinter uns.« Sie ließ ihn los, fuhr zurück. »Was sagst du da?« »Mit mir... Mit mir wirst du nicht mehr rechnen können.« Philippes Lächeln ähnelte einer Grimasse. »Ich falle als Heiratskandidat aus.« »Hast du deine Mutter nicht gefunden? Hat Anne sich geirrt?« »Nein, das hat sie nicht. Ich sprach mit meiner Mutter und meiner Schwester.« Philippe schluckte. Endlich sah er sie an. »Ich werde den 133
Namen der Vigueils nie von dem Verdacht des Verrates reinwaschen können, Isabelle. Es gibt keinen Zeugen von meines Vaters Unschuld. Das Lösegeld wird verschwunden bleiben mitsamt dem elenden Schuft, der es erbeutet hat.« »Aber ... Das hindert uns doch nicht daran, den König um deine Rehabilitierung anzuflehen!«, rief Isabelle. »Ich bin sicher, er wird dir Gehör schenken! Man braucht dich doch nur anzusehen, um dir zu glauben! Die Wahrheit deiner und deines Vaters Geschichte ist in dein Gesicht gemeißelt!« »Ach ja?« Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er fuhr sie an: »Was stellst du dir vor? Soll ich mich vor Louis ausziehen und um Gnade flehen? Ist es das, was du dir vorstellst? Ich fürchte, es bedarf etwas mehr als ein paar Narben, um einen glaubhaften Zeugen abzugeben!« »Aber eure Verarmung, das zurückgezogene Leben deiner Mutter...« »Viele treten in ein Kloster ein! Das macht sie noch lange nicht zu Opfern! Meine Mutter zog schon einmal von Haus zu Haus! Niemand glaubte ihr damals! Alle dachten, sie selber sei von meinem Vater betrogen worden! Warum, glaubst du, soll sich das geändert haben?« »Aber das Geld!« »Das Geld ist verschwunden, ja! Wir sind verarmt, das ist offensichtlich! Doch wie viele Wege gibt es, sein Vermögen zu verlieren? Dafür muss man nicht unbedingt entführt werden! Wer käme nicht früher oder später auf die Idee, ich könnte ein besonders raffiniertes Spiel spielen und dreist versuchen, in der alten Heimat mit einer abenteuerlichen Geschichte wieder Fuß zu fassen?« Philippe atmete heftig. »Nein«, schloss er, »nein, Isabelle, es gibt keinen Ausweg. Nichts kann ich beweisen, nichts!« Isabelle hob die Arme zu ihm hinauf. »Und wenn auch - es ist mir egal! Was hat es mit unserer Liebe zu tun? Ich will dir trotzdem gehören!« »Du weißt nicht, was du sagst! Wie soll ich jetzt noch bei deinem Großvater um deine Hand anhalten?«, fuhr Philippe sie an. Gepresst fügte er hinzu: »Belle, ich bin oft in meinem Leben gedemütigt worden. Aber das - das muss ich mir nicht antun!« 133
Isabelle dachte fiebrig nach. Auf einmal fiel ihr Therese ein - auch sie hatte sich gegen die Heiratspläne ihres Vaters gewehrt! Und schließlich den Mann geheiratet, den sie liebte! Genau, das war es ... Sie würden es machen wie Therese de Faurepas! »Dann halte eben nicht um meine Hand an! Wir bestechen einen Priester und lassen uns heimlich trauen! Bitte lass uns fliehen!« Isabelle packte Philippe an den Oberarmen, flüsterte hastig: »Jetzt ... Sofort! Die Küche hat einen Hinterausgang ... Und es gibt die Pforte neben der Orangerie... Wir werden im Nu in der Menge verschwinden, es sind noch immer so viele Leute unterwegs ...« »Belle!« Philippe löste ihre Umklammerung. »Belle, hast du dich einmal angeschaut? Mit dem Kleid willst du durch den Pöbel...« »Ich tausche es um! Wir haben es schon einmal gemacht, oder? Und dann werden wir wieder laufen ... stundenlang, zu Fuß, wenn es sein muss!«, flehte Isabelle. »Gerade eine Woche ist es her, Philippe! Erinnerst du dich? Ich war so glücklich...«Sie weinte. »Kannst du das alles schon vergessen haben?« »Belle, wie könnte ich das? Du verstehst mich nicht...«Er zog ihre Hände an sich, redete eindringlich auf sie ein. »Belle, das Kleid ... Dieses Kleid, das bist du! Es ist dir angewachsen, du kannst es noch so oft abstreifen!« Seine Stimme erstarb. Er schluckte, zog die Brauen zusammen. »Ich habe nächtelang geträumt von dir, noch bevor ich dich kannte! Du bist alles, woran ich glaubte, Isabelle! Du bist eine Dame! Ich werde dich in keinen Sumpf hinabziehen!« Isabelle stand stumm da, mit weit aufgerissenen Augen, innerlich und äußerlich erstarrt. Seine Worte glühten in ihrer Seele nach. Sie erbebte.
»Nein!«, schrie Isabelle auf. »Nein!« Sie faltete die Hände. »Philippe, sieh mich an!«, flehte sie und suchte seinen Blick, »du musst mir jetzt gut zuhören.« Ihre Stimme versagte. Auf einmal bebte ihr ganzer Körper. Erfolglos versuchte sie zu reden. Schließlich wisperte sie kaum hörbar: »Was du sagst, stimmt nicht!« Sie rang die Hände, riss sich gewaltsam zusammen, bis es ihr gelang, hastig und einigermaßen verständlich fortzufahren: »Ich bin nicht die, für die du mich hältst! Ich bin nicht unerreichbar oder zu gut für dich! Keine Dame, kein Ideal... Nur eine einfache Frau aus Fleisch und Blut...«Sie riss an seiner Jacke, bohrte ihren Blick in den seinen. Als es schließlich 134
aus ihr herausplatzte, explodierte ihre eigene Stimme überlaut in ihren Ohren: »Ich bin die Tochter eines Bauern!« Stille. Ihre Blicke tasteten einander ab. Schließlich war es Philippe, der kopfschüttelnd fragte: »Was soll das, Isabelle? Was bezweckst du damit? Ich verstehe nicht!« »Ich heiße nicht Isabelle. Mein wahrer Name lautet Magdelaine Malvoy. Du hast meinen Vater vor ein paar Tagen kennengelernt.« »Aber... das ist doch nicht möglich!« Philippe war blass geworden. »Doch, Philippe, das ist es«, widersprach Isabelle. Sie war völlig erschöpft. Sie fuhr über ihr Gesicht. Die Worte kamen nun selbstverständlicher über ihre Lippen. »Ich war neun Jahre alt, als ich erfuhr, dass der Herzog de Noirlieu nach seiner Enkelin suchte. Seine Enkelin aber, die meine Milchschwester war, war schon lange gestorben. Ich nahm ihre Stelle ein. Niemand außer meiner richtigen Familie weiß davon.« Philippe ließ sie los. Auf einmal war ihr kalt - so kalt wie noch nie zuvor. »Du siehst, deine Rücksicht ist falsch, Philippe«, sagte Isabelle hastig und lächelte. »Deine Liebe kann mich nicht herabsetzen, sie kann mich nur erheben! Lass uns fliehen, mon chéri, ich bin bereit, dir überallhin zu folgen ...«
* Philippe verstand nur zum Teil, was sie sagte, konnte kaum erfassen, was ihre Worte ihm aufdrängten. Ein Bauernmädchen, dachte er. Ein Teil von ihm empfing die Botschaft, verglich sie mit den Erfahrungen und Bildern, die er von ihr hatte. Bilder von dem blonden Bauern, der sie an sich drückte. Von den zwei Mädchen mit Isabelles Locken. Und er ahnte, dass sie die Wahrheit sagte. Er fühlte sich hilflos. All sein Tun war bisher von Erzählungen seines Vaters und seinen eigenen bitteren Erfahrungen diktiert worden. Er hatte keine Ahnung, wie er auf Isabelles Eröffnung reagieren sollte. Aber eigentlich war das auch nebensächlich. Ihre Beichte mochte seinen Geist, seine Seele bestürzen - sein Herz traf sie nicht. Er liebte Isabelle, würde sie immer lieben. Sie war zu sehr ein Teil von ihm, als dass ihre Worte etwas daran hätten ändern können. 134
»Lass uns fliehen, mon amour ... Jetzt gleich!«, drängte sie. Sie schob ihre Finger in seine Hand, und er umschloss sie, ohne darüber nachzudenken, weil es das Einfachste und Richtigste der Welt war. Ihr Arm spannte sich, sie zog ihn in Richtung Tür. »Komm jetzt, Helenus ist schon im Wagen, er wird uns nicht sehen ...« Wie schön sie war! Wie verlockend! Er stellte sich vor, wie es sein würde, ihr zu folgen. Eine abenteuerliche Flucht, ihre Heirat in einer kleinen, verlassenen Kirche und in der Nacht darauf ihr schweres Haar, das befreit über ihren Rücken sprang, ihre helle Haut unter seinen Händen. Mann und Frau, vor der Welt und gegen sie. Man würde nach ihnen suchen, sie verfolgen, ihre Heirat anfechten, doch letztendlich würde niemand etwas an den vollendeten Tatsachen ändern können, selbst der allmächtige Conde nicht. Philippe besaß inzwischen Geld genug, es würde reichen für ein bescheidenes Leben. In Rochastre könnten sie sich einrichten, und vielleicht würde es ihnen sogar gelingen, das Dach des Schlosses zu richten. O ja, dachte er, als er in ihre weit aufgerissenen Augen sah, ich würde glücklich sein mit ihr. Sie würde mir Kinder schenken, wir würden zusammen reifen, ich würde das erste Grau in ihrem Haar feiern, und zu jedem Fältchen in ihren Augenwinkeln wüsste ich eine gemeinsame Geschichte. Sie würde mir alles bedeuten, so wie ich alles für sie sein würde. Etwas würgte in Philippes Hals. Das alles also hätte sein Leben sein können. Ein paar Schritte aus diesem Haus nur, Hand in Hand mit ihr. Noch nie war etwas Unmögliches so erschreckend leicht erschienen.
Er schloss die Augen, um Isabelle nicht mehr sehen zu müssen, und brachte es hinter sich. »Ich kann nicht mit dir gehen.« Sie wurde kreideweiß. »Aber ...«, begann sie heiser und befeuchtete sich die Lippen. »Hast du nicht gehört? Deine Skrupel...« »Es geht nicht, Isabelle.« »Aber ... aber gestern noch wolltest du mich zur Frau nehmen!« Sie stellte sich vor ihn, streckte ihm ihr nacktes Gesicht entgegen. »Das wollte ich, doch unter völlig anderen Voraussetzungen!« »Voraussetzungen?« Es schien unmöglich, doch ihre Augen wur 135
den noch größer. »Was für Voraussetzungen meinst du? Etwa, dass ich gestern Abend noch die Abstammung hatte, die sich für die Frau eines Vigueils geziemte?« »Aber nein! Was redest du da für einen Unsinn? Gestern Abend war ich voller Hoffnung, die Wahrheit von meiner Mutter zu erfahren!« »Gestern Abend warst du voller Mut, nichts hätte dich erschüttern können! Gestern Abend warst du noch bereit, für uns die Welt aus den Angeln zu heben!« Tränen rannen über ihr Gesicht, doch sie beachtete es nicht. »O Philippe ... Ich verstehe das nicht! Wenn das, was ich dir eben gesagt habe, wirklich keinen Unterschied macht, so beweise es mir!« Er zog sie an sich und küsste ihre Schläfe, ließ sie aber sofort wieder los. Sie zu berühren war gleichsam eine Versuchung, der er nicht gewachsen war, und eine Belohnung, deren er sich nicht würdig fühlte. »Ich kann jetzt nicht von Paris weg, Isabelle! Ich muss wissen, was damals geschehen ist!« Sie machte einen halben Schritt zurück, schüttelte den Kopf. »Ich bin bereit, alles für dich zu verlassen, Philippe! Meine Großeltern, das Leben, das ich führe ... Ich würde es für dich tun! Und ich ... ich glaube auch, dass du Ähnliches für mich tun würdest! Weil wir füreinander bestimmt sind! Weil es Momente im Leben gibt, die kompromisslose und schmerzhafte Entscheidungen verlangen!« Bebend von der Anstrengung, sich zu beherrschen, fuhr sie fort: »Weil ich es nicht aushalten würde, wenn du mich weniger lieben würdest als ich dich, Philippe!« Ihre Blicke hielten sich fest, und er begriff, dass sie ihn nicht verstehen würde. Wie sollte sie auch? Sie war ein absolutes, leidenschaftliches Wesen. Sie hatte als Neunjährige bereits ihr Leben weggeworfen, um ein neues zu beginnen. Er selber kannte diese Leidenschaft - auch er war einst von ihr beseelt gewesen. Doch im Gegensatz zu Isabelle hatte er bitter bereuen müssen, ihr nachgegeben zu haben. Sie hatte ihn aus Rochastre gerissen und das Leben seiner Familie ruiniert. Philippes ganzer Körper schmerzte. Er schüttelte den Kopf. Nein, sie konnte nicht verstehen. Sie wusste nicht, wie es war, wenn ein Peitschenknall über einem Ochsengespann ein Echo auf der eigenen iS1 35
Haut auslöste. Wenn das Rasseln einer Kette plötzliche Hassgefühle hervorrief. Wenn das eigene Schluchzen einen nachts aus dem Schlaf riss. Wenn man auf dem Grab seines Vaters Rache schwor. Rache, ja ... Rache! Er würde auf Rache verzichten müssen, wenn er Isabelle jetzt folgte! Alle Türen würden auf ewig jemandem verschlossen bleiben, der die Erbin des Herzogs de Noirlieu entführte! Der alte Faurepas würde dafür sorgen, dass all seine Mühen, in der Hauptstadt Fuß zu fassen, scheitern würden! »Lass mich gehen, Isabelle!« Er wollte nur noch weg, fort von ihr, von ihren gleichzeitig flehenden und fordernden Augen. »Warum, Philippe? Sag es mir!« Nie war sie schöner als in diesem Augenblick, zerrissen zwischen ihrer Angst, ihrem Schmerz und ihrem Stolz. Wie konnte ein Mensch gleichzeitig so verletzlich und so unglaublich stark wirken? »Warum, Philippe? Du schuldest mir eine Antwort!« »Also gut!«, rief er. Ein unwiderstehlicher Drang, ihr wehzutun, bemächtigte sich seiner. Und plötzlich wusste er genau, was er sagen musste, damit sie endlich von ihm abließ. Hatte sie ihm dafür nicht selber die Waffe geliefert? Er beugte sich zu ihr hinab. »Du willst es wissen? Du willst es unbedingt wissen? So höre denn gut zu, Isabelle: Ich habe bereits genug dazu beigetragen, den Namen meiner Familie zu entehren! Ich werde die Vigueils nicht weiter herabsetzen, indem ich ein Bauerngeschlecht in unsere Ahnentafel aufnehme!« Ihr Gesicht zersprang in tausend Stücke. Hass loderte in ihm auf. Hass auf die Frau vor ihm, auf die Welt und auf sich selbst, auf alles, was ihn gefesselt hatte und noch immer fesselte, auf alles, was ihn daran hinderte, das zu sein, was er wirklich sein wollte.
Er schrie sie an: »Hast du wirklich allen Ernstes geglaubt, dass ich eine Betrügerin zur Mutter meiner Kinder mache? Wie verdorben muss man sein, um Jahre hindurch ein altes Paar zu hintergehen? Wörter wie Vertrauen und Ehre sind für dich doch ohne Bedeutung! Ja, wahrscheinlich sind deine Liebesbeteuerungen auch nicht mehr als die glänzenden Darstellungen einer begnadeten Hochstaplerin!« 136
Die schallende Ohrfeige, die ihn traf, war eine Erlösung. Er prallte zurück, drehte sich um und rannte davon.
* Philippe hastete durch die prunkvollen Räume, stolperte, sah nicht nach rechts und nicht nach links. Sein Kopf hämmerte, er fühlte sich wie blind, nein, nicht nur blind, auch taub und gefühllos, alle Sinne waren ihm abhanden gekommen in diesem Haus, in diesem schrecklichen Haus. Der Ausgang ... Wo war hier bloß der Ausgang? »Ventredieu!«, rief jemand aus, als Philippe heftig mit ihm zusammenprallte. Er fühlte sich gepackt, zurückgerissen von mehreren kräftigen Händen. Philippe sah sich einem alten Mann mit imposanter Nase und buschigen Brauen gegenüber, der sich schwer auf einen vergoldeten Spazierstock stützte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter rieb. Sofort war Philippe klar, wer da vor ihm stand. »Ich bitte sehr um Verzeihung, Monseigneur«, sagte Philippe tonlos. Er verbeugte sich, so gut er es vermochte, denn zwei Diener hielten noch immer seine Arme wie in einem Schraubstock zusammen. Die buschigen Brauen zogen sich zusammen. »Wer sind Sie überhaupt? Haben Sie vielleicht etwas mit dem Verschwinden meiner Enkelin zu tun?« Faurepas machte ein ungeduldiges Zeichen. »Lasst ihn los, ihr beiden! Monsieur sieht nicht aus, als habe er sich hier eingeschlichen, um das Silber zu stehlen!« Nun befreit, verbeugte Philippe sich erneut. »Philippe de Vigueil, Comte de Rochastre, Monseigneur. Ich bedauere, dass Ihnen durch mein Missgeschick ...« »Vigueil de Rochastre? Sagten Sie Vigueil de Rochastre?«, fragte der alte Mann und erbleichte so heftig, dass Philippe vorschnellte. »Verzeihen Sie, ist Ihnen nicht gut, Monsieur?«, fragte er. Der alte Herzog winkte ab. Er musterte Philippe. »Würden Sie mit mir ans Licht treten, Monsieur? Meine Augen sind nicht mehr die besten.« Philippe runzelte die Stirn, nickte dann aber kurz. Bald stand er mit dem alten Mann im fahlen Schein der Wintersonne. 136
»Wie ist das möglich ... Mon Dieu, wie ist das bloß möglich?«, murmelte Faurepas, mehr zu sich als zu Philippe. Seine Hand knetete seine spitz zulaufende Unterlippe, sein scharfer Blick suchte Philippes Züge ab. »Monseigneur, wenn Sie Fragen haben, bin ich gerne bereit, sie zu beantworten, sofern es in meinem Vermögen steht«, meinte Philippe ungeduldig. »Sie sind der Sohn Mace de Vigueils, n'est-ce-pas?«, fragte der Herzog langsam. »Wenn man Sie genauer ansieht, ist es nicht zu leugnen. Philippe ... Lassen Sie mich nachdenken ... Sie müssten vierundzwanzig Jahre zählen, wenn ich mich nicht irre. Aber Sie galten doch als verschollen, all diese Jahre! Was ist mit Ihrem Vater? Was ist mit meinem alten Freund Mace?« Philippe legte eine Hand an die Stirn. Er hatte Mühe, seine Gedanken zu sammeln. »Monseigneur, ich...« »Schon gut.« Faurepas schüttelte den Kopf. »Ich bitte mein Betragen zu entschuldigen, junger Mann. Sie sehen aus, als brauchten Sie einen Stuhl, und, wahrhaftig, auch mich gelüstet es nach ein paar Kissen. Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?« Philippe schüttelte entkräftet den Kopf. »Gestern Nacht, Monseigneur. Doch auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen, muss ich mich nun verabschieden. Eine Verabredung ...« »Wir schicken einen meiner Leute, um Sie zu entschuldigen«, unterbrach ihn der Herzog de Noirlieu. »Ich schätze, wenn ich bereit bin, eine Verabredung im Hotel de Conde abzusagen, werden Sie sich ebenfalls von Ihren Verpflichtungen befreien können. Monsieur, ich bin kein Freund großer Worte, doch für mich ist soeben ein Wunder geschehen. Und Wunder lässt man ungern sofort wieder ziehen. Folgen Sie mir.« Er machte ein paar hinkende Schritte, drehte sich dann wieder um, winkte ungeduldig. »Nun kommen Sie schon!«
Philippe stand ein paar Sekunden lang regungslos da. Was war es, das ihn schließlich bewog, dem alten Mann nachzugeben und ihm zu folgen? Er, der sich stets auf seinen Willen und seine Stärke hatte verlassen können, er, der gerade zähnefletschend das zarteste Geschenk zertreten hatte, das einem Mann gemacht werden konnte, er, dessen Sturheit ihn zwei Jahre Galeere hatte überleben lassen, er, der 137
sich selbst Ministern widersetzte? War es Erschöpfung? Gleichgültigkeit? Oder Respekt vor einem alten Mann, der noch an Wunder glaubte? Ja, der alte Faurepas hatte von einem Wunder geredet. Auch seine Mutter hatte dieses Wort gebraucht. Offenbar gab es viele Menschen, denen Wunder widerfuhren und die sich darüber freuten. Er selber war wohl der Einzige, den das Schicksal ständig verhöhnte.
* Eine Stunde später fühlte Philippe sich schon etwas besser. Faurepas hatte darauf bestanden, in seinen Privaträumen zu essen, im rechten Flügel des gewaltigen Hauses. Eine Prozession von Küchenjungen in sauberer Livree hatte das Essen hereingetragen, eine große Tischplatte auf zwei Böcke gelegt, sie mit einem Teppich bedeckt und die kaum überschaubare Folge von silbernen Speisetellern gefällig darauf angeordnet. Das alles war ohne unnötigen Lärm und in erstaunlich kurzer Zeit geschehen, dirigiert in Wort und Fingerzeig von dem dickleibigen Koch mit spitzem Schädel. Philippe hielt sein Glas hoch. Sofort erschien ein Mundschenk und goss rubinroten Wein in das Kristall. Philippe nahm einen großen Schluck. »Sie sollten es lassen«, schnarrte Faurepas. Philippe sah auf. Das Essen war wortkarg verlaufen. Philippe hatte sich wenig Mühe gegeben, ein gefälliger Gast zu sein, und der alte Herzog schien es zufrieden gewesen zu sein, ihn zu betrachten. »Was sollte ich lassen, Monsieur le Duc?«, fragte Philippe. »Sie sollten Ihren Entschluss aufgeben, sich zu betrinken. Ich möchte, dass Sie einen klaren Kopf behalten. Ich habe noch viel mit Ihnen zu bereden.« Philippe runzelte die Stirn. Woher in Teufels Namen ...? »Ihr Vater hatte dieselbe Art, den Wein in sich hineinzukippen, wenn ihm eine Laus über die Leber gelaufen war«, beantwortete Faurepas Philippes unausgesprochene Frage. Ein kleines Lächeln huschte über die keilförmigen Lippen. »Zumindest, als er noch so 137
jung war wie Sie. Danach, als er seine Stellung im diplomatischen Corps hatte, hatte er sich stets unter Kontrolle.« Die schwarzen Augen funkelten unter den buschigen Brauen. »Wenn Mace in einer gewissen Weise seinen Becher hob, ohne diesen anzuschauen, wusste ich, es würde eine lange Nacht werden.« »Sie kannten meinen Vater gut...« Faurepas warf ihm einen scharfen Blick zu. »Sie sprechen von ihm in der Vergangenheit?« »Er starb vor sieben Jahren.« Faurepas lächelte kaum merklich, zuckte die Schultern. »Waren Sie bei ihm?« »Ja, das war ich.« Der alte Herzog nickte langsam. »Es muss gut sein, in den Armen seines Sohnes zu sterben.« Philippe schluckte. Er stellte sein Glas mit Schwung auf den Tisch zurück. Etwas Wein schwappte über seine Finger. »Sie werden mir erzählen, wie es geschah«, sagte Faurepas fest. »Aber nicht jetzt. So sehr mich das Schicksal meines alten Freundes interessiert: Für lange Erzählungen haben wir keine Zeit. Ich werde zuvor ein paar dringende Besuche erledigen müssen.« Faurepas schüttelte den Kopf. Erneut blitzten seine Augen. »Monsieur, Ihr Erscheinen wird mich und mein Haus in Schwierigkeiten bringen. Doch ich wüsste keine Schwierigkeiten, die ich lieber hätte.« »Ich verstehe nicht.« »Nein, das sehe ich. Hat Ihr Vater Ihnen nie von mir erzählt?« »Doch. Er sprach von Ihnen als von einem guten Freund. Das war auch der Grund, weshalb ich Sie vor zwei Wochen aufsuchte.« »Aufsuchen? Mich?« fragte Faurepas unwirsch. »Sie waren hier? Weshalb weiß ich nichts davon?« »Es war während Ihres Festes, Monseigneur. Sie waren verreist.« »Mit wem haben Sie gesprochen?« »Mit Madame votre femme.«
»Ah«, sagte Faurepas nur und senkte schnell den Blick. »Das erklärt alles.« Er schmetterte den Apfel, den er im Begriff gewesen war zu schälen, in die Schale zurück. Er hat nichts von meinem Besuch gewusst, dachte Philippe, und einen Augenblick drang Überraschung durch seine Mattigkeit. 138
Hätte ihn der alte Herzog denn anders empfangen, als es damals Marie-Olympe de Faurepas getan hatte? »Mace nannte mich also einen Freund. Und sonst hat er nichts erzählt?«, fragte Faurepas weiter. »Nein, Monseigneur«, runzelte Philippe die Stirn. Faurepas schüttelte mit einem kurzen Lachen den Kopf. »Das sieht ihm ähnlich. Er wollte wohl alles vermeiden, was nach einer Forderung hätte aussehen können, der alte Sturkopf!« »Was hätte er denn fordern können?« Der Herzog lehnte sich zurück, holte tief Luft und sagte bedeutungsvoll: »Die Einlösung eines Versprechens, das wir uns gaben. Damit Sie verstehen, worauf ich anspiele, muss ich weit in der Zeit zurückgreifen.« Er sah Philippe ernst an. »Ihr Vater und ich lernten uns vor fast vierzig Jahren in Paris auf der Académie für junge Edel-leute kennen, in die wir beide von unseren Eltern geschickt worden waren. Ich war sechzehn, er ein Jahr jünger. Wir verstanden uns auf Anhieb glänzend.« Philippe sah auf. Faurepas, der ihn nicht aus den Augen ließ, meinte nicht ohne Ironie: »Nein, Sie haben recht, wir waren uns nicht ähnlich. Macé besaß gute Manieren, sah blendend aus, war die Freude unseres Tanzlehrers. Er wusste sich auszudrücken und dachte nach, bevor er sich auf ein Abenteuer einließ - was ihn allerdings nie davon abhielt, daran teilzunehmen. Er war der Edelmann schlechthin - ich, wenn man so will, das genaue Gegenteil. Wir ergänzten uns aufs Beste.« Faurepas neigte den Kopf. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich bin kein Freund pathetischer Worte, Monsieur. Doch wenn ich mein Verhältnis zu Ihrem Vater in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen: Er war der Bruder, den ich nie hatte.« Ein Schweigen entstand. Erst jetzt begann Philippe zu realisieren, wo er sich befand. Erst jetzt wich die Benommenheit, die seine Sinne gelähmt hatte, als er aus dem Hôtel de Noirlieu hatte stürmen wollen. Philippe hatte sich in den letzten Wochen über Helenus de Faurepas umgehört und versucht, den Mann einzuschätzen. So unterschiedlich man ihm den alten Mann auch beschrieben hatte, eines hatte sich schnell herauskristallisiert: Faurepas ließ keinen gleich 138
gültig. Er war eine Persönlichkeit, ein Urgestein am französischen Hof, einer dieser Menschen, die überall auffielen und über die jeder sich gleich bemüßigt fühlte ein Urteil zu fällen. Und allermeistens war dieses Urteil ungünstig ausgefallen: Man empfand unterschwellige Furcht oder klare Abneigung, bestenfalls Respekt für den alten Mann. Nie war von Herzlichkeit die Rede gewesen, nie von Dankbarkeit oder Freundschaft. Und nun saß der imposante alte Herzog ihm gegenüber und erzählte von einer tiefen Verbundenheit mit seinem Vater. Hätte er gewusst, wie tief diese Freundschaft gewesen war, vor gerade einmal zwei Stunden, wäre er wohl trotz des Ausbruchs von Marie-Olympe de Faurepas erneut bei dem Herzog vorstellig geworden. Auf einmal überkam Philippe ein überwältigendes Gefühl des Verlustes. Er schloss kurz die Augen. Zwei Stunden, und das Schicksal hätte einen anderen Verlauf genommen, und die Worte, die nun unauslöschbar zwischen Isabelle und ihm standen, wären nie ausgesprochen worden. Die Vorstellung war ihm unerträglich. Philippe schnellte hoch, stieß seinen Stuhl zurück, sprang auf. Sein Glas fiel um und spuckte blutige Fontänen über das Silber, bevor es auf dem Boden mit einem hellen Laut zerbarst. »Wenn Sie und mein Vater so eng befreundet waren, Monseigneur«, stieß Philippe heftig aus, »so erklären Sie mir bitte dieses: Weshalb halfen Sie seiner Frau nicht, als diese in Paris um Unterstützung bat? Wo waren Sie, als meine Mutter so dringend Hilfe gebraucht hätte?« »Am Sterbebett meines Sohnes.« Faurepas zog die Brauen zusammen. »Es war das Jahr, als Raoul, mein Letztgeborener, aus dem Fenster fiel.« Faurepas winkte vage. »Das Ergebnis einer Mutprobe. Der Junge hatte nicht viel Grips im Kopf. Und auch nicht viel Glück. Er fiel auf den Rücken.« Sein Blick schweifte ab. »Ich war auf einigen Schlachtfeldern in meinem Leben. Doch wenige Männer habe ich so langsam sterben sehen wie den Kleinen.« Philippe senkte den Kopf. »Es tut mir leid.«
»Ich bin in der Zeit nicht aus dem Haus gegangen. Das Personal hatte Befehl, alle Besucher fernzuhalten. Ihre Mutter sprach ein paar Mal vor. Sie wurde immer wieder abgewiesen. Nichts drang zu mir durch.« Faurepas zuckte die Schultern. Das Thema war ihm offenbar 139
unangenehm. »Das ist nun nicht mehr zu ändern. Bedauern ist überflüssig. Viel wichtiger ist das, was Ihr Erscheinen bedeutet.« Er ließ dem Mundschenk Zeit, die Scherben von Philippes Glas zu entfernen, und wedelte mit der Rechten: »Doch setzen Sie sich wieder, Monsieur, ich hasse es, mir den Hals zu verrenken.« Als Philippe widerstrebend seiner Aufforderung gefolgt war, fuhr Faurepas fort: »Ich sagte vorhin, Ihr Vater und ich waren wie Brüder. Nichts kann diese Verbundenheit besser verdeutlichen als das Versprechen, das wir uns gaben.« Faurepas suchte Philippes Blick. »Als wir unsere Ausbildung hinter uns hatten, gingen wir in eine Taverne und feierten ein letztes Mal. Wir waren begierig auf das Leben, das auf uns wartete. Und wir waren uns auch bewusst, dass unsere Wege sich nun trennen würden. Ich würde das große Vermögen und den Titel meines Vaters erben. Ihr Vater, der aus einer angesehenen, aber nicht besonders begüterten Familie stammte, wollte in den diplomatischen Dienst eintreten. Sein Gespür für alles Menschliche, sein Aussehen und seine einnehmenden Manieren ließen bereits erkennen, dass er für diese Laufbahn wie geschaffen war.« Über Faurepas' Lippen huschte ein Lächeln. »Es war eine wundervolle Nacht. Die Becher gingen reihum. Der alte König hatte gerade in Bordeaux geheiratet und Anne d'Autriche, seine junge, spanische Braut, ließ die französischen Herzen höher schlagen. Alle waren gelöster Stimmung. Ich weiß noch, wie Mace sagte, solche Augenblicke müsse man für immer festhalten können. Und dass er lachend meinte, wenn ich nicht ein Mann wäre, würde er mir heute Nacht einen Heiratsantrag machen, denn wir würden uns besser verstehen als jedes Ehepaar. Ich pflichtete ihm bei, und plötzlich kam mir eine wunderbare Idee. Ich setzte einen Vertrag auf. Einen Vertrag, den Mace und ich unterschrieben. Einen Vertrag, in dem wir uns gegenseitig verpflichteten, unsere zukünftigen Kinder miteinander zu verheiraten.« Philippe sah überrascht hoch. »Darin hat mein Vater eingewilligt? Ihm musste doch klar sein, dass Sie Ihr Versprechen nie würden einhalten können!« »Nie einhalten? Glauben Sie, ich unterschreibe etwas, das ich nie einzuhalten gedenke? Mäßigen Sie Ihre Worte, junger Mann!«, brauste Helenus de Faurepas auf. »Es war unser beider Wille und Ernst! Und falls Sie auf einen gewissen Standesunterschied anspielen: 139
Ich hatte vielleicht den höheren Titel und die größeren Besitztümer. Doch ich war nicht der Einzige, der überzeugt war, dass Mace im diplomatischen Dienst eine große Karriere machen würde. Er hatte das Zeug zum Minister. Wir waren uns also durchaus ebenbürtig!« Philippe hatte keine Lust, über seinen Vater und dessen vertane Chancen nachzudenken, und lenkte ab. »Dennoch ist aus diesen Plänen nichts geworden«, meinte er trocken. »Nein. Das Schicksal wollte es anders. Meine beiden Söhne starben, bevor sie das heiratsfähige Alter erreichten. Und meine Tochter floh und heiratete überstürzt einen kleinen Provinzler, der ihr den Kopf verdreht hatte.« »Ihre Tochter?« Erst jetzt realisierte Philippe die volle Tragweite von Faurepas Erzählung. »Hieße es denn, dass ich ...« »Sie hätten meine Tochter Therese heiraten sollen, ja. So hatten Ihr Vater und ich es geplant. Ich war äußerst ungehalten, als die Dummheit meiner Tochter verhinderte, dass ich mein Versprechen Ihrem Vater gegenüber erfüllen konnte. Doch wie das Leben so spielt: Unser Herr hatte Besseres vor. Zeit ist für Ihn bedeutungslos, und Seine Wege sind oftmals verschlungen.« Helenus machte Zeichen, die Gläser zu füllen. »Trinken Sie mit mir, Monsieur de Vigueil. Trinken Sie mit mir auf einen alten Schwur und seine Erfüllung.« Philippe ergriff das neue Glas, das ihm gebracht wurde, setzte es aber nicht an die Lippen. »Verzeihen Sie, Monseigneur, wenn ich Ihnen nicht folgen kann.« »Ist es denn so schwerverständlich? Sie sind Maces Sohn. Ich habe zwar keine Tochter mehr, doch eine ledige siebzehnjährige Enkelin.« Philippe fühlte, wie sämtliches Blut aus seinen Wangen wich. Wie erstarrt hörte er den alten Herzog sagen: »Ich werde sofort die Heirat in die Wege leiten.« Philippe sprang auf. »Das ist unmöglich!« »Keineswegs!«
»Sie ist mit dem Herzog de Beaufort verlobt!« »Eine Verlobung lässt sich lösen.« »Aber die Verträge ...« »Ich regele das schon.« »Wir sind verarmt! Unsere Besitztümer, die Ländereien ...« 140
»Das brauchen wir nicht herauszuposaunen. Ihre Vermögensverhältnisse gehen nur Sie etwas an. Noirlieu ist reich genug, dass ein paar Louis mehr oder weniger nicht auffallen.« Philippe ballte die Fäuste. »Monseigneur, Ihr Angebot ist ehrenhaft, doch ich kann es nicht annehmen.« »Angebot? Wer spricht hier von Angebot? Sie haben mir nicht richtig zugehört, Monsieur!« Helenus richtete sich ächzend auf, stützte sich auf die Tischplatte, kam auf die Beine. »Lasst ab!«, bellte er die Diener an, die ihm behilflich sein wollten. Er humpelte mit verzerrtem Gesicht an das hintere Ende des Zimmers zu einem Sekretär, der im Halbdunkel stand. Als er zum Tisch zurückkehrte, hatte er eine Rolle in der Hand. Er überreichte sie Philippe. »Da! Lesen Sie!« Philippe, der ahnte, um was es sich handelte, strich das Papier glatt. Die Schrift, Raum einnehmend und voller Schwung, stammte nicht aus der Feder seines Vaters. Doch die Unterschrift... Die Unterschrift war unverkennbar die von Mace. Philippe atmete tief ein, schob den Vertrag von sich. »Monseigneur«, meinte er fest, »ich hoffe, Sie tun mir nicht die Schmach an, zu glauben, ich hätte an der Wahrheit Ihrer Worte gezweifelt. Dies wäre Ihrer und meiner unwürdig. Bitte zwingen Sie mich nicht, die Gründe zu erläutern, weshalb ich auf meiner Position beharre. Doch ich kann Ihre Enkelin unmöglich heiraten.« »Monsieur, ich wiederhole nochmals: Dies ist kein Angebot, das ich Ihnen mache. Dies ist ein Befehl.« Die kleinen schwarzen Augen bohrten sich in Philippes Gesicht. »Nicht mein Befehl. Sondern ein Befehl Ihres Vaters.« Hart sagte Faurepas: »Ich weiß nicht, was in den Jahren geschah, bevor Ihr Vater starb, Monsieur. Ich weiß auch nicht, welchen Anteil Sie an seinem Schicksal hatten. Doch ich weiß sehr wohl, dass es nicht seinem Wunsch entsprach, Sie auf diese Mission nach Portugal mitzunehmen - egal, was damals am Hof gemunkelt wurde. Und auch, dass Ihr Ungehorsam zu seiner Verfemung beitrug.« Philippe biss die Zähne aufeinander. Faurepas' Augen verengten sich. »Wollen Sie Ihrem Vater noch posthum den Gehorsam verweigern, der ihm zusteht? Was für ein Sohn sind Sie? Haben Sie denn gar nichts dazugelernt?« 140
Philippe schloss die Fäuste, senkte den Kopf. Ein Satz nur ... Ein Satz würde reichen, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, die Faurepas für ihn bereithielt. Wie einfach es doch wäre, ihn auszusprechen! Dieser Mann wollte ihn schließlich zwingen, eine Enkelin zu heiraten, die es gar nicht gab! Ein Lachen kitzelte in seiner Kehle. Ja, Gott hatte einen Sinn für Abstruses. Seit Tagen grübelte er, wie er den alten Herzog würde überzeugen können, ihn seine Enkelin heiraten zu lassen, und nun war es derselbe alte Mann, der einen über dreißig Jahre alten Vertrag ausgrub, um ihn, zwei Stunden nachdem er diese Enkelin gedemütigt und verstoßen hatte, zu zwingen, genau das zu tun! »Nun, Monsieur de Vigueil? Wie entscheiden Sie sich?«, fragte der Herzog ungeduldig. Philippe sah hoch. Einen Augenblick lang war ihm, als würde der Schatten seines Vaters neben Faurepas sitzen. Zwei alte Edelmänner, in ihren Augen alle Forderungen, die eine Generation seit Menschengedenken an die nächste stellt. Verpflichtungen, Ehre, Gewissen ... Früher einmal hatte er sich gegen all das gesträubt. Philippe öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Er lächelte, schüttelte den Kopf. »Gut«, hörte er sich sagen. »Es ist gut.« Er atmete tief ein, nickte. »Ich werde Ihre Enkelin heiraten, Monseigneur.« Helenus de Faurepas lehnte sich mit einem zufriedenem Schnaufen in seinem Stuhl zurück. Philippe hielt inne. Horchte seinem eigenen Satz nach. Und war überrascht, in ihm einen weichen, ja fast hoffnungsfrohen Nachklang zu finden. Und wenn Gott nun doch kein Zyniker war? Philippe griff zu seinem Glas, schwenkte es. Die samtdunkle Flüssigkeit leckte am Kristallkelch, ihr Duft stieg in seine Nase. Der Wein rann warm und feurig seine Kehle hinunter. Er musste heftig blinzeln.
Er konnte jetzt beides haben, dachte Philippe, inzwischen sogar zu erschöpft, um sich gegen seine eigenen perfiden Gedanken zu wehren. Seine Rache. Und Isabelle. Seine Haut zog sich schmerzhaft zusammen. Ein diskretes Räuspern ließ ihn und den Herzog beide den Kopf drehen. Ein Dienstbote stand an der Tür. »Mit Verlaub, Monseigneur, 141
Mademoiselle d'Arzelles lässt ausrichten, dass sie zur Abfahrt in das Palais de Conde bereit ist.« »Ist sie das? Tres bien!« Der alte Herzog kam ächzend auf die Füße. »Nun, dies dünkt mich eine perfekte Gelegenheit, meine Enkelin mit der neuen Situation vertraut zu machen, Monsieur de Vigueil. Kommen Sie mit.« Helenus de Faurepas schlurfte davon, von einem Diener gestützt. Philippe folgte ihm in das Erdgeschoss. Er war seltsam gefühllos. Gehorsam... Einmal in seinem Leben Gehorsam leisten. Nur darauf wollte er sich konzentrieren, alles andere vergessen. Für Sie, Vater. Nur für Sie. Sie stand in der prächtigen, mit Büsten geschmückten Halle. Sie trug nun einen Mantel, in der Erwartung der langen Kutschfahrt. Als er sie so stehen sah, aufrecht und auch irgendwie verloren in dem riesenhaften kalten Raum, ging Philippe plötzlich auf, auf was er sich da eingelassen hatte. Sie hielt den Nacken steif, doch der cremefarbene Fellkragen, der weich ihren Hals umschloss, verlieh dieser Steifheit etwas Anrührendes. Er ertappte sich dabei, wie er Spuren auf ihrem Gesicht suchte - Spuren von Tränen. Doch nichts. Ihre Augen waren nicht gerötet, sondern trocken und flackerten in einem seltsamen kalten Feuer. Sie erbleichte heftig, als sie seiner ansichtig wurde. Ihr Blick verdunkelte sich, sie straffte die Schultern. Offensichtlich war sie auf der Hut vor dem, was nun auf sie zukommen würde. »Ma fille, ich traf vorhin auf Monsieur de Vigueil, als dieser unser Haus verließ. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie sich schon bekannt gemacht haben?« »Monsieur de Vigueil und ich kennen einander, ja, das stimmt«, antwortete sie ausdruckslos. »Parfait. Ich habe eine Neuigkeit, die Sie erfreuen wird. Sie äußerten unlängst, dass Sie Monsieur de Beaufort nicht zu ehelichen wünschten«, meinte Faurepas. Sie senkte den Blick. Röte huschte über ihre fahlen Wangen. »Nun, die Umstände haben sich geändert, und ich freue mich, dass ich Ihrem Wunsch entsprechen kann. Ich werde den Vertrag mit dem Herzog de Beaufort lösen. Stattdessen werden Sie Monsieur de Vigueil heiraten.« Ihr Kopf fuhr hoch, als sei sie von einer Viper gebissen worden. 141
Ein paar Sekunden lang huschte der Blick ihrer weit aufgerissenen Augen zwischen Philippe und dem alten Herzog hin und her. »Ich... ich fürchte, ich verstehe nicht«, sagte sie schließlich, so wie er zuvor, und ihre Stimme schwankte. »Offensichtlich habe ich heute Schwierigkeiten, mich verständlich auszudrücken«, warf Faurepas beißend zurück. »Sie werden Monsieur de Vigueil heiraten, ma fille. Ich werde zügig alles in die Wege leiten.« Ihr Blick glitt zu Philippe hinüber. Sie fixierte ihn. Als ihre Augen sich trafen, erstarrte er. Etwas Kaltes kroch seinen Rücken hinunter. »Diesen Mann heiraten?« Sie warf den Kopf in einer anmutigen Geste zurück und lachte. Lachte, bis ihr die Tränen kamen. Der kristallene Klang ließ ein hoffnungsfrohes, kaum gedachtes Wort in Philippe zerspringen. Gott war eben doch ein Zyniker.
Elf Wenn man liebt, zweifelt man oft an dem, woran man am meisten glaubt. Februar 1651
»Sie haben ein Schreiben für mich?«, fragte Beaufort unwirsch. »Ja, Monseigneur«, antwortete Conrad und verbeugte sich mit vollendeter Höflichkeit. »Monsieur le Duc de Noirlieu lässt sich vielmals entschuldigen. Er lässt Ihnen mitteilen, dass er Sie morgen früh aufsuchen wird. Leider hindert ihn ein Besuch bei Monsieur le Prince daran, heute persönlich zu erscheinen, um Sie über die Hintergründe seines Fehlens aufzuklären. Das Essenzielle jedoch vertraute er diesem Brief an.« Beaufort entriss ihm das Papier, brach das Siegel so heftig auf, dass das Wachs weit in den Raum flog, und vertiefte sich in das Schreiben.
Conrad konnte den Zorn des blonden Herzogs gut verstehen, wartete dieser doch bereits seit Stunden vergeblich auf das Erscheinen seiner Braut. Leider war anzunehmen, dass der Brief seine Laune nicht verbessern würde ... Ein Zornesruf bestätigte Conrads Annahme. »Ich glaube es nicht! Ich kann es nicht fassen!« Conrads Lippen zuckten amüsiert, doch er hütete sich, den Blick zu heben. Er hatte den Brief selber unter Faurepas' Diktat geschrieben, da sein Vater mit dem Entwurf eines neuen Heiratsvertrages beschäftigt gewesen war, und wusste bestens über dessen Inhalt Bescheid. Armer hübscher Beaufort, dachte Conrad. Es muss deinen Stolz hart treffen, so kurzfristig von der eigenen Heirat wieder ausgeladen zu werden! »Monsieur, was Sie mir da überreicht haben, ist eine Schande für Ihren Herrn! Ich verstehe diesen Brief nicht!«, wütete Beaufort. »Was sollen diese Andeutungen?« Er deutete auf seinen changierenden Anzug aus perlfarbener Seide, auf dem blassroter Taft und Rubine 142
effektvolle Kontraste setzten. »Sehen Sie mich an!«, rief er. »Ein Anzug, speziell für die Heirat angefertigt und auf das Kleid meiner Braut abgestimmt! Es hat mich ein Vermögen gekostet! Wie steh ich denn da?« Conrad war diplomatisch genug, diese Frage nicht zu beantworten, und versuchte sich im Kunststück, gleichzeitig bewundernd und bedauernd auszusehen. Beaufort warf empört seine Locken über seine Schultern. »Man lässt einen derart wichtigen Vertrag doch nicht aus einer plötzlichen Laune heraus platzen! Ich verlange eine Erklärung!« »Monsieur de Faurepas wird sie Ihnen selbstverständlich geben, sobald seine Verpflichtungen bei Monsieur le Prince ihm die Möglichkeit dazu geben, Monseigneur«, antwortete Conrad höflich. »Doch wenn Sie es wünschen, bin ich persönlich gerne bereit, Ihre Fragen zu beantworten, sofern meine Kenntnisse der Lage es zulassen.« Oder sofern ich sie beantworten möchte, berichtigte Conrad sich insgeheim. Zwar hatte er etwas Zeit gebraucht, um die ganze Aufregung zu verstehen, die das Haus Noirlieu durcheinanderwirbelte, doch inzwischen wusste er bestens Bescheid. Sehr verwirrend, das Ganze, und skandalös genug, um in den Salons Gesprächsstoff für ein paar Wochen zu liefern. Eine Heirat platzen zu lassen, die als eines der Fundamente galt, auf dem die Allianz zwischen Conde und den Frondeurs ruhte! Die Gesellschaft würde genussvoll ihre Empörung kundtun, Faurepas verurteilen und Conde bemitleiden oder verspotten, weil dessen Verbündeter seine Versprechen nicht einhielt. Blieb nur abzuwarten, was Monsieur le Prince selber dazu sagte. Ja, Conrad hätte gerne Mäuschen gespielt während des gerade stattfindenden Gesprächs zwischen Monsieur le Prince und seinem alten Vasallen Faurepas. Ob Conde den alten Duc herunterputzen würde? Oder freute er sich insgeheim über den Bruch? Man sagte, Monsieur le Prince distanziere sich von den Frondeurs, seit er die Freiheit wiedererlangt hatte. Unter den wegen der Allianz zwischen Conde und den Frondeurs frisch Verlobten befand sich auch Condes eigener Bruder Conti, und Conde hatte sich unlängst unwillig über das zügellose Leben der Verlobten seines Bruders, der Mademoiselle Charlotte de Chevreuse, geäußert... 142
Conde war rücksichtslos und hatte erreicht, was er wollte. Er stand im Mittelpunkt des politischen Geschehens des Landes und war stärker als nie zuvor aus seinem Gefängnis herausgetreten. Mazarin war im Exil, Anne ohne ihren Minister unfähig zu regieren und der kleine König frühestens nach seiner Volljährigkeit im Herbst zu berücksichtigen. Was brauchte Monsieur le Prince noch die Handlanger, die ihn aus Le Havre gepresst hatten? Conrad warf Beaufort einen schrägen Blick zu. Der König der Halles hatte seine Schuldigkeit getan und seine spitzzüngigen weiblichen Truppen in die Schlacht um Condes Freilassung geworfen. Was sollte Monsieur le Prince noch mit diesem Laffen? War es für ihn nicht nutzbringender, Faurepas mit dessen Geld, Einfluss und uneingeschränkter Treue einen Ausrutscher zu verzeihen und ihn damit noch enger an sich zu binden? »Eine Ehrenschuld?« Beauforts gepflegte Finger klopften zornig auf dem Brief herum. »Von was für einer Ehrenschuld ist hier die Rede? Wissen Sie davon?« »Es handelt sich um einen fast vierzig Jahre alten Vertrag, Monseigneur, der die Nachkommen meines Herrn denen einer befreundeten Familie verspricht. Nachdem die Mitglieder besagter Familie jahrelang als verschollen galten, ist heute sehr überraschend ein Sohn aufgetreten, der auf die Erfüllung des Versprechens drängt.« »Mon Dieu, das ist ja haarsträubend!«, rief Beaufort halb ungläubig, halb entrüstet aus. »Eine Ehrenschuld? Fi donc! Ein Märchen, meinen Sie wohl! Einen völlig Unbekannten einem Beaufort
vorzuziehen?« Er hielt einen Augenblick inne, blinzelte und streckte wie unter einem plötzlichen Einfall einen anklagenden Finger auf Conrad. »Hat man die Identität dieses Möchtegerns überprüft? Was ist über den Kerl zu sagen?« »Monsieur mon Maitre hat ihn eindeutig wiedererkannt, Monseigneur«, bedauerte Conrad, der auf die entscheidende Frage seines Gegenübers wartete. Als diese partout nicht kommen wollte, half er etwas nach: »Vielleicht kennen Sie ihn ja ebenfalls.« Beaufort spreizte die Finger auf der funkelnden Brust. »Ich?«, fragte er mit hübsch gerunzelter Nase. »Sie sagten doch, er sei heute erst erschienen!« »Er stellte sich heute erst Monsieur de Faurepas vor, doch er weilt 3°5
bereits seit ein paar Wochen in der Stadt«, antwortete Conrad mit, wie er fand, bewundernswerter Geduld. »Der Name!«, platzte Beaufort heraus. »Sagen Sie doch endlich, wie der Kerl heißt! Parbleu, nun reden Sie endlich, Mann!« Conrads Lächeln geriet etwas starr, sonst aber war er die Höflichkeit in Person. »Es ist der Comte Philippe de Vigueil de Rochastre, Monseigneur«, artikulierte er effektvoll. Beauforts blaue Augen wurden kugelrund. »Vigueil?« Er legte die Finger an den Mund. »Aber ja doch, ich kenne ihn! Ich kenne ihn sogar sehr gut!«, sagte er verblüfft. Er kniff die Augen zusammen und machte ein paar Schritte auf und ab. Noch nie war Conrad einem Mann begegnet, bei dem das Denken mit so viel körperlicher Verausgabung verbunden war. Beaufort streckte einen Arm aus. »Der Mann hat mich das Messerwerfen gelehrt!« Er stützte die Hand auf die Hüfte. »Ich sah ihn als meinen Gefolgsmann an!« Er hielt inne, stellte ein Bein vor und drückte die Brust heraus. »Ich bin düpiert worden! Aufs Schändlichste hintergangen!« Nun, da Beaufort in Fahrt war, konnte Conrad sich entspannen. Er verfolgte den erzürnten Monolog des Herzogs mit wachsender Genugtuung. Ja, es tat gut, sich noch einen anderen über diese Heirat entrüsten zu sehen, jemand anderen all die Verwünschungen ausstoßen zu hören, die auch sein Herz seit Stunden hervorbrachte. Zwar war Beaufort kein Maßstab, und Conrad empfand wenig mehr als Verachtung für ihn. Dennoch war die Irritation des Blondgelockten für Conrad, der die Neuigkeit von der Verlobung zwischen Isabelle dArzelles und Philippe de Vigueil mit stoischer Miene hatte hinnehmen müssen, ein willkommenes stellvertretendes Ventil für seine eigene Empörung. Conrads Lippen wurden schmal. Niemand, am allerwenigsten er selber, hatte gedacht, dass Vigueil ernsthafte Chancen auf Isabelle hatte. Conrad hatte einen Fehler gemacht! Er hatte den Kerl unterschätzt! Dabei war er dabei, als sie zu den Malvoys ritten! Conrad beobachtete Beaufort mit finsteren Blicken. Diesem Schönling hätte er Isabelle dArzelles ohne Bedenken hingeworfen. Sie hasste den Herzog, und Beaufort war dumm wie Stroh und hätte sich jahrelang zum ahnungslosen Hahnrei machen lassen. Außer 143
dem war der Kerl ein Königsenkel und stand demnach so weit über Conrad, dass dieser nie auch nur einen Gedanken darauf verschwendet hatte, ob er diese Heirat guthieß oder nicht. Aber Vigueil? Dieser hergelaufene Glücksritter? Conrad schnaubte. Vigueil war nicht besser als er selber. Im Gegenteil! Sein Name war entehrt, seine Vergangenheit unklar. Und diesem Mann sollte Isabelle mitsamt ihrem ganzen Vermögen in den Schoß fallen? Conrad hatte sich selbst immer als rücksichtslos eingestuft und war stolz auf seine Unabhängigkeit von den kleinlichen Idealen seines Vaters gewesen. Jetzt aber stellte sich heraus, dass ein anderer noch mehr Mut, noch mehr Rücksichtslosigkeit bewiesen hatte. Dieser Vigueil hatte ihn übertrumpft! Herrje, jahrelang hätte Conrad das versuchen können, was Vigueil innerhalb von nur wenigen Wochen gelungen war: Isabelle zu umgarnen und sie mitsamt ihrer Mitgift in sein Bett zu werfen. Mochte sein, dass Vigueil von diesem verstaubten Vertrag ungleich bevorteilt worden war. Doch Vertrag hin oder her: Was hatte Conrad nicht alles versäumt! Was war es noch, was er von Isabelle im Tausch für sein Schweigen verlangt hatte? Ihr Schatten zu werden? Ihr Bruder? Warum hatte er nicht selbst daran gedacht, sie zu heiraten? Ah! Wie mittelmäßig sein Denken, wie kümmerlich seine Ambitionen gewesen waren! Conrad sah zu Boden. Sein Kopf war heiß, er fühlte sich fiebrig vor Wut und Erregung. Er versuchte, sich selbst zu beschwichtigen. Er würde es dem Kerl heimzahlen. Isabelle würde ihm
gehorchen müssen, ob sie Vigueils Frau war oder nicht. Und bald würde auch Vigueil überzeugt sein, dass er ihm Hörner aufgesetzt hatte. Er beobachtete Beaufort, der noch immer wie ein abgerichteter Kampfhahn sein buntes Gefieder sträubte. Ja, dachte er, ich werde noch mehr Möglichkeiten finden, es Vigueil heimzuzahlen. Und dieser Schönling hier wird mir dabei liebend gern zur Hand gehen. 144
Isabelle stand in ihrem Zimmer vor ihrer Reisetasche, hatte die Hände auf ihre Schläfen gepresst und überlegte angestrengt. Die schwankende Flamme der einzigen Kerze, die sie entzündet hatte, verlieh dem unaufgeräumten Raum eine Illusion der Gemütlichkeit. Isabelle ließ ihren Blick über das Chaos schweifen, das sie in ihrer Erregung und Hast angerichtet hatte. Was mochte sie vergessen haben? Kleidung hatte sie kaum dabei, nur Schützendes gegen die Kälte. Sie durfte sich nicht zu sehr belasten. Das oberste Gebot während einer Flucht war, unauffällig und beweglich zu bleiben. Isabelle sah an sich herunter. Gut, dass sie noch das alte Kleid besaß, das Philippe ihr während ihrer Flucht durch Paris von den beiden Alten erstanden hatte. Sie hatte es aus sentimentalen Gründen behalten, um sich an diese wunderbare Nacht zu erinnern. Nie hätte sie geglaubt, dass sie es noch einmal anziehen würde, doch als Tarnung war es perfekt. Auf einmal fiel ihr das Chamäleon im Kuriositätenkabinett vom Luxembourg ein. Ein schmerzhaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Tarnung, ja. Sie hatte ihr Tarnkleid übergestreift. Sobald sie das Hotel de Noirlieu verlassen haben würde, würde Isabelle verschwinden, sich auflösen. Und eine Bauerntochter namens Magdelaine Malvoy würde am frühen Morgen die geöffneten Tore der Stadt passieren, um zu ihrer Familie zu stoßen ... »Sie packen?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Isabelle fuhr heftig zusammen und stieß einen Schrei aus. Sofort erklang ein Zischen. »Still, Sie kleine Närrin! Wollen Sie das ganze Haus wecken?« Isabelle riss die Augen auf. »Aber ... aber Madame mere«, stammelte sie. Sie konnte es nicht fassen. Ihre Großmutter war wohl die einzige Bewohnerin des Hauses, von der sie nicht befürchtet hatte entdeckt zu werden. Marie-Olympe, drapiert in einen kostbaren Morgenrock, der sie vom Kinn bis zu den Fußspitzen einhüllte, saß auf einem schmalen Sessel mit Armlehnen, der nun unter Schnaufen und Ächzen von Rufus und Flavus in Isabelles Zimmer geschleppt wurde. »Mon Dieu, stellt euch nicht so an, ihr beiden«, schimpfte Marie-Olympe, »ich bin nur noch Haut und Knochen und dürfte kaum mehr als eine Feder wiegen!« 144
»Aber Madame ...«, wiederholte Isabelle, »Sie hier? Sie haben Ihr Zimmer verlassen?« »Wenn es nicht mein Geist ist, bin ich es wohl selber«, antwortete Marie-Olympe trocken. Sie gab schwach Zeichen. »Es ist gut. Setzt mich hier ab.« Isabelle schloss die Fäuste, auf alles gefasst, während Marie-Olympe den Hals reckte. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet!« Isabelles Herz schlug bis zum Hals. Sie hob trotzig das Kinn. »Ja, ich packe! Es ist mir unmöglich, länger zu bleiben.« Marie-Olympe schüttelte langsam den Kopf. »Also doch. Ich hatte so etwas befürchtet. Ihre Mutter hat damals nicht anders handeln wollen - ihr jungen Frauen seid doch alle gleich, in diesem Alter.« Isabelle presste die Lippen aufeinander. »Wo wollen Sie überhaupt hin?«, bohrte Marie-Olympe weiter. »Ich verlasse Paris. Mehr weiß ich nicht.« »Sie meinen, mehr wollen Sie mir nicht erzählen. Meinetwegen. Vierge Marie, was für ein scheußliches Kleid Sie da tragen! Wo haben Sie denn dieses abstoßende Ding her?« Sie schüttelte angewidert den Kopf. Isabelle sah, dass Marie-Olympes rote Perücke schief saß, und schloss daraus, dass ihre Großmutter sich ohne Hilfe frisiert hatte. Ihre Bestürzung über deren Verhalten wuchs. »Nun ja. Wahrscheinlich ist dieses Kleidungsstück für Ihren Zweck wie geschaffen«, murmelte diese mit vor Abscheu schmalen Lippen. »Ich bat Sie doch, zu mir zu kommen, bevor Sie einen voreiligen Schritt unternehmen, an dem Tag, als Sie mich wegen Ihrer Verlobung mit Beaufort aufsuchten. Weshalb haben Sie es nicht getan?«
»Die Umstände sind andere«, murmelte Isabelle störrisch. »Die Verlobung mit Beaufort wurde heute Nachmittag gelöst. Es geht jetzt um einen anderen Mann, den ... den zu heiraten mir absolut unmöglich ist. Da gibt es nichts zu diskutieren. Mein Entschluss steht fest.« »Philippe de Vigueil, ja. Mace de Vigueils Sohn. Ihr Großvater war bei mir und hat mir davon berichtet...«Marie-Olympes Atem ging pfeifend. »Tagtäglich habe ich befürchtet, dass es so kommen würde, und dennoch gehofft... Ihre Heirat mit Beaufort war so nahe ...« Isabelle wohnte wortlos dem wirren Monolog bei, versuchte den 145
Worten einen Sinn abzugewinnen und wagte kaum, Hoffnung zu schöpfen. »Hat Helenus Ihnen von dem Schwur erzählt, den er als junger Mann leistete?«, fragte die alte Frau. »Ja, er ließ mich zu sich rufen, heute Abend, nachdem er von Monsieur le Prince die Annullierung meiner Verlobung mit Beaufort erzielt hatte«, antwortete Isabelle tonlos. Sie versuchte erfolglos zu lächeln. »Ich bin Philippe de Vigueil versprochen, seit ich auf der Welt bin ...« Sie schloss die Augen, verbot sich, an den vergangenen Tag zurückzudenken. »Treten Sie näher«, befahl die alte Frau. »Noch näher, ich will Ihre Augen sehen.« Isabelle gehorchte widerstrebend, kniete vor Marie-Olympe nieder. Diese zog sich mühsam an den Armlehnen nach vorne. Ihr Kopf schwankte leicht hin und her, als sei ihr Hals kaum in der Lage, den Schädel im Gleichgewicht zu halten. Isabelle hielt ihrem Blick stand. »Sie haben sich verändert, ma fille«, sagte Marie-Olympe schließlich in einem seltsamen Tonfall. »Wissen Sie, dass Sie Ihrer Mutter noch nie so sehr ähnelten wie in diesem Augenblick? Auch Therese konnte unglaublich stur sein. Und mutig. Ich fürchte, es war ihr Verderben.« »Auch sie konnte sich mit ihrer Verheiratung nicht abfinden!«, sagte Isabelle und fühlte sich der jungen Frau, die nie ihre Mutter gewesen war, verbunden. »Ja ...«Marie-Olympe lächelte, doch ihre dünnen Lippen bebten. »Ich muss sagen, dass Sie besser zur Flucht vorbereitet sind. Dieses Kleid, so abscheulich es ist, ist für Ihre Zwecke wie geschaffen.« »Besser?«, hakte Isabelle nach. »Woher wissen Sie ...?« Sie schnappte nach Luft. »Sie haben Therese am Tag ihrer Flucht gesehen? Soll das heißen, dass Sie ...« »Ich habe ihr geholfen, ja.« Wenn Marie-Olympe jemals hätte traurig aussehen können, so tat sie es jetzt. »Nicht, dass Sie mich missverstehen. Natürlich hatte ich nicht vor, sie mit diesem dArzelles ziehen zu lassen. Doch ich hatte Verständnis für ihre Lage. Ich wollte sie auf das Land schicken, zu Verwandten von mir, die bereit gewesen wären, sie auf unbestimmte Zeit aufzunehmen, bis ich Helenus von dem Irrwitz seiner Pläne überzeugt hätte. Doch Therese hatte eigene Pläne. Sie nahm meine Hilfe an, doch nur um sich mit 145
diesem Jacques-Henry d'Arzelles, diesem Provinz-Beau, aus dem Staub zu machen ...« Marie-Olympe stockte, vielleicht in später Rücksicht auf ihre Enkelin, um deren Vater es hier schließlich ging. Isabelle zögerte. Eigentlich hätten ihr diese alten Familiengeschichten herzlich egal sein können. Wollte sie nicht in ein paar Stunden die Faurepas und ihre Welt für immer verlassen? Und dennoch. »Weshalb sträubten Sie sich so gegen eine Verbindung mit dem Haus der Vigueil de Rochastre?«, fragte sie. »Die Familie war schon damals nicht begütert, aber ihre Herkunft doch ...« »Weshalb?«, warf Marie-Olympe zurück. Ihr Blick schweifte ab, sie ließ sich gegen die Lehne ihres Stuhles zurückfallen. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen, bis die alte Frau leise antwortete: »Ich war neunundzwanzig Jahre alt, als ich verheiratet wurde -Ihr Großvater neunzehn. Ich war bereits lange Frau. Er noch kein Mann. Doch schon während unseres ersten Gesprächs machte er mir klar, dass er von seiner Frau Gehorsam verlangte.« Sie lachte bitter auf. »Es wurde auch unser letztes. Wir haben uns nie mehr etwas zu sagen gehabt. Ich war zweiunddreißig, als ich mein erstes Kind bekam. Und bereits eine alte Frau, als Raoul die Welt erblickte.« Marie-Olympe suchte Isabelles Blick. »Therese und Philippe de Vigueil lagen ebenfalls fast ein Jahrzehnt auseinander! Ich wollte nicht, dass meine einzige Tochter dasselbe durchleidet wie ich.« Isabelles Kehle war trocken. »Werden Sie Monsieur pere alarmieren?«, fragte sie tonlos. »Nein, das werde ich nicht«, antwortete Marie-Olympe leise. Sie hob wie zufällig die Hand. Ihre knöchernen Finger bewegten sich ein wenig durch die Luft, auf Isabelle zu, zögerten, verweilten schwebend, fielen wieder herab. Isabelle ging zu ihrer Tasche, schloss sie, ergriff die Henkel. »Ich muss los.«
»Und wo wollen Sie hin, wenn ich fragen darf?«, tönte eine gewaltige Stimme. Isabelle ließ vor Schreck ihr Gepäck fallen. Helenus drang in ihr Zimmer, Conrad de Branne in seinem Schlepptau. Auch Marion erschien bleich und mit offenen Haaren im Türrahmen. Als sie das Chaos in Isabelles Zimmer erblickte, schlug sie die Hand vor den Mund. 3»
Isabelle wurde es heiß, gleich danach eiskalt. Aus, sagte eine nüchterne Stimme in ihr. Es ist vorbei. Helenus gewahrte seine Frau - und blieb wie angewurzelt stehen. Auf einmal war es totenstill. Die Eheleute fixierten sich wortlos, tauschten einen schier endlosen Blick. Helenus war derjenige, der sich als Erster regte. Er schloss kurz die Augen. Dann verhärteten sich seine Züge. Ein Ruck ging durch seinen Körper, er ballte die Fäuste und trat auf Isabelle zu. »Es stimmt also. Es stimmt wahrhaftig, was Ihr Sekretär mir mitteilte«, meinte er. Isabelle ballte die Fäuste, gönnte Branne aber keinen Blick. Helenus' Stimme klang desillusioniert und seltsam sanft. Er stieß einen verächtlichen Laut aus. »Für wie beschränkt halten Sie mich eigentlich, Mademoiselle? Habe ich Ihnen nicht versichert, dass ich Sie nicht den Fehler Ihrer Mutter wiederholen lassen würde?« Isabelle versteifte sich. »Monsieur pere«, schüttelte sie langsam den Kopf, »ich gestehe, in dieser Angelegenheit genauso wenig an Sie gedacht zu haben, wie Sie auch für meine Wünsche einen einzigen Gedanken übrig hatten!« Traurig und bitter fügte sie hinzu: »Jeder folgt hier seinen eigenen Interessen, nicht wahr?« »Meine Interessen sollten auch die Ihren sein!« »Ich kann Philippe de Vigueil nicht heiraten«, sagte sie tonlos. »Sie wollten doch auch nicht Beauforts Frau werden! Was lässt Sie eigentlich annehmen, jede meiner Entscheidungen in Frage stellen zu dürfen?« »Ich bin bereit, Beaufort zu heiraten!«, rief Isabelle händeringend. Helenus lachte auf. »Ich finde die Idee nicht so abwegig«, mischte Marie-Olympe sich ein. »Beaufort gebührt der Vortritt. Er hat das ältere Recht auf Isabelle.« Helenus senkte den Kopf, holte Luft, hob ihn wieder. Langsam, fast bedächtig, drehte er sich Marie-Olympe zu. »Madame, Ihnen mehr als irgendjemandem sonst auf der Welt dürfte klar sein, was den Vigueils zusteht - und was die Faurepas ihnen schulden.« »Schulden? Nein! Wir schulden ihnen nichts! Unsere Konten sind ausgeglichen! Ich habe dafür gesorgt!« Helenus machte eine brüske Bewegung und stieß gepresst aus: »Madame, kehren Sie in Ihr Zimmer zurück! Ich bin bereit, darüber 3"
hinwegzusehen, dass Sie es verlassen haben ... Wenn Sie mir nur einen Gefallen tun, dann schweigen Sie!« Mit einer Kraft, die Isabelle ihr nicht zugetraut hätte, entgegnete Marie-Olympe: »Ich habe in dieser Sache immer meine Meinung geäußert, mon eher! Zeit unseres gemeinsamen Lebens hindurch! Und ich sage Ihnen: Die Vigueils haben bereits unsere Tochter auf dem Gewissen! Wir schulden ihnen gar nichts!« Helenus stieß einen zornigen Laut aus. »Parbleu, es ist nicht zu glauben! Wie lange, Madame, wie lange hatten Sie Zeit, darüber nachzudenken?« »Sie meinen, wie lange Sie mich auf mein Zimmer verbannten?« Marie-Olympe lachte bitter auf. »Oh, das kann ich Ihnen ganz genau sagen, Monsieur: Acht Jahre. Und drei Tage.« Isabelle riss den Kopf herum und starrte ihren Großvater an. Helenus? Helenus war schuld an Marie-Olympes Eremitendasein? Was für ein Mensch musste man sein, um seine Frau Jahre hindurch einzusperren? Ein Schauer überlief sie. Helenus indes war nicht beeindruckt. »Acht Jahre also«, wiederholte er hart. »Und in acht langen Jahren kein Sinneswandel, keine Einsicht?« Auf Marie-Olympes sonst so beherrschten Zügen wechselten in rascher Folge die verschiedensten Gefühle. »Wenn die Vigueils nicht ihre Forderungen an uns gestellt hätten«, keuchte sie, »wäre Therese nie an ihrer Verlobung mit einem acht Jahre jüngeren Mann verzweifelt und auch nicht in die Arme dieses dArzelles getrieben worden!« Sie stockte, ihre Lippen zitterten. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht und rief erstickt: »Die Vigueils sind schuld am Tod meines kleinen
Mädchens! Sie haben sie mir genommen!« Es klang so viel Verzweiflung mit, dass Isabelle zu ihr stürzte, neben ihrem Stuhl auf die Knie sank und begütigend eine Hand auf ihre Schulter legte. »Madame mère, bitte ... Sie schaden sich!« Bevor sie wusste, wie ihr geschah, enthüllte Marie-Olympe ein vor Gram entstelltes Gesicht und packte ihren Oberarm. »Aber Isabelle«, fuhr die alte Frau Helenus an, »Isabelle werden die Vigueils nicht bekommen. Nicht sie! Nicht Thérèses Tochter!« »Ich weiß nicht, wie Sie das verhindern wollen, Madame«, antwortete Helenus, scheinbar ungerührt. »Die Zeiten, in denen Sie meine 147
Pläne durchkreuzten, sind vorbei. Ich werde den Comte de Vigueil bitten, so bald wie möglich zu kommen. In ein paar Stunden findet die Trauung statt.« »Ich werde ihm erzählen, was er noch nicht weiß ... Er wird die Heirat ablehnen!«, rief Marie-Olympe. Helenus erbleichte. »Ja!«, triumphierte Marie-Olympe keuchend, und ihre Finger umklammerten schmerzhaft Isabelles Arm. »Alles ... Alles soll er erfahren ...« Helenus machte ein paar schnelle Schritte, beugte sich zu seiner Frau herunter, packte die Armlehnen des Stuhles. Marie-Olympe ließ Isabelle los. »Wenn Sie reden, Madame, werde ich nicht zögern, das zu tun, was ich schon vor acht Jahren hätte tun sollen!«, stieß Helenus zwischen seinen Zähnen hervor. »Und ich versichere Ihnen, dass es ein sehr viel unangenehmerer Ort wäre als ein verspiegeltes Zimmer, in dem Sie die nächste Dekade verbringen würden!« »Sie machen mir keine Angst, Helenus! Nicht mehr!«, fauchte Marie-Olympe. »Sehen Sie mich an! Ich habe nichts mehr zu verlieren! Aber Sie - sind Sie sich bewusst, was es für Sie bedeuten würde? Sind Sie tatsächlich bereit, alles aufs Spiel zu setzen? Ihren Ruf... Ihre verdammte Ehre?« Helenus' Knöchel wurden weiß, die Adern an seinem Hals schwollen an. Marie-Olympe lachte schrill. Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht nur noch eine Handbreit von dem ihres Mannes entfernt war. Ihre nächsten Worte waren so leise, dass Isabelle den Atem anhielt, um sie zu verstehen. »Machen Sie sich doch nichts vor, mein Lieber! Trotz all Ihrer hochtrabenden Reden, trotz Ihrer Schwüre und dem Wappen über Ihrem Torbogen haben Sie damals nicht den Mut gehabt, zu Ihrer Schande zu stehen. Und das werden Sie auch heute nicht.« Die Auswirkung ihrer Worte war verheerend. Helenus stieß einen Wutlaut aus, packte die Schultern seiner Frau, diese schrie auf. Isabelle sprang auf die Füße. »Genug!«, rief sie entsetzt. »Es reicht!« Sie weinte. »Ich heirate, wen immer Sie wollen! Hören Sie auf! Hören Sie auf, um Gottes willen!« Sie herrschte Branne, Flavus und Rufus an. »So tut doch etwas! Haltet ihn zurück!« Die Diener starrten sie nur hilflos an. Sie ergriff Helenus Arm, zerrte daran. »Hören Sie auf!« 147
«Assez! Lassen Sie mich los, habe ich gesagt!«, schrie Helenus und versuchte, sie abzuschütteln, doch Isabelle klammerte sich an ihren Großvater mit dem ganzen Mut ihrer Verzweiflung - bis er schwer atmend verharrte. »Also gut...« Helenus wischte sich Schweißtropfen von der Stirn, rang offenbar um Selbstbeherrschung. Er machte eine Geste in die Richtung seiner Frau, die keuchend auf ihrem Stuhl hing. »Bringt Madame la Duchesse auf ihr Zimmer. Bringt sie weg!« Er wandte sich Isabelle zu. »Ziehen Sie diesen Fetzen aus, Mademoiselle. Ich erwarte Sie bei Tagesanbruch im Andachtsraum. In einem dezenten Kleid.« Er drehte sich um und verließ den Raum. Es mochte zwischen sieben und acht Uhr morgens sein, als es so weit war. Der Andachtsraum des Hôtel de Noirlieu war überfüllt. Es war üblich, dass bei einer Heirat viele Menschen als Zeugen geladen wurden. Eine so bunt zusammengewürfelte Hochzeitsgesellschaft allerdings hatte es wohl selten gegeben. Statt hochgestellter Verwandter, Bekannter und Freunde, die ohne Zweifel zu der Trauung erschienen wären, wenn man ihnen dazu die Gelegenheit gegeben hätte, war ein guter Teil des Personals herbeordert worden - der andere Teil hastete derzeit durch das Haus, um bis heute Abend ein kleines Festmahl zu richten. Ab und zu klangen ein Ausruf, Laufschritte oder ein Scheppern bis zu den Versammelten in dem Andachtsraum durch, die von geschäftigem Treiben zeugten. Meist jedoch überwog das Summen der Stimmen der Versammelten, ein ruhiger, auf- und abschwellender Ton in Isabelles Rücken. Marion, Timoléon, Beautru, Grégoire, Mathieu, Bernard über zwanzig Bedienstete waren zugegen. Köche und Dienstmägde, Kutscher und Leibdiener statt Fürsten und Prinzen ... Isabelle musste bitter lächeln. War es nicht der passende Rahmen für die Hochzeit von Magdelaine Malvoy?
Das Murmeln hinter Isabelle nahm zu. Die Bediensteten wurden unruhig. Man hatte an einen auswärtigen Geistlichen appellieren müssen, um die Trauung vorzunehmen, und dieser ließ auf sich warten. Rechts von Isabelle stand Helenus und warf ab und zu einen ungeduldigen Blick zur Tür. 148
Links von Isabelle kniete Philippe auf einem Betstuhl. Er hatte die Hände gefaltet, sein Blick hing an dem mit Emaille und Edelsteinen geschmückten goldenen Kreuz des Oratoriums. Sein Gesicht war ernst, in seinem Blick lag etwas Fragendes, ja Bittendes. Isabelle fuhr sich über die Stirn, ließ die Hand aber rasch wieder fallen, als sie merkte, dass sie zitterte. Geduld ... Sie musste Geduld haben. Irgendwann einmal würde es ihr gelingen. Philippe anzusehen, ohne gefoltert zu werden von dem Bewusstsein des Verlustes. Sie musste nur abwarten. Noch zuckte es in ihrer Brust, noch schrie etwas auf, noch suchte etwas verzweifelt nach dem, was ihr entrissen worden war. Doch irgendwann einmal würde es so weit sein: Ihr Herz würde schweigen, und es würde tot und friedvoll werden in ihr. Bald. Irgendwann. Sie hob den Kopf, ihr Nacken versteifte sich. Bis es so weit war, sollte niemand erahnen, was in ihr vorging. Er am allerwenigsten. Er hatte sie zutiefst verletzt, gedemütigt. Sie war bereit gewesen, alles für ihn aufzugeben. Doch er hatte nicht sie geliebt, sondern das, was sie in seinen Augen verkörperte - ein Ideal, eine Schimäre. Das alles konnte sie verstehen. Was sie allerdings nicht verstehen konnte, war, dass er all diese hehren Ideale vergessen hatte, sobald er auf Helenus getroffen war. Wie hatte der alte Mann seinen Willen durchgesetzt? Hatte er mit der Mitgift gewinkt? Versprochen, Rochastre wieder aufbauen zu lassen? Philippe hatte sie nicht genug geliebt. Aber er hatte sie auch nicht genug gehasst. Mit seinem Entschluss, sie trotz seiner Vorbehalte zu heiraten, hatte er ihrer beider Gefühle das Siegel der Mittelmäßigkeit, ja der Käuflichkeit aufgedrückt. Das tat am meisten weh. Die Stimmen der Menschen hinter ihr wurden lauter. Bewegung entstand. Der Priester war eingetroffen. Philippe erhob sich von seinem Betstuhl. Ihre Blicke trafen sich. In Isabelle war nichts als Leere.
Zwölf Wir sind es so gewohnt, uns vor anderen zu verstellen, dass wir uns am Ende vor uns selbst verstellen. April-Mai 1651
Isabelle sprang von dem Bett auf, auf dem sie saß, und trat zum Tisch. Ohne darauf zu warten, dass der Diener ihr auflegte, griff sie im Stehen in die Schüsseln. Sie ging wahllos vor, mischte Soßen, Fleischsorten, Süßes und Salziges, sammelte, häufte. Dann erst setzte sie sich nieder und begann zu essen. Mechanisch, ohne Lust, doch mit einem Eifer, der an Wut grenzte, begann sie, den Teller zu leeren. Sie war fast damit fertig, als es an der Tür klopfte. Philippe trat ein. Er machte zunächst nur ein paar Schritte, geblendet von dem hellen Licht der Spiegel. Isabelle betrachtete ihn verstohlen. Seit zwei Monaten waren sie nun verheiratet. Sie musste eingestehen, dass ihm das Eheleben gut bekam. Philippe verfügte über einen sicheren Geschmack, was die Kleidung betraf, und im Gegensatz zu Beaufort wirkte er niemals stutzerhaft. Sein strahlend weißes Hemd mit dem kurzen, umgeschlagenen Kragen, den eine Kordel mit Quaste zusammenhielt, entsprach der neuen Mode, ebenfalls die Hosen von einem kräftigen Blau. Die Beinkleider waren weit geschnitten und endeten an den Knien in Leinenschlaufen. Darunter trug er helle Stulpenstiefel, ein sicheres Zeichen, dass er vorhatte auszureiten. Dafür sprach auch der helle Staubmantel, den er trug. Philippe sah sich in dem Raum um. »Es hat sich kaum etwas verändert hier«, sagte er statt einer Begrüßung, und über sein gut geschnittenes Gesicht huschte ein undefinierbarer Ausdruck. Das strahlende Licht, das den Raum durchflutete, ließ seine Augen heller denn je leuchten. Isabelle schob den Teller von sich. »Nein. Ich sah keinen Grund, etwas umzustellen. Der Raum ist perfekt, so wie er erschaffen wurde.« 148
Marie-Olympe hatte ihr nach der Trauung den Umzug in ihr Spiegelzimmer sowie ihre Diener Ruvus und Flavus verordnet. Philippe bewohnte seit ihrer Heirat ebenfalls das Hotel de Noirlieu.
Helenus hatte Philippe diesen vernünftigen Vorschlag gemacht, da das Haus genug Raum hatte, um drei weitere Großfamilien samt Bediensteten aufzunehmen. »Der Raum passt zu Ihnen«, sagte Philippe. »Und das Licht darin. Es ist, als würde es von Ihnen ausgehen.« Isabelle schluckte. Gerne hätte sie seine Worte als Hohn abgetan, als weiteren Beweis für seine Grausamkeit. Doch dafür kannte sie ihn zu gut. Er war der ehrlichste Mann auf Erden. Seine Worte waren ernst gemeint. Sie ballte die Fäuste. Am liebsten hätte sie ihm die Tischplatte mit sämtlichen sich auf ihr stapelnden Speisen ins Gesicht geworfen. »Ah oui, bevor ich es vergesse: Ich traf vorhin Monsieur le Duc. Er lässt Ihnen ausrichten, dass er heute Morgen Monsieur Raphael de Branne benötigt. Er schickt Ihnen den Sekretär, sobald dieser frei ist.« »Schon gut«, antwortete Isabelle knapp. »Meine Briefe können warten.« Das einzig wirklich Gute an dieser Heirat war wohl, dass Helenus sich in den Kopf gesetzt hatte, für seinen Schwiegersohn eine genaue Bestandsaufnahme seiner Güter und seines Vermögens in Auftrag zu geben, und dafür Conrad de Branne auf unbestimmte Zeit auf die Reise quer durch Frankreich geschickt hatte. Helenus wollte Philippe in die Verwaltung des beträchtlichen Vermögens einführen, das ihm später einmal durch Isabelle zufallen würde, und brauchte dafür die neuesten Zahlen aus seinen zahlreichen Besitztümern. Was für ein Glück, dass Raphael de Branne für eine so lange Reise inzwischen zu alt war! Ich sollte Conrad de Brannes Abwesenheit viel mehr genießen, dachte Isabelle krampfhaft. Ich werde mich noch nach dieser Zeit zurücksehnen, wenn dieser verabscheuungswürdige Mensch wieder vor mir steht! Es war, als würde sich etwas um ihre Kehle legen und langsam zudrücken. Sie wandte den Kopf und fragte Philippe schärfer als beabsichtigt: »Sie reiten aus?« Das Gesicht ihres Mannes verschloss sich. »Mehr als das«, antwor3.8
tete er. »Ich werde verreisen. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.« »Verreisen? Für lange Zeit?« »Ich weiß es nicht genau. Ich rechne mit mindestens einer Woche.« »Sie nehmen die Kutsche?« »Nein, ich reite.« »Oh. Ich verstehe«, nickte Isabelle. Ja, sie verstand nur allzu gut. Es handelte sich offenbar um eine dieser Missionen, wie sie Philippe schon drei- oder viermal anvertraut worden waren. Er würde zerschunden und staubig zurückkehren, die Wangen hohl und unrasiert. Dann würde er sich auf sein Zimmer schleppen und sich zwei Tage nicht zeigen, während er den Schlaf einer Woche nachholte. Er sprach nicht darüber, doch Isabelle wusste, dass er in Annes Auftrag unterwegs sein würde, die ihn als Kurier einsetzte. Die Königin spielte ein gefährliches doppeltes Spiel. Sie gab vor, ihren vertriebenen Minister völlig vergessen zu haben. Sie ließ nicht eine Gelegenheit aus, um zu beteuern, dass ihr nichts mehr an Mazarin lag, und war so reizend zu Conde, dass viele am Hof inzwischen überzeugt waren, der Prinz sei ihr neuer Günstling. Isabelle aber war nicht so leicht zu täuschen. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie talentiert eine Frau sein konnte, wenn sie der Außenwelt verheimlichen wollte, was sie wirklich bewegte. Anne hing nach wie vor an ihrem ersten Minister, Philippes häufige Missionen waren der Beweis dafür. Die Königin brauchte nur mit ihren Fingern zu schnippen, und Philippe eilte herbei, dachte Isabelle zornig. »Bon, also dann ... Au revoir, Madame. Sie sollten auf sich aufpassen. Sie sehen müde aus.« Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen. »Ja, natürlich. Au revoir. Eine gute Reise«, gab sie tonlos zurück. Sie sah mit Absicht nicht auf, als er den Raum verließ. Als die Tür sich hinter ihm schloss, zog sie erneut ihren Teller an sich. Isabelle merkte erst, dass sie weinte, als Marion ihr begütigend an die Schulter griff. »Allons, Madame, Monsieur wird schneller als der Wind wieder 149
bei Ihnen sein! Man sieht doch, wie schwer es ihm fällt, sich von Ihnen zu trennen!« In dem Augenblick ging ein Beben durch Isabelles Körper. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie presste eine Hand an den Mund, würgte, machte Marion ein flehendes Zeichen - die Zofe rannte davon. Als sie mit der Waschschüssel wiederkehrte, gab es kein Halten mehr. Ein paar Minuten später lehnte Isabelle zerschlagen in ihren Kissen, Bitterkeit auf der Zunge, in ihrem Magen nichts als Leere. Marion legte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn, reichte ihr eine Amber-kugel gegen den schlechten Geschmack.
»Und nun sollten Sie sich ausruhen - und die Freude genießen!«, meinte Marion. »Die Freude?« Isabelle sah ihre Zofe verständnislos an. »Madame, ich beobachte Sie schon etliche Tage. Diesen Heißhunger, unter dem Sie leiden, die dunklen Schatten um Ihre Augen, jetzt das Unwohlsein ... Es gibt nur eine Erklärung!« Marion klatschte die Hände zusammen, rief strahlend aus: »Monsieur le Comte wird entzückt sein! Es wird ganz bestimmt ein Sohn, Sie werden sehen!« Isabelle setzte sich mit einem Ruck auf. »Was erzählst du da für einen Unsinn? Es ist ganz und gar unmöglich!« »Das erste Kind erscheint immer wie aus heiterem Himmel! Wer ist schon darauf gefasst?« Marion umarmte Isabelle stürmisch. »Ich freue mich so für Sie!« Isabelle schüttelte den Kopf, stieß die Zofe zurück. »Hör auf, Marion! Ich sage dir, dass es nicht stimmt! Ich verbiete dir, diesen Unsinn zu kolportieren, hörst du?« »Nein, Madame, natürlich nicht, wenn Sie es nicht wünschen! Doch jetzt sollten Sie sich wirklich ausruhen. Ob Sie mir glauben oder nicht... Spätestens in neun Monaten wird sich herausstellen, wer recht hatte!«, lachte Marion. »Und jetzt schlafen Sie gut!« Sie ließ Isabelle erschöpft zurück. Isabelle lag lange da, im Halbdunkel der zugeklappten Holzläden des Alkovens. Es brauchte Zeit, bis die Tränen ihren Weg fanden, doch als sie da waren, war es eine Erleichterung. Ein Kind ... Ja, über ein Kind hätte sie sich gefreut ... Dennoch wusste sie, dass kein Kind in ihr heranwuchs. 150
Isabelle verbarg ihr Gesicht zwischen ihren Händen. Wie hätte Marion wissen sollen, dass Philippe sie nicht ein einziges Mal angefasst hatte? Während der Hochzeitsnacht hatte sie noch fest ihr Zimmer verriegelt, damit er ja nicht auf den Gedanken käme, sein eheliches Recht einzufordern. Hatte sich gefreut auf seine Wut, seine Enttäuschung. Und gewartet. Die ganze Nacht, im Schein einer Kerze. Doch die Türklinke hatte sich kein einziges Mal bewegt. Er hatte es nicht einmal versucht. Verriegelt hatte sie ihr Zimmer nie mehr. Schließlich, so hatte sie sich eingeredet, konnte sie sich ihm immer noch verwehren, wenn er vor ihr stünde. Umso vollkommener würde ihre Rache dafür sein, dass er sie wegen ihrer Herkunft verschmäht hatte. Doch er kam nicht. Von da an hatte sie ihn herbeigesehnt. Und sich dafür verachtet.
★ Philippe befand sich in einem eigenartigen, schwebeähnlichem Zustand, als er das Palais Royal verließ und dessen Park betrat. Er kannte dieses Gefühl der Unwirklichkeit zur Genüge, es kennzeichnete bei ihm einen Zustand der völligen Erschöpfung. Er hob den Kopf, drückte den Hut tiefer auf seine Haare. Es wehte ein böiger Aprilwind, noch frisch, doch beladen mit schwachem Forsythienduft. Die Tasche von Philippes Weste hing schwer an seiner Seite, ihr Inhalt klang leise mit. Philippe rollte seine verspannten Schultern. Seine Mission war erfüllt, den Lohn dafür trug er bei sich. Langsam, ganz allmählich schien sein Leben einen ruhigeren Lauf nehmen zu wollen. Wie sehr sich doch die Umstände für ihn geändert hatten während der letzten Monate! Als er in Paris ankam, trug er zerschlissene Kleidung, einen Stein um den Hals und einen Haufen Gebeine auf dem Rücken. Inzwischen fühlte er sich hier heimisch. Er besuchte regelmäßig seine Schwester, hatte das Glück, seine vergreisende Mutter während ihrer letzten Wochen zu begleiten, hatte seinen Vater beerdigt, die Aufmerksamkeit der Königin erregt und bewohnte eines der wunderbarsten Häuser der Stadt. 3U
Philippe biss die Kiefer aufeinander. »Bravo! Wundervoll!« Er war in Sichtweite des Forts, das Mazarin diesen Winter in unmittelbarer Nähe des Palais Royal zur Unterhaltung des jungen Königs hatte errichten lassen. Es war eine sternförmige Anlage, gefertigt aus Erde und Holz, groß genug, um auf ihr naturgetreu das Kriegsgeschehen zu üben. Seit der Fertigstellung der Anlage wurde es der zwölfjährige König nicht müde, als Anführer seiner kleinen, wilden Anhängerschar die Erdwälle zu stürmen oder zu verteidigen, in die Gräben zu springen und unter Schreien die Palisaden zu erklimmen. Der Mut und die Wildheit, die er dabei an den Tag legte, erregten oft den Beifall der Zuschauer, die sich auf den Terrassen des Palastes drängten.
So war es auch heute. Die Hofleute standen hinter der steinernen Brüstung, ihre bunten Kleider flatterten im Wind. Die Herren klatschten, die Damen klopften mit ihren Fächern auf die behandschuhten Handflächen. Philippe war nun bereits ein paar Mal zwischen der Seine und dem Rhein, zwischen Paris und Brühl, dem Exilort Mazarins, hin und her gehetzt. Nie nahm er den kürzesten Weg. Er schlug große Bogen, machte Umwege, gab Acht, seine Spuren zu verwischen, um Spionen und Banditen zu entgehen. Er war nur einer von vielen Kurieren, der kleine Teil einer Nabelschnur, die das Palais Royal mit Mazarins Wünschen, Ratschlägen und Befehlen versorgte. Denn Mazarin hatte nicht aufgegeben, er manövrierte Zug um Zug und kannte nur ein Ziel: Sich so bald wie möglich wieder in Amt und Würden zu etablieren. Der Hass, der ihm von hier aus jedem neuen Pamphlet entgegenwehte, ja selbst die Plünderung seines herrlichen Palastes vor sechs Wochen schienen seine Entschlusskraft nur zu stärken. Anne unterstützte ihren Minister auf ihre Art, nämlich indem sie Conde in Sicherheit wiegte. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um Monsieur le Prince ihre Zuneigung zu beweisen. Die Macht des Prinzen schien unbegrenzt, und ein sicheres Zeichen dafür, dass Annes und Mazarins Taktik erfolgreich war, war die Erlaubnis gewesen, die Anne bekommen hatte, nach vier Wochen endlich wieder das Palais Royal verlassen zu dürfen. Ihr Weg hatte sie direkt in das Kloster der 3"
Feuillants der Rue Saint-Honore geführt. Philippe konnte sich vorstellen, für wen sie dort gebetet hatte. Ein Triumphgeheul ließ Philippe aufmerken. Das Fort war gefallen. Die Zuschauer auf der Terrasse des Palais klatschten nochmals Beifall, begannen dann, sich zu zerstreuen. Philippe erkannte die hellen Haare des Königs an einer der Spitzen der Bastion. Ein Mann in dunklem Anzug stand neben ihm. Er hielt einen großen Plan in einer Hand, auf dem er sich mit der anderen bemühte, verschiedene Punkte anzuzeigen, ein schwieriges Unterfangen, weil der Wind ihm das Papier immer wieder an den Kopf warf. Jetzt flog die Karte hoch über die Köpfe der Menschen auf, sank wieder zu Boden, wurde von der nächsten Böe erfasst... Es begann ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Papier und dem Mann, der ungelenk hinter dem Blatt hereilte. Jedes Mal, wenn er sich bückte, flog der Plan wieder davon. Die Menschen auf der Terrasse kehrten zurück, genossen das neue Schauspiel. Es wurde gelacht und gespöttelt. Philippe runzelte die Stirn. Das Blatt flog höher auf als je zuvor. Als es ein paar Sekunden später zum Liegen kam, war es auf der äußeren Umfriedung des Forts. Es konnte sich nur um Sekunden handeln, bis das Blatt in den tiefen Graben fiel. Der Mann hastete verzweifelt zu der Stelle. Da, das Blatt erzitterte, die Hofleute schrien auf vor Vergnügen ... Philippe griff an seinen Gürtel, zog sein Messer, zielte. Kurz daraufhatte seine Klinge den Plan auf dem Erdwall festgespießt. Philippe konnte förmlich spüren, wie er plötzlich alle Blicke auf sich zog. Als er das Fort betrat, um sein Messer wiederzuholen, machte man ihm bereitwillig Platz. Der Mann trat ihm entgegen, das Blatt, von dem Philippe gerade so viel sah, dass er erahnte, dass es sich um einen Plan der Bastion handelte, fest unter dem Arm geklemmt. Erst jetzt erkannte Philippe La Porte, den Leibdiener des Königs. »Monsieur, ich bin Ihr ergebenster Diener«, verbeugte sich La Porte keuchend. Er wischte sich die vor Schweiß glänzende Stirn ab. »Ich danke für Ihren Beistand.« »Es ist nicht der Rede wert«, sagte Philippe. »Sie haben einer Menge Leute den Spaß verdorben, Monsieur de 151
Vigueil!«, meinte eine junge Stimme. Philippe fiel auf, dass sich der König inzwischen im Stimmbruch befand. »Haben Sie etwas gegen Fröhlichkeit?« Philippe machte eine tiefe Verbeugung. »Nicht, solange man sich nicht auf Kosten anderer amüsiert, Sire«, antwortete er. Louis XIV näherte sich mit langsamen Schritten, gefolgt von einem Dutzend junger Männer. Alle waren zerzaust und verschmutzt von ihren wilden Spielen, und Philippe, der sich noch keine Zeit genommen hatte, um sich nach seiner Reise umzuziehen, brauchte sich seines staubigen Mantels nicht zu schämen. »Hier, Ihr Messer!« Louis hielt Philippe die Waffe hin, mit der Schneide zuerst. Philippe verneigte sich, streckte die Hand aus, ergriff das Messer. Als der König es plötzlich zurückzog, zuckte Phi-
lippe zusammen. Die scharfe Klinge hatte seine Handfläche durchschnitten. La Porte zog die Luft ein, die jungen Männer murmelten. Philippe fixierte den König. Dieser verzog keine Miene. »Ihr Messer, Monsieur!«, sagte er erneut. Die Klinge blitzte auf. Langsam, die Augen fest auf das Gesicht des Königs geheftet, streckte Philippe die blutende Rechte aus. Er berührte das Metall, umschloss es fest mit seiner Hand - und wieder fuhr er zusammen. Die jungen Männer stießen sich mit den Ellenbogen an. »Sire, ich bitte Sie ...!«, bat La Porte den jungen Herrscher. »In all den jähren, die ich Sie nun kenne ...« »Ihr Messer!« Philippe atmete tief ein. Seine Hand brannte wie Feuer. Er fühlte, wie das Blut heiß über seine Finger quoll. Es tropfte auf den festgestampften Boden. Wunden, Blut, Sand. Grelle Bilder der Erinnerung. Philippe verscheuchte sie. Hob die Hand, legte sie fest um die Klinge. »Sie greifen erneut zu?«, fragte Louis kalt. »Sire, offenbar habe ich Ihr Missfallen erregt. Dafür verdiene ich jede Strafe.« »Sie erwecken gekonnt den Anschein der Ergebenheit, Monsieur de Vigueil.« Philippe antwortete nicht. Seine Hand hielt noch immer die Klinge umfasst. Louis fuhr fort: »Es ist einige Zeit vergangen, seit wir 3H
uns zuletzt sahen ... Man erzählt, Sie hätten eine exzellente Partie gemacht. Aus welcher Familie stammt Ihre Frau noch einmal?« »Sie ist eine Geborene de Faurepas, Sire.« »Ja, richtig. Die Faurepas sind seltene Gäste im Palais Royal - im Palais de Conde hingegen gehen Sie ein und aus. Und der Herzog de Faurepas ist von einem einnehmenden Wesen ...« Philippe verstand. Viele waren von dieser überstürzten Heirat überrascht worden - nicht nur er selber. Und außer dem alten Faurepas hatte wohl auch jeder etwas an ihr auszusetzen. »Sire«, antwortete er, »die meisten Paare führen getrennte Leben. Ich heiratete, um ein altes Versprechen meines Vaters zu erfüllen. Meine Treue für mein Land und meinen König wurde dadurch nicht geschmälert.« »Unzählige Überzeugungen werden von hübschen Armen zärtlich erdrosselt, Monsieur! Und man sagt Madame Ihrer Frau nach, sehr hübsche Arme zu besitzen ...« Philippe schwieg. Als er an Isabelles weiße Arme dachte, an die Zärtlichkeit ihrer Hände, an die Süße ihres Mundes, überfiel ihn erneut die wütende Ohnmacht, die seit seiner Heirat seine ständige Begleiterin war. Der Schmerz, den er verspürte, saß sehr viel tiefer und war heftiger als alles, was der König ihm hätte zufügen können. Auf einmal lastete das Messer schwer in seiner blutenden Hand. Der König hatte es losgelassen. So leise, dass kein anderer der Anwesenden seine Worte hören konnte, sagte Louis: »Monsieur, die Zeiten ändern sich! Auch wenn Monsieur le Prince sich bereits wieder benimmt, als sei er der Herrscher dieses Landes -er ist es nicht. In vier Monaten wird die Regentschaft meiner Mutter beendet sein, und ich werde die Regierung von ihr übernehmen. Bis dahin möchte ich, dass die Faurepas zu königstreuen Vasallen geworden sind. Nur so kann ich Ihnen verzeihen, ohne meine Erlaubnis diese Ehe geschlossen zu haben.« Er fixierte Philippe aus seinen leicht hervortretenden, blauen Augen. »Ihre Frau wird bereits beobachtet, Monsieur. Machen Sie Ihren Einfluss auf sie geltend. In Frankreich wird bald kein Platz mehr für Aufwiegler sein.« Er trat einen Schritt zurück. »Sie dürfen sich entfernen.« Als Philippe das Fort verließ, fühlte er sich von einer Unruhe erfasst, die selbst seine Erschöpfung durchdrang. Isabelle ... 152
Louis' Worte waren keine leere Drohung. In der Nacht, als Philippe an dessen Bett gestanden hatte, war Philippe zu der Überzeugung gelangt, dass dieser blonde Knabe einmal ein großer König werden würde. Doch Größe war selten begleitet von Sanftmut... Und Louis hatte nach den Ereignissen der letzten Monate keinen Grund, besonders sanft zu seinen Untertanen zu sein. Er würde sich rächen für die vergangenen Demütigungen. Und dann Gnade den Frondeurs, Conde und seinen Anhängern. Philippe stolperte, beschleunigte seine Schritte. Auf einmal hatte er es eilig, nach Hause zurückzukehren.
* »Was für rosige Wangen du heute hast, Marion!«, lächelte Isabelle ihrer Zofe zu. »Und wie adrett du aussiehst! Wer ist es denn? Kenne ich ihn?«
Marion senkte die Nase über eins von Isabelles Kleidern, an dem sie gerade ein Stück Spitze neu annähte. »Wovon sprechen Sie?«, fragte sie betont gleichgültig. »Du willst nicht darüber reden? Es ist dein gutes Recht.« Isabelle legte das Tuch beiseite, das sie zum Gottesdienst um ihre Schultern gelegt hatte. »Wer immer es ist, er bekommt dir.« Es klopfte an der Tür, und Marion sprang eilfertig auf. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten. »Ich gehe schon, Madame ...« Noch bevor die Zofe die Klinke ergriffen hatte, bewegte sie sich, und Conrad de Branne trat ein. Isabelle musste an sich halten, um nicht einen Schritt zurückzuweichen. Branne ... Er war wieder da! »Madame«, lächelte ihr Sekretär und schwenkte seinen Hut, »ich freue mich, Ihnen meine Rückkehr mitteilen zu können. Ich stehe ab sofort wieder zu Ihrer Verfügung.« Isabelles Magen ballte sich zusammen. Die Wut, die in ihr aufloderte, war so heftig, dass sie selbst davon überrascht wurde. »Monsieur de Branne, mir ist bewusst, dass Sie lange abwesend waren, und Ihr Eifer, Ihren Dienst wieder anzutreten, ist lobenswert. Dennoch würde ich es begrüßen, wenn Sie sich in Zukunft wieder 153
anmelden würden, bevor Sie meine Zimmer erstürmen«, monierte sie kalt. »Verzeihung«, sagte Branne mit allen Zeichen aufrichtiger Zer-knirschtheit. »Schlimm, wie schnell ein Aufenthalt in der Provinz die Sitten verrohen lässt. Ich habe in den letzten Wochen fast ausschließlich mit Bauern verkehrt.« Er lächelte sein strahlendes, unwiderstehliches Lächeln. »Doch Ihre Gesellschaft wird, davon bin ich überzeugt, im Nu wieder einen zivilisierten Menschen aus mir machen!« Isabelle drehte sich abrupt von ihrem Sekretär weg und stellte sich an eines der mannshohen Fenster, um sich vom Anblick des Treibens im Hof ablenken zu lassen. Ein dampfendes Pferd stand draußen und wurde von zwei Stallknechten kräftig mit Strohbündeln abgerieben. Ein Besucher, dachte Isabelle, der eine lange Reise hinter sich hat. Sehnsüchtig blickte sie auf die kleine Szene nieder. Wie schön es sein musste, sich mit einer Tasche auf ein Pferd zu setzen und alles hinter sich zu lassen! Alleine zu sein, sich nur von dem eigenen Befinden, von den eigenen Wünschen leiten zu lassen, auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nehmen zu müssen! »Oh, erwartet Monsieur le Duc einen Kurier?« Die Stimme in ihrem Rücken ließ sie herumwirbeln. Ihr Sekretär war neben sie getreten und spähte ebenfalls nach draußen. Sie warf einen suchenden Blick nach hinten. »Wo ist Marion?«, fragte sie scharf. Branne verzog den Mund. »Ich habe sie weggeschickt. Sie störte unsere kleine Wiedersehensfeier.« Er hielt Isabelle einen Zettel hin. »Hier, seien Sie so gut und lassen Sie fünfhundert Livres an diese Adresse bringen, ja?« Er lächelte. »Es ist der Preis für eine kleine Torheit.« »Fünfhundert...?«, schnappte Isabelle. »Und vierzig zusätzlich für Sattel und Zaumzeug. Die Stute ist jede Livre wert, Sie werden es sehen, wenn wir heute Nachmittag zusammen ausreiten. Ich kann es kaum erwarten, sie unter meinen Schenkeln zu spüren!« Isabelle schüttelte den Kopf. »Ich erwarte heute Nachmittag den Besuch einer...« 153
»Und anschließend gehen wir ins Theater. Und danach werden wir sehen, von irgendjemandem zu einer dieser langweiligen Soireen eingeladen zu werden, die immer irgendwo stattfinden ... Ich habe mit Freude erfahren, dass während meiner Abwesenheit drei meiner neuen Jacken fertiggestellt worden sind, und werde also bestens gerüstet sein. Die Rechnungen bekommen Sie noch.« Er strich über die Revers seiner Jacke. »Was schlagen Sie vor, das Theater vom Hotel de Bourgogne oder das vom Marais? Ich habe mich erkundigt: Floridor, der die Truppe im Hotel de Bourgogne anführt, hat ein neues Stück von Corneille einstudiert, dessen Name mir allerdings entfallen ist. Im Marais hingegen spielt der berühmte Jodelet in einer Farce die Hauptrolle, von der ich viel Gutes hörte ...«Er beugte sich zu ihr herunter. »Nun, Isabelle, wonach wird Ihnen heute Abend zumute sein? Nach Weinen oder nach Lachen?« Sie schloss die Augen. Leise sagte sie: »Ein Drama wird perfekt sein.« Branne nahm ihren Unterarm. Seine Finger wanderten über ihren Puls, drehten ihre Handfläche nach oben. »Ich freue mich«, sagte Branne spöttisch. Ein Schauer der Ablehnung lief ihren Rücken
hinunter, als seine Lippen ihre Haut berührten. Sie wollte ihm ihre Hand entreißen, doch er hielt sie fest. Er ließ ihre Ringe im Licht der Sonne funkeln. »Was für schöne Steine ... Dieser hier ist ein Rubin, nicht wahr? Ob der Ring mir passen würde?« Sie verharrte einen Augenblick lang stumm, fixierte ihn mit all der Abneigung, die sie gegen ihn empfand. Dann, langsam, hob sie die Hand und streifte wortlos den schweren Goldring ab. »Ah, que c'est beau!«, rief Branne begeistert aus. »Schauen Sie, er passt wie angegossen an meinen kleinen Finger...!« In dem Augenblick schwang die Tür auf, und Philippe trat ein. Es wurde still. Conrad drückte seinen Rücken durch. Philippe sah sich um, beherrscht und auf der Hut wie stets. Das Pferd, dachte Isabelle überflüssigerweise. Sein Pferd. »Monsieur de Branne«, grüßte Philippe, und in seiner ausdruckslosen Stimme schwang ein winziges Fragezeichen mit. »Sie sind zurück?« »Soeben angekommen, Monsieur«, verbeugte Branne sich knapp. »Und gleich wieder im Dienst?« »Sicherlich«, lächelte Branne, der sich zunehmend wieder ent 154
spannte. Er deutete mit einer lässigen Geste auf Philippes staubigen Mantel. »Sie selber waren verreist, wie ich hörte?« »Sie wollten sich gerade zurückziehen?«, überhörte Philippe die Frage des Sekretärs. »Aber nein.« Branne lächelte und drehte sich Isabelle zu. »Sie sprachen doch gerade von einer dringlichen Angelegenheit, nicht wahr, Madame?« Isabelle schluckte. »Ja ... ja, so ist es«, antwortete sie tonlos. Branne machte eine einladende Geste in Philippes Richtung. »Nun, dann will ich mir etwas Wein einschenken, um Sie nicht zu stören, während Sie mit Madame la Comtesse reden, Monsieur. Möchten Sie vielleicht auch etwas ...?« »Nein danke«, lehnte Philippe kalt ab. Er runzelte die Stirn. Isabelle nahm Notiz von seiner schmutzigen Kleidung und den Schatten unter seinen Augen. »Wie war Ihre Reise?«, fragte sie, um die Spannung zu lösen. »Erfolgreich, wie ich hoffe?« »Zufriedenstellend«, antwortete er einsilbig, und sie fragte sich, ob es jemals zwischen ihnen eine Zeit der offenen Gespräche gegeben hatte. Auf einmal sehnte sie sich schmerzlich danach, ihn zu berühren, den Mantel von seinen Schultern zu streifen, den Staub einzuatmen, der auf seiner Haut lag, mit ihrem Gesicht nachzuspüren, ob seine Handflächen noch genauso rau waren wie früher, und sie verfluchte Branne, der im Hintergrund laut mit dem Weinkrug hantierte. Ihr Blick fiel auf den blutgetränkten Fetzen, den Philippe um seine Rechte gewickelt hatte. »Sie sind verletzt!«, rief sie erschrocken, und streckte unwillkürlich die Hand aus. »Wie ist das passiert?« »Nur eine leichte Schnittwunde«, wehrte er ab. »Mein eigenes Messer.« Ihre Hand fiel zurück. »Sie müssen es ordentlich versorgen lassen«, meinte sie zurückhaltender. »Ich werde mich darum kümmern.« Sie fühlte sich zunehmend verunsichert unter seinem Blick, der immer wieder zwischen ihr und Branne hin und her wanderte. Der Sekretär hatte sich auf der anderen Seite des Zimmers zurückgezogen, ein undefinierbares Lächeln auf den Lippen. Philippe sagte gedämpft: »Ich sprach vorhin mit dem König, auch über Sie, Madame.« 154
»Über mich?«, fragte Isabelle erstaunt. »Weiß denn dieses Kind überhaupt von meiner Existenz?« Zu wissen, dass sowohl Brannes als auch Philippes Augen auf ihr lasteten, reizte sie. Verflixt, fluchte sie innerlich, der eine erpresst mich und der andere schafft es auch noch, dass ich mich dafür schuldig fühle! »Louis weiß mehr, als die meisten ahnen, meine Liebe. Er beobachtet den Hof sehr genau. Und er lässt Sie durch mich warnen.« »Warnen?«, fragte Isabelle und zog die Stirn kraus. »Weshalb? Was wirft mir der König vor? Dass ich nicht oft genug colin-maillard mit ihm gespielt habe? Es müssten sich am Hof doch genug Kinder finden können, um einen gelangweilten Jungen bei Laune zu halten!« Sie schnippte einen Fussel von ihrem Rock. »Parbleu, Isabelle«, schimpfte Philippe leise, »stellen Sie sich doch nicht ahnungsloser, als Sie sind! Der König wird im Herbst volljährig, und bis dahin sollte die Familie Faurepas tunlichst einen Beweis ihrer Königstreue erbracht haben!«
Sie zuckte die Schultern. »Ihre Fürsorge ehrt Sie, Monsieur, doch sie ist falsch platziert. Sie sollten mit meinem Großvater über Ihre Bedenken sprechen. Mit ihm verstehen Sie sich doch bestens, nicht wahr?« Sie hob das Kinn. »Ich bin nur die kleine Enkelin, die sich gehorsam verbeugt, wenn es ihr befohlen wird, und heiratet, wen ihr Großvater befiehlt.« Philippes Mund wurde schmal, und sein Gesicht verschloss sich. »Wie Sie wollen.« Er wandte sich von ihr ab, um den Raum zu verlassen. Branne stellte seinen Weinbecher auf den Tisch zurück. Seine Hand geriet in einen Sonnenstrahl, und der Rubin an seinem kleinen Finger fing Feuer. Isabelle sah deutlich, wie Philippe stutzte. Er hielt kurz inne, den Blick auf Brannes Hand fixiert, drehte sich Isabelle dann noch einmal zu. Seine Augen liefen an ihr herunter. Ihr wurde kalt. Kalt und schlecht. Als Philippes Schritte im Vorraum verhallten, griff sie an ihre Kehle. Hunger, ich habe schrecklichen Hunger, dachte sie. Dann stürzte sie würgend zu ihrer Waschschüssel. 33°
»Sie sehen heute viel besser aus, Madame ma mere«, log Isabelle und legte eine Hand auf Marie-Olympes klauenartige Finger. Ein spöttischer Blick blitzte unter den schlaffen Augenlidern hervor, der gelbliche Kopf mit dem spärlichen Haarwuchs bewegte sich leicht. Die Antwort kam in kurzatmigen Sätzen. »Sie sollten eine Sterbende nicht belügen, ma fille. Ich weiß, wie ich aussehe. Ich habe mir heute Morgen von Perette einen Spiegel vorhalten lassen.« Isabelles Großmutter hob die schmalen Brauen, was ihrem bis auf die Haut abgemagerten Gesicht das Aussehen eines hochmütigen Totenschädels verlieh. »Um ehrlich zu sein, beunruhigt mich Ihr Aussehen stärker als mein eigenes. Wie oft haben Sie die letzten Nächte durchwacht?« Isabelle lächelte leicht. »Ich habe in den letzten Wochen an einigen Gesellschaften teilgenommen, Madame mère. Sie wissen, wie das ist: Kaum ist der Frühling da, überkommt die Menschen der Drang zu feiern.« »Ja. Man nennt das, glaube ich, Frühlingsgefühle. Ich habe gehört, dass Sie ihnen einen tüchtigen Tribut zollen dieses Jahr. Und immer in Begleitung, nicht wahr?« Isabelle senkte den Kopf und strich ihren Rock glatt. »Nun, Sie sind jetzt verheiratet und Herrin Ihrer selbst, ma fille. Ihrem Mann, diesem Vigueil ... er hat genug bekommen, er wird einmal alles hier erben, dem schulden Sie nichts. Das ist die Rache, die wir Frauen für uns beanspruchen können. Man zwingt uns zur Heirat, wir müssen uns beugen. Doch dann darf man auch nicht erwarten, dass wir den uns aufgezwängten Ehemännern die Treue halten. Allerdings hätte ich mir gewünscht, Sie hätten sich einen anderen als Raphael de Brannes Sohn ausgesucht. Dieser Conrad ist umwerfend schön, doch irgendetwas an ihm gefällt mir nicht.« Isabelle faltete sittsam ihre Hände auf ihrem Schoß. Bilder, Erinnerungen schössen durch ihren Kopf, verhasst allesamt. Ein Violinkonzert bei Madame de Chätillon. Ein Spaziergang im Klostergarten der Célestins. Spielabende, ein Maskenball. Und an Isabelles Seite, immer um sie herum, gierig blaue Augen, ein unersättlicher Mund. Und Hände. Hände, die sie immer wieder berührten, ein Körper, der sich immer irgendwie in ihre Nähe drängte. Branne gab sich kaum Mühe, den Schein zu wahren. Warum auch? Es war passiert, was passieren musste, ihr Sekretär galt überall als ihr Liebhaber, und zu 155
Liebhabern gehörten verstohlene Berührungen. Ihre angebliche Beziehung war mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen worden -man neidete sie ihr sogar. Conrad de Branne war brillant, sah blendend aus in seinen neuen, maßgeschneiderten Jacken, und mehr als eine der Damen, auf die sie regelmäßig trafen, hatte bereits ein interessiertes Auge auf ihn geworfen. »Sie sind dünner geworden, ma fille. Essen Sie auch genug?« Isabelle sah auf das müde Gesicht. »Mais oui«, antwortete sie wahrheitsgetreu. »Ich esse mehr als jemals zuvor, ma mère ...« Es wunderte sie immer wieder, wie scharf Marie-Olympes Beobachtungsgabe geblieben war, obwohl ihre Lebensflamme kaum mehr als ein winziges, glimmendes Licht war. Jeden Tag verbrachte Isabelle ein paar Stunden in Marie-Olympes Zimmer. Eine, höchstens zwei Wochen noch, hatte der Arzt gesagt. Dann würde die Flamme erlöschen. Sie beobachtete, wie Marie-Olympe die Augen schloss, wie sie friedlich in den Schlaf glitt, und löste behutsam ihre Finger von der knochigen Hand. Gut. Sie würde morgen wiederkommen. In dem Augenblick, da sie ihre steifen Glieder reckte, kam ein aufgelöstes Zimmermädchen in das Zimmer gehastet. Sie warf dem Krankenlager nur einen kurzen Blick zu und winkte heftig. »Madame! Kommen Sie bitte! Schnell! Ein Unglück ...«
Isabelle erhob sich. Sie zog das Mädchen in das Vorzimmer. »Was ist los?« »O Madame ... es ist so schrecklich ...«, haspelte das Mädchen. Tränen standen in seinen Augen. »Vor unserer Haustür. Es soll vor unserer Haustür passiert sein. Eine Kutsche ... ein Unfall...« »Ein Unfall? Wer?« »Überrollt!«, wimmerte das Mädchen. »Er sieht schrecklich aus! O mein Gott...« Das Mädchen brach in heftiges Schluchzen aus. Isabelle schüttelte das Mädchen. »Wer? Wer ist es? Nun sprich doch endlich!« Es war vergeblich. Das Zimmermädchen verfiel in einen Weinkrampf. Isabelle stürmte aus dem Zimmer in den Flur, dann die Treppe hinunter. Herr, nicht er!, flehte sie, während sie die Stufen hinunterhastete. Lasst ihn mir! Ich will ertragen, dass er mich verachtet ... Alles will ich ertragen, aber Ihr müsst ihn mir lassen! 331
Sie brauchte nicht weit zu laufen, in der Eingangshalle drängte sich das Personal. Isabelle schrie auf. »Lasst mich durch!« Man teilte sich vor ihr. Erschrockene, bleiche und erregte Gesichter huschten an ihr vorbei, bis sie eine Form wahrnahm, die auf ein paar Decken aufgebahrt auf dem steinernen Boden lag. Conrad de Branne kniete davor. Isabelle trat behutsam näher. So schnell sie auch bis hierhin gehastet war, sie brauchte, so schien ihr, eine Ewigkeit, um die letzten Schritte zurückzulegen. Sie warf einen Blick auf den Körper. Weiße Haare ruhten auf dem Boden. Weiße Haare! Sie stieß einen Laut der Erleichterung aus, legte die Hände an ihr Gesicht und schickte ein Dankesgebet zum Himmel. In dem Moment hob Branne den Kopf und sah sie an. Seine Augen waren gerötet. An seinen Händen war Blut. »Er ist tot«, sagte er, und Fassungslosigkeit verlieh ihm die Stimme eines kleinen Jungen. »Mein Vater ist tot!« Sie verharrte stumm, ein, zwei Atemzüge lang. Dann drehte sie sich weg und ging davon.
*
Philippe sah um sich, bevor er das Gitter ergriff. Die Straße lag verlassen da, einzig ein paar Lumpenhaufen, die in einem fernen Hauseingang lagen, zeugten von menschlicher Präsenz. Das riesige Tor war nur angelehnt gewesen und ließ sich lautlos bewegen. Philippe schob sich in den Vorhof. Seine kleine Fackel erleuchtete nur unzureichend den undurchdringlichen Schatten der stummen Gebäudemassen. Kurz durchzuckten Bilder seinen Kopf, und er sah sich denselben Weg bei Tag nehmen, auch damals herbeizitiert von ein paar knappen Zeilen. Damals hatte er allerdings gewusst, wer ihn hatte rufen lassen. Seine Haut spannte sich, sein Rücken brannte warnend. War dort drüben nicht eine Bewegung gewesen? Er spähte angestrengt in die Finsternis. Nein, nichts ... Er musste sich geirrt haben. Was hatte der anonyme Verfasser des Briefes gesagt, der ihn zu dieser nächtlichen Stunde hierherbestellt hatte? Die Ställe ... Philippe umschloss den Griff seines Messers mit der Hand, beließ 156
die Waffe aber in ihrer Scheide. Bald stand er vor dem Flügel, und schwacher Pferdegeruch wehte ihm entgegen. Auch hier standen die drei Riesenportale offen, und er drang ungehindert hinein. Stille empfing ihn, eine lange Reihe schweigsamer Säulen, die das unstete Licht seiner Fackel tanzen ließ. Ein paar Strohhalme zeichneten sich gegen das dunkle Holz der Krippen ab. Wo war nun der Mensch, der ihm geschrieben hatte und ihm Informationen über den Verrat an seiner Familie versprochen hatte? Wo? Er zog die Schultern hoch. Die Nacht war mild, doch dieses leere Gebäude, in dem sich früher die Pferdeleiber gedrängt hatten, strahlte eine unangenehme Kälte aus. Die Stützen, die wie tragische Insekten auf den Wänden ausharrten, schienen nach den schimmernden Sätteln zu rufen, die einst auf ihnen ruhten. Kein Zaumzeug, nicht einmal einen Striegel oder einen Eimer hatten die Plünderer von Mazarins Palast hinterlassen. Nur kalten Pferdegeruch. Philippe ballte in der Finsternis die Fäuste, drängte seine Enttäuschung zurück. Er war nun überzeugt, dass er hier nicht weiterkommen würde, machte kehrt und trat zurück in die mondbeschienene Mainacht. Er zögerte nur kurz, wandte sich dann den restlichen Gebäuden zu.
Er wäre unfähig gewesen, zu sagen, was er suchte, doch der Brief hatte zu viele Erwartungen in ihm geweckt, um ihn jetzt schon unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren zu lassen. Ziellos durchstreifte er Mazarins Palast. Wo mochten die Wachen sein, die das Gebäude doch wenigstens der Form halber schützen mussten? Gewiss gab es genug Hasser des Kardinals, die nur darauf warteten, das Ganze in Brand zu stecken ... Philippe ging nicht systematisch vor, dafür waren die Gebäude zu gewaltig, sondern ließ sich von seinem Instinkt leiten und dem morbiden, lauernden Reiz der ausgeweideten Räume, immer auf der Hut, die Rechte stets auf dem Griff seines Messers. Keine Statue, kein Teppich befand sich mehr an seinem Platz. Philippe ging weiter. Die Gemälde, das kostbare Mobiliar, die berühmten Gobelins »Amor und Psyche«, die er letztes Mal noch so bewunderte hatte, die römischen Büsten, das unzählige Silber- und das erlesene Goldgeschirr, natürlich auch die Diamanten, die der Minister eifrig gesammelt hatte - alles war von gierigen Händen davongetragen worden. Zwar sagte man, einige der Stücke seien vorsorglich 157
von Anne in das Palais Royal gebracht worden, doch für Philippe, der während eines der letzten Pariser Tage des Kardinals hier gewesen war, war der Anblick bestürzend. Von dem Minister konnte man denken, was man wollte: Diese öffentliche Demütigung der königlichen Autorität war mehr als besorgniserregend. Ein kaum hörbares Geräusch in seinem Rücken ließ ihn herumschnellen. Da, ein Schatten - und das Trippeln winziger Krallen. Philippe entspannte sich. Eine Ratte. Er folgte ihr mit den Blicken, bis ihre struppige Gestalt mit dem Schatten einer Tür verschmolz. Eine Tür? Etwas in Philippe schrie Alarm. Schon hatte er das Messer zur Hand. Ein gedämpfter Ausruf. »Maintenant, Messieurs! Auf ihn!« Auf einmal lösten sich Schatten aus allen Ecken. Fünf... sechs ... zehn? Der erste Knüppelschlag traf ihn von hinten. Philippe schwankte, ließ die Fackel auf den Boden fallen, holte mit der Klinge aus. Ein Ächzen. »Schneller! Sie müssen schneller sein!« Dieselbe Stimme, kannte er sie? Weitere Hiebe trafen ihn. Von rechts, von links. Wieder von hinten. Der Kreis der Schatten wurde dichter. Philippe schlug zurück, gezielt zunächst, doch die Übermacht war zu groß. Ein Hieb schleuderte ihm das Messer aus der Faust, und er stöhnte vor Schmerz. Dunkle Mäntel, Masken unter den breiten Krempen, und eine unheimliche Stille, nur von dem Geräusch der Hiebe unterbrochen, ab und zu auch von einem Schmerzensschrei. Ein Hieb traf seinen Schädel. Er stolperte. Wieder die Stimme. »Nicht auf den Kopf!« Er kam nicht auf den Gedanken, die Angreifer anzuschreien, mit ihnen zu verhandeln. Er kannte das alles, hatte das alles bereits erlebt: die unerbittliche, methodische Grausamkeit, mit der auf ihn eingeschlagen wurde. Ein Hieb traf seine Kniekehlen. Er sackte auf den Boden. Die Schläge hagelten auf seinen Rücken hinab. Auf seinen Rücken. Auf seinen Rücken! Er stieß einen Schrei aus, einen Laut der Wut und des Hasses. Wieder traf ein Schlag seinen Kopf. Tosen und Brausen. Er fiel um. Kalter Stein unter seiner Wange. »Es reicht!« Die Schläge hören auf. Stiefelspitzen erschienen im 157
Nebel, der Philippe umgab, hielten eine Handbreit vor seinem Gesicht. Er versuchte, sich zu bewegen. Seine Finger krümmten sich. »Ist er ohnmächtig?« »Ich weiß es nicht.« Eine Maske schwebte ein paar Sekunden in Philippes Blickfeld. Grüne Augen aus dunklen Tiefen. »Können Sie mich hören, Vigueil?« Ein irritierter Laut. »Parbleu ... Ich hatte gesagt, nicht auf den Kopf!« »Ein kleiner Ausrutscher. Nichts für ungut, Monsieur.« Ein Knurren als Antwort. »Da ... er bewegt eine Hand!« »Sehr gut.« Eine Fußspitze rollte Philippe auf den Rücken. Die Welt kippte. Schwarze Gestalten sahen auf ihn herab. »Das war eine kleine Lektion in Sachen Demut, Vigueil! Lernen Sie in Zukunft, die Finger nicht nach fremdem Eigentum auszustrecken!« Die Lippen konnte Philippe auch noch bewegen. Der Mann beugte sich zu ihm herab, um seine Worte zu verstehen. »Scheren Sie sich zum Teufel, Pleinpont!«
Philippe schlug mit den Lidern. Die Schatten begannen, sich zu drehen, ineinander zu verschwimmen, und er verlor die Besinnung.
*
Als Philippe wieder zu sich kam, war seine Fackel, die in ein paar Schritten Entfernung auf dem Boden lag, fast hinuntergebrannt. Sein Kopf war auf zwei Knie gebettet worden, und wieder beugte sich eine Gestalt über ihn herab. Er verzog das Gesicht. Irgendetwas schlug laut und hart auf seinen Schädel ein. »Rühren Sie sich vorerst lieber nicht, Monsieur de Vigueil. Erlauben Sie Ihrem Geist erst einmal, sich wieder bei Ihnen einzurichten.« Eine männliche Stimme, ein rollender Akzent... »Borrasca?«, stöhnte Philippe. »Was treibt Sie denn hierher?« »Genau das, was ich gerade tue, Señor Comte. Ich wollte ein wenig auf Sie aufpassen.« Philippe versuchte, sich aufzurichten. Das Pochen nahm zu, Borrascas sehnige Hände stützten ihn, bis er alleine sitzen konnte. »Irgendetwas gebrochen?«, fragte der Fechtlehrer. 158
Philippe bewegte vorsichtig seine Glieder. Der Schmerz war heftig, doch alles gehorchte. »Nein, ich glaube nicht.« »Sie haben Glück. Und einen kräftigen Körperbau.« Allmählich wurde es klarer in Philippes Kopf. »Haben Sie gesehen, was vorgefallen ist?« Borrasca schwenkte bedauernd seine große Nase. »Leider. Ich ahnte, dass Beauforts Leute etwas vorhatten, doch ich war zu spät, um Sie zu warnen.« Die Zähne des Spaniers blitzten im Dunkeln. »Und selbst ich bin nicht gewandt genug, um gegen zwölf Männer anzutreten.« »Es waren also wirklich Beauforts Männer...« »Naturalmente, Senor«, rollte der Spanier achselzuckend. »Haben Sie tatsächlich geglaubt, der Herzog lässt sich von Ihnen klaglos seine Braut wegschnappen?« Philippe zog die Beine an und verzog das Gesicht. »Verflucht, Borrasca, die Hochzeit ist drei Monate her ...« Er kam auf die Knie und hielt inne, als ein scharfer Schmerz seine Leiste durchzuckte. »Nehmen Sie meinen Arm, Vigueil«, sagte der Fechtmeister und fügte sofort mit einem Lächeln in der Stimme hinzu: »Monsieur de Beaufort war sehr beschäftigt in den letzten Wochen. Sie dürfen nicht so vermessen sein zu glauben, er hätte nichts anderes zu tun, als Sie für die Schmach bezahlen zu lassen, die Sie ihm zufügten.« »Verzeihen Sie, wenn mir nicht zum Lachen zumute ist«, ächzte Philippe. »Außerdem...« »Ja?« »Nun, meinen Beobachtungen nach wurde Beaufort auch ziemlich beeinflusst.« Borrasca rieb sein Kinn. »Es gibt da einen Mann, der den Herzog öfters besucht und dafür sorgt, dass die Erinnerung an die von Ihnen zugefügte Schmach lebendig bleibt...« »Sein Name?« »Wurde nie erwähnt. Ein gut aussehender Edelmann. Gebildet, freundlich.« Philippe zuckte die Schultern und bereute es sofort. »Diese Beschreibung passt auf jeden«, sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Auf fast jeden Spanier vielleicht«, antwortete Borrasca mit undurchdringlicher Miene. 158
Nun musste Philippe doch lächeln. Langsam, Zoll für Zoll, richtete er sich auf und hielt sich an dem Spanier fest. Die ersten Schritte waren die schmerzhaftesten. Ständig liefen seine Beine Gefahr, ihm unter seinem Körper wegzurutschen. Doch irgendwann lockerten sich seine verkrampften Muskeln, und es gelang ihm ohne Stütze, wenn auch mit einem gleichzeitig schlingernden und steifen Gang, den Raum zu verlassen. »Nun ja«, lächelte der Spanier, als sie endlich wieder den mondhellen Himmel über sich hatten, »an Fechtunterricht ist diese Woche nicht mehr zu denken.« Philippe, dem die frische Luft neue Kräfte schenkte, betrachtete den Spanier mit gemischten Gefühlen. Ihm war klar, dass Borrasca auch nicht interveniert hätte, wenn seine Angreifer plötzlich mit Degen statt mit Knüppeln auf ihn losgegangen wären. Wahrscheinlich hatte er der ganzen Szene aus einer entfernten Ecke beigewohnt. Der Spanier hatte schließlich eine einträgliche Stellung beim Herzog de Beaufort und war genug am Geld interessiert, um sich von ihm ständig
demütigen zu lassen. Doch immerhin hatte er ihm im Nachhinein beigestanden. Das war, so seine Erfahrung, mehr, als man von den meisten Menschen erwarten konnte. »Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Monsieur«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, doch ich könnte jetzt eine Stärkung gebrauchen. Wenn Sie Lust haben, mich zu begleiten, lade ich Sie ins Hotel de Noirlieu zum Essen ein.« »Bei Ihnen?« Borrasca deutete nach oben. »Ist es nicht ein bisschen ... spät?« Philippe schüttelte vorsichtig den Kopf. »Unserem Koch ist von meinem Schwiegervater gekündigt worden - Gott allein weiß, weshalb, ich halte ihn für den besten seines Faches. Morgen früh jedenfalls wird er uns verlassen. Ich bin sicher, dass er ein wunderbares Abschiedsessen gezaubert hat, von dem, wie immer, noch überreichlich vorhanden ist.« »Na dann!« Borrasca zwirbelte seinen rötlichen Schnurrbart und nahm lächelnd seine Einladung an. »Con mucho gusto, Senor Conde.« 159
Die Straßen waren leer und sie kamen gut voran. Dennoch schien Philippe, dass der Heimritt sich ewig hinzog, denn er hatte größte Mühe, im Sattel eine Stellung zu finden, die halbwegs erträglich war. Im Hotel de Noirlieu war niemand zu sehen außer einem gähnenden Stallburschen, der ihre Tiere abnahm, und dem Hauswärter, der die Augen aufriss, als er Philippes Zustand erblickte. »Wir werden uns selber etwas holen müssen«, meinte Philippe zu seinem Gast. Sie erreichten die Küche. »Am besten suchen Sie das Geschirr, während ich einen Blick in die Kochtöpfe werfe.« Er hinkte zum größten der beide Kamine. Staunend hielt er inne. Zwar hatte er erwartet, dass Timoléon noch einmal einen Beweis seiner Kochkünste würde liefern wollen, doch die Anzahl der Töpfe, Schalen und Tiegel übertraf bei weitem seine Erwartungen. Er runzelte die Stirn. Was für eine Verschwendung ... »Vigueil!« Borrascas Tonfall ließ Philippe etwas zu schnell den Kopf drehen. »Vigueil, kommen Sie! Hierher!« Der Fechtlehrer deutete auf etwas, das sich auf dem Boden befinden musste. Dann bückte er sich und verschwand hinter dem Tisch. Als Philippe ihn erreichte, fand er ihn über einen Körper gebeugt vor - einen sehr großen Körper. »Er heißt Rufus«, sagte Philippe, als er den kurzen roten Schopf des Mannes erblickte. »Ein Diener meiner Frau. Was ist mit ihm? Was hat er?« Der Spanier hob ein Augenlid, befühlte den Puls, schlug dem Diener kräftig auf die Wangen. Ein leichtes Stöhnen war die Antwort. Dann plötzlich ein Krümmen, ein Krampf. »Eine Vergiftung, wie mir scheint«, rollte Borrasca. Er warf einen Blick auf den leeren Teller, der neben dem Mann auf dem Boden lag, dann auf den Kamin. »Seien Sie mir nicht böse, Vigueil, doch ich glaube, ich werde Ihre Einladung ausschlagen!« »Sie meinen das Essen dort drüben ...?« Philippe runzelte die Stirn. »Aber dann müsste Timoléon heute Abend ...« Der Spanier warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Dieser Timoléon ist vielleicht erzürnter über seine Kündigung, als Sie es annahmen?« Er rollte Rufus auf den Bauch und verzog den Mund. »Es sieht nicht besonders gut aus. Ich weiß, dass es Gifte gibt, die man besser 159
nicht erbrechen lässt, doch ich fürchte, wir haben keine Wahl.« Borrasca beugte sich über den Diener. Philippes Geist arbeitete fieberhaft. Vergiftet... Nein, Timoleon hatte nicht das ganze Haus vergiften wollen. Das Haus war ruhig, die Küche nach dem Abendessen aufgeräumt, die Menschen lagen in ihren Betten. Das Gift war nach dem Essen in einen der Töpfe gelangt - oder in alle. Er warf erneut einen Blick auf den Kamin. Grauen überfiel ihn. Die Töpfe mussten sofort sichergestellt, ihr Inhalt weggeschüttet werden. Es war kaum auszudenken, was hätte passieren können, wenn sie Rufus nicht zufällig gefunden hätten ... »Meine Frau, wo ist meine Frau?« Philippe deutete auf Rufus' Körper. »Er ist ihr Vorkoster, er und der andere ... Sie essen immer nur das, was auch sie ...« Er schnappte nach Luft, hastete ungelenk davon. Hinkte den dunklen Flur entlang. Fluchte über seine langsamen, ungeschickten Beine, zog sich die Treppe hinauf bis zu ihrem Zimmer. Ein kleiner silberner Leuchter mit fünf Kerzen spendete Licht, ein weiteres Öllämpchen brannte neben dem Bett. Philippes Blick schoss im Raum umher, irritiert von den vielen Spiegelbildern -ruhig, alles war ruhig - hatte er sich geirrt? Doch dann sah er ihn. Den blonden Riesen. Er war am Fuß einer Mauer zusammengesackt, sein Kopf ruhte halb aufgerichtet an der Wand.
Borrasca, der hinter Philippe hereingestürmt war, lief zum Diener hin, kniete neben ihm nieder. Er sah hoch. Schüttelte den Kopf. Philippe stöhnte auf, blickte gehetzt um sich. »Belle? Belle!« Wo war sie? Wo? Er eilte zum Lager. Die bunt bemalten Holzläden waren halb geschlossen. Er riss sie auf. Sie saß da. Ihre angsterfüllten Augen glühten in ihrem weißen Gesicht. »Mein Gott, Belle!« »Sieh doch mal nach Flavus, ja?«, sagte sie mit dünner Stimme. »Er hat eben so ... so seltsame Schreie ausgestoßen!« »Wie geht es dir?« Philippe fiel ungeachtet seiner Schmerzen neben ihr auf die Knie, strich fahrig über ihre Wangen. »Gut, sehr gut«, murmelte sie. »Mir ist nur ein wenig schlecht. 160
Aber du ... Mein Gott, wie siehst du aus? Was ist mit dir...«Auf einmal verzerrte sich ihr Gesicht. Sie klappte zusammen, die Hände fest auf ihren Leib gedrückt. »Allmächtiger ...«, hauchte sie. Dann sackte sie in sich zusammen wie eine Stoffpuppe. Philippe sprang auf. Mit panischer Entschlossenheit ließ er sich auf das Bett fallen, zerrte Isabelles Oberkörper über seine Knie, bis ihr Kopf frei über dem Boden schwebte, griff mit der Rechten in ihren dichten Schopf, riss ihren Kopf daran hoch, zwang ihre Kiefer auseinander. »Es hat keinen Sinn! Sie wird nicht erbrechen!« Borrasca deutete auf eine Waschschüssel, die halb unter dem Lager versteckt war. »Das, was Ihre Frau gegessen hat, ist bereits hier drin, Senor!« »Aber dann ... Weshalb reagiert sie nicht?« Philippe drehte Isabelle um, strich die Haare zurück, spähte in das leblose Gesicht, legte einen Finger an ihren Hals. »Ihr Puls schlägt, aber schwach ...« »Sie hat vielleicht zu lange gewartet.« Philippe presste die Lippen aufeinander. »Wir müssen dringend einen Arzt holen. Und den Menschen ausfindig machen, der für all das verantwortlich ist, um herauszufinden, was für ein Gift er benutzt hat!« »Ich kümmere mich drum«, sagte der Spanier. »Alarmieren Sie meinen Schwiegervater! Die Zofe meiner Frau liegt im Nachbarzimmer, Sie wird Ihnen helfen!« Borrasca nickte. »Sie bleiben am besten hier, ich laufe schneller als Sie.« »Schicken Sie mir ein Mädchen, irgendjemanden!«, brüllte Philippe ihm hinterher. »Wir brauchen Feuer und einen Bettwärmer...« Seine Stimme erstarb. Wie kalt sie sich anfühlte ... Er entledigte sich mühsam seiner zerrissenen Jacke, zog Isabelle an sich heran. Dann umschloss er sie und sich mit dem Federbett. Er sah auf sie herunter. Wie oft schon hatte er sich gewünscht, sie mit offenen Haaren zu sehen ... Er ergriff eine ihrer Hände, küsste sie, schmiegte sie an seine Wange, legte sie an seinen Hals. Ein kleiner kühler Fleck auf seiner bloßen Haut. Er zog ein wenig den Ausschnitt ihres Nachthemdes zusammen. Feine Spitze auf ihrem Brustansatz. Seine Finger glitten kurz über die weiße Haut, sehr kurz nur. Er schloss die Augen, biss die Kiefer 160
aufeinander. Was tat er da? Sie wollte es nicht, sie hatte es deutlich genug gemacht. Er hörte noch das Geräusch ihres Schlüssels in dem Schloss ihrer Tür, in der Nacht, als sie seine Frau geworden war und er hoffnungsvoll vor ihrem Zimmer gestanden hatte. Sie glaubte, er würde sie verachten und hatte ihm ihre Liebe gekündigt, die sie einst voller Elan in seine Arme geworfen hatte. Alles trennte sie, alles. Und dennoch war der Gedanke, ohne sie zu sein, unvorstellbar. »Was ist aus uns geworden, Belle, seit jener Nacht, als wir durch Paris liefen?«, flüsterte er. »Schau uns an...«Er presste sie an sich und barg sein Gesicht in ihrem Haar. »Schau uns an, o Herr...«
Dreizehn Unsere Handlungen sind wie Endreime, die jeder anpasst, woran er will. Mai-Juni 1651
Conrad stützte sich mit beiden Armen auf die Rücklehne des alten Stuhls und musterte kritisch den roten Lederbezug. Schäbig, dachte er. Es ist einfach nur schäbig zu nennen. Er hob den Kopf, ließ seinen Blick im Raum umherschweifen. Alles hier ist schäbig, setzte er seine Gedanken fort. Und ich bin der Erbe dieser Schäbigkeit. »Was soll ich mit den Laken anfangen, Monsieur?«, fragte Finot hinter ihm.
Conrad schenkte dem alten Diener seines Vaters keinen Blick, antwortete aber laut genug für dessen taube Ohren: »Die dürfen Sie behalten. So wie den Rest der Wäsche. Machen Sie damit, was Sie wollen.« »Danke vielmals, Monsieur...« Conrad ignorierte das Flehen in der Stimme. Er hatte keine Lust auf die rührselige Abschiedsszene, die Finot glaubte ihm vorspielen zu müssen. »Ist noch etwas?«, fragte er ungeduldig. »Sämtliche persönlichen Gegenstände Ihres Vaters sind in den zwei Truhen verstaut, Monsieur Conrad. Der Rest gehört dem Haus.« Conrad trommelte auf die Schnitzereien des alten Stuhls. Als wenn er das nicht alles wüsste! »Und die Tagebücher liegen dort drüben in der Kiste«, fügte Finot mit seiner zittrigen Altmännerstimme hinzu. »In der Kiste?«, fragte Conrad unwirsch. Jetzt drehte er sich doch herum. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Sie sie verbrennen sollen!« Finots Augen schwammen. »Aber Monsieur, wollen Sie nicht noch einmal darüber nachdenken? In diesen Heften hat Ihr Vater sein ganzes Leben aufgeschrieben! So ein wunderbares Zeugnis ...« »Wofür? Für das aufregende Dasein meines Vaters?«, zischte Conrad. »Herrgott!« Er versetzte dem alten Stuhl einen Stoß und eilte zu 161
besagter Kiste. Neunundzwanzig Tagebücher! Neunundzwanzig Zeugen der Mittelmäßigkeit! Er griff wahllos hinein, zerrte drei Hefte hervor, stürzte zum Feuer und warf sie in die Flammen. Finot jammerte laut. Conrad drehte sich ihm wutentbrannt zu. »Gehen Sie jetzt! Worauf warten Sie? Suchen Sie sich einen neuen Herrn! Verschwinden Sie endlich!« Die Unterlippe des alten Dieners bebte. Er presste die ererbten Kleider an sich, warf hilfesuchend einen Blick durch den nunmehr kahlen Raum, in dem er Raphael de Branne zweiundzwanzig Jahre lang gedient hatte. »Gehen Sie!«, herrschte Conrad ihn noch einmal an. Der alte Mann zuckte zusammen, als hätte er ihn geschlagen, und brachte Conrad damit noch mehr in Rage. Finot machte zwei Schritte rückwärts und verschwand. Erneut stürzte Conrad zu der Kiste. Sie war schwer und aus einem rohen Holz voller Splitter gefertigt, doch er gab nicht Ruhe, bis er das Ungetüm vor den Kamin gezerrt hatte. Kurz dachte Conrad daran, die Bücher mitsamt ihres Behälters in das Feuer zu stellen, Zügelte dann aber seine Ungeduld. Er hockte sich vor die Flammen, griff in die Kiste und warf erneut ein, zwei Bücher hinein. Die Flammen schnappten nach dem Leder der Einbände, zogen es zusammen und rissen schwarzglühende Wunden. Eines der Hefte klappte auf, als ein Holzscheit zusammenfiel. Die penible Schrift seines Vaters loderte vor Conrads Augen auf, das Feuer verlieh ihr eine Dramatik, die unwillkürlich verführte, noch ein paar letzte Zeilen zu erhaschen, bevor sie endgültig vernichtet wurden. Conrad runzelte die Stirn. Ein Wort hatte seine Aufmerksamkeit erregt ... Nein, ein Name... Er beugte sich schnell vor. Ja... tatsächlich! Hastig griff er nach dem Schürhaken und stieß in die Flammen, um ihnen das Buch zu entreißen. Conrad zog es auf die Kaminplätte, sprang auf die Füße und trat den glühenden Saum aus, der bereits die unteren Zeilen unleserlich gemacht hatte. Sein Herz schlug schnell, als er mit spitzen Fingern die dampfenden Seiten umschlug auf der Suche nach der Stelle, die seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er fand sie nach kurzem Suchen. Da - da war der Name! 161
Jehanne de Vigueil... Conrad blätterte fieberhaft zurück, um herauszubekommen, wann sein Vater das Buch geschrieben hatte. Sechzehnhundertzweiundvierzig, vor neun Jahren also. Eine Zeit, in der, wenn er sich nicht irrte, Mace de Vigueil und sein Sohn bereits verschollen waren ... Eine halbe Stunde später hatte er die Stelle ein halbes Dutzend Mal gelesen und es sich auf dem schäbigen roten Stuhl bequem gemacht. Er starrte an die Decke mit träumerischem Blick, das angerußte Buch fest in den Händen. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Vigueil, armer Vigueil, dachte er und trommelte gut gelaunt auf dem Einband herum. Es gibt wirklich Menschen, denen das Glück nicht wohlgesinnt ist. Conrad schnalzte mit der Zunge. Gott sei Dank gehörte er selber nicht dazu.
*
»Madame, Monsieur steht vor der Tür!«, sagte Marion mit einem Lächeln. Isabelle richtete sich in ihren Kissen auf. »Lass ihn herein!« Sie streckte eine Hand aus. »Nein, warte, bürste zuerst noch mein Haar, es ist ganz zerlegen! Und das Hemd - glaubst du, ich brauche ein frisches Nachthemd...?« »Madame«, lachte Marion, während sie schnell und geschickt die silberne Bürste schwang, »das Hemd haben Sie vor einer Stunde erst angezogen bekommen! Außerdem ist es Monsieur ganz egal, was Sie anhaben, er ist so vernarrt in Sie, dass er Sie selbst in dem scheußlichsten Kleid wunderschön finden würde!« »Glaubst du?« Isabelle kniff sich in die Wangen, um sie zu röten. »Nun gut. Mach die Tür auf.« Wie immer schlug ihr Herz schneller, als Philippes Schritte auf dem Parkett erklangen. Kurz darauf erschien er im Rahmen der aufgezogenen Holzläden ihres Bettes. »Madame, Sie sehen von Tag zu Tag besser aus«, sagte er mit einer Verbeugung. »Ich bin erfreut über Ihre rasch voranschreitende Genesung.« »Danke.« Sie machte einem der abseits stehenden Mädchen Zei 162
chen. »Bring doch bitte Monsieur mon mari einen Sitz, Ciaire.« Als er in der Ruelle saß, der schmalen Gasse, die das Bett von der Wand des Alkovens trennte, schwiegen sie zunächst. Isabelle war es zufrieden. Seit Philippe und sie verheiratet waren, konnten sie nicht drei Sätze miteinander tauschen, ohne sich zu verletzen. Diese weiche Stille, die regelmäßig entstand, seit Philippe sie an ihrem Krankenbett besuchen kam, war eine Wohltat und eine Quelle der Kraft. Man konnte träumen, vorgeben, alles sei, wie es hätte sein sollen. Man konnte behaupten, ein Hauch von Zärtlichkeit schwebe im Raum. Ihre Blicke trafen sich. Ein Lächeln umspielte Philippes Lippen. Wie immer, wenn er nicht frei auflachte, hängte die kleine Narbe an seinem Mund seinem Lächeln eine melancholische Note an. Wie immer, wenn Isabelle dieses Lächeln traf, schlug ihr Herz einen sehnsüchtigen Takt. Sie bemerkte, dass die Platzwunde an seiner Stirn gut verheilte und inzwischen völlig abgeschwollen war. Auch waren seine Bewegungen nicht mehr so verhalten wie vor ein paar Tagen, als sie wieder zu Bewusstsein gekommen war und als Erstes sein übernächtig-tes Gesicht erblickt hatte. Das alles war erfreulich, auch wenn es nicht die nagende Frage in ihrem Inneren beantwortete, wer ihm das angetan hatte. Er hatte kurz etwas von einem Überfall unbekannter Maskierter erwähnt und es auf die räuberischen Banden geschoben, die nachts die Stadt unsicher machten, doch er hatte sie nicht angesehen dabei. Seitdem hatte sie Angst um ihn, sodass sie Helenus gestern gebeten hatte, Philippe zu zwingen, sich nicht mehr ohne bewaffnete Eskorte aus dem Haus zu begeben. »Es ist rührend zu sehen, wie sehr Sie beide umeinander bemüht sind«, hatte Helenus mit einen spöttischen Aufblitzen seiner Raubvogelaugen geantwortet. »Besonders, wenn man bedenkt, wie sehr Ihr Herr Gemahl und Sie sich beide gesträubt haben, diese Ehe einzugehen.« »Umeinander bemüht?«, hatte Isabelle nachgefragt und versucht, ihrer Stimme einen möglichst beiläufigen Klang zu verleihen. »Was meinen Sie damit?« Helenus hatte abgewinkt. »Ach, nichts als juristischer Kram, mit dem Ihr Mann meint Sie beglücken zu müssen. Durch seine Ge 162
fangenschaft leidet er wohl an einem überspitzten Sicherheitsbedürfnis. Ich tue ihm den Gefallen, dafür schenkt er mir täglich ein paar Stunden, in denen ich mit ihm die Ergebnisse der Vermögensaufstellung durchgehe, die Ihr Sekretär erarbeitet hat.« Als Isabelle die Brauen gerunzelt hatte, hatte er sie belehrt: »Ma fille, das alles verstehen Sie nicht, außerdem interessiert es Sie auch nicht. Das Einzige, um was Sie sich kümmern sollten, ist, wieder auf die Beine zu kommen.« Kurz darauf war er aufgestanden und hatte sich verabschiedet. Philippes Stimme riss Isabelle aus ihren Betrachtungen. »Wie geht es Ihnen heute?«, fragte er. »Gut. Wirklich sehr gut«, nickte sie lächelnd. »Sie hatten Glück, Isabelle ... wirklich unglaubliches Glück!«, sagte er mit vibrierender Stimme. Isabelle fühlte, wie die Schwäche ihre Hände beben ließ. Sie schluckte, nochmals und nochmals, wünschte, er würde sie jetzt in die Arme nehmen, wünschte, sie würde die Kraft aufbringen, ihn darum zu bitten, doch noch fehlte ihr die Kraft für Heldentaten. Er suchte ihren Blick. »Es war Timoléon, der das Essen vergiftet hat.«
»Timoleon...?«
»Wir haben ihn in seinem Zimmer gefunden. Er hat nicht das ganze Essen vergiftet. Nur einen kleinen Kessel Rüben.« »Geröstete weiße Rübchen, seine Spezialität ...«, murmelte Isabelle und wischte über ihre Augen. »Ja, wir haben davon gegessen in jener Nacht, ich ... ich hatte mich noch gewundert, als ich sie fand, dass Timoléon sie nicht zum Abendessen serviert hatte ... Aber warum? Wen hasste er denn so sehr?« Sie wisperte: »Meinen Großvater?« Philippe schüttelte den Kopf. »Nein. Sich selber. Er wollte sich das Leben nehmen.« Isabelle bäumte sich auf. »Er ist tot? Timoléon ist tot?« »Nein«, sagte Philippe wieder. Er suchte nach Worten. »Doch vielleicht wäre es besser für ihn gewesen. Als wir in sein Zimmer drangen, saß er bei Tisch. Er weinte. Seinen Teller hatte er nicht angerührt.« Erneut tauschte er einen Blick mit Marion, die traurig den Kopf schüttelte. »Er hat es nicht geschafft.« 163
»Mein Gott...»Isabelle presste eine Hand an ihren Mund. »Was wird jetzt aus ihm? Mein Großvater ...« »Monsieur le Duc hat dafür gestimmt, die Affäre nicht an die Öffentlichkeit zu bringen. Der Koch hat das Haus verlassen. Ihr Großvater und ich haben den Vorfall auf verdorbenen Fisch geschoben.« Marion trat an das Bett, Isabelles Morgenmantel in der Hand, zwei Zimmermädchen begleiteten sie. »Das ist genug Trübsinniges für mehrere Wochen!«, sagte sie fest. »Sie sollten jetzt an etwas anderes denken! Wenn Sie das jetzt überziehen und sich in den Sessel am Fenster setzen wollten, könnten wir Ihre Kissen etwas aufschütteln!« Kurze Zeit später saß Isabelle in Decken gehüllt an einem der übermannshohen Fenster. Philippe stellte sich neben sie. Ihrer beider Blick glitt hinaus, über den Strom der Reiter und Wagen auf der Straße, die hohen Fassaden der Gebäude, die tiefgrauen Schieferdächer, die fliegenden Wolken, den Himmel. Und sie dachte, wie schön das alles war und wie traurig zugleich. »Ah, mon Dieu!« »Marion?« Isabelle richtete sich in ihrem Sessel auf. »Was ist?« »O Madame ... Madame ...«, schluchzte Marion auf. Als sie sie erreichte, schleifte sie etwas hinter sich her - ein großes Stück weißen Stoffes. »Madame ...« Marion schüttelte den Kopf, entfaltete das Laken. Da sah Isabelle sie auch: mehrere große Flecken. »Madame, das sind Blutungen!« »Was heißt das?«, fragte Philippe sorgenvoll. »Das Kind!«, schluchzte Marion. »Madame hat das Kind verloren!« Sie schüttelte den Kopf. »Sie war im dritten Monat schwanger! Mon Dieu, welch Unglück!« »Aber Marion ...!«, schrie Isabelle auf, doch schon erstarrte Philippe. Die Worte blieben in ihrem Halse stecken, als sein Blick sie traf. Sprachlosigkeit, Ernüchterung, Schmerz, Zorn ... Das alles sprang ihr einen Herzschlag lang aus Philippes auflodernden Bernsteinaugen entgegen. Dann verschloss sich sein Gesicht. »Dann ist es also wahr.« »Philippe...« »Ich wollte es nicht glauben ... All diese Gerüchte ... Ihr herausgeputzter Sekretär, ohne den man Sie nie mehr sieht...« 163
»Aber nein! Hören Sie ...« Sein Blick schnitt tief in ihr Herz. Er zuckte die Schultern, versenkte seine Fäuste in die Taschen seiner Jacke. »Nun, wenn Sie befürchten, dass ich Monsieur de Branne zum Duell fordern werde, kann ich Sie beruhigen. Ihm wird nichts geschehen.« »Wie können Sie ...« Er wich einen Schritt von ihr zurück. »Verzeihen Sie, Madame. Offensichtlich ist meine Anwesenheit Ihrer Gesundung nicht zuträglich.« Er verbeugte sich knapp. »Es wird besser sein, wenn ich Sie in den nächsten Tagen nicht mehr besuche. Ich werde nach Ihrem Befinden fragen lassen. Au revoir.« Er rannte aus dem Raum, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Zurück blieb nur Marion. Sie hielt noch immer das Laken vor sich. Auf dem Gesicht der Zofe lag ein Ausdruck, der Isabelle frösteln ließ.
*
Wie immer, wenn er in dem kleinen Besuchszimmer der Visitandi-nes auf das Erscheinen seiner Mutter und seiner Schwester wartete, fiel es Philippe schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Also lief er am schwarzen Gitter entlang, das den Raum teilte, drei Schritte hin, drei Schritte zurück. Er hielt an, seine Finger glitten über das schmiedeeiserne Flechtwerk. Er sah sich erneut an ein anderes Gitter gedrückt, höher, gewaltiger als dieses und mit goldenen Dornen verziert. Sie hatte vor ihm gestanden, gehüllt in ein scheußliches Kleid und einen löcherigen wollenen Umhang. Nichts hatte sie unterschieden von dem Pöbel, der um sie herum wütete. Und doch war sie damals von einem unwirklichen Glanz umgeben gewesen. Und er hatte gezittert um sie, hatte sie geschützt mit seinem Körper, hatte sie verborgen vor den Blicken, sie, die in Lumpen Gekleidete mit der Haltung einer Königin. Philippe stieß einen erstickten Laut aus, presste seine Stirn gegen das kalte Eisen. Verflucht ... Wie oft hatte er versucht, über das Gefühl des Verlustes hinwegzukommen? 164
Diese Frau war falsch, sie war nie diejenige gewesen, für die er sie gehalten hatte. Sie hatte gelogen, betrog seit Jahren den Herzog in Erwartung einer riesigen Erbschaft. Sie besaß die Gabe, ihre Umwelt zu blenden - auch ihn hatte sie getäuscht, und wäre er nicht zufällig dabei gewesen, als ihre Zofe ihre Fehlgeburt entdeckte, würde er sie noch heute für die gekränkte Unschuld halten, die sie ihm seit ihrer Vermählung vorgespielt hatte. »Philippe?« Philippe sah auf. Ester war, von ihm unbemerkt, auf der anderen Seite des Gitters erschienen. Ihre Augen waren umschattet. »Sie sind alleine?«, fragte Philippe. »Wo ist Mutter?« »Es geht ihr nicht besonders gut.« Ester senkte den Blick. »Sie muss seit ein paar Tagen das Bett hüten.« Philippe schluckte. »Ist es etwas Ernsthaftes?« Ester hob leicht die Schultern. Ihre etwas zu strengen Züge wurden milder, als sie in Philippes Gesicht sah. »Sie wird alt, Philippe«, antwortete sie sanft. »Ihre Tage sind gezählt, und seit sie über Ihr Schicksal beruhigt ist, hat sie nichts mehr, was sie auf dieser Welt hält.« Als Philippe eine schnelle, abwehrende Bewegung machte, fügte sie weich hinzu: »Sie wird in Gott sterben, wenn es so weit sein wird. Sie hat ihren Frieden gefunden.« Ihre Lider schlugen. »Ich beneide sie so ...«, flüsterte sie. »Ester!«, rief Philippe und quetschte seine Finger durch das kalte Flechtwerk. Doch seine Schwester befand sich bereits wieder an der Tür. »Ich möchte unsere Mutter nicht lange alleine lassen«, sagte sie, und ihre Stimme hatte wieder ihren üblichen unpersönlichen Ton angenommen. »Ich werde ihr erzählen, dass Sie da waren. Es wird sie aufmuntern.« Die Tür des Besucherzimmers öffnete sich, und sie verschwand. Philippe rüttelte wütend an dem Gitter. Wieder einmal erwies sich dieser Besucherraum als der Ort all seiner Enttäuschungen. Weshalb konnte er seine Mutter nicht sehen, wenn diese seinen Beistand brauchte? Warum kam er nicht voran in seinen Bemühungen, den Verräter an seiner Familie zu finden? Warum betrog Isabelle ihn? Philippe stieß sich brüsk ab, ergriff seinen Hut, wandte sich dem 164
Ausgang zu - und stieß fast mit einer Nonne zusammen, die eiligst zwei Schritte zurückwich. »Monsieur, Sie werden gebeten, noch einen Augenblick zu warten«, sagte diese errötend und mit niedergeschlagenen Augen. »Man wünscht, Sie zu sprechen.« »Man wünscht?«, fragte Philippe, noch immer irritiert. Doch die Nonne antwortete nicht. Scheu und flink wie eine Rußschwalbe entflog sie durch die Tür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Ein Geräusch, tausendmal gehört, Metall in Metall, hart, schrill, mitleidlos und grausam. Er sprang zur Tür. Eingesperrt ...! Er atmete heftig. Schweiß lief an ihm hinab, sein Hemd war im Nu durchnässt, die Narben glühten in seinem Rücken. Ein paar Minuten später wurde die Tür geöffnet und drei Gestalten betraten den Besuchsraum. Es waren drei tief verschleierte Frauen, die ganz in Schwarz gekleidet waren. Zwei von ihnen blieben auf einen Wink der Dritten hin im Hintergrund, während diese bis auf einen Schritt Entfernung näher trat. Ihre Haltung und ihr kostbarer Schleier verrieten die Dame von Rang. »Ich grüße Sie, Monsieur de Vigueil«, eröffnete die Frau das Gespräch. In ihrer leisen spöttischen Stimme klang ein fremdländischer Akzent mit.
Philippe neigte das Haupt. Die Frau gab ein Zeichen. Ihre zwei Begleiterinnen traten vor, schlugen ihren Schleier zurück, entblößten ein hoheitsvolles Antlitz ... Philippe legte mit einem Ausruf ein Knie zu Boden. »Majeste...!« Anne wartete, bis ihre beiden Begleiterinnen wieder zurückgetreten waren, und erlaubte Philippe mit einer Geste aufzustehen. »Ich hörte, Ihre Mutter sei leidend, Monsieur?« Philippe erholte sich nur langsam von seiner Überraschung. Annes Frömmigkeit war allgemein bekannt, sie besuchte sehr oft Klöster - doch er glaubte nicht an einen Zufall. Weshalb hatte die Regentin ihn nicht ins Palais Royal bestellt, wenn sie ihn sprechen wollte? »Ja, Majeste«, antwortete er. »Wenn man das Alter ein Leiden nennen möchte.« 165
»Sie ist sehr beliebt bei ihren Mitschwestern, und ihr Verhalten war stets exemplarisch. Der Herr hat sie für ihr gottgefälliges Leben belohnt, indem Er ihr erlaubt hat, ihren Sohn wiederzusehen.« Annes Stimme war ausdruckslos. Dennoch hatte Philippe das Gefühl, dass etwas von ihm erwartet wurde. »Majeste«, sagte er fest, »ich werde mir zeit meines Lebens bewusst sein, dass Sie es waren, die Gott als Werkzeug für diese Zusammenführung nutzte. Wenn ein Vigueil sich verpflichtet, ist es stets mit ganzem Herzen. Ich kann Sie nur anflehen, mir weiterhin Gelegenheiten zu geben, es Ihnen zu beweisen.« Eine kleine Kopfbewegung der Königin vermittelte Philippe das Gefühl, die richtigen Worte gefunden zu haben. »Und wenn ich Ihnen nun sagen würde, Monsieur, dass es eine solche Gelegenheit gibt? Dass diese Gelegenheit sich aber von all dem, was Sie bisher geleistet haben, unterscheidet, in der Tragweite der Konsequenzen, falls Sie scheitern, in den Gefahren, denen Sie ausgesetzt sein werden? Dass diese Gelegenheit Ihnen eine Verantwortung für das Schicksal unseres Landes aufbürdet?« Annes Stimme klirrte in dem dunklen Raum. »Fühlen Sie sich all dem gewachsen, Monsieur Vigueil de Rochastre? Überlegen Sie es sich gut!« Philippes Herz schlug schnell. Er legte erneut ein Knie zu Boden, breitete die Arme aus. «Majesté, wenn Sie mich für würdig erachten, Ihnen in dieser Sache zu dienen, wenn Sie mir die Gunst erweisen, sich meiner zu entsinnen, bedarf es keiner Überlegung. Mein Arm und mein Leben gehören Ihnen und dem König.« Zum ersten Mal bröckelte die königliche Maske und ließ für ein paar Sekunden Besorgnis und Müdigkeit durchscheinen. »Stehen Sie auf, Monsieur, und hören Sie gut zu, was ich Ihnen zu sagen habe.« Sie suchte einige Augenblicke nach Worten und fuhr dann fort: »Sie werden erneut nach Brühl reisen, doch diesmal mit leeren Händen. Denn es geht nicht um Schnelligkeit, sondern einzig und alleine darum, anzukommen und mit dem, was man Ihnen dort anvertrauen wird, wohlbehalten wieder Paris zu erreichen.« Philippe hörte aufmerksam zu. »Sie werden sich von einem Schutztrupp begleiten lassen. Ich verschweige Ihnen nicht, dass Ihr Leben in Gefahr sein wird. Es gibt Per 351
sonen, die mit all ihren Kräften danach trachten werden, dessen habhaft zu werden, was Sie mit sich führen.« »Wissen diese Personen denn bereits von meiner Mission?« »Wände haben Augen und Ohren, Monsieur. Deshalb suchte ich heute an diesem Ort das Gespräch mit Ihnen. Seien Sie selber verschwiegen und brechen Sie morgen noch vor Sonnenaufgang auf.« »Verzeihung, Majeste, aber wäre es denn nicht viel diskreter, ich würde erneut alleine reiten? Ein Reittrupp wird nur Aufsehen erregen ...« »Nein, denn Sie werden unter einem falschen Vorwand reisen. Sie werden behaupten, Ihrer Frau Ihre Güter in der Champagne zeigen und sie dort einführen zu wollen. Niemand wird daran etwas Seltsames finden, im Gegenteil: Sie sind bereits seit drei Monaten verheiratet. Erzählen Sie um sich herum, Sie hätten diese längst fällige Reise nur verschoben, um auf die bessere Jahreszeit zu warten.« Philippe schluckte. Er stieß aus: »Aber das hieße, dass ich meine Frau...« »Madame de Vigueil wird Sie begleiten, ja. Es versteht sich von selbst, dass Sie sie nicht in den eigentlichen Zweck Ihrer Reise einweihen werden.«
Philippe schloss eine Faust, von dem heftigen Gefühl befallen, überrumpelt worden zu sein. »Majeste, lassen Sie mich alleine fahren«, bat er. »Es stimmt, dass ich Rochastre dringend einen Besuch schulde. Doch weshalb meine Frau mitnehmen? Ich kann für sie keine Entscheidung treffen, die ihr Leben in Gefahr bringt, ohne sie darüber auch nur in Kenntnis zu setzen!« Annes Lippen wurden schmal. »Monsieur, Ihre Frau bietet einen vorzüglichen Vorwand, damit Sie sich auf Ihrer Reise von gut bewaffneten Männern begleiten lassen können, und Ihre kürzliche Heirat hat nicht wenig Gewicht gehabt in meiner Entscheidung, mich in dieser Angelegenheit an Sie zu wenden. Vielleicht habe ich mich vorhin nicht klar genug ausgedrückt. Ihre Skrupel Ihrer jungen Frau gegenüber ehren Sie, doch ... Es geht hier um mehr als nur um Sie oder Madame de Vigueil. Es geht um den ungestörten Fortbestand dieser Regierung und damit um die Sicherheit, dass Monsieur mon fils ohne Zwischenfälle den Thron besteigt. Ihre Ehe mit der Angehörigen einer Familie, die den Condes nahesteht, die Lage von 166
Rochastre und Ihre bisherigen Leistungen ließen mich dabei an Sie appellieren. Sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben?« Philippe musste schlucken. Tausend Gedanken durchzuckten seinen Kopf. Noch bevor er antwortete, fragte Anne scheinbar zusammenhanglos: »Wissen Sie, dass man sich bei mir über Sie beschwert hat?« Philippe runzelte die Stirn. »Beschwert, Majeste?« »Es heißt, Sie fragen zu viel, Vigueil. Stochern in der Vergangenheit herum. Das ist nicht nach jedermanns Geschmack. Es gibt Familien, die von dem Ruin Ihres Hauses profitierten. Zu günstigen Preisen abkauften, was ein mehrfaches wert war. Und die nicht daran interessiert sind, die Vigueils rehabilitiert zu sehen. Es gibt große Namen darunter ... und einflussreiche Familien. Sie würden nicht gerne ihren Ruf durch Gerüchte Schaden nehmen sehen, die besagen, sie hätten sich auf unrechtem Wege bereichert, an einem dem Verrat zum Opfer gefallenen Diplomaten meines Gemahls, des verstorbenen Königs.« Philippe schüttelte fest den Kopf. »Mit Verlaub, Majeste, mein Bestreben, die Wahrheit zu ...« »Sie erwähnten vorhin, dass ich Ihnen behilflich war, Ihre Mutter ausfindig zu machen«, sagte Anne mit unbewegter Miene. »Natürlich stehen einem Gesandten Seiner Majestät mehr Türen offen als einem Mann ohne Namen, der nichts als unbequeme Fragen stellt. Noch mehr Erfolg würde ich mir von einer Untersuchungskommission versprechen.« Anne senkte leicht den Kopf. »Ich könnte sie anberaumen - auf die Woche nach Ihrer Rückkehr zum Beispiel.« Philippes Herz klopfte laut. Eine irre Hoffnung durchflutete ihn. Offizielle Nachforschungen, alles, was er sich jemals erträumt hatte, zum Greifen nahe! Er zögerte keinen Augenblick. »Meine Frau und ich werden morgen abreisen, Majeste. Noch bevor die Sonne aufgeht.« Er richtete den Kopf auf, fühlte sich stark und unverletzlich. Und erst als er den Triumph in Annes Augen aufleuchten sah, wurde ihm bewusst, dass er seinen Racheplänen schon zum zweiten Mal den Vortritt vor Isabelle gegeben hatte. 166
»Sie ließen mich rufen, Madame?«, fragte eine Stimme in Isabelles Rücken. Isabelle schloss die Augen, um sich zu wappnen. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, doch es war nur ein Zeichen ihrer Erregung, nicht ihrer Unentschlossenheit. Dann drehte sie sich um. »Ja, es stimmt. Bitte treten Sie ein, Monsieur de Branne«, sagte sie fest. Ihr Sekretär gehorchte, und wie immer behielt er seine Maske der Beflissenheit auf, bis Marion aus dem Spiegelzimmer verschwunden war. Sobald die Zofe außer Sichtweite war, warf er seine Schreibmappe achtlos auf einen Sessel. Er knöpfte seine aus bester Seide gefertigte Jacke auf und warf sie lässig über einen der Spiegel. »Die Woche, die Sie auf Ihrem Krankenlager verbracht haben, ist mir schrecklich lang geworden!« Er drückte einen Kuss auf ihr Handgelenk. »Soll ich versuchen, etwas Farbe auf Ihre Wangen zu zaubern?« Sie entriss ihm ihren Arm. »Lassen Sie das, Branne. Ich will mit Ihnen reden.« »Nun, so reden Sie doch, Isabelle«, antwortete Branne spöttisch. Er stellte sich vor einen der Spiegel und richtete seinen kostspieligen Spitzenkragen. Isabelle hob das Kinn und taxierte ihn kalt. »Monsieur de Branne, ich entlasse Sie aus meinem Dienst. Ich habe bereits zwei Diener zu Ihrer Verfügung gestellt, die vor Ihrem Zimmer auf Sie
warten, um Ihnen dabei behilflich zu sein, Ihre Sachen zu packen. Geben Sie Ihnen die Adresse an, wohin Sie Ihr Gepäck gebracht haben möchten. Sie haben bis heute Abend Zeit, um das Haus zu verlassen.« Branne wirbelte herum. Er runzelte die Stirn. »Was sind denn das nun wieder für Kapricen?« Isabelle schloss die Fäuste. »Ich will Sie nie wieder sehen, Branne! Sollten Sie jemals wieder so unverschämt sein, hier aufzutauchen, lasse ich Sie verprügeln und rauswerfen.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, war es ihr, als könne sie freier atmen. Vollbracht, es ist vollbracht!, schrie sie innerlich auf, und eine Welle der Erleichterung schlug über ihr zusammen. So einfach war es, sich dieses Blutsaugers zu entledigen! Das Ausmaß ihrer Erleichterung überraschte sie selber. 167
Ich hätte es schon viel eher tun sollen!, dachte sie. Doch erst ihre Krankheit und Philippes Reaktion angesichts ihrer vermeintlichen Fehlgeburt hatten ihr verdeutlicht, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hatte. Ihr eigener Körper war klüger gewesen. Er verweigerte seit Monaten immer öfter die Nahrung, die sie ihm zuführte, und hatte ihre Blutungen eingestellt. Fazit war, sie wäre fast vergiftet worden, ganz Paris glaubte, sie würde ihren schönen Sekretär aushalten, damit er ihr nachts die Laken wärmte, und Philippe war überzeugt, sie habe ihn betrogen und sei dabei schwanger geworden. »Verprügeln? Rauswerfen?« In Brannes Gesicht zuckte es, offensichtlich wusste er nicht, ob er auflachen oder sie ohrfeigen sollte. Sie fühlte sich schwach vor Erleichterung und auch, weil sie sich erst wieder an langes Stehen gewöhnen musste. Sie ergriff eine Stuhllehne, um es zu verbergen, und musterte Branne kalt. »Ihre Krankheit hat Ihnen wohl den letzten Sinn für die Realität geraubt, meine Schöne!« Branne kam ihr wieder näher, bis sie nur noch die Stuhllehne voneinander trennte. »Muss ich Sie wirklich an unseren Handel erinnern? An das, was Ihre hübschen Schwesterchen erwartet?« Isabelle schluckte, doch sie senkte nicht den Blick. »Ich werde für meine Schwestern sorgen, Branne. Sie überschätzen sich maßlos, wenn Sie glauben, Menschen, die unter meinem Schutz stehen, ins Unglück stürzen zu können!« »Unter Ihrem Schutz?«, lachte Branne ärgerlich auf. »Der Schutz einer Lügnerin!?« »Jawohl. Einer Lügnerin, der es gelungen ist, völlig glaubwürdig eine Herzogsenkelin zu mimen! Die in den höchsten Kreisen ein und aus geht und die hohe Kunst des Blendens tausendmal besser beherrscht als Sie! Was haben Sie schon erreicht? Die Eroberung ein paar einsamer Damenherzen, ein Kartenspiel mit Monsieur de Conde, eine Partie mit Beaufort im Jeu de Paume?« Sie umgriff die Stuhllehne fester und höhnte hasserfüllt: »Ich nehme die Herausforderung an, Branne! Gehen Sie zu meinem Großvater, gehen Sie meinetwegen vor Gericht! Sie haben keinen Beweis, Sie haben nichts in der Hand! Ich werde allen die Unschuld vorspielen! Und ich werde Sie schlagen, denn Menschen zu täuschen und zu düpieren ist 167
ein Spiel, in dem ich Meisterin bin und Sie nur ein engstirniger Dilettant!« Branne stieß einen Wutlaut aus. »Sie glauben tatsächlich, dass Sie ungestraft so mit mir umspringen können? Dass ich Sie verschont habe, nur um mich hinterher von Ihnen wegwerfen zu lassen?« Sein Oberkörper schnellte vor, er ergriff den Stuhl, entriss ihn ihren Händen mit einem Ruck. Ihrer Stütze beraubt, richtete Isabelle sich kerzengerade auf. »Sehen Sie, Branne, das ist genau das, was ich meine: Sie sind unfähig zu erkennen, wann es an der Zeit ist, sich geschlagen zu geben.« Sie hob die Stimme. »Marion! Mathieu! Bernard!« »Marion wird nicht kommen, meine Liebe!«, bleckte Branne die Zähne. »Ich habe trotz meiner Unzulänglichkeit daran gedacht, sie so weit weg zu schicken, dass sie uns nicht stören wird!« Er schnippte mit den Fingern. »Ach ja, und auch die zwei Diener, die vor Ihrer Tür lungerten, habe ich einer sinnvollen Tätigkeit zugeordnet. Sie sind auf dem Weg zu den Appartements Ihres Großvaters, glaube ich ...« Isabelle schluckte. Brannes Blick gefiel ihr nicht, doch sie hatte keine andere Wahl, als weiterhin aufzutrumpfen. Sie kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er sich an ihrer Schwäche aufrichten würde wie ein Blutegel, der seinen Lebenssaft von seinen entkräfteten Opfern bezog. »Es macht keinen Unterschied! Sie haben zum letzten Mal dieses Zimmer betreten, Branne!« Der Sekretär lächelte breit. »Nun, wenn das so ist... Gut, dass Sie mir vorher Bescheid gesagt haben! Dann will ich mir endlich holen, was ich schon so lange will!« Noch bevor Isabelle Zeit hatte zu reagieren, ergriff er ihr Handgelenk.
»Lassen Sie mich los!« Wie immer erfüllte Isabelle Brannes Nähe mit Wut, und endlich durfte sie dieser freien Raum lassen. Sie verpasste Branne eine Ohrfeige, hieb und trat nach ihm, und es war eine Wohltat, ihren angestauten Hass abzureagieren. Bald jedoch musste sie sich eingestehen, dass sie Branne in dieser körperlichen Auseinandersetzung nicht gewachsen war. Ihre Kräfte waren noch nicht ganz wiederhergestellt, und die vielen Lagen ihrer Röcke behinderten ihre Bewegungen. 168
Als sie versuchte, sich zu befreien, um die Tür zu erreichen, erhaschte er ihren kurzen Ärmel. Der dünne Stoff riss, und er grub tief seine Finger in ihre Haut. Sie schrie auf vor Schmerz. Ein entrückter Ausdruck legte sich auf Brannes Züge. Er stieß sie gegen ihren Frisiertisch. Sie tastete hinter sich, bekam eine Haarbürste zu fassen, schlug mit aller Kraft auf sein Handgelenk. Er ließ sie los, griff jedoch blitzschnell nach ihren Händen. Nach kurzem Kampf gelang es ihm, ihre Arme auf den Rücken zu drehen und mit einer einzigen Hand festzuhalten. Sie bog sich vor Schmerzen und stieß einen spitzen Laut aus. Er riss mit der freien Hand an ihrem dünnen Sommerkleid. Die veilchenblaue Seide hielt nicht lange stand und klaffte bald bis zu ihrer Taille auseinander. Sie keuchte vor Entsetzen. Branne wurde von dem Anblick ihres malvenfarbenes Unterkleides und von dem hell darunter aufblitzenden Leinen ihres Hemdes gefesselt. Sein Atem ging schnell. Noch ein Ruck, und auch das Unterkleid war zerfetzt. Branne lächelte. »Auf die Knie!«, raunte er und bog ihre Arme nach hinten. »Knie dich hin, los!« Isabelle stieß einen wuterfüllten Laut aus, appellierte an ihre ganze Kraft und versetzte ihm einen gezielten Stoß ihres Knies zwischen die Beine. Er zuckte im letzten Augenblick zurück und schlug sie ins Gesicht. Isabelle schrie auf, schwankte, fühlte, wie sie derb zu Boden gestoßen wurde. »Endlich! Endlich ist der Tag gekommen ... Du glaubst, du kannst mich wegjagen wie einen räudigen Hund, hmm? Auf den Boden vor mir!«, hechelte Branne. Sein Gesicht war verzerrt, seine Augen zwei blaue Irrlichter. Er griff in ihre Haare, zog ihren Kopf nach hinten, lachte auf, als sie abwehrend die Hände über den Kopf hielt. »Ja, so ist es recht, stolze Isabelle! Auf die Knie, schön demütig, so, wie ich es mir immer vorgestellt habe! Und heb deinen Rock!« »Nein!« »Heb deinen Rock, sag ich!« »Niemals! Glauben Sie im Ernst, ich überlasse Ihnen, was meinem Mann zusteht?« »Ha!«, rief er aus. »Soll das heißen, dass du noch Jungfrau bist? Nach drei Monaten Ehe? Mon Dieu, was hast du für einen Trottel geheiratet!? Na warte, das werden wir nachholen ...« Er zog so heftig an ihren Haaren, dass sie gezwungen wurde JS«
nachzugeben und sich weit zurückbeugte. Ihre Kopfhaut brannte. Tränen liefen über ihre Wangen, und sie presste die Augen zu, um sie daran zu hindern. Plötzlich spürte sie Brannes feuchten Atem auf ihrer Haut. Er zerrte an ihrem Rock. Sie spürte die Präsenz seines Körpers, und zum ersten Mal, seit sie von ihrer Ohnmacht erwacht war, drehte sich ihr der Magen um. Ein Laut, der halb Schmerz, halb Wut war, entfuhr ihren Lippen, und sie schrie aus Leibeskräften: »Fassen Sie mich nicht an!« Sie schluchzte auf, ihre Stimme gellte durch den Raum. »Lassen Sie mich los!« Eine Stimme donnerte durch den Raum. »Was ist los? Was geht hier vor sich?« Jemand riss Branne von ihr, und auf einmal war sie frei. Frei! Sie fiel auf den Boden, zog sich aber sofort wieder auf die Knie. »Du elender Wicht!« Philippes Stimme war kaum wiederzuerkennen. Er schleuderte Branne mit solcher Wucht von sich, dass dieser mehrere Schritte durch den Raum flog und gegen einen der Spiegel krachte. Die riesige gläserne Fläche erbebte, kippte, und fiel mit einem furchtbaren Getöse zu Boden, wo sie in tausend glitzernde Scherben zerbrach. Branne sprang sofort wieder auf die Beine. Seine linke Hand blutete, er war sehr bleich. »Aber Monsieur le Comte, ich bitte Sie! Es muss sich um ein Missverständnis handeln!« »Verschwinden Sie, bevor ich mich vergesse!«, spie Philippe aus. Branne hob abwehrend die Arme und quetschte ein Lächeln auf seine Lippen. »Ich fürchte, Madame Ihre Frau hat sich etwas zu viel zugemutet an ihrem ersten Tag. Ich versuchte noch, sie während ihres Schwächeanfalls zu stützen, erwischte jedoch nur ihr Kleid...« Philippe ließ ihn nicht aus den Augen. Die Knöchel seiner zu Fäusten geballten Finger waren weiß, sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Einzig seine Augen loderten in hellem Bernsteinton und
verrieten, dass er größte Mühe hatte, sich zu beherrschen. »Isabelle?«, fragte er gepresst, ohne sie anzusehen. Isabelle zog sich auf die Füße, trat an seine Seite. Sie sah in Brannes Augen, fand in ihnen nichts als Spott und Hohn. Er glaubt es nicht, dachte sie. Er kann sich nicht vorstellen, dass ich bis zum Äußersten gehen werde! Dass ich keine Angst mehr vor ihm habe! 169
Nie hatte sie einen Satz mit mehr Befriedigung ausgesprochen. »Werfen Sie ihn raus, Philippe!« Brannes Gesicht löste sich ein paar Atemzüge lang auf, um sich gleich wieder zu einer Fratze der Wut zusammenzuziehen. »Ah, garce! Das wirst du mir büßen!«, heulte er auf. Philippe stieß ihn von sich. »Raus jetzt!« »Das würde ich mir gut überlegen an Ihrer Stelle, Vigueil! ja, überlegen Sie sich, ob sie es Ihnen wert ist!« »Halten Sie Ihren Mund!« Philippe versetzte ihm einen weiteren, gewaltigen Stoß in Richtung Ausgang. Branne stolperte nach vorne, wäre fast gefallen. Er drehte sich um und schrie: »Wissen Sie überhaupt, wen Sie da geheiratet haben, Vigueil?« Er lachte auf. »Keine Herzogin, nein! Nicht die Enkelin von Monsieur le Duc! Nichts als eine miese kleine Betrügerin!« Philippes lodernde Augen weiteten sich kurz, er warf Isabelle einen Blick zu. Branne schrie triumphierend auf: »Ja, das bringt Sie aus der Fassung nicht wahr?« Er richtete den Zeigefinger auf Isabelle. »Eine Metze, das ist sie! Hervorgekrabbelt unter einem Misthaufen ...« »Es reicht!«, donnerte Philippe. Er schnellte auf Branne zu und packte sein Hemd. »Raus jetzt, auf der Stelle!« »Lassen Sie mich los! Was erlauben Sie sich?«, schrie Branne. »Wer sind Sie schon? Ein Landstreicher, aufgetaucht aus dem Nichts!« In dem Augenblick schwenkte die Tür zurück, und ein stirnrunzelnder Helenus erschien. Isabelle zog zitternd die Fetzen ihres Kleides zusammen, gab jedoch alsbald ihre Versuche auf, zu vertuschen, was nicht zu vertuschen war. »Darf ich wissen, was hier vor sich geht?«, ertönte Helenus autoritärer Bass. »Ihre Schreie sind bis in das Erdgeschoss zu hören!« »Ah, Monsieur le Duc!«, schrie Branne auf und lachte. »Willkommen in dieser Komödie. Sie erscheinen genau richtig, um eine der Hauptrollen zu übernehmen!« Helenus' Brauen drohten wie schwarzdunkle Gewitterwolken. »Was ist los mit dem Mann?«, fragte er Philippe. »Hat er zu viel getrunken?« »Ich fürchte, sein Zustand ist keiner, von dem man am nächsten 169
Tag wieder aufwacht!«, stieß Philippe zwischen seinen Zähnen hervor. »Wie wäre es mit der Rolle des geprellten Großvaters?«, höhnte Branne. Isabelle wankte zu einem Sessel. Helenus wies hinter sich. »Bringen Sie ihn raus, Monsieur! Er muss den Verstand verloren haben!« »Was? Die Rolle sagt Ihnen nicht zu?« Branne lachte, schüttelte den Kopf. »Nun, ich habe da noch mehr auf Lager!« »Soll ich Hilfe holen?«, fragte Helenus ruhig. »Danke, das schaffe ich alleine!«, antwortete Philippe. »Zum Beispiel die Rolle des Verräters an seinem besten Freund!«, schrie Branne. Philippe stieß ihn voran, doch Branne gelang es, sich am Türrahmen festzukrallen. »Sie hätten da einen herrlichen Monolog, Monsieur le Duc! Darin könnten Sie Monsieur de Vigueil erklären, wie es zum Ruin seiner Familie kam!« Philippe erstarrte. Er und Helenus tauschten einen stummen Blick. Über Helenus' faltige Wangen glitt ein Hauch von Farbe. Philippe packte Brannes Hände und riss sie vom Holz. »Warum, glauben Sie, hat Faurepas so sehr darauf bestanden, Sie seine Enkelin heiraten zu lassen, Vigueil? Keine Ahnung? Nun, so fragen Sie ihn doch! Fragen Sie ihn, wer das Verschwinden des Lösegeldes auf dem Gewissen hat! Hahaha!« Philippe hatte Branne schon längst aus dem Raum gezogen, doch die Stimme des Sekretärs, hoch vor Erregung, drang noch lange zu Isabelle und Helenus durch. »Fragen Sie ihn und amüsieren Sie sich! Und lassen Sie uns gemeinsam lachen!« Isabelle strich ihr Haar zurück, das sich gelöst hatte und sich in wilden Wirbeln über ihren Oberkörper ergoss. Ihre Hände zitterten.
Helenus zog einen Sessel heran, ließ sich in ihn fallen wie ein großer, grauer Stein. Angst stieg in Isabelle hoch. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Helenus sie wegen ihrer Aufmachung anfauchen möge. Doch nichts dergleichen geschah. Nur die kalte Stille sprang sie an.
*
170
Es kam Isabelle wie eine Ewigkeit vor, bis Philippe wieder das Spiegelzimmer betrat und sie und ihren Großvater aus ihrer Erstarrung weckte. Ihr Mann schenkte Helenus nur einen kurzen Blick. Dann zog er die Schultern hoch, kreuzte die Arme und stellte sich in die Strahlen der hoch stehenden Sonne an eines der mannshohen Bleiglasfenster. Inzwischen war es Mittag, doch keiner von ihnen dachte daran, etwas zu essen. Die Einfassungen der Scheiben warfen Schatten auf das Parkett, umschlangen Philippes Brust und Beine mit einem gitterförmigen Muster. Goldene Staubpartikel umflimmerten ihn. Sie schwiegen, als wären sie übereingekommen, eine Pause einzulegen, um Kräfte zu sammeln für das, was nun kommen würde. Helenus' Augen waren auf Philippes Gestalt gerichtet, die sich scharf gegen das grelle Licht abhob. Endlich fragte er: »Haben Sie Branne hinausbegleitet?« Philippe nickte, den Blick auf die gleißende Außenwelt fixiert. »Ich habe ihn auf die Straße geworfen und ihm gesagt, dass wir ihm seine Sachen schicken werden, wenn er seine neue Adresse hinterlässt.« Isabelle schloss kurz die Augen. Sie fühlte sich erleichtert und erschöpft zugleich. »Hmm.« Helenus verzog das Gesicht, als er sein Gewicht im Sessel verlagerte. »Gerne würde ich wissen, was den jungen Branne so außer sich gebracht hat.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Sein Vater diente mir treu bis zu seinem Tode, daher stellte ich auch nie die Ergebenheit des Sohnes in Frage.« »Er wohnte schon lange hier ...?«, fragte Philippe. Helenus hob wieder den Kopf. »Er kam mit drei Jahren zu uns«, sagte er fest. »Als Halbwaise. Seine Mutter habe ich nie gekannt. Er war sieben, als Therese floh. Und sechzehn, als Ihre Mutter uns um Hilfe bat.« Isabelle sah, wie sich Philippes Adamsapfel bewegte. »Alt genug, um mitzubekommen, was im Hause vorging«, antwortete er sachlich, und sein Blick verlor sich im Blau des Himmels. Helenus hob die buschigen Brauen. »Ich weiß es nicht. Ich war der festen Überzeugung, nur ein paar ganz wenige Eingeweihte wüssten von der Angelegenheit. Raphael de Branne war einer von ihnen, 170
doch ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er diesbezüglich selbst seinem Sohn gegenüber Stillschweigen wahren würde.« Er zog eine Grimasse. »Es ist schwer, in einem so großen Haushalt etwas für sich zu behalten. Das werden Sie am eigenen Leibe erfahren, wenn Sie meine Stelle eingenommen haben.« Philippe entfuhr eine kleine Bewegung des Unmuts. Helenus sah es und meinte: »Sie sind dafür bestimmt, meine Stelle einzunehmen, Monsieur, seit dem Tag, als ich meinen zweiten Sohn verlor. Gott, Ihr Vater und ich selber haben es so gewollt. Nichts wird daran etwas ändern können. Auch nicht das, was sie nun von mir hören werden.« Philippes Hand verkrampfte sich leicht auf seinem Arm. Sein Gesicht wurde ausdruckslos, sein Blick irrte weiterhin in der blauen Ferne über den Dächern der Stadt herum. Helenus zog die Stirn in Falten. »Wo soll ich anfangen ...? Beim Verschwinden meines Freundes Macé? Nein - ich muss noch weiter in der Zeit zurückgreifen. Bei dem Abschluss des Vertrages, der ein Kind der Vigueils und ein Kind der Faurepas für immer verbinden sollte.« Isabelles Großvater erzählte mit fester Stimme, ohne zu zögern. »Fünf Jahre später heiratete ich, eine Frau, die meine Eltern für mich ausgesucht hatten. Sie war beträchtlich älter als ich, doch aus gutem Hause, und es gefiel mir, dass sie nicht eines dieser stotternden kleinen Dinger war, sondern eine selbstbewusste, kultivierte Frau. Dass ihr Selbstbewusstsein sich in Sturheit verwandeln würde, dass sie sich mir zeitlebens in der schlimmsten Art und Weise widersetzen würde, hätte ich damals nie geglaubt.« Helenus schnaubte ärgerlich. »Meine Frau hatte nie besonders viel für den Vertrag übrig. Sie stammte aus einer betuchten und sehr stolzen Familie, und die Herkunft der Vigueils dünkte ihr nicht hoch genug für ihren Sohn. Damals glaubten wir ja noch, unser erster Sohn Esmond würde Ihre Schwester Ester ehelichen, Monsieur. Nichtsdestotrotz: Mit dieser Allianz hätte Madame ma femme sich wohl noch abfinden können. Doch das Schicksal wollte es anders.
Als Esmond mit vierzehn Jahren starb, erschien es mir ganz natürlich, dass nun Thérèse den Vertrag erfüllen sollte.« Helenus holte tief Luft. »Doch damit fingen die eigentlichen Probleme an. Thérèse war unsere einzige Tochter und der Liebling meiner Frau. 171
Ein charmantes, verzogenes Mädchen, so selbstbewusst wie meine Frau selber.« Isabelles Großvater kniff die Augen zusammen. »Ich habe nie verstanden, weshalb Marie-Olympe sich dermaßen dagegen sperrte, dass Therese Sie zum Mann nimmt, Monsieur. Es war mir unbegreiflich, doch sie geriet regelmäßig außer sich, wenn das Thema aufkam.« Isabelle dachte an das Gespräch, das sie mit Marie-Olympe in der Nacht vor ihrer Hochzeit mit Philippe geführt hatte, als ihre Großmutter sie bei ihren Vorbereitungen zur Flucht überrascht hatte. Es war ihre eigene unglückliche Ehe mit einem zehn Jahre jüngeren Ehemann, die Marie-Olympe dazu bewogen hatte, für ihre Lieblingstochter kategorisch eine Verbindung abzulehnen, in der sie eine Wiederholung ihres eigenen Dramas gesehen hatte. »Die Lage«, fuhr Helenus fort, »spitzte sich zu, als Therese allmählich ins heiratsfähige Alter kam. Meine Frau beschloss, mir zuvorzukommen und Therese aufs Land zu Verwandten zu schicken. Therese allerdings zeigte sich dem Starrsinn ihrer Mutter würdig. Sie nahm deren Hilfe zur Flucht an, hatte aber keineswegs vor, auf unbestimmte Zeit bei besagten Verwandten unterzuschlüpfen. Sie kennen die traurige Geschichte: Therese floh mit Jacques-Henry dArzelles, heiratete ihn, gebar ihm eine Tochter und starb wenige Monate später bei Unruhen, die das Perigord erschütterten.« Helenus sah einen Augenblick auf die gleißenden Scherben des von Branne zerschlagenen Spiegels. Er holte mit steifen Fingern ein Tuch aus seiner Jacke, wischte über seine schwimmende Stirn. »Mit Thereses Tod alterte meine Frau buchstäblich über Nacht. Tagelang war sie nicht zu bewegen, aus ihrem Bett zu kommen. Als ich schließlich zu ihr ging, um sie zur Vernunft zu bringen, war ich erschüttert. Sie empfing mich mit den schlimmsten Beschimpfungen und Schmähungen. Zum ersten Mal erkannte ich, dass sie mich hasste - und dass sie nicht nur mich, sondern auch Ihre Familie, Monsieur de Vigueil, für den Tod ihrer geliebten Tochter verantwortlich machte. Von dem Tag an gingen wir getrennte Wege. Sie führte ihr eigenes Leben, ich meines, und die Jahre vergingen. Um unser drittes Kind Raoul kümmerte sie sich nicht. Als er starb, hat sie es kaum zur Kenntnis genommen.« Helenus verengte die Augen. »Zwei Wochen 171
lang quälte sich der Kleine nach dem Unfall - sie hat ihn nur ein einziges Mal besucht.« Philippe machte eine Kopfbewegung, die halb Ungeduld, halb Mitgefühl war. Helenus' Stimme schwoll an. »Und nun treten Sie aufs Spiel, Monsieur - Sie und Ihr Vater. Im selben Jahr, als Raoul aus dem Fenster stürzte, begab sich mein alter Freund Mace auf geheime Mission nach Portugal. Er verschwand spurlos, und die wildesten Gerüchte entstanden über seinen Verbleib. Dann bekam Jehanne, Ihre Mutter, eine Lösegelforderung.« Helenus, der die ganze Zeit sein Tuch durch seine knotigen Finger gezogen hatte, stopfte es sich entschlossen in die Jacke und stemmte sich aus dem Sessel. Er begann, im Raum umherzulaufen, den Blick auf den Boden gerichtet. Philippes Brauen hoben sich. »Es war einer dieser grausamen Zufälle, der es wollte, dass Raoul zur gleichen Zeit starb, wie Jehanne an unsere Tür klopfte.« Helenus schnitt eine Grimasse. »Raouls Ende hat mich ziemlich mitgenommen, wissen Sie. Meine Frau hatte, wie gesagt, nicht viel für den Kleinen übrig, also hatte ich mich um seine Erziehung gekümmert. Wir standen uns - recht nahe.« Wieder lag sein Blick auf den Scherben. Erwirkte müde, aber auch entschlossen. »Ich saß zwei Wochen an Raouls Bett. Die beiden Male, die Jehanne vorbeikam, wurde sie von Marie-Olympe empfangen. Ich erfuhr nichts von diesen Besuchen - ich hatte selber befohlen, mich auf keinen Fall zu stören.« Helenus lächelte bleich. »Ich habe nie erfahren, was die beiden Frauen miteinander besprachen. Doch ich kann es mir ausmalen. Marie-Olympe hasste alle Vigueils. Es muss meiner Frau ein besonderer Genuss gewesen sein, diejenige abzuweisen, die in ihren Augen mitverantwortlich war für Thereses Tod.« Er schluckte erneut. »Jeder anderen Frau hätte diese Rache wohl ausgereicht. Marie-Olympe wusste, dass ich Jehanne auf jeden Fall geholfen hätte. Ich hatte sowohl die Mittel wie die moralische Verpflichtung dazu. Meine Frau war also daran schuld, dass Jehanne unverrichteter Dinge wieder nach Rochastre abzog - und sich gezwungen sah, sich durch den Verkauf ihrer Besitztümer das Lösegeld zu verschaffen.« Helenus suchte Philippes Blick. »Jeder anderen Frau. Meiner aber nicht.«
172
Philippe hatte sich nun völlig dem Zimmer zugewandt. Er machte eine unkontrollierte Geste. »Soll das heißen ...« Isabelle dachte an Marie-Olympe in ihrem Sterbebett und wünschte, jemand würde etwas zu ihrer Verteidigung sagen. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie das alles hören wollte. Doch sie wusste auch, dass sie das Spiegelzimmer nicht verlassen konnte, denn alles, was Philippe betraf, betraf auch sie. Philippe begann, den Raum in unregelmäßigen Schritten zu durchmessen. Er zog an seinem Kragen, lockerte ihn, blieb schließlich stehen. Die sternförmige Narbe auf seiner Wange leuchtete silbrig weiß. »Erzählen Sie!«, sagte er rau. Helenus befeuchtete seine Lippen. »Sie hat es geschickt eingefädelt«, sagte er bedächtig. »Marie-Olympe war eine der intelligentesten Frauen, die ich jemals gekannt habe.« Er seufzte. »Schon als Jehanne bei uns anklopfte, hatte sie die Illusion entstehen lassen, ich sei an all den Entscheidungen beteiligt. Sie sprach immer in meinem Namen. In der ganzen Affäre Ihrer Entführung sah Marie-Olympe eine wunderbare Gelegenheit, Rache an Ihrer Familie zu nehmen. Meine Frau begründete Jehanne gegenüber ihre Ablehnung mit finanziellen Schwierigkeiten, die sie unserer Familie andichtete, bedauerte zutiefst, dass wir nicht hatten helfen können, und überhäufte sie mit Freundlichkeiten. Sie schrieb ihr regelmäßig, immer erwähnte sie auch mich. Sie beklagte sie zutiefst, und als Jehanne begann, ihre Ländereien zu verkaufen, half sie ihr, indem sie ihr jemanden schickte, der die besten Preise für sie erzielte.« »Woher wissen Sie das alles?«, fragte Philippe. Helenus verzog den Mund. »Ich las die Briefe Ihrer Mutter, Monsieur. Und die Kopien, die meine Frau von ihren eigenen Schreiben anfertigte. Ich fand sie, als ich den Raum meiner Frau durchsuchte.« Isabelle massierte sich die Schläfen, während in ihrer Vorstellung ein Helenus herumgeisterte, der Marie-Olympes Koffer aufbrach und durchwühlte. »Und jetzt... jetzt kommen wir zum hässlichsten Teil der ganzen Geschichte.« Helenus zog eine Grimasse. »Doch ich schätze, Sie erahnen ihn bereits?« 172
»Madame Ihre Frau erfuhr von meiner Mutter von dem Geldtransfer. Sie bestach den jungen Mann, der ihn anführen sollte, und organisierte dessen Überfall«, sagte Philippe tonlos. Helenus nickte müde. Philippe war sichtlich bemüht, Ruhe zu bewahren. »Wie erfuhren Sie überhaupt von den Unternehmungen Ihrer Frau?« »Madame ma femme hatte eines nicht vorhergesehen: Der junge Mann, der den Geldtransport anführte, wurde bei dem Überfall erschossen und hinterließ einen verbitterten Vater, der, während er die Hinterlassenschaften seines Sohnes ordnete, auf Briefe meiner Frau stieß. Diese Briefe trugen mein Siegel. Der alte Mann, ich glaube, er hieß Gosse oder so ähnlich, erschien eines Tages bei mir, verlangte mich zu sprechen und machte mir die bittersten Vorwürfe.« »Arnoul Gosse...«, sagte Philippe gedehnt und wie zu sich selber: »Er hat mir nichts davon erzählt, als ich nach meiner Gefangenschaft als Erstes Rochastre aufsuchte und überall nachfragte!« Er schüttelte den Kopf. Wut, Enttäuschung und Bitterkeit überschatteten Philippes Züge. Er schloss einen Augenblick die Augen, sichtlich um Fassung bemüht, öffnete sie wieder. »Weshalb ging er nicht vor Gericht?«, fragte er kalt. »Gosse ist ein einfacher Mann, aber ...« Helenus war stehen geblieben. Er sah freimütig in Philippes Gesicht. »Er hat ein sehr genaues Empfinden für das Gute und das Böse. Und für die Rolle, die sein Sohn in der ganzen Affäre gespielt hat. Er war überaus zornig -noch viel mehr aber hat er sich für seinen Sohn geschämt.« »UndSie...?« »Ich?« Helenus lachte einmal auf, ein kurzes, schreckliches Lachen, das Isabelle erschauern ließ. »Ich habe den armen Teufel bestechen und ihm damit das letzte bisschen Stolz rauben wollen. Er warf mir das Geld ins Gesicht und kehrte zurück in seine Provinz, wo er die Faurepas bis an das Ende seiner Tage verfluchen wird.« Isabelle ließ sich erneut in ihren Sessel fallen. Sie stützte den Kopf auf ihre Hände, ihr Haar glitt über ihr Gesicht.
»Dann habe ich Marie-Olympe zur Rede gestellt«, fuhr Helenus fort. »Seigneur... was für ein Gespräch das war...!«Er lachte erneut auf. »Das Inferno kann kaum schlimmer sein.« Seine Stimme klang zunehmend erregt. »Ich warf ihr alles vor, was ich herausgefunden 173
hatte. Sie hat nichts geleugnet. Ich schrie sie an, sie sei eine Betrügerin und Mörderin. Sie lachte und sagte, ich könne sie ja anklagen und richten lassen. Der Hass auf ihrem Gesicht war ...« Helenus brach ab. Isabelle horchte atemlos in die Stille, bis sie es nicht mehr aushielt und ihre Locken zurückschlug. »Sie hat es gewusst«, sagte Helenus leise in diesem Augenblick. »Sie hat genau gewusst, dass ich sie nicht vor Gericht zerren würde.« Er warf Philippe einen Blick zu, der Isabelle ins Herz schnitt. »Sie wusste, dass meine Ehre mir sehr viel bedeutet. Und durch ihre Tat hat sie mich entehrt. Sie sagte mir während eines Streites, ich hätte ihr die Tochter gestohlen, dafür hätte sie mir das Einzige genommen, was mir am Herzen läge, meinen Stolz.« Helenus bleckte die Zähne. »Wie gut sie mich doch kannte ...« Er lachte ein trockenes Lachen, das wie ein Husten klang. Seine Hände zuckten, als hätten sie ein Eigenleben, er wirkte fahrig und erschöpft. »Meine Frau vernichtete mich zwei Mal. Das erste Mal, als sie in meinem Namen Verrat an Ihrer Familie ausübte - ich fürchte, Jehanne hat zeitlebens geglaubt, ich sei für ihr Unglück verantwortlich. Als ich von dem ganzen Komplott erfuhr, war Ihre Mutter bereits verschwunden, und es war mir unmöglich, ihr alles zu erklären oder zu versuchen, das Geschehene wiedergutzumachen. Marie-Olympes zweiter Verrat resultierte aus dem ersten und war noch viel raffinierter: Sie wusste, ich würde sie nicht den Richtern ausliefern, weil ich es nicht ertragen hätte, meinen Namen in aller Öffentlichkeit beschmutzt und in einen Skandal verwickelt zu sehen. Das erste Mal vernichtete sie meine Ehre vor der Welt. Das zweite Mal vor mir selber. Ich ertrage seitdem im Spiegel kaum mehr meinen eigenen Anblick.« Philippes Wangenmuskeln spielten. »Erwarten Sie, dass ich Sie dafür bedauere?« Helenus lächelte. »Ich erwarte schon lange nichts mehr. Nicht, seit ich in meinem Haus auf Sie stieß, Monsieur. Denn ich glaube, dass Gott mir mit Ihrer wundersamen Rückkehr ein Zeichen gab. Ein Zeichen der Versöhnung. Denn wider alles Erwarten habe ich meinen Schwur einlösen können: Sie haben meine Enkelin geheiratet.« Isabelle traf Philippes Blick. Er ist genauso müde, fassungslos und verwirrt wie ich, dachte sie. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie 173
hätte aufspringen, ihn in die Arme nehmen und trösten wollen, wartete nur auf ein kleines Zeichen, eine Kopfbewegung, eine sich öffnende Hand ... doch er blieb starr. Als er sie ansprach, überlief sie eine Gänsehaut. »Haben Sie das gehört, Madame? Eine Frau ... krank, alt und auf dem Sterbebett.« Auch er lachte nun auf und schloss dabei die Fäuste. »Verflucht ... Wie oft habe ich mir diesen Augenblick ausgemalt -wie viele Möglichkeiten, mich und meinen Vater zu rächen! Und dann das!« Er wandte sich Helenus zornig zu. »Sie haben mit mir gespielt, Monsieur! Mich belogen! Mir eine Farce vorgespielt, die Sie bis in die Ewigkeit fortgeführt hätte, wäre dieser Branne nicht gewesen!« Helenus senkte den Kopf. »Ich war ... sehr glücklich. Alles war perfekt. Ich wollte das nicht alles zerstören.« Isabelle hob die Hände. »Marie-Olympe hat gebüßt, Philippe!«, sagte sie. »Acht Jahre lang! Gefangen in ihrem Zimmer!« Helenus nickte. »Es war das wenigste, was ich tun konnte. Ich verbot ihr, jemals wieder aus ihrem Raum zu kommen, oder sie würde es nicht überleben.« Trocken fügte er hinzu: »Ich muss ziemlich überzeugend gewirkt haben, denn sie setzte nie wieder eine Fußspitze vor die Tür und hat dieses Zimmer nur für ihr Sterbebett verlassen.« Philippes Augen loderten auf. »Wenn ich es richtig verstehe, sehen Sie also die ganze Angelegenheit als erledigt an?« Helenus wich seinem Blick nicht aus. »Das werde ich nur tun, wenn es auch Ihrem Empfinden entspricht. Ich habe nicht vor, mich meinen Pflichten zu entziehen.« Er lächelte leicht. »Morgen früh, bei Morgengrauen?« Isabelle riss die Augen auf, schnellte hoch. »Aber ...« Helenus beachtete sie nicht. »Den Ort können Sie bestimmen.« Isabelle stürzte zu ihrem Mann. »Philippe, das können Sie unmöglich ...«
Philippe streckte einen Arm aus und schob sie beiseite wie ein lästiges Schoßhündchen. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Stimme war es auch. »Leider geht es morgen nicht«, antwortete er Helenus, »ich habe geplant, noch vor Sonnenaufgang eine Reise anzutreten. Doch wir können Versäumtes nachholen, sobald ich wieder zurück bin.« 174
»Wie Sie wünschen.« Isabelle sprang mit geballten Fäusten zwischen beide Männer und schrie, während sie abwechselnd ihren Mann und ihren Großvater anstarrte: »Hören Sie auf! Hören Sie auf mit diesem Unsinn! Sie sind doch beide unschuldig an dem, was geschehen ist! Das alles haben Sie doch nur dem Hass von Madame ma mère zu verdanken! Sehen Sie denn nicht, dass ein Duell ihre geheimsten Wünsche erfüllen würde? Lassen Sie sich doch nicht erneut von ihr manipulieren!« »Ma fille, mischen Sie sich hier nicht ein!«, entgegnete Helenus scharf. Isabelle fuhr wütend herum. »Wenn Sie glauben, ich warte hier untätig, bis Sie sich beide gegenüberstehen ...« »Von untätig kann keine Rede sein«, schnitt Philippe ihr das Wort ab. »Da Sie mich morgen begleiten werden, dürfte es genug für Sie zu tun geben.« Er wandte sich zum Gehen. Isabelles Schultern fielen herab. »Wir fahren gemeinsam? Aber wohin denn?« »Nach Rochastre!«, warf Philippe zurück. Sein Mund verzerrte sich. »Finden Sie nicht auch, dass es höchste Zeit ist für Sie, die prächtigen Schlösser und Ländereien kennenzulernen, die Ihr Mann mit in die Ehe brachte?« Er eilte weiter. »Wir fahren um vier! Und nehmen Sie nur einfache Garderobe mit. Wir werden keine Gelegenheit haben, Festlichkeiten zu besuchen!«
Vierzehn Der Tonfall des Landes, in dem man geboren ist, haftet im Verstand und im Herzen wie in der Sprache. Juni 1651
Conrad gab sich seit einer geschlagenen halben Stunde die größte Mühe, Gelassenheit auszustrahlen, doch langsam bröckelte seine Geduld. Der kleine Vorraum, in dem man ihn zu warten geheißen hatte, war ein Ebenbild seines Eigentümers Beaufort: prächtig und zum Erbrechen langweilig. Nun ja. Er war niemand, der sich schnell entmutigen ließ, und in Paris wimmelte es von ordentlichen Haushalten, die nach tüchtigen Sekretären suchten. Und obwohl er weder einen ordentlichen Haushalt suchte noch Tüchtigkeit ihn besonders auszeichnete, war es so gut wie ausgeschlossen, dass er auf offener Straße verhungerte. Außerdem: Auch wenn er nie gespart hatte und so gut wie keine Barschaft mehr besaß, verfügte er doch inzwischen über eine für einen Sekretär äußerst beeindruckende Garderobe und besaß eine Ausstattung, die ihm Eintritt in die besten Häuser verschaffen würde. Ganz zu schweigen von den Bekanntschaften und Verbindungen, die er sich in den letzten drei Monaten erarbeitet hatte und die er nun spielen lassen würde. Auch hatte er sich heute Morgen an die erste Adresse gewandt, die ihm eingefallen war, als er sich aus Marions Armen gelöst hatte: Beauforts Palais. Conrad zog die Brauen zusammen. Marion ... Als des Nachts seine Sachen aus dem Hotel de Noirlieu geschickt worden waren, war auch Marion erschienen. Sie war schluchzend in seine Arme gesunken, hatte ihm ewige Liebe geschworen und behauptet, bei ihm bleiben zu wollen, um das Unrecht zu teilen, das ihm widerfahren war. Quelle idiote! Ausgerechnet jetzt, wo er das Hotel de Noirlieu hatte verlassen müssen, jetzt, wo er dringender als jemals zuvor einen Spion brauchte, der ihm ergeben war und bei den Faurepas 174
ein- und ausging! Denn Isabelle schuldete ihm etwas, etwas, worauf er dummerweise bisher verzichtet hatte, etwas, das er aber nicht willens war zu vergessen. Bei dem Gedanken an Isabelle verspürte Conrad die übliche Spannung in der Lendengegend. Verflucht! Hätte er gestern nicht einen Körper gebraucht, um seine Wut abzukühlen, hätte er Marion mit Ohrfeigen auf die Straße gejagt! Er hatte sie vorerst aufgenommen, doch ihre ewigen Liebes-schwüre waren kaum zu ertragen, und ihr hohles Geplapper machte ihn aggressiv. Spätestens als sie ihn vorhin zum Abschied geküsst und ihm fürsorglich in seine von ihr gebürstete Jacke geholfen hatte, war ihm klar geworden, dass er es keine drei Tage in ihrer Gesellschaft aushalten würde. Er musste sich schnellstens dieser Frau entledigen - eine seiner nächsten Aufgaben, sobald er Beaufort becirct haben würde.
Conrad blickte zur Abwechslung zur Decke und drehte eine erneute Runde in dem überladenen kleinen Raum. Als er sich der Tür näherte, vor der der Lakai Wache schob, vernahm er Stimmen. Er verlangsamte kaum merklich seine Schritte, um ein paar Wortfetzen aufzufangen. »Unmöglich...!« Conrad rümpfte die Nase. Beaufort sprach schmerzhaft hoch, wie immer, wenn er sich erregte. Ein Mann antwortete ihm. Es war keine Stimme, die Conrad auf Anhieb erkannte. Ihr Tonfall war gleichzeitig fest und spöttisch. Bestimmt niemand, dachte Conrad grollend, der sich die Beine in den Leib stehen musste, bevor er vorgelassen wurde! «... eine unerhörte Chance für uns, Monsieur, und es wäre ein Frevel...« Conrads Sinne spitzten sich zu. »Das wird Mazarin den Kopf kosten, mon eher! Jedes Königreich wird den Italiener als persona non grata hinauswerfen, wenn es publik wird!« »Wenn, ja ...! Ich höre immer wenn. Doch mit Verlaub, Monseigneur, Sie haben nicht die Unze eines Beweises, dass sich alles so verhält, wie Sie es behaupten!«, schmollte Beaufort. »Herrgott, Beaufort, ich habe genug Spione um Anne! Es ist fast 175
sicher, dass gestern ein Treffen in den Visitandines zwischen dem Kurier und der Königin stattgefunden hat! Ein unterschriebenes Geständnis Ihrer Majestät werden Sie natürlich nicht von mir zu Gesicht bekommen! Sie hat den Brief geschrieben, und der Kurier ist damit vielleicht schon nach Brühl unterwegs! Wir müssen alles unternehmen, um des Mannes und seiner Fracht habhaft zu werden!« Die Stimme fuhr hitzig fort: »Verstehen Sie denn nicht, was für eine einmalige Chance das Ganze ist? Wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass die Regentin eine ihrer heiligsten Pflichten verletzt hat, dass sie durch Leichtsinn oder gar Leidenschaft das französische Königtum gefährdet hat, wird ein Lauffeuer der Entrüstung durch sämtliche Parteien gehen! Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand wird noch einen Sol auf Annes Zukunft verwetten, ein Leben hinter Klostermauern wäre noch das mildeste Los, das sie erwarten könnte! Und damit wäre natürlich auch Mazarins politische Karriere endgültig beendet! Kein Freund, kein Anhänger, auch kein ausländisches Königshaus würde dem Italiener nach einer Tat mit so anrüchigem Hintergrund noch zur Seite stehen! Es würde ihm nur noch das Exil in Neu-Frankreich übrig bleiben!« Beaufort wusste sehr wohl, dass in der Stadt Witze über seine Begriffsstutzigkeit gerissen wurden, und seine Antwort fiel schroff aus. »Ich verstehe das alles, und sogar noch mehr: nämlich dass Sie Anne hintergehen wollen. Warum überhaupt? Ich dachte, Sie und die Regentin sind ein Herz und eine Seele! Man zählt nicht mehr die Titel und Ehrungen, die Sie Ihnen zukommen ließ seit Ihrer Befreiung!« Ein verächtliches Schnauben erklang. »Glauben Sie, ich lasse mich von der Königin zum Narren halten? Anne hat doch nach wie vor nichts als diesen verfluchten Italiener im Kopf! Meine Schubladen quellen über von den abgefangenen Briefen, die sie Mazarin geschickt hat! Sie arbeitet an seiner Rückkehr und versucht mich mit ihren Gunstbezeugungen einzulullen. Und sobald sie ihren geliebten Mazarin wieder neben ihrem Schlafzimmer eingerichtet haben wird, wird sie nichts Eiligeres zu tun haben, als sich meiner zu entledigen! Die Gefängnisse sind voll von früheren Günstlingen, Beaufort!« »Und der König?« 175
»Der König? Was soll mit ihm sein?«, antwortete Beauforts Gesprächspartner unwirsch, wenn auch mit gedämpfter Stimme. »Was für einen König meinen Sie? Noch gibt es nichts als einen unmündigen kleinen Jungen namens Louis, der am liebsten Krieg spielt. Sollte er jemals an die Macht kommen hingegen, wird es außerordentlich schwierig sein, ihm beizukommen ...« »Gibt es denn die Möglichkeit, dass Louis nicht...?« Conrad musste nun sehr genau zuhören, um die leise Antwort verstehen zu können. »Nun, wenn Anne nicht mehr ihre schützende Hand über ihren Sohn hielte, gäbe es zum Beispiel die Möglichkeit, mit der Unterstützung von Monsieur d'Orléans und mittels der Ständeversammlung eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die das Alter der Volljährigkeit des Königs von dreizehn auf achtzehn Jahre anhebt.« »Wir bekämen fünf Jahre Zeit...« »Fünf lange Jahre, ja.« Ein Lächeln lag in der herrischen Stimme, die hinzufügte: »So viel kann geschehen in fünf Jahren ...« Conrad vermeinte Beauforts Schritte zu hören, die auf und ab wanderten. Als er schließlich antwortete, war seine Stimme schwer vor Misstrauen. »Das ist ein Plan, der uns in verflixt große
Schwierigkeiten bringen könnte, Monsieur. Und ohne Ihnen zu nahe zu treten: Sie haben so gut wie alle Vereinbarungen missachtet, die zwischen uns in der Vergangenheit getroffen worden waren. Sie werden vielleicht Ihrerseits verstehen, wenn ich unter diesen Umständen vorsichtig bin.« Ein schniefendes Geräusch erklang. »Und außerdem«, fügte der Herzog in einem plötzlichen Anfall von Geistesgegenwärtigkeit hinzu, »müssen Sie mir noch erklären, weshalb Sie in dieser Angelegenheit zu mir kommen! Warum schicken Sie nicht einen Ihrer Männer?« »Mon Dieu, Beaufort, Sie wissen doch, dass mir die Hände gebunden sind! Wie Sie schon selber sagten: Anne vertraut mir! Es wäre fatal, wenn sie mir plötzlich ihr Wohlwollen entzöge! Nein, ich brauche einen Mann, der mutig und entschlossen ist! Und dass Sie mir vertrauen können, erkennen Sie an meinem Hiersein: Schließlich liefere ich mich Ihnen völlig aus!« Conrad war heiß geworden beim Lauschen. Auf einmal war er überzeugt, dass das, was hier diskutiert wurde, ihn direkt betraf. 176
Eine Mission, dachte er... ein Kurier nach Brühl! Und dann die Visitandines ... Er verglich diese Informationen mit dem, was Marion ihm erzählt hatte. Plötzlich wusste er, dass sich ihm hier eine einmalige Chance bot, sich auszuzeichnen und die Aufmerksamkeit eines der wichtigsten Männer des Landes auf sich zu lenken. Verflixt, dachte er und warf einen Blick über seine Schulter, ich muss da hinein! Er ergriff den feinen Griff der schmalen Tür und schoss in das Nachbarzimmer. »Was zum Teufel...?«, rief Beaufort, als Conrad ihm vor die Füße sprang. Der zweite Mann im Zimmer sagte nichts, sondern griff zum Degen in der geübten Art eines Mannes, der nicht zum ersten Mal sein Leben verteidigte. »Verzeihung, Messeigneurs«, holperte Conrad. »Ich muss Sie unbedingt sprechen...« »Monsieur de Branne? Sind Sie es?«, fragte Beaufort mit der hohen Stimme eines Kindes. »Sie kennen diesen Mann?«, fragte der Mann mit dem hungrigen Blick, der der Prince de Conde sein musste. Conrad wandte sich direkt an ihn. »Bitte hören Sie mich an, Monseigneur! Ich habe Informationen von unschätzbarem Wert...« »Monsieur, ich hoffe in Ihrem eigenen Interesse, dass Sie eine fesselnde Geschichte zu erzählen haben. In meiner Armee lasse ich Spione am nächsten Baum aufknüpfen«, sagte der Prinz kalt. Conrad verbeugte sich tief und fasste sich knapp. »Monseigneur, der Comte de Vigueil und seine Frau haben heute Morgen die Stadt verlassen, mit dem Vorwand, die sich in der Champagne befindenden Besitztümer des Comte zu besuchen. Sie sind von einem starken Trupp Bewaffneter begleitet. Diese Reise wurde sehr plötzlich entschieden, noch gestern Morgen war von ihr keine Rede.« »Vigueil? Meinen Sie den Comte Philippe de Vigueil?«, fragte Conde scharf. »Der Mann, der die Enkelin des Herzogs de Noirlieu geheiratet hat?« »Ja. Dieser Mann ist Sekretär in Vigueils Haushalt und steht Madame de Vigueil sehr nahe«, mischte Beaufort sich ein. »Ich bin Sekretär gewesen, Monseigneur. Ich habe gestern meinen Dienst quittiert«, berichtigte Conrad würdevoll. 176
»Quittiert, tatsächlich? Oder sind sie vielleicht rausgeflogen? Tischen Sie uns jetzt eine hübsche kleine Geschichte auf, um Rache an Ihrem früheren Herrn zu nehmen?« Condes blaue Augen waren bohrend. Conrad wurde klar, dass er mit dem Prinzen kein leichtes Spiel haben würde. Doch Conde fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten: »Vigueil ist also kurzfristig verreist. Ein spontaner Mensch. Schließlich hat er genauso kurz entschlossen geheiratet.« Seine Worte troffen vor Spott. »Eine wirklich aufregende Geschichte, Monsieur!« »Vigueil ist schon früher tagelang verschwunden, Monseigneur. Mir ist bekannt, dass er Botendienste für Mazarin erledigt.« »Davon haben Sie mir nie erzählt!«, empörte sich Beaufort. Conrad lachte innerlich auf. Beaufort war perfekt gewesen als Werkzeug, um Vigueil eine tüchtige Abreibung verpassen zu lassen. Ein Handlanger. Und einem Handlanger vertraute man eben kein Wissen an, das bares Gold wert sein konnte! »Der Herzog de Faurepas ist einer meiner ältesten und treuesten Vasallen, Branne!«, warf Conde zurück.
Conrad fiel auf, dass der Prinz zum ersten Mal seinen Namen benutzte, und deutete es als gutes Zeichen. »Aber gerade das macht Vigueil als Kurier doch so wertvoll! Und gerade deshalb hat er diesmal seine Frau, eine Faurepas, mitgenommen! Die Tarnung ist perfekt!« Louis de Conde ließ Conrad nicht aus den Augen. Sein Blick war nicht mehr spöttisch, sondern prüfend. »Und dann gibt es noch ein Indiz, Monseigneur«, fügte Conrad hinzu, der fühlte, wie die Erregung durch seine Adern strömte. »Die Mutter und die Schwester von Vigueil leben in den Visitandines! Und...«, schloss Conrad bedeutungsvoll,«... werden von Vigueil regelmäßig besucht!« Condes Nasenflügel bebten. Er hob den Kopf. »Wissen Sie überhaupt, um was es hier geht, Monsieur de Branne?«, fragte er. »Nein, Monseigneur. Noch nicht.« Conrad verbeugte sich erneut. »Doch ich hoffe sehr, Ihnen durch meine Darlegung bewiesen zu haben, dass ich würdig bin, eingewiesen zu werden.« Es zuckte auf Condes gierigem Mund. Nachdenklich lief sein Blick über Conrads tadellose Erscheinung. »Sie suchen einen neuen Herrn, sagten Sie?« 177
Conrad lächelte. »Ich hoffe, ihn bereits gefunden zu haben, Monseigneur«, antwortete er forsch.
* Perette stieß einen kleinen Schrei aus, als die Kutsche wieder einmal einen besonders heftigen Schlag machte. »Vierge Marie«, klagte sie mit einen Augenaufschlag zur Decke, »wird das denn nie ein Ende haben? Wie viele Knochen muss ich mir denn noch brechen, bevor wir endlich ankommen?« Isabelle unterdrückte eine scharfe Antwort. Das ständig Jammern von Perette war eine Zumutung. Wieder einmal wünschte sie sich, die gut gelaunte Marion würde sie statt der Zofe ihrer Großmutter begleiten. Doch Marion war in der Nacht vor ihrer Abreise spurlos verschwunden und Isabelle hatte wohl oder übel jemand anders mitnehmen müssen. Ihre Wahl war auf Perette gefallen, da Marie-Olympe nur noch Pflegerinnen und keine Zofe mehr brauchte, seit sie bettlägerig war, doch inzwischen bereute sie ihre Entscheidung. »Hör auf zu schimpfen, Perette. Heute übernachten wir in Rochastre, du hast es gehört, die Reise hat also bald ein Ende.« Isabelle spähte nach draußen. »Außerdem ist es doch gar nicht so schlimm«, murmelte sie gedankenverloren. »Der Regen von heute Nacht hat die Wege immerhin etwas aufgeweicht, und das ohne sie in Schlamm zu verwandeln.« Perette antwortete etwas, doch Isabelle hörte nicht zu. Diese Reise war ihr ein Rätsel. Natürlich hätten Philippe und sie schon längst eine Fahrt nach Rochastre unternehmen sollen. Es war üblich, dass ein Mann seine frisch Angetraute in das Land seiner Väter einführte. Doch so kurz nach Helenus' Enthüllungen konnte der Zeitpunkt dafür doch nicht unpassender gewählt worden sein! Außerdem war die Champagne wohl das letzte Ziel, das man sich setzte, wenn man eine schöne, entspannte Reise machen wollte. Die Gegend wurde seit Jahren von den schlimmsten Prüfungen heimgesucht - die nahen Grenzen waren ihr Fluch. Die Spanier, die Lothringer, Condes Söldner, die unbezahlten Soldaten des Königs: Alle waren mehrere Male über das Land hergefallen, hatten es geplündert, die Dörfer verbrannt, die Ernten zerstört, die Männer und das 177
Vieh verschleppt, die Kirchen und Frauen geschändet. Wüsten waren entstanden, wo früher das Korn wogte, und auch in den Städten herrschten kaum bessere Zustände. Nein, dachte Isabelle zum wiederholten Mal, irgendetwas anderes musste hinter dieser Unternehmung stecken. Philippe verheimlichte ihr etwas, doch bisher hatte sie vergeblich darauf gewartet, dass er sich ihr öffnete. Inzwischen waren sie seit drei Tagen unterwegs. In ihr stauten sich Groll und Enttäuschung. Wann glaubte ihr Mann wohl, dass es an der Zeit sein würde, sie über seine Absichten in Kenntnis zu setzen? »Ho!«, rief der Kutscher auf dem Bock. Das Gefährt kam zum Stehen. Isabelle ergriff die Lederriemen des Fensters, versenkte die Scheibe in der Tür und lehnte sich heraus. Philippe war ein Stück weit vorgeritten und abgestiegen. Sie sah seine Gestalt sich gegen den Himmel abheben. Offenbar hatten sie eine kleine Anhöhe erreicht, und er spähte auf die Landschaft zu seinen Füßen. Isabelle öffnete den Schlag und stieg mit Hilfe des Lakaien aus. Sie verengte die Augen, als Sonnenstrahlen sie trafen: Der Regen war vorerst vorbei - bis zum nächsten Schauer. Die Männer, die sie begleiteten, waren ebenfalls teilweise abgestiegen und zogen ihre Pferde beiseite, um ihr
Platz zu machen. Der Lehm des Weges lag warm und anschmiegsam unter Isabelles Schuhsohlen, als sie zu Philippe aufschloss. Philippe schien angesichts seiner Heimat ein wenig seiner Wortkargheit zu verlieren und deutete vor sich. »Hier endet die Champagne. Bis vor zweihundert Jahren war hier noch alles bewaldet. Inzwischen wurden die Bäume aber zurückgedrängt, um Platz für Felder zu machen. Der Bergrücken dort hinten gehört schon zu der Argonne. Sie bildet eine natürliche Grenze zu Lothringen - leider keine sehr zuverlässige.« Seine Hand zeigte auf eine kleine Ortschaft zu ihrer Rechten. »Drüben am Fluss befindet sich Sainte Menehould. Es ist der größte Ort in der Nachbarschaft von Rochastre. Und das, was Sie dort erkennen, ein Stück weiter die Aisne hinab, die Dächer, die halb verborgen hinter einer Eichengruppe liegen, sind Rochastre.« Isabelle hob die Hand an die Stirn, um die Augen gegen die Sonne 178
abzuschirmen. Zwei lang gestreckte, im rechten Winkel aneinanderstoßende rostrote Dächer, ein kreisrunder Turm und das schillernde Band eines Wassergrabens - mehr war nicht zu erkennen. Sie ließ den Blick schweifen. Die leicht wellige Landschaft war aufgeteilt in kleine, quadratische Flecken, von denen etliche von schmutziggelber Farbe waren. Philippe warf einen Blick in den Himmel. Isabelle stieß einen Überraschungslaut aus, als auf einmal ein Schauer niederging, und hob abwehrend die Arme. »Warten Sie!« Im Nu hatte Philippe seinen Mantel ausgezogen und hielt ihn über ihren Kopf. Ein kurzer Blick nach hinten, auf die weit entfernte Kutsche ... »Dort, in die Hütte!« Sie hasteten in die Richtung des halb verfallenen Schuppens. Das Unkraut war kniehoch und legte Schlingen um ihre Füße. Isabelle stolperte, hielt sich an Philippes Arm fest. Die Äste der umgefallenen Bäume peitschten ihre Röcke. Endlich hatten sie die Hütte erreicht. Isabelle fuhr zusammen, als ihnen ein kleines struppiges Tier entgegensprang und im verwahrlosten Garten verschwand. Ein Teil der Holzwände war zerfallen und von dem Dach tropfte es an mehreren Stellen. Sie verharrten stumm und atemlos, während der Regen noch heftiger wurde. Es stank in der Hütte, ein Gemisch aus faulendem Holz und etwas Süßlichem, das Übelkeit verursachte. Isabelle rückte unauffällig näher an Philippe, bis sein Geruch sie umgab, achtete aber dennoch auf Abstand. Tropfen reihten sich an den Säumen seines Mantels auf, fielen zu Boden. Die Wärme ihrer beider Körper staute sich unter dem aufgespannten Kleidungsstück, eine weiche Wärme, die ein betörendes Gefühl der Intimität vortäuschte. »Ich glaube, es bessert sich«, sagte Philippe. Isabelle spähte nach draußen. Der Regen fiel in dichten Fäden. Sie hob den Kopf. Philippes Profil hob sich gegen die Unterseite des Mantels ab. Die sternförmige Narbe leuchtete hell auf seiner Wange. Sein Unterkiefer bildete eine harte Linie, sein Gesichtsausdruck war finster. Er war genauso angespannt wie sie. »Ja, Sie haben recht«, antwortete sie tonlos. »Und auch wenn nicht ... Wir können hier nicht den ganzen Tag zubringen, nicht wahr?« Ihre Blicke trafen sich. »Ich glaube, es ist besser, nass zu werden, als hier zu stehen ... hier so zu stehen ...« Sie schluckte heftig. 178
»Isabelle...« Sie appellierte an all ihre Kräfte und machte sich mit einem Ruck frei. »Ja, wir müssen hier raus«, plapperte sie. »Es riecht hier zu schlecht. Mir wird schon ganz übel, Ihnen nicht? Irgendein Tier muss hier verendet sein ...« Er stand vor ihr und versperrte ihr den Ausgang, sie drehte sich um. »Ah, da drüben liegt es ja, in der Ecke.« Sie trat mit gerafftem Rock zu der Stelle, zu allem bereit, um dem Anblick seines versteinerten Gesichts zu entkommen ... riss die Augen auf ... schrie ... taumelte zurück, mit weit aufgerissenen Augen... »Belle, was ist?« Sie stieß Philippe weg, stolperte rückwärts aus dem Schuppen, nur weg hier ... kämpfte sich durch das Unkraut, die toten Äste der geschundenen Bäume ... fiel hin, der Länge nach. »Belle, Belle, beruhige dich!« Zwei Hände ergriffen sie, hielten sie fest. »Da! Da drinnen ist...« »Pscht...« Philippe presste sie an sich. »Es ist gut. Ich habe ihn gesehen.« »Aber... der Mann wurde ...« Er erstickte ihre Worte an seiner Schulter, hielt sie fest, bis das Beben, das ihren ganzen Körper durchschüttelte, nachließ. »Was ist passiert, Monseigneur?« Ihr Schutztrupp kam mit gezückten Waffen angerannt.
»Drei von euch bleiben bei der Kutsche«, befahl Philippe. »Der Rest durchsucht das Gelände. Schaut, ob ihr eine Schaufel oder etwas Ähnliches findet. Im Schuppen liegt ein armer Teufel, der schon allzu lange auf ein Grab wartet. Aber seid vorsichtig, entfernt euch nicht zu weit voneinander. Und ...« Isabelle fühlte, wie der Druck von Philippes Armen sich verstärkte. Barsch fügte er hinzu: »... und schaut nach, ob der Kerl hier alleine wohnte, oder ob er noch Familie hatte.« Isabelle warf einen verstohlenen Blick um sich und erbebte. »Sie sollten sich wieder in die Kutsche setzen, Madame«, sagte Philippe in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Können Sie laufen?« 179
»Natürlich.« Isabelle gab sich Mühe, das Schwanken ihrer Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Sie hob das Kinn und begann, sich an seinem Arm einen Weg zurück durch das Unkraut zu bahnen.
* Ein paar Stunden später fuhren sie endlich in den Hof von Rochastre ein. Nachdem Philippe eigenhändig den Schlag des Wagens geöffnet und ihr hinausgeholfen hatte, sah Isabelle sich mit Herzklopfen um. Das also war das Zuhause ihres Mannes, hier hatte er seine ersten Schritte getan, hier war er aufgewachsen, sorglos und wohlbehütet, bis eine Reise nach Portugal seine Familie ins Unglück riss ... Es war eine vierflügelige Anlage, deren Ecken von Türmen flankiert wurden. Sie war errichtet aus sich abwechselnden Schichten von Ziegelsteinen und Steinblöcken, die ein auffälliges, rot-weißes Streifenmuster bildeten. Das südlich gelegene, elegante Hauptgebäude war ein langer, zweistöckiger Bau mit hohen Sprossenfenstern und weißen Türen, dessen Dach zum größten Teil zusammengebrochen war. Zerborstene Ziegel, gespaltene Schieferplatten und spitz herausragende Balken ragten drohend über das Hauptgesims des zweiten Stockwerks. Den östlichen Flügel bildete ein ebenfalls zweistöckiges Haus mit flachem Dach. Der Rest der Anlage barg Stallungen und Wirtschaftsgebäude und war weniger elegant als solide entworfen worden. Die Rückseiten der Gebäude fielen direkt in den Wassergraben ab. Der einzige Zugang zu der Anlage bestand in einer Zugbrücke, die sich über den Nordgraben spannte und zu einem mächtigen Tor führte, in dessen Frontispiz ein verwittertes Wappen hing. Je näher sie dem Schloss kamen, desto unübersehbarer traten die Spuren der Vernachlässigung hervor. Etliche Fensterscheiben wiesen Risse auf, alle waren blind vor Staub. Vor einem Fenster, dessen gesprungene Scheiben notdürftig mit Brettern repariert worden waren, nisteten Tauben. Die Dachrinne war halb abgerissen und schwankte leicht im Wind. In das Gebäude führten zwei weiße hohe Holztüren mit verglasten Oberlichtern. Philippe war vorausgeeilt. Er hatte die linke gewählt und sie offen stehen lassen. 179
Isabelle brauchte einige Augenblicke, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die im Haus herrschte. Ein Geruch nach Staub und Moder erschwerte das Atmen. Isabelle fröstelte und kreuzte die Arme über der Brust, denn im unbeheizten Haus war es um etliches kälter als draußen. Philippe war nirgends zu sehen. Sie beschloss, aufs Geratewohl das Haus zu durchstreifen. Ihre Schritte klangen hohl in den leeren Räumen, ihre Fußspitzen und der Saum ihres Kleides wirbelten helle Wolken auf. Sie ließ das mit rotgelben Steinfliesen ausgelegte Treppenhaus hinter sich, durchquerte nacheinander kleine und große Räume. Überall stieß sie auf Spuren der Plünderer, auf den abgeschlagenen Kopf einer Marmorstatue, Scherben, Stofffetzen. Rochastre hatte offensichtlich über eine kleine Bibliothek verfügt. Die Bücher waren verschwunden, die Regale lagen umgekippt am Boden. Das Leder, das die Wände bekleidet hatte, war der Länge nach aufgeschlitzt worden und klaffte auseinander. Die eiserne Pike eines Kamingeschirrs hatte einen zierlichen Sessel durchbohrt, dessen freigelegte Sprungfedern vor sich hin rosteten. Leere Tapisseriehaken klammerten sich an die Mauern, Verfärbungen der eingeschlagenen Holztäfelungen kündeten von verschwundenen Gemälden. Mehrere Räume waren so kahl, dass Isabelle nicht mehr erraten konnte, wozu sie früher einmal gedient hatten. In der Küche herrschte ein einziges Chaos, zerbeulte Kupferkessel, verbogene Pfannen und unzählige Scherben lagen über den Boden zerstreut.
Isabelle kehrte zur Treppe zurück, die in den ersten Stock führte. Oben angekommen horchte sie und meinte, ein Geräusch wahrzunehmen. Ja... Sie nahm ihre Suche wieder auf. Mehrere Räume reihten sich aneinander, Boudoirs, Schlafzimmer, kleine Salons, alle gleich trostlos, alle gleich kahl. Isabelle sah nun nicht mehr um sich, beschleunigte ihre Schritte, unwillkürlich vorangetrieben von dem Wunsch, auf Leben zu stoßen, in den wärmenden Strahl von Philippes Augen zu treten. Isabelle atmete auf, als sie Philippes Gestalt erblickte. Er befand sich in einem großen getäfelten Raum mit zwei Fenstern, von denen eines erblindet war. Auch dieser Raum stand leer, bis auf die Reste eines breiten Himmelbettes, vor dem Philippe stand. 180
Sie trat zu ihm. Seine Finger strichen leicht über eine Schnitzarbeit, die einmal den Kopfteil des Lagers verziert haben musste. »Hier drinnen wurden Ester und ich geboren«, sagte er. »O Philippe, es tut mir leid!«, stieß Isabelle aus und schüttelte den Kopf. »Das ganze Haus ...« »Ich hatte mir ausgemalt, wie es wäre, einmal auch meine Kinder in diesem Bett auf die Welt kommen zu sehen.« Sein Tonfall war nüchtern. Noch immer sah er sie nicht an. Isabelles Herz machte einen Sprung. Sie legte ihre Hand neben seine auf das Holz, so nahe, dass es nur einer kleinen, ganz kleinen Geste seiner Finger bedurfte, um sie zu berühren. »Wir werden ein neues Bett aufstellen lassen, ganz nach Ihren Vorstellungen«, sagte sie mit tiefer, weicher Stimme. »Wir werden das Haus neu möblieren, es beleben, die Scheiben ersetzen ... Wir haben dafür alle Zeit der Welt! Ein paar Monate, und alles wird wie verwandelt sein!« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts wird ersetzt werden. Und nichts ist ersetzbar. Nicht die Jahre, die mein Vater im Exil verbrachte. Nicht die Familie, die meine Schwester sich wünschte. Und nicht die Erinnerung an den ersten Schrei, den ich unter diesem Himmel ausstieß.« »Mein Gott, Philippe, Sie haben noch so viel!«, rief Isabelle aus. »Dieses Schloss, das Land, die Gräber Ihrer Ahnen ...«Sie schluckte und fuhr fort: »Auch ich habe einmal alles verloren, wissen Sie?« Ihre Stimme bebte leicht. Es war das erste Mal seit ihrer Beichte, dass sie vor Philippe auf das Thema ihrer Herkunft zurückkam. »Ich verlor alles an einem einzigen Tag. Das Haus meiner Kindheit. Es brannte nieder. Und mit ihm verschwanden die letzten Andenken, die ich von meiner Mutter besaß. Ein paar Stunden später verlor ich meine Familie. Meinen Vater. Meinen Bruder. Meine zwei Schwestern. Und dann ... dann verlor ich sogar meinen Namen.« Sie ließ den Kopf sinken. »Lass es uns versuchen, Philippe«, flüsterte sie. »Zusammen. Wir werden zusammen Neues erschaffen.« »Nein.« Er trat einen Schritt zurück. »Nicht unter diesen Umständen. Ich hatte vor, hier ein oder zwei Wochen mit Ihnen zu verbringen, doch das alles macht nun keinen Sinn mehr.« »Ein oder zwei Wochen?«, fragte Isabelle befremdet. »Nach dieser 180
langen Reise wollten Sie nur so kurze Zeit hierbleiben? Es ist unmöglich, in ein paar Tagen ...« »Ja, da gebe ich Ihnen recht. Auch werden Sie noch heute zurück nach Reims fahren und dort im Schutz der Stadt auf mich warten.« Isabelle protestierte. »Aber nein, weshalb sollte ich Sie hier alleine lassen? Es wird sich schon irgendwo ein Bett auftreiben lassen, ein paar Decken und Strohmatratzen, auf denen wir übernachten können.« »Sie werden genauso wenig hierbleiben, wie ich es tue, Madame.« Philippes Tonfall gefiel ihr nicht. »Was meinen Sie damit?« »Ich muss weiterreiten«, antwortete er. »Ich habe mein Ziel noch nicht erreicht.« Als sie nur verständnislos den Kopf schüttelte, rief er verärgert aus: »Fichtre, Madame, machen Sie es mir doch nicht so schwer! Man erwartet mich. In einer Woche spätestens bin ich wieder zurück.« Isabelle wurde heiß. »Man erwartet Sie?« Sie schnappte nach Luft. »Sie meinen, die ganze Reise haben wir nur unternommen, weil Sie erwartet werden? Eine Mission? Sie sind auf eine Mission geschickt worden?« Sie warf die Arme hoch. »Aber... aber weshalb haben Sie mich dann mitgenommen?« »Der Besuch auf Rochastre mit Ihnen war der ideale Vorwand, um Paris unauffällig zu verlassen.« »Ein Vorwand?«, schrie Isabelle auf. »Hören Sie zu, Madame, ich hatte keine Wahl. Gott weiß, dass ich Sie lieber in Paris gelassen hätte, aber...« »Ja. Ja, natürlich.« Isabelle schluckte. Nur nicht weinen jetzt, nur das nicht. »Natürlich wäre es für Sie viel leichter gewesen, mich nicht dabeizuhaben«, nickte sie, und die Gewalt, die sie sich antat,
verlieh ihrer Stimme einen spröden Klang. »Diese schwerfällige Kutsche muss Ihnen schrecklich im Weg gewesen sein.« »Verdammt, Madame«, rief Philippe irritiert, »hören Sie auf, sich ständig als Mittelpunkt zu betrachten! Hier geht es nicht um Sie oder um mich, hier geht es um weitaus mehr!« »Bien sür! Wie konnte ich das nur vergessen!«, lachte sie auf und spreizte die Finger. »Ihnen geht es doch immer um mehr, nicht wahr? Um Ihren Vater, um Ihre Ehre, um Anne, um den König, um Frankreich...! Aber nie... nie ...«Sie brachte ein zitterndes Lächeln 181
zustande und sagte heiser: »Nie um mich.« Sie sah ihn an. »Ich glaube, das tat es noch nie.« Philippe schüttelte den Kopf. »Sie wissen, dass das nicht stimmt!« »Wirklich nicht? Und weshalb haben Sie mich dann zur Frau genommen?« Sie trat an ihn heran, flüsterte: »Warum haben Sie mich geheiratet, Monsieur? Etwa, weil es Ihnen um mich ging?« Sein Blick flackerte - und der kleine Funke Hoffnung, der in den letzten Tagen in ihr aufgeglüht war, erlosch. »Na bitte!«, flüsterte sie noch. Dann drehte sie sich von ihm ab und ging zur Tür.
*
Julio rieb sich die Augen und stöhnte gereizt. Wieviel Uhr mochte es sein? Zwei? Höchstens drei? Gott, wie er diese schlaflosen Nächte hasste! Er zog den Vorhang seines Bettes zurück, um das Licht des Öl-lämpchens hereinzulassen, das immer auf einem kleinen Tisch neben seinem Bett stand, und richtete sich in seinen Kissen auf. Aus Erfahrung wusste er, dass sich der Schlaf nicht erzwingen ließ. Er entnahm dem Geheimfach seines Sekretärs die Briefe und öffnete das sorgfältig verschnürte Bündel. Es waren unverkennbar die Zeilen einer Frau: »Ich weiß nicht mehr, wann ich Ihre Wiederkehr erwarten kann, da sich ihr jeden Tag erneut Hindernisse entgegenstellen. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Ihre Abwesenheit mich dauert und ich diese Vertagung nur mit großer Ungeduld ertrage; und wenn Sie wüssten, wie heftig ich darunter leide, würde es Sie nicht unberührt lassen. Ich tue es so sehr in diesem Augenblick, dass mir die Kraft fehlt, lange zu schreiben und ich meiner Worte nicht mehr ganz mächtig bin. Ich bekomme fast jeden Tag Ihre Briefe, und ich weiß nicht, was passieren würde, wenn dem nicht so wäre. Schreiben Sie mir weiterhin so oft, da Sie mir Erleichterung verschaffen in dem Zustand, in dem ich mich befinde. Adieu, ich kann es nicht mehr ertragen. Sie wissen wehr wohl, was.« Julio legte den Brief auf die Bettdecke und glättete ihn zufrieden. Er fühlte, wie ihn Ruhe überkam. Sie brauchte ihn. Anne brauchte ihn! 181
Er stand auf, griff zu seinem Schreibzeug, das stets in der Nähe seines Bettes stand, und schrieb schwungvoll: »Ich würde mein Leben dafür geben, Sie wiederzusehen und Ihnen Kleinigkeiten zu sagen, die noch nie zuvor erdacht wurden ...« In dem Augenblick öffnete sich die Tür seines Schlafzimmers, und sein Leibdiener Bernouin erschien, einen mehrarmigen Leuchter in der Hand. »Oh, pardon, Eminenz ... Sie schlafen nicht?« Julio knurrte und verdeckte den begonnenen Brief. »Was ist los?« »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, doch Sie hatten befohlen, Sie zu wecken, egal wann ...« Julio richtete sich mit einem Ruck auf. »Ein Kurier? Ist ein Kurier eingetroffen?«, fragte er. Bernouin nickte. »Wer ist es? Kennen wir ihn?« »Es ist der Mann mit der Narbe, Monseigneur, er steht vor der Tür.« Bernouin zögerte sichtlich. Julio runzelte die Stirn.»Et alors?« »Es ist auch eine Frau in Männerkleidung dabei.« »Ah?«, fragte Julio überrascht. »Schick den Mann herein. Aber bring zuvor noch ein paar Kerzen.« Ein paar Minuten später war das Zimmer gut beleuchtet, und der Comte de Vigueil trat ein. »Eine dringende Nachricht, Monsieur?«, fragte Julio, nachdem er sich mit einem Blick vergewissert hatte, dass sie alleine waren. »Nicht direkt, Eminenz. Mehr ein Übergabebefehl, glaube ich.« Der Comte verneigte sich knapp und hielt ihm ein versiegeltes Kuvert hin. »Ein Übergabebefehl?«, fragte Julio mit hochgezogenen Brauen. Er betrachtete rätselnd den Brief und schob sich ein Kissen in den Rücken. Trotz der frühen Stunde fühlte er sich frisch und ausgeruht.
Das Schloss von Brühl, in dem Julio seit kurzem Zuflucht gefunden hatte, war bei seiner Ankunft voll möbliert und mit allem erdenklichen Komfort versehen gewesen. Julio hatte seinen Aufenthalt dem Kurfürsten von Köln, Maximilian Heinrich von Bayern-Leuchtenberg, zu verdanken, dem er einen Bittbrief geschickt hatte, in dem er um Asyl bat. Doch auch der Statthalter der spanischen Niederlande, der Erzherzog Leopold Wilhelm, hatte sich äußerst zuvorkommend gezeigt: Da Julio, um nach Brühl zu gelangen, feindliches Gebiet überqueren musste, hatte er den Erzherzog um einen 182
Pass gebeten. Dieser hatte mit den benötigten Papieren gleich eine spanische Ehrenkompanie mitgeschickt und Julio mit Salutschüssen empfangen, als dieser an Jülich vorbeizog. Als Italiener war Julio ein Liebhaber geistreicher Komödien, und die Ironie seiner Situation war ihm nicht entgangen: Mit Schimpf und Schande aus dem Land vertrieben, das ihm so viel verdankte, war er von seinen erbittertsten Feinden, Menschen, gegen die er seit Jahren Krieg führte, mit staatsmännischen Ehren behandelt worden. Als er seine Gedanken seinem vom Erzherzog mitgegebenen spanischen Begleiter mitteilte, hatte dieser ihn nur mit vollendeter Höflichkeit darauf hingewiesen, dass Spanien ihm etwas schuldig sei, wenn er Frankreich verlasse. Als Julio in Brühl ankam, zerschlagen und aufgewühlt trotz der Gelassenheit, die er sich bemühte auszustrahlen, und das vierflügelige, befestigte Schloss erblickte, seine tiefen Wassergräben, seine mittelalterliche Vierschrötigkeit, hatte er zum ersten Mal in zwei Monaten Luft geholt. Hier, so hatte er gewusst, würde er sich sicher fühlen. Und jetzt, seit nach und nach ein Teil der Möbel und Tapisserien, des Silbers und der Wäsche eintrudelten, die den Plünderungen in Paris entkommen waren, begann er aufzuleben. Julio schwenkte das versiegelte Kuvert in einer einladenden Geste. »Monsieur de Vigueil, nehmen Sie doch Platz.« Philippe setzte sich. »Ich danke für Ihre Zuvorkommenheit.« Inzwischen kannte Julio die direkte Art Vigueils, die leicht mit Ungehobeltheit verwechselt werden konnte. Er störte sich nicht mehr im gleichen Maße an ihr wie zu den Anfängen ihrer Bekanntschaft. Dieser Mann war seinem eigenen einschmeichelnden und jede Konfrontation vermeidenden Wesen zu fremd, als dass jemals Herzlichkeit zwischen ihnen hätte entstehen können. Doch Julio respektierte den Comte für dessen Ehrlichkeit. Wenn man keinen Anstoß daran nahm, war der Umgang mit ihm erleichternd einfach, besonders wenn man ihn mit dem der Condes, Orleans und auch Annes dieser Welt verglich. Vigueils überstürzte Heirat allerdings hatte er nicht gutheißen können. Natürlich hatte Julio sofort befürchtet, er hätte seinen besten Kurier an die Faurepas, also an die Gefolgschaft Condes verloren, und vorsorglich Maßnahmen getroffen. Selbstverständlich verfügte 182
er über viele Kuriere, die ihrerseits verschiedene Routen benutzten. Julio hatte seine Briefe eine Zeit lang doppelt verschickt, es vermieden, Vigueil Brisantes anzuvertrauen. Bisher allerdings hatte Julio weder Beweise für Vigueils Verrat noch für dessen Sinneswandel entdeckt. »Ich hörte, diesmal reisten Sie in Begleitung?« Vigueils Miene verfinsterte sich kaum merklich. »Meine Frau, Monseigneur. Die Königin bestand darauf, dass sie mich begleitet.« »Tatsächlich?«, fragte Julio, der sich immer mehr wunderte. »Wie charmant! Es fehlt mir hier bitter an weiblicher Gesellschaft. Es wird mir eine Freude sein, die Bekanntschaft der Comtesse zu machen! Ich hoffe, sie hat alles zu ihrer Zufriedenheit vorgefunden ...« Er deutete auf den Brief. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht sofort entlasse, damit auch Sie sich von Ihrem Ritt erholen. Ich werde versuchen, es kurz zu machen.« Er durchbrach das Siegel. Seine Augen flogen über das Papier - hielten inne, fingen erneut von vorne an, blieben an jedem Wort hängen ... Er fixierte sein Gegenüber - und begegnete dessen aufmerksamem Blick. »Sie wissen, weshalb Sie zu mir geschickt wurden, Monsieur de Vigueil?« »Ihre Majestät war der Meinung, dass Sie es mir am besten würden erklären können, Eminenz wahrscheinlich aus Vorsicht, falls mir auf dem Weg zu Ihnen etwas zustoßen sollte.« »Vorsicht...?«, entfuhr es Julio, doch sofort hatte er sich wieder im Griff. Erneut warf er einen Blick auf den Brief in seinen Händen. Keine schmeichelnden Worte diesmal, keine Bitte um einen Ratschlag. Nichts als ein Befehl. Also gut...
Er griff zu der kleinen Glocke, die auf einem Tisch neben seinem Bett bereitstand. »Bernouin! Mein Morgenmantel!« Kurze Zeit später stand er mit dem Comte vor der Truhe. Er holte eine Kassette hervor. Überreichte dem Comte einen filigranen Schlüssel. »Öffnen Sie.« Der Comte empfing zögernd den feinen Schlüssel, drehte ihn im Schloss, hob den Deckel der Kassette, warf einen Blick hinein ... Sein Adamsapfel hüpfte, seine Augen weiteten sich. 183
Julio ließ bedauernd seinen Blick über den gleißenden Inhalt schweifen. Das Schöne und Teure liebte er. Für Edelsteine hingegen empfand er eine regelrechte Passion. Er würde die Steine vermissen. Sein rechter Zeigefinger glitt über die geschliffenen Kanten, bewegte sie leicht und entfachte winzige Feuerwerke. Natürlich hatte Anne recht. Julio hatte die Juwelen während seiner überstürzten Abreise aus Paris mitgenommen in der Erwartung, dass die Königin und ihre Söhne ihm alsbald folgen würden. Leider hatten die Volksaufstände Louis und seine Mutter am Verlassen der Hauptstadt gehindert. Es war höchste Zeit, die Steine wieder nach Paris zu schicken. Schließlich würde Louis in ein paar Wochen seine Volljährigkeit feiern. Und dafür brauchte der König nun einmal die Kronjuwelen. Widerwillig schloss Julio die Truhe. Er sah den Comte an und verzog die Lippen, doch das Lächeln wollte ihm nicht ganz gelingen. »Ich hoffe, die Last ist nicht zu schwer für Sie.«
* »Madame, nehmen Sie doch noch etwas von diesem Rehragout. Die Leute hier haben eine ganz eigene Art, es zuzubereiten, ich kann es nur empfehlen!«, sagte Mazarin zuvorkommend. Isabelle, die seit ihrer Krankheit mit dem Essen nicht mehr auf Kriegsfuß stand und während ihrer Reise hauptsächlich von getrockneten Vorräten gelebt hatte, kam der Aufforderung gerne nach und ließ sich ihren Teller erneut füllen. »Sie haben recht. Das Essen ist vorzüglich«, antwortete sie. »Haben Sie Ihren Koch aus Paris mitgenommen?« »Er ist mir nachgekommen, ja«, lächelte Mazarin, nicht mehr ganz so herzlich wie vorhin. Isabelle war aufgefallen, dass Annes Minister auf das Thema seiner Flucht empfindlich reagierte, und es bereitete ihr ein diebisches Vergnügen, immer wieder darauf zurückzukommen. Warum auch nicht? Ihre Laune war nicht die beste. Sie hatte Philippe überredet, sie mitreiten zu lassen. In Männerkleidern und ohne Kutsche. Sie hatte Tage hoch auf einem Pferderücken verbracht, umgeben von finsteren Gestalten, von denen ihr 389
Mann eine der finstersten war. Ihre Schenkel waren wund gescheuert, ihre Sitzfläche ein einziger blauer Fleck, und sie hatte noch nicht mal mehr eine Zofe, bei der sie sich hätte ausweinen können, denn Perette war in Rochastre geblieben. Sie hatte gehofft, ihr Ziel würde all diese Strapazen wieder wettmachen, doch es stellte sich heraus, dass es ein zugiger alter Klotz war, dem das Wort Komfort fremd war. Dafür wurde es von diesem Italiener bewohnt, nach dessen Blut halb Frankreich lechzte und der so herzlich tat, als sei sie seine intime Freundin, wo er doch genau wusste, dass sie die Enkelin eines der Vasallen seines Feindes Conde war. Mazarin lächelte so mild wie Butter und machte dem Mundschenk Zeichen, Wein nachzufüllen. Isabelle warf dem ihr gegenüber sitzenden Philippe einen Blick zu, doch dieser hatte während des Essens kaum zwei Sätze aneinandergereiht. Er stocherte in sich gekehrt in dem zarten Fleisch herum. Zwar war er auch während der Reise extrem wortkarg gewesen, doch seit sie hier waren, schien er den Gebrauch seiner Zunge vollends zu vergessen. Er überließ es ihr, die Konversation aufrechtzuerhalten, was Isabelle zugegebenermaßen etwas schwerfiel, da sie keine Ahnung hatte, weshalb sie überhaupt hier waren und in dieser seltsamen Dreierintimität von Mazarin verköstigt wurden. Ein heller Klang ließ Isabelle aufsehen. Mazarin schlug mit dem Perlmuttgriff seines silbernen Messerchens auf sein Glas. »Ein Trinkspruch!«, kündigte er lächelnd an und hob sein Glas in Richtung Isabelles. »Für Sie, Madame! Auf eine glückliche Heimreise morgen! Ich heiße Sie willkommen im Rahmen der Treuen Seiner Majestät! Danke für Ihren Einsatz und die Opfer, die Sie und Ihr Mann unserem Frankreich bringen!«
Er trank auch Philippe zu, der sichtlich aus seinen Gedanken schreckte und reflexartig ebenfalls zum Glas griff. »Monsieur!«, strahlte Mazarin. Philippe runzelte die Stirn. »Ja, das finde ich auch«, sagte er. »Apropos, wissen Sie vielleicht, ob es Kichererbsenmehl in der Küche gibt?« Mazarins Glas schwankte bedrohlich auf dessen Gesichtshöhe. Isabelle warf sich zurück und lachte zum ersten Mal, seit sie abgereist waren, laut auf. Höchste Zeit, mit dem Wein aufzuhören. 184
Fünfzehn Man ist untröstlich, von seinen Feinden betrogen und von seinen Freunden verraten zu werden, aber von sich selbst lässt man es sich oft gefallen. Juni 1651
Vier Tage nach dem Essen mit Mazarin hatten Philippe, Isabelle und ihre Begleiter bereits wieder französischen Boden unter den Füßen. Philippe hatte beschlossen, diesmal einen direkteren Kurs als auf dem Hinweg einzuschlagen, und orientierte sie nach Südwesten, nachdem sie die Meuse bei Charleville und Mezieres überquert hatten, um so bald wie möglich Rethel zu erreichen. Sie drangen ein in das waldige, schroffe Gebiet der Ardennen. Die wenigen Wege, die das zerklüftete Land durchzogen und die mehr Pfade als Straßen waren, lagen meist verlassen da. Sie folgten dem Lauf der schnellen Gewässer, die sich zwischen die baumdichten Gebirgsrücken gezwängt hatten. Die kleine Truppe war an diesem Tag gerade einmal seit drei Stunden unterwegs, als es passierte: Isabelles Stute rutschte bei einer Furt auf einem Stein aus und stolperte. Isabelle gelang es, sich im Sattel zu halten, doch von dem Augenblick an lahmte das Tier. Philippe untersuchte das Pferd. Er zog ein sorgenvolles Gesicht, als er sich wieder in den Sattel schwang. »Die Stute hat ein Eisen verloren. Wir müssen einen Hufschmied oder ein neues Tier finden«, sagte er. »Einen Gaul werden wir nirgendwo kriegen.« Es war Branletout, ein Baske mit stämmigen Gliedmaßen und Pulververbrennungen im Gesicht und auf den Händen, der sich zu Wort meldete. »Zumindest keinen brauchbaren. Unsere Pferde sind zwar müde, aber sie sind gut. Ich bin sicher, dass so ziemlich alles, was einen Sattel tragen kann, im Umkreis von zweihundert Meilen beschlagnahmt worden ist.« »Also müssen wir ein Dorf aufsuchen«, schloss Philippe wenig erfreut. 184
Sie waren bisher, wo immer sie konnten, Siedlungen und selbst einzelnen Höfen ausgewichen. Auch hatten sie nicht die Hauptstrecke über Boulzicourt und Poix genommen, die sich an dem Flüsschen Vence orientierte, sondern die weniger benutzte, parallel verlaufende Strecke über Warnicourt. Für Vorräte hatten sie gesorgt, es gab also keinen Grund, die scheuen, hageren Anwohner anzusprechen, die sie ab und zu unter den Bäumen erblickten und die sofort das Weite suchten, wenn sie den gut bewaffneten Trupp sahen. Auch den Weg brauchten sie sich nicht zu erfragen. Philippe war die Strecke zwischen Paris und Brühl bereits ein paar Mal geritten und schien sich mühelos zurechtzufinden. Isabelle wusste noch immer nicht, weshalb sie diese Reise unternommen hatten, und inzwischen glaubte sie auch nicht mehr, dass sie es jemals erfahren würde. Mehr denn je fühlte sie sich wie ein Stück Ballast, und der jetzige Vorfall ließ sie noch deutlicher spüren, dass sie Philippe nur behinderte. Der erste Hof, den sie aufsuchten, um nach einem Hufschmied zu fragen, war verlassen und halb zerfallen, im nächsten prallten sie an einer Tür ab, aus der einzig ein rostiger und sichtbar zitternder Musketenlauf ragte. Immerhin gelang es Philippe, sich nach einigem Hin und Her den Weg zu einer Schmiede erklären zu lassen. »Ist nicht zu verfehlen«, sagte ihr unbekannter Helfer. »Müsst nur der Richtung von Le Piain folgen, ihr wisst schon, dem Dorf mit der Kirche, wo die Taubstummen alle hinrennen, weil sie auf'n Wunder hoffen.« Als der Trupp nach einer halben Stunde der Schmiede ansichtig wurde, ließ Philippe halten. Der Hof schien schon lange als Ablageplatz zu dienen. Die verbogene Kufe eines Schlittens ragte unter einem umgekippten Holzstoß hervor, der aufgeplatzte Eisenreifen einer Kutsche hatte einen rostigen Abdruck auf dem bröckelnden Lehm des Wohnhauses hinterlassen. Ein hölzerner Trog vor der Werkstatt quoll über vor Unrat und verströmte einen säuerlichen Geruch.
»Gottes Gruß, Messieurs!« Ein Mann mit rußigem Oberkörper und Lederschürze trat aus der Werkstatt. »Sind Sie der Schmied?«, fragte Philippe, nachdem er mit einem Blick den Zustand des Hofes aufgenommen hatte. 391
»Ouais, der bin ich«, antwortete der Mann. Seine Augen waren von einem intensiven Grün und wanderten unablässig von einem Reiter zum anderen. Misstrauen und Vorsicht und noch etwas, das Isabelle zu deuten schwerfiel, lagen auf seinen derben Zügen. »Paul Croutte mein Name. Schon lange keine Reisenden mehr gesehen. Was wollen Sie?« Philippe deutete auf Isabelles Stute. »Das Tier hier hat ein Eisen verloren. Können Sie das richten?« Crouttes Augen wanderten von der Stute zu Isabelle hinauf und blieben an ihr hängen. »Hmm. Klar kann ich das«, antwortete er langsam. Er rieb sich das stoppelige Kinn. »Haben Sie das Eisen dabei?« »Nein, es muss neu angepasst werden.« »Na ja, da wird's natürlich ein bisschen länger dauern.« Gedehnt fuhr der Schmied fort: »Muss erst das Feuer entfachen und warten, bis es heiß genug wird. Hoffe auch, ich find alles, was ich brauch. Ist alles ein bisschen in Unordnung geraten in letzter Zeit. Hab schon lang keinen Lehrling mehr, der hier mal aufräumen würde.« »Und was ist mit dem Burschen?«, fragte Philippe und deutete auf eine schmale Gestalt, die Isabelle bisher nicht ausgemacht hatte und die sich kaum von dem Schatten des Schuppens abhob, in dem sie Schutz gesucht hatte. »Ach, der!«, meinte Croutte herablassend. »Der zählt nicht. Ein Dorftrottel aus dem Nachbarort, den sogar die Häscher der Armee nicht gewollt haben. Streunt hier rum und bettelt.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich lass ihn halt. Bin ja auch kein Unmensch.« Er lächelte, und wieder hefteten sich seine Augen auf Isabelle. Ein Druck entstand in ihrem Magen. Als Philippe ihr vom Pferd geholfen hatte, bemerkte sie, dass Croutte auch Philippe aufmerksam beobachtete. Ihr Mann schien ähnliches Misstrauen zu entwickeln. Während Croutte sein Feuer entfachte, ließ Philippe den Hof und die Gebäude gründlich von den Männern durchsuchen. Dann erst erlaubte er ihnen, Rast zu machen, jedoch nicht ohne vorher zwei Wachen aufgestellt zu haben. 1 85
Einigermaßen beruhigt ließ Isabelle sich neben Philippe im Schatten einer der Linden nieder, um ein Stück Schinken und eine Scheibe Brot zu verspeisen. Der starke Duft der blühenden Bäume stieg zu Kopf, das Summen der unzähligen Bienen im Geäst machte benommen. Sie sah sich suchend um. »Vermissen Sie etwas, Madame?«, fragte Philippe und bewies damit wieder einmal, dass ihm trotz seiner Einsilbigkeit nichts von dem entging, was um ihn herum passierte. »Ja, den Jungen, der sich vorhin vor uns verbarg. Er ist verschwunden. Ich hätte ihm gerne etwas von meinem Essen abgegeben.« »Das halte ich nicht für klug. Sie brauchen Ihre Kräfte für den Weiterritt. Wir haben Zeit verloren und werden nachher schneller vorankommen müssen. Es ist niemandem damit gedient, wenn Sie aus dem Sattel kippen.« Wie schon mehrere Male zuvor entnahm sie Philippes Worten, dass sie eine Last für ihn war, und sie antwortete gereizt. »Keine Sorge, ich kann auf mich aufpassen. Oder hatten Sie bisher irgendeinen Grund zur Beanstandung?« »Nein.« Philippe sah sie ernst an. Er hatte seinen Hut, seine Jacke und den halbmondförmigen Sack mit dem Proviant abgelegt und sich gegen den Stamm der Linde gelehnt. »Nein, das habe ich nicht. Sie haben sich als vollwertiges Mitglied unseres Reisetrupps erwiesen, Madame. Schon lange wollte ich Ihnen das sagen.« Isabelle sah forschend in Philippes Gesicht. Weder Spott noch Wärme entdeckte sie darin, nur freundliche Sachlichkeit. »Wenn es so ist, so werden Sie mir wohl auch gestatten, selber über meinen Proviant zu verfügen und einem armen Teufel etwas zu schenken, ohne mich rechtfertigen zu müssen.« »Nein, das werde ich Ihnen nicht gestatten. Der Proviant ist abgezählt und erlaubt es uns, unabhängig zu bleiben. Jede Begegnung mit den Bewohnern wegen einer erneuten Bevorratung erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Überfalls.«
Isabelle schloss die Fäuste. »Es ist ein Gebot der Nächstenliebe zu teilen!« Sie deutete auf den Sack an seiner Seite. »Was sind Sie für ein Mensch, mit einer vollen Provianttasche an diesen Menschen vorbeizureiten? Haben Sie gestern nicht die geschälten Bäume gesehen? Die Leute hier essen Rinde und Wurzeln statt Brot!« 186
»Ja, und das werden Sie leider Gottes weiter tun, ob Sie ihnen nun eine Brotkruste hinwerfen oder nicht!«, sagte Philippe. Er erhob sich, ergriff seine Sachen. »Um es noch einmal ganz deutlich zu machen, Madame: Ich bin für diesen Trupp verantwortlich. Mein Wort gilt für alle, und alle, auch Sie, haben sich danach zu richten. Wenn ich sehe, dass Sie sich an diesem Sack vergreifen oder in sonstiger Weise meinen Befehlen zuwiderhandeln, werde ich auf Sie dieselben Regeln anwenden wie auf die anderen Männer auch.« Isabelle blitzte ihn wütend an. »Was soll das heißen? Wollen Sie mich vielleicht mit der lahmen Stute zurücklassen?« Philippe sah sie an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Zum Beispiel.« Er stülpte sich den Hut auf den Kopf. »Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich werde die Pferde tränken.« Isabelle eilte ihm nach. Plötzlich blieb Philippe stehen. »Still!« Sie verharrte, spähte an ihm vorbei und hielt die Luft an. Vor ihnen lagen die Gebäude des Schmiedes. Pferde und Männer drängten sich auf dem engen Platz - zu viele Pferde, viel zu viele Männer. »Wo ist euer Anführer?« Die Frage kam von einem Mann mit Degen und kurzen Beinen, die in roten Beinkleidern steckten. Seine Züge konnte Isabelle nicht erkennen, doch sie sah, dass er die Mündungen zweier Handfeuerwaffen auf Riquiers Brust gerichtet hielt. »Anführer?«, antwortete Riquier. »Na, der steht vor Ihnen. Was wollen Sie von mir?« Kurz darauf ging Riquier zu Boden, niedergestreckt von dem Kolben einer Muskete. »Erzähl mir keine Märchen, Crapule!«, fuhr der Anführer ihn an. Riquier antwortete mit einem mörderischen Blick und spuckte etwas Blutiges aus. Philippe drehte sich zu Isabelle um, legte einen Zeigefinger auf seinen Mund. Sie nickte. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie spähte nach vorne. »He, Schmied!«, wandte sich der Anführer der fremden Reiter nun an Paul Croutte, der unter dem Dach seiner Werkstatt stand, »du hast doch diesen Trottel zu mir geschickt, um mich zu holen! Fehlt jemand?« Der Schmied reckte den Hals und sah sich ausgiebig um. Er 186
nickte. »Ouais. Es fehlen die Frau in Männerkleidern und der Anführer mit der Narbe auf der Wange.« Er schwang ein bedrucktes Blatt. »Da, hier ist das Porträt, das ihr überall in der Gegend verteilt habt. Es ist dem Kerl wie aus dem Gesicht geschnitten! Sie brauchen doch nur die Pferde zu zählen! Zwei sind zu viel! Die können nicht weit sein!« Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und grinste. »Und, Monsieur de Villenard, wo bleibt meine Belohnung?« »Noch haben wir die beiden nicht«, knurrte der Angesprochene. Isabelle verengte die Augen, stieß erleichtert die Luft aus, versuchte dann, sich an Philippe vorbeizudrängen. Philippe packte sie derb und stieß sie zurück. »Was machst du da? Bleib hier!« »Es ist Sylvain de Villenard!«, zischte Isabelle. »Villenard gehört Louis de Conde, er hat ein Gut angrenzend an Noirlieu und war schon oft bei uns zu Besuch! Er und seine Frau waren auch im Februar bei unserem Fest anwesend. Wir haben nichts von ihm zu befürchten!« »Isabelle, dieser Villenard hat den Befehl, uns festzunehmen!« »Unsinn!«, flüsterte sie. »Er wird Befehl haben, möglichst viele Kuriere aus Brühl anzuhalten, das ist alles! Einer mehr oder weniger wird keinen Unterschied machen. Er wird sich entschuldigen und uns ziehen lassen, wenn er mich erkennt!« »Das wird er nicht, glaub mir!« »Er kann es sich nicht leisten, dem Herzog de Faurepas einen Affront zuzufügen!« Sie berührte Philippes Arm. »Hab Vertrauen! Ich regele das!« Philippe nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Isabelle, ich kann dir nicht erzählen, weshalb, aber wenn du da jetzt rausgehst, vernichtest du alles, wofür wir seit zwei Wochen kämpfen!« Noch immer hielt er sie fest. »Dieses eine Mal, Isabelle! Dieses eine Mal bitte ich dich nachzugeben!«
Sie atmete schnell. Langsam löste Philippe seine Umklammerung und gab sie frei, verfolgte jedoch jede ihrer Bewegungen. Sie holte Luft und sah zu ihm auf. Er verstand sie nicht. Wie sollte er auch? Er war zum Mann geworden in einem Land j enseits des Mittelmeers, und hatte sich nie auf etwas anderes als seine Kraft verlassen können, um voranzukommen. Er wusste nichts mehr von den 187
Verflechtungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte zwischen den Geschlechtern gebildet hatten. Philippes Lebensweg, die Verfemung seiner Familie hatten ihn aus dem Netz herauskatapultiert, die dem Sprössling einer Adelsfamilie Stütze und Verpflichtung zugleich waren. Helenus hätte nie seine Verbindung mit den Condes geleugnet. Und jemand wie Villenard nie seine Abhängigkeit von den Faurepas. Isabelle schenkte Philippe ein beruhigendes Lächeln. Dann trat sie aus dem Schutz der Bäume. »Da!«, rief der Schmied. »Dort drüben steht sie! Und hinter ihr ist der Mann!« »Congy, Torailles, Boiteux, la Gravelle, ergreift sie!«, befahl Villenard. »Aber ...«, rief Isabelle und trat einen weiteren Schritt vor. In dem Augenblick wurde sie von ihrem fluchenden Mann zurückgerissen. »Bei allen Feuern der Hölle, Madame, können Sie nicht einmal tun, was ich Ihnen sage?« Sie wehrte sich, schimpfte. »Lass mich los! Ich weiß, was ich ...« »Lasst sie nicht entkommen! Aber schießt nur, wenn es nötig ist!« Eine Kugel zischte hoch über Isabelles und Philippes Köpfen durch das Blattwerk. »Sind Sie jetzt überzeugt?«, fuhr Philippe sie an. Sie bevorzugte es, nicht zu antworten, und lief los, so schnell ihre Beine sie trugen. Sie liefen den Bach entlang, mit ausgestreckten Händen, um ihre Gesichter vor den peitschenden Zweigen zu schützen, rutschten auf bemoosten Steinen aus. Isabelle fiel. Sie wurde von Philippe wieder hochgezogen. »Es gibt dieses Dorf bachabwärts. Le Piain. Groß genug, um eventuell Pferde zu haben. Wahrscheinlich sind es noch ein oder zwei Meilen bis dahin. Glaubst du, du schaffst es?« Sie biss sich auf die Lippen, nickte, zu sehr außer Atem, um zu reden. Sie sprangen in das seichte Wasser und hasteten weiter. Leider machten sie dabei viel Lärm und waren nun auch gut sichtbar, doch sie gewannen einen Vorsprung, da sich ihnen weniger Hinder 187
nisse in den Weg stellten. Das Kiesbett des Baches bot einen festen Untergrund, und wenn Isabelle auf größeren Steinen ausrutschte, zog Philippe sie mit sich hinweg. Ihre Stiefel schlugen das Wasser hoch. Bald waren sie bis über die Hüften durchnässt. »Da! Die ersten Häuser!« Philippe drückte sie. »Wir haben es geschafft!« Isabelle sah hoch. Tatsächlich ... Hinter einer leichten Krümmung des Bachs lugten einen Handvoll Häuser hervor. Ein Weg führte jenseits des Ufersaums darauf zu, über eine morsche Brücke. Plötzlich verengten sich Philippes Augen. »Unter die Brücke, schnell!«, zischte er. Isabelle erhaschte gerade noch einen Blick auf einen größeren Trupp Reiter, der eine Staubwolke auf dem Weg aufwirbelte, bevor sie von Philippe unter die morsche Brücke gezerrt wurde. Ein paar Sekunden später hörten sie die Pferde schnauben, als Vil-lenards Stimme befahl zu halten. »Teilt euch in Gruppen auf. Drei Männer jeweils, und durchsucht jedes Haus, jedes, hört ihr, und geht dabei nicht zimperlich vor! Dieser Vigueil und seine Frau können nicht weit sein!« Isabelle biss auf ihre Lippe. Villenard wusste sehr wohl, dass er eine Faurepas verfolgte! Sie fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden, und senkte den Kopf. Villenard lenkte sein Pferd auf die Brücke, wahrscheinlich, weil sie etwas gewölbt war und er so einen besseren Überblick hatte. Moos, Steinchen und Schlammbröckchen rieselten durch die Spalten zwischen den Brettern auf Isabelle und Philippe herab. Isabelle drängte sich näher an ihren Mann, um noch weiter mit dem Schatten der Brücke zu verschmelzen. Er legte einen Arm um sie und drückte sie an sich, so dass sie sein Herz schlagen spürte. Sie kauerten sich beide tief in den stinkenden Schlamm, der unter der Brücke lagerte, scheuchten Tausendfüßler und Asseln auf. Was war es, das sie verriet? Ein Sonnenstrahl, der sich durch die morschen Planken stahl und Isabelles helles Haar aufleuchten ließ? Eine gestörte Wasserratte? Isabelle stieß einen hellen Schrei aus, als einer von Villenards Männern plötzlich rief: »Ich sehe sie! Sie sind da, Monseigneur! Direkt unter Ihnen!« Im selben Augenblick ergriff Philippe Isabelles Hand und zog sie 187
weiter. Das Pferd auf der Brücke erschrak, wieherte schrill und bäumte sich auf. Ein Poltern, ein Krachen ... Als Isabelle einen Blick über ihre Schultern zurückwarf, sah sie, dass das Pferd mit einem Vorderhuf eingebrochen war und sich wie wild gebärdete. Villenard hatte größte Mühe, sich im Sattel zu halten, und brüllte: »Fasst die beiden! Bringt sie mir!« Philippe und Isabelle kletterten aus dem Bach, der nun keinen Schutz mehr bot. Sie hasteten blindlings durch die unbekannten Gassen. »Da, die Kirche!« Isabelle hatte gerade noch Zeit, einen Blick auf das gedrungene sakrale Gebäude zu erhaschen, das unvermutet aus dem Wirrwarr der kleinen Häuschen wuchs, da stürmte Philippe auch schon darauf zu. Isabelle erkannte, weshalb: Das Tor hatte sich gerade geöffnet, um einem Geistlichen Platz zu machen. Im Nu hatte Philippe den Mann weggedrängt. Sie rannten in die Kirche und schlugen das klobige Eingangsportal hinter sich zu. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die mächtigen Riegel vor die mit Metallstreben verstärkte Tür zu schieben. Sie sahen sich um. »Eh bien, jetzt weiß ich auch, warum sie hier so solide gebaut haben. Das ist keine Kirche, das ist eine Schatztruhe!«, sagte Philippe. Mit hölzernen Ähren und Früchten grob verzierte Truhen, Geräte für die Landarbeit, mehrere Stoffballen, gegerbte Häute, Fässer verschiedener Größen, Geschirr aus Zinn und ein Waschzuber ruhten auf dem ausgetretenen Steinboden. »Die Dörfler haben hier ihren ganzen Besitz versteckt!«, staunte Isabelle und trat zu einem Dutzend Säcken. »Hier, Korn! Das ist die Wintersaat!« Sie schüttelte den Kopf. »Sie scheinen überzeugt, dass Plünderer die Kirche verschonen würden!« »Weil sie an Wunder glauben. Schau her!« Er zeigte auf eine Öffnung im Boden, in die ein paar Stufen führten. »Da unten ist die Pierre des Murmures. Sie zieht regelmäßig Pilger an. Meine Mutter erzählte mir davon. Man verehrt sie, weil sie schon viele Taube geheilt hat.« Er sah sich um, als ein heftiges Rütteln am Haupttor laut wurde. »Keine Sorge, Belle, die Dörfler haben nicht ohne Grund ihre Sachen hier versteckt. Sie haben dem Wunder nachgeholfen, indem 188
sie alle Öffnungen bestens bewehrt haben. Schau, die eisernen Querstreben an den Fenstern. Hier kommt keiner so schnell rein.« Es klirrte. »Sie schlagen die Scheiben ein!«, rief Isabelle. Sie hob die Arme, als ein bunter Splitterregen auf sie niederging. Philippe zog sie an sich, drückte sie auf die Knie und zog ein festes Stück Leder über sie beide. »Es ist bald vorbei.« Stimmen drangen durch die beschädigten Fenster bis zu ihnen durch. »Rammt die Tür ein!« Isabelle schnaubte. Das war Villenards Stimme. »Monseigneur! Ach, Monseigneur, unsere Kirche!«, fuhr jemand jammernd dazwischen. »Wie kommt man hier rein? Rede, Mann!« »Durch die Tür! Es gibt keinen andern Weg, Monseigneur!« »Wie ihr wollt! Torailles, Beffu und ihr fünf da drüben, werft die Fackeln, wenn ihr alle Fenster eingeschlagen habt!« »Aber Monseigneur ...« Das Gejammer wurde von dem Geräusch nun allseits berstender Fenster übertönt. Schon landete der erste Brandsatz auf dem Steinboden. Philippe ergriff das Leder, das ihn und Isabelle schützte, und erstickte damit die Flammen. Eine weitere Fackel wurde hineingeschleudert, dann noch eine ... Isabelle und Philippe taten ihr Bestes, hetzten umher, versuchten zu löschen. Doch dann wurde das Lager getroffen. Wieder sprang Philippe hinzu, doch zu spät. Einer der Säcke explodierte förmlich und zwang ihn, zwei Schritte zurückzuspringen. Das Feuer entwickelte sich rasend schnell. Isabelle packte Philippes Arm und schrie: »Die Tür!« Durch die Explosion waren mehrere brennende Fässer ins Rollen geraten. Sie prallten gegen den Eingang. Der Fluchtweg war versperrt. Isabelle und Philippe sahen sich stumm an. Angst schnürte Isabelle die Kehle zu. Konfuse Bilder, längst verdrängte Erinnerungen steigen in ihr auf. Hatte sie das alles nicht schon einmal erlebt? Ihr Vater, der im Nachthemd nach ihr und ihren Schwestern suchte. Fleurent, der irgendetwas nach draußen schleppte. Innocente, die schrie, weil ihr Kissen Feuer fing.
Isabelle kreischte, als ein Funke auf ihre Hosen flog. Er erlosch sofort, da ihre Kleidung noch nass vom ihrer Flucht im Bach war. 189
»Wir müssen runter!«, schrie Philippe, der ebenfalls hustete. Er wies auf die dunkle Öffnung, die zur Pierre des Murmures führte. Isabelle schüttelte heftig den Kopf. »Nein!«, schluchzte sie. »Ich will nicht in einem Loch verbrennen!« Er packte ihre Schultern. »Du wirst nicht verbrennen. Unsere Kleidung ist nass! Wir schaffen das!«, brüllte Philippe, umklammerte sie - und sprang mitten in die Flammen auf die Öffnung zu.
*
Als Isabelle aus ihrer Erstarrung wieder zu sich kam, fiel ihr als Erstes ein unschönes, rhythmisches Geräusch auf. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass es ihre Zähne waren, die aufei-nanderschlugen. Sie krümmte sich zusammen und hustete, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Eine Hand griff nach ihr. »Ruhig, ganz ruhig! Wir sind vorerst in Sicherheit.« »Wo sind wir?«, keuchte sie und versuchte, sich umzusehen. »Beim Wunderstein.« Mit Beklemmung erkannte Isabelle, dass Philippe und sie in einem Loch steckten, das kaum mehr als drei Menschen Platz bieten konnte. Es war mit von unzähligen Händen polierten Steinen ausgekleidet. Eine lateinische Schrift war über ihrem Kopf in die Wand gemeißelt. Sie konnte sie nicht entziffern, dafür war es zu dunkel. Die einzige Helligkeit spendete das Inferno, das sein bedrohliches Glühen zu ihnen hinunterschickte. Sechs Stufen trennten sie davon. Die Hitze war kaum zu ertragen. Sie wandte sich Philippe zu, keuchte: »Was machst du da?« »Das ist die Pierre des Murmures, der murmelnde Stein. Die spitz zulaufende Aussparung, die du in ihm siehst, hat genau die Größe eines Kopfes. Menschen, die hierhin kommen, knien davor nieder und stecken ihren Kopf so hinein, dass ihre Ohren den Stein rechts und links berühren. Man sagt, sie würden dann von ihrer Taubheit geheilt.« »Es wird mir ein großer Trost sein, nicht eine taube, sondern nur eine verbrannte Leiche zu sein, wenn man mich hier findet!«, keuchte Isabelle, die erneut von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. 189
»Versuch es! Steck deinen Kopf in den Stein! Ich habe es auch getan!« Sie starrte ihn entgeistert an. Zu zerschlagen, um zu protestieren, gehorchte sie - und hielt inne. Sie hörte deutlich ein Glucksen. »Wasser!«, rief sie. »Du hast das Geheimnis der Pierre des Murmures entdeckt.« Philippe half Isabelle hoch. »Nur jemand, der gut hören kann, kann das Murmeln wahrnehmen und das Wunder erfahren.« »Es gibt Wasser hinter dieser Mauer?« »So ist es.« Philippe nickte grimmig. Rußpartikel flogen aus seinem Haar, während er die Fugen des Wundersteines mit seinem Messer bearbeitete. »Und wo Wasser ist, wird auch Luft sein, vielleicht sogar ein unterirdischer Gang ...« »Das schaffen wir nicht! Der Stein sitzt zu fest!« Philippe schüttelte den Kopf. »Es gibt leichte Schleifspuren am Boden. Der Stein wird ab und zu bewegt. Ich muss nur noch herausfinden, wie.« Ein paar Minuten später war es so weit. Isabelle hielt den Atem an, als der Stein leicht knirschend nach links kippte - und stieß einen Schrei aus, als fast im selben Augenblick über ihnen ein schreckliches Krachen ertönte. Der Boden zitterte merklich. Philippe sah nicht hoch. »Das Dach ist heruntergekommen.« Isabelle wollte erneut schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Sie tastete blind nach Philippes Arm, wurde ergriffen und fortgerissen. Absolute Dunkelheit und Feuchte um sie herum, herrliche Kühle, ein Plätschern und Tröpfchen, die immer wieder ihre Haut bespritzten - sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass Philippe sie bis zur Brust in die Öffnung geschoben hatte, die die Pierre des Murmures hinterlassen hatte. Das Wasser plätscherte zwei Handbreit unter ihr vorbei. Es war vielleicht einen Finger tief und eine halbe Armlänge breit und eingefasst mit glitschigen Steinen. Neben Isabelle waren eiserne Ringe im Mauerwerk befestigt, an denen etwas hing. Tastend erkannte Isabelle, dass es sich um verschiedene Vorrichtungen handelte, die Geräusche erzeugten, wenn man sie in das Rinnsaal
hängte. Das erklärte auch, weshalb der Stein beweglich war. Hier hatte jemand für sehr handfeste Wunder gesorgt. 190
Isabelle legte ihre Hände zusammen, trank gierig. Dann kroch sie zurück, um Philippe Platz zu machen. »Leider ist das Loch zu klein, um einen Ausweg zu bieten.« Philippes Stimme klang angestrengt und heiser, seine Lippen und Augenlider waren geschwollen. »Doch die Luft wird uns helfen, das hier unten durchzustehen. Wir sollten unsere Kleidung nässen, um die Hitze abzuwehren, und immer abwechselnd eine Zeit lang da drinnen atmen.« Isabelle nickte. Sie hatte die Augen zu Schlitzen verengt, um sie zu schützen, und vermied es, den Mund zu öffnen. Philippe reichte ihr ein nasses Tuch, und Isabelle legte es sich auf das Gesicht. Sie verfiel in eine Art Starre, aus der sie nur erwachte, wenn einer der schrecklichen Hustenanfälle sie schüttelte. Ihr ganzer Körper glühte, all ihre Glieder waren geschwollen und schmerzten, in ihren Schläfen pochte es. Jede Bewegung war eine Qual, und wahrscheinlich hätte sie sich irgendwann völlig ihrer Lethargie hingegeben, wenn Philippe nicht gewesen wäre, der sie immer wieder mit zäher Geduld zwang, zur Öffnung zu kriechen, sich nass zu machen und zu atmen. Sie musste eingeschlafen sein, erwachte eng zusammengerollt in einer Ecke. Der Lärm über ihnen war einer knisternden Stille gewichen. Und die Luft war längst nicht mehr so heiß. Als sie sich mühsam aufsetzte und dabei ein kleines Geräusch verursachte, erschallte Philippes Stimme. »Belle? Bist du wach?« »Ja«, gelang es ihr nach ein paar vergeblichen Versuchen zu krächzen. »Ist es vorbei?« »Wir haben es überstanden.« Er klang hellwach und zufrieden. »Können wir rausgehen?« »In ein bis zwei Stunden. Bei Morgengrauen.« Isabelle zog ihre Füße unter sich. Mein Gott, hatten sie wirklich einen ganzen Nachmittag und eine Nacht in diesem Loch gehockt? »Glaubst du, dass sie weg sind?«, fragte Isabelle nach einer Weile. »O ja, das sind sie. Niemand wird glauben, dass wir das überlebt haben.« Philippe lachte leise und schloss hochzufrieden: »Wir sind das wahre Wunder von Le Piain, Belle.« »Du hast es gewusst«, sagte sie staunend. »Wie ist das möglich? Du warst doch auch noch nie in dieser Kirche! Du kanntest dieses Loch doch nicht!« 190
»Ich weiß es seit vielen Jahren, Isabelle. Es ist mir nicht bestimmt zu sterben. Manchmal ... Manchmal habe ich es schon als Fluch empfunden.« Er lachte erneut, doch diesmal war es ein Lachen, das Isabelle nicht behagte. »Habe ich dir erzählt, dass ich einmal von einem sinkenden Schiff in die Tiefe gerissen wurde? Ich war daran angekettet, so wie meine Mitgefangenen auch.« »Angekettet...?« »Ich habe als Einziger von ihnen überlebt. Danach wurde ich von der Mannschaft behandelt wie der Teufel selbst.« Wieder dieses Lachen. »Seit dem Tag weiß ich es. Ich weiß, dass ich so lange leben werde, bis ich die Sünde, die ich beging, als ich meinen Vater begleitete und meine Mutter ohne Schutz zurückließ, gesühnt habe.« Isabelle schluckte, und es tat weh. »Ja«, fuhr Philippe fort. »Ich werde alles überleben. Bis zu dem Tag, an dem ich den Mann bestrafe, der uns verraten hat.«
* Sie hatten Mühe, aus der Kirche zu kommen. Das Tor hatte seine Holzfüllung verloren, doch seine verbogenen metallenen Verstrebungen hatten standgehalten. Schließlich kletterten sie durch ein Fenster, dessen verformte Gitter nur noch lose in der Laibung hingen. Die allererste Morgendämmerung ließ sie ihre Umgebung mehr erahnen als sehen. Sie hatten keine fünf Schritte gemacht, als Isabelle gegen etwas stieß und ein lautes, hölzernes Scheppern verursachte. Ein Wasserschwall kippte über ihre Stiefel. Sie schrie leise auf, als eine menschliche Gestalt plötzlich vor ihr aus dem Boden wuchs. »Wer ist da?«, rief eine raue Stimme. Isabelle antwortete nicht. Mit Schrecken sah sie eine zweite Gestalt sich vom Boden erheben, eine dritte ... Philippe zog Isabelle hastig ein paar Schritte zurück, doch zu spät: Schon waren sie von zwei Dutzend Männern umringt.
»Ein Feuer! Macht mal jemand Feuer? He, Plantin, komm mal rüber!«, rief die erste Gestalt, ein Mann in Kittel und Holzschuhen, wie Isabelle inzwischen zu erkennen glaubte. »Hier sind zwei Kerle aufgetaucht...« 191
»Zwei Kerle?«, rief es von rechts. »Soldaten?« Isabelle spürte Philippes Händedruck. »Es sind nicht Villenards Männer«, raunte er an ihr Ohr. Sie nickte. Eine neue Stimme mischte sich ein. »Wenn's Soldaten sind, so gnade ihnen Gott!« »Wir sind keine Soldaten«, stellte Philippe richtig. »Wir sind nur auf der Durchreise. Haben Sie vielleicht zwei Pferde zu verkaufen?« »Pferde, eh?«, knarrte es, und ein grelles, unangenehmes Lachen stieg in den Morgengrauen. »Habt ihr das gehört? Pferde ...!« Es wurde jede Minute heller. Inzwischen ahnte Isabelle, dass die Männer die Nacht bei der Kirche verbracht haben mussten, um zu verhüten, dass das Feuer auf die Nachbarhäuser übergriff. »Ich erkenne die beiden!«, donnerte es plötzlich von irgendwoher. Ein Mann mit unordentlichen Haaren und den verrußten Kleidern eines Geistlichen kam auf sie zu und richtete einen anklagenden Zeigefinger auf sie. »Der Mann da hat mich aus der Kirche gezogen, gerade als ich aus ihr rauskam! Er und die Frau sind das Paar, das die Soldaten suchten!« »Was?« »Unmöglich!« Isabelle hielt sich eng an Philippe. Diese ausgemergelten, geschwärzten Gesichter, diese zerlumpten Gestalten strahlten plötzlich eine Feindseligkeit aus, die ihr Angst machte. »Sie sind es, wenn ich's euch doch sage! Worauf wartet ihr? Packt sie!« Philippe gelang es, die ersten Angreifer abzuwehren, doch die Übermacht war zu groß. Wenige Minuten später waren Isabelle und Philippe überwältigt. Man fesselte ihnen die Hände mit einem Strick im Rücken. »Nach Bei Air mit ihnen!«, schrie ein schmächtiger Bauer mit zusammengewachsenen Brauen und hob eine dürre Faust in den ergrauenden Himmel. Er sah hasserfüllt in Philippes Augen. »Wegen euch ist alles verbrannt! Wegen euch werd ich nichts säen können! Wegen euch werden meine Kinder sterben! Aber wenigstens werdet ihr dafür bezahlen! Ab mit ihnen zu Villenard!« 191
»Nicht zu fassen! Es ist nicht zu fassen!« Villenard schüttelte den Kopf. Seine Hände hatte er auf die Hüften gestemmt. »Wie haben Sie das gemacht, Monsieur? Nicht einen Sou hätte ich auf Ihr Überleben gewettet!« Er strahlte über beide Ohren. Philippe hatte nicht vor, ihm über seine letzte Nacht Bericht zu erstatten, und begnügte sich, mit unbewegtem Gesicht geradeaus zu starren, auf eine Wand, die genauso vierschrötig war wie der befestigte, vierflügelige Hof mit Namen Bei Air, in den man ihn und Isabelle verschleppt hatte. Isabelle rieb ihre Handgelenke, auf denen rote Druckstellen prangten. Wenigstens ihr hatte man inzwischen die Fesseln abgenommen. Sie schnaubte verächtlich. »Es schmeichelt uns natürlich, die Ursache von so viel Freude zu sein«, mischte sie sich ein. »Und, um ganz offen zu reden, es beruhigt mich auch. Als wir uns gestern erblickten, überkam mich nämlich der Eindruck, ich hätte Sie verstimmt - vielleicht während des letzten Festes im Hotel de Noirlieu, an dem Sie mit Madame Ihrer Frau erschienen? Wie geht es eigentlich Ihren zwei Söhnen? Hatte Monsieur mein Großvater Ihren Jüngsten nicht bei Monsieur de la Rochefoucauld als Pagen empfohlen? Wie gefällt es ihm dort?« »Gut... sehr gut, Madame.« Villenards strahlendes Lächeln verlor etwas von seiner Natürlichkeit. »Man ist, wie man mir sagte, sehr zufrieden mit ihm.« »Ich bin mir dessen sicher. Schließlich hat er in Ihnen ein wunderbares Vorbild. Waren Sie selbst nicht vor fünfzehn Jahren bei meinem Großvater als Page angestellt? Sie werden Ihrem Sohn davon erzählt haben ... und ihm verdeutlicht haben, dass eine solche Zeit Verbindungen schafft, auf die man ein ganzes Leben lang bauen kann!« Philippe überkam Bewunderung für seine kampflustige Frau. Sie war meilenweit durch die Wälder gehetzt, hatte die ganze Nacht über Todesängste ausgestanden und eine Stunde gefesselt auf Pferderücken verbracht, hatte seit knapp vierundzwanzig Stunden kaum geschlafen und gegessen. Ihre Kleidung war schlammverkrustet, zerrissen, angesengt und rußverschmiert, ihr Haar wirr, ihre schwarzen Arme zerkratzt und ihr Gesicht so schmutzig, dass ihre Augen in hellem Grün leuchteten. Sie sah aus wie eine besonders he
192
runtergekommene Landstreicherin, doch sie brachte es fertig, den Mann vor sich wie einen ertappten Jungen erröten zu lassen. »Madame, ich ...«, stammelte Villenard unbeholfen, doch dann fiel sein Blick auf die Tür, und seine Züge hellten sich auf. »Ah, Monsieur!«, rief er aus, »da sind Sie ja! Schauen Sie, was die braven Dörfler von Le Piain uns geschickt haben!« Schritte ertönten, der Neuankömmling betrat den niedrigen, von schweren Balken durchzogenen Raum. »Sieh mal einer an! Monsieur und Madame de Vigueil! Wer hätte das gedacht?« Philippe entfuhr eine Geste der Überraschung. Branne! Was machte Isabelles Sekretär denn hier? In seinem Magen bewegte sich etwas, und es prickelte warnend auf seinem Nacken und seinem Rücken. Branne lachte schallend auf. »Quelle surprise! Und auf beiden Seiten, wie ich annehme! Was für eine gelungene Zusammenführung!« Er machte eine kleine Verbeugung vor Isabelle. »Enchante, Sie wiederzusehen, Madame!« Isabelle war kaum merklich zurückgewichen, als Branne erschienen war. Jetzt hob sie das Kinn, wie immer, wenn sie ihre Betroffenheit verheimlichen wollte. »Monsieur de Branne! Hat man Sie denn auch schon aus Paris geworfen, dass Sie sich hier verkriechen?« Ihre Stimme klang kalt, doch Philippe kannte sie gut genug, um ein kleines Flattern herauszuhören. »Keineswegs! Ich bin allein Ihretwegen hier!«, lächelte Branne. »Sie haben Paris so hastig verlassen, Madame, und ganz ohne mir au revoir zu sagen - ich war krank vor Sehnsucht! Gott sei Dank hatte Monsieur de Conde Verständnis für meinen Schmerz! Er war so freundlich, mir seine Hilfe anzubieten, und stellte mir die Presse zur Verfügung, die in seinem Palais untergebracht ist, um ein paar Porträts von Ihnen und Ihrem Mann anfertigen zu lassen, damit ich Sie schneller wiederfinde.« Er wandte sich Villenard zu. Auf einmal war sein Tonfall schneidend. »Monsieur, ich bin erschüttert zu sehen, dass Sie Madame de Vigueil bisher weder die Möglichkeit gegeben haben, sich zu säubern, noch ihr angemessene Kleidung zur Verfügung gestellt haben. Ich bitte Sie, das unverzüglich nachzuholen.« »Monsieur de Branne«, warf Villenard pikiert zurück, »ich hielt es 192
für wichtiger, dass die Gefangenen Ihnen als Erstes vorgestellt wurden. Das Wunder ihres Überlebens ...« »... haben sie ganz gewiss nicht Ihnen und Ihren Fähigkeiten zu verdanken«, unterbrach Branne. »Ihr gestriger Versuch, der Flüchtlinge habhaft zu werden, war äußerst stümperhaft, Villenard! Und wären die Dörfler nicht gewesen, wären ihnen die beiden heute erneut entwischt!« Villenard zuckte die Schultern. Seine Lippen waren nur noch ein hauchdünner Strich. »Bei allem Respekt, Monsieur, ich habe angenommen, Sie würden sich mehr für das interessieren, was die Gefangenen mit sich führten, als für die Sauberkeit ihrer Hände!« Brannes Gesicht blieb unbewegt. »Und was führten sie mit sich?« Villenard verzog spöttisch den Mund. »Ein paar Goldmünzen, ein paar Vorräte, mehrere Passierscheine.« »Sonst nichts?«, fragte Branne scharf. »Sonst nichts«, schloss Villenard, kaum verhalten triumphierend, und eine Flamme züngelte in seinem Blick. Philippe atmete vorsichtig die Luft aus, die sich in seinen Lungen gestaut hatte. Sonst nichts ...! Branne hatte recht, dieser Villenard war ein unfähiger Tropf. Und er hasste den Mann, der ihm offenbar aus einer Laune Condes heraus vor die Nase gesetzt worden war. Noch war nichts verloren. Branne baute sich vor Philippe auf. »Wo sind die Steine?« Philippe zog eine Braue hoch. »Die Steine, Branne?« »Die Edelsteine, die zu den Kronjuwelen gehören«, erklärte Branne mit scheinbarem Gleichmut. Isabelle hob ruckartig den Kopf. Philippe sah sie nicht an, sondern antwortete ruhig: »Sie haben es doch gehört. Ich habe keine Steine.« Branne spitzte den Mund. Seine Augen verengten sich. »Sie müssen die Juwelen bei Ihrer Entdeckung gestern Mittag mit sich geführt haben. Es war weder etwas in Ihrem Gepäck, Ihren Satteltaschen noch bei Ihren Männern zu finden.« Philippe lächelte leicht. »Weil es nichts zu finden gab. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie viele Boten zwischen Brühl und Paris zirkulieren? Vielleicht sollten Sie jemand anders fragen, ob er hat, was Sie suchen!«
193
Branne lächelte ebenfalls milde. »Ich werde die Juwelen finden, glauben Sie mir! Ich habe alle Mittel und alle Zeit der Welt, um es herauszukriegen!« Er legte den Kopf schief. »Aber ich habe Verständnis, wenn Sie sich zunächst etwas besinnen und in sich gehen wollen.« Er wandte sich ab. »Außerdem müssen Sie sich von Ihren Schmerzen erholen ...« Er wirbelte herum, noch bevor er seinen Satz beendet hatte. Philippe riss instinktiv an seinen Fesseln, doch zu spät. Brannes Faust schlug mit voller Wucht in seinen Magen. Philippe klappte zusammen, bekam aber noch Zeit, mit dem Kopf Brannes Nase zu erwischen. Der Sekretär schrie auf und holte nochmals mit der Faust aus. Diesmal traf er sein Gesicht. »Philippe!« Er konnte Isabelle nicht antworten, dafür fehlte ihm die Luft, doch er nickte, um sie zu beruhigen. Branne hatte ein Tuch auf seine Nase gepresst und beugte den Kopf zurück. Er richtete zwei eisblaue, tränende Augen auf ihn. »Sie suchen die Konfrontation, Vigueil? Nun gut, die können Sie haben. Sie werden mir schon noch verraten, wo sich die Steine befinden! Paris ist weit, Vigueil, und weit ist auch der König ...« Ein irres Funkeln erschien in seinem Blick. »Hier bestimme ich! Ich habe von Monsieur de Conde alle Vollmachten erhalten, um Sie zum Reden zu bringen! Und außerdem ...« Er lächelte verzerrt, trat an Isabelle heran und erfasste mit seinen blutverschmierten Fingern ihr Kinn.«... außerdem noch alles, was ich brauche, um mir die Zeit auf angenehmste Weise zu gestalten!« Brannes Lächeln wurde grausam. Einen schrecklichen Augenblick lang sah er aus, als wolle er sie ohrfeigen. Doch dann drehte er Isabelle den Rücken zu und machte den beiden Männern Zeichen, die an der Tür Wache schoben. »Führt die beiden ab! Ich kümmere mich später um sie!« Dann verließ er den Raum.
Sechzehn Es gibt ein Übermaß an Gutem und Schlimmem, das wir nicht mehr fahlen können. Juni 1651
»Ah, chère Isabelle! Treten Sie ein, nur keine Scheu! Und, wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich wohl in Bei Air? Das Haus ist nicht sehr komfortabel, doch ideal gelegen.« Branne breitete einladend einen Arm aus. »Wo möchten Sie sitzen? Da drüben vielleicht? Von dort aus können Sie besser den Blick auf die Blumen genießen.« Er lächelte. »Rittersporn. Etwas rustikal, das gebe ich zu, doch leider das Einzige, was ich auftreiben konnte. Ich hoffe, Sie verzeihen.« Isabelle trat mit langsamen Schritten näher. Sie sah sich kurz um. Besagter Rittersporn leuchtete aufdringlich blau aus einer riesigen Standvase. Offenbar waren es Brannes Privaträume, in die sie gerade gebracht worden war. Ein Bett und ein mit einem Linnen abgedeckter Waschzuber standen im Hintergrund, alles war aufgeräumt und sauber, die Möbel von derselben einfachen Machart wie in dem Zimmer, in dem sie bis vorhin hatte ausharren müssen. Vor dem einzigen, aber breiten Fenster war ein Tisch für zwei Personen gedeckt. Mehrere abgedeckte Schüsseln standen bereit. Sie verströmten Düfte, bei denen Isabelle das Wasser im Mund zusammenlief, ob sie wollte oder nicht. Hunger kannte keinen Stolz, das hatte sie schon als Kind gelernt, und ihre letzte richtige Mahlzeit lag inzwischen mehr als einen Tag zurück. »Es freut mich zu sehen, dass Ihnen das Kleid passt. Habe ich nicht ein erstaunliches Augenmaß? Ich habe es für Sie umnähen lassen -allein dem Gedächtnis nach.« Brannes anzügliches Lächeln ließ Isabelle bereits bereuen, das Kleid angezogen zu haben. Sie hatte lange gezögert, bevor sie das rosefarbene Kleid übergestreift hatte, auf dem Abnäher, die mit winzigen, dunkelroten Stoffblüten verziert waren, raffinierte Akzente 411
setzten. Der Ausschnitt war ihr zu freizügig, das Kleid zu kostspielig gewesen. Doch ihre eigenen Sachen waren kaum mehr als Lumpen zu nennen - scharf nach Rauch riechende und vor Schmutz starrende Lumpen, die mehr enthüllten als verdeckten. Also hatte sie ihre Vorbehalte hinuntergeschluckt und sich umgekleidet - und feststellen müssen, dass ihr das Kleid nicht nur ausgezeichnet stand, sondern auch noch exakt ihre Größe hatte. Branne half Isabelle in ihren Stuhl und nahm ihr gegenüber Platz. Dann schnippte er mit den Fingern. »Francette!« Eine Frau, die Isabelle bisher übersehen hatte, löste sich aus einer Ecke und trat herbei. »Sie kennen Francette bereits?«, fragte Branne und hielt der Frau sein leeres Glas hin. »Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit ihren Diensten?«
Isabelle nickte. »Ja, das bin ich.« Die schweigsame Frau, die ihrer Kleidung nach eine Bäuerin war, hatte Isabelle beim Waschen und Ankleiden geholfen. Doch obwohl sie fast eine Stunde denselben Raum geteilt hatten, hätte Isabelle nicht sagen können, wie die Frau aussah. Sie trug den Kopf stets gesenkt, ihre Züge verschwanden unter den weichen Borten ihrer zu großen Haube. Auch ihr Rücken war gebogen wie unter einer zu schweren Last, sodass sie kleiner anmutete als Isabelle, obwohl sie wahrscheinlich von gleichem Wuchs waren. »Wir haben Francette mit übernommen, als wir Bei Air beschlagnahmt haben. Das arme Ding hätte sonst nicht gewusst wohin.« Branne hob eine Braue. »Hat sie Ihnen ihr Gesicht gezeigt? Nein?« Er lockte mit dem Zeigefinger. »Komm her, Francette. Zeig Madame de Vigueil dein Naschen. Na komm schon, zier dich nicht.« Die junge Frau wandte den Kopf ab. Branne seufzte ungeduldig auf und riss ihr die Kopfbedeckung von den Haaren. Isabelle sog scharf die Luft ein. »Muss ein hübsches Ding gewesen sein, bevor Erlachs Soldaten ihre Messer an ihr gewetzt haben ...«, sagte Branne. Francette vergoss etwas von dem Wein, den sie gerade einschenkte. Isabelle senkte den Blick. Der Ruf des Schweizer Barons d'Erlach hatte selbst Paris erreicht. Er stand in Mazarins Diensten und war als einer der grausamsten Kriegsführer verschrien, die jemals durch die Champagne gezogen waren. 4i i
Branne warf Francette die Haube wieder hin. »Hier, zieh das an. Du verdirbst Madame de Vigueil sonst noch den Appetit.« Er lächelte Isabelle zu. »So, und nun lassen Sie es sich schmecken. Natürlich kommt es nicht an das heran, was unser guter Timoleon uns sonst kochte, doch einer meiner Männer ist recht geschickt im Umgang mit dem Rostspieß.« Isabelle überlegte kurz, ob sie dem Essen unbedenklich zusprechen konnte, und entschied dann, dass sie keine Wahl hatte. Sie musste bei Kräften bleiben, außerdem wollte sie herausfinden, wo Philippe war und wie es ihm ging. Sie kannte Brannes Grausamkeit, und die Sorge um ihren Mann hatte sie keine Minute zur Ruhe kommen lassen. Besser war, sich vorerst zu fügen. »Das klingt, als hätten Sie sich hier richtig häuslich eingerichtet«, spöttelte Isabelle. »Und ich dachte immer, Sie hassen das Landleben ...« »Ein notwendiges Übel, ma chère, und gewiss nicht für die Ewigkeit, da gebe ich Ihnen recht. Wenn wir hier fertig sind, werden wir selbstverständlich wieder nach Paris aufbrechen.« Branne lächelte. »Wenn es nicht überheblich klänge, würde ich sagen, dass ich dort händeringend erwartet werde.« »Tatsächlich ...«, murmelte Isabelle und ließ ihren Blick gelangweilt aus dem Fenster schweifen, denn sie wusste, dass Branne nichts so sehr hasste wie Geringschätzung. »Aber ja. Wissen Sie, dass Monsieur le Prince ein wirklich erstaunlicher und großer Mensch ist? Ich kenne keinen, der fähig ist, so schnell so schwerwiegende Entscheidungen zu treffen.« Branne schüttelte den Kopf. »Eine Stunde! Eine Stunde hat ihm ausgereicht, um sich zu überzeugen, dass ich der Richtige war, um das Kommando in dieser äußerst wichtigen Angelegenheit zu übernehmen! Mir, obwohl wir uns kaum kannten!« Brannes Augen strahlten vor Erregung und Selbstzufriedenheit. »Nun, Monsieur de Condé war schon immer für seine Risikobereitschaft berühmt«, lächelte Isabelle. »Doch Sie überraschen mich. Ich dachte, Monsieur de Villenard habe die Leitung.« Branne machte eine Geste, als wolle er eine Fliege verscheuchen. »Villenard? Villenard ist nur dabei, weil die dreißig Männer, die Monsieur le Prince mir mitgab, ihn kennen.« 413
»Oh. Wie umsichtig von Monsieur le Prince. Aber er hat natürlich recht, Ihre Unerfahrenheit zu berücksichtigen. Nicht jeder ist zum Anführer geboren, so groß seine sonstigen Qualitäten auch sein mögen.« Branne musterte sie scharf, legte dann seinen Löffel mit einer bedeutungsvollen Geste auf das Tischlinnen zurück. »Villenard ist ein Tropf, und das werde ich Monsieur le Prince auch sagen. Das nächste Mal wird es keinen Villenard geben, um mir über die Schulter zu schauen, oder ich stehe nicht mehr zur Verfügung.« »Sie wollen Louis de Conde Bedingungen stellen?«, fragte Isabelle ungläubig. »Warum nicht?«, fragte Branne kalt. »Ich kenne meinen Wert, und die Welt ist dabei, ihn kennenzulernen. Lange genug habe ich meine Zeit mit Schreibarbeiten vertan.«
Branne war aufgesprungen. »Aber apropos Schreibarbeit...«Auf einmal machte er einen ungeduldigen Eindruck. »Beenden Sie Ihr Mahl, Madame. Es ist Zeit, sich um wesentlichere Dinge zu kümmern.« Er winkte. »Räum ab, Francette, komm, beeil dich.« Isabelle erhob sich, auf der Hut vor dem, was nun kommen würde. Ihr Herz klopfte schnell, so sehr sie ihrer Fantasie auch verbot, sich auszumalen, was Branne nun vor ihr wollen könne. »Sie können gleich sitzen bleiben, Isabelle. Hier.« Branne legte mehrere Blätter, ein Tintenfasschen und eine Feder vor ihr ab. »Sie werden jetzt schreiben, was ich Ihnen diktiere.« Als er Isabelles misstrauischem Blick begegnete, lächelte er. »Ja, es ist ungewohnt, Madame la Comtesse, nicht wahr? Verkehrte Welt... Ich hoffe, Sie finden es genauso reizvoll wie ich.« Er tippte auf das Blatt. »Also hier schreiben Sie: Ich, Magdelaine Malvoy, Tochter des Bauern Cyprien Malvoy, gestehe ...« Isabelle runzelte die Stirn. »Was soll das?« »Oh, ist das nicht ersichtlich?«, lächelte Branne. »War ich zu schnell?« Isabelle schnellte von ihrem Stuhl hoch. »Das werde ich nicht schreiben!« »Aber ja!«, strahlte Branne. »Sie werden, glauben Sie mir.« Er hob die Stimme. »Bringt den Gefangenen herein!« Branne musste Isabelles Ablehnung vorhergesehen haben, denn 414
nur wenig später erschienen zwei Männer, die einen gefesselten Dritten in ihrer Mitte mitzerrten. Angeführt wurden sie von Villenard. »Hat er inzwischen geredet?«, fragte Branne. Villenard nickte kurz. »Er behauptet, die Steine lägen in der verbrannten Kirche. Er habe sie dort verloren, als der Brand sich plötzlich ausbreitete, und sie befänden sich irgendwo in der Asche.« »Hmm.« Branne zupfte an seiner Unterlippe. Er musterte Philippe mit verengten Augen, sagte dann hart: »Ich glaube ihm nicht.« Villenard drückte beleidigt den Rücken durch. »Die Erklärung ist nicht abwegig, Monsieur. Wir haben nichts an dem Mann gefunden.« Er nickte in Richtung von Isabelle. »Auch in der abgelegten Kleidung von Madame de Vigueil war nichts versteckt.« Isabelle warf ihm einen giftigen Blick zu, doch Villenard hatte sich schon wieder abgewandt. »Und seine Leute?«, hakte Branne nach. »Habt ihr sie wenigstens richtig durchsucht, bevor ihr sie so voreilig nach Paris zurückgeschickt habt?« Ein grausames Lächeln umspielte Villenards Lippen. »Wir haben sie gründlich durchsucht und sehr sorgfältig befragt.« Seine Nasenflügel blähten sich. »Sie werden in Paris vor Gericht gestellt werden unter der Anklage, dem flüchtigen Verräter Mazarin geholfen zu haben, und eventuellen Nachahmern ein abschreckendes Beispiel sein. Deshalb habe ich entschieden, sie in die Hauptstadt...« »Haben Sie sie wirklich gründlich durchsucht?«, unterbrach ihn Branne scharf. Villenards Augen flammten auf. »Ja«, schnappte er. Branne schüttelte den Kopf. »In Zukunft werden Sie keine eigenmächtigen Entscheidungen mehr treffen, Villenard. Diese Männer wegzuschicken war ein genauso großer Fehler wie die Kirche in Brand zu setzen!« Er kniff den Mund zusammen. »Sie hätten sie befragen sollen! Tag und Nacht, bis Sie eine Antwort bekommen hätten! Es ist verdammt noch mal nicht glaubwürdig, dass keiner von ihnen eine Ahnung davon gehabt haben soll, wo sich die Steine befinden!« Er schnaubte. »Egal. Le mal est fait. Und da Sie so sehr davon überzeugt sind, dass die Steine sich noch in der Kirche befinden, werden Sie dorthin reiten und danach suchen. Wir dürfen keine Spur außer 415
Acht lassen.« Er musterte Philippe. »Suchen Sie, Villenard, und suchen Sie gut. Bis heute Abend müssen Sie damit fertig sein.« Villenard schloss eine Faust. »Bis heute Abend, Monsieur? Aber das istunmö...« »Sie nehmen fünfundzwanzig Mann mit. Und Sie selber dürfen ruhig auch Hand anlegen. Sie müssen den Dörflern zuvorkommen, die gewiss schon jetzt in der Asche rumwühlen. Ich hoffe für Sie, Villenard, dass diese Dorftrottel noch nichts gefunden haben.« »Fünfundzwanzig? Da bleiben Ihnen doch nur...« »Ich werde bestens zurechtkommen. Danke für Ihre Anteilnahme«, antwortete Branne dünnlippig. Auf einmal spreizte er einen Arm in Richtung Tür ab und brüllte: »Und jetzt machen Sie endlich, dass Sie wegkommen! Und vergessen Sie diesmal nicht, Ihren Kopf mitzunehmen! Ich werde Sie persönlich vor Monsieur le Prince dafür verantwortlich machen, wenn wieder etwas schiefgeht!«
Villenards Gesicht wurde fleckig. Er hielt die Luft an, seine Augen funkelten vor Hass. Dann drehte er sich abrupt um und verließ ohne einen Gruß den Raum. Isabelle nutzte die Zeit, während der Branne ihm nachstarrte, um sich schnell Philippe zu nähern. Sie sah zu ihm auf, berührte sein schmutziges Hemd. Er sah müde aus, und er trug noch immer die zerfetzten Kleider ihrer Flucht. Außer der Verletzung an seiner Lippe, die Brannes Faust ihm zugefügt hatte, hatte er noch zwei weitere Schwellungen an der Stirn und über der linken Braue wahrscheinlich die Auswirkungen von Villenards Befragung. Dennoch leuchteten Philippes Augen, als er Isabelle erblickte. »Belle! Wie geht es dir?« Sein Blick lief über ihr Kleid, erfasste die Schüsseln, die Francette heraustrug, und die Papiere auf dem Tisch. Auf einmal wünschte Isabelle sich, sie würde noch ihre Lumpen tragen. »Es geht mir gut, Philippe. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« »Wie rührend!« Branne stellte sich dicht neben Isabelle. »Nein, wirklich: Für jemanden wie mich, der die Anfänge Ihrer Ehe mitverfolgt hat, ist es eine Freude zu beobachten, dass Sie inzwischen ein Herz und eine Seele sind!« Er lächelte fein. »Ich bewundere Sie, Monsieur. Nicht jeder hätte darüber hinwegsehen können, dass er ein 416
hübsches kleines Landei aus einem herzoglichen Gelege geklaubt hat!« Isabelle fühlte sich erröten, nicht, weil sie sich schämte, sondern weil Branne zum ersten Mal offen aussprach, was zwischen Philippe und ihr stand, seit sie ihm gebeichtet hatte, eine Malvoy zu sein. Wort für Wort erinnerte sie sich an die schreckliche Auseinandersetzung, die durch eine Ohrfeige und seine Flucht beendet worden war. »Weshalb geben Sie vor, blind zu sein, Branne? Jeder hätte über das Ei hinweggesehen.« Philippe lächelte mit einer Spur von Wehmut, während seine Augen auf Isabelle ruhten. »Sehen Sie es denn nicht? Dem Ei ist längst eine Königin entschlüpft!« Isabelle musste schlucken. Philippe schenkte ihr noch ein Lächeln, dann wandte er sich Branne zu. »Und Sie, Monsieur«, schloss er kalt, »würden nicht hier stehen, wenn Sie es nicht auch sähen.« »Machen Sie sich keine Hoffnungen, Vigueil«, warf Branne zurück. »Wenn ich hier bin, so alleine Ihretwegen. Und wenn Sie uns endlich verraten, wo Sie die Steine versteckt haben, werde ich schon in der nächsten Minute auf dem Weg nach Paris sein!« Er winkte. »Bringt ihn nach draußen, ihr beiden, und macht ihn gut fest.« »Philippe ...!«Isabelle wurde derb am Arm zurückgezogen. Philippe und seine Wächter verschwanden. »Sie bleiben hier. Sie sind noch nicht fertig.« Branne schubste sie in Richtung Tisch. »Setzen Sie sich und schreiben Sie.« »Das werde ich nicht tun!«, fauchte Isabelle und suchte Zuflucht auf der anderen Tischseite. Branne näherte sich ihr. Sie wich zurück - doch Branne stellte sich nur an das Fenster und öffnete es. »Gut, sehr gut«, rief er hinaus. »Ihr könnt dann gleich beginnen.« Er ließ das Fenster offen, drehte sich Isabelle wieder zu. »Möchten Sie einen Blick werfen? Es dürfte Sie interessieren ...« Isabelle behielt den Abstand bei. Ihr Puls lief schnell. Als sie unwillkürlich nach draußen sah, stockte ihr der Atem. Ihre weit aufgerissenen Augen erblickten zwei übermannshohe Pfähle, die in einem Abstand von zwei Schritten tief in den Boden des Innenhofes gerammt worden waren. Jeweils zwei kräftige Lederschnüre hingen an ihnen fest, eine oben, eine unten. Zwischen den Pfählen stand Philippe. Er wehrte sich nach Kräften - es waren inzwischen drei 417
Männer, die ihn hielten, und selbst sie hatten Mühe, ihn zu bändigen und seine Hände und Füße an die Lederriemen zu binden. Ein vierter Mann näherte sich. Er hatte etwas in der Hand ... »Nein!«, schrie Isabelle. »Nein! Das dürfen Sie nicht!« Philippe schrie zornig auf, als er endlich losgelassen wurde. Er hing nun mit gespreizten Armen und Beinen zwischen den Pfählen. »Zieht ihm das Hemd aus!«, rief Branne aus dem ersten Stockwerk herunter. Die Männer zückten ihre Messer, zerschnitten das zerfetzte Kleidungsstück-und hielten inne, als sie Philippes Rücken erblickten. Auch Isabelle stockte der Atem. Sie hatte Philippe nur einmal mit bloßem Oberkörper gesehen - an dem Abend, den sie zusammen in der Orangerie verbracht hatten. Bis heute war ihr nicht bewusst gewesen, dass das Licht der Öllämpchen eine so mildernde Wirkung gehabt hatte.
Auch Branne, der neben Isabelle stand, stieß einen Pfiff aus. »Eh bien, sieht aus, als sei uns bereits jemand zuvorgekommen«, sagte er gedehnt. Isabelle drehte sich der Magen um, als sie den Glanz in den eisblauen Augen wahrnahm. Sie keuchte, lief zum Tisch, ergriff mit zitternder Hand die Feder. »Was ...«, fragte sie heiser und benetzte sich die Lippen,«... was gibt mir die Sicherheit, dass Sie meinen Mann nicht umbringen, wenn ich geschrieben habe, was Sie wollen?« »Umbringen? Mon Dieu! Aber weshalb sollte ich? Ich habe doch nichts gegen Monsieur de Vigueil!« Vor Isabelles skeptischem Blick fügte er hinzu: »Außerdem will Monsieur de Conde ihn haben. Er braucht ihn als Zeugen, wenn er vor dem Parlament enthüllen wird, dass die Königin ihrem Geliebten Mazarin die französischen Kronjuwelen in die Hand gedrückt hat, bevor sie ihn ins Ausland schickte!« Branne lächelte. »Das wird einen hübschen Tumult geben bei diesen Messieurs, ich werde nicht versäumen, da zu sein. Annes Regentschaft dürfte diesen Skandal nicht überleben.« Er zuckte die Schultern. »Sie sehen also, meine Liebe, Ihr Mann ist uns allen wichtig.« Draußen ertönte ein schnelles, ein grausames Geräusch. Isabelle fuhr zusammen, als sei es ihr Rücken, der gerade getroffen worden wäre. Sie näherte die Feder dem Tintenfässchen. Hatte Mühe, die Öffnung zu finden, weil ihre Finger zitterten. Ein neues Geräusch. 418
Isabelles Feder hinterließ eine tiefschwarze Pfütze auf dem Papier. »Geben Sie sofort Befehl aufzuhören!«, schrie Isabelle. Sie knüllte das verunreinigte Papier zusammen, warf es in den Raum, schloss kurz die Augen und sagte dann mit gepresster, vor Anstrengung bebender Stimme: »Hören Sie, Branne, wenn Sie wirklich dieses Geständnis von mir wollen, müssen Sie Befehl geben, mit dieser Barbarei da draußen aufzuhören. Sie sehen doch, dass ich so kein Wort schreiben kann.« Branne spitzte die Lippen, lehnte sich dann aus dem Fenster. »Haltet an da unten! Wartet einen Augenblick.« Dann drehte er sich zurück und öffnete spöttisch die Hände. »Bitte sehr, Madame. Es dürfte nun genug Rücksicht auf Ihre Empfindlichkeit genommen worden sein. Und jetzt schreiben Sie: Ich, Magdelaine ...«
* Isabelle lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen. Sie fühlte sich völlig erschöpft. Noch war ihr nicht klar, was das, was sie gerade geschrieben hatte, für Konsequenzen haben würde, für sie, für ihre Familie, für ihr Leben. Sie fühlte sich nackt und wehrlos und völlig ausgeliefert. Ihr war kalt, obwohl der Raum so warm von der einstrahlenden Sonne war, dass sie Schweißperlen auf der Stirn hatte. Es war eine innere Kälte, die sie verspürte, eine Kälte, die ihren ganzen Körper auf kaum wahrnehmbare Weise beben ließ. Mein Gott, dachte sie, und ihre Erschöpfung verwandelte die Angst, die sie eigentlich hätte empfinden müssen, in grenzenloses Staunen. Ich habe ihm alles erzählt. Jede Einzelheit. Ich habe mein ganzes Leben vor ihm ausgebreitet. Ich muss verrückt sein. Sie sah sich um. Sie brauchte dringend etwas zu trinken. Als sie aufstand, merkte sie, dass sie alleine war, jedoch eine Wache vor der Tür stand. Natürlich. Branne hatte das Geständnis in Sicherheit gebracht. Er war schon immer sehr gewissenhaft gewesen, was seine Arbeit betraf. Sie schenkte sich etwas Wasser ein. Der irdene Krug war schlecht lasiert und knirschte unangenehm an ihrem Zinnbecher. Die kostbaren Gläser hatte die verstümmelte Francette mitgenommen. Isabelle trank mehrere Becher leer. Danach fühlte sie sich etwas besser. 419
Eine Bewegung unten im Hof ließ sie ihren Becher abstellen. Sie näherte sich dem Fenster. Er hing noch da! Nur noch ein Wärter war bei ihm, Isabelle sah ihn im Schatten einer Mauer dösen. Warum hatten sie Philippe nicht abgemacht? Ihre Fingerkuppen brannten auf dem glühenden Sims. Wie lange stand er schon in dem aufgeheizten Innenhof - wie lange hatte sie für ihr Geständnis gebraucht? Eine Stunde? Zwei? Die Sonne verlieh seiner gebräunten Haut einen bronzenen Schimmer. Zwei karminrote Striemen durchbrachen das Muster der Narben. Er hielt sich sehr gerade, und sein Gesicht war verschlossen, und so sehr sie sich auch bemühte, den Ausdruck seiner Augen konnte sie nicht erkennen. »Zieh den Kübel etwas weiter in den Raum und fülle ihn dort.« Branne war wieder da - und auch Francette, die an zwei überschwappenden Holzeimern schleppte. Die Magd stellte ihre Last ab und begab sich zu dem Zuber neben dem Bett. »Es geht nichts über ein kühles Bad an einem heißen Tag, nicht wahr, ma chere?«, lächelte Branne. Isabelle wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als er sich ihr näherte. Er streckte einen Arm aus.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir aus meinem Hemd zu helfen? Francette ist gerade so beschäftigt...« Isabelle erbebte. »Nun?«, fragte Branne sehr sanft. Sie sah auf. Ihre Blicke hielten sich fest. Ich weiß, was du willst, dachte Isabelle. O ja, ich weiß es. Seit dem ersten Mal, an dem du mir dein wahres Gesicht zeigtest, damals, nachts, auf der Terrasse. Doch das, was du damals in meinen Augen gesehen hast, wirst du dort nie wieder entdecken. Ich habe keine Angst vor dir. Ich habe keine Angst! Sie schluckte, einmal, noch einmal. Dann hob sie das Kinn, ergriff mit spitzen Fingern die Bänder an seinen Ärmeln und lockerte sie. »Wunderbar. Und jetzt der Kragen.« Es pochte an Isabelles Schläfen. Ihre Arme waren schwer wie Blei. Es verursachte ihr große Mühe, sie zu bewegen, zu heben, die Finger um den blütenweißen Stoff zu schließen. Branne stand nun mit nacktem Oberkörper da. Seine Haut war weiß, makellos und unbehaart, mit hart hervortretenden Brustwarzen. 420
Ich habe ... Isabelle wandte den Kopf ab. Sie zuckte zusammen, als er sie am Hals berührte, als er ihre kurzen Ärmel bis zu ihren Ellenbogen herunterstreifte und ihre Schultern entblößte. Als sie ihn abwehren wollte, sah sie, dass er inzwischen vollkommen nackt war - und dass er sie begehrte. Sie würgte einen erstickten Laut des Ekels aus. Sie konnte sich nicht überwinden, seine bloße Haut zu berühren, auch nicht, um ihn zu schlagen. Sie wich nochmals mehrere Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen etwas Hartes stieß, das ihr den Fluchtweg versperrte. Wie gelähmt sah sie Branne sich ihr nähern, und sie biss sich die Lippen wund. Lieber würde sie ersticken, als Branne auch nur eine Träne zu zeigen. Hass und Wut wirbelten in ihr hoch. Ich habe keine Angst! Auch wenn ich ihre Farbe kenne. Die Farbe der Angst war Blau, blau wie die Augen, die nun so nah waren, immer näher kamen, bis sie nur noch sie sah, bis sie die ganze Welt erfüllten. Etwas drückte sich auf ihren Mund, auf ihre Brust und auf ihren Rock, und sie verfluchte sich selber, weil sie unfähig war, sich zu überwinden, diesen Körper zurückzustoßen, diese Haut anzufassen, diese ekelerregende, weiße Haut. Bis ein scharfes Geräusch die Luft zerriss. Auf einmal war ihr alles egal, sie würgte, wollte zum Fenster stürzen, wollte fortstoßen, wurde festgehalten, ein eiserner Griff in ihrem Nacken, ein anderer, der ihr die Handgelenke im Rücken zusammenschweißte, eine spöttische, triumphierende Stimme, begleitet von einem kalten Lächeln. »Allons, Madame, tout doux! Ganz ruhig, meine Schöne!« Da ... das Geräusch! Wieder und wieder! Sie realisierte erst jetzt, dass es der offene Fensterflügel war, gegen den sie gestoßen war, und dass sie von ihrem Standpunkt aus alles sehen konnte, was im Innenhof geschah ... Zwei gleißende Punkte in einem grauen Gesicht. Flüssiger Bernstein. Ein Blick, der versengte, der anklagte. Der ihr bewusst machte, dass auch sie von unten sichtbar war. Und der nackte Mann an ihrer Seite. Sie wollte schreien, erklären, sie öffnete den Mund - ihr Kopf prallte hart an das Fenster hinter ihr, als Branne ihren Schrei unter seinen Lippen erstickte. Wieder das Geräusch! Nein! 421
Sie wurde beiseite geschleudert. »Sie haben es mir geschworen!«, schrie sie. »Sie haben mir geschworen, ihn nicht mehr auspeitschen zu lassen!« Branne schloss seelenruhig das Fenster, bevor er sich ihr mit einem Lächeln wieder zuwandte. »Ich habe Ihnen geschworen, dass ich keinen Grund mehr hätte, Ihren Mann züchtigen zu lassen, falls Sie meinen Wunsch erfüllten, und das stimmt. Ich habe keinen Grund dafür. Monsieur de Condé allerdings ...« Er zuckte bedauernd die Achseln. »Der Prinz will natürlich die Steine, und darauf muss ich Rücksicht nehmen. Sobald klar ist, wo die Juwelen versteckt sind, wird mit der Auspeitschung aufgehört.« Isabelle gab einen heiseren Laut der Wut von sich und sah sich unwillkürlich nach einer Waffe um. »Sie elender ...« »Sparen Sie sich Ihre Schmeicheleien, ma chere.« Branne winkte lässig. »Sie können jetzt gehen.« »Gehen?« Isabelles Hände fuhren an ihr Gesicht, in dem verzweifelten Versuch, ihre Züge unter Kontrolle zu halten.
»Mais oui! Ich weiß, ich weiß ...«, seufzte Branne spöttisch. »Sie haben mehr von mir erwartet... Leider muss ich Sie vertrösten. Heute ziehe ich es vor, alleine zu baden. Am besten ruhen Sie sich gründlich aus. Ich schätze, wir werden spätestens heute Abend die Steine haben und morgen früh die anstrengende Rückreise nach Paris antreten.« Er lachte ein wenig, und in seinen Augen glomm ein schmutzigblaues Feuer. »Heute wollen wir enthaltsam bleiben. Eine zwar schmerzhafte, doch nötige Investition in unsere Zukunft. Für unsere Hochzeit.« Er ergriff Isabelles Arm, kam ihr so nahe, dass sein Atem sie traf. »Die Lektion lautet: Ambitionen können nie zu groß sein, Isabelle! Denn man wächst mit ihnen!« Er hob ihren Unterarm. »Diese hübsche kleine Hand wird bald ganz offiziell mir gehören!« »Sie sind verrückt!«, stieß Isabelle heiser aus. »Es tut mir wahrhaft leid, Sie aus Ihren Wahnträumen zu holen, Branne, doch diese hübsche kleine Hand, wie Sie sie nennen ...«, sie entriss ihm ihren Arm mit einem Ruck, »... ist bereits vergeben!« »Aber für wie lange noch, belle Isabelle?« Branne schnalzte mit der Zunge, legte den Kopf schief. »Was soll das heißen?«, flüsterte sie und warf einen panischen Blick zum Fenster. »Sie wollen ...?« 412
»Fi donc! Aber nein, meine Schöne! Für wen halten Sie mich? Ich bin doch kein Mörder! Sagte ich Ihnen nicht bereits, dass Conde Ihren Mann braucht? Außerdem wurde bei meiner Abreise von einem Duell gemunkelt, das ich ungern verhindern würde.« Er lächelte breit. »Und natürlich habe ich vor, Ihren Mann zu unserer Hochzeit einzuladen! Ohne ihn wäre das Fest doch nur halb so schön!« Seine Hände fuhren erklärend durch die Luft. »Wir werden ihn zu Ihrer Linken setzen. Werden Sie das nicht genießen, eingerahmt von Ihrem geschiedenen Mann und Ihrem gerade geehelichten zu feiern?« »Geschieden?« »Keine Sorge. Es wird nur eine kleine Formalität sein.« Er grinste sie an. »Ich gehe doch richtig in der Annahme, dass Ihr Mann Sie noch immer nicht angerührt hat, nicht wahr, ma douce?« Auf einmal verstand Isabelle. »Sie wollen doch nicht...« »Warum nicht? Es gibt, wie Sie vielleicht wissen, nur einen Grund, weshalb eine Frau die Scheidung von ihrem Mann verlangen kann, nämlich die Nichterfüllung ihrer ehelichen Rechte. Natürlich ist es ein unübliches Verfahren, doch es gibt ein oder zwei Präzedenzfälle, ich habe mich erkundigt. Und Ihre Ehe erfüllt bestens die Voraussetzungen für eine Scheidung.« Er lächelte versonnen. »Ist es nicht seltsam? Wenn ich daran denke, wie schwer es mir während all dieser Abende gefallen ist, Sie nicht anzufassen ... Und jetzt stellt sich heraus, dass es die beste Investition war, die ich jemals in meine Zukunft gemacht habe!« Isabelles Hand fuhr an ihren heißen Kopf. Tausend Gedanken durchtobten ihn. Konnte Branne sie zwingen, sich von Philippe scheiden zu lassen? Brannes Lächeln wurde breiter, als habe sie ihre Frage ausgesprochen. »Aber natürlich werden Sie die Scheidung einreichen. Denn sonst würde ein gewisses Geständnis publik gemacht werden, und das würde doch für etliche Menschen recht unschöne Konsequenzen haben ...« »Noch gehören zwei zu einer Scheidung, Branne. Wenn ich sie einreiche, heißt es noch lange nicht, dass mein Mann auf Ihr Spiel eingeht!« »Ach, Sie machen sich noch Hoffnungen?«, fragte Branne mit gespielter Verblüffung. Er wies in Richtung Innenhof. »Glauben Sie 413
denn allen Ernstes, Monsieur Ihr Mann wäre noch bereit, Anstrengungen zu unternehmen, um Sie zu erobern, nach der kleinen Szene, die wir ihm gerade vorspielten?« »Das Fenster!?« Isabelle schrie auf. »Das hatten Sie alles geplant? Sie wollten, dass Philippe glaubt...« Branne kreuzte die Arme über der nackten Brust. »Ja, diese kleine Komödie schien mir notwendig, nachdem Monsieur de Vigueil Sie vorhin so herzergreifend begrüßte.« Es war mehr, als Isabelle ertragen konnte. Ihr Hass wurde übermächtig, und sie stürzte sich auf ihn. Doch noch bevor sie Branne erreicht hatte, holte er mit der Hand aus. Der Schlag, der sie traf, schleuderte sie durch das halbe Zimmer. Sie stieß gegen die leeren Eimer, krachte mit Gepolter auf den Boden, blieb ein paar Sekunden benommen liegen. Als sie sich wieder aufzurichten versuchte, stand Branne halb über ihr und zwang ihr eine Perspektive auf, die sie sofort die Augen wieder schließen ließ. Eine Woge der Übelkeit riss sie mit sich fort. Sie drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einen der Eimer heranzureißen, bevor sie sich erbrach.
»Schade um das gute Essen«, sagte Branne und sah kalt auf sie herab. Er stieß sie mit dem Fuß an. »Dann musst du eben hungern bis heute Abend. Verschwinde jetzt!« Er wandte sich angewidert von ihr ab, öffnete erneut weit das Fenster und schöpfte nach Luft. Die Geräusche der Außenwelt drangen in den Raum. Das Rauschen von Blättern. Vogelsang. Das Schnalzen einer Peitsche. Und gutturale Silben in einer fremden Sprache. Isabelle krümmte sich. Die Worte verstand sie nicht. Doch sie erkannte die heiser gebrüllte Stimme, die sie ausstieß. Isabelle hielt inne und spitzte die Ohren. Waren es Schritte, die sie hörte? Sie verharrte ein paar Sekunden lang, stieß dann die Luft aus ihren Lungen aus. Nichts! Sie biss sich auf einen Finger, warf einen Blick zum vergitterten Fenster hinaus. Wie viel Uhr mochte es sein? Fünf? Sechs? Sie schnupperte. Bratenduft! Sie hatte bemerkt, dass ihr Zimmer, das zusammen mit ein paar anderen das Ende eines Flurs im Erdgeschoss bildete, dem Trakt gegenüberlag, in dem die Küche untergebracht worden war. 424
Das Abendessen wurde vorbereitet. Bestimmt würde nun bald jemand kommen, um ihr etwas zu bringen. O bitte, Seigneur, bitte macht, dass es Francette wird! Es ist meine einzige Chance! In dem Augenblick hörte sie tatsächlich Schritte. Isabelle erbebte vor Erleichterung, als eine übergroße Haube sich in ihre Zelle schob. Francette - es war tatsächlich Francette! Das Mädchen huschte lautlos und mit gebeugtem Rücken in den Raum. Sie trug ein Tablett, das sie in Ermangelung eines Tisches auf das schmale Bett stellte. Auf einmal war keine Zeit mehr nachzudenken. Derselbe Elan, dieselbe unerbittliche Gewissheit, die Isabelle vor acht Jahren in eine fremde Kutsche hatte springen lassen, ließ sie an Francette herantreten. »Francette!«, stieß sie aus. »Sie müssen mir helfen!« Das Mädchen schnellte erschrocken hoch, drehte den Kopf zur Seite, machte eine Bewegung in Richtung der weit offen stehenden Tür. Isabelle stemmte einen Arm an die Wand, um Francette den Fluchtweg zu versperren. »Bitte!«, wisperte sie, denn sie war sich sicher, dass irgendwo da draußen jemand Wache schob. »Dieser Mann, der über uns wohnt, dieser Branne ... Er ist rücksichtslos, das wissen Sie! Sie haben gesehen, was er mit meinem Mann gemacht hat! Und Sie haben am eigenen Leib erfahren, wie grausam es für eine Frau ist, wenn sie sich unterwerfen muss!« Das Mädchen zuckte zusammen. Sie war stumm wie stets, doch alles an ihrem Körper drückten ihren Drang aus, Isabelle zu entkommen. »Ich flehe Sie an! Ich muss mit meinem Mann von hier fliehen, und Sie werden mir dabei helfen!«, flüsterte Isabelle hastig. Verflixt, sie musste schnell sein, bevor die Wache sich fragte, was Francette so lange in ihrer Zelle aufhielt! »Bitte!« Als Francette losschnellte, war es so plötzlich, dass sie Isabelle fast entwischt wäre. Isabelle bekam gerade noch ein Stück ihres Rocks zu fassen, doch an diesen klammerte sie sich mit all ihren Kräften. Sie riss das Mädchen zurück. Ein kurzer Kampf entstand, in dem sie zusammen in den Abstellraum stolperten. Sie fielen übereinander auf den Boden. Auf einmal rührte sich Francette nicht mehr. Isabelle 415
riss ihr die Haube vom Kopf - und begegnete zwei weit aufgerissenen Augen, die sie anstarrten, als sei sie der Leibhaftige persönlich. Isabelle verbot sich, Mitleid zu haben, rappelte sich sofort wieder hoch. »Also gut«, zischte sie und baute sich so einschüchternd wie möglich vor dem Mädchen auf. »Wenn du mir nicht freiwillig hilfst, werde ich dich zwingen müssen. Zieh dich aus! Sofort und schnell! Und keine weiteren Späßchen, sonst...«Sie suchte verzweifelt nach einer Drohung, doch da sie nichts als ihre nackten Hände hatte, um ihr Nachdruck zu verleihen, stieß sie aus: »Sonst werde ich dafür sorgen, dass du es den Rest deines Lebens bereust!« Isabelle biss sich auf die Lippen. Sie begriff, dass Francette außerstande war, ihr zu helfen. Sie beugte sich über sie und begann hastig, sie auszuziehen. Ein paar Minuten später war es ihr gelungen, die Kleidung mit dem Mädchen zu tauschen. »Und jetzt leg dich längs hierhin! Auf den Boden, das Gesicht zur Ecke!« Isabelle schubste das erstarrte Mädchen in die richtige Stellung. »Und rühr dich nicht, hörst du? Egal, was passiert, du bleibst da drin liegen!«
Isabelle schloss halb die Tür der düsteren Kammer, sodass noch Francettes zusammengekauerte Gestalt mit dem rosefarbenen Kleid sichtbar blieb, nicht jedoch die verräterischen dunklen Zöpfe. Dann zog sie die Haube tief über ihre Locken und huschte mit gebeugtem Rücken auf den Gang. »Ha, Francette, da bist du ja! Wo warst du so lange?«, empfing sie eine barsche Stimme. Isabelle hütete sich, zu dem Mann emporzublicken. Sie begann, wild zu gestikulieren. »He, hör auf mit dem Quatsch! Wo hast du die Schlüssel gelassen?«, fragte der Mann, von dem sie nur die narbigen Schuhe und die geflickten Beinkleider sah. Isabelle machte eine Geste zur Tür und folgte dem Mann in das Zimmer, deutete dann auf die halb einsehbare, düstere Kammer und die dort zu Boden liegende Gestalt. »Was zum Teufel geht hier vor...?«, fragte der Mann misstrauisch, machte einen Schritt in den winzigen Raum - und schrie auf, als Isabelle die Tür heftig zuwarf. Mit zittrigen Fingern schob Isabelle den Riegel vor, ergriff dann den einzigen Stuhl und verkeilte dessen 416
Rückenlehne unter dem Türgriff. Wütendes Gepolter wurde von innen laut, doch die Tür war aus festem Holz und würde eine Zeit lang standhalten. Sie schlüpfte auf den Gang, nicht ohne vorher das Schlüsselbund an sich zu nehmen, das noch an der Tür baumelte. Sie horchte, doch alles war ruhig. Wo mochte Philippe stecken? Vier weitere Türen umgaben sie. Zwei waren unverschlossen. Isabelle machte sich an der dritten zu schaffen. Als sie endlich den passenden Schlüssel gefunden hatte, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Vorsichtig drückte sie die Tür auf, nahm wieder ihre gebeugte Haltung ein und lugte in den Raum. Sie wurde erfasst und durch das Zimmer gewirbelt, noch bevor sie einen Gedanken fassen konnte. Zwei bernsteinfarbene Augen funkelten sie an. Sie schüttelte den Kopf, rang nach Luft, zerrte erfolglos an der großen Hand, die ihre Kehle zudrückte. Erst als sie bereits die ersten Wellen einer nahen Ohnmacht erreichten, lockerte sich der Griff. Ihre Knie waren zu weich, um sie weiterhin zu halten, und sie rutschte langsam in eine hockende Stellung. »Isabelle?«, fragte ungläubig eine Stimme. Sie schnappte geräuschvoll nach Luft. »Ich habe gedacht, du bist dieses Mädchen ...« »Das solltest du auch!« Isabelle lächelte kurz. »Ich erzähle es dir später. Wie geht es dir?«, fragte sie besorgt, während sie wieder auf die Füße kam. »Bestens«, behauptete er. Isabelle bemerkte die feuchte Blässe seiner gebräunten Haut. Seine Augen leuchteten intensiver denn je, sie wirkten irgendwie eingesunken in dem gut geschnittenen Gesicht, das aus mehr Kanten zu bestehen schien als vorher. Er trug wieder sein altes, rußverschmiertes Hemd. Sie realisierte erst, dass sie eine Hand gehoben hatte, um ihn zu liebkosen, als er eine abwehrende Geste machte. Ihr Blick fiel dabei auf seinen Handrücken, und sie schreckte zurück, als sie seine blutverkrusteten Finger sah. »Glaubst du, dass du kräftig genug bist, um mit mir zu fliehen?«, fragte sie bang. »Ich weiß es. Lass uns gehen.« »Zum Stall?« 417
Philippe schüttelte den Kopf. »Erst in die Küche.« Vor Isabelle fragendem Blick sagte er barsch: »Wir werden Proviant brauchen für die Reise.« Sie widersprach nicht. »Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.« Kurz daraufhatten sie den niedrigen Raum erreicht. Philippe berührte Isabelles Schulter, als sie den Koch erblickten. »Du gehst hinein und lenkst ihn ab, sodass er mir den Rücken zudreht.« Isabelle nickte, zog ihre Haube tiefer über ihre Züge und schlich mit gebeugtem Rücken in die Küche. »Ah, da bist du ja. Die Männer warten nebenan. Wird Zeit, das Essen zu bringen, kannst schon mal die Suppe hineintra...« Der Mann brach zu Isabelles Füßen zusammen, als Philippe einen Tonkrug über seinem Schädel zerschlug. Sofort begann Philippe, die Küche zu durchsuchen. Er steckte zwei kurze, breite Messer in seinen Gürtel und begab sich schnurstracks in eine Ecke, wo ein an der Decke hängender Schinken die Vorräte vermuten ließ. Dort begann er, Körbe, Töpfe, Tongefäße, Holzschachteln und Schalen zu inspizieren, mit einer Akribie, die Isabelle flüstern ließ: »Philippe, wir müssen hier weg! Nimm den Schinken, nimm irgendetwas, es ist doch egal!«
Philippe antwortete nicht. Plötzlich aber blitzte es triumphierend auf seinen Zügen auf. Mit einem kleinen Laut der Genugtuung zog er einen Beutel aus der Tiefe einer Truhe. Befremdet erkannte Isabelle die alte Tasche, die ihnen während ihrer Reise gedient hatte, um ihre Vorräte zu transportieren. Besorgt sah sie zu ihrem Mann auf. Er wirkte verschlossener denn je. Er klappte den Sack auf, inspizierte seinen Inhalt. Isabelle fühlte, wie die Angst um Philippe ihren Magen zu einem kleinen, harten Klumpen zusammenballte. Wie verletzt hatte Philippe die erneute Demütigung, die ihm zugefügt worden war? War er noch fähig, klare Entscheidungen zu treffen - wusste er noch, was wichtig war und was nebensächlich? »Gut, wenn du gefunden hast, wonach du suchtest, können wir ja jetzt gehen«, sagte Isabelle sanft. Philippes Antwort bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. »Nein. Zuvor gibt es noch etwas zu erledigen.« »Aber...« 428
Diesmal achtete Philippe auf sie. »Er wird nie Ruhe geben, Isabelle. Noch in dreißig Jahren wird er dich verfolgen. Er ist besessen von dir.« Isabelle riss die Augen auf. Eine Gänsehaut huschte ihren Rücken hinunter. Sie stotterte: »Was soll das heißen? Willst du ihn einfach umbringen?« Isabelle schüttelte den Kopf, hob bittend die Hände. »Philippe, Villenard kann jeden Augenblick mit seinen Männern zurückkommen! Wir müssen schleunigst weg von hier!« Philippe antwortete ungerührt: »Du nimmst jetzt diesen Suppentopf und bedienst die Männer, die nebenan warten. Das verschafft uns etwas Zeit. Wir reden weiter, wenn du zurück bist, ja?« Isabelle sah zweifelnd zu ihm hoch. »Ich glaube nicht...« »Bitte, Isabelle.« Mit bebenden Händen prüfte sie ihre Aufmachung, ergriff den schweren Topf. »Belle?« »Ja?« »Sei vorsichtig, hörst du?« »Natürlich.« Isabelle warf Philippe einen letzten prüfenden Blick zu, bevor sie mit Francettes kleinen, lautlosen Schritten den Raum verließ. »Na endlich! Wird aber auch Zeit!« Isabelle brauchte sich nicht sonderlich zu verstellen, um verängstigt zu wirken. Mit tief gebeugtem Rücken stellte sie ihre dampfende Last vor den drei wartenden Männern ab. Sie wollte kehrtmachen, als sie schmerzhaft in ihre Kehrseite gekniffen wurde. »Du wirst uns doch noch auftun, Francette, oder? Jetzt, wo wir so lange haben warten müssen!« Der Mann stieß einen Pfiff aus. »He, bist ja gar nicht so übel da hinten, mein Mädchen ...« »Vergiss es, Mondrain! Hab alles schon nachgeguckt. An der ist nichts mehr, was die Mühe lohnt!« »Ne, Juju hat recht. Versuch's lieber nicht. Es gibt Anblicke, da erholt sich dein bestes Stück nicht mehr von!« Die drei lachten schallend. Der genannte Juju schob Isabelle derb vom Tisch weg. »Wenn's so ist, dann lass doch lieber den Deckel drauf, Francette. Ich will nicht riskieren, meinen Appetit zu verlieren, wenn ich dein Spiegelbild in meinem Essen sehe!« 41g Unter erneutem Lachen der Männer zog sich Isabelle zurück. Als sie an der Tür des Speiseraums vorbeiging, merkte sie, dass der Schlüssel steckte. Sie warf einen hastigen Blick hinter sich. Die Fenster entsprachen denen in ihrem und in Philippes Zimmer: Sie waren klein und mit Gittern versehen. Entschlossen zog sie den Schlüssel heraus und zog die Tür hinter sich zu. Ihre Fingerbebten, sodass sie Mühe hatte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und herumzudrehen. Sie horchte atemlos. Die Männer hatten nichts bemerkt, schmatzten und rissen Spaße. Isabelle lehnte sich kurz an die Wand, um ihrem Herzen die Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. Ihr Hemd klebte an ihrem Körper, ihre Knie waren schrecklich weich. Gut, dachte sie, jetzt fehlt nur noch Branne. Eine neue Art von Unbehagen kroch ihren Rücken hinauf. Sie stieß sich von der Wand ab und hastete zur Küche. »Nein!«, hauchte Isabelle. Sie drehte sich in dem niedrigen Raum um, wieder und wieder. Der Koch lag gefesselt und geknebelt am Boden. Die Tasche war verschwunden. Und Philippe mit ihr. Brannes Zimmertür stand offen, und Stimmen drangen aus dem Raum. »Was wollen Sie, Vigueil? Mein Leben?«
»Schon möglich«, erklang es leidenschaftslos. Als Isabelle hineinstürzte, sah alleine Branne auf. »Ah, da sind Sie ja, ma chere. Bitte treten Sie ein und seien Sie willkommen. Vielleicht können Sie uns ja helfen. Das Gespräch will nicht so recht in Gang kommen.« Branne deutete in eine Ecke. »Möchten Sie etwas Wein? Sie kennen sich ja hier aus. Schenken Sie sich einfach etwas ein.« Isabelle beachtete ihn nicht, sondern wandte sich an Philippe. Wo hatte er die Schusswaffe aufgetrieben, die er in seiner Rechten hielt? Mit unsicherer Stimme fragte sie: »Was hast du vor, Philippe?« »Ich habe es auch schon versucht, Isabelle«, lächelte Branne und winkte ab. »Doch es macht, wie ich fürchte, nur wenig Sinn. Ihr geschätzter Herr Gemahl ist etwas - wie soll ich es ausdrücken ein 430
silbig ...?« Er lachte auf. »Doch was erzähle ich Ihnen da? Sie wissen es besser als ich. Sie halten sich schließlich nicht ohne Grund seit vier Monaten diesen Mann vom Leibe, nicht wahr? Obwohl...«, hob er die Brauen, »nach dem, was ich heute entdeckte, als Ihr Mann im Hof stand, waren es vielleicht noch ganz andere Gründe, die Sie zurückschrecken ließen?« Er schnalzte mit der Zunge und wandte sich wieder Philippe zu. »Fern von mir der Gedanke, Sie beleidigen zu wollen, Vigueil, doch ist Ihnen schon einmal in den Sinn gekommen, dass Ihr Äußeres etwas abschreckend auf eine Dame wirken könnte?« Philippes Gesicht blieb unbewegt, doch Isabelle entging nicht, dass die Knöchel seiner Finger, die die Waffe umschlossen, weiß wurden. »Ich will die Papiere mit den Instruktionen, die Conde Ihnen mitgab«, forderte Philippe. Branne hob eine Braue. »Wozu denn das? Um die Königin darüber hinwegzutrösten, dass ich ihr die Steine unter der Nase weggeschnappt habe?« »Ihre Majestät wird gewiss daran interessiert sein, zu erfahren, wie sehr sie sich auf Monsieur le Prince verlassen kann.« Branne fletschte die Zähne. »Das wird sie spätestens realisieren, wenn Monsieur de Conde mit den Kronjuwelen vor das Parlament tritt, um sie vom Regentenstuhl zu kippen!« Er zuckte die Schultern. »Doch dann dürften Annes Gemütszustände den Hof sowieso nur noch wenig interessieren.« »Villenard wird die Steine aber nicht finden, Branne«, entgegnete Philippe. »Er weiß, wie er die Dörfler unter Druck setzen kann. Und er ist Meister darin. Seine Taten sind schon im ganzen Land bekannt. Wenn nötig, wird er jedes Haus abreißen und jedes auftreibbare Stück Vieh in den Brunnen werfen lassen!« Philippe schüttelte den Kopf, zuckte dann aber zusammen, als würde diese Geste ihm Schmerzen bereiten. »Die Papiere!«, wiederholte er. Isabelle trat vor. »Auch ich bekomme noch etwas von Ihnen, Branne!« Branne neigte den Kopf und lächelte. »O ja, ich weiß, ma douce. 431
Aber das habe ich dir doch schon erklärt, nicht wahr? Wir müssen uns beide gedulden.« Sein Blick wurde vage. Seine Hände machten eine unbestimmte Geste in ihre Richtung. »Danach ...«, er befeuchtete sich die Lippen und fuhr fahrig fort, »danach sollst du alles bekommen, alles, was dieser Kerl dir nie hat geben können. Du und ich ...«Er griff nach ihr, doch sie stieß ihn zurück. Ekel und Wut klangen in ihrer Stimme, als sie ausstieß: »Sie wissen genau, wovon ich spreche, Branne. Wo ist es?« »Sie meinen das Schriftstück, das ich Ihnen vorhin diktierte?« Er riss die blauen Augen auf. »Aber es ist schon lange weg, belle Isabelle!« Er spreizte die Hände. »Es kam heute ein Kurier aus Paris. Ich habe ihn gleich zurückgeschickt - mit dem Schriftstück in seiner Satteltasche!« Isabelle schluckte. Würde das denn nie ein Ende nehmen? Würde sie bis an das Ende ihrer Tage erpressbar bleiben? »Oh, Sie sind enttäuscht!«, sagte Branne sanft und hob eine Hand, um über ihre Wange zu streichen. »Armes kleines Ding ...« Ein hartes Geräusch erklang. Philippe hatte den Hahn seiner Waffe gespannt. »Nehmen Sie Ihre Finger von ihr, Branne!« Brannes Augen funkelten. Er wurde bleich um den Mund. Seine Hand glitt herunter, strich aber über Isabelles Arm. Er hielt sich sehr gerade. »Ich habe sie bereits berührt, Vigueil! Von wem, glauben Sie, ist das Kind, das sie verloren hat und von dem die ganze Stadt spricht?«
Isabelle riss die Augen auf. Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen, sie war unfähig, auch nur ein Wort gegen diese Ungeheuerlichkeiten zu sagen. »Loslassen!« »Sie werden nie mehr etwas daran ändern können, Vigueil! Ich werde immer zwischen Ihnen und Ihrer Frau stehen! Egal, was Sie machen, egal, wie sehr Sie es auch zu verdrängen suchen ...« »Sehr gut. Und jetzt, die Papiere.« »Ich war der Erste!«, lachte Branne auf. »Und Sie sind und bleiben ein Versager! Ein jämmerlicher, verprügelter Versager, der noch nicht einmal fähig war, diese göttliche Frau zu würdigen, die ihm ein seniler, von Gewissensbissen geplagter Alter ins Bett warf!« Etwas bewegte sich auf Philippes Gesicht. 204
»Also gut.« Philippe griff nach Isabelle, drückte ihr seine Waffe in die Hand. »Wie Sie wollen, Branne.« »Philippe...!« »Geh schon vor, Belle. Geh in den Stall. Ich komme gleich nach.« »Ah ... Was sehe ich da auf Ihren Zügen, Vigueil?«, höhnte Branne, und ein irrer Funke sprang in seinem Blick herum. »Sollte das tatsächlich das Aufblitzen einer menschlichen Regung sein? Wut? Können Sie Wut empfinden?« »Philippe, du bist nicht in der Verfassung ...« »Bitte verlass den Raum, Belle.« Branne breitete die Arme aus. »Was schlagen Sie vor? Einen Faustkampf? Ein Schachspiel?« Sein Lachen hatte einen schrecklichen Beiklang. »Ich habe eine bessere Idee! Lassen wir Ihre Frau entscheiden!« »Geh jetzt, Belle!« Isabelle weinte. »Aber du bist verletzt...!« »Wen wählen Sie, belle Isabelle? Das Narbengesicht, das Ihnen aufgezwungen wurde? Oder den aufstrebenden Stern an Condes Firmament?« Isabelle lehnte ihre Stirn an Philippes Schulter. »Philippe, er ist dabei, verrückt zu werden! Merkst du das denn nicht? Bitte!«, flehte sie. Philippe packte ihre Schultern, schob sie von sich. »Verschwinde!«, stieß er zwischen seinen Zähnen hervor. Isabelle machte kehrt und rannte aus dem Raum. Sie hetzte blind durch die verlassenen Flure, die Pistole auf die Brust gepresst, stolperte die Treppe herunter. Aus dem Speiseraum drang wütendes Gepolter. Sie jagte vorbei, durchquerte im Laufschritt die Küche, stürzte fast über den noch immer leblosen Körper des Kochs, stürmte weiter... Als sie endlich den Stall erreicht hatte, war sie so sehr außer Atem, dass sie sich ein paar Augenblicke an einem Holzpfosten festhalten musste. So bald sie es vermochte, stieß sie sich wieder ab. Pferde. Zwei Pferde, stotterte ihr Geist, während ihr Körper noch wild von Schluchzern geschüttelt wurde. Sie suchte nach den geeignetesten Tieren. Zwängte Gebissstangen zwischen starke gelbe Zähne. Zog Genickstücke hinter unruhig spielende Ohren. Sattelte die Tiere. 433
Führte sie vor den Stall, band sie dort fest. Ein heftiger Wind erfasste ihren schäbigen braunen Rock, schlug ihn heftig gegen ihre Schenkel. Sie spähte in den Himmel. Dunkelschwere Wolkenmassen eroberten das heiße Blau. Sie riss sich von dem Anblick los. Decken. Decken für die Nacht. Isabelle stolperte wieder in den Stall, fand ein paar Decken, die sonst den Stalljungen dienen mochten, machte die groben wollenen Tücher hinter den Sätteln fest. Sie rutschte an der Holzwand herunter, blieb auf ihren Fersen hocken. Bettete die Pistole in ihren Schoß. Staubkörner prallten auf ihre Haut, drangen in ihre Augen. Die Stalltür schlug, die Pferde tänzelten unruhig. Isabelle strich über die Waffe, umschloss ihren weichen Holzkolben mit den Fingern. Ihr rechter Zeigefinger fand wie selbstverständlich den Weg in den Abzugsbügel. Tastete nach der kleinen kalten Zunge, die die Mechanik in Gang setzen würde. Gut, dachte sie. Sehr gut. Sie fröstelte im heißen Sturmwind, doch allmählich beruhigte sich ihr Herz wieder. Sie wischte sich ein letztes Mal über das feuchte Gesicht. Hob den Kopf. Egal, wer kommen würde, um sie abzuholen: Sie war bereit.
Siebzehn
Es gibt Rückfälle bei den Krankheiten der Seele wie bei denen des Körpers. Was wir für Genesung halten, ist in der Regel nur ein Nachlassen oder eine Veränderung des Übels. Juni 1651
Isabelle hätte nicht sagen können, ob nur Minuten oder ganze Stunden vergangen waren, seit sie hier vor dem Stall hockte, als sie Schritte vernahm. Sie rührte sich nicht, einzig ihre Rechte umspannte etwas fester die Waffe. Doch dann erkannte sie die Gestalt, die auf den Stall zusteuerte, und sie sprang auf. »Philippe!«, schrie sie, überwältigt vor Erleichterung. Der Sturm schluckte ihre Stimme. Sie wollte Philippe entgegenstürzen, sich an seine Brust werfen, doch etwas auf seinem Gesicht hielt sie zurück. »Sind die Pferde bereit?«, rief er. Sie nickte wortlos, hielt ihm die Pistole hin. »Dann lass uns endlich aufbrechen!« Sie zögerte, wagte aber nicht zu fragen. Ihr Blick glitt zum Haus zurück, das so erschreckend still und leblos dalag. Als sie sich umdrehte, hatte Philippe die restlichen Pferde aus dem Stall getrieben und jagte sie aus dem Hof. »Die Tiere werden ein paar falsche Spuren legen«, erklärte Philippe auf ihren fragenden Blick hin. »Außerdem werden so die Kerle, die du eingeschlossen hast, uns nicht gleich nachreiten können.« Als sie aus dem geschützten Areal des vierschrötigen Hauses und seines Hofes herausritten, ergriff der Sturm sie mit voller Wucht. Sie kauerten sich auf ihren Tieren zusammen, während sie einen scharfen Trab anschlugen, der sie so schnell wie möglich fortbringen sollte. Bei Air befand sich auf dem Hauptweg, der nach Rethel führte, an der Grenze der Ardennen und bereits außerhalb der schroffen Bergrücken und ihrer endlosen Wälder. Hier ging das Land in weiche kreidehaltige Hügel über, auf denen sich Roggen- und Haferfelder, 435
Buschwerk und kleinere Waldstücke abwechselten, und die Straßen wurden breiter und bequemer. Philippe und Isabelle versuchten nicht, sich zu verstecken, sondern spornten ihre Tiere an, um ihren Vorsprung vor Villenards Truppen auszunutzen. Isabelle warf immer wieder einen Blick auf die drohenden Massen, die über ihren Köpfen in einer Mischung aus Schmutzgelb und Schiefergrau dahinjagten. Es wurde rasch dunkler, das aufziehende Gewitter schluckte das Licht der sich neigenden Sonne. Die Pferde schnaubten und beschleunigten von ganz alleine ihren Schritt, ihre Ohren drehten sich unablässig. Wenigstens werden unsere Spuren verwischt, wenn es regnet, versuchte Isabelle sich zu beruhigen. Wenn wir es schaffen, die Nacht durchzureiten ... In dem Augenblick kippte Philippe aus dem Sattel. Er fiel wie ein nasser Sack in das Gebüsch. Sein Pferd riss den Kopf hoch, machte einen Satz zur Seite. »Philippe ... !« Isabelles gellender Schrei verlor sich im Donnergroll. Sie sprang ab. Ein Blitz durchzuckte die Halbdämmerung. Beide Pferde wieherten schrill. Isabelle klammerte sich an die Zügel ihrer scheuenden Stute. Philippes Tier stieg auf. Isabelle versuchte noch, auch dessen Zügel zu erfassen, als ein zweiter Blitz das Pferd vollends in Panik versetzte. Mit einem ungelenken Sprung setzte es über Philippe hinweg und jagte kopflos davon. Isabelle band hastig ihr eigenes Tier am Stamm einer Buche fest. Dann fiel sie neben Philippe auf die Knie. »Mon chéri... Liebster ...« Ein Blitz. Unmittelbar darauf ein Donner, der die Erde erbeben ließ. Philippes Augenlider flackerten. Sie ergriff seine Hände. Sie waren eiskalt. Seine Stirn hingegen glühte. Ein Tropfen fiel vom Himmel, zersprang auf Philippes grauer Haut. Isabelle warf erneut einen Blick nach oben. Sie mussten schleunigst von den Bäumen weg... »Philippe!« Sie rüttelte ihn. »Philippe, du musst wieder aufsteigen, hörst du? Wir müssen irgendwo Schutz suchen ...« Wieder ein Flackern der Lider. Sie zerrte an seinem Kragen. »Komm, mon chéri, komm ... Ich helfe dir ...«Es tröpfelte stärker. Philippe riss die Augen auf, machte eine vage Geste mit der Hand. 436
»So ist es gut!« Isabelle ergriff seinen Arm, zog daran, bis Philippe eine sitzende Stellung eingenommen hatte. »Sehr gut! Hier, leg deinen Arm um meine Schulter. Und dann stemm dich hoch. Kannst du das? Wunderbar...«
Ihr blieb die Luft weg, als er sich auf sie lehnte. Seine Beine sackten zusammen. Irgendetwas knackte in ihrer Schulter. Sie unterdrückte einen Schmerzenslaut, stemmte Philippe wieder hoch. Sie torkelten unbeholfen zur Stute. »Hier ist der Sattel. Hast du ihn? Kannst du dich daran festhalten?« Das Tier scheute. Isabelle fing Philippe auf, drängte das Tier gegen einen Stamm, sodass es nicht mehr ausweichen konnte. »Du musst da rauf, Philippe!«, keuchte sie. »Du musst es schaffen, hörst du?« Philippes Lider drohten erneut zuzufallen. Isabelle biss auf ihre Lippen, gab Philippe zwei kräftige Ohrfeigen. »Los! Du wirst doch jetzt nicht aufgeben?«, weinte sie. »Du gibst doch nie auf!« Der Regen wurde heftiger. »Es ist dir nicht bestimmt zu sterben, hast du das vergessen? Du hast es mir gesagt, Philippe - nun halte dich verdammt noch mal dran!« Er zitterte am ganzen Körper. »Du wirst alles überleben!«, schrie Isabelle, und der Regen peitschte ihr Gesicht. Sie musste brüllen, um gehört zu werden. »Du willst dich doch noch rächen, oder? Und dafür wirst du jetzt auf dieses Pferd steigen!« Eine Sekunde verstrich, noch eine. Dann ging ein Ruck durch Philippes Körper. Philippe öffnete ein wenig die Augen. Sie schluchzte auf, als sie die kleine, unbeugsame Flamme erkannte, die in den Tiefen seiner Pupillen glomm. »Ja, so ist es gut. So ist es gut!« Sie lachte, als seine Finger nach dem Sattel tasteten, als sein Fuß sich hob. Sie half ihm, den Steigbügel zu finden, schob sein Bein über die klatschnasse Kruppe des Pferdes, bis er hinter dem Sattel zu sitzen kam. Dann hob sie den am Boden liegenden Vorratssack auf, hängte ihn sich quer über die Brust und kletterte vor Philippe auf das Tier. »Jetzt kannst du dich an mich lehnen. Leg deine Arme um meine Hüften. Ich bin da, ich halte dich.« Sie trieb das Pferd an. Der Regen hämmerte auf ihre Haut, das Wasser schien die Luft verdrängen zu wollen, die Welt versank in Schwarzgrau. Es war kaum noch möglich, die Landschaft zu erkennen, sie löste sich in verschwommene Umrisse auf. Isabelle klammerte Philippes Arme fest, spürte das ständige Zittern seiner Glie 437
der, das unruhige Pochen seines Herzens in ihrem Rücken. Sein Kopf war auf ihre linke Schulter gesackt, sein Atem legte sich in heißen Schüben auf ihren nassen Nacken. Er murmelte etwas Unverständliches. »Gleich, Liebster. Gleich werden wir uns ausruhen. Gleich kannst du schlafen ...« Sie blinzelte, als sie etwas zu erkennen glaubte. Eine Form, vielleicht auch mehrere, etwas Geradliniges, das auf den Wellen der Hügel schwamm. Ein Schuppen? Ein Haus oder ein Stall? Und wenn Menschen darin wohnten? Menschen, die sie zurück zu Villenard bringen wollten? Philippe schlug mit den Zähnen. »Du hast recht, mon cheri.« Isabelle zog Philippes Arme enger um sich und ließ ihre Stute ihre Hacken spüren. Eine ganze Nacht im Regen würde Philippe nicht überstehen. Sie hatten keine Wahl. Es war ein Hof, der aus einem niedrigen, aber lang gestreckten Haupthaus und mehreren kleineren Gebäuden bestand. Die schweren Holzläden des Haupthauses waren zugeklappt, kein Licht war zu sehen. Dennoch machte das Ganze keinen verwahrlosten Eindruck, und Isabelle glaubte, dass die Bewohner des Hofes schon schliefen. Gott sei Dank schlug kein Hund an. Sie wandte sich einem kleinen, abseits stehenden Schuppen zu, dessen Tür nur mit einem einfachen Riegel gesichert war. Sie glitt vorsichtig vom Pferd, ohne Philippes zusammengesackten Körper aus dem Gleichgewicht zu bringen, und schlich hinein. Ein scharfer Geruch schlug ihr entgegen, aber das Dach war dicht, und unter ihm staute sich die Wärme des vergangenen Sommertages. Es war dunkler als draußen, doch nach einiger Zeit erkannte Isabelle auf einer Seite drei braunweiß gefleckte Ziegen, die unruhig in ihrem Stroh raschelten und sie mit goldschlitzigen Augen betrachteten. Eine niedrige Trennwand hielt sie von den Strohreserven fern, die den Rest des Schuppens füllten. Isabelle stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war ein Segen, dass die Tür des Stalls hoch genug war, um die Stute mitsamt ihrer Last hineinzuführen. »Philippe? Philippe, wir sind da ...« Ihr Herz zog sich zusammen. Philippe zeigte keinerlei Reaktion. Seine Hand hing schlaff über dem Rist der Stute, Wasser tropfte von seinen Fingern. Nur das 43 8
kontinuierliche Zittern seiner Glieder verriet, dass noch Leben in ihm war. »Du kannst jetzt absteigen ...«
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn über der am dicksten mit Stroh gepolsterten Stelle herunterzuziehen. Er stöhnte kurz, als er auf dem Boden auftraf. »Wir müssen dir das Hemd ausziehen, Philippe ...« Gott sei Dank war es vom Regen so aufgeweicht, dass es sich problemlos von den Wunden abziehen ließ. Sie holte würgend Luft, als sie seinen Rücken in der Dämmerung erblickte. »Mon Dieu, mon cheri«, weinte sie, »mon Dieu ...« Sie kniete ein paar Sekunden lang mit hängenden Schultern neben ihm, kraftlos, unfähig, sich zu rühren, und ihre Verzweiflung drohte sie zu überwältigen. Doch dann bewegte Philippe sich und flüsterte etwas, das sie nicht verstand. Sie schluckte hart, rappelte sich auf. Sein Zittern wurde stärker. Sie schälte ihn aus seinen Kleidern, bis er nackt vor ihr lag. Dann ergriff sie eine Handvoll Stroh und begann seine Glieder abzureiben. Als Philippes Haut gerötet war, entledigte sie sich ihrer gestohlenen Kleider und hing sie neben Philippes Hosen zum Trocknen über einen tiefen Balken. Dann legte sie sich neben Philippe ins Stroh. »Komm, Liebster. Komm, hier ist es warm ...« Sie schmiegte sich nackt an seine kalte Haut, bis sie ihn der ganzen Länge nach spürte. Zog seinen Kopf an ihre Schulter, liebkoste seine feuchten Haare. Ihr Herz pochte vor Sehnsucht, aus Angst und auch ein wenig vor Glück, ihm endlich so nah zu sein, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Sie summte ein einfaches Wiegenlied ihrer Kindheit, spürte, wie sein Zittern nachließ und verschwand. Dann stieg sein Fieber erneut, und sie bot ihm Halt, als er um sich schlug.
* »Da sieh mal einer an!« Isabelle schreckte hoch, hob abwehrend einen Arm, als ein greller Sonnenstrahl ihr in die Augen stach. »Henry, Pierre! Sperrt eure Schwestern ein, und dann kommt schnell! Und bringt das Beil mit!« Erst nach heftigem Blinzeln erkannte Isabelle die gedrungene Gestalt einer Bäuerin, die sich im Türrahmen vor dem tiefblauen 439
Himmel abhob. Ihre kräftigen Hände hatten eine Mistgabel gepackt, deren Krallen sie ihnen aggressiv entgegenstreckte. »Madame ...«, begann Isabelle, wurde aber von zwei hereinstürmenden Halbwüchsigen unterbrochen. »Was gibt's? Was ist los?«, hechelten sie. »Landstreicher, Lumpengesinde! Bei unseren Ziegen!« »Nein!« Isabelle hob die Hände. »Das stimmt nicht! Mein Mann und ich sind gestern in das Gewitter geraten, das ...« »He, die sind ja nackt!«, gluckste einer der Jungen, was ihm auf der Stelle eine schallende Ohrfeige einbrachte. »Halt die Klappe, Pierre, hier red ich!« Isabelle zog hastig ihr Kleid heran. »Bitte! Mein Mann ist krank. Nur weil das Fieber ihn schüttelte ...« »Krank?«, fragte die Bäuerin scharf und machte einen hastigen Schritt zurück. »Was hat er?« »Nichts, was für Sie oder Ihre Familie gefährlich sein könnte«, beeilte Isabelle sich zu versichern. Sie warf einen Blick auf Philippe. Er lag auf dem Bauch. Es war unmöglich, seinen Zustand zu verheimlichen. »Er ist ausgepeitscht worden und hat Wundfieber.« Henry, der über die Schulter seiner Mutter lugte, stieß einen grellen Pfiff aus. »Eh bien, den haben die aber hübsch zugerichtet!« Die Bäuerin trat näher. »Wo kommt ihr her?«, fragte sie misstrauisch. »Aus Le Piain«, antwortete Isabelle. Und darauf spekulierend, dass kein Bauer gerne Soldaten sah, fügte sie hinzu: »Soldaten waren gestern dort. Ein Mann namens Villenard führte sie an. Sie haben meinen Mann ausgepeitscht, und wir sind geflohen.« »Le Piain?« Die Bäuerin stellte ihre Gabel ab. »Ach, ihr Armen! Ich hab von den Leuten von Le Piain gehört. Erst die Kirche und dann gestern das ganze Dorf ... Die Frauen und die Kinder - es muss schrecklich gewesen sein! Schrecklich!« Die Frau kratzte kopfschüttelnd ihre fettige Kopfhaut. »Gibt's noch mehr, die's geschafft haben?« Isabelle war unfähig zu antworten. Die Frauen und die Kinder! Unseretwegen! »Allons, musst nicht weinen, Kleine. Ist der Lauf der Welt. Vor Gottes Gericht werden alle gleich sein, und bis dahin können wir nur hoffen, dass es nicht allzu lange dauert. Zieh dich an, und wenn 440
du fertig bist...«, sie hielt Isabelle eine Schale hin,«... dann kannst du dich nützlich machen und das platt gewälzte Stroh bezahlen, indem du die Ziegen melkst.« Als Isabelle einige Zeit später mit der dampfenden Schale im Haupthaus erschien, nickte die Bäuerin. »Hmm. In Ordnung. Weißt also, wie man an einem Euter zupft.« Sie lächelte schlau. »Hab deiner Geschichte erst nicht recht geglaubt, denn du sprichst wie ein feines Töchterchen. Auch suchen sie seit gestern ein Paar, irgendwelche Adelsleute, die einen Capitaine ermordet haben sollen.« Isabelle sah zu Boden. »Aber so piekfeine Leute würden bei einer Ziege noch nicht mal wissen, wo vorn und wo hinten ist.« Sie kratzte sich am Kinn. »Und wo ihr das Pferd herhabt, kannst du mir bestimmt auch sagen, pas vrai?« Isabelle erlaubte sich zu erröten. »Wir haben es gestohlen. Den Soldaten von Villenard, während sie bei uns alles verwüsteten.« Sie machte eine heftige Bewegung. »Sie haben uns schließlich auch alles weggenommen, oder? Das ist nur gerecht.« »So seh ich das auch.« Die Bäuerin lächelte breit. »Bist ein schlaues Mädchen, gefällst mir! Schade, dass du schon vergeben bist, könntest meinen Lausejungen ein bisschen Grütze in die Köpfe stopfen.« Es blitzte verschlagen in ihren Augen auf. »Apropos«, fragte sie mit gespielter Unschuld, »wie geht's deinem Mann?« »Besser«, beeilte Isabelle sich zu sagen. Und angesichts der Enttäuschung der Frau fügte sie hinzu: »Wir werden heute weiterreiten.« Mit Sorge dachte sie an Philippe. Sein Fieber war zwar gesunken, doch nicht verschwunden, und er war vorhin so schwach gewesen, dass er sich kaum hatte aufsetzen können. »Es gibt doch diese große Stadt hier in der Nähe, oder?«, fragte sie. »Rethel. Die Aisne fließt doch hindurch. Bestimmt gibt es dort auch ein paar Schiffer, die uns mitnehmen würden.« Die Bäuerin schüttelte den Kopf. »Die Aisne ist ein wildes Wasser. Ich war selbst noch nie so weit, doch ich hab gehört, man kann sie erst ab Chateauporcien befahren. Bis dahin müsst ihr schon reiten.« »Chateauporcien?«, fragte Isabelle bang. »Wie weit ist das?« Die Bäuerin blies ihre Backen auf. »Naja, zwölf Meilen vielleicht.« Isabelle unterdrückte ihre Enttäuschung. Sie dachte nach. »Ich habe einen Vorschlag zu machen: Sie könnten uns einen oder 441
auch beide Ihrer Jungen mitgeben, um uns den Weg zu zeigen. Und dann, wenn wir mit einem Schiffer einig geworden sind, könnten Ihre Jungen das Pferd als Dank behalten.« Isabelle lächelte die Frau gewinnend an. Natürlich hätten sie auch ohne Hilfe Chateauporcien gefunden. Doch seit Villenards Verrat traute sie keinem mehr. Wenn die Frau ihnen ihre Söhne mitgab, würde sie ihnen wenigstens nicht die Soldaten hinterherschicken. Die Bäuerin lächelte treuherzig. »Klingt gut«, sagte sie.
*
Es dauerte zwei Tage, bis sie die Strecke bis Chateauporcien bewältigt hatten. Philippe brauchte lange Pausen, und sie konnten sich nur im Schritt fortbewegen. Die zwei mitgeführten Jungen erwiesen sich als nützlich. Sie waren zähe Burschen, gut zu Fuß und halfen Isabelle beim Stützen des Kranken. Das Gewitter des gestrigen Tages hatte die Luft gereinigt und die Wärme erträglich gemacht. Als die Nacht hereinbrach, vertraute Isabelle dem schönen Wetter und beschloss, unter freiem Himmel zu schlafen. Sie machte sich keine Hoffnungen mehr, was ihren Vorsprung vor Villenard betraf. Ihre einzige Chance, bis Paris durchzukommen, bestand darin, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Die Gefahr einer erneuten Bekanntschaft mit einem Bauern wollte Isabelle nicht eingehen. Pierre und Henry steckten einige Äste zu einem notdürftigen Dach zusammen, und es gelang ihnen, ein paar Stunden auf ihren schlechten Decken zu ruhen, bevor sie sich in aller Frühe wieder auf den Weg machten. Als die Reisenden auf die schäumende Aisne trafen und ihrem von kleinen Wasserfällen durchbrochenen Lauf flussabwärts folgten, kamen ihnen öfters Menschen entgegen. Auch hier erwiesen Pierre und Henry sich als unerwartete Hilfe. Dank der beiden Jungen machte ihre Gruppe den Eindruck einer Familie auf der Flucht, und die beiden sprachen einen Dialekt, der sie sofort als Einheimische auswies. Endlich, am Nachmittag, erreichten sie ihr Ziel. Chateauporcien stellte sich als ein unscheinbares Dorf heraus, dessen Leben sich hauptsächlich am kleinen Hafen abspielte. In ruhigeren Zeiten mochte hier ein reges Treiben stattfinden, heute lag ein einziges
442.
Schiff am Quai. Es war ein flacher Kahn, auf dem eine tunnelförmig gespannte Plane Waren und Menschen Schutz spenden sollte. Fünf bis sechs derb aussehende Männer schritten unermüdlich über die Planken, die das Schiff mit dem Ufer verbanden, um es zu beladen. Sie hievten eingerollte Sergestoffe und Lederballen an Bord, Kisten mit Kerzen, schmutzgraue Berge roher Wolle und Fässer voller Rapsöl und Wein. Vier andere standen daneben Wache und beäugten misstrauisch ihre Umgebung. Es war mehr Raum als Fracht vorhanden, und der Kapitän des Kahns schien erfreut, sein Einkommen mit zwei Passagieren aufbessern zu können. Also verabschiedeten Philippe und Isabelle sich von Pierre und Henry und gaben ihnen das versprochene Pferd mit. Sie wollten sich gerade an Bord begeben, um nicht länger in dem Hafen aufzufallen, als der Schiffer die schwarzbuschigen Brauen zusammenzog. »Na, wen suchen die denn heute?«, fragte er und schob seinen Kautabak von einer Backentasche in die andere. Isabelle drehte sich um - und erstarrte. »O mein Gott...« Die zehn bis fünfzehn Reiter waren bereits so nahe, dass sie ihre Stimmen vernehmen konnte. Sie hatten sich um Villenard gruppiert, der einen Lastträger befragte. Philippe hatte ihn auch gesehen. »Pscht«, raunte er an ihr Ohr. »Bleib ganz ruhig. Noch haben sie uns nicht entdeckt.« Er drückte beruhigend ihre Schulter. »Komm, lass uns zu den Fässern dort drüben hingehen. Du wirst mich da absetzen und dann in Deckung gehen.« Isabelle versteifte ihren Rücken. »Ich werde dich nicht alleine ...« »Du wirst tun, was ich dir sage. Frei bist du uns nützlicher!« Isabelle schluckte ihre Antwort hinunter. Mit Sorge hatte sie gesehen, wie der Lastträger in ihre Richtung gedeutet hatte. Villenard nickte dankend, sah zu ihnen herüber - und gab seinem Tier die Sporen. »Wir müssen weg!« Isabelle biss die Zähne zusammen, als sie Philippes Gewicht spürte. »He, vous deux! Bleiben Sie stehen!« »Flieh alleine!«, befahl Philippe. Isabelle stemmte wortlos seinen Arm hoch und zog ihn mit sich. 443
»Halte! Arrêtez-vous !« Isabelle keuchte, hastete weiter. Philippe stolperte, Schweiß trat auf seine Stirn. Er würde jeden Augenblick zusammenbrechen. Dennoch hätte Isabelle um nichts auf der Welt den Arm losgelassen, der schwer wie Blei auf ihr lastete. Nie wieder, dachte sie. Eine weitere Gefangenschaft wird ihn umbringen! »Belle ... Halt an ...« Philippe atmete schwer. »Es macht keinen Sinn.« Er sah nach vorn, und da erblickte sie sie auch: weitere Reiter. Sie strömten von links heran, von rechts... Isabelle sah gehetzt um sich. Philippe und sie waren umzingelt. »Madame de Vigueil ... Monsieur de Vigueil!«, grüßte Villenard und nahm seinen Hut ab. »Wie ich sehe, komme ich gerade noch rechtzeitig. Ich hatte angenommen, dass Sie sich vielleicht hier einschiffen würden. Sie haben alles für Ihre Abreise geklärt?« Philippe bemühte sich, möglichst aufrecht zu stehen. »So ist es, Monsieur de Villenard.« »Sehr schön.« Der scharfzügige Mann nickte Isabelle zu. »Bitte grüßen Sie Monsieur le Duc von mir, wenn Sie zurück sind, Madame.« Isabelle runzelte die Stirn. Philippe musterte Villenard intensiv. Auf einmal überflog ein Lächeln sein graues Gesicht. Er nickte und sagte langsam: »Meine Frau wird es nicht versäumen, Monsieur. Ich nehme an, Sie haben das Kommando über diese Männer übernommen, jetzt, wo Monsieur de Branne tot ist?« Villenard fixierte Philippe. »Es ist meine Pflicht, sie wohlbehalten nach Paris zurückzuführen.« »Ich bin sicher, Sie werden diese Pflicht vorbildlich erfüllen.« Villenard neigte den Kopf. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Ihnen eine gute Reise zu wünschen, Monsieur. Genießen Sie die Fahrt.« Villenard stülpte sich wieder seine Kopfbedeckung über und machte seinen Männern Zeichen. Ein paar Herzschläge später waren alle verschwunden. Philippe schlief sofort ein, kaum dass er den Schiffsboden berührt hatte. Isabelle lehnte sich zurück, überwältigt von einem Gefühl der Unwirklichkeit. Sie konnte es nicht fassen, dass die Jagd vorbei sein 444
sollte, und fragte sich, wie lange ihr noch die Angst im Nacken sitzen würde, die ihr bei jedem lauten Wort, jeder unerwarteten Bewegung in ihrem Umfeld Herzklopfen verursachte. Sie blickte auf Philippe, der sich über einem Leinensack zusammengerollt hatte, die Fäuste fest in den derben Stoff geschlagen. Die Reise hatte bewirkt, dass sie das Gefühl hatte, ihn besser zu verstehen. Ihre Kindheit war geprägt gewesen von Entbehrungen und Schicksalsschlägen, doch sie hatte bisher noch nie Erniedrigung und Folter erleben müssen. Philippe war zehn Jahre lang fremder Willkür unterworfen worden. War es da ein Wunder, dass er sich noch verfolgt fühlte, dass er ständig auf der Hut schien und manchmal schrecklich unnahbar wirkte? Sie dachte an die kleine Flamme, die sie in seinen Augen erblickt hatte, als sie verzweifelt versucht hatte, ihn nach seinem Zusammenbruch wieder auf ihre Stute zu heben. Der Gedanke an seine Rache hatte diese Flamme wieder ins Leben gerufen. Wäre dieses Glühen nicht gewesen, wäre Philippe im Buschwerk liegen geblieben. Sie wischte über ihre Augen. Philippe musste sich Helenus entgegenstellen, das wusste sie jetzt. Sie wusste auch, dass sie kein Recht hatte, Philippe sein Verhalten vorzuwerfen. Sollte Helenus während des Duells etwas zustoßen, wäre es auch ein wenig ihre Schuld, denn nur weil sie Philippe erneut auf sein Pferd gezwungen hatte würde die Auseinandersetzung überhaupt stattfinden können. Ihr hatte, das Schicksal eben genauso wenig die Wahl gelassen wie Philippe. Sie dachte an Helenus und ihr Geständnis, das sich jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo in Paris befand. Wo mochte Branne es hingeschickt haben? Sie verbot sich, weiter nachzudenken, und zog den Proviantsack an sich. Ihre Vorräte waren reichlich geplündert worden in den letzten zwei Tagen ihrer Flucht, und sie bedauerte, keine Zeit gehabt zu haben, in Chateauporcien neue Reserven anzulegen. Alles, was ihnen blieb, waren die Getreidebällchen, die Philippe eigenhändig in Brühl hergestellt hatte. Isabelle entnahm dem Sack eines der großen Bällchen und musterte es kritisch. Kichererbsenmehl, erinnerte sie sich. Sie waren nicht besonders appetitlich, dafür waren sie zu blass und zu unregelmäßig ge 445
formt, doch dank der geölten Haut, in die sie eingeschlagen worden waren, hatten sie die Strapazen der letzten Tage erstaunlich gut überstanden. Mit einem bedauernden Gedanken an Timoléon biss Isabelle hinein - und stieß einen Schmerzenslaut aus. Ihre Zähne waren empfindlich auf etwas Hartes getroffen. Sie spuckte alles wieder auf ihre Hände aus, spähte irritiert nach der Füllung. Verflixt, wer legte denn einen Stein ... Auf einmal bekam sie einen Schluckauf. Hastig zog sie den Proviantsack heran und streckte ihre Hand samt Inhalt hinein. Sie sah sich um. Niemand war ihr seltsames Verhalten aufgefallen. Ihr war heiß. Sie schloss den Proviantsack mit besonderer Sorgfalt und legte ihn behutsam neben sich auf den Boden. Plötzlich stieg Wut in ihr auf. Was dachte Philippe sich dabei? Warum hatte er ihr nicht erzählt, was dieser Sack beinhaltete? Sie dachte an ihren Streit beim Schmied, als er ihr verboten hatte, ihre Vorräte zu verschenken, an seine hektische Suche nach der Tasche in der Küche von Bel Air. Par tous les saints, weshalb hatte er ihr sein Verhalten nicht einfach erklärt? »Du hast die Füllung der Kichererbsenbällchen gefunden.« Isabelle sah hoch. Philippe war aufgewacht. Seine Augen wirkten klarer. Er stemmte sich auf, bis er eine sitzende Stellung erreicht hatte. »Ich hätte mir einen Zahn ausbeißen können!«, funkelte sie ihn an. »Am liebsten würde ich die ganzen vermaledeiten Bällchen in den Fluss werfen!« Sie sahen einander an. Irrte sie sich, oder sprang ein belustigter Funke in seinen Augen herum? »Komm her.« Er winkte ihr zu. »Komm.« Sie kroch näher. Ihr Herz schlug ein wenig schneller. »Was ist?«, fragte sie unfreundlich genug, um ihrer Würde Genüge zu tun. Er fasste an ihren Kopf, zog ihre überdimensionale Haube von ihrem Haar und warf sie über Bord. »Endlich. Das wollte ich schon die ganzen Tage tun. Das scheußliche Ding brauchst du jetzt nicht mehr.« »Ist das alles?«, schimpfte sie. »Alles, was du dazu zu sagen hast? Seit Tagen schleppen wir diese ...« Sie musste einhalten, um ihre Haare zurückzustreichen, die der Fahrtwind erfasst hatte. Ihres 446
unförmigen Schutzes beraubt, flatterten ihre Locken in langen, goldenen Strähnen um sie herum. »Ein Ebenbild der Sonne!«, lächelte Philippe. »Ich gebe zu, dass ich Villenard diesen Anblick nicht gegönnt hätte!«
Isabelle streckte die Waffen. Weshalb sollte sie jetzt noch Philippe dazu zwingen, über den Inhalt des Sackes zu reden? Höchstwahrscheinlich hatte er der Königin oder Mazarin sein Wort gegeben, darüber Stillschweigen zu wahren. Hatten sie nicht beide ihre Geheimnisse voreinander? Er hatte ihr Leben in dieser Mission riskiert. Doch sie hatte über ihre Erpressung durch Branne geschwiegen und war damit nicht unerheblich schuld an Philippes Auspeitschung. Der Gedanke an Villenard half ihr, ihre aufkommende Traurigkeit zu unterdrücken. »Villenard...«Isabelle benetzte ihre Lippen, schüttelte den Kopf und klemmte eine Locke hinter ihr Ohr. »Ich verstehe das alles nicht. Warum ist er gekommen, nur um uns wieder laufen zu lassen?« »Er wollte uns verdeutlichen, dass er uns hätte abfangen können, wenn er es gewollt hätte. Wir sollen ihm dankbar sein - und den kleinen Vorfall von Le Piain vergessen.« Philippe lächelte leicht. »Ich schätze, er möchte wieder in die Reihen der Schützlinge der Noirlieus aufgenommen werden.« »Aber die Steine...?« »Nun, ich möchte dem lieben Villenard nicht zu nahe treten, doch er schien mir nicht besonders begabt für diese Mission. Wahrscheinlich hat er in Le Piain jeden einzelnen Stein umgedreht und, als er nichts fand, die Hoffnung aufgegeben, sie zu finden. Dass wir sie nicht haben, dessen hat er sich ja eigenhändig überzeugt«, schmunzelte Philippe und warf einen Blick auf ihren Proviantsack. Isabelle musste schlucken. »Die Bäuerin, in deren Stall wir die erste Nacht verbrachten, hat gesagt, dass sie die Frauen und Kinder von Le Piain ... dass sie ...« Philippe ergriff ihre Hand. Seine Finger waren warm, und sie schloss kurz die Augen. »Trotzdem verstehe ich Villenards Verhalten nicht.« Sie warf Philippe einen scheuen Blick zu: »Er kann doch Brannes Tod nicht un-gesühnt lassen!« 447
Philippe wurde ernst. »Mein Glück ist, dass Conde mich lebendig haben wollte - dass Villenard mich also nicht einfach von seinen Leuten exekutieren lassen konnte. Und Villenard ist, wie so oft bei grausamen Menschen, Höhergestellten gegenüber feige. Zu feige, um sich einem Befehl Condes zu widersetzen.« Isabelle runzelte die Stirn. Philippe zögerte, entschloss sich dann aber dennoch fortzufahren. »Villenard hätte mich nach meiner Gefangennahme zurück nach Paris bringen müssen. Und da wäre er Gefahr gelaufen, dass ich Monsieur le Prince die ganze Wahrheit erzähle. Das wäre das Ende von Villenards Karriere gewesen.« Isabelle breitete die Hände aus. »Ich verstehe noch immer nicht...« Philippe wirkte auf einmal abweisend. »Parbleu, Isabelle, er hat Branne getötet, als er von seiner fruchtlosen Suche in Le Piain wiederkam!« Isabelle riss die Augen auf. »Villenard? Villenard hat Branne umgebracht?« »Villenard hat Branne gehasst, der nicht eine Gelegenheit versäumte, ihn auf seine Unzulänglichkeiten hinzuweisen.« Philippe schüttelte den Kopf. »Überrascht dich das? Ein Mann, der nicht zögert, eine Kirche anzuzünden und zwei Menschen darin verbrennen zu lassen, ein Mann, der in Le Piain Frauen und Kinder umbringen lässt, hat auch keine Skrupel, seinen Befehlshaber zu töten, wenn er diesen gefesselt am Boden vorfindet. Nur dass er Letzteres natürlich schlecht zugeben kann. Also gibt er mir die Schuld an dem Mord und arrangiert es, dass ich entkomme, damit ich Conde nicht die Wahrheit erzähle.« Isabelle senkte den Blick. »Auch ich, Philippe ... auch ich habe gedacht ...« Philippe presste die Lippen aufeinander. Sein Blick verlor sich im vorbeigleitenden Ufer. »Nein. Ich war es nicht, Isabelle. Ich habe es nicht geschafft, hörst du?« Isabelle presste eine Hand an ihren Mund. »Wir haben miteinander gekämpft, und es ist mir gelungen, ihn zu überwältigen. Doch dann ...«Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nun, dass er dich erpresst hat. Ich weiß, dass er dir das Leben zur Hölle gemacht hat, und auch, dass er dich gezwungen hat... dass er und du ...«Isabelle hob an zu sprechen, doch er unterbrach sie mit einer schroffen Geste. Zornig sagte er: »Dieser Mann hat alles zerstört, 448
was noch zwischen uns hätte entstehen können, Isabelle. Wir hatten einen schwierigen Anfang, doch ich hoffte lange, dass du und ich ...«Sein Adamsapfel bewegte sich. »Doch dann bist du schwanger geworden. Er hat dich gezwungen, das ist mir jetzt klar, und du ... du hast dich nicht wehren können. Du hast mir nicht genug vertraut, um mich um Hilfe zu bitten. Wie hättest du auch? Habe ich dich nicht tief verletzt, habe ich dich nicht fortgestoßen, als du mir von Magdelaine
erzähltest? Ich wollte meine Rache. Ich will sie immer noch. Und dadurch habe ich dich diesem Branne ausgeliefert.« Bitter sagte er: »Ich war unfähig, meine eigene Frau zu beschützen.« Eine kleine Pause entstand. Isabelle war zu aufgewühlt, um zu sprechen. Sie hätte Philippe trösten wollen, ihn an sich ziehen, doch sie wusste auch, dass er jetzt keine Berührung ertragen hätte. Nach einer Weile begegnete sie Philippes Blick. Er flackerte. Philippe öffnete den Mund, schloss ihn wieder, stieß dann aus: »Ich habe dich gesehen, Belle. In dem Fenster. Dich und ihn.« »Philippe...!« »Er hat dich angefasst. Er hat dich beschämt - dich erniedrigt. Dir Gewalt angetan! Und ich stand da unten und konnte nichts ...« »Mon cheri!« »Das werde ich mir nie verzeihen, hörst du? Ich habe alles ertragen, all die vergangenen Jahre aber es ging damals immer nur um mich!« Er ballte die Fäuste. »Und dann stand ich da, vor diesem Kerl, der dir das alles angetan hat - der mir jede Möglichkeit genommen hat, jemals meinen Fehler bei dir wiedergutzumachen ...« Er wandte das Gesicht ab. Isabelle griff nach ihm. »Aber Philippe, wir können doch immer noch ...« »Nein!«, rief Philippe und starrte sie wütend an. »Ich kann das nicht, verstehst du? Ich wollte es nicht wahrhaben, doch Branne hatte recht! Er wird immer zwischen uns stehen! Ich werde dich nie mehr berühren können, ohne zu denken, dass er der Erste war! Und das nur, weil ich unfähig war, dich zu halten! Nenn es krank, nenn es ungerecht, doch es ist so! Und all das wusste ich, als ich da stand und Branne vor mir auf dem Boden lag!« Philippe packte Isabelles Schulter so unvermutet, dass sie zusammenzuckte. »Er hatte den Tod verdient, Belle! Für alles, was er dir angetan hat! Doch ich habe es nicht 449
fertiggebracht, ihn zu töten! Ich habe versagt, Isabelle, hörst du? Erneut habe ich versagt!« Mit weißem Gesicht und schwerfälligen Bewegungen zog er sich auf die Beine. Er torkelte ein paar Schritte, bis er sich am Bug fallen ließ. Dort drehte er ihr den Rücken zu und starrte in die Fluten. Isabelle weinte lautlos. Weinte um den Schmerz, den Philippe verspürte, um all die Nächte, die sie wach gelegen hatte in dem Glauben, er würde sie wegen ihrer Herkunft verachten. Sie wandte dem Fluss das Gesicht zu, um sich vom Fahrtwind ihre Wangen trocknen zu lassen. Ihr Herz schlug unruhig. Sie strich ihre tanzenden Haare zurück, betrachtete Philippes abweisenden Rücken. Würde das ab jetzt ihr Schicksal sein? Philippe zu sehen, mit dem Wissen, ihm nie wieder nahe kommen zu können? Er glaubte, Branne habe sie genommen, habe ihm geraubt, was ihm zustand. Wie konnte sie ihm erklären, dass das nicht stimmte, wie konnte sie Lüge von Wahrheit trennen, wenn er ihr dazu keine Gelegenheit ließ? Wenn er sie fortstieß, ihr nicht zuhörte? Du musst es wollen, mon chéri, bat sie ihn stumm. Du musst mich wollen. Sieh mich an! Doch Philippe drehte sich nicht um.
Achtzehn Das Gute, das wir von jemandem empfangen haben, verlangt, dass wir das Böse hinnehmen, das er uns zufigt. August-September 1651
Als Isabelle an diesem Morgen in ihren zerknitterten Laken erwachte, blieb sie zunächst liegen. Es waren die Rufe der Stalljungen, die sie geweckt hatten, und sie bedauerte, dass sie die Fenster ihres Zimmers über Nacht hatte offen stehen lassen. Sie hatte Stunden gebraucht, um in der Hitze der Nacht Schlaf zu finden - diese Stadt war einfach zu laut. Auch drei Wochen nach ihrer Rückkehr hatte sie sich noch nicht wieder daran gewöhnt. Ein lichter Schlitz zwischen den Läden um ihr Bett verriet Isabelle, dass es bereits heller wurde. Dennoch musste es noch früh sein, denn es war ein gedämpftes Graublau und kein direktes Sonnenlicht, das sie ihre Umgebung erkennen ließ. Sie bewegte sich träge. Sie fühlte sich zerschlagen, und das nicht nur wegen der seit fünf Tagen andauernden Hitzewelle. Schließlich schob sie seufzend die bemalten Läden ihres Bettes zurück und stand auf. Sie überlegte, ob sie ihre neue Zofe rufen sollte, doch angesichts der Frühe des Tages entschied sie, dass es keine Eile hatte, sich anzukleiden. Auf dem Weg zu den Fenstern erblickte sie das schwarze Kleid, das Marjorie gestern ausgebreitet hatte. Sie zog eine Grimasse. Es war wirklich eine Zumutung, bei dieser Hitze hochgeschlossene schwarze Kleidung tragen zu müssen. Als wenn ihre Trauer um Marie-Olympe geringer gewesen wäre, wenn sie ein luftiges Sommerkleid übergestreift hätte! Von plötzlicher Wehmut ergriffen, trat sie ans Fenster. Wieder einmal bedauerte sie, dass ihre Großmutter ausgerechnet während ihrer Reise gestorben war. Kein Familienmitglied war bei ihr
gewesen, um ihre Hand zu halten. Helenus hatte sich in der Zeit in seine Räume eingeschlossen, war ihr erzählt worden. Marie-Olympe hatte auch im Tod kein Erbarmen vor seinen Augen gefunden. Und 451
was Philippe betraf: Ob das Ableben der Duchesse ihn freute, oder ob er es bedauerte, nicht doch noch mit ihr zu Gericht gegangen zu sein, wollte Isabelle gar nicht so genau wissen. Isabelle streckte die Hand aus dem Fenster. Ein Hauch einer Brise stieg aus dem Garten und strich über ihre Haut. Isabelle beschloss, heute einmal im Park nach dem Rechten zu sehen. Zwar wartete ihre Freundin Cecile auf ihren Besuch, doch davor würde noch Zeit genug sein, ihre geliebten Orangenbäume zu besuchen, die inzwischen ihren Sommerplatz zwischen den Beeten eingenommen hatten. Sie musste nur rechtzeitig zurück sein für ihr Treffen mit Vincent de Paul. Dieser greise Franziskaner hatte sich der schier übermenschlichen Aufgabe verschrieben, die Misere der Landbevölkerung, insbesondere in der Champagne, zu mildern. Das Schicksal der Menschen von Le Piain ließ Isabelle keine Ruhe, und sie wollte alles in ihren Kräften Stehende tun, damit keiner dort diesen Winter verhungerte. Ein Knirschen drang zu Isabelle hoch. Sie beugte sich über den Sims. Die Stalljungen, die sie geweckt hatten, waren offensichtlich schon lange auf den Beinen. Ein fertig gesatteltes Pferd wurde aus dem Stall geführt. Isabelle erkannte den Fuchs, den Philippe bevorzugte. Jetzt trat Philippe aus dem Haus. Seit er genesen war, tat er alles, um wieder zu Kräften zu kommen, verbrachte viel Zeit auf Pferderücken und nahm erneut Fechtunterricht bei diesem rothaarigen Spanier namens Borrasca. Nichts war ihm mehr anzumerken von den erlittenen Strapazen ihrer gemeinsamen Reise. Isabelle faltete ihre Hände und legte sie an den Mund. Philippes Genesung warf natürlich eine neue Frage auf. Solange er krank gewesen war, war ein Duell nicht in Frage gekommen. Doch seit er wieder ein normales Leben führte, verfolgte sie sein und Helenus' Verhalten mit Argusaugen. Bisher allerdings war ihr nichts aufgefallen, was Anlass zur Sorge bereitet hätte. Beide Männer schienen sich aus dem Weg zu gehen. Und Isabelle begann zu hoffen, dass dieser Status quo beibehalten werden würde. Philippe war für seinen Einsatz entlohnt worden und hatte endlich erreicht, was er sich so lange wünschte: die Eröffnung eines Prüfungsverfahrens der Ereignisse um das Verschwinden seines Vaters. Isabelle dachte an den Empfang, bei dem Philippe darauf bestan 213
den hatte, dass sie ihn begleitete, an ihrer beider Auftreten vor der Königin und ihrem Sohn. Anne war huldvoll gewesen zu dem Mann, der ihr den Regentenstuhl erhalten hatte, und hatte selbst für Isabelle ein freundliches Wort gefunden. Und der König ... »Monsieur«, hatte der junge König zu Philippe gesagt, »es heißt, Geschichte wiederhole sich nicht. Doch selten wurde einem Sohn eine so eklatante Möglichkeit gegeben, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und dessen Irrweg zu begradigen. Mein Vater vertraute dem Ihren eine kostbare Fracht an. Ich tat ein Gleiches. Und ich habe keinen Anlass zu glauben, dass Monsieur Macé de Vigueil meinem Vater weniger ergeben diente, als Sie es taten. Ich bin sicher, dass die von Madame ma mère anberaumte Untersuchungskommission zu einer ähnlichen Überzeugung kommen wird.« Isabelle hatte an dem Aufleuchten im Gesicht ihres Mannes erkannt, dass er die Bedeutung von Louis' Worten genauso erfasst hatte wie sie selber: Macés Rehabilitierung war nur noch eine Frage der Zeit. Das Fürwort des Königs hatte mehr Gewicht als alle Beweise dieser Welt. Doch dann hatte Louis sich plötzlich an sie gewandt. »Madame, ich hörte, Sie begleiteten Ihren Herrn Gemahl auf dieser Reise?« »Noch mehr als das, Sire«, antwortete Philippe an ihrer Statt. »Meine Frau hat nicht unerheblich zum Gelingen meiner Mission beigetragen.« »Voila qui est bien«, hatte Louis mit undurchdringlicher Miene gelobt. »Es freut mich zu sehen, dass Sie so klug waren zu berücksichtigen, was ich Ihnen über Ihren Mann mitteilen ließ.« Isabelle hatte etwas Passendes gemurmelt und sich erinnert, dass Philippe sie in der Tat gewarnt hatte, als er einmal mit blutiger Hand von einer Mission zurückgekehrt war. Damals hatte sie seine Worte nicht ernst genommen, doch vor dem König hatte sie ihren Irrtum realisiert. Sie hatte mit leisem Staunen zu Louis aufgeblickt: Dort hatte kein lenkbares Kind gestanden. Sondern ein junger Mann, der fest entschlossen schien, das Geschick seines Landes so bald wie möglich in die eigene Hand zu nehmen.
Seine nächsten Worte hatten Isabelles Eindruck bestätigt: »Ich bin auf Ihren Bericht gespannt, Monsieur de Vigueil.« Ein bedrohliches Funkeln hatte seine blauen Augen aufleuchten lassen. »Selbstver 453
ständlich bin ich insbesondere daran interessiert zu erfahren, wer Ihre Reise behinderte.« Seitdem verfolgte Isabelle das politische Geschehen im Land mit noch mehr Interesse als früher. Als Erstes fiel auf, dass sich die Reihen der Höflinge, die sich um Conde drängten, gelichtet hatten. Insbesondere ehemalige Frondeurs, die mit dem Prinzen paktiert und zu seiner Freilassung beigetragen hatten, wendeten sich von ihm ab. Annes Hof hingegen war stets gut besucht. Die Königin lebte sichtbar auf und strahlte neue Zuversicht aus und hatte schließlich vor ein paar Tagen für einen Eklat gesorgt. Nachdem sie alle Großen des Königreichs sowie die bürgerlichen Vertreter des Parlaments und der Hauptstadt ins Palais Royal eingeladen hatte, ließ sie ihnen ein erstaunliches Schriftstück vorlesen, das die Unterschrift des jungen Königs trug. Nach den üblichen Beteuerungen, dass Mazarin niemals wieder das Land betreten würde, und der Androhung härtester Strafen für jeden, der mit dem verfemten Italiener in Briefkontakt treten würde, waren darin alle Gnaden, Geschenke, Statthalterschaften und finanziellen Zuwendungen aufgelistet worden, die der Prinz von Conde erhalten hatte. Gegenübergestellt wurden sein anmaßendes Auftreten, seine beleidigenden Äußerungen, seine Forderungen und seine Verbindungen mit dem spanischen Feind. Das Ganze war ein Aufruf an die Versammelten gewesen, die Königin zu unterstützen und ganz offen Partei gegen Conde zu ergreifen. Dieser kühne Vorstoß war der Startschuss für eine Folge hitziger Auseinandersetzungen im Parlament gewesen. Conde und seine noch vorhandenen Anhänger prallten dort regelmäßig mit den königstreuen Parlamentariern zusammen. Anne und ihr Sohn, die den Skandal wohl bewusst provoziert hatten, wohnten den ganzen Debatten mit Gemütsruhe bei. Ihre Feinde waren miteinander beschäftigt, und genau das hatten sie erreichen wollen. Die Zeitspanne bis zur Volljährigkeit des Königs schrumpfte und damit die Gefahr, dass dem jungen Louis die Macht entrissen wurde, bevor er sich hätte auf den Thron setzen können. Ein Reiter bog in den Innenhof ein, und Isabelle beugte sich wieder vor. Sie erkannte den rothaarigen Spanier mit der großen Nase. Philippe begrüßte ihn ernst und schwang sich ebenfalls auf sein 454
Pferd. Kurz darauf ritten beide mit einer Eskorte von vier bewaffneten Dienern davon. Isabelle verließ ihren Beobachtungsposten und klingelte lustlos nach Marjorie und den zwei Zimmermädchen, damit diese ihr beim Ankleiden zur Hand gingen. Als sie gerade in den zweiten ihrer drei schwarzen Unterröcke geschlüpft war, stieg erneut Lärm zu ihrem Fenster herauf. Isabelle warf einen gereizten Blick auf den Spiegel, der das Geschehen unten am Haus wiedergab. »Es scheint, als habe diese Nacht keiner im Haus Ruhe gefunden. Was treibt bloß alle heute dazu, so früh auszufahren?« »Es ist Monsieur le Duc«, meinte Marjorie, wobei sie das Wort Duc mit offensichtlicher Genugtuung aussprach. Marjorie war vorher Zofe bei der Comtesse d'Entiers gewesen und stolz darauf, nun bei einer angehenden Herzogin Dienst zu tun. »Wo er wohl in dieser Frühe hinfahren mag?«, murmelte Isabelle zu sich selbst. Sie hielt die Arme hoch, um sich das Überkleid überstreifen zu lassen und stieß einen Schmerzenslaut aus, als eine ihrer Locken sich um die blauschwarzen Perlen verzwirbelten, die das Kleid verzierten. »Pass doch auf!« »Pardon, Madame! Das haben wir gleich!«, sagte Marjorie beflissen. »Seht nur, was ihr angerichtet habt, ihr beiden!«, schimpfte sie die zwei Mädchen aus, die unbeteiligt danebengestanden hatten. »Los, bewegt euch! Ihr tut Madame la Comtesse weh!« Isabelle seufzte innerlich auf und dachte bedauernd an Marions geschickte Hände zurück. Wo ihre ehemalige Zofe wohl steckte? Was hatte sie dazu getrieben, das Haus zu verlassen? Ihre Sachen hatte sie mitgenommen, was einen Unfall ausschloss, doch sie hatte sich noch nicht einmal ein Zeugnis ausstellen lassen! »Monsieur le Duc fährt nicht aus, Madame«, sagte eines der Mädchen und ignorierte Marjorie souverän. »Die Kutsche bleibt da. Ich hab vorhin gehört, wie er nach seinem Pferd rief. Er schien in Eile.«
»Ja, er sagte, er sei irgendwo mit Monsieur de La Rochefoucauld verabredet«, bestätigte das zweite Mädchen. Isabelle legte verwundert die Stirn in Falten. Helenus litt oft unter Gichtanfällen und Gelenkschmerzen. Er verzichtete auf die Be 455
quemlichkeit einer Kutsche nur, wenn sein Ziel nicht befahrbar war. Wo mochte er wohl hinwollen? »Ah, da ist ja Monsieur le Duc!«, rief das erste Mädchen munter. In der Tat erschien nun Helenus' Gestalt in der hellen Fläche des Spiegels. Er trug einen Kasten unter dem Arm, den er einem der Diener übergab. Dann schwang er sich mit seinem Gefolge in den Sattel. Isabelle griff an ihren Hals. Sie stürzte zum Fenster. »Monsieur mon pere!«, schrie sie. Keiner der Reiter drehte sich um. Isabelle erhaschte nur noch einen Blick auf wehende Pferdeschweife. »Madame, was ist?« »Meine Stute, schnell! Ich muss sofort losreiten!« Isabelle stürzte aus dem Zimmer. Vor ihren Augen tanzte das Bild des schwarzen Kastens, den der Diener von Helenus in Empfang genommen hatte. Sie hatte ihn erkannt! Ein Mann mit grauem Anzug hatte ihn Helenus verkauft, als sie ihren Großvater in Timoléons Begleitung aufgesucht hatte, um ihm den letzten Erpresserbrief zu zeigen. Isabelle keuchte. Drei Handfeuerwaffen. Drei Handfeuerwaffen auf rotem Samt. Helenus hatte seine Duellpistolen mitgenommen.
* »Wie, kein Pferd?«, schrie Isabelle. Der Stalljunge hatte einen hochroten Kopf, doch er hielt den Blick hartnäckig auf seine Füße gerichtet. »Die Befehle von Monsieur le Duc und Monsieur le Comte sind eindeutig, Madame.« »Dann spannt die Kutsche an!«, rief Isabelle. »Auch das wurde uns verboten.« »Das glaube ich nicht!«, platzte Isabelle heraus. »Heißt das, dass ich mir ein Tier selber satteln muss?« »Madame, leider...«, mischte sich Aublevent, der Stallmeister, ein, »wurde mir befohlen, Sattel und Zaumzeug unter Verschluss zu halten.« »Ich werfe Sie raus, Aublevent!«, wütete Isabelle. »Sie können sich eine neue Stelle suchen, wenn Sie nicht sofort...« »Helas, Madame«, zuckte Aublevent ergeben mit den Schultern, 456
»auch Messieurs Ihr Großvater und Ihr Mann ließen keine Zweifel über meine Zukunft in diesem Hause, wenn ich Ihnen nachgeben sollte!« Er faltete die Hände. »Was soll ich denn tun, Madame? Versetzen Sie sich doch in meine Lage!« Am liebsten hätte Isabelle den Mann geohrfeigt. Das hatten Helenus und Philippe sich ja wunderbar ausgedacht! Doch noch gab sie sich nicht geschlagen. Sie zügelte ihren Zorn, ließ ihre Schultern fallen und zwang Ergebenheit auf ihre Züge. »Also gut... Ich verstehe. Dann sagen Sie mir wenigstens, wohin mein Mann und mein Großvater geritten sind. Sie haben es doch gewiss mitbekommen?« Aublevent zögerte sichtlich. Isabelle versteckte ihr Gesicht zwischen ihren Händen. »Mon Dieu, ich muss doch wenigstens gedanklich bei ihnen sein dürfen! Wie soll ich denn sonst für sie beten?«, jammerte sie. »Madame ...« Aublevent machte eine mitfühlende Geste. »Ich weiß nicht genau, wo sie hin sind, aber... es war die Rede vom Mar-che aux chevaux.« Isabelle ließ die Hände fallen. »Gut«, sagte sie fest in das verdutzte Gesicht des Stallmeisters. »Dann weiß ich wenigstens, wo ich hinmuss. Schicken Sie mir Mathieu und Bernard nach. Sie sollen mich begleiten.« Sie drehte sich um und rannte in Richtung Tor. Auf der Straße musste sie, wie ihr vorkam, unendlich lange warten, bis sich ein Mietwagen näherte. Als sie ihn heranwinken wollte, sah sie ihn bereits halten. Der Schlag öffnete sich, um eine maskierte Frau herauszulassen. Isabelle sprang hinzu. »Madame de Vigueil...!«, entfuhr es der Frau, als Isabelle sich an ihr vorbei in das Gefährt drängen wollte. »Marion!«, rief Isabelle aus. »Bist du es?« Sie fasste Marion am Arm. »Wolltest du zu uns? Hör zu, wir müssen später reden. Ich muss dringend zu meinem Mann. Au Marche aux chevaux!«, rief sie dem Kutscher zu und sprang in den Wagen.
»Ich komme mit!«, verkündete Marion entschlossen, kletterte zurück in den Wagen und zog den Schlag zu. Isabelle sah gerade noch, wie Bernard und Mathieu aus dem Tor des Hotel de Noirlieu gerannt kamen und auf den Bock sprangen, dann rollte die Kutsche an. Marion zog ihre Maske ab, während Isabelle mit wippendem Fuß aus dem Fenster starrte. »So eilig, Madame?«, fragte sie. 457
»Ja. Ich muss etwas verhindern ...«Isabelle biss sich auf die Lippen. Sie hatte nicht vor, Marion ihr Herz auszuschütten. Dafür warf das Verhalten ihrer ehemaligen Zofe zu viele Fragen auf. »Und du, Marion ... wie ist es dir ergangen? Weshalb bist du so plötzlich verschwunden?« Sie deutete auf Marions Kleid und fragte mitfühlend: »Du trägst auch Schwarz? Hattest du einen Trauerfall? Bist du deshalb abgereist?« Marion lächelte schmal. »Ich bin abgereist, um einem Mann zu folgen, Madame. Wir wollten heiraten.« »Wollten?«, fragte Isabelle. Marion sah weg. Ihre Lippen bebten. »Er ist ermordet worden. Auf heimtückische Art und Weise.« »Mon Dieu ... Das tut mir leid.« Isabelle berührte Marions Hand, doch diese entzog sich ihr. »Wolltest du zu mir, weil du deine alte Stelle wiederhaben möchtest? Bist du in Not? Wenn du etwas brauchst...« »Von Ihnen?« Marions Gesicht zuckte. »Nein. Nein, ich bin nicht gekommen, um zu betteln.« Isabelle, die noch ganz andere Sorgen hatte als die Gemütszustände der Zofe, spähte stirnrunzelnd aus dem Wagen. Sie beugte sich nach draußen. »Geht das denn nicht schneller?« Der Kutscher brummelte etwas. Kurz daraufhörte man seine Peitsche knallen. »Wozu bist du denn gekommen?«, fragte Isabelle, als sie sich nach einigen Minuten wieder zurückfallen ließ. »Nun, ich hatte mich nicht richtig verabschiedet und wollte das nachholen.« Mit einem seltsamen Lächeln schloss Marion: »Ich wollte mein Verhalten erklären und mich aussprechen. Auch mit Ihrem Mann.« Isabelle nickte zerstreut. Sie hatte bemerkt, dass sie nun das Hotel de Vendöme erreichten, hinter dem sich der Pferdemarkt befand. Sie sprang aus dem Wagen. »He, anhalten!«, rief der Kutscher ihr nach. »Mein Lohn! Wo bleibt mein Lohn?« Isabelle drehte sich nicht um. Sie schob sich rücksichtslos durch das bunte Gewimmel, das trotz der frühen Stunde bereits die Gasse verstopfte. Jemand sprach sie an, ein Bettler zupfte an ihrem Kleid. Sie riss sich los und eilte weiter. 458
Endlich erreichte sie die freie Fläche, die hinter dem Hotel de Vendome gelegen war. Ihr Herz stockte, als sie die zwei Männer sah, die sich in einigen Schritten Entfernung gegenüberstanden. Ein paar weitere beobachteten sie aus einiger Entfernung. Ich komme zu spät... Ich komme zu spät! Isabelles Herz hämmerte, während sie auf die Gestalten zuhetzte. Sie leben noch!, dachte sie verzweifelt. Sie scheinen zu zögern! In dem Moment hob einer der Männer die Hand und richtete eine Pistole auf sein Gegenüber. Es war Philippe. »Nein!«, schrie Isabelle. Sie stolperte über eine Grasssode, fing sich im letzten Augenblick, lief weiter. »Philippe! Tu es nicht!« Inzwischen war sie nah genug, um zu erkennen, dass er die Waffe entsicherte. Sie schrie aus Leibeskräften. »Philippe!« Er sah sie nicht an. Doch sie war überzeugt, dass er sie hören konnte, und meinte auch seinem Gesichtsausdruck entnehmen zu können, dass er sie wahrgenommen hatte. Und Helenus? Helenus hatte Philippe seine Vorderseite zugewandt, als brenne er darauf zu demonstrieren, was für eine hervorragende Zielscheibe er abgäbe. »Philippe!« »Sie sollten sich da nicht einmischen, Madame!« Zwei Arme griffen nach ihr, hielten sie fest. Sie schlug um sich. »Lassen Sie mich los! Sie haben kein Recht, mich festzuhalten.« »Nein, Madame. Das Recht habe ich nicht. Doch mit Verlaub: Sie sind genauso wenig befugt, in das einzugreifen, was da vorne geschieht.« Isabelle wandte sich um und erkannte La Rochefoucauld. »Ach ja?«, fauchte sie: »Mag sein, Monsieur, dass Sie für einen oder auch beide dieser Männer nur Gleichgültigkeit empfinden. Doch es sind mein Großvater und mein Mann, die sich da gegenüberstehen! Und ich bin nicht bereit, auf einen von ihnen zu verzichten!«
»Es liegt aber nicht in Ihren Händen, Madame. Seien Sie froh ...« La Rochefoucauld verfolgte scheinbar emotionslos das Geschehen. »Die meisten Menschen erleiden den Tod aus Stumpfsinn und Konvention. Nur wenigen ist es vergönnt, aus Entschlossenheit zu sterben.« In dem Augenblick bog sich Philippes Zeigefinger, und ein Schuss durchriss den aufkommenden Tag. 459
Nie sollte Isabelle Philippes Gesichtsausdruck vergessen, als die Kugel sich löste. Und nie die Tränen in seinen Augen, als er den hoch über seinem Kopf ausgestreckten Arm langsam wieder sinken ließ. Isabelle bedeckte ihren Mund mit ihrer Hand, schluchzte auf. Es hielt sie nun keiner mehr, und sie rannte los. »Philippe ...!« Sein Gesicht war weiß vor Erschöpfung. »Ich ... Ich habe es nicht gekonnt, Belle ...« Sie hielt an, in zwei Schritten Abstand, wie zurückgehalten von einer unsichtbaren Grenze. »Ich verstehe das nicht!« Er starrte auf die Waffe in seinen Händen. »Jahrelang habe ich hingelebt auf diesen Augenblick ... Habe von der Kraft gezehrt, die mir dessen Vorstellung einflößte ...«Er schüttelte den Kopf und sah verloren und ratlos aus. Er, der stets Stärke und Entschlossenheit ausgestrahlt hatte, wirkte auf einmal so verletzlich, dass Isabelle Angst um ihn bekam. Behutsam und weich sagte sie: »Jetzt brauchst du diese Kraft nicht mehr, Philippe! Dein Rachedurst mag dich gerettet haben, doch er entsprang einer Welt der Zwänge! Er hat dich nicht weniger gefesselt als die Ketten, die du zerschlagen hast. Du bist jetzt frei! Endlich ...« Sie konnte nicht weitersprechen, denn dann hätte sie ihm die Tiefen ihres Herzens offenbart, und sie hatte Angst, ihn zu verschrecken mit der Gewalt ihrer Sehnsucht. Er hatte sich gerade befreit - sie durfte nicht den Fehler machen zu versuchen, ihm sofort neue Ketten anzulegen. Er sollte frei sein! Sie musste ihn loslassen - ihm zuliebe. »Aber...« Isabelle schluckte. Ein blonder Mann mit Holzschuhen, der mit hängenden Schultern in einem Hof steht. Zwei kleine Mädchen neben ihm, die einer Kutsche hinterherwinken. »Magdelaine! Magdelaine!« »Weißt du, Philippe«, sagte Isabelle mit brüchiger Stimme, »manchmal zwingt das Leben einen, eine Stufe zu nehmen - einen Sprung zu machen. Man kommt voran, man löst sich - aber man zahlt auch einen Preis. Gott verlangt ein Pfand - ein Pfand, dessen Wert einem vielleicht viel höher erscheint als das noch Unbekannte, das man sich mit ihm erhandelt. Und es kann einem unerträglich scheinen, dieses Pfand zu zahlen. Dennoch ... dennoch ist es das Richtige.« 460
»Eine Stufe ...« Philippe schleuderte die Waffe von sich, warf den Kopf nach hinten. »Und wo soll sie hinführen, diese Stufe? Weißt du es, Belle?« Er ballte eine Faust. »Sag es mir, so weise, wie du bist!« Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu schauen. »Nein. Das musst du selber wissen. Aber ...« Helenus näherte sich mit steifen Schritten. Auch er sah mitgenommen aus. Isabelle wischte über ihre Augen. Alles, was sie Philippe zu sagen wagte und was ihre Hoffnungen am ehesten ausdrückte, war: »Du könntest jetzt die Vergangenheit verlassen. Du könntest endlich anfangen zu leben.« »Leben? Was habe ich denn bisher getan?« Isabelle lächelte unter Tränen. »Du hast überlebt, Philippe. Leben ist etwas ganz anderes.« Helenus war herangetreten. Die Blicke der beiden Männer trafen sich. »Was ist mit Ihrem Schuss, Monsieur?«, fragte Philippe. Helenus schüttelte langsam den Kopf. »Ich komme in ein Alter, in dem es weiser ist, auf Kraftvorführungen zu verzichten.« Er warf seine Waffe neben sich ins Gras. »Wie rührend!«, fuhr eine Stimme dazwischen. Auf einmal starrten alle die Frau in dem schwarzen Kleid an, die vor Philippe und Helenus trat. »Und wie enttäuschend!« »Marion!«, rief Isabelle aus, »was mischst du dich hier ein?« Marion bückte sich und hob die Waffe auf, die Helenus beiseite geworfen hatte. Die Menschen um sie schrien auf, als sie die Pistole auf Philippes Brust richtete. Philippe runzelte die Stirn. »Was wollen Sie von mir?« »Was ich von Ihnen will?« Marion lachte bitter auf. »Ich will Vergeltung, Monsieur! Rache!« »Um Gottes willen, Marion!«, rief Isabelle. »Aber wofür denn?«
»Sie haben ihn umgebracht, Monsieur! Ich habe mit den Soldaten gesprochen, die bei ihm waren!«, schrie Marion. »Gefesselt wie ein Hund hat er vor Ihnen gelegen, und Sie haben ihm eine Kugel in den Kopf gejagt!« »Branne?«, fragte Philippe. »Ah! Die Erinnerung kommt zurück, Monsieur? Sie sehen ihn wieder vor sich? Wehrlos und verzweifelt?« 461
»Sie unterliegen einem Irrtum, Marion!« Isabelle sprang vor. »Marion, er hat recht!« »Zurück!«, schrie die Zofe schrill und fuchtelte so wild mit der Pistole, dass alle Umstehenden erschrocken zurückwichen. »Alle zurück, und zwar schnell!« Auf einmal standen Tränen in Marions Augen. »Ich habe ihn geliebt, Monsieur! Er war mein Ein und Alles. Und Sie, Sie haben ihn einfach abgeschlachtet wie ein Stück Vieh.« Isabelle sah mit Schrecken die Mündung der Pistole auf Philippe gerichtet. Marion entsperrte die Pistole, ein Ausdruck der Entschlossenheit verzerrte ihr Gesicht... »Marion, nein!«, schrie Isabelle, stürzte nach vorne - doch Helenus kam ihr zuvor. Er schlug Marion die Waffe aus der Hand im selben Augenblick, als der Schuss losging. Blut, Blut im Gras ... »Philippe? Mon pere?« »Nichts! Es ist nichts passiert!« Helenus hielt sich den Arm. »Nur ein Streifschuss, mehr nicht.« »Nehmt sie fest!«, rief La Rochefoucauld. Doch Marion sprang behände mehrere Schritte zurück. »Auch Sie, Madame de Vigueil! Auch Sie werden zahlen!«, schrie sie noch und schleuderte die Pistole von sich. Dann rannte sie davon. Die Menschen um sie herum brauchten ein paar Sekunden, um zu realisieren, was geschehen war, bevor sie ihr nachjagten. Isabelle, Philippe, Helenus und La Rochefoucauld blieben alleine zurück. Philippe sah Helenus ernst an. »Sie brauchen einen Arzt.« »Hab schon Schlimmeres auf dem Schlachtfeld erlebt«, brummte Helenus. La Rochefoucauld trat an ihn heran und wickelte ein Stück Stoff um seinen Arm. Philippe war blass. »Sie haben mir das Leben gerettet, Monsieur. Danke.« »Man sollte es einfach dem Pöbel verbieten, Schusswaffen in die Hand zu nehmen. Daraus resultiert nichts als Ärger«, knurrte Helenus und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Nun ja, diesen Ärger dürften Sie ja bald nicht mehr haben«, antwortete La Rochefoucauld trocken. »Wann reisen Sie?« »Sofort. Alles, was ich brauche, habe ich bereits dabei.« »Reisen? Wovon sprechen Sie?«, mischte Isabelle sich ein. 462
La Rochefoucauld legte einen Arm auf Helenus' Rücken. »Ich glaube, es steht Ihnen mehr als mir zu, es Ihrer Familie beizubringen, mon ami.« Helenus sagte barsch: »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich werde in einen Orden eintreten, das ist alles.« »In einen Orden?«, wiederholte Isabelle fassungslos. Sie schaute Philippe an, doch dieser schien genauso verblüfft wie sie. Sie fasste sich an den Kopf. Marions Erscheinen, das Duell, das Attentat auf Philippe und jetzt das ... Langsam war sie sich nicht mehr sicher, ob sie diesen schrecklichen Tag nicht nur träumte. »So ähnlich habe ich auch reagiert, als Ihr Großvater mir sein Vorhaben mitteilte«, bemerkte La Rochefoucauld und zog einen Mundwinkel hoch. »Ausgerechnet die Kartäuser! Kann man sich Unpassenderes vorstellen?« »Ist das Ihr Ernst?«, fragte Isabelle und trat an Helenus heran. Sie hob die Hände. »Sie wollen zu den Kartäusern? In einen Orden, der Einsamkeit und Schweigen verlangt? Aber Sie werden ein Leben wie im Gefängnis führen!« Auf einmal hielt sie inne. Sie musste schlucken. »Genau das ist es, nicht wahr?«, sagte sie leiser. »Das ist es, was Sie wollen!« Sie fasste sich an den Kopf. »Ein Gefängnis.« Zum ersten Mal hob Helenus den Blick und sah sie an. Sie erinnerte sich an ihrer beider Gespräch in der Kutsche, auf dem Weg zu dem Empfang, den Anne dem befreiten Conde hatte geben müssen. »Ehre wird jedem Menschen in die Wiege gelegt«, flüsterte sie, ohne Helenus aus den Augen zu lassen. »Und einem rechtschaffenen Menschen auch in sein Grab.«
Ihr Großvater sah sie intensiv an. Als er kaum merklich nickte, wusste sie, dass sie ihn verstanden hatte. »Und Gefühle sind die Gottheiten des weiblichen Geschlechts«, zitierte Helenus weiter. »Erwarten Sie also keine rührende Abschiedsszene von mir und schlucken Sie Ihre Tränen hinunter.« Die Andeutung eines Lächelns überflog Helenus' Gesicht. »Leben Sie wohl, ma fille.« Die Ehre, ja, dachte sie, während sie über ihr nasses Gesicht wischte. Die Ehre geht ihm über alles. Und er will alles tun, um seine zurückzugewinnen, bevor er stirbt. 463
Er ist bereit, für seinen Beitrag am Unglück der Vigueils zu büßen. Er hat sich nicht überwinden können, Marie-Olympe für ihre Verbrechen vor Gericht zu zerren, weil durch einen Prozess sein Name in den Schmutz gezogen worden wäre. Dadurch hat er verhindert, dass das Unglück und das den Vigueils zugefügte Unrecht bekannt wurden, vielleicht sogar, dass Mace und Philippe gerettet wurden. Marie-Olympe hat er bestraft, indem er sie bis an ihr Lebensende in ihrem Zimmer gefangen hielt. Und jetzt, da Philippe es abgelehnt hat, ihn zu richten, bestraft er sich selber. Isabelle nickte. Es war seine Entscheidung. »Leben Sie wohl, mon pere.« Helenus hob die von Marion weggeworfene Pistole auf und reichte sie Philippe. »Hier, nehmen Sie. Sie gehört jetzt Ihnen, so wie alles andere. Vor einer Woche habe ich veranlasst, dass meine sämtlichen Titel und Güter auf Ihren Namen überschrieben wurden.« Philippe runzelte die Stirn. »Niemals habe ich von Ihnen erwartet ...« »Das weiß ich.« Helenus lachte auf. »Und ich kann Sie beruhigen, Monsieur de Vigueil: Auch wenn es so wäre - ich war noch nie ein Mann, der bemüht war, die Erwartungen anderer Leute zu erfüllen!« Er sah um sich. »Allons, ist denn die ganze Dienerschaft dieser verrückten Zofe hinterhergerannt? Die wird doch sowieso niemand mehr einholen! Und wer bringt mir jetzt mein Pferd?« »Ich begleite Sie, alter Freund. Es soll später niemand von mir behaupten, ich hätte nicht alles getan, um Sie von Ihrer Torheit abzuhalten«, sagte La Rochefoucauld kopfschüttelnd und ging vor. Helenus hielt sich den Arm, wandte sich noch einmal um. »Ach ja, ma fille, da wäre noch etwas ...« »Ja?«, fragte Isabelle. »Gestern erhielt ich den Besuch von Madame Muguet, der Leiterin des Hauses der kleinen Arbeiterinnen von Saint-Paul, die eine Zuwendung von mir wollte. Sie kennen die Einrichtung ja. Die Frau schwärmte von dem neuen Koch, der ihr vor ein paar Monaten zugelaufen ist. Nun, der Kerl wird keine Referenzen haben, doch vielleicht wollen Sie ihn sich mal anschauen. Im Hotel de Noirlieu gibt es schon lange keine vernünftigen Mahlzeiten mehr, finden Sie nicht auch?« 464
»Nein, das ... das finde ich auch, mon pere«, stotterte Isabelle und schluckte. Helenus nickte. Ohne ein weiteres Wort kehrte er allen den Rücken zu und trat zu La Rochefoucauld, um sich in den Sattel zu schwingen.
* Isabelle saß an einem der Fenster ihres Spiegelzimmers und sah unbewegt hinaus. Sie verfolgte, wie die Dämmerung allmählich in die Nacht überging, wie das schwüle Bleigrau des Himmels einen aschefarbenen Ton annahm. Ihre Füße hatte sie von ihren hochhackigen Schuhen befreit und auf den schweren Sessel gezogen, den sie sich selber zurechtgerückt hatte. Endlich ging dieser Tag zu Ende. Sie fühlte sich seelisch und körperlich erschöpft und genoss die Ruhe. Gerade erst waren die letzten der unzähligen Besucher gegangen, die vorgegeben hatten, der frischgebackenen Herzogin de Noirlieu gratulieren zu wollen, und doch nur gekommen waren, um ihre Neugier über den Verlauf des skandalumwitterten Duells zu befriedigen. Gesehen hatten die Besucher nichts als eine bleiche Gastgeberin und ihren zugeknöpften Gatten, was wahrscheinlich für viel Enttäuschung gesorgt hatte. Sie hatte Philippe beobachtet, über Stunden hinweg. Hatte Philippes Profil immer wieder überdeutlich zwischen all den geschwätzigen, neugierigen Leuten wahrgenommen. War sich mehr und mehr ihrer Einsamkeit bewusst geworden, in diesem Meer von Menschen, in diesem riesigen Haus, in dem Philippe und sie bis in alle Ewigkeit verdammt sein sollten, alleine zu leben. Keine Eltern. Keine Verwandten. Kein Kinderlachen. Und auf einmal war ihr schlecht geworden. So schlecht, dass ihr Magen sich umgedreht hatte und sie fluchtartig den Empfangsraum hatte verlassen müssen.
Da hatte sie es gewusst. Dass sie es nicht länger würde ertragen können. Das Eheleben auf Distanz. Das heimliche Spähen durch die Fenster ihres Spiegelzimmers. Das ewige Hoffen, die immer neuen Enttäuschungen. Und plötzlich war ihr die Antwort erschienen. So klar. So einfach. Isabelle zog die Arme um sich. Ja, es gab eine Möglichkeit, eine 465
Entscheidung herbeizuführen und dem allem ein Ende zu bereiten. Isabelle fröstelte trotz der Schwüle. Es war ihr, als höre sie ein fernes Lachen. Ein irres Lachen, das Lachen eines Toten, über dem zwei blaue Augen schwebten. Die Innenseite ihrer Hände war feucht. Sie ballte die Fäuste. Ruhig!, befahl sie dem Lachen. Ruhig! Es hat nichts mit Ihnen zu tun, Branne. Sie können mir nichts mehr anhaben! Sie schloss die Augen, bis es still in ihr wurde, bis sie sich wieder beherrschte, und überlegte. Keine Frau in ihrem Bekanntenkreis hatte jemals diese beschämende und zerrüttende Prozedur über sich ergehen lassen, so schlecht ihre Ehe auch sein mochte. Man musste schon sehr entschlossen oder sehr gleichgültig sein, um sie auf sich zu nehmen. Isabelle spürte, dass ihr Magen noch immer rebellierte. Nein, dachte sie. Ich bin weder wild entschlossen noch gleichgültig. Ich bin nur verzweifelt. Und bereit zu allem, um meine Liebe zu retten. Sie presste die Lippen aufeinander. Morgen, versprach sie sich. Gleich morgen gehe ich zum Gericht und beantrage die Scheidung.
* »Da kommt sie! Da drüben, es ist ihr Wagen!«, schrie eine grelle Frauenstimme. Marjorie hob ein wenig den Vorhang, der das Fenster der Kutsche verhängte, und erbleichte. »Seigneur Dieu!«, seufzte sie mit tränenerstickter Stimme. »Madame, ich flehe Sie an, überlegen Sie es sich noch einmal! Vor dem Badehaus stehen schreckliche Frauen, und alle scheinen nur auf Sie zuwarten!« Isabelle zog ihre kurze schwarze Jacke über ihre Schultern und warf durch den Spalt, den der Vorhang freigelegt hatte, einen Blick nach draußen. Marjorie hatte recht. Es hatten sich vielleicht drei Dutzend alte Vetteln vor dem Badehaus des Faubourg Saint-Antoine versammelt. Sie spähten in ihre Richtung, und ihre Gesichter verhießen nichts Gutes. Isabelle schluckte. Wer mochte diese Frauen aufgehetzt haben? Wie töricht war es von ihr gewesen, zu glauben, die ihr heute bevor 466
stehende Prüfung geheim halten zu können! Paris lebte von Gerüchten, und die Freude am Skandal war allgegenwärtig. Sie fühlte, wie sie Angst überkam, und verkrampfte ihre Finger in ihrer Kleidung. Marjorie war ihre Reaktion nicht entgangen. »Madame, noch ist es Zeit, von diesem aberwitzigen Vorhaben abzulassen! Geben Sie Befehl weiterzufahren, sagen Sie, Sie haben es sich anders überlegt!« »Komm«, antwortete Isabelle leise. »Lass uns gehen, man wird bereits auf uns warten.« »Ich verstehe das nicht! Ich verstehe das einfach nicht!«, jammerte Marjorie. »Ein Mann, der Sie anbetet, der gut aussieht, Sie nicht misshandelt und Ihnen alle Freiheiten lässt...« Isabelle presste die Lippen aufeinander, zog ihre Gesichtsmaske über und öffnete die Tür der Kutsche. Die Frauen vor dem Badehaus schrien auf. Isabelle holte einmal tief Luft und stieg aus dem Wagen. Mit schnellen Schritten ging sie auf das vierstöckige Haus zu. Sie durfte jetzt nicht schwach werden. Nur durch. Bald würde sie es geschafft haben. Links von ihr stießen sich die Frauen an. »Sie ist es!« »Da kommt die Hure!« Isabelle zuckte unter der Beschimpfung zusammen, lief aber unbeirrt weiter. »Hat sich von irgendeinem Kerl schwängern lassen und beschwert sich dann, ihr Mann würde ihn nicht hochkriegen!« »Von ihrem Sekretär hat sie sich flachlegen lassen!« »Ouais, und dann hat sie ihm Diamanten an alle Finger gesteckt!« Ein paar Schritte noch - nur noch ein paar Schritte. Isabelle versuchte, sich allem zu verschließen, was hier geschah, hastete vorwärts. Sie hörte, wie Mathieu und Bernard hinter ihr die Frauen zu-
rückdrängten, doch diese keiften nur noch lauter. Sie war zutiefst erleichtert, als sie das Haus erreichte. Isabelle sah sich um und wandte sich an eine Frau, die in einigen Schritten Entfernung stand, offenbar eine Dienerin des Badehauses. »Sind die Damen und Herren der Untersuchungskommission schon eingetroffen?« »Ja, Madame la Duchesse«, antwortete die Frau mit großen Augen. »Wenn Sie mir in den ersten Stock folgen, werde ich Sie hinführen.« 467
»Gut.« Isabelle raffte ihre Röcke, als Hochrufe und Klatschen von draußen hörbar wurden. Sie blieb stehen, da öffnete sich die Tür erneut und Philippe trat ein, gefolgt von seinem Diener Débonnaire. Der freundliche Empfang der alten Weiber schien keinen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Isabelle hatte sein Gesicht selten so finster erlebt. Sie erkannte die tiefen Falten zwischen seinen Brauen, den harten Zug um seinen Mund, die Kälte seiner gedunkelten Augen, und etwas in ihr drängte sie, zu ihm zu laufen, all diese Spuren des Unmutes wegzuwischen, ihn in die Arme zu schließen und alles zu erklären ... »Sie sind schon hier, Madame?« Philippe öffnete ironisch einladend den Arm in Richtung Treppe. »Na dann, après vous.« Kurze Zeit später wies das Mädchen Isabelle, Philippe, Marjorie und Débonnaire in ein Zimmer mittlerer Größe. Isabelles Herzschlag beschleunigte sich, als sie entdeckte, wie viele Menschen heute an ihrer Demütigung teilhaben würden. Es war die Untersuchungskommission, die dort ihrer harrte, neun Menschen, die sich bei ihrer Ankunft von den Stühlen erhoben, die ihnen jemand bereitgestellt hatte. Philippe ging mit steifen Schritten auf die Gruppe zu, grüßte kalt. Er war starr vor mühsam gezügelter Wut, und Isabelle konnte es ihm nicht verdenken. Denn schließlich waren all diese Menschen gekommen, um ihren Antrag auf Scheidung zu überprüfen - um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, dass Philippe impotent war. Die Vorstellungen wurden rasch erledigt. Die Untersuchungskommission bestand aus zwei alten Hebammen, einem Chirurgen, zwei Ärzten, einem katholischen Geistlichen und drei Richtern. »Sie wissen, worum es hier geht, Monsieur de Vigueil?«, fragte einer der Richter, ein Mann mit müdem Gesicht und eisgrauen Locken namens Clinchamp. »Ich wurde unterrichtet, ja«, antwortete Philippe knapp. »Ihre Frau, Madame de Vigueil, hat vor einer Woche die Scheidung beantragt und Sie bezichtigt, Ihren ehelichen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Wir werden ihre Worte überprüfen. Sollte sich herausstellen, dass Madame Ihre Frau noch unberührt ist, wird Ihre Ehe für null und nichtig erklärt.« 468
»Unberührt ...« Philippe sah Isabelle kurz an. Sein Blick, eine kaum erträgliche Mischung aus Wut, Verletztheit und Unverständnis, schnitt tief in ihr Herz. »Bevor wir diese Überprüfung vornehmen«, fuhr Clinchamp fort, »wird Ihnen die Gelegenheit gegeben, Ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und die Behauptungen Ihrer Frau zu widerlegen.« Er deutete auf das Himmelbett, das am anderen Ende des Raumes stand. »Sie werden eine Stunde Zeit haben.« Er verbeugte sich knapp. »Madame, Monsieur, wenn ich nun bitten darf...« Philippe ballte die Fäuste, rührte sich nicht. Isabelles Herz klopfte bis zum Hals. Jetzt war der Augenblick gekommen, der das endgültige Ende bedeuten konnte. Wenn Philippe der Aufforderung nicht Folge leistete, wenn er sich weigerte, sich der erniedrigenden Beweisführung seiner Potenz zu unterwerfen und einfach ging, hätte sie verloren, und er würde nie erfahren, dass sie ihm gehörte, dass sie nie einem anderen gehört hatte. Sie hielt sich gewaltsam davon ab, zu ihm zu gehen, ihn auf irgendeine Art und Weise zu beeinflussen. Zu ihrer beider Heirat war er von Helenus gezwungen worden. Hier sollte er selber entscheiden. Sie stand da, sah zu Boden, wartete, starr vor Angst und Anspannung. Da, Philippe bewegte sich ... Ihr Kopf fuhr hoch. Er legte seine Jacke ab. Sie atmete aus, in einem einzigen befreiten Stoß. Marjorie umfasste ihre Schultern. »Mein Gott, Madame, Sie sind bleich wie die Wand hinter Ihnen! Noch können Sie alles rückgängig machen ...«
»Hilf mir, Marjorie«, flüsterte Isabelle und ergriff eine ihrer Hände. »Hilf mir, mein Kleid auszuziehen, veux-tu?« Noch nie hatte sie sich vor jemand anderem als Dienstpersonal entkleidet, sogar damals, als Philippe während ihrer beider Flucht ihr Kleid zerschnitten hatte, hatte ihr Korsett sie noch geschützt. Isabelles Haut brannte, als Marjorie begann, die Schnüre ihrer Kleidung zu lösen. Sie verbot sich, an all die Blicke zu denken, die auf ihr ruhten, die sich vielleicht mit ihrem Anblick für die lästige Pflicht entschädigten, die sie ihnen auferlegt hatte. Als sie nur noch ihr hauchdünnes Hemd trug, wurden sie und Philippe zu dem Bett begleitet. Clinchamp sah Isabelle prüfend an. »Lösen Sie Ihr Haar, Madame. 469
Es soll nicht gesagt werden, ich hätte ein mögliches Versteck nicht beachtet.« Isabelle tat wie geheißen. Ihre Locken fielen schwer auf ihren Rücken. Der Richter nickte befriedigt. Die Vorhänge wurden zurückgezogen, auch Matratze und Bettzeug wurden untersucht, um sicherzustellen, dass weder Talismane, Kräuterkissen, verhexte Püppchen noch prosaischere Werkzeuge die Beweisführung fälschen könnten. Dann wurde ihnen befohlen, auf dem Bett Platz zu nehmen. Clinchamp schaute auf die silberne Uhr, die um seinen Hals hing, betonte nochmals, dass sie nun eine Stunde alleine gelassen würden, und zog die Vorhänge wieder zu. Sich entfernende Schritte hallten auf dem Holzboden des Zimmers, dann das Ächzen von Stühlen. Jemand rief laut nach einem Dienstmädchen und verlangte nach Wein. Die Untersuchungskommission machte es sich bequem. Das Innere des Bettes, in dem Isabelle nun mit Philippe eingeschlossen war, war in diffuses Licht getaucht, nur die Laken leuchteten in hellem Weiß. Isabelle fühlte noch immer die Schamröte ihre Haut versengen. Trotzdem überlief sie ein Schauer. Sie zog ihre Beine eng an sich. Nur zögernd drehte sie den Kopf, sah ihn an. Ein erneuter Schauer überlief sie. Er saß da, stumm, und beobachtete sie. Sie fühlte, wie sie noch tiefer errötete. Auf einmal fiel alle Sicherheit von ihr ab. Philippe und sie waren jetzt ein halbes Jahr verheiratet. Doch noch nie waren sie sich in der Abgeschlossenheit eines Himmelbettes so nahe gekommen. Sie fühlte sich schutzlos, verletzlich und gänzlich unvorbereitet auf das, was nun kommen würde. »Und, was erwarten Sie nun von mir, Madame?«, fragte Philippe beißend, als hätte er ihre Gedanken erraten. Isabelle antwortete nicht. Ihre Kehle hätte kein Wort herausgelassen. Philippe beugte sich zu ihr herüber. Seine Stimme, hart vor Wut, klang nah an ihrem Ohr. »Nun, Madame, erklären Sie mir, was Sie bewegt. Seit ich den Bescheid des Gerichtshofes bekam, habe ich mich vergeblich bemüht, einen Sinn darin zu finden. Ich habe mich dieser Posse gebeugt, um endlich Ihre Beweggründe zu erfahren, also reden Sie!« 470
Isabelle sah ihn wortlos an. Wie viel kaum gezähmte Kraft in ihm steckte! Und wie schön und unheilvoll er war, wenn er sich erregte! Sein Bernsteinblick hatte nichts Sanftes mehr an sich, sondern loderte bedrohlich im Halbdunkel. Sie fühlte, wie sich ihr Hals vor Angst verengte. Und gleichzeitig etwas, das tief in ihr vor Sehnsucht aufschrie. Gänsehaut überlief ihren Rücken. Seine Hand fuhr in ihr Haar, riss ihren Kopf zurück. »Hat es Ihnen die Stimme verschlagen? Wollen Sie mir nicht verraten, was Sie wollen? Ist es Ihre Freiheit, jetzt, wo Ihr Großvater nicht mehr lebt und Sie von Brannes Tyrannei befreit sind? Oder ist diese Komödie die besonders raffinierte Rache einer zwangsverheirateten Frau? Wollen Sie mich vor den Augen der ganzen Stadt lächerlich machen? Verdammt, Madame, antworten Sie!« Doch Isabelle blieb stumm. Sie war nicht zum Reden gekommen. Sie fühlte, wie seine Erregung stieg, und genau das wollte sie. Es war ein Spiel mit dem Feuer, das wusste sie, doch es gab keinen anderen Weg. Später, später wollte sie all seine Fragen beantworten. Wenn er dann noch an ihren Antworten interessiert war. Der Griff in ihrem Haar wurde fester. Sie stöhnte leise auf. »Nacht für Nacht nach unserer Hochzeit, Madame, habe ich erduldet, dass Sie Ihre Tür vor mir verschlossen hielten. Ich ließ Ihnen Zeit. Ich wusste, dass ich Sie tief gekränkt hatte. Doch ich hoffte, glaubte, vertraute darauf, dass noch etwas in Ihnen übrig war von der Liebe, die Sie mir einst schworen ...«Philippes Augen verengten sich. Isabelle gab dem unerbittlichen Zug seiner Hand nach, ließ sich rückwärts auf die Kissen fallen. »Und dann kam Branne und nahm sich, was er kriegen konnte. Ich dachte seit unserer Reise, er hätte Sie gezwungen, doch vielleicht habe ich
mich geirrt? Vielleicht haben Sie es genossen - vielleicht haben Sie ihn geliebt? Ist es das?« Er hieb auf ein Kissen ein. »Natürlich ... Es muss so gewesen sein! Sie waren Branne hörig, genauso wie Marion ihm hörig war! Verflucht, was war ich doch für ein Trottel! Und ich habe mich noch schuldig gefühlt, Sie nicht beschützt zu haben!« Er beugte sich über sie. Sein Atem strich über ihr Gesicht. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ob aus Angst oder Verlangen, hätte sie nicht sagen können. »Wie wollen Sie eigentlich den Menschen dort draußen Ihre Un 471
berührtheit vorgaukeln?«, stieß er zwischen seinen Zähnen hervor. »Wie macht das eine Frau, die bereits ein Kind erwartet hat? Haben Sie die gesamte Kommission bestochen?« Er sagte bitter: »Nun ja, Sie werden Ihre Maßnahmen getroffen haben, dessen bin ich überzeugt. Sie sind schließlich die Meisterin der Täuschungen, nicht wahr? Doch leider, Madame, ist damit jetzt Schluss. Ich bin nicht mehr bereit, mich benutzen zu lassen.« Er legte eine Hand an ihr Kinn, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Sie möchten Ihre Freiheit zurück, Madame? Nun, es tut mir leid. Ich kann Ihrem Wunsch nicht entsprechen. Denn Sie schulden mir noch etwas! Und wenn es auch das einzige Mal sein sollte, dass ich es von Ihnen fordere... heute und jetzt werden Sie es mir geben.« In seinen feuerfarbenen Augen stand eine unmissverständliche Drohung. »Heben Sie Ihr Hemd, Madame!« Isabelle schluckte. Sie deutete instinktiv ein Kopfschütteln an, doch sofort umschlossen Philippes Finger fester ihr Kinn. »Ihr Hemd!« Isabelle biss sich auf die Lippen und gehorchte. Ich habe es so gewollt, hämmerte es in ihrem Kopf, während der Stoff ihre Schenkel emporglitt. Ich habe es verdammt noch mal so gewollt... Sie zögerte kurz, entledigte sich dann ganz ihres Hemdes, aus dem unbestimmten Gefühl heraus, etwas für ihre Würde tun zu müssen. Legte sich zurück und wartete. Sein Blick lief ihren Körper hinab. Er wurde bleich. »Verdammt, Isabelle!«, sagte er nur mit veränderter Stimme. Als er über sie kam, sah sie, dass seine Augen feucht waren. Ihm endlich nahe zu sein, nach so langer Zeit, seinen Geruch wahrzunehmen, von ihm berührt zu werden, war wie die Erlösung aus einem unendlich langen Albtraum. Sie fühlte, wie Vergangenes abfiel, wie blaue Augen zu Erinnerungen verblassten, wie erlittene Demütigungen bedeutungslos wurden. Ihre Hände legten sich wie selbstverständlich auf Philippes Schultern, streichelten seine Haut, umfassten ihn, erkannten ihn. Sie öffnete sich ihm ganz und ohne Vorbehalte. Er gehörte zu ihr, dieser Männerkörper, sie beide waren Teil eines Ganzen, das wusste sie, seit sie Philippe zum ersten Mal erblickt hatte. Und sie hieß ihn willkommen wie jemanden, der endlich heimkehrt nach einer sehr langen Reise, hieß alles willkommen, 223
was zu ihm gehörte, seine Kraft, seine Wut, seinen Zorn. Er nahm Besitz von ihr, nicht sanft, sondern herrisch und ungezügelt, und es war gut so, denn sie gehörte ihm. Nur beim letzten, heftigsten Vorstoß, der das zerriss, was sie für ihn so lange und gegen alle Widerstände bewahrt hatte, als der brennende Schmerz sie durchfuhr, stieß sie einen Schrei aus, und Tränen schössen in ihre Augen. Er ließ sofort von ihr ab. Sie blieb liegen, entspannt, fühlte, wie der Schmerz abklang. Als sie ihn ansah, starrte er auf einen Teil des Betttuches, der unter ihr lag. Auf seinen Zügen malte sich Bestürzung ab. Er deutete auf den roten Fleck. »Was soll das heißen, Belle?«, fragte er heiser. »Dass ich dich liebe, mon amour«, antwortete sie. »Aber dann, warum diese ganze Komödie? Warum die Scheidung?« »Damit du es endlich weißt.« »Aber das Kind!« »Das Kind war Marions Erfindung, Philippe. Du hast mir nie die Chance gegeben, eines zu empfangen.« »Aber... aber Branne ...« »Branne bekam nie mehr als Almosen von mir. Ich hätte nie zugelassen, dass er etwas raubt, was dir gehört!« Er schüttelte den Kopf, durchwühlte sein kurzes Haar. »Es hätte doch andere Wege gegeben als diese beschämende Prozedur...« »Du bist mir doch ständig aus dem Weg gegangen! Erinnerst du dich an unsere Schiffsreise? Du hast mir damals klargemacht, dass du mich nie mehr aus freien Stücken berühren würdest.« Isabelle schüttelte den Kopf. »Ich habe alles verkraftet. Die Erpressung durch Timoleon und dann
durch Branne. Die Bedrohung meiner Familie. Aber zu wissen, dass du unsere Liebe entgültig aufgegeben hattest -das habe ich nicht ausgehalten.« Sie sah zu ihm auf. »Du bist doch alles, was mich hält, mon cheri!« Er zog ihr Gesicht an sich heran und betrachtete sie, als hätte er sie noch nie gesehen. In seinen Augen lagen Staunen, Bewunderung und etwas, das ihr Blut heiß und herrlich durch ihre Adern schießen ließ. »Sag das nicht. Du bist die stärkste, entschlossenste und mutigste Frau, der ich jemals begegnet bin, Belle! Und ich weiß gar nicht, wie ich das ...« 224
Sie verschloss seinen Mund mit ihren Lippen. Vor den Vorhängen hustete jemand. Philippes Gesicht verfinsterte sich. »Lass uns von hier verschwinden, Belle!« Seine heisere Stimme jagte Schauer über ihre Haut. »Lass uns nach Hause fahren. Ich will dich endlich nackt sehen, tausend Mal, in den Spiegeln deines Zimmers! Ich will dich lieben hinter bemalten Holzläden! Ich will dich seufzen hören unter blühenden Orangenbäumen! Ich will, dass mein Traum wahr wird! Mein bunter Traum ... Du bist mein einziger bunter Traum, Belle! Mein Gott, wir haben so viel nachzuholen ... so schrecklich viel nachzuholen!« Und sie nickte, unfähig, ein Wort zu sagen, während er ihre Wimpern trocken küsste und draußen die Tafelnden lautstark eine neue Runde Wein bestellten. »Nun passen Sie schon auf, Sie ungelenkes Ding! Es ist mein Fuß, auf dem Sie stehen!«, schimpfte Mademoiselle de Montpensier und gab ihrer Gesellschafterin Madame de Frontenac einen leichten Schlag mit ihrem Sonnenschirm. Diese errötete. »Verzeihung, Mademoiselle, es ist so eng in dieser Kutsche, dass ich ...« »Schon gut, schon gut. Sehen Sie zu, dass Sie endlich Ihren Platz einnehmen, das ist alles! Madame de Vigueil, wenn Sie nicht Ihr Kleid zurückziehen, setze ich mich drauf, und es wäre wirklich schade drum!« Isabelle beeilte sich, ihre mattgoldenen Röcke beiseite zu ziehen. Sie sah an sich herunter, auf das hauchdünne Netz winziger, auf Goldfäden aufgezogener Perlen, das sich über ihre Ärmel und die Korsage spannte, auf das Dekollete aus cremefarbener Atlasseide, das sich wie ein Blütenkelch um ihre bloßen Schultern legte, und musste Mademoiselle recht geben: Ihr Kleid hatte nicht nur eine Unsumme gekostet, es war auch das kostbarste und schönste, das sie jemals getragen hatte. Die Prinzessin schob sich an Isabelle vorbei und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer in die Kissen des Wagens fallen. Sie wischte sich die nasse Stirn mit einem überdimensionalen Spitzen 224
tuch ab. »Endlich! Geschafft! Nun, dann kann es ja losgehen! Mon Dieu, was für eine Hitze!« »Ja, ist es nicht herrlich?«, schwärmte die Comtesse de Fiesque, die mit Madame de Frontenac eine der engsten Vertrauten der Prinzessin war, und tupfte sich Schweißperlen von der Oberlippe. »Als wenn Unser Herr von da oben Seiner Majestät Seinen Segen geben wollte...« Isabelle warf dem ganz in Königsblau bespannten Himmel einen Blick zu. Ja, es stimmte. Es war ein Tag, wie geschaffen, um Herrscher über eines der mächtigsten Länder Europas zu werden. Allerdings bezweifelte sie insgeheim, dass es wirklich so bald losgehen würde, wie Mademoiselle es sich wünschte. Sie warf einen Blick auf das bunte, fröhliche Treiben, das sie umgab. Noch war keine Ordnung zu erkennen, und noch war auch keine Spur des Königs zu sehen. Es war eine große Ehre, dass sie an dem Festzug, der die Volljährigkeit des Königs zelebrierte, in der Kutsche von Mademoiselle de Montpensier würde teilnehmen dürfen. Eine Ehre, die auch durchaus ihre praktischen Seiten hatte, denn Mademoiselles Wagen war herrlich geräumig. Sie saß mit ihren drei Gefährtinnen längst nicht so eng darin wie in den anderen Kutschen, in denen sich bis zu neun Frauen die Bänke teilten. Außerdem würde man von Mademoiselles Wagen aus einen Blick auf den König erhaschen können. Schon jetzt erblickte Isabelle die Handvoll auserlesener Edelmänner, die am Ausgang des Palais Royal auf den jungen Louis warteten. Sie würden ihn bis in das Palais de Justice begleiten, wo ihm Anne in der Grande Chambre offiziell die Leitung der Regierung übergeben würde. Isabelle reckte den Hals. Als sie entdeckte, dass Philippe sie aus der Gruppe heraus ansah, erfasste sie ein heißes Glücksgefühl. Er lächelte ihr zu, und sie hob etwas die Hand. Seine Augen leuchteten, und Stolz überkam sie, dass er einer der Auserwählten war, die zur Eskorte des jungen Königs gehörten. Ja, wir haben es geschafft, dachte sie mit leisem Staunen. Ich, das Bauernmädchen, und er, der Verfemte, stehen plötzlich nahe am Thron. Wir haben seit Monaten ohne Unterlass gekämpft. Wie zwei Menschen, die verloren durch einen düsteren Wald hasten und ver
225
zweifelt nach einer Lichtung suchen, sind wir blindlings vorgedrungen. Immer wieder sind wir gegen Hindernisse gelaufen. Und immer waren wir in Gefahr, uns aus den Augen zu verlieren. Und plötzlich ... plötzlich spuckt der Wald uns aus, und wir stehen da und sehen uns an. Und erkennen die Liebe im Gesicht des anderen. Isabelle hob den Kopf, schloss die Augen. Sie lächelte. Und die Sonne, dachte sie - die Sonne scheint mit voller Macht auf uns herab. Isabelle ließ ihren Blick weiter über bekannte und unbekannte Gesichter wandern. Sie erblickte La Rochefoucauld, der, ganz in weinrote, mit Silber abgesetzte Seide gekleidet, eine respekteinflößende Erscheinung abgab, suchte weiter und fragte schließlich: »Wo ist Monsieur de Conde? Will er dem König nicht seine Aufwartung machen?« »Wussten Sie es nicht?«, antwortete Mademoiselle. »Er ist heute abgereist!« Isabelle schwieg bestürzt. Wenn es stimmte, war es das deutliche Zeichen dafür, dass Monsieur le Prince ab sofort den Weg der offenen Konfrontation wählte. »Viele befürchten, Monsieur de Condes Abwesenheit sei der erste Schritt zu einem neuen Bürgerkrieg«, bestätigte sie Madame de Frontenac. »Sollte es dazu kommen, wird es der letzte sein«, sprach Isabelle ihre innere Überzeugung aus. »Ihre Majestät wird keine weiteren Aufstände mehr zulassen.« »Ihr Wort in Gottes Ohr!«, seufzte Madame de Fiesque bedrückt. »Wobei Monsieur le Prince wohl gar nichts anderes übrig blieb, als die Flucht zu ergreifen! Es heißt, er sei an einer Intrige beteiligt gewesen, die Ihre Majestät vom Regentenstuhl stürzen wollte, und dem König seien von einem Kurier eindeutige Beweise für den Verrat von Monsieur le Prince geliefert worden!« Isabelle, die nur allzu gut Bescheid wusste über diese Beweise, schwieg lieber, klappte ihren Fächer auf und wedelte sich Luft zu. Sie ließ ihren Blick weiter über die kostbar gekleideten Hofleute wandern. Ihr fiel der Herzog de Beaufort auf, der im Schatten einer Mauer stand. Er schien ganz in ein Gespräch vertieft, das er mit einer Dienerin führte, die Isabelle den Rücken zukehrte. Die Frau redete mit großen Gesten auf Beaufort ein und übergab ihm einen Brief-wahrscheinlich, um mit dem Herzog ein Schäferstündchen im Auf 225
trag ihrer Herrin zu arrangieren. Isabelle rümpfte die Nase. Dankbarkeit überkam sie, dass Beaufort ihr als Ehemann erspart geblieben war. Isabelle verfolgte, wie die Frau sich von Beaufort löste. Ihr Herz wurde unruhig, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Da - die Frau drehte sich um ... Marion! Isabelle klappte ihren Fächer zusammen. Marion? Sie wusste, dass ihre ehemalige Zofe nach dem Attentat auf Helenus entkommen war, hatte aber angenommen, sie hätte die Hauptstadt verlassen, um nicht mehr belangt werden zu können. Was trieb sie hierher, mitten unter Leute, die von dem Anschlag wussten? Was wollte sie von Beaufort? Ihr Blick flog zu Beaufort zurück. Dieser hatte den übergebenen Brief entfaltet und las ihn jetzt. Er ließ die Arme sinken ... Er sah hoch, sein Blick lief über die Anwesenden, durchstöberte jede Kutsche, bis er sie fand. Und mit einem Mal, jetzt, wo ihre eigenen Sorgen von ihr abgefallen waren, jetzt wo sie sich ihrer Liebe und der ihres Mannes sicher war, jetzt, wo sie in der Lage war, sich um jemand anderen als um sich selbst zu kümmern, ging ihr auf, dass Beaufort ihr vielleicht tiefere Gefühle entgegengebracht hatte, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. »Der König! Der König!« Auf einmal entstand Bewegung unter den Wartenden. Und tatsächlich: Eine kleine Gestalt verließ den Palais Royal. Sie trug einen breiten Federhut und eine Jacke, die steif und so dicht von Goldfäden durchwirkt war, dass der ursprüngliche Stoff vollständig darunter verschwand. Das Kleidungsstück verwandelte seinen Träger in ein gleißendes Etwas. »Mon Dieu, Mesdames, sehen Sie! Es ist, als wäre er die Sonne selbst!«, rief Mademoiselle aus. Ja, dachte Isabelle fasziniert. Genau das ist er! Er wird es schaffen, sie zu bändigen, die Condés, die Orléans und Beauforts dieses Landes! Philippe hat es schon lange gewusst, und ich weiß es nun auch. Isabelle sah die Ranghohen des Reiches sich um die dreizehnjährige Lichtgestalt drängen. Sie dachte an die ergriffenen Gesichter der Handwerker, die sich den Zutritt bis in die Schlafgemächer des Königs erkämpft hatten und vor dessen Bett auf die Knie gegangen 225
waren. An die Bürger von le Piain, die dem kommenden Winter mit Schrecken entgegensahen. An einen Bauern und seine Familie, die mit hängenden Schultern vor den Überresten ihres niedergebrannten Hauses gestanden hatten. Mon Dieu, betete sie, seien Sie diesem jungen Menschen gnädig und lassen Sie ihn zeigen, wie viel Kraft in ihm steckt. Lassen Sie ihn strahlen! Lassen Sie ihn stark sein, damit sein Volk es auch sein kann! Die Hofleute, die im Garten des Palais warteten, brachen in Hochrufe aus. Die Männer schwenkten die Hüte, die Pferde wieherten und schüttelten die geflochtenen Mähnen, aus den unzähligen Kutschen drang Klatschen. Der junge König neigte lächelnd das Haupt und lenkte seine Schritte zu seinem bereitstehenden Pferd. Und auf einmal gelang das scheinbar Unmögliche: Gruppen bildeten sich, Garden und Reiter fanden zueinander. Ganz allmählich zeichnete sich eine Ordnung in dem wirren, bunten Haufen der Festtagskostüme ab. Es bildete sich eine Kolonne, die sich im langsamen Schritt in Bewegung setzte. Im ersten Drittel reihte auch Mademoiselles Wagen sich ein, inmitten der Prinzen, der Hofdamen, der mächtigen Staatskarosse der Königin mit ihren Garden, Schweizern, Pagen, Ehrenkavalieren. Isabelle atmete auf, das erste Mal, als die Bewegung ihre schweißnassen Schläfen kühlte, das zweite Mal schließlich, als ihr Wagen den Park des Palais Royal hinter sich ließ und den Schatten der hohen Häuserschluchten erreichte. Wieder einmal war ganz Paris auf den Beinen. Doch diesmal keine drohenden Fäuste, keine betrunkenen Männer, auch keine Lieder grölende Horden, sondern Bürger im Sonntagsstaat, Handwerkerfrauen in schneeweißen Hauben und mit gestärkten Schürzen, Kinder mit sauber gewaschenen Gesichtern und feucht gestriegelten Tollen. Überall strahlende Antlitze und unzählige winkende Hände. Große, bis zu zwei Stockwerke hohe Tribünen waren Tage zuvor aufgebaut worden, sie quollen genauso über vor Menschen wie die Fenster, Dächer und Bäume. Blumen, Lorbeer- und Myrtenzweige hingen an den Holzläden und in den Torbögen, bunte Bänder mit den Initialen und den Zahlen des Königs flatterten an den Fassaden, und etliche Brunnen spuckten heute Wein. »Ah, cä, Madame de Vigueil, schauen Sie dort drüben, Beaufort auf diesem Schimmel! Ist es nicht ein herrliches Tier? Und wie 226
hübsch er es hat schmücken lassen!«, rief Mademoiselle mit der ihr eigenen Unbekümmertheit. Und mit einer Lautstärke, die dem beträchtlichen Volumen ihres Brustkorbes entsprach, bemerkte sie: »Wissen Sie, ich glaube, der Gute hat nie verkraftet, dass Sie ihn zurückgewiesen haben! Aber er scheint zu uns zu wollen ...« Sie winkte dem funkelnden Herzog mit ihrem Sonnenschirm zu. »Mademoiselle«, grüßte Francois de Beaufort, als er sein Pferd neben die Kutsche lenkte, »Sie sind der schönste Anblick dieses Tages!« »Und Sie, Beaufort, lieber Freund, ein impertinenter Schmeichler! Doch sagen Sie, finden Sie nicht auch, dass dies ein gelungenes Fest für meinen kleinen Mann ist?«, fragte Mademoiselle, die keine Gelegenheit vergehen ließ, um anzudeuten, dass sie einmal Königin von Frankreich zu werden gedachte. »Gelungen, ja, doch auch nicht ohne Schatten.« Isabelle fiel auf, dass Beaufort sie noch keines Blickes gewürdigt hatte. Überhaupt fühlte sie sich unwohl seit dem Erscheinen des Herzogs, selbst die Sonne schien ihr auf einmal nicht mehr so gleißend auf sie herabzuscheinen. Sie reckte das Kinn, fest entschlossen, sich nicht durch Beaufort diesen herrlichen Tag verderben zu lassen. »Sie spielen auf die Abwesenheit von Monsieur le Prince an? Eine riesengroße Eselei, wenn Sie mich fragen!« »Nein, Mademoiselle«, entgegnete Beaufort ungewöhnlich ernst. »Ich spreche hiervon.« Und er präsentierte ein Kuvert. »Was ist das? Ein Brief?«, fragte die Prinzessin und drehte es neugierig zwischen ihren Fingern herum. »Nicht ganz. Es wurde mir vorhin zugesteckt. Es wäre gewiss auch für Sie von Interesse, von dem Inhalt Kenntnis zu bekommen.« Er fasste an seinen Hut. »Au revoir, Mesdames, wir sehen uns später«, grüßte er noch, bevor er sich zurückfallen ließ. »Allons bon«, grummelte Mademoiselle, »Beaufort ist heute recht seltsam. Und wie immer hat er keinerlei Gespür für den richtigen Zeitpunkt.« Sie winkte huldvoll einer Gruppe zu, die sie hochrufen ließ, dann entfaltete sie seufzend das Schreiben und vertiefte sich in dessen Lektüre.
»Was steht drin?«, fragte Madame de Fiesque neugierig. Mademoiselle antwortete nicht. Doch das Lächeln rutschte von ihrem Mund, und sie versteifte sich merklich, während ihr Blick 227
fiebrig auf dem Papier hin und her huschte. Dann ließ sie den Brief und ihre Hände auf ihren Schoß zurückfallen. Noch immer sagte sie keinen Ton. Sie starrte mit verschlossenem Gesicht in die Menge, offensichtlich ohne die jubelnden Menschen zu sehen. Ihre Gesellschafterinnen sahen sich beunruhigt an. Das alles nahm Isabelle wahr, so, wie sich ihr jedes Detail ihrer Umgebung mit großer Präzision einprägte. Die Spiegelung eines Fensters an dem Haus, das sie gerade passierten. Ein Myrtensträuß-chen, das zu ihren Füßen fiel. Das Knarren einer Radachse. Das Jubeln der Menge. Es war, als würden ihre Sinne sich überspitzen, während sie auf die Katastrophe wartete. Und die Katastrophe kam. Mademoiselle löste ihren Blick. Drehte den Kopf. Fixierte Isabelle. Ihre gewaltige Brust hob und senkte sich. »Ich sehe Ihnen an, dass Sie wissen, was ich in Händen halte?« Isabelle schluckte. Sie wunderte sich, wie klar ihre Stimme war, als sie antwortete: »Ich erahne es, Mademoiselle.« »Und was hier steht, ist wahr?« Isabelle warf einen Blick in den Himmel. Wie hell die Sonne war -wie gleißend ... und so nahe! So nahe war sie ihr gekommen ... Sie schloss die Augen und sagte: »Ja.« Ein Geräusch erklang - Mademoiselle zerknitterte den Brief, knüllte die unter Zwang geborenen Zeilen ihres Geständnisses zusammen, machte eine hässliche, tintenverschmierte Kugel daraus. »Magdelaine Malvoy ... das ist Ihr Name?«, fragte Mademoiselle. Sie holte tief Luft, und Zorn schwang in ihrer nächsten Frage mit. »Und dieser Fleurent de Malvoy, der diesen Winter an Ihrem Fest teilnahm ...?« Isabelle nickte. »Er ist mein Bruder, Mademoiselle.« Auf einmal erbebte die Prinzessin. Es war wie eine Welle, die sie mitriss, ihre Augen sprühen ließ, die gewaltigen Massen ihres Frauenkörpers erfasste, wie in Erinnerung einer innigen Liebkosung. Sie richtete sich kerzengerade auf. »Er ist ein Bauer?« Isabelle schluckte, erinnerte sich. Ein verschneiter Park, Gelächter, ein Versteckspiel, eine unsanfte Begegnung und Mademoiselle, die sagte: »Es ist mein Herz, Monsieur ... Es ist mein Herz, das getroffen wurde!« 227
Fleurent, lieber Fleurent, dachte Isabelle, jetzt weiß ich, wie du die Nacht verbrachtest, während der ich mit Philippe durch die Gassen von Paris zog. Und du tatest recht - ich weiß, wie dir zumute war...! Es war eine Nacht, um zu lieben, eine Nacht, um Herzen zu erobern. »Ich glaube, es ist alles gesagt.« Mademoiselles Wangen waren gerötet, ihre Lippen dünn. »Madame de Vigueil - oder Malvoy, wie auch immer - es ist besser, Sie verlassen uns jetzt.« Die Gesellschafterinnen der Prinzessin warfen sich erschrockene Blicke zu, während Mademoiselle voller Wut schrie: »Cocher! Ho, cocher! Halte den Wagen an!« Der Mann auf dem Bock drehte sich ungläubig um. »Hier? Mitten im Defilee? Aber wir werden den ganzen Zug aufhalten!« »Ich sagte hier. Auf der Stelle.« Der Kutscher brummte Unverständliches. Kurz darauf stand der Wagen. Mademoiselle reckte das Kinn. »Adieu, Madame.« Isabelle sah sie an. »Ich verstehe Ihren Zorn, Madame. Doch trotz allem, was sie über mich erfahren haben, wünschte ich, Sie würden mir glauben, dass ich durch mein Tun nie jemanden verletzen wollte.« Sie stand auf. Die Sonne brannte auf ihrer Haut. Sie wartete, bis der Schlag geöffnet und das Treppchen entfaltet wurde, und ergriff die helfende Hand eines Pagen. Sie stieg die Stufen hinab. Eine nach der anderen. Bis die Spitze ihres goldenen Seidenschuhs den von der Sonne hart gebackenen Straßenkot berührte. »Fahr weiter! Schnell!« Mademoiselle würdigte sie keines Blickes mehr. Isabelle sah ihr nach. Ließ sich vom Staub umhüllen, den die Räder von Mademoiselles Wagen aufwirbelten. Und von dem der folgenden Wagen. Neugierige, weiß geschminkte Gesichter zogen an ihr vorbei. Einige kannte sie - hatte sie gekannt.
»Madame de Vigueil?« »Brauchen Sie Hilfe?« »Ist etwas passiert?« Sie blieb stumm. Drehte sich weg. Sah einen Augenblick auf die endlosen Reihen des gaffenden Volkes. Raffte ihre vor Gold strotzenden Röcke. Und ließ sich von der Menge verschlingen. Keine geschminkten Gesichter hier. Eingefallene Wangen. Stin 228
kende Körper. Doch auch hier Neugier und Fragen. Sie achtete auch auf sie nicht. Lief weiter, setzte einen Fuß vor den anderen in den Straßenstaub. »Isabelle? Isabelle!« Sie erstarrte. Panik stieg in ihr hoch. Nein! Nicht er! Nicht hier, nicht in diesem Augenblick! Sie gab sich einen Stoß, beschleunigte ihre Schritte. »Isabelle! So halte doch an!« Schneller, schneller! Sie fing an zu laufen. Die Menge um sie schrie auf, sprengte auseinander. Hufgetrappel hinter ihr. Ein Pferd holte sie auf, überholte sie. »Isabelle, um Himmels willen!« Plötzlich stand er vor ihr, hoch zu Ross, und sah sie an. In einem Herzschlag erfasste sie seine in Hellblau und Silber gekleidete Gestalt, und sein Anblick raubte ihr den Atem. Nie liebte sie ihn mehr als in diesem Augenblick, als seine Augen sie erfassten, hell, klar, diese unvergleichlichen, bernsteinfarbenen Augen in dem gut geschnittenen, gebräunten Gesicht. Sie liebte ihn, mehr als sich selbst, mehr als ihr Leben, und doch wusste sie: Ihre Wege hatten sich nun endgültig getrennt. Und etwas, was bisher nur stumm in ihr gehockt hatte, schrie auf, weil er es ihr so schwer machte - weil sie nun davor zittern musste, den Abschied von der Welt, in der sie sieben Jahre ihres Lebens verbracht hatte, nicht mit Würde hinter sich bringen zu können. »Was machst du da?«, fragte Philippe, als wären sie alleine auf dieser Welt und nicht der Brennpunkt von Hunderten von Augen. Sie lächelte leicht. »Ich gehe.« »Du willst mich verlassen?« Sie deutete auf den Zug. »Du gehörst dorthin, Philippe. Und ich tue es nicht.« »Was für ein Unsinn! Das da drüben ist genauso deine Welt wie meine!« »Ich bin in sie hineingesprungen, Philippe. In die Kutsche, damals. Ich habe jahrelang in ihr ausgeharrt. Und jetzt... jetzt bin ich wieder ausgestiegen.« »Du kannst nicht mehr einfach aus ihr aussteigen! Du bist meine Frau!« 228
»Nein ...« Sie lächelte wieder und schüttelte langsam den Kopf. »Du hast Isabelle geheiratet, Philippe. Und auf Isabelle hast du ein Anrecht. Magdelaine würde dir nur im Wege stehen.« »Nein!« Sein Schrei traf sie wie ein Hieb. Philippe drängte den Pferdeleib an sie heran. Sie verlor das Gleichgewicht, streckte haltsuchend die Arme aus - da fühlte sie sich gepackt, hochgerissen ... Bevor sie verstanden hatte, wie ihr geschah, saß sie quer vor Philippe im Sattel. »Lass mich los!« Sie schrie, sie weinte, sie schlug um sich. »Halt still, Isabelle!« Er gab seinem Tier die Sporen. Die Menge, an der sie vorbeiritten, jubelte ihnen zu. »Lass mich los! Lass mich los, habe ich gesagt!«, schluchzte sie. »Warum tust du mir das an? Warum lässt du mich nicht gehen?« »Hör auf, um dich zu schlagen, und hör mir zu!« Er fing ihre Hände und ihr Kinn ein. Zwang sie, den Kopf zu drehen und ihn anzusehen. »Par tous les diables, kannst du nicht einmal tun, was ich dir sage? Hör mir doch einfach mal zu, Belle!« Philippe bohrte seinen Blick in den ihren. Sie kniff die Augen zu. Ihre Ohren konnte sie nicht zuhalten. »Du bist von Helenus adoptiert worden, Belle! Du brauchst nicht zu fliehen!« »Was erzählst du da für einen Unsinn? Für wie gutgläubig hältst du mich?« »Ich habe ihn dazu überredet!« »Du lügst!« »Es war nach dem Vorfall mit Timoleon, bei dem du fast vergiftet worden wärest! Versuch dich zu erinnern! Hat er nie etwas angedeutet?« Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, doch er hielt sie fest. »Nein!« Sie erstarrte. »Doch!« Sie riss die Augen auf. »Doch, einmal hat er etwas von juristischen Dingen gesagt... aber er hat nie ...«
»Ich habe ihm klargemacht, dass eine Adoption sicherer wäre angesichts der Umstände, unter denen er dich zu sich genommen hat. Dass eine Enkelin kein leibliches Kind sei. Dass böswillige Menschen versuchen könnten, deine Herkunft in Frage zu stellen, die schließlich bisher kein einziges offizielles Papier bestätigte!« Endlich ließ Philippe ihren Nacken los. Sofort schüttelte sie den Kopf. Er fuhr eindringlich fort: »Ich habe damals ein wenig mit dem Feuer ge 229
spielt, Belle! Und als ich habe einfließen lassen, dass selbst unsere Heirat angefochten werden könnte, hat er sich geschlagen gegeben und eingewilligt.« Er ließ sie nicht aus den Augen. »Ich glaube, das hat ihn am meisten überzeugt. Er wollte so sehr, dass ich seinen Schwur erfülle!« Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Die Menschen klatschten, Blumen wurden auf sie geworfen, sie trafen hart auf Isabelles Arme, ihren Nacken, ihren Kopf und ließen sie immer wieder zusammenzucken. Lauter kleine, gut gemeinte Schläge. »Warum hast du mir nichts gesagt?« »Ich habe nicht angenommen, dass wir jemals in die Situation kommen würden, diese Adoption publik machen zu müssen! Versteh doch: Für mich war es eine Absicherung, mehr nicht! Ich ahnte damals ja nicht, dass noch jemand anders als ich von deinem Geheimnis wusste. Und als ich erfuhr, dass Branne eingeweiht war, habe ich angenommen, er hätte sein Wissen mit in sein Grab genommen!« Philippe wurden Ermunterungen zugerufen, derbe Scherze schössen von links und rechts. »Ich glaube dir nicht! Er kann doch unmöglich Magdelaine ...« Philippe zog sachte ihre Hände herunter. Sie streckte ihm ihr verweintes Gesicht entgegen. Er sah sie fest an. »Habe ich dich jemals belogen?« Ihr Atem stockte. Ein, zwei Sekunden lang. Sie biss sich auf die Lippen. »Nein! Nein, du bist der ehrlichste Mensch, den ich kenne!« »Na siehst du. Es ist, wie ich es sagte: Ich habe das Papier so formulieren lassen, dass dein Großvater meine Frau adoptiert hat. Magdelaine ist darin nicht erwähnt.« Er beugte sich zu ihr hinunter, küsste ihr zärtlich die Tränen von den Wimpern. »Und ich habe schließlich gewusst, auf was ich mich einlasse, nicht wahr, schöne Magdelaine?« Er drückte sie. »Und jetzt lass uns uns sputen und schnell zum Palais de Justice reiten, ich möchte dabei sein, wenn Königin Anne die Leitung der Regierung Seiner Majestät übergibt!« Sie wischte ihre Wangen trocken, schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, nicht Magdelaine. Nenn mich Belle ...« Sie ergriff die Zügel, klatschte auf den Hals des Pferdes. »Ja ... Isabelle.« Sie lachte 229
auf. Und diesmal war es kein verängstigtes kleines Mädchen, sondern eine strahlende Frau, die der jubelnden Menge zurief: »Ich bin Isabelle. Ich bin Isabelle!«
Nachwort
Louis XIV. regierte Frankreich als Sonnenkönig vierundsechzig Jahre lang. Man sagt, er habe nie die Erniedrigungen durch die Fronde vergessen und den Parisern nie verziehen. Er erbaute in Versailles ein Schloss, mit einem Bett außerhalb der Reichweite seines Volkes. Nach Condes Abreise flammte die Fronde ein letztes Mal auf. Mademoiselle engagierte sich an Condes Seite und ließ die Truppen des Königs mit den Kanonen der Bastille beschießen. Louis zog es danach vor, seine kampflustige Kusine nicht zu heiraten. La Rochefoucauld verlor während der daraus resultierenden Wirren ein Auge und erblindete fast vollständig. Er zog sich anschließend zurück und hinterließ der Nachwelt seine Erfahrungen als Höfling und Militär in der Form von Maximen. Nach der Niederschlagung der Fronde erschien Mazarin wieder am Hof und übernahm erneut sein altes Amt. Allen Todesdrohungen des Volkes zum Trotz starb er friedlich in seinem Bett, umgeben von unermesslichem Reichtum, den er noch zehn Jahre lang Zeit bekam anzuhäufen. Die Königin trauerte sehr um ihn. Weshalb Mazarin die Kronjuwelen in sein Exil mitgenommen hatte, bleibt sein Geheimnis. Ebenfalls ein Mysterium ist bis heute, wie sie wieder nach Frankreich gelangten. Den Ort Le Piain wird man vergeblich suchen. Wer allerdings die Pierre des Murmures sehen will, muss in die Bretagne fahren, auf eine winzige Insel namens Saint Cado. In der Kirche dort können Sie wie ich niederknien, Ihren Kopf zwischen die alten Steine stecken und den Geschichten lauschen, die sie erzählen.