Klaus Dehner
Die Bindungsformel Wie Sie die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns erfolgreich anwenden Unter Mitarbeit...
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Klaus Dehner
Die Bindungsformel Wie Sie die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns erfolgreich anwenden Unter Mitarbeit von Andreas Schnabel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie A. Winter Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-8349-1393-7
Vorwort 5
Vorwort
Unternehmenslenker, Wirtschaftskapitäne und Konzernbosse sind mächtige Männer, die über große Investitionen entscheiden, tückische Übernahmeverhandlungen führen, die je nach Marktlage Arbeitsplätze schaffen oder Mitarbeiter entlassen und ihre Ressorts mit harter Hand regieren. Dabei herrscht eine professionelle Kühle, die Brutalität hungriger Raubkatzen: Wer Gefühle zeigt, erscheint als schwach und kann sich in der hohen Position nicht mehr lange halten. Im Gegensatz zu dieser landläufigen Vorstellung ist die Erwartung der breiten Bevölkerung an die Führungselite hinsichtlich der charakterlichen Integrität, der Vorbildfunktion und des Verständnisses für den Durchschnittsbürger besonders hoch. Weil das Verhalten dieser Elite von den Erwartungen aber wesentlich abweicht, herrscht eine beunruhigend große Distanz zwischen der Bevölkerung und der ökonomischen Elite, wie die Allensbach-Analyse vom Frühling 2008 festgestellt hat. Keine Frage, auch in Tiergemeinschaften haben der Leitwolf, der Oberaffe und der Platzhirsch die herausgehobene Stellung nicht geschenkt bekommen; vielmehr haben sie sich in Rangordnungskämpfen mit viel Anstrengung nach oben durchgeboxt und in der Konkurrenz mit den Rivalen durchgesetzt. Doch nun müssen sich die Alphatiere in ihrer Führungsfunktion bewähren. In einer durch Knappheit und Mangel gekennzeichneten Umwelt besteht ihre wichtigste Aufgabe darin, das gemeinsame Handeln aller Mitglieder so zu organisieren, dass sie die harten Anforderungen der Natur dauerhaft erfüllen: ausreichend Nahrung finden, Beute machen, Junge aufziehen, das Revier verteidigen. Dabei gilt die Maxime „Gemeinsam sind wir stark“, denn nur die effektive Kooperation schafft den notwendigen Mehrwert, um überleben zu können. Professionelle Kühle, Durchgreifen mit harter Hand und eine rein daten- und faktengetriebene Ausrichtung führen bei Wölfen, Primaten, Löwen und Co. gerade nicht zum Ziel. Ganz im Gegenteil: Mit einem hohen Maß an sozialer Intelligenz stellen beispielsweise Leitwölfe den Frieden in der Gruppe wieder her, wenn sich zwei Streithähne während eines Pirschgangs in die Haare kriegen.
6 Vorwort Bei ausbleibendem Jagderfolg schärft sich nach einigen Tagen der Geruchssinn des Leitwolfs um das Zehnfache; so kann er auch ältere Spuren möglicher Beutetiere wahrnehmen und verfolgen; schließlich ist das Auffinden der Beute Chefsache. Gleichzeitig sorgt er durch das Anstimmen des gemeinsamen Wolfsgeheuls dafür, dass sich die gereizte Stimmung im hungrigen Rudel wieder beruhigt. Das ist zugleich der Auftakt für eine neue Form der Zusammenarbeit, bei der die Rudelmitglieder ihr Bestes während der unmittelbar bevorstehenden gemeinsamen Jagd geben. Entgegen der allgemeinen Erwartung, dass Chefs hart, unnachgiebig und ausschließlich zielfixiert sind, zeigt der Blick in die Naturgeschichte: Alphatiere sind Beziehungsmanager, denn sie können die Ziele nur erreichen, wenn es ihnen gelingt, die Teammitglieder zum gemeinsamen Handeln zu bewegen. Die Kraft und der Wille, durch Zusammenarbeit einen echten Mehrwert zu erzeugen ist bei den Mitarbeitern vieler Unternehmen abhandengekommen. Frust, Dienst nach Vorschrift, emotionale Distanz zum Betrieb und Vorgesetzten, so beschreiben Umfrageinstitute den allgemeinen Gemütszustand in den Belegschaften. Seit der industriellen Revolution hat sich unter den Bedingungen der Massenproduktion gerade in großen Konzernstrukturen ein Führungsstil ausgebreitet, der derartig negative Einstellungen bei den „Wertschöpfern“ in der Fertigung ausgelöst hat. Führung und Belegschaft haben sich in weiten Teilen tatsächlich entfremdet; bürokratische Strukturen, Dokumentationspflichten, Kontrolle und aufgedrückte Regelkommunikation haben ein mechanistisches Produktionsmodell herausgebildet, dem sich viele Mitarbeiter nicht zugehörig und auch nicht verbunden fühlen. Wo aber Bindung fehlt, kann gemeinsames Handeln nicht zur Hochform auflaufen. Dabei ist nach Überzeugung des Nachrichtentechnikers und Vordenkers der Informationsgesellschaft Leo Nefiodow die Schnittstelle Mensch – Mensch in der gegenwärtigen Übergangsphase entscheidend für die Produktivität, das Wachstum und die Wertschöpfung der kommenden Jahrzehnte. Er beruft sich dabei auf die Theorie der langen Wellen, Kondratieffzyklen genannt, die wellenförmige Konjunkturphasen beschreiben. Am Ende eines solchen Zyklus setzt ein Suchprozess nach Innovationen ein, um die bestehende Wachstumsbarriere zu überwinden. Von einer neuen Basisinnovation ausgelöst, wie
Vorwort 7
es in früheren Zyklen die Erfindung der Dampfmaschine oder der Informationstechnologie waren, entwickelt sich eine neue Wertschöpfungskette, die über mehrere Jahrzehnte das Wirtschaftswachstum entscheidend bestimmt und nahezu alle Bereiche der Gesellschaft erfasst. Aus diesem Grund durchläuft die Marktwirtschaft in einem Abstand von 40 bis 60 Jahren tiefgreifende Reorganisationsprozesse. Momentan befinden wir uns im Übergang vom fünften zum sechsten Kondratieffzyklus, einer Phase, in der die „weichen Phänomene“ mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Gemeint ist damit Kooperation, Zusammenarbeit und gemeinsames Handeln. In der derzeitigen Spätphase des fünften Kondratieff arbeiten mehr als 80 Prozent der Menschen vorwiegend mit Menschen zusammen. Wem es gelingt, die bislang kaum ernsthaft genutzten Ressourcen des psychischen, sozialen und ethischen Bereichs anzuzapfen, kurz, wer den Mehrwert des gemeinsamen Handelns vollständig ausschöpfen kann, der profitiert am meisten vom Schwung der nächsten Konjunkturwelle. Aus einer anderen Perspektive und Tradition macht Papst Benedikt XVI in der Sozialenzyklika „Liebe in der Wahrheit“ ganz ähnliche Aussagen. So fordert er etwa, die bisherigen Gegensätze zwischen der Welt des Sozialen und der Wirtschaft zu überwinden. Menschliche Beziehungen in Freundschaft und Gemeinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit sollen seiner Ansicht nach gerade innerhalb der Wirtschaftstätigkeit stärker berücksichtigt und gelebt werden. Dabei heißt es in dem Lehrschreiben, dass der Bereich der Wirtschaft weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial ist. Markt und Profit werden grundsätzlich als nützlich angesehen. Der Papst hat recht: Bindung und Wettbewerb, gemeinsames Handeln und effektives Wirtschaften, Erträge und Gerechtigkeit dürfen nicht vorschnell als Gegensätze wahrgenommen, sondern müssen als zukunftsweisende Produktivitätsreserven für das 21. Jahrhundert eingesetzt werden. Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Hans Dietrich Genscher und Egon Bahr haben am 9. Januar 2009 einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, in dem sie ebenso einfach wie wahr feststellen: „Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit. Kein
8 Vorwort globales Problem ist durch Konfrontation … zu lösen.“ Sie sprechen von der Bewahrung der Umwelt, vom Energiebedarf einer wachsenden Weltbevölkerung und von der Bewältigung der Finanzkrise. Die Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts lautet: Wie kann die notwendige Kooperation in den unterschiedlichen Lebensbereichen gelingen? Die Probleme des Umweltschutzes, der Energieversorgung, der Finanzpolitik, der wirtschaftlichen Entwicklung, der Friedenspolitik etc. können nur durch gemeinsames Handeln der Beteiligten gelöst werden. Das gilt natürlich auch für die Zusammenarbeit in Unternehmen. Die Grundlage dafür ist die Vertrauensbildung zwischen Management und Mitarbeitern, nicht der Vertrauensappell. Es existieren gute Chancen für eine solche Vertrauensbildung, denn die Menschen sind, ebenso wie sie über einen Nahrungstrieb verfügen, mit einem evolutionären Programm für das gemeinsame Handeln ausgestattet: mit dem Bindungstrieb. Wie er funktioniert, wird in diesem Buch erstmals zusammenhängend beschrieben. Die Bindungsformel weist aber weit über die funktionalen Zusammenhänge hinaus. Sie zeigt, wie die weichen Faktoren, die an die Emotionen des Bindungsprogramms geknüpft sind, mit den harten Regeln des gemeinsamen Handelns verknüpft sind. Dabei stellt sich heraus, dass hochwertige gemeinsame Leistung ohne Bindung nicht möglich ist. Die Bindungsformel ist das Führungsmodell dafür, bei Mitarbeitern und Belegschaften von Unternehmen Lust an Leistung zu erzeugen. Sie zeigt den Weg zu einer verhaltensgerechten Zusammenarbeit, weil sie zugleich zwei unterschiedliche und zugleich notwendige Bedingungen erfüllt: das humane Bedürfnis nach Zugehörigkeit und das betriebliche Erfordernis nach Wertschöpfung. Nun gehört das Beziehungsmanagement bislang nicht zu den Grundqualifikationen von Managern und Unternehmensführern. Deshalb finden sich im Buch sowohl ein systematisches Konzept (InTeaming) als auch einzelne Handlungsanleitungen für die praktische Anwendung in der täglichen Führungsarbeit und für die pragmatische Umsetzung. Die leichtgängige und zielorientierte „Zusammenarbeit“ wird sich unter den veränderten Marktbedingungen des globalisierten Wirtschaftssystems als der
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entscheidende Überlebensfaktor erweisen. Vom erfolgreichen gemeinsamen Handeln wird es abhängen, ob es den Unternehmen und Organisationen gelingt, soviel Synergie zu erzeugen, dass sich daraus eine nachhaltige Gesamtfitness entwickelt. Heidelberg im Sommer 2009
Klaus Dehner
Inhaltsverzeichnis 11
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ____________________________________________________ 5 1. Das Gefühl der Bindungslosigkeit ___________________________ 15 Warum Löwen überleben: Nur gemeinsam können sie es schaffen! _____ Wozu Bindungsmangel führt: Minderleistung ist programmiert ________ Wo drückt der Schuh? Nachwuchssorgen und Kooperationsdefizite _____ Womit Sie rechnen müssen: Miese Stimmung verursacht Verluste ______ Warum Führungskräfte Beziehungsmanager werden müssen __________
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2. Was ein Beziehungsmanager können muss____________________ 37 Administrative Führungsintelligenz: Die klassischen Managementaufgaben ____________________________ 38 1. Ziele setzen ____________________________________________ 38 2. Entscheidungen treffen ___________________________________ 38 3. Organisieren ___________________________________________ 39 4. Kontrollieren ___________________________________________ 40 5. Mitarbeiter führen _______________________________________ 40 Adaptive Führungsintelligenz: Überleben durch Anpassung ___________ 42 Emotionale Führungsintelligenz: Beweggründe wahrnehmen, Motive aktivieren _____________________ 45 Soziale Führungsintelligenz: Beziehungen gestalten _________________ 51 3. Was ist Bindung?_________________________________________ 57 Das angeborene Bedürfnis nach Zugehörigkeit _____________________ 61 1. Triebstärke: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ________________ 62 2. Auslösender Reiz: Wem man sich annähert ___________________ 65 3. Appetenzverhalten: Wenn wir Bindung suchen ________________ 68
12 Inhaltsverzeichnis 4. Die Triebhandlung der Bindung: Umarmen, Streicheln, soziale Fellpflege ________________________________________________70 5. Die Lust der Bindung – Zugehörigkeit, Zuneigung ______________73 Der Bindungs-Trieb als Schlüssel für das Beziehungsmanagement ______75 4. Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung81 Die erste große Liebe des Menschen ______________________________83 Sympathie erzeugen: Das evolutionäre Attraktivitätsprogramm _________84 Sympathie initiieren: Der Auftakt für Mitarbeiterbeziehungen __________89 Persönlich kennen(-lernen): So wächst Bindung _____________________92 Beziehungsarbeit: Sich um die Mitarbeiter bemühen _________________95 Vertrauen: Die sichere Basis ___________________________________102 Führung: Die sichere Basis für die Mitarbeiter _____________________105 5. Lob der Aggression _______________________________________113 Die Natur der Aggression______________________________________115 Der Trieb zum Sieg __________________________________________119 Die soziale Innovation ________________________________________122 Strukturlogik: Ohne Gerechtigkeit keine Gemeinschaft ______________126 Wie der Beziehungsmanager die Kraft der Aggression nützt___________132 6. Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns _________________135 Worauf Sie sich verlassen können: Die Verhaltenslogik ______________138 Wie der Beziehungsmanager verhaltenslogisch handelt ______________144 Kommunikationslogik: Offenheit braucht Bindung__________________145 Der Ehrliche ist der Schlaue____________________________________152 Wirksam kommunizieren im Unternehmen ________________________153 Wie der Beziehungsmanager kommunikationslogisch handelt _________157 7. Beziehungsmanagement in der Führungspraxis _______________159 InTeaming: Der Königsweg zum gemeinsamen Handeln _____________160 Gemeinsam handeln: Sorgen Sie für Sympathie!____________________162 Gegenseitig anerkennen: Verabreichen Sie eine warme Dusche! _______166
Inhaltsverzeichnis 13
Vertieft kennenlernen: Werden Sie erst jetzt „InTeam“!______________ Die Fehlfunktionen des gemeinsamen Handelns ___________________ CoOperating: Wie das Team ins gemeinsame Handeln kommt ________ 1. Ist-Zustand feststellen ___________________________________
170 173 176 176
2. Zu eigen machen von Zielen ______________________________ 178 3. Strategie entwickeln ____________________________________ 180 „Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit.“ _____ 182 Literaturverzeichnis ________________________________________ 183 Der Autor _________________________________________________ 187
Warum Löwen überleben: Nur gemeinsam können sie es schaffen! 15
1. Das Gefühl der Bindungslosigkeit
Bindungslosigkeit und Misstrauen begründen ein vielfaches echtes Defizit: Sie verursachen schlechte Gefühle und eine miese Stimmung. Sie zerstören nicht nur Börsenwerte in Billionen- und Unternehmenswerte in Milliardenhöhe; sie vermindern auch Motivation und Engagement von Belegschaften und einzelnen Mitarbeitern. Sie sind die Ursache dafür, dass die Zusammenarbeit in Unternehmen und in Projekten bürokratisch, schwerfällig und ineffektiv abläuft. Sie sind der Grund für Intransparenz, Verschlossenheit und Kostenexplosionen. Das Gefühl der Bindungslosigkeit ist ausschlaggebend für den weltweiten Vertrauensverlust, die Finanz- und Wirtschaftskrise, den ÜbernahmeGrößenwahn und für magersüchtige Unternehmensprozesse. Wenn Anleger zaudern, Banken Kredite versagen, Belegschaften die Zusammenführung verweigern und den Mitarbeitern Motivation und Leistungsbereitschaft abhandenkommen, werden die hinter diesen Ereignissen stehenden Emotionen als Störfaktoren wahrgenommen. Ein beliebter, aber in die Irre gehender Versuch, damit zurande zu kommen, besteht darin, den Rationalitätsfaktor zu erhöhen: Neue Institutionen werden gegründet, Abläufe professionalisiert, Regelwerke ersonnen und Sanktionsmechanismen für diejenigen ausgedacht, die den kommenden Normen nicht entsprechen. Die Emotionen werden mit derlei Verfahren allerdings weiter verdrängt. Das ist nachvollziehbar, aber falsch! Solche „Ordnungsversuche“ können nicht funktionieren, denn damit verstößt man gegen die natürlichen Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Antriebsdynamik und Motivation. Schließlich haben wir gerade deshalb bis heute überlebt, weil unsere emotionale Ausstattung über Jahrmillionen hinweg die zutreffenden Gefühlsimpulse für erfolgreiches Verhalten gegeben hat. Bindung, Fürsorge und Vertrauen im Kreis der eigenen Familien oder des Stammes haben unsere Vorfahren in die Lage versetzt, gemeinsam zu handeln, z. B. bei der
16 Das Gefühl der Bindungslosigkeit gemeinsamen Jagd, bei der Verteidigung gegen Eindringlinge oder der Erkundung neuen Terrains. Wer sich so verhalten hat, wurde mit den guten Gefühlen der Gemeinschaft, mit Zuneigung und Zugehörigkeit belohnt. Der Überlebenserfolg bestand mit anderen Worten im Mehrwert des gemeinsamen Handelns, der untrennbar an die positiven Gemeinschaftsgefühle gekoppelt war. Ein einzelner Mammutjäger konnte es nicht schaffen, ein so mächtiges Tier alleine zu erlegen. Stabile und verlässliche Bindungen und gemeinsames Handeln schaffen nicht nur die Grundlage dafür, dass sich Vertrauen ausbildet, sie vermögen noch viel mehr: Sie verhindern negative Gefühle, mildern eine miese Stimmung ab und bauen Motivation und Einsatzbereitschaft des Einzelnen auf. Das entspricht auch der allgemeinen Lebenserfahrung, die in dem Sprichwort „Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freud’ ist doppelte Freud’“ Niederschlag fand. Diese stabilen Bindungen sind der Grund dafür, dass die Zusammenarbeit in Unternehmen und in Projekten auf Zuruf, leichtgängig und zielorientiert funktioniert. Sie sind der Grund für Zielklarheit, offene Kommunikation und Verantwortungsübernahme. Gemeinschaften erzeugen eine ungleich höhere Leistungskraft, unter der Bedingung, dass ihre Mitglieder einander vertrauen, sich aufeinander verlassen können. Denn jeder kann nur arbeitsteilig jeweils das einbringen, was er am besten kann – durch Neigung, Training, Übung. So entsteht die Synergie, die notwendig ist, um ein Mammut erlegen zu können; und schließlich hat jeder einen Vorteil davon. Dieser Ur-Zusammenhang von Gemeinschaftsgefühl und gemeinsamem Handeln wird im Ablauf und in der Organisation hochkomplexer Arbeitsprozesse von den Mitarbeitern meist nicht mehr unmittelbar erlebt und empfunden. Umso wichtiger ist es, dass die Führungskräfte gerade diese Faktoren in der Qualität ihrer Beziehung zu den Mitarbeitern verkörpern und immer wieder zum Ausdruck bringen. Auf diese Beziehung sind die Mitarbeiter in großen Unternehmen und Konzernstrukturen in besonderem Maße angewiesen. Ohne sie fühlen sie sich der Firma nicht zugehörig. Das Schlimmste am Gefühl der Bindungslosigkeit ist die Vorstellung der Mitarbeiter, dass die Instanz, an der sie sich natürlicherweise orientieren, das Management selbst, auch nicht wirklich zum Unternehmen gehört. Vielmehr
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bastelt es, so die allgemeine Wahrnehmung, als separate Klasse unentwegt an der eigenen Karriere und setzt sich für den persönlichen Klassenerhalt ein. Bindung entsteht ursprünglich im familiären Umfeld, dehnt sich auf Verwandte und Freunde aus und bezieht sich natürlich auch auf Kollegen und Mitarbeiter. Das Zugehörigkeitsgefühl entwickelt sich immer hinsichtlich der konkreten Gemeinschaft oder Sozietät. Wenn nun die führenden Mitglieder einer solchen Unternehmens-Sozietät gar nicht mehr als zugehörig empfunden, sondern als international hochmobile und extrem flexible und vor allem untereinander kommunizierende Klasse wahrgenommen werden, dann identifizieren sich die Mitarbeiter nicht mehr mit dem Unternehmen und seinen Zielen. Der gemeinsame Wertekanon, die neu erarbeiteten Führungsleitlinien können unter solchen Umständen nicht mehr darüber hinwegtäuschen, dass die gemeinsame Sprache verlorengegangen ist, gegenseitiges Verständnis fehlt und die Heimat, die ein gutes Unternehmen immer verkörpert, entfremdet ist. Der Weg zur Verbindlichkeit der Ziele und Identifikation mit dem Unternehmen führt über die Verbundenheit der Führungskräfte mit ihren Mitarbeitern.
Warum Löwen überleben: Nur gemeinsam können sie es schaffen! Eine Löwin, die beschließt, allein auf Gazellenjagd zu gehen, hat das Nachsehen. Erwachsenes gesundes Großwild ist in aller Regel nämlich schneller als Löwen; und das bedeutet langfristig das Aus für den Jäger. Es sei denn, er verlagert seine Jagdbemühungen auf langsamere Beute, oder er wird zum Vegetarier. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, dass er ein paar Kollegen dafür gewinnt, bei einer gemeinsamen Treibjagd mitzumachen. Genau darauf hat die Evolution die Löwinnen angepasst. Das Projekt Gazellenjagd ist eine Gemeinschaftsleistung. Die Tiere haben Spezialaufgaben: Eines lauert - manchmal über mehrere Stunden - der Gazelle auf. Sobald diese sich weit genug von der Herde entfernt hat, schneidet
18 Das Gefühl der Bindungslosigkeit die Löwin ihr den Weg ab und treibt sie in eine bestimmte Richtung. Wenn es ihr gelingt, die Spur zu halten, dann erreicht die Beute eine Stelle, an der zwei Reißer postiert worden sind, die im rechten Augenblick über die Gazelle herfallen, sie niederringen und töten.
Abbildung 1:
Die Treibjagdstrategie der Löwen
Löwen haben bis heute überlebt, weil sie es mithilfe des gemeinsamen Handelns geschafft haben, Herausforderungen zu meistern, die den Einzelnen hoffnungslos überfordern. Das Motto ihres Überlebenserfolgs lautet „Gemeinsam sind wir stark“. Die Organisation des gemeinsamen Handelns ist allerdings hoch komplex: Es gibt verteilte Rollen und unterschiedliche Leistungsbeiträge, Präzision im Zusammenspiel ist ein absolutes Kriterium für den Erfolg, und die gegenseitige Information und Verständigung muss darüber hinaus auch einwandfrei funktionieren. Wie die Löwinnen das bewerkstelligen? Sie sind miteinander verwandt, kennen sich gegenseitig von Kin-
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desbeinen an, können einschätzen, wer was gut kann und trainieren die notwendigen „Spielzüge“ und die Taktik des gemeinsamen Handelns wiederholt, bis ihnen der Coup schließlich gelingt. Des Löwenrudels Beute ist der Handballmannschaft Treffer. Hier wie da gelten die gleichen Grundprinzipien des gemeinsamen Handelns. Und sein Erfolg stellt sich nur dann ein, wenn diese Prinzipien präzise und gewissenhaft ausgeführt und erfüllt werden. Dabei werden intensive Emotionen ausgelöst. Das kann man unmittelbar als Zuschauer bei einem Match beobachten und das bestätigten die Handballspieler eines Zweitligisten in einem Gespräch nach einem intensiven Abendtraining: Wenn ein Spielzug zum Torwurf führt, freuen sich die Beteiligten sichtlich; sie klatschen sich ab, geben sich gegenseitig Anerkennung. Nach der Überwindung besonders schwieriger Gegner oder am Ende eines Matches umarmen sich die Spieler, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter; manchmal signalisiert auch nur der nach oben gestreckte Daumen dem Mannschaftskameraden Lob und Wertschätzung. Fragt man die Spieler danach, was sie in derartigen Situationen empfinden, dann antworten sie: „Gemeinsam reißen wir das!“, „Der Teil eines starken Teams zu sein, ist wirklich toll“, „Ohne guten Zusammenhalt geht es nicht“, „Wir sind in dieser Saison eine super Einheit“, „Vor dem Spiel geben wir uns die Hand oder klatschen uns ab, das ist ein gutes Gefühl“. Die Natur hat uns das gute Gefühl der Bindung eingepflanzt. Dabei handelt es sich um Empfindungen wie Zuneigung, Vertrautheit, Sympathie. Sie stellen sich ein, wenn Teammitglieder eine gemeinsame Herausforderung bestehen, wenn sich Mannschaftskollegen gegenseitig unterstützen oder wenn man sich einfach aufeinander verlassen kann. Genau darin besteht auch das Lebensglück vieler Menschen. Bei Befragungen zur Lebensqualität und zum Glücksempfinden gibt die große Mehrheit der Bevölkerung an, dass sie ganz besonders die guten Beziehungen zu ihren Partnern, Kindern, Freunden und Arbeitskollegen glücklich machen. In einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach zum Glücksempfinden der Deutschen haben sich mit 77 Prozent die meisten der Befragten für „lieben und geliebt werden“ als individuelle Glücksdefinition entschieden. Richtig glücklich fühlten sich laut Umfrage
20 Das Gefühl der Bindungslosigkeit Menschen, die eine schöne Kindheit erlebten, Lebensfreude aus ihrer Partnerschaft ziehen, gesund sind und vertrauenswürdige Freunde haben. emotion-Ausgabe 03/07 “Was Deutschland glücklich macht“
Wozu Bindungsmangel führt: Minderleistung ist programmiert „Ich habe es gründlich satt!“, murmelt ein leitender Mitarbeiter aus dem mittleren Management eines großen Konzerns vor sich hin, „da ruft mein Chef schon zum zweiten Mal in diesem Jahr dazu auf, die neu geschaffene Struktur „inhaltlich und persönlich“ voll zu unterstützen, die Veränderung als Chance zu sehen und mit den Kollegen der Abteilung kraftvoll am Strang zu ziehen. Er war sich nicht einmal zu schade, die Worthülse „Wir-sitzen-alle-in-einem-Boot“ aufzutischen und das Vertrauen zu beschwören, das doch die zentrale Voraussetzung für den Erfolg des Großen und Ganzen sei. Für meinen Einsatz in der Endphase des letzten Projekts fand er kein einziges gutes Wort. Ich will nicht gebauchpinselt werden, aber für die vielen notwendigen Überstunden, um im vorgegebenen Zeitrahmen abschließen zu können, wäre ein bisschen Anerkennung durchaus angebracht gewesen. Aber das Gegenteil ist passiert: Bei meiner letzten Präsentation mit den Risk-Managern unseres Kunden durfte am unteren Bildrand der Charts nicht einmal mehr mein Name erscheinen; nur noch die Bezeichnung der Abteilung. Kann man den Macher nicht mehr identifizieren, dann fällt der Ruhm des Erfolgs auf den Abteilungsleiter zurück. Der gibt mir nicht nur keine Anerkennung, er klaut sie mir geradezu! Wahrscheinlich würde er die Präsentationen schon längst selbst durchführen, wenn er mehr Ahnung von der Materie hätte. Von wegen sich mit dem Unternehmen identifizieren, wenn einem der Sieg gestohlen wird. Das entfremdet mich nicht nur vom Chef, sondern auch von meiner Arbeit, die ich eigentlich gerne mache.“ Zitat aus einem persönlichen Gespräch
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Folgende Faktoren lassen sich identifizieren, die bei dem zitierten Manager das Gefühl der Bindungslosigkeit auslösen und die Entfremdung von seiner Tätigkeit verursachen: X
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Die Restrukturierungen in den letzten Jahren haben die Abläufe und Prozesse um 80 Prozent verbessert. Der Konzern ist in der Projektabwicklung Weltmeister. Das hat dazu geführt, dass alle Mitarbeiter von der obersten Etage bis zum Reinigungspersonal inzwischen unter enormem Zeitdruck arbeiten. Viele ärgern sich darüber, dass ein Übermaß an Vorschriften und Regelungen die Tätigkeiten immer stärker fremdbestimmt. Zuweilen kommen sie sich vor wie auf der Galeere, wo mit der Rationalisierungs-, Verschlankungs- und Optimierungspeitsche der Takt der Arbeit vorgegeben wird. Dabei sind Planung und Realisierung von komplexen Produktionsprozessen beileibe keine Fließbandarbeit. Die Arbeit verliert aufgrund der vielen Standardisierungen inzwischen selbst für die Ingenieure, die Leistungsträger des Unternehmens, ihren Reiz. Es sind nur noch wenige Phasen, in denen sie selbst ein Programm oder einen Ablauf austüfteln können, eine Tätigkeit, die noch richtig Auftrieb geben und Spaß machen könnte. Im Arbeitsalltag bleibt dazu aber kaum Zeit. Die Optimierung der Abläufe hat die Anzahl der Projektbeteiligten um ein Drittel dezimiert, der Arbeitaufwand für den Einzelnen ist mindestens um dieses Maß gestiegen. Die Zeit drängt, der Druck wird in manchen Phasen unerträglich. Selbst Teams, die große Projekte für die wichtigsten Kunden durchziehen, sind inzwischen zeitlich so befristet, dass sich die Mitglieder gar nicht mehr richtig kennenlernen können. Feste Bezugspartner, mit denen man rechnen kann, gibt es nicht mehr. Der Manager im Mittelbau räsoniert weiter: „Wir sind zugleich optimiert und ausgelutscht. Wir funktionieren effizient in Abläufen und Strukturen und kennen kaum noch die Kollegen. Es herrscht eine Beziehungslosigkeit in alle Richtungen. Gerade die Führungskräfte sind viel mehr damit beschäftigt, ihren nächsten Karriere-
22 Das Gefühl der Bindungslosigkeit schritt vorzubereiten, als dass sie einem ein Ansprechpartner wären. Soziale Unterstützung bei Stress und Druck, das Gefühl, der Unternehmensfamilie anzugehören, so wie das früher der Fall war, das habe ich schon lange abgeschrieben. In Wirklichkeit ist mir mein Betrieb fremd geworden. Ich gehöre ihm nach den ungezählten Veränderungsrunden zwar noch an, empfinde ihn aber nicht mehr als meine Heimat.“
Diese Aussage wird vielfältig bestätigt, durch die Gallup-Studie, den DAKGesundheitsreport, das Arbeitsklima-Barometer und andere einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen über die Motivation, Gesundheit und Arbeitszufriedenheit von Mitarbeitern in deutschen (und internationalen) Unternehmen. Tabelle 1: Mitarbeiterbindung in deutschen Unternehmen nach Gallup
Hohe Bindung, engagiert Geringe Bindung, Dienst nach Vorschrift Keine Bindung, innerlich gekündigt
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Und die Konsequenzen sind katastrophal! Wenn Mitarbeiter ihr Unternehmen nicht als Heimat empfinden, wenn sie sich nicht eingebunden und zugehörig fühlen und gute Beziehungen zu Vorgesetzten und Kollegen ein Fremdwort sind, dann leidet die Leistungsfähigkeit des gesamten Unternehmens enorm. Es kommt zu einer massenhaften Vernichtung von Leistung: Mitarbeiter mit geringem Bindungsgrad haben wesentlich mehr Fehltage im Jahr als fest gebundene. X Selbst wenn sie physisch anwesend sind, so geht ihre Leistungs- und Einsatzbereitschaft im Vergleich zu denen, die sich verbunden fühlen, zurück. X
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Die negative Stimmung überträgt sich leicht auf die Leistungsbereiten, wirkt ansteckend und zerstört in weiteren Mitarbeitergruppen die Motivation. X Aufgrund der mangelnden Bindung leidet die Gewissenhaftigkeit in der Bearbeitung von Aufgaben, was zu Fehlern und Mängeln in der Projektarbeit führt. X Nicht gebundene Mitarbeiter empfehlen ihren Arbeitgeber und seine Produkte nicht weiter, es besteht die Gefahr der Kundenfluktuation. X Nicht gebundene Mitarbeiter wechseln häufiger den Arbeitsplatz. X
Machten sich Löwen so unmotiviert, ungeordnet und unpräzise auf zur Gazellenjagd, dann würde sich niemand wundern, wenn sie rudelweise zugrunde gingen. Löwen haben evolutionär gesehen den Weg zu Bindung und zum gemeinsamen Handeln eingeschlagen. Menschen auch! Weder Löwenrudel noch Wirtschaftsunternehmen können diesen Entwicklungsschritt zurücknehmen. Es ist das Schicksal der Löwen, gemeinsam Großwild zur Strecke zu bringen. Das Schicksal der Menschen ist es, gemeinsam vielfältige Synergien zu erzeugen. Die Selektion trifft die nicht ausreichend Angepassten hier wie da. Wir sind aber nicht dazu verdammt, wegen mangelnder Bindung und Beziehungslosigkeit den Leistungstod zu sterben. Im Laufe der Zeit haben sich die Löwen eines Rudels gegenseitig kennen und einschätzen gelernt. Sie haben individuelle Beziehungen aufgebaut, Sympathien entwickelt und mit einem hohen Grad an Verlässlichkeit ihre gemeinsame Jagd eingeübt und zum Erfolg gebracht. So viel an persönlicher Beziehung muss auch zwischen den Mitarbeitern in modernen Wirtschaftsunternehmen sein, wenn sie ihre „Beute“ machen und gemeinsam Erfolg haben wollen. Und es bestehen gute Chancen, auch unter den Lebens- und Arbeitsbedingungen des 21. Jahrhunderts die zwischenmenschlichen Beziehungen im Unternehmen emotional zu stabilisieren und als wichtigste Grundlage für die Gestaltung der Zukunft einzusetzen.
24 Das Gefühl der Bindungslosigkeit
Wo drückt der Schuh? Nachwuchssorgen und Kooperationsdefizite Aufgrund des drastischen Rückgangs der Geburtenzahlen stehen immer weniger junge Menschen zur Verfügung, um die frei werdenden Fach- und Führungspositionen zu besetzen. Selbst für einfache Tätigkeiten ist inzwischen eine Mindestqualifikation nötig, ansonsten können ganze Prozessketten ins Stocken geraten. Unter diesen Bedingungen ist es - selbst unter den Umständen wirtschaftlicher Rezession - nicht besonders klug, qualifizierte Mitarbeiter mit Berufserfahrung und langjähriger Kenntnis der internen Abläufe ziehen zu lassen oder sie sogar aktiv freizusetzen. Auf diese Weise verliert das Unternehmen nicht nur Leistungsträger, also diejenigen, die für den Erfolg von Projekten verantwortlich zeichnen. Es verliert darüber hinaus andere Experten, die sich mit einer solch demotivierenden Situation nicht abfinden, in der gute Kollegen freiwillig gehen oder entlassen werden. Deshalb suchen sie aktiv nach besseren Arbeitsbedingungen und einem motivierenderen Umfeld bei anderen Arbeitgebern. Für das Unternehmen stellt sich – in Zukunft immer drängender – die Frage: Woher sollen die jungen Talente kommen? Im Krieg um diese künftigen Leistungsträger stehen die Unternehmen inzwischen Schlange bei den Abschlussjahrgängen mancher Ingenieurstudiengänge. Sie bieten hohe Gehälter, schnelle Karrieren und spannende Tätigkeiten, Firmenwagen und andere Privilegien. Das aber führt zu Anspruchshaltungen, weil derartige Auswahlkriterien Anspruchsvolle ansprechen! Bei einer solchen Ausgangslage ist aber damit zu rechnen, dass nach diesen Kriterien selektierte Mitarbeiter auch künftig immer mehr wollen, möglicherweise auch ohne die entsprechenden Leistung zu erbringen. Damit ist der Verwöhnung Tür und Tor geöffnet, Karrieregeilheit programmiert und die notwendige Zusammenarbeit erschwert oder ganz blockiert. Da wird der Teufel der Spezialistenknappheit mit dem Belzebub der Fehlauswahl ausgetrieben; und das geht auf Kosten der Integration. Schon die Unterordnung unter ein gemeinsames Ziel wird für den egoistischen Karrieristen zum Problem, geschweige denn die Einordnung ins Team. Auch die Fähigkeit bzw. Bereitschaft, langfristige kolle-
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giale Beziehungen zu entwickeln, dürfte nicht gerade eine positive Ausprägung im persönlichen Profil eines derart ausgewählten Talents darstellen. Der Arbeitsdirektor eines großen internationalen Herstellers von Gebäude- und Steuerungstechnik hat Folgendes angemerkt: „Wir waren auf diese Situation einfach nicht vorbereitet. Zwar haben wir schon seit einigen Jahren das Thema demografische Veränderung auf dem Radarschirm gehabt. Ich selbst bin mit ungezählten Vorträgen darüber im eigenen Unternehmen, bei Verbandstagen und auf Kongressen unterwegs gewesen. Selbst bei unseren Produkten haben wir z. B. bei der Lichttechnik oder bei der Bedienung von Elektrogeräten darauf geachtet, dass sie auf eine älter werdende Kundschaft hin ausgerichtet wird. Dass jedoch fehlendes Fachpersonal für das Unternehmen einmal ein existenzielles Problem von erheblicher Tragweite werden könnte, damit haben wir jahrzehntelang nicht ernsthaft gerechnet. Von heute aus betrachtet, muss ich uns da ein wenig Kurzsichtigkeit vorwerfen, denn in einigen Bereichen zeichnet sich schon seit längerem ab, dass es uns nicht mehr gelingt, fehlende Fachkräfte zeitnah für die Firma zu gewinnen.“ Zitat aus einem persönlichen Gespräch
In Wirklichkeit hat die Unternehmensleitung nicht nur unter Kurzsichtigkeit, also einem Sehfehler gelitten, sie stand den Erfordernissen kluger Personalrekrutierung, -planung, und -entwicklung völlig blind gegenüber. Man kann die Situation nicht drastisch genug einschätzen: Egal, ob die wirtschaftliche Entwicklung prosperiert oder in eine Rezession abgleitet, aufgrund des Nachwuchsmangels werden Spezialisten und Experten in jedem Fall ein immer kostbareres Gut für die Betriebe. Das Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit von Mitarbeitern zum Unternehmen ist aber nicht nur deshalb wichtig, weil Fachleute knapp werden und weil die Bereitschaft sinkt, etwas für das Unternehmen zu leisten, sobald es die Mitarbeiter nicht mehr als ihre Heimat ansehen. Effektive Zusammenarbeit benötigt nicht nur eine sachliche, sondern auch eine persönliche Beteiligung der Mitarbeiter. Denn nur dann erzielen sie einen Mehrwert im Teamwork. Um das zu erreichen, bedarf es der Stärkung der zwischenmenschlichen Bindung in der professionellen Zusammenarbeit. Es kommt
26 Das Gefühl der Bindungslosigkeit schließlich darauf an, im Team, Vorstand, im Projekt, in der Geschäftsleitung und der Führungsmannschaft gemeinsam zu handeln. In anderen Bereichen haben die Unternehmen vielerlei Bemühungen unternommen und erhebliche Summen investiert: Die Produktionslinie ist auf dem neuesten technischen Stand gebracht, das Logistiksystem ist optimiert worden und die schwierige Einführung eines Systems für das Unternehmensdatenmanagement läuft nach schmerzhaften Fehlschlägen inzwischen stabil. Wo bleibt die Investition in die Zukunftsressource Nummer eins, nämlich in die Beziehungsarbeit und Bindungsverstärkung, in den Schmierstoff, der das gemeinsame Handeln erst möglich und gängig macht? Die Technik und die Prozesse hat das Unternehmen weitgehend im Griff. Was immer wieder zwischen den Fingern zerrinnt, ist die effektive und zielorientierte Zusammenarbeit. Sie drückt sich im schnellen Informationsaustausch, in offener Kommunikation und entschlossenem Handeln aus. Dazu braucht das Unternehmen gegenseitiges Vertrauen der Akteure, und das bekommt es genauso wenig geschenkt wie andere Produktionsfaktoren. Unternehmen, denen es nicht gelungen ist, dieses gegenseitige Vertrauen in der Zusammenarbeit zu etablieren, entwickeln nicht nur eine fehlerhafte Unternehmenskultur, sondern verhindern damit zugleich, dass die Mitarbeiter motiviert sind und zuverlässig und effektiv zusammenarbeiten. Stattdessen gestalten sich die Abläufe in der Organisation folgendermaßen: Schnell ist suspekt, was aus einem anderen Bereich oder von oben kommt. Deshalb wird zunächst nach formalen Gesichtspunkten geprüft und häufig zurückverwiesen. X Ehe eine Entscheidung getroffen wird, muss mit der anderen Abteilung Rücksprache gehalten werden. Darüber hinaus bedarf es der Dokumentation der Projektoutline und weiterer schriftlicher Unterlagen. X Aktennotizen werden angefertigt, Mails in vielfacher Ausfertigung ebenso an alle möglichen Beteiligten verschickt wie an Mitarbeiter, die mit dem Projekt gar nichts zu tun haben. X Die Interessen der eigenen Abteilung müssen in den Abstimmungsrunden der Leiter gewahrt, mögliche Verbündete gewonnen, unangenehme Entwicklungen rechtzeitig erkannt und ausgebremst werden. X
Wo drückt der Schuh? Nachwuchssorgen und Kooperationsdefizite 27
Bürokratische Strukturen, Dokumentationsverpflichtungen und Regelungswahn schießen ins Kraut. X Fruchtlose Auseinandersetzungen über die Relevanz bestimmter Daten werden geführt. X Notwendige Entscheidungen werden durch endlose Debatten auf die lange Bank geschoben. X
Hinter den „fachlichen Debatten“ stecken oft genug nicht ausgetragene Auseinandersetzungen, unausgefochtene Rangeleien oder nie aus dem Weg geräumte Missverständnisse, also Probleme aus dem Bereich des Beziehungsmanagements. Dazu ein aktuelles Beispiel aus dem Mittelstand: Während des Führungsworkshops eines Unternehmens aus der Metalltechnik bekam der Geschäftsführer einen Anruf von einem Kunden. Dieser beschwerte sich über die schlechte Qualität einer kürzlich gelieferten Traverse, weil die vorgeschriebenen Toleranzen an den Halterungsnuten nicht eingehalten worden waren. Aufgrund des Zeitverzugs, der bei dem Kunden dadurch entstand, befürchtete er, eine Vertragsstrafe in Höhe von 250.000 Euro zu erhalten. Als der Chef seine Führungskräfte davon unterrichtete, breitete sich schlagartig eine gespannte Stimmung in der Gruppe aus. Der für das Bauteil verantwortliche Techniker wurde sichtlich nervös. Alle schauten auf den Chef, der mit versteinerter Miene die Reklamation entgegengenommen hatte. Darauf kam es zu einer Unterbrechung des Workshops, um herauszufinden, ob die Reklamation berechtigt ist. Fotos vom beanstandeten Bauteil wurden beschafft, eine Skizze angefertigt und die infrage stehenden Maße diskutiert. Dabei wurde schnell klar, dass es eindeutig zu einem Fehler gekommen war. Der verantwortliche Techniker versuchte sich zu rechtfertigen und bemerkte kleinlaut, dass das zusätzliche Ausrichten und Überarbeiten der verzogenen Stahlplatten drei Tage Mehrarbeit im Walzwerk in Anspruch genommen hätte. Dabei war doch die Vorgabe der Geschäftsführung, möglichst schnell zu liefern. Aus diesem Grund habe er die Arbeiten mit dem verzogenen Grundmaterial durchgeführt. In einer emotional hoch aufgeladenen Auseinandersetzung diskutierten der Chef, die Qualitätsmanager und die Produktionstechniker die Situation. Schließlich sagte der Chef: „Es geht
28 Das Gefühl der Bindungslosigkeit mir nicht um Rechtfertigung und Schuldzuweisung, der Kunde ist auf unser Bauteil angewiesen. Am meisten ärgert mich bei der ganzen Sache, dass ihr den Mund nicht aufbekommen habt, dass niemand etwas gesagt hat.“ Persönliche Beobachtung
Aufgrund der mangelhaften Kommunikation kam es sowohl zu einer Zeitverzögerung als auch zu einem erheblichen Nachbesserungsaufwand. Dadurch entstanden Reibungsverluste. Weil er die Maximen „schnell liefern“ und „hohe Qualität“ nicht in Deckung bringen konnte, hat der verantwortliche Mitarbeiter einen „faulen Kompromiss“ geschlossen und niemanden in sein Dilemma eingeweiht. Die Lösung liegt im Vertrauen! Doch Vertrauen ist nicht ohne weiteres vorhanden, wenn man es gerade einmal nötig hat. Der Mitarbeiter aus dem Beispiel hat es nicht vermocht, im Vorfeld durch die Festigung seiner Beziehungen zu den Kollegen und Mitarbeitern die persönliche Basis aufzubauen, die es ihm gestattet, im Zweifelsfall um Rat zu fragen. Da könnte er inkompetent erscheinen, unprofessionell, nicht in der Lage, ein solches Problem alleine zu lösen. Richtig ist: Demjenigen, zu dem ich Vertrauen habe, kann ich mich auch in meiner Schwäche zeigen. Genau darin liegt der Kern von Vertrauen. Überflieger brauchen es nicht. Sie schaffen alle Schwierigkeiten (scheinbar) von alleine. Andererseits: Wo ich Vertrauen habe, brauche ich keine komplizierten Verfahren oder gar Verträge, um mit Kollegen, Mitarbeitern und Vorgesetzten offen zu kommunizieren und direkt zusammenzuarbeiten. Für den echten Aufbau von Vertrauen sind aber nicht nur die Mitarbeiter in ihren eigenen Beziehungen verantwortlich. Hier trägt vor allem das Unternehmen und seine Führung die Verantwortung dafür, dass Vertrauen nicht nur eine Scheinexistenz als Worthülse in den Leitlinien führt, sondern dass es in einer gelebten Unternehmenskultur für Führungskräfte und Mitarbeiter zu einer konkret erfahrbaren Wirklichkeit wird.
Womit Sie rechnen müssen: Miese Stimmung verursacht Verluste 29
Womit Sie rechnen müssen: Miese Stimmung verursacht Verluste Schauen wir noch einmal auf die Löwen: Im Rudel hat sich eine Rangordnung ausgebildet, deren oberste Position vom so genannten Alphatier besetzt wird. Es ist aufgrund eines Ausleseverfahrens durch Konkurrenz dorthin gelangt. Was in diesem Rang seine Bestimmung ist und was es folgerichtig zu tun hat, ist eindeutig: Es führt das Rudel im Sinne des Überlebenserfolgs der gesamten Gruppe. Alphatiere sind von Statur und Kraft her und aufgrund der Aufmerksamkeit, die ihnen von den anderen Angehörigen geschenkt wird, im wörtlichen Sinne angesehen. Nun ist vor allem in großen Konzernen zu beobachten, dass sich Führungskräfte in hohen Positionen um die Märkte und Investoren, Kunden und Kreditgeber kümmern, dass sie die Wettbewerber beobachten und Vertriebsstrategien ersinnen, Abläufe optimieren, Strukturen neu organisieren. Bei all diesen notwendigen Führungstätigkeiten werden sie für die Mitarbeiter aber nicht sichtbar, erreichbar bleiben sie schon gar nicht. Da die Mitarbeiter unwillkürlich trotzdem ihre Aufmerksamkeit auf das Führungspersonal richten, erscheint ihnen dieses allzu oft als berechnende Technokraten oder kalte Zahlenmenschen, dabei haben sie das Bedürfnis, sich persönlich durch die Führungskräfte angesprochen zu fühlen, sich an ihnen zu orientieren und sich über diese Personen mit dem Unternehmen und seinen Zielen zu identifizieren. Wie organisieren etliche Manager in hohen Positionen ihren Arbeitsalltag? Sind sie leicht erreichbar für einen Mitarbeiter? Sieht das Vorstandsmitglied regelmäßige Zeitfenster vor, in denen es den Mitarbeitern das Signal gibt: „Jetzt bin ich da und offen für Ansprache und Rückfragen. Jetzt nehme ich mir die Zeit, mich über den Fortgang der Arbeit und den Stand der Projekte zu interessieren. Jetzt will ich auch die Personen kennen lernen, die die Prozesse vorantreiben, Schwierigkeiten meistern oder an einer schweren Aufgabe scheitern.“
30 Das Gefühl der Bindungslosigkeit
Abbildung 2:
Qin-Shihuang, erster Kaiser von China
Das Bild in Abbildung 2 stellt den ersten chinesischen Kaiser in einem Ornat dar, das den Blick des Herrschers mit einem Vorhang aus Perlenschnüren trübt. Seine Wahrnehmung ist eingeschränkt. Er nimmt die Welt, sein Reich und die Untertanen lediglich mittels der Bürokratie seines Beamtenapparats, seinen „Augen und Ohren“ wahr. Die Spitze der Führung ist entrückt, hat einen gottähnlichen Zustand angenommen und wird zu einem quasireligiösen Gegenstand der Anbetung. Wie verhalten sich Manager in hohen Positionen: Auch sie sind abgeschirmt: Das Vorstandsbüro, die persönlichen Referenten, der Assistentenstab, die Textschreiber, die Nachrichtenüberbringer – ein undurchdringlicher Kordon personennaher Bürokratie, der verhindert, dass sich der Chef seiner eigenen Augen und Ohren bedient, in Kontakt tritt mit den Mitarbeitern, die am Fließband und im Versand für die Wertschöpfung zuständig sind. Deshalb: Schneidet die Perlenschnüre ab! Es ist notwendig, die Mitarbeiter unmittelbar, konkret und direkt selbst wahrzunehmen und anzuspre-
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chen, wenn die Führung Wert darauf legt, dass sich die Betriebsangehörigen tatsächlich dem Unternehmen zugehörig fühlen, sich in ihrer Arbeit engagieren und im gemeinsamen Handeln einsetzen.
Natürlich kann derjenige, der an der Spitze eines Konzerns steht, nicht zu den Tausenden von Mitarbeitern persönlichen Kontakt halten. Die soziale Kapazitätsgrenze ist auch bei Führungskräften schon bei weit geringeren Zahlen erreicht. Deshalb sollte die Führungsspanne zwölf direkt geführte Mitarbeiter nicht wesentlich übersteigen. Das wussten schon die Militärstrategen im alten Rom. Eine Grundregel in der Organisation der römischen Legion lautete: „Über zehn stelle einen, über hundert wieder einen.“ Auch moderne Konzerne tun gut daran, diese Gesetzmäßigkeit beim Zuschnitt von direkter Führungsverantwortung zu befolgen. Tatsächlich sind Vorstände und andere Führungskräfte hervorgehoben, sie haben Ansehen, und sie sind Vorbilder – ob sie wollen oder nicht. Ihre Stimmung ist für die Firma maßgebend, Mitarbeiter ahmen sie nach und folgen ihnen. Das hat weit reichende Konsequenzen: Führungskräfte müssen sich so verhalten, dass ihr Handeln mit der Vorbildfunktion übereinstimmt. Tun sie das nicht, so bemerken das die Mitarbeiter recht schnell. Die Macht des Vorbildes ist größer als alle aufgesetzten Worte und Maßnahmen. Wer als Vorbild enttäuscht, dessen Ansehen schwindet, seine Führungskraft ist geschwächt; wer als Vorbild versagt, dessen Glaubwürdigkeit geht verloren, seine Tage als Anführer sind gezählt. Die Mitarbeiter ziehen die logische Konsequenz, dass es nicht lohnt, sich für Führungspersonal einzusetzen, das als Vorbild nicht taugt: Deshalb gehen viele in die Frustration und in den Rückzug; etliche machen Dienst nach Vorschrift und richten sich in der Nische der eigenen Komfortzone ein.
32 Das Gefühl der Bindungslosigkeit
Warum Führungskräfte Beziehungsmanager werden müssen Rahmenbedingungen ändern sich: Lebens-, Umwelt-, Marktbedingungen. Ob die Betriebe nun Volllast fahren oder eine Rezession dafür sorgt, dass die Produktion gedrosselt werden muss, eines trifft unter beiden Voraussetzungen zu: Die Unternehmen sind nur so anpassungs- und zugleich leistungsfähig, wie es ihnen gelingt, die Beziehungen der Menschen im eigenen Haus zu stabilisieren; in der Führungsmannschaft, in der Belegschaft, zwischen Führung und Mitarbeitern. Gerade dadurch ermöglichen sie schnelle Kommunikation, optimale Positionierung und reibungslose zielgerichtete Zusammenarbeit. Deshalb liegt in den stabilen, belastbaren Bindungen zwischen den Beteiligten die ausschlaggebende Leistungsressource für den Wettbewerb von morgen. Das gilt natürlich ganz besonders unter der Maßgabe des so genannten demografischen Faktors, der im Mitarbeiterstamm zwangsläufig zu einem Nachwuchsmangel führen wird. Das ist für manche Fachkräftegruppen schon heute der Fall und wird sich in weitere Spezialbereiche ausdehnen und künftig immer stärker auch für Führungspositionen zutreffen. Wenn es mehr Arbeit gibt als Köpfe, weil die Auftragsbücher gut gefüllt sind, braucht das Unternehmen die vorhandene Mannschaft voll bei der Sache. Alle Beteiligten haben in einer solchen Phase mit Stress, Überlastung, Überstunden, Fehlreaktionen, mangelnder Sorgfalt, Ausschuss, ungenauer Kommunikation und anderen Konsequenzen zu rechnen. Woher kommt Entlastung? Von funktionierenden, tragfähigen Beziehungen, die nicht die Fehler kritisieren, sondern Probleme schnell und selbst organisierend lösen. Emotional getragen, statt E-Mail-abgesichert. Die nun dringend benötigten Talente mit der Bereitschaft, sich nach ihrer Einstellung langfristig für das Unternehmen zu engagieren, werden nur dann kommen und bleiben, wenn sie eine kooperative Atmosphäre im Miteinander wahrnehmen und klare Hinweise darauf erhalten, dass ihnen aus der Zusammenarbeit mit den künftigen Kollegen Kraft und Motivation erwachsen können.
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Damit sind wir bei einem zweiten Grund dafür angelangt, warum die Führung ein Eigentor schießt, wenn sie sich nicht selbst um das Beziehungsmanagement kümmert: Es geht um die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter, um die richtige Motivansprache, um Herausforderungen, die die Arbeit immer wieder attraktiv machen. Druck, Angst und Pflicht lösen Dienst nach Vorschrift aus statt freiwillig erbrachte Leistung. Das gilt sowohl für das Tagesgeschäft wie für Sonderfälle: Über sich selbst hinauswachsen, alte Pfade verlassen und so zum Innovationstreiber werden, vollzieht sich gerade im Bereich des Expertentums. Dort nämlich, wo sich der Kreative nicht vor Fehlern fürchtet, die immer entstehen können, wenn er etwas Neues versucht. Wo er nicht mit Sanktionen rechnen muss, wenn ihm ein Versuch nicht auf Anhieb gelingt. Und wo gegenseitige Unterstützung die Regel ist statt Missstimmung, Misstrauen und Missgunst. Die Schaffung eines stabilen sozialen Umfelds als Voraussetzung für eine Kultur der Innovation ist ein weiterer Grund dafür, Beziehungsmanagement zu betreiben. Die weltweite Krise der Automobilbranche im Jahr 2009 ist strukturell bedingt, denn die tayloristisch organisierte Produktion beeinflusst die Denkweise und die Unternehmenskultur der Produzenten in viel größerem Umfang, als dies viele Beteiligte für möglich halten. Sicherlich: Wegweisende Innovationen in der Motortechnik, Fahrzeugsicherheit, Energieverbrauch etc. hat es immer wieder gegeben, utopische Szenarien über den Verkehr von morgen wurden aufgestellt, der innovative Quantensprung des Individualverkehrs unter Berücksichtigung der bestehenden Infrastruktur hat jedoch noch nicht stattgefunden. Der Selektionsdruck ist hoch, die Frage nach dem Umwelt verändernden innovativen Konzept ist gestellt. Wer sie als Erster beantwortet, hat sie in diesem Fall jedoch noch nicht gewonnen. Er muss darüber hinaus in der Lage sein, strukturelle Veränderungen herbeizuführen, die nicht nur das Automobil und die Fahrzeugtechnik selbst betreffen, sondern diese mit dem Verkehr und der Mobilitäts-Infrastruktur zu verbinden. Hier liegt der nächste Grund für die Stärkung des Beziehungsmanagements: Vorstandsgremien und Geschäftsführungen brauchen bei wichtigen Entscheidungen und schwierigen Umsetzungen gegenseitiges Vertrauen statt nicht endender Rangaggression. In Tiersozietäten, z. B. bei Wölfen, Schimpansen, Zwergmangusten und vielen anderen werden Rangordnungskämpfe
34 Das Gefühl der Bindungslosigkeit durchgeführt. Damit wird die Strukturlogik der Gemeinschaft erfüllt, nämlich dass der oder die Leistungsfähigste an die Spitze kommt, wo sein Können einen optimalen Beitrag für den Überlebenserfolg der Sozietät beisteuert. Dieser Beitrag besteht vor allem in der Organisation des gemeinsamen Handelns. Dazu müssen die hierarchischen Positionen geklärt sein und die Sozietätsmitglieder in das gemeinsame Handeln einordnen. Rangauseinandersetzungen, die zwischen den Beteiligten nicht abschließend durch Versöhnung geklärt worden sind, können nicht wirklich beigelegt werden. Nur insofern sie einen echten Abschluss finden, verschiebt sich die Rivalität nicht auf Sachfragen, bei denen dann „ganz rational“ weitergekämpft wird. Wie viele ungeklärte Beziehungs- und Positionsfragen werden in Kompetenzdiskussionen verschoben oder schlagen sich in der Verweigerung der Zustimmung oder gar in der Verschleppung des Gesamtprozesses nieder? Keine gute Ausgangslage für den Erfolg des gemeinsamen Handelns des Unternehmens. Die Tragweite, die derartige Prozesse in ihrer Summe haben, darf nicht unterschätzt werden. Das gilt sowohl für ganze Branchen, wenn sie sich in strukturelle Krisen hineinmanövrieren, für die Wettbewerbsfähigkeit von Konzernen und nicht zuletzt für die Auswirkungen auf Zulieferer und Kunden. Streiten ist teuer Jedes zweite Unternehmen verliert im Jahr mindestens 50.000 Euro, weil Projekte durch Konflikte unter den Mitarbeitern scheitern oder verschleppt werden. In jedem zehnten Unternehmen summiert sich der Verlust auf mehr als 500.000 Euro pro Jahr. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit der Hochschule Regensburg und der Fachhochschule Bern. Zur Klassifizierung der Verluste entwickelten sie ein Modell mit neun Kategorien, darunter Mitarbeiterfluktuation, Krankheit, Kundenfluktuation und Mängel in der Projektarbeit. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. Mai 2009
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Innerbetrieblich wirkt sich ständiges aggressives Imponiergehabe von Führungskräften um vieles stärker aus: schlechtes Vorbild, negative Einflüsse auf die Kultur des Miteinander, Silo- und Abteilungsdenken, Zunahme der Bürokratie, Überwachung usw. Wenn die Rahmenbedingungen sich verschlechtern und die unzureichende Auftragslage eines Unternehmens dazu führt, dass die Kosten verringert werden müssen, dann ist es nur allzu verständlich, dass auch der Personalkostenblock kritisch unter die Lupe genommen wird. Das kann im schlimmsten Fall zu der Entscheidung führen, Mitarbeiter zu entlassen. Hier seien die Verantwortlichen in den Unternehmen eindringlich gewarnt: Vergrault nicht eure besten Leute! Das ist nämlich eine echte Gefahr, wie Charlie Trevor, Professor für Human-Resources von der Wisconsin School of Business empirisch nachgewiesen hat. Er konnte zeigen, dass Entlassungen weitere, nicht beabsichtigte Abgänge nach sich ziehen. „Klasse!“, könnte man sagen, „wir haben die Einsparquote übertroffen“. Aber Achtung: Es sind vor allem Leistungsträger, die im Sog von Entlassungen das Unternehmen selbst aktiv verlassen. Schon kurz- bis mittelfristig sind die Kosten höher als die Einsparungen, weil Erfahrungen, Expertise, die Kenntnis von Abläufen verloren gehen. Spätestens aber, wenn die Nachfrage wieder anzieht, machen sich die langfristigen Folgen der Entlassungen bemerkbar: Ein wichtiger Bestandteil des Human- und Sozialkapitals des Unternehmens ist abhandengekommen, das nun dringend gebraucht würde. Abgesehen davon dürfen die Personalverantwortlichen auch die Wirkung von Entlassungen auf die verbleibenden Mitarbeiter nicht unterschätzen. Sobald sich nämlich Unsicherheit über die eigene Zukunft im Unternehmen ausbreitet, bedeutet dies nicht gerade einen Motivationsschub für die Zurückbleibenden. Im Gegenteil: Rückzug, Ängstlichkeit, vorsichtiges Abwarten werden die Arbeitsatmosphäre prägen. Kompetente Mitarbeiter, die sich emotional an ihr Unternehmen gebunden fühlen, sich fair und gerecht behandelt sehen und die Kommunikation als aufrichtig und ehrlich empfinden, neigen, selbst wenn Entlassungen unvermeidlich sind, nicht so sehr zur zusätzlichen Abwanderung wie in Betrieben, in denen diese Prinzipien keine Geltung haben. Das ist eine weitere Begründung für das Beziehungsmanagement in Unternehmen. Es gibt sogar Hin-
36 Das Gefühl der Bindungslosigkeit weise darauf, dass ein Unternehmen die notwendige Trennung von Mitarbeitern umso besser durchführen kann, je stabiler die Bindung zu den Mitarbeitern ist. Ein Unternehmen, das sich in fairer, zuverlässiger und aufrichtiger Weise von seinen Mitarbeitern trennt, genießt selbst in dieser schwierigen Situation den Ruf, ein guter Arbeitgeber zu sein.
Warum Führungskräfte Beziehungsmanager werden müssen 37
2. Was ein Beziehungsmanager können muss
Die Managementliteratur ist sich über das, was Führungskräfte können müssen, weitgehend einig. Es sind vor allem die fünf folgenden klassischen Aufgabenbereiche, die sie zu erfüllen haben: 1. Ziele setzen, 2. Entscheidungen treffen, 3. organisieren, 4. kontrollieren und 5. Mitarbeiter führen. Manche Konzepte fügen noch ein Element hinzu, z. B. Planung und Realisierung; andere Aufgabengebiete haben ergänzenden Charakter, wie etwa das Berichtswesen; wieder andere sind leicht unter einer Kernaufgabe funktional einzuordnen, z. B. die Personalplanung. Ich möchte es hier mit Fredmund Malik halten, der in seinem Buch „Führen Leisten Leben“ die ManagementAufgaben von Management-Funktionen und -werkzeugen unterschieden hat (S. 264 ff.) Da es sich bei diesen Bereichen im Wesentlichen um die Hauptfächer in den Business-Administration-Studiengängen handelt, bezeichne ich sie mit dem Begriff administrative Führungsintelligenz.
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Administrative Führungsintelligenz: Die klassischen Managementaufgaben 1. Ziele setzen Schon Mitte der fünfziger Jahre hat Peter F. Drucker das Grundprinzip des Führens mit Zielen (Management by Objectives) formuliert. Es ist einleuchtend und klar: Unternehmen und Organisationen brauchen Ziele. Sie sollten möglichst so formuliert werden, dass sie sich an den Bedingungen des Marktes orientieren, dass sie verständlich und erreichbar sind und dass man sie schließlich überprüfen kann. Wer sollte die Ziele bestimmen, wenn nicht die oberste Entscheidungsinstanz, die Unternehmensführung? Das Problem bei der Umsetzung besteht gewöhnlich darin, dass das globale Ziel für das gesamte Unternehmen nicht ausreichend auf die Abteilungs- und Arbeitsebene heruntergebrochen wird. Vor allem wird es aber nicht für die einzelne Führungskraft operationalisiert. Letztendlich scheitert dieses zentrale Führungsprinzip am mangelnden Beziehungsmanagement. Die Ziele des Großen und Ganzen gehen bei der Übertragung auf den Verantwortungsbereich von Personen allzu leicht und zu oft verloren. Es reicht eben nicht aus, innerhalb etablierter Prozesse die Globalziele formal mitzuteilen. Verbindlich werden sie erst innerhalb eines persönlichen Beziehungsgefüges, das auf Respekt und Gegenseitigkeit gründet.
2. Entscheidungen treffen Zu entscheiden ist das ureigenste Feld der Führung. Entscheidungen müssen gut vorbereitet sein. Dabei ist es vor allem wichtig herauszufinden, was die Tatsachen sind: Worum geht es eigentlich? Seltsamerweise wird das in vielen Fällen wenig sorgfältig und akribisch herausgearbeitet, weshalb die Beteiligten keine klare und eindeutige Vorstellung von der Ausgangslage entwickeln können. Dissens, unterschiedliche Auffassungen, vielfältige Blickpunkte sind bei der Ausarbeitung der Grundlagen für eine Entscheidung aber Pflicht, ansonsten krankt sie von dem Zeitpunkt an, an dem sie gefällt wurde.
Administrative Führungsintelligenz 39
Managemententscheidungen kann man generell in vier Phasen einteilen: von Anfang an: Einbeziehung derer, die diese Entscheidung in die Realität umsetzen sollen, X umfassendes, gemeinsames und konträr diskutiertes Herausarbeiten des Sachverhalts und seine Klärung, X Erkundung von Alternativen, Einschätzung von Risiken und Absehen möglicher Konsequenzen, X Planung und Zuteilung von Ressourcen, die für die Umsetzung der Entscheidung notwendig sind. X
Problematisch beim Entscheiden ist oftmals die Herausarbeitung der sachlichen Grundlagen. Das gelingt vor allem dann gut, wenn die Teilnehmer in der Lage sind Auseinandersetzungen zu führen, um alle wichtigen Gesichtspunkte zu beleuchten. Dazu muss ihre Bindung untereinander stark genug und tragfähig sein! Insofern erschwert mangelndes Beziehungsmanagement bereits die vollständige Bestimmung der Ursachen eines Problems – die Entscheider können nicht streiten. Das zweite Problem besteht darin, die Entscheidung zu realisieren. Meistens sind die Durchführenden nicht ausreichend in den Entscheidungsprozess einbezogen. Deshalb fühlen sich die Umsetzer nicht ernst genommen, gehen innerlich auf Distanz und machen die Sache nicht zu ihrem eigenen Projekt.
3. Organisieren Unternehmen müssen Gewinne erwirtschaften. Um dieses Ziel zu erreichen, gestaltet die Unternehmensführung den Wertschöpfungsprozess. Die Gestaltung dieses Prozesses nennt man Organisieren. Die Maßnahmen des Organisierens dienen einer Grundfunktion des Unternehmens: Es muss der Führung gelingen, die Leistung der Mitarbeiter so zu formieren, dass der Kunde für die daraus entstehenden Produkte und Dienstleistungen einen angemessenen Preis bezahlt. Getrieben von Quartalszahlen und von den Gewinnerwartungen der Investoren verkommt das Organisieren allzu oft zum Aktionismus, der unvermittelt gerade eingeführte Prozesse und Verfahren abbricht, vorschnell reorganisiert und auf kurzfristige Erfolge schielt. Egoismus, Gier und ein falsches Menschenbild fügen den Problemen, die jede Organisation natürlicherweise mit
40 Was ein Beziehungsmanager können muss sich bringt (Schnittstellen-, Informations-, Kommunikations-, Koordinationsprobleme und andere) unnötig weitere Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit hinzu. Die Unsicherheit der Mitarbeiter wird vergrößert, das Vertrauen in die Führung vermindert und die Glaubwürdigkeit der Verantwortlichen zunehmend infrage gestellt. Unter derartigen Umständen ist das Beziehungsmanagement zu kurz gekommen, und diese Unterlassung erschwert das effektive Organisieren erheblich.
4. Kontrollieren Kontrollieren weckt im Allgemeinen keine guten Assoziationen. UnterAufsicht-Stehen, Erwischt-Werden – Fremdbestimmung, das sind die Begriffe, die Mitarbeiter spontan mit kontrollieren verbinden. Tatsächlich muss ein Unternehmen aber sicherstellen, dass die vorgegebenen Ziele auch erreicht werden. Abweichungen davon müssen selbstverständlich festgestellt werden. Damit sind heutzutage ganze Abteilungen beschäftigt, nämlich mit dem Controlling, das richtig verstanden nichts anderes ist, als die Steuerung des Unternehmens-Prozesses. Wenn die Kontrolle in einem Umfeld von Misstrauen, Silo-Denken und Profilierungsdruck stattfindet, dann entwickelt sich keine Offenheit im Umgang miteinander. Fehler werden unter dieser Voraussetzung nicht rechtzeitig weitergemeldet, und deshalb wird die Nachsteuerung erschwert. Die Betroffenen rechtfertigen sich, weisen anderen die Schuld zu oder erklären sich schlicht für nicht zuständig. Das Beziehungsmanagement stellt nicht die Frage nach Vertrauen oder Kontrolle; es schafft die Vertrauensgrundlage, die notwendig ist, um das Kontrollieren ohne persönliche Schädigung und zugleich effizient im Sinne der Zielerreichung zu gestalten.
5. Mitarbeiter führen Nach den Zahlen- und Datenfächern des Hard-Fact-Managements reiht sich gewöhnlich am Ende der Liste noch der Aufgabenbereich des Humanen ein; schließlich hat es der Manager unter anderem ja auch mit Menschen zu tun. Es scheint so, als ob die fünfte Managementaufgabe „Mitarbeiter führen“ gleichzeitig das fünfte Rad am Wagen ist. Dabei ist sie das Steuerrad für die Effektivität des Managements schlechthin. Manager dürfen alles, was mit Mitarbeiterführung zu tun hat, nicht der Personalabteilung überlassen. Diese
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Aufgabe müssen sie direkt und persönlich wahrnehmen, ansonsten vergeben sie nicht nur die Chance, das Personal für die Sacharbeit effektiv einzusetzen. Vielmehr besteht bei Unverbundenheit der Führungskraft mit ihren Mitarbeitern die Gefahr, dass sie gar nicht richtig über Ziele, Verfahren, Erwartungen informiert sind und dadurch Missverständnissen Tür und Tor geöffnet werden. Unter solchen Umständen kann Unverbundenheit auch zu Gegnerschaft führen. Offenbar ist die Rangfolge der Managementaufgaben nicht immer ganz klar, die Sache mit den Mitarbeitern kommt allermeist als letzter Punkt aufs Tapet. Dabei muss sie tatsächlich an erster Stelle stehen, wie folgende Überlegungen zeigen: Das Management kann zwar beliebig viele Ziele setzen, aber sind sie ohne Mittun der Mitarbeiter zu erreichen? Das Management kann Entscheidungen fällen, aber sind sie ohne Engagement der Mitarbeiter umzusetzen? Das Management kann Prozesse organisieren, aber werden ohne Eigenverantwortung der Mitarbeiter die Funktionen erfüllt? Das Management kann kontrollieren, aber ist ohne Offenheit der Mitarbeiter das überprüfbar, was man kontrollieren will? Bei der effektiven Erfüllung der Managementaufgaben kommt der Beziehungsgestaltung eine herausragende Bedeutung zu. Sie ist es, die alle anderen Tätigkeitsbereiche wie ein roter Faden durchzieht, wenn die Führungsarbeit von Erfolg gekrönt sein soll. Wir ziehen bei der Betrachtung der klassischen Managementfelder ein erstaunliches Fazit, das nicht nur ernüchternd wirkt, sondern geradezu erschreckt: Ohne Beziehungsmanagement, ohne Bindung zu den Mitarbeitern erfüllt die Führung eines Unternehmens ihre Hauptaufgaben nur unzureichend und bleibt weit hinter dem erzielbaren Leistungsgrad zurück. Ohne Beziehungsmanagement bleiben die Masters of Business Administration (MBA) das, was der Abschlussgrad der Business Schools so eindeutig über sie aussagt, nämlich Verwalter von Unternehmensprozessen. Es ist noch nicht zum Allgemeingut im Führungsverständnis geworden, dass es nicht damit getan ist, die Mitarbeiter in Unternehmensleitbildern wohlfeil als größte Ressource zu benennen. Die Führungskräfte müssen sie pflegen. Kein Mensch käme auf die Idee, wertvolle, teuer angeschaffte Produktionsmittel wie Fertigungsstraßen, Dokumentations- und Informationssysteme, Steuerungstechnik sich selbst zu überlassen Selbst ein Automotor kommt
42 Was ein Beziehungsmanager können muss nicht ohne gelegentlichen Ölwechsel und ohne Erneuerung der Kühlflüssigkeit unbeschadet über die Runden. Im Fall der Mitarbeiter heißt das nichts anderes, als dass die Führungskräfte ihre Aufgabe ernst nehmen und ganz persönlich in Beziehung zu ihnen treten, Bindung aufbauen und aufrechterhalten müssen, um das gemeinsame Handeln zu optimieren. Schließlich stellen die Ausgaben für das Personal in aller Regel den größten Kostenblock dar. Insofern sind die Mitarbeiter tatsächlich der wertvollste Produktionsfaktor, den das Management schon aus betriebwirtschaftlichen Gründen zur optimalen gemeinsamen Leistung führen sollte. Welche Voraussetzungen sie erfüllen, welche Fähigkeiten in Unternehmensleitungen ausgebaut werden müssen, um die Ressourcen, die die Zusammenarbeit birgt, für den Unternehmenserfolg im 21. Jahrhundert zu erschließen, das möchte ich mit dem Begriff adaptive Führungsintelligenz ausführen.
Adaptive Führungsintelligenz: Überleben durch Anpassung In der Biologie versteht man unter Adaption die Anpassung von Lebewesen an bestimmte, sich verändernde Umweltbedingungen. So haben sich beispielsweise Pinguine, Vögel, die vormals fliegen konnten, an ein Leben im Wasser und in den kalten Regionen der Südhalbkugel angepasst. Die Flügel haben sich so entwickelt, dass sie inzwischen bestens als Flossen dienen, der torpedoförmige Körper ermöglicht schnelles Fortkommen im Wasser. Durch ein Daunenunterkleid und eine dicke Fettschicht halten sich die Vögel in der kalten Region warm. Wenn das nicht genügt, weil etwa die Männchen mit dem Ei in der Bauchfalte bei antarktischen Stürmen bis zu -65 Grad Celsius über Wochen am Südpol ausharren müssen, dann drängen sie sich dicht zusammen und wärmen sich gegenseitig, um nicht zu erfrieren. Anpassung findet sich also nicht nur im Bereich von Körperbau und Körpervorgängen, sondern auch im Verhalten. Evolutionär gesehen waren die Umweltbedingungen allerdings nicht ein für alle Mal festgelegt und sie blieben auch nicht für alle Zeit konstant. Ganz im
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Gegenteil, der Blick zurück in die Evolutionsgeschichte zeigt: Über 80 Prozent aller Lebensformen schieden im Verlauf der Evolution wieder aus dem Spiel des Lebens aus. Auf der einen Seite wirkt der andauernde Selektionsdruck auf die Organismen wie z. B. Konkurrenz um Nahrung und Reviere, die Bedrohung durch Fressfeinde, Krankheiten, Verdrängung etc. Andererseits kam es immer wieder wie vor etwa 250 Millionen Jahren am Ende des Perm-Zeitalters zu einer plötzlichen und beinahe vollständigen Auslöschung des gesamten Lebens. Auch in der wesentlich kürzeren Phase, seitdem der Mensch vor einigen Millionen Jahren in Afrika aufgetaucht ist, wurde das nicht viel besser: Immer wieder wurden unsere Vorfahren von Umweltkatastrophen, Überschwemmungen, Kriegen, Epidemien und anderen Schicksalsschlägen massenweise dahingerafft. Und dabei haben es einige Menschengruppen immer wieder geschafft, sich der Selektion zu entziehen. Das ist ihnen gelungen, indem sie sich an die veränderten Lebensbedingungen angepasst haben. Ein anderes Wort dafür ist Adaption Trotz alledem: Radikale Veränderungen waren oft tödlich. Und das Gefühl weitgehender Verunsicherung und existenzieller Angst hat sich bis heute tief im Unterbewusstsein des Menschen eingegraben. Die globale Wirtschaftswelt im 21. Jahrhundert ist von rasanten Veränderungen und ständigem Wechsel geprägt. Wir leben in turbulenten Zeiten und viele Menschen empfinden sie als schnelllebig, oberflächlich und manchmal auch als unmenschlich. Wenn es nun zu Umstrukturierungen, Fusionen, Standortverlagerungen, Neuorganisationen, Entlassungen etc. kommt, wird zuerst das alte Angstprogramm wieder aktiviert. Das erklärt auch die spontane Abwehr bzw. den Rückzug, wenn Mitarbeiter sich mit Veränderungen konfrontiert sehen, die ihren Arbeitsplatz bzw. ihre Tätigkeit unmittelbar gefährden oder auch nur zu gefährden scheinen. Würden die Unternehmen im Status quo verharren, so führte dies zu einer Fehlanpassung, ihre Überlebenstauglichkeit wäre dadurch geschmälert oder ganz dahin. Um überleben zu können, müssen die Betriebe die evolutionären Gesetzmäßigkeiten befolgen und sich an die Rahmenbedingungen des Marktes anpassen. Hier ist die Unternehmensführung gefordert!
44 Was ein Beziehungsmanager können muss Adaptive Führungsintelligenz zeigt die Unternehmensleitung, wenn sie die Marktentwicklung, die Potenz der Konkurrenten und den veränderten Kundenbedarf richtig einschätzt und darauf möglichst rasch mit eigenen Produktentwicklungen und Dienstleistungsangeboten reagiert. Das ist aber erst die eine Hälfte. Adaptive Führungsintelligenz bedeutet zweitens, diejenigen, die die Wertschöpfung betreiben, nämlich die Mitarbeiter dafür zu gewinnen, die notwendigen Anpassungsprozesse aktiv anzugehen. Genau darin liegt der Schlüssel für den Unternehmenserfolg von morgen, denn alle Managementmaßnahmen bleiben so lange Stückwerk, bis die eigentlichen Prozessinhaber der Wertschöpfungskette unbürokratisch und effektiv zusammenarbeiten. Unter dieser Voraussetzung laufen die oben genannten vier klassischen Kernfelder des Managements zur Höchstform auf. Es wäre ein bedauerliches Missverständnis, wenn man unter adaptiver Führungsintelligenz verstünde, dass sich Führungskräfte innerhalb kürzester Zeit in vorgegebene Systeme einfügen, deren Regeln rasch erlernen und anwenden und eine Perfektion darin entwickeln, möglichst smart zu sein. Ein derartiges Verhalten verdient eher die Bezeichnung „adaptive Karriereintelligenz“. Im Gegensatz zu dieser das Ego der Personen hervorhebenden Perspektive bezieht sich die adaptive Führungsintelligenz auf die Sozietät, also auf das Unternehmen, dem ein Manager vorsteht, und vor allem auf die Mitarbeiter, die er führt. Jemand, der über adaptive Führungsintelligenz verfügt, muss X X X X X X X
die aktuelle Situation und das Umfeld des Unternehmens kennen und einschätzen, anstehende Veränderungen wahrnehmen und beurteilen, die daraus resultierenden Konsequenzen seinen Mitarbeitern kommunizieren, seine Mitarbeiter für das Neue gewinnen, sie in die Problemlösung vor Ort einbeziehen, die Motive der Mitarbeiter aktivieren, um die Herausforderung zu meistern, sein Führungsinstrumentarium der jeweiligen Situation angemessen und auf die Mitarbeiter und Teams bezogen einsetzen können.
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Emotionale Führungsintelligenz: Beweggründe wahrnehmen, Motive aktivieren Viele Studien über die wichtigsten Eigenschaften für Führung sagen, dass vor allem die Authentizität der Person ausschlaggebend für den Erfolg ist. Authentisch sein heißt zunächst einmal, man selbst sein, sich nicht verstellen, erkennbar, greifbar, ja vielleicht sogar verletzbar zu sein. Und tatsächlich, wer ehrlich mit sich im Umgang mit anderen Menschen ist, wer zu erkennen gibt, wofür er brennt und was er gar nicht mag, der macht sich auch angreifbar. Das gilt nicht nur im aggressiven Sinn sondern auch im Sinn von sich berühren lassen. Gerade dieser Faktor wird in vielen Mitarbeiterbefragungen als wichtigste Charaktereigenschaft eines guten Vorgesetzten herausgestellt, weil man auf diesem Weg in eine direkte Beziehung zueinander treten kann. In der Studie der Führungsakademie Bad Harzburg „Zur Leistung (ver-) führen – Leadership und Leistung in deutschen Unternehmen“ wurden 243 Führungskräfte und Manager u. a. dazu befragt, welche Eigenschaften eine gute Führungskraft aufweisen sollte. 94,6 Prozent haben die Eigenschaft Authentizität als „sehr wichtig“ an erster Stelle eingestuft.
Es stellt sich die Frage: Wie kann eine Führungskraft glaubwürdig sein? Sicherlich nicht dadurch, dass sie der Glaubwürdigkeit nachjagt. Wenn die Mitarbeiter aber wahrnehmen, dass die Worte und Taten weitgehend übereinstimmen, dass sich die Führungskraft selbst auch an die vereinbarten Regeln des Umgangs miteinander hält, und dass sie die Emotionen, die sie bewegen, ihren Mitarbeitern gegenüber ehrlich zum Ausdruck bringt, dann entsteht Glaubwürdigkeit von selbst. Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass die Führungskraft ihre eigenen Emotionen wahrnimmt und sich dadurch einen Zugang zur eigenen Gefühlswelt verschafft. Wie geht es mir mit einer Situation, einem Menschen, bei einem sozialen Zusammentreffen? Wie erlebe ich die Situation? Welche Signale lösen Wut/Ablehnung bzw. Freude/Sympathie aus? Woher rühren diese Empfindungen?
46 Was ein Beziehungsmanager können muss Um diese Fragen in der jeweiligen Konstellation beantworten zu können, muss die Führungskraft eine Vorstellung davon haben, wie Verhalten funktioniert und in welchem Zusammenhang es zu den Emotionen steht. Wer darüber Bescheid weiß, kann den Grund dafür herausfinden, warum bestimmte Gefühle in bestimmten Situationen entstehen und wie er damit umgehen kann. Martin Bodenberger war vor einem guten Jahr zum Vorsitzenden der Geschäftsleitung in der Region bestellt worden. Zuvor hatte der Vierundfünfzigjährige über einen längeren Zeitraum die Bezirksniederlassung des Versicherungskonzerns erfolgreich geführt. Die Ernennung von Herrn Bodenberger war für Emil Hartmann, ein langjähriges Mitglied der Geschäftsleitung, schwer zu verkraften. Er hatte sich gute Chancen ausgerechnet, selbst den Vorsitz zu übernehmen, und war bitter enttäuscht, als der Kollege aus der Bezirksniederlassung an ihm vorbei befördert wurde. Nach den ersten Sitzungen der erweiterten Geschäftsleitung wurde schnell klar, dass Herr Hartmann die neue personelle Konstellation als persönliche Kränkung empfand. Durch die Beförderung des Kollegen fühlte er sich degradiert und ließ das die Mitglieder der Geschäftsleitung subtil spüren. So wünschte er beispielsweise Änderungen an der Tagesordnung, ließ in pingeliger Art und Weise Sitzungsprotokolle korrigieren und hielt den Fortgang der Besprechung durch die umständliche Formulierung von formalen Anträgen auf, die in der kleinen Runde völlig unüblich und auch unnötig waren. Herr Bodenberger konnte die aggressiven Verhaltensignale, die Emil Hartmann von Anfang an aussandte, nach kurzer Zeit richtig deuten und angemessen darauf reagieren. Er hatte derartige Spielchen in der einen oder anderen Form schon in seiner Zeit als Niederlassungsleiter erlebt und dabei erfahren, wie hinderlich nicht bereinigte Rangaggressionen für eine erfolgreiche gemeinsame Arbeit sein konnten. Zudem ist ihm ein Erlebnis aus seiner Zeit als aktiver Fußballspieler immer im Gedächtnis geblieben: Er hätte damals so gern im Sturm gespielt. Wenn schon nicht als Mittelstürmer, dann doch wenigstens auf der Position des Rechtsaußen. Weil aber ein Mannschaftskollege schneller und wendiger war als er, wurde ihm jener vorgezogen. Das hat den ins Mittelfeld Verbannten zu-
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nächst sehr geschmerzt, so sehr, dass er auf dieser Position nicht sein Bestes gab und den Ball bei der Überleitung zum Angriff auf das gegnerische Tor nie dem Rechtsaußen zuspielte. Das tat er auch nicht, nachdem sein Trainer ihn ins Gebet genommen hatte, schließlich verwandelte gerade dieser Stürmer die meisten Torchancen in Treffer. Erst als sein Konkurrent persönlich auf ihn zugekommen war und ihm gesagt hatte, wie wichtig er für die Mannschaft als Mittelfeldspieler sei, konnte er sich mit der Positionierung abfinden, einlenken und zu seiner alten spielerischen Leistung zurückfinden. Dieses Prinzip wandte Herr Bodenberger auch auf die aktuelle Situation an, in der Herr Hartmann das Zusammenspiel der Geschäftsleitung so empfindlich störte. So übertrug er ihm etwa die Aufgabe, selbst die Geschäftsleitungssitzungen vorzubereiten und zu leiten. Bei der Neuverteilung der Ressorts überließ er ihm die Bereiche, die bisher auch in seiner Verantwortung standen und die er nach eigenem Bekunden auch gern weiterführen wollte. Er übertrug ihm die neue und attraktive Aufgabe, das Risk-Management weiterzuentwickeln und den Stand der Entwicklung an die Konzernleitung zu kommunizieren. Darüber hinaus suchte er aber auch den persönlichen Kontakt zu Herrn Hartmann, z. B. im Anschluss an Geschäftsessen mit wichtigen Kunden, beim unregelmäßig durchgeführten Kegelabend der leitenden Angestellten oder auch in Form von Kinobesuchen, welche die beiden Cineasten-Ehepaare Bodenberger und Hartmann von Zeit zu Zeit arrangierten.
Die Führungskraft muss ernsthaft nach den Gründen für die Emotionen suchen, die hinter bestimmten Verhaltensweisen stehen. Es reicht oftmals schon aus, wenn das Gegenüber die Ernsthaftigkeit dieser Bemühung erkennt. Dadurch entsteht das notwendige Minimum an Vertrauen, um darauf einzugehen. Es entwickelt sich ein Gespür für die Situation, in der sich der Betroffene befindet. Mit anderen Worten: Die ausgelöste Befindlichkeit wird emotional nachvollziehbar. Zu diesem Zeitpunkt ist die Gefahr schon geringer, einen beliebten Fehler zu machen, nämlich zu schimpfen und damit die Rechtfertigungsspirale heraufzubeschwören. Was jemand nachvollziehen kann, verurteilt er in aller Regel nicht vorschnell. Das schafft eine gute Aus-
48 Was ein Beziehungsmanager können muss gangslage dafür, zunächst individuelle Vorurteile aufzubrechen und einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Grundsätzlich ist das menschliche Verhalten, sind die Gefühle von unseren evolutionären Programmen, den Trieben, geprägt. Es handelt sich neben Nahrung und Sexualität, die hier keine zentrale Rolle einnehmen sollen, um die beiden sozialen Triebe Aggression und Bindung sowie um den Neugiertrieb.
Graphik 1: Das evolutionäre Menschenbild – Großhirn und Triebe Angst und Verunsicherung, Langeweile und Überdruss hängen damit genauso zusammen wie Aufgehen in einer Tätigkeit, Faszination und Begeisterung. Es finden sich Sympathie und Vertrauen, Ablehnung und Hass. Aber auch Wertschätzung und Anerkennung sowie Neid und Niedergeschlagenheit. Darüber hinaus sind hier Ekel und Abscheu sowie Hingabe und Zuneigung zu nennen. Im Management gelten diese Regungen als irrational, störend und wenig zielführend. Sie gehören aber zur Natur des Menschen, man kann sie weder durch Erziehung beseitigen noch per Anordnung verbieten. Professionell werden Führungskräfte nicht dadurch, dass sie diese Emotionen verdrängen und aus dem Geschäftsprozess herauszuhalten versuchen, sondern dadurch, dass sie sie bewusst wahrnehmen und einen Umgang damit finden, um sie – und da liegt die große Chance – zur Verbesserung des Pro-
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zesses einzusetzen, denn ihnen wohnt ohne jeden Zweifel eine enorme Antriebsdynamik inne. Auf diese Wiese bleiben die Triebe, wie das Wort schon sagt, nicht auf den Antrieb für bestimmte Verhaltensweisen reduziert, sondern können als Darwin’scher Leitfaden zur Reflexion der eigenen emotionalen Impulse genutzt werden. Und so versetzt sich die Führungskraft in die Lage, das eigene Verhalten zu verstehen und zu steuern. Der Begriff steuern weist bereits darauf hin, worum es geht: Es gibt dabei eine Instanz, die gesteuert wird, die Triebe und die mit ihnen verbundenen Emotionen, und eine Instanz, die steuert, das Großhirn; vernünftig und verantwortlich … hoffentlich! Führung gelingt allerdings nicht im reinen Selbstbezug, sie verweist immer auf den anderen, auf die direkt geführten Mitarbeiter und, je höher die eigene Position ist, auch auf weitere Mitarbeiterkreise. Wenn man als Führungskraft die Emotionen seiner Mitarbeiter wahrnimmt und eine realistische Vorstellung davon hat, wie Verhalten grundsätzlich funktioniert, dann wird es auf der Grundlage des Beziehungsmanagements möglich, die Motive der Mitarbeiter konstruktiv und zielführend zu aktivieren. Die hierfür notwendigen Maßnahmen der Unternehmensleitung werden nachfolgend skizziert: Sie sollten zunächst die Angst der Mitarbeiter vor Veränderungen in die Bereitschaft verwandeln, das Neue aktiv aufzusuchen. Das gelingt der Führung vor allem dadurch, dass sie den Neugiertrieb anspricht. Dann erscheint das Neue nicht als Gefahr, sondern als reizvolle Herausforderung, die nicht überfordert, sondern bewältigbar erscheint. Mit anderen Worten: Die Führung muss den Mitarbeitern so viel Sicherheit geben, dass sie nicht in Angst und Lähmung verfallen, sondern Chancen sehen, mit ihren Fähigkeiten und ihrer Kompetenz die anstehenden Veränderungen zu meistern. Dadurch werden sogenannte Flowerlebnisse ausgelöst, und die Mitarbeiter entwickeln die Bereitschaft, das Neue aktiv anzugehen. Als Zweites gilt es, tatsächlich erbrachte Leistung seitens der Mitarbeiter anzuerkennen, und zwar zeitnah, konkret, direkt und persönlich. Anerkennung ist eine der stärksten psychoaktiven Stimulanzen. Hirnforscher haben herausgefunden, dass unser Gehirn bei Anerkennung in gleicher Weise wie nach siegreich bestandenen Wettkämpfen körpereigene Opiate als Beloh-
50 Was ein Beziehungsmanager können muss nung ausschüttet. Sieger fühlen sich einfach klasse. Das gilt für Mitarbeiter, die Anerkennung und Wertschätzung erfahren, genauso wie für den Goldmedaillengewinner. Weil große Projekte von einzelnen Fachleuten, seien sie auch noch so gute Experten in ihrem Bereich, nicht bewältigt werden können, ist es als Drittes notwendig, dass die Führung Teams aufbaut, die gemeinsam handlungsfähig sind. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, wie viel Energie Missverständnisse, Formalismus und unausgefochtene Rangeleien kosten. Wer dagegen die Erfahrung macht, dass die Mitglieder eines Teams gut zusammenarbeiten und große Ziele erreichen, der erlebt gerade darin Zugehörigkeit, Sympathie und Vertrauen. Wer diese Maßnahmen angemessen anzuwenden versteht, verfügt über emotionale Führungsintelligenz. Die Verhaltenssicherheit der Führungskraft nimmt zu, und dadurch kann sie als Person die Führungsrolle glaubwürdig ausfüllen. Das ist zugleich die Grundlage jedweder Form natürlicher Autorität. Es geht um einen souveränen Umgang mit den eigenen Emotionen und denen der Mitarbeiter als Grundlage dafür, notwendige Entscheidungen zu treffen, Ziele zu formulieren, die daraus resultierenden organisatorischen Maßnahmen abzuleiten und zu ergreifen. Hiermit ist eine Reihe komplexer Aufgabenfelder skizziert, die nicht immer automatisch zum gewünschten Ergebnis führen. Doch schon wenn ein Manager ernsthaft versucht, sich in die Nöte und Sorgen, Freuden und Stimmungen der Mitarbeiter hineinzuversetzen, dann sorgt das nicht nur für eine positive Beeinflussung der allgemeinen Atmosphäre der Zusammenarbeit. Auf der Basis des Beziehungsmanagements erhöht sich darüber hinaus auch der Wirkungsgrad des gemeinsamen Handelns. Jemand, der über emotionale Führungsintelligenz verfügt, muss X X X X X X
die evolutionären Gesetzmäßigkeiten von Emotionen und Verhalten verstehen, eine realistische emotionale Selbstwahrnehmung entwickeln, die Befindlichkeit seiner Mitarbeiter bewusst wahrnehmen und einordnen, eine wirksame Steuerung des eigenen Handelns vornehmen, die Motivlage der Mitarbeiter erkennen und aktivieren, sich für Anregungen, Feedback und Kritik seiner Mitarbeiter offen halten,
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die eigene Emotionalität im Sinne der Stimmungsübertragung einsetzen können, um vereinbarte Ziele zu erreichen.
Soziale Führungsintelligenz: Beziehungen gestalten Wenn ein Führungsgremium auch sehr gut die neuen Entwicklungen des Marktes abschätzen kann und kluge Konzepte zum Umgang mit der Veränderung ersinnt, dann ist das Unternehmen noch lange nicht in der Lage, sich angemessen, schnell und zielgerichtet an die veränderte Situation anzupassen. Ein entscheidender Zwischenschritt fehlt: diejenigen zu gewinnen, die die Anpassung letztendlich vornehmen müssen, die Mitarbeiter. Das Management kann seine Beschlüsse natürlich verkünden. Darauf wird die Belegschaft aller Wahrscheinlichkeit nach mit vielen Befürchtungen reagieren und der Anpassungsprozess wird eher stockend und mit etlichen Widerständen ablaufen. Was in einem derartigen Szenario nottut, ist die Einbindung der Mitarbeiter in den Prozess selbst. Denn seine Qualität wird umso besser, seine Schnelligkeit umso höher und seine Passgenauigkeit umso präziser, je stärker die Mitarbeiter von ihrer Motivation und inneren Beteiligung her den Prozess als von ihnen gestaltet und vorangetrieben wahrnehmen. Das herzustellen ist der Kern sozialer Führungsintelligenz, die Voraussetzung ist das Beziehungsmanagement. Es besteht aus einem Instrumentarium, mit dessen Hilfe es der Führungskraft gelingt, Bindung zu ihren Mitarbeitern aufzubauen und aufrechtzuerhalten, damit auf dieser Grundlage eine echte Bereitschaft bei ihnen entsteht, gemeinsam und kraftvoll die Ziele anzugehen, die man sich zu erreichen ernsthaft vorgenommen hat. Soziale Führungsintelligenz bei Schimpansen Der Primatologe Frans de Waal beschreibt folgende Situation: „Eines Tages sah ich, wie sich ein kleines Handgemenge zu einem gefährlichen Kampf aufschaukelte. Die Schimpansen kreischten laut, und die Männchen be-
52 Was ein Beziehungsmanager können muss wegten sich so schnell, dass ich befürchtete, die ganze Geschichte könnte ein blutiges Ende nehmen. Ganz unvermittelt war die heftige Aufregung zu Ende. Die Männchen setzten sich heftig keuchend auf den Boden und wurden von einigen Weibchen umringt. Die Stimmung war extrem angespannt, und es war ganz klar, dass die Angelegenheit alles andere als bereinigt war. Dann fiel mein Blick auf das Alpha-Weibchen. Peony, die in einer Ecke geruht hatte, stand auf, und alle Augen richteten sich auf sie. Einige Jüngere näherten sich ihr an, einige Erwachsene grunzten sachte, als ob sie die anderen auf etwas hinweisen wollten. Währenddessen setzte Peony langsam und bedächtig ihren Marsch ins Zentrum des Geschehens fort; und alle, die sich bislang im Randbereich aufgehalten hatten, folgten ihr. Es sah beinahe so aus, als ob sich eine Königin unters Volk mischt. Alles was Peony dann tat, war eines der beiden Männchen, die am Kampf beteiligt waren, zu kraulen. Alsbald folgten die anderen ihrem Beispiel und kraulten sich gegenseitig. Das zweite Männchen schloss sich der kraulenden Gruppe ebenso an. Es trat wieder Ruhe ein. Es sah so aus, als ob niemand es wagen würde, erneut anzufangen, nachdem Peony dem Treiben so sacht einen Schlusspunkt gesetzt hatte.“ Zitiert aus The Huffington Post vom 6. September 2007; eigene Übersetzung
Abbildung 3: Groomingsession Schimpansengruppe
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Diese Verhaltensbeobachtung Frans de Waals zeigt eindeutig, dass es beim Streitschlichten zunächst überhaupt nicht um den Gegenstand oder um die Lösung der Sachfrage geht. Erfolgsentscheidend für die Klärung des Problems ist, dass die Kontrahenten nach der Auseinandersetzung zunächst an ihrer Beziehung arbeiten, damit Bindung wieder aufgebaut werden kann. Die Gegner selbst sind damit allerdings meistens überfordert, deshalb brauchen sie einen Vermittler, eine anerkannte Führungspersönlichkeit, die den Prozess der Beruhigung und Versöhnung durch Kraulen bzw. Beziehungspflege einleitet, wie es im geschilderten Fall Peony getan hat. Dieses Verfahren gilt auch, wenn man jemanden kritisieren muss. Die gängige Meinung, Kritik nur sachlich, aber nie persönlich zu äußern, ist falsch und schädlich. Genau das Gegenteil ist richtig: Auf der Basis von Bindung und Vertrauen in der Beziehung von Kritiker und Kritisiertem (persönlich!!!) kann eine ehrliche und zielführende Analyse und Problemlösung gelingen (sachlich!!!). Nachdem der Arbeitsvorbereiter die Einstellungen an den Pressen sorgfältig geprüft hatte und keine Abweichungen von der Toleranz feststellen konnte, ließ er die Serienfertigung anlaufen; die Arbeiter begannen mit der Produktion und die ersten Formteile entsprachen nach einer exakten Vermessung den Anforderungen. Als der Qualitätsbeauftragte viele Stunden und einige Hundert Teile später eine Probe entnahm, stellte er erschrocken fest, dass die vorgegebene Toleranz nicht eingehalten wurde. Schnell griff er sich weitere Bleche heraus und wurde blass im Gesicht. Auch sie hielten die vorgegebenen Maße nicht ein. Durch das Dröhnen der Pressen und die Dämmung der Kopfhörer hindurch brüllte er zu den Arbeitern hinüber: „Sofort stoppen!“ Nach dem Stillstand der Pressen fragte er weiter: „Seit wann läuft die Serie? Wie viele Teile habt ihr schon gefertigt?“ Sie gaben ihm Auskunft über die Produktionszeit und die Stückzahl, worauf der Qualitätsbeauftragte sofort nach dem Arbeitsvorbereiter rufen ließ. Als dieser sich an Ort und Stelle eingefunden hatte, sagte er unumwunden zu ihm: „Ist dir klar, dass deine Maschine schon den ganzen Vormittag Ausschuss produziert?“ „Worum geht es denn?“ fragte der Arbeitsvorbereiter verdutzt zurück. Darauf erwiderte der Qualitätsbeauftragte nur: „Die Serie ist für den Müllcontainer; du hast
54 Was ein Beziehungsmanager können muss nicht sauber eingerichtet!“ Hektisch kontrollierte daraufhin der Arbeitsvorbereiter einige Formteile und erkannte den Fehler. „Das kann doch gar nicht sein, die ersten Teile waren o. k.!“ Inzwischen hatten sich die Arbeiter, die bei ausgeschalteten Maschinen nicht produzieren konnten, um die beiden versammelt. Der Qualitätsbeauftragte erkannte die Bühne, die sich hier bot, und gab deutlich vernehmbar zurück: „Da warst du heute morgen offenbar noch nicht ganz ausgeschlafen.“ Darauf erwiderte der Arbeitsvorberieter, der in der letzten Nacht wegen seiner fiebernden Tochter tatsächlich kaum geschlafen hatte, prompt: „Im Halbschlaf schaffe ich noch mehr als nervtötende Qualitätsfuzzis.“ Das wurde mit Feixen aus der Gruppe der Umstehenden quittiert. Doch auf seinen Berufsstand ließ der Qualitätsbeauftragte von je her nichts kommen. Er trat mit geballten Fäusten auf ihn zu, so dass sich die beiden Kontrahenten Auge in Auge gegenüber standen. Die Spannung in der Gruppe stieg an; einige erwarteten jetzt eine Tätlichkeit. In diesem Augenblick betrat der Produktionsleiter die Szene. Er erfasste die angespannte und aggressiv aufgeladene Situation sofort und reagierte prompt mit den Worten „Was ist denn in euch gefahren? Wie können meine beiden besten Leute so einen Mist machen?“ Verdutzt schauten die beiden Mitarbeiter ihren Chef an. In dieser Situation ertappt hätten sie mit allem gerechnet, aber nicht mit Anerkennung. Und tatsächlich, „die beiden besten Leute“ sind eine Form des verbalen Kraulens in einer aggressiv hoch aufgeladenen Situation. Dabei wird aber keine Schönrederei betrieben, sondern die Unangemessenheit des Verhaltens zugleich deutlich benannt. Beide Faktoren zusammen ermöglichen es den Streithähnen, den Teufelskreis der gegenseitigen Beschuldigung zu verlassen. Es gelang dem Produktionsleiter im weiteren Verlauf des Gesprächs, zusammen mit den Beteiligten den Fehler ausfindig zu machen und das Problem zu lösen. Dadurch, dass er wie das Alphatier bei den Schimpansen für die Wiederherstellung der Bindung in den Beziehungen gesorgt hat, konnten sich die Beteiligten zusammenraufen und ihre Energie nicht gegeneinander; sondern auf die Sachfrage richten.
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Beziehungsmanager bieten ihren Mitarbeitern nicht nur in Situationen der Anspannung, sondern grundsätzlich immer wieder die Möglichkeit, untereinander ihre Beziehungen zu pflegen. Sie bleiben zugleich selbst die sichere Basis für ihre Mitarbeiter und zeigen dies auch aktiv. Sie müssen sich ihrer Beziehungen zu den Mitarbeitern vergewissern, indem sie nicht nur Ziele und Strategien, sondern die Beziehungen selbst immer wieder zum Thema machen. Wo stehen die Mitarbeiter, wie ist die Stimmung, was beschäftigt sie? Beziehungsmanagement hat nicht ausschließlich mit Stimmungen und Emotionen zu tun. Es geht darüber hinaus auch darum, sein Team optimal aufzustellen, d. h. den Einzelnen nach individuellen Fähigkeiten und Leistungsvermögen einzusetzen. Da es sich in aller Regel nicht um Einzelkämpfer handelt, müssen die Teammitglieder lernen, wie sie das gemeinsame Handeln gestalten, wie sie die Regeln festlegen und einhalten, wie zuverlässig sie unter einander sind und wie ehrlich sie kommunizieren. Gegenseitige Anerkennung bei herausragender Leistung eines einzelnen oder beim Erfolg des ganzen Teams gehört ebenso in den Prozess wie die Auseinandersetzung, wenn beispielsweise Regeln nicht eingehalten wurden oder unterschiedliche Standpunkte zur einzuschlagenden Strategie vorhanden sind. Von zentraler Bedeutung ist es allerdings, dass die Ziele und Verantwortlichkeiten nicht vertraglich, sondern emotional gebunden sind. Das beschleunigt den Prozess und verleiht ihm gleichzeitig eine hohe Qualität. Jemand, der über soziale Führungsintelligenz verfügt, muss X X X X X X
wissen, wie Bindung funktioniert und wie man Beziehungen aufnimmt und entwickelt, von Anfang an und dauerhaft als sichere Basis in den Beziehungen dienen, neben den Sachaufgaben auch die Beziehungen selbst immer wieder thematisieren, sein Team optimal aufstellen, indem er individuelle Fähigkeiten berücksichtigt, auf einer ehrlichen und offenen Kommunikation bestehen, Anerkennung geben und Auseinandersetzungen führen - zeitnah und fair,
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Ziele und Verantwortlichkeiten persönlich und emotional binden.
Im klassischen Verständnis gehört es nicht zum zentralen Aufgabenbereich eines Managers, Bindung und Beziehungen aufzubauen, um erfolgreich zu sein. Doch genau dies ist die Handlungsweise, die eine der größten Leistungs-Ressourcen aktivieren kann, die uns heute zu Gebote steht. Aufgrund der Erkenntnisse aus Bindungsforschung und Verhaltensbiologie sind wir in der Lage, die Gesetzmäßigkeiten unseres sozialen Verhaltens, insbesondere des Bindungsverhaltens, zu erkennen. Die Anwendung dieser Erkenntnisse schafft eine solide Grundlage für die Führung, Mitarbeiter verantwortlich in den Unternehmensprozess einzubeziehen, freiwillig erbrachte Leistung zu aktivieren und handlungsfähige Teams aufzubauen. Ehe wir uns den positiven Effekten für das gemeinsame Handeln zuwenden, wollen wir zunächst einmal den guten Gefühlen von Bindung und Geborgenheit auf den Grund gehen.
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3. Was ist Bindung?
Im Sommersemester 1998 habe ich an der Universität Heidelberg ein Seminar zum Thema Moralerziehung angeboten. Die Zielgruppe waren Studierende der Erziehungswissenschaft und angehende Gymnasiallehrer. Zu meiner Überraschung meldeten sich ungewöhnlich viele, nämlich über 40 Studierende an. Gleich zu Beginn des Semesters drängte sich im Vergleich zu sonstigen Seminaren über Moralerziehung, wo über Stufenmodelle, kognitivemotionale Entwicklung und moralisches Urteil diskutiert wurde, eine anders geartete Frage in den Vordergrund: Welche Beweggründe sind es, die Kinder dazu motivieren, sich an Spielregeln zu halten? Der Wunsch, ein Teil einer Gemeinschaft zu sein, nicht ausgeschlossen zu werden, mitmachen zu dürfen, so lautete der Tenor der Antworten. Im weiteren Verlauf des Seminars verfolgten wir diese Spur und kamen nach weiteren Recherchen zu der Überzeugung, dass es ein soziales Motiv sein muss, das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Es treibt die Menschen dazu, die Prinzipien dieser Gemeinschaft zu verinnerlichen und sich an die dort herrschenden Regeln zu halten. Wir konnten die Bindung, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, als Motiv identifizieren. Was aber ist Bindung? Darüber haben schon einige berühmte Wissenschaftler geforscht, Theorien gebildet und gemutmaßt. Allen voran Charles Darwin. In seinem zweiten Hauptwerk zur Evolutionstheorie „Die Abstammung des Menschen“ schreibt er, dass sozial lebende Tiere zu jeder Zeit ein gewisses Maß an Sympathie und Liebe füreinander empfinden, dass sie bei Trennung voneinander unglücklich sind und sich darüber freuen, wenn sie wieder vereinigt sind. Darwin war zutiefst davon überzeugt, dass dies auch auf den Menschen zutrifft. Er teilt mit den Tieren den sozialen Instinkt; der ist die Basis des sozialen Lebens und die Voraussetzung dafür, dass sich beim Menschen das „moralische Empfinden“ ausbilden konnte.
58 Was ist Bindung? Evolutionsgeschichtlich ist die Bindung mit dem Brutpflegeverhalten der Vögel erstmals aufgetaucht. Dass frisch geschlüpfte Graugansküken auf denjenigen geprägt werden, den sie in den ersten Stunden nach dem Schlüpfen sehen, zeigen anschaulich die Fotografien und Filmdokumente des Verhaltensbiologen und Nobelpreisträgers Konrad Lorenz, dem die Küken im Gänsemarsch hinterherlaufen. Er hat es sogar geschafft, seine Schützlinge zum Fliegen zu animieren, obwohl er als menschlicher Gänsemama-Ersatz gar nicht in der Lage war, sich aus eigener Kraft in die Luft zu erheben.
Abbildung 4: Konrad Lorenz und Gänseküken
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Vergleichende Verhaltensstudien bei Menschen führte der Humanethologe und Lorenz-Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt bei unterschiedlichen, naturnah lebenden Volksstämmen in Afrika, Südamerika und Südostasien durch. In seinem Werk „Liebe und Hass“ untersuchte er Universalien des menschlichen Verhaltens und die dahinter liegenden Emotionen. Eibl-Eibesfeldt hat die Neigung, Kontakt zu anderen zu suchen, explizit als Binde-Trieb bezeichnet. Der Ansatz, Bindung mit einem Triebverhalten zu identifizieren, löste bei einigen Studierenden im Seminar emotionale Betroffenheit, ja sogar Verunsicherung und eine Abwehrhaltung aus. Folgender Gedankengang fasst viele Aussagen, Ansichten und Meinungen zusammen, die damals von den Studierenden geäußert wurden: „Die Frage ließ mich nicht mehr los, inwiefern ein „Trieb“ für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen verantwortlich ist. Ein Trieb in unserer zivilisierten Gesellschaft? Das ist doch wohl eher mit Tieren in Verbindung zu bringen.“ Nach dieser spontanen Reaktion ließen sich die Kommilitonen dann doch darauf ein, den Ansatz weiterzuspinnen: „Alle Gefühle, Empfindungen, Freundschaften – das Resultat eines „Triebs“? Beschämend überkommt mich der Gedanke, meine Freunde und alle, die mir nahestehen, nur aufgrund eines Verhaltensprogramms zu lieben, das einen außerdem in Angst versetzt, wenn man sich einsam und unverbunden fühlt.“ Einer Studentin ging die Erkenntnis, die sie für sich selbst nun nicht mehr leugnen wollte, sehr nahe. Sie sagte: „Mein Weltbild bricht zusammen, eine mittlere Katastrophe bahnt sich an. Von nun an muss ich in der traurigen Gewissheit leben, dass es Zuneigung und Liebe nicht gibt. Sie sind nur eine „Tarnung“, hinter der sich ein Trieb versteckt.“
Nach der Auffassung der Studentin, die ich hier zitiere, weil sie formuliert, was viele ganz ähnlich empfinden, ist es nicht statthaft, Freundschaft und Liebe und die damit verbundenen Gefühle auf ein Verhaltensprogramm zu reduzieren. Denn dadurch würde das Kostbarste, was wir besitzen, nämlich Geistesverwandtschaft, Gleichklang der Seelen und das Freundesethos zur Affenliebe biologisiert.
60 Was ist Bindung? Im Seminar diskutierten wir ausführlich die Frage, ob eine große Liebe klein wird, ob die Tiefe und Echtheit des Gefühls infrage steht, wenn man annimmt, dass unserem Bindungsverhalten ein evolutionäres Programm zugrunde liegt. Dabei stellten sich schließlich zwei Erkenntnisse ein: Die erste lautete: Gerade weil für unser Wohlbefinden und Lebensglück Freunde, Familienmitglieder und Vertraute so wichtig sind, ist es gut möglich, dass hier ein evolutionär entstandenes Bindungsprogramm seine Wirkung entfaltet. Die in Hollywood, Bombay und anderswo produzierten Spielfilme, die klassischen Dramen und die Literatur über Lust und Last von Treue und Verrat, Eifersucht und Familiendrama, Opfermut und Feigheit, Schuld und Vergeltung sprechen die Zuschauer deshalb emotional direkt und unmittelbar an, weil der Bindetrieb bei allen Menschen die gleiche soziale Disposition und ein ähnliches Empfinden geschaffen hat. Die zweite Erkenntnis entwickelten wir aufgrund des Vergleichs mit einem Verhaltensprogramm, dem man den Triebcharakter nicht absprechen würde, dem Nahrungstrieb: Wir sind durchaus in der Lage, ein schönes Menü zu genießen, auch wenn wir davon ausgehen, dass der hohen Kunst der Gourmandise der Nahrungstrieb zugrunde liegt. Das zeigt sich beispielsweise im Aufwand, der in der gehobenen Gastronomie getrieben wird. Um die im Verlauf einer mehrgängigen Speisefolge stetig abnehmende Triebstärke immer wieder erneut anzustacheln, arrangiert der Küchenchef immer raffinierter angerichtete Nahrungsreize. Das mag man von einem gewissen Grad an für dekadent halten, eine lukullische Lustkultivierung ist es allemal. Könnte es, wenn wir parallel konstruieren, nicht möglich sein, dass das soziale Verhaltensprogramm Bindung Grundlage und Voraussetzung für ein vielfältiges soziales Leben ist, das sich in unseren Beziehungen und den damit einhergehenden Emotionen wie z. B. Zuneigung, Freundschaft, Zugehörigkeit, Partnerschaft, Liebe realisiert? Wenn Bindung so grundsätzlich ist für unser soziales Leben, dann müssen Führung und Management dieses Verhaltensprogramm in der Arbeitsorganisation auch berücksichtigen. Vertrauen wird ja bereits allseits beschworen und als wichtiger Faktor für erfolgreiche Zusammenarbeit erkannt. Es kann aber nur entstehen, wenn man Bindung aktiviert und Zugehörigkeit zulässt. – Ein weithin ungeübtes Feld. Wie können Führungskräfte dabei vorgehen?
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Um diese Frage zu beantworten, muss man einen etwas genaueren Blick auf die Kategorien des Verhaltensprogramms Bindung werfen.
Das angeborene Bedürfnis nach Zugehörigkeit Der Nachweis, dass es sich bei der Bindung um einen Trieb handelt, wurde bislang noch nicht geführt. Dabei ist es tatsächlich recht nahe liegend, dies zu vermuten. Für mich war die Studie „The Need to Belong“ ausschlaggebend dafür, diesen Zusammenhang genauer zu erforschen. Sie wurde von den beiden US-amerikanischen Psychologen Baumeister und Leary 1995 im Psychological Bulletin veröffentlicht. Es handelt sich dabei um eine so genannte Metastudie, die die Ergebnisse vieler anderer Untersuchungen überprüft und zusammenfasst. Bei der Synopse der Ergebnisse kommen die Autoren zu folgenden Schlussfolgerungen: Das Bedürfnis nach Bindung stellt eine „fundamentale menschliche Motivation“ dar, die eigenständig, d. h. von anderen Motiven unabhängig ist, wie beispielsweise auch der Nahrungstrieb. X Die Aktivitäten der Bindung sind „zielgerichtet“ und zwar auf (potenzielle) Bindungspartner. X Ist man in der Lage, Bindung zu realisieren, so wird dies mit Lust erlebt; bleibt das Verhaltensprogramm dagegen nachhaltig unbefriedigt, so hat das krankmachende Konsequenzen. X Bindung äußert sich in „angeborenen, spontanen, kulturenübergreifenden Verhaltensweisen“. X
Beim eingehenden Studium des Bindungsverhaltens wird deutlich, dass sich – wie bei anderen Trieben auch – die fünf Kernkategorien eines Triebprogramms finden lassen. Es handelt sich um die Systemkomponenten 1. Triebstärke (Hunger) 2. auslösender Reiz (Nahrung) 3. Appetenzverhalten (Nahrungssuche, Jagd)
62 Was ist Bindung? 4. Triebhandlung (Essen) 5. Lust (Sättigung) Der Ablauf eines Triebs wird durch das Gesetz der doppelten Quantifizierung beschrieben: Das unter Umständen anstrengende Aufsuchen der Reize, das Appetenzverhalten und die anschließende Triebhandlung finden dann statt, wenn die Triebstärke hoch ist – dann genügt sogar ein niedriger Reiz – oder wenn der Reiz hoch ist – dann genügt auch eine niedrige Triebstärke. Also: Wenn wir Hunger haben, freuen wir uns an einem Stück trockenen Brotes, wenn wir aber gut gegessen haben und – der Lust wegen – noch weiter essen wollen, brauchen wir etwas besonders Leckeres. Und das gilt nicht nur für den Nahrungstrieb.
Graphik 2: Der Triebablauf nach dem Gesetz der doppelten Quantifizierung Die fünf Triebkategorien und der Triebablauf lassen sich beim Bindungsverhalten folgendermaßen identifizieren:
1. Triebstärke: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit Der Briefträger ärgert sich schon seit geraumer Zeit – immer, wenn er in diesem vierstöckigen Jugendstilhaus seine Post einwirft. Die Briefkästen befinden sich nicht wie in allen anderen Häusern im zentralen Eingangsbereich bzw. als Anlage sogar vor dem Haus, sondern in den einzelnen Etagen in unmittelbarer Nähe der Wohnungen. Deshalb muss er hier alle
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Etagen einzeln aufsuchen, um die Sendungen zuzustellen, was ihn viel Zeit kostet. Und die alte Dame, die noch ganz rüstig ist und sicherlich einmal eine Schönheit war, scheint jeden Morgen nur darauf zu warten, bis er kommt. Dann reißt sie unvermittelt die Tür auf und verwickelt ihn in ein Gespräch, das er eigentlich nicht führen will, das er aber auch nicht so recht zurückweisen mag. Sie lebt in ihrer eigenen Wohnung und versorgt sich trotz ihrer 84 Jahre noch selbst. Der Ehemann ist schon vor langer Zeit gestorben; und sie klagt darüber, dass sie inzwischen häufiger auf Beerdigungen alter Freundinnen und von Bekannten geht als zu Geburtstagsfeiern. So sind die Freunde im Laufe der Zeit immer weniger geworden. Die Kinder leben mit ihren Familien bei Hamburg, in Berlin und in Boston, weit weg. Allerdings ist ihr das Reisen in letzter Zeit immer beschwerlicher geworden; lange Flüge hat sie schon seit ihrem Oberschenkelhalsbruch vor fünf Jahren nicht mehr gemacht. Ja, das Telefon, sie telefoniert wöchentlich mit Boston und Berlin, zu ihrer Tochter in Hamburg hat sie dagegen keinen regelmäßigen Kontakt. Tatsache ist, dass ihre Bindungspartner immer mehr verloren gehen. Und das ist der Grund, warum ihre Bereitschaft so groß ist, den Mann von der Post abzupassen. Nein, sie passt ihn eigentlich nicht ab, es ergibt sich meistens so, dass sie gegen halb elf zur Tür geht, um nach der Post zu schauen; und da trifft sie ihn, wie es der Zufall will, meistens gerade auf der Etage. Weil er so sympathisch und geduldig ist, kennt er ihre Lebensumstände und Verhältnisse inzwischen sehr genau. Sie verhält sich ihm gegenüber in ihrer Einsamkeit wie zu einem persönlich nahestehenden Menschen, einem Bindungspartner ... und zu Weihnachten und etlichen anderen Gelegenheiten steckt sie ihm auch ein respektables Trinkgeld zu.
Die Geschichte der einsam gewordenen alten Frau zeigt: Die innere Handlungsbereitschaft, die Triebstärke, der starke Wunsch nach zwischenmenschlicher Begegnung, Gespräch und Geselligkeit entsteht spontan und wächst selbstständig an. Es ist wie beim Nahrungstrieb. Nach einiger Zeit, in der man nichts gegessen hat, stellt sich wie von selbst zunächst Ap-
64 Was ist Bindung? petit ein, später verursacht der Hunger unangenehme Gefühle im Bauch und noch später wird er richtig unangenehm. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn jemand über einen längeren Zeitraum von seinen Mitmenschen isoliert war: Er sehnt sich nach Kontakt zu anderen, möchte kommunizieren, sich austauschen, Neuigkeiten erfahren, will hören, wie es den Angehörigen geht, in Erfahrung bringen, was sie erlebt haben. Er möchte gerne die Wiedervereinigung mit den Nahestehenden aus Familie und Freundeskreis herbeiführen. Die amerikanische Autorin Velma Wallis hat in ihrem Buch „Zwei alte Frauen“ die Geschichte von zwei betagten Großmüttern erzählt, die den in Alaska nomadisch lebenden Athabasken angehörten. Es handelt sich um eine alte Legende, die ein kollektives Erinnerungsbild darstellt und von Generation zu Generation mündlich überliefert worden und von der Autorin erstmals schriftlich fixiert worden ist. Die beiden alten Frauen sind während eines kalten entbehrungsreichen Winters von ihrem Stamm in der Kälte zurückgelassen worden, weil man sie nicht mehr durchfüttern konnte. Nach der Erschütterung, ausgestoßen worden zu sein, gelingt es ihnen, Schnee und Frost zu trotzen, sich zu einem sicheren Platz durchzuschlagen und dort Wild- und Fischvorräte anzulegen. Als sie das alles geschafft haben, indem sie ihre alten Kenntnisse und Fertigkeiten wieder reaktiveren, überkommt sie in den Stunden vor dem Einschlafen Trauer, Gram und Bitternis. Viele Stunden verbringen sie in der Zeit der größten Kälte in ihrem Zelt und hängen ihren Gedanken nach: an den Stamm, an ihre Familien, ihre Freunde und an die Vergangenheit, als sie noch „dazugehörten“. Erneut empfinden sie die Kränkung des Ausgestoßen-Seins und die Sehnsucht nach den vertrauten Menschen. Eine der beiden Freundinnen fasst ihre Gefühle zusammen und formuliert die Bedingungen dafür, wie man unter härtesten Umweltbedingungen auf menschliche Art und Weise überleben kann: „Der Körper braucht Nahrung, aber die Seele braucht Menschen.“
Es gibt ein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einem Team, einer Gemeinschaft. Mitarbeiter wollen wissen, wo sie hingehören, brauchen eine Heimat. Deshalb tut das Management gut daran, die Grundlage dafür zu schaffen, dass sich Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen identifi-
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zieren. Denn dann bringen sie gerne und freiwillig ihre Leistung ein, übernehmen Verantwortung und machen sich das Unternehmensziel zu eigen. Für die Führung stellt sich die Frage: Wie können wir das Bedürfnis der Mitarbeiter nach Zugehörigkeit in unserer Firma befriedigen?
2. Auslösender Reiz: Wem man sich annähert Der zweite Halbsatz aus dem Spruch der alten Indianerfrau „... die Seele braucht Menschen“ zeigt, worauf sich unser inneres Bedürfnis nach Zugehörigkeit richtet: Der Bindungsreiz ist der andere Mensch, der Nahestehende, Vertraute. Hier findet sich der Reiz bzw. das Objekt, auf das sich der innere Antrieb richtet. Was ein Bindungsreiz ist, zeigt schon die Erforschung des Verhaltens von Rhesusaffen, die Harry Harlow an der Universität von Wisconsin durchgeführt hat. Eine Fotografie aus dem dortigen Labor hat eine gewisse Berühmtheit erlangt. Sie zeigt ein Rhesusaffen-Junges, das sich an eine mit fellartigem Stoff überspannte Ersatzmutter aus Draht klammert. Alternativ hatte man dem Äffchen ein nacktes Drahtgestell angeboten, das allerdings mit einer gefüllten Milchflasche ausgestattet war. Es verließ die kuschelige Mutterattrappe nur kurz, um am metallischen Drahtgestell zu saugen und sofort wieder zur Geborgenheit vermittelnden frotteestoff-bespannten Ersatzmutter zurückzukehren. Für Rhesusaffen-Junge sind Bindungsreize wie ein weiches Fell, Wärme und die Möglichkeit kuscheln zu können, wesentlich stärkere und langfristiger wirkende Verhaltensmotivatoren als Nahrungsreize.
Abbildung 5:
Affenmutter aus Fell
66 Was ist Bindung? Ein Nahrungsreiz kann ein Stück Brot sein, ein lecker duftendes Croissant oder ein aufwendig zubereitetes Menü. Bei großem Hunger genügt das Stück trockenen Brots, bei einem kleinen Morgenappetit passt das Croissant und wenn man nach einem fünfgängigen Essen bereits gesättigt ist, kann vielleicht noch ein raffiniert zubereiteter Nachtisch reizen. Auch bei der Bindung gibt es unterschiedliche Reizstärken: Der „Appetit“ eines einsamen Menschen auf einen Bindungspartner kann so groß werden, dass er unter Umständen selbst dem ihm nicht sehr nahestehenden Postboten seine Lebens- und Familiengeschichte erzählt. Bei hoher Triebstärke, also dem Gefühl, einsam, unverbunden und von der zwischenmenschlichen Kommunikation abgeschnitten zu sein, bedarf es nur eines geringen Reizes, etwa eines relativ unbekannten Menschen, mit dem man ganz zufällig zusammentrifft, um eine Bindungshandlung durchzuführen; z. B. indem man seine Sympathie bekundet, das intensive Gespräch sucht oder rasch Nähe zu einer zufällig vorbeikommenden Personen herstellt. Warum halten Menschen in Deutschland über 30 Millionen Haustiere, davon fünf Millionen Hunde, mehr als sieben Millionen Katzen, sechs Millionen Kleintiere wie Meerschweinchen und Hamster und etwa drei Millionen Vögel? Sie halten nicht deshalb einen Hund, um sich einer besseren Gesundheit zu erfreuen. Trotzdem sind Tierhalter weniger anfällig für einen Herzinfarkt als Alleinlebende. und werden, wenn sie doch einen erleiden, schneller gesund. Sie haben nicht eine Katze in ihren Haushalt aufgenommen, um besser mit Lebenskrisen fertigzuwerden. Trotzdem überstehen Kinder die Scheidung ihrer Eltern besser, wenn die Familie ein Haustier hält. Menschen in Altenheimen kommunizieren mehr miteinander, wenn sie darüber mit dem Zimmernachbarn sprechen, was ihr Vogel gerade wieder angestellt hat. Einsame Menschen sehen in ihrem Haustier einen Ersatz für den nicht vorhandenen menschlichen Partner. Hansi, Felix und Bello sind Bindungsreize, die durch ihre bloße Anwesenheit äußerst positive Effekte auf das Wohlbefinden und die Gesundheit ihrer Besitzer haben. Ein Katzenhalter gab bei einer Befragung zu Protokoll: „Ich und mein Kater, wir sind Kumpel.“ Auf der anderen Seite des Verhaltensspektrums in Sachen Bindung kann man sich einen Menschen vorstellen, der mitten im Leben steht: Er hat vielerlei Bindungen, Beziehungen und Kontakte in der eigenen Familie, im
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Freundeskreis, mit Kollegen etc. Da muss ihm in der Fußgängerzone schon ein lieber, gut bekannter Freund begegnen, dass er innehält, sich von seinen Begleitern abwendet und sich ihm eingehend widmet. Wenn man über viele intakte Beziehungen verfügt und entsprechend viel Zeit für deren Pflege aufwenden muss, kann man von einer gewissen „Beziehungssattheit“ sprechen. In diesem Fall ist die Triebstärke so niedrig, dass der Betreffende kaum dazu motiviert ist, aktiv andere Menschen aufzusuchen. Unter diesen Umständen braucht es schon einen hohen Reiz, also einen gut bekannten, nahestehenden, vielleicht lange nicht gesehenen Menschen, damit es zur Bindungshandlung kommt, also sich um den anderen zu bemühen und zu kümmern. Wie die Legende der beiden alten Frauen zeigt, kann auch jemand, der zunächst keinen hohen Reiz als Bindungspartner darstellt, im Laufe der Zeit dazu werden. Denn ehe der Stamm die beiden im Stich gelassen hatte, standen sie einander nicht nahe, sondern lebten im Beziehungsgefüge ihrer Familien. Doch in ihrem gemeinsamen grausamen Schicksal, das sie so beherzt in die Hand nahmen und in einer ungeahnten Form der Zusammenarbeit meisterten, lernten sie sich näher kennen und entwickelten Achtung voreinander. Ihre Beziehung entwickelte sich. Die einstigen Nachbarinnen, die seinerzeit lediglich miteinander tratschten und sich über die Beschwernisse des Älterwerdens beklagten, wurden zu Freundinnen, deren Überleben und Wohlbefinden von der Existenz der anderen abhing. Hinsichtlich der Arbeitsbeziehungen im Unternehmen stellt man ein Paradox fest. Auf der einen Seite existiert eine soziale Überforderung: Abteilungsmitarbeiter, Projektteamkollegen, Kooperationspartner aus der Matrixorganisation, Kunden, mit denen man längerfristig zusammenarbeitet, all diese Personen sorgen in großer Anzahl eher für sozialen Stress, weil sie die soziale Kapazität des Menschen überschreiten. Hier stellt sich die Frage nach der angemessenen Organisation von Gruppengrößen und Teamstärken. Andererseits leiden etliche Mitarbeiter unter einem Defizit an echten Bindungen: Die Zeit für die Beziehungspflege, für Austausch und Kontakte ist viel zu knapp bemessen. Sie wird beinahe ausschließlich zur Bewältigung der optimierten Prozesse gebraucht, so dass man sich nicht ausreichend um die Beziehung zu den Mitarbeitern und Kollegen kümmern kann und sich deshalb auch nicht
68 Was ist Bindung? richtig kennenlernt, sondern immer ein Stück fremd bleibt. Wie soll die Unternehmensführung mit einem derartigen Zustand der sozialen Reizüberflutung auf der einen und der Beziehungslosigkeit auf der anderen Seite umgehen? Missverständnisse, Schnittstellenprobleme, Reibungsverluste sind hier vorprogrammiert.
3. Appetenzverhalten: Wenn wir Bindung suchen Wenn man nun großen Hunger hat und weit und breit nichts zu essen in Sicht ist, dann tut man normalerweise eines: Man sucht nach dem auslösenden Reiz. Also: Jagen, sammeln oder unter modernen Lebensbedingungen: Currywurst oder Döner kaufen oder ein Restaurant aufsuchen. Dieses aktive Aufsuchen eines zunächst nicht vorhandenen Reizes nennt man in der Verhaltensbiologie Appetenzverhalten. Und bei der Bindung? Man macht sich auf die Suche nach potenziellen Bindungspartnern. Die Verhaltensbiologin Helga Fischer hat in ihrer Studie „Das Triumpfgeschrei der Graugänse“ herausgefunden, dass es bei Gänsen eine eigenständige Motivation für sozialen Zusammenhalt gibt, die sie als „Bindungstrieb“ bezeichnet. U. a. beschreibt sie darin auch das Appetenzverhalten der Bindung: „Hat ein bereits lauffähiges Gössel (Küken) seine Familie verloren, so rennt es suchend umher und stößt dabei laute Weinlaute aus. Da das Gössel in den ersten Lebenstagen seine Eltern nicht von anderen Gänsen unterscheiden kann, rennt es dann auf jede Gans zu, die ihm begegnet. Fremde Gänse beißen nach dem Gössel, so dass es mit Weinlauten ausweicht und solange weitersucht, bis es seine Eltern findet. Während des Suchens vernachlässigt es alle lebensnotwendigen Tätigkeiten wie Fressen, Putzen, Schlafen, so dass es, wenn es seine Eltern nicht wiederfindet, zugrunde geht.“
Es geht nicht nur Gänseküken so, dass sie am Anfang ihres Lebens alle Kraft daran setzten müssen, die Bindung zu ihrer Familie aufrechtzuerhalten bzw., wenn sie denn einmal verloren gegangen und von der Schar getrennt worden sind, ihre gesamte Energie darauf zu verwenden, die unterbrochene Bindung wieder herzustellen.
Das angeborene Bedürfnis nach Zugehörigkeit 69
Ein extremes Beispiel für Bindungsappetenz gibt Tom Hanks, der in dem modernen Robinson-Crusoe-Film „Cast Away“ als Chef eines Logistikunternehmens mit einem Frachtflugzeug aus der Flotte seines Unternehmens abstürzt und als einziger Überlebender mehrere Jahre auf einer Südseeinsel verbringen muss. Unter anderem wird aus dem Flugzeugwrack ein Basketball der Marke Wilson angeschwemmt, dem Hanks Augen aufmalt und den er mangels echter Freunde zu seinem Bindungspartner macht. Das Bedürfnis nach Bindung steigt so stark an, dass sich der sozial Entwöhnte diesen künstlichen Bindungspartner geradezu erschafft, den er im Verlauf der Jahre auch als imaginären Gesprächspartner immer wieder mit „Wilson“ anspricht, ihm das Leid seiner Einsamkeit klagt und kleine Alltagsfreuden mit ihm teilt.
Abbildung 6:
Tom Hanks und „Wilson“
Vielen Menschen ist die Appetenz der Bindung von der emotionalen Seite her nicht unbekannt, insbesondere wenn sie unerfüllt bleibt: Heimweh, das man empfindet, wenn man von seinen Liebsten getrennt ist, die Sehnsucht nach Nahstehenden, mit denen man nicht zusammen sein kann, oder Liebeskummer, wenn die Bemühungen um den gewünschten Partner, die auserkorene Partnerin zurückgewiesen werden. So schmerzhaft diese vergeblichen Anstrengungen um eine Beziehung empfunden werden, so erfüllend ist es,
70 Was ist Bindung? wenn man die Distanz überwunden hat, nach langer Fahrt wiedervereinigt ist mit den Familienangehörigen. Homers Odyssee ist so gesehen das Epos einer großen Bindungsappetenz. Der Held Odysseus will nach dem Krieg um Troja zu seiner Frau Penelope auf der Insel Ithaka zurückkehren. Weil er den Meeresgott Poseidon erzürnt hat, auf dessen Element, das Wasser, der listige Seefahrer aber angewiesen ist, um nach Hause zu kommen, muss Odysseus vielerlei Umwege in Kauf nehmen, Herausforderungen meistern und Abenteuer bestehen. Die erzählerische Klammer ist allerdings der Weg zurück in die Heimat, die Verbundenheit mit seiner Frau, seiner Familie und seinem Volk. Ob der Sturm tobt, der Zyklop Polyphem seine Gefährten brät und auffrisst oder die Sirenen ihn vom rechten Weg weglocken wollen, sein ganzes Bestreben und seine Anstrengung sind darauf gerichtet, die Wiedervereinigung mit seiner Familie herbeizuführen. Bei aller Schläue und Schlitzohrigkeit ist das Bindungs-Motiv und die daraus erwachsende Antriebsenergie tragend für das gesamte Handelungsgerüst des Epos.
Das Beispiel des Odysseus zeigt, wie viel Mühen er für die Realisierung seines Projektes Heimkehr aufgewendet hat. Es handelt sich um die Appetenz der Bindung. Im Kontext der Mitarbeiterführung stellt sich die Frage: Wie kann man die im Bindungstrieb liegende Leistungsbereitschaft bei den Mitarbeitern auslösen, wenn es darum geht, dass die Mitglieder eines Teams sich dafür einsetzen, das gemeinsame Ziel kraftvoll zu erreichen?
4. Die Triebhandlung der Bindung: Umarmen, Streicheln, soziale Fellpflege Die Triebhandlung ist die vierte Komponente eines Triebs; bei ihr handelt es sich um ein beobachtbares aktives Verhalten. Was beim Nahrungstrieb die Nahrungsaufnahme ist, entspricht beim Aggressionstrieb dem Kampf mit dem Rivalen. Wie man sich der anderen Person annähern muss, um mit ihr zu kämpfen, so verhält sich das auch bei der Bindung, nur mit einer anderen Absicht und einem dem Kampf entgegengesetzten Verhalten. Die Triebhandlung der Bindung besteht in der Umarmung des Partners, in der freundlichen, wohlwollenden ursprünglich körperlichen Zuwendung. Nähe und Berührung sind hier wesentliche Kennzeichen.
Das angeborene Bedürfnis nach Zugehörigkeit 71
Bei Schimpansen und anderen Primaten kann man beobachten, dass sich nahestehende Individuen groomen, also kraulen und soziale Fellpflege betreiben. Untereinander vertraute Tiere gehen dieser Tätigkeit knapp ein Fünftel ihrer gesamten Wachzeit nach. Es festigt die Beziehung, stabilisiert das soziale Gefüge und wird von den Gekraulten offensichtlich als angenehm und lustvoll empfunden. Man hat die Affen ebenso wenig befragt wie Hauskatzen, aber es gibt eindeutige Hinweise auf das Wohlbefinden bei freundlicher Berührung. Sobald man die Katze streichelt, die sich einem zuvor auf den Schoß gelegt hat, fängt sie an zu schnurren; ein eindeutiges Signal dafür, dass sie zufrieden ist und sich wohl fühlt.
Abbildung 7:
Zwei groomende Schimpansen
In der modernen Gesellschaft, wo abstrakte Austauschbeziehungen als große Errungenschaft gelten, ist Berührung ebenso wenig einfach wie selbstverständlich. Wie sich hier Aggression nicht in täglichen Zweikämpfen bahnbricht, sondern in aller Regel ritualisiert, zivilisiert und distanziert ausgetragen wird, so wird auch die Bindungshandlung abstrakt durchgeführt. In der Art, wie man seine Aggression beherrscht und nicht mit den Fäusten zuschlägt, so steuert man das Gefühl der Zuneigung und verwendet die Hän-
72 Was ist Bindung? de in aller Regel nicht, um den anderen zu streicheln. In verbalisierter Form ist es allerdings möglich. Wir benutzen einerseits das Wort als Waffe im Rededuell und betreiben andererseits „verbales Grooming“, wenn wir unsere Nähe und Wertschätzung zum Ausdruck bringen wollen. Man befürchtet, dem anderen zu nahe zu treten, könnte das eigene Bedürfnis zu sehr zum Ausdruck bringen und dadurch Schwäche bzw. ein Defizit zeigen. „Der scheint’s aber nötig zu haben!“ Außerdem wird meist vorschnell ein sexuelles Motiv unterstellt. Die Entwicklungspsychologin und Leiterin des Instituts für Berührungsforschung an der Universität Miami Tiffany Field beklagt, dass in den USA selbst Körperkontakte von Erzieherinnen und Kindern im Vorschulalter zu einem immer größeren Tabu werden. Berührung sei weitgehend stigmatisiert – aus Angst, des sexuellen Missbrauchs beschuldigt zu werden. Das Tabu der Berührung wird auch in der Erwachsenenwelt lediglich in emotionalen Ausnahmesituationen aufgehoben: Bei Trauer, Trost und Triumph, wenn man eine Gefahr überstanden oder einen Sieg errungen hat, wird Körperkontakt im Allgemeinen akzeptiert.
Abbildung 8:
Umarmung im Fußball nach dem Siegtreffer
Das angeborene Bedürfnis nach Zugehörigkeit 73
In der Massagepraxis, im Friseursalon, im Fußpflege- oder Manikürestudio, beim Tanzkurs, aber auch im Krankenhaus und der Altenpflege geht es ohne Anfassen nicht. Weil Berührung in unserer Gesellschaft oft zu kurz kommt, holen sich etliche Zeitgenossen das, was ihnen fehlt, als Kunde bei professionellen Anbietern. Manche kranke und alte Menschen empfinden die körpernahen Dienstleistungen des Pflegepersonals aber auch als Zumutung und Grenzüberschreitung. Körperliche Berührung und innige Umarmung sind die Triebhandlung der Bindung; sie werden nach wie vor emotional intensiv erlebt. Viele Handlungen sozialer Konvention wie die Begrüßung und Verabschiedung, sich die Hand geben oder verbale Ausdrucksweisen der Aufmerksamkeit, Sympathie und des Wohlwollens haben in der Triebhandlung der Bindung ihren Ursprung. Es genügt nicht, in Leitlinien von Zugehörigkeit und Vertrauen zu sprechen. Bindung muss immer unmittelbar in den Beziehungen erlebt werden. Welche Möglichkeiten kann man in der Arbeitsorganisation schaffen, dass Bindung konkret durchgeführt und erlebt werden kann? Es geht hierbei nicht um die Einrichtung sozialer Kuschelgruppen, sondern darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der jeder Mitarbeiter spürt, dass er gebraucht wird, zugehörig ist und seinen Platz hat.
5. Die Lust der Bindung – Zugehörigkeit, Zuneigung Die Lust ist das letzte Kriterium, das erfüllt sein muss, wenn man Bindung als Trieb identifizieren will. Das verhält sich ganz parallel zu den anderen Trieben: Die Nahrungsaufnahme hält die Lust der Sättigung bereit; bei der Aggression ist es der Sieg, der lustvoll erlebt wird. Und bei der Bindung ist es das intensive Gefühl der Zugehörigkeit, das warme Gefühl der Geborgenheit, das wir lustvoll erleben. Wenn sie besonders stark ist, nennen wir diese Empfindung Zuneigung oder Liebe. Viele Studien belegen, dass Bindung für die psychische und körperliche Gesundheit von fundamentaler Bedeutung ist. Wenn befriedigende soziale Beziehungen fehlen, fühlen sich Menschen unglücklich, depressiv, ausgeschlossen und einsam. Im Gegensatz dazu verfügen sie über einen besseren Gesundheitszustand und eine höhere Lebenserwartung, wenn sie in langfris-
74 Was ist Bindung? tigen, stabilen Beziehungen leben. Michael Argyle, der schon vor über 20 Jahren eine grundlegende Untersuchung zu dieser Thematik angefertigt hat, gibt (zumindest dem männlichen Anteil der Bevölkerung) den pragmatischen Ratschlag: „For a longer life take a wife.“ Gute Beziehungen zum Lebenspartner, zu den Kindern und Familienmitgliedern und zu Freunden zu haben, bedeutet für die meisten Menschen Lebensglück. Diese Bindungen verschaffen Geselligkeit und Freude, sie vermitteln Sicherheit und Vertrauen in die Welt. Die als wohltuend empfundene Atmosphäre in Gemeinschaften, in denen stabile Bindungen etabliert sind, wirkt Stress reduzierend und entspannend. Sie stärkt den Einzelnen, gibt Rückhalt und unterstützt die individuelle Handlungsfähigkeit. Wenn man sich miteinander wohl fühlt, sucht man den Bindungspartner gerne auf, man tauscht sich aus und verbringt die Zeit miteinander. Die beiden Freunde hatten sich schon eine Weile nicht mehr gesehen. Bei ihrer Wiederbegegnung umarmten sie sich herzlich und klopften sich ausgiebig auf den Rücken. Dann gingen sie zusammen in der Gegend herum. Ihre Haltung und Gestik waren entspannt, sie schauten sich wiederholt in die Augen und von Anspannung und Streit war überhaupt nichts zu spüren. Der eine suchte für den anderen besondere Leckereien aus. Er steckte sie sich in den Mund, kaute sie vor und überreichte den angekauten Happen seinem Freund.
So beschreibt der US-amerikanische Primatologe Vernon Reynolds das Verhalten von zwei befreundeten Schimpansenmännchen. Bis auf das Vorkauen der Nahrung könnte man den Eindruck haben, in der geschilderten Szene zwei Studienfreunde bei ihrem Wiedersehen auf einer Party zu beobachten. Viele Unternehmen veranstalten Betriebsausflüge, Sommerfeste und Weihnachtsfeiern. Keine Frage, hier soll die Gelegenheit geschaffen werden, Beziehungen zu pflegen und sich über den Arbeitsalltag hinaus über persönliche Themen auszutauschen. Das zeigt, dass die Unternehmensführung „das Soziale“ ernst nimmt und ihm einen gewissen Raum gibt. Die Mitarbeiter empfinden derartige Veranstaltungen aber leider oftmals als lästige gesellschaftliche Pflichtübung. Das kommt daher, dass ihr Arbeitsalltag inzwischen meist so sehr durchgeplant ist, dass sie hier keine Zeit mehr finden,
Der Bindungs-Trieb als Schlüssel für das Beziehungsmanagement 75
um anstehende Konflikte zu lösen, notwendige Kommunikation durchzuführen oder sich einmal kurz Zeit für den Kollegen und sein Anliegen zu nehmen. Und darum fehlt die Voraussetzung dafür, leicht und entspannt miteinander in Kontakt kommen und feiern zu können. Deshalb muss das Management für eine systematische Ansprache des Gefühls von Zugehörigkeit und Geborgenheit der Mitarbeiter sorgen. Welche Mittel stehen ihm zur Verfügung, um das zu erreichen?
Der Bindungs-Trieb als Schlüssel für das Beziehungsmanagement Was Helga Fischer für die Graugans festgestellt hat, dass Bindung nämlich ein Trieb ist, gilt auch für den Menschen. Wir konstatieren, dass uns die Evolution mit einem sozialen Verhaltensprogramm ausgestattet hat, das es uns ermöglicht, Beziehungen einzugehen, Freundschaften zu schließen, in Familien zusammenzuleben, im Unternehmen zu kooperieren, gemeinsam zu handeln und gerade deshalb die Lust der Zuneigung und Zugehhörigkeit zu empfinden. In der Tabelle sind die fünf Triebkategorien für die Verhaltensprogramme Nahrung und Aggression, und erstmals auch für die Bindung zusammengestellt. Tabelle 2: Triebkategorien
Triebstärke Reizstärke
Nahrung Hunger Nahrung
TRIEBE Aggression Angriffslust Rivale
Bindung Einsamkeit Partner
Appetenz
Nahrungssuche
Herausforderung
Partnersuche
Triebhandlung
Fressen
Kämpfen
Umarmen
Lustempfindung
Sättigung
Sieg
Zuneigung
KATEGORIE
76 Was ist Bindung? Alle notwendigen Kriterien sind erfüllt, um das komplexe Verhaltensprogramm Bindung als Trieb zu qualifizieren. Das hat weitgehende Konsequenzen für unseren Alltag: Selbstverständlich müssen wir auch in Unternehmen damit rechnen, dass Mitarbeiter ihren Bindungstrieb in ihrer Arbeit befriedigen wollen. Informiert werden, Mit-Arbeiter im Sinne von zugehörig sein, miteinbezogen werden, was in den Verantwortungsbereich der Betroffenen hineinreicht etc. Genauso wenig, wie man den Nahrungstrieb durch Motivationsmaßnahmen abtrainieren kann, ist das im Falle der Bindung möglich. Ein dauerhaftes Triebdefizit in diesem Bereich führt zu Frustration bei den Betroffenen. Daraus folgen Reaktionen wie Misstrauen, Verschlossenheit, Distanz, geringe Kommunikationsbereitschaft, Silo-Denken, innere Kündigung, Dienst nach Vorschrift etc. Das Gefühl der Bindungs- und Heimatlosigkeit von Mitarbeitern behindert die Leistungsbereitschaft des Einzelnen und erschwert zielgerichtete Zusammenarbeit. Nette Kollegen steigern Leistung Wer mit leistungsstarken Freunden am Arbeitsplatz zusammen ist, arbeitet selbst produktiver. Diesen Zusammenhang konnten Wissenschaftler britischer und US-amerikanischer Universitäten jetzt durch einen umfangreichen Feldversuch belegen. Laut der Studie, die beim Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) erschienen ist, stieg die Produktivität von den sonst eher schwachen Kollegen um zehn Prozent, wenn sie im direkten Umfeld ihrer Freunde eingesetzt wurden. Umgekehrt reduzierten zwar die produktiveren Kollegen ihre eigene Leistung, wenn sie während der Arbeit in direktem Kontakt mit schwächeren Freunden standen, doch für das Unternehmen ergab sich insgesamt ein positiver Produktionseffekt. Aus: Focus Karriere 28. Mai 2009
Eingeordnet nach dem Gesetz der doppelten Quantifizierung kann der Ablauf des Bindungstriebs folgendermaßen beschrieben werden:
Der Bindungs-Trieb als Schlüssel für das Beziehungsmanagement 77
Graphik 3: Der Bindungstrieb nach dem Gesetz der doppelten Quantifizierung Ich möchte die Fragen, die am Ende eines jeden Teilkapitels gestellt wurden, hier noch einmal aufnehmen, denn dadurch können wir die Grundprinzipien der Bindung auf die Gestaltung eines effektiven Beziehungsmanagements anwenden. Wie können Beziehungsmanager das Bedürfnis der Mitarbeiter nach Zugehörigkeit zur eigenen Firma befriedigen?
Die innere Bereitschaft, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen und Bindungen einzugehen, ist – wie bei allen anderen Menschen auch – ebenso bei den Mitarbeitern von vorneherein vorhanden. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft bildet ein starkes Handlungsmotiv. Um es in der Arbeitswelt der Unternehmen zu aktivieren, ist es notwendig ernstfallnah gemeinsam zu handeln und sich dabei nicht nur auf die Sachaufgabe zu konzentrieren, sondern den Fokus ganz bewusst auf die Beziehungen zu richten. Wer hat sich wie verhalten? Wie ist es ihm dabei gegangen? Wie sind die Mitglieder als Team unterwegs? Wenn Führungskräfte Kommunikation, Nähe und Zusammenarbeit am Arbeitsplatz unter diesem Aspekt der Bindung fördern, bekommt die Zusammenarbeit ein höheres Niveau, die Mitarbeiter erleben die Bindung am Arbeitsplatz als echt und die daraus entstehende Synergie wird im Sinne des Unternehmensziels eingesetzt.
78 Was ist Bindung?
Wie soll die Unternehmensführung mit dem paradoxen Zustand der sozialen Reizüberflutung auf der einen und der Beziehungslosigkeit auf der anderen Seite umgehen?
In der natürlichen Umwelt ist ganz klar: Man ist seinen Vertrauten nahe und pflegt gute Beziehungen zu ihnen oder man ist ihnen fern und hat das dringende Bedürfnis, wieder mit ihnen zusammenzukommen. Im Unternehmen verhält es sich oft genau umgekehrt: Hier ist man dicht auf dicht mit vielen Hunderten oder Tausenden Mitarbeitern, hat weitreichende Sachentscheidungen zu treffen und kennt kaum jemanden persönlich. Die logische Konsequenz für den Beziehungsmanager lautet: Vermeiden Sie die soziale Reizüberflutung bei Ihren Mitarbeitern und unterstützen Sie im überschaubaren Rahmen Beziehungsaufbau und -pflege zwischen den Teammitgliedern, die tatsächlich gemeinsam handeln. Berücksichtigen Sie bei der Einrichtung von Teams und Gruppen, dass die soziale Kapazitätsgrenze von ca. zwölf Personen nicht überschritten wird. Versuchen Sie, den schädlichen Aktionismus ständig wechselnder Neuorganisation und andauernder Umstrukturierungen durch Stetigkeit und Beständigkeit im zwischenmenschlichen Nahbereich so gut es geht aufzufangen und auszugleichen. Wie kann man die im Bindungstrieb liegende Leistungsbereitschaft bei den Mitarbeitern auslösen, damit die Mitglieder eines Teams sich für das gemeinsame Ziel einsetzen?
Die Appetenz ist ein Anstrengungsprogramm, das sich im Fall der Aggression auf den Rivalen bzw. den Wettbewerber, im Fall der Bindung auf den Kooperationspartner bzw. das Teammitglied richtet. Vermeiden Sie es, Aufgaben nach ausschließlich fachlicher Eignung an Personen zuzuweisen. Vermeiden Sie ebenso häufigen Wechsel in den Arbeitsbeziehungen. Sorgen Sie vielmehr dafür, dass sich die Teammitglieder zusätzlich aufgrund der spontan empfundenen Nähe und Distanz gegenseitig im Team positionieren. Beachten Sie auch hier, dass Teams, die eine Gesamthandlungsfähigkeit erreichen sollen, nicht viel mehr als zwölf Mitglieder haben dürfen. Größere Teams zerfallen in informelle Untereinheiten, was sich negativ auf die
Der Bindungs-Trieb als Schlüssel für das Beziehungsmanagement 79
Kommunikation, die Qualität der Zusammenarbeit und auf das Zugehörigkeitsgefühl des einzelnen zum Team auswirkt. Welche Möglichkeiten können in der Arbeitsorganisation geschaffen werden, dass Bindungshandlungen konkret durchgeführt und erlebt werden können?
Im Unternehmenskontext ist es nicht geraten, in ein allgemeines Umarmen auszubrechen oder Kuschelpartys abzuhalten. Es ist im Alltag ja auch nicht so, dass wir Zweikämpfe durchführen, um den Aggressionstrieb zu befriedigen; vielmehr versuchen wir, durch Leistung die Anerkennung zu bekommen, die ein Sieger erhält, wenn er erfolgreich aus einem Wettkampf hervorgeht. Sorgen Sie deshalb dafür, dass, nachdem ein Team sich gefunden hat, es zielgerichtet gemeinsam handelt. Wer hier seine Kompetenz zuverlässig einbringt und damit einen Beitrag zum Erfolg des großen Ganzen leistet, der bekommt auf der einen Seite die Anerkennung seiner Kollegen und fühlt sich ihnen gleichzeitig aufs Engste verbunden. Die unmittelbar erlebte Bindung sollte dann auch aktiv ausgedrückt werden. Gemeinsam darüber zu sprechen, wie das Team unterwegs ist, wie die Stimmung dabei ist, was die Beziehungen dem einzelnen bedeuten, welche Unterstützung er erfährt, das alles ist keine Zeitverschwendung. Wer die Qualität seiner Bindung benennen kann, erkennt den Wert guter Arbeitsbeziehungen und teilt sein gutes Gefühl seinem Bindungspartner gegenüber mit. Wenn dieser „verbalen Umarmung“ das tatsächlich erlebte gemeinsame Handeln entspricht, dann wird die darin ausgedrückte Nähe als echt und ungekünstelt empfunden. Eine solche Bindungshandlung ist ebenso wenig peinlich oder unangemessen wie die spontane Umarmung der Handballspieler, die eine schwierige Situation zum Spiel entscheidenden Torwurf verwandelt haben. Ein gelegentliches gegenseitiges Schulterklopfen für gemeinsam erbrachte Leistung hat auch in der Arbeitswelt einen hohen Stellenwert. Welche Mittel stehen für eine systematische Ansprache des Gefühls von Zugehörigkeit und Geborgenheit im Unternehmen zur Verfügung?
80 Was ist Bindung? Wer in dieser Weise gemeinsam gehandelt und Erfolg dabei hatte, der empfindet auch die Lust der Bindung ganz unmittelbar. Zugehörigkeit, Nähe, Teamgeist stellen sich ein. Das passiert aber erst nach einer Kaskade von gemeinsam erbrachten Anstrengungen und einem damit erzielten Erfolg. Achten Sie deshalb darauf, dass beim gemeinsamen Handeln die Prinzipien der Gerechtigkeit erfüllt und die Regeln der Fairness eingehalten werden. Nur wenn die Beteiligten zuverlässig und präzise einander zuarbeiten und dadurch einen Mehrwert schaffen, kommen Freude, das Gefühl der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit auf. Die Triebkategorien der Bindung skizzieren die groben Linien für das Beziehungsmanagement. Sie geben eine grundlegende Orientierung und zeigen, was die Verantwortlichen in Führungsfunktion prinzipiell berücksichtigen und tun müssen. Eine Konzeption, wie das Management systematisch vorgehen kann, ist damit allerdings noch nicht benannt. Das natürliche Vorbild für die Umsetzung ist das Ur-Modell des Beziehungsmanagements, die Mutter-Kind-Bindung. Hierin findet sich die natürliche Abfolge der notwendigen Schritte, die den Erfolg bei der bewussten, zielgerichteten Anwendung im Unternehmen garantieren.
Der Bindungs-Trieb als Schlüssel für das Beziehungsmanagement 81
4. Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: MutterKind-Bindung
Der Begriff „Beziehungsmanagement“ könnte leicht Anlass zu der Vermutung geben, dass es sich hierbei um eine Führungsmethode handelt, die den Manager in die Lage versetzt, aus der Distanz und vom grünen Tisch her seine Beziehungen zu den Mitarbeitern zu organisieren und kontrollieren. Das wäre allerdings ein grandioses Missverständnis. Beziehungsmanagement bedeutet, sich im professionellen Umfeld der Mitarbeiterführung persönlich und individuell auf die Menschen einzustellen und einzulassen, um dadurch die Sacharbeit voranzubringen. In diesem Fall sind die Beziehungen kein Selbstzweck. Aber das sind sie im persönlichen Freundes- und Bekanntenkreis in aller Regel ja auch nicht. Es geht darum, sein Gegenüber als Partner ernst zu nehmen und dies auch deutlich zum Ausdruck zu bringen. Schließlich ist gerade die Führungskraft darauf angewiesen, die Mitarbeiter für ein gemeinsames Ziel und für den mitunter schwierigen Weg dorthin zu gewinnen. Das gilt für die Motivansprache bei jedem Einzelnen ebenso wie für die Formierung und Organisation des gemeinsamen Handelns. Letztendlich geht es um die Gestaltung der Beziehung mit den Mitarbeitern, die man direkt führt. Nachdem wir im vorigen Kapitel erstmals klären konnten, was es mit der Bindung auf sich hat, dass sie nämlich ein in der Stammesgeschichte ausgeprägtes mächtiges Verhaltensprogramm mit weitgehenden Auswirkungen auf unser soziales Leben ist, möchte ich auf den folgenden Seiten zeigen, welche Entwicklungsschritte jeder Mensch durchläuft, wenn er das Bindungsprogramm individuell entfaltet. Es ist neben dem Aggressionsprogramm einer unserer beiden sozialen Triebe, die ich so nenne, weil wir mit ihrer Hilfe alle unsere Beziehungen gestalten. In allen findet sich Bindung in unter-
82 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung schiedlichen Dosierungen. Tatsächlich ist sie alles in einem: der emotionale Kraftstoff und das soziale Schmiermittel, der Anlasser für Gegenseitigkeit und der Motor für das Miteinander. Erst im nächsten Kapitel wird dann der andere soziale Trieb, das Aggressionsprogramm behandelt; der große Gegenspieler, oder besser gesagt Komplementär der Bindung, der für unser soziales Leben eine ebenso wichtige Rolle spielt. Ich möchte Bindung symbolisch als zwei ineinander greifende Kettenglieder darstellen:
Abbildung 9:
Bindung
Die sozialen Triebe lösen immer Emotionen aus, positive wie negative. Man denke etwa an die Freude bei der Wiederbegegnung mit alten Freunden nach langer Zeit, an den Ärger, der bei einem Streit in der Familie entstehen kann und die daraus resultierende gespannte Atmosphäre, an die Nähe, die sich im Verlauf eines gelingenden Gesprächs mit Kollegen entwickelt; aber auch an Enttäuschung und Frustration, die bei einer Trennung von einer emotional nahestehenden Person hochkommt, oder an das Vertrauen, das sich zwischen Verkäufer und Kunde einstellt, wenn sie für eine komplexe Anforderung gemeinsam das passende Produkt ausfindig machen konnten. All diese sozialen Situationen beeinflussen unsere Gestimmtheit und unsere Gefühlslage nachhaltig. Dabei wirken die positiven Gefühle bestärkend, beflügelnd und begeisternd, die negativen besorgniserregend, behindernd und bestürzend. Das gilt selbst für solche Beziehungen, die auf einer rationalen Basis gründen, wie z. B. die zwischen Anwalt und Klient, zwischen Taxifahrer und Fahrgast, zwischen Verwaltungsfachangestelltem und Bürger. Normalerwei-
Die erste große Liebe des Menschen 83
se wird man nicht damit rechnen, dass der Taxifahrer seinem Fahrgast mit tiefem persönlichen Groll begegnet oder der Klient seinem Anwalt inbrünstige Liebeserklärungen macht. Und doch kann man es nicht vermeiden, dass selbst in bürokratischen Strukturen sich im Laufe der Zeit Beziehungen mit einem emotionalen Gehalt entwickeln, wenn die Beteiligten über einen längeren Zeitraum gemeinsam an Aufgaben und Projekten arbeiten. Das hat schon Max Weber, der vom Segen bürokratischer Institutionen überzeugt war, in seinem soziologischen Grundlagenwerk Wirtschaft und Gesellschaft anerkannt. Obwohl er ein zweckrationales Modell entwickelt hat, gestand er ein, dass es sich auch in einer optimal organisierten Bürokratie nicht vermeiden ließe, dass zwischen den dort arbeitenden Menschen Bindungen, Beziehungen und damit Emotionen entstehen. Um verstehen zu können, wo der Ursprung der Bindung liegt, oder anders ausgedrückt, wie ihre Wurzeln verlaufen, müssen wir einen Blick auf das Anfangsstadium des individuellen Lebens, also die ersten Monate und Jahre nach der Geburt werfen. Hier finden wir prägende Interaktionen zwischen Mutter und Säugling, die ausschlaggebend sind für alle Beziehungen, die Menschen später in ihrem Leben haben. Das gilt auch für die Mitarbeiterführung und das Beziehungsmanagement.
Die erste große Liebe des Menschen Hirnscans von Müttern, denen man ein Foto ihres Kindes vorlegt, zeigen, dass genau die gleichen Hirnareale hyperaktiv sind bzw. lahmgelegt werden wie bei Verliebten. Abgeschaltet werden diejenigen Areale, die ansonsten bei Trauer, Angst und negativen Gefühlen aktiv sind. Auf Hochtouren laufen dagegen die Regionen im limbischen System und dort insbesondere im Belohnungszentrum, die Glücksgefühle auslösen. Für ein gerade auf die Welt gekommenes Baby ist es von existenzieller Bedeutung, dass es das Gehirn seiner Mutter genau in diesen besonderen Zustand versetzen kann. Denn mit seiner Geburt „muss es auf seine Vertreibung aus dem Garten Eden vorbereitet sein. Vom hormonell mächtigen, sicher
84 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung verschanzten … Bewohner des mütterlichen Körpers reduziert sich sein Status auf den eines armen, nackten zweibeinigen Bettlers, der noch nicht einmal auf eigenen Beinen stehen kann“. (Hrdy, 2002, 591) Als sogenannte „extrauterine Frühgeburt“ sind Menschenbabys besonders hilflos und deshalb ganz besonders von der Unterstützung und Hilfe anderer abhängig. Wie die Verliebtheit die Partner der beiden Geschlechter zusammenführt, so setzt die Liebe zwischen Mutter und Kind diese beiden in Beziehung zueinander. In beiden Fällen kommt es zu einer dramatischen Veränderung der Hormonkonzentration, insbesondere bei Oxytocin und Vasopressin, sowie zur Ausschüttung von so genannten Glücksbotenstoffen oder Endorphinen. Dieses mächtigen emotionsauslösenden Schalters bedient sich die Evolution, um das wichtigste Programm für das Überleben überhaupt zu initiieren: die primäre Bindung zwischen der Mutter und ihrem Kind.
Sympathie erzeugen: Das evolutionäre Attraktivitätsprogramm Mutter Natur hat das Aussehen von Babys so attraktiv gestaltet, dass die Eltern geradezu auf ihr neugeborenes Kind fliegen. Das erschwert die mögliche Ablehnung durch die Mutter erheblich, steht dieser doch nicht nur ein körperliches, sondern auch ein verhaltensorientiertes Bündel an Maßnahmen seitens des Babys gegenüber. Die zentrale Strategie des neuen Erdenbürgers besteht darin, der Mutter zu gefallen, sie muss genau das tun, was auch Verliebte tun, nämlich ihr Herz an ihn verlieren. Denn er ist verletzlich, nackt und hungrig, muss warm gehalten und gestillt, getragen und gehalten, gestreichelt und angesprochen werden. Mit anderen Worten: Er muss es irgendwie schaffen, die Sympathie seiner Mutter zu gewinnen und von ihr angenommen werden, denn nur so werden ihm die notwendige intensive Zuwendung und andauernde Fürsorge zuteil. Mit ihrem eigenen Charme bezaubern die Kleinsten ihre Eltern, es handelt sich um eine ganze Reihe von Signalen, die bei ihnen positive emotionale Reaktionen hervorrufen. Da ist zunächst einmal der Babyspeck: Die Pumme-
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ligkeit eines „Wonneproppens“ zeigt seine Überlebenstüchtigkeit an. In allen Kulturen werden Neugeborene unter anderem auf ihr Gewicht hin untersucht, denn es liefert einen wichtigen Hinweis auf die Aussichten für eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung. Wohlgenährt-Sein ist also eine Art Werbung in eigener Sache, die anzeigt, dass die neunmonatige Investition der Mutter einen viel versprechenden Nachkommen hervorgebracht hat, der sich prächtig weiterentwickeln wird, wenn er ihre Unterstützung und Zuwendung auch nach der Geburt erhält.
Abbildung 10:
Sympathie
Durch bestimmte vorprogrammierte Verhaltensweisen ihres Gegenübers werden bei der Mutter wahre Glücksgefühle ausgelöst; es ist das erste Lachen, wenn das Baby den Blick der Mutter erhascht hat. Dies ist der Auftakt zu einem langfristigen Prozess, in dem sich die beiden intensiv kennenlernen. Sobald das Baby die Mutter spontan anlächelt, gibt es kein Halten mehr. Einem solch reizvollen Wesen kann man sich gar nicht verschließen. Es löst sympathische Gefühle aus, nimmt die Angelachte ganz und gar ein und löst beinahe reflexartig aus, dass die Mutter zurücklächelt.
86 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung Darüber hinaus existieren weitere Signale, die für eine vollkommene und langfristige Akzeptanz durch die Eltern plädieren. Pausbäckchen und hohe Stirn lassen Säuglinge niedlich und süß erscheinen. Dieses Kindchenschema trifft auch auf etliche neugeborene Tiere zu, wie das mediale Interesse an den in deutschen Zoos von Hand aufgezogenen Eisbären deutlich zeigt. Es kommt für die Babys darauf an, angenommen zu werden; zuallererst von der Mutter, den Eltern. Ihre Sorge und Pflege garantieren es dem Neugeborenen, all die Unterstützung und Zuwendung zu bekommen, die notwendig ist, um sich zu einem selbständigen leistungsfähigen Erwachsenen zu entwickeln. Wer es allerdings, wie die Eisbärenjungen Knut und Flocke geschafft hat, eine stabile Bindung zu den Medien aufzubauen, der ist zum Star geworden und braucht nicht einmal mehr seine Mutter, um überleben zu können. Drei bis vier Tage nach der Geburt verändert sich etwas grundlegend, denn nun setzt der für Säugetiere typische Milchfluss der Mutter ein. Da ihr das Baby im Normalfall körperlich nahe ist – es ist, wie Hassenstein sagt, ein Tragling – muss es lediglich seinen Such- und Saugreflex einsetzen, damit die bereits aufgebaute Beziehung zur Mutter ihm nunmehr das gibt, worauf es vor allem angewiesen ist: verwertbare Nahrung in Form der Muttermilch. Dabei kann man als Außenstehender klar erkennen, dass es eine Passung gibt von Nahrungsbedarf des Kindes und der Fähigkeit/Bereitschaft zu ernähren seitens der Mutter; dem Bedürfnis des Kindes, betreut werden zu wollen, entspricht das Bedürfnis der Mutter zu betreuen. Durch das Stillen des Babys verändert sich die Mutter ungemein stark, und zwar in emotionaler, hormoneller und physiologischer Hinsicht. Der Spiegel des Stresshormons Cortisol sinkt, was auch zur Absenkung des Blutdrucks führt. Gleichzeitig setzt die Hypophyse das als Liebes-, Kuschel- oder Vertrauenshormon bezeichnete Oxytocin frei. Dies wirkt zugleich beruhigend und euphorisierend; es löst in dieser Dosis die Bereitschaft der Mutter aus, sich in das Kind zu verlieben und eine langjährige innige Beziehung mit ihm einzugehen. Es ist dasselbe Hormon, das auch dafür sorgt, dass die Wehen einsetzen, und das bei der Austreibungsphase des Säuglings verstärkt ausgeschüttet wird. Die Euphorisierung wirkt dem Geburtsschmerz entgegen und löst zugleich ein Gefühl der Zuwendung für den „unter Schmerzen geborenen“ neuen Erdenbürger aus.
Sympathie erzeugen: Das evolutionäre Attraktivitätsprogramm 87
Im Zusammenspiel mit den Schwangerschaftshormonen löst das Oxytocin offenbar eine Neuorganisation eines Areals im Zwischenhirn der Mutter aus, welche die zentralnervliche Voraussetzung dafür schafft, dass sie eine intensive Bindung mit ihrem Kind eingehen kann. Dass dies aufgrund der Oxytocinausschüttung mit intensiven Lustgefühlen belohnt wird, verstärkt das auf die Bindung mit dem eigenen Kind ausgerichtete Empfinden und Verhalten der Mutter. Damit ist der Anfang gemacht, etwa so, wie wenn das Steckteil eines Reißverschlusses korrekt in das Kastenteil eingefügt wurde. Doch nun muss der Schieber nach und nach hinaufgezogen werden, damit sich die vielen kleinen Zähnchen zu einer stabilen tragfähigen Bindung zusammenfügen. Sympathie spielt im täglichen Leben eine große Rolle. Das bemerkt man vor allem in Situationen, in denen ein Stück Wohlwollen des Gegenübers dringend benötigt wird; z. B. als Referent, der vor einer größeren Zuhörerschaft eine Rede halten muss. Die Metro Group hatte Hauptschul- und Berufsschullehrer der gesamten Region eingeladen, um ihnen die Ausbildungsmöglichkeiten im Konzern vorzustellen, die für die Abgänger dieser Schultypen von Interesse sein könnten. Ich wurde als Experte zum Thema „Lust am Lernen“ zu einem Talk mit dem Personalvorstand eingeladen. Das Ganze sollte von der Entertainerin Anke Engelke moderiert werden. In der Vorbereitung der Themen und Dialogabfolgen gab es immer wieder Veränderungen. Kaum war eine Version fertiggestellt worden, wurden schon wieder neue Änderungswünsche geäußert. Am Abend vor der Veranstaltung, als alle Beteiligten dachten, die abschließende Version schließlich zustande gebracht zu haben, wurde wieder alles über den Haufen geworfen, und jetzt war Nachtarbeit angesagt. Automatisch schob ich das Hin und Her auf die Moderatorin: Sie will eine fernsehtaugliche, perfekte Inszenierung, so war mein Gedanke, und ich begann, einen Groll wegen der daraus entstehenden Beschwernisse zu spüren.
88 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung Deshalb betrat ich am nächsten Morgen die für über 700 Personen perfekt vorbereitete Messehalle leicht reserviert. Frau Engelke war mit dem Vorstand bereits auf der Bühne und machte eine Sprechprobe. „Wegen ihrer ständigen Änderungswünsche hast du dir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen“, ging es mir durch den Kopf. Als der Regisseur mich sah, stellte er uns einander vor. Ich traf auf eine frische, offene und freundlich lächelnde Frau ohne jede Starallüre. Sie fragte interessiert nach meinem Beruf und wollte spontan Erziehungsratschläge für den Umgang mit dem pubertierenden Sohn ihres Mannes haben. Da mein Sohn im gleichen Alter ist, hatte sie spontan ein gemeinsames Thema angesprochen, das beide persönlich bewegte und für einigen Gesprächsstoff sorgte. Weil Frau Engelke so sympathisch war, verflog meine Verstimmung im Nu, und als ein Vorstandsassistent die letzte Version des Talks in Form von frisch gedruckten Moderatorenkarten hereinreichte, wurde mir klar, dass die Moderatorin überhaupt nicht für die ständigen Neuanpassungen der Textpassagen verantwortlich war, was ich die ganze Zeit über jedoch vermutet hatte. Als sie mich danach auf die Bühne rief, führte sie mich etwa mit folgenden Worten bei dem großen Publikum ein: „Zu diesem Thema haben wir einen Experten eingeladen“, ich stieg die Treppenstufen hinauf, „Ja, es ist dieser junge Mann“, ich bin Mitte vierzig, „mit dem Knopf im Ohr und der lustigen Fliege“, mir wurde heiß und kalt, weil ich mich zum Objekt ihrer Komik gemacht fühlte. Dann fügte sie hinzu: „Ich hatte Gelegenheit, mit ihm über Erziehungsfragen zu sprechen, denn wir haben beide pubertierende Söhne“, jetzt konnte ich wieder durchatmen. Indem sie das verbalisierte, was die meisten nur denken, wenn sie jemanden auf die Bühne steigen sehen, hat sie eine Nähe zwischen Auditorium und Redner hergestellt. „Knopf im Ohr“ und „lustige Fliege“ lassen den Experten nicht in den Elfenbeinturm entschwinden, sondern verbinden den Gesprächsgast mit den Zuhörern auf einer persönlichen Ebene. Das wurde noch durch die Anmerkung über die pubertierenden Söhne verstärkt: also nicht nur einer, der professionell und theoretisch was zu sagen hat, sondern der selbst auch betroffen ist. Hier wird man zum Menschen unter anderen Menschen.
Sympathie initiieren: Der Auftakt für Mitarbeiterbeziehungen 89
Frau Engelke hat sowohl in der persönlichen Beziehung als auch in der Plenumsvorstellung die wichtigen Faktoren der Sympathie aktiviert: nämlich Ähnlichkeit und Nähe hergestellt, Kompetenzen angesprochen, durch ihre Art des frisch-frechen Auftretens eine angenehme erwartungsvolle Atmosphäre geschaffen, die beste Voraussetzung für einen Expertentalk.
Sympathie initiieren: Der Auftakt für Mitarbeiterbeziehungen Was haben das Lächeln von Säuglingen, das Kindchenschema und die lustige Fliege mit unseren täglichen Beziehungen und Bindungshandlungen zu tun? Und vor allem: Ist es nicht ein bisschen weit hergeholt zu vermuten, dass sich derartige Faktoren auf Mitarbeiterführung und Beziehungsmanagement auswirken? Wenn es um Kunden geht, stellt sich diese Frage nicht, im Gegenteil, dort werden seit langem umfassende Programme zur Kundenbindung angewandt. Und diese haben auch einen Überbegriff gefunden: Customer Relationship Management, kurz CRM genannt. Dort lernen die Verkäufer Verhaltensregeln wie aktiv, aber nicht aufdringlich auf den Kunden zugehen; in die Augen blicken, lächeln nach dem Motto „Selling with a smile“; freundlich Kontakt aufnehmen; höflich ansprechen mit dem Angebot, bei der Auswahl zu helfen ... Man würde den Vergleich zwischen Kundenbindung und Mutter-Kind-Bindung zugegebenermaßen überstrapazieren, wenn man die Gutschrift von Bonuspunkten oder Prämienmeilen auf der Kundenkarte mit dem Fluss der Muttermilch gleichsetzen wollte. Aber ganz von der Hand zu weisen ist das trotzdem nicht. Für das Unternehmen steht der Kunde ganz ähnlich im Mittelpunkt des Interesses wie für die Mutter ihr Baby. Deshalb bemüht man sich auch so sehr darum, am Anfang des Verkaufsprozesses durch freundliche Gesten und Handlungsweisen die Sympathie des Kunden zu gewinnen. Damit ist zwar noch nichts verkauft, aber ein möglicherweise vielversprechender Auftakt geschaffen.
90 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung In den Köpfen vieler Manager herrscht hinsichtlich der Mitarbeiter ein ganz anderes Bild: Sie hätten schließlich einen Arbeitsvertrag unterschrieben und müssten ihn nun auch erfüllen. Dies zu kontrollieren, sei daher die wichtigste Führungsaufgabe. Das ist etwa so, als ob Partner, die einen Ehevertrag geschlossen haben, nun auf die Einhaltung des Vollzugs ehelicher Pflichten pochen. Aber genauso wenig, wie man Erotik verordnen kann, ist es möglich, Mitarbeiter zu freiwillig erbrachter Leistung zu zwingen. Die langjährig stabilen Zahlen von Gallup u. a. zeigen deutlich, dass trotz ausgefeiltester Arbeitsverträge und aufwendiger Kontrollverfahren bei ca. 80 Prozent aller Mitarbeiter in deutschen Unternehmen die Verhaltenskategorien „Dienst nach Vorschrift“ und „innere Kündigung“ vorherrschen. Diesem völlig inakzeptablen Zustand kann man gerade durch Beziehungsmanagement begegnen, aber wie? Der notwendigen Kontrollfunktion muss der Faktor Bindung hinzugefügt werden. Wie bei der Mutter-Kind- und bei der Kundenbindung exemplarisch beschrieben, beginnt Bindung prinzipiell mit Sympathie. Es klingt für viele Manager vielleicht ungewöhnlich, aber Eigeninitiative, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsübernahme legen die Mitarbeiter dann an den Tag, wenn sie sich persönlich von ihrem Vorgesetzten wahrgenommen, angesprochen und anerkannt fühlen, wenn sie sich als Mitglied eines echten Teams empfinden und wenn sie Gestaltungsspielräume und Entwicklungsperspektiven in ihrer eigenen Domäne haben. Die Grundlage dafür ist die Qualität in der Beziehung zwischen Chef und Mitarbeiter und unter den Kollegen. Wenn eine Führungskraft das weiß und gemeinsam mit dem eigenen Team Erfolg haben will, kann sie als Verantwortlicher gar nicht anders, als die Bindung zu den direkt unterstellten Mitarbeitern aktiv von sich aus aufzubauen. Und da sollten Sie mit der Sympathie anfangen, denn sie steht am Anfang eines jeden Bindungsprozesses.
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Was müssen Sie tun, um Sympathie zu erzeugen? Es sind folgende Faktoren, die Sie unbedingt berücksichtigen sollten: X X X X X X
X
Gehen Sie mit einer wohlwollenden und offenen Grundhaltung auf den Mitarbeiter zu. Schauen Sie ihm aufmerksam und interessiert in die Augen. Anstarren gilt nicht. Das kann vom Gegenüber auch als Drohung verstanden werden. Sprechen Sie Ihren Mitarbeiter direkt und freundlich an. Lassen Sie ihn auch zu Wort kommen. Geben Sie in angemessener Art und Weise auch persönliche Informationen. Machen Sie ein freundliches Gesicht, ohne sich dabei zu verstellen. Lächeln Sie! Zeigen Sie bei aller Individualität in Ihrer äußeren Erscheinung, in Auftreten, Kleidung und Sprache, dass Sie ein Teil des Ganzen sind und dazugehören. Bringen Sie sich in Ihrer Führungsrolle mit Ihren Kompetenzen ein und zeigen Sie gleichzeitig Hilfsbereitschaft gegenüber den Mitarbeitern.
Die emotionale Intelligenz muss in jedem Fall die Richtschnur sein für die eigene Glaubwürdigkeit, gerade in einem so ungewohnten Verhaltensbereich wie der Sympathieanbahnung im professionellen Umfeld der Mitarbeiterführung. Niemand soll zum Dauerlächler mutieren oder fortan als Sonnyboy durch die Büroflure schreiten. Aufgesetztes, zwanghaftes Lächeln wirkt, wie Verkaufspsychologen herausgefunden haben, sogar eher abschreckend als attraktiv. Das bedeutet: Ein geheuchelter Ausdruck der Sympathie ist kontraproduktiv. Sympathie kann man nicht erzwingen oder anordnen, Manager können aber in Vorleistung gehen und ihren Mitarbeitern das Angebot machen, die Beziehung zueinander aufzubauen. Das lohnt sich, weil damit zu rechnen ist, dass dieses Angebot in den meisten Fällen angenommen wird. Es handelt sich um ein evolutionär stabiles Verfahren. Denn wenn es den Beteiligten gelingt, Sympathie füreinander zu empfinden, so ist das ein hoffnungsvoller Auftakt dafür, dass die Bindungsbemühungen auf fruchtbaren Boden fallen, wie die stabile Entwicklung in der Mutter-Kind-Bindung deutlich macht.
92 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung
Graphik 4: Bindungsfaktor Sympathie
Persönlich kennen(-lernen): So wächst Bindung Sobald der erste Schritt getan ist und das Kind von der Mutter emotional angenommen wurde, wenn „die Chemie“ stimmt und eine grundsätzliche Akzeptanz hergestellt worden ist, dann geht es erst richtig los. Babys und ihre Mütter sind darauf programmiert, in einem etliche Monate währenden intensiven Dialog jene Geborgenheit und Stabilität für ihre Beziehung zu legen, die den Kleinen fortan als sichere Basis dient. So hat jedenfalls der
Persönlich kennen(-lernen): So wächst Bindung 93
Vater der Bindungsforschung John Bowlby jene stabile Bindung der Kinder zu ihren Eltern genannt; von ihr geht die gesamte weitere Entwicklung aus und später auch die Fähigkeit und Bereitschaft, die Welt aktiv zu erkunden. Als sich der britische Psychiater vor mehr als 60 Jahren mit jugendlichen Straftätern beschäftigte, konnte er nicht ahnen, dass dies der Ausgangspunkt einer völlig neuen Disziplin, nämlich der Bindungsforschung, werden sollte. Bowlby hatte bei seinen jungen Delinquenten abweichende emotionale Reaktionen wie Apathie, Passivität und Gefühlslosigkeit festgestellt. Seiner Vermutung nach teilten die von ihm betreuten jungen Menschen ein gemeinsames Schicksal: Sie hatten, vermutete der Psychiater, in ihrer frühesten Lebensphase eine nachhaltige Störung in der Bindung zu ihren Müttern erlitten. Diese Mutter-Kind-Bindung entwickelte sich dann zum Kristallisationspunkt der neuen Disziplin. Denn von ihrer Qualität und Stabilität hängt, wie wir heute wissen, sehr viel mehr ab als nur der eigene Bindungsstil, den Menschen im Verlauf ihres weiteren Lebens ausbilden. Vielmehr sind Hirnentwicklung, Lern- und Problemlösungsfähigkeit, soziale Kompetenzen und Kooperationsfähigkeit, Selbstwertgefühl und andere Eigenschaften in starkem Maße von der Qualität und Verlässlichkeit der frühen Bindung zwischen Mutter und Kind abhängig. Dabei entwickeln sich diese Eigenschaften besser, wenn die Bindung als sicher erlebt wird. Ist die Bindung aber nicht verlässlich, sondern unsicher, dann wird die Entwicklung dieser positiven Eigenschaften behindert und gestört. Inzwischen konnten diese durch Verhaltensbeobachtung gewonnenen Erkenntnisse durch bildgebende Verfahren bei der Erforschung des Gehirns bestätigt und erweitert werden. Der Neuropsychologe Allan Schore hat in seinen Untersuchungen gezeigt, dass in den ersten beiden Lebensjahren nicht nur die adäquate Ernährung sondern, auch die emotionale Synchronisation, eine Art vorsprachlicher sensibler Dialog zwischen Mutter und Kind, das Gehirnwachstum des Babys ganz wesentlich unterstützt. Dabei spielt der Gesichtsausdruck der Mutter, der durch Aufmerksamkeit und Zuwendung gekennzeichnet ist, eine zentrale Rolle: Schon ab dem zweiten Lebensmonat ist das Gesicht der Mutter der wichtigste visuelle Reiz für den Säugling überhaupt. Im wiederholten gegenseitigen Anblicken synchronisieren Mutter und Kind ihre emotionalen Befindlichkeiten und beginnen, die jeweils eigene Gefühlswelt mit dem ande-
94 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung ren zu teilen; das Ganze spielt sich sehr dynamisch, oft in Sekundenbruchteilen ab. So wird das Gegenüber im Laufe der Zeit und des sich immer besseren gegenseitigen Kennens zum echten Partner in einer intuitiven und zugleich emotional intensiven Stimm-, Gesichts- und Gestenkommunikation. Dabei kommt es immer wieder zu intensiven Phasen des Einklangs in der Gestimmtheit von Mutter und Kind.
Abbildung 11:
Persönlich kennen
Kommt es aufgrund mangelnder Anpassung seitens der Mutter einmal zu einem kurzfristigen Abbruch der Synchronisation, so schenkt die Mutter den darauf folgenden Protestäußerungen ihres Babys besondere Beachtung. Durch diese „interaktive Reparatur“ lernt das Kind, dass es den negativen Emotionen bei einer kurzfristigen Unterbrechung der Bindung nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern dass sie in der sensiblen Wiederaufnahme des Kontakts verarbeitet werden können. So löst die Synchronisierung der Affekte Lust und Wohlbefinden aus. Die interaktive Reparatur hilft dabei, die Unlust des aus dem Takt gekommenen Dialogs zu ertragen, weil das Kind dabei erfährt, dass das unangenehme Gefühl rasch wieder vergeht, wenn ein erneu-
Beziehungsarbeit: Sich um die Mitarbeiter bemühen 95
ter Kontakt mit der einfühlsamen Mutter zustande kommt. Höchstwahrscheinlich liegt hier der Ursprung für Trost, Aufmunterung und Zuspruch.
Beziehungsarbeit: Sich um die Mitarbeiter bemühen Wenn eine Meinungsverschiedenheit oder ein Streit dazu geführt hat, dass man sich innerlich von einem bislang nahestehenden Menschen distanziert hat, so gibt das in den meisten Fällen den Anlass dazu, sich über die Beziehung Gedanken zu machen. Sie wird ganz offensichtlich nicht mehr als selbstverständlich empfunden. Man überdenkt, wie sie zustande gekommen ist und sich entwickelt hat, hinterfragt insbesondere die Ursache des Streits und bemüht sich um den anderen, um die Beziehung zu ihm wieder in Ordnung zu bringen. Denn normalerweise ist sie für den Betreffenden trotz der vorausgegangenen Auseinandersetzung immer noch wichtig und wertvoll. Nun geht es darum, den Knacks zu kitten, die Beziehung zu pflegen, dem Freund oder Kollegen Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenzubringen, ohne dabei allerdings das infrage stehende kontroverse Thema langfristig totzuschweigen. In etlichen Workshop-Angeboten mit dem Thema „Umgang mit Konflikten“ werden Instrumente und Checklisten angegeben, wie der Betroffene bei Konflikten vorgehen soll. Dass die wichtigste Voraussetzung für die Lösung eines Konflikts darin besteht, vor der Auseinandersetzung eine gefestigte Bindung aufgebaut zu haben, wird leider meistens unterschlagen. Ich möchte diese Unterlassung zum Anlass nehmen, die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Konfliktbewältigung zu skizzieren. Wie im Prozess der Mutter-Kind-Bindung ist es absolut notwendig, dass zunächst eine emotionale Synchronisation entwickelt wird, ehe man eine aus dem Takt geratene Beziehung interaktiv reparieren kann. Das gilt sowohl für das persönliche Umfeld wie auch im professionellen Teamwork. Eine Führungskraft wird sich im Allgemeinen schwer damit tun, Mitarbeiter zu kritisieren, Konflikte auszutragen, Auseinandersetzungen zu führen, wenn sie
96 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung sich nicht zuvor um die Beziehungen zu den direkt geführten Mitarbeitern bemüht hat. Um das zu realisieren, muss man die Konflikte lange vor ihrer Entstehung behandeln, indem der Vorgesetzte das tut, was eine Mutter mit ihrem Kind macht, nämlich sich ansatzweise mit den Mitarbeitern emotional zu synchronisieren. Übertragen auf die Führung bedeutet das, aktiv zum Ausdruck zu bringen, was man am anderen und an seinem Verhalten als sympathisch und positiv empfindet. Das geschieht in Form von Anerkennung und Wertschätzung, in jedem Fall aber in Form von offener, wohlwollender Rückkopplung.
Graphik 5: Bindungsfaktor persönlich kennen
Beziehungsarbeit: Sich um die Mitarbeiter bemühen 97
Häufig bleibt die Entwicklung der gegenseitigen Beziehung nämlich bei Schritt eins stehen: Man nimmt den anderen wahr, schätzt bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen an ihm ... und behält diese positive Einschätzung schließlich für sich. Dadurch bleibt man ihm jedoch ein Stück weit unbekannt, denn so kann er nicht richtig einschätzen, wie man zu ihm steht. Erfährt er dagegen Anerkennung in zutreffender Form und im rechten Augenblick, dann spürt er die Aufmerksamkeit und die wohlwollende Grundhaltung seines Gegenübers. Das vermittelt die persönliche Grundbotschaft: „Ich will nicht mit dir konkurrieren, sondern erkenne dich als Mitglied in unserem Team an.“ Für die Zusammenarbeit bedeutet das: „Wir können auf der Grundlage stabiler Beziehungen getrost ins gemeinsame Projekt starten.“ Und: Vor allem vor dem Hintergrund persönlich gefestigter Beziehungen kann man auch sachliche Auseinandersetzungen „konstruktiv“ führen. Dieses Attribut „konstruktiv“ wird bei Konflikten und Kritikäußerungen immer deshalb besonders hervorgehoben, weil die Auseinandersetzungen erfahrungsgemäß meist destruktiv enden: mit Distanzierungen, Demotivation, Wut, Hass oder sogar Rachegedanken. Wie der Aufbau von Sympathie, so gehört auch dieses Sich-Bemühen-umden-anderen für Manager leider noch nicht auf die Tagesordnung. Es ist auch keine leichte Übung, und das kommt daher, dass Anerkennung und der dadurch empfundene Sieg genauso wie Kritik in den Bereich der Aggression gehört. Die damit verbundene gegenseitige aktive Positionszuschreibung innerhalb einer (gedachten) Rangordnung wirkt auf die Beteiligten emotional aufwühlend, weil man den Anerkannten bzw. Kritisierten von der subjektiven Wahrnehmung und Empfindung her innerhalb der hierarchischen Stufenleiter anhebt bzw. herabstuft. Von Vorteil ist es, wenn die Beteiligten im Vorfeld ihre Beziehungen zueinander so gefestigt haben, dass die mit Anerkennung und Kritik verbundenen aktuellen gegenseitigen Positionszuschreibungen das gemeinsame Handeln weder stören noch gefährden. Dass dabei die Synchronisierung der emotionalen Zustände eine wichtige Rolle spielt, bemerkt man nicht nur an der unwillkürlichen Stimmungsübertragung in Teams und Abteilungen. Das Verstehen ohne Worte ist ja gerade in der entscheidenden Phase der Zusammenarbeit von zentraler Bedeutung. Wenn die Teammitglieder nicht nur im
98 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung Sachthema kompetent sind, sondern auch über stabile Beziehungen untereinander verfügen, funktioniert selbst ein komplexer Informationsaustausch ohne lange Diskussionen, wenn es darauf ankommt. Ganz offensichtlich besteht auch in der zahlen- und faktenorientierten Welt des Business ein erhebliches Bedürfnis nach Bindung, Austausch und gegenseitiger Unterstützung, nach offener Kommunikation und persönlicher Wertschätzung. Die Qualität in der sachlichen Zusammenarbeit kann nur so gut sein, wie die Kooperateure sich kennen und beieinander sind. Das ist beileibe keine sozialromantische Utopie, denn wenn die Bindung nicht stimmt, muss diese immer wieder überprüft, gesichert und kontrolliert werden, was Energie und Aufmerksamkeit vom eigentlichen Projekt abzieht. Kommt man nicht zusammen, gehen die Bemühungen nämlich dahin, sich abzugrenzen, den anderen zurückzuweisen, mit Drohgebärden einzuschüchtern, Imponiergehabe zu zeigen ... Hier kann man die seltsamsten Interaktionen beobachten: Im erweiterten Geschäftsleitungskreis der Niederlassung einer Privatbank war der neue Risk-Manager Jan Felder schon seit einem knappen Jahr assoziiertes Mitglied. Er nahm inzwischen regelmäßig an den Sitzungen des Kreises teil und ließ seit einigen Wochen keine Zusammenkunft aus, um mit Piet van Hoelderschlundt kleinere Scharmützel auszutragen. Er war der langjährige Leiter des Kreditgeschäfts für Firmenkunden, der zwei Jahre vor seiner Pensionierung stand. Der ambitionierte junge Risk-Manager wollte unbedingt das neue Computerprogramm für Risikobewertungen einführen, das nach einer ersten erfolgreichen Testphase in der Zentrale der ausgewählten Niederlassung zur weiteren Praxiserprobung angeboten wurde. Zunächst hatte van Hoelderschlundt nichts gegen die probeweise Einführung des neuen Systems. Das änderte sich aber, als Jan Felder die bisherige Form der Risikobewertung, insbesondere bei der Kreditvergabe an Geschäftskunden grundsätzlich in Frage stellte. Die Berechnungsgrundlagen würden nicht den aktuellen Parametern entsprechen, die Vorgaben von Basel II seien nicht vollständig erfüllt und die Ausfallversicherung sei viel zu hoch dimensioniert. Das neue Computerprogramm berücksichtige all diese Fak-
Beziehungsarbeit: Sich um die Mitarbeiter bemühen 99
toren und könne sowohl zur Kostenreduzierung als auch zur Risikominimierung einen wichtigen Beitrag leisten. Nachdem er in den vorausgegangenen Sitzungen gar nicht abgeneigt von dem neuen Programm war, im Lauf der Zeit aber bemerkte, dass Felder immer aggressiver dessen Einführung betrieb und dazu noch ihn in seinem angestammten Kompetenzfeld anging, reagierte van Hoelderschlundt eines schönen Sitzungstages sarkastisch. Mit der vor sich hingemurmelten Bemerkung „Computerknecht ohne jede Kundenkompetenz“ wies er die Einführung des neuen Risk-Programms aus der Zentrale pauschal zurück. Schließlich kenne er seine Geschäftskunden seit vielen Jahren, könne deren Entwicklung, die Vermögenswerte und vor allem die Unternehmer selbst und deren Familien sehr genau einschätzen. Was wolle ihm da ein grüner Junge frisch von der Uni weg eigentlich über das Geschäft sagen, das er schon über viele Jahre hinweg erfolgreich betreibe. Da bekam Jan Felder ein rotes Gesicht; schlagartig wurde ihm bewusst, dass er vor lauter Sache, die er verfolgte, die Menschen vergessen hatte, auf die er in der Zusammenarbeit angewiesen war. Er hatte eindeutig überzogen, und der ansonsten eigentlich ruhige und jovial auftretende Leiter des Kreditkundengeschäfts drohte nun zu seinem Gegner zu werden. Deshalb und weil er den alten Platzhirsch gar nicht in seiner Domäne angehen wollte, verkniff er sich eine Erwiderung auf die herabsetzende Äußerung. Es ging jetzt darum, die Beziehung zu van Hoelderschlundt wieder in Ordnung zu bringen, wenn er die Sache retten wollte. „Es tut mir leid“, sagte Felder, „ich glaube, ich habe vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr gesehen. Natürlich ist Ihre Erfahrung wichtig, die Niederlassung hat einen gewichtigen Teil ihrer Umsätze und Gewinne gerade in dem von Ihnen verantworteten Geschäftsbereich gemacht. Das wollte ich damit, dass ich mit der Einführung des neuen Risk-Programms so sehr gedrängt habe, auch gar nicht infrage stellen. Wenn das bei Ihnen so rüber gekommen ist, möchte ich mich dafür entschuldigen.“
100 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung Nach einer Pause von mehreren Sekunden hob von Hoelderschlundt seinen Blick und schaute Felder direkt in die Augen. „Hoppla, da haben Sie eben aber etwas Wesentliches begriffen!“ Erst beim nächsten Treffen der beiden anlässlich einer Kundenpräsentation nahm der Abteilungsleiter das Gespräch wieder auf, indem er den Vorschlag machte: „Begleiten Sie mich doch zu meinem nächsten Geschäftstermin mit dem Kranbauer Krone. Wenn Sie die Informationen aus diesem Gespräch in Ihrem Computerprogramm abbilden können, wäre es vielleicht einen Versuch wert.“
Die oben geschilderte Begebenheit zeigt, dass eine Auseinandersetzung erst dann wirklich beendet ist, wenn die Beteiligten persönlich aufeinander zugehen und dadurch die Versöhnung aktiv einleiten. Erst wenn beide Seiten die gegenseitige Wertschätzung ehrlich und glaubwürdig zum Ausdruck gebracht haben, können sie wieder gemeinsam handeln. Was müssen Sie grundsätzlich tun, um ihre Mitarbeiter persönlich kennenzulernen und die Beziehung zu ihnen zu festigen? Es sind folgende Faktoren, die Sie dabei unbedingt berücksichtigen sollten: X X X
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Gehen Sie nicht vorschnell das große Ziel an, sondern nehmen Sie sich Zeit für den Aufbau und die Festigung der Beziehungen. Seien Sie interessiert und offen für die Lebensumstände, Lieblingsbetätigungen und für die Leistungsbereitschaft Ihrer Mitarbeiter. Geben Sie auch von sich selbst in angemessenem Umfang etwas zu erkennen, denn nur so werden Sie für Ihre Mitarbeiter berechenbar und vertrauenswürdig. Arbeiten Sie mit aktiver Anerkennung und direkter Wertschätzung und unterstützen Sie ein Klima, in dem die Mitarbeiter das auch untereinander tun. Formulieren Sie notwendige Kritik entgegen der landläufigen Meinung „Immer sachlich, nie persönlich“ so persönlich wie möglich und so sachlich wie nötig; auf der Basis von Bindung. Nehmen Sie sich gerade in schwierigen Phasen bewusst wieder Zeit für die Pflege der Beziehungen.
Beziehungsarbeit: Sich um die Mitarbeiter bemühen 101
Noch ein Wort zur Beziehungspflege bei unseren nächsten Verwandten: Schimpansen, aber auch Bärenmakaken groomen sich ein Fünftel ihrer Wachzeit. Das gegenseitige „Lausen“ ist nichts anderes als unmittelbare körperliche Zuwendung. Es stellt Nähe her, löst Entspannung aus und fördert das Wohlbefinden. Groomen entspricht also der Umarmung im Musterverlauf des Bindungsprogramms und ist gleichzusetzen mit der Triebhandlung des Bindungsprogramms. Auch bei der Aggression kommt es zur Annährung der Kontrahenten, aber nicht zum Zweck der Umarmung, sondern hier besteht die Triebhandlung im Kampf der Rivalen. So wie nicht jeder mit jedem kämpft, wird auch nicht willkürlich quer durch die Affenhorde gegroomt. Es gibt Individuen, die sich in ihrer Beziehung näher stehen; sie betreiben auch häufiger die soziale Fellpflege untereinander. Man kann ein regelrechtes Soziogramm einer Affengesellschaft zeichnen, wenn man beobachtet, wer wen wie oft und wie lange groomt. Wie bereits erwähnt, die genannten Arten verwenden 20 Prozent ihres Tages auf diese Form der Pflege ihrer sozialen Beziehungen. Das hat über die Beziehung selbst hinaus vielfältige positive Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Gemeinschaft, die Sicherung der inneren Ruhe, die Schlichtung von Streit und der Beendigung von internen Kämpfen. Kurz: Die Beziehungsarbeit schafft die Voraussetzungen für ein friedliches und gedeihliches Miteinander, für die Beilegung von Auseinandersetzungen und dafür, gemeinsam handeln zu können. Im Vergleich dazu sind Unternehmenslenker hierzulande Waisenknaben, wie eine Studie über das Beziehungsmanagement zeigt, die von der Akademie für Führungskräfte in Bad Harzburg durchgeführt wurde. Obwohl 83 Prozent dem Beziehungsmanagement eine hohe Bedeutung beimessen, widmet sich knapp die Hälfte der 242 Befragten für drei Stunden in der Woche (!) der Pflege der Beziehung zu ihren Mitarbeitern. Wenn man von einer Wochenarbeitszeit der Manager zwischen 50 und 60 Stunden ausgeht, dann sind es nur gut 5 Prozent ihrer Tätigkeit, die die Führungskräfte für das Beziehungsmanagement aufbringen. Da graust es den Schimpansen. Wären ihre Alphatiere so bindungslos unterwegs, hätte das sicherlich zur Folge, was in dem Gassenhauer so deutlich benannt wird: „Die Affen rasen durch den Wald, der eine macht den andern kalt ...“
102 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung
Vertrauen: Die sichere Basis Das langjährige Sich-umeinander-Bemühen zwischen Mutter und Kind stärkt die Beziehung und festigt sie zu einer verlässlichen stabilen Bindung, die später die sichere Basis für weitere Aktivitäten und Erkundungen des Kindes darstellt. Das tiefe Empfinden von Verlässlichkeit und Vertrauen ist der dritte Basisfaktor für Bindung, und er weist bereits über die Bindung selbst hinaus. Sobald das Kind mit etwa neun Monaten ins Krabbelalter kommt, erkundet es seine nahe Umwelt ganz aktiv, solange die feste Beziehungsperson anwesend ist. Verlässt diese dagegen den Raum, so stellt das Kind seine Erkundungen ein und bemüht sich darum, die unterbrochene Bindung wiederherzustellen, indem es nach der Mutter sucht oder zu weinen anfängt. Je sicherer das Kind ist, dass die Mutter da ist, je verlässlicher es also die Stabilität der Bindung zu ihr empfindet, desto stärker entwickelt sich sein Erkundungsverhalten. Mit zunehmendem Alter internalisieren Kinder die Beziehung zu ihrer zentralen Bezugsperson und bilden entsprechende Bindungsstile aus. Dabei zeigt sich, dass sicher gebundene Kinder wesentlich lernbereiter und konzentrationsfähiger sind als unsicher gebundene. Denn diese müssen ihre Aufmerksamkeit immer wieder der unsicheren Beziehung zuwenden, sie unter Umständen mühsam wiederherstellen, nach der Bindungsfigur suchen. Wenn es ihnen nicht gelingt, den Status sicherer Bindung wieder aufzubauen, sind sie besetzt von sozialer Unsicherheit und nicht in der Lage, das zu tun, was sicher gebundene Kinder leicht können: sich intensiv mit von außen kommenden Informationen beschäftigen bzw. die Unwelt aktiv erkunden. Die prototypische Beziehung zwischen Kleinkind und Bezugsperson lässt sich auch auf ältere Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen und auf die Beziehungen zwischen Erwachsenen, z. B. auf Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, übertragen.
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„Auch erwachsene Personen benötigen emotionalen Trost, Unterstützung und Sicherheit von vertrauten Personen … Im fortgeschrittenen Alter … [wird] die Bindung … mehr durch emotionale Nähe und vertrauensvolle, offene Kommunikation aufrechterhalten.“ (Gloger-Tippelt, 1999, 11 f.)
Das gilt natürlich auch für die Beziehungen zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter, für professionelle Teams oder für die Zusammenarbeit in der Abteilung, der Geschäftsleitung oder im Aufsichtsrat.
Abbildung 12:
Vertrauen
Unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen wie Bindungsforschung, Neurologie, Entwicklungspsychologie, Soziobiologie haben inzwischen Aufschluss darüber gegeben, wie grundsätzlich dieses Programm in der frühen Kindheit durch Einübung entwickelt werden muss, um die langfristige Fähigkeit für Zuneigung und Liebe und zugleich Kooperativität und Teamfähigkeit auszubilden. Das „Vertrauen haben“ entwickelt sich langsam. Sympathie macht einen verheißungsvollen Anfang. Das Bemühen um den anderen, sich kennenlernen wollen und schließlich sich gut kennen ist der zweite Schritt. In diesem lange andauernden Dialog wird der andere berechenbar, seine Reaktionen
104 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung folgen einem bestimmten Erwartungsmuster, man wird zum Partner des anderen und entwickelt eine Vertrautheit zueinander. Das ist die Voraussetzung für Vertrauen. Vertrauen haben heißt: Selbst wenn ich mich anderen Dingen, Informationen oder Aufgaben zuwende, kann ich gewiss sein, dass die Person, der ich vertraue, meine sichere Basis noch vorhanden und grundsätzlich erreichbar ist, dass ich zu ihr zurückkehren kann, dass sie mich freundlich empfangen und wieder aufnehmen wird.
Anders als in der Mutter-Kind-Bindung, in der das Kind keine Alternative zur primären Bezugsperson hat, können wir den Grad der Nähe zu Nachbarn und Arbeitskollegen selbst bestimmen. Wir prüfen allerdings sorgfältig und achten auf Zeichen der Bindung wie z.B. auf die Sympathie und den Grad, wie zugänglich sich der andere zeigt, wie sehr er sich um die Beziehung bemüht. Wir registrieren aber auch, ob die Regeln des gemeinsamen Handelns eingehalten werden, z. B. Verhaltensweisen wie Zuverlässigkeit, und beurteilen, ob Worte und Taten übereinstimmen. So lernen wir Schritt für Schritt den anderen immer besser kennen. Vertrauen steht am Ende eines Prozesses und ist ein durch Erfahrung geprüftes stabiles Gefühl von Zuneigung und Verlässlichkeit. Vertrauen heißt, sich der Bezugsperson als sichere Basis gewiss zu sein.
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Graphik 6: Bindungsfaktor Vertrauen
Führung: Die sichere Basis für die Mitarbeiter Mit dem Vertrauensbegriff kommen wir zum zentralen Faktor für das Beziehungsmanagement. Denn: Vertrauen liegt in der Mitte des Weges von der emotionalen Verhaltensseite zu den Grundprinzipien des gemeinsamen Handelns. Vertrauen ist eine Gelenkstelle, ein Übergang, der End- und Höhepunkt des Bindungsprozesses. Vertrauen ist zugleich die persönliche Basis
106 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung für das erfolgreiche Zusammenarbeiten zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, in Entscheidungs- und Aufsichtsgremien, in Projektteams und Führungszirkeln. Man kann nicht über Vertrauen reden, ohne an die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009 zu denken. Weitgehend einig sind sich die Betroffenen darüber, dass es sich dabei um eine globale Vertrauenskrise handelt. Kredit kommt vom lateinischen credere, man findet es auch im Glaubensbekenntnis als Credo, und bedeutet ursprünglich nichts anderes als „Ich vertraue darauf, dass du mir das geliehene Geld zurückzahlst“ – fristgerecht und mit dem vereinbarten Zins. Dieses eigentlich einfache Geschäft auf Gegenseitigkeit haben die mit immer komplexeren und ungeheuren Hebeln ausgestatteten neuen Finanzprodukte aus den Angeln gehoben, indem eigens eingerichtete Zweckgesellschaften zweifelhafte Kreditforderungen gebündelt, verbrieft und unter neuen Namen weiterverkauft haben. Dabei wussten weder Verkäufer noch Kunden, welchen Wert diese Papiere überhaupt hatten. Die von immer höheren Renditeerwartungen getriebene Branche profitierte von einer lange anhaltenden Phase wirtschaftlicher Prosperität, die eine andauernde positive Grundstimmung bei Konsumenten und Unternehmen beförderte. Als die künstlich aufgeblähten Immobilienwerte in den USA zusammenbrachen, das Geld knapp wurde, die variablen Zinsen anstiegen und die Schuldner ihren Gläubigern die geforderten Summen nicht zurückzahlen konnten, klappte das ganze darauf aufgebaute Spekulationsgeschäft ohne jede Eigentümerverantwortlichkeit in sich zusammen; und riss die Realwirtschaft in eine Krise epochalen Ausmaßes. Das Gute daran ist, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem mit der Weltwirtschaftskrise seine Grenze ausgelotet hat, ohne bislang daran zugrunde zu gehen. Es handelt sich um eine Selbstvergewisserung, die zugleich deutlich macht, wo Nachsteuerung nottut. Wie sich die nationalen Regierungen über lange Jahre ordnungspolitisch zu sehr zurückgehalten haben, so überzogen sie in der Krise mit Maßnahmen der staatlichen Intervention. Da werden munter Verstaatlichungen vorgenommen und Rettungsschirme in einer scheinbar unendlichen Folge aufgespannt.
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Das fördert langfristig Wettbewerbsverzerrung, Fehlanreize und letztendlich auch Protektionismus. Wer diesen Kredit, den die Politik großzügig der Zukunft entliehen hat, bezahlen soll, das steht noch dahin. Das Schlechte daran ist, dass Vermögen im Bereich eines einjährigen Weltsozialprodukts vernichtet wurden. Wenn nun Bankmanager Billionen vernichten und vor Gericht Boni einklagen, dann wird der Öffentlichkeit vollends klar, dass sie die Bindung zu ihren Mitarbeitern, zu den Kunden, zu ihrem Gewissen, zu Anständigkeit und Ehre schon lange über Bord geworfen haben. Das Gleiche gilt, wenn die Chefs von Krankenkassen sich satte Gehaltserhöhungen genehmigen, während die Beiträge der Versicherten immer weiter steigen und die ersten Hausärzte um ihre Existenz bangen. Der schlechte Ruf des einzelner unverbundener Zocker und ignoranter Mitläufer überträgt sich unversehens auf das ganze Management und auf die wirtschaftliche Führungselite schlechthin. Wie die Bertelsmann-Stiftung in ihrer aktuellen Studie herausgefunden hat, haben 67 Prozent der Bürger gar kein Vertrauen in die Fähigkeiten der Manager, die Herausforderungen in der Krise zu bewältigen. Der Steuerrechtler Paul Kirchhof konstatiert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 1. Juli 2009: „Die Bereitschaft zum Verlust meint immer den Verlust des anderen: des Spekulationsobjekts, der fremden Währung, des Zerschlagungsgegenstands, des Steuerstaats. Die Freiheit wird genutzt, um andere zu schädigen. Eine Fremdschädigung aber ist niemals durch ein Freiheitsrecht gerechtfertigt.“ Wie können die betroffenen Manager das verloren gegangene Vertrauen wieder aufbauen? Da gibt es nur einen Weg: Indem sie Verantwortung übernehmen und persönlich in die konkreten Beziehungen zu ihren Mitarbeitern, Kunden und in die Öffentlichkeit investieren, den direkten Austausch suchen und sich im wahrsten Sinn des Wortes „angreifbar“ machen; damit stellen sie nämlich auf der persönlichen Ebene das her, was den Institutionen nicht mehr zugetraut wird: offen kommunizieren (Welche Bank nimmt z. B. auf ihren Internetseiten ihren Teil der Verantwortung auf sich?) und soziale Sicherheit wiederherstellen (Welcher Manager besitzt die Stärke, ebenso standhaft, klar und in aller Härte zu der Gedankenlo-
108 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung sigkeit und den daraus entstandenen Fehlern zu stehen, die Ärmel hochzukrempeln und dafür zu werben, den Karren gemeinsam aus dem Dreck zu ziehen?). Vertrauen setzt Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit voraus, denn unter diesen Umständen wird deutlich, dass hier nicht eine abgehobene Managerelite agiert, sondern die echte Bereitschaft vorhanden ist, gerecht und zuverlässig wieder eine neue Glaub- und „Kreditwürdigkeit“ zu entwickeln. Schließlich geht es darum, dass alle Beteiligten gemeinsam ein Umfeld der Vertrautheit generieren, das als Grundlage dienen kann, das verloren gegangene Vertrauen wieder aufzubauen.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Hier preise ich nicht ein neues Managementtool aus der Werkzeugkiste der Mitarbeiterführung an. Es geht darum, dass die Führungselite, auch dort wo dies nicht selbstverschuldet geschehen ist, eine grundsätzliche Änderung ihrer Einstellung und Haltung vornimmt. Sie muss, wenn sie tatsächlich Elite im wohlverstandenen Wortsinn sein will, vornehmlich in die Beziehungen investieren, Bindung aufbauen und dadurch ganz persönlich neues Vertrauen generieren. Das ist mühsam. Gleichwohl wird es nur so gelingen, die Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts zu beantworten: Wie gestalten wir künftig die Zusammenarbeit? Geprüftes Vertrauen, das es jetzt aufzubauen gilt, ist die Voraussetzung für die Schaffung von Synergie und Mehrwert im künftigen gemeinsamen Handeln. In der Mutter-Kind-Bindung steht das Vertrauen nicht am Anfang, sondern am Ende eines langfristigen Entwicklungsprozesses der Beziehung zwischen den beiden. Eröffnet wird er mit Sympathiebekundungen, fortgesetzt mit einer Phase des intensiven Kennenlernens und der gegenseitigen Bemühung des einen um den anderen. Dieses Sich-Kennen heißt nicht zuletzt, dass die beiden sich nunmehr, ohne viele Worte wechseln zu müssen, emotional synchronisiert haben. Selbstverständlich funktioniert das mit zunehmender Sprachbeherrschung des Kinds dann auch im Bereich verbaler Kommunikation zwischen den Partnern. Wenn man empfindet, was der andere fühlt und dies im Bruchteil von Sekunden tut, wenn man die Erfahrung macht, dass die Situation des Gleichklangs wiederholt und verlässlich hergestellt werden kann, wenn der Partner
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erreichbar ist, sobald man ihn zur Rückversicherung braucht, dann entsteht eine sichere Basis. Nachdem das Kind ein inneres stabiles Bild einer derart gefestigten Beziehung entwickelt hat, ist auch, wie der Entwicklungspsychologe Erik Erikson es genannt hat, das Ur-Vertrauen hergestellt. Auf dieser emotional gefestigten Beziehungsgrundlage steht dem jungen Erdenbürger die Erforschung der Welt, die Zuwendung zu neuen Problemen, die Lösung von Aufgaben offen. Die stabile Beziehung ist die Voraussetzung dafür, sich mit dem Neuen beschäftigen zu können. Man darf getrost damit rechnen, dass neu ins Team kommende Mitarbeiter diese Prozesse in ihrer eigenen Kindheit durchlaufen und das Ur-Vertrauen bereits ausgebildet haben. Der Aufbau von Zuversicht, Gestaltungswillen und Problemlöseverhalten am Arbeitsplatz, in der Abteilung oder im Projektteam läuft prinzipiell allerdings ganz parallel ab. Zwar übernimmt der Manager nicht die Rolle der Mutter eins zu eins. Was er zu tun hat, ist strukturell allerdings ähnlich angelegt: Er begnügt sich nicht mit der Beschaffung eines passenden Kandidaten mittels teuerer Recruitingmaßnahmen. Er begleitet vielmehr den Prozess des Ins-Team-Kommens, indem er, ebenso wie die bereits vorhandenen Teammitglieder, den Neuen einlädt, seine Kompetenzen und Qualifikationen einzubringen. Er zeigt die Arbeits- und Funktionsweise der Abteilung, die Abläufe und Besonderheiten. So schafft man Kenntnis, Orientierung und die Möglichkeit, seinen Platz zu finden. Ein beliebter und oft gemachter Fehler ist es, sich gleich auf die Aufgabe oder auf das Projekt zu stürzen. Wenn man Rangfragen, Kompetenzfelder, Aufgabenverteilungen erst im Prozess zu klären beginnt, dann verläuft die Findung von Natur aus schwerfällig. Klärt man die Beziehungen schon im Vorfeld oder parallel zum Projekt, nimmt man sich also Zeit und Energie für die Bindungsarbeit, dann gewinnt auch das gemeinsame Handeln an Fahrt und Präzision. Der emotionale Gehalt von Vertrauen besteht im Gefühl von Bindung und Sympathie, die man einem anderen Menschen gegenüber empfindet. Man fühlt sich mit Aufmerksamkeit bedacht, anerkannt und persönlich gestärkt. Das Zusammensein mit dem guten Kollegen, Chef oder Mitarbeiter wird als angenehm und bereichernd empfunden. Kurz: Die Beziehung ist wertvoll und wirkt inspirierend.
110 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung Wie sich das Kind in einer solchen stabilen und motivierenden Gemütslage auf die Erkundung seiner Umwelt stürzen kann, so können Mitarbeiter und Teams auf der gleichen Basis ohne Vorbehalt und Reibungsverluste anstehende Aufgaben angehen und Projektziele verfolgen. Darin liegt der evolutionäre Clou von Bindung und Vertrauen: Sie sind die emotionale Geschäftsgrundlage für erfolgreiches gemeinsames Handeln, für das Überlebensprogramm Kooperation. Wer in der Beziehung zu seinem Partner ein gutes Gefühl hat, ist evolutionär gesehen kein Sozialromantiker, sondern empfängt gerade dadurch wichtige Signale dafür, dass der andere sich höchstwahrscheinlich auch in der Zusammenarbeit als verlässlicher und guter Kooperationspartner erweisen wird, dem das gemeinsame Ziel am Herzen liegt. Ob das tatsächlich auch zutrifft, erfährt man erst in der konkreten Zusammenarbeit; dabei kann man nämlich das Verhalten und Handeln des Einzelnen wahrnehmen und lernt es einzuschätzen; denn es wird offensichtlich, ob sich Partner an die Vereinbarungen halten, die Verantwortung für ihren Beitrag übernehmen, sich als zuverlässig in der Kooperation erweisen, offen und ehrlich kommunizieren und ihre Kraft voll und ganz in die Erreichung des gemeinsamen Ziels einbringen. Vertrauen steht am Ende eines gelungenen Beziehungsaufbaus, es ist das Ergebnis des Bindungsprozesses. Nun kann man es als Vorschuss einsetzen, um mit demjenigen, zu dem man Vertrauen hat, etwas gemeinsam zu unternehmen: ein Fest organisieren, einen schwierigen Kunden akquirieren, die anstehende Arbeit verrichten, ein Fußballmatch gewinnen, ein Projekt abschließen. Bringt der Bindungspartner hierbei seinen Beitrag kompetent, pünktlich und zuverlässig in das gemeinsame Handeln ein, dann erweist sich das entgegengebrachte Vertrauen als gerechtfertigt. Deshalb besteht Vertrauen aus zwei Komponenten, dem eher emotionalen und bindungsorientierten Anteil und dem kooperativen, sachbezogenen Faktor. Um echtes Vertrauen, die Gelenkstelle zwischen Emotion und Handlungsfähigkeit aufzubauen, braucht man immer beide Bestandteile.
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Was müssen Sie grundsätzlich tun, um das Vertrauen mit Ihren Mitarbeitern aufzubauen und aufrechtzuerhalten? Es sind folgende Faktoren, die Sie dabei unbedingt berücksichtigen sollten: X
X
X X X
X X
Seien Sie offen, kommunizieren Sie angemessen Absichten und Ziele; signalisieren Sie Gesprächsbereitschaft und Interesse an der Person Ihrer Mitarbeiter. Bemühen Sie sich um die Belange der Mitarbeiter aktiv und ernsthaft; nehmen Sie also den Mitarbeiter in seiner Funktion, Motivlage und Position ernst. Halten Sie Worte und Taten, Mittel und Zwecke, Anforderungen und Belohnungen weitgehend in Übereinstimmung. Erweisen Sie sich in der Zusammenarbeit als zuverlässig und fordern Sie Zuverlässigkeit von Ihren Mitarbeitern ein. Stellen Sie sich innerhalb des legalen Rahmens voll und ganz hinter Ihre Mitarbeiter, führen Sie zugleich Auseinandersetzungen bei Fehlern und Versäumnissen intern. Seien Sie in der Kommunikation ehrlich und aufrichtig; halten Sie Ihre Mitarbeiter dazu an, das Gleiche zu tun. Machen Sie auch schwierige Entscheidungen für die Betroffenen nachvollziehbar, und bleiben Sie dadurch in widrigen Situationen glaubwürdig.
Es ist sicher ungewöhnlich, die wichtigsten Faktoren für das Beziehungsmanagement aus den Entwicklungsphasen der Mutter-Kind-Bindung abzuleiten. Da wir es hier aber mit einer universalen Logik der Individualentwicklung unserer sozialen Ausstattung zu tun haben, erweisen sich nicht nur die einzelnen „Zutaten“ der primären Bindung als stabil und ausschlaggebend für alle späteren Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Es findet sich darüber hinaus generell immer die identische Abfolge von: a) Sympathie entwickeln, b) persönlich kennen, c) Vertrauen aufbauen.
112 Das Ur-Modell für Beziehungsmanagement: Mutter-Kind-Bindung Das Verfahren ist entwicklungsgeschichtlich stabil angelegt – die Verantwortlichen in der Unternehmensführung sollten es sich zu eigen machen, wenn sie das Vertrauen der Belegschaft gewinnen und stärken wollen. Stattdessen beschwören sie bislang die Begriffe „Vertrauen“ und „Zusammenarbeit“ in Unternehmensleitlinien, Führungsgrundsätzen und Leitbildern. Kaum eine Betriebsversammlung, ein Sommerfest oder eine Jubiläumsfeier, in der das Vertrauen nicht an prominenter Stelle genannt würde. Das weckt Erwartungen bei den Mitarbeitern; die „Wärmemetapher“ heizt zunächst tatsächlich ein. Doch ohne Vorarbeit auf der Beziehungsebene enttäuscht die Beschwörungsformel des unverbundenen Turbo-Vertrauens immer. Und wer die Erwartungen von Menschen, seien es Kunden oder Mitarbeiter, in diesem Bereich zunächst geschürt und schließlich enttäuscht hat, der weiß, wie schwer es ist, einmal zerstörtes Vertrauen wieder aufzubauen. Deshalb tun Führungskräfte gut daran und ersparen sich viel vergebliche Mühe, wenn sie dem evolutionär angelegten Pfad des sozialen Verhaltensprogramms folgen, statt sich ohne dessen Leitung orientierungs- und hilflos durch den Dschungel sozialemotionaler Wechselbäder, uneffektiver Maßnahmen und maßloser Enttäuschungen zu schlagen. Statt Vertrauen zu beschwören und gerade dadurch zu zerstören, ist es geboten, die engagierte und effektive Zusammenarbeit durch ein Vertrauen bildendes Beziehungsmanagement vorzubereiten. Wie man das macht? Indem man die Bindung zu den Mitarbeitern aktiv nach dem Ablauf der MutterKind-Bindung gestaltet und sich an die natürlichen Gesetzmäßigkeiten des gemeinsamen Handelns hält. Wie diese beschaffen sind, das möchte ich im übernächsten Kapitel besprechen. Doch zunächst ist es dringend erforderlich, eine fundamentale Korrektur am Verständnis der Aggression vorzunehmen.
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5. Lob der Aggression
Der Begriff Aggression wird weithin mit Gewalt verbunden und deshalb abgelehnt. Dies trifft nicht nur auf die Terminologie zu, fast alle Verhaltensformen, die mit Aggression in Verbindung gebracht werden, sind in die Schmuddelecke des Antisozialen verbannt. Der Amokläufer, der 15 Menschen erschossen hat, ist aggressiv; der Autofreak, der mit quietschenden Reifen seinen Nachbarn an der gerade auf grün schaltenden Ampel stehen lässt, ist es auch. Der Soldat, der im Blutrausch seine Gegner abschlachtet, ist aggressiv, ebenso der Rechthaber, der in jeder Diskussion das letzte Wort haben muss. Aggressiv ist der Lehrer, der einen Schüler vor der Klasse lächerlich macht, und der Schüler, der mit höchstrichterlicher Erlaubnis den Lehrer anonym auf der Internetseite Spickmich.de nach Noten niedermacht. Protzen mit Titeln, Angeben mit teurer Kleidung, Imponieren mit dem dicken Auto ist ebenso aggressiv motiviert wie die handfeste Auseinandersetzung zweier Autofahrer um einen gerade frei werdenden Parkplatz. Auch der lautstarken Zurückweisung dessen, der sich an der Schlange der Wartenden vor dem Postschalter vorbeimogeln möchte, liegt ein aggressives Motiv zugrunde. Aggression ist im Spiel, wenn in einer islamischen Familie eine junge Frau ermordet wird, weil sie die „Ehre“ der Familie durch eine falsche Partnerwahl beschmutzt hat, oder wenn ein Versicherungsverkäufer alle Kraft daran setzt, seinem Konkurrenten den Kunden vor der Nase wegzuschnappen. Rangeleien bei der Aufstellung einer Fußballmannschaft, die Verhinderung eines missliebigen Kandidaten bei der Neubesetzung eines Lehrstuhls und das Ausstechen des politischen Gegners durch die Lancierung von Gerüchten aus seinem Privatleben, all das ist durch Aggression motiviert. Ist die Nahrungsaufnahme deshalb verwerflich, weil 75 Prozent der Männer und 59 Prozent der Frauen in Deutschland übergewichtig sind? Wird Sexualität sozial geächtet, weil es immer wieder zu Fällen von Vergewaltigung und
114 Lob der Aggression Kinderpornografie kommt? Wer so argumentiert, folgt einer Logik nach dem Motto, Aggression müsse deshalb unterbunden werden, weil daraus auch Gewalt, Brutalität und Krieg entstehen kann. Die politische Korrektheit erweist sich gerade in diesem Bereich als eine Form bürgerlicher Bigotterie, die den unverstellten Blick auf das menschliche Verhalten unmöglich macht. Um trotz der weit verbreiteten Kurzsichtigkeit ein umfassendes und zutreffendes Verständnis über die Grundmotive des menschlichen Sozialverhaltens zu entwickeln, möchte ich die Aggression ausdrücklich loben. Denn sie ist zusammen mit der Bindung der konstituierende Verhaltensfaktor für die Entstehung und Existenz von Gemeinschaften. Ungebunden kann Aggression ein gewalttätiges und sogar tödliches Potenzial entwickeln, kann Auslöser für grausame Verhaltensweisen und menschenverachtende Handlungen sein. Aber ohne gelegentlichen internen Wettbewerb zerfällt die Leistungskraft einer Gemeinschaft. So wird eine Fußballmannschaft zum Kuschelverein und ein Papiertiger zum Vorstand. Die Entwicklung des Lebens ist ohne Konkurrenz nicht denkbar. Im Sachsenspiegel wurde der Grundsatz verankert „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Er legte die Folge fest, in der die Bauern bei der Getreideverarbeitung in der Mühle an die Reihe kommen, und folgt so der naturgeschichtlichen Gesetzmäßigkeit: Wer schneller ist als die anderen, kann sich in aller Regel die Ressourcen sichern, die nicht für alle unbegrenzt zur Verfügung stehen.
Abbildung 13:
Der Sachsenspiegel
Die Natur der Aggression 115
Vor allem Nahrung und Fortpflanzungspartner waren in der Entwicklungsgeschichte des Lebens nicht im Überfluss vorhanden, sondern sie waren knappe Güter. Organismen, die sich unter der Bedingung der Knappheit höflich zurückhielten, hatten das Nachsehen, denn ihnen blieb im „Kampf ums Dasein“ einfach nichts übrig. Es sei denn, es gelang diesen Zu-kurzGekommenen, eine neue Nische zu besetzen, also durch Innovation eine alternative Lebensgrundlage zu erschließen.
Die Natur der Aggression Wenn Individuen weder im Wettbewerb noch in der Innovation einen Vorteil erzielten, dann waren die Folgen ebenso trivial wie fatal: Die natürliche Selektion beförderte sie aus dem Spiel des Lebens ins Aus, wohingegen die Wettbewerbsorientierten bzw. „Kreativen“ besser angepasst waren und deshalb überlebten. Dabei ist es ein Irrtum anzunehmen, dass dies immer nur den Stärksten gelang. Der von Darwin geprägte Begriff „Survival of the fittest“ bedeutet eben nicht, dass der Stärkste überlebt (dann müsste es survival of the „strongest“, oder „most powerful“ heißen). Es ist also nicht der best Trainierte gemeint im Sinne körperlicher Fitness, sondern derjenige, der sich am besten an die Umweltbedingungen angepasst hat. Zur Anpassung an die Lebensumstände auf diesem Planeten gehört nun einmal ein gewisses Maß an individueller Wettbewerbsorientierung. Deshalb braucht man den Willen, sich mit dem Rivalen zu messen, die Fähigkeit zu konkurrieren und die Bereitschaft, den Wettkampf um knappe Güter aktiv zu suchen bzw. sich ihm zu stellen. Der Molekularbiologe und Psychiater Joachim Bauer setzt dagegen ganz und gar auf Kooperation. Aggression sei ein Stand-by-Programm, die Fähigkeit zu konkurrieren und Aggression auszuspielen, sekundär. So behauptete er etwa in der SWR2-Aula-Sendung vom 27. Januar 2007: „Die Aggression ist … kein primäres Bedürfnis, tritt aber dann auf den Plan, wenn zwischenmenschliche Beziehungen verteidigt werden müssen, wenn andere Menschen Beziehungen beschädigen, aber auch dann, wenn es einem
116 Lob der Aggression Menschen – aus welchen Gründen auch immer – nicht gelingt, gute Beziehungen herzustellen.“ Ich habe große Wertschätzung dafür, dass der Autor in der Kooperativität des Menschen eine zentrale Lustquelle erkennt, die ganz wesentlich zu seinem Wohlbefinden beiträgt. Dies bedeutet nämlich nichts weniger als eine Neugewichtung menschlicher Motivation, die in der sozialen Zugehörigkeit, Zusammenarbeit und in der Empathie die zentrale Triebfeder menschlichen Empfindens und Handelns erkennt. Auf der anderen Seite bedient Bauer mit der einseitigen Betonung des Kooperativen das soziale Gutmenschentum. Diese Einseitigkeit in der Erklärung menschlichen Verhaltens klammert einen existenziellen Bereich der Motivation aus und pathologisiert Aggression sogar. Sind Konkurrenz, Auseinandersetzung und Wettbewerb, wie Bauer meint, wirklich rein reaktive Verhaltensweisen, wenn das Soziale des grundständig lieben Menschen entgleist? Gegen wen verteidigt der Aggressive seine bedrohten zwischenmenschlichen Beziehungen? Welches Motiv hat der Angreifer? Was treibt den Herausforderer an? Die Überbetonung des „primären“ Sozialen und Kooperativen im Gegensatz zur „sekundären“ individuellen Wettbewerbsorientierung ist dazu geeignet, ein unzutreffendes und deshalb fehlleitendes Menschenbild zu etablieren. Dabei liegt nicht nur, wie Joachim Bauer so klar herausgearbeitet hat, in der Kooperation eine tiefgründige Quelle für Lust und Lebensqualität, sondern auch in der Aggression. Das kann man leicht in sozial akzeptierten Bereichen der Aggressionsausübung, wie etwa im sportlichen Wettkampf, sehen: Der wesentliche Beweggrund für die Sportler besteht darin, das Tennismatch, den Wettlauf, das Fußballspiel zu gewinnen: Es geht um den Sieg. Bei aller sozialen Orientierung des Menschen wird kaum jemand auf die Idee kommen, dass der Sportler in der Wettkampfsituation von Altruismus angetrieben wird. Ebenso wenig wird man Empathie als ausschlaggebendes Motiv identifizieren, wenn es darum geht, vor dem Gegner die Ziellinie zu erreichen. Dass der Sieg lustvoll erlebt wird, kann man in der Körperhaltung, im Gesichtsausdruck und in der Gestik des Siegers klar erkennen.
Die Natur der Aggression 117
Im Jahr 2002 haben wir eine Interviewserie mit Handballspielern durchgeführt. Wir wollten herausfinden, wodurch die Spieler motiviert werden, welche Situationen sie besonders intensiv erleben. Die Antworten waren eindeutig, im Zentrum der Aussagen stand immer wieder „kämpfen und siegen“. Ein Spieler formulierte das ganz drastisch: „Wenn es in der Abwehr gelingt, dem Angreifer den Ball wegzunehmen, dann ist das ein ganz anderes Gefühl als Freude, das ist einfach geil. Hat man es mit einem guten Gegenspieler zu tun, und man schafft es, dass er nicht zum Zug kommt, dann hat man ihn zerstört; dann hat man ihn besiegt; dann kann man auch jemanden kaputt machen, der gut war. Das ist ein gutes Gefühl.“
Abbildung 14:
Rafael Nadal in Siegerpose
118 Lob der Aggression Das starke Gefühl überträgt sich sofort auf die Zuschauer, was die hohen Einschaltquoten vieler sportlicher Wettkämpfe eindeutig belegen: Der Zuschauer möchte einen möglichst spannenden Kampf miterleben und dann selbstverständlich den Sieger „ansehen“. Dieses Ansehen, das Herausgehoben-Sein, das Stehen auf der obersten Stufe des Siegerpodests ist ein sehr starker Reiz und zugleich tief empfundene Befriedigung. Der Sieger genießt Anerkennung und Wertschätzung für seine sportliche Höchstleistung. In diesem Fall ist sie keineswegs sekundär; sie steht an erster Stelle! Einen unverstellten Blick auf die Motivation von Aggression und das Lustgefühl, das sie auslöst, gewährt auch folgende Episode: Vier Jungen einer dritten Klasse im Alter von neun, zehn Jahren kamen nach der großen Pause zerrauft und völlig aufgebracht zum Unterricht zurück. In der Klasse befanden sich Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung, weil sie nach einem integrativen Modell beschult wurden. Die Spannung war so groß, dass die Klassenlehrerin den Unterricht nicht wieder aufnehmen konnte, sondern die Klassenkonferenz einberufen musste, um die aufgeheizte Stimmung einzufangen, die nach wie vor durch eine hoch aufgeladene Aggressivität gekennzeichnet war. Nachdem der Vorfall unter Einbeziehung der Kinder, die die Rauferei auf dem Schulhof beobachtet hatten, sachlich soweit rekonstruiert war, dass alle Beteiligten mit der Darstellung übereinstimmen konnten, schloss sich eine abschließende Runde an. Die Kinder durften in beliebiger Reihenfolge auf die Fragen antworten. „Wie geht es dir jetzt? Was wünschst du dir von Jan?“ Jan war als derjenige identifiziert worden, der durch ständige Provokationen (er hatte seine Klassenkameraden mit Matschkugeln beworfen) die Rauferei vom Zaun gebrochen hatte. Er war ein Junge mit Down-Syndrom. Die drei Jungs, die beworfen worden waren, sagten der Reihe nach einstimmig. „Ich fühle mich schlecht, denn ich will nicht mit Dreck beschmissen werden und möchte auch nicht geschlagen werden, das tut weh. Ich wünsche mir, dass du nicht mehr mit Dreck auf mich wirfst und aufhörst, mich zu schlagen.“
Der Trieb zum Sieg 119
Auf die Frage der Lehrerin, wie er sich fühle, sagte Jan freudig: „Gut!“ Die Lehrerin hakte erstaunt nach und fragte „Wie, gut?“ Da richtete sich Jan zu seiner vollen Größe auf, bog seinen Unterarm mit geballter Faust zur Schulter, verwies mit der anderen Hand auf seinen anschwellenden Bizeps und verkündete strahlend: „Ich stark!“
Jan sei dank, erfahren wir hier im Originalton ganz unverstellt, ehrlich und pur, wie viel unmittelbar erlebte Lust das Gefühl zu siegen und stark zu sein vermittelt; im hier geschilderten Fall sogar so, dass die Lust der Aggression in keiner Weise gemäß der sozialen Konvention und entsprechend allgemeiner gesellschaftlicher Erwartungen geleugnet oder abgeschwächt wird.
Der Trieb zum Sieg Das intensive Lustempfinden, wenn man siegt, die ausgesprochen starke Handlungsbereitschaft, den Wettbewerb aufzusuchen, zeigt, wie viel Relevanz das Verhaltensprogramm Aggression für das Überleben hat. Es hat „natürlich“ den so Ausgestatteten in die Lage versetzt, um knappe Ressourcen zu konkurrieren. Konrad Lorenz hat nachgewiesen, dass es sich dabei um einen Trieb mit all seinen Komponenten handelt, und er hat diesen Trieb Aggression genannt. Aggressives Verhalten zeigt sich bei Tieren in drei charakteristischen Situationen. Sie zeigen Konkurrenzverhalten, wenn die Frage entschieden werden muss, 1. wer ein Revier besetzen darf; 2. wer einen Sexualpartner gewinnt; 3. wer den höheren Rang in der Sozietät besetzen soll. Die Revieraggression vieler Fisch-, Vogel- und Säugetierarten ist weithin bekannt. Buntbarsche, etliche Singvögel, Schimpansengruppen u. v. a. sind auf ein Revier angewiesen, in dem ausreichend Nahrung vorkommt, damit sich die Revierinhaber davon ernähren können. Sobald andere Tiere dersel-
120 Lob der Aggression ben Art eindringen, ist die eigene Existenz bedroht. Deshalb verteidigt der Revierinhaber sein Revier, und deshalb muss ein Jungtier ein Revier erobern. Auch bei der Fortpflanzung kommt es zur Konkurrenz zwischen den Rivalen. Ehe sie die Geschlechtspartnerin für sich gewinnen, müssen die männlichen Tiere den Rivalen besiegen, dessen Bemühungen auf dasselbe Weibchen gerichtet sind. Von Bedeutung ist, dass die Kämpfe in der Regel keinen tödlichen Ausgang nehmen. Sie werden ritualisiert ausgefochten: So stoßen beispielsweise Hirsche ihre Geweihspitzen nicht in den Bauch des Gegners; Klapperschlangen klappen ihre Giftzähne zurück, weil sie gegen ihr eigenes Gift nicht immun sind. Der Unterlegene wird in aller Regel nicht getötet, sondern muss lediglich das Feld räumen. Eines ist allerdings klar: Wer in diesem Wettbewerb über die größere Aggressionsbereitschaft verfügt, ist oftmals schon durch das Vorspiel, das imposantere aggressive Imponieren, im Vorteil. Ohne kämpfen zu müssen sticht er den Rivalen durch Aufplustern, Imponiergehabe und Drohgebärden aus dem Feld. Zu Beginn ihrer Forschungen an frei lebenden Schimpansen im GombeNationalpark hat die britische Primatologin Jane Goodall eine zwanzigköpfige Schimpansengruppe beobachtet. Sie wurde von einem großen und starken Alpha-Männchen angeführt, dem die Forscherin den Namen Goliath gab. Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein wesentlich schwächeres und kleineres Männchen mit dem Namen Mike zu einem Rivalen Goliaths. Mangelnde Körpergröße und -kraft machte er allerdings mit seiner Intelligenz wett. Statt sich auf die schwache Brust zu trommeln, entlieh sich Mike aus dem Lager seiner Beobachter zwei Blechkanister. Mit diesem Hilfsmittel konnte er vor allen Mitgliedern der Gruppe einen so imponierenden Radau machen, dass er Goliath in der Alpha-Position ablöste. Doch zuvor kam es zum Entscheidungskampf mit Goliath. Dieser verfolgte Mike mit einigen Verbündeten. Der floh auf einen Baum und haute den hintereinander heraufkletternden Gruppenkollegen nach einander auf die Köpfe. So kam Mike mithilfe seiner intelligenten Strategie in die Führungsposition und konnte sich dort immerhin fünf Jahre lang halten.
Der Trieb zum Sieg 121
Als dritte Standardsituation, in der es zu aggressivem Verhalten kommt, sind die Rangordnungskämpfe zu nennen. Sozial lebende Tiere bilden in ihren Sozietäten Rangordnungen aus, die hierarchisch aufgebaut sind. Es ergibt sich das Bild einer Pyramide, an deren Spitze nur eine Position für das so genannte Alphatier zur Verfügung steht. Für die Mitglieder von Rudeln, Gruppen oder Horden ist es erstrebenswert, sich nach oben zu rangeln, denn ein hoher Rang garantiert seinem Inhaber Privilegien, die Rangniedrigeren nicht zustehen. Bei vielen Tierarten, seien es Wölfe, Paviane, Schimpansen oder andere, handelt es sich um Fress- und Fortpflanzungsprivilegien. Es lohnt sich also für die Gruppenmitglieder, siegreich aus den Rangordnungskämpfen hervorzugehen, denn nur dadurch können sie sich Zugang zur knappen Ressource Alpha-Position verschaffen. Doch ebenso wenig wie der Inhaber sein Revier dem Herausforderer kampflos überlässt, so schenkt das „amtierende“ Alphatier dem Rivalen die Spitzenposition. Bei manchen Tierarten wie zum Beispiel bei Wölfen und Löwen geht der Verlust der Alpha-Position mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft und dem früheren oder späteren Tod des Verstoßenen einher. Dass das Ausscheiden aus der Spitzenposition sozial hart ist, wichtige Ressourcen kostet und ursprünglich lebensgefährliche Folgen hatte, machen die Linderungsbemühungen beim Ausscheiden von Vorständen aus Unternehmen deutlich. „Fallschirme“ sollen den Aufschlag auffangen, „goldene Handschläge“ den Machtverlust mildern, Abfindungen den Schaden ausgleichen. Wir können die Erkenntnis festhalten, dass die Aggression der Trieb zum Sieg ist. Nicht die Ausübung von Gewalt, die Schädigung des Gegners oder der Einsatz unfairer Mittel ist der natürliche Zweck der Aggression. Die Evolution hat viele Tiere und auch uns Menschen primär damit ausgestattet, damit wir möglichst siegreich aus dem Wettbewerb mit Konkurrenten um Reviere, Geschlechtspartner und Rangpositionen hervorgehen.
122 Lob der Aggression
Die soziale Innovation Mit der Entstehung von Sozietäten, also von dem Zeitpunkt an, als die Bindung auf den Plan der sozialen Entwicklung trat, kam es zu einer umwälzenden Veränderung im Gebrauch des Aggressionsprogramms. Ehe sich Individuen zu Gruppen zusammenschlossen, hatte die Aggression rein trennenden Charakter. Sie war ein Programm, das den Abstand zum Artgenossen herstellte, und diente dazu, den Konkurrenten vom Gebrauch jener Ressourcen auszuschließen, die knapp waren und gesichert werden mussten, um selbst überleben zu können. Das Trennende der Aggression machte ein langfristiges Zusammenleben und Zusammenarbeiten unmöglich. Wollten Teammitglieder vom Vorteil des gemeinsamen Handelns profitieren, so mussten sie einen neuen Umgang mit dem Aggressionstrieb finden. Ich möchte das gemeinsame Handeln in Form einer Seilschaft darstellen:
Abbildung 15:
Die Seilschaft der Bergsteiger
Die Evolution hat mithilfe des Bindungstriebs die Aggression in die Gemeinschaft integriert, sie hat die Aggression sozialisiert: Mithilfe der ritualisierten Rangordnungskämpfe innerhalb der eigenen Gemeinschaft war es erstmals möglich, sowohl für das eigene Fortkommen zu sorgen als auch die Vorteile einer Gemeinschaft zu genießen. Aggression ist nun nicht mehr
Die soziale Innovation 123
gleichbedeutend mit Trennung, Abstand, Ausgrenzung. Im Verein mit der Bindung strukturiert sie die Gemeinschaft nach Rängen, ohne den Zusammenhalt zu gefährden. Bindung bedeutet nicht Kollektivismus, Gleichmacherei, Gleichschaltung. In der Paarung mit Aggression schafft sie eine neue soziale Einheit, eine Gemeinschaft von Individuen, die nach ihrem jeweiligen Leistungsprofil platziert werden. Darin erfüllt die Konkurrenz eine überlebenswichtige Funktion: Die Mitglieder der Sozietät bilden im Wettbewerb untereinander einerseits Spezialisten für bestimmte Aufgaben der Gemeinschaft heraus, andererseits gelangt das Tier in die Alpha-Position, das am besten für die Leitung geeignet ist. Hierzu ein Beispiel aus dem sozialen Leben der Wölfe, das der Wissenschaftspublizist Vitus B. Dröscher in seinem Buch „Tierisch erfolgreich“ beschreibt: „[Unter dem Leitwolf] haben sich Spezialisten herausgebildet: für die Fährtensuche, als Gefahrenwitterer, Beutekiller, Vorreiter auf der Gruppenpirsch, als Leibgarde für die Babys des Alphapärchens im heimatlichen Bau. Sie alle haben bei Entscheidungen ein „Wörtchen mitzureden“; jeder auf seinem Fachgebiet den Verdiensten entsprechend mehr oder weniger. Gegen den Willen der Mehrheit kann sich ... nicht einmal das Leittier durchsetzen. ...Zum Beispiel bestimmt auf der gemeinsamen Rudelpirsch im „Gänsemarsch“ der Vorreiter den Kurs, während der Leitrüde die Nachhut bildet ... Gefällt ihm die Richtung nicht, sprintet er nach vorn und bringt den Vorreiter durch Spielaufforderungen und Voranlaufen in … charmanter Wiese zur Richtungsänderung ... “
Beide Funktionen, die fachkundige Spezialisierung und die kompetente Führung, kommen der gesamten Gruppe zugute, weil erst im Zusammenspiel von Leittier und Experten die zentralen Aufgaben des gemeinsamen Handelns wie Futtersuche, Rollenaufteilung, Verteidigung nach außen, Wiederherstellung des sozialen Friedens u. a. erfüllt werden können.
124 Lob der Aggression
Graphik 7: Die soziale Innovation – Bindung, das Motiv für gemeinsames Handeln Beim Stichwort gemeinsames Handeln sind wir auch schon bei dem großen Komplementär der Aggression, der Bindung, angelangt. Bei etlichen hoch entwickelten sozialen Säugetieren nimmt nicht derjenige die Führungsposition ein, der am härtesten zuschlägt, am brutalsten kämpft oder am strengsten bestraft, sondern derjenige, der am besten das gemeinsame Handeln organisieren kann. Die Führung bei Wölfen, Schimpansen und vielen anderen ist dann optimal angepasst, wenn es ihr gelingt, Aggression zu beschwichtigen, Versöhnung einzuleiten und Bindung herzustellen. Kurzum: Beziehungsmanagement ist der Markstein der Führungsfitness. Dies bestätigt der Wolfsforscher Erich Klinghammer am Beispiel eines Wolfsrudels. (Zitiert nach Vitus B. Dröscher): „Während der Siesta eines elfköpfigen Wolfsrudels in einer Tundramulde … waren zwei rangniedrigere Rüden kurz davor, sich an die Kehle zu springen. In einem solchen Fall ist es die Aufgabe des Leittiers, den Streit zu schlichten. Das tut der Führwolf aber nicht etwa, indem er knurrend und zähnefletschend dazwischenspringt oder die Kontrahenten mit Bissen auseinanderreißt. …
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Vielmehr tänzelt er herbei und macht dem stärkeren der beiden Raufbolde einen … Spielantrag! Dieser geht, wie Erich Klinghammer beobachtet hat, augenblicklich auf das spielerische Umhertollen … ein. Beide balgen miteinander, wobei sie wechselweise die Rolle des Siegers und die des Verlierers übernehmen, ohne Ehrgeiz, über den anderen zu triumphieren. Die Aggressivität des Raufbolds wird abgebaut, und bald ist der ganze Streit vergessen. So löst sich die Gefahr einer den Rudelzusammenhalt schädigenden Beißerei durch taktisch kluges Eingreifen des Leittieres in Spaß und Wohlgefallen auf.“
In weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens kann man das höchste der Gefühle erleben, nämlich einen Sieg erringen, ohne einen Zweikampf austragen zu müssen. Die Alternative besteht darin, seine besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten in das Teamwork einzubringen. Wenn der Betreffende dadurch einen wichtigen Beitrag zum Erfolg des gemeinsamen Handelns leistet, dann darf er zu Recht erwarten, dass er Anerkennung dafür erhält. Anerkennung für Leistung wird genau gleich empfunden wie ein Sieg und ist damit die humanste und wünschenswerteste Form aggressiver Treibbefriedigung. Darüber hinaus hat in dieser Art realisierte Aggression eine wichtige Funktion für die Gestaltung von Beziehungen: Sie erreichen nämlich gerade dadurch Stabilität, dass sich die Beteiligten in ihren Positionen immer wieder anerkennen, weil gerade dadurch gemeinsame Leistung erzeugt und gleichzeitig für jeden Einzelnen eine Position in der Gemeinschaft zugeordnet und soziale Sicherheit geschaffen wird. Auf der Basis dieser Wertschätzung fällt es leichter, anstehende Auseinandersetzungen auszutragen. Insofern leistet Aggression einen ganz unerwarteten Beitrag zum humanen und sozialen Umgang miteinander: Sie schenkt die Lust der Anerkennung und mit ihrer Hilfe kann man Auseinandersetzungen „konstruktiv“ führen, also ohne der ihnen innewohnenden Tendenz des Zerfalls und der Zerstörung. Teams, in denen weder Anerkennung erfahren wird noch Auseinandersetzungen geführt werden, bilden ein Klima zwischenmenschlicher Spannung aus. Unter den Mitgliedern kommt Missgunst auf. So hat Aggressionsvermeidung in der Teamorganisation immer wieder zu viel Leid und Leistungsverlust geführt.
126 Lob der Aggression Auch wenn es zunächst widersprüchlich klingt: Gleichmacherei, das Abschaffen von Rängen und die Nichtanerkennung von Einzelleistungen sowie das Vermeiden von Auseinandersetzung „um des lieben Friedens willen“, führt zur Handlungsunfähigkeit der Gemeinschaft. Misslingendes Teamwork und emotional belastete Beziehungen sind die Folge davon, wenn Aggression in ihrer wichtigen und Team stärkenden Form nicht ausgeübt wird.
Strukturlogik: Ohne Gerechtigkeit keine Gemeinschaft Denken wir noch einmal zurück an das Projekt „Gazellenjagd“ der Löwen, das ich im ersten Kapitel kurz skizziert habe: Die Löwinnen befinden sich bereits auf der Jagd, haben ihre Positionen eingenommen und warten, bis sich eine Gazelle weit genug von der Herde entfernt hat. Der Treiber ist auf seinem Posten, ebenso die beiden Reißer. Jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem der Reißer sich durch einen schnellen Spurt zwischen Herde und Gazelle drängt und die ausersehene Beute in Richtung der beiden Reißer treibt. Doch nun bemerkt der Beobachter, dass der Treiber nicht so recht vom Fleck kommt, er lahmt und kann die Gazelle deshalb nicht auf der Spur halten, die zu den beiden Reißern führt. So entkommt die Gazelle der lebensgefährlichen Situation. Doch das Glück des Fluchttiers ist das Pech der Jäger. Auch wenn der Treiber rechtzeitig und schnell genug aus den Startlöchern kommt und die Gazelle den Reißern zutreibt, kann das Unterfangen auch an anderer Stelle scheitern. Erweisen sich nämlich die Reißer als kariös oder sprungschwach, dann wird es ebenfalls nichts mit dem großen Fressen.
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Das Problem, das die Löwen lösen müssen, kennt jeder Fußballtrainer, der eine Mannschaft aufbauen, und jeder Abteilungsleiter, der eine Stelle neu besetzen will. Wie schafft man es, den Passenden auf die jeweilige Position zu bringen? Von der richtigen Antwort auf diese Frage hängt Grundlegendes ab, nämlich ob es gelingt, die strukturelle Voraussetzung für den Erfolg des gemeinsamen Handelns zu schaffen. Evolutionär gesehen starben Gemeinschaften, die keine Leistungsstruktur geschaffen haben, den kollektiven Leistungstod. Löwenrudel, die kariöse Tiere als Reißer und fußlahme Mitglieder als Treiber einsetzten, konnten nicht überleben. Teams, deren Mitglieder sich falsch positionierten, sind via Selektion aus dem Spiel des Lebens ausgeschieden worden. Derartige fatale Fehler der Fehlbesetzung wollen und müssen Trainer und Abteilungsleiter unbedingt vermeiden. Jenseits aller Stellenbeschreibungen, Auswahlverfahren und Assessment-Center gilt es, die Aggression in Form von Wettbewerb um die einzelnen Positionen aktiv und bewusst einzusetzen. Der Trainer lässt die Anwärter auf der auserkorenen Spielerposition spielen, vergleicht die Leistungen und besetzt die Position schließlich mit dem Leistungsstärksten. Das Motiv Aggression, die Anstrengung, die jemand bereit ist zu erbringen, um in eine ersehnte Stellung zu kommen, das Durchhaltevermögen, der Einsatz, all das ist ausschlaggebend dafür, die Eignung des Kandidaten für die Position und die Bewältigung der dort zu erfüllenden Aufgaben festzustellen. In diesem Zusammenhang erscheinen die Rangordnungskämpfe in einer völlig neuen Perspektive. Sie positionieren die einzelnen Teammitglieder in der Sozietät so, dass die für die unterschiedlichen Aufgaben am besten Geeigneten die entsprechende Funktion tatsächlich auch übernehmen. So werden Löwen mit starkem Gebiss zu Reißern, laufstarke Jungs zu Mittelfeldspielern und so wird ein Organisationstalent zur Büroleiterin.
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Graphik 8: Die soziale Struktur – Positionierung nach Leistung Im klar gegliederten Gemeinwesen des klassischen Griechenland konnten sich die Bürger der Polis gegenseitig wahrnehmen und in Beziehung zueinander treten. Die überschaubare Größe dieser Stadtstaaten, die zwischen 2.000 und 4.000 Bürger zählten, war die Voraussetzung dafür, dass sich die meisten untereinander kannten und jeder das Seine zum Gedeihen des Gemeinwesens beitrug. Was der Einzelne leistete, konnte von den anderen gesehen und beurteilt werden. In diesem frühen Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung war es also möglich, die Handlungen und Leistungen einzelner Bürger mithilfe des moralischen Gerechtigkeitsempfindens unmittelbar zu bewerten. Insofern fiel es damals, im Gegensatz zu modernen Massengesellschaften, relativ leicht, die jeweiligen Leistungen des Einzelnen mit den angemessenen Belohnungen des Gemeinwesens zu vergelten. Das ist auch der Grund dafür, dass die Philosophen Platon und Aristoteles die naturgesetzlichen Grundlagen der Gerechtigkeit so klar erkennen und formulieren konnten. Die Tatsache, dass sich diese Denker mit der Frage auseinandersetzten, was unter Gerechtigkeit zu verstehen sei, zeigt zugleich eine gewisse Verunsiche-
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rung. Offenbar konnte in Städten mit einigen Tausend Einwohnern nicht mehr ohne weiteres von jedermann nachvollzogen werden, ob die natürliche Funktion der Zuteilung von Ämtern und Ehren entsprechend dem individuellen Einsatz und der Leistung tatsächlich auch eingehalten wurde. Deshalb nehmen die griechischen Philosophen in erörternder Form eindeutige Klarstellungen vor. Nach Platons Auffassung ist Gerechtigkeit nicht irgendeine Tugend, sondern bestimmt den Aufbau und die Struktur des Gemeinwesens aufgrund eines leistungsorientierten Belohnungssystems. Dies entspricht der Natur des Menschen und stellt die konstitutive Basis des Staates dar. Aus diesem Grund steht die Gerechtigkeit über den anderen Kardinaltugenden, nämlich über der Weisheit, der Tapferkeit und der Mäßigung. Aristoteles erkennt in der Gerechtigkeit die vorzüglichste aller Tugenden. Bei allen anderen Tugenden kommt seine Konstruktion der Mitte zur Anwendung. Damit meint er die bewusste Wahl zwischen zwei Extremen, zwischen Mangel und Übermaß. So erkennt er die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit im Mut, zwischen Geiz und Verschwendung in der Freigebigkeit und zwischen Streit- und Gefallsucht in der Freundlichkeit. Dagegen ist Gerechtigkeit nicht die Mitte zwischen zwei Extremen wie bei den anderen Tugenden, sondern sie ist das Prinzip, das die Mitte schafft. Aristoteles spricht hier gar von einer „geometrischen Methode“, nach der ein freier Bürger der Polis seinen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten habe und für seine Verdienste mit Gütern wie Ehre, Geld oder Ämtern bedacht werde.
Abbildung 15:
Gerechtigkeit
130 Lob der Aggression Wie der Stadtstaat im antiken Griechenland, so muss auch eine Fußballmannschaft oder ein Unternehmen dieser Strukturlogik folgen, wenn sie denn Bestand haben wollen. Der Imperativ der Gerechtigkeit mag zwar als „kalte“ Tugend empfunden werden. Ein Gemeinwesen kann aber nur dann überleben, wenn es ihm gelingt, die fähigsten Mitglieder an die richtige Stelle zu setzen, wo deren Leistungskraft, sei es in der Führung, als Experten oder Spezialisten, das gemeinsame Handeln zum Erfolg führt.
Graphik 9: Kein gemeinsames Handeln ohne Gerechtigkeit Nicht umsonst steht die Gerechtigkeit an prominenter Stelle in der Bindungsformel. Sie ist das Prinzip, das, wie Aristoteles formuliert, Maß und Mitte in einem Gemeinwesen herstellt im Sinne von Angemessenheit. Wenn man dieses Prinzip auf den Kopf stellt, dann finden das die Mitglieder eines Gemeinwesens gar nicht gut, wie die hitzige Debatte über ausufernde Managergehälter zeigt. Laut einer Studie des Instituts für Management der Humboldt-Universität in Berlin öffnete sich die Schere zwischen Manager- und Mitarbeitergehältern bei den DAX-Konzernen seit Mitte der Neunziger Jahre besonders stark. Kassierten die Vorstände 1990 das 14-Fache eines durchschnittlich bezahlten Angestelltengehalts, so schoss dieser Faktor bis 2007 auf das 52-Fache hoch.
Strukturlogik: Ohne Gerechtigkeit keine Gemeinschaft 131
In der öffentlichen Diskussion geht es nicht darum, das Gerechtigkeitsprinzip auszuhebeln. Nach wie vor gilt: Derjenige, der eine gute Leistung erbringt, soll auch viel verdienen. Der Umkehrschluss trifft aber nicht zu: Wer viel verdient, erbringt eine hervorragende Leistung. Die große Diskrepanz zwischen durchschnittlichen Einkommen und Vorstandsgehältern und die hohen Bonuszahlungen für Fondsmanager, die private Vermögen vernichtet haben, schürt das Unbehagen der Bevölkerung zurecht. Paul Kirchhof benützt in seinem Artikel in der FAZ vom 29. Mai 2009 den Begriff der „strukturellen Nichtverantwortlichkeit“, und die Gefahr besteht tatsächlich, dass sich eine neue Klasse herausbildet, die im Bewusstsein des „normalen“ Angestellten oder Bürgers schon lange nicht mehr zugehörig ist zum Unternehmen und zur Gesellschaft, weil sie sich außerhalb des konstituierenden Gerechtigkeitsprinzips stellt. Machen wir uns nichts vor: Ein Unternehmen ist eine Leistungssozietät. Daher ist es gezwungen, einen Positionierungsmechanismus aufzubauen, der der Strukturlogik entspricht. Nicht umsonst verfügen erfolgreiche Unternehmen über ein ausgeklügeltes System der Leistungsbewertung. Hierbei wird das Gleichheitsprinzip keineswegs gleichgesetzt mit Gleichmacherei. Gleich sind die Mitarbeiter von ihrer Zugehörigkeit zum Unternehmen her; dafür gebührt ihnen ein gewisses Maß an Achtung und Wertschätzung. Sie unterscheiden sich allerdings in ihren Fähigkeiten, Qualifikationen und Erfahrungen. Anerkennung in Form von Ehre, Geld oder Positionen erhalten sie gemäß ihrer Leistungen und Verdienste, wie schon Aristoteles wusste. Die Grundlage für den Erfolg des gemeinsamen Handelns wird durch das harte Prinzip Gerechtigkeit gelegt. Soziale und humane Belange kann ein Unternehmen darüber hinaus nur erfüllen, wenn es die Zusammenarbeit der Mitglieder so gestaltet, dass die Kooperation unter den Bedingungen der Knappheit einen Mehrwert erbringt. Hier muss sich Führung auf die evolutionären Wurzeln des menschlichen Verhaltens besinnen und ebenso buchstäblich wie im besten Sinne auf den Umgangsstil des Wolfrudels zurückgreifen. Im Gegensatz zum landläufigen Verständnis des brutalen Ausbeißens ist ein solches Rudel ein sozial hoch intaktes Gemeinwesen. Die Rudelmitglieder passen aufeinander auf, sorgen für die Kranken und ziehen die Jungen gemeinsam groß. Wie ein Wolfsrudel
132 Lob der Aggression muss ein Unternehmen der Spitzenklasse seine Beziehungen aufbauen und pflegen, um als handlungsfähiges und schlagkräftiges Gemeinwesen agieren zu können. Ein einzelner Wolf bringt ebenso wenig einen Hirsch zur Strecke wie ein einzelner Steinzeitjäger ein Mammut. Das funktioniert nur, wenn der Leitwolf unumstritten die Alpha-Position besetzt, und zwar durch Kraft, Erfahrung und soziale Intelligenz. So ordnet sich das Rudel nach Hierarchie und Spezialisierung, jeder kennt seinen Platz. So sehr das Alphatier die Meute anführt, so sehr ist es gleichzeitig Teil der Sozietät. Würde es abheben oder nur noch unter „Seinesgleichen“ verkehren, wäre die kollektive Kraft des Rudels schnell dahin und damit zugleich der Jagd- und Überlebenserfolg. Es funktioniert nicht, Mitarbeiter an das Unternehmen binden zu wollen, ohne dass die Führung selbst in die Strukturlogik integriert ist. Diese muss sich bei den vielen von außen kommenden Anforderungen redlich darum bemühen, wahrhaftig zum Unternehmen zu gehören und sich seinen Regeln unterzuordnen. Gerade dadurch wird das Führungshandeln authentisch. Wer sich dagegen ungebunden fühlt, strahlt dies auch aus und gehört deshalb nicht wirklich dazu. Alphawölfe kümmern sich um den Aufbau und das Aufrechterhalten guter Beziehungen im Rudel. Das müssen auch Manager tun! Und zwar indem sie neben dem notwendigen professionellen Agieren und Austausch innerhalb der Managerklasse die emotionale Verbindung zu ihren Mitarbeitern aktiv aufbauen und aufrechterhalten.
Wie der Beziehungsmanager die Kraft der Aggression nützt Beziehungsmanagement ist keine Kuschelgruppenveranstaltung. Im besten Team kommt es zu Auseinandersetzungen. Das ist auch notwendig, denn kollektives Gleichschalten der Mitglieder vermindert die Intelligenz, Leistungsfähigkeit und Schlagkraft der Gruppe erheblich. Um sie nutzen zu können, sind Diskussionen mit heißem Herzen um gute Umsetzungsstrate-
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gien Pflicht! Ebenso kritische Rückmeldungen, wenn der Leistungseinsatz unpräzise war, das Ringen um einen Ausweg in verfahrener Lage. Von Zeit zu Zeit – aber nicht gerade in einem laufenden Projekt oder vor Kunden – ist der interne Wettbewerb um Positionen notwendig. Gemeint ist nicht der subtile Dauerrangler, der all seine Taten vor dem Hintergrund vollbringt, sich selbst ins rechte Licht zu rücken und sich als Anwärter für den nächsten Karriereschritt zu empfehlen. Ein Unternehmen, das diesen Typus vermehrt in Führungspositionen befördert, wird sich schwer damit tun, die Zusammenarbeit der Verantwortlichen und Fachleute effizient zu gestalten. Nein, die Auswahl der Führungskräfte sollte sich möglichst daran orientieren, ob die künftigen Vorgesetzten sich voll und ganz für ihr Projekt einsetzen, das gemeinsame Handeln der Beteiligten fördern und voranbringen, die Teammitglieder einbinden und richtig positionieren, Auseinandersetzungen einfordern, gemeinsam Ziele erreichen. Wer so handelt, weist sich als führungstüchtig aus. Er, und nicht diejenigen, die alles für ihr persönliches Fortkommen tun, ist der Kandidat, der bei der nächsten Beförderungsrunde zum Zug kommen muss, wenn das Unternehmen an einer leistungsorientierten Führung interessiert ist, statt an Imponiergehabe von Eitelkeiten und Privilegien. In diesem Kapitel habe ich ausgeführt, wie stark unsere Handlungen durch aggressive Impulse ausgelöst und angetrieben werden. Man darf dies nicht in Abrede stellen, gerade wenn es darum geht, Projekte erfolgreich umzusetzen. Um angemessene Maßnahmen im Sinne der Leistungssteigerung zu ergreifen, bedarf es gerade auf diesem Feld gesellschaftlicher Tabus eines klaren Blicks und eines rationalen Menschenbilds. Ein erfolgreicher Beziehungsmanager nutzt die Kraft der Aggression, indem er unterschiedliche Leistungen der Mitglieder in seinem Team feststellt und vergleicht; X internen Wettbewerb von Zeit zu Zeit zulässt bzw. aktiv fördert; X darüber hinaus darauf achtet, dass dabei ausschließlich faire Mittel des echten Leistungsvergleichs eingesetzt werden; X die Positionen und Aufgaben entsprechend der individuellen Leistung zuteilt; X
134 Lob der Aggression X X X X X X
X
persönlich dadurch Gerechtigkeit übt, dass er die Leistungen aller seiner Mitarbeiter anerkennt; darüber hinaus die Strukturlogik auch dadurch erfüllt, dass er Minderleistung und Fehler kritisiert; sich selbst dem Gerechtigkeitsprinzip unterwirft und dadurch aktiv seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft unter Beweis stellt; ein differenziertes System der Leistungsbeurteilung und -anerkennung etabliert; den Teammitgliedern entsprechend ihrer Expertise und ihres Engagements Aufstiegs- und Entwicklungschancen ermöglicht; diejenigen ausschließt, die nicht bereit sind, sich in die Strukturlogik einzuordnen, und dadurch das gemeinsame Handeln erschweren oder unmöglich machen; die Sprengkraft, die der Aggression innewohnt, dadurch entschärft, dass er Versöhnungsangebote macht bzw. fördert und die Bindung stärkt. Teams halten durch Bindung zusammen, sie strukturieren sich aber durch Aggression. Deshalb lautet die natürliche Abfolge Zusammenfinden – Zusammenraufen – Zusammenarbeiten.
Welchen natürlichen Gesetzmäßigkeiten das Zusammenarbeiten folgt, damit wollen wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen.
Wie der Beziehungsmanager die Kraft der Aggression nützt 135
6. Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns
Aggression in Form von internem Wettbewerb ist ein unverzichtbarer Bestandteil, wenn Leistungsträger in einem Team richtig eingesetzt und positioniert werden sollen. Um nun auch zielgerichtet gemeinsam handeln zu können, muss zuvor allerdings noch ein Kunststück gelingen. Die besondere Herausforderung besteht darin, über ein aggressiv motiviertes Wettbewerbsverfahren zu bestimmen, wer in welcher Position den besten Beitrag für die Zusammenarbeit erbringt. Doch das bestaufgestellte Team ist nicht handlungsfähig, wenn sich seine Mitglieder nach der Auseinandersetzung nicht zusammenraufen. Man stelle sich nur eine Fußballmannschaft vor, die aus lauter Primadonnen besteht, ein OP-Team, in dem es von Star-Operateuren wimmelt, oder ein Vorstandsgremium, das sich aus eingefleischten Alphatieren zusammensetzt. Die Elf erzielt weniger Tore, als sie könnte; das OPTeam ist für den Patienten lebensgefährlich; die Vorstandsmitglieder ergehen sich in Ressortstreitigkeiten, während sie die entscheidende Frage zu klären haben, wie das Unternehmen bei den veränderten Bedingungen am Markt neu positioniert werden soll. Bei allen genannten Beispielen verhält es sich etwa so, als ob Löwen ihre Rangordnungskämpfe austrügen, während sie sich an einen Büffel heranpirschen. Im vorigen Kapitel habe ich, unter dem Vorzeichen der Aggression, folgenden Zusammenhang herausgearbeitet: Die Strukturlogik einer Gemeinschaft besteht darin, dass die Positionen nach Leistung besetzt werden. Gerechtigkeit ist das erste Naturgesetz des gemeinsamen Handelns. Wer nachhaltig dagegen verstößt, erweist sich als jemand, der das Gemeinwesen schädigt. Je höher seine Position, desto schädlicher ist ein derartiges Handeln für die Gemeinschaft. Statt das Verfahren zu unterstützen, dass die Fähigsten in die Positionen kommen, in denen sie der Gemeinschaft am besten dienen, unterminieren diese Führungsfehlbesetzungen die Gesamthandlungsfähigkeit
136 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns der Sozietät in ihren strukturellen Grundfesten. Es genügt aber auch schon, dass sich die Mitglieder eines Teams gegenseitig nicht zuarbeiten, weil sie aufgrund vorausgegangener Auseinandersetzung noch Groll gegeneinander hegen – auch dann wird es nichts mit dem Mehrwert von Teamwork. Das Kunststück besteht darin, die im internen Wettbewerb um höhere Positionen entstandene gegeneinander gerichtete aggressive Energie zu beschwichtigen und auf das gemeinsame Ziel umzulenken. Um dies zu erreichen, muss das Team nun seine Aufmerksamkeit, Kraft und Intelligenz auf das gemeinsame Handeln richten. Es geht also darum, die durch die Rangordnungskämpfe ausgelöste aggressive Stimmung in der Gruppe zu beenden und bei jedem Einzelnen die emotionale Bereitschaft herzustellen, mit den neu positionierten Kollegen zusammenzuarbeiten. Die generelle Anleitung für dieses „Zusammenraufen“ gibt der aus den Niederlanden stammende Primatologe Frans de Waal in seinem Buch „Wilde Diplomaten“. Der englische Originaltitel beschreibt das Prinzip wesentlich treffender als die deutsche Übersetzung. Er lautet „Peacemaking among Primates“, also etwa „Wie Primaten Frieden stiften" und verweist auf das ausschlaggebende Moment, auf die Versöhnung. In der Schimpansenkolonie im Zoo von Arnheim hat er beobachtet, wie die Koalition zweier erwachsener Männchen, die den Führungstrupp der Kolonie bildeten, einmal in eine Krise geriet, was sich in einer schlechten Stimmung bei allen Mitgliedern, in wesentlich kürzer gehaltenen Groomingsitzungen und in einer angespannten und aggressiven Gereiztheit niederschlug. „Ich habe Mama, das älteste Weibchen beobachtet, wie es bei Konflikten zwischen den beiden Koalitionspartnern wirkungsvoll vermittelte. Einmal ging Mama zuerst zu Nikkie und steckte ihm einen Finger in den Mund, eine übliche Beschwichtigungsgeste bei Schimpansen; während sie dies tat, nickte sie Yeroen ungeduldig mit dem Kopf zu und hielt ihm ihre andere Hand hin. Yeroen kam herüber und gab Mama einen langen Kuss auf den Mund. Als sie sich dann von ihnen zurückzog, umamte Yeroen den noch kreischenden Nikkie. Nach dieser Einigung jagten die beiden Männchen Seite an Seite Luit [das ehemalige Alphamännchen] davon, der be-
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gonnen hatte, mit gesträubtem Fell herumzustolzieren. Tatsächlich hatte Mama dem Chaos ein Ende gemacht, indem sie buchstäblich die herrschende Koalition wiederherstellte.“
Auch menschliche Sozietäten, Vorstandsgremien und Projektteams sind keine aggressionsfreien Inseln der sozial Seligen! Auch hier existiert interner Wettbewerb und gleichzeitig die Notwendigkeit zur Kooperation. Die dafür zuständigen Verhaltensprogramme sind Aggression und Bindung. Die Problematik besteht darin, wie die Beteiligten von der Auseinandersetzung wieder zur Zusammenarbeit finden, wie sie den Übergang von der Aggression zur Bindung schaffen. Dabei sind die Schimpansen ein gutes Vorbild: Die Wiederherstellung der Bindung vollzieht sich durch Einlenken, Aufeinander-Zugehen, kurz durch Versöhnung. Wenn die Kontrahenten es nicht schaffen, von sich aus den Frieden wiederherzustellen, dann bedarf es der wohlwollenden Intervention der allseits geachteten Führung, in unserem Beispiel aus der Arnheimer Kolonie eines angesehenen und lebensklugen Weibchens, das die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Beziehungen wieder ins Lot kommen. Damit geht allerdings die gegenseitige Anerkennung der beiden Kontrahenten einher, denn derart signalisiert der eine dem anderen: „Hier bist du richtig aufgestellt in der Gruppe; hier brauchen wir dich und genau hier erkenne ich dich in deiner Position an.“ Genau das Gleiche muss nun natürlich auch vom anderen kommen im Sinne von: „Und hier akzeptiere ich dich, weil du, was du an dieser Stelle machst, gut kannst. So passen wir zusammen und können gut kooperieren.“ Sozialkompetente Führungskräfte befördern, begleiten und moderieren derartige Prozesse der Auseinandersetzung und des Zusammenraufens. Schließlich sind sie diejenigen, die eine gut aufgestellte Mannschaft brauchen, um den Erfolg des gemeinsamen Handelns sicherzustellen, für den sie die Verantwortung tragen.
138 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns
Worauf Sie sich verlassen können: Die Verhaltenslogik Die Mannschaft hat sich nach der Maßgabe der Strukturlogik formiert, und trotzdem ist das Team auf dieser Basis noch nicht handlungsfähig. Selbst wenn sich die Mitglieder gegenseitig in ihren Positionen anerkannt haben, so ist damit zunächst der erste Schritt zur erfolgreichen Kooperation getan. Was jetzt dringend erforderlich ist, das müssen die Teamkollegen trainieren: das exakte Zusammenspiel. Wie man ein Musikinstrument erlernt oder sich handwerkliche Fertigkeiten aneignet, so muss die Mannschaft lernen, mit dem Teamkörper gekonnt und souverän umzugehen. Die einzelnen Leistungsbeiträge bedürfen der Koordination, die Teammitglieder benötigen einen Erfahrungshintergrund, der es ihnen ermöglicht einzuschätzen, welcher Teamkollege zu welchem Zeitpunkt in welcher Art und Weise handelt, um den eigenen Anteil am gemeinsamen Handeln pünktlich und zuverlässig einbringen zu können. Um die Verhaltenslogik an einem anschaulichen Bild nachvollziehen zu können, nachfolgend noch einmal ein Blick auf die gemeinsame Jagd der Löwinnen. Mit der Präzision eines Uhrwerks pirscht sich eine Gruppe von drei Löwinnen an die Gazelle heran. Die Aufgaben sind genau verteilt. Macht sich eine Löwin auf und schlägt eine Route ein, die dem Opfer nach rechts den Weg versperrt, dann nimmt die andere automatisch den Weg nach links, damit die Gazelle in diese Richtung nicht ausbrechen kann. Schon lange vorher hat sich ein drittes Teammitglied in nächster Nähe zum Opfer im hohen Steppengras versteckt. Tief auf den Boden geduckt schleichen sich die Raubkatzen an; jedes Mal innehaltend, wenn die Gazelle vom Äsen aufblickt, um ihre Umgebung zu beobachten. Sobald sie sich weit genug angenähert haben, schreckt die im Steppengraß verborgene Löwin das Opfer auf, die zweite versperrt ihm die Flucht in ihre Richtung und treibt es dorthin, wo sich inzwischen die dritte Löwin postiert hat und auf die Gazelle wartet, um im rechten Moment über sie herzufallen.
Worauf Sie sich verlassen können: Die Verhaltenslogik 139
Und nun zur Verhaltenslogik: nehmen wir einmal ein, die wartende Löwin, der die Aufgabe zukommt, das Opfer zu reißen, hat gerade keine Lust, ihren Job in diesem Augenblick zu machen. Stellen wir uns vor, die Treiberin ist nicht konzentriert bei der Sache und verpasst ihren Einsatz, nachdem die Kollegin die Antilope aufgeschreckt hat. Oder denken wir uns, dass diese ihr Opfer in die Flucht schlägt, ehe die beiden anderen Teammitglieder auf ihren Posten sind. Schon kleine Nachlässigkeiten in der Koordination der einzelnen Beiträge stellen das gesamte Unternehmen „Gazellenjagd“ infrage.
Abbildung 16:
Zuverlässigkeit
Die Logik, der das Verhalten der Einzelnen folgt, könnte klarer nicht zutage treten: Das gemeinsame Handeln kommt nur zustande, wenn jedes Teammitglied seine Leistung in äußerst präziser Abstimmung mit den anderen zum Einsatz bringt. Zuverlässigkeit ist das zweite Naturgesetz des gemeinsamen Handelns.
140 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns
Graphik 10: Kein gemeinsames Handeln ohne Zuverlässigkeit Der gemeinsamen Jagd der Löwinnen liegt kein Moralkodex zugrunde. Wenn sie schon mehrere Tage keine Beute mehr gemacht haben, das Rudel und vor allem die Löwenjungen hungern und die Stimmung gereizt ist, dann schärfen sich die Sinne, wagen sich die Jägerinnen auch an flinkere Beutetiere heran und nehmen es genau mit dem präzise aufeinander abgestimmten Leistungseinsatz, um optimal zu kooperieren. Es ist das Überlebensprogramm selbst, das hier die natürlichen Regeln des gemeinsamen Handelns vorgibt. Wer sich an die Vorgaben der Verhaltenslogik nicht hält, der erweist sich als unzuverlässig in der Kooperation, und das hat zur Folge, dass das Jagdteam keine Beute macht. Tut er das wiederholt, so kann dieses Verhalten das gesamte Rudel in eine prekäre Situation führen. Der große Vorteil in der Jagdgemeinschaft der Löwinnen besteht darin, dass sich die Tiere über lange Jahre gegenseitig gut kennen, dass die jüngeren von der erfahrenen älteren Löwin taktische Verhaltensweisen erlernen und übernehmen und dass das gemeinsame Handeln mithilfe von trial and error ständig optimiert wird. Das Gemeinwesen des Menschen unterscheidet sich in diesen drei Bereichen wesentlich vom Team der Löwinnen. In großen Organisationen mit vielen Tausend Mitarbeitern ist es nicht möglich, dass jeder mit jedem persönlich bekannt ist. Auch die Zugehörigkeit zu Abteilungen oder Teams über einen Zeitraum von vielen Jahren ist eher die Ausnahme. Der Wechsel vom einen Bereich in den anderen, Matrixorganisationen, in denen sich die Zuständigkeiten überlappen, Versetzungen und Umstruktu-
Worauf Sie sich verlassen können: Die Verhaltenslogik 141
rierungen fordern von den Mitarbeitern immer neue Anpassungen an die veränderte Personalkonstellation im eigenen unmittelbaren Arbeitsumfeld. Außerdem existiert allen Beteuerungen zum Trotz in den meisten Organisationen keine echte Fehlerkultur, was es den Mitarbeitern besonders schwer macht, über den Weg von Versuch und Irrtum Offenheit, belastbare Beziehungen und gegenseitige Wertschätzung aufzubauen. Wenn die Mitarbeiter nicht den Zyklus von Bindungsaufbau und gemeinsamen Handeln durchlaufen haben, dann fällt es ihnen naturgemäß schwer, sich ohne weiteres an die Regeln der Zusammenarbeit zu halten. Die Verhaltenslogik leidet ganz besonders, wenn Zuverlässigkeit verlangt wird, ohne dass man die Gelegenheit erhalten hat, die Kollegen richtig kennen- und einschätzen zu lernen. Der daraus resultierenden mangelhaften Zusammenarbeit versuchen viele Unternehmen dadurch zu begegnen, dass sie in Leitlinien die Ideale einer guten Zusammenarbeit beschwören. Dort finden sich dann Begriffe wie „Fairness, Vertrauen, Respekt, Verlässlichkeit, Integrität, Eigenverantwortung, Miteinander als Verpflichtung“ und viele andere mehr. Wo aber bleibt das Vorbild, an dem sich – ganz parallel zur erfahrenen Löwin – die Mitarbeiter orientieren können? Wo bleibt die Möglichkeit, seine Kollegen kennenzulernen? Wo können die Mitglieder von wichtigen Projektoder Entwicklungsteams lernen, ihre Mannschaft im Sinne eines guten Zusammenspiels auf Vordermann zu bringen? Eine Profifußball-Elf tritt ja auch nicht samstags gegen den Gegner an, ohne jeden Wochentag für diesen Ernstfall trainiert zu haben. Selbstverständlich kann man auch Zuverlässigkeit an den Tag legen, präzise in der Interaktion mit anderen sein, ohne durch Treueschwüre oder Liebesbande an den Kooperationspartner gebunden zu sein. Die meisten Geschäftsbeziehungen sind durch Verträge geregelt. Das ist in arbeitsteiligen Massengesellschaften auch gar nicht anders möglich. Langfristige und wiederholte Zusammenarbeit gründet aber immer auf geprüftem Vertrauen. Die gefestigte und tragfähige Bindung manifestiert sich ja gerade darin, dass der Partner sich aus eigenem Antrieb an die Regel der Zuverlässigkeit hält. Tut er das einmal nicht, so ist das irritierend. Zeigt er sich wiederholt als nicht verlässlich, wirkt sich das negativ auf das einst etablierte Vertrauen aus. Die Bindung kann unter solchen Umständen leicht Schaden nehmen.
142 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns Nun verfügen Menschen über eine angeborene Abneigung gegen Bindungsverlust. In ursprünglichen Gemeinwesen schwächte der Abbruch der Verbindung zu anderen Mitgliedern der Gemeinschaft die individuelle Lebenstüchtigkeit, denn wer auf sich allein gestellt war, hatte es schwer .Die Unterbrechung der Beziehung löst emotional unwillkürlich das Empfinden aus, vom Ausschluss aus der Gemeinschaft bedroht zu sein, und das ist gefährlich. Konnte doch der Ausgeschlossene alleine unter den harten und lebensfeindlichen Umweltbedingungen mehr schlecht als recht überleben, wenn ihm das überhaupt gelang. Insofern stellen Signale der Unzuverlässigkeit und das Nicht-Einhalten der Verhaltenslogik einen starken Impuls für den Betroffenen dar. Man reagiert mit Überraschung und Enttäuschung. Mitunter mag sogar Ärger mitschwingen. In dem Fall, dass man dringend auf die pünktliche und präzise Zuarbeit des anderen angewiesen war, diese von ihm aber nicht erfüllt wurde, kann das sogar wütende Reaktionen auslösen. „Wie kannst du nur …?“ Ob man will oder nicht: Hält jemand die Verhaltenslogik der Zuverlässigkeit nicht ein, so hat dies eine unmittelbare Wirkung auf die Person, die so gehandelt hat, mit möglichen negativen Folgen für die Beziehung. Es zeigt sich, dass die weichen Bindungsfaktoren und die harten Regeln des gemeinsamen Handelns wechselseitig miteinander verschränkt sind: Bindung und Vertrauen sind die Voraussetzung für gemeinsames Handeln – hält man die hier gültigen Regeln, z. B. das Gebot der Zuverlässigkeit ein, wirkt sich das positiv auf die Beziehung aus, tut man es nicht, hat das negative Folgen für die Qualität der Bindung. Eine emotional kompetente Reaktion auf unzuverlässiges Verhalten von Kollegen oder Partnern besteht darin, die Aufmerksamkeit zunächst auf die Beziehung zu richten. Man tut das, was an zweiter Stelle des Bindungsaufbaus steht und bemüht sich um den anderen. Es gilt, herausfinden, was mit ihm los ist, nachzuvollziehen, welche Umstände zu dem unzuverlässigen Verhalten geführt haben. Es geht darum, Verständnis für seine Situation zu gewinnen. Man möchte gerne entdecken, dass die Unzuverlässigkeit nicht gegen die eigene Person gerichtet ist. Erleichtert nimmt man dann zur Kenntnis, wenn das Abweichen vom Pfad der Tugend des Teamworks in einer Überforderung des anderen lag oder an äußeren Faktoren, auf die er
Worauf Sie sich verlassen können: Die Verhaltenslogik 143
keinen Einfluss hatte. Stellt man aber fest, dass der Mangel an Verlässlichkeit doch mit der eigenen Person zu tun hat, dass der andere etwa bewusst und absichtlich nicht präzise in der Kooperation war, dann schmerzt das den Betroffenen umso mehr, weil er gerade dadurch einen graduellen Bindungsverlust erfährt. Dies stellt eine notwendige Sollbruchstelle in der Bindungsformel dar, denn wenn die Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit nachhaltig gestört wird, ist künftiges Vertrauen auch nicht mehr gerechtfertigt.
Graphik 11: Unzuverlässigkeit beschädigt die Bindung Man darf als Führungskraft die Zuverlässigkeit keineswegs unterschätzen, selbst wenn sie im Verdacht steht, zu den so genannten Sekundärtugenden wie Pflichtbewusstsein und Disziplin zu gehören. Sie ist aber nicht sekundär, sondern steht immer an erster Stelle, wenn es darum geht, im Sinne der Gemeinschaft zu handeln. Das zeigt schon das begriffliche Umfeld von Zuverlässigkeit. Dazu gehören Rechtschaffenheit, Gewissenhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit, Sorgfalt, Genauigkeit, um nur einige zu nennen. In einen modernen Bildungskanon aufgenommen mutieren derartig komplexe Bewertungskategorien von Handlungsformen zu „Schlüsselqualifikationen“. Eine Qualifikation, also ein besonderes Können, ist die Zuverlässigkeit allerdings nun überhaupt nicht. Die von einer natürlichen Funktion des gemeinsamen Handelns abgeleitete Tugend gehört in den Bereich von Einstellungen, Überzeugungen und Werten also in den Bereich der Moral.
144 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns
Wie der Beziehungsmanager verhaltenslogisch handelt Jede Führungskraft vom Meister bis zum Vorstand ist Teil der Unternehmenssozietät. Aus diesem Grund müssen sie sich „natürlich“ vorbildlich an die Regeln der Gemeinschaft halten, insbesondere an die Verhaltenslogik. Sollte diese Grundvoraussetzung im Selbstverständnis der Führung infrage stehen, dann ist die Führungskraft fehl am Platz. Darüber hinaus muss sie dafür Sorge tragen, dass ebenso alle Mitarbeiter die Verhaltenslogik erfüllen. Übliche Verfahren, um die Regeleinhaltung bei Mitarbeitern durchzusetzen, sind Kontrollmaßnahmen, Zeiterfassung, Appelle, Moralisieren. Manche Unternehmen greifen auch zu unlauteren und ungesetzlichen Mitteln, wie die Überwachung und Bespitzelung der Mitarbeiter bis hin zur Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Ausweichbewegungen, Vermeidungsstrategien und Trotzreaktionen sind die Folge. Was verloren geht, ist die Bereitschaft, sich freiwillig an vernünftige, zielführende und Erfolg versprechende Regeln zu halten. Der Beziehungsmanager, der für einen reibungslosen, präzisen und zuverlässigen Ablauf im gemeinsamen Handeln seines Teams sorgen möchte, sollte X X
X X
X X
von Beschwörungen und Appellen an die Zuverlässigkeit ebenso absehen wie von ihrer Beteuerung in Unternehmensleitlinien; nachdem er die Positionierung in der Mannschaft vorgenommen hat, die Bindung der neuen Kollegen im Team fördern, ehe es sich auf die Sacharbeit stürzt; probeweise mit der Gruppe gemeinsam handeln, damit sich die Mitglieder gegenseitig wahrnehmen können und einschätzen lernen; mithilfe gegenseitiger Anerkennung die vorläufigen Positionen bekräftigen, so dass die soziale Sicherheit wächst und sich das Gefühl der Zugehörigkeit festigt; den Mitgliedern den Raum geben, sich vertieft kennenzulernen, damit die Gruppe ihre Leistungsressourcen besser kennen und anwenden lernt; nach bzw. parallel zu diesem Prozess des Beziehungsinvestments mit seinem Team in die Sacharbeit des Projekts einsteigen;
Kommunikationslogik: Offenheit braucht Bindung 145
darauf achten, dass die Verhaltenslogik der Zuverlässigkeit von allen Mitgliedern eingehalten wird; falls das nicht der Fall ist, Rückmeldung geben und einfordern; X Mitarbeiter aus dem Team entfernen, die wiederholt und nachhaltig gegen die Maßgabe der Zuverlässigkeit verstoßen; X selbst zuverlässig handeln und so auf die Mitarbeiter, die er nicht unmittelbar führt, durch Vorbild anstatt durch Vorschriften wirken. X
Um sich präzise abstimmen und die Einzelhandlungen zu einem funktionierenden gemeinsamen Handeln koordinieren zu können, müssen die Mitglieder einer Sozietät sich untereinander sehr genau verständigen. Damit das gelingt, bedarf es der Kommunikation, und die folgt – zumindest, wenn sie auf das gemeinsame Handeln ausgerichtet ist – ein paar Grundregeln.
Kommunikationslogik: Offenheit braucht Bindung In modernen Massenwohlstandsgesellschaften, in denen der Lügner, Heuchler oder Betrüger sich – ohne entdeckt und bestraft zu werden – Vorteile verschaffen kann, ist es durchaus möglich, dass der Ehrliche der Dumme ist. Denn dieser muss sich anstrengen, wenn er einen gewissen Wohlstand erreichen will, während sich der Betrüger ohne Leistungseinsatz auf Kosten der „Dummen“ ein schönes Leben macht. Doch damit wird die Werteordnung auf den Kopf gestellt. Die Tugenden des Teamworks haben unter diesen Bedingungen keine Geltung; man fühlt sich einander nicht verbunden und schon gar nicht einer gemeinsamen Sache verpflichtet. Aus diesem Grund versagt die Zusammenarbeit, und der Mehrwert des gemeinsamen Handelns wird nicht erwirtschaftet. Wenn wir eine solche Gesamtentwicklung verzeichnen müssten, hätte schließlich auch der Ganove das Nachsehen, denn wie sollte er sich als unberechtigter Transferempfänger durchmogeln, wenn es nichts mehr zu transferieren gibt? Umgekehrt wird ein Schuh draus. Erträge erfordern Ehrlichkeit! Und zwar deshalb, weil der Mehrwert vor allen anderen Dingen aufgrund von erfolgreicher Zusammenarbeit zustande kommt. Das kann man schon im
146 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns Tierreich sehen. Schauen wir uns in diesem Zusammenhang zunächst einmal die Erdmännchen an: Erdmännchen gehören zu den Mangusten. Sie sind etwa 30 cm lang und haben einen noch einmal so langen glatten Schwanz. Sie gehören zu den kleinen Schleichkatzen und kommen im südlichen Teil Afrikas vor. Die geselligen Tiere leben in Kolonien bis zu 30 Mitgliedern und bewohnen einen Bau. Sie wirken possierlich, wenn sie sich auf den Hinterbeinen sitzend „männchenartig“ von der Sonne wärmen lassen. Diese typische aufrechte Haltung nehmen aber auch die sogenannten Wächter der arbeitsteilig organisierten Mangusten ein. Wenn sie auf einem Hügel Position bezogen haben, beobachten diese Tiere das Umfeld ganz genau. Denn solange die anderen nach Beeren, Spinnen, Larven oder anderen Leckereien stöbern, sind sie nicht aufmerksam genug, um auf herannahende Fressfeinde zu achten, so dass sie ohne weitere Schutzfunktion eine leichte Beute für Schakale, Schlangen oder Greifvögel würden. Die Warnrufe der Wächter sind, wie die Biologin Marta Manser vom Zoologischen Institut der Universität Zürich in Südafrika beobachtet hat, keine panischen Schreie. Vielmehr warnen die Wächter ihre Futter suchenden Kollegen spezifisch und differenziert: Je weiter der Angreifer weg war, desto weniger dringlich ertönten die Warnungen; je näher er kam, desto intensiver wurden sie. Flucht in den Bau oder Bodendeckung ist zwar immer möglich, es macht für die Reaktion der Gewarnten aber einen Unterschied, ob ein plötzlicher Angriff aus der Luft droht oder ob sich eine Schlange von Ferne nähert.
Kommunikationslogik: Offenheit braucht Bindung 147
Abbildung 17:
Erdmännchenwache
Wäre nun der Wächter nicht ehrlich und würde ein falsches Signal geben, also etwa beim Sturzflug eines Greifvogels signalisieren, er habe einen schönen Vogelkadaver gefunden, der für die ganze Truppe ein herrliches Festmahl bedeutet, dann könnten die anderen Gruppenmitglieder nicht situationsgerecht reagieren und würden, wo sie Futter vermuten selbst zur leichten Beute für den Raubvogel. Der Unehrliche erwiese sich so als lebensgefährlich und Erdmännchenkolonien, in denen die Informationen nach dieser Regel übermitteltet würden, wären schon bald ausgestorben. Der Mehrwert der Wächterfunktion besteht darin, den Koloniemitgliedern die Futtersuche zu ermöglichen, ohne dass sie dabei ein leichtes Opfer für die Räuber werden. Durch die exakte, pünktliche und zutreffende Warnung der
148 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns Wächter können sich die korrekt Informierten rechtzeitig vor dem Zugriff der Fressfeinde in Sicherheit bringen. Dies erhält den Bestand der Gemeinschaft und stellt einen Überlebensvorteil für die Kolonien dar. Ähnlich wie bei den Erdmännchen sieht das Bedrohungsschema für die grünen Meerkatzen aus. Diese Primaten leben in geselliger Form in der afrikanischen Savanne. Sie stehen auf dem Speiseplan von Raubkatzen, Greifvögeln und Schlangen. Die Primatologen Dorothy Cheney und Robert Seyfarth, die beide an der University of Pennsylvania arbeiten, haben in ihren Feldstudien herausgefunden, dass sich die Meerkatzen mit akustisch unterschiedlichen Rufen gegenseitig darüber informieren, welche Art von Fressfeind im Anmarsch ist. Entsprechend der verschiedenartigen Signale schauten die Gewarnten dann auch bei der einen Sorte von Rufen in die Luft, bei der anderen suchten sie intensiv das Steppengras mit ihren Blicken ab. Es wurde ihnen also differenziert mitgeteilt, ob Luft-, Schlangen- oder Großkatzenalarm bestand. Hier findet offensichtlich eine wesentlich komplexere Kommunikation als bei den Erdmännchen statt, denn die Primaten kennzeichnen den Fressfeind genau und deshalb hat man diese Art der Warnrufe als „referenzielle Signale“ bezeichnet. Kann uns diese Art von Informationsweitergabe zwischen Erdmännchen und zwischen Meerkatzen überhaupt etwas zur Kommunikation im Unternehmen, insbesondere zur Führungskommunikation, sagen? – Natürlich, und zwar Grundlegendes: Wer nicht korrekt kommuniziert, gefährdet seine Gefährten, bringt unter Umständen die gesamte Gruppe in Gefahr. Die Korrektheit bezieht sich auf die Pünktlichkeit der Informationsweitergabe und auf die hinreichende Genauigkeit des zu vermittelnden Inhalts. Sichergestellt werden müssen die Klarheit der Aussage, die Offenheit in der Beziehung vom Sender zum Adressaten, die Erreichbarkeit des Empfängers und der Wahrheitsgehalt der Information. Der britische Sozialwissenschaftler Peter Hartley hat in seinem Buch „Group Communication“ drastisch beschrieben, in welch fataler Weise sich fehlgeschlagene Kommunikation zwischen Teamkollegen auswirken kann:
Kommunikationslogik: Offenheit braucht Bindung 149
Bei der Untersuchung der Gründe für einen Flugzeugabsturz wird in aller Regel mit großer Dringlichkeit nach der Black Box gesucht. Dabei handelt es sich um ein kombiniertes Gerät, das zum einen aus dem Flugschreiber und zum anderen aus dem Stimmrecorder besteht. Die Konstruktion dieses Apparats ist so sicher, dass sie den Absturz eines Flugzeugs unbeschädigt übersteht. Hartley hat nun mehrere Gespräche analysiert, die kurz vor dem Absturz der jeweiligen Maschinen aufgenommen wurden. Das folgende Beispiel dokumentiert den Wortwechsel zwischen Kapitän und erstem Offizier kurz vor der Katastrophe. Als der Copilot die Crew beim Landeanflug auf die Rollbahn des Zielflughafens darauf aufmerksam macht, dass die aktuelle Flughöhe nicht stimme und die Sinkgeschwindigkeit zu hoch sei, wird diese Information vom Kapitän nicht ernst genommen. Weil der Copilot aber seine Bedenken wiederholt, kommentiert sein Chef dies mit folgenden Worten: „Was ist der Unterschied zwischen einem Copiloten und einer Gans?“. Nach einer kurzen Pause gibt er selbst die Antwort: „Die Gans kann fliegen.“ Ganz kurz darauf gibt der Stimmenrecorder den explosionsartigen Knall wieder, der beim Aufprall der Maschine auf der Rollbahn entstanden ist.
Abbildung 18:
Fatale Konsequenzen mangelhafter Kommunikation
150 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns Wenn Warnungen vom Vorgesetzten nicht gehört werden, er durch Routine, Sorglosigkeit oder Selbstüberschätzung wichtige Informationen der Außenwelt einfach ausblendet und nichts davon hören will, dann leidet er unter Realitätsverlust. Trotzdem muss er die Managementaufgaben Entscheiden, Organisieren, Führen usw. wahrnehmen. Das gelingt mit zunehmender Entfremdung von den Gegebenheiten aber immer schlechter, und es muss niemanden wundern, wenn die Kiste unter derartigen Fehleinschätzungen schließlich abschmiert. Im Oktober 1997 ist das neue A-Klasse-Modell der Daimler-Benz AG bei einem Ausweichtest in Schweden umgekippt. Das war eine Katastrophe angesichts der vorausgegangenen mehrmonatigen Werbe- und Einführungskampagne, mit welcher der Autokonzern das neue Modell der deutschen Bevölkerung bekannt und schmackhaft gemacht hatte. Schließlich betrug der Auftragsbestand zu diesem Zeitpunkt etwa 100.000 Fahrzeuge. Das für den Bereich Pkw verantwortliche Vorstandsmitglied gab zu: „Es hat uns kalt erwischt.“ Der „Elch-Test“ ist zu einem geflügelten Wort geworden. Doch so unvorbereitet hat das Ereignis das Unternehmen nicht getroffen. Ein Monat vor der Markteinführung wurde bei einem ähnlichen Test in Dänemark festgestellt, dass die Reifen des untersuchten A-KlasseModells im inneren Bereich der Kurve bei 55 km/h von der Fahrbahn abgehoben haben. Unmittelbar nach dem misslungenen Elch-Test hat der Konzern eine Task-Force eingerichtet, die nach kurzer Zeit eine Lösung für das Problem vorlegen konnte: In alle A-Klasse-Fahrzeuge wurde ein elektronisch gesteuertes Fahrassistenzsystem, kurz ESP, eingebaut, eine logistische Meisterleistung, die sich der Automobilbauer 300 Millionen DM kosten ließ. Parallel dazu schaltete er Werbeanzeigen mit dem Tennisstar Boris Becker, der verlauten ließ: „ Stark ist, wer keine Fehler macht. Stärker, wer aus seinen Fehlern lernt.“
So positiv, wie die Krisenkommunikation insgesamt verlaufen ist, so sehr muss man die Frage stellen, warum dies nicht auch schon in der Prävention gelungen ist.
Kommunikationslogik: Offenheit braucht Bindung 151
Wo waren die Entwickler, Sicherheitsingenieure und Qualitätsmanager? Sie waren in dieser heißen Phase kurz vor der Markteinführung selbstverständlich alle da und natürlich alle auf ihrem Posten. Warum hat niemand von den Experten, zumindest spätestens nach den Ereignissen in Dänemark, die Funktion des Wächters übernommen? Warum hat die Frühwarnung nicht geklappt? Könnte ein Grund darin liegen, dass die Verantwortlichen unmittelbar vor der Markteinführung, ganz ähnlich wie der Flugzeugkapitän kurz vor der Landung, nichts von Schwächen oder Fehlern hören wollten? Oder haben sich die Spezialisten, die die Gefahr wohl sahen, nicht getraut, die unangenehme Wahrheit auszusprechen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Hat möglicherweise eine unzureichende Führungs- und Kommunikationskultur dazu geführt, dass der vorauseilende Gehorsam überhand nahm, weil man es sich nicht verscherzen wollte mit seinem Chef oder „mit denen da oben“? Das Prinzip des ehrlichen Feed-backs, die Kommunikationslogik, gilt für Konzerne ebenso wie für Erdmännchenkolonien. Man mag das für selbstverständlich halten und sieht doch, dass Ehrlichkeit in komplexen Unternehmensstrukturen gar nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Trotzdem muss sich auch ein großes Unternehmen an die Wahrhaftigkeit, das dritte Naturgesetz des gemeinsamen Handelns, halten, wenn es Fehler vermeiden und die Zusammenarbeit erfolgreich gestalten will, so dass sich daraus Erträge erwirtschaften lassen.
Graphik 12: Kein gemeinsames Handeln ohne Wahrhaftigkeit
152 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns
Der Ehrliche ist der Schlaue In der Teamjagd der Löwen, die sehr präzise ablaufen muss, wenn sich der Beuteerfolg einstellen soll, ist es besonders wichtig, dass die Kommunikation fehlerfrei und pünktlich durchgeführt wird. Da sich die Mitglieder des Jagdteams schon lange kennen, und es meistens von einer erfahrenen Löwin angeleitet wird, die zudem mit den Mitjägerinnen verwandt ist, weil sie eingespielt sind, Erfahrungen miteinander teilen und strategisch vorgehen, ist die Voraussetzung für das gemeinsame Handeln geschaffen. Sie sind optimal darauf vorbereitet, in einer hochkomplexen und konzertierten Aktion die Beute zu erlegen. Das hat jeder Menge Training und mancher Fehlversuche bedurft. Sie mussten die harten Konsequenzen des Misserfolgs ebenso miteinander teilen wie das Glück, wenn die gemeinsamen Bemühungen von Erfolg gekrönt wurden. Sie haben sich kennen gelernt, können einander einschätzen, sind für einander in ihren Verhaltensweisen berechenbar und verlässlich. Und doch entsteht bei jeder neuen Jagd der Bedarf, sich erneut an die örtliche Situation, an das Terrain, die Position des ausersehenen Opfers anzupassen und sich daraufhin zu koordinieren. Das gelingt nicht ohne Abstimmung. Die Tiere können unter dieser Bedingung nicht nicht kommunizieren. Die Verständigung läuft vor allem über den optischen Kanal. Die beiden Löwinnen, die sich an die Gazelle anschleichen, haben nicht nur ihr Opfer im Fokus, sie haben auch die Position und Körperhaltung der Mit-Jägerin im Blick. Weicht die eine nach rechts aus, so übernimmt die andere automatisch die linke Flanke, damit die Gazelle, nachdem sie aufgeschreckt wurde, hier nicht ausbrechen kann. Diese optische Kommunikation muss ständig erhalten beziehungsweise erneuert werden während des gesamten Prozesses des Anschleichvorgangs, der sich teilweise über eine ganze Stunde hinzieht. Ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration sowohl hinsichtlich der Gazelle als auch in Bezug auf die Gruppenmitglieder ist dabei erforderlich. Eine hörbare akustische Kommunikation, wie zum Beispiel fauchen, schnurren oder brüllen, um sich untereinander zu verständigen, wäre allerdings fehl am Platz. Diese Signale könnten auch vom Opfer wahrgenommen werden, es warnen und vorzeitig vertreiben. Die Ethologen gehen derzeit allerdings einer Vermutung nach, die besagt, dass die Löwen, wie bereits bei Elefanten
Wirksam kommunizieren im Unternehmen 153
und Tigern nachgewiesen, möglicherweise auch akustisch miteinander kommunizieren, und zwar im Infraschall-Bereich. Hierbei handelt es sich um sehr tiefe Töne, die vom menschlichen Ohr (und dem der Gazelle) nicht wahrgenommen werden können. Bei der Beobachtung von Elefanten haben sich Forscher und Touristen schon wiederholt die Frage gestellt, warum eine ganze Gruppe von Elefanten ohne jedes äußere Anzeichen plötzlich völlig synchron in hoher Geschwindigkeit aufbricht und wegläuft. Oder welchen Grund es haben mag, dass die Tiere sich wiederum ganz ohne Signal plötzlich zusammendrängen, einen abwehrbereiten Kreis bilden, in dessen Mitte sie den Nachwuchs nehmen. Wie die Wissenschaftler inzwischen herausgefunden haben, können die Tiere in diesem niederfrequenten Schallbereich Töne erzeugen, die sich als Schwingungen viele Kilometer weit über den Boden übertragen. Mithilfe ihrer säulenförmigen Füße sind sie in der Lage, diese Schwingungen abzunehmen, sie als Information zu verarbeiten und ihr Verhalten dementsprechend zu verändern oder anzupassen.
Wirksam kommunizieren im Unternehmen Nun sind große Unternehmen von ihrer Struktur her keine kleinen Gruppen, in denen die Kommunikation reibungslos und zielgerichtet funktioniert wie beim eingespielten Löwenteam bei der Gazellenjagd. Wenn man aber so viel wie möglich von den evolutionären Erfolgsprinzipien des gemeinsamen Handelns in die Unternehmenskommunikation übertragen möchte, dann sind folgende Faktoren zu berücksichtigen: Wirksame Kommunikation hat nichts mit Rhetorik, Gesprächstechnik oder Regel-Feedback zu tun. Sie steht im Dienst des gemeinsamen Handelns. Dass sich viele Unternehmen eines puren Formalismus etwa in Form regelmäßiger Mitarbeiter- oder Beurteilungsgespräche bedienen, ist einerseits der Komplexität des Unternehmens geschuldet und andererseits durch die Fehleinschätzung der Führung in Sachen Kommunikation begründet.
154 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns Anders als die Jagdteams der Löwen haben die Belegschaften von Unternehmen die Ziele und Strategien meistens nicht klar vor Augen. Dort besteht das Ziel darin, Beute zu machen. Die Strategie ist die kooperative Jagd. Große Konzerne verfolgen große Projekte. Sie wollen den Umsatz steigern, den Ertrag erhöhen, zu den drei Besten der Branche zählen oder gar Weltmarktführer werden. Es sind die Führungs- und Entscheidungsgremien dieser Unternehmen, die in der Einschätzung der Marktlage und der Konkurrenzsituation sowie der Kenntnis der Technik, Produktion und Neuentwicklung diese globalen Ziele festlegen. Dabei handelt es sich um übergeordnete komplexe Zusammenhänge, die sich den Mitarbeitern nicht in gleicher Weise erschließen wie das potenzielle Opfer den Löwen. Aus diesem Grund müssen die übergeordneten Ziele des Unternehmens den Mitarbeitern vermittelt und nahegebracht werden. Das geschieht in aller Regel in so genannten Ziele- und Strategieworkshops, in denen die Zuhörer vor lauter Bäumen aus Zahlen, Daten und Fakten den Wald des Gesamtziels nicht erkennen. Appelle und Beschwörungen in Betriebsversammlungen, Managementmeetings und Abteilungskonferenzen helfen dabei in aller Regel auch nicht weiter. Das heißt: Es wird aus gutem Grund ständig kommuniziert, viel getagt und konferiert, breit informiert, umfangreich verständigt und andauernd mitgeteilt, unterrichtet und vervielfältigt … die Information kommt aber nicht wirklich an. Das liegt daran, dass sie neutral bleibt, unverbunden und damit unverbindlich. „Was hat das Ziel, dass die Firma Weltmarktführer werden will, mit meiner Arbeit in der Instandhaltung zu tun?“, fragt sich ein Mitarbeiter. „Was bedeutet „Kundenorientierung“ im Produktionsprozess? Die nachfolgende Bandgruppe ist doch nicht unser Kunde!“, wundert sich der Produktionsmitarbeiter. Und alle Kollegen der Wertschöpfungskette finden die Regelkommunikation, für die extra im ganzen Werk eine halbe Stunde die Produktion unterbrochen wird, lächerlich. Worüber soll man eigentlich miteinander reden? Über die Ergebnisse aus der Bundesliga, welche Tankstelle das günstigste Benzin anbietet oder darüber, wie der Meister aus der Nachtschicht völlig aus dem Häuschen war, weil er nach einer Schlägerei am Kiosk fünf Krankmeldungen auf einen Schlag bekommen hat?
Wirksam kommunizieren im Unternehmen 155
Offene und ehrliche Kommunikation braucht eine Kultur der offenen Aussprache. Diese gründet nicht auf formalen Kommunikationsstrukturen, sondern auf Vertrauen. Damit weist der ehrliche Umgang miteinander auf eine Conditio sine qua non des gemeinsamen Handelns zurück, auf den Bindungsfaktor vertraut sein, Vertrauen haben. Ohne diese Qualität im unmittelbaren Arbeitsumfeld trauen sich Mitarbeiter nicht, den von oben kommenden Wust von Informationen zu hinterfragen. Das ist aber notwendig, wenn sie sich die Ziele zueigen machen wollen. Etliche sind nur genervt, ignorieren die ständigen Mitteilungen und Appelle und unterwerfen sich notgedrungen, aber widerwillig, genau wie die meisten ihrer Vorgesetzten, halbjährlichen Mitarbeiter- und Zielgesprächen. Die Motivation geht gegen null, die Umfrageergebnisse von Gallup lassen grüßen! Was fehlt, ist die Verbindlichkeit der Kommunikation. Die Bedeutung der Informationen für das eigene Tun muss sich jede Abteilung, jedes Projektteam, jede Entwicklungsmannschaft selbst erarbeiten. Das gelingt nur, wenn man die Mitarbeiter sowohl in der Zielaneignung als auch in der Strategieermittlung einbindet und beteiligt. Genau hier ist wiederum der Beziehungsmanager gefragt: Er hat die Aufgabe, in seinem direkt geführten Mitarbeiterkreis zu informieren und sicherzustellen, dass die Information verstanden wurde. Dann geht es darum, dass sich die Gruppe mit heißem Herzen und durchaus emotional darüber auseinandersetzt, wie das Globalziel in ihrem Zuständigkeitsbereich umgesetzt werden kann, welche Route man einschlagen und wie man dabei vorgehen möchte. Dieser Prozess der Aneignung verläuft über die aktive Beteiligung der Betroffenen. Indem alle gehört und ernst genommen werden, kann es ein Mitglied leichter verschmerzen, wenn sich die Gruppe gegen den eigenen Vorschlag entschieden hat. Von zentraler Bedeutung ist es dabei, dass niemand unfair behandelt wird. Daraus entstehende Kränkungen zerstören die Motivation und sind Stolpersteine für die Einigung, die aber notwendig ist, um schließlich das gemeinsame Handeln in der Umsetzung der Ziele zu starten. Die Integration spielt sich nicht in einem ausschließlich harmonischsozialorientierten Setting ab. Auseinandersetzungen zu führen und später, wenn die ersten Schritte der Umsetzung erfolgt sind, auch kritisches Feed-
156 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns back zu geben, gehört zum Pflichtprogramm der Integration; ebenso wie die positive Rückmeldung, wenn sich ein Mitglied besonders eingesetzt, eine außergewöhnliche Leistung erbracht oder sich über das Erwartbare hinaus als belastbar und zuverlässig erwiesen hat.
Graphik 13: Anerkennung und Auseinandersetzung in der Bindungsformel Kommunikation braucht Zugehörigkeit! In dem Begriff findet sich das Wort „hören“; Wer gehört werden will, muss in Hörweite, also in der Nähe sein. Das ist ganz besonders in großen Konzernen zu berücksichtigen und unter der Bedingung von Kommunikationskanälen wie Telefon, E-Mail, SMS; Twitter und Videokonferenzen. Bei diesen Kommunikationssystemen verschwinden die Personen allzu oft hinter den Informationen. Weil die Verhaltensstruktur der Mitarbeiter evolutionär aber auf den persönlichen Austausch und auf kleine Gemeinschaften geeicht ist, wird es erforderlich, diese Nähe mit künstlichen Mitteln wiederherzustellen. Ansonsten können diejenigen, die die Ziele letztlich erreichen sollen, weder miteinander streiten, noch sich wieder zusammenraufen, geschweige denn effektiv zusammenarbeiten.
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Wie der Beziehungsmanager kommunikationslogisch handelt Wenn es darum geht, eine offene, ehrliche und ergebnisorientierte Kommunikation im Unternehmen auf den Weg zu bringen, dann sollte der Beziehungsmanager X X
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dafür sorgen, dass nicht in vorgefertigten Kanälen globale Ziele und Generalstrategien gleichmäßig über alle Mitarbeiter ausgeschüttet werden; nicht viel mehr als zwölf Mitarbeiter direkt führen, weil damit die soziale Kapazität überstrapaziert wird und die für offene Kommunikation notwendige Bindung fehlt; sicherstellen, dass die Informationen von oben von den Mitarbeitern verstanden wurden, indem sie ihre Bedeutung/Auswirkung auf ihre eigene Arbeit erörtern; den emotionalen Gehalt der Information von den Mitarbeitern bearbeiten lassen, damit sie sich das Ziel zu eigen machen; durchaus mit der Auseinandersetzung verschiedener Positionen (Erwartungen, Befürchtungen, Hoffnungen); mit seinem Team mögliche Wege zur Zielerreichung erkunden, der Beteiligung wegen alle zu Wort kommen lassen und eine gemeinsame Strategieentscheidung fällen; Positionen und Verantwortlichkeiten mit den Beteiligten klären, damit die verschiedenen Positionen im Team leistungsgerecht besetzt werden; dafür sorgen, dass der tatsächliche Leistungsbeitrag nach Qualität und Präzision gegenseitig anerkannt und ggf. auch kritisiert wird; die Stimmung im Team immer wieder zum Thema machen, um festzustellen, wie es mit der Motivation und Moral steht, und um nachzusteuern, wenn nötig.
Diese Handreichungen für das Beziehungsmanagement sind aus den Naturgesetzen des gemeinsamen Handelns abgeleitet. Nicht von ungefähr gehen die Regeln und Werte von Gemeinwesen auf die immer gleichen Wurzeln zurück; und zwar durch die historische Entwicklung von den frühesten Zeugnissen kodifizierten Rechts bis in moderne Massenwohlstandsgesell-
158 Die Naturgesetze des gemeinsamen Handelns schaften wie durch die unterschiedlichen Kulturräume und ethnischen Traditionen. Die natürlich entstandenen und in den verschiedenen Kulturen geprägten Tugenden und Handlungsanleitungen „Sei gerecht, zuverlässig und ehrlich!“ sind spontan einleuchtend, universal verständlich und ohne weiteres nachvollziehbar. Das heißt nicht, dass sie selbstverständlich sind in dem Sinn, dass sie uneingeschränkt eingehalten werden. Spätestens seit der Finanzmarkt- und der daraus resultierenden Weltwirtschaftskrise des Jahres 2009 erkennen wir, dass selbst eine kleine Schicht von Bankern das Weltsozialprodukt eines Jahres zerstören konnte. Sie waren ihren Kunden nicht mehr verbunden und haben unverbindlich und unmoralisch gehandelt. Auch für große Unternehmen und Konzerne ist das Gefühl der Unverbundenheit ein strukturelles Problem. Die Größe derartiger Sozietäten ist für den Einzelnen weder fassbar, noch kann er sie in seinen sozialen Kosmos integrieren. Wenn der Markt aber Unternehmensgrößen von vielen Tausend oder gar Zehntausend Mitarbeitern erforderlich macht, das soziale Fassungsvermögen des Menschen aber auf ein Dutzend beschränkt ist, wenn sie wirklich gemeinsamen handeln sollen, dann ist klar, was zu tun ist: Das Unternehmen, wie bereits angedeutet, nach der Maßgabe der römischen Legion organisieren: „Über zehn stelle einen, über hundert wieder einen.“ In diesen handlungsfähigen Einheiten erleben die Mitarbeiter eines Weltkonzerns persönlich Bindung und erfahren die Wirksamkeit des gemeinsamen Handelns im Team unmittelbar. Das Miteinander ist nicht abstrakt, sondern wird bei der gemeinsamen Planung, der Durchführung und der Zielerreichung in der kleinen Gruppe konkret erlebt. Die Schlagkraft des Konzerns kann durch die naturanaloge Organisation des gemeinsamen Handelns ungemein gestärkt werden. Loyalität, Identifikation, Engagement, Einsatz und Zugehörigkeit werden gerade dadurch herausgebildet, Eigenschaften, die die Unternehmen bei der Bewältigung der auf sie zukommenden Aufgaben dringender denn je brauchen. Wie man dies im Beziehungsmanagement systematisch entsprechend der natürlichen Verhaltensvorgaben umsetzt, darüber erfahren Sie mehr im folgenden letzten Kapitel dieses Buches.
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7. Beziehungsmanagement in der Führungspraxis
Im Jahr 1996 lernte ich Werner Bauer kennen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon viele Jahre Managementerfahrung in unterschiedlichen Unternehmen gesammelt. So war er unter anderem Werbeleiter eines großen Schreibartikelproduzenten, hat für internationale Werbeagenturen gearbeitet und war als Projektmanager für ein Unternehmen aus der Gerätetechnik und in einem Konzern aus der Optoelektronik tätig. Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit hatte er immer wieder schwierige Unternehmenssituationen zu meistern; er musste wiederholt Krisen managen. Dabei ging er allerdings nicht nach dem klassischen Vorbild des harten Sanierers vor, der radikal Kosten reduziert, indem er vor allem Personal entlässt. Werner Bauer hat eine völlig andere Perspektive entwickelt: Die vorhandenen Mitarbeiter stellten sich für ihn nicht als problematische Größe dar, die man rasch abbauen musste, um als Retter einen schnellen Erfolg vorweisen zu können. Sie waren in seinen Augen viel mehr das Potenzial, mit dessen Hilfe der harte Ernstfall der Krise gemeistert werden konnte. Um das zu erreichen und gleichzeitig die Grundlage für einen nachhaltigen Erfolg zu legen, durfte sich das Unternehmen nicht von diesem Mitarbeiterpotenzial trennen, sondern musste die Menschen emotional und zielorientiert einbinden. Und genau das hat er gemacht, mit Erfolg. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen entwickelte der Autor und CoachAusbilder den nach seinem Heimatort genannten Streitberg-Prozess. Mit seiner Hilfe werden Gruppen zu Teams, die in die Lage versetzt werden, die Synergie echter Zusammenarbeit zu realisieren. Dadurch entsteht einerseits Freude an der gemeinsamen Leistung, und andererseits steigert es den Mehrwert für das Unternehmen.
160 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis Ich selbst habe die Ausbildung zum Streitberg-Coach 1997/98 absolviert, die damals in Zusammenarbeit mit dem REFA-Bundesverband durchgeführt wurde. Die gesamte Ausbildung dauerte ein Jahr und war in drei Phasen eingeteilt. In der ersten sollten die Teilnehmer ein emotionales Commitment ausbilden, also ihre Beziehungen zueinander aufbauen und die eigene Position in der sich ausbildenden Teamstruktur finden. Der zweite Abschnitt hatte das Ziel, das Team mit Methoden und Verfahren in Sachen Strukturabbildung, Führung u. a. auszustatten, und hieß deshalb Befähigungsphase. Und der dritte Abschnitt sollte in verschiedenen Projekten exemplarisch und konkret die neue Form der Zusammenarbeit einüben, weshalb er den Namen Projektphase hatte. Die Workshops wie etwa das „Biografieinterview“, „Konfliktbearbeitung“ oder der „Strategieworkshop“ sind weithin bekannte Instrumente aus dem Werkzeugkoffer der Personal- oder Teamentwicklung. Auch die „Anerkennungsrunde“ wird in pädagogischen Kontexten angewandt, man kennt die Vorgehensweise auch unter dem Namen „warme Dusche“. Der gängigen Praxis völlig entgegengesetzt war aber die intensive Beschäftigung der Teilnehmer mit den Beziehungen untereinander. Sie stand am Anfang des gesamten Prozesses und band die Mitglieder in die Gestaltung des neu entstehenden sozialen Teamkörpers ein, denn sie sollte dem gemeinsamen Handeln schließlich den Erfolg bescheren. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie unser Coach immer wieder zur Geduld mahnte, wenn sich die Gruppe mit Feuereifer auf ein Projektziel stürzen wollte: „Nicht hetzen, lasst euch jetzt Zeit füreinander, dann werdet ihr später in der Sacharbeit Zeit gewinnen.“
InTeaming: Der Königsweg zum gemeinsamen Handeln Nachdem ich den gesamten Streitberg-Prozess durchlaufen hatte, ist mir spontan klar geworden, dass sich in seinem Auftakt, den ersten drei Schritten, das Geheimnis für erfolgreiche Zusammenarbeit überhaupt verbirgt. Zu
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diesem Zeitpunkt konnte ich mir aber noch nicht erklären, warum die den drei Workshops zugrunde liegenden Komponenten gemeinsam handeln gegenseitig anerkennen X vertieft kennenlernen X X
so außerordentlich effektiv für die emotionale Stabilisierung der Beziehungen im Team waren. Verwundert stellte ich fest, dass dieses Vorgehen auch in anderen Gruppen funktionierte, bei denen ich das Verfahren nach meiner Coachausbildung angewendet habe. Erst nachdem ich mich intensiv mit den Erkenntnissen der Bindungsforschung vertraut gemacht hatte, habe ich herausgefunden, dass der Ablauf der ersten drei Prozessschritte im Coaching den drei Entwicklungsstufen im Aufbau der Mutter-Kind-Bindung entspricht. Weil es sich dabei um das Ur-Modell der Bindung handelt, das alle Menschen in den ersten Monaten und Jahren ihres Lebens durchlaufen haben, folgt der Aufbau dieses Coachings dem natürlichen Entwicklungsleitfaden der Bindung und seinen Gesetzmäßigkeiten. Jetzt hatte ich den Zusammenhang verstanden: Wenn man dieses Verfahren als natürliches Anwendungsmuster verwendet, gelingt es immer, Menschen für echte Zusammenarbeit fit zu machen. Den Prozess des Ins-Team-Kommens habe ich mit dem Begriff „InTeaming“ bezeichnet. Das Jagdteam der Löwinnen hat sich nicht über Nacht gefunden und ist ebenso wenig spontan schlagkräftig und erfolgreich geworden. Zuerst haben auch sie ihre Beziehungen von langer Hand angebahnt. Sie haben sie intensiviert und verbessert und konnten sich schließlich im gemeinsamen Handeln aufeinander verlassen. Also: Beziehungsarbeit vor Projektarbeit, InTeaming vor CoOperating! Überließe eine Mutter ihr gerade geborenes Kind sich selbst in der Überzeugung, es könne ganz alleine – wie ein Nestflüchter – gut zurechtkommen und sich aus eigener Kraft zu einem erwachsenen Menschen entwickeln, so hielte man sie nicht nur für herzlos, sondern auch für fehlgeleitet. Im Management hat dieses Muster Methode. Beim Start eines neuen Projekts, aber
162 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis auch in vielen anderen Bereichen der täglichen Kooperation sollen Spezialisten ein vorgegebenes Ziel ad hoc gemeinsam erreichen. Man kennt sich gegenseitig kaum und soll im Team einen Fünftausender besteigen. Es erweist sich als Fehler, Teams sofort auf Projekte, Ziele, Strategien loszulassen. Experten und Spezialisten, die im Team kooperieren sollen, tun gut daran, zuvor oder begleitend in einen ganz anderen Bereich zu investieren – in die Stabilisierung ihrer Beziehungen, um Sozialkapital zu schaffen. Denn mit dieser Vorarbeit bzw. Begleitung können sie auf der Basis von „Vertrauen statt Verträge“ schnell, zielgerichtet und effektiv zusammenarbeiten, also ein gemeinsames Handlungsmodell generieren, das zunächst noch überhaupt nichts mit Strategieplanung und Zielerreichung zu tun hat, sondern mit dem Aufbau ihrer Beziehungen untereinander. Tut man das nicht, ist damit zu rechnen, dass sich kooperative Opportunitätskosten entwickeln wie Rangeleien im Prozess, Beschuldigungs- und Rechtfertigungsspiralen, Reibungsverluste aufgrund von Kontroll- und Absicherungsmaßnahmen, Demotivation und innere Kündigung, Zielunklarheit, Nicht-Wahrnehmung von Verantwortung, Fristüberschreitung usw. Dabei helfen auch in entsprechenden Leitlinien veröffentlichte Appelle für kooperative Zusammenarbeit, für vertrauensvolles Miteinander und für effektive Zielerreichung nicht weiter.
Gemeinsam handeln: Sorgen Sie für Sympathie! In professionellen Arbeitsbeziehungen ist es in aller Regel nicht so, dass Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzte von vorneherein über ein hohes Maß an Bindung zueinander verfügen. Anders als Löwen, Schimpansen, Wölfe und Co., die ihre Bindungen zu den Mitgliedern der Sozietät über lange Jahre aufbauen und entwickeln, müssen in Teams, Abteilungen und Arbeitsgruppen die Bindungen zunächst einmal aufgebaut werden. Dabei ist ein Bindungstraining à la Mutter-Kind oder Partnerschaftsbeziehung ebenso ungeeignet, wie die Verordnung von Sympathie durch den Vorgesetzten unsinnig ist.
Gemeinsam handeln: Sorgen Sie für Sympathie! 163
Wie aber die Bindungsformel zeigt, stehen Bindung und gemeinsames Handeln in einem unmittelbaren und starken Zusammenhang: Bindung ist eine wichtige Voraussetzung für gemeinsames Handeln, erfolgreiches gemeinsames Handeln verstärkt wiederum die Bindung. Es bietet sich also an, wenn Bindung noch nicht vorhanden ist, sie dadurch zu entwickeln, dass man den künftigen Mitgliedern des Projekts zunächst einmal die Möglichkeit gibt, auf Probe gemeinsam zu handeln und dadurch die Beziehungen untereinander zu stärken.
Graphik 14: Bindungsaufbau durch gemeinsames Handeln Jenseits von Weihnachtsfeiern oder Restaurantbesuchen im Kollegenkreis ist es geboten, gemeinsames Handeln im entschärften Ernstfall mit dem Team durchzuführen, das künftig zusammenarbeiten soll: Klettergarten, Rallye oder Rafting. Ich bevorzuge die Rallye, in der sich eine Gruppe in zwei Teams aufteilt. Dabei verfügt das eine Team über die Orientierungspunkte des anderen und umgekehrt. Diese werden über Funk gegenseitig ausgetauscht, so dass die Teams ihren Weg durch Feld und Wald finden. Gemeinsam planen die Mitglieder ihre Vorgehensweise. Sie finden und übernehmen verschiedene Rollen. Dabei gehen die Gruppen sehr unterschiedlich vor:
164 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis Die eine lässt sich Zeit, die Mitglieder flaxen herum, vertilgen den ersten Teil des Proviants, die andere nimmt die bevorstehenden Aufgaben ins Visier, ordnet die Rollen nach kurzer Zeit zu und setzt sich alsbald in Bewegung. Ein Team hat sich besonders enge Regeln gegeben: Nach kurzer Orientierung verkündete der Finanzvorstand, der wie selbstverständlich die Führungsposition in der Gruppe übernommen hatte, dass man jetzt zielorientiert vorgehen und zunächst einmal die Rollen zuteilen müsse. Auch diese Aufgabe übernahm er mit dem größten Selbstverständnis. Ehe es sich die Gruppe versah, hatte jeder seine Aufgabe zugeteilt bekommen: Funker, Schriftführer, Späher, Pflanzenbestimmer usw. Kurz darauf setzte sich die Gruppe in Bewegung, während die andere immer noch damit beschäftigt war, ihren Anführer auszuwählen. Nach wenigen Metern wandte sich der Schriftführer mit verschwörerischem Ton an den Coach. Er leide an Schwerhörigkeit, trage ein Hörgerät und befürchte, dass er nicht alle Informationen vom Funker fehlerfrei aufnehmen und niederschreiben könne. Unter der Hand wechselte er seine Position mit einem Späher. Die vorschnelle Einteilung ohne Berücksichtigung der Fähigkeiten und der Interessen der Mitglieder führte dazu, dass das Team schlecht aufgestellt war, unmotiviert und ohne Engagement die Strecke absolvierte und eine Stunde später ihr Ziel erreichte als die andere Gruppe, die sich in der Findungsphase ausreichend Zeit gelassen hatte. Die Mitglieder dieser Gruppe hatten viel Spaß miteinander. Immer wieder machte jemand einen Witz, wenn man fehl gegangen war, Hinweisschilder falsch interpretiert hatte oder sich bei einem Teilnehmer die Sohle vom Wanderschuh abgelöst hatte. Schnell war eine Lösung gefunden; Oberschuh und Sohle wurden mittels Verbandzeug wieder verbunden, und die gute Stimmung sorgte dafür, dass man die noch anstehenden Aufgaben leicht bewältigen konnte und an Fahrt gewann.
Gemeinsam handeln: Sorgen Sie für Sympathie! 165
Die Gruppenmitglieder bilden sich und den momentanen tatsächlichen Zustand der Beziehungen so ab, wie sie auch im Arbeitsalltag unterwegs sind. Dabei lernen sie sich von der persönlichen und nicht nur von der professionellen Seite besser kennen. Es entsteht ein natürliches Maß an Unmittelbarkeit und Nähe. Jeder kann die anderen Teammitglieder in ihrem konkreten Verhalten, im Reden und Handeln wahrnehmen und einschätzen Die anfänglich spontane Sympathie bzw. Distanz erhält eine tiefere Grundierung. Möglicherweise relativiert sich die erste spontane Wahrnehmung, denn einer, der zunächst unsympathisch erschien, hat sich als besonders einsatz- und zugleich hilfsbereit erwiesen. Ein anderer bestätigt den ersten sympathischen Eindruck, weil er die schlechte Stimmung, nachdem die Gruppe einen Fehler gemacht hat, durch einen humorvollen Kommentar aufhellen konnte. Apropos Fehler machen: Schriftführer, Führer und Funker einer anderen Gruppe diskutierten an einer Weggabelung im Wald mit großem Einsatz, wie die Aufgabe, die an der übernächsten Station zu lösen war, in Angriff genommen werden sollte. Ein Späher hatte bei seiner Erkundung den nächsten Orientierungspunkt entdeckt. Von dort rief er zur Kerngruppe zurück: „Hier müssen wir nach links abbiegen.“ Die Gruppe diskutierte weiter, wie die übernächste Aufgabe angegangen werden sollte. Noch einmal meldete sich der Späher: „Hier oben müssen wir nach links!“ Weil niemand Notiz von seiner Meldung nahm, ließ er sich von der NichtBeachtung verunsichern und wiederholte seine Endeckung nicht ein drittes Mal. Prompt ging die ganze Gruppe nach Beendigung der Diskussion in die falsche Richtung und nahm die rechte Abbiegung.
Tatsächlich war die richtige Information schon vorhanden. Weil sie aber von der Führung nicht beachtet wurde, stand sie doch nicht zur Verfügung. Ohne jede böse Absicht war das Team in dieser Situation nicht in der Lage, die bereitgestellte Information für die Auswahl des richtigen Waldpfads zu verwenden. Diese Scharte mussten die Beteiligten dadurch auswetzen, dass sie den Anstieg von 300 Höhenmetern bei 30 Grad Celsius ein zweites Mal bewältigten. Am Tag danach schauen sich die beiden Gruppen einen Film an, der während der Rallye aufgenommen wurde. Jetzt kann jeder mit etwas Abstand aus
166 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis der Zuschauerperspektive auf sein eignes Verhalten und auf das Handeln der gesamten Gruppe blicken. Eine hoch interessante Erfahrung! Selten geht man auf Distanz zur eigenen Person und Rolle; hier ist es möglich, mit unverstelltem, zutreffendem Blick. Was am Vortag im konkreten Tun und mit emotionaler Beteiligung erlebt wurde, kann nun persönlich und im Team reflektiert werden. Ein Großteil der Aufmerksamkeit geht tatsächlich hin zu den Beziehungen, zur Gruppe, zur Stimmung, zum gemeinsamen Handeln. Dabei äußern viele Teilnehmer: „So sind wir auch bei der Arbeit unterwegs! Genau so.“
Gegenseitig anerkennen: Verabreichen Sie eine warme Dusche! Warmduschern begegnet man mit ein wenig Verachtung – sie gelten als Weicheier – und mit ein wenig Verständnis – man möchte selbst ja auch nicht unter die kalte Brause. Nicht anders ergeht es Balkonpflanzen. Auch sie ziehen das temperierte Wasser dem kalten Leitungswasser vor, wenn sie gegossen werden. Ganz ähnlich verhält es sich beim Wachstum von Bindung. Sie braucht Pflege, damit sich die Sympathie und die vorläufige gegenseitige Einschätzung festigen kann. Für den Beziehungsmanager ist es unerlässlich, in dieser Phase mit echtem Interesse auf die künftigen Teammitglieder zuzugehen und eine Situation zu schaffen, in der die Mitarbeiter das untereinander auch tun. Für das sich bildende Team besteht der nächste Schritt darin, das aktiv zum Ausdruck zu bringen, was man sympathisch und positiv an der anderen Person und ihrem Verhalten empfindet: in Form von Anerkennung und Wertschätzung. Oft genug bleibt es dabei, dass man den anderen wahrnimmt, bestimmte Verhaltensweisen und Einstellungen gut findet, … und schließlich behält man diese positive Einschätzung für sich. Dadurch bleibt das eigene Empfinden und die ganze Person dem anderen ein Stück unbekannt, vielleicht sogar undurchsichtig. Der Kollege empfängt auf diese Art keine Äußerungen, die ihm einen Hinweis darauf geben, wie man zu ihm steht. Werden
Gegenseitig anerkennen: Verabreichen Sie eine warme Dusche! 167
diese Signale aber in Form eines anerkennenden Worts, einer wertschätzenden Geste oder eines dicken Lobs vermittelt, dann spürt der Betreffende die Aufmerksamkeit und die wohlwollende Grundhaltung seines Gegenübers. Er erlebt ganz unmittelbar das, wonach wir alle streben: als Mensch akzeptiert zu werden, als Mitglied Teil der Gemeinschaft zu sein und Anerkennung für den eigenen Leistungsbeitrag zu erfahren. Das geht nicht theoretisch, indem man über die Möglichkeiten räsoniert, wie Anerkennung im Betrieb ausgedrückt werden könnte, oder indem man darüber diskutiert, welche Formen der Anerkennung in dieser oder jener Situation angemessen sein mögen. Gerade hier sind wir auf die unmittelbare zwischenmenschliche und persönliche Rückmeldung angewiesen. Genau das trainieren die Teilnehmer in der Anerkennungsrunde: Sobald sich ein erstes „Opfer“ gefunden hat, sagen ihm alle anderen, was sie an ihm mögen und wertschätzen. Am Ende dieser Prozedur, wenn alle ihre Anerkennung geäußert haben, gibt der Anerkannte Rückmeldung: „Was macht die Anerkennung mit mir? Wie geht es mir dabei?“ Ein Teilnehmer formulierte: „Ich bin völlig überrascht, dass die Kollegen wiederholt betont haben, dass ich gut zuhören kann. Das sehe ich als nichts Besonderes; es ist selbstverständlich für mich und darum bin ich darüber erstaunt, wenn mein „offenes Ohr“ heute so oft positiv erwähnt worden ist.“ Darauf meldete sich aus dem Kreis ein Anerkenner nochmals zu Wort: „Bei der Hektik, die in unseren Projekten herrscht, ist das sehr wichtig. Wenn wir uns bei allem Termindruck auch nur zwischen Tür und Angel einmal austauschen konnten, hat mir das manchmal schon richtig geholfen, aktiv in die nächste Phase zu starten.“ Ein anderer Teilnehmer, der gerade reihum Anerkennung erhalten hatte, sagte: „So viele gute Worte auf einmal habe ich noch nie bekommen. Es tut richtig gut; ich fühle mich klasse, bin um viele Zentimeter gewachsen. Das hätte mein Chef einmal hören sollen, mit dem ich jährlich zähe Gespräche über den Zielerreichungsgrad führen muss.“ Ein dritter reagierte auf die „warme Dusche“, wie folgt: „Bei den vielen positiven Äußerungen meiner Kollegen über mich habe ich unwillkürlich immer auf das sonst obligatorische „aber“ gewartet. Es kam nicht, und ich
168 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis muss sagen, das hat mich fast ein bisschen irritiert. Stattdessen habe ich selbst das „aber“ für mich formuliert: Wenn es positiv vermerkt wird, dass ich mich intensiv um die Belange meiner Mitarbeiter kümmere, so wird mir gleichzeitig bewusst, dass ich dabei manchmal nicht zielorientiert genug vorgehe und deshalb in den Abläufen immer wieder in Zeitverzug gerate.“ Teilnehmer einer heterogen zusammengesetzten Gruppe, die sich lediglich für zwei Tage zum Anerkennungsworkshop getroffen hat, äußerten Folgendes: „Obwohl wir uns hier zum ersten Mal getroffen haben, haben wir uns in der kurzen Zeit sehr gut kennen- und schätzen gelernt. Als Gruppe sind wir auf ein höheres Niveau gelangt und würden jetzt gerne zusammen ein Projekt starten.“
Nach der Anerkennungsrunde gleich ins Projekt zu starten, wäre wirklich etwas überstürzt. Ich denke da an meinen Coach Werner Bauer zurück, der nicht müde wurde zu betonen, man solle nicht hetzen. Trotzdem ist offenkundig, wenn man diese Aussagen hört, dass sich die Mitglieder in dieser Phase persönlich und ganz konkret auf die Beziehungen einlassen, was emotional gar nicht immer so einfach ist. Warum? Weil Anerkennung genauso wie Kritik in den Bereich der Aggression gehört und uns die gegenseitige Positionierung innerhalb einer konkreten oder gedachten Rangordnung emotional aufwühlt. Allerdings wirken Lob, Wertschätzung und Anerkennung in aller Regel positiv, unterstützend und erhebend auf den Anerkannten, und diesen emotionalen Lift macht sich die Anerkennungsrunde zunutze. Nicht einseitig und manipulierend, sondern gegenseitig, offen, den einzelnen und das Team stärkend. Später, in der Projektarbeit, ist natürlich auch kritische Rückmeldung erforderlich, wenn Fehler gemacht werden. Diese ist samt emotionaler Talfahrt, die der Kritisierte erlebt, aber umso besser zu ertragen, je stabiler die Beziehung zuvor gegründet wurde. Die Synchronisierung emotionaler Zustände und Befindlichkeiten findet in diesem Zusammenhang nicht mit gleicher Intensität und Dauer statt wie beim vorsprachlichen Mutter-Kind-Dialog. Dass sie aber auch in Teams eine Rolle spielt, macht die spontane Stimmungsübertragung deutlich, die ebenso wie der Mutter-Kind-Dialog ohne Worte abläuft. Das Verstehen ohne Worte
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ist auch bei der Zusammenarbeit in entscheidenden Situationen mit höchster Anspannung und Konzentration von großer Bedeutung. Wenn die Teammitglieder den Sachverhalt und sich untereinander gut kennen, funktioniert selbst ein komplexer Informationsaustausch ohne langes Hin und Her. Erinnern wir uns noch einmal an die erste Hälfte der Bindungsformel, bei der es um die drei Faktoren der Bindung geht. Hier sehen wir, dass die Anerkennungsrunde genau das tut, was dort an zweiter Stelle steht, nämlich sich persönlich kennenlernen, sich redlich um den anderen bemühen und die Beziehung selbst als wichtig und wertvoll erleben.
Graphik 15: Sich umeinander bemühen stärkt die Bindung
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Vertieft kennenlernen: Werden Sie erst jetzt „InTeam“! Auf der Basis der Erfahrungen aus dem gemeinsamen Handeln und der gegenseitigen Anerkennung lässt das entstehende Team im dritten Schritt jedem Einzelnen ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zukommen. Es geht darum, in Erfahrung zu bringen, wie der andere zu dem geworden ist, der uns heute gegenübersitzt. Es geht um eine biografische Tiefe, die es zu ergründen gilt, wenn man das Temperament, die Persönlichkeit und die Stärken des Teammitglieds genauer kennenlernen möchte. Die Vorerfahrung, die man in den ersten beiden Phasen miteinander gemacht hat, ist eine wichtige Voraussetzung für den dritten und abschließenden Schritt im InTeaming. Man könnte nicht damit beginnen, weil dadurch der Prozess des Ins-Team-Kommens zu schnell ablaufen und zu Recht eine emotionale Gegenwehr der Beteiligten hervorrufen würde. Babys im Alter von etwa acht Monaten zeigen erstmals eine Abwehr gegen Menschen, die nicht ihre direkte Bezugsperson sind. Man nennt diese Verhaltensweise „fremdeln“, weil die Kinder in diesem Lebensabschnitt in der Lage sind, zwischen vertrauten und fremden Personen zu unterscheiden. Angenehm ist der Vertraute, beängstigend oder doch zumindest „befremdlich“ wirkt der Unbekannte. Und das ist prinzipiell auch für die Zukunft so. Die Fremdheit zu überwinden, sich dem anderen anzunähern, sich bekannt und schließlich vielleicht sogar vertraut zu machen, ist ein Prozess mit vielen Rückversicherungen. Wirkt der fremde Mensch sympathisch? Bemüht er sich um mich? Verfolgt er ein Ziel zielstrebig und bezieht er mich in diesen Prozess mit ein? Erweist er sich als zuverlässig? Sagt er mir die Wahrheit? Im Biografieinterview befragt ein Teilnehmer den anderen nach seinem Leben. Wohlwollend, fördernd und niemals drängend. Der Interviewte bestimmt, wie weit er gehen, wie viel er erzählen mag. Wichtige Erlebnisse kommen da zum Vorschein, kleine Begebenheiten treten aus der Erinnerung hervor, prägende Erfahrungen werden ausgetauscht, Herausforderungen, denen man nicht gewachsen war und solche, die man gemeistert hat, erwachen in der Erzählung zu neuem Leben. Das sind spannende Lebensge-
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schichten, in die man richtig abtauchen kann. Im Anschluss wird derjenige, der zuerst die Rolle des Interviewers eingenommen hat, selbst zum Befragten. Damit dieser biografische Erfahrungsschatz nicht nur in der Zweierbeziehung verbleibt, verfasst jeder für seinen Interviewpartner ein Plädoyer, das er anwaltschaftlich der gesamten Gruppe vorträgt. So erfahren alle, möglicherweise im einen oder anderen Punkt nicht in der Ausführlichkeit wie im Zweiergespräch, welche Umstände das Leben des Vorgestellten geprägt haben. Der Interviewpartner des Geschäftsführers der Stadtwerke plädierte für seinen Chef vor der Gruppe. Er erzählte, wie sehr er sich schon als Sechzehnjähriger beim Gemeinderat dafür engagiert hat, dass die Jugendlichen einen eigenen Raum zur Verfügung gestellt bekommen. Nach langem Hin und Her wurde ihnen schließlich ein dunkler, kalter und schmutziger Kellerraum im alten Schwimmbad überlassen. Mutlos angesichts des unwirtlichen und trostlosen Verlieses wollten die Jugendlichen schon wieder Abstand davon nehmen, nicht aber der Geschäftsführer in spe. Er war sich auch für die harte körperliche Arbeit, bei der man sich die Hände schmutzig macht, nicht zu schade. Im Gegenteil, er besorgte einen Kasten Bier, einen Kassettenrekorder und einen Bohrhammer, mit dem er anfing, die Schlitze für die zu verlegenden Elektrokabel zu schlagen. Weil die Arbeit über Kopf schwer war, und er nach einer gewissen Zeit nicht mehr weitermachen konnte, übernahm das sein Freund. Auch die anderen ließen sich überzeugen und klinkten sich ein. Sie besorgten Gips, Tapeten, Farbe, Steckdosen und Schalter, Lampen und Gardinen und statteten den Raum schließlich mit alten Möbeln aus, die auf dem Dachboden des einen oder anderen Elternhauses vor sich hindämmerten. Das war der Auftakt für einen langjährigen Treffpunkt für die Jugendlichen der gesamten Gemeinde. Als das Plädoyer zu Ende war, reagierten die Zuhörer mit den Worten: „So viel Initiative hat unser Chef auch heute. Immer neue Ideen! Dabei geht er auch ungewohnte Wege, die einen manchmal schon mehr als verwundert haben. Im Vergleich zu den Werken der benachbarten Städ-
172 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis ten stehen wir aber gerade wegen der ungewöhnlichen Ideen und Aktivitäten sehr gut da.“ Wie oft hatten sich die Kollegen schon über ihren Sicherheitsingenieur geärgert, weil sie wegen seines ständigen Hier-Prüfens und dauernden Da-Nachfragens schon oft in Zeitverzug geraten waren und dadurch das Projektteam ständig ausgebremst wurde. Im Interview erzählte er, dass seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, als er 13 Jahre alt war. Als ältester Bruder von drei Kindern fühlte er sich verantwortlich, die Geschwister, die auf verschiedene Pflegefamilien verteilt worden waren, immer wieder zusammenzuführen. Dazu brauchte er jedes Mal das Einverständnis der Familien, und außerdem musste er die Erlaubnis vom Betreuer des Jugendamts einholen. Wenn er die Regeln einhielt, ließen sich die Treffen mit den beiden Geschwistern organisieren. Nachdem sein Interviewpartner die Lebensgeschichte des Sicherheitsingenieurs der Gruppe vorgetragen hatte, reagierte diese beschämt. Wie kleinlich erschienen ihnen plötzlich ihre Ungeduld und ihr Unmut, nachdem sie diesen biografischen Hintergrund mitgeteilt bekommen hatten. Der Mann würde sein Verhalten nicht verändern, weil die anderen nun wussten, wie er zu seiner Rückversicherungspraxis gekommen war. Aber man konnte ihm das Einholen der einen oder anderen Information abnehmen, schlug ein Kollege vor, auch so könne man an Geschwindigkeit gewinnen.
Gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz wachsen, Erwartungen an den Kollegen, sein Verhalten so zu ändern, dass er „fehlerfrei funktioniert“, treten in den Hintergrund. Denn was man nachvollziehen kann, findet Verständnis und wird nicht vorschnell verurteilt. Ein Team, dem dieser Integrationsprozess der verschiedenen Blickpunkte seiner Mitglieder gelingt, wird nicht zum Kollektiv, sondern zu einer Gemeinschaft von Individuen. Dies ist keineswegs nur dem Privatleben vorbehalten. Auch unsere Beziehungen im professionellen Umfeld sind auf derartige Investitionen in die Bindung zu den Kollegen angewiesen, weil wir nur auf diese Weise das Zutrauen zueinander entwickeln, das ja die Voraussetzung für eine funktionierende Zusammenarbeit ist. Damit ist nichts anderes vorbe-
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reitet als die emotionale Stabilisierung der Beziehungen, um erfolgreich, sachbezogen und zielorientiert die im Projekt liegende neue gemeinsame Herausforderung anzugehen. Mit der Ausbildung von Vertrauen ist jene Stufe erreicht, die in der MutterKind-Bindung zu einem sicher-gebundenen Stil führt. Er zeichnet sich dadurch aus, dass das Kind sich nicht mehr ständig um die Beziehung zu seiner Mutter bemühen muss. Es ist sich inzwischen sicher, sich auf deren Vorhandensein und auf die Stabilität der Bindung verlassen zu können. Auf dieser sicheren Basis kann es sich nun getrost den vielen neuen Informationen der nahe gelegenen Umwelt zuwenden und sie erforschen und aufnehmen. Mitarbeiter, die nicht ausreichend Bindung zu ihren Kollegen aufgebaut haben, sind – wie unsicher gebundene Kinder – mit Sorge, Trotz, Wut, mit Ignoranz, Argwohn und emotionaler Distanz belastet und können deshalb nicht ihre gesamte Leistungsfähigkeit in ihre Arbeit und in das Team einbringen. Um an die verschüttete Antriebskraft heranzukommen, ist es an der Zeit, die zentralen Erkenntnisse der Bindungsforschung in die Arbeits- und Unternehmenswelt zu übertragen. Genau das verfolgt das Modell „InTeaming“ mit dem Effekt, dass die Mitarbeiter auf der Basis emotional stabiler Beziehungen erfolgreich gemeinsam handeln und dadurch Mehrwert erwirtschaften.
Die Fehlfunktionen des gemeinsamen Handelns Der amerikanische Management-Autor Patrick Lencioni beschreibt in seinem Bestseller „The five Dysfunktions of a Teamǥ, welche Folgen es hat, wenn die Mitglieder von Gruppen nicht „InTeam“ arbeiten: 1. Die erste Fehlfunktion eines Teams ist der Mangel an Vertrauen. Wenn die Mitglieder im Umgang miteinander keine Nähe zulassen und alle Fehler, Schwächen und sonstige Unsicherheiten unterdrücken, kann keine Offenheit entstehen. Ohne Offenheit ist Vertrauen unmöglich
174 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis 2. Das Fehlen von Vertrauen zieht die zweite Fehlfunktion nach sich: In Teams, die Angst vor Konflikten haben, werden keine engagierten Auseinandersetzungen geführt. Ideen und Vorschläge werden halbherzig eingebracht und nur verhalten diskutiert. Ohne Vertrauen sind kontroverse Diskussionen nicht möglich. 3. Die dritte Fehlfunktion folgt prompt: Das Fehlen von Verbindlichkeit. Mitarbeiter lassen sich nicht voll und ganz auf eine Entscheidung ein, wenn sie nicht zuvor die eigene Meinung in einem offenen Austausch eingebracht haben. Ohne Auseinandersetzungen zu führen, entsteht keine Verbindlichkeit. 4. Daraus entwickelt sich zwangsläufig die vierte Fehlfunktion. Teams, die es nicht schaffen, sich verbindlich auf eine klare Vorgehensweise zu einigen, sind durch einen Mangel an Verantwortlichkeit gekennzeichnet. Ohne Verbindlichkeit der Entscheidungen fühlt sich keiner verantwortlich für deren Umsetzung. 5. Die fünfte Fehlfunktion folgt auf dem Fuße: Gruppen und Gremien, in denen sich niemand verantwortlich fühlt, bilden eine Nachlässigkeit gegenüber den gemeinsamen Zielen aus. Ohne Verantwortlichkeit stellen die Gruppenmitglieder ihr Ego über das Ziel des Teams bzw. des gesamten Unternehmens. Die fünf Störungen, die das gemeinsame Handeln blockieren, stellt Lencioni in Form einer Pyramide dar:
Die Fehlfunktionen des gemeinsamen Handelns 175
Graphik 16: Vom Gegeneinander zum Miteinander Diesem hyperstabilen Modell kommt der Beziehungsmanager nur bei, wenn er den Weg über die evolutionären Verhaltensprogramme, insbesondere über die Bindung wählt. Vertrauen bauen Mitarbeiter auf, wenn sie gemeinsam handeln, sich dabei näher kommen und besser einschätzen können. Über die gegenseitige Anerkennung wird die positive Kraft der Aggression freigesetzt, die dem Einzelnen Teammitglied ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit zuteil werden lässt und ihm soziale Sicherheit in den Beziehungen vermittelt. Auf dieser Basis kann man Konflikte viel besser austragen und Kritik aushalten, als wenn dies rein sachlich und unpersönlich geschieht. Verbindlichkeit entsteht vielmehr in der persönlichen Beziehung. Sobald sich die Teammitglieder so gut kennen, dass sie sich in die emotionalen Befindlichkeiten ihrer Kollegen hineinversetzen können, verpflichten sie sich auch untereinander, weil die emotionalen Faktoren der Bindung greifen. Dadurch übernimmt jeder einzelne Verantwortung für seinen Aufgabenbereich und so entsteht Zielklarheit durch Zielaneignung.
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CoOperating: Wie das Team ins gemeinsame Handeln kommt Ein Team ist kein Selbstzweck, sondern es setzt das Mittel des gemeinsamen Handelns zu dem Zweck ein, ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Man will beispielsweise Marktführer werden, den Ertrag steigern, einen größeren Marktanteil, die Wahlen oder ein Fußballspiel gewinnen. Dabei sind in aller Regel Projekte zu bewältigen, die der echten Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachleute bedürfen. Wenn wir uns noch einmal die Treibjagd der Löwinnen anschauen, dann bemerken wir, dass für sie die Kooperation auf der freien Wildbahn von überlebenswichtiger Bedeutung ist, denn dort herrschen harte Umweltbedingungen, die sie dazu zwingen, im Team Erfolg zu haben. Und tatsächlich finden sich drei zentrale Steuerungsmerkmale ihres gemeinsamen Handelns, die allgemeingültig sind:
1. Ist-Zustand feststellen Die Tiere haben in einer Art Training durch Versuch und Irrtum, durch Erfahrung und Übung herausgefunden, wie sie als Team erfolgreich sind. So haben sie etwa festgestellt, wer in welcher Rolle den besten Leistungsbeitrag zum gemeinsamen Handeln liefert und die Positionen entsprechend besetzt. Sie haben entdeckt, dass es darauf ankommt, die einzelnen Leistungen präzise aufeinander abzustimmen, und sie haben gelernt, die für das gemeinsame Handeln relevante Information prompt und korrekt an die Teamkolleginnen zu übermitteln. Dies generiert die Strukturlogik, nach der das Team aufgebaut ist, und die Verhaltenslogik, die die Teilnehmer befolgen müssen, wenn sie Erfolg im gemeinsamen Handeln haben wollen. Kurz: Der Ist-Zustand des Löwenteams ist klar erkennbar. Es hat sich nicht nur eine soziale Beziehungs-, sondern auch eine zielgerichtete Aufgabenstruktur herausgebildet: Die Löwinnen wissen genau, in welcher Aufstellung sie unterwegs sind.
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Das ist in Abteilungen in Unternehmen oftmals nicht ganz klar. Einerseits sind die Gruppen meist zu groß und zu unübersichtlich, als dass man alle Mitarbeiter in ihrer Tätigkeit kennen und einschätzen kann; andererseits handeln die Mitglieder, die bestimmten Einheiten zugeordnet sind, oft nicht an gemeinsamen Aufgaben, weshalb gemeinsames Handeln wie im Löwenteam gar nicht möglich ist. Daher kann niemand erwarten, dass hier echte Teams zusammenarbeiten. Will man den Ist-Zustand der Arbeitsabläufe feststellen, so ist es geboten, die Mitarbeiter selbst ihre Struktur zu beschreiben lassen. Da alle ihre unmittelbaren Tätigkeiten und Aufgabenstellungen mit der entsprechenden Anbindung kennen, können sie dies am zutreffendsten darstellen: ganz einfach mit Strichmännchen-Zeichnungen, wobei ein Vorprodukt oder ein Dokument in Empfang genommen, vor Ort mit bestimmten Maschinen und Verfahren bearbeitet und schließlich an die nächste Einheit weitergeleitet wird, und zwar in aller Ausführlichkeit. Wenn die Mitarbeiter bei dieser Strukturbeschreibung befürchten, dass sie in irgendeiner Form Nachteile erleiden, sobald sie beispielsweise Problembereiche in ihrem Arbeitsablauf ansprechen, dann werden sie nicht offen und ehrlich den Ist-Zustand darlegen. Auf der durch das InTeaming etablierten Vertrauensbasis gelingt es aber, die tatsächlichen Abläufe wahrheitsgetreu abzubilden und darüber hinaus auch zu bewerten: Wo finden sich Schnittstellen? Handelt es sich um Schnittstellenpartner oder -gegnerschaften? Wo bilden sich Staus und Lager? Welche Abschnitte sind besonders störungsanfällig? usw. Automatisch werden Verbesserungsmöglichkeiten sichtbar: Was können wir ändern? Was wollen wir ändern? Womit fangen wir an? Auch in komplexen Unternehmenszusammenhängen müssen die Akteure wissen, wer sie sind, worin ihre Aufgaben bestehen und wie sie in die Zusammenarbeit mit den anderen Mitarbeitern eingebunden sind. Was bei den Löwen durch die evolutionäre Entwicklung und durch das Training selbstverständlich ist, darüber müssen Führungskräfte und Mitarbeiter gemeinsam Klarheit gewinnen und Orientierung schaffen. Denn zu wissen, wo man steht, ist die Voraussetzung dafür, dass man ein Ziel in den Blick nehmen und es ansteuern kann.
178 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis Hier findet sich ein unmittelbarer Bezug zu den klassischen Managementaufgaben. Gemeinsam den tatsächlichen Ist-Zustand festzustellen hat zu tun mit Entscheidungen treffen, zumindest mit einer ehrlichen Einschätzung der Lage und Situation. Das gilt auch für die realistische Zielfestsetzung. Sie hat nur einen festen Grund und zeichnet sich durch Erreichbarkeit und Überprüfbarkeit aus, wenn das Ziel immer wieder hinsichtlich einer zutreffenden Beurteilung des tatsächlich erreichten Zustands gefasst wird. Und damit kommen wir zum dritten relevanten Aufgabengebiet des operativen Managements, dem Kontrollieren. Den aktuellen Ist-Wert zu ermitteln ist die Voraussetzung dafür, den Grad der Zielerreichung und Abweichungen davon festzustellen. Dass auch die Mitarbeiterführung in diesen Bereich involviert ist, brauche ich nicht besonders zu erwähnen. Ohne erfolgreiches Beziehungsmanagement werden wohl viele Zahlen und Daten generiert, wahrscheinlich aber nicht diejenigen, die aussagekräftig sind für die Situation, wie sie momentan tatsächlich ist.
2. Zu eigen machen von Zielen Das Löwenteam ist auf sein Ziel hin optimal angepasst, es heißt: Großwild reißen. Hier besteht keine Zielunsicherheit oder Diskussionsbedarf, etwa ob man auch Elefanten jagen oder sich künftig vegetarisch ernähren sollte. Menschen können sich, zumal in freien Gesellschaften, unterschiedliche Ziele wählen, die sie verfolgen wollen. Sie sind in ihrer Entscheidung frei. Unternehmen unterliegen indes genau wie Löwenrudel gewissen Bedingungen: Was hier die Umweltbedingungen sind, das ist dort das Marktumfeld. Unternehmen sind zweckgerichtete Organisationen, die unter den jeweils gegebenen Bedingungen überleben, indem sie einen Mehrwert schaffen. Das sind sie ihren Investoren, Shareholdern und Mitarbeitern schuldig. Ziele wie z. B. Umsatzwachstum, Gewinnsteigerung, Erhöhung des Marktanteils sind, solange sie sich realistisch an den Marktbedingungen orientieren, keine Fantasiewerte, sondern verbindlich vorgegebene Unternehmensziele. Darüber können die Mitarbeiter genauso wenig abstimmen wie die Löwen über ihre künftige Ernährungsweise. Das Problem der Unternehmen besteht allerdings häufig darin, dass sie die relativ abstrakten Ziele, die meist in Form von Zahlen vorliegen, nicht in der Art und Weise kommunizieren, dass die Mitarbeiter sich diese Ziele zu eigen
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machen. Denn sie verstehen in vielen Fällen nicht, welche Bedeutung die Zahlen für das eigene Handeln haben. Damit die Ziele für den Einzelnen, die Abteilung, das Team nicht abstrakt bleiben, müssen sie emotionalisiert werden. Nicht künstlich mit großem Trara, sondern konkret in der selbständigen Erarbeitung. Das gelingt am besten in Form der extremen Analyse, in der beispielsweise die Vertriebsmannschaft eine gemeinsame Informationsbasis dafür entwickelt, was das Unternehmensziel, die Umsatzzahlen um 15 Prozent zu steigern, für die künftige Ausrichtung des Teams bedeutet. Sobald alle relevanten Daten auf dem Tisch liegen, werden zwei Untergruppen gebildet, von denen die eine ein Szenario entwickelt, das bewusst übertrieben eine Lage herausarbeitet, die unter den gegebenen Bedingungen den Untergang des Vertriebs ausmalt. Die andere Gruppe tut genau das Gegenteil und erarbeitet eine Perspektive, die zeigt, wie glorreich die Zukunft aussieht und welche Entwicklungsmöglichkeiten sich für den Vertrieb ergeben, wenn diese Ziele erreicht werden. Danach präsentieren beide Gruppen mit intensiver Übertreibung und viel Humor ihre Szenarien. Weil dadurch der emotionale Anteil im Spektrum von der schlimmsten Befürchtung bis zur besten Chance ausgelotet wird, können alle Beteiligten nun zur Sacharbeit übergehen: Mit welchen Tatsachen müssen wir uns abfinden? Was können wir tun, um die Ziele umzusetzen, die wir auf unsere Situation heruntergebrochen haben? Was davon wollen wir umsetzen? Womit fangen wir an? Für die Aufgaben des operativen Managements hat das vielfältige Auswirkungen. Das gilt insbesondere für den Bereich „Ziele setzen“. Strategische Globalziele kommen von der Unternehmensleitung. Es steht aber in der Verantwortung der Führungskraft, sie für die eigene Abteilung zu operationalisieren. Wie wir beim Modell von Lencioni schon gesehen haben, gelingt es nicht, die Ziele von der Spitze der Pyramide nach unten durchzusetzen. Umgekehrt ist vorzugehen: Vertrauen aufbauen, Konfliktfähigkeit herstellen, Verbindlichkeit in der Aufgabenübernahme entwickeln, Verantwortung geben, auf diese Art und Weise eignen sich die Mitarbeiter die Ziele ganz von selbst an. Auch die Aufgabengebiete „Entscheidungen treffen“ und „Kontrollieren“ stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ziel, denn die Entscheidungen werden nur für verbindlich erachtet und von allen getragen,
180 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis wenn sie in den Entscheidungsprozess einbezogen worden sind. Und ebenso kann die Führungskraft nur dann damit rechnen, dass sie Mitarbeiter bei der Kontrolle ein korrektes Feedback geben, wenn sie sich durch ein emotionales Commitment in den Gesamtprozess eingebettet und den anderen Beteiligten zugehörig fühlen. Nach der Zielklärung und -aneignung muss das Team schließlich die Frage beantworten, wie es das erklärte Ziel erreichen, welche Strategie es verwenden will.
3. Strategie entwickeln Noch einmal kommen wir zu den Löwinnen zurück: Sie erreichen ihr Ziel, indem sie sich einer klaren Strategie bedienen, nämlich der Treibjagd. Diese ist das Mittel der sozialen Raubkatzen zum Zweck des gemeinsamen Beutemachens. Weder das Team noch die erfahrene ältere Katze stellt einen Strategieplan auf wie etwa der Heerführer mit seinen Generälen vor der Schlacht. Die Evolution hat die Strategie der kooperativen Jagd bei den Löwen herausgebildet. Sie überleben gemeinsam oder gehen gemeinsam unter, wenn sie die Strategie nicht getreulich erfüllen. Wie sie sich optimal positionieren, ihre Einsätze aufeinander abstimmen und kommunizieren, das muss jedes Teammitglied allerdings immer wieder neu lernen. Die Strategie wird durch das geschickte Nacheinanderschalten bestimmter Methoden erfüllt, wie z. B. Heranpirschen an die Beute, In-Deckung-gehen der Reißer, Aussondern und Verfolgen der Beute, Weg-abschneiden, Stellen und Reißen der Beute. Die große Chance, die in der Strategieentwicklung im Team steckt, besteht darin, dass man nicht unbedingt die durch Erfahrung gewonnenen Verfahren wieder bemüht, weil sie schon einmal erfolgreich eingesetzt worden sind, sondern auf dem Boden der Teamkompetenz zu sehr unterschiedlichen Zielvorgaben, wie etwa Gewinnsteigerung, Kundenbindung oder Innovationsmanagement unterschiedliche Strategien herauszubilden in der Lage ist. Schon bei den Zielen war es so, dass diese im CoOperating-Prozess nicht wie ein Deus ex Machina von oben herab auf die Bühne geschwebt sind, sondern die Betroffenen sich mit ihnen auseinandergesetzt und sie sich zu eigen gemacht haben. Das Gleiche gilt für die Strategie.
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In aller Regel verfügen die Teammitglieder zu den jeweiligen Abläufen und Verfahren schon über wichtige Erfahrungen und Einschätzungen. Sie sind schließlich als Experten in das Team berufen worden. Diese Informationen werden allen Teammitgliedern mitgeteilt und in zusammenfassenden Notaten festgehalten. Dadurch gelangen alle Teammitglieder auf den gleichen Kenntnisstand. Es werden drei Strategiegruppen gebildet, die in einem ausreichenden Zeitrahmen jeweils ein Konzept mit einer geeigneten Strategie ausarbeiten. Nach der Präsentation werden die drei Konzeptionen miteinander abgeglichen und zu einer gemeinsamen Strategie ausgearbeitet, die das Team beschließen muss. Weil sie von den Mitgliedern selbst entwickelt wurde, weist diese Fassung ein hohes Maß an Verbindlichkeit für alle auf. Deshalb ist auch die Akzeptanz des abgeleiteten Handlungsplans groß, weil die Selbstverpflichtung, entsprechende Aufgaben zu übernehmen und den Stand der Dinge rückzukoppeln, viel intensiver ist, als das bei von außen aufgesetzten Strategien der Fall wäre. Die Strategie ist das große Feld, auf dem die Managementaufgabe „Organisieren“ zum Tragen kommt. Das Maßnahmenbündel, um vom aktuellen IstZustand zum gesetzten Ziel zu gelangen, ist das ureigenste Feld des Organisierens; von der Logistik bis zur Personalplanung, vom Wareneingang über die Produktion bis zum Kundenbindungsprogramm, von den Tarifverhandlungen bis zum Neuzuschnitt der Verkaufsgebiete. Doch das alles kann der beste Stratege nicht allein, einfach und rasch bewerkstelligen. Er ist immer auf die Mitarbeiter vor Ort, auf das Funktionieren komplexer Abläufe und auf die unprätentiöse und somit zielstrebige Zusammenarbeit der Fachleute angewiesen. Verweigern die Mitarbeiter die Kooperation oder behindern sie die Prozesse in der Umsetzung nur gering, dann entfalten große strategische Entwürfe nur kleine operative Effekte. Deshalb gilt: Derjenige, der im strategischen Zusammenhang organisiert, muss darauf achten, dass er für die Umsetzung ausreichend Unterstützung von den Beteiligten erhält, und zwar mithilfe des Beziehungsmanagements. Der Mehrwert des gemeinsamen Handelns wird im CoOperating dadurch hergestellt, dass das Team seine Aufgaben selbst steuernd und eigenverantwortlich angeht und löst. Möglich wird dies, weil es zuvor im InTeaming
182 Beziehungsmanagement in der Führungspraxis gelungen ist, die Beziehungen durch die Ausbildung von Vertrauen emotional zu stabilisieren. Darin ist die Voraussetzung für die zielorientierte Sacharbeit begründet. Denn nun kommt es nicht mehr zur Konfliktvermeidung, Vertagung wichtiger Themen und zu falscher Zurückhaltung, sondern die Teammitglieder kommunizieren offen und führen anstehende Auseinandersetzungen, um die Sacharbeit voranzubringen, ohne sich dabei gegenseitig zu verletzen.
„Das Schlüsselwort unseres Jahrhunderts heißt Zusammenarbeit.“ Mit diesem Ausspruch haben am 9. Januar 2009 Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher in einem Artikel der F.A.Z. auf die atomare Abrüstungsinitiative von US-amerikanischen Politikern, darunter Henry Kissinger, geantwortet. Der erlauchte Kreis von ehemaligen Ministern und Regierungschefs plädiert in der Erwartung, die sich an die Präsidentschaft Barack Obamas richtet, dafür, weltweit die Atomwaffen abzuschaffen. Sie sind sich bewusst, dass dies nur schrittweise und in Kooperation zwischen den USA, der Nato, Russland und China möglich ist. Aus der Erfahrung der vertrauensbildenden Maßnahmen im kalten Krieg und der Abrüstungsverhandlungen wissen die Autoren genau, dass gute Politik ein hohes Maß an Beziehungsmanagement beinhalten muss. Das Ur-Modell der Bindung, die Mutter-Kind-Bindung, hat sich als evolutionär stabil und tragfähig erwiesen. Es ist das Beziehungsaufbauprogramm für Lebenstüchtigkeit und Zukunftsfähigkeit. Darauf können wir von unserem ersten Lebenstag an bauen. Auch für Wirtschaftsunternehmen, Industriebetriebe, Verwaltungen und andere Organisationen wird sich das auf dem Bindungsprogramm fußende Beziehungsmanagement in vielfacher Hinsicht als Schlüssel für eine erfolgreiche und nachhaltige Unternehmensführung erweisen: für ein förderliches Arbeitsklima, für Innovation und Kreativität, für Vertrauen und die Synergie, auf die wir angewiesen sind, um die kommenden Herausforderungen zu meistern.
Literaturverzeichnis 183
Literaturverzeichnis
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186 Der Autor
Der Autor
Dr. Klaus Dehner ist Geschäftsführer des Instituts für BioLogik der Führung und Fortbildung in Heidelberg. Als der Autor eine Interviewserie mit chinesischen Managern zu deren Führungsverständnis durchführte, hat er entdeckt, dass dem menschlichen Handeln bei allen kulturellen Unterschieden eine universale Antriebsdynamik zugrunde liegt. Es waren diese allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens, die ihn faszinierten und die er an der Universität Heidelberg weiter erforschte. Zum einen wandte er die Erkenntnisse auf die natürliche Entstehung von Werten und Moral an (Buchtitel „Lust an Moral“) und zum anderen auf die Konsequenzen für die Mitarbeiterführung (Buchtitel „Führen durch Fordern“). Mit der „Bindungsformel“ legt der Verhaltenswissenschaftler eine aktuelle und systematische Weiterentwicklung der vorhandenen Ansätze vor. Er weist nach, dass die Bindung ein mächtiges evolutionäres Verhaltensprogramm ist. Pragmatisch und umsetzungsorientiert führt der Autor aus, wie die Unternehmensführung dieses Ur-Motiv zur Verbesserung des gemeinsamen Handelns bei den Mitarbeitern aktivieren und weiterentwickeln kann. Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage des Instituts www.Biologik.de.