Hans Joas Die Kreativität des Handelns
Suhrkamp
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Hans Joas Die Kreativität des Handelns
Suhrkamp
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns / Hans Joas. i. Aufl. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1992 ISBN 3-518-58129-5 Erste Auflage 1992 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992 Alle Rechte vorbehalten Satz: Satz- und Reprotechnik GmbH, Hemsbach Druck: Druckhaus Beltz, Hemsbach
Inhalt
Vorbemerkung
9
Einleitung
11
KAPITEL I D I E ENTSTEHUNG DER HANDLUNGSTHEORIE
I . I Der Ausgangspunkt: Parsons' Versuch einer Synthese
19
1.2 Bilanz der Diskussion: Für eine Rehistorisierung der Konvergenzthese
34
1.3 Wirtschaftliches und soziales Handeln 1.4 Webers Theorie des Charisma und das Problem der Kreativität 1.5 Das Problem der Entstehung neuer Moral als Leitfaden durch Durkheims Werk 1.6 Lebensphilosophische Züge bei Ferdinand Tönnies und Georg Simmel
56 69 y6 99
KAPITEL 2 M E T A P H E R N DER KREATIVITäT
2.1 Ausdruck
113
2.2 Produktion
128
2.3 Revolution
158
2.4 Leben
172
2.5 Intelligenz und Rekonstruktion
187
KAPITEL 3 SITUATION - K ö R P E R L I C H K E I T - S O Z I A L I T ä T G R U N D Z ü G E EINER T H E O R I E DER KREATIVITäT DES HANDELNS
3.1 Eine nicht-teleologische Deutung der Intentionalität des Handelns
218
3.2 Die Konstitution des Körperschemas
245
3.3 Primäre Sozialität
270 KAPITEL 4
KREATIVE D E M O K R A T I E
4.1 Kreativität und kollektives Handeln
290
4.2 Jenseits des Funktionalismus
306
4.3 Differenzierung und Demokratisierung: Perspektiven einer nichtfunktionalistischen Theorie gesellschaftlicher Entwicklung
326
4.4 Kreativität in der »Postmoderne«
358
Nachweise Literaturverzeichnis Namenregister Sachregister
379 380 403 410
Für Christian
Creativity is our great need, but criticism, self-criticism is the way to its release. John Dewey
Vorbemerkung
Dieses Buch wollte ich seit langem schreiben. Schon kurz nach dem Abschluß der Bücher über George Herbert Mead und über die anthropologischen Grundlagen der Sozialwissenschaften trug ich mich mit dem Gedanken, die Ideen des amerikanischen Pragmatismus einmal in Hinsicht auf die heutigen Folgerungen für Handlungs- und Gesellschaftstheorie zu artikulieren. N u r ein solcher Versuch konnte ja geeignet sein, mir selbst die tiefe Faszination dieser Ideen für mich zu erklären und zu rechtfertigen. Die Ausarbeitung dieses Plans dauerte freilich viel länger als mir lieb war. Nicht nur schoben sich zeitweise thematisch ganz anders gelagerte Arbeiten etwa zur Bildungsforschung und zur Soziologie von Krieg und Frieden in den Vordergrund. Darüber hinaus erwies es sich als nötig, meine Kenntnis des Pragmatismus zu vertiefen, sein Verhältnis zu anderen Denktraditionen zu untersuchen und die sich entwickelnde Konzeption durch Konfrontation mit wichtigen gegenwärtigen Theorieentwürfen zu überprüfen. Einige meiner Arbeiten aus diesem Zusammenhang liegen jetzt in dem fast gleichzeitig erscheinenden Band »Pragmatismus und Gesellschaftstheorie« gesammelt vor. Mein Dank gilt allen, die mir in unterschiedlicher Weise bei der Erarbeitung dieses Buches geholfen haben. Ich danke Freunden, Kollegen und Mitarbeitern, die das Manuskript des Buches ganz oder teilweise gelesen und mir weiterführende Hinweise gegeben haben, namentlich Frank Ettrich, Axel Honneth, Wolfgang Knöbl, Hans Peter Krüger, Claus Offe, Hans-Joachim Schubert, Peter Wagner und Harald Wenzel. Gudrun Fabian und Gundula Hiraldo sei für die Ausführung der Schreibarbeiten gedankt, Ronald Hermann für die Anfertigung des Registers. Ich danke den Teilnehmern an meinen universitären Lehrveranstaltungen zum Thema dieses Buches, insbesondere Studenten an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Oslo, wo ich das ganze Buch in seinen Grundzügen vortragen konnte. Meine Frau Heidrun hat auch den Entste-
hungsprozeß dieses Buches mit ehrlicher Unterstützung und warmherziger Anteilnahme begleitet. Meinem Sohn Christian ist das Buch aus guten Gründen gewidmet. Friedhelm Herborth danke ich für sein kontinuierliches Vertrauen in meine Hervorbringungen. Und schließlich danke ich Marianne und Horst Wriecz, die mir ruhige Arbeit in der märkischen Natur ermöglichten. Berlin, Februar 1992.
10
Einleitung
»Handlung« ist heute ein Schlüsselbegriff der Philosophie und fast aller Sozial- und Kulturwissenschaften; Bemühungen um eine »Handlungstheorie« sind in all diesen Fächern ein Brennpunkt gegenwärtigen theoretischen Interesses. Warum dies so ist, dürfte dem Außenstehenden zumindest schwer verständlich sein, wenn es nicht als Beleg für den längst gehegten Verdacht wahrgenommen wird, daß sich der akademische Betrieb mit Vorliebe der Bearbeitung unnötig abstrakter, selbstgewählter Probleme widmet, statt die vorhandenen Kräfte auf die Lösung der wahrlich drängenden Probleme der Gegenwart zu richten. Zusätzlich verwirrt und stimmt mißtrauisch die Tatsache, daß zwischen den handlungstheoretischen Debatten in den verschiedenen Disziplinen kein Zusammenhang zu existieren scheint; jede Disziplin stellt, wie gerade an diesem Thema wieder sinnfällig wird, eine eigene Diskurswelt dar, die von anderen weitgehend abgeschottet ist. Selbstverständlich gibt es Einflußbahnen vor allem von einzelnen philosophischen Schulen hin zu einzelnen sozialwissenschaftlichen Disziplinen; im großen und ganzen aber werden in Psychologie, Ökonomie oder Soziologie Argumente aus Debatten des jeweils anderen Faches nur wenig zur Kenntnis genommen. In der ökonomischen Theoriebildung ist spätestens seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts die Abstraktion des »homo oeconomicus« und damit eines Typs rationaler Wahl und rationalen Handelns zum Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen geworden. Zwar sind die Kontroversen über die Berechtigung dieses Ausgangspunktes, insbesondere aber über den genauen logischen Status einer solchen Abstraktion, nie ganz verstummt, doch stellt eine Theorie des rationalen Handelns unbestritten den paradigmatischen Kern der ökonomischen Disziplin dar. - In der Psychologie ist die Lage unübersichtlicher. Nachdem in ihr zunächst eine introspektiv verfahrende Erforschung von Bewußtseinstatsachen und eine
weitgehend reduktive physiologische Psychologie koexistierten, wurde ab den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts der Behaviorismus zur dominanten Strömung. Noch weniger als in der Ökonomie bedeutet dies freilich, daß diese Dominanz jemals unangefochten war. Der für den Behaviorismus wesentliche und namengebende Begriff des »Verhaltens« war zwar geeignet, die Leitbegriffe »Bewußtsein« oder »Organismus« zu ersetzen; durch seine radikal situationsdeterministische Fassung aber war er von einer Betonung auf Wahl- und Entscheidungsfreiheit, wie sie dem »homo oeconomicus« eigen war, weit entfernt. In der Psychologie hat deshalb erst die »kognitive« Wende den Behaviorismus so weit verändert oder überwunden, daß zunächst die Handlungskonzeptionen untersuchter Personen zum Gegenstand werden konnten. Immer mehr setzt sich aber auch der Gedanke durch, daß das ganze konzeptionelle Gerüst der Psychologie vom Begriff des Verhaltens auf den der Handlung umgestellt werden müsse. Für die Soziologie gilt, daß die großen Klassiker dieses Faches in diesem Jahrhundert, die den Hauptstrom der Theoriebildung bestimmten - ob nun Max Weber oder Talcott Parsons - , ihren Arbeiten und dem Fach insgesamt eine explizite handlungstheoretische Grundlegung zu geben versuchten. Dasselbe gilt für wichtige Nebenströmungen wie die auf George Herbert Mead oder Alfred Schütz zurückgehenden Schulen; hier war zwar der genaue Charakter einer handlungstheoretischen Grundlegung umstritten, nicht aber die Notwendigkeit einer solchen Grundlegung selbst. Die wichtigsten Theorieentwürfe der Gegenwart sind fast alle durch ihre spezifische Handlungstheorie charakterisierbar. Das Spektrum reicht dabei von verschiedenen Versionen einer verstärkten Anlehnung an die ökonomischen Modelle des rationalen Handelns über neo-weberianische und neo-parsonianische Versuche hin zu großen und eigenständigen Neuentwürfen. Deren bekannteste und bedeutendste liegen mit Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns, Giddens' Theorie der (aktivischen) Strukturierung und einer Schöpfertum und Neuheit betonenden, neuen Version aristotelischer praktischer Philosophie bei Castoriadis und, davon beeinflußt, Touraine vor. Unter dem 12
Einfluß von Strukturalismus oder Systemtheorie gibt es hier freilich auch wichtige Versuche, die gängige handlungstheoretische Grundlegung prinzipiell in Frage zu stellen und soziologische Theorie von einer solchen Grundlegung unabhängig zu machen. - Ähnlich ist die Lage in der Philosophie. Zu Anfang der siebziger Jahre konnte der amerikanische Philosoph Richard Bernstein 1 den kühnen Versuch unternehmen, die wichtigsten Schulen modernen Denkens auf den gemeinsamen Nenner ihrer Bemühung zu bringen, den aktiven Charakter des Menschen zu bestimmen und zu betonen. Er fand diese Tendenz sowohl im Marxismus, zumindest überall dort, wo dieser nicht als teleologische Geschichtsphilosophie verstanden wurde, wie im Existenzialismus; im Pragmatismus, der großen philosophischen Strömung Amerikas, steckt das Praktische schon in der Selbstbezeichnung; schließlich wies er die zunehmende Konfrontation der analytischen Philosophietradition mit dem Handlungscharakter des menschlichen Sprechens und die Beschäftigung sprachanalytischer Autoren mit mikroskopischen Klärungsversuchen gegenüber Begriffen nach, die in ungeklärten Verweisungsbezügen zum Begriff des Handelns stehen. In unseren Tagen, in denen etwa durch »post-strukturalistische« Autoren und im Zeichen der Wiederbelebung Nietzsches und des späteren Heidegger von vielen philosophischen Stimmen ein skeptisches und ambivalentes Verhältnis zur Handlungsfähigkeit des Menschen artikuliert wird, ist es schwieriger geworden, in der Handlungsthematik den Konvergenzpunkt der philosophischen Bestrebungen zu sehen. Doch gilt Bernsteins These für die von ihm behandelten Strömungen weiterhin und auch die anderen genannten Tendenzen sind durchaus von ihrer spezifischen Abgrenzung gegenüber einem aktivistischen Überschwang der Subjektivität her zu verstehen und deshalb nicht ohne wesentlichen Bezug zum Thema des menschlichen Handelns. Ein solcher gewiß nur kursorischer Überblick über die Vielfalt von Bemühungen um das Thema »Handeln« in den verschiedenen akademischen Disziplinen mag zwar als Beleg für die i Richard Bernstein, Praxis and Action. Philadelphia 1971. *3
Häufigkeit der Beschäftigung mit diesen Themen gelten; er wird aber zugleich die Verwirrung über die Gründe dieser Bedeutung eher noch erhöhen. Deutlich wird zudem, daß sich nicht nur die verschiedenen Disziplinen in verschiedener Weise auf eine handlungstheoretische Grundlegung beziehen, sondern daß auch in jeder von ihnen verschiedene Versionen einer solchen Grundlegung existieren. Die Problemlage wird noch schwieriger dadurch, daß die Debatten um Handlungstheorie nicht nur einen unter vielen möglichen Gegenständen wissenschaftlicher Kontroverse darstellen, sondern in ihnen zugleich um die Ausrichtung der ganzen Disziplin und um die Ziehung der Grenzen zwischen den Disziplinen verhandelt wird. Angesichts dieser Sachlage ist es weder empfehlenswert, in einer Erörterung handlungstheoretischer Fragen immer die ganze Komplexität all dieser verschiedenen Versionen von Handlungstheorie zum Thema zu machen, noch können durch definitorische Vorgaben die sich in der Vielfalt der Diskurse und Positionen verbergenden Seiten der Problematik einfach vorentschieden werden. Da die Absicht dieses Buches nicht ein enzyklopädischer Überblick ist, sondern der Vorschlag eines bestimmten handlungstheoretischen Ansatzes, wird hier ein anderer Weg gewählt. Der eigene Vorschlag wird vornehmlich in Auseinandersetzung mit nur einer Disziplin und der in ihr dominierenden Handlungstheorie entwickelt. Dabei wird allerdings sehr häufig auf Wissen und Argumente aus anderen Disziplinen zurückgegriffen. Die - vielleicht etwas zu mutige - Erwartung ist durchaus, daß die so entwikkelten Gedankengänge auch außerhalb dieser einen Disziplin von Interesse sind. Das Terrain der folgenden Erörterung liegt hauptsächlich in der soziologischen Handlungstheorie. Der Grund dafür ist nicht nur, daß hier der Schwerpunkt meiner Kenntnisse liegt, sondern auch, daß in dieser Disziplin mehr von dem ursprünglichen Problemreichtum erhalten blieb, der in anderen Disziplinen durch konsequentere Abstraktion gleich zu Beginn verlorengeht. Die Kehrseite der oft beklagten paradigmatischen Ungefestigtheit der Soziologie ist ja, daß in ihr Verluste sichtbar bleiben, die etwa vom Modell des rationalen Wirt14
Schaftssubjekts in der Ökonomie oder dem des auf Reize hin reagierenden Organismus in der Psychologie nur ignoriert werden. Wer immer in diesen Disziplinen bereit ist, die Ausgangsabstraktion seines Faches überhaupt nur zu reflektieren, wird deshalb Interesse an den soziologischen Erörterungen finden. Dasselbe gilt allerdings für die philosophischen Diskussionen. Viele von ihnen erreichen freilich interne Differenziertheit und Nähe zu empirischen Phänomenen nur in der Synthese mit Soziologie oder Psychologie; die eigenständig methodisch voranschreitende analytische Tradition hat wiederum gegenüber der Soziologie den Nachteil, durch den Ausgang von der einzelnen Handlung des einzelnen Akteurs zum sozialen Charakter des Handelns, der Orientiertheit der Handelnden aufeinander, nur wenig beigetragen zu haben. Die Wahl der Soziologie als des hauptsächlichen Terrains der folgenden handlungstheoretischen Überlegungen soll mit diesen Begründungen zwar nicht als zwingend erscheinen, aber doch auch für diejenigen nachvollziehbar sein, deren Denken von anderen Disziplinen geprägt ist. Der zentrale Gedanke dieses Buches liegt in der Behauptung, daß sich den vorherrschenden Handlungsmodellen des rationalen und des normativ orientierten Handelns ein drittes Modell hinzufügen läßt, für das sich die Rede vom kreativen Charakter menschlichen Handelns empfiehlt. Der weitergehende Anspruch ist, für dieses dritte Modell einen die beiden anderen überwölbenden Charakter zu reklamieren. Es geht mir nicht nur darum, auf einen weiteren, bisher vernachlässigten Handlungstypus zu verweisen, sondern für alles menschliche Handeln eine kreative Dimension zu behaupten, die in den theoretischen Modellen des rationalen und des normativ orientierten Handelns nur unzulänglich zum Ausdruck kommt. Bei diesen beiden Modellen wird logisch notwendig eine Residualkategorie erzeugt, in die ein Großteil menschlichen Handelns fällt. Die Bestimmung des menschlichen Handelns als eines kreativen Handelns entgeht diesem Zwang. Sie produziert nicht etwa eine Residualkategorie des nicht-kreativen Handelns, sondern kann die Randbedingungen für die sinnvolle Anwendung der anderen Handlungsmodelle spezi15
fizieren, da sie die in diesen stillschweigend enthaltenen Annahmen deutlich macht. Erst eine Einführung des Handlungsbegriffs, die diesen kreativen Charakter konsequent in Rechnung stellt, könnte dann auch - so meine These - den anderen Handlungsmodellen ihren logischen O r t zuordnen und die Fülle von Begriffen, die mit dem Handlungsbegriff verbunden sind - wie die Begriffe Intention, N o r m , Identität, Rolle, Situationsdefinition, Institution, Routine und andere - , konsistent und sachadäquat bestimmen. Die Geistesgeschichte enthält die wesentlichsten Anknüpfungspunkte für dieses umfassende Modell bereits. In der Geschichte der Handlungstheorie aber wurde dieses aus Gründen, die es zu verstehen gilt, immer wieder an den Rand gedrängt. Zunächst geht es also darum (Kapitel i), die Gründe zu ermitteln, die den spezifischen Zuschnitt der soziologischen Handlungstheorie erklären, und der Randstellung der Kreativität des Handelns in dieser Theorie nachzuspüren. Dann sind die Ansätze zu prüfen (Kapitel 2), in denen die Kreativität des Handelns zwar in den Mittelpunkt der Theoriebildung rückte, aber dies doch auch mit spezifischen Verzerrungen oder falschen Verallgemeinerungen geschah. Während das erste Kapitel sich vornehmlich an Soziologen und auch Ökonomen richtet, wendet sich das zweite Kapitel eher an philosophisch interessierte Leser. Nach diesen beiden theoriehistorischen Schritten werden die drei stillschweigenden Annahmen in den Modellen des rationalen und des normativ orientierten Handelns - der teleologische Charakter des menschlichen Handelns, die Körperkontrolle des Akteurs, die autonome Individualität des Handelnden - zum Gegenstand einer rekonstruktiven Begriffseinführung gemacht (Kapitel 3). Die Absicht dabei ist zunächst, dem erwähnten Zwang zur Bildung von Residualkategorien zu entgehen. Weit darüber hinaus führt das Motiv, in eben diesen stillschweigenden Annahmen nicht nur Charakteristika der Handlungstheorie, sondern des Diskurses der Moderne überhaupt zu erkennen. In einem weiteren Schritt wird der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen eine solche revidierte Handlungstheorie für das Verständnis von Prozessen kollektiven Handelns hat und ob 16
sich aus ihr eine Möglichkeit ergibt, dem Angebot funktionalistischer Theorien für die Lösung der Aufgaben einer gegenwartsadäquaten Gesellschaftstheorie auszuweichen (Kapitel 4.1. und 4.2.). Am Schluß werden deshalb zwei mögliche Konsequenzen für eine Diagnose unserer Gegenwart aus einer Umstellung in den handlungstheoretischen Grundlagen gezogen. Diese betreffen zum einen die These, daß sich die Konflikte der entwickelten westlichen und östlichen Gesellschaften heute als Konflikte um eine »Demokratisierung der Differenzierungsfrage« deuten lassen, zum anderen die Frage, was das Schicksal der Kreativität unter heutigen Bedingungen sei (Kapitel 4.3. und 4.4.)- Beide dieser Versuche sollen ansatzweise demonstrieren, daß handlungstheoretisch fundierte »Konstitutionstheorien« sowohl den funktionalistischen Differenzierungstheorien wie den Postmoderne-Diagnosen Paroli bieten können. Trotz dieser Versuche zur Demonstration möglicher Konsequenzen einer revidierten Handlungstheorie bleibt der Schwerpunkt der Argumentation dort, wo es um die Konkurrenz verschiedener handlungstheoretischer Annahmen geht. Geistesgeschichtliche, rekonstruktive und anwendungsbezogene Teile dienen dem gemeinsamen Zweck, Sinn und Notwendigkeit einer Berücksichtigung des kreativen Charakters des menschlichen Handelns darzutun.
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KAPITEL I
Die Entstehung der Handlungstheorie
I . I Der Ausgangspunkt: P a r s o n s ' Versuch einer Synthese Kein anderes Werk hat die verschiedenen Dimensionen handlungstheoretischer Fragestellung so kühn verknüpft wie Talcott Parsons' Buch von 1937 »The Structure of Social Action«. Man könnte es den unbekannten Klassiker einer unbekannten Wissenschaft nennen. 1 Natürlich ist die Soziologie als solche nicht unbekannt und natürlich ist Parsons in diesem Fach ein bekannter Name. In anderen Fächern und in der breiten Öffentlichkeit wird die Soziologie aber sehr häufig nur als Informationsquelle für empirisches Wissen über soziale Probleme und gesellschaftliche Entwicklungen behandelt. Ihre eigenen Theorieentwürfe werden oft nur als kulturkritische Meinungsäußerung empfunden und von Philosophen nicht als gleichrangiges Deutungsangebot akzeptiert. Charakteristisch ist, daß etwa trotz der überwältigenden Breite des Interesses an Jürgen Habermas' Sozialphilosophie außerhalb der Soziologie niemand der offensichtlichen und von Habermas selbst zugestandenen Tatsache nachging, daß sein Werk über die »Theorie des kommunikativen Handelns« in seiner Konstruktion sich unmittelbar an Parsons 5 Buch anlehnte. Auch innerhalb der Soziologie hat die »Structure of Social Action« ein merkwürdiges Schicksal erfahren. Nach seinem Erscheinen wurde das Buch zwar durchaus von wichtigen Rezensenten in gebührender Ausführlichkeit gewürdigt, doch kaum von vielen Fachkollegen gelesen. Es dauerte bis in die fünfziger Jahre hinein, bis diesem Werk die Reputation einer entscheidenden theoretischen Leistung zuwuchs. Als dies geschah, war es mehr in Gestalt einer Rückprojektion von den späteren Wer1 Paul Nolte, Optimist der liberalen Gesellschaft: Talcott Parsons, in: Merkur 41 (1987), S. 579-589. 19
ken des Autors, die ihm zur hegemonialen Stellung in der Nachkriegssoziologie verhalfen, auf sein Frühwerk. An verbreiteter Rezeption darf auch, was diesen Zeitraum betrifft, gezweifelt werden. Der von sozialen Bewegungen der sechziger Jahre wesentlich getragene Protest gegen die Hegemonie der Parsonsschen Theorie drängte diese zurück; dabei wurde die Frage nicht gestellt, ob denn die Kritik an Parsons' Stellung etwa zum sozialen Wandel, zum Charakter der amerikanischen Gesellschaft oder zur Familie bruchlos auf das frühe handlungstheoretische Werk übertragen werden könne. Nichtsdestoweniger hat sich im halben Jahrhundert seit dem Erscheinen der »Structure of Social Action« eine Fülle ernstzunehmender, allerdings weit verstreuter Diskussionsbeiträge zu diesem Werk angesammelt. Es gibt keinen besseren Weg zur Einführung in die handlungstheoretische Diskurswelt als eine Beschäftigung mit Parsons' Argumentation und den möglichen Einwänden gegen sie. Parsons' Werk bündelt theoriegeschichtliche, erkenntnistheoretisch-methodologische und substantielle Fragen einer Theorie des Handelns, wie dies vorher nirgendwo geschah. Seine Rekonstruktion der Geschichte der Gesellschaftstheorie wurde unter dem Namen »Konvergenzthese« berühmt. Ihr substantielles Leitmotiv ist der Nachweis unaufhebbarer Schwierigkeiten im utilitaristischen Denken und damit eine definitive Utilitarismuskritik. Zur Überwindung des Utilitarismus muß sich Parsons auf das Gebiet epistemologischer Überlegungen begeben; seine Position auf diesem Gebiet bezeichnet er als »analytischen Realismus«. Auf der Grundlage dieser Gedankengänge schlägt Parsons als eigene Lösung der behandelten Probleme eine voluntaristische Handlungstheorie und, eng mit dieser verknüpft, eine normativistische Theorie sozialer Ordnung vor. Parsons' Ehrgeiz ist es, als Resultat dieses vielschichtigen Vorgehens einen begrifflichen Bezugsrahmen präsentieren zu können, der alles Wertvolle aus dem Erbe der europäischen Klassiker der Soziologie enthält und aus diesem Erbe den Grundstock einer professionell abgesicherten, künftig kumulativ fortschreitenden Erkenntnis gewinnung macht. Was ist nun der genaue Charakter dieser 20
Thesen und wie gut halten sie gegenüber den erhobenen Einwänden stand? Spektakulär und provozierend ist zunächst Parsons' sogenannte Konvergenzthese. Parsons' Werk besteht zu weiten Teilen aus monographischen Abhandlungen über das Werk des britischen Ökonomen Alfred Marshall und die »Klassiker« der deutschen, französischen und italienischen Soziologie: Max Weber, Emile Durkheim und Vilfredo Pareto. Was diese ausführlichen Interpretationen von Autoren, die zur Zeit der Entstehung des Buches keinesfalls weltberühmt und in Amerika teils kaum bekannt waren, zusammenhielt, war die Behauptung, daß das Werk dieser Autoren unter dem Gesichtspunkt der Handlungstheorie konvergiere. Parsons' Behauptung lautet, daß sich im Werk von vier repräsentativen Autoren, deren Denken sich in höchst unterschiedlichen nationalen Theoriemilieus entwickelte und die aufeinander praktisch keinerlei Einfluß ausübten, eine gemeinsame handlungstheoretische Konzeption herausschäle. Auch die theoretischen Ausgangspunkte der Autoren seien höchst verschieden; Parsons führt Marshalls und Paretos Entwicklung vornehmlich auf den Utilitarismus, Durkheim auf den Positivismus und Weber auf den deutschen Idealismus zurück. Für Parsons war die von ihm beobachtete Konvergenz gewissermaßen ein empirischer Beweis, zumindest aber eine Erhärtung der Plausibilität für die Richtigkeit der sich entwickelnden Konzeption, da eine solche Übereinstimmung nicht einfach als Ausdruck einer epochentypischen ideologischen Gemeinsamkeit aufgefaßt werden könne, sondern eher im Sinne einer »multiple discovery«, der oft gleichzeitigen Lösung reif gewordener Forschungsprobleme durch mehrere voneinander unabhängige Forscher, als endlich gefundene Lösung eines überbrachten Theorieproblems zu sehen sei. Die Konvergenz mit anderen und der genaue Charakter der im Rahmen ihrer Sachforschungen gefundenen Lösung sei aber den behandelten Autoren noch verborgen geblieben. Es bedürfe daher eines zusätzlichen Aktes der Reflexion, diese Lösung in aller Klarheit darzustellen und damit auf den latent schon vorhandenen festen disziplinaren Kern der Soziologie im Gefüge der Wissenschaften hinzuweisen.
Welches Problem aber soll nun in dieser konvergenten Weise gelöst worden sein? Parsons spricht von der Lösung des Hobbesschen Problems und der gemeinsamen Überwindung der falschen Problemstellung des Utilitarismus. Als Hobbes sches Problem bezeichnet Parsons die von Thomas Hobbes am Beginn der neuzeitlichen Sozialphilosophie mit unübertroffener Klarheit formulierte Frage, wie sich aus einem N a turzustand egoistisch handelnder Subjekte eine friedliche soziale Ordnung entwickeln könne. Hobbes' eigene Antwort darauf bestand bekanntlich darin, die kollektive Unterwerfung unter den Leviathan, unter die starken und nicht zur Disposition der Bürger stehenden Institutionen eines Staates, als Lösung zu empfehlen. Parsons teilt nun keineswegs die Prämissen der Hobbesschen Anthropologie und die Fiktion eines vorgesellschaftlichen Naturzustands. Er benutzt vielmehr Hobbes' Problemformulierung zum Zwecke eines Gedankenexperiments. Als »utilitaristisch« bezeichnet Parsons dabei - über die Grenzen der sich selbst als solche bezeichnenden Tradition hinaus - all jene Annahmen, in denen das menschliche Handeln als a priori individuell unabhängig, an klaren individuellen Zielen orientiert gedacht wird. Ein solches Handeln bringe notwendig Konkurrenz unter den Handelnden hervor, da entweder mehrere Handelnde dieselben knappen Güter zur Erreichung ihrer Ziele brauchten oder sogar andere Handelnde selbst als Mittel zur Erreichung solcher Ziele dienen müßten. Die Beziehung zwischen solchen Handelnden sei damit vornehmlich in zwei Varianten vorstellbar. Zum einen können Handelnde mit Gewalt Andere zum Mittel bei Erreichung ihrer Ziele machen oder diese an der Nutzung knapper Güter hindern. Zum anderen können Handelnde durch Betrug und Irreführung andere Handelnde gegen deren eigene Ziele für sich selbst instrumentalisieren oder von knappen Gütern ablenken. Hobbes hatte für diesen Sachverhalt die Formel »force and fraud« verwendet. N u n ist - bleibt man in diesem Gedankenexperiment - Gewalt und Betrug aber nicht nur auf seiten eines Handelnden zur Durchsetzung gegen Andere zu unterstellen, sondern selbstverständlich ebenso auf seiten aller anderen. Jeder Handelnde greift deshalb nicht nur
zu Gewalt und Betrug in der Erreichung seiner Ziele, er muß auch gewärtigen, selbst ständig Gegenstand der Gewaltausübung und des Betrugsversuchs durch andere zu sein. Damit aber herrscht ein Zustand des Kampfes aller gegen alle, den keiner wollte und keiner erträgt. Alle befinden sich vom Zustand einer Erreichung ihrer Ziele weit entfernt, und selbst wenn sie diese Ziele erreichen, ist kein gesicherter Genuß möglich. Parsons erkennt genau, daß dieses von Hobbes ursprünglich formulierte Problem, weit entfernt davon, einfach den historischen Umständen seiner ersten Formulierung allein zu entsprechen, auch für die Gegenwart von eminenter kulturdiagnostischer Bedeutung ist. Hier wird um mehr verhandelt als um das England der Religionskriege; unmittelbar betroffen sind auch die Fragen der sozialen Erträglichkeit freigesetzter Konkurrenz auf wirtschaftlichen Märkten oder in politischem Wettbewerb. Da Parsons aber eben nicht von der Fiktion des Naturzustands ausgeht und nach einer Lösung für die Ermöglichung sozialer Ordnung sucht, dreht sich ihm Hobbes' Fragestellung um. Für Parsons ist die Existenz zumindest eines gewissen Maßes an sozialer Ordnung und an zwischenmenschlichem Vertrauen unbezweifelbar. Wie Kant vom Faktum der Newtonschen Physik oder der moralischen Entscheidungsfähigkeit des Menschen ausging und nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Moralität fragte, so will Parsons vom Faktum der Existenz sozialer Ordnung aus zurückfragen nach den problematischen Annahmen, die in einer Theorie stecken müssen, welche eben dieses unbestreitbare Faktum nicht erklären kann. Parsons' Gedankenexperiment in Anlehnung an Hobbes zielt deshalb nicht im mindesten auf die Rechtfertigung eines starken Staates, sondern umgekehrt auf die Schranken, die der utilitaristisch genannten Moral- und Sozialphilosophie eingebaut sind. Er identifiziert diese Schranke, die wegen der Unfähigkeit zur Lösung des Ordnungsproblems existieren muß, in der Unfähigkeit der dem Gedankenexperiment zugrundegelegten Handlungskonzeption, die Herkunft der Ziele der individuellen Handelnden zu erklären. Zunächst mag es ja als harmlos erscheinen, wenn in einer Theorie nur Aussagen über die Zu23
sammenhänge von Zielen und Mitteln gemacht werden können und die Ziele selbst als einfach hinzunehmende Gegebenheiten unterstellt werden. Es kann dies sogar als Vorteil gelten, da damit durch die Annahme eines rationalen Handelns ein Moment der Willensfreiheit und des Indeterminismus in das Weltbild gelangt. Aus demselben Grund aber stellt das Schweigen über die Herkunft der Ziele eine Provokation für ein auf gesetzesartige Aussagen zielendes, »positivistisches« Wissenschaftsverständnis dar. Parsons sieht, daß es sich bei der Abstinenz von der Erklärung der Herkunft der Handlungsziele selbst nicht einfach um eine pragmatische Unterstellung handelt, die in anderem Kontext auch wieder aufgehoben werden könnte, sondern um eine theoretische Annahme vom durch und durch subjektiven Charakter der Wünsche, die solchen Handlungszielen zugrundeliegen. Explizit oder implizit werde in einem doppelten Sinn die Subjektivität der Wünsche behauptet:2 Wünsche seien die subjektive Hervorbringung des einzelnen Individuums und sie seien dem einzelnen Individuum eigen und stünden in keiner notwendigen Beziehung zu den Wünschen Anderer. Andere sind nur Mittel oder Bedingung bei der Erfüllung eigener Wünsche, nicht aber konstitutiv für diese Wünsche selbst. Innerhalb des positivistischen Weltbilds kann der Charakter der Wünsche als subjektiver und vereinzelter Hervorbringung aber nur bedeuten, daß sie im statistischen Sinn zufällig variieren. Jede Möglichkeit einer gesetzesförmigen Aussage über die Verteilung von Wünschen würde unter diesen Prämissen die Willensfreiheit von Individuen in Frage stellen. Das Dilemma des Utilitarismus besteht nach Parsons deshalb darin, daß er nur entweder die Willensfreiheit annehmen kann, dann aber eine zufällige Variation der Ziele behaupten muß, oder umgekehrt akzeptiert, daß Ziele nicht zufällig variieren, dann aber keinen Ort für Wahl und Entscheidung in seinem Gebäude mehr finden könne. Die zuerst genannte Variante scheidet für Parsons aber als unhaltbar aus, da eine menschliche Wahl unter zufälligen Zielen keinen Sinn mache. Ähnlich der 2 Talcott Parsons, The Structure of Social Action (künftig zitiert als SSA). N e w York 1937, S. 344. 24
Kritik, die an Sartres »grundloser« Konzeption menschlicher Freiheit geübt wird, besteht Parsons darauf, daß Wahl schon Eigenstrukturen im Bereich der Wahlalternativen voraussetze, da sonst die Wahl selbst den Charakter des Zufalls annimmt. 3 Wenn die erste Variante ausscheidet, dann wird die Prüfung der zweiten Möglichkeit um so dringender. Tatsächlich sieht Parsons alle utilitaristischen Autoren dazu gezwungen, die Rolle der Handlungsziele als eines unabhängigen Faktors der Erklärung von Handlungen reduktiv zu behandeln, sobald sie ihre Ignoranz gegenüber der Frage nach der Herkunft der Handlungsziele überwunden haben. Zwei prinzipielle Arten solcher reduktiven Behandlung sind zu unterscheiden. Das Problem der Herkunft der individuellen Handlungsziele sprengt nicht mehr den positivistischen Erklärungsrahmen, wenn entweder die Ziele selbst den Handlungsbedingungen angeglichen oder wenn die Beziehungen von Zielen und Handlungssituationen als optimale Anpassungen aufgefaßt werden. Sobald Ziele selbst nicht als subjektive Hervorbringung gedeutet werden, sondern als Resultat deterministischer Prozesse etwa in der Persönlichkeit des Handelnden, ist das Spannungsverhältnis von utilitaristischem Handlungsmodell und positivistischem Erklärungsanspruch nach einer Seite hin aufgehoben. Typisch dafür sind Theorien, die die menschlichen Wünsche als Resultat von Vererbung oder determinativer Einflüsse von »Milieu« und Umwelt betrachten. Wenn andererseits die Ziele des Handelns selbst nicht wie aus einer fremden Welt in die Handlungssituation hineinreichen, sondern die Wahl zwischen Zielen sich in der Situation selbst ergeben soll, dann ist unter positivistischen Voraussetzungen diese Wahl auf optimaler Kenntnis der Handlungsbedingungen und Handlungsmittel in der empirischen Wirklichkeit zu basieren. Dann ist zwar nicht anzunehmen, daß diese optimale Kenntnis auf Seiten des Handelnden immer vorliegt. Die einzigen möglichen Erklärungen für Handlungsziele aber, die vom Ideal optimaler Situationsanpassung abweichen, sind 3 SSA, S. 64, Charles Taylor, Was ist menschliches Handeln? in: Ch. T, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt/M. 1988, S. 9-51, hier S. 29. 2
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dann Unwissenheit und Irrtum. Wenn ein Handelnder bestimmte Bedingungen ignoriert oder fälschlich die Tauglichkeit eines Mittels für seine Zwecke annimmt, wird seine Handlung suboptimal ausfallen. Parsons behauptet also, daß das utilitaristische Dilemma logisch zwingend zu einem »antiintellektualistischen« oder einem »rationalistischen Positivismus« führt, zu einer Reduktion auf Erbe- oder Umweltdeterminismus oder auf ein Verständnis des Handelns als Situationsanpassung. Er nennt deshalb die utilitaristische Theorie in sich unstabil, da sie nur durch Verdrängung eines Problemkomplexes ihr Modell des rationalen Handelns verteidigen könne. Die Wiederkehr des Verdrängten aber führt zur Reduktion dieses Modells und zum Zusammenbruch einer prototypischen Handlungstheorie. Bei all dem meint Parsons keinesfalls, daß historisch vorliegende Theorien mit den von ihm entwickelten logischen Alternativen identisch seien. Die meisten real existierenden Theorien sind vielmehr unklare Versionen oder Kombinationen aus mehreren dieser logischen Alternativen. In einem großen Gang durch die - vornehmlich angelsächsische - Geistesgeschichte interpretiert er das Denken von Hobbes und Locke, der klassischen politischen Ökonomie und ihrer marxistischen Kritik, des Darwinismus und des hedonistischen Utilitarismus des 19.Jahrhunderts mit Hilfe seines logischen Schemas. Diese Geschichte gewinnt damit logische Konsistenz und erscheint nicht als beliebige Abfolge kontingenter Positionen. Für Parsons" Verknüpfung von Theoriegeschichte und systematischer theoretischer Reflexion ist ein solches Vorgehen exemplarisch. Zugleich sensibilisiert es für den Sinn von Parsons' epistemologischer Selbstbezeichnung: den analytischen Realismus. Sein Buch beginnt und endet ja mit Erörterungen grundsätzlicher Art über das Verhältnis von Theoriebildung und empirischer Faktensammlung in den Sozialwissenschaften. Ähnlich wie der Utilitarismus und seine positivistischen Reduktionsformen Ausgangspunkt und Hauptgegner der handlungstheoretischen Überlegungen von Parsons sind, läßt sich der Empirismus als Widerpart in methodologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht ausma26
chen. Parsons wendet sich entschieden gegen ein Verständnis des wissenschaftlichen Fortschritts als einer Akkumulation erkannter Tatsächlichkeiten und verteidigt demgegenüber die Bedeutung begrifflicher Bezugsrahmen. Er versucht zu zeigen, daß diese immer schon jeder Formulierung einer empirischen Beobachtung zugrundeliegen und deshalb die eigentliche Frage gar nicht lautet, ob ein begrifflicher Bezugsrahmen nötig sei oder nicht, sondern wie reflektiert dieser Bezugsrahmen sei. Nachdem jahrzehntelang auf diese Ebene von Parsons' Argumentation von Anhängern und Kritikern gar nicht geachtet wurde, fand sie - angeregt v. a. von Harold Bershady 4 - zunehmend Aufmerksamkeit. Inzwischen gibt es Versuche, Parsons aufgrund dieser kritischen Distanz zu einer empiristischen Position, die in der Wissenschaftstheorie nur kurzzeitig, im Selbstverständnis vieler Wissenschaftler aber häufig dominant war, eine Pionierrolle in Richtung der heutigen postempiristischen Wissenschaftsphilosophie (J. Alexander) oder eine konsequent kantianische philosophische Grundeinstellung (R. Münch) zuzusprechen. 5 Biographisch triftiger ist wohl, hier den Einfluß des wie Parsons in Harvard lehrenden Wissenschaftsphilosophen Alfred Whitehead am Werk zu sehen. 6 Diesen Fragen kann hier nicht nachgegangen werden. Für die Zwecke der Handlungstheorie ist lediglich von Bedeutung, daß Parsons sich mit seiner wissenschaftstheoretischen Argumentation den Freiraum für eine Relativierung des Rationalmodells des Handelns eröffnet. Mit seiner Kritik des Utilitarismus wollte Parsons keineswegs die Unmöglichkeit allgemeiner theoretischer Aussagensysteme beweisen. Bei der Erörterung der Methodologie Max Webers verteidigt er im Gegenteil wie dieser die Notwendigkeit abstraktiver Begriffsbildung und kritisiert Weber, weil dieser bei historisch-deu4 Harold Bershady, Ideology and Social Knowledge. Oxford 19735 Jeffrey Alexander, Theoretical Logic in Sociology, Vol. i: Positivism, Presuppositions, and Current Controversies. Berkeley 1982. Richard Münch, Theorie des Handelns. Frankfurt/M. 1982. 6 Harald Wenzel, Die Ordnung des Handelns. Talcott Parsons' Theorie des allgemeinen Handlungssystems. Frankfurt/M. 1991. 27
tenden Idealtypen haltgemacht und nicht wirklich zur Ebene allgemeiner Gesellschaftstheorie vorangeschritten sei. U m also am Ideal der Theoriebildung mit dem Utilitarismus festhalten zu können, zugleich aber dem von diesem aufgestellten und nachgewiesenermaßen in sich unstabilen Rationalmodell des Handelns zu entgehen, greift Parsons auf Whiteheads Begriff der »misplaced concreteness« zurück. Dieser Vorwurf einer fehlplazierten Konkretion zielt auf die falsche Gleichsetzung von analytisch isolierbaren Elementen einer Ganzheit mit konkreten Gegebenheiten. Im Fall des Handelns bedeutet dies, daß das Rationalmodell zwar richtig Elemente des menschlichen Handelns identifiziert (wie Ziele, Mittel, Bedingungen) und bestimmte Tatsachen erfolgreich behandelt, daraus aber fälschlich der Schluß gezogen wird, es handle sich bei diesem Modell um eine Widerspiegelung der konkreten Wirklichkeit, die allen Erklärungsversuchen als Leitfaden zu dienen habe. 7 Unter empiristischen Voraussetzungen werde aus einem logisch geschlossenen System ein empirisch geschlossenes System. Parsons' Kritik richtet sich damit nicht gegen die Verwendbarkeit des Rationalmodells als solchem, sondern gegen ein falsches Verständnis dieser Verwendbarkeit. Der Begriff des analytischen Realismus will sagen, daß zwar die Erklärung der Wirklichkeit das Ziel bleibe, dies aber nur durch die Isolierung analytischer Elemente erreicht werden könne; anstatt diese zu »reifizieren«, fälschlich mit Wirklichkeitszügen gleichzusetzen, müsse vielmehr eine Systematik dieser analytischen Elemente ausgearbeitet werden. Dieser methodologische Umweg war nötig, um Parsons' Alternative zum Rationalmodell des Handelns präsentieren zu können. Für ein Verständnis dieser Alternative ist ebenfalls die Erinnerung wichtig, daß Parsons die Unfähigkeit des Utilitarismus zur Erklärung der Existenz und Entstehung sozialer Ordnung mit der Unfähigkeit zur Erklärung der Herkunft von Handlungszielen in Verbindung gebracht hatte. Seine Alternative besteht nun darin, die Garantie sozialer Ordnung in der Existenz gemeinsam gebildeter Werte und die Überwin7 SSA, S. 476. 28
düng des Rationalmodells der Handlung in der Berücksichtigung der normativen Orientierungen, welche bei der Konstitution der Ziele und der Selektion von Mitteln mitwirken, zu sehen. Wenn soziale Ordnung mehr bedeuten soll als die bloß faktische Ordnung einer Aggregation von Handlungen und mehr als zeitweilige Stabilität in einer Konkurrenz um Ressourcen und Macht, dann setzt dies gemeinsame Orientierungen aller Handelnden voraus, die dem subjektiven Nutzenkalkül des individuellen Handelnden nicht unterworfen sind, sondern dieses erst möglich machen. Nur eine Berücksichtigung der Tatsache, daß die individuellen Handlungsziele weder zufällige subjektive Hervorbringung noch Resultat einer Anpassung an frühere oder jetzige Bedingungen sind, sondern in einem konstitutiven Zusammenhang mit den individuellen Handlungszielen anderer Handelnder stehen, erlaubt eine verbesserte Handlungstheorie und ein Verständnis der Existenz sozialer Ordnung. Parsons will innerhalb der Handlungstheorie die Elemente »Wert« und »Norm« zur Geltung bringen, um einen normativen Begriff sozialer Ordnung verteidigen zu können. Diese Lösung des Problems, wie plausibel sie auch sein mag, kann willkürlich erscheinen und den Eindruck der Einführung eines deus ex machina hervorrufen. Tatsächlich wurde gegen Parsons der Vorwurf erhoben, er erkläre nicht die Existenz sozialer Ordnung, sondern definiere sie lediglich anders. In diesem Vorwurf liegt ein mehrfaches Mißverständnis von Parsons' Vorgehen und seines Verständnisses von Handlungstheorie. Zunächst wollte Parsons nie die Existenz sozialer Ordnung erklären, vielmehr diese Existenz als Erfahrungstatsache zum Ausgangspunkt der Überlegungen machen. Dann beansprucht er, daß der Beweis für die Instabilität des Utilitarismus nicht als empirischer, sondern als logischer Beweis zu führen sei. Es geht ihm darum, Denkalternativen unter bestimmten Prämissen aufzuweisen und anhand der faktischen Theoriegeschichte zu überprüfen, ob sein Alternativenschema angemessen ist. Aus diesem Grund muß Parsons ausführliche Interpretationen der Theorieentwicklung von Autoren vorlegen, da in dieser Form Bezugnahme auf Wirklichkeit und 29
begriffliche Reflexion miteinander verschränkt sind. Wenn Parsons dieses Vorgehen zu einem empirischen Beweis durch faktische Konvergenz stilisiert, fügt er seinem Vorgehen eine hermeneutisch unnötige Zusatzthese hinzu. 8 Schließlich berücksichtigen diese Interpretationen über die Lösungsvarianten des utilitaristischen Dilemmas hinaus eine ganz andere Denktradition - die des Idealismus - und gewinnen gerade aus dieser Anhaltspunkte für die Bedeutung von Werten und N o r men fürs menschliche Handeln. Aus diesen Interpretationen sei nur der logische Kern festgehalten. In der Studie über den britischen Ökonomen Alfred Marshall will Parsons vornehmlich zeigen, daß dieser zwar einer der Begründer der modernen (neoklassischen) ökonomischen Theorie und somit konsequenter Verfechter eines Rationalmodells des Handelns gewesen sei, zugleich aber in seiner Theorie Gedankengänge entwickelt habe, die über das Rationalmodell hinausweisen. Marshall entwickelt nämlich, wenn auch recht unklar, einen Begriff der »activity« und zielt damit auf Handlungen, die nicht der Erfüllung von Wünschen dienen, sondern in sich wertvoll sind und damit selbst gewünscht werden. Er lehnt die Vorstellung radikal ab, Handlungen dienten im Sinne einer hedonistischen Psychologie der Befriedigung des Handelnden; gerade der Prototyp des rationalen Handelns auf dem Gebiet der Ökonomie folge meist eher aus einer asketischen Arbeitsmoral als aus einer Hingabe an die eigenen Bedürfnisse. Marshall interessiert sich für die charakterlichen Voraussetzungen und Wirkungen wirtschaftlichen Handelns und entdeckt dadurch - so Parsons - die Existenz von Wertsystemen. Er verdeckt diese Einsicht aber sofort wieder, weil er nur eine Evolution hin zum Wertsystem ökonomischer Tugenden denken kann und nicht eine echte Pluralität von Wertsystemen annimmt. Diesen fehlenden Schritt geht Vilfredo Pareto, ebenfalls einer der wichtigsten Vertreter modernen ökonomischen Denkens. In seiner Interpretation Paretos zeigt Parsons, daß dieser viel konsequenter die Pluralität menschlicher Wertsysteme anerkennt, allerdings 8 SSA, S. 697L 30
kein theoretisches Mittel hat, um diese anders denn in Form einer Aufzählung zu präsentieren. Pareto setzt dem logischen Handeln einfach den weiten Bereich des Nichtlogischen entgegen, in den höchste Wertorientierungen genauso fallen wie unreflektierte Affekte. Damit erschließt er weit mehr als Marshall das Reich der Normen und Werte; es fehlen ihm aber die begrifflichen Mittel, um dieses Reich wirklich zu kartographieren. Diese Mittel findet Parsons bei Durkheim, dessen Interpretation vielleicht das Kernstück des ganzen Werkes ausmacht. Durkheims Ausgangspunkt sei zwar ganz anders als der von Marshall und Pareto nicht im Utilitarismus gelegen; entscheidend für seine Entwicklung sei die Entdeckung, daß die Zwänge, unter denen Handelnde stehen, nicht von einer Art seien, sondern sozialer Zwang ganz anderen Charakter habe als natürliche Verursachung. Durkheim entdecke den spezifischen Charakter sanktionsgestützter normativer Regeln. Damit wandle sich seine anfängliche Gleichsetzung des »Sozialen« mit dem »Äußerlichen« und »Zwingend-Restriktiven« entscheidend; soziale Normen können verinnerlicht werden und Handlungen konstituieren. Gesellschaftliche Verhältnisse mögen zwar der Beeinflußbarkeit durch den Einzelnen entzogen sein, sie sind deshalb aber nicht von naturhafter Festigkeit. »The social milieu constitutes a set of conditions beyond the control of a given concrete individual, but not beyond the control of human agency in general.« 9 In seiner weiteren Entwicklung baue Durkheim diese Einsicht in den Eigencharakter der Normen zu einer Erziehungs- und vor allem einer Institutionentheorie aus. Diese erreiche ihren H ö hepunkt in dem epochalen Entwurf einer Religionstheorie, in der eine Theorie des Heiligen, des Symbolischen und des Rituellen dazu diene, die Existenz letzter Werte zu analysieren, die sich der Subsumtion unters Rationalmodell entziehen. Während Pareto nur gedankenexperimentell in der Verfolgung von Zweck-Mittel-Ketten zur Annahme letzter Werte gekommen sei, mache Durkheim diese letzten Werte und die Arten ihrer Manifestation direkt zum. Gegenstand. Dabei komme er 9 SSA, S. 709. 3i
aber zu einer Vernachlässigung der Zweck-Mittel-Rationalität und ende in der Einseitigkeit des Idealismus. Dieser Idealismus wiederum sei der Ausgangspunkt Max Webers, zwar nicht in einem biographischen Sinn, aber im Sinn der entscheidenden Bedeutung des Idealismus für das geistige Milieu, aus dem Weber sich zu lösen versuchte. Im Unterschied zum Utilitarismus habe der Idealismus nie die Bedeutung der Werte und Normen fürs menschliche Handeln gering veranschlagt. Es sei ihm aber nicht gelungen, die Beziehung der Handelnden zu diesen Normen und Werten zu erhellen. Für einen Idealisten drücken sich im Handeln des Einzelnen überpersonale geistige Wesenheiten nur aus. Diese Sicht des Handelns als eines Ausdrucks sei den verschiedenen Positionen von Geschichtsphilosophie und Historismus vor allem im deutschen Denken des 19.Jahrhunderts gemeinsam; der Unterschied zwischen den verschiedenen Richtungen bestehe hier lediglich darin, ob die überpersonale geistige Wesenheit geschichtsphilosophisch als sich in der Weltgeschichte erkennender oder verwirklichender Weltgeist oder historistisch-relativistisch als je einzelner Volks- oder Zeitgeist aufgefaßt wird. Webers methodologischer Kampf gelte allen Versionen eines solchen idealistischen Emanationismus, ohne daß er deshalb zum Utilitaristen oder Positivisten würde. In seinem Angriff auf den historischen Materialismus betone er ja gerade die Bedeutung »religiöser Interessen« und damit von N o r m e n und Werten. All seine Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen hätten die Aufgabe, Geschichte aus den komplexen Wechselwirkungen von Werten und anderen Elementen des Handelns zu erklären. Methodologisch gelange Weber trotz dieser vorbildhaften Sachforschungen aber nicht zu einer wirklich allgemeinen, analytischen Theoriekonstruktion. Parsons nimmt für sich in Anspruch, in seiner Handlungstheorie die Elemente aus allen behandelten Traditionen, die dort jeweils verabsolutiert werden, integrieren zu können: aus den radikal positivistischen Denkweisen Erbe und Umwelt als letzte Bedingungen und Mittel des Handelns; aus dem Utilitarismus die Verknüpfung von Zielen und Mitteln; und aus dem idealistischen Denken die letzten Werte, die allen einzelnen 32
Zielen und Mittelwahlen zugrundeliegen. Eine Theorie der normativen Orientierung des Handelns wäre damit die Integration aller separaten Errungenschaften der anderen Denkweisen. Ganz am Rande nennt Parsons ein weiteres Element seiner Handlungstheorie, das aus keiner der behandelten Linien einfach hervorgeht. Es handelt sich um die Kraft, die die normativen und konditionalen Elemente miteinander im Handeln in Beziehung setzt. Er nennt diese »effort« und vergleicht ihren analytischen Status mit dem der Energie in der Physik. Die damit bezeichnete Lücke einer Dynamisierung der Handlungskonzeption hat Parsons im Anschluß an sein frühes handlungstheoretisches Werk durch die Rezeption der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds zu füllen versucht. Dieser Strang ist hier aber nicht weiterzuverfolgen. Es geht hier ebensowenig um eine Darstellung von Parsons' weiterer Entwicklung und der laufenden Modifikationen seiner Theorie wie um eine Diskussion der Frage, ob spätere Arbeiten in den von Parsons diskutierten Traditionen, etwa die anhaltenden Versuche von Vertretern des Rationalmodells der Handlung zur »Lösung« des Problems sozialer Ordnung, von seinen Einwänden noch getroffen werden oder nicht. 10 Die Aufgabe der vorliegenden Darstellung war es ja nur, in die Problemlage der Handlungstheorie anhand von einem ihrer Schlüsseltexte einzuführen. Die Frage, die sich jetzt stellt, hat deshalb zu lauten: Welches sind die Einwände gegen Parsons' imponierende Konstruktion und inwiefern geben diese Anlaß, den Zuschnitt der Handlungstheorie zu verändern ? 10 Ein guter kritischer Überblick über diese Versuche findet sich in Manfred Trapp, Utilitaristische Konzepte in der Soziologie. Eine soziologische Kritik von Homans bis zur Neuen Politischen Ökonomie, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 324-340; voller Sympathie für die neueren Tendenzen, das Rationalmodell der Handlung zum Inbegriff einer Rekonstruktion der Kontingenz des Handelns überhaupt zu machen, ist der vorzügliche Bericht von Helmut Wiesenthal, Rational Choice. Ein Überblick über Grundlinien, Theoriefelder und neuere Themenakquisition eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas, in: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), S. 434-44933
i.2 Bilanz d e r D i s k u s s i o n : F ü r eine R e h i s t o r i s i e r u n g der K o n v e r g e n z t h e s e Ein großer Teil der vorgebrachten Einwände zielt auf die als besonders provokant empfundene Konvergenzthese Parsons\ Dabei gerät manchmal aus dem Blick, daß Parsons nie den Anspruch einer umfassenden Geistesgeschichte des 18. und 19.Jahrhunderts erhoben hatte und auch nie von einer Konvergenz der behandelten Autoren in einer anderen Hinsicht als der einer »voluntaristischen« Handlungstheorie gesprochen hatte. Jeder Hinweis auf fehlende Traditionslinien und Autoren, jede Korrektur an einer falschen Interpretation der Schrift eines einbezogenen Klassikers muß deshalb so lange an Parsons 5 Konzeption abprallen, wie nicht deutlich gemacht wird, welche theoretische Konsequenz die zusätzliche Einbeziehung oder die korrektere Interpretation gehabt hätte. Immerhin aber verweist jeder Hinweis, auch wenn er nicht unmittelbar theoretisch gezielt ist, auf die Aufgaben einer Verbesserung von Parsons' Konzeption. Einige Lücken hat Parsons selbst in verschiedenen Rückblikken zugestanden. Am auffallendsten ist sicher, daß Parsons die Konvergenz zu einer positiven Lösung ausschließlich im Denken europäischer Autoren sieht und das zeitgenössische Denken Amerikas, seines eigenen Landes, dabei vollkommen übergeht. In der »Structure of Social Action« wird der Eindruck erzeugt, als sei dieses amerikanische Denken völlig vom utilitaristischen Individualismus und naiven Evolutionismus Herbert Spencers dominiert worden. Nachdem Parsons in seiner weiteren Entwicklung den vorläufig nur angedeuteten Gedanken einer Verinnerlichung von Werten und Normen breit ausgearbeitet hatte, konnte er zugestehen, daß dieser Gedanke ganz besonders von amerikanischen Autoren wie Cooley, Thomas und vor allem Mead weit über die europäischen Klassiker hinaus entfaltet worden sei.11 Noch dieses 11 So im Vorwort zur zweiten Auflage von SSA von 1949, vor allem aber in dem Aufsatz: Talcott Parsons, Cooley and the Problem of Internalization, in: Albert Reiss (ed.), Cooley and Sociological Analysis. Ann Arbor 1968, S. 48-67. 34
Zugeständnis war problematisch, da er diese sozialpsychologische Errungenschaft von ihren Bedingungen und Weiterungen isolierte. Für die wichtigeren amerikanischen Autoren in den Jahrzehnten vor Parsons gilt zwar, daß die theoretische Modifikation von Spencers Behauptungen einen Großteil ihrer Beschäftigung ausmachte, Spencer dabei aber »more whipping boy than master« 12 war. Schon in einer Besprechung von 1939 wies Louis Wirth 13 darauf hin, daß mit Dewey und Mead zwei Amerikaner längst eine Art voluntaristischer Handlungskonzeption verfochten hätten; in den frühen sechziger Jahren wies Roscoe Hinkle die Breite handlungstheoretischen Denkens in den USA vor Parsons nach. 14 Für die weitere Argumentation läßt sich festhalten, daß Parsons die Hintergrundphilosophie dieser Tendenzen - die Philosophie des Pragmatismus - aus welchen Gründen auch immer nicht ausdrücklich heranzog und die Tiefe ihrer Kritik an dem auch von ihm angegriffenen Rationalmodell des Handelns ignorierte. Zwei weitere große Lücken hat Parsons selbst eingeräumt. Am meisten beklagt er die Vernachlässigung der französischen Geistesgeschichte in ihrem - wie er sagt - »liberalen« (Rousseau, Saint-Simon, Comte) und ihrem »konservativen« (Bonald, de Maistre, Tocqueville) Flügel; nur nebenhin nennt er als wichtigste einzelne Figur, die er zusätzlich hätte berücksichtigen müssen, Georg Simmel. 15 In beiden Fällen aber gibt er selbst keine mögliche Wirkung eines Einschlusses dieser Denkweisen auf seine eigene Konstruktion an. Mit den französischen Denkern wäre lediglich der Schwerpunkt des Buches, der auf angelsächsischem und deutschem Denken liegt, zurechtgerückt; Simmel wird als Mikrosoziologe von nicht 12 R. Jackson Wilson, In Quest of Community. Social Philosophy in the United States 1860-1920. New York 1968, S. 155. 13 Louis Wirth, Review of Parsons, SSA, in: American Sociological Review 4 (1939), S. 399-404. 14 Roscoe Hinkle, Antecedents of the Action Orientation in American Sociology before 1935, in: American Sociological Review 28 (1963), S. 705-715. 15 Vorwort zur 2. Auflage von SSA. 35
eigentlich theoretischem, sondern essayistischem Charakter bezeichnet. Die spätere Kritik - vor allem Donald Levine 16 hat allerdings versucht, Parsons hier nicht so leicht entwischen zu lassen. Sie weist darauf hin, daß für das französische, weitgehend katholisch geprägte Denken der gesellschaftliche Charakter der Moral und eine Verknüpfung von Rationalität und Moralität charakteristisch waren, die in protestantischen Denktraditionen ungewöhnlich sind und Parsons' Bild von einer Durchbrechung französischer Traditionen durch Durkheim in Zweifel ziehen. Geradezu spektakulär ist aber der Fall Simmel, da hier durch bohrende Insistenz gegen Ende von Parsons' Leben das Schicksal eines für die »Structure« geschriebenen, dann aber wieder ausgeschiedenen Kapitels über Simmel geklärt werden konnte. 17 In einem Brief von 1979 gab Parsons zu, daß er Simmel ausschied, weil sein Programm sich der Konvergenzthese nicht fügte. Levine zieht daraus die weitreichende Schlußfolgerung, daß Simmeis Ausgang bei den Beziehungen von Handelnden sich Parsons' Konzentration auf die Handlung ebenso widersetzte wie seinem Weg zum Funktionalismus. Mit diesen Zugeständnissen gerät die Konvergenzthese also in ernsthafte Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten nehmen bei weiterer Betrachtung der Theoriegeschichte rasch zu. So wird allseits die Behandlung von Marx als ungenügend, ja widersprüchlich empfunden. Marx kam in Parsons' Rekonstruktion einerseits als Figur des 16 Donald Levine, Simmel and Parsons. New York 1980. In der Einleitung (S. III-LXIX) dieses Buches findet sich eine erste vorzügliche Bilanz der Diskussion über SSA. Inzwischen liegt eine noch umfassendere und gründlichere Arbeit dieser Art vor: Charles Camic, »Structure« after 50 Years: The Anatomy of a Charter, in: American Journal of Sociology 95 (1989), S. 38-107. Von einem Ende der Debatte kann freilich keine Rede sein. Vgl. neben dem Buch von Wenzel (s. Anm. 7) den Beitrag von Mark Gould, Voluntarism versus Utilitarianism: A Critique of Camic's History of Ideas, in: Theory, Culture and Society 6 (1989), S. 637-654. 17 Brief von Talcott Parsons an Jeffrey Alexander, 19. Januar 1979, zitiert bei Levine, a.a.O., S. xxx; inzwischen auch zum Thema: Donald Levine, Simmel and Parsons Reconsidered, in: American Journal of Sociology ^6 (1991), S. 1097-1116. 36
deutschen Idealismus, andererseits des Utilitarismus vor. Wenn dies kein Widerspruch sein soll, dann wäre es nötig, Marx' Denken als komplizierten Versuch einer Synthese dieser beiden Denktraditionen zu deuten, aber eben eine solche Deutung unterblieb bei Parsons. Überhaupt litt die Darstellung des deutschen Idealismus darunter, daß nur die späten Gestalten einer historisch gerichteten Staatswissenschaft, nicht aber die repräsentativen Philosophen Deutschlands gewürdigt wurden. Dabei wird Werner Sombart als reiner Kulturdeterminist vorgeführt, was sicher schwer zu halten ist. Wichtiger ist aber, daß Parsons trotz aller berechtigten Kritik an der Vorstellung, im Handeln drücke sich ein überpersonaler Geist nur aus, durch seine Unkenntnis des Ursprungs der Ausdrucksanthropologie bei Johann Gottfried Herder sich den Zugang zu einem Modell des Handelns als Selbstausdruck des Handelnden verbaut. Auch hierauf ist zurückzukommen. Das größte öffentliche Aufsehen fanden die Debatten über die Korrektheit von Parsons' Interpretation der beiden heute lebendigsten Klassiker der soziologischen Disziplin, nämlich fimile Durkheims und Max Webers. Da Marshall und Pareto in den Debatten über die Handlungstheorie nach Parsons nur am Rande diskutiert wurden, zielten auch kaum kritische Beiträge auf Parsons' Deutung dieser Autoren; die wenigen Äußerungen, die es gab, gingen aus einer generellen Skepsis gegen eine angebliche Überschätzung von Konsens und O r d nung hervor und hoben entsprechend heraus, wie sehr im Selbstverständnis vornehmlich Paretos, aber auch Marshalls, Themen des Konflikts und der Ungleichheit vorherrschten. Durkheim und Weber hingegen wurden in den Jahrzehnten nach Parsons' erstem Buch und in der jüngeren Vergangenheit immer mehr zu den Schlüsselgestalten gesellschaftstheoretischer Diskussion überhaupt. Theoretische Kontroversen in den Geistes- und Sozialwissenschaften finden oft ihren Brennpunkt im Streit um die korrekte Interpretation klassischer Schriften. Dabei läßt sich im Falle Webers ein klarer Dissens ausmachen zwischen denjenigen, die Weber als Realisten des Konflikts und Interessehandelns deuten, und Parsons, der Webers Betonung normativer Übereinstimmung in einer Theorie 37
der Legitimität und der Religion akzentuierte. Der Vorwurf an Parsons lautet deshalb meist, daß er zu einseitig auf Webers Religionssoziologie aufgebaut und die politische Soziologie Webers vernachlässigt habe. Jeffrey Alexander hat versucht, die umgekehrte Einseitigkeit zu verhindern und in seiner Weber-Interpretation das Werk des Klassikers aus einer permanenten Spannung zwischen unterschiedlichen Tendenzen zu erklären, die verschiedenen Teilen des Werkes widersprüchlichen Charakter gibt.18 Alexander sieht Weber mit dem Versuch beschäftigt, »Ideen« und »Interessen« integriert zu erfassen. Diese Integration sei in Teilen des Werkes wie der Klassentheorie und der Stadtsoziologie vorbildlich gelungen. Andere Teile wie die vergleichenden Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen seien hier höchst ungleich ausgefallen. Dem negativen Fall der China-Studie wird so die Arbeit zum antiken Judentum als positive Alternative entgegengestellt. Entscheidend ist aber, daß es sich hier nicht um die nebensächlichen Folgen mangelnder Ausarbeitung handeln kann, da Weber in einem wesentlichen Teil seines Werks konsistent reduktiv verfahre: in seiner Analyse der Moderne selbst. Sei noch die Analyse von deren Entstehung »multidimensional«, so ändere sich dies programmatisch bei ihrer Darstellung. O b Soziologie des Rechts oder der Schichtung, ob Soziologie der Bürokratie oder der Demokratie: überall setze sich die einseitige Betonung utilitaristischer Züge der Moderne durch und führe zu empirischen Schwächen. Die mögliche Begründung hierfür, dies sei eben Ausdruck des Wesens dieser modernen Gesellschaft, lehnt Alexander zu Recht ab, da mit Webers Vorgehen ja begrifflich vorentschieden werde, was empirisch zu beweisen wäre. So steigert sich die Frage der Korrektheit von Parsons' Weber-Interpretation zu den substantiellen Fragen einer Theorie der Moderne. 19 Damit verglichen ist die Infragestellung der Durkheim-Deutung unübersichtlich und un18 Jeffrey Alexander, Theoretical Logic in Sociology, Vol. in: The Classical Attempt at Synthesis: Max Weber. Berkeley 1983. 19 Ganz wesentlich in dieser Hinsicht ist auch die Weber-Deutung von Habermas. Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 205-366. Frankfurt/M. 1981. 38
klar in ihren substantiellen Konsequenzen. Parsons' Deutung fast jeder einzelnen Schrift wurde hier in Zweifel gezogen. 20 Das reicht von der Frage, ob Durkheim jemals Interesse an einer Theorie des Handelns und an einer Kritik des Utilitarismus gehabt habe über den genauen Sinn von Durkheims Schrift zur Arbeitsteilung bis zur falschen Datierung der Erziehungstheorie Durkheims und einer völligen Unkenntnis der Arbeiten nach Durkheims später Religionstheorie. Oft sind hier die vorgeschlagenen Alternativen aber nicht weniger problematisch und lückenhaft als die Interpretation durch Parsons. Von einer konsistenten Überwindung von Parsons' Durkheim-Bild ist die Diskussion insgesamt noch weit entfernt. Während einige der Kritiker von Parsons lauthals dafür plädieren, die Konvergenzthese fallen zu lassen und geradezu durch eine Divergenzthese zu ersetzen 21 oder in Durkheim und Weber zwei fundamental unterschiedliche Weisen der Theoriekonstruktion zu sehen, verzichten andere trotz aller Nähe zu Parsons stillschweigend auf die Konvergenzthese, da sich diese These nur aus den eingeschmuggelten Korrekturen verstehen lasse, die Parsons an den intuitiv erkannten Schwachstellen der Klassiker vorgenommen habe. Mit der Problematisierung der Konvergenzthese gerät des weiteren auch die Folie in ein schiefes Licht, von der sich diese These hatte abheben wollen: die Kritik des Utilitarismus. Parsons hatte den Begriff des Utilitarismus gleichzeitig in einem technischen und einem historischen Sinn verwendet. Technisch zielte der Begriff auf ein Handlungsmodell, das von der rationalen Verfolgung gegebener Handlungsziele durch vereinzelte Individuen ausging; historisch wollte Parsons damit ein von Hobbes initiiertes und die gesamte angelsächsische Denkgeschichte angeblich bestimmendes Motiv bezeichnen. 20 Am bekanntesten ist Whitney Pope, Classic on Classic: Parsons 5 Interpretation of Durkheim, in: American Sociological Review 38 (1973), S. 399-415. 21 Reinhard Bendix, Two Sociological Traditions, in: R.B. /Günther Roth, Scholarship and Partisanship. Berkeley 1971, S. 282-298.
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Es ist nicht überraschend, daß diese Gleichsetzung in Frage gestellt und die wirkliche Komplexität des Denkens etwa von David Hume, Adam Smith, John Stuart Mill oder Herbert Spencer gegen Parsons ins Feld geführt wurde. Unbestreitbar gelingt es dabei den Kritikern nachzuweisen 22 , daß alle diese Autoren keineswegs den ausschließlich präsozialen oder egoistischen Charakter menschlicher Wünsche behauptet hatten, sondern in einer Vielfalt von Ansätzen altruistische Motive, gesellige Triebe, die Fähigkeit zur Sympathie und den gesellschaftlichen Charakter sowie die Unverzichtbarkeit von N o r men herausgearbeitet hatten. Ohne dies wäre ja auch schwer verständlich, warum überhaupt von einer Moral- und Sozialphilosophie in dieser Tradition gesprochen werden könnte. Mit solchen Ansätzen wich dieses Denken aber nicht nur von Parsons" Bild ab, sondern entzog sich auch den Zwängen des utilitaristischen Dilemmas. Zur Verteidigung Parsons 5 wurde dieser Kritik entgegengehalten, daß der klassische Utilitarismus noch über Einsichten in affektuelle und gemeinschaftliche Quellen sozialer Ordnung verfügt haben möge, diese aber die Form von Residualkategorien hatten, welche aus der utilitaristischen Theorietradition fortschreitend eliminiert und nicht in ein umfassenderes theoretisches Modell integriert wurden. 23 Stärker noch als diese These ist der auf Albert Hirschman zurückgehende Einwand 24 , daß sich die Moralphilosophie des Utilitarismus als Beitrag zur Disziplinierung des bloß wünschenden, von seinen Leidenschaften bewegten Menschen zu einem nach klar definierten Interessen rational verfahrenden Subjekt verstehen lasse. Dann wäre Parsons zwar unklar gewesen, was die Unterscheidung von Wunsch und Interesse betraf, hätte aber im Kern seiner Gleichsetzung von Rationalmodell des Handelns und »utilitaristischer« Tradition recht gehabt. Ein bloßer Rückzug auf die technische Definition des 22 V.a. Charles Camic, The Utilitarians Revisited, in: American Journal of Sociology 85 (1979), S. 515-550. 23 Richard Münch, a.a.O., S. 321, Anm. 58. 24 Albert Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt/M. 40
Utilitarismus ist sicher nicht möglich; auch die Verteidiger Parsons' haben zu erklären, wie sich die ursprüngliche Vielseitigkeit dieses Denkens auf diesen engsten Kern des Rationalmodells verengt haben kann. Wenn dies nicht gelingt, bleibt der Vorwurf in Kraft, Parsons habe ein theoretisches Dilemma, das so nur für Hobbes (und vielleicht Mandeville) gelte, weit überdehnt und damit eine Schwierigkeit auf die ganze europäische Geistesgeschichte projiziert, die ihren eigenen O r t in einem spezifischeren Zusammenhang habe. Bisher wurden nur diejenigen Argumente zusammengetragen, die sich aus theoriegeschichtlichen Reflexionen ergaben. Nicht alle kritischen Beiträge aber zielen so - bloß indirekt auf Parsons' theoretische Position. In den Debatten über Parsons' »analytischen Realismus« dominierte die Frage, ob angesichts des geschichtlichen Charakters der Gegenstände sozialwissenschaftlichen Forschens ein theoretisches Ziel überhaupt mit Aussicht auf Erfolg verfolgt werden könne, das in einer Systematik transhistorischer analytischer Theorieelemente besteht, die zur Erfassung geschichtlicher Gegenstände nur variiert werden müssen. Skepsis erregte auch die Tatsache, daß zwar in der Abwehr von Einwänden der analytische Charakter der vorgenommenen Abstraktionen betont wurde, wir aber von Parsons nichts darüber erfahren, wie nun eigentlich auf dieser analytischen Ebene argumentiert werden könne. Es muß doch rationale Gründe dafür geben, in welche Richtung ein analytisch aufgefaßter begrifflicher Bezugsrahmen entwikkelt werden darf und in welche nicht. Parsons liefert aber weder eine Pragmatik angemessener analytischer Abstraktionen noch eine Anthropologie des Handelns. Der »analytische Realismus« ist damit gewiß nicht das letzte Wort einer epistemologischen Reflexion der Handlungstheorie. Die verstreuten Kritiken an der Substanz von Parsons' Handlungstheorie betreffen eine Vielzahl von Fragestellungen - von der subjektiven Perspektive der Handelnden (Alfred Schütz) bis zur generellen Rolle des Kognitiven in der Handlung (Stephen Warner), von den Grenzen des Zweck-Mittel-Schemas des Handelns (Niklas Luhmann) bis zur Frage nach der Entstehung gemeinsamer Normen und Werte (Alain Touraine) - die 4i
an dieser Stelle noch nicht behandelt werden können. 25 Ihr O r t ist im Rahmen der systematischen Entfaltung einer Theorie der Kreativität des Handelns. Ganz unabhängig aber von einem Urteil in diesen Fragen ist schon durch das Ergebnis der Prüfung der Konvergenzthese ein dramatischer Punkt in dieser Einführung in die handlungstheoretische Diskurswelt erreicht. Es muß der Eindruck entstehen, als habe der Versuch zur Präsentation einer sachlich angemessenen und theoriegeschichtlich reflektierten Handlungstheorie schon Schiffbruch erlitten, bevor das Unternehmen richtig begonnen wurde. Kein Zweifel kann ja mehr daran bestehen, daß Parsons' Konstruktion wichtiger Korrekturen bedarf. Als unabweisbare Mängel haben sich erwiesen: die Unfähigkeit, eine andere Kritik am Rationalmodell des Handelns zu entwickeln als diejenige, die sich aus der (angeblichen) Unfähigkeit der Vertreter dieses Modells ergibt, das Problem sozialer Ordnung zu lösen; die Schwierigkeiten, den Charakter sozialer Beziehungen oder sozialer Interaktion oder spontaner altruistischer Orientierungen anders zu berücksichtigen als mit dem Begriff eines normativen Konsensus; die Ignoranz gegenüber einem Handlungsmodell des Selbstausdrucks; Zweideutigkeiten in der Gewichtung der gesellschaftlichen Bedeutung des Normativen; Unklarheiten in der Unterscheidung von egoistischem Wunsch und rationalem Interesse. All diese Punkte von eher systematischer Bedeutung für eine Handlungstheorie sind durch die Prüfung der Konvergenzthese aufgetaucht. Aber sind diese Mängel einfach nur Folge einer Überstrapazierung der geistesgeschichtlichen Systematik? Sicher hat Parsons sich eine Fülle von Problemen aufgeladen, indem er seine Handlungstheorie und die Schriften der Klassiker soziologischer Theoriebildung als die Lösung eines seit Jahrhunderten be25 Talcott Parsons/Alfred Schütz. Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel. Frankfurt/M. 1977. Stephen Warner, Toward a Redefinition of Action Theory: Paying the Cognitive Element its Due, in: American Journal of Sociology 83 (1978), S. 1317-1349. Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. Tübingen 1968. Alain Touraine, Soziologie als Handlungswissenschaft. Neuwied 1973. 42
handelten, aber bisher vergeblich attackierten Problems darstellt. Trotz der Stärke seiner historischen Behauptung aber, daß sich die Entstehung einer adäquaten Handlungstheorie genau im Zeitraum von 1890 bis 1920 und in Europa lokalisieren lasse, läßt er die näheren gesellschaftlichen und epistemologischen Voraussetzungen der behaupteten Konvergenz eher unanalysiert. Parsons enthistorisierte die Konvergenz zur entstehenden Handlungstheorie gewiß, weil es ihm ja gerade darum ging, die relative Unabhängigkeit der erreichten Theorie von ihrer Genese zu demonstrieren, um für die Zukunft ein stetiges wissenschaftliches Fortschreiten der Sozialwissenschaft zu ermöglichen und das Hin und Her ideologischer Strömungen zu beenden. Trotz aller Ausführlichkeit seiner Interpretationen finden wir kaum selbstreflexive Hinweise auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Konvergenz oder die Bedingungen der Erfassung dieser Konvergenz durch Parsons selbst. Brauchbare Einwände gegen alternative Deutungen, etwa gegenüber einer Erklärung soziologischer Theorie aus einem latenten Dialog mit Marxismus und Arbeiterbewegung oder aus einem Versuch zur Überwindung von Problemen heraus, die als Folgen einer moralischen Krise wahrgenommen wurden, lassen sich Parsons' Werk deshalb nicht entnehmen. Dennoch ist es keineswegs eine ausgemachte Sache, daß als Resultat der jahrzehntelangen Diskussion von Parsons' Konstruktion nur ein Trümmerhaufen übrig bleibt und die Verwunderung, warum eine solche idiosynkratische Fehlkonstruktion überhaupt jemals Interesse finden konnte. Es sind nämlich zwei konstruktive Reaktionen möglich. Man kann die Konvergenzthese fallen lassen, um Parsons' Handlungstheorie zu retten - und man kann versuchen, durch eine Rehistorisierung der Konvergenzthese die Bedingungen zu schaffen für eine Weiterentwicklung der Handlungstheorie, die auch den systematisch gezielten Einwänden gerecht wird. Den ersten Weg ist Jeffrey Alexander mit seiner vierbändigen »Theoretical Logic« gegangen. Obwohl die »Structure of Social Action« das Vorbild seiner Arbeit ist, läßt er die Konvergenzthese ausdrücklich fallen und kümmert sich nicht um das Werk solcher Theoretiker wie Marshall und Pareto, die Par43
sons als Fälle immanenter Selbstüberwindungstendenzen des Utilitarismus behandelt hatte. Das Folgeproblem dieser Entscheidung liegt nun aber im Verlust einer systematischen Verklammerung der vorgelegten Interpretationen. Alexander ersetzt die verlorene Klammer durch eine neue: sein eigenes Konstruktionsprinzip liegt in der Unterstellung eines ewigen Konflikts zwischen soziologischem Idealismus und soziologischem Materialismus sowie in der Programmatik einer Überwindung dieses Konflikts durch einen nicht mehr einseitigen, sondern »multidimensionalen«, »synthetischen« Ansatz. Für Alexander stellen Marx und Durkheim einander ausschließende Vereinseitigungen dar. Der soziologische Materialismus des einen, der die angemessene Erfassung des Normativen und Kulturellen systematisch ausschließe, habe sein Gegenstück im soziologischen Idealismus des anderen, der zwar die entscheidenden Beiträge zu einer Theorie des Normativen geliefert, dieses aber nicht in die Welt der Bedingungen und Mittel überzeugend eingegliedert habe. Alexander sieht beide Denker im Konflikt zwischen diesen Polen und ihre Anhänger die Marxisten und die Durkheimianer - in dem Dilemma, mit den Konsequenzen der jeweiligen Einseitigkeit zurechtzukommen. Weber und Parsons werden dann als Ansätze zu einer Synthese gewürdigt. Diese Konstruktion, die die Konvergenzthese ersetzen soll, ist jedoch nur dann überzeugend, wenn die Begriffe »soziologischer Idealismus« und »Materialismus« tatsächlich zentrale Probleme der soziologischen Theorie und des Lebenswerks der behandelten Klassiker bezeichnen und wenn sich tatsächlich Webers und Parsons' Werke in einem vernünftigen Sinn als Versuch einer Synthese von Marx und Durkheim auffassen lassen. Das ist aber keineswegs selbstverständlich. Von den verschiedenen Einwänden, die hiergegen sprechen, soll nur einer angeführt werden. Mit den Begriffen »soziologischer Materialismus« und »Idealismus« meint Alexander nicht zwei gleich obsolete erkenntnistheoretische Ansätze, sondern ganz offensichtlich den Konflikt zwischen einer »utilitaristischen« und einer »kantianischen« Auffassung von Moralität und Sozialität. Wenn er dies so bezeichnet hätte, wäre sofort klar geworden, daß eine 44
solche Charakterisierung nicht uneingeschränkt auf die soziologischen Klassiker zutrifft und schon gar nicht ihr Werk ausschöpft. In Alexanders Arbeit wird damit die Konvergenzthese zwar restlos durch eine andere These ersetzt, diese These ist aber ähnlich enthistorisiert wie die Konvergenzthese bei Parsons es war. Den alternativen Weg einer Rehistorisierung haben Donald Levine und Charles Camic gebahnt. Sie beziehen Parsons' Behauptungen auf eine zeitgenössische Kontroverse innerhalb der ökonomischen Disziplin und auf die institutionellen Probleme einer Selbstverortung der Soziologie im Verhältnis zur Ökonomie und zu anderen Wissenschaften. Schon mit diesem ersten Schritt kommt der Kontext zumindest teilweise in den Blick, in dem die Konvergenzthese ursprünglich figurierte. Schlagartig wird klar, warum bei Parsons die Bestimmung der Handlungstheorie von vornherein unter der Auflage stand, den Status der Ökonomie als abstrakter, analytischer Disziplin, d. h. den Theoriekern des Rationalmodells des Handelns, als solchen unversehrt zu erhalten. Weder Levine noch Camic aber machen diesen wichtigen Gedanken für die Interpretation der Klassiker selbst fruchtbar. N u r wenn dies geschieht, kann aber der bewahrbare Kern der Konvergenzthese herausgeschält werden. Sie unterlassen es außerdem, über die Verankerung der Konvergenzthese im Streit der Fakultäten hinauszugehen und die Frage zu stellen, welche Folgen ihre neue Sicht der Konstitution von Parsons' Denken für ein substantielles Urteil über seine Handlungstheorie hat. Damit fehlt die Verknüpfung der theoriegeschichtlichen mit der systematischtheoretischen Dimension, die doch an Parsons' Werk so eindrucksvoll war. Es ist die Absicht der vorliegenden Gedankengänge, in diesen beiden Hinsichten über Levine und Camic hinauszugehen und damit den von ihnen beschrittenen Weg einer Rehistorisierung von Parsons' Konstruktion nicht als Alternative zur theoretischen Systematik zu betrachten, sondern ihn für die Weiterentwicklung der Handlungstheorie zu nutzen. Ausgangspunkt der »Rehistorisierung« ist eine Berücksichtigung von Parsons' Entwicklung hin zu seiner ersten größeren 45
Synthese, der »Structure of Social Action«. Einen Hinweis auf die einzuschlagende Richtung hatte Parsons selbst gegeben, als er seine Verwunderung darüber zum Ausdruck brachte, daß sein Weg von der Ökonomie zur Soziologie in den hitzigen Kontroversen um sein Werk bei allen Kontrahenten unbemerkt geblieben sei.26 Tatsächlich war Parsons von seiner Ausbildung her Ökonom, und alle seine frühen Publikationen erschienen in dieser Disziplin. Das Verhältnis von ökonomischer und soziologischer Theorie, so vermerkte er rückblikkend, sei das eigentliche Schlüsselproblem seines großen Buches gewesen. Die Problemlage, von der Parsons ausging, ist deshalb nur zu verstehen, wenn die Debatten innerhalb der ökonomischen Disziplin in den USA in den zwanziger und dreißiger Jahren bekannt sind. Das Fach war in dieser Zeit in zwei Lager gespalten: das Lager der Grenznutzentheoretiker und das der Institutionalisten. Die eine Seite betrachtete die weitere Ausarbeitung der Modelle des rationalen Handelns als die Hauptaufgabe der Theoriebildung; von diesen Modellen versprach man sich zugleich einen empirischen Erkenntnisgewinn, da die dem Modell zugrundeliegenden Annahmen zumindest eine vernünftige Annäherung an das wirkliche Verhalten wirtschaftender Subjekte darstellten. Für die andere Seite, die ihre wichtigsten Anstöße von Thorstein Veblen erhalten hatte, war dieses Versprechen nicht einzulösen, da gar kein Grund zur Annahme bestehe, die historische und kulturelle Vielfalt des Wirtschaftsverhaltens lasse sich mit einer so dürren Begrifflichkeit wie der vom »homo oeconomicus« jemals einfangen. Es komme statt eines deduktiven Schlusses von modelltheoretischen Annahmen auf die Wirklichkeit vielmehr auf ein offenes induktives Studium der Kulturen und 26 Talcott Parsons, Review of Bershady, in: Sociological Inquiry 44 (1974), S. 215-221. - Eine wichtige Interpretation der Entwicklung des frühen Parsons aus diesem Spannungsfeld legte vor: Charles Camic, The Making of a Method: A Historical Reinterpretation of the Early Parsons, in: American Sociological Review 52 (1987), S. 421-439. Erst nach Abschluß des Manuskripts kam hinzu: Camic, Introduction: Talcott Parsons before SSA, in: T. P., The Early Essays. Chicago 1991, S. IX-LXIX. 46
historischen Entwicklungen an; dieses müsse keineswegs theorielos geschehen, da ja dieser kulturellen und historischen Vielfalt selbst die Gesetzmäßigkeiten der Evolution zugrundelägen. Zieht man Parsons' frühe Arbeiten heran, dann kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß diese Kontroverse ihn jahrelang beschäftigte. Zur einen Seite hin zog ihn der klare theoretische Aufbau und der theoriegeleitete und systematische Charakter der dadurch betriebenen Empirie; gleichzeitig stieß ihn aber der »ökonomische Imperialismus« ab, d.h. die Tendenz vieler Ökonomen, ihre Modelle für vorbildlich zur Lösung aller sozialwissenschaftlichen Aufgaben anzusehen. Zur anderen Seite hin mußte sich gezogen fühlen, wer die Eigenart von kulturellen Werten und Institutionen des Wirtschaftsverhaltens ernst nahm; abstoßend an der institutionalistischen Schule aber mußte der unklare und naive Charakter ihrer evolutionistischen Hintergrundannahmen sein und der Eindruck, ein Verzicht auf diese nötige zur völligen Theorielosigkeit und einem bloßen enzyklopädischen Sammeln von Informationen. Parsons war prädisponiert dazu, in dieser Kontroverse ein Grenzgänger zu sein, da er schon in seiner Studienzeit in London unter dem Einfluß der britischen Anthropologie gegen alle Tendenzen zu einer biologistischen oder behavioristischen Reduktion die kulturellen, aktivischen und bewußtseinsfähigen Züge des Menschen zu betonen gelernt hatte. Intuitiv und moralisch lag ihm der Zugriff der Institutionalisten näher, theoretisch der der orthodoxen N e o klassiker. Seine in Deutschland geschriebene Dissertation über die Kapitalismustheorien von Werner Sombart und Max Weber zeigt deutliche Spuren dieser Problemlage. 27 Gegen Sombart gewendet, erklärt er ausdrücklich, daß er dessen negative Einstellung zur orthodoxen ökonomischen Theorie nicht teile. Selbst Sombart und vor allem Weber aber seien ihm gerade deshalb wichtig, weil sie mehr als die amerikanischen 27 Zugänglich ist die aus der Dissertation entstandene Veröffentlichung: Talcott Parsons, »Capitalism« in Recent German Literature: Sombart and Weber, in: Journal of Political Economy 36 (1928), S. 641-661 und 37(1929),$. 31-51; auch in T. P.,TheEarly Essays, a.a.O., S. 3-38. 47
Institutionalisten trotz aller Nähe zu deren Themen den naiven Fortschrittsglauben in der Kapitalismustheorie überwunden hätten. "Weber habe dabei zugleich den Kern der Annahmen der orthodoxen Wirtschaftstheorie bewahrt. Das kann nur heißen, daß Parsons nicht nur keine Notwendigkeit sah, im Interesse einer realistischen Konzeption der Bedeutung des Kapitalismus für die menschliche Freiheit auf das Rationalmodell des Handelns zu verzichten, sondern geradezu umgekehrt für ihn eine adäquate Verortung dieses Modells eine Chance bietet, den evolutionistischen Irrwegen und dem positivistischen Selbstverständnis der Institutionalisten zu entgehen. Die folgenden Arbeiten bereiten die »Structure of Social Action« durch direkte Eingriffe in die ökonomischen Theoriedebatten vor. Dabei wird deutlich, wie sehr der Begriff des Utilitarismus eine Überhöhung des Rationalmodells des Handelns darstellt, wie es in der modernen ökonomischen Theorie entfaltet wird. Die Spannung in Parsons' Denken erhöhte sich noch, weil die ihn beschäftigenden Fragen zugleich die Fragen der Abgrenzung akademischer Disziplinen waren. Im Sinn der Neoklassiker war die Ökonomie die einzige sozialwissenschaftliche Disziplin, die dem Niveau der Naturwissenschaften ernsthaft gleichkam; für die Institutionalisten war dagegen nicht einmal eine separate Ökonomie nötig und wünschenswert, da ihre Aufgaben ohnehin nur im Verbund mit Anthropologie und Geschichte, Psychologie und Soziologie zu lösen waren. Für die Neoklassiker und die Universitäten, an denen sie fest verankert waren, waren andere sozialwissenschaftliche Disziplinen noch weitgehend im vorwissenschaftlichen Stadium befangen, und diese wurden deshalb zumindest mit Verachtung behandelt, wenn nicht gar an der Institutionalisierung gehindert. Für die Harvard-Universität, an der der junge Parsons tätig war, galt dies in besonderem Ausmaß; die Lage war an einer solch traditionsreichen Stätte anders als in Chicago, w o bei der Gründung Ende des 19.Jahrhunderts alle sozialwissenschaftlichen Disziplinen zugleich eingeführt wurden, so daß es zunächst zwar intellektuelle Kontroversen, aber keine institutionellen Abgrenzungs- und Legitimationsauseinandersetzungen gab. Durch seine Fragestellungen sah Par48
sons sich also aus seiner prestigereichen Herkunftsdisziplin hinausgedrängt; seine eigene Universität hielt keinen alternativen O r t bereit, und an anderen Universitäten wäre innerhalb der Ökonomie wie in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen seine Bewunderung für die Leistungen der orthodoxen Ökonomen auf Unverständnis gestoßen. Es scheint deshalb kein Zufall zu sein, daß die Karriere des großen Theoretikers schwierig und hindernisreich begann. Den Ausweg aus dieser persönlichen, theoretischen und innerdisziplinären Krise bot für Parsons die Soziologie. Der Nachweis, daß das Rationalmodell des Handelns in der ökonomischen Theorie analytisch zu verstehen sei, d.h. nicht als Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern als Abstraktion einzelner Elemente des Handelns, und die substantielle Begründung für die Unentbehrlichkeit von Werten und Normen für die Existenz sozialer Ordnung schufen zusammen die Grundlage für eine weitere Wissenschaft, die als Spezialwissenschaft dieser ebenfalls analytisch zu verstehenden Wert-Elemente im Handeln aufzufassen war. Soziologie wird von Parsons definiert als »the science which attempts to develop an analytical theory of social action Systems in so far as these Systems can be understood in terms of the property of common value integration«. 28 Mit dieser Definition sollte die Soziologie einen klar bestimmten Gegenstand erhalten und nicht länger enzyklopädische Sozialwissenschaft sein; dieser Gegenstand wurde aber nicht als empirischer Gegenstand, sondern als spezifische analytische Perspektive bestimmt. Für diese Gegenstandsbestimmung war das Vorbild der Ökonomie ganz entscheidend, vorausgesetzt, die Ökonomie finde endlich zu einem angemessenen - eben analytischen - Selbstverständnis. Ein solches Selbstverständnis war zwar schon früh, etwa von John Stuart Mill, artikuliert worden; bis heute aber lassen sich Kontroversen darüber anführen, ob es bei den Annahmen des handlungstheoretischen Rationalmodells um eine empirische Annahme über das menschliche Handeln gehe, diese Annahme psychologisch, anthropologisch oder historisch aufzu28 SSA, S. 768. 49
fassen sei, ob sie als empirische Annahme widerlegt sei oder nicht, ob wir sie statt dessen in einem normativen Sinne deuten sollten, dergestalt, daß jeder, der rational handeln wolle, ihren Erkenntnissen zu folgen habe, oder ob sie lediglich eine Aufklärung über Optionen des Handelns ermögliche, die es erlaube, unerwünschte Handlungsfolgen zu vermeiden, ohne daß sie selbst zu irgendeiner Zielsetzung oder Handlungsweise nötige. Parsons nimmt so ausdrücklich für ein analytisches Verständnis der ökonomischen Theorie Stellung, weil nur dieses es ermöglicht, dieser Theorie einen bereichsspezifischen Erkenntniswert zuzugestehen und gleichzeitig neben ihr weitere sozialwissenschaftliche Disziplinen zu begründen. Es ging ihm dabei keineswegs nur um die Soziologie, sondern ebenso um die Politikwissenschaft, die Psychologie und andere. Ein Teil der Wissenschaften würde sich, folgt man Parsons, mit den Bedingungen des Handelns beschäftigen (Biologie und Psychologie), ein Teil mit verschiedenen Sektoren der Zweck-Mittel-Beziehung (Technologie, Ökonomie und Politikwissenschaft) und eben schließlich die Soziologie mit den »letzten Werten« und ihrem Bezug zum Handeln. Eine Schematik der Humanwissenschaften wäre so ein N e benprodukt einer Bemühung um eine Systematik der Strukturelemente des menschlichen Handelns. N u n ist es nicht nur unzulässig, die Vielfalt von Problemen, die Parsons mit dieser Begründung der Soziologie als einer spezifischen Wissenschaft vom menschlichen Handeln zu lösen beabsichtigte, auf den einen Aspekt des Konflikts zwischen den Disziplinen im institutionellen Feld der amerikanischen Universität einzuschränken; noch verkürzender wäre es, wenn dieses Feld auf das Verhältnis von Ökonomie und Soziologie reduziert würde. Insbesondere ist bei Parsons ja auch die Front zu biologistischen oder behavioristischen Verfehlungen der Handlungstheorie stets gegenwärtig. Eine vollständige Rekonstruktion dieses Feldes ist aber nicht die hier anstehende Aufgabe. 29 Für die handlungstheoretischen Fragen 29 Harald Wenzel, a. a. O., hat sich dieser Aufgabe unterzogen. Seine außerordentlich starke Betonung einer von Whitehead inspirierten »Philosophie des analytischen Realismus« bei Parsons läßt ihn das
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erscheint nur eine weitere disziplinare Frontlinie von substantieller Bedeutung: nämlich das Verhältnis zur Philosophie. Es wurde schon darauf verwiesen, daß Parsons die philosophische Tradition, die während seiner frühen Entwicklung von John Dewey als dem repräsentativen Philosophen Amerikas vertreten wurde, nämlich den Pragmatismus, nicht erwähnte und behandelte. Das ist nicht nur hinsichtlich der Entstehung von Parsons' Konzeption ein merkwürdig blinder Fleck, sondern erst recht in systematischer Hinsicht. 30 Parsons betritt mit seinem handlungstheoretischen Werk nämlich zwar die epistemologische Ebene, aber auf eben dieser Ebene hatte der Pragmatismus die Handlungskategorie bereits breit entfaltet. Angesichts dessen muß klar sein, daß der »analytische Realismus« nur eine negative Abgrenzung, nicht aber die Entwicklung der epistemologischen Seiten der Handlungstheorie sein konnte. Eine Handlungstheorie kann sich der selbstreflexiven Frage nicht entziehen, ob es ihr gelingt, sich selbst in ihren eigenen Kategorien zu denken, d. h. der Entwurf einer Handlungstheorie muß selbst als Handlung und das ihr vorschwebende Erklärungsideal muß selbst auf die in ihr vorgelegten Vorstellungen über das menschliche Handeln beziehbar sein. So betrachtet, nimmt Parsons eine eigentümlich unklare Mittelposition ein. Einerseits ist er sich völlig klar darüber, daß die von ihm entwickelte Handlungstheorie nicht selbst als explanatorische Theorie nach den Maßstäben eines an den Naturwissenschaften geschulten Denkens aufgefaßt werden sollte. Andererseits benutzt er diese Einsicht nicht dazu, die Angemessenheit dieses Erklärungsideals für die Wissenschaften vom menschlichen Handeln auch nur leise in Frage zu stellen. Parsons denkt, daß der von ihm entwickelte handlungstheoretische Bezugsrahmen es erlaubt, Tatsachen mit einer klaren Begrifflichkeit zu beschreiben; diese Beschreibung wiederum Gewicht der ökonomischen Kontroversen für ein Verständnis der frühen Entwicklung von Parsons entschieden niedriger ansetzen, als dies bei Camic und in der hier vorgelegten Interpretation geschieht. 30 Auf den Pragmatismus komme ich im zweiten Kapitel dieses Buches zurück. (Abschnitt 2.5.) 51
erlaube die kontrollierte Herstellung von Beziehungen zwischen Variablen und damit kausale Erklärungen auf der Grundlage von Hypothesen über universale Gesetzmäßigkeiten. Ohne einen handlungstheoretischen Bezugsrahmen liefen die Sozialwissenschaften Gefahr, ihren Gegenstand positivistisch zu reduzieren; ohne den Übergang zu kausalen Erklärungen der beschriebenen Art aber versänken die Sozialwissenschaften im historischen Relativismus. Dieser Sicht der Dinge entspricht die Beobachtung, daß Parsons' Handlungstheorie mit keinerlei Überlegungen zu einer empirischen Methodologie des Verstehens und der Interpretation von Handlungen verbunden war. Eine weitere Bestätigung ergibt sich aus Parsons' Reaktion auf den Versuch von Harold Bershady wenige Jahre vor seinem Tod, den Erklärungstypus einer Handlungstheorie im Anschluß an neuere Versuche analytischer Philosophen aufzuklären. Bershady hatte davon gesprochen, daß Handelnde die Handlungen anderer nicht aufgrund der Subsumtion unter allgemeine Gesetze, sondern mit der Unterstellung von Intentionen und Handlungszielen erklärten. Diese Form der Erklärung - der »praktische Syllogismus« - sei zwar meist nur ex post möglich und erlaube damit keine wirklichen Prognosen, aber eben dies entspreche dem nichtdeterminierten, eben kreativen Charakter des menschlichen Handelns. In seiner Reaktion darauf gibt Parsons zwar zu erkennen, daß ihn seit Abfassung seines Frühwerks zunehmend Zweifel am physikalistischen Erklärungsmodell befallen hätten; er sucht nun aber nach einer Alternative im »teleonomischen« Erklärungstypus der Biologie und deutet an, daß es sich bei einer Erklärung menschlichen Handelns aus Intentionen um einen bloßen Abbau logischer Strenge handele und nicht um eine echte wissenschaftstheoretische Alternative. Ein letzter Beleg für die ungebrochene Dominanz eines Erklärungsideals, das nicht spezifisch auf die Handlungswissenschaften zugeschnitten ist, läßt sich in Parsons5 ausdrücklichem Bekenntnis zu den methodologischen Vorstellungen Paretos - und seiner Absetzung von Max Weber - sehen. Eben die wachsende Skepsis über Parsons' mangelnde Entfaltung der epistemologischen Seite des Handlungsbegriffs treibt 52
heutige Autoren aber von Parsons zurück zu Max Weber. Während Parsons allein universale analytische Gesetze als Aufgabe allgemeiner Theorie ansah, hatte Weber den Blick auf die Erklärung singulärer historischer Phänomene nie verloren; während Parsons einen Katalog möglicher Wertorientierungen aufstellte, dachte Weber an eine unausschöpfliche Pluralität konfligierender Werte; während Parsons die Herausbildung eines wissenschaftlichen Begriffsrahmens anstrebte, der gegenüber seiner Entstehungsgeschichte unabhängig war, verlor für Weber kein Wissen den kontingenten und selektiven Charakter der einmaligen Stellungnahme. Die fehlende Balance von allgemeiner Theoriebildung und damit korrespondierenden, auf praktische Urteilskraft gestützten Situationsdiagnosen ist schließlich ein wesentlicher Grund dafür, warum das Interesse an Parsons - anders als das an Max W e b e r - nur so wenig über die Grenzen des akademischen Betriebs hinausreicht. Parsons' Unklarheit wirft auch Licht auf einen Aspekt der substantiellen Fassung seiner Handlungstheorie. In der »Structure of Social Action« besteht der zugrundegelegte handlungstheoretische Bezugsrahmen ja aus den Elementen des Handelnden selbst, seiner Ziele, der aus Bedingungen und Mitteln bestehenden Situation und der Normen, die regulierend auf die Mittelwahl und konstituierend auf die Zielbildung einwirken. Dieses Schema wird von Parsons als unvermeidlicher logischer Rahmen analog dem Raum-Zeit-Rahmen der klassischen Physik vorgestellt. »Every physical phenomenon must involve processes in time, which happen to particles which can be located in space. It is impossible to talk about physical processes in any other terms, at least so long as the conceptual scheme of the classical physics is employed. Similarly, it is impossible even to talk about action in terms that do not involve a means-end relationship. It is not a phenomenon in the empirical sense. It is the indispensable logical framework in which we describe and think about the phenomena of action.« 31 Hier wird also das Zweck-Mittel-Schema zum De31 SSA, S. 733. 53
finiens allen Handelns gemacht. Es ist nun bemerkenswert, daß dies weder vor noch nach der »Structure of Social Action« sich in Parsons' Werk gleich darstellte. In einem frühen Aufsatz über den Platz letzter Werte in der soziologischen Theorie32 führte Parsons nämlich Phänomenbereiche an, für deren handlungstheoretische Erschließung das Zweck-MittelSchema unzulänglich sei. Er sprach dort von der Kunst und von »gemeinschaftlichen« Beziehungen etwa in der Ehe, um darzutun, daß manches Handeln nur mit Schwierigkeiten, wenn überhaupt, unter das Zweck-Mittel-Schema gebracht werden könne. Kunst sei nicht das Erreichen eines spezifischen Ziels, sondern der Ausdruck von Werthaltungen. In der Ehe und in jeder »Gemeinschaft« gebe es ebenfalls kein spezifiziertes gemeinsames Ziel, sondern gemeinsame Einstellungen und unspezifische Interessen; die Handlungen der Partner seien entsprechend nicht als Verfolgung eigener Interessen, sondern als Ausdruck einer Einstellung der Liebe oder Zuneigung aufzufassen. In der »Structure of Social Action« findet sich kaum etwas von einem Handeln, das sich dem ZweckMittel-Schema entziehe. Das Ritual als Gegentyp zum strikt instrumenteilen Handeln wird zwar in den Interpretationen von Pareto und Durkheim erwähnt; von einer intrinsischen Beziehung zwischen Zwecken und Mitteln wird eine Beziehung von Symbol und Bedeutung unterschieden. N u r in einer kleinen Fußnote wird auf eine spätere Behandlung von Kunst und Spiel verwiesen 33 ; diese unterbleibt aber. Mehr als ein Jahrzehnt später kontrastiert Parsons dann in der zweiten großen Synthese seines Lebenswerks (»The Social System«) 34 konsequent instrumenteile und expressive Handlungsorientierungen. Es kann hier vorläufig offen bleiben, ob den von Parsons angezielten Phänomenen mit der Bestimmung, solche Handlungen seien Ausdruck letzter Werthaltungen, Gerechtigkeit widerfährt. Hier ging es zunächst nur darum, zu 3 2 Talcott Parsons, The Place of Ultimate Values in Sociological Theory,in: International Journal of Ethics45 (1935),S. 282-316; auch in TP., The Early Essays, a.a.O., S. 231-258. 33 SSA, S. 297. 34 Talcott Parsons, The Social System. Glencoe, 111. 1951. 54
zeigen, daß Parsons ähnlich wie in der Entfaltung der epistemologischen Seite des Handlungsbegriffs auch auf dem Gebiet seiner substantiellen Handlungstheorie mit Problemen in Berührung kommt, für die es alternative philosophische Denkangebote gab, daß er aber im Resultat der »Structure of Social Action« so sehr dem Theorievorbild der ökonomischen Theorie folgte, daß er all das aus seiner Handlungstheorie letztlich wieder entfernte, was sich nicht der ihm vorschwebenden Parallelkonstruktion zur ökonomischen Theorie fügte. Nach diesem Versuch, durch einen Rückgang auf die historischen und biographischen Entstehungsbedingungen von Parsons' Werk dessen Charakter besser verständlich zu machen, dürfte zumindest der Eindruck zerstreut sein, es könnte sich bei Parsons' Konstruktion um eine gigantische idiosynkratische Fehlkonstruktion handeln. Leistungen und Grenzen seiner Arbeit werden vielmehr zusammen aus seiner Orientierung an der Vorbildhaftigkeit der ökonomischen Theorie rationalen Handelns begreiflich. N u n hat Parsons aber nie behauptet, eine umfassende Handlungstheorie selbst »erfunden« zu haben; für ihn ist diese doch im Werk der von ihm behandelten Autoren eine Generation vor ihm entstanden. Seine Interpretationen dieser Autoren und die globale These über sie können bei diesem Stand der Dinge nur dann mit einem Vorschuß an Glaubwürdigkeit rechnen, wenn ein ähnliches Verhältnis zur ökonomischen Theorie auch bei diesen Klassikern der soziologischen Disziplin festzustellen ist. Für ein abschließendes Urteil über Parsons' handlungstheoretischen Entwurf ist es deshalb zentral, ob sich diese Klassiker tatsächlich in einem ähnlichen Spannungsfeld befanden wie Parsons. Die Prüfung dieser Frage ist deshalb der nächste Schritt der Argumentation. Wenn sich diese Frage auch in differenzierter Weise bejahen lassen wird, dann bleibt immer noch offen, ob die Klassiker mit den von Parsons aus seiner Handlungstheorie entfernten und von der kritischen Diskussion angemahnten Aspekten anders umgingen als Parsons dies tat. Meine These hierzu wird lauten, daß Parsons im Vergleich zu den Klassikern die größere Geschlossenheit seiner normativ orientierten Handlungstheorie mit einem radikaleren Ver55
zieht auf die kreative Dimension des Handelns bezahlte. Ausführlich wird deshalb die Frage nach dieser kreativen Dimension im Werk der soziologischen Klassiker aufzuwerfen sein. Damit erst wird ein zureichendes Bild von der Randstellung der kreativen Dimension des Handelns in der soziologischen Handlungstheorie aus der Geschichte der Entstehung dieser Handlungstheorie heraus erreicht werden können.
1.3 Wirtschaftliches und soziales Handeln Die These von der Vorbildhaftigkeit der ökonomischen Theorie rationalen Handelns ist nun tatsächlich nicht nur für Parsons ins Spiel gebracht worden, sondern für die entstehende Soziologie am Ende des 19.Jahrhunderts selbst. Vor allem Göran Therborn und Simon Clarke35 haben für die Generation der soziologischen Klassiker die Behauptung aufgestellt, daß sich ihr Werk nur auf der Grundlage einer stillschweigenden Akzeptanz des Rationalmodells des Handelns verstehen lasse, wie es sich seit der grenznutzentheoretischen Revolution in der Ökonomie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umfassend durchgesetzt habe. Absicht ihrer Argumentation war dabei freilich, die gemeinsame Abweichung der Ökonomen und Soziologen vom Ideal der Marxschen Theorie, einer auf der Kritik der politischen Ökonomie basierenden Gesellschaftstheorie, zu betonen; dabei setzen sie den rein ideologischen Charakter einer auf dem Rationalmodell aufbauenden ökonomischen Theorie schlicht voraus. Dieser Sicht muß man sich nicht anschließen. Auch von der Annahme aus, daß jede moderne Gesellschaftstheorie individuelle Handlungs-, Kauf- und Wahlentscheidungen selbstverständlich zu berücksichtigen hat und auf das Rationalmodell 3 5 Göran Therborn, Science, Class and Society. On the Formation of Sociology and Historical Materialism. London 1976, v.a. S. 240-315; Simon Clarke, Marx, Marginalism and Modern Sociology. From Adam Smith to Max Weber. London 1982. 56
des Handelns deshalb nicht verzichten kann, bleibt die historische These wichtig. Träfe sie zu, dann ergäbe sich das folgende Bild: Die Soziologie baute nicht auf dem Rationalmodell des Handelns auf wie die Ökonomie. Sie akzeptierte aber diese Theorie für die Zwecke der Ökonomie. Gleichzeitig erhob sie den Anspruch, für eben das zuständig zu sein, was eine solche Ökonomie von den Aufgaben und Gegenständen der älteren Wirtschaftstheorie und politischen Philosophie nicht übernehmen wollte. Die Soziologie sollte damit zuständig sein für jene Dimensionen der Vergesellschaftung, die von der Ökonomie nicht erfaßt wurden, und sie sollte diese Zuständigkeit ausüben mit den Mitteln einer Theorie des Handelns, welche gerade nichtrationale Formen des Handelns miteinbezieht. Die Soziologie bedurfte daher fundamental einer Handlungstheorie, die verschiedene Typen des Handelns aufgrund ihrer spezifischen Differenz zum rationalen Handeln bestimmte; sie bedurfte einer Theorie der Gesellschaft als eines Zusammenhangs von Handlungen, der mehr ist als die unintendierte Vernetzung eigeninteressierter Handlungen; daher spielte für sie die normative Einigung der Gesellschaftsmitglieder eine so große Rolle. Wie die Fixierung auf einen Gegner aber einen Menschen ebenso tief prägt wie die Nachahmung eines Vorbilds, so ist die soziologische Handlungstheorie von der Theorie des rationalen Handelns insofern durchdrungen, als sie eben Typen des Handelns nur als Stufen der Abweichung vom vollen Begriff der Rationalität und nicht in ihrer phänomenalen Eigenart erfaßt. Stimmt dieses Bild nun aber mit den Tatsachen überein ? Zunächst kann es keinen Zweifel daran geben, wie imponierend die klassische politische Ökonomie von Adam Smith und anderen auf allen Seiten des intellektuellen Lebens gewirkt hat. Auch, wo ihr konkreter Inhalt bestritten wurde, bildete sie einen Maßstab für das Niveau, auf dem die Frage nach den Ursachen des Wohlstands der Nationen theoretisch und empirisch gestellt werden müsse. An Versuchen zur Kritik an der politischen Ökonomie fehlte es dabei wahrlich nicht. Nicht nur das Denken von Marx und Engels begriff sich ja als Kritik der politischen Ökonomie; auch die historistischen Denkströ57
mungen und frühe Entwürfe einer Soziologie standen mehr oder minder deutlich in einer polemischen Beziehung zur p o litischen Ökonomie. Ihr Motiv war dabei oft nicht die Verbesserung dieses Ansatzes selbst, sondern dessen Zurückweisung, da der Ansatz der politischen Ökonomie weitgehend mit einem Versuch zur Rechtfertigung einer Gesellschaft gleichgesetzt wurde, in der kein Eingriff in freigesetzte Wirkungen marktförmigen Wirtschaftens zulässig sei. Tatsächlich war ein Teil der Anhänger von Smith von diesem Rechtfertigungsmotiv geleitet. Sowohl die deutsche historische Schule der Nationalökonomie wie das Soziologie-Programm Auguste Comtes in Frankreich stellten dagegen pragmatischreformistische Versuche dar, die Legitimation des »laissezfaire«-Prinzips in den vulgarisierten kontinentalen Formen der Verbreitung der klassischen Ökonomie einzuschränken. Comte mahnte dabei mehr die moralische, die deutsche Schule die nationalstaatlich-politische Dimension an. Die klassische ökonomische Theorie droht ja daran zu scheitern, daß sie weder zu den unübersehbaren sozialen Folgeproblemen der Marktwirtschaft noch zu den nationalen Rahmenbedingungen von Ländern, die mit der Vorherrschaft Englands auf dem Weltmarkt zurechtkommen mußten, Weiterführendes zu sagen hatte. Der Schwachpunkt der Gegenbewegungen lag aber darin, daß sie nicht imstande waren, die Grenzen des »laissezfaire«-Prinzips aus der ökonomischen Theorie der Marktwirtschaft selbst heraus zu entwickeln, und damit auch unfähig waren, die von ihnen favorisierten Sozialreformen und Staatseingriffe selbst ökonomisch zu kalkulieren. Mitte des 19. Jahrhunderts konnte es deshalb so aussehen, als sei zumindest auf dem Kontinent die klassische ökonomische Theorie, wofern sie sich überhaupt hatte durchsetzen können, bereits wieder auf dem Rückzug. 36 Damit aber war eine Theorie gefährdet, die bei allen Mängeln konsequent darauf bestanden hatte, die menschlichen Institutionen auf die Handlungen und Bedürfnisse der Individuen zu beziehen und weder dem Staat noch 36 Eine überzeugende neue Darstellung dieser Entwicklungen liefert Peter Wagner, Sozialwissenschaften und Staat. Frankfurt/M. 1990.
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der Moral ihre sakrosankte Aura zu belassen. Im Projekt der Kritik der politischen Ökonomie von Marx und Engels wurde dieser Impuls der klassischen Ökonomie deutlicher bewahrt als in den anderen Alternativen. Aber dieses Projekt war an einem anderen Punkt auf eine ähnliche Grenze gestoßen wie die klassische ökonomische Theorie selbst. Alle Varianten von objektiver Werttheorie seit John Locke, insbesondere aber die von David Ricardo, hatten ja eher der gesellschaftstheoretischen Absicht entsprochen, die Gesetze der Erzeugung der klassentypischen Revenuen aufzuweisen, als daß es ihnen darum gegangen wäre, die in einem engeren Sinn ökonomische Frage der Dynamik der Preisbildung auf der Grundlage ihrer werttheoretischen Annahmen zu lösen. Mit der Durchsetzung von marktwirtschaftlichen Formen mußte diese Vernachlässigung zunehmend als immanentes Defizit der ökonomischen Theorie erscheinen. In dieser Situation entwickelten andere Theoretiker - übrigens tatsächlich in verschiedenen Ländern und unabhängig voneinander - eine Offensive zur Eingrenzung und Spezifikation der klassischen ökonomischen Theorie: die grenznutzentheoretische Revolution. Sie plädierten für eine Umstellung der Werttheorie, veränderten damit den wissenschaftslogischen Status der Ökonomie und hofften so, die Fragen der Preisbildung und der exakten Bestimmung von Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Intervention in die Wirtschaft lösen zu können. Die Werttheorie sollte nicht mehr von der Frage ausgehen, wie und von wem in der Produktion objektive Werte geschaffen würden, sondern von den Individuen mit ihren vorfindbaren Präferenzen und Ressourcen und damit davon, wie sich für diese subjektiv der Wert eines bestimmten Produkts konstituiert. Von diesem Ausgangspunkt aus ließ sich dann ein neues Verständnis von Privateigentum und Arbeitsteilung, Markt und Geld als Mitteln zur optimalen Allokation von Ressourcen entwickeln. Selbstverständlich waren dabei viele Anknüpfungen an Gedankengänge der klassischen ökonomischen Theorie möglich. Was aber in dieser oft nur implizit und inkonsequent war, wurde jetzt explizit und konsequent. Die ökonomische Theorie war nicht länger als umfassende Gesellschaftstheorie mit moralphilosophischem 59
und politischem Charakter aufzufassen, sondern als reine Theorie über das Handeln von Individuen mit beliebigen Zwecken und angesichts knapper Mittel mit alternativen Verwendungsmöglichkeiten. Eine solche reine Theorie mußte freilich mit idealisierenden Annahmen arbeiten und ein Maß von rationalem Handeln, von Konkurrenz und Kenntnis der Bedingungen unterstellen, wie es in der Wirklichkeit nicht vorkam. Aber diese Idealisierungen wurden nicht als empirischer Einwand gegen die Theorie, sondern als methodischer Umweg der Theorie betrachtet. Die Reaktionen der klassischen Soziologen auf die Krise der klassischen ökonomischen Theorie und auf diesen »neoklassischen« Ausweg aus der Krise waren vielfältig. Am einfachsten läßt sich die Vorbildhaftigkeit der ökonomischen Theorie und das Verständnis der Soziologie als einer Ergänzung der Ökonomie für die Erfassung des nicht-rationalen Handelns an der Begrifflichkeit von Vilfredo Pareto demonstrieren. Er bezeichnet das rationale Handeln auf allen, auch nicht direkt ökonomischen, sondern beispielsweise militärischen, politischen und juristischen Gebieten, als »logisches« Handeln; für alles übrige Handeln verwendet er den Sammeltitel des »nichtlogischen« Handelns. Damit gibt es bei ihm für all jene Formen des Handelns, die nach seiner Auffassung durchaus die empirisch überwiegende Zahl der Handlungen ausmachen, zunächst nur eine negativ bestimmte Residualkategorie. Das heißt nicht, daß er zu diesen Handlungen weiter nichts zu sagen gehabt hätte; im Gegenteil! Es hebt ja Pareto gerade über die sonstigen ökonomischen Theoretiker hinaus, daß er sich der Frage nach einer Theorie der nicht-ökonomischen Gesellschaftssphären und des »nicht-logischen« Handelns nicht nur pauschal zugewandt hat. Eines seiner wichtigsten Motive war es, auf diesem Gebiet induktiv vorzugehen, um diese Handlungen angemessen beschreiben zu können und nicht als pathologische Abweichungen von einem Normaltypus erscheinen zu lassen. Auf diesem induktiven Wege aber ergibt sich ihm eine Unterscheidung der Handlungstypen nach der Rolle der rationalen Überlegung bei der Konstitution dieser Handlungen. »Die logischen Handlungen sind wenig60
stens in ihrem Hauptteil das Ergebnis einer Überlegung; die nicht-logischen Handlungen entspringen hauptsächlich einem bestimmten seelischen Zustand, Gefühlen, dem Unterbewußtsein usw.« 37 Pareto will zeigen, daß die meisten Handlungen vom Individuum trotz ihres ganz anders gearteten Ursprungs pseudo-rational vor sich selbst und vor anderen dargestellt werden, und entwickelt daraus eine umfangreiche Systematik von Motivklassen und Rationalisierungsformen, die auch als eine an Nietzsche erinnernde Form desillusionierender Ideologiekritik rezipiert wurde. 38 Selbst wenn es nicht zutreffen mag - wie Parsons geschrieben hatte - , daß Pareto von der Ökonomie zur Soziologie übergewechselt sei, so ist doch richtig, daß Pareto die Soziologie als Ergänzung zur grenznutzentheoretischen Ökonomie konzipierte und für diesen Zweck seine heute weitgehend vergessene Handlungstheorie entwickelte. In der Entwicklung wesentlich vertrackter, im Ergebnis aber durchaus vergleichbar ist die Stellung der Handlungstheorie Max Webers zur ökonomischen Theorie. Webers Bestimmungen sind gewiß der einflußreichste Text in der soziologischen Handlungstheorie überhaupt. Die Soziologie wird von Weber bekanntlich als die »Wissenschaft vom sozialen Handeln« definiert. »>Handeln< soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. >Soziales< Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen ist und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« 39 Schon mit dieser Unterscheidung spaltet Weber die Soziologie von der Wirtschaftstheorie ab, die sich rein mit dem rationalen Handeln als solchem befassen darf. Es 37 Vilfredo Pareto, Allgemeine Soziologie. Tübingen 1955, S. 31. 3 8 Arnold Gehlen, Vilfredo Pareto und seine »neue Wissenschaft«, in: A.G., Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied 1963, S. 149-105. 39 Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1922 (künftig zitiert als WG), S. 1. 61
kann kein Zweifel daran bestehen, daß Weber seine soziologische Theorie des wirtschaftlichen Handelns, die einen so breiten Raum von »Wirtschaft und Gesellschaft« einnimmt 40 , neben der reinen Wirtschaftstheorie und auf deren Grundlage entwickelt hat. Dies läßt sich auch nicht durch den Nachweis entkräften, wie stark Weber von der historischen Schule der Nationalökonomie und generell vom deutschen Historismus geprägt blieb. 41 Er bezog zwar aus dieser viele Fragestellungen und auch Antworten, schlug sich aber in der Kontroverse zwischen ihr und der Grenznutzentheorie niemals eindeutig auf ihre Seite. Die Notwendigkeit einer klaren Scheidung von Wert- und Tatsachenurteil und die Verteidigung eines reinen Theoriekerns paßten viel eher zu Menger als zu Schmoller. Wo er die Grenznutzentheorie ausdrücklich kritisierte und nicht nur sein Desinteresse an ihren Details ausdrückte, weil auch die Beschäftigung mit der Grenznutzentheorie dem Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen unterliege, da kritisierte er ein bei Menger und anderen zu findendes falsches Selbstverständnis und die Möglichkeit einer psychologisch-anthropologischen Fundierung des Rationalmodells des Handelns. Weber versuchte eine Synthese der konkurrierenden ökonomischen Schulen durch die Auffassung des Rationalmodells als eines historischen Idealtypus. Damit war das Vorbild der klassischen ökonomischen Theorie einerseits akzeptiert, andererseits aber doch der umfassenderen Aufgabe einer historischen Erkenntnis untergeordnet. Soziologie sollte in dieser Sicht eine Form der Geschichts- und Gegenwartsforschung sein, die ihre theoretischen Annahmen mehr als die Geschichtsschreibung begrifflich klärt und systematisiert. - Als Webers Handlungstheorie wurde vor allem seine Typologie von Bestimmungsgründen des sozialen Handelns bekannt und einflußreich. »Wie jedes Handeln kann auch das soziale H a n deln bestimmt sein i. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als >Bedingungen< oder als >Mittel< für rational, als Erfolg, er40 W G , S. 31-121.
41 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Tübingen 1987. 62
strebte und abgewogene eigene Zwecke, — 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den - ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden - unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens, rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, - 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, - 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit.« 42 In den interpretatorischen und theoretischen Kontroversen um diesen Vorschlag einer Typologie hat sich gezeigt, daß das Konstruktionsprinzip, das dieser zugrundeliegt, keineswegs unmittelbar augenfällig ist. Den klarsten Versuch, das zugrundeliegende Prinzip zu erkennen, hat Wolfgang Schluchter unternommen. 43 Er meint, daß Weber seine Handlungstypen entlang einer Rationalitätsskala angeordnet habe, wobei sich die rationale Kontrolle auf die Handlungselemente Mittel, Zweck, Wert und Folge richten könne. Der oberste Typ und damit die im vollsten Sinn rationale Handlung wäre dann diejenige, bei der der Handelnde alle diese Elemente einzeln und gegeneinander rational abzuwägen versucht. Das zweckrationale Handeln, das dadurch gewissermaßen verantwortungsethisch aufgeladen wird, erfüllt dann den Anspruch, Handlung zu sein, am meisten. Im wertrationalen Handeln werde dagegen die Reflexion auf die Handlungsfolgen, im affektuellen Handeln auch die Reflexion auf die Werte und im traditionalen Handeln sogar die Reflexion auf die Zwecke unterlassen. Wenn diese Deutung zutrifft, dann ist Webers Handlungstypologie wie die Paretos davon geprägt, daß die vom rationalen Handeln abweichenden Handlungstypen vornehmlich aus dieser Abweichung heraus, als defiziente Modi des rationalen Handelns also, kategorisiert werden. Aufgrund der Vieldeutigkeit in Webers Rationalitätsbegriff ist diese Aussage zwar sicher kein abschließendes Urteil über Webers Beitrag zur Handlungstheorie, wohl aber möglicherweise zu der von ihm vorgeschlagenen Typologie und zur Wirkung des Rationalmodells des Handelns auf Webers handlungstheoretische Überlegungen. 42 W G , S. 12. 43 Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Tübingen 1979, S. 192.
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Pareto und Weber reagieren also vom Gesichtspunkt der Handlungstheorie aus durchaus ähnlich auf die grenznutzentheoretische Veränderung der Ökonomie. Eine Generation jünger ließe sich auch Alfred Schütz mit ihnen zu einer Gruppe verbinden, da auch sein frühes Werk nicht einfach vom Wunsch einer abstrakten Synthese von Weber und H u s serl bestimmt war, sondern von der Absicht, eine Theorie zu entwickeln, durch die das Zusammenspiel der von Weber unterschiedenen Handlungstypen im nicht-ökonomischen Handeln dargestellt und damit die orthodoxe Wirtschaftstheorie soziologisch erweitert werden sollte. 44 Es gibt aber auch eine ganz andere Reaktionsform; diese findet sich bei all jenen Autoren, die den Nutzen des Rationalmodells des Handelns selbst für die Zwecke der ökonomischen Theorie bestreiten. Unter den amerikanischen Autoren der Zeit war diese Reaktion verbreitet. Von Veblens Kritik der Grenznutzentheorie zugunsten einer Evolutionstheorie des Wirtschaftens war bereits die Rede; wenig bekannt ist, daß auch Charles Cooley unmittelbar aus den Vorformen der institutionalistischen Schule der amerikanischen Ökonomie hervorging und seine Sozialpsychologie durchaus als Widerlegung der individualistischen Annahmen des Rationalmodells verstand. 45 Von den Klassikern der Soziologie zählt aber vor allem Durkheim zu dieser zweiten Gruppe. Er war früh - während seines Deutschland-Aufenthalts 1885/86 - von der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie und Rechtswissenschaft fasziniert worden, hatte allerdings Distanz gegenüber deren Zentrierung auf den Staat zu erkennen gegeben und eher nach »kommunitären« Lösungen - etwa im Werk von Albert Schäffle - gesucht. 46 Da er nicht wie Weber die Möglichkeit 44 Christopher Prendergast, Alfred Schütz and the Austrian School of Economics, in: American Journal of Sociology 92 (1986), S. 126.
45 Z.B. Charles H . Cooley, The Institutional Character of Pecuniary Valuation, in: American Journal of Sociology 18 (1913), S. 54346 Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in E.D., ficrits. Paris 1975, Bd. 1, S. 267-343.
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einer psychologischen Grundlegung der Grenznutzentheorie bestreitet, um mit einer veränderten wissenschaftslogischen Deutung des Rationalmodells an dieser ökonomischen Theorie in eingegrenztem Rahmen festhalten zu können, wird für ihn die Aufgabe der Zurückweisung einer hedonistischen Psychologie zentral. Die Schärfe seiner Unterscheidung von Soziologie und Psychologie sowie des Sozialen und des Individuellen wird nur verständlich, wenn klar ist, daß er zumindest zeitweise die Psychologie mit diesen hedonistischen Annahmen identifizierte und das Individuelle für ihn die normativ unregulierten Neigungen des Individuums bedeutete. Wenn der ökonomischen Theorie auch keine bereichsspezifische Geltung zukam, dann war es nur folgerichtig, ihren Gegenstand für einen Teilbereich der Soziologie, die Wirtschaftssoziologie, in Anspruch zu nehmen. Durkheim hatte zwar keine Chance, die in den französischen Universitäten fest verankerte ökonomische Disziplin wirklich der Soziologie einzugliedern oder unterzuordnen; gleichwohl trat die von ihm begründete Soziologie mit dem entsprechenden imperialen Gestus auf. Die krasse Abtrennung der Soziologie vom individuellen Handeln führte freilich auch dazu, daß bei Durkheim zunächst kein Ansatz einer handlungstheoretischen Begründung der Soziologie identifiziert werden kann. Dies ändert sich im Laufe seiner Entwicklung insofern, als Durkheim zunehmend der Frage nachgeht, in welchen Handlungsprozessen jene Werte eigentlich konstituiert werden, die im Handeln, ausdrücklich auch im ökonomischen Handeln, als Orientierung und Maßstab Verwendung finden. Durkheim erarbeitet eine handlungstheoretische Erklärung der Entstehung von Werten, löst sich aber nie ganz von der Vorstellung, daß wirtschaftliches Handeln und gerade auch Produktion und Arbeit an sich präsozial oder antisozial seien. Noch in seiner späten Religionstheorie finden wir den Dualismus von individuellem, utilitaristischem Alltagshandeln und kollektivem, symbolisch-expressivem außer alltäglichem Handeln. Durkheims Vorstellungen von der menschlichen Natur sind geprägt vom Gedanken anarchisch-eigensüchtiger Triebe. Durch seinen Dualismus ist ihm die Möglichkeit verbaut, Sozialität als Di65
mension der Lösung alltäglicher interpersonaler Handlungskonflikte zu denken. Auch bei ihm kommt es deshalb nicht zu einer Rekonstruktion der stillschweigenden Annahmen im Rationalmodell des Handelns; dessen pauschale Verwerfung führt dazu, daß er ihm anfangs eine rein mentalistische Konzeption entgegensetzte und dann ein ganz anderes Handeln in der Erregung des kollektiven Rituals, das er aber nicht auf die Struktur des rationalen, »militärischen« Handelns zurückbezog. So wenig also bei Durkheim von einer Vorbildhaftigkeit der ökonomischen Theorie gesprochen werden kann, so wenig läßt sich auch behaupten, daß es ihm gelungen sei, eine umfassende Handlungstheorie zu entwickeln; seine in diese Richtung weisenden Beiträge sind vielmehr von einer polemischen Frontstellung zum Rationalmodell gekennzeichnet und insofern ebenfalls auf dieses fixiert. Über Durkheim hinaus konnte in dieser Hinsicht nur ein Denken führen, das die Idee einer Konstitution der Werte im Handeln auch aufs alltägliche Handeln bezog und besonders die Frage nach der Konstitution des Werts der Rationalität selbst aufwarf. Bei Cooley, Mead und Dewey gab es Ansätze zum ersten genannten Schritt. 47 Die Formel, daß Werte als gesellschaftliche Phänomene aufzufassen seien, und das Programm einer »sozialpsychologischen« Fundierung der Werttheorie besagte eben, daß gegen die alte objektive Wertlehre ebenso wie gegen die neue »subjektive« die Entstehung objektiver Geltung im sozialen Handeln zu setzen sei. Damit war eine Umkehrung des Fundierungsverhältnisses angedeutet: nicht mehr die Ökonomie, sondern die programmatisch verkündete Sozialpsychologie sollte der Ausgangspunkt sein; von diesem Ausgangspunkt aus aber konnte die ökonomische Theorie durchaus einen angemessenen Platz zugewiesen bekommen. Der entscheidende zweite Schritt findet sich deutlich nur in Georg Simmeis »Philosophie des Geldes«. 48 Auch Simmel versucht eine psychologische Grundlegung der objektiven Geltung von Werten, und diese gelingt ihm, da er den 47 Vgl. von Mead etwa die Rezension zu B.M. Anderson, Social Value, in: G.H. Mead, Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, S. 397-402. 48 Georg Simmel, Philosophie des Geldes. Berlin 1908, S. 11. 66
Wert eines Gutes nicht auf seine Entsprechung zu den trieblichen Bedürfnissen eines Subjekts, sondern als ein Ergebnis von reflexiven Wertungsakten auffaßt. Ein bewußter Wertungsakt setze aber gerade die Überwindung der »naiv-praktischen Einheit von Subjekt und Objekt« 49 voraus. »So kann man sagen, daß der Wert eines Objekts zwar auf seinem Begehrtwerden beruht, aber auf einer Begehrung, die ihre absolute Triebhaftigkeit verloren hat.« 50 Mit dieser Veränderung der psychologischen Annahmen über das Werten ändert sich die Blickrichtung; Simmel geht es nicht um eine ökonomische Theorie im engeren Sinn, sondern um eine Rekonstruktion derjenigen Prozesse, die zu einer solchen Distanzierung zwischen den Individuen und den Objekten ihres Begehrens führten. Seine Rekonstruktion zeichnet dabei sowohl die Heraufkunft der modernen Geld Wirtschaft wie ihre Verknüpfung mit denjenigen gesellschaftlichen Prozessen nach, in denen nicht-ökonomische Lebensbereiche ausdifferenziert und den geldwirtschaftlichen oder strukturanalogen »Rationalisierungs«prozessen unterworfen werden. Simmel entwickelt die suggestive Kraft seiner Analyse des modernen Lebensstils aus der Behauptung einer Parallelstruktur von Geld, Recht und Intellektualität. Gerade auch eine Wirtschaftsordnung, die von der Freisetzung rationaler Handlungsformen gekennzeichnet ist, beruht damit auf Wertprinzipien, die sich aus ihr nicht einfach ergeben. Es ist bekannt, wie stark Simmeis Zeitdiagnose auf Webers Versuche eingewirkt hat, die Genesis des modernen Kapitalismus zu analysieren. Auch Weber hat in diesem Sinne wie Simmel gewiß an eine wertmäßig-kulturelle Fundierung allen wirtschaftlichen Handelns und damit gerade auch des rationalen Handelns gedacht. Während er aber, wie gezeigt, in seiner Handlungstheorie selbst vom Rationalmodell abhängig blieb, verzichtete Simmel auf eine genauere handlungstheoretische Klärung der in seiner Wertungstheorie enthaltenen Annahmen. Dieser Mangel führt zu einer tiefen Zweideutigkeit in beider Vorstellungen über die zunehmende Durchsetzung des rationalen Handlungsmodells in der Wirk49 Simmel, ebd., S. 20. 50 Simmel, ebd., S. 495. 67
lichkeit der Moderne. Offen ist ja, ob die Moderne als eine Kultur auf der Grundlage des Wertes der Rationalität zu deuten sei oder als eine Kultur, in der es zwar einzelne Rationalisierungstendenzen, zugleich aber auch ständige Gegentendenzen gibt. Im einen Fall sind nicht-rationale Handlungsformen vormoderne Relikte und antimoderne Abweichungen, im anderen Fall haben sie denselben Anspruch auf Modernität und Gegenwartsgeltung. Eine Handlungstheorie, die nichtrationales Handeln schon durch ihren begrifflichen Zugriff als defizienten Modus des rationalen Handelns zuschneidet, begründet eine hermetische Deutung der Moderne aus den Prinzipien der Rationalität; für eine alternative Gegenwartsdiagnose, die nicht von einem optimistisch oder pessimistisch gedeuteten linearen Prozeß der Rationalisierung aus denkt, ist deshalb die rekonstruktive Einführung der Annahmen, die im Rationalmodell des Handelns stecken, notwendig. Überblickt man diese verschiedenen Reaktionen früher Soziologen auf die ökonomische Theorie und damit ihre Stellungnahmen zum Rationalmodell des Handelns, dann läßt sich bei allen notwendigen Differenzierungen - durchaus davon sprechen, daß die für Parsons konstitutive Problemlage auch für die Klassiker-Generation galt. Die von Parsons behauptete Konvergenz ist deshalb nicht ohne jedes Fundament in der Sache. Gleichzeitig aber wird deutlich, wie wenig die gesamte Konstellation, die zur Entstehung der Handlungstheorie führte, damit schon erfaßt ist. Wenngleich Parsons in negativer Hinsicht, d.h. einer Abgrenzung vom Rationalmodell des Handelns, zuzustimmen ist, besagt dies doch noch nicht, daß seine positive Lösung, nämlich die Entwicklung einer normativistischen Handlungskonzeption, wirklich die angemessene Formulierung der über das Rationalmodell hinauszielenden Ansätze ist. Mißtrauisch könnte in dieser Hinsicht von vornherein stimmen, daß Parsons die zur Zeit der soziologischen Klassiker sich entwickelnden Philosophien - ob Pragmatismus oder Lebensphilosophie - , die ohne Zweifel für mehrere der von ihm behandelten Autoren von größter Bedeutung waren, völlig ignoriert. Hier soll aber immanenter argumentiert werden. Ein wesentlicher Teil der Konvergenzthese bestand 68
darin, daß Parsons auf die erstaunlichen Ähnlichkeiten zwischen Webers Theorie des Charisma und Durkheims Theorie der Heiligen hinwies. In einer hierauf eingeschränkten Form ist selbst Alexander bereit, die These zu retten. Es ist deshalb angemessen, die Frage aufzuwerfen, ob diese beiden Theoriestücke tatsächlich einen Hinweis auf eine normativistische Handlungstheorie geben oder nicht vielmehr sich in ihnen ein weitergehendes Modell, das der Kreativität des Handelns, abzeichnet.
1.4 Webers Theorie des Charisma und das Problem der Kreativität Beginnen wir mit Weber. Die These, Webers Handlungstheorie sei vom Vorbild der ökonomischen Theorie abhängig, beruhte auf einer Prüfung seiner »Soziologischen Grundbegriffe« und damit seines ausdrücklichen Beitrags zur sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit. Nun ist dieser Text aber gewiß nicht Grundlage seiner materialen Arbeit gewesen, sondern stellt eine nachträgliche Selbstreflexion und einen Versuch zur sprachlichen Kodifizierung dar. Die methodologischen Selbstdeutungen auch der größten Denker entsprechen durchaus häufig nicht ihrem faktischen Vorgehen in den substantiellen Arbeiten. Um diese Substanz von Webers Werk in die Frage nach seiner Handlungstheorie einzubeziehen, läßt sich die Frage stellen, wie sich eigentlich die von Parsons hervorgehobene Theorie des Charisma bei Weber, die doch gewiß für seine Herrschaftssoziologie und für sein Werk insgesamt von größter Bedeutung ist, zu seiner Handlungstheorie verhält. Die Frage läßt sich so präzisieren: Kann Weber die von ihm mit dem Begriff »Charisma« bezeichneten Phänomene in seiner eigenen Handlungstypologie angemessen erfassen? Und wenn nicht, was besagt dies für die »offizielle« Handlungstheorie Webers? Betrachten wir als ersten Schritt zur Beantwortung dieser Fragen, wie Weber selbst seinen Charisma-Begriff auf seine 69
Handlungstypologie bezieht. Am Anfang des religionssoziologischen Kapitels von »Wirtschaft und Gesellschaft« führt Weber bekanntlich den Terminus »Charisma« als Sammelbezeichnung für alle »außeralltäglichen« Kräfte ein, für die sich in der Völkerkunde meist in Anknüpfung an die Sprachen der untersuchten Völker eine Fülle unterschiedlicher Namen eingebürgert hatte, und denen die verschiedensten »Wirkungen meteorologischer, therapeutischer, divinatorischer, telepathischer Art« 51 zugeschrieben wurden. Innerhalb weniger Seiten gibt Weber zwei Bestimmungen religiös oder magisch motivierten Handelns, zwischen denen zumindest ein Spannungsverhältnis besteht. Zunächst folgert er aus dem Fehlen von Jenseitsvorstellungen in der archaischen Religiosität, daß dieses Handeln »diesseitig ausgerichtet« sei. »Auf daß es dir wohl gehe und du lange lebst auf Erden«, so schreibt er, »sollen die religiös oder magisch gebotenen Handlungen vollzogen werden.« Weber will das religiöse oder magische Handeln ausdrücklich nicht »aus dem Kreise des alltäglichen Zweckhandelns aussondern, zumal auch seine Zwecke selbst überwiegend ökonomische sind«. Er nennt es »ein mindestens relativ rationales Handeln: wenn auch nicht notwendig ein Handeln mit Mitteln und Zwecken, so doch nach Erfahrungsregeln«. Klingt dies zunächst, als deute Weber Magie und Religion hyperrationalistisch als unentwickelte Formen technischer Naturbeherrschung, dann erscheint kurz danach ein anderes irritierendes Moment. Weber unterscheidet nämlich zwischen dem »Zauberer«, der seine charismatische Qualifikation zum Beruf gemacht und darauf einen Betrieb gegründet habe, und dem Laien. Der Laie tritt aber nicht einfach als passives Objekt oder als Bewunderer charismatischer Qualifikation ins Bild, sondern als einer, der gelegentlich an eben jenem Zustand teilhat, den der »Zauberer« kontinuierlich auszulösen versteht: der Ekstase. »Dem Laien ist die Ekstase nur als Gelegenheitserscheinung zugänglich. Die soziale Form, in der dies geschieht«, ist »die Orgie, als die urwüchsige Form religiöser Vergemeinschaftung, im Gegensatz zum rationalen Zau51 W G , S. 227.
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bern...« »Der Laie kennt die Ekstase nur als einen gegenüber den Bedürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch, zu dessen Erzeugung alle alkoholischen Getränke, ebenso der Tabak und ähnliche Narkotika, die alle ursprünglich Orgienzwecken dienten, daneben vor allem die Musik verwendet werden.« "Weber geht so weit, die Entstehung der Vorstellung von einer Seele auf die Erfahrungen in den Zuständlichkeiten bei Orgien zurückzuführen. Hier ist also von der quasi-rationalen Struktur religiösen Handelns keine Rede mehr. In den »Soziologischen Grundbegriffen« selbst wiederum taucht Charisma noch in einer dritten Weise handlungstheoretisch eingeordnet auf. Weber weist hier instinkthafter Verhaltenssteuerung eine überragende Bedeutung für die Frühzeit der Menschen zu und nimmt an, daß auch in der weiteren Geschichte entscheidend wichtige Bereiche menschlichen Verhaltens nicht sinnhaft-verständlich, sondern mechanisch-instinktiv geregelt seien. Dabei fügt er hinzu: »Alles >traditionale< Handeln und breite Schichten des >Charisma< als des Keims psychischer >Ansteckung< und dadurch Trägers soziologischer Entwicklungsreize< stehen solchen nur biologisch begreifbaren, nicht oder nur in Bruchstücken verständlich deutbaren und motivationsmäßig erklärbaren, Hergängen mit unmerklichen Übergängen sehr nahe.« 52 Der erste Versuch, das Phänomen »Charisma« mit Webers handlungstheoretischen Mitteln zu deuten, hinterläßt also Verwirrung. Zum einen finden wir eine rationalistische Deutung als »primitive Technik«: diese erlaubt zwar die Einordnung in die Typologie, schneidet aber das gemeinte Phänomen beträchtlich zu. Zum anderen finden wir Ausführungen zur religiösen Erfahrung in der Gruppenekstase, können aber nur schwer einen angemessenen O r t für diese Beschreibung in der Handlungstypologie ausmachen. Zum dritten schließlich wird Charisma offensichtlich dem affektuellen Handeln subsumiert und fast ins Reich des Tierhaften befördert. Dem liegt freilich eine heute wohl kaum noch verteidigbare Anthropologie zugrunde, die außerdem in immanente Schwierigkeiten führt, da 52WCS.557. 7i
dann eben dieses instinkthafte Verhalten die Ursache des Seelenbegriffs sein soll. In dieser Lage ist es angebracht, die breiteren Ausführungen Webers zum Charisma im Rahmen der Herrschaftssoziologie heranzuziehen. 53 Diese sind freilich viel ergiebiger für die Untersuchung der »Veralltäglichung des Charisma« als für die Analyse seiner Entstehung. Von Nachteil ist vor allem, daß Weber den ursprünglich religionstheoretischen Begriff des »Charisma« nun ausschließlich für die Erörterung eines Herrschaftstypus erörtert und damit nicht der Breite der Phänomene gerecht wird, für die sich dessen Verwendung angeboten hätte. Weber setzt hier im wesentlichen voraus, daß es die Zuschreibung außeralltäglicher Qualitäten an Personen gibt, und daß die so betrachteten Individuen deshalb als »Führer« gewertet werden. Was ihn interessiert, sind nicht die handlungstheoretischen Fragen: weder die Beschaffenheit dieser Personen noch die genauere Analyse der Situationen, in denen diese Zuschreibungen erfolgen, noch der Interaktionen zwischen Charismatikern und Anhängern noch der Bedürfnisse von Kollektiven, die vom »Charisma-Hunger« 54 getrieben werden, sondern die innere Struktur einer auf Charisma gegründeten, freilich selbst jeweils von weiterer Bewährung der damit zugeschriebenen Fähigkeiten abhängigen Herrschaftsform. Auf die Spezifika charismatischer Verwaltungsstäbe und Rechtsschöpfungen sowie die Regel- und Wirtschaftsfremdheit dieses Herrschaftstyps brauche ich hier nicht einzugehen. Wolfgang Mommsen und Shmuel Eisenstadt haben in ihren Interpretationen das Wichtigste hierzu gesagt.55 Mommsen 53 W G , S. 140ff.; S. 753ff. und öfters. 54 Dieser Ausdruck entstammt einer mündlichen Bemerkung von Erik Erikson; vgl. Robert C. Tucker, The Theory of Charismatic Leadership, in: Daedalus yy (1968), S. 731-756, hier S. 745. 5 5 Shmuel Eisenstadt, Charisma and Institution Building: Max Weber and Modern Sociology, in: Max Weber, Selected Papers. Chicago 1968, S. IX-LVI; Wolfgang Mommsen, Universalgeschichtliches und politisches Denken, in: ders., Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte. Frankfurt/M. 1982, S. 97-143; Edward Shils, Charisma, Order, and Status, in: American Sociological Review 30
hat insbesondere das geistesgeschichtliche und politikgeschichtliche Umfeld von Webers Charisma-Konzeption aufgehellt. Dabei wird deutlich, daß Weber den charismatischen Führer mit Zügen ausstattet, die aus Nietzsches Persönlichkeitstheorie stammen. Es handelt sich um ein elitäres Individuum, das imstande ist, mit allen traditionellen oder rationalen Normen souverän zu brechen und eine revolutionäre Umwälzung aller Werte zu initiieren. Der charismatische Führer ist, so gesehen, der Fluchtpunkt von Webers ethischem Anspruch zur selbständigen Wahl eines lebensbestimmenden Ideals und zur Fähigkeit, dafür Gefolgschaft zu finden. Eisenstadt wiederum benutzt die Charisma-Konzeption dazu, um die funktionalistische Differenzierungstheorie an die reale Geschichte mit ihren dramatischen Krisen und kontingenten Ereignissen anzunähern. Im Unterschied zu Shils löst sich ihm dabei der »dionysische« Charakter der charismatischen Innovation nicht in einem allgemeinen Begriff des Heiligen auf. Über die gesellschaftsstrukturellen Bedingungen für das Auftreten solcher charismatischer Innovationsversuche und über die empirischen Chancen einer Durchsetzung dieser Innovationen sowie über die allgemeine Frage, ob das Charisma seiner A b drängung in die Bereiche von Kunst, Erotik und institutionalisierter Religion entgehen könne, läßt sich auf der Grundlage von Webers Schriften und überhaupt im Rahmen der Handlungstheorie kein Urteil gewinnen. Mommsen, Eisenstadt und (jüngst) Arnason ist also gemeinsam, daß sie in der Charisma-Konzeption ein gewisses Gegengewicht zu Webers Rationalisierungstheorie erblicken. Diese Einschätzung bestätigt den Eindruck, daß sich die cha(1965), S. 199-213; Johann P. Arnason, Praxis und Interpretation. Frankfurt/M. 1988. Außerdem Arthur Mitzman, The Iron Cage. An Historical Reinterpretation of Max Weber. New York 1969; Charles Camic, Charisma: Its Varieties, Preconditions, and Consequences, in: Sociological Inquiry 50 (1980), S. 5-23; Thomas Dow, An Analysis of Weber's Work on Charisma, in: British Journal of Sociology 29 (1978), S. 83-93; Stefan Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie. Frankfurt/M. 1991, S. 33-67 und S. 215-221. 73
rismatischen Handlungsweisen gegen die Subsumtion unter Webers am Rationalmodell orientierte Handlungstypologie sperren. Selbstverständlich kann jede Typologie, die wie die Webers mehr oder weniger verhüllt eine Residualkategorie enthält, jedes Phänomen, oft aber mehr schlecht als recht, klassifizieren. Entscheidend ist allerdings, daß das Prinzip dieser Typologie nicht jener Dimension des Handelns gerecht wird, die im charismatischen Handeln exemplarisch deutlich wird: der kreativen Dimension. Webers Handlungstypologie ist nur dazu geeignet, die normative und die zweckrationale Dimension des Handelns zu erfassen. Die Charisma-Konzeption kann dies bestenfalls im Bereich der Herrschaftssoziologie kompensieren. N u n ist in der Diskussionsliteratur schon verschiedentlich der Versuch unternommen worden, durch einen weiteren Schritt der Einbeziehung von Webers Schriften auch über diese Grenze hinaus zugelangen. Dies geschah vor allem in zwei Hinsichten. Die Interpretation der Studie zur protestantischen Ethik und insbesondere des Sekten-Aufsatzes, aber auch weiterer religionssoziologischer Studien wie vor allem der zum antiken Judentum kann Hinweise erbringen, daß Weber sehr wohl an geschichtlichen Wandel durch innovative Minderheiten dachte, die nicht als Anhängerschaft eines charismatischen Führers zu sehen sind. Aus den beiden Reden über Wissenschaft und Politik »als Beruf« geht außerdem hervor, daß Weber gerade die Ergriffenheit von der Sache, von der Eigenlogik kultureller Sphären, gegenüber einem willkürlichen Innovationsanspruch ausspielte. Aus diesen beiden Argumenten entsteht aber die Frage, ob sie nicht gerade ungewollt deutlich machen, wie wenig Webers Theorie insgesamt den darin steckenden Momenten gerecht wird. Man könnte dies durch einen Vergleich mit einer anderen Denktradition deutlich machen. Das klassische amerikanische Denken der republikanischen Tradition entgeht dem Konflikt, Individuen entweder nur als Exekutoren eines ohnehin feststehenden weltgeschichtlichen Prozesses oder umgekehrt als die einzige geschichtsmächtige Instanz zu denken. Große Gestalten werden hier vielmehr als Innovatoren gedeutet, die einen kollektiv 74
angelegten Sinn kreativ artikulieren. Das innovative Individuum weicht in dieser Denkweise von den tradierten Selbstverständlichkeiten des Kollektivs in kognitiver oder normativer Hinsicht ab, wirbt aber mit Argumenten für seine neue Weitsicht. Das Kollektiv kann sich diesen Argumenten versagen oder öffnen. Entscheidend ist, daß hier eine diskursive Beziehung zwischen Innovator und Kollektiv unterstellt wird. Eine solche Beziehung setzt nicht nur voraus, daß der Innovator selbst sich über die alten Normen erhebt, sondern auch, daß das Kollektiv zu einer Art hypothetischer Distanz zu den eigenen Normen imstande ist. Dies wird meist an der Logik des wissenschaftlichen Fortschritts exemplifiziert, aber gleichzeitig zum Charakteristikum einer demokratischen Kultur erklärt. N u r in einer ultrastabilen Ordnung kann Wandel ausschließlich über charismatische Individuen und ihre Gefolgschaft eintreten. In der Demokratie als »institutionalisierter Revolution« dagegen wird diese Innovation alltäglich. Selbst die bestehenden Institutionen, die Demokratie verkörpern sollen, werden durch öffentliche Lernprozesse und soziale Bewegungen kreativ transformiert. Bezieht man dies auf Weber zurück, dann werden zwei Dinge deutlich. Webers Charisma-Theorie speichert erstens ein Modell des Wandels ab, das demokratischen Verhältnissen nicht entspricht. In ihm wird nicht die argumentative Kraft, sondern allein die persönliche Ausstrahlung des Führers zum Thema gemacht. Webers Perspektive einer »plebiszitären Führerdemokratie« ist weit davon entfernt, das Potential einer demokratischen Kultur und Öffentlichkeit für unsere Zeit zu entfalten. Aufgabe der Handlungstheorie ist es deshalb gerade, diese Widersprüchlichkeit in Webers Werk zu überwinden; Parsons' Formel von der Berücksichtigung von Normen und Werten in den Vorstellungen über das menschliche Handeln ist dafür völlig unzureichend. Zweitens liegt zwar Webers Wertmaßstab in seiner Zeitdiagnose und insbesondere in seiner Kritik an der umfassenden Bürokratisierung aller Lebensbereiche unbezweifelbar in einer Idee vom schöpferischen und verantwortungsvollen Individuum; diese Idee wird aber in der Handlungstheorie selbst nicht entwickelt. In dieser hat die 75
Möglichkeit schöpferischen Alltagshandelns keinen angemessenen Platz.
1.5 D a s P r o b l e m der E n t s t e h u n g n e u e r M o r a l als Leitfaden d u r c h D u r k h e i m s W e r k Im Fall Emile Durkheims wurde von Parsons besonders ein Bruch in der Werkentwicklung betont, durch den Durkheim vom Positivisten zum Normativisten wurde. Auch viele andere Interpreten sehen vor allem den Kontrast zwischen den frühen programmatischen und substantiellen Arbeiten, die Durkheim den Ruf eines Erz-Positivisten einbrachten, und dem späten religionstheoretischen Werk. Laut Parsons war für die Veränderung von Durkheims Denken entscheidend die Einsicht in die soziale Kontrolle über die VerinnerHchung von Normen, die seinen ganzen Bezugsrahmen revolutioniert habe, wodurch sich Durkheim aber dazu verleiten ließ, nun ganz in die Richtung eines normativen Determinismus zu gehen. Diese These leidet freilich unter philologischen und systematischen Mängeln. Philologisch war einzuwenden, daß Parsons das Frühwerk Durkheims, d.h. die Schriften vor der Abfassung des großen Werkes über Arbeitsteilung, vollständig ignorierte und die Erziehungstheorie fälschlich einer bestimmten Entwicklungsstufe zuschrieb, während sie doch in Durkheims ganzem Lebenswerk eine wichtige Rolle spielte. Nicht viel besser geht es der Modifizierung von Parsons' Deutung durch Alexander. 56 Dies könnte ein Indiz dafür sein, daß nur eine Überwindung des Schemas »Utilitarismus versus 56 Jeffrey Alexander, Theoretical Logic in Sociology, Vol. 11: The Antinomies of Classical Thought: Marx and Durkheim. Berkeley 1982. Eine kondensierte spätere Fassung dieser Interpretation bietet: Jeffrey Alexander, Rethinking Durkheim's Intellectual Development, in: International Sociology 1 (1986), S. 91-107 und S. 189-201. - Zu Alexanders Ansatz vgl. meinen Aufsatz: »Die Antinomien des Neofunktionalismus«, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 272-285 (jetzt auch in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt/M. 1992, S. 223-249). 76
Normativität«, mit dem sowohl Parsons wie Alexander Durkheim zu erfassen versuchen, zu einer angemessenen Rekonstruktion führen kann. Zu einer solchen Überwindung tragen allerdings auch diejenigen nicht bei, die Durkheim lediglich aus dem Motiv der Gemeinschaftssehnsucht verstehen wollen, gleichgültig, ob sie ihn deshalb als konservativ (wie Nisbet) oder korrekter als republikanisch-progressiv (wie Giddens) klassifizieren. 57 Während im Fall Max Webers eine bloße Konfrontation zwischen Charisma-Konzeption und Handlungstheorie nötig war, muß im Fall Emile Durkheims die innere Logik seiner ganzen Werkentwicklung zum Thema werden. Hier soll deshalb der Fülle vorliegender Thesen über Durkheims Lebenswerk eine weitere hinzugefügt werden; diese lautet, daß wir Durkheims Werk am besten verstehen, wenn wir es als den fortgesetzten Versuch betrachten, die Frage nach der Entstehung einer neuen Moral zu beantworten. Damit ist nicht in erster Linie die konkrete Frage nach den Inhalten einer solchen neuen Moral gemeint, sondern die abstraktere Frage, wie eine Theorie des Handelns und der Gesellschaft auszusehen habe, deren konzeptuelle Grundlagen die Entstehung neuer Moral systematisch zu denken erlauben. Die stärksten Hinweise für eine solche Deutung finden sich bei Rene König, dem Nestor der deutschen Durkheim-Rezeption, vornehmlich in seiner schon 1937 abgeschlossenen, aber erst Jahrzehnte später veröffentlichten »Kritik der historisch-existenzialistischen Soziologie«. 58 König nämlich hat so intensiv wie meines Wissens niemand sonst Durkheim nicht einfach als Moralisten innerhalb der Soziologie gedeutet, auch nicht nur als einen Soziologen, für 57 Robert Nisbet, The Sociology of Emile Durkheim. New York 1974; Anthony Giddens, £mile Durkheim. London 1978. 58 Rene König, Kritik der historisch-existenzialistischen Soziologie. Ein Beitrag zur Begründung einer objektiven Soziologie. München 1975. - Aus der Fülle seiner übrigen Schriften zu Durkheim ist besonders empfehlenswert: limile Durkheim. Der Soziologe als Moralist, in: Dirk Käsler (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 1, München 1976, S. 312-364. 77
den dieses Fach wesentlich eine Wissenschaft von der Moral sei, sondern als einen Denker in der zeitgeschichtlichen Atmosphäre des »fin de siecle«, der vor allem mit den Bedingungen für die Herausbildung einer neuen Moral beschäftigt war. König kam zu dieser Leistung, weil er nicht nur das philosophische und kulturelle Umfeld in Frankreich besser überblickte als viele Soziologiehistoriker, die auf die soziologischen Vorläufer mehr Aufmerksamkeit legten als auf die philosophischen Zeitgenossen, sondern vor allem, weil er Durkheims Denken als Ausweg aus der deutschen Lebensphilosophie und ihren politisch-moralischen Folgen rezipierte. Er stellte dabei aber Durkheim eben nicht als Szientisten der Lebensphilosophie gegenüber, sondern als Denker, der das Projekt einer Rekonstruktion des Rationalismus verfolgte, so daß er die berechtigten Motive lebensphilosophischer Rationalitätskritik aufnehmen und zugleich überwinden konnte. Damit rücken auch Bergson und Durkheim, Sorel und Durkheim ganz anders zusammen, als die bloße Vermutung eines Antipodenverhältnisses zwischen französischer Lebensphilosophie und positivistischer Soziologie es zuläßt. König vertieft allerdings diesen vielversprechenden Ansatz meines Erachtens nicht genug. Sein Werk kann aber inspirieren bei einem Versuch, Durkheim nicht als Theoretiker der Ordnung und der Normativität als solcher und schon gar nicht der Anomie, des Funktionalismus oder der fortschreitenden Arbeitsteilung oder Differenzierung, sondern als Theoretiker der Konstitution neuer Ordnung, neuer Normen aufzufassen. Das theoretische Gewicht dieser veränderten Deutung besteht darin, daß das Schema von Utilitarismus und Normativität um die dritte Position der Kreativität erweitert wird. N u r die Frage nach den Bedingungen für die Kreativität kollektiven und individuellen Handelns und der Verknüpfung von Kreativität und Verantwortung (Normativität) ergibt dann einen Bezugsrahmen, der für ein Verständnis Durkheims adäquat ist. N u r ganz wenige Worte sollen dem Zweck gewidmet werden, dieses Durkheim-Bild auch auf der biographischen Ebene plausibel zu machen. Unumstritten ist, wie sehr Durkheims Interesse an der Soziologie einem tiefen Krisenbewußtsein 78
entsprang und wie sehr die Soziologie Teil eines Projekts zur Behebung dieser Krise war. Gleichgültig, ob diese Krise mehr als eine Frankreichs oder generell moderner Gesellschaften aufgefaßt wird - der größte Teil der Interpreten ist sich einig, daß Durkheim die gemeinschafts-, bindungs- und normzerstörenden Wirkungen des technischen und ökonomischen Fortschritts nicht durch eine Restauration vorindustrieller Verhältnisse oder ein Vertrauen in die wohltätigen Wirkungen der Evolution auffangen wollte. Gegen Restauration war er durch die tiefe Einsicht in die Zusammenhänge von Moral und Sozialstruktur gefeit; gegen Evolutionsvertrauen richtete sich die utilitarismuskritische Polemik. Königs Darstellung der untergründigen Leidenschaftlichkeit von Durkheims zwanghaft-überdiszipliniert wirkender Persönlichkeit wird durch neuere biographische Darstellungen französischer Autoren gut bestätigt; Durkheim hatte wohl eher die Züge eines Charismatikers und Propheten als die eines kalten Positivisten oder scholastischen Rationalisten. 59 Zu wenig Aufmerksamkeit aber wurde bisher der Tatsache gewidmet, daß Durkheim in seinem Krisenbewußtsein keineswegs Rationalität als Heilmittel der Probleme ansah, sondern daß er schon früh gerade auch von einer Krise der Rationalität ausging. Erst jüngst 60 wurde die Bedeutung der Schopenhauer-Begeisterung des jungen Durkheim ernst genommen, obwohl die Überlieferung 61 schon lange davon berichtet hatte, daß Durkheim ihr den Spitznamen »Schopen« zu verdanken hatte. Schopenhauer und nicht Hobbes - wie Parsons angenommen hatte, dessen Kenntnis der kontinentalen Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts sehr begrenzt war - muß nicht nur als Quelle 59 Bernard Lacroix, Durkheim et le politique. Paris 1981. 60 Stjepan G. Mestrovic, Durkheim, Schopenhauer and the Relationship between Goals and Means: Reversing the Assumptions in the Parsonian Theory of Rational Action, in: Sociological Inquiry 58 (1988), S. 163-181 sowie ders., £mile Durkheim and the Reformation of Sociology. Totowa, N.J., 1988. 61 Andre Lalande, Allocution, in: Centenaire de la naissance de Durkheim. Annales de l'Universite de Paris 1 (i960), S. 20-23, hi e r S.23. 79
einzelner Annahmen etwa der Selbstmord-Studie über die Gefahren der Anarchie des individuellen Trieblebens, sondern für die Voraussetzungen von Durkheims »Rationalismus«, der von Anfang an kein einfacher Rationalismus war, angesehen werden. Auch die häufige Beschreibung Durkheims als eines Kantianers ist deshalb nur wenig hilfreich, weil sie nur Sinn hätte, wenn wir uns einen Kant vorstellen, der die Herausforderung Schopenhauers hätte annehmen können. Meine biographische These lautet demnach, daß Durkheim nicht ein unbeirrter Rationalist war, der nur aus kulturpolitischen Gründen in seinen Schriften den Irrationalismus bekämpfte, sondern ein selbst vom Irrationalismus zutiefst faszinierter »rekonstruierter« Rationalist ebenso wie ein lebenslang von der Religion faszinierter Atheist. Nicht Settembrini versus Naphta also, sondern eher die leidenschaftliche Arbeit an der Synthese dieser Antipoden wie bei Thomas Mann selbst oder noch besser bei Robert Musil kennzeichnet das persönliche Profil Durkheims. Besonders frühe Arbeiten von Durkheim, insbesondere die Antrittsvorlesung in Bordeaux und ihr Programm einer empirischen Wissenschaft von der Moral sind im Sinn eines radikalen Positivismus verstanden worden, was hier so viel wie die Reduktion moralischer Fragen auf empirische Sachverhalte bedeuten soll. Dem wurde dann in anderen Deutungen ein vermeintlicher Kantianismus Durkheims entgegengehalten. Beides ist meines Erachtens falsch - und der Nachweis dessen soll nun der erste Schritt meines Deutungsvorschlags sein. Dieser Teil wird wegen der geringen Bekanntheit von Durkheims Frühwerk der ausführlichste sein. Wenn wir nämlich Durkheims frühes Programm mit dem Mittel der frühen Rezensionen und vor allem des großen Berichts »La science positive de la morale en Allemagne« interpretieren, dann wird rasch klar, daß es Durkheim mit diesem Programm um eine Überwindung des Gegensatzes von Kantianismus und Utilitarismus ging. Die frühen Schriften Durkheims umfassen neben einer Reihe von Rezensionen vornehmlich die beiden umfangreichen Berichte, die er als Resultat seines einjährigen Aufenthalts in Deutschland verfaßte. Die 80
Rezensionen befaßten sich vor allem mit zeitgenössischen Neuerscheinungen, in denen es um die Definition des Gegenstandsbereichs der neuen Disziplin »Soziologie« ging und um die Einordnung der Disziplin in das Feld der schon länger etablierten akademischen Fächer. Einen eher politischen Grundton hatten die Stellungnahmen zu den Arbeiten des frühen deutschen Soziologen Albert Schäffle. Er nahm diesen nicht nur gegen den Vorwurf der blinden Übertragung eines Organismus-Modells auf soziale Sachverhalte in Schutz, sondern verteidigte besonders die politische Differenz zwischen Schäffle und den Kathedersozialisten. Während diese zur Überwindung sozialer Mißstände auf das autoritäre Mittel staatlicher Eingriffe setzten und dabei die Wirkungschancen des Gesetzgebers überschätzten, suchte Schäffle einen Weg zwischen dem »laissez faire« der politischen Ökonomie und der Staatsgläubigkeit der Kathedersozialisten; Durkheim sympathisierte ganz offensichtlich mit dieser Suche. Eine weitere Komponente von Durkheims Frühwerk stellte die Beschäftigung mit der Religion und die Beteiligung an der zeitgenössischen Diskussion über ihre Zukunft dar. Schon in seinen ersten Veröffentlichungen - und nicht erst im religionstheoretischen Spätwerk - gibt Durkheim der Überzeugung Ausdruck, daß die Religion nicht ersatzlos verschwinden könne, wie es eine vulgarisierte Aufklärung erwartete. Religion war freilich für ihn zu dieser Zeit - etwa in einer Besprechung Alfred Fouillees und im Unterschied zum Spätwerk - nur eine andere Form moralischer Regelung (»une discipline sociale«) neben der Moral im engeren Sinne und dem Recht. Dieses recht enge Verständnis der Religion war zugleich die Grundlage für Durkheims Kritik an der Arbeit des jung verstorbenen französischen Philosophen Jean-Marie Guyau, der mit seiner Konzeption einer Ethik jenseits der Pflicht bekanntlich zu den Inspiratoren Nietzsches zählte. Guyau verstand unter einer modernen Moral eine solche, die dem Ausmaß moderner Individuierung gerecht werde; dies könne aber keine Moral fixer Regeln mehr sein, sondern nur eine Moral individueller Gestaltung. Guyau verwandte dafür im positiven Sinne den Begriff der Anomie: moralische Anomie sei eben dieser hoch81
entwickelte Stand der Moral; religiöse Anomie kennzeichnet dann eine individuierte Religiosität ohne Bindung an kirchliche Institutionen und feste Dogmen. Für Durkheim kann zu dieser Zeit, in der er Moral und Religion durch ihren verpflichtenden Charakter gekennzeichnet sieht, darin nur eine contradictio in adiecto stecken. Er übergeht deshalb auch, daß Guyau mit seiner Moral- und Religionsphilosophie ebenso in Richtung der Überwindung der Antithese von Kant und Utilitarismus zielte wie er selbst. All dies aber waren kleine Arbeiten, die unser Interesse nur rückwirkend auf sich ziehen, weil wir sie als Vorstufen von Durkheims späteren Meisterwerken lesen. Bekannt wurde Durkheim zu seiner Zeit aber nicht durch sie, sondern durch die beiden Berichte aus Deutschland. Während der eine mit dem Titel »La philosophie dans les universites allemandes« mehr der Darstellung der Strukturen und Curricula an deutschen Universitäten dient und nur nebenhin Bemerkungen zur deutschen Philosophie selbst fallen, ist die Studie »La science positive de la morale en Allemagne« ausschließlich der Substanz der deutschen Geistes- und Staatswissenschaften gewidmet. Grundton ist die Faszination durch das Niveau und die Breite der deutschen Wissenschaften. Für Durkheim ist außer Zweifel, daß diese Wissenschaften in Deutschland besser entwickelt seien als in Frankreich; gleichzeitig hofft er jedoch, daß die in Frankreich ausgeprägtere Öffentlichkeit den Wissenschaften zu größerer praktischer Wirkung verhelfen würde, als dies in Deutschland möglich ist. Im späteren Verlauf seines Lebens bekam Durkheim wegen dieser positiven Bewertung des Standes der Wissenschaften in Deutschland immer größere Schwierigkeiten in der französischen Öffentlichkeit; das nationalistische Fieber stieg in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und ließ den freien geistigen Austausch zwischen den Nationen immer mehr als suspekt erscheinen, bis der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei allen beteiligten Seiten zur Entstehung hemmungslos einseitiger Darstellungen der Geistesgeschichte der Kriegsgegner trieb. 62 Durkheim 62 Hans Joas, Die Klassiker der Soziologie und der Erste Weltkrieg, in: Hans Joas/Helmut Steiner (Hg.), Machtpolitischer Realismus 82
mußte deshalb in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder seine feste Verwurzelung in der französischen Tradition bekunden und die Tatsache, daß für ihn nicht nur die deutschen Nationalökonomen und Rechtshistoriker, sondern auch die englischen und amerikanischen Ethnologen und Religionshistoriker von größter Bedeutung waren - die Idee der Soziologie aber weder von den einen noch von den anderen stamme, sondern vielmehr auf französische Ursprünge bei Comte und Saint-Simon zurückginge. Die heutige Rezeption sollte sich von den nationalistisch getönten Aspekten dieser Frage nach Einflüssen fern halten; viel wichtiger ist, welche inhaltlichen Leistungen Durkheim in den deutschen Wissenschaften bewunderte und wie er zu diesen Stellung nahm. Die übergreifende Fragestellung dieser Arbeit Durkheims ist die Möglichkeit einer Überwindung des Gegensatzes von Kantianismus und Utilitarismus durch ein empirisches Studium moralischer Phänomene. Der erste Satz dieser Schrift beklagt bereits eben den Sachverhalt, daß sich in Frankreich die Diskussionen ausschließlich in diesem Spektrum bewegen müßten. 63 An einer späteren Stelle macht er klar, warum diese Alternative eine schlechte Alternative ist: »Les Kantiens fönt de la morale un fait specifique, mais transcendant, et qui echappe ä la science; les utilitaires, un fait d'experience, mais qui n'a rien de specifique. Ils la ramenent ä cette notion si confuse de Putile et n'y voient qu'une psychologie ou une sociologie appliquee. Seuls les moralistes allemands voient dans les phenomenes moraux des faits qui sont ä la fois empiriques et >sui generis<. La morale n'est pas une science appliquee ou derivee, mais autonome.« 64 Die gleichzeitige und pazifistische Utopie. Krieg und Frieden in der Geschichte der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M. 1989, S. 179-210. 63 £mile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne, in: Textes, Bd. 1. Paris 1975, S. 267-343. 64 ibid, S. 335. (Deutsche Übersetzung des Zitats, HJ.: »Die Kantianer machen aus der Moral eine spezifische Tatsache, die allerdings transzendentaler Natur und nicht wissenschaftlich erfaßbar sei; die Utilitaristen machen aus ihr eine Erfahrungstatsache, an der aber 83
Gegnerschaft gegen Kantianer und Utilitaristen, wie sie hier verkündet wird, bleibt ein durchgehender Zug von Durkheims Werk. Sie läßt sich nicht nur in dieser Frühschrift belegen, sondern ebenso in der Einleitung zur ersten Auflage des Werkes über Arbeitsteilung von 1893 oder der Stellungnahme zum Dreyfus-Skandal von 1898; noch der Aufsatz über die Bestimmung der moralischen Tatsache von 1906 enthält das Pathos, daß mit der eigenen Theorie die in den Frühschriften geforderte Synthese gelungen sei. Es macht deshalb trotz der Übernahme Kantscher Motive durch Durkheim meines Erachtens keinen Sinn, Durkheim als »soziologischen Kantianer« zu bezeichnen; für Durkheim überwiegen die Gemeinsamkeiten der beiden sich befehdenden Schulen, und er sieht sich von beiden in gleichem Abstand. Er wirft beiden Schulen vor, der Moral gegenüber nicht induktiv - durch die Erforschung moralischer Phänomene - , sondern deduktiv - durch die Setzung eines moralischen Gesetzes - vorzugehen. Beide Seiten »commencent par raisonner comme si la morale etait tout entiere ä creer, comme s'ils se trouvaient en presence d'une table rase sur laquelle ils peuvent ä leur gre edifier leur Systeme, comme s'il s'agissait de trouver, non une loi qui resume et qui explique un Systeme de faits actuellement realises, mais le principe d'une legislation morale ä instituer de toutes pieces. A ce point de vue il n'y a pas ä distinguer entre les ecoles. L'argumentation des empiristes n'est ni moins hätive ni moins sommaire que celle des rationalistes...« 65 Der Unternichts Spezifisches ist. Sie führen die Moral auf den unklaren Begriff des Nützlichen zurück und sehen in ihr nur eine angewandte Soziologie oder Psychologie. Nur die deutschen Moralwissenschaftler sehen in den moralischen Phänomenen Tatsachen, die gleichzeitig empirischer Natur und >sui generis< sind. Die Moral ist nicht eine angewandte oder abgeleitete Wissenschaft, sondern sie ist autonom.«) 65 Emile Durkheim, De la division du travail social. Paris 1893, S. 18. (Deutsche Übersetzung des Zitats, HJ.: »fangen an, als sei die Moral völlig neu zu erschaffen, als befänden sie sich vor einer tabula rasa, auf der sie nach ihrem Gutdünken ihr System errichten können, als handle es sich darum, das Prinzip einer vollständig zu errichtenden moralischen Gesetzgebung herauszufinden und nicht 84
schied zwischen Kantianern und Utilitaristen liegt dann nur in der Art des Prinzips, von dem die Deduktionen ihren Ausgang nähmen. Die Utilitaristen gingen vom Prinzip des Eigeninteresses, die Kantianer vom Prinzip einer totalen Distanz der moralischen Gesinnung zu Motiven des Eigennutzes aus. Die Utilitaristen setzten bei der Erfahrung des Handelnden an, legten aber einen äußerst engen Begriff von Erfahrung zugrunde, während die Kantianer im Begriff der praktischen Vernunft nur noch eine reine Moral, aber nicht mehr die konkreten Kennzeichen sozialer Gemeinschaften berücksichtigten. Im Gegensatz zu Kantianern und Utilitaristen zielen Durkheim und die von ihm bewunderten deutschen Wissenschaften auf eine Überwindung der deduktiven Methode und auf eine umfassende Berücksichtigung konkreter moralischer Phänomene. »On ne peut pas construire la morale de toutes pieces pour l'imposer ensuite aux choses, mais il faut observer les choses pour en induire la morale.« 66 Einen ersten Schritt dazu sei die deutsche historische Nationalökonomie gegangen. Noch mehr als für diese gelte dies aber für die deutsche historische Rechtsschule. In der Diskussion von Iherings »Der Zweck im Recht« nimmt Durkheim freilich Anstoß an der Zugrundelegung eines rationalistischen Handlungsbegriffs, der zu einer Überbetonung der Zweckgerichtetheit des Handelns führe. Fast lebensphilosophisch klingt dagegen Durkheims wiederholte Betonung, wie oft wir handeln, ohne ein klares Ziel vor Augen zu haben: 67 »Vivre ce n'est pas penser, c'est agir, et la suite de nos idees ne fait que refleter le flot des evenements qui ein Gesetz, das ein System faktisch realisierter Sachverhalte zusammenfaßt und erklärt. In dieser Hinsicht besteht zwischen den Schulen kein Unterschied. Die Argumentation der Empiristen ist in dieser Hinsicht genauso verkürzt und genauso summarisch wie die der Rationalisten «) 66 Emile Durkheim, La science positive, a.a.O., S. 278. (Deutsche Übersetzung des Zitats, HJ.: »Man kann nicht die Moral in allen Stücken konstruieren, um sie dann den Dingen aufzuerlegen, sondern man muß die Dinge beobachten, um aus ihnen eine Moral induktiv abzuleiten.«) 67 z.B. ebd., S. 289. 85
s'ecoulent perpetuellement en nous.« 68 Gerade in handlungstheoretischer Hinsicht sei deshalb der Versuch Wilhelm Wundts überlegen, dessen synthetische Absicht und umfassende empirische Ausrichtung auf die »Völkerpsychologie« als Grundlage der Ethik Durkheim begrüßt. Handlungstheoretisch hebt Durkheim an Wundt das von diesem aufgestellte »Gesetz der Heterogenie der Zwecke« hervor. Gemeint ist damit, daß alle Handlungen mehr Handlungsfolgen produzieren als in den Handlungsmotiven gesteckt haben können. Handlungsfolge und Handlungsmotiv fallen demnach nie zusammen. Sobald wir der Folgen unserer Handlungen gewahr werden, entwickeln sich daraus neue Zielsetzungen. Die neuen Handlungsmotive sind dabei ebenso von den vorherigen unterschieden wie von den Folgen dieser neuen Handlungen. »Les resultats de nos actions s'etendent toujours au-delä du motif et, ä mesure que celui-ci s'en rapproche, ils s'en eloignent davantage.« 69 Wundt und Durkheim finden in dieser handlungstheoretischen Überlegung zugleich einen weiteren Grund für die Notwendigkeit einer empirisch-experimentellen Vorgehensweise auf dem Gebiet der Moralwissenschaft. Die Beschäftigung mit den Motiven allein ist unzureichend; die wirklich eintretenden Handlungsfolgen können aber nicht durch Introspektion festgestellt werden, sondern nur in der Welt der Tatsachen selbst. Weder kennen wir alle Handlungsfolgen noch handeln wir immer mit klaren Zwecken, noch sind die Gründe, aus denen wir selbst zu handeln glauben, 68 Emile Durkheim, Rezension von Jean Marie Guyau, L'irreligion de Pavenir (1887), in: Emile Durkheim, Textes, Bd. 2. Paris 1975, S. 149-165, hier S. i6of. (Deutsche Übersetzung des Zitats, HJ.: »Leben-das heißt nicht: denken, sondern: handeln, und die Folge unserer Gedanken spiegelt nur den Fluß der Ereignisse wider, die ständig in uns ablaufen.«) 69 Emile Durkheim, La science positive de la morale en Allemagne (1887), in: Emile Durkheim, Textes, Bd. 1, a.a.O., S. 267-343, hier S. 312. (Deutsche Übersetzung des Zitats, HJ.: »Die Wirkungen unserer Handlungen gehen immer über das Motiv hinaus und entfernen sich in dem Maße, in dem das Motiv sich den Wirkungen annähert, immer weiter davon.«) 86
notwendig die wahren Gründe. 70 Es bedarf deshalb mehr als des »raisonnement«, um in der Moralwissenschaft Fortschritte zu erzielen. So sehr Wundts Arbeit für Durkheim die Krönung der deutschen wissenschaftlichen Bemühungen hinsichtlich der Moral darstellt, so wenig ist damit für ihn schon das Ziel erreicht. Durkheim will noch radikaler empirisch sein als Wundt. Auch Wundt halte an der Vorstellung der einen Moral oder Religion fest und entschließe sich nicht zu einem moralwissenschaftlichen (nicht moralischen) Relativismus. Als Ausnahme von dieser Tendenz erkennt Durkheim nur den Rechtshistoriker Albert Hermann Post an, der wirklich zur voraussetzungslosen Anwendung einer historisch-vergleichenden Methode beim Studium moralischer Phänomene bereit sei. Damit sei der Weg frei für die Einsicht, daß jedem Gesellschaftstyp sein eigener Typ von Moral entspreche. Eine solche Typologie suche man aber bei Post vergeblich; ohne sie sei aber auch die vergleichende Methode nur schwer zu praktizieren. Erst nach Abschluß dieses umfassenden Literaturberichts konnte Durkheim mit einem Versuch zu einer solchen Typologie bekannt werden, der in Deutschland im selben Jahr erschien wie Durkheims Literaturbericht: die Rede ist von Tönnies' epochemachender Arbeit »Gemeinschaft und Gesellschaft«. In Durkheims Rezension dieses Buches überwiegen Bewunderung und Zustimmung sowohl zur Notwendigkeit der Unterscheidung zweier großer Typen von Sozialität wie zur genaueren Fassung des von Tönnies genannten Typus der »Gemeinschaft«, vor allem aber dazu, »daß die >Gemeinschaft< die erste Tatsache und die >Gesellschaft< das daraus abgeleitete Ziel ist.«71 In seinem Mißtrauen gegen deutsche Staatszentriertheit liest er auch in Tönnies' Begriff der »Gesellschaft« Züge hinein, die diesem gar nicht eigen waren. 72 70 ebd., S. 326. 71 Emile Durkheim, Besprechung von Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1889), in: E. D., Frühe Schriften zur Begründung der Sozialwissenschaft, hg. von Lore Heisterberg. Neuwied 1981, S. 77-84, hier S. 83. 72 In der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel findet sich 87
Methodisch geht es Durkheim also um Widerstand gegen den Reduktionismus der Utilitaristen ebenso wie gegen den Transzendentalismus der Kantianer; er will eine empirische Wissenschaft, die weder den spezifischen Charakter des Sollens gegenüber dem Sein verpaßt noch in bloßer philosophischer Spekulation über das Sollen verbleibt. In Deutschland freilich endete dieses Programm weitgehend in den Fallen des Historismus. Fassen wir noch einmal zusammen, wie sich Durkheim den Beitrag des empirischen Studiums moralischer Phänomene zur Lösung moralischer Fragen vorstellt. Er unterstellt, daß philosophische Moraltheorien jeweils bestimmte empirische Annahmen über moralische Erfahrung, moralische Reflexion, moralische Beratung oder moralisches Handeln enthielten. Diese Annahmen können aber falsch oder zumindest falsch verallgemeinert sein. Dies trifft für kantianische und utilitaristische Konzeptionen zu. Das Studium der historischen und kulturellen Mannigfaltigkeit der Moral sprengt damit zunächst unsere innere Bindung an falsche Ideen über Moral auf. Wir erwerben ein adäquateres Bild dessen, was Handelnde in moralischen Situationen faktisch tun und erleben. Dies hat zwei widersprüchliche Folgen. Zum einen erweitert es unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten, zum anderen erhöht es unseren Respekt vor gegebenen Formen von Moral. Wir werden einerseits freier, nämlich gegenüber religiösen oder philosophischen Ethiken, und kommen in unserer Selbstreflexion näher an den immanenten Charakter moralischen Entscheidens heran; wir legen andererseits die Illusion beliebiger Machbarkeit moralischer Phänomene ab. Durkheim betont sowohl, daß uns die Wissenschaft der Moral dabei hilft, die Moral als Kunst im alltäglichen Verhalten besser auszuüben, wie er auch hervorhebt, daß jede leichtfertige Modifikation von Moral etwa durch politische Setzungen sich nach einem Studium der inneren Systematik von Moral und im Nachlaß von Ferdinand Tönnies ein Exemplar von Durkheims Rezension mit Randbemerkungen von Tönnies. Aus diesen geht hervor, daß sich Tönnies vor allem beim Vorwurf der Staatszentriertheit mißverstanden fühlte.
vor allem der Beziehungen zwischen »Regeln« und »Bedingungen« verbietet. Einen weiteren Beleg für diese Deutung kann man erhalten, wenn man nach Schriften Umschau hält, in denen Durkheim dieses Programm später tatsächlich praktiziert hat. Aufschlußreich sind dann etwa das vorletzte Kapitel der »Selbstmord«-Studie »Die Beziehungen zwischen dem Selbstmord und den anderen sozialen Erscheinungen« oder der Aufsatz von 1911 über »Werturteile und Wirklichkeitsurteile«. In beiden Fällen werden selbstverständlich nicht Sollensfragen durch Seins-Urteile gelöst. Es ist aber auch keineswegs so, daß wir nach Durkheims Erörterungen das Gefühl hätten, gegenüber den normativen Fragen so unsicher zu sein wie vor Beginn der Lektüre, da ja keinerlei empirisches Wissen uns die Last normativer Dezision abnehmen kann. Vielmehr wurde unsere normative Reflexion sachhaltiger, damit zwar nicht entschieden, aber verändert. Durkheims Vorgehen ähnelt hier stark dem Pragmatismus in der Ethik bei John Dewey und G. H. Mead, die ebenfalls beide einen einheitlichen Akt der Reflexion unterstellen, in dem empirisches Wissen zum Bestandteil moralischer Überlegung wird. Im Pragmatismus wird dieser Gedanke über die Idee des Experiments entwikkelt; Durkheim spricht davon, daß die historisch und kulturell vergleichende Methode die sozialwissenschaftliche Entsprechung zum naturwissenschaftlichen Experiment sei. Vom Experiment aber sprechen die Pragmatisten, weil sie an die prinzipiell zukunftsoffene, ungewisse und riskante Situation des Handelnden denken. Auch Durkheims Plädoyer für geschichtlichen Vergleich zielt nicht auf eine Historie, die für das Leben ohne Nutzen oder sogar von Nachteil sei, sondern auf eine verbesserte Bewältigung moralischer Problemsituationen durch eine Reflexion von Traditionen, die Voraussetzung ist für deren modifizierende Weiterführung. Die Wissenschaft erfindet nicht eine neue Moral und maßt sich nicht an, anstelle der Gesellschaftsmitglieder die moralischen Probleme zu lösen; sie fördert aber die spontane Herausbildung einer neuen Moral, indem sie die Bedingungen für deren Entstehung klärt. In diesem Sinne dient die »Wissenschaft von der Moral« einer neuen Moral. 89
Dieses spezifische Verständnis moralwissenschaftlicher Empirie müssen wir im Gedächtnis behalten, wenn wir das große Werk über die Arbeitsteilung richtig verstehen wollen. Das ist mein zweiter Schritt. Dieses Werk ist ja zweifellos eine empirische Untersuchung des Zusammenhangs von Arbeitsteilungs- und Moralstrukturen und speziell der Entstehung einer neuen Form von Moral. Denken wir uns Durkheim aber als Positivisten, dann enthält dieses Buch zwar eine empirische Theorie darüber, wie zunehmendes »Volumen« und zunehmende »Dichte« Arbeitsteilung erzwingen, die über Interdependenz zur organischen Solidarität führt. Diese Theorie kann dann zwar empirisch falsch sein; die Tatsache aber, daß Durkheim diese neue Moral persönlich auch gewollt hat, gerät zur nebensächlichen Privatangelegenheit des Wissenschaftlers. Denken wir umgekehrt an Durkheim als bloßen Moralphilosophen, dann zeigen sich seine Präferenzen zwar in aller Deutlichkeit; es scheint dann aber so, als seien diese mit dem beobachtbaren Gang der Geschichte unvermittelt oder über eine kategoriale Selbsttäuschung einfach in das automatische Resultat der Geschichte verwandelt. Da Durkheim aber den Glauben an die ohne Eingriffe entstehenden wohltätigen moralischen Konsequenzen der modernen Wirtschaft als Illusion der politischen Ökonomie immer scharf angegriffen hatte, müßte er dann jetzt auf diese zuvor kritisierte Position selbst zurückgefallen sein. Beide Deutungen sind wohl von Durkheims Selbstverständnis seiner Methode gleich weit entfernt. Beide schalten die moralische Selbstreflexion der Handelnden, über die allein die vergleichende Methode moralisch einflußreich werden kann, aus ihrer Betrachtung aus. Der Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Moral wird jeweils als Habitualisierung von Handlungen zu Handlungsregeln konzipiert. Mir scheint dagegen, daß Durkheim hier an die reflexive Einsicht in Erfordernisse der Kooperation gedacht hat. Bei einer solchen Kooperationsmoral handelt es sich weder um eine von Herrschern auferlegte Zwangsmoral noch um eine freiwillige Vereinbarung von Subjekten in die ihnen akzeptabel scheinenden Bedingungen des Umgangs miteinander, sondern um eine reflexiv gewinnbare Einsicht in die 90
funktionalen Erfordernisse egalitärer Kooperation. Ein stützendes Argument für diese Deutung kann darin gesehen werden, daß Durkheim die erzwungene Arbeitsteilung bekanntlich zu den pathologischen Formen rechnet. Wenn es sich schlicht um die Habitualisierung von Handlungen drehen sollte, wäre nicht einzusehen, was an dieser Arbeitsteilungsform pathologisch ist. Wenn aber nur gerechte Regeln Durkheims Begriff organischer Solidarität erfüllen, dann heißt dies doch, daß dieser selbst werthaltig ist. Durkheims Begriff der Arbeitsteilung enthält eine innere Verknüpfung mit seinen Vorstellungen von Gerechtigkeit, und Durkheim vertrat nicht die Notwendigkeit sozialer Ordnung als solcher, sondern die einer gerechten Ordnung. Organische Solidarität wäre dann ein Typus von Moralität, der in den Beteiligten über einen Akt der Reflexion auf die universalen Bedingungen ihres Zusammenwirkens entsteht. Je verbreiteter Kooperation ist, desto wahrscheinlicher wäre dann die Möglichkeit dieser reflexiven Einsicht. Deshalb kann moderne Arbeitsteilung zu dieser neuen Moral führen. N u n kann kein Zweifel daran bestehen, daß Durkheim dieses Programm selbst höchst unklar durchgeführt hat und er deshalb in Aporien geraten ist. Zum einen fehlten Durkheim die entwicklungspsychologisch-sozialisationstheoretischen Mittel, um die Genese einer Kooperationsmoral tatsächlich darzustellen. Dieser Mangel wird am deutlichsten im Vergleich zur empirischen Erforschung des moralischen Urteils beim Kinde, wie Jean Piaget sie 1923 vorlegte. Piaget war es auch, der selbst diesen Mangel am schärfsten an Durkheim kritisierte. Diese Kritik hat seither oft verdeckt, wie stark Piagets Moraltheorie auf Durkheim aufbaute und wie sehr sie als Korrektur von immanenten Mängeln von Durkheims eigener Durchführung seines Programms zu verstehen ist. Piaget baut ausdrücklich auf Durkheims Unterscheidung zweier Typen von »Solidarität« auf und akzeptiert auch deren Verknüpfung mit zwei Formen des moralischen Bewußtseins. Piaget sieht in Durkheims Typologie die Unterscheidung einer heteronomen von einer autonomen Moral. In seiner Erziehungstheorie aber war Durkheim auf das Verhältnis zwischen Kind und Erziehungs9i
autorität fixiert und bezog sich nicht auf das Verhältnis von Kindern zueinander. Für Durkheim bleibt jedoch jede Moral, auch unter den Bedingungen organischer Solidarität, eine dem Kinde aufgezwungene. »Folglich verteidigt Durkheim vom pädagogischen Standpunkt aus da«, schreibt Piaget, »wo wir in der >aktiven Schule<, dem Seif Government und der Autonomie des Kindes die einzigen zu einer vernunftmäßigen Moral führenden Erziehungsmethoden erblicken würden, eine Pädagogik, die ein Muster traditionalistischer Erziehung ist und rechnet trotz aller Einschränkungen mit von Grund auf autoritären Methoden, um zur inneren Freiheit des Bewußtseins zu gelangen.« 73 Durkheim bleibt deshalb unfähig, die Stufen der Entwicklung der kindlichen Kooperationsfähigkeit zu rekonstruieren. Im Einklang damit steht, daß Durkheim zum anderen den Begriff der Arbeitsteilung selbst zutiefst zweideutig anlegt. Er unterscheidet nämlich nicht zwischen der antagonistischen Arbeitsteilung des Marktes und der nicht-antagonistischen Arbeitsteilung organisierter Kooperation. 74 Die Idee der Kooperationsmoral bezieht sich aber nur auf die nichtantagonistische Arbeitsteilung. Die moderne Gesellschaft der kapitalistischen Industrialisierung, die Durkheim analysieren will, ist nun nicht einfach von einer Ausbreitung solcher Kooperationsbeziehungen, sondern von der Freisetzung marktförmiger Prozesse und, wie Marx gesagt hätte, ihrer widersprüchlichen Einheit mit einer Ausdehnung hierarchischer innerbetrieblicher Kooperation gekennzeichnet. Durkheim muß deshalb in Widersprüche geraten, wenn er in dieser modernen Gesellschaft eine neue Moral erwartet. Tatsächlich muß er vornehmlich anomische Tendenzen konstatieren, die als Übergangserscheinungen zu deuten eine offensichtliche Ausflucht ist. Durkheims wissenschaftliche Redlichkeit weist die Diskrepanz von Prognose und Tatsachen deutlich auf; er 73 Jean Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt/M. 1973, S. 386. 74 Dieser Gedanke findet sich ausgearbeitet bei Michael Schmid, Arbeitsteilung und Solidarität. Eine Untersuchung zu Emile Durkheims Theorie der sozialen Arbeitsteilung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41 (1989), S. 619-643. 92
verlagert die ungelösten Probleme, wie v. a. Hans-Peter Müller75 zeigt, auf die politische Ebene und verspricht sich vom »reibungslosen Zusammenspiel von Berufsgruppen, demokratischem Staat und individualistischem Ideal« die Erzeugung organischer Solidarität. Die Studie über den Selbstmord demonstriert dann aber erneut die Dramatik der Gegenwartskrise und ihre Lösbarkeit nur über eine neue Moral. 76 Mein dritter Schritt besteht in dem Versuch, die Entstehung von Durkheims reifer Religionstheorie aus dieser Problemlage zu erklären. Meine These lautet hier, daß die Aufgabe der Religionstheorie darin besteht, die Möglichkeit der Stabilisierung und Institutionalisierung einer Kooperationsmoral zu durchdenken. Da Durkheim die internen begrifflichen Schwächen seiner Arbeitsteilungs-Schrift nicht erkennt, sucht er nach Möglichkeiten, die aus sich heraus ausbleibende kollektive Einsicht in die Notwendigkeit der Kooperationsmoral zusätzlich zu fördern und zu stützen. Diesem Zweck dient immer schon die Erziehungstheorie, zunehmend aber auch die Religionstheorie. Diese beiden Gebiete werden über die Frage verknüpft, wie ein Äquivalent für die religiöse Stützung der Moral in der Erziehung gefunden werden kann. Vor allem Ernest Wallwork 77 hat in seinen vorzüglichen Arbeiten darauf hingewiesen, daß Durkheims berühmte religionstheoretische Wende und der von ihm selbst behauptete Einschnitt seines Werks nach der Lektüre von Robertson 75 Hans-Peter Müller, Emile Durkheims politische Soziologie. Manuskript (Heidelberg 1988), S. 13, Veröffentlichung in einem Sonderheft von Quaderni di Sociologia geplant. y6 Auch Durkheims Buch über die »Regeln« - sicher das am meisten nach Positivismus schmeckende seiner Werke - fügt sich in die hier gebotene Interpretation, sobald klar wird, daß Durkheim in ihm ebenfalls sein eigenes Programm verficht und in der Unterscheidung von Normalem und Pathologischem, die breiten Raum einnimmt, die Frage nach der Heilung des Pathologischen durch neue Moral denkt. Auch die Selbstmord-Typologie Durkheims setzt die im Text im folgenden demonstrierte Wende voraus. 77 Ernest Wallwork, Durkheim, Morality and Milieu. Cambridge, Mass. 1972; ders., Durkheim's Early Sociology of Religion, in: Sociological Analysis 46 (1985), S. 201-218. 93
Smith im Jahr 1895 nicht einfach als thematische Zuwendung zum Thema Religion aufgefaßt werden dürfe, da schon die frühesten Schriften Durkheims Religion als soziales Phänomen betonen. Im übrigen entsprach das schon der Theorie seines Lehrers Fustel de Coulanges. Schon im Frühwerk Durkheims wird die Stärke gemeinsamer Überzeugungen mit Transzendenzerfahrungen verknüpft und werden diese wiederum auf Gesellschaftliches zurückgeführt. Bereits die frühe Utilitarismuskritik nimmt Bezug auf religiös legitimierte moralische und rechtliche Verpflichtungen. Die Spezifik dieser Wende muß also näher bestimmt werden. Sie kann auch nicht, wie Steven Lukes annimmt, in der Übernahme der RitualTheorie bestehen, da diese erst Jahre später in den Schriften auftaucht; erst recht nicht in der Idee der kollektiven Efferveszenz. Zwar finden sich immer wieder Verweise Durkheims auf emotionalisierte Kollektivzustände, in eine systematische Bedeutung für seine Theorie aber rücken sie erst noch später ein. Dies ließe sich an einem Vergleich der Studie über primitive Klassifikationssysteme mit dem großen Werk zur Religionstheorie demonstrieren. Wallwork sieht den Einschnitt an anderer Stelle. Er besteht in Durkheims Erkenntnis, daß Religion mehr ist als Moral, ein Wertideal mehr als eine Verpflichtung und Sozialität mehr als Normativität. Im Altruismus-Kapitel des Selbstmord-Buchs kann Durkheim bereits auf diese Seite Bezug nehmen. Schon hier wird deutlich, daß Solidarität nicht nur in der Unterwerfung unter gemeinsame Verpflichtungen, sondern auch in der Bindung an gemeinsame Werte bestehen kann. Die heute wohl weitgehend akzeptierte Deutung der inneren Logik von Durkheims Selbstmord-Typologie setzt diese Unterscheidung ebenfalls voraus. Ganz klar ist sein erziehungstheoretisches Plädoyer, nicht durch die Verweltlichung der Moralerziehung »unter dem Namen einer rationalen Moral nur verarmte und verblaßte Moral übrigzubehalten«, sondern »die rationalen Vertreter dieser religiösen Begriffe (zu) finden, die so lange als Vermittler für die wichtigsten moralischen Ideen gedient haben«.78 Mit dieser 78 Emile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1984, S. 64. 94
Überlegung akzeptiert Durkheim in aller Radikalität die Problemlage, die in Nietzsches Dictum »Gott ist tot« oder in Dostojewskis Angst vor dem Zusammenbruch aller Moral nach dem Wegfall transzendenter Stützen der Moral formuliert wurde. Er glaubt aber zeigen zu können, daß es einen innerweltlichen Ersatz für diese transzendente Stütze geben kann. Damit ist nicht die künstliche Stabilisierung abgelebter Religiosität oder ein bürokratisch verordneter Religionsersatz gemeint. Der ganze Zweck von Durkheims Religionstheorie ist eine empirisch fundierte Theorie religiöser Erfahrung und religiösen Handelns, um eben diese Erfahrungs- und Handlungsweisen unter nicht-religiösen Bedingungen bewahren zu können. Die Wissenschaft von der Moral verwandelt sich deshalb in eine Wissenschaft von der Religion, die aber denselben Status hat: beide sind weder moralisch oder religiös dogmatisch noch indifferent. In der Religionstheorie erhellt Durkheim aber nicht die Weisen, wie Handelnde moralische Verpflichtungen auf Situationen beziehen, sondern die Art, wie Handelnde von Idealen angezogen und über sich selbst hinausgehoben werden und wie diese Ideale selbst dem Handeln entspringen. Die Frage nach der Entstehung einer neuen Moral wird hier zur Frage nach der Entstehung neuer Institutionen. Diese Frage ist insofern umfassender, als Durkheim damit nicht nur obligatorische Regeln, sondern weltkonstitutive Prinzipien meint. Die Religionstheorie will in ihrer reifsten Gestalt vorführen, wie aus dem kollektiven, expressiven und außer-alltäglichen Handeln jene Strukturen entstehen, durch die die Welt kategorisiert, soziale Strukturen erzeugt und Bindungen der Menschen aneinander hervorgebracht werden. Mit ihr ist deshalb der Schritt zu einer Theorie des kreativen Charakters der Sozialität, der Gesellschaft als des Entstehungsgrunds ihrer eigenen Ideale, getan. Moralen und Institutionen werden nicht mehr nur als fixierte Formen aufgefaßt, sondern auf den Prozeß ihrer Herausbildung bezogen. Ebenso wie viele Deutungen von Durkheims Werkentwicklung die frühesten Schriften aussparen, wird das Spätwerk nach der großen Religionstheorie häufig ignoriert. In ihm sind 95
zunächst die Vorlesungen über »Pragmatismus und Soziologie« erwähnenswert. Gleichgültig, worin genau Durkheims Motivlage bei der Wahl dieses Themas bestand: ob er sich, wie Robert Bellah meinte, dagegen wehren wollte, mit diesem verwechselt zu werden, oder ob er, wie ich meine, den Pragmatismus als einzigen ernsthaften Konkurrenten um eine Theorie der sozialen Konstitution der Kategorien anerkannte - diese Vorlesungen passen vorzüglich in das hier entworfene Bild, sind dagegen mit Begriffen wie Idealismus und Positivismus nicht zu erfassen.79 Dies zu zeigen ist mein vierter Schritt. Je mehr Durkheim die weltkonstitutive Rolle der Religion vor Augen hatte, desto wichtiger mußten ihm die kognitiven, den moralischen Regulationen noch zugrundeliegenden Vorgänge des Weltentwurfs werden. Die Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus bot die Chance, seiner eigenen Theorie hier klarere Konturen zu geben und zugleich die alte Strategie weiterzuführen, die Berechtigung der Kritik an »verwundbaren Stellen« seitens eines vermeintlichen Irrationalismus zuzugestehen, diese aber für eine Reformulierung der rationalistischaufklärerischen Tradition zu verwenden. Eine genaue Prüfung seiner Argumentation zeigt aber auch einige Spezifika seiner Theorie der Institutionalisierung, die sich von den Annahmen des Pragmatismus abheben. Durkheim sieht die Entstehung von Institutionen nur im außeralltäglichen, kollektiven, expressiven Handeln. Alle drei Bestimmungen sind keineswegs selbstverständlich. Zunächst einmal lenkt eine solche Theorie den Blick einseitig auf große dramatische Innovationen und nicht auf die langsame Akkumulation von Handlungsfolgen. Dann löst die ausschließliche Betonung der Kreativität expressiven Handelns anders als bei den Pragmatisten den Zusammenhang mit der Kreativität instrumenteilen Handelns, die doch für die Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft zentral ist. In der Religionstheorie wird auch die ausschließliche Betonung des schöpferischen Kollektivs inso79 Vgl. meinen Aufsatz, Durkheim und der Pragmatismus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialspsychologie 37 (1985), S. 411-430 (jetzt auch in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt/M. 1992, S. 66-95). 96
fern problematisch, als das Wechselspiel von Innovator und Kollektiv, das Webers Charisma-Theorie und Meads Wissenschaftskonzeption kennzeichnet, zu kurz kommt. Dies scheint aber dem Gegenstand Totemismus geschuldet zu sein, da Durkheim in anderen Zusammenhängen das innovierende Individuum durchaus kennt. Durch die ausschließliche Behandlung der Außeralltäglichkeit und weil Durkheim zu einer sozialen Konstitutionstheorie ohne eine Konzeption alltäglicher sozialer Interaktion zu kommen versucht, belastet er sein Programm mit Paradoxien und Mängeln. Wenngleich aber mit Simmel oder Mead und gegen den späten Durkheim an der Konstitution von Kategorien und Regeln in teils anthropologisch-universalen, teils historisch-kulturspezifischen Strukturen der sozialen Interaktion festzuhalten ist, läßt sich doch Durkheims These zustimmen, daß umfassende Deutungssysteme nur über Situationen der kollektiven Efferveszenz lebensmächtig werden. Wenn wir uns für die Genese der fundamentalen Institutionen einer Kultur und ihres Weltbilds interessieren, dann sind Durkheims Akzente durchaus berechtigt. Die Argumente Durkheims gegen den Pragmatismus bestehen aber großenteils in einer Betonung der Differenz und Trennbarkeit von Handlung und Bewußtsein. Mit diesen läßt sich zeigen, daß es falsch ist, Durkheim auf dem Wege zum symbolischen Interaktionismus zu sehen 80 oder ihn als Gestalt des Paradigmawechsels »von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln« 81 zu deuten. Habermas subsumiert damit Durkheims Handlungstheorie ebenso vorschnell seiner eigenen wie er mit der Idee einer »Versprachlichung des Sakralen« seine eigene Evolutionstheorie Durkheims Vorstellungen überstülpt. Zwar kann kein Zweifel sein, daß Durkheim etwa auf dem Gebiet des Rechts wirklich von einem Übergehen 80 Gregory Stone und Harvey Farberman, On the Edge of Rapprochement: Was Durkheim Moving Towards the Perspective of Symbolic Interaction?,' in: Sociological Quarterly 8 (1967), S. 149-164. 81 S. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Frankfurt/M. 1981, Bd. 2, S. 69ff.
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eines sakralen Kerns in politische Legitimationsstrukturen ausgeht, aber dies bedeutet noch keineswegs, wie Habermas annimmt, daß begründeter Konsens die sozialintegrativen und expressiven Funktionen ritueller Praxis übernehmen könne. Für Durkheim geht es vielmehr um ein Wechselspiel zwischen Idealen und Institutionen. Nicht das Ideal des Konsensus als solches, sondern nur seine institutionellen Formen können die rituelle Praxis ablösen. Angesichts der Partikularität jeder Lebensform ist aber jede dieser institutionellen Formen selbst jederzeit davon gefährdet, im Lichte des sie legitimierenden Ideals in Frage gestellt zu werden. Dann bricht aber die Frage nach neuen Institutionen oder neuen Fassungen des moralischen Ideals wieder auf. Durkheim denkt nicht an einen linearen Prozeß der Versprachlichung des Sakralen, sondern an die Entstehung neuer Moral und neuer Institutionen, die neue quasi-sakrale Inhalte ausdrücken. Kein Ideal kann sich dem Wechselspiel von Institution und Institutionalisierungsprozeß entziehen. 82 In den Monaten vor seinem Tod arbeitete Durkheim an dem unvollendet gebliebenen Buch »Die Moral«. Einige Sätze aus der Einleitung, die die letzte schriftliche Äußerung Durkheims darstellt, zeigen mit allem Pathos, wie zentral die Frage der Kreativität für Durkheims Moraltheorie und Soziologie insgesamt war.: ».. .jede Moral hat ihr Ideal... Aber über dieses Ideal hinaus gibt es immer andere Ideale, die dabei sind, sich neu zu bilden. Denn das moralische Ideal ist nicht unveränderbar; es lebt, entwickelt und wandelt sich unaufhörlich, trotz der Achtung, von der es umgeben ist. Das Ideal von morgen wird nicht das von heute sein. Ideen, neue Ansprüche tauchen auf, die Veränderungen und sogar tiefgreifende Revolutionen in der vorhandenen Moral bewirken. Die Aufgabe des Moralisten ist es, diese notwendigen Veränderungen vorzubereiten. Da er sich nicht durch die institutionalisierte Moral aufhalten läßt, da er für sich ja das Recht beansprucht, >tabula rasa< zu machen, wenn seine Prinzipien es 82 Robert T. Hall, Emile Durkheim, Ethics and the Sociology of Morals. New York 1987. In diesem Werk werden Durkheims Studien über den Sozialismus und über die Geschichte der Erziehung als Studien auch über die Entstehung neuer Ideale betrachtet. 98
von ihm verlangen, kann er ein völlig eigenständiges Werk schaffen, am Neuen arbeiten. Alle möglichen Strömungen, die die Gesellschaft durchziehen und an denen sich die Geister scheiden, werden durch ihn sich ihrer selbst bewußt und schaffen es schließlich, sich auf reflektierte Art und Weise auszudrücken. Es sind gerade diese Strömungen, die die moralischen Lehren hervorbringen; um jene zu befriedigen, werden diese geboren. Einzig die Zeiten, die moralisch gespalten sind, sind auf dem Gebiet der Moral kreativ. Wenn die traditionelle Moral nicht in Frage gestellt wird, wenn man keine Notwendigkeit verspürt, sie zu erneuern, verkümmert die moralische Reflexion.« 83
1.6 L e b e n s p h i l o s o p h i s c h e Z ü g e bei F e r d i n a n d T ö n n i e s u n d G e o r g Simmel Wie wir heute wissen, hatte Talcott Parsons in einer früheren Fassung der »Structure of Social Action« ein ganzes Kapitel der Auseinandersetzung mit Simmel und Tönnies gewidmet. Die Bezüge zu Simmel wurden in der in Druck gehenden Fassung fast vollständig getilgt. Aus den Ausführungen zu Tönnies wurde der in Kleindruck gesetzte Exkurs über dessen Hauptwerk »Gemeinschaft und Gesellschaft«. 84 Auch wenn aber der ursprüngliche Text veröffentlicht worden wäre, läge damit keine Auseinandersetzung mit diesen beiden frühen deutschen Soziologen vor, die nur annähernd die Tiefe der Analyse von Pareto, Durkheim und Weber durch Parsons erreichte. Während in diesen Teilen methodologische und substantielle Fragen gleiche Aufmerksamkeit genossen, ist Parsons' Interesse an Simmel und Tönnies deutlich eingeschränkt. An Simmel interessieren ihn besonders dessen Versuche zur Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Soziologie. An Tönnies' Typologie von Gemeinschaft und Gesellschaft reizt 83 Emile Durkheim, Einführung in die Moral, in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie. Frankfurt/M. 1986, S. 33-53. 84 SSA, S. 686-694. 99
ihn die Frage, inwiefern der Typus Gemeinschaft mit den Mitteln der voluntaristischen Handlungstheorie angemessen zu erfassen sei. In seinen Reflexionen hierzu berührt Parsons ein weiteres Mal die Frage nach der angemessenen begrifflichen Fassung eines Handelns, das nicht von einer klaren Differenzierung von Zwecken und Mitteln gekennzeichnet ist. In Parsons' späterer Entwicklung wurden Tönnies' Vorgaben wichtig für die Unterscheidung von Orientierungsalternativen des Handelns (»pattern variables«). Zunächst aber blieb seine Kenntnisnahme dieser Autoren recht oberflächlich. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil Parsons damit in einer für die weitere Rezeptionsgeschichte äußerst folgenreichen Weise diese Autoren von ihrem philosophischen und kulturellen Hintergrund ablöste. Noch mehr als für Weber und Durkheim gilt bei Simmel und Tönnies, daß die Rezeption sich auf unmittelbar soziologische Schriften beschränkte, die aber in dieser Isolation kaum angemessen zu verstehen waren. Dieser Hintergrund muß ein wenig aufgehellt werden, wenn nachgewiesen werden soll, daß auch bei diesen beiden soziologischen Klassikern das Thema Kreativität durchaus eine wichtige Rolle spielt.85 Ferdinand Tönnies hat selbst über die große Bedeutung Schopenhauers und Nietzsches für seine Entwicklung verschiedentlich Auskunft gegeben. 86 Der junge Tönnies hatte zu den 85 Für den entsprechenden Nachweis im Werk Vilfredo Paretos sind meine Kenntnisse über diesen Autor nicht gut genug. Ausgangspunkt müßte hier wohl die oft bemerkte Ähnlichkeit zwischen Gedankengängen Paretos und Nietzsches sein. Einen energischen Versuch, Paretos Leistung gegen den mainstream von Weber zu Parsons in der heutigen soziologischen Theorie wieder zur Geltung zu bringen, unternimmt jetzt Alan Sica, Weber, Irrationality and Social Order. Berkeley 1988. - Im Fall der von Parsons vernachlässigten Klassiker der amerikanischen Soziologie genügt der Verweis auf die Bedeutung des Pragmatismus, wenn dieser selbst als eine Theorie der Kreativität verstanden wird. Vgl. dazu Kapitel 2.5 dieses Buches und mein Buch Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt/M. 1992. 86 So in seiner Selbstdarstellung in Raymund Schmidt (Hg.), Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 3. Leipzig 1922, 100
frühen Arbeiten Nietzsches ein geradezu schwärmerisches Verhältnis und kam über diese vermittelt zum Studium Schopenhauers. Die Attraktivität Nietzsches für eine ganze Generation bestand dabei - in Tönnies' Worten - darin, daß dessen Schriften für die jungen Leser »ein Evangelium der schaffenden Kraft, einen Appell ans Genie, eine entzückende Schmähung bornierter Autoritäten und konventioneller Meinungen«87 darstellten. Dieser Satz entstammt freilich Tönnies' buchlanger Abrechnung mit dem Nietzsche-Kult, dem er durchaus selbst nahegestanden hatte. Man vergißt diese Nähe leicht, weil Tönnies' wichtigste Ambitionen selbstverständlich pro-wissenschaftlich, aufklärerisch und sozialreformerisch waren. Ebensowenig wie bei Durkheim bedeutete dies aber bei Tönnies eine schiere Ahnungslosigkeit oder völlige Ablehnung gegenüber den kultur- und rationalitätskritischen Motiven des »fin de siecle«. Von den entstehenden Sozialwissenschaften versprach sich Tönnies eine synthetisierende Leistung, die von den in Mode befindlichen irrationalistischen Lebensphilosophen allerdings nicht zu erwarten war. Dies gab ihm auch das Selbstbewußtsein, sowohl gegen Schopenhauers Unfähigkeit zur Auseinandersetzung mit einer der wichtigsten wissenschaftlichen Neuerungen des 19. Jahrhunderts, der Evolutionstheorie, wie gegen die in Nietzsches Kritik der M o ral aufscheinende »tiefste sozialwissenschaftliche Unwissenheit« 88 polemisch zu Felde zu ziehen. Das war aber kein vulgärpositivistisches Unverständnis gegenüber der Philosophie. Die ganze Anlage seines Hauptwerkes blieb ja insofern von Schopenhauer geprägt, als die bloße Idee, Grundformen des Sozialen auf Grundformen des Willens zurückzuführen, S. 199-234; im Vorwort zu: Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Leipzig 1897. Über die Bedeutung Nietzsches für Tönnies vgl. auch die kontroversen Beiträge von Zander und Alwast: Jürgen Zander, Ferdinand Tönnies und Friedrich Nietzsche, in: Lars Clausen/Franz Urban Pappi (Hg.), Ankunft bei Tönnies. Kiel 1981, S. 185-227; Jendris Alwast, Die Wertung der Philosophie Nietzsches bei Tönnies, ebd. S. 228-240. 87 Tönnies, Nietzsche-Kultus, a.a.O., S. 10. 88 ebd., S. 102. 101
nur in diesem Zusammenhang verständlich wird. Mit Schopenhauers metaphysischem Begriff des Willens wollte Tönnies selbstverständlich nicht identifiziert werden; aber schon Nietzsche hatte ja damit begonnen, Schopenhauer nicht so sehr als Metaphysiker denn als Psychologen zu lesen. Wichtiger noch als der biographisch aufweisbare Einfluß und die begriffliche Abhängigkeit des Tönniesschen Hauptwerks von der Proto-Lebensphilosophie 89 scheint mir zu sein, daß sich aus dieser Quelle auch die Andeutungen nähren, die Tönnies in Richtung auf ein Drittes jenseits des Dualismus von Gemeinschaft und Gesellschaft, von Wesenwillen und Kürwillen macht. Der vierunddreißigste Paragraph des willentheoretischen Teils etwa stellt nicht nur die beiden Willenstypen in ihrem Bezug auf die Rollen der Geschlechter einander gegenüber, sondern nimmt einen Persönlichkeitstypus in den Blick, der den Dualismus überwindet. Für diesen Typus stellt sich prompt der Begriff des »Genies« ein: »Genie, der geistige Wille, hat an beiden Charakteren einen gleichmäßigen Anteil; im weiblichen Wesen beruhend, vollendet er sich im männlichen: er ist soviel inneres, dunkles, passives, als äußeres, helles, aktives Leben und Denken.« 90 So altväterlich Tönnies' Sprache ist, das Gemeinte ist höchst modern. Auch auf der Ebene der beiden Typen von Sozialität deutet Tönnies gelegentlich an, daß die Entstehung neuer Gemeinschaften möglich sei und damit - etwa durch die Verstärkung genossenschaftlicher Elemente in der modernen »Gesellschaft« - der geschichtliche Trend des Gemeinschaftsverlusts sehr wohl zu durchbrechen sei. Auch für diese Entstehung neuer Gemeinschaften greift Tönnies auf das Gedankengut einer Kreativitätstradition zurück. In einem Brief an Harald Höffding betonte er, »daß ein freier Zusammenschluß zu gegenwärtiger, wie an jeder Zeit, auch wahre und vollkommene Gemeinschaft, ja die höchste Form der Gemeinschaft, begründen könne - wenn die Gemü89 Vgl. auch Cornelius Bickel, Ferdinand Tönnies' Weg in die Soziologie, in: Otthein Ramstedt (Hg.), Simmel und die frühen Soziologen. Frankfurt/M. 1988, S. 86-162. 90 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt 1972 (ursprünglich 1887), S. 151. 102
ter gehörig dazu beschaffen, und mit Anspannung der Kräfte darauf gerichtet sind. Dies ist eine Art von Zeugungsakt - wie das künstlerische Schaffen«.91 Bei Georg Simmel ist Parsons' ausschließliche Konzentration auf die unmittelbar soziologischen Schriften noch weniger zu rechtfertigen als bei Tönnies. Auf die deutsche Soziologie zu Simmeis Zeit ging vermutlich von seinen philosophisch-kulturdiagnostischen Arbeiten tieferer Einfluß aus als von den als soziologisch bezeichneten. Schon ab Mitte der neunziger Jahre begann Simmeis Abwendung von den wissenschaftlichen Strömungen, die ihn zunächst geprägt hatten, und die Zuwendung zu Nietzsches Philosophie. 92 Später kamen die Impulse aus der Lebensphilosophie Henri Bergsons hinzu, deren Bedeutung er sogar noch während des Ersten Weltkriegs verteidigte, als ein solch lobendes Wort für den geistigen Repräsentanten eines Kriegsgegners ausgesprochen inopportun geworden war. 93 Glänzendes Zeugnis von Simmeis Beschäftigung mit der Lebensphilosophie ist sein Buch »Schopenhauer und Nietzsche« von 1907.94 Simmeis Kulturdiagnose ergibt sich aus der Konfrontation einer Theorie der Differenzierung und geldwirtschaftlich induzierten Rationalisierung mit einem lebensphilosophisch gestützten Anspruch des Individuums auf schöpferische Entfaltung. Immer mehr wird der anfangs abstrakt-erkenntnistheoretisch gebrauchte Begriff der Form selbst lebensphilosophisch aufgeladen. In eigenen Büchern 91 Briefwechsel Tönnies/Höffding, S. 40, hier zitiert nach Rolf Fechner, »Der Wesenwille selbst ist künstlerischer Geist«. Ferdinand Tönnies' Geniebegriff und seine Bedeutung für den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft, in: Lars Clausen/Carsten Schlüter (Hg.), Hundert Jahre »Gemeinschaft und Gesellschaft«. Opladen 1992, S. 453-462. 92 Die beste Studie hierzu ist Klaus Lichtblau, Das »Pathos der Distanz«. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel, in: Heinz-Jürgen Dahme/Otthein Ramstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Frankfurt/M. 1984, S. 231-281. 93 Georg Simmel, Bergson und der deutsche »Zynismus«, in: Internationale Monatsschrift für Kritik, Wissenschaft und Technik 9 (1914), S. 197-200.
94 Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Berlin 1907. 103
setzt sich Simmel mit großen schöpferischen Individuen wie Michelangelo und Rembrandt auseinander. Das Pathos des Schöpferischen, ja selbst die Lieblingsbeispiele Shakespeare und Straßburger Münster klingen hier, als würde direkt an den Sturm und Drang des jungen Goethe und des jungen Herder angeknüpft. Doch darf dies nicht verdecken, daß Simmeis Sicht auf die Moderne eher tragisch war. Der ewige Konflikt zwischen pulsierendem Leben und erstarrender Form wird in der Moderne, so Simmel, zu einem »Kampf des Lebens gegen die Form überhaupt, gegen das Prinzip der Form« gesteigert. »Und dies kann sich schließlich zu einer Gesamtnot der Kultur akkumulieren, in der das Leben die Form als solche wie etwas ihm Aufgedrungenes empfindet, die Form überhaupt, nicht nur diese und jene durchbrechen und in seine Unmittelbarkeit aufsaugen will, um sich selbst an ihre Stelle zu setzen, seine eigene Kraft und Fülle so und nur so strömen zu lassen, wie sie eben aus seiner Quelle bricht, bis alle Erkenntnisse, Werte und Gebilde nur noch als seine umweglosen Offenbarungen gelten können.« 95 Eine Fülle moderner Kulturerscheinungen - von der expressionistischen Kunst bis zur pragmatistischen Philosophie - deutet Simmel aus diesem Kampf gegen das Prinzip der Form. Entscheidend ist an dieser Stelle, daß der wertende und sensibilisierende Punkt, von dem aus Simmel die Rationalisierungs- und Differenzierungstendenzen der Moderne analysiert, hier in gedanklichen Versuchen zur Erfassung des Schöpferischen liegt. Für alle von Parsons analysierten soziologischen Autoren, selbst noch für den in der endgültigen Fassung der »Structure of Social Action« nicht mehr berücksichtigten Georg Simmel, gilt demnach, daß das Schema von »Utilitarismus versus N o r mativität« nicht hinreicht, um ihr Denken auf den Begriff zu bringen. Es mag für ihr Verhältnis zur ökonomischen Theorie klärend sein, nicht aber ist es hilfreich für ihr Verhältnis zur Philosophie. Parsons hat verkannt, daß die Klassiker der Soziologie die neue Disziplin nicht einfach auf überbrachten 95 Georg Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur (1918), in: ders., Das individuelle Gesetz. Frankfurt/M. 1968, S. 148-173, hier S. 150. 104
philosophischen Fundamenten zu errichten versuchten. Die Soziologie war selbst ein philosophisches Projekt. Für sie spielten Vorstellungen über die Kreativität des menschlichen Handelns durchaus eine konstitutive Rolle. 96 In keinem Fall aber gelang es den von Parsons behandelten Denkern, ihre kreativitätstheoretischen Gedanken bruchlos in ihr Werk zu integrieren. Einer der Gründe dafür mag in der unzureichenden Klarheit dieser Kreativitätstheorie selbst gelegen haben. Es ist nun in einem nächsten Schritt zu fragen, welche Grundtypen der Kreativitätstheorie die Geistesgeschichte hervorgebracht hat und was wir aus deren Leistungen und Mängeln für die Handlungstheorie lernen können.
96 Auch die philologisch schwerer nachzuweisende, aber gar nicht zu übersehende Bedeutung Nietzsches für Weber wurde in den letzten Jahren von einer Reihe von Autoren herausgearbeitet (z. B. Hennis, a. a. O.; Georg Stauth/Bryan Turner, Nietzsche in Weber oder die Geburt des modernen Genius im professionellen Menschen, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 81-94; schon früh: Eugene Fleischmann, De Weber ä Nietzsche, in: Archives europeennes de sociologie 5 (1964), S. 190-238). 105
KAPITEL 2
Metaphern der Kreativität Die Randstellung der Kreativitätsthematik in der Soziologie und insbesondere in den für die Soziologie konstitutiven Vorstellungen über das menschliche Handeln ist keineswegs repräsentativ für die geistesgeschichtlichen Strömungen der letzten zwei Jahrhunderte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wird vielmehr die Idee von den kreativen Möglichkeiten menschlichen Handelns selbst zum Ausgangspunkt wesentlicher denkerischer Innovationen. Jede dieser Innovationen hat freilich ihre eigenen immanenten Probleme, unbeabsichtigten Folgewirkungen und unbewältigbaren Defizite. Es wird in diesem Kapitel nicht um eine zusammenhängende Geschichte der Idee der Kreativität gehen, sondern um einen typologisierenden Versuch, die wichtigsten Formen zu charakterisieren, in denen die Idee der Kreativität auftauchte und einflußreich wurde. Die hierbei verwendeten Begriffe wurden nur selten in klarer und deutlicher Weise definitorisch eingeführt; es handelte sich meist um tastende Versuche, einen aus der Selbsterfahrung bekannten Bereich von Phänomenen theoretisch zu artikulieren. Diese Artikulation verfährt nicht mit der emotionslosen Sachlichkeit reinen Denkens, sondern bleibt selbst oft bildhaft und umschreibend, ist dabei aber meist enthusiastisch im Ton. Ich spreche deshalb nicht von Begriffen oder Modellen der Kreativität, sondern von Metaphern. Der U m gang mit Metaphern erfordert andere Fähigkeiten als der mit wissenschaftlichen Begriffen. Er setzt zumindest die Bereitschaft voraus, das tastend umschriebene Phänomen als wirklich erfahrbar hinzunehmen. Aus der Zeit zwischen 1750 und 1850 scheinen mir drei solche Metaphern am wichtigsten zu sein; jede von ihnen wird anhand des Werkes eines Autors zu untersuchen sein, für dessen Vorstellungen über das Handeln diese Metapher wesentlich war. Es geht dabei um die Idee des Ausdrucks bei Johann Gottfried Herder und um die Ideen der Produktion und der 106
Revolution bei Karl Marx. So verwickelt die Wirkungsgeschichte dieser drei Ideen ist, sie scheinen mir doch nicht nur eine willkürliche Auswahl aus den vorhandenen Ideen über Kreativität darzustellen. In jeder von ihnen schlägt sich vielmehr ein Versuch nieder, menschliche Kreativität in zumindest einer der drei Weisen des Weltbezugs 1 zu verankern. Die Idee des Ausdrtic^Tv^scKreibt "die Kreativität vornehmlich hinsichtlich der subjektiven Welt des Handelnden. Die Idee der Produktion bezieht die Kreativität auf die objektive Welt, die Welt materieller Gegenstände als der Bedingungen und Mittel des Handelns. Die Idee der Revolution schließlich unterstellt die Möglichkeit menschlicher Kreativität hinsichtlich der sozialen Welt, nämlich die fundamentale Umgestaltung der das menschliche Zusammenleben regulierenden gesellschaftlichen Institutionen. Keine dieser drei Ideen aber verwurzelt die Kreativität in einem alle drei Weltbezüge umfassenden Sinn. Jede von ihnen ist deshalb davon gefährdet, den von ihr herauspräparierten Typus fälschlich zu verallgemeinern. Versuche, alles menschliche Handeln als ausdruckshaft, produktiv oder revolutionierend zu verstehen, können darum theoretisch nie ganz befriedigen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen Versuche, die Kreativität tiefer anzusetzen als in einem einzigen Typus menschlichen Handelns, der offensichtlich nicht alles Handeln umfassen kann. Die beiden wichtigsten Versuche hierzu sehe ich in der - freilich auf die frühen Anregungen Schopenhauers zurückgehenden - europäischen Lebensphilosophie und im amerikanischen Pragmatismus. Die Redeweise »das Leben« in der Lebensphilosophie und der Begriff der Intelligenz im Pragmatismus zielen in unterschiedlicher Weise darauf, Kreativität zu erfassen. Die Differenz dieser beiden Versuche scheint mir in der heutigen geistigen Situation von zentraler Bedeutung zu sein. Es geht hier darum, ob der Nexus zwischen Kreativität und Handeln gewahrt bleibt. Die Metapher des »Lebens« kann nämlich 1 Ich lehne mich hier an die von Jürgen Habermas in lockerer Anknüpfung an Popper u.a. ausgearbeitete Unterscheidung an. Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. i98i,Bd. 1, S. ii4ff. 107
auch dazu führen, Kreativität gewissermaßen zu tief anzusetzen, tiefer als das menschliche Handeln. Dann wird es nötig, nicht nur auf der Kreativität des Handelns gegenüber utilitaristischen und normativistischen Reduktionismen zu bestehen, sondern auch auf der Kreativität des Handelns gegenüber der Lebensphilosophie. Die Entwicklung der soziologischen Theorie verlief natürlich keineswegs isoliert von den hier genannten geistesgeschichtlichen Strömungen. Die Bedeutung der Lebensphilosophie für die europäischen Klassiker der Soziologie und die Bedeutung des Pragmatismus für die Begründer der amerikanischen Soziologie in der Chicagoer Schule läßt sich kaum überschätzen. Das Denken von Karl Marx war zumindest für die frühen deutschen Soziologen von eminenter Bedeutung, wie kritisch sie auch immer diesem gegenüberstehen mochten. Und Herders Idee des Ausdrucks wirkt sich nicht nur auf den deutschen Idealismus der Goethe-Zeit aus, sondern wird entscheidend für Diltheys Versuche einer hermeneutischen Theorie der Geisteswissenschaften und für die Bewegung einer »Philosophischen Anthropologie« in Deutschland, wiederum zwei geistige Zusammenhänge, von denen die deutsche Soziologie abzulösen unmöglich ist. Die hier verfochtene Behauptung lautet deshalb nicht, die Soziologie müsse für diese Denkrichtungen erst geöffnet werden. Es geht vielmehr darum, die für das Selbstverständnis der Soziologie entscheidende Konzeption des Handelns so umzubauen, daß diese nicht länger auf die Alternative von Modellen des rationalen versus des normativ orientierten Handelns beschränkt bleibt, sondern in ihrem begrifflichen Aufbau der kreativen Dimension menschlichen Handelns und damit auch den intellektuellen Strömungen gerecht wird, die diese Dimension in den Mittelpunkt stellen. Jedem solchen Versuch stehen Vorbehalte entgegen. Der Begriff der Kreativität, ins Deutsche erst nach dem Zweiten Weltkrieg aus der psychologischen Fachsprache Amerikas gekommen, gilt heute als Modewort. In der Sprache der Werbung und vor allem der Freizeitkultur ist er zum Slogan für Betätigungen geworden, die dem Stress der Berufstätigkeit 108
oder der Leere des Hausfrauendaseins kompensatorisch entgegengesetzt werden. Der Begriff erfährt dabei eine Einengung auf trivial-ästhetische Tätigkeiten in der Privatsphäre (exemplarisch das Töpfern). Neokonservative Autoren von Niklas Luhmann bis Allan Bloom verspotten den massenhaften Anspruch auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung über »Kreativität« als lächerliche Demokratisierung der Genie-Ideologie. 2 Dabei läge es wohl näher, die Genie-Ideologie als undemokratische Verzerrung der Idee der Kreativität zu deuten. Der modische Charakter des Wortes »Kreativität« stellt aber die niedrigere Hürde für eine ernsthafte Beschäftigung mit dem gemeinten Phänomen dar. Noch hinderlicher ist die vor allem in Deutschland verbreitete Angst, mit der Betonung des Schöpferischen werde an die schlechtesten Seiten deutscher Tradition angeknüpft: an Aufklärungsfeindschaft und Irrationalismus, die angeblich von den Pseudogenies der Sturm-und-Drang-Generation über Nietzsches Hochmut gegenüber den Durchschnittsmenschen bis zum tiefsten Punkt, dem Führerkult des Dritten Reiches, führe. Nicht weniger politisch und moralisch kompromittiert scheint die auf Marx zurückgehende Betonung menschlichen Schöpfertums in Produktion oder Revolution zu sein; von dieser scheint ein theoretischer Zwang auszugehen, ein die ganze Gesellschaft durchherrschendes Makrosubjekt mit kreativen Qualitäten auszustatten und damit der totalitären Parteidiktatur ein geschichtsphilosophisch gutes Gewissen zu verschaffen. Mit der Betonung der Kreativität könnte also eine Pandorabüchse geöffnet werden, die zugunsten von Rationalität und Aufklärung besser verschlossen bliebe. Von dieser in Deutschland wahrlich nicht grundlosen Berührungsangst befreit ein Blick in die Geistesgeschichte der angelsächsischen Welt. In dieser ist die Opposition zwischen Rationalität und Kreativität niemals so schroff gewesen wie in Deutschland. Die Idee der »creative imagination«, der »schöpferischen Einbildungskraft«, entwickelte sich dort im Rahmen eines Netzwerks 2 Niklas Luhmann, Vom Zufall verwöhnt. Eine Rede über Kreativität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.6.1987. - Allan Bloom, The Closing of the American Mind. New York 1987, S. i8off. 109
aufklärerischer Begriffe und einer frühen empirischen Psychologie. 3 Die in Deutschland später so charakteristische Einengung des Kreativen auf den ästhetischen Bereich fand hier nicht oder doch viel weniger statt; Newton konnte als Paradigma des Genies gleichberechtigt neben Shakespeare stehen. 4 So ist es wohl auch kein Wunder, daß die Wiederentdeckung Herders, dessen Denken durch das Wohlwollen der Nationalsozialisten für ihn in Deutschland an Ansehen verloren hatte, wesentlich von angelsächsischen Philosophen (Isaiah Berlin, Charles Taylor) 5 ausging. Auch im Marxismus gab und gibt es eine Vielzahl von Versuchen, das Pathos menschlicher Kreativität in Marx' Theorie in demokratischem, anti-leninistischem und anti-stalinistischem Geiste zu retten. Diese wurden vornehmlich von intellektuellen Dissidenten in den osteuropäischen Ländern, aber auch im französischen und italienischen Marxismus entwickelt. Im Falle der Lebensphilosophie schließlich kann wieder ein Blick auf die unleugbaren Parallelen mit dem Pragmatismus Amerikas vor einem zu raschen Verwerfungsurteil bewahren. Trotz aller Gründe für Skepsis ist deshalb das letzte Urteil über die Kraft der Kreativitätsidee noch nicht gesprochen. Es könnte ja sein, daß in ihr ein Potential für das Verständnis allen menschlichen Handelns enthalten ist, das keines der alternativen Handlungsmodelle ersetzen kann. Eine umfassende Geschichte der Kreativitäts-Idee dürfte nicht erst im 18. Jahrhundert ansetzen und müßte sogar weit jenseits 3 James Engeil spricht von einer Selbsttransformation der Aufklärung »from an age of reason to an age of Imagination« und nicht von einer romantischen Gegenaufklärung: James Engell, The Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism. Cambridge, Mass. 1981. Raymond Williams beginnt seine einschlägige Abhandlung gar mit dem Satz: »No word in English carries a more consistently positive reference than >creative<« (R.W., The Long Revolution. New York 1961, S. 3). 4 Bernhard Fabian, Der Naturwissenschaftler als Originalgenie, in: Hugo Friedrich/Fritz Schalk (Hg.), Europäische Aufklärung. Festschrift für Herbert Dieckmann. München 1967, S. 47-68. 5 Isaiah Berlin, Vico and Herder. London 1976.- Charles Taylor, Hegel. Frankfurt/M. 1978, Teil 1.
der Renaissance beginnen, in der die antike Idee einer göttlichen Inspiration wiederbelebt wurde und damit das Selbstgefühl schöpferisch Tätiger eine neue stolze Ausdrucksmöglichkeit erhielt. 6 Der Beginn einer solchen Geschichte müßte wohl bei den ältesten bekannten Schöpfungsmythen liegen, wenn wir annehmen dürfen, daß sich in diesen menschliche Erfahrungen über die Entstehung und die Erschaffung von Neuem artikulieren. Sexuelle Zeugung, bäuerliche Hegung, handwerkliche Fertigung und kämpferische Besiegung stellen hier die typischen Erfahrungshintergründe dar, mit deren Hilfe die Frage nach dem Ursprung des Kosmos oder der einzelnen Wesenheiten beantwortet wird. Dabei variieren zwischen den Schöpfungsmythen nicht nur die zugrundegelegten Handlungstypen, sondern auch die Antworten auf die Frage nach der Zahl der Schöpfer und nach dem Ausgangspunkt der Schöpfung. Für die Geistesgeschichte Europas und Amerikas ist natürlich die christliche Antwort einer »creatio ex nihilo«, einer Erschaffung der Welt aus dem Nichts durch den einen und einzigen Schöpfergott, entscheidend geworden. Diese christliche Tradition ist aber während ihrer ganzen Geschichte durchwirkt von der durchaus anders gelagerten, antik-griechischen Tradition, in der einerseits mit der Vorstellung vom »Demiurgen« ein an ewigen Ideen ausgerichtetes und den selbst nicht geschaffenen, sondern schon vorgefundenen Stoff umformendes Handeln gedacht wird und andererseits eine Fülle von Erfahrungen lebendig bleibt, die das Schaffen nicht als wohlgeordneten, sondern konflikthaft-gefährlichen Vor6 Als Versuche in dieser Richtung seien erwähnt: Vinzenz Rüfner, Homo secundus Deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 63 (1955), S. 248-291; Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffs. Tübingen 1926; ders., Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal mit einer historischen Begründung. Wien und Leipzig 1918 (Nachdruck Frankfurt/M. 1990); John Hope Mason, The Character of Creativity: Two Traditions, in: History of European Ideas 9 (1988), S. 697-715; ders., Thinking about genius in the i8th Century, unveröff. Mskr., London 1990.
gang zeigen. Die Bedrohlichkeit dieser Vorstellungen und die offensichtliche Gefährdung des christlichen Monotheismus durch die Idee schöpferischer Neben- oder Untergötter haben wohl einen eigentlichen Kreativitätsdiskurs im Mittelalter unterbunden. Dieser beginnt in der frühen Renaissance wieder und bezieht sich jetzt erstmals auf die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen selbst. Der Dichter und der Künstler, aber ebenso der Mathematiker und der Erfinder werden zu Prototypen einer aktiven Erzeugung von Neuem durch den Menschen. Damit wird das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Schöpfertum, von unendlichem und endlichem Schöpfertum zum zentralen denkerischen Problem und verliert die scheinbare Klarheit, die es für das Mittelalter besaß. Die Ideen der italienischen Renaissance werden dann - ähnlich wie dies für die Tradition des Republikanismus in der politischen Philosophie behauptet wurde 7 - vor allem in England weitergedacht. Die großartigen Fortschritte der experimentellen Naturwissenschaften und die unbestreitbare Erweiterung der bekannten Welt durch kühne Entdecker verstärken das Gefühl, nicht nur im Rahmen einer ein für allemal gesetzten Schöpfung zu agieren, sondern diese selbst durch eigene Taten verändern zu können. Auch in der Dichtung muß es sich deshalb nicht mehr um die wie auch immer idealisierende Nachahmung der Natur handeln, sondern um die Erzeugung neuer Werke durch den Menschen als einen »zweiten Gott«. Ohne selbst atheistisch oder anti-christlich gemeint zu sein, konnte die Rede vom schöpferischen Charakter etwa des menschlichen Schreibens und Dichtens noch im Deutschland des 18. Jahrhunderts als blasphemisch empfunden werden - wurden doch hier dem Menschen Fähigkeiten zugeschrieben, die ein Christ nur in Gott erkennen konnte. 8 Das Geschöpf zugleich als Schöpfer zu denken war deshalb ein Gedanke von unerhörter Kühnheit. Dies nicht nur für einige »Originalgenies« zu tun, herausragende Wissenschaftler und Künstler, 7 J.G.A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 19758 Rüfner, a.a.O., S. 280.
sondern die Geschöpflichkeit des Menschen - aller Menschen und des ganzen Menschen - im Zeichen des Schöpferischen zu deuten, ging aber auch noch darüber hinaus. Eben diesen Schritt tat Johann Gottfried Herder in seiner Theorie des Ausdrucks. 2.1 A u s d r u c k Vom »Ausdruck« zu sprechen, gehört durchaus zur alltäglichen Sprache. Vor aller Definition verstehen wir dieses Wort und wenden es an. »Ausdruck« ist selbst ein Ausdruck unserer Sprache; wir wissen aber sehr wohl, daß es über solch sprachlichen Ausdruck hinaus noch viele andere Arten des Ausdrucks gibt, etwa den Ausdruck eines Gesichts oder einer Körperhaltung. Im Ausdruck - denken wir - kommt etwas Inneres nach außen und wird bemerkbar; so erlaubt uns der Ausdruck einen Rückschluß auf das Innere. Aber »innen« und »außen« sind für das menschliche Handeln nur Metaphern. Wir meinen mit dem Inneren des Menschen ja nicht wirklich eine Innenseite, die auch direkt durch eine Öffnung des Körpers statt nur indirekt über den Ausdruck erreichbar wäre. Was immer es ist, was im Ausdruck zum Vorschein kommt, die Beziehung zwischen diesem und dem Ausdruck scheint von besonderer Art zu sein. Denn in der Umgangssprache bezeichnen wir nicht jeden Verweis auf Unsichtbares als Ausdruck. Wir sprechen von Ausdruck in der Regel nur unter Bezug auf lebendige Wesen und ihre Werke. Nicht alles an diesen Wesen und ihren Werken aber hat Ausdruckscharakter, und wir wissen intuitiv, daß ein Satz oder eine Geste etwas besser oder schlechter ausgedrückt hat. Wir suchen oft nach einem besseren Ausdruck und wir können sogar anderen bei ihrer Suche behilflich sein. 9 In der heutigen handlungstheoretischen Diskussion wird das Phänomen des Ausdrucks oft 9 Charles Taylor, Action as Expression, in: Cora Diamond/Jenny Teichman (eds.), Intention and Intentionality. Essays in Honour of Gertrude E.M. Anscombe. Brighton 1979, S. 73-89. Vor allem Charles Taylor hat die Anregungen von Isaiah Berlin aufgenommen und von einer mit Herder beginnenden »expressivistischen« Tradi113
schon zu Beginn so eingeengt, daß es seine Widerspenstigkeit gegenüber der Begrifflichkeit einer spezifischen Handlungstheorie verliert. In der Theorie des rationalen Handelns ist vom Handeln als Ausdruck überhaupt nicht die Rede; wenn das Handeln als Ausdruck von Interessen bezeichnet wird, dann verliert der Begriff jede Trennschärfe, da genausogut von der Verfolgung von Interessen gesprochen werden könnte. In Parsons* normativ orientierter Handlungstheorie wird richtig erkannt, daß das Ausdrucksmodell eine Alternative zum Zweck-Mittel-Schema des Handelns darstellt. Die Beschäftigung mit dieser Alternative blieb aber immer am Rande von Parsons' Interesse; in der »Structure of Social Action« trat das Modell des Ausdrucks als Quintessenz der klassischen deutschen Philosophie auf. Parsons verstand es hier aber im Sinne eines Emanationismus als Ausdruck überpersonaler Ganzheiten im individuellen Handeln und nicht in der Weise, in der es vor Hegel entwickelt wurde. In Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns ist der Ausdruck als ein Aspekt der Sprache enthalten. So richtig dies ist, kann es doch nicht befriedigen, da wir ja nicht die Frage präjudizieren dürfen, ob denn alles Handeln nach dem Modell der Sprache gedacht werden darf und wir dementsprechend den Ausdruckscharakter des Gesichts oder einer Wohnungseinrichtung oder eines handwerklichen Produkts als Vorform oder bloße Entsprechung zum sprachlichen Ausdruck deuten dürfen. Es könnte ja sein, daß wir die Sprache als eine Form des Ausdrucks und nicht einfach den Ausdruck als einen Aspekt der Sprache zu betrachten haben, wenn wir das menschliche Handeln in der Fülle seiner Phänomene ernstnehmen wollen. tion gesprochen. Er rekonstruiert damit nicht nur einen wesentlichen Ausgangspunkt Hegels und der ganzen klassischen deutschen Philosophie, sondern verteidigt auch die darin enthaltene Sprachtheorie der »3 H« (Hamann, Herder, Humboldt) mit sprachanalytischen Mitteln. Vgl. die Aufsätze »Language and Human Nature« und »Theories of Meaning« in: ders., Philosophical Papers, Bd. i. Cambridge 1985, S. 215-247 und S. 248-292; und zuletzt: The Importance of Herder, in: Edna and Avishai Margalit (eds.), Isaiah Berlin. A Celebration. Chicago 1991, S. 40-63. 114
Herders Denken ist in unübertroffener Vielfalt der Aspekte um den Ausdruckscharakter menschlichen Handelns bemüht. Von dieser Bemühung her ist die Einheit seines Denkens verständlich, das sich auf eine Vielzahl von Fragestellungen bezog. Herder gilt aus gutem Grund als Vater der modernen Anthropologie, des Historismus, der Romantik und eines kulturellen (nicht politischen) Nationalismus, als »deutscher Rousseau« und als Inspirator aufklärungskritischer Motive im Kontext der deutschen Aufklärung. Ohne die Einsicht in das verbindende Motiv seines Denkens muß Herders Werk freilich als wirre Ansammlung unausgereifter Ideen erscheinen, das mit den großen Systembauten der deutschen Philosophie nicht wetteifern kann. Herders Sprachtheorie erlaubt den leichtesten Zugang zu diesem einheitsstiftenden Kern. Im Jahre 1769 versuchte die Berliner Akademie der Wissenschaften, eine zwischen ihren Mitgliedern entstandene Streitfrage über den göttlichen oder menschlichen Ursprung der Sprache durch ein Preisausschreiben einer Lösung näherzubringen. Die von Herder zur Beantwortung der Preisfrage vorgelegte Schrift10 schloß sich keiner der kontroversen Positionen an, sondern trug eine eigene Lösung vor, die man wohl als epochalen Neuansatz bezeichnen darf. Herder gewann den Preis; seine Schrift über den Ursprung der Sprache wurde 1772 veröffentlicht. Wenig überraschend ist im Zusammenhang aufklärerischen Denkens, daß Herder die Annahme vom göttlichen Ursprung der menschlichen Sprache ablehnt. Die für diese Auffassung vorgetragenen Argumente bezogen sich hauptsächlich auf die logischen Strukturen in der Grammatik menschlicher Sprachen und sogar auf das Wunder, daß sich die Laute aller Sprachen auf eine geringe Anzahl immergleicher Buchstaben bringen ließen. In der Widerlegung dieser Behauptungen hatte Herder natürlich leichtes Spiel. Er bestritt die Gültigkeit der erhobenen Tatsachenbehauptungen und machte darauf aufmerksam, daß in den ältesten Sprachen nicht etwa eine perfekte logische Struktur zu entdecken sei, wie es ja 10 Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin 1772. (Ich zitiere Herder nach der fünfbändigen Ausgabe Berlin/Weimar 1982, hier Bd. 2, S. 89-200.) 115
wohl sein müsse, wenn diese dem göttlichen Ursprung am nächsten stünden. Das Argument schließlich, Sprache könne nicht menschlichen Ursprungs sein, da zur Erfindung der Sprache bereits Vernunft gehörte, die aber selbst wiederum Sprache voraussetze, dreht Herder um: Gott könne den Menschen Sprache nicht geschenkt haben, wenn diese nicht von selbst schon zum eigenen Gebrauch der Vernunft und zur Findung der Sprache prädisponiert gewesen seien. - Schwieriger zu widerlegen ist die typisch aufklärerische Behauptung eines menschlichen Ursprungs der Sprache im Sinne einer absichtlichen Erfindung eines Werkzeugs oder einer bewußt eingegangenen Konvention der Menschen. Herder rechnet zu dieser Position auch solche Denker, die streng genommen einen tierischen Ursprung der Sprache behaupten, wenn für sie der Übergang von einem Naturzustand in einen Zustand menschlicher Gesellschaftlichkeit mit einer bewußten Verabredung zur Sprache zusammenfällt. Herder polemisiert insbesondere gegen die Hypothese Condillacs, der die Entstehung der Sprache gedankenexperimentell aus dem Umgang zweier Kinder in einer Wüste herleiten will. Diese Kinder, so Condillac, lernten schrittweise, mit dem Geschrei bestimmter Empfindungen einen bestimmten Gedanken zu verbinden und dieses dann als Zeichen immer wieder hervorzubringen. Aber Herder sieht in dieser angeblichen Erklärung nur eine sinnlose Verschiebung des Problems. Alle Tiere verfügten ja über das »Geschrei der Empfindungen«; dennoch entwickle keines die menschliche Sprache. Keinerlei interne Verfeinerung dieses Geschreis hebe über die Schwelle zur menschlichen Sprache hinüber. Die konventionalistische Sprachursprungstheorie kann bestenfalls das Erlernen des einzelnen sprachlichen Zeichens bei vorausgesetzter Sprachfähigkeit erklären, keinesfalls aber die Entstehung dieser Sprachfähigkeit oder der Sprache selbst. Implizit wird damit nicht nur in der speziellen Frage des Ursprungs der Sprache, sondern auch in der für die neuzeitliche Sozialphilosophie zentralen Frage nach dem Ursprung der Gesellschaft eine neuartige Position bezogen. Herders eigene Antwort geht vom Ursprung der Sprache in 116
tierischen Empfindungslauten aus, reduziert die menschliche Sprache aber nicht auf diese und führt nicht die Vernunft als Fähigkeit zur Verabredung wie einen deus ex machina ein. Der Eröffnungssatz seiner Schrift »Schon als Tier hat der Mensch Sprache« verweist in aller Deutlichkeit auf seine Absicht, die menschliche Sprache im Ausdruck von Empfindungen zu verwurzeln. Zur menschlichen Sprache aber wird sie, weil eben beim Menschen auch die Art des Empfindens und die Relation von Ausdruck und Empfindung sich von den Tieren unterscheidet. U m den Ursprung der menschlichen Sprache zu erklären, bedarf es also einer neuen Anthropologie. Die Unfähigkeit der voraufklärerischen und aufklärerischen Theoretiker, dieses Problem zu lösen, zeigt gerade die Unhaltbarkeit ihrer anthropologischen Annahmen an. Die Spezifik der menschlichen Sprache läßt sich nach Herder nicht als isolierte Fähigkeit denken; die Fähigkeit zum sprachlichen Ausdruck setzt eine fundamentale Differenz im menschlichen Verhältnis zur Welt voraus, die ihre Folgen für alles menschliche Handeln hat. Herder sieht sich deshalb gezwungen, nicht nur eine Ausdruckstheorie der Sprache vorzutragen, sondern die Grundzüge einer Ausdrucksantbropologie zu skizzieren. Die Ausdruckstheorie der Sprache besteht darin, die Sprache zunächst nicht von der Bezeichnung von Gegenständen in der Welt her zu denken, sondern vom Ausdruck der Empfindungen. In der Ausdrucksanthropologie sind dann all die körperlichen Besonderheiten des Menschen zu berücksichtigen, die es ermöglichen, daß die Struktur des menschlichen Ausdrucks sich von dem tierischen fundamental unterscheidet. Obwohl Herder in seinen Schriften eine Fülle menschlicher Besonderheiten zusammenträgt: vom aufrechten Gang über die Freistellung der Hand bis zur größeren Leistungsfähigkeit des Gehirns - läßt er sich von diesen Einzelmerkmalen nicht in seiner Suche nach einem einheitlichen Prinzip beirren. Aus der Geschichte der philosophischen Anthropologie in Deutschland sind Herders einflußreiche Bestimmungen wohlbekannt. 11 Der Mensch 11 Vor allem Arnold Gehlen hat direkt an Herder angeknüpft. Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Berlin 1940. - Zur Tradition der "7
wird zunächst als Mängelwesen bestimmt, d.h. als unterlegen gegenüber den Tieren in der Stärke und Sicherheit angeborener Instinkte. Kehrseite dieser Unterlegenheit aber ist, daß der Mensch weniger als die Tiere in Sinnlichkeit und Trieben auf einen bestimmten Ausschnitt der Welt eingestellt ist. Die Chance größerer Weltoffenheit ergibt sich also aus der Gefahr geringerer Spezialisierung. Der Mensch »hat kein einziges Werk, bei dem er also auch unverbesserlich handle; aber er hat freien Raum, sich an vielem zu üben, mithin sich immer zu verbessern... Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung«. 12 Herder zielt auf eine von den Tieren fundamental unterschiedene Disposition des Menschen, für die er den Namen »Besonnenheit« vorschlägt. Dabei ist ihm die Bezeichnung selbst gleichgültig; am Herzen liegt ihm nur, daß keine Bezeichnung den Eindruck erwecke, es handle sich bei einer solchen Fähigkeit um eine isolierbare Kraft oder einen bloß graduellen Unterschied zu tierischen Leistungen. Die »Besonnenheit« charakterisiere den Menschen vielmehr in seinem ganzen Wesen und vom ersten Augenblicke an; sie tritt nicht erst an einem bestimmten Punkt der kindlichen Entwicklung oder der Menschheitsgeschichte zu einem tierischen Substrat hinzu. Eine von den Mängeln erzwungene, den Menschen aber ganzheitlich von den Tieren unterscheidende reflexive Distanz zu den Gegebenheiten der Welt und zu sich selbst wird damit zum einheitsstiftenden Prinzip. Diese Besonnenheit, diese reflexive Distanz ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung der Sprache. Herders Anthropologie unterscheidet sich also radikal von einer rationalistischen Bestimmung des Menschen als eines Vernunftwesens. Die Vernunft des Menschen ist nicht als eine separate Fähigkeit konzipiert, die sich zur Sinnlichkeit des Menschen wie eine Herrscherin verhält, sondern als eine spezifische Weise des Umgangs des Menschen mit sich und der Philosophischen Anthropologie: Axel Honneth/Hans Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M. 1980. 12 Herder, a.a.O., S. 110. 118
Welt. Die Sprache entsteht aus dieser Struktur des Weltbezugs und perfektioniert diesen. Herder war ein kompromißloser Gegner der cartesianischen Dualismen; der rationale Kern seiner oft über das Ziel hinausschießenden Gegnerschaft gegen Kant lag in seinem Widerstand gegen die dualistischen Spaltungen in Kants Philosophie. Das menschliche Ausdruckshandeln entzieht sich ja gerade diesen Spaltungen. Herder betrachtete den sprachlichen Ausdruck nicht nach dem dualistischen Schema von Innen und Außen als die bloße Transposition eines »innerlich« schon feststehenden Ausdrucksgehalts in eine »äußerlich« wahrnehmbare Ausdrucksform. Der sich ausdrückende Mensch wird selbst vielmehr von seinem Ausdruck immer wieder überrascht und findet den Zugang zu seinem »Innenleben« erst durch eine Reflexion auf das eigene Ausdrucksgeschehen. Damit hat der Ausdruck zwei Eigenheiten, die das dualistische Schema verfehlt. Zum einen gewinnen wir die Klarheit über die uns vorschwebenden Bedeutungsgehalte nur durch unsere Bemühung um deren Ausdruck; zum anderen stellen wir bei unserer Bemühung um einen Ausdruck das Ausgedrückte immer in einer auch für andere Menschen wahrnehmbaren Weise dar. Unser Verhältnis zu uns selbst ist damit über ein Medium vermittelt, das wir mit anderen teilen. Hier formuliert Herder Einsichten, die für die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts - sei's bei George Herbert Mead, sei's bei Ludwig Wittgenstein - leitend wurden. Es geht ihm aber nicht nur um diesen vermittelten Charakter des Ausdrucksgeschehens, sondern um die Neuheit des jeweils gefundenen Ausdrucks. Wegen dieser Betonung ist es legitim, Herders Betonung der Ausdruckshaftigkeit als metaphorische Fassung der Kreativitätsidee zu bezeichnen. Es ist allerdings weniger die große Schrift über den Ursprung der Sprache als vielmehr Herders Kunsttheorie, in der sich seine Ideen über den schöpferischen Prozeß der Entwicklung neuen Ausdrucks finden. Der Zusammenhang zwischen Sprach- und Kunsttheorie ist durch die Ausdruckskonzeption selbst zwingend gegeben: wenn der sich ausdrückende Mensch um den gelungenen Ausdruck bemüht ist, dann kann der Ausdruck besser oder schlechter gelingen. Der Dichter ist 119
dann der Mensch, dem es gegeben ist, seine Empfindungen auszudrücken, wo andere in ihrer N o t verstummen oder mit ihrer Bemühung scheitern. Der Dichter findet den neuen Ausdruck oder den neuen Ausdrucksstil. U m diesen Ausdruck zu finden, genügt aber nicht ein bloß überlegenes kombinatorisches Vermögen gegenüber den existenten Ausdrucksmöglichkeiten. Es kommt auf die Eröffnung eines neuartigen Verhältnisses zu den eigenen Empfindungen an. Herders Ausdrucksanthropologie gibt deshalb wesentliche Anstöße für die Verbreitung einer »genialischen« Deutung des Dichters und für die Abwehr einer feste Regeln des Dichtens vorgebenden Poetik. Die Befolgung dieser Regeln erlaubt ja nicht notwendig kreativen Selbstausdruck, sondern möglicherweise nur der Verstoß gegen sie, ihre Abwandlung oder gar Neusetzung. Der wahre Dichter unterwirft sich keiner gesellschaftlich tradierten Form des Empfindungsaus drucks, sondern sucht in der Auseinandersetzung mit den Regeln nach sich selbst. In diese Suche geht seine ganze Person ein. Damit aber ist die Kunst zugleich die Sphäre, in der sich ein Mensch schaffend oder genießend als ganzer ausdrückt; über alle durchgeregelten oder von fixen Zwecken bestimmten Handlungen geht der Bereich künstlerischen Ausdrucks in dieser Hinsicht hinaus. 13 Herder will bei aller Begeisterung für das dichterische Schaffen aber keineswegs einer quasi-religiösen Überhöhung der Kunst Vorschub leisten. Wenngleich sich in der Kunst die Ausdruckshaftigkeit menschlichen Handelns besonders deutlich zeigt, will er sie durchaus nicht auf die genialischen Ausnahmegestalten und die Phasen ihrer Inspiration beschränken. Unter dem Gesichtspunkt einer Theorie der Kreativität des Handelns ist es besonders wichtig, zu beobachten, wie Herder die Einengung kreativen Handelns auf künstlerischen Ausdruck zu vermeiden trachtet. In dreifacher Hinsicht 13 Eine ausgezeichnete Darstellung von Herders Kunsttheorie findet sich in einem Buch, dem ich überhaupt viel zu verdanken habe: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Darmstadt 1985, 2 Bde, Bd. 2, S. 120-149. 120
läßt sich Herders Widerstand gegen eine solche Einengung erkennen: in seiner Anwendung der Ausdrucksanthropologie auf die Gesamtheit der menschlichen Lebensführung, in seiner Übertragung der Ausdruckstheorie auf Kollektive und in seinen Reaktionen auf genieideologische und ästhetizistische Rezeptionen seiner Schriften. Um Herders Deutung der menschlichen Lebensführung im Geiste seiner Ausdrucksanthropologie zu verstehen, ist ein Blick auf den metaphysischen Hintergrund seines Denkens nötig. Diesen hat Charles Taylor vorbildlich rekonstruiert. Herders Expressivismus ist nicht Relikt von oder Rückkehr zu vormodernen Vorstellungen vom Kosmos als eines sinnvollen Ausdrucks eines einheitlichen Schöpferwillens, in dem für jedes individuelle Wesen ein Platz vorgesehen ist, so daß Selbsterkenntnis in der Einsicht in diese Bestimmung und der Einnahme dieses Platzes bestünde. Herder ist durchaus bereits ein Kind der entzauberten Welt, in der Bedeutungen als subjektiv konstituiert und nicht objektiv vorgegeben, Entwicklungsziele als Handlungsziele und nicht als garantierter Finalismus gedacht werden. Aber er protestiert gegen die völlige Objektivierung des Subjektiven und gegen die Zerreißung aller Bande zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven. Herder greift in dieser Situation auf von den Zeitgenossen gerade für überholt erklärte Ideen des Aristoteles zurück, gibt ihnen aber eine neuartige Wendung. Als Modell der menschlichen Entwicklung dient nicht mehr der sich entfaltende Keim, dem ein Wachstum »einprogrammiert« ist, das sich an ihm nur vollzieht; aber Herder beseitigt auch nicht jeden Sinn von teleologischen Begriffen wie Wachstum und Entwicklung außerhalb des biologischen Bereichs. Er denkt das menschliche Leben vielmehr als Übernahme des »telos« in eigene Regie. Der Mensch habe die Möglichkeit, ein in ihm steckendes je eigenes Wesen, je eigenes Entwicklungsziel durch eigene Anstrengung zu erreichen. Damit ist nicht an widerstandsloses Wachstum und allgemein verbindliche Entwicklungsziele gedacht, sondern an aktivische Entfaltung eines individuell einmaligen Wesenskerns. So abgedroschen die Begriffe »Selbstentfaltung« und »Selbstverwirklichung« heute klingen
mögen - hier haben sie noch die ganze Frische ihrer Entstehung! In seinen Ideen über die menschliche Lebensführung synthetisiert Herder aristotelische Begriffe mit seiner Anthropologie des Ausdrucks. Ebenso wie der sprachliche und künstlerische Ausdruck nicht nur als bloße Entäußerung eines innerlich geformten Gebildes verstanden werden durfte, dem im Akt des Ausdrucks selbst nichts mehr hinzugefügt würde, ebensowenig darf nun die Vielzahl lebenspraktischer Vollzüge als bloße eigentätige Realisierung eines Lebenszwecks verstanden werden. In Herders Betonung des aktiven und je individuellen Charakters der Selbstverwirklichung ist vielmehr der Gedanke eingebaut, daß wir erst an unseren Äußerungen und Handlungen unsere eigene Potentialität erkennen. Wir akzeptieren einen mehr oder minder großen Teil unserer spontanen Hervorbringungen als adäquaten Ausdruck unseres Wesens und statten diesen mit einer Anerkennung aus, die wir anderen Teilen verweigern. Im selben Prozeß, in dem wir uns selbst verwirklichen, erfahren wir erst, was dieses Selbst ist, das wir verwirklichen. Dies aber gilt für jedes Individuum. »Jeder Mensch von edeln, lebendigen Kräften ist Genie auf seiner Stelle, in seinem Werk, zu seiner Bestimmung, und wahrlich, die besten Genies sind außer der Bücherstube.« 14 Mögen die Dichter den anderen Menschen in der Fähigkeit zum künstlerischen Ausdruck überlegen sein, für die Frage, ob ein Selbst sich verwirklicht habe, ist jeder Mensch selbst sein Richter. Wenn die ganze Lebensführung als Ausdruck eines Selbst betrachtet wird, dann umfaßt sie zumindest der Möglichkeit nach alle Handlungen und gilt für alle Menschen. Auch die Ausdehnung der Ausdrucksanthropologie auf Kollektive und Kulturen zeigt, daß es Herder weder um eine elitaristische noch um eine ästhetizistische Einengung der Kreativitätsidee zu tun war. Herder sah in diesen nicht nur die ermöglichenden Bedingungen individueller Selbstentfaltung, sondern dachte an kulturelle Formen unter der Fragestellung 14 Johann Gottfried Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1774/75), in: Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 341-405, hier S. 393. 122
kollektiver Selbstverwirklichung. Sprache, Dichtung, Religion, alle Institutionen eines Volkes sind selbst gelungener oder verfehlter Ausdruck von dessen Leben. Mit diesem Gedanken zählt Herder zu den Urhebern des Historismus und der »Geisteswissenschaften«, die sich im 19.Jahrhundert in Deutschland so beeindruckend entwickelten. Aber derselbe Gedanke wurde auch oft im Sinn eines völkisch begründeten Nationalismus mißverstanden. Herder ging es nicht um eine biologische Ableitung der Kultur oder um eine Behauptung von der höheren Kulturfähigkeit einzelner Völker, sondern um ein Verständnis für die Eigenart jeder einzelnen Kultur. Wie jedes Individuum letztlich über das Gelingen der eigenen Selbstverwirklichung nur selbst entscheiden kann, so denkt Herder sich die einzelne Kultur als letztlich inkommensurabel mit jeder anderen. Die Übernahme kultureller Modelle erscheint ihm deshalb problematisch. Seine Polemik gegen eine gedankenlose Übernahme französischer Vorbilder oder die Benutzung des Lateinischen als Gelehrtensprache ist nicht Ausdruck eines deutschen Nationalismus, da sie einhergeht mit der Verteidigung der kulturellen Eigenart etwa der baltischen und slawischen Völker. Die Übertragung des Ausdrucksmodells auf die Deutung von Kulturen zeigt eine Stärke und eine Schwäche an. Stark ist gewiß der Versuch, gegen die aufklärerischen Tendenzen zu einem Determinismus der Natur (des »Klimas«), aber auch frei von allem Ästhetizismus die Rolle der Kultur in einem weiten Sinne und ihre Irreduzibilität zu verfechten. Problematisch ist dagegen, daß Herder hier ein schaffendes Kollektivsubjekt zu unterstellen scheint und damit den Anstoß zu einem Kultur-Emanationismus gibt. Es ist nicht die Anthropologie des Ausdrucks als solche, die hierzu nötigt, vielmehr nur ihre unvorsichtige Übertragung auf Kollektive, deren intersubjektive Struktur nicht berücksichtigt wird. Würde diese in Rechnung gezogen, dann könnte die eigene Kultur eines Volkes nie als eine einheitliche Hervorbringung erscheinen, sondern selbst nur als in sich vielfältiger, variantenreicher und widersprüchlicher Komplex, in dem nie bloß Eigenes, sondern immer auch Fremdes Medium der Selbstverständigung und Selbstverwirklichung ist. 123
Da die problematischen Konsequenzen dieses Denkschritts Herder nicht zu Bewußtsein gekommen zu sein scheinen, läßt sich an diesem Punkte nicht ermitteln, wie er sich zu diesen gestellt hätte. Bei der Genie-Ideologie verhält es sich anders. Wesentlich von den literaturkritischen und kunsttheoretischen Schriften des jungen Herder beeinflußt, hatte sich im deutschen »Sturm und Drang« ein irrationalistischer Kult eines von keinem Geschmack mehr regulierten, auf den eigenen Ausnahmecharakter pochenden, rauschhaft-selbstbesessenen Schöpfertums herausgebildet. Herder schrak vor diesen Erscheinungen zurück. Wie sehr er diesem Kult auch selbst gedient haben mochte, er setzte bald seine ganze rhetorische Kraft zum Kampfe gegen ihn ein. Von Anfang an hatte Herder freilich als Anthropologe nicht aus dem Auge verloren, daß die Übertragung des Schöpfungspathos auf den Menschen nicht bruchlos möglich war: die Grenzen des menschlichen Organismus, seine Gebrechlichkeit und Endlichkeit waren für ihn letztlich demütig hinzunehmen. Von Fassung zu Fassung seiner Schrift »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele« aber läßt sich eine immer schärfere Tonart gegen die Genie-Ideologie feststellen und eine immer stärkere Betonung darauf, daß in Wahrheit die Bescheidenheit das Genie auszeichne und jedem Mensch Genie zu eigen sei.15 Gegen Ende seines Lebens, als im Zeichen der Weimarer Klassik die modische Genieideologie vergangen und zum Gegenstand des Gespötts geworden war, konnte Herder an die verteidigenswerten Züge der Kreativitätsidee wieder in größerer Ruhe anknüpfen. Er beklagt jetzt, daß »weil einige freche Jünglinge den Namen des Genies mißbrauchten, die Deutschen sich dies Wort selbst zum Spott und Ekel machten« 16 , und versucht, den Sinn seines Denkens gegen die schematischen Begriffsklärungen in Kants »Kritik der Urteilskraft« zu retten. Mit besonderer Verve wehrt er sich gegen Kants Unterscheidung der 15 Vgl. Herman Wolf, Die Genielehre des jungen Herder, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 3 (1925), S. 401-430. 16 Johann Gottfried Herder, Von Kunstrichterei, Geschmack und Genie (1800), in: ders., Kalligone. Weimar 1955, S. 166. 124
genialen Künstler von den Erfindern und Entdeckern, die im Unterschied zu jenen nicht aus dem Unbewußten schöpften, sondern nach klaren und nachahmbaren Regeln vorgingen. »Homer und Wieland werden auf Newtons Kosten dies Lob schwerlich annehmen. Wer in Wissenschaften erfindet, bringt eben sowohl etwas Eigentümliches, Neues aus sich hervor, das er nicht lernte (sonst hatte er's nicht erfunden), als der Dichter.« 17 Für Herder ist es von zentraler argumentationsstrategischer Bedeutung, daß auch den Wissenschaftlern und gerade ihnen Genialität zukommen könne, weil es ihm gerade um die Verhinderung einer ästhetizistischen Verengung des Schöpferischen geht. Herder zielt auf alle »Erfindungen, Tätigkeiten und Produktionen«, die die menschliche Natur im Verlauf ihrer Geschichte hervorbringt: »Unglücklich, wenn hiezu nur Bildhauerei und Dichtkunst, Redner- und Malerei gehörte, als ob diese Werke des Namens Genie allein wert wären. Was irgend durch menschliche Natur genialisch hervorgebracht oder bewirkt werden kann, Wissenschaft und Kunst, Einrichtung oder Handlung ist Werk des Genius, der jede Anlage der Menschheit zu erwecken und zu ihrem Zweck zu fördern, eben Genius ist.« 18 In seinen weiteren Ausführungen stattet Herder das Schöpferische mit Prädikaten aus, die auch den Raum künstlerischer oder wissenschaftlicher Neuerung überschreiten. Die Tätigkeiten und Wirkungen, auf die Herder anspielt, umfassen das Bewahren und Helfen, das Heilbringen und Friedensstiften. »Höhere Genies« seien es, die der Menschheit dienen. Herders Absicht, in allem menschlichen Handeln das Schöpferische zu zeigen, ist damit unverkennbar. Nicht die Neuheit oder der Werkcharakter des Handlungsresultats tragen damit noch länger den Hauptakzent, sondern die Lebendigkeit des »Ganzen«, der ganzheitliche und sinndurchströmte Charakter einer Handlung. Es läßt sich allerdings fragen, ob die begrifflichen Mittel einer Anthropologie des Ausdrucks hinreichten, um diesen Gedanken klar zu fassen.19 17 ebd., S. 164. 18 ebd., S. 169. - Vgl. zu dieser Deutung auch Schmidt, a.a.O., S. 149. 19 Zur Art und Weise, wie John Dewey mit den Mitteln des Pragma125
Die Geschichte von Herders Idee des »Ausdrucks« als einer Metapher der Kreativität zu schreiben wäre ein Unterfangen, das beinahe identisch wäre mit einer Geschichte der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung. 20 Es ist unmöglich, auf knappem Raum das dichte Netzwerk wechselseitiger Beeinflussungen, von Selbstkorrekturen und eigenständigen Neuansätzen innerhalb der Jahrzehnte zwischen 1770 und der Mitte des folgenden Jahrhunderts nachzuzeichnen. Keine Frage ist, daß wesentliche Züge von Goethes Werk, aber auch die Romantik ohne Herders Ausdruckstheorie nur schwer vorzustellen sind. Noch wichtiger als solch direkte Tradierung von Motiven ist aber die Transformation des Ausdrucksmotivs in etwas Neues. Den Anstoß hierzu gab vor allem das unübersehbare Spannungsverhältnis zwischen der Ausdrucksanthropologie und der Kantschen Philosophie. Zwar läßt sich geltend machen, daß Kants Erkenntnistheorie selbst auf dem Gedanken der schöpferischen Einbildungskraft beruht, insofern diese Einbildungskraft die Erscheinungen der Dinge an sich erst aufbaut. Aber in der Ethik Kants ist die Differenz zu den normativen Implikationen der Ausdrucksanthropologie unübersehbar. Während bei Kant die Freiheit des Menschen als die Fähigkeit zur moralischen Beherrschung natürlicher Neigungen gedacht wird, stellte die Ausdrucksanthropologie gerade die Transformation spontaner Neigungen in authentischen Selbstausdruck und im Gegensatz zu Gesetzen und Regeln in den Mittelpunkt ihrer Freiheitsidee. Die Spannung zwischen diesen Polen erhöhte sich noch, als Fichte die aktivistische Deutung von Kants transzendentalem Ich radikalisierte. In immer neuen Wellen kamen Versuche zur Lösung dieser Spannung auf: Schillers Idee des Spiels und der ästhetismus diesen Gedanken konsequent durchführt, vgl. dessen Buch: Kunst als Erfahrung (1934). Frankfurt/M. 1980, und Abschnitt 2.5. dieses Kapitels. 20 In mancher Hinsicht, was das Ineinander von Philosophie- und Literaturgeschichte übertrifft, ist unübertroffen: Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. 4 Bde. Leipzig 1966. Der Einfluß reicht natürlich weit über diese Zeit hinaus und bestimmt die Geschichte der hermeneutischen Tradition. 126
tischen Erziehung, Kants eigene Versuche zur Synthese von Verstand und Einbildungskraft in der »Kritik der Urteilskraft«, Schellings, Hölderlins und der Frühromantiker Verknüpfung Fichtes mit einer pantheistischen Naturphilosophie, welch letztere auch schon für Herder und Goethe inspirierend gewesen war, schließlich der weitestgespannte und systematischste Versuch im Lebenswerk Hegels. 21 Das Gedankengut jener Zeit ist unausschöpflich. Im engen Rahmen eines Versuchs zur Handlungstheorie lassen sich diese Gedankengänge als Ansätze zur Deutung der Normativität mit den Mitteln einer Kreativitätskonzeption bezeichnen. Trotz ihrer Imposanz sind sie deshalb hier nicht als neue Metaphern der Kreativität zu behandeln. Die einzige Ausnahme liegt wohl in Schellings kunst- und naturphilosophischer Emphatisierung des Ausdrucksmodells zum Konzept der »Produktion« vor. Dieses aber gewinnt seine Selbständigkeit erst, sobald es sich bei Karl Marx mit dem Handlungsmodell der Arbeit verbindet.
21 Die großartigsten Darstellungen dieser Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Problematik des Expressivismus hat Charles Taylor vorgelegt. Vgl. v. a. sein Hegel-Buch, a. a. O. und jetzt ders., Sources of the Seif. The Making of the Modern Identity. Cambridge, Mass. 1989. - Der Versuch zu einer gewissermaßen handlungstheoretischen Interpretation der klassischen deutschen Philosophie, der im Text hier nur angedeutet wird, steht offensichtlich den Bemühungen nahe, nicht einen einzelnen Handlungstyp wie das kommunikative Handeln und ein darauf gegründetes formales Verfahren, sondern eine Struktur allen Handelns zum Prinzip der praktischen Philosophie zu machen. In Anknüpfung an Fichte und v. a. Hegel wird dies gegenwärtig etwa durch eine Rekonstruktion der Idee der Anerkennung versucht. Während Ludwig Siep sich im Kontext der institutionentheoretischen Debatte bewegt, versucht Axel Honneth, mit diesen Mitteln über gewisse Probleme in Habermas' Theorie hinauszukommen. Vgl. Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg 1979; Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Frankfurt/M. 1992. 127
2.2 P r o d u k t i o n Die Idee der »Produktion« oder einer als »Produktion« verstandenen »Arbeit« macht zwar nicht das gesamte handlungstheoretische Fundament von Marx' Werk aus, bildet aber gewiß einen wesentlichen Bestandteil desselben. In Parsons' bahnbrechendem handlungstheoretischen Buch war Marx als Erbe zweier Traditionen zugleich behandelt worden: der idealistischen und der utilitaristischen Tradition. So richtig diese Zuordnungen je als einzelne waren, so unklar blieb bei Parsons doch, wie sich der Widerspruch zwischen einem idealistischen und einem utilitaristischen Handlungsverständnis bei Marx aufgelöst habe, wenn von einer solchen Auflösung überhaupt zu sprechen war. Für ein Verständnis der heutigen Debatten über eine Handlungstheorie bei Marx aber kann die Frage nach der Verknüpftheit dieser beiden Zuordnungen weiterhin nützlich sein. Dabei mag die Rede von heutigen Debatten über Marx für viele schon wie eine Übertreibung klingen. Während fast zwanzig Jahre lang für viele Intellektuelle interpretatorische Fragen zu Marx immer zugleich Fragen ihres Welt- und Selbstverständnisses waren, ist es jetzt um Marx sehr ruhig geworden. Die dominanten Probleme der westlichen Gesellschaften, die relativ kontinuierliche ökonomische Expansion dieser Länder und der Zusammenbruch des »real existierenden« Sozialismus lassen Marx' Denken aus guten Gründen als veraltet erscheinen. Es scheint, so betrachtet, nur noch darum zu gehen, ob Marx' Werk lediglich der Gegenwart nichts mehr zu sagen hat oder ob es immer schon im Ansatz verfehlt, ja gefährlich und schädlich gewesen sei. Außerhalb sektenhafter Zirkel versuchen gegenwärtig nur wenige, an Marx produktiv anzuknüpfen. Zu diesen wenigen gehören die Autoren, die den historischen Materialismus mit Mitteln der analytischen Wissenschaftstheorie, vor allem aber der Spieltheorie, in neo-utilitaristischer Weise zu retten versuchen. 22 Dieser Versuch kostet allerdings den Preis, die phi22 Der einflußreichste und imponierendste dieser Autoren ist Jon El128
losophischen Züge von Marx* Werk weitgehend auszublenden. Die Züge einer romantischen oder Feuerbachschen Anthropologie bei Marx und alle Spuren des deutschen Idealismus werden hier getilgt. Andererseits nützen die Mittel der Spieltheorie gewiß, wenn es um die Einlösung des Anspruchs geht, den der historische Materialismus enthält, nämlich um die Erklärung der Entstehung kollektiven Handelns, insbesondere des Handelns ganzer sozialer Klassen. Drei Motive bewegen wohl die spieltheoretischen Marxisten. Erstens verspricht ihre Vorgehensweise, das wohlbegründete Bedürfnis zu befriedigen, über die Grenzen einer sich nur in sich selbst, an der eigenen inneren Konsistenz bestätigenden Theorie hinauszugehen und empirisch prüfbare Modelle und Hypothesen vorzulegen. Zweitens paßt die politische Absicht, das Verdienst der liberalistischen Tradition mit ihrer Betonung unveräußerlicher Freiheitsrechte des Individuums stärker anzuerkennen, als dies in der marxistischen Tradition üblich war, im Bewußtsein dieser Denker zu einer methodologisch-individualistischen Reformulierung des Marxismus. Drittens schließlich - und dies ist wohl der wichtigste Grund - entspricht die spieltheoretische Wende einer breiten Abkehr von verdeckt funktionalistischen Erklärungen politischer, rechtlicher und kultureller Phänomene im »westlichen Marxisster. Vgl. zunächst seinen Aufsatz Marxism, Functionalism, and GameTheory, in: Theory and Society n (1982), S. 453-482, sowie dann v. a. sein Buch Making Sense of Marx. Cambridge 198 5. - Ich knüpfe in den vorliegenden Ausführungen an Formulierungen aus einem Aufsatz an, den ich zusammen mit Axel Honneth zur Marxismus-Diskussion in der DDR beigesteuert habe: Axel Honneth/Hans Joas, War Marx ein Utilitarist?, in: Helmut Steiner (Hg.), Karl Marx und Friedrich Engels. Ihr Einfluß und ihre Wirksamkeit in der Geschichte und Gegenwart der soziologischen Theorie. Berlin (DDR) 1987,5. 148-161. Axel Honneth hat seinerseits diesen Text zu einer knappen Bilanz des Marxismus weiterentwickelt: Axel Honneth, Logik der Emanzipation. Zum philosophischen Erbe des Marxismus, in: Hans Leo Krämer/Claus Leggewie (Hg.), Wege ins Reich der Freiheit. Andre Gorz zum 65. Geburtstag. Berlin 1989, S. 86-106. 129
mus«. 23 Anti-funktionalistischen Marxisten gilt ein Phänomen noch nicht als erklärt, wenn seine Funktionalität für Kapital oder Staat nachgewiesen - oder eben nur suggestiv behauptet ist, sondern erst, wenn seine Entstehung aus Handlungen und den Verflechtungen von Handlungen gezeigt ist. Das Scheitern marxistisch-funktionalistischer Annahmen über die Entstehung von Klassenbewußtsein und sozialer Bewegung verstärkt so den Glauben an die Erklärungskraft einer bestimmten Variante von Handlungstheorie. Während diese Versuche also aus Marx durch bewußten Verzicht auf »idealistische« Teile seines Werks Annahmen destillieren, die den Theorien rationalen Handelns entsprechen und sich einer zeitgenössischen empirischen Forschung zugrundelegen und in ihr überprüfen lassen, behaupten andere Autoren, daß eben der »utilitaristische« Kern von Marx' Werk Grund für dessen Uberholtheit sei. Vor allem Louis Dumont 2 4 hatte in seinem Buch »From Mandeville to Marx« Marx als politisch radikalen Fortsetzer der klassischen politischen Ökonomie und nicht als deren soziologischen Überwinder gedeutet. Die in der ökonomischen Tradition notorisch ungelösten Probleme der Vermittlung zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen oder dem Kulturellen seien deshalb bei Marx ebenso ungelöst geblieben wie bei den Autoren, die er zum Gegenstand seiner Kritik der politischen Ökonomie machte. Diese Argumentation hat Jeffrey Alexander breit ausgearbeitet. 25 Er sieht sehr wohl, daß Marx' philosophische und seine historisch-politischen Schriften eine Fülle von Elementen enthalten, die nicht als utilitaristisch klassifiziert werden können; diese seien aber mit dem wissenschaftlichen Kern von Marx" Werk, welcher ausschließlich in der Kritik der politischen Ökonomie selbst zu sehen sei, nicht theoretisch konsistent 23 Repräsentativ für diese Abkehr steht Anthony Giddens, A Contemporary Critique of Historical Materialism. London 1981. 24 Louis Dumont, From Mandeville to Marx. The Genesis and Triumph of Economic Ideology. Chicago 1977. 25 Jeffrey Alexander, The Antinomies of Classical Thought: Marx and Durkheim. Theoretical Logic in Sociology, vol. 11. Berkeley 1983. 130
verknüpft. Marx' Werk ist für ihn deshalb ein einseitig antinormativistischer Versuch zu einer Gesellschaftstheorie. Ganz ähnlich argumentieren diejenigen, die innerhalb des Marxismus in einer verstärkten Aufmerksamkeit auf die Bedeutung kultureller Elemente eine Chance für die Weiterentwicklung des Marxismus sehen. 26 Was die spieltheoretischen Marxisten und die kulturtheoretischen Kritiker hier voneinander unterscheidet, ist weniger die Einschätzung von Marx als die Einschätzung des Utilitarismus. Für die einen wird Marx' Werk durch eine Reformulierung mit den Mitteln der Theorie des rationalen Handelns endlich vom Ballast deutschen philosophischen Tiefsinns befreit und in klarer und rationaler Gestalt bewahrt; für die anderen erweist sich Marx' Werk eben deshalb als soziologisch unzulänglich, weil es im Kern utilitaristisch sei. Für beide Seiten, die »rationalistische« und die »normativistische«, ist die Frage nach Marx' Handlungstheorie entscheidend, weil nur über sie die Kritik der politischen Ökonomie und die politische Soziologie von Marx miteinander verknüpft werden können. Wer auch immer im Horizont marxistischer Diskussionen auf diese Verknüpfung nicht von vornherein verzichtet, sieht sich deshalb auf die Frage nach Marx' Handlungstheorie verwiesen. Gerade die Radikalität, mit der Alexander die These vom utilitaristischen Charakter der systematischen Theorie Marxens verficht, stellt eine heilsame Nötigung zur Klärung dar; Alexander verbaut beliebte Auswege der Argumentation, die nur allzu gern benutzt wurden, wenn Marx vor jeder Kritik geschützt werden sollte. Nicht akzeptiert wird die Behauptung, Marx' faktische Forschungsarbeit sei seinen methodologischen Selbstdeutungen überlegen: der Utilitarismusvorwurf gelte vielmehr gerade für die faktische Forschung. Abgelehnt werden ebenso Verweise auf Marx' politische Publizistik und sogar auf seine historiographischen Arbeiten, da diese zwar Ausdruck von Marx' Weltbild und seines stillschweigenden Wissens seien, nicht aber systematische Folgen seines begriff16 David Lockwood, Das schwächste Glied in der Kette ? Einige Anmerkungen zur marxistischen Handlungstheorie, in: Prokla 15 (1985), S. 5-33. 131
liehen Ansatzes darstellten. Schließlich werden Versuche zurückgewiesen, das Auftauchen einzelner kultureller Elemente in Marx' Werk als Argument gegen die Deutung von Marx als eines Vertreters der utilitaristischen Tradition zu verwenden, da sich in jeder Theorie systematisch Ausgeschlossenes in der Gestalt von Residualkategorien zu melden pflegt und deshalb in der Versprengtheit solcher Belege eher ein Beweis für die Richtigkeit der Kritik zu sehen sei. Mit der Frage nach Marx' Handlungstheorie wird das Problem von Kontinuität und Diskontinuität in Marx' denkerischer Entwicklung in neuer Weise dramatisiert. Alexander datiert den häufig diskutierten Bruch in Marx' Entwicklung so früh wie keiner vor ihm: nämlich bereits auf die Jahre 1842/43. Er sieht den ganz jungen Marx als »normativen Idealisten« und erklärt die frühesten Arbeiten von Marx für verständlich nur aus dem Konflikt zwischen den Ansprüchen einer universalistischen Moral und den vorfindbaren, im zeitgenössischen Preußen-Deutschland institutionalisierten Normen. Der Bruch ergebe sich dann aus Marx* (vermeintlicher) Einsicht in die Machtlosigkeit moralischer Kritik. Am gegenwärtigen Zeitalter pralle eine solche Kritik ab; für ein angemessenes Verständnis und Handeln sei hier nur das in der klassischen politischen Ökonomie gefaßte Modell utilitaristisch-egoistischen Handelns miteinander konkurrierender Subjekte hilfreich. Rezeption dieser politischen Ökonomie und Bruch mit dem normativen Idealismus der Anfangszeit fallen in dieser Sicht praktisch zusammen - sieht man von Unklarheiten und Ambivalenzen bei Marx in einer kurzen Zwischenphase ab. Theoretisch heißt dies, daß Marx den Utilitarismus eben nicht überwunden, sondern ihn im Gegenteil für das Zeitalter des Kapitalismus voll akzeptiert habe. Diese These wird insofern spezifiziert, als nur von einer Aufnahme der utilitaristischen Handlungs-, nicht aber der Ordnungstheorie gesprochen wird. Auf ordnungstheoretischer Ebene unterscheide sich Marx' Betonung des Klassencharakters der kapitalistischen Ordnung und der in dieser sich abspielenden Klassenkonflikte radikal von den Auffassungen der klassischen Utilitaristen. Als entscheidend erweist sich deshalb auch hier die Frage, ob 132
das Schema »Utilitarismus versus Normativität« für ein Verständnis von Marx überhaupt hinreicht. Es könnte ja sein, daß dieses Schema nur eine unzulängliche Rekonstruktion von Marx' Ausgangspunkt und der Art und Weise seiner Rezeption und Kritik der politischen Ökonomie zuläßt. Eine grobe Skizze einer alternativen Deutung von Marx' Entwicklung ist deshalb unumgänglich. Sicher trifft es zu, daß Marx' Ausgangspunkt der moralische Protest eines jungen bürgerlichen Intellektuellen gegen die Spaltung von »citoyen« und »bourgeois«, gegen die ungenügende Verwirklichung bürgerlicher Ideale in der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft war. Aber theoretische Bedeutung hat dieses moralisch-politische Motiv von vornherein vor allem deshalb, weil es sich als Kritik an einem Versuch zur Synthese der abgespaltenen Teile äußert: an Hegels Versuch, den Staat der preußischen Monarchie und seinen Beamtenstand als Verwirklichung der Idee eines Ganzen, einer »sittlichen Totalität«, zu sehen. Die Kritik an Hegels Rechtsphilosophie und insbesondere von deren staatsrechtlichen Teilen nimmt Anstoß an der Idee, der Staat könne die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft erfolgreich »aufheben«. Das Ziel einer solchen Aufhebung erfordere vielmehr eine wirkliche Überwindung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Dies ist kein »normativer Idealismus«, sondern die aktivistische Wendung eines Versuchs, über eine normative Kritik der Zeit im Sinne einer Konfrontation von Sein und Sollen gerade hinauszugehen und in existierenden Institutionen den Ausdruck der Sittlichkeit zu sehen. Marx wird zwar über die Gegenwart hinausgetrieben auf der Suche nach einem sozialen Träger für deren Überwindung und stößt so auf philosophischem Wege auf das Proletariat als jene Klasse, die die Überwindung aller Klassengesellschaft realisieren kann. Aber die Ambition seines Versuchs ist geprägt von Hegels Ambition und damit von einem Denker, dessen Verständnis des Staates aus Motiven der Ausdrucksanthropologie heraus geformt war. N u r auf diesem Hintergrund gewinnt die Rezeption der politischen Ökonomie durch Marx ihren Sinn. Es handelt sich 133
bei ihr nicht um den Umschlag von einem normativen Idealismus in einen nur geschichtsphilosophisch relativierten Utilitarismus, sondern um den Versuch einer Synthese heterogener Traditionen. Eine Formel für die versuchte Synthese wäre, daß Marx den Arbeitsbegriff der britischen politischen Ö k o nomie und die zum »Geist«-Begriff entwickelte Ausdruckstheorie in der klassischen deutschen Philosophie mit den Mitteln der Anthropologie Ludwig Feuerbachs zusammenzufügen versucht hat. Dies macht den Sinn des Produktionsmodells des Handelns aus. Der entscheidende Text, dem sich diese kühne Verknüpfung von Traditionen entnehmen läßt, liegt in dem Konvolut von Pariser Manuskripten Marxens von 1844 vor. Diese Manuskripte enthalten sowohl die ersten Spuren seiner systematischen Beschäftigung mit der Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo wie sie, wenn auch fragmentarisch, die Bemühungen deutlich machen, die Beziehungen zwischen den Menschen und zur Natur in einem von Hegel und Feuerbach geprägten Weltbild auf der Grundlage der modernen Ökonomie neu zu durchdenken. Die Syntheseformel bedarf freilich noch näherer Erläuterung. Vor allem in der britischen Sozialphilosophie seit John Locke, insbesondere aber seit Adam Smiths Begründung der modernen politischen Ökonomie war die menschliche Arbeitsleistung als wesentlicher Produktionsfaktor neben Boden und Kapital betont und zum einzigen Maß des wirtschaftlichen Werts erklärt worden. Insbesondere im Anschluß an Ricardo hatten britische Frühsozialisten diese ökonomische Wertlehre zu einer ökonomischen Kritik der Ausbeutung verschärft. Ihr Arbeitsbegriff blieb aber dabei so nüchtern wie er es in der ganzen britischen ökonomischen Tradition gewesen war. Marx stellt nun eine Beziehung zwischen diesem nüchternen Konzept menschlicher Anstrengung zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur Erzeugung von Gütern einerseits und der Idee des sich selbst setzenden Geistes her, zu der sich das Ausdrucksmodell entwickelt hatte. Ausgehend von der Sphäre ästhetischer »Produktion« war der Gedanke einer nicht abbildenden, sondern Neues erzeugenden, »produktiven« Einbildungskraft zur Konzeption des »Geistes« entwik134
kelt worden 27 , die immer mehr zur zentralen Achse der klassischen deutschen Philosophie wurde, zumal diesem »Geist« Züge zugeschrieben wurden, deren Träger in der christlichen Tradition der göttliche Schöpfer war. Die Inbeziehungsetzung des ökonomischen Arbeitsbegriffs und der philosophischen Konzeption des Geistes verspricht eine vertiefte Einsicht in die geschichtliche Bedeutung des Wirtschaf tens ebenso wie eine Konkretisierung der Philosophie. Der Boden für diesen Verknüpfungsversuch war schon bereitet worden durch die von mehreren linken Junghegelianern und insbesondere von Ludwig Feuerbach betriebene anthropologische Deutung des Hegeischen Geist-Begriffs. Feuerbach hatte in seiner Religionskritik und in seiner Programmatik einer Philosophie der Zukunft als Anthropologie gegen die Verselbständigung religiöser Weltbilder und gegen den Emanationismus einer Philosophie des Geistes protestiert. Durch die Absicht, zum menschlichen Ursprung der dem »Geist« zugeschriebenen Leistungen zurückzufinden, näherte sich Feuerbach, ohne dies zu wissen, der älteren Anthropologie des Ausdrucks und einigen Motiven des jungen Hegel wieder an. In den Pariser Manuskripten feiert Marx Feuerbach als den Inaugurator der größten theoretischen Revolution seit Hegel. 27 Ausgezeichnet informiert hierzu der Artikel »Geist« in Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 3. Basel/Stuttgart 1974, Sp. 154-204. In gewohnter Brillanz schildert Odo Marquard Aufstieg und Fall des »Geist«-Begriffs so (vgl. Sp. 188): »Daß der Geist schon vor ihm (= Hegel, HJ.), schon 1795-97 zum regierenden Fundamentalprinzip wurde: das war also scheint es - das Produkt einer Verbindung von Ästhetik und Theologie; aber wenn doch im Tübinger Stift und in Jena allenfalls deren Verlobung, ihre Ehe jedoch nicht vor 1800 stattfand, ist er in dieser Hinsicht ein voreheliches Kind, das alsbald aus dem romantischen Hause gegeben, von Hegel adoptiert und von der >Anschauung< zum >Begriff< umerzogen wurde, um daraufhin geschichtsphilosophisch und systematisch seinen Mann zu stehen, ehe er von den Junghegelianern aufs Altenteil gesetzt und - als der Geist den Geist aufgab - schließlich auf dem Friedhof der Systeme beigesetzt wurde, unter reger Anteilnahme der Hinterbliebenen: der Geisteswissenschaften.« 135
Auch den Hegel der »Phänomenologie des Geistes« sieht Marx bereits »auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomen«. 28 Das Positive an Hegel und an Feuerbach liegt für Marx in beider mit unterschiedlichen Konsequenzen durchgeführter Absicht, alles Menschliche als Resultat des Menschlichen zu denken. Für Marx hat Hegel bereits die Arbeit als das Wesen des Menschen aufgefaßt und dabei Arbeit nicht nur als wertschaffenden Prozeß, sondern als Entäußerung von Wesenskräften aufgefaßt. »Das Große an der Hegelschen >Phänomenologie< und ihrem Endresultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip - ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung, daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift.« 29 Gleich nach dieser rühmenden Äußerung und in nicht ganz klarem Verhältnis zu ihr erfolgt aber die Einschränkung, daß Hegels Begriff der Arbeit zu eng sei: »Die Arbeit, welche Hegel allein 28 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband 1. Berlin 1968, S. 465-590, hier S. 574. 29 Ich schließe mich hier dem Urteil von R.N. Berki an, daß Marx und mancher Marxist, v. a. Georg Lukäcs, die Nähe zwischen den Begriffen der »Arbeit« bei Hegel und Marx übertrieben habe. Die interessante Entsprechung besteht zwischen Marx' Begriff der »Arbeit« und Hegels Begriff des »Geistes«. Vgl. R.N. Berki, On the Nature and Origins of Marx' Concept of Labor, in: Political Theory 7(1979), S. 35-56; Georg Lukäcs, Der junge Hegel. Frankfurt/M. 1973. - Eine wichtige Studie über die romantischen Quellen von Marx' Arbeitsbegriff liegt vor in: Petra Röder, Von der Frühromantik zum jungen Marx. Rückwärtsgekehrte Prophetie eines qualitativen Naturbegriffs, in: Gisela Dischner/Richard Faber (Hg.), Romantische Utopie - Utopische Romantik. Hildesheim 1979, S. 149-173. - Eine Vielzahl von Anregungen enthält: Axel Honneth, Arbeit und instrumentales Handeln. Kategoriale Probleme einer kritischen Gesellschaftstheorie, in: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hg.), Arbeit, Handlung, Normativität. Frankfurt/M. 1980, S. 185-233. 136
kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.«30 Hegel überzieht deshalb den Anspruch der Philosophie, weil er »die Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft« zum Wesen der Philosophie erkläre. Hiergegen sucht Marx einen anthropologischen Halt in Feuerbachs Hegel-Kritik. Feuerbach hatte die in der Annahme eines »denkenden Ich« steckenden stillschweigenden Voraussetzungen ans Licht geholt und das Ich als leibhaftes, mit Bedürfnissen ausgestattetes und notwendig auf andere bezogenes gedeutet. 31 Marx stellt sich auf den Boden von Feuerbachs »sensualistischer« und »altruistischer« Anthropologie, beklagt aber, daß diese zu wenig konsequent verfahre. Die im Frühjahr 1845, ^so n a c n den Pariser Manuskripten verfaßten Thesen über Feuerbach kritisieren an Feuerbach, daß dieser die menschliche Sinnlichkeit nicht selbst als praktische Tätigkeit, sondern nur als Anschauung verstanden habe. Hier verknüpft Marx die Idee der Selbsterzeugung und des Schöpferischen in der Geist-Philosophie mit dem anthropologischen Impuls von Feuerbach. Ohne begriffliche Klarheit zu schaffen, lädt Marx die Begriffe der Arbeit, der gegenständlichen Tätigkeit und der Produktion mit Pathos auf. Er drängt darauf, die menschliche Arbeit als gegenständliche Tätigkeit zu sehen, die gegenständliche Tätigkeit als Entäußerung menschlicher Wesenskräfte und »Pro-duktion«, Hervorbringung von Neuem in der Welt. Das Pathos, das in der Romantik und in der klassischen Philosophie nur dem ästhetischen Schaffen oder dem sich in der Geschichte verwirklichenden Geist zuzukommen schien, wird damit auf das Schöpfertum des Menschen übertragen. In den Pariser Manuskripten ist die Begeisterung über diese Denkmöglichkeit allenthalben zu spüren. In dem ebenfalls von 1844 stammenden Exzerpt aus James Mills politischer Ökonomie schwingt sich Marx dazu auf, das 30 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O., S. 574. 31 Zum Verhältnis von Feuerbach und Marx vgl. Honneth/Joas, Soziales Handeln, a. a. O., S. 19-29. - Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Karl Löwith (Hg.), L.F., Kleine Schriften. Frankfurt/M. 1966, S. 145-219. 137
Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, die dem Menschen in dieser Sicht in utopischem Maße entspricht. Dabei zeigt sich auch, daß Marx nicht nur an die Erfüllung des einzelnen Handelnden in seiner Handlung, sondern an die Verschränkung der produktiven Tätigkeit aller zu einem produzierenden und sich genießenden Gemeinwesen denkt: »Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht. Ich hätte i. in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lehensäußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen Zweifel erhabene Macht zu wissen. 2. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben, 3. für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4. in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar deine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben.«32 Nur selten hat Marx seine Utopie so breit ausgemalt. Aber auch hier und in all diesen frühen Schriften ist die Utopie nur die helle Folie, von der sich das Bild der Gegenwart um so düsterer abzeichnen soll. Denn die Gegenwart ist für Marx gerade davon gekennzeichnet, daß in ihr die Arbeit des Menschen nicht freier Ausdruck ist, sondern nur Mittel zum Leben. Unter Bedingungen des Privateigentums werde die Ar32 Karl Marx, Auszüge aus James Mills Buch, in: MEW, Ergänzungsband 1, a.a.O., S. 443-463, hier S. 462. 138
beit zu bloßer Entäußerung ohne die Chance für den Schaffenden, sich im geschaffenen Gegenstand selbst zu erkennen. Damit aber ist dem Arbeitenden kein Bildungsprozeß in der Arbeit mehr möglich. Seine Wesenskräfte werden zwar entäußert, entwickeln sich aber unabhängig von ihm zu einer eigenen Macht. »Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von den Produzenten unabhängige Macht, gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung.«33 Der Kreislauf zwischen Entäußerung und Aneignung ist damit unterbrochen. Durch die Arbeit unter Bedingungen des Privateigentums wird der Arbeiter nicht reicher, sondern ärmer. Mit steigender Produktion, so meint Marx, wird der Arbeiter immer mehr zur Ware, während sich die entäußerten Kräfte der Menschen immer mehr in den Händen von immer weniger Kapitalbesitzern sammeln. Marx skizziert in dem in den Pariser Manuskripten enthaltenen Fragment »Die entfremdete Arbeit« die Entfremdung erneut nicht nur im Verhältnis zwischen dem Schaffenden und seinem Produkt, sondern in den vier Hinsichten einer Entfremdung von der Natur, von der eigenen Tätigkeit, vom Gattungswesen und von den anderen Menschen. Annahmen der ökonomischen Theorie werden von Marx damit in eine geschichtsphilosophische Perspektive gerückt. Die Gegenwart als Zeitalter der fortschreitenden Entfremdung eröffnet zugleich die Aussicht auf eine Aufhebung dieser Entfremdung, indem die Arbeiter die Herrschaft des Privateigentums beseitigen und letztlich im Kommunismus die Utopie gemeinsamen Produzierens herbeiführen. Die Genialität dieser Synthese von Denkströmungen des frü33 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O., S. 512. 139
hen 19. Jahrhunderts und des engen Bezugs zwischen den abstrakten Überlegungen und den sozialen Bewegungen der Zeit ist wohl unbestreitbar. Aber Marx' Synthese könnte auch zu genial gewesen sein! Durch den entscheidenden Schachzug, die Arbeit im ökonomischen Sinn durch eine anthropologisch gewendete Konzeption des sich verwirklichenden Geistes zu deuten, könnten auch Probleme verdeckt und verschoben worden sein, die sich an unerwarteten Stellen der Konstruktion dann wieder einstellen. Eine ganze Reihe solcher Probleme sind der Erwähnung wert. Zunächst einmal ist die Gleichsetzung der Arbeit mit einer Produktion im Sinne der Hervorbringung neuer Gegenstände fragwürdig. Es trifft ja keineswegs zu, daß alle Arbeit dem Muster handwerklichen (oder industriellen) Produzierens ähnelt. Die Handlungsstruktur bäuerlichen Wirtschaftens ist damit ebensowenig getroffen wie eine Vielzahl von Tätigkeiten, die vermittelnd, schützend und dienend in den Produktionskreislauf eingeschaltet sind. 34 Der typische Bereich der Hausarbeit, in der sich wiederholende Leistungen der Fürsorge und Ordnung erbracht werden, fügt sich ebensowenig dem Produktionsmodell der Arbeit. 35 Könnte schon hierauf der Vorwurf beruhen, daß Marx' Handlungstheorie von vornherein zu eng angelegt sei, dann verstärkt sich dieser negative Eindruck noch, wenn das Fehlen anderer Handlungsmodelle als desjenigen der Arbeit in den Blick tritt. 36 Der Vielfalt der Handlungsformen wird die expressivistische Deutung des Arbeitsbegriffs gewiß 34 Dies hat beispielsweise herausgearbeitet Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1956, S. 15ff. 35 Hierzu ist wichtig die Unterscheidung von »Arbeit« und »Herstellen« bei Hannah Arendt, Vita activa. Stuttgart i960. 36 Jürgen Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser Philosophie des Geistes, in: J.H., Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt/M. 1968, S. 9-47. Den avanciertesten, aus dem Bewußtsein gegenwärtiger theoretischer Problemlagen entspringenden Versuch, bei Marx eine Kommunikationstheorie zu identifizieren, hat vorgelegt: Hans Peter Krüger, Kritik der kommunikativen Vernunft. Kommunikationsorientierte Wissenschaftsforschung im Streit mit Sohn-Rethel, Toulmin und Habermas. Berlin 1990, v.a. S. 99-143. 140
nicht gerecht. - Eine tiefe Zweideutigkeit in Marx' Ansatz liegt weiterhin darin, daß Marx sowohl die Arbeit des Einzelnen wie der ganzen Menschengattung in den Begriffen der Selbstverwirklichung deutet. Diese Zweideutigkeit entsteht, wenn Prädikate von Hegels im Singular auftretendem »Geist« auf die notwendig plural zu denkende, aus einer Vielzahl einzelner Subjekte bestehende Menschheit übertragen werden. »Denn wenn die Entwicklung der Menschengattung im ganzen eine Vergegenständlichung ihres Wesens ist, dann kann keine der individuellen Selbstvergegenständlichungen, durch die hindurch die Menschengattung sich vergegenständlichen wird, eine des menschlichen Wesens sein, obwohl das Individuum als Exemplar der Gattung deren Wesen zu seinem Wesen hat. Umgekehrt: wenn die individuelle Arbeit schon eine Selbstvergegenständlichung des menschlichen Wesens ist, kann nicht die Entwicklung der Menschengattung im ganzen diese Selbstvergegenständlichung sein.« 37 Weil Marx die Metapher der Entäußerung und Wiederaneignung der Wesenskräfte auf individueller und universalistisch-kollektiver Ebene zugleich verwendet, stellt sich ihm das Problem nicht, wie denn individuelle und kollektive Emanzipation von Entfremdung zusammenhängen. Sie scheinen vielmehr von sich aus zur Deckung gebracht. - Daraus entstehen eine ganze Reihe weiterer Unklarheiten und Probleme. So scheint die Emanzipation des Proletariats wie selbstverständlich die universale Emanzipation zu sein. Alle anderen Emanzipationsbedürfnisse müssen dann wie Teile dieses einen großen revolutionären Emanzipationsprozesses erscheinen. Gleichzeitig bleibt 37 Ernst Michael Lange, Das Prinzip Arbeit. Drei metakritische Kapitel über Grundbegriffe, Struktur und Darstellung der »Kritik der politischen Ökonomie« von Karl Marx. Berlin 1980 hat dies energisch herausgearbeitet (vgl. bes. S. 62t). - Mein Problem mit Langes sonstiger Argumentation liegt darin, daß er Marx' Vorstellungen über Arbeit ganz im Sinne einer Entäußerung vorher konzipierter Pläne deutet und nicht im Sinn einer Wechselwirkung zwischen vagen Intentionen und der Beschaffenheit der Welt. Hier rächt sich sein ungenügender Rückgang auf die ausdrucksanthropologische Tradition. 141
der eine Träger dieses universalen Emanzipationsprozesses aber blaß: das Verhältnis des geschichtsphilosophischen Begriffs vom Proletariat zu den konkreten Gesellschaftsmitgliedern, die als proletarisch bezeichnet werden, und ihren Wünschen und Orientierungen bleibt höchst unklar. Immanent am unklarsten ist dabei, auf welchem Wege die entfremdeten Proletarier sich zur revolutionären Klasse bilden sollen. Es gibt dafür zunächst zwei vorstellbare Möglichkeiten. Zum einen könnten die Proletarier zur Revolution gerade über die totale Enteignung aller Wesenskräfte und die absolute Verelendung getrieben werden. Ich habe den Eindruck, daß Marx zur Zeit der Pariser Manuskripte diese Perspektive für wahrscheinlich hielt. Zum anderen könnten in der verformten Arbeitserfahrung Impulse für einen kritisch-revolutionären Bildungsprozeß liegen. Wenn Marx so gedacht hat, dann hat er allerdings keine Ansatzpunkte dafür geliefert, wie ein solcher Prozeß in der Wirklichkeit abläuft. Wenn Marx an einen Umschlag von der totalen Entfremdung in die totale Aneignung der enteigneten Kräfte gedacht hat, dann wären auch hier empirische Annahmen über den Zusammenhang von Verelendung oder Entfremdung und Radikalisierung wünschenswert. Es handelt sich bei der genialen Synthese von Denksträngen im Produktionsmodell des Handelns deshalb zunächst eindeutig um eine fast mythologische geschichtsphilosophische Konstruktion auf schmaler handlungstheoretischer Basis. Aus normativen Gründen wird die Einsicht in die Kreativität des Produzierens auf alles Arbeitshandeln ausgedehnt und zum Ausgangspunkt weitreichender Behauptungen über Gegenwart und Zukunft gemacht. Mit seinem Begriff der Arbeit hat Marx zwar die ausdrucksanthropologische Tradition in einer Weise weiterentwickelt, in der sie vor den Gefahren ästhetizistischer Verengung geschützt ist. Aber er bezahlt dafür mit einer anderen Form der Gleichsetzung der Kreativität des Handelns mit einer bestimmten Handlungsform: der produzierenden Arbeit. Die auftauchenden Probleme seiner Theoriekonstruktion hätten hier die Möglichkeit geboten, zwischen den technischen Fragen einer ökonomischen Theorie und dem normativen Sinn der Ausdrucksanthropologie schär142
fer zu unterscheiden. Aber eine solche Unterscheidung, die die politische Ökonomie als Wissenschaft und die von ihr geschilderte Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft nicht von jeder normativen Bewertung ausgespart, wohl aber einzelne von deren Institutionen und Mechanismen als gelungen oder akzeptabel zugelassen hätte, lag nicht in Marx' Absicht. Ebensowenig wollte er aber bei einer bloß philosophischen U m deutung der Ökonomie stehen bleiben. Sein Weg führte deshalb nicht zu einer selbstkritischen Revision des Schrittes, der mit der Genese des Produktionsbegriffs verbunden war, sondern zur eigentlichen Ausarbeitung eines umfassenden Produktionsparadigmas in der »Deutschen Ideologie« von 1845/46. Dieser umfangreiche, zu Marx' Lebzeiten ebenfalls unveröffentlichte Text stellt eine gedankenreiche, in ihrer Polemik aber oft überzogene Auseinandersetzung mit junghegelianischen Denkern, darunter auch Feuerbach, dar. In ihm vollzieht Marx die sozialwissenschaftliche Wendung seines Denkens. Er kombiniert nicht mehr bloß Ökonomie und Philosophie in einer abstrakten Geschichtskonstruktion, sondern will jetzt gerade weg von jeder solchen Konstruktion und hin zur Erforschung der wirklichen Geschichte. Diese empirische Erkenntnis der wirklichen Geschichte kann die Philosophie der Geschichte nur mehr als Heuristik verwenden. Entscheidend sei für sie vielmehr die richtige Wahl des Ausgangspunkts der Forschung. Als diesen Ausgangspunkt behauptet Marx die Tatsache der Existenz lebendiger menschlicher Individuen mit einer bestimmten körperlichen Organisation und einem darin angelegten Verhältnis zur Umwelt. Der Ausgangspunkt der Geschichtsbetrachtung ist also anthropologisch. Aber es ist eine ganz bestimmte Anthropologie, die sich laut Marx aus dem wirklichen Verhalten der Menschen ablesen läßt, und zwar eine anthropologische Nötigung zur Produktion. »Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation 143
bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.«38 Marx nutzt hier ganz entschieden die »materialistische« Konnotation des Produktionsbegriffs und spinnt aus dieser ersten geschichtlichen Tat weitere Annahmen seiner Geschichtstheorie hervor. Die Befriedigung der Bedürfnisse über Produktion führe zur Entstehung von Instrumenten der Befriedigung, verändere die Bedürfnisse und gestalte die Beziehungen zwischen den Menschen um. In groben Pinselstrichen entwickelt Marx hier ein Bild der Weltgeschichte und ihrer wesentlichen Phasen, für deren Unterscheidung die Entwicklung der Produktion ausschlaggebend ist. Es kommt hier nicht auf die Details der Geschichtsauffassung des historischen Materialismus an. Wichtig ist an dieser Stelle nur, daß Marx ohne Revision des Produktionsmodells des Handelns, auch unter Beibehaltung seiner Entfremdungskonzeption 39 , das Bild einer Gesellschaft entwirft, die sich als eine systemische Totalität unter dem funktionalen Primat der Produktion bezeichnen ließe. Dabei behalten seine Grundbegriffe noch etwas vom überschwenglichen Klang des Produktionsmodells der Handlung. Der zentrale Begriff der Produktivkraft wird noch als produktive Kraft der Menschen gedeutet und nicht als eine von den Menschen abgelöste Technik. Wo dies nicht der Fall ist, steckt darin gerade ein Symptom der Entfremdung: dann »erscheinen die Produktivkräfte als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigne Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind«. 40 Die institutionellen Formen des Produzierens tragen zu dieser Zeit noch nicht den später von Marx verwen38 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, Berlin 1969, hier S. 21. 39 ebd., S. 34, wenn auch mit leichter ironischer Selbstdistanzierung: »Diese >Entfremdung<, um den Philosophen verständlich zu bleiben...« 40 ebd., S. 6j. 144
deten Namen der »Produktionsverhältnisse«, sondern der »Verkehrsformen«. Damit ist zwar der Bezug zu den miteinander verkehrenden Menschen deutlich; Marx' Text läßt sich aber keine eigenständige handlungstheoretische Begrifflichkeit für diesen »Verkehr« der Menschen entnehmen.41 Wenn von ihm die Fortpflanzung als Produktion fremden Lebens gefaßt wird und die Rede auf die Produktion des Bewußtseins und die Produktion der Verkehrsformen selbst kommt, dann verliert der Begriff der »Produktion« jede Trennschärfe. Intendierte wie nicht-intendierte, selbstverwirklichende wie entfremdete Tätigkeiten können dann als Produktion bezeichnet werden. Offensichtlich fallen dann auch Tätigkeiten unter die Bezeichnung »Produktion«, die nicht als Arbeit zu klassifizieren sind. Sprachliches und Kulturelles, das für die Entstehung des Ausdrucksmodells entscheidend gewesen war, wird von Marx' Transformation des Ausdrucks- zum Produktionsmodell nun in eine epiphänomenale Position abgedrängt. Es interessiert Marx nicht, die Anwendbarkeit seines Produktionsmodells zu reflektieren. Er macht sich dessen normative Untertöne zunutze, arbeitet es aber vornehmlich zu einer Gesellschafts- und Geschichtsauffassung aus, in der alles vom funktionalen Primat der Produktion gekennzeichnet ist. Noch nicht so stark ausgeprägt wie in den folgenden Arbeiten, aber doch vorhanden ist in der Deutschen Ideologie die Depotenzierung des Produktionsmodells zu einer technologischdeterministischen Theorie am Leitfaden der Produktivkraftentwicklung. Aber schon die Vorstellung, alle gesellschaftlichen Phänomene einschließlich der kulturellen seien im wesentlichen als Resultate des Arbeitens zum Zwecke der Überlebenssicherung zu verstehen, stellt eine schwer zu verteidigende These dar. Die Fragestellung nach den Möglichkeiten einer Überwindung der Entfremdung wird durch sie verändert. Nicht mehr ein revolutionärer Akt der Selbstbesinnung und Wiederaneignung der Wesenskräfte in einem zeitlosen Raum kann jetzt die Bedingungen für die Aufhebung der Entfremdung schaffen, sondern nur die weitere Entwicklung 41 Vgl. aber Krüger, a.a.O., S. 100ff. H5
der Produktivkräfte und deren Konflikt mit den bestehenden Verhältnissen, in dem allerdings eine Klasse aktiv wird, um diese Verhältnisse zu verändern und damit der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte den Weg freizugeben. Marx' weiteres Lebenswerk ist von einer immer breiteren Ausarbeitung seiner kritischen Umdeutung der politischen Ökonomie sowie von einer beeindruckenden Fülle historischer und politischer Einzelanalysen gekennzeichnet. Insbesondere das Hauptwerk »Das Kapital« stellt einen fundamentalen Umbau von Marx' Kapitalismuskritik dar. Während in den bisher erwähnten Schriften die Unmöglichkeit der Selbstverwirklichung in der Arbeit unter Bedingungen des Privateigentums konstitutiv für Marx' Theoriekonstruktion war, tritt noch nicht in den »Grundrissen«, wohl aber im »Kapital« eine ganz andere Form der Anknüpfung an die Idee des sich selbst setzenden Geistes an diese Stelle. Nicht mehr der einzelne Produzent, sondern das Kapital wird jetzt mit den Prädikaten des »Geistes« und seiner Entwicklung ausgestattet. In solcher Verkürzung muß dieser Umbau unverständlich erscheinen. Aber Marx konnte sich hiervon eine größere Chance erhoffen, eben nicht als moralisierender, von einem externen Standpunkt aus argumentierender Kritiker des Kapitalismus zu erscheinen, sondern als strenger Erforscher der immanenten Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus; aus dieser immanenten Untersuchung aber würde sich um so überzeugender ergeben, daß der Kapitalismus seinen eigenen Totengräber hervorbringt und dem Untergang geweiht ist. Damit werden die Prädikate der Subjektivität und Kreativität nun nicht mehr anthropologisch fundiert, sondern in Form einer Nachahmung von Hegels dialektischer Logik auf ein - die Subjektivität der unters Kapitalverhältnis subsumierten Individuen gerade vernichtendes - Subjekt Kapital übertragen. Nicht der sich selbst setzende Geist oder die sich selbst in der Arbeit setzende menschliche Wesenskraft, sondern der sich verwertende Wert steht nun im Zentrum der Analyse. Die Probleme des Produktionsparadigmas werden damit auch bei diesem weitgehenden Umbau von Marx' Theorie nicht reflektiert, sondern eher verschärft. Zwar ist die polemische Absicht hin146
ter der Deutung des Kapitals als Subjekt unübersehbar; natürlich ist das Kapital nicht jenes emphatische Subjekt, auf das die Anthropologisierung der Idee des »Geistes« gezielt hatte. Aber durch die Ausstattung des Kapitals mit diesen Zügen wird nicht nur in krasser Weise die Verselbständigung gesellschaftlicher Prozesse von den Absichten und Wünschen der Handelnden hervorgehoben, sondern es wird auch begrifflich schwer oder unmöglich, die Quellen einer gegen das Kapital gerichteten Subjektivität zu fassen. Je konsequenter die ganze Theoriekonstruktion auf den Kapitalismus als ein sich produzierendes und reproduzierendes System abgestellt wird, desto inkonsistenter ist die Erwartung, daß reale handelnde Personen dieses System ändern oder abschaffen könnten - eben die Erwartung aber, auf die die performative Absicht des Textes zielt. An das »Kapital« konnten deshalb Deutungen anschließen, die den Kapitalismus als hermetisch geschlossenes Universum der Unterdrückung und Entfremdung ansahen und entsprechend nur eine totale Revolution als Sprengung dieses Universums in den Blick nehmen konnten. 42 Für das neue Zeitalter scheint dann die vollständige Beherrschung der gesellschaftlichen Entwicklung durch die »freie Assoziation der Produzenten« als denkbar. Wenn aber eine derartig manichäische Geschichtsdeutung nicht akzeptiert wird und deshalb vorsichtiger die vom Kapitalverhältnis ausgehenden Subsumtionstendenzen gegen die sich allerorten wehrende Subjektivität der Akteure gesetzt werden 43 , kann die Kapitalanalyse nur ein Teil und nicht der paradigmatische Teil einer an Marx anküpfenden Gesellschaftstheorie sein. Unabhängig davon, in welcher Weise Marx selbst den logischen Status seines »Kapital«-Buches gedacht haben mag - die Mittel, die er liefert, transformieren den technologischen Determinismus des Produktionsparadigmas in der »Deutschen Ideologie« in einen kapitallogischen Determinismus. Wie merkwürdig verschoben die Bestandteile eines Modells kreativen Handelns hier 42 Klassisch: Georg Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin 1923. 43 Johann Päll Arnason, Zwischen Natur und Gesellschaft. Studien zu einer kritischen Theorie des Subjektes. Frankfurt/M. 1976. 147
auch sein mögen, noch in der kapitallogischen Gestalt ist der Einfluß solcher auf Kreativität bezogener Ideen konstitutiv. Die Spezifik von Marx' Kritik der politischen Ökonomie in ihren verschiedenen Versionen gegenüber der eigentlichen politischen Ökonomie ist ohne diesen Einfluß nicht zu verstehen. Der im Produktionsmodell des Handelns steckende normative Gehalt einer freien Selbstverwirklichung aller Individuen in ihrer Arbeit war weder im technologischen noch im ökonomischen Determinismus späterer Versionen des Marxismus deutlich erkennbar geblieben. Es war deshalb naheliegend, daß sich der humanistische Protest marxistischer Intellektueller gegen den Utopieverlust der marxistisch inspirierten Parteien und ihrer Version von Marxismus immer wieder durch einen Rückgriff auf diesen überschwenglichen Gehalt der Begriffe des jungen Marx artikulierte. Ansätze dazu gab es schon in der Zwischenkriegszeit; sie erhielten neue Kraft durch die Veröffentlichung eines Teils der bis dahin ja unbekannt gebliebenen frühen Arbeiten von Marx. Vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten anti-stalinistische Intellektuelle in Jugoslawien, Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei, aber auch in Westeuropa, den Marxismus in »praxisphilosophischer« Weise zu erneuern. Als Praxisphilosophie wurde dabei weniger eine Anknüpfung an die antike praktische Philosophie als eine Theorie verstanden, die die Produktionsmetaphorik von Marx zum Ideal allen gelingenden Handelns stilisierte und an Gesellschaften den normativen Maßstab anlegte, ob deren Strukturen zu Recht als Resultate des Willens der Gesellschaftsmitglieder aufgefaßt werden können. Die Gefahr praxisphilosophischer Erneuerungsversuche des Marxismus war dabei stets, daß sie zu bloßen humanistischen Proklamationen verkamen und die innere Widersprüchlichkeit von Marx' Entwicklung eher glätteten als nachwiesen, um dem eigenen Anspruch, gegen die Ideologie des Marxismus-Leninismus den wahren Marx zu präsentieren, nicht zu schaden. 44 Vor allem aus dem Kreis der Budapester 44 Dies gilt selbst für den wohl brillantesten Versuch eines osteuro148
Lukäcs-Schüler gingen aber Versuche hervor, durch eine Relativierung und interne Differenzierung des Produktionsparadigmas an den Ansprüchen der Praxisphilosophie festzuhalten und der genannten Gefahr zu entgehen. So hat Agnes Heller in mehreren Arbeiten 45 scharf zwischen einem Arbeits- und einem Produktionsparadigma bei Marx zu unterscheiden versucht. Sie verteidigt das Paradigma der Arbeit, weil es auf anthropologischer Ebene die romantischen und emanzipatorischen Züge von Marx' Denken enthält, d. h. den Anspruch auf Sinnerfüllung und Kreativität an die menschliche Arbeit formuliert. Sie lehnt das Paradigma der Produktion ab, worunter sie nun den ganzen geschichtstheoretischen Komplex einer Ableitung gesellschaftlicher Entwicklungen aus der Entwicklung der Produktivkräfte oder der Logik des Produktions- und Kapitalverwertungsprozesses versteht. Durch diese Unterscheidung glaubt sie, den normativen Gehalt von Marx' Idee der Arbeit gegen die produktivistische Geschichtsphilosophie retten zu können, die in unserer Zeit der unübersehbar gewordenen ökologischen Folgen des Wachstums der Produktivkräfte weniger haltbar als je erscheint. Sicher ist sie im Recht, wenn sie durch ihre Unterscheidung darauf aufmerksam macht, daß aus der Idee kreativen Handelns in der Arbeit sich Marx' Geschichtstheorie nicht mit logischer Zwangsläufigkeit entwickelte. Aber weder auf der Ebene der MarxInterpretation noch auf der der Theoriebildung erscheint die von ihr vorgeschlagene Lösung überzeugend. Agnes Hellers Unterscheidung, so berechtigt sie ist, hat kein richtiges Penpäischen Autors: Karel Kosik, Dialektik des Konkreten. Frankfurt/M. 1967. Zum genannten Kritikpunkt vgl. auch Jean Cohen, Class and Civil Society. The Limits of Marxian Critical Theory. Amherst, Mass. 1982, S. 235, Anm. 39. 45 Agnes Heller, Paradigm of Work-Paradigm of Production, in: A.H., The Power of Shame. London 1985, S. 57-70; außerdem dies., Habermas and Marxism, in: John B. Thompson/David Held (eds.), Habermas. Critical Debates. London 1982, S. 21-41. Zu Agnes Hellers eigenem Entwurf einer Praxisphilosophie vgl. v. a. ihr Buch: Das Alltagsleben. Frankfurt/M. 1978. (Dort auch meine Einleitung, S. 7-23.) 149
dant in Marx' eigenen Schriften, in denen eben diese Unterscheidung nicht gemacht und in unklarer Weise zwischen den verschiedenen Verwendungsweisen des Produktionsbegriffs hin und her gewechselt wird. 46 In theoretischer Hinsicht gesteht Agnes Heller unter Habermas' Einfluß zwar zu, daß auch ein Paradigma der Arbeit Mängel habe, weil es der intersubjektiven Struktur menschlichen Handelns nicht gerecht werde; für das Arbeitshandeln selbst scheint ihr aber wie dem späten Lukäcs, dessen Ontologie sie als Versuch zur Wiederbelebung des Arbeitsparadigmas versteht, eine Kombination von teleologischer Setzung eines Arbeitsziels mit kausaler Auslösung der notwendigen Teilhandlungen hinreichend. 47 Damit zahlt Agnes Heller für ihr Festhalten an der Idee nichtdeformierter Zwecktätigkeit den hohen Preis, alles Handeln gegenüber Objekten - wie in der marxistischen Tradition üblich - nach dem Muster der Arbeit zu deuten. Eine andere Variante einer zeitgenössischen Fortsetzung von Motiven der marxistischen Praxisphilosophie hat György Markus vorgelegt, ein ehemaliger Budapester Kollege von Agnes Heller. 48 Er will gegen Habermas' schroffe Unterscheidung von Arbeit und Interaktion deutlich machen, daß Marx' Arbeitsbegriff sowohl auf handlungs- wie auf gesellschaftstheoretischer Ebene Potentiale enthält, die von der Deutung der Arbeit als eines lediglich instrumentalen Handelns nicht ausgeschöpft werden. Auf handlungstheoretischer Ebene geht es ihm vor allem um die Tatsache, daß sich in den Produkten menschlicher Arbeit laut Marx nicht nur innere Wesenskräfte 46 Vgl. hierzu die Argumente von Johann Päll Arnason in ders., Praxis und Interpretation. Frankfurt/M. 1988, hier S. 315, Anm. 34. 47 Georg Lukäcs, Ontologie-Marx. Neuwied 1972; ders., Ontologie - Arbeit. Neuwied 1973. Der Hintergrund meiner Kritik dieses Schemas kann erst im dritten Kapitel dieses Buches durch die Kritik eines teleologischen Verständnisses von Intentionalität deutlich werden. (Abschnitt 3.1.) 48 György Markus, Die Welt menschlicher Objekte. Zum Problem der Konstitution im Marxismus, in: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hg.), Arbeit, Handlung, Normativität. Frankfurt/M. 1980, S. 12-136. 150
des Arbeitenden, sondern auch Regeln angemessenen Gebrauchs und soziale Verteilungsnormen niederschlagen. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene erlaube deshalb Marx' Ansatz, die Einheit von Arbeitsprozeß und Reproduktion gesellschaftlicher Beziehungen zu denken, die durch Habermas' Übersetzung seiner handlungstheoretischen Grundunterscheidung in eine Differenzierung gesellschaftlicher Sphären verlorenzugehen drohe. - Johann Arnason wiederum, der in vielem von Kosik und dem Budapester Kreis beeinflußt ist, versucht die Mehrdeutigkeit des Produktionsparadigmas bei Marx und im Marxismus herauszupräparieren. 49 Gegen den strukturalistischen Marxismus und gegen Habermas unternimmt er es, bei Marx vorhandene, aber in der typischen Form des Produktionsparadigmas nicht integrierbare Bedeutungsgehalte Marxscher Begriffe wie Aneignung, Selbstbetätigung, Assoziation bzw. freier Austausch zu mobilisieren. Der Begriff der Aneignung soll dabei in bezug zur Welt materieller Objekte, der Begriff der Selbstbetätigung hinsichtlich der subjektiven Welt und der Begriff der Assoziation hinsichtlich der sozialen Welt Horizonte eröffnen, die in Marx' anthropologischen Hintergrundüberlegungen wichtig blieben und sich dem Modell einer sich verabsolutierenden Zweckrationalität nicht fügen. - Axel Honneth schließlich entwickelt in Anknüpfung an industriesoziologische Forschung »die Differenz zwischen einer instrumentellen Handlung, in der das arbeitende Subjekt seine Tätigkeit an dem eigenen Wissen kreisprozeßhaft dirigiert und eigeninitiativ strukturiert, und einer instrumentellen Handlung, in der weder die handlungsbegleitende Kontrolle noch die gegenstandsgerechte Strukturierung der Tätigkeit dem Arbeitssubjekt selbst überlassen ist«. 50 Honneth will damit die Genese von Entfremdungsgefühlen in der Arbeitserfahrung, d.h. in der Erfahrung der Enteignung der eigenen Arbeitsbedingungen, ebenso im Blick bewahren wie die emanzipatorische Perspektive einer Befreiung von entfremdeten Arbeitsverhältnissen. 49 Johann Päll Arnason, Die Mehrdeutigkeit des Produktionsparadigmas, in: ders., Praxis und Interpretation, a.a.O., S. 11-53. 50 Axel Honneth, Arbeit und instrumentales Handeln, a.a.O. 151
Gewiß sind gegen alle diese Versuche der Anknüpfung ans Produktionsparadigma, so sehr man sie auch als Beleg für dessen noch nicht erschöpfte Fruchtbarkeit nehmen kann, Einwände möglich. Gegen Markus läßt sich vorbringen, daß das Ziel einer integrierten Rekonstruktion von verschiedenen Teilhandlungen oder Gesellschaftssphären noch nicht gegen analytische Differenzierungen spricht, ja daß umgekehrt oft eben nur auf dem Weg solcher Differenzierungen eine überzeugende integrierte Rekonstruktion möglich wird. Gegen Arnason läßt sich einwenden, daß seine Deutung von Marx zu einer Überinterpretation von Äußerungen Marxens tendiert, denen eben kein konzeptueller Status zukommt, so daß hier die von Marx' Theorie eben nicht eingefangenen Züge von Marx' Hintergrundwissen akzentuiert werden. Gegen Honneth läßt sich fragen, ob denn auf die Organisation der Arbeit gerichtete normative Forderungen einen anderen normenlogischen Status haben sollen als andere normative Forderungen. Wenn dies aber nicht der Fall sein sollte, dann würde sein kritischer Arbeitsbegriff lediglich auf eine empirische Dimension der Entstehung normativer Forderungen verweisen, nicht aber auf eine andere Weise der Normbegründung. Wohl niemand, der den Motiven dieser Autoren zugleich nahesteht, hat so energisch gegen das Produktionsparadigma und die Praxisphilosophie und alle zeitgenössischen Varianten ihrer Fortsetzung argumentiert wie Jürgen Habermas. Für ein Urteil über die heutige Bedeutung von Marx' Produktionsmetapher der Kreativität des Handelns ist deshalb eine Prüfung von Habermas' Einwänden abschließend unumgänglich. Habermas faßt in seiner in verschiedenen Schriften51 vorgetragenen Auseinandersetzung zunächst die Praxisphilosophie
51 An die Adresse von Agnes Heller in: J. Habermas, Replik auf Einwände (1980), in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1984, S. 475-570, hier S. 482-487, dort S. 485, Anm. 14 auch das Argument gegen Honneth; in verallgemeinerter Form und gegen Markus in ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 1985, S. 75-86 und S. 95-103; erneut und direkt gegen die 152
erstaunlich weit. Er rechnet hierzu nicht nur all die Spielarten eines auf Gramsci oder Lukäcs zurückgreifenden westlichen Marxismus, die sich selbst als Praxisphilosophie bezeichneten, sondern auch andere wie die Kritische Theorie und sogar »die radikaldemokratischen Spielarten des amerikanischen Pragmatismus (G.H. Mead und Dewey) und der analytischen Philosophie (Ch. Taylor)«. 52 Immerhin werden diese nicht alle zugleich auch als Vertreter des Produktionsparadigmas bezeichnet; hier unterscheidet Habermas gerade die über Lukäcs auf Max Weber zurückgehenden Varianten einer Rationalitätsund Rationalisierungskonzeption ohne Produktionsparadigma, so vor allem die Kritische Theorie Horkheimers und Adornos, von den phänomenologischen Erneuerungsversuchen des Produktionsparadigmas, etwa beim frühen Marcuse und bei Sartre oder Merleau-Ponty, bei denen aber - so Habermas - die innere Beziehung zwischen »Praxis« und »Rationalität« abhanden komme. Diese Differenzierung macht freilich nicht recht klar, wo Pragmatisten und analytische Philosophen sowie neuere Verfechter einer Synthese von Phänomenologie und Marxismus nun einzuordnen sind. Die außerordentlich breite Definition von Habermas' Angriffsziel erschwert es, die vorgetragenen Argumente, die oft nur auf einige wenige Vertreter zutreffen, auf andere aber eben nicht, auf die genannten Autoren zu beziehen. Klar ist die Absicht, in keiner der genannten Denkweisen eine Chance zur Überwindung der Mängel der anderen kritisierten Varianten zu sehen. Habermas fügt unter einer Kategorie heterogene Theorien zusammen, deren gemeinsames Merkmal zunächst nur ist, daß sie nicht in der »Theorie des kommunikativen Handelns« eine restlose Abgeltung der normativen Ansprüche älterer handlungstheoretischer Traditionen sehen. Was aber sind nun die Haupteinwände von Habermas gegen Kritiken von McCarthy, Honneth und mir an der »Theorie des kommunikativen Handelns« in seiner »Entgegnung«, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1986, S. 327-405, v.a. S. }j6i und S. 391 ff. 52 Habermas, Diskurs, a.a.O., S. 79, Anm. 14. J
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die Praxisphilosophie im weiteren und das Produktionsparadigma im engeren Sinne ? Gegen die Praxisphilosophie sprechen für Habermas vor allem drei Argumente. Erstens sei deren Vorstellung von Arbeit von einer romantischen Verklärung handwerklicher Tätigkeiten gekennzeichnet. (Es überrascht, daß dies nicht als Merkmal des Produktionsparadigmas behandelt wird, sondern der Praxisphilosophie, zu der auch der Pragmatismus zählen soll!) Zweitens neige alle Praxisphilosophie zu einer Verdammung »aller strukturellen Differenzierungen, die nicht in den Orientierungshorizont der handelnden Subjekte eingeholt werden können« 53 und damit zu einer naiven Bevorzugung einer Entdifferenzierung komplexer Gesellschaften, wenn nicht gar zu einer gefährlichen Förderung von gesellschaftliche Steuerung beanspruchenden H y per-Makrosubjekten. Drittens sei die Begründbarkeit der in den Praxisbegriff eingelassenen normativen Postulate höchst unklar und fragwürdig. Gegen das Produktionsparadigma im speziellen führt Habermas an, daß es keine begrifflichen Mittel bereitstelle, das Verhältnis zwischen produzierender Arbeit und anderen kulturellen Äußerungsformen aufzuklären. Weiterhin wird auch hier die normative Unklarheit gerügt. Schließlich erklärt Habermas das Produktionsparadigma aus empirischen Gründen für veraltet, da es »mit dem historisch absehbaren Ende der Arbeitsgesellschaft seine Plausibilität verliert«. 54 Diese verschiedenen Einwände lassen sich unter drei Titeln systematisieren. Es handelt sich offensichtlich um empirische, normative und um im engeren Sinn handlungstheoretische Einwände. Der empirische Typus von Einwänden hat seinen Ursprung in Habermas' Behauptung einer Bindung des Produktionsparadigmas an das Zeitalter der »Arbeitsgesellschaft«. Wenn das Produktionsparadigma als Stilisierung handwerklicher Arbeit zu verstehen ist, dann verliert es mit deren Zurückdrängung, mit dem Scheitern »kunsthandwerklicher« Reformversuche der Industriearbeit ä la John Ruskin und William Morris und erst recht mit der schwindenden Bedeutung der Arbeit für die 53 ebd., S. 83. 54 ebd., S. 99. 154
Individuen durch Arbeitszeitverkürzung und Wertewandel seinen weltbewegenden Sinn oder wird doch auf die bloße Forderung einer Humanisierung der Arbeitswelt reduziert. Dieses empirische Argument kann natürlich nur empirisch überprüft werden; dafür ist hier nicht der geeignete Ort. Zweierlei Bedenken sind aber festzuhalten. Zunächst einmal könnte die Rede vom historisch absehbaren Ende der Arbeitsgesellschaft doch voreilig sein. Die Abnahme arbeitszentrierter Werte und körperlich schwerer Arbeit gilt zunächst ja nur für wenige hochentwickelte Industriegesellschaften; betrachten wir die Zukunft der Arbeit im Weltmaßstab, ist zu solchem Optimismus zunächst kein rechter Anlaß. Aber auch in den höchstentwickelten Gesellschaften sind neue Formen der Arbeitstätigkeit im Entstehen, an die die Frage nach der Chance der Selbstverwirklichung in der Arbeit ebenso zu richten ist, wie dies in der Kontrastierung von handwerklicher und frühindustrieller Arbeit geschah. Doch selbst wenn wir mit Habermas das Ende der Arbeitsgesellschaft für absehbar halten sollten, ist immer noch nicht klar, warum dann die Forderung nach kreativer Betätigung sich nicht verstärkt auf die Freizeitsphäre richten sollte. N u r weil Habermas »Produktion« nicht als eine Metapher der Kreativität allen Handelns versteht, bleibt ihm die mögliche Aktualität einer Entkoppelung von »Kreativität« und produzierender Arbeit verborgen. Das Ende der Arbeitsgesellschaft ist ja nicht gleichzusetzen mit einem Bedeutungsverlust der Kreativitätsidee. Eine gewisse Parallele hierzu zeigt sich auf normativer Ebene. Habermas insistiert meines Erachtens zu Recht darauf, daß normative Ansprüche aller Art nur in einem diskursiven Verfahren begründet werden können. Aber mit diesem Argument ist dreierlei doch keineswegs begründet, obwohl Habermas dies anzunehmen scheint. Es kann erstens gelten, daß in der »Produktions«- oder - allgemeiner - der Kreativitätsidee normative Gehalte stecken, die von der bloßen Etablierung normbegründeter Diskurse noch nicht erfüllt sind. Es kann zweitens nicht abgewiesen werden, daß für die Anwendung von Normen in Handlungssituationen selbst normative Regeln gelten, die aber mit den Regeln der Normbegründung nicht 155
zusammenfallen. 55 U n d es kann schließlich drittens aus einer Unklarheit normativer Implikationen in den Begriffen der »Praxis« und der »Produktion« nicht auf die handlungstheoretische Unbrauchbarkeit dieser Begriffe geschlossen werden. N u r wenn die Anlage der Handlungstheorie von vornherein unter dem Gesichtspunkt einer Entsprechung zwischen einem (kommunikativen) Handlungstypus und den Notwendigkeiten einer kommunikativen Fassung des Rationalitätsbegriffs konzipiert wird, läßt sich das Argument von normativen Unklarheiten im Handlungsbegriff der praxisphilosophischen Tradition als handlungstheoretischer Einwand gegen die Berücksichtigung des in dieser Tradition gemeinten Handelns geltend machen. Damit ist schließlich auch schon eine Stellungnahme zu Habermas' handlungstheoretischen Argumenten gegen Praxisphilosophie und Produktionsparadigma eingeführt. Habermas verteidigt meines Erachtens wiederum zu Recht die Notwendigkeit einer strikten Unterscheidung des Handelns gegenüber Objekten vom Handeln gegenüber Mit-Subjekten, und ebenso berechtigt ist sein Insistieren auf der Notwendigkeit, in gesellschaftstheoretischer Analyse verschiedene Handlungstypen miteinander zu verknüpfen. Aber dieses Argument rechtfertigt nicht, von Ansätzen abzusehen, die eben nicht die Differenz instrumentelles/kommunikatives Handeln verwischen oder für unwichtig erklären wollen, sondern vielmehr auf gemeinsame Merkmale allen Handelns, des instrumenteilen wie des kommunikativen Handelns, zielen. Und solche Merkmale muß es geben, wenn die Subsumtion beider 55 Mit einigen dieser Fragen zu den normativen Implikationen der Handlungstheorie im Spannungsfeld von Diskursethik und pragmatistischer Ethik habe ich mich kurz auseinandergesetzt in: HJ., Die Kreativität des Handelns und die Intersubjektivität der Vernunft. Vorwort 1989 zur 2. Auflage von HJ., Praktische Intersubjektivität. Frankfurt/M. 1989, S. vii-xxxin (jetzt auch in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 281-308). Sehr wichtig ist hier das Buch von Klaus Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht. Frankfurt/M. 1988. 156
Typen unter das gemeinsame Genus »Handeln« einen Sinn haben soll. Das Produktionsmodell des Handelns ist dann nicht als Alternative zum Typus des kommunikativen Handelns zu sehen, sondern als ein - problematischer - Versuch, die zentrale Bestimmung allen Handelns - seine Kreativität metaphorisch zu erfassen. Empirische, normative und handlungstheoretische Argumente gegen Habermas* Kritik zielen deshalb alle, richtig verstanden, in dieselbe Richtung. Selbst wenn die Idee der »Produktion« bei Marx zu einer unhaltbaren Gesellschaftsund Geschichtsauffassung führte und selbst wenn ein Großteil der Einwände, die Habermas erhebt, zutreffen, heißt die Schlußfolgerung daraus nicht, diese Denktradition einfach abzubrechen. Es ist vielmehr nötig und möglich, die in ihr enthaltene Kreativitätsidee unabhängig von den marxistischen Konnotationen zu entfalten und dadurch zu einer allgemeinen Handlungstheorie und einer auf ihr beruhenden Gesellschaftstheorie beizutragen. Der einzige Autor, der diesen Schritt aus den Aporien des westlichen Marxismus heraus zu einer Kreativitätstheorie bisher konsequent gegangen ist, ist Cornelius Castoriadis. 56 Seine Theorie stellt eine immanente Überwindung der Tradition des Produktionsparadigmas dar. Diese Überwindung zehrt allerdings zunächst davon, daß Castoriadis einen ganz anderen Strang von Marx' Handlungstheorie zusätzlich in den Blick rückt, nämlich Marx' Idee eines »revolutionären« Handelns.
56 Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Frankfurt/M. 1984. Zur Würdigung der Spezifik von Castoriadis' politischer Philosophie vgl. meinen Aufsatz: HJ., Institutionalisierung als kreativer Prozeß, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), S. 585-602 (jetzt auch in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 146-170). - Habermas versucht, auch Castoriadis seiner Kritik an der Praxisphilosophie zu subsumieren; vgl. Habermas, Diskurs, a.a.O., S. 380-389. J
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2.3 R e v o l u t i o n Marx analysiert die innere Dynamik revolutionärer Prozesse und damit revolutionäres Handeln insbesondere in denjenigen seiner Schriften, in denen er unmittelbar auf revolutionäre Ereignisse seiner Zeit eingeht; es handelt sich dabei keineswegs um distanzierte Geschichtsschreibung, sondern um die Auswertung der Geschehnisse zu Zwecken politischer Orientierung. Die wichtigsten Studien dieser Art beziehen sich auf Frankreich, und zwar zunächst auf die Ereignisse von der Pariser Februarrevolution von 1848 bis zum Staatsstreich Napoleons i n im Jahr 1851 und dann auf den KommuneAufstand des Jahres 1871. Das Verhältnis zwischen diesen historiographischen Arbeiten und dem politökonomischen Kernbereich von Marx' Werk ist allerdings recht unklar. Marx und Engels selbst scheinen hier kein Problem gesehen zu haben; für sie dürfte zwischen der Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie und der Analyse zeitgenössischer »Klassenkämpfe« ein thematisches Ergänzungsverhältnis vorgelegen haben. Ein solches Ergänzungsverhältnis kann vorliegen, wenn sich die Prämissen der beiden Analysebereiche nicht widersprechen und damit geschichtliche Analysen als Anwendung - und bei erfolgreicher Anwendung: als Bestätig u n g - der im Produktionsparadigma wurzelnden Geschichtsauffassung gelten können. Es geht dann in der Geschichtsschreibung um den Nachweis des Klassencharakters der politischen Parteien und der Ideologien, letztlich aller Handlungen und Entscheidungen. So charakterisiert Engels in seiner Vorrede von 1885 zur dritten Auflage der wichtigsten dieser Arbeiten, nämlich Marx' Schrift »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, das Werk als Probe auf das große, von Marx herausgefundene Bewegungsgesetz aller Geschichte, nämlich »das Gesetz, wonach alle geschichtlichen Kämpfe, ob sie auf politischem, religiösem, philosophischem oder sonst ideologischem Gebiet vor sich gehen, in der Tat nur der mehr oder weniger deutliche Ausdruck von Kämpfen gesellschaftlicher Klassen sind, und daß die Existenz und damit auch die Kollisionen dieser Klassen wieder bedingt sind durch den Ent158
wicklungsgrad ihrer ökonomischen Lage, durch die Art und Weise ihrer Produktion und ihres dadurch bedingten Austausches«. 57 Im kanonisierten Marxismus wurde weitgehend von einem solchen spannungsfreien Verhältnis der Analysebereiche ausgegangen. Aber auch der »praxisphilosophische« Marxismus vermischte meist in seinem Pathos menschlicher Selbsterzeugung die doch sehr verschiedenen Handlungstypen einer Produktion materieller Gegenstände und einer Herbeiführung einer revolutionären Veränderung der Gesellschaft. In der jüngeren Marxismus-Diskussion haben allerdings einige Autoren den Kontrast zwischen den handlungstheoretischen Annahmen in Marx' Analysen von »Klassenkämpfen« und dem Produktionsmodell klar herausgearbeitet. So akzentuiert Habermas in seiner Untersuchung erkenntniskonstitutiver Interessen die Differenz zwischen einer »Selbsterzeugung durch produktive Tätigkeit und Bildung durch kritischrevolutionäre Tätigkeit« 58 ; gerade die Unklarheit Marxens an diesem Punkt sei die Wurzel eines falschen Selbstverständnisses des Marxismus, insofern in dieser Differenz »die Differenz zwischen strikter ErfahrungsWissenschaft und Kritik« 59 angelegt sei und sich damit ein naturwissenschaftliches Selbstmißverständnis von Marx' Wissenschaft vom Menschen aufzwinge. Noch pointierter trennt Castoriadis in seiner Bilanz des Marxismus zwischen dem ökonomischen Determinismus der materialistischen Geschichtsauffassung und der Lehre vom Klassenkampf. Ein einfaches ErgänzungsVerhältnis ist für ihn undenkbar. Wenn wirklich die materialistische Geschichtsauffassung gelten soll, dann reduziert dies die Klassen zu bloßen Agenten des Geschichtsablaufs. »Akteure sind sie höchstens im Sinne von Theaterschauspielern, die einen im voraus fest57 Friedrich Engels, Vorrede [zur dritten Auflage (1885) »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« von Karl Marx], in: M E W 8, Berlin 1972, S. 561-562, hier S. 562. Derselbe Band enthält Marx' Brumaire-Schrift, S. 111-207. 58 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1968,
S.7759 ebd., S. 85. 159
gelegten Text rezitieren, vorherbestimmte Gesten ausführen und - ob sie nun gut oder schlecht spielen - den Fortgang der Tragödie zum unerbittlichen Ende nicht aufhalten können.« 60 Wenn aber die Lehre vom Klassenkampf gerettet werden soll, dann gehe dies nur durch den Nachweis, daß die von Marx formulierten ökonomischen Gesetze ihren Sinn erst durch den Klassenkampf erhielten. Das soll beispielsweise heißen, daß ein für die Marxsche ökonomische Theorie so zentraler Gedanke wie der vom Wert der Ware Arbeitskraft logisch unvollständig sei ohne einen Rückgriff auf die Bestimmung dieses Werts nicht durch eine Wissenschaft, sondern in den Auseinandersetzungen zwischen Kapitalisten und Arbeitern. Die ökonomischen Kategorien beziehen sich dann aber nicht mehr auf eine Basis aller anderen sozialen Prozesse, sondern enthalten ein Moment der Unbestimmtheit, das erst durch die Auseinandersetzung um die Bestimmung beseitigt wird. Castoriadis beschreitet mit dieser Privilegierung des Klassenkampfbegriffs einen Weg, der ihn zur völligen Verwerfung des Marxismus und gleichzeitigen Beibehaltung des Pathos der Revolution führen wird. Der gemeinsame Hintergrund für die Sensibilität von Habermas und Castoriadis gegenüber dieser Inkonsistenz in Marx' Denken scheint mir in Maurice Merleau-Pontys philosophischer Deutung der Revolutionskonzeption von Lenin und Trotzki zu liegen.61 Unter den Bedingungen Rußlands mußten revolutionärer Wille und evolutionistische Geschichtstheorie noch stärker kollidieren als bei Marx und Engels selbst. Während Lenin dazu neigte, den kapitalistischen Charakter Rußlands überzubetonen und damit von der Rückständigkeit des Landes, auf dessen Revolutionierung er hinarbeitete, abzulenken 62 , entwickelte Trotzki aus Marxschen Anregungen die 60 Castoriadis, a.a.O., S. 53. 61 Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik. Frankfurt/M. 1968. 62 Wladimir Iljitsch Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, in: Lenin, Werke, Bd. 3, Berlin 1963. - Eine interessante Kritik an Lenins Theorie von Kapitalismus und Imperialismus legte vor: Bernd Rabehl, Marx und Lenin. Widersprüche einer 160
Idee der permanenten Revolution. 63 Damit soll der Gedanke formuliert werden, daß in Gesellschaften, in denen noch keineswegs im marxistischen Sinn von einem kapitalistischen Reifezustand auszugehen ist, gleichwohl eine proletarischsozialistische Revolution möglich sei, ja daß sogar jede U m wälzung in diesen Gesellschaften die Tendenz habe, in eine solche Revolution überzugehen, da die Entwicklungen aller Gesellschaften nicht einfach nebeneinander nach demselben Stadienschema verlaufen, sondern miteinander verknüpft sind. »Diese Idee einer überzeitlichen Revolution - vorweggenommen, ehe noch ihre objektiven Bedingungen zusammengekommen sind, stets zu korrigieren, selbst dort, w o sie es sind, überall in >embryonaler< Form gegenwärtig, und niemals irgendwo vollendet, beständig herumgeisternd in der Geschichte und permanente Rechtfertigung des Willens, der die jeweiligen moralischen Läuterungen begründet, indem er ihnen das Siegel der Wahrheit aufdrückt - , das ist nichts anderes als die marxistische Idee einer ohne Praxis unvollendeten Welt, einer Praxis, die zur Definition der Welt gehört.« 64 Mit dieser Idee, der sich Lenin im Kontext der Oktoberrevolution annäherte, werden die Ursprünge einer Revolution nicht nur im innergesellschaftlichen Bereich gesucht und wird eine endogene Tendenz revolutionärer Prozesse zur Ausdehnung und Veränderung der Zielsetzung unterstellt. Dies sind gewiß fruchtbare Anregungen für eine historische Soziologie revolutionärer Prozesse. Im vorliegenden Zusammenhang interessieren aber nur die handlungstheoretischen Folgen. Während in der russischen Entwicklung die Ideologie des MarxismusLeninismus jede sinnvolle Ausarbeitung einer Handlungstheorie unterband 65 , reagierten viele marxistische Intellektuelle auf die russische Revolution mit einer revolutionstheoreideologischen Konstruktion des »Marxismus-Leninismus«. Berlin 197363 Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven. Die permanente Revolution. Frankfurt/M. 1971. 64 Merleau-Ponty, a.a.O., S. 105. 65 Diese Bemerkung soll aber nicht verdecken, daß in der sogenannten kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie und 161
tischen und anti-evolutionistischen Deutung des Marxschen Erbes. Bei Lukäcs wie bei Gramsci provozierten der Erfolg der Bolschewiki und die Frage nach den Bedingungen einer erfolgreichen Revolution im Westen eine weitreichende und eigenständige Reinterpretation des historischen Materialismus. Merleau-Ponty wiederum, der diesen Versuchen den Namen »westlicher Marxismus« gab, reflektiert - eine Generation später - den Zusammenhang zwischen den Greueln des Stalinismus und ihrer zumindest partiellen Rechtfertigung auch durch den westlichen Marxismus einschließlich der Existenzphilosophie Sartres. Diese Reflexion führt ihn über den Aufweis der Selbständigkeit eines »Revolutionsparadigmas« hinaus zu einer Entmythologisierung der Revolution. Damit bereitet Merleau-Ponty den Boden sowohl für die Darstellung eines bei Marx nur in Ansätzen vorhandenen, aber dennoch unübersehbaren zweiten handlungstheoretischen Modells ebenso wie für einen Versuch, auch die Idee der Revolution als eine Metapher kreativen Handelns zu deuten und nicht etwa alles kreative Handeln nach dem Muster der Revolution. 66 Marx' Analyse der Entwicklung, die zum Staatsstreich des insbesondere bei ihrem Begründer Lew Wygotski bedeutende Beiträge zur psychologischen Handlungstheorie entstanden. 66 In den letzten Jahren ist eine Reihe von Autoren diesen inneren Spannungen in Marx' Werk unter jeweils eigenen Gesichtspunkten nachgegangen. Ihre Überlegungen waren für mich sehr hilfreich. Vgl. Jean Cohen, Class and Civil Society: The Limits of Marxian Critical Theory. Amherst, Mass. 1982 (unter dem Gesichtspunkt der Klassentheorie); Rainer Paris, Klassenbewußtsein und Intersubjektivität. Zur handlungstheoretischen Reformulierung des Klassenbewußtseinskonzepts. Frankfurt/M. 1984 (unter dem Gesichtspunkt der Theorie des Klassenbewußtseins); Gerhard Kluchert, Geschichtsschreibung und Revolution. Die historischen Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels 1846-1852. Stuttgart 1985 (unter dem Gesichtspunkt geschichtswissenschaftlicher Methodologie); John F. Rundell, Origins of Modernity. The Origins of Modern Social Theory From Kant to Hegel to Marx. Cambridge 1987 (unter Gesichtspunkten moderner Gesellschaftstheorie). - Im weiteren Sinn gehören auch die Arbeiten vornehmlich britischer 162
dritten Napoleon führte, in der schon erwähnten BrumaireSchrift ist das literarisch brillanteste und sachlich ergiebigste historiographische Werk aus seiner Feder. Schon in ihrer literarischen Form gibt diese Schrift zu erkennen, daß es Marx hier um eine dramatische Darstellung eines Kampfes, um die Verknüpfung der Handlungen und Beziehungen einer Fülle von Akteuren unter sich rasch wandelnden Umständen geht. Im ganzen Text finden sich theatermetaphorische Wendungen. Wie bewußt Marx hier verfuhr 67 , zeigt die Abgrenzung seiner Darstellung gegen die auf dieselben Ereignisse zielenden Schriften von Victor Hugo und Proudhon. 6 8 Er wirft Hugo eine subjektivistische Übertreibung der Initiativgewalt des Staatsstreichführers vor, die diesem trotz aller Gegnerschaft gegen Napoleon i n unterlaufe. Proudhon dagegen begehe den umgekehrten »objektivistischen« Fehler, den Staatsstreich als unvermeidliches Resultat der Entwicklung darzustellen, was aber ebenfalls die Verklärung von dessen Anführer zur Folge hat. Marx' eigene Absicht dagegen ist es, zu zeigen, »wie der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichen«. 69 Die Frage an Marx' Text muß deshalb lauten, ob ihm dieser Plan gelang oder ob seine eigene Theorie die empirische Rekonstruktion eines komplexen kollektiven Handlungsprozesses unterminierte. Die Deutung der Ereignisse als Klassenkampf unterlegt diesen einen Sinn, den sie für die Akteure selbst nicht notwendig haben. Es stellt sich deshalb sofort die Frage, welche Klassen marxistischer Historiker und Kultursoziologen in diesen Zusammenhang. 6j Zum literarischen Charakter von Marx' Schrift vgl. John Paul Riquelme, The Eighteenth Brumaire of Karl Marx as Symbolic Action, in: History and Theoiy 19 (1980), S. 58-72. 68 Karl Marx, Vorwort (1869), in MEW 8, a.a.O.,S. 559-560.-Marx bezieht sich hier auf Victor Hugo, Napoleon le petit. London 1852 und Pierre-Joseph Proudhon, La revolution sociale demontree par le coup d'etat du 2 decembre. Bruxelles 1852. 69 Marx, ebd., S. 560. 163
Marx als Beteiligte am Kampfgeschehen berücksichtigt und wie sich konkret identifizier bare kollektive Akteure zu diesen Klassen verhalten. Die zweite sich aufdrängende Frage ist, wie Marx die Herausbildung kollektiver Akteure und ihrer Ziele im allgemeinen und von handelnden Klassen im besonderen sieht und wie sich diese Ziele zu dem von Marx supponierten Sinn verhalten. U n d drittens ist zu untersuchen, ob Marx der Arena, in der der Kampf stattfindet, nur die Rolle eines kontingenten Rahmens einräumt oder ob er ihr selbst eine konstitutive Bedeutung für den Sinn der Kämpfe zuspricht. Könnte man aus Marx' politökonomischen Schriften, in denen allerdings nur Andeutungen einer Klassentheorie zu finden sind, die Vermutung gewinnen, daß Marx nicht nur für die Zukunft, sondern schon für seine Gegenwart im wesentlichen nur zwei Klassen (Bourgeoisie und Proletariat) annahm, dann findet sich in seiner Geschichtsschreibung hierfür kein Beleg. Im »18. Brumaire« lassen sich mindestens fünf70 Klassen identifizieren. Neben der Bourgeoisie steht das Kleinbürgertum, neben dem Proletariat das Lumpenproletariat, und schließlich rückt die Klasse der Parzellenbauern in eine wesentliche Funktion für Marx' Analyse ein. Auch innerhalb der Klassen unterstellt Marx nicht Homogenität und einheitliche Orientierung, sondern Fraktionierung. Die Interessen der Finanziers in der Bourgeoisie sind seines Erachtens keineswegs identisch mit denen anderer Teile dieser Klasse. Am Klassenkampf beteiligt sind für Marx aber auch andere kollektive Akteure, auf die der Begriff »Klasse« schwerer zu beziehen ist, wie die Staatsbeamten und das Militär. Marx bietet also ein differenziertes Bild einer Vielfalt am Klassenkampf beteiligter Akteure. Aber die Deutung des Geschehens als Klassenkampf zwingt ihn dazu, die Fraktionierung von Klassen in Unterklassen und die Entsprechungen zwischen diesen und politischen Parteiungen am Leitfaden ökonomischer Interessen zu denken und dabei den kulturellen Voraussetzungen und Folgen nur eine 70 Cohen, a.a.O., S. 116 spricht von fünf, Rundell, a.a.O., S. 150 von sechs Klassen. 164
epiphänomenale Bedeutung zuzugestehen. In einer charakteristischen Passage fragt Marx nach dem tieferen Sinn der Spaltung der »Ordnungspartei« in Anhänger der rivalisierenden Häuser Bourbon und Orleans. Für ihn ist die Sache klar: »Unter den Bourbonen hatte das große Grundeigentum regiert mit seinen Pfaffen und Lakaien, unter den Orleans die hohe Finanz, die große Industrie, der große Handel, d.h. das Kapital mit seinem Gefolge von Advokaten, Professoren und Schönrednern. Das legitime Königtum (d.h. Bourbon, H.J.) war bloß der politische Ausdruck für die angestammte Herrschaft der Herren von Grund und Boden, wie die Julimonarchie (d.h. Orleans, H.J.) nur der politische Ausdruck für die usurpierte Herrschaft der bürgerlichen Parvenüs. Was also diese Fraktionen auseinanderhielt, es waren keine sogenannten Prinzipien, es waren ihre materiellen Existenzbedingungen, zwei verschiedene Arten des Eigentums, es war der alte Gegensatz von Stadt und Land, die Rivalität zwischen Kapital und Grundeigentum.«71 Ganz ähnlich verfährt Marx an anderen Punkten. Demokratische Forderungen bezieht er ökonomisch-reduktionistisch auf das Kleinbürgertum, das er zudem als »Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen«72, auffaßt, d.h. er billigt den Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat offensichtlich einen stärkeren Realitätscharakter zu als dem Kleinbürgertum. Die Bauernklasse tritt überhaupt erst in Marx' Analyse auf, sobald er auf der Suche nach der Klassenbasis für das Regime Napoleons in die anderen Klassen ausgeschlossen hat. Die Differenzierung in eine Vielfalt von Akteuren wird also offensichtlich konterkariert von der Absicht, alle Akteure aus einer ökonomischen Struktur abzuleiten, in der es letztlich nur zwei große, gegeneinander kämpfende Interessenrichtungen gibt. Die zweite Frage nach der Herausbildung der Ziele dieser kollektiven Akteure führt zur selben Zweideutigkeit Marxens. Einerseits berücksichtigt er in seiner Analyse die verschiedensten Elemente symbolvermittelter Selbstverständigung oder 71 Marx, ME W 8, a.a.O., S. i 3 8f. 72 ebd., S. 144. 165
symbolvermittelten Konflikts. Er weiß genau, daß sich die Interessen einer Klasse nicht bruchlos in Handlungsziele umsetzen, sondern erst in einem Prozeß der Selbstdefinition und Identitätsbildung mögliche Interessen zu subjektiv gemeintem Sinn werden. Seine Analyse der Parzellenbauern ist vor allem deshalb so berühmt geworden, weil er in ihr die spezifischen Kommunikationsbedingungen der verstreut lebenden Bauern als wesentliche Voraussetzung ihrer politischen Orientierung berücksichtigt. Doch all diese Einsichten in die Rolle symbolisch-kultureller Prozesse erhalten keine Chance zur Entfaltung, sondern werden im Keime erstickt. So heißt es im unmittelbaren Anschluß an die Analyse der Orleanisten und Legitimisten: »Daß gleichzeitig alte Erinnerungen, persönliche Feindschaften, Befürchtungen und Hoffnungen, Vorurteile und Illusionen, Sympathien und Antipathien, Überzeugungen, Glaubensartikel und Prinzipien sie an das eine oder das andere Königshaus banden, wer leugnet es ? Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden. (...) Und wie man im Privatleben unterscheidet zwischen dem, was ein Mensch von sich meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden.«73 Nun dürfte unbestreitbar sein, daß ein Mensch sich oder andere über die Beweggründe seines Handelns täuschen kann. Aber Marx benutzt diese Tatsache dazu, um alle subjektiven Beweggründe als nachrangig und ein ökono73 ebd., S. 139. 166
misches Interesse als letztlich bestimmend zu behaupten. Unklar ist dabei, wie Marx sich diese letztliche Durchschlagskraft der ökonomischen Interessen eigentlich denkt. Es ist doch ein großer Unterschied zwischen absichtlicher Täuschung eines Partners, dem hehre Ziele vorgemacht werden, obwohl schnöde Interessen leitend sind, und einer Selbsttäuschung über Absichten, die nicht eingestanden werden, weil sie dem Selbstbild oder der eigenen Moral widersprechen. Zudem ist nicht ersichtlich, ob aus Marx' These folgen soll, daß es ein Handeln, das nicht den eigenen ökonomischen Interessen entspricht, üblicherweise gar nicht gibt. Jedenfalls kann sich an solche Formulierungen eine Deutung anschließen, die Marx' Begriff des Klassenkampfes im Sinne eines strategischen Handelns deutet. Dann stünde bei Marx neben dem expressivistischen Arbeitsbegriff lediglich ein utilitaristisches Handlungsmodell. Dieses allerdings kann nicht verständlich machen, wie Marx die Konstitution von Klassen in Anlehnung an Hegel als Weg zur Selbstbewußtwerdung auffassen konnte. Marx setzt ja gerade nicht das an den Subjekten abfragbare Ziel als »Interesse« ein, sondern hinter diesen Zielen ein wahres Interesse. Dieses aber läßt sich nur definieren im Rahmen seiner Geschichtsauffassung, die besser über die wahren Interessen Bescheid weiß als die Betroffenen selbst. N u n darf eine wissenschaftliche Theorie sicher das Ziel haben, die Handelnden besser zu verstehen und ihr Handeln besser zu erklären als diese selbst es vermöchten. Aber entscheidend ist dann, ob es ihr gelingt, diese Überlegenheit nicht einfach apriorisch zu behaupten, sondern mit dem Selbstverständnis der Handelnden zu vermitteln. Mein Eindruck ist, daß Marx mit der Reduktion allen politischen Handelns auf den Ausdruck ökonomischer Interessen nicht das sagt, was er eigentlich sagen möchte. Er reduziert die verschiedensten politischen Programme und Ideologien in desillusionierender, aufklärerischer Absicht, um dadurch der philosophisch abgeleiteten, geschichtsphilosophisch überhöhten Klasse der Proletarier das gute Gewissen zu geben, ebenfalls nur die eigenen ökonomischen Interessen zu verfolgen - und diese liegen nach Marx' Theorie im Sturz des Kapitalismus. Aber die beiden i67
Absichten, die damit in seiner Analyse verschmolzen sind, widersprechen einander. Wenn alles Handeln ohnehin ökonomisch determiniert ist, dann müßte das proletarische Klassenhandeln ja ganz selbstverständlich die von Marx gewünschte Richtung nehmen - falls seine ökonomische Theorie zutrifft. Der performative Sinn einer Ermutigung des Proletariats kommt nur zustande, weil eben entweder die Selbstverständlichkeit ökonomischer Interessenverfolgung nicht gegeben ist oder das ökonomische Interesse des Proletariats nicht zwingend zum Sturz des Kapitalismus treibt. In Marx' Geschichtsschreibung führt dieser unaufgeklärte Widerspruch dazu, daß das politische Handeln der revolutionären Klasse zwar in Kategorien der Selbstfindung und Neuschaffung von Institutionen beschrieben wird; die Analyse des geschichtlichen Sinns der Handlungen ergibt sich aber aus einer im Produktionsparadigma verwurzelten Sicht, und die Brücke zwischen beiden wird durch das expressivistisch-utilitaristische Zwitterwesen »Ausdruck von Interessen« gebildet. Auch bei der dritten genannten Fragedimension läßt sich dasselbe Dilemma feststellen. In vielen Passagen des »18. Brumaire« beschreibt Marx Staat und Öffentlichkeit als Arena der kämpfenden Akteure. Er interessiert sich für die Rolle symbolischer, Legitimität verbürgender Elemente, die selbst zum Zankapfel der Parteien werden. So spielt die Frage, wer in revolutionären Zeiten öffentliche Ordnung und Sicherheit am besten gewährleisten kann, in seiner Analyse eine bedeutende Rolle. In der Geschichte der Arbeiterbewegung ist die Brumaire-Schrift wohl dadurch am einflußreichsten gewesen, weil sie - in Gestalt der sogenannten Bonapartismusthese - die Möglichkeit einer relativen Unabhängigkeit der Staatsmacht gegenüber jeder einzelnen der kämpfenden Klassen beinhaltet und damit einer simplen Reduktion des Staates auf die Interessen einer herrschenden Klasse widersteht. Doch zeigt sich bei näherer Betrachtung schnell, daß Marx diese Einsichten im Widerspruch zu seinem eigentlichen Programm erreicht. Er ist sichtlich bestrebt, ihr Gewicht zu verringern. Für die Unabhängigkeit der bonapartistischen Staatsmacht wird durch die Einbeziehung der Bauern eine Klassenbasis nachgeliefert. 168
»Republik« und »Demokratie« werden in zahllosen Wendungen von Marx als bloße Form für das eigentliche Geschehen des Klassenkampfs oder selbst als Parole und Mittel in diesem Kampf gedeutet. Das Verhältnis von »Demokratie« und »Klassenkampf« ist hier keinesfalls eines zweier gleichrangiger Kategorien, sondern eines von Oberfläche und Tiefe. Trotz der empirischen Einbeziehung politischen Handelns in der Eigenart seiner Handlungsformen entwickelt Marx hierfür keine Begriffe, die sich mit der inneren Differenziertheit seiner ökonomischen Theorie messen könnten. In Marx' geschichtlichen Analysen revolutionärer Prozesse scheint deshalb der Typus revolutionären Handelns nur auf, ohne sich entfalten zu können. In der Geschichte des Marxismus wiederholt sich häufig das bei Marx zu beobachtende Phänomen, daß geschichtliche Studien - etwa Trotzkis Geschichte der russischen Revolution 74 - oder strategische Analysen - etwa Rosa Luxemburgs Gedanken über Massenstreiks 75 - in dieser Richtung Gedanken entwickeln, für die den Autoren und der kodifizierten Lehre dann doch die konzeptuellen Mittel fehlen. Im westlichen Marxismus ist es zwar Georg Lukäcs, der die sicher einflußreichste Theorie der Genese revolutionären Klassenbewußtseins formuliert hat. 76 Aber wenn schon bei Marx das Bewußtsein des Proletariats nicht als empirisches, sondern als geschichtsphilosophisch abgeleitetes erscheint, dann kommt diese normative, anti-empirische Denkweise bei Lukäcs voll zum Ausbruch. Adäquater innerhalb der marxistischen Tradition erscheinen hier die Bemühungen Antonio Gramscis, die Spezifik politischen Handelns zu durchdenken. 77 Gramscis politische Theorie zielt 74 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution. 3 Bde. Frankfurt/M. 1973. 7 5 Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), in: dies., Gesammelte Werke. Bd. 2, Berlin 1972, S. 91-170. 76 Georg Lukäcs, Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in: ders., Geschichte und Klassenbewußtsein. Berlin 1923, S. 94-228. 77 Antonio Gramsci, Quaderni del Carcere. 4 Bde. Turin 1975. Von Einfluß auf Gramsci war eine der verwirrendsten Figuren in der 169
darauf ab, politisches Handeln nicht nach dem Muster rationaler Interessenverfolgung und auch nicht als bloße Exekution geschichtlicher Zwänge aufzufassen, sondern als Versuch zur Erzeugung einer normativen Einigung innerhalb und zwischen sozialen Gruppen. Eine solche Einigung ist nicht durch Gewalt herstellbar, sondern erfordert kreative Leistungen. Politische Programme müssen akzeptabel und realisierbar sein, d.h. sie erfordern intersubjektive Zustimmung zum Vorschlag neuer Handlungsweisen. N u r auf der Grundlage solcher Legitimations- und Innovationsfähigkeit kann es politischen Kräften gelingen, Bündnisse von Klassen zustandezubringen. Gramsci wird so zum Kronzeugen für Kritiken an instrumentalistischen Auffassungen von Staat und Politik und funktionalistischen Reduktionen von Recht, Moral und Ideen innerhalb des Marxismus. Castoriadis wiederum bricht mit dem Marxismus, um an der Idee revolutionären Handelns festhalten zu können. In handlungstheoretischer Hinsicht erlaubt ihm dies, die Institutionen erzeugende Fähigkeit des menschlichen Handelns als eigene Weise von Kreativität zu berücksichtigen. Politisch bringt dies ihn zu einer nur schwer in den politischen Vorgängen unserer Zeit verankerbaren Übersteigerung der Veränderungserwartungen; Träger und Ziel der gemeinten Revolution haben kaum noch klare Konturen. 78 N u r teilweise in politischer Hinsicht, sehr stark aber in Hinsicht auf eine Theorie des Handelns und seiner Kreativität ähnelt die politische Philosophie von Castoriadis darin der von Hannah Arendt. In ihrer Studie »Über die RevoluGeschichte des Kreativitätsdenkens: Georges Sorel. Seiner merkwürdigen Vermischung von Produktionsparadigma, Revolutionsmythos und Lebensphilosophie wäre separat näher nachzugehen. Vgl. Georges Sorel. Über die Gewalt (1906). Frankfurt/M. 1969. Als knappe, aber überzeugende Würdigung von Sorels Gesamtwerk: Isaiah Berlin, Georges Sorel, in: ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. Frankfurt/M. 1982, S. 421-466. 78 Zu meiner Auseinandersetzung mit Castoriadis vgl. HJ., Institutionalisierung als kreativer Prozeß, a.a.O. - Zur Diskussion über sein Werk insgesamt ist unentbehrlich: Giovanni Busino (Hg.), Pour une philosophie militante de la democratie. Autonomie et 170
tion« 79 zeichnet diese die Geschichte der Idee und des Phänomens der Revolution nach. Sie zeigt80, daß der Begriff der Revolution, der anfangs lange Zeit jegliche Umwälzung bezeichnen konnte und noch in der »Glorious Revolution« von 1688 faktisch eine Restauration (der Königsgewalt) meinte, im 18.Jahrhundert die Bedeutung annahm, die wir heute mit ihm verbinden. Diese Bedeutung besteht in der Herbeiführung neuer gesellschaftlicher Zustände durch das freie Handeln der Gesellschaftsmitglieder. U m diese Bedeutung überhaupt meinen zu können, war ein Bruch mit dem traditionellen Zeitbegriff ebenso nötig wie ein verändertes Verständnis der Reichweite menschlichen Handelns. Im Begriff der Revolution steckt die Idee des Neubeginns »und es ist theoretisch einleuchtend, daß es nur unter der Bedingung eines gradlinig ablaufenden Zeitprozesses so etwas geben kann wie Neuheit, Einmaligkeit, Beginn.. .«.81 Sie argumentiert, daß auch der von Augustinus geprägte christliche Geschichtsbegriff nur den einen Neuanfang von Christi Leben kennt, sonst aber durchaus Vorstellungen vom ewigen Kreislauf reproduziert. Noch die Neuheit des Lebens auf dem neu entdeckten Kontinent Amerika wurde als Geschenk der Vorsehung empfunden. Zur Revolution gehört aber nicht nur die Vorstellung eines radikalen geschichtlichen Neubeginns, sondern vor allem die Idee, daß dieser von den Menschen selbst zuwege gebracht worden sei. Erst das achtzehnte Jahrhundert zeigt ein Bewußtsein davon, daß es nicht nur wissenschaftliche und ästhetische Kreativität geben könne, sondern auch politische Kreativität. »Beides zusammen: eine neue Erfahrung, in der die menschautotransformation de la societe. Revue europeenne des sciences sociales 27 (1989). 79 Hannah Arendt, Über die Revolution. München 1974. 80 Eine wichtige Geschichte des Revolutionsbegriffs, auf die Hannah Arendt zurückgreift, ist Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Jena 1955. - Eine Geschichte der Tradition des Revolutionarismus seit dem späten achtzehnten Jahrhundert lieferte James H. Billington, Fire in the Minds of Men. Origins of the Revolutionary Faith. New York 1980. 81 Arendt, a.a.O., S. 31. 171
liehe Fähigkeit für Anfangen überhaupt erfahren wurde, bildet die Wurzel für das ungeheure Pathos, mit dem die Amerikanische wie die Französische Revolution darauf bestanden, daß nichts an Größe und Bedeutung Vergleichbares sich je in der gesamten überlieferten Geschichte ereignet habe...« 82 Revolutionäres Handeln bedeutet, so verstanden, In-Freiheit-Handeln; es kann die Herstellung solcher Freiheit ebenso wie das Handeln unter Bedingungen hergestellter Freiheit meinen. Entsprechend interessiert Hannah Arendt sich nicht nur für die Geschichte der Revolutions-Idee, sondern auch für die Geschichte der Institutionen politischer Freiheit. Durch die Anknüpfung an amerikanische Traditionen befreit Hannah Arendt die Idee revolutionären Handelns wieder von ihrer marxistischen Vereinseitigung und bewahrt sie damit auch vor ihrer - positiven oder negativen - mythologischen Überschätzung als Eintritt des Heils oder Unheils in die Geschichte. Sie bahnt damit noch stärker als Merleau-Ponty den Weg zu einem Verständnis revolutionären Handelns als eines gemeinsamen kreativen politischen Handelns. 2.4 Leben Die drei bisher behandelten »Metaphern der Kreativität« teilen miteinander einen Mangel, den man in Anlehnung an Whitehead und Parsons eine »fallacy of misplaced concreteness« nennen könnte. Sie alle versuchen, die Kreativität des Handelns dadurch zu erfassen, daß sie einem bestimmten konkreten Handlungstypus schöpferische Züge zuschreiben. Ganz eindeutig gilt dies bei Marx' Begriffen der Produktion und der Revolution; bei Herders Anthropologie des Ausdrucks findet sich dieser Mangel mehr in der Rezeption als in Herders eigenen Intentionen. Als kreativ erscheinen dann die Poesie, selbstbestimmte handwerkliche Tätigkeit oder der revolutionäre Akt. Eine zwingende Folge dieser Denkweise ist es, andere konkrete Handlungstypen aller schöpferischen Züge zu berauben und als Gegenteil von Kreativität aufzufas82 ebd., S. 41. 172
sen. Wer sich nicht poetisch auszudrücken vermag, erscheint dann als bornierter und langweiliger Philister, dessen Ausdrucksformen keine weitere Aufmerksamkeit verdienen. Wer nicht die Selbsterfüllung in gegenständlicher Tätigkeit findet, muß dann entfremdet sein. Wer nicht aktiv zur Vorbereitung einer Revolution beiträgt, kann dann nur Teil eines homogenen Universums der Repression sein. Die konkretistische Gleichsetzung eines Handlungstyps mit der Bestimmung »Kreativität« führt also zur Abwertung anderer Handlungstypen und treibt dazu an, den konkreten Typenbegriff über die Grenzen seines Anwendungsbereichs hinaus metaphorisch zu verwenden. Die Alternative zu dieser unglücklichen Form der Begriffsbildung besteht darin, Kreativität als eine analytische Dimension allen menschlichen Handelns aufzufassen. Dann wird es möglich, einerseits alles Handeln als potentiell kreativ zu betrachten und nicht nur einen bestimmten konkreten Handlungstypus, und andererseits dem menschlichen Handeln als solchem strukturelle Eigenschaften zuzusprechen, die durch den Begriff der Kreativität auf eine Kurzformel gebracht sind. Die europäische Lebensphilosophie und der amerikanische Pragmatismus stellen zwei konkurrierende Weisen dar, Kreativität ohne falsche Gleichsetzung mit einem konkreten Handlungstypus zu denken. Die Schlüsselideen oder Metaphern, anhand derer in diesen beiden geistesgeschichtlichen Strömungen das Problem der Kreativität durchdacht wurde, sind auf der einen Seite die Begriffe des »Lebens« und des »Willens«, auf der anderen Seite die Begriffe der (kreativen) »Intelligenz« und der »Rekonstruktion«. An dieser Stelle ist zu fragen, welche der beiden Traditionen die überzeugendere Lösung für eine Theorie der Kreativität des Handelns bereithält. Als Lebensphilosophie bezeichnet man eine nur unklar abgegrenzte Menge philosophischer Bewegungen vornehmlich Deutschlands und Frankreichs zwischen 1880 und 1930.83 Diese Bewegungen waren keineswegs auf den Bereich akademischer Philosophie begrenzt, sondern beeinflußten die Kün83 Immer noch lesenswert ist Max Schelers Überblicksaufsatz von 1913: Versuche einer Philosophie des Lebens, Nietzsche-Dil173
ste ihrer Zeit in starkem Maße und begleiteten den Aufbruch der deutschen Jugendbewegung und Reformpädagogik. Es handelte sich um eine Revolte gegen eine als erstarrt empfundene Kultur, die in manchem an den »Sturm und Drang« des späten achtzehnten Jahrhunderts erinnerte, nun aber auf massenhafterer Grundlage stattfand. Nietzsche und Bergson, auch Dilthey und Simmel sowie eine Vielzahl weniger bedeutender Denker gelten als die geistigen Inspiratoren dieser lebensphilosophischen Bewegung. Der namengebende Begriff des »Lebens« ist dabei mehrdeutig, und es ist wohl nicht ungerecht, wenn man behauptet, daß diese Mehrdeutigkeit gewollt war und zum Erfolg des Begriffes, der immer mehr ein Schlagwort wurde, beitrug. Mindestens drei Bedeutungsschichten lassen sich abheben. In einer ersten Schicht steht das Leben gegen die leergewordene Form: »Im Zeichen des Lebens geht es gegen das Tote und Erstarrte, gegen eine intellektualistische, lebensfeindlich gewordene Zivilisation, gegen in Konventionen gefesselte, lebensfremde Bildung, für ein neues Lebensgefühl, um >echte Erlebnisse^ überhaupt um das >Echte<: um Dynamik, Kreativität, Unmittelbarkeit, Jugend.« 84 Eine zweite Schicht enthält die Bedeutung, daß eine Philosophie des Lebens eben nicht nur eine Philosophie für Philosophen sein will, sondern an die konkrete Lebensführung jedes Einzelnen appelliert. Eine dritte Bedeutungsebene ist die des biologischen Lebensbegriffs, der seit der gewaltigen Erschütterung des Weltbilds, die von Darwins Entdeckungen ausgegangen war, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt war. Durch die Vermischung dieser Bedeutungen konnte die Lebensphilosophie versprechen, eine kulturkritische, auf die Lebensführung beziehbare und doch in den neuesten wissenthey-Bergson, in: M. Seh., Gesammelte Werke. Bd. 3, Bern 1955, S. 311-339. - Als knappes Überblickswerk wohl unübertroffen: Otto Friedrich Bollnow, Die Lebensphilosophie. Berlin 1958. Anregend auch: Eugene Rochberg-Halton, On the Life-Concept in Social Theory, in: Comparative Social Research 11 (1989), S. 31934384 Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt/M. 1983, S. 174. 174
schaftlichen Entwicklungen fundierte geistige Orientierung zu bieten. Gemeinsamer Ausgangspunkt der meisten Lebensphilosophen war ein Denker, der in seiner Zeit nur wenig Aufmerksamkeit gefunden hatte, dessen posthume Wirkung dafür um so spektakulärer war: Arthur Schopenhauer. Man hat mit Recht davon gesprochen, daß die Geschichte der Lebensphilosophie sich im wesentlichen mit der Wirkungsgeschichte Schopenhauers deckt. Der beste Zugang zur Problematik des Kreativitätsverständnisses führt hier über den Begriff des »Willens« bei Schopenhauer. Im Unterschied zur begrifflichen Unscharfe vieler Lebensphilosophen sind Schopenhauers Deduktionen auch von größter Transparenz. Schopenhauers Begriff des Wollens stellt einen Bruch mit einer jahrhundertealten europäischen Denktradition dar. Nach der traditionellen Denkweise gibt es mehr oder minder wertvolle Handlungsziele, zu deren Verfolgung ein Handelnder sich durch einen separaten Willensakt entschließen muß, damit Handeln stattfindet. In den wertvollen Handlungszielen wird dabei selbst eine Willensentschlüsse auslösende Kraft gesehen. Der Wille ist zwar häufig zu schwach oder er ist fehlgeleitet, so daß die Realisierung der guten Zwecke unterbleibt; im Prinzip bleibt aber das Reich der Werte von der Beschaffenheit des Willens unberührt. Schopenhauer sträubt sich gegen diese Denkweise schon aus methodischen Gründen. Wer so rationalistisch über den Willen denkt, nimmt ja einen philosophischen Begriff des Willens einfach hin, ohne ihn in der Erfahrung zu verankern. Wie aber erfahren wir unseren Willen? Die elementare Erfahrung unseres Willens liegt für Schopenhauer in unserer Leiblichkeit, näherhin in unserer Fähigkeit zur Bewegung unseres Leibes. Unser Leib unterscheidet sich nämlich für uns von allen anderen Dingen der Welt in unserer Erfahrung. Zwar trifft es zu, daß auch der Körper als materielles Ding wie alle anderen Dinge in der Welt vorhanden ist und als solcher unter den Kategorien des Raumes, der Zeit und der Kausalität gedacht werden muß. In Schopenhauers von Kant geprägter Terminologie bedeutet das, daß auch der Leib »Vorstellung«, Teil der Welt der Erscheinungen ist. Aber während wir bei allen anderen Dingen der Welt nach Kant U5
nicht zum »Ding an sich« vordringen können, sondern uns mit den Erscheinungen begnügen müssen, haben wir an dieser einen Stelle, der unseres Leibes, die Möglichkeit, den Schleier über den Dingen an sich zu durchdringen. Denn in unserer Selbsterfahrung erleben wir die Bewegungen unseres Leibes nicht als bloße Ortsveränderung eines Körpers in der Welt, sondern als Resultante unseres Willens. Dabei ist zu beachten, daß Schopenhauer den Willensakt nicht wie in der Tradition als separaten Entschluß zur Bewegung auffaßt, sondern als identisch mit dieser Bewegung: »Jeder wahre Akt seines Willens ist sofort und unausbleiblich auch eine Bewegung seines Leibes: er kann den Akt nicht wirklich wollen, ohne zugleich wahrzunehmen, daß er als Bewegung des Leibes erscheint. Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehen nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind eines und dasselbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: einmal ganz unmittelbar und einmal in der Anschauung für den Verstand. (...) In der Reflexion allein ist Wollen und Tun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie eins. Jeder wahre, echte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes; und diesem entsprechend ist andererseits jede Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch Einwirkung auf den Willen: sie heißt als solche Schmerz, wenn sie dem Willen zuwider; Wohlbehagen, Wollust, wenn sie ihm gemäß ist.« 85 Ganz streng genommen, ließe sich freilich argumentieren, daß unsere Erfahrung des Willens selbst auch im Reich der Vorstellung verbleibt, aber auch dann wäre diese Erfahrung der Punkt, an dem wir uns einem Ding an sich am engsten annähern. Von diesem unzweifelhaft produktiven Ausgangspunkt in der Selbsterfahrung unseres Leibes aus baut Schopenhauer durch kühne Analogieschlüsse sein philosophisches System auf. Wenn die Bewegungen unseres Leibes von innen her gesehen Willensakte sind, dann sollen wir dasselbe 85 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Frankfurt/M. 1986, S. i$ji (Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen). 176
für die Bewegungen von Tieren annehmen; auch deren Bewegungen sind dann nicht einfach mechanischer Art, sondern Ergebnisse einer Willenskraft. Schopenhauer steigert diesen Gedanken aber auch über die Tierwelt und selbst die Welt alles Lebendigen hinaus, wenn er nicht nur pflanzliches Wachstum, sondern selbst die Bewegung anorganischer Körper - etwa die Planetenbewegungen oder den Fall aufgrund der Schwerkraft - in naturphilosophischer Spekulation auf eine den ganzen Kosmos durchherrschende Willenskraft zurückführt. Dies erlaubt ihm zwar bedeutende Einsichten etwa in die Entsprechungsverhältnisse zwischen der organischen Ausstattung von Tieren und ihrer Umwelt, weil er den Körper der Tiere selbst als Objektivation dieses Willens deutet, führt ihn aber auch zu unkontrollierbaren und unhaltbaren philosophischen Besserwissereien gegenüber den Naturwissenschaften. Nur durch diese spekulative Überdehnung der Selbsterfahrung des Willens wird es Schopenhauer möglich, den Willen zum metaphysischen Prinzip schlechthin zu machen. Dabei wird der Wille eben nicht auf den Bereich des menschlichen Handelns eingegrenzt und als Energie zur Zielerreichung aufgefaßt, sondern als allem Handeln vorausgehende, auf kein bestimmtes Ziel gerichtete Urkraft. Schopenhauers »Wille« liegt vor den Erscheinungen der Welt und gehört selbst nicht zu diesen. Diese metaphysische Überhöhung des Willens wirkt nun aber auf das Verständnis des menschlichen Handelns zurück. Wenn sich in allen Erscheinungen ein metaphysischer Wille ausdrückt, dann gilt dies auch für die menschlichen Handlungen. Wir erfahren dann in unserer leiblichen Selbsterfahrung nicht eigentlich unseren persönlichen Willen, sondern die Wirksamkeit eines vorpersönlichen Willens in uns. In Schopenhauers Beispielen nimmt hier die Sexualität des Menschen einen breiten Raum ein. In misanthropischem Tonfall beschreibt er die sexuelle Anziehungskraft als Überwältigung des Menschen durch eine auf die Reproduktion der Gattung gerichtete Naturkraft, die die Menschen täuscht und irreführt. Aber nicht nur in der Sexualität können wir durch die aus uns auftauchenden Einfälle und Wollungen von uns selbst überrascht werden. Es ist nicht neu, in Schopenhauers Gedankenführung *77
einen Vorboten der psychoanalytischen Konzeption des Unbewußten zu sehen. 86 Das Bewußtsein ändert jedenfalls seinen Status im menschlichen Handeln radikal durch die metaphysische Deutung des Willens. Im glatten Gegensatz zu der Denktradition, die den Willen als Mittel zur Erreichung bewußt gesetzter Ziele auffaßt, wird bei Schopenhauer das Bewußtsein zum Epiphänomen und der Intellekt zum bloßen Mittel, dessen sich der Wille bedient. Bewußte Handlungszwecke werden nicht als die wirklichen Ursachen des Handelns akzeptiert, sondern - in der heute gängigen psychoanalytischen Terminologie gesagt - als »Rationalisierungen« des eigentlich bestimmenden Willens betrachtet. Das Bewußtsein verhilft dem Willen zu seinen Zielen und spiegelt dem Handelnden vor, durch die Erreichung des Zieles glücklich zu werden. Dabei ist der metaphysische Wille ewig unbefriedigbar, so daß nach jedem Ziel neue Ziele auftauchen oder die Ziele bei ihrer Erreichung radikal entwertet werden. Schopenhauers Ethik und Ästhetik kreisen um die Frage, wie der Mensch sich nach der Einsicht in die Sinnlosigkeit des WillensStrebens zur Welt verhalten kann. In Kunst, Mitleid und Askese sieht Schopenhauer Wege für den Menschen, sich vom Willen frei zu machen. Genialität kommt dann gerade nicht den pseudo-titanischen Willensheroen im Stile der Sturmund-Drang-Zeit zu, sondern denjenigen, die sich von der Fixierung auf die eigene Person und ihre Handlungen am meisten lösen können: »Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum 86 Z. B. - freilich mit dem Nachdruck auf Schelling - Odo Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, in: Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt/M. 1973, S. 85-106, 185-208. - Ich verzichte in diesem Zusammenhang auf eine Erörterung der Frage, inwiefern die psychoanalytische Theorietradition Überlegungen zum Thema Kreativität enthält, die über das in der Lebensphilosophie Gedachte hinausgehen und sich den (in Kapitel 2.5 behandelten) Ideen des Pragmatismus annähern. 178
Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehen, d.h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben: und dieses nicht auf Augenblicke, sondern so anhaltend und mit so viel Besonnenheit, als nötig ist, um das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu wiederholen und >was in schwankender Erscheinung schwebt, zu befestigen in dauernden Gedanken<.« 87 Durch die Perspektive einer Befreiung vom Willen wird Schopenhauer auch zu einem Denker, der sensibel auf die weitabgewandten Ethiken asiatischer Kulturen eingehen kann. Der Begriff der Genialität, der in der »Ausdrucks«-Tradition eine so wichtige Rolle spielte bei den Versuchen, Kreativitätsphänomene zu begreifen, scheint also seine Bedeutung bei Schopenhauer ins Gegenteil verdreht zu haben. Aber wie verhält sich Schopenhauers Metaphysik des Willens zur Idee der Kreativität? Charles Taylor spricht davon, daß Schopenhauer ein Expressivist mit umgekehrtem Vorzeichen gewesen sei.88 Hiermit und wenn er des weiteren auch Nietzsche als »dionysischen« und Heidegger als »radikal anti-subjektivistischen« Expressivisten bezeichnet 89 , scheint er mir den Begriff der ausdrucksanthropologischen Tradition zu überdehnen und dadurch von entscheidenden Differenzen zwischen dieser und der Lebensphilosophie, zwischen Herder und Schopenhauer, abzusehen. Schopenhauer konstruiert das menschliche Handeln fundamental anders als die »Ausdrucks«-Tradition. Zwar ist unverkennbar, daß seine Willensmetaphysik ebenso wie Schellings Naturphilosophie an die seit der Renaissance auftauchenden Versuche anknüpft, die im ästhetischen Schaffen erfahrene Produktivität auch in der Natur am Werke zu sehen. Insofern Schopenhauer diese Schaffenskraft aber eben 87 ebd., S. 266. Schopenhauer spielt hier auf Goethe, Faust 1, Vers 348f an. 88 Charles Taylor, Sources of the Seif. The Making of the Modern Identity. Cambridge, Mass. 1989, S. 442. 89 Zu Nietzsche vgl. Taylor, Hegel, a.a.O., S. 738; zu Heidegger Taylor, Philosophical Papers, Bd. 1, a.a.O., S. 240. *79
nicht als Geist oder Vorform des Geistes auffaßt, sondern als blinden Willen, ist es auch richtig, von einer Umkehrung der Wertakzente zu sprechen. Aber Schopenhauers Begriff des Willens kehrt nicht nur Bewertungen um, sondern das Verhältnis von Realitätsbereichen. Während Herder in seiner Anthropologie bereits um eine Begrifflichkeit bemüht war, die sich den cartesianischen Dualismen entziehen oder sie überwinden sollte, indem die Ganzheitlichkeit menschlicher Ausdruckshandlungen leitend wurde, läßt sich Schopenhauer als »umgekehrter Cartesianer« 90 bezeichnen. Schopenhauer überwindet nicht die cartesianischen Dualismen 91 , sondern stellt sie auf den Kopf. Ebensowenig aber wie sich mit Dualismen wie Körper und Geist, Ich und Anderen eine Handlungstheorie fundieren läßt, da der Begriff der Handlung ja gerade die Integration der dualistisch aufgeteilten Komponenten erfordert, ebensowenig kann eine Handlungstheorie durch eine bloße Umdrehung dieser Dualismen gelingen. Dies läßt sich schon am methodischen Ausgangspunkt von Schopenhauer in der Selbsterfahrung des Leibes demonstrieren. Unbemerkt macht Schopenhauer nämlich hier zwei Annahmen, die keineswegs selbstverständlich sind. Zum einen unterstellt er die Unmittelbarkeit unserer Leiberfahrung. Soll dies bedeuten, daß wir unseren Leib in anderer Weise erfahren als den anderer Menschen, dann ist diese Annahme zweifellos berechtigt; soll dies aber heißen, daß wir kognitive Gehalte aus der Selbsterfahrung des Leibes ohne Vermittlung über ein symbolisches Medium gewinnen könnten, dann ist diese Annahme höchst problematisch. 92 Schopenhauer muß zum 90 Diesen Ausdruck verdanke ich Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt. Pfullingen 1984, S. 401. 91 Mit dieser Behauptung widerspreche ich scharf der SchopenhauerInterpretation Gehlens, der seinen eigenen und den pragmatistischen Ansatz schon in Schopenhauer angelegt sieht. Vgl. Arnold Gehlen, Die Resultate Schopenhauers (193 5), in: ders., Philosophische Anthropologie und Handlungslehre. Gesamtausgabe, Bd. 4. Frankfurt/M. 1983, S. 25-49. 92 Die Gegenthese entfalte ich ausführlich im dritten Kapitel dieses Buches (Abschnitt 3.2). 180
Zwecke seiner Argumentation aber natürlich solche kognitiven Gehalte in Anspruch nehmen, für die keineswegs rein subjektive, unvermittelte Gegebenheit gelten muß. Zum anderen unterstellt Schopenhauer, daß wir in unserer unmittelbaren Leiberfahrung tatsächlich unseren Leib rein als solchen erfahren. Aber diese Unterstellung beinhaltet ja bereits die cartesianische Trennung von Körper und Geist, denn es läge doch näher, von einer Selbsterfahrung als Handelnder zu sprechen und den Körper als solchen als Abstraktionsprodukt aus dieser Erfahrung aufzufassen. In eine ähnliche Richtung zielte wohl Georg Simmel, als er in seinem meisterlichen Buch »Schopenhauer und Nietzsche« Schopenhauers Metaphysik vorwarf, keine Stelle für den Begriff der Persönlichkeit zu haben. »Zwischen dem Ich als Vorstellung und dem Ich als Wille fällt sie sozusagen mitten hindurch.« 93 Alles, was Schopenhauer zum menschlichen Leib sagt, leidet deshalb unter einer falschen Anähnelung ans Tierische - oder einen cartesianischen Begriff vom Tierischen. Aber der menschliche Leib ist nicht ein tierisches Substrat reiner Geistigkeit, auch nicht - in Schopenhauers charakteristischer Umwertung der Vorstellung vom körperbeherrschenden Geist - der starke Blinde, der den sehenden Lahmen trägt, sondern durch und durch der Leib einer menschlichen Persönlichkeit. Auch Schopenhauers pessimistische Geschichtsphilosophie beruht auf der dualistischen Zerreißung einer denkbaren evolutionären Kontinuität zwischen tierischen Leistungen und dem menschlichen Geist. Wichtiger im Zusammenhang handlungstheoretischer Fragen aber ist, daß Schopenhauers metaphysische Überhöhung des Willens gerade von einer verfehlten Analyse der Rolle des Willens beim Handeln ausgeht. Wiederum hat bereits Simmel darauf aufmerksam gemacht, daß die Rede von der Zwecklosigkeit des »Willens überhaupt« auf einen logischen Fehlschluß zurückgeht. Tatsächlich steckt in jeder einzelnen gewollten Handlung eine Zweckorientierung, in der Handlung als solcher dann natürlich keine bestimmte Zweckorientierung. »Der Zweck des Willensaktes und seine Sonderbe93 Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, a.a.O., S. 101. 181
stimmtheit sind Wechselbegriffe; streicht man die letztere, weil man das Allgemeine der Wollungen jenseits ihrer individuellen Existenz gewinnen will, so hat man ja selbst von vornherein vom Zweck abgesehen und kann keine pessimistische Klage darauf gründen, daß dieser allgemeine, undifferenziert-einheitliche Wille nun freilich keinen Zweck mehr hat.« 94 Simmel will mit seinem scharfsinnigen Einwand keineswegs ein pessimistisches Werturteil über die Welt, wohl aber dessen Herleitung aus der Analyse des Handelns für widerlegt erklären. Tatsächlich geschieht mit der metaphysischen Deutung des Willens ja zweierlei. Der Wille wird erneut - ebenso wie in der rationalistischen Psychologie der Tradition - substantialisiert, und er wird aus seiner Situationsbezogenheit gelöst. Die Substantialisierung des Willens besteht eben darin, daß er nicht als Abstraktion vom Handeln, sondern als im Handeln sich betätigende Urkraft gedacht wird. Dann kann das Bewußtsein als Instrument dieser Urkraft erscheinen. Vergleicht man damit etwa die psychologischen Überlegungen von William James 95 , dann wird klar, daß es genau die Zerstörung eines substantialistischen Willensbegriffs ist, die den Handlungsbezug aller Bewußtseinsbestandteile denkbar macht. Schopenhauer ist hier der bekämpften Vermögenspsychologie des Willens viel näher als er wahrhaben möchte. Seine metaphysische Überhöhung löst den Willen aber auch davon ab, daß er nur in jeweiligen Situationen als immer besonderer und notwendig auf das Ich eines je individuellen Akteurs bezogener vorhanden ist, und erweckt den Eindruck, als seien diese nur situative Kontexte, in denen sich ein außersituativer Wille betätigt. Schopenhauers Denken als Ursprung der lebensphilosophischen Bewegung läßt sich sehr 94 ebd., S. 117. 95 Dieser instruktive Vergleich ist leicht anzustellen anhand des Kapitels »The Will« in: William James, Talks to Teachers on Psychology. New York 1910, S. 169-196. - Im Gegensatz zu den vielen Autoren, die in Schopenhauers Willensbegriff eine Art ProtoPragmatismus sehen, erkennt Schelsky klar den unpragmatischen Charakter der Willensmetaphysik. Vgl. Helmut Schelsky, Thomas Hobbes. Eine politische Lehre (1941). Berlin 1981, S. 37. 182
wohl als wichtiger Beitrag zum Verständnis der Kreativität deuten. Absicht dieser Argumentation aber war der Nachweis, daß Schopenhauer einen metaphysischen Willen mit Attributen der Kreativität ausstattet, der nicht nur allgemeiner ist als die konkreten Handlungstypen des Ausdrucks, der Produktion oder der Revolution, sondern als alles menschliche Handeln; die Behauptung geht so weit, sogar der Grundlegung des Willens begriff s in der menschlichen Selbsterfahrung eine Verfehlung des Handlungscharakters vorzuwerfen. Diese Kreativitätskonzeption ohne Handlungstheorie wird aber nun besonders virulent, sobald sie durch Friedrich Nietzsche aktivistisch gewendet wird. Läßt sich Nietzsches lebensphilosophische Kreativitätskonzeption als aktivistische Wendung einer Willensmetaphysik ohne handlungstheoretische Grundlage bezeichnen? Nietzsche hat selbst die Bedeutung Schopenhauers für sein eigenes Denken und für seine Selbstfindung in aller Ausführlichkeit dargelegt; eine seiner ersten Schriften ist - als dritte »Unzeitgemäße Betrachtung« - »Schopenhauer als Erzieher« 96 gewidmet, und auch später kommt er immer wieder auf Schopenhauer zurück. Schon Nietzsches Frühschriften, erst recht aber die späteren Werke, sind aber auf einen anderen Ton gestimmt als den des Leides und des Pessimismus bei Schopenhauer. Trotz aller Schrecken der Welt sucht Nietzsche von vornherein nach einer Alternative zu Schopenhauers Moral der Willensentsagung. Später steigert sich seine Ablehnung von Pessimismus und Askese zu ihrer Auffassung als Perversionen der das Leben bestimmenden Kraft. Nietzsche teilt mit Schopenhauer die Abwendung von jedem - auch philosophischen - Glauben an ein die Geschichte durchziehendes Vernunftprinzip. Aber in zwei Hinsichten unterscheidet sich der Ansatz seines Denkens sofort von dem Schopenhauers. Während für Schopenhauer das Fehlen einer absoluten Wertsphäre das Leben nur mehr als sinnlosen Drang des metaphysischen Willens nach doch nie erreichbarer Befriedigung erscheinen läßt, sucht Nietzsche nach einer Deutung des Lebens selbst als 96 Friedrich Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, in: ders., Werke 1. München 1969, S. 287-366. 183
in sich werthaft. Er macht sich dabei die nach Schopenhauer und wesentlich von Darwin inaugurierte Auffassung des Lebens als eines Entwicklungsprozesses zunutze, die es erlaubt, das Leben selbst als immanente Steigerung aufzufassen. Die zweite Hinsicht, in der Nietzsche Schopenhauers Voraussetzungen modifiziert, besteht darin, daß er den Begriff des Willens nicht im Sinne blinder Begierde versteht, sondern wieder näher an der Selbsterfahrung des Handelnden - wesentlich als Fähigkeit zur Herrschaft über Begierden und als ein Handeln-Können. Durch diese beiden Veränderungen an Schopenhauers Denken kann Nietzsche alles Leben als Resultat eines »Willens zur Macht« interpretieren, der ähnlich wie Schopenhauers metaphysischer Wille die Bewußtseinsleistungen instrumentalisiert und sich in allen Handlungen artikuliert. Freilich erscheint in dieser Kürze Nietzsches Entwicklung linearer als sie war. Nietzsche hat keineswegs mit einem einfachen Kunstgriff seine Philosophie aus der Schopenhauers hervorgezaubert, sondern hat sich in mühevoller und erfahrungsnaher Weise um die Deutung von Phänomenen bemüht, als deren Schlüssel ihm schließlich der Machtwille erschien.97 Diesen Schlüssel verwendet er dann aber als einen Universalschlüssel, der in Fragen der Erkenntnistheorie wie der Ethik, der Psychologie wie der Metaphysik Anwendung finden soll. In allen diesen Bereichen sieht er diesen übersubjektiven Machtwillen am Werke, oder er sieht die Beschaffenheit dieser Bereiche als Ergebnis einer Verkehrung dieses Machtwillens. Nietzsches eigene »freigeistige« Moralität fordert deshalb nicht die Willensentsagung, sondern umgekehrt die maximale Steigerung der Subjektivität. Es geht dabei um eine Subjektivität, die ähnlich wie Schopenhauers »Wille« aus aller Kontextuiertheit gelöst ist oder sich aus dieser lösen soll. Der »freie Geist« ist schöpferisch, weil er sich über alle bestehenden Setzungen erhebt; die dionysische Erfahrung trennt ab von aller Abgegrenzheit und Formwerdung; der Gedanke eines »Willens zur Macht« zeigt den Kosmos als ewigen Prozeß der 97 Um den Beweis dieser Auffassung bemühte sich v. a. Walter Kaufmann in seinem Buch: Nietzsche. Philosoph - Psychologe Antichrist. Darmstadt 1982. 184
Selbsterzeugung und Selbstzerstörung. Im Begriff des »Lebens« kommen alle diese Konnotationen der Entgrenzung zusammen zu einer - wie Jürgen Habermas formuliert hat »scheinbar konkreten, aber strukturlosen Produktivität«. 98 Dieses »Leben« kann dann selbst in den Rang eines postreligiösen Mythos erhoben werden. Mit einer Analyse Schopenhauers und kurzen Bemerkungen zu Nietzsche kann freilich der inneren Vielfalt, auch dem Reichtum der Lebensphilosophie, nicht Gerechtigkeit widerfahren. So gelten zwar einige der hier vorgetragenen Argumente auch für den französischen Lebensphilosophen Henri Bergson", dessen Denken dem Schopenhauers strukturell stark ähnelt. Auch er will durch eine Analyse unserer Selbsterfahrung auf ein kosmologisches Prinzip stoßen (den »elan vital«). Auch bei ihm werden Attribute der Kreativität makrokosmischen Prozessen zugeschrieben, dem menschlichen Handeln aber gerade vorenthalten. Rationalität und Handeln werden von Bergson gerade in funktionale Kontexte eingebettet, in denen aber Kreativität nichts zu suchen habe. Ganz anders verhält es sich mit Wilhelm Dilthey 100 , dessen Denken im hier verwendeten Sinn gar nicht zur Lebensphilosophie, sondern eindeutig zur ausdrucksanthropologischen Tradition zu rechnen ist. Tatsächlich bezeichnet das »Leben« bei ihm die menschliche Erfahrung und Handlung und nicht ein metaphysisches Prinzip. Auch von der Opposition des Lebens zur Wissenschaft wie in der typischen Lebensphilosophie ist bei diesem überragenden deutschen Gelehrten nichts zu finden. Seine Arbeiten zur methodischen Grundlegung der Geistes98 Jürgen Habermas, Motive nachmetaphysischen Denkens, in: ders., Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt/Main 1988, S. 35-60, hier S. 48. 99 Vgl. exemplarisch Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung. Jena 1921. 100 Vgl. v.a. die unter dem Titel »Einleitung in die Philosophie des Lebens« herausgegebenen Bände 5 und 6 von Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Leipzig/Berlin 1924 sowie ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1970. 185
Wissenschaften sind vielmehr die reifste Gestalt der »Ausdrucks « -Tradition. Die Begriffe des »Willens« und des »Lebens« bei Schopenhauer und Nietzsche zielen auf Phänomene der Kreativität. Sieht man von den wertenden Akzenten dabei zunächst ganz ab, ist beiden eine Herauslösung der Kreativität aus den intersubjektiven und gegenständlich-objektiven Kontexten des menschlichen Handelns vorzuwerfen. In empirischer Hinsicht gelingt es damit nicht, das Wechselspiel von Bewußtem und Unbewußtem, Rationalem und Nicht-Rationalem in der Kreativität zu durchdenken. Die Entwicklung von Individuen wird als Selbsterzeugung ohne den Zusammenhang intersubjektiv definierter und objektiv eingegrenzter Situationen gedacht. In normativer Hinsicht kann sich an Nietzsche ein Ethos der Kreativität anschließen, in dem es um die Selbststeigerung der schöpferischen Person selbst geht. Daran beeindruckt die radikale Bereitschaft, sich eigenen Wertsetzungen verpflichtet zu fühlen. Aber das kontextlose Verständnis von Kreativität läßt die von der kreativen Person geschaffenen Werke wie sekundär erscheinen gegenüber der Selbststeigerung des Schaffenden. Nietzsche will eine Persönlichkeitsentwicklung unmittelbar anstreben, die möglicherweise nur mittelbar, über die tatsächliche Hingabe an ein Werk oder zu lösende Probleme, erreichbar ist. Die von einer auf Selbststeigerung ausgerichteten Person verkündeten Werte behalten dann immer den Makel, einer Willkür entsprungen zu sein einer spielerischen Willkür im sympathischen, einer gewalttätigen Willkür im erschreckenden Fall. Die Metapher des Lebens bewahrt aber, in wie unbefriedigender Form auch immer, die Gedanken einer vorreflexiven Grundlage des Schaffens und der individuellen Sinngebung über kollektiv akzeptierten Sinn hinaus. In der Form, wie die Lebensphilosophie diese Metapher verwendete, wird allerdings der kreativitätsarmen Handlungskonzeption der klassischen Soziologie nur eine von handlungstheoretischen Grundlagen gelöste Metaphysik der Kreativität entgegengesetzt.
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2.5 Intelligenz u n d R e k o n s t r u k t i o n Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte nicht nur die lebensphilosophischen Versuche zu einer Theorie der Kreativität hervor, wenngleich diese das europäische Geistesleben beherrschten. Auch die authentisch amerikanische Denkströmung des Pragmatismus läßt sich als eine Artikulation eines bestimmten Verständnisses von Kreativität verstehen. Es gibt im Pragmatismus nicht eine einzelne Metapher wie die des »Ausdrucks«, der »Produktion« oder der »Revolution« und auch keine weit über die menschlichen Dinge hinauszielenden Begriffe wie den des »Lebens«, anhand deren das Verständnis von Kreativität greifbar zu machen ist. Vielmehr steckt die pragmatistische Kreativitätskonzeption im pragmatistischen Verständnis des menschlichen Handelns selbst. Auf dieses Verständnis des Handelns hin ist ein ganzes Feld von Begriffen zentriert, die in den pragmatistischen Schriften immer wieder und sehr häufig auftauchen: die Begriffe Problem und Problemlösung, die Ideen der Intelligenz und der Rekonstruktion, die Begriffe der Abduktion und der Konstitution von Bedeutung. Wenn diese Begriffe und Ideen nicht bezogen auf das zentrale Phänomen des Handelns im pragmatistischen Sinne aufgefaßt werden, dann sind Mißverständnisse und Verzerrungen unvermeidlich. Diese Schwierigkeiten machten sich vor allem bei der zeitgenössischen europäischen Rezeption des amerikanischen Pragmatismus bemerkbar 101 ; sie trugen aber 101 Vgl. dazu meine Aufsätze »Durkheim und der Pragmatismus«, »Die unterschätzte Alternative« und »Amerikanischer Pragmatismus und deutsches Denken«, in Hans Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt/M. 1992, S. 66-145. Innerhalb der deutschen Tradition der »Philosophischen Anthropologie« gibt es eine beträchtliche Annäherung an den Pragmatismus v. a. bei Arnold Gehlen. Die Bestimmung des menschlichen Handelns als der »Bewältigung einer Lage durch einen schöpferischen Einfall« findet sich in dieser Tradition am klarsten bei Erich Rothacker. Vgl. dessen Aufsätze: Das Wesen des Schöpferischen, in: Blätter für deutsche Philosophie 10 (1937), S. 407-429; ders., Vom Geist des Erfindens, in: Stahl und Eisen. Zeitschrift für das deut187
sicher auch dazu bei, daß der Pragmatismus nach den Jahrzehnten relativer intellektueller Hegemonie in den USA spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg auch dort auf breiter Front zurückgedrängt wurde und erst jetzt Anzeichen seiner Renaissance zu erkennen sind. Die verzerrten Wiedergaben des Pragmatismus sind so verbreitet, daß bei manchen Lesern schon die bloße Erwähnung des Pragmatismus im Rahmen einer Behandlung von Theorien der Kreativität auf Skepsis stoßen dürfte. Die alltagssprachliche Verwendung des Wortes »pragmatisch« und erst recht die Verwendung dieser Bezeichnung im politischen Leben legt eher den Gedanken an ein prinzipienloses und wenig schöpferischen Ehrgeiz verratendes »Durchwursteln« nahe als an das Pathos des Schöpferischen. Sind nicht die pragmatische Anpassung an vorgegebene Bedingungen und die schöpferische Erzeugung von Neuem als Gegensätze aufzufassen? Reduziert der Pragmatismus nicht, wenn er schon mehr sein soll als eine Philosophie der Anpassung, die menschliche Kreativität auf die Lösung vorgegebener Probleme oder die Bewältigung von Notsituationen? U m hier Klarheit zu schaffen, ist eine Besinnung auf den Grundimpuls der pragmatistischen Bewegung nötig. Der philosophische Ausgangspunkt des Pragmatismus lag in einer Kritik an dem Gedankengang des Descartes, der für die neuzeitliche Philosophie entscheidend wurde. Im Denken Descartes' hatte die frühneuzeitliche Emanzipation der Individuen von der selbstverständlichen Geltungsmacht tradierter Institutionen und Ideen ihren konsequentesten Ausdruck gefunden. Er hatte das Recht auf den individuellen Zweifel an dieser Geltungsmacht bis zu dem Programm vorgetrieben, aus der Selbstgewißheit des zweifelnden, des denkenden Ich das feste Fundament einer neuen Philosophie zu machen. Damit wurden freilich alle selbstverständlichen Geltungen der Welt gegenüber dem Bewußtsein - auch die des Körpers des Denkenden als eines Bestandteils dieser Welt und der anderen Subjekte in der Welt - beseitigt. Eine dergestalt erkenntnistheoretisch ausgerichtete Philosophie konnte auf diese Weise zwar sehe Eisenhüttenwesen 57 (1937), S. 1-5 (dort das Zitat, S.2).
ihren fundamentalistischen Anspruch gegenüber den Wissenschaften begründen; sie handelte sich aber gleichzeitig die schwierigen (oder unlösbaren) Aufgaben ein, auf der Basis des denkenden Ich die Welt, den Körper und das D u zu konstituieren. Gegen dieses ganze Programm, das in der Geschichte des europäischen Denkens nach Descartes von größtem Einfluß war, richtet sich der Kerngedanke des Pragmatismus. Der Pragmatist zweifelt an der Sinnhaftigkeit des cartesianischen Zweifels. »Wir können nicht mit völligem Zweifel anfangen. Wir müssen mit all den Vorurteilen beginnen, die wir wirklich haben, wenn wir mit dem Studium der Philosophie anfangen. Diese Vorurteile sind nicht durch eine Maxime zu beseitigen, denn es handelt sich bei ihnen um Dinge, bei denen wir gar nicht auf den Gedanken kommen, daß wir sie in Frage stellen könnten. Also wird dieser Von-vornherein-Skeptizismus eine bloße Selbsttäuschung sein und kein wirklicher Zweifel - und niemand, der die cartesianische Methode befolgt, wird eher zufrieden sein, als bis er alle jene Überzeugungen förmlich wiederentdeckt hat, die er der Form nach aufgegeben hat. (...) Zwar kann jemand im Laufe seiner Studien Grund dazu finden, das zu bezweifeln, von dem er anfangs überzeugt war, aber in diesem Fall zweifelt er, weil er einen positiven Grund dafür hat und nicht aufgrund der cartesianischen Maxime.« 102 Diese Kritik von Charles Sanders Peirce, dem Begründer des Pragmatismus, am cartesianischen Zweifel ist alles andere als eine rückwärtsgerichtete Verteidigung der Unbezweifelbarkeit von Autoritäten gegen den emanzipatorischen Anspruch des denkenden Ich; sie ist allerdings ein Plädoyer für den realen Zweifel, d.h. für die Verankerung des Erkennens in realen Problemsituationen. An die Stelle der Leitvorstellung vom einsam zweifelnden Ich tritt vom Beginn des Pragmatismus an die Idee einer kooperativen Wahrheitssuche zur Bewältigung realer Handlungsprobleme. Man könnte versucht 102 Charles S. Peirce, Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen, in: ders., Schriften i, hg. von Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1967, S. 184-224. - In diesem Absatz meines Textes lehne ich mich an Formulierungen an, die ich auch in dem Buch »Pragmatismus und Gesellschaftstheorie« ähnlich verwendet habe.
sein, diesem Wandel denselben epochalen Charakter zuzusprechen wie dem Denken des Descartes. Gleichwohl genügt der Verweis auf den anti-cartesianischen Impuls des Pragmatismus allein sicher nicht, um die Skepsis gegenüber dieser Denkrichtung zu entkräften. Die Betonung des realen Zweifels führt ja sofort zu der Frage, unter welchen Umständen solcher Zweifel auftritt. Das typische Schema der Pragmatisten verankert den Zweifel im Handeln, das nach einem Modell zyklisch sich wiederholender Phasen gedacht wird. In diesem Modell ist alle Wahrnehmung der Welt und alles Handeln in ihr in unreflektiertem Glauben an selbstverständliche Gegebenheiten und erfolgreiche Gewohnheiten verankert. Immer wieder aber brechen dieser Glaube und die mit ihm verknüpften Handlungsroutinen zusammen; der bisher gewohnte, automatisch wirkende Ablauf des Handelns wird unterbrochen. Die Welt erweist sich als Quell solcher Erschütterung unreflektierter Erwartungen; die Handlungsgewohnheiten prallen von der Widerständigkeit der Welt ab. Dies ist die Phase des realen Zweifels. Aus dieser Phase heraus führt nur eine Rekonstruktion des unterbrochenen Zusammenhangs. Die Wahrnehmung muß neue oder andere Aspekte der Wirklichkeit erfassen; die Handlung muß an anderen Punkten der Welt ansetzen oder sich selbst umstrukturieren. Diese Rekonstruktion ist eine kreative Leistung des Handelnden. Gelingt es, durch die veränderte Wahrnehmung die Handlung umzuorientieren und damit wieder fortzufahren, dann ist etwas Neues in die Welt gekommen: eine neue Handlungsweise, die sich stabilisieren und selbst wieder zur unreflektierten Routine werden kann. Alles menschliche Handeln wird so im Blick der Pragmatisten in der Spannung zwischen unreflektierten Handlungsgewohnheiten und kreativen Leistungen gesehen. Das heißt zugleich auch, daß Kreativität hier als Leistung innerhalb von Situationen, die eine Lösung fordern, gesehen wird, und nicht als ungezwungene Hervorbringung von Neuem ohne konstitutiven Hintergrund in unreflektierten Gewohnheiten. Das bisher locker umschriebene Grundmodell des Handelns im Pragmatismus ist freilich noch viel zu unspezifisch, um 190
gegen den Verdacht gewappnet zu sein, hier werde die Kreativität des Menschen auf bloßes geschicktes Problemlösungsoder gar Anpassungsverhalten reduziert. Es waren hauptsächlich fünf ernstzunehmende Einwände, die gegen diese Kernannahmen des Pragmatismus erhoben wurden; von den polemischen Abfertigungen, die aus nationalistischen Motiven eine ernsthafte Leistung amerikanischen Denkens von vornherein ausschlössen und überall die Unkultur der DollarHerrschaft am Werke sahen, ist hier nicht zu reden. Ein erster Einwand richtete sich auf den augenblicksgebundenen Charakter des Bewußtseins im Handlungsmodell des Pragmatismus. Nebensinn der Attacke auf Descartes war es ja gerade gewesen, die Vorstellung von einer immateriellen Substanz »Bewußtsein« zu destruieren und die »Bewußtsein« genannten Leistungen im Handeln zu verankern. Im Grundmodell des Pragmatismus kann es nun so scheinen, als gebe es Bewußtsein immer nur in den Phasen der Erschütterung bisheriger Gewißheiten und der kreativen Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten. Tatsächlich reservieren die Pragmatisten den vollen Sinn des Bewußtseinsbegriffs für diese Phasen; das heißt aber gerade nicht, daß sie das routinierte, von keiner Erschütterung unterbrochene Handeln als völlig frei von Bewußtseinsleistungen auffassen. Das Ende eines Zyklus, nämlich die Sedimentierung der neuen Handlungsweise als veränderte Routine, zeigt am einfachsten, wie der Pragmatismus sich das Verhältnis von Bewußtsein und Handlung denkt. Die kreativ entwickelten Lösungen eines Handlungsproblems werden eben nicht in einem Bewußtsein gespeichert, sondern sie sind selbst zur neuen Handlungsweise - einem neuen »habit« - geworden. Die Lösung eines Problems führt damit zu einem Handeln, das am selben Problem nicht wieder scheitern wird oder das eine eigene Routine der Problembewältigung enthält. Nicht das Wissen des Handelnden über sein Handeln nimmt durch die Lösung von Problemen zu, sondern die Adäquanz des Handelns selbst. - Ein zweiter Einwand zielt darauf, daß die pragmatistische Weise, alle Bewußtseinsleistungen im Handeln zu verankern, die Überdehnung eines Gedankens darstelle, der für die Anfänge der kognitiven Ent191
wicklung einen guten Sinn mache. Der Pragmatismus mache damit das sensomotorische Lernen zum Modell allen menschlichen Lernens, und dies sei eine gravierende Reduktion »höherer«, kulturell bedeutsamerer Erkenntnis- und Handlungsweisen. Ein dritter Einwand wirft dem Pragmatismus ein objektivistisches Verständnis der Konstitution von Problemen für den Handelnden vor. Die Pragmatisten beraubten, so diese Kritiker, den Handelnden jedes Definitionsspielraums und täten so, als zwinge sich das Problem dem Handelnden unausweichlich und in ganz bestimmter Form auf. Dann bleibe aber auch kein Spielraum für die Kreation von Lösungen, sondern es gehe nur um die Findung der in der Wirklichkeit schon vorgebahnten Wege. Ein vierter Einwand richtet sich auf den angeblich individualistischen Charakter des pragmatistischen Grundmodells. Es bleibt ja noch ganz unklar, ob auch das Handeln gegenüber Mitsubjekten anstelle von (gegenständlichen) Objekten nach diesem Schema gedacht werden soll und wie eigentlich beide Bezüge in konkreten Handlungen verschränkt sein können. Der fünfte und letzte wichtige Einwand bezieht sich auf die Gefahr, daß der Pragmatismus alles Handeln »instrumentalistisch« reduziere und damit zweckfreien Handlungen in Kunst und Spiel ebensowenig Raum lasse wie sinnlicher Rezeptivität und einer von Handlungen distanzierten Gelassenheit. Alle diese Einwände wurden zwar oft erhoben, um den Pragmatismus in seine Schranken zu weisen und sein Programm einer neuen Philosophie, die von der fundierenden Rolle des Handelns anstelle der fundierenden Rolle des Bewußtseins ausgeht, zurückzuweisen. Sie sind aber alle auch Anlaß interner Fortschritte des Pragmatismus gewesen, so daß sich sagen läßt, daß mancher Einwand zwar gegen frühe Formulierungen des pragmatistischen Programms bei William James und auch Charles Peirce im Recht gewesen war, aber im weiteren Verlauf durch Innovationen John Deweys und George Herbert Meads dieses Recht verlor. Es ist hier nicht der O r t für eine systematische Darstellung der Geschichte des Pragmatismus, die sich am Leitfaden der Überwindung dieser Unklarheiten oder Mängel des Grundmodells orientieren ließe. Deshalb 192
müssen Hinweise auf die Richtungen genügen, in die die Pragmatisten durch die Verarbeitung dieser Einwände getrieben wurden. So zeigen die entwicklungspsychologischen Arbeiten von Pragmatisten, daß sie nicht auf eine Reduktion allen menschlichen Lernens auf sensomotorische Prozesse abzielten, wohl aber im Begriff der Intelligenz kein selbständiges geistiges Vermögen des Menschen sehen wollten, das sich auf einer animalischen Grundlage erhebt. Damit wurden auch die höchsten Denkformen radikal in eine Kontinuitätslinie mit den einfachsten Formen kognitiver und motorischer Umweltanpassung gebracht. Nicht Reduktion also, aber auch nicht dualistische Abspaltung des Geistigen vom Körperlichen, sondern die Erforschung der Phasen jenes Entwicklungsprozesses, der von den einfachen zu den höheren Formen führt: das ist die psychologische Konsequenz des pragmatistischen Programms. 103 - Der Vorwurf des Objektivismus läßt sich durch die Denkpsychologie und Logik John Deweys und die Methodologie des ersten Schuloberhaupts der vom Pragmatismus ausgehenden Chicagoer Schule der Soziologie, William Isaac Thomas, entkräften. 104 Dewey fügt nämlich dem pragmatistischen Grundmodell ein weiteres Stadium, das der Problemdefinition, ein. Das heißt, daß er nicht von einem einfachen Zusammenprall zwischen Handlungsgewohnheiten und Wirklichkeit ausgeht, sondern vielmehr von einer diffus problematischen Qualität einer Handlungssituation im ganzen, die erst vom Handelnden als überhaupt problematisch anerkannt werden muß, worauf dann die Definition des Problems als solchem und die Zuschreibung bestimmter problematischer 103 Insofern stellt das Lebenswerk Jean Piagets eine Durchführung dieses Programms dar, die umfassender und konsequenter ist als alles, was aus dem direkten Umfeld der Pragmatisten kam. Vgl. exemplarisch Jean Piaget, Psychologie der Intelligenz (1947). München 1976. 104 John Dewey, How We Think. Boston 1910. - William I. Thomas/Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America. 2 Bde. New York 1926 (v. a. die methodologische Vorbemerkung). 193
Qualitäten erfolgen kann. Von dieser Problemdefinition aber hängt ab, welche Richtungen der Problemlösung in Frage kommen können. Thomas wiederum hat zur soziologischen Konkretisierung dieses Verständnisses von Situationsdefinition wesentlich beigetragen. Er fragt sowohl nach der sozialen Rolle derer, die Situationen auch für andere definieren, wie nach der Konsistenz der Situationsdefinitionen eines Handelnden, ihrem Zusammenhang in einem mehr oder minder geschlossenen Deutungssystem. Wenngleich hier also von einer objektivistischen Fassung des Situationsbegriffs nicht mehr die Rede sein kann, handelt es sich doch auch nicht um eine subjektivistische Version. Bei aller Anerkennung der subjektiven Komponenten entzieht sich die Stellung der Probleme doch subjektiver Willkür, treffen die Handelnden, ob sie wollen oder nicht, auf eine ihre Definitionsarbeit herausfordernde Qualität der Welt. - Der Vorwurf eines individualistischen Charakters des pragmatistischen Grundmodells war natürlich von vornherein nur bezogen auf James und nicht auf Peirce plausibel. Peirce hatte ja nicht nur die Genese der Erkenntnisprobleme aus realen Handlungssituationen behauptet, sondern auch ihre Lösung nicht dem einsamen cartesianischen Ich zugemutet, sondern von einer Gemeinschaft experimentierender und miteinander diskutierender Wissenschaftler erwartet. Dieser »soziale« Charakter von Peirces Pragmatismus war insofern immanent mit dem Handlungsmodell verbunden, als Peirce den zeichenvermittelten Charakter aller Erkenntnis behauptete, die Zeichen aber nicht als private Fixierung, sondern öffentliches Medium verstand. Eine eigentliche Theorie der Kommunikation hat Peirce allerdings nicht entwickelt. Die pragmatistische Analyse von Situationen sozialer Interaktion - und auch der Kommunikation des Handelnden mit sich selbst in der Selbstreflexion - ist der systematische Beitrag von George Herbert Mead zum pragmatistischen Denken. 105 Mead fragt nach der Spezifik interpersonaler Handlungsprobleme und schließt aus den funktio105 Vgl. mein Buch: Hans Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Denkens von G.H. Mead. Frankfurt/M. 1989 (2. Auflage). 194
nalen Notwendigkeiten für deren Lösung auf die Grundstrukturen symbolvermittelter Interaktion. Die ganze sich darauf erhebende Sozialpsychologie Meads läßt sich als Zurückweisung eines individualistisch verengten Verständnisses des pragmatistischen Grundmodells verstehen. - Schließlich beruht der Vorwurf der instrumentalistischen Reduktion, der noch gestärkt zu werden scheint durch die Tatsache, daß John Dewey sein eigenes Denken eine Zeit lang nicht Pragmatismus, sondern Instrumentalismus nannte, auf einem Mißverständnis. Dewey hatte mit diesem Terminus nie den Charakter des Handelns, sondern vielmehr die Beziehung zwischen Bewußtsein und Handeln gemeint. Für sein Verständnis spielten immer Handlungstypen - vom kindlichen Spiel bis zur Kunst - eine entscheidende Rolle, die sicher nicht instrumenteilen Charakters waren, also nicht der bloßen Erreichung außerhalb ihrer liegender Ziele dienten. »Ich habe von Zeit zu Zeit eine Auffassung von Erkenntnis als >instrumental< dargelegt. Von Kritikern wurden dieser Auffassung seltsame Bedeutungen unterstellt. Ihr gegenwärtiger Inhalt ist einfach: Erkenntnis verhält sich gegenüber der Bereicherung unmittelbarer Erfahrung instrumental durch die Kontrolle, die sie über die Handlung ausführt.« 106 Dewey und den anderen Pragmatisten ging es nicht darum, alles Handeln nach dem Muster instrumentellen Handelns zu deuten, sondern gerade umgekehrt um eine Kritik an einer zu engen »praktischen« Orientierung des amerikanischen Lebens. Das Handeln als fundierende Dimension anzusehen, bedeutete also gerade nicht, die Welt als bloßes Material für die Absichten von Handelnden aufzufassen. Aber die Erschließung der Welt durch den Menschen geschieht eben in seinem Handeln. Durch diese Weiterentwicklungen und Modifikationen gewinnt das pragmatistische Verständnis von Kreativität prägnantere Konturen. Tatsächlich unternehmen die Pragmatisten den Versuch, die Kreativität im Handeln des Organismus 106 John Dewey, Kunst als Erfahrung. Frankfurt/M. 1980, S. 338. Auch der in dieser Formulierung auftauchende Begriff der Kontrolle ist natürlich in der Gefahr, »instrumentalistisch« mißverstanden zu werden. 195
Mensch in seiner natürlichen und sozialen Umwelt zu verankern. Natürliche Bedingungen der Umwelt spielen ebenso eine wichtige Rolle für dieses Denken wie die körperliche Ausstattung des Menschen. Anthropologische Strukturen der Kommunikation betten alles Handeln ein. Aber es geht bei der Kreativität nicht einfach um organismische Überlebensnotwendigkeiten. Ein Handlungsproblem liegt nicht nur dann vor, wenn der Organismus fundamental gefährdet ist. Das Handeln wird ständig mit unerwarteten Widerfahrnissen konfrontiert; Ziele erweisen sich als unerreichbar; gleichzeitig verfolgte Ziele als miteinander unvereinbar; erreichbare Ziele werden von anderen Handelnden in Zweifel gezogen. In diesen verschiedenen Arten von Krisen des habituellen Handelns müssen die Situationen des Handelns anders und neu bestimmt werden. Es geht dabei um die Bestimmung von Unbestimmtem, nicht um eine veränderte Selektion aus einem Reservoir bestimmter oder keiner Bestimmung bedürftiger Situationsbestandteile. Jede Situation enthält nach Auffassung der Pragmatisten einen Horizont von Möglichkeiten, der in der Krise des Handelns neu erschlossen werden muß. Es werden Hypothesen aufgestellt: Vermutungen über neue Brücken zwischen Handlungsimpulsen und Situationsgegebenheiten. Nicht jede solche Brücke ist tragfähig. Gelingt es aber, eine neue Brücke zu schlagen, dann hat sich die Handlungsfähigkeit konkret angereichert. Diese ändert selbst die im Handelnden gestellten Ziele. Für die Pragmatisten besteht das Handeln nicht in der Verfolgung klar geschnittener Ziele oder in der Anwendung von Normen, und Kreativität ist nicht die Beseitigung von Hindernissen auf diesen vorgeschriebenen Wegen. Die Verankerung der Kreativität im Handeln erlaubt es, Kreativität gerade als Freisetzung für neue Handlungen aufzufassen. John Dewey sah darin den Kern des Pragmatismus: »The pragmatic theoiy of intelligence means that the function of mind is to project new and more complex ends - to free experience from routine and from caprice. N o t the use of thought to accomplish purposes already given either in the mechanism of the body or in that of the existent State of Society, but the use of intelligence to liberate and liberalize 196
action, is the pragmatic lesson.« 107 Dies ist keine künstliche Übertreibung eines nebensächlichen Motivs des Pragmatismus. Der Pragmatismus stellt vielmehr, auf eine Formel gebracht, eine Theorie sanierter Kreativität dar. Er gehört sowohl in eine Geschichte der Kreativitätsidee wie in eine Geschichte der Handlungstheorie hinein, da er eine Theorie der Kreativität des menschlichen Handelns ist. An allen Hauptvertretern des Pragmatismus läßt sich dies rasch demonstrieren. - Das reiche und schwer überblickbare Werk des erst spät in seiner Genialität erkannten Charles Sanders Peirce wurde hier bisher nur in seiner negativen Stoßrichtung, der Kritik am Cartesianismus, gekennzeichnet. Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn man den positiven Beitrag Peirces zur Überwindung des Cartesianismus in der Ausarbeitung der Ideen der InterSubjektivität des Zeichengebrauchs und der Kreativität der Hypothesenerzeugung sieht. Dabei liegt die Idee der Intersubjektivität der in der deutschen Rezeption bei Habermas und Apel so wichtig gewordenen Idee des Diskurses zugrunde. Viel weniger Beachtung fand dabei, daß Peirces Interesse an Wissenschaft und Forschung seinen Dreh- und Angelpunkt in der Frage nach der Entstehung jener Erklärungshypothesen hatte, über die dann u.a. im Diskurs der experimentierenden Wissenschaftler argumentierend befunden werden sollte. N u r deshalb stehen Peirces Ideen über die Wissenschaft und - seit Mitte der 1890er Jahre auch über die Kunst - einerseits und seine spekulative Naturphilosophie mit ihrem theistischen Kern andererseits in einem Verhältnis wechselseitiger Beleuchtung. 108 Entscheidend ist hier Peirces Einführung der »Abduktion«. Peirce stellt neben die seit der antiken Logik bekannten Schlußfolgerungsformen der Induktion und Deduktion als der Schlußfolgerung sei's von Einzelfällen auf eine waltende Gesetzmäßigkeit, sei's von Gesetzmä107 John Dewey, The Need for a Recovery of Philosophy, in: J.D. et al., Creative Intelligence. Essays in the Pragmatic Attitüde. New York 1917, S. 3-69, hier S. 63. 108 Im Anschluß an die Arbeiten von Carl Hausman über Kreativität hat dies v. a. herausgearbeitet: Douglas R. Anderson, Creativity and the Philosophy of Ch. S. Peirce. Dordrecht, NL 1987. 197
ßigkeiten auf Einzelfälle einen dritten logischen Typus, eben den der Erzeugung neuer Hypothesen in einem kreativen Akt. Die Spezifik dieses dritten Typus und seine Abgrenzung von den beiden anderen, insbesondere von dem der Induktion, hat Peirce über viele Jahre in seinen Arbeiten beschäftigt. Klar ist, daß die Abduktion für Peirce nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung für den Wissenschaftsfortschritt darstellt, d. h. ohne die Erzeugung neuer Hypothesen ist kein Fortschritt denkbar, aber jede neue Hypothese steht selbstverständlich unter dem Vorbehalt ihrer Bewährung. Im Unterschied zu vielen späteren Vertretern der Wissenschaftstheorie, etwa Popper, gehört aber für Peirce die Erzeugung neuer Hypothesen nicht in den logischen Randbereich einer Denkpsychologie oder ins Gebiet bloßer Zufallsvariation, sondern selbst zur Logik hinzu, ja mitten in sie hinein: »Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical Operation which introduces any new idea; for induction does nothing but determine a value, and deduction merely evolves the necessary consequences of a pure hypothesis.« 109 Wäre es anders, meint Peirce, dann wäre es gar nicht sinnvoll, den Bereich der Hypothesenbildung überhaupt in unser Urteil über den Wert eines Wissenschaftlers aufzunehmen. N u r weil wir davon ausgehen, daß im kreativen Akt der Hypothesenbildung mehr als Zufall am Werke ist, rechnen wir diesen dem Wissenschaftler zu. Es muß also für Peirce in dieser Kreativität eine Komponente der Selbstkontrolle geben. Die Abduktion steht gerade zwischen einer bloß passiven Aufnahme von Sinneseindrücken und einer Kommunikation mit anderen über Erklärungshypothesen. In ihr befreit sich der Wissenschaftler sowohl vom Druck der Wahrnehmungen wie vom Druck überbrachter Deutungen und stellt zu beiden ein freies Verhältnis her. Dieses freie Verhältnis ist aber gerade eines erworbener Freiheit, d. h. es ist nicht der Rückgang auf ein vorreflexives Verhältnis zur Welt als solches, welcher die Abduktion kennzeichnet, sondern der Einsatz von Selbstkontrolle und Erfahrung zum Zwecke einer Freisetzung für ein 109 Charles Sanders Peirce, Collected Papers. Cambridge, Mass. 1932-58, hier 5. 172. (Pragmatismus - Vorlesungen Nr. 1). 198
freies Spiel von Ideen und Wahrnehmungen. Es handelt sich also nicht um ein freies Assoziieren als solches, das hier mit dem Namen »Kreativität« geschmückt wird, sondern um eine aktive Freisetzung, bei der der Bezug zu dem anstehenden Erklärungsproblem nie ganz verlorengeht. Peirce beschreibt, wie der Wissenschaftler auf diese Weise eine vielversprechende Idee für eine Hypothese finden kann, die dann durch liebevolle Pflege - und nicht durch Zwang und Entschiedenheit entwickelt wird, bis sie sich aus eigener Logik entfaltet, um dann als entfaltete einer Überprüfung zugeführt werden zu können. Ideen über künstlerische Kreativität und vor allem über die göttlich-kosmologische Kreativität zeigen an, daß Peirces Beitrag zur Theorie der Kreativität nicht den Vorwurf szientistischer Verengung verdient. - Für William James, den zweiten berühmten Repräsentanten des Pragmatismus, stellte das Verhältnis zwischen der Selbsterfahrung des freien Willens und dem Weltbild der Naturwissenschaften ein viel dramatischeres Problem dar als für Peirce. Bei aller Modernität von Peirces Einsichten auf den Gebieten der Semiotik und der Wissenschaftsphilosophie empfinden die Nachgeborenen sein ungebrochenes Vertrauen in ein optimistisches Verständnis der Naturgeschichte im Sinne des Werks eines Schöpfergottes als vormodern und nahe an der romantischen Naturphilosophie der amerikanischen Transzendentalisten. Beim jungen James dagegen spitzte sich das Verhältnis zwischen einem religiös begründeten Glauben an den freien Willen der moralisch handelnden Person und der von den Wissenschaften gebotenen Sicht der Welt als eines durch und durch kausal geregelten Universums zu einer tiefen biographischen Sinnkrise zu: Wenn alles kausal determiniert ist, kommt menschlichen Handlungen und Entscheidungen ja kein Einfluß auf den Weltlauf zu; auch das eigene Leben entzieht sich dann jeder Planung und Gestaltung. Die Sinnkrise entsprang dabei nicht nur dem Verhältnis Religion und Wissenschaft, sondern war in das Verständnis der Wissenschaft selbst eingebaut. Gerade mit Peirce ließ sich ja das Handeln des Wissenschaftlers als kreativ deuten; die von der Wissenschaft enthüllten Gesetzmäßigkeiten schienen aber im öffentlichen Bewußtsein menschliche 199
Kreativität gerade auszuschließen. James' persönlicher Ausweg aus dieser Krise, die für ihn nicht einfach ein philosophisches Problem darstellte, sondern als lähmende Depression erlitten wurde, nahm für die folgende Generation amerikanischer Intellektueller repräsentative Bedeutung an. Dieser Ausweg bestand darin, der menschlichen Fähigkeit zur willentlichen Aufmerksamkeit auf Vorstellungsgehalte und zur Wahl zwischen Handlungsalternativen selbst eine Funktion für das Überleben des menschlichen Organismus in seiner Umwelt zuzusprechen. Darwins Evolutionstheorie stellte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen der spektakulärsten Fälle wissenschaftlichen Erklärungserfolgs dar. Durch James' Gedanken erschienen Evolutionslehre und Freiheitsannähme nicht mehr als Antithesen, sondern als synthetisierbar im Konzept einer »funktionalistischen« Psychologie, d.h. einer Psychologie, die alle psychischen Leistungen aus ihrer Funktion für die aktive Bewältigung der Umwelt durch den Organismus begreift. James' »Psychologie« von 1890, in die seine Bemühungen aus mehr als zehn Jahren mündeten, stellt einen Meilenstein für deren Entwicklung dar. In seiner weiteren Entwicklung sah er sich darauf verwiesen, die erkenntnistheoretischen und die kosmologisch-ontologischen Implikationen der in der »Psychologie« errungenen Position auszuarbeiten. Der erkenntnistheoretische Strang führte zu der Propaganda für den »Pragmatismus« und seine Wahrheitstheorie, die bei Peirce und anderen Erschrecken über die logische Ungenauigkeit von James und in Europa einen Sturm der Entrüstung auslöste. 110 Der kosmologische Strang führte zu einer Philosophie, die das Universum als nichtdeterminiert und damit 110 Ich beziehe mich hier v. a. auf folgende Schriften von James: The Principles of Psychology. 2 Bde. New York 1890. - Der Pragmatismus. Nachdruck Hamburg 1977. - The Varieties of Religious Experience. New York 1982. - Meine Interpretation lehnt sich an die folgenden herausragenden deutschen Deutungen an: Eduard Baumgarten, Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens. Bd. 2. Frankfurt/M. 1938, S. 99-211; Eilert Herms, Radical Empiricism. Studien zur Psychologie, Metaphysik und Religionstheorie William James'. Gütersloh 1977; ders., Nach200
offen für menschliche Determination darstellte: als Feld von Möglichkeiten, in dem Neues entstehen konnte. Die entscheidende Vertiefung der in der »Psychologie« von 1890 formulierten Position aber geschah in der Religionspsychologie »The Varieties of Religious Experience« von 1902. Während es in der »Psychologie« um die Funktion der menschlichen Psyche für die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt gegangen war, fragte James jetzt nach der religiösen Erfahrung als derjenigen Dimension, in der sich das psychische Leben überhaupt erst konstituiert. Wie James' ganzes Denken von der Stärke des Selbstgefühls ausgegangen war, daß Lebensgestaltung möglich sei, so fragte er jetzt nach den Prozessen, in denen dieses Selbstgefühl Zustandekommen könne. Auch diese Frage läßt sich als die nach der Funktion der religiösen Erfahrung bezeichnen, aber James meint viel mehr als eine ideologiekritische Relativierung der kognitiven Ansprüche oder sozialen Wirkungen von Religionen. Es geht ihm um eine Selbstreflexion des grundlegenden Lebensgefühls von Personen, die ihre eigenen schöpferischen Fähigkeiten als Teil eines überpersonalen schöpferischen Lebenszusammenhangs oder als dessen Gegenteil erleben können. In der Religionspsychologie nähert sich James damit am stärksten den Fragestellungen der Lebensphilosophie; doch auch hier geht die Spezifik menschlicher Kreativität nicht in einem allgemeinen Begriff des »Lebens« unter, vielmehr wird die Konstitution schöpferischen Lebensgefühls in der vorbewußten Erfahrung der Welt zum Thema gemacht. - Im Denken George Herbert Meads wird die bei James angelegte Übersetzung der pragmatistischen Motive in das Programm einer biologisch fundierten empirischen Sozialwissenschaft weiter ausgebaut. Reste eines traditionellen Seelenbegriffs und inkonsequente Vorstellungen von einem Parallelismus zwischen Physischem und Psychischem bei James werden zugunsten einer konsequenten »Definition des Psychischen« 111 im funktionalistischen Sinne wort zu W.J., Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Ölten 1979, S. 481-521. i n George Herbert Mead, Die Definition des Psychischen, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980, S. 83-148. 201
überwunden. Meads entscheidender Beitrag lag aber darin, auf dieser Grundlage die Konstitution von Persönlichkeitsstrukturen in der Dynamik interpersonaler Beziehungen zum Thema gemacht zu haben. Für Mead stellte die Annahme eines vorsozialen substantiellen Selbst einen der Ecksteine des von ihm moralisch und politisch bekämpften Besitzindividualismus dar, der Gesellschaften als Gruppierung atomistischer Individuen mit vorgegebenen Interessen erscheinen ließ. In James' Psychologie sah er selbst noch diesen Individualismus am Werk, da dieser zwar die Rolle von Selbst- und Fremdbildern im menschlichen Handeln erkannte, ihnen aber keine konstitutive Bedeutung zugesprochen habe. Stärkere Anregungen konnte sich Mead hier aus den Traditionen der klassischen deutschen Philosophie, insbesondere Hegels, und aus neoidealistischen Arbeiten des späten 19. Jahrhunderts holen. Aber im Unterschied zu diesen wollte Mead nicht auf eine innere Logik der Entfaltung des Selbst hinaus, sondern er wollte dieses Selbst radikal aus den Strukturen der Kommunikation verstehen. Sein Begriff der menschlichen Person und ihres Handelns ist »konstruktivistisch« in dem Sinne, daß sogar der Umgang der Person mit sich selbst als Resultat sozialer Strukturen des Umgangs von Personen miteinander gedacht wird. Dabei wird aber nicht der vorpersonale Kern einer Person als passiv aufgefaßt, so daß die Person als bloßer Niederschlag sozialer Erwartungen zu denken wäre. Die zentrale Bedeutung der Kreativitätsidee für Meads Persönlichkeitsmodell läßt sich an seiner Instanz des »I« ermessen, das als Quell unantizipierter Spontaneitäten, die den Handelnden ebenso überraschen wie seine Partner, gedacht wird. Persönlichkeitsbildung reduziert diesen Spontaneitätskern nicht, sie verlagert die Auseinandersetzung zwischen ihm und den Bewertungen und Erwartungen anderer aber in die Person hinein. Diesen Gedanken hat Mead für eine Sozialpsychologie und für eine Ethik ausgebaut; ihn interessierten darüber hinaus die Konsequenzen dieses Gedankens für die kognitive Entwicklung von nicht im unmittelbaren Sinn sozialen Fähigkeiten, so etwa die Konstitution permanenter Objekte in der Wahrnehmung und die Konstitution von Zeitstrukturen. 202
Die breiteste Ausführung der im Pragmatismus enthaltenen und für ihn charakteristischen Idee der Kreativität hat aber John Dewey vorgelegt. Er war nebst James besonders häufig Gegenstand antipragmatistischer Attacken geworden, die ihm die Reduktion allen Handelns auf bloße Anpassungsleistungen vorwarfen. Ebenso wie James konnte er lange Zeit in diesen Attacken nur ein groteskes Mißverständnis seiner Absichten sehen. Nicht Anpassung, sondern Wachstum, Selbststeigerung, Kreativität war doch bestimmendes Motiv für ihn. »So ist seine Logik eine Logik des Forschens und Entdeckens und nicht einer präexistenten Realität, seine Ethik eine Ethik des sich formierenden Charakters und nicht etwa eine T h e o rie der Werte<, seine Sozialphilosophie eine Philosophie des neue Horizonte in die Zukunft aufreißenden Gemeinschaftslebens und nicht eine Lehre von den sozialen Formen, seine Ästhetik eine Theorie des künstlerischen Schaffens und nicht eine Lehre von der Schönheit, und schließlich seine Philosophie des Lebendigen eine Lehre vom aufsteigenden Lebensprozeß und keine Theorie des Organischen.« 112 Auch seine Pädagogik war ja eben keine Pädagogik der Anpassung gewesen, sondern der Versuch, das Kind in problematischen Situationen von absorbierendem Interesse am eigenen kreativen Problemlösungsverhalten wachsen zu lassen. Aber erst von den zwanziger Jahren ab ging Dewey über die Zurückweisung von Mißverständnissen und Andeutungen einer pragmatistischen Theorie der Werte, der Kunst und der Religion hinaus. Dies geschah zunächst in der Ausarbeitung seiner Metaphysik »Experience and Nature«, dann aber in den dreißiger Jahren durch die Vorlage dreier Monographien zu den genannten großen Themen. 113 Insbesondere die Theorie der Kunst ist breit ausgearbeitet und kann in mancher Hinsicht als Höhepunkt 112 So bemerkenswerterweise Karl-Heinz Brandenburg, Kunst als Qualität der Handlung. John Deweys Grundlegung der Ästhetik. Diss. Königsberg 1942, hier S. 10. 113 John Dewey, Experience and Nature (1925). New York 1958ders., Kunst als Erfahrung (1934). Frankfurt/M. 1980. - ders., A Common Faith (1934). New Haven, Conn. 1980. - ders., Theory of Valuation. Chicago 1939. 203
von Deweys so viele Themen behandelndem Lebenswerk betrachtet werden. Die pragmatistischen Vorläufer dieses Buchs: ein Aufsatz Meads und Peirces Ansätze zu einer Theorie der qualitativen Unmittelbarkeit, denen sich Dewey nicht zufällig in der Zeit der Arbeit am »Kunst«-Buch zuwandte, lassen sich mit dem Umfang von Deweys Ausführungen nicht vergleichen. 114 Anhand dieses Buches läßt sich der Beitrag des Pragmatismus zur Theorie der Kreativität zusammenfassend diskutieren. Es geht Dewey in seinem Buch »Kunst als Erfahrung« zunächst darum, die Kunst wieder in ein Verhältnis zum Alltag zu bringen. Geradezu polemisch wendet er sich gegen die Vorstellung, eine ästhetische Theorie dürfe von den Kunstwerken ausgehen, wie sie fix und fertig in Museen dargeboten werden. »Löst man einen Kunstgegenstand sowohl aus seinen Entstehungsbedingungen als auch aus seinen Auswirkungen in der Erfahrung heraus, so errichtet man eine Mauer um ihn, die seine allgemeine Bedeutung, um die es in der ästhetischen Theorie geht, beinahe unerkennbar werden läßt. Die Kunst wird in einen Sonderbereich verwiesen, in dem sie fern von all jenen Mitteln und Zielen ist, die menschliche Bestrebungen, Mühen, Errungenschaften zum Ausdruck bringen. Wer es unternimmt, ein Werk über die Philosophie der Kunst zu schreiben, muß daher zunächst einmal zwischen den Kunstwerken als verfeinerten und vertieften Formen der Erfahrung und den alltäglichen Geschehnissen, Betätigungen und Leiden, die bekanntlich die menschliche Erfahrung ausmachen, eine erneute Kontinuität darstellen.« 115 Aber Dewey will nicht nur die äs114 George Herbert Mead, Das Wesen der ästhetischen Erfahrung (1926), in: ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 2. Frankfurt/M. 1983, S. 347-3 59. -John Dewey, Peirce's Theory of Quality, in: Journal of Philosophy 32 (1935), S. 701-708. Dewey stützt sich dabei auf Peirces Kategorie der »Firstness« (»Erstheit«) und seine Konzeption einer »Phänomenologie«, z.B. in den Pragmatismus-Vorlesungen von 1903 die zweite Vorlesung. Vgl. Charles Sanders Peirce, Schriften. 2 Bde. Frankfurt/M. 1967/70, hier Bd. 2, S. 305ff (Collected Papers 5.41 ff). 115 John Dewey, Kunst als Erfahrung, a.a.O., S. 9. 204
thetische Erfahrung statt einer separaten Sphäre der Kunstwerke zum Thema machen, sondern - noch radikaler - die ästhetische Dimension aller menschlichen Erfahrung. Um zu verstehen, was er damit meint, ist eine Erinnerung an das pragmatistische Grundmodell situierter Kreativität nötig: Aus einer Problemspannung in Situationen entstehen neue Handlungsvarianten. Nun führt Dewey eine neue Unterscheidung in dieses Grundmodell ein. Während in allen Handlungen Erfahrungen gemacht werden, nennt er Erfahrungen von besonderer Qualität »eine Erfahrung«. Er zielt damit auf den ganzheitlichen, kohärenten Charakter bestimmter Erfahrungen, die wie von selbst aus dem Fluß der vielen Erfahrungen herausragen. Im normalen Handeln werden verschiedene Aspekte einfach nebeneinander gestellt und nicht integriert, begonnene Handlungen werden ohne inneren Grund nicht weiterverfolgt. »Es herrschen Trennung und Auflösung. Was wir beobachten und was wir denken, was wir ersehnen und was wir erlangen, steht nicht miteinander im Einklang. Wir machen uns an die Arbeit und halten inne; wir beginnen und brechen ab - nicht etwa, weil das Ziel der Erfahrung, um dessentwillen sie begonnen wurde, erreicht wäre, sondern wegen äußerer Unterbrechungen oder innerer Lethargie.«116 Wir kennen aber auch den anderen Fall, in dem ein Ganzes zustandekommt. Gemeint ist damit nicht die Ganzheit eines Werkes, sondern die Ganzheitlichkeit einer Erfahrung. »Eine Arbeit wird zufriedenstellend abgeschlossen; ein Problem findet seine Lösung; ein Spiel wird bis zum Ende durchgespielt; eine Situation ist derart abgerundet, daß ihr Abschluß Vollendung und nicht Abbruch bedeutet - sei es nun, daß es sich um das Einnehmen einer Mahlzeit handelt oder um eine Partie Schach, um ein Gespräch oder darum, daß man ein Buch verfaßt oder an einer politischen Aktion teilnimmt. Eine solche Erfahrung bedeutet ein Ganzes, sie besitzt ihre besonderen, kennzeichnenden Eigenschaften und eine innere Eigenständigkeit. Sie ist eine Erfahrung.«117 Dewey stellt also nicht Kunst und Alltag einander gegenüber, sondern abgerundete 116 ebd., S. 47. 117 ebd. 205
und fragmentierte Erfahrung. Jeglichem praktischen Handeln kann die ästhetische Qualität des Abgerundetseins zukommen. »Abgerundet« bedeutet wiederum keine formale Eigenschaft, sondern die umfassende Bedeutungsgeladenheit jeder Teilhandlung für den Handelnden. Dieselbe Tätigkeit, etwa das Kochen, kann als sinnlose Fron und als sinnvoller Beitrag zum gemeinsamen Leben erfahren werden. Dewey nennt sexuelle Erfahrungen 118 , die als animalisch oder als bedeutungsvoller Ausdruck der Liebe erlebt werden können. Ohne utopisch zu werden und eine Aufhebung der Kunst in einer vollkommenen Gesellschaft in Aussicht zu stellen, richtet sich Dewey kritisch gegen eine Reduktion der Kunst auf eine bloß kompensatorische oder ornamentale Rolle im Alltag. Er will mehr und stellt sich damit in die romantische Tradition der Kritik an den Bedingungen industrieller Arbeit und kommerzieller Zivilisation, denn »in einer Gesellschaft, die besser organisiert wäre als die, in der wir leben, wären alle Formen des Schaffens von einem unendlich größeren Glücksgefühl begleitet, als es heute der Fall ist. Wir leben in einer Welt mit einem ungeheuren Maß an Organisation, doch es ist eine äußerliche Organisation, nicht eine, in der die wachsende Erfahrung auf ein erfülltes Ende hin geordnet wird und die darüber hinaus das Lebewesen in seiner Gesamtheit umfaßt.« 119 Deweys These von der ästhetischen Dimension potentiell aller Erfahrung ist damit zugleich Maßstab seiner Kultur- und Gesellschaftskritik. Er strebt nach einer Gesellschaft, in der den Handelnden sinnvolles Handeln möglich ist, d.h. ein Handeln, in dem alle Teilhandlungen vom Sinn der Gesamthandlung durchströmt werden und die individuelle Handlung als Teil eines überindividuellen Handelns erfahren wird. Bei Dewey wird deshalb der Sinn des Kreativitätsbegriffs dem einer selbst geschaffenen Sinnhaftigkeit des Tuns angenähert. Diese aber kommt nicht nur den Genies, sondern allen Handelnden zu, insofern jeder Mensch einmalige Erfahrungen macht, die er, wenn er nur sich selbst vertraut, mit anderen teilen kann. Wie später Hannah Arendt betont Dewey die Basis der Indi118 ebd., S. 93. 119 ebd., S. 97.
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vidualität in der »Natalität«, dem individuellen Geborensein: »We are given to associating creative mind with persons regarded as rare and unique, like geniuses. But every individual is in his own way. Each one experiences life from a different angle than anybody eise, and consequently has something distinctive to give others if he can turn his experiences into ideas and pass them on to others. Each individual that comes into the world is a new beginning; the universe itself is, as it were, taking a fresh Start in him and trying to do something, even if on a small scale, that it has never done before.« 120 Die Akzentverlagerung von der Kunst zur Kreativität aller Erfahrung ruft nun freilich die Frage hervor, was die Kunst gleichwohl zu einer spezifischen Weise menschlichen Handelns und Genießens macht. Die Spezifik der Kunst besteht nach Dewey darin, daß sie sich das zum Ziele setzt, was im menschlichen Handeln sonst nur unintendiertes oder mitintendiertes Nebenprodukt sein kann. Abrundung und Sinnerfüllung der Erfahrung werden im Schaffen eines Kunstwerks direkt zum Ziel. Dewey weist die Gleichsetzung der Kunst mit Traum, Spiel oder Ausdruck zurück. Besonders wichtig für ein Verständnis der pragmatistischen Fassung der Kreativität ist die Differenz zwischen Deweys Auffassungen und einer traditionellen Konzeption des Ausdrucks. Für Dewey ist entscheidend, daß wir uns das künstlerische Schaffen nicht als die Vergegenständlichung von Sinngehalten vorstellen, die schon fix und fertig in der Innenwelt des schaffenden Subjekts vorliegen. Ein solches Ausdrucksmodell wäre ja auch mit dem pragmatistischen Grundmodell situierter Kreativität unverträglich. Für Dewey entsteht Kunst vielmehr aus einem Zusammenprall zwischen sedimentierten, prä-kognitiven Erfahrungen und der Wirklichkeit. »Im Ich geraten aus früheren Erfahrungen stammende Elemente in neuen Sehnsüchten, Antrieben und Vorstellungen neu in Aktion. Letztere steigen aus dem Unterbewußtsein auf - nicht gefühllos oder als Formen, 120 John Dewey, Construction and Criticism, in: ders., Later Works. Vol. 5 (1929/30). Carbondale, 111.1988,8. 127-143.-Diesem Aufsatz (S. 143) entstammt auch das diesem Buch vorangestellte Motto. 207
die als aus der Vergangenheit stammende Einzelheiten wiedererkannt werden, nicht als Bruchstücke oder Brocken, sondern als im Feuer einer inneren Bewegung miteinander verschmolzen. Sie scheinen nicht dem Ich zu entstammen, denn sie entstehen aus einem Selbst, das sich seiner nicht bewußt ist.«121 Wie James' Religionstheorie zielt Deweys Kunsttheorie damit auf Erfahrungen, in denen das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist. »Ausdruck« aber setzt Widerstand voraus. Dewey wählt eine mechanistisch klingende Metapher: »Wenn es kein Zusammen-Drücken gibt, so gibt es auch kein Aus-Drücken. Unruhe kennzeichnet den Ort, an dem der innere Antrieb und der Kontakt mit der Umwelt zusammentreffen und eine Gärung in Gang setzen - sei es in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung.« 122 Der Ausdruck in diesem pragmatistischen Sinne ist dann aber nicht Explosion - oder wie Dewey in seiner Werttheorie sagt: Ejakulation - , sondern an ein Ausdrucksmedium gebunden. Dieses wird so geformt, daß etwas Neues entsteht, das weder auf die Wirklichkeit noch auf die auslösende Gestimmtheit reduziert werden kann. Das künstlerische Schaffen transformiert präkognitive Erfahrungen in eine neue Gestalt; der Schaffensprozeß ist darauf angelegt, der Wirklichkeit neue Seiten abzugewinnen, neue Erfahrungsmöglichkeiten zu erkunden, die dann zu einer neuen Bedeutungsganzheit werden. 123 Das Streben nach einer Erfahrung, nach der Ganz121 Dewey, Kunst, a.a.O., S. 80. 122 ebd., S. 81.
123 Eine vorzügliche und umfassende Darstellung und Diskussion von Deweys Kunsttheorie bietet das Buch: Thomas M. Alexander, John Dewey's Theory of Art, Experience and Nature: The Horizons of Feeling. Albany, N.Y. 1987. Eine weniger systematisch-philosophische als historische Darstellung gibt jetzt Westbrook in seinem vorbildlichen Dewey-Buch, vgl. Kapitel 11 (»Consummatory Experience«), in: Robert B. Westbrook, John Dewey and American Democracy. Ithaca, N.Y. 1991. - Aus der spärlichen deutschen Literatur sei erwähnt: Thomas Baumeister, Kunst als Erfahrung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), S. 616-624. In einer ganzen Reihe neuerer deutscher Arbeiten zu Ästhetik und Literaturtheorie wird Dewey en passant gewürdigt. Vgl. z.B. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. 208
heitlichkeit sinndurchströmten Handelns, führt im künstlerischen Schaffen also zu Werken, durch die neue sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten auch für andere Personen als den Künstler selbst in die Welt kommen. Aber Deweys Kreativitätsidee mißrät nicht zu einer emphatischen Metaphysik des Künstlerischen. Dies zeigt am schlagendsten ein vergleichender Blick auf das etwa gleichzeitig entstandene Buch Deweys über Religion: »A Common Faith«. Ging es im Kunst-Buch darum, Kreativität auf die potentielle Sinndurchströmtheit allen Handelns zu beziehen und Kunst in dieser Perspektive als exemplarischen Fall für die Möglichkeit solcher Erfahrung heranzuziehen, so geht es im Religions-Buch um die Frage nach der Konstitution von Idealen im menschlichen Handeln und nach ihrer Rolle für das Handeln. Deweys Argumentation verläuft insofern in den beiden Büchern parallel, als er auch die Religion aus der Gleichsetzung mit den institutionalisierten Formen etwa kirchlichen Lebens und dogmatischen Formen religiöser Lehren herauslösen will, wie er die Kunst gegen ihre Musealisierung verteidigte. Es geht ihm um die religiöse Erfahrung, und wieder spitzt er die Behandlung auf die religiöse Dimension potentiell jeder Erfahrung zu. Durch die Unterscheidung dreier verschiedener Bedeutungen des Begriffs »Anpassung« macht er klar, was er unter der religiösen Dimension der Erfahrung verstanden wissen will. Die einfachste Form der Anpassung nennt er »accommodation«: gemeint ist die passive Anpassung an eine Umwelt in partikularen Aspekten des Handelns. Die aktive Umschaffung der Welt ins Lebensdienliche nennt er dagegen »adaptation«. Hier wird die Umwelt an uns angepaßt, nicht wir passen uns der Umwelt an. Über beide diese AnMünchen 1976, S. 2i6ff; Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1982; Martin Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität. Frankfurt/M. 1985. Einen umfassenderen und die Vereinseitigungen anderer Autoren korrigierenden Versuch hat jetzt vorgelegt: Ulrich Engler, Kritik der Erfahrung. Die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung in der Philosophie John Deweys. (Phil. Diss. Tübingen 1989), Würzburg 1992. 209
passungsformen hinaus geht ein dritter Typus, den Dewey »adjustment« nennt. Hier geht es nicht um einzelne Wünsche oder Bedürfnisse der Person und deren Befriedigbarkeit, sondern um die Konstitution der Person selbst in ihren fundamentalen Strebungen. »It is a change of will conceived as the organic plenitude of our being, rather than any special change in will«.124 N u n nehmen alle Religionen in Anspruch, solche grundlegenden Wirkungen auf die Persönlichkeit zu haben. Dewey dreht diesen Gedanken um und spricht nicht dem Wesen der Religionen solch tiefgreifenden Einfluß zu, sondern benutzt die Tiefe dieses Einflusses zur Definition des Religiösen: »It is not a religion that brings it about, but when it occurs, from whatever cause and by whatever means, there is a religious outlook and function.« 125 Als religiös bezeichnet er also jene Erfahrungen, in denen die unbefragbaren Wertbindungen einer Person, ihre Ideale, Zustandekommen. Deweys Theorie der Religion ist der Versuch einer empirischen Philosophie über die Rolle von Idealen im Handeln. Er wehrt sich gegen Philosophien, die die Rolle idealer Werte vernachlässigen oder umgekehrt diese als transzendente Gegebenheiten allem Handeln vorordnen. Er fragt - gegen Materialismus und Idealismus - nach der »Funktion« der Ideale im Handeln, d. h. nach der Bedeutung und der Entstehung von Wertbindung und Unhinterfragbarkeit von Wertvoraussetzungen. Ideale sind nicht etwas, das wir uns in freiem Entschluß setzen, sondern etwas, das uns ergreift und das unseren einzelnen Wünschen und Zielsetzungen zugrundeliegt. »Conviction in the moral sense signifies being conquered, vanquished, in our active nature by an ideal end; it signifies acknowledgment of its rightful claim over our desires and purposes.« 126 Wenn wir in diesem Sinne von einem Ideal ergriffen werden, dann geht von diesem eine vereinheitlichende, integrierende Wirkung auf unsere Person und unsere Weltsicht aus. Das Selbst ist nicht eine Ganzheit, wohl aber kann die Person das Ideal der Ganzheitlichkeit haben. Auch über die Ganzheitlichkeit der Welt ist 124 John Dewey, A Common Faith, a.a.O., S. 17. 125 ebd. 126 ebd., S. 20. 210
keine sinnvolle Aussage möglich; sicher ist für Dewey nur, daß ein ganzheitliches Selbst dazu neigt, den raschen Szenenwechsel der Wirklichkeit in einer Totalität aufzuheben. Den Zugang zu den Idealen verschafft dem Menschen seine schöpferische Einbildungskraft. Das heißt nicht, daß Ideale Einbildungen seien. Wie der Künstler aus in der Welt angelegten Möglichkeiten ein neues Werk schafft, so - nach Dewey - auch der Erfinder und der Prophet einer neuen Moral. Die Einbildungskraft ist schöpferisch, weil sie in der Welt enthaltene Möglichkeiten erkennt und zu deren Verwirklichung beiträgt: »The new vision does not arise out of nothing, but emerges through seeing, in terms of possibilities, that is, of imagination, old things in new relations serving a new end which the new end aids in creating.« 127 Mit seiner Religionstheorie rührt Dewey an Fragenkomplexe, die er nicht ausschöpft. Es kann gewiß keine Rede davon sein, daß er ähnlich Durkheim in seinen »Elementaren Formen des religiösen Lebens« dynamische kollektive Handlungsprozesse der Konstitution von Idealen untersucht hätte. Auch die individuelle Spezifikation der Ideale im konkreten Handeln wird keineswegs hinreichend behandelt. Aber es wird doch klarer, was seine Idee sinndurchströmten Handelns bedeuten soll. Gemeint ist ein Handeln, das nicht erst durch die Erreichung eines Zielpunktes den Handelnden befriedigt, sondern das in allen Teilhandlungen immanent auf die Verwirklichung von Idealen bezogen ist, deren Übergewicht über unmittelbare Wünsche und Triebe freiwillig akzeptiert wird. Gewiß oft noch nur andeutungsweise, werden damit Gedanken artikuliert, die es erlauben, die Idee der Kreativität auf die ganze Breite des menschlichen Handelns zu beziehen. Aufgabe des nächsten Kapitels wird es deshalb sein, hauptsächlich auf der Grundlage des pragmatistischen Verständnisses menschlichen Handelns als situierter Kreativität in größerer Systematik als bisher die wesentlichen Dimensionen einer revidierten Hand127 ebd., S. 49. - Deweys Religionstheorie ruft meines Erachtens förmlich nach einem systematischen Vergleich mit den entsprechenden Konzeptionen bei Durkheim und Weber. Aus der Literatur ist mir aber kein solcher Vergleich bekannt.
lungstheorie zu präsentieren. Dies ist dann zugleich die Voraussetzung für gesellschaftstheoretische Überlegungen, deren normativer Orientierungspunkt wie bei John Dewey im Ideal einer »kreativen Demokratie« liegt.
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KAPITEL 3
Situation - Körperlichkeit - Sozialität Grundzüge einer Theorie der Kreativität des Handelns
Ziel der bisherigen Beweisführung war es, einerseits die Randstellung der Kreativitätsidee in der Tradition der soziologischen Handlungstheorie nachzuweisen und andererseits in Form eines typologisierenden Überblicks die Varianten außersoziologischer Ansätze zu einer Theorie der Kreativität des Handelns darzustellen. Nun geht es um die Wahl des günstigsten Ausgangspunktes für eine solche Theorie. Es wäre ein Mißverständnis der Absichten der bisherigen Argumentation, wenn ihr Ziel in der bloßen Hinzufügung eines weiteren Handlungstypus, etwa kreativen Handelns, zu anderen Handlungstypen gesehen würde. Wie die Auseinandersetzung mit Weber, Durkheim, Tönnies und Simmel gezeigt hat, lautete der Vorwurf an die soziologische Handlungstheorie offensichtlich nicht, daß in ihr die Kreativität des Handelns gar nicht vorkomme, sondern daß Theoriestücke wie die vom »Charisma«, deren Bezug zur Kreativitätsthematik offensichtlich ist, nicht konsistent in die Gesamttheorie integriert worden seien. Umgekehrt wurde einem Teil der Ansätze zur begrifflichen Fassung menschlicher Kreativität vorgeworfen, sie trennten kreatives Handeln von der Gesamtheit menschlichen Handelns durch eine Kluft. Es geht also nicht um eine bloße Erweiterung, sondern um eine fundamentale Umstellung der Grundlagen verbreiteter Handlungstheorie. Nicht die Unvollständigkeit verbreiteter Handlungstypologien wird beklagt, sondern das typologiestiftende Prinzip wird in Zweifel gezogen. Jede Handlungstypologie, die offen oder verdeckt mit einer Residualkategorie arbeitet, in die sich alle Phänomene einbeziehen lassen, die nicht explizit kategorial erfaßt werden, ist in einem formalen Sinne vollständig. Das bedeutet 213
aber keineswegs, daß einer solchen Typologie tatsächlich phänomenerschließende Kraft zukommt. Drei Gründe sprechen vor allem gegen den Ausgangspunkt »rationale Handlung«, der für die ökonomische, soziologische, psychologische und die analytisch-philosophische Handlungstheorie charakteristisch ist.1 Zunächst löst schon allein der Begriff der Handlung in einer durchaus nicht selbstverständlichen Weise die Einzelhandlung aus ihrem Kontext heraus. Kontext hat dabei die doppelte Bedeutung, daß zum einen jede Handlung in einer Situation stattfindet und zum anderen einen Handelnden voraussetzt, der nicht nur diese eine Handlung hervorbringt. Schon in der Wahl des Ausgangspunktes könnte also eine theoretisch problematische Ablösung des Handelns von situativen und von biographischen Zusammenhängen angelegt sein. Noch stärker als diese beiden Gründe aber wiegt eine unbeabsichtigte Folge des Ausgangs bei der rationalen Handlung. Jede Handlungstheorie, die hier einsetzt, produziert ein Gegenbild des Nicht-Rationalen. Sie wirft über die phänomenale Vielfalt des Handelns sogleich ein wertendes Raster. Dies gilt unabhängig von der Bestimmung des Rationalitätsbegriffs in der jeweiligen Handlungstheorie. Bekanntlich kann dieser sehr eng im Sinne einer Maximierung der Effizienz der Zielerreichung verstanden werden, wobei dann verschiedene Varianten möglich sind, in denen das Verhältnis der Ziele zum individuellen oder kollektiven Eigennutz unterschiedlich gedacht wird. Bei dieser engen Fassung i In der deutschen Gegenwartsphilosophie haben v. a. zwei Autoren ein Bewußtsein über die Problematik dieses Ausgangspunkts gezeigt. Der eine steht der »Transzendentalpragmatik« Karl-Otto Apels nahe, geht in dieser Hinsicht aber deutlich über diese hinaus; der andere kommt von der Phänomenologie, insbesondere der Maurice Merleau-Pontys, her. Vgl. das zu wenig beachtete, auch handlungstheoretisch fruchtbare Buch von Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt/M. 1985, v. a. 234 ff; zum anderen Bernhard Waidenfels, Ordnung im Zwielicht. Frankfurt/M. 1987, S. 41 ff und S. 212 f zu Böhler. 214
von Rationalität werden ganz unterschiedliche Formen der Abweichung von strikt zielorientiertem Handeln zusammengerückt, etwa ein emotional-spontanes Handeln mit einem moralisch-besonnenen. Dasselbe Problem wiederholt sich, wenn im Gegensatz zu dieser engen Fassung von Rationalität in kantianischer Weise gerade solch moralisch-besonnenes Handeln als rational bezeichnet wird. Dann bleiben Emotionalität und Spontaneität außerhalb der Rationalität, und amoralische Eigennutzorientierung kann dann selbst als irrational betrachtet werden. Selbst bei der kühnsten Rationalitätskonzeption unserer Zeit, Habermas* Theorie kommunikativer Rationalität, besteht dieses Dilemma. Hier lassen sich zwar verschiedene Typen von Rationalität als Stufen des vollen Begriffs kommunikativer Rationalität definieren; für die Handlungstheorie ergibt dies aber nur die Abgrenzung von Handlungstypen in Anlehnung an diese Typen von Rationalität. Man kann demnach die Konzeption kommunikativer Rationalität durchaus überzeugend finden, wenn es um eine Theorie der Rationalität geht, und dennoch davor zurückschrecken, die Handlungstheorie so umstandslos, wie dies Habermas tut, aus demselben Gedankengang heraus zu entwickeln wie die Rationalitätstheorie. 2 Was aber ist die Alternative zu dem geschilderten Vorgehen ? So empirisch ertragreich mikrosoziologische Untersuchungen tatsächlichen Handelns in seiner Kontextabhängigkeit und Sequentialisierung im Stile von phänomenologischer Soziologie, 2 Dieser für mich wesentliche Punkt meiner Auseinandersetzung mit Habermas wurde in der soziologischen Diskussion, die sich ganz auf die Unterscheidung von System und Lebenswelt konzentrierte, kaum beachtet. Vgl. meinen Aufsatz: Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1986, S. 144-176 (jetzt auch in HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 171-204). - Die Habermas gegen meine Kritik verteidigende »Anti-Kritik« von Thomas Saretzki basiert auf einem Mißverständnis meiner Absichten in diesem Punkt. Vgl. Thomas Saretzki, Collective Action versus Functionalism ? Some Remarks Concerning Hans Joas's Critique, in: Praxis International 8 (1988), S. 52-72. 215
Ethnomethodologie und Konversationsanalyse zweifellos sind, ergeben sie von sich aus keine alternative Handlungstheorie. Sie klagen zwar und zu Recht gegen die bloße begriffliche Arbeit an der Entwicklung eines Kategorienrahmens etwa bei Parsons empirisch feststellbare Charakteristika realen menschlichen Handelns ein. Dabei kann aber der Bezug zur Rationalitätsthematik fast völlig verloren gehen. Die wirkliche Alternative zum Ausgang bei der rationalen Handlung und der daraus folgenden Erzeugung einer Residualkategorie scheint mir deshalb in der rekonstruktiven Einführung des Begriffs rationalen Handelns zu liegen.3 Unter rekonstruktiver Einführung ist hier die Aufklärung der stillschweigenden Voraussetzungen in den Vorstellungen über rationales Handeln zu verstehen. Alle Handlungstheorien, die von einem Typus rationalen Handelns ausgehen, unterstellen mindestens dreierlei - und zwar unabhängig davon, ob sie Rationalität enger oder weiter, utilitaristisch oder normativistisch fassen. 3 Dem kommen, wie Rückgriffe in diesem Kapitel deutlich machen werden, Autoren der phänomenologischen Tradition trotz ihres anders gearteten historischen Ausgangspunktes nahe. Vgl. aus der Philosophie z.B. Kiyokazu Washida, Handlung, Leib und Institution - Perspektiven einer phänomenologischen Handlungstheorie, in: Yoshihiro Natta (Hg.), Japanische Beiträge zur Phänomenologie. Freiburg 1984, S. 319-349; aus der Soziologie als Überblick John Heritage, Ethnomethodology, in: Anthony Giddens/Jonathan Turner (eds.), Social Theory Today. Cambridge 1987, S. 224-272. Zwischen dem phänomenologischen Programm von Alfred Schütz und dem hier gewählten Vorgehen bleibt freilich die Differenz erhalten, die zwischen einer phänomenologischen, vom Bewußtsein ausgehenden Konstitutionsanalyse der Handlung und einer pragmatistischen, vom Handeln ausgehenden Aufklärung der Annahmen in spezifischen Handlungsmodellen besteht. Vgl. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932). Frankfurt/M. 1974; ders., Gesammelte Aufsätze. 3 Bde. Den Haag 1971/72. Zur Interpretation von Schütz die ausgezeichnete, viele Brücken zu nicht-phänomenologischen Denkweisen schaffende Arbeit von Ilja Srubar, Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund. Frankfurt/M. 1988. 216
Sie unterstellen den Handelnden erstens als fähig zum zielgerichteten Handeln, zweitens als seinen Körper beherrschend, drittens als autonom gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt. Eine geringe Konzentration des Handelnden auf zielgerichtetes Handeln, ein Verlust oder ein niedriger Grad an Körperbeherrschung, ein Verlust oder Verzicht auf die Autonomie des Individuums lassen aus dieser Perspektive den Handelnden als weniger rationalen oder nichtrationalen Akteur erscheinen und verringern die Wahrscheinlichkeit, daß seine Handlungen als rational klassifiziert werden dürften. Nun wissen die Vertreter solcher Konzeptionen sehr wohl, daß im empirisch vorfindlichen Handeln die im Modell des rationalen Handelns unterstellten Voraussetzungen sehr häufig nicht gegeben sind; sie sind aber gezwungen, die eingeschränkte Gültigkeit solcher Voraussetzungen als Defizit nicht ihrer Theorie, sondern den Handelnden selbst zuzuschreiben. Ähnlich ergeht es der im Alltagswissen enthaltenen Kenntnis, daß der Mensch nicht schon zum Zeitpunkt seiner Geburt über die genannten Voraussetzungen verfügt. Aus der Perspektive der Verfechter rationaler Handlungsmodelle im weiteren Sinne handelt es sich bei der kindlichen Entwicklung nur um den Prozeß des Erwerbs rationaler Handlungsfähigkeit; über die Struktur des Handelns und der Handlungsfähigkeit selbst können wir nach ihrer Meinung aus einer solchen genetischen Analyse nichts lernen. Dem analytisch fixierten Typus des rationalen Handelns kann ja durch kein empirisches Wissen über die Handlungsfähigkeit und ihre Entwicklung etwas hinzugefügt werden. Die empirische Nützlichkeit rationaler Handlungsmodelle für Analysen von bestimmten sozialen Phänomenen soll hier in keiner Weise bestritten werden. In Frage gestellt wird allerdings der Anspruch, aufgrund solcher Nützlichkeit das voraussetzungsreiche Modell rationalen Handelns ohne gründliche Reflexion seiner inhärenten Annahmen auf immer neue Gegenstandsbereiche anzuwenden. Deshalb werden im folgenden der intentionale Charakter menschlichen Handelns, die spezifische Körperlichkeit und die ursprüngliche Sozialität der menschlichen Handlungsfähigkeit analysiert. Diese Ana217
lyse der stillschweigenden Annahmen in den vom rationalen Handeln ausgehenden Handlungstheorien verändert - so meine Überzeugung - auch unser Verständnis von (instrumenteller) Rationalität und Normativität. 4 Aus einer solchen Analyse erwächst ein Bild des menschlichen Handelns in seiner Kreativität. Mit ihr wird der handlungstheoretische Gehalt der Kreativitätsideen des Pragmatismus und der zur Hermeneutik geläuterten ausdrucksanthropologischen Tradition in die sozialwissenschaftliche Entwicklung der Handlungstheorie eingeführt.
3.1 E i n e nicht-teleologische D e u t u n g d e r I n t e n t i o n a l i t ä t des H a n d e l n s »Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien >Zweck< und >Mittel<.«5 Diese berühmte Formulierung Max Webers, in der sich dessen Anknüpfung an die moderne ökonomische Handlungstheorie ausdrückt, wurde von Talcott Parsons zum Motto seiner »Structure of Social Action« gemacht. Wie die Auseinandersetzung mit diesem Werk und 4 Einer der wenigen Orte, an denen ich ein ähnliches Programm fand, ist die feministische Theorie von Dorothy Smith. Vgl. Dorothy Smith, Eine Soziologie für Frauen, in: Elisabeth List/Herlinde Studer (Hg.), Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Frankfurt/M. 1989, S. 353-422, v.a. S. 373 ff. Smith fordert nicht etwa wie andere die Hinzufügung einer Theorie emotionalen Handelns zu einer Theorie rationalen Handelns, sondern kritisiert v. a. am Beispiel von Talcott Parsons und von Alfred Schütz implizite Selbstverständlichkeiten in der Orientierung am Modell rationalen Handelns. Für die Forderung nach Hinzufügung einer Theorie emotionalen Handelns zu den rationalistischen und normativistischen Modellen vgl. Helena Flam, Emotional Man, in: International Sociology 5 (1990), S. 39-56 und S. 225-234. 5 Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: M.W., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1973, S. 146-214, hier S. 149. 218
Parsons' spätere Entwicklung gezeigt haben6, war Parsons in seiner Orientierung am Zweck-Mittel-Schema in der Deutung des Handelns keineswegs so eindeutig, wie dieses Motto vermuten läßt. Das Motto erlaubte ihm aber, seinen Widerstand gegen zwei andere sozialwissenschaftliche Theorieprogramme gleich zu Beginn seines Buches anzukündigen. Die Orientierung am Zweck-Mittel-Schema widerspricht einerseits dem Reiz-Reaktions-Schema des Behaviorismus und anderen, häufig älteren Formen eines Determinismus, der das menschliche Handeln zur bloßen Wirkung von Ursachen in Situationen oder der natürlichen Ausstattung des Menschen macht. Der Widerstand gilt andererseits idealistisch-historistischen Traditionen, die nach dem Schema von Sinn und Ausdruck das Handeln der Menschen als Exekution von Absichten eines überpersonalen Geistes auffassen. Das Zweck-Mittel-Schema erscheint - verglichen mit diesen beiden Theorieprogrammen - als geeigneter für die Handlungstheorie. Es soll aus den situationsdeterministischen Denkweisen die Rolle der Handlungsbedingungen und Handlungsmittel, aus den idealistischen Strömungen die Rolle der Zwecke und der für diese konstitutiven Werte synthetisierend aufnehmen. Die Frage ist nun freilich, ob dies gelingen kann. Damit ist nicht gemeint, ob wirklich alle Handlungsphänomene nach dem Zweck-MittelSchema gedeutet werden können; weder Weber noch Parsons hätten dies je behauptet. Gemeint ist vielmehr die Frage, ob uns das Zweck-Mittel-Schema nicht gerade von einer Klärung der Voraussetzungen für Zwecksetzung und zweckorientiertes Handeln abhält, indem es diese wie selbstverständlich gegeben behandelt. In der soziologischen Theorie hat niemand diese scheinbare Selbstverständlichkeit des Zweck-Mittel-Schemas für die Deutung menschlichen Handelns, insbesondere auch für die Deutung organisierten Zusammenhandelns, so explizit in Zweifel gezogen wie Niklas Luhmann.7 Er trägt einerseits eine 6 Vgl. das erste Kapitel des vorliegenden Buches und Camic, 1989, a.a.O., S. 62ff. 7 Niklas Luhmann, Z w e c k - H e r r s c h a f t - S y s t e m . Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische 219
Fülle empirischer organisations- und industriesoziologischer Befunde zusammen, die geeignet sind, die Plausibilität der Vorstellung zu erschüttern, Organisationen seien einfach aus ihrem Organisationszweck heraus verständlich zu machen. Andererseits faßt er auf der Ebene der Handlungstheorie selbst die Bedenken gegen eine teleologische Deutung des menschlichen Handelns zusammen, die von verschiedenen Strömungen her geäußert wurden; sein Hauptgewährsmann ist hier der Pragmatist John Dewey. Luhmanns eigene Ambition ist es dabei, die Grenzen einer handlungstheoretischen Analysierbarkeit von Organisationen aufzuzeigen und als Konsequenz den Sprung zur Übernahme systemtheoretischer Modelle akzeptabel zu machen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es im Gegensatz zu Luhmann darum, durch eine Umorientierung der Handlungstheorie den Übergang zur Verwendung systemtheoretischer Mittel für die Untersuchung ordnungstheoretischer Fragen gerade zu vermeiden. 8 Die Tatsache, daß die Frage nach der Berechtigung des ZweckMittel-Schemas für ganz unterschiedliche Theorieprojekte wichtig wird, ist zunächst immerhin ein Hinweis darauf, daß es hier nicht um Wortklauberei und Haarspalterei geht, sondern um ein Problem von höchster theorie-strategischer Bedeutung. Organisation. Köln 1968, S. 36-55. - ders., Zweckbegriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen. Tübingen 1968. - Auch Jürgen Habermas gehört selbstverständlich zu den Kritikern einer ausschließlich teleologischen Deutung des Handelns, insofern er das kommunikative Handeln vom »erfolgsorientierten«, teleologischen Handeln strikt abgrenzt. Aber mit diesem Schritt nimmt er das nicht-kommunikative Handeln gerade von der hier interessierenden Kritik an der teleologischen Deutung des Handelns aus. Diesen Punkt kritisiert allerdings selbst auf der Grundlage eines unproblematisierten Verständnisses der teleologischen Struktur: Ernst Tugendhat, Habermas on Communicative Action, in: Gottfried Seebaß/ Raimo Tuomela (eds.), Social Action. Dordrecht (NL) 1985, S. 179-186. 8 Zur Kritik an Luhmanns Rechtfertigung und Verwendung funktionaler Aussagen vgl. Kapitel 4.2 dieses Buches. 220
Folie für Luhmanns Kritik sind die Handlungstheorie und das Bürokratiemodell Max Webers. Dabei interessiert ihn besonders deren Verknüpfung. Unbestritten ist ja, daß Webers Handlungstypologie am Typus zweckrationalen Handelns ausgerichtet war. Ebenso deutlich ist, daß Webers Bürokratiemodell die Rationalität dieses Organisationstypus behauptete. Dachte Weber also, daß rationale Organisationen das rationale Handeln aller Beteiligten voraussetzen ? In Luhmanns Interpretation wird diese Frage eingeschränkt bejaht. Er beobachtet zu Recht, daß Weber bei der Analyse von Formen sozialer Ordnung von seinen handlungstheoretischen zu herrschaftstheoretischen Begriffen überwechselt. »Das Zweck/MittelSchema wird zwar als Grundform der Handlungsrationalität nicht aufgegeben, aber Weber trägt der Tatsache Rechnung, daß die meisten sozialen Systeme, vor allem politische Systeme, nicht auf spezifische Zwecke und spezifische Mittel festgelegt sind, sondern ihre Zwecke und Mittel ändern können. Sie gelten ihm als rational, sofern sie Mittel finden, ihre jeweiligen Zwecke zu erfüllen. Ihre theoretische Erfassung setzt daher auch nicht mit einer Charakterisierung ihrer besonderen Zwecke an, sondern bei einem Mittel, das so generalisiert ist, daß es verschiedenen und wechselnden Zwecken dienen kann: der Herrschaft.« 9 Die Rationalität der (bürokratischen) Organisationsform steckt dann gerade in ihrer Verwendbarkeit für vielerlei Zwecke. Sie ist ein Mittel für diejenigen, die Zwecke setzen können. Dies können selbstverständlich im Prinzip alle Organisationsmitglieder sein. In der Regel sind dies aber für Weber Unternehmer, Herrscher, Führer, die ihren Willen durch Befehl und Anweisung über das Handeln anderer verwirklichen. Entscheidend sind deshalb die Modi, mit denen das Recht zur Zwecksetzung und zum Befehl begründet, mehr oder minder eingegrenzte Herrschaft also legitimiert werden kann. Die empirische Organisationssoziologie hat dieses Bürokratiemodell nicht bestätigt. Weder ist ein klarer Organisationszweck die entscheidende Grundlage des wirklichen Handelns 9 Luhmann in Mayntz, a.a.O., S. 37. 221
in Organisationen noch stellen Befehl und Anweisung die einzige oder die notwendig effektivste Kommunikationsform in Organisationen dar. Organisationszwecke sind häufig nicht eindeutig, sondern meist als allgemeine Werte formuliert, die eher für eine Rechtfertigung nach außen dienen können als für die Anleitung des Handelns selbst; für dieses müssen sie erst eigentätig spezifiziert werden. Die Verfolgung des Organisationszwecks ist typischerweise nur einer unter mehreren Zwecken des Handelns in Organisationen; die Aufrechterhaltung der Organisation über Zeit und die Rechtfertigung ihres Handelns können deshalb durchaus eine eigenständige Rolle bei der Orientierung des Handelns der Organisation spielen. Organisationszwecke können sich ändern, ohne daß deshalb die Aufrechterhaltung der Organisation von innen oder außen in Frage gestellt würde. Organisationszwecke können in widersprüchliche Unterzwecke aufgeteilt werden oder von vornherein schon in sich widerspruchsvoll sein. Das Verhältnis zwischen Organisationszweck und Mitgliedermotivation kann sehr unterschiedliche Formen annehmen; keineswegs darf einfach vom Organisationszweck auf die eigenständige Zwecksetzung der einzelnen Handelnden geschlossen werden. Ähnlich zahlreich sind die Einwände gegen die Vorstellung, eine Organisation sei am besten durch eine hierarchische Befehlsstruktur zu rationalisieren. Das spezialisierte Fachwissen von Untergebenen, ihr selbständiger Außenverkehr, die Anregung ihrer Lernfähigkeit, horizontale Kooperation und die Notwendigkeit selbständigen Handelns sind einige der Gründe, die gegen die Realität und die Realisierbarkeit des Befehlshierarchie-Modells vorgetragen wurden. Entscheidend an diesen Entwicklungen der Forschung ist, daß sie nicht bloß neue Phänomene neben die altbekannten gestellt haben. Es geht jeweils nicht darum, neben der sich aus dem Organisationszweck ergebenden formalen Struktur eine weitere, nämlich informale Organisationsstruktur zu behaupten oder dem Befehlsprinzip zusätzliche Aspekte wie die einer guten Beamtengesinnung und selbständiger Handlungsbereitschaft hinzuzufügen. Wesentlich ist vielmehr, daß diese Befunde einen Perspektivenwechsel nahelegen. Eine ganz auf einen ein222
deutigen Organisationszweck ausgerichtete oder eine ausschließlich befehlshierarchisch gebaute Organisation wäre in vielen Fällen zum Scheitern verurteilt. Nicht nur die Differenz zwischen Rationalmodell und Realität wird also empirisch aufgewiesen - diese Differenz würde auch von den Vertretern des Rationalmodells zugestanden - , sondern die Unrealisierbarkeit des Rationalmodells und die empirische Unfruchtbarkeit des Ausgangs bei diesem Modell. Luhmanns eigene Konsequenz aus dieser Sachlage besteht darin, die Fragestellung umzudrehen. Er fragt nicht mehr nach der Ableitung von Organisationstrukturen aus einem Zweck, sondern nach der Funktion der Zwecksetzung für Organisationen. Im Anschluß an Parsons' Systemfunktionalismus der späten fünfziger Jahre besteht die Funktion des Zweckes für ihn darin, »die Leistungen zu bezeichnen, die das System an seine Umwelt abführen muß, um sich zu erhalten«. 10 Damit wird die Zwecksetzung der Systemerhaltung untergeordnet. Diesen Gedanken baut Luhmann äußerst fruchtbar für eine konsistente Deutung all der Befunde aus, die sich vom Rationalmodell der Organisation aus wie bloße Irregularitäten ausnehmen. Dieser Übergang von einer Kritik am Zweck/Mittel-Schema zu seiner Unterordnung unter ein Systemmodell ist logisch freilich keinesfalls zwingend, und Luhmann versucht auch gar nicht, diesen Eindruck zu erwecken. Gezeigt ist ja zunächst nur, daß sich das Rationalmodell der Handlung in einem Verhältnis der Wahlverwandtschaft zum Rationalmodell der O r ganisation befindet und daß dieses empirische Mängel hat. Die unmittelbare Folgerung daraus ist lediglich, daß eine andere Deutung des Handelns als die im Rationalmodell vorliegende ein Beitrag zur Bewältigung dieser Schwierigkeit sein könnte. Tatsächlich bewegt sich Luhmanns Argumentation zugleich auch auf handlungstheoretischer Ebene. Wie Dewey geht er auf das Handeln als einen Prozeß zurück, der im alltäglichen Erleben keineswegs nach Zwecken und Mitteln, auch nicht nach Zweck-Mittel-Ketten, in denen Zwecke immer wieder Mittel für höhere Zwecke sein können, gegliedert ist. Nicht io ebd., S. 48. 223
nur der Wissenschaftler, sondern auch der Handelnde selbst kann aber auf den natürlichen Fluß seines Handelns ein teleologisches Deutungsschema anwenden. Luhmann bezeichnet das Zweck/Mittel-Schema als jene Abzweigung von einer kausalistischen Deutung des Handelns in Kategorien von Ursache und Wirkung, bei dem das Ich des Handelnden selbst in die Position der Ursache einrückt. Ein vergleichender Blick auf das antike Denken, etwa die aristotelische Handlungsphilosophie, zeigt schnell, daß eine kausalistische Deutung des Handelns keineswegs selbstverständlich ist; die Vorstellung vom »telos« als einem ins Handeln eingebauten Reife- und Vollendungspunkt ist für das moderne Bewußtsein aber nur noch schwer nachzuvollziehen. Der Sinn des Zweckbegriffs hat sich von der Antike zur modernen Deutung in Richtung einer radikalen Subjektivierung verändert. Gemeinsam ist die Heraushebung eines stabilen Ziels aus dem Fluß des Handelns. Die kausalistische Deutung wird liberalisiert, wenn man davon spricht, daß in allem Handeln eine Fülle von Ursachen am Werke ist und jede Handlung eine Vielzahl von Wirkungen verursacht. Das Deutungsschema ist dabei aber im Prinzip noch dasselbe geblieben. Luhmanns charakteristische Wendung besteht darin, nach der Funktion einer kausalistischen Deutung des Handelns überhaupt und nach der Funktion des Zweck/Mittel-Schemas im besonderen für das menschliche Handeln zu fragen. Er sieht diese Funktion in beiden Fällen in einer Herstellung von Übersichtlichkeit für den Handelnden. Bezogen auf die kausalistische Deutung menschlicher Erfahrung überhaupt heißt das, daß ihre Funktion darin besteht, »die im natürlichen Erleben sich zeigenden Erfahrungs- und Verhaltenspotentialitäten zu systematisieren und so zu interpretieren, daß sie für Vergleichszwecke verfügbar, also rationalisierbar werden«. 11 Bezogen auf die Deutung des Handelns nach dem Schema von Zweck und Mittel behauptet Luhmann eine Selektionsfunktion dieses Schemas für Wahrnehmung und Wertung von Handlungsfolgen. Er bestreitet zunächst die Fruchtbarkeit der i i Luhmann, Zweckbegriff, a.a.O., S. 29. 224
Vorstellung, Handelnde orientierten sich an einem von der Wirklichkeit abgelösten einheitlichen Wertsystem. Wie Pragmatisten und Phänomenologen geht auch er auf die Dynamik natürlichen Erlebens zurück, in dem wir sehr wohl wissen, daß die Bedeutung von Werten für unser Handeln von ihrer Realisierbarkeit und vom Befriedigungsstand anderer Werte abhängig ist. Die Funktion des Zweckbegriffs kann Luhmann dann in einer Bewertung von Handlungsfolgen sehen. »Der Zweckbegriff bezeichnet diejenige Wirkung bzw. den Komplex von Wirkungen, die das Handeln rechtfertigen sollen, also stets nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex der Wirkungen. Sein >Thema< ist nicht die Bewirkung jener ausgezeichneten Wirkungen, sondern das Verhältnis ihres Wertes zu den Werten der Nebenwirkungen (einschließlich der Wirkungen anderer Möglichkeiten des Handelns, auf die man bei einem bestimmten Engagement verzichten muß). Die Zwecksetzung besagt, daß der Wert der bezweckten Wirkungen ungeachtet der Werte oder Unwerte der Nebenwirkungen bzw. der aufgegebenen Wirkungen anderer Handlungen das Handeln zu begründen vermag. Der Mittelbegriff erfaßt dieselbe Wertrelation von der anderen Seite der benachteiligten Werte aus. Er geht von den Ursachen aus, die zum Erreichen einer bezweckten Wirkung geeignet sind, und besagt, daß die Wertimplikationen der Folgen dieser Ursachen außerhalb des Zwecks vernachlässigt werden dürfen.« 12 Mit diesem Gedankengang richtet Luhmann also den funktionalistischen Blick nicht nur auf Organisationen, sondern auch auf die Dynamik des menschlichen Handelns. Die Frage nach der Zweckfunktion in Handlungssystemen bezieht sich auf dieses wie jenes. Es ist deshalb dringend, auf die Differenz zu achten, die zwischen Deweys Kritik am Zweck/Mittel-Schema und Luhmanns Verwendung dieser kritischen Argumente besteht. Diese Differenz besteht zunächst darin, daß Luhmanns funktionale Analyse des Zweck/Mittel-Schemas im Handeln nicht wie Deweys Kritik dieses Schemas an einem positiven Begriff eines Handelns orientiert ist, das über dieses Schema erhaben 12 ebd., S. 44. 225
ist. Deweys Kritik der teleologischen Deutung des Handelns ist bezogen auf die Möglichkeit von »genuine instrumentality«; für dieses Ideal findet sich in Luhmanns Theorie kein Pendant. Die Kritik am Rationalmodell der Organisation ist aber mit beiden Formen der Relativierung des Rationalmodells der Handlung verträglich. In zahlreichen Schriften hat Dewey seine Kritik am Zweck/Mittel-Schema einer Deutung des Handelns vorgetragen, ohne dabei immer ganz klar und widerspruchsfrei zu argumentieren. 13 Ausgangspunkt seiner Kritik ist eben der Kontrast zwischen einem Handeln, das äußerlich gesetzte Ziele verfolgt, und dem Ideal eines sinndurchströmten Handelns, wie es anläßlich von Deweys Kunst- und Religionstheorie dargestellt wurde. Diese Kritik nimmt die Gestalt immanenter Kritik an, insofern Dewey die scheinbare Selbstverständlichkeit der Kategorien Zweck bzw. Ziel und Mittel erschüttert. Ein erster Schritt ist dabei die Behauptung, daß Ziele und Ergebnisse von Handlungen zu unterscheiden seien. Dies klingt trivial, da jeder Handelnde weiß, daß manches seiner Ziele nicht erreicht wird oder daß die Ergebnisse seines Handelns von den eigentlich verfolgten Zielen beträchtlich abweichen können. Dewey meint aber mehr als diese Differenz zwischen Zielen und Ergebnissen. Im Weltbild seiner radikal »präsentischen« Metaphysik 14 existieren die Ergebnisse gegenwärtiger Handlungen nicht; sie liegen ja noch in der Zukunft. Die Auffassung von Zielen als antizipierter Zukunftszustände beschreibt deshalb ihre Rolle im gegenwärti13 Bezeichnend etwa John Dewey, Demokratie und Erziehung. Hamburg 1949, S. 137ff; J.D., Theory of Valuation. Chicago 1939, v. a. S. 3 3 ff. - Aus der Sekundärliteratur sind hierzu besonders hervorzuheben: Eduard Baumgarten, Die geistigen Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens. Frankfurt/M. 1938, Bd. 2, S. 288ff; Aldo Visalberghi, Remarks on Dewey's Conception of Ends and Means, in: Journal of Philosophy 50 (1953), S. 737-753; und jetzt J.E. Tiles, Dewey. London 1988, S. i54ff. 14 Vgl. v. a. John Dewey, Experience and Nature. New York 1958; aber auch aus demselben Geiste: G.H. Mead, Philosophy of the Present. La Salle, 111. 1932. 226
gen Handeln nicht zureichend, da sie als Antizipationen eben in der Gegenwart liegen. Wenn wir von der Zukunft bloß träumen, handeln wir nicht. Dewey führt deshalb den Begriff »end-in-view« ein, um die Rolle von Zielen für die Organisation gegenwärtigen Handelns zu bestimmen. Ein zweiter Schritt macht die Bedeutung dieser begrifflichen Neuerung deutlich. Dewey spricht von einer reziproken Beziehung zwischen Handlungszielen und Handlungsmitteln. Das heißt, daß er nicht von klaren Zielen des Handelns als Regelfall ausgeht, auf die sich dann die Mittelwahl bloß noch auszurichten hat. Vielmehr seien Handlungsziele meist relativ unbestimmt und werden erst durch die Entscheidung über zu verwendende Mittel spezifiziert. Reziprozität von Zielen und Mitteln bedeutet also ein Wechselspiel zwischen Mittelwahl und Zielklärung. Die Dimension der Mittel ist damit nicht neutral gegenüber der Dimension der Ziele. Indem wir erkennen, daß uns bestimmte Mittel zur Verfügung stehen, stoßen wir erst auf Ziele, die uns vorher gar nicht zu Bewußtsein kamen. Mittel spezifizieren also nicht nur Ziele, sie erweitern auch den Spielraum möglicher Zielstellung. »Ends-in-view« sind deshalb nicht vorschwebende Zukunftszustände, sondern Handlungspläne, die das gegenwärtige Handeln strukturieren. Sie leiten uns bei der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten des Handelns, werden aber auch selbst von unserer Wahrnehmung solcher Möglichkeiten beeinflußt. Als Ziel bezeichnet Dewey also »die Voraussicht der einander ausschließenden Folgen, die sich aus verschiedenen, in einer gegebenen Sachlage möglichen Handlungen ergeben, und die Verwertung dessen, was vorausgesehen wird, zur Leitung der Beobachtungen und Ausführungsversuche. Ein wirkliches Ziel steht demnach in allen Punkten im Gegensatz zu einem Ziel, das einer Handlung von außen her gesetzt wird. Das letzte ist festgelegt und starr; es regt nicht dazu an, die Intelligenz in der gegebenen Sachlage zu verwerten, sondern ist ein von außen gegebener Befehl, dies und das zu tun.« 15 Damit schließt sich der Kreis der Argumentation. Bei fremdbestimmten Zielen 15 Dewey, Demokratie und Erziehung, a.a.O., S. 151. 227
werden diese aus den ins Handeln eingebauten Reflexionsprozessen ausgenommen. Sie werden als solche oberhalb der Handlungsprozesse fixiert und drücken damit die Handlungsmittel erst in den Status reiner Mittel herab. In den ethischen Schriften Deweys wird klar, daß nicht nur Fremdzwang, sondern auch Selbstzwang unter seine Kritik an der Fixierung von Zwecken fällt. Jede Heiligung eines Zweckes als eines Wertes an sich verdeckt vor dem Handelnden die übrigen Folgen seiner Zielsetzung und Mittelwahl, als würden diese wundersamerweise nicht eintreten oder ignoriert werden können. 16 Deweys Orientierung gilt aber nicht der Verehrung von Werten und einer scheuklappenhaften Verfolgung von Zielen, sondern einer pragmatischen Teilhabe am kollektiven Handeln, in dem alle Werte und alle Ziele Gegenstand der Reflexion und Diskussion werden können. Bei aller Bedeutung des Spiels für seine Erziehungstheorie wehrt Dewey sich doch gegen die gängige Tendenz, das Spiel durch seine Zweckfreiheit von der Arbeit zu unterscheiden. Das Spielen enthält, so Dewey, durchaus Zwecke im Sinne einer inneren Handlungsregulation; es besteht nicht in beliebigen Bewegungen, sondern erfordert oft höchste Konzentration und zieht das spielende Kind in tiefe Versunkenheit hinein. Aber die ins Spiel eingebauten Zielorientierungen werden nicht äußerlich fixiert und gegen innere Widerstände festgehalten. Die Spielenden sind frei, weil sie die geltenden Zwecke fallen lassen oder umgestalten können, wenn die Handlungen selbst für sie keine Erfüllung mehr darstellen. Die Handlungsziele stehen nicht für etwas jenseits des Spieles Festzuhaltendes. Im psychologischen Sinn kann Arbeit denselben Charakter haben, wie langgestreckt die Zweck-Mittel-Ketten in ihr auch sein mögen. »Arbeit und Spiel sind gleich frei und gleichmäßig von innen her motiviert, abgesehen von falschen wirtschaftlichen Zuständen, die die Tendenz haben, das Spiel zu einer müßigen Anregung für die Wohlhabenden, die Arbeit zu widerwärtiger Beschwerlichkeit für die Armen werden zu lassen. Arbeit im psychologischen Sinne ist nichts weiter als eine Betätigung, die 16 Dewey, Valuation, a.a.O., S. 42. 228
Rücksicht auf die Folgen als Teil ihrer selbst einschließt. Sie wird zu erzwungener Arbeit, wenn diese Folgen außerhalb ihrer selbst liegen als ein Ziel, zu dem die Betätigung lediglich ein Mittel ist. Arbeit, die von der Spielhaltung durchdrungen bleibt, ist Kunst...« 1 7 Deweys Kritik der Zweck/Mittel-Schemas für die Deutung menschlichen Handelns ist also motiviert von seiner Weigerung, ein unter Fremd- oder Selbstzwang stehendes (Arbeits-) Handeln als Prototyp für eine Handlungstheorie zu akzeptieren. Für ihn ist der Unterschied zwischen Zielen, die der Handlung äußerlich und vorgegeben sind, und Zielen, die sich im Handeln einstellen, aber auch revidiert und aufgegeben werden können, wesentlich. Die Skepsis des Pragmatisten gegenüber einer Verdeckung dieses Unterschieds trifft sich hier mit den Vorbehalten lebensphilosophisch beeinflußter Denker gegen das Zweck/Mittel-Schema. 18 So hat auch Tönnies sich dem Problem einer umfassenden Verwendbarkeit dieses Schemas gestellt und davon gesprochen, daß es in zwei Fällen ganz offensichtlich nicht der Selbsterfahrung des Handelnden entspreche: wenn er aus Neigung und Lust handle, trenne er ebensowenig Zweck und Mittel wie wenn er eingeschliffenen Handlungsgewohnheiten folge. Die beiden Fälle entsprechen genau den Ideen des Pragmatisten über ein sinnerfülltes und ein in unreflektierte Routine abgesunkenes Handeln. Noch weiter geht Georg Simmel, der in seinem metaphysischen Spätwerk die Freiheit des Menschen gerade nicht in seiner Fähigkeit zu zweckmäßigem Handeln, sondern in der Durchbrechung der Zweckmäßigkeit sehen will. Er definiert geradezu den Menschen als das »unzweckmäßige«, aus der Zweckmäßigkeit entlassene Wesen. Am radikalsten hat dann Heidegger die Unmöglichkeit dargelegt, das menschliche Leben als ganzes im Sinn einer Zweck-Mittel-Kette aufzufassen. 17 Dewey, Demokratie und Erziehung, a.a.O., S. 273f. 18 Vgl. Ferdinand Tönnies, Zweck und Mittel im sozialen Leben, in: Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 1. München/Leipzig 1923, S. 23 5-270; Georg Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel. München/Leipzig 1918, v.a. S. 37-45; Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 1977 (14. Aufl.), S. 84 und S. 23 5 ff. 229
Wir eilen ja nicht von einer Handlung zur nächsten, um am Lebensende unser erstrebtes Ziel zu erreichen. Das Verhältnis zu uns selbst und zum Ganzen unseres Lebens bedarf vielmehr ganz anderer Kategorien, die Heidegger als »Um - willen« anstelle von »Um - zu« bezeichnet und mit seiner Analyse des Verhältnisses zum Tode näher zu fassen versucht. Nimmt man diese ja durchaus verschiedenen Argumente zur Begrenztheit der Anwendbarkeit des Zweck/Mittel-Schemas zusammen, dann ergibt sich, daß weder routinisiertes noch sinnerfülltes, weder kreatives noch existenziell reflektiertes Handeln nach diesem Schema zu denken ist. Die scheinbare Selbstverständlichkeit, von diesem Schema in der Handlungstheorie auszugehen, ist damit dahin. Zu klären ist aber weiterhin, aus welchen Annahmen heraus sich diese scheinbare Selbstverständlichkeit ergab und wie - nach einem Bruch mit diesen Annahmen - ein alternatives Verständnis der Zwecksetzung und Zweckorientierung im menschlichen Handeln möglich ist. Die Vorstellung, daß sich das menschliche Handeln am besten als Verfolgung vorgefaßter Zwecke verstehen ließe, ist mit einigen weiteren stillschweigenden Annahmen verknüpft, die tief in den Traditionen der westlichen Philosophie verwurzelt sind. Obwohl diese Annahmen keineswegs unwidersprochen blieben und gerade einige der führenden Denker unseres Jahrhunderts - wie Dewey, Heidegger, Merleau-Ponty, Wittgenstein, Ryle - gegen sie polemisierten, haben sie sich als kulturelle Selbstverständlichkeiten niedergeschlagen. Ironischerweise erhielten diese Annahmen, als sie in der Philosophie zunehmend zurückgedrängt wurden, neue Unterstützung durch die Versuche, das menschliche Denken in Computerprogrammen zu simulieren. 19 Gemeint sind die Annahmen über das menschliche Erkennen, die dieses im Sinne 19 Die wohl glänzendste Kritik solcher Versuche auf der Grundlage der modernen Philosophie findet sich bei Hubert L. Dreyfus, Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz. Frankfurt/M. 1989. Vorzüglich auch in Richtung einer Bedeutungstheorie, die mit einer Theorie der Kreativität des Handelns kompatibel ist: Mark Johnson, The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason. Chicago 1987. 230
einer kontemplativen Beziehung eines erkennenden Subjekts zu einer Welt von Tatsachen auffassen und in der Selektion und Ordnung dieser Tatsachen die Aufgabe des Erkennens sehen. Diese Annahmen über das Erkennen sind gewissermaßen nur die Kehrseite der Vorstellung von der zentralen Rolle der Zweckorientierung fürs menschliche Handeln. Gemeinsam in beiden Denkweisen ist der Gedanke, daß zunächst im Erkennen der Welt Orientierungen gefunden werden, die dann im Handeln verfolgt werden. Als wäre der natürliche Zustand des Menschen träge Ruhe, beginnt das Handeln nach dieser Denkweise erst, wenn zuvor in der erkannten Welt sinnvolle Zwecke festgelegt wurden und dann - in einem separaten Willensakt - der Entschluß zur Verfolgung eines solchen Ziels gefaßt wurde. Eine Handlung entspricht bei diesen Voraussetzungen am meisten dem Ideal rationalen Handelns, wenn die Zielstellung in völliger Unabhängigkeit von der Handlung und so klar wie möglich formuliert wurde. Der rational Handelnde läßt sich von tradierten Handlungsweisen oder seinen eigenen Gewohnheiten oder von dem gerade vorhandenen Angebot an Handlungsmitteln nicht dazu verführen, sein Ziel weniger klar zu definieren und weniger technisch geeignete oder ökonomisch sparsame Mittel zu selegieren. Hinter der Vorstellung, daß ein Akt der Zwecksetzung dem Handeln vorauszugehen habe, verbirgt sich also die Annahme, daß das menschliche Erkennen vom Handeln unabhängig sei oder sich doch zumindest von diesem unabhängig machen könne und solle. Die teleologische Deutung der Intentionalität des Handelns ist notwendig mit einer Abtrennung des Erkennens vom Handeln verknüpft. Innerhalb der Handlungstheorien der verschiedenen Disziplinen gibt es mehrere Varianten einer solchen teleologischen Deutung. Unabhängig davon aber, ob eindeutig definierte vorgefaßte Intentionen, klar identifizierbare Motive oder eindeutig auf Situationen beziehbare verinnerlichte Werte als handlungsauslösend betrachtet werden, läßt sich von all diesen Varianten behaupten, daß sie innerhalb der Handlungstheorie die cartesianischen Trennungen zwischen Ich und Welt, Geist und Körper wiederholen, von der die Pragmatisten und andere Verfechter einer Zentralstellung 231
der Handlungskategorie annahmen, daß sie eben durch den Ansatz beim Handeln ausgeschaltet seien. Intentionen, Motive, Werte erscheinen als Bestandteile einer Innenwelt, die nur durch einen eigenen Akt des Entschlusses auf die Außenwelt einwirken können. Sie treffen dabei auf eine Welt, deren Erkenntnis nicht von ihnen beeinflußt ist. Ein alternatives Verständnis der Zwecksetzung ist deshalb darauf verwiesen, die Intentionalität nicht länger als unkörperliches, rein geistiges Vermögen aufzufassen. Das Zweck/Mittel-Schema ist erst dann überwunden, wenn die aller bewußten Zwecksetzung vorausgehende praktische Vermitteltheit des Organismus Mensch und seiner Situationen erkannt ist. Die Reflexionen über den Zweckbegriff führen deshalb zwangsläufig zu einer Berücksichtigung der Körperlichkeit des menschlichen Handelns und seiner Kreativität. Die Alternative zur teleologischen Deutung des Handelns und der in ihr tradierten Abhängigkeit von den cartesianischen Dualismen besteht darin, Wahrnehmung und Erkenntnis nicht der Handlung vorzuordnen, sondern als Phase des Handelns aufzufassen, durch welche das Handeln in seinen situativen Kontexten geleitet und umgeleitet wird. Die Setzung von Zwecken geschieht - in dieser alternativen Sichtweise - nicht in einem geistigen Akt vor der eigentlichen Handlung, sondern ist Resultat einer Reflexion auf die in unserem Handeln immer schon wirksamen, vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten. In diesem Akt der Reflexion werden solche Strebungen thematisch, die normalerweise ohne unsere bewußte Aufmerksamkeit am Werke sind. Wo aber ist der Ort dieser Strebungen? Ihr O r t ist unser Körper: seine Fertigkeiten, Gewohnheiten und Weisen des Bezugs auf die Umwelt stellen den Hintergrund aller bewußten Zwecksetzung, unserer Intentionalität, dar. Die Intentionalität selbst besteht dann in einer selbstreflexiven Steuerung unseres laufenden Verhaltens. Wenn dieses nicht-teleologische, sondern selbstreflexive Verständnis von Intentionalität der Sache gerecht wird, dann ändert sich das Bild aller handlungsbezogenen Phänomene. Am spektakulärsten ist wohl die Veränderung unserer Auffas232
sung von der menschlichen Wahrnehmung, da sie ja erst durch diese Veränderung als handlungsbezogenes Phänomen gedeutet wird. 20 Unsere Wahrnehmung der Welt erscheint so als strukturiert von unseren Handlungsfähigkeiten und Handlungserfahrungen. Auch wenn wir keine aktuelle Handlungsabsicht verfolgen, ist uns die Welt nicht als äußerliches Gegenüber unserer Innerlichkeit gegeben, sondern im Modus möglicher Handlungen. Unsere Wahrnehmung zielt nicht auf die Beschaffenheit der Welt als solcher, sondern gilt der praktischen Verwendbarkeit des Wahrgenommenen im Kontext unserer Handlungen. Wir erleben in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit nicht eine subjektive Zurichtung der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit schlechthin. Da die elementaren Formen unserer Handlungsfähigkeit im Bereich der intentionalen Bewegung unseres Körpers im Zusammenhang der Fortbewegung, Dingmanipulation und Kommunikation liegen, baut sich unsere Welt zunächst in diesen Dimensionen auf. Sie ist nach Erreichbarem und Unerreichbarem, Vertrautem und Unvertrautem, Beherrschbarem und Unbeherrschbarem, Ansprechbarem und Nicht-Ansprechbarem gegliedert. Im Fall des Scheiterns von solchen in die Weltwahrnehmung eingebauten, handlungsbezogenen Erwartungen rücken wir tatsächlich einen Teil der Welt, der nun überraschenderweise als unerreichbar und unvertraut, unbeherrschbar oder unansprechbar erscheint, von uns ab in den Status eines objekthaften Gegenübers. Aber dieses objekthafte Gegenüber stellt nicht einen typischen Fall für unser ständiges Verhältnis zur Wirklichkeit dar, sondern bleibt eingebettet in eine Welt, die uns durch unsere Handlungsfähigkeit erschlossen und vertraut ist. In dreifacher Hinsicht unterscheidet sich die mensch20 Neben Arbeiten der Pragmatisten und Heideggers Analyse des Vorhandenen und Zuhandenen in »Sein und Zeit«, a.a.O. ist hier der klassische Text: Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1965. - Eine vorzügliche kurze Deutung, die sich ganz in den hier entwickelten Gedankengang einfügen läßt, findet sich bei Charles Taylor, Leibliches Handeln, in: Alexandre Metraux/Bernhard Waidenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken. München 1986, S. 194-216. 2
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liehe Wahrnehmung aufgrund ihrer Fundiertheit in intentionalen körperlichen Bewegungsfähigkeiten von dem Bild, das von Descartes bis zur »künstlichen Intelligenz« - von der Wahrnehmung gezeichnet wurde. 21 Zunächst erlaubt es unser körperlich-praktischer Bezug zur Welt, der Welt mit relativ unbestimmten Erwartungen statt mit einem klar durchdefinierten Auswertungsschema gegenüberzutreten, da als Kriterium für die Gültigkeit unserer Erwartungen ein praktisches Zurechtkommen mit der Wirklichkeit ausreicht. Dann genügt aus demselben Grunde eine globale Wahrnehmung der Welt anstelle ihrer Zerlegung in vollständig definierte Daten. Der menschliche Umgang mit der Wirklichkeit besteht in einer flexiblen Wechselwirkung zwischen globalen Erwartungen und globalen Wahrnehmungen, solange nicht Handlungsprobleme auftauchen. Wenn diese auftauchen, kommt es punktuell zu einer Präzisierung der Erwartungen und der Wahrnehmungen, nicht aber zu einer völligen Umstellung der Erwartungen und der Wahrnehmungen auf präzis definierte Raster. Der dritte Unterschied schließlich besteht darin, daß der Körper die Umstellung und wechselseitige Substitution verschiedener Wahrnehmungs- und Handlungsweisen zuläßt. Wenn der Anblick eines Gegenstandes für die praktische Vergewisserung über seinen Charakter nicht genügt, hilft eine Berührung als Einsatz des Tastsinns vielleicht weiter. Es ist deshalb nicht nötig, die analytische Reichweite einer Wahrnehmungsweise ganz auszuschöpfen, sondern es ist möglich, durch flexibles Zusammenwirken verschiedener Sinnesorgane und experimentelle Verknüpfung von Handlungsweisen ein für die praktischen Zwecke des Handelns befriedigendes Resultat zu erreichen. Wenn diese Argumente zutreffen, dann ergibt sich die Überlegenheit der menschlichen Wahrnehmung gegenüber den Versuchen ihrer Simulation nicht durch eine »höhere« Beschaffenheit des Geistes, die von solchen Programmen nicht erreicht werden könne, sondern durch die Fundierung der Wahrnehmung in der Körperlichkeit des Menschen. 21 Vgl. Dreyfus, a.a.O., v.a. S. 177-235. 234
Auch die Vorstellungen über die Handlungsregulation werden vom Bruch mit einer teleologischen Deutung der Intentionalität des Handelns tangiert. Jede Handlung findet in einer Situation statt. N i m m t man die teleologische Denkweise an, dann ist an dieser Tatsache bemerkenswert nur, daß für die Realisierung vorgefaßter Intentionen die situativen Bedingungen zu berücksichtigen und situativ verfügbare Mittel zu verwenden sind. In Parsons' klassischer Version des Handlungsbezugsrahmens tauchen prompt auch nur Bedingungen und Mittel als Bestandteile der Situation auf. Was dabei fehlt, und was bei einem Bruch mit der teleologischen Denkweise sofort deutlich wird, ist der konstitutive und nicht nur kontingente Situationsbezug des menschlichen Handelns. U m handeln zu können, muß der Handelnde ein Urteil über den Charakter der Situation fällen. Jede Handlungsgewohnheit und jede Handlungsregel enthält Annahmen über den Typus von Situationen, in denen es angemessen ist, nach dieser Gewohnheit oder Regel zu verfahren. Unsere Wahrnehmung von Situationen beinhaltet im Regelfall bereits unser Urteil über die Angemessenheit bestimmter Handlungsweisen. So erklärt es sich, daß Situationen nicht nur das neutrale Betätigungsfeld für außersituativ konzipierte Intentionen sind, sondern schon in unserer Wahrnehmung bestimmte Handlungen hervorzurufen, zu provozieren scheinen. So verstanden, ist der Begriff der »Situation« geeignet, an die Stelle des Zweck/Mittel-Schemas als erster Grundkategorie einer Handlungstheorie zu treten. Dietrich Böhler hat diesen Gedanken überzeugend auf den Begriff gebracht: »Unter >Situation< verstehen wir - >wir< als handelnde und vom Handeln wissende Menschen - ein Verhältnis von Menschen untereinander und zu Sachen oder von einem Menschen zu Sachen, das der jeweils erörterten Handlung schon vorausgeht und daher von den betroffenen bzw. dem betroffenen Menschen als Herausforderung, etwas zu tun oder aber nicht zu tun, je schon verstanden ist. Umgangssprachlich sagen wir, man >gerate< in eine Situation, sie >widerfahre< uns, sie >stoße uns zu< und wir sähen uns >vor sie gestellte Damit drücken wir aus, daß die Situation etwas ist, das unserem Handeln (oder 235
Lassen) vorausgeht, dieses aber auch herausfordert, weil sie uns >angeht<, uns >interessiert< oder >betrifft<.«22 Böhler nennt ein nichtteleologisches Verständnis des Verhältnisses von Handlung und Situation »quasi-dialogisch«. Handlungen sollen damit als Antworten auf Situationen gedacht werden; Situationen sind nicht stumm, sondern muten uns Handlungen zu. Er sieht dabei sehr wohl, daß die Betonung des konstitutiven Situationsbezugs des Handelns die Gefahr enthält, auf die Einseitigkeit der teleologischen Handlungsdeutung mit einer Art behavioristischen Reduktion zu reagieren. Wenn ausschließlich die Situation als konstitutiv für das Handeln gedacht würde, dann verlöre die Intentionalität jeden Sinn. Aus diesem Dilemma heraus führt nur die Idee eines wechselseitigen Voraussetzungsverhältnisses von teleologischer und quasi-dialogischer Handlungsrelation. »Situationsbezug und Zielbezug sind von vornherein miteinander verschränkt. Denn ohne, sei es auch vage Zieldispositionen, die in Gestalt von Bedürfnissen, Interessen und Normen ante actu gegeben sind, kann uns kein Ereignis als unsere Situation widerfahren, sondern es bliebe für uns bedeutungslos und stumm.« 23 Das heißt aber nichts anderes, als daß wir uns erneut auf die Körperlichkeit des Handelns verwiesen sehen. Denn der O r t dieser vagen Zieldispositionen, die auch dann wirken, wenn wir uns keine aktuellen Ziele gesetzt haben, ist, wie beschrieben, der personale Körper des Menschen. Die Behauptung vom konstitutiven Situationsbezug des Handelns zielt auf denselben Sachverhalt wie die Bestimmung der Intentionalität als selbstreflexiver Steuerung laufenden Verhaltens. Situationen lösen unsere Handlungen nicht aus, stellen aber auch nicht nur das Terrain für die Exekution von Intentionen bereit. Unsere Wahrnehmung der Situation ist vorgeformt in unseren Handlungsfähigkeiten und unseren aktuellen Handlungsdispositionen; welche Handlung realisiert wird, entscheidet sich dann durch eine reflexive Beziehung auf die in der Situation erlebte Herausforderung. 22 Böhler, a.a.O., S. 252. 23 ebd., S. 272 f. 236
Die Einsicht in den konstitutiven Situationsbezug allen Handelns verändert des weiteren die Vorstellung über die Rolle von Handlungsmotiven und Handlungsplänen. In der teleologischen Sichtweise erscheinen Motive als Ursachen des Handelns und Pläne als vorgefaßte Ablaufschemata, an denen sich das Handeln ständig orientiert. Wenn das Handeln aber als fundiert in vorreflexiven Situationsbezügen gedacht wird, schwindet die Selbstverständlichkeit dieser Annahmen. Handeln setzt dann nicht notwendig Planung voraus, und selbst wenn Pläne vorliegen, ist der konkrete Handlungsverlauf von Situation zu Situation konstruktiv zu erzeugen und offen für kontinuierliche Revision. Pläne stellen uns zwar in Situationen hinein, enthalten aber noch keine erschöpfende Antwort auf die Herausforderungen dieser Situationen. Die vorreflexiven, praktischen Bezüge zu Handlungssituationen verlieren ihre Wirksamkeit nicht, wenn wir einen Plan gefaßt haben; nie ist der Plan das einzige Orientierungsmittel unseres Handelns. Deshalb lassen sich konkrete Handlungsverläufe auch bei rein individuellem Handeln nie auf einzelne Intentionen zurückführen. Diese mögen zwar für den gefaßten Plan ausschlaggebend gewesen sein, sie sind es aber gewiß nicht für den tatsächlichen Handlungsablauf. Selbst für die Bildung des Plans sind in der Regel nicht einzeln isolierbare Intentionen maßgebend. Wenn Intentionalität also als selbstreflexive Bewußtwerdung und Beurteilung vorreflexiver Quasi-Intentionen in konkreten Situationen zu denken ist, dann sind Motive und Pläne als Produkte solcher Reflexion aufzufassen und nicht als die real wirkenden Ursachen des Handelns. Die Reflexion auf die vorreflexiven Quasi-Intentionen ist allerdings auf ein Medium angewiesen. In klassischer Weise hat C. Wright Mills die Brücke zwischen dem Handlungsmodell der pragmatistischen Philosophie und der empirischen Praxis soziologischer Motivforschung geschlagen.24 Was als Motiv angegeben wird, ist demnach immer schon auf ein standardisiertes Vokabular möglicher und legitimer Motive bezogen. 24 C. Wright Mills, Situated Action and Vocabularies of Motive (1940), in: ders., Power, Politics and People. Collected Essays. London 1963, S. 439-452. 237
Auch die Klärung der Motive in der einsamen Selbstreflexion entgeht diesem Zwang zur Formulierung in einer gemeinsamen Sprache nicht. Ethnomethodologische Forschung behauptet dasselbe über die konkrete Rolle von Handlungsplänen. 25 Wenn wir Pläne entwerfen oder uns Klarheit über unsere Motive zu verschaffen versuchen, geschieht dies in einer Sprache, die immer nur annähernd die Fremdheit auch unserer eigensten Strebungen durchdringt. Schließlich beeinflußt der Bruch mit der teleologischen Deutung der Intentionalität des Handelns unser Bild vom Akt der Zwecksetzung und Zielbildung selbst. In der zu überwindenden teleologischen Sichtweise erscheint dieser Akt als so frei, daß er willkürlich genannt werden könnte. Der Handelnde entwirft, so scheint es, seine Zwecke, ohne dabei von der Welt beeinflußt zu werden. Auf der Grundlage des hier vorgeschlagenen Verständnisses von Intentionalität ist dagegen die Zwecksetzung Resultat einer Situation, in der sich der Handelnde an der einfachen Fortsetzung vorreflexiv angetriebener Handlungsweisen gehindert sieht. In dieser Situation muß er reflexiv Stellung beziehen zu seinen vorreflexiven Strebungen. Als Maßstab dieser Stellungnahme dienen Werte oder ideale Vorstellungen über eine gelungene Persönlichkeit oder eine 25 Z. B. Lucy Suchman, Representing practice in cognitive science, in: Human Studies 11 (1988), S. 305-325. - Eine interessante Annäherung an diese Denkweise von seiten der analytischen Philosophie findet sich in der für John Searles Theorie der Intentionalität zentralen Unterscheidung zwischen Absichten, die einer Handlung vorausgehen, und Handlungsabsichten. Auch Searle arbeitet heraus, daß Handlungen absichtlich sein können, auch wenn ihnen keine Absicht vorausgeht. Selbst wenn aber eine Absicht der Handlung vorausgeht, sind viele Teil- und Nebenhandlungen in der Absicht nicht mitenthalten. Während Searle sich mit diesem Schritt einer nicht-teleologischen Deutung des Handelns annähert, bleibt die ganze Anlage seiner Theorie doch von einer »cartesianischen« Trennung geistiger und körperlicher Vorgänge abhängig. Vgl. John Searle, Intentionalität. Frankfurt/M. 1987; zur Kritik u.a. Bernhard Waldenfels, Mens sive cerebrum. Intentionalität in mentalistischer Sicht, in: Philosophische Rundschau 31 (1984), S. 22-52. 238
gelungene Gemeinschaft. Parsons glaubte, der Wirklichkeit zufälliger Zielwahl durch den Nachweis der Orientierung der Handelnden an gemeinsamen Werten entgegentreten zu können. Er überging dabei aber die Frage, wie sich denn Handelnde in ihrem Handeln an ihren verinnerlichten Werten ausrichten. Wenn diese Werte als eindeutige Wegweiser fungieren, dann ist das Handeln situationsunabhängig und unflexibel; das war der Sinn von Garfinkeis Vorwurf, Parsons' Handelnde seien »cultural dopes«. 26 Eine adäquate theoretische Fassung entsteht hier nur, wenn der Situationsbezug der Werte im menschlichen Handeln als genauso offen gedacht wird wie der Situationsbezug der vorreflexiven Strebungen. In konkreten Handlungssituationen ist erst herauszufinden, was unsere Strebungen befriedigt und was unseren Werten entspricht. Sowohl die Konkretisierung von Werten wie die Befriedigung von Bedürfnissen sind auf kreative Leistungen angewiesen. Dreyfus hat diesen Sachverhalt am schönen Beispiel des Verliebens beschrieben: »Wenn sich ein Mann verliebt, dann verliebt er sich in eine bestimmte Frau. Aber es war nicht diese bestimmte Frau, nach der er ein Bedürfnis hatte, bevor er sich verliebte. Nachdem er nun aber verliebt ist, nachdem er also herausgefunden hat, daß diese bestimmte Beziehung ihn beglückt, wird sein Bedürfnis zum spezifischen Bedürfnis nach dieser besonderen Frau, und der Mann hat eine kreative Entdeckung über sich selbst gemacht. Er wird zu einer Person, die dieser bestimmten Beziehung bedarf, und muß sich selbst für jemanden halten, dem diese Beziehung schon die ganze Zeit über gefehlt hat. Angesichts dieser kreativen Entdeckung enthüllt die Welt eine neue Ordnung der Bedeutungen, die weder einfach entdeckt noch willkürlich gewählt wird.« 27 Nicht einfach ein Wechselspiel zwischen Werten und Trieben also, sondern die kreative Konkretisierung der Werte ebenso wie die konstruktive Befriedigung von Trieben kennzeichnen das menschliche Handeln. Ohne das Fundament vorreflexiver 26 Vgl. Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, N.J. 1967, S. 66. 27 Dreyfus, a.a.O., S. 229. ^39
Strebungen, auf die sich die Reflexion über die Konkretisierung von Werten richtet, wäre kein kreatives Handeln möglich. Nicht nur für die Wahrnehmung, sondern für das Handeln selbst erweist sich damit die Körperlichkeit als konstitutive Voraussetzung der Kreativität. Die hier vorgetragene Kritik an der teleologischen Deutung der Intentionalität des Handelns und die Skizze einer alternativen Deutung und ihrer Konsequenzen dienen der Aufgabe, die in den Theorien rationalen Handelns enthaltenen stillschweigenden Annahmen - hier also die unterstellte Fähigkeit zur Zweckorientierung und Zwecksetzung - rekonstruktiv einzuführen. Dieses Ziel ist noch nicht erreicht, wenn nur allgemeine Thesen über die Rolle von Zwecken im menschlichen Handeln aufgestellt werden, sondern erst, wenn ein Blick auf die Entstehung der Fähigkeit zur Zwecksetzung fällt und die Voraussetzungen dieser wesentlichen Komponente der Kreativität des Handelns enthüllt. Dabei geht es nicht um das entwicklungspsychologische Wissen über die Verlängerung von Zweck-Mittel-Ketten im Handeln, sondern um die fundamentalere Frage, wie wir uns den Schritt vom Wünschen zur Zwecksetzung vorzustellen haben. Wer Zwecke setzt, ist sich der Unabhängigkeit der Wirklichkeit von seinen Wünschen ebenso bewußt wie der Möglichkeit, daß aus seinen Wünschen über realitätsgerechtes Handeln eine Veränderung der Wirklichkeit wird. Der kreative Akt der Zwecksetzung erfordert also sowohl die Konstitution der subjektunabhängigen Wirklichkeit wie die Bewahrung der Fähigkeit zu Traum und Wunsch. Was innerhalb eines cartesianischen Weltbildes aber als schlichte Voraussetzung gelten kann, ruft auf anti-cartesianischem Boden nach einer Entwicklungshypothese. Die plausibelste Hypothese zu diesem Problem scheint mir in Donald Winnicotts Theorie der Übergangsobjekte und des kindlichen Spiels vorzuliegen. 28 Das Spiel des Kindes in den 28 Donald W. Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1979. Einen interessanten Vergleich der Theorien über das kindliche Spiel bei George Herbert Mead und bei Winnicott haben vorgelegt: Robin Das/Doyle McCarthy, The Cognitive and Emotional Significance of Play in Child Development: G. H. Mead and D. W. 240
Mittelpunkt einer Untersuchung über die Entwicklung der Handlungsfähigkeit zu stellen, mag dabei nicht besonders originell anmuten. In den verschiedensten Theorien, ja selbst im Alltagswissen, ist dieser Schritt geläufig. Die Auffassungen darüber, worin diese Bedeutung des Spiels genauer besteht, weichen freilich weit voneinander ab. Auch ein Bezug zwischen Kreativität und Spiel ist durchaus üblich. Winnicotts entscheidende Leistung besteht demgegenüber darin, einen entwicklungsmäßig vor dem eigentlichen kindlichen Spiel einsetzenden Phänomenbereich herausgehoben zu haben, den er den Bereich der Übergangsobjekte bzw. Übergangsphänomene nennt. Was ist darunter zu verstehen? Winnicott fragt nach der Entstehung der Bereitschaft des Kindes, die Existenz einer objektiven Wirklichkeit anzuerkennen. Es geht dabei um eine elementare Leistung, die durchaus auch im späteren Leben zu erbringen ist. Die Aufgabe nämlich, »innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten« 29 , stellt sich dem Menschen lebenslänglich, und manche psychopathologische Erscheinung ist Resultat eines Scheiterns an dieser Aufgabe. Winnicott meint also mehr als die kognitive Konstruktion der Wirklichkeit in der Entwicklung des Kleinkinds. Wie Freud sieht er die Wirklichkeitskonstitution auch als affektive Aufgabe, wobei die Trennung von Kognition und Affekt bezogen auf das neugeborene Kind ja eine künstliche Schematisierung von dessen Erleben darstellt, das eine solche Trennung eben nicht enthält. Im Unterschied zu Freud ist aber Winnicott auch nicht willens, die Einwilligung ins »Realitätsprinzip« einfach aus Erfahrungen der Frustration, des Leides und der Entbehrung abzuleiten. Aus diesen Erfahrungen kann ja auch Winnicott, in: Sociological Studies of Child Development i (1986), S. 35-53. Dieser Vergleich macht deutlich, daß bei Mead die soziale Genese des Selbstbewußtseins, bei Winnicott die Konstitution der Unterscheidung von innerer und äußerer Welt im Mittelpunkt steht. - Ähnlich Winnicott argumentiert in vieler Hinsicht Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, a.a.O., S. 455 «• 29 Winnicott, a.a.O., S. 11. 241
zerstörerische Wut resultieren, und dieselben Erfahrungen, die hier für die Wirklichkeitskonstitution in Anspruch genommen werden sollen, werden an anderer Stelle zur Ursache von Phantasiebildungen erklärt. Winnicott geht dagegen konsequent von der ursprünglichen erlebnismäßigen Ungeschiedenheit von Ich und Welt beim Säugling aus. Diese wird von der Mutter, die das Kind bei der Geburt aus ihrem Körper entlassen hat, erwidert. »Psychologisch gesehen trinkt das Kind von einer Brust, die zu seinem Selbst gehört, und die Mutter nährt einen zu ihrem Selbst gehörenden Säugling.«30 Nicht nur in einem praktischen Sinn ist das neugeborene Kind also hilflos und völlig von Betreuung abhängig; auch in seinem Selbsterleben ist das Kind von der sein Überleben sichernden Mitwelt nicht geschieden. Es erscheint mir freilich als mißverständlich, wenn dieser Sachverhalt so formuliert wird, als deute der Säugling das ihm zuteil werdende Pflegeverhalten als Folge der eigenen Omnipotenz. Eine solche Umdeutung würde ja eben die Trennung von Ich und Mitwelt bereits implizieren. Richtig muß man wohl eher sagen, daß der Säugling den Zusammenhang zwischen seinen Wünschen und deren - ja schließlich von außen kommender Befriedigung als magisches Wirkungsverhältnis erlebt. Das Wünschen hilft; es verleiht eine Kontrolle über die Welt und schürt die Illusion einer beherrschbaren Welt. Der Weg von dieser ursprünglichen Ungeschiedenheit von Ich und Welt zur Anerkennung einer selbständig bestehenden, d. h. vom Wünschen unabhängigen Welt kann allerdings nicht durch einen Sprung zurückgelegt werden. Nur schrittweise und vorsichtig, stets zum Rückzug bereit, wagt sich das Kind aus seiner subjektiven Welt hinaus. Winnicotts Theorie der Übergangsobjekte zielt auf eben die Schritte dieses Übergangs zwischen undifferenziertem Einheitsgefühl mit der Welt und der Entwicklung echter Objektbeziehungen. Übergangsobjekte sind nicht mehr Bestandteile des eigenen oder des mütterlichen Körpers, und sie sind noch nicht Objekte der Außenwelt. Winnicott meint die Beziehung des Kindes zu 30 ebd., S. 22. 242
Gegenständen wie dem unentbehrlichen »Schlaftierchen« aus Stoff oder dem »Nuckeltuch«. Diese Gegenstände haben eine ganze Reihe funktionaler Charakteristika, durch die sie sich sowohl von autoerotisch genossenen Körperteilen wie dem Daumen als auch vom eigentlichen Spielzeug unterscheiden. Das wichtigste Charakteristikum ist, daß diese Übergangsobjekte für das Kind vor allem in denjenigen Situationen wichtig werden, in denen es sich aus der ursprünglichen Geborgenheit freigesetzt und dadurch überfordert fühlt. Situationen des Allein-Seins, des Einschlafens und des Verreisens heben das innige Verhältnis des Kindes zu Übergangsobjekten besonders deutlich hervor. Mit ihrer Hilfe kann das Kind sich aus der Geborgenheit einen Schritt in die Welt hinaus- oder an die Schwelle der angsterregenden Traumwelt heranwagen, ohne zu verzweifeln. Entsprechend ist der Verlust eines solchen Gegenstands ein katastrophales Ereignis im kindlichen Leben. Das zweite Charakteristikum, das Winnicott herausarbeitet, besteht darin, daß diese Übergangsobjekte vom Kind mit intensivsten, aber keineswegs nur positiven Emotionen behandelt werden. Sie sind auch Gegenstand des Hasses und der Zerstörungswut. Winnicotts Augenmerk gilt dabei aber eben nicht der Deutung dieser Emotionen, sondern der Tatsache, daß das Kind am Übergangsobjekt solche Emotionen ausleben und doch das »Überleben« des Gegenstandes feststellen kann. Eben dies, daß hier mehr als gegenüber der Mutter alle Regungen zulässig sind und doch diese Objekte nicht verschwinden, stellt einen wichtigen Schritt zur Anerkennung einer Welt dar, die unabhängig von unseren Wünschen und Gefühlen besteht. Das dritte Charakteristikum sieht Winnicott darin, daß die Übergangsobjekte nur vom Kind verändert werden dürfen. Viele Eltern respektieren das Bedürfnis der Kinder, an diesen Objekten nicht einzugreifen, sie etwa auch nicht zu reinigen, da dies ihre Bedeutung für das Kind gefährden kann. Das vierte Charakteristikum schließlich liegt in dem stillschweigenden Pakt zwischen Erwachsenen und Kind, die Frage nicht zum Thema werden zu lassen: »>Hast du dir das ausgedacht, oder ist es von außen an dich herangebracht worden ?< Wichtig ist, daß eine Entscheidung in dieser Angelegen243
heit nicht erwartet wird. Die Frage taucht gar nicht erst auf.«31 Es ist, als hielte eine Empfindung für die Gewaltförmigkeit der cartesianischen Dualismen die Erwachsenen davor zurück, das Kind in die Starrheit dieses Weltbilds zu pressen. In der weiteren Entwicklung des Kindes nimmt die Bedeutung des einzelnen Übergangsobjektes durch Diffusion immer weiter ab. Das heißt, daß immer mehr nahe und vertraute Gegenstände - etwa der eigenen Wohnung oder des Wohnumfelds die geborgenheitsstiftende Wirkung haben, dessen das Kind aber in immer weniger dramatischer Weise bedarf. An die Stelle der »Übergangsphänomene« tritt das kindliche Spiel. Das Spiel stellt nach Winnicotts Analyse eine Zwischensphäre zwischen innerer und äußerer oder gemeinsamer Wirklichkeit dar, in der zugleich das Ausleben von Emotionen wie die Prüfung der Realität möglich ist. Im Spiel lebt das Kind »mit bestimmten, aus dem Inneren stammenden Traumpotentialen in einer selbst gewählten Szenerie von Fragmenten aus der äußeren Realität.« 32 Spielerisches Handeln ist damit eben jenes Handeln, das sich der Trennung nach Traum und Leben, innerer und äußerer Wirklichkeit nicht unterwirft. Paradoxerweise entsteht gerade aus der Vertiefung ins Spiel die Fähigkeit zur Integration von innerer und äußerer Wirklichkeit. Illusionistische Wirklichkeitsverkennung und phantasielose Weltanpassung bedürfen nach Winnicott beide der Therapie durch die Freisetzung des intermediären Erfahrungsbereichs des Spiels. An verstreuten Stellen deutet Winnicott an, daß er die Erzeugung und den Genuß von Kultur als das erwachsene Pendant zum kindlichen Spiel versteht. Für ihn stellt Kultur nicht eine Ergänzung des realistischen Wirklichkeitsbezugs dar, die zu diesem einfach hinzutreten könnte. Kreativität ist vielmehr eine besondere »Tönung der gesamten Haltung gegenüber der äußeren Realität«. 33 Die Fähigkeit zur kreativen Setzung von Zwecken ist damit zwar im Spiel als der Elementarform menschlichen Handelns angelegt, aber nicht selbstverständlicher, sondern nur voraussetzungsreich möglicher Zug menschlichen Handelns. 31 ebd., S. 23.
32 ebd., S. 63. 244
33 ebd., S. 78.
3.2 D i e K o n s t i t u t i o n des K ö r p e r s c h e m a s Die zweite stillschweigende Voraussetzung in den meisten Handlungstheorien ist die Unterstellung, Handelnde seien zur Kontrolle ihres Körpers fähig. Anders als im Fall des Zweck/Mittel-Schemas, das offensichtlich die Ausrichtung rationaler Handlungsmodelle bestimmt und nur nicht weiter befragt wird, ist die Unterstellung der Beherrschbarkeit des Körpers im Sinne seiner Einsetzbarkeit für die Zwecke des Handelnden tatsächlich eine verborgene Annahme, denn explizit tritt der Körper in den meisten Handlungstheorien überhaupt nicht auf. Die soziologische Theorie setzt in der Regel den Körper schlicht als faktische Grundlage des Handelns voraus, widmet ihm aber - in einer Art theoretischer Prüderie - keine weitere Aufmerksamkeit. 34 Der Begriff der Handlung wird in der soziologischen Theorie meist nur dann in Verbindung mit den biologischen bzw. anthropologischen Voraussetzungen des Menschen gebracht, wenn es darum geht, die Identität der Sozialwissenschaften gegen biologistische oder psychologistische Reduktionsversuche zu verteidigen. So findet sich etwa der Rückgriff auf biologische Argumente zur Abwehr des Behaviorismus. Einen gewissen Einfluß haben biologische Argumente auch dort, wo unter dem Einfluß des Pragmatisten George Herbert Mead die U n terscheidung zwischen symbolvermittelter Interaktion mit Mit-Subjekten und instrumentalem Handeln gegenüber gegenständlichen Objekten zur wichtigsten inneren Differenzierung des Handlungsbegriffs erklärt wird. Abgesehen von diesen beiden Diskussionen aber bleibt die Untersuchung der Rolle des Körpers für das Handeln ein Randphänomen. Außer der Bedeutung der Körperlichkeit für ein nicht-teleologisches Verständnis von Intentionalität sprechen mindestens zwei Gründe gegen eine Bescheidung mit diesem Stand der Dinge. Der erste Grund liegt darin, daß 'die Handlungstheorie sich mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen hat, sie weise ihrer 34 Diesen Sachverhalt belegt in einer aspektreichen, aber doch unsystematisch bleibenden Weise Bryan Turner, The Body and Society. Explorations in Social Theory. Oxford 1984. 245
ganzen Anlage nach eine Schlagseite zu einem aktivistischen Verhältnis zur Welt auf, das offensichtlich kulturspezifisch, vielleicht auch geschlechtsspezifisch sei und damit den behaupteten Universalitätsanspruch nicht erfüllt. Wenn die Handlungstheorie das Handeln selbst als wertvoll interpretiert, dann geraten die Kultivierung handlungsentlasteter ästhetischer Sensibilität und die Bereitschaft zur Hinnahme des Schicksals, der unbeabsichtigten und unerwarteten Ereignisse des Lebens, entweder aus dem Blick oder sie werden als minder wertvoll eingestuft. Mit diesen Vorwürfen kann sich die Handlungstheorie aber nur auseinandersetzen, wenn ihr Handlungsbegriff so angelegt ist, daß er auch Passivität, Sensibilität, Rezeptivität, Gelassenheit umschließt. Dies bedeutet einen Handlungsbegriff, der nicht die ununterbrochene Aktivität als Hervorbringung einzelner Akte bezeichnet, sondern eine bestimmte Struktur des Verhältnisses zwischen dem Organismus Mensch und seiner Umwelt. Eine Vermeidung aktivistischer Untertöne in der Handlungstheorie ist deshalb auf die Einbeziehung der Körperlichkeit angewiesen. Der zweite Grund, warum der Körper nicht zur unthematischen Voraussetzung der Handlungstheorie erklärt werden darf, liegt in der Problematik einer instrumentalistischen Einschränkung der Rolle des Körpers. Eine solche Einschränkung liegt vor, wenn der Körper als beliebig verfügbares Instrument der reinen Intentionalität gedacht wird, sei's als technisches Instrument im instrumentalen Handeln, sei's als beherrschbarer Körper im Rahmen normativ orientierten Handelns, sei's auch als bloßes Medium der Ausdrucksintentionen, ohne Widerständigkeit und eigenes Gewicht, beim kommunikativen Handeln. Die großen historisch-anthropologischen Entwürfe etwa von Norbert Elias oder von Michel Foucault lassen sich als Versuche verstehen, die historische Entstehung eines instrumentalistischen Verhältnisses zum eigenen Körper zu analysieren. Sie zielen dabei mit Recht nicht einfach auf den Einfluß kultureller Werte auf individuelle Einstellungen, sondern rücken die Herausbildung und Durchsetzung körperbezogener Disziplinierungstechniken in den Vordergrund. Wenn sie auch dazu neigen, die Geschichte als mehr oder min246
der lineare Zunahme der Disziplinierung des Körpers zu betrachten, so daß - wie Giddens über Foucault gesagt hat nur noch »Körper ohne Gesicht« 35 , d. h. entsubjektivierte O b jekte der Disziplinierung übrigbleiben, stellen ihre Arbeiten doch wesentliche Schritte zu einer »Kulturgeschichte des rationalen Akteurs« dar. Eine solche Kulturgeschichte ist das historische Pendant zur rekonstruktiven Einführung der im Begriff des rationalen Handelns steckenden stillschweigenden Annahmen. Sie kann allerdings von der begrifflichen Rekonstruktion lernen, daß die simple Unterstellung der Instrumentalisierbarkeit in naiven Rationalmodellen nicht in den Gedanken einer historischen Totalisierung der Disziplinierung umschlagen muß. Die Instrumentalisierung des Körpers durch den Handelnden oder durch verselbständigte »Disziplinen« darf nicht als vollständig gedacht werden, wenn überhaupt Handlungsfähigkeit angenommen werden soll. Es geht also um labile Gleichgewichte von Instrumentalisierung des Körpers und anderer, nicht-instrumenteller Beziehungen zum Körper. Der Körperkontrolle auf der Bühne des Lebens entspricht immer die periodische Lockerung der Kontrolle hinter den Kulissen. 36 Die Handlungstheorie muß sich deshalb ebensowohl mit der Herausbildung der Körperkontrolle wie mit der Entwicklung der Fähigkeit zu ihrer Lockerung, d. h. mit der intentionalen Reduktion der Instrumentalisierung des Körpers beschäftigen. Pragmatismus, Phänomenologie und Philosophische Anthropologie haben die Begrenztheit eines aktivistischen Verständnisses von Handlung und eines instrumentalistischen Bezugs des Handelnden zu seinem Körper in vielen Beiträgen überwunden. Zu nennen ist vor allem die Deutung von Handlungen mit den Ideen passiver Intentionalität und eines selber sinnhaften Verlusts der Intentionalität. Als »passive Intentionalität« lassen sich diejenigen Handlungsweisen bezeichnen, 35 Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1988, S. 212. 36 Vgl. Erving Goffmans Analyse von »front stage« und »back stage« an verschiedenen Stellen seines Werks, z.B. in: The Presentation of Seif in Everyday Life. New York 1959. 247
in denen der Körper intentional freigesetzt, losgelassen, nicht kontrolliert werden soll. Ein berühmtes Beispiel liegt in Merleau-Pontys Analyse des Einschlafens vor. Wir alle wissen, daß die Absicht einzuschlafen - als »aktive« Intentionalität verstanden - sich selbst vereitelt. Dennoch verstehen wir uns darauf, unsere Intention zu verwirklichen, indem wir die vorreflexiven Intentionen unseres Körpers, die zum Schlaf streben, zulassen und fördern: »ich strecke mich in meinem Bette aus, auf der linken Seite, die Knie leicht angezogen, ich schließe die Augen, ich atme langsamer, ich löse mich von jederlei Vorhaben. Doch hier hat das Vermögen meines Willens oder meines Bewußtseins seine Grenze. Wie in den dionysischen Mysterien die Gläubigen den Gott anriefen, indem sie Szenen seines Lebens mimisch darstellten, so beschwöre ich die Heimsuchung durch den Schlaf herauf, indem ich Atem und Haltung eines Schläfers nachahme. Der Gott ist da, wenn die Gläubigen sich von der Rolle, die sie spielen, nicht mehr unterscheiden, wenn ihr Leib und ihr Bewußtsein ihm nicht mehr ihre undurchdringliche Besonderheit entgegensetzen, vielmehr gänzlich mit dem Mythos verschmolzen sind. So gibt es einen bestimmten Augenblick, in dem der Schlaf >kommt<: er überlagert sich jener Nachnahmung seiner, die ich ihm darbot, es gelingt mir zu werden, was ich zu sein fingierte: diese blicklose und fast gedankenlose Masse, wie festgenagelt an einem Punkt des Raumes, zur Welt nur mehr durch die anonyme Wachsamkeit der Sinne.« 37 Was MerleauPonty hier so brillant beschreibt, ähnelt dem, was die Pragmatisten als Zwischenphase im Problemlösungsverhalten herausgestellt haben. U m ein Problem zu lösen, darf man sich eben nicht auf eine Handlungsweise versteifen, sondern muß man sich freisetzen für die Einfälle und neuen Handlungsansätze, die sich aus der vorreflexiven Intentionalität des Kör37 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., S. 196. -Jon Elster behandelt dieses und vergleichbare Phänomene unter dem Titel »Zustände, die wesentlich Nebenprodukt sind« im Rahmen seiner bis an ihre äußersten Grenzen gedehnten Konzeption rationalen Handelns. Vgl. J.E., Subversion der Rationalität. Frankfurt/M 1987, S. 141-209. 248
pers ergeben. Auch aus dem Gebiet der Sexualität lassen sich leicht parallele Beispiele anführen. Der sinnhafte Verlust der Intentionalität liegt nicht dort vor, wo körperliche Phänomene zum Indikator für uneingestandene Intentionen werden: wenn wir etwa vor Scham erröten. Unsere Fähigkeit zu intentionalem Handeln ist dabei ja nicht prinzipiell in Frage gestellt; unser Körper verrät nur andere Intentionen als wir intentional gerne mitgeteilt hätten. Zu denken ist vielmehr an Handlungsformen, deren Einbeziehung in den Gegenstandsbereich der Handlungstheorie Verfechter rationaler Handlungsmodelle sicher nicht ernsthaft in Erwägung ziehen: das Lachen und das Weinen. Lachen und Weinen sind Handlungen, die nur der Mensch kennt, die aber gleichwohl im vollen Sinne nicht intentional hervorgebracht werden können. Wir »müssen« lachen oder weinen; aber nur das handlungsfähige Wesen Mensch kennt dieses Muß. Es war Helmuth Plessners geniale Idee, aus diesem scheinbaren Paradox den richtigen Ausweg zu finden, indem er Lachen und Weinen aus dem situativen Verlust der Intentionalität zu begreifen versuchte. 38 Während Sprache und Gestik die intentionale Beherrschbarkeit des Körpers voraussetzen und die Mimik des Gesichts oder die Haltung des ganzen Körpers einem Handlungspartner un-intentional eine Affektlage signalisieren, die durchaus im Widerspruch zu den Kommunikationsintentionen stehen kann, lassen sich das Lachen und das Weinen diesen beiden Formen körpergebundenen Ausdrucksverhaltens nicht subsumieren. In der sprachlichen und gestischen Kommunikation ist die Herrschaft über den Körper unbedroht; in der unintentionalen Expressivität werden Grenzen dieser Herrschaft deutlich, ohne daß diese Herrschaft innerhalb der gesteckten Grenzen in Frage gestellt würde. Im Lachen und Weinen geht dagegen die Herrschaft über den Körper schlagartig verloren: »Körperliche Vorgänge emanzipieren sich. Der Mensch wird von ihnen geschüttelt, 38 Helmuth Plessner, Lachen und Weinen (1941), in: ders., Philosophische Anthropologie. Frankfurt/M. 1970, S. 11-171. Zur Interpretation von Plessners Anthropologie vgl. auch Honneth/Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur, a.a.O., S. 72-88. 249
gestoßen, außer Atem gebracht. Er hat das Verhältnis zu seiner physischen Existenz verloren, sie entzieht sich ihm und macht gewissermaßen mit ihm, was sie will.«39 Der Ausdruckswert des Lachens und Weinens liegt eben darin, daß sie den Verlust beherrschter Reaktionsfähigkeit anzeigen. Sie treten in Situationen auf, deren Mehrdeutigkeit das Subjekt überfordert. Wenn der Handelnde die Sinnzumutungen einer Situation als so widersprüchlich und mehrdeutig empfindet, daß ihm keine Integration der provozierten Handlungsweisen in eine konsistente Handlung mehr möglich ist, entlädt sich die Handlungserregung, so Plessner, im Lachen: »Unbeantwortbarkeit durch (mehrfach) sich gegenseitig ausschließende Beantwortbarkeit begründet den Widerstand gegen den Rückstoß von der fraglichen Situation, d. h. die Spannung, die sich im Lachen löst. So beantwortet der Mensch das Unbeantwortbare in seiner Mehrsinnigkeit. So quittiert er das vital, spirituell und existentiell >Widersinnige< mit einer Reaktion, die zugleich Selbstbehauptung und Selbstpreisgabe verrät. Indem er lacht, überläßt er seinen Körper sich selbst, verzichtet somit auf die Einheit mit ihm, die Herrschaft über ihn. Mit dieser Kapitulation als leibseelisch-geistige Einheit behauptet er sich als Person.«40 Das Weinen ereignet sich nach Plessner dagegen in Situationen, deren Sinnzumutung so stark ist, daß sie die reflexive Distanz des Handelnden zur Situation und zu den eigenen Handlungen völlig überfordert. Die Ohnmacht, die sich im Weinen ausdrückt, ist nach Plessner nicht einfach die Überwältigung durch überlegene Gewalten, sondern der Verlust an jener Distanz, die intentionales Handeln ermöglicht: »ein Mangel an Distanz - nicht zum jeweiligen Gefühl, sondern zu dem Gehalt, der mich im Gefühl füllt, hochreißt, erschüttert.«41 - Wenn es überhaupt zulässig ist, innerhalb der Handlungstheorie die phänomenale Vielfalt menschlichen Handelns zur Geltung zu bringen, und entsprechend Phänomene wie das Einschlafen, das Lachen und das Weinen Anspruch auf die Aufmerksamkeit der Handlungstheoretiker haben, dann zeigen »passive Intentionalität« und »sinnhafter 39 ebd., S. 74.
40 ebd., S. 153. 250
41 ebd., S. 154.
Verlust der Intentionalität« die Notwendigkeit auf, das Verhältnis des Handelnden zum Körper als eine der zentralen Fragen der Handlungstheorie anzuerkennen. Sowohl die klassische wie die gegenwärtige soziologische Theorie leidet aber an einem anthropologischen Defizit. Max Weber etwa hat sich um die biologische Haltbarkeit seiner grundlegenden Annahmen nicht gekümmert. Emile Durkheim, der in seiner Entwicklung schwer mit dem cartesianischen Erbe zu ringen hatte, analysierte in einem späten Aufsatz die - vom Cartesianismus angenommene - Trennung von Körper und Geist als Ergebnis eines sozialen Konstitutionsprozesses. 42 Seine Analyse führte ihn aber nur bis zu dem Punkt, an dem der Körper des Handelnden wie ein physischer Gegenstand neben anderen erscheint. Talcott Parsons erkannte erst nach Abschluß der »Structure of Social Action« die Bedeutung des Organismus als der Grundlage menschlichen Handelns. Insbesondere seine Beschäftigung mit der Psychoanalyse Freuds, den Problemen der Sozialisationsforschung und der psychosomatischen Medizin waren für diese U m orientierung ausschlaggebend. 43 Doch verbleibt Parsons' Theorie der Sozialisation auf die gewissermaßen objektive Seite der Herausbildung von Persönlichkeitsstrukturen beschränkt und stellt sich nicht der Aufgabe, die Entwicklung des Verhältnisses des Handelnden zu seinem Körper selbst soziologisch zu analysieren. Auch seine Beschäftigung mit psychosomatischen »Störungen« zielt nicht hermeneutisch auf die positive Bedeutungshaltigkeit dieser Phänomene. In den zeitgenössischen großen Theorieentwürfen ist das anthropologische Defizit ebenso unübersehbar. Zwar gehört die 42 Emile Durkheim, Der Dualismus der menschlichen Natur und seine sozialen Bedingungen, in: Friedrich Jonas. Geschichte der Soziologie, Bd. 2. Reinbek 1976, S. 368-380. 43 Z.B. Talcott Parsons, Einige Reflexionen über das Problem psychosomatischer Beziehungen in Gesundheit und Krankheit, in: ders., Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt/M. 1981, S. 140-15 8. - Zur Kritik daran Karola Brede, Sozioanalyse psychosomatischer Störungen. Zum Verhältnis von Soziologie und Psychosomatischer Medizin. Frankfurt/M. 1972. 251
deutsche Tradition philosophischer Anthropologie zu den wichtigsten Ausgangspunkten der Denkentwicklung von Jürgen Habermas 44 ; aber nach den frühen Versuchen zu ihrer Ausarbeitung verzichtete er immer mehr auf diesen Strang der Argumentation. Im Falle Niklas Luhmanns wäre eine anthropologische Fundierung ein Widerspruch zur ganzen Anlage der Theorie, die eben nicht von Charakteristika menschlichen Handelns ausgeht. Anthony Giddens' Theorie der Strukturierung berührt zwar ständig anthropologische Fragen und greift auch stellenweise auf das anthropologische Gebiet über; dies geschieht aber eher zufällig und unsystematisch. 45 Zwei große Fragengebiete sind es, die damit im Herzen der Handlungstheorie ungeklärt bleiben. Zum einen ist der Frage nachzugehen, welche biologischen Voraussetzungen beim Menschen vorliegen müssen, damit überhaupt Handeln möglich ist. Dies ist die fundamentale anthropologische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Handelns. Zum anderen ist die Entwicklung der Selbstgegebenheit des Körpers für den Handelnden aufzuklären. Die Möglichkeit der Körperbeherrschung ist eben nicht selbstverständlich. Sie wird selbst nur aufgrund bestimmter Eigenschaften menschlicher Körperlichkeit möglich und entwickelt sich im Prozeß der kindlichen Entwicklung. Das Programm einer rekonstruktiven Einführung der stillschweigenden Annahmen rationaler Handlungsmodelle verweist deshalb auf die anthropologische Fundierung der Handlungstheorie ebenso wie auf eine Rekonstruktion der Konstitution des Körperschemas. Die anthropologische Fundierung der Handlungstheorie ist natürlich ein Thema, dessen Umfang den vorliegenden Zusammenhang sprengt. Das biologische Schrifttum ist oft nicht unmittelbar und ohne weitere Interpretation für diese Frage44 Jürgen Habermas, Anthropologie, in: Alwin Diemer/Ivo Frenzel (Hg.), Philosophie. Frankfurt/M. 1958, S. 18-35. 45 Das habe ich nachzuweisen versucht in: Hans Joas, Giddens' Theorie der Strukturbildung. Einführende Bemerkungen zu einer soziologischen Transformation der Praxisphilosophie, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 237-245 (jetzt auch in HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 205-222). 252
Stellung verwendbar, zumal es dort häufig bei der Anwendung von Thesen auf den Menschen zu ungeprüften reduktionistischen Aussagen kommt. 46 Axel Honneth und ich haben deshalb in unserer einschlägigen Studie 47 die Anthropologie Arnold Gehlens zum Ausgangspunkt gewählt. Trotz aller Einseitigkeiten und Überspitzungen von Gehlens Werk und obwohl es selbstverständlich dem fachwissenschaftlichen Stand der Gegenwart nicht mehr entspricht, hat es den für die Handlungstheorie unschätzbaren Vorteil, das menschliche Handeln nicht ans tierische Verhalten anzugleichen, sondern umgekehrt nach den organismischen und evolutionären Entstehungsbedingungen der Spezifika des menschlichen Handelns zu fragen. Vorbild für Gehlens anthropologische Rekonstruktion des menschlichen Handlungsvermögens war in dieser Hinsicht die pragmatistische Anthropologie John Deweys. 48 Ähnlichkeiten ergeben sich auch mit Jean Piagets Versuchen, seine Entwicklungspsychologie in einer biologischen Theorie zu fundieren. 49 Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß sie die menschliche Handlungsfähigkeit durch einen Bruch mit instinkthafter Verhaltensregulation ermöglicht sehen. Dieser Bruch schließt aber gleichzeitig die Reduktion auf Reiz-Reaktions-Schemata aus. Vor allem Gehlen hat - im Anschluß an Herder - den Bruch mit der Instinktsicherheit der Tiere auf die einprägsame Formel vom »Mängelwesen« Mensch gemacht. Breit schildert er50 die relative Primitivität einzelner menschlicher Organe, das Fehlen eines vor der Witterung schützenden Haarkleides, die im Vergleich mit Tieren geringe Sinnesschärfe, den Mangel an angeborenen Angriffsorganen und die extrem lange Hilflosig46 Eine erfreuliche Ausnahme ist Vernon Reynolds, The Biology of Human Action. Oxford 1980. 47 Honneth/Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur, a.a.O. 48 John Dewey, Human Nature and Conduct. New York 1922. 49 Jean Piaget, Biologie und Erkenntnis. Über die Beziehungen zwischen organischen Regulationen und kognitiven Prozessen. Frankfurt/M. 1983. 50 Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt/M. (1940) 1971 (9. Aufl.). 253
keit des Nachwuchses beim Menschen, um seine These von der überlebensgefährdenden organischen Mangelhaftigkeit des Menschen zu begründen. Er führt diese Defizite im wesentlichen dadurch auf evolutionäre Ursachen zurück, daß er den Menschen als »normalisierte Frühgeburt« deutet. Die genannten Defizite werden damit als quasi-fötale Züge interpretiert; Ursache der zu frühen Geburt und der entsprechend überlangen Hilflosigkeit nach der Geburt ist für Gehlen der aufrechte Gang des Menschen, der die Austragbedingungen in der Schwangerschaft radikal veränderte. Die Handlungs- und Kulturfähigkeit des Menschen, die für die Überlegenheit seiner Gattung über alle Tiergattungen und seine Herrschaft über die Erde ausschlaggebend war, wird von Gehlen also nicht in einer linearen evolutionären Fähigkeitssteigerung gesehen, so daß das menschliche Handeln als komplexeste Form tierischen Verhaltens zu denken wäre, sondern durch einen radikalen Bruch mit den Bahnen tierischen Verhaltens. Der natürliche Mangel erwies sich - bei Strafe des Untergangs - als Herausforderung und als Chance für die Herausbildung neuer und überlegener Fähigkeiten. Gehlen versucht zu zeigen, wie die Seiten des Dreiecks von Antrieben, Wahrnehmung und Bewegung in ihrer instinkthaften Verkettung jeweils durchbrochen und durch kulturelle Symbole neu hergestellt werden. An die Stelle eines festen instinkthaften Antriebsrepertoires treten diffuse und höchst plastische Antriebsquellen, die über Befriedigungserfahrungen und kulturelle Einwirkungen eine neue Eindeutigkeit gewinnen. An die Stelle der instinkthaften Selektion von Reizen tritt in der Wahrnehmung - zur Bewältigung der Gefahr einer Überflutung mit unverarbeitbaren Reizen - die Erarbeitung eines eigenen Wahrnehmungsfeldes mit unerhörten Chancen der Gegenstandsintimität. An die Stelle der »Erbmotorik« tritt schließlich eine über das Erlernen von Bewegungen neu ausgebildete »Erwerbmotorik« einschließlich der Ausbildung von Werkzeugen aller Art. In Gehlens Anthropologie werden allerdings die Gefahren eines Bruchs mit instinkthaften Sicherheiten für den Zusammenhalt einer sozialen Ordnung so sehr dramatisiert, daß nur die Schaffung solcher Institutionen als Ausweg erscheint, die die254
selbe Unumstößlichkeit an sich haben wie die Instinkte im Tierreich. Die unverhohlen autoritären politischen Implikationen der Institutionentheorie, auf die Gehlens Anthropologie hinausläuft, werden weder von Dewey noch von Piaget geteilt. Dies ist zu erwähnen, weil damit gezeigt ist, daß das Urteil über Gehlens »Anthropologie als Handlungslehre« noch nicht gefällt ist, wenn diese institutionentheoretischen Konsequenzen abgelehnt werden. Wenigstens einer der Mängel, unter denen Gehlens Anthropologie der Handlung selbst leidet, soll hier aber angeführt werden. 51 Die These vom Bruch mit der starren Instinkthaftigkeit der Tiere schafft zwar Raum für die Herausarbeitung der spezifischen Handlungsfähigkeit des Menschen, verdeckt aber die Unterschiede zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen tierischen Verhaltens und Lernens und übertreibt die Starrheit, Lernunfähigkeit und Vorprogrammiertheit tierischen Verhaltens. Nach den Ergebnissen der Tierverhaltensforschung ist die einfache Vorstellung instinkthaft starrer Verknüpfungen zwischen Auslösereizen und Instinktreaktionen schon bei der Entstehung derjenigen Lebewesen ungültig geworden, die mit einem Zentralnervensystem ausgestattet sind. Schon vor dieser Schwelle erweist sich die Reiz-Reaktions-Schematik als unangemessen, da sie der Komplexität angeboren koordinierter Bewegungen nicht entspricht. Nach dieser Schwelle aber entfällt auch die Möglichkeit, zwischen Reizen und Reaktionen starre kausale Verknüpfungen herzustellen. Insbesondere Konrad Lorenz 52 hat durch den Nach51 Den anderen Mangel, nämlich die ungenügende Berücksichtigung der Sozialität des Handelns, haben Honneth und ich in dem genannten Buch, v. a. S. 67 ff, nachzuweisen versucht. Zur These einer primären Sozialität der Handlungsfähigkeit vgl. in diesem Buch Kapitel 3.3. - Das Bewußtsein von dem Mangel der Gehlenschen Theorie hinsichtlich der Instinktkonzeption selbst verdanke ich der Dissertation von Markus Kaiser: Individuelle Vergesellschaftung in naturhistorischer Sicht. Ein Beitrag zur soziologischen Anthropologie. FU Berlin 1987. 52 Konrad Lorenz, Über tierisches und menschliches Verhalten. Gesammelte Abhandlungen. 2 Bde. München 1965. 255
weis der Existenz aktionsspezifischer Energien und einer relativ autonomen Erregungsproduktion, die bei einem bestimmten Niveau zu allgemeiner motorischer Unruhe und dann zur Selbstauslösung der Instinkthandlung und damit also zu Leerlaufreaktionen führt, die autonome Koordiniertheit der verschiedenen Elemente einer Instinkthandlung dargetan. Er hat darüber hinaus durch die Theorie des »Appetenzverhaltens«, d.h. eines spontanen und gerichteten Reizsuchverhaltens, ein erstes Moment der Umweltbeherrschung im tierischen Verhalten identifiziert. Noch innerhalb völliger genetischer Programmiertheit des Verhaltens kommen durch Appetenzverhalten, die Zerlegung von Bewegungen in einzeln steuerbare Teilbewegungen und ihre hierarchische Verkettung, durch Bahnung, Assoziationsbildung, Prägung und Lernen am Erfolg steigende Grade einer flexiblen individuellen Umweltanpassung zustande. Das menschliche Handeln in seiner Kreativität hat demnach durchaus Vorläufer im tierischen Verhalten; umgekehrt läßt es sich ohne diese Vorgeschichte nicht verstehen. Unbenommen davon bleibt, daß erst das »Zerbrechen des Instinkts« im Tier-Mensch-Übergangsfeld die Voraussetzung dafür schuf, in stufenweiser individueller Entwicklung von der Nutzung der Spielräume genetischer Programmierung des Verhaltens zur »konstruktiven Selbststeuerung« - wie Piaget sagt - weiter Bereiche der Handlung überzugehen. Nicht starre Institutionen beerben damit - wie bei Gehlen - starre Instinkte, sondern Intelligenz und Kreativität beerben die wachsenden Spielräume, die schon in der instinkthaften Verhaltensregulation auftraten. Die vorreflexive Intentionalität des menschlichen Körpers ist demnach nicht ein Relikt tierischer Verhaltensweisen, auf dem sich eine reine Geistigkeit erhebt, sondern die für den Menschen typische Struktur des Verhältnisses zwischen Organismus und Umwelt. Die Annahmen der Handlungstheorie können keinen Bestand haben, wenn sie unserem Wissen über diese Struktur nicht entsprechen. Die rekonstruktive Einführung der stillschweigenden Annahmen in Modellen rationalen Handelns bedarf aber eines weiteren Argumentationsschrittes. Ebenso-wie im Fall der Fähig256
keit zur Zwecksetzung und Zweckorientierung muß auf die Aufdeckung der stillschweigenden Annahmen selbst und die Erschütterung ihrer Selbstverständlichkeit sowie die Andeutung einer Alternative - in diesem Fall eine anthropologische Handlungskonzeption - der eigentlich rekonstruktive Schritt folgen, nämlich der Nachweis, daß auf der Grundlage der alternativen Konzeption sehr wohl der Sinn der ursprünglich stillschweigenden Annahme rekonstruierbar ist. In diesem Falle heißt das, daß die Instrumentalisierung des eigenen Körpers durch den Handelnden Resultat einer Entwicklung sein muß und wir für deren Verständnis einer Entwicklungshypothese bedürfen. Wenn wir als Resultat dieser Entwicklung nicht eine entsubjektivierte Selbstinstrumentalisierung denken, sondern Handlungsfähigkeit, dann gibt es nur einen Strang wissenschaftlicher Diskussion, der dieses Problem zum Thema gemacht hat: die Forschungen über das »Körperschema« oder »Körperbild«. Die Begriffe »Körperschema« oder »Körperbild« zielen auf die subjektive Gegebenheit des eigenen Körpers für den Handelnden. Zwar ist der Körper ein Ding unter Dingen in der Welt, aber er ist doch als eigener Körper zugleich von allen Dingen radikal unterschieden. Das Körperschema wird üblicherweise definiert als das Bewußtsein des Handelnden von der morphologischen Struktur des eigenen Körpers, seiner Teile und seiner Haltung, seiner Bewegungen und seiner Grenzen. Empirische Forschung und Theoriebildung auf diesem Gebiet sind nicht sehr umfangreich, wohl deshalb, weil die bloße Frage nach dem Körperschema in einem Spannungsverhältnis zu den Selbstverständlichkeiten eines cartesianischen Weltbildes steht. Entsprechend beschäftigen sich Sozialpsychologen eher mit der Wahrnehmung des Körpers anderer Personen als mit der Selbstwahrnehmung des Körpers, und die physiologische Psychologie betrachtet den Körper meist lediglich als objektive Gegebenheit. 53 In einem 53 Den besten Überblick über die Literaturlage fand ich in: Michel Bernard, Le corps. Paris 1976. - Außerdem Peter Paulus, Zur Erfahrung des eigenen Körpers. Weinheim 1982; Douwe Tiemersma, 2
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großen Teil der vorhandenen Literatur werden pathologische Phänomene behandelt wie Störungen in der Fähigkeit zur Lokalisierung von Empfindungen auf den Körperoberflächen oder zur Unterscheidung von rechts und links sowie das seit William James' Psychologie berühmte Phänomen der »Phantomglieder«, d.h. der Empfindung von Körperteilen, die »objektiv« - etwa nach einer Arm- oder Beinamputation - nicht mehr vorhanden sind. Die Geschichte der Beschäftigung mit diesen Phänomenen und der Diskussion um den Begriff »Körperschema« ist höchst instruktiv für das gestellte Problem. Die Vorgeschichte liegt in sinnesphysiologischen Forschungen des 19 Jahrhunderts, in denen es schlicht um die Wahrnehmung der Reize ging, die aus dem Körperinneren oder von den Körperoberflächen ständig auf das »Sensorium« einströmen. Der entscheidende erste Schritt zu einer tiefergehenden Analyse stammt von Neurophysiologen der Jahrhundertwende (Head, Bonnier), die in zweifacher Hinsicht über die bloße Beschäftigung mit Empfindungen des eigenen Körpers hinausgingen. Sie fragten zum einen nach den Ursachen der Fähigkeit, diese aus dem eigenen Körper kommenden Empfindungen korrekt zu lokalisieren, und sie warfen zum anderen die Frage auf, wodurch dem Menschen die bewußte Regulation eigener Bewegungen und Haltungen möglich wird. Die Antwort auf beide Fragen sahen sie in der Existenz eines nichtbewußten Körperschemas. Dieses wurde strikt objektivistisch als neurologischer Mechanismus gedeutet, der damit zur Voraussetzung aller sachgerechten Bewegungen und Hantierungen erklärt wurde. Diesem Mechanismus wurde große Flexibilität zugeschrieben, da ja nur so die Einfügung von Instrumenten in die Bewegung oder die selbstverständliche Ausdehnung des Bewegungsempfindens etwa auf die Kleidung erklärt werden konnte. Die erste Fassung der Theorie des Körperschemas stellte damit immerhin das Problem einer ganzheitlichen »Body-Image« and »Body-Schema« in the Existential Phenomenology of Merleau-Ponty, in: Journal of the British Society for Phenomenology 13 (1982), S. 246-255. 258
Wahrnehmung des eigenen Körpers, schlug als Lösung aber eine Konzeption vor, die von allen Bewußtseinsleistungen absah. Der zweite Schritt ist dem deutsch-österreichischen Psychiater Paul Schilder zu verdanken, der - Anregungen aus der Gestaltpsychologie und der Psychoanalyse aufnehmend 1923 ein kleines Buch über das Körperschema vorlegte. Nach seiner Auswanderung in die USA weitete er dieses Buch beträchtlich aus und stellte seine Überlegungen ausdrücklich in die Nähe von James und Dewey. 54 Er ging in drei Hinsichten über den bisherigen Forschungsstand hinaus. Zunächst überwand er den physiologischen Reduktionismus seiner Vorgänger, indem er nach der psychischen Repräsentanz des Körperschemas fragte. Dann strebte er über eine elementaristische Assoziationspsychologie hinaus und zielte so auf die Vorgängigkeit ganzheitlicher Wahrnehmungsschemata auch in der eigenen Körperwahrnehmung; dies brachte ihn in die Nähe zur Gestaltpsychologie. Schließlich bemühte er sich darum, das Problem der Körperwahrnehmung nicht nur von seiner kognitiven, sondern auch von seiner affektiven Seite aus zu betrachten, wodurch die Psychoanalyse für ihn wichtig wurde. Die psychische Repräsentanz des Körperschemas folgte für Schilder unabweislich aus der Einsicht in den kognitiven Charakter des Körperschemas. Die Lokalisierung einer Empfindung ist eben nicht einfach zusammen mit der Empfindung selbst gegeben; Empfindungen müssen vielmehr aktiv oder konstruktiv in ihrem räumlichen Charakter identifiziert werden. Es gibt Störungen dieser Lokalisierungsfähigkeit, ohne daß die Empfindung selbst ausbliebe. Schilder spricht deshalb vom Körperbild und nicht vom Körper Schema, weil ihm diese Formulierung den kognitiven Charakter besser zu fassen scheint. Er zahlt für diese begriffliche Entscheidung allerdings 54 Paul Schilder, Das Körperschema. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des eigenen Körpers. Berlin 1923; ders., The Image and Appearance of the Human Body. Studies in the constructive energies of the psyche. New York 1935, 1950. 259
den Preis, die Selbstwahrnehmung als visuelle Selbstwahrnehmung erscheinen zu lassen. Dennoch bot diese Konzeption den Vorteil, durch die Vorstellung eines einheitlichen Raumbildes vom eigenen Körper zugleich von der Tendenz der älteren empirischen Psychologie abzugehen, die Gegebenheit des Körpers als Summierung von Empfindungen aufzufassen. Zwar hatten auch die neurophysiologischen Begründer der Forschungen zum Körperschema schon auf die Ganzheitlichkeit des Körperschemas hingewiesen; sie hatten diese aber unterhalb der psychischen Ebene begründet gesehen. Schilder muß die Frage nach dem Körperbild als das Problem der Entstehung einer psychischen Repräsentanz einer ganzheitlichen Wahrnehmung des eigenen Körpers im Sinne einer Einheit mit klaren Grenzlinien zur Umwelt formulieren. Er gibt eine Fülle anschaulicher Beispiele dafür, daß alle Leistungen des Körperbildes oder Körperschemas von dieser Ganzheitlichkeit abhängen; so ist etwa die volle Bedeutung der Lokalisierung einer Bewegungsempfindung von ihrem Bezug auf den ganzen Körper abhängig. Es sieht streckenweise so aus, als hielte Schilder den Bezug auf die gestaltpsychologische Zurückweisung der Assoziationspsychologie bereits für eine befriedigende Erklärung der Ganzheitlichkeit des Körperbildes. In seinem zweiten, amerikanischen Buch zum Thema aber und nachdem Schilder von orthodox-gestaltpsychologischer Seite kritisiert worden war 55 , machte er die Differenz zwischen seiner quasi-pragmatistischen und einer gestaltpsychologischen Interpretation der Befunde deutlich. 56 An der Gestaltpsychologie stören ihn die Unterschätzung des Lernprozesses, in dem ein einheitliches Körperbild entwickelt wird, und vor allem die Vernachlässigung des aktivistischen Moments in der Konstitution des 55 Die Lektüre dieser Kritik zeigt ein lehrreiches Beispiel für eine Rückführung von Schilders innovativen Gedanken in einen cartesianischen Rahmen: Klaus Conrad, Das Körperschema. Eine kritische Studie und der Versuch ihrer Revision, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 147 (1933), S. 346-369. 56 Schilder, Image, a.a.O., v.a. S. 286ff. 260
Körperschemas. »I consider that the connotations of gestalt psychology are too static and do not acknowledge sufficiently the never ceasing psychic activities. The body-image is based not merely on associations, memory, and experience, but also on intentions, will aims, and tendencies.«57 Der Bezug des Körperschema-Problems auf die Theorie des Handelns erscheint Schilder als die einzige Chance zur Lösung der Frage nach der Ganzheitlichkeit des Körperschemas. Das heißt, daß die Entstehung der Ganzheitlichkeit des Körperschemas ebenso wie der Ganzheitlichkeit eines Weltbilds Teil der Entwicklung der Ganzheitlichkeit einer handlungsfähigen Persönlichkeit sein muß. »When we perceive or imagine an object, or when we build up the perception of an object, we do not act merely as a perceptive apparatus. There is always a personality that experiences the perception. The perception is always our own mode of perceiving. We feel inclined to answer with an action or actually do so. We are, in other words, emotional beings, personalities. And personality is a System of actions and tendencies to such.«58 Damit hat Schilder auch die Brücke zur Psychoanalyse geschlagen. Es ist nur wahrscheinlich, daß wir zu unserem Körper nicht ein Verhältnis distanzierter intellektueller Neugier einzunehmen pflegen, sondern daß unsere Wahrnehmung unseres Körpers affektiv höchst geladen ist. Deshalb setzt Schilder neben die ausführliche Untersuchung der sinnesphysiologischen Grundlagen des Körperbildes eine Auflistung von Phänomenen, die Störungen der libidinösen Besetzung unseres Körpers oder den Umgang mit unserem Körper betreffen. Zu der Zeit, als Schilder sein Buch vorlegte, war die psychoanalytische Forschung über eine entwicklungspsychologische Frage wie die nach der Herausbildung des Körperschemas noch großenteils Rekonstruktion von Fallgeschichten aus dem Material therapeutischer Sitzungen und nicht direkte Beobachtung am Kind.59 Schilder konnte deshalb die angestrebte Synthese des Wissens über die 57 ebd., S. iSyi. 58 ebd., S. 15. 59 Unter der hier interessierenden Fragestellung ist aus der späteren Forschungsliteratur besonders wichtig: Margaret S. Mahler u.a., 261
kognitive und die affektive Dimension in der Entwicklung des Körperbildes nicht wirklich leisten. Aber in seinem Werk finden sich die Ideen und Fragestellungen, die eine solche Synthese zu bewältigen hat. An ihn knüpfte deshalb der Autor im wesentlichen an, der die Thematik aus dem begrenzten fachwissenschaftlichen Bereich heraus auf umfassende philosophische Fragestellungen bezog: Maurice Merleau-Ponty. 60 Seine Deutungsvorschläge in Gestalt »existenzieller« Analysen pathologischer Fälle verdienen es, als dritter großer Schritt in der Beschäftigung mit dem Körperschema bezeichnet zu werden. Durchaus in Schilders Richtung denkend, aber viel klarer als dieser erkennt MerleauPonty den Einfluß der cartesianischen Dualismen auf die fachwissenschaftliche Forschung zum Körperschema. Der Nachweis der Überlegenheit seiner eigenen phänomenologischen Analysen kann deshalb für Merleau-Ponty zum Prüfstein in einer weitreichenden philosophischen Kontroverse werden. Zugleich aber erfordert es die Aufgabe einer phänomenologischen Analyse der Leiberfahrung, auch die cartesianischen Tendenzen innerhalb der Phänomenologie selbst auszuschalten. Die Analyse des Leibes bietet Merleau-Ponty damit die Chance, einen neuen Begriff der Intentionalität zu verfechten, der deren leibhaften, »inkarnierten« Charakter hervorhebt. Dieser Grundgedanke seines Ansatzes, daß das Problem des Verhältnisses von Geist und Körper, Intentionalität und Leiblichkeit für immer unlösbar bleibt, wenn es nicht von vornherein in anderer Weise, nämlich nicht-dualistisch gestellt wird, führt ihn zu einer Position, die von der empiristischen Empfindungspsychologie genauso weit entfernt ist wie von einer rationalistischen Bewußtseinspsychologie. Der Einsatz beim wahrnehmenden Körper ist zwar nicht identisch mit dem pragmatistischen Programm einer Fundierung aller Wahrnehmung im Handeln, kommt diesem aber doch sehr Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation. Frankfurt/M. 1975. 60 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a.a.O., v.a. S. 123 ff. Er scheint allerdings nur das erste, deutschsprachige Buch von Schilder zur Kenntnis genommen zu haben. 262
nahe. 61 Der Begriff der Konstitution trägt nicht mehr wie bei Husserl den Sinn einer Konstitution durch das Bewußtsein, sondern einer vor-bewußten Leistung des Leibes. MerleauPonty spricht von prä-reflexiven oder vor-prädikativen Leistungen, um die Gegebenheit der Welt vor aller Reflexion oder Prädikation zu kennzeichnen. Vor allem am Beispiel des »Phantomglieds« einerseits und an der Unfähigkeit mancher Kranker, »abstrakte« Bewegungen wie die des Zeigens zu vollführen, obwohl ihnen die dafür nötige Motorik (etwa das Heben eines Armes und Strecken eines Fingers) durchaus zur Verfügung steht, demonstriert Merleau-Ponty die Überlegenheit seines antidualistischen Ansatzes. Ein Phantomarm sei nicht Folge einer physiologischen Kausalität, dergestalt, daß einfach die betreffenden Reizbahnen weiterexistierten, selbst nachdem der Arm entfernt worden ist. Ein Phantomarm sei aber auch nicht einfach als psychisches Phänomen aufzufassen, in dem Sinne, daß das Fehlen des Armes vom Bewußtsein des Amputierten nicht zur Kenntnis genommen worden sei. Es handle sich vielmehr um ein aktives Ignorieren, um ein Nicht-Wissen, dem ein latentes Wissen zugrundeliegt. »Der Phantomarm ist nicht Vorstellung eines Armes, sondern die ambivalente Gegenwart des Armes selbst. (...) Den Phantomarm haben, heißt für alles Tun, dessen allein der Arm fähig ist, offen bleiben, heißt das vor der Verstümmelung besessene praktische Feld sich bewahren. (...) So weiß der Kranke von seiner Versehrtheit, indem er sie ignoriert, und ignoriert sie, indem er von ihr weiß.« 62 Es geht also nicht um einen Dualismus von Geist und Körper, sondern um zwei Weisen der Körperlichkeit. »Konkret genommen, ist der Mensch nicht ein Psychismus, verbunden mit einem Organismus, sondern das Kommen und Gehen der Existenz, die bald sich körperlich sein läßt, dann wieder in persönlichem Handeln sich zuträgt.« 63 Merleau-Ponty spricht von der Unterscheidung eines »habituellen« und eines »aktuellen« Leibes, 61 Vgl. Kapitel 2.5 dieses Buches. 61 Merleau-Ponty, a.a.O., S. 106f. 63 ebd., S. 113. 263
um diese zwei Weisen der Körperlichkeit zu bezeichnen. Seine Deutung der Unfähigkeit zu »abstrakten« Bewegungen entwickelt sich ganz parallel zur Diskussion des Phantomgliedes. Die Unfähigkeit zu zeigen ist weder auf eine physiologische Schädigung der Sehnerven noch auf einen rein psychischen Verlust der Symbolisierungsfähigkeit zurückzuführen, sondern auf einen leibseelischen Verlust der Distanzierungsfähigkeit gegenüber konkreten Situationen. Der Kranke kann nicht von der konkreten Situation abstrahieren und die Situation spielerisch erkunden. Er ist in die Grenzen seines habituellen Leibes eingemauert und hat alle Spontaneität und Kreativität verloren. Merleau-Ponty treibt damit die von Schilder begonnene Theorie der Konstitution des Körperschemas in situationsbezogenen Handlungen weiter und vertieft sie in philosophischer Hinsicht. Stärker als Schilder bemüht er sich um die Integration der kognitiven und affektiven Dimensionen, und mehr als dieser betont er den permanenten Wandel des Körperschemas bzw. die etwa von Krankheit und Altern permanent gestellte Aufgabe zur Konstruktion und Destruktion des erworbenen Körperschemas. Er stößt auch auf eine weitere Dimension der Entwicklung, die von seinem phänomenologischen Ausgangspunkt her nicht zwingend war, die intersubjektive Dimension. Schon in der »Phänomenologie der Wahrnehmung«64 bezieht Merleau-Ponty die Beziehung zum Anderen im vorsprachlichen Sinne und selbst im vorsprachlichen Stadium der kindlichen Entwicklung in seine Überlegungen mit ein. Nicht nur die Körperlichkeit, sondern die Verschränkung meiner Körpererfahrung mit meiner Erfahrung des anderen Körpers wird als Fundament aller Erfahrung freigelegt'. Dieses nennt Merleau-Ponty die »intercorporeite«. Er denkt an das über Haltung, Gebärde und Stimme geführte mütterliche Betreuungsverhalten, das dem Kind den Weg aus der ursprünglichen Undifferenziertheit in eine ich-hafte Weltbeziehung ermöglicht. Doch bleiben seine Formulierungen in der Frage der intersubjektiven Konstitution auch des Körperschemas in die64 v.a. S. 397ff. 264
ser Phase seiner Werkentwicklung noch recht unbestimmt. Dies ändert sich in seinem Spätwerk. 65 Dort aber gerät Merleau-Ponty unter den Einfluß Jacques Lacans 66 und orientiert sich an dessen Interpretation der Spiegel-Erfahrung als konstitutiver Voraussetzung für die Herausbildung des eigenen Körperschemas. Was immer der Sinn von Lacans Deutung der Spiegel-Erfahrung für die psychoanalytische Arbeit genau sein mag, in empirischer Hinsicht ist seine These höchst fragwürdig. Auch wenn man nicht mit der Entstehung und Verbreitung des Spiegels als eines kulturellen Phänomens argumentieren will, übt diese These einen Einfluß in Richtung der Überschätzung visueller Erfahrungen für die Ausbildung des Körperschemas und zur Unterschätzung der affektiven Beziehung zum Anderen als einer Voraussetzung für diese Entwicklung aus. Es ist deshalb ein vierter Schritt nötig, der durchaus an Merleau-Pontys Gedanken der »intercorporeite« anknüpfen kann, aber konsequenter die vorsprachliche Kommunikation des Kindes zum Bestandteil einer Erklärung der Konstitution des Körperschemas macht. Für diesen Schritt ist zugleich der Rückgriff auf Anregungen möglich, die George Herbert Mead in einem nachgelassenen Manuskript gegeben hat. 67 65 V.a. in Maurice Merleau-Ponty, Les relations avec autrui chez l'enfant, in: Bulletin de Psychologie 18 (1964), S. 295-336. Interessante Diskussionen der Leistungen und Mängel Merleau-Pontys in dieser Hinsicht finden sich u. a. in: Herman Coenen, Leiblichkeit und Sozialität. Ein Grundproblem der phänomenologischen Soziologie, in: Philosophisches Jahrbuch 86 (1979), S. 239-261; Martin C. Dillon, Merleau-Ponty and the Psychogenesis of the Seif, in: Journal of Phenomenological Psychology 9 (1978), S. 84-98; Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München 1984, v.a. S. 133ff. 66 Jacques Lacan, Schriften I. Ölten 1973, v.a. den Aufsatz »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, S. 61-70. 67 George Herbert Mead, Manuskript ohne Titel, beginnend mit »The human individual has as part of his seif the physical organism«, University of Chicago, Mead-Papers, Box 1, Folder 4. 265
Meads Nachdruck liegt in diesem Zusammenhang auf zwei Punkten. Der erste ist, daß wir trotz eines ursprünglichen Primats der Aufmerksamkeit des Kindes auf seine inneren Zustände nicht von einer Priorität der Selbstwahrnehmung sprechen können, denn diese Wahrnehmungen können ursprünglich vom Kind nicht als Wahrnehmungen des eigenen Körpers identifiziert werden. »Daß die Gefühle sich völlig auf etwas innerhalb des Organismus des Lebewesens beziehen, ändert nichts daran, daß sie in der Erfahrung des Lebewesens sich auf Objekte beziehen. Erst wenn das lebendige Individuum für sich selbst zum Objekt wird, und erst, wenn diese Erfahrung mit ihm selbst identifiziert wird - im sozialen Verhalten - , dann erst findet die Identifizierung dieser Erfahrungen mit dem Ich statt. Ein genießender Gaumen oder ein schmerzender Zahn sind ein Gegenstand der Erfahrung genau so wie ein Baum oder ein Berg es sind.« 68 Eine Wahrnehmung als aus dem eigenen Körper kommend identifizieren zu können, bedeutet, zu sich selbst eine von bedeutungshaften Gebärden vermittelte Haltung einnehmen zu können. Dies impliziert, daß die Einheit des Körpers zumindest in elementarer Weise erfahrbar geworden ist. Wie aber kann der Körper jemals als einheitlich erfahren werden, wenn doch jede Wahrnehmung ihn nur in einem Teil präsentiert ? Dies ist der zweite wichtige Punkt für Mead. »Der Körper des wahrnehmenden Individuums ist nicht als ganzer Objekt. Es werden verschiedene Teile des Individuums gesehen und/oder gefühlt; aber es gibt keine Erfahrung, in der das gesamte Individuum als O b jekt erscheint. Die Tatsache, daß es bestimmte Eigenschaften gibt, die allen diesen Teilen gemeinsam sind, macht diese Teile noch nicht zu einem einzelnen Objekt; denn dis ergibt sich nur dann, wenn das Individuum sich zu sich selbst als einem Gesamtobjekt verhält. N u r wenn die Objekte in einem Feld von Gleichzeitigkeit fixiert sind, kann das Individuum als ein 68 ebd., S. 5.-Streng genommen meint Mead hier wohl nicht, daß ein Gaumen »ein Gegenstand der Erfahrung«, sondern daß er eine »Reizquelle« wie ein Baum oder ein Berg sei; es geht ja gerade darum, die spezifische Gegenständlichkeit des eigenen Körpers zu eruieren. 266
dauerhaftes Ganzes in einem solchen Feld fixiert werden, und nur sofern der hypothetische Inhalt des physischen Objektes derart mit den Einstellungen des Individuums identifiziert wird, daß das Individuum gegen den Widerstand des Körpers gegenüber dem Objekt drückt, kann das wahrnehmende Individuum zu einem Objekt im Feld der physischen Objekte werden.« 69 Diesem Zitat läßt sich entnehmen, daß Mead das Problem der Einheit des Körpers mit der Frage nach der Konstitution des physischen Dings, des permanenten Objekts, zusammenbringt. Es ist hier nicht möglich, auf die Komplexitäten dieses Aspekts von Meads Theorien in aller Ausführlichkeit einzugehen. 70 Hervorzuheben ist seine entscheidende Idee, die darin besteht, daß die Konstitution des permanenten Objekts schon elementare Strukturen der Rollenübernahme voraussetzt, nämlich die Identifikation mit einer Person, und daß nur dies die Koordination von Hand und Auge und die Übertragung einer aktiv wirkenden Substanz in die Objekte ermöglicht. Für ihn bildet die Kooperation von Hand und Auge erst dann »Dinge«, permanente Objekte, wenn wir dem Objekt ein substantielles Inneres unterstellen, von dem der Druck ausgeht, den wir im Umgang als Widerstand des Objekts erfahren. Mit diesem »Inneren« meinen wir ja gar nicht etwas, das innen sitzt, hinter den Oberflächen des Objekts, sondern wir meinen einen aktiven, widerständigen Charakter, dessen Wirkungszentrum im Ding verortet wird. Wir unterstellen im praktischen Umgang den Objekten ein Inneres, und das heißt: einen von diesen selbst stammenden, von uns unabhängigen Widerstand. Wie kommen wir aber zu dieser Unterstellung? Mead begründet diese Unterstellung in der primären Reflexivität unserer Bewegungen, zum Beispiel der Selbsterfahrung der Körperteile im Wechselspiel der beiden Hände. Ein großes Mißverständnis wäre es nun, wenn die Konstitution des Dings als Resultat einer Projektion kinästhetischer Empfindungen 69 George Herbert Mead, Philosophie der Sozialität. Frankfurt/M. 1969, S. 209. 70 Vgl. dazu aber Kapitel 7 meines Buches »Praktische Intersubjektivität«. 267
des Subjekts in das Objekt aufgefaßt würde. Mead betont dagegen, daß der Organismus schon in die Struktur sozialer Interaktion eingebunden ist, wenngleich er noch kein Bewußtsein von den Grenzen zwischen sich und der sozialen oder physischen Welt hat. Er hat bereits begonnen, auf die Gebärden von Interaktionspartnern zu reagieren und sich selbst gestisch oder durch Expressionen, die gestisch verstanden werden, zu artikulieren. Es existiert eine Form der Kommunikation durch Gebärden, welche eine solche Grenzziehung nicht voraussetzt: die symbiotische Einheit, die Identifikation. Dies ist Meads Modell für Rollenübernahme gegenüber Objekten, wie er sagt, für die Gleichsetzung der eigenen Anstrengung mit Bewegungen von Objekten. Er verknüpft dann die Konstitution des permanenten Objekts, die in der kommunikativen Einbettung des Kindes in diesem frühen, vorsprachlichen Alter begründet wird, mit der Konstitution des Körpers als eigenem Leib. Die Körpereinheit erreichen wir selbst erst auf dem in sich sozialen Weg der Selbst-Identifikation. Die Trennung von Körper und Geist, die sich den Anschein gibt, selbstverständlich zu sein, ist Resultat eines Prozesses, in dem die unbelebten Objekte allmählich als solche erkannt werden und ihre ursprüngliche »naive« Einbeziehung in das soziale Verhalten einerseits habitualisiert und andererseits vom Bewußtsein ihrer Nicht-Sozialität begleitet wird. Mead nennt dies einen »Desozialisierungsprozeß« und behauptet, daß die Unterscheidung von eigenem Körper und eigenem Geist oder Bewußtsein sich in eins mit dieser Desozialisierung der gegenständlichen Objekte herausbilden müsse. »Erst als die Desozialisierung der gegenständlichen Objekte stattgefunden hatte oder stattfand, entstand die Unterscheidung zwischen der aktiven Identität des Handelnden als eines sozialen Wesens und dem Körper als einem nicht-sozialen, das heißt rein physischen Wesen.«71 Mead verbindet also die Frage nach der Konstitution des Körperschemas konsequent mit der Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten des Kleinkindes. Das motivationale und 71 Mead, The human individual, a.a.O., S. 20. 268
affektive Geschehen bleibt dagegen fast unthematisiert. Es ist deshalb keine Frage, daß hier weiterer theoretischer und empirischer Forschungsbedarf besteht. So ist es auch nötig, über die Frage der Genese des Körperschemas hinauszugehen und sich den Fragen nach den wichtigsten späteren Stufen seiner Umkonstruktion (etwa in der Adoleszenz beim Erwerb der Intimitätsfähigkeit; im Zusammenhang mit Krankheit und Alter; in der Schwangerschaft) zuzuwenden. Im vorliegenden Zusammenhang aber kann es nur darum gehen, die Richtung zu weisen, in die eine Klärung der Entstehung eines instrumentalistischen Verhältnisses zu unserem Körper zu erfolgen hat. Wenn die hier mit den Namen Merleau-Pontys und Meads verbundene These zur Konstitution des Körperschemas zutrifft, dann ist die Beziehung des Handelnden zu seinem Körper selbst schon von intersubjektiven Strukturen geprägt. Dann können wir uns zu unserem Körper wie eine Mutter verhalten 72 , die alle Signale des Kindes sensibel empfängt und wohlwollend aufnimmt; wir können aber auch unseren Körper zum Werkzeug machen, dessen Signale wir ignorieren oder unseren bewußten Zwecken unterordnen. Wenn der eigene Körper dem Handelnden nicht unmittelbar gegeben ist, sondern nur über ein Körperschema, und wenn dieses Körperschema selbst Resultat eines intersubjektiven Konstitutionsprozesses ist, dann enthält alle Handlungsfähigkeit eine weitere stillschweigende Voraussetzung: nämlich die einer nicht erst durch bewußte Intentionalität zustandekommenden, sondern dieser gegenüber vorgängigen, primären Sozialität, einer Struktur gemeinsamen Handelns also, welche zunächst in nichts anderem besteht als in der Interaktion unserer Körper.
72 Michel Bernard, a.a.O., S. io2ff. 269
3.3 P r i m ä r e Sozialität Von den im Begriff des rationalen Handelns enthaltenen Annahmen läßt sich die Unterstellung einer ursprünglichen Autonomie des handelnden Individuums heute wohl am wenigsten als stillschweigende Voraussetzung bezeichnen. Während die Annahme eines teleologischen Charakters der Intentionalität des Handelns und auch die einer Instrumentalisierbarkeit des eigenen Körpers durch den Handelnden weithin unreflektiert bleiben und eine rekonstruktive Einführung der Fähigkeiten zur Zwecksetzung oder Körperbeherrschung deshalb zuerst auf eine Destruktion scheinbarer Selbstverständlichkeiten angewiesen ist, gilt dies für die dritte Annahme viel weniger. Zwar hat die unreflektierte Behauptung, das eigeninteressierte, autonome Individuum sei der natürliche Ausgangspunkt aller Sozialtheorie, sicher ihre tiefen Wurzeln im Besitzindividualismus der westlichen Kultur. Doch waren die Gegenstimmen zu dieser Behauptung immer deutlich vernehmbar und in einigen Ländern, Zeiten oder Sphären des geistigen Lebens durchaus dominant. Innerhalb des Spektrums der heutigen Sozialwissenschaften ist die Ökonomie die wichtigste Domäne individualistischer Annahmen. Gerade in dieser Disziplin aber hat sich auch das Bewußtsein am stärksten ausgeprägt, daß es sich bei diesen Annahmen um einen methodologischen Ausgangspunkt handelt. 73 Ungenügend geklärt wird dabei allerdings, ob sich in der Präferenz für diesen methodologischen Ausgangspunkt nicht doch Neigungen zu einer individualistischen Ontologie verbergen. Auch in Psychologie und Philosophie gibt es starke individualistische Strömungen. Aber zugleich stellen doch Teile der Sozialpsychologie, die Entwicklung der sozialkognitiven Forschung und die Wendung der Psychoanalyse von einer Triebtheorie zu einer Theorie der Objektbeziehungen ein Gegengewicht dar. In der Philosophie finden sich individualistische Annahmen vor allem in der analytischen Philosophie; die Besinnung auf ihren sprachtheoretischen Ausgangspunkt ist allerdings geeig73 Vgl. Kapitel i dieses Buches, v.a. die Abschnitte 1.2 und 1.3. 270
net, die individualistischen Prämissen in Zweifel zu ziehen. Andere philosophische Schulen wie Hermeneutik, Pragmatismus und Marxismus waren von vornherein nicht- oder sogar anti-individualistisch eingestellt oder haben - wie die Phänomenologie - sich im Laufe ihrer Entwicklung entsprechend verändert. In der Soziologie wiederum kann man den Widerstand gegen individualistische Ausgangsannahmen allenthalben beobachten; oft wird dieser Widerstand geradezu als Rettung der eigenen disziplinaren Identität gegenüber einer Reduktion auf (individualistische) Psychologie betrachtet. Insbesondere für die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnde soziologische Forschung über »Sozialisation« ist die Frage nach den sozialen Bedingungen einer Genese des autonomen Individuums konstitutiv. Es läßt sich deshalb wohl nur von der engsten Version der Theorien rationalen Handelns mit Recht behaupten, daß sie die Individualität des Akteurs selbst schlicht voraussetzt und deren Genese mit ihren Mitteln nicht aufhellen kann. Ein normativistisches Verständnis von Rationalität ist dagegen mit einer Theorie der Bildung von Persönlichkeitsstrukturen durch die Verinnerlichung von Normen verbunden, und die Theorie kommunikativer Rationalität und kommunikativen Handelns zielt selbst auf die Erarbeitung einer Konzeption ursprünglicher Intersubjektivität. Es wäre deshalb ein Kampf gegen einen Popanz, wollte man die Argumente gegen die Vorstellung von einem vorsozialen, substantiellen Selbst hier so breit entwickeln, als sei die Theorie der Identitätsbildung weithin unbekannt. Die Polemik der Postmodernen gegen die angebliche Herrschaft der Idee eines integrierten Subjekts ist auf diesem Gebiet besonders ungerecht. 74 N u r in groben Strichen, unter Verweis auf Wohlbekanntes und mit Hervorhebung von weniger Bekanntem ist deshalb auf die soziale Grundlage der individuellen Handlungsfähigkeit hinzuweisen. Nicht erst die wissenschaftliche Erforschung der Bildung des 74 Eine ausgezeichnete Zurückweisung dieser Polemik und Auseinandersetzung mit Konzepten wie dem der »patchwork-identity« bietet: Jürgen Straub, Identitätstheorie im Übergang?, in: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau 23 (1991), S. 1-23. 271
Ich in der Sozialisationsforschung stieß auf die Herauslösung des Ich aus umfassenderen Ganzheiten und auf die Überschreitung der Grenzen des Ich nach seiner Bildung. Das romantische Verständnis der Liebe enthielt tiefschürfende Gedanken über die Balance zwischen der Verschmelzung mit einem Anderen und der einschränkungslosen Bereitschaft zur Anerkennung des Anderen als Anderen. Die Ideen über Selbstwerdung und Verschmelzung reichten dabei meist über den Horizont interpersonaler Beziehungen hinaus auf das Verhältnis zu allen Lebewesen oder zum ganzen Kosmos. Durch die klassische deutsche Philosophie hindurch zieht sich das Wissen um die Labilität und Überschreitbarkeit der Grenzen des Ich, und vor allem bei Hegel wird die Bildung des Ich in der Auseinandersetzung mit Anderen gedacht. Aber auch in der angeblich rein individualistischen angelsächsischen Geistesgeschichte gibt es nicht nur anti-individualistische Unterströmungen, sondern eine Tradition des Denkens über die Selbst-Überschreitung des Ich. 75 Deren Schlüsselbegriff heißt »Sympathie«. Seine klassische Ausarbeitung fand dieser Gedanke in der Moraltheorie Adam Smiths von 175976, aber er ist vor und nach dieser Schrift in allen Versuchen verbreitet, dem rationalistischen Individualismus von Hobbes mit den Mitteln der Theorie schöpferischer Einbildungskraft entgegenzutreten. Seit Shaftesbury wurde dem von Hobbes unterstellten natürlichen Egoismus nicht nur die Existenz prosozialer und ebenso natürlicher Gefühle entgegengehalten, sondern die Fähigkeit, sich durch Einbildungskraft (»imagination«) in andere Personen oder überhaupt andere Wesen hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit zur Einfühlung bringt dem Ich Erfahrungen, die es in der Begrenztheit seiner eigenen Erlebnisse nicht machen könnte. Die Fähigkeit zu solcher Einfühlung kann ungleich verteilt sein; vor allem dem Dichter wird sie zugesprochen. Von einer Entstehung des Ich aus solchen Akten der Versetzung in Andere und damit einer konstitutiven Rolle der »Sympathie« für das Ich der Handelnden ist freilich nur in den dichterischen und nicht in den philosophischen Artikulatio75 Vgl. Engeil, a.a.O., S. 143ff. j6 Adam Smith, Theory of Moral Sentiments. London 1963. 272
nen dieser Tradition die Rede. Einen kühnen Versuch, auf dem Boden der Phänomenologie an diese Tradition kritisch anzuknüpfen, legte Max Scheler vor. 77 Er überschritt die Grenze eines letztlich doch apriorisch angenommenen Ich-Begriffs sowohl in seiner Phänomenologie von Formen der »Einsfühlung« wie in seiner Lehre von der Konstitution des Anderen in der Erkenntnis. In totemistischen Ritualen wie in antiken Mysterien, in der Hypnose und in der »Masse«, in der ekstatischen Hingabe einer Mutter an ihr neugeborenes Kind wie in der gemeinsamen »rauschartigen Ausschaltung des geistigen Personseins (an dem ja wohl das eigentliche individuelle Ichsein haftet)« im Geschlechtsakt, da beide Partner »in einen Lebensstrom, der keines der individuellen Iche mehr gesondert in sich enthält, der aber ebensowenig ein sich auf die beiderseitige Ich-gegebenheit aufbauendes Wir-bewußtsein darstellt, zurückzutauchen meinen« 78 - in all diesen Phänomenen sieht Scheler ein soziales Leben vor Etablierung oder bei Auflösung der Ich-Grenzen. Deshalb kann er sich bei der Untersuchung der Frage nach der Wahrnehmung des fremden Ich von der Voraussetzung lösen, als sei das eigene Ich dem Handelnden selbstverständlich gegeben. Der Strom der Erlebnisse, die eine Person macht, sei zunächst in Hinsicht auf die Unterscheidung von Ich und D u als indifferent aufzufassen und konstituiert erst das eigene und das fremde Ich. 79 Scheler greift weit aus in die Geschichte des Verlusts der Idee der »Einsfühlung« in der westlichen Kultur und zu den Versuchen zeitgenössischer Lebensreformer zur Wiedergewinnung dieser Idee; seine begriffliche Unscharfe und ungenügende Verbindung mit der empirischen Sozialisationsforschung haben aber verhindert, daß er zum Klassiker der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Genese des Ich wurde. Zu diesem Klassiker wurde vielmehr der amerikanische Pragmatist George Herbert Mead. Für zwei der Hauptstränge einer rekonstruktiven Einführung des autonomen Ich in der JJ Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie. Bern 1974 (Nachdruck der 3. Auflage von 1926). 78 ebd., S. 36. y^ ebd., S. 240.
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Handlungstheorie steht sein Name ein. Gemeint ist einerseits die Theorie der Identitätsbildung aus der Fähigkeit zur »Rollenübernahme«, andererseits die Verteidigung eines nichtindividualistischen Begriffs sozialen Handelns. Das Feld, in dem Mead seinen folgenreichsten Gedankengang entwickelt, ist das einer anthropologischen Theorie der Spezifika menschlicher Kommunikation. 80 Diese sei durch die in ihr verwendeten »signifikanten Symbole« den tierischen Kommunikationsformen überlegen. Der Mensch sei nämlich imstande, auf die von ihm selbst hervorgebrachten Äußerungen und Handlungen wie ein Partner zu reagieren, und zwar in einer antizipatorischen und damit das mögliche Antwortverhalten von Handlungspartnern innerlich repräsentierenden Weise. Durch diese Fähigkeit wird eigenes Verhalten an einem nur potentiellen Reaktionsverhalten von Partnern ausrichtbar. Da diese Partner im Fall menschlicher Wesen über dieselbe Fähigkeit verfügen, wird ein evolutionsgeschichtlich ganz neues Muster der Verhaltenskoordination möglich, nämlich eine Koordination über die gemeinsame Orientierung an Mustern wechselseitiger Verhaltenserwartungen. Mead behauptet dies als den Grundzug der menschlichen Sozialität. Beim Menschen werden aus den für die Gattung überlebensnotwendigen Gruppenaktivitäten individuelle Verhaltensanteile aus differenziert, die keineswegs von Natur aus festgelegt sind, und diese werden über die Muster wechselseitiger Verhaltenserwartungen, wie sie in den »signifikanten Symbolen« vorliegen, wieder zu 80 George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1968; ders., Gesammelte Aufsätze. 2 Bde. Frankfurt/M. 1980/83. - Zur Darstellung von Meads Bedeutung für die Sozialisationsforschung vgl. Hans Joas, Rollen- und Interaktionstheorien in der Sozialisationsforschung, in: Klaus Hurrelmann/Dieter Ulich (Hg.), Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim 1991, S. 137-152 (jetzt auch in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 250-280); Lothar Krappmann, Mead und die Sozialisationsforschung, in: Hans Joas (Hg.), Das Problem der InterSubjektivität. Frankfurt/M. 1985, S. 156-178. In dieser Passage des Buches lehne ich mich an schon andernorts von mir verwendete Formulierungen an. 274
einem Ganzen integriert. Dies unterscheidet die menschliche Sozialität sowohl von einer durch biologische Spezialisierung den Individuen angeborenen Arbeitsteilung wie von der Regelung des Gruppenlebens über instinkthafte Verhaltensweisen in einer einlinigen Dominanzhierarchie. Auf dieser anthropologischen Kommunikationstheorie basiert Meads Entwicklungspsychologie. Das Scharnier zwischen beiden bildet der Begriff der »Rollenübernahme«, der eben die Antizipation des situationsspezifischen Verhaltens eines Handlungspartners bezeichnet. Wenn ein Handelnder aber sein eigenes Verhalten in ähnlicher Weise zum Gegenstand machen kann wie das seiner Partner, dann entwickelt sich auch ein Verhältnis der Bewertung zu den spontanen Triebimpulsen, da diese in Zusammenhang mit erwartbaren Reaktionen auf die Äußerung dieser Impulse hin wahrgenommen werden. Der Niederschlag solcher Erwartungen an mich oder vielmehr: meiner Erwartung solcher Erwartungen, dient sowohl als Bewertungsinstanz für die Strukturierung der Triebimpulse wie als Element eines entstehenden Selbstbildes. Mead denkt die Entwicklung eines einheitlichen Selbstbildes radikal konstruktivistisch: es geht für ihn um die Synthese der Repräsentationen der durchaus divergierenden Erwartungen durch den Handelnden selbst. Das so entstehende »seif« ist dann eine Instanz zur einheitlichen Selbstbewertung und Handlungsorientierung. Es ist damit weder vom Anfang der kindlichen Entwicklung an gegeben noch jemals - wie ein Reifungsprodukt - sicherer Besitz des Individuums. Es geht Mead vielmehr um die Rekonstruktion einer Fähigkeit, konsistentes Verhalten im Konflikt unterschiedlicher Erwartungen und uneinheitlicher Triebimpulse zustandezubringen. Neben der Entwicklung dieser enorm einflußreichen Gedankengänge hat Mead auch versucht, Folgerungen aus ihnen für unser Verständnis kognitiver, motivationaler und moralischer Entwicklung zu ziehen. Insofern erst durch die Entfaltung der Rollenübernahmefähigkeit ein reflexives Verhältnis des Handelnden zu sich selbst möglich wird, dieses aber Voraussetzung wichtiger kognitiver Leistungen wie der Konstitution des permanenten Objekts und erst recht moralischer Urteilsfähigkeit ist, wird die Ent2
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wicklung kommunikativer Fähigkeiten nach Mead zur Bedingung kognitiven und moralischen Lernens. Konsequenter als die anderen klassischen Begründer der Sozialisationsforschung 81 zerstört Mead die Annahme, Individualität sei über ihren biologischen Sinn hinaus vorgegeben; Individualität für den Handelnden selbst erweist sich dagegen als voraussetzungsreiches Entwicklungsresultat, und Mead liefert Grundzüge einer Entwicklungshypothese unter dem Blickwinkel der Entstehung von Individualautonomie. Bei den anderen Klassikern der Sozialisationsforschung finden sich jeweils weniger konsequente Destruktionen eines apriorischen Ichbegriffs. In der Entwicklungspsychologie Jean Piagets wird das frühe kindliche Sozialverhalten immer mehr vernachlässigt, wodurch die Fähigkeit zur Rollenübernahme als bloße Anwendung einer kognitiven Leistung auf soziale Gegenstände erscheint und nicht selbst als sozial konstituiert.82 So sehr die psychoanalytische Theorie Sigmund Freuds die Entwicklung der Person aus ihrer Verstrickung in affektiv hochgeladene interpersonale Beziehungen zu ihrem Thema machte, so wenig gelang es doch Freud selbst, für diese Entwicklung einen begrifflichen Apparat zu entwerfen, der an den Strukturen menschlicher Sozialität und nicht an der Dynamik von Trieben orientiert ist. Erst neuere Entwicklungen dieser Tradition haben hier den Focus verändert und die Bedingungen zu klären versucht, die für die Fähigkeit zum Allein-Sein vorauszusetzen sind. 83 Winnicotts Sensibilität erlaubt ihm eine 81 Als Überblick gut geeignet: Dieter Geulen, Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie. Frankfurt/M. *977-
82 Gute Kritiken an Piaget in dieser Hinsicht sind: Werner van de Voort, Die Bedeutung von Vorformen des kommunikativen Handelns für die Entwicklung der vorsprachlichen Intelligenz beim Kinde, in: Anton Leist (Hg.), Ansätze zur materialistischen Sprachtheorie. Kronberg 1975, S. 206-233; Monika Keller, Kognitive Entwicklung und soziale Kompetenz. Zur Entstehung der Rollenübernahme in der Familie und ihrer Bedeutung für den Schulerfolg. Stuttgart 1976. 83 Exemplarisch hierfür möge die Analyse dieser Fähigkeit stehen bei: Donald W. Winnicott, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. 276
anschauliche Demonstration des scheinbar paradoxen Sachverhalts, daß der Säugling diese Fähigkeit nur in Gegenwart seiner Mutter (oder Betreuungsperson) entwickeln kann, da sein schwaches Ich nur bei zuverlässiger Stützung sich entspannt und nur dann sich spielerisch auf die eigenen Impulse und die Erkundung der Welt einlassen kann. Bei Talcott Parsons wiederum wirkt sich die Abhängigkeit von Freuds Theorie in ihrer orthodoxen Gestalt insofern negativ aus, als er unter deren Einfluß die Verinnerlichung von Normen und die Bildung des Über-Ich für die Brücke zwischen Soziologie und Psychoanalyse und den entscheidenden Schritt in der sozialen Formung der Persönlichkeit erklärt. 84 Damit teilt er aber mit der älteren psychoanalytischen Theorie die Vernachlässigung der präödipalen Mutter-Kind-Interaktion und überhaupt der sozialen Interaktion und der Herausbildung von Ich-Strukturen in dieser frühen Phase. Ohne in Meads Ansatz hier mehr sehen zu wollen als die genialische Eröffnung des Forschungsfeldes der »Selbst-Entwicklung«, ist festzuhalten, daß erst die Forschungen auf diesem Feld die rekonstruktive Einführung der Ich-Autonomie in der Handlungstheorie möglich machen. Meads ganze Begriffsstrategie ist auf einen nicht-individualistischen Begriff sozialen Handelns ausgerichtet. Während sich bei einer individualistischen Fassung der Handlungstheorie das soziale Handeln als Spezialfall eines im Prinzip individuell vorstellbaren Handelns ergibt, ist Meads Ausgangspunkt der »social act«, was bei ihm eben nicht ein auf Andere bezogenes individuelles Handeln, sondern eine komplexe GruppenaktiFrankfurt/M. 1984, S. 36-46. Sehr gute Überblicksdarstellungen finden sich bei Morris N. Eagle, Neuere Entwicklungen in der Psychoanalyse. Eine kritische Würdigung. München/Wien 1988; Wolfgang Mertens, Psychoanalytische Theorien und Forschungsbefunde, in: Hurrelmann/Ulich, a.a.O., S. 77-98. 84 Vgl. v.a. die in folgendem Band gesammelten Arbeiten: Talcott Parsons, Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt/M. 1981. Eine interessante Kritik unter dem hier einschlägigen Gesichtspunkt legte vor: Hans-Joachim Busch, Interaktion und innere Natur. Frankfurt/M. 1985. *77
vität bedeutet, deren Teile die individuellen Handlungen sind. Es wäre ein grobes Mißverständnis, hierin einen organizistischen oder holistischen Gegenschlag zum Individualismus zu sehen. Wenn Mead sein sozialpsychologisches Programm dahingehend expliziert, daß es die Aufgabe sei, »das Verhalten des Individuums im Hinblick auf das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe (zu) erklären, anstatt das organisierte Verhalten der gesellschaftlichen Gruppe aus der Sicht des Verhaltens der einzelnen Mitglieder erklären zu wollen« 85 , dann geht es ihm nicht einfach um die Vorordnung des Ganzen vor den Teilen, sondern um eine andere Art von Handlungstheorie, in der sich nicht soziale Zusammenhänge ausschließlich als bloße Aggregation individueller Handlungen darstellen. Vielmehr soll die in allem individuellen Handeln schon vorausgesetzte, auf individuelle Handlungen nicht reduzierbare Sozialität freigelegt werden; diese Sozialität wird aber selbst als spezifische Weise des Handelns und der Handlungskoordination beschrieben. Diese Begriffsstrategie hat in der Gegenwart höchste Aktualität gewonnen, nachdem von vielen Seiten die Unreduzierbarkeit eines in aller Verständigung immer schon vorausgesetzten impliziten und holistisch strukturierten Hintergrundwissens und kollektiver Ordnungen wie der Sprache für alles Handeln aufgewiesen wurde. 86 Damit sind nicht-individualistisch zu analysierende Strukturen sozialen Handelns aber auch die Voraussetzung für die Existenz interpersonaler Beziehungen oder sozialer Ordnungen, die dem Muster einer Aggregation primär individueller Handlungen entsprechen. 87 Eine Handlungstheorie, die die Voraussetzung individuell-autonomer Handlungsfähigkeit mit ihren 85 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, a.a.O., S. 45. 86 Einen künftig wohl klassischen Rang annehmenden Versuch zur Synthese der verschiedenen Strömungen in dieser Richtung findet sich in Habermas' »Theorie des kommunikativen Handelns«, v.a. bei der Einführung des Lebenswelt-Konzepts (a.a.O., Bd. 2, S. 182 ff).
87 So argumentiert überzeugend im Anschluß an Mead und gegen Elster: Aanund Haga, Interaktion und Intentionalität. Bemerkungen zum Versuch, die Sozialwissenschaften spiel- und entschei278
eigenen begrifflichen Mitteln nicht einholen kann, ist deshalb als umfassendes Programm für den Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften nicht realisierbar. Ein möglicher Einwand gegen diese Betonung der ursprünglichen Sozialität der menschlichen Handlungsfähigkeit kann darin liegen, daß es bei dieser nur um eine genetische Voraussetzung für Entstehung oder Erwerb dieser Handlungsfähigkeit gehen könne, nicht aber um eine für die Struktur allen Handelns wichtige Dimension. Der Nachweis, daß die Handlungsfähigkeit von Individuen oder Gruppen nicht ein für allemal erworben wird, sondern der periodischen Neubelebung bedarf, und daß diese aus dem zeitweisen Einzug der symbolischen Abgrenzung des Ichs der Handelnden gegenüber Mitwelt und Umwelt erwächst, macht es freilich nötig, von den gemächlich abzuschreitenden Wegen der Sozialisationsforschung abzugehen und die Aufmerksamkeit auf die eher eruptiven Formen der Entdeckung einer die Ich-Grenzen in Frage stellenden Sozialität umzulenken. Die starke emotionale Aufladung dieses Gedankens und seine tiefe Ambivalenz - zwischen lustvoller Verschmelzung und angsterregender Gestaltlosigkeit - schlägt sich auch in den denkerischen Versuchen nieder, in denen eine Annäherung an die Phänomene der Selbstentgrenzung gewagt wurde. In romantischen Spekulationen begann die Wiederentdeckung des Dionysos als des Gottes des Rausches und der wahnsinnigen Verzückung, von dessen Wiederkehr sich die zunehmend zerrissene Sozialwelt des christlichen Abendlandes eine Erneuerung ihrer sozialen Bindekräfte und ihres vitalen Schwungs versprechen konnte. An diese romantischen Spekulationen und vor allem an Richard Wagners Kunst und Selbstverständnis konnte Friedrich Nietzsche anknüpfen, um die Kunst als moderne Möglichkeit einer Wiedergewinnung des Dionysischen und das Dionysische als Ausweg aus den Aporien der Moderne zu deklarieren. 88 Sein leidenschaftlicher Drang nach einer Selbststeigedungstheoretisch zu rekonstruieren, in: Dietrich Böhler u. a. (Hg.), Die pragmatische Wende. Frankfurt/M. 1986, S. 91-109. 88 In einer noch nah an den wissenschaftlich-altphilologischen Gegenständen befindlichen Weise geschah dies bei Friedrich Nietz279
rung der schöpferischen Person 89 sensibilisierte ihn für das Spannungsverhältnis zwischen dem Bedürfnis der Kreativität und den Ausgrenzungsmechanismen einer auf Geschlossenheit und Konsistenzwahrung bedachten Ich-Identität. Und Nietzsche war bereit, zugunsten der Kreativität auf Identität zu verzichten, oder besser: die schöpferische Selbststeigerung als Befreiung vom Zwang der Eingrenzung in die Bestimmtheiten eines Individuums zu sehen. Nietzsches scharfe O p p o sition von Kreativität und Identität beeinflußte breite Ströme linker und rechter Kulturkritik. Sie ließ die Suche nach einem Persönlichkeitsbild, das die Kreativität sehr wohl als verträglich mit der Bildung einer konsistenten Ich-Identität zeigte, als bloße Ausflucht vor dem Ernst der von Nietzsche aufgewiesenen Problemlage und als naiven VersöhnungsOptimismus erscheinen. Deshalb wohl kamen der kulturkritische, an Nietzsche anschließende Diskurs der Selbstentgrenzung und der positiv-wissenschaftliche, an Durkheim anschließende Diskurs der Revitalisierung von Kollektiven in einer als Selbstüberschreitung gedachten religiösen Erfahrung kaum je zusammen. 90 Für die Zwecke der Handlungstheorie ist allerdings der zuletzt genannte Strang der wichtigere. In seiner Religionssoziologie hat Emile Durkheim in klassischer Weise die Entstehung neuer Institutionen und die Revitalisierung bestehender sozialer Ganzheiten in Prozessen der Selbstentgrenzung analysche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: F.N., Werke I, München 1969. S. 7-134. -Eine vorzügliche Rekonstruktion dieser gedanklichen Entwicklung gibt Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 1985 (v.a. in den Kapiteln zu Nietzsche und zu Georges Bataille). Er spart allerdings die im folgenden behandelte positiv-wissenschaftliche Beschäftigung mit den gemeinten Phänomenen merkwürdigerweise aus seiner Rekonstruktion aus. 89 Vgl. Kapitel 2.5 dieses Buches. 90 Dies gilt nicht für das französische Denken, in dem die Berührung der beiden Diskurse immer wieder stattfand, z. B.: Georges Bataille, Der heilige Eros. München 1975; Michel Maffesoli, Der Schatten des Dionysos. Zu einer Soziologie des Orgiasmus. Frankfurt/M. 1986; Georges Balandier, Le desordre. Paris 1988. 280
siert.91 Durkheim zielt dabei nicht einfach auf die Entstehung obligatorischer Regeln, sondern weltkonstitutiver Prinzipien; er will verständlich machen, was die Menschen motiviert, nicht, was sie diszipliniert. Der Erfahrungshintergrund, an den er appelliert, umfaßt alle stimulierenden Einflüsse, die von der »Gesellschaft« auf den Menschen ausgehen. Diese wirken, so Durkheim, zu jeder Zeit auf uns. »Der Mensch, der seine Pflicht erfüllt, findet in allen möglichen Bezeugungen an Sympathie, Wertschätzung und Zuneigung, die seine Mitbürger für ihn empfinden, jenes Gefühl der Stärkung, das er meistens nicht wahrnimmt, das ihn aber aufrichtet. Das Gefühl, das die Gesellschaft für ihn hat, erhöht das Gefühl, das er von sich selber hat. Weil er in moralischer Harmonie mit seinen Zeitgenossen lebt, zeigt sein Handeln mehr Vertrauen, Mut und Kühnheit, ganz wie der Gläubige, der glaubt, den wohlwollenden Blick seines Gottes auf sich ruhen zu fühlen.« 92 In manchen Situationen aber fließt die Kraft des Sozialen in besonderer Intensität, und das Individuum fühlt sich über sich hinausgehoben. Durkheim illustriert dies etwa mit dem »Dämon der Beredsamkeit«, der einen Redner ergreift, dem die Kommunikation mit einer Menge gelingt: »Seine Sprache wird großsprecherisch, was unter gewöhnlichen Umständen lächerlich wäre; seine Gesten haben etwas Herrisches; selbst seine Gedanken werden maßlos und lassen sich leicht zu allen möglichen Arten von Übertreibungen verleiten. Er fühlt eben ein ungewöhnliches Maß an Kräften, die ausufern und nach außen drängen. Manchmal hat er sogar das Gefühl, daß er von einer moralischen Macht besessen ist, die ihn übersteigt und deren Interpret er ist.« 93 Durkheim verteidigt die Realität dieser Erfahrung; das Gefühl einer das Selbst steigernden Kraft ist keine Halluzination, sondern »höchst wirklich: Es wächst dem Redner aus der Gruppe zu, an die er sich wendet. Die Gefühle, die er hervorruft, kommen zu ihm zurück, nur mächtiger und vergrößert, und verstärken wiederum seine eigenen 91 Vgl. zum Hintergrund Kapitel 1.5 dieses Buches. 92 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M. 1981, S. 291. 93 ebd., S. 290. 281
Gefühle. Die leidenschaftlichen Energien, die er entfacht, hallen in ihm wider und steigern seine Stimme. Es spricht nicht mehr der einzelne, sondern die verkörperte und personifizierte Gruppe.« 94 In diesen Beispielen ist nur von der Selbststeigerung des Individuums durch die Kraft der Gruppe und von der Bestätigung der Werte einer Gruppe die Rede. Durkheim zielt aber tiefer. Es geht ihm nicht nur um die Belebung des gemeinsamen Glaubens an ein Heiliges, sondern um dessen Entstehung, und er sieht diese Entstehung begründet in Erfahrungen der Selbstentgrenzung, die durchaus nicht einfach eine Kräftigung, sondern zunächst eine Überwältigung des Ich bedeuten. In welcher Art von Handlungen werden solche Erfahrungen gemacht und wie erwächst daraus die Bindung an ein Heiliges ? Gemäß der evolutionistischen Prämisse, daß die Antwort auf eine so fundamentale Frage sich am ehesten an primitiven Phänomenen finden läßt, untersucht Durkheim totemistische Rituale in der Kultur der australischen Urbevölkerung, da diese für die elementarste zugängliche Form religiösen Lebens gehalten wurden. Er kontrastiert das Alltagsleben dieser Stämme, die in großer geographischer Zerstreuung ihrer Lebenssicherung nachgehen, mit den Phasen ihrer Versammlung an einem Ort. Die Ansammlung vieler Menschen bringt, so Durkheim, die Selbstkontrolle ins Wanken, und dies a fortiori beim weniger Zivilisierten: »Weil die Empfindungen und Leidenschaften des Primitiven nur unzulänglich seiner Vernunft und seinem Willen unterworfen sind, verliert er leicht die Selbstbeherrschung. Schon ein geringes Ereignis bringt ihn außer sich. Erhält er eine gute Nachricht, hat er einen Anfall von Begeisterung. Tritt das Gegenteil ein, läuft er wie ein Irrer umher, bewegt sich zusammenhanglos, schreit, heult, scharrt Staub zusammen und wirft ihn in alle Richtungen, beißt sich, schüttelt wild seine Waffen usw. N u n wirkt aber die Ansammlung allein schon wie ein besonders mächtiges Reizmittel. Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich auf Grund dieses Tatbestands eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erre94 ebd. 282
gung versetzt. Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewußtsein eines jeden wider, das den äußeren Eindrücken weit geöffnet ist. Jedes Bewußtsein findet sein Echo in den anderen. Der erste Anstoß vergrößert sich auf solche Weise immer mehr, wie eine Lawine anwächst, je weiter sie läuft. U n d da diese starken und entfesselten Leidenschaften nach außen drängen, ergeben sich allenthalben nur heftige Gesten, Schreie, wahrhaftes Heulen, ohrenbetäubendes Lärmen jeder Art, was wiederum dazu beiträgt, den Zustand zu verstärken, den sie ausdrücken.« 95 Durkheim vermengt hier die verschiedensten physikalischen Metaphern: die Erhitzung, das Echo, die Elektrizität, die Lawine - um den Zustand ekstatischer kollektiver Erregung anschaulich zu machen, zu dem jede Ansammlung von Menschen über längere Zeit Anlaß sein kann, und das um so mehr, je schwächer ausgeprägt die Selbstdisziplinierung der Teilnehmer ist. Bei einer Steigerung dieser Erfahrung kann eine Art Selbstverlust eintreten. »Man kann sich leicht vorstellen, daß sich der Mensch bei dieser Erregung nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von einer Art äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln. Ganz natürlich hat er das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Er glaubt sogar, ein neues Wesen geworden zu sein. Die Verkleidungen, die Masken, mit denen er sein Gesicht verdeckt, drücken wirklich diese innere Verwandlung aus, mehr noch: sie tragen dazu bei, sie hervorzurufen. Da sich aber zur gleichen Zeit auch seine Genossen auf die gleiche Weise verwandelt fühlen und ihr Gefühl durch ihre Schreie, ihre Gesten und ihre Haltung ausdrücken, so geschieht es, daß er sich wirklich in eine fremde, völlig andere Welt versetzt glaubt als die Welt, in der er gewöhnlich lebt, in eine Umwelt voller intensiver Kräfte, die ihn überfluten und verwandeln.« 96 Die Erfahrung des Selbstverlusts ist damit zugleich die Erfahrung einer außerordentlichen Macht, die das Individuum mitreißt. Durkheims dialektischer Gedanke besteht darin, in solcher Erfahrung die Geburt der religiösen Idee zu sehen. Da die unerhörten Erfahrungen des 95 ebd., S. 297. 96 ebd., S. 300. 283
Selbstverlusts und einer alles Alltägliche zum Verschwinden bringenden Kraft von den Betroffenen nicht mit kühlem Verstand als Effekt ihrer Vereinigung gedeutet werden können, schreiben sie sie präexistenten Mächten zu, mit denen sie am O r t und zur Zeit ihrer Versammlung in Berührung kamen. Die affektive Gewißheit höherer Mächte, die in der Erfahrung des Selbstverlusts liegt, schlägt deshalb um in eine vorreflexive Bindung an Attribute der religiösen Erfahrung. So beginnt eine Klassifikation der Welt in zwei Bereiche, den Profanbereich und den Bereich, der mit der Erfahrung des Sakralen wie vermittelt auch immer korrespondiert. Damit ist die Erfahrung der Selbstüberschreitung aber nicht ein primitives oder irrationales Randphänomen der Sozialität, sondern die konstitutive Voraussetzung für jede affektgeladene soziale Bindung an andere Individuen, an Kollektive oder Werte. Durkheim sieht die Entstehung des »Heiligen« als dieses der Reflexion entzogenen Kerns sozialer Bindungen keineswegs auf primitive Kulturen oder die Zeiten revolutionärer Gärung beschränkt, sondern als ständigen Prozeß. Zwar läßt sich seinem Werk nicht wirklich eine Theorie der Transformation des »Heiligen« in der modernen Gesellschaft entnehmen, doch enthält es vielerlei Hinweise auf moderne Äquivalente zum totemistischen Ritual. Diese wurden sowohl im Kreis seiner Schüler wie in seinem ferneren Einflußbereich weiter verfolgt. 97 Hier werden die Anlässe zu den von Durkheim gemeinten Erfahrungen spezifiziert und auch außerhalb des Religiösen aufgesucht. Für Victor Turner etwa dienen Rituale dazu, in allen Fällen, an denen ein Kollektiv an die Grenzen seiner Deutungsmuster gerät, die Gemeinschaftlichkeit des Kollektivs jenseits seiner sozialen und symbolischen Differenzierungen in Erinnerung 97 Besonders wichtig sind die Arbeiten von Victor Turner, wenngleich dieser seine offensichtliche Abhängigkeit von Durkheims Religionstheorie nur am Rande einräumt. Vgl. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/M. 1989; ders., Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt/M. 1989. Dort ist (S. 90 f) ausdrücklich auch von den Erfahrungen des Ichverlusts die Rede. 284
zu rufen und damit die beunruhigende Wirkung des Verstoßes in einer Selbstvergewisserung des Kollektivs aufzufangen. In der zeitweisen Auflösung seiner symbolischen und sozialen Strukturen zergeht das Kollektiv nicht im Nichts, sondern erfährt, daß es immer über das in den eigenen Strukturen Enthaltene hinausreicht. »Ein Ereignis wie eine Zwillingsgeburt, das aus den orthodoxen Klassifizierungen der Gesellschaft herausfällt, wird - paradoxerweise - zum Anlaß genommen, im Ritual Werte dramatisch darzustellen, die sich auf die Gemeinschaft als Ganzes, als homogene, unstrukturierte, alle Differenzierungen und Widersprüche transzendierende Einheit beziehen.«98 Die die Ich-Grenzen überschreitende Kollektiverfahrung wird damit nicht nur zur Voraussetzung sozialer Bindung erklärt, sondern selbst als Argument gegen die Möglichkeit einer rein »strukturellen« Konzeption des Sozialen verwendet. Damit leitet die rekonstruktive Einführung der Individualautonomie in der Handlungstheorie durch die Betrachtung der sozialisatorischen Formung und rituellen Auflösung und Restabilisierung der Ich-Identität in Prozessen »primärer Sozialität« vom Gebiet der Handlungstheorie hinüber zu der Frage nach den gesellschaftstheoretischen Konsequenzen aus einem so revidierten Verständnis menschlichen Handelns. Zwecksetzung, Körperkontrolle und Subjektgrenzenbildung sind eben nicht alltägliche Selbstverständlichkeiten. Eine Handlungstheorie, die sich des voraussetzungsreichen Charakters dieser Annahmen bewußt ist, muß in den »dionysischen« Grund aller Rationalität und Sozialität hinuntertauchen. Sie kann dafür belohnt werden mit einem Verständnis gegenwärtiger Strukturen individuellen und kollektiven Handelns, das auf dem kurzen Wege der direkten Anknüpfung an die etablierte Auffassung rationalen Handelns nicht erreichbar ist.
Turner, Ritual, a.a.O., S. 92. 285
KAPITEL 4
Kreative Demokratie
Die rekonstruktive Einführung der in den Modellen rationalen Handelns enthaltenen, stillschweigenden Annahmen war mit drei Argumenten als notwendig begründet worden. N u r so - hieß es1 - könne verhindert werden, daß eine Handlungstheorie unnötig rigide vom situativen und vom biographischen Kontext des Handelns abstrahiert; vor allem aber schütze diese Vorgehensweise davor, die Betrachtung des menschlichen Handelns so sehr unter das Diktat einer Rationalitätskonzeption zu zwingen, daß die phänomenale Vielfalt des Handelns vornehmlich unter dem Gesichtspunkt mangelnder Rationalität in den Blick kommt. Nicht nur die Überwindung instrumentalistischer und monologischer Rationalitätskonzeptionen und die Entwicklung einer »kommunikativen« oder »diskursiven« Idee von Rationalität ist deshalb nötig, sondern auch eine veränderte Sicht auf die Stellung der Rationalität im Handeln. Der hier beschrittene Weg erlaubt es, die ganze Breite der Handlungsphänomene ins Auge zu fassen, ohne doch den Zusammenhang mit der Rationalitätsfrage völlig aufzugeben. Damit stellen sich weitere Vorteile ein.) Während die Rationalmodelle mit einer normativen Vorgabe an die Untersuchung des Handelns herantreten, gilt dies für eine Theorie der Kreativität des Handelns nicht. Die Rationalmodelle müssen wenn sie nicht als bloß normativ verstanden werden wollen das Handeln entweder gewaltsam an die im Modell enthaltene Vorstellung angleichen oder einen konkreten, rationalen Typ des Handelns von anderen konkreten, minder rationalen Typen unterscheiden. Die am Leitfaden der Kreativitätsidee erfolgende rekonstruktive Einführung der stillschweigenden Annahmen in den Rationalitätsmodellen zielt dagegen von vornherein auf Spezifika allen menschlichen Handelns. Es i Vgl. die Einleitung zum dritten Kapitel dieses Buches. 286
geht ihr nicht um einen konkreten Typus kreativen Handelns, sondern um die Kreativität des menschlichen Handelns schlechthin. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, daß damit allen bestimmten menschlichen Handlungen dasselbe Maß an Kreativität gegenüber Routinen und Handlungsgewohnheiten zugesprochen würde. Dies kann schon deshalb nicht zutreffen, weil jede an den pragmatistischen Grundideen ansetzende Handlungstheorie das Absinken der kreativ gefundenen Lösungen des Handlungsproblems in neuen »Glauben«, besser: in veränderte Handlungsroutinen, annehmen muß. Das heißt, daß auch Akte höchster Kreativität einen Sockel routinierter Handlungsvollzüge und schlicht für gegeben unterstellter Weltbeschaffenheit voraussetzen. 2 Zwischen verschiedenen Akten und zwischen verschiedenen Akteuren gibt es natürlich große Differenzen im Hinblick auf Kreativität. Diese Richtung einer empirischen, differentieilen Kreativitätspsychologie und -Soziologie interessiert hier aber nicht. Auch diese müßte in ihrer Untersuchung konkreter Typen kreativen Handelns von einer allgemeinen Handlungstheorie ausgehen, und von dieser wird hier behauptet, daß sie die Kreativität als Dimension allen menschlichen Handelns enthalten und Routine als Resultat von Kreativität verstehen soll. In einer solchen allgemeinen Handlungstheorie liegt entsprechend kein wertender Akzent auf konkreten Fällen der Kreativität. Kreativität als solche ist in dieser Perspektive nicht per se etwas Gutes 2 Charles Camic hat mit vielen Belegen in Erinnerung gerufen, daß nicht nur im Pragmatismus, sondern auch bei den soziologischen Klassikern (Durkheim, Weber) wie selbstverständlich auf die Begriffsfamilie »Handlungsgewohnheit«/»habit« etc. zurückgegriffen wurde. Erst das reduktionistische Verständnis der behavioristischen Psychologie von diesen »habits« und die Abgrenzung der soziologischen Handlungstheorie vom Behaviorismus bei Thomas, Park und dem frühen Parsons brachte diese Dimension zum Verschwinden. Die Entwicklung einer Theorie der Kreativität des Handelns und die Wiederentdeckung der Routinedimension im Handeln widersprechen sich nicht etwa; sie ergänzen sich vielmehr in der gemeinsamen Kritik an rationalistischen und normativistischen Handlungsmodellen. Vgl. Charles Camic, The Matter of Habit, in: American Journal of Sociology 91 (1986), S. 1039-1087. 287
(oder Schlechtes); es gibt viele gute Gründe für ein Lob der Routine, und manche Vision permanenter ästhetischer oder politischer Kreativität ist eine Vision des Schreckens und der Überforderung des Menschen. O b eine bestimmte kreative Handlung gut oder schlecht ist, kann nur in einem Diskurs gerechtfertigt werden. Aber die Suche nach einer normativen Instanz zur Rechtfertigung von Geltungsansprüchen ist nicht identisch mit der Suche nach einem Modell zur empirischen Beschreibung der Entstehung neuer Geltungsansprüche. Die vorteilhaften Konsequenzen einer in dieser Weise revidierten Anlage der Handlungstheorie reichen weit über deren eigenes unmittelbares Territorium hinaus. Auch für die Theorie der Persönlichkeit ist ja die Frage von zentraler Bedeutung, ob wir unser Persönlichkeitsideal an einer Steigerung der (wie auch immer verstandenen) Rationalität orientieren sollen oder nicht vielmehr an einem flexiblen Wechsel zwischen der Disziplin der Rationaliät und ihrer Lockerung. In der Theorie der Organisation können wir, dem Rationalitätsmodell folgend, die empirisch vorfindlichen Strukturen als bloße Abweichung von diesem Modell in der Richtung informeller Beziehungen klassifizieren - oder umgekehrt, frei vom Rationalmodell, empirische Organisationen analysieren und dabei den unwahrscheinlichen und voraussetzungsreichen Charakter des rationalen Typus erkunden. 3 Auch in der Theorie sozialer Bewegungen lassen sich die Folgen rationalistischer Vorurteile etwa in der verbreiteten Vorstellung identifizieren, daß klare Ziele einzelner oder aller Akteure diese Bewegungen steuern. 4 In Geschichtstheorie und Gegenwartsdiagnose schließlich weisen die handlungstheoretischen Rationalmodelle eine Affinität zu Deutungen auf, die geschichtliche Entwicklungen als mehr oder minder lineare »Rationalisierungsprozesse« betrachten. Dabei gerät in Vergessenheit, daß selbst dann, wenn 3 Vgl. u. a. Luhmanns Kritik des Zweckbegriffs in der Organisationssoziologie; siehe oben Kapitel 3.1. 4 So ausgehend von Charles Perrow in einem sehr interessanten Aufsatz Klaus Peter Japp, Selbsterzeugung oder Fremd verschulden: Thesen zum Rationalismus in den Theorien sozialer Bewegungen, in: Soziale Welt 35 (1984), S. 313-329.
empirisch Rationalitätstendenzen festzustellen sind, diese nicht totalisiert werden dürfen, da sich nicht alle Lebensgebiete und alle Akteure ihnen widerstandslos unterordnen, vielmehr Gegenbewegungen ausgelöst werden, die in der Bilanz die Rationalisierungstendenzen überwiegen mögen. Es wäre offensichtlich eine völlige Überlastung des vorliegenden Argumentationszusammenhangs, wenn den Folgen einer revidierten Handlungstheorie hier in all diesen Richtungen nachgegangen würde. Deshalb werden nur einige ausgewählte Fragestellungen Behandlung finden. Zunächst geht es darum, den Anspruch geltend zu machen, daß auf der Grundlage der Handlungstheorie - und besonders einer im vorgeschlagenen Sinn revidierten Handlungstheorie - überhaupt ein sinnvoller Zugang zu gesellschaftstheoretischen Fragen möglich ist. Diese Ansicht wird ja keineswegs überall geteilt. Weit verbreitet ist die Vorstellung, daß die Handlungstheorie nur für mikrosoziologische Phänomene tauge und ihr Erklärungstypus der intentionaler Erklärungen sei; die Inakzeptabilität intentionaler Erklärungen bei makrosozialen Phänomenen erscheint dann oft gar nicht mehr als begründungsbedürftig. Für die Makrosoziologie gilt deshalb häufig der Gedanke, daß hier ganz eigene Modellannahmen und Erklärungstypen angebracht seien, die oft aus Bereichen außerhalb der Sozialwissenschaften experimentierend auf das Gesellschaftlich-Geschichtliche übertragen werden. Struktur- und Systemmodelle und die Logik funktionaler Erklärungen gelten dann als nützlich, ja als unvermeidlich auf makrosoziologischem Gebiet. Der nächste Schritt in meiner Argumentation hat in der Zurückweisung dieses Vorstellungskomplexes zu bestehen. In einer Art Zangenbewegung soll dabei zunächst demonstriert werden, daß sich im Gebiet der Forschungen über kollektives Handeln die Handlungstheorien schon längst über die Grenzen der Mikrosoziologie hinausgewagt haben; zugleich damit ergibt sich hier die Chance, die Überlegenheit einer Theorie der Kreativität des Handelns gegenüber rationalistischen und normativistischen Ansätzen auf einem bestimmten Forschungsfeld erneut zu veranschaulichen. Während mit diesem Schritt also der Anspruch der Handlungstheorie gesteigert
wird, soll im nächsten Schritt der Sprung zum Funktionalismus in der Makrosoziologie nicht nur als unnötig, sondern sogar als unzulässig aufgewiesen werden. Das damit gerechtfertigte Programm einer handlungstheoretisch begründeten, nicht-funktionalistischen Makrosoziologie soll dann an einem einzigen Punkt exemplarisch erläutert werden. Es geht hier um einen veränderten Status der »funktionalen Differenzierung« in einer solchen Theorie. Am Schluß steht ein kurzer Ausblick auf die Bedeutung der Kreativitätsidee für eine Diagnose der kulturellen Situation unserer Gegenwart. Ausgangspunkt ist dabei der Gedanke, daß ein handlungstheoretisches, vom Pragmatismus beeinflußtes Verständnis geeignet sei, aus den Aporien herauszuführen, die aus der Dominanz einer lebensphilosophisch geprägten Deutung der Kreativität im Diskurs über die »Postmoderne« entstanden. Meine These ist, daß sich der Konflikt zwischen nietzscheanischen und pragmatistischen Versionen von Kreativität heute als Schlüssel für ein Verständnis der Ambivalenz der Kreativitätsidee in den kulturellen Strömungen der Zeit erweist. Dabei ist der gemeinsame und schließlich auch wertende Bezugspunkt dieser exemplarischen Anwendungsversuche in einem emphatischen Verständnis von Demokratie zu sehen, für das schon John Dewey die Bezeichnung »kreative Demokratie« 5 gefunden hatte.
4.1 Kreativität u n d kollektives H a n d e l n Prozesse kollektiven Handelns ziehen aus empirischen und aus theoretischen Gründen zunehmend die Aufmerksamkeit sozialwissenschaftlicher Forschung auf sich. Der empirische Grund liegt in der Konjunktur des Themas »neue soziale Bewegungen«. Die Pluralisierung und Veralltäglichung sozialer Bewegungen in Europa wirft Fragen nach der Entstehung, der 5 John Dewey, Creative Democracy: The Task Before Us, in: The Philosopher of the Common Man. Essays in Honor of John Dewey to Celebrate his Eightieth Birthday. New York 1940, S. 220228. 290
Rekrutierung von Mitgliedern und der inneren Dynamik solcher sozialer Bewegungen auf, für die alte Schemata der Erklärung als unzulänglich empfunden werden. In den USA waren es vor allem die Bürgerrechtsbewegung und die Rassenunruhen der sechziger Jahre, aber auch die Studenten- und Antikriegsbewegung jener Zeit, die Anlaß zur Wiederanknüpfung an ältere Forschungen über kollektives Handeln oder zur Entwicklung neuer Forschungsansätze gaben und bis heute geben. 6 In theoretischer Hinsicht besteht die Attraktivität der Analyse kollektiven Handelns in der Chance, die unfruchtbare Gegenüberstellung von Handlungstheorie einerseits und Ordnungs-, System- und Strukturmodellen andererseits zu überwinden. Die Beschäftigung mit kollektiven Handlungsprozessen leitet ja viel müheloser als die mit ausschließlich individuellem Handeln zu den Fragen nach Entstehung, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung über. Dies gilt in der doppelten Hinsicht, daß kollektive Handlungsprozesse und soziale Bewegungen einen wesentlichen Beitrag zur Genese und zum Wandel sozialer Ordnung leisten, aber auch selbst als Formen sozialer Ordnung im Prozeß der Selbsterzeugung verstanden werden können. 7 Die große Zahl konkurrierender Ansätze auf diesem Gebiet läßt sich nach den verschiedensten Gesichtspunkten gruppieren. Nicht sehr vielversprechend ist dabei der Versuch, schlicht die vorhandenen Schulen der Makrosoziologie dieser Gruppierung zugrundezulegen, da diese zwar Aussagen zur Existenz gesellschaftlicher Probleme erlauben, die Dynamik 6 Die besten mir bekannten Überblicke sind: Gary T. Marx/James L. Wood, Strands of Theory and Research in Collective Behavior, in: Annual Review of Sociology i (1975), S. 363-428; James B. Rule, Theories of Civil Violence. Berkeley 1988; Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß. Frankfurt/M. 1985; Ron Eyerman/Andrew Jamison, Social Movements. A Cognitive Approach. Cambridge 1991, Kapitel 1, S. 10-44. 7 Vor allem Piotr Sztompka hat sich um diesen Gesichtspunkt in Arbeiten aus den letzten Jahren verdient gemacht. Vgl. z.B. Piotr Sztompka, Social Movements: Structures in Statu Nascendi, in: Revue Internationale de Sociologie 2 (1989), S. 124-155. 291
der Verwandlung eines solchen Problems in den Gegenstand eines sozialen Konflikts aber meist nicht erklären. Was aus der Perspektive einer makrosoziologischen Theorie ein Problem ist, muß dies noch keineswegs auch für die gesellschaftlichen Akteure selbst sein, und selbst wenn es auch für diese ein solches Problem darstellt, heißt dies noch lange nicht, daß sie seine Lösung für aussichtsreich genug halten, um sich dazu zusammenzuschließen. Die Möglichkeit, aus gegebenen Graden absoluter oder relativer Deprivation auf die Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Akten des Aufruhrs oder sozialer Bewegung zu schließen, ist durchaus umstritten. 8 Aussichtsreicher ist deshalb eine Einteilung der Ansätze nach den ihnen zugrundeliegenden geschichtstheoretischen Annahmen. Charles Tilly 9 hat hierfür die idealtypische Kontrastierung von Zusammenbruchs- und Solidaritätsmodell vorgeschlagen. Zum ersten Typus gehören all jene Ansätze, die kollektives Handeln aus dem Zusammenbruch sozialer Ordnungen zu deuten versuchen. Für sie gelten deshalb die von der Freisetzung aus überbrachten Ordnungen betroffenen Individuen als die wahrscheinlichsten Träger kollektiver Handlungsprozesse. Gesellschaften, in denen das Ausmaß und das Tempo solcher Freisetzung groß sind, seien deshalb am meisten von solchen Bewegungen gefährdet. Die Theorien der Massenpsychologie und der Massengesellschaft drücken diese Denkweise prototypisch aus. Hierzu lassen sich aber auch solche Arbeiten rechnen, in denen eine geschichtliche Tendenz fortschreitender Individualisierung behauptet wird. Besonders einflußreich ist in dieser Hinsicht das Werk Michel Foucaults, in dem ein Geschichtsgemälde entworfen wird, das implizit von der schrittweisen Zerstörung aller autonomen und wirkungsvollen Solidaritäten und ihrer Ersetzung durch die »Disziplinen«, d.h. die Individuierungstechniken des modernen Staates, ge8 Der wichtigste Vertreter einer relative-deprivation-Erklärung von Prozessen kollektiven Handelns ist Ted Robert Gurr, Why Men Rebel. Princeton 1970. Zur Kritik daran Rule, a.a.O., S. 200223. 9 Charles Tilly/Louise Tilly/Richard Tilly, The Rebellious Century. Cambridge, Mass. 1975. 292
kennzeichnet ist. Das kollektive Handeln liegt hier in kleinen Scharmützeln, alltäglichen Kämpfen, die den Geschichtsverlauf selbst kaum tangieren; dieser folgt vielmehr einer inneren Logik fortschreitender Zentralisierung und Bürokratisierung. Diesen Theorien des Zusammenbruchs autonomer sozialer Ordnungen lassen sich jene Ansätze gegenüberstellen, die sich für das kollektive Handeln als den Entstehungsprozeß neuer Solidaritätsbindungen interessieren. Hierzu gehören dann sowohl der Marxismus, der ja die Arbeiterbewegung als Vorbote einer neuen Ordnung und eines neuen Zeitalters interpretierte, wie auch die Tradition der Chicagoer Schule in der amerikanischen Soziologie, für die die Prozesse der Reorganisation einer Kultur etwa in Einwanderer-Ghettos gleichgewichtig neben der Analyse von Disorganisationsverläufen standen, und auch die Forschung von Tilly selbst, der in empirisch gehaltvoller Weise den Einfluß großer geschichtlicher Prozesse wie der Urbanisierung, der Industrialisierung und der nationalstaatlichen Konsolidierung auf die Entstehung und die Formen kollektiven Handelns untersucht. Zwar sieht auch er ein Zurückweichen tradierter Gemeinschaften im Zusammenhang dieser Prozesse, gleichzeitig aber einen Formenwandel kollektiven Handelns, insofern sich etwa im Zeitraum von 1830 bis 1930 Verbände mit freiwilliger Mitgliedschaft und zentralistischer Organisation entwickeln. Auch für die Gegenwart wird dann ein Formenwandel anstelle eines Verschwindens wahrscheinlicher. Im vorliegenden Argumentationszusammenhang bietet sich eine weitere Einteilungsmöglichkeit an. Die Forschungen zum kollektiven Handeln lassen sich auch nach den zugrundeliegenden handlungstheoretischen Annahmen klassifizieren. Tatsächlich finden sich die von der ökonomischen Theorie beeinflußten Modelle des rationalen Handelns wie die in der Soziologie dominierenden Modelle normativ orientierten Handelns in verschiedenen Varianten auch auf diesem Forschungsgebiet. Verstreute Ansätze zu einer Untersuchung des kollektiven Handelns mit den Mitteln einer kreativitätsorientierten Handlungstheorie lassen sich ebenfalls identifizieren. Es ist zu zeigen, daß nur die letztgenannten das Potential zur 293
Integration der verschiedenen Ansätze auf handlungstheoretischer Ebene enthalten. Der konsequenteste und geradezu klassisch gewordene Versuch zu einer Theorie des kollektiven Handelns auf der Grundlage einer rationalistischen Handlungstheorie wurde von Mancur Olson vorgelegt. 10 Er fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit kollektiven Handelns, wenn wir das Individuum als rationalen Akteur unterstellen. Olson ist vorsichtig genug, diese Annahme als eine mögliche Annahme unter vielen zu behandeln — was in der Rezeption seiner paradigmenstiftenden Arbeit keineswegs immer beachtet wurde. Von dieser Annahme aus kommt er aber zu höchst bedeutsamen kontraintuitiven Befunden. Er widerspricht insbesondere der in vielen Gesellschaftstheorien wie selbstverständlich enthaltenen Ansicht, daß rationale Individuen, wenn sie ihr Ziel oder ihr Interesse mit anderen rationalen Individuen teilen, sich mit diesen zu einer Gruppe zusammenschließen, die dieses gemeinsame Ziel aktiv verfolgt. Rekrutierungs- und Mobilisierungsprobleme sind nach dieser Ansicht nur beiläufiger Art; erklärungsbedürftig erscheint dann nicht die Existenz, sondern das Fehlen von Interessenorganisationen bei klar identifizierbaren Interessenlagen. »Aus dieser weithin angenommenen Prämisse des rationalen Handelns im eigenen Interesse ergibt sich vermeintlich mit logischer Notwendigkeit, daß Gruppen im Dienste ihrer Gruppeninteressen handeln werden. Mit anderen Worten: Aus der Annahme, daß Mitglieder einer Gruppe ein gemeinsames Interesse oder Ziel haben und sie alle besser daran wären, wenn dieses Ziel erreicht würde, schien logisch zu folgen, daß die einzelnen Mitglieder einer solchen Gruppe, sofern sie sich rational im Eigeninteresse verhalten, so handeln werden, daß dieses Ziel erreicht wird.« 11 Olsons Einwand gegen diese Ansicht ist so einfach wie durchschlagend: Selbstverständlich ist es für das rationale Individuum noch besser, wenn es sich bei der Wahrnehmung seiner Interessen von einer Gruppe vertreten lassen kann, ohne selbst 10 Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen. Tübingen 1968. 11 ebd., S. 1. 294
Zeit und Mühe zu investieren für Aktivitäten, deren Erfolge auch ohne unmittelbar eigene Mitwirkung genossen werden können. Wenn dies zutrifft, dann sind unter der Annahme rational handelnder Individuen zusätzliche Bedingungen nötig, um den unwahrscheinlichen Fall kollektiven Handelns eintreten zu lassen. Olson kennt drei Typen solcher zusätzlichen Bedingungen. Einerseits kann Zwang eingesetzt werden, um die individuellen Beiträge zu erhalten; der Steuerstaat verläßt sich beispielsweise nicht auf die Einsicht der Staatsbürger in die Nützlichkeit der mit Steuern finanzierten Staatsleistungen. Zum anderen kann nach Olson die Gruppengröße sich förderlich auf die Erbringung individueller Beiträge auswirken. Bei kleinen Gruppen ist die Chance höher, daß die Unterlassung des eigenen Beitrags von den anderen Gruppenmitgliedern bemerkt wird. Außerdem steigt bei sinkender Gruppengröße die Wahrscheinlichkeit, daß ein einzelnes Gruppenmitglied allein den gesamten Aufwand zur Beschaffung des Kollektivgutes übernimmt. »Das kommt daher, daß in einigen kleinen Gruppen jedes Mitglied oder wenigstens eines von ihnen feststellen wird, daß sein persönlicher Gewinn aus dem Kollektivgut die Gesamtkosten der Bereitstellung einer gewissen Menge dieses Kollektivgutes übersteigt; es gibt Mitglieder, die sogar dann, wenn sie den vollen Preis für die Bereitstellung selbst zu tragen hätten, besser daran wären, wenn das Kollektivgut beschafft wird, als wenn es nicht beschafft würde.«12 Der dritte Typus einer Sicherung von Individualbeiträgen zum kollektiven Handeln liegt darin, daß neben dem angezielten Kollektivgut auch weitere, nicht-kollektive Vorteile als selektiver Anreiz für individuelle Aktivität angeboten werden. So versuchen etwa deutsche Gewerkschaften, die Mitglieder auch durch angebotenen Versicherungsschutz u.a. zum Beitritt zu gewinnen und verlassen sich nicht auf ihr Eintreten für Ziele, die allen Arbeitnehmern gemeinsam sind. Die weiteren Verästelungen von Olsons Theorie und ihrer empirischen Anwendung bei ihm und in seiner Nachfolge sind hier nicht von Belang. Unter handlungstheo12 ebd., S. 32.
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retischem Gesichtspunkt interessiert vor allem, wie groß das Anwendungsgebiet dieser Theorie ist, d.h. wie empirisch überzeugend die Ausgangsannahme ist, daß Individuen als rationale Akteure zu betrachten sind. Olson schränkt selbst die Gültigkeit seiner Annahme insofern ein, als er sie ausdrücklich als nicht anwendbar für die Untersuchung von »Vergemeinschaftungen« und wenig nützlich für das Studium philanthropischer und religiöser Organisationen bezeichnet.13 Er legt allerdings Wert darauf, daß nicht nur die Verfolgung von eigennützigen Zielen zum rationalen Handeln gehört, sondern auch die von uneigennützigen Zielen, wenn diese mit den geeignetsten und wirksamsten Mitteln erfolgt.14 Eine zweite Einschränkung ergibt sich dort, wo Olson die Beobachtbarkeit individueller Beiträge behandelt. Die Frage ist hier ja, ob damit nur ein neues Problem für rationale Individuen angesprochen wird - etwa ein Problem der Selbstdarstellung: wie erzeuge ich mit möglichst geringem Aufwand den Eindruck, meinen Beitrag zu erbringen? - oder ob hier an moralische Impulse wie Scham- oder Schuldgefühle zu denken ist. Olson spricht durchaus von der Wirksamkeit eines Moralkodex für die Konstitution kollektiven Handelns, glaubt aber in dem gewählten Anwendungsfeld von den damit gemeinten Phänomenen absehen zu können. Damit spitzt sich die Frage freilich weiter zu, wie eng dieses Anwendungsfeld eigentlich ist. Wann haben empirische Individuen klar definierte Interessen und wann verfolgen sie diese in individualistischer Weise? Selbst wenn wir aber die problematische Annahme machen, daß Individuen in ihrem Handeln von klaren Zielen geleitet werden, folgt daraus ja noch nicht, daß diese Ziele einem Beobachter zugänglich sind. Ebensowenig ist klar, daß diese Ziele im Lauf einer komplexen Handlungssequenz unverändert bleiben. Die Plausibilität der Annahme einer Konzentration der Individuen auf ihre individuell gesetzten Handlungsziele hängt des weiteren davon ab, ob wir bereit sind, die Fälle spontanen oder reflektierten altruistischen Verhaltens, wie es von Prozessen der Selbstorganisation in der 13 ebd., S. 5. 14 ebd., S. 63. 296
Katastrophenhilfe bis zum Spenden- und Wohltätigkeitsverhalten empirisch gut belegt ist, außerhalb der gewählten Rationalitätskategorie zu plazieren. 15 Eine andere Variante einer Theorie kollektiven Handelns auf der Grundlage einer rationalistischen Handlungstheorie liegt in der Schule der Ressourcenmobilisierungstheorie vor. 16 Dort werden nicht die Individuen, sondern die Organisationen als rationale Akteure betrachtet. Die Perspektive ist gewissermaßen nicht mehr die des einzelnen Individuums, das Überlegungen über seinen Beitritt zu einer Organisation oder seine Beteiligung an einer Kollektivaktion anstellt und dabei auch die Vorteile einer »Schwarzfahrt« kalkuliert, sondern die des Geschäftsführers einer Interessenorganisation in einer Gesellschaft, in der soziale Bewegungen normal, aber auch hochgradig professionalisiert und teilweise kommerzialisiert sind. Der Ressourcenmobilisierungsansatz untersucht die strategischen Dilemmata, in denen sich eine solche Organisation befindet, und analysiert die günstigsten Verhaltensweisen in diesen Situationen. Die Aufmerksamkeit gilt dabei - wie der Name dieser Schule besagt - der allgemeinen Verfügbarkeit von Ressourcen wie Zeit und Geld und der spezifischen Chance, sie für die Ziele der jeweiligen Organisation zu mobilisieren. Es geht um die Konkurrenz mit Verbänden ähnlicher Zielsetzung, um die Chancen, staatliche oder öffentliche Unterstützung zu gewinnen, die günstigsten Wege zur Werbung von Mitgliedern und ähnliche Aufgaben. Aus dieser Perspektive erscheint es als absurd, soziale Bewegungen als irrationale Ausbrüche und Folgen des Zerfalls sozialer Bindungen aufIJ Natürlich sind hier die gesamte normativistische Argumentation aus dem ersten Kapitel und die rekonstruktive Einführung des rationalen Handelns im dritten Kapitel einschlägig. - Eine vorzügliche Kritik hat jetzt vorgelegt: Ralph H. Turner, The Use and Misuse of Rational Models in Collective Behavior and Social Psychology, in: Archives europeennes de sociologie 32 (1991), S. 84108.
16 Z.B. John D. McCarthy/Mayer N. Zald, Resource Mobilization and Social Movements: A Partial Theory, in: American Journal of Sociology 82 (1977), S. 1212-1241. 297
zufassen. Auch ihre Ableitbarkeit aus gesellschaftlichen Mißständen wird radikal in Frage gestellt; den Hintergrund bildet hier die Erfahrung der Bewegungs-»entrepreneurs«, daß diese Mißstände oft erst von den Bewegungen definiert und als Thema öffentlicher Debatten durchgesetzt werden. Die Vertreter des Ressourcenmobilisierungsansatzes sprechen - wie Olson - von ihrer eigenen Theorie als einer Partialtheorie. Es ist nicht ganz klar, was dies bedeuten soll. Wenn damit gemeint ist, daß die Theorie nur gelten soll unter der Bedingung, daß Bewegungsorganisationen als rationale Akteure verfahren, dann ist dies weitgehend unproblematisch. Dann entfällt aber zugleich die Stoßrichtung gegen konkurrierende Ansätze. Wenn aber behauptet wird, daß soziale Bewegungen meist dem Rationaltypus entsprechen, dann sind empirische Einwände möglich und zusätzliche empirische Begründungen nötig, warum gerade diesem Typus repräsentative Bedeutung in modernen Gesellschaften zugesprochen werden soll. Eine solche zusätzliche - historische - Begründung liefert Charles Tilly, dessen Arbeiten mit denen der Ressourcenmobilisierungsforscher zweifellos verwandt sind. Unter Bedingungen der Marktwirtschaft und eines über wichtige Ressourcen verfügenden Nationalstaats werde es für soziale Bewegungen zwingend, sich nach dem Muster strategischer Rationalität zu verhalten. Sie konkurrieren ja einerseits mit anderen kollektiven Akteuren um Macht- und Einflußchancen und andererseits mit den Anbietern von Gütern und Dienstleistungen um die Verwendung der Ressourcen in den Händen der Gesellschaftsmitglieder. Auch an Tilly ist die Frage zu richten, mit welchen anderen theoretischen Mitteln dann vormoderne und modern-nichtrationale Bewegungsformen analysiert werden sollen. Die rationalistischen Theorien kollektiven Handelns und sozialer Bewegungen sind gewiß für eine Reihe von Phänomenen von unschätzbarer Analysekraft. Sie grenzen freilich einen ihren Prämissen entsprechenden Analysebereich von Anfang an ein und haben deshalb nicht die Möglichkeit, zur umfassenden Theorie zu werden. Den ehrgeizigsten Versuch, auf der Basis der normativistischen Kritik am Rationalmodell des Handelns eine solche 298
umfassende Theorie kollektiven Handelns zu entwickeln, hat Neil Smelser17 vorgelegt. Smelser, ein Schüler und enger Mitarbeiter von Talcott Parsons, versuchte mit diesem Werk, eine der spektakulären Schwierigkeiten von Parsons' Theorie zu bewältigen. Zwar hatte Parsons eine viel reichhaltigere Handlungstheorie vorgelegt als die Modelle des rationalen Handelns, und entsprechend legte Smelser seiner Untersuchung kollektiven Handelns ein handlungstheoretisches Modell zugrunde, das die Komponenten der Werte, der Normen, der Mobilisierung individueller Energie und der verfügbaren Ressourcen umfaßt. Doch hatte Parsons aus seiner Handlungstheorie nicht nur keinerlei Ansatz zu einer Theorie kollektiven Handelns selbst entwickelt, sondern seiner Makrosoziologie eine Auffassung von Institutionen zugrundegelegt, die deren Leistungen für die Erhaltung und Reproduktion sozialer O r d nung in den Vordergrund rückt, damit aber zugleich nichtbzw. anti-institutionelles Handeln als ordnungsgefährdend erscheinen läßt. Smelser wendet sich entschlossen diesem nichtinstitutionalisierten Handeln zu. Er befreit es von dem Makel, den es unter dem Einfluß der Massenpsychologie angenommen hatte, prinzipiell pathologisch oder irrational zu sein, ohne daß er es dadurch einfach dem Rationalmodell zuschlägt. Die hermetische Geschlossenheit einer Welt, in der alles Handeln sich in Konformität mit institutionalisierten und internalisierten Normen abspielt, ist damit aufgebrochen. Freilich geht er nicht so weit, nun das kollektive Handeln zum notwendigen Bestandteil von Institutionalisierungsprozessen zu machen. Dadurch erscheint es eher als Begleiterscheinung von Prozessen sozialen Wandels und nicht als konstitutiv für diesen. Nach Smelser entsteht kollektives Handeln, wenn aus den Strukturen einer Gesellschaft bestimmte Spannungen resultieren, welche das Funktionieren der verschiedenen Handlungskomponenten beeinträchtigen. Aus einer solchen strukturellen Spannung entstehen nach Smelser generalisierte Vorstellungen, die die krisenhafte Situation deuten, Ursachen zuschreiben und Handlungsalternativen entwerfen. Smelsers iy Neil Smelser, Theorie des kollektiven Verhaltens. Köln 1972. 299
Modell enthält zudem weitere Beschleunigungsfaktoren wie etwa dramatische Zuspitzungen eines Konfliktverlaufs, die Prozesse der Teilnehmer-Mobilisierung und die Einwirkung sozialer Kontrollinstanzen. Die verschiedenen Typen kollektiven Handelns: von Panik und Manie über feindselige Ausbrüche bis hin zu norm- oder sogar wertorientierten sozialen Bewegungen bezieht Smelser auf die unterschiedlichen Handlungskomponenten. Er geht dabei »von dem Grundprinzip aus, daß jeder Typus kollektiven Verhaltens auf eine bestimmte Komponente des sozialen Handelns hin ausgerichtet ist. So wird a) bei der wertorientierten Bewegung kollektives Handeln im Namen einer generalisierten Vorstellung mobilisiert, die auf die Neukonstituierung der Werte ausgerichtet ist; b) bei der normorientierten Bewegung wird Handeln aufgrund einer generalisierten Vorstellung mobilisiert, die auf die Neukonstituierung der Normen ausgerichtet ist; c) der feindselige Ausbruch entsteht, wenn aufgrund einer generalisierten Vorstellung jemand für einen unerwünschten Zustand verantwortlich gemacht wird; d) Manie und Panik entstehen aufgrund einer generalisierten Neudefinition der situationsgegebenen Mittel.« 18 So entsteht ein konsequent handlungstheoretisch begründeter analytischer Kategorienrahmen für die überwältigende Vielfalt historischer Fälle kollektiven Handelns. Gerade wegen dieser Konsequenz schlagen sich aber die Mängel der zugrundegelegten Handlungstheorie unmittelbar in der Theorie des kollektiven Handelns nieder. Smelser macht den Vorschlag, den ökonomischen Prozeß schrittweiser Wertschöpfung zum Modell für Prozesse des kollektiven Handelns zu machen. Damit widerspricht er implizit den in der amerikanischen Soziologie vor Parsons verbreiteten naturalistischen Stadienschemata (»natural history«). Im Unterschied zu einer natürlichen Entwicklungsgeschichte setzt die Wertschöpfungslogik »eine bestimmte Sequenz der Aktivierung von Determinanten voraus, postuliert aber keine bestimmte Sequenz für das empirische Auftreten von Ereignissen und 18 ebd., S. 32. 300
Situationen«. 19 Das ökonomische Modell bezieht sich aber gleichwohl auf einen teleologischen Handlungsprozeß, d.h. einen Vorgang, in dem jeder frühere Schritt zumindest im nachhinein als Mittel für ein zukünftiges Ziel aufzufassen ist. Für die Dynamik nicht-institutionalisierten Handelns ist ein solches teleologisches Schema gerade. unangemessen. Hier sind die Situationsdefinitionen und die Normen, die aus dem Prozeß hervorgehen, ja sogar die Zielsetzung des ganzen Prozesses und die Mittelwahl meist unklar und allen Beteiligten unbekannt; sie werden erst im Prozeß selbst geklärt. Smelser baut auch die soziale Kontrolle als Phase in sein Modell des kollektiven Handelns ein. Verständlich wäre dieser Schritt, wenn das Modell im Sinne einer Liste möglicher Ursachen aufzufassen wäre. Innerhalb eines Phasenmodells aber wird der Kampf-Charakter des Wechselspiels von kollektivem Ausbruch und sozialer Kontrolle unerkennbar, wenn soziale Kontrolle nicht als Gegenkraft konzeptualisiert wird, deren Struktur eigenen Gesetzen folgt und die selbst auf der Grundlage eigener »Theorien« über Ausbrüche kollektiven Handelns aktiv wird. Eine weitere Schwierigkeit wird deutlich, wenn Smelsers Erklärung, warum ein bestimmter Typus kollektiven Handelns als Reaktion auf bestimmte strukturelle Spannungen entsteht, unter die Lupe genommen wird. Die Antwort ergibt sich nämlich aus den entstehenden »generalisierten Vorstellungen«, die nach Smelser eine notwendige Komponente kollektiven Handelns darstellen. Seine Theorie erklärt aber keineswegs, welche »generalisierten Vorstellungen« entstehen. Damit ist das ursprüngliche Erklärungsproblem nicht gelöst, sondern nur verschoben. Es sind deshalb nicht nur Schwierigkeiten bei der Operationalisierung von Smelsers analytischen Kategorien, die den empirischen Ertrag dieser imponierenden theoretischen Konstruktion gering halten. 20 Es gibt vielmehr einen innertheoretischen Grund hierfür. Smelsers normativistisches Modell 19 ebd., S. 41.
20 Man muß allerdings nicht so weit gehen wie James Rule, der Smelser ein rein definitorisches Vorgehen vorwirft (a.a.O., S. 167): »Smelser's theory of collective behavior is an elaboration of a de301
bleibt unsensibel gegenüber der Frage, welche Kategorien zur Beantwortung der Frage nach der Entstehung neuer Normen und Werte angemessen sind; seine Theorie bezieht sich nur auf antizipierbare Modifikationen, Spezifizierungen oder Generalisierungen von Werten. Smelsers Theorie ist gewissermaßen mit einem Geburtsfehler behaftet. Parsons' Handlungstheorie, von der Smelser ausging, hatte für eben jene Qualität des menschlichen Handelns keinen systematischen O r t gefunden, die im nicht-institutionalisierten kollektiven Handeln unübersehbar ist: die Kreativität des Handelns. 21 Zwei Strömungen der Forschung über kollektives Handeln und soziale Bewegungen liegt ein kreativitätsorientiertes Handlungsmodell zugrunde 22 : zum einen den Arbeiten in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus, zum anderen den Studien von Alain Touraine und seiner Mitarbeiter. Die Symbolischen Interaktionisten setzen mit ihren Arbeiten die einzige klassische soziologische Tradition fort, in der das kollektive Handeln einen zentralen Platz einnahm: die Tradition der Chicagoer Schule. Dort wurde die frühe europäische Massenpsychologie nicht einfach in Bausch und Bogen verworfen. Zwar verfiel ihr polemischer Gestus, sozialen Bewegungen jeden intellektuellen Gehalt abzusprechen und ihre Handlungen als rein destruktive Folgen der im Kollektiv sinkenden finition. It provides a showcase for empirical materials studied under the rubric of collective behavior.« 21 Empirisch anregend, aber theoretisch unbefriedigend ist auch der Ansatz von Offe/Wiesenthal, das Rational- und das Norm-Modell kollektiven Handelns einfach miteinander zu verknüpfen, indem etwa die Organisationsprobleme der Arbeitgeber nach dem Rationalmodell, die der Arbeitnehmer aber nach dem Norm-Modell analysiert werden. Die Frage nach einer umfassenden Theorie kollektiven Handelns, das bei bestimmten Bedingungen in Richtung des Norm- und des Rational-Modells hin vereinfacht werden darf, bleibt dabei ungelöst. Vgl. Claus Offe/Helmut Wiesenthal, Two Logics of Collective Action: Theoretical Notes on Social Class and Organizational Form, in: Political Power and Social Theory i (1980), S. 67-115. 22 Außerdem wäre der originelle Entwurf zu nennen von Francesco Alberoni, Movement and Institution. New York 1984. 302
Verantwortungsfähigkeit der Individuen anzusehen, auch hier der Ablehnung 23 , aber es wurde nicht im Gegenzug zur massenpsychologischen Stilisierung der Bewegungen zu einem »blindwütigen Mob« ihre Angleichung an »wohlorganisierte Interessenverbände« vorgenommen. Das Interesse an den spezifischen Handlungs- und Erfahrungsweisen in sozialen Bewegungen und anderen Formen kollektiven Handelns blieb vielmehr erhalten. Dahinter stand die theoretische Idee, Institutionen als das zeitweise stabilisierte Resultat kreativer Institutionalisierungsprozesse zu betrachten. Im Lehrbuch von Park und Burgess 24 wurde der Prozeß des kollektiven Handelns deshalb als der Gegenstand der Soziologie bezeichnet. Unglücklicherweise gerieten aber schon bei diesen Autoren die Ideen über kollektives Handeln unter den Druck deterministischer Konzeptionen von einer »biotischen« oder »ökologischen« Ordnung. Damit wurden zwar ungeplante und unintendierte Prozesse der Vernetzung von Handlungsfolgen und der Selektion funktional tauglicher Alternativen in die Theorie aufgenommen; es gelang aber nicht, diese verschiedenen Theoriestücke in ein kohärentes Ganzes zu integrieren. Herbert Blumer, der an die Chicagoer Ansätze zu einer Theorie des kollektiven Handelns anknüpfte 25 , entzog sich dieser Lage, indem er seine Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf das kollektive Handeln selbst richtete und die bei Park unintegriert gebliebenen Elemente einfach wieder entfernte. Auf 23 Besonders aufschlußreich ist hierzu Robert Parks deutsche Doktorarbeit: Robert Park, Masse und Publikum. Bern 1904. 24 Robert Park/Ernest Burgess, Introduction to the Science of Sociology. Chicago 1921. Vgl. zur Geschichte dieser Forschungstradition: Hans Joas, Symbolischer Interaktionismus. Von der Philosophie des Pragmatismus zu einer soziologischen Forschungstradition, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 40 (1988), S. 417-446 (jetzt auch in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 23-65). 25 Vor allem in zwei großen Übersichtsartikeln: Herbert Blumer, The Field of Collective Behavior, in: Alfred Mc Clung Lee (ed.), Principles of Sociology. New York 1951 (zuerst 1939), S. 165-222; ders., Collective Behavior, in: Joseph Gittler (ed.), Review of Sociology. New York 1957, S. 127-158. 303
diese Weise verlor sich aber auch der Anspruch einer grundsätzlichen Bestimmung der Soziologie durch das kollektive Handeln; dieses wurde jetzt zu einem bloßen Teilgebiet des Faches. Das Verhältnis zwischen einer Theorie der Entstehung von Normen und Institutionen und einer Analyse der strukturellen Wirkungen existierender Institutionen blieb damit ungeklärt. Daran hat sich auch im weiteren Verlauf der Geschichte dieser Tradition nichts Wesentliches geändert. Für die Frage nach der Entstehung von Normen und Institutionen aber ist der empirische Beitrag dieser Arbeiten unverzichtbar. Nirgendwo sonst werden die behandelten Phänomene so konsequent am Leitfaden der Konstitution der kollektiven Akteure behandelt. Die Aufmerksamkeit gilt einem kollektiven Handeln, das nicht aus vorfindbaren psychischen Dispositionen oder gesellschaftlichen Problemlagen abgeleitet werden kann, sondern in dessen Verlauf sich die Akteure selbst erst zu dem bilden, was sie für die Bewegung darstellen. Bewegungen definieren erst die Probleme, auf die sie sich beziehen; sie erzeugen Motive und Identitäten, formen neue soziale Beziehungen und Gemeinschaften, geben Anlaß zu tiefgreifenden Identitätsveränderungen (Konversion und Regeneration), produzieren affektiv besetzte Symbole und hinterlassen symbolische Bindungen von biographiestrukturierender Kraft.26 Auf all diese Phänomene fällt kein Licht, wenn ein rationalistisches oder normativistisches Handlungsmodell zugrundegelegt wird. Umgekehrt aber ist es möglich, die besonderen Typen kollektiven Handelns, die mit diesen Modellen untersucht werden können, als Spezifikationen dieses umfassendsten handlungstheoretischen Ansatzes aufzufassen. Einen Versuch zu einem solchen umfassenden Schema der Theorien und der Typen kollektiven Handelns hat Alain Touraine vorgelegt. 27 Mehr als die Symbolischen Interaktionisten 26 Wesentlich für die weitere Entwicklung: Ralph Turner/Lewis Killian, Collective Behavior. Englewood Cliffs, N.J. 1972. Ein ausgezeichneter Überblick: Louis Zurcher/David Snow, Collective Behavior: Social Movements, in: Morris Rosenberg/Ralph Turner (eds.). Social Psychology. New York 1981, S. 447-482. 304
hat er kollektive Handlungsprozesse empirisch untersucht, in denen es tatsächlich um zentrale Konfliktlinien der Gesellschaft geht. Er hat deshalb unter anderem Studien zum Konflikt um die Kernenergienutzung in Frankreich, zur Studentenbewegung, zum neuen Regionalismus und zur polnischen Gewerkschaft »Solidarnosc« vorgelegt. Dabei wehrt er sich gegen die Reduktion sozialer Bewegungen auf strategische Akteure ebenso wie gegen ihre Reduktion auf reine Identitätsbildungsprozesse. Er verklammert die Dimensionen der Macht und der Kultur in seiner Definition sozialer Bewegungen als »a collective action aiming at the implementation of central cultural values against the interest and influence of an enemy which is defined in terms of power relations«. 28 Der Prozeß der Selbst- und Zieldefinition selbst spielt sich nach Touraine nicht in einem machtfreien Raum ab; und umgekehrt sind Machtkämpfe nur selten ohne Wirkung auf Selbst- und Zieldefinitionsprozesse. Vom Anfang seiner Entwicklung an hatte Touraine Parsons' Theorie schroff abgelehnt, weil sie eine viel zu unmittelbare Ausrichtung der Handelnden an Normen unterstelle und zur Erklärung der Genesis von Wertsystemen nicht imstande sei. Der Konflikt konkurrierender Wertsysteme bedeutete für Touraine keine Gefährdung der Stabilität von Gesellschaften, vielmehr die Form, in der sich die Selbst»produktion« oder Selbst»konstitution« einer Gesellschaft abspielt. Die Selbstinstitutionalisierung der Gesellschaft ist eben kein einfacher Schöpfungsakt, sondern spielt sich in dem Geflecht der Diskussionen über neue Werte und Bewußtseinsveränderungen, sozialen Protests und machtgestützter Repression ab. Das Selbstbewußtsein, mit der Unter27 Alain Touraine, An Introduction to the Study of Social Movements, in: Social Research 52 (1985), S. 749-787. 28 Diese Formulierung findet sich in Touraines Erwiderung auf die bisher wohl gründlichste Analyse seiner Forschungen: Dieter Rucht, Sociological Theory as a Theory of Social Movements ? A Critique of Alain Touraine, in: ders. (Hg.), Research on Social Movements. The State of the Art in Western Europe and the USA. Frankfurt/M. 199i,S. 355-384; Touraines Entgegnung: Commentary on Dieter Rucht's Critique, S. 385-391, hier S. 389. 305
suchung kollektiven Handelns den Kern makrosoziologischer Analyse zu treffen, welches der Chicagoer Schule im Laufe der Zeit verlorengegangen war, findet sich bei Touraine wiederbelebt. Eine kreativitätsorientierte Handlungstheorie erhebt damit einen weitreichenden makrosoziologischen Anspruch. Kann sie diesen im Angesicht der funktionalistischen Konkurrenz bewähren?
4.2 Jenseits des F u n k t i o n a l i s m u s U m diese Frage zu beantworten, ist eine Prüfung der Ansprüche dieser funktionalistischen Konkurrenz vonnöten. Als Anthony Giddens im Jahr 1976 eine Bilanz der Kontroversen um den Funktionalismus vorlegte, welche ja für die Soziologie der fünfziger und sechziger Jahre so wichtig gewesen waren, geschah das aus dem Gefühl heraus, »apres la lutte« zu schreiben 29 : nach einer Schlacht, die zwar nur mit Feldvorteilen für die Kritiker und nicht mit einer klar eingestandenen Niederlage der Funktionalisten, aber doch in allgemeiner Ermattung zu Ende gegangen war. Dieser Eindruck war trügerisch. Denn Funktionalismus und Funktionalismuskritik erfuhren in dem folgenden Jahrzehnt nicht nur eine periodische Renaissance, sondern gewannen neue Motive und Argumente hinzu. Die Funktionalismuskritik löste sich von der Fixierung auf den Gegner Talcott Parsons und wandte sich der Auseinandersetzung mit verborgenen Funktionalismen zu, die sie bei Schulen und Autoren fand, welche sich selbst niemals als »funktionalistisch« bezeichnet hätten. Bevorzugtes Objekt der Kritik waren hier die verdeckten funktionalistischen Annahmen bei marxistischen Autoren und im Werk von Marx und Engels selbst. Vor allem in Arbeiten Jon Elsters 30 wurden ältere Argumente der Kritik mit großer intellektueller Brillanz und 29 Anthony Giddens, Functionalism: Apres la lutte, in: Social Research 43 (1976), S. 325-366. 30 Jon Elster, Ulysses and the Sirens. Cambridge 1979; ders., Marxism, Functionalism, and Game Theory, in: Theory and Society, Vol. 11 (1982), S. 453-482. 306
Klarheit zu einem vernichtenden Angriff gebündelt. Auf der anderen Seite wurde in zwei sehr verschiedenen Richtungen versucht, produktiv das zeitweilig fast vergessene Erbe von Talcott Parsons weiterzuführen. In Deutschland entwickelte Niklas Luhmann in einer Fülle von programmatischen und substantiellen Schriften eine umfassende funktionalistische Gesellschaftstheorie, die - von der inneren Spannung zur Handlungstheorie und zu empirischer Forschungspraxis weitgehend abgekoppelt - eine Lösung von Parsons' ungelösten Problemen verspricht und gegenwärtig als sozusagen szientistische Parallele zum Poststrukturalismus Furore macht. Selbst im Hauptwerk von Jürgen Habermas, der Theorie des kommunikativen Handelns 31 , lassen sich deutliche Spuren einer weitgehenden Luhmann-Rezeption ausfindig machen. In den Vereinigten Staaten unternimmt gleichzeitig ein Kreis jüngerer Soziologen um Jeffrey Alexander Versuche, gerade durch eine Rückkehr zur Handlungstheorie von Parsons oder durch ein Bestreiten von Diskontinuitäten in dessen Werk unleugbare Probleme der späteren Konzeption zu umgehen; für diesen Versuch wird unglücklicherweise der Name »Neofunktionalismus« beansprucht. Die Arbeiten von Richard Münch in Deutschland sind damit teilweise eng verwandt. Die alte Kritik am Funktionalismus läßt sich auf zwei kurze Formeln bringen. Sie richtet sich einerseits gegen die Möglichkeit funktionaler Erklärungen. Diese Möglichkeit wird energisch bestritten. Funktionalistische Sätze gelten für die Kritiker als zulässig nur im Sinn kontrafaktischer Aussagen über notwendige Bedingungen für mögliche Folgen. Andererseits bestreitet die Kritik auch den Sinn einer essentialistischen Verwendung funktionalistischer Modelle. Das heißt natürlich nicht, daß sie die Existenz von Regulations- oder Selbstregulationsvorgängen einfach abstreitet; sie leugnet aber für den Bereich der Sozialwissenschaften die Möglichkeit, jene Systembedürfnisse klar zu ermitteln, die erst als Bezugspunkte oder Sollwerte ein funktionalistisches Modell anwendbar und sinnvoll machen. Sie wirft funktionalistischen Theorien damit 31 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Frankfurt/M. 1981. 307
vor, die Frage nach dem Vorhandensein von Selbstregulationsprozessen metatheoretisch vorzuentscheiden, statt sie selbst als empirische Frage zu behandeln und den Grad der »Systemhaftigkeit«32 deshalb offenzuhalten. Anhand der Unklarheiten in Mertons berühmter Unterscheidung von manifesten und latenten Funktionen gelingt es etwa Giddens, die Unabweisbarkeit eines Bezugs zu den Intentionen und den kognitiven Erwartungen realer Handelnder bei der Analyse sozialer Phänomene herauszuarbeiten. Seine generelle Strategie ist dabei jeweils, den Funktions begriff als entweder irreführend oder redundant nachzuweisen. In den meisten Punkten kann Giddens dabei auf schon von anderen vorgebrachte Argumente zur funktionalen Erklärung und zum Bezugspunktproblem funktionalistischer Analysen zurückgreifen. Eigentlich originell an seinen Äußerungen ist daher auch gar nicht seine kritische Argumentation als solche, sondern die Tatsache, daß er sie nicht vom Standpunkt des methodologischen Individualismus oder des logischen Positivismus aus führt. Giddens erhebt den Anspruch, durch eine den Theorien des rationalen Handelns überlegene Handlungstheorie zu einer nicht-funktionalistischen, aber eben auch nicht »individualistischen« Gesellschaftstheorie vorstoßen zu können. Die Prüfung neuerer Beiträge zum Funktionalismus gewinnt deshalb zusätzlich an Spannung, weil mit ihr indirekt auch die Frage verhandelt wird, ob es zu einer solchen handlungstheoretischen Fundierung einer nicht-funktionalistischen Gesellschaftstheorie gegenwärtig überlegene Konkurrenten gibt. Dies soll hier am Verhältnis von Luhmann, Habermas und Alexander zum Funktionalismus überprüft werden. Niemand hat den Stier der Funktionalismuskritik so mutig und klug bei den Hörnern genommen wie Niklas Luhmann. Schon in Aufsätzen der frühen sechziger Jahre33 ging er auf die Argumente ein, die auch die spätere Kritik ausmachen. Bei aller Veränderung seiner Theoriekonstruktion bis hin zur 32 Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Frankfurt/M. 1988, S. 337. 33 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 1. Opladen 1970, darin v.a. S. 9-53. 308
Konzeption seines Hauptwerks »Soziale Systeme« 34 bleiben sich diese grundsätzlichen Argumente zur Möglichkeit einer funktionalen Methode gleich. Da Luhmann selbst zwischen dieser funktionalen Methode und dem inneren Aufbau der Systemtheorie programmatisch - wenn auch nicht immer faktisch - scharf unterscheidet, kann sich die Behandlung hier auf seine Stellung zur funktionalen Methode beschränken. 35 Luhmann gibt ausdrücklich zu, daß es sich bei den Resultaten der funktionalen Analyse nicht um kausale Erklärungen handele und daß das Bestandsproblem bei sozialen Systemen unklar sei und unmöglich letzter Bezugspunkt funktionaler Analysen sein könne. Zu letzterer Einsicht hatten ihn ja besonders seine frühen organisations- und verwaltungssoziologischen Studien gebracht. In dem Aufsatz »Funktion und Kausalität« von 1962 legt Luhmann dar, daß alle Versuche, die funktionale Methode in den Sozialwissenschaften in Einklang mit den Kausalitätsvorstellungen der strengen Methodologie zu bringen, gescheitert seien. Weder der Bezug auf feststehende oder klar identifizierbare Bedürfnisse noch die Übertragung des Gleichgewichtsgedankens aus der Thermodynamik und Biologie seien in ihrem Bemühen erfolgreich gewesen, Ursachen durch Wirkungen zu erklären. Ähnlich unmißverständlich resümiert Luhmann die Schwierigkeiten, auf die die Versuche stießen, Funktionen »als Bewirkung des Bestandes oder einzelner Voraussetzungen des Bestandes eines Aktionssystems« 36 zu definieren. Soziale Systeme seien weder 34 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Frankfurt/M. 1984. 3 5 Ein Urteil über Luhmanns Rechtfertigung der funktionalen Methode ist dementsprechend nicht ein Urteil über den Ertrag des theoretischen Werkes von Luhmann. Insbesondere seit der »autopoietischen« Wende seiner Systemtheorie enthält diese eine Fülle von kreativitätsbezogenen Motiven. Allerdings wird die Kreativität - wie schon in der Tradition der Lebensphilosophie - durch Luhmann tiefer angesetzt als am Phänomen des menschlichen Handelns. Zur Auseinandersetzung mit Luhmann vgl. in diesem Buch auch die Kapitel 3.1 und 4.3. 36 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 1. Opladen 1970, S. 18. 309
»typenfest fixiert«, d. h. sie sind nicht auf eine ganz bestimmte Identität festgelegt, noch ist klar, was das in der Biologie eindeutig faßbare Problem des Todes für soziale Systeme bedeuten soll. Auch der Ausweg über einzelne Bestandsvoraussetzungen hilft nicht weiter, da auch diese an einen Begriff der Gesamtbedürfnisse und des Gesamtsystems angeknüpft sein müssen. In beiden wesentlichen Punkten scheint Luhmann also mit der Funktionalismuskritik übereinzustimmen. Er zieht jedoch völlig andere Folgerungen aus dieser Sachlage. Seine Strategie ist jeweils, die Beweislast umzukehren. Wenn die funktionale Methode den Ansprüchen der kausalwissenschaftlichen Methodologie nicht genügen kann, dann kann dies ja auch an einem falschen Verständnis von Kausalität in dieser Methodologie liegen. Wenn das Bestandsproblem als Bezugspunkt funktionaler Analysen nachweislich ungeeignet ist, dann geht das möglicherweise darauf zurück, daß ein tiefer liegender Gesichtspunkt ermittelt werden muß. Wenn Schwierigkeiten bei der empirischen Verifizierung funktionalistischer Aussagen auftauchen, dann kann dies auch darauf zurückzuführen sein, daß andere Methoden der Verifikation gefordert sind. Wenn schließlich Kausalitätsverständnis, Bestandsproblem, Verifikationsverfahren und weiteres verändert werden müssen, dann zeigt dies, daß die funktionale Analysemethode in einem Kontrast zur ontologischen Denktradition seit der Antike steht und eben die Macht dieser Tradition daher zu brechen ist. Das sind natürlich äußerst weitreichende, ja extreme Ansprüche. Ob sie sich erfüllen lassen, könnte zureichend nur anhand von Luhmanns Theorie im ganzen und kann nicht im unmittelbaren Kontext der Kontroversen über den Funktionalismus als Methode überprüft werden. An dieser Stelle ist nur zu fragen, wie Luhmann denn den Sinn der funktionalen Analyse und ihre Anwendbarkeit nun positiv begründet. Wenn die funktionale Analyse keine kausalen Erklärungen liefert, was liefert sie dann? Seine Antwort lautet: »Die funktionale Analyse benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen. Sie bezieht Gegebenes, seien es Zustände, seien es Ereig310
nisse, auf Problemgesichtspunkte, und sucht verständlich und nachvollziehbar zu machen, daß das Problem so oder auch anders gelöst werden kann. Die Relation von Problem und Problemlösung wird dabei nicht um ihrer selbst willen erfaßt; sie dient vielmehr als Leitfaden der Frage nach anderen Möglichkeiten, als Leitfaden der Suche nach funktionalen Äquivalenten.« 37 Ausgangspunkt funktionaler Analysen sind laut Luhmann also nicht Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen wie bei kausalen Analysen, sondern Zusammenhänge von Problemen und Problemlösungen. Das mögliche Ergebnis solcher Analysen besteht deshalb auch nicht in kausalen Verknüpfungen von Ursachen und Wirkungen, sondern in der Eröffnung eines Möglichkeitsspielraums funktionaler Äquivalenzen. Das heißt, daß für bestehende Wirkungen verschiedene Ursachenkombinationen oder für bestehende Ursachen einzelne Wirkungen herausgezogen und miteinander verglichen werden können. Die Ermittlung und Ausschaltung funktionaler Äquivalente sei also die eigentliche Leistung dieser Methode, die letztlich eine vergleichende Methode sei. Vielleicht wäre es besser, von einer »verfremdenden« Methode (nach Bertolt Brecht) zu sprechen, da es sich ja nicht um einen Vergleich existierender Sachverhalte miteinander handeln soll, sondern um eine Versetzung von Vertrautem in das Licht unrealisierter und vielleicht auch praktisch unrealisierbarer Möglichkeiten. Es könnte ja zunächst so scheinen, als sei Luhmann im Effekt doch so bescheiden, für die funktionale Analyse lediglich einen heuristischen Anspruch zu erheben. Die Aufgabe kausaler Ansprüche legte das nahe. Für diesen Fall wären von seiten der Funktionalismuskritiker auch keine Einwände zu erwarten, da dies mit ihrer Vorstellung von der Konstruktion denkbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge durchaus übereinstimmen würde. Mehr als »heuristisch« ist aber eben dieser »verfremdende« Charakter von Luhmanns Vorgehen. Dieser allerdings ist selbst in zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen unterscheidet sich diese Verfremdung von Brecht dadurch, daß es Luhmann nicht um die Demonstration 37 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. a.a.O., S. 83f. 311
moralisch-politisch angemessener und praktisch zu realisierender Alternativen zur bestehenden schlechten Wirklichkeit geht, sondern eher um die Irrealisierung und Potentialisierung aller Sachverhalte. Vielleicht liegt deshalb der Bezug zu romantischer Ironie oder absurdem Theater näher als der zu Brecht. Andererseits entgeht Luhmann den Problemen der kausalwissenschaftlichen Methodologie nur scheinbar. Er muß ja die »anderen Möglichkeiten«, die »funktionalen Äquivalente« selbst in einem kausalwissenschaftlichen Horizont deuten. Dabei wird aber auf jeden Fall auf Intuitionen über plausible Kausalzusammenhänge zurückgegriffen. Diese Intuitionen können im wissenschaftlichen Arbeiten nicht unüberprüft bleiben. Luhmann gibt auch durchaus zu, daß der Rekurs auf Kausalität unumgänglich ist. Man könne aber durch funktionale Analysen Erkenntnisgewinn erzielen, »auch wenn Kausalitäten zunächst nur hypothetisch als noch nicht ausreichend erforscht unterstellt werden. Man muß dann nur die pure Hypothetizität der Kausalannahmen nicht vergessen, sondern in den Vergleich einbringen«.38 Dies ist im Prinzip dasselbe Argument, das Gerald Cohen in seiner Verteidigung funktionaler Argumentation im orthodoxen Marxismus unter dem Titel »consequence laws« vorbrachte.39 Cohen aber gesteht eindeutig zu, daß es sich bei solchen Aussagen lediglich um heuristische Orientierungen handeln könne. Die funktionalismuskritischen Argumente gelten also in dieser Hinsicht auch für Luhmann. Luhmann kann zwar den heuristischen Sinn funktionalistischer Sätze verteidigen, aber nicht mehr; der Irrealisierungseffekt seiner Darstellungen hat zwar literarische Qualitäten und ist insofern erkenntnisfördernd, hat aber keine wissenschaftliche Beweiskraft. Wie aber versucht Luhmann, den Tücken des »Bestandsproblems« zu entgehen ? Die Antwort muß wohl lauten: indem er das Problem einmal oder sogar mehrfach verschiebt und temporalisiert. In den frühen Arbeiten wird die Lösung in der 38 ebd., S. 841. 39 Gerald Cohen, Functional Explanation, Consequence Explanation, and Marxism, in: Inquiry 25 (1982), S. 27-56. 312
Konzeption einer »Problemstufenordnung« gesehen. Es muß gar nicht um den Bestand eines Systems als solchem auf der Primärebene gehen; vielmehr können wir auf sekundärer, tertiärer usw. Ebene funktionale Probleme identifizieren und erfolgversprechend analysieren. Dabei werden jeweils die Folgeprobleme von Problemlösungen auf höherer Ebene zum Ausgangspunkt für neue funktionale Bezugsprobleme. Mit diesem Ansatz glaubt Luhmann sogar, einen vernünftigen Kompromiß »zwischen Parsons' systematischem Funktionalismus und Mertons problemorientierten >theories of the middle range<«40 gefunden zu haben. - Dieser Kompromiß ist aber recht unklar. Luhmann gibt ja auf dieser Stufe weder Auskunft darüber, was eigentlich wen dazu bringt, Sachverhalte als Probleme zu identifizieren, noch dazu, wie das Problem auf primärer Ebene anders denn als Bestands- oder Stabilitätsproblem aufzufassen sei. Die von der Funktionalismuskritik gerügten Unklarheiten bleiben deshalb unvermindert erhalten. Einen Ausweg, so scheint es, könnte Luhmann nur dann finden, wenn er sich zum normativ-analytischen Status funktionaler Analysen in dem Sinne bekennen würde, daß als deren Bezugspunkt jeweils bestimmte zu Analysezwecken festgesetzte Sollwerte gelten können, darüber hinaus aber kein empirischer Anspruch erhoben wird. Eine solche Bescheidung scheint aber mit Luhmanns umfassenden Ambitionen unverträglich zu sein. Er wählt deshalb zunächst den Ausweg einer Temporalisierung. In dem Aufsatz »Soziologie als Theorie sozialer Systeme« von 1967 überwindet Luhmann das Bestandsproblem, indem er den Wandel und die Entstehung von Strukturen selbst funktionaler Analyse unterziehen will. Dieses Interesse nicht einfach an Strukturen, sondern an Prozessen der Strukturierung klingt so, als wäre hier eine Nähe zu Giddens' Theorieentwurf vorhanden. Davon kann aber bei näherer Betrachtung keine Rede mehr sein. Luhmann verschiebt die Frage nach dem obersten Bezugspunkt funktionaler Analysen 40 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 1, a.a.O., S. 22. 313
ja nur auf die Frage nach der Funktion von Strukturbildungsprozessen. Dieses Problem hat Jürgen Habermas in seiner großen Luhmann-Kritik klar erkannt: »Auch die Funktion der Bildung von Strukturen kann daher nicht ohne Bezugnahme auf ein jeweils umfassenderes System untersucht werden, dessen Strukturen dann für Zwecke der Analyse konstant gehalten werden müssen. Die Asymmetrie zwischen Systembestand (Struktur) und systemerhaltenden Leistungen (Prozeß) ist auf analytischer Ebene nicht aufzuheben.« 41 Luhmann geht aber schon damals noch einen Schritt weiter und versucht, einen letztgültigen Bezugspunkt zu finden. Diesen sieht er in der Reduktion von Weltkomplexität, die sich als Problem allen Systemen stelle. Habermas' Einwand hiergegen war, daß die Rede von einer Weltkomplexität als solcher sinnlos sei, da dieser Begriff bereits notwendig auf ein gleichursprüngliches System bezogen sei, für das sich das Problem der Weltkomplexität stelle. Luhmann gesteht in seiner Entgegnung dies zu, meint aber, daß das Problem der Weltkomplexität eben unabhängig von jedem bestimmten System fundamental sei und deshalb den Rang eines letzten Bezugspunkts zurecht einnehme. 42 Dieser Einwand ist unverständlich, da Habermas ja nicht eine spezifische Relation zu einem spezifischen System, sondern die semantische Leere eines Begriffs von »Weltkomplexität als solcher« vorgeworfen hatte. Luhmanns Formel eines obersten Bezugspunkts ist demnach semantisch sinnlos. Nach der Weiterentwicklung von Luhmanns Systemtheorie in der Richtung einer Theorie des selbstreferentiellen, autopoietischen Systems wird das »Bestandsproblem« von Luhmann erneut umformuliert. »Es geht nicht mehr um eine Einheit mit bestimmten Eigenschaften, über deren Bestand oder Nichtbestand eine Gesamtentscheidung fällt; sondern es geht um Fortsetzung oder Abbrechen der Reproduktion von Elementen durch ein relationales Arrangieren eben dieser Ele41 Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M. 1971, S. 153. 42 ebd., S. 299. 314
mente. Erhaltung ist hier Erhaltung der Geschlossenheit und der Unaufhörlichkeit der Reproduktion von Elementen, die im Entstehen schon wieder verschwinden.« 43 Völlig ungeklärt bleibt dabei allerdings, ob die Verschiebung vom Bestand des Systems auf die Erhaltung eines Reproduktionsprozesses das Problem wirklich verändern kann. Die Frage, ob ein Reproduktionsprozeß nun unterbrochen oder abgebrochen wurde, wirft ja dieselben hermeneutischen Identifizierungsprobleme auf, die Luhmann für die Feststellung des Todes oder des Identitätsverlustes sozialer Systeme zugestanden hatte. Luhmanns letzter Rechtfertigungsschritt geht konsequenterweise über die Ebene der Begründung einer Methodenwahl hinaus auf die Ebene der Erkenntnistheorie. In seinem Hauptwerk ist die Erkenntnistheorie nicht Fundament der Überlegungen, sondern ebenfalls Demonstrationsfeld für die Anwendbarkeit der Systemtheorie. Am besten läßt sich seine Idee aus der Beobachtung eines »verfremdenden« Charakters der funktionalen Analysen entwickeln. Wenn darin sozialen Phänomenen potentielle Charaktere zugesprochen werden, die faktisch nicht zur Verfügung stehen, dann wird damit der selektive Charakter jeder Wirklichkeit deutlich. Die funktionale Analyse reflektiere diese Selektivität aber nur, wenn sie ihren Problembezug eben in dieser Selektionsnotwendigkeit finde. N u r dann sei das letzte Bezugsproblem nicht dezisionistisch, sondern selbstreflexiv - oder, wie Luhmann sagt, selbstreferentiell begründet. N u r bei solchem Vorgehen sei das Bezugsproblem sowohl für die untersuchten Gegenstände wie für das System, das Analytiker und Analyseobjekt umfaßt, gültig. Der Einwand hiergegen hat wohl zu sein, daß Luhmann hier Zirkularität mit Selbstreflexion gleichsetzt. Er hat ja keineswegs gezeigt, daß nicht auch andere Theorien zum selbstreflexiven Ausweis ihrer Prämissen imstande sind. Auf dem Boden des Pragmatismus ließe sich beispielsweise formulieren, daß auch wissenschaftliche Erkenntnis die Lösung von Handlungsproblemen sei und sozialwissenschaftliche Erkenntnis deshalb das Studium von Problemen darstelle, die im Feld des sozialen 43 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. a.a.O., S. 86. 315
Handelns durch die dort von den alltäglich Handelnden gefundenen Problemlösungen neu auftauchen. Hier wäre Selbstreflexivität ohne Bezug zum Komplexitätsproblem und ohne Überdehnung der funktionalen Analyse erreicht. Die Kritik an Luhmann ist immer mit dem Problem konfrontiert, daß von ihm jeder Einwand in seiner Theoriesprache reformuliert und damit gleichzeitig seiner Kontrastwirkung beraubt wird. Auch gegenüber dem Verifikationsproblem funktionaler Analysen flieht Luhmann nach vorne und benennt die Anwendbarkeit seiner Annahmen auf die heterogensten Sachverhalte als eine Art von Plausibilitätsbeweis. Über ihre Anwendbarkeit entscheidet aber offensichtlich allein der Anwender oder der von der rhetorischen Brillanz gebluffte Anhänger. Argumentiert man so, ließe sich freilich auch die Differenz zwischen intersubjektiv geprüftem Wissen und der monologischen Verstrickung in ein fugenlos gewordenes Wahnsystem nicht mehr formulieren. Die schärfste und umfassendste Kritik am Werk Luhmanns hat Jürgen Habermas schon früh vorgelegt; auch dem 1984 erschienenen Hauptwerk Luhmanns hat Habermas einen ausführlichen Exkurs in seinem Buch über »Der philosophische Diskurs der Moderne« 44 gewidmet. Diese Tatsache ebenso wie der Untertitel von Habermas' zweitem Band der »Theorie des kommunikativen Handelns«: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, mag es als überraschend erscheinen lassen, Habermas überhaupt auf der Seite der Funktionalisten auftreten zu lassen und die Frage überhaupt zu stellen, ob die Funktionalismuskritik auch auf Habermas anzuwenden ist. Ein ironisches Resultat der Kontroverse zwischen Habermas und Luhmann war aber, daß Habermas in einigen Punkten seine eigene Theorie unter Luhmanns Einfluß revidiert hat bzw. für nötig und nachweisbar gehaltene Revisionen, für die verschiedene Wege möglich gewesen wären, mit Bestandteilen von Luhmanns Theorie vorgenommen hat. Daran ist natürlich in abstracto nichts auszusetzen; wechselseitige Belehrung ist das erwünschte Resultat jeder wissenschaftlichen Kontrover44 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt/M. 1985, S. 426ff. 316
se. Die Frage nach dem Sinn dieser Anleihen muß deshalb spezifischer gestellt werden. Gelingt es Habermas, den von ihm bemerkten Schwachstellen seiner Konzeption mit Hilfe dieser Arbeiten tatsächlich zu entgehen, oder führte ihn Luhmanns Theorie nur in neue gravierendere Probleme hinein? Hatte sich Habermas vor seinem Integrationsversuch wirklich genügend Rechenschaft über denkbare Alternativen und die Probleme funktionaler Analysen verschafft? Anhand der »Theorie des kommunikativen Handelns« haben verschiedene Autoren diese Frage aufgeworfen. So hat Thomas McCarthy 4 5 die Gefahren analysiert, die sich für Habermas aus den »Versuchungen der Systemtheorie« ergeben; ich selbst habe Habermas' Theorie als »unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus« zu beschreiben versucht 46 ; Axel Honneth hat bereits in Habermas' Schriften der späten sechziger Jahre einen Konflikt zweier Tendenzen ausgemacht, von denen nur eine, die in die Richtung Luhmanns wies, verfolgt wurde. 47 Giddens selbst hat seiner ambivalenten Beurteilung von Habermas in diesem Punkt in einer Art »methodischer Schizophrenie« Ausdruck gegeben, indem er dem Lob für den Versuch, Systemtheorie und Lebenswelt-Konzeption in einer Theorie der Moderne zu verbinden, unvermittelt den Vorwurf zur Seite stellt, gegenüber dem Funktionalismus nicht kritisch genug zu sein.48 Die kontingenten Resultate der geschichtlichen Kämpfe von Individuen und Gruppen kämen dadurch zu kurz. Da Habermas inzwischen auf diese Einwände reagiert hat49, läßt sich die Frage nach seinem heutigen Verhältnis zur 45 Thomas McCarthy, Komplexität und Demokratie. Die Versuchungen der Systemtheorie, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1986, S. 177-210. 46 Hans Joas, Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus, in: Honneth/Joas (Hg.), a.a.O., S. 144-176. 47 Axel Honneth, Kritik der Macht. Frankfurt/M. 1985. 48 Anthony Giddens, Reason without Revolution ? Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns, in: Richard Bernstein (ed.), Habermas and Modernity. Cambridge 1985, S. 95-121, hier S. 119.
49 Jürgen Habermas, Entgegnung, in: Axel Honneth/Hans Joas 317
Funktionalismuskritik, auch seiner frühen eigenen, jetzt auf neuer Grundlage stellen. Lehrreich an Luhmanns Theorie nannte Habermas den überzeugenden Nachweis der Beschränktheit aller soziologischen Handlungstheorie. 50 Das entscheidende Motiv für seine Bereitschaft, sich zu einer systemtheoretischen Ergänzung eines handlungstheoretischen Ansatzes überzeugen zu lassen, benennt Habermas in der Kontroverse mit Luhmann so: »Da sich das der Transzendentalphilosophie entliehene Kollektivsubjekt einer sinnhaft konstituierten Lebens weit jedenfalls in der Soziologie als eine irreführende Fiktion erweist, bietet sich der Systembegriff an. Soziale Systeme sind Einheiten, die objektiv gestellte Probleme durch übersubjektive Lernprozesse lösen können.« 51 Dieses Motiv steckt also in der Suche nach einer Begrifflichkeit, die nicht Gesellschaften als ganze nach dem Muster eines großen, sich über sich selbst aufklärenden Subjekts denkt. Zu dieser Suche war Habermas von mehreren Seiten gleichzeitig gedrängt worden. Die Auffassung der Geschichte mußte von der Fiktion eines kontinuierlich sich entfaltenden Subjekts »Menschengattung« befreit, die Kategorie der Selbstreflexion mit der nie vollständigen Transparenz menschlicher Lebenssituationen versöhnt, die politisch-normative Utopie von der Idee einer Umstellung aller gesellschaftlichen Prozesse auf Partizipation abgehalten und der Weg zum Fortschritt von der Legitimation verselbständigter Übersubjekte wie in Lukacs' Konzeption der kommunistischen Partei freigehalten werden. Für all diese Zwecke schien die Einführung der Systemkonzeption hilfreich, wofern sie nur in einen Zusammenhang mit der Kommunikationstheorie von Habermas gebracht und durch eine Evolutionstheorie fundiert wurde. Die Schriften des folgenden Jahrzehntes enthalten teilweise divergierende Anläufe zur Bewältigung dieses Theorieprogramms. Die Variante der »Theorie des kommuni(Hg.), Kommunikatives Handeln. Frankfurt/M. 1986, S. 327405. 50 Jürgen Habermas/Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt/M. 1971, S. 270. 51 ebd., S. 271.
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kativen Handelns« besteht darin, die Systemtheorie durch den Primat der Lebensweltanalyse zu bändigen. Dabei wird die Unterscheidung von System und Lebenswelt aber auf so vielen logischen Ebenen gleichzeitig verwendet, daß Konfusionen notwendig die Folge sind. Die Unterscheidung soll nämlich die methodologische Differenz von Teilnehmer- und Beobachterperspektive, die Differenz einer sozialen Integration über Handlungsorientierungen gegenüber Handlungsfolgen, die Differenz der Bereiche symbolischer und materieller Reproduktion von Gesellschaften und schließlich eine Grundstruktur der Geschichte im Sinne einer fortschreitenden Trennung von Lebenswelt und System ausdrücken. McCarthy hat die Unvereinbarkeit dieser Fülle von Zielen eindrucksvoll demonstriert. Er weist insbesondere nach, daß Habermas mit dem Systembegriff versucht, auf politischem Gebiet Forderungen nach Demokratisierung von Ökonomie und Staat metatheoretisch aus dem Felde zu schlagen. Dies geschieht nicht deshalb, weil Habermas seiner radikaldemokratischen politischen Überzeugung abgeschworen hätte, sondern weil er die allgemeine Rechtfertigung von gesellschaftlichen Steuerungsmedien und -techniken im ökonomischen und politischen Bereich mit der Grenzziehung zwischen Lebenswelt und »monetär-bürokratischem Komplex« konfundiert. In meiner Charakterisierung der »unglücklichen Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus« war der Gedanke zentral, daß Habermas zu diesem Schritt bereits durch eine Verkennung des Status der Handlungstheorie und die spezifische Anlage seiner eigenen genötigt wird. Der Fehler liegt dann bereits dort, wo Habermas mit Luhmann von einer Begrenztheit aller Handlungstheorie ausgeht. In seiner Entgegnung auf die vielfältige Kritik nimmt Habermas einige Klarstellungen, explizite oder auch implizite Selbstkorrekturen vor. Der ausschließliche Bezug der Systemtheorie zum Bereich materieller Reproduktion wird jetzt beispielsweise ausdrücklich in Abrede gestellt. Im Kern aber verteidigt Habermas den Versuch einer Synthese seiner hermeneutisch-handlungstheoretischen Grundlagen mit Luhmanns Funktionalismus. Er bringt dafür hinsichtlich der 319
Verwendung funktionaler Analysen und Modelle vor allem zwei Argumente vor. Zum einen verteidigt er die essentialistische Verwendung des Systembegriffs vehement gegen die bloß analytische Konzeption. Luhmann hatte ja bekanntlich anders als Parsons für seine Theorie unzweideutig den Ausgangspunkt gewählt, »daß es Systeme gibt« 52 . Zum anderen unterscheidet er eine deskriptive von einer kritischen Verwendung des Systembegriffs. Mit der »kritischen« Verwendung soll eine zeitgenössisch akzeptable Version des Marxschen Gedankens einer Verdinglichung und Verselbständigung gesellschaftlicher Verhältnisse in der Form gegeben werden, daß lebensweltliche Bereiche in ihrer Unvereinbarkeit mit mediengeleiteten Interaktionen dargestellt werden können. Die Funktionalismuskritik kann gegen die deskriptive Verwendung eines funktionalistischen Modells keine Einwände erheben; sie verweist hier lediglich auf die vorgängige Klärung des »degree of systemness«, der eine Bedingung für die empirische Anwendung dieser Modelle ist. In dieser Perspektive gibt es zwar Systeme, aber keineswegs erfüllt jedes soziale Phänomen die Anwendungsbedingungen der Systemtheorie. In vielen Fällen sind diese nur zu einem so geringen Grade gegeben, daß die funktionale Analyse gegenstandsverzerrend wirken muß. Für die funktionale Analyse gelten vielmehr voraussetzungsreiche Anwendungsbedingungen. N u r wo das Phänomen realen Systemcharakter im Sinne des Funktionalismus hat, macht dann die funktionale Analyse Sinn. Die »kritische« Verwendung eines essentialistisch verstandenen Funktionalismus bei Habermas soll zugleich das Pathos von Marx' Verdinglichungskritik und den radikalen Bruch mit den praxisphilosophischen Vorstellungen einer sich selbst völlig transparent gewordenen Gesellschaft ausdrücken. Zwischen den Zielen von Habermas und Giddens ist hier zunächst keine Differenz zu sehen. Auch Giddens' Programm einer soziologischen Transformation der Praxisphilosophie ist sich der totalitaristischen Gefahren einer Gesellschaftsutopie bewußt, die die Probleme übermäßiger Zentralisierung und 52 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. a.a.O., S. 30. 320
mangelnden Pluralismus in ihrem Begriffsapparat nicht reflektiert. Durch die Rezeption des Strukturalismus hat auch Giddens die Lektion der »Dezentrierung« gelernt. Aus diesem Programm folgt ihm zufolge aber keine Begrenzung der Veränderungsperspektive auf eine Verteidigung der Lebenswelt vor den funktionalen Imperativen von Wirtschaft und Staat, sondern vielmehr die Frage nach demokratisch-sozialistischen Alternativen auch im Bereich von Wirtschaft und Staat. In diesen Alternativen muß weder von der Abschaffung noch vom Absterben von Geld, Markt und Staat die Rede sein; es wird aber der Diskurs über das richtige Verhältnis von Partizipation und Mediensteuerung eröffnet statt abgestellt. Einen ganz anderen, von Luhmann weit abweichenden Weg der Parsons-Fortführung gehen Jeffrey Alexander und Richard Münch. Beiden Autoren kommt das große Verdienst zu, nach einer langen Phase krasser Entstellungen von Parsons' Theorie und einer verbreiteten Etikettierung als konservativ, unfähig zur Erklärung von Konflikt und Wandel, konformistisch in der Persönlichkeitstheorie, formalistisch und empirisch unüberprüfbar zu einem adäquateren Bild zu gelangen. Münch geht dabei in seiner Betonung einer Kontinuität und Homogenität von Parsons' Werk so weit, daß er interne Spannungen zwischen unterschiedlichen Tendenzen in Parsons' Werk schlicht leugnet. Das gilt auch für die Stellung der funktionalistischen Erklärungs weise in Parsons' Theorie. Münch behauptet, daß diese »im methodologischen Sinne des Hempelschen Erklärungsmodells für konkrete Systeme in Parsons' Handlungstheorie nie einen systematischen Stellenwert« 53 gehabt habe. Hier kommt sicher alles darauf an, was ein »systematischer« Stellenwert ist: soll dies bedeuten, daß Parsons sich in seiner Theoriekonstruktion über den ausschließlich analytischen Charakter seines Systembegriffs immer klar gewesen sei, dann gerät Münch in Schwierigkeiten mit Parsons' Wortlaut sogar bei von ihm wiedergegebenen Stellen. Bei53 Richard Münch, Teleonomie und voluntaristische Handlungstheorie. Replik auf Helmut Fehr, in: Soziale Welt 31(1980), S. 499511, hier S. 503. 321
spielsweise verweist Münch zwar mit Recht darauf, daß Parsons mit multiplen Systembezugspunkten operiert, damit die Perspektive eines einfachen Systemfunktionalismus hinter sich läßt und insofern die gleichzeitige Berücksichtigung von kulturellen, sozialen und personalen Systemen möglich macht. Dies stellt aber doch keine Überwindung oder Zurückweisung, sondern lediglich eine Verfeinerung des Systemfunktionalismus dar. Münchs Interpretation macht Parsons eindeutiger als er ist und läßt unklar, was der Nutzen einer funktionalistischen Deutung rein analytisch gewonnener Systeme und Subsysteme überhaupt sein kann. Alexander verfährt in dieser Hinsicht sowohl differenzierter wie radikaler. Ihn verbindet mit Münch die Einsicht in die anhaltende Bedeutung von Parsons' Handlungstheorie und die Verteidigung von Parsons' normativer Perspektive einer Evolution des Handelns im Sinne zunehmender Bedeutung individueller Selbstverantwortung. Zu den wichtigsten Leistungen seiner ansonsten oft problematischen theorieorientierten Klassiker-Interpretationen 54 gehört gewiß, daß Alexander das berühmte AGIL-Schema der Austauschbeziehungen zwischen funktionalen Teilsystemen von seiner funktionalistischen Lesart befreit. Für ihn ist dieses Modell als funktionalistisches Gesellschaftsmodell nicht zu halten; es formuliere lediglich auf metatheoretischer Ebene eine Systematik analytischer Abstraktionen. Alexander zeigt, wie Parsons seit etwa 1945 seine metatheoretischen Voraussetzungen durch den Griff zu einem funktionalistischen Systemmodell zu spezifizieren versucht. Er legt Wert darauf zu betonen, daß es sich hier um eine spezifische Entscheidung handle, die von der metatheoretischen Ebene selbst abgelöst werden könne. Parsons glaubt dabei nicht, den Gefahren biologistischer Reduktion oder einer Identifizierung von sozialen Ganzheiten mit »kulturellen Totalitäten« erliegen zu müssen. Auch bleibt 54 Hans Joas, Die Antinomien des Neofunktionalismus. Eine Auseinandersetzung mit Jeffrey Alexander, in: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 272-285 (jetzt auch in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a.a.O., S. 223-249). 322
die Verwendung des Systemmodells bis zur Rezeption der Kybernetik noch vorsichtig und zurückhaltend. Alexander führt aber mit großem Scharfsinn vor, in wie vielen Hinsichten und in wie großem Ausmaß Parsons selbst die Modellannahmen reifizierte und damit sogar in Widerspruch zu anderen eigenen Theoriestücken kam. Sein Urteil klingt vernichtend: »It was with interchange (...) that Parsons' methodological confusion reached its highest p o i n t . . . Each of the interchange model's key t e r m s - t h e >dimensions< of interchange, the >boundaries< between systemic dimensions, the >inputs< and >outputs< between different dimensional structures-is now presented as if it were derived from some inherent logic of Systems rather than from Parsons' effort to model his analytic synthesis of instrumental-normative order.« 55 Für Alexander selbst hat dieses Urteil allerdings nicht vernichtenden Klang, weil für ihn weder die Kontinuität von Parsons' Werk noch dessen Verdienste in der Anlehnung an funktionalistische Modelle bestehen. Er kann deshalb die doppelt falsche Identifikation von überindividuellen Zusammenhängen mit konfliktfreien Ordnungen und von diesen mit systemischen Gleichgewichtszuständen auseinandernehmen und doch Parsonianer bleiben. Aber warum hält Alexander dann im Namen des von ihm initiierten Kreises jüngerer amerikanischer Soziologen an der Bezeichnung (Neo-)Funktionalismus fest ? Alexander legt die Gründe dafür in aller wünschenswerten Deutlichkeit auf den Tisch, wenn er erklärt, daß der Begriff »Funktionalismus« sich weder als Bezeichnung eines bestimmten Begriffsrahmens noch einer Methode, eines Modells oder einer Ideologie als präzise und haltbar erwiesen habe; er sei aber dennoch das Erkennungszeichen einer in sich äußerst pluralistischen Tradition, deren Fortsetzung lohne. 56 Alle Bestimmungen der Gemeinsamkeiten in dieser Tradition sind dann aber äußerst vage und, wie Alexander selbst zugesteht, keineswegs jeweils 55 Jeffrey Alexander, Theoretical Logic in Sociology, Vol. iv: The Modern Reconstruction of Classical Thought: Talcott Parsons. Berkeley 1983, S. 271. 56 Jeffrey Alexander (ed.), Neofunctionalism. London 1985. 323
nur für diese Tradition gültig. Seine Behauptung, daß allerdings für keine andere Tradition alle diese Bestimmungen zugleich gelten würden, bleibt unbegründet. - Fragt man mit Bezug auf diesen »Neofunktionalismus« deshalb, ob die Kritik am Funktionalismus hier weiterhin gilt, dann muß die Schlußfolgerung wohl lauten, daß sie nur deshalb ihr Objekt verloren hat, weil es sich freiwillig aus der Schußlinie brachte. In dem kritisierten Sinn ist der Neofunktionalismus schlicht kein Funktionalismus; über seine Berechtigung und sein Verhältnis etwa zu Giddens' Entwurf einer Theorie der Strukturierung muß deshalb auf anderen thematischen Feldern entschieden werden. Dabei könnte sich herausstellen, daß die vagen Gemeinsamkeiten einer sogenannten funktionalistischen Tradition alle zusammen auch für Giddens' Theorie gelten. Positiv heißt das, daß der Dialog zwischen raffinierten Versionen eines Parsonianismus wie dem von Eisenstadt oder Alexander mit Giddens' Theorie fruchtbar geführt werden könnte. Negativ bedeutet es, daß Alexanders Kennzeichnung des »Neofunktionalismus« als Fortsetzung einer Tradition außerhalb des Kontexts der amerikanischen Soziologie alle Trennschärfe verliert. Fassen wir zusammen: Die Argumente der Funktionalismuskritik werden im Neoparsonianismus Münchs und Alexanders stillschweigend akzeptiert. Luhmanns Versuche zur Rechtfertigung der funktionalen Analyse und seiner systemtheoretischen Kosmologie sind nicht überzeugend. Auch Habermas' Anknüpfung an diese bringt mehr Probleme mit sich als Lösungen. Sowohl der Neoparsonianismus wie die Theorien von Habermas und Giddens zeigen aber, daß die Kritik am Funktionalismus nicht zum methodologischen Individualismus und seiner eingeengten Handlungstheorie zwingt. Das gemeinsame Problem lautet demnach, wie eine handlungstheoretisch fundierte, ohne die Verwechslung funktionaler Analysen mit kausalen Erklärungen verfahrende, gleichwohl den Nutzen eines kontrollierten Einsatzes von System-Modellen beinhaltende Gesellschaftstheorie möglich ist. Hier weisen die Wege der führenden Theorieschulen gegenwärtig auseinander. Wünschenswert erscheint eine »realistische« 3M
Verwendung eines Systemmodells auf der Basis einer Theorie des individuellen und kollektiven Handelns. »Realistisch« soll hier heißen, daß die Systemanalyse auf die realen Wechselwirkungen gesellschaftlicher Akteure begrenzt wird. Dies war vor zwanzig Jahren der Ansatz eines zu Unrecht kaum weitergeführten Entwurfs Amitai Etzionis. »Was ein System ist, ist Gegenstand empirischer Überprüfung; zwei beliebige Einheiten bilden nicht notwendig ein System. Wenn die Akteure nur wenig zueinander in Beziehung stehen und wenn es keinen oder nur einen sporadischen oder folgenlosen Rückkopplungseffekt gibt, sprechen wir von einer Beziehung als einer >Situation<. Gesamtgesellschaftliche Einheiten >verhalten< sich oft so, als wären sie nach Art eines Systems miteinander verbunden. (...) Aber anders als das analytische System, das aus Variablen zusammengesetzt ist, besteht dieses System aus Großgruppen: Organisationen, Bewegungen und Regierungsbehörden.«57 Von Parsons und Luhmann bis Habermas wurde dagegen der Weg beschritten, analytisch gewonnene Systeme essentialistisch zu deuten. Etzioni, Touraine und Giddens legen dagegen die Voraussetzungen für eine Verwendung der Systemtheorie ausschließlich für empirisch kontrollierbare Wechselwirkungen individueller und kollektiver Akteure. Giddens definiert konsequenterweise Systeme als »reproduzierte Beziehungen zwischen Akteuren oder Kollektiven, organisiert als regelmäßige soziale Praktiken«.58 Wie sehr dabei der bloße Begriff »Funktion« vermieden wird - wie Giddens vorschlägt - oder nicht, wird dann zur bloß terminologischen Frage. Nur eine solche »realistische« Verwendung der Systemtheorie erlaubt es auch, eines der dringendsten Desiderate gegenwärtiger Gesellschaftstheorie anzugehen: die Berücksichtigung der Auswirkungen innergesellschaftlicher Prozesse auf die natürliche Umwelt sozialer Einheiten. Wie die Verhinderung einer metaphorischen Verwendung des Systembegriffs Voraussetzung seiner empirisch ertragreichen 57 Amitai Etzioni, Die aktive Gesellschaft. Opladen 1975, S. 148. 58 Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, a.a.O., S.77325
Verwendung ist, so ist auch die Verhinderung einer metaphorischen Verwendung des Umweltbegriffs Voraussetzung für eine sinnvolle Einbeziehung ökologischer FolgeWirkungen in die Analyse sozialer Prozesse. Die menschliche Gesellschaft wird nicht durch begriffliche Zauberei, sondern nur durch tiefgreifende Reform zum »ökologischen System«. 4.3 Differenzierung und Demokratisierung: Perspektiven einer nichtfunktionalistischen Theorie gesellschaftlicher Entwicklung Kernstück funktionalistischer Theoriebildung über makrosoziale Zusammenhänge und sozialen Wandel ist die Theorie der Differenzierung. Eine exemplarische Überprüfung des Anspruchs, daß solche Theoriebildung nicht ohne funktionalistische Komponenten verfahren könne, hat deshalb an diesem Punkte anzusetzen. Nach einer Diskussion der Leistungen und Mängel der Differenzierungstheorie wird diese mit einer Familie theoretischer Ansätze kontrastiert, die von handlungstheoretischen Überlegungen ausgehend ohne Zuhilfenahme funktionalistischer Konstruktionen eine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung entwerfen. Schließlich geht es darum, die Chancen eines fruchtbaren Dialogs zwischen diesen beiden Theorien zu eruieren. Von einer Differenzierungstheorie kann man seit den unter dem Einfluß Darwins stehenden Versuchen zur Übertragung evolutionistischer Modelle auf den Bereich menschlicher Sozialität und Geschichte sprechen. Sicher gehört im Rückblick der mit der frühen politischen Ökonomie einsetzende Diskurs über die produktivitätssteigernden, aber möglicherweise gesellschaftlich schädlichen Wirkungen der Arbeitsteilung zur Vorgeschichte der Differenzierungstheorie. Aber erst im Werk Herbert Spencers wurde das Thema einer den ganzen Kosmos durchziehenden Entwicklungstendenz von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit auf hoher Allgemeinheitsstufe behandelt und das Problem der Integration der sich differenzierenden Teile auf326
geworfen. Während Spencers Werk in seinen offensichtlich spekulativen Zügen - und erst recht das der zeitgenössischen Anhänger Spencers - weitgehend der Vergessenheit anheimfiel, konnte die raffinierte normativistische Kritik Durkheims an Spencer in seiner Studie über die Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt von Versuchen werden, die Spezifik moderner Gesellschaften durch den Begriff der Differenzierung zu erfassen. Durkheim fügte einer naturalistischen Vorstellung gesellschaftlicher Entwicklung eine normative Dimension hinzu, insofern er die normativen Grundlagen des Funktionierens differenzierter Gesellschaften herauszuarbeiten bemüht war und entsprechend normative Integration zur wesentlichen Voraussetzung aller sozialen Integration erklärte. Vor allem durch Talcott Parsons' Anknüpfung an diese Gedankengänge entstand hieraus eine die soziologische Theorie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierende Theorie zum Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung. Bei Parsons schien die Differenzierungstheorie eine handlungstheoretische Begründung erhalten zu haben; die Logik funktionaler Erklärungen und Anleihen bei systemtheoretischen Modellen erlaubten ihren Ausbau zu universal anwendbaren Theoremen, die sogar handlungsanleitend eingesetzt werden konnten etwa bei entwicklungspolitischen Versuchen zur »Modernisierung« von Gesellschaften. Als entscheidende Stufen der modernen Geschichte faßte Parsons drei »Revolutionen« auf, die jeweils als Differenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme verstanden wurden. In der industriellen Revolution differenzierte sich demnach das wirtschaftliche System aus - mit dem entsprechenden funktionalen Gewinn einer verbesserten Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft gegenüber ihrer Umwelt. In der »demokratischen« Revolution sei es dann das politische System, und in der »Bildungsrevolution« das kulturelle System, die sich in weiteren Schüben des welthistorischen Prozesses ausdifferenzierten. Parsons' reife Theorie des sozialen Wandels ist freilich keine einfache Differenzierungstheorie mehr, insofern sie auch die Dimensionen verbesserter U m weltbeherrschung, fortschreitender Generalisierung von Werten und einer umfassenderen »Inklusion« der Gesellschafts327
mitglieder unter ein Wertsystem einbezieht. Auch der Unterscheidung dieser Dimensionen liegt allerdings ein Schema der Grundfunktionen aller Systeme und der Differenzierung in der Erfüllung dieser Grundfunktionen zugrunde. Hatte Parsons zunächst in einem fortschreitenden Differenzierungsprozeß noch ein kulturelles Problem gesehen und etwa den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland mit den Schwierigkeiten in Verbindung gebracht, einen solchen Differenzierungsprozeß integrativ zu verarbeiten, so erscheinen ihm nach dem Krieg immer deutlicher die Folgen des Differenzierungsprozesses als ausschließlich positiv und Spannungen zwischen den verschiedenen Dimensionen sozialen Wandels als ausgeschlossen. Im ideologischen Wettstreit der Supermächte während des Kalten Krieges konnten die auf der Differenzierungstheorie fußenden Annahmen über die Modernisierung als die überlegene Alternative zum marxistischen Geschichtsverständnis gelten. Tatsächlich war eine solche Auffassung dem ökonomischen Determinismus überlegen, der gesellschaftliche Entwicklungen aus der Entwicklung der Produktivkräfte ableitete, und sie erwies sich gegenüber einem Verständnis der Geschichte in Begriffen des Klassenkampfes als gegenstandsadäquater, insofern sie die Rolle von Werten und die selbständige Bedeutung der politischen und kulturellen Sphären berücksichtigte. Diese Dominanz blieb aber nicht unangefochten. Die Kritik stand dabei in engem Zusammenhang mit den sozialen Problemen und Bewegungen der sechziger Jahre. Wissenssoziologisch hat man davon gesprochen, daß die Modernisierungstheorien »eine Reaktion der intellektuellen Eliten Amerikas auf die Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten nach 1945, die West-Ost-Rivalität und Entwicklungen in der Dritten Welt dar(stellten), ehe sich die Tiefenwirkung von Vietnamkrieg, Bürgerrechtsproblemen, Städteverfall, Gewaltsteigerung und inneramerikanischer Armut geltend machte und zu einem deutlichen Rückgang des Angebots und der Attraktivität von Modernisierungstheorien führte«.59 59 Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975, S. 11. 328
Die Kritik war entsprechend politisch mit-motiviert und wurde oft sehr polemisch vorgetragen. Unabhängig davon hat es Sinn, sich den sachlichen Gehalt der Einwände gegen die Differenzierungstheorie zu vergegenwärtigen. 60 Ein erster Einwand richtet sich schon auf den Begriff der Differenzierung selbst und auf seinen logischen Status. Der Begriff subsumiere höchst verschiedenartige Phänomene unter sich und es gebe keine klaren Regeln für seine Verwendung. Was für einen Prozeß gelten möge, müsse keineswegs auch für andere als Differenzierung bezeichnete Prozesse richtig sein. Zumindest sei also zwischen verschiedenen Arten von Differenzierung klar zu unterscheiden. Was den logischen Status des Differenzierungs begriff es angeht, wurde die mangelnde Klarheit bemängelt, ob es sich hier um ein bloßes Deskriptionsschema oder ein Erklärungsgesetz handele. Ist denn ein Differenzierungsprozeß schon erklärt, wenn er sich als solcher beschreiben läßt? Damit sind die gravierenden Einwände berührt, die sich auf den Komplex der Ursachen von Differenzierungsprozessen richten. Wodurch kommt es überhaupt zu Differenzierungsprozessen? Die älteste Erklärung, die aus dem Vorgängerdiskurs über die Arbeitsteilung stammt, erklärt Differenzierung aus dem Gewinn an Leistungsfähigkeit, der durch sie zustandekomme. Hier läßt sich zunächst fragen, ob denn tatsächlich Differenzierung notwendig zu Effizienzgewinn führt. Selbst 60 Ich gebe hier nicht Belege für jedes einzelne dieserArgumente, da es hier nicht um eine Geschichte der Diskussion, sondern um eine Übersicht über Schwachstellen der Differenzierungstheorie geht. Einen guten Überblick über einige Einwände, v. a. die zu den Ursachen von Differenzierung, gibt: Uwe Schimank, Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), S. 421434. Weitere Einwände formuliert Karl Otto Hondrich, Die andere Seite sozialer Differenzierung, in: Hans Haferkamp/Michael Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt/M. 1987, S. 275-303. Zur älteren Kritik vgl. Anthony D. Smith, The Concept of Social Change. A Critique of the Functionalist Theory of Social Change. London 1973. 329
für Differenzierung innerhalb von Organisationen ist diese Folgerung empirisch nicht von vornherein plausibel, wie mit Verweis auf steigende Koordinationskosten, Verluste an Flexibilität und Motivation dargetan wurde. Erst recht zweifelhaft wird diese Annahme, wenn sie auf Zusammenhänge zwischen und außerhalb von Organisationen übertragen werden soll. Darüber hinaus wäre selbst dann, wenn dieser Zusammenhang von Differenzierung und Effizienzgewinn bestehen sollte, die zusätzliche Frage zu beantworten, wodurch die effizientere Struktur eigentlich zustandekomme. Im Hauptstrom der Differenzierungstheorie hat sich denn auch ein anderes Argument durchgesetzt. Dieses bezieht sich auf evolutionäre Mechanismen, die angeblich zur Differenzierung führen. Es tritt in zweierlei Gestalt auf. Zum einen wird angenommen, daß Systeme durch Differenzierung, d.h. durch die Ausbildung spezialisierter Strukturen, auf interne Probleme oder auf Schwierigkeiten in ihrem Bezug zur Umwelt reagieren. Die so gefundenen Lösungen setzen sich dann über Selektionsmechanismen durch. Damit setzt aber auch dieses Argument eine funktionale Überlegenheit differenzierterer Systemstrukturen voraus und ähnelt insofern dem simplen Effizienzargument. Ohne diese zumindest implizite Annahme könnte es ja sein, daß weniger differenzierte Strukturen im Falle ihrer funktionalen Überlegenheit selegiert werden. Das Problem verschiebt sich damit von der Frage nach den Ursachen der Differenzierung zur Frage nach den Gründen, warum differenziertere Systeme einen Selektionsvorteil genießen sollten. Die zweite Variante des Evolutionsarguments entgeht diesem Einwand. Hier wird allen Systemen eine Tendenz zur Komplexitätszunahme unterstellt, die fortlaufend Differenzierung erfordert, wodurch aber in den so entstehenden Teilsystemen nur wieder neue Komplexitätszunahme ausgelöst wird. Dies ist freilich keine empirisch begründete, sondern eine spekulativ gesetzte Antwort. Auch hier wird die Frage nach den Ursachen der Differenzierung nur verschoben - nämlich zur Frage nach den Ursachen der universalen Komplexitätszunahme. Ebenso ungelöst wie das Problem der Ursachen war in den 330
Augen der Kritiker das Problem der Wirkungen von Differenzierung. Schon in der frühen differenzierungstheoretischen Diskussion hatte zumindest Georg Simmel einen vorsichtig-skeptischen Standpunkt vertreten. 61 Er betrachtete die Wirkungen von Differenzierung als vieldeutig und keineswegs immer im Sinne evolutionärer Höherentwicklung. Gegen Parsons' optimistische Interpretation hielt Shmuel Eisenstadt vier Reaktionen auf Differenzierung für möglich: 62 das Fehlen jeder institutionellen Lösung, eine Regression auf einen niedrigeren Differenzierungsgrad, partielle Differenzierung und gelungene Integration über neue Institutionen. Resultat der Differenzierung kann eben beispielsweise auch eine Struktur sein, in der bestimmte Interessengruppen entstehen, die gerade gegen eine weitere Fortsetzung des Differenzierungsprozesses aktiv werden. Sowohl bei der Frage nach den Ursachen wie bei der nach den Wirkungen rückt die Dimension der Träger von Differenzierungsprozessen ins Licht. Haben wir uns Differenzierungsprozesse so vorzustellen, daß sie gewissermaßen durch die Intentionen von Handelnden hindurchgreifen und sich unabhängig von diesen verwirklichen, oder brauchen Differenzierungsprozesse Akteure, die sich einen durch Differenzierung erzielbaren Effizienzgewinn oder aus anderen Gründen Differenzierung selbst als Ziel setzen? Warum aber setzen Akteure sich ein solches Ziel: weil sie es als wertvoll empfinden oder weil es bestimmten ihrer Interessen dient? Sobald die Akteure als Träger von Differenzierungsprozessen in die Differenzierungstheorie aufgenommen werden, ist diese mit all den Aufgaben belastet, die sich einer vom Handeln der Gesellschaftsmitglieder ausgehenden Theorie sozialen Wandels stellen. Das relative Gewicht von »Ideen« und »Interessen« für das Handeln wird dann zur unabweisbaren Problematik. Genauso wie es demnach Träger von Differenzierungsprozes61 Georg Simmel, Über soziale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen. Leipzig 1890. 62 Shmuel Eisenstadt, Social Change, Differentiation and Evolution, in: American Sociological Review 29 (1964), S. 375-386. 331
sen mit eigenen Wertsystemen und Interessenlagen geben dürfte, sind auch Widerstände gegen Differenzierungsprozesse durch individuelle oder kollektive Akteure aus Werthaltungen oder aus Interessenlagen heraus denkbar. Ja, es ist möglich, daß ein Differenzierungsprozeß selbst erst Widerstände gegen sich und damit neue Interpretationen von Werten und neue Interessengruppierungen erzeugt. Man denke etwa an die Entstehung fundamentalistischer, anti-modernistischer Bewegungen - von der amerikanischen Mittelklasse bis zum Nahen Osten. 63 Eine weitere Unklarheit in der Differenzierungstheorie betrifft das Zeitmaß der Differenzierungsprozesse. Ohne über dieses Aussagen zu machen, ist die Differenzierungstheorie aber gegen empirische Einwände immunisiert. Jeder Rückschritt der Differenzierung, jede ausbleibende Differenzierung läßt sich dann als bloßer Umweg der Entwicklung interpretieren, der den »master trend« nicht wirklich in Frage stellt. Der Hinweis auf die fehlende Spezifizierung des Zeitmaßes läßt sich zuspitzen zur Kritik an der großen Distanz zwischen dieser Theorie gesellschaftlicher Entwicklung und der realen Ereignisgeschichte mit ihren Kontingenzen und Problemen. Die Differenzierungstheorie ging auf nationale Besonderheiten oder historische Großereignisse wie Kriege oder Revolutionen oft kaum ein oder deutete sie um als bloße Verzögerungen, Umwege, Krisen des Differenzierungsvorganges. Die Entwicklung in verschiedenen Gesellschaften muß dadurch als bloß zeitlich versetztes Durchlaufen eines im Kern einheitlichen Ablaufschemas erscheinen. Dem wurde nun entgegengehalten, die Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus, ja von Kriegen und internationaler Politik überhaupt demonstriere unwiderleglich, daß ein sich auf Differenzierung gründender Effizienzgewinn einer Gesellschaft sich 63 Von seiten der Differenzierungstheorie unternimmt eine Analyse des Fundamentalismus: Frank Lechner, Fundamentalism and Sociocultural Revitalization: On the Logic of Dedifferentiation, in: Jeffrey Alexander /Paul Colomy (eds.), Differentiation Theory and Social Change. Comparative and Historical Perspectives. New York 1990, S. 88-118. 332
auf andere Gesellschaften gerade hinderlich auswirken könne. Gesellschaften durchlaufen nicht nebeneinander mehr oder minder rasch denselben Parcours, sondern sind mehr oder minder in kultureller, politischer, ökonomischer, militärischer und ökologischer Hinsicht miteinander verstrickt. Der Vorsprung eines Landes ändert die Bedingungen für alle anderen Länder. 64 Ein Land kann versuchen, andere Länder in die Peripherie der rückständigen und unterlegenen Länder zu zwingen. Umgekehrt können von solchen Versuchen betroffene Länder sich zu defensiven Innovationen hin entwickeln und damit die gegen sie gerichteten Versuche vereiteln. Selbst innerhalb von Gesellschaften kann es zwischen verschiedenen Regionen oder zwischen verschiedenen Entwicklungssektoren zu differenzierungsinduzierten Spannungen kommen. 65 Wie sich dies auch immer im einzelnen verhält: die Differenzierungstheorie hat sich typischerweise nicht auf die Strukturen der Weltgesellschaft im ganzen, sondern auf ein Nebeneinander von Einzelgesellschaften bezogen und für diese ein evolutionäres Schema aufgestellt. Dieses Schema bezieht sich ausschließlich auf endogene Entwicklungsursachen oder reduziert internationale Beziehungen auf den unspezifischen Titel einer Problematik in der »Umwelt« der einzelgesellschaftlichen Systeme. Eine emotional besonders hitzig vorgebrachte Kritik richtete sich darauf, daß in diesem evolutionären Schema die institutionellen und kulturellen Strukturen des Westens und insbesondere der USA als evolutionäres Optimum erschienen und der ganzen Welt eine Entwicklung in dieser Richtung als Heil versprochen wurde. Damit erschien die Differenzierungstheorie als eine Form e uro zentrisch er oder »amerikanozentrischer« kultureller Arroganz. Die genannten Kritikpunkte wurden einerseits von Autoren vorgetragen, die damit der Differenzierungstheorie jedes 64 So v. a. schon früh Reinhard Bendix, Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels. Köln 1970, S. 505-512. 65 Dietrich Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: Zapf (Hg.), a.a.O., S. 382-396. 333
Recht bestreiten wollten. Als Alternative zu der sichtlich gescheiterten Differenzierungstheorie boten sie oft den Marxismus oder den Verzicht auf Makrotheorien gesellschaftlicher Entwicklung überhaupt zugunsten bloßer Geschichtsschreibung, bloßer Mikrosoziologie oder bloßer Theorien von maximal mittlerer Reichweite an. Daneben gab es aber auch innerhalb der Parsons-Schule selbstkritische Versuche zur Weiterentwicklung der Differenzierungstheorie. Neil Smelsers Versuch, auf der Grundlage von Parsons' Handlungstheorie eine Theorie des kollektiven Handelns zu entwickeln 66 , verfolgte zugleich damit das Ziel, in die Differenzierungstheorie die Dimension der Akteure einzubauen. Robert Bellah, Kenner Japans und Religionssoziologe, unterwarf einerseits die Religionsentwicklung dem Parsonschen Evolutionismus, trug aber andererseits immer mehr zu einer verstärkten Berücksichtigung der kulturellen Voraussetzungen nichtwestlicher Gesellschaften bei. 67 Am meisten von allen ParsonsSchülern hat wohl der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt für die Verknüpfung von differenzierungstheoretischen Vorstellungen mit den Prozessen kollektiven Handelns und den kontingenten Ereignissen der realen Geschichte getan. Differenzierung erscheint schon hier nicht mehr als sachte voranschreitender Prozeß, sondern als ein Vorgang, der zumindest teilweise von innovativen Eliten und sozialen Bewegungen hervorgebracht, jedenfalls aber begleitet wird und dessen Resultat als intendierte Differenzierung oder als Effekt ganz anders gerichteter Handlungen verstanden werden kann. Jeffrey Alexander und der um ihn gescharte Kreis amerikanischer »Neofunktionalisten« versuchen nun, diese selbstkritischen Revisionen und eigene Reaktionen auf die sonstigen kritischen Einwände miteinander zu integrieren und dadurch die Differenzierungstheorie wieder in die Offensive zu führen. 68 Dabei gestehen sie fast allen Punkten der Kritik ein 66 Neil Smelser, Theorie des kollektiven Verhaltens, a.a.O. 67 Robert Bellah, Religious Evolution, in: ders., Beyond Belief. New York 1970, S. 20-50. 68 Vgl. dazu v. a. Vor- und Nachwort zu dem in Anm. 61 genannten Band.
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Recht zu, sehen aber den Kern der Differenzierungstheorie davon nicht beschädigt. Ein wesentliches Motiv dafür liegt im normativen Gehalt der Differenzierungstheorie. Diese Theorie behauptet ja nicht nur einen Entwicklungstrend, sie zeichnet diesen auch als wünschenswert aus. 69 Der Zusammenbruch der meisten realsozialistischen Systeme hat die Plausibilität dieser Sichtweise beträchtlich erhöht. Tatsächlich kann zu den Gründen dieses Zusammenbruchs ja ungenügende gesellschaftliche Differenzierung gerechnet werden. Die gegenwärtige Renaissance der Differenzierungs- und Modernisierungskonzeptionen ist geeignet, eine vorschnelle Aburteilung dieser Theorie in Frage zu stellen.70 Aber der Preis, den die Neofunktionalisten für ihre selbstkritischen Revisionsbemühungen bezahlen, besteht in einem immer verwaschener werdenden Profil. Wenn die Differenzierungstheorie zugibt, daß Ursachen und Wirkungen, Träger und Kontingenzen der Differenzierung geklärt und berücksichtigt werden müssen, dann wird es immer schwerer, die Differenzierungstheorie als explanatorischen Universalschlüssel bei der Untersuchung sozialen Wandels zu verwenden. Mit ihrer Öffnung und »Liberalisierung« sinkt - mit anderen Worten - ihre explanatorische Kraft. Bei den Neofunktionalisten wird aus der Differenzierungstheorie in aller Reflektiertheit ein bloßes Schema, das bei der Nachzeichnung von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen sensibilisieren mag, diese aber nicht zu erklären imstande ist. Bemerkenswerterweise bleibt trotz dieses Verzichts auf den explanatorischen Charakter der Differenzierungstheorie ihr 69 Einen besonders wichtigen Beitrag zum normativen Sinn von Differenzierung hat vorgelegt: Michael Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality. New York 1983 (deutsche Ausgabe Frankfurt/M. 1992). 70 Vgl. Klaus Müller, Nachholende Modernisierung? Die Konjunkturen der Modernisierungstheorie und ihre Anwendung auf die Transformation der osteuropäischen Gesellschaften, in: Leviathan 19 (1991), S. 261-291; auch die Einleitung der Herausgeber zu Hans Joas/Martin Kohli (Hg.), Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen. Frankfurt/M. 1992. 335
Primat im Denken der Neofunktionalisten erhalten. Wie auch immer die kontingenten Prozesse, die zur Differenzierung führen, beschaffen sein mögen: das Resultat, nämlich die Differenzierung, scheint sicher zu sein.71 Die Schlußfolgerung aus einem verbesserten Bezug zu Akteuren und zur realen Geschichte könnte aber doch auch darin bestehen, daß Differenzierung nicht länger als die große Linie historischer Veränderung betrachtet würde. Die Neofunktionalisten nehmen nicht die Möglichkeit in den Blick, daß Grad und Richtung der Differenzierung oder die bloße Tatsache weiterer Differenzierung zum Gegenstand kollektiven Handelns und sozialer Bewegungen, kurzum der gesellschaftlichen Willensbildung, gemacht werden könne. Differenzierung wäre dann nicht mehr ein evolutionär gesichertes Resultat, sondern Einsatz in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit offenem Ausgang. Das wäre ein radikalerer Zweifel an der Differenzierungstheorie, als er in dem Versuch enthalten ist, Entdifferenzierungsvorgänge als Intermezzi im großen Differenzierungsprozeß zuzugestehen. Erst durch diesen radikaleren Schritt aber würde der Primat der Handlungstheorie wiederhergestellt. Für die Entscheidung über die Möglichkeit einer handlungstheoretisch begründeten, nichtfunktionalistischen Makrosoziologie ist dies der strategisch entscheidende Punkt. Als Sammelbezeichnung für die sich gegenwärtig häufenden Versuche einer solchen Alternative zum Funktionalismus schlage ich den Namen »Konstitutionstheorien« vor. 72 Unter 71 Dieselbe Einschränkung gilt für die interessanten Beiträge von Schimank (vgl. Anm. 58) und: Gesellschaftliche Teilsysteme als Akteurfiktionen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 40 (1988), S. 619-639. - Auch die wichtige Arbeit von Helmut Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozietalen Steuerungstheorie. Königstein/Ts. 1983 fragt zwar nach den Möglichkeiten der Steuerung unter Bedingungen der Differenzierung, nicht aber nach den Chancen für die Steuerung der Differenzierung selbst. 72 Ich verwende diesen Begriff in Anlehnung an Anthony Giddens und nicht wie Jürgen Habermas in Anlehnung an Edmund Husserl, 336
dieser Bezeichnung sind all jene soziologischen Theorien zu verstehen, die gesellschaftliche Prozesse aus dem Handeln der Gesellschaftsmitglieder zu begreifen versuchen und dabei auf die Unterstellung transhistorischer Entwicklungstrends und mehr als nur pragmatische Anleihen bei außersozialwissenschaftlichen Modellen verzichten. »Aus dem Handeln begreifen« ist freilich eine mißverständliche Formel. Oft wird ihr unterstellt, sie bedeute, alle gesellschaftlichen Prozesse seien intentional zu erklären. Selbstverständlich ist es aber schon im mikrosoziologischen Bereich naiv und im makrosoziologischen Bereich vollends absurd, soziale Prozesse vollständig als intendiert aufzufassen. Schon der Alltags verstand weiß, daß Handlungsresultate von Handlungsintentionen abzuweichen pflegen. Ohnehin ist die Erklärung aus Intentionen nie das letzte Wort, da sich die Frage sofort auf den Ursprung dieser Intentionen hin ausdehnen läßt. Unintendierte Handlungsfolgen sind nicht vereinzelte Betriebsunfälle des Handelns, sondern der unausweichliche Regelfall. Auch wenn die intendierten Handlungsfolgen eintreten, haben diese weitere Folgen, die selbst nicht mit-intendiert waren und unseren ursprünglichen Intentionen in unintendierter Weise entsprechen, aber auch zuwiderlaufen können. Der bloßen geistigen Vorstellung solcher Handlungsfolgen für eine Vielzahl von Betroffenen und ihres Verhältnisses zu unseren Intentionen sind schon aus kognitiven Gründen enge Grenzen gesetzt. Wir können uns mühen, unser empirisches Wissen über erwartbare Handlungsfolgen zu steigern und bei der Bildung unserer Intentionen zu berücksichtigen, doch wäre jeder Anspruch auf umfassende Voraussicht eine lähmende Überforderung aller da es ja nicht um Erkenntnistheorie, sondern um den Zusammenhang von Handlung und sozialer Ordnung geht. (Vgl. Jürgen Habermas, Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie (1970/71), in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1984, S. 11-126, hier S. 3 5 ff. Zur Kritik an Habermas' Auffassung, daß das Veralten des Produktionsparadigmas alle Versionen von Konstitutionstheorien obsolet werden lasse, vgl. Kapitel 2.2 dieses Buches, v.a. S. 152ff.) 337
Handelnden. Wenn funktionalistische Modelle damit gerechtfertigt werden, daß sie den Nutzen und das regelmäßige Auftreten solcher unintendierten Folgen systematisch ins Kalkül ziehen, dann läßt sich dem entgegenhalten, daß gerade auf diesem Wege das gemeinte Phänomen seiner Sprengkraft beraubt wird. Unintendierte Handlungsfolgen erscheinen nämlich dann als Beiträge zur latenten Erfüllung von Funktionsnotwendigkeiten eines sozialen Systems. Es ließe sich aber sofort weiterfragen, ob denn alle unintendierten Handlungsfolgen in diesem Sinne funktional sind. Handlungsfolgen sind doch zunächst einmal nichts weiter als Handlungsfolgen. Aus der Vernetzung intendierter und unintendierter Handlungsfolgen entstehen strukturelle Muster sowie die erkannten oder unerkannten Bedingungen für die nächste Runde des Handelns. Auch eine säuberliche Trennung einer Handlungskoordination über Intentionen oder über Handlungsfolgen scheidet aus. Eine Koordination über Intentionen ist äußerst labil, weil ständig Handlungsfolgen auftreten können, die nicht konsensuell im Rahmen der Bedeutungssysteme der Handelnden gedeutet werden können. Umgekehrt kann eine Koordination über Handlungsfolgen sich nie auf sämtliche Handlungsfolgen beziehen, sondern immer nur auf eine bestimmte Art von Folgen, die als legitim definiert sind. »Aus dem Handeln« erklären bedeutet deshalb nichts anderes, als den Versuch zu machen, alle ungeplante Systematizität in einer durchschaubaren Weise auf die Handlungen von Akteuren zu beziehen. 73 »Es ist sicherlich nicht so, daß alle Strukturen aus 73 Vgl. die sehr erhellenden Bemerkungen von Charles Taylor anläßlich seiner Diskussion des »Strategie«-Begriffs Foucaults: Ch.T, Foucault über Freiheit und Wahrheit, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus. Frankfurt/M. 1988, S. 188-234, v.a. S. 2i4ff. - Die klassischen Texte über unantizipierte (!) Handlungsfolgen als Argument für den Funktionalismus stammen von Robert Merton: R.M., The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action, in: American Sociological Review 1 (1936), S. 894-904; ders., Social Theory and Social Structure. New York 1968. - Eine ebenso klassische Argumentation zugunsten des methodologischen Individualismus anhand unin338
bewußtem Handeln entspringen, aber alle Strukturen müssen in bezug auf bewußtes Handeln verstehbar gemacht werden.« 74 Zumindest dieser Anspruch ist allen Konstitutionstheorien gemeinsam. Es lassen sich gegenwärtig mehrere, von sehr unterschiedlichen Ausgangspunkten her kommende theoretische Strömungen aufzählen, die diese Richtung miteinander teilen. Der früheste und systematischste Versuch, aus der funktionalistischen Tradition mit dem Ziel einer handlungsbezogenen Makrosoziologie auszubrechen, liegt meines Erachtens in Amitai Etzionis monumentalem Buch »Die aktive Gesellschaft« 75 vor. Dieses Werk wurde fälschlich als Ausdruck wohlfahrtsstaatlicher Planungseuphorie gedeutet und mit dem Ende dieser Zeitstimmung so radikal vergessen, daß es sogar in den meisten Rekonstruktionen jüngerer Theoriegeschichte völlig fehlt.76 Dabei hätte schon sein Titel, der ja nicht »Der aktive Staat« lautete, es vor diesem Mißverständnis bewahren können. Eine zweite, wenngleich recht unauffällige Strömung in dieser Richtung besteht aus den Versuchen von Vertretern des Symbolischen Interaktionismus, an die Ursprünge der Chicatendierter Handlungsfolgen lieferte Karl Popper, Das Elend des Historizismus. Tübingen 1965. Meines Erachtens lassen sich aus dem Phänomen der unintendierten Handlungsfolgen weder zugunsten des Funktionalismus noch des methodologischen Individualismus Schlußfolgerungen ziehen. Bekanntlich hat John Dewey seine politische Philosophie, die weder funktionalistisch noch methodologisch-individualistisch ist, eben aus dem Phänomen unintendierter Handlungsfolgen und der Rückmeldung davon Betroffener an die ursprünglichen Akteure heraus entwickelt: »We take then our point of departure from the objective fact that human acts have consequences upon others, that some of these consequences are perceived, and that their perception leads to subsequent effort to control action so as to secure some consequences and avoid others.« Vgl. John Dewey, The Public and Its Problems. New York 1927, S. 12.
74 Taylor, a.a.O., S. 216. 75 Amitai Etzioni, Die aktive Gesellschaft, a.a.O. j6 Vgl. diese spektakuläre Lücke in Jeffrey Alexander, Twenty Lectures. Sociological Theory after 1945. New York 1987. 339
goer Schule der Soziologie und der pragmatistischen Sozialphilosophie wieder anzuknüpfen und eine makrosoziologische Konzeption zu entwickeln, die vom Gedanken der »negotiated Order« ausgeht, d.h. die soziale Ordnung als zeitweise stabilisiertes Resultat dynamischer und konflikthafter Aushandlungsprozesse auffaßt.77 Die größte Aufmerksamkeit unter den Angehörigen dieser Theoriefamilie findet wohl derzeit Anthony Giddens' Theorie der Strukturierung, in der eine Vielfalt von Motiven zu einer umfassenden antifunktionalistischen und antievolutionistischen Gesellschaftstheorie gebündelt werden. 78 Als vierte Gruppe lassen sich diejenigen heutigen Anhänger von Max Weber oder von Norbert Elias bezeichnen, die aus dem Werk dieser Klassiker nicht vornehmlich eine Theorie der Rationalisierung bzw. der Zivilisierung gewinnen, welche eher zum Evolutionismus der Differenzierungstheorien paßt, sondern Theorien des Konflikts und der Macht entwickeln, in denen soziale Ordnungen als instabile und meist asymmetrische Machtbalancen dargestellt werden. Hierzu gehören einerseits die machttheoretischen Arbeiten vornehmlich britischer Soziologen, andererseits die kulturund konfliktbezogenen Studien von Pierre Bourdieu und Randall Collins. 79 Als fünfte Strömung lassen sich Alain Touraines Soziologie der sozialen Bewegungen und die politische Philosophie von Cornelius Castoriadis, auf der diese fußt, hierzu rechnen. 80 Doch gehören im weiteren Sinn auch alle diejenigen -jj Den immer noch besten Überblick über diese Versuche lieferte David Maines, Social Organization and Social Structure in Symbolic Interactionist Thought, in: Annual Review of Sociology 3 (1977), S. 235-259. 78 V.a. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, a.a.O. 79 2. B. Michael Mann, Geschichte der Macht. 2 Bde. Frankfurt/M. 1990/1991; John Hall, Powers and Liberties. The Causes and Consequences of the Rise of the West. Berkeley 1986. -Randall Collins, Conflict Sociology. New York 1974; Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1979; ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M. 1987. 80 Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, a.a.O.; Alain Touraine, La voix et le regard. Paris 1979. Eine ge340
Ansätze hierzu, die zwar an Parsons anknüpfen, sein Werk aber von den Schlacken des Funktionalismus zu befreien versuchen. 81 Was haben all diese hier nur aufgezählten Ansätze gemeinsam, so daß es gerechtfertigt ist, sie unter dem gemeinsamen Titel »Konstitutionstheorien« zusammenzuziehen? Zunächst einmal besteht diese Gemeinsamkeit in negativer Hinsicht. Sie unterscheiden sich alle von Funktionalismus und Marxismus als den großen Rivalen der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen Bruch mit Ganzheits- oder Totalitätskonzeptionen und eine Perspektive, die soziale Ordnung und sozialen Wandel als kontingent und konstruiert betrachtet. Dieser Bruch mit den strukturdeterministischen Aspirationen der großen Theorietradition verführt sie aber nicht zum Verzicht auf makrosoziologische Theoriekonstruktion. 82 In positiver Hinsicht ist allen gemeinsam, daß sie das Handeln als Ausgangspunkt dieser Theoriekonstruktion betrachten. Die Konsequenz, mit der dabei über die Grenzen der Modelle rationalen oder normativ orientierten Handelns hinausgeganwisse Verwandtschaft hierzu weist auch das Werk des brasilianischen Sozialphilosophen Unger auf, der - angetrieben von der Erfahrung kapitalistischer hochindustrieller Entwicklung in nichtwestlichen Kulturen - den weitgespannten Versuch einer »antinecessitaristischen« Theorie vorgelegt hat. Vgl. Roberto Mangabeira Unger, Politics. 3 vols. Cambridge 1987. 81 Hiermit meine ich Alexanders Neofunktionalismus einerseits, in gewisser Hinsicht aber auch Habermas' »Theorie des kommunikativen Handelns« andererseits. Zu beider Verhältnis zum Funktionalismus vgl. oben Kapitel 4.2. 82 Sowohl Jeffrey Alexander wie Bernhard Giesen erkennen eine gegenwärtige Konvergenz theoretischer Strömungen in dieser Hinsicht. Bei Alexander besteht allerdings die Gefahr einer Abwertung der meisten Strömungen zugunsten des Potentials eines selbstkritisch weiterentwickelten Parsonianismus. Vgl. Jeffrey Alexander, The New Theoretical Movement, in: Neil Smelser (ed.), Handbook of Sociology. London 1988, S. 77-101; Bernhard Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne. Frankfurt/M. 1991, v.a. S. m f f . 341
gen wird, ist allerdings sehr unterschiedlich. Das Streben nach solcher makrosoziologischen Theoriebildung lenkt ihren Blick auf die kreative Dimension des Handelns, die implizit auch in den anderen Handlungsmodellen steckt. Selbst innerhalb eines als Nutzenverfolgung gedachten Handelns tritt ja Kreativität auf, da die geeigneten Handlungsmittel oft nicht zuhanden sind, sondern erst geschaffen werden müssen, und da auch zur Konzipierung einer geschickten Strategie schöpferische Eigenleistungen erforderlich sind. Auch innerhalb des normativ orientierten Handelns läßt sich Kreativität nachweisen, da sich situationsadäquates normkonformes Handeln nicht deduktiv aus Normen erschließen läßt, sondern riskante Entwürfe nie begangener Handlungspfade erfordert. Nicht nur die praktische Konkretisierung von Normen und Werten bedarf der Kreativität; Werte setzen auch kreative Prozesse der Wertkonstitution voraus. An diesen läßt sich die Erzeugung des Wertgehalts von der Erzeugung der Bindungskraft der Werte analytisch unterscheiden. All diese Resultate der Kreativität: erzeugte Handlungsmittel, neue Handlungsstrategien, kulturelle Innovationen und Bindungswirkungen kultureller Gehalte - lösen sich ab vom Akt ihrer Kreation und werden zu Ressourcen neuen Handelns. Die Analyse der Macht wird auf die Vielfalt möglicher Handlungsressourcen bezogen und nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Verwendung gegebener Mittel, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Erzeugung und kreativen Nutzung dieser Ressourcen gesehen. Damit wird Macht zum Bestandteil der Handlungsprozesse und verliert den pseudosubstantiellen Charakter einer festen Bindung an Institutionen oder stabile Merkmale der Handelnden im Kräftespiel. Mit der fundierenden Rolle des Handlungsbegriffs geht eine Abkehr vom traditionell »holistischen« Begriff der Gesellschaft einher. Die Vertreter der Konstitutionstheorien weigern sich, die stillschweigende Gleichsetzung des abstrakten Begriffs der »Gesellschaft« mit den Spezifika des territorial klar umgrenzten modernen Staates mitzuvollziehen. Skepsis gegen diese für die Soziologie konstitutive Gleichsetzung war von einzelnen Weberianern, aber auch von den Anhängern der 342
Dependenztheorie zu den Beziehungen zwischen hochentwickelten Ländern und »Dritter Welt« immer wieder geäußert worden. Da die Differenzierungstheorien aber schon zum Zwecke der Anwendbarkeit funktionaler Argumente auf die Vorstellung des umgrenzten »Systems«, und da der Marxismus auf die hegelianische Ganzheit einer »Totalität« basiert sind, blieb für diese beiden Theorieschulen nur die Möglichkeit, die »Weltgesellschaft« als »Weltsystem« zu deuten wenn sie denn nicht die Kritik an der Vorstellung nationalstaatlicher Gesellschaften ignorieren wollten. Bei Parsons wurde zudem die normative Integration einer Gesellschaft als funktionale Voraussetzung für ihren Bestand behauptet. Die Konstitutionstheoretiker teilen zunächst miteinander die Skepsis gegen diese Vorstellung normativer Integration. Sie weisen auf empirisch gut belegte Phänomene wie die enorme kulturelle Vielfalt der meisten traditionalen und modernen Gesellschaften, die oft nur geringe Durchdringung des Alltagslebens durch übergreifende Deutungssysteme und die Häufigkeit opportunistischer Motive für normkonformes Verhalten hin. Damit wird einerseits die Bedeutung der normativen Integration von Gesellschaften durch Verweis auf andere Mechanismen sozialer Integration relativiert, andererseits aber überhaupt das Ausmaß der sozialen Integration innerhalb eines Staates gegenüber der funktionalistischen Tradition als geringer eingeschätzt. An die Stelle einer nie stabilisierbaren Interessenbalance rationaler Akteure oder die nie erreichbare weiträumige normative Integration setzen die Konstitutionstheorien die Vorstellung von Netzwerken der Handlungsverflechtung, die in unterschiedlichem Maße Raum und Zeit überbrücken. Damit rücken Phänomene wie Kommunikation und Transport, Informationsspeicherung und -kontrolle ins Zentrum einer Disziplin, die diese eher zu ignorieren neigte. Netzwerke der Handlungsverflechtung lassen es als ausgeschlossen erscheinen, soziale Prozesse auf eine einzelne Sphäre von Gesellschaften zurückzuführen, der alle anderen funktional untergeordnet sind. Weder ein als »materielle Basis« bezeichnetes Wirtschaftssystem - wie im Marxismus - noch ein als »oberste kybernetische Instanz« bezeich343
netes Wertsystem - wie im normativen Funktionalismus erleichtern die Aufgabe makrosoziologischer Theorie. Es geht vielmehr um die jeweilige Identifikation von Institutionenkomplexen und ihre flexible Verknüpfung. Dies ist eine empirische Aufgabe, die nicht theoretisch vorentschieden werden kann. Anthony Giddens beispielsweise unterscheidet vier solcher Komplexe in den hochentwickelten Gegenwartsgesellschaften des Westens 83 : das kapitalistische Wirtschaftsunternehmen in seiner Orientierung auf Kapital-, Waren- und Arbeitsmärkte und die damit verbundenen asymmetrischen Beziehungen zwischen Kapital und Lohnarbeit; die industrialistische Wirtschaftsweise und die Erzeugung sowie der Einsatz von Technologie; der Nationalstaat und die in ihm konzentrierte bürokratisch-administrative sowie militärische Macht; und schließlich der Bereich der »surveillance«, zu dem Giddens in Anlehnung an Foucault die verschiedensten Mechanismen sozialer Kontrolle rechnet. Natürlich läßt sich über die Berechtigung genau dieser Analyse der wesentlichen Institutionenkomplexe streiten. So fehlt bei Giddens der Komplex politischer Partizipation und demokratischer Institutionen, der in anderen Konstitutionstheorien besondere Beachtung findet; in diesen anderen Versionen fehlt aber die Berücksichtigung der Spezifika des Nationalstaats und der Rolle militärischer Macht. 84 So wichtig es ist, diese Kontroverse auszutragen: Für die Charakterisierung der Gemeinsamkeiten aller Konstitutionstheorien ist nicht die genaue Aufzählung dieser Institutionenkomplexe entscheidend, sondern das indeterministische Verhältnis zwischen ihnen. Kapitalismus kann zum Industrialismus führen, aber es gibt auch nicht-kapitalistische Industrialisierung und kapitalistische 83 Anthony Giddens, The Nation-State and Violence. Cambridge 1985, v.a. S. 3ioff. 84 Vorzügliche Kritik an Giddens' diesbezüglichen Vorschlägen findet sich bei John Breuilly, The Nation-State and Violence: A Critique of Giddens, in: Jon Clark et al. (eds.), A. Giddens. Consensus and Controversy. London 1990, S. 271-288; Wolfgang Knöbl, Der Nationalstaat in der Diskussion. Soziologische Magisterarbeit. Universität Erlangen-Nürnberg 1990. 344
Deindustrialisierung. Die Kontrollsysteme (»surveillance«) können in der kapitalistischen Unternehmung ihren Ursprung haben und dann Verwendung durch den Staat finden, aber es gibt auch staatliche Kontrolltechniken, die von den Unternehmen übernommen werden. Die Industrialisierung führte nicht, wie Spencer annahm, zu einem friedlichen Gesellschaftstyp, sondern wurde zum Instrument des Nationalstaats und brachte die Industrialisierung des Krieges hervor. Die verschiedenen Institutionenkomplexe können demnach in sehr unterschiedliche Verhältnisse zueinander treten. Geschichte erscheint dadurch als kontingent und diskontinuierlich. Die Entstehung typischer Institutionen - etwa des Staates überhaupt oder des modernen Staates - wird nicht als unumgängliche evolutionäre Notwendigkeit gedeutet, sondern als kontingente Innovation mit unintendierten Folgewirkungen aufgefaßt. Solche institutionellen Innovationen aber greifen auch auf kulturelle Gehalte zurück. Wir haben deshalb Schlüsselbegriffe der gesellschaftlichen Entwicklung immer auch als imaginäre Schemata aufzufassen: die »Revolution« und die »Nation«, die »Souveränität« und die »Demokratie« sind nicht objektive Gegebenheiten, sondern Deutung und Selbstdeutung des Handelns und seiner Verflechtung durch die Handelnden und ihre Beobachter. Entsprechend wirft Castoriadis Begriffen wie Rationalisierung (und Differenzierung) ihre systematische Zweideutigkeit vor. 85 Bei ihrer Verwendung wird meist nicht unterschieden, was ein bestimmtes Muster unintendierter Entwicklung ist und was Ausfluß eines der imaginären Schemata der westlichen Kultur, die zur D o minanz von Technologie und Bürokratie, ökonomischer Effizienz und rationaler Wissenschaft in dieser Kultur beitragen. Die Gefahren der Konstitutionstheorien sind spiegelverkehrt zu denen der Differenzierungstheorien. Während sich die Differenzierungstheorie in ihrer klassischen Gestalt eine starke Behauptung über die Tendenz aller gesellschaftlichen Ent85 Cornelius Castoriadis, Reflexions sur le »developpement« et la »rationalite«, in: ders., Domaines de l'Homme, Paris 1986, S. 131174.
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wicklung zutraut und dann allerdings an den Kontingenzen der Realgeschichte blamiert werden kann, laufen die Konstitutionstheorien in ihrer Betonung der Offenheit allen Handelns und aller Geschichte Gefahr, sich so nah an die Geschichte anzuschmiegen, daß sie keinerlei aussagekräftige Theorie gesellschaftlicher Entwicklung mehr bieten, sondern nur mehr eine abstrakte und unliterarische Wiedergabe abgelaufener Entwicklungen. Während die Differenzierungstheorien meist bewußt oder unbewußt den empirisch gezielten Begriff der Differenzierung auch normativ aufladen, neigen viele Konstitutionstheoretiker umgekehrt zu einer radikalen Trennung der »realistischen« Betrachtung des sozialen Wandels von seiner Bewertung durch den Theoretiker. Je höher aber eine Schule der Konstitutionstheorie die Geschichtsmächtigkeit kultureller Traditionen und Innovationen veranschlagt, desto inkonsistenter ist diese Haltung, da sich der normative Gehalt der Kultur nicht ohne die eigene Bereitschaft zu normativer Stellungnahme erschließt. 86 Will man zur Synthese der beiden großen Familien von Ansätzen gegenwärtiger makrosoziologischer Theoriebildung der Differenzierungstheorien und der Konstitutionstheorienbeitragen, dann sind Schritte auf methodologischer, normativer und empirisch-substantieller Ebene nötig. In methodologischer Hinsicht muß die Kritik an der Logik funktionaler Erklärungen nicht zu deren völliger Verwerfung führen, sondern kann - wie schon bei der Diskussion dieses Erklärungstyps erwähnt 87 - durch Spezifikation der Anwendungsbedingungen deren kontrollierte und reflektierte Verwendung zumindest im Sinne einer Heuristik zur Entwicklung von H y pothesen für explanatorische Teiltheorien ermöglichen. Analoges gilt für die Differenzierungstheorie als funktionalistische Theorie sozialen Wandels, die auf jeden Fall ein wichtiger Leitfaden bei der Erforschung konkreter Formen solchen Wandels sein kann. - In normativer Hinsicht hat sich ein konstitutionstheoretischer Ansatz gegen mancherlei politische Verdächti86 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O., Bd. i., S. i52ff. 87 Vgl. oben, Kapitel 4.2. 346
gung zu wehren. Die Betonung der Kreativität des Handelns und der Konstitution sozialer Strukturen in diesem Handeln ist weder mit dem leninistischen Mythos eines ganze Gesellschaften durchschauenden und durchherrschenden Übersubjekts noch mit einer faschistoiden Verklärung charismatischer Führer und Bewegungen noch mit der anarchistischen Romantik permanenter Umwälzung alles Gewordenen logisch verknüpft. Ebenso wie sich die Differenzierungstheorie gegenüber der Rolle individueller und kollektiver Akteure öffnet, kann sich eine Konstitutionstheorie - belehrt von der Erfahrung der TotaHtarismen des 20.Jahrhunderts - für die Einsicht in Realität, Wert und Nutzen der Differenzierung öffnen. Der normative Kern der Konstitutionstheorien ist die Idee der Selbstbestimmung, da diese Idee das Begehren der Handelnden ausdrückt, ihre sozialen Ordnungen anzuerkennen, als wären sie ein Werk ihres Willens. Die Idee der Selbstbestimmung muß aber durch die Bezeichnung der individuellen und kollektiven Akteure, die das Recht auf Selbstbestimmung genießen sollen, sowie der Reichweite und der Kriterien ihrer Selbstbestimmung spezifiziert werden. Durch die Verknüpfung mit differenzierungstheoretischen Überlegungen wird die abstrakte Idee der Selbstbestimmung zu einer Theorie der Demokratie. Die Frage nach den Ursachen, Trägern und Wirkungen von Demokratisierungsprozessen sowie den institutionellen Strukturen demokratischer Gesellschaften oder einer demokratischen Welt wird damit zur zentralen Achse der Theoriebildung. Es ist deshalb gewiß ein gravierender Mangel einer Konstitutionstheorie, wenn sie die normative Klärung des Demokratie-Ideals, aber auch die empirische Klärung der Ursachen und Folgen von Demokratisierungsprozessen von ihrer Anlage her ausspart. Das Motiv dazu mag in der Befürchtung liegen, in der Tradition des normativen Funktionalismus Demokratisierung als Resultat der Institutionalisierung demokratischer Werte aufzufassen. Sowohl Giddens wie Mann setzen demgegenüber mehr auf Prozesse der Vernetzung (»Polyarchie«), die strukturelle Anstöße für Demokratisierung ganz unabhängig von kulturellen Traditionen bieten. Damit rücken in einer empirisch ertragreichen 347
Weise die Geschichte der Demokratie und die Geschichte des Nationalismus enger zusammen als es in einer Theorie üblich ist, die beide als das Resultat von Wertbindungen auffaßt. Gleichwohl kann eine solche Erklärung nur notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen der Demokratisierung aufdecken. Die Konstitutionstheorien können der Aufgabe einer normativen Reflexion auf die Idee der Demokratie nicht entgehen, in der die Idee der Selbstkonstitution auf die Bedingungen einer differenzierten modernen Gesellschaft hin zu konkretisieren ist.88 In substantieller Hinsicht schließlich läßt sich die Synthese von Differenzierungs- und Konstitutionstheorien nur an je einzelnen Gegenständen vollziehen. Ein Beispiel dafür könnte die Antwort auf die Frage nach den zentralen Konfliktfronten moderner hochentwickelter Gesellschaften sein, für die ich die Formel einer »Demokratisierung der Differenzierungsfrage« vorschlage. Nichts liegt mir ferner, als mit einer raschen Handbewegung die empirische Frage nach wahrscheinlichen Konfliktfronten entscheiden zu wollen. Gemeint ist mit dieser Formel nur ein Spezifikum dieser Konfliktfronten, das deshalb besonders wichtig ist, weil es die Fassung der Konflikte über verschiedene Themen beeinflußt. Ausgangspunkt für ein Verständnis dieser Formel hat dabei die 88 Solche Versuche gibt es gegenwärtig aus denselben Quellen, aus denen einige der konstitutionstheoretischen Strömungen fließen. Vgl. z.B. Samuel Bowles/Herbert Gintis. Democracy and Capitalism. Property, Community, and the Contradictions of Modern Social Thought. New York 1986; Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel, Die demokratische Frage. Frankfurt/M. 1989; Johann Arnason, The Theory of Modernity and the Problematic of Democracy, in: Thesis Eleven 26 (1990), S. 20-45; Benjamin Barber, Strong Democracy. Participactory Politics for a New Age. Berkeley 1984. Da an dieser Stelle in meinem Text manches nur angedeutet wird, erlaube ich mir, in Erinnerung zu rufen, daß es in diesem Buch um die Darstellung einer Handlungstheorie geht und deshalb Ausführungen zur Makrosoziologie und zur Demokratietheorie nur einen Ausblick eröffnen sollen. In anderen Arbeiten hoffe ich, die hier gegebenen Andeutungen breit ausarbeiten zu können. 348
Position der Konstitutionstheoretiker zu sein, nach der in modernen Gesellschaften alle sozialen Prozesse politisch vermittelt sind. Alain Touraine etwa charakterisiert die gegenwärtige »postindustrielle« oder »programmierte« Gesellschaft durch die gestiegene Bedeutung von Planung und Steuerung.89 Ebensowenig wie Etzioni zielt er damit auf einen universal planungsfähig gewordenen Staat, sondern auf eine Steigerung der Einwirkungsmöglichkeiten der Gesellschaft auf sich selbst. Die fortschreitende Loslösung der Gesellschaft von der Natur lasse die Gesellschaft immer mehr als das Produkt ihres eigenen Handelns erkennbar werden. Im Begriff der Historizität faßt Touraine diese Selbst»produktion« oder Selbst»konstitution« der Gesellschaft, die Castoriadis als »imaginäre Institution« bezeichnet. Er definiert diesen Begriff als »die Fähigkeit einer Gesellschaft, ihre Praktiken ausgehend von kulturellen Modellen und durch soziale Konflikte und Bewegungen hindurch zu konstruieren«.90 Heute stünden weder ökonomische noch technische oder wissenschaftliche und allgemein kulturelle Lagen außerhalb der politischen Vermittlung. Deshalb werden Ausmaß und Art gesellschaftlicher Differenzierung selbst zum politischen Konfliktfeld in modernen Gesellschaften. Sie werden dies typischerweise nicht im Sinn einer Vorstellung, daß hinter alle modernen Differenzierungen wieder zurückzugehen sei, wohl aber in dem Sinn, daß die vorhandene Differenzierung eben wegen ihrer Konstitution im Handeln auch Gegenstand des Handelns werden könne. »Allmählich aber bildet sich auch eine Theorie eines neuen Handlungssystems heraus, d.h. eine Theorie der kulturellen Projekte, der sozialen Akteure, der Konfliktarenen, der Verhandlungsmechanismen, der politischen Steuerung und der neuen sozialen und kulturellen Organisationsformen, die insgesamt eine postindustrielle Gesellschaft kennzeichnen.«91 Touraine selbst 89 Alain Touraine, Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969. 90 Alain Touraine, Le retour de l'acteur. Paris 1984, S. 14 (Übersetzung H. J.). 91 Alain Touraine, Krise und Wandel des sozialen Denkens, in: Jo349
interessiert sich vornehmlich für eine Soziologie sozialer Bewegungen, da er die Existenz einer Vielzahl sozialer Bewegungen, die nicht auf die Verfolgung von Klasseninteressen reduziert werden könnten, als Kennzeichen der postindustriellen Gesellschaft betrachtet. So eilfertig sollten aber die Rolle des Staates und die klassischen Fragen einer Soziologie der Industriegesellschaft nicht als überholt bezeichnet werden. Touraines Vision einer sich im Konflikt sozialer Bewegungen selbst konstituierenden Gesellschaft kontrastiert deutlich mit anderen soziologischen Argumentationsketten der Gegenwart. Zum einen kann es ja sein, daß dieselben Entwicklungen, die die industriegesellschaftliche Ordnung obsolet werden lassen, zugleich auch die Entstehungsbedingungen neuer sozialer Bewegungen ruinieren. »Wir vermuten, daß die Auflösung homogener Klassenmilieus, die Heterogenisierung sozialer Lebenslagen, die Individualisierung von Lebensentwürfen und der kulturelle Pluralisierungsprozeß in einem Maße irreversibel geworden ist, daß die Ausbildung neuer, strukturell markanter kollektiver Identitäten als Basis sozialer Bewegungen auf Dauer nicht mehr erwartet werden kann.« 92 In dieser Diagnose werden eine Vielzahl empirischer Tendenzen zusammengefaßt, die Ulrich Beck unter das griffige Schlagwort von der »Individualisierung« gebracht hat. Beck spricht von einem rapiden Prozeß, in dem ständisch geprägte Sozialmilieus und klassenkulturelle Lebensformen ersatzlos verschwinden und einer sozial isolierten, individuellen Biographieplanung Platz machen. Unbeabhannes Berger (Hg.), Die Moderne-Kontinuitäten und Zäsuren, Sonderband der »Sozialen Welt« 1986, S. 15-39, hier S. 35. 92 Karl-Werner Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht, Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Frankfurt/M. 1986, S. 277. - Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986. Ulrich Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt/M. 1988. Was von Brand u.a. vorsichtig als empirische Frage formuliert wird, klingt bei Stefan Breuer so, als sei alles schon - negativ - entschieden. Vgl. seine Bemerkungen zu Beck in Merkur 43 (1989), H. 8, S. 710-715. 350
sichtigte Effekte der Bildungsexpansion auf alte Klassen- und Schichtstrukturen, der Einfluß wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien, geringere Standardisierung von Erwerbsarbeit und zunehmende Institutionalisierung von Biographiemustern greifen in diesem Prozeß ineinander. - Von ganz anderer Seite, nämlich im Zuge der konsequenten Entwicklung der Differenzierungstheorie, bestreitet Niklas Luhmann eine Diagnose, die die Zukunft im Konflikt sozialer Bewegungen sieht. Gerade der jeweilige Vorzug der Differenzierung innerhalb der gesellschaftlichen Teilsysteme hindere diese daran, anders als nach der Logik dieser Teilsysteme zu reagieren, auch wenn Probleme auftauchen, die für das gesellschaftliche System insgesamt bedrohlich sind. Dies gelte für Politik und Wirtschaft ebenso wie für Recht, Wissenschaft, Erziehung und Religion. »Jedem Prinzip gesellschaftlicher Differenzierung widerspricht es, die Ganzheit des Systems innerhalb des Systems nochmals zur Geltung zu bringen. Das Ganze kann nicht zugleich Teil des Ganzen sein. Jeder Versuch dieser Art würde im System nur eine Differenz erzeugen können, nämlich die Differenz desjenigen Teiles, der die Ganzheit des Systems im System repräsentiert, zu allen übrigen Teilen. Die Darstellung der Einheit ist Herstellung von Differenz. Schon die Absicht ist also paradox und widerlegt sich selbst.« 93 Eine einheitliche Repräsentation des Ganzen sei nur unter der Voraussetzung einer Differenzierung von einem unbestimmten Jenseits möglich gewesen. Damit aber sei es seit der Aufklärung vorbei. »In dieser Aufklärung reflektiert sich der Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung. In der neuen Ordnung gibt es keine natürlichen Primate, keine vom Gesamtsystem aus privilegierten Positionen und daher auch keine Position im System, die die Einheit des Systems gegenüber seiner Umwelt zur Geltung bringen könnte.« 94 Dennoch sei natürlich die Selbstbeobachtung einer Gesellschaft innerhalb und zwischen ihren Teilsystemen nicht auszuschließen. 93 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Opladen 1986, S. 227.
94 Ebd., S. 229. 351
Die heute vorherrschende Semantik von Selbstbeobachtungen sei nur negativ definiert: als postindustriell, postmodern, postkapitalistisch. Die Grundstruktur der sich darin abzeichnenden Ideologie bestehe darin, daß innerhalb der Gesellschaft ohne klare Alternativen zu ihrer funktionalen Differenzierung gleichwohl die Verluste durch diese funktionale Differenzierung zur Geltung gebracht werden sollen. »Für eine soziologische Beobachtung dieser Beobachtung ist es eine attraktive Theorie, sich vorzustellen, daß all dies letztlich ein Protest gegen die funktionale Differenzierung und ihre Effekte ist.«95 Dieser Protest artikuliere sich in Form sozialer Bewegungen, die innerhalb der Gesellschaft auf diese einzuwirken versuchten, »so als ob dies von außen geschehe«. 96 Für eine gelingende Selbstbeschreibung der hochdifferenzierten Ordnung moderner Gesellschaften sei aber diese erfahrungsarme PseudoAußenposition eine denkbar schlechte, unzulängliche Grundlage.97 Touraines These vom Übergang der industriellen und Klassengesellschaft in eine postindustrielle Gesellschaft des Konflikts sozialer Bewegungen findet sich also in zweierlei Hinsicht in Frage gestellt. Zum einen kann es sein, daß die strukturellen Bedingungen der neuen Gesellschaft die sozialen Bewegungen gerade nicht entstehen lassen: dann träte an die Stelle der Klassengesellschaft eine Vielfalt individualisierter Lebensstil-Enklaven und Anomie hinsichtlich der Fragen allgemein verbindlicher kultureller Orientierungen. Zum anderen kann die funktionale Differenzierung so weit vorgeschritten sein, daß in ihr kein O r t mehr ausgemacht werden kann, der den Blick auf ihr Prinzip im ganzen erlaubt: dann ist zwar der Protest gegen diese Differenzierung wahrscheinlich, gleichzeitig aber zur Ohnmacht verdammt; seine einzige Ent95 Ebd., S. 234. 96 Vorzügliche Einwände gegen Luhmanns radikalen und immer radikaler werdenden »Steuerungspessimismus« formuliert Fritz Scharpf, Politische Steuerung und politische Institutionen, in: Politische Vierteljahresschrift 30 (1989), H. 1, S. 10-21. yj Luhmann, a.a.O., S. 236. 352
wicklungschance liegt dann darin, die Prinzipien der differenzierten Teilsysteme als Faktum zur Kenntnis zu nehmen oder an ihnen abzuprallen, wofern er nicht darin münde, diese Teilsysteme - wenn auch aus guten Absichten - in ihrem Funktionieren zu beeinträchtigen. Immerhin deutet auch Luhmann die neuen sozialen Bewegungen als Protest gegen funktionale Differenzierung und ihre Effekte. Dies ist von Touraines Annahme, daß diese Bewegungen die Differenzierungsfrage selbst zum Thema machen, ja gar nicht so weit entfernt. Im Unterschied zu Touraine reduziert Luhmann aber diese Bewegungen auf den Protest gegen die funktionale Differenzierung als solche. Folgt man ihm, dann stehen sich heute illusionslose Differenzierungsbejahung und illusionäre Entdifferenzierungsträumerei gegenüber. Folgt man Touraine, dann handelt es sich um einen Konflikt zwischen vielen Stimmen, die jeweils für unterschiedliche Grade und Richtungen von Differenzierung votieren. Wenn schon von einer Polarisierung in zwei Lager die Rede sein soll, dann wären es die beiden Lager derer, die Ausmaß und Art heutiger »funktionaler« Differenzierung als ehernes Gesetz hinzunehmen bereit sind, und derer, die diese selbst zum Gegenstand gesellschaftlicher Reflexion und Willensbildung machen möchten. In Ulrich Becks Theorie der »Risikogesellschaft« hat der Ansatz von Alain Touraine eine interessante Weiterentwicklung erfahren. Beck argumentiert, daß in unserer Zeit alte Konfliktfronten unwichtig werden angesichts der überwältigenden Bedrohung durch neue industriegesellschaftlich produzierte Großrisiken vom Typus Tschernobyl. Diese neuen Gefahren unterscheiden sich von den typischen Risiken der Industriegesellschaft in mehrerer Hinsicht. Sie sind weder räumlich noch zeitlich noch sozial eingrenzbar; die etablierten Regeln der Zurechnung und Verantwortung versagen bei ihnen; die eintretenden Schädigungen sind meist irreversibel; die drohenden Gefahren nie auszuschließen, nur zu minimalisieren. Von Naturgefahren aber unterscheiden sie sich wie die Risiken der Industriegesellschaft durch ihre gesellschaftliche Konstitution. Wissenschaft, Technik, Politik und Wirtschaft gehen als Möglichkeitsbedingungen bereits in diese neuen Gefähr353
düngen (etwa durch Nuklear- oder Gentechnologie) ein. Beck nennt den Fortschrittsglauben ebenso wie seine zynische Destruktion »industriellen Fatalismus«. Er meint damit, daß in unserer Kultur, in der doch die Autonomie der Subjekte als hoher Wert institutionalisiert ist, nur ein sehr beschränkter Bereich folgenreicher Entscheidungen durch individuelle Wahl oder politische Teilhabe geformt wird. Dieser Satz zielt nicht einfach nur auf Demokratisierung der Wirtschaft und gar nicht auf deren restlose Unterwerfung unter bürokratisierte staatliche Planung. Er ruft allerdings in Erinnerung, daß großtechnologische Gefahren neue Anforderungen an das Selbstverständnis demokratischer Institutionen stellen. Die große Frontlinie verläuft, so Beck, zwischen technokratischer Entdemokratisierung und enttechnokratisierter Aufklärung. Wie kann die technische Entwicklung überhaupt in die demokratische Willensbildung einbezogen werden? Diese Front wird dramatisiert durch die Größe der Gefahren, denen sich die Zivilisation der modernen Gesellschaften ausgesetzt sieht, und dies nicht nur im Sinn einer alles zerstörenden Katastrophe, sondern einer kontinuierlichen Selbstzerstörung. In den heutigen Gefahrenlagen kehren die verdrängten Ursachen der industriegesellschaftlichen Dynamik zu ihren Urhebern zurück. »Auch die Gefahr ist entäußerte, gebündelte, objektivierte Subjektivität und Geschichte... Sie ist eine Art kollektive Zwangserinnerung - daran, daß in dem, dem wir uns ausgesetzt sehen, unsere Entscheidungen und Fehler stecken.« U n d Beck schließt aus der Größe der Gefahren auf die Nötigung zur Reflexion über Differenzierung, denn die Gefahren erinnerten uns daran, »daß auch der höchste Grad institutioneller Verselbständigung nichts als eine Verselbständigung auf Widerruf, eine entliehene Handlungsform ist, die geändert werden kann und muß, wenn sie die Selbstgefährdung bedeutet«. 98 Anders als Luhmann hält also Beck dafür, daß die Größe heutiger Gefahren das Bewußtsein über die prinzipielle Reversibilität eingetretener Differenzierungen eröffne. Anders 98 Beck, Gegengifte, S. 162. 354
als Touraine wird dadurch bei ihm die Entstehung sozialer Bewegungen nicht nur als Freisetzung zum Konflikt über Wertsysteme verstanden, sondern als Nötigung zu diesem Konflikt, um diesen Gefahren zu entgehen. Dabei versucht er, die von ihm selbst so ausführlich beschriebenen Tendenzen der Individualisierung mit der Genese sozialer Bewegungen insofern zu verbinden, als er die Rekrutierung solcher Bewegungen hauptsächlich aus solchen Milieus und Kohorten behauptet, in denen die »Individualisierung« weit fortgeschritten sei. Dies ist eine klare empirische Behauptung, die natürlich im vorliegenden Zusammenhang nicht überprüft werden kann. Zweifellos ist es richtig, nach den strukturellen und institutionellen Bedingungen für die Öffnung der Differenzierungsproblematik zu fragen, doch könnte Becks ganze Konstruktion hier so verstanden werden, als liefe alles auf einen Automatismus der Gefahrenentstehung und -bewältigung hinaus, der wie eine Wiederholung alter marxistischer Vorstellungen von den Zusammenbruchstendenzen des Kapitalismus und ihrer Verschränkung mit der Perspektive der Revolution aussieht. Das unaufhörlich Risiken produzierende Industriesystem führe unabweisbar zur Infragestellung der in ihm steckenden wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Strukturen. Die intellektuelle Problematisierung des Systems und die Artikulation der Protestmotive in sozialen Bewegungen wirken dadurch wie Phasen in einem vorentschiedenen Ablauf. Dem muß man nicht folgen. Becks Theorie läßt sich öffnen; ihre Bestandteile lassen sich als variable Dimensionen konzipieren. Dann stehen wir vor der Frage, wie wahrscheinlich die Entstehung sozialer Bewegungen ist, die sich auf Grad und Richtung der Differenzierung in modernen Gesellschaften richten. An diese Frage schließt sich unmittelbar die Frage nach den Chancen einer solchen Einflußnahme auf Grad und Richtung der Differenzierung an. Diese Frage hat Claus Offe ein Modernisierungsproblem zweiter Ordnung genannt." Er 99 Claus Offe, Die Utopie der Null-Option: Modernität und Modernisierung als politische Gütekriterien, in: Peter Koslowski u.a. 355
meint damit, daß es jetzt um die Rationalisierung des Zusammenspiels zwischen schon rationalisierten Teilsystemen geht. Eine Chance für die Lösung dieser Frage kann er nur noch in der sogenannten »Null-Option« erkennen, d.h. in einem Verzicht auf weitere Steigerung der optionenvermehrenden Rationalisierung in den Teilsystemen, weil nur so ein Gewinn an Steuerungsfähigkeit oder zumindest doch eine Vermeidung neuer Steuerungsprobleme möglich sei. Aber Offes N u l l - O p tion ist eben nur dazu geeignet, die weitere Verschärfung der Steuerungsprobleme zu verhindern, nicht ihr heutiges Ausmaß zu mindern. Zwischen Offes pessimistischer N u l l - O p tion und dem optimistischen Vertrauen des Neoparsonianismus Münchs in die »Interpenetration« aller Subsysteme 100 führt der Weg einer institutionellen Konkretisierung heutiger Formen gesellschaftlicher Selbststeuerung. Institutionelle Phantasie ist dabei gefordert; eben darauf zielte ja Deweys Programm einer »kreativen Demokratie«. »Die Schaffung parastaatlicher Einrichtungen; die Delegation von Staatsaufgaben an gesellschaftliche Gruppen; staatliches Handeln nach dem Subsidiaritätsprinzip (...); aktive Steuerung durch liberalen Korporatismus, lose Konzertierung; Kanalisierung durch Subventionierung« 101 sind bereits heute vorfindbare Mittel zu diesem Zweck. Die Formel von der »Demokratisierung der Differenzierungsfrage« besagt, daß die gestiegenen Möglichkeiten moderner Gesellschaften zur Gestaltung ihres Verhältnisses zur Umwelt und ihrer inneren Strukturen nicht durch den radikalen Steuerungspessimismus marxistischer oder systemtheoretischer Art verdeckt werden sollten. Alle Konflikte über ökonomische, politische, militärische, kulturelle Fragen werden vielmehr in einer veränderten Form gestellt. Dies eröffnet neue Chancen und Anstöße zu gesellschaftlicher Kreativität. Die Fragen der (Hg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters. Weinheim 1986, S. 143-172. 100 So Richard Münch in zahlreichen Schriften, zuletzt: R.M., Dialektik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt/M. 1991. 101 Klaus von Beyme, Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne. Frankfurt/M. 1991, S. 352. 356
Friedensbewegungen sind nicht nur auf die militärische Strategie selbst gerichtet, sondern auch auf die Ausdifferenzierung eines militärisch-industriell-wissenschaftlichen Komplexes, und sie erschüttern die Expertisierung der militärischen Strategiediskussion. 102 Die Fragen der ökologischen Bewegungen richten sich nicht einfach defensiv auf die Verteidigung der natürlichen oder tradierten Umwelt, sondern auch offensiv auf die Legitimität der Ausdifferenzierung der Genese des technischen Fortschritts. Die klassischen industriegesellschaftlichen Fragen nach der Struktur der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Distribution des Wohlstands werden zwar vielleicht noch häufig von den Gewerkschaften in überbrachten Formen artikuliert; sie geraten aber dabei in das zum Gegenstand der gesellschaftlichen Selbsteinwirkung erklärte Problemfeld der Differenzierung der Geschlechtsrollen, der politischen Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates und des Verhältnisses zwischen »industriellen« und »postindustriellen« Konfliktfronten hinein. Alle diese Fragen lassen sich ohne den utopischen Horizont ihres Verschwindens in einer alternativen Welt (etwa: des Sozialismus) nur als Fragen nach dem adäquaten Grad und der angemessenen Art von Differenzierung stellen. Die Fragen der Demokratie ergeben sich heute aus der Anwendung des Differenzierungsgedankens auf sich selbst. In der Demokratie einer differenzierten Gesellschaft wird in den Institutionen der politischen Willensbildung, deren Differenzierung selbst durchlässig ist gegenüber der Kommunikation der Gesellschaftsmitglieder, um Art und Ausmaß unvermeidlicher und wünschbarer Differenzierung gerungen. 103
102 Zsuzsa Hegedus, Social Movements and Social Change in SelfCreative Society: New Civil Initiatives in the International Arena, in: International Sociology 4 (1989), S. 19-36. 103 In einer ähnlichen Richtung zielt Michael Walzer, Liberalism and the Art of Separation, in: Political Theory 12 (1984), S. 315330. 357
4.4 Kreativität in d e r » P o s t m o d e r n e « Seit beinahe einem Jahrzehnt quellen die Kulturzeitschriften und Feuilletons von Beiträgen zum ominösen Thema der »Postmoderne« über, während die professionelle Soziologie und Sozialforschung im selben Zeitraum einen Rückgang an öffentlicher Aufmerksamkeit hinnehmen mußten. Nicht ohne Ressentiment blicken deshalb die Vertreter dieses Faches auf die Werke von Autoren, die oft recht unbesorgt um empirische Belege und ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit den substanzhaltigen Traditionen der Gesellschaftstheorie und Sozialgeschichte tollkühn erscheinende Behauptungen über den Anbruch einer neuen Epoche und den apokalyptischen Charakter zeitgenössischer Veränderungen aufstellen. Es gab und gibt durchaus gute Gründe für die Sozialwissenschaften, skeptisch auf intellektuelle Tendenzen zu blicken, die nicht nur empirisch dünn und theoretisch fragwürdig erscheinen, sondern auch die Öffnung der Gattungsgrenzen zwischen Wissenschaft und Literatur nicht zur wechselseitigen Steigerung der Ansprüche nutzen, sondern zur Unterbietung beider Standards, und damit manchem Scharlatan raschen Erfolg bescheren. Doch darf diese Skepsis nicht zur sterilen Ignoranz verkommen; auch eine moralische oder politische Polemik kann nicht die Aufgabe der Soziologie sein. Es sind vielmehr drei Möglichkeiten denkbar, wie sich die Soziologie produktiv auf die Postmoderne-Diskussion beziehen kann. Die erste besteht darin, zumindest das Phänomen dieses Denkens wissens- oder kultursoziologisch ernstzunehmen. Die wenigen Versuche, die es hierzu gibt, arbeiten selbst sehr freihändig mit Unterstellungen und führen die »Postmoderne«-Diskussion auf Resignation und Saturiertheit der Protestgeneration von 1968104 oder auf die Status- und Identitätskrise der Intellektuellen in der Informationsgesellschaft zurück. 105 Hier wäre viel genauer nachzufragen, warum sich 104 Agnes Heller/Ferenc Feher, The Postmodern Political Condition. Cambridge 1988, S. 138f. 105 Zygmunt Baumann, Is There a Postmodern Sociology?, in: Theory, Culture and Society 5 (1988), S. 217-237. 358
denn die Entstehung dieses Denkens gerade in Frankreich abspielte, welche Mechanismen der Ausbreitung wir erkennen können, welche Veränderungen die ganz anderen Bedingungen der USA zur Folge hatten und welche Akteure oder Grenzziehungen von kulturellen Feldern hier entscheidend waren. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, den Phänomenen soziologisch nachzugehen, auf die sich die PostmoderneAutoren in ihren Diagnosen beziehen. Ist die Bedeutung von Werbung, Massenmedien und Informationstechnologien tatsächlich so gestiegen, daß die Realität nicht mehr von ihrer Simulation zu unterscheiden ist und nur Walt Disney und Jean Baudrillard durch diesen Schleier hindurchsehen? 106 Haben sich die Lebensstile so radikal enttraditionalisiert und pluralisiert, daß von eindeutigen Normalitätsmaßstäben nicht mehr gesprochen werden kann ? Die Forschungen zu Sozialstruktur und Lebensstil haben durchaus begonnen, ihre Aufmerksamkeit diesen Fragen zuzuwenden, freilich bisher meist mit nicht allzu schmeichelhaftem Ergebnis für die Diagnosen, die von einem sozialkulturellen Epochenbruch sprechen. 107 Hier soll eine dritte Möglichkeit verfolgt werden. Die Diskussion über die Postmoderne kann nicht nur als Gegenstand der Wissenssoziologie oder als Anreiz für Sozialstruktur- und Lebensstilforschung aufgenommen werden, sondern auch als Provokation für die grundlagentheoretische Begrifflichkeit der Soziologie. Meine Behauptung lautet, daß die PostmoderneDiskussion einen radikalen Bruch mit den Annahmen über Rationalität und Normativität darstellt, die in die Grundbegriffe der soziologischen Theorie, insbesondere die Handlungstheorie, eingelassen sind. Dieser Bruch kann fruchtbar sein, da er die Perspektive eröffnet auf ein umfassenderes Verständnis menschlichen Handelns im Sinne einer Theorie der 106 Robert Hughes, The Patron Saint of Neo-Pop, in: The New York Review of Books 36 (1989), No. 9, S. 29-32, hier S. 30. 107 Scott Lash/John Urry, The End of Organized Capitalism. Cambridge 1987; Albert Scherr, Postmoderne Soziologie-Soziologie der Postmoderne? Überlegungen zu notwendigen Differenzierungen der sozialwissenschaftlichen Diskussion, in: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 3-12. 359
Kreativität dieses Handelns. Da sich die Postmoderne-Autoren aber an einem lebensphilosophischen Konzept von Kreativität orientieren, vergeben sie die Chance zur Revision der soziologischen Handlungstheorie gleich wieder und finden ihrerseits kein produktives Verhältnis zur Soziologie. Dies zeigt sich sofort in ihrer Gleichsetzung von Soziologie und modernistischem Fortschrittsglauben. Die gegenwärtige Krise des Fortschrittsglaubens ist doch nicht die erste in der Geschichte des Denkens, auch nicht die erste in der Geschichte der Soziologie. Häufig wird vom Fortschrittsglauben gesprochen, als gebe es eine seit der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts lebendige Tradition unbefragter Annahmen über einen selbstverständlichen oder doch leicht zu bewerkstelligenden Fortschritt in den Lebensbedingungen und der Lebensweise des Menschengeschlechts. Wer so spricht, vergißt, daß schon Zeitgenossen der Aufklärung- und keineswegs nur konservative Widersacher - die epochalen Veränderungen ihrer Zeit keineswegs einfach als Fortschritt interpretierten. Rousseaus fundamental zivilisationskritisches Pathos verband sich in Deutschland - etwa im Denken Herders - mit einem religiös genährten Widerwillen gegen Utilitarismus und Materialismus zu einem tiefen Blick für die Ambivalenz der ausgelösten Wandlungen. Verlauf und Folgen der Französischen Revolution irritierten auch treue Anhänger der in ihr artikulierten Forderungen. Die ersten Anzeichen der industriekapitalistischen Umwälzungen lösten einen in Kunst und Schrifttum der Romantik spürbaren Schrecken aus. Das 19. Jahrhundert selbst, das gemeinhin am meisten als Zeit unbefragten Fortschrittsglaubens gesehen wird, zeigt nur wenige Spuren der ursprünglichen aufklärerischen Konzeption. Diese wurde vielmehr in den sozialistischen und auch anarchistischen Bewegungen umgedeutet zu einer Vorstellung von der Geschichte als einem Kampffeld von Klassen und Mächten; nur das Selbstvertrauen aufsteigender Klassen erhielt hier die Möglichkeit, die oft radikal negativ gesehene Gegenwart weiterhin unter dem Zeichen des Fortschritts zu deuten. Außerhalb dieser sozialen Bewegungen, im weiteren Verlauf aber auch durchaus in ihnen mündete die Aufklärungsphilosophie 360
in evolutionistische Konzeptionen. Diese stellten nun freilich eine deterministische Gewißheit über die Mechanik historischen Fortschreitens zur Schau. Nimmt man jedoch die ursprünglichen Ideen der Aufklärung, dann sind diese hier insofern verworfen, als ein selbstläufiger und determinierter Fortschritt ja gerade nicht mehr auf den Aufklärungswillen der Subjekte angewiesen ist. Die repräsentativen Denker am Ende des 19. Jahrhunderts waren aber weder marxistische oder hegelianische Geschichtsphilosophen noch waren sie deterministische Evolutionisten. Marx und Spencer waren nicht das Vorbild, eher der Prügelknabe in zeitgenössischen Schriften. Deutschland und Frankreich standen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg unter dem starken intellektuellen Einfluß des Kulturpessimismus. In den angelsächsischen Ländern, in denen dieser Einfluß schwächer war, wurde der Erste Weltkrieg zur Erschütterung eines gemäßigt zukunftsoptimistischen Weltbilds. Der Glaube an eine interdependent gewordene, durch Wissenschaft und Demokratie aufgeklärte Welt hatte Risse bekommen. Die Zeit zwischen den Weltkriegen mit ihren ökonomischen und politischen Dauerkrisen ließ nur wenig Gelegenheit zur Rückkehr zu einem Fortschrittsglauben. Das Selbstbewußtsein marxistischer Revolutionsperspektiven nahm ebenso zu wie Versuche, die nihilistische Talsohle des Fortschrittsdenkens durch einen abstrakten, nur aktivistisch und dezisionistisch gerechtfertigten Aufbruch im Zeichen faschistischer Bewegungen zu verlassen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte wieder ein Fortschrittsglaube im Sinne des Evolutionismus des 19.Jahrhunderts und teils auch der Aufklärungsphilosophie des 18.Jahrhunderts erstehen und sich ausbreiten. Die Vernichtung der schlimmsten faschistischen Diktaturen gab die Hoffnung ein, daß die geschichtliche Zukunft anderen Kräften gehöre. Die gewaltige ökonomische Expansion des Westens und die optimistische Selbsteinschätzung des »real existierenden« Sozialismus ließen die schrittweise Lösung verbliebener sozialer Probleme durch wirtschaftliches Wachstum als aussichtsreich erscheinen. Mit der Auflösung der Kolonialreiche konnten solche Hoffnungen auch in Weltregionen entwickelt werden, die sich bisher 361
durch politische, ökonomische und militärische Macht am »Fortschritt« gehindert sahen. Die Expansion der Wissenschaften wurde von einem breiten öffentlichen Konsens getragen und als Teil der Voraussetzungen ökonomischen Wachstums verstanden. Auch die Sozialwissenschaften konnten als Hilfe bei der Erforschung von sozialen Problemen, der Ermittlung von Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität und des Wachstums und ganz allgemein zum Zwecke verbesserter staatlicher Planung mit wohlwollender Förderung rechnen. Die Soziologie schien dabei besonders eine Kerndisziplin für einen planungsfähigen modernen Staat zu werden. Dabei war diese Disziplin keineswegs aus einem festen Glauben an den Fortschritt hervorgegangen. Die Annahmen Comtes und Spencers waren von den eigentlichen Begründern des Faches, die zwischen 1890 und 1920 für die intellektuelle Profilierung und institutionelle Stabilisierung der Soziologie sorgten, nicht einfach übernommen worden. Es wäre näher an der Wahrheit, eine polemische Gegenwehr gegen jeden optimistischen Evolutionismus und gegen die falschen Gewißheiten konstruierter Geschichtsphilophie als konstitutiv für ihr Denken zu bezeichnen. Die Ausarbeitung ihres Werkes fiel ja in eine Zeit, in der die kulturellen und moralischen Folgen der rapiden Fortschritte industrieller Produktion besonders tief problematisiert wurden. Die zeitgenössische Philosophie, von der die Klassiker der Soziologie durchdrungen waren, sezierte unaufhörlich den Fortschrittsglauben und seine verschiedenen Aspekte. Der eindrucksvollste Fall dieser engen Beziehung zwischen Soziologie und Kulturkrise ist gewiß Deutschland. Keiner der führenden Exponenten des deutschen soziologischen Denkens jener Zeit - ob Weber oder Simmel, Sombart oder Tönnies - war nicht zutiefst von den Schriften des ehrgeizigsten und radikalsten Kritikers des Fortschrittsglaubens beeinflußt: Friedrich Nietzsche. Für sie alle war durch Nietzsche die einfache Vermittlung von individuellem Handeln und geschichtlichem Fortschritt zertrümmert worden. Das soll nicht besagen, daß sie Nietzsches eigenen Umgang mit der von ihm so überzeugend und überwältigend beschriebenen Lage 362
akzeptierten. Sie waren alle empfänglich für den von Nietzsche ausgehenden Appell an die Zerstörung von Illusionen und ein neues Selbstgefühl für eine Elite lebenskräftiger Genies; aber sie zögerten sehr, sich dadurch zu einem Geschichtsbild verleiten zu lassen, in dem die Geschichte als Kontinuum sinnloser Kämpfe erscheinen muß, aus dem sich nur die Genies erheben, so daß der einzige Sinn, den wir in der Geschichte entdecken können, die Hervorbringung dieser Genies wäre. Ganz in Nietzsches Ton bezeichnete Weber den Fortschrittsglauben als eine unredliche Form des Umgangs mit dem Tode Gottes: »Der >Fortschritts<-Gedanke stellt sich eben erst dann als notwendig ein, wenn das Bedürfnis entsteht, dem religiös entleerten Ablauf des Menschheitsschicksals einen diesseitigen und dennoch objektiven >Sinn< zu verleihen.« 108 Die Lage in Frankreich war nicht viel anders. Bergsons ganzes Denken ist wie die deutsche Lebensphilosophie auf die Bewältigung einer Kulturkrise gerichtet. Durkheims Werk ist nicht erst in der Religionstheorie, sondern von Anfang an109 von der Frage nach den Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen Moral und neuer Institutionen bewegt. Diese Frage aber erklärt sich nur aus der Einsicht in die Erschütterung der Grundlagen der bestehenden Institutionen und in die Ungewißheit, ob der Fortschritt der Arbeitsteilung tatsächlich zu einer neuen, »organischen« Solidarität führen werde. Selbst die amerikanische Philosophie und Soziologie der Zeit, in der gewiß historischer Optimismus und sozialreformerisches Selbstvertrauen zu spüren waren, gewann diese Haltung nicht aus naiver Ignoranz gegenüber dem ambivalenten Charakter des Fortschritts der vorangegangenen Jahrzehnte. Die Philosophen des Pragmatismus und die von ihnen stark beeinflußten Soziologen der Chicagoer Schule, die bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus die entscheidende Rolle für die amerikanische Soziologie spielten, sahen ihre Gegenwart nicht als Idylle. Sie glaubten allerdings, daß sich in 108 Max Weber, Röscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie, in: M.W., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen 1973, S. 1-145, hier S. 33, Anm. 2. 109 Vgl. Kapitel 1.5 dieses Buches. 363
der wissenschaftlichen Methode ein Verfahren gefunden habe, dessen umfassende Institutionalisierung und dessen Anwendung auf die Probleme der Sozialreform unter demokratischen Bedingungen weiteren Fortschritt ermögliche. In einem bestimmten Sinn stellt der Pragmatismus einen Versuch dar, von der evolutionistischen und geschichtsphilosophischen Umformung des Fortschrittsgedankens auf die ursprüngliche Aufklärung zurückzulenken. Der Erste Weltkrieg ist etwa für Dewey ein fast schon willkommen geheißener Anlaß, das Narrenparadies des Traums von einem automatischen und ununterbrochenen Fortschritt zu verlassen. »We confused rapidity of change with advance, and we took certain gains in our own comfort and ease as signs that cosmic forces were working inevitably to improve the whole State of human affairs.«110 Es sei Zeit, mit dem »laissez faire«-Denken aufzuhören, wobei Dewey den Sinn dieses Ausdrucks vom Vertrauen auf die heilsamen Kräfte des Marktes auf das Vertrauen in Natur, Vorsehung, Evolution oder nationale Sendung, »manifest destiny«, ausdehnt - all diese Haltungen stünden einer Übernahme geschichtlicher Verantwortung entgegen; nur diese aber gewährleiste Fortschritt. In der Wissenschaft sei nur die Möglichkeit eines rationalen Verfahrens angelegt. - Auch der größte Teil von Meads Nachkriegsphilosophie, wie er uns in der »Philosophy of the Present« vorliegt, ist ja dem Widerstand gegen eine Philosophie der Vergangenheit, d.h. einen mechanistischen Determinismus, und gegen eine Philosophie der Zukunft, d. h. einen teleologischen oder finalistischen Determinismus, gewidmet. Eine Philosophie der Gegenwart habe vielmehr das »Entstehen des Neuen« in der Universalität der Determinationen zu denken. Die Krise des Fortschrittsglaubens wird hier also als Chance für die neue Verknüpfung von verantwortungsvollem Handeln und Fortschritt gesehen. Allen Klassikern der Soziologie ist damit gemeinsam der Gedanke, daß erst der Verlust des naiven Fortschrittsglaubens die Offenheit geschichtlicher Zukunft, die Riskiertheit und Verantwortlichkeit gegenwärtigen Handelns erschließt. Welche I I O John Dewey, Progress, in: J.D., Characters and Events. Vol. iL, N e w York 1929, S. 820-830, hier S. 8201.
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Möglichkeiten die Menschheit angesichts dieser offenen Zukunft hat, bleibt zwischen ihnen aber umstritten.Welches Gegenmittel gegen die Verdunkelung aller Zukunftsperspektiven hatten die soziologischen Klassiker also anzubieten? Ich denke, es ist falsch, diese Frage mit dem Verweis auf das jeweilige politische Weltbild beantworten zu wollen. Hier finden wir eine Vielzahl politischer Optionen: von Tönnies' schrittweiser Annäherung an die Sozialdemokratie bis hin zu Sombarts Weg zu Hitler. Schwer unterscheidbar ist hierbei oft, welcher Anteil bei diesen Entscheidungen auf vorwissenschaftliche Parteinahme und welcher Anteil auf das Resultat der soziologischen Analysen entfällt. Aber soziologische Theoretiker sind nicht auf ihre politische Parteinahme zu reduzieren; ihre theoretischen Konstruktionen sind nicht einmal von ihrem zeitdiagnostischen Gehalt aus gerecht zu beurteilen. Fragt man daher nach den grundlegenden theoretischen Errungenschaften, dann zielt man auf die Ebene der fundamentalen Annahmen über menschliches Handeln und soziale Ordnung. Dann zeigt sich gleichzeitig, daß es eben der Handlungsbegriff selbst oder eine seiner Dimensionen ist, die im Werk dieser Klassiker als begrifflicher Ansatz für die Entstehung von Neuem oder Besserem dienen muß. Nachdem mit Geschichtsphilosophie und Evolutionismus die »letzte Religion der Gebildeten« (Benedetto Croce) dahin war, konnte der Blick in die Zukunft - wenn kein Rückzug auf transzendente Sinnstiftung akzeptabel war - nur noch über immanente Züge der menschlichen Lebensbewältigung gelingen. Handlung und Sozialität des Menschen mußten selbst in ihrer (potentiellen) Kreativität deutlich werden, damit ein Ausweg aus der Kulturkrise denkbar würde. Die Randstellung der Kreativität in der Tradition der soziologischen Handlungstheorie stellt deshalb einen Rückfall hinter den von den Klassikern erreichten Stand dar. Die grundlagentheoretische Provokation der »Postmoderne«-Diskussion liegt darin, daß sie die selbstverständliche Fortführung der so eingeschränkten Tradition soziologischer Handlungstheorie unmöglich macht. Die stillschweigenden Voraussetzungen dieser Handlungstheorie werden von ihr bloßgelegt. 365
Die Skepsis gegenüber einer aktivistischen Einstellung zur Welt:, die Forderung nach Gelassenheit und Geschehenlassen provoziert die Annahme zweckgerichteter Orientierung und nötigt zum Bruch mit einem teleologisch verengten Verständnis von Intentionalität. 111 Die Aufmerksamkeit auf den Körper, seine Disziplinierung und Glider ständigkeit provoziert die Annahme einer Instrumentalisierbarkeit des Körpers für die Zwecke des Handelns und nötigt zur Entwicklung eines Begriffs nichtinstrumentellen Körperbezugs. 112 Der Spott über den Glauben an ein substanzhaftes Selbstm provoziert die Annahme autonomer Individualität und nötigt zur Einsicht, daß Identität nicht in einem unbeweglichen Sichselbstgleichbleiben besteht, sondern in einer aktiven, ja kreativen Verarbeitung von Widerfahrnissen und ich-fremden Regungen und der Bereitschaft zur Öffnung gegenüber anderen Identitäten. i n z.B. Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt/M. 1989. 112 Dies scheint die Tendenz in Foucaults später Entwicklung gewesen zu sein. In seinen Büchern zur Geschichte der Sexualität faßt er unter dem Titel einer Ästhetik der Existenz Möglichkeiten eines nicht-instrumentellen Umgangs der Person mit sich selbst ins Auge. Vgl. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. 4 Bde. Frankfurt/M. 1977 ff. 113 In seiner kritischen Wiedergabe formuliert Terry Eagleton die postmoderne Kritik am Identitätsbegriff als Reduktion des Subjekts auf »a dispersed, decentred network of libidinal attachments, emptied of ethical substance and psychical interiority, the ephemeral function of this or that act of consumption, media experience, sexual relationship, trend or fashion. The >unified subject< looms up in this light as more of a shibboleth or straw target, a hangover from an older liberal epoch of capitalism, before technology and consumerism scattered our bodies to the winds as so many bits and pieces of reified technique, appetite, mechanical Operation or reflex of desire«. Terry Eagleton, Capitalism, modernism and postmodernism, in: New Left Review 152 (1985), S. 60-73, hier S. 71. - Ganz unverständlich ist mir, wie Koslowski eine Rückkehr zu einer substantialen Theorie des Selbst als Zug der Postmoderne bezeichnen kann. Vgl. Peter Koslowski, Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung. München 1987, S. 49 ff. 366
Rationalistisches Pathos hilft deshalb in der PostmoderneDebatte nicht weiter. Die soziologische Handlungstheorie muß vielmehr zeigen, daß sie den Einwänden der Postmoderne-Theoretiker durch eine Selbstrevision Rechnung zu tragen versteht. Diese Selbstrevision wurde im vorliegenden Zusammenhang unter Bezug auf die Tradition des Pragmatismus in Angriff genommen. Dabei erlaubt es die rekonstruktive Einführung der in den Modellen rationalen Handelns enthaltenen stillschweigenden Voraussetzungen, auf eben jene Bereiche einzugehen, die von der postmodernen Skepsis gegen eine Theorie des Handelns ins Zentrum gerückt werden. Während der Einfluß des pragmatistischen Denkens bis heute weitgehend auf die USA beschränkt blieb und auch dort in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgedrängt wurde, setzte sich in Deutschland und Frankreich die Lebensphilosophie durch, für die der Gedanke der Kreativität ebenso zentral wie für den Pragmatismus war. Der Unterschied zwischen beiden Denktraditionen springt aber ins Auge: der Pragmatismus verortet die Kreativität im alltäglichen menschlichen Handeln und sieht in der Wissenschaft eine Ausformung dieses Potentials; die Lebensphilosophie dagegen setzt Kreativität dem Alltag und der normalen Wissenschaft scharf entgegen. In der Lebensphilosophie wird der Nexus zwischen Kreativität und Handeln durchschnitten, und es wird entweder auf einen vormenschlichen Willen projiziert, was nur im Zusammenhang menschlicher Intentionalität Sinn macht, oder Kreativität wird als willkürliche Produktion von Bedeutungen und unkontrolliertes Spiel verstanden statt als ständige Reorganisation unserer Verhaltensgewohnheiten und Institutionen. Kreativität im Sinne von Genialität ist dann »nicht schöpferisch im Sinne positiven Hervorbringens. Sie lebt aus einer negativen Dialektik, die erst in der Vernichtung aller konkreten Positionen das Gefühl schöpferischer Freiheit vermittelt, erst durch die Abschaffung bestehender Wirklichkeiten und Werte das schöpferische All der Möglichkeiten eröffnet und nicht mehr als dieses will. Es ist eine Genialität, die in einem abstrakten Absolutheitsanspruch sich selbst zum Ziele hat. Sie verzichtet 367
der uneingeschränkten Potentialität zuliebe auf jede Aktualität.« 114 Die Differenz zwischen der Lebensphilosophie und dem Pragmatismus in Hinsicht auf ihr Verständnis von Kreativität115 ist deshalb kein obsoleter Gegenstand philosophiegeschichtlichen Interesses, sondern der Dreh- und Angelpunkt im Verhältnis von Postmoderne-Diskussion und Soziologie. Eine solche Theorie der Kreativität des Handelns scheint zudem am besten geeignet, den sozialpsychologischen Entwicklungen der Gegenwart gerecht zu werden. Die Prognose der älteren Kritischen Theorie, wir würden alle zu »Lurchen«, läßt sich wohl getrost ad acta legen.116 Mit dieser Metapher prophezeite Adorno eine fortschreitende Reduktion der Subjektivität auf das Niveau bloßer Reiz-Reaktions-Schemata; der Siegeszug des Behaviorismus in der amerikanischen Psychologie der Zeit konnte damit als Vorbote der realen sozialpsychologischen Veränderungen im »Spätkapitalismus« gedeutet werden. Eine Schwäche dieser pessimistischen Sichtweise lag freilich von vornherein darin, daß auf die gleichzeitig sich entwickelnden Vorstellungen einer Psychologie der Kreativität, die im Werk Erich Fromms auch durch Mitglieder der Frankfurter Schule artikuliert wurden, nicht in ähnlicher Weise reagiert wurde. Wenn immer mehr Menschen das Selbstverständnis schöpferischer Individualität entwickelten, wurde dies nicht als optimistisch stimmendes Zeichen einer besseren Zukunft gewertet, sondern als ideologische Verblendung abgetan. 117 Auf der Ebene der Wertorientierungen aber kann nach den Ergebnissen der sogenannten WertwandelForschung kein Zweifel sein, daß sich in den hochentwickelten Gesellschaften postmaterialistische Werte - und unter diesen wesentlich der Wert individueller Selbstverwirklichung 114 Jochen Schmidt, a.a.O., Bd. 2, S. 165. 115 Vgl. ausführlich die Kapitel 2.4 und 2.5 dieses Buches. 116 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. 1969, S. 43. 117 Vgl. zur Kritik hieran meinen Aufsatz »Die unterschätzte Alternative«, in: HJ., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, a. a. O., S. 96-113. 368
- immer weiter ausbreiten. 118 Was diesen Wert betrifft, kann keine Rede von postmoderner Beliebigkeit gegenüber werthaften Geltungsansprüchen sein; gerade im Gestus der Postmoderne steckt vielmehr selbst der Anspruch - und unter lebensphilosophischem Einfluß ein übersteigerter Anspruch auf Kreativität. Was die Wertwandel-Forschung mit den quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung erkundet, findet in qualitativen und intuitiven Untersuchungen Unterstützung. In einer originellen Untersuchung der Kinder jener Befragten, die in den fünfziger Jahren die Grundlage für eine klassisch gewordene Sozialpsychologie des »Organization Man« geliefert hatten 119 , kommen die Autoren zu dem Schluß, daß der Unterschied dieser beiden Generationen von dramatischer Größe sei. Ihre Formel für diese Entwicklung lautet: »From the Self-Made Man to the Man-Made Seif«.120 Die Wertorientierung dieser neuen Generation charakterisieren sie mit den Begriffen Expressivität, Kreativität und Authentizität. Nicht mehr die Trennung eines rein instrumentellen Berufslebens von einem im Rahmen sozialer Konformität rein expressiven Privatleben sei kennzeichnend für die Wertorientierungen dieser Generation, sondern ihr Versuch, einen je eigenen Lebensstil zu finden, der Expressivität und Instrumentalität versöhnt. Die Sehnsucht gilt deshalb Berufen, die diese Versöhnung zu erlauben scheinen - etwa kreativen Professionen in den Medien - oder einer Umdefinition von Berufsrollen in dieser Richtung. Die Autoren beobachten an ihren Befragten durchgehend die Tendenz, im Fall enger beruflicher Schranken für die praktische Orientierung an diesen Werten das Privatleben wie ein Kunstwerk zu gestalten. Selbstverständlich stellt ein beobachtbarer Wertewandel zu118 Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton 1977; ders., Culture Shift in Advanced Industrial Society. Princeton 1990.
119 Paul Leinberger/Bruce Tucker, The New Individualists. The Generation After the Organization Man. New York 1991; William H. Whyte, Jr., The Organization Man. New York 1956. 120 Leinberger/Tucker, a.a.O., S. 226. 369
nächst nur eine Momentaufnahme dar und darf nicht Anlaß für Spekulationen über den Beginn einer neuen Epoche sein. Ohne genaueres Wissen über die Ursachen dieses Wandels und die Chancen seiner Persistenz wäre jede solche Aussage schlecht begründet. Auch werden sich die Vertreter der kritischen Prognose von den Lurchen durch die bloße Tatsache der Verbreitung kreativitätsbezogener Wertorientierungen noch nicht als widerlegt betrachten. Könnte es doch sein, daß eben das Selbstverständnis schöpferischer Individualität als die neue Form von Repression zu betrachten sei, wenn sie nur das illusionistische Flittergewand der verselbständigten »Systeme« ist. Von entscheidender Bedeutung ist deshalb die Frage, ob dieser Wertewandel an der gesellschaftlichen Wirklichkeit abprallt oder sie durchsetzt und verändert und vielleicht von ihr sogar gefördert wird. Trotz aller Unklarheiten und Probleme 121 finden sich in der Wertewandel-Forschung zahlreiche Hinweise auf die strukturellen Möglichkeitsbedingungen und Durchsetzungschancen dieser Werte. Arbeitszeitverkürzung und Anhebung des formalen Bildungsniveaus, Frauenerwerbstätigkeit, kollegiale Organisationsstrukturen und die Ausbreitung flexibler Verknüpfungen von Berufstätigkeit und anderen Betätigungen bieten eine Vielzahl von Chancen, den veränderten Werten in der Gestaltung der eigenen Biographie zu entsprechen. Selbstverständlich darf dies von weiterexistierenden oder sich sogar verschärfenden Formen sozialer Benachteiligung und von der 121 Aus der umfangreichen Diskussionsliteratur zu Ingleharts These vom Wertewandel hebe ich hervor: Helmut Thome, Wertewandel in der Politik? Eine Auseinandersetzung mit Ingleharts Thesen zum Postmaterialismus. Berlin 1985. Gegen eine zu direkte Verkuppelung von ökonomischem Wohlstand und Wertewandel wendet Thome ein, daß Inglehart »das relative Gewicht von absolutem Befriedigungsniveau und Veränderungsrate, von objektiv erreichtem Stand der Bedürfnisbefriedigung und wahrgenommener Sicherheit des Befriedigungsniveaus ebenso im unklaren (läßt) wie die Bedeutung alternativer Vergleichsgesichtspunkte, die zum einen aus der Situation irgendwelcher Bezugsgruppen, zum anderen aus der eigenen Vergangenheit der Individuen oder Gruppen gewonnen werden«. (S. 7$i)370
stillschweigend vorausgesetzten Hintergrundstabilität des Wohlfahrts- und Rechtsstaates nicht ablenken. N u r so viel ist hier festzuhalten, daß die Behauptung einer gestiegenen Bedeutung der Kreativitäts-Idee für ein Verständnis der Gegenwart nicht ohne Verankerung in der Wirklichkeit ist. Der Begriff der »Individualisierung« verdankt einen Teil seiner enormen öffentlichen Durchschlagskraft gewiß der unklaren Vermischung der Idee einer zunehmenden Orientierung am Wert persönlicher Autonomie mit der ganz anders gelagerten und in der Soziologie traditionsreichen Befürchtung eines um sich greifenden Verlusts jeder Gemeinschaftsbindung oder verbindlichen Wertorientierung, d.h. der Anomie. Die beiden begrifflich zu scheidenden Prozesse können freilich in der Wirklichkeit sehr wohl miteinander verknüpft sein. Die für die Dynamik des Kapitalismus seit seiner Entstehung charakteristischen Anomisierungsprozesse spielen sich heute in einer kulturellen Umwelt ab, in der der Wert der persönlichen Autonomie höchste Wertschätzung genießt. Die »Anomisierung« ist aber nicht die Folge der »Autonomisierung«. Die begriffliche Schärfe in der Diagnose ist deshalb so wichtig, weil sie die Wahl der richtigen Therapie beeinflußt. Wenn »Individualisierung« das Problem ist, dann ist ein Ausweg aus der Kulturkrise der Gegenwart nur durch eine normative Bändigung des Individualismus möglich - gleichgültig, ob es sich um eine Steigerung des utilitaristischen oder des expressiven Individualismus oder beider zur selben Zeit handelt. 122 Mit einem solchen Vorschlag zur Therapie laufen Zeitdiagnosen, die zu Recht die Plausibilität einer zunehmenden Reduktion auf eine Form des Handelns bestreiten und statt dessen 122 Darin sind sich ansonsten so unterschiedliche Diagnosen wie die von Bell und Bellah einig: Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technologie im Widerstreit. Frankfurt/M. 1979; Robert Bellah/Richard Madsen/William Sullivan/Ann Swidler/ Steven Tipton, Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life. Berkeley 1985. - Ulrich Beck, durch den die Individualisierungsthese in Deutschland besondere Verbreitung gefunden hat, hält sich in dieser Hinsicht dagegen bedeckt. 371
mit einer Pluralität von Handlungstypen und deren Spannung oder Kompromißbildung argumentieren, den Vertretern der »Postmoderne« gewissermaßen ins offene Messer. Die normative Kritik am expressiven Individualismus ist der Gegner, auf den sich die postmodernen Propagandisten einer normativ uneingeschränkten Selbsterschaffung immer schon eingestellt haben. Eine adäquate soziologische Gegenwartsdiagnose kann deshalb nicht anders: sie muß auch die normative Provokation der Postmoderne-Diskussion ernstnehmen und die der Soziologie zugrundeliegenden Vorstellungen über N o r m und Moral durch die Einsicht in die Kreativität des menschlichen Handelns verändern. Die Strebungen nach Kreativität sind nicht aus sich heraus individualistisch beschränkt. Der Konflikt zwischen utilitaristischem und expressivem Individualismus ergibt sich nicht aus diesen Handlungsformen als solchen, sondern aus bestimmten historischen Konstellationen, und ist insofern ein abgeleiteter Konflikt, als er die Abdrängung der Tendenzen zu umfassender Kreativität ins Individuelle voraussetzt. Mein Verständnis solch umfassender Kreativität läßt sich anhand einer Begrifflichkeit erläutern, die ich der »humanistischen Psychologie« Abraham Maslows entnehme 123 . Maslow unterscheidet zwischen primärer, sekundärer und integrierter Kreativität. Unter primärer Kreativität versteht er die Freisetzung von »Primärprozessen« der Phantasie und Vorstellungskraft, des Spielerischen und Enthusiastischen. Mit sekundärer Kreativität meint er die rationale Produktion von Neuem in der Welt, seien dies technische oder wissenschaftliche, auch viele künstlerische und alltagspraktische Problemlösungen. 123 Abraham Maslow, Psychologie des Seins. München 1986. Auch in der psychoanalytischen Literatur hat sich spätestens durch die Arbeiten von Lawrence Kubie (z.B. ders., Psychoanalyse und Genie. Der schöpferische Prozeß. Reinbek 1966) ein Verständnis der kulturproduktiven Kreativität im Sinne eines Wechselspiels von Freisetzung und Kontrolle vorbewußter Symbolbildungsprozesse durchgesetzt. Auf das reichhaltige empirische Schrifttum dieser Richtung zur Kreativität gehe ich aus Mangel an therapeutischen Kenntnissen nicht weiter ein. 372
Die Krise des Fortschrittsglaubens läßt sich als Krise dieser sekundären Kreativität deuten. Es ging und geht in ihr ja nicht um den Zweifel an der Möglichkeit weiteren technischen, wissenschaftlichen oder ökonomischen Fortschritts. Sondern es geht um das Gefühl, daß diese sektoralen Fortschritte sich nicht zu einem wertvollen Ganzen aufaddieren, das den Namen des Fortschritts im Singular verdient. Die Distanz zum Fortschritt aus sekundärer Kreativität führt dann, wenn sie nicht einfach rationalistisch verdammt wird, zu einer neuen Bewertung der primären Kreativität. Aber dabei ergeben sich zwei Möglichkeiten. Es kann eine Sehnsucht nach primärer Kreativität geben, die alle sekundäre Kreativität verachtet. Dies ist der Weg eines Irrationalismus im strengen Sinn. Es kann aber auch eine Integration von primärer und sekundärer Kreativität gedacht werden. Dies ist Maslows dritter Typus. Hier führt die Distanz zur sekundären Kreativität zu einer höheren Kreativität, die allerdings nicht die Kontrolle von Rationalität und Kritik ablehnt. Das große Werk »bedarf nicht nur des plötzlichen Einfalls, der Inspiration, der Grenzerfahrung, sondern es erfordert auch harte Arbeit, lange Schulung, unnachgiebige Kritik, perfektionistische Kriterien. Anders formuliert, auf das Spontane folgt das Überlegte, auf die totale Akzeptierung folgt Kritik; auf die Intuition folgt strenges Denken; nach dem Wagnis kommt Vorsicht; nach der Phantasie und Imagination kommt die Wirklichkeitserprobung«. 124 In diesem Begriff der »integrierten Kreativität« wird die Offenheit der Selbstartikulation mit der Verantwortungshaftigkeit der Selbstkontrolle zusammengebracht. Eine sozialpsychologische Zeitdiagnose auf der Grundlage einer die Kreativität betonenden Handlungstheorie hätte nach dem heutigen Potential solcher »integrierten Kreativität« zu fragen, d.h. nach dem Vorhandensein der Bedingungen für eine Autonomie der Persönlichkeit, die nicht mit dem Preis moralischer Regressivität erkauft wird. Sie hätte sodann die individualistische Umformung der Kreativität durch Kommerzialisierung und Statuskampf zu analysieren und die Ausdrucksformen 124 ebd., S. 148.
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verschütteter Kreativität zu dechiffrieren. Unter den Begriffen »Partizipation«, »Yuppisierung« und »Gewalt« werden hier nur Andeutungen einer solchen Diagnose gegeben. Im Begriff der Partizipation steckt heute der von den Tendenzen zur Privatisierung noch nicht zum Schweigen gebrachte Wunsch nach öffentlicher, erlebbarer Sozialität und folgenreicher schöpferischer Betätigung im Gemeinwesen. In der Partizipation an den Organisationen und Institutionen demokratischer Politik und Kultur sowie in den sozialen Bewegungen, die den flüssigen Untergrund der Demokratie darstellen, können rationale Interessenverfolgung, moralische Verpflichtung und kreative Selbstentfaltung als ungeschieden erfahren werden. Partizipation ist nur dann eine praktische Form integrierter Kreativität, wenn sie nicht nur Verfolgung eigener Interessen oder bloße normative Verpflichtung, abgehoben von der im Privaten sich abspielenden Selbstentfaltung ist. Umgekehrt verfehlt auch die Instrumentalisierung der Partizipation zu Zwecken individualistisch verstandener Selbstentfaltung ihren Sinn. So sehr Partizipation ein Schlüsselwort für nicht privatistisch verengte Kreativität ist, so wenig darf sie in falscher Emphase zum Synonym für ein gelingendes Leben gemacht werden. Nicht nur steht neben ihr der Bereich des Arbeitslebens, sondern es ist vor allem zu bedenken, daß nicht alle Fragen nach einem sinnvollen Leben öffentlichen und politisch behandelbaren Charakter haben. 125 Partizipation hat ihren O r t innerhalb einer je individuellen Balance von Handlungsweisen. Der Begriff der »Yuppisierung« soll dagegen die Stillstellung des Spannungsverhältnisses von Normativität und Kreativität bezeichnen, die aus der radikalen Entmoralisierung sowohl des utilitaristischen wie des expressiven Individualismus entsteht. In dem seit Mitte der achtziger Jahre gebräuchlich gewordenen Begriff des »Yuppie«126 stellen wir uns einen Typus von Menschen vor, die weder beim schrankenlosen Einsatz aller Mittel, 125 Dies betont energisch - gegen Bellah und Habermas - Charles Taylor, Sources of the Seif, a.a.O., S. 509. 126 Dazu v.a. Barbara Ehrenreich, Fear of Falling, The Inner Life of the Middle Class. New York 1989, S. 196-243. 374
die zu wirtschaftlichem und beruflichem Erfolg führen können, noch beim Genuß der Schönheiten des Luxus und des Vergnügens in Lebensstil und Freizeit ein schlechtes Gewissen kennen. Geldgier und Karrieregeilheit sind ebenso entmoralisiert wie Verschwendung und demonstrativer Konsum im Angesicht sozialer Ungleichheit. Das »Yuppiehafte« sehe ich in allem unspezifischen Hunger nach neuen Erfahrungen um der Neuheit willen und in allen Lebensstilen, die ohne jeden Anspruch auf Verallgemeinerung auftreten. So richtig es ist, daß eine demokratische Kultur Toleranz für die verschiedensten Lebensstile und große Spielräume für deren autonome Wahl erfordert, und so wenig die notwendig im Plural vorkommenden Lebensstile gleichzusetzen sind mit universalisierbaren Forderungen ans Gemeinwesen, so sehr muß ihnen doch ein Rest von Zumutung an andere verbleiben. Wo dieser Rest verschwindet, verkommt die kulturelle Innovation zur privatistischen Enklavenbildung und gibt damit den öffentlichen Raum frei für diejenigen, die dort die Durchsetzung ihrer Prinzipien suchen. Unermüdlich wiederholen die Postmodernen den Gedanken, daß starrer Konsens das schöpferische Potential der Differenz eliminiert. Aber dieses Schöpferische geht auch verloren, wenn die Differenz spannungslos wird, weil keiner der Beteiligten sich mehr ans bestimmte Eigene gebunden fühlt, keiner das Andere als möglicherweise heilsame Provokation zur ernsthaften Selbstveränderung erlebt, und alle Gerichtetheit auf einen möglichen Konsens - und sei es den über die Differenz - verschwunden ist. Als individuell oder kollektiv spontan verübte ist »Gewalt« Ausdruck verschütteter Wege zur integrierten Kreativität. Selbstverständlich gibt es Gewalt nicht nur in dieser Form; oft wird sie in utilitaristischer Nüchternheit oder mit dem Gefühl moralischer Verpflichtung angewendet. Aber wo Partizipation unmöglich ist oder Kreativität nicht sinnvoll in die persönliche Balance eines sinnvollen Lebens einzugliedern ist, staut sich ein am Ausdruck gehindertes Potential. Wo die postmoderne Koexistenz heterogener Lebensstile nicht intellektuelles Vergnügen bereitet, sondern als Überforderung erlebt wird und Angst macht, entsteht Gewaltbereitschaft gegen die 375
Fremden und alle, die die ins Rutschen geratenen Wertorientierungen noch stärker zu bedrohen scheinen. Sträflich ignorieren die Postmodernen in ihrer Euphorie über Multikulturalität und die Freisetzung aus konkreten Gemeinschaften die Folgen einer möglichen Überforderung vieler Menschen durch diese Entwicklung. Dabei findet sich in Deutschland heute selbst an den Rändern des studentischen Milieus die zur Fremdenfeindlichkeit spiegelverkehrte Selbstinszenierung sogenannter »autonomer«, von Kampf und Gewalt faszinierter Militanter. Diese groben Andeutungen und Bemerkungen zu einer Phänomenologie der Kreativität heute und damit zu einer zeitdiagnostischen Anwendung einer in der Richtung der Kreativitätsidee revidierten Handlungstheorie sind unverhohlen normativ. Schon der Begriff der »integrierten Kreativität« ist zweifellos nicht wertfrei. Unterliege ich damit am Ende nicht auch der Gefahr, der vermeintlichen moralischen Indifferenz der Postmodernen mit normativem Pathos entgegenzutreten ? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn die Zweideutigkeit klar wird, die in der normativen Provokation des Postmoderne-Diskurses steckt. Gemeint sein kann eine fröhliche Verabschiedung aller Moralität oder doch eine »Faszination der Amoralität« 127 , und gegen diese ist normatives Pathos durchaus angebracht. Gemeint sein kann aber auch ein Anstoß zu einer tiefgehenden Revision unserer Vorstellungen von Moralität und Normativität. Eine solche Revision wird nötig, wenn die Idee der Kreativität ins Zentrum rückt. Dies gilt unabhängig davon, ob eine lebensphilosophische oder eine pragmatistische Version dieser Idee den Leitgedanken bildet. Schon von Nietzsches Kritik des Christentums ließ sich lernen, was unauthentische Moralität bedeutet. Die Befreiung des Individuums vom übermäßigen Druck moralischer Ideale kann als Ende aller Moral verstanden werden. Sie kann aber auch der Weg zu authentischer Moralität sein. Ideale werden 127 So der Titel einer vorzüglichen Kritik an Luhmanns Moraltheorie: Sighard Neckel/Jürgen Wolf. Die Faszination der Amoralität. Zur Systemtheorie der Moral, mit Seitenblicken auf ihre Resonanzen, in: Prokla 18 (1988), S. 57-77. 376
destruktiv, wenn sie ein offenes Verhältnis zu den positiven und negativen Strebungen unserer vorsprachlichen Natur und die Akzeptanz unserer selbst und unserer Mitmenschen verhindern. Sicher erfordert Moralität Distanz gegenüber diesen Strebungen; aber Kreativität erfordert auch Distanz gegenüber der Moralität. Die Frage, die von der Kreativitätstheorie aus an die Moraltheorie zu stellen ist, betrifft deshalb nicht notwendig die Substanz der Moral, sondern die Art ihrer Verankerung in der Persönlichkeit. Und hier teilen sich sofort wieder die Wege der konkurrierenden Kreativitätskonzeptionen. Der eine Weg führt zu einer Ästhetisierung des Lebens und wird heute, ungeachtet zahlreicher Vorläufer, vornehmlich mit den Namen Foucault, Lyotard und Rorty 128 bezeichnet. Hier ertönt das Preislied auf den ständigen Gewinn andersartiger Erfahrungen und den ständigen Erwerb neuer Idiome, um die Erfahrungen immer neu zu formulieren. Ohne Grund wird damit ein seine Optionen selbst begrenzender, bindungsfester, askesefähiger und kohärenter Lebensstil durch ein einseitiges Verständnis des Ästhetischen abgewertet.129 Der andere Weg hält die Spannung zwischen Kreativität und Normativität für unaufhebbar. 130 Gerade aus dem Fest128 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M. 1989. Dieser Autor, in dessen Spielart pragmatistischer Philosophie eine Vielzahl nietzscheanischer und postmoderner Momente eingegangen ist, nimmt die Spannung zwischen der Idee einer Ästhetisierung des Lebens und den Anforderungen einer demokratischen Kultur allerdings ernst und bemüht sich um den folgenden Kompromißvorschlag: »Privatisiert den NietzscheSartre-Foucaultschen Versuch zur Authentizität und Reinheit, damit ihr euch davor schützen könnt, in eine politische Einstellung abzugleiten, die euch zu der Überzeugung bringen würde, daß es ein wichtigeres soziales Ziel als die Vermeidung von Grausamkeit gibt.« (ebd., S. 117). 129 Vgl. Richard Shusterman, Postmodernist Aestheticism: A New Moral Philosophy?, in: Theory, Culture and Society 5 (1988), S. 337-356. 130 Christoph Menke, Das Leben als Kunstwerk gestalten ? Zur Dialektik der postmodernen Ästhetisierung, in: Initial 4/1991, S. 383-395. 377
halten am Anspruch der Kreativität kann sich dann aber eine neuartige Moralisierung des sozialen Lebens ergeben. 131 Dies gilt nicht nur in dem seit Herder und der Romantik geläufigen Sinn von Kollisionen zwischen den Selbstverwirklichungsansprüchen der Individuen und den einengenden Gegebenheiten der sozialen Ordnung, woraus sich Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung ergeben können. Sondern es gilt in dem nachromantischen, vielleicht »postmodernen« Sinn der Frage, wie eine soziale Ordnung auszusehen hat, die wir für uns schaffen sollen und wollen. Durch den Wegfall metasozialer Garantien bei der Schaffung sozialer Ordnung führt uns die Reflexion zur Kreativität des menschlichen Handelns selbst.
131 Das scheint mir der Sinn von Giddens' Konzeption von »life politics« zu sein, die die »emancipatory pölitics« ergänzen: Vgl. Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Seif and Society in the Late Modern Age. Cambridge 1991, S. 209-231. 378
Nachweise
Folgende Abschnitte wurden in früheren Fassungen vorveröffentlicht: Kapitel 1.4 in: Max Weber-Dialog und Auseinandersetzung. Materialien des wissenschaftlichen Symposiums anläßlich des 125. Geburtstages von Max Weber am 21. April 1989 in Erfurt. Informationen zur soziologischen Forschung in der D D R 25 (1989). Sonderheft, S. 120-127. Kapitel 3.2 (teilweise) in: Human Studies 6 (1983), S. 197-204; Friedrich Heckmann/Peter Winter (Hg.), 21. Deutscher Soziologentag Bamberg 1982. Beiträge der Sektions- und ad hoc-Gruppen. Opladen 1983, S. 798-802. Kapitel 4.2 in: Jon Clark et al. (eds.), Anthony Giddens: Consensus and Controversy. Basingstoke 1989, S. 91-102 (Titel: Giddens' Critique of Functionalism); (teilweise) in: Hansgünter Meyer (Hg.), Soziologie in Deutschland und die Transformation großer gesellschaftlicher Systeme. Soziologentag Leipzig 1991. Berlin 1992. Kapitel 4.3 (teilweise) in: Die Demokratisierung der Differenzierungsfrage, in: Soziale Welt 41 (1990), S. 8-27. Kapitel 4.4 (teilweise) in: Wolfgang Zapf (Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages. Frankfurt/M. 1990, S. 205-211. (Titel: Partizipation - »Yuppisierung« - Gewalt. Über Kreativität heute).
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402
Namenregister
Adorno, Theodor W. 153, 368 Alberoni, Francesco 302"" Alexander, Jeffrey 27, 36*, 38, 43ff., 69, 76L, 130fr., 3 o 7 f., 32i-3*4> 332% 334, 339, 341'"' Alexander, Thomas M. 208* Alwast, Jendris 101* Anderson, Douglas R. 197* Anscombe, Gertrude E. M.
Berki, R . N . 136* Berlin, Isaiah 110, 113 f.* Bernard, Michel 258*, 269* Bernstein, Richard 13, 317"' Bershady, Harold 27, 46, 52 Bertram, Hans 99* Beyme, Klaus von 356"" Bickel, Cornelius 102* Bloom, Allan 109 Blumer, Herbert 303 Böhler, Dietrich 214*, 2351., 279* Bollnow, O t t o Friedrich
113*
Apel, Karl-Otto
189*, 197,
214
174*
Arendt, Hannah 140*, 171 f., 207 Aristoteles 121 Arnason, Johann Päll 73, 147*, 150*, 151 f., 348* Augustinus 171
Bonald, Louis de 35 Bonnier, Jules 258 Bourdieu, Pierre 340 Bowles, Samuel 348"" Brand, Karl-Werner 356* Brandenburg, Karl-Heinz
Balandier, Georges 280* Barber, Benjamin 348':' Bataille, Georges 280* Baudrillard, Jean 359 Baumann, Zygmunt 358* Baumeister, Thomas 208* Baumgarten, Eduard 200*,
Brecht, Bertolt 311 f. Brede, Karola 251* Breuer, Stefan 73*, 350* Breuilly, John 344* Burgess, Ernest 303 Busch, Hans Joachim 277* Busino, Giovanni 170* Büsser, Detlef 350""
203 *
226*
Beck, Ulrich 350, 353ff. Bell, Daniel 371"" Bellah, Robert 96, 334, 371*,
Camic, Charles 36*, 40*, 45, 46*, 73*, 219*, 287* Castoriadis, Cornelius 12, 157, 159 f., 170f., 241*, 340,
374'"' Bendix, Reinhard 39*, 333"' Berger, Johannes 350"' Bergson, Henri 78, 103, 174, 185, 363
345, 349 Clark, Jon 344* Clarke, Simon 56 403
Clausen, Lars 101*, 102* Coenen, Hermann 265* Cohen, Gerald 312 Cohen, Jean 162*, 164* Collins, Randall 340 Colomy, Paul 332* Comte, Auguste 35, 58, 83, 362 Condillac 116 Conrad, Klaus 260"' Cooley, Charles 34, 64, 66 Coulanges, Fustel de 94 Croce, Benedetto 365
Eagle, Morris N . 277* Eagleton, Terry 366"' Ehrenreich, Barbara 374"" Eisenstadt, Shmuel 72 f., 324, 33i> 334 Elias, Norbert 246, 340 Elster, Jon 128*, 248*, 278*, 306 Engeil, James 110*, 272* Engels, Friedrich 57, 59, 129*, 144"", 158, 159"", 160,
306 Engler, Ulrich 209* Erikson, Erik 72* Etzioni, Amitai 325, 339,
Dahme, Heinz-Jürgen 103 * Darwin, Charles 175, 184,
349 Eyerman, Ron
200, 326
Das, Robin 240* Descartes, Rene i88f., 191, 234 Dewey, John 35, 51, 66, 89, 126*, 153, i92f., 195f.,
291""
Faber, Richard 136* Fabian, Bernhard 110* Farberman, Harvey 97* Fechner, Rolf 103* Feher, Ferenc 358* Feuerbach, Ludwig 134 ff.,
197*, 2 0 3 - 2 1 2 , 2 2 0 , 2 2 3 , 225-230, 253, 255, 259, 290,
339*> 356, 364 Diamond, Cora 113* Dieckmann, Herbert 110* Diemer, Alwin 252"' Dillon, Martin C. 265"' Dilthey, Wilhelm 108, 174, .185 Dischner, Gisela 136"" Dostojewski, Fjodor M. 95 Dow, Thomas 73* Dreyfus, Hubert L. 84, 230*, 234*, 239 Dubiel, Helmut 348"" Dumont, Louis 130 Durkheim, Emile 21, 31, 36ff., 44, 64ff., 6% 76-9%
143 Fichte, Johann Gottlieb I26f.
Flam, Helena 218* Fleischmann, Eugene 105* Foucault, Michel 246f., 292, 338*, 344, 3^6*, 377 Fouillee, Alfred 81 Frankenberg, Günter 348* Frenzel, Ivo 252* Freud, Sigmund 33, 241, 251, 276f. Freyer, Hans 140* Friedrich, Hugo 110* Fromm, Erich 368 Garfinkel, Harold 239
101, 130*, 2 1 1 , 2 1 3 , 2 5 1 ,
2801L, 287"', 327, 363 404
Gehlen, Arnold 61*, 117*, 180*, 187*, 253ff. Geulen, Dieter 276* Giddens, Anthony 12, yy, 130*, 216*, 247, 252, 306, 308, 313, 317, 32of., 3241., 336--, 340, 344, 347, 378* Giesen, Bernhard 341* Gintis, Herbert 348"' Gittler, Joseph 303"' Goethe, Johann Wolfgang von 104, 108, i26f., 179* Goffman, Erving 247* Gorz, Andre 129* Gould, Mark 36* Gramsci, Antonio 153,162, 169 f. Griewank, Karl 171* Günther, Klaus 156* Gurr, Ted Robert 292* Guyau, Jean-Marie 81 f., 86*
Held, David 149* Heller, Agnes 149f., 152"", 358;Hennis, Wilhelm 62*, 105"" Herder, Johann Gottfried 37, 104, io6f., 110, 113-127, 172, 1791., 253, 360, 378 Heritage, John 216* Herms, Eilert 200* Hinkle, Roscoe 35 Hirschman, Albert 40
Hitler, Adolf
365
Hobbes, Thomas 22 f., 26, 4L 7% 272 Hoff ding, Harald 102, 103* Hölderlin, Friedrich 127 Homans, George 33* Hondrich, Karl O t t o 329* Honneth, Axel 118*, 127*, 129*, i36f.*, 150*, 151 f., 153*, 253, 255*, 317 Horkheimer, Max 153, 368 Hughes, Robert 359* Hugo, Victor 163 Humboldt, Wilhelm von 114* Hume, David 40 Hurreimann, Klaus 274*, 277* Husserl, Edmund 64, 263,
Habermas, Jürgen 12, 19, 38*, 97f., 107*, 114, 140*, 150-157, 1591., 185, 197, 215, 220*, 252, 278"", 280, 307f., 314, 316-32O, 3241"., 336*, 341---, 346, 374* Haferkamp, Hans 329"' Haga, Aanund 278* Hall, John 340"" Hall, Robert T. 98* Hamann, Johann Georg 114* Hausman, Carl 197"" Head 258 Hegedus, Zsuzsa 3 5 7':" Hegel, G.W.F. 114, 127, 133-137, 167, 202, 272 Heidegger, Martin 13, 179, 229 f., 233* Heisterberg, Lore 87
336* Inglehart, Ronald 369* Iser, Wolf gang 209* Jaeggi, Urs 136*, 150* James, William 182, 192, 194, 199ff., 203, 208, 2581". Jamison, Andrew 291* Japp, Klaus Peter 288* Jauß, Hans-Robert 209* 405
Johnson, Mark 230* Jonas, Friedrich 251*
288"", 307-321, 324^, 351, 3531., 376* Lukäcs, Georg 136*, 147*, 1491., 153, 162, 169, 318 Lukes, Steven 94 Luxemburg, Rosa 169 Lyotard, Jean Franc,ois 377
Kaiser, Markus 255* Kant, Immanuel 23, 80, 82, 119, 124, i26f., 176 Kaufmann, Walter 184* Keller, Monika 276* Killian, Lewis 304* Kluchert, Gerhard 162* Knöbl, Wolf gang 344* Kohli, Martin 335'"'" König, Rene jy, j$ Korff, Hermann August 126* Kosik, Karel 149* Koslowski, Peter 355"", 366* Krämer, Hans Leo 129"" Krappmann, Lothar 274* Krüger, Hans Peter 140"", 145* Kubie, Lawrence 372""
Madsen, Richard 371"" Maffesoli, Michel 280"" Mahler, Margaret S. 261 * Maines, David 340* Maistre, Joseph-Marie de 35 Mandeville 41, 130 Mann, Michael 340*, 347 Mann, Thomas 80 Marcuse, Herbert 153 Margalit, Avishai 114"' Margalit, Edna 114* Markus, György 150, 152 Marquard, O d o 135*, 178* Marshall, Alfred 21, 30f., 37, 43 Marx, Gary T. 291* Marx, Karl 36, 44, 57, 59, 92, 107-110, 127-169, 172, 306, 320, 361 Maslow, Abraham 3 72 f. Mason, John Hope 111 * Mayntz, Renate 219"', 221"" McCarthy, John D . 297* McCarthy, Doyle 240* McCarthy, Thomas 153 *,
Lacan, Jacques 265 Lacroix, Bernard jy* Lalande, A. 79* Lange, Ernst Michael 141* Lash, Scott 359* Lechner, Frank 332"" Leggewie, Claus 129* Leinberger, Paul 369* Leist, Anton 276* Lenin, Wladimir J. 160 Levine, Donald 36, 45 Lichtblau, Klaus 103* List, Elisabeth 218* Locke, John 26, 59, 134 Lockwood, David 131* Lorenz, Konrad 256 Löwith, Karl 137* Luhmann, Niklas 41, 42*, 109, 219fr., 223-226, 252,
317» 319 McClung Lee, Alfred 303* Mead, George Herbert 9, 12, 34, 66, 89, 97, 119, 153, 192, 194, 201 f., 204, 226*, 240-% 245, 265-269, 273-278, 364 Menger, Carl 62 Menke, Christoph 378* 406
Merleau-Ponty, Maurice 153, 160, 162, 172, 214*, 230, 233*, 248, 262-265, 269 Mertens, Wolfgang 277* Merton, Robert 308, 313,
251, 277, 287-', 299, 302, 305ff-» 313» 3^0-3^3» 325» 3 2 7 f., 331, 334, 341, 343 Paulus, Peter 258* Peirce, Charles Sanders 189, 192, 194, i97ff., 200, 204 Perrow, Charles 288* Piaget, Jean 9if., 193*, 253, 255f., 276 Plessner, Helmuth 249 Pocock, J . G . A . 112* Pope, Whitney 39 Popper, Karl 107"", 198, 339"" Post, Albert Hermann 87 Prendergast, Christopher 64* Proudhon, Pierre-Joseph 163
338* . Mestrovic, Stjepan G. 79* Meyer-Drawe, Käte 265* Michelangelo 104 Mill, James 137 Mill, John Stuart 40, 49 Mills, C. Wright 237 Mitzman, Arthur 73* Mommsen, Wolfgang 72, 73 Morris, William 154 Müller, Hans-Peter 93 Müller, Klaus 335* Münch, Richard 27, 40*, 307, 3 2if., 324, 356 Musil, Robert 80
Rabehl, Bernd 160* Ramstedt, Otthein 102 f. * Raschke, Joachim 291 * Reiss, Albert 34* Rembrandt 104 Reynolds, Vernon 253"' Ricardo, David 59, 134 Riquelme, John Paul 163"' Ritter, Joachim 135"' Rochberg-Halton, Eugene
Natta, Yoshihiro 216* Neckel, Sighard 376* Newton, Isaac 110, 125 Nietzsche, Friedrich 13, 61, 73, 81, 95, 100-103, 105'", 109, 174, 179, 181, 183-186, 279f., 362f., 376 Nisbet, Robert 77 Nolte, Paul 19*
174
Rodel, Ulrich
348*
Röder, Petra 136* Rorty, Richard 377 Rosenberg, Morris 304* Roth, Günther 39* Rothacker, Erich 18 7* Rousseau, Jean Jacques 35, 115, 360 Rucht, Dieter 305*, 350* Rüfner, Vinzenz 111 f.* Rule, James B. 291"', 292"', 301* Rundell, John F. 162*, 164* Rüschemeyer, Dietrich 333*
Offe, Claus 302"', 3 5 5 f. Olson, Mancur 294ff., 298 Pappi, Franz Urban 101* Pareto, Vilfredo 21, 30 f., 37, 43, 52, 60, 63f., 99 Paris, Rainer 162* Park, Robert 287*, 303 Parsons, Talcott 12, 19-56, 6 9> 7<^-i 99f-> I03f-> "4> 128, 172, 2i8f., 235, 239, 407
Ruskin, John Ryle, Gilbert
Sloterdijk, Peter 366* Smelser, Neil 299-302, 334, 341* Smith, Adam 40, 57f., 134, 272 Smith, Anthony D . 329* Smith, Dorothy 218* Smith, Robertson 94 Snow, David 304* Sohn-Rethel, Alfred 140* Sombart, Werner 37, 47, 362, 364 Sorel, Georges 78 Spencer, Herbert 34f., 40, 3 26f., 345, 361 f. Srubar, Ilja 216* Stauth, Georg 105* Steiner, Helmut 82*, 129"" Stone, Gregory 97* Straub, Jürgen 271"' Studer, Herlinde 218* Suchman, Lucy 238"" Sullivan, William 371'"" Siep, Ludwig 127"" Swidler, Ann 371* Sztompka, Piotr 291*
J 54 230
Saint-Simon 35, 83 Saretzki, Thomas 215* Sartre, Jean Paul 153, 162 Schaffte, Albert 64, 81 Schalk, Fritz 110* Scharpf, Fritz 352'"" Scheler, Max 174*, 273 Schelling, Friedrich Wilhelm 127, 178, 180 Schelsky, Helmut 182"" Scherr, Albert 359* Schilder, Paul 259-262, 264 Schiller, Friedrich 127 Schimank, U w e 329*, 336* Schluchter, Wolfgang 63 Schlüter, Carsten 103* Schmid, Michael 92*, 329* Schmidt, Jochen 120"", 125"", 368* Schmidt, Raymund 101* Schmoller, Gustav 62 Schnädelbach, Herbert 174* Schopenhauer, Arthur 79f., 100-103, 107, 175-186 Schulz, Walter 180* Schütz, Alfred 12, 41, 42*, 64, 216*, 218"' Searle, John 238"' Seebaß, Gottfried 220* Seel, Martin 209* Shaftesbury 272 Shakespeare, William 104,
Taylor, Charles 25*, 110, 113*, 121, 153, 179, 233*, 338*f., 374* Teichmann, Jenny 113 * Therborn, Göran 56 Thomas, William J. 34, 193 f., 287* Thome, Helmut 370* Thompson, John B. 149* Tiemersma, Douwe 258"" Tiles, J.E. 226"" Tilly, Charles 292 f., 298 Tilly, Louise 292* Tilly, Richard 292'"" Tipton, Steven 371*
110
Shils, Edward 72*, 73 Shusterman, Richard 377"' Sica, Alan 100* Simmel, Georg 3 5 f., 66f., 9j, 991., 103f., 174, i8if., 213, 229, 331, 362 408
Tocqueville, Alexis de 35 Tönnies, Ferdinand 87, 99-103, 213, 229, 362, 365 Toulmin, Stephen 140"" Touraine, Alain 12, 41, 42*, 302, 304f., 325, 340, 349f.,
Warner, Stephen 41, 42* Washida, Kiyokazu 216* Weber, Max 12, 21, 27, 32, 37f., 47f., j2f., 61 ff., 64, 67-75, 77> 97, 99*-> 105*, 153, 213, 218, 221, 251, 287*, 340, 3 62 f. Wehler, Hans Ulrich 328* Wenzel, Harald 27*, 36*, 50* Westbrook, Robert 208"" Whitehead, Alfred 2 7 f., 50*,
35*f., 355 Trapp, Manfred 33* Trotzki, Leo 160, 169 Tucker, Bruce 369 Tucker, Robert C. 72* Tugendhat, Ernst 220* Tuomela, Raimo 220* Turner, Bryan 105*, 245"' Turner, Jonathan 216* Turner, Ralph 297*, 304"" Turner, Victor 284
172
Wiesenthal, Helmut 33, 302* Williams, Raymond 110* Willke, Helmut 336* Wilson, R. Jackson 35* Winnicott, Donald W 240244, 276 Wirth, Louis 35 Wittgenstein, Ludwig 119,
Ulich, Dieter 274*, 277* Unger, Roberto Mangabeira 34i* U n y , John 359*
230
Veblen, Thorstein 46 Visalberghi, Aldo 226"' Voort, Werner van de 276*
Wolf, Herman 124* Wolf, Jürgen 376* Wood, James L. 291* Wundt, Wilhelm 86f.
Wagner, Peter 58* Wagner, Richard 279 Waldenfels, Bernhard 214"" 238* Wallwork, Ernest 93 f. Walzer, Michael 335*, 357''
Zald, Mayer N . 297* Zander, Jürgen 101* Zapf, Wolfgang 333* Zilsel, Edgar in* Znaniecki, Florian 193' Zürcher, Louis 304*
409
Sachregister
Anomie 78, 81 f., 352, 371 Anthropologie 22, 41, 47f., 71, 115, iiyt., 129, i34f., 137, 143, 180, 253fr". Anthropologie, Philosophische 108, 117, 247, 252 Arbeit 65, 127^, 136-141, 145 f., 149-152, 1541"., 228f. Ästhetik/Kunsttheorie 119, 178, 203, 226 Ausdruck 106 f., 113-127, 183, 187, 207, 219 Ausdrucksanthropologie (deutsche) 37, 117, 120123, 125f., i33f., 142, 172 (Ich-)Autonomie 217, 270, 2 7 6f., 354, 371, 373
Demokratisierung der Differenzierungsfrage 17» 348, 356 Determinismus 26, y6, 123, 147, 159, 219, 328, 364 Differenzierung (funktionale) 290, 326-336, 345 f., 349, 35 I "357 Differenzierungstheorie 17, 73, 103, 326-336, 340, 343, 345-348, 35 1 Dualismus/-en, cartesianische/r 119, 180, 232, 244, 262 Efferveszenz, kollektive 97 Einbildungskraft
Bedürfnisse 30, 58, 71, 137^, 144, 210, 236, 239 Behaviorismus 12, 219, 245,
94,
109, i26f.,
134, 2 1 1 , 272
Erfahrung 85, 184 f., 195, 201, 204-208, 224, 241 f., 264, 265, 283f., 375, 377 Erfahrung, religiöse 95, 201, 209, 280, 284 Erkenntnistheorie 126, 184,
368 Bewegungen, soziale 20, 75, 130, 140, 288, 29off., 297^, 3 o2f., 305, 334, 336, 350353> 355> 360, 374 Bewußtsein 12, 91 f., ^y, 138, 143, 145, 169, 171, 178, 182, 188, i9if., 195, 199, 224, 227, 248, 257, 263, 268, 283
3i5 Erziehungstheorie 31, 76, 91, 93, 228 Ethik 74, 81, 86, 88f., 126, 178, 184, 201, 203 Evolutionismus 34, 361 f., 365 Evolutionstheorie 64, 98,
Charisma 69, 71 f., 73f., 75, 71', 97y 213
101, 2 0 0 , 318
Demokratie 38, 75, 169, 286, 290, 345, 347^, 357, 361, 374
Funktionalismus 36, 78, 290, 306-326, 336, 341, 347 410
Handlungsfolgen 50, 63, 86, 96, 224, 303, 319, 337^ Handlungsmodell, rationales, Rationalmodell des Handelns 27-31, 33, 35, 40ff., 45, 48f., 56f., 62-68, 74, 217, 223, 226, 252, 286, 288, 299 Handlungstheorie, voluntaristische 20, 34,
Geist 134!"., 137, i4of., 147, i8of., 219, 231, 251, 262t., 268 Geistesgeschichte 16, 35, 41, 105, 109, i n , 272 Geisteswissenschaft 37, 82, 108, 123, 186 Geld 59, 67, 321 Genie/Genialität 1 o 1 f., 109^, 122-125, i78f., 206,
100
363,367 Geschichtsphilosophie 13, 32, 181, 362, 365 Gewalt 22 f., 170, 375 f. (Handlungs-) Gewohnheit(en) 63, 190, 193, 2 3 if., 235, 287, 367 Grenznutzentheorie, -theoretiker 46, 62, 64
Hermeneutik 19
?
218, 271, 317,
.
Historismus 32, 62, 88, 115, 123 homo oeconomicus 11 f., 46 Ich 272f., 276f., 279, 282, 285 Idealismus 21, 30, 32, 37, 44, <^6j 108, 129, i32ff., 210 (Ich-)Identität 16, 268, 280, 28 5> 3°4> 366 Individualismus (utilitaristischer) 34,
Handeln, Handlung 11 f., 15 f., 26, 30, 46, 5 5 ff., 60f., 66f., 70, 108, 114, i3of., 214, 2i6ff., 221, 231, 240, 247, 257, 27of., 285f., 293, , 296, 299, 308, 367 Handeln, individuelles 78, 114, 362 Handeln, instrumentelles 54, 96, 150, 156, 195, 245^ Handeln, kollektives 16, 65, 78, 95f., 129, 228, 285, 289306, 334, 336 Handeln, kommunikatives 12, 19, i56f., 246 Handeln, normativ orientiertes 15 f., 108, 293, 341 f. Handeln, soziales 66, 277, 300 Handlungsbedingungen 25, 28, 44, 53, 62, 89, 219, 235
202
Individualität 16, 138, 207, 271, 276, 366, 368, 370 Institution(-en) 16, 22, 47, 58, 75, 82, 95-98, 107, 123, 133, 143, 168, 170, 172, 188, 2551., 281, 299, 3 o 3 f., 331, 342, 344f., 349, 354, 357, 363, 3^7, 374 Institutionalisierung 48, 93, 96, 347, 351, 364 Institutionalisierungsprozeß 98, 299, 303 Integration (soziale) 319, 327, 331, 343 Intelligenz 107, 173, 178, 193, 227, 234, 256 411
Intention(en) 16, 52, 231, 235, 237, 248f., 308, 331,
Kooperationsmoral 90, 93 Körper 113, 175ff., i8of., i88f., 217, 232ff., 236, 245-270, 366 Körperkontrolle 16, 247 Körperlichkeit 213, 217, 232, 23 jf., 240, 245f., 252, 263 f. Körperschema 245, 252, 257-269 Kunst, Künste, Kunstwerk 54, 73, 88, 120, 125, 174, 1781"., 192, 195, 197, 203f., 206-209, 229> 3^°» 369
337fIntentionalität 218, 231 f., 235-238, 240, 245-249, 251, 256, 262, 269^, 366L Interaktion 42, 72, ^yt 150, 194, 195, 245, 268f., 277, 320 Interaktionismus, symbolischer 97, 302, 339 Interesse, rationales 40, 42, 54, 114, 167L, 179, 202, 236, 296, 374 Interessenverfolgung 170 Intersub j ektivität (des Verstehens) 271 Irrationalismus 80, 96, 109, 373
Lebensphilosophie 68, 78, i02i., 107t., 110, 173-186, 201, 363, 3671. Lebenswelt }I7Ü., 321 Leib 175ff., i8of., 248, 26211., 268 Leiblichkeit 175, 262
Kapitalismus 48, 67, 147, 167t., 344, 355, 371 Kommunikation 194, 202, 233, 249, 265, 268, 274, 281, 343> 357 Konflikt (sozialer) 37, 44, 292, 321, 340, 348f., 353, 355, 372 Konsensus (normativer) 42, 98 Konstitution der Kategorien (soziale) 96 f. Konstitution der Werte 66, 342
Macht 29, 138f., 184f., 298, 305, 340, 344, 360, 362 Makrosoziologie 289ff., 299, 336, 339 Markt, Märkte 23, 59, 92, 321, 342, 364 Marxismus 13,43,110, I29ff., 148, 153, 157, 159162, 169L, 271, 293, 341, 343 Materialismus 44, 210, 360 Materialismus, historischer 32, i28f., 144 Mikrosoziologie 35, 289,
.
Konstitutionstheorie 17, 97, 336-348 Kontext, Kontextualität 214, 232t Kontrolle, soziale 76, 301,
334 Mittel 24, 28 f., 32, 44, 5 3 f., 59f., 62L, 70, 100, 169, 178,
344 Konvergenzthese 20f., 34, 36, 39, 42-45, 68
204, 218, 2 2 1 , 2 2 3 - 2 2 8 , 2 3 1 ,
235, 296, 300f., 342, 375 412
Postmoderne
Moderne 38, 68, 104, 279, 317 Moral 36, 59, 76-95, 98f., 132, 167, 170, 183, 211, 296, 363, 372, 377 Moralität 23, 36, 44, 184, 37 6f. Moralphilosophie 23, 40, 82
17, 271, 290,
358-378 Pragmatismus 9, 13, 35, 51, 68, 89, 96f., 107, 110, 173, 187-212, 247, 271, 290, 315, 363 f., 3 6 7 f. Praxis 153, 156, 160 Praxisphilosophie 14 8 f., 152fr., 156, 320 Problem/Problemlösung 187, 191-194, 311, 313 Problemsituation 89, 189 Produktion, Produktionsmodell/Produktionsparadigma 59, 65, io6f., 109, 127-157, 158 f., 168, 172, 183, 187, 362, 372 Prozeß der Rationalisierung 68 Psychoanalyse 259, 261, 270,
Naturwissenschaften 48, 51, 112, 177 Norm, normativ 16, 29-34, 37, 40f., 49L, 53, 5 6 t , 65, 73-76, 78, 89, 114, 132ff., i42f., 145, 148, 1511., 153157, 1691., 196, 236, 271, 277, 286, 288, 299-302, 304^, 313, 318, 322, 327, 335^ 342, 346f-> 372, 374, Normativität 76, 78, 94, 104, 127, 133, 218, 359, 374, 376, 378
277
Psychologie 11 f., 15, 48f., 65, 184, 20off., 27of., 368, 372 . Psychologie, empirische m, 260 Psychologie, hedonistische 30,65
Ökonomie (politische) 11 f., 15, 26, 30, 45 f., 48ff., 56-60, 64, 81, 89, 130-134, 143, 146, 148, 158, 270, 319, 326 Ordnung, soziale 20, 22 f., 28f., 33, 40, 42, 49, 91, 221, 255, 278, 291 ff., 299, 340f.,
Rationalisierungstendenzen 68, 104 Rationalität 36, 57, 66, 68, 79, 109, 151, 153, 185, 215^, 218, 221, 271, 285^, 288, 298, 359, 373 Rationalitätsbegriff 63, 156 Realismus, analytischer 20, 26, 28, 41, 51 Regeln (Handlungs-) 81, 89ff., 95, 97, 120, 125f., 151, 235, 281 Regeln, normative 31, 155
347» 3^5, 378 Organismus 12, 15, 124, 195 f., 200, 232, 246, 251, 256, 263, 266, 268 Phänomenologie 247, 262, 270, 273 Philosophie, analytische 13, 52, 153, 270 Positivismus 21, 26, 80, 96
413
Rekonstruktion 173, 187, 190 Religion 38, 70, 73, 8off., 87, 94, 96, 123, 143, 199, 201, 203, 209, 351 Religionstheorie 31, 65, 93<)j, 208, 211, 226 Residualkategorie 15 f., 40, 60, 74, 132, 213, 216 Ressourcen 29, 59, 297ff.,
Sozialphilosophie 22 f., 40, 116, 203 Sozialpsychologie 64, 66, 195, 202 Sozialstruktur j^ Spiel 54, 127, 192, 195, 205, 207, 228, 240f., 244, 367 Sprache 114-119, 123, 249, 278 Staat 58, 64, 133, 168, 170, 319, 321, 342, 345, 349f., 362 Strukturalismus 12, 320 Strukturen (soziale) 95, 97 Subjekt(e) 22, 40, 46, 67, 90, 132, 141, i46f., 151, 154, 156, 167, 179, 188, 207, 231, 245, 250, 271, 318, 354,
342
Revolution 107, 108, 142, 147, 158-172, 183, 187, 345, 355 Revolution, grenznutzentheoretische 56, 59 Romantik 115, 126, 137, 360, 378 Routine 16, 190f., 287t.
361 . . Subjektivität 13, 24, 146f., 184, 354, 368 System (soziales) 28, 147, 221, 309f., 313 ff., 318 ff., 322, 325, 328, 330, 338, 351, 37o Systemtheorie 13, 309, 317, 3191., 325
Selbstausdruck (des Handelnden) 37, 42, 120, 126 Selbsterfahrung 106, 175 ff., i8of., 183ff., 229, 267 Selbstreflexivität/Selbstreflexion (des Handelnden) 69, 88, 90, 194, 238, 316, 318 Sinn (subjektiver) 61, 166,
Theorie des kommunikativen Handelns 12, 19, 114, 153, 271, 307, 317, 319 Triebe 40, 65, 118, 211, 239, 276
.2I?
Sinnlichkeit 118, 137 (Handlungs-)Situation 25, 53, 72, 88f., 9j, 182, 190, 193f., 196, 205, 2131., 219, 231 f., 235-238, 243, 250, 26 h 325 Situationsdefinition
301
Übergangsobjekte 240-244 Unbewußtes 125, 186, 208 Utilitarismus 20ff., 24, 26-
16, 194,
.
Solidarität (organische) 90-94, 292f., 363
Sozialität
29» 3if-> 37> 39*-» 44» 48, 76, 78, 80, 82t., 104, 131-134, 360 Utilitarismuskritik 20, 39, 94
44, 65, 87, 94f.,
102, 213, 217, 269, 274ff., 278f., 2841., 326, 365, 374
414
Wunsch, Wünsche 24 t., 30, 40, 42, 142, 147, 2iof., 240, 242 f.
Wahl 25, 200, 354, 375 Wandel, sozialer 299, 321, 326fr., 331, 341, 346 Wert(e) 28-32, 34, 41, 47, 49f., 53 f., 59, 63, 65ff., 73, 94, 104, 146, 155, 160, 175, 186, 198, 203, 208, 210, 219, 222, 225, 228, 23if., 238ff., 284^, 299^, 302, 305, 327^, 332, 342, 347, 354, 367-371 Wertsystem(e) 30, 225, 305, 328, 332, 344, 355 Werttheorie 59, 66 Wille 102, 173, 175 ff., 186, 199, 248, 367 Wirklichkeit 46, 49, 60, 190, i92f., 225, 233, 24off., 244,
(Handlungs-)Ziele 23 ff., 28f., 32f., 39, 52ff., 118, 121, 164, i66f., 175, 178, 195f., 204^, 207, 210, 214, 224, 226-231, 236, 288, 294ff., 301, 331 Zwang (sozialer) 31, 280, 295 (Handlungs-)Zwecke 54, 60, 63, 70, 86, 100, 118, 120, i78f., 182, 220-225, 22^> 23off., 234, 238, 240, 244f., 269, 366 Zweck-Mittel-Ketten 31, 228f., 240 Zweck-Mittel-Schema 41, 54, 114, 2i9ff., 223-226, 229f., 232, 235
Wirtschaftstheorie 48, 57, 61 f., 6 4 f. Wissen 53, 151, 263, 316 Wissen, empirisches 89, 217, 337
415