Paul C. Roud
Diagnose: Unheilbar, Therapie: Weiterleben
Zwölf Geschichten von Menschen, die als unheilbar galten. Die ...
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Paul C. Roud
Diagnose: Unheilbar, Therapie: Weiterleben
Zwölf Geschichten von Menschen, die als unheilbar galten. Die Geschichte ihrer Heilung zeigt: Wunder sind kein Zufall.
Kreuz Verlag
Die amerikanische Originalausgabe ist 1990 unter dem Titel »Making Miracles. An Exploration Into The Dynamics Of Self-Healing« bei Warner Books, Inc., New York, erschienen. Paul C. Roud ist Psychologe. In seiner Praxis hat er sich auf die Betreuung von Patienten spezialisiert, die an tödlichen Krankheiten leiden. Zusammen mit seiner Familie lebt er in Conway in Massachusetts, USA. Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung des Verfassers dar. Sie wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt überprüft. Sie bieten keinesfalls Ersatz für kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser sollte für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich sein. Daher erfolgen Angaben in diesem Buch ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie des Verlags oder des Autors. Eine Haftung des Verlags oder des Autors für etwaige Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen, es sei denn im Falle grober Fahrlässigkeit.
Die Deutsche Bibliothek — Cip-Einheitsaufnahme Roud, Paul C: Diagnose: unheilbar, Therapie: weiterleben / Paul C. Roud. Aus dem Amerikan. übers, von Olga Rinne. — 1. Aufl. — Stuttgard : Kreuz-Verl., 1992 (Die neue Gesundheit) Einheitssacht.: Making miracles
ISBN 3-7831-1142-0 1. Auflage © 1992 by Kreuz Verlag Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Christine Paxmann, München Satz: DIGITAL Satz und Druck GmbH, Schrobenhausen Druck und Bindung: Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm ISBN 3 7831 1142 0
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Inhalt 5 -> 6 -> 9 ->
Danksagung Vorwort von Bernie S. Siegel Einleitung
19 -> Raymond Berté 41 -> Phina Dacri 59 -> Norman Cousins 69 -> Joe Godinski 88 -> Lindsey Reynolds 120 -> Walter Purington 135 -> Kurt Metzler 155 -> Leo Perras 178 -> Barbara Dawson 198 -> Carole Matthews und Betty Preston
212 -> Schlußbetrachtungen 225 -> Anhang I Muster des Fragebogens, den die Ärzte der Befragten ausfüllten. 226 -> Anhang II Die Antworten der Ärzte 238 -> Literatur
In manchen Fällen wurden identifizierende Einzelheiten, Personen- und Ortsnamen eingeschlossen, verändert, weil einige meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner den Wunsch hatten, anonym zu bleiben.
Meiner Mutter, Bernice Roud, die mich als erste lehrte, was es bedeutet, mutig zu sein und zu lieben.
Danksagung
Ellen Grobmans Intelligenz, Sensibilität und Liebe machten dieses Projekt möglich. Professor Jack Widemans Vertrauen, daß ich meinen eigenen Weg finden würde, war die eigentliche Quelle dieser Arbeit. Die Botschaft der Professoren Ted Slovin und Don Banks, daß das Streben nach vorzüglichen akademischen Leistungen mit der spirituellen Suche glücklich koexistieren könne, erfüllte meine Reise mit Sinn und Freude. Einige freundliche und sehr fürsorgliche Ärzte unterstützten mich mit ihrem fachlichen Wissen: Paul Flandreau, Sid Baher, Dave Sherman, Bernie Siegel, Paul Berman, Wayne Gavryck, Steve Eipper und Kit French. Ich danke meinen Freundinnen und Freunden Michael Shandler, Gail Shufrin, Steve Berman, Barbara Levy, Eva Gumprecht, Nina Shandler, Steve Orlov, Sebern Fisher, Margaret Gosselin, Debbie Abrams und vielen anderen. Jahrelang hörten sie sich meine Gedanken und Fragen über Menschen mit außergewöhnlichen Heilungs- und Überlebenserfahrungen an. Ihre Überzeugung, daß die Arbeit an diesem Thema wertvoll sei, hielt mich und hielt das Projekt während einiger sehr schwieriger Momente aufrecht. Ohne Agnes Birnbaums zähe Beharrlichkeit wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Und ohne Fredda Isaacsons editorische Anleitung wäre es nicht so gut oder nicht so leicht lesbar geworden. Ich finde kaum Worte, um den Menschen, die mir ihre Heilungs- und Überlebenserfahrungen mitteilten, zu danken. In vieler Hinsicht war meine Rolle, wenn ich sie gut erfüllte, nur die eines Zwischenträgers, der anderen ihre Erfahrungsberichte zugänglich zu machen bestrebt war. Diese Menschen vermittelten mir eine Vision der Möglichkeiten, die wir potentiell alle in uns tragen. Der Versuch, diesen Einblick weiterzugeben, hat mein Leben zutiefst verändert.
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Vorwort Ich glaube nicht, daß Heilung ein Zufall ist. Ich habe herausgefunden, daß ein Mensch, der eine nach allgemeinen Maßstäben an ein Wunder grenzende Heilung erlebt, fast immer eine drastische Wandlung in Richtung eines mit mehr Liebe und Akzeptanz erfüllten Lebens vollzogen hat. Wunder geschehen auf der unbewußten, der archetypischen Ebene; sie entstammen nicht dem kühlen Intellekt. Das ist einer der Gründe, warum Ärzte Schwierigkeiten haben, Wunder zu »sehen«. Um sehend zu werden, muß man glauben können. Im Medizinstudium wird einem beigebracht, jeden Menschen wie eine statistische Zahl zu behandeln. Wenn etwas geschieht, was nicht in das statistische Profil hineinpaßt, wird es nicht gesehen. In Fällen, in denen ein Patient oder eine Patientin sich erstaunlich gut erholt, erweist niemand der Person Achtung und sagt, daß sie oder er etwas Einzigartiges erreicht hat. Statt dessen fragen die Ärzte sich, ob hier ein Fehler in der Diagnose vorlag. Wenn der Fall nicht als Fehldiagnose abgetan werden kann, wird die außergewöhnliche Heilung als »spontane Remission« etikettiert, eine Floskel, die Ärzten nichts über den Heilungsvorgang sagt und die nicht dazu anregt, seine Hintergründe zu erkunden. Ein Mount Everest wertvollen Wissens bleibt unerforscht, weil das medizinische Establishment sagt, er sei nicht vorhanden. Erfolg wurde nie studiert. Durch das Schreiben und Sprechen über außergewöhnliche Patienten hatte ich Gelegenheit, viele Menschen kennenzulernen, die von vermeintlich unheilbaren Krankheiten geheilt wurden. Ich halte die Auseinandersetzung mit diesen Menschen und ihren Erfahrungen für eine wichtige Arbeit, die uns allen zugute kommen kann. Es ist dringend notwendig, bei den Menschen, die sich von der Schwelle des Todes zurückgerissen haben, anzuklopfen und zu fragen: »Was taten Sie? Wie fühlten Sie sich? Wie erklären Sie sich, daß Sie es so gut schafften? Warum blieben Sie am Leben, als die Ärzte annahmen, daß Sie sterben würden?« Das ist die Schönheit dieses Buches; Paul Roud hörte konzentriert zu, als Überlebende ihm ihre Geschichten erzählten. Die zentralen Erfahrungen dieser Menschen sind in ihren eigenen Worten wiedergegeben, gefolgt von einer verständnisvollen und sinnreichen Interpretation ihrer Erlebnisse. Ich unterstütze Rouds Forderung, bei der bloßen Lektüre nicht stehenzubleiben. Nehmen Sie die Geschichten in sich auf und finden Sie heraus, welche Bedeutung für Sie selbst darin liegt, denn es steckt immer eine Lektion hinter der Geschichte derer, die wider alle Erwartungen am Leben blieben. Es ist kein Zufall, keine glückliche Fügung, keine »spontane Remission«. Diese Menschen erzählen uns, daß sie unglaublich hart daran arbeiteten, nicht zu sterben. Sie trafen Entscheidungen, veränderten ihr Leben in psychischer und spiritueller Hinsicht und lernten, sich der Angst zu stellen. Sie fanden einen Grund, weiterzuleben, und sie wollen weiterhin lieben und ihrem Leben einen Sinn verleihen. Ich möchte daran erinnern, daß die Sterblichkeitsrate für unser aller Leben hundert Prozent ausmacht. Manche Leute setzen sich unter einen unvorstellbaren Druck, indem sie denken: »Wenn ich in der Therapie hart genug arbeite, mich selbst genug liebe oder genug meditiere, werde ich ewig leben.« Das ist eine Absurdität, die nur zum Scheitern führen kann. Man kann nicht alles heilen. Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen, 6
wenn es um das Unbewußte und seine Beziehung zum Heilen geht. Man kann lieben, joggen, Gemüse essen - und trotzdem sterben. Die Botschaft lautet: Heile dein Leben, und als Nebenprodukt wird sich auch auf der physischen Ebene etwas verändern. Die Frage ist nicht: »Warum ich?«; statt dessen sollte die Einstellung lauten: »Ich nehme die Herausforderung an!« Paul Rouds Interviews bestätigen das, was ich in meiner eigenen Praxis beobachtet habe. Das grundlegende Problem, mit dem die meisten Patienten konfrontiert sind, mit dem wir alle konfrontiert sind, ist die Unfähigkeit, uns selbst zu lieben, weil wir in irgendeiner entscheidenden Phase unseres Lebens von anderen nicht genug geliebt worden sind. Wenn ein anderer Mensch uns bedingungslos liebt, kann uns das helfen, zu erkennen, daß wir es wert sind, geliebt zu werden. Daher ist es ein grundlegendes Element meiner Beziehung zu meinen Patienten, sie bedingungslos zu lieben, denn ich weiß, wenn mir das gelingt, können sie vielleicht ihren eigenen Selbstwert, ihre Liebe zu sich selbst entdecken. Positive Gefühle verändern die Biochemie des Körpers, und das kann, als Nebenprodukt, zu einer physischen Heilung führen. Für einen Chirurgen ist das Leiden keine Abstraktion; es liegt direkt vor ihm, im Krankenhausbett oder auf dem Operationstisch. Wenn man sehen kann, wird man Zeuge, mit welcher Würde und Schönheit Menschen durch ihr Leiden gehen. Ihre Versehrtheit und ihre Behinderungen liegen offen zutage; vielleicht fehlen ihnen Körperteile oder sie hängen an Dutzenden von Schläuchen, und trotzdem, wenn man sie anschaut, sind ihre Augen immer noch voller Leben. Man sieht ihre Ganzheit, nicht ihre Versehrtheit, und in ihrem Gebrochensein sind sie stark. Sie sind heil, auch wenn sie nicht kuriert sind. Es ist möglich, spontan Liebe für Menschen zu empfinden, weil sie uns so stark berühren. Ich glaube, daß dies die eigentliche Substanz der Heilungsbeziehung zwischen Arzt und Patient ist. Wie ich aus »The Velveteen Rabbit« (Das Plüschkaninchen) lernte: Wenn du einmal zu deiner eigentlichen Wirklichkeit gefunden hast, kannst du nicht mehr häßlich sein, außer für jene, die nichts verstehen. Einer der wichtigsten Beiträge dieses Buches liegt darin, daß es bestätigt, was wir in unserem tiefsten Herzen bereits wissen: Es gibt immer Grund zur Hoffnung. Glaube heilt, und die Menschen in diesem Buch demonstrieren, wie machtvoll er wirken kann. Sie glauben an Möglichkeiten, nicht an Wahrscheinlichkeiten. Es ist wichtig, auf die gewählte Behandlung zu vertrauen und dann mit einer positiven Einstellung weiterzugehen. Es ist der innere Konflikt, der die Kräfte verbraucht. Wenn Sie Ihre Form des Heilungsprozesses wählen, wenn Sie mit Ihrem Arzt und Ihrer Behandlung einverstanden sind, reagiert Ihr Körper ganz anders, als wenn Sie sich im Konflikt befinden. Wenn Patienten mir vertrauen und die Beziehung als eine Heilerfahrung betrachten, überstehen sie ihre Operation ohne Schmerzen. Ihr Glaube heilt sie, aber ich bekomme die Anerkennung, daß ich ein großartiger Chirurg bin. Vielleicht lesen Sie dieses Buch, um Antworten für sich selbst zu finden, vielleicht, um einem anderen Menschen zu helfen. Ich denke, Sie werden im einen wie im anderen Fall eine grundlegende Wahrheit entdecken, die für die kranken und die Gesunden gleichermaßen gilt: Liebe macht das Leben lebenswert, ganz gleich, wie lange das Leben dauert. Ich meine auch, daß Liebe die Wahrscheinlichkeit einer physischen Heilung erhöht, aber das ist eine Dreingabe. Das Entscheidende ist, zu lieben, weil Liebe wohltut, nicht weil sie uns ermöglicht, ewig zu leben. Aber bitte, warten Sie nicht, bis eine Katastrophe Ihnen die Augen öffnet. 7
Das Problem ist nicht, daß wir den Weg nicht wüßten; das Problem ist, wie wir auf diesen Weg kommen: Spiritualität, bedingungslose Liebe und die Fähigkeit, zu erkennen, daß Schmerzen und Probleme Möglichkeiten zum Persönlichkeitswachstum und zur Neuorientierung eröffnen, — diese Elemente erlauben uns, aus der Zeit, die uns zur Verfügung steht, das Beste zu machen. Dann erkennen wir, daß der gegenwärtige Augenblick alles ist, was wir haben, aber er ist unendlich. Ein altes indisches Sprichwort sagt: »Als du geboren wurdest, weintest du, und die ganze Welt war voller Freude. Lebe dein Leben so, daß, wenn du stirbst, die ganze Welt weint und du voller Freude bist.« Bernie S. Siegel
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Ich erlangte mein Verständnis der fundamentalen Gesetze des Universums nicht durch den rationalen Verstand. ALBERT EINSTEIN
Einleitung Vor fünf Jahren sagten die Ärzte meinem Vater, daß sein Prostatakrebs, eine Krankheit, die beinahe ein Jahrzehnt lang unter Kontrolle geblieben war, sich ausbreitete. Der Krebs hatte Metastasen in seinen Nieren, seiner Leber und - das Schrecklichste - in seinem Schädel gebildet. Die Ärzte erklärten, sie könnten nichts für ihn tun - er werde in Kürze sterben. Zweifellos, auch darin stimmten sie überein, gäbe es nichts, was der Patient selbst oder seine Familie tun könne. Allem Anschein nach bestand die Aufgabe darin, ihm das Sterben zu erleichtern. Meine Familie beratschlagte voller Unsicherheit, ob man meinen Vater ermutigen solle, einen anderen Spezialisten aufzusuchen, oder ob es sinnvoll sei, einen »alternativen« Ansatz zu erproben. Wir dachten über Ernährungsprogramme nach, über Akupunktur und Imagination. Aber die Experten, die viel erfahrener waren, was unheilbare Krankheiten anging, blieben unbeirrbar. Es gäbe keine Hoffnung, sagten sie. Im wesentlichen warteten wir also einfach ab. Nach dem Tod meines Vaters blieb eine bohrende Frage in mir zurück: Gibt es Menschen, die eine »unheilbare« Krankheit überleben? Die Antwort, die ich fand, lautet Ja. Eine kleine Zahl der Patientinnen und Patienten, die an unheilbaren Krankheiten leiden, überlebt dennoch; manche führen sogar ihr normales Leben weiter. Es gibt in der Tat einige wenige Patienten, die ihre Krankheit vollständig überwinden. Die Leute, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind der lebende Beweis. Manchen Menschen erscheinen die hier dokumentierten Fälle wie ein Wunder. Für die mehr wissenschaftlich orientierten repräsentieren sie eine »signifikante Abweichung von den allgemein anerkannten medizinischen Normen«. Diese unterschiedlichen Benennungen sind jedoch unwichtig, gemessen an dem Konsensus, zu dem die meisten Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches gelangen werden. Bloßer Zufall oder Glück sind offenbar nicht der Grund für so sensationelle Genesungsprozesse. Es scheint, daß die Patienten selbst ihre Wunder geschehen ließen. Bevor wir etwas Großes zu erreichen versuchen, orientieren wir uns üblicherweise an Menschen, die den Weg vorher erfolgreich zurückgelegt haben. Nachdem wir ihre Lehren verinnerlicht und zu einer persönlich sinnvollen Form gewandelt haben, mobilisieren wir alle Kräfte, um das erwünschte Ziel zu erreichen. Aber um ernste Erkrankungen zu überwinden, verhalten wir uns im allgemeinen so, als sei es — vom Arztbesuch einmal abgesehen - das Beste, passiv zu bleiben und abzuwarten, was geschehen wird. Selbst wenn uns gesagt wird, daß die westliche Medizin nichts mehr tun kann, wird kaum jemand andere Menschen aufsuchen, die von derselben Krankheit geheilt wurden. Natürlich gibt es keine Garantie, daß Leute, die 9
außergewöhnliche Genesungsprozesse erlebten, etwas Wertvolles mitteilen werden. Aber wenn man bedenkt, wie wenig wir zu verlieren haben, - warum machen wir nicht wenigstens den Versuch, von ihnen zu lernen? In einer Hinsicht gibt es dafür eine simple Erklärung. Viele Leute wissen gar nicht, daß außergewöhnliche Heilungsprozesse tatsächlich vorkommen. Das Hauptziel dieses Buches ist, diese Informationslücke zu schließen. Auf den folgenden Seiten werden Sie die Geschichten von Frauen und Männern finden, die überwältigende medizinische Hindernisse überwanden. Bei vielen wurden letale Krebserkrankungen diagnostiziert, und man gab ihnen höchstens noch ein paar Jahre zu leben. Der Lungenkrebs einer Frau hatte metastasiert und machte es ihr praktisch unmöglich, zu atmen. Der Familie wurde mitgeteilt, man müsse mit ihrem baldigen Tod rechnen. Heute führt diese Frau ein normales Leben als Hausfrau und Mutter. Ein Mann erlangte die Fähigkeit, seine Beine zu gebrauchen, nachdem er zwanzig Jahre gelähmt in einem Rollstuhl verbracht hatte. Norman Cousins, berühmt durch seine Selbstheilung einer degenerativen Bindegewebserkrankung (über die er in »Anatomie einer Krankheit« schrieb), schildert die Überwindung einer noch aussichtsloseren Situation. Cousins Hausarzt schrieb: »Ich muß gestehen, ich selbst habe Schwierigkeiten zu glauben, daß jemand, der einen Myokardinfarkt mit kongestivem Herzversagen erlitten hat, diese Erfahrung überstehen kann, wie es bei ihm der Fall war.« Alle Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, machten weitaus bessere Fortschritte, als die anerkannten medizinischen Auffassungen voraussagten, obwohl der Kampf mit der Krankheit nicht bei allen beendet ist. Zwei Menschen berichten von ihrem immer noch andauernden bewundernswerten Überlebenskampf. Die völlige Heilung einer Frau von einer gravierenden psychischen Erkrankung bezeugt auf anrührende Weise die heilende Kraft der Liebe und der Hoffnung. Trotz ihrer zahlreichen Selbstmordversuche, die oft in letzter Sekunde vereitelt wurden, trotz des lebensbedrohlichen Gewichtsverlusts durch Anorexia nervosa und einer sehr schlechten Prognose ist diese Frau jetzt körperlich und seelisch völlig gesund. Die medizinische Wissenschaft untertreibt maßlos, wenn es um das Vorkommen außergewöhnlicher Heilungen geht. In medizinischen Texten wird zum Beispiel behauptet, daß der spontane Rückgang von Krebserkrankungen außerordentlich selten sei; angeblich ereignet er sich nur in einem von 60000 bis 100000 Fällen. (Von Spontanheilung oder spontanem Rückgang spricht man, wenn ein bösartiger Tumor verschwindet oder sich bedeutend verkleinert und die medizinische Behandlung keine adäquate Erklärung für den Besserungszustand bieten kann). Die Zahl der Menschen mit medizinisch unerklärbarem Rückgang von Krebserkrankungen, die ich auffinden konnte, weist jedoch darauf hin, daß dieses Phänomen weitaus häufiger in Erscheinung tritt, als gemeinhin angenommen wird. Zwei Wissenschaftler aus den Niederlanden, Marc J. de Vries und Daan C. van Baalen, bestätigten diesen Eindruck. Gestützt auf gerade veröffentlichte Untersuchungen äußern diese beiden Mediziner, daß Spontanheilungen sehr viel häufiger vorkommen, als die Literatur behauptet, da sie mit »relativer Leichtigkeit« sieben Fälle für ihre eigene Studie fanden. Die meisten außergewöhnlichen Geschichten werden jedoch in der Öffentlichkeit nicht bekannt, da sie - anders als die von de Vries und Baalen studierten oder die hier aufgezeichneten Fälle — nie in medizinischen Journalen oder an irgendeinem anderen Ort dokumentiert werden. 10
Ein weiterer Faktor hält die statistischen Zahlen niedrig. Wenn bei einer Person eine schwerwiegende Krankheit diagnostiziert wird und die Krankheit dann verschwindet, ohne medizinische Intervention, die zur Eliminierung dieser Krankheit als ausreichend betrachtet wird, schließen die Experten oft daraus, daß eine Fehldiagnose vorlag. Da die medizinische Wissenschaft weiß, daß es Fälle außergewöhnlicher Heilungen gibtwie hoch die exakte Zahl auch sein mag -, warum wurde nie der Versuch gemacht, von dieser Patientengruppe zu lernen? Allein die Regierung der Vereinigten Staaten gibt jedes Jahr mehr als zwei Billionen Dollar für die Krebsforschung aus, mehr als fünfhundert Millionen für die Erforschung von Herzkrankheiten und mehr als zweihundertfünfzig Millionen für die Erforschung psychischer Krankheiten - mit relativ geringem Erfolg. Es existiert jedoch eine kleine Gruppe von Menschen, die ihre Krankheiten weitaus besser bewältigten oder überwanden, als die Experten je erwarteten, und niemand denkt daran, sie zu fragen, wie sie es schafften. Das heutige medizinische Denken betrachtet Körper und Geist als zwei unabhängige, klar voneinander geschiedene Bereiche, und es liegt auf der Hand, wohin eine so monströse Fehleinschätzung führt. Dieser konventionellen Auffassung nach kann der Geist das physische Wohlbefinden nicht entscheidend beeinflussen. Patienten müssen folglich machtlos sein und unfähig, ihre Heilung willentlich zu beeinflussen. Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die der Intuition eines Patienten entstammen, was seinen - oder ihren - Körper heilen wird, betrachtet man auf den Krankheitsverlauf bezogen als irrelevant. Die Erfolge der außergewöhnlichen Patienten werden als statistische Merkwürdigkeiten gesehen, als Zufallsereignisse, auf die das Individuum keinen Einfluß hat. Folglich gibt es keinen Grund, anzunehmen, daß diese Leute Forschern, Ärzten oder anderen Patientinnen und Patienten etwas Wertvolles mitzuteilen haben. Sie hatten einfach Glück. Norman Mages, ein Professor der Psychologie, und Gerald Mendelsohn, ein Professor der Psychiatrie, gaben, als sie vor einem professionellen Publikum über Krebs sprachen, der vorherrschenden Einstellung gegenüber schwerwiegenden Erkrankungen im allgemeinen Ausdruck: »Die Krankheit ist zwar im eigenen Körper lokalisiert, aber im psychologischen Sinn liegt Krebs außerhalb des Selbst. Er kann durch Selbstbeobachtung nicht verstanden oder beeinflußt werden; vielmehr erhält ein Patient durch die medizinisch-diagnostischen Prozesse und das Fachwissen anderer Informationen über die Art, das Ausmaß und die wahrscheinliche Entwicklung der anstehenden Probleme. Außerdem, da die physischen Veränderungen im Gefolge der Krebserkrankung kein Produkt der eigenen Gedanken oder Gefühle sind, können sie durch innerpsychische Vorgänge wie Verdrängung oder Sublimation weder beseitigt noch kontrolliert werden. Das bedeutet nicht, daß Patienten völlig passiv bleiben müßten, aber es bedeutet, daß sie durch andere handeln müssen, nämlich durch die entsprechend geschulten medizinischen Fachleute.« Es ist bemerkenswert, daß solche Äußerungen, die das konventionelle medizinische Denken widerspiegeln, ausgerechnet von Wissenschaftlern kommen, deren Spezialgebiet die geistig-seelischen Prozesse sind, denn niemand hat signifikante Daten erhoben, die beweisen, daß Gedanken und Gefühle mit der Entwicklung von Krebs uns einem Fortschreiten nicht in Beziehung stehen. Tatsächlich gibt es bei den meisten schweren Krankheiten wenig Anzeichen und überhaupt keine Beweise, daß sie von Emotionen unabhängig sind. 11
Experten, die dogmatisch darauf beharren, daß psychische Faktoren auf schwerwiegende Krankheiten keinen Einfluß haben, ohne ihren Anspruch auf etwas anderes stützen zu können als historische Präzedenzfälle, zeigen, wie bedrohlich dieser Bereich für das medizinische Establishment ist. Die Möglichkeit, daß manche Patientinnen und Patienten ihre außergewöhnlichen Heilungen selbst in die Wege leiten, ist die äußerste Bedrohung. Eine Frau, die eine akute monozytische und myelozytische Leukämie überlebte, weiß aus persönlicher Erfahrung, wie desorientierend eine Heilung wie die ihre auf medizinische Experten wirken kann. Sie berichtet: »Mein Vater ist Wissenschaftler. Er kann mit meiner Genesung nicht umgehen. Da steht es doch, in den medizinischen Lehrbüchern, in den Fachzeitschriften: Niemand überlebt die Krankheitserfahrungen, die ich machte. Er liebt mich sehr. Ich bin seine Tochter. Aber meine Genesung bringt sein gesamtes wissenschaftliches Weltbild ins Wanken.« Viele Menschen, die außergewöhnliche Heilungen erlebten, können es kaum fassen, daß sie nicht zum Mittelpunkt medizinischer Neugier werden. Oftmals stellten ihre Ärzte -dieselben, die ihnen vorher gesagt hatten, daß sie bald sterben würden — ihnen nicht einmal eine einzige Frage darüber, was mit ihnen geschah. Eine Frau, deren Überlebenschancen von einem Onkologen auf 1:1000 geschätzt wurden, beschrieb die Reaktion ihres Arztes auf ihren Krankheitsverlauf: »Er scheint mich mit Argwohn zu betrachten, obwohl der Krebs sich längst nicht so schnell ausbreitete, wie er gedacht hatte. Aber anstatt sich für mich zu freuen, schien er darüber verstimmt zu sein. Es war sehr unangenehm für mich, die Ärzte aufzusuchen. Ich wollte mit jemandem reden, der in bezug auf meine Gesundheit in einer Autoritätsposition war, der sich für alles engagierte, was vielleicht helfen könnte. Ich wollte über die Dinge sprechen, die ich ausprobierte. Statt dessen hatte ich das Gefühl, gegen die medizinischen Autoritäten ankämpfen zu müssen. Ich hatte nie das Gefühl, daß sie wirklich auf meiner Seite waren oder mit mir zusammenarbeiten wollten. Ich glaube, an diesem Punkt wurde mir klar, daß ich alternative Wege suchen mußte.« Nachdem sie eine Unmenge alternativer Behandlungsansätze erprobt hatte, fand sie, es sei das Beste, einen Onkologen zu finden, der ihren Fall beobachtete und begleitete. Ihre Erfahrungen mit dem neuen Arzt unterschieden sich jedoch nicht sehr von denen, die sie mit dem letzten machte: »Dieser Onkologe war sehr aggressiv, als ich zuerst zu ihm kam. Er hielt mich für eine Irre. Er erzählt mir dauernd, daß ich irgendwie anders bin. Bei mir verläuft die Krebserkrankung völlig anders als in allen anderen Fällen, die er kennengelernt hat. Es ist eine sehr langsam wachsende Form von Krebs - bis jetzt. Er kann es nicht lassen, mir das immer wieder zu sagen. Ich mag das überhaupt nicht. Er sagt: >Sie müssen das und das jetzt nehmen. Es ist das einzige Mittel, das hilft. Sie haben sich einfach auf Ihre Verweigerungshaltung versteift.< Ich habe das Gefühl, er ist wütend auf mich. Er macht mir ganz schön Angst. Jedesmal, wenn ich zu ihm gehe, sagt er: >Sind Sie jetzt bereit, das Tamoxifen zu nehmen?< Und ich sage: >Nein.< Ich weiß, wenn ich sein Sprechzimmer verlassen habe, fühlt er sich nicht allzu toll. Er will mir etwas geben. Wenn er mir nichts geben kann, macht ihn das hilflos, glaube ich. Es ist beinahe so, als täte ich ihm etwas Schlimmes an — ein furchtbares Gefühl. Hin und wieder sage ich mir: >Ich werde nie wieder zu ihm gehen.< Aber dann lache ich und denke: >Na ja, vielleicht wird dieser Mann schließlich etwas daraus lernen.<« 12
Als diese Frau versuchte, ihren Arzt mit ihren Gedanken und Gefühlen zu konfrontieren, überwies er sie sofort an einen Kollegen. Die Bedrohung, die einen Arzt daran hindert, sich am unerwarteten Erfolg einer Patientin mitzufreuen, oder die einen Vater und Wissenschaftler davon abhielt, ungeteiltes Glück über die Genesung seiner Tochter zu empfinden, sitzt sehr tief. Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte hilft verstehen, warum die Vorstellung, daß Körper und Geist getrennte Bereiche seien, sich zu einem so machtvollen medizinischen Modell entwickeln konnte. Letzten Endes ist dieses Modell der Wahrheit vielleicht nicht näher als der archaische Glaube, daß Krankheit auf den Einfluß böser Geister zurückzuführen sei. Aber die Vorstellung der Getrenntheit von Geist und Körper setzte sich aus guten Gründen durch. Sie beruhte auf einer Art der Naturbetrachtung, die den Weg für spektakuläre medizinische Erfolge ebnete. Unsere Vorfahren verfügten über ein — wie primitiv auch immer geartetes - Verständnis der holistischen Natur von Krankheiten. Heiler berücksichtigten die Gesamtheit der Einflüsse, insbesondere die Überzeugungen, Einstellungen und persönlichen Beziehungen des Patienten, um Genesung zu bewirken. Aber etwa vom sechzehnten Jahrhundert an begannen medizinische Forscher mehr und mehr über die autonomen Funktionen des Blutkreislaufs, der Atmung und des Verdauungssystems in Erfahrung zu bringen. Unabhängig von der wissenschaftlichen Exaktheit ihrer Entdeckungen bedeutete allein das Bemühen, herauszufinden, wie spezifische Komponenten des Körpers arbeiteten, daß der Körper nicht mehr als unteilbares Ganzes betrachtet werden konnte. Im siebzehnten Jahrhundert erklärte Rene Descartes, eine Krankheit sei am besten dadurch zu verstehen, daß man sie in ihrer elementaren Form studiere, unabhängig von anderen Einflüssen. Mit dem Aufkommen der Chirurgie gewann die Vorstellung, daß eine Krankheit ein lokale Fehlfunktion sei, das Versagen eines spezifischen Teils des Körpers, weiter an Boden. Als sich um 1850 der Gebrauch von Betäubungsmitteln durchsetzte, wurde es zunehmend üblich, daß Ärzte Körperteile, die nicht richtig arbeiteten, entfernten oder »reparierten«. Weniger als vierzig Jahre später wurde entdeckt, daß bestimmte Infektionskrankheiten durch Mikroorganismen übertragen werden. Steven Locke und Douglas Colligan schildern, was sich in der Folge ereignete: »Krankheiten, die Geißeln der Menschheit gewesen waren, fielen in Scharen, durch eine magische Kugel nach der anderen. Im Jahr 1911 entwickelten Wissenschaftler ein spezielles Arsenpräparat, Salvarsan, das erfolgreich gegen viele Formen der Syphilis eingesetzt werden konnte. In den zwanziger Jahren wurde Insulin isoliert, und Insulinspritzen verlängerten fortan das Leben von Diabetespatienten. In den dreißiger Jahren erschienen die Sulfonamide und damit ein Heilmittel für bakterielle Lungenentzündung, Meningitis, Gonorrhöe und Blaseninfektionen. Um 1940 wurden die Sulfonamide weitgehend durch noch wirkungsvollere Medikamente ersetzt, die Antibiotika, eine Entwicklung, die durch die Entdeckung des Penicillins möglich geworden war. Es schien, als gäbe es keine Krankheit mehr, mit der die medizinische Wissenschaft nicht fertig werden könne.« Darin lag nicht nur das Versprechen, daß es für alles, was uns plagt, ein Heilmittel gibt. Die Verführung für die Konsumenten lag in der Vorstellung von einer Heilung, die keinerlei persönliches Engagement oder seelischen Kraftaufwand erforderte. Alles, 13
was man tun mußte, war, eine Pille zu schlucken oder sich einer Operation zu unterziehen. Im Austausch gegen die Garantie auf Gesundheit gaben wir unser Verantwortungsgefühl uns selbst gegenüber und unsere individuelle Kraft bereitwillig auf. Aber das Versprechen konnte nicht gehalten werden. Die medizinische Wissenschaft hat wenig Erfolg, wenn es um die Beseitigung oder auch nur Beeinflussung von Krankheiten geht, die heute die Hauptursachen von Tod und Behinderung sind. Krebs, Herzkrankheiten, Arthritis, Alkoholismus, schwere psychische Störungen und chronische Erkrankungen der Atemwege wüten weiter, und es besteht wenig Hoffnung, daß in naher Zukunft bedeutsame Fortschritte gemacht werden. Da das konventionelle medizinische Denken unsere modernen Heimsuchungen nicht erklären, geschweige denn heilen kann, sieht es sich mit zunehmender Ernüchterung konfrontiert. Ein neues medizinisches Modell, eines, das den Menschen als Ganzheit respektiert, ist notwendig, um unsere größten medizinischen Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Wir können die bedrohlichsten Krankheiten nicht besiegen, ohne die psychischen und spirituellen Dimensionen des menschlichen Lebens mit einzubeziehen, zugleich mit den physischen Dimensionen. Faktoren wie Lebensstil, Ernährung, zwischenmenschliche Beziehungen und sogar unsere Fähigkeit zu lieben und uns lieben zu lassen müssen erkundet werden, bevor wir im Bereich des Heilens eine neue Morgenröte erblicken. Die konventionelle Medizin denkt jedoch nicht daran, schnell und taktvoll von der Bühne abzutreten. Das sollten wir auch nicht erwarten, denn die medizinische Wissenschaft hat in der Vergangenheit große Leistungen hervorgebracht, und jene, die dank dieser vergangenen Erfolge Macht und Prestige genießen, bemühen sich, den Status quo aufrechtzuerhalten. Manchen Ärzten, die sich hervorragend auf ihr Handwerk verstehen, fehlen aber vielleicht die notwendigen menschlichen Fähigkeiten, um in Kranken heilende psychische und spirituelle Kräfte zu mobilisieren. Um diese immateriellen, aber wirklich heilenden Kräfte wirksam zu machen, muß der Arzt sich auf eine sinnerfüllte und liebevolle Beziehung zu der oder dem Kranken einlassen. Leider werden Bewerberinnen und Bewerber um Studienplätze in Medizin nicht aufgrund ihrer psychologischen Reife oder ihrer Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, ausgewählt, oder weil sie spirituell hochentwickelte Menschen sind. Medizinstudenten werden nicht in heilsam wirkenden Kommunikationskünsten ausgebildet und erhalten keine Anleitung, wie sie die innere Weisheit ihrer Patienten am besten fördern können. Die weitaus meisten Ärzte können aus einem großen Fundus medizinischen Wissens schöpfen, die meisten können die objektiven physiologischen Faktoren kompetent analysieren und deuten. Aber außergewöhnliche Heilungsprozesse erfordern die Mitwirkung von Faktoren, die jenseits der rationalen Vernunft liegen. Große und einflußreiche Institutionen wie medizinische Ausbildungsstätten, Pharmakonzerne, staatliche Gesundheitsorgane und Krankenhäuser haben ebenfalls starkes Interesse daran, das System der Gesundheitsfürsorge im wesentlichen unverändert zu erhalten. Ausgefallene Forschungsvorhaben durchzuführen oder Medizin in einer Weise zu praktizieren, die angesichts gewisser festverwurzelter Prinzipien - wie der Geist-Körper-Spaltung - eine Häresie darstellen, beinhaltet ein professionelles Risiko. Aufgrund solcher Zwänge glauben manche Mediziner, daß psychologische Methoden, die Heilungsprozesse günstig beeinflussen, nur verdeckt eingesetzt werden können. 14
Charles Weinstock führte eines der seltenen Forschungs-Projekte über Spontanheilungen bei Krebserkrankungen durch. Er kam zu dem Schluß, daß Psychotherapie in hohem Maße lebensverlängernd wirken kann, aber, so gibt er offen zu, der Psychiater muß gewarnt werden, daß er mit starken Vorurteilen von seiten der Ärzteschaft zu rechnen hat und daß er gut daran tut, die lindernde Natur seines Engagements zu betonen und dem Arzt gegenüber die Hoffnung auf tiefergreifende Veränderungen nicht zu erwähnen. Weinstock veröffentlichte seine Arbeit in einer seriösen medizinischen Zeitschrift, die jedoch der esoterischen Richtung angehört. Herausgeberische Kontrolle über die wichtigsten medizinischen Journale ist das Mittel, dessen sich die konventionelle Medizin bedient, um sicherzugehen, daß nur Ideen, die mit der gegenwärtigen Ideologie übereinstimmen, zu weiter Verbreitung gelangen. Letztendlich ist die Macht eines anerkannten medizinischen Fachjournals, wissenschaftliche Studien zur Veröffentlichung anzunehmen oder sie abzulehnen, der Weg, über den die etablierte Medizin manche Forschungsergebnisse als wissenschaftliche Tatsachen heiligt und andere Ideen in den Status der Folklore verweist. Sehen wir uns als Beispiel an, wie das New England Journal of Medicine (NEJM), eine medizinische Fachzeitschrift, die angeblich weltweit das höchste Prestige genießt, das Thema außergewöhnlicher Heilungen behandelt oder, genauer gesagt, nicht behandelt. Im Juni 1985 berichtete die amerikanische Presse, wie sie es häufig tut, über Forschungsergebnisse, die im NEJM veröffentlicht worden waren. Viele der größten Zeitungen des Landes brachten Schlagzeilen wie »Wissenschaftler stellen fest: Psychische Faktoren haben keinen Einfluß auf Krebs«. Die Autoren dieser Studie, die 359 Patientinnen und Patienten mit Krebs in fortgeschrittenem Stadium untersucht hatten, kamen zu der Schlußfolgerung: »Die der Krankheit inhärente biologische Dynamik allein bestimmt die Prognose; sie hat Vorrang vor dem potentiell mildernden Einfluß psychosozialer Faktoren.« Mit anderen Worten: Wenn ein Mensch einmal an einer gravierenden Form von Krebs erkrankt ist, hat er oder sie nicht die Möglichkeit, den Verlauf der Krankheit zu beeinflussen. Falls Sie zu diesem Zeitpunkt an einer Krebserkrankung litten, werden Sie sich vermutlich an diese Studie erinnern. In meiner eigenen psychotherapeutischen Arbeit mit Krebspatienten konnte ich feststellen, daß die Berichterstattung der Presse über diese Forschungsergebnisse auf einige Menschen geradezu vernichtend wirkte. Die Wissenschaft hatte »bewiesen«, daß sie machtlos waren und ihre Krankheit nicht beeinflussen konnten. Die »wissenschaftlich erwiesenen« Ergebnisse der Studie lösten in diesen Menschen Hilflosigkeitsgefühle und tiefe Depressionen aus. Der Nimbus der Unangreifbarkeit, der dem Fachjournal NEJM anhaftet, sorgt dafür, daß der Wert seiner Forschungsberichte selten in Frage gestellt wird. Tatsächlich muß man in diesem Fall jedoch nicht sehr tief graben, um festzustellen, daß die Ergebnisse dieser Studie genauerer Überprüfung nicht standhalten. Die Wissenschaftler führten die Interviews mit Menschen durch, bei denen kurz zuvor Krebs in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert worden war. Dann prüften sie, ob es zwischen der Lebensdauer der Patienten (oder der Zeit bis zur Verschlimmerung der Krankheit) und der Art, wie die Befragten auf die Fragebögen reagierten, irgendwelche Korrelationen gäbe. Da sie keine Korrelationen fanden, kamen die Wissenschaftler zu dem Schluß, daß psychische und soziale Faktoren keinen Einfluß auf die Krankheit hätten. 15
Um das Experiment zu verstehen, stellen Sie sich vor, man hätte Sie gerade davon in Kenntnis gesetzt, daß Sie an Krebs in fortgeschrittenem Stadium leiden und daß Sie bald sterben werden. Während Sie noch unter dem Schock dieser Nachricht stehen, fordern Wissenschaftler Sie auf, einige Fragebögen auszufüllen. Sie werden nach Ihrer Zufriedenheit im Beruf gefragt, nach der Qualität ihrer sozialen Beziehungen, nach Ihren Hilflosigkeits- und Hoffnungslosigkeitsgefühlen und nach Ihrer Einstellung zum Leben im allgemeinen. Die Wissenschaftler gehen davon aus, sie hätten durch diese Frage ein psychologisches Profil Ihrer Persönlichkeit ermittelt, obwohl Sie im Verlauf der vorangegangenen drei Wochen den schrecklichsten Schock Ihres Lebens erlitten haben. Vor allem aber räumen sie nicht die Möglichkeit ein, daß Ihre Gefühle sich in den kommenden Monaten wandeln könnten. Vielleicht finden Sie bald zu Ihren persönlichen Kraftquellen, entdecken die Schönheiten Ihres Lebens neu, werden sich Ihrer eigenen Stärken bewußt und finden Gründe, um am Leben zu bleiben. Aber die Wissenschaftler werden davon nie etwas erfahren. Sie führen weder mit Ihnen noch mit anderen Menschen in ähnlichen Situationen weitere Interviews durch. Auf der Basis ihrer ersten, einmaligen Befragung stellen sie die Behauptung auf, daß Lebenseinstellungen keinen Einfluß auf Krankheiten haben. Sie müssen kein Psychologe oder Psychiater sein, um zu erkennen, daß ein Mensch, bei dem gerade eine tödliche Krankheit entdeckt worden ist, in den Wochen nach dieser Diagnose einen wilden Gefühlsaufruhr durchmacht. Offenbar kam es den Autoren der Studie und den Herausgebern von NEJM nie in den Sinn, daß Interviews mit Menschen, die gerade erfahren haben, daß sie bald sterben müssen, eine psychologisch einzigartige Extremsituation spiegeln, die bald dramatische Lebensveränderungen nach sich ziehen wird. Das Konzept der Studie basierte auf der Prämisse, daß menschliche Wesen im Grunde statische, unveränderliche Organismen sind. In den folgenden Erfahrungsberichten schildern Betroffene die Entwicklung ihrer psychischen Befindlichkeit. Zuerst, nachdem sie die Prognose erfahren hatten, waren die meisten in großer Verzweiflung. Aber diese erste Reaktion unterschied sich von dem emotionalen Zustand, in dem sie einige Monate später waren. Als diese Menschen mit lebensbedrohenden Krankheiten konfrontiert waren, wurden die tiefsten und folgenreichsten seelischen Veränderungen möglich. Ein Mann von über siebzig Jahren, der erfolgreich gegen seinen Lungenkrebs ankämpfte, sagte: »Zuerst hatte ich das Gefühl, daß meine Stunde gekommen sei und daß ich mich damit abfinden müsse. Ich brauchte eine ganze Weile, um zu dem Schluß zu kommen, daß ich eigentlich noch leben wollte.« Er glaubte, seine Krankheit weise ihn darauf hin, daß er in seinem Leben einige bedeutsame Veränderungen vornehmen müsse. Um am Leben zu bleiben - so wußte er nun -, mußte er lernen, sich selbst zu mögen, seine Familienbeziehungen anders zu gestalten und eine Arbeit zu finden, die ihm Freude bereitete. Dieser alte Mann setzte seine Veränderungsvorstellungen sehr schnell in die Tat um; er vollzog in wenigen Monaten eine Wandlung, die gewöhnlich Jahre, manchmal eine ganze Lebensspanne voll intensiven Bemühens erfordert. Als ich ihn fragte, wie ihm das möglich gewesen sei, antwortete er: »Ich hatte die Wahl, mich entweder zu verändern oder zu sterben. Mit dieser Art von Stimulus lerne ich wirklich schnell.« Aber die traditionelle medizinische Vorstellung, daß Menschen wenig Einfluß auf ihr seelisches und körperliches Wohlergehen haben, drückte der Konzeption - und in vieler Hinsicht auch den Ergebnissen - der in NEJM veröffentlichten Studie von vornherein ihren Stempel auf. Diese Konzeption bot tatsächlich keine Möglichkeit, die Dinge 16
herauszufinden, die die Menschen in diesem Buch zu sagen haben: Es gibt keine Garantie für das Überleben, aber es gibt vielleicht einen Faktor, der die Überlebenden auszeichnet: ihre Fähigkeit zur Wandlung und zur Persönlichkeitsentfaltung.
Die Suche nach Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen Um die Menschen aufzufinden, die in diesem Buch über ihre außergewöhnlichen Erfahrungen berichten, waren viele Ansätze nötig. Ärzte in fünf Bundesstaaten wurden kontaktiert. Die meisten dieser Ärzte waren höflich und drückten ihr Interesse an dem Projekt aus, erklärten aber, daß sie keine entsprechenden Patientinnen oder Patienten benennen könnten. Einige Ärzte reagierten mit offener Feindseligkeit und bezeichneten das Projekt als unmöglich oder unseriös. Schließlich sagten sechs Ärzte, die unterschiedlichen Fachrichtungen angehören, dem Projekt ihre Unterstützung zu. Sie nannten die Namen potentieller Interviewpartnerinnen und -partner, baten Kolleginnen und Kollegen um entsprechende Vorschläge, teilten medizinische Hintergrundinformationen mit, stellten, wenn nötig, Verbindungen zu Kollegen oder medizinischen Institutionen her und gaben sogar praktische Unterstützung bei der Durchführung der Interviews. Hinweise kamen auch von persönlichen Bekannten, aus Zeitungsberichten und Zeitschriftenartikeln. Aber aus den unterschiedlichsten Gründen war es manchmal unmöglich, die außergewöhnlichen Heilungsprozesse von Menschen zu dokumentieren, die nicht von Ärzten benannt worden waren. Daher konnten ihre Geschichten nicht in dieses Buch aufgenommen werden. Für die Interviews wurde keine zeitliche Begrenzung festgelegt. Da über diese Gruppe von Menschen so wenig bekannt ist, war das Ziel, soviel wie möglich in Erfahrung zu bringen und herauszufinden, wie sie sich selbst ihre bemerkenswerten Heilerfolge erklärten. Nach dem Abschluß der Interviews wurde jede Person gebeten, den Arzt zu benennen, der mit ihrem Fall am besten vertraut war. Diese Ärzte wurden dann angesprochen und gefragt, ob der Krankheitsverlauf der Patientin oder des Patienten in ihrer Sicht außergewöhnlich gewesen sei oder nicht. Wenn möglich, wurden sie aufgefordert, mit Hilfe einer Skala zu bestimmen, wie ungewöhnlich die Zustandsveränderung der Patientin oder des Patienten war. Zur Dokumentation der Außergewöhnlichkeit dieser Fälle verwendete ich im wesentlichen dieselbe Methode, die von einem wissenschaftlichen Gutachterteam gebilligt worden war, als ich für meine Dissertation zu diesem Thema recherchierte. In jedem einzelnen Fall wurde von einer medizinischen Autorität bestätigt, daß die Überlebensdauer der Person außergewöhnlich war. In fünf Fällen nannten Ärzte die Heilungsgeschichte des Patienten oder der Patientin ausdrücklich »ein Wunder« oder eine Chance von 1:1000. Detaillierte medizinische Informationen wurden nicht verlangt, da das Urteil des Arztes als Kriterium benutzt wurde, um festzustellen, was als außergewöhnlich zu betrachten sei. Die Ergebnisse der Befragung der Ärzte werden im Anhang wiedergegeben. Ich möchte noch einmal besonders hervorheben, daß die Ärzte um ihre Meinung gebeten wurden. Aussagen über die Wahrscheinlichkeit von Krankheitsentwicklungen 17
beziehungsweise Überlebenschancen haftet immer etwas Willkürliches an, und die Schätzungen der Ärzte haben keinen absoluten Wert. Ein anderer Arzt könnte die Wahrscheinlichkeit einer Heilung in einem bestimmten Fall höher oder geringer einschätzen. Es ging vor allem darum, zu zeigen, daß die Genesungsfortschritte einer Patientin oder eines Patienten aus der Sicht eines medizinischen Experten außergewöhnlich waren.
Ein Wort der Warnung Meine größte Angst bei der Veröffentlichung dieses Buches ist die, daß es dazu benutzt werden könnte, die emotionale Distanz zwischen den Schwerkranken und den physisch Gesunden zu vergrößern. In aller Regel betrachten diejenigen unter uns, die gesund sind, die Kranken und insbesondere die Sterbenden als »anders als wir«. Wir gehen davon aus, daß wir verschont bleiben, daß wir uns nie eine gefürchtete Krankheit zuziehen werden oder, falls doch, daß es etwas geben wird, was wir tun können, um sie zu überwinden. Die Distanzierung von den Kranken dient uns dazu, vor der Gewißheit unseres eigenen Todes die Augen zu verschließen. Es wäre jedoch eine absolute Verzerrung der von den Überlebenden in diesem Buch geäußerten Überzeugungen, anzunehmen, daß jede schwerkranke Person notwendigerweise gesund werden müsse, wenn sie - oder er - sich nur mehr bemühte, vernünftigere Diät hielte, perfekter visualisierte, mehr Schönheit im Leben entdeckte oder sich spirituell weiterentwickelte. Die Begrenzungen dieses Buches sind vielfältig. Da der Hauptakzent auf Heilungserfahrungen liegt, mag es so scheinen, als wäre das »Besiegen« der Krankheit die einzige würdevolle Lösung. Norman Cousins erinnert uns daran, daß »nicht der Tod das Tragische im Leben ist, sondern das, was in uns stirbt, während wir noch am Leben sind«. Viele Menschen sterben oder bleiben krank, obwohl sie die Qualitäten, die von den Geheilten als lebensspendend beschrieben werden, vollkommen verwirklicht haben. Da ich mit vielen der Überlebenden und Geheilten sehr vertrauten Kontakt habe, sind die medizinischen Erfolge für mich nicht der wichtigste und erstaunlichste Aspekt ihrer Erfahrungen. Weitaus tiefer beeindruckt mich ihre Entscheidung, die Krankheit als Möglichkeit zur Erkenntnis ihres innersten Seins zu nutzen und dadurch neuen Lebenssinn, Freude und Liebe zum Leben zu entdecken. Leserinnen und Leser, die nach einfachen Antworten suchen, werden enttäuscht sein. Weder die individuellen Erfahrungsberichte noch das Buch als Ganzes haben schematische Heilrezepte zu bieten. Ich fragte alle meine Gesprächspartnerinnen und -partner, welchen Rat sie Menschen geben könnten, die mit schweren Krankheiten konfrontiert sind. Ihre Erfahrungen haben ihnen gezeigt, daß im Umgang mit der Krankheit, wie im Leben, jeder Mensch seinen eigenen Weg finden muß. Jedem Erfahrungsbericht schließt sich eine Analyse an. Als Leitfaden kann diese Analyse nützlich sein, aber sie ist nur ein Weg, die Erfahrung zu verstehen. Als Leserin oder Leser sollten Sie sich nicht scheuen, Ihre eigene Interpretation zu versuchen. Letztlich liegt der einzige Wert der hier vorgelegten Berichte in dem Sinn, den Sie selbst ihnen entnehmen.
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RAYMOND BERTÉ »Lebenseinstellungen als solche haben eine außerordentlich starke Wirkung auf das Immunsystem. Du veränderst dich und bist nicht mehr dieselbe Person, die sich die Krebserkrankung zuzog. Wenn du dich zu einer anderen Persönlichkeit entwickelst, verändert sich vielleicht das Umfeld, in dem der Krebs wuchs; es kann so unempfänglich werden, daß der Krebs sich zurückbildet.« MICHAEL LERNER An Krebs zu erkranken ist eine Zerreißprobe, die für ein Leben ausreicht. Im Lauf seines Lebens an fünf verschiedenen Arten von Krebs zu erkranken scheint den Rahmen der menschlichen Leidensfähigkeit zu sprengen. Raymond Berté hat fünf voneinander unabhängige Krebserkrankungen durchlitten - und überwunden. Drei seiner Krankheitserfahrungen werden hier diskutiert. Das vielleicht Bemerkenswerteste ist, daß er jetzt, ohne seine Schmerzen zu verleugnen oder zu verharmlosen, sagen kann: »Ich möchte diese Erfahrungen nicht missen.« Vor achtzehn Jahren entdeckte ein Team von Spezialisten, daß Berté an einer sehr seltenen Form von Kehlkopfkrebs litt. Die Behandlung der Wahl war die chirurgische Entfernung des Kehlkopfes. Es wurde erwartet, daß Berté, der Professor für Rehabilitationsberatung war, seiner permanenten Behinderung wegen in den Ruhestand gehen würde. Weder die College-Leitung noch die Ärzte konnten sich vorstellen, daß er je wieder Vorlesungen halten könnte. Unterstützt durch seine langjährigen Erfahrungen mit Gesangs- und Stimmbildungsunterricht lernte er schnell, sich der ösophagealen Sprechweise zu bedienen. Bald kehrte er in seine frühere Position zurück und war einer der renommiertesten Professoren seines Colleges. Sein Kampf mit dem Krebs war jedoch noch lange nicht überstanden. Drei Jahre später, 1976, wurde zwischen seinen Schulterblättern ein bösartiger Tumor entdeckt. Ein tiefes Loch wurde in seinen Rücken geschnitten, als man den Tumor operativ entfernte. Da es sich um einen primären Tumor handelte, versicherten die Ärzte Berté erneut, weitere Probleme im Zusammenhang mit dieser Erkrankung seien nicht zu erwarten. Ein Jahr später stellte Berté fest, daß sich seitlich an seinem Hals ein Knoten gebildet hatte. Innerhalb weniger Tage stand die Diagnose fest: Er hatte zum dritten Mal Krebs. Aber diesmal war das Lymphsystem betroffen. Ein chirurgischer Eingriff konnte die bösartige Entwicklung nicht beenden. Wie Bertés Onkologe, mit dem ich Kontakt aufnahm, bestätigte, war der medizinische Konsensus, daß Raymond an dieser Krebserkrankung sterben werde. Man sagte Raymond, daß er nur noch sechs bis achtzehn Monate zu leben habe. Aber jetzt, zehn Jahre später, ist er vollkommen frei von Krebs und wahrhaft lebendig. Ray trug nur eine Badehose, als er mich an der Tür seines hypermodernen Landhauses begrüßte. Da ich wußte, daß er Psychotherapeut und College-Professor war, überraschte mich dieser völlige Mangel an Formalität. »Ich bin gerade beim 19
Frühstück«, erklärte er. »Kommen Sie doch mit mir auf die Terrasse. Wir können uns unterhalten und dabei die Sonne genießen.« Ray war dunkel und attraktiv. Sein Körper wirkte eher wie der eines muskulösen Fünfunddreißigjährigen; sein tatsächliches Alter von zweiundfünfzig sah man ihm nicht an. Bevor ich ihn traf, befürchtete ich, daß ich Schwierigkeiten haben könnte, seine Sprechweise zu verstehen. Aber obwohl seine Stimme sehr tief war und einen ausgesprochen rauhen Klang hatte, war seine Artikulation perfekt. Die Sonnenterrasse bot einen weiten Blick über die Landschaft. In der Ferne sah man einen Traktor über eine gemähte Wiese fahren. Ray zeigte auf ein angeschlossenes Studio, in dem seine Frau, eine Künstlerin, arbeitete. Die beiden Kinder der Bertes sind erwachsen und führen ihr eigenes Leben. Ray ließ sich in einem Segeltuchstuhl nieder und griff nach den Getreideflocken, von denen er gerade gegessen hatte. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« fragte er. »Obst, oder vielleicht Orangensaft?« Ich sagte ihm, daß ein Glas Orangensaft nach meiner langen Reise genau das Richtige sei. Zu meinem Entsetzen beugte Ray sich vor und reichte mir das Glas herüber, aus dem er gerade selbst getrunken hatte. Als ich vor fast acht Jahren mit meiner Suche nach Menschen mit außergewöhnlichen Heilungsverfahren begann, hatte ich keine Ahnung, welche Dämonen aus meinem eigenen Inneren mir dabei gegenübertreten würden. Aber in diesem Augenblick, zwei Minuten nachdem ich meinen ersten Gesprächspartner kennengelernt hatte, war ich mit meinen schlimmsten Ängsten in bezug auf Krebspatienten — selbst solchen, die als geheilt galten - konfrontiert. Intellektuell wußte ich natürlich, daß Krebs nicht ansteckend ist. Aber auf einer tiefen unbewußten Ebene hatte ich Angst, wenn ich einem solchen Menschen zu nahe käme, könnte ich mich irgendwie mit seinem Krebs infizieren. Ich nahm das Glas ohne sichtbares Zögern entgegen und zwang mich, den Inhalt hinunterzuschütten. Ich glaube, daß Ray mich unbewußt einem Test unterwarf. Bevor er mir seine Geschichte erzählte, mußte er wissen, ob er mir vertrauen konnte, denn im Lauf der nächsten Stunden würde er sein innerstes menschliches Sein vor mir offenlegen. Ray begann: »1972 bat mich mein engster Freund, der an der Universität von New Hampshire als Professor lehrt, in einem seiner Seminare einen Gastvortrag zu halten. Etwa nach der Hälfte der Zeit begann ich plötzlich, einen exzessiven Speichelfluß zu entwickeln. Ich konnte mir nicht erklären, warum das passierte. Dann wurde ich heiser, und die Heiserkeit hielt mehrere Wochen lang an. Da ließ ich schließlich meinen Hals untersuchen. Ich erinnere mich genau an das erste Mal, als der HNO-Spezialist sich meinen Hals ansah. Das erste, was er sagte, war: >Na ja, zumindest ist es kein Krebs.< Ich sprang vom Stuhl auf wie von der Tarantel gestochen; dieser Gedanke war mir nie gekommen. Ich hatte nie an Krebs als Möglichkeit gedacht, weil ich Nichtraucher bin, und ich trinke auch keinen Alkohol, und das waren angeblich die beiden wichtigsten Risikofaktoren. Der Arzt meinte, vielleicht sei eine Virusinfektion auf die Stimmbänder geschlagen. Also setzte er mich auf Antibiotika. 20
Mehr als einen Monat später war das Problem immer noch da. Ich hatte keine Schmerzen, aber die Heiserkeit ging nicht weg. Ich ging wieder in die HNO-Klinik und ließ meinen Hals von einem anderen Arzt untersuchen. Er geriet total in Panik, aber er wollte nicht sagen, was seine Befürchtungen waren. Dann sagte er: >Doktor Soundso muß Sie unbedingt noch ansehen, aber er ist im Augenblick nicht da.< Wie kann man mit einem Patienten solchen Mist machen — Angst und Panik vermitteln und ihm dann sagen, er müsse später wiederkommen! Da sitzt man dann und versucht, mit der Höllenangst fertig zu werden. Schließlich untersuchte ein dritter Arzt meinen Hals. Er sagte mir: >Da ist eine Verdickung. Wir müssen eine Biopsie machen.< Also wurde ich ins Krankenhaus eingewiesen, und die Biopsie wurde vorgenommen. Das Resultat war negativ. Nichts Bösartiges. Man sagte mir, ich solle weiterhin die Medikamente nehmen, aber die Heiserkeit wurde immer schlimmer. Nach einer Weile gab mein Arzt auf: >Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich schlage vor, Sie gehen nach Boston und suchen einen Spezialisten auf, den Mann, der mich ausgebildet hat.< Also ging ich nach Boston. Der Spezialist, ich nenne seinen Namen nicht, sagte, er wolle selbst eine Biopsie vornehmen. Wieder war das Resultat negativ. Sechs Monate waren vergangen, - keine definitive Antwort, keine klare Richtung. Also gehe ich ins Mass-General-Krankenhaus, und sie machen einen Test nach dem anderen. Schließlich rücken sie damit heraus. Der Arzt dort sagte mir: >Es ist bösartig - Kehlkopfkrebs.< Es gibt eine Menge schwer zugängliche Bereiche im Hals, die man nicht wirklich sehen kann. Durch die Biopsien waren diese Bereiche nicht erfaßt worden. Aber irgendwie hatten die Ärzte herausgefunden, daß es Krebs war. Nachdem ich drei oder vier Tage im Krankenhaus war, fing es an, daß fast täglich Teams von Ärzten und medizinischem Personal hereinkamen. Ich hatte das Gefühl, wie ein Stück Protoplasma behandelt zu werden. Gruppen von Weißkitteln kamen in mein Zimmer, guckten mir in den Hals, versammelten sich am Fußende meines Bettes und diskutierten über mich, als wäre ich nicht anwesend, als wäre ich nicht einmal ein Mensch. An einem bestimmten Punkt hatte ich schließlich die Schnauze voll und sagte: >Hey, jetzt guckt mir hier keiner mehr in den Hals! Und wenn Sie über mich reden wollen, machen Sie, daß sie rauskommen, oder sprechen Sie mich direkt an!< Jetzt kommt ein sehr wichtiger Teil der Geschichte, obwohl ich das damals nicht wußte. Man sagte mir, eine radikale Laryngektomie sei >die Methode der Wahl<. >Wir werden Ihnen den gesamten Kehlkopf und das umliegende Gewebe herausschneiden, und Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß Sie für den Rest Ihres Lebens sprachbehindert und ein Halsatmer sein werden.< Ich finde diese unsensible Art, mit Begriffen um sich zu werfen, einfach ungeheuerlich. Darüber könnte ich mich stundenlang aufregen. Ich nahm die Diagnose und den Behandlungsvorschlag auf eine sehr duckmäuserische und gefügige Art an. Mein Kehlkopf wurde entfernt. Nach diesem chirurgischen Eingriff wurde mir gesagt: >Operation gelungen, Prognose prima, keine Metastasen, alles in Ordnung.< Weiter erfuhr ich noch, daß es in der medizinischen Literatur nur vier dokumentierte Fälle gab, in denen diese spezifische Art von Krebs sich, wie bei mir, am Kehlkopf entwickelt hatte. Mein Fall war der erste dieser Art seit dreißig Jahren. Daher bekam der Chirurg, der mich operiert hatte, Anrufe aus allen Teilen der Welt. Er hielt 21
Vorträge über meinen Fall in Europa und an verschiedenen Orten in Amerika. Ich sage das ohne jeden Stolz. Es bedeutet mir überhaupt nichts. Ich erinnere mich an den Tag, als der Verband entfernt wurde. Ich zitterte vor Angst. Der Chirurg sagt mir: >Es sieht gut aus.< Als er gegangen ist, trete ich vor den Spiegel, um selbst nachzusehen. Was ich sehe, ist abstoßend. Mein Adamsapfel ist weg, und da, wo er war, ist ein Loch. Ich kann nicht aufhören zu zittern und denke: >Was wird June wohl empfinden? Sie liebt das Ästhetische so sehr, und ich bin häßlich wie die Sünde.< Als ich schließlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hielten June und ich unterwegs an einem Restaurant am Massachusetts Turnpike an, um zu Mittag zu essen. Ich bestellte eine Muschelsuppe, die sehr heiß war. Automatisch versuchte ich, sie durch Pusten auf den Löffel abzukühlen, und hatte dann einen langen, lautlosen Lachanfall, der in einen Weinkrampf überging. June fragte mich, was ich hätte. Ich schrieb auf einen Zettel: >Ich bin jetzt ein Halsatmer. Meinst du, es wäre unfein, wenn ich meinen Löffel an meine künstliche Halsöffnung hielte, um auf meine Suppe zu pusten?< Dann lachten wir beide. Die Zeit, in der ich zu Haus war und darauf wartete, daß die Sprechtherapie anfing, war sehr schwierig. Eines Tages fuhr ich unsere achtjährige Tochter mit einigen unserer engsten Freunde an einen See. Sie wollte eigentlich das Wochenende dort verbringen. Aber sie wurde krank und blieb im Ferienhaus, während die anderen schwimmen gingen. Es ging ihr immer schlechter, und sie rief zu Haus an, weil sie Hilfe brauchte. Ich war allein zu Haus. Das Telefon hörte nicht auf zu läuten. Da ich die Dringlichkeit spürte, nahm ich schließlich den Hörer ab, aber ich konnte natürlich nicht sprechen. Sie weinte kläglich: >Bist du das, Daddy? Ich bin krank, Daddy, es tut so weh! Ich will nach Haus, Dad, bitte!< Ich hängte auf, sprang ins Auto, holte June unterwegs in der Stadt ab und fuhr dann an den See, um unsere Tochter nach Haus zu holen. Ich habe so geweint wie noch nie zuvor in meinem Leben. In >guter Absicht< hatte mein Arzt mir die Information vorenthalten, daß es für Menschen, denen der Kehlkopf entfernt wurde, elektronische Sprechhilfen gibt. Ich wußte nicht, daß solche Geräte existierten. Er dachte, wenn ich eins benutzte, wäre ich nicht mehr so stark motiviert, das ösophageale Sprechen zu erlernen. Als ich zu meiner nächsten Untersuchung ging, hatte ich ein brandneues Sprechgerät an einer Schnur um den Hals hängen. Mein Arzt kam herein, warf einen Blick auf das Servox-Gerät und fragte: >Was ist das?<, obwohl er sehr wohl wußte, was das war. Als Antwort drückte ich das Gerät an meinen Hals und sprach die ersten Worte mit meiner elektronischen Stimme aus: >Sie gottverdammter Mistkerl! Warum haben Sie mir nichts über diese Geräte gesagt?< Es war wirklich nicht seine Sache, diese Entscheidung zu treffen. Hätte ich von Anfang an von diesen Geräten gewußt, wären mir eine Menge Leid und Schwierigkeiten erspart geblieben. Kurz nach der Operation fragte mich einer der Ärzte aus dem Team, was ich vorhätte, wenn ich aus dem Krankenhaus entlassen werde. Ich schrieb: >Ich verstehe 22
die Frage nicht.< Er sagte: >Es ist doch klar, daß Sie Ihre Lehrtätigkeit nicht wieder aufnehmen können. Selbst wenn Sie es schaffen, das ösophageale Sprechen zu lernen, dauert es zwei Jahre, bis Sie es beherrschen. Und dann können Sie höchstens zehn oder fünfzehn Minuten lang sprechen, weil es so anstrengend ist.< Ich begreife einfach nicht, welchen Nutzen es für Patienten haben soll, ständig zu hören: >Sie können dies nicht mehr, Sie können das nicht mehr, Sie werden jenes nie mehr können.. .< Ich meine, Ärzte müssen erkennen, welche hypnotische Wirkung ihre Worte auf Patienten haben. Statt zu sagen >Selbst wenn Sie es schaffen.. .< hätte er sagen können >Wenn Sie das ösophageale Sprechen lernen.. .<. Na ja, jedenfalls brauchte ich drei Monate, um die ösophageale Sprechweise zu meistern. Jetzt halte ich regelmäßig Lehrveranstaltungen von drei Stunden ab, mit nur fünfzehn Minuten Pause dazwischen. Aber als ich ans Springfield College zurückkehrte, benutzte ich zuerst die elektronische Sprechhilfe. Ich war voller Angst. Würden meine Studentinnen und Studenten sich auf irgendetwas anderes konzentrieren können als auf den merkwürdigen Klang der künstlichen, elektronischen Stimme? Ich bin sicher, daß sie meine Nervosität bemerkten, und ich bat sie, mir zu sagen, ob sie mich verstehen könnten. Daraufhin kam ein Zuruf nach dem anderen aus dem Auditorium: >Machen Sie weiter, Professor!<; >Sie hören sich gut an, Doc.<; >Wir hören Sie laut und deutlich, Ray! < Der Raum war mit Liebe erfüllt. Als ich meine Vorlesung beendete, standen meine Studenten auf und applaudierten. Elisabeth Kübler-Ross nennt es die erste bedeutsame Erkenntnis ihres Lebens, daß ein einziger Mensch, der uns wirkliche Liebe entgegenbringt, den ganzen Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen kann. An diesem Tag hatte ich einen ganzen Hörsaal voller solcher Menschen. Ungefähr drei Jahre nach meiner Kehlkopfoperation saß ich mit meiner Frau am Strand. Sie sah mich an und sagte: >Du, hör mal, Raymond, du hast da eine Schwellung zwischen deinen Schulterblättern. Was mag das wohl sein?< Es gibt eine Redewendung, die Krebspatienten benutzen, und ich glaube, sie trifft zu: Einmal Krebspatient, immer Krebspatient. Man macht sich Sorgen bei jedem Magenknurren, fragt sich bei jedem kleinen Schmerz: Könnte es Krebs sein? Meiner Meinung nach wissen Krebspatienten fast grundsätzlich, daß sie Krebs haben, bevor sie die Diagnose erhalten. Irgend etwas ist da in der menschlichen Seele, das einem die Botschaft vermittelt. Aber natürlich sagte ich zu meiner Frau, um ihre Ängste zu beschwichtigen: >Ach, weißt du, das ist wahrscheinlich nur eine Fettgewebegeschwulst. Die kommen sehr häufig vor. Mach‘ dir deshalb keine Sorgen.< Als ich vom Strand zurückkam, ging ich zu Michael, einem Freund in Springfield, der Chirurg ist. Er sah es sich an, tastete es ab und sagte selbst auch: >Ach, vermutlich ist es nichts Ernstes. Aber vielleicht solltest du nach Boston gehen und es von einem Spezialisten untersuchen lassen.< Ich ging also zu einem Chirurgen in Boston, der mir sagte: >Wir werden erstmal drei Monate abwarten und dann sehen, ob irgendwelche Veränderungen eingetreten sind< — das typische Gerede, man kennt das ja. Ich kam aus Boston zurück und 23
fragte mich: >Was zum Teufel sollst du jetzt machen, Ray? Wie sollst du drei Monate lang mit der Angst leben, daß es ein Tumor ist, der immer weiter wächst?< Also ging ich zurück zu meinem Chirurgen in Springfield. Er ist ein guter Freund. Ich sagte: Michael, nimm eine Gewebeprobe von dem verdammten Ding. Laß es uns unter dem Mikroskop ansehen. Er schnitt also etwas heraus, sah es sich an und sagte mir, es sei ein bösartiger Tumor. Ein paar Tage vergingen, und er rief mich zu sich. Er sagte: >Also, Ray, ich habe mit meinen Kollegen darüber gesprochen, wir haben es auf der Tumor-Konferenz diskutiert.< In den größeren medizinischen Einrichtungen haben sie jede Woche diese Tumor-Konferenzen; die Ärzte kommen zusammen, um ihre Fälle und die Wahlmöglichkeiten für die Behandlung zu diskutieren. Er fuhr fort: >Die Methode der Wahl ist, das Gewebe zwischen deinen Schulterblättern herauszuschneiden, etwa in diesem Umfang und soundso tief, und das Ding herauszuholen.< Hier, Sie können es sehen... (Ray drehte sich um und zeigte mir ein tiefes, vernarbtes Loch zwischen seinen Schulterblättern, das jetzt von stark ausgebildeten Muskeln umgeben war). Zum zweiten Mal akzeptierte ich nun die >Methode der Wahl<, ohne nachzufragen. Der Hohepriester hatte gesprochen. Ich nahm die Diagnose an und unterwarf mich der Operation. Nach dem chirurgischen Eingriff sagten sie mir, es sei alles in Ordnung. Es war ein weiterer Primärtumor. Sie stellten fest, daß es nicht mein Kehlkopfkrebs war, der nun etwa Metastasen im Rücken gebildet hatte. Na, wunderbar, denke ich, sie haben alles herausgeholt. Es vergeht etwa ein Jahr, da entdecke ich seitlich an meinem Hals einen Knoten. Ich fühle das verdammte Ding. Innerlich weiß ich sofort: >Verflucht nochmal, der Krebs hat sich ausgebreitet.< Ich gehe zu meinem Chirurgen und sage ihm: >Schneid es heraus. Sehen wir es uns an.< Also lasse ich es ambulant entfernen; es ist ein Lymphknoten. Er schneidet etwa drei davon heraus. Natürlich bin ich dabei nur örtlich betäubt und bekomme alles mit. Er hält sie in der Hand und sagt: >Sie sehen harmlos aus, Ray.< Ich sage: >Abwarten!< und denke mir: >Zur Hölle damit!< Ein paar Tage später wird mir mitgeteilt, daß diese Lymphknoten von Krebs befallen sind. Jetzt habe ich also Krebs im lymphatischen System. Michael schlägt vor, daß ich einen anderen Onkologen konsultiere, um weitere Tests vornehmen zu lassen und blah, blah, blah. Ich gehe also zu diesem anderen Onkologen, zufällig arbeitet meine Nichte in seiner Praxis. Er macht einige weitere Tests. Er läßt eine Knochenmarksbiopsie machen und teilt mir dann die Diagnose mit. Ich hatte Knochenmarkskrebs im vierten Stadium. Bei der Krebsdiagnose teilen sie den Körper in Felder und Sektionen ein, - oberer linker Quadrant, unterer rechter Quadrant, und so fort. Dann wird der entdeckte Krebs nach Stadien klassifiziert: Erstes Stadium - gute Prognose. Zweites Stadium ist natürlich schon ernster. Drittes Stadium ist tödlich. Viertes Stadium: Aus - weg von der Platte. Tatsächlich war es das, was sie mir sagten. Krebs im Endstadium. Sie rieten mir, meinen Frieden mit Gott zu machen, da ich nicht mehr lange leben würde. Ich fragte meinen Onkologen: >Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?< Er sagte: >Massive Chemotherapie und massive Bestrahlung.< Ich sah ihn an und fragte: 24
>Woher kommen diese Vorschläge?< Er antwortete: »Nun, in der Diskussion mit Kollegen.. .<, und dann kam es zum dritten Mal: >Die Therapie der Wahl.. .< Das war der Augenblick, in dem ich die Arme hochwarf und sagte: >Ach, leckt mich doch alle... !< >Was ist denn los mit Ihnen ?< wollte er wissen. Ich sagte: >Wissen Sie, ich bin in einer kulturellen Umgebung aufgewachsen, die den Wissenschaften im allgemeinen und den medizinischen Berufen im besonderen hohe Wertschätzung entgegenbringt. Ich habe diese Einstellung auch nicht aufgegeben. Es ist nur, daß ich von Ärzten ständig höre: >Die Therapie der Wahl ist das und das. Niemand hat mir je gesagt: >Dies sind einige der Wahlmöglichkeiten — wir glauben, daß diese Dinge helfen könnten. Was meinen Sie dazu, Ray? Ich wurde nie in irgendeinen der Entscheidungsprozesse einbezogen.< Ich sagte zu meinem Onkologen: >Steve, von jetzt an will ich die genauesten medizinischen Informationen, die ich bekommen kann. Und ich werde die Entscheidungen treffen!< Ich war sehr kritisch geworden. Ich kam zu dem Schluß - und das ist nicht wissenschaftlich-, daß ich auf irgendeine Weise selbst meinen Krebs verursachte. Für mich war das wirklich eine weise Erkenntnis. Die Schwierigkeit, die Außenstehende oft mit dieser Aussage haben, ist die, daß sie das Übernehmen von Verantwortung mit Scham, Selbstvorwürfen oder Schuldgefühlen gleichsetzen. Das ist aber nicht mein Ansatzpunkt. Ich glaube, daß man sich entscheiden kann, ob man in dieser Welt und im eigenen Leben auf der Ursachen- oder auf der Wirkungsseite stehen will. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer nur angenommen, ich sei dem Wirken höherer Mächte unterworfen, - dem Schicksal, Gott oder Jahwe. Nun, ich hörte auf, das zu glauben, und sagte mir: >Auf irgendeine Weise bin ich selbst die Ursache dafür. Und wenn ich selbst die Ursache bin, dann kann ich auch etwas daran ändern.< Ich sagte mir: >Verdammt noch mal, Ray, du hast es verursacht. Wenn das so ist und wenn du es wirklich glaubst, dann kannst du auch damit fertig werden. Was du hervorgerufen hast, kannst du auch wieder zurücknehmen. Du kannst das ändern.< An diesem Punkt kam die entscheidende Wende. Da fing ich an, mich mit alternativen Methoden der Krebsbehandlung zu beschäftigen. Ich ging allen möglichen Themen nach, die mit Streß zu tun hatten, Streßbewältigung, Ernährung, das ganze Paket. Ich fing an, mein Leben grundlegend zu verändern. Zu diesem Zeitpunkt dachten meine Frau und ich daran, diese Farm hier zu kaufen. Wir wollten aus der Stadt heraus. Bevor ich diese Erkenntnis gewonnen hatte, sagte ich mir: >Was für eine Verschwendung! Ich sterbe an Krebs. Was für ein Unfug, einen Hauskauf zu planen und June und die Kinder mit einer Hypothek und einer großen Farm zurückzulassen.< Aber als meine Einstellung und mein Glaubenssystem sich geändert hatten — das eigene Glaubenssystem ist ausschlaggebend, wenn man den festen Glauben hat, klappt es; wenn man den Glauben nicht hat, wird es einfach nichts -, da sagte ich: >Wir müssen unser Leben so weiterleben, als würde ich hundert Jahre alt. Wir werden die Farm kaufen.< Und wie Sie sehen, taten wir das auch, wir kauften die Farm. Das alles hier gehört uns, so weit Sie sehen können. Der Diagnose nach wurden meine Lebenschancen an der unteren Grenze auf sechs Monate geschätzt; die obere Grenze waren achtzehn Monate. Jedesmal, wenn ich mich untersuchen ließ, - ich ging alle drei Monate zur Krebsuntersuchung - saß mein 25
Onkologe da, schüttelte immer nur den Kopf und sagte: >Das verstehe ich nicht. Ich verstehe das nicht!< Anfangs bekam ich von seiten der Ärzte keine Unterstützung für das, was ich machte. Tatsächlich hatte ich in meiner gesamten Umgebung wenig Unterstützung, abgesehen von einem sehr lieben Freund, einigen guten Freunden und meiner Frau, die sagten: >Hör mal, wie du dich entscheidest, was immer deiner Meinung nach das Beste für dich ist, du weißt, daß wir voll hinter dir stehen!< Und ich brauchte das. Aber alle anderen fanden das, was ich tat, völlig absurd. >Mein Gott, Ray!<, sagten sie. Die Krankenschwester, die in der Praxis des Onkologen arbeitete, war meine Nichte. Nach jeder Untersuchung sah sie sich die Ergebnisse an. Sie weinte immer, wenn sie mich anrief. Ich sprach mit meinem Onkologen, und er sagte immer wieder: >Sehen Sie, wenn Sie die Chemotherapie akzeptieren, können wir Sie vielleicht drei oder vier Jahre länger am Leben erhalten.< Sie begriffen es nicht. Ich sagte: >Verdammt nochmal, Sie reden davon, mir drei oder vier Jahre Aufschub zu geben. Das interessiert mich nicht. Drei oder vier Jahre mehr sind nicht mein Ding! Ich will aus der Sache rauskommen.« Ray hob die Arme und stieß einen Kampfschrei aus. »Ich setze auf Sieg!« Diese Einstellung half mir, am Leben zu bleiben. Aus der Perspektive der Transaktionsanalyse ist es das ungestüme, trotzige kleine Kind in uns, das sich da äußert. Es ist dieses Drängen zum Leben, dieser Lebenswille. Es ist dieses Suchen nach Wegen zum Überleben. Steh es durch! Geh mitten durch oder spring drüber weg! Aber du kannst es schaffen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Da war dieser Typ, der eine Treppe hinunterstürzte und sich schwer verletzte. Man sagte ihm, er werde sich nie wieder bewegen können. Nachdem er die Meinung der Ärzte gehört hatte, sagte er etwas Interessantes: >Wie zum Teufel kann man einen Kampf gewinnen, wenn man ihn schon mit der Erwartung der Niederlage beginnt?< Er tat etwas Unglaubliches. Er stellte sich vor, er könnte lernen, einen Zeh zu bewegen, das sollte der Anfang sein. Er konzentrierte sich ständig auf seinen großen Zeh. Er lenkte seine gesamte Energie in seinen großen Zeh. Seine Mutter kam ihn eines Tages besuchen. Er sagte: >Mutter, schau auf meinen großen Zeh!< Immer wieder sagte er: >Schau ihn dir an, beobachte ihn.< Und sie beobachtete ihn. Und er sagte: >Siehst du etwas?< >Nein<, sagte sie, >ich sehe nichts.< >Bist du sicher?« Sie sagte: >Ich sehe wirklich nichts.< Er sagte: >Schau ihn weiter an, beobachte ihn!< Sie sagte: >Ich sehe keine Bewegung.< Aber dann, plötzlich, bemerkte sie etwas anderes. Einer seiner Finger, ich glaube, es war sein Daumen, hatte angefangen, sich zu bewegen. Das war der Durchbruch. Er schaffte das scheinbar Unmögliche. Heute ist dieser Mann, der an allen vier Extremitäten vollständig gelähmt war, frei beweglich und kann seine Arme und Beine wieder gebrauchen. Die Geschichte hat einen vertrauten Klang. Sie sehen, ich wollte wirklich gesund werden. Mein größtes Liebesabenteuer ist die Liebe zum Leben. Im Leben 26
liegen alle Hoffnungen. Im Tod liegt wirklich gar keine Hoffnung. Das ist keine Verleugnung des Lebens nach dem Tod oder wie immer man es nennen will. Ich glaube tatsächlich daran, daß wir in irgendeiner Form weiterexistieren, wenn wir diese Welt verlassen, und das ist ein tröstlicher Gedanke. Aber ich möchte so lange hierbleiben, wie ich kann. Ich liebe das Leben. Ich habe noch zuviel zu tun, um jetzt schon abzutreten. Ich habe immer so unheimlich viel vor - Projekte, die ich verwirklichen will, Orte, die ich aufsuchen, und Leute, die ich sehen will. Ich glaube, wenn die Zeit zum Sterben kommt, werde ich ein Gefühl der Vollständigkeit oder der Vollendung haben, eine fertige Gestalt, oder wie immer man es nennen will. Aber vorerst habe ich immer noch das Gefühl: Teufel nochmal, da ist noch so viel zu tun.« Ohne Vorwarnung sprang Ray plötzlich auf und raste in die angrenzenden Felder hinein. Nach sekundenlangem Zögern rannte ich ihm nach, obwohl ich nicht wußte, was er vorhatte. Ray war etwa zwanzig Meter vor mir, als ich sah, daß er hinter seiner Katze her war und versuchte, sie einzufangen. Er machte einen Sprung nach vorn und stürzte bäuchlings zu Boden, die Arme weit vorgestreckt, aber er hatte die Katze knapp erwischt. Als ich näher kam, wurde mir der Sinn der Aktion klar: Die Katze hatte eine Feldmaus im Maul. Ray war schnell, aber sanft. Er öffnete die Kiefer der Katze und ließ die Maus frei. Wir gingen schweigend zur Terrasse zurück. »Da es in meiner Familie keine Vorgeschichte von Krebserkrankungen gab, weder in der Elterngeneration noch in der Generation davor, nicht einmal in der Zeit vor der Einwanderung, dachte ich viel darüber nach, wie es möglich war, daß ich mir Krebs zugezogen hatte. Lawrence LeShan sagt in seinem Buch >Psychotherapie gegen den Krebs<, daß er bei Leuten aus der Generation, die in die Vereinigten Staaten einwanderte, viele übereinstimmende Merkmale fand. Er meint, daß es vermutlich bestimmte kulturelle Einflüsse waren, die es in den alten Ländern nicht gegeben hatte, und die hier, in diesem Land, zu Krebs führten. Einer dieser Faktoren ist Streß. Ernährung ist ein weiterer Faktor. Wir stehen sehr viel stärker unter Streß, und wir essen auch anders als die Leute auf einem Bauernhof in Italien. Aber ich rede nicht von Meinungen. Es ist eine Tatsache, daß die Ernährung eine sehr wichtige Rolle spielt bei der Entstehung von Krebs und auch bei der Genesung, bei der Heilung von Krebserkrankungen. Ich bin davon überzeugt, daß diese Faktoren entscheidend zu meiner Krebserkrankung beitrugen. Erstens konnte ich nicht gut mit Streß umgehen; ich ließ mich von meinen Belastungen zerreißen. Zweitens hatte ich grauenvolle Ernährungsgewohnheiten. Kaffee und ein gefüllter Krapfen waren mein Frühstück. Mein Mittagessen bestand aus einem Hot Dog und einer Cola - und jedermann weiß, daß Cola ja so munter und lebendig macht.« Wir lachen beide. »Wenn ich klüger gewesen wäre, hätte ich die Anzeichen schon viel früher bemerkt. Als Kind hatte ich eine Erkältung nach der anderen. Und ich hatte so oft Hautausschlag, — es war mir furchtbar unangenehm. In meinem Fall kam das von ernährungsbedingten Mangelzuständen. Ich finde es geradezu faszinierend, daß viele Leute mich jetzt als Sonderling betrachten, weil ich so esse, wie ihre Großeltern aßen. Sie aßen frisches Obst und frisches Gemüse damals, keine vorbehandelten Lebensmittel. Ich las einen Artikel von Albert Schweitzer, der mich sehr beeindruckte. Bei seinem Studium afrikanischer Stämme beobachtete er, daß generative Krankheiten sich unter ihnen auszubreiten begannen, je mehr sie mit der westlichen Zivilisation in Berührung 27
kamen. Bei den Stämmen, die an der primitivsten Lebensweise festhielten, war Krebs nahezu unbekannt, aber unter denjenigen, die sich der modernen westlichen Lebensweise angepaßt hatten, breiteten Krankheiten sich in einem enormen Ausmaß aus. Statt hinauszugehen und auf Bäume zu klettern, um sich ihre Nahrung zu holen, fingen sie an, Konserven und vorbehandelte Lebensmittel zu verwenden. Außerdem waren sie vermutlich größerem Streß ausgesetzt. Für mich hieß es, anders mit Streß umzugehen, wenn ich leben wollte. Ich entdeckte das Kind in mir. Dieses Kind in einem selbst braucht Freiräume und Zeit für Spaß, Zeit für Entspannung. Jeder muß für sich selbst herausfinden, was das Richtige ist. Für mich ist es Musik, meine Liebe zur Musik, und Lesen und Körpertraining. Mann, beim Training lege ich richtig los. Die Jungs in meinem Fitneßclub können immer noch nicht glauben, daß dieser Körper zweiundfünfzig Jahre alt ist. Nachdem ich Krebs bekommen hatte, gab ich mir selbst die Erlaubnis, die Dinge zu tun, die ich tun wollte. Vorher erlaubte ich vielen Dingen, mich an der Befriedigung meiner wahren Bedürfnisse zu hindern. Meine Beziehungen zu allen Menschen, an denen mir liegt, verbesserten sich. Meine Sensibilität, mein Bewußtseinsniveau, meine Fähigkeit, mit anderen Menschen zusammenzusein, steigerten sich enorm. In dieser Hinsicht habe ich eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Ich bin sicher, das hatte eine heilende Wirkung auf mich. Ich hatte immer die Gabe - das hört sich jetzt vielleicht hochtrabend an -, mich in Menschen einzufühlen und mit Menschen in Kontakt zu treten. Ich habe viel Mitgefühl mit anderen Menschen. Ich weiß, das klingt furchtbar schmalzig oder kitschig. Das wird auf meinem Grabstein stehen - nein, das nehme ich zurück, ich werde keinen Grabstein haben. Ich habe beschlossen, einen Beitrag zur Ökologie zu leisten und mich verbrennen zu lassen. Die Asche wird verstreut. Aber wenn ich einen Grabstein hätte, sollte das Wort >mitfühlend< darauf einen Platz haben. Ich glaube, jede Tugend wird zu einem Fehler, wenn sie ins Extrem getrieben wird. Ich ging mit meinem Mitgefühl so weit, daß es für mich destruktiv wurde. Bei meinen Krebserkrankungen fand ich es notwendig - fälschlicherweise -, allen anderen ihre Angst um mich zu nehmen und sie zu beschwichtigen. Statt dessen hätte ich mich mehr um meine eigenen Gefühle kümmern sollen. Eine Sache, die mir geradezu entgegensprang, bei Freunden und auch bei Familienmitgliedern, war, daß meine Krebskrankheit ihnen plötzlich ihre eigene Sterblichkeit bewußtmachte. Sie kamen fast um vor Angst. Niemand hätte das laut ausgesprochen, aber ich fühlte es. In den Beratungsgesprächen bei der Rehabilitation nennen wir das die Notwendigkeit zu trauern. Menschen haben ein Bedürfnis, Kranke in ihrer Umgebung elender und tragischer zu machen, als sie es in Wirklichkeit sind, um ihr eigenes Gefühl von physischer Unversehrtheit zu stärken. Wenn ich den anderen als krank und tragisch ausmache, mehr als er tatsächlich ist, dann geht es mir besser. Ein Zwischenfall brachte das wirklich klar zutage. Kurz nachdem ich zum ersten Mal aus dem Krankenhaus kam, nach meiner Kehlkopf Operation, stand ich da mit meiner Frau, meiner Schwester und ihrem Mann. Es war beim Geburtstag meiner Schwester. Aus dem Augenwinkel sah ich eine meiner Tanten. Die Szene steht so lebendig vor mir — o Gott, es war furchtbar. Sie beugte sich vor, guckte, und schlängelte sich an mich heran. Sie starrte mich an, so« — Ray verzieht sein Gesicht zu einer jammervollen 28
Miene - »sah mir in die Augen und sagte: >Bist du das, Ray?< Ich hätte ihr am liebsten mitten ins Gesicht gekotzt, wenn ich das auf Abruf gekonnt hätte. Es war diese >Achdu-armes-Schwein<-Szene -, abwertendes Mitleid. Sie hatte das Bedürfnis, mich als armes Schwein auszumachen, damit sie sich besser fühlen und sich ihrer eigenen Gesundheit versichern konnte. Merkwürdig ist das, aber ich habe es einige Male erlebt. Genau wie diese negativen Gefühle die Gesundheit beeinträchtigen, wirken positive Gefühle heilend. Humor war sehr wichtig für mich. Das ist nicht nur meine persönliche Vorstellung, es gibt Untersuchungen darüber, und es ist keine Frage, daß Humor heilende Wirkungen hat. Ich sehe jetzt viel Witziges, was mir vorher entgangen ist. Ich sehe in vielen Dingen den komischen Aspekt. Ich erinnere mich an den ersten Tag, als sie mich aus dem Bett holten, nachdem ich am Kehlkopf operiert worden war. Ich sollte mich bewegen, aber da ich noch am Tropf hing, mußten die Schläuche und das ganze Drum und Dran mitgenommen werden. Also mußten zwei Krankenschwestern mich von beiden Seiten stützen. Im Mass General Krankenhaus haben sie diesen riesigen Korridor, und er erinnerte mich an die Aschenbahn in einem Sportstadion. Ich dachte, was für ein toller Platz für einen Hundert-Meter-Lauf. Natürlich konnte ich nicht sprechen, aber ich dachte es. Die Schwestern gingen mit mir bis zum anderen Ende des Korridors und wollten mich dann zurückbringen. Aber ich hatte noch etwas anderes vor. Ich ging in die Startposition wie ein Läufer und gab ihnen durch Gesten zu verstehen: >Zurück laufen wir um die Wette.< Wenn jemand, den ich liebe - ein Familienmitglied, ein Freund, einer meiner Studenten - Krebs bekäme, würde ich in jedem Fall Hoffnung vermitteln und die Vorstellung weitergeben, daß Krebs, im Gegensatz zur populären Mythologie, kein Todesurteil ist. Sie müssen ihre eigenen Ressourcen mobilisieren, im Zusammenhang mit den besten medizinischen Informationen, die sie bekommen können. Ich denke, für Krebspatienten ist es von ausschlaggebender Bedeutung, ihre Ernährungsgewohnheiten und ihren Lebensstil zu überprüfen, insbesondere ihren Umgang mit Streß. Es ist absolut wichtig, daß sie ergänzende Vitamin- und Mineralgaben erhalten. Nach allem, was ich mir an Wissen über diese Dinge angeeignet habe, gibt es bestimmte, sehr wichtige Spurenelemente, Vitamine und Mineralien, die von grundlegender Bedeutung sind, insbesondere für Krebspatienten. Ich glaube nicht, daß die traditionelle Medizin allein etwas ausrichten kann, wenn man diese anderen Dinge nicht beachtet. Der größte Teil der konventionellen Krebstherapie ist reine Symptombehandlung. Man hat einen Tumor, und sie schneiden ihn heraus. Die Ursachen der Krankheit - warum der Tumor sich überhaupt bilden konnte — bleiben im Dunklen. Für jede Art von Krebs gibt es gute medizinische Therapien. Aber es ist dennoch ein Kurieren an Symptomen. Ich denke, man muß sich mit den Ursachen befassen. Es ist sehr wichtig, einen Arzt zu finden, mit dem man sich gut versteht. Was meine eigene Behandlung angeht, muß der Arzt im Hinblick auf Offenheit und Flexibilität so sein wie ich. Wenn ich mit einem Arzt zusammenarbeiten müßte, der sich in verschiedenen Fragen unkooperativ verhielte, würde ich mir einen anderen suchen. Ich möchte nicht den Eindruck vermitteln, ich wäre generell gegen die Schulmedizin, denn das bin ich nicht. Es gibt einige wirklich gute Leute im medizinischen Bereich, denen ihr Ego nicht im Weg steht. Diese Ärzte lernen etwas von ihren Patienten.« 29
Ray hob plötzlich seinen Arm, fing eine Fliege aus der Luft und zerschmetterte sie klatschend auf dem Tisch. Er hielt einen Augenblick inne. »Das ist der kleine Hitler in mir.« Wieder schwieg er. »Nein, ich bin nicht ohne Widersprüche, aber ich nehme mir meine Widersprüchlichkeit nicht mehr so übel wie früher. Die Krankheit war sehr wichtig für mich. Ich mag mich jetzt mehr. Ich möchte die Erfahrung nicht missen, aber es wäre eine Lüge, zu behaupten, ich würde sie nicht wieder rückgängig machen, wenn ich meine Stimme wiederhaben könnte. Beim Singen konnte ich früher wirklich abheben. O Gott, es wäre mir völlig egal, ob es anderen gefällt oder nicht. Ich konnte mich selbst in Begeisterung versetzen; es lief mir heiß und kalt den Rücken herunter. Ich habe zwanzig Jahre lang meine Stimme ausgebildet. Ich war auch objektiv gut. Man sagt, daß ein Licht am hellsten brennt, kurz bevor es ausgeht. Die beste Gesangsleistung meines Lebens erreichte ich kurz bevor ich den Kehlkopfkrebs bekam, und manchmal kann ich nicht anders, — ich muß einfach daran denken, was ich auf dem Gebiet hätte erreichen können, wenn ich nicht an Krebs erkrankt wäre. Dem trauere ich vielleicht am meisten nach. Aber ich kann mich daran nicht festhalten. Es gibt einen Grund, warum ich Kehlkopfkrebs bekommen habe, und darüber wird in keinem Medizinstudium etwas vermittelt. Es hat etwas mit meinem Vater zu tun. Das klingt jetzt vielleicht, als ginge ich in sehr tiefe unbewußte Bereiche hinein, aber ich bin überzeugt, daß es da eine Verbindung gibt. Wir können andere wirklich auf den Trip schicken. Wir legen Samen, die sich sehr destruktiv auswirken können, insbesondere wenn wir anderen zu Zeiten, in denen sie am verletzlichsten sind, bestimmte Dinge sagen oder sie in einer bestimmten Weise behandeln. Es gibt Studien über die besondere Anfälligkeit bestimmter Organe oder Körperteile für Krankheiten. Wenn jemand von Kindheit an gesagt bekommt, er habe kein Rückgrat, wird er irgendwann Rückenmarkskrebs bekommen. Wenn man jemandem ständig sagt, er sei ein Arschloch, kriegt er Krebs am Darmausgang. Mein Bruder hat sich nie mit seinen schlechten Stimmungen oder negativen Gefühlen konfrontiert. Er sprach immer davon, daß ihm Probleme auf den Magen schlagen. Er starb an Magen-Darm-Krebs. Mein Vater ging immer auf mich los, wenn ich mit den anderen Kindern spielte. Er schimpfte wie ein Wilder, vor allen anderen: >Warum höre ich immer nur dich? Wie kommt es, daß du von allen Kindern hier in der Straße das größte Maul hast?< Wenn er mich aus der Ferne zu sich rufen wollte, stieß er einen schrillen Pfiff aus. Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff so laut, daß man es eine halbe Meile weit hören konnte. Ich blieb wie angewurzelt stehen — von wegen Konditionierung! Ich erstarrte förmlich zur Salzsäule. Ich drehte mich um, und dann hob er die Hand und griff an seine Kehle, so: (Ray umfaßte seine Kehle mit der Hand). Die Botschaft war: >Ich erwürge dich! Setz deinen Hintern in Bewegung und komm sofort hierher!< Und als ich in den Operationssaal gefahren wurde...« Rays Augen füllten sich mit Tränen. Einige Minuten vergingen, bevor er weitersprechen konnte. »... Als ich in den Operationssaal gefahren wurde, hörte ich tief in meinem Inneren eine kleine, verängstigte Stimme sagen: >Jetzt wirst du meine Stimme nicht mehr hören müssen, Dad.<« Ray weinte. Er schwieg lange, bevor er weitererzählte. »Ich war bei Elisabeth Kübler-Ross, und sie sagte, daß es keine Zufälle im Leben gibt. Das ist etwas, woran ich glaube und was mir sehr wichtig ist. Es war kein Zufall, daß ich Krebs bekam. Ich glaube nicht, daß ich auf der intellektuellen Ebene einen Sinn 30
daraus entnehmen kann, es sei denn, man sagt, hinter allem steht irgendeine Absicht, irgendeine Ursache. Vielleicht verfolgt eine über dem Menschen stehende Macht eine Absicht mit meiner Krebserkrankung. Ich meine damit nicht, daß Gott mit dem Finger auf mich zeigte und sagte: >Du sollst Krebs bekommen!< Aber vielleicht liegt der Sinn darin, daß ich einen wichtigen Beitrag leisten kann. Ich glaube, das ist zumindest teilweise der Grund, warum ich noch hier bin. Ich habe anderen Menschen eine Menge zu geben, eine Menge mitzuteilen. Also sage ich mir: >Tu es!< Meine Gefühle liegen offen zutage. Es gibt keine Verstellung mehr. Wenn ich wütend bin, werden Sie es merken. Wenn ich einfach nur schlechte Laune habe, werden Sie es merken. Und wenn ich liebevolle Gefühle habe, werden Sie es auch sofort wissen. Was ich empfinde, zeige ich. Vor Jahren hätte ich mich bedeckt gehalten, auch was diese Gefühle für meinen Vater betrifft. Ich verberge meine Gefühle nicht mehr. Was andere Menschen von mir mitbekommen, alles, was sie sehen, das bin ich - gut, schlecht oder alles, was dazwischen liegt.«
Beobachtungen Raymond Berté veränderte sich, nachdem bei ihm »Krebs im Endstadium« diagnostiziert worden war. Er veränderte seine konkreten Lebensbedingungen. Er verließ die Großstadt und zog aufs Land - ein Schritt, den er schon lange tun wollte. Aber noch wichtiger waren die inneren Veränderungen. Zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten Menschen unter dem Eindruck, die Kontrolle über ihren Körper verloren zu haben, ins Taumeln geraten würden, entdeckte Raymond neue individuelle Kraft und neue Freiräume. Die Haltung, die er seinem Leben gegenüber einnahm, daß er für alles, was mit ihm geschah, selbst die Verantwortung übernahm, motivierte ihn, seine persönlichen Beziehungen neu zu gestalten, seine Ernährungsgewohnheiten zu ändern, sich eingehend über seine Krebserkrankung zu informieren und seine Behandlung selbst zu bestimmen. Statt schwer auf ihm zu lasten wie ein Kreuz, das er zu tragen hatte, versetzte dieses Gefühl des Verantwortlichseins ihn in die Lage, ein »Liebesabenteuer mit dem Leben« einzugehen. Wie der Psychologe Albert Ellis sagt, sind »die besten Jahre deines Lebens diejenigen, in denen du entscheidest, daß deine Probleme deine eigene Sache sind. Du machst nicht deine Mutter, die Umwelt oder die Regierung dafür verantwortlich. Du erkennst, daß du selbst dein Schicksal bestimmst.« Ich hatte von Raymond Berté schon ein Jahr bevor ich ihn kennenlernte gehört. Aber was ich über ihn wußte, hatte nichts mit Krebs oder seiner außergewöhnlichen Heilungserfahrung zu tun. Ich arbeitete in einem psychiatrischen Zentrum, etwa hundert Kilometer von Raymonds Wohnsitz entfernt, und gehörte einem Team an, das graduierte Bewerberinnen und Bewerber für das Medizinalpraktikum im folgenden Jahr auswählte. Drei Studenten, die sich für das praktische Jahr beworben hatten, kamen aus dem College, an dem Raymond lehrte. Eine der Standardfragen der Auswahlinterviews lautete: »Welche Person hat Sie während Ihrer Ausbildung am stärksten beeinflußt? Beschreiben Sie diese Person als Helfer.« Alle drei Studenten nannten Raymond Berte. Das Auswahlkomitee hatte nie erlebt, daß derselbe Hochschullehrer mehr als einmal benannt wurde, und hörte aufmerksam zu, als die Studenten schilderten, wie Raymonds 31
Ansprüche an ihr Niveau ihr Leben beeinflußt hatte. Er wurde als mitfühlend und ehrlich beschrieben, als kritisch und streitlustig, aber dennoch sehr liebevoll. Sie sagten, daß Raymond sie bis an ihre Grenzen getrieben habe, damit sie sich selbst und ihre Motive, anderen zu helfen, besser verstehen lernten. Raymond ist charismatisch, sowohl in seinem Wesen als auch in seinem Persönlichkeitsstil. In alles, was er tut, bringt er sich mit Leib und Seele ein, ob er eine Lehrveranstaltung abhält, mit einem Krebspatienten ein Beratungsgespräch führt oder einen Waldlauf macht. Sein Selbstvertrauen und seine kraftvolle Ausstrahlung machen ihn zu einem eindrucksvollen Gegenüber. Dennoch scheut er sich nicht, seine offensichtliche Sehnsucht nach Nähe zu demonstrieren. Wie seine Studenten war ich von diesem Mann, der so viel von sich selbst zeigte, angerührt und beeindruckt. Zweifellos haben sich diese Persönlichkeitsmerkmale nicht alle erst nach seiner Krebserkrankung herausgebildet. Aber wie viele andere Menschen, die tödliche Krankheiten überlebten, vollzog Raymond Veränderungen, die so tief gehen, daß sie eine existentielle Wandlung darstellen. Der Persönlichkeitszug, der mich am tiefsten an ihm beeindruckte, scheint sich als Folge seiner Heimsuchung durch Krebs entwickelt zu haben: Mehr als alle anderen Menschen, die ich kenne, spricht und handelt Raymond aus seinem Herzen heraus. Raymond hat einen glühenden Lebenswillen. Seine Entscheidung, die empfohlene Behandlung nicht passiv hinzunehmen, demonstriert seinen Wunsch zu leben und gleichzeitig auch seine Eigenwilligkeit. Raymond weigerte sich, in einen Plan einzuwilligen, dem letztlich die Erwartung zugrunde lag, daß er sterben werde. Er war überzeugt, daß der Glaube an die Heilung ausschlaggebend ist: »Wenn man daran glaubt, klappt es; wenn man nicht daran glaubt, wird es einfach nichts.« Um seine Hoffnung aufrechtzuerhalten, mußte er jedem widersprechen, der ihm sagte, er werde es nicht schaffen, - insbesondere einem »erfahrenen Spezialisten«. Das »Ach, leckt mich doch alle...« an seinen Arzt war kein Akt trotzigen Widerstandes und kein Ausdruck unreflektierter Verweigerung. Er bekräftigte damit seinen Willen, am Leben zu bleiben, und seine Energie. »Als man meine Krebserkrankung als letal diagnostizierte, akzeptierte ich es einfach nicht. Das ist keine Verleugnung der Realität. Es bedeutet, daß ich keinem Experten gestatte, das Todesurteil über mich zu sprechen. Wenn ich mich darauf einlasse, ist es der Anfang vom Ende.« Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit Raymond zu dem Schluß kam, daß er für sein Leben und seine Krankheit selbst verantwortlich sei und daß er folglich auch die Entscheidungen über seine Behandlung selbst treffen werde. Damals wurde eine solche Haltung als bizarr und sogar selbstmörderisch betrachtet. Inzwischen wächst jedoch die Erkenntnis, daß eine Lebenshaltung, die davon ausgeht, daß man große Macht über das eigene Leben hat, tatsächlich sehr viel Kraft verleiht. Raymond hat inzwischen ein Buch über seine Laryngektomie veröffentlicht: To Speak Again: Victory over Cancer (»Die Sprache wiederfinden - Sieg über den Krebs«). Raymonds Position wird auch von einigen führenden Managementberatern vertreten. Michael Shandler sagt seinen Klienten aus der Unternehmenswelt: »Sie sind zu hundert Prozent für alles verantwortlich, was sich in Ihrem Leben ereignet. Andere Menschen und die Umwelt tragen Null Prozent dieser Verantwortung. Es kommt nicht darauf an, ob diese Aussage objektiv richtig ist oder nicht. Die Frage ist: Wird es Ihre Kräfte und 32
Fähigkeiten steigern, dieses Hundert-Prozent/Null-Prozent-Konzept der Verantwortung als innere Haltung anzunehmen?« Auf die Frage, ob und wie dieses Konzept auf Krebspatienten angewandt werden könne, antwortete Shandler: »Es ist durchaus nicht einfach, es unter normalen Bedingungen anzuwenden, zum Beispiel während eines Streits mit Ihrer Frau, geschweige denn unter der Belastung durch eine schwere Krankheit. Und natürlich wird es Augenblicke des Zweifels geben, ob Ihr Handeln wirklich richtig ist. Aber alles, was in Ihrer praktischen Lebensphilosophie unter hundert Prozent Verantwortung liegt, kann Sie dahin führen, anderen die Schuld zuzuweisen oder Ihr Verhalten durch >Sachzwänge< zu rechtfertigen. Wenn Sie denken, daß andere verantwortlich sind oder daß Sie nicht handeln können, solange diese furchtbare Situation andauert, bleibt der Status quo bestehen.« Wenn Patienten zum ersten Mal mit dem Konzept der hundertprozentigen Verantwortung für das eigene Leben konfrontiert werden, protestieren einige: »Aber es liegt doch gar nicht in meiner Macht!« Wenn man in Raymonds Situation ist, wie kann man da hundertprozentige Verantwortung übernehmen, ohne über hundert Prozent Einflußmöglichkeiten zu verfügen? Sheldon Kopp, der Autor des Buches If You Meet Buddha on the Road, Kill Him! (»Triffst du Buddha unterwegs ...«), gibt eine unbequeme Antwort: »Es mag ungerecht erscheinen, daß ein Mensch die vollständige Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen muß, ohne die vollständige Macht darüber zu haben, aber für wie gut oder schlecht man das nun auch halten mag, - mir scheint, es ist einfach so.« Das Bemühen um die beste medizinische Beratung und Versorgung ist ein wesentlicher Aspekt der Eigenverantwortung. Raymond benutzte seine Ärzte als Berater. Er holte die Meinungen und den Rat von Experten ein, wog ihre Empfehlung sorgfältig ab und traf dann seine eigenen Entscheidungen. Da er nicht willens war, der geduldige Patient zu sein, stieß er auf erheblichen Widerstand, nicht nur von Seiten der Ärzteschaft, sondern auch von Freunden und Familienmitgliedern, die fürchteten, daß er selbstdestruktiv handelte. »Es reicht nicht, daß Ihr Arzt aufhört, Gott zu spielen. Sie selbst müssen sich von Ihren Knien erheben«, sagt Marvin Belsky in seinem Buch How to Choose and Use Your Doctor (»Über die Wahl von und den Umgang mit Ärzten«). Das Problem des entmachteten Patienten ist eine Frage des Systems, und die Patienten sind dafür nicht weniger verantwortlich als die Ärzte. Kranke wünschen sich, ihr Arzt möge allmächtig und allwissend sein, und Ärzte reagieren darauf. Offenbar wollen Menschen glauben, daß da irgend jemand ist, der die existentiellen Fragen beantworten kann, daß es jemanden gibt, der wirklich klüger und stärker ist als wir selbst. Was Sheldon Kopp über die Dynamik zwischen Psychotherapeuten und ihren Patienten sagt, gilt auch für Die Arzt-Patient-Dynamik allgemein: »Zu Beginn der Behandlung denken die Patienten auch nicht im entferntesten daran, daß jede und jeder von uns sich selbst retten muß. Wenn wir nach den Ursachen dieser routinemäßig auftretenden Unebenbürtigkeit zwischen Wahrheitssucher und 33
Guru fragen, ist das Wie ebenso bedeutsam wie das Warum. Daß ich als Therapeut immer stärker und weiser erscheine, ist eine Funktion der Selbstenteignung des Patienten, der die Verantwortung für seine eigene Stärke und Weisheit abgibt und diese Qualitäten per Projektion meinen gar nicht so breiten Schultern auferlegt. ... Ich bin in Versuchung, auf den Handel einzugehen, aber letztlich kommt nie etwas Gutes dabei heraus. ... Ich kann mich so leicht täuschen, daß es die Pflicht des Patienten ist, diese Möglichkeit im Auge zu behalten.« Die Art, wie Menschen in helfenden Berufen, besonders Mediziner, ausgebildet werden, fördert autoritäre Verhaltensweisen. Studierende lernen die »angemessenen Interaktionsformen«, indem sie die Haltung imitieren, die ihre Professoren und Mentoren ihnen gegenüber einnehmen. Ein System, das Studierende wie Kinder behandelt und sie als Personen kaum respektiert, vermittelt die Botschaft, daß dies die richtige Art sei, mit anderen Menschen umzugehen. Die Ausbildung von Psychologinnen und Psychologen, die allgemein als weniger entwürdigend gilt als das, was Medizinstudentinnen und -studenten durchmachen, kann die natürliche Einfühlungsfähigkeit von Menschen nachhaltig schädigen. Eine Studie demonstrierte, daß die empathischen Fähigkeiten von Studierenden in der Zeit, in der sie zu Diplompsychologinnen und -psychologen ausgebildet wurden, tatsächlich nachließen. In meiner eigenen Ausbildung erlebte ich einen Augenblick erniedrigender Abhängigkeit, nachdem ich meine Assistententätigkeit und mein praktisches Jahr beendet hatte. Ich ging durch das Abschlußexamen, das der Zulassung als Psychologe vorausgeht, ein Ritus, der legal und symbolisch das Ende meines Ausbildungsstatus markierte. Im Lauf dieses vierstündigen Examens durfte man die Toilette nur in Begleitung eines aufsichtsführenden Beamten aufsuchen. Nach drei Stunden Prüfung bildete sich eine lange Warteschlange angehender Psychologen, die darauf warteten, ihre Blase entleeren zu dürfen. Als ich schließlich an die Reihe kam, beschloß der Beamte, die Sache zu beschleunigen und zwei Leute gleichzeitig mitzunehmen. Mein Mitstudent ging zuerst in die Kabine. Als er herauskam, ging ich hinein. Aber als ich wieder in den Vorraum hinaustrat, war der Beamte verschwunden. Er hatte den anderen Kandidaten in den Examensraum zurückbegleitet. Ich war in der Herrentoilette gestrandet und war mir nicht sicher, wie die Mitglieder der Prüfungskommission reagieren würden, wenn sie mich beim unbeaufsichtigten Verlassen des Örtchens erwischten. Ich überlegte noch, was ich tun sollte, als plötzlich der Vorsitzende des Prüfungsausschusses hereinkam. Bis zum heutigen Tag blieb mein Kontakt mit diesem distinguierten Herrn, der für alle Psychologen dieses Bundesstaates die übergeordnete Instanz darstellt, auf die Frage beschränkt: »Darf ich die Toilette jetzt verlassen?« Raymond machte sich keine Sorgen, daß er unter Schuld- und Schamgefühlen oder Selbstvorwürfen leiden könnte, wenn er die Verantwortung für seinen Zustand übernahm, aber dennoch nicht gesund würde. Diese Haltung stimmt mit der alltäglichen Erfahrung überein. Wir empfinden tiefe Reue über Herausforderungen, denen wir uns nicht gestellt haben. Dagegen leiden Menschen - unabhängig von den Resultaten — selten unter Schuldgefühlen, wenn sie überzeugt sind, alles getan zu haben, was in ihren Kräften steht. Merkwürdigerweise neigen manche professionellen Helfer dazu, Patienten von der Übernahme der Eigenverantwortung abzuraten, aus Angst, der oder die Betroffene werde sich schuldig fühlen, wenn die Heilung nicht gelingt. Aber würde man einem Sportler 34
raten, an einem Wettkampf nicht teilzunehmen, weil er sich schlecht fühlen könnte, wenn er verliert? Welcher Ehepartner würde dem anderen raten, sich um eine Beförderung nicht zu bemühen, weil es zu schwierig werden könnte, eine eventuelle Zurückweisung zu ertragen? Würden Sie einem Freund nahelegen, sich in einer neuen Beziehung nicht zu engagieren, weil es sein könnte, daß nichts Rechtes daraus wird? Ein Mann, der an einer akuten monozytischen und myelozytischen Leukämie litt, erzählt von einem Gespräch mit seinem Arzt. Er hatte dem Arzt gesagt, er sei ganz und gar bereit, sich der empfohlenen Behandlung zu unterziehen. Zusätzlich werde er eine strenge Diät einhalten, täglich meditieren und einmal wöchentlich zur Psychotherapie gehen. Sein Arzt, ein freundlicher und wohlmeinender Mensch, sagte, daß er sich Sorgen mache. »Wenn Sie all diese Dinge tun und selbst die Verantwortung für Ihre Krankheit übernehmen, - werden Sie sich dann nicht schuldig fühlen, wenn Ihnen der Erfolg versagt bleibt?« Der Kranke versicherte seinem Arzt: »Wenn mir der Erfolg versagt bleibt, werde ich mich nicht schuldig fühlen. Ich werde mich tot fühlen!« Durch das Engagement für sich selbst hat man nichts zu verlieren. Durch das Übernehmen der Verantwortung für das eigene Leben wird die Qualität dieses Lebens sich in aller Regel steigern. Und das kann zu Erkenntnisprozessen und Handlungsweisen führen, die sich heilend auswirken. Das Konzept der Eigenverantwortung kann jedoch auch schädigend sein, wenn in unangemessener Weise davon Gebrauch gemacht wird. Familienmitglieder und Freunde sind oft tief betrübt und verängstigt, weil ein Mensch, den sie lieben, möglicherweise sterben wird. Es ist nicht ungewöhnlich, daß sie auf die kranke Person, die diese Gefühle auslöst, wütend sind. Aber Angehörige und Freunde erhalten in der Regel weitaus weniger emotionale Unterstützung, als sie brauchen, und anstatt ihre Angst und ihre Trauer direkt zu äußern, drücken sie ihre Wut vielleicht durch eine Haltung aus, die dem oder der Kranken die Schuld zuweist: »Sie will nicht gesund werden, sonst würde es ihr jetzt schon besser gehen.« Natürlich ist diese Einstellung absurd, aber sie erlaubt den Gesunden, die Illusion aufrechtzuerhalten, daß die menschlichen Möglichkeiten unbegrenzt sind. Wenn unsere Gesellschaft den Tod als einen natürlichen Bestandteil des Lebens sähe, würde man weder Kranken die Schuld für ihre Krankheit zuweisen, noch würden die Kranken selbst sich ihrer Krankheit wegen schuldig fühlen; diese Probleme träten gar nicht auf. Ähnlich wie viele andere Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen, mit denen ich sprach, ging Ray so weit, zu sagen, daß er für die Entstehung seiner Krankheit selbst verantwortlich war. Diese Überzeugung — die gleichzeitig die Voraussetzung für seinen ungeheuren Kräftezuwachs war - führte nicht zu Schuldgefühlen oder Selbstvorwürfen. Carl Simonton erklärt, woran das liegt. Er sagt: »Wir entwickeln unsere Krankheit aus akzeptablen, ehrenwerten Gründen. Auf diesem Weg sagt uns der Körper, daß unsere Bedürfnisse, nicht nur unsere physischen, sondern auch unsere emotionalen Bedürfnisse, nicht befriedigt werden, und die Bedürfnisse, die wir uns durch unsere Krankheit erfüllen, sind außerordentlich wichtig.« Andere widersprechen dieser Auffassung. Harold Benjamin von der Wellness Community, einer Organisation, deren erstes Ziel es ist, Krebskranke bei der Mobilisierung ihrer Lebensenergien zu unterstützen, hält eine solche Haltung für problematisch, da sie mit dem Potential für Selbstanklagen und Schuldgefühle befrachtet sei. Meiner 35
Auffassung nach ist die Frage, ob die individuellen Gewohnheiten oder die emotionale Haltung eines Menschen zu seiner Krebserkrankung beitrugen, nur soweit relevant, wie sie als Leitlinie für künftige Veränderungen genutzt werden kann. Unglücklicherweise werden manche Menschen ihre Krebserkrankung nur als ein weiteres Zeichen dafür betrachten, daß sie wertlos oder schlecht sind. Wenn keine Besserung eintritt, wird das als Beweis dafür gewertet, daß die schlimmsten Gefühle, die sie sich selbst gegenüber hegen, gerechtfertigt sind. Um die psychologischen Voraussetzungen für eine Heilung zu schaffen, muß man diesen Menschen helfen, zu begreifen, daß ihre Krankheit keinen wie auch immer gearteten Defekt ihres Wesens darstellt. Als er krank wurde, kümmerte Ray sich mehr um seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche. Die Befriedigung seiner Bedürfnisse kollidierte nicht mit den Ansprüchen und Wünschen anderer. Im Gegenteil: Seine Umwelt profitierte davon. Die zentralen Qualitäten, die er sich in seinen Beziehungen wünschte - Authentizität, Achtung, Ehrlichkeit und Wärme -, sind die fundamentalen Elemente jeder bedeutungsvollen zwischenmenschlichen Interaktion. Die lebendige Herausforderung und die Freude, die er bei seinem Bemühen um liebeerfüllte Beziehungen erfuhr, teilte sich den ihm nahestehenden Menschen, die daran beteiligt waren, mit. Raymond war nicht zimperlich, wenn er seine Wut auf Menschen äußerte, deren vorgebliches Mitgefühl eigentlich der Versuch war, sich selbst zu schützen. Er ärgerte sich über die Reaktion seiner Tante, weil das, was sie ausdrückte, gönnerhaftes Mitleid war, und keine echte Besorgnis. In ihrem Buch »Wie kann ich helfen?« treffen Paul Gorman und Ram Dass eine wichtige Unterscheidung. Sie sagen: »Mitleid und Mitgefühl sind durchaus nicht dasselbe. Während sich im Mitgefühl die Sehnsucht des Herzens spiegelt, nahezukommen und einen Teil des Leidens mitzutragen, ist Mitleid ein Komplex kontrollierter Gedanken, die dazu dienen, den Abstand zu sichern. Mitgefühl ist der spontane Ausdruck der Liebe, Mitleid der unwillkürliche Reflex der Angst.« Anders als die meisten Menschen verfügte Raymond über die intellektuelle Einsicht, daß bestimmte Formen zwischenmenschlicher Dynamik, wie die Reaktion seiner Tante, destruktiv wirken. Aber er muß nicht alles durch seinen Intellekt filtern, bevor er sich zu einem Schritt entschließt. Er vertraut seinen Instinkten und macht sie zur Basis seines Handelns. Raymond weiß, daß er Menschen braucht, die wirklich präsent sein können. Ram Dass und Paul Gorman schildern treffend, warum das für den außenstehenden Besucher kranker Menschen oft so schwierig ist: »Statt auf die Situation zu reagieren, so wie sie ist, kommen wir mit unseren festgelegten Reaktionsmustern herein und suchen nur nach Möglichkeiten, uns zu schützen. Wir stellen uns vor, daß Menschen in einer bestimmten Weise leiden, die so vielleicht gar nicht zutrifft: Ach, du Armes, das muß ja schrecklich für dich sein! Soll ich nicht lieber jemanden rufen? Nimm doch etwas gegen die Schmerzen! Wir zucken zusammen, wenn jemand eine Injektion bekommt. Wir projizieren unser Unbehagen auf Menschen, die uns hilflos erscheinen, obwohl sie es nicht notwendigerweise sind, oder wir sind nicht fähig, den Charakter des Leidens, das tatsächlich da ist, wahrzunehmen.« Wir verfallen leicht der allgemein menschlichen Neigung, uns in die Situation des anderen zu versetzen, uns vorzustellen, wie wir uns darin fühlen würden, und dann 36
anzunehmen, daß es auch für den anderen genauso sein müsse. Aber die Realität ist anders. Wir wissen nicht wirklich, wie wir auf eine Situation reagieren würden, bevor wir sie am eigenen Leib erleben, und außerdem müssen andere Menschen nicht genauso reagieren wie wir. Im letzten Sommer hatte ich eine Begegnung mit einem vierzehnjährigen Jungen, der an einer unheilbaren Form von Muskeldystrophie leidet. Seine physische Mobilität verkümmert immer mehr. Er konnte nur noch einige Finger bewegen, mit denen er seinen elektrisch angetriebenen Rollstuhl steuerte. Er tat mir unendlich leid, weil er mir so hilflos erschien, so machtlos und ausgeliefert. Auf der Schwelle der Adoleszenz, wo eigentlich seine volle Kraft in Erscheinung treten sollte, entglitten ihm die letzten Reste seiner vitalen Energie. Es war ein warmer Sommertag, und wir saßen im Freien. Ich fühlte, wie mich etwas am Nacken kitzelte, und schnippte reflexhaft mit den Fingern danach. Wie sich herausstellte, war es eine Hornisse, die nicht bereit war, ihren Platz widerstandslos aufzugeben. Während ich den anschwellenden Stich mit doppeltkohlensaurem Natron behandelte, vermittelte dieser »hilflose« Patient mir einen Einblick in seine Sichtweise der Dinge. Er fragte: »Wollen Sie wissen, warum ich nie gestochen werde?« Ich sagte: »Ja.« Er erklärte mir: »Wenn eine Wespe oder Hornisse auf mir landet, sitze ich einfach ganz ruhig da.«
Wissenschaftliche Anmerkungen Dorothy Smith, eine Professorin des Rutgers Universitätsinstituts für Krankenpflegeausbildung führte unter Patientinnen und Patienten, die gerade schwere Krankheiten überstanden hatten, eine Umfrage durch. Eine der Fragen lautete: »Was tun Sie, um Ihre Genesung zu fördern?« Die Tatsache, daß die Befragten dazu kaum etwas zu sagen hatten, ist das vielleicht bedeutsamste Ergebnis der Studie. Die Umfrage ergab, daß neunundachtzig Prozent der schwerkranken medizinisch-chirurgischen Patienten auf diese Frage überrascht reagierten und mit der Antwort zögerten. Die häufigste Antwort war: »Ich tue das, was die Ärzte und Krankenschwestern mir sagen.« Ist die Bereitschaft der Patienten, ihre eigene Autorität aufzugeben, eine Folge der Krankheit, oder handelt es sich um ein allgemeines Phänomen? Stanley Milgram, Professor an der Universität Yale, führte eine Serie von Experimenten durch, die beunruhigende Schlüsse nahelegen. Vierzig Versuchspersonen aus einem breiten Spektrum von Berufsfeldern meldeten sich freiwillig zur Teilnahme an einem Experiment. Man sagte ihnen, der Versuch diene der Lernforschung; man wolle feststellen, welche Wirkung Strafen auf die Gedächtnisleistung haben. Der wirkliche Gegenstand der Studie war jedoch die Frage, wie weit Gehorsam gegenüber Autoritäten geht. Die Versuchspersonen erhielten den Auftrag, die Bestrafungen zu vollziehen. In einem angrenzenden Raum saß ein anderer »Versuchsteilnehmer«, in Wahrheit ein Mitglied des Forschungsteams, der angeblich Lernmaterial memorierte. Jedesmal, wenn der »Lernende« eine falsche Antwort gab, wurde die Versuchsperson aufgefordert, ihn mit einem Elektroschock zu bestrafen, dessen Intensität bei jeder erneuten falschen Antwort erhöht werden sollte. Es wurde ein simulierter Generator benutzt, mit einer Skala, die von fünfzehn bis vierhundertfünfzig Volt 37
ging. Jede Stufe der Skala trug eine schriftliche Kennzeichnung, von »leichter Schock« bis zu »Gefahr! Schwerer Schock«. Das Forschungsteam berichtete über die ersten Resultate: »Nachdem die Versuchspersonen den Befehl erhalten hatten, gingen sie unbekümmert bis zum Ende der Skala; die Kennzeichnungen >extremer Schock< oder >Gefahr! Schwerer Schock« ließen sie offenbar völlig kalt. Für eine graduelle Einstufung von Gehorsamstendenzen hatten wir somit keine adäquate Basis.« Die Wissenschaftler entschlossen sich also, Proteste von seiten der »Opfer«, die hinter einer Glasscheibe sichtbar waren, in das Experiment einzuführen, um zu sehen, unter welchen Bedingungen die Versuchspersonen sich weigern würden, die Elektroschocks zu verabreichen: »Bei fünfundsiebzig Volt beginnt der >Lernende< zu ächzen und zu stöhnen. Bei hundertfünfzig Volt verlangt er, aus dem Experiment entlassen zu werden. Bei hundertachtzig Volt schreit er auf, er könne die Schmerzen nicht mehr ertragen. Bei dreihundert Volt weigert er sich, weitere Antworten auf den Gedächtnistest zu geben, besteht darauf, daß er an dem Experiment nicht weiter teilnehmen werde, und verlangt verzweifelt, man solle ihn befreien. Als Reaktion auf diese letzte Taktik weist das Mitglied des Forschungsteams, das den leitenden Wissenschaftler« spielt, die unwissende Versuchsperson an, eine fehlende Antwort wie eine falsche Antwort zu behandeln und mit der Schockprozedur weiterzumachen. Der »leitende Wissenschaftler« verleiht diesem Befehl mit den Worten Nachdruck: >Sie haben keine andere Wahl. Sie müssen weitermachen!« Wenn die Versuchsperson sich weigert, den nächsthöheren Grad des Schocks anzuwenden, wird das Experiment als beendet betrachtet.« Milgram schildert den Verlauf des Experiments: »Zu unserer Bestürzung ließ ein großer Teil der Versuchspersonen sich nicht einmal durch die heftigsten Proteste der >Opfer< daran hindern, die härtesten Bestrafungsmaßnahmen auszuführen.« Der Wissenschaftler, der über die Resultate seines Experiments selbst zutiefst erschüttert war, kam zu dem Schluß: »Eine beträchtliche Zahl von Menschen tut, was ihnen gesagt wird, unabhängig davon, was aus ihrem Handeln folgt, und ohne Beschränkungen durch ihr Gewissen, solange der Befehl von einer in ihrer Sicht legitimen Autorität ausgeht.« Diese klassische Studie demonstriert, wie bereitwillig Menschen sich der Autorität unterwerfen, selbst wenn sie wissen, daß diese Autorität sie auffordert, schweres Unrecht zu begehen. Damit soll nicht gesagt werden, daß in der traditionellen Medizin autoritäre Persönlichkeiten dominieren, die von ihren Patienten völlige Unterwerfung verlangen. Unter alternativen Heilern trifft man diese Haltung ebenso häufig an. Es ist auch nicht gemeint, daß man sich nicht auf seinen Arzt verlassen solle. In aller Regel ist Vertrauen in den Arzt der Heilung förderlich. Ein vernünftiges und erstrebenswertes Ziel wäre aber, jeden Schritt, den wir unternehmen, bewußt und aus eigener, freier Willensentscheidung zu tun. In einer Broschüre der American Cancer Society (»Amerikanische Gesellschaft für Krebsforschung«) ist zu lesen, daß ein Mensch, an dem eine Laryngektomie vorgenommen wurde, »keine schweren Lasten heben oder ähnliche physische Anstrengungen bewältigen kann, da er nicht mehr in der Lage ist, wie früher den Atem anzuhalten«. Einer der Ärzte, die Raymond Berté behandelten, nannte noch einen weiteren Grund, 38
warum er bestimmte Formen des Krafttrainings meiden müsse: »Wenn Sie Gewichte über Ihren Kopf heben, werden die Schlüsselbeinknochen nach vorn gepreßt und drücken Ihre künstliche Halsöffnung zu.« Aber Raymond akzeptierte die Aussagen von Experten nicht mehr, ohne sie selbst zu überprüfen. Er machte sich den Bewegungsablauf klar und stellte fest, daß ein Gewichtheber die Gewichte nur sekundenlang über seinen Kopf hält. Obwohl Raymond sich vor seiner Operation nie mit Gewichtheben befaßt hatte, wurde diese Trainingsform danach sehr wichtig für ihn. Abgesehen von der muskelaufbauenden Wirkung der Übung war das Gewichtheben für Raymond der sichtbare Beweis, daß er wirklich eine gewisse Macht über seinen Körper und dessen Kraft und Erscheinungsbild hatte. Generell findet man bei Menschen, die regelmäßig Körpertraining betreiben, oft ein ausgeglicheneres Persönlichkeitsprofil. Körpertraining ist ein wirkungsvolles Mittel gegen Streß und Depressionen - beides Formen der psychischen Belastung, die mit einer Schwächung des Immunsystems einhergehen. Intensives Training, wie Raymond es betreibt, kann die Körpertemperatur bis zu drei Grad über normal erhöhen. Die Wirkung ähnelt der Immunreaktion in einer akuten Phase (das heißt der Art, wie der Körper reagiert, wenn er eine Infektion abwehrt). Wissenschaftler, die das Phänomen untersuchten, sind der Meinung, daß diese Reaktion die Vermehrung von Bakterien und Viren hemmt. In Experimenten wurde Ratten das Blut von Menschen injiziert, die über einen langen Zeitraum Körpertraining praktiziert hatten. Diese Ratten zeigten alle Anzeichen einer akuten Immunreaktion: Sie bekamen Fieber, im Blutbild wurden niedrige Zinkund Eisenwerte und eine erhöhte Anzahl weißer Blutkörperchen festgestellt. Forschungsergebnisse weisen auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Bewegungsmangel und Krebserkrankungen hin. 1921 verglichen zwei Wissenschaftler, Silvertsen und Dahlstrom, die Todesursachen und die Art der Berufstätigkeit bei 86 000 Menschen. Krebs als Todesursache tauchte am seltensten bei Menschen auf, deren Berufstätigkeit mit der höchsten physischen Beanspruchung verbunden war. Wie Raymond erwähnte, sind Krebserkrankungen in »primitiven« Kulturen wenig verbreitet. Manche Wissenschaftler vertreten die Auffassung, daß die generelle Abnahme physischer Aktivitäten in »zivilisierten« Gesellschaften ein Faktor ist, der zur Krebsentwicklung beiträgt. In einem von Hoffman, Paschkis und Cantarow durchgeführten Experiment wurden lebenden Mäusen Krebszellen implantiert. Einer Gruppe der Versuchstiere wurde ein Extrakt von gut durchtrainiertem Muskelgewebe injiziert. Die andere Gruppe erhielt eine Injektion mit dem Extrakt untrainierten Muskelgewebes. Bei der ersten Gruppe verlief die Krebsentwicklung bedeutend langsamer, und bei einigen Mäusen verschwand der Krebs tatsächlich völlig. Carl und Stephanie Simonton, Pioniere des holistischen Ansatzes der Krebsbehandlung, sind davon überzeugt, daß - im Gegensatz zu der allgemein verbreiteten Auffassung - viele, wenn nicht die meisten Krebspatienten ein normales Niveau von physischen Aktivitäten aufrechterhalten können. Ihre Studie kam zu dem Ergebnis, daß die Mehrzahl der Befragten, die in medizinischer Sicht als »unheilbar« galten, physisch in demselben Maß aktiv blieben, wie sie es vor der Diagnose gewesen waren. Nach Absprache mit dem behandelnden Arzt ist für nahezu alle Patienten Körpertraining in irgendeiner Form möglich. 39
Manche Patienten der Simontons erzielten bemerkenswerte physische Leistungen; ein Patient mit Lungenkrebs in fortgeschrittenem Stadium nahm erfolgreich an einem Sechsundzwanzig-Meilen-Marathon teil.
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PHINA DACRI »Was mich nicht umbringt. macht mich stärker« FRIEDRICH NIETZSCHE
Mein erstes Gespräch mit Phina Dacri fand an einem erinnerungsschweren Jahrestag statt. Genau fünf Jahre zuvor hatte ihr Arzt ihr mitgeteilt, daß sie ein Adenokarzinom der Lunge habe. In seinem Brief an mich schrieb der Onkologe: »Ihr Karzinom war inoperabel, weil es überall in der Brust Metastasen gebildet hatte. Der Patientin wurde mitgeteilt, daß die Krankheit unheilbar sei.« Der Onkologe schätzte die Chancen, daß Phina die nächsten drei Jahre, vom Datum der Diagnose an, überleben werde, mit 5 : 100 ein. Gegen jede statistische Wahrscheinlichkeit blieb Phina dennoch am Leben, aber statistische Zahlen allein können ihre Einzigartigkeit nicht vermitteln. Phina war zum Zeitpunkt unseres ersten Gesprächs siebenundfünfzig Jahre alt und hatte ihr ganzes Leben in Worcester in Massachusetts verbracht. Ihr Vater war fünf Monate vor ihrer Geburt gestorben. Obwohl die Familie auf Sozialhilfe angewiesen war, beschrieb sie ihre Kindheit als glücklich: »Wir waren arm, aber jeder konnte hereinkommen und ein Stück Brot mit Butter haben oder was immer im Haus war. Meine Schwester sagte immer: >Ich möchte meinen Kindern all das geben, was ich nicht hatte.< Aber ich sehe das anders. Ich wollte meinen Kindern immer genau das geben, was wir hatten, nämlich Wärme und Verbundenheit.« Phina ging mit sechzehn von der Schule ab, um zu heiraten. Mit achtzehn bekam sie ihr erstes Kind und wenige Jahre später ein zweites. Sie arbeitete dreizehn Jahre lang in einer Spinnerei am Ort als Garnspulerin. In den darauffolgenden fünfundzwanzig Jahren war sie als Kassiererin in Kaufhäusern beschäftigt, erst bei Woolworth und dann bei Grant. Bevor sie aufhörte, hatte sie sich zur Hauptkassiererin hochgearbeitet, der zwanzig andere Angestellte unterstanden. In Jogginganzug und Turnschuhen vermittelte Phina das Bild permanenter Beweglichkeit. Das Tempo ihrer Sprache paßte zu diesem Bild. Tatsächlich ergab das Transskript eines sechsstündigen Interviews mit ihr mehr getippte Seiten als andere Interviews, die doppelt so lange dauerten. Ihre Worte schienen von einer besonderen Vitalität und einem Gefühl großer Dringlichkeit erfüllt zu sein. Sie war eine Frau, die sich entschlossen hatte, jeden Augenblick ihres Daseins bewußt zu erleben. Ihr Gesprächsstil grenzte an den »stream of consciousness«, den assoziativen Bewußtseinsstrom; offenbar zensierte sie ihre Äußerungen nicht und hatte auch gar nicht das Bedürfnis, sie zu zensieren, ganz gleich, wie intim und enthüllend sie waren. Als wir das Interview beendeten, dankte sie mir, daß ich ihr Gelegenheit gegeben hatte, endlich ihre ganze Geschichte zu erzählen, und freute sich, anderen Kranken damit vielleicht helfen zu können. In emotionaler Hinsicht war Phina offen und ohne Hemmungen. Sie weinte, als sie über ihre enttäuschende Ehe sprach, und lächelte, als sie von ihren Enkelkindern erzählte, die so sehr wünschten, daß sie gesund würde. Obwohl wir unser Gespräch in einem 41
freien Raum in der onkologischen Abteilung des städtischen Krankenhauses führten, war Phina so entspannt, als säße sie mit einem Freund an ihrem eigenen Küchentisch. »Soll ich Ihnen sagen, was mir neulich nachts passiert ist? Ich hab‘ es dem Doktor erzählt, und er sagte: >Ach Phina, Sie sind verrückt!< Ich gehe schlafen, keuche furchtbar, krak, krak, krak, wie ein Gackern, und ich sage mir, das ist das Todesrasseln. Ich stehe auf und schreibe einen Brief an meinen Sohn. Ich sage: >Ich war glücklich, mehr als je zuvor. Niemand ist an irgendwas schuld. Du warst immer ein guter Junge, und ich liebe dich.« Am nächsten Morgen war ich immer noch am Leben. Also zerriß ich den Brief.« Phina lacht. »Ich möchte nicht, daß irgend jemand sich schuldig fühlt, wenn ich nicht mehr da bin; sie sollen sich wegen der Dinge, die sie mit mir gemacht haben, nicht schlecht fühlen. Vorbei ist vorbei. Na ja, für meinen Schwiegersohn gilt das vielleicht nicht, - aber egal, trotzdem: Vergeben und vergessen. Meine Tochter und ihr Mann boten uns an, in ihr Haus einzuziehen, in eine Wohnung die ihnen gehörte. Mein Mann sagte, wir sollten es nicht tun, und wir hätten es auch nicht tun sollen. Als wir eingezogen waren, sagt mein Schwiegersohn: >Ihr werdet wie Mieter behandelt< und es ging sofort los mit Mieterhöhungen von zehn Dollar, dann zwanzig Dollar jedes Jahr. Ich war eines Tages da, als meine Tochter mit dem Baby nach Haus kommt. Meine Tochter war irgendwie unglücklich und weinte, und ich sagte: >Hey, Ken, siehst du nicht, daß es ihr schlecht geht?< Und er sagt: >Raus!< Einfach so. Und ich ging. Er hat mich rausgeworfen. Ich ging nach Haus und weinte die ganze Zeit. Es war hart. Mein Mann sagte, er würde nie wieder hingehen, aber ich ging immer wieder hin und ließ mich so behandeln. Jetzt ist es anders. Ich kann ich selbst sein, während ich vorher immer alles zurückhalten mußte und mich fragte: >Wird es sie auch nicht verletzen? Mache ich auch keine Schwierigkeiten?< Das ganze Leben bestand aus Regeln: >Du kannst dies nicht machen, du kannst das nicht machen...< Jetzt tue ich, was ich will und wann ich will. Wenn mich jetzt jemand verletzt, sage ich klipp und klar, was ich davon halte. Vor Jahren, wenn mein Schwiegersohn oder meine Schwiegertochter mich verletzten, sagte ich gar nichts. Heute sage ich es ihnen, ob es ihnen paßt oder nicht. Ja, und plötzlich haben sie mehr Respekt vor mir! Ich glaube, anfangs gefiel meiner Familie diese Unabhängigkeit gar nicht. Neulich sagte meine Tochter zu mir: >Du bist wirklich verdammt stark.< Ich bin nicht sicher, ob sie damit sagen wollte >das ist gut< oder ob es ein Verbrechen ist. Ich bin ein unabhängiger Mensch. Vielleicht steckt da auch ein bißchen Trotz drin: >Ich werd‘s euch schon zeigen, daß ich es schaffe!< Ich denke, diese Einstellung hilft einem wirklich bei jeder Krankheit. Ich war immer stolz. Ich sagte meiner Schwester, wenn sie ins Krankenhaus kommt und sieht, daß ich sterbe, soll sie mir die Haare am Kinn auszupfen, wenn sie anfangen zu wachsen.« Phina lacht. »Und zu meinem Sohn sagte ich: >Wenn du mich besuchst und ich liege im Sterben, dann bleibst du draußen sitzen! Komm einmal in der Stunde zu mir rein und sag >hallo<, aber sitz nicht da und sieh mir zu, wie ich abtrete. Ich 42
habe sogar ein Testament aufgesetzt, denn ich will nicht, daß irgend jemand mit Chris herumschreit, wenn ich weg bin. Er braucht nur das Testament zu zeigen. Ich habe ihm gesagt, wo er dies und das findet. Zuerst wurde er wütend auf mich, aber jetzt versteht er es. Ich habe keine Angst zu sterben, aber ich bin noch nicht bereit. Ich habe so vieles, wofür es sich zu leben lohnt. Ich will keine Weltreise machen; es sind die kleinen Dinge, für die ich leben will, meine Familie, meine Enkelkinder. Manchmal muß ich lachen: Erst wollte ich meine Enkelkinder aufwachsen sehen; jetzt sind sie groß; der Älteste ist achtzehn. Und nun möchte ich miterleben, wie sie heiraten. Wenn sie geheiratet haben, möchte ich sehen, wie sie das erste Kind bekommen. Wissen Sie, mich wird man einfach nicht los! Jedes Jahr wird es irgend etwas geben, was ich miterleben möchte. Ich möchte meinen ersten Urenkel sehen. Ich will Urgroßmutter werden und dann Ururgroßmutter. Ich klammere mich an diese Dinge, und eines Tages ist es soweit, daß ich abtreten muß, aber ich werde nicht an Krebs sterben. Ich werde so sterben wie andere Leute auch, an... ja, an Lungenentzündung. Das ist es. Meine Tochter lacht; ich habe ein Zeitschriftenabonnement für fünf Jahre verlängert, weil das billiger ist. Sie sagt: >Donnerwetter, du bist optimistisch!< Es ist wahr. Ich glaube, tief in meinem Inneren wußte ich, daß es mir wieder besser gehen würde, obwohl ich alle diese Vorbereitungen getroffen habe für den Fall meines Todes. Aber das war nicht immer so. Ich erinnere mich, wie es war, als sie es mir sagten. Ich war im Krankenhaus, mit Angina. Im Jahr davor war ich auch schon mal da. Ich war als neue Patientin bei Dr. Russell, und da sagt er mir ganz freundlich: >Phina, würden Sie aufhören zu rauchen?< Wenn er gesagt hätte >du mußt<, hätte ich es nie getan. Aber er traf genau den richtigen Ton. Ich rauchte nicht einmal eine letzte Zigarette. Ich gab es auf. Dann sagte ich zu ihm: >Wissen Sie was, vielleicht wird es mit meinen Bronchien besser, und dann kommt garantiert etwas anderes!< Also, im nächsten Jahr fangen diese Schmerzen in der Brust an, und ich denke, ich habe einen Herzanfall. Mein Mann fährt mich zur Notaufnahme und setzt mich da ab; er macht sich Sorgen um sein Auto, ein altes Ding, Baujahr 73. Er sagt: >Macht es dir was aus, wenn ich das Auto erstmal abstelle?< Ich sage: >Ist das dein Ernst? Du willst mich allein hineingehen lassen?< So ist er mit seinem Auto. Es ist nur Metall, man kann ein neues kaufen, aber einen Menschen kann man nicht so leicht ersetzen. So war das am Anfang; diese Dinge helfen einem nicht gerade, aber ich ließ mich davon nicht unterkriegen. Ich sagte mir, daß ich doch wohl noch ein bißchen was Besseres bin als ein Auto. Dies ist das erste Mal, daß ich mich überhaupt darüber aufrege, weil es wirklich bitter war. Er ist also draußen und parkt das Auto, während sie mich einweisen und mit der Behandlung auf Herzanfall anfangen. Ich sehe ihn nicht mehr, bis ich in meinem Zimmer liege. Dr. Russell kommt herein. Sie hatten mich im fünften Stock untergebracht, und ich hasse diesen Raum, weil ich es dort erfahren mußte. Ich glaube, es war fünfundzwanzig Minuten nach fünf. Ich habe immer gesagt, wenn ich Krebs hätte, wollte ich es nicht 43
wissen, aber meinem Arzt gegenüber hatte ich das nie erwähnt. Er sagt: >Phina, Sie haben etwas an der Lunge, und wir glauben, daß es bösartig ist.< Er sagte es geradeheraus. Ich sah, wie ihm die Tränen über die Wangen rollten, er weinte. Ich nahm mich zusammen, solange er da war. Es war der schlimmste Tag meines Lebens. Als er gegangen war, fing ich furchtbar an zu weinen, und das Mädchen, mit dem ich zusammenlag - wir wurden später gute Freundinnen -, weinte mit mir. Ich weinte und weinte, den ganzen Tag. Sie wollten eine Biopsie machen, und das taten sie auch, und es war Krebs. Ich glaube, danach weinte ich nochmal, aber das war es dann. Ich wurde nie depressiv, und ich verstehe selbst nicht, warum. Mein berühmter Ausspruch ist: >Ich war zu dumm, um Angst zu haben.< Gott hat mich in eine Art Schockzustand versetzt, und ich hoffe wirklich, dabei bleibt es auch für den Rest meines Lebens, weil es schön ist. Ich glaube, ich fühlte mich so gut, weil meine Kinder schon eigene Wege gingen; sie waren verheiratet, ich mußte mir keine Sorgen machen. Wenn ich kleine Kinder zu Haus gehabt hätte, wäre es vermutlich anders gewesen. Mein Sohn ist sechsunddreißig, meine Tochter vierzig. Es ist komisch, daß in meiner Familie niemand zusammenbrach, als sie es erfuhren. Ich weiß, daß sie wirklich traurig waren, aber ich glaube nicht, daß sie sich vorstellen können, was Krebs eigentlich ist, vielleicht weil ich nie bettlägerig war. Ich hatte auch nie Schmerzen, das kam erst nach der Bestrahlung. Mit den Kindern und Großkindern spreche ich über Krebs wie über Bonbons; ich sage >Krebs< so, wie ich sage >ich gehe spazieren<. Ich gehe ganz offen damit um, und das ist gut so. Nur mein Mann ... - ich meine, er ist nicht herzlos, aber er ist nicht der Typ, der viel geben kann. Ich hatte nie das Gefühl, mich zu Haus aussprechen zu können. Wenn ich über meine Krankheit sprach, wurde er ganz unruhig, als wenn er Krebs hätte oder so. Also, wenn ich irgend etwas darüber sagte, sah er mich an, als redete ich über nichts anderes und er könnte es nicht mehr hören. Aber ich lasse mich von ihm nicht herunterziehen, und er weiß es. Ganz gleich, was er tut. Ich habe eine Rückenverletzung, Krebs, Arthritis, Gallenprobleme und meine kaputte Halswirbelsäule; - ich muß mich an die Tür hängen, um Erleichterung zu kriegen, und er denkt, nach all dem kann er mir noch was anhaben. Nee, tut mir leid! Wenn ich zugelassen hätte, daß er mich herunterzieht, wäre ich am Ende gewesen. Früher habe ich oft darüber geweint, aber jetzt weine ich vielleicht einmal im Monat. Und Sie würden es nicht glauben - ich weine, und dann sage ich mir: >Wozu soll das gut sein? Morgen hast du nur geschwollene Augen<, also höre ich auf. Ehrlich. Alles hat sich so sehr verändert. Wenn er sauer wird, tut‘s mir irgendwie leid, Sie wissen, was ich meine, aber das Leben ist zu kurz. Stellen Sie sich vor, wie ich mich fühlen würde, wenn ich eine wirklich tolle Beziehung hätte.« Phina kichert. »Mein Gott, ich wäre im siebenten Himmel. Halb bin ich schon da, aber mit einer guten Beziehung würde es mir viel besser gehen. Am Anfang legte ich mich auf die Couch, mit Kissen um mich herum, und wenn ich etwas wollte, sagte ich nie, bitte bring mir dies oder das. Ich wälzte mich von der Couch und holte es mir selbst. Zum Teil war das mein Eigensinn, und zum Teil wollte ich mir auch sein Blah Blah Blah nicht anhören. Ich habe immer das Abendessen gekocht. Wenn es sein muß, findet man einen Weg. 44
Ich wollte gesund werden; ich wollte nicht bettlägerig sein. Es war genauso, als ich meine Rückenverletzung hatte. Ich war in einem Riesenstreckverband, bis hier (Schulterhöhe). Damit kann man sich nicht bücken, aber ich bin hartnäckig. Ich ließ mich auf Hände und Knie nieder, um das Bett zu machen, und zog die Laken glatt, während ich um das Bett herumkroch. Der Unterschied zwischen meinem Mann und mir ist der: Er hat etwas im Rücken, und er ist zu nichts mehr fähig. Nun habe ich den schlimmsten Rücken, den man sich vorstellen kann. Wenn ich herumsitze und grübele, bringt mich das auch nicht weiter. Jetzt behauptet er, daß er nicht essen kann. Er hat siebzehn Pfund abgenommen, weil er sich ständig den Kopf darüber zerbrochen hat. Es war nichts. Ich sage ja auch nicht: >O Gott, was wird wohl morgen passieren?< Wenn der nächste Tag kommt und es ist noch da, kann ich immer noch weinen. Wenn ich anfange zu weinen, sage ich: >Laß mich nicht weinen, sonst brennen mir morgen früh die Augen.< Ich sage: >Gott, bitte, ich will jetzt schlafen. Morgen früh soll geschehen, was du willst.< Ich überlasse Gott die ganze Verantwortung; glauben Sie mir, das ist wundervoll; - wenn die Menschen doch einfach so leben könnten! Also schlafe ich ein statt zu weinen. Die Krankheit hat mein Leben völlig verwandelt, mehr als andere Dinge es je verändert haben könnten. Wenn man dem Tod nahekommt, zählt jede Minute. Solange ich atme, habe ich alles, worauf es ankommt. Ich tue jetzt alles, was ich will. Wenn jeder so leben könnte...; - es ist wunderschön. Vorher war ich ein sehr nervöser Typ. Es war furchtbar. Ich machte mir um alles Sorgen, um jede Kleinigkeit. Wenn meine Tochter schlechte Laune hatte, machte mich das nervös. Damit ist jetzt Schluß, ich mache das nicht mehr. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es geht nicht völlig weg; ein bißchen davon bleibt immer, aber ich verschwende meine Zeit nicht mehr damit, so wie früher. Ich finde etwas anderes, woran ich denken kann. Jetzt vertraue ich alle meine Sorgen Gott an. Es ist ein wundervoller Ausweg. Ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen. Er nimmt mir alles ab. Ich wurde eine wiedergeborene Christin nach dem Krebs. Ich denke, der Glaube ist entscheidend. Als ich durch meine Krankheit ging, fing ich an zu glauben. Ich knie einfach nieder und sage: >Ich lege es in deine Hände<, und das ist es. Ich kann Ihnen versichern: Wenn Sie nicht glauben, wird nichts daraus. Ich bin sicher, Gott hat meine Gebete erhört, immer wieder. Sie wissen ja, wie sie einen berühren bei den Gottesdiensten, die Prediger, und die Leute fallen einfach zu Boden. Na ja, ich habe das im Fernsehen gesehen, und ich mußte lachen, weil ich dachte, der Prediger hat ihnen einen Schubs gegeben. Aber eines Tages saß ich da, und der Prediger ging vorbei und berührte mich, und ich wurde ohnmächtig auf dem Stuhl. Es kam über mich. Sicher lag es daran, daß ich so sehr wollte, daß es geschieht. Es ist der Glaube. Wenn mir jetzt etwas Sorgen macht, lege ich alles in Gottes Hand, oder ich überlasse es dem Arzt. Ich stelle meinen Ärzten nie Fragen. Ich habe mein ganzes Vertrauen in sie gesetzt, und ich denke, das ist ein wichtiger Teil meiner Geschichte. Ich werde nie wieder Fragen stellen. Das habe ich einmal getan, zwei Monate nachdem ich von meinem Krebs wußte. Alle sagten mir, ich sollte Fragen stellen. Also sagte ich 45
zu Dr. Sherman: >Warum wird Lungenkrebs die Killerkrankheit genannt?< Und er sagt: >Lungenkrebs ist das Schlimmste. Neunzig Prozent sterben daran.< Und ich sagte mir: >Ich wäre mit meinem Leben ganz gut zurechtgekommen, ohne das zu wissen.< Dann sagte ich: >Also, meine Freundin hat auch Lungenkrebs gehabt, und sie wurde operiert. Warum haben Sie mich nicht operiert?< Er sagt: >Weil Sie es auch überall im Brustkorb haben.< Ich sage: >Auch das hätte ich nicht unbedingt wissen müssen.< Aber dann denke ich mir, na ja, meine Freundin ist jetzt tot; vielleicht macht es doch nicht soviel aus, daß sie nicht operieren können. Ich wußte nicht, daß es die schlimmste Form ist, als sie mir sagten, daß ich Krebs habe. Ich habe es innerlich abgeblockt; damals wollte ich es nicht wissen. Manche Dinge muß man nicht unbedingt wissen, also stelle ich keine Fragen mehr. Ich mache das, was sie mir sagen. Zuerst war ich darauf vorbereitet, daß ich sterben würde, und ich dachte, in sechs bis acht Monaten bin ich tot. In den ersten zwei oder drei Monaten war ich sicher, ich würde sterben. Ich habe keinem Menschen etwas davon gesagt. Aber ich sage es Ihnen. Jedesmal, wenn ich zu Dr. Sherman kam, gab er mir Hoffnung. Wenn ich in die Klinik ging, machten sie die Tür auf, und es war nicht so, als ob man zur Krebsbehandlung ginge. Es war, als wenn ich nette Leute besuchte. Sie sind sehr, sehr nett hier. Es ist keine trübselige Atmosphäre. Man wird als Person gesehen, wissen Sie, was ich meine? Sie lassen mich hier nie links liegen. Ich komme herein, und hier bin ich Mrs. Dacri. Alle sind Freunde hier. Es ist, als wären wir gute Nachbarn. Ich habe zwei wundervolle Ärzte, Dr. Sherman und Dr. Russell. Meine beiden Ärzte sind die Welt für mich. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, aber sie sind freundlich dabei. Sie machen mir keine falschen Hoffnungen und sagen nicht: >Sie werden gesund.< Aber Dr. Sherman hat mir immer wieder gesagt: >Es sieht erstaunlich gut aus, aber ich kann Ihnen nichts versprechen<, was ja auch stimmt. Er gab mir Hoffnung, denn am Anfang, als er mir die Behandlung erklärte, stellte er einen Zwei- oder Dreijahresplan auf. Also dachte ich mir, vielleicht habe ich doch noch ein bißchen Zeit. Er gab mir das Startzeichen, und das war das Entscheidende. Er hat mir nie das Gefühl gegeben, daß ich bald sterben müßte. Wenn wir miteinander sprachen, planten wir immer voraus. Wir unterhielten uns nie über den Tod, wir sprachen das Wort nie aus, und das half mir sehr. Zuerst sagte er immer: >Kommen Sie im nächsten Monat wieder<, und ich dachte mir: >Hey, ich habe noch einen Monat. Toll! Ich packe es beim Schopf und nehme, was ich kriegen kann.< Dann waren es drei Monate. Jetzt ist es jedes Jahr, einfach zur Vorsorge. Glaube ist das Wichtigste. Wie ich schon sagte, sie brachten mich auf den Weg. Da unten in der Universitätsklinik gibt es eine Station, wo sie die Leute auf den Tod vorbereiten. Wenn sie mich damals auf diese Station gelegt hätten, dann hätte ich gewußt, daß ich sterben muß. Ich glaube, das kann einen umbringen. Ich bin wirklich nie in Panik geraten. Ich war beunruhigt, glauben Sie mir, ich war beunruhigt! Aber wenn man es genau nimmt, wußte ich wahrscheinlich immer, daß ich damit fertig werden konnte. Ich wußte, daß es meine Verantwortung war. 46
Dr. Sherman nimmt mir die Angst. Man kommt rein, er schüttelt einem erstmal die Hand. >Na, wie ist es Ihnen ergangen?< Ich erzähle von meiner Familie, er erzählt von seiner Familie, und nach einer Weile vergesse ich, warum ich überhaupt gekommen bin. Genauso eine Beziehung zwischen Arzt und Patientin habe ich mir immer gewünscht. Im Lauf der Jahre sind wir gute Freunde geworden, und ich bin sicher, daß er mit allen so umgeht. Ich kenne eine Menge Leute, die zu ihm gegangen sind, und sie lieben ihn. Als ich zuerst zu ihm kam, waren wir dreizehn oder vierzehn. Jetzt sind die anderen alle nicht mehr am Leben. Der arme Doktor! Manchmal tut mir Dr. Sherman so leid, weil er so viele sterben sieht. Es muß sehr befriedigend für ihn sein, einige zu sehen, die noch auf den Beinen sind. Wunder kommen nicht so häufig vor. Und ich bin wahrscheinlich eins. Ein wandelndes Wunder. Als ich das letzte Mal bei Dr. Sherman war, alberte er mit Dr. Russell herum, und sie sagten: >Wissen Sie, Phina, eigentlich dürften Sie ja gar nicht mehr da sein.< Unter all den Leuten da hatten sie wirklich unheimlich viel Mitgefühl. Dr. Russell und Dr. Sherman nehmen sich diese Krebsgeschichte wirklich zu Herzen. Ich nenne Dr. Russell immer einen richtigen Schnüffler - liebevoll natürlich -, weil er alles findet. Er arbeitet jetzt an dem Gallenproblem mit mir. Er ist ein junger Mann, der seinen Beruf wirklich ernst nimmt. Man findet nicht viele wie ihn. Wissen Sie, was Dr. Russell eines Tages getan hat? Ich bin fast umgefallen. Ich hatte ihm erzählt, daß Dr. Sherman etwas entdeckt hatte, was er sich genauer ansehen wollte. Also, zwei Tage später klingelt das Telefon. Es war Dr. Russell. Er wollte wissen, wie ich zurechtkomme. Ich sagte: >Ach, wenn Sie wüßten, wie ich mich freue! Kein Arzt hat mich je angerufen und sich Sorgen um mich gemacht. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Anruf von einem Arzt bekommen!< Sie sind unglaublich stolz auf mich. Zum Beispiel als Dr. Sherman mich anrief und sagte, daß Sie mit mir sprechen wollten, da sagte ich zu meiner Tochter: >Dr. Sherman hat mich wahrscheinlich vorgeschlagen, weil seine anderen Krebspatienten alle gestorben sind. Er nimmt mich, weil ich die letzte bin, die noch lebt.< Es gibt sicher einen Grund, warum ich noch am Leben bin. Gott hat mich hierbehalten, weil er irgend etwas mit mir vorhat. Als Dr. Sherman anrief wegen des Interviews, sagte ich mir: >Vielleicht ist das der Grund.< Wenn ich mit Menschen sprechen könnte, die Krebs haben, würde ich ihnen sagen: >Macht euch nicht zu viele Sorgen.< Das ist wahnsinnig schwierig, aber wirklich, die ständige Angst kann einen umbringen. Ich würde ihnen sagen: >Seht die Krankheit nicht als Tod an, - schaut auf das Leben!< Gott hat mich in irgendeiner Absicht hiergelassen, und eines Tages finde ich heraus, was es ist.« Das zweite Interview mit Phina fand fünf Jahre nach dem ersten statt. Ich traf sie in ihrer neuen Wohnung, einem subventionierten Hochhausappartement für ältere Menschen. Wir begrüßten einander, nicht wie alte Freunde, aber mit dem Bewußtsein, daß wir einmal ein Gespräch geführt hatten, wie es offener und intimer nicht denkbar ist. Die Tatsache, daß wir uns wiedersehen konnten, bekräftigte die Überzeugung, daß diese erste Begegnung einen Sinn gehabt hatte.
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Obwohl es Dienstag war und kein Feiertag in Sicht, war Phinas Wohnung vom Duft eines brutzelnden Truthahns erfüllt. In ihrer Küche fanden sich die üblichen Beilagen, die zu einem traditionellen Thanksgiving- (Erntedank-) Mahl gehören, in verschiedenen Stadien der Vorbereitung. Sie erklärte, sie habe den Truthahn billig bekommen, und sie habe sich gedacht, es würde Spaß machen, fünf oder sechs ihrer älteren Nachbarn zum Essen einzuladen, da sie schon einmal dabei war. Bevor das eigentliche Interview begann, hatten wir beide noch einige unerledigte Fragen zu klären. Ich war neugierig, ob andere Wissenschaftler seit meinem letzten Besuch Kontakt mit ihr aufgenommen hatten. Es war jetzt zehn Jahre her, seit bei Phina Krebs in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert worden war, und es konnte kein Zweifel bestehen, daß sie eine außergewöhnliche Patientin war, deren Fall zu studieren sich lohnte. Als sie verneinte, fragte ich sie, ob sie über dieses mangelnde Interesse nicht erstaunt sei. »Nein«, sagte sie. »Es ist dasselbe wie mit den Nachrichten. Sie zeigen lieber das Schreckliche.« Ihre Frage an mich bestätigte, wie nahe ihr das erste Interview gegangen war, wie sehr sie darum gekämpft hatte, ihre Erfahrung für sich selbst zu deuten. Sie wollte wissen, ob ich mich erinnerte, ihr die Frage gestellt zu haben: »Glauben Sie, die Krankheit überwinden zu können?« Dann sagte sie mir: »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich glaube, ich wußte immer, daß ich es schaffen könnte.« Da ich mich an den genauen Zusammenhang nicht erinnern konnte, holte ich die alte Aufnahme und hörte sie mir noch einmal an. Im Unterschied zu ihren sonst schnellen Reaktionen während dieses Interviews hatte Phina an dieser Stelle gezögert, bevor sie die Frage beantwortete: »Wissen Sie, tief in meinem Inneren habe ich das Gefühl, das ist es, was mich am Leben erhält. Darüber habe ich vorher noch nie nachgedacht. Irgendwo in meinem Hinterkopf muß ich mir vorgestellt haben, verdammt nochmal, ja, ich werde es schaffen!« Dann erzählte Phina mir von den wichtigsten Veränderungen in ihrem Leben, die sich seit unserer letzten Begegnung ereignet hatten: »Eines Tages stand ich auf und sagte mir: >Da Gott dich am Leben gelassen hat, wollte er sicher nicht, daß du ein Packesel bist. Er kann nicht gewollt haben, daß du so lebst.< Also machte ich eine ganz neue Wendung. Ich nahm dieses Appartement hier auf gut Glück. Die Vermieterin fragte: >Wollen Sie es sich nicht erst einmal ansehen?< Ich sagte: >Ich nehme es auf jeden Fall.< Jetzt ist es, als wäre ich hier geboren. Hier kann ich ich selbst sein. Mein Mann hat nicht geglaubt, daß ich Ernst machen würde. Der Rechtsanwalt sagte mir: >Sind Sie sicher, daß Sie das tun wollen, nach einundvierzig Jahren?< Ich sage: >Ich bin fest entschlossen. Ich kann es verkraften.< Ich glaube nicht, daß Gott mich durch diese Krankheit gebracht hat, damit ich mich hier wie ein Trottel aufführe. Er läßt mich nicht hier, um diesen ganzen Quatsch mitzumachen. So ist Gott nicht. Mit anderen Worten: Ich mußte Ihm zurückzahlen, was Er für mich getan hat. Oh, es war schlimm. Ich mußte es tun, und ich hatte Angst, aber die Krankheit konnte mich nicht zurückhalten. Mit meinem Mann konnte ich kaum darüber sprechen. Als ich mir den Rückenwirbel gebrochen hatte, stöhnte ich nachts vor Schmerzen, aber er 48
kam nie zu mir und sagte: >Was ist mit dir, - bist du ok?< Ungefähr zwei Wochen bevor ich zum Rechtsanwalt ging, war es sehr kalt. Die Leute konnten alle ihre Autos nicht starten. Und mein Mann auch nicht. Also sage ich zu ihm: >Vielleicht ist es die Batterien Aber er rief die Werkstatt an und sagte ihnen: >Holen Sie das Auto ab und erneuern Sie alles, was gemacht werden muß.< Wir reden hier aber über einen alten Schlitten Baujahr 73, nicht über einen Rolls Royce. Meine Tochter erzählte mir, daß er das Haushaltsgeld genommen hat, um die Reparatur zu bezahlen. Das hat mich derartig auf die Palme gebracht, daß ich meine Sachen packte und ging. Ich blieb vier Nächte im Holiday Inn. In den Wochen, in denen ich zu entscheiden versuchte, was ich tun sollte, sprach mein Mann kein Wort mit mir. An dem Tag vor meinem Scheidungstermin kniete ich nieder und sagte: >Gott, gib mir einen Wink, ob ich das Richtige tue.< Am nächsten Morgen stehe ich auf und sage etwas zu meinem Mann, und Yak, Yak, Yak, Yak, meckerte er mich an. >Danke, Gott, - ich gehe!< Am ersten April, es war Karfreitag, wurden wir geschieden. Manche Leute denken, die Ehe ist eine Sache von fünfzig zu fünfzig. Ich glaube das nicht, weil manche Menschen besser geben können als andere. Mir macht es Spaß, mich um andere zu kümmern. Also würde ich mit Vergnügen neunzig Prozent geben, wenn ich zehn bekäme. Aber die kriegte ich nicht. Ich würde nur dann wieder heiraten, wenn ich jemanden träfe, der mein Herz schneller schlagen läßt. Aber ich werde nicht bügeln, ich werde nicht nähen, und ich werde nicht kochen; - wer sollte mich also heiraten? Ich gehe keinen Schritt zurück; das Leben, das ich jetzt führe, ist zu gut. Ich liebe es, ich finde es toll! Ich bin nie so glücklich gewesen. Oh, ich habe eine Menge Probleme, aber ich halte mich nicht daran fest. Ich habe versucht, mich als Freiwillige anzubieten, also rief ich die Gesellschaft für Krebsforschung an und sagte, daß ich mit zwei Fingern tippen kann. Ich dachte, sie könnten mir ein paar Sachen geben, die ich hier zu Haus tippen kann, aber sie sagten nein. Ich kann keiner regulären Arbeit nachgehen, weil ich seit einiger Zeit Epstein-Barr (virusbedingte Lymphknotenschwellungen) habe. An manchen Tagen liege ich flach und schlafe die ganze Zeit. Ich glaube, ich kann alles ertragen, solange man mir nicht die Zunge herausschneidet, weil ich dann nichts mehr hätte, wofür ich leben könnte. Dann würde ich sterben wollen. Jetzt bin ich ein richtiges Großmaul, aber früher war ich furchtbar unsicher. Als ich Krebs bekam, wollte ich in eine Gruppe gehen, weil ich zu Haus nicht über meine Krankheit sprechen konnte. Aber es gab keine Gruppe für Krebspatienten, also ging ich zu den Weight Watchers. Ich brauchte Leute, mit denen ich reden konnte, und ich mußte auch abnehmen. Also sagte ich mir: >Was soll‘s.< Ich habe mein Leben lang neunundfünfzig Kilo gewogen, aber mit dem Krebs kam ich plötzlich auf über neunzig. Alle anderen nehmen ab, wenn sie Krebs haben - ich nicht. Ich habe mit Leuten gesprochen, die Epstein-Barr-infiziert sind. Sie wußten alle, daß sie es haben, weil sie Gewicht verloren. Aber ich nehme durch nichts ab. 49
Ich esse wahnsinnig gern. Als ich im Krankenhaus mit diesem Mädchen zusammenlag, bestellten wir uns immer doppelte Portionen zum Abendessen und hoben die Hälfte für nachts auf. Man merkt gar nicht, wieviel man zunimmt, bis man wieder zu Haus ist. Mein Arzt wurde wütend auf mich, weil ich mir Sorgen über mein Gewicht machte. Es ist komisch, wenn man so nahe am Tod ist, sollte man sich eigentlich sagen: >Was soll‘s, ich esse, soviel ich will.< Aber ich machte mir dauernd Gedanken. Wenn es für mich irgendeine Chance gab, gesund zu werden, was sollte ich machen? Erstmal nach Hause gehen und fünfzig Kilo abnehmen? Damals wurde ein Foto gemacht von Dr. Sherman und mir. Vor ein paar Jahren sagte ich ihm: >Kann ich das Foto haben, auf dem ich so fett bin?< Er sagte: >Nur, wenn ich ein anderes kriege.< Ich brauchte eineinhalb Jahre, um sechsundzwanzig Kilo abzunehmen, aber wir haben uns köstlich amüsiert in der Gruppe. Ich gewöhnte mir alle meine Lieblingssüßigkeiten ab und ließ bei allem das Fett weg. Aber das war, um abzunehmen; es hatte nichts mit dem Krebs zu tun. Ich finde, diese Gruppen sind etwas Tolles. Bevor ich Krebs hatte, war ich sehr schüchtern. Ich kann jetzt sehr viel besser sagen, was ich denke. Wie neulich -, da ging ich mit meiner Freundin zu >Honey Farms<. Ich hatte sechs leere >Slice<-Flaschen, die ich zurückgeben wollte. Die Frau dort sagt: >Diese Sorte >Slice< verkaufen wir nicht.< Ich sage: >Die Firma ist sicher froh, die Flaschen zurückzubekommen, egal welche Sorte.< Sie fängt an, Blah, Blah, Blah, und macht ein Riesentheater, aber schließlich nimmt sie die Flaschen. Dann sage ich: >Ich hätte gern ein Lotterielos.< Sie wird ganz sarkastisch: >Bitte, - welche Art wäre denn genehm?< Schließlich sage ich zu ihr: >Mein Gott, wie kann man Sie bloß auf die Kunden loslassen !< Meine Freundin sagt: >Arbeiten Sie allein hier?< Ich sage: >Klar, - wer hält es mit ihr aus?< Sie sagt zu mir: >Auf Sie kann ich jedenfalls verzichten!< Und ich sage: >Keine Sorge, mich werden Sie hier als Kundin nicht wiedersehen.< Ich kann das nicht leiden. Wenn man mit Kunden zu tun hat, kann man sich nicht so aufführen. Ich weiß noch, als ich bei Woolworth und bei Grants arbeitete, konnte ich manche Kunden nicht ausstehen, aber ich mußte trotzdem freundlich sein. Seit ich offen sage, was ich denke, haben meine Beziehungen sich verändert. Zwischen meiner Tochter und mir fliegen manchmal kurz die Fetzen, aber dann merken wir plötzlich, was wir machen; wir sprechen uns aus, und dann sind die Dinge wieder klar zwischen uns. Vorher gingen wir uns wochenlang aus dem Weg, und in mir gärte es. Das würde ich jetzt nicht mehr ertragen. Für solche Dinge habe ich keine Zeit mehr. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe meine schlechten Tage. Meine Schwägerin ist gerade an Krebs gestorben. Ich habe furchtbar viele Menschen verloren dieses Jahr. Mein Bruder ist gestorben. Es ging mir sehr nahe, aber er war zum Skelett abgemagert; das Herzversagen war wirklich eine Erlösung, weil er gar keine Kraft mehr hatte und nicht mehr aufstehen wollte. 50
Ich habe meinen besten Freund verloren, meinen Neffen. Das war der härteste Schlag. Als ich mich scheiden ließ, war er der erste, der sagte: >Ich bin immer für dich da.< Wir waren zusammen auf dem Friedhof, und kurz danach, als er wieder zu Haus war, fällt er plötzlich um und ist tot. Wir gingen jedes Jahr zusammen auf den Friedhof und besuchten alle Gräber. Einmal dachten wir, wir ständen am Grab seines Vaters, und wir pflanzten Blumen und beteten für ihn. Haben wir gelacht, als wir merkten, daß wir am falschen Grab standen! Wir hatten immer viel Spaß miteinander. Als wir auf dem Rückweg vom Friedhof in seiner Wohnung ankamen, muß er sich schon schlecht gefühlt haben, denn er sagte: >Hey, mein Herz wummert ja so! Das liegt an dir, Tante Phina, du jagst mir solche Angst ein.< Wir lachten. Ich erinnere mich, daß er sich vorbeugte, seinen Bauch ansah und sagte: >Donnerwetter, Rick, hast du eine Wampe!< Das zeigt, wie er die Dinge nahm. Als ich nach Haus kam, riefen sie mich an und sagten mir, daß Ricky einen schweren Herzinfarkt hatte. Er starb direkt vor den Augen seines neunjährigen Jungen. Die Ärzte sagten, er war schon tot, bevor er zu Boden fiel. Ich meine, jetzt ist alles vorbei, aber irgendwie ergeben die Dinge einen Sinn. Ich habe eine Schwester, die mich mag, und eine, die mich nicht mag. Jetzt ist die, die mich nicht mochte, gestorben. Das war Rickys Mutter. An dem Tag, an dem sie starb, rief sie mich an. Ich kam gerade aus der Dusche und war tropfnaß. Ich hatte mir nur ein Handtuch übergeworfen, aber sie sprach so lieb mit mir, daß ich nicht auflegen konnte. Ich wußte, daß wir uns sehr nahe kamen. Sie ging normalerweise nie mit, wenn ich mit Ricky auf den Friedhof ging, Blumen zu pflanzen. Aber an dem Tag, als Ricky starb, rief sie ihn an. Er sagte: >Wenn du nett zu Tante Phina bist, kannst du mitkommen.< So war sie mit ihrem Sohn noch einmal zusammen, an seinem letzten Tag. Ich habe so ein Gefühl, daß da oben etwas Schönes auf mich wartet, wenn ich sterbe, ein großer, schöner Ort, wo alle Freunde sind. Ich werde meine Mutter wiedersehen, aber sie wird Helen sein, nicht meine Mutter, und Ricky wird Ricky sein, wir werden nicht als Neffe und Tante zusammenkommen. Alle sind Freunde da oben, und alle sind glücklich miteinander. Aber man wird nicht seine eigene Familie sehen, denn Gott wird keinesfalls wollen, daß meine Schwester von da oben mit ansehen muß, wie Rickys Frau sich hier unten benimmt, sich herumtreibt und die Kinder vernachlässigt. Glauben Sie, Gott würde zulassen, daß sie das sieht? Gott würde niemanden so strafen, auf keinen Fall! Wenn man stirbt, soll man Frieden finden. Was mich angeht, - ich habe keine Angst vor dem Sterben, aber ich bin noch nicht bereit. Ich liebe das Leben, ich liebe es, ich liebe alles, was dazu gehört. Seit diese Krebsgeschichte passierte, habe ich zu mir selbst gefunden. Jetzt mag ich mich wirklich. Ich liebe mich. Und wenn man sich nicht selbst liebt, kann man auch andere nicht lieben. Ich bin verdammt stolz auf mich, ja, das bin ich. Ich bin stolz auf mich. Jedes Jahr finden sie etwas Neues; dieses Jahr war es das Epstein-Barr-Virus. Und wenn sie nächstes Jahr nichts finden, werde ich wahrscheinlich enttäuscht sein. 51
Jedesmal, wenn sie etwas Neues finden, macht mich das nur stärker. Mein Leben ist jetzt schön. Früher wachte ich auf und sagte: >Ach je, schon wieder ein Tag.< Jetzt wache ich auf und sage: >Danke, Gott.<«
Beobachtungen Als Albert Einstein gefragt wurde: »Was ist die wichtigste Frage, mit der die Menschheit konfrontiert ist?«, antwortete er: »Ist das Universum freundlich?« Phina Dacris Universum ist freundlich. Die Macht, die ihr irdisches Dasein beherrscht, Gott, ist liebevoll und gütig. Selbst der Tod ist für Phina nicht furchterregend, da das Leben nach dem Tod, das Gott ihr bereiten wird, nur durch sein unendliches Mitgefühl bestimmt sein kann. Für Phina ist es Gottes Wille, daß Menschen ein sinnerfülltes Leben, Glück und Gesundheit finden. Wenn es ihr gelingt, mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung zu sein, kann sie loslassen und alles in seine Hände geben; sie wird ihre Erfüllung finden. Phinas Hingabe an einen Gott, der im Himmel wohnt, der wünscht, daß sie ihr gesamtes Potential verwirklicht, ist eine Hingabe an ihr eigenes Selbst. Ihr Wunsch, alles in Gottes Hände zu legen, wirkt auf den ersten Blick vielleicht passiv und wie ein Verzicht auf jede Eigenverantwortung, aber in Wahrheit ist ihr Bemühen, diesem Credo gemäß zu leben, ein schwieriger und disziplinierter Prozeß. Das eigene Ego für etwas loszulassen, das man als höhere Wahrheit anerkennt, erfordert innere Überzeugung und Glauben. In Phinas Situation liegt ein Paradox: Um zu erreichen, was sie erreichen will, muß sie das Abgeben der Eigenverantwortung vor sich selbst verantworten. Sie drückte das einmal so aus: »Ich strenge mich mehr an als je zuvor. Früher zum Beispiel, wenn ich in einen Laden gegangen wäre, und sie hätten mir fünf Dollar zuviel herausgegeben, hätte ich mir gesagt: >Toll, mein Vorteil!< Aber heute würde ich sie nicht nehmen. Ich sagte, ich strenge mich mehr an, aber andererseits tue ich das Gegenteil. Ich lege alles in Gottes Hand. Gleichzeitig erfülle ich meinen Teil.« Bevor Phina an Krebs erkrankte, war sie bereit, in einer unbefriedigenden Ehe zu leben, unter der sie litt und an der sie verzweifelte. Aber als sie krank war, sah sie es als ihre Verpflichtung Gott gegenüber an, sich selbst zu respektieren und das Geschenk des Lebens zu würdigen. Daher entschloß sie sich zur Trennung und schließlich zur Scheidung, nach vierzig Jahren Ehe, trotz finanzieller Schwierigkeiten, schwerer Beeinträchtigung durch verschiedene Krankheiten und der Ungewißheit, ob sie sterben oder am Leben bleiben würde - zu einem Zeitpunkt also, an dem die meisten Menschen sich mehr denn je an eine Beziehung klammern würden. Am Tag vor dem Scheidungstermin bat sie Gott, ihr ein Zeichen zu geben, ob die Auflösung ihrer Ehe notwendig sei. Psychologisch kann man das so interpretieren, daß sie ihre eigenen unbewußten Wünsche auf ein anderes, allwissendes Wesen projizierte. »Gott« wirkte also als vermittelnde Instanz, die ihr den direkten Zugang zu ihren inneren Bedürfnissen und Wünschen eröffnete. Die Antwort, die sie erhielt, kam also im Grunde aus ihrem eigenen tiefsten Wesenskern. Das innerste Selbst (unser aller innerstes Selbst) ist unendlich liebend und allwissend. Macht es da etwas aus, ob die 52
Botschaft aus ihrem eigenen göttlichen Kern oder von einem außerhalb ihres Wesens existierenden Gott kam? Anders als die meisten Menschen, die sich zu einer Scheidung entschließen, war Phina nicht zusätzlich zu ihrer Trauer von Selbstzweifeln gequält. Was sie tun mußte, stimmte sie traurig, aber sie litt weder unter Unentschlossenheit mit ihrer üblichen Begleiterscheinung, der Depression, noch unter Schuldgefühlen wegen ihres Handelns. Ihre direkte Kommunikation mit Gott erlaubte ihr, oder mehr noch, bestärkte sie darin, eine Beziehung zu beenden, die sich auf ihr seelisches und körperliches Gleichgewicht destruktiv auswirkte. »Ich glaube nicht, daß Gott mich durch diese Krankheit gebracht hat, damit ich mich wie ein Trottel aufführe.« Obwohl sie ihre Ehe als heilige Pflicht betrachtete, erhielt ihre Hingabe an Gott und Gottes Willen schließlich Vorrang vor allen anderen Gelübden, die sie abgelegt hatte. Es gibt viele Ärzte, Philosophen und geistige Lehrer, die - ebenso wie Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen - davon überzeugt sind, daß die Kraft des Glaubens, wie sie sich in Phina äußerte, wirklich Berge versetzen kann. Placebo-Studien demonstrieren, wie außerordentlich wirkungsvoll der Glaube an die eigene Heilung sein kann. In seinem Buch »Prognose Hoffnung« erzählt Bernie Siegel von einer Patientin mit Pankreaskrebs in fortgeschrittenem Stadium, die aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nach Haus zurückkehrte, um zu sterben. Als sie Monate später wieder in der Praxis auftauchte - völlig geheilt -, wurde sie gefragt, was geschehen sei. Ihre Antwort hat eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Phinas Erklärungen. Sie sagte: »Ich beschloß, hundert Jahre alt zu werden und meine Sorgen Gott zu überlassen.« Durch seine Erfahrungen mit Krebspatienten ist Siegel davon überzeugt, daß diese seelische Sicherheit so gut wie alles heilen kann. Der Glaube ist offenbar das Ausschlaggebende: »Eine einfache Lösung und doch für die meisten Menschen zu schwer, um sie zu praktizieren.« Eine Krebsstation, in der Strahlentherapie durchgeführt wird, mit dem Himmel zu vergleichen scheint beinahe unvorstellbar, und dennoch gebrauchte Phina für die Beschreibung beider Orte auffällig ähnliche Worte und Bilder. Sie schilderte den Himmel als einen »großen, schönen Ort«, wo alle Freunde sind und alle miteinander glücklich sind. Manchen mag diese Vision ein wenig zu pragmatisch erscheinen, aber die Auflösung trennender Barrieren zwischen den Menschen stellt zweifellos ein universelles Ideal dar. In ihrer Strahlentherapiestation sind - wie im Himmel - die Barrieren, die Menschen sonst voneinander trennen, ohne Bedeutung. »Alle sind Freunde«, »es ist, als wären wir gute Nachbarn«. Der Arzt erzählt von seiner Familie, sie erzählt von ihrer Familie. Sie hat das Gefühl, daß die Fürsorge ihr als Person gilt und nicht nur ihrer Krankheit. In einigen entscheidenden Punkten glichen Phinas Gefühle für ihre Ärzte ihren Gefühlen für Gott. Mehr als einmal nannte sie Gott und ihre Ärzte in einem Atemzug und ließ keine Zweifel an der großen Bedeutung ihrer Beziehung zu ihnen: »Meine beiden Ärzte sind die Welt für mich.« Unbekümmert teilt sie uns mit, daß sie ihr »ganzes Vertrauen« in die Ärzte setzt. Daß sie ihnen überhaupt Fragen stellte, lag offenbar nur daran, daß die Umwelt Druck auf sie ausübte. Und da sie nicht aus eigener Initiative nachfragte, ist es nicht überraschend, daß sie es vorgezogen hätte, die Antworten nicht hören zu müssen. Ihre Orientierung scheint der aufkommenden neuen Auffassung vom »eigenverantwortlichen Patienten« also diametral entgegenzustehen. Phinas Geschichte ist ein 53
wundervolles Beispiel für die Erkenntnis, daß es keinen alleinseligmachenden Weg gibt, der für alle Menschen richtig ist. Außerdem sollte nicht übersehen werden, daß Phinas Vertrauen angesichts der offensichtlichen Qualitäten ihrer beiden Ärzte weder naiv noch unangemessen war. Es waren kompetente und gut ausgebildete Praktiker. Darüber hinaus waren sie reife Menschen, die sich wirklich um ihren Zustand sorgten, sich an ihren Erfolgen mitfreuten und an ihrem Lebensschicksal Anteil nahmen. Norman Cousins sagt: »Die zentrale Frage, die man stellen muß, wenn es um Krankenhäuser geht — oder auch um Ärzte -, ist, ob sie dem Patienten das sichere Gefühl geben, daß er in guten Händen ist, ob sie dem Patienten ermöglichen, denjenigen, die ihn heilen wollen, zu vertrauen; kurz: ob man die Erwartung hegt, daß etwas Gutes geschehen wird.« Phinas Erfahrungen mit Dr. Sherman waren ausschließlich positiv: »Jedesmal, wenn ich zu Dr. Sherman ging, gab er mir Hoffnung.« Sein persönlicher Stil und seine Art, mit Menschen umzugehen, trugen dazu bei, daß ihre Zuversicht wuchs. An einer anderen Stelle hebt Cousins den emotionalen und medizinischen Wert der »Krankenbett-Umgangsformen« eines Arztes hervor: »Die Fähigkeit, eine korrekte Diagnose zu stellen, ist ein guter Gradmesser für die medizinische Kompetenz. Die Fähigkeit, Patienten zu sagen, was sie wissen müssen, ist ein guter Maßstab für ärztliche Kunst. ... Ist es möglich, eine negative Information so zu vermitteln, daß sie von der oder dem Betroffenen nicht als Todesurteil, sondern als Herausforderung verstanden wird? Hier ist nicht die Frage, ob man die Wahrheit sagen soll, sondern wie man die Wahrheit sagt. Die Wahrheit kann in einer Weise gesagt werden, die der Person Kraft verleiht oder sie vernichtet. Sie kann dazu führen, daß alle Kräfte mobilisiert werden oder daß die Szenerie für eine vernichtende Niederlage geschaffen wird.« Im Lauf der Jahre habe ich eine Reihe von Krebspatienten interviewt, die bei Dr. Sherman in Behandlung waren. Ihre Aussagen stimmen überein. Er hat die bemerkenswerte Gabe, die Karten offen auf den Tisch zu legen, ohne die Krankheit, so ernst sie auch sein mag, hoffnungslos erscheinen zu lassen. Phina zum Beispiel gab er zu verstehen, daß sie ihre Angelegenheiten regeln solle, und dennoch vermittelte er durch seine detaillierte Erläuterung eines langfristigen Behandlungsplans die Botschaft, daß er sie keinesfalls aufgegeben habe und noch lange mit ihrer Anwesenheit rechne. Da ich neugierig geworden war und diese lebensstärkende Kraft besser verstehen wollte, interviewte ich Dr. Sherman. Ich wollte wissen, woher seine Fähigkeit kam, in Patienten Hoffnung zu erwecken, obwohl er ihnen die statistische Trostlosigkeit ihrer Prognose mit völliger Offenheit enthüllte. Ich fragte ihn, ob er diese Weisheit einem Mentor oder einem besonderen, herausragenden Teil seiner Universitätsausbildung verdanke. Aber ihm fiel kein solches Beispiel ein. Einige Wochen nach diesem Interview plauderten wir miteinander und erzählten uns Kindheitsgeschichten. Er erzählte mir, daß er als Kind ein schwerer Legastheniker war (und es im formalen Sinn immer noch ist). In den letzten Grundschuljahren sagten die Pädagogen ihm und seinen Eltern immer wieder, daß diese Lernstörung eine ernstzunehmende Behinderung darstelle. Er könne nie ein Studium absolvieren, erklärten sie. Allenfalls könne er einmal einen handwerklichen Beruf erlernen. Seit er an der McGill-Universität den Magister machte, an der Universität Boston sein Medizinstudium abschloß und seine Assistenzzeit an der 54
Harvard Medical School absolvierte, stellt die Macht der Hoffnung für diesen Arzt weitaus mehr dar als eine Abstraktion. In der Vergangenheit hatte Phina für ihre Umwelt eine Fassade errichtet, die zu ihren wahren Gefühlen im Widerspruch stand. Während der Jahre, in denen sie als Kassiererin bei Woolworth und Grant arbeitete, trug sie ständig ein Lächeln auf den Lippen, auch wenn sie mit Kunden zu tun hatte, die sie nicht ausstehen konnte. Phinas eigene Metapher »es gärte in mir« könnte eine präzise Beschreibung dafür sein, wie ihre aufgestauten Emotionen ihre physische Gesundheit unterminierten. In vielen populären Filmen wird diese Art des Selbstverrats und ihre Wirkung auf die Gesundheit angesprochen. Woody Allen sagt an einer Stelle in seinem Film Manhattan: »Ich werde nicht wütend - ich lasse mir einen Tumor wachsen.« In Doktor Schiwago sagt eine der handelnden Personen: »Die Gesundheit leidet unweigerlich darunter, wenn du Tag für Tag das Gegenteil von dem sagst, was du fühlst, wenn du vor dem, was du verabscheust, zu Kreuze kriechst und Freude über Dinge heuchelst, die dich ins Unglück bringen. Unser Nervensystem ist keine Fiktion; es ist ein Teil unseres physischen Körpers, und unsere Seele existiert und ist in uns wie die Zähne in unserem Mund. Wir können sie nicht ständig ungestraft vergewaltigen.« Nachdem Phina an Krebs erkrankt war, veränderte sie ihr Leben in einer Weise, die ihr erlaubte, mehr sie selbst zu sein. Manche dieser Veränderungen waren sehr konkreter Natur und betrafen ihre äußere Lebenssituation. Aber ebenso wichtig waren die inneren Veränderungen, die sie vollzog und die ihr Selbstgefühl betrafen. Zum ersten Mal konnte sie Liebe zu sich selbst empfinden. Es fiel ihr leichter, anderen ihre wahren Gefühle zu zeigen, als sie mehr Zutrauen zu ihrem eigenen Wert als Person gewann. Da sie sich mochte, sich liebend annehmen konnte, hatte sie weniger Grund, auf der Hut zu sein. Sie öffnete sich den Schönheiten und Freuden ihres Daseins. Sie war für alles, was das Leben zu bieten hatte, empfänglicher geworden und hatte mehr Grund, am Leben zu bleiben. Vermutlich könnte niemand mit Gewißheit sagen, wie weit Phinas veränderte Lebenseinstellung ihre Genesung beeinflußte. Aber sie linderte zweifellos ihre physischen Schmerzen. Die verschiedenen Krankheiten und Komplikationen, die sie durchmachte, sind für gewöhnlich mit erheblichen Schmerzen und körperlichen Beschwerden verbunden. Oft sind Menschen dadurch bis zur Handlungsunfähigkeit geschwächt. Aber Phina bewältigte ihr Leben mit einer Energie, die selbst bei Gesunden ungewöhnlich ist. Martin Buber erzählt die Geschichte eines chassidischen Rabbi, der zeit seines Lebens starke Schmerzen erdulden mußte: »Rabbi Jizchak Eisik war von der Jugend bis ins Alter von einem schweren Übel geplagt, von dem bekannt war, daß es mit maßlosen Schmerzen verbunden war. Einst fragte ihn der Arzt, wie es ihm möglich sei, daß er ohne zu stöhnen und zu klagen die Schmerzen ertrage. Er antwortete: >Das könnt Ihr leicht verstehen, wenn Ihr nur darauf achtet, daß die Schmerzen die Seele durchscheuern und durchlaugen. Da kann es doch gar nicht anders sein, als daß der Mensch sie mit Liebe empfängt und nicht wider sie murrt. Ist aber erst eine Zeit vergangen, dann hilft ihm noch die so gewonnene Lebenskraft, die Schmerzen des gegenwärtigen Augenblicks ertragen. Und es ist ja immer nur ein Augenblick, denn die vergangenen sind doch nicht mehr vorhanden, und wer wird sich mit künftigen Schmerzen befassen!<« 55
Auch Phina griff dem Leiden nicht vor: »Ich sage nicht: O Gott, was wird wohl morgen passieren? Wenn der nächste Tag kommt und es ist noch da, kann ich immer noch weinen.« Ihr Kontrakt mit Gott schloß klugerweise eine Regelung ein, die sie davon befreite, sich Sorgen um künftige Schmerzen zu machen: »Ich sage: Gott, bitte, ich will jetzt schlafen. Morgen früh soll alles geschehen, was du willst... Also schlafe ich ein, statt zu weinen.« Phinas Umgang mit ihren Schmerzen führte zu denselben Resultaten wie die Techniken, die von der Schmerzforschung und den Experten für Schmerzbewältigung empfohlen werden. Der Arzt und Wissenschaftler John Kabat-Zinn zum Beispiel ermutigt Schmerzpatienten, die Schmerzempfindung leidenschaftslos zu beobachten. Die Patienten lernen, ihren Schmerzen gegenüber eine andere Haltung einzunehmen, ähnlich der, zu der Phina von sich aus fand: die Schmerzempfindungen als das zu akzeptieren, was sie sind, ohne sich Sorgen um eine mögliche Verschlimmerung zu machen und ohne ihnen eine symbolische Bedeutung beizulegen. Der oder die Kranke sagt sich zum Beispiel nicht mehr: »Vielleicht werden die Schmerzen bald unerträglich«, oder: »Ich habe schweres Unrecht begangen, diese Schmerzen sind die Strafe«, sondern nimmt den Zustand so an, wie er ist. Menschen, die diese Veränderung des Bewußtseins an sich vollziehen können, leiden in aller Regel weniger unter ihren Schmerzen.
Wissenschaftliche Anmerkungen Nach der Theorie der »Krebspersönlichkeit« verfügen Menschen, die an Krebs erkranken, im allgemeinen nicht über adäquate Möglichkeiten, ihre Gefühle, insbesondere ihre aggressiven Gefühle auszudrücken. Wenn an dieser Theorie etwas Wahres ist, wirft sie eine wichtige Frage auf: Kann der offene Ausdruck von Emotionen die Krankheitsentwicklung positiv beeinflussen? Lydia Temshok von der University of California führte eine Untersuchung mit Patienten durch, die an Melanomen leiden. Sie verglich die Raten des Tumorwachstums bei Patienten, die ihre Gefühle offener ausdrückten, mit den Raten von Patienten, die im Ausdruck ihrer Gefühle gehemmter waren. Im Rahmen der Studie wurden die Patientinnen und Patienten gebeten, von einem Ereignis in ihrer jüngsten Vergangenheit zu berichten, das sie wütend machte. Die Versuchspersonen reagierten sehr unterschiedlich: »Manche sagten, sie könnten sich nicht erinnern, je wütend gewesen zu sein, während andere sich regelrecht hineinsteigerten und sogar mit den Zähnen knirschten und mit den Fäusten auf den Tisch schlugen.« Die Studie, die im Journal of Psychosomatic Research veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, daß bei denjenigen unter den Versuchspersonen, die ihre Gefühle offener ausdrückten, die Zellteilungsrate geringer und die Anzahl der Lymphozyten höher war. Beides waren objektiv meßbare Faktoren, die darauf hinwiesen, daß der Krankheitsverlauf bei der emotional expressiveren Gruppe günstiger sein würde. Andere Wissenschaftler berichten über ähnliche Ergebnisse. Leonard Derogatis und Martin Abeloff kamen zu dem Schluß, daß Frauen mit metastatischem Brustkrebs, die ihre aggressiven und feindseligen Gefühle offen ausdrückten, länger lebten als sanfte und fügsame, weniger selbstbewußte Frauen. Intuitiv kommen wir vielleicht zu dem Schluß, daß Phinas Lebensfreude nicht nur zu einer höheren Lebensqualität, sondern auch zu einem längeren Leben führte. Neuere wissenschaftliche Entdeckungen bestätigen diese Intuition. Sieben Jahre lang 56
studierte Sandra Levy eine Gruppe von Frauen mit Brustkrebs in fortgeschrittenem Stadium. Sie fand heraus, daß man anhand des Maßes an Lebensfreude, das die Patientinnen zeigten, tatsächlich voraussagen konnte, wie lange sie leben würden. Die Anzahl der Metastasenorte war ein weniger zuverlässiger Voraussagefaktor für das Überleben einer Patientin. Es muß ausdrücklich betont werden, daß wir hier nur von authentischen Gefühlen sprechen. Wenn die kranke Person versucht, vor der Umwelt einen glücklichen Eindruck zu machen, obwohl sie sich nicht so fühlt, wirkt das destruktiv; sie schneidet sich damit von ihren wahren Empfindungen ab und fühlt sich isoliert. Ähnlich negativ wirken unerbetene Ratschläge von Freunden und Verwandten, die dem Kranken sagen, wie er zu fühlen habe und daß er glücklich sein müsse; sie erweisen ihm damit einen schlechten Dienst. In seiner an der Universität von Florida als Dissertation vorgelegten Studie über Lungenkrebspatienten fand Mark Raymond Otis heraus, daß die Vortäuschung positiver Gefühle in negativer Beziehung zu den Überlebensschancen der von ihm befragten Patienten stand. In meiner eigenen Beratungsarbeit mit Krebspatienten fange ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen, wenn eine Patientin oder ein Patient einen schweren Verlust erleidet, insbesondere durch eine Scheidung oder den Tod einer nahestehenden, geliebten Person. Was die neuere Forschung zeigt, fand ich durch meine eigenen Beobachtungen bestätigt: Verlusterfahrungen beeinträchtigen das Immunsystem. Den Durchbruch auf diesem Gebiet brachte eine Studie, die 1977 von R.W. Bartrop und Mitarbeitern in Australien erstellt wurde. Bartrop und seine Mitarbeiter führten bei Männern und Frauen, deren Ehepartner kurz zuvor gestorben waren, Blutuntersuchungen durch. Die Ergebnisse der ersten Bluttests, die zwei Wochen nach dem Tod des Partners vorgenommen wurden, wichen nicht wesentlich von den Normalwerten ab. Aber schon vier Wochen später zeigten die Kontrolluntersuchungen bei den Versuchspersonen Anzeichen einer Schwächung des Immunsystems. In dem Bericht, der in der Zeitschrift Lancet veröffentlicht wurde, heißt es: »Hier konnte zum ersten Mal nachgewiesen werden, daß psychischer Streß meßbare Anomalien in den Funktionen des Immunsystems hervorruft, die offensichtlich nicht auf hormonellen Veränderungen beruhen.« In einer Nachfolgestudie untersuchten Steven Schleifer und Mitarbeiter von der Mount Sinai Medical School in New York die Auswirkungen von Trauer auf Männer. Die Gruppe, die sie studierten, bestand aus Männern, deren Ehefrauen an unheilbaren Erkrankungen im letzten Stadium litten. Die Wissenschaftler testeten die Funktionsfähigkeit des Immunsystems der Ehemänner vor und nach dem Tod ihrer Partnerinnen. Zwei Monate nach dem Verlusterlebnis war die Immunabwehr der Männer deutlich geschwächt. Im Lauf der Zeit normalisierten sich die Funktionen des Immunsystems, aber selbst ein Jahr später war die Abwehrkraft bei einigen Männern noch geringer als in der Zeit vor dem Tod ihrer Ehefrauen. Phina machte in den fünf Jahren, die zwischen dem ersten und dem zweiten Interview lagen - in einer Zeit also, in der die Rückfallgefahr besonders groß war -, mehrere schwere Verlusterfahrungen durch. Ihr Bruder und ihre Schwester starben, sie verlor einen Neffen, der gleichzeitig ihr bester Freund war, und sie wurde geschieden. Obwohl es sich um gravierende Verluste handelte, erlitt sie in bezug auf ihre Krebserkrankung keinen Rückfall, und sie war auch nicht von Trauer überwältigt, wie es die den zitierten Studien zugrundeliegende Theorie eigentlich nahelegen würde. Aber die Forschung beschäftigt sich mit typischen Reaktionen auf Verluste. Wir können bei menschlichen Erfahrungen nicht immer von der statistischen »Normalität« ausgehen, denn dann unterschätzen wir die sehr realen individuellen Unterschiede. 57
Manche Verluste, wie die Auflösung einer unglücklichen Ehe oder das Ende einer konflikthaften Geschwisterbeziehung, können tatsächlich als Erleichterung empfunden werden und heilend wirken. Um Phinas Erfahrungen zu verstehen, muß man sich deutlich machen, wie ungemein freundlich ihr Universum ist. Die fraglose Anerkennung der großen Zusammenhänge ist die treibende Kraft in ihrem Leben. Von diesem Standort aus betrachtet, haben schwierige Lebensumstände - und sogar der Tod - nichts Furchterregendes. Denn in allem, was geschieht, liegt ein Sinn und ein Ziel.
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NORMAN COUSINS Dies ist das wahre Lebensglück: Für ein Ziel verwendet werden, das du selbst als das richtige erkennst, dich vollkommen ausgeben, bevor du auf den Abfallhaufen geworfen wirst, eine Naturgewalt sein statt eines fiebrigen, selbstsüchtigen kleinen Klumpens von Gebrechen und Kümmernissen, der sich beklagt, daß die Welt sich nicht der Aufgabe weiht, ihn glücklich zu machen. GEORGE BERNHARD SHAW 1964 erkrankte Norman Cousins an der Bechterewschen Krankheit, einer chronischen Entzündung der Rückenwirbel, die zu einer fortschreitenden Versteifung der Wirbelsäule führt. Nach der Meinung von Spezialisten standen die Chancen für eine Heilung 1: 500. Nachdem er sich den medizinischen Standardprozeduren für kurze Zeit unterzogen hatte, entwarf Cousins seinen eigenen Behandlungsplan. Gegen den Rat der Spezialisten verließ er das Krankenhaus und zog in ein Hotel. Lachen war seine Therapie der Wahl. Er stellte eine Krankenschwester ein, die ihm Marx-Brothers-Filme und Ausschnitte aus Candid Camera vorführte und ihm aus verschiedenen humoristischen Büchern vorlas. Zusätzlich ließ er sich hohe Dosen Vitamin C intravenös verabreichen. Er hatte die Bedeutung und die heilenden Wirkungen des Vitamins studiert. Entgegen den Voraussagen der medizinischen Experten war seine Heilung praktisch vollkommen. Cousins ist der amerikanischen Öffentlichkeit vor allem dadurch bekannt, daß er seit vierzig Jahren bei der Zeitung Saturday Review das Ruder führt. Außerdem setzte er sich im Auftrag der amerikanischen Regierung und anderer internationaler Institutionen mehrfach für Friedensmissionen ein. Unter anderem gewann ihn Papst Johannes XXIII dafür, sich an der Befreiung katholischer Kardinäle aus osteuropäischen Gefängnissen zu beteiligen. Heute ist Cousins der führende Sprecher der holistischen Bewegung in der Medizin, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Kluft zwischen »wissenschaftlichen« und »alternativen« Heilmethoden zu überbrücken. Norman Cousins war mit seiner Handlungsfähigkeit und seiner Kraft, etwas in der Welt zu bewirken, in Berührung gekommen, lange bevor er je schwer erkrankte. Anders als die meisten Patienten konnte er als Kranker sein Gefühl persönlicher Macht aufrechterhalten und es sogar stärken. Jetzt stärkt er andere, indem er ihnen das Bewußtsein vermittelt, etwas bewirken zu können: »Wenn ich mit Patienten arbeite, beweise ich ihnen, daß sie über weitaus größere Kräfte verfügen, als ihnen bewußt ist. Ich demonstriere das, indem ich ihnen zeige, daß sie die Fähigkeit haben, die Durchblutung ihres Körpers zu beeinflussen. Ich führe sie Schritt für Schritt durch ihren Körper, während sie sich vorstellen, wie das Blut sie durchströmt, und lasse sie zum Schluß das Blut in ihre Hände leiten. Wenn sie sehen, daß sie die Macht haben, die Oberflächentemperatur ihrer Haut um zehn Grad und mehr zu steigern, verändert sich ihr Verhältnis zu ihrem Körper und zu ihrer Krankheit. 59
Sobald es gelungen ist, Patienten vom Gefühl der Hilflosigkeit zu befreien, ist die Befreiung von der durch Hilflosigkeit hervorgerufenen Depression nur noch ein kleiner Schritt. Unter den Faktoren, die zur Schwächung der Immunabwehr führen, spielt die Depression eine sehr wesentliche Rolle. Wie wir bei unseren Patienten nachweisen konnten, führt die Befreiung von der Depression zu einem beinahe automatischen Aufschwung in der Produktion krankheitsabwehrender Zellen.« In dem folgenden Interview berichtet Norman Cousins von seinen außergewöhnlichen Genesungsfortschritten nach einem schweren Herzinfarkt. Auf dem Hintergrund seines erfolgreichen Kampfes gegen die Bechterewsche Krankheit und seines umfangreichen medizinischen Wissens kreierte Cousins eine neue, unorthodoxe Behandlungsmethode. Ein zweites Mal stand der bemerkenswerte Verlauf seiner Genesung in krassem Gegensatz zu den Voraussagen der kompetentesten Spezialisten. Bill Hitzig, Cousins Arzt, verglich den Genesungsprozeß seines Patienten mit der Heilung von der Bechterewschen Krankheit, die dieser in »Anatomy of an Illness« (Anatomie einer Krankheit) so eindringlich schilderte. Hitzig sagt: »Sein Herzinfarkt 1980 war bedenklicher als die Krankheit, die er 1964 überwand, und der Genesungsprozeß, den er jetzt durchläuft, ist meiner Meinung nach sogar noch erstaunlicher als der letzte.« Norman Cousins beginnt seine Geschichte mit der Schilderung seines Lebensstils vor der Krankheit: »Ich habe den Herzinfarkt wirklich heraufbeschworen. Ich reiste in der ganzen Welt umher und kämpfte mit den Zeitverschiebungen und mit der Schlaflosigkeit. Es war ein permanenter Streß, von einem Ort zum anderen zu hetzen, kreuz und quer durch das ganze Land zu rasen, um Termine wahrzunehmen, die ich dann doch nicht immer einhalten konnte. Ich hatte mir ein Arbeitspensum aufgebürdet, das jenseits des menschlichen Durchhaltevermögens lag. Der Herzinfarkt war sehr gravierend. Ein Enzymtest, durch den man das Ausmaß der Zerstörung von Herzmuskelgewebe feststellen kann, demonstrierte, daß die Schwere des Infarkts weit über dem Durchschnitt lag. Glücklicherweise hatte ich genügend Vorerfahrungen, um der schlimmsten Bedrohung meines Lebens entgegenzutreten. Ich war immer der Meinung, daß die meisten Infarktpatienten das Krankenhaus deshalb nicht mehr lebend erreichen, weil die Panik, die der Herzinfarkt auslöst, genauso gefährlich sein kann wie die Krankheit selbst. Panik ist häufig der Faktor, der das Herz über sein Toleranzniveau hinaus belastet. Panik ruft eine Art von hormonaler Überflutung hervor, die das Herz weiter destabilisiert und die Blutgefäße zusammenzieht. Also muß das Herz, das ohnehin in einem prekären Zustand ist, Blut durch die verengten ten Gefäße pumpen, was zu einer zusätzlichen, untragbaren Belastung führt. Ich hatte meinen Studenten (an der UCLA School of Medicine) immer wieder eingeschärft, daß beim Herzinfarkt zwei Probleme, zwei Bedrohungen auftreten. Die eine liegt in der Krankheit selbst, die andere in der Panik, die sie auslöst. Wenn man die Panik in den Griff bekommt, sind die Chancen, ein Infarktgeschehen zu überstehen, wesentlich höher. Generell ist die Gefahr einer Kettenreaktion, bei der die Panik den Schmerz intensiviert und der stärkere Schmerz größere Panik erzeugt, einer der unseligsten Aspekte schwerer Erkrankungen. 60
Zuerst muß man den Patienten von der Panik befreien. Nachdem ich meinen Studenten und mir selbst das immer wieder eingehämmert hatte, wußte ich, als der Herzinfarkt kam, daß ich meine Überlebenschancen erhöhen würde, wenn es mir gelänge, aus der Panik herauszukommen. In unserem Haushalt gibt es ein kleines Sauerstoffgerät, aus demselben Grund, aus dem es auch einen Feuerlöscher gibt: Es ist gut, solche Dinge im Notfall bei der Hand zu haben. Also konnte ich, als der Anfall kam, meiner Frau sagen, sie solle mich daran anschließen, und ich wußte, daß mein Herz mit dem nötigen Sauerstoff versorgt wurde. Als die Ambulanz kam, konnte ich die Sanitäter im Zaum halten und mir ihr Heldentum ersparen. Auf der Fahrt zum Krankenhaus sagte ich ihnen, sie sollten die Sirene und das Blaulicht ausschalten und langsamer fahren, denn in einem solchen schwankenden Vehikel herumgeschüttelt zu werden, mit heulenden Sirenen, erzeugt mehr Panik als alles andere in der Welt. Als ich im Krankenhaus ankam, erwarteten der Dekan der medizinischen Fakultät und einige andere Ärzte mich bereits. Sie waren nervös, denn ich hatte auch noch kongestives Herzversagen, ich spuckte Blut, und ich hatte eine schwere Dysfunktion des linken Ventrikels. Trotz all dieser Komplikationen war ich absolut zuversichtlich. Ich konnte sie beruhigen und ihnen sagen, daß sie es hier mit dem verdammt größten Genesungswunder zu tun hätten, das je auf ihre Intensivstation gerollt wurde. Nachdem ich mir dieses Ziel gesetzt hatte, wollte ich es auch beweisen. Die Ärzte nannten meine absolute Zuversicht Verweigerung, aber es kann nützlich sein, sich zu verweigern, das Verdikt zurückzuweisen, das dem eigenen Gefühl nach mit einer Diagnose verbunden ist. Wenn man erkennt, daß die Diagnose eine Herausforderung ist und kein Verdikt und daß es Hilfsquellen gibt, mit denen man arbeiten kann und die nicht alle außerhalb des eigenen Selbst liegen, dann kann man den Körper von den komplizierenden Faktoren, die durch Angst hervorgerufen werden, befreien. Mir scheint, daß dadurch das körpereigene Heilpotential - was immer das sein mag - freigesetzt und aktiviert wird und daß man so die Voraussetzungen schafft, unter denen eine medizinische Behandlung am besten anschlagen kann. Ich denke, für Ärzte ist es wichtig, ein bißchen bescheiden zu sein und zu sagen, daß sie nicht genug wissen, um Voraussagen zu machen, die für jeden einzelnen Fall zutreffen. Sie sollten auch keine Sprache gebrauchen, die alle Hoffnungen abwürgt, und den Patienten die Chance lassen, geistig durchzuatmen. Meine innere Zuversicht versetzte mich in die Lage, auf das Lysin und das Morphin zu verzichten, die gewöhnlich notwendig sind, um das schlimmste Stadium zu überbrücken, aber man bezahlt einen hohen Preis dafür. Ich weiß, daß die Krankheit einen Zusammenbruch des körpereigenen Heilsystems darstellt. Medikamente sind nur ein grober Ersatz für das, was der Körper eigentlich selbst leisten sollte. Panik, Angst und Depressionen hindern den körpereigenen Apotheker daran, seine Aufgaben richtig zu erfüllen. Ich versuchte, mich an den realen, fundamentalen Gesetzen der Medizin zu orientieren. Die Behandlungsmodalitäten in der Medizin verändern sich ständig. Vor fünf Jahren wurden Magengeschwüre völlig anders behandelt als heute. Und dennoch wird von den Leuten erwartet, daß sie sich mit der neuen Methodik einverstanden erklären. Das einzig Konstante ist das, was im Körper selbst vor sich geht. 61
Ich lehnte die Behandlung ab, die von den Ärzten als äußerst dringlich und absolut notwendig betrachtet wurde. Sie hatten eine Herzoperation vorgesehen. Sie sagten, ohne diesen chirurgischen Eingriff würde ich nicht am Leben bleiben. Es sei soviel Herzmuskulatur zerstört, daß die normalen Herzfunktionen nicht mehr gewährleistet seien. Es könne jeden Augenblick mit mir zu Ende gehen. Hilflosigkeit ist ein Produkt unserer Erziehung. Wir sind offenbar davon überzeugt, daß eine schwere Erkrankung in einer festgelegten Richtung verläuft und immer weitergeht, bis sie durch irgendwelche äußeren Mittel unterbrochen wird. Diese Art von Erziehung bereitet uns eher auf Schwäche vor als auf Kraft. Wir werden nicht im Bewußtsein der grundlegenden Widerstandskraft des Körpers erzogen. Folglich erscheint der Sieg über die Krankheit als eine sehr fernliegende Möglichkeit. Ich kann mich genau an den Augenblick erinnern, in dem ich wußte, daß ich es schaffen würde. Das war während eines Gesprächs mit meinem Kardiologen. Er sagte mir, ich müsse mich der Operation unterziehen, weil meine Arterien blockiert seien. Ich fragte: >Ist das irreversibel?< Er sagte: >Auf jeden Fall ist die Situation als solche irreversibel.< In dem Augenblick, als ich das hörte, fühlte ich eine Welle von Energie in mir aufsteigen. Ich konnte es einfach nicht verhindern, daß sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Er fragte: >Habe ich etwas Komisches gesagt?< Ich sagte: >Nein, Stuart, ich habe nur gerade gedacht: Jetzt geht‘s wieder rund!< Der Begriff irreversibel brachte mich innerlich zum Glühen. Ich kann diese unglaubliche Energieaufwallung immer noch spüren. Es war ein gewisses Maß an Freude damit verbunden, die aus dem Wissen kommt, daß du gewinnen wirst, ganz gleich, was dir dafür abverlangt wird. Ich muß gestehen, daß mich die ganze Erfahrung faszinierte. Die Faszination begann mit der Vorstellung der Irreversibilität. Ich wußte, daß ich vielleicht nicht in der Lage sein würde, meine Arterien wieder durchlässig zu machen, aber ich konnte kompensatorisch verstärkte Zirkulation innerhalb des Herzens entwickeln. Dennoch hatte ich das Gefühl, daß die Behandlung und der Rat meines Kardiologen von großer Bedeutung waren. Er klärte mich darüber auf, mit welchen Schwierigkeiten ich zu kämpfen hatte. Ich wollte über alle Fakten informiert sein, um auf dieser Basis meine Entscheidungen zu treffen, und ich wollte nicht, daß diese Fakten beschönigt wurden. Ich erkenne auch an, daß mein Kardiologe nicht versuchte, mich als dumm hinzustellen. Er wurde nicht wütend. Vielleicht war er nicht meiner Meinung, aber er respektierte, was ich zu sagen hatte. Im Krankenhaus bestärkten mich nicht alle darin, so aktiv zu sein, wie ich war. Mein Hausarzt war furchtbar besorgt. Er hatte selbst einen Herzinfarkt gehabt, der nicht so schwer war wie der meine, aber schwer genug. Er machte mir Vorschriften. Ich sollte nicht schreiben - ich schrieb in der Zeit an einem Theaterstück —; ich sollte mich nicht so aufregen, nicht so ermüden. Ich sollte nicht lesen. Ich sollte mir nicht einmal selbst die Zähne putzen. Als er seinen Herzinfarkt hatte, mußte er fast sechs Wochen lang unbeweglich im Bett liegen. Aber ich war mit dieser Therapie nie einverstanden. Nach meinem Herzinfarkt kam er mich im Krankenhaus besuchen. Als er das Zimmer betrat, richtete ich mich im Bett auf. Er drohte mir mit dem Finger: >Das dürfen Sie 62
nicht tun!< Er riet mir auch, nicht zu lachen. Offenbar fand er, daß ich recht hatte, als ich in »Anatomie einer Krankheit« sagte, daß Lachen eine Art inneres Jogging ist. Am Tag nach meinem Infarkt rief er mich an und warnte mich vor den Dingen, die ich vorher getan hatte, vor allem vor dem Lachen. Nach diesem Gespräch kam meine Frau herein, und ich bat sie, mir aus der Morgenzeitung vorzulesen. Sie stieß zufällig auf die Geschichte eines Zeitungsredakteurs aus der Umgebung von Los Angeles, der mit einem Stadtverordneten in Fehde lag. Er hatte den Stadtverordneten als »griechischen Demagogen« bezeichnet. Der Stadtverordnete protestierte und sagte, er betrachte das als eine ethnische Verunglimpfung. Ein Reporter der »Los Angeles Times« rief den Redakteur an und fragte ihn: >Werden Sie sich entschuldigen?< >Auf gar keinen Fall<, antwortete der Redakteur. >Ich habe mich nur etwas undeutlich ausgedrückt. Eigentlich hätte ich schreiben sollen, daß er ein redseliges Arschloch ist.< Ich brach in lautes Gelächter aus und wußte in diesem Augenblick, daß das Lachen immer noch mein Freund war. Von da an habe ich dauernd gelacht. Humor wirkt heilend auf mich, aber ich würde das, was ich tat, nicht jedem empfehlen. Ich glaube nicht, daß es bei jedem funktioniert. Das bringt mich auf ein Grundprinzip, nämlich, daß die statistische Betrachtungsweise von Krankheiten keine absolute Geltung hat. Bis zu einem gewissen Grad drückt jedes Individuum der Krankheit seinen eigenen Stempel auf. Der kluge Arzt erkennt, in welchem Maß das der Fall ist, und handelt danach. Der Arzt muß zuhören. Der Arzt muß reden. Der Arzt muß sich engagieren. Heutzutage gibt es zu viele Ärzte, die nur reden. Fürs Zuhören werden sie nicht bezahlt. Die Kassen zahlen die höchsten Sätze für den Einsatz der medizinischen Technologie und für die Durchführung von Labortests; also wird der Arzt zu einer Haltung gedrängt, die dem Wohlergehen des Patienten abträglich ist. In den ersten sechs Monaten nach meinem Herzinfarkt arbeitete ich nicht. Ich machte zweimal am Tag einen kurzen Spaziergang. Zuerst mußte ich mich setzen, wenn ich fünfzig Meter gegangen war. Nachts hatte ich oft etwas Atemnot, und bei der geringsten Anstrengung bekam ich Herzrhythmusstörungen. Ich wußte, daß die Gesundung des Herzens ein langer, kontinuierlicher Prozeß ist. Es dauert seine Zeit, und ich war bereit, die erforderliche Zeit zu investieren. Ich dehnte meine Spaziergänge allmählich bis zu sechs Kilometer pro Tag aus. Ich mußte auch meinen Cholesterinspiegel senken. Meine Frau legt großen Wert auf gesunde Ernährung, und sie ergriff die Gelegenheit, unsere Lebensgewohnheiten in dieser Hinsicht auf eine andere Basis zu stellen. Ich brachte meine Cholesterinwerte von zweihundertfünfundachtzig auf hundertsiebzig herunter, durch Diät und durch die Dinge, die mir Spaß machten. Meine Frau war die ganze Zeit sicher, daß ich mich wieder erholen würde. Sie ist für Katastrophenstimmungen absolut unempfänglich. Zum Beispiel: Als wir an der Ostküste lebten, fuhr ich täglich mit der Bahn ins Büro, und sie brachte mich mit dem Auto zum Zug. Wenn wir zu spät dran waren, sagte sie: >Wir kriegen ihn an der nächsten Station<, und drückte aufs Gaspedal, um den Zug einzuholen. Wenn wir am nächsten Bahnhof ankamen und der Zug war schon abgefahren, sagte sie: >Aber an der nächsten Station kriegen wir ihn bestimmt<, und wir brausten wieder los. Natürlich fuhren wir auf diese Weise oft den ganzen Weg bis nach New York. Sie gibt nicht auf. Und es wäre ihr gar nicht möglich, zu glauben, daß irgend etwas mit mir geschieht, was irreversibel ist. 63
Ich hatte Glück. Niemand lag mir mit Argumenten in den Ohren, um mich in eine andere Richtung zu drängen. Ich hätte ja auch leicht eine Frau haben können, die zu hysterischen Weinkrämpfen neigt: >Oh, Norman, der Arzt sagt, du schaffst es nicht, wenn du das und das nicht tust. Du mußt es tun, Norman, bitte, du mußt es tun! Bitte Norman, tu, was der Doktor sagt!< Statt dessen sagte meine Frau: >Mach, was du für richtig hältst.< Es war nicht nur der Versuch, mich aufzurichten. Sie hatte schon lange genug mit mir gelebt und wußte, daß ich recht hatte. Das Wissen, daß Menschen um mich waren, denen mein Wohl am Herzen liegt - meine Frau, meine Familie, meine Freunde -, bedeutete mir sehr viel. Es war sehr wichtig für meine Genesung. Auf einer Skala von eins bis hundert läge dieser Faktor für mich bei hunderteins. Ich muß sagen, daß die Flut von Karten und Briefen, die bei mir anrollte, enorm aufbauend war. Aber ich hatte nicht oft Lust, Leute zu sehen. Nicht weil ich ungesellig war, sondern weil Zeit für mich das größte Kapital im Leben ist. Es ist eine Frage des Abwägens von Prioritäten — ich wollte das Beste aus dieser Erfahrung machen. Meine Krankheit festigte die Beziehungen, die für mich bedeutungsvoll sind, und weniger wichtige Beziehungen rückten noch weiter an den Rand. Ich glaube, die Krankheit brachte mich meinen Freunden näher, weil ich mehr Zeit mit ihnen verbringen konnte. Ich hatte auch mehr Zeit, Golf zu spielen. Im Jahr nach meinem Herzinfarkt wurde ich in unserem Golfclub zum Spieler mit dem größten Leistungszuwachs des Jahres erklärt. Dadurch konnte ich wieder einiges von meiner Behinderung abstreichen. Ich spiele wieder Golf, jetzt spiele ich auch wieder Tennis, und ich reise wieder. Mein Herz macht all die Dinge mit, zu denen es eigentlich nicht fähig sein sollte. In manchen Bereichen, in denen es sein muß, habe ich mich gebremst, und dort, wo ich es mir leisten konnte, habe ich an Tempo zugelegt. Vor drei Wochen zum Beispiel sah ich meinen Terminkalender bis Ende Juli durch. Es standen einige Termin an, die ich sehr gern wahrnehmen wollte. Ich war eingeladen, auf der Sondersitzung der Vereinten Nationen zur Frage der Abrüstung eine Ansprache zu halten. Ich war zum Vorsitzenden der Delegation amerikanischer Schriftsteller, die zu einem Treffen mit führenden russischen Schriftstellern nach Moskau reisen sollte, gewählt worden. Ich hatte Vorstandssitzungen bei der Kettering Foundation und der Mott Foundation. Ich strich das einfach alles. Vor dem Herzinfarkt wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen. Der Grund, warum ich es jetzt tat, war nicht, daß ich fürchtete, es nicht zu schaffen, sondern ich hatte das Gefühl, daß ich auch ohne all diese Verpflichtungen leben kann. Die Krankheit war eine Schwellenerfahrung; sie veränderte mein Bewußtsein. Vorher hätte ich mir nicht jeden Donnerstagnachmittag freigenommen, um Golf zu spielen, wie ich es jetzt tue. Und ich tue es mit dem größten Wohlbehagen, ohne eine Spur von schlechtem Gewissen. Ich lebe mein Leben nicht mehr so, daß ich mir Dinge versage, die mir Freude machen. Meine Krankheitserfahrungen tun mir nicht leid. Ich habe nicht das Gefühl, daß Gott mich lieblos behandelt hat. Ich habe auch nicht das Gefühl, daß mir etwas genommen 64
wurde. Natürlich hätte ich nichts dagegen gehabt, wenn mir beide Krankheiten erspart geblieben wären, aber da ich sie nun einmal durchmachen mußte, habe ich etwas daraus gelernt. Ich habe durch meine Krankheitserfahrungen sehr viel Kraft gewonnen, und ich glaube, dadurch war es mir möglich, eine neue Lebensstufe zu erreichen. Wir leben in einem riesigen Universum. Bisher hat niemand herausgefunden, wieviel Lichtjahre es braucht, um von einem Ende zum anderen zu gelangen, oder ob es so etwas wie einen Anfang und ein Ende gibt, oder ob überhaupt eine Begrenzung existiert. Unendlichkeit ist eine wahrhaft eindrucksvolle Vorstellung. Wenn ich über das Unendliche meditiere, dämmert mir eine letzte Wahrheit: Menschliches Leben ist der höchste Preis, den das Universum zu vergeben hat. Da ich dieses Geschenk des Lebens empfangen habe, werde ich es nicht preisgeben, bis meine Zeit wirklich abgelaufen ist.«
Beobachtungen Nachdem ich Norman Cousins bei zwei verschiedenen Gelegenheiten interviewt hatte, wußte ich, daß er über ein bemerkenswertes Maß an Selbstbeherrschung verfügte und daß seine Integrität über jeden Zweifel erhaben war. Dennoch konnte ich nicht umhin, mich zu fragen, ob seine Erinnerungen an die Ereignisse während der Krise den tatsächlichen Gegebenheiten entsprachen. Schließlich hatte er einen Herzinfarkt mit kongestivem Herzversagen erlitten; der plötzliche Herztod war eine drohende Gefahr, und bei seinem umfangreichen medizinischen Wissen war er sich dieser Gefahr zweifellos bewußt. Die Literatur, die sich mit der Psychologie der Angst befaßt, ist eindeutig in ihren Aussagen: Die »Kampf-oder-Flucht«-Reaktion (die - abgesehen von einigen anderen physiologischen Veränderungen - das Herz stark belastet), ist die natürliche menschliche Reaktion auf Bedrohung und Gefahr. Drei Ärzte bestätigten, daß Cousins völlig anders reagierte als die meisten Menschen, die sich auf dem Höhepunkt einer lebensbedrohenden gesundheitlichen Krise befinden: Er blieb ruhig und schaffte es sogar, die Situation selbst im Griff zu behalten. Omar Fareed schildert das: »Man stelle sich folgende Szene in der Notaufnahme des UCLA-Krankenhauses vor: Professor Sherman Mellinkoff, Dekan der medizinischen Fakultät der UCLA, und mehrere Spitzenkardiologen der Abteilung erwarten die Ankunft der Ambulanz mit einem Patienten, der gerade einen Herzinfarkt erlitten hat. Der über Funktelefon durchgegebene Bericht der Sanitäter ist alarmierend: Der Patient hustet Blut, ein verhängnisvoller Hinweis auf kongestives Herzversagen. Die Schwingtüren des Notaufnahmeraums öffnen sich; eine fahrbare Trage wird hereingeschoben. Der Patient richtet sich auf, hebt grüßend die Hand, grinst und sagt: >Meine Herren, ich muß Ihnen mitteilen, daß Sie es hier mit dem verdammt größten Genesungswunder zu tun haben, das je auf Ihre Intensivstation gerollt wurde.<« Cousins erstaunliche Haltung auf dem Höhepunkt der Krise setzte sich während des Rehabilitationsprozesses fort. Er tat alles, was in seinen Kräften stand, um seine Überlebenschancen zu erhöhen. Opfer waren dabei natürlich unvermeidlich, aber sein Bemühen um Genesung bedeutete nie, daß er sein Interesse an einem aktiven und sinnerfüllten Leben aufgab. Im Gegenteil, das Genießen der guten Dinge des Lebens war für das Behandlungsprogramm, das er für sich selbst entwarf, von ebenso 65
fundamentaler Bedeutung wie Körperübungen und Diät. Sein Vorgehen war unorthodox, aber nie leichtsinnig. Er wog alle verfügbaren Informationen sorgfältig ab, bevor er eine wichtige Entscheidung traf. Manche seiner Entscheidungen hätten ihn in gesundheitlicher Hinsicht in Gefahr bringen können, denn seine Interpretation der medizinischen Fakten war nicht das einzige Kriterium für die Entscheidungsfindung. Sein Handeln mußte mit seinen grundlegenden Wertvorstellungen übereinstimmen. Die Ärzte baten Cousins, vorsichtiger zu sein, aber selbst wenn sie mit seinen Entscheidungen nicht einverstanden waren, respektierten sie seine Entschlossenheit, der Qualität seines Lebens Priorität einzuräumen. Als Cousins‘ Kollege David Cameron, ein Kardiologe, erfuhr, daß Cousins sein anstrengendes Tennistraining wieder aufgenommen hatte, sagte er: »Es ist wahrscheinlich ebenso gut, daß ich nicht dort bin und es nicht mit ansehen muß, denn wahrscheinlich würde ich selbst einen Herzinfarkt bekommen, wenn ich sehen müßte, wie jemand, der vor kurzem ein kongestives Herzversagen hatte, aus Leibeskräften über den Tennisplatz rennt.« Und weiter sagte dieser Arzt: »In Anbetracht der Schwere seines Herzinfarkts könnte kein Kardiologe sagen, daß er nicht mehr in Gefahr ist, einen weiteren Infarkt oder sogar den plötzlichen Herztod zu erleiden. Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, daß er in allen Bereichen, die für ihn von vitaler Bedeutung sind, hervorragend zurechtkommt und daß er aus allem, was ihm möglich ist, das meiste und Beste herausholt.« Norman Cousins konnte in seiner Krankheit auf weitaus größere persönliche und institutionelle Ressourcen zurückgreifen als der durchschnittliche Patient. Er verfügte über ein umfangreiches Wissen in bezug auf den menschlichen Körper im allgemeinen und auf Herzkrankheiten im besonderen. Sein Vertrauen in die grundlegende Widerstandsfähigkeit des menschlichen Körpers - eine Überzeugung, die sich bei jeder schweren Erkrankung als wirksame Gegenwehr erweist -, war Jahre zuvor durch seinen Kampf gegen die Bechterewsche Krankheit auf die Probe gestellt und durch seinen Erfolg bestätigt worden. Durch sein berufliches Netzwerk stand er mit einigen weltweit anerkannten Herzspezialisten in Verbindung. Diese persönlichen Beziehungen waren die Garantie für eine hervorragende medizinische Versorgung. Sein Status als prominente Persönlichkeit und der Respekt, den seine Ärzte ihm entgegenbrachten, ließen ihm die denkbar größte Freiheit, er selbst zu sein, ohne daß er befürchten mußte, herablassend behandelt oder lächerlich gemacht zu werden. Ein anderer Patient, der sich kerzengerade aufrichtet und den Ärzten verkündet, er sei »das verdammt größte Genesungswunder«, das sie je erblickt hätten, würde vermutlich als psychotisch bezeichnet. Ein Arzt führte Cousins Entscheidung, die Bypass-Operation abzulehnen, auf sein »ausgeprägtes Gefühl für seine körperliche Integrität« zurück; bei einem anderen Patienten wäre diese Entscheidung vielleicht als massive Realitätsverleugnung abgetan worden. Obwohl Cousins‘ Hilfsquellen und Erfahrungen alles andere als alltäglich waren, läßt sich doch etwas für die alltägliche Erfahrung daraus ableiten. Seine gelassene Haltung und sein Sinn für Humor in einer Situation, in der er um das nackte Überleben kämpfte, mögen heroisch erscheinen, aber durch ein wenig Planung kann man die traumatische Wirkung der meisten medizinischen Notfälle mildern. Wenn alle Familienmitglieder darüber unterrichtet sind, wie eine etablierte Notfallmaßnahme abläuft, und wenn die wichtigsten Telefonnummern in der Nähe des Telefons bereitliegen, ist die gefährdete Person durch das Wissen beruhigt, daß für die wichtigsten, lebensnotwendigen Dinge vorgesorgt ist. Der Gedanke an ein Sauerstoffgerät mag vielen fernliegend erscheinen, aber jene, die Gefahr laufen, in eine gesundheitliche Notlage zu kommen, 66
die Sauerstoffgaben erfordert, können mit der Hilfe eines Arztes und ein wenig Anleitung leicht lernen, ein solches Gerät zu bedienen. Und obwohl es zweifellos selten vorkommt, daß ein Patient sich mit einer Krankheit konfrontiert sieht, über die er vor Medizinstudenten Vorträge gehalten hat, kann jede Leserin und jeder Leser dieses Buches sich das medizinische Grundwissen über ihre oder seine Krankheit und die Grundprinzipien der Behandlung aneignen. Aus Cousins‘ Erfahrungen läßt sich sehr viel lernen, aber die Botschaft ist nicht, sein Verhalten einfach nachzuahmen. Vermutlich war er der erste aus einer wissenschaftlichen Tradition hervorgegangene einflußreiche Wortführer, der sagte, daß »jedes Individuum der Krankheit seinen eigenen Stempel aufdrückt«. Als Cousins in »Anatomie einer Krankheit« über das Lachen schrieb, ging es ihm um eine metaphorische Interpretation. Lachen war die Metapher für den therapeutischen Wert aller positiven Emotionen. Manche Leute nahmen seine Geschichte jedoch wörtlich und leiteten daraus eine simple Formel ab: Lachen als Patentrezept, das auf jede denkbare Situation anwendbar ist. Ein Kollege erzählte mir von einem jungen Mann, der in Therapie kam, weil er emotional tief verzweifelt und physisch krank war. Er hatte kurz zuvor geheiratet, und seine Frau war in den ersten Ehewochen plötzlich erkrankt und gestorben. Einige Monate nach dem Tod seiner Frau beschloß er, daß es an der Zeit sei, seine Trauer zu beenden. Ständiges Trauern, sagte er sich, sei Energieverschwendung und nutzloses Selbstmitleid; er müsse sich wieder dem Leben zuwenden. Nachdem er Norman Cousins‘ »Lach-Kur« entdeckt hatte, verbrachte er Stunden damit, Witzbücher zu lesen und sich komische Filme anzuschauen. Genau nach Cousins‘ »Rezept« besorgte er sich Marx-Brothers-Filme und Szenenausschnitte aus Candid Camera. Nach mehreren Monaten »Lach-Therapie« entwickelte der junge Mann ein Magengeschwür, schwere Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. Seine Bemühungen, die eigenen Gefühle in die Richtung zu zwingen, die er für angemessen hielt, forderten ihren Tribut. Im Fall dieses Mannes wäre Weinen weitaus wichtiger gewesen als Lachen. Er wurde erst wieder gesund, als er den Mut fand, Gefühle auszudrücken, die zwar sehr leidvoll, aber authentisch waren. »Anatomie einer Krankheit« war das erste Buch dieser Art, das in medizinischen Fachkreisen auf ernsthaftes Interesse stieß und auch eine breite Schicht von Laien erreichte. Cousins‘ anekdotenhafter Bericht, untermauert von Forschungsergebnissen, die zu diesem Zeitpunkt (1979) vorlagen, liefert eindringliche wissenschaftliche Argumente für den Zusammenhang zwischen seelischer und körperlicher Befindlichkeit. Seither wurde die unbezweifelbare Existenz dieser Verbindung durch Tausende von Nachfolgestudien bewiesen. Heute beschäftigt die Forschung sich mit dem Ausmaß, in dem diese Zusammenhänge wirken, und mit den spezifischen Variablen, die damit verbunden sind. Eine Forschungsrichtung befaßt sich mit dem Problem der multiplen Persönlichkeitsspaltung, einer sehr seltenen psychiatrischen Störung. Im Fall der multiplen Persönlichkeitsspaltung existieren zwei oder mehr klar voneinander geschiedene Persönlichkeiten innerhalb desselben Individuums, und das Verhalten des oder der von der Störung Betroffenen kann sich dramatisch verändern, je nachdem, welche der Persönlichkeiten gerade die Führung übernommen hat. Untersuchungen ergaben, daß ein einziges 67
Individuum mit multiplen Persönlichkeiten tatsächlich unterschiedliche physische Charakteristika aufweisen kann, die der jeweils dominierenden Persönlichkeit zugeordnet sind. Selbst objektiv meßbare Faktoren wie Hirnwellenmuster oder die Krümmung der Hornhaut des Auges können sich verändern. In einem Artikel, der in der Zeitschrift American Journal of Clinical Hypnosis veröffentlicht wurde, schildert Bennett Braun den Fall eines Patienten, der eine heftige allergische Reaktion auf den Saft von Citrusfrüchten hatte, mit Juckreiz, Bläschenbildung und Hautausschlag, wenn eine seiner Persönlichkeiten in den Vordergrund trat, aber keinerlei Reaktion zeigte, wenn eine andere Persönlichkeit dominierte. In einer zweiten Fallstudie beschreibt Braun eine Frau, die unter einer schweren Katzenallergie litt, wenn sie von einer ihrer Persönlichkeiten beherrscht war. Trat eine andere Persönlichkeit in den Vordergrund, konnte dieselbe Frau dasitzen und geraume Zeit mit einer Katze spielen, sogar von der Katze gekratzt und geleckt werden, ohne daß die mindeste allergische Reaktion sichtbar wurde. Eine weitere Studie der multiplen Persönlichkeitsstörung dokumentiert den Fall einer Frau, deren Diabetes sehr schwer zu behandeln war. Die Krankheit selbst und der Insulinbedarf der Patientin waren einer starken Fluktuation unterworfen, je nachdem, welche ihrer Persönlichkeiten dominierte. In einer dritten Untersuchung wird der Fall eines Mannes dargestellt, der in einer Persönlichkeit farbenblind war und in der anderen eine völlig normale Farbenwahrnehmung hatte. Forschungsergebnisse wie diese bieten zwar keinen eindeutigen Beweis dafür, ob Emotionen den Heilungsprozeß eines bestimmten Individuums beeinflussen können oder nicht, aber sie bestätigen, wie Cousins Erfahrungen, die Existenz der machtvollen Verbindung zwischen Körper und Geist.
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JOE GODINSKI Kreativität ist mein Leben. Wenn ich das in irgendeiner Weise verleugne, töte ich einen Teil meiner selbst. JOE GODINSKY Als man bei Joe Godinski eine besonders bösartige Form von Lungenkrebs feststellte, sagten die Spezialisten, daß er bald sterben werde. Diese Prognose stützte sich auf statistische Erkenntnisse, die aus der Beobachtung von Tausenden ähnlicher Fälle gewonnen worden waren. Ein Arzt schrieb über Joes Krankheitsverlauf: »Nachdem wir bei dem Patienten Lungenkrebs (Haferzellkarzinom) festgestellt hatten, wurde ein Lobus seines linken Lungenflügels operativ entfernt; er stimmte der Strahlenbehandlung zu, lehnte die Chemotherapie jedoch ab. Ein Jahr später bildete sich eine Gehirnmetastase, die durch Bestrahlung behandelt wurde. Als sich hinter seinem rechte Auge ein Tumor entwickelte, unterzog er sich erneut einer Strahlentherapie. Die Wahrscheinlichkeit, daß Joe auch nur ein weiteres Jahr lang überleben würde, lag bei 1:1000.« Seit mehr als zehn Jahren ist bei Joe Godinski keine Spur von Krebs mehr zu finden; seine vollständige Heilung ist medizinisch nachgewiesen. Sein Arzt erklärte: »Seine Heilung kann man nur als ein Wunder bezeichnen.« Joe Godinski und ich hatten ausgemacht, daß wir uns vor dem Washington-Denkmal treffen würden. Ich hatte mir sein Äußeres nicht beschreiben lassen, aber da wir beide erwartungsvoll dastanden, erkannten wir einander leicht. Aus den medizinischen Berichten wußte ich, daß er fünfundvierzig war, und in Anbetracht seiner Krankheitsgeschichte rechnete ich mit einem alt aussehenden Fünfundvierzigjährigen. Ich weiß nicht, ob es sein weicher, elastischer Gang war oder sein faltenloses Gesicht, aber auf mich wirkte Joe weitaus jünger als ein Mann in den mittleren Jahren. Nachdem wir uns begrüßt hatten, fragte er mich, ob ich schon gefrühstückt hätte, obwohl es etwa ein Uhr mittags war. Während wir uns in Bewegung setzten, erklärte Joe, daß sein Auftritt in der letzten Nacht sich sehr lange hingezogen habe und daß er gerade erst aufgestanden sei. Als er mich in ein großes Delikatessengeschäft mit angeschlossener Cafeteria führte, war ich gespannt, was er bestellen würde. Er war erst die vierte Person, die ich interviewte, aber in den Gesprächen mit meinen anderen Interviewpartnern hatte ich bereits einige gemeinsame Muster entdeckt. Das auffälligste war, daß sie alle radikale Veränderungen vollzogen und unter anderem ihre Ernährung vorwiegend auf »Naturkost« umgestellt hatten. Wir gingen zum Tresen, wo Joe sein Frühstück orderte: Eier mit Schinken, Toast mit Butter und Konfitüre, Kaffee mit zwei Stücken Zucker. Ein weiterer Kaffee und ein Schokoladenkeks bildeten das Dessert. Als ich in dem vollen und sehr lauten Cafe meinen Kassettenrecorder hervorholte und das Mikrophon auf dem Tisch aufstellte, war ich mir nicht sicher, ob unter diesen Umständen überhaupt ein brauchbares Interview zustande kommen würde. Aber die übereifrige Serviererin, der Geräuschpegel im Hintergrund und selbst das junge Paar, das sich am Nebentisch stritt, waren letztlich nur unwesentliche Ablenkungen.
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Daß ich so völlig gebannt zuhörte, hatte ebensoviel mit Joes Art zu erzählen zu tun wie mit dem Drama, das sich vor mir entfaltete. Es war eindeutig, daß Joe seine Geschichte nicht einstudiert hatte. Ich fragte mich tatsächlich, ob er sie je zuvor einem Menschen vollständig erzählt hatte, denn die meiste Zeit schien er selbst nicht zu wissen, was als nächstes kommen würde. Aber er war offensichtlich bereit, über sich selbst und das Kindheitsschicksal, das ihn begleitete, zu sprechen, ohne etwas zu verleugnen oder zu beschönigen. Joe begann: »Wenn ich an diese Erfahrung zurückdenke, läuft es mir selbst jetzt noch heiß und kalt den Rücken herunter. Ich war oben im Haus und spielte Klavier. Meine Mutter saß mit einer Freundin unten im Wohnzimmer. Plötzlich fing ich aus irgendeinem Grund an zu lachen. Ich sage Ihnen, dieses Lachen kam direkt aus meinen Eingeweiden, aus dem tiefsten Inneren, und als ich einmal damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich rollte mich am Boden vor Lachen. Nach einigen Minuten kamen meine Mutter und ihre Freundin die Treppe heraufgerannt. Sie dachten, mir wäre etwas passiert. Als sie feststellten, daß ich lachte, fanden sie mein Benehmen wahrscheinlich etwas merkwürdig, aber sie gingen einfach wieder hinunter. Ich lachte und lachte. Es war eine enorme, wilde, befreiende Lacherfahrung. Ich weiß bis heute nicht, worüber ich eigentlich lachte, aber mir ging dabei der Gedanke durch den Kopf: >Was ist das alles für ein grandioser Witz!< Alles. Plötzlich wurde mir klar: Ich bin völlig in Ordnung, so wie ich bin, - und das war wirklich das erste Mal, daß ich so empfand. Das ist die Art von Erlebnissen, die bei mir etwas bewirkten, die mich heilten. Ich habe immer geglaubt, daß bei mir eine Menge nicht in Ordnung war. Das hat man mir als Kind beigebracht. Manchmal trifft man Leute, die so viel Glück hatten. Man sieht, daß sie ihr Leben lang geliebt wurden. Sie hörten von klein auf, daß sie großartig sind, und sie wurden ermutigt, Wagnisse einzugehen und etwas aus sich zu machen. Da sie geliebt wurden, wissen sie, was Liebe ist. Schön ist das. Ich beneide diese Menschen. Ich wünschte, so wäre es bei mir auch gewesen, aber es war nicht so. Ich glaube nicht, daß ich wirklich verstehe, was Liebe ist. Intellektuell verstehe ich es schon, aber ich kenne das Gefühl nicht. Und trotzdem habe ich diese Heilungserfahrung, die in einer sehr intimen, persönlichen Weise wirklich viel mit Liebe zu tun hat. Ich bin von der Liebe also sehr tief berührt worden, aber in einem allgemeinen Sinn. Ich habe diese höchste Gefühlsintensität in der Beziehung zu einem einzelnen anderen Menschen nie kennengelernt. Ich meine, ich liebe die Erde, auf der wir leben, ich liebe die Menschheit. Ich bin mir nur nicht sicher, was ich für andere Leute empfinde.« Joe lacht. »Meine Eltern wurden geschieden, als ich noch ein kleines Kind war. Mein Bruder blieb bei meinem Vater. Meine Mutter kam mit meiner Schwester und mir hierher nach New York. Sie hatte keinen Job oder irgend etwas in der Art. Ich war drei Jahre alt, und meine Schwester war zehn. Wir kamen in ein katholisches Internat, und es war der reinste Alptraum. Die Nonne, die das Internat leitete, war ein widerliches Biest. Sie liebte es, anderen Schmerzen zuzufügen und Befehle zu erteilen. Sie verprügelte uns, daß die Fetzen flogen. Das ist keine Übertreibung. Als ich sechs war, wurde ich in die Gruppe der »großen Jungen« befördert. In dieser Zeit wurde es noch schlimmer mit den Mißhandlungen. Ich war sehr rebellisch als Kind. Ich kriegte das meiste ab, weil ich mich weigerte, klein beizugeben. Aber je mehr ich 70
versuchte, mich zur Wehr zu setzen, desto schlimmer verletzte sie mich. Diese Nonne stieß mich ständig herum und prügelte mir die Seele aus dem Leib und versetzte mir Tritte, wenn ich am Boden lag. Ihr Lieblingstrick war, hier in die Muskeln zu greifen« — Joe hob den Unterarm hoch - »ihre Fingernägel hineinzugraben und fest zuzudrücken. Das war Mißhandlung. Ich wurde wirklich mißhandelt, das können Sie mir glauben! Ich habe später vier oder fünf andere Leute wiedergetroffen, die als Kinder auch auf diesem Internat waren. Sie hatten allesamt ihren Schaden davongetragen. Es war niemand da, der dem ein Ende gemacht hätte. Als Kind hat man einfach Angst. Ich sagte meiner Mutter nie etwas darüber. Jetzt, als Erwachsener, kann ich sagen, daß es wirklich lächerlich war, das alles zu verschweigen, aber was weiß man als Kind schon? Ich glaubte, ich hätte es verdient, daß ich so behandelt wurde. Erwachsene, und Nonnen insbesondere, würden nicht so auf einem herumprügeln, wenn man es nicht verdient hätte.« Joe lacht. »Ich kam zu dem Schluß, daß bei mir etwas falsch ist, daß ich ein öffentliches Ärgernis bin - alle lassen mich im Stich. Mein Vater ist weggegangen, meine Mutter kommt mich fast nie besuchen, und ich werde ständig von dieser Nonne verdroschen. Das war die Wurzel meiner Krebskrankheit. Ich kam in dieses Internat, als ich etwa vier Jahre alt war, und blieb dort, bis ich sieben oder acht war. Dann kam ich für ein Jahr heraus, aber meine Mutter schickte mich zurück, weil ich mich schlecht benahm. Sie sagte, ich könne mich zu Haus nicht einordnen. Ich glaube, ich war neun, als ich das Internat verließ. So wurde also der Rahmen geschaffen, in dem mein weiteres Leben verlief. Ich glaubte all das Zeug über mich, was man mir eingetrichtert hatte, und viele, viele Jahre lang konnte ich mich selbst nicht ausstehen. So, wie ich aufgewachsen war, haßte ich alles und jeden. In all diesen Jahren speichert der Körper die negativen Botschaften, die man eingesogen hat, und der Körper läßt nicht ohne weiteres wieder los. Ich meine, man muß ein Übermensch sein, um dieses Zeug loszuwerden, sich völlig davon zu befreien. Es ist eine so monumentale Aufgabe, daß vielleicht einer unter zwölf Millionen es schaffen kann. Therapie ist eine Möglichkeit, aber oft scheint sie so wenig zu bewirken. Selbst jetzt habe ich noch eine Menge Arbeit zu leisten. Ich bin immer noch nicht bereit, anderen Menschen mit wirklicher Offenheit zu begegnen. Ich bin geheilt, aber ich bin kein Guru. Ich habe Angst. Ich bin unruhig. Letzten Endes weiß ich, daß es sich lohnt, aber es ist ein verdammt hartes Stück Arbeit, sich zu verändern, wirklich.« Joe hatte sein Frühstück beendet und fragte mich: »Stört es Sie, wenn ich rauche?« Ich lachte, weil ich glaubte, das sollte ein Witz über die jungen Leute am Nebentisch sein, die beide nach dem Essen rauchten. Da er aber weiterhin auf meine Antwort wartete, wurde mir klar, daß er es ernst meinte. Ich gab meiner Verwunderung Ausdruck. Joe erklärte: »Mein Krebs war nicht durch äußere Einflüsse bedingt. Rauchen hatte nichts damit zu tun, daß ich Krebs bekam; die Ursachen waren seelischer Art. Wenn äußere Einflüsse 71
zu meiner Krankheit geführt hätten, wäre die Lösung völlig anders gewesen. Es gibt gewisse Dinge, die ich in Angriff nehmen muß. Das Rauchen gehört sicherlich dazu. Andere Leute, von denen ich hörte, haben durch ihre Krankheit mehr Sensibilität für ihren Körper entwickelt, aber bei mir war das nicht der Fall. Ich habe wirklich überhaupt nichts getan. Keine Diät, keine Körperübungen. Ich kaue mein Essen gründlicher, das ist wirklich der einzige Unterschied. Ich esse langsamer und kaue besser. Aber ich halte keine besondere Diät. Wie Sie sehen, könnte ich ein paar Kilo weniger haben, aber ich esse wahnsinnig gern. Meine Mutter ist eine phantastische Köchin. Es ist wundervoll. Ich liebe gutes Essen. Als ich klein war, habe ich meinen Vater einmal besucht; ich muß sieben oder acht gewesen sein. Danach sah ich ihn sehr lange nicht. Später, als ich studierte, war ich in den Semesterferien oft bei ihm. Ich half ihm im Geschäft. Aber das waren keine sehr angenehmen Zeiten. Er hatte viel Sinn für Humor, aber mit seinen Kindern konnte er wirklich nicht umgehen. Mein Bruder hatte es nicht sehr gut bei meinem Vater. Er hatte immer wieder furchtbare Schwierigkeiten mit ihm. Mein Bruder und ich konnten früher nie miteinander reden; jetzt plötzlich, nach meiner Krankheit, sind wir uns sehr nahe gekommen. Wir sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Ich könnte Ihnen erzählen, was er macht, vielleicht sagt Ihnen das etwas: Er war achtzehn Jahre lang beim Militär. Er weiß nicht, wer ich bin und was ich will. Er ist nicht künstlerisch begabt oder sensibel für solche Dinge. Aber er ist ein großzügiger und warmherziger Mensch. In meiner Familie scheine ich der einzige zu sein, der künstlerische Ambitionen und Sinn für Ästhetik hat und der sich Fragen über das Leben stellt. Es war niemand da, kein Onkel oder Cousin, mit dem ich hätte reden können. Oder wenn es sie gab, haben sie sich zweifellos gut versteckt gehalten. In meiner Kindheit fühlte ich mich immer von allen anderen isoliert. Weil mich alles so tief berührte und weil ich geschlagen und seelisch mißhandelt wurde, konnte ich keine innere Stabilität entwickeln und war unfähig, mit anderen in Kontakt zu treten. Ich konnte mein Anderssein nicht annehmen, meine Kreativität, mein Interesse an Musik und Malerei nicht genießen. Ich litt darunter. Ich haßte es, anders zu sein. Mein ganzes Leben lang, bis ich Krebs bekam, habe ich gegen dieses Anderssein angekämpft. In meiner Kindheit, als ich mich durchkämpfen mußte, und sogar noch als Erwachsener war ich in meiner Musik nie diszipliniert. Ich wollte spielen, sabotierte mich aber immer selbst. Ich nahm ein Jahr Klavierunterricht, gab es dann für zwei Jahre auf, übte wieder ein halbes Jahr und hörte wieder ein Jahr auf. Ich war nie konsequent. Seit drei Jahren übe ich jeden Tag. Es macht mir Spaß, also bleibe ich dran. Ich ziehe jetzt wesentlich mehr Befriedigung aus dem Spielen als früher. Ich liebe Musik. Das ist es, was mich trägt. Bevor ich krank wurde, war ich mir nicht darüber im klaren, welche ungeheure Bedeutung Kreativität für mich hat. Aber jetzt weiß ich, daß Kreativität mein Leben ist. Wenn ich das in irgendeiner Weise verleugne, töte ich einen Teil meiner selbst. Meine Bereitschaft, mich darauf einzulassen und sie zu nutzen, spielte für den Heilungsprozeß wahrscheinlich eine wesentliche Rolle. Es hilft mir immer noch. 72
Mit zweiunddreißig, nach vielen, vielen Gelegenheitsjobs und dem Militärdienst, versuchte ich, ernsthaft mit meiner Musik voranzukommen. Ich verließ New York und ging nach Valencia in Kalifornien. Ich wollte an der Disney School elektronische Musik studieren. Um das Studium zu finanzieren, beantragte ich die Auszahlung meiner Sozialversicherungsbeiträge aus der Militärzeit. Ich hatte Anspruch auf mehrere tausend Dollar. Aber aus irgendeinem Grund bekam ich das Geld nie, also blieb ich nur durch das Wohlwollen eines Professors an der Musikhochschule. Andere Studenten beschwerten sich, als sie erfuhren, daß ich gratis studierte. Ich mußte gehen. Nachdem ich die Hochschule verlassen hatte, mußte ich meinen Lebensunterhalt verdienen. Also verkaufte ich Enzyklopädien. Im ersten Jahr ging es ganz gut, im zweiten und dritten Jahr wurde es immer schlechter. Ich meine, von Haustür zu Haustür zu gehen und Enzyklopädien zu verkaufen ist nicht meine Sache. Es ist hart, sich in Kalifornien auf diese Art über Wasser zu halten, und nicht nur dort - es ist überall schwer. Während dieser Zeit rauchte ich eine Menge Marihuana. Als ich damit anfing, konnte ich gar nicht fassen, daß das Leben so ganz anders aussehen konnte. Es war eine unglaublich aufregende Erfahrung - so befreiend! Was machte ich also in den nächsten sieben Jahren? Ich kiffte jeden Tag. Das ist typisch für mich, ich habe eine ausgeprägte Suchtstruktur. Ich staune selbst, daß ich nie versucht habe, mich umzubringen. Aber wenn ich Gras geraucht hatte, war es absolut toll; ich spielte Klavier, konnte alles spielen, was ich wollte, und fühlte mich gut dabei. Es war eine sehr heilsame Erfahrung; ich konnte mich in vielen Bereichen wirklich öffnen. Leider überspannte ich den Bogen, wie mit vielen Dingen dieser Art. Wenn ich es ein paar Monate oder sogar zwei oder drei Jahre betrieben hätte, wäre es gut gewesen, aber ich konnte nicht damit aufhören und trieb es wirklich zu weit. Ich wurde depressiv und konnte nicht mehr losgehen und Bücher verkaufen. Ich war nicht mehr fähig, wieder an eine Tür zu gehen, anzuklopfen, guten Tag zu sagen und auf die Leute einzureden. Ich konnte es einfach nicht mehr. Also verdiente ich kein Geld mehr. Ich verlor mein Auto - gepfändet. Ich verlor mein Klavier, mein Aufnahmegerät, Teile meiner musikalischen Ausrüstung - gepfändet. Es ging rapide bergab. Ich machte keine Musik mehr. Ich war extrem einsam und hatte große Schwierigkeiten, irgendwelche freundschaftlichen Kontakte zu knüpfen. Ich war die ganze Zeit allein. Ich hustete viel und fühlte mich hundeelend. Ich glaubte, ich hätte Tuberkulose; meine Lunge war nicht in Ordnung, und ich hustete Blut. Ich dachte immer öfter an den Tod und konnte mich gar nicht mehr von dieser Vorstellung lösen. Ich hatte Angst. Es war die finsterste Zeit meines Lebens. Nichts klappte. Ich war todunglücklich. Ich entschloß mich, nach New York zurückzugehen. Zu Haus suchte ich einen Arzt auf und ließ einen Monat lang alle möglichen Untersuchungen über mich ergehen. Es waren unglaublich schmerzhafte Prozeduren. Ich war im Krankenhaus. Sie hatten meinen Brustkorb geöffnet, um zu sehen, ob sie irgend etwas finden. Meine Mutter war im Zimmer, als der Arzt hereinkam. Er sagte mir, daß sie einen Teil meiner Lunge entfernt hätten. Er erklärte die Einzelheiten und sagte, daß ich Strahlenbehandlung brauchte. Dann teilte er mir die Prognose mit: Er sagte, 73
ich hätte noch etwa fünf Jahre zu leben. Ich kämpfte mit den Tränen. Ich hatte furchtbare Angst um mein Leben und fragte mich, warum mir das passieren mußte. Wie konnte das geschehen? Es waren viele widersprüchliche Gefühle, die auf mich einstürzten. Ich fing an zu weinen, und ich weiß noch, daß ich mich deswegen sehr schämte. Als der Arzt gegangen war, sagten meine Eltern mir, daß er schon vorher mit ihnen gesprochen hätte. Der Arzt hatte ihnen gesagt, ich hätte nur noch ein halbes Jahr zu leben. Zuerst, als die Ärzte mir sagten, daß ich bald sterben würde, wehrte ich mich nicht dagegen. Ich weinte viel. Ich ging durch die »Warum ich?« und »O Gott, das darf doch nicht wahr sein«-Phase. Ich erholte mich aber ziemlich schnell von der anfänglichen Depression. Obwohl die Krankheit gerade erst begann, erlebte ich einen magischen Sommer. Ich war meistens allein; es war sehr friedlich. Ich meditierte viel. Ich saß einfach da und lauschte. Ich mag das, still dasitzen und auf die Töne und Geräusche der Umgebung horchen. Es war in einem Haus auf dem Land, das meiner Mutter und meinem Stiefvater gehört, - ein sehr schönes Haus. Die Landschaft war wundervoll, üppige grüne Wiesen und Bäume und wunderschöne Blumen. Bald nach meiner Ankunft dort hatte ich ein erstaunliches Meditationserlebnis. Ich meditierte erst seit einigen Monaten. Es war spät abends; meine Eltern waren schon schlafen gegangen, aber ich war noch nicht müde. Ich entschloß mich, noch einmal in die Meditation hineinzugehen, bevor ich mich schlafen legte. Nach zwei oder drei Minuten hatte ich eine unglaubliche körperliche Empfindung: ein intensives Glücksgefühl. Ich hatte das nie zuvor in meinem Leben erfahren, und es dauerte vielleicht eine Sekunde, aber es erschien mir sehr viel länger. Ich war so erfüllt davon, und es war so intensiv -von einer fast sexuellen Intensität -; es war einfach überwältigend. Vielleicht war das der Augenblick, in dem die Heilung geschah. Aber ich bin skeptisch, was >plötzliche Heilungen< angeht, ich meine solche Augenblicke der Einsicht, von denen man glaubt, daß sie einen für immer verändern. Sie tun es nicht wirklich. Aber ich nehme an, daß sie auf lange Sicht akkumulieren. Vielleicht ernte ich die Früchte, wenn ich neunzig bin. In diesem Sommer bekam ich viel Unterstützung von meiner Familie, von meiner Mutter, meinem Stiefvater und meinen Cousins. Meine Familie ist merkwürdig, aber als ich sie brauchte, waren sie da. Durch meine Krankheit kriegte ich eine Menge Streicheleinheiten. Es war das erste Mal, soweit ich mich erinnern kann, daß sie mich unterstützten. Es gab einen Swimmingpool hinter dem Haus; meine Cousins kamen jeden Tag, und wir gingen schwimmen. Etwa um diese Zeit nahm der holistische Arzt, bei dem ich in Behandlung war, ein Tonband für mich auf. Es hatte eine ungeheure Wirkung auf mich. Liebe und Vergebung waren die zentralen Themen, und die Musik ging mir unglaublich nahe, was bei mir natürlich nicht allzu schwer zu erreichen ist. Ich fing an zu weinen, und ich weinte und weinte, - einen ganzen Monat lang. Ich war so dünnhäutig in diesem Monat, ich weinte bei jedem Anlaß. Etwa eine Woche nachdem er mir das Tonband gegeben hatte, war mir nachts sehr kalt, und ich zitterte, zitterte am ganzen Körper vor Kälte und Nervosität. Ich konnte einfach nicht warm werden. 74
Schließlich weckte ich meine Eltern. Mein Stiefvater, zu dem ich nicht immer die beste Beziehung hatte - und er auch nicht zu mir -, kam in Unterhosen in mein Zimmer. Er setzte sich zu mir aufs Bett, sagte kein Wort und legte seinen Arm um mich, und ich fing an zu weinen. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Drei geschlagene Stunden lang weinte ich ununterbrochen. Meine Mutter war natürlich fassungslos. Sie saß auf der anderen Seite des Bettes. Ich glaube nicht, daß sie wirklich verstand, was da vor sich ging, und sie konnte auch nicht damit umgehen, aber Roy konnte es. Was er in dieser Nacht für mich tat, hätte ich nie von ihm erwartet. Er ist sonst ein sehr schroffer Mensch. Er hat viel Gefühl, aber er zeigt es nicht. Er saß einfach da, sagte kein Wort und hielt mich im Arm, und dann wurde mir allmählich warm, und alles war in Ordnung. Es war eine wirklich heilende Erfahrung für mich - für uns beide. Danach waren wir nicht mehr dieselben Menschen wie zuvor. Wir waren uns viel näher, viel stärker bereit, einander etwas zu geben. Es sind diese Erfahrungen, die mich heilen, diese emotionalen Erlebnisse, bei denen ich alles herauslassen kann. Seit ich Kind war, habe ich alles in mir aufgestaut, und ich meine, Krebs ist wirklich die Selbstzerstörung des Körpers. Und das ist es genau, was passiert - es ist selbstzerstörerisch, wenn man den ganzen Mist in sich behält; man muß es herauskommen lassen. Aber wie ich schon sagte, etwa einen Monat lang weinte ich ständig, bei der geringsten Kleinigkeit. Ich wußte nie, daß ich so viele Tränen in mir hatte. So wie in dem Song, wissen Sie ->Cry me a River<. Ich las viel. Ein Freund lieh mir >Seth Speaks< (Gespräch mit Seth). Das Buch gab meinem Denken eine völlig andere Richtung. Ich fing an, mich mit dem Gedanken zu beschäftigen, daß ich in irgendeiner Weise für meine Gesundheit verantwortlich bin. So hatte ich die Dinge nie gesehen. Als ich über mich nachdachte, fing ich an zu begreifen, welche Rolle ich dabei wahrscheinlich gespielt hatte. Ich machte mir Gedanken über die Ursachen der Krebserkrankung. Es gab da gewisse Dinge, die mein Vater und ich gemeinsam hatten, in emotionaler Hinsicht, die weder für ihn noch für mich sehr gut waren. Er starb an derselben Art von Krebs, die ich dann auch bekam. Ich weiß, es hört sich kindisch an, aber vielleicht war der Krebs meine Art zu sagen: >Daddy, schau, ich habe dieselbe Krankheit bekommen wie du. Vielleicht wirst du mich jetzt lieben?< Ein Denken in der Art von >New Age<, wissen Sie? Ich weiß nicht, ob etwas daran ist, aber es ist eine Möglichkeit. Na ja, jedenfalls wurde während dieser Zeit der obere linke Lappen meiner Lunge entfernt, und ich bekam Strahlenbehandlung. Danach schien die Lunge ok zu sein. Nach dieser ersten Serie von Strahlenbehandlungen rieten die Ärzte mir zu Chemotherapie. Ich konnte mir nicht mal den Namen des verdammten Medikaments merken. Methotrexate ist jetzt ein bekanntes Mittel, das überall eingesetzt wird, aber damals war es noch in der Erprobungsphase. Das wenige, was ich darüber wußte, machte mir angst. Ich erfuhr, daß es Leberschäden und Nierenschäden und alles mögliche andere hervorrufen konnte. Als ich dalag und das Zeug in mich hineingepumpt wurde, graute mir davor. Ich sagte zu dem Arzt: >Ich will keine Leber- oder Nierenschäden. Ich kann es einfach nicht mehr mitmachen.< Also stieg ich nach vierundzwanzig Stunden aus und weigerte mich, die Chemotherapie fortzusetzen. Diese Entscheidung mußte ich 75
selbst treffen; es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich selbst die Verantwortung für meine Gesundheit übernahm. Als das alles anfing, war ich in medizinischer Hinsicht sehr naiv. Ich meine, ich kann mich nicht erinnern, daß ich vorher jemals in ärztlicher Behandlung war. Also verstand ich nicht wirklich, wie das medizinische Establishment funktioniert. Nach drei Jahren lernte ich es. Ich kam auf eine sehr einfache Sache. Es hört sich vielleicht komisch an, aber es ist ganz simpel: Ärzte sind Menschen. Wir statten sie in unserer Phantasie mit soviel Macht und magischen Kräften aus. Wir geben uns in ihre Hände und vertrauen darauf, daß sie uns heilen. Und wenn sie es nicht tun, müssen wir selbst entscheiden, wieviel Macht wir ihnen geben wollen. Ich war im VA-Krankenhaus. Es ist eine Ausbildungseinrichtung, und das bedeutet, daß junge Ärzte direkt nach dem Abschluß ihres Studiums dort eingesetzt werden, um Erfahrungen zu sammeln. Sie kommen und gehen alle drei Monate. Es gibt keine Möglichkeit, sich jemanden herauszupicken und zu fragen: >Wie schätzen Sie meine Situation ein?< Man kriegt niemanden richtig zu fassen. Die Beziehungen zu den Ärzten und dem medizinischen Personal hatten emotional keine heilende Wirkung. Es sind einfach zu viele Patienten da. Ich meine, lieber Himmel, die Krankenhäuser sind total überfüllt. So ist es nun mal in unserem Gesundheitssystem. Die Ärzte glauben, daß sie sich selbst schützen müssen: >Man darf sich nicht zu sehr engagieren. Man kann sich nicht völlig verausgaben.< Der Krebs dehnte sich auf mein Gehirn aus, was bei Männern, die Lungenkrebs haben, häufig vorkommt, - vorausgesetzt, sie leben lange genug. Die Ärzte entschlossen sich, wieder mit Strahlentherapie heranzugehen, - eine ziemlich starke Dosis. Dahinter stand die Vorstellung: Man kann ohnehin nicht erwarten, daß er überlebt, und beim letzten Mal hat er es gut verkraftet, also geben wir ihm eine ordentliche Ladung! Als ich dann ein Jahr später den Tumor hinter dem Auge bekam, sagte ich mir: >Das ist einfach absurd. Das kann doch nicht mein Leben sein, einmal im Jahr Krebs zu kriegen. Mir reicht‘s, Schluß mit dem Mist!< Ich dachte an die Ordnung des Universums und sagte mir, daß ein Sinn in den Dingen liegt, daß es Gesetzmäßigkeiten gibt, ein gewisses Maß an Stabilität. Als ich also Krebs hatte und hörte, wie schlimm es um mich stand, ergab es für mich einfach keinen Sinn, daß ich mein Leben lang gelitten haben sollte, um dann einfach zu sterben. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Also sagte ich mir: >Das ist völlig absurd, das mache ich nicht mit! Ich werde jetzt gesund!< Ich dachte ernsthaft daran, nach Mexico zu gehen, um an Laetril heranzukommen. Ein Freund hatte mir Tonbänder mit Entspannungs- und Visualisierungsübungen von den Simontons gegeben. Ich mußte mich entscheiden. Aus irgendeinem Grund wählte ich die Simontons. Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Ich nahm den Amtrak nach Fort Worth. Die Bahnfahrt war einfach toll. Ich lernte ein paar Typen kennen, und wir freundeten uns schnell an. Sie waren auf dem Weg nach Las Vegas, sie wollten ein bißchen spielen. Es war phantastisch. Wir redeten die ganze 76
Zeit und spielten Karten. Es war ein Riesenspaß. Jetzt ist mir klar, daß wir alle Glücksspieler waren, - nur für mich ging es um ganz andere Einsätze. Die Simontons waren wundervoll zu mir. Es war eine sehr liebevolle Umgebung; sie gaben mir ein enormes Maß an Unterstützung und Bestätigung. Zu Menschen in Beziehung zu treten war eins meiner größten Probleme - und ist es vermutlich immer noch. Die Welt und die Menschen machten mir buchstäblich Todesangst. Also blieb ich immer allein. Ich war einsam. Ich leistete ein schweres Stück Arbeit dort in Texas. Gruppentherapie war eine der Grundlagen des Behandlungsprogramms. Ich konnte sagen, was ich wollte und worum es mir ging, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Zuerst verunsicherte mich das sehr, aber schließlich tat ich es doch. Ich hatte immer geglaubt, ich wäre einfach ein Sonderling, aber dann stellte ich fest, daß es auch noch andere Leute gab, die sich genauso fühlten wie ich. Ich hielt mich auch nicht mehr für total bescheuert oder einfach ein Arschloch. Jetzt kann ich mich sehr viel besser annehmen als früher und fühle mich stärker. Einer meiner Mitpatienten, ein Mann von Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig, erzählte von seinen leidvollen und schwierigen Erfahrungen mit seiner Mutter. Ich hatte das Gefühl, daß er es nicht schaffen würde. Er konnte sich aus seinem Haß und seiner Wut auf sie einfach nicht lösen. Für mich war es lehrreich, weil ich meiner Mutter gegenüber so viele negative Gefühle hatte. Es half mir, meinen Frieden mit ihr zu machen. Sie ist ihren Weg gegangen, ich bin meinen Weg gegangen. Sie versteht mich nicht, ich verstehe sie nicht, aber das ist ok. Ich sah, daß sie ihre eigenen Probleme hatte; die Art, wie sie mich behandelte, hatte mit mir als Person nichts zu tun. Es war nicht ihre Absicht, mich zu verletzen. Sie konnte es einfach nicht besser machen. Bei den Simontons lernte ich die Technik der aktiven Imagination. Das Bild, das ich benutzte, waren schwarze und weiße Punkte - nicht sehr phantasievoll, nicht sehr farbenfreudig, aber damit arbeitete ich. Ich visualisierte mein Auge, denn das war die Stelle, wo der Tumor saß. Ich konnte eine Menge schwarzer Punkte sehen, das waren die Krebszellen, und sie waren von weißen Punkten umgeben, den Immunzellen, und ich sah, wie sie die Krebszellen überwältigten, töteten und durch den Blutkreislauf aus dem Körper herausspülten. Es ist ein sehr natürlicher Prozeß, sehr einfach. Mir wurde auch durch die anderen Krebspatienten etwas Interessantes klar. Es gibt offenbar einen gemeinsamen Nenner bei Krebskranken: Sie tun nicht das, was sie um ihrer selbst willen eigentlich tun müßten. Sie tun Dinge für Geld oder für andere Leute, aber sie machen nicht das, was sie wirklich wollen. Ich glaube, daß Leute gesund werden, weil sie schließlich anfangen, das zu tun, was für sie selbst richtig ist - und nicht was sie nach der Meinung anderer Leute tun sollten oder was Mami oder Papi von ihnen wollten. Aber wenn man sich selbst nicht so toll findet und das Leben nicht so toll findet, dann schiebt man dieses Eigentliche, was man wirklich tun will, immer wieder vor sich her. Für die Art von Arbeit, die ich früher machte, konnte ich nie Energie aufbringen; ich langweilte mich zu Tode. Ich hatte nicht dieselbe Arbeitsethik wie mein Stiefvater, und er haßte mich dafür. Leider hat er nicht mehr erfahren, daß ich den ganzen Tag mit 77
ungeheurer Intensität arbeiten kann, wenn es um meine Musik und meine anderen künstlerischen Aktivitäten geht. Ich liebe diese Arbeit, und deshalb bin ich mit Leib und Seele dabei. Sie erfüllt mich mit Stolz und Befriedigung. Nach der Stechuhr zu arbeiten oder Enzyklopädien zu verkaufen ist der Tod für mich. Andere können es und machen sich nichts daraus, aber für mich ist es tödlich. Das Simonton-Programm war ein großartiges Experiment für mich. Es war wirklich der Wendepunkt. Aber wenn ich darauf zurückblicke, denke ich, daß es bei der Heilung vor allem auf den Glauben ankommt. Ob man ein Jahr lang Makrobiotik betreibt oder Körner ißt, oder zu den Simontons geht, — es läuft im wesentlichen immer auf das gleiche hinaus: Alles, was erforderlich ist, ist der Glaube, daß es funktioniert, und dann wird es auch funktionieren. Du kannst zu den Simontons gehen, und wenn du nicht daran glaubst, nützt es überhaupt nichts. Wenn du dann zurückkommst und dich mit voller Überzeugung der Makrobiotik zuwendest, bis du vielleicht plötzlich geheilt. Ich danke Gott für den Krebs. Wenn ich die Krankheit nicht bekommen hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Ich war so völlig verschlossen - es war eine enorm wichtige Lektion, die ich lernen mußte. In mancher Hinsicht finde ich sogar, ich hatte großes Glück, daß es mir passierte. Ich glaube, ich bin dadurch aufgewacht. Die Krankheit hat mir gezeigt, wie verletzlich ich als Mensch bin, wie verletzlich wir alle sind. Das Gefühl der Verletzlichkeit ist ein motivierender Faktor, denn es gibt bestimmte Dinge, die ich erreichen möchte, und wenn ich morgen sterben muß, komme ich nicht mehr dazu. Als ich jünger war, glaubte ich immer, ich hätte unendlich viel Zeit zur Verfügung. Vielleicht habe ich noch viel Zeit - vielleicht auch nicht. Niemand kann das für sich voraussagen. Ich denke, es ist gut für mich, so zu handeln, als ob meine Zeit begrenzt ist. Wir haben immer nur den nächsten Augenblick. Was haben wir sonst wirklich?« Im Lauf der nächsten fünf Jahre hörte ich mir die Bandaufnahme dieses ersten Interviews mit Joe sehr oft an und hatte das Gefühl, ihn immer besser kennenzulernen. Tatsächlich hatten wir in diesen Jahren keinerlei persönlichen Kontakt. Als ich Joe anrief und ihn um ein zweites Interview bat, hoffte ich, wir könnten unser Gespräch telefonisch führen, denn wir waren zu diesem Zeitpunkt nahezu fünfhundert Kilometer voneinander entfernt, und ich glaubte damals, das Wesentliche seiner Geschichte verstanden zu haben. Joe ließ mich wissen, daß er sehr gern bereit sei, mit mir zu reden, aber persönlich. Am Telefon wollte er über diese Dinge nicht sprechen. Er lud mich in seine Wohnung ein. Joe lebte in einem Arbeiter- und Studentenviertel. Er bewohnte das oberste Stockwerk eines alten dreistöckigen Mietshauses. Er hatte mir gesagt, ich solle von der Straße aus hochrufen, da die Türklingel nicht funktionierte. Aber als ich ankam, erwartete er mich an der Haustür. Die Wohnung war bescheiden und zu sparsam eingerichtet, um unordentlich zu wirken. Als ich ihm durch sein Schlafzimmer in seinen Arbeitsraum folgte, blieb mir der Mund offenstehen; der Anblick eines Elefanten hätte mich nicht mehr überraschen können. Das Haus war baufällig, die Treppe zum dritten Stock war eng und zugig, und das Zimmer war winzig. Aber mitten darin stand ein Konzertflügel. Joe lachte, als er meine Reaktion sah. Er erzählte, daß er einen Kran gemietet und ein Fenster samt den Rahmen 78
herausgenommen hatte, um seinen alten Freund heraufzuholen. Ehe ich das Tonband anstellte, hatte Joe mir noch etwas zu sagen. Er hatte vor einigen Jahren das Rauchen aufgegeben. Halsschmerzen und eine schwere Bronchitis hatten ihn drei Wochen lang am Rauchen gehindert, und nach dieser Entwöhnungsphase hatte er nicht wieder angefangen. »Ich danke Gott für diese Bronchitis«, sagte er, als er seine Geschichte beendete. Das Dominierende in Joes Wohnung waren seine Musikinstrumente und seine Gemälde. Wir gingen in die Küche und setzten uns an einen Tisch, auf dem sich Kohlezeichnungen stapelten. Wir kamen leicht ins Gespräch, denn wir hatten bereits ein kleines Stück gemeinsamer Geschichte. Ich kämpfte ein bißchen mit mir, aber dann ließ ich mein Interviewprogramm beiseite und konzentrierte mich auf Joes Musik und Malerei. In dem Augenblick, als ich seine Wohnung kennenlernte, verstand ich in einer Weise, die mir vorher nicht möglich war, welche ungeheure Bedeutung Kunst und Ästhetik in seinem Leben hatten. Wenn ich wirklich wissen wollte, wer Joe war und wie er sich seine Heilung erklärte, hörte ich mir am besten an, was er über Kreativität zu sagen hatte. Joe begann mit der Schilderung seines Alltags: »Ich liebe es wirklich, morgens aufzustehen, mich an den Flügel zu setzen und zu üben. Es ist wundervoll. Nachmittags gebe ich Unterricht und übe auch noch, wenn mir genug Zeit bleibt. Seit wir uns zum letztenmal gesehen haben, übe ich jeden Tag, außer in den Ferien. Und in den Ferien spiele ich auch, wenn ich kann. Seit acht Jahren praktiziere ich das jetzt. Und ich denke, ich werde es bis an mein Lebensende tun. Durch meine Heilung bekam ich Zugang zu meinen Gefühlen, und das drückt sich auch in meiner Musik aus. Oder vielleicht wurde ich auch geheilt, weil ich mich meinen Gefühlen öffnete. Wie habe ich es Ihnen beim letzten Mal erzählt?« Joe lacht: »Ich habe sehr intensive Gefühle, und sie finden ihren Ausdruck in meiner Musik und in meiner Malerei. Und das steigert sich immer mehr. Ich habe einen neuen Klavierlehrer. Mein erster Lehrer war ein Techniker. Er brachte mir bei, wie man es macht, was man tun und was man lassen muß; diese Grundlagen brauchte ich. Im sechsten Jahr fing ich an, bei diesem anderen Mann zu studieren, der von seinen eigenen Gefühlen ausgeht, wenn er lehrt. Ich bin jetzt viel mehr bereit, meine Gefühle über das Instrument auszudrücken, als ich es vorher war. Es fällt mir nicht leicht, aber es entwickelt sich allmählich. Man hat mich talentiert genannt, aber talentiert sind wir alle. Es kommt darauf an, die eigene Form zu finden. Wenn ich wirklich meine ganz ureigenen Dinge ausdrücke, ist es mir im nachhinein immer peinlich. Sehr sogar. Ich habe das Gefühl, mich vor anderen entblößt zu haben. Ich halte dann meine Umgebung nicht mehr aus. Ich muß den Raum verlassen. Wenn ich mein Ego hineinlege, macht es mir nichts aus, dazubleiben und den Applaus entgegenzunehmen und all diesen Kram. Und wenn ich mit irgendeiner Art von Emotion gespielt habe, wenn ich mein Bestes getan habe, Gefühl hineinzulegen, ist es mir peinlich. Aber gleichzeitig ist das der Augenblick, in dem Musik wirklich schön wird. Nichts macht mir soviel Angst, aber andererseits kenne ich auch nichts, was mir mehr 79
Befriedigung gibt. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt als zu spielen - nichts. Nur darum geht es. In solchen Augenblicken sehe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben vor mir selbst enthüllt, wie ich wirklich bin. Dabei fällt mir ein Konzert von Keith Jarrett in der Symphony Hall ein, das ich miterlebte. Er spielte zum Schluß als Zugabe ein Stück, das mich zu Tränen rührte. Ich hatte nie etwas so Schönes, so Sensibles, so Lebendiges gehört. Es war ein absolut unglaubliches Erlebnis. Ob er in dem Augenblick so empfunden hat, weiß ich nicht, und es ist auch nicht wirklich wichtig. Aber ich nehme an, daß es so war. Man kann diese Art von Intensität nicht empfinden, wenn der Spielende sie nicht aussendet. Das ist die höchste und unmittelbarste Form der Kommunikation, die überhaupt denkbar ist. Sie ist sehr schwer zu erreichen, und nicht jedes Stück war so. Ich glaube, das ist auch gar nicht möglich. Es gibt nichts Schöneres als so zu arbeiten, so zu kommunizieren. Das ist es, worum es beim Menschsein geht. Seit meiner Krankheit bin ich meinem natürlichen menschlichen Selbst sehr viel näher gekommen. Das Selbst ist voller Kreativität, voller Intelligenz, voller Gefühl und Geistigkeit. Wir alle tragen diese natürliche Weisheit in uns, aber im Lauf der Zeit wird sie durch soviel Mist überdeckt, daß wir den Zugang zu ihr verlieren. Wenn wir dieses innere Selbst wiederentdecken, können wir plötzlich Dinge tun, die uns vorher unmöglich waren. Es geschieht auf ganz natürliche Weise. Je mehr du dich selbst liebst, desto mehr kommst du mit dem in Berührung, was du im Grunde deines Wesens bist. Es wäre eine Schande gewesen, wenn ich an Krebs gestorben wäre, denn ich habe seit meiner Krankheit soviel dazugelernt. Ich hätte die Chance verpaßt, zumindest ein Stück weit zu entdecken, wer ich wirklich bin. Was mich angeht, wäre ich froh, wenn ich nie sterben müßte. Aber ich fühle mich besser mit dem Wissen, daß ich etwas getan habe, um dem Leben einen Sinn zu entnehmen. Ich gehe langsam voran und vorsichtig, aber ich bin auf dem Weg.«
Beobachtungen Joe betrachtet Krebs als die Selbstzerstörung des Körpers. Für ihn war es klar, was er tun mußte, um zu überleben: Er mußte »den ganzen Mist« loswerden. Er brauchte ein Ventil für die negativen Gefühle, die ihn vergifteten, und er brauchte ein anderes, besseres Selbstgefühl. Die Brisanz der Situation befreite ihn und zwang ihn, die Metamorphose zu beginnen, die seinem Empfinden nach die Voraussetzung für sein Weiterleben war. Musik war Joes wichtigstes Ausdrucksmittel, um seine innersten Gefühle mitzuteilen und nach außen zu bringen, was er in sich aufgestaut hatte. Auf dem Weg des kreativen Ausdrucks konnte er die negativen Gefühle ausstoßen, die an ihm fraßen, und darüber hinaus Verbindung mit seiner Umwelt aufnehmen. In der Vergangenheit hatte er immer den Wunsch gehabt, Musik zu machen, hatte aber jeden dauerhaften Erfolg in irgendeiner Weise selbst sabotiert. Daß er dieser vitalen Kraft nun freien Lauf ließ, 80
bedeutete auch, daß er mit sich selbst nicht mehr im Krieg lag. Die Energien, die er vorher in seinem permanenten Kampf gegen sich selbst verausgabt hatte, konnten nun in den Heilungsprozeß einfließen. Joe gab sich auch große Mühe, offener mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Seine Schilderung des bitteren Moments, in dem er die Diagnose erhielt, zeigt deutlich, wie sehr er zu diesem Zeitpunkt von seinen Gefühlen abgeschnitten war. Trotz des vernichtenden Schocks, den diese Nachricht darstellte, versuchte er, sich zusammenzunehmen, und schämte sich seiner Tränen. Joe ist mit dem Niveau seiner Beziehungsfähigkeit immer noch nicht zufrieden, aber die Art, wie er zu anderen in Kontakt tritt, hat sich entscheidend gewandelt. Tatsächlich zeigt schon seine Bereitschaft, zu enthüllen, wie verschlossen er früher war, seinen starken Wunsch, sich zu öffnen und mehr von sich zu zeigen. Am meisten hat Joe sich in seinem Selbstgefühl verändert. Um seine eigene Metapher zu gebrauchen: Seit ihm klar wurde, daß er »nicht total bescheuert oder einfach ein Arschloch« ist, konnte er den »Mist«, den er mit sich herumtrug, loswerden. Er weiß, daß er noch an sich arbeiten muß, was sein Selbstwertgefühl angeht, aber er ist auf dem Weg. Er versucht, seine unterschwelligen destruktiven Gefühle der Unzulänglichkeit durch die intellektuelle Erkenntnis zu überwinden, daß er ein wertvolles menschliches Wesen ist. Durch die Meditation übt er, sich selbst anzunehmen, ohne Urteile und ohne Verhaftung an die Bilder der Vergangenheit. Vor seiner Krebserkrankung hatte Joe wenig Grund, das Leben zu lieben. Er war depressiv, hatte keine befriedigenden Beziehungen, keine sinnerfüllte Arbeit, keine Zielvorstellungen. Es schien, als könnte es nicht mehr schlimmer kommen, - bis er erfuhr, daß er Krebs hatte und daß die Ärzte mit seinem baldigen Tod rechneten. Angesichts dieser Bedrohung wurden alle anderen Ängste gegenstandslos. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Dieses Leben ohne Angst vermittelte ihm ein eigenartiges neues Gefühl der Freiheit. Die meisten von uns stellen sich vor, daß sie in der Zeit nach einer solchen Diagnose nur in Angst und Schrecken leben könnten, aber Joe erlebte einen Sommer, der von Frieden und stillem Zauber erfüllt war. Eine außergewöhnliche Heilung - oder vielleicht jede Heilung — ist ein kreativer Akt. Das Kranke transformiert sich zum Gesunden, ein neuer Daseinszustand wird geschaffen. Nach den Worten Pablo Picassos ist »jeder Schöpfungsakt zuallererst ein Akt der Zerstörung«. Bevor Joe sein neues Selbst erschaffen konnte, mußte sein altes Selbst zerstört oder zumindest für nicht lebensfähig erklärt werden. Er dankte Gott für die Krebserkrankung, weil ihm dadurch klar wurde, daß sein Leben verödet war und daß er auch physisch nur überleben konnte, wenn er sich wandelte. Bisher entzieht sich die heilende Kraft der Kreativität wissenschaftlicher Meßbarkeit, aber sie wird durch Erfahrungsberichte und Geschichten über Künstler eindrucksvoll bestätigt. Norman Cousins berichtet von einem Besuch bei dem greisen Pablo Casals, der an einer schweren Arthritis litt, die seine Finger anschwellen ließ und seine Hände verkrümmte. Cousins schreibt: »Er streckte seine Arme nach vorn und spreizte seine Finger. Seine Wirbelsäule straffte sich, er stand auf und ging zu seinem Cello. Dann begann er zu spielen. Seine Finger, Hände und Arme bewegten sich in vollkommener Koordination; sie gehorchten den 81
Forderungen seines Geistes nach der kontrollierten Schönheit von Bewegung und Klang. Jeder dreißig Jahre jüngere Cellist wäre auf eine so außergewöhnliche technische Beherrschung seines Instruments stolz gewesen. Zweimal an einem Tag hatte ich dieses Wunder gesehen. Ein Mann von fast neunzig Jahren, mit der Gebrechlichkeit des hohen Alters behaftet, war in der Lage, zeitweilig zumindest, seine physischen Gebrechen abzuwerfen, weil er wußte, daß er etwas zu tun hatte, das vorrangige Bedeutung besaß. Für ihn war nichts Mysteriöses daran, weil es jeden Tag geschah. Pablo Casals mobilisierte sein körpereigenes Cortison durch seine Kreativität. Es ist zu bezweifeln, ob irgendwelche entzündungshemmenden Medikamente, die er hätte nehmen können, so stark gewirkt hätten oder so unschädlich und sicher gewesen wären wie die Substanzen, die er selbst durch die Interaktion seines Geistes mit seinem Körper produzierte ... Er war ganz in seine eigene Kreativität vertieft, gefangen von seinem Wunsch, ein bestimmtes künstlerisches Ziel zu erreichen, und die Wirkung war authentisch und unübersehbar.« Das Ziel der Musik, der Kunst, der Heilkunst und des Lebens überhaupt ist es, zu einer Wahrheit zu finden, die den eigenen Wesenskern zum Mitschwingen bringt. Im kreativen Prozeß erfahren wir, daß wir von dieser Wahrheit erfüllt und umgeben sind. Joe lernte aus seinen künstlerischen Erfahrungen mit der Jazz-Improvisation, daß es keine einzig richtige Art, eine Melodie zu spielen, keine von allen gleich wahrgenommene Realität, keine alleingültige Heilmethode für Krankheiten gibt. Roger von Oech erzählt in seinem Buch A Whack on the Side of the Head (»Ein Schlag an den Kopf«) eine SufiGeschichte, die diese Erkenntnis illustriert: Zwei Männer hatten einen Streit. Um die Sache beizulegen, gingen sie zu einem SufiRichter, um seinen Schiedsspruch zu hören. Der Kläger trug seine Beschwerde vor. Er war sehr eloguent und überzeugend in seiner Beweisführung. Als er geendet hatte, nickte der Richter zustimmend und sagte: >Ganz recht, ganz recht.< Als der Beklagte das hörte, sprang er auf und rief: >Einen Augenblick, Herr Richter, Sie haben meine Seite noch gar nicht gehört!< Also forderte der Richter den Gegner auf, seine Argumente vorzubringen. Auch er war sehr überzeugend und eloguent. Als er geendet hatte, sagte der Richter: >Ganz recht, ganz recht.< Als der Gerichtsdiener das vernahm, sprang er auf und rief: >Aber Herr Richter, Sie können doch nicht beide recht haben!< Der Richter sah den Gerichtsdiener an und sagte: >Ganz recht, ganz recht.« Joe legte sich nicht einseitig auf die Schulmedizin oder auf »holistische« Ansätze fest, was seine Behandlung betraf. Er ging nach innen, nahm eine persönliche Einschätzung vor und kam dann zu einer Entscheidung, welche Form der Behandlung notwendig war. Chemotherapie erschien ihm nicht richtig, aber die Bestrahlung nahm er in Kauf. Auf gesunde Ernährung oder Naturkost legte er keinen besonderen Wert, aber Visualisierung und Meditation bedeuteten ihm sehr viel. Er sagte mit großer Bestimmtheit, daß seine Krebserkrankung nicht durch äußere Einflüsse bedingt war, sondern ihre Wurzeln in seelischen Vorgängen hatte. Angesichts der Tatsache, daß es keine konkreten Anhaltspunkte für die Richtigkeit seiner Behauptung gab, waren die Entschlossenheit und die Tatkraft, mit der er dieser Überzeugung gemäß handelte, überaus bemerkenswert. Seine Stärke springt noch mehr ins Auge, 82
wenn man sie mit dem Gefühl der Machtlosigkeit vergleicht, das ihn vor seiner Krankheit erfüllte. Dazu nur ein Beispiel: Vor seiner Krebserkrankung ging seine depressive Resignation so weit, daß er nicht fähig war, die Pfändung seiner Musikinstrumente, des Symbols und Werkzeugs seiner Kreativität, zu verhindern. Aber als er von einer tödlichen Krankheit bedroht war, — zu einem Zeitpunkt also, zu dem selbst sehr optimistische Menschen ihre Fähigkeit, ihr Leben umzukrempeln, in Zweifel ziehen -, erklärte Joe mit absoluter Autorität, daß er genesen werde. Ob man die Ursachen einer so komplexen Krankheit wie Krebs je mit hundertprozentiger Sicherheit feststellen kann, bleibt eine offene Frage. Aber wie Joe selbst andeutete, war die »Richtigkeit« seiner Einsichten vielleicht weniger bedeutsam als die Kraft seines Glaubens an sich selbst. Vielleicht schufen seine Überzeugungen ihre eigene Realität; - eine Realität, in der seine Heilung geschehen konnte. Eine abschließende Anmerkung zu Joes starken Intuitionen und zu seinem Entschluß, die Chemotherapie abzusetzen: Es wäre ein Fehler, aus seiner Erfahrung allgemeine Schlüsse zu ziehen. Joe kam für sich zu der Erkenntnis, daß er aufhören mußte, aber er würde anderen nicht grundsätzlich raten, dasselbe zu tun. Tatsächlich wurde ihm später klar, daß insbesondere die harten Strahlendosen zu seinem Besten waren. Gregory A. Curtis, der Leiter der Abteilung für Krebsbehandlung im National Cancer Institute, nennt einige zwingende Gründe, bei den medizinisch empfohlenen Behandlungsmethoden zu bleiben: »In den fünfziger Jahren wurden etwa dreißig Prozent aller Krebserkrankungen durch chirurgische Eingriffe und Strahlentherapie geheilt. Im Lauf der letzten dreißig Jahre führten Verbesserungen in der Strahlenbehandlung und die wichtige Erkenntnis, daß Medikamente (Chemotherapie) bei Krebserkrankungen in fortgeschrittenem Stadium erfolgreich eingesetzt werden können, zu einer Steigerung der Heilungsraten auf fünfzig Prozent.« Curtis‘ Aussagen stehen nur scheinbar im Widerspruch zu der Tatsache, daß im Kampf mit dem Krebs keine wirklichen Fortschritte erzielt worden sind. 1983 wurden in den USA 855000 neue Krebsfälle registriert, und 440000 Menschen starben an Krebserkrankungen. Danach war eine ständige Zunahme der Krebserkrankungen zu verzeichnen; 1988 waren es 985000 Neuerkrankungen und 494000 Todesfälle. Die Fortschritte in den Behandlungsmethoden konnten mit der wachsenden Zahl der Krebserkrankungen nicht Schritt halten. Vor rund zweitausend Jahren postulierte der griechische Arzt Galen, daß depressive oder melancholische Frauen häufiger als andere an Brustkrebs erkranken. Seither trugen Wissenschaftler und praktische Ärzte immer wieder die Auffassung vor, daß zwischen Krebs und Persönlichkeitstypen eine Verbindung existiert. Obwohl die Charakteristika dieser Persönlichkeitstypen ziemlich übereinstimmend beschrieben werden, herrscht in der medizinischen Welt kein allgemeiner Konsensus in der Frage, ob bestimmte Emotionen bei Menschen zu einer Prädisposition für Krebs führen oder die Heilung beeinflussen. Die Hypothese, daß zwischen Persönlichkeitstypus und der Entwicklung von Krebs oder anderen Krankheiten möglicherweise Verbindungen existieren, führt in einen Bereich, in dem man sich mit großer Vorsicht bewegen muß. Das Potential für Mißbrauch ist groß. Wenn diese Konzeption dazu führt, daß man Kranken die Schuld an ihrem Zustand zuweist (oder daß Kranke selbst sich schuldig fühlen), stellt das zweifellos eine überaus destruktive Verzerrung dar. Die Tatsache, daß eine Krebserkrankung bei 83
manchen Menschen mit psychischen Faktoren in Zusammenhang steht, muß nicht notwendigerweise für jeden individuellen Krebspatienten Implikationen haben. Während meiner eigenen Arbeit mit Krebspatientinnen und -patienten habe ich viele Menschen kennengelernt, die keinerlei Merkmale der »typischen Krebspersönlichkeit« zeigten. Trotz dieser Einwände wäre es kurzsichtig, auf eine Diskussion dieser persönlichen Variablen zu verzichten, da die allgemeinen Erkenntnisse, die diesem Konzept zugrunde liegen, sowohl den Kranken als auch den Gesunden wertvolle Einsichten vermitteln können. Auf der Basis seiner langjährigen Arbeit mit Krebspatienten entwickelte Lawrence LeShan ein allgemeines Profil der Krebspersönlichkeit. An einer seiner Studien, die er gemeinsam mit einem Kollegen erstellte, nahmen zweihundertfünfzig Krebspatientinnen und -patienten als Versuchspersonen teil. Die Wissenschaftler stellten fest, daß die folgenden Muster bei zweiundsechzig Prozent der Krebspatienten auftraten, im Vergleich zu nur zehn Prozent bei den Versuchspersonen der Kontrollgruppe. Joes individuelle Daten stimmen mit den Postulaten der Studie nahezu vollständig überein: »Im Alter von etwa sieben Jahren ereignet sich ein schweres Trauma, das die Zerstörung des Urvertrauens zur Folge hat. Selbsthaß entwickelt sich.« Joes Eltern trennen sich. Im Lauf dieser Entwicklung wird Joe auch von seinem Bruder getrennt. Seine Mutter gibt ihn in ein sehr restriktives konfessionelles Internat, wo er mißhandelt wird. Joe nimmt an, er sei schlecht und verdiene diese Behandlung. »Die Beziehung zur Mutter und/oder zum Vater ist distanziert und feindselig. Das Kind lernt, daß intime persönliche Beziehungen nicht möglich sind.« Joe sieht seine Mutter selten und seinen Vater praktisch gar nicht. Er hat niemanden, mit dem er wirklich in Beziehung treten kann. »Als junge/r Erwachsene/r etabliert die Person eine Objektbeziehung, die einzigartige Bedeutung annimmt (zu einem Beruf, einer Person, einem Projekt), und wird von dieser Beziehung emotional stark abhängig.« Die Musik wird zu Joes Lebensmittelpunkt. »Verlust dieser Beziehung, begleitet von extremen Depressionszuständen.« Joe gibt das Musizieren auf; seine Instrumente werden gepfändet. Er sieht keinen Ausweg mehr. Darüber hinaus sind viele Krebsexperten der Meinung, daß Krebspatienten permanent ihre Emotionen unterdrücken, insbesondere ihre Aggressions- und Wutgefühle. In einer Studie, die fünfhundert Krebspatienten umfaßte, kam LeShan zu dem Schluß, daß alle von ihm Befragten ein gemeinsames Merkmal aufwiesen: inadäquate Möglichkeiten, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Da der Medizin mindestens hundert verschiedene Arten von Krebs bekannt sind, stellt sich die Frage: Stimmen die Persönlichkeitsmerkmale einer Person, welche an Lungenkrebs erkrankt, mit dem Persönlichkeitsprofil von Patienten überein, die an 84
anderen Krebsarten leiden? David Kissen richtete seine Forschung ausschließlich auf das psychologische Profil von Lungenkrebspatienten aus. Er stellte fest, daß auch sie in emotionaler Hinsicht verschlossen waren und große Schwierigkeiten hatten, ihre Gefühle auszudrücken. Ob die genannten Persönlichkeitsmerkmale Menschen für Krebserkrankungen prädisponieren oder ob sie den Heilungsprozeß beeinflussen, ist nicht bekannt. Wenn wir Joes Heilungsprozeß zu verstehen versuchen, liegt jedoch auf der Hand, daß die Haltungen und Eigenschaften, die er im Lauf seines Kampfes gegen die Krankheit veränderte, auch diejenigen sind, die gewöhnlich der Krebspersönlichkeit zugeschrieben werden. Das Wichtigste ist jedoch, daß Joe einen Weg fand, seine Gefühle und seine Persönlichkeit auszudrücken. Der intime Ausdruck von Gefühlen findet gewöhnlich zwischen zwei Menschen statt, aber Joe schien in seiner Beziehung zur Musik die Erfüllung seiner Bedürfnisse zu finden. Wenn es um Intimität in einer Beziehung geht, lauten die entscheidenden Fragen: Wagen wir es, einander unsere Verletzlichkeit zu zeigen? Gibt die Beziehung uns die Möglichkeit, unser wirkliches Selbst auszudrücken? Joe kommt durch seine Musik in der Tat mit seinem innersten Selbst in Berührung und entdeckt darüber hinaus Facetten seiner Persönlichkeit, die ihm vorher unbekannt waren: »Ich sehe mich zum erstenmal in meinem Leben vor mir selbst enthüllt, wie ich wirklich bin.« Auch wenn Joe keine enge, intime Beziehung mit einem anderen Menschen lebt, gibt seine Musik ihm die Möglichkeit, zu seiner eigenen inneren Wahrheit zu finden. Und das ist es, wie Joe uns sagt, worum es beim Menschsein wirklich geht. Joe suchte Hilfe und erhielt auch wichtige Unterstützung auf seinem Weg. Zu dem Zeitpunkt, an dem er mit dem größten Engagement um seine Genesung kämpfte, sich aber auch im schwersten Stadium seiner Krankheit befand, suchte er das Simonton-Center auf, das seinen Sitz heute in Pacific Palisades in Kalifornien hat. Damals war es eines der wenigen anerkannten holistisch orientierten Behandlungszentren für Krebserkrankungen. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt (wie auch das Buch der Simontons »Wieder gesund werden« deutlich herausstellt) in der Hilfe zur Selbsthilfe: Den Patienten soll ermöglicht werden, ihr Selbstbild zu verändern und Zuversicht zu entwickeln, daß es Heilungschancen gibt. Der offene Ausdruck der eigenen Gefühle wird als wesentliche Voraussetzung betrachtet. Der Behandlungsansatz der Simontons schließt Beratung, Meditation, aktive Imagination, Diät und Körpertraining ein. Sie empfehlen ihren Patienten auch, sich Zeit für spielerische Aktivitäten zu nehmen. Die Simontons führten mit hundertneunundfünfzig Krebspatientinnen und -patienten im Endstadium, die in ihrer Klinik behandelt wurden, eine Studie durch. Zu dem Zeitpunkt, als sie ihre Resultate veröffentlichten, waren dreiundsechzig dieser Patienten am Leben, mit einer durchschnittlichen Überlebensdauer von 24,4 Monaten. Die sechsundneunzig Patienten, die gestorben waren, hatten im Durchschnitt 20,3 Monate lang überlebt. Wenn dieselben Patienten nur mit konventionellen medizinischen Mitteln behandelt worden wären, hätte man ihre Überlebensdauer auf zwölf Monate geschätzt. Das vermutlich erstaunlichste Resultat war jedoch, daß von den Patienten, die noch am Leben waren, einundfünfzig Prozent dasselbe Niveau von Aktivitäten wieder aufgenommen hatten, das vor der Diagnose »Krebs im Endstadium« typisch für sie war. Da das Behandlungsprogramm sich auf Theorien über die heilende Macht des menschlichen 85
Geistes beruft, überrascht es nicht, daß der Simontonsche Ansatz mit beißender Kritik bedacht wurde. Einige Kritiker sprachen den Forschungsergebnissen der Simontons die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit ab, mit dem Argument, ihre Patienten seien stärker motiviert und vermutlich in besserer physischer Verfassung als der durchschnittliche Patient mit der Diagnose »Krebs im Endstadium«. Da ihre Patienten aus allen Landesteilen der USA, ja aus allen Erdteilen kämen, seien sie offensichtlich gesund genug, sich anstrengenden Reisen zu unterziehen. Vermutlich wollen die Kritiker den Begründern der Einrichtung unehrenhafte Motive unterstellen, wenn sie herausstreichen, daß die Behandlung exorbitant teuer sei. Mit 3 250 Dollar für den fünfeinhalbtägigen Aufenthalt von zwei Personen (die Patientin oder der Patient muß von einer helfenden Person begleitet werden) ist das Programm tatsächlich sehr teuer, aber das trifft auf die meisten Behandlungsformen zu. Das der Harvard-Universität angeschlossene McLean-Krankenhaus berechnet zum Beispiel 18 000 Dollar für ein fünfwöchiges Behandlungsprogramm bei stationären psychiatrischen Patienten - ein Tagessatz, der dem des Simonton-Zentrums vergleichbar ist. Und die Behandlungskosten beider Einrichtungen belaufen sich nur auf etwa die Hälfte des Tagespflegesatzes bei stationärer Behandlung in den meisten großen Krankenhäusern in den USA. Bei den Simontons fand Joe eine liebevolle Umgebung und Unterstützung bei der Verwirklichung seiner tiefsten Sehnsüchte. Um am Leben zu bleiben und zu genesen, muß man einen Grund zum Leben haben. Rollo May, ein Existentialpsychologe, der selbst eine lebensbedrohliche Krankheit überwand, glaubt, daß Patienten, die sich intensiv für etwas oder jemanden engagieren, die besten Heilungschancen haben. May sagt, leidenschaftliches Interesse, wie Joes Hingabe an seine Musik, kämpft gegen den Tod an, kämpft immer darum, seine eigene Vitalität zu behaupten, akzeptiert kein »es steht 3:10« oder irgendeine andere Begrenzung des Lebens. Joe wollte leben, nicht zum geringen Teil, um weiter musizieren zu können. Vielleicht hat leidenschaftliches Engagement Katalysatorfunktion für den Lebenswillen. Es ist weise, auf die Stimme des Herzens zu hören. Nur liegt das Problem oft darin, die Sprache des Herzens auch zu verstehen, besonders wenn es um die Wahl einer Lebensaufgabe geht. Viele Menschen wissen nicht, was sie wirklich tun wollen. Jene, die mit ihrem wahren Lebenswunsch in Berührung kommen, stellen vielleicht fest, daß er sich nicht ohne einen angsteinflößenden Bewußtseinssprung verwirklichen läßt. Aber es lohnt sich, die anstrengende Aufgabe anzunehmen, denn alles andere wird nur Unzufriedenheit erzeugen. Wie Abraham Maslow, der Vater der Selbstverwirklichungstheorie, uns sagt: »Ein Musiker muß Musik machen, ein Maler muß malen, ein Dichter muß schreiben, wenn er schließlich Frieden mit sich selbst finden will. Was ein Mensch sein kann, muß er sein.«
Wissenschaftliche Anmerkungen Zahlreiche Studien weisen darauf hin, daß zwischen der Entwicklung von Krebserkrankungen und der emotionalen Verfassung von Menschen ein Zusammenhang besteht. Drei Langzeitstudien sind besonders aufschlußreich: Ein Forschungsprojekt der John Hopkins Medical School, das 1946 ins Leben gerufen wurde, befaßte sich ursprünglich mit Herzkrankheiten. Caroline Thomas postulierte, 86
daß — da bestimmte physische Voraussetzungen (wie hoher Blutdruck) es erlaubten, künftige Herzprobleme zu prognostizieren -psychische Faktoren möglicherweise ebenfalls Voraussagewert haben. Um diese Hypothese zu verifizieren, führte sie mit 1337 Studentinnen und Studenten, die zwischen 1948 und 1964 ihr Medizinstudium absolvierten, Persönlichkeitstests durch. Als sie um die Mitte der siebziger Jahre das Material auswertete, fünfundzwanzig Jahre nachdem sie begonnen hatte, den Lebensweg der Versuchspersonen zu verfolgen, waren die Resultate überraschend und bedeutungsvoll. Das Auffälligste waren die Gemeinsamkeiten in der Persönlichkeitsstruktur der ehemaligen Studenten, die später an Krebs erkrankten. Thomas entdeckte, daß sie selten starke Gefühle zeigten. Der Mangel an familiären Bindungen, insbesondere die große Distanz zu den Eltern, war ebenfalls ein hervorstechender gemeinsamer Zug dieses Personenkreises. Eine weitere Langzeitstudie wurde von Wissenschaftlern der Universität Chicago, der Yale Medical School und der Harvard Medical School (Richard Shekelle und Mitarbeiter) durchgeführt. Von 1957 an nahmen 2 020 Männer an psychologischen Tests teil. Ihr Gesundheitszustand beziehungsweise ihre Krankengeschichten wurden während der nächsten siebzehn Jahre kontinuierlich verfolgt. Die Wissenschaftler fanden heraus, daß Männer, die Anzeichen von klinischer Depression zeigten, doppelt so häufig an Krebs starben wie die anderen Versuchspersonen. Selbst nachdem die Statistiken durch Faktoren wie Alter, Beruf, familiäre Vorgeschichte von Krebserkrankungen, Zigarettenund Alkoholkonsum modifiziert worden waren, erwiesen sich diese Daten noch als zutreffend. Am Kings College Hospital in London verfolgten H. Steven Greer und Tina Morris fünf Jahre lang die Krankengeschichten von Brustkrebspatientinnen. Den schlimmsten Verlauf nahm die Krankheit bei Patientinnen, die resigniert hatten oder sich stoisch verhielten (eine Haltung, die im wesentlichen darauf hinausläuft, keine Gefühle zu zeigen). Die Patientinnen, denen es am besten ging, zeigten eine entschlossene Haltung und waren in der Regel überzeugt, die Krankheit überwinden zu können.
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LINDSEY REYNOLDS Während der nächsten fünf Jahre lebte ich den überwiegenden Teil der Zeit so, als würde mein Inneres von Füchsen aufgefressen. So scharf und anhaltend war der Schmerz. Das war kein hochstilisiertes Leiden, keine Rebellion und kein Theater. Es war einfach qualvoll. LINDSEY REYNOLDS Die Psychiater, die Lindsey Reynolds behandelten, kamen übereinstimmend zu der Diagnose »Schizophrenie«. Aber in der Welt der Psychiatrie ist die Diagnostik eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Wenn ein Fall schwer einzuschätzen ist - und Lindsey Reynolds Fall war sehr schwierig -, stellen Ärzte ihre eigene Meinung oft zurück und schließen sich eher der Auffassung des Kollegen an, der die letzte Einschätzung abgab, als einen Konflikt zu riskieren. Es gibt einen weiteren Grund, der die Diagnose »Schizophrenie« in Lindsey Reynolds Fall fragwürdig erscheinen läßt: Ihr letzter Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik liegt fünfundzwanzig Jahre zurück, und zu diesem Zeitpunkt war »Schizophrenie« (und ist teilweise heute noch) eine Sammelbezeichnung, die benutzt wurde, wenn der behandelnde Neurologe keine präzisere Diagnose stellen konnte. Lindsey Reynolds ist mittlerweile selbst Psychotherapeutin. Sie meint, das der Terminus »Borderline-Störung« ihrem früheren Zustand besser gerecht wird. Nachdem ich ihren mehr als hundert Seiten starken Krankenbericht gelesen und mit ihrem früheren Psychotherapeuten gesprochen hatte, stimmte ich ihrer Einschätzung zu. Da die meisten Spezialisten, die mit Lindsey Reynolds Fall vertraut sind, in bezug auf das Wesentliche nicht voneinander abweichen, ist es nicht notwendig, detaillierter auf die Diagnose einzugehen. Denn in einer Frage herrschte Einmütigkeit: Lindsey litt an einer schweren psychischen Störung, und die Prognose war äußerst düster. Ich bat drei angesehene, hochkompetente Kollegen, alle Psychotherapeuten, sich das Fallmaterial anzusehen. Lindseys Genesungsprozeß erschien allen als außerordentlich bemerkenswert. Dann fragte ich die Therapeuten nach vergleichbaren Fällen aus ihrer eigenen Praxiserfahrung. Keiner von ihnen hatte je bei einer Patientin oder einem Patienten einen so ungewöhnlichen Heilungsprozeß beobachtet. Lindseys Geschichte ragt also heraus, vor allem, weil sie uns zeigt, daß selbst Menschen, die an schwersten psychischen Störungen leiden, ihre geistig-seelische Gesundheit wiedererlangen können. Ich verbrachte viel Zeit mit Lindsey und ihrer Familie, alles in allem mehr als hundertfünfzig Stunden. Ihre Ehe mit Steven, die zu Beginn ihrer Genesung geschlossen wurde, hat allen Stürmen standgehalten; sie besteht seit dreiundzwanzig Jahren. Ich sprach mit Menschen aus ihrem unmittelbaren beruflichen und persönlichen Umfeld. Meine Einschätzung ihres gegenwärtigen Niveaus von Realitätsbewältigung und Handlungsfähigkeit basiert also auf einer Menge von Daten. Karl Menninger sagt über bestimmte Menschen, sie seien »gesünder als gesund«. Gemeint sind Personen, die eine sehr schwere Krankheit überwunden haben und danach eine ganz neue Kraft und Vitalität an den Tag legen. Wir alle kennen dieses Phänomen an uns selbst auf 88
irgendeiner Ebene. Bei einer körperlichen Verletzung, einer Hautabschürfung oder Schnittwunde, entwickelt sich als letztes Stadium der Heilung eine Narbe. Diese neue, vernarbte Haut ist stärker als das ursprüngliche Hautgewebe. Wenn wir die Windpocken, Masern oder ähnliche Infektionskrankheiten durchgemacht haben, werden wir durch den Heilungsprozeß physisch widerstandsfähiger; wir sind gegen diese spezielle Krankheit fortan immun. Menninger hätte vielleicht über Lindsey gesagt, daß sie in psychischer Hinsicht »gesünder als gesund« ist. Menschen, die sie gut kennen, nennen sie eine »weise Frau«. Lindsey ist heute die geschäftsführende Leiterin einer kleinen psychiatrischen und psychotherapeutischen Einrichtung. Obwohl Verwaltungsaufgaben viel von ihrer Zeit in Anspruch nehmen, berät sie andere Psychotherapeuten durch Supervision und arbeitet auch selbst weiterhin mit einer begrenzten Zahl von Patienten. Ein Therapeut der Einrichtung drückte absolutes Vertrauen in Lindseys berufliche und menschliche Qualitäten aus, als er sagte: »Wenn ich je das Gefühl hätte, über die Klippe zu gehen und in den Wahn abzustürzen, wäre Lindsey die entscheidende Person, die ich in meiner Nähe wissen möchte.« Die Fähigkeit, die mich an Lindsey am meisten beeindruckte und die vielleicht am schwersten in Worte zu fassen ist, war ihr unnachgiebiges Bemühen, den Sinn des Vergangenen zu erschließen. Sie erzählte nicht einfach ihre Geschichte. Sie verarbeitete die Ereignisse, indem sie darüber sprach; sie stellte neue Verbindungen her, zog Schlüsse, kam zu neuen Einsichten über sich selbst. Sie verwendet dieselbe vitale Kraft darauf, andere zu verstehen, ohne zu urteilen oder zu bewerten. Lindsey ist groß, schlank und von klassischer Schönheit. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den dunkelbraunen Augen ist entspannt und alterslos; es trägt keine Spuren vergangener Qualen, bis auf eine haarfeine Narbe, die sich von einer Augenbraue ausgehend quer über die ganze Stirn zieht. Lindsey begann ihre Geschichte mit einem Rückblick auf ihre Kindheit: »Die Verwirrtheit, in der ich aufwuchs, beruht unter anderem darauf, daß meine Kindheit nach außen hin immer so gut aussah - für mich selbst und für alle anderen. Die Probleme in meiner Familie waren verdeckt und subtil. Meine Eltern waren nette Menschen. Es gab keine Mißhandlung, keinen ernsthaften Mißbrauch, aber sie waren nicht wirklich präsent, um ihre Kinder zu schützen oder ihnen Halt zu geben. Sie legten zuviel Wert darauf, das schöne junge Paar zu sein, mit hübschen und netten Kindern, die anderen gefallen sollten. In unserem Haushalt gab es immer Hausmädchen; ich war also nicht völlig ohne Fürsorge. Sie waren diejenigen, die sich um meine Beulen und Kratzer kümmerten und mir etwas zu essen machten, wenn wir Kinder nicht mit den Erwachsenen zusammen im großen Eßzimmer aßen. Meine Bindung an diese Frauen war sehr intensiv, aber irgendwann gingen sie immer; sie wurden entlassen oder zogen einfach weiter. Alkohol floß immer in Strömen. Alkohol war der Beziehungsmodus zwischen meinen Eltern und das verbindende Element in ihrem Freundeskreis. Sie betranken sich und verloren ihre Hemmungen. Mein Vater machte dann vielleicht eine anzügliche Bemerkung, sagte mir, wie hübsch meine Beine seien, oder machte seine Freunde 89
darauf aufmerksam. Es war weit von wirklichem sexuellem Mißbrauch entfernt, aber ich hatte nie das Gefühl, daß die Grenze sehr klar war. Als ich etwa zehn Jahre alt war, wurde ich von unserem Familienanwalt, einem Mann namens Harry, sexuell belästigt. Er griff nach mir, küßte mich und streichelte mich, nichts Schlimmeres als das, aber es versetzte mich in Angst und Schrecken. Vor etwa fünf Jahren erzählte ich meiner Mutter über Harry. Ihre Antwort, ihre ganze Antwort war: >Überrascht mich gar nicht. Harry war die ganze Zeit hinter mir her.< Da war kein Erstaunen, kein Entsetzen, keine Frage, kein Bewußtsein davon, daß Mütter ihre Kinder normalerweise vor solchen Dingen beschützen. Ich glaube, daß in meiner Familie eine Inzeststruktur herrschte. Ich erfuhr, daß mein Bruder meine Schwester sexuell bedrängt hatte. In einer Familie, in der es klare sexuelle Grenzen gibt, passiert das nicht. Als Erwachsener erklärte mein Bruder mir einmal, daß er sich früher sexuell von mir nicht angezogen fühlte, weil ich Übergewicht hatte. Er sagte es so, als wolle er meine Gefühle nicht verletzen, und ließ damit durchblicken, daß es sonst zwischen uns auch geschehen wäre. Ich war kein glückliches Kind. Die problematische Entwicklung zeigte sich schon, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Ich verübte kleine Diebstähle in Geschäften, in der Schule und bei Freunden zu Haus. Ich wurde oft erwischt, aber meine Mutter wischte es vom Tisch. Sie wurde wütend, sagte aber dann, das gehöre einfach zu den normalen Unarten von Kindern, was natürlich nicht stimmt. Ich glaube, meine Mutter und mein Vater nutzten das, um mich nicht zu verstehen. Solange sie mich nicht verstanden, mußten sie nichts unternehmen. Ich war als Kind nicht beliebt. Da ich fett war, nehme ich an, daß ich permanent gegessen haben muß. Ich ging zum Zahnarzt und hatte rund dreißig Karieslöcher in den Zähnen. Später habe ich mich gefragt, ob nicht eigentlich der Versuch dahinter stand, mir selbst das Essen unmöglich zu machen. Ich erinnere mich an Zeiten, wo andere Kinder Steine nach mir warfen, weil ich so dick war. Es war wirklich grauenhaft. Das einzige, was ich in glücklicher Erinnerung habe, war das Schwimmen in unserem Country Club. Ich war eine sehr gute Schwimmerin und bekam dafür von meinen Eltern und ihren Freunden viel Anerkennung. Ich entwickelte intensive Phantasien, daß wir in die Nähe des Country Clubs ziehen würden. Eines Tages nach der Schule erzählten meine Eltern mir, daß wir umziehen würden, dorthin, in diese Gegend. Ich denke, das war wirklich der Auslöser dafür, daß sich bei mir die Überzeugung entwickelte, ich könne Dinge verursachen, indem ich einfach fest an sie glaubte. Ich war auch davon überzeugt, daß wir umzogen, weil meine Eltern sich meiner schämten, und daß wir wegen meiner kriminellen Neigungen die Stadt verlassen mußten. Als wir umzogen, war ich zehn Jahre alt. Ich erinnere mich an eine meiner Cousinen, die sehr hübsch und bei allen beliebt war. Ich beobachtete sie und dachte: >Ich werde jetzt auch so wie sie.< Ich traf die ganz bewußte Entscheidung, meine Persönlichkeit zu verändern, kontaktfreudig zu sein, meinen Sinn für Humor zu nutzen, um an der neuen Schule beliebt zu sein. Ich fand es dort wundervoll. Die Lehrer und die anderen Kinder mochten mich. Wir hatten ein riesiges Landhaus. Zum Country Club war es nicht weit, ich konnte zu Fuß hingehen. Ich war sehr glücklich, mein Leben war in Ordnung. 90
Dieser Wechsel in unseren Lebensverhältnissen bedeutete auch, daß meine Eltern wirklich auf dem Weg nach oben waren, finanziell und sozial. Mein Bruder erinnert sich noch, daß damals in unserem Haus jede Woche eine Party stattfand. Berühmte Leute kamen. Es wurde immer viel getrunken. Die Atmosphäre war sehr aufgeladen. Die Umstände, die den Tod meines Vaters umgaben, waren einfach entsetzlich. Es war ein furchtbarer Verlust. Ich fing gerade das zweite Jahr auf dieser Privatschule an, als unsere Lehrerin, eine Engländerin, uns mitteilte, daß ein Mädchen aus unserer Klasse ein Flugzeugunglück knapp überlebt hatte. Sie hatte neben ihrer Mutter gesessen, als das Flugzeug abstürzte, und die Mutter wurde bei dem Absturz getötet. Die Lehrerin forderte uns alle auf, zu diesem Mädchen besonders liebevoll und aufmerksam zu sein. Ich war von der unglaublichen Dramatik dieser Geschichte tief beeindruckt und empfand weitaus mehr Faszination als Mitgefühl für dieses Mädchen, obwohl das empathische Moment sicherlich auch eine Rolle spielte. Ich wollte auch in ein Drama dieser Größenordnung verwickelt sein. Also fing ich an, mir in meiner Phantasie ein solches Drama auszumalen. Ein Verlust, der für mich so tragisch wäre, stellte ich mir vor, wäre der Tod meines Vaters. Ich entwickelte also aktive Phantasien über seinen Tod. Als er dann starb, war ich sicher, daß ich die Ursache war. Ich hatte ihn getötet. Mein Vater starb bei einem Urlaub mit meiner Mutter auf den Inseln. Sie tanzten bei einer Party, als er plötzlich sagte, daß er müde sei. Er ging hinauf, um sich hinzulegen. Als meine Mutter eine Stunde später hinaufging, war er tot. Von der Insel aus rief meine Mutter eine Freundin an und bat sie, mich von der Schule abzuholen und mir zu erzählen, was passiert war. Stattdessen rief diese Freundin mich in der Schule an, sagte mir am Telefon, daß mein Vater tot sei, und ließ mich im Schulgebäude stundenlang warten, bevor sie mich abholen kam. Der Tag, an dem mein Vater beerdigt wurde, war kalt, regnerisch und stürmisch. In der Kirche fragte ich meine Mutter, ob ich weinen dürfe, vor den anderen Leuten, in der Öffentlichkeit. Sie sagte ja, aber ich denke, allein meine Frage zeigt, wie sehr es in meiner Familie verpönt war, Gefühle zu zeigen. Eine Menge Leute kamen zu seinem Begräbnis. Nachdem der Sarg hinuntergelassen worden war, gingen sie alle in kleinen Gruppen zusammen weg. Ich blieb allein zurück. Niemand kam zu mir. Der Pfarrer, den ich nicht besonders mochte, sah mich allein am Grab sehen, kam aber nicht zu mir herüber. Ich war wie versteinert. Diese Nachlässigkeit der Erwachsenen — mehr war es nicht — bestärkte mich in dem Glauben, daß ich meinen Vater getötet hatte. Auf irgendeiner tiefen Ebene glaubte ich, daß die Leute es alle wüßten und mich deshalb allein stehen ließen. Die Phantasie, am Tod meines Vaters schuld zu sein, setzte sich immer tiefer in mir fest - ein entsetzliches Geheimnis, das sich schließlich in Wahnvorstellungen Bahn brach. Wir hatten in gesicherten Verhältnissen gelebt, aber jetzt sah unsere Situation überhaupt nicht mehr rosig aus. Es gab keine Lebensversicherung. Meine Mutter mußte einen Job annehmen. Alles mußte sich ändern. Ich erinnere mich an eine furchtbar demütigende Situation, als ich wieder zur Schule ging. Im Sportunterricht wurden wir jeden Monat gewogen. Man mußte sich in einer in einer Reihe anstellen; es war eine 91
öffentliche Angelegenheit. Als ich auf die Waage stieg, sagte meine Sportlehrerin: >Sehr gut, du hast nicht abgenommen. Ich deutete das für mich so: Wenn ich mir aus dem Tod meines Vaters wirklich etwas gemacht hätte, also eine gute Tochter gewesen wäre anstatt einer Mörderin, hätte ich abgenommen. Tatsächlich nahm ich zu, weil ich meine entsetzlichen Ängste dadurch kompensierte, daß ich die ganze Zeit aß. Niemand außer ein paar Freundinnen ahnte etwas von meinen Schwierigkeiten. In der Mittelstufe der High School ging ich durch eine Phase massiver Rebellion. Ich schwänzte ständig die Schule und wurde beinahe hinausgeworfen. Aber im folgenden Jahr, in der Oberstufe, verbesserten sich meine Leistungen trotz meines inneren Aufruhrs. Und die Beurteilungen der Lehrer waren positiv. Meine Noten wurden besser, weil ich in den Sommerferien bei Howard Johnson, einem Selbstbedienungsrestaurant an der Schnellstraße, gearbeitet hatte, mit Eiscreme bis zu den Ellbogen und ohne Klimaanlage. Ich sagte mir, wenn ich in der Schule nicht besser würde, käme ich bei keinem guten College an, und es wäre mein Schicksal, für immer bei Howard Johnson zu arbeiten, was meine Definition der Hölle war. Alle äußeren Anzeichen täuschten darüber hinweg, was innerlich in mir vorging. Mein Aussehen veränderte sich drastisch. Ich suchte den Arzt meines Vaters auf. Diese Kurpfuscher, die Wundermittel zum Abnehmen verschrieben, waren damals sehr populär. Er verordnete mir Amphetamine, Speed. Ich nahm zwanzig Kilo ab. Ich trug Größe vierundvierzig, als ich in die Oberstufe kam, und beim Examen trug ich ein Kleid in Größe sechsunddreißig. Plötzlich wurde ich von Männern bestürmt. Für mich hatte es keinen allmählichen Übergang in diese Welt gegeben, also begriff ich gar nicht, was da vorging. Als ich nach Bryn Mawr kam, schlug ich mich mit entsetzlichen Selbstzweifeln herum, wußte nicht, wer ich eigentlich war, und fragte mich, warum ich mich so sehr von anderen isoliert fühlte. Ich lernte eine sehr reiche Familie kennen und verbrachte viel Zeit mit diesen Leuten. Ich bin sicher, auf der unbewußten Ebene war das der Versuch, meinen früheren privilegierten Status wiederzuerlangen. Die Frau war ein wundervoller Mensch. Sie war unglaublich liebevoll und hatte mich wirklich gern. Sie ahnte nichts von den Dingen, die sich da abspielten. Ihr Ehemann beutete mich sexuell aus. Ich wußte nicht, was ich tun sollte; es machte mich verrückt. Er brachte mich dazu, Fellatio an ihm zu praktizieren. Ich war entsetzt und angewidert, fühlte mich schmutzig und dachte, ich sei die einzige, die so etwas tat. Trotz meiner furchtbaren Ängste kam ich von diesen Leuten nicht los, weil sie mir trotz allem ein gewisses Gefühl der Sicherheit gaben. Ich weiß jetzt, daß meine gesamte Kindheit mich in gewisser Weise auf diese Situation vorbereitet hatte. Ich steckte ziemlich tief im Dreck. Ich brach den Kontakt ab, als er anfing, meine Freundinnen zu bedrängen. Später erfuhr ich, daß dieser Mann schließlich im Gefängnis landete, weil er kleine Kinder sexuell mißbraucht hatte. Ich lernte einen gutaussehenden Jungen aus Tufts kennen. Mit ihm hatte ich zum ersten Mal regelrechten Geschlechtsverkehr, aber im Grunde war es eine Vergewaltigung. Wir waren verabredet, er fiel über mich her, wir vögelten, und am nächsten Morgen versuchte ich mir einzureden, daß ich in ihn verliebt sei. Aber er war extrem abweisend und stieß mich weg.
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Es hatte den Anschein, daß meine schlimmsten Ängste immer durch äußere Ereignisse bestätigt wurden. Ich ging in eine Literaturklasse, und der Professor sagte in bezug auf eine Novelle, die wir lasen, eine Frau, die sich verführen lasse, sei einfach dumm. In den Weihnachtsferien erfuhr ich, daß Gloria, meine beste Freundin, nicht nach Bryn Mawr zurückkehren würde; sie ging nach Austin Riggs, in eine psychiatrische Klinik. Damals war meine Vorstellung von psychiatrischen Einrichtungen die Horrorfilmvariante - Schlangengrube, so etwas in der Art. Es machte mir wahnsinnige Angst, weil ich wußte, daß auch ich nicht daran vorbeikommen würde. Gloria und ich hatten oft darüber gesprochen, und wir waren beide der Meinung, daß ich noch stärker gestört war als sie. Meine Horrorvisionen über psychiatrische Kliniken verschwanden sehr bald, als ich Gloria in Austin Riggs besuchte. Die Einrichtung wirkte eher wie ein erstklassiges Hotel. Ich verbrachte die Nacht dort, illegal, sie wußten nicht, daß ich da war. In dieser Nacht rauchte ich meinen ersten Joint. Ich erinnere mich auch, daß ich sah, wie eine Frau eine Cola-Flasche zerschmetterte und sich mit den Scherben in die Handgelenke schnitt. In Bryn Mawr machte ich einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten, aber ich tat es direkt vor den Augen einer Freundin. Man pumpte mir den Magen aus, und ich erfand irgendeine absurde Ausrede für meine Handlungsweise. Das wiederholte sich noch einige Male, und es war einfach verblüffend, mit welcher Bereitwilligkeit die Leute im Krankenhaus einem die absurdesten Geschichten abkauften. Ich weiß nicht mehr, was ich erzählte, aber allzu brillant kann es nicht gewesen sein. Ich zerschlug Fensterscheiben in der Schule, um mir die Pulsadern aufzuschneiden, und sagte dann, ich hätte einen furchtbaren Alptraum gehabt, und es sei versehentlich passiert. Ich zog einen Professor in dieses ganze Drama hinein. Ich erzählte ihm, was mit mir los war, und nahm ihm das Versprechen ab, darüber zu schweigen, worauf er sich nie hätte einlassen dürfen. Also dauerte es ziemlich lange, bis alles herauskam. Ich lief vor Autos. Ich erinnere mich, daß ich während dieser gesamten Zeit Amphetamine nahm. Schließlich rief dieser Professor den Psychiater. Ich war völlig durchgedreht, und er hatte keine andere Wahl. Er warf mich aus der Schule. Ich hatte jede Nacht bei meiner Mutter angerufen; ich weinte am Telefon und sagte: >Laß mich nach Haus kommen, laß mich nach Haus kommen!< Sie antwortete immer, ich solle doch das Schuljahr noch zu Ende machen. Als ich von der Schule geflogen war, erzählte ich ihr, was der Psychiater gesagt hatte. Sie antwortete: >Ach, das ist ja lächerlich! Du brauchst einfach nur etwas Ruhe.< Völlig verzweifelt wandte ich mich selbst an eine psychiatrische Klinik, aber sie weigerten sich, mich auf eigenen Wunsch aufzunehmen, weil ich noch nicht volljährig war. Schließlich stimmte meine Mutter zu, daß ich einen ihrer Freunde aufsuchte, der Leiter der psychiatrischen Abteilung des Riverview-Krankenhauses war. Der Mann war sehr gut zu mir. Er sagte, daß ich dringend Therapie brauchte, und meine Mutter hörte auf ihn. Sie meldeten mich bei Richard Jameson zur ambulanten Therapie an. Er war Assistenzarzt in der psychiatrischen Abteilung. Nach drei Wochen wurde ich in Riverview eingewiesen, nachdem ich mir die Handgelenke mit Glasscherben aufgeschnitten hatte. 93
Ich sprach kein Wort mit Jameson. Zum Teil lag das an meiner wachsenden Verzweiflung. Zum Teil hieß es: >Komm und bemüh‘ dich um mich. Laß mich nicht die Hauptarbeit tun, komm und lock mich aus der Reserve, bemüh‘ dich um mich<, was er nicht tat. Er bemühte sich in dem Maß, in dem er dazu in der Lage war, aber das war ziemlich wenig. Ich hatte nichts dabei zu gewinnen, wenn ich mich änderte. Meine Realität war, daß ich in dieser immensen Qual lebte, und daran würde sich nichts ändern, konnte sich nichts ändern. Veränderungen von meiner Seite hätten bedeutet, daß ich nicht in der Klinik sein könnte, daß ich wieder zu Haus sein müßte, und das hieß wieder in Unsicherheit leben. Ich war ein so wertloser Mensch, so verabscheuungswürdig, so minderwertig und befleckt. Ich betrachtete mich nicht als krank, weil das die Möglichkeit des Gesundwerdens beinhaltet hätte. Ich agierte mich aus, in der typischen Art, wie es Jugendliche tun, und nur dann ging es mir wirklich gut. Abgesehen von den Beruhigungsspritzen fand ich nur in diesem Ausagieren Erleichterung. Ich schmuggelte Alkohol in die Klinik oder riß aus, oder führte mich einfach unerträglich auf. Dann wurden sie wütend und sagten mir in einem unverblümten, strengen Ton, das müsse jetzt aufhören. So kam ich in den Genuß des erwünschten konsequenten Elternverhaltens. Diese Augenblicke waren wundervoll für mich. Die meiste Zeit, die ich da war, hielten sie mich in Isolation. Das ist nicht so schlimm wie es sich anhört. Ich hatte eine Menge Menschen um mich. Tatsächlich war die Aufmerksamkeit dort konzentrierter und zuverlässiger als irgendwo sonst. Aber es gab dort auch einen sexuellen Zwischenfall. Einer der Mitarbeiter wartete, bis abends das Schlafmittel wirkte, und dann geschah, was eben geschah. Ich habe nur vage Erinnerungen daran, aber es war etwas Sexuelles. Wieder war es jemand, den ich wirklich mochte, der das tat. Jedesmal, wenn wieder etwas in dieser Art passierte, war es eine erneute Bestätigung dafür, daß die Schuld bei mir lag. Es kam mir nie in den Sinn, daß es anders sein könnte. Alle möglichen Dinge kamen zusammen und bestärkten mich in meiner Überzeugung, daß etwas Furchtbares in mir war, daß ich ein perverses, verführerisches, mörderisches Geschöpf war. In anderen Bereichen hatte ich keine Probleme mit meinem Selbstbild. Mein Bruder kam mich manchmal besuchen und holte mich für ein paar Stunden aus der Klinik heraus. Bei einem dieser Ausflüge besorgte ich mir eine Rasierklinge. Ich kam zurück in die Isolierzelle und versteckte sie unter einer losen Bodenfliese. Einige Nächte später fügte ich mir damit ziemlich üble Verletzungen zu. Ich schnitt mir die Handgelenke und die Arme auf. Die Wunden mußten genäht werden, zwölf und fünfzehn Stiche waren es in diesem Fall. Sie wurden dann sehr wütend und wollten mich bestrafen, also nähten sie meine Wunden oft ohne Betäubung. In meiner damaligen Situation waren diese selbstzerstörerischen Gesten der Versuch, mehr aus dem System herauszuholen oder den Leuten, an denen mir wirklich lag, mehr Aufmerksamkeit zu entlocken. Sie fragten mich, wo ich die Rasierklinge versteckt hätte, denn ich war in meinem Pyjama in einer Isolierzelle. Sie verstanden es nicht, denn der Raum war leer, bis auf das Bett. Ich zeigte ihnen die lose Kachel. 94
Eines Tages saß ich in der Isolierzelle und fing an, alle anderen Bodenfliesen zu lösen. Als sie kamen, um nach mir zu sehen, hatte ich sie alle an den Wänden entlang gestapelt. Sie flippten aus, sie waren völlig fertig! In dieser Art des Agierens fand ich immer ein bißchen Frieden und Normalität. Für niemanden sonst hatte es diese Bedeutung, - nur für mich. Aber danach kam es nur um so schlimmer, weil jemand, den ich mochte, fast gefeuert wurde, weil er mich nicht sorgfältig genug überwacht hatte. Sie verlegten mich in einen anderen Raum, in dem nur eine Matratze auf dem Boden lag, und darauf wurde ich festgeschnallt. Das war der Beweis, daß ich das elendste, am tiefsten gesunkene Geschöpf an diesem Ort war, daß ich schlimmer litt als irgend jemand sonst, und darin lag eine gewisse Genugtuung. Aus denselben Gründen war es natürlich auch furchterregend. Das einzige Mal, daß ich mich mit Jameson wirklich in Kontakt fühlte - und ich bezweifle, daß er es bemerkte -, war, als ich all die Bodenfliesen abgerissen hatte. Er kam herein und war stinksauer. Er hielt mir einen unglaublichen Vortrag über die Art, wie ich mich aufführte, und sagte mir, er hätte die größten Schwierigkeiten, mich überhaupt in der Klinik zu behalten. Offenbar versuchte er mit allen Mitteln zu verhindern, daß sie mich nach Bellevue schickten. In diesem Augenblick fühlte ich mich tief mit ihm verbunden. Natürlich führte das dazu, daß ich noch mehr agierte, denn das war genau die Art von Kontakt, die ich brauchte. Ich glaube, sie befürchteten, daß ich ein aussichtsloser Fall sei. Vermutlich betrachteten sie mich als privilegiert, verwöhnt und sehr schwer gestört. Sie vermittelten mir diese Hoffnungslosigkeit auch. Ich meine, Jameson, mein Psychiater, kam herein und verwendete ganze zehn Minuten auf den Versuch, mich zu erreichen. Wenn er im Lauf von zehn Minuten nicht zu mir durchdringen konnte — und die Zeit wurde immer kürzer -, gab er es auf und ging. Ich war passiv, depressiv und abwesend. Ich war wütend und verschlossen. Wenn er nicht viel Energie in die Beziehung hineinlegte, hatte ich auch nichts, was ich zurückgeben konnte. Ich meine, er hätte die Vorgaben machen müssen. Dazu war er nicht fähig oder wußte nicht, wie er es machen sollte. Schließlich verlegte er sich auf Elektroschockbehandlung. Die Elektroschocks waren keine Hilfe. Ich glaube nicht, daß sie in irgendeiner Weise gerechtfertigt waren. Mein Therapeut wußte nicht, wie er mich behandeln sollte, also griff er zu einem letzten, verzweifelten Mittel. Mein Aufenthalt in Riverview ging seinem Ende entgegen. Sie behalten Patienten nur für drei Monate da. Jameson befürchtete vermutlich, daß ich auf lange Zeit hospitalisiert werden würde, wenn die Behandlung keine Erfolge zeigte - und so kam es ja dann schließlich auch. Sie sagten mir, wenn ich nicht freiwillig in die Mountain-Brook-Klinik ginge, würden sie einen Gerichtsbeschluß herbeiführen und mich zwangseinweisen lassen. Die gesetzlichen Bestimmungen für Zwangseinweisungen waren damals ziemlich lax. Es genügte, wenn zwei Psychiater bestätigten, daß die Hospitalisierung notwendig sei, und das wäre in meinem Fall kein Problem gewesen. Ich griff zu allen möglichen Drohungen: >Lebend kriegt ihr mich nie dorthin! Ich werfe mich aus dem Krankenwagen!< Ich zeigte wirklich dramatisches Talent. Aber im Ernst, ich meine, daß auf der Helferseite Irrtümer entstehen können, wenn man dramatische Auftritte schlicht als Verlangen nach Aufmerksamkeit interpretiert. Die Neigung zu 95
dramatischen Inszenierungen ist ein Zeichen von Vitalität, vorausgesetzt, man bringt sich dabei nicht um. Sie hat etwas mit der Fülle des Lebens zu tun und ist nicht nur negativ zu verstehen. Meine dramatischen Inszenierungen waren von der Art, daß ich mich sinnlos betrank oder mich aus einem Auto warf, oder mir Schnittwunden zufügte. Was ich damit erreichte, war ein sekundärer Krankheitsgewinn; ich hoffte, daß es sich in irgendeiner Weise auszahlte. Aber meine Aktionen waren auch von einem enormen Maß an Verzweiflung und Selbsthaß erfüllt. Ich war eine Gefahr für mich selbst, das ist keine Frage. Sie setzten mich unter schwere Sedativa und verfrachteten mich mit einer Krankenschwester, die ich sehr mochte, auf den Rücksitz des Autos meiner Mutter. Sie verriegelten die Türen. Ich wurde nach Mountain Brook transportiert. Ich sage Ihnen, Mountain Brook war ein ziemlicher Schock. Einem Außenstehenden ist es kaum zu vermitteln, aber die Beziehung, die ich dort zu einem Therapeuten entwickelte, war der Grundstein zu meiner Heilung. Wenn ich diese Geschichte erzähle - und ich habe die Geschichte einige Male erzählt —, denken die Leute, daß Mountain Brook das Ende meiner Prüfungen bedeutete, weil es eine sehr wichtige Zeit war. Aber tatsächlich war es erst der Anfang. Als ich dort ankam, führte mich eine ziemlich seriös aussehende Krankenschwester in die geschlossene Abteilung. Ich glaube, ich war enttäuscht, weil sie, wie alle anderen Krankenschwestern, normale Kleidung trug. Es gab keine Schwesterntrachten, die der Krankheit Weihe verliehen hätten. Ich kam in einen Gruppenraum, der unter permanenter Beobachtung stand. In diesem Gruppenraum waren einige sehr verrückte Frauen, - ich selbst eingeschlossen. Da Mountain Brook eine der wenigen Privatkliniken war, die noch geschlossene Abteilungen hatten, waren dort eine ganze Menge wirklich schwer gestörter Menschen versammelt. Als ich ankam, war Will Goodman, der Mann, der mich psychiatrisch betreuen sollte, in Urlaub. Viele Patientinnen und einige der Krankenschwestern sagten mir, er sei einer der besten Neurologen der Einrichtung. Durch das informelle Nachrichtensystem der Klinik erfuhr ich, warum er nicht da war: Sein Bruder, der Mensch, der ihm auf dieser Welt am nächsten stand, war vor kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Psychiater, die mich vorher behandelt hatten, Jameson in Riverview und Larry Nash in Mountain Brook, der als Vertretung da war, bis Goodman zurückkam, sahen zufällig beide sehr gut aus; also erwartete ich jemanden, der mindestens wie ein HollywoodStar aussehen würde. Ich kam aus einer ziemlich privilegierten, wenn auch später nicht mehr reichen Familie aus Greenwich in Connecticut, die sehr kultiviert war. Als Will Goodman das Sprechzimmer betrat, war ich also zutiefst schockiert. Er war unscheinbar, hatte schütteres blondes Haar, trug eine Brille und sprach mit einem auffälligen Midwestern-Akzent. Ich dachte: >O mein Gott, was haben sie mir denn da angeschleppt? Das kann nie etwas werden, mit diesem Provinzler von wer-weiß-woher.< Ich hatte gelernt - in der Weise, wie man sich eine Landschaft einprägt, man bemerkt es nicht, studiert es nicht bewußt, sondern weiß es einfach —, ich hatte also in meiner Zeit in der Psychiatrie gelernt, daß Psychiater es sehr gern haben, wenn man Angst ausdrückt und eine Menge Affektivität zeigt. Diese Art, sich auszudrücken, wurde in subtiler Weise verstärkt. Ich hatte das Gefühl, daß sehr selten reale Kommunikation 96
stattfand. Die Kommunikation bestand darin, daß man seine Krankheit vorführte, und sie lieferten die Kommentare dazu. Ich erinnere mich, daß ich in meinem ersten Gespräch mit ihm sagte: >Ich liebe meine Mutter.< Ich wiederholte das viele Male. Schließlich antwortete er: >Das sagten Sie bereits.< Ich war völlig verblüfft über diese Echtheit. Es klang ein bißchen scharf und ungeduldig, überhaupt nicht den psychoanalytischen Prinzipien der Reserviertheit und der Distanz gemäß, die zu diesem Zeitpunkt so populär waren. Er brachte mich aus der Fassung. Ich glaube, ich mochte ihn von dem Augenblick an, in dem er das sagte. In den Kliniken herrschten auch unterschiedliche Normen. Riverview war New York, großstädtisch, jüdisch-puertoricanisch geprägt, eine der Universität angeschlossene Einrichtung. Das hier war der Bundesstaat New York, die Ostküste, hier herrschte der WASP*- Stil, alles wurde in ruhiger und beherrschter Weise gehandhabt. Agieren in der Form, wie ich es kannte, wurde hier kaum toleriert. Goodman nahm mich sofort in den Griff. Er werde keine Risiken eingehen, sagte er. Wenn ich anfinge zu agieren, würde ich nach Carlson II verlegt. In Mountain Brook gab es viele Abstufungen. Ich war in einer Abteilung, die sie Carlson I nannten. Die einzige Abteilung, die noch schlimmer war, hieß Carlson II; sie war so etwas wie das Bellevue von Mountain Brook. Es ging um meine Sicherheit, meinen Schutz, und darum, wer das Sagen hatte. Das brachte er sehr schnell auf den Punkt. Während unseres zweiten Gesprächs sagte Goodman mir, ich würde zwei Jahre in der Einrichtung bleiben. Ich war sowohl berunruhigt als auch erleichtert. Mit Jameson hatte ich ein zu leichtes Spiel gehabt. Ich konnte ihn wirklich manipulieren, in der übelsten Form, wie ein verzogenes Kind. Goodman sah das und hatte für meine Oberschicht-Allüren nicht viel übrig. Das hatte zum Teil mit dem kulturellen Hintergrund zu tun. In New York, wo Jameson lebte, war meine Aufsässigkeit nichts Ungewöhnliches. Aber jetzt hatte ich es mit einem Mittelwestler zu tun, der das nicht mochte. Er duldete das nicht. Ich brauchte jemanden, der das Heft in der Hand behielt, der konsequent war und sich nicht beirren ließ. Hätte ich irgendeinen Riß in der Rüstung entdeckt, wäre ich in Panik geraten. Gleich zu Anfang hatten wir einige Zusammenstöße. Ich war unter permanenter Beobachtung - Suizidüberwachung -, was bedeutete, daß die Krankenschwestern mich sogar zur Toilette begleiteten. Ich bekam nicht nur Verstopfung, ich konnte nicht einmal pinkeln. Ich stritt mit ihm herum und verlangte, daß die permanente Überwachung aufgegeben werde. Er sagte: >Nein, das Risiko ist mir einfach zu groß. Es kommt nicht in Frage.« Ich protestierte: >Das wird aber langsam gefährlich!« Er sagte: >Keine Sorge, Sie werden pinkeln. Sie werden sich daran gewöhnen.« Ich wollte unbedingt aus dem Gruppenraum heraus, weil da eine Frau war, die entsetzlich schnarchte. Aber darauf ließ er sich auch nicht ein. Das einzige Zugeständnis, das er machte, war, daß ich abends Beruhigungsmittel zum Schlafen bekam, teilweise, ____________________________________________________________________ *White Anglo-Saxon Protestants; protestantische Amerikaner britischer oder nordeuropäischer Abstam-
mung; Bezeichnung für die privilegierte und gesellschaftlich einflußreiche alte Einwandererschicht der Ostküste.
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weil ich ohnehin zu Schlafstörungen neigte, und teilweise, weil er wußte, daß diese Marathon-Schnarcherin im Zimmer war. Durch unsere Verhandlungen wurde mir klar, daß er sehr hart und konsequent war, aber es standen keine starren Prinzipien dahinter, sondern Überlegung und Fürsorglichkeit. Das gab mir sehr schnell ein starkes Gefühl der Sicherheit. Mein ganzes Leben lang, besonders nach dem Tod meines Vaters, hatte ich den Eindruck gehabt, daß niemand da war, der die Dinge im Griff hatte, der mich beschützte. Ich agierte mich selten in der früheren Weise aus. Es war nicht nötig. Er wußte, daß ich keine Kontrolle über mich hatte, und das machte er eindeutig klar. Ich mußte es ihm nicht noch beweisen. Ich hatte dreimal in der Woche meine Therapiestunde bei ihm; die Norm war zweimal in der Woche. Das gab mir den Status der schwer gestörten Patientin. Die Sicherheitsvorkehrungen bei meinen Sitzungen, die soviel rigider waren als bei anderen Patienten, und die Tatsache, daß er meinen Aufenthalt in Mountain Brook auf zwei Jahre festgelegt hatte, das alles vermittelte mir, daß er verstanden hatte. Ich glaube, seine Art der Kommunikation, seine Persönlichkeit, die Struktur der Institution selbst, die Tatsache, daß ich von meiner Familie weg war und daß er die elterliche Autorität übernommen hatte, - all das reduzierte meine Ängste auf ein tolerierbares Maß. Ich kam im Juli dort an, und erst im November, zum Thanksgiving- (Erntedank-) Fest, besuchte ich zum ersten Mal meine Familie. Ich kam von diesem Besuch als ein absolutes Wrack zurück. Ich war zerrissen, völlig zerfetzt von Ängsten; ich konnte kaum still sitzen. Ich wußte nicht, was mit mir vorging. Ich erschrak vor dem Ausmaß meiner eigenen Ängste. Ich nahm heimlich Gläser aus der Küche. Ich wickelte sie in ein Handtuch und zerschlug sie. Dann schluckte ich die Glasstückchen. Bis vor einigen Jahren habe ich niemandem je davon erzählt. Es war kein demonstrativer Akt, um andere auf mich aufmerksam zu machen. Ich glaube, es war der Versuch, das, was ich in mir fühlte, real zu machen, eine Rechtfertigung dafür zu schaffen, daß ich mich so schrecklich fühlte. Ich hatte das Gefühl, mich innerlich in Stücke zu reißen. Ich hatte das Gefühl, meine eigene Seele zu Staub zu zermahlen. Ich glaube, das war der Grund, warum ich es tat, und das wird mir erst jetzt, in diesem Augenblick, vollständig bewußt. Will sah, in welcher Verfassung ich war, und obwohl er von dem Glasstückchen-Schlukken nichts wußte, ließ er mich jeden Tag zur Therapie kommen und verzichtete dafür lange Zeit auf seine Mittagspause. Er drückte die feste Überzeugung aus, daß wir gemeinsam die Quelle meiner unkontrollierbaren Ängste finden könnten. Während einer dieser Sitzungen wurde mir klar, daß ich in meinen Phantasien meiner Mutter den Tod wünschte. Dann stellte ich mir vor, daß sie tatsächlich gestorben sei. Die furchtbaren Ängste wurden durch meine Vorstellung ausgelöst, daß ich sie durch diese Phantasien töten könnte oder töten würde, so wie ich meinen Vater getötet hatte. Sobald es mir bewußt geworden war, daß ich ihr den Tod wünschte, trat plötzlich eine große Erleichterung ein. Es war ein entscheidender Durchbruch, und ich wurde zu einer überzeugten Anhängerin der Psychotherapie.
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Ich hatte diese Thanksgiving-Krise kaum überwunden, als ich erfuhr, daß der Leiter von Austin Riggs, ein Psychiater von Weltruf, nach Mountain Brook kommen würde, um dort für die Assistenzärzte ein Trainingsseminar abzuhalten. Will war aufgefordert worden, seine Arbeit vorzustellen, und er hatte darum gebeten, mich präsentieren zu dürfen. Er sagte: >Sie brauchen nicht nervös zu sein; bei dieser Gelegenheit werde ich geprüft, nicht Sie. Ich spreche über Sie, bevor Sie hereinkommen, dann stellt man Ihnen einige Fragen, und dann gehen Sie wieder.< Ich kam in diesen Konferenzraum, den ich nie zuvor betreten hatte; es war eine sehr formelle Umgebung. Eine Menge Männer, alles Psychiater, waren um einen großen Tisch versammelt. Ich glaube, es war keine einzige Frau dabei. Dieser Mann, den ich nie gesehen hatte, fragte mich, ob ich meinen Vater manchmal im Sarg vor mir sähe, ob ich erwartete, ihm nach meinem Tod im Himmel wiederzubegegnen. Er hatte ganz eindeutig die Theorie, daß meine Selbstmordneigungen auf der Vorstellung der Wiedervereinigung mit dem Vater beruhten, und wollte die Richtigkeit seiner These beweisen. Er erwähnte Gloria, die in Austin Riggs Patientin war, und spielte darauf an, daß er eine lesbische Beziehung zwischen uns vermutete. Aber die Fragen, die mich am meisten aufregten, waren die über meinen Vater. Ich war wirklich aufgewühlt und durcheinander, als ich den Konferenzraum verließ. Ich sagte zu Will: >Warum hat er mir solche Fragen gestellt? Ich fand diese Fragen ziemlich grausam.< Er antwortete: >Ich weiß es nicht. Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich es nicht getan.< Es ist sicherlich sehr verführerisch für einen jungen Assistenzarzt, aus einer solchen Situation Gewinn zu ziehen, sie zu nützen, um sich vor einer Patientin aufzuspielen. Vielleicht wußte Will mehr, als er sagte, aber seine Antwort war sehr wichtig für mich. Er hielt zu mir. Ich mußte nicht das Gefühl haben, von einem verschworenen Club von Psychiatern, zu denen er auch gehörte, abgeurteilt und ausgeschlossen zu werden. Nach einem kurzen Besuch zu Haus, zu Weihnachten, setzten bei mir ungewöhnlich starke menstruale Blutungen ein, die nicht mehr zum Stillstand kamen. Das Problem wurde nicht beachtet; da ich so viele somatische Beschwerden hatte, ignorierten sie es. Als sie Goodman endlich benachrichtigten, hatte ich schon sehr viel Blut verloren. Ich wurde auf die Intensivstation gebracht, und dann ging alles sehr schnell. Ich erinnere mich, daß Goodman hereinkam und sagte: >Mein Gott, Sie haben sich so oft schwere Schnittwunden zugefügt, - Sie werden sich nicht auf diese Art zu Tode bluten.< Es war unglaublich, wie stark ich blutete. Es gab keine medizinische Erklärung dafür; es war einfach eine plötzliche hormoneile Störung. Obwohl Goodman und ich nicht in psychosomatischen Termini darüber sprachen, wußten wir, glaube ich, beide, daß der Zeitpunkt kein Zufall war. Ich hatte unmittelbar nach meiner Rückkehr von zu Haus angefangen, unkontrollierbar zu bluten. Ich denke, es war eine körperliche Manifestation meiner seelischen Qualen. Es kamen Leute aus dem Bezirkskrankenhaus, um mir eine Bluttransfusion zu geben. Aber Goodman wollte es selbst machen. Direkt vor meinen Augen wurde er furchtbar wütend auf diesen anderen Arzt, weil er mir die Transfusion geben wollte. Ich fühlte 99
mich geschmeichelt. >Sie glauben, wir sind keine richtigen Ärzte hier!< sagte er. Aber die Blutkonserven kamen aus dem Bezirkskrankenhaus, und der Arzt bestand darauf, es selbst zu machen. Diese Dinge stärkten die Beziehung zwischen Will und mir. Ich fühlte mich gut dabei. Ich glaube, ich wurde ihm wichtig. Ich mußte eine Ausschabung machen lassen und kam ins Bezirkskrankenhaus. Goodman besuchte mich dort und brachte mir Zeitschriften mit, Sportzeitschriften. Er sagte: >Ich weiß nicht, welche Art von Zeitschriften Sie mögen, also habe ich einfach die genommen, die mir gefallen.< Das fand ich sehr anrührend. Es wurde Februar; irgendwie war nicht viel los, und mir fiel die Decke auf den Kopf. Ich organisierte Jux und Tollerei auf der Abteilung, und Goodman sagte mir, ich solle mich bremsen. Meine Retourkutsche war dann: >Wieso, das hier ist ein Ort für Verrückte, also können wir uns auch verrückt aufführen.< Es gab dauernd Beschwerden über mich, aber wegen geringfügiger Dinge. Wir hatten eine Nachtschwester, die niemand mochte. Sie war nicht bösartig, aber inkompetent, schwierig und pickelig. Eines Nachts bauten wir uns alle vor dem Schwesternzimmer auf und fingen an, rhythmisch gegen die Glasscheiben zu trommeln, was sie in Angst und Schrecken versetzt haben muß. Am nächsten Tag nahm Goodman mich ins Gebet und warf mir Grausamkeit vor. Er sagte, für diesen Vorfall gäbe es keine Rechtfertigung, und er wolle keine Erklärung und keine Diskussion. >Das können Sie einfach nicht machen!< Er hatte keine Schwierigkeiten damit, Strafpredigten zu halten. >Anständige Menschen führen sich nicht so auf. Bilden Sie sich ein, Sie wären die einzige auf der Welt, die leidet?< Es war wirklich die moralische Erziehung, die ich zu Haus nie bekommen hatte. Ein anderes Mal organisierte ich auf der Station eine Art Baseballspiel. Es ging ziemlich hoch her. Wie dem auch sei, ich warf einen Ball quer durch den ganzen Tagesraum und warf ihn ungeschickt. Er traf eine Lampe neben einer Frau namens Betty, ein großmütterlicher Typ; sie war manisch-depressiv. Urplötzlich wechselte sie aus ihrer Lethargie in den manischen Zustand über; sie rannte wie eine Wilde durch die ganze Abteilung. Das war furchtbar für mich, weil das eine Frau war, die ich sehr mochte. Daß die Lampe kaputtging, war keine große Sache, aber es war schlimm, daß ich Betty das angetan hatte. Und ich hatte große Angst vor Goodmans Wut, wenn er es erfuhr. Ich versuchte, mit ihm darüber zu sprechen, aber es ging nicht. Er war wütend. Damals hatten sie noch kein Lithium, um Manisch-Depressive zu behandeln. Also war ihr plötzlicher Eintritt in die manische Phase ein wirkliches Problem. Sie hatten keine andere Wahl, als sie nach Carlson I zu verlegen und unter hochdosierte Beruhigungsmittel zu setzen. Goodman war um alle seine Patientinnen und Patienten sehr besorgt, und Betty war seine Patientin. Ich bekam mehr und mehr Angst, daß ich die einzige Beziehung zerstört hatte, die zwischen mir und meinem Selbsthaß stand. Ich wußte, daß sich etwa acht Wochen vorher in Mountain Brook jemand erhängt hatte. In meinem Zimmer war ein gebogenes 100
Leitungsrohr, das über meinem Bett entlangführte. Merkwürdig, daß sie so etwas in den Räumen hatten; es muß ein Teil der Sprinkleranlage gewesen sein. Ich nahm ein rotes Hemd, drehte es zusammen, knüpfte eine Schlinge und schlang es um das Leitungsrohr. Ich stand auf dem Bett, und dieses Bett hatte Rollen. Sobald ich die Schlinge um den Hals hatte, wollte ich es unter mir wegstoßen. Ich fing gerade an, mir die Schlinge um den Hals zu legen, als das Bett in Bewegung geriet und von der Wand abrutschte. Ich stürzte zwischen dem Bett und der Wand zu Boden. Ich fing an zu weinen und weinte fünf Stunden lang ohne Unterbrechung. Die Schlinge hing noch vom Leitungsrohr herab, als die Frau, mit der ich das Zimmer teilte, hereinkam. Sie flippte aus und rannte schreiend den Flur entlang. Goodman handelte sehr schnell, aber ich bin sicher, er hatte es sich reiflich überlegt, bevor er sagte: >Ich schicke Sie in die geschlossene Abteilung hinunter.< Ich bettelte und bettelte. Ich erinnere mich, daß ich mich in einer Zimmerecke verkrochen hatte, wie ein verängstigtes Kind oder ein Tier, das man in die Enge getrieben hat. Ich glaube, als er meine Reaktion sah, war es schwierig für ihn, konsequent zu bleiben. Ich sagte: >Wenn Sie mich unbedingt hinunterschicken müssen, lassen Sie mich nach Carlson I gehen!< Es war eine erbärmliche Szene; ich hatte solche Angst. Selbst jetzt zerreißt es mir noch das Herz, wenn ich daran denke. Er sagte: >Ich würde es tun, wenn ein Bett frei wäre, aber es ist kein Bett frei.< Das zeigte mir wieder, daß er nicht einfach grausam war, sondern aus Verantwortung handelte. Sie schickten in solchen Fällen immer einen mit Segeltuch ausgeschlagenen Rollwagen, in dem alle persönlichen Gegenstände abtransportiert wurden. Der Wagen wurde hereingebracht, als Goodman noch da war. Ich bat ihn: >Dann schicken Sie mich nur auf Besuch hin!< Das bedeutete, daß man bald auf sein Zimmer zurückkommen würde. Er sagte: >Das geht nur für zwei Tage, und das ist nicht lange genug. Ich werde Sie jeden Tag besuchen< Er tat wirklich, was er konnte. Also verlegten sie mich nach Carlson II. In den Isolierzellen arbeiteten sie die ganze Zeit mit Eisbeuteln; sie fuhren schwere Geschütze auf. Wie sich herausstellte, war es nicht so furchterregend wie in meinen Phantasien, aber es war alles andere als ein angenehmer Ort. Er fing auch an, mich mit einem Medikament zu behandeln, das damals gerade erst entwickelt worden war, Prolixin. Es war das neueste Antipsychotikum auf dem Markt. Ich bekam es injiziert, und eine Dosis reichte für zwei Wochen. Aber sie wußten nicht viel über Dosierungen damals; sie wußten überhaupt nicht viel. Ich reagierte sehr heftig auf Prolixin. Es machte mich so ruhelos, daß ich buchstäblich nicht stillsitzen konnte. Am Tag nach der ersten Injektion spielte ich siebzehn Stunden lang Ping Pong. Sie können sich vorstellen, wie stark die Wirkung war. Nach zwei Wochen war ich dann allmählich soweit, daß ich mich hinsetzen konnte. Dann kamen sie, um mir eine neue Injektion zu geben. Wenn ich sie kommen sah, versuchte ich, wegzulaufen. Ich stritt mit Goodman und bat ihn inständig, das Mittel abzusetzen. Ich glaube, er war so wütend über die Sache mit Betty und so erschrocken über meinen Selbstmordversuch, daß er es nicht wirklich durchdacht hatte. Sie gingen davon aus, daß die Schockbehandlung sich abgenutzt hatte; also versuchten sie es mit Prolixin. Aber in meiner Sicht war es eine persönliche Krise zwischen mir und ihm.
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Meine Mutter kam mich über Ostern besuchen. Sie half mir sehr in dieser Krise; es war das erste Mal, daß sie mir zu Hilfe kam, daß sie die Dinge richtig sah und er unrecht hatte. Ich glaube auch, ich ließ es ihn nicht so leicht vergessen. Nach einem Gespräch mit dem Chefarzt, dem er unterstand, setzten sie das Prolixin schließlich ab. Obwohl ich nur sechzehn Tage lang auf Carlson II war, bekam ich bis Mitte Mai meine persönlichen Sachen nicht zurück. An einem sehr heißen Tag im Mai wollte ich mit drei Freundinnen ein Picknick machen. Es war einer dieser merkwürdig schwülen Tage, wie man sie in dieser Gegend im Frühling manchmal hat. Wir nahmen etwas Bier und Wein mit und gingen über die Nautilus-Brücke, eine Brücke, die über den Hudson River führt. Wir hatten ein sehr schönes Uferstück entdeckt, aber um dahin zu kommen, mußten wir durch schwarzen, stinkenden Schlamm waten. Auf dem Rückweg wollte ich nicht noch einmal durch diesen übelriechenden Matsch waten. Ich fand es einfach zu ekelhaft. Also beschloß ich, durch den Hudson zu schwimmen. Jennifer, eins der Mädchen, die dabei waren, wollte mit mir hinüberschwimmen. Die beiden anderen nahmen unsere Schuhe und Strümpfe. Wir sprangen ins Wasser, und Jennifer, die keine so gute Schwimmerin war wie ich, wurde von der starken Strömung mitgerissen. Sie trieb flußabwärts, und ich hatte Angst, daß sie ertrinken würde. Ich rief ihr zu, sie solle keine Panik aufkommen lassen, aber das Rauschen des Wassers war unheimlich laut da draußen. Sie wurde direkt unter der Brücke vom Wasser mitgerissen, wo die Strömung am stärksten war. Ich schrie immer wieder, sie solle sich treiben lassen. Ich dachte, solange sie nicht in Panik geriete, würde sie schließlich irgendwo an Land kommen. Bevor ich unter die Brücke gespült wurde, kam ich an einen Pfeiler, und die Kraft der Strömung, besonders im Frühling, war enorm. Ich bahnte mir einen Weg zu einer breiten, flachen Stelle des Flusses, wo das Wasser sich verlief. Da gab es keine Strömung, und ich konnte mich einfach hinsetzen. Ich hatte erst Angst um mich und dann Angst um Jennifer. Wieder einmal war es passiert, wieder war ich durch mein unüberlegtes Handeln für den Tod eines Menschen verantwortlich. Wir schafften es beide bis zum anderen Ufer. Einige Männer, die an den Elektrizitätsleitungen arbeiteten, riefen die Polizei, als sie uns sahen. Die Polizisten kamen, stellten uns alle möglichen Fragen und brachten uns dann nach Mountain Brook zurück. Ich fand eine Nachricht vor, daß Goodman mich sehen wollte, sobald ich mich umgezogen hatte. Ich wußte, was auf mich zukam — das heilige Donnerwetter! Ich hatte etwas sehr Dummes und Unüberlegtes getan, aber es war kein Akt bewußter Rebellion. Ich hatte einfach nicht mit der starken Strömung gerechnet und auch nicht bedacht, daß der Fluß durch Industrieabwässer schwer verseucht war. Goodman wetterte über unsere Dummheit. Er rief die Stelle für Seuchenbekämpfung und toxische Krankheiten an, um herauszufinden, welche Injektionen wir brauchten. Wir bekamen mehr Spritzen als die Teilnehmer einer Tropenexpedition. Er sagte: >Wißt ihr, das einzige, was mich beruhigt, ist die Vorstellung, wie viele Spritzen ihr ertragen müßt!< Er war wirklich sauer, aber seine Wut störte mich nicht, weil immer Fürsorge dahinterstand. Wir stritten uns, aber wir waren nicht in Gefahr, uns zu entfremden. Etwa um diese Zeit teilte meine Mutter Goodman mit, daß sie meinen Klinikaufenthalt nicht mehr finanzieren könne. Mountain Brook war damals teuer, sehr teuer, es kostete um 30 000 Dollar pro Jahr. Sie wandte sich an meine Großeltern, aber die sagten, sie 102
solle mich in eine staatliche Klinik schicken. Ich war völlig vernichtet, als Goodman mir mitteilte, daß ich Mountain Brook verlassen müßte. Ich klagte ihn an und warf ihm vor, sich nicht genug für mich eingesetzt zu haben. Ich fing an zu drohen, ich würde Karbolsäure trinken oder mich von der Nautilusbrücke stürzen. Ich war so verzweifelt; ich wußte, ich war nicht bereit, in die Welt entlassen zu werden. Ich glaube, er versuchte wirklich, sich einzureden, daß ich es schaffen könnte. Ich sagte: >Was soll ich denn machen? Ich weiß gar nicht, was ich jetzt anfangen soll.< Er sagte: >Was machen Mädchen in deinem Alter normalerweise?< >Ich denke, sie gehen aufs College oder arbeiten. Ich kann das nicht. Und wo soll ich wohnen?< Goodman sagte, ich könne nicht zu Haus leben. Ich war wieder wie ein völlig verängstigtes kleines Kind. Ich fühlte mich total verlassen. Ich hatte sogar Dissoziationszustände, in denen ich nicht wußte, wo ich war. Das Glasscherben-Schlucken nahm auch wieder zu, glaube ich, aber ich erzählte niemandem etwas davon. Ich geriet wieder in tiefe Verzweiflung, weil ich wußte, daß ich nicht in Ordnung war. Goodman sagte, daß diese Drohungen ihm angst machten. Wenn ich nicht damit aufhörte, hätte er keine andere Wahl, als mich in eine staatliche Einrichtung zu schicken. Ich wußte, daß es in staatlichen Kliniken keine Psychotherapie gab. Therapie war inzwischen für mich sehr wichtig geworden. Ich hatte ihre Wirkung kennengelernt und wußte, daß sie mir guttat. Aber wie ich Psychotherapie von der Persönlichkeit Will Goodmans trennen sollte, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen. Also hörte ich mit den Drohungen auf. In unserer letzten Sitzung sprach er über seine Liebe zu mir, und daß sich daran durch die Entfernung nichts ändern würde. Es hörte sich nicht so an wie etwas, das er routinemäßig sagte oder das ihm leicht von den Lippen ging. Da er meinen Hintergrund kannte und wußte, daß ich sexuell mißbraucht worden war, sagte er irgendwann im Lauf dieses Gesprächs explizit, daß diese Liebe nie sexuelle Formen annehmen werde. Es tröstete und beruhigte mich, daß er das sagte. Ich kam nach Hause. Eine andere Möglichkeit schien es nicht zu geben, und ich war verschlossen, depressiv, unsicher und ängstlich. Ich tühlte mich einsam. Die meisten meiner früheren Freundinnen waren auf dem College, hatten Jobs oder führten einfach ein anderes Leben. Meine einzigen wirklichen Freundinnen waren in der Psychiatrie. Und ich ging wieder zu Jameson in Therapie, was sehr problematisch war. Meine Mutter machte mich mit einem jungen Assistenzarzt des Roosevelt-Krankenhauses bekannt. Sie kannte seine Familie, und ich verabredete mich mit ihm zum Essen. Er war sehr groß und kräftig, und ich war sehr von ihm beeindruckt. Ich ging mit auf sein Zimmer, um vor dem Essen einen Aperitif zu trinken, und er vergewaltigte mich. Dann stand er auf, ging ins Bad und wusch sich; als er wieder herauskam, bat er mich um Verzeihung. Ich ging mit ihm essen, dachte aber den ganzen Abend darüber nach, wo ich mein Auto gelassen hatte und wie ich wieder aus New York City herausfinden sollte. Ich war bestimmt mehr als zweihundert Mal in meinem Leben nach New York hineingefahren und wieder hinaus, aber ich war durch dieses Erlebnis völlig verstört. Ich schämte mich und fühlte mich für das, was passiert war, verantwortlich. Als ich Jameson davon erzählte - ihm, dem Psychiater, der mir sagte, daß ich mich asexuell kleidete und der mich fragte, warum ich den Kontakt mit Männern mied -, sagte 103
er mir, was an diesem Abend geschah, sei meine Schuld gewesen. Ich war überzeugt, daß er recht hatte. Ich glaube, von da an begann ich darüber zu brüten, wie ich mich umbringen würde. Ein Teil der Krankheit ist der völlige Verfall der Fähigkeit zur Alternativenbildung. Es war mir absolut nicht möglich, zu sehen, daß es auf der Welt vielleicht noch einen anderen Therapeuten gab, daß ich mich verteidigen könnte oder daß nicht alles, was Jameson sagte, richtig war. Ich fing an zu trinken, und vor meinen Therapiesitzungen mit Jameson trank ich sehr viel, aber ich glaube nicht, daß er es je bemerkte. Ich sagte ihm, daß ich unglücklich sei und keinen Sinn in meinem Leben sähe. Aber da ich einen Job hatte und allein lebte - ich hatte mir eine eigene Wohnung gemietet -, sagte er: >Es läuft doch alles phantastisch.< Das war mir keine Hilfe; er hörte einfach nicht zu. Er blendete meine Realität aus und setzte dafür das rosige Bild ein, das er sehen wollte. Meine Verzweiflung wuchs und wuchs. Ich bat Jameson, mir ein Schlafmittel zu verschreiben. Nachdem ich ihn immer wieder bearbeitet hatte, gab er mir schließlich ein Rezept für fünf Portionen Tuinol. In der Nacht fälschte ich das Rezept mit großer Sorgfalt. Als ich morgens zur Arbeit ging, steckte ich das Rezept ein, aber ich verlor es. Sie können sich vielleicht ein Bild machen, an welchem Punkt der Verzweiflung ich angekommen war, wenn ich Ihnen erzähle, daß ich Mülltonnen am Broadway durchwühlte, unter den Augen der Stadtstreicherinnen, die mich mißtrauisch beobachteten. Schließlich lief ich zurück zu dem Ort, an dem ich meine Teepause gemacht hatte. In einer Ecke lag ein Haufen Müll, den sie gerade wegfegen wollten. Ich stürzte darauf zu und bemerkte ein kleines Stück weißes Papier. Es war mein Rezept; ich war so erleichtert. Ich ging in den Drugstore und lenkte den Apotheker ab, damit er keinen Verdacht schöpfte und nicht bei Jameson anrief. Ich hatte seit vier Tagen ein Zimmer in meiner Wohnung vermietet, und meine neue Mitbewohnerin sagte mir, sie würde bis elf Uhr abends in der Bibliothek arbeiten. Etwa um halb acht nahm ich zehn Schlaftabletten. Ich hatte furchtbare Angst. Um mit der Panik fertig zu werden und die Sache zu Ende zu bringen, nahm ich die restlichen dreißig Tabletten. Es war eine tödliche Dosis. Ich war völlig narkotisiert; kurz bevor ich bewußtlos wurde, rief ich Jameson an. Er sagte mir, ich solle in zehn Minuten wieder anrufen. Meine Mitbewohnerin kam zufällig früher zurück; sie hatte ein Buch vergessen. Jameson rief an. Sie sagte: >Lindsey kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen. Sie liegt in ihrem Zimmer und schluchzt.< Das Schluchzen, das sie hörte, war in Wirklichkeit mein keuchendes Atmen. Jameson rief die Ambulanz, und sie brachten mich ins Krankenhaus. Ich war drei Tage ohne Bewußtsein. Später sprach ich mit dem Notarzt, der mir sagte, als ich eingeliefert wurde, sei mein Zustand auf Messers Schneide gewesen. Offenbar waren sie sich gar nicht sicher, ob sie mich durchbringen würden. Als ich zu mir kam, war ich immer noch im Rausch. Aber als die Wirkung des Mittels nachließ, fühlte ich nur noch Verzweiflung und Leere. Ich war wütend, daß es mir nicht gelungen war, mich umzubringen. Ich wollte einfach sterben. Es war keine Erleichterung, noch am Leben zu sein. Sie beschlossen, daß ich wieder Langzeitbehandlung 104
brauchte und in eine Klinik eingewiesen werden müßte, und irgendwie war Geld für meine Behandlung da. Allerdings wollten sie mich nicht nach Mountain Brook zurückschicken. Seit ich selbst in diesem Bereich arbeite, weiß ich, wie Psychiater oft mit solchen Dingen umgehen. Vielleicht glaubten sie, ich hätte nur versucht, nach Mountain Brook zurückzukommen. Aber hinter diesem Selbstmordversuch stand eine wirkliche Tötungsabsicht; es war nicht nur eine verzweifelte Geste, ein Hilfeschrei an die Umwelt. Ich meine, wie man das macht, wußte ich auch, aber in diesem Fall war es keine Inszenierung. Sie brachten mich ins Adolescent Treatment Center, ATC (Psychiatrisches Behandlungszentrum für Jugendliche), eine neue, experimentelle Einrichtung, die von einem sehr angesehenen Krankenhaus in New York finanziert wurde. Dieser Ort war höchst eigenartig. Er hatte mit Mountain Brook nicht die mindeste Ähnlichkeit. Es gab ein ungeheures Maß an Aufruhr, Vandalismus, Alkoholmißbrauch, Ausreißen. Der Konkurrenzkampf um den Status der Verrücktesten war enorm. Eine junge Frau wurde eingeliefert, weil ihr >Symptom< Prostitution war. Sie brachte den anderen ihre Kniffe bei. Einer der Jungen dort warf sich vor die U-Bahn. Er überlebte, verlor aber Arme und Beine. Mein bester Freund dort war ein junger Mann namens Tim. Er beging Selbstmord, kurz nachdem er das Zentrum verlassen hatte. Eigentlich war es in meinem Fall keine Frage, daß ich eine Hauptkandidatin für Psychotherapie war. Aber in dieser Einrichtung hatten sie von der Arbeit mit psychisch Kranken überhaupt keine Ahnung. Ich kenne niemanden, der dort irgendwelche Fortschritte machte. Ich hatte einen Therapeuten, einen ausländischen Psychiater, der kaum Englisch konnte und meinen Namen nicht verstand. In den ersten drei Monaten - ich war neun Monate da - nannte er mich >Linseed<. Während unseres ersten Gesprächs sagte er mir: >Wenn Sie schwere Ängste bekommen, bevor Sie sich selbst verletzen oder etwas zerschlagen, benutzen Sie das hier< - und drückte mir eine Trillerpfeife in die Hand, eine Trillerpfeife für Kinder, aus rotem Plastik, die an einem Bändchen hing. Ich war verwirrt, verblüfft, peinlich berührt; vor allem aber machte es mir angst, daß ein Mensch, der so dachte, für meine Behandlung verantwortlich sein sollte. Eine schwer gestörte junge Frau, mit der ich das Zimmer teilte, war verheiratet. Stephen, ihr Mann, wollte sie besuchen, aber sie erlaubten es nicht. Irgendwie fand er heraus, welches Fenster zu unserem Zimmer gehörte. Anders als in den meisten Einrichtungen, in denen ich war, ließ dieses Fenster sich öffnen, allerdings nur einen schmalen Spalt, durch den höchstens eine Katze hätte entkommen können. Durch diesen Fensterspalt sprach er also mit Candy. Da Candy die Abteilung nicht verlassen durfte, ich aber hinauskonnte, suchte ich Stephen auf und sagte ihm, er solle sich nicht die Mühe machen, heimlich zum Fenster hochzuklettern, um mit ihr zu sprechen, sondern einfach auf seinem Besuchsrecht bestehen. Ich glaube, Candy war nicht länger als zwei oder drei Wochen da. Sie war sehr schwer gestört, aber Stephen bekam von ihrer Familie keine Hilfe, und er konnte es sich einfach nicht leisten, ihren Aufenthalt dort zu bezahlen. Nachdem sie fort war, fing ich an, sie und Stephen zu Haus zu besuchen; ich brauchte etwa eine Stunde bis zu ihrer Wohnung. Das war natürlich völlig illegal. Aber wir kamen alle mit diesen Dingen durch. Da in dieser Einrichtung nur etwas in Bewegung geriet, wenn man agierte, steigerte ich mich in dieser Hinsicht bis ins Extrem. Als Antwort darauf setzten sie mich unter Drogen. Es ging von Sodiumamytal-Injektionen, siebenhundert Milligramm alle vier 105
Stunden - genug, um einen Elefanten einzuschläfern -, bis zu tausendzweihundert Milligramm Thorazin. Ich lief wie ein Zombie herum, bis ich mich daran gewöhnte. Ich hörte auf zu essen. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages während einer Therapiesitzung in Gegenwart meines Psychiaters essen sollte. Ich verhielt mich wie ein Kleinkind: Wenn er nicht hinsah, stopfte ich das Kartoffelpüree, die Erbsen und das Hühnerfleisch unter das Kissen. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt. Es war einfach grauenhaft in dieser Klinik. Aber es waren zwei Männer da, die mir halfen. Einer war ein Berater, der andere ein Pfleger. Ich ging so tief in die infantile Regression, daß es wahrscheinlich für ein ganzes Leben reicht. Ich lebte alles aus. Aber es wurde allmählich gefährlich, daß ich nicht aß. Ich versteifte mich einfach darauf und verweigerte drei Monate lang die Nahrung. Sie versuchten es mit Zwangsernährung, was zu sehr unangenehmen Kämpfen führte. Es war ständig jemand zu meiner Bewachung da, aber eines Tages lenkte ich die Person ab, lief zum Fenster und schlug die Scheibe ein, wobei ich mich schwer am Arm verletzte. Zufällig ging unten gerade der Leiter der Einrichtung vorbei. Sie schickten mich in die Gracie-Square-Klinik, was eine Art Bellevue für Reiche ist. Ich kam in die medizinische Abteilung. Ich fand die Behandlung da grausam. An dem Ort, den ich gerade verlassen hatte, herrschte trotz aller Mängel - und das waren nicht wenige — eine gewisse Wärme. Unter den Menschen dort gab es ein gewisses Maß wirklicher Wärme. In der Gracie-Square-Klinik waren sie kalt und permanent wütend auf die Patienten, die sie versorgen sollten. Ich drehte die Glühbirnen heraus, zerbrach sie und aß die Glassplitter. Einmal aß ich praktisch ein ganzes Glas auf. Eine Krankenschwester kam herein, als ich gerade ein Stück in den Mund steckte. Sie regten sich sehr darüber auf, machten Röntgenaufnahmen und Tests, aber sie konnten nichts machen. Ein Chirurg kam herein, ein sehr sadistischer Typ, der mir in allen Einzelheiten ausmalte, wie ich sterben würde. Er sagte, während des Verdauungsprozesses würden die Glasscherben meine Magenwände in Fetzen reißen und ich würde an inneren Blutungen zugrunde gehen. Aber nichts dergleichen geschah. Ich kann mich nicht erinnern, durch die Glasesserei je physischen Schaden davongetragen zu haben, von Bauchschmerzen abgesehen. Ich hatte dort meinen ersten psychotischen Schub; ich wußte nicht, wo ich war. Ich glaubte, ich wäre auf einer Kegelbahn. Ich aß immer noch nicht. Ich stand unter Medikamenten. Ich war extrem unterernährt, aber ich verlor nicht weiter an Gewicht, weil ich unter Verstopfung litt. Ich kam in einen Zustand schwerer Selbstintoxikation. Eine Krankenschwester sagte: >Sie können keinen Haferbrei essen und kein Apfelmus, aber Sie können Glas essen!< Jedenfalls fing ich wieder an zu essen, nahm ein bißchen zu, und sie schickten mich ins ATC zurück. Ich glaube, ich hatte langsam genug von diesem Ort. Ich wollte da raus. Nach acht oder neun Monaten wurde ich entlassen. Ich ging zurück in die Wohnung, die ich vorher gehabt hatte, und war für kurze Zeit wieder bei Jameson. Stephen, Candys Mann, kam mich besuchen. Er hatte sich von ihr getrennt, nachdem sie eines Nachts versucht hatte, ihn zu kastrieren, als er schlafend dalag. Er war auf 106
der Suche nach einer Wohnung, einem neuen Job, einem Neuanfang in New York. Sein Leben war ein einziges Chaos. Er versuchte, sich eine neue Existenz aufzubauen und als alleinerziehender Vater für ein kleines Kind zu sorgen. Wir hockten zusammen und waren wirklich nur Freunde. Ich war zu durcheinander, um es als eine Liebesbeziehung zu betrachten, aber ich fing an, ihn sehr zu mögen. Meine Mutter unterstützte die Beziehung, ich glaube, weil sie endlich nicht mehr allein für mich verantwortlich sein wollte, aber auch, weil sie Stephen sehr gern hatte. Sie hatte hohe moralische Maßstäbe, aber sie arrangierte trotzdem zwei Reisen für uns, einmal nach Florida und einen Skiurlaub, während Stephen noch verheiratet war. Sie übte beharrlich und auf subtile Weise Druck auf mich aus - und in gewisser Weise auch auf ihn -, eine sexuelle Beziehung einzugehen. Aber es war nicht alles eitel Sonnenschein. Es gab Hunderte von Episoden, aber dies ist vielleicht die verrückteste. Stephen regt sich immer noch darüber auf, wenn er daran denkt, daß ich es tun konnte, während er im Nebenzimmer war. Es war in meiner Wohnung; ich stand vor dem Spiegel und wollte mein Gesicht völlig entstellen. Ich sah mein Gesicht im Spiegel an, nahm ein Glas, zerschmetterte es und schlug mir den gezackten Rest mit voller Wucht ins Gesicht. Im allerletzten Moment veränderte ich die Zielrichtung und traf meine Stirn. Das Blut floß in Strömen. Es war eine furchtbare Wunde. Ich wurde von der Polizei ins Krankenhaus gebracht. Ich erinnere mich an den Polizisten, der bei mir war. Er schwitzte, während er versuchte, die Wunde zusammenzudrücken. Er war sehr nervös, weil ich soviel Blut verlor. Wieder war ich in einem furchtbaren Konflikt, weil er so lieb zu mir war und dachte, ich hätte einen Unfall gehabt. Ich hatte ihm gesagt, ich sei gestürzt. Er hatte keine Ahnung, daß ich mir die Wunde selbst zugefügt hatte. Aber ich wußte es. Der Chirurg, der mich behandelte, war hervorragend, aber die Narbe auf meiner Stirn sieht man immer noch. Jameson glaubte die Geschichte mit dem Unfall nicht, aber ich sagte ihm nie die Wahrheit. Kurz nach diesem Zwischenfall sagte er mir, daß er mich nicht mehr behandeln könne. Jason Gold, der frühere Leiter von Riverview, der meine Mutter damals überzeugt hatte, daß ich Hilfe brauchte, sagte mir, daß ich meine Möglichkeiten allmählich erschöpft hätte. Psychiater und Psychotherapeuten wollten nicht mehr mit mir arbeiten, weil ich als ein zu großes Risiko betrachtet wurde. Schließlich stimmte Novick, ein bekannter Psychiater, zu, mich zu behandeln. Stephen besuchte mich jeden Tag, aber über einen langen Zeitraum war ich so daneben, daß ich nicht einmal wußte, ob er dagewesen war oder nicht. Er ging selbst durch eine sehr schwere Phase. In seinem Job war er gekündigt worden, sein Kind war in Pflege, und seine Ehefrau war verrückt. Er war am Boden zerstört. Eines Abends ging Stephen in eine Kneipe und ließ sich ziemlich vollaufen. Als er die Kneipe verließ, kaufte er irgendwo einen Blumenstrauß und wollte ihn um Mitternacht in der Klinik abgeben. Weil es so spät war, weigerte der Pförtner sich jedoch, die Blumen anzunehmen. Aber Stephen ließ sich nicht beirren. Auf der anderen Straßenseite war eine Baustelle, wo gerade ein neuer Flügel der Klinik errichtet wurde. Er wußte, daß er durch den unfertigen Neubau das Fenster der Isolationszelle erreichen konnte, in der ich untergebracht war. 107
Er schlich sich am Wachmann vorbei und ging die Treppe hinauf, die bis zum dritten Stock fertiggestellt war. Ich war im achten Stock. Dann nahm er eine Bauleiter und erstieg die nächsten Stockwerke, indem er jedesmal die Leiter hinter sich hochzog. Er schaffte es bis zum siebenten Stock, wo eine überdachte Passage gebaut wurde, die beide Gebäudeteile verbinden sollte. Er kletterte auf das Dach der Passage und lehnte die Leiter gegen die Wand, direkt unter dem Fenster der Isolationszelle. Er stieg auf die Leiter und schaffte es, sich dem Fenster bis auf einen halben Meter zu nähern. Inzwischen war es vermutlich ein Uhr morgens; er war völlig betrunken und balancierte acht Stockwerke hoch mit einem Blumenstrauß in der Hand auf einer wackeligen Leiter. Außerdem waren wir in New York — ein Mann, der nachts auf Dächern herumklettert, kann dort leicht erschossen werden. Ich bin in der Isolierzelle, kann wie üblich nicht schlafen und höre plötzlich, wie mein Name gerufen wird: >Lindsey, Lindsey, Lindsey.< Ich höre es immer wieder und gehe zu dem Pfleger, der Nachtwache hat und vor sich hindöst. Ich sage zu ihm: >Jemand ruft meinen Namen.< Er sagt: >Ach, gehen Sie wieder schlafen, Sie haben eine Halluzination.< Stephen mußte wieder hinunterklettern, von Stockwerk zu Stockwerk, die Leiter hinter sich herziehend. Er schlich sich wieder am Wachmann vorbei und legte die Blumen an der Tür der Klinik ab. Auch das ist eine romantische Liebesgeschichte, aber ich weiß nicht, ob es die Art Geschichte ist, die man später seinen Enkeln erzählt. Während dieses Klinikaufenthalts war ich ziemlich psychotisch. Ich glaube, daß es auch diesmal etwas mit meiner Nahrungsverweigerung zu tun hatte. Während eines Schubs sah ich mich über dem Wasser stehen und wollte mich mit einem eleganten Kopfsprung hineinstürzen. In Wirklichkeit stand ich auf dem Bett, hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und machte einen Kopfsprung auf den Fliesenboden. Ich wurde bewußtlos. Stunden später wachte ich angeschnallt auf einer Trage auf. Die einzige Person, die ich aus meiner Position heraus sehen konnte, war eine sehr alte Frau, die durch Schläuche in der Nase künstlich ernährt wurde. Ich wußte, daß sie wegen meiner Nahrungsverweigerung nervös wurden, und bildete mir ein, ich sei diese alte Frau. Ich fing an zu glauben, sie wäre ich. Raten Sie mal, wer zur Tür hereinkommt? Jameson! Und wessen Patientin ist diese fünfundachtzigjährige Frau? Seine! Jetzt bin ich völlig davon überzeugt, daß ich diese Frau bin. Er bleibt neben der Trage stehen — ich bin festgebunden — und sagt: >So trifft man sich also wieder<, oder etwas ähnlich Absurdes. >Was tun Sie hier?< Ich sage: >Ich bin senil.< Er sagt: >Wie alt sind Sie?< >Fünfundzwanzig.< >Ein bißchen jung, um senil zu sein.< Und er geht zu der alten Frau, was mich absolut in dem Glauben bestärkt, daß ich das bin. An diesem Punkt war ich völlig sicher, daß ich die Klinik nie verlassen würde. Ich kann mich nicht erinnern, dort je gebadet zu haben. Ich trug die ganze Zeit meine Jeans. Ich glaube, sie hatten es aufgegeben, mich zu einem Kleiderwechsel zu bewegen. Ich schlief in meinen Jeans. Ich war psychotisch. Eines Tages wurde ein neuer Patient eingeliefert, ein Mann, der während meines Aufenthalts in Mountain Brook dort 108
Psychiater gewesen war. Das gab mir wirklich den Rest. Ich konnte innere und äußere Realität nicht mehr auseinanderhalten. Eines Morgens beschloß ich, den Isolierbereich zu verlassen. Ich setzte mir das Ziel, zwei Stunden lang draußen zu bleiben. Zu diesem Zeitpunkt schlossen sie mich nicht mehr ein; ich war so total verängstigt, daß sie mich gar nicht hinausbekamen. Ich verließ den Isolierbereich und setzte mich zu einer Gruppe von Freunden aus der Klinik. Celeste, eine Frau, die manisch-depressiv war, erzählte mir immer, was ich machte und was mit mir los war, wenn ich zu sehr daneben war, um es selbst zu merken. Sie sagte, ich hätte Schreie von mir gegeben wie ein Schwein, das geschlachtet werden soll. Sie sagte, es seien die schrecklichsten Laute gewesen, die sie je von einem menschlichen Wesen gehört habe. Plötzlich kam eine Gruppe von Ärzten vorbei und verschwand hinter den Türen der geschlossenen Abteilung. In Panik rannte ich ihnen nach und hämmerte gegen die verschlossene Tür, um wieder hineinzukommen. Sie bereiteten eine Schockbehandlung vor und waren sehr wütend über die Störung. Ich war zurückgekommen, und sie waren sauer. Ich drehte mich um und wollte in mein Zimmer gehen, und da stand ein kleiner alter Mann vor mir, splitternackt. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Ich stieß einen gellenden Schrei aus, und eine Krankenschwester, die in der Nähe war, machte sich über mich lustig: >Haben Sie wirklich noch nie einen nackten Mann gesehen?< Ich kämpfte gegen das Bedürfnis an, zu halluzinieren. Es war fast orgiastisch, nicht in einem angenehmen Sinn, aber genauso machtvoll. Es war so stark wie ein elementares biologisches Bedürfnis. Und das ist die beste Erklärung, die ich jemandem geben kann, der das nie durchgemacht hat. Ich versuchte, diesen Drang im Zaum zu halten, bis ich an einem sicheren Ort war, wo ich den Halluzinationen ungehindert freien Lauf lassen konnte. Es gab da einen Pfleger namens Russell; es war ein imposanter älterer Schwarzer, der einfach wundervoll zu mir war. Er sah, in welchem Zustand ich mich befand. Er brachte den nackten Mann irgendwo anders hin und sagte: >Es tut mir leid, Lindsey. Wir bereiten diesen Mann gerade für die Schockbehandlung vor. Sie können jetzt nicht in Ihr Zimmer gehen.< Russell fand ein anderes Zimmer für mich. Er wußte, was in mir vorging und daß ich allein sein mußte. Er schloß die Tür. Dann fingen die Halluzinationen an. Mein Kopf und mein Körper lösten sich voneinander. Mein Kopf blieb auf dem Kissen liegen, während mein Körper in der Luft schwebte, immer dünner und durchsichtiger wurde und sich in Rauch auflöste. Novick, der Psychiater, kam in mein Zimmer und sagte: Erzählen Sie mir ganz genau, was jetzt mit Ihnen vorgeht.< Ich erzählte es ihm. Er sagte: >Das ist keine Halluzination, das ist eine Phantasie<, was nicht stimmte, aber er sagte es. Dann fragte er mich: >Wollen Sie nach Haus?< Es war, als würde ein Schalter umgelegt. Ich war aus der Psychose heraus. Ich konnte nach Haus. Mit ein paar Sätzen hatte er die Realität total verändert. Dann ging ich mit vollen Segeln in die manische Phase. Ich platzte vor Energie. Ich lachte und weinte abwechselnd. Ich duschte und wusch mir das Haar. Mein Haar war so verfilzt, daß Celeste zwei Stunden brauchte, um es durchzukämmen. Als Novick das alles sah, entschied er, mich nicht sofort zu entlassen, sondern einen allmählichen Übergang zu schaffen. Ich fing an, tagsüber in meine Wohnung zu gehen, und abends kehrte ich in die Klinik zurück, was sich als guter Plan erwies. 109
Ich glaube, ich sagte mir damals, daß ich alles getan hatte, was Irre tun. Ich hatte wirklich das gesamte Repertoire des Verrücktseins durchgespielt. Natürlich war ich immer noch weit davon entfernt, gesund zu sein, aber diese Erfahrung war abgeschlossen. Ich wurde aus der Klinik entlassen, war aber physisch in einem ziemlich kritischen Zustand. Ich wog nur noch zweiundvierzig Kilo, und Novick sagte, wenn ich noch zwei Kilo abnähme, würde ich sterben. Ich sah aus wie ein KZ-Opfer. Ich konnte nicht sitzen, weil mein Hinterteil nur noch aus Knochen bestand. Es sah also so aus, als ob ich zwar das Verrücktsein hinter mir hätte, aber nun an den Folgen der Magersucht sterben müßte. Novick ließ mich die Medikamente absetzen. Er sagte: >Man warnt mich, wenn ich Ihnen die Medikamente nicht mehr gebe, werden Sie sich umbringen.< Als sie das letzte Mal abgesetzt wurden, hatte ich all das Glas gegessen. >Aber wenn Sie die Mittel weiter nehmen, werden Sie sterben.< Also setzte er alles ab. Sie schickten mich zu einem Schlucktest nach Mount Sinai und stellten fest, daß die Peristaltik gestört war. Ich konnte mit Mühe kauen, aber was ich schluckte, kam mir wieder zum Mund heraus. Ich fing an, Phenothiazine zu nehmen. Ich ging nach Haus, in meine Wohnung. Ich nahm allmählich zu, war aber in einer ziemlich schweren Depression. An meinem ersten Sonntag zu Haus packte Stephen einen Picknickkorb, fuhr mit mir an den Fluß und fragte mich, ob ich ihn heiraten wolle. Meine Antwort auf diesen Antrag war: >Du hast wohl einen Sprung in der Schüssel!< Ich sagte ihm: >Ich verstehe nicht, warum du mich heiraten willst, nachdem du dich endlich aus der Beziehung zu dieser anderen Verrückten befreit hast.< Ich glaube, er war durch meine Antwort teils beleidigt, teils erleichtert. >Verglichen mit ihr bist du höchstens eine drittklassige Neurotikerin!< Ich denke, Stephen hat mein Potential, gesund zu sein, immer erkannt. Aber letzten Endes war es ganz selbstverständlich, daß wir heirateten. Ich liebte Stephen. Ich glaube nicht, daß ich in meiner Liebesfähigkeit je grundlegend beeinträchtigt war. Ich hatte auch das Gefühl, meiner Mutter gegenüber eine Schuld abtragen zu müssen. Sie hatte durch mich viel zu leiden gehabt, und ich mußte etwas dagegen tun. Durch meine Ehe mit Stephen wollte ich sie versöhnen. Ich versuchte, ein Kind aufzuziehen, und war dafür ungefähr so gut ausgestattet wie ein kleines Mädchen. Tatsächlich milderte es aber meine Schuldgefühle, als der Therapeut, zu dem ich damals ging, mir sagte: >Da versuchen Sie nun, ein Kind zu versorgen, und sind eigentlich selbst noch ein Kind.< Es war eine harte Zeit. Ich stand oft am Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Ich sah die Leute zur Arbeit gehen. Ich sah sie an, und sie erschienen mir fast wie übernatürliche Wesen. Stephen nahm mir in dieser Zeit alle Pflichten und Belastungen ab. Ich sah zwei Filme, die mich tief beeindruckten. In The Night of the Iguana (>Die Nacht des Leguan<) spielt Richard Burton einen aus seinem Amt ausgestoßenen Priester, der durch das Delirium Tremens geht. In dieser Nacht finden zwei wichtige Gespräche statt, eins mit einer altjüngferlichen Frau, die mit ihrem alten Vater die ganze Welt bereist hatte. Der ausgestoßene Priester fragte sie, ob sie je ein sexuelles Erlebnis gehabt 110
habe. Sie sagt, nur eins: Ein Gondoliere bat sie um ein Stück ihrer Unterwäsche und vergrub sein Gesicht darin. Der Priester sagt: >Das ist ekelerregend.< Und ich erinnere mich an ihre Antwort: >Nichts Menschliches ist ekelerregend.< Ich hatte mich immer ekelerregend gefühlt. Der Gedanke, die Idee, daß nichts Menschliches ekelerregend ist, war wundervoll für mich. An einer anderen Stelle dieses Films spricht Ava Gardner mit Richard Burton; sie versucht, ihm zu helfen, daß er die Nacht durchsteht. Sie sagt ihm: >Das Ziel des Lebens ist, zu überleben.< Ich dachte: >Mein Gott, das habe ich getan.< Es war das erste Mal, daß ich das Gefühl hatte, etwas richtig gemacht zu haben, genug getan zu haben. Ich denke, das war der Wendepunkt, der mich aus der Depression herausführte. In der Woche darauf sah ich Suddenly Last Summer (>Plötzlich im letzten Sommer<). Der Film zeigt, wie Familien ihre Kinder verrückt machen können. Obwohl ich in der Therapie lang und breit über meine Mutter, meine Eltern, meine Familie gesprochen hatte, glaubte ich wirklich, ich sei an all den Problemen schuld, ich sei tief in meinem Wesenskern irgendwie defekt. Die wirkliche Irre in dem Film war die Mutter, aber in der Tochter manifestierten sich die Symptome; sie war diejenige, die vom Rest der Welt für verrückt gehalten wurde. Ich dachte: >Oh, mein Gott ...< Allmählich begann sich der Nebel zu lichten. Die Depression löste sich langsam auf. Ich holte mein Studium nach. Ich fand einen guten Therapeuten. Ich engagierte mich politisch in der Achtundsechziger-Bewegung. Ich wußte, daß ich nie wieder eine psychiatrische Klinik von innen sehen würde. Außer in meinen Träumen, oder um jemanden zu besuchen, kam ich auch nie wieder hinein.«
Lindseys Reflexionen über ihren Heilungsprozeß Lindsey ist in der besonderen Position, ihren bemerkenswerten Genesungsprozeß selbst kommentieren zu können. Sie war achtzehn Jahre lang in Psychotherapie, um ihre Problematik zu verstehen und durch den Prozeß des Verstehens ihre seelische Gesundheit wiederzuerlangen. Lindsey arbeitet jetzt selbst als Psychotherapeutin und ist die administrative Leiterin einer Einrichtung für psychisch schwer gestörte Menschen. Sie ist mit psychischen Heilungsvorgängen emotional und intellektuell zutiefst vertraut. »Manchmal frage ich mich: Wie krank war ich eigentlich? Ich mache mir Gedanken darüber, ob ich vielleicht eine Aufschneiderin war und mit allen Mitteln versuchte, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Da psychische Erkrankungen sich nicht in konkreten physischen Symptomen manifestieren, durch Tumore oder Veränderungen im Blutbild, nehmen wir in unserer Kultur manchmal an, sie seien nicht real. Eine sehr liebe Freundin, die Psychotherapeutin ist und viel von meiner Geschichte weiß, half mir in diesem Punkt. Sie sagte: >Ich weiß nicht, was deine Definition von Verrücktheit ist, aber jemand, der bis zu solchen äußersten Extremen geht, um Aufmerksamkeit zu bekommen, ist ganz schön verrückt.< Als ich diese spontan einsetzenden extremen Blutungen hatte, an denen ich fast starb, war es beinahe eine Erleichterung. Es war etwas Konkretes, das für mich selbst und andere sichtbar war. Nach meinem Besuch zu Haus litt ich so furchtbar, daß ich es einfach zum Ausdruck bringen mußte. Ich denke, in diesem speziellen Fall war das Ausmaß 111
von Wut und Schmerz so groß, und die emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten waren so unzureichend, daß mein Körper reagierte und durch das strömende Blut ein Ventil schuf. Sich selbst Schnittwunden zuzufügen ist mehr als ein Hilfeschrei an eine taube Umwelt, daß man in großen Schwierigkeiten ist. Es hilft, den Schmerz greifbar und handhabbar zu machen. Der physische Schmerz solcher Verletzungen ist relativ geringfügig; er ist oberflächlich. Der Schmerz konzentriert sich auf eine bestimmte Stelle und wird so verständlich. Seelischer Schmerz ist so andersartig und so allumfassend, daß er sich dem Begreifen entzieht. Ich denke, die primitive, unbewußte Absicht, die hinter dem Sich-Schneiden steht, ist einem Aderlaß vergleichbar; zeitweilig wird eine Entgiftung, eine Entlastung erreicht. Manchmal sagten die Leute zu mir: >Sieh dir doch mal all die schönen Dinge an, die das Leben dir bietet. Freu dich darüber!< Aber das machte alles noch schlimmer für mich. Ich hatte kein Recht, so daneben zu sein, eigentlich durfte ich nicht krank sein. Meine Lieblingsplatitüde war: >Schau doch mal, was andere Leute zu leiden haben!< Da ich jemand war, der gar keine Barrieren, gar keine Grenzen zwischen dem eigenen Leiden und dem anderer errichten konnte, war dieser Spruch wirklich eine tolle Hilfe! Ich habe diese Taktik nie verstanden. Ich vermute, dahinter stand die Auffassung, daß manche Leiden real sind - Hunger oder schwere körperliche Krankheiten —, während meine ohne weiteres beendet werden könnten, wenn ich nur an Gott glaubte oder mir mehr Mühe gäbe, oder meine Eltern mehr liebte. Willensentscheidungen riefen als roter Faden durch meinen gesamten Heilungsprozeß. Willenskraft war sehr wichtig, aber ich könnte sie nicht an bestimmten Ereignissen festmachen und analysieren. Ich erinnere mich an eine einzige bewusste Willensentscheidung: meinen Entschluß, die Isolierstation für zwei Stunden zu verlassen. Sicher gab es noch einige solche Momente. Aber ich konnte keinen besonderen Mut darin sehen. Ich fühlte mich wie der Abschaum der Menschheit und fand, ich sollte eigentlich tot sein. Ich war nur aus Feigheit noch am Leben. Ich glaube, die Tennessee-Williams-Verfilmungen halfen mir, weil sie mir die Erkenntnis vermittelten, daß es vielleicht wirklich ein Wagnis war, das Mut erforderte, am Leben zu bleiben, obwohl ich mich wie der letzte Abschaum fühlte. Ich möchte herausfinden, wo Novick ist, und ihn nach seiner Intervention befragen >Wollen Sie nach Haus?< Wie kam er darauf? Ich meine, nur einer unter einer Million Psychotherapeuten würde so etwas sagen. Er traf mich mitten in einer ausgewachsenen psychotischen Halluzination an. Es war Genie, oder Glück, - ich weiß es nicht. Ich gebrauche diesen Ausdruck nur zögernd, aber es war wie Schocktherapie. Er intervenierte, als ich den verrücktesten Zustand erreicht hatte, und normalisierte mich im Handumdrehen. Er gab der Sache einfach einen anderen Namen, denn es war wirklich eine Halluzination, keine Phantasie. Das gesamte System, aus dem meine Psychose sich speiste, ging zum Teufel. Plötzlich war ich in einer völlig anderen Realität. Ich meine, sie war nicht rosig, aber sie war anders, und mein Verhalten veränderte sich drastisch. Ich wurde manisch, und fünf Stunden später ging ich nach Haus, zu Besuch, und jagte allen Angst ein mit meiner seltsamen Verfassung. Aber der manische Schub 112
dauerte nicht lange; ich glaube, ich war einfach fertig mit dem Verrücktsein. Ich hatte diese Erfahrung bis zum Exzeß ausgelebt, und es gab nichts Neues mehr zu lernen. Danach verfiel ich gut drei Monate lang in eine schwere Depression. Ich glaube, ich war depressiv, weil ich wußte, daß meine Zeit als Psychiatriepatientin abgelaufen war. Ich konnte mich nicht mehr in das Verrücktsein flüchten. Für mich war die geschlossene Abteilung mein Zuhause; es war der einzige Ort, an dem ich mich heimisch fühlte. In gewisser Weise bedeutete mein veränderter Zustand, daß ich nie mehr nach Haus zurück konnte. Oft denke ich an meine arme Mutter, wenn ich so darüber spreche. Wie entsetzt und schockiert wäre sie, wenn sie das hörte! Ähnlich wie bei meiner Erfahrung mit Novick kann das Heilende oft aus den merkwürdigsten Ecken kommen. Durchbrüche passieren gerade dann, wenn sie am wenigsten erwartet werden. Ich erinnere mich an einen Zwischenfall. Da war ein kleiner Engländer, ein pickeliger Junge, der katatonisch war, sich also in einer Phase der Schizophrenie befand. Er hatte ein Einzelzimmer und wurde von allen darum beneidet. Alle Patienten, fünfunddreißig an der Zahl, mußten zusammen in einem winzigen Speisezimmer essen. Wir waren furchtbar beengt in diesem Raum, und es gab permanent Szenen. Eines Tages hatte eine sehr dicke Frau einen ausgewachsenen Anfall. Sie kippte den ganzen Tisch um; das Essen flog den Leuten ins Gesicht. Ein sarkastischer Typ, der neben mir saß, sagte, ohne eine Miene zu verziehen, ohne die Spur eines Lächelns: >Das Essen ist schlecht, aber so schlecht nun auch wieder nicht.< Jedenfalls mußte dieser kleine Katatoniker aus irgendeinem Grund nicht mit den anderen zusammen im Speisezimmer essen. Ich haßte ihn, und ich bin sicher, daß sich darin der Haß einer Menge anderer Leute spiegelte. Jeder murrte über ihn, aber niemand unternahm etwas. Ich konnte mich wahnsinnig über ihn ärgern, wenn er dastand und so überlegen wirkte - dieser arme Junge, der wahrscheinlich so elend dran war. Also rannte ich vom anderen Ende des Korridors aus auf ihn los und griff ihn an. Er flog in die Luft, aber er landete auf mir und fing an, mich mit seinen Fäusten zu bearbeiten. Er schlug wirklich heftig auf mich ein. Wenn ich daran denke, kann ich es fast noch auf meinem Rücken fühlen. Dabei brüllte er aus Leibeskräften. Ein Jahr lang hatte er kein Wort gesprochen, und jetzt schrie er wüste Beschimpfungen. Das war ein Auftritt! Die Krankenschwestern hätten mich am liebsten umgebracht, und wahrscheinlich war das eine der Gelegenheiten, bei denen ich in die Isolierzelle kam. Es war eine Riesenszene. Der Junge wurde entlassen. Später, als ich in der Abteilung herumspazierte, kam sein Psychiater zu mir und sagte: Versprechen Sie mir, daß Sie niemandem erzählen werden, was ich Ihnen jetzt sage?< Ich versprach es. Er sagte: >Ich glaube nicht, daß irgend etwas ihm mehr hätte helfen können. Er läuft herum und redet die ganze Zeit.< Es war ein enormes, erlösendes kathartisches Erlebnis für ihn, wie Novicks Intervention für mich. Ich hatte absolut keine altruistischen Motive, als ich den Jungen angriff; ich war aggressiv und feindselig, aber er wurde geheilt. An dem Bedürfnis, am Leben zu bleiben, ist wirklich überhaupt nichts Abstraktes. Es hängt vom Zugehörigkeitsgefühl und Verbundenheitsgefühl mit anderen Menschen ab. Als ich diesen Jungen attackierte, was natürlich im allgemeinen nicht die Art von Kontakt ist, den wir uns erhofften, trat er wieder mit der Welt in Verbindung. Manche 113
Menschen wollen vielleicht weiterleben, weil sie sich mit Gott verbunden fühlen oder mit der Natur, oder mit Tieren. Aber für die meisten von uns ist das nicht genug. Es müssen Menschen sein oder eine bestimmte Person. Das ist es, was einem Lebenswillen gibt. Darin liegt die Heilung. Liebe hat viel mit meiner Heilung zu tun. Als Kind wurde ich von meinen Eltern geliebt, das ist keine Frage. Diese Liebe rieselte jedoch dünn, wie durch ein Sieb. Sie konnten nicht über ihren Narzißmus hinaus lieben; ich war eine Verlängerung ihrer selbst. In meiner Beziehung zu Will Goodman gab es keine Verstrickung. Seine Grenzen waren immer klar. Er liebte mich wirklich, obwohl er vielleicht eine andere Sprache spricht als ich. Und daß ich ihn liebte ist gar keine Frage. Ein Hauptthema unserer Diskussionen - und manchmal auch Auseinandersetzungen - war die Frage, ob diese Liebe Übertragungscharakter hatte oder real war. In den letzten Jahren haben wir beide genügend Abgeklärtheit entwickelt, um diese Unterscheidung aufzugeben und zu erkennen, daß vermutlich jede Liebe zu einem guten Teil auf Übertragung beruht. Ich internalisierte die Beziehung zu Goodman und hielt an ihr fest, auch als ich schon nicht mehr bei ihm in Behandlung war. Seine Präsenz in meinem Leben widersprach all den negativen Botschaften, daß ich ein hoffnungsloser Fall, eine Mörderin, eine Verführerin war, unmoralisch, verrückt, rettungslos verloren. Ich las über einen kleinen Jungen, der seinen Hirntumor durch Visualisierung besiegte. Er stellte sich Raumschiffe vor, die auf den Tumor schossen und ihn zerstörten. Mein analoger Prozeß war, Goodman zu visualisieren und ihn mir innerlich zu vergegenwärtigen. Für den krebskranken Jungen waren Raumschiffe das heilende Symbol. Für mich war es dieser liebende, machtvolle, autoritäre und absolut beschützende Vater. Es ist komisch; ich muß aus zwei Gründen anonym bleiben: Der erste ist das sehr reale Vorurteil in meinem Berufsfeld gegen Leute mit meiner Vorgeschichte, die Psychotherapie betreiben. Der zweite hängt mit der Art zusammen, wie ich meine Arbeit als Psychotherapeutin verstehe. Ich denke nicht in Begriffen des Kurierens und Wieder-Funktionstüchtig-Machens. Ich frage mich: Wie kann in diesem Leben Liebe möglich werden? Wenn ich gefragt werde >Wie arbeiten Sie?<, erwähne ich das nicht. Ich gebrauche psychodynamische Termini, denn diese andere Art zu denken ist in unserem Beruf sehr verpönt. Vielleicht würden manche Leute mich am liebsten dafür hängen, aber ich denke in Begriffen der Liebe — es geht darum, die furchtbaren Schamgefühle zu überwinden, daß man krank wurde, krank ist. Es geht darum, den Menschen zu vergeben, die einem das Leben zur Hölle gemacht haben, und sich selbst zu vergeben. Das macht Liebe möglich.« Fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Aufenthalt in Mountain Brook hält Lindsey Reynolds immer noch an ihrer Beziehung zu ihrem früheren Therapeuten Will Goodman fest. Obwohl sie nie wieder bei ihm in Behandlung war, schreibt sie ihm regelmäßig oder besucht ihn mehrmals im Jahr. Heute ist Will Goodman der klinische Leiter von Mountain Brook, einer der angesehensten psychiatrischen Einrichtungen in den USA. Als ich Dr. Goodman um ein Gespräch bat, in der Hoffnung, Lindseys Krankheit und ihre Heilungserfahrung besser zu verstehen, stimmte er zu, aber nur unter der Bedingung, daß Lindsey bei dem Gespräch 114
anwesend war. Die ärztliche Schweigepflicht und das Vertrauen zwischen Arzt und Patientin sind ihm heilig; er wollte sicher gehen, daß es keine Mißverständnisse, keinen Vertrauensbruch gab. Bevor wir uns mit Dr. Goodman trafen, führte Lindsey mich in Mountain Brook herum. Als klinischer Psychologe habe ich meine Lehrzeit in psychiatrischen Einrichtungen abgeleistet. Aber ich kenne vor allem staatliche Einrichtungen oder, um Lindseys Metapher zu gebrauchen, die »Schlangengrubenvariante«. Mountain Brook sah aus wie ein vornehmes Ostküsten-College: wundervolle Parkanlagen und alte Klinkerbauten, die etwas zu dicht beieinanderstanden, um entweder ihre Strenge oder ihren architektonischen Reiz voll zur Geltung zu bringen. Lindsey zeigte mir die inzwischen restaurierten Gebäude, in denen früher Carlson I und Carlson II untergebracht waren, und den formellen Konferenzraum, in dem interne Ausbildungsseminare stattfanden. Will Goodman schloß Lindsey zur Begrüßung herzlich in die Arme und gab auch mir das Gefühl, ein willkommener Gast zu sein, als er mir die Hand schüttelte. Ich kannte Lindseys hohe Meinung über Will, und was ich in psychotherapeutischen Kreisen über ihn gehört hatte, vermittelte höchste Bewunderung für seine Person und seine Arbeit. Er ist als menschlich integer, bescheiden und konsequent bekannt. Obwohl ich ihm also bereits mit hohen Erwartungen gegenübertrat, war ich von seiner Wärme und seiner absoluten Authentizität überrascht. Lindsey schien sich vollkommen wohlzufühlen, als Will begann, über ihre Krankheit und ihren Aufenthalt in Mountain Brook zu sprechen. Obwohl meine Anwesenheit eine leichte Unebenheit darstellte, befanden die beiden sich auf vertrautem Terrain. Im Lauf der Jahre haben sie viele Stunden in intensiven Gesprächen verbracht, um die Ursachen von Lindseys Krankheit, die Gründe für ihre Genesung und die Natur ihrer Beziehung zu verstehen.
Will Goodmans Reflexionen »In einem gewissen Sinn waren Lindsey und ich immer Kollegen. Ich hatte nie das Gefühl, der allwissende Psychiater zu sein. Alles, was Lindsey zu tun hatte, war, mir einige Assoziationen zu liefern, und ich stellte die Verbindungen her. Damals war ich ein junger Mann und sowohl im medizinischen als auch im psychiatrischen Bereich relativ unerfahren. Vielleicht wäre es schwieriger gewesen, wenn ich mehr Erfahrung gehabt und geglaubt hätte, mehr zu wissen, als es wirklich der Fall war. Für mich war es ganz natürlich, zu sagen: >Ich habe einen kleinen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, aber eigentlich sitzen wir hier zusammen, um etwas herauszufinden, das sehr wichtig ist, - obwohl ich sicher bin, daß ich mich manchmal anhörte wie ein wandelndes Lehrbuch oder ein Artikel aus dem Reader‘s Digest, den ich in der Nacht zuvor gelesen hatte. Lindsey hatte mit einer außerordentlich schwerwiegenden Problematik zu kämpfen. Es war besorgniserregend, sehr besorgniserregend und rätselhaft. Ich war nicht sicher, wie ihre Krankheit sich entwickeln würde, aber ich glaube, ich betrachtete sie nicht als unheilbar. Ich rechnete auch nicht mit einem tödlichen Ausgang oder einer irreversiblen Schädigung. Diese Zuversicht beruhte nicht auf den wahrnehmbaren Fakten, denn ihr Krankheitsprozeß war sehr bösartig; sie hatte mit Lindseys Persönlichkeit zu tun. 115
Was war an Lindsey, das sie von anderen unterschied? Entschlossenheit. Selbst wenn sie sehr verzweifelt war oder wütend, oder beides, war dieser Antrieb immer da. Sie gab nie völlig auf. Jedesmal, wenn ich Lindsey sah, hatte ich das Gefühl, daß sich irgend etwas ereignen, irgend etwas in Bewegung geraten würde. Ich sehe diese Qualitäten im Vergleich zu einer beträchtlichen Anzahl anderer Patientinnen und Patienten, mit denen ich arbeite und die in ihrem Verhalten oder in ihrer Realitätseinschätzung nicht so schwer gestört sind, wie Lindsey es damals war. Aber sie haben auch nicht diesen starken Antrieb, dieses Bedürfnis, zu begreifen, diesen Drang, mit anderen in Beziehung zu treten und andere zu beeinflussen. Lindseys Intelligenz ist offensichtlich. Aber es gibt eine Unmenge intelligente Leute. Was Lindsey auszeichnet, ist ihre hochentwickelte Fähigkeit, Verbindungen herzustellen und Schlüsse zu ziehen, und ihre intensive intellektuelle Neugier, die sie zur Selbsterforschung und zur Selbsterkenntnis antrieb. So ist sie und so mußte sie sein; es war ein Kampf, den sie nicht aufgeben konnte. Und ich denke, dadurch war sie gezwungen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Wie Sie wissen, gab es in Lindseys Leben einige sehr schwierige und belastende Ereignisse. Für Lindsey waren es nicht einfach Tragödien oder Bedrohungen; ihre Sicht der Dinge war sehr viel komplexer. Sie setzte sich permanent mit diesen Ereignissen auseinander, in einer Weise, die für sie selbst und für ihre nächste Umgebung manchmal bis an die Grenzen des Erträglichen ging. Es gab Gründe dafür, warum Lindsey und ich sofort einen Draht zueinander fanden. Sie trauerte um ihren Vater; der Verlust machte ihr offensichtlich schwer zu schaffen. Und ich hatte, kurz bevor sie eingewiesen wurde, meinen Bruder durch einen Autounfall verloren. Ich stand diesem Bruder außerordentlich nahe. Ich denke, die meisten Brüder stehen sich nahe, aber wir waren als Kinder ständig zusammen und machten alles gemeinsam. Wir spielten immer miteinander, wir machten lange Wanderungen durch den Yellowstone-Nationalpark. Damals war der Tod meines Bruders völlig unfaßbar für mich, ein Ereignis, das mich in meinen Grundfesten erschütterte. Als ich aus Iowa zurückkehrte, war Lindsey meine nächste Patientin. Sie denken vielleicht, daß ich nicht so offen oder vollständig präsent war, weil ich trauerte und versuchte, mit dem Verlust fertig zu werden. Aber ich glaube, in mancher Hinsicht war ich dadurch sogar stärker präsent, lebendiger, neugieriger, zu sehen, wie Lindsey mit ihrer Problematik umging, während ich die meine zu bewältigen versuchte. Man könnte das alles sicher auch in den Termini einer psychiatrischen Theorie ausdrücken, aber, um ehrlich zu sein, ich glaube, Lindsey berührte etwas in mir als Person. Manchmal gehe ich in meiner Arbeit nicht gerade zimperlich vor. Ich glaube, ich bin ziemlich direkt, ziemlich ehrlich. Ich will mich selbst und meine Welt verstehen, genau wie Lindsey. Ich versuche, mir nicht allzu viel vorzumachen, vor allem auch, was mich selbst betrifft. Das hat mir in meiner Arbeit als Psychiater sehr geholfen. Die Patienten sind bereit, einem vieles zu verzeihen. Sie verzeihen nur eines nicht: wenn man jemand zu sein versucht, der man nicht ist. Inzwischen bin ich älter geworden, kann mich selbst besser annehmen und mache mir nicht mehr so viele Gedanken um psychiatrische und psychotherapeutische Techniken. 116
Aber damals versuchte ich, mich viel stärker zurückzunehmen und so zu handeln, wie ein Psychiater in meiner Sicht handeln sollte. Nach meiner Lehranalyse war die Versuchung groß, mich wie ein Bilderbuch-Freudianer aufzuführen. Mit Lindsey war ich mehr ich selbst als mit anderen Patientinnen und Patienten, und ich denke, das hatte mehr mit ihr zu tun als mit mir. Lindsey erkannte mich in bestimmten Momenten ganz klar als die Person, die ich bin. Sie wußte, wann ich wütend war und wann ich besorgt war. Sie wußte es wirklich. Ich glaube, das war gut für den Therapieprozeß, für sie und auch für mich. Viele meiner Interventionen hatten weniger mit meiner psychiatrischen Ausbildung zu tun als mit meiner Kindheit unter der Obhut von zwei erfahrenen Landärzten und einer handfesten Krankenschwester. Mein Großvater praktizierte siebenundfünfzig Jahre lang als Landarzt und mein Vater zweiundvierzig Jahre lang. Meine Mutter war als Krankenschwester ausgebildet und arbeitete in der Praxis mit. Sie hatten alle eindeutige Vorstellungen davon, was richtig und was falsch war und wo man Grenzen ziehen mußte. Lindsey brachte das stärker in mir zum Vorschein, benötigte das mehr als andere Patienten, die mich in dieser Hinsicht nicht so forderten. An bestimmten Punkten ging es in unserer Interaktion hart auf hart. Ich bin sicher, das war in gewisser Weise beruhigend für dich« -Will dreht sich zu Lindsey um -, »aber manchmal mußt du dir auch gesagt haben: >Gut, ich weiß, daß ihm an mir liegt, aber wenn er in dieser Form auf mich losgeht, kann er mich doch unmöglich verstehen!< Trotzdem glaube ich, irgend etwas in dir spürte immer, daß ich verstand, was in dir vorging. Ich bin sehr besitzergreifend, wenn es um meine eigenen Patienten, meine eigene Familie und mein eigenes Selbst geht. Vor Jahren fuhr ich einmal mit meinem Sohn auf den Potomac River hinaus zum Angeln. Er war damals erst fünf Jahre alt, und er fiel aus dem Boot. Ich sprang ins Wasser, packte ihn am Gürtel und zog ihn heraus. Er sah mich an und sagte: >Du hast mir das Leben gerettet<, was ein bißchen dramatisch ausgedrückt war. Später, als er schon fast erwachsen war und in Houston lebte, hatte ich den Eindruck, daß er in Schwierigkeiten war, und ich sagte ihm: >Hör zu, Ed, ich habe deinen Hintern damals nicht aus dem Potomac herausgezogen, um dich hier in Texas zu verlieren.< Mit Lindsey hatte ich dieselben Gefühle.« Will wendet sich wieder direkt an Lindsey: »Es gab sehr machtvolle Energien, die dich zerstörten oder ins Chaos stürzten, und ich glaube, im Grunde gab ich dir zu verstehen, manchmal, indem ich mich an dein Unbewußtes wandte: >Das lasse ich nicht zu!< Lindsey nahm das auf; sie verstand mich besser als ich selbst. Ich glaube, ich verließ mich fast darauf. Die Botschaft lautete: >Verdammt nochmal, Lindsey, du weißt, was du da anstellst, und du hörst sofort damit auf!< Lindsey sah mich in solchen Momenten wirklich wütend oder entsetzt an und sagte: >Warum drischst du so auf mich ein? Ich weiß doch nicht, was ich tue!< Meine Antwort, auf einer bestimmten Ebene, war: >Schön, wenn du es nicht weißt, erfährst du es jetzt. Du läßt diese verrückten Dinge in Zukunft bleiben. Ich dulde nicht, daß du in den Hudson hinausschwimmst und untergehst.< Wenn einem Vertrauen entgegengebracht wird in der Art, wie Lindsey mir vertraute, löst das Resonanz aus. Es bringt die guten Energien in einem selbst zum Vorschein. 117
Lindsey löste in mir eine Klarheit aus, für die ich ihr sehr dankbar bin. Es war nicht immer leicht. Sie ließ mir keine halbherzige Reaktion durchgehen. Ich forderte sie auf, sich mit bestimmten Dingen zu konfrontieren, und in gewisser Weise tat sie dasselbe mit mir. Es war in unserem Kontakt nicht möglich, Gefühle durch Platitüden oder simple Erklärungen glattzuschmirgeln. Das ließ sie bei mir nicht zu, und ich bin ihr dankbar dafür. Es war eine gute Arzt-Patientin-Beziehung, aber es war auch viel mehr als das; es war eine lebendige Begegnung von Mensch zu Mensch. Ich habe eine Menge Erklärungen dafür gelesen, wie diese Art von Liebe oder Bindung im Körper biochemische und physiologische Veränderungen hervorruft. Ich bin sicher, daß es diese Vorgänge gibt, aber ich bin nicht sicher, ob sie durch die Idee der Transformation vom Emotionalen ins Biologische ausreichend erklärt werden können. Es ist keine Frage, daß Patienten mit >unheilbaren< physiologischen Erkrankungen, die, wenn man es denn in eine Rubrik einordnen kann, einen Grund zum Leben haben, sehr viel besser zurechtkommen. Ich habe auch einige Patientinnen und Patienten mit sehr schweren Denkstörungen, Schizophrene, die trotzdem sehr gut mit ihrer Krankheit leben. Es gibt jedoch auch andere Patienten mit weitaus weniger schwerwiegenden Störungen, die durch ihre Krankheit enorm beeinträchtigt sind. Wenn man einen Grund zum Leben hat und einen Menschen, mit dem man sich intensiv austauschen kann, macht das schon einen großen Unterschied. Lindsey hat mir sehr viel beigebracht. Ich lernte viel aus unserer Interaktion. Ich glaube nicht, daß ich der Psychiater wäre, der ich heute bin - gut oder schlecht -, wenn ich Lindsey nicht begegnet wäre. Da bin ich ganz sicher.« Das Gespräch mit Dr. Goodman dauerte mehr als eine Stunde, und mir wurde dabei deutlich bewußt, daß die Beziehung zwischen ihm und Lindsey Reynolds eine wirkliche Liebesbeziehung war. Ich sagte beiden, was ich empfand. Will Goodman: »Ich habe diese Sprache absichtlich nicht gebraucht wegen der erotischen Assoziationen, die sich dabei einstellen. Ich sagte zu Lindsey, daß ich auf dieser Ebene keinerlei Mißverständnisse wolle. Und Lindsey schrieb mir einige Briefe, in denen dieser Punkt eindeutig geklärt wurde. Sie sagte, es kann eine Liebesbeziehung geben — und die ist eindeutig da -, ohne daß die Therapeut-Patientin-Beziehung verletzt wird. Im Grunde drückte sie damit aus: >Sei doch nicht so verdammt ängstlich !<« Er wendet sich Lindsey zu: »Ich weiß, daß du es vermutlich nie in diesen Worten ausgedrückt hättest, aber darauf lief es im Wesentlichen hinaus.« Lindsey Reynolds: »Ich finde dich manchmal wirklich komisch. In manchen Dingen bist du so typisch männlich, - in der Art, wie du über die Liebe sprichst zum Beispiel. Ich weiß, wie sehr du mich liebst, und ich weiß, wie sehr ich dich liebe. Es ist da. Du neigst dazu, es ein bißchen beiseite zu schieben. Als wir aufhörten, als ich Mountain Brook verließ, hast du mich fest in die Arme genommen. Ich war noch ein ganz junges Mädchen, und du sprachst über deine Liebe zu mir. Wir haben versucht, es zu analysieren, du und ich. Ich weiß, daß es diese psychischen und psychodynamischen Realitäten gibt. Als ich damals hierherkam, glaubte ich, ich hätte einen Hund, der mich liebte. Erinnerst du dich an Tracey?« Will: »Oja!« Lindsey: »Als ich ging, hatte ich einen anderen...« Will: »Hund?« 118
Lindsey: »Ich hatte einen Menschen, der mich liebte.« Will: »Weißt du, wenn ich es nicht ausdrücken kann, ohne alles durcheinanderzubringen, heißt das — wie du sehr wohl weißt - noch lange nicht, daß es nicht da ist. Du nennst diese Unfähigkeit >typisch männlich<. Ich glaube nicht, daß es soviel mit dem >typisch Männlichen< zu tun hat; es hängt mehr damit zusammen, wie dieser >typische< Mann aufwuchs. In unserer Familie gab es überhaupt keine Umarmungen - bis mein Bruder starb. Wir gaben uns immer nur die Hand. So habe ich es gelernt. Ich hatte keine so großen Schwierigkeiten, mein Interesse und meine Liebesgefühle verbal auszudrücken. Als ich am zwölften Juli den Anruf bekam und Larry Nash mich um zwei Uhr früh zum Flughafen fuhr ...« Er wendet sich von Lindsey ab und spricht direkt zu mir: ... »Ach übrigens, dabei fällt mir ein: hat mich das auf die Palme gebracht, daß sie in Larry den kultivierten, gutaussehenden Ostküstentypen sah, und Will Goodman war der Provinzler aus dem Mittelwesten! Sie sagte sich: >Mein Gott, ein bißchen attraktiver hätte der Psychiater, der mich behandelt, doch wohl sein dürfen!< Ich bin sicher, sie dachte: >Wen, zum Teufel, haben sie mir denn da angehängt?< Na ja, jedenfalls als ich aus dem Flugzeug stieg, waren mein Vater und meine Mutter da. Mein Vater kam weinend in meine Arme. Das war das erste Mal in unserem Leben, daß wir uns umarmten; man tat das einfach nicht. Also, als ich dich umarmte, Lindsey, bedeutete es wirklich etwas.« Lindsey: »Ich weiß, welche Gefühle du für mich hattest, und das war immer wichtig für mich. Als ich damals das Tuinol nahm, bei diesem sorgfältig geplanten Selbstmordversuch, als ich Jameson anrief, was mich letztendlich rettete, soviel ich weiß, wußte ich, daß mein Hilfeschrei im Grunde nicht an Jameson als Person gerichtet war. Ich wußte, daß du mich liebst, und ich hatte das Gefühl, daß diese Liebe bedingungslos war. Ich mußte nichts Besonderes sein oder tun. Du liebtest mich so, wie ich war, und das hielt mich zusammen, selbst in den dunkelsten Momenten.«
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WALTER PURINGTON Dem Anfängergeist stehen viele Möglichkeiten offen, dem Expertengeist aber nur wenige SHUNRYU SUZUKI Als ich Walter Purington anrief, um einen Interviewtermin mit ihm zu vereinbaren, hörte ich ihn heftig atmen, als er den Hörer abnahm. Ich vermutete, daß sein schweres Atmen ein Symptom seiner Krebserkrankung sei, oder vielleicht die Nebenwirkung von Medikamenten. Aber ich irrte mich. Walter war außer Atem, weil er von draußen ins Haus gelaufen kam, um ans Telefon zu gehen. Er hatte im Hinterhof Holz gehackt. In einem örtlichen Krankenhaus hatte man bei Walter meningeale Karzinose diagnostiziert, und ein landesweit anerkannter Spezialist von der Duke-Universität hatte die Diagnose bestätigt. Der Onkologe, der Walter behandelte, schrieb, daß seine Chancen, drei weitere Jahre zu überleben, 1: 1000 standen. Ein zweiter Arzt setzte seine Überlebenschancen noch geringer an. Er schätzte die Wahrscheinlichkeit, daß Walter nur noch ein Jahr weiterlebte, auf 1: 1000. Walter erhielt Strahlenbehandlung, aber nur, weil er darauf bestand. Seine Ärzte waren nicht der Meinung, daß irgendeine Form von Behandlung helfen könne. Ein Arzt bestätigte das durch die folgende Notiz: »Nach der Beendigung der Strahlentherapie wurde der Patient mit einer sehr schlechten Prognose entlassen. Er wurde in eine Pflegeklinik für Schwerkranke verlegt und erhielt Akupunkturbehandlung gegen seine Schmerzen.« Die Puringtons leben am äußeren Rand einer ländlichen Kleinstadt. Walter und seine Frau Lillian bereiteten mir in ihrem Haus einen herzlichen Empfang. Ihre älteste Tochter bereitete das Abendessen zu, und die beiden jüngsten Kinder sahen sich einen Film im Fernsehen an. Während meines Besuchs konzentrierte sich die gesamte Familie auf Walter; sie schienen sich geradezu um ihn zu drängen. Wir saßen am Küchentisch, als wir unser Gespräch führten. Walter war Mitte Fünfzig, lang und schlaksig, hatte braunes Haar, das langsam zu ergrauen begann, und eine helle Haut. Er trug ein rotes Flanellhemd, Jeans und schwere Arbeitsstiefel. Es war ein hartes Stück Arbeit, ihn zum Reden zu bewegen; er überlegte lange, bevor er auf meine Fragen antwortete. Schwierigkeiten, sich darzustellen, hatte er offensichtlich nicht - er hatte lediglich kein großes Bedürfnis, es zu tun. Seine Frau Lillian nahm während des größten Teils der Zeit an unserem Gespräch teil. Mir fiel auf, wie ausgeglichen und stabil sie wirkte - physisch und emotional. Lillians Redeweise war weniger bedächtig und besonnen, aber meistens ließ sie ihrem Mann den Vortritt, bevor sie antwortete. Ich ging behutsam vor bei diesem ersten Interview, weil die Diagnose, daß Walters Krankheit tödlich sei, erst achtzehn Monate zurücklag. Und obwohl sein Überleben bereits zu diesem Zeitpunkt als außergewöhnlich betrachtet wurde, war nicht 120
vorauszusehen, was vor ihm lag. Langsam begann er, seine Geschichte zu erzählen: »Ich bin kein kränklicher Mensch. In zweiunddreißig Jahren habe ich nicht mehr als einen Tag bei der Arbeit gefehlt, unten in der Fabrik. Von den anderen dort wußte auch niemand, daß ich gesundheitlich nicht auf der Höhe war, bis auf den Kollegen, mit dem ich jeden Tag zusammenarbeitete. Zweiunddreißig Jahre lang arbeitete ich neun Stunden am Tag und sechs Tage in der Woche in der Spinnerei. Es fing damit an, daß es mir zwischen den Schulterblättern weh tat. Es waren wirklich starke Schmerzen. Ich ging sofort zum Arzt. Er untersuchte mich von Kopf bis Fuß und schickte mich dann wieder nach Haus. Tagsüber konnte ich die Schmerzen noch aushalten, aber nachts waren sie unerträglich. Es wurde jeden Tag schlimmer. Mit solchen Schmerzen kann man nicht schlafen. Ich versuchte, in der Badewanne zu schlafen, in heißem Wasser. Ich weiß nicht mehr, was ich noch alles versuchte, um zu schlafen, aber mit solchen Schmerzen kann man einfach nicht schlafen. Ich arbeitete immer noch neun Stunden am Tag in der Spinnerei. An dem Tag, als ich da aufhörte, war‘s das. Ich bin seitdem nicht mehr arbeiten gegangen. Es wurde Donnerstag, und der Arzt konnte bei mir nichts finden. Ich rief ihn an und fragte, was er so lange machte. Er sagte: >Ich überweise Sie Montag ins Krankenhaus.< Ich sagte ihm: >Nein, so nicht! Sie überweisen mich heute, oder ich gehe selbst hin.< Also sagte er: >Gut, Sie kommen heute abend ins Krankenhaus.< Das war am 20. August 1981. Alles, was sie im Johnson machten, war, mich unter Drogen zu setzen.< Er wendet sich an Lillian: »Wie lange war ich im Johnson-Krankenhaus?« Lillian beantwortete seine Frage und ergänzte Walters Schilderung dann durch weitere Einzelheiten. Lillian: »Walter war übers Wochenende im Johnson. Das Wochenende ist keine gute Zeit, um im Krankenhaus zu sein. Dann, am darauffolgenden Dienstag, wurde er ins Mercy-Krankenhaus verlegt. Sobald er dort war, fingen sie mit den Tests an, und die Dinge kamen in Bewegung. Die ganze Zeit hatte er immer noch starke Schmerzen. Er konnte nicht liegen. Er saß in einem Sessel oder ging umher. Am Freitag hatten sie dann alles diagnostiziert, was bei ihm nicht in Ordnung war.« Walter: »Ich hätte nie geahnt, daß ich Krebs hatte. Schließlich zapften sie meine Wirbelsäule an, und da fanden sie den Krebs, in der Rückenmarksflüssigkeit - ich nehme an, es ist eine Flüssigkeit, ich weiß es nicht.« Lillian: »Ich kann mich nicht Wort für Wort daran erinnern, was der Doktor mir sagte, aber es war entsetzlich. Er sagte, daß Walter seine Angelegenheiten in Ordnung bringen sollte. Sie sagten, er könnte sich behandeln lassen oder auch nicht. Sie glaubten nicht, daß irgend etwas helfen würde.« Walter: »Sie sagten mir, was es war. Sie sagten es auch allen anderen. Ich hätte nie mit einer tödlichen Krankheit gerechnet, nie! Ich hatte nie das Gefühl, daß ich bald sterben würde. Vielleicht sollte ich es haben. Ich wußte, daß es ernst war, aber mir war nicht klar, daß ich nur noch so wenig Zeit haben sollte.« 121
Lillian: »Es ist schwer zu sagen, was die Ursachen waren. Die Ärzte wollten wissen, ob Walter mit Chemikalien gearbeitet hat. Sie hatten Asbest in der Spinnerei, wie in all diesen alten Gebäuden. Sie haben es inzwischen entfernt. Es ist schwer zu sagen. Er raucht ja auch nicht.« Walter: »Also, Lillian sagte immer, daß ich zu viele Süßigkeiten esse. Nach allem, was ich höre, ist das ungefähr das Schlimmste, was man essen kann.« Lillian: »Der Arzt sagte mir, was man tun könnte. Dann sprachen wir es durch, Walter und ich. Wir kannten Leute, die Bestrahlung hatten und davon furchtbar krank wurden, also entschlossen wir uns, daß wir das nicht wollten. Aber Walter hatte solche Schwierigkeiten mit seinen Augen, er konnte nicht gut sehen. Er hatte Schmerzen im ganzen Gesicht. Also überlegten wir nochmal und entschieden schließlich doch, daß wir es machen würden, daß die Behandlung vielleicht helfen würde. « Walter: »Wir wollten in jedem Fall etwas tun, auch wenn es für mich keine Möglichkeit gab, wieder gesund zu werden. Wir wollten so lange wie möglich überleben. Sie überwiesen mich dann ins...« Lillian: »...ins Baystate Medical Center. Du hattest am Samstag deine erste Strahlenbehandlung. Sie glaubten nicht, daß die Behandlung wirklich helfen würde.« Walter: »Normalerweise machen sie samstags keine Behandlungen. Aber ich sagte ihnen, daß ich es wollte, also holten sie dafür extra eine Krankenschwester.« Lillian (sieht Walter an): »Du warst so entschlossen. Obwohl es so hoffnungslos schien, setzte er trotzdem alle möglichen Dinge in Gang. Aus irgendeinem Grund wußte er genau, was er wollte. Für mich hat der Doktor immer recht. Das ist der Unterschied zwischen uns, glaube ich. Wenn der Doktor zu mir sagt: >So sieht es aus<, dann ist es das für mich. Aber Walter nahm das nicht einfach hin.« Walter: »Zuerst gaben sie mir ein schäbiges Zimmer, aber dann - ich weiß nicht, wer dafür sorgte, Lillian oder mein Bruder — dann verlegten sie mich in ein besseres, neues Zimmer. Nachts hatte ich furchtbar viele Halluzinationen von den Schmerzmitteln. Am nächsten Tag ging es mit den Halluzinationen weiter. Aber ich ging trotzdem zur Toilette und lief herum. Das war gegen den Willen meiner Frau.« Lillian: »Er ist einfach dickköpfig und war es immer.« Walter: »Ich hatte Verstopfung, und dieser eine Pfleger, der mir den Einlauf machen sollte, ging entsetzlich grob mit mir um. Sie ließen das natürlich nicht von einer Krankenschwester machen. Nach dem Einlauf hatte ich diese schlimmen... wie heißt das noch?« Lillian: » Hämorrhoiden.« Walter: »Hämorrhoiden. Das war wirklich schmerzhaft. Ich hatte eine Krankenschwester, die mir jedesmal wehtat, wenn sie mich behandelte. Die anderen Schwestern taten das nicht. Schließlich sagte ich es ihr, und sie nahm sich zusammen. Aber sonst hatte ich hervorragende Pflege im Krankenhaus. Ich hatte auch nette Gesellschaft. Ich lag 122
mit einem Mann zusammen, der Herzprobleme hatte. Er sollte nicht rauchen. Eines Tages steckte er sich gerade eine Zigarette an, als seine Frau zur Tür hereinkam. Sie sah ihn groß an. Dann machte sie auf dem Hacken kehrt und kam nie wieder.« Walter und Lillian lachen. »Das war schon ziemlich merkwürdig, aber sie wollte nicht, daß er rauchte.« Lillian: »Er hatte wirklich gute Pflege, ganz wunderbar, ich konnte mich nicht beklagen. Sie sind sehr fürsorglich und liebevoll in Baystate und Mercy. Er bekam von allen Seiten enorm viel Unterstützung. Unsere Verwandten und alle unsere Freunde kamen ihn besuchen. Es gab Gebete aus Kalifornien, Maine, Vermont und New Hampshire, aus dem ganzen Land, und das war eine große Hilfe. Unsere Freunde und Verwandten baten Leute in anderen Kirchen, für ihn zu beten. All diese liebe half, daß es Walter besser ging.« Walter: »Ja, da muß was dran sein. Viele beteten direkt hier, hier im Haus. Es scheint, das hat geholfen. Sogar oben in Alaska beteten sie für mich, in der Kirche, wo Onkel Julius hingeht. Ich bekam so viele Briefe und Karten, einen ganzen Karton voll. Hier, ich zeige es Ihnen. Eines Tages werde ich sie alle noch einmal lesen.« Lillian: »Ja, du hast viel Trost bekommen. An einem Tag war der ganze Raum voller Leute. Vierzehn Leute standen um sein Bett herum.« Walter: »Hauptsächlich Verwandte. Mein Bruder kam aus Georgia angereist. Ich hatte mehr Besuch als alle anderen. Mir kam es jedenfalls so vor.« Lillian: »Als er Baystate verließ, hatten sie ihm an diesem Tag keinen Termin für die Strahlenbehandlung gegeben. Aber er bestand auf seiner Behandlung. Es war zu spät, um es in Baystate zu machen, also riefen sie im Cooley-Dickinson-Krankenhaus an, und er bekam seine Bestrahlung da, auf dem Nachhauseweg.« Walter: »Sie hatten meinen Termin für diesen Tag abgesagt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, warum sie sich solche Mätzchen erlaubten. Also nahm ich sie mir vor und sagte ihnen, daß ich meine Behandlung wollte, bevor ich nach Haus ging. Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen war, fuhr ich jeden zweiten Tag zur Bestrahlung hin.« Lillian: »Alles in allem hatte er zweiundzwanzig Bestrahlungen, vierzehn davon am Kopf, weil er einen Tumor an der Schädelbasis hatte. Er bekam die höchstmögliche Dosis. Jetzt darf er nie wieder damit behandelt werden. Nach der Strahlenbehandlung sagte der Arzt, Walter hätte nicht darauf reagiert. « Walter: »Mein Arzt sagte, die Bestrahlung hätte nicht geholfen. Aber ich wollte wenigstens den Versuch machen. Ich hatte starke Schmerzen nach der Bestrahlung. Sehen Sie mein Gesicht? Alles hing schlaff herunter - so, sehen Sie? Meine Augen wurden trocken. Das fing an, als ich wieder zu Haus war. Die Augen taten mir wahnsinnig weh. Sie funktionierten nicht mehr, ich konnte sie nicht mehr schließen. Eine Zeitlang war ich in einem furchtbaren Zustand.« Lillian: »Seine Augen schlossen sich nicht. Sie trockneten aus. Nachts mußten wir sie mit Heftpflaster zukleben.« 123
Meine Augen waren hier« - Walter hält seine Hand einige Zentimenter vor seine Augen -, »als ich anfing, zu ihm zu gehen. Es schien zu helfen. Er setzte mir die Nadeln. Er sagte immer: >Tief einatmen<, und dann, wenn man die Luft rausließ, Zack, waren sie drin. Aber nach einer Weile gewöhnte ich mich so daran, daß ich es nicht mehr machen mußte. Ich sagte ihm einfach: >Hauen Sie sie rein, wann Sie wollen!< Ich erinnere mich, daß er mir eine Nadel direkt unter die Oberlippe setzte. Ich sagte: >Die da hat mehr weh getan als alle anderen vorher. Ich glaube, Sie haben es nicht richtig gemacht.< Beim nächsten Mal setzte er sie sofort auf den richtigen Punkt, statt viermal anzusetzen. Die Akupunktur war sehr wichtig, obwohl ich nicht glaube, daß sie die Krankheit beseitigt hat. Wir empfehlen ihn sehr, obwohl vielleicht nicht jeder mit ihm klarkommen würde. Wir mögen ihn, ich mag ihn.« Lillian: »Was meinst du damit, daß nicht jeder mit ihm klarkommen würde? Du meinst wohl, nicht jeder mag die Akupunkturbehandlung, denn John ist so ein netter Mensch; ich bin sicher, daß jeder ihn mögen würde. Ich glaube, es half auch, mit ihm zu sprechen, während Walter die Behandlungen hatte. Er ist sehr ruhig, wirklich ein lieber Mensch! Eine andere interessante Sache: Walter ging zu einem Augen- und Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten in Springfield. Er wurde untersucht, und der Arzt sagte ihm, daß auf diesem sehr feinen Instrument, mit dem man Nervenimpulse mißt, keine Reaktion zu sehen war. Walter ging erst seit drei Wochen zur Akupunktur, als er wieder anfing, seine Gesichtsmuskeln zu bewegen. Das besserte sich wirklich ziemlich schnell.« Walter: »Er verlangte nur zehn Dollar für zwei Stunden. Erstaunlich. Ich glaube, anderen Leuten nimmt er mehr ab.« Lillian: »Das sollte er auch! Das ist zu wenig, für zwei Stunden Behandlung nur zehn Dollar zu nehmen.« Walter: »Die Schmerzen ließen immer mehr nach, und schließlich ging ich nicht mehr hin. Neulich rief ich ihn an und sagte: >Ich komme vorbei, nur so, zu Besuch.< Aber er liebt es, seine Nadeln in Leute zu stecken, und wenn man ihn besuchen geht, findet man sich plötzlich in seinem Behandlungszimmer wieder, und überall gucken die Nadeln raus. Es tut gut. Und John brachte mich auch zu Dr. Dhonden.«* Walter: »Wir mochten ihn. Er nahm eine Urinprobe und konnte einem schon fast alles sagen, was los war, indem er sie nur ansah. Er war ein guter Arzt.« Lillian: »Er sagte zu John (dem Akupunkteur), er könnte Walter innerhalb von zwei Jahren heilen. Und Walter nahm die Medizin regelmäßig, bis nichts mehr davon da war, und wir konnten sie nicht nachbekommen. Na ja, vielleicht hat es geholfen, wer weiß?« Walter: »Er sagte mir, Süßigkeiten wären ungefähr das Schlimmste, was ich essen könnte. Jetzt esse ich also praktisch keine Süßigkeiten mehr. Ich trinke keinen Alkohol. Früher habe ich hin und wieder getrunken, nicht ständig, nur wenn wir am Samstagabend ausgingen. Und ich trinke keinen Kaffee. Das ist so etwa alles. ____________________________________________________________________ *Zur Zeit des Interviews war Yeshi Dhonden der Leibarzt des Dalai Lama. 124
Er war ein guter Arzt. Ich nahm diese Pillen eine ganze Weile - es ist reine Kräutermedizin. Er sagt, man kann Krebs heilen, während die Leute von hier sagen, man kann es nicht. Wissen Sie, wenn er nicht daran geglaubt hätte, dann hätte ich es wohl auch nicht getan. Und ich ging zu der Frau meines Cousins, die Leute durch Konzentration auf ihre Hände heilt. Sie hält einem die Hände direkt über den Körper, besonders über die kranken Stellen. Man kann es fast fühlen, die Übertragung von..., nein, Hitze ist es nicht, — es ist eine Übertragung von Energie. Es ist schwer zu glauben, aber man kann es fast fühlen. Sie zeigte Lillian, wie man es macht. Lillian hat es dann auch einige Male ausprobiert. Sie konnte aber nicht soviel Begeisterung dafür aufbringen wie dieses Mädchen. Die Frau meines Cousins ist wirklich davon überzeugt. Sie bringt es anderen bei. Lillian war es ziemlich egal, ob ich diese Behandlung bekam oder nicht, aber ich ließ sie nicht in Ruhe. Sie mußte mir die Hände auflegen. Ich wollte nie das Handtuch werfen. Sie fragten, warum ich länger durchgehalten habe als die meisten anderen Leute, die diese Art von Krebs haben. Wissen Sie, ich mache mir nicht viel Kopfzerbrechen. Ich lasse die Dinge einfach nicht so nahe an mich herankommen und mache mir keine Sorgen. Ich war immer ziemlich ausgeglichen. Ich habe nie herumgebrüllt und Leute angeschrien. Das mache ich auch jetzt nicht. Ich ließ mich nie entmutigen. Ich habe nie geglaubt, daß ich nicht wieder gesund würde. Vielleicht ist das der Grund, weil ich gelassen bleibe und die Dinge nicht so schwer nehme. Ich habe einen Freund, der hat mir ein Tonband mitgebracht, das ich ziemlich viel benutze. Ich werde es Ihnen vorspielen. Es heißt ... Meditation. Ich vergesse vieles. Ich glaube, als sie mir die Strahlen durch den Kopf jagten, haben sie einen Teil meines Gehirns rausgeblasen.« Walter lacht. »Aber auch darüber mache ich mir keine Sorgen.« Walter führte mich ins Schlafzimmer. Ein Tonbandgerät stand auf einem Stuhl neben seinem Bett. Die Bandaufnahme, die er mir vorspielte, war eine Tonkassette mit Simonton-Übungen. In dem Teil, den ich mir anhörte, wird der Hörer systematisch angeleitet, die Konzentration in bestimmte Körperpartien zu leiten und sie zu entspannen. »Ich höre es mir zweimal am Tag an. Danach ist der ganze Körper entspannt. Ich komme in jedem Fall mehr dazu, mich zu entspannen, als früher. Ich bin ein großer TV-Fan und verbringe den Vormittag meistens vor dem Fernseher. Nachmittags gehe ich raus und mache irgendwas im Freien. Ich halte mich in Bewegung. Sehen Sie sich die Kuckucksuhr da drüben an! Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, habe ich angefangen, alte Uhren zu reparieren. Das macht mir Spaß. Hier ist eine antike Großvateruhr, an der ich gearbeitet habe, seit ich krank wurde. Ich kann das Schlagwerk in Bewegung setzen, aber das Laufwerk konnte ich noch nicht reparieren. Ich habe aufgehört, daran zu arbeiten, als das Wetter gut wurde. Jetzt werde ich sie bald fertig haben. Ich fühle mich eigentlich gut - solange die Krankheit nicht schlimmer wird. Ich habe Spaß an den Dingen, die ich jetzt tue. An der Arbeit, die ich vorher gemacht habe, 125
hatte ich keinen Spaß. Ich kann mich jetzt mit so vielen Dingen beschäftigen, für die ich vorher nie Zeit hatte, als ich sechs Tage in der Woche und neun Stunden am Tag in der Fabrik arbeitete. Ich habe ziemlich viel Energie, aber wenn ich abends lange aufbleibe, bin ich am nächsten Tag schneller erschöpft. Ich kann eine Menge Dinge tun, aber nicht alles. Ein Nachbar zog einen Dachstuhl hoch, und ich habe versucht, ihm zu helfen. Aber ich konnte einfach nicht in die Hocke gehen und auf dem Dach arbeiten.« Ein Augenblick hoher Intensität entstand in unserem Gesprach, als ich Walter fragte: »Als Sie so krank waren, - warum wollten Sie leben? Welche Gründe hatten Sie?« Walter unterbrach mich, das einzige Mal in all den Stunden, die wir zusammen verbrachten: »So krank war ich nicht! O ja, ich war wirklich krank, aber ich habe den Willen, gesund zu werden, nie aufgegeben. Ich habe all die Dinge, die wir tun, viel mehr schätzen gelernt. Vor ein paar Monaten fuhr ich hoch nach Alaska, zum Fischen. Mein Bruder, mein Sohn und ich gingen auf Lachsfang. Wir wanderten direkt am Ufer des Wildbachs entlang, es ging zwei Meilen steil bergauf, und ich konnte mit den anderen Schritt halten. Ich weiß nicht, woher ich diese Energie nahm. Es war wundervoll, wir haben es alle sehr genossen.« Zum Abschluß unseres Gesprächs fragte ich Walter, was seiner Meinung nach dazu geführt habe, daß er - entgegen allen Voraussagen - seine Krankheit in den Griff bekommen hatte. »Alles hat geholfen. Das ist ganz klar. Aber ich schwöre Ihnen, wir waren uns vorher nie sicher.« Etwa sechs Monate nach meinem Besuch bei den Puringtons sprach ich mit einer Gruppe ehrenamtlicher Hilfskräfte, die in Pflegeheimen für unheilbar Kranke tätig waren. Dabei lernte ich zufällig einen älteren Mann kennen, der mit Walter gearbeitet hatte. Dieser Mann erzählte mir, daß Walter, selbst als er schwer krank war und unter furchtbaren Schmerzen litt, oft über die Aktivitäten sprach, denen er sich in Zukunft widmen wollte, zum Beispiel fischen in Alaska und lernen, Motorschlitten zu fahren. Der ehrenamtliche Pfleger sagte, daß er, wie jeder andere, der mit dem Fall vertraut war, damals annahm, Walter verleugne den Ernst seiner Lage. Wie sich später erwies, war Walter der erste Patient, der je dieses Pflegeheim lebend verließ. Als die Frau des ehrenamtlichen Helfers nach einem Herzinfarkt ins Krankenhaus kam, kehrten sich die Rollen des Helfenden und des Hilfeempfangenden um: Walter fuhr den Mann ins Krankenhaus, tröstete ihn und bot ihm seine Unterstützung an. In unserem zweiten Interview behandelten wir im wesentlichen dieselben Themen wie im ersten. Aber die Atmosphäre war eine völlig andere. Inzwischen waren fünf Jahre vergangen, und die Krebserkrankung stand nicht mehr als akute, omnipräsente Bedrohung im Raum. Von der Spannung, unter der ich während unseres ersten Gesprächs gestanden hatte, der Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, war beim zweiten Interview nichts mehr zu spüren. Ich fühlte mich frei, Walters bemerkenswerte Geschichte mit Interesse aufzunehmen und die warmherzige Yankee-Atmosphäre bei den Puringtons zu genießen. 126
Walter war kein großer Redner, aber was er auf der nonverbalen Ebene vermittelte, war klar und eindeutig. Bevor wir mit dem eigentlichen Interview begannen, machte Walter mir deutlich, daß er gern bereit sei, mir alles mitzuteilen, was ich über ihn und seine Erfahrung wissen wollte. Er führte mich in Haus und Garten umher und hinunter in den Keller, zeigte mir den Kräutergarten, den Lillian angelegt hatte, die Destillieranlage, in der sein Sohn Bier braute, und den großen Holzofen, den er, Walter, gebaut hatte und der das ganze Haus beheizte. Ein Aspekt der Schönheit, die Walters Wesen ausstrahlte, war die Direktheit seines Handelns. Er demonstrierte buchstäblich seine Bereitschaft, mir alles zu vermitteln, was in ihm vorging. Als wir wieder am Küchentisch saßen, nahm er ein Wattestäbchen aus einer Schachtel und erklärte mir, seit der Strahlenbehandlung habe er Probleme mit seinen Ohren. Stolz zeigte er mir seine eigene, persönliche Technik, seine Ohren mit einem speziellen Öl zu reinigen. Diese Technik, sagte er, sei der, die ihm ein Arzt gezeigt hatte, weit überlegen. Wie zum Beweis förderte er ein Stückchen Ohrenschmalz zutage und hielt es mir zum Betrachten hin. Mit derselben Unbefangenheit öffnete Walter mir sein Inneres. Der Zugang dazu war jedoch nicht leicht, da seine Tendenz, zu handeln, statt zu reflektieren, sich mit seiner zunehmenden Genesung noch steigerte. Ich fragte, ob seine Kinder seit unserem ersten Treffen das Elternhaus verlassen hätten. Er forderte mich auf, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. In etwa dreihundert Meter Entfernung sah ich ein kleines weißes Cape-Cod-Haus. »Das haben meine Tochter und ihr Mann gebaut.« »Jetzt gehen Sie rüber und schauen Sie aus dem anderen Fenster.« Oben auf einem nahegelegenen Hügel stand ein weiteres neues Haus. »Das gehört meiner anderen Tochter. Sie war in New York, als ich krank wurde, zog dann aber wieder hierher, als sie es erfuhr.« Walter fuhr fort: »Und die Maultiere, haben Sie die Maultiere gesehen, als Sie von der Hauptstraße abbogen? Also, die gehören meinem Sohn und seiner Frau. Sie wohnen in der Nähe, ein kleines Stück die Straße hinunter. Er zieht jetzt nach Maine; ich denke, er weiß, daß ich wieder ok bin.« Walter erzählte, daß er immer noch dieselben Eßgewohn-heiten habe wie vor fünf Jahren - eine ausgeglichene Diät und wenig Alkohol. Er aß jetzt wieder Süßigkeiten, aber längst nicht soviel wie vor seiner Krebserkrankung. »Es kommt kaum vor, daß ich mehr als einen Schokoladenriegel auf einmal esse.« Er ging mit mir durchs Haus und über das ganze Grundstück und führte mir vor, wie er jetzt lebte. Er zeigte mir die Motorschlitten, die er und Lillian im vergangenen Jahr gekauft hatten. Er schien überrascht, als ich ihn fragte, ob auch er Motorschlitten fahre. Für ihn gab es offenbar nur einen Grund, sich diesem anstrengenden Wintervergnügen nicht zu widmen: »Na ja, bisher war es schlecht mit dem Schnee dieses Jahr, aber wir hoffen, daß wir noch mehr bekommen.« Walter erzählte mir, daß es mit seiner Genesung nicht stetig und kontinuierlich aufwärtsgegangen sei: »Fast hätten Sie mich nicht mehr angetroffen. Es ging mir verdammt schlecht. Als ich die Bestrahlung bekam, ging es mir direkt in den Kopf, es setzte die Hirnanhangdrüse außer Gefecht, sie ging kaputt dabei. Und von dem Tag an ging es bergab mit 127
meinem Körper, ständig bergab, fünf Jahre lang. Wenn Sie mich vor einem Jahr gesehen hätten...; ich konnte kaum noch kriechen. Na ja, ich bin nicht wirklich gekrochen, aber der Arzt sagte, eigentlich wäre es soweit gewesen. Meine Hypophyse versorgte die Schilddrüse nicht mehr. Ich stand eines morgens auf und konnte nicht mehr sprechen. Nur irgendwelche unverständlichen Laute kamen heraus. Ich ging rüber zur Couch und legte mich hin. Zwei Mädchen kamen herein, die ich seit einigen Jahren nicht gesehen hatte, und ich wurde sofort munter und richtete mich auf. Aber ich wußte, daß ich in Schwierigkeiten war. Ich rief Dr. Morrow an und machte einen Termin bei ihm. Er untersuchte mich von Kopf bis Fuß, von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen. Er brauchte ungefähr eine Stunde, bis er mit beiden Seiten fertig war. Dann fing er an, meinen Hals zu untersuchen. Er konnte die Schilddrüse nicht finden. Alles andere war in Ordnung. Schließlich schickte er mich zu Dr. Shaw.« Lillian kam dazu und beteiligte sich am Gespräch: »Das war im letzten Frühjahr. Dr. Shaw fand es erstaunlich, daß Walter in seine Praxis hereinspaziert kam, obwohl seine Schilddrüse in einem so schlechten Zustand war. Offenbar waren die Hormone noch eine Weile da, aber die Schilddrüse produzierte immer weniger, und deshalb ging es Walter so schlecht. Die Onkologen prüften, ob der Krebs sich ausgebreitet hatte, aber das war es nicht. Dr. Shaw erkannte das Problem sofort. Er war sich völlig sicher, daß es die Schilddrüse war, und verschrieb Walter Schilddrüsenmedikamente, noch bevor er die Ergebnisse der Blutuntersuchung hatte. Seit dem Sommer geht es Walter viel besser.« Walter: »Nachdem sie das mit der Schilddrüse herausgefunden hatten, daß sie durch die Bestrahlung nicht mehr arbeitete, bestiegen Lillian und ich den Mount Monadnock. Wir schafften es nicht bis auf den Gipfel, aber wir kamen ziemlich nahe heran. Nur aus Spaß - würde es Sie interessieren, was ich jeden Tag nehmen muß?« Walter geht zu einem der Wandschränke und holt vier Tablettenröhrchen heraus. Er zeigte mir die fünf Tabletten, die er jeden Tag einnehmen mußte. »Eigentlich bin ich kein Pillenschlucker, wissen Sie? Früher wußte ich gar nicht, wie man Pillen nimmt. Die hier schlucke ich alle auf einmal. Außerdem soll ich immer noch ein Aspirin nachwerfen, damit das Herz nicht eines Nachts verrückt spielt. Einige meiner alten Kumpel sind in diesem Jahr abgetreten. Alle haben geglaubt, daß ich der erste sein würde. Als ich wieder zu Dr. Case ging, erzählte er mir, daß es im Krankenhaus eine Sonderbesprechung über meinen Fall gab. Er sagte, die Ärzte konnten sich nicht vorstellen, wo sie einen Fehler gemacht hatten. Er sagte, sie sahen alle Unterlagen durch, und sie kamen alle zu demselben Schluß: daß ich es eigentlich nicht schaffen konnte. Also schickten sie die Computerausdrucke, die Testergebnisse, die Röntgenaufnahmen und alles an die Duke-Universität. Dort kamen sie zu derselben Diagnose wie im Krankenhaus: Sie sagten, ich konnte es eigentlich gar nicht schaffen. Ich habe das erfahren, als es mir schon ziemlich gut ging.« 128
Am Ende des Interviews stellte ich Walter dieselbe Frage wie fünf Jahre zuvor: »Woran liegt es Ihrer Meinung nach, daß Sie es so gut geschafft haben?« Walter antwortete: »Ich habe nie aufgegeben. Ich wollte nicht sterben; ich will immer noch nicht. Selbst heute glaube ich, daß ich doch noch einige Jahre, gute Jahre, vor mir habe.« Lillian: »Es ist wahr. Seine Geisteshaltung spielt wahrscheinlich eine große Rolle. Es schien auch nie so, als wäre er deprimiert. Er hat einfach durchgehalten, immer weitergemacht.« Walter: »Ich hätte nicht mal was dagegen, die ganze Sache nochmal zu versuchen - nur diesmal sollten sie das Problem mit der Schilddrüse schneller erkennen.«
Beobachtungen Auf den ersten Blick könnte man aus den Fakten und Daten schließen, daß Walter ein eher unwahrscheinlicher Kandidat für alternative Heilmethoden war. Er hatte mehr als dreißig Jahre lang denselben Beruf, arbeitete in derselben Fabrik. Er lebte seit fünfzig Jahren in derselben ländlichen Kleinstadt, war seit achtundzwanzig Jahren mit derselben Frau verheiratet. Vor seiner Krebserkrankung war er äußerst selten in ärztlicher Behandlung, und diese wenigen Erfahrungen beschränkten sich auf die Schulmedizin. Woraus läßt sich also seine Bereitschaft erklären, Heilmethoden zu erproben, die sich über die gesamte Skala von traditionell bis zu exotisch erstreckten? Walters Persönlichkeit und die Situation, mit der er sich konfrontiert sah, geben einen ersten Deutungsansatz. Lillian erklärte - und Walter bestätigte durch sein Verhalten -, daß Durchhaltevermögen und Entschlossenheit zentrale Merkmale seines Charakters sind. Als er krank wurde, konzentrierte er sich mit seiner ganzen Willenskraft auf das Gesundwerden. Es gab keine Ambivalenz, die an seinen Lebensenergien gezehrt hätte. Er war bereit, alles zu probieren, was sich bot, um gesund zu werden. Vielleicht war seine Unerfahrenheit mit Krankheiten ein günstiges Vorzeichen. Da Walter ein »Anfänger« war, hatte er keine vorgefaßten Meinungen darüber, was man tun muß, um schwere Erkrankungen zu überwinden. Anders als seine Onkologen, die auf ihr Repertoire von Chemotherapie, Strahlenbehandlung und Chirurgie festgelegt waren, resignierte Walter nicht und hatte nie das Gefühl, daß es keine anderen Wege gäbe. Da Walter nie geglaubt hatte, traditionelle medizinische Praktiken seien die einzige Möglichkeit, war die Erklärung der Ärzte, daß sie keine Lösung wüßten, für ihn kein Todesurteil. Er glaubte immer noch, daß sie ihm etwas Wertvolles zu bieten hätten. Tatsächlich hatte er mehr Vertrauen in den Wert ihrer Methoden als sie selbst und bestand daher auf der Strahlenbehandlung. Aber Walter sah auch keinen Grund, sich total auf die Schulmedizin zu verlassen, wenn deren Vertreter explizit sagten, daß die Genesung, die er sich so sehr wünschte, jenseits ihrer Möglichkeiten läge. In dem Wissen, daß er »Heilung brauchte«, machte Walter sich auf, Heilung zu finden. Er war jedoch viel zu krank, um weite Reisen zu unternehmen oder aktiv nach Alternativen Ausschau zu halten. Seine Willenskraft drückte sich vielmehr darin aus, daß er neuen Möglichkeiten mit völliger Offenheit begegnete, wenn sie auf ihn zukamen. Als sein Hausarzt Akkupunktur vorschlug, ging Walter bereitwillig darauf ein und hielt 129
zweiundfünfzig Sitzungen lang konsequent daran fest. Als sein Akupunkteur ihm von einem berühmten tibetischen Arzt erzählte, nahm Walter eine ziemlich beschwerliche Reise auf sich, um diesen Arzt zu konsultieren, und hielt sich dann strikt an die Ernährungsumstellung und die Kräuterkur, die Yeshi Dhonden ihm verordnete. Als er erfuhr, daß eine junge Verwandte durch Handauflegen heilte, oder als ein Nachbar die Simonton-Übungen empfahl, ging Walter mit Eifer und Engagement auf diese Möglichkeiten ein, in der festen Hoffnung, daß sie ihm Heilung bringen könnten. Für einen so schwerkranken Mann blieb Walter in seiner Rolle als Patient in den unterschiedlichsten Situationen bemerkenswert durchsetzungsfähig. Als eine Krankenschwester ihn grob und respektlos behandelte, wies er sie zurecht und erreichte, daß sie ihr Verhalten änderte. Er zögerte nicht, seinen Akupunkteur zu kritisieren, als er das Gefühl hatte, daß dieser beim Einstich der Nadel die richtige Stelle verfehlte. Und als die Krankenhausbürokratie verfügte, daß er am Tag seiner Entlassung keine Strahlenbehandlung erhalten sollte, ließ er sich davon nicht beeindrucken; er verlangte seine Behandlung und bekam sie. Offensichtlich tat Walter alles, was in seinen Kräften stand, um den Verlauf seiner Krankheit zu beeinflussen. Was die Besonderheit und das Interessante seiner Persönlichkeit ausmacht, ist jedoch die Kombination von Willenskraft und Akzeptanz. Auf Walters Kampf mit dem Krebs paßt eine Verszeile aus der Bhagavad Gita, die von Krischna gesprochen wird: »Wappne dich für den Krieg mit Frieden im Herzen.« Er war ein friedlicher Kämpfer, der für Bedrohungen und auch für Auswege stets ein waches Auge hatte, aber dennoch seine menschlichen Begrenzungen akzeptierte. In dem Wissen, daß er bei seinen Bemühungen um Heilung alles getan hatte, was ihm möglich war, konnte er jedes Resultat akzeptieren. Wir sahen im Verlauf des Interviews ein bemerkenswertes Beispiel dafür. Nachdem er zum drittenmal erfolglos versucht hatte, sich ein Wort, das ihm entfallen war, ins Gedächtnis zurückzurufen, folgerte Walter, die Strahlenbehandlung habe wohl einen Teil seines Gehirns »rausgeblasen«. Aber statt über einen so ernsten Verlust unglücklich zu sein, sagte Walter: »Auch darüber mache ich mir keine Sorgen.« Wir können Walters Fähigkeit, im Kampf um sein Überleben sein inneres Gleichgewicht zu bewahren, nur dann vollkommen würdigen, wenn wir uns den Gesamtzusammenhang vergegenwärtigen. Walter mußte sich nicht nur mit den seelischen Aspekten der Diagnose »Krebs im Endstadium« auseinandersetzen. Die physischen Schmerzen und Belastungen, die er zu ertragen hatte, waren extrem. In Jean Paul Sartres Novelle Huis Clos finden sich drei Personen plötzlich zusammen in einem Raum vor, ohne zu wissen, wo sie sind und wie sie dorthin kamen. Im weiteren Verlauf der Geschichte beginnen wir zu vermuten, daß sie in der Hölle sind. Wenn wir erfahren, daß sie keine Augenlider haben, so daß nicht einmal ein Moment der Ruhe möglich ist, bestätigt sich unser Verdacht. Walters Zustand war eine ähnliche Hölle. Der Schmerz war intensiv, und er konnte seine Augenlider nicht ohne Hilfe schließen. Die These, daß Krankheit und Schmerz subjektiv unterschiedlich erlebt werden, wird durch Walters Antwort auf die Frage: »Als Sie so krank waren, warum wollten Sie leben?« eindringlich bestätigt. Wenn er sagt: »So krank war ich nicht«, wissen wir, daß seine Realität sich sehr von der Realität unterschied, die andere wahrnahmen. 130
Walters Meinung nach trug die liebende Zuwendung, die er von Lillian und von seiner nächsten Umgebung, vor allem aber von Lillian erhielt, viel zu seiner Genesung bei. Lillians Teilnahme an den Interviews — zu der ich sie nicht eigens aufgefordert hatte - spiegelt ihre totale innere Beteiligung an allen Phasen der Krankheit und der Behandlung. Tatsächlich ging Lillians Verbundenheit mit Walter so weit, daß sie nicht das Gefühl hatte, die Behandlung beträfe nur ihn allein. »Also überlegten wir nochmal, und entschieden schließlich doch, daß wir es machen würden, daß die Behandlung vielleicht helfen würde«, sagte Lillian, als es um die Strahlentherapie ging. Walter vermittelte dieselbe Einstellung. Lillian und er bildeten eine Einheit; sie demonstrierten eine ausgeprägte Paaridentität, der sie offensichtlich hohen Wert beimaßen: » Wir wollten in jedem Fall etwas tun, auch wenn es für mich keine Möglichkeit gab, wieder gesund zu werden. Wir wollten so lange wie möglich überleben.« Für Walter war die Aufrechterhaltung der Beziehung ein wichtiger Grund, am Leben zu bleiben. Walters Wettbewerbsgeist äußerte sich in subtilen Formen, aber er war konstant, stark und tief eingewurzelt. Er verglich sich mit anderen, um festzustellen, wie er abschnitt. Die Tatsache, daß er mehr Besuch hatte als alle anderen, bestätigte ihm, daß er geschätzt wurde und daß seine Umwelt an ihm interessiert war. Er war stolz darauf, daß er nicht der erste in seinem Freundeskreis war, der »abtrat«, trotz seiner tödlichen Krankheit. Sein Wettbewerbsgeist war eine weitere Motivation, nicht aufzugeben, als er so krank war, und etwas zu erreichen, was andere vor ihm nicht geschafft hatten. Die Unterstützung, die Walter aus seinem Umfeld erhielt, war zum Teil vielleicht das Resultat günstiger Umstände oder glücklicher Zufälle. Aber es ist wichtig, zu erkennen, daß Walter das günstige Milieu, das er brauchte, selbst miterschuf. Zum Beispiel gab es anfangs, von ihm selbst abgesehen, praktisch niemanden, der an sein Überleben glaubte. Er mußte jemanden finden, der seine Hoffnung auf Heilung nährte, um letztlich nicht doch in Verzweiflung und Resignation zu verfallen. In Yeshi Dhonden fand er eine Quelle der Hoffnung. Walter drückte das mit den Worten aus: »Er sagt, man kann Krebs heilen ... Wenn er nicht daran geglaubt hätte, dann hätte ich es wohl auch nicht getan.« Trotz Walters Neu-England-Provinzialismus hatte die Begegnung mit einem fernöstlichen Heiler nichts Befremdliches für ihn, sondern rührte in entscheidenden Punkten durchaus an Vertrautes. Ähnliche Wertvorstellungen bildeten den gemeinsamen Nenner. Walter, ein Mann, den man als typischen alten Yankee charakterisieren könnte, ging mit sich selbst und mit anderen ehrlich und direkt um. Ein Grundsatz seiner Lebensphilosophie lautete: »Jede Arbeit, die sich lohnt, ist es wert, daß man sie so gut wie möglich macht«, - unabhängig davon, ob es sich um eine alltägliche Aufgabe oder um die Aufgabe des Am-Leben-Bleibens handelte. Wir sehen Walters Streben nach Vollkommenheit - wie illusionär ein solches Ziel auch immer sein mag - in seiner bemerkenswerten Äußerung: »Ich hätte nicht mal was dagegen, die ganze Sache nochmal zu versuchen, nur diesmal...« Yeshi Dhondens Lebenseinstellung ist vielleicht bewußter und stärker religiös geprägt als die Haltung, die Walter zum Ausdruck bringt, aber was beide Männer gemeinsam haben, ist das Streben nach dem Besten, das leidenschaftliche Engagement für das Leben selbst. In seinem Buch Mortal Lessons (etwa: »Lektionen für Sterbliche«) beschreibt Richard Selzer die Art, wie Yeshi Dhonden Medizin praktiziert: 131
»Auf dem schwarzen Brett in der Eingangshalle des Krankenhauses, in dem ich arbeite, erschien eines Tages die Ankündigung: >Yeshi Dhonden wird am Morgen des 10. Juni um sechs Uhr seine Visite machen ...< Ich bin kein so eingefleischter Skeptiker, daß ich einen Abgesandten der Götter bewußt ignorieren würde. Ein solches Desinteresse wäre vielleicht nicht nur dem irdischen Wohlbefinden abträglich, sondern könnte sich möglicherweise auch ungünstig auf die Ewigkeit auswirken. Also schließe ich mich der Gruppe von Weißkitteln an, die sich am Morgen des 10. Juni in einem kleinen Konferenzraum neben der Station, die für die Visite ausgewählt wurde, versammelt hat. Um Punkt sechs Uhr materialisiert er - ein kleiner, goldfarbener, gedrungener Mann, der eine ärmellose Robe in Ocker und Dunkelrot trägt. Sein Kopf ist kahlgeschoren; die einzig sichtbaren Haare an seinem Körper sind die spärlichen Brauen über den leicht verhangenen schwarzen Augen. Er verbeugt sich zur Begrüßung; ein junger Dolmetscher spricht die einführenden Worte. Yeshi Dhonden, so erfahren wir, wird eine Patientin oder einen Patienten untersuchen, eine Person, die von einem der anwesenden Ärzte ausgewählt wird. Die Diagnose ist Yeshi Dhonden ebenso unbekannt wie uns selbst. Weiter wird uns mitgeteilt, daß Yeshi Dhonden sich während der letzten beiden Stunden durch Baden, Fasten und durch das Gebet gereinigt hat ... Yeshi Dhonden tritt neben das Bett, während wir, die Gruppe von Ärzten, etwas abseits stehen und beobachten. Er schaut die Frau lange an ... Auch ich betrachte sie genau. Es sind keine physischen Anzeichen oder offensichtlichen Symptome zu erkennen, die über die Natur ihrer Krankheit Aufschluß geben könnten. Schließlich nimmt er ihre Hand in seine beiden Hände. Er steht jetzt in einer geduckten Haltung über das Bett gebeugt, das Kinn im Kragen seiner Robe vergraben. Seine Augen sind geschlossen, als er nach ihrem Puls tastet. Er hat die Stelle augenblicklich gefunden, und während der nächsten halben Stunde verharrt er so, über das Bett der Patientin gebeugt wie ein exotischer goldener Vogel mit angelegten Schwingen, den Puls der Frau unter seinen Fingerspitzen, ihre Hand in seiner Hand ruhend. Die gesamte Energie des Mannes scheint sich in diesem Fühlen zu konzentrieren. Das Pulsfühlen ist hier zum Ritual erhoben ... Ich sehe ihre Hände nicht, die in einzigartiger, intimer Kommunikation ineinander verschränkt sind, erkenne nicht, wie seine Fingerspitzen die Botschaft ihres kranken Körpers empfangen, der durch das rhythmische Pulsieren an ihrem Handgelenk zu ihm spricht. Urplötzlich bin ich neidisch; nicht auf Yeshi Dhonden, seiner wundervollen Ausstrahlung wegen, sondern auf die Frau. Ich möchte so angefaßt, so berührt, so empfangen werden. Ich weiß, daß ich, der ich Hunderttausende von Pulsen mit meinen Fingern berührte, nicht einen wirklich gefühlt habe. Schließlich richtet Yeshi Dhonden sich auf, legt die Hand der Frau sanft auf die Bettdecke und tritt zurück. Der Dolmetscher reicht ihm eine kleine Holzschale und zwei Stäbchen. Yeshi Dhonden gießt etwas von der Urinprobe in die Schale und beginnt den Urin mit den Stäbchen aufzuschlagen. Er setzt das einige Minuten fort, bis Schaum entsteht. Dann beugt er sich über die Schale und nimmt in drei Atemzügen den Geruch auf. Während der gesamten Prozedur hat er kein einziges Wort gesprochen ... >Danke, Doktor<, sagt die Frau und berührt das Handgelenk, das er gehalten hat, mir ihrer anderen Hand, so als wollte sie etwas einfangen, was dort gerade noch präsent war ... Wir sitzen wieder im Konferenzraum. Jetzt spricht Yeshi Dhonden zum ersten Mal. Er spricht von Winden, die durch den Körper der Frau jagen, von Strömen, die sich 132
an Barrieren brechen, von Wirbeln und Strudeln. Diese Strudel sind in ihrem Blut, sagt er; - die äußersten Anstrengungen eines unvollkommenen Herzens. Lange, lange bevor sie geboren wurde, kam ein Wind, drang zwischen die Kammern ihres Herzens ein und stieß durch sein Blasen tief innen ein Tor auf, das nie geöffnet werden darf. Durch dieses Tor rauschen die Ströme ihres Körpers wie angeschwollene Bergflüsse nach der Schneeschmelze, die alles mitreißen und das Land unterspülen, und überfluten ihren Atem. Das sind seine Worte, und nun schweigt er. >Können wir jetzt die Diagnose haben?< fragt ein Professor. Der Gastgeber der Runde, der Arzt, der die Diagnose kennt, gibt die Antwort: >Angeborener Herzfehler<, sagt er. >Interventrikularer Defekt des Septums, mit Herzversagen als Folge.< Ein Tor, tief zwischen den Herzkammern, das nie geöffnet werden darf, denke ich. Durch dieses Tor drängen sich die angeschwollenen Ströme ihres Körpers, die ihren Atem überfluten. So! Hier ist also der Arzt, der dem Rauschen und Strömen im Körperinnern lauscht, Tönen, für die wir anderen alle taub sind. Er ist mehr als ein Arzt. Er ist ein Priester. Ich weiß, ich weiß: Der Arzt der Götter ist reines Wissen, reine Heilkraft. Dann und wann geschieht es, wenn ich selbst bei der Visite meine Runde mache, daß ich den Klang seiner Stimme höre, wie ein altes buddhistisches Gebet, dessen Bedeutung längst vergessen ist, - nur der Klang ist geblieben. Dann ergreift mich ein inneres Jubeln, und ich fühle mich von etwas Göttlichem berührt.«
Wissenschaftliche Anmerkungen Trotz der hoffnungslosen Prognose glaubte Walter nie, daß er der Krankheit unterliegen würde. Viele Studien geben indirekte Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Hoffnung und Heilung. In einem Experiment wurden Ratten in Situationen versetzt, die entweder hoffnungslos waren oder Raum für Hoffnung ließen. Obwohl der Sadismus der Wissenschaftler das Experiment äußerst fragwürdig erscheinen läßt, sind die Ergebnisse aufschlußreich. Nachdem die Ratten ins Wasser eingetaucht wurden, beobachteten die Wissenschaftler, wie lange es dauerte, bis sie starben. Der Tod trat durch bioelektrische Abnormitäten ein (etwa einem Herzanfall oder Herzinfarkt vergleichbar), nicht durch Ertrinken. Die Ratten, die von den Wissenschaftlern fest in der Hand gehalten wurden - was ihnen keine Hoffnung auf Überleben ließ -, starben am schnellsten. In der Regel trat bei den wilden Ratten der Tod zwischen einer Minute und fünfzehn Minuten nach dem Eintauchen ins Wasser ein. Die Wissenschaftler fanden jedoch heraus, daß Ratten, die ins Wasser eingetaucht und dann wiederholt gerettet wurden, weitaus länger überlebten, - bis zu einundachtzig Stunden. Daraus kann die Hypothese abgeleitet werden, daß die Ratten »wußten«, daß Hoffnung auf Rettung bestand, und daher nicht aufgaben. Vermutlich wurde Walters Immunabwehr durch seine Fähigkeit gestärkt, selbst auf traumatische Lebensereignisse friedlich und gelassen zu reagieren. Obwohl die Forschung noch keinen definitiven Beweis für die Verbindung zwischen der Entwicklung von Krebs und Streß gefunden hat, erscheint diese Verbindung naheliegend. In den vergangenen 133
Jahren ist eine große Anzahl von Studien erschienen, die demonstrieren, daß Streßfaktoren der unterschiedlichsten Art die Immunabwehr schwächen. An der Ohio State University School of Medicine fanden Wissenschaftler heraus, daß ein Streßfaktor (akademische Prüfungen) die Fähigkeit des Körpers unterdrücken konnte, T-Lymphozyten, die sogenannten Killerzellen, zu bilden. Killerzellen besitzen die Fähigkeit zur Fremdzellenzerstörung und helfen dadurch, die Entwicklung von Tumoren zu verhindern. Die Wissenschaftler Alfred Amkraut und George Solomon, die Mäuse mit einem Virus impften, um Tumore zu induzieren, entdeckten, daß bei Tieren, die unter Streß standen (sie erhielten Elektroschocks) die Tumore schneller wuchsen als bei der Kontrollgruppe, die keinem Streß ausgesetzt war. In einer anderen Studie sagten Wissenschaftler tatsächlich voraus, welche Individuen in einer Gruppe von Versuchspersonen Krebserkrankungen entwickeln würden. Einundfünfzig Frauen, deren histologische Tests bei der gynäkologischen Krebsvorsorgeuntersuchung eine atypische cervikale Zytologie zeigten »verdächtige« Zellen, die auf ein höheres Risiko von Krebserkrankungen hindeuten), wurden interviewt und nahmen an einer Serie von psychologischen Tests teil. Die Autoren der Studie, Arthur Schmale und Howard Iker, stellten die Hypothese auf, daß Frauen, die einen hilflosen und hoffnungslosen Eindruck machten, Krebs entwickeln würden, die anderen hingegen nicht. Obwohl sie nur von diesem einen Kriterium ausgingen, erwiesen ihre Voraussagen sich in 73,6 Prozent der Fälle als korrekt. Der Versuch, die Wirkung einer liebeerfüllten Paarbeziehung wie der, die Walter und Lillian verbindet, zu messen, wäre zwar interessant, würde aber zwangsläufig zu einer übermäßigen Vereinfachung führen. Die Ergebnisse entsprechender Studien legen jedoch nahe, daß Menschen, die in intakten Ehen leben, Krebserkrankungen weitaus besser durchstehen als Alleinlebende. Eine Studie, die im Journal of the American Medical Association 1987 veröffentlicht wurde, verglich die Daten von 27 779 Krebsfällen aus dem New Mexico Tumor-Register. Es stellte sich heraus, daß die Überlebensraten von Verheirateten um 23 Prozent höher lagen als die von Alleinstehenden. Walter Goodwin, der wissenschaftliche Leiter des Projekts, erklärte, daß Krebserkrankungen bei Verheirateten in der Regel früher diagnostiziert werden, und Früherkennung erhöht die Heilungschancen. Aber selbst wenn man diesen Faktor unberücksichtigt läßt, ist bei Verheirateten die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihre Krebserkrankungen überleben, immer noch höher. »Dafür haben wir keine Erklärung«, sagte Goodwin, aber er stellte die Vermutung an, daß die emotionale Unterstützung, die diese Menschen von ihren Ehepartnern erhielten, den Unterschied ausmache. Daß Walter von Lillian emotionale Unterstützung erhielt, steht außer Frage, aber ebenso wichtig war die Tatsache, daß die Ehe mit ihr Walters Leben mit Sinn erfüllte. Sie gab ihm Grund, am Leben zu bleiben.
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KURT METZLER Wenn Sie wissen wollen, wie es sich anfühlt, holen Sie tief Luft, atmen Sie bis zur Hälfte aus, und nun versuchen Sie, wieder einzuatmen. So fühlt es sich die ganze Zeit an. Für mich ist es das Normale. KURT METZLER Ich erfuhr von Kurt Metzler durch eine Freundin, die Karate als Sport betreibt und den braunen Gürtel hat. Sie erzählte, daß vor etwa sieben Jahren ein junger Mann in ihrem Karatekurs auftauchte. Dieser Mann nahm nicht annähernd so oft am Training teil wie andere ernsthaft Interessierte, aber seine Fähigkeit, sich auf die Übungen zu konzentrieren, und seine klare Einschätzung der Möglichkeiten und Begrenzungen seines Körpers hoben ihn vor allen anderen hervor. Weil er oft stark hustete und immer wieder längere Zeit nicht zum Training erschien, vermutete meine Freundin, daß er an irgendeiner Krankheit leide, aber sein sportliches Können stand diesem Eindruck entgegen. Sie war überrascht, als sie von einem anderen Mitglied ihrer Gruppe erfuhr, daß Kurt an Mukoviszidose leide und wahrscheinlich nur noch wenige Jahre zu leben habe. Die Befürchtungen der Umwelt, daß Kurt bald sterben werde, hatte es gegeben, seit er fünf Jahre alt war. Während unseres Interviews nannte Kurt mir viele Beispiele dafür. Das jüngste dieser Art: »Im letzten Monat ging ich zu einem Klassentreffen meiner alten High School. Meine ehemaligen Klassenkameraden waren sehr überrascht, mich zu sehen. Ich wußte nicht warum, da niemand mit mir darüber gesprochen hatte, aber damals ging an der ganzen Schule das Gerücht um, daß ich nicht älter als zwanzig werden würde. Alle rechneten damit, daß ich bald den Löffel aus der Hand legen würde.« Die Vorwegnahme seines baldigen Todes gründete sich damals - und zu allen späteren Zeitpunkten - auf statistische Wahrscheinlichkeit. Der Spezialist, der mit Kurts Krankheitsverlauf am engsten vertraut ist, erklärte, Kurts Chancen, sein dreißigstes Jahr zu überleben, lägen bei 1: 1000. Ein zweiter Arzt, der bestätigte, wie außergewöhnlich Kurts Überleben sei, wurde gefragt, worauf er diesen erstaunlichen Prozeß zurückführe. Er wußte keine Antwort. »Glück?« spekulierte er. Bevor ich Kurt traf, wußte ich nicht viel über Mukoviszidose. Aber nach dem wenigen, was ich über die Verheerungen gehört hatte, die diese Krankheit anrichtet, rechnete ich damit, einem angegriffenen, kränklichen Menschen gegenüberzutreten. Als ich bei Kurt zu Haus ankam, öffnete er die Tür, schüttelte mir die Hand und nahm mir dann die Tasche mit den Aufnahmegeräten ab. Er sah aus wie ein Sportler. Sein Händedruck war fest, sein Gang vital und elastisch, selbst während er meine schwere Tasche trug. Er hatte O-Beine, aber die Krümmung wirkte nicht wie die Deformation durch eine Krankheit, sondern eher wie die typische Körperlichkeit eines Fußballspielers oder Gewichthebers, die sich im Lauf der Jahre so entwickelt hat, um ein Maximum an Stabilität und Kraft zu garantieren. Es mag seltsam erscheinen, aber erst als wir unser Gespräch begonnen hatten und Kurt die Krankheit und ihre Auswirkungen beschrieb, wurde mir bewußt, daß er nur etwa 1,60 Meter groß war und höchstens fünfundfünfzig Kilo wog. 135
Er hatte Charme, aber nichts Kokettes: die Art von Charme, die jemand ausstrahlt, der genug Selbstvertrauen hat, um seiner Verspieltheit freien Lauf zu lassen. Sein Lächeln war strahlend, und er war sich seiner Männlichkeit sicher genug, um anderen Einblick in seine Verletzlichkeit zu gewähren. Ich war beeindruckt von den mörderischen physischen und seelischen Anstrengungen, die Kurt Tag für Tag durchhielt. Das Interview fand im Haus seiner Eltern in Greenfield in Massachusetts statt. Kurt hat in Greenfield eine eigene Wohnung, hütete aber den Winter über das elterliche Haus. »Meine Eltern sind mit ihrem Camping-Anhänger unterwegs, quer durch das ganze Land«, erklärte er. »Sie werden älter, und sie haben sich entschlossen, die Dinge zu tun, die sie immer tun wollten, solange sie es noch können.« Er dachte einen Augenblick nach und sagte dann lachend: »Ich glaube, genau das tue ich auch.« Die Geschichte, die er erzählt, zeigt, wie wahr seine Worte sind: »Ich bin ein Besessener. Manche Leute sind von Geld besessen oder von Ruhm, also richten sie ihre gesamten Energien auf dieses eine Ziel. Ich bin vom Gesundsein besessen. Ich muß es sein. Den Antrieb habe ich von meinen Eltern; sie gaben mir diese Haltung mit auf den Weg. Mein Vater ist ein besessener Arbeiter. Er hat die Uhr dort gemacht, die Möbel, auf denen wir sitzen-, er baut Geigen. Er hat die elektrischen Leitungen im ganzen Haus verlegt, er kann tischlern und schweißen. Alles, was er macht, macht er gut. Er hat eine Energie, um die ich ihn beneide; ich glaube, in meiner Kindheit beneideten wir ihn alle darum. Wäre ich gesund gewesen, - ich wäre genauso geworden wie er, hätte dieselben Fähigkeiten entwickelt. Aber da ich diese Krankheit habe, setzte ich meine gesamten Energien ein, um dagegen anzukämpfen und so gesund zu bleiben wie möglich. Manchmal, wenn die Leute in meinem Bekanntenkreis abends ausgehen, fragen sie mich: >Kommst du mit?< Ich möchte mitgehen, Freunde treffen, reden, lachen, mich entspannen. Aber ich weiß, ich kann es nicht; - das trifft mich am härtesten. Ich muß tun, was ich tun muß. Ich muß nach Haus gehen und auf mir herumtrommeln. Ich mache diese Selbstbehandlung zweimal am Tag. Ich liege auf einem Brett, mit dem Kopf nach unten, und schlage mir auf die Brust, um etwas von dem Zeug aus meiner Lunge herauszukriegen. Ich kann alles selbst machen, bis auf den Rücken. Dafür habe ich eine Maschine, einen Kompressor, an den ein Vibrator angeschlossen ist - hört sich ein bißchen sexy an -, eine Art Perkussionsinstrument, das ich an meinen Rücken halte. Es hilft. Als ich geboren wurde, hieß es, die durchschnittliche Lebenserwartung für jemanden, der Mukoviszidose hat, läge bei acht Jahren. Ich bin jetzt einunddreißig Jahre alt. In meinem Fall haben sich die Ärzte offensichtlich geirrt. Ich muß jeden Tag raus ins Freie und trainieren. Ich gehe jeden Abend raus und mache mein Lauftraining; wenn es sehr kalt ist, laufe ich drinnen, aber ich muß es jeden Tag tun. Jogging ist für mich von grundlegender Bedeutung. Ich laufe jetzt etwa einen Kilometer pro Tag. Vorher bin ich vier Kilometer gelaufen, aber meine Lunge mochte das nicht. Sie fing an zu bluten. Wenn ich das nicht mehr machen würde, wenn ich mit dem Training aufhören würde, wäre ich vermutlich in vier Monaten nicht mehr da.
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Es ist ein Drahtseilakt. Zuviel Training ist schädlich, und zuwenig Training ist auch schädlich. Also jongliere ich ständig, um das richtige Maß zu finden. Ich habe im Lauf der Jahre eine Menge Leute mit MV gesehen, die nicht die Energie hatten, ständig dabeizubleiben, und sie sind nicht mehr da. Es gab fünf Leute in dieser Gegend, die Mukoviszidose hatten und in derselben Klinik behandelt wurden wie ich. Der letzte starb vor acht oder neun Jahren. Sie zu sehen, zu sehen, daß es ihnen nicht so gut ging wie mir, war mir eine ständige Mahnung. Ich wollte nicht auch so enden. Ich kannte einen anderen, der es auch sehr, sehr gut schaffte. Als ich jünger war, ging ich mit ihm in diese Klinik... O Gott, ich habe seinen Namen vergessen, wie hieß er doch? Rossberg! Alle paar Monate gingen wir zusammen hin, also kamen wir uns ziemlich nahe. Er war ein paar Jahre älter als ich. Durch ihn kam ich in meiner High-SchoolZeit zum Trainieren und zum Gewichtheben. Er hielt sich sehr gut. Ich besuchte ihn im Krankenhaus etwa vier oder fünf Tage vor seinem Tod. Er sah gar nicht so schlecht aus. Als wir das Krankenhaus verließen, sagte meine Mutter: >Weißt du, er wird sterben.« Ich sagte: >Was?< >Er liegt im Sterben. Er schafft es nicht mehr. Der Arzt sagt, er hat vielleicht noch eine Woche.< Es war ein Schock für mich damals, aber als er gestorben war, sagte ich mir: >Also, das ist wieder ein Zeichen. Wenn du aufhörst, wirst du dafür bezahlen.< Als er nach Hawaii aufs College ging, hörte er mit der Therapie und mit dem Training auf. Ich weiß nicht, warum. Ich wette, er würde heute noch leben, wenn er nicht aufgehört hätte. Ich glaube, sein Tod hat etwas in mir bewirkt. Es war ein Zeichen, und vielleicht hat es mich noch mehr angespornt, meine Routine beizubehalten. Es gab Unterschiede zwischen Rossberg und mir. Ich war immer ziemlich stark an mein Elternhaus, an meine Familie gebunden, — er blieb mehr für sich. Ich glaube, ich hatte eine stärkere Heim-Basis. Meine Familie ist sehr wichtig für mich. Sie kann mich nicht gesund erhalten, aber sie hat einen starken Einfluß. Mukoviszidose ist ein Problem mit der Lunge und mit der Bauchspeicheldrüse, eine angeborene Sekretionsstörung. Die Lunge sondert ein verdicktes Sekret ab. Bei Gesunden ist dieses Sekret dünn und dient dazu, Schmutz und Fremdkörper auszuscheiden. Im Fall der Mukoviszidose ist es sehr viel dicker und schwerer. Es löst sich nicht, also bleibt es da stecken und wird zu einer Brutstätte für Infektionen. Ich war immer wieder im Krankenhaus, bestimmt fünfzehn bis sechzehn, wenn nicht zwanzig Mal. Sie bringen mich ins Krankenhaus, für zehn Tage oder zwei Wochen, und pumpen mich mit Antibiotika voll, intravenös, weil das die effektivste Art ist, den Infektionen beizukommen. Wenn man sie in Tablettenform nimmt, neigt der Magen dazu, die Wirkung der Antibiotika abzuschwächen. Aber durch die ständigen Infektionen vernarbt die Lunge. Die Lungenbläschen, die eigentlich winzige Luftbehälter sind, vernarben und verwachsen miteinander. Dadurch verringert sich die Oberfläche, und die Lungenkapazität wird reduziert. Ich kann in einem tiefen Atemzug etwa 1,8 Liter Luft aufnehmen, während die Atemkapazität bei 137
Gesunden etwa bei 3,7 bis 4 Liter liegt. Meine Krankheit ist also ziemlich schwerwiegend. Schließlich kann die Lunge ihre Funktion nicht mehr erfüllen, und der Patient stirbt. Und die Probleme beschränken sich nicht auf die Lunge. Die Bauchspeicheldrüse gibt nicht genügend Enzyme ab, um die Nahrung zu verdauen. Alles geht direkt durch, und der Körper nimmt die Nährstoffe nicht auf. MV-Patienten erreichen nie ihr volles Wachstum, weil sie chronisch unterernährt sind. Ich bin sicher, ohne die Krankheit wäre ich größer. Ich nehme Enzyme ein, um die Verdauung zu fördern. Manche Leute haben nur die Verdauungsprobleme, andere nur die Lungenprobleme. Manche haben Verdauungsstörungen und Lungenprobleme, aber beides in milder Form. Bei mir tritt leider beides in schwerer Form auf. Trotzdem glaube ich, daß ich von allen MV-Patienten, die ich gesehen habe, körperlich am besten in Form bin. Ich denke, mein Körper hat durch das Training gelernt, alles, was ihm zur Verfügung steht, mit maximaler Effizienz zu nutzen. Ich habe mich entschlossen, die Dinge, die mich interessieren, zu tun, solange ich es noch kann. Zum Beispiel ging ich vor vielen Jahren mit einer kirchlichen Jugendgruppe den Mount Washington besteigen. Wir waren halb oben, als das Wetter schlecht wurde. Ich sagte mir, es wäre besser, es nicht weiter zu versuchen. Also machte ich mich mit einem anderen Teilnehmer zusammen auf den Rückweg. Vor ein paar Jahren sagte ich mir: >Ich habe es einmal versucht und es nicht geschafft. Ich will es schaffen!< Diesmal ging ich mit dem Pfarrer. Er ist ein guter Freund, obwohl ich nicht oft zur Kirche gehe. Wir fingen an einem Samstagmorgen mit der Besteigung an. Ich mußte oft Pausen machen. Als wir die Tuckerman-Schlucht erreicht hatten, ballten sich am Himmel schwarze Wolken zusammen; es sah wirklich schlecht aus. Die letzten tausend Meter mußten wir über große Felsblöcke klettern. Es war stürmisch, eine Windgeschwindigkeit von siebzig Meilen pro Stunde, und sehr kalt, knapp über null Grad, obwohl es Mitte Juli war. Ich litt unter Sauerstoffmangel und bekam Krämpfe in den Beinen, - die ganze Palette. Ich war völlig erschöpft. Schließlich schafften wir es bis zum Gipfel. Ich glaube nicht, daß ich es noch einmal machen könnte. Ich war am Ende meiner Kräfte, aber ich bin froh, daß ich es gemacht habe. Als wir da oben waren, passierte eine komische Sache. Da steigt eine Frau aus ihrem Auto - es gibt auch eine Autostraße, die bis zum Gipfel hochführt —; ich sitze da in meinen Wandershorts, meinen Bergstiefeln, mit Regenjacke und Stock, vornübergebeugt und versuche, wieder zu Atem zu kommen. Sie kommt zu mir herüber und sagt: >Sind Sie wirklich den ganzen Weg hier herauf gestiegen?< Ich dachte: >Mach‘s nach, blöde Kuh!< Im letzten Winter sagte ich zu meinem Freund, dem Pfarrer: >Laß uns doch nochmal rauf gehen bis zur Tuckerman-Schlucht, und dann fahren wir mit Skiern runter.< Das bedeutet, daß man beim Aufstieg die Skier auf den Schultern trägt. Wir hatten schon alles vorbereitet, aber an dem Tag, als wir losfahren wollten, regnete es; also mußten wir es abblasen. Wer weiß? Vielleicht mache ich es doch noch. Mein Ziel ist, das Fortschreiten der Krankheit so lange wie möglich hinauszuzögern. Mehr kann ich nicht tun. Es wird schlimmer werden. Es ist schon schlimmer 138
geworden. Ich fühle mich jetzt anders als noch vor zwei oder drei Jahren. In den medizinischen Tests zeigen sich keine dramatischen Unterschiede, aber ich kann es körperlich spüren. Vor zehn Jahren merkte ich beim Lauftraining wirklich, wie der Körper Adrenalin ausschüttete. Wenn ich aufhörte, fühlte ich es viel stärker, wie eine Art Rausch. Ich fühle es auch jetzt noch, aber bei weitem nicht so intensiv. Also steht es mit der Lunge etwas schlechter. Ich mache immer noch Jogging; ich zwinge mich dazu. Aber wenn ich jetzt laufe, habe ich ein Taubheitsgefühl in den Fingern und manchmal ein allgemeines Schwächegefühl. Ich merke, wenn ich mich dem Punkt nähere, an dem ich nicht genug Sauerstoff bekomme, an dem die Blutsauerstoffwerte abfallen. Ich kann diese subtilen Unterschiede spüren. Wenn die Sauerstoffversorgung des Blutes unzureichend ist, wird das Herz stärker belastet. Ich muß darauf achten, mein Herz nicht so stark zu belasten, daß es geschädigt wird. Ich habe mich in einem medizinischen Zentrum einem Test unterzogen. Sie stellten mich auf ein Laufband und nahmen die Werte ab, um festzustellen, wie weit das Blut mit Sauerstoff angereichert war. Nach acht Minuten Jogging sanken die Blutsauerstoffwerte auf sechzig Prozent. Alles, was darunter liegt, wird gefährlich, wenn ich dann nicht wieder Sauerstoff zuführe. Durch diesen Test weiß ich, wie ich mich körperlich fühle, wie sich mein Herz anfühlt, unmittelbar bevor ich den kritischen Punkt erreiche. Ich taxiere meine Kräfte. Ich treibe mich bis zu diesem Punkt an, aber nicht weiter. Bevor ich mit dem Fallschirmspringen anfing, wollte ich wissen, ob der Sauerstoffmangel in großen Höhen mich gefährden könnte. Ich fragte meinen Arzt. Er sagte: >Aus welcher Höhe wollen Sie abspringen?< Ich sagte: >Etwa zweitausenfünfhundert Meter.< >Das könnte die kritische Grenze für Sie sein.< >Gut<, sagte ich. >Ich werde es machen.< Ich glaube, der Arzt meinte, es wäre riskant, äußerst riskant. Aber ich war bereit, das Risiko einzugehen; die Sache war es mir wert. Meine Mutter sagte, sie würde nicht auf den Flugplatz kommen, aber sie kam dann doch, um meinen Sprung zu sehen. Sie bemerkte, daß ich durch die große Höhe blaue Lippen bekommen hatte, also mußte ich aufpassen. Ich bin ständig dabei, mich selbst zu überwachen, zu testen, welche Folgen es für mich hat, wenn ich dies oder jenes tue. Bei meinem ersten Absprung hatte ich große Angst. Also nahm ich ein paar Leute mit auf den Flugplatz, für den Fall, daß irgend etwas passierte. Beim ersten Mal springt man im Tandem, weil es sicherer ist. Man trägt einen Gurt, der mit zwei Karabinerhaken am Gurt des Ausbilders befestigt ist, unter seinem Bauch. Man geht runter wie ein Sandwich, einer auf dem anderen. Ich hatte nicht wirklich Angst, bis sie die Seitentüren im Flugzeug öffneten. Du guckst raus, und da ist nichts! Du sagst dir: >O nein!< Es ist kalt da oben, und es bläst ein starker Wind. Die ersten springen ab, und man sieht sie im Nichts verschwinden. Puh; also jetzt bist du dran. 139
Du springst von der Seite des Flugzeugs ab: Du setzt dich auf den Rand, und die Beine hängen raus, und du hältst die Hand auf der Brust. Der Ausbilder hält dich fest und sagt: >Also los, fertig, ab geht‘s.< Du läßt dich einfach nach vorn fallen, und das ist es, du bist draußen. Man kann beim Absprung einen Salto machen, und in der Drehung sieht man das Flugzeug davonfliegen. Die Sonne geht unter, man kann den gesamten Horizont überblicken. Es ist ein ungeheurer Ansturm von Eindrücken und Empfindungen. Man kann es tatsächlich selbst sehr stark steuern, Links- und Rechtsdrehungen machen und Saltos. Man hat wirklich das Gefühl, daß man fliegen kann. Da der Luftwiderstand da oben geringer ist, kann ich tatsächlich freier atmen. Ich fühlte mich so gut, daß ich überhaupt nicht daran dachte, die Reißleine zu ziehen. Zum Glück hat der Ausbilder es dann gemacht. Der Fallschirm öffnet sich, und man schwebt nach unten. Beim nächsten Mal springe ich solo. Ich habe eines Abends einen Fernsehbericht darüber gesehen, und ich sagte mir: >Das mache ich!< Etwa eine Woche später sprang ich zum ersten Mal ab. Ich dachte: >Was soll‘s - warum soll ich es nicht machen, solange ich es noch kann?< Ich hatte schon lange den Wunsch, es zu versuchen. Ich bin sicher, meine Geburt war sehr schwierig für meine Eltern, aber sie sprechen nie darüber. Als ich drei Stunden alt war, wurde eine achtstündige Operation an mir vorgenommen. Mein Darm war perforiert, und es gab eine Verwachsung. Ein paar Wochen später, als meine Mutter mich mit nach Haus nahm, schrie ich viel und nahm nicht zu. MV-Babys haben einen übelriechenden Stuhlgang. Es ist ekelhaft, aber es ist ein Zeichen. Meine Mutter wußte, daß etwas nicht stimmte. Ich kam zu Dr. Howell in Greenfield. Er vermutete, daß ich Mukoviszidose hatte, und machte einen Schweißtest. Sie legten meine Hand in einen luftundurchlässigen Behälter; der Behälter beschlug, und die Schweißabsonderung wurde getestet. MV-Patienten haben einen sehr hohen Salzgehalt in ihrem Schweiß. Das war es, was sie feststellten. Als ich geboren wurde, wog ich achteinhalb Pfund. Ich nahm fast vier Pfund ab, bevor mein Gewicht sich durch die Enzyme und die fettarme Diät stabilisierte. Als Kleinkind mußte ich unter einem Plastikzelt schlafen, in dem hohe Luftfeuchtigkeit herrschte, und ich haßte es. Sobald ich krabbeln konnte, versuchte ich, aus dem Zelt herauszukriechen. Es war klatschnaß unter der Plastikplane, und wer will in einem klatschnassen Bett schlafen? Ich kämpfte mit meinen Eltern. Ich schlich mich heimlich raus aus dem Zelt, ging die Treppen hinunter und legte mich unten im Haus schlafen. Ich kämpfte die ganze Zeit gegen sie an. Die Physiotherapie war das Schlimmste. Dagegen leistete ich ständig Widerstand. Aber sie bestanden darauf, daß ich weitermachte. Ich mußte Tabletten nehmen, aber manchmal versteckte ich sie. Als ich fünf Jahre alt war, fing mein Vater an, mich zu bestechen. >Wenn du deine Tabletten nimmst, gebe ich dir fünfzig Cent, ok?< Als die Zehn-Dollar-Marke erreicht war, sagte er: >So, das war‘s. Von jetzt an gibt‘s kein Geld mehr dafür.< Von diesem Zeitpunkt an konnte ich händeweise Tabletten schlucken.
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Meine Selbstdisziplin verdanke ich meinen Eltern; sie gaben mir den Anstoß. Sie impften mir ein, Sport zu treiben, rauszugehen zum Spielen, Lauftraining zu machen. Ich weiß, damals haßte ich es. Ich wollte mich in der Sofaecke zusammenrollen, aber meine Mutter sagte: >Nein, du mußt jetzt raus an die Luft. Du mußt raus und spielen.« Ich stritt mich deswegen ständig mit ihr. Aber zusammen waren sie unnachgiebig und zwangen mich, weiterzumachen. In der Rückschau wird mir klar, daß sie wußten, was sie taten. Sie pflanzten mir den Keim ein, und er schlug Wurzeln. Nach der High School übernahm ich selbst die Verantwortung, mit meiner Krankheit zu leben. Jetzt habe ich die Motivation, die Geistesgegenwart, den Willen, zu trainieren, meine Therapie zu machen, richtig zu essen. Das ist gut so, denn ich kann von meiner Krankheit nicht Urlaub nehmen. Als Kind glaubte ich, ich hätte etwas Unrechtes getan und wäre deshalb so geworden. Mein Bruder und meine Schwester mußten meinetwegen ständig auf dies und das verzichten, besonders auf Familienfeiern. Ich wurde krank und konnte nicht hingehen, also konnten sie auch nicht hingehen. Das war sehr belastend für mich, denn ich hatte das Gefühl, daran schuld zu sein - und war es ja in gewisser Weise auch. Also hatte ich ständig das Gefühl, etwas Schlechtes zu tun. Es hat etwas Absurdes, aber meine Schwester und mein Bruder waren eifersüchtig und neidisch auf mich, neidisch auf all die Aufmerksamkeit, die ich bekam. Meine Schwester gab später zu, daß sie mich zeitweilig glühend haßte, weil meine Mutter soviel Zeit darauf verwendete, sich um mich zu kümmern. Damals kochte sie vor Wut auf mich, aber jetzt stehen wir uns sehr nahe, sie und ich. Ich wurde viel gehänselt, in der Grundschule, in der Junior High School und dann in der High School. Ich war kleiner als die anderen Kinder. Als ich die High School abschloß, war ich nur einen Meter vierzig groß und wog fünfundsiebzig Pfund. Ein stark gewölbter Brustkorb ist eine der Folgen der Krankheit. Mein Brustkorb war etwas breiter als der anderer Kinder, und ich wurde deswegen gehänselt. Meine Zähne waren fleckig - die Nebenwirkung eines Antibiotikums, Terramycin. Damals war nicht bekannt, daß die Tetracycline eine permanente Verfärbung der Zähne verursachen können, wenn sie während der Zahnentwicklung genommen werden. Also hatte ich in meiner gesamten Schulzeit braune Zähne. Auch damit wurde ich ganz schön aufgezogen. Inzwischen habe ich die Zähne behandeln und die Verfärbung entfernen lassen. Aber damals hatte ich das noch nicht. In der Schule war es mir auch furchtbar peinlich, meine Tabletten einzunehmen. Ich versuchte, all die Pillen heimlich in eine Hand zu nehmen, zehn oder elf Stück, und sie auf einen Hieb runterzuschlucken, so daß die anderen Kinder nichts davon merkten. Ich wurde sehr routiniert darin, aber es war schwer, es geheimzuhalten. Ich dachte immer, die Krankheit sei meine Schuld. Ich machte meine Eltern nie dafür verantwortlich. Aber ich glaube, sie hatten Schuldgefühle. Meine Mutter deutete an, daß mein Vater sich dafür verantwortlich fühlte. Mukoviszidose ist genetisch; sie wird weitergegeben, wenn zwei Leute das rezessive Gen haben, Träger der Krankheit sind. 141
Die Träger haben keine Symptome. Heute kann man feststellen, ob jemand Träger ist, aber damals war das noch nicht möglich. Als Kind wußte ich immer, daß ich zu Haus sicher war. Unsere Familie hatte einen engen Zusammenhalt. Es war ein sehr stabiles Umfeld, auf das ich zählen konnte. Ich wurde geliebt. Viele Kinder mit geringfügigeren gesundheitlichen Problemen hatten ärztliche Atteste, durch die sie vom Sportunterricht befreit waren. Ich dachte auch daran, entschloß mich dann aber doch, am Sportunterricht teilzunehmen. Ich ging hin und machte alles mit, was die anderen Kinder machten. Probleme hatte ich nur beim Basketball. Das Hin- und Herrennen auf dem Feld fiel mir schwer. Ich bekam Schwächeanfälle. Aber davon abgesehen war ich gut im Sport. Auf der High School war ich ein ziemlicher Einzelgänger. Ich konnte problemlos von einer Gruppe zur anderen gehen, fühlte mich aber nirgendwo wirklich zugehörig. Ich machte dauernd Witze und wurde zum Klassenclown. In dieser Rolle wurde ich mehr akzeptiert. Ich glaube, meine Unsicherheit und mein Schmerz waren die Motivation. Aber es war auch natürlich für mich, den Clown zu spielen, weil ich immer viel gelacht und Witze gemacht habe. Wir führten in der Schule ein Theaterstück auf, >Arsen und Spitzenhäubchen<. In dem Stück gibt es ein Polizistenteam, Mutt und Jeff, und ich spielte den Mutt. Mein Partner >Jeff< war 1,92 Meter groß und wog zweihundertfünfzig Pfund, und daneben war ich mit meinen 1,40 Metern und meinen fünfundsiebzig Pfund. Es war ein Riesenspaß. Einmal kriegte ich im Physikunterricht das große Kichern und konnte nicht mehr aufhören. Mein Partner am Labortisch zeichnete einen Cartoon, eine Katze, die in einem Wäschetrockner sitzt und sich an den Seitenwänden festklammert, während die Trommel sich dreht. Ich fing an zu kichern und lachte und lachte. Ich konnte nicht aufhören. Alle starrten mich an. Der Lehrer sah mich an und sagte: >Bist du jetzt fertig?< Fünf Minuten später fing ich wieder an zu lachen, aber diesmal lachte auch der Lehrer. Bald brüllte die ganze Klasse vor Lachen. Ich finde, es macht Spaß, wenn man das große Kichern kriegt; man versucht, aufzuhören, kann es aber nicht. Lachen hinterläßt ein gutes Gefühl. Interessanterweise hat Weinen für mich beinahe dieselben Nachwirkungen wie Lachen. Aber ich glaube, aus dem Weinen bin ich ganz heraus. Ich habe in meinem Leben auch viel mehr gelacht. Lachen ist einfacher ... Na ja, ich weiß nicht, ob es wirklich einfacher ist, aber man kann ebensogut lachen. Ich meine, warum nicht? Die seelischen Probleme kochten so richtig hoch, als ich mit dem College anfing. Physisch ging es mir schlecht. Mit meinen Leistungen ging es bergab. Ich fragte mich: >Was soll aus mir werden? Was kann ich mit meinem Leben anfangen? Lohnt es sich überhaupt, irgend etwas anzufangen? In ein paar Jahren bin ich ohnehin tot.< Es ging mir oft so, daß ich am liebsten sterben wollte. Ich suchte einen Psychotherapeuten auf. Ich ging mit der Erwartung hin, nach einer Sitzung alle Probleme gelöst zu haben, mich auf einen Schlag besser zu fühlen. Aber es dauerte zwei bis drei Jahre, bis etwas in Bewegung kam. 142
Durch die Therapie habe ich gelernt, mich mit einigen Dingen zu konfrontieren, - mit dem Tod zum Beispiel. Ich hatte große Probleme damit. Wenn man gesund ist, scheint der Tod weit weg zu sein. Alles ist in bester Ordnung. Jedesmal, wenn ich krank wurde, als ich klein war, stand der Tod mir vor Augen, immer wieder. Aber ich sprach nie darüber. Vor vielen Jahren riet mir ein Arzt, nicht mehr als zwei Jahre vorauszuplanen. Als er mir das sagte, antwortete ich: >In Ordnung.< Aber jetzt bin ich wütend darüber. Da ich immer noch lebe, denke ich mir: >Verdammt nochmal, ich hätte doch Pläne machen sollen.< Tatsächlich haben mir die Ärzte mein ganzes Leben lang gesagt: >Ein paar Jahre noch, und dann ist Schluß.< Aber dann passiert es doch nicht. Manchmal weiß ich nicht, wie ich mich drehen und wenden soll. Alle meine Freunde sind verheiratet, haben Kinder und planen ihre Zukunft. Ich bin mit ihnen zusammen und sage: >Ja, ja, das ist schön.< Aber tief innen fühle ich mich ausgeschlossen und allein zurückgelassen. Die Therapie hat geholfen, aber es ist nicht einfach, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Ich war ein bißchen großspurig geworden und hatte das Gefühl, nach all diesen Jahren die Dinge schließlich im Griff zu haben. Aber ich habe die Krankheit nicht im Griff. Das erfuhr ich in diesem Sommer, als plötzlich von Transplantation die Rede war. Mit meiner Lunge ging es nicht besonders gut, und ich fragte mich: >Ist es das jetzt? Ich will wirklich nicht sterben. Es läuft doch eigentlich alles ganz gut.< Wahrscheinlich werde ich stinksauer sein, wenn es passiert. Daß Transplantation in Betracht gezogen wurde, war schon ein Schock für mich. Heute gibt es unglücklicherweise nur die Möglichkeit, Herz und Lunge zusammen zu transplantieren. Im Lauf der nächsten Jahre werden sie reine Lungentransplantationen machen. Das Risiko, daß der Körper das Transplantat abstößt, ist wesentlich geringer, wenn es sich nur um ein Organ handelt und nicht um mehrere Organe. Natürlich sind Herztransplantationen jetzt schon an der Tagesordnung. Und sie machen Herz-Lungen-Transplantationen. Es hat auch schon reine Lungentransplantationen gegeben, aber nur wenige. Es ist technisch viel schwieriger, nur die Lunge zu ersetzen, weil sie wieder mit dem Herzen verbunden werden muß. Darum ist es einfacher, Herz und Lunge zusammen zu transplantieren. Der Arzt sagt, da ich jung bin und physisch in guter Verfassung, - so gesund, wie ich eben sein kann -, wäre ich der ideale Kandidat für eine Transplantation. Dafür versuche ich jetzt Zeit zu gewinnen. Ich will die Schädigung durch die Krankheit so gering wie möglich halten und abwarten, bis die medizinische Technologie sich weit genug entwickelt hat. Je länger ich warte, desto besser werden die Chancen. Wenn die transplantierte Lunge einmal drin ist, gibt es keine Mukoviszidose mehr. Ein faszinierender Gedanke. Keine Therapie mehr, kein ständiges Training. Ich glaube, ich würde es trotzdem machen, aber es müßte nicht sein. Normal zu atmen - das muß das Paradies sein. Ich kann es mir kaum vorstellen. Aber mit der Transplantation würden sich eine Menge neuer Probleme ergeben. Die Medikamente, die man nehmen muß, um zu verhindern, daß der Körper das neue Organ abstößt, vernichten die weißen Blutkörperchen, also riskiert man Infektionen und Erkältungen, Nierenprobleme und so fort. Aber ich denke, der Handel würde sich lohnen. 143
Ich hätte sehr viel mehr Energie und könnte Dinge tun, die ich jetzt nicht tun kann. Ich muß mir gut überlegen, wann ich die Operation machen lassen will. Soll ich sie riskieren, während ich noch relativ gesund bin? Es könnte sein, daß ich dadurch ein paar Lebensjahre wegwerfe. Oder soll ich warten, bis ich ohnehin die ganze Zeit im Sauerstoffzelt verbringen muß? Aber dann wäre ich in einem geschwächten Zustand, und meine Chancen wären nicht so gut. Ich werde es mit meinen Eltern besprechen. Ich werde es mit den Ärzten besprechen. Aber letztlich ist es meine Entscheidung. Der richtige Zeitpunkt ist ein entscheidendes Kriterium, aber selbst wenn ich den besten Zeitpunkt für eine Operation wähle, gibt es keine Garantie, daß Spenderorgane verfügbar sind. Das Dumme ist, daß ich mich anmelden und dann Schlange stehen und abwarten muß, bis meine neuen Organe zur Verfügung stehen. Wann sollte ich das tun? Ich will nicht, daß sie plötzlich mit einer neuen Lunge ankommen, wenn ich noch zu gesund bin, aber andererseits will ich auch nicht warten, bis es zu spät ist. Es könnte Monate, aber auch Jahre dauern, bis ich ein Spenderorgan bekommen. Ich versuche, so lange durchzuhalten wie ich kann, bis sie in diesem Bereich mehr Erfahrung haben. Diese Art von Chirurgie ist noch im Experimentierstadium, die Techniken werden noch entwickelt. Jetzt möchte ich mich dem eigentlich noch nicht aussetzen. Ich bin froh, daß es nicht sein muß. Lieber warte ich noch fünf oder zehn Jahre ab. Ich habe Angst vor Erkältungen, vor der Grippe, und nehme mich da sehr in acht. Ich weiß, daß eine kleine Sache bei mir sehr leicht einen Lawineneffekt auslösen könnte. Man kann nie wissen. Im Augenblick geht es sehr gut. Wenn es so bleibt, könnte ich noch zehn, zwölf, zwanzig Jahre so weiterleben. Aber ich bin sicher, daß es nicht so sein wird. Die Krankheit hört nicht auf. Ich muß zugeben, daß ich manchmal sehr deprimiert bin. Wenn das passiert, sage ich mir: >Kurt, laß dich nicht hängen, tu was, geh‘ mit dem Hund spazieren, geh‘ raus und mach‘ Jogging.< Es bringt mich auf andere Gedanken. Wenn ich mich körperlich gut fühle, komme ich schneller aus dem depressiven Zustand raus, in einer Viertelstunde oder einer Stunde, weil ich etwas tun kann. Es ist sehr viel schwerer, wenn ich mich schlecht fühle. Mir ist klar, daß ich etwas tun muß, um meine Stimmung zu verändern. Der Entschluß, etwas zu unternehmen, ist einfach, aber es dann auch in die Tat umzusetzen, das ist ein Problem! Ich versuche, mir zu sagen: >Sei glücklich mit dem, was du hast. Vergeude die Zeit nicht mit nutzlosen Gedanken. Ach, wenn ich nur eine Beziehung hätte, oder wenn ich dies oder das hätte ...<; Es lohnt sich nicht. Man verschwendet nur seine Zeit. Ich bin oft deprimiert, wenn ich an die Zukunft denke. Aber ich halte an diesen Gedanken nicht fest. Körpertraining ist ein gutes Mittel gegen die Depression. Bewegung scheint die Depression zu beseitigen. Ich mache die unterschiedlichsten Sachen. Ich hatte eine Honda 440, und letztes Jahr fuhr ich damit durch Kanada, mit einem Freund. Eine Honda 440 in Kanada, - das war eine Schnapsidee. Man steigt vom Motorrad ab, und die Hände vibrieren immer noch. Es ist nicht wie Autofahren. Alle Muskeln werden steif; es ist sehr anstrengend. Als ich zurückkam, sagte ich mir, zur Hölle damit, und kaufte mir eine Kawasaki 650.
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Im Sommer gehe ich jetzt fast jedes Wochenende Wasserski fahren. Auf dem Connecticut River muß man aufpassen wegen der toten Fische und der Blechdosen. Ich bin an dem Punkt, wo ich Slalom fahren kann, auf einem Ski aus dem Wasser kommen, Strandstart machen und so weiter. Ich spiele auch Softball, im Betriebsteam. Im Winter gehe ich Rollschuh laufen und Skilaufen. Abfahrtslauf ist wahrscheinlich das, was ich am besten kann. Ich weiß, es hört sich arrogant an, aber ich bin jetzt wirklich ein guter Sportler. Ich frage mich oft, wieviel besser ich sein könnte, wenn ich die Kraft und die Vitalität eines gesunden Menschen hätte. Wie gut könnte ich sein? Aufgrund der physischen Begrenzungen kann ich nicht mehr erreichen. Manchmal macht mich das wütend. Mäßigung ist das Schlüsselwort. Früher habe ich alles aus mir herausgeholt, mich kaputtgemacht bis zum physischen Zusammenbruch. Aber das mache ich nicht mehr. Ich glaube, ich weiß genau, was mein Körper verkraften kann, aber manchmal überschreite ich das Maß, wie beim Karate. Es fällt mir schwer, nicht bis an die Grenzen meiner Kraft zu gehen, speziell bei einer Gürtelprüfung. Prüfungen sind sehr viel anstrengender als ein normales Training. Im letzten Dezember wurde ich für den Violettgurt geprüft. Zum Schluß war ich so erschöpft, daß ich nur noch dalag, und wir hatten den Freikampf noch vor uns. Ich konnte deutlich spüren, wie ausgelaugt ich war, daß ich dabei war, mir eine Erkältung zu holen. Ich stand auf. Ich dachte, ich kämpfe jetzt und verliere. Ich kämpfte und gewann. Das bedeutete, ich mußte nochmal kämpfen. Ich sagte mir: >Diesmal werde ich unterliegen.< Nein, ich gewann wieder. Na ja, so ging es weiter. Schließlich hörte ich auf, aber nur, weil sechs Stunden vergangen waren und die Prüfung beendet war. Ich hätte sonst weitergemacht. Wenn ich in solchen Situationen einfach aufhören könnte und mir sagen: >Kurt, was machst du da? Laß es sein!< Aber das tue ich dann nicht. Die meisten Leute, die Kampfkünste unterrichten, haben etwas Militaristisches. Aber ich habe einen Karatelehrer gefunden, Richard Roy, der sich individuell auf jeden Teilnehmer einstellt. Er hat eine sehr gute Intuition für Dinge, die Heilwirkung haben. Ich mache zweimal am Tag die chinesischen Atemübungen, die er mir gezeigt hat. Eine ist dabei, die >brüllender Tiger< genannt wird. Beim Einatmen stellt man sich vor, daß man kühlen weißen Nebel in sich aufnimmt. Beim Ausatmen läßt man die ganze Luft herausströmen und imaginiert dabei, daß schwarzer, heißer, dreckiger Dampf herauskommt, uuaaah ... Dann atmet man wieder ein und füllt die Lunge mit kühlem, reinem Nebel. Abgesehen von diesen chinesischen Atemübungen mache ich keine andere Art von Meditation. Es fällt mir sehr schwer, stillzusitzen. Ich kann zum Beispiel nicht lesen. Das heißt, natürlich kann ich lesen, aber ich bringe es nicht fertig, mich hinzusetzen und mich stundenlang in ein Buch zu vertiefen, obwohl ich mir vorstellen kann, daß es Spaß macht. Die Leute scheinen eine Menge Freude an Büchern zu haben. Aber wenn ich stillsitze, habe ich einfach das Gefühl, daß sich alles im Körper staut. Ich werde innerlich unruhig und kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich mache auch keinen Modellbau oder Holzarbeiten oder irgendeine andere sitzende Beschäftigung. Vor Gesprächen wie diesem hier weiß ich, daß ich länger sitzen werde als gewöhnlich, also habe ich heute zum Beispiel schon mein Lauftraining gemacht, das Auto gewaschen, den Hund ausgeführt.« Es ist zehn Uhr früh an einem Sonntagmorgen.
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»Ich habe öfter daran gedacht, ob die Ärzte mich je fragen würden, wie ich es geschafft habe, so gesund zu bleiben. Aber offensichtlich kommen sie nicht auf die Idee. Ich glaube, die meisten sind in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen. Die meisten drücken das in der einen oder anderen Weise aus: >Ich bin der Arzt; ich weiß, was das Beste ist.< Sie haben gelernt, die Dinge aus medizinischer Sicht zu betrachten, und schenken den psychologischen Aspekten wenig Beachtung. Aber allmählich kommen sie darauf, daß der Geist doch sehr viel Macht über den Körper hat. Ich stehe Ärzten nicht mit einer Ehrfurchtshaltung gegenüber. Ich bin derjenige, der die Krankheit bewältigt. Sie können helfen, aber mir scheint es sehr wichtig, die Selbstheilungskräfte des Körpers nicht zu unterschätzen. Die Ärzte sind für Zeiten da, in denen die Krankheit mich überwältigt. Zum Beispiel, wenn ich eine Lungenentzündung bekomme, weiß ich, daß es nur schlimmer wird, wenn der Prozeß nicht durch starke Antibiotika gestoppt wird. Keiner der Ärzte hat je die Bedeutung des Körpertrainings hervorgehoben, was ich schon etwas seltsam finde, denn ich glaube, das ist der Hauptgrund, warum ich noch am Leben bin. Es ist das Herzstück meines Selbstheilungsprogramms. Mädchen, die MV haben, geht es viel schlechter als Jungen. Ich glaube nicht, daß man wissenschaftliche Erklärungen dafür suchen muß; vermutlich liegt es daran, daß Jungen im allgemeinen physisch aktiver sind. Ich hatte fünf oder sechs Mal einen Lungenkollaps; es fing an, als ich fünfzehn war. Nach dem ersten Mal rief ich im Krankenhaus an, wenn es passierte, und sagte dem Arzt: >Meine Lunge ist kollabiert.< Die Ärzte sagten dann: >Ach, tatsächlich?< Sie waren sehr skeptisch, daß ein Patient wissen konnte, was in seinem eigenen Körper vorging. Sie machten Röntgenaufnahmen und stellten dann natürlich fest, daß es wirklich ein Lungenkollaps war. Die Ärzte, bei denen ich jetzt in Behandlung bin, scheinen zu begreifen, daß ich mehr über meinen Körper weiß als sie. Schließlich lebe ich schon mehr als dreißig Jahre damit. Ich mag meine Ärzte; sie fragen mich nach meiner Meinung. Als ich Blut spuckte - ich hatte oft Lungenblutungen -, rief ich den Arzt an und schlug ihm vor, mir Vitamin K zu geben. Er sagte: >Machen wir einen Test, aber wir fangen in jedem Fall mit dem Vitamin K an, noch bevor wir die Ergebnisse haben.< Er ging davon aus, daß ich vielleicht wußte, was die Blutung verursachte. Sie respektieren mein Wissen. Ich habe das Gefühl, die Ärzte, die mich jetzt behandeln, interessieren sich wirklich für mich. Acht Stunden am Tag bin ich in der besten Umgebung, die ein Mensch mit MV haben kann. Ich bin Computer-Fachmann, und der Computerraum in der Firma ist klimakontrolliert, sechzig Prozent Luftfeuchtigkeit, gleichmäßige Temperatur, Nichtraucherzone. Es geht dabei gar nicht um die Gesundheit der Angestellten, aber glücklicherweise sind die Maschinen sehr empfindlich und brauchen eine stabile Atmosphäre. Wir haben Spaß bei der Arbeit. Wir sind im Computerbereich, und der ist vom Rest des Firmengebäudes getrennt. Wir drehen die Musik auf, wir tanzen herum, wir haben viel Spaß miteinander. Ich bin ständig in Bewegung; also glaube ich, es ist der beste Job, den ich haben kann. In der Schule war ich immer derjenige, der Witze machte, der ständig lachte. Jetzt, bei der Arbeit, lache ich auch dauernd. Ich kann mich am Boden rollen vor Lachen. Lachen, viel Lachen, ist ein wichtiger Bestandteil des Gesundbleibens. 146
Meine Kolleginnen und Kollegen ziehen mich oft mit meinen Eßgewohnheiten auf. Als Lunchpaket bringe ich mir Kartoffeln und alle Arten von Gemüse mit, Broccoli, Karotten, Spargel, - und Fleisch, Kalbfleisch, Hühnchen, und manchmal auch Fisch. Da mein Körper die Nahrung nicht so gut verdaut, muß mein Essen sehr reich an Nährstoffen sein. Also esse ich kein wertloses Zeug wie Hamburger oder Kartoffelchips. Ich esse wahnsinnig gern. Ich glaube, das muß ich auch. Manchmal habe ich es satt, aber dann gehe ich aus und gönne mir etwas Besonderes, Hummer zum Beispiel. Was ich täglich esse, enthält vier- bis fünftausend Kalorien. Ich nehme nicht zu. Im Gegenteil, ich muß aufpassen, daß ich nicht abnehme, das ist mein Problem. Wenn ich krank werde, bin ich in wenigen Tagen auf fünfzig bis einundfünfzig Kilo herunter. Ich will nicht so dünn werden, weil ich ohnehin nicht viel zuzusetzen habe. Ich bin nicht gerade ein Gesellschaftstier. Discos und Kneipen kann ich nicht ausstehen. Meiner Körpergröße wegen habe ich das Gefühl, daß die Leute mich anstarren. Ich kann den Zigarettenrauch nicht ertragen. Früher habe ich es toleriert, aber jetzt nicht mehr. Ich bitte die Leute, in meiner Gegenwart nicht zu rauchen, sonst treffe ich mich nicht mehr mit ihnen. Meine Freunde sind alle Nichtraucher. Das schließt natürlich eine Menge Leute aus, mit denen ich vielleicht befreundet sein möchte, aber wenn sie rauchen, rede ich lieber gar nicht erst mit ihnen. Bevor die Leute anfangen zu rauchen, wünschte ich, sie könnten mal einen Tag in meinem Körper verbringen, mit meiner Lunge, und erleben, wie ich mich jeden Tag fühle. Es macht mich fertig, Leute zu sehen, die rauchen. Sie husten, sie haben Lungenemphyseme oder Lungenkrebs. Ich kann es einfach nicht glauben. Da gibt es Leute, die einen normalen, gesunden Körper haben, und sie tun sich so etwas an! Und ich habe ein Problem, das ich nicht selbst verursacht habe. Ich habe um die Mukoviszidose nicht gebeten. Ich krieg‘s einfach nicht auf die Reihe! Ich habe Schwierigkeiten damit, zu begreifen, daß es Leute gibt, die nicht mit dem Rauchen oder Trinken aufhören können, denn ich halte mich jeden Tag an ein Routineprogramm, von dem ich nicht abrücken kann; ich muß zweimal am Tag meine Physiotherapie machen. Ich muß jeden Abend rausgehen und joggen. Ich habe überhaupt keine Lust dazu, ich hasse es. Aber wenn ich leben will, muß ich es machen. Es ist eine permanente Instandhaltung. Mit meinem Beruf hatte ich nie Probleme. Beziehungen stehen auf einem anderen Blatt; — manchmal denke ich, es ist leichter, es gar nicht erst zu versuchen. Ich sehe eine hübsche Frau und denke: >Hey, ich sollte wirklich hingehen und sie ansprechen.< Aber dann frage ich mich: >Ist es fair, mit jemandem eine Beziehung anzufangen, wenn ich über kurz oder lang nicht mehr da bin?< Ich kämpfe ständig mit mir. Ich frage mich auch: >Bringe ich die Energie auf?< Eine Beziehung beansprucht viel Energie. Ich denke jetzt an meine erste Liebe zurück. Ich hielt verzweifelt daran fest, ich konnte nicht loslassen, obwohl die Beziehung schiefging. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Ich hatte einige Male versucht, mich zurückzuziehen, aber schließlich traf sie die Entscheidung und trennte sich von mir. Das war‘s dann. Sie konnte es nicht ertragen, über meine Krankheit zu sprechen. Sie steckte den Kopf in den Sand. Ich versuchte es, aber sie wich ständig aus, ging hinter der nächstliegenden Ausflucht in Deckung. Wie kann man mit jemandem sprechen, der sich total verweigert? 147
Ich war sehr verliebt in sie, und es machte mich verrückt. Ich kam mit meiner Familie in Konflikt wegen dieser Beziehung. Ich ging aus, ich trank, ich kam spät nach Haus. Es ging mir oft schlecht. Für meine Eltern war es die Hölle ein paar Jahre lang. Sie konnten es nicht mehr ertragen. Fast hätten sie mich rausgeworfen. Während dieser Zeit fuhren meine Eltern einmal für zwei Wochen in Urlaub, auf die Bermudas. Ich amüsierte mich. Ich trank, ich blieb nachts lange auf. Ich vernachlässigte mein Körpertraining und meine Therapie. Als meine Eltern zurückkamen, sagten sie, ich sähe aus wie der letzte Dreck. Ich hatte schwarze Ringe unter den Augen und war stark abgemagert. Ich habe gelernt, daß es sich nicht lohnt, für das >Amüsieren< solche Risiken in Kauf zu nehmen. Ich bin gesünder, wenn ich keine Beziehung habe. Wenn ich mit jemandem zusammen bin, neige ich dazu, mich zu vernachlässigen. Ich widme der anderen Person mehr Zeit, als mir guttut. Es zehrt an mir. Ich werde krank. Aber vielleicht sind das keine guten Beziehungen. Eine gute Beziehung sollte einen eigentlich gesünder machen, oder? Ich glaube, was mich aufrechterhält, ist die Vorstellung, daß irgendwo noch jemand oder etwas auf mich wartet, etwas, das gut für mich ist. Es geht nicht um Geld, ich habe genug, oder um den Beruf, denn ich bin zufrieden mit meiner Arbeit. Ich glaube, es ist die Hoffnung, irgendwo anzukommen, wo ich glücklich sein werde.«
Beobachtungen Kurts Kraft, seine physische und seelische Kraft, hat ihren Ursprung in seiner unbeirrbaren Konzentration auf seine Lebensaufgabe. Das Überleben ist die Aufgabe und nahezu vollkommene Disziplin das Vehikel, mit dem er sein Ziel zu erreichen versucht. Er ordnet dieser Aufgabe alles andere unter und findet Kraft, Sinnerfüllung und zeitweilig Zufriedenheit darin. Für Kurt gibt es keine Ferien. Mit hartnäckiger Entschlossenheit kämpft er darum, zu erkennen, was lebenserhaltend ist, und orientiert sein Verhalten dann mit großer Umsicht an diesen Kriterien. Seine Ernährung, seine Freizeitaktivitäten, sein Schlafrhythmus und letzten Endes sogar seine Beziehung zu seinen Freunden und Liebespartnerinnen werden daraufhin überprüft, wie weit sie der Erhaltung seines Körpers zuträglich sind. Der Wunsch zu überleben dominiert alle anderen Bedürfnisse. Für Kurt kann Leben nie etwas Passives beinhalten. Der bloße Akt des Atmens erfordert Anstrengung. Jeden Tag muß er entscheiden, ob das Leben den ständigen Kampf wert ist. Wenn er einfach nur passiv oder nachlässig würde, müßte er bald sterben. Paradoxerweise erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß Dinge sich ändern, wenn man sie so annimmt, wie sie sind. Der Behaviorist Skinner drückte das mit den Worten aus: »Um die Natur zu beherrschen, muß man ihr gehorchen.« Kurt lebt nach diesem Prinzip, ohne die mindesten Illusionen über die Grenzen seiner Herrschaft. Um den Gesetzen der Natur entsprechend zu leben, mit den Bedürfnissen seines Körpers, bemüht er sich um intellektuelles und intuitives Verständnis der Prozesse, denen er unterliegt. Er hat eine intime Vertrautheit mit der Funktionsweise seines Herzens und seiner Lunge erworben und arbeitet an ihren Funktionen, soweit es ihm möglich ist, fügt sich aber letztlich ihrer absoluten Autorität. Zum Beispiel veränderte er seine 148
Laufgewohnheiten, als er feststellte, daß längere Strecken ihn zu sehr ermüdeten. »Meine Lunge mochte das nicht.« Seine Sprache — die Art, wie er über sein Herz und seine Lunge spricht - vermittelt sein ausgeprägtes Wissen und den Respekt, den er diesen Teilen seines Körpers entgegenbringt. Er nimmt ihr unabhängiges Funktionieren wahr, ohne ihr Zusammenspiel und ihre Wechselwirkung aus den Augen zu verlieren. Kurts medizinischer »Erfolg« beruht auf einem partnerschaftlichen Ansatz. Er versteht, was die konventionelle Medizin zu bieten hat, und nimmt ihre Hilfsmittel in Anspruch, wann immer es ihm angemessen erscheint. Wenn er Antibiotika braucht, um eine Infektion zu bekämpfen, oder wenn ein Lungenkollaps einen Krankenhausaufenthalt notwendig macht, zögert er nicht, seine Ärzte zu Hilfe zu rufen. Seine Abhängigkeit von der konventionellen Medizin ist jedoch begrenzt. Sie bedeutet nicht, daß er die eigene Kontrolle über seine Behandlung aufgibt, und er glaubt auch nicht, daß die Medizin ohne sein eigenes Engagement Wunder wirken kann. Als er zum Beispiel den Blutsauerstofftest auf dem Laufband machte, wartete er nicht passiv ab, was man ihm aufgrund der Ergebnisse anraten würde. Er arbeitete mit den Daten und integrierte sie in sein eigenes hochentwickeltes Wissen über seinen Körper. Objektive quantitative Messungen vermittelten Kurt Zugang zu Informationen über seinen Körper, die intuitiv schwer zu erfassen sind. Er ist entschlossen, sich bis an die Grenzen des Möglichen anzutreiben. Den Erkenntnissen der Medizin entnimmt er die Information, wo diese Grenzen liegen. Die unerschütterliche Beständigkeit, mit der Kurt sich zu physischen Höchstleistungen anhält, ist bemerkenswert. Tagein, tagaus treibt er seinen Körper bis zu dem Punkt der Anstrengung voran, der den besten Wirkungsgrad hervorbringt. Auch in emotionaler Hinsicht treibt er sich bis an die Grenzen. Er gibt seinen Gefühlen durch pure Willenskraft bewußt Gestalt. Über seine innere Einstellung zum Leben bestimmt er selbst: Er entscheidet, ob er lacht oder weint. Und wenn er seine seelische Verfassung nicht unmittelbar verändern kann, wendet er sich Aktivitäten zu (seinem Körpertraining zum Beispiel, das er als gutes Mittel gegen Depressionen erkannt hat), um seine Stimmung aufzuhellen. Kurt kann es sich nicht leisten, irgendeinen Aspekt seiner Situation zu verdrängen, denn Verdrängung würde die Rückmeldungen verzerren, die er von seinem Körper erhält, - Rückmeldungen, die er benutzt, um grundlegende Entscheidungen über seine Behandlung zu treffen. Couragiert stellt er sich der ungeschminkten physischen Realität: »Mit der Lunge geht es schlechter.« »Die Krankheit hört nicht auf.« »Eine Grippe könnte einen Lawineneffekt auslösen.« Denselben Mut zeigt er, wenn er sein tiefstes Leid und seine größten Ängste eingesteht: Er möchte mehr Kontakt zu Menschen haben und mit seinen Kolleginnen und Kollegen nach der Arbeit ausgehen; er wünscht, er könnte wie die anderen seine Zukunft planen. Der nahende Tod ist eine furchterregende Realität. Der Mut, mit dem er sich seine Ängste eingesteht, nützt ihm sehr. Diese Art der Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber ist die beste und vielleicht die einzig sinnvolle Vorbereitung auf die Unsicherheiten des Lebens. Wenn schwere Probleme auftreten, was schließlich auch bei den Gesündesten vorkommt, richtet die Angst Verwüstungen an, solange wir nicht wagen, uns ihr zu stellen. Michael Spinks, der einzige Boxer, der Meister im Mittelgewicht war und dann die Meisterschaft im Schwergewicht gewann, weiß, 149
wie die Angst Körper und Geist zerrütten kann. Bevor er 1988 mit Mike Tyson, einem der wildesten Kämpfer des Jahrhunderts, in den Ring stieg, sprach Spinks mit seiner siebenjährigen Tochter Michelle. Er sagte ihr: »Ich habe auch Angst, gegen ihn anzutreten; ich sehe den Mann nur an und bekomme Alpträume, genau wie du. Der einzige Unterschied zwischen mir und anderen Leuten, die mit ihm kämpfen, ist, daß ich meine Angst zugebe. Los, Junge, sage ich mir, riech und schmeck und fühl die Angst, wirf dich auf den Boden und roll dich darin! Du solltest nie so tun, als hättest du keine Angst, wenn du sie hast, Michelle; fang mit einer so großen Lüge an der Basis an, und du mußt sie mit mehr und mehr kleineren Lügen abstützen, um sie aufrechtzuerhalten. Ein ordentlicher Schubs, ein kräftiger Windstoß, ein harter Schlag im Leben, und schon bricht das ganze Lügengebäude zusammen, und die ganze Angst, die du angeblich nicht gefühlt hast, ballt sich zusammen und hetzt dich wie ein Rudel wilder Hunde.« Humor kann ein machtvolles Mittel sein, die Angst im Zaum zu halten. Wie viele andere Menschen, die erfolgreich gegen schwere Krankheiten ankämpfen, nimmt Kurt seinen Humor zu Hilfe, um die existentielle Angst zu mindern. Wenn wir den Tod durch einen Witz verharmlosen und gemeinsam darüber lachen, wissen wir, daß wir nicht allein sind in unserem Bemühen, die Absurdität des Lebens zu ertragen und unserem Dasein einen Sinn zu entnehmen. Leute, die zum ersten Mal in eine Selbsthilfegruppe AIDS- oder Krebskranker kommen, sind oft überrascht, daß dort soviel gelacht wird. Der folgende Witz wurde in einer Gruppe, an der ich teilnahm, mit herzhaftem Gelächter quittiert: Ein schwerkranker Mann erfährt von seinem Arzt, daß er den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben wird. Als er nach Haus kommt, teilt er seiner Frau mit, was der Arzt gesagt hat, und bittet sie: »Um der alten Zeiten willen, - laß uns noch einmal miteinander schlafen.« Seine Frau antwortet, es täte ihr leid, aber sie sei einfach zu müde. Der Mann will sich nicht abweisen lassen: »Komm, sei nicht so, es ist mir wirklich wichtig.« Aber die Frau läßt sich nicht beeindrucken. Sie sei viel zu müde, wiederholt sie. Er versucht sie zu überreden: »Glaub mir, es wird wundervoll sein.« Aber auch das überzeugt sie nicht. »Du hast gut reden«, sagt sie. »Du mußt morgen früh nicht aufstehen!« Kurt liebt das Leben, aber seine Situation macht ihn für die tragikomischen Aspekte besonders empfänglich. George Bernhard Shaw drückte diesen Antagonismus treffend aus, als er schrieb: »Das Leben hört ebensowenig auf, komisch zu sein, wenn jemand stirbt, wie es aufhört, ernst zu sein, wenn jemand lacht.« Die Intuition sagt uns, daß Lachen eine gute Medizin ist, aber die positiven psychischen und psychosomatischen Wirkungen des Lachens sind sogar wissenschaftlich belegt. Wenn wir herzhaft lachen, wird die Atmung tiefer und heftiger, der Herzschlag wird schneller, und der Blutdruck steigt. Marvin Herring erklärt, daß »der Brustkorb, das Zwerchfell, der Bauch, das Herz, die Lunge und sogar die Leber kräftig durchmassiert werden, wenn wir schallend lachen«. Danach löst sich die Spannung, und Blutdruck und Herzschlag, die erhöht waren, fallen für etwa fünfundvierzig Minuten auf Werte unter normal.
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Wenn wir hundert bis zweihundert Mal am Tag lachen, entspricht das etwa der physischen Beanspruchung von zehn Minuten Rudern, meint William Fry, ein Psychiater der Sanford Medical School. Lachen wurde auch mit der Endorphin-Produktion des Körpers in Zusammenhang gebracht. Endorphine werden manchmal als »körpereigene Opiate« bezeichnet wegen der euphorisierenden Wirkung, die mit ihrer Freisetzung einhergeht. Kurts Lebenswunsch ist so beherrschend, seine Wahrnehmung der Bedürfnisse seines Körpers so tief verinnerlicht, daß sein Unbewußtes ihm bei der Erfüllung seiner Aufgabe hilft. Ich fand bei jedem meiner Gespräche mit ihm ein ähnliches Muster: Anfangs war er völlig präsent und auf den Interviewprozeß konzentriert. Nach etwa eineinhalb Stunden wurde er ruhelos und zappelig, und seine Konzentration ließ nach. Als ich ihm meine Beobachtung mitteilte und ihn nach der Ursache seiner Unruhe fragte, lachte er. Immer wenn er längere Zeit stillsitze, erklärte er, unabhängig davon, wie interessiert er sei, sage ihm eine innere Stimme, er müsse aufstehen und sich bewegen. Kurt mag durch seine körperliche Verfassung gefesselt sein, aber die Konstanz seiner physischen Bedürfnisse enthält auch den Keim seiner Befreiung. Überleben ist die Sinnquelle seiner Existenz, und Überleben bedeutet, daß er sich völlig auf seine Aufgabe konzentriert und völlig bewußt lebt. Jeder Disziplinverlust hat schwerwiegende Folgen. Kurt hat nicht die Wahl, wie ein Schlafwandler durchs Leben zu gehen - eine Option, zu der viele von uns regelmäßig greifen —, der Preis dafür wäre einfach unvertretbar hoch. Folglich ist praktisch sein gesamtes Handeln willensbestimmt und zielgerichtet. Sein Dasein ist offensichtlich mit viel Leid erfüllt, aber er hat sich die Freiheit erworben, ein bewußtes und sinnerfülltes Leben zu führen. Wenn er über eine Organtransplantation nachdenkt, eine Operation, die seinem Leben ein Ende setzen könnte, ist das nicht nur ein Abstieg in die Hölle; er verschiebt die Verantwortung für diesen Schritt nicht auf andere, sondern bleibt völlig engagiert und vital, indem er den Entscheidungsprozeß selbst in die Hand nimmt. In einer Situation, in der alles auf dem Spiel steht, sogar das eigene Leben, eine klare, bewußte Entscheidung zu treffen ist der höchste Akt der Selbstbestimmung. Richard Leider, der Autor des Buches The Power of Purpose (»Die Macht des Willens«) erklärt, welche Auswirkungen es hat, wenn wir uns einer riskanten Situation aussetzen: »Unsere Sinneswahrnehmung ist gesteigert, und wir sind in starker Gefühlsbewegung, aber nicht nur das; unsere gesamte Energie ist auf die erfolgreiche Erfüllung der Aufgabe konzentriert. Wir können unser ganzes Selbst in die Erfahrung hineingeben. Wir steigern unser Lebensgefühl, indem wir uns bis an die Grenzen unserer Möglichkeiten selbst erproben. Das ist ein Weg, ein gesundes und befriedigendes Leben zu führen, die Herausforderungen auszukosten, die unser Potenzial erweitern.« Anders als bei den meisten Menschen sind Kurts Risiken jedoch nicht auf Ausnahmeerlebnisse wie Bergsteigen oder Fallschirmspringen beschränkt. Sein gesamtes Leben ist eine Gratwanderung, und er erkennt sowohl die Begrenzungen als auch die lohnenden Möglichkeiten einer so gefährdeten Existenz. Wir können nur darüber spekulieren, auf welche Weise Kurts innere Kraft eigentlich entstanden ist. Er sagt, seine Eltern legten den Grundstein dafür. Tatsächlich bestanden sie mit liebevoller Strenge darauf, daß er sich an die Routine hielt, die später zu seiner 151
zweiten Natur wurde. Ihre bemerkenswerte Konsequenz war zweifellos in dem Wunsch begründet, ihm einen Orientierungsrahmen für die kommenden Jahre zu schaffen, denn es ist eine sehr schwierige und anspruchsvolle Aufgabe, ein chronisch krankes Kind aufzuziehen. Der natürliche Drang geht dahin, dem Kind das Leben so einfach wie möglich zu machen. Oftmals müssen die Eltern zwischen den Möglichkeiten wählen, die augenblicklichen Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen oder für sein langfristiges Wohl Vorsorge zu treffen. Die Bereitschaft der Metzlers, das, was sie für richtig hielten, konsequent durchzusetzen, diente als gutes Modell zur Entwicklung echter Disziplin. Die innere Botschaft ihrer Handlungsweise war an Kurt nicht verschwendet. Durch die Ansprüche, die sie an ihn stellten, vermittelten sie ihm auf völlig unambivalente Weise: »Wir lieben dich, und wir wollen, daß du so lange wie möglich überlebst.« In Kurts Kindheit war sein Zuhause ein sicherer Hafen, aber die Außenwelt war nicht so freundlich. Er war anders als die anderen Kinder, klein, mit gewölbter Brust und fleckigen Zähnen. Ungewollt zum Außenseiter werden ist eine mißliche Lage, und für ein Kind ist es erst recht kein leichter Weg. Dennoch ging Kurt mit unverletztem Selbstwertgefühl aus diesen frühen Jahren hervor, denn seine Eltern vermittelten ihm, daß er wertvoll war, daß er geliebt wurde. Als er heranwuchs, internalisierte er diese Qualitäten. Er hatte das Gefühl, ein wertvoller Mensch zu sein, und somit einen Grund, am Leben zu bleiben. Als Kurt die Adoleszenzjahre erreichte, trat der Einfluß seiner Eltern zurück, und die Gruppe der Gleichaltrigen wirkte stärker auf ihn ein. Es war jedoch kein Zufall, daß Kurt in Rossberg einen jungen Mentor fand, der die Werte der elterlichen Erziehung verstärkte. Auf diese Weise blieb ihm ein schwerer und potentiell tödlicher Wertekonflikt erspart; andere, »normale« Jugendliche hätten ihn unbeabsichtigt von der Physiotherapie, dem Körpertraining und der ausgewogenen Diät abbringen und in die Faszination der jugendlichen Sex-Drogen-Rockmusik-Welt hineinziehen können. Schließlich wuchs Kurt über die Lehren seines jungen Mentors noch hinaus. Rossbergs Tod, wie der Tod all seiner gleichaltrigen Leidensgefährten, stürzte ihn nicht in Verzweiflung. Kurt nahm Rossbergs Tod vielmehr als Zeichen, daß er sein Ziel mit noch größerer Entschlossenheit verfolgen müsse. Als Kind wurde Kurt gesagt, er müsse hinausgehen und spielen. Diese Botschaft verinnerlichte er in einem tieferen als dem wörtlichen Sinn. Er wuchs in dem Bewußtsein auf, daß er auf der Welt sei, um am Spiel des Lebens teilzunehmen. Heute gibt er sich in jeder Hinsicht mit vollem Einsatz in dieses Spiel hinein. Er strengt sich bis zum Äußersten an, mit voller Präsenz im Leben zu stehen. Paradoxerweise stellt dieses Bedürfnis ihn vor eine weitere Herausforderung, denn er kann seiner grenzenlosen Begeisterung nicht einfach freien Lauf lassen. Seine Neigung, sich zu verausgaben, ob im Sport oder in zwischenmenschlichen Beziehungen, ist potentiell zerstörerisch. Für viele Menschen, die krank sind, besteht die größte Herausforderung darin, ihre Lebenslust zu entdecken oder wiederzufinden. Kurt muß daran arbeiten, sie am Überströmen zu hindern.
Wissenschaftliche Anmerkungen Kurt versteht, daß er sich an allen Phasen der Behandlung mit vollem Engagement beteiligen muß, um seine Überlebenschancen zu erhöhen. Obwohl das Ausmaß seiner medizinischen Informiertheit als höchst ungewöhnlich betrachtet wird, erkennt die westliche Medizin allmählich an, wie wertvoll es ist, den Patienten selbst in das Behandlungsteam einzubeziehen. In dieser Entwicklung des medizinischen Denkens liegt 152
eine gewisse Ironie, denn Heiler aller Zeiten und Kulturen kannten das Genesungspotential des voll beteiligten, engagierten Patienten. Jerome Frank, der studierte, wie Menschen in Stammesgesellschaften mit Krankheit umgehen, fand heraus, daß die »Patienten« häufig an der Planung und Vorbereitung der Heilrituale beteiligt sind. Oft tun sie etwas für andere, indem sie zum Beispiel für alle an dem Ritus Beteiligten ein zeremonielles Mahl zubereiten. Auf diese Weise werden Patienten zu aktiven Teilnehmern des Genesungsprozesses, und ihre Aktivität kann, wie Frank sagt, »der morbiden Selbstversunkenheit entgegenwirken«. Neuere Studien zeigen eine Reihe von Gründen auf, warum Patienten sich engagiert an ihrem Behandlungsprozeß beteiligen sollten: 1. Engagierte Patienten halten sich eher an die medizinischen Notwendigkeiten, insbesondere wenn es sich um schmerzhafte oder schwierige Behandlungsformen handelt. Industriesoziologische Untersuchungen ergaben, daß autoritäre Führungskräfte ihre Untergebenen zwar dazu bringen können, zu tun, was sie anordnen, aber die Willfährigkeit ist nicht von langer Dauer. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die das Gefühl haben, daß ihre Eigeninitiative unerwünscht ist, fehlen häufiger bei der Arbeit und neigen mehr dazu, die Bemühungen der Leitung zu sabotieren. In Studien wurde nachgewiesen, daß das bloße Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten leistungssteigernd wirken kann. Zum Beispiel erzielen Versuchspersonen, denen verschiedene Tests vorgelegt werden, bessere Leistungen, wenn sie die Reihenfolge der Tests selbst bestimmen können, und schneiden schlechter ab, wenn sie in bezug auf die Abfolge keine Wahl haben. Im medizinischen Feld gibt es viele Bereiche, auf die diese Erkenntnisse angewandt werden könnten, ohne Mehrkosten und ohne Abstriche an der Effizienz der medizinischen Prozeduren. 2. Das Gefühl der Selbstbestimmung kann Patienten helfen, mit dem Trauma der Krankheit fertig zu werden. Die Psychologinnen Ronnie Janoff-Bulman und Camille Wortman von der University of Massachusetts fanden heraus, daß Menschen, die als Folge schwerer Unfälle gelähmt waren, ihre Lage psychisch tatsächlich besser bewältigten, wenn sie selbst ein gewisses Maß an Verantwortung für den Unfall übernahmen. Diese Einstellung gab ihnen das Gefühl, auf mögliche künftige Unglücksfälle mehr Einfluß zu haben. 3. Das Gefühl der Machtlosigkeit ist ein Nährboden für Krankheiten. Umgekehrt kann der Entschluß, auf den Verlauf der Dinge selbst Einfluß zu nehmen, die Heilung fördern. In einem Experiment wurden zwei Gruppen von Ratten Elektroschocks ausgesetzt. Nur eine Gruppe konnte die Schocks beenden (indem die Tiere ein Laufrad in Bewegung setzten); die andere Gruppe hatte keinen Einfluß darauf. Eine glaubwürdige Hypothese hätte lauten können, daß die Ratten mit der höheren Verantwortung größerem Streß ausgesetzt waren und daher physisch mehr leiden würden. Die Ergebnisse des Experiments legen jedoch den gegenteiligen Schluß nahe. Die Ratten, die keinen Einfluß auf die Elektroschocks hatten, entwickelten Magengeschwüre, die doppelt so groß waren wie die der Versuchstiere in der anderen Gruppe. Die Wissenschaftler Lawrence Sklar und Hymie Anisman pflanzten Mäusen Krebszellen ein und teilten die Versuchstiere in drei Gruppen auf. Die erste Gruppe wurde Elektroschocks ausgesetzt, denen sie jedoch durch Flucht in einen anderen Teil des Käfigs ausweichen konnten. Die zweite Gruppe wurde ebenfalls Schocks ausgesetzt, ohne die Möglichkeit, auszuweichen oder Einfluß zu nehmen. Die dritte Gruppe erhielt keine 153
Elektroschocks. Bei den Mäusen, die auf ihre Lage keinen Einfluß nehmen konnten, zeigte sich das stärkste Tumorwachstum, und sie starben am schnellsten, obwohl sie nicht mehr Elektroschocks erhielten als die Gruppe der Versuchstiere, die aktiv werden und die Schockwirkung beenden konnte. Sehr bemerkenswert ist außerdem, daß die Raten des Tumorwachstums in der Gruppe, die ihre Lage beeinflussen konnte, nicht höher lagen als in der Gruppe, die keine Schocks erhielt. 4. Die Aktivität, die der Patient entfaltet, kann Symptome lindern, das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen und, in manchen Fällen, zur Heilung führen.
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LEO PERRAS Gott heilt, und der Arzt schickt die Rechnung MARK TWAIN Bei meinem ersten Interview mit Leo Perras, vor mehr als sechs Jahren, war mir sehr unbehaglich zumute. Er trug ein großes hölzernes Kreuz um den Hals; Kruzifixe, religiöse Bilder und Christusfiguren waren über sein gesamtes Haus verteilt. Noch beunruhigender als diese offen zur Schau getragene Religiosität wirkte auf mich jedoch die Erkenntnis, daß Leos Geschichte in keines der medizinischen oder psychologischen Erklärungsmodelle für außergewöhnliche Heilungen, die ich gerade entwickelte, hineinpassen wollte, ja ihnen nicht einmal annähernd entsprach. Die Fakten waren eindeutig. Als junger Mann wurde Leo von einem Lastwagen angefahren. Nach einer Serie von Rückenoperationen blieb eine Querlähmung zurück. Zwanzig Jahre lang war Leo an den Rollstuhl gefesselt; sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, bis er an einem Gottesdienst katholischer Charismatiker teilnahm. Pater Di Orio, ein landesweit bekannter Glaubensheiler, sagte Leo während des Gottesdienstes die Worte: »Steh auf und geh‘.« Leo stand auf und kann seither wieder gehen. Da ich Leos Geschichte nicht als gegenstandslos oder irrelevant zu den Akten legen konnte, selbst nach sechs Jahren, hatte ich das Bedürfnis, mich noch einmal mit ihm zu treffen. Zuerst mußte ich mir aber Gewißheit verschaffen, daß sein Bericht der Wahrheit entsprach. In den ersten Tagen nach dem spektakulären Ereignis zitierten verschiedene Zeitungen und Illustrierte Leos Arzt, der sagte, daß seine Heilung »wahrhaftig ein Wunder« sei. Seine wiedererlangte Fähigkeit zu gehen war, wie die Zeitungen berichteten, vom neurologischen Standpunkt aus unerklärlich. Die Reportagen bekräftigten auch, daß Leo weder Reflexe noch Empfindungen in den Beinen habe. Um mir die Richtigkeit dieser Aussagen von medizinisch kompetenter Seite bestätigen zu lassen, versuchte ich, Leos Arzt zu erreichen. Nach drei eingeschriebenen Briefen und zahlreichen Anrufen wurde der Kontakt schließlich hergestellt. Der Grund für die Zurückhaltung des Arztes wurde rasch deutlich. Er begann das Gespräch mit den Worten: »Ich hab‘s aufgegeben mit dem Kerl. Er hat sich von seiner Frau scheiden lassen und glaubt, daß er eine heilige Mission zu erfüllen hat. Er trägt ein fünfzehn Zentimeter langes Kreuz um den Hals.« Trotz seiner Enttäuschung über Leos Verhalten bestätigte der Arzt das absolut Außergewöhnliche seiner Heilung: »Nach einundzwanzig Jahren im Rollstuhl waren seine Beine nutzlos. Seine Muskeln waren verkümmert. Die Beine waren in einem sehr schlechten Zustand, wie die Tatsache beweist, daß er einmal eine Infektion am Fuß bekam, ohne es zu bemerken. Er hatte sich neue Schuhe gekauft, nur um sie im Rollstuhl zu tragen, und durch die innere 155
Sohle hatte sich ein Nagel gebohrt. Er merkte nichts davon, bis seiner Frau der furchtbare Abszeß am Fußballen auffiel. Erst als der Fuß schon schlimm angeschwollen war, wurde der Nagel entdeckt. Er hatte also absolut kein Gefühl in Füßen und Beinen. Ein anderes Mal hatte er einen großen perirektalen Abszeß, den er ebenfalls nicht bemerkte, bis er sehr weit fortgeschritten war. Ich konnte den Abszeß drainieren, die Drainage legen, ohne Lokalanästhesie, und ohne daß er den mindesten Schmerz empfand. Aus den verschiedensten und merkwürdigsten Gründen verlangte er Analgetika von mir; über Jahre und Jahre nahm er alle möglichen Medikamente in sehr hohen Dosen. Eine weitere verblüffende Sache bei diesem Mann ist, daß er nach seiner Heilung plötzlich alles radikal absetzte. Er nahm nicht einmal mehr ein Aspirin. Das allein ist ein Wunder.« Leo, siebenundsechzig Jahre alt, wohnte in einer belebten Straße in einem Arbeiterviertel. Genau wie bei meinem ersten Besuch vor Jahren erwartete Leo mich an der Seitentür. Auf dem Weg ins Wohnzimmer staunte ich über die kunstvoll gearbeiteten Holzgegenstände überall im Haus. Die subtilen Details und die extreme Sorgfalt, mit der seine letzte Arbeit gestaltet war, ein Mahagonitisch mit einem geschnitzten Relief des Abendmahls, zeigten, daß Leo ein versierter Kunsttischler und begabter Holzschnitzer war. Ich lobte die schöne Arbeit, und Leo erzählte mir, daß der Tisch, wie die meisten anderen Stücke, als Geschenk gedacht war. Ein Nachbar hatte einen ähnlichen Tisch in Leos Werkstatt bewundert. Da der Mann bald Geburtstag hatte, wollte Leo (der von der Sozialhilfe lebte) ihn mit dem Geschenk überraschen. Leo war ein kleiner, dünner Mann. Er trug eine Brille, die für sein Gesicht viel zu groß erschien. Aber seine Stimme war tief und voll, seine Redeweise herrisch und zuweilen bombastisch. Sein Auftreten war rauhbeinig und sein Benehmen so ungehobelt, daß ich erst im nachhinein, als ich unsere aufgezeichneten Gespräche wiederholt abgehört hatte, begriff, was für ein mitfühlender und integerer Mensch Leo war. Während meines zweiten Besuchs stellten die Devotionalien und Kunstgegenstände, die über den Raum verteilt waren, und Leos religiöse Zentrierung keine Barriere mehr für mich dar. Tatsächlich fand ich es nun ziemlich natürlich, daß er sich mit den Symbolen seines Glaubens umgab. Da Leo von einer außerordentlichen Kraft berührt worden war - sei es die Macht Gottes oder die Kraft seines Glaubens —, erschien es nur allzu verständlich, daß er seine Dankbarkeit ausdrücken und sein religiöses Engagement in jeder erdenklichen Weise demonstrieren wollte. Leo erzählte über sein Leben: »Meine Tochter und mein Schwiegersohn suchten ein Haus, aber sie fanden keins, das ihnen gefiel. Also sagte ich: besorgt mir eine gute Zeichnung, und ich baue euch eins.< Mein Vater sitzt da, schüttelt den Kopf und sagt: >Hör mal, hast du immer noch nicht gemerkt, daß du gelähmt bist?< Ich sage: >Augenblick mal! So unmöglich, wie du denkst, ist es nun auch wieder nicht. Erstens denke ich nicht mit den Beinen, ok?< Also sage ich: >Gott hat mich zu einem guten Tischler und Zimmermann gemacht. Ich habe zwei Hände, mit denen ich arbeiten kann. Wenn ich nahe genug herankomme, kann ich die Arbeit machen. Was soll also das ganze Gerede?< 156
Er sagt:>Du hast es dir in den Kopf gesetzt, und du machst es, was?< Ich sage: >Klar!< >Also in dem Fall<, sagt er, >gebe ich ihnen das Land für das Haus.< Und das tat er auch. Drei Wochen später fingen wir an, das Haus hochzuziehen. Ich baute mir selbst — wie soll ich es nennen — eine Art Hochsitz. Wenn die Arbeit nicht mehr in meiner Reichweite war, setzten sie mich hinein, und ich konnte die Decke erreichen und die Arbeit machen. Als es ans Dach ging, trugen sie mich die Leiter hinauf, und ich baute den Dachstuhl. Abends trugen sie mich wieder runter. Der einzige Fehler, den ich machte: Ich fing Ende September an; ich hätte im April anfangen sollen, denn es war ein kalter Winter. Einmal, am Sonntag, waren wir dabei, das Dach zu decken, und es fing an zu schneien, und plötzlich wird der ganze Schnee rot. Ich sage zu meinem Schwiegersohn: >Was ist denn das, zum Donnerwetter?< Und er sagt: >Das bist du!< Ich hatte mir die ganze Hüfte aufgerissen, als ich mich über die Dachschindeln zog, und es blutete wie verrückt. Natürlich fühlte ich es nicht. Na ja, sie holten mich vom Dach runter, und das war es dann für ein paar Tage. Ich kriegte das Haus in sieben Monaten fertig; eine stramme Leistung! Es war der Beweis, daß ich kein nutzloser Mensch war, daß ich mein Talent immer noch gebrauchen konnte. Die Leute sagten: >Was, du willst ein Haus bauen? Du bist wohl verrückt! Das kannst du nicht.< Aber ich konnte alles tun, was ich wollte, nur nicht gehen. Meine Probleme fingen an, als ich achtzehn Jahre alt war. Ich wurde von einem Lastwagen angefahren und konnte ein Jahr lang nicht arbeiten. Natürlich konnten sie vor dem Zweiten Weltkrieg keine Rückenoperationen machen, wie wir sie jetzt kennen. Fusion der Lendenwirbel war damals die Lösung. Sie packten mich mehrere Monate lang in ein Gipsbett, erhöhten meinen linken Schuh, um den Längenunterschied der Beine auszugleichen, und ich mußte ein Stützkorsett tragen. Ich hatte furchtbare Schmerzen. Ob Sie es glauben oder nicht, - bald danach wurde ich zum Militär eingezogen. Ich war sieben Wochen in der Armee, in Illinois, als sie feststellten, was mit mir los war, und mich entließen. Der Colonel sagte mir: >Den Arzt möchte ich zu fassen kriegen, der Sie für tauglich erklärt hat. Den würde ich in die Zange nehmen. Aber wir haben Sie eingezogen, und jetzt kümmern wir uns auch um Sie< Und sie schickten mich nach Haus. 1945 habe ich geheiratet. Ich arbeitete als Zimmermann auf dem Bau, schwere Arbeit, und wahrscheinlich hätte ich das nicht tun sollen, aber es ist mein Beruf. Wirklich schlimm wurde es 1950. Ich ging ins VA-Krankenhaus in Farmington; sie operierten mich am Kreuzbein, und die Operation schien gelungen. Drei Wochen später, es war Sonntagabend, kam ein Pfleger herein. Es war ein Militärkrankenhaus, ohne Klimaanlage oder Ventilatoren, und es war Juli. Ich trug ein schweres Stützkorsett, das innen etwa zwei Zentimeter mit Filz gepolstert war. Heißer als ein Backofen. Also kommt er rein und sagt: >Leo, wie war‘s, soll ich dir den Rücken abreiben?« Ich sagte: >Ja, das wäre toll!< Also ging er rüber, holte seine Utensilien, kam zurück und öffnete das Stützkorsett, und in dem Augenblick, wo er das tat, fing mein Körper an, sich nach hinten zu krümmen. 157
Mit anderen Worten: Mein Kopf und meine Hacken versuchten, zusammenzukommen, und der Schmerz war unerträglich. Er rannte hinaus, holte die Krankenschwester; die Krankenschwester kam, sah mich, rannte wieder ins Schwesternzimmer und rief den Arzt. Da es Wochenende war, hatten sie nur einen Bereitschaftsarzt, der sich um mehrere Stationen kümmern mußte. Der Mann war Internist; er wußte nichts über Orthopädie. Er kam rein und sah sich an, was mit mir los war. Ich bete nur noch, daß ich endlich sterbe, ich kann es nicht mehr ertragen. Also gibt er mir eine Spritze und wartet. Nichts passiert. Also gibt er mir noch eine Spritze, und die nützt auch nichts. Schließlich sagt er etwas zu der Krankenschwester, und sie kommt zurück, mit einem randvollen Glas, mit irgendeinem Medikament. Sie hielten meinen Kopf fest und gossen es in mich hinein, bis ich bewußtlos wurde. Am nächsten Morgen machte ich etwa um sechs die Augen auf, und die Krankenschwester stand an meinem Bett. >Sind Sie wach?< fragte sie. Ich nickte. Sie gab mir noch eine Spritze, und ich sackte sofort wieder weg. Um die Mittagszeit wachte ich wieder auf. Zwei Pfleger kamen rein, schnallten mich auf einer Trage fest und brachten mich in einen riesigen Raum. Etwa fünfundzwanzig Ärzte, Assistenten und OP-Schwestern waren da, meine ganze Krankengeschichte stand an der Wandtafel. Sie diskutierten hin und her; die Orthopäden und die Neurochirurgen stritten sich. Die Orthopäden wollten zehn Wirbel in meinem Rücken versteifen; die Neurochirurgen wollten davon nichts wissen, weil sie glaubten, sie müßten dann alles noch mal machen. Über eins waren sie sich einig: Sie befürchteten, die Muskelkrämpfe im Rücken und der Krümmungsgrad, den sie verursachten, könnten so schlimm werden, daß die Wirbelsäule geschädigt würde. Sie machten sich Sorgen darum. Ich machte mir Sorgen wegen der Schmerzen. Ich konnte den Schmerz nicht mehr ertragen. Also, sie entschieden sich für eine nicht-chirurgische Vorgehensweise. In dieser Nacht brachten sie mich in den Operationssaal, und der Neurochirurg legte mir einen Venentropf. Er gab einen halben Liter Procainlösung in die Vene, damit das alles aufhören sollte, um die Muskelkrämpfe zu lösen. Nach ein paar Minuten sehe ich den Arzt immer weiter entfernt; ich versuche zu sprechen, und meine Zunge fühlt sich so groß an wie eine Gurke. Er lacht: >Na ja, es funktioniert wenigstens, aber leider hält es nur vierundzwanzig Stunden vor.< Sie setzten die Prozedur zehn Tage lang fort, bevor die Muskelkrämpfe nachließen. Ein paar Wochen später schickten sie mich nach Haus, aber ich konnte nicht zur Arbeit gehen. Erst ein Jahr später ließen sie mich wieder arbeiten. Und ich ging in meinen Tischlerberuf zurück. Nach zwei Jahren war ich wieder im Krankenhaus. Sie machten eine weitere Rückenoperation mit einer Fusion der Lendenwirbel. Mein rechtes Bein war teilweise gelähmt. Einunddreißig Tage später kam der Arzt in mein Zimmer und sagte: >Sie werden heute nach Hause entlassen. Aber bevor Sie gehen, möchte ich mit Ihnen sprechend Also ging ich gegen zehn in sein Büro, und er sagte mir, er hätte bei der Operation assistiert 158
und wäre mit der Art, wie sie gemacht wurde, nicht einverstanden. Er sagte, ich würde eine Menge Probleme bekommen, schlimmere als ich schon hatte. Er sagte: >Ich will Ihnen nichts vormachen. Offengesagt: Sie werden im Rollstuhl enden.< Na ja, ich nahm das nicht allzu ernst. Aber plötzlich fingen die Schmerzen wieder an. Beim geringsten Anlaß wurde ich ohnmächtig und fiel um. Es wurde immer schlimmer. Schließlich kam ich an den Punkt, wo ich nicht mehr in die Werkstatt gehen konnte. Ich hatte Angst, in die Maschinen zu fallen. Ich wurde schwer depressiv und sprach einen Monat lang mit keinem Menschen, nicht einmal mit meiner Frau. Also rief meine Frau einen Arzt an, der rüberkam, um nach mir zu sehen. Sehr vorsichtig - er ist sehr nett in solchen Dingen - schlug er mir vor, ich sollte einen Psychiater aufsuchen. Ich sagte: >Wenn es das ist, was Sie meinen, warum kommen Sie nicht offen damit heraus? Sie müssen mir nicht sagen, daß ich verrückt bin. Ich weiß es, ok? Ich habe Probleme. Ich werde nicht damit fertig.< In den ersten beiden Sitzungen beim Psychiater sagte ich kein Wort. In der dritten sagte der Psychiater zu mir: >Ich habe bemerkt, daß Sie im Sitzen oft Ihre Haltung verändern. Haben Sie Rückenprobleme oder sowas?< Ich dachte: >O mein Gott, endlich kommt er an den richtigen Punkt.< Ich fing an, ihm davon zu erzählen. Er sagte: >Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?« Er griff zum Telefon, rief einen Neurochirurgen in Springfield an und sagte: >Ich möchte, daß Sie diesen Mann untersuchen. Er braucht Hilfe, und zwar sofort.< Ich glaube vier Tage später, da fuhr ich hin, und der Arzt untersuchte mich und sagte: >Sie sind in einem katastrophalen Zustand!< Also schrieb er ans VA-Krankenhaus und forderte die Unterlagen an, aber er bekam nicht, was er wollte. Er nahm nochmal Kontakt mit ihnen auf. Schließlich fragte er mich: >Wer hat Sie operiert? Aus diesen Unterlagen geht das nicht hervor.< Ich sagte: >Ich habe keine Ahnung.< Er sagt: >Das kann doch nicht wahr sein!< Ich sage: >Es war ein Chirurg aus Boston. Ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe nie mit ihm gesprochen.< >Das sind ja unglaubliche Zustände!< >Das sind die Zustände im VA<, sage ich. Er beschloß, daß eine Myelographie (Kontrastdarstellung der Rückenmarkskonturen) gemacht werden sollte. Montag morgen stehen vierzig Tragen im Korridor, einer nach dem anderen wird reingeschoben, und das war‘s dann. Er machte die Myelographie, und am unteren Teil des Rückens konnte er überhaupt nichts erkennen. Es ging nicht durch, irgendwas war blockiert. Er sagt zu mir, das einzige, was man tun kann, ist ein chirurgischer Eingriff, um zu sondieren, wo das Problem liegt. Einen Monat später wurde ich operiert. Ich wachte auf und war von den Rippen abwärts gelähmt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es für mich das Ende der Welt war. Ich liege da, meine jüngste Tochter ist eineinhalb Jahre alt, die älteste zwölf, ich habe fünf Kinder. Man liegt da und grübelt und hat Angst und fragt sich, was jetzt werden soll. 159
Der Arzt kam nicht in meine Nähe. Er dachte, wir würden ihm die Schuld geben. Meine Frau und ich hatten vorher über die Operation gesprochen. Wir wußten, daß es riskant war, daß es schiefgehen konnte. Ich gab ihm nicht die Schuld dafür. Aber ich hatte Fragen. Was war passiert? Niemand gab mir eine Erklärung. Fünf Tage lang kam er nicht in meine Nähe, bis meine Frau ihn anrief und ihm die Leviten las. Sie sagten alle, daß ich nie wieder gehen könnte, und sie dachten, je schneller ich mich daran gewöhnte, desto besser. Die ersten zwei, drei Wochen im Krankenhaus grübelte ich dauernd: >Was habe ich getan, daß mir das passieren mußte? Womit habe ich das verdient? Wie soll ich damit leben?< Selbstmitleid, - Sie wissen schon. Einen Monat später kam ich nach Haus. Ich wollte nirgendwo hin. Ich wollte nicht, daß mich jemand sieht. Zwei Monate lang verließ ich das Haus überhaupt nicht. Nach dem anfänglichen Schock stehen die meisten Leute wirklich vor der Entscheidung: Kann ich damit leben? Das ist die Frage. Ich lag da, und mir gingen tausend Dinge durch den Kopf. Ich wußte, daß ich früher oder später zu einer Entscheidung kommen mußte. Ich konnte mich entweder meinem Selbstmitleid überlassen oder mich aufraffen und etwas mit meinem Leben anfangen. Allmählich kam ich zu der Erkenntnis, daß ich lernen mußte, damit zu leben. Ich entwickelte die Einstellung, daß ich noch schlimmer dran sein könnte. Jeder Mensch hat Probleme, in der einen oder anderen Weise. Niemand hat ein Leidensmonopol. Manche Probleme sind offensichtlicher als andere, aber, wie ich auch anderen Quergelähmten sage: >Der Mann, den du beneidest, weil er vor dir die Straße entlanggeht, hat vielleicht Krebs und ist möglicherweise in einem Jahr nicht mehr da. Also, worüber beschwerst du dich?< Es brachte nichts, alle anderen zu beneiden, denn mit dieser Einstellung zerstört man sich nur selbst. Ich habe das bei vielen Quergelähmten erlebt. Sie können nicht damit fertigwerden, und es endet damit, daß sie Selbstmord begehen. Vor zwanzig Jahren war das Leben für Behinderte noch ganz anders als heute. Man mußte sich durchkämpfen; — keine abgeflachten Bordsteine, keine Rampe an den Eingängen, keine für Behinderte reservierten Parkplätze. Alle alltäglichen Dinge wurden zu einer großen Anstrengung. Ich nahm die Dinge nicht mehr als selbstverständlich hin. Früher war ich zwanzigmal am Tag über eine Bordsteinkante gegangen und hatte keinen Gedanken drauf verschwendet, aber plötzlich kam sie mir wie eine drei Meter hohe Mauer vor. Ich sagte nie viel darüber, weil ich mir vorstellte, daß Gelähmte wie ich einen sehr kleinen Prozentsatz der Bevölkerung dieser Stadt ausmachten. Warum sollten sie für mich die ganze Stadt auf den Kopf stellen? Ich wollte nie, daß die Leute die Straßenseite wechselten, weil sie mich kommen sahen. Ich wollte niemandem auf die Nerven gehen. Meiner Mutter machte es sehr viel aus, daß ich gelähmt war. Ich sagte ihr: >Gott sei Dank habe ich den Rollstuhl, daß ich mich umherbewegen kann, und das Auto ist auf Handbedienung umgestellt, so daß ich fahren kann. Stell dir vor, ich müßte vierundzwanzig Stunden am Tag im Bett liegen, und das gibt es auch. Für mich zählt das, 160
was mir möglich ist. Ich kann noch ein bißchen mit Holz arbeiten. Ich kümmere mich nicht drum, ob ich dies nicht kann und das nicht kann.< Ich wurde aufgefordert, ein Restaurant zu verlassen, weil ich mit dem Rollstuhl den Weg versperrte. Der Besitzer kam an den Tisch und sagte: >Wieso kommen Sie hier herein und bringen alles durcheinander?< Es war sehr verletzend. Das passierte mir zweimal. Heute würden sie es nicht wagen. Aber ich sage, so sind die Menschen nun mal. Sie machen sich um die Gefühle anderer keine Gedanken. Und wenn es einmal gesagt wurde ... da helfen alle Entschuldigungen der Welt nichts. Es steht im Raum. Man kann es nicht ungeschehen machen. Leute, die ich für gute Freunde hielt, ließen sich nie mehr sehen, sobald ich im Rollstuhl saß. Das traf mich tief. Viele benutzen das Wort Freundschaft sehr leichtfertig. Jetzt ist mir klar, wenn man im Lauf eines Lebens ein, zwei gute Freunde hat, wirklich gute Freunde, ist man Millionär. Mit der Scheidung hat sich das alles nochmal wiederholt. Leute, von denen ich dachte, daß sie gute Kumpel wären, habe ich seit drei oder vier Jahren nicht gesehen. Gut, ich stellte mich darauf ein. Ein Jahr vergeht, und ich bekomme wieder diese Schmerzen.Ich ging zu einem Neurochirurgen, der sagte: >Bei Quergelähmten gibt es einen ziemlichen Prozentsatz, der unter hartnäckigen Schmerzen leidet. Sie gehen von den Nervenwurzeln aus; leider kann man da gar nicht viel machen.« Er schlug vor, daß ich nach Boston gehen sollte, und das tat ich auch. Ich ging zurück ins VA, und sie versuchten, den Schmerzen mit allen möglichen Neuronenblockern beizukommen. Dann entschlossen sie sich, eine Neurotomie zu machen, wobei sie durch den Hals in die Wirbelsäule hineingehen und Nerven durchtrennen, um den Schmerz zu beseitigen. Ich kam da heraus, aber ich konnte meine linke Hand nicht mehr gebrauchen, mein linkes Auge nicht öffnen und nicht urinieren, weil die Nieren und die Blase etwas abgekriegt hatten, und jeden Nachmittag bekam ich wahnsinnig hohes Fieber. Und ich sagte zu dem Stationsarzt: >Was soll denn jetzt geschehen?< Er sagt: >Wir können nichts mehr für Sie tun.< Na, besten Dank auch! Sie schickten mich nach Haus, und ich war zehn Monate lang bettlägerig. An dem Punkt war ich verdammt nahe daran, aufzugeben. Aber dann betete ich: Wenn ich nur in den Rollstuhl zurückkönnte. So ändert sich die Einstellung, wissen Sie? Ich hatte zwei Wahlmöglichkeiten: Mich weinend in eine Ecke zu verkriechen oder mich aufzuraffen und zu leben. Wieder sagte ich mir, daß es so nun einmal war und daß ich damit leben mußte. Ich hatte Schwierigkeiten mit dem Rollstuhl, weil ich meine linke Hand nicht gebrauchen konnte. Man kann mit nur einer brauchbaren Hand keine Rampe hinauffahren. Schließlich fing ich an, mich ein bißchen umherzubewegen. Man kommt leicht dahin, sich völlig nutzlos zu fühlen. Ich hatte eine Familie und sollte sie eigentlich versorgen. Aber wer würde mir Arbeit geben? Also fing ich mit einer ehrenamtlichen Beschäftigung im Cooley-Dickinson-Krankenhaus an. Ich machte 161
Botendienste, Fotokopien und alles mögliche andere. Die Frau, die diese Abteilung leitete, beobachtete mich die ganze Zeit. Ich war etwa sechs Wochen da, als sie mir eines Nachmittags ein Einstellungsformular in die Hand drückte. Ich sagte: >Machen Sie keine Witze. Niemand stellt einen Quergelähmten ein.< Sie sagt: >Füllen Sie es aus, ja?< Ich sage: >Na gut.« Um drei Uhr wollte ich los und meine letzte Runde machen. Sie sagte: >Heute machen Sie Ihre Runde nicht. Der Verwaltungsleiter möchte Sie sprechen.« Also ging ich zu ihm hinein. Ich sagte: >Ich habe noch nie in einem Büro gearbeitet. Ich bin Tischler.« Er sagt: >Das weiß ich. Tischler sind bekannt dafür, daß sie auf Details achten. Sie sind der Mann, den ich brauche. Können Sie morgen anfangen?« Auf dem Weg zur Tür sage ich: >Was soll ich überhaupt machen?< >Sie sollen eine Abteilung überwachen.« >Sie machen wohl Witze«, sage ich. Und er: >Sie schaffen das schon.« >Ich war nicht auf der High School«, erkläre ich ihm. >Ich bin von gebildeten Idioten umgeben«, sagt er. >Hier klappt nichts. Das ist die Wahrheit. Ich will jemanden haben, der sich um alles kümmert und dafür sorgt, daß es klappt. In Ordnung?< >In Ordnung.« Also, im ersten Monat war ich vierzigmal nahe dran, alles hinzuwerfen. Ich war es gewohnt, allein zu arbeiten, als Tischler oder als Zimmermann auf dem Bau. Jetzt mußte ich die Arbeit von sechzehn Frauen überwachen. Sie machten mich verrückt. Männer sagen einem, wenn ihnen etwas nicht paßt. Aber mit Frauen ... das war eine andere Geschichte. Schließlich hatte ich den Dreh raus. Wir organisierten die drei Abteilungen, um die ich mich kümmern sollte, und es lief ganz gut. Mein Chef gab mir immer mehr Arbeit. Er sagte immer: >Wir gehen den Weg des geringsten Widerstandes. Ich weiß, wenn ich Ihnen die Sache überlasse, dann klappt es auch.« Manchmal kam er mit, wenn ich meine Runden machte. Er sagte: >Das ist unglaublich! Die Leute sehen zur Decke hoch, wenn Sie mit ihnen reden; sie sehen Sie nicht an.« Ich sagte:>Ich habe genug Beobachtunsgabe. Das ist mir auch nicht entgangen.« Ich wollte nie bemitleidet werden. Ich wollte akzeptiert werden wie alle anderen auch. Sie fühlen sich unbehaglich, also muß man selbst die Initiative ergreifen und sagen: >Hey, zwischen diesen Rädern sitzt ein Mensch. Ich denke wie andere Menschen. Ich habe dieselben Sehnsüchte. Ich habe nur eine andere Methode, mich fortzubewegen.< Man kriegt sehr schnell mit, welche Leute sich unbehaglich fühlen, wenn man da ist. Sogar bei einigen Krankenschwestern war das so. Man muß selbst die Initiative ergreifen und ihnen die Unsicherheit nehmen. Sie bürdeten mir immer mehr Arbeit auf. Aber da ich behindert war, wurde mehr von mir erwartet als von anderen, ich mußte mich beweisen. Der Druck war da. Nach einem Jahr hatte ich ein offenes Magengeschwür, eine ziemlich schlimme Sache.
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Mein Chef fühlte sich schlecht. Er dachte, er hätte mir zuviel zugemutet, und sagte: >Ich habe Ihnen zuviel Arbeit aufgeladen.< Er versprach mir, die Last zu erleichtern. In Arbeitspausen sprach ich mit Patienten, die Probleme hatten, und versuchte, ihnen zu helfen. Zu mir konnten sie ja nicht sagen: >Ich sitze im Rollstuhl! Was zum Teufel wissen Sie davon?< Eines Morgens war ich im Ostflügel, um eine Maschine zu überprüfen, die nicht funktionierte. Die Oberschwester kommt und sagt zu mir: >Kennen sie Herrn Chapin?< Ich sage: >Nicht persönlich.< >Er ist im letzten Privatzimmer auf der rechten Seite. Ich möchte, daß Sie hingehen und mit ihm reden. Abgesehen vom direkten Rausschmiß haben Sie meine Erlaubnis, alles zu sagen oder zu tun, was Sie für richtig halten. Er ist ein widerwärtiges altes Ekel.< Also gehe ich hin und fange an, mit ihm zu reden. Ich sage: >Wieso liegen Sie hier im Bett rum?< Er fletscht nur die Zähne und knurrt: >Kann nicht laufen.< Ich sage:>Ich auch nicht.< Also fange ich an: >Sie sind also der Mann, dem ich letzte Woche den neuen Rollstuhl hochgeschickt habe. Ich habe gehört, Sie sind ein Erfolgsmensch, haben sich von der Pike hochgearbeitet bis zum Bankdirektor. Wo haben Sie diesen Mann eigentlich gelassen - zu Haus irgendwo im Schrank eingeschlossen? Bringen Sie wirklich nicht den Mumm auf, sich aus dem Bett zu hieven, den Rollstuhl da zu benutzen und Ihr Leben in die Hand zu nehmen?< Er sagt zu mir: >Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie reden?< >Wieso ?< sage ich. >Sind Sie was Besonderes?< Er sagt:>Zufällig bin ich der Vorsitzende der Treuhandgesellschaft, der dieses Krankenhaus gehört.< >Oh, soll das bedeuten, daß mein Job in Gefahr ist? Ich will Ihnen mal was sagen, es ist mir völlig wurst, ob ich morgen noch hier arbeite oder nicht! Na, was sagen Sie jetzt?< >Sie gottverdammter ... <, fängt er an, aber ich unterbreche ihn. >Herr Chapin, ich sitze seit Jahren in diesem Rollstuhl. Erzählen Sie mir nicht, was es bedeutet. Ich weiß es!< Und verlasse sein Zimmer. Am nächsten Morgen komme ich herunter aus der medizinischen Verwaltung, und da ist er draußen in der Halle mit seinem Rollstuhl. Ich sage zu ihm: >Weiß die Schwester, daß Sie hier sind?< Er sagt mir, immer noch mit gefletschten Zähnen: >Ich frage niemanden um Erlaubnis, ich bin gewohnt, Anordnungen zu erteilen. Ich mache, was ich will. Sie haben gestern eine Menge geredet. Heute habe ich ein paar Fragen an Sie. Kommen Sie rein?< Also unterhielten wir uns. Am Tag danach kommt er mit einem karierten Sportjacket und Rennmütze aus seinem Zimmer, ganz flott zurechtgemacht, und ich frage ihn, wo er hinwill. Er sagt: >Wir haben mehrere hunderttausend Dollar ausgegeben, um die Parkanlagen hier zu verschönern, und jetzt will ich rausgehen und den Duft der Rosen riechen.< Sie nannten es >ehrenamtliche christliche Sozialarbeit<, aber es ging einfach darum, sich um andere und ihre Probleme zu kümmern. Im folgenden Jahr war ich mehrere Wochen im Krankenhaus. Magengeschwüre. Ich lasse mir die ganze Sache durch den 163
Kopf gehen und sage zu meinem Arzt: >Das ist es!< >Was meinen Sie?< Ich sage: >Ich gehe zu meiner Tischlerei zurück. Ich hatte nie Magengeschwüre, als ich tischlerte.< Also sprach ich mit meinem Chef. Ich sagte: >Ich habe genug von diesem Job. Erstens zahlt man mir hier nicht das, was ich bekommen sollte. Ich habe festgestellt, daß einige Leute, die ich überwache, mehr verdienen als ich.< Ich hatte in diesem Jahr im Verwaltungsbüro die Budgets errechnet, also wußte ich sehr gut, wie die Dinge lagen. Sie glaubten, sie brauchten mir nicht mehr zu bezahlen, weil ich im Rollstuhl saß. Und ich sage: >Das sehe ich nicht ein!< Mein Chef wollte, daß ich mehr Geld bekäme, aber die oberen Chargen waren nicht damit einverstanden. Nachdem ich das Haus für meine Tochter gebaut hatte, ging ich in meine Werkstatt und brach den Betonfußboden auf. Ich baute Formen und goß den Betonboden neu, mit Vertiefungen, in die ich meine Maschinen versenkte. Sie standen so hoch, daß sie mir bis unters Kinn reichten. Ich erweiterte den Raum und baute einen Fahrstuhl ein, daß ich die Treppen rauf und runter kommen konnte. Ich erfand alle möglichen Dinge, hydraulische Vorrichtungen und was nicht alles, damit ich so arbeiten konnte, wie ich wollte. Ich sagte mir, da ich nun mal im Rollstuhl leben muß, sollte ich mir das Leben so einfach wie möglich machen. Es war eine Herausforderung. Ich nahm die Herausforderung an. Meine Kinder sagten immer, das Wort >unmöglich< käme in meinem Wortschatz nicht vor. Und das stimmt auch. Nichts ist unmöglich, wenn man sich in Ruhe hinsetzt und darüber nachdenkt. Es gibt immer irgendeinen Weg. Als sich alles ein bißchen beruhigt hatte, organisierte ich ein kleines Unternehmen, >Tasks Unlimited<. Eine Zeitlang hatten wir zehn Leute als Mitarbeiter. Das einzige Kriterium: Es mußten Behinderte sein. Es war ein mühseliger Kampf. Man geht in die Industriebetriebe, und bevor man noch den Mund aufmachen kann, sagen sie einem: >Wir haben nichts für Sie<, weil sie annehmen, daß man Spenden sammeln will. Aber was wir machten, war strikt professionell. Ich hatte vier Partner. Sie nahmen an, man würde Arbeit bekommen, weil man im Rollstuhl saß. So läuft es aber nicht. Also zog ich mich aus der Sache zurück und überließ es ihnen, sie weiterzuführen. Während dieser Zeit hatte ich aufgrund der Neurotomie große Probleme mit meinem linken Arm und meiner linken Brustseite. Die Muskeln verkümmerten, weil sie die Nerven durchtrennt hatten. Im Frühjahr 1978 bekam ich unerträgliche Schmerzen. Ich hatte ein Meniere-Syndrom, Innenohrprobleme auf beiden Seiten. Ich nahm wieder Demerol und Percodan und was nicht alles gegen die Schmerzen. Dann bekam ich Arthritis; ich konnte morgens nicht aus dem Bett kommen. Schließlich kamen noch Probleme mit der Gallenblase dazu. Mein Arzt sagte zu mir: >Leo, ich weiß nicht mehr, was ich mit Ihnen machen soll. Medizinisch haben wir alles ausgeschöpft, was möglich ist. Jede Woche kommt irgendwas Neues dazu.< Und ich sagte zu meiner jüngsten Tochter: >Weihnachten erlebe ich dieses Jahr nicht mehr, wie es jetzt aussieht. Nichts zu machen!< 164
Na ja, im April kam Pater Di Orio nach Holyoke, zehn Minuten von hier, aber ich weigerte mich, hinzugehen. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Ich wußte nichts über ihn, hatte nie etwas von ihm gehört. Mein Arzt versuchte mich dazu zu bewegen, daß ich da hinging. Er hatte seine Frau hingeschickt, um Karten zu besorgen. Meine Frau sagte: >Weißt du, sie werden gekränkt sein, wenn du dich weigerst.< Ich sagte: >Das ist mir egal. Wenn Gott mich heilen will, kann er es auch hier tun.< Ich hatte so furchtbare Schmerzen, ich wollte nirgendwo hingehen. Ich nahm zweihundert Milligramm Demerol und acht oder neun Percodan am Tag, und abends nahm ich Schlafmittel. Ich konnte nächtelang nicht schlafen. Ich konnte mich einfach nicht entspannen, weil der Schmerz nie aufhörte. Den ganzen Sommer lang ließen meine Frau und meine Freunde immer wieder den Namen Pater Di Orio fallen. Ich hörte Geschichten, aber ich glaube nicht alles, was ich höre, weil manche Leute übertreiben; das liegt an der menschlichen Natur. Ich mache niemanden einen Vorwurf daraus, aber ich bin Tischler, und ich hatte immer mit greifbaren Dingen zu tun. Für mich zählte das, was man sehen kann. Niemand drängte mich, hinzugehen. Meine Frau kannte mich. Es hätte nichts genützt, denn ich kann sehr dickköpfig sein. >Laßt mich damit in Ruhe<, war meine Einstellung. An einem Samstagabend nahm sie sich meinen besten Freund vor. Am 26. August rief er an und sagte: >Pater Di Orio hält morgen in Worcester einen Gottesdienst ab. Wir gehen hin.< Ich sage: >Na fein. Ich hoffe, ihr habt was davon.< Er sagt: >Wir gehen, und du kommst mit!< >Ich gehe nirgendwohin<, sage ich ihm. Wir stritten uns nicht wirklich, aber wir sprachen uns mehr oder weniger darüber aus am Telefon. Er gab nicht nach, er war sehr hartnäckig. Schließlich sagte ich: >In Ordnung. Wenn es dich glücklich macht, komme ich mit.< Wissen Sie, ich war kein Märtyrer. Wenn es einen Ausweg gab, war ich bereit, ihn anzunehmen. Manche Leute genießen ihre Probleme, aber ich nicht. Ich dachte nur, daß es nichts nützen würde. Am nächsten Morgen stand ich auf und hatte entsetzlich schlechte Laune. Ich machte den Kleinlaster sauber und warf hinten ein paar Kissen hinein, weil ich dachte, ich würde müde werden und auf dem Rückweg schlafen. Wir fuhren gegen elf Uhr los und holten ein paar Freunde ab. Schließlich waren wir sieben Leute. Meine Frau betete für mich, daß ich meine Schmerzen loswürde. Ich fuhr mit der Absicht hin, für meine jüngste Tochter zu beten. Sie hatte Eheprobleme, und das machte mir Sorgen. Ich hatte die Absicht, eine gemütliche kleine Ecke in der Kirche zu finden, wo ich niemanden stören würde. Ich konnte es kaum fassen als wir da ankamen. Eine riesige Menschenmenge verstopfte die Straße. Zehn, zwölf Polizisten waren da und versuchten, für Ordnung zu sorgen. Ich sage zu meinem Kumpel: >Das ist ungewöhnlich. Hast du je gesehen, daß die Leute sich darum schlagen, in die Kirche zu kommen?< Er sagt: >Nein. Das hier muß was anderes sein.< Ich konnte es kaum glauben. 165
Schließlich machten sie einen Weg frei, daß ich durchkommen konnte. Sie trugen mich die acht oder neun Stufen hinauf bis zum Eingang der Kirche, und die Platzanweiser sagten uns gleich, daß alle Rollstuhlfahrer ganz nach vorn kommen sollen. Meine Frau saß in der ersten Bank, direkt neben mir. Ich sah sie an und sagte: >Mein Gott, hier kann man nicht verlorengehen. Sie setzen einen direkt auf den Präsentierteller!< Ich wollte mich lieber in der Menge verstecken und die Sache hinter mich bringen. Die Kirche war gerammelt voll, bis an die Eingangstüren. Um drei Uhr kommt dieser Pater Di Orio heraus und fängt an, den Gottesdienst zu halten. Er fing immer damit an, Mitglieder des inneren Kreises mit Öl zu salben. Das sind Leute, die im Chor singen oder in der Kirche die Plätze anweisen. Als er diese Leute mit Öl salbt, stürzen sie alle zu Boden. Ich sehe mir das an und sage mir: >Wo zum Teufel bist du denn hier hineingeraten?< Ich hatte meine Bedenken, als ich den Gottesdienst beobachtete. Ich bin katholisch erzogen worden, aber das war etwas anderes. Gegen sechs Uhr sah ich meine Frau an, und sie wußte, daß ich gehen wollte. Die Schmerzen waren so schlimm, daß ich sie nicht mehr ertragen konnte. Plötzlich tritt Pater Di Orio vor den Altar: >Wir haben an diesem Nachmittag viele Heilungen erlebt. Wir beten und danken Gott dafür. Was wir jetzt brauchen, ist ein sichtbares Zeichen. Ich möchte, daß ihr alle betet, aus tiefsten Herzen.< Er sagte: >Schweift jetzt nicht ab mit euren Gedanken, konzentriert euch!< Was ich nicht wußte, war, daß der Mann, der die Gottesdienste auf Band aufzeichnete, am Donnerstag zu Pater Di Orio sagte: >Pater, was ist Ihr Problem? Mir ist aufgefallen, daß Sie sich nie den Rollstühlen nähern. Sie bewirken die Heilungen nicht; Gott bewirkt sie. Wovor haben Sie Angst?< Ich fand auch heraus, daß ich der erste war, der ihm an diesem Tag auffiel, und er konnte sich nicht von mir abwenden.* Man konnte in der Kirche eine Stecknadel fallen hören. Er hebt den Kopf und sagt: >Etwas Wunderbares wird geschehen, wie wir es noch nie zuvor erlebt haben.< Ich richte mich auf den Ellenbogen auf und sage zu meiner Frau: >Das muß ich sehen.< Als er ausgeredet hat, dreht er sich um, nimmt das Weihwasser vom Altar und kommt direkt auf mich zu. Er segnet mich mit dem Weihwasser, spricht ein Gebet und streckt die Hand aus: >Im Namen Jesu Christi, steh auf und geh!< Und bevor ich begreife, was geschieht, stehe ich zum erstenmal seit zwanzig Jahren auf den Beinen. Es reißt mich regelrecht aus dem Stuhl. Mir wurde erst bewußt, daß ich nicht mehr im Rollstuhl saß, als ich ihm Auge in Auge gegenüberstand. Ich hatte das in den letzten zwanzig Jahren vierzig Millionen Mal versucht. Er sagt zu mir: >Ich möchte, daß Sie sich herunterbeugen und Ihre Zehen berühren.< Mein erster Gedanke ist: >Du wirst flach aufs Gesicht fallen.< Ich hatte keine Muskeln mehr; meine Beine waren völlig verkümmert. Trotzdem beuge ich mich vornüber, berühre meine Zehen und richte mich wieder auf, ohne Probleme. Der Schmerz ist weg, völlig verschwunden, im Bruchteil einer Sekunde. ____________________________________________________________________ *In dem Buch The Man Beneath the Gift (»Der Mann hinter der Gabe«) sagt Pater Di Orio: »Ich hatte ihn
vor diesem Tag nie gesehen. Aber sobald mein Blick auf ihn fiel, hatte ich das Gefühl, wie durch magnetische Kräfte zu ihm hingezogen zu werden. Das nächste, was ich wußte, war, daß ich neben dem Rollstuhl stand und auf ihn hinunterblickte.
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Er sagt: >Wie lange waren Sie an den Rollstuhl gefesselt?< >Zwanzig Jahre, zwei Monate.< >Wir werden jetzt zusammen durch den Mittelgang gehen, bis zur Eingangstür und zurück.< Er geht rückwärts, und ich folge ihm. Meine Frau ist wie vom Donner gerührt. Sie faßt es nicht. Der Mann hinter ihr sagt: >Er steht immer noch auf den Beinen.< Sie sagt, sie kann sich nicht bewegen. Also nimmt er sie bei den Schultern und dreht sie herum. Ich gehe durch den Mittelgang, bis zur Vordertür der Kirche, drehe mich um und gehe zurück. Mein Kumpel sitzt irgendwo in der Mitte. Er steigt auf die Bank, um zu sehen, wer es ist. Als er sieht, daß ich es bin, fängt er an, aus vollem Hals zu schreien und zu weinen und alles andere. Seine Frau versucht ihn zu beruhigen und sagt immer wieder, daß wir in einer Kirche sind. Aber niemand kann den Kerl zum Schweigen bringen; er ist so glücklich. Ich gehe nach vorn und knie vor dem Altar nieder. Ich wette, ich kniete da zwanzig Minuten lang und versuchte, mich wieder zu fassen. Meine Frau fragt sich: >Wird er wieder aufstehen können?< Aber dann richte ich mich noch im Knien gerade auf, erhebe mich und gehe an meinen Platz zurück. Meine Frau sagt: >Wie fühlst du dich?< Ich sagte: >Der Schmerz ist weg, - alles ist weg.< Sie sagt: >Du mußt erschöpft sein, warum setzt du dich nicht?< >Ich habe zwanzig Jahre gesessen; ich denke nicht daran, mich zu setzen!< Die restliche Zeit, die der Gottesdienst dauerte, blieb ich stehen. Ich hatte das Gefühl, ich könnte fliegen. Ich kam aus der Kirche und schob meinen eigenen Rollstuhl. Es ist wunderbar, wieder gehen zu können, aber das Größte war für mich, daß ich zum ersten Mal seit rund dreißig Jahren ohne Schmerzen war. Sie sind nie zurückgekommen. Als wir in dieser Nacht in die Stadt zurückkamen, fuhren wir direkt bei meinem Arzt vor. Siebzehn oder achtzehn Leute begleiteten mich. Wir stellten uns vor die Haustür, und meine Frau drückt auf die Klingel. Das Licht geht an, und der gute Doktor öffnet die Tür. Er war barfuß und hatte einen Hausmantel an; er wollte gerade schlafen gehen. Er sieht mich an und faßt sich an den Kopf. Er sagt: >Oh, mein Gott.< Wir gehen hinein, und er fängt an, mich zu untersuchen. Als er fertig ist, sagt er: >Wissen Sie, medizinisch gesehen haben Sie nichts, womit Sie gehen können. Sie haben keine Reflexe. Sie haben keine Muskeln. Sie haben gar nichts. Ich habe Sie auf Ihren eigenen Beinen hier hereinkommen sehen, aber vom medizinischen Standpunkt aus ist es unmöglich. Trotzdem muß ich glauben, was ich sehe.< Er sagte: >Um Ihnen allen verständlich zu machen, was sich hier ereignet hat: Stellen Sie sich einen normalen Menschen vor, der gestürzt ist und sich das Bein gebrochen hat. Man bringt ihn ins Krankenhaus, das Bein wird geschient und je nachdem, wie schwer die Verletzung ist, sechs oder sieben Wochen lang in einen Gipsverband gelegt. Dann nimmt man den Gips ab, gibt ihm zwei Krücken, und er muß allmählich wieder laufen lernen. Dieser Mann konnte zwanzig Jahre lang nicht gehen, hatte alle möglichen neurologischen Probleme, und dennoch steht er auf und geht. Medizinisch ist das unmöglich!< 167
Als ich zu Haus ankam, läutete das Telefon. Es war der Doktor. Er sagte: >Ich kann nicht schlafen, und Sie werden wahrscheinlich auch nicht schlafen können. < Also kam er zehn Minuten später mit seiner Frau herüber. Einer rief den anderen an: >Habt ihr schon gehört, was mit Leo Perras passiert ist?< Die meisten fragten als erstes: >Woran ist er denn gestorben?< Am nächsten Morgen wachte ich auf und lag da und fragte mich: >Ist das alles wirklich geschehen, oder habe ich es nur geträumt?< Ich stand auf ohne Probleme. Dann kamen die Reporter und die Fotografen. Um acht Uhr früh war das Haus schon voller Leute. Tagelang war kaum Zeit zum Essen oder zum Nachdenken. Ich fragte mich: >Warum ich? Ein Einfaltspinsel wie ich, wer bin ich denn? Ein einfacher Tischler, - ich habe nie etwas Weltbewegendes getan.< Andere Kranke, mit denen ich spreche, sagen mir manchmal: >Ich bin es nicht wert, geheilt zu werden.< Na ja, ich war es auch nicht wert, wenn man‘s genau betrachtet. Natürlich konnte ich mich nur schwer daran gewöhnen, wieder zu gehen, weil ich den Boden nicht unter den Füßen spürte. Ich hatte keine Empfindung in Füßen und Beinen. Es war, als hinge ich in der Luft. Ich sah immer wieder nach unten, und die Füße bewegten sich, aber zwischen meinem Verstand und dem Boden schien es keine Verbindung zu geben. Wenn ich die Treppen hinaufging, mußte ich auf meine Füße schauen, um zu sehen, ob sie auf der richtigen Stufe waren. Trotzdem funktionierte es. Es fiel mir sehr schwer, mich daran zu gewöhnen. Der Schmerz kam nie wieder. Die Arthritis war weg. Ich hatte keine Gallenprobleme mehr. Der Apotheker sagte, ich würde sechs Monate lang Entzugserscheinungen haben wegen der schweren Medikamente, an die ich gewöhnt war. Neun Jahre lang hatte ich acht oder neun Percodan am Tag genommen, und das macht abhängig. Demerol ist auch suchterzeugend, und ich hatte Seconal genommen, um schlafen zu können. Der Apotheker sagte: >Ich weiß nicht, was das alles bedeutet, aber daß Sie gar keine Entzugserscheinungen haben, das fasse ich nicht, das bringt mich um den Verstand!< Der Ohrenspezialist sagt: >Eigentlich können Sie gar nicht gehen, weil Ihr Gleichgewichtssinn völlig ausgefallen ist.< Ich sage: >Na ja, zumindest kriege ich eine ziemlich glaubwürdige Imitation hin.< Der Neurochirurg hatte wieder etwas anderes, was er nicht fassen konnte. Die Leute fragten mich immer: >Machen Sie sich gar keine Sorgen? Vielleicht wachen Sie morgen früh auf und können nicht mehr gehen.< Ich fragte dann zurück: >Und Sie? Machen Sie sich keine Sorgen? Sie wissen doch auch nicht, was in der nächsten Minute geschieht.< Eine meiner Tanten rief mich an, ganz aufgeregt. Leider würde mein neuer Zustand nur sieben Tage dauern. Ich fragte: >Wo hast du denn das her?< Sie sagte, in dem Haus, in dem sie wohnte, wären sich alle darüber einig. Ich sagte ihr: >Willst du Gott vorschreiben, was er zu tun hat?< Ein Bekannter von mir war da großzügiger. Er gab mir dreißig Tage. Ich sagte ihm: >Paß auf! Halt lieber nicht so lange die Luft an, ok?< Jetzt zählen sie nicht mehr. Im August waren es neun Jahre.
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Im Lauf der Zeit wurde es allmählich immer besser. Dann, als die Empfindung zurückkam, wurde es mir verständlicher, und die Dinge ergaben einen Sinn. Es war wundervoll, als ich das Straßenpflaster unter meinen Füßen spüren konnte. Innerhalb von drei Monaten kamen die körperlichen Empfindungen alle zurück, die Muskeln entwickelten sich wieder, und es wurde langsam besser. Aber der bloße Versuch, es gedanklich zu erfassen und zu analysieren, ist schwindelerregend. Wissen Sie, einige Geistliche sagen mir, es war ein Fall von Selbsthypnose. Ich sage: >Nennen Sie es, wie Sie wollen.< Andere Leute sagen mir, es war ein plötzlicher starker Adrenalinschub. Ich habe zwanzig Jahre im Rollstuhl verbracht. Ich war derjenige, der all die Schmerzen hatte, nicht die anderen. Ich sage: >Sie haben ein Recht auf Ihre Meinung, aber erzählen Sie mir nicht, was es mit meiner Heilung auf sich hat. Ich weiß, wo ich war und wo ich heute bin. Meine Heilung verdanke ich nur einem, das ist Gott, und damit basta. Alles, was die Ärzte versuchten, hat meine Krankheit noch schlimmer gemacht. Drei Operationen, glauben Sie mir, es war nutzlose Quälerei. Was die Medizin angeht, da kann ich nur dankend ablehnen.< Ein Arzt sagte zu mir: >Ich wundere mich, daß Sie überhaupt noch mit uns sprechen.< Na ja, was soll man machen? Die Leute fragen mich: >Glauben Sie, daß die durchtrennten Nerven wieder zusammengewachsen sind?< Ich sage: >Mir persönlich ist es egal, ich fühle mich gut.< Aber eines Tages arbeitete ich draußen im Freien. Meine Frau kam zu mir herüber, sah mich an und fing an zu lachen. Sie sagte: >Im Grunde hat sich nichts wirklich verändert.< >Was meinst du damit?<, frage ich. Sie sagt: >Sieh dich doch mal an!< Ich sah an mir herunter. Die eine Körperhälfte war ganz naß von Schweiß, die andere völlig trocken. Nach der Neurotomie schwitzte ich nie auf der linken Körperseite. Also ist der Zustand noch so, wie er war. Wie soll man das also erklären? Ich versuche es nicht einmal. Manche werden geheilt und andere nicht. Pater Di Orio sagt: >Ich bewirke die Heilungen nicht. Ich habe keine Erklärung.< Ich habe Leute gekannt, die acht mal nach Worcester gegangen sind, seit das mit mir passierte. Bei ihnen geschah gar nichts. Ich denke, in manchen Fällen ist es vielleicht der Glaube, aber das trifft auch nicht immer zu. Ich ging mit großen Vorbehalten hin. Gott erwählt bestimmte Menschen, unabhängig von ihrem Glauben. Wie erklären Sie es sich, wenn ein kleines Kind plötzlich geheilt wird? Der Glaube hat damit nichts zu tun. Sicher sind einige der Krankheiten, die auf diese Weise geheilt werden, psychosomatisch. Aber nehmen wir an, ein Mensch ist ein Hypochonder, und dann, plötzlich, hat er keine Beschwerden mehr. Das ist doch auch eine Heilung! Mein Kumpel aus Springfield macht natürlich seine Witze mit mir. Er sagt, ich wurde geheilt, weil ich ein Großmaul bin und weil Gott wußte, daß ich es in der ganzen Welt verbreiten würde. Unglücklicherweise - oder vielleicht auch nicht - haben die Leute mich auf ein Podest gestellt und meinen, daß ich kein Mensch wie alle anderen bin, daß ich nicht fühle und denke wie andere Menschen. >Oh, mein Gott. Sie sind es wirklich? Sie kommen wirklich in mein Haus?< Hey, Moment mal, das ist doch lächerlich. Ich bin immer noch Tischler. Ich mache dieselben Sachen wie vorher. 169
Manche Leute haben eine Vorstellung von mir, die nichts mit mir zu tun hat. Ich habe nie geglaubt, ich wäre besser als andere. Im Gegenteil; als ich im Rollstuhl saß, fühlte ich mich allen anderen unterlegen. Als ich mich scheiden ließ, wurden die Leute nicht damit fertig. Sie sagten, ich, als Katholik, hätte das nicht tun dürfen. Ein Jahr nach der Heilung war ich ganz und gar mit ehrenamtlichen Tätigkeiten ausgefüllt. Ich stand im Rampenlicht, nicht weil ich es gewollt hätte, sondern weil die Umstände so waren. Ich versuchte meine Frau auch zur Mitarbeit zu bewegen, aber sie wollte nicht. Nachdem ich das ruhige Leben eines Tischlers geführt und zwanzig Jahre im Rollstuhl gesessen hatte, fühlte ich mich nicht wohl damit, plötzlich so im Mittelpunkt zu stehen. Aber ich sagte mir auch, die Menschen müssen es erfahren, daß solche Dinge immer noch geschehen. Wie Pater Di Orio sagte: >Ruft es von den Dächern.< Wenn man das tut, hat man plötzlich mit Fernsehsendern zu tun und muß viel reisen. Ich war zweimal für jeweils eine Woche in Kentucky, ich war unten in Florida, ich war überall. Damit fingen die Probleme an. Meine Frau warf mir vor, ich hätte Abenteuer mit anderen Frauen, was absolut nicht den Tatsachen entsprach. Ich sagte: >Wie kannst du die Arbeit, die ich tue, nur so interpretieren, daß ich mich mit anderen Frauen amüsiere?< Ich sprach mit einem Priester darüber. >Das Problem ist<, sagte er, >daß Ihre Frau seit zwanzig Jahren daran gewöhnt ist, in Ihrem Zusammenleben das Steuer in der Hand zu halten, während Sie an den Rollstuhl gebunden waren. Sie sitzt gern am Steuer. Sie will nicht auf den Beifahrersitz verbannt werden. Das wird Schwierigkeiten geben.< Und so war es dann auch. Es wurde immer schlimmer und endete schließlich mit der Scheidung, was mir sehr leid tat. Aber es war nicht mehr zu ertragen. Ich nahm es nicht auf die leichte Schulter. Wie dieser Priester mir sagte: >Zwischen Liebe und Haß verläuft eine sehr feine Grenzlinie.< Und er sagte zu mir: >Wenn es bis zum Haß gekommen ist, dann reden wir über Ihr Seelenheil, mein Freund. Also, wenn Sie es nicht lösen können, gehen Sie aus der Situation heraus. Sehen wir die Sache doch realistisch<, sagt er. >Nachdem ich Ihrer Frau zugehört habe, meine ich, daß es nur noch schlimmer werden kann. Mein Vorschlag ist: Unternehmen Sie was!< Und das tat ich schließlich auch. Aber es war keine gute Situation. Das Im-Rampenlicht-Stehen brachte auch noch andere Komplikationen mit sich. Vor einigen Monaten frühstückte ich in einem Cafe. Ein junger Mann setzte sich an einen Tisch in meiner Nähe. Er sah dauernd zu mir herüber und sagte dann: >Ich kenne Sie. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen.< >Gut<, sage ich. >Mit diesem Wissen und fünfzig Cent kriegen Sie eine Tasse Kaffee.< Er sagt: >Auch der Teufel bedient sich der Gabe von Pater Di Orio, wissen Sie?< Ich dachte: >Ach du lieber Himmel, ein Zeuge Jehovas!< Ich sagte: >Junger Mann, ich fürchte, da sind Sie auf der falschen Spur.< >Warum?< Die Apostel vollbrachten auch keine Wunder. Gott ist derjenige, der die Wunder vollbringt, so sieht es aus.< Er sagt: >Ihre Theorie ist völlig daneben.< >Sie haben das Thema angeschnitten<, sage ich, >also hören Sie sich an, was ich dazu zu sagen habe! Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen beziehen, aber Sie 170
liegen falsch. Der Teufel wird nie im Namen Jesu Christi heilen. Lassen Sie sich das gesagt sein, das wird nie geschehen. Der Teufel tut nichts zur Ehre Gottes.< Und er sagte: >Ja, vielleicht.< >Sie sagen vielleicht, aber ich habe keine Zweifel. Ich weiß, woher es kommt<, sage ich. >Es ist Ihre Theorie, die nicht wasserdicht ist. Sie haben es angesprochen, nicht ich!< Damit war das Gespräch beendet. Ich hatte die Nase voll von ihm. Sehen Sie, Pater Di Orio ist nur das Instrument, durch das Gott seine Macht zeigt. Gott kann uns alle dazu erwählen. Pater Di Orio allein könnte nicht einmal einen Frosch von seinen Warzen heilen. Und er selbst sieht es auch so. Ich wurde von einigen Leuten zu einem Gespräch eingeladen. Es war auch ein Priester dabei, und ich dachte, sie wollten, daß er mit mir spricht. Aber in Wahrheit wollten sie die ganze Zeit, daß ich ihm etwas sage. Also, dieser Priester wich der Frage den ganzen Abend über aus. Er redet und redet, über Shakespeare und dies und das. Schließlich unterbricht ihn eine Frau und sagt: >Hochwürden, ich frage Sie jetzt ganz direkt. Was denken Sie über Leos Heilung?< Er antwortet: >Ich will es Ihnen ganz offen sagen: Was Di Orio in Worcester macht, ist ein großer Zirkus, und die Leute, die da hinrennen, sind alle Spinner.< Ich sehe ihn an und sage: >Sie nennen mich einen Spinner?< >Ja.< >Da das von Ihnen kommt, überrascht es mich überhaupt nicht<, sage ich. >Wir sitzen hier seit mehr als zwei Stunden zusammen, und Sie haben kilometerweise Shakespeare und Milton zitiert. Haben Sie je von der Bibel gehört? Wie verstehen Sie Ihr Priesteramt? Würden Sie mir das mal erklären? Sie glauben nicht, daß Gott heute noch Wunder vollbringen und Menschen heilen kann? Wenn Sie es nicht glauben, haben Sie wirklich Probleme. Dann sind Sie mit Ihrem Beruf nämlich total auf dem falschen Dampfer.< Zum Schluß sagte ich ihm: >Ich will Ihnen sagen, was ich tun werde, wenn ich heute abend nach Haus komme. Ich werde für Sie beten.< Wenn man es genau betrachtet, kann man niemanden für seinen Mangel an Glauben kritisieren. Denn Glaube ist etwas von Gott Gegebenes. Manche haben ihn, andere nicht. Wie ich ihm sagte, >Ich bete für Sie<, — das ist ungefähr alles, was man tun kann.«
Beobachtungen Nachdem ich Leos Haus verlassen hatte, holte ich meinen sechsjährigen Sohn aus dem Kindergarten ab und machte mich mit ihm auf den Heimweg. Ich fragte ihn nach seinem Tag, und er fragte mich nach meinem Tag. Während ich die Straße entlangfuhr, erzählte ich ihm Leos Geschichte in groben Zügen und sagte ihm zum Schluß, daß ich nicht verstände, was da geschehen sei. Mein Sohn war jedoch nicht im mindesten erstaunt. Bevor er losrannte, um mit seinen Freunden zu spielen, erklärte er mir: »Dad, es war ein Wunder!« Vielleicht war das wirklich die Antwort. Vielleicht hatte Gott durch Pater Di Orio eingegriffen und Leo von seiner Lähmung geheilt, ihm die Schmerzen genommen und ihn von jeder physischen und psychischen Abhängigkeit von Narkotika befreit. 171
Je nachdem, wie man die Welt auffaßt, ist Heilung ein äußerst komplexes oder ein überaus simples Phänomen. Die folgende Erklärung beansprucht nicht mehr Gültigkeit als die, die Leo gibt. Sie basiert nur auf einer anderen Art, den Erscheinungen dieser Welt Sinn zu entnehmen. Die Prämisse ist, daß der Glaube immense Kräfte freisetzen kann. Auf irgendeine unerklärliche Weise versetzt der Glaube einen Menschen in die Lage, unvorstellbare Energien zu mobilisieren, und macht dadurch phänomenale physische Heilungen möglich. Die Macht des Glaubens - die immense Kraft der Überzeugung, daß Genesung möglich ist und erreicht werden kann - ist seit den Anfängen der Medizin bekannt. Tatsächlich wissen wir nicht, wie Leo geheilt wurde, aber das Zusammenwirken gewisser Ereignisse könnte seinen Glauben zu voller Kraft erweckt haben. Leo berichtet, daß er den charismatischen Gottesdienst ohne große Erwartungen aufsuchte und daß er wenig über Pater Di Orio wußte. Er war skeptisch, aber er verschloß sich der Erfahrung nicht völlig. Obwohl die Fahrt weit und anstrengend war, fühlte er genug Kraft in sich, sie zu unternehmen. Außerdem ging er mit der Absicht hin, für den ehelichen Frieden seiner Tochter zu beten — ein Vorsatz, der nicht so spektakulär ist wie der Wunsch nach einer physischen Heilung, aber anspruchsvoll genug, um zu zeigen, daß er zumindest einen Funken Hoffnung in die Kraft des Glaubens setzte. Vielleicht empfand er ähnlich wie manche Menschen, bevor sie die Kerzen auf ihrem Geburtstagskuchen ausblasen oder wenn sie eine Sternschnuppe sehen. Sie glauben nicht wirklich, daß ihr Wunsch in Erfüllung geht, aber sie sprechen den Wunsch innerlich aus, für alle Fälle, anstatt die Chance, sei sie auch noch so vage, vorübergehen zu lassen. Leo besuchte den Gottesdienst mit einem winzigen Körnchen Glauben, wie im biblischen Gleichnis vom Senfkorn. Ein Senfkorn an Glauben, das kleinste aller Samenkörner, ist alles, was ein Mensch braucht. Die Menschen, die Leo am nächsten standen, taten alles, um das wenige, was er an Glaubenshoffnung in sich trug, zu nähren. Ihre Worte und ihr Handeln vermittelten ihm, daß aus der Teilnahme an Pater Di Orios Gottesdienst etwas Positives erwachsen würde. Sein Arzt besorgte ihm Karten, sein bester Freund bestand darauf, daß er hinfuhr, und seine Frau warb die ganze Zeit für die potentiell heilsamen Wirkungen der Gebetsversammlung. Wenige Monate bevor Leo nach Worcester fuhr, hatte Pater Di Orio in der Nähe seines Wohnortes einen Gottesdienst abgehalten. Vielleicht war es ein Zufall, daß Leo diese Gelegenheit nicht ergriff, aber vielleicht stand auch etwas anderes dahinter, denn gewöhnlich schreiben wir dem schwer zu Erreichenden die größte Wirkungskraft zu. Die Reise, die Leo schließlich unternahm, war nicht allzu weit und schwierig, aber sie löste ihn aus seiner Alltagsumgebung, versetzte ihn in ein neues, unbekanntes Umfeld und schuf so die Voraussetzungen für ein Sich-Öffnen. Das Unbekannte enthält ein Versprechen, daß alles möglich ist; es stimuliert Erwartungen von ungeheurer Größenordnung. Bernie Siegel berichtet, daß er die größten medizinischen Erfolge bei Menschen erzielte, die am weitesten reisen mußten, um zu ihm zu gelangen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Jesus, wie wir aus dem Neuen Testament erfahren, in seiner eigenen Heimatstadt niemanden heilen konnte. Betrachten wir auch Lourdes, den Ort der Wunderheilungen in Frankreich. Seit 1858 hat die katholische Kirche sechzig Fälle von Heilungen offiziell zu »Wundern« erklärt. Seit 1954 ereigneten sich dort dreizehn Wunderheilungen. Das internationale wissenschaftliche Komitee von Lourdes, das diese Fälle überprüfte, bezeichnete sie als 172
»vom medizinischen Standpunkt aus unerklärlich«. Jedes Jahr pilgern mehr als 500000 Menschen nach Lourdes, und oft verbessert sich ihr Zustand trotz der Anstrengungen der Reise. Dennoch hat es unter den Menschen, die in der Nähe von Lourdes leben, nie Wunderheilungen gegeben. Das Bad in der Quelle, das Gebet in der Wallfahrtskirche, die Anstrengungen der Reise - das alles sind notwendige Bestandteile der »Behandlung«. Als Leo an der Kirche von Worcester ankam, trugen viele Umstände dazu bei, seine Glaubensbereitschaft zu steigern. Alles war ungewöhnlich und andersartig. Nachdem er zwanzig Jahre im Rollstuhl verbracht hatte, war Leo es gewohnt, als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden. Es war ein ständiger Kampf für ihn, sich bei anderen Respekt zu verschaffen. Hier jedoch wurde er plötzlich als Ehrengast empfangen. Man machte den Weg für ihn frei und geleitete ihn ganz nach vorn, in die erste Reihe. Die Szenerie auf dem Vorplatz der Kirche, das Gedränge der Menschen, die darum kämpften, eingelassen zu werden, war Leos Erfahrungswelt völlig fremd. Leo gibt seiner Verblüffung Ausdruck, und sein Freund bestätigt, daß hier offenbar etwas ganz anderes geschieht als das, was sie von normalen Kirchenbesuchen kennen. Jerome Frank, der Wunderheilungen und Heilrituale in Stammesgesellschaften studierte, schreibt den Heilungserwartungen, die sich an Plätzen wie Lourdes konzentrieren, erstaunliche Wirkungen zu. Wunder werden glaubwürdig in einer Umgebung, wo permanent darüber diskutiert und daran gedacht wird. Die Atmosphäre ist voller Hoffnung. Um Heilungen zu bewirken, setzt Pater Di Orio alle Mittel ein, die ihm zu Gebote stehen, die Macht der Suggestion eingeschlossen. Er eröffnet den Gottesdienst mit den Worten: »Wenn ich unter euch umhergehe, werden einige vielleicht Elektrizität spüren, die direkt von meinem Körper ausgeht, Hitze, einen Blitzschlag sozusagen. Ich weiß nicht, wie Gott das macht. Schiefe Wirbelsäulen werden sich aufrichten. Verkrümmte Glieder werden sich strecken. Wir werden vermutlich erleben, wie verkürzte Beine zu wachsen beginnen. Wie es scheint, werden solche Gebrechen in jeder Gebetsversammlung geheilt. Bei anderen Gebrechen - Krebs, Blindheit und Lähmungen zum Beispiel — scheint die Heilung dann und wann in Häufungen stattzufinden.« Während des Gottesdienstes erklärt Pater Di Orio, was »vom Geist ergriffen werden« bedeutet. Seine Beschreibung hat nicht nur informativen Charakter, sondern sie erhöht auch die Bereitschaft der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sich tatsächlich »vom Geist ergreifen« zu lassen. Er teilt der Versammlung mit: »Einige von euch werden zu Boden fallen oder in einen Zustand göttlicher Ekstase eintreten. Was geschieht, wenn jemand zu Boden fällt oder stehend in Ekstase gerät, ist ein ... Überwältigtwerden durch den Geist. Gott liebt es, mit seiner Kraft durch Menschen hindurchzugehen ... Die Heiligen kannten diese Art des Gebets. Sie nannten es >ekstatische Vereinigung<. Sie verloren sich in Gott. Ihre äußeren Sinne wurden zeitweilig außer Kraft gesetzt. Sie verließen ihre Körper, tauchten in das Meer des Geistes ein und gingen in Gott auf. Wenn es geschieht, habt ihr keine Kontrolle darüber...« Die Art, wie Pater Di Orio seine Zuhörer anspricht, ähnelt der Technik eines Therapeuten, der einen Patienten in hypnotische Trance versetzt. Pater Di Orio bedient sich einer anderen Sprache, aber ähnlich wie ein Hypnotherapeut ermutigt er seine Zuhörer, loszulassen und ihre Bewußtseinsschwelle zu senken. Er erklärt, in der Ekstase könne der Körper sich sehr leicht anfühlen und die gewohnten Sinneswahrnehmungen könnten 173
eine Zeitlang außer Kraft gesetzt werden. Wie ein kompetenter Therapeut übt er mit seinem Vorgehen keinen Druck oder Zwang aus. Er überläßt es seinen Zuhörern, ob sie die bewußte Kontrolle über sich selbst aufgeben wollen oder nicht. Er vermittelt seiner Gemeinde jedoch, daß wenig Grund besteht, dem Ergriffenwerden zu widerstehen, da die »ekstatische Vereinigung« mit Gott ein wundervolles, höchst angenehmes Erlebnis ist. Pater Di Orio ermutigt die Menschen, ihren bewußten Willen loszulassen, um Zugang zu einer außerordentlichen, wunderbaren Kraftquelle zu erlangen. Für den Priester ist Gott diese Kraftquelle, während Therapeuten oft von der Kraft im eigenen Inneren, dem unermeßlichen Potential des Unbewußten sprechen. Pater Di Orio war darauf vorbereitet, jemandem, der in einem Rollstuhl saß, seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er bestätigte, daß einer seiner geistlichen Mitarbeiter ihm an dem Tag, als er den Gottesdienst abhielt, sagte, er solle keine Angst haben, sich den Gelähmten zu nähern, und ihn daran erinnerte, daß Gott, und nicht er, Pater Di Orio, die Heilung bewirke. Die Versammlung erreichte ihren Höhepunkt, als Pater Di Orio die Anwesenden aufforderte, sich ins Gebet zu vertiefen, und als sein Blick auf Leo fiel, den gelähmten Tischler, einen unter den Hunderten, die sich in der Kirche drängten. Der Pater ging auf Leo zu und befahl ihm, aufzustehen und zu gehen. Zweifellos war Leo in all den Jahren seiner Lähmung niemals aufgefordert worden, sich aus dem Rollstuhl zu erheben und zu gehen. Niemand hatte je geglaubt, daß es möglich sei. Zum ersten Mal in zwanzig Jahren vermittelte ihm jemand - und nicht irgend jemand, sondern das Sprachrohr der göttlichen Weisheit und Autorität -, daß er gehen könne, gehen werde. Nach Leos erstem Gang durch das Mittelschiff der Kirche trat eine Reihe von Ereignissen ein, die einen Rücksturz in das Leben des Gelähmtseins und des Schmerzes unwahrscheinlich machten. Sobald er sich aus dem Rollstuhl erhoben hatte, war sein Leben unwiderruflich verändert. Was er unzählige Male erfolglos versucht hatte, war nun tatsächlich möglich geworden. Auf einer bestimmten Ebene sorgen vertraute, als unveränderlich erlebte Zusammenhänge für die Kontinuität von Rollen. Der Kontext, in dem Leo gelebt hatte, die Rolle eines Gelähmten, dessen Gesundheitszustand sich ständig verschlechterte, war plötzlich verschwunden. Er wurde zum Mittelpunkt intensiver Neugier und für manche Menschen zu einer Person, der man mit großer Ehrerbietung begegnete. Die Aufmerksamkeit der Medien, sein neues Engagement für die Kirche und natürlich die offensichtliche Verbesserung seines Gesundheitszustands - all das wirkte positiv verstärkend. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß ein Zusammentreffen bestimmter Faktoren die volle Kraft des Glaubens in Leo freisetzte, erhebt sich die Frage: Kann der Glaube den Körper wirklich mit außergewöhnlichen Kräften ausstatten? Leonard Feinberg dokumentierte auf Sri Lanka eine Feuerläufer-Zeremonie; der Fotobericht erschien 1959 in der Zeitschrift Atlantic Monthly. Da Feinberg in den Jahren 1956 und 1957 als Fulbright-Professor an der Universität von Ceylon (Sri Lanka) lehrte, hatte er genügend Gelegenheit, dieses Ritual zu erforschen. Der Feuerlauf bildete den Abschluß und Höhepunkt rigoroser religiöser Übungen und Vorbereitungen, die drei Monate lang andauerten. Das Ziel der religiösen Übungen, des strengen Fastens, Betens 174
und Meditierens, dem die Feuerläufer sich unterzogen, war die mystische Vereinigung mit der Gottheit Katagarama. Wenn die Teilnehmer des Rituals unerschütterlichen Glauben erreichten, konnte das Feuer ihnen nichts anhaben. Am Abend der Zeremonie wurde eine flache Grube von rund acht Meter Länge und zwei Meter Breite mit Hartholzkloben angefüllt, die in Brand gesetzt wurden. Wenn das Holz zu einem Bett glühender Holzkohle heruntergebrannt war, konnte das Ritual beginnen. Aber der präzise Moment war erst dann erreicht, wenn die Gläubigen sich mit Katagarama vereint fühlten. Priester und Gläubige strömten dann aus dem nahegelegenen Tempel hervor, gingen direkt auf die Grube zu und betraten das Feuerbett. Feinberg berichtete, daß er sich der intensiven Hitze wegen der Feuergrube nicht weiter als auf zwei bis drei Meter nähern konnte. In der Grube selbst wurden Temperaturen von siebenhundert bis achthundert Grad Celsius gemessen. Für die weitaus meisten der achtzig Frauen und Männer, die an dem Ritual teilnahmen, war die Erfahrung eine euphorische Bestätigung ihres Glaubens. Zwölf Teilnehmer scheiterten jedoch, und einige davon erlitten schwere Verbrennungen. Ein Mann starb. Eine Beobachtung, die bei diesen Feuerläufer-Zeremonien häufig gemacht wird, stellt für unser westliches Realitätsverständnis eine besonders krasse Herausforderung dar: Die fließenden knöchellangen Gewänder, mit denen die Feuerläufer bekleidet sind, fangen kein Feuer, es sei denn, der Träger wird schwach in seinem Glauben. In diesem Augenblick flammen sie spontan auf. Joseph Chilton Pearce berichtet, wie Mitglieder der English Society for Psychical Researchers (etwa: »Englische Gesellschaft für parapsychologische Forschung«) im Jahr 1935 die Fähigkeiten zweier indischer Yogis untersuchten. Wochenlang gingen die beiden Inder über glühende Kohlen, während die Oxford-Wissenschaftler ihre Messungen und Untersuchungen durchführten. Die Forscher kamen zu dem Schluß, daß trotz der scheinbaren Unmöglichkeit des Feuerlaufens weder Vorspiegelung falscher Tatsachen noch Sinnestäuschungen im Spiel waren. Der spannendste Augenblick des Experiments kam, als einer der Yogis dem Wissenschaftler, der die stärkste Faszination zeigte, erklärte, auch er könne über das Feuer gehen; er müsse nur die Hand des Yogis ergreifen. Pearce schreibt: »Der gute Mann wurde von dem Glauben ergriffen, daß er es könne; er warf seine Schuhe ab, und Hand in Hand überschritten sie das Bett glühender Kohlen, mit ekstatischen Gesichtern und völlig unverletzt.« Menschen, die sonst wenig Interesse für wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, haben manchmal ein gewisses Vergnügen an Placebo-Studien. Der Reiz liegt in der Unwiderlegbarkeit der Botschaft, die sie vermitteln: Menschen verfügen über weitaus größere Kräfte, als ihnen selbst bewußt ist. Placebo-Studien zeigen, daß positive Erwartungen ihre eigene Realität erzeugen können. In diesen Studien wird den Versuchspersonen gewöhnlich gesagt, daß sie ein hochwirksames Medikament gegen bestimmte Störungen, etwa Migräne oder Depressionen, erhalten. Die Patienten wissen nicht, daß die Pillen in Wahrheit nur harmlosen Traubenzucker enthalten. Anschließend werden die Versuchspersonen befragt, ob die »Behandlung« irgendwelche Wirkungen gezeigt habe. Dazu einige Beispiele: David Aymann verabreichte Patienten, die an Hypertonie (zu hohem Blutdruck) litten, Placebos. Bei zweiundachtzig Prozent der Versuchspersonen sank nicht nur der Blutdruck, - viele zeigten sogar die Symptome der angeblichen Nebenwirkungen des 175
»Medikaments«. Bei Placebos ist der Behandlungstypus nicht das Ausschlaggebende; was wirkt, ist der Glaube an die Behandlung. In anderen Experimenten erhielten Hypertonie-Patienten Mistel- und Wassermelonenextrakt. Eine signifikante Anzahl berichtete, daß der Blutdruck gesunken sei. Die Fachzeitschrift World Journal of Surgery berichtete über eine Studie mit Krebspatienten, denen gesagt wurde, sie erhielten eine neue, hochwirksame Form der Chemotherapie. Obwohl nur Placebos verabreicht wurden, verloren einunddreißig Prozent der Versuchspersonen ihr gesamtes Kopfhaar. Marianne Frankenhauser verabreichte Frauen Placebos, die sie als Schlafmittel ausgab. Die Frauen berichteten, sie hätten sich nach der Einnahme des Mittels müde gefühlt und depressiver als zuvor. Es traten auch entsprechende physiologische Reaktionen auf: Der systolische und diastolische Blutdruck sank, und die Reaktionen verlangsamten sich. Später wurden diesen Frauen identische Pillen gegeben, aber diesmal wurde ihnen gesagt, es handle sich um ein Stimulans. Nun berichteten sie, daß sie sich munterer und glücklicher fühlten. Auch die meßbaren physiologischen Werte veränderten sich, dem Glauben an das »Stimulans« entsprechend: Der Blutdruck war höher, und die Reaktionszeiten waren kürzer. Der Einfluß irrationaler Methoden auf Warzen ist seit langem bekannt. In ihrem Buch The Healer Within (»Der innere Heiler«) erzählen Steven Locke und Douglas Colligan von der einzigartigen Methode eines Zürcher Arztes, die Selbstheilungskräfte seiner Patienten zu mobilisieren: »In den zwanziger Jahren war Dr. Bruno Bloch in Zürich ein weltberühmter Warzenspezialist. Das Geheimnis seines Erfolgs war eine >Warzenvernichtungsmaschine<, ein wundervoller Apparat mit blinkenden Lichtern, der eindrucksvolle Geräusche von sich gab und, wie Dr. Bloch seinen Patienten erzählte, Strahlen aussandte, die dem widerwärtigen Warzenbefall den Garaus machten. Die Patienten wurden zu Dutzenden von ihren Warzen geheilt. Tatsächlich war der Apparat ein völlig nutzloses Spielzeug, das von einem summenden und ratternden Elektromotor angetrieben wurde. Im Glauben an Dr. Blochs Wunderapparat lag die wahre Medizin.« Der Placebo-Effekt wurde bei einem weiteren Spektrum von Störungen nachgewiesen, unter anderem bei Magengeschwüren, Akne und Schmerzen aller Art. Er tritt sogar bei Krebserkrankungen, Herzkrankheiten, Multipler Sklerose und Diabetes auf. Placebos haben per definitionem keinen Heileffekt. Sie sind das Medium, durch das wir unsere eigenen inneren Kräfte kanalisieren. Sie werden wirksam, wo direkte Versuche, diese Kräfte zu Hilfe zu nehmen, versagen, weil es den meisten Menschen leichter fällt, an jemanden oder etwas anderes zu glauben als an sich selbst. Eine Frau, der es trotz ihrer fortgeschrittenen Brustkrebserkrankung erstaunlich gutging, weiß einiges über die Heilkraft zu berichten, die sie ihren verschiedenen Therapieformen zuschrieb. In ihrem Bemühen, sich gegen die Diagnose »Krebs im Endstadium« zur Wehr zu setzen, wandte sie sich gleichzeitig fünf verschiedenen alternativen Behandlungsansätzen zu. Sie erklärt, warum sie das tat:
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»Ich glaube, ich brauchte diese Therapien. Ich hielt mich daran fest und schrieb ihnen eine gewisse Heilkraft zu, die im Grunde meine eigene Kraft war, aber ich hatte nicht genügend Zuversicht, um mich hinzustellen und mich dazu zu bekennen.« Ob Pater Di Orio die Macht Gottes direkt zu Hilfe rief, um die Heilung zu bewirken, oder ob er auf irgendeine Weise als Katalysator fungierte, um den »inneren Heiler« (oder, wenn man so will, »Gott in uns«) zu mobilisieren, ist vielleicht nicht wirklich von Bedeutung. In jedem Fall demonstrierte er die grundlegenden menschlichen Qualitäten aller begnadeten Heiler, und die wichtigste darunter ist die Sorge um die Heilung des ganzen Menschen. Die »Heilung des inneren Selbst« ist eigentlich seine vorrangige Mission. Pater Di Orio etabliert eine intensive empathische Beziehung - wie kurz sie auch sein mag - zu jeder Person, die er zu heilen versucht. Während der Gebetsversammlung fühlt er nach seinen eigenen Worten selbst Schmerzen in verschieden Körperteilen. Er konzentriert sich auf diese Schmerzen und weiß dadurch, an welchen Krankheiten bestimmte Teilnehmer der Versammlung leiden. Wie andere begabte Heiler vermittelte er Zuversicht, daß Genesung für jeden Menschen möglich ist, nimmt jedoch das Verdienst für erfolgreiche Heilungen nie für sich selbst in Anspruch. Er versichert immer wieder, daß nicht er die Quelle der Heilung ist, sondern nur das Instrument, dessen Gott sich bedient, um die Heilkräfte in Bewegung zu bringen. Pater Di Orio glaubt, daß seine Fähigkeit, den anderen Menschen ganz anzunehmen und sich ihm oder ihr in vollkommener Aufmerksamkeit zuzuwenden, das Wesentliche ist. Er sagt: »Wenn ich vollkommenes Mitgefühl habe, den inneren Wesenskern eines Menschen wirklich fühle, strömt die gesamte Kraft, die Gott mir gegeben hat, aus mir hervor und in die andere Person hinein. In diesem Augenblick ereignet sich die Heilung.« Letzten Endes ist sein Bemühen, die heilenden Kräfte in Menschen zu wecken, also ein Akt der Liebe.
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BARBARA DAWSON Die fünf Farben machen des Menschen Augen blind, Die fünf Töne machen des Menschen Ohren taub, Die fünf Geschmäcker machen des Menschen Mund stumpf, Pferderennen und Feldjagd machen des Menschen Herz dumpf, Schätze, schwer erreichbar, machen des Menschen Wandel krumm, Deshalb: »Des Heiligen Tun ist seine Brust, Nicht Augenlust.« Darum läßt er jenes und ergreift dieses. LAO-TSE Vor mehr als acht Jahren fühlte Barbara Dawson zum ersten Mal einen kleinen harten Knoten in ihrer Brust. Sie nahm an, daß er nichts zu bedeuten habe, und leider war auch ihr Gynäkologe dieser Meinung, als sie ihm davon erzählte. Als der Brustkrebs zwei Jahre später diagnostiziert wurde, hatte er sich bereits mit verhängnisvoller Geschwindigkeit ausgebreitet. Man rechnete damit, daß sie bald sterben werde. Barbara hat seither viele Ärzte aufgesucht. Für diesen Bericht wurden ihr erster Onkologe und der Spezialist, der sie zum Zeitpunkt des Interviews behandelte, um medizinische Informationen gebeten. Obwohl Barbaras Fall im medizinischen Sinn immer noch als ungeklärt betrachtet wird, bestätigten beide Onkologen, daß sie die Krankheit außergewöhnlich gut bewältigt habe. Die Meinungen beider Ärzte wichen jedoch erheblich voneinander ab, als es um den Versuch ging, einzuschätzen, wie ungewöhnlich ihr Krankheitsverlauf war. Barbaras erster Onkologe sagte, ihre Chance, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu überleben, habe bei 1:1000 gelegen; ihr letzter Onkologe schätzte diese Chance auf 1:3. Ihr letzter behandelnder Arzt wurde auch gefragt, was seiner Meinung nach der Grund sei, daß sie im Vergleich zu anderen Patientinnen so ungewöhnlich lange durchgehalten habe. Statt den möglichen Wert ihrer eigenen Anstrengungen anzuerkennen, antwortete er nur: »Die Biologie der Krankheit.« Im Unterschied zu allen anderen Frauen und Männern, die ich für dieses Buch interviewte, war Barbara sehr zurückhaltend, was ihre Krankheit anging, und nicht ohne weiteres bereit, darüber zu sprechen. In unserem ersten Telefongespräch erklärte ich ihr, welche Ziele ich mit dem Projekt verfolgte. Obwohl wir sofort guten Kontakt zueinander fanden und ein freundliches, offenes Gespräch führten, das über eine Stunde dauerte, erklärte sie sich nicht zur Teilnahme bereit. Sie wollte sich Zeit nehmen, um darüber nachzudenken. Was sie als Grund für ihre Zurückhaltung angab, machte mir erst recht deutlich, wie wertvoll ihr Beitrag sein würde. Sie erklärte: »Um Antworten auf die Fragen zu finden, die Sie stellen, muß ich wahnsinnig tief gehen, meine inneren Abgründe berühren und aus dem Grund meiner Seele heraus sprechen. Und das ist manchmal ein furchterregender Ort.« Sie überlegte auch, ob es gut für sie sei, soviel Zeit in der Konzentration auf ihr Leben mit der Krebserkrankung zu verbringen: »Ich möchte mich nicht als die Frau darstellen, die Krebs hatte. Ich will mich von meiner Identität als Krebskranke befreien und meine Gesundheit für mich zurückfordern.« 178
In unserem nächsten Gespräch sagte sie mir, sie habe lange über die Frage nachgedacht und sie sei bereit, mit mir in einen Prozeß »wechselseitiger Selbstenthüllung« einzutreten. Sie habe das Gefühl, der Prozeß könne sie weiterbringen, was das Verständnis ihrer eigenen inneren Dynamik anging, und wenn ihre Geschichte anderen Menschen nützen könne, wolle sie sich gern zur Verfügung stellen. Barbara war offen und freundlich, und gleichzeitig ein stiller, nachdenklicher Typ. Dennoch konnte sie in herzhaftes Gelächter ausbrechen, ein rauhes, beinahe heiseres Lachen, wenn sie etwas komisch fand, was sehr oft der Fall war. Als ich ihr einmal sagte, wie wundervoll ansteckend ihr Lachen sei, lachte sie wieder laut auf und sagte, sie habe es von ihrem Vater geerbt. Sie wollte auch wissen, wer ich bin, und stellte mir Fragen. Sie war eine ausgezeichnete Zuhörerin, und ich erzählte ihr einige persönliche Erfahrungen und verschiedene Dinge aus meinem Leben. Da wir nur durch Briefe und Telefongespräche kommunizierten, weiß ich nicht, wie sie aussah, abgesehen davon, daß ein Kollege mir erzählte, sie sei um die Vierzig, hochgewachsen und sehr schön. Nach etwa drei Monaten, als das erste Interview beendet war, planten wir, uns zu treffen. Eine Woche vor dem vereinbarten Termin rief Barbara jedoch an, um mir abzusagen. Sie trat an diesem Tag eine neue Stelle an. Ich fragte sie, ob sie wieder mit Kindern arbeiten werde. Sie verneinte und erzählte mir, sie habe sich entschlossen, etwas völlig Neues anzufangen. Sie hatte bei einer lokalen Gesundheitsfürsorgeorganisation die Funktion einer Schiedsperson oder »Ombudsfrau« übernommen. Obwohl Barbara für diese neue Tätigkeit keine formale Qualifikation hat, zeigt ihre nun folgende Geschichte, wie gut sie durch ihre Erfahrungen darauf vorbereitet ist, bei der Schlichtung von Konflikten zwischen Patienten und ihren Ärzten zu helfen. Barbara begann: »Meine Kindheit war gar nicht so schlecht. Ich kenne Leute, denen es viel schlimmer erging. Aber die meisten hatten jemanden, die Mutter, den Vater, irgendwelche Verwandten, an die sie sich mit ihren Problemen wenden konnte. Ich hatte niemanden, an den ich mich hätte wenden können. Also scheint es, daß in meinem Leben nie etwas geklärt oder in Ordnung gebracht wurde. Meine ältere Schwester bekam Kinderlähmung, als ich noch klein war, lange bevor ich zur Schule ging. Es war eine furchtbare Krankheit. Sie wurde schließlich gesund, aber wir waren alle in Quarantäne, und das bedeutet, wir waren von der Außenwelt isoliert. In meiner Familie wurde erwartet, daß man Haltung zeigte. Aber mein älterer Bruder erfüllte diese Ansprüche nicht. Er war ein weinerliches Kind, das ständig irgendwelche Wehwehchen hatte. Er war dauernd krank und fürsorgebedürftig. Ich sagte mir: >So wie er will ich nie werden.< Also zeigte ich nach außen Haltung, auch wenn ich wirklich Schmerz empfand, und entwickelte ein falsches Selbstbild. Ich wollte nie, daß irgend jemand erfuhr, wie sehr ich litt. Ich nahm mich eisern zusammen und fürchtete, wenn ich losließe, wenn ich auch nur einen Funken Schwäche oder Leiden zugäbe, wäre ich vernichtet und hätte nichts mehr, worauf ich zurückgreifen könnte. Ich sagte meinen Eltern, daß ich einen Mann liebte, einen Amerikaner, und daß ich England verlassen würde. Sie waren total dagegen, daß ich in die USA ging, aber schließlich fand ich mich doch hier wieder. Als ich hier ankam, verlor ich meine Identität. Ich war keine Amerikanerin, aber auch nicht mehr Engländerin. Ich kam aus der Großstadt 179
und lebte nun in einer Kleinstadt. Ich war nicht mehr die Tochter meines Vaters. Ich wußte nicht, wer ich war. Ich kam mit der Phantasie in die Vereinigten Staaten, daß diese Veränderung mich befreien würde. Meine Familie hatte sich immer überfürsorglich verhalten. Meine Erziehung war konservativ und sehr rigide. Ich versuchte, mit einem Schlag aus all dem Gewohnten und all den Zwängen auszubrechen. Ich hatte mich einfach übernommen. Die neue Freiheit war so überwältigend, daß ich irgendwie Angst hatte, meiner Familie in England Schande zu machen. Meine instinktive Reaktion war, mich abzukapseln und zu verschließen. Ich hatte großen Respekt vor der Emanzipiertheit, die ich an den amerikanischen Frauen wahrnahm. Im Vergleich erschienen die Engländerinnen mir längst nicht so autonom. Ich wollte an dieser Emanzipation auch teilhaben, aber gleichzeitig wollte ich das Vertraute beibehalten. Ich hing in der Luft, war weder Fisch noch Fleisch. Als keines Mädchen glaubte ich, ich sei dazu bestimmt, große Leiden zu erdulden. Das hört sich jetzt wirklich merkwürdig an, aber ein Teil in mir freute sich beinahe darauf. Es war die große Herausforderung des Lebens für mich. Natürlich hatte ein anderer Teil in mir furchtbare Angst davor, weil ich nicht wußte, welche Form dieses Leiden annehmen würde. Mein Alltagsleben war mit viel Leiden erfüllt. In meiner religiösen Erziehung spielte Leiden eine große Rolle; ich hielt mich gewissermaßen selbst in einem permanenten Leidenszustand. So war das Leben gedacht. Leiden gab dem Leben einen Sinn. Es klingt verrückt und abstrus, und ich wünschte, es wäre anders gewesen, aber wenn ich wirklich mit mir zufrieden sein wollte, war Leiden ein Mittel, diesen Zustand zu erreichen. Eine Hälfte in mir wußte, daß dieser religiöse Kram einfach dummes Zeug war, und ich wollte nichts damit zu tun haben. Aber die andere Hälfte in mir fühlte sich so sehr davon angezogen. Es schien so gut, so würdig, so rechtschaffen. Da waren diese beiden unterschiedlichen Hälften und wahrscheinlich noch mehr Facetten; diese Widersprüche zerrten an mir, erzeugten Ambivalenz und Schuldgefühle. Ich hatte ständig widerstreitende Gefühle und kam einfach nicht damit zurecht. Die Schuldgefühle waren so überwältigend, daß ich nicht wußte, wie ich weiterleben sollte, es sei denn, ich fände einen Weg, intensiv zu leiden. Wenn ich nicht litt, mußte ich einen anderen Weg finden, der Welt mitzuteilen, daß ich ein schlechter Mensch war. Ich mußte bereuen. Ich war so schlecht, daß ich es nicht verdiente, weiterzuleben, ohne in irgendeiner Weise zu leiden. Für mich gab es keine Vergebung. All diese Gefühle, diese Ambivalenz, erzeugten ein ungeheures Maß an Streß. Schließlich griff es mich physisch an. Als ich dann Krebs hatte, war ich beinahe erleichtert. >Es ist in Ordnung; du hast genug gelitten. Jetzt kannst du etwas Positives für dich tun.< Es war, als hätte ich selbst dafür gesorgt, daß ich Krebs bekam, und ich war die einzige, die es rückgängig machen konnte. Aber ich hatte mir nie vorgestellt, daß ich mir etwas so Schwerwiegendes antun könnte. Ich dachte: >Ach du lieber Gott, wie kann ich das je wieder in Ordnung bringen?<
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Ich wußte schon lange von dem Knoten in meiner Brust. Ich erwähnte ihn meinem Gynäkologen gegenüber, aber er fand es offenbar nicht besonders besorgniserregend. Er glaubte, ich sei zu jung, um so etwas wie Krebs zu haben. Ich war sicher, daß es nichts bedeutete, bis ich in regelmäßigen Abständen starke Schmerzen in der Brust bekam. Ich entschloß mich, einen Chirurgen aufzusuchen. Er sagte, es sei ein Knoten, der entfernt werden müsse, und es ließe sich durch die Absaugmethode machen. Ich wußte, daß er unrecht hatte, denn der Knoten war einfach zu hart, um ihn durch Absaugen zu entfernen. Er versuchte es trotzdem. Ich fühlte mich so gesund. Es war schwer zu glauben, was mir gesagt wurde. Ich hatte mich nie krank gefühlt. Als der erste Arzt >Krebs< sagte, als er das Wort gebrauchte, fühlte ich mich plötzlich wertlos. Krebs war ein schlechtes Wort. Es war anders als >Infarkt< oder >Parkinsonsche Krankheit< oder >Diabetes<. Ich hatte das Gefühl, daß die Leute mich meiden würden. Mein Mann reagierte unglaublich gut an diesem Nachmittag. Wir saßen zusammen im Sprechzimmer meines Arztes. Der Arzt sagte: >Wissen Sie, es gibt keine Möglichkeit der Heilung, aber wir können das und das tun, um den Prozeß aufzuhalten.< Mein Mann sagte: >Haben Sie je erlebt, daß jemand diese Krankheit überwand?< Der Arzt sagte: >Nein, nie.< Mein Mann wandte sich mir spontan zu und sagte: >Also, Barbara, du wirst die erste sein.< Ich saß da und war total im Schock. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Aber er sagte es, und ich werde diesen Augenblick nie vergessen. Wenn er das nicht gesagt hätte, weiß ich nicht, was passiert wäre. Ich brauchte seine Zuversicht. Ich brauchte jemanden, der stärker an mich glaubte, als ich selbst dazu imstande war. In diesem Augenblick begriff ich zum ersten Mal, wieviel Vertrauen er zu mir hatte. Das gab mir Kraft, unglaublich viel Kraft. Ich wußte, daß ich es selbst herausfinden mußte, was zu tun war. Ich wollte noch einige andere Meinungen hören, aber die Ärzte, die ich aufsuchte, sagten alle dasselbe: >Ja, Sie haben Krebs.< Ohne Umschweife sagten sie mir: >Sie haben wahrscheinlich nur noch ein Jahr zu leben.< Der erste Chirurg wollte sofort eine Brustamputation vornehmen. Ich ging zu einem zweiten Chirurgen, der den Onkologen hinzuzog. Der Onkologe sagte: >Nein, wir müssen zuerst noch mehr Tests machen.< Sie machten Tomographien und stellten fest, daß der Krebs Metastasen in meinen Knochen, meiner Wirbelsäule gebildet hatte. Damit war die Brustamputation überflüssig geworden. Als sie übereinstimmend zu dem Schluß kamen, daß meine Eierstöcke entfernt werden müßten, empfand ich das als einen Angriff auf meinen Körper. Ich fühlte mich sehr bedroht, und dennoch schien es keine Alternativen zu geben. Ich wurde von allen Seiten unter Druck gesetzt, schnell zu handeln. Die Ärzte waren der Meinung, daß ich den 181
Ernst meiner Lage verleugnete und die Dinge hinauszögerte und daß ich sofort etwas unternehmen müßte. Ich ging nach Rochester und konsultierte zwei oder drei weitere Ärzte. Sie bestätigten, was die anderen gesagt hatten. Dann kam ich zurück und ging zu meinem Hausarzt. Wenn ich wollte, war er bereit, mir die Namen anderer Ärzte in New York oder Boston oder wo auch immer zu geben, aber er sah keinen Sinn darin. Ich hatte Angst, noch anderswo hinzugehen. Meine Krankheit wurde ohnehin schon auf so unpersönliche Weise abgehandelt. Ich wollte nicht noch größere, noch unpersönlichere Kliniken oder Praxen aufsuchen, denn ich stellte mir lange Wartezeiten vor und wieder einen anderen Arzt, den ich nie gesehen hatte und mit dem ich die intimsten Dinge, die meinen Körper und mein Leben betrafen, diskutieren mußte. Außerdem schien es so, als reichten die Ärzte sich untereinander einfach nur die Informationen weiter. Ich hatte nicht den Eindruck, daß diese Ärzte wirklich ihre eigene Meinung sagten. Sobald ein Arzt meine Unterlagen vor sich hatte, war er nicht mehr bereit, die Diagnose eines Kollegen in Frage zu stellen. Ich habe keine Beweise dafür, aber das war immer mein Gefühl. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich einen langfristigen Vertrag als Vertretungslehrerin. Ich sprach mit dem Rektor der Schule und sagte ihm, was los war. Ich wollte mir vor den Weihnachtsferien eine Woche freinehmen, weil ich mich einer Ovarektomie unterziehen mußte. Er sagte: >Machen Sie sich nicht die Mühe, zurückzukommen.< Für mich hörte sich das an wie: >Meinetwegen können Sie sich gleich begraben lassen.< Es war furchtbar. Ich wollte ihm sagen: >Begreifen Sie denn nicht, daß ich meine Arbeit brauche, um wieder gesund zu werden? Ich muß mit den Kindern zusammensein.< Ich fühlte mich wie eine Aussätzige. Es schien, als könnte niemand diese Gefühle verstehen. Ich wurde aus der Gesellschaft ausgestoßen, mit dem Etikett >Krebs< abgestempelt und in die kleine Randgruppe der Krebskranken abgeschoben. Als ich wirklich jemanden brauchte, der an mich glaubte, ganz gleich, wie schlecht die Chancen standen, war niemand da. Mein Mann konnte seine ursprüngliche Überzeugung ohne jede Unterstützung durch die Umwelt nicht aufrechterhalten. Ich war von der Menschheit verlassen; alle hatten mich aufgegeben. Ich sagte dem Rektor: >Ich habe einen Vertrag. Ich werde bis zum Ende des Jahres bleiben.< Ich suchte nach irgendeinem Menschen, der mir Hoffnung geben konnte, weil es für mich allein so schwer war. Ich brauchte die Bestätigung von außen, daß es zumindest die allergeringste, allerentfernteste Möglichkeit der Heilung gäbe. Einer der Ärzte, die ich konsultierte, war Radiologe. Er war auf die Deutung von Röntgenaufnahmen spezialisiert. Er sagte: >Es ist zu neunzig Prozent sicher, daß sich Metastasen in den Knochen gebildet haben.< Als ich fragte: >Können Sie es mit hundertprozentiger Sicherheit sagen?<, sagte er: >Nein; es gibt zwar sichtbare Herde, aber ich bin mir wirklich nicht hundertprozentig sicher.< Ich denke, er hatte genug Zutrauen zu seiner eigenen Kompetenz, um etwas 182
zu sagen, das von der Meinung der anderen ein wenig abwich. Er sagte, um Knochenmetastasen mit hundertprozentiger Sicherheit festzustellen, müsse man eine Knochenbiopsie machen. Er sagte, die Prozedur sei sehr schmerzhaft, und bei der Entnahme von Knochenmark sei das Infektionsrisiko sehr hoch. Er riet mir davon ab, mich diesen Schwierigkeiten auszusetzen. Seine Meinung war die einzige, die ich wirklich ernst nahm, weil sie mir am meisten Hoffnung vermittelte. Für alle anderen war mein Schicksal besiegelt. Ich stimmte der Ovarektomie (Entfernung der Eierstöcke) schließlich zu. Aber da ich mich nie krank fühlte, war ich mir innerlich nie ganz sicher, ob die Diagnose stimmte. Ich meine, an dem Morgen vor der Operation machte ich noch mein Lauftraining. In gewisser Weise hatte ich das Gefühl: >Ok, das lasse ich mir jetzt von euch antun, aber ich werde es euch zeigen! Ich komme wieder auf die Beine. Ich werde meine Selbstachtung und mein Selbstwertgefühl wiedererlangen!< Ich hatte den Eindruck, sie versuchten, mir meine Selbstachtung zu nehmen. In der Woche, die ich im Krankenhaus verbrachte, hatte mein Mann mit einem Klienten zu tun, dessen Schwester gerade an Krebs gestorben war. Er gab meinem Mann ein Bernie-Siegel-Tonband für mich. Es sprach mich unmittelbar an; ich fühlte mich in meinen Erfahrungen gerechtfertigt und verstanden. In ihm fand ich einen der wenigen Ärzte, die ihren Patienten nicht das Gefühl der Selbstbestimmung nehmen wollen. Ich habe einen Freund, der Arzt ist. Er besuchte mich im Krankenhaus und fragte mich oft, wie es mir ginge. Im Lauf der Zeit wurde mir klar, daß er große Angst vor meiner Krankheit hatte, Angst, daß ich sterben würde. Ich hattet es nicht erwartet, und es scheint erstaunlich, aber Ärzte haben genausoviel Angst vor dem Tod wie alle anderen Menschen. Ich weiß jetzt, wenn ich den Rat von Ärzten einhole und wenn sie Druck auf mich ausüben, schnell zu handeln, daß ich herausfinden muß, wieviel davon auf legitimen Befürchtungen beruht und wieviel einfach Ausdruck ihrer eigenen Ängste ist. Nach der Operation sagte ich meinem Freund, daß seine Ängste oder die Ängste meines Arztes mich nichts angingen. Niemand würde mich je wieder dazu bringen, so unüberlegt zu reagieren. Ich hätte vermutlich eine andere Entscheidung getroffen, wenn ich mir genug Zeit genommen hätte, aber ich glaube, ich konnte nicht warten, weil ich zuviel Angst hatte. Unmittelbar nach der Operation nahm ich meine Arbeit wieder auf. Ich wußte, daß ich den Kontakt mit den Kindern brauchte. Sie waren die einzigen Menschen in meinem Leben, in deren Gesellschaft ich das Gefühl hatte, ich selbst sein zu können. Sie sind so unverklemmt, und wenn ich mit ihnen zusammen war, konnte ich auch loslassen. In Gesellschaft von Erwachsenen mußte ich immer diese andere Person sein, die ich nicht wirklich war. Die Kinder gaben mir, was ich wirklich brauchte. Ich mußte es annehmen, und sie gaben es ohne Zögern. Im Zusammensein mit ihnen wurde ich von etwas Zauberhaftem und Schönem berührt. Sie waren wundervoll, und ich glaube, sie selbst profitierten auch von dieser Erfahrung. 183
Es gab Zeiten, da schrieb ich etwas an die Tafel oder hörte einem Kind zu, und plötzüch ging mir durch den Kopf: >O mein Gott, ich muß furchtbar krank sein. Was tue ich eigentlich hier?< Ich fühlte mich oft so furchtbar angestrengt, hatte entsetzliche Schmerzen im unteren Rückenbereich, und es schien, als könnte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Man hatte mir gesagt, der Krebs habe Metastasen in meiner Wirbelsäule gebildet. Um solche Zeiten durchzuhalten, mußte ich mich in einen anderen Bewußtseinszustand versetzen, mich auf das Positive konzentrieren, an die Möglichkeit glauben, daß ich keine unheilbar Kranke war. Immer und immer wieder sagte ich mir: >Ich bin ok. Sieh doch, was ich tue. Ich stehe hier und mache meinen Unterricht. So krank kann ich nicht sein!< Es war nicht immer leicht, vor mir selbst diese Einstellung aufrechtzuerhalten. Aber der Versuch, anderen ein gutes Gefühl zu vermitteln, war eine viel größere Belastung. Ich sah schwächer aus, ich hatte abgenommen, und natürlich waren die Leute durch die Diagnose erschüttert. Irgendwie mußte ich mich anderen so präsentieren, als ob ich mich gut fühlte. >Nein, wirklich, es geht mir gut<, - immer und immer wieder. Die Leute schienen Angst zu haben, daß ich vor ihren Augen sterben würde. Am Ende des Schuljahres versuchte ich, für dieselbe Stelle eine Vertragsverlängerung zu bekommen, aber ich bekam sie nicht. Mein ganzes Leben lang hatte ich das Gefühl, mich selbst beweisen zu müssen. Ich dachte: >Hier stehe ich nun, man sagt mir, daß ich bald sterben muß, und ich muß immer noch meine Fähigkeiten unter Beweis stellen.< Mir schien, als müßte ich den Leuten beweisen, daß ich fähig war, weiterzuleben. Es machte mich wahnsinnig wütend. In diesem Sommer wußte ich, daß ich weggehen mußte. Ich hielt es nicht mehr aus. Mein Mann und ich waren einfach zu sehr ineinander verklammert. Alles war fragwürdig geworden, die Beziehung eingeschlossen. Ich fragte mich, ob ich mich von ihm trennen müsse. Es war also eine unruhige Zeit voller Ängste. Glücklicherweise konnte mein Mann mir den Freiraum lassen, den ich brauchte. Ich bin sicher, er brauchte auch Zeit für sich. Er unterstützte jede Entscheidung, die ich für mich als notwendig erkannte. Für mich war es Zeit, auf meinen eigenen Füßen zu stehen. Ich wußte Rat und Unterstützung zu schätzen, aber ich mußte selbst die Initiative ergreifen. Ich hatte mein Leben lang ein Ratespiel gespielt: >Was muß ich jetzt tun? Was erwartet dieser oder jener von mir?< Ich versuchte ständig, irgend jemandem zu gefallen. Ich war sehr gut darin geworden, herauszufinden, was anderen gefiel, aber ich wußte nicht wirklich, was ich selbst wollte. Plötzlich mußte ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, ob ich dies oder jenes leisten oder erfüllen könnte. Ich stand vor dem Tod. Durch die zeitliche Begrenztheit meines Lebens hatte ich ein viel besseres Gefühl dabei, genau das zu tun, was ich wollte. Ich war entschlossen, selbst zu entscheiden, was ich brauchte, und es dann einfach zu tun. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich zögerte und zauderte nicht. Ich fragte mich nicht, ob ich genug Geld hätte. Ich machte mir keine Gedanken, wer mit mir kommen würde. 184
Zum ersten Mal war mir das alles nicht wichtig. Ich wußte, das würde sich alles von selbst regeln, sobald ich die Initiative ergriff und die Entscheidung fällte. Ich fühlte mich wie eine Aussätzige, als ich von zu Haus wegging, um den Sommer im Options Institute* zu verbringen. Die Leute hatten Angst vor mir, und ich hatte Angst, unter Leuten zu sein. Sie wollten nicht über Krebs sprechen; das Thema war allzu bedrohlich. Es schien, als hätten sie Angst, sich bei mir anzustecken. Ich fühlte mich sehr einsam. Am ersten Abend saßen wir im Kreis, und jeder erzählte etwas über sich selbst. Ich sagte, der Grund, warum ich in dieser Runde säße, sei, daß ich Krebs hätte und nicht wüßte, ob ich weiterleben oder sterben würde. Barry Neil Kaufman, der Co-Direktor des Institutes, sagte mir: >Wissen Sie, es ist nicht wirklich wichtig, ob Sie weiterleben oder sterben.< Es war eine solche Erleichterung, ihn das sagen zu hören. Mit einem Satz hatte er mir die Erlaubnis gegeben, nicht weiterzuleben. Ich mußte mich nicht mehr selbst beweisen, mußte niemandem etwas beweisen, indem ich weiterlebte. Aber sie glaubten dort auch an Wunder. Ich brauchte wirklich Menschen, die diese Art von Botschaft aussprechen konnten. Sie glaubten, daß Liebe Menschen gesund machen könnte. Die Umgebung des Instituts war wunderschön. Meine Stimmung war so friedlich. Ich war an einem paradiesischen Ort. Hin und wieder versuchten sie, mich auf den Boden zurückzuholen, aber ich schwebte in den Wolken. Ich meine, ich ging zu Bernie Siegel, während ich dort war, und das war das stärkste Erdungserlebnis, das ich je hatte.« Barbara lacht. »Im Lauf der Zeit entwickelte sich ein starkes Gemeinschaftsgefühl, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Ich glaube, für mich war es das erste Mal, daß ich mich in einer Gruppe von Menschen wirklich akzeptiert fühlte. Es war ungeheuer befreiend. Als der Sommerworkshop des Options Institute endete, plante ich, an ihrem Ausbildungsprogramm teilzunehmen. Dazu mußte ich alle drei Wochen einmal hinfahren. Beim ersten Mal fuhr ich um sechs Uhr morgens von zu Haus los, um rechtzeitig da zu sein. Es war sehr neblig. Durch das stundenlange Fahren im Nebel, das angestrengte Starren auf die Straße, geriet ich eine Art Trancezustand. Als ich von der Straße abkam, war ich so erschrocken, daß ich aufs Gas trat statt auf die Bremse. Ich wurde immer schneller. Glücklicherweise war ein Feld vor mir; unglücklicherweise stand ein Baum auf dem Feld. Ich fuhr meinen Wagen zu Schrott. Die Erfahrungen im Options Institute halfen mir, mehr auf mich selbst zu hören. Ich sah manche Dinge als Zeichen. Ich interpretierte den Unfall als Hinweis, daß ich die falsche Richtung eingeschlagen hatte. Also fuhr ich nicht mehr hin. ____________________________________________________________________ *Das Options Institute in Sheffield, Massachusetts, bietet Therapieworkshops an, die auf die Freisetzung des eigenen Persönlichkeitspotentials ausgerichtet sind.
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Ich entwickelte großes Interesse an Zauberkunststücken. Ich ging zu einem Workshop >Die heilende Kraft von Lachen und Spiel< von Joel Goodman. Er arbeitet mit Humor und Lachen und Zaubertricks. Ich fing an, meinen Nichten Zaubertricks vorzuführen, und sie fanden es herrlich. Leute kamen zu Besuch, und ich zeigte Zauberkunststücke, und alle waren so wundervoll, sie ließen es mich einfach machen. Es war wichtig für mich, zaubern zu lernen. Es gehörte nicht zu den Dingen, die einfach passierten, über die man keine Kontrolle hatte. Man kann es tatsächlich kontrollieren, und was dabei herauskommt, ist Zauberei. Man erzählt lediglich nicht jedem, wie man es macht.« Barbara lacht wieder. »Bis zu diesem Zeitpunkt ging ich regelmäßig zu meinem Onkologen. Ich wollte, daß er sich das Tonband anhörte, das ich von Bernie Siegel bekommen hatte. Er wich immer wieder aus und sagte, er habe in der Praxis keinen Kassettenrecorder. Je mehr ich über diese Dinge sprach, desto mehr fühlte er sich gestört. Er dachte, ich sei nicht mehr ganz bei Trost. Er schien mich mit Argwohn zu betrachten, obwohl der Krebs sich längst nicht so schnell ausbreitete, wie er gedacht hatte. Aber statt sich für mich zu freuen, schien er darüber verstimmt zu sein. Es war sehr unangenehm für mich, die Ärzte aufzusuchen. Ich wollte mit jemandem reden, der in bezug auf meine Gesundheit in einer Autoritätsposition war, der sich für alles engagierte, was vielleicht helfen könnte. Ich wollte über die Dinge sprechen, die ich ausprobierte. Statt dessen hatte ich das Gefühl, gegen die medizinischen Autoritäten ankämpfen zu müssen. Ich hatte nie das Gefühl, daß sie wirklich auf meiner Seite waren oder mit mir arbeiten wollten. Ich war diese Frau, mit der sie sich herumschlagen mußten. Ich glaube, an diesem Punkt wurde mir klar, daß ich alternative Wege suchen mußte. Ich fing an, ins Kripalu-Center* zu gehen. Ich konsultierte den homöopathischen Arzt dort und nahm an verschiedenen Seminaren teil. Ich ging auch zu einem Chiropraktiker. Meine regulären Ärzte waren der Meinung, ich sollte dieses Medikament nehmen, Tamoxifen. Ich lehnte das ab, hatte aber Angst, weil ich nicht sicher war, ob ich das Richtige tat. Dann sagte der homöopathische Arzt, ich sollte das Medikament vielleicht doch nehmen. Das warf mich wirklich um; gerade von ihm hätte ich das nicht erwartet. Eines Nachmittags saß ich an meinem Schreibtisch und arbeitete an einem Referat. Ich hatte nebenbei eine Ausbildung als Beraterin angefangen. Als ich da saß und meinen Hals berührte, fühlte ich einige Knoten. Die Ärzte hatten mir gesagt, wenn der Krebs sich weiter ausbreitete, würde er wahrscheinlich nach oben wandern, in den Hals. Die Lymphdrüsen waren geschwollen. Ich war in Gefahr. Ich bekam panische Angst vor der Möglichkeit, daß die Krankheit sich weiter ausbreiten könnte. Ich rief meinen Chiropraktiker an. Er hatte mir einmal gesagt, wenn ich je etwas anderes brauchte, als er mir geben konnte, würde er versuchen, Leute zu finden, die mir helfen könnten. Ich hatte Vertrauen zu ihm. Ich wußte, er wollte etwas tun, um mir zu helfen, und das gab mir ein Gefühl der Geborgenheit. ____________________________________________________________________ *Das Kripalu-Center in Lenox, Massachusetts, ist ein spirituelles Zentrum mit einem breitgefächerten
Gesundheitsprogramm, zu dem unter anderem Yoga, Körperarbeit, Fitneßtraining und alternative Ernährung gehören.
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Es ist nicht legal, aber ich hatte keine Bedenken, als er mir den Namen und die Telefonnummer der Manner‘s Klinik in Mexico gab. Ich hatte ein gutes Gefühl dabei, weil ich wußte, mein Chiropraktiker würde mir nur etwas empfehlen, was mir nützen konnte. Ich sprach mit einigen Ärzten der Klinik, um möglichst viele Informationen zu bekommen. Ich rief Dr. Harold Manner direkt in seiner Wohnung in Tijuana an. Ich plante, am 9. November zu fahren, und erzählte ihm, daß der 10. November mein Geburtstag sei. >Das ist wunderbar<, sagte er. >Wir werden Ihren Geburtstag feiern.< Alles, was ich dort an Therapie machte, drehte sich um das Wiedererleben des Geburtsprozesses (Rebirthing). Während dieser Zeit und während des gesamten darauf folgenden Jahres regredierte ich immer wieder in einen frühkindlichen Zustand. Ich mußte meine Kindheitsentwicklung noch einmal wiederholen, aber diesmal so, wie ich es wollte. Ich mußte in die ganz frühen Jahre des magischen Erlebens und der Phantasie zurückkehren. Ich glaube wirklich, daß eins der Schlüsselgeheimnisse bei der Überwindung schwerer Krankheiten darin liegt, zu dem kindlichen Glauben zurückzukehren, daß nichts unmöglich ist. Aber für die meisten Erwachsenen ist das sehr schwer. In psychologischer Hinsicht hatte die Behandlung in Mexico für mein Gefühl etwas ungeheuer Lebensbejahendes. Im Unterschied zur Chemotherapie wurde die Behandlung als etwas dargeboten, das mein Immunsystem stärkte. Im wesentlichen ging es darum, das gesamte Körpersystem zu entgiften und zu reinigen und es dann mit den Nährsubstanzen neu aufzubauen. Achtzehn Tage lang erhielt ich eine intravenöse Infusion. Die Theorie war, daß die Substanz den Tumor auflösen und gleichzeitig alle Giftstoffe aus dem Körper herausschwemmen würde. Im Jahr vor dieser Behandlung hatte ich intensiv Meditation und Selbsthypnose praktiziert. Ich konnte mich in einen tiefen Entspannungszustand versetzen. Während die Infusion gemacht wurde, war ich in einer Art hypnotischer Trance, oder vielleicht war es eine psychotische Trance.« Barbara lacht. »Sie leiteten ein Zaubermittel in meine Venen, das mich heilen würde. Im letzten Jahr unterzog ich mich einer Strahlenbehandlung. Ich erwartete von meinem Arzt, daß er mich nach der Beendigung der Behandlung ins Krankenhaus schicken und mir Vitamin C oder andere Nährsubstanzen geben würde, um mein Immunsystem zu stärken. Ich glaube, ich hatte Angst, es ausdrücklich zu verlangen, weil ich weiß, wie wenig Bedeutung solchen Dingen beigemessen wird. Aber ich war sehr enttäuscht und wütend, daß er nie auf den Gedanken kam, es zu tun. Dieser letzte Onkologe war sehr aggressiv, als ich zuerst zu ihm kam. Er hielt mich für eine Irre. Er erzählt mir dauernd, daß ich irgendwie anders bin. Bei mir verläuft die Krebserkrankung völlig anders als in allen anderen Fällen, die er kennengelernt hat. Es ist eine sehr langsam wachsende Art von Krebs - bis jetzt. Er kann es nicht lassen, mir das immer wieder zu sagen. Ich mag das überhaupt nicht. Er sagt: >Sie müssen das und das nehmen. Es ist das einzige Mittel, das hilft. Sie haben sich einfach auf Ihre Verweigerungshaltung versteift.< Ich habe das Gefühl, er ist wütend auf mich. Er macht mir ganz schön angst. Jedesmal, wenn ich zu ihm gehe, sagt er: >Sind Sie jetzt bereit, das Tamoxifen zu nehmen?< Und ich sage: >Nein.< 187
Ich weiß, wenn ich sein Sprechzimmer verlassen habe, fühlt er sich nicht allzu toll. Er will mir etwas geben. Wenn er mir nichts geben kann, macht ihn das hilflos, glaube ich. Es ist beinahe so, als täte ich ihm etwas Schlimmes an; — ein furchtbares Gefühl. Hin und wieder sage ich mir: >Ich werde ganz gewiß nie wieder zu ihm gehen.< Aber dann lache ich und denke: >Na ja, vielleicht wird dieser Mann schließlich noch etwas daraus lernen.<« Das Interview mit Barbara erstreckte sich über drei Monate. Während dieser Zeit hatte sie einen Termin bei ihrem Onkologen. Sie schilderte, wie die Begegnung verlief: »Unsere Diskussionen lösten einiges aus. Mir wurde klar, wie wütend ich auf ihn war. Bei diesem letzten Termin sagte ich ihm: >Ich möchte mit Ihnen reden. Können wir uns setzen?< Ich sagte: >Mir gefällt Ihre Einstellung nicht. Wenn Sie das alles so negativ darstellen, ist es sehr schwierig für mich, mein gutes Lebensgefühl aufrechtzuerhalten.< Ohne jede wirkliche Diskussion sagte er sofort: >Ich weiß, ich weiß; Sie wollen den Arzt wechseln, stimmt‘s? Zu wem wollen Sie?< Aber ich wollte gar nicht unbedingt den Arzt wechseln. Ich wollte herausfinden, ob wir unsere Beziehung anders gestalten könnten, ob wir einen Weg finden könnten, der es uns beiden leichter machte. Für ihn war ich jemand, der sich ständig beschwerte. Ich war eine Patientin, die aus dem Rahmen fiel. Er war sehr froh, mich loszuwerden. Er verstand meine Art zu reden nicht. Wenn ich etwas zu sagen habe, werde ich sehr emotional. Es steckt eine Menge Energie dahinter. Ich glaube, mein Gegenüber fühlt im allgemeinen etwas, selbst eine Person, die sonst nicht gewohnt ist, etwas zu fühlen. Was ich eigentlich ausdrücken wollte, war: >Es tut mir leid, aber ich ertrage es nicht mehr, daß Sie mich nur wie eine Krankheit behandeln. Sie müssen mich als Person wahrnehmen, sonst muß ich gehen.< Ich denke, seine Antwort bedeutete, daß er nicht bereit war, mich als Person zu akzeptieren. Ich war entweder eine Krankheit oder gar nichts. Ich bin jetzt wieder bei einem anderen Arzt angemeldet, aber ich habe meine Bedenken. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das ganze nochmal durchstehen kann. Ich habe keine Lust mehr, mich mit Ärzten herumzuschlagen. Ich bin frustriert; ich habe das Gefühl, ich muß sehr viel mehr in die Beziehung investieren, als sie zu geben bereit sind. Strahlenbehandlung und Chemotherapie waren für mich immer etwas, was mir aufgenötigt und mit Gewalt eingetrichtert wurde. Wenn etwas so präsentiert wird, leiste ich automatisch Widerstand. Mein Körper sagt einfach: >Moment mal, immer langsam!< Ich fand es hilfreich, Jill Irelands Geschichte zu lesen. Sie hatte einen kleineren Autounfall, als sie schwanger war. Sie wurde gegen das Armaturenbrett geschleudert, und ihre Knie schlugen heftig gegen ihren Bauch. Da sie Blutungen bekam, ging sie zu einem Arzt. Der Arzt sagte, es sei alles in Ordnung. Aber bald darauf setzten die Wehen ein. Ihr Mann, Charles Bronson, verließ das Zimmer, um einen Arzt zu rufen. Sie fing an zu bluten. Ihre Mutter ging hinaus, um ein Handtuch zu holen. Sie blieb allein in ihrem Zimmer zurück, hockte sich auf den Boden und brachte ein Kind zur Welt, das bereits tot war. Sie beschreibt mit erschütternder Intensität, was in ihr vorging, als sie 188
sich mit dem toten Neugeborenen in einer Blutlache vorfand. Sie schilderte auch ihre Erfahrungen mit der Brustamputation. Sie hatte Krebs, und ihr wurde eine Brust abgenommen. Sie fragte sich, was mit der Brust geschah. Wurde sie einfach weggeworfen? Sie fragte sich, was mit dem toten Kind geschah, das sie nie wiedersah. Warfen sie es einfach auf den Müll? Sie verliert einen Teil ihres Körpers, und es nimmt praktisch niemand Notiz davon. Was machten sie damit? Wurde er einfach in einen Müllbeutel geworfen, und dann ab in die Verbrennungsanlage? Ich meine, alle unsere Körperteile gehören zu uns, sie sind wichtig, und da wird einfach etwas weggeschnitten und verschwindet. Das vermittelt einem ein Bild davon, wie brutal die ganze Prozedur sein kann. Menschen, die einen Teil ihres Körpers, einen Teil ihrer selbst verlieren, haben ungeheure Schwierigkeiten zu bewältigen. Ärzte und Krankenhauspersonal kümmern sich nicht darum. Medizinstudenten lernen in ihrer Ausbildung, mit menschlichen Körperteilen in einer so kühl objektiven, manchmal zynischen Weise umzugehen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Arzt im Options Institute. Er erzählte mir, wie er während seines Studiums im Seziersaal ausgebildet wurde. Da standen riesige Bottiche mit menschlichen Körperteilen, die in Formaldehyd schwammen. Die Assistenten mußten in die Bottiche hineingreifen und die Körperteile herausholen, die sie sezieren sollten. Sie nahmen den Studenten die Sensibilität dafür, daß sie es mit menschlichen Körpern zu tun hatten. Es ist kein Wunder, daß Ärzte die Leute so behandeln, wie sie sie behandeln. Wenn man erfährt, daß man eine schwere Krankheit hat, ist es meiner Meinung nach wichtig, Leute zu finden, die das selbst schon durchgemacht haben, die durch einige der kritischen Phasen gegangen sind und wissen, wie einem dabei zumute ist. Oder man braucht jemanden, der mit Schwerkranken gearbeitet hat und auf diese Art mit den Erfahrungen in Berührung gekommen ist. Man kann sich einer Selbsthilfegruppe anschließen, auch wenn man nicht selbst aktiv werden will. Es kann schon hilfreich sein, einfach nur zu hören, was andere zu erzählen haben. Wenn man Krebs hat, ist da immer die Tendenz, sich zurückzuziehen, sich abzukapseln. Zuerst klammert man sich vielleicht an irgend etwas, aus der Panik heraus, aber dann ziehen die meisten sich auf sich selbst zurück. Es kann so scheinen, als ob die Umwelt das Gefühl der Hoffnungslosigkeit verstärkt. Die Menschen, die einem am nächsten stehen, kämpfen verzweifelt mit ihren eigenen Ängsten. Im Idealfall findet man jemanden, einen Berater, eine Freundin, einen Therapeuten, der einem helfen kann, auf die eigene innere Stimme zu hören. Denn wenn man auf sich selbst hört, wirklich tief in sich hineinhorcht, bekommt man vielleicht ein Gefühl dafür, was man tun kann, um sich wieder gesund zu machen. Aber wenn man voller Angst ist, kann man die innere Stimme nicht hören. Wenn man Angst hat, kann man sich nicht entspannen, nicht allein sein, nicht ruhig werden, nicht loslassen. Meditation kann einem helfen, sich zu entspannen und sich sicherer zu fühlen, daß man mit dem eigenen inneren Selbst in Kontakt ist. Für manche Menschen, die sehr krank sind, gibt es nichts mehr, was sie tun könnten. Vielleicht sagen ihre Körper ihnen, daß sie wirklich das Endstadium erreicht haben, daß sie an einem Punkt sind, an dem sie ihre physischen Kräfte nicht wiederbeleben können. 189
Ich glaube, Meditation und Imagination sind die Schlüssel zu diesem inneren Wissen. Wie bei allen anderen Dingen, die ich ausprobiere, las ich auch über verschiedene Formen der Imagination und wählte für mich etwas aus, das mir passend erschien. Ich fand diese Tonbandkassette, auf der man einen Wasserfall rauschen hört. Jeden Tag, wenn ich aus der Schule nach Haus kam, setzte ich mich hin und stellte mir vor, in einem gesunden Körper zu sein. Ich saß sehr still, hörte mir die Tonbandaufnahme an und stellte mir vor, daß dieser Wasserfall durch mich hindurchströmte und meinen Körper reinigte. Ich benutzte die Informationen, die ich von meinen Ärzten hatte, als Anfangsbild. Dann imaginierte ich die Heilung. Die Krebszellen wurden aus meinem Körper herausgespült, ich heilte mich selbst. Je öfter ich diese Visualisierungstechnik übte, desto intensiver wurden die Bilder und Gefühle. Es ist nichts, was man einmal machen kann und was sofort funktioniert. Man muß es üben, um besser darin zu werden. Es erfordert Ausdauer, Beharrlichkeit und die wirkliche Überzeugung, daß es möglicherweise helfen könnte. Es ist nicht, wie wenn man eine Pille schluckt - >Hier, nehmen Sie das, Sie werden sich besser fühlen<. Man muß viel eigene Motivation mitbringen. Ich wußte nicht, ob oder wie es helfen würde. Ich wollte nicht mit anderen Leuten darüber sprechen, weil ich wußte, daß sie es merkwürdig finden und für Hokus-Pokus halten würden. Ich hatte nicht das Bedürfnis, irgend jemanden zu überzeugen. Und ich wollte es auch anderen Krebskranken nie aufdrängen. Denn wenn jemand, der Krebs hat, noch nicht soweit ist, wenn es der falsche Zeitpunkt ist, wenn er oder sie nicht bereit ist, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, ist es nur eine Belastung. Ich hatte bei den Imaginationsübungen, wie bei meinen anderen eigenen Entscheidungen, ein gutes Gefühl, so seltsam anderen diese Dinge auch erscheinen mögen. Ich wußte auch nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Es erschien mir als der richtige Weg. Natürlich hatte ich manchmal auch Zweifel.«
Beobachtungen Barbara Dawson hatte ihr halbes Leben lang darauf gewartet, mit Krebs oder etwas ähnlich Furchtbarem konfrontiert zu werden. Sie sagt uns tatsächlich selbst, daß die Diagnose »Krebs« ihr fast ein Gefühl der Erleichterung gab. Sie mußte nicht mehr mit der permanenten Angst leben, daß etwas Schreckliches geschehen würde; - das Schlimmste war schon passiert. Ihr Gefühl, daß sie es verdiente, schwere Leiden zu erdulden, und ihre objektive Realität waren schließlich zur Deckung gelangt. Bernie Siegel, der Heiler, der nach Barbaras eigenen Worten oft ausdrückte, was auch sie empfand, erklärt, das Leiden, das mit schweren Krankheiten verbunden ist, könne wie eine Kreuzigung wirken, die den Keim der Erlösung in sich trägt. Siegel sagt: »So viele Menschen fühlen sich ungeliebt, benutzt und schuldbeladen, und die Krankheit kann wie ein Erwachen sein. Schwere Krankheit erlöst Menschen von der Schuld, durch die sie sich all ihrer Sünden wegen gestraft fühlen. Dann können sie ihren Weg gehen und sein, was sie wirklich sein wollen.«
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Für Barbara bedeutete der Krebs tabula rasa - sie hatte für ihre »Sünden« bezahlt und war frei, sie selbst zu sein. Ihr Kampf um das Überleben hätte zu einer Wiederholung des alten Musters werden können, zu einem Zwang, das Leben in Gang zu halten, am Leben zu bleiben, weil das in ihrer Sicht von ihr erwartet wurde. Aber nach der Diagnose bemühte Barbara sich nicht mehr so angestrengt darum, anderen zu gefallen. Schließlich gab sie sich sogar selbst die Erlaubnis, zu sterben, ohne Scham und ohne das Gefühl, in den Augen anderer versagt zu haben. Als sie frei war, zu sterben, erkannte sie, daß es ihr wahres Bedürfnis war, zu leben, und nun konnte sie ohne Ambivalenz all ihre beträchtlichen Energien auf das Lebenwollen konzentrieren. Barbaras Persönlichkeit wuchs und reifte durch ihren Kampf mit dem Krebs. In ihrer Kindheit und Jugend kämpfte sie ständig gegen sich selbst. Da diese inneren Kämpfe soviel von ihrer Energie aufzehrten, hatte sie wenig Kraft übrig, um sich ihre eigene Welt zu schaffen. Die Sprache, die sie wählte, um ihr Leben als junge Erwachsene zu beschreiben, spiegelt ihr Gefühl der Machtlosigkeit. Ihre Übersiedlung in die Vereinigten Staaten zum Beispiel war eine tiefgreifende Veränderung ihres Lebens, aber sie beschreibt sich dennoch als passiv: » ... schließlich fand ich mich doch hier wieder.« Das klingt, als habe sie ihr eigenes Handeln nicht unter Kontrolle gehabt. Das Bild, das ich jetzt von Barbara habe - eine couragierte, willensstarke Frau, die auf eine stille Weise Kraft ausstrahlt -, steht in scharfem Kontrast zu diesem früheren Bild, denn jetzt kann kein Zweifel mehr bestehen, daß sie sich in der Hand hat und für sich selbst sprechen kann. Sie schilderte die Art, wie sie ihre Entscheidungen trifft, mit den Worten: »Ich wußte, was ich zu tun hatte. Ich zögerte und zauderte nicht.« Oder nehmen wir den letzten Termin bei ihrem Onkologen: Sie schlug ihm eine Unterredung vor und sagte ihm offen: »Mir gefällt Ihre Einstellung nicht.« In seinem Buch The Crack in the Cosmic Egg (»Der Sprung im kosmischen Ei«) beschreibt Joseph Chilton Pearce, wie kräftezehrend innere Konflikte sein können: »Ein durch Unentschiedenheit zerrissenes, durch Alternativen verwirrtes Bewußtsein ist ein Bewußtsein, das seiner Kraft beraubt ist. Der Körper spiegelt diesen Geisteszustand wider. Die ambivalente Persönlichkeit ist wie ein schlecht synchronisierter Mechanismus, der gegen sich selbst arbeitet. Sie ist wie eine Maschine mit Sand im Getriebe, mit Kolbenfraß und Wasser in der Kraftstoffzufuhr. Der Energieaufwand ist enorm, und es gibt gewaltigen Lärm, aber sonst passiert nicht viel.« Barbara war selbst davon überzeugt, daß ihr innerer Konflikt zumindest einer der Auslöser der Krebserkrankung war. Krebszellen haben eine Struktur, die von der Ordnung, die man in normalen Zellen findet, abweicht und die so desorganisiert sein kann, daß es unmöglich wird, ihre Entstehungsquelle zu identifizieren. Barbara reflektierte in metaphorischen Begriffen über ihre Krankheit und sah, daß diese auf der zellulären Ebene so etwas wie eine mikrokosmische Spiegelung ihres Lebens darstellte. Sie beschrieb ihr Handeln vor ihrer Erkrankung durchgängig als ziellos und desorganisiert: »Ich wußte nicht, wer ich war«; »Ich war weder Fisch noch Fleisch«; »Ich war keine Amerikanerin, aber auch nicht mehr Engländerin«. Als sie krank geworden war, nahm sie ihr Leben jedoch mit größerer Entschiedenheit in die Hand. Ob sie eine Reise nach Mexico plante oder mit dem Rektor der Schule über ihren Arbeitsvertrag sprach, - sie handelte entschlossener und vertraute darauf, daß sie die richtigen Entscheidungen traf. Ihre Entschlossenheit wurde in der Art, wie sie nach ihrer Erkrankung mit 191
Konflikten umging, besonders deutlich. In einem unserer Gespräche berichtete sie über die offene Auseinandersetzung mit ihren Ärzten: »Früher war ich immer in inneren Konflikten befangen, also war ich eine passiv-aggressive Kämpferin. Ich denke, die gegenwärtigen Auseinandersetzungen tun mir gut, denn ich kämpfe offener, als ich es je getan habe.« Sie ging davon aus, daß ihr seelischer Zustand sich in ihrem körperlichen Zustand widerspiegelte, und nahm an, daß es sich sogar auf der zellularen Ebene auswirkte, wenn sie Frieden mit sich selbst fand. Wie die meisten Menschen, die außergewöhnliche Heilungserfahrungen machten, meinte auch Barbara, daß der Glaube an die Genesung von ausschlaggebender Bedeutung sei. Um glauben zu können, mußte sie in den kindlichen Zustand zurückkehren, in dem nichts unmöglich ist, Wunder eingeschlossen. Sie ging fürsorglich mit ihrem inneren Kind um und gab ihm genug Freiraum zum Spielen. Da Barbaras erwachsene Umwelt offenbar nicht glauben konnte, daß eine positive Entwicklung möglich sei, konzentrierte sie sich auf die Welt der Kinder, die sie unterrichtete, eine Welt, in der die Grenzen zwischen Realität und Phantasie fließend sind. Da kleine Kinder noch nicht so sehr vom Bewußtsein der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten durchtränkt sind, wird das Wunderbare zum alltäglichen Ereignis, und das Unerwartete kann jederzeit eintreten. Das Buch Why me? (»Warum ich?«) erzählt die Geschichte des neunjährigen Garrett Porter, der erfolgreich gegen einen inoperablen Hirntumor ankämpfte. Garret meinte, daß seine Perspektive, die Sichtweise des Kindes, ein wesentlicher Faktor seiner erstaunlichen Heilung war: »Ich ging ganz offen an die Sache heran. Ich war neugierig. Ich glaube, das ist das Gute daran, Kind zu sein, weil Erwachsene diese falsche Auffassung von der Wirklichkeit haben - daß es vielleicht unmöglich ist.« Barbara hatte außerordentliche Mühe, einen Arzt zu finden, der nicht alle Hoffnungen zunichte machte. Sie wollte keine falschen Versprechungen hören, sondern lediglich die Meinung eines Experten, der zumindest einzugestehen bereit war, daß die medizinische Wissenschaft nicht genug über das Geheimnis des Lebens weiß, um unwiderrufliche Todesurteile auszusprechen. Vor weniger als einer Generation teilten Ärzte ihren Patienten in aller Regel nicht mit, daß sie Krebs hatten. Der heutige Trend, Patienten mit der Wahrheit zu konfrontieren, ist zwar positiv, bedeutet aber nicht notwendigerweise, daß ein vollständiges Bild vermittelt wird. Denn unabhängig davon, wie gering die statistische Wahrscheinlichkeit einer Heilung sein mag, gibt es immer Grund zur Hoffnung, und die Form, in der ein Arzt die Diagnose mitteilt, ist eine medizinische Intervention von großer Bedeutung. Ärzte, die ihren Krebspatienten - Menschen, die aufgrund der schweren Krise, die sie gerade durchmachen, besonders verletzlich sind - sagen, wieviel Zeit ihnen noch bleibt, erzeugen vielleicht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wie Bernie Siegel in einem Interview sagte: »In manchen Fällen töten Ärzte Patienten buchstäblich mit Worten. Ich spreche nicht von Fahrlässigkeit oder Kunstfehlern, sondern vom Zerstören der Hoffnung, wenn man den Leuten voraussagt, wann sie sterben werden. Die meisten haben nicht die Kraft, das Todesurteil abzuschütteln, also gehen sie nach Haus und sterben schneller.« Barbara war nicht dafür prädestiniert, sich alternativen Heilmethoden zuzuwenden, aber da sie sich vom medizinischen Establishment so schlecht behandelt fühlte, begann sie anderswo nach Erklärungen zu suchen. Sie traute den Aussagen ihres Arztes nicht, weil sie keine Fürsorglichkeit spürte, und fand es daher notwendig, eine zweite, dritte, 192
vierte Meinung einzuholen. Sie fragte sich, ob die Ärzte, die ihre Diagnose überprüfen sollten, für sich selbst sprachen oder die Meinung des Kollegen einfach unbesehen übernahmen. Ihre Zweifel sind durchaus nicht paranoid. Wie bei anderen Berufsgruppen kommt es auch bei Ärzten vor, daß sie die Meinungen von Kollegen routinemäßig gutheißen, statt einen Konflikt zu riskieren. In dem Buch »Wie kann ich helfen?« gesteht ein Arzt diese Schwierigkeit offen ein: »Selbst jetzt, nach Jahren der Praxiserfahrung, habe ich große Widerstände, mich wegen einer schwierigen Diagnose mit einem Kollegen anzulegen. Es ist eine Art schmutziges kleines Geheimnis unter Medizinern. Für jeden steht eine Menge auf dem Spiel. Wir alle hängen an unserer Autorität und unserer Persona. Es ist wie ein ungeschriebenes Gesetz unter Ärzten: Man bringt Kollegen nicht in die Gefahr, ihr Gesicht zu verlieren - eine sehr heikle Angelegenheit. Ach ja, und wer bezahlt dafür?« Barbara wollte nicht - und konnte vielleicht auch nicht - mit Ärzten kooperieren, die sie als Person nicht respektierten. Viele von uns erinnern sich zweifellos, wie es ist, wenn man von einem fachlich kompetenten, aber menschlich unangenehmen oder unfähigen Lehrer zu lernen versucht. In dieser Situation kann man nur langsam und mühevoll Wissen erwerben. In ähnlicher Weise leisten Angestellte nicht das, wozu sie eigentlich fähig sind, wenn sie mit einem Vorgesetzten arbeiten müssen, der sie respektlos und herabsetzend behandelt. Heilen ist ohne Zweifel ein genauso intimer Prozeß; ein Arzt ist nicht einfach ein Verteiler und Vermittler medizinischer Kenntnisse und eine Patientin oder ein Patient nicht einfach ein passiver Empfänger. Norman Cousins sagt: »Letztlich ist es die Achtung des Arztes vor der menschlichen Seele, die den Wert seiner Kunst ausmacht.« In Barbaras Leben gab es keine Hoffnung auf tiefe Intimität, bevor sie enthüllen konnte, wer sie wirklich ist. Aber wie die meisten von uns hatte sie das Gefühl, daß manche ihrer Persönlichkeitsanteile zu verabscheuungswürdig seien, um sie anderen zu zeigen. Barbara wollte vor allem ihren Schmerz und ihr Leiden verbergen: » ... wenn ich auch nur einen Funken Schwäche oder Leiden zugäbe, wäre ich vernichtet und hätte nichts mehr, worauf ich zurückgreifen könnte.« Da das Leiden, das man fühlt, jedoch ein immens bedeutsamer Aspekt des eigenen Wesens ist, blieb Barbara, indem sie es abspaltete, sich selbst und anderen immer fremd. Sie wagte nicht, ihr Leiden einzugestehen, nicht einmal vor sich selbst. Bis zu ihrer Krebserkrankung war sie von ihrem eigenen Selbst getrennt und konnte ihre innersten Gefühle nicht zulassen, denn die Konfrontation mit diesen Gefühlen war für sie das Äquivalent der Selbstvernichtung. Lawrence LeShan meint, daß diese Gefühle hoffnungsloser Isolation unter Menschen, die an Krebs erkranken, allgemein verbreitet sind. Wie LeShan berichtet, »drücken viele Krebspatienten explizit die Vorstellung aus, sie hätten sich jahrelang emotional wie in einem Gefängnis gefühlt und keinen Weg gesehen, daraus auszubrechen, es sei denn durch den Tod ... Sie haben das Gefühl, entweder sie selbst sein zu können, aber um den Preis des Ungeliebtseins und Alleinseins, oder geliebt zu werden, aber um den Preis der Selbstaufgabe und der Selbstverleugnung.« Diese Menschen fühlen sich machtlos, in irgendeiner positiven Weise aktiv zu werden, weil jede Form der Aktivität gleichermaßen sinnlos erscheint. Barbara gelang es jedoch, aus dieser Isolation auszubrechen. Im Kripalu-Center und im Options Institute fand sie Menschen, bei denen sie sich sicher genug fühlte, das Wagnis einzugehen und zu 193
enthüllen, wer sie war. Als sie selbst die unterschiedlichen Facetten ihrer Persönlichkeit kennengelernt und akzeptiert hatte, bestand sie darauf, auch von wichtigen anderen, zum Beispiel von ihren Ärzten, in ihrer Ganzheit anerkannt zu werden. Nach der Diagnose war Barbara seelisch darauf vorbereitet, in ihren Beziehungen mehr Nähe zuzulassen als vorher, aber gleichzeitig wurde diese Entwicklung durch die Umstände erschwert. Die Menschen in ihrer Umgebung reagierten anders auf sie, weil sie Krebs hatte. Unglücklicherweise machen die meisten Krebspatienten diese Erfahrung. Als Frauen, die an Brustkrebs erkrankt waren, in einer Studie nach der sozialen Unterstützung befragt wurden, die ihnen zur Verfügung stand, gaben zweiundsiebzig Prozent an, daß sie von ihrer Umwelt anders behandelt wurden, sobald bekannt geworden war, daß sie Krebs hatten. Die Hälfte der Befragten berichtete, daß sie gemieden wurden oder daß andere Angst vor dem Kontakt mit ihnen hatten. Der folgende Ausschnitt aus »Nebenwirkungen«, einer Sammlung von Kurzgeschichten von Woody Allen, bringt diese tiefen Ängste treffend zum Ausdruck. Meyer Iskowitz, der an Krebs erkrankt ist, liegt im Krankenhaus, und Lenny Mendel, ein Kumpel aus seiner Pokerrunde, hat sich endlich dazu durchgerungen, ihn zu besuchen. »>Na, wie geht‘s, Meyer?< fragte Mendel mit dünner Stimme, während er versuchte, einen vertretbaren Abstand zum Krankenbett aufrechtzuerhalten. >Wer ist das? Mendel? Bist du das, Lenny?< >Ich hatte viel zu tun, sonst wäre ich früher gekommen.< >Oh, es ist wirklich nett, daß du dir die Mühe machst. Ich freue mich so, dich zu sehen.< >Wie geht‘s dir, Meyer?< >Wie‘s mir geht? Ich werde mit dieser Sache fertig, Lenny. Denk an meine Worte. Ich kriege das wieder hin!< >Aber klar, Meyer<, sagte Lenny Mendel gepreßt, mit vor Anspannung zugeschnürter Kehle. >In einem halben Jahr bist du wieder da und haust uns beim Poker übers Ohr. Ha, ha, nein, im Ernst, du hast nie geschummelt.< Immer locker, dachte Mendel, immer locker weiterreden. Tu so, als ob er nicht im Sterben läge, dachte Mendel und erinnerte sich an Ratschläge für solche Situationen, die er irgendwo gelesen hatte. In dem stickigen kleinen Raum stellte Mendel sich vor, daß er Schwaden von bösartigen Krebskeimen einatmete, die von Iskowitz ausgingen und sich in der warmen Luft vermehrten. >Ich habe dir eine Zeitung mitgebracht<, sagte Lenny und legte sein Geschenk auf dem Tisch ab. >Setz dich doch. Hast du es eilig? Du bist doch gerade gekommen<, sagte Meyer mit Wärme. >Ich habe es nicht eilig. Es ist nur so, daß die Vorschriften besagen, man soll die Besuche kurz halten, um die Patienten nicht anzustrengen.< >Also, was gibt‘s Neues<, fragte Meyer. Resignierend erkannte Mendel, daß er die volle Zeit bis acht Uhr zu verplaudern hatte (zehn Minuten), zog sich einen Stuhl heran (nicht zu nahe) und versuchte, Konversation zu machen, über Poker, Sport, Neuigkeiten und Finanzen, und war sich dabei ständig auf unangenehme Weise der unumstößlichen, schrecklichen Tatsache bewußt, 194
daß Iskowitz trotz seines Optimismus dieses Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen würde. Mendel schwitzte und fühlte sich benommen. Der Druck, die gezwungene Fröhlichkeit, die von Krankheit beherrschte Atmosphäre und das Bewußtsein seiner eigenen dünnhäutigen Sterblichkeit ließen seinen Nacken steif und seinen Mund trocken werden. Er wollte weg. Es war schon fünf nach acht, und niemand hatte ihn aufgefordert, zu gehen. Mit den Besuchszeiten ging man hier offenbar lax um. Er wand sich auf seinem Stuhl, während Iskowitz mit leiser Stimme über die alten Zeiten sprach, und nach fünf weiteren deprimierenden Minuten glaubte Mendel, daß er ohnmächtig werden würde.<« Wie viele Krebskranke erlebte Barbara intensive Isolationsgefühle; sie fühlte sich »von der Menschheit verlassen«. Verlassenheitsgefühle dieser Größenordnung sind äußerst bedrohlich, denn sie lassen den eigenen Lebenswillen verdorren. Die Befreiung aus diesem Gefängnis beginnt, wenn entweder die kranke Person oder ihr jeweiliges Gegenüber offen ausdrückt, was sie oder er fühlt. Wenn wir unsere Angst, Wut oder Traurigkeit zum Ausdruck bringen, beginnen die Mauern, die unseren Liebesgefühlen den Weg versperren, zu fallen. Die Meditation half Barbara, sich auf sich selbst zu konzentrieren und intuitiv zu erkennen, welche Lebensweise ihr guttun würde. Dadurch, daß sie ihren Geist zur Ruhe brachte, kam sie mit der Macht des Unbewußten in Berührung und konnte ihrer inneren Stimme lauschen, die Weisheit ihrer eigenen inneren Heilerin aufnehmen. In unserem Inneren herrscht ein permanentes Geplapper und Geschnatter von Gedanken, wie eine Affenherde, die durch die Baumwipfel turnt. Durch Meditation kann man dieses Geschnatter zum Schweigen bringen, die Wildnis des Geistes zähmen. Je besser wir lernen, innerlich still zu werden, desto mehr Kontrolle haben wir über die weitreichenden Kräfte des Geistes. Menschen, die nicht damit vertraut sind, halten Meditation oft für etwas allzu Exotisches und Fremdartiges. Wenn Meditationstechniken beschrieben werden, erscheinen sie jedoch paradoxerweise zu simpel, um von irgendwelchem Nutzen zu sein. Ich bin davon überzeugt, daß die Hinwendung zur Meditation der wichtigste Schritt ist, den ein Mensch - ob krank oder gesund - tun kann, um die Qualität des eigenen Lebens zu steigern. Obwohl manche Menschen gleich zu Beginn erstaunliche Erlebnisse haben, ist geduldiges Üben notwendig. Es gibt ein weites Spektrum von Meditationsstilen und -techniken, unter denen man wählen kann. Ram Dass gibt Menschen, die Meditation praktizieren wollen, in seinem Buch The Journey ot Awakening (»Die Reise des Erwachens«) wertvolle Anregungen, und der Harvard-Kardiologe Herbert Benson stellt in The Relaxation Response (»Die Entspannungsreaktion«) einen eher wissenschaftlichen Ansatz vor. Barbara hatte ihre eigene Theorie über die Ursachen ihrer Krebserkrankung. Sie glaubte, daß ihr permanenter Ambivalenzzustand und ihr Leidensbedürfnis wesentlich an der Entstehung der Krankheit beteiligt waren. Sie hielt nicht am Vergangenen fest, indem sie sich selbst beschuldigte oder verurteilte, sondern benutzte diese Einsichten als Wegweiser, die ihr zeigten, welche Veränderungen sie in ihrem Leben vornehmen mußte. Barbara fand es offensichtlich hilfreich, zwischen ihrem Verhalten in der Vergangenheit und ihrer Erkrankung Verbindungen herzustellen. Das bedeutet jedoch nicht, daß es für sie auch von Nutzen gewesen wäre, wenn irgend jemand aus ihrer Umgebung ihr 195
diese Interpretation aufgedrängt hätte. Menschen, die an schweren Krankheiten leiden, lehnen es ab und können auch nichts damit anfangen, wenn andere ihnen vermitteln, daß sie ihre Krankheit selbst geschaffen haben und daß sie ihr Leben in die Hand nehmen könnten, wenn sie nur wollten. Einen kranken Menschen zu fragen, warum er - oder sie - sich krank gemacht habe, ist eine dümmliche Vereinfachung. Und meistens ist damit auch das Gefühl verbunden, daß der Fragende den Kranken verurteilt. Solche Äußerungen können Gesunden vielleicht einen nützlichen Hinweis geben, aber sie drücken kaum das Mitgefühl aus, das ein kranker Mensch braucht. Da sich mittlerweile mehr und mehr Menschen für ihre eigene Krankheit verantwortlich fühlen, werden einige vermutlich den Bogen überspannen. Obwohl es zweifellos richtig ist, Menschen zur Erkenntnis und zur Verwirklichung ihres vollen Kräftepotentials zu ermutigen, müssen einige vielleicht ihre menschlichen Begrenzungen akzeptieren lernen und brauchen Hilfe dabei. Für einen kranken Menschen sind greifbare Dinge und gute Ratschläge selten die wertvollste Hilfe, die wir ihm oder ihr bieten können, ganz gleich, wie gut unsere Absichten sind. Treya Killiam Wilber, eine Beraterin, die selbst Brustkrebs hatte, veröffentlichte im Journal of Transpersonal Psychology einen Artikel mit dem Titel What Kind of Help Really Helps (»Welche Art von Hilfe ist wirklich hilfreich?«). Sie erklärt, um welche Haltung sie sich bemüht, wenn sie mit Kranken zusammen ist. »Zuhören bedeutet Helfen. Zuhören bedeutet Geben. Ich versuche, emotional offen und zugewandt zu sein, meine eigenen Ängste zu überwinden und den anderen innerlich zu erreichen, den menschlichen Kontakt aufrechtzuerhalten. Ich stelle fest, daß wir über viele furchterregende Dinge gemeinsam lachen können, sobald wir uns gestattet haben, die Angst wirklich zu fühlen. Ich gebe mir Mühe, der Versuchung zu widerstehen, für andere Imperative zu formulieren, nicht einmal Imperative zu gebrauchen wie >Kämpfe um dein Leben!<, >Verändere dich!< oder >Stirb bewußt!<. Ich gebe mir Mühe, Menschen nicht in eine Richtung zu drängen, die ich für gut halte oder die ich vielleicht für mich selbst wählen würde. Ich versuche, mit meiner eigenen Angst in Kontakt zu bleiben, daß ich mich vielleicht eines Tages in derselben Situation wiederfinden könnte, in der sie jetzt sind.« Zuhören, wenn andere über ihre Schmerzen und ihre Verwirrung sprechen, in dem vollen Bewußtsein, daß wir vielleicht nichts tun können, um ihr Leiden zu mindern, ist ein Geschenk des Herzens.
Wissenschaftliche Anmerkungen Als Barbara Dawson England verließ, um in die Vereinigten Staaten zu gehen, fand sie sich plötzlich von allem isoliert, was ihr vertraut war. Obwohl allgemeine Forschungsergebnisse für das Individuum nicht notwendigerweise relevant sind, gibt es einige Hinweise darauf, daß soziale Isolation für Frauen mit einem erhöhten Krebsrisiko verbunden ist. 1965 gaben zwei Epidemiologen, Peggy Reynolds und George Kaplan, an 6928 Erwachsene, die keine Vorgeschichte von Krebserkrankungen hatten, Fragebögen aus. Siebzehn Jahre später hatten fünfhundert Personen aus dieser Gruppe Krebserkrankungen entwickelt. Die Resultate wurden der Society of Behavioral Medicine (etwa: »Gesellschaft für Sozialmedizin«) vorgelegt. Bei Frauen, die durch die anfängliche Befragung 196
als sozial isoliert identifiziert worden waren (die wenig Kontakt zu anderen Menschen hatten oder sich auch in der Gesellschaft anderer einsam fühlten), traten Krebserkrankungen doppelt so häufig auf wie bei Frauen, die viele soziale Kontakte hatten und sich nicht isoliert fühlten. Sozial isolierte Frauen waren im Vergleich zu anderen, sozial eingebundenen dreimal so häufig an Krebs gestorben. Barbara holte die Meinungen vieler verschiedener medizinischer Experten ein, ehe sie sich für eine bestimmte Vorgehensweise entschied, und hatte selbst dann noch das Gefühl, voreilig zu handeln. Obwohl Vertrauen in die Behandlung des Arztes, sobald die Entscheidung gefällt wurde, in aller Regel als die ideale Geisteshaltung erscheint, gibt es genügend Hinweise, daß ein gewisses Maß an Wachsamkeit angeraten ist. Wissenschaftler der Rand Corporation und der University of California in Los Angeles überprüften die medizinischen Unterlagen von 386 Patienten, die sich Herz-Bypass-Operationen unterzogen hatten. Die Ergebnisse der Studie wurden im Journal of the American Medical Association veröffentlicht, Sie besagten, daß vierzehn Prozent der Operationen unangemessen und weitere dreißig Prozent von fraglichem Wert waren. In einem der untersuchten Krankenhäuser waren es nur siebenunddreißig Prozent der koronaren Bypass-Operationen, die überhaupt als notwendig betrachtet wurden. Einer konservativen Einschätzung nach, die von dieser Studie extrapoliert, riskieren jedes Jahr 40000 Menschen ihr Leben, indem sie sich einer Operation unterziehen, die gefährlich, kostspielig und unnötig ist. Noch deprimierender sind die Ergebnisse einer Studie, die im Oktober 1988 in der Zeitschrift Annals of Internal Medicine veröffentlicht wurde. Ein Team von drei Ärzten überprüfte die medizinischen Unterlagen von 182 Patienten aus zwölf Krankenhäusern, die während der Behandlung von Lungenentzündungen, Herzerkrankungen und Infarkten gestorben waren. Die Resultate: Alle drei Ärzte stimmten darin überein, daß vierzehn Prozent der Todesfälle vermutlich vermeidbar gewesen wären; zwei der drei Ärzte setzten diese Zahl sogar mit siebenundzwanzig Prozent an. Zu den Fehlern der Ärzte, die zum Tod der Patienten führten, gehörten unter anderem die Verabreichung der falschen Medikamente bei Lungenentzündung, die Fehldiagnose von Infarkten, weil Blut- und Rückenmarksuntersuchungen versäumt wurden, und die falsche Behandlung von Patienten mit Brustschmerzen. Der Versuch des wissenschaftlichen Leiters, die Ängste potentieller Patienten durch den Hinweis zu beschwichtigen, daß die meisten Menschen, die ein Krankenhaus aufsuchen, es auch lebend wieder verlassen, klang nicht sehr überzeugend. Er sagte: »Die weitaus größte Zahl der Menschen, die in ein Krankenhaus eingewiesen werden, über fünfundneunzig Prozent, sterben nicht. Für diese große Gruppe ist das gar keine Frage. Man muß das also im Verhältnis sehen. Es ist ein Viertel oder ein Sechstel der fünf Prozent, die im Krankenhaus sterben, bei denen der Tod vermutlich vermeidbar gewesen wäre.«
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CAROLE MATTHEWS UND BETTY PRESTON Die Furcht vor dem Tod ist die Grundangst, die alle anderen Ängste beeinflußt; niemand ist gegen diese Angst immun, ganz gleich, wie tief verdrängt sie sein mag. ERNEST BECKER Die zwei Frauen, die in diesem Kapitel ihre Geschichten erzählen, sind sehr unterschiedlich. Betty Preston ist eine alte Dame, die überströmende Warme und Herzlichkeit ausstrahlt. Carole Matthews, nur halb so alt wie Betty, ist viel zurückhaltender im Kontakt. Betty ist blond und rundlich; sie erinnert mich an die Großmutter, die ich mir als Kind immer wünschte. Carole ist schlank und dunkel und auf eine exotische Weise attraktiv. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit haben beide Frauen etwas gemeinsam: ein Erlebnis, das sie in ihrem tiefsten Wesenskern berührte. Beide machten die Erfahrung, auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod zu wandern, und eine überschritt vielleicht sogar die Grenze und stattete der anderen Welt einen kurzen Besuch ab. Die Begegnung mit dem Tod hat das Leben beider Frauen grundlegend verändert.
Carole Matthews Als wir uns zum ersten Mal trafen, kämpfte Carole Matthews seit vier Jahren mit einer letalen Krebserkrankung. Und obwohl sie in Anbetracht der Schwere ihrer Erkrankung in ungewöhnlich guter Verfassung war, hatte sie keine großen Hoffnungen, was ihre Überlebenschancen anging. Sie machte vorsichtige Andeutungen, manchmal glaube sie, daß ein Wunder möglich sei, aber generell drückte sie weitaus weniger Optimismus aus als alle meine anderen Gesprächspartnerinnen und -partner. Als wir uns dem Ende des Interviews näherten, sagte Carole, da sei noch etwas, was sie mir mitteilen müsse. Ihre Verlegenheit war offensichtlich, und sie äußerte Bedenken, ihre Enthüllung könne sich vielleicht merkwürdig anhören. Aber die Überzeugung, daß ihre Erfahrung vielleicht auch anderen helfen könnte, gab ihr den Mut, über die Einzelheiten ihres täglichen Rituals zu sprechen. Der Visualisierungsprozeß, von dem sie mir dann erzählte, war den Imaginationstechniken, die heute von vielen Menschen verwendet werden, tatsächlich ziemlich ähnlich. Man muß Caroles Visualisierungserfahrungen jedoch ins Verhältnis setzen, um ihre Bedeutung zu verstehen. Sie fing vor zehn Jahren an, ihre Imaginationsübungen zu praktizieren. Zu diesem Zeitpunkt war nicht mehr als eine Handvoll interessierter »Insider« damit vertraut. Carole verfügt über ein gewisses Maß an Bildung, aber sie hat keine formale Ausbildung genossen und ist zweifellos keine versierte Kennerin der »New-Age«Philosophie. Sie hatte nie von Imagination oder Visualisierung gehört. Die Vorstellung, daß innere Bilder heilend wirken könnten, und der Entschluß, sie zu einem regulären Bestandteil ihrer Behandlung zu machen, entsprangen ihrer eigenen Intuition.
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Das Gespräch mit Carole fand vor etwa fünf Jahren statt. Sie war achtunddreißig Jahre alt, verheiratet, und hatte zwei Söhne. Wir unterhielten uns im Arbeitszimmer ihres Arztes in der radiologischen Abteilung eines städtischen Krankenhauses. Während des Gesprächs rauchte sie hin und wieder eine Zigarette. Caroles ursprüngliche Diagnose lautete auf inoperablen Lungenkrebs mit einem besonders aggressiven Zelltypus. Ihr Onkologe berichtete, als die Krebserkrankung entdeckt wurde, seien die Chancen, daß sie die nächsten fünf Jahre überleben werde, seiner Einschätzung nach 1:100 gewesen. Um Caroles Krankheitsverlauf weiterzuverfolgen, nahm ich ein zweites Mal Kontakt zu diesem Onkologen auf, neun Jahre nach der ursprünglichen Diagnose. Als ich mich erkundigte, was aus ihr geworden sei, antwortete er: »Ob Sie es glauben oder nicht - sie lebt, und es geht ihr gut.« Dann erzählte er mir, daß er vor einigen Monaten gebeten worden war, einige Sozialversicherungsformulare auszufüllen, um ihren Status der Erwerbsunfähigkeit aufgrund von Krebs im Endstadium zu bestätigen. Er wußte, daß sie die beantragte Sozialhilfe brauchte, aber er konnte der Bitte nicht guten Gewissens entsprechen. Er erklärte, es gäbe einfach keinerlei Rechtfertigung dafür, in ihrem Fall weiterhin von einer tödlichen Krankheit zu sprechen. In unserem Interview erzählte Carole, wie sie reagierte, als sie erfuhr, daß sie Krebs hatte: »Damals, im Juli 1980, wurde bei mir Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert. Die Ärzte, fünf waren es, sagten, ich hätte noch sechs Monate oder vielleicht ein Jahr zu leben. Sie sagten, ich brauchte Strahlenbehandlung und Chemotherapie. Ich ging nur sechs mal zur Strahlentherapie. Dann weigerte ich mich, mit der Behandlung weiterzumachen, und sagte mir, daß ich einen Weg finden müßte, mir selbst zu helfen. Ich ging für eine Woche in ein Gesundheitszentrum in Boston und fing mit einer Rohkost-Diät an. Danach fuhr ich zu meiner Zwillingsschwester nach Connecticut. Sie steht auf Gesundheitskost. Sie machte Extrakte und Säfte aus allen möglichen Pflanzen und rohen Gemüsen: Karotten, Sellerie, Petersilie, Kohl. Ich trank frischen Orangensaft. Sie benutzte auch Körner, Linsen zum Beispiel, ließ sie keimen und preßte sie aus. Ich nahm auch Pflanzenpräparate zur besseren Verdauung. Das hat mit der Reinigung des Dickdarms zu tun; der Dickdarm soll eine Brutstätte für Krankheiten sein. Zwei Monate später fand ich mich im Krankenhaus wieder. Der Krebs breitete sich aus, und ich bekam Atemnot. Ich konnte kaum noch atmen, was ganz furchtbar war, aber innerlich fühlte ich mich gut. Ich war bereit. Ich erinnere mich, daß ich sterben wollte. Ich dachte immer: >Gott, ich bin bereit, komm und nimm mich zu dir.< Zwei Tage lang lag ich im Krankenhaus und konnte nicht atmen; ich wußte, daß ich im Sterben lag. Ich weiß nicht, was dann passierte, denn ganz plötzlich - Wumm! kam der Atem wieder, einfach so. Für mich war es Gottes Entscheidung. Er wollte mich einfach noch nicht. Aber ich hatte den Tod gespürt, und deshalb habe ich keine Angst mehr. Jeden Morgen aufzustehen und diesem Leben entgegenzutreten ist schwerer als Sterben. Früher hatte ich vor allem Angst: daß Gott mich strafen würde, weil ich Unrecht getan hatte, daß ich überfallen oder vergewaltigt würde. Es gibt so viele Ängste im Leben. Ich hatte immer Angst, kein Geld mehr zu haben. 199
Als der Krebs sich ausbreitete, war ich in einem halbbewußten Zustand, aber in meinem Inneren hatte ich ein gutes Gefühl. Ich habe den Tod gespürt, und darum habe ich keine Angst mehr. Ich bin froh über diese Erfahrung; jetzt fürchte ich nichts mehr. Ich glaube, dort, auf der anderen Seite, wartet ein besseres Leben auf uns, obwohl das Leben hier manchmal auch sehr schön ist. Ich habe meine beiden Söhne, und ich liebe sie, und natürlich ist da mein Mann. Aber er ist erwachsen. Er kommt mit seinem Leben zurecht. Meine Kinder brauchen mich. Ich glaube, das ist das einzige, was mir wirklich sehr wehtut, wenn ich an den Tod denke. Ich glaube, das Leben hat es in vieler Hinsicht sehr gut mit mir gemeint. Ich habe einen guten Mann. Ich habe zwei wundervolle Kinder. Mir wurde alles geschenkt, was die meisten Leute nicht haben. Ich meine, ich bin nicht reich, aber für mich ist das nicht wichtig. Mein Mann und ich leben jetzt viel bewußter, in größerer Klarheit über die Dinge, die wirklich wichtig sind. Wir sind uns bewußt, daß das Leben in dieser Minute so glücklich sein kann, und im nächsten Augenblick kann es enden. Ich bin sicher, mein Rauchen hat es verursacht. Ich war einundzwanzig Jahre lang eine starke Raucherin. Zwei Jahre vor der Diagnose gewöhnte ich es mir ab. Mein Körper reagierte so heftig auf den Entzug, es war unglaublich. Als ich aufhörte zu rauchen, stopfte ich alles mögliche in mich hinein, Süßigkeiten, Chips, Fritten, Würstchen und anderes fettiges Zeug, Mengen von Fleisch. Jetzt versuche ich, vernünftig zu essen. Ich esse viel Gemüse und Obst. Ich habe wieder angefangen zu rauchen und rauche immer noch. Ich glaube nicht, daß ich wieder gesund werde. Ich denke, früher oder später bringt es mich um. Aber ich glaube trotzdem an Wunder. Ich versuche, meine gute Einstellung zum Leben zu behalten. Wenn ich an meine Krankheit denke, lenke ich mich ab und schlage mir die Gedanken aus dem Kopf. Nein, ich fange nie an zu grübeln. Selbst wenn ich Schmerzen habe, mache ich mir einfach die Rechnung auf und sage mir: >Wir haben alle unser Leiden zu tragen.< Ich war immer eine willensstarke Person. Ich war immer jemand, der die Sachen in die Hand nimmt und bewältigt. Ich habe mich nie fallenlassen und hängen lassen, ob ich krank war oder nicht. Ich versuche immer, fröhlich zu sein, nie traurig. Wenn ich traurig bin oder wirklich depressiv - ich werde selten depressiv —, dann rauche ich einen Joint und bin wieder fröhlich. Ich höre Musik und denke an schöne Dinge. Ich war oft ganz unten, aber ich mag es nicht, depressiv zu sein. Ich will kein negativer Mensch sein. Ich will nicht einmal mit negativen Menschen in Berührung kommen, und das habe ich selbst in der Hand. Ich habe alles in meinem Leben selbst in der Hand, abgesehen vom Rauchen. Ich habe versucht, wieder aufzuhören, aber ich weiß nicht, ich schaffe es einfach nicht. Ich glaube, daß der Geist den Körper beherrscht. Das möchte ich unbedingt noch sagen; es hört sich vielleicht merkwürdig an, aber von einer Sache bin ich besessen. Ich 200
nehme jeden Tag eine sehr heiße Dusche. Wenn ich in die Dusche steige, richte ich den heißen Wasserstrahl direkt auf diese Stelle in meinem Brustkorb. Es ist wie eine Art Meditation; ich stehe unter der heißen Dusche und sage: >Laß all die schlechten Zellen absterben, töte all die schlechten Zellen.< Die Hitze geht durch meinen Körper. Ich sage den Krebszellen: >Geht weg, geht weg, geht weg!< Ich konzentriere mich darauf. Für ein paar Minuten wünsche ich die schlechten Zellen weg. Es ist eine fixe Idee, und ich glaube, es hat geholfen. Ich fühle mich viel besser, wenn ich aus der Dusche komme. Es hört sich vielleicht merkwürdig an, aber für mich ist es ganz normal.« Kürzlich sprach ich noch einmal mit Carole, fast neun Jahre nach der ursprünglichen Diagnose. Carole hat keinen Krebs mehr und ist physisch aktiver denn je. Vor vier Jahren wurde sie von ihrem Mann geschieden, was ihr furchtbar zu schaffen machte. »Es brach mir das Herz«, sagte sie. Danach schrieb sie sich an einem örtlichen College ein und fing an, zu studieren, aber der finanzielle Druck machte es ihr unmöglich, das Studium fortzusetzen. Jetzt steht sie jeden Morgen um fünf Uhr auf und bereitet sich auf ihre Arbeit als Kellnerin vor. Zusätzlich zu dieser Arbeit, die sie vierzig Stunden pro Woche macht, erzieht sie ihre beiden halbwüchsigen Söhne und verwaltet das Drei-Familien-Haus, das sie kürzlich von ihrem Ex-Mann erwarb. Tiefe Entspannung und zielgerichtete Konzentration waren die hervorstechenden Merkmale der Imaginationsübung, die Carole für sich selbst erfand. Viele alternative Heiler und einige Ärzte lehren ihre Patienten mittlerweile Visualisierungstechniken, deren Kernelemente dieselben sind wie die von Carole intuitiv entdeckten. Der Prozeß der Visualisierung oder aktiven Imagination besteht im wesentlichen darin, die bestehende Situation in der Vorstellung zu wandeln und durch den erwünschten Zustand zu ersetzen. Viele Menschen bedienen sich dieser Übungen in der Hoffnung, daß der Prozeß ihr Immunsystem beeinflussen und somit heilsam wirken wird. Wie bei anderen Übungen, die einen veränderten Bewußtseinszustand voraussetzen, ist das Ziel auch hier, den Körper durch die Kräfte des Unbewußten positiv zu beeinflussen. Vielleicht ist die aktive Imagination ein besonders direkter Weg, mit dem Unbewußten zu kommunizieren, da das Denken in Bildern der »primitiven« Struktur tiefer seelischer Schichten eher gerecht wird als das Denken in verbalen Begriffen. Jeder willentlichen Aktivität geht, wie man annimmt, die innere Vorstellung in Gestalt eines Bildes voraus (man sieht sich zum Beispiel in der Vorstellung ein Buch öffnen, bevor man es aufschlägt), während man den Vorgang nicht notwendigerweise innerlich verbalisiert (indem man sich sagt: »Ich werde das Buch öffnen«, bevor man es tatsächlich aufschlägt). Heute sind es nicht nur Psychotherapeuten, sondern auch Unternehmens- und Berufsberater, die ihren Klienten Visualisierungstechniken vermitteln. Am weitesten hat sich ihr Gebrauch aber vermutlich im Bereich der alternativen Heilmethoden und unter Sportlern durchgesetzt. Bob Hooper, ein international bekannter Schwimmer, glaubt, daß der Faktor, der ihn seinen Konkurrenten überlegen machte, keine angeborene Fähigkeit oder überlegene Trainingsmethode war. Er erklärt, woher er seinen Schwung nahm: »Jeden Tag vor dem Wettkampf ließ ich im Geist folgenden Film vor mir ablaufen: Ich sehe mich das Schwimmstadion betreten; dreitausend jubelnde Fans füllen die Zuschauertribünen. Ich sehe mich auf den Startblock steigen; neben mir, zu beiden Seiten, sind meine Wettkampfgegner. Ich höre den Startschuß, sehe mich ins Wasser eintauchen und den ersten Schwimmstoß im Butterfly-Stil machen. Ich fühle, wie ich 201
durchs Wasser gleite, mache noch einen Schwimmstoß und noch einen. Ich sehe die Beckenwand vor mir, schlage an, wende und gehe mit einem kleinen Vorsprung wieder in die Bahn. Mein Unterwasserstoß macht den Vorsprung größer. Dann ziehe ich kräftig an, in der Brustlage. Das ist meine beste Technik, darin kann ich wirklich meine ganze Energie entfalten. Und schließlich kommt der Endspurt im Freistil. Ich sehe mich das Rennen machen. Ich lasse diesen inneren Film vor jedem Wettkampf fünfunddreißig bis vierzig mal vor mir ablaufen. Wenn es dann schließlich losgeht, springe ich einfach hinein und gewinne.« Die Simontons, die Pionierarbeit leisteten, was die Einführung von Visuahsierungstechniken unter Krebspatienten angeht, achten sorgfältig darauf, niemandem vorzuschreiben, wie seine - oder ihre - inneren Bilder aussehen sollen. Sie weisen allerdings darauf hin, daß bestimmte Arten der Symbolik vielleicht besser wirken als andere. Sie empfehlen zum Beispiel, die Krebszellen als schwach und verwirrt zu imaginieren und die gewählte Behandlung beziehungsweise die körpereigenen Abwehrkräfte als stark und entschlossen. Eine ihrer Empfehlungen lautet: »Stellen Sie sich Ihre weißen Blutkörperchen als starke Armee vor, die in den Bereich ausschwärmt, wo der Krebs sich ausgebreitet hat. Stellen Sie sich vor, daß die weißen Blutkörperchen die Krebszellen erkennen und zerstören. Die Armee der weißen Blutkörperchen ist stark und aggressiv und außerdem sehr klug. Die Krebszellen haben keine Chance. Die weißen Blutkörperchen werden die Schlacht gewinnen. Stellen Sie sich vor, daß der Krebs schrumpft. Die toten Krebszellen werden von den weißen Blutkörperchen abtransportiert und durch Leber und Nieren hinausgespült; sie verlassen den Körper auf dem natürlichen Weg durch Urin und Stuhl. Stellen Sie sich vor, wie der Krebs weiter und weiter schrumpft, bis er vollständig beseitigt ist.« Manchmal berichten Patienten, daß sie ihr Körperinneres während des Visualisierungsprozesses in realistischer Klarheit vor sich sehen. In dem Buch Why Me?, das der neunjährige Garrett Porter, der an einem bösartigen Hirntumor litt, und seine Psychologin Patricia Norris gemeinsam verfaßten, wird ein sehr lebendiger, individueller Visualisierungsprozeß geschildert. Zu Garretts Arsenal von inneren Bildern gehörten Raumschiffe und Raketen, vertraute Symbole für einen Jungen in seinem Alter. Nach monatelangen Raketenangriffen auf den Tumor berichtete Garrett plötzlich, daß er sich die Geschwulst innerlich nicht mehr vor Augen rufen könne. Als wieder einige Monate später eine Computertomographie vorgenommen wurde, wollte der Arzt wissen, ob der Tumor operativ entfernt worden sei, weil er auf dem Filmbild nichts mehr finden konnte, außer einer winzigen Kalkablagerung, einem »komischen weißen Fleckchen«.
Betty Preston Betty Preston, die letzte, die in diesem Buch zu Wort kommt, ist gleichzeitig die Person, die am schwierigsten darzustellen ist. Die Aura, die von ihr ausgeht, ist kaum in Worte zu fassen; in ihrer Gegenwart hat man das Gefühl, bedingungslos angenommen zu werden. Sie ist schön mit ihren siebzig Jahren, und voller Liebe. Diese Liebe auszudrücken ist zu ihrem Lebensziel geworden. 202
Vor etwa fünfzehn Jahren mußte Betty sich einer Herzoperation unterziehen; die geschädigte Mitralklappe ihres Herzens sollte durch eine künstliche ersetzt werden. Was während der Operation geschah, ist der Alptraum aller Herzpatienten. Die Herz-Lungen-Maschine hatte eine Fehlfunktion. Versehentlich wurde Luft in die großen Blutgefäße und in den Kopf gepumpt. Nach den Aussagen ihres Kardiologen führte dieser Fehler zu einer schweren Gehirnschädigung. Der Kardiologe fand es auch erstaunlich, daß sie überhaupt das Bewußtsein wiedererlangte, und gab ihre Überlebenschancen in dieser Situation mit 1: 100 an. Während sie bewußtlos dalag, machte sie die tiefe Erfahrung der Todesnähe. Früher wurden Todesnäheerfahrungen als Erfindungen, Halluzinationen, ja sogar als das Werk des Teufels betrachtet. Aber in den letzten Jahren ließen die Arbeiten von Kenneth Ring, Raymond Moody und anderen wenig Zweifel daran, wie häufig dieses Phänomen vorkommt. Eine sorgfältig durchgeführte GallupMeinungsumfrage kam zu der Schätzung, daß mehr als acht Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner Todesnäheerfahrungen hatten. In aller Regel berichten diese Menschen, daß sie sich auf dem Höhepunkt einer schweren Krankheit oder nach einem schweren Unfall plötzlich in einem Schwebezustand befanden und auf ihren eigenen Körper hinabschauten wie unparteiische Beobachter. Jede Todesnäheerfahrung ist einzigartig, aber es gibt offenbar einige gemeinsame Grundzüge, einen Ablauf von Ereignissen, der immer wieder in ähnlicher Weise geschildert wird: Zuerst erlebt die Person die Trennung vom eigenen Körper, dann den Eintritt in eine Art Tunnel; das eigene Leben zieht noch einmal vorüber, dann erscheint ein Licht, das immer heller und leuchtender wird und die Person schließlich ganz einhüllt. Betty schildert all diese Ereignisse, mit Ausnahme der Trennung vom eigenen Körper. Die Erfahrung wird als beispiellos ekstatisch beschrieben. Menschen, die zwischen Leben und Tod schwebten und solche Erfahrungen machten, sagen, daß sie die Ereignisse mit einer Klarheit wahrnahmen, die normalerweise unmöglich erscheinen würde, selbst wenn sie bei Bewußtsein gewesen wären. Die Erfahrungen der Loslösung vom eigenen Körper, die Michael Sabon in seinem Buch »Erinnerungen an den Tod« zusammentrug, sind für Skeptiker von besonderem Interesse. Sabon, ein Kardiologe, zeichnete Berichte über Todesnäheerfahrungen von 116 Menschen auf. Er verglich ihre Schilderungen der Ereignisse, die sich in der unmittelbaren Umgebung (zum Beispiel im Nebenzimmer) abspielten, mit den Berichten von Familienmitgliedern und Pflegepersonal. Er kam zu dem Schluß, daß bei Todesnäheerfahrungen eine Form der Wahrnehmung im Spiel ist, die die normale menschliche Sinneswahrnehmung transzendiert. An dieser Stelle lassen wir die weitreichenden metaphysischen Implikationen solcher Vorgänge jedoch außer acht und konzentrieren uns auf die Veränderungen, die sie im Leben der Menschen, die diese Erfahrungen machten, bewirken. Kenneth Ring, ein Professor der Universität von Connecticut, hat die Auswirkungen von Todesnäheerfahrungen auf das Leben von Individuen systematisch untersucht. In seinem Buch »Den Tod erfahren« sagt Ring, daß solche Erfahrungen das Leben eines Menschen nicht nur verändern, sondern oft auf einen ganz anderen Weg bringen. Er schließt daraus, daß die Todesnähe der Katalysator für ein spirituelles Erwachen sein kann. Nach ihrer »Rückkehr« hatten die meisten Menschen keine Angst mehr vor dem Tod, und diese Veränderung scheint permanent zu sein. Betty Preston weiß, was es bedeutet, ein Leben ohne Angst zu führen: 203
»Ich war bei der Telefongesellschaft beschäftigt; 1975 ging ich in den Ruhestand. Ich mußte mich einer Herzoperation unterziehen, also nahm ich mir ein Jahr Zeit, um mich darauf vorzubereiten, weil sie sagten, daß es nicht sofort sein müßte. Ich betete jeden Tag. Mein Mann erzählte mir, wenn er morgens aufstand, um zur Arbeit zu gehen, ließ er mich einfach in Ruhe, weil ich meditierte. Es war so schön; ich machte mir über die Operation nicht die mindesten Sorgen. Ich sollte eine künstiiche Herzklappe bekommen. Während der Operation versagte die Herz-Lungen-Maschine. Die Luft staute sich, strömte zurück und zerstörte einen Teil meines Gehirns, den Teil, der das Erinnerungsvermögen enthält. Ich stelle mir vor, daß es während der Operation passierte, was ich natürlich nicht mit Sicherheit weiß. Plötzlich war ich hellwach. Ich drehte und drehte mich in einem Tunnel. Ich hatte keine Angst. Dann sah ich ein wunderschönes Licht durch den Tunnel auf mich zukommen. Ich war so fasziniert davon, es war so schön. Als es mich erreicht hatte, umhüllte es mich, und dann füllte es mich ganz aus, so daß ich zu diesem Licht wurde. Es nahm alles weg, was mit mir nicht in Ordnung war, und ich fühlte mich besser als je zuvor in meinem Leben. Dann sah ich mein ganzes Leben vor mir ablaufen, so als wäre es auf einem Computer aufgezeichnet. Alles in meinem Leben wurde mir gezeigt, die guten Dinge und auch das, was nicht so gut war. Damit war keine Verdammung und kein Urteil verbunden. Ich schaute einfach zu, wie eine Außenstehende. Vielleicht ist das Gottes Weg, die Menschen zu kennen, oder mein Weg, mir über mein Leben klarzuwerden. Nachdem mein Leben vorübergezogen war, kam ein unvorstellbar schönes, liebeerfülltes Licht durch den Tunnel auf mich zu. Es war Wärme und wundervolle Liebe - reine Liebe. Ich war voller Freude und Leichtigkeit. Die Zeit hatte keine Bedeutung. Wer das nicht erlebt hat, kann sich diese Liebe nicht vorstellen. Manche Leute sagen, es ist Jesus; ich sage einfach, das Licht war Gott. Der Name, den man ihm gibt, hängt von den religiösen Vorstellungen ab, die man hat. Unmittelbar danach sah ich zwei Menschen auf mich zukommen, und ich erkannte sie. Es waren Dr. Rudolph Dyer, er war drei Jahre vorher gestorben, und Holly McKilroy, meine beste Freundin, die acht Jahre zuvor gestorben war. Wir waren glücklich, einander wiederzusehen; es war ein wundervolles Geschenk, wieder zusammenzukommen. Als ich zurückkam, weinte ich zuerst, weil ich dachte, ich hätte sie wieder verloren. Aber die Erfahrung öffnete mir ganz neue Wege. Jetzt weiß ich, daß ich ihre Gegenwart spüren kann, wenn ich über sie spreche oder an sie denke. Jetzt, in diesem Augenblick, kann ich fühlen, daß sie bei mir sind und ihre Arme um mich legen. Sie sagen, daß es richtig ist, was ich hier tue. Sie sind meine Schutzengel. Während ich zwischen Leben und Tod war, gaben sie mir alles Wissen und zeigten mir die Zukunft. Aber ich hätte damit nicht umgehen können, und daher konnte ich mich nach meiner Rückkehr nicht mehr daran erinnern. Aber wenn jetzt etwas geschieht, sage ich mir: >Ach ja, das wußtest du doch.<
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Ich bin ganz sicher, daß die Erfahrung etwas anderes war als ein Traum. Andere, die Todesnäheerfahrungen hatten, empfinden genau dasselbe. Die Leute sagen: >Ach, wahrscheinlich hast du es geträumt.< Aber es ist etwas ganz anderes als ein Traum. Man weiß, daß es real ist. Direkt nach der Operation kam der Arzt heraus und sagte meiner Familie, falls ich überlebte, würde ich ohne Bewußtsein dahinvegetieren wie eine Pflanze, und mein Sohn, Bob Junior, sagte: >Nein, das nehme ich nicht so hin!< Er sagte das zu einem großen Herzspezialisten und einigen anderen Ärzten, die alle meinten: >Es ist unmöglich, daß sie sich wieder erholt.< Später sagte der Herzspezialist, es war sehr gut, daß Bob Junior das sagte, weil es Zweifel in ihm aufkommen ließ. Ich mochte meine Ärzte, sogar nachdem das passiert war. Dr. Rothstein war ein wirklich lieber Mensch. Dann teilte der Arzt ihnen mit, wenn sie mir noch etwas zu sagen hätten, sollten sie es jetzt tun. Mein Mann wurde ohnmächtig, und die Frau meines anderen Sohnes fiel beinahe in Ohnmacht, also kam Bob Junior erstmal allein herein. Während ich im Koma lag, sagte mein anderer Sohn zu mir: >Ma, ich liebe dich mehr als alles andere auf dieser Welt.< Ich brauchte zwei Jahre, bis ich ihn in Kalifornien anrufen und ihm sagen konnte, daß ich ihn gehört hatte. Er weinte am Telefon und sagte: >Genau diese Worte habe ich gesagt, und ich bin so erschüttert, daß es etwas bewirkt hat.< Und es bewirkte tatsächlich etwas, denn wenn ich ihn nicht gehört hätte, wäre ich an diesem wunderschönen Ort geblieben. Nicht jeder hat die Wahl, aber ich war schon sehr weit weg, und ich hätte dort bleiben können. Natürlich wäre ich gern geblieben, weil es so wunderschön ist, voller Wärme und Liebe. Ich lag acht Tage lang im Koma. Als ich aufwachte, wußte ich, daß ich im Krankenhaus war, aber ich wußte nicht warum. Ich hatte zehn oder zwanzig Jahre aus meinem Gedächtnis verloren, und das meiste ist immer noch weg. Meine Angehörigen und meine Freunde sahen für mich alle zehn Jahre älter aus. Die Ärzte sagten, es hätte mich vernichten können, weil ich weder gehen noch sprechen konnte. Ich mußte alles noch einmal neu lernen. Aber ich fühlte mich nie vernichtet. Ich hatte das Erlebnis und wußte, was es mit dem Leben auf sich hat. Da war überhaupt keine Angst. Ich spreche mit den Leuten auf der Straße. Ich sage fast jedem einen Gruß. Wenn ich mit meinem Mann in ein Restaurant ging oder an einen anderen Ort in der Öffentlichkeit, nickte ich den Leuten zu, lächelte und sagte >hallo<, und er sagte: >Mußt du mit jedem reden?< Ich sagte: >Ja. Das ist meine Aufgabe, weißt du?< Er starb vor einigen Jahren. Er war Diabetiker, und außerdem trank er. In einem Jahr wurde ihm ein Bein abgenommen, und im Jahr darauf wurde das andere amputiert, direkt unter dem Knie. Es war eine furchtbare Zeit für mich und für Bob selbst und unsere Kinder. Ich weiß nicht, warum das notwendig war. Als er sich entschloß, zu sterben, hörte er auf zu essen und hungerte sich im Krankenhaus zu Tode. Aber vorher sprach er im Krankenhaus oft mit Leuten, die sehr krank waren und bald sterben mußten und sagte ihnen: Meine Frau hat eine wundervolle Erfahrung gemacht.< Zu mir sagte er dann: >Liebling, erzähl es ihnen doch!< 205
Also fing ich an zu erzählen, und er fuhr mit seinem Rollstuhl weg, weil er es nicht noch einmal hören wollte. Er winkte mir zu und machte seine Sache weiter, und ich sprach mit den Leuten dort. Es ist so wundervoll, Menschen, die leiden und starke Schmerzen haben, sagen zu können, daß es keinen Grund gibt, Angst zu haben und sich Sorgen zu machen. Ich habe absolut keine Angst mehr. Ich mache mir nie Sorgen um den nächsten Tag oder um irgend etwas anderes, weil ich weiß, daß alles in Ordnung kommt. Tatsächlich hatte ich einen Herzanfall, als ich zum Jahreswechsel in Kalifornien war; ich sagte dem Arzt: >Diesmal sollten Sie mich gehen lassen, falls ich aufhören sollte zu atmen.< Ich kam zurück, um bedingungslose Liebe zu leben und weiterzugeben. Das ist meine Aufgabe, aber ich brauchte lange, bis ich sie gut ausfüllen konnte. Zuerst versuchte ich, den Leuten zu erzählen, was ich erlebt hatte, aber ich kam ins Stottern, und sehr oft drehten die Leute sich um und gingen weg, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen. Aber ich weiß, daß es meine Aufgabe ist, bedingungslose Liebe zu sein und zu lehren; nur deshalb kam ich zurück. Überall, wo ich hinkomme, versuche ich, Menschen zu helfen. Wenn ich feststelle, daß jemand an meiner Geschichte nicht interessiert ist, dränge ich mich nicht auf. Ich spreche nur mit Leuten, die unbedingt hören wollen, was ich zu sagen habe. Ich gehe in die Krankenhäuser. Manche Leute haben nichts, was ihnen Halt gibt, außer ihrem eigenen Selbst, und ihr Selbst ist geschwächt, also haben sie Angst. Ich denke, es macht einen großen Unterschied, wenn man an etwas glauben kann; — Gott, oder wie immer man es nennen will. Jeder Mensch hat eine innere Heilkraft. Jeder hat sie. Alles, was man tun muß, ist, diese Kraft erkennen, in sie hineingehen und sagen: »Komm; ich muß von dieser Krankheit geheilt werden. Ich akzeptiere dich. Ich verlasse mich auf dich und ich bin dir dankbar.< Ich gehe auch an Schulen und spreche mit Schülern und College-Studenten. Ich sage ihnen, daß sie keine Angst zu haben brauchen. Ich sage den Kindern, daß sie versuchen sollen, niemanden zu verletzen, daß sie versuchen sollen, das Beste aus ihrem Leben zu machen und für andere da zu sein, denn nur darum geht es im Leben. Es geht nicht darum, eine Menge Geld zu machen und vor den anderen damit zu protzen. Ich sage: >Denkt niemals daran, euch das Leben zu nehmen, denn nur Gott hat das Recht dazu. Sonst müßt ihr vielleicht alles noch einmal durchmachen.< Sie scheinen immer sehr daran interessiert zu sein, was ich zu sagen habe, und bevor ich gehe, stehen sie alle Schlange, um mich zu umarmen. Mein eigener Arzt, mein Hausarzt, zu dem ich regelmäßig gehe, kommt immer und umarmt mich jedesmal, wenn ich ihn sehe. Das hört sich jetzt so an, als wäre ich drauf aus, ständig umarmt zu werden, aber es passiert einfach. Ich weiß, daß Liebe von mir ausstrahlt, und sie können nicht anders, als mich zu lieben. Denn ich liebe sie bedingungslos; es ist Gott in meinem Inneren, der alle Wesen liebt.«
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Beobachtungen Die meisten Menschen in unserer Kultur brauchen ein ganzes Leben, um sich mit dem Gedanken an den Tod zu konfrontieren. Manchmal ist die Angst so übermächtig und die Aussicht auf Frieden so fern, daß viele Menschen jede Berührung mit dem Thema meiden, bis sie von der unvermeidlichen Erkenntnis ihrer eigenen Sterblichkeit überwältigt werden. Und selbst wenn der Tod schon sehr nah erscheint, können die Ängste es immer noch unmöglich machen, sich der Bedeutung des eigenen Sterbens zu stellen. Wir gehen bei dieser Diskussion von der Prämisse aus, daß die Auseinandersetzung mit dem Tod tiefgreifende Auswirkungen auf die seelische, geistige und vielleicht sogar körperliche Befindlichkeit von Menschen hat. Es mag widersprüchlich erscheinen, aber außer in medizinischen Notfällen steht das Vorbereitetsein auf den Tod mit dem Ziel des Lebendigbleibens nicht in Konflikt. Sid Baker, der medizinische Direktor des Gesell Institute of Human Development erklärt in einem persönlichen Interview: »Wenn Menschen wirklich in Todesgefahr schweben, kommt die Frage auf, was eigentlich Vorrang hat - Sterben oder Leben. In der Krankenhaussituation ist da immer der Konflikt, in welche Richtung die ärztliche Hilfe gehen soll. Es gibt den Punkt, an dem man einen Endotrachealtubus einführt, hineinbläst und jemanden damit sehr quält, und es gibt den anderen Punkt, wo man einfach die Hand des Patienten nimmt und ihm einfach eine friedliche Reise wünscht. Und man kann nicht beides zur gleichen Zeit tun. Die ganze Szenerie, in der ein Wiederbelebungsversuch stattfindet, ist so grauenhaft im Vergleich zu unseren Vorstellungen von einem menschenwürdigen Sterben. ... Zumindest für die nicht-akute Situation habe ich diese Frage für mich geklärt. Ich denke, um menschenwürdig zu sterben, sollte man Gelegenheit haben, in bezug auf das eigene Leben Klarheit zu schaffen, Dinge zu sagen, die man nie gesagt hat, Gefühle auszudrücken, die man immer zurückgehalten hat, unerledigte Probleme mit anderen Menschen zu Ende zu bringen. Wie sich herausstellt, ist das auch ein gutes Lebensrezept; das Lebensrezept überhaupt. Manchmal sage ich einem Menschen, der in Todesgefahr schwebt: >Sehen wir den Dingen ins Auge; es steht schlecht um Sie. Sie haben Metastasen, und das ist keine gute Nachricht. Ich bin hier Arzt, und ich möchte, daß Sie leben; aber für den Fall, daß Sie sterben, möchte ich Ihnen gern einige Dinge sagen. Vielleicht haben Sie das Gefühl, daß Sie aufgeben, wenn Sie sich auf den Tod vorbereiten, daß Sie dem Leben den Rücken kehren. Aber das ist nicht so, die Aufgabe ist dieselbe. Wenn es sein soll, daß Sie überleben, müssen Sie sich wandeln, und zwar in dem Sinn, daß Sie aufrichtiger und wahrhaftiger mit sich selbst umgehen. Und wenn es sein soll, daß Sie sterben, müssen Sie auch eine Kehrtwendung vollziehen und mit einigen Menschen in einer Weise sprechen, die mit Ihrer inneren Wahrheit übereinstimmt. Beide Pfade führen also in dieselbe Richtung.< Es ist erstaunlich, wie viele Menschen zurückkommen und sagen: >Wissen Sie, diese Krankheit ist das Beste, was mir passieren konnte.<« Westliche und östliche Denker, Existentialpsychologen und indische Gurus äußern die Auffassung, daß die Furcht vor dem Tod die Wurzel aller anderen Ängste, aller menschlichen Ängste überhaupt ist. Wenn man fähig ist, sich mit der eigenen Sterblichkeit zu 207
konfrontieren und sich von der Furcht vor dem Tod zu befreien, können alle anderen Ängste sich lösen. Manche Menschen halten an ihrer Furcht vor dem Tod fest in dem Glauben, daß sie Gefahr laufen, zu sterben, wenn sie loslassen. Die Furcht vor dem Tod bewahrt uns jedoch nicht vor dem Sterben, sondern hindert uns am Leben. Ob wir krank sind oder gesund, - jeder wache Moment unseres Lebens ist durch unsere Beziehung zum Tod beeinflußt. Vor vielen Jahren machte ein Arzt, der sowohl Kranke als auch Gesunde berät, mir das durch eine treffende Analogie klar. Wir saßen in seinem Arbeitszimmer, und er sagte: »Stellen Sie sich vor, daß draußen vor der Tür dieses Zimmers ein gräßliches Ungeheuer auf Sie lauert. Wie würden Sie sich dann in diesem Raum fühlen?« Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Und nun stellen Sie sich vor, daß draußen vor dieser Tür das Paradies ist, schön, friedlich und über Ihre größten Erwartungen hinaus mit Liebe erfüllt. Wie würden Sie sich dann in diesem Raum fühlen?« Die phantasierten Situationen genügten, um meine Gefühle in starke Bewegung zu versetzen. Obwohl der Raum derselbe blieb, nahm ich ihn anders wahr, je nachdem, welche Szenerie ich mir draußen vor der Tür vorstellte. Das Beispiel hatte seine Wirkung nicht verfehlt: Mir war deutlich geworden, daß unsere Vorstellungen vom Tod unmittelbaren Einfluß auf unser Leben haben. Es gibt gute Gründe, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Wenn wir glauben, daß sich hinter dem Vorhang ein schreckliches Schicksal verbirgt, das auf uns lauert, wie können wir dann unser Leben wirklich genießen? Aber wenn wir so leben, als sei der Tod der Aufbruch in ein großes, unbekanntes Abenteuer, sind wir frei, die Befriedigung des Lebens im Hier und Jetzt zu erfahren. Plötzlich gibt es keinen Grund mehr für unsere unablässigen, aber vergeblichen Versuche, die Zukunft vorwegzunehmen und zu kontrollieren und so viel Lebensenergie in diesem sinnlosen Versuch zu verausgaben. Der Prozeß des Sterbens kann uns mit der denkbar intensivsten Erfahrung von Nähe und Liebe in Berührung bringen. Aber die Angst entfremdet uns unseren eigenen Gefühlen. Um uns zu >schützen<, halten wir uns von den Schwerkranken fern und erkennen den Sinn dieser schwierigen menschlichen Prüfung nicht. Dieses verlorene Potential wird zur Enttäuschung und Einsamkeit führen, und das Leben selbst erscheint uns vielleicht als so karg und dürftig, daß nur der Tod uns davon befreien kann. Wenn wir das Risiko eingehen und Schmerz, Wut, Angst und Liebe zeigen und mitteilen, erfahren wir den Trost und den Sinn menschlicher Verbundenheit. Um uns den Tod so fern wie möglich zu halten, in klinischer Distanz, sorgen wir manchmal für die Hospitalisierung der Sterbenden, obwohl medizinische Betreuung und Behandlung überflüssig oder nicht mehr möglich ist. Wir handeln in heimlichem Einverständnis mit der Apparatemedizin, wenn wir hoffen, daß jemand uns die Konfrontation mit dem Tod abnimmt, und wenn wir vorgeben, Ärzte und Pflegepersonal wüßten am besten, was zu tun sei. In The Mechanic and the Gardener (»Der Mechaniker und der Gärtner«) schreibt Lawrence Le Shan: »Wir glauben nicht einmal mehr an unsere Fähigkeit, allein sterben zu können, oder in der tröstlichen Nähe eines geliebten Menschen. Wir meinen, wir müßten einen Hofstaat weißbekittelter antiseptischer Figuren um uns haben, um den letzten Übergang zu vollziehen. Der Einzelne ist so hilflos geworden, daß er nicht einmal mehr mit seinem eigenen Tod ringen oder seinen eigenen Weg des Sterbens finden kann finden kann.« 208
Schwerkranke Patienten, die unter starken Schmerzen leiden, sind zwar selbst oft ambivalent, was Schmerzmittel betrifft, aber sie finden sich häufig damit konfrontiert, daß Angehörige, Freunde und Ärzte ihnen zuraten, Narkotika zur Schmerzlinderung zu nehmen. Dem Patienten Erleichterung zu verschaffen mag das bewußte Motiv dieses Drängens sein: aber das unbewußte Motiv ist häufig, allen anderen bei der Vermeidung der Auseinandersetzung mit dem Tod zu helfen. Wenn Patienten durch die Wirkung der Medikamente euphorisch oder nur halb bei Bewußtsein sind oder wenn sie ständig schlafen, ist es unwahrscheinlich, daß sie über ihren bevorstehenden Tod sprechen. Wenige Ärzte geben zu, daß sie Narkotika nicht nur zur Schmerzlinderung, sondern auch aus anderen Gründen verabreichen. In Death, Dying and Euthanasia (»Tod, Sterben und Euthanasie«) sagt Richard Lamerton, daß Medikamente zu gewissen Zeiten ausschließlich mit dem Ziel eingesetzt werden, die Angst vor dem Tod abzuschwächen. Es sind jedoch nicht nur die Ängste des Patienten, die beschwichtigt werden müssen. Ein Artikel, der in der Zeitschrift Annals ot Internal Medicine veröffentlicht wurde, zeigt, daß Ärzte oft mehr Angst vor dem Tod haben als ihre Patienten. Wenn starke Schmerzmittel wie die Narkotika einfach den Schmerz milderte, wäre das kein Thema, aber jedes Milligramm Morphin, jede Methadontablette fordert ihren Preis. Starke Mittel wie diese verzerren die Art, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, da sie einen veränderten Bewußtseinszustand hervorrufen. Die allgemein verbreitete Vorstellung, daß der oder die Sterbende vor allem von Schmerzen befreit werden müsse, entspricht nicht notwendigerweise den Wertvorstellungen und Wünschen jedes sterbenden Menschen. Wenn man ihnen die Wahl läßt, entscheiden manche Menschen sich für weniger Medikamente, selbst wenn das stärkere Schmerzen bedeutet. Freud, der unter sehr starken Schmerzen litt, als er im Sterben lag, traf eine solche Entscheidung. Er sagte: »Lieber denke ich unter Qualen, als nicht mehr zum Denken fähig zu sein.« Apathie ist eine bekannte Nebenwirkung von Narkotika. Tatsächlich wird die Wirkungsweise narkotischer Mittel manchmal mit einer frontalen Lobotomie verglichen. Was könnte für einen Menschen, der noch um sein Leben ringt, nachteiliger sein als eine Droge, die Apathie auslöst? Im Idealfall würden Patienten das Für und Wider von Narkotika und ihrer Dosierung selbst abwägen und darüber entscheiden. Dies wäre ein fortgesetzter Prozeß, der jederzeit den Veränderungswünschen der Patientin oder des Patienten unterliegt. In dieser Situation wie in allen anderen die Pflege und Behandlung betreffenden Angelegenheiten würden die Patienten selbst die Entscheidungen treffen, soweit es irgend möglich ist, und das schließt das Recht ein, zu entscheiden, daß sie einem anderen Menschen die Entscheidungsvollmacht übergeben wollen. Im Idealfall würden die Patienten selbst über alles bestimmen, was ihre physischen und emotionalen Bedürfnisse betrifft, und sich selbst das Recht vorbehalten, ob sie über ihren bevorstehenden Tod sprechen wollen. Obwohl es für die meisten Menschen eine Lebensaufgabe ist, ihren Frieden mit dem Tod zu machen, scheint die Todesnäheerfahrung von einer solchen Intensität zu sein, daß sie spontan zu Erkenntnissen führen kann, die sonst im Lauf eines ganzen Lebens gewonnen werden. Elisabeth Kübler-Ross, eine Autorität in diesen Fragen, wenn es in der Frage des Sterbens und des Todes überhaupt so etwas wie eine Autorität geben kann, kennt die Intensität der Todesnäheerfahrung. Kübler-Ross schreibt aus ihrem 209
eigenen Erleben heraus: »Jeder, der die Gnade erfahren hat, dieses Licht zu sehen, wird nie wieder Angst vor dem Tod haben. Die bedingungslose Liebe, das Verständnis und das Mitgefühl, das man in der Gegenwart dieses Lichtes erfährt, liegen jenseits jeder menschlichen Beschreibung.« Für die fünfundneunzig Prozent von uns, denen die Todesnäheerfahrung weder geschenkt noch aufgezwungen wurde, bleibt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod ein Akt persönlicher Willensentscheidung und erfordert den bewußten Vorsatz. Letztlich ist diese Auseinandersetzung unser größtes Bemühen wert, denn dieser Prozeß kann uns mit dem tiefsten Lebenssinn in Berührung bringen. Als der chassidische Rabbi Buram im Sterben lag, sagte er seiner Frau, sie solle nicht weinen: »Mein ganzes Leben hatte nur das Ziel, daß ich zu sterben lernte.« Die Kraft des inneren Friedens können wir nur realisieren, wenn wir alle Facetten des Lebens annehmen, den Tod eingeschlossen. Eine buddhistische Legende gibt eine phantasierte Begegnung zwischen Buddha und Attila, dem Hunnenfürsten, wieder. Attila und seine Kriegerhorde haben das Kloster gestürmt und entweihen den heiligen Ort durch Mord und Plünderung. Die Mönche laufen kopflos umher, bis auf Buddha, der heiter in seiner Meditation verharrt. Mit erhobenem Schwert baut Attila sich vor Buddha auf und schreit ihn an: »Weißt du nicht, wer ich bin? Ich könnte dir mein Schwert in den Leib stoßen, ohne mit der Wimper zu zucken!« Ohne zu zögern antwortet Buddha: »Weißt du nicht, wer ich bin? Ich könnte dein Schwert in meinem Leib empfangen, ohne mit der Wimper zu zucken!« Da ich versuchen wollte, die Beziehung zwischen dem Annehmen der eigenen Sterblichkeit und dem Geheiltwerden besser zu verstehen, nahm ich an einem Treffen von Menschen teil, die Todesnäheerfahrungen gemacht hatten. (Für viele Menschen hat diese Erfahrung sich als so machtvoll und folgenreich erwiesen, daß überall im Land Gesprächsgruppen entstanden sind.) Die zwanzig Menschen, die an der Veranstaltung teilnahmen, waren übereinstimmend der Meinung, daß physische Heilungsprozesse nach der Todesnäheerfahrung bei ihnen schneller verliefen. Ich sagte, ich verstünde nicht, wie das der Fall sein könnte. Eine Frau im mittleren Alter, die nach ihrer Todesnäheerfahrung begonnen hatte, an Motorradrennen teilzunehmen, antwortete mir. Sie schilderte, wie schnell ihre Verletzungen nach einem schweren Motorradunfall geheilt waren, und stellte Vermutungen über die Gründe an. Sie fühlte sich nun im Einklang mit der ihrem Körper innewohnenden Fähigkeit, sich selbst zu heilen. Sie blockierte die natürliche Neigung ihres Körpers, seine gesunden Funktionen wiederherzustellen, nicht mehr. Ähnlich wie die Menschen, die Todesnäheerfahrungen machten, scheinen auch die meisten Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen, die ich interviewte, keine Angst vor dem Tod zu haben. Folglich wurden die Kräfte ihres Immunsystems nicht durch Ängste, Panik oder Depression dezimiert, während sie ihrer Genesung entgegenstrebten. Auf der pragmatischen Ebene machten diese Überlebenden schwerer Krankheiten sich keine Sorgen um mögliche Rückschläge, was ihren Zustand anging. Sie wollten gesund sein und taten alles dafür, was in ihren Kräften stand, aber sie wußten, daß sie letztlich auch ihren physischen Tod annehmen konnten.
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Die Auseinandersetzung mit diesem Thema konnte an dieser Stelle nicht anders als übermäßig vereinfachend sein. Tod und Sterben sind - ebenso wie Leben und Lebendigsein - so komplexe Phänomene, daß man unmöglich sagen kann, man habe sie verstanden. Jene, die sich mit dem Gedanken an Sterben und Tod auseinandersetzen, wissen, daß sie an einem Tag inneren Frieden empfinden und vielleicht schon am nächsten Tag das Gefühl haben, gar nichts zu begreifen. Das bewußte Bemühen, in den Sinn dieser Dinge einzudringen, ist alles, was wir tun können. Wenn es um das Sterben geht, muß jeder einzelne Mensch seinen - oder ihren - eigenen Weg finden. Woody Allen sagte: »Es ist nicht so, daß ich Angst vor dem Sterben hätte. Ich möchte lediglich nicht dabei sein, wenn es passiert.« Gegen den Wunsch, am liebsten nicht dabei zu sein, wenn es passiert, ist gar nichts einzuwenden, aber gerade dieses Ereignis wird höchstwahrscheinlich nicht abgesagt, wenn Sie nicht erscheinen, und wenn Sie nicht präsent sind, könnte es sein, daß Sie selbst und die Menschen, die Ihnen nahestehen, eine eminent bedeutsame Erfahrung versäumen.
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SCHLUSSBETRACHTUNGEN Als ich im vorletzten Sommer mit einigen Freunden in Cape Cod Urlaub machte, wäre ich beinahe ertrunken. Es war mein letzter Ferientag, und ich wollte das Beste daraus machen. Sobald wir an den Strand kamen, warf ich meine Decke hin und lief zum Wasser hinunter. Ein Sturm weit draußen auf dem Atlantik peitschte hohe Wellen auf, die an den Stränden von Cape Cod selten waren. Ich war überzeugt, der Tag würde wundervoll, denn die Sonne strahlte, es war heiß, und die Wellen waren herrlich. Body-Surfen war seit jeher eine meiner Lieblingsaktivitäten. Ich fühlte mich eins mit der Natur, wenn ich eine hohe Welle erwischte und mich von ihr davontragen ließ. Ich rannte zurück zu der Stelle, an der meine Decke lag, und versuchte die anderen zu animieren, auch ins Wasser zu kommen. Einer der Freunde sagte, er brauche ein paar Minuten, um sich innerlich auf den eiskalten Atlantik einzustellen, aber er werde gleich nachkommen. Als ich wieder zum Wasser hinunterlief, entging mir zum zweiten Mal, daß an der unbemannten Rettungsstation eine rote Flagge aufgezogen war. Wegen der unruhigen Wasserverhältnisse wurde an diesem Tag an allen Cape-Cod-Stränden vor dem Schwimmen gewarnt. Die höchsten Wellenkämme waren weit draußen, aber da ich kein starker Schwimmer bin, wagte ich mich nicht weit genug hinaus, um die großen Wellen zu reiten. Aber das Meer war in so turbulenter Bewegung, daß es immer noch ein Hochgenuß war, sich von der Gischt der auslaufenden Wellen mitreißen zu lassen. Nach einer halben Stunde war ich durchgefroren und signalisierte meinem Freund, daß ich herauskommen würde. Auf dem Weg zum Strand wurde ich unversehens von einer anrollenden Welle gepackt und umgeworfen. Ich kämpfte nicht gegen den Sog an, sondern ließ mich mitziehen. Nach kurzer Zeit versuchte ich, mich auf die Füße zu stellen, um die letzte Strecke zum Strand zu waten, aber ich fand keinen Grund unter meinen Füßen. Ich war nicht sonderlich beunruhigt, obwohl mir der Gedanke, im tiefen Wasser zu sein, nicht angenehm war. Ich schwamm einige Minuten lang in Richtung Ufer, in der Überzeugung, daß ich auf festen Grund stoßen würde, wenn ich aufstand. Aber das war nicht der Fall. Ich schwamm weiter, wieder einige Minuten lang, und als ich immer noch keinen Grund unter den Füßen spürte, wurde ich unsicher. Ich schwamm weiter, längere Zeit, in der Hoffnung, daß es nun reichen würde. Aber wieder war da nichts als Wasser. Ich verstand nicht, was vorging; der Strand schien immer noch gleich weit entfernt. Nach drei weiteren Anläufen des Schwimmens und Nach-Grund-Tastens fühlte ich mein Herz pochen. Ich bemühte mich, mit einigem Erfolg, Ruhe zu bewahren, und versuchte es weiter. Nach weiteren fünf Minuten Schwimmen, ohne daß ich Grund unter mir fühlte, bekam ich panische Angst. Ich mußte mich beruhigen. Ich drehte mich auf den Rücken, ließ 212
mich treiben und versuchte, mich zu entspannen. In der Vergangenheit war die Meditation immer etwas, auf das ich zählen konnte, wenn ich innere Ruhe und Entspannung brauchte. Ich hatte seit dreizehn Jahren regelmäßig Meditation praktiziert, also erschien es mir sinnvoll, trotz der heftigen Wellen einige Minuten loszulassen und mich in den Meditationszustand zu versetzen, um meine Fassung wiederzugewinnen. Aber zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich innerlich nicht zur Ruhe kommen, nicht einmal eine Sekunde lang. Ich tauchte, um festzustellen, wie tief das Wasser war. Ich konnte den Grund nicht sehen. Ich hatte furchtbare Angst. Ich war erschöpft. Ich wußte, daß ich ertrinken würde, wenn mir nicht bald jemand zu Hilfe käme. Beinahe automatisch hob ich die Hände, legte sie wie ein Trichter um den Mund und schrie, so laut ich konnte: »Hilfe, Hilfe, Hilfe!« Ich legte meine letzten Energiereserven in diesen Hilfeschrei. Aber ich war sehr weit vom Ufer entfernt. Ich konnte die Menschen am Strand kaum erkennen. Niemand kam mir zu Hilfe. Ich wußte nicht, ob sie mich hören oder sehen konnten; sie schienen dazustehen und die Dinge unbeteiligt mitanzusehen. Vage Gedanken gingen mir durch den Kopf; mein kleiner Sohn, er brauchte mich, ich mußte ihn wiedersehen, ich durfte nicht sterben. Ich schrie weiter um Hilfe, aber es schien mich immer noch niemand zu bemerken. Ich weiß nicht, ob die Kälte des Wassers oder die Panik mich lähmte, aber ich konnte mich kaum noch bewegen. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu schreien. Ich war sicher, daß ich sterben würde. Sohn oder nicht - ich konnte nichts mehr tun. In einem flüchtigen Moment der Klarheit wurde mir bewußt, daß ich höchstens noch fünfzehn Sekunden hatte, bevor ich unterging. Es war niemand in Sicht. Ich dachte an Gott. Das waren keine friedvollen oder tröstlichen Gedanken, nur eine vage Erinnerung: Sollte man nicht an Gott denken, bevor man starb? Ich konnte nicht loslassen, obwohl es scheinbar keinen Ausweg gab. Ich hatte solche Angst vor dem ersten Schwall Wasser, der in meine Lunge eindringen würde. Ich wollte nicht sterben. Jede Sekunde war schrecklich; es war das Schlimmste, was mir je geschehen war. Es konnte nicht schlimmer kommen. Und doch war jede vergehende Sekunde schrecklicher als die vorangegangene. Plötzlich hörte ich eine Stimme hinter mir: »Bleib ganz ruhig!« Rick Gildea, der Freund, den ich aufgefordert hatte, mit mir schwimmen zu gehen, hielt meinen Kopf über Wasser. Innerhalb weniger Minuten tauchten zwei Rettungsschwimmer mit ihren Surfbrettern auf. Sie hatten keinen Dienst und waren nur zufällig am Strand spazierengegangen, als sie die Schreie hörten. Sie rannten zu ihrem Unterstand und holten ihre Surfbretter. Sie sagten mir, ich solle mich daran festhalten, aber ich hatte keine Kraft mehr und rutschte auf dem Weg zum Ufer mehrmals ab. Schließlich wurde ich an Land gebracht und auf den trockenen Sand gezogen. Es war seltsam, all die Aktivität und Besorgnis zu erleben, denn für mich war das Drama vorbei. Ich wußte, daß ich leben würde. Man wickelte mich in eine Decke, und jemand kam mit einem Sauerstoffgerät angerannt. Sie schienen aber nicht zu wissen, wie sie es bedienen sollten, und ich dachte: »Wie paradox - sollte ich dem Tod durch Ertrinken 213
knapp entgangen sein, damit jemand mir mit einem Sauerstoff stoß das Gehirn herausbläst?« Einen Augenblick später betrat eine offizielle Rettungsmannschaft die Szene. Eine Ambulanz fuhr vor, aber ich sah keinen Grund, ins Krankenhaus zu gehen. Einer der Sanitäter fuhr mich zu unserem Ferienhaus zurück. Ich war außer Lebensgefahr, aber meine Höllenqualen waren noch nicht vorüber. Ich hatte immer Schwierigkeiten gehabt, in irgendeiner Form um Hilfe oder Unterstützung zu bitten, selbst wenn es nur um kleine Gefälligkeiten ging. Plötzlich war ich mit der Tatsache konfrontiert, daß ich mitten im Atlantik gewesen war und verzweifelt um Hilfe geschrien hatte, egal von wem. Ich schämte mich. Ich hätte mich nie in diese Situation bringen dürfen. Ich hätte ein besserer Schwimmer sein sollen, ich hätte wissen müssen, daß es gefährlich war. Darüber hinaus mußte ich mir von anderen eine Menge ähnlicher unwillkommener Vorwürfe und Ratschläge anhören. Ich erfuhr, daß ich von einer Meeresströmung erfaßt worden war. Man sagte mir, in einem solchen Fall müsse man sich vom Ufer forttragen lassen und dann, wenn man konnte, parallel zur Strömung schwimmen, um sich aus ihrem tödlichen Sog zu befreien. Ich war wütend auf mich selbst und konnte mir nicht verzeihen. Hätte ich nicht intuitiv wissen müssen, daß »mit der Energie gehen«, dem Lauf des Wassers zu folgen, das Richtige war? Was hätte natürlicher sein können? Ich war auch wütend auf die anderen und konnte ihnen nicht verzeihen. Ich erfuhr, daß die Leute am Strand mich tatsächlich im Wasser gesehen und meine Schreie gehört hatten. Ich fragte, warum niemand mir zu Hilfe gekommen war. Diejenigen, die mir überhaupt antworteten, sagten, sie hätten zu viel Angst gehabt. Am Strand hatte sich in Windeseile herumgesprochen, daß ich in eine Meeresströmung geraten war. Die Einheimischen wußten es; ihnen waren diese Gewässer als besonders gefährlich bekannt. Ich schämte mich. Und ich brauchte immer noch Hilfe. Die Freunde, die mit mir dort waren, liebevolle und reizende Menschen, waren durch das Erlebnis offenbar selbst traumatisiert. Zweifellos war ihre eigene Hilflosigkeit ihnen deutlich vor Augen geführt worden, als sie dastanden und warteten, ob ich ertrinken würde. Vielleicht waren es meine Phantasien, aber ich hatte den Eindruck, daß sie mir auswichen und nicht lange mit mir Zusammensein konnten. Ich wollte sie dauernd um mich haben, aber ich schämte mich, sie darum zu bitten. Ich rief die Frau in Boston an, mit der ich seit fast einem Jahr zusammen war, und erzählte ihr, was passiert war. Ich wollte, daß sie sich ins Auto setzen und zu mir herauskommen sollte. Ich brauchte sie. Aber sie bot mir nicht an, zu mir zu kommen. Ich rief sie später noch einmal an und sagte ihr direkt, daß ich sie brauchte und daß es mir ungemein wichtig sei, sie in meiner Nähe zu haben. Es war mir egal, daß sie in ihrer eigenen Krise steckte. Ich schrie um Hilfe, und sie war auch eine von denen, die am Ufer standen und zu ängstlich waren, ins Wasser zu springen und mir beizustehen. Ich hatte wenig Sinn für seelische Fairness; die Beziehung war beendet. Ich war aufgebracht, wütend auf alles und auf alle. Am wütendsten war ich auf jene, die mir am nächsten standen. Ein Freund schlug mir taktlos aber liebevoll vor, ich solle Schwimmunterricht nehmen. Fluchend wünschte ich ihm eine Erfahrung wie die meine. 214
Wenn ich wirklich geliebt wurde - wie konnte mir dann so etwas geschehen? Ein Anruf bei meiner Mutter, das Gespräch mit ihr über mein Erlebnis, kam mir beinahe surreal vor. Ich verstand nicht, wie es möglich war, daß sie nicht geahnt hatte, nicht schon wußte, was ich durchgemacht hatte. Wenn es zwischen Menschen, die sich liebten, tiefe Verbindungen gab, warum hatte sie dann gar nichts gespürt, als ich im Wasser war und Todesängste durchmachte? Die Tatsache, daß ich überlebt hatte, schien mir nicht von Belang. Meine Qualen und mein Überleben waren nur ein Spiel des Zufalls. Ich hatte nichts damit zu tun. Und, was noch schlimmer war: Gott hatte nichts damit zu tun. Rein zufällig war in letzter Minute jemand gekommen. Die Menschen, die mir nahestanden, versuchten mir zu sagen, daß die Ereignisse vielleicht doch nicht nur blinder Zufall waren. Sie erinnerten mich daran, daß ich in der Tat noch am Leben und physisch gesund war. Aber ich war voller Wut, daß so etwas geschehen konnte, daß unsere Existenz etwas so Lächerliches und Dürftiges war. Gott war nicht Liebe, nicht Rache, sondern pure Indifferenz. Nichts hatte Sinn und Verstand. Alles war leere Willkür. Ich wußte nicht, wie ich in einer solchen Welt weiterleben sollte. Ich wußte nicht, ob ich weiterleben wollte. Vor diesem Unfall hatte ich ein Buch mit dem Titel The Art of Dying (»Die Kunst des Sterbens«) gelesen. Seit ich erwachsen geworden war, hatte ich mich immer wieder intensiv mit dem Thema Tod und Sterben beschäftigt. Ich glaubte, durch meine jahrelange Berufspraxis und meine Lebenserfahrung erreicht zu haben, daß ich meine Sterblichkeit akzeptierte. Jetzt hatte ich mehr Angst vor dem Sterben als je zuvor. Wenn ich duschte, wenn es regnete, wenn ich mich körperlich anstrengte und außer Atem geriet, fühlte ich Wellen von Panik in mir aufsteigen, daß der Tod jeden Augenblick zuschlagen konnte. Ich warf das Buch weg und wollte nur noch alle Gedanken an den Tod loswerden. Ich hatte das Bedürfnis, meine Geschichte zu erzählen. Aber jedesmal, wenn ich es tat, war ich erneut voller Scham, zugelassen zu haben, daß dieser Unfall geschah. Wenn ich die Geschichte oft genug erzählte, konnte ich vielleicht aus dem Alptraum erwachen. Wochenlang hatte ich das Gefühl, als schriee ich um Hilfe, und niemand käme hinaus ins Wasser, um mir beizustehen. Schlimmer noch: Ich wußte nicht, ob mich überhaupt jemand hören konnte. Es gab Tage, an denen ich mich so einsam fühlte und so voller Angst war, daß ich nicht wußte, ob ich meinen Rettern danken oder sie verfluchen sollte. Wenn ich jetzt mit Schwerkranken arbeite, staune ich, wie simpel mein Trauma war im Vergleich zu dem, was sie durchmachen. Meine Hölle dauerte dreißig Minuten, höchstens eine Stunde. Ich kann mir nicht vorstellen, wie jemand es schafft, sich Tag für Tag mit einer lebensbedrohenden Krankheit zu konfrontieren. Das Gefühl der physischen Bedrohung ist keine Illusion. Es ist kein Traum, aus dem man erwachen könnte. Mein Erlebnis im Atlantik und meine Arbeit an diesem Buch haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß wir nie im voraus wissen können, wie wir selbst auf eine lebensbedrohende Krankheit oder Situation reagieren würden. Und wir wissen mit Sicherheit nicht, wie andere Menschen reagieren sollten. Dennoch ist unsere Präsenz für kranke Menschen von vitaler Bedeutung. Die kranke Person braucht es, daß man ihr zuhört, 215
für sie sorgt, sie liebt. Zuhören ist keine einfache Aufgabe, wenn wir eigentlich etwas etwas anderes wollen, nämlich Menschen, die wir lieben, von ihrer Krankheit und ihren Schmerzen befreien. Wenn wir jedoch weder das eine noch das andere tun können, wird uns das Unbehagen an der Begrenztheit unserer menschlichen Möglichkeiten vielleicht unerträglich. Oft reagieren wir darauf, indem wir der kranken Person sagen, was sie tun sollte, oder indem wir vor der Situation fliehen. Die Menschen, die in diesem Buch ihre Geschichte erzählen, haben gute Gründe, sich selbst als Experten für das Überleben in nahezu aussichtslosen Situationen zu betrachten. Und obwohl sie von der Wirksamkeit ihrer eigenen Methoden felsenfest überzeugt sind, meinen sie nicht, daß ihre Wege auch bei anderen notwendigerweise zum Erfolg führen müßten. Wenn sie gefragt wurden, was sie anderen, einem Freund oder Verwandten, im Fall einer ähnlichen Erkrankung raten würden, lehnten sie alle es ab, konkrete, spezifische Ratschläge zu geben. Sie würden zweifellos nie versuchen, einem anderen schwerkranken Patienten einen Behandlungsplan vorzuschreiben. Die Entscheidungen, die sie in ihrem eigenen Fall trafen, kamen aus ihrem Inneren. Sie wissen, daß die wertvollste Hilfe, die sie anbieten können, darin liegt, die kranke Person in ihrem Selbstfindungsprozeß zu unterstützen. Ihre Erfahrung hat ihnen gezeigt, daß jedes Individuum für sich selbst herausfinden muß, was lebenserneuernd wirkt. Es gibt immer einen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen. Die hier wiedergegebenen Geschichten sollen keine Wege vorgeben, die man einschlagen sollte; sie demonstrieren vielmehr, daß Frieden mit sich selbst und Freiheit erreichbare Möglichkeiten sind. Das Problem, die Leidenserfahrung und die Herausforderung liegen darin, den eigenen Weg zu finden.
Die Schlußfolgerungen anderer Wissenschaftler Die Schlüsse, zu denen die Menschen kamen, die in diesem Buch von ihren Erfahrungen berichten, werden durch die Ergebnisse anderer Studien bestätigt. Aber die Forschung auf dem Gebiet der außergewöhnlichen Heilungsprozesse ist sehr dürftig, insbesondere, wenn man ihre potentielle Bedeutung bedenkt, und die meisten Studien beschäftigen sich mit der Heilung von Krebserkrankungen. Die Tatsache, daß mehr Studien über Krebserkrankungen vorliegen, bedeutet nicht, daß außergewöhnliche Heilungsprozesse in diesem Bereich häufiger vorkommen als bei anderen schweren Krankheiten. Das Ungleichgewicht hat mit der wissenschaftlichen Methodologie zu tun. Im Lauf der Jahre sind die Methoden, Krebserkrankungen zu klassifizieren, differenziert genug geworden, um mit einiger Sicherheit vorauszusagen, wie der »typische« Fall sich entwickeln wird. Im Vergleich mit anderen schweren Erkrankungen ist es also im allgemeinen leichter, Aussagen darüber zu machen, wenn ein Krebspatient außergewöhnlich gute Genesungsfortschritte macht. Ich meine, daß die Merkmale, die den außergewöhnlichen Krebspatienten auszeichnen, in ähnlicher Weise für alle außergewöhnlichen Patienten charakteristisch sind. Wenn bei geheilten Krebspatienten gewisse Unterschiede auftreten, zeigen diese sich am deutlichsten in der Fähigkeit der Patienten, Eigenschaften und Verhaltensweisen zu entwickeln, die den Gegenpol zu den typischen Merkmalen der »Krebspersönlichkeit« bilden. Wenn zum Beispiel das Unterdrücken von Gefühlen bei Menschen, die an Krebs erkranken, häufiger ist als bei anderen Patienten, ist es besonders charakteristisch für 216
für geheilte Krebspatienten, daß sie lernten, ihre Gefühle offen auszudrücken. Japanische Ärzte der medizinischen Fakultät der Universität von Kyushu dokumentierten fünf Fälle von Krebserkrankungen, die ohne erkennbare medizinische Gründe zurückgingen. Ähnlich, wie es die Menschen in diesem Buch schildern, hatten die Patienten die Verantwortung für ihre Krankheit und die Qualität ihres Lebens übernommen. Alle fünf Menschen vollzogen drastische Veränderungen in ihrer Lebenseinstellung, indem sie sich offenbar aus der Fixierung auf Äußerlichkeiten und Statusprobleme lösten und ihrer »wahren Natur« näherkamen. Das Team von vier Wissenschaftlern kam zu dem Schluß, daß »bloßer Zufall« für die Genesung dieser Menschen keine ausreichende Erklärung sei. Auch der Wissenschaftler Kenneth Pelletier fand heraus, daß Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen sich in ihrem tiefsten Wesenskern wandelten. Meditation, Gebet oder religiöse Offenbarungserlebnisse schienen diese Veränderungen voranzutreiben. In aller Regel sorgten die Patienten besser für ihr körperliches Wohlbefinden, insbesondere stellten sie alle ihre Ernährung um. Judith Glassman, eine Wissenschaftsjournalistin, führte mit Krebspatienten ausführliche Interviews durch. Sie kam zu dem Schluß, daß bei jenen, die entschlossen waren, die Ausnahmen zu sein, außergewöhnliche Heilungsprozesse am häufigsten auftraten. Patientinnen und Patienten, die geheilt wurden, beteiligten sich aktiv an den Entscheidungen über ihre Behandlung und benutzten ihre Ärzte als Berater. Die Überlebenden »waren fähig, ihre Krankheit zu bekämpfen, wenn nötig auch gegen den Widerstand ihrer Ärzte, Freunde und Verwandten ... Es ist nicht der friedfertige, stille, angenehm >brave< Patient, der die Krankheit überwindet, sondern der halsstarrige, eigensinnige und streitsüchtige.« Diese Patienten unterdrücken ihre Gefühle nicht. Eine der von Glassman interviewten Personen sagte: »Auf die eigenen Gefühle kann man sich immer verlassen ... Ich glaube, das war einer der wesentlichen Faktoren meiner Heilung: Ich fühlte genau das, was wirklich da war, und machte mir nichts vor. Als bei mir Krebs festgestellt wurde, bekam ich von allen Seiten zu hören: >Du mußt eine positive Haltung einnehmen<, und ich fragte mich immer wieder: >Wo soll ich die bloß herbekommen?< Wenn man nicht zu seinen eigenen Gefühlen steht, schafft man es nicht. Sei negativ, wenn es das ist, was du empfindest! Wenn man das, was da ist, nicht akzeptiert, kann man sich nicht verändern.« Charles Weinstock untersuchte zwölf verschiedene Fälle von »Spontanheilung«. Bei allen Patienten, die er befragte, gab es einen gemeinsamen Nenner: Sie hatten die Hoffnung nie aufgegeben. An der Medical School der Universität von Minnesota studierten B. J. Kennedy und Mitarbeiter zweiundzwanzig Patientinnen und Patienten, die Krebserkrankungen in fortgeschrittenem Stadium überstanden hatten und geheilt waren. Vom Beginn ihrer Erkrankung an drückten diese Menschen Zuversicht aus, daß sie geheilt werden könnten, und hatten in aller Regel Vertrauen in ihre Ärzte und ihre Behandlung. Die Geheilten hatten ein stabileres Selbstwertgefühl und eine positivere Einstellung zum Leben und zu anderen Menschen als die Personen in drei Kontrollgruppen.
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Die Simontons kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Sie fanden heraus, daß Patienten, die sich an ihrer Behandlung aktiv beteiligen, die ihrer Fähigkeit, die Krankheit zu beeinflussen, vertrauen und die ein positiveres Selbstbild entwickeln, die größten Chancen haben, zu genesen. In einer gerade fertiggestellten Studie untersuchten Mitglieder der medizinischen Fakultät der Erasmus-Universität in den Niederlanden Fälle von »spontaner Remission« bei sechs Krebspatienten. Daan van Baalen und Marco de Vries gingen von der Hypothese aus, daß persönliche Veränderungsprozesse der Heilung der Patienten vorausgingen und nicht die Folge der außergewöhnlichen Genesungsfortschritte waren. Um ihre These zu belegen, interviewten sie, wo es möglich war, Familienmitglieder der Geheilten. Die Wissenschaftler fanden heraus, daß Menschen, die außergewöhnliche Heilungen erfuhren - anders als jene mit progressiv fortschreitenden Krebserkrankungen -, spezifische Veränderungen in ihrem Leben vornahmen, insbesondere in bezug auf ihre Ernährung. Darüber hinaus veränderten sie ihre innere Einstellung; sie fühlten sich weniger hilflos, wurden autonomer und verhielten sich im Umgang mit Ärzten und medizinischem Personal, mit Ehepartnern und Familienmitgliedern weniger passiv. Wie die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, vollzogen auch diese Patienten radikale existentielle Wandlungen. Die Ergebnisse dieser Studien zeigen alle auffällige Ähnlichkeiten; wenn es Unterschiede gibt, so spiegeln diese im wesentlichen die besonderen Interessenschwerpunkte der Forscher. Bernie Siegels Aussagen stimmen mit diesen Ergebnissen vollkommen überein. Er bedient sich jedoch einer anderen Sprache, die den spirituellen Dimensionen der Heilung stärker Rechnung trägt: »Akzeptanz, Glaube, Vergebung, Frieden und Liebe sind die Merkmale, die für mich Spiritualität bedeuten. Diese charakteristischen Eigenschaften sind immer bei Menschen zu finden, die eine unerwartete Heilung von einer schweren Krankheit erfahren.« Menschen, die von tödlichen Krankheiten geheilt wurden, und Menschen, die inmitten von Todesgefahren und vernichtenden Umständen überlebten, haben einige grundlegende Qualitäten gemeinsam. Die wenigen Menschen zum Beispiel, die das Grauen der Nazi-Konzentrationslager überlebten, erhielten trotz der hoffnungslosen Situation ihre Hoffnung aufrecht. In ihrem Buch None of Us Will Return (»Keiner von uns wird zurückkehren«) gibt Charlotte Delbo eine eindringliche Schilderung der Unterschiede in den Einstellungen der Ich-Erzählerin und einer Mitgefangenen: >»Für uns gibt es keine Hoffnung.< Ihre Hand hebt sich in einer Geste, und die Geste drückt aufsteigenden Rauch aus. >Wir müssen kämpfen, mit all unserer Kraft.< >Warum? Warum kämpfen, da wir doch alle...<; die Geste der Hand beendet den Satz. Aufsteigender Rauch. >Nein, wir müssen kämpfen.< >Wie können wir hoffen, je hier herauszukommen? Niemand kann entkommen. Am besten, wir werfen uns gleich in den Stacheldraht!< Was kann man ihr sagen? Sie ist klein, kränklich. Und ich bin nicht einmal fähig, mich selbst zu überzeugen. Alle Argumente sind sinnlos. Ich bin mit meiner Logik am Ende. Man ist mit jeder Logik am Ende.« 218
Im Widerspruch zur rationalen Logik bewältigen jene, die am meisten von sich selbst gaben, die Schrecken der Konzentrationslager am besten. Anderen zu helfen half ihnen, zu überleben. In The Survivor (»Der Überlebende«) zitiert Terence Des Pres einen Überlebenden des Konzentrationslagers Treblinka: »In unserer Gruppe teilten wir alles, und in dem Augenblick, in dem einer in der Gruppe etwas aß, ohne es zu teilen, wußten wir, daß es für ihn der Anfang vom Ende war.« Jene, die weiterlebten, kümmerten sich ständig um andere. Wie Stephen Levine sagt, waren es »die Ärzte, die Nonnen, die Priester, die Rabbis, die fürsorglichen Mutter- und Vatertypen, die überlebten, weil sie einen Grund zum Leben hatten: Liebe um der Liebe willen, Heilung um der Heilung willen. Sie wußten, daß Liebe die einzige Gabe ist, die ihren Wert in sich selbst hat, daß unsere Fürsorge für andere Fürsorge für uns selbst ist, eine tiefe Reverenz an den innersten göttlichen Kern, den wir alle in uns tragen.« Liebe gab den Überlebenden der Konzentrationslager und den Überlebenden tödlicher Krankheiten Lebenssinn.
Die Notwendigkeit von Veränderungen Wenn wir mit Gefahren konfrontiert sind, ist unsere natürliche menschliche Tendenz, uns mehr denn je an alte Gewohnheiten zu klammern, selbst wenn diese Gewohnheiten das Problem mitverursachen. Um Frieden zu finden, ist es jedoch notwendig, loszulassen und neue Wege der Realitätswahrnehmung zu entdecken. Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen erzählen uns übereinstimmend, daß sie eine existentielle Wandlung vollzogen, eine fundamentale Veränderung in der Art, wie sie ihr Dasein betrachteten. Sie akzeptierten Sterben und Tod als notwendigen und natürlichen Bestandteil des Lebens. Wenn der Tod nicht mehr als Feind, als Tragödie oder Versagen betrachtet wird, erkennt man bald, daß alles genau so geschieht, wie es geschehen sollte. Das bedeutet nicht, daß wir aufhören, uns zu bemühen, oder daß die Ergebnisse unserer Bemühungen uns gleichgültig sind. Der Zenmeister Suzuki Roshi drückte es so aus: »Alles ist vollkommen, aber es gibt immer Raum für Verbesserungen.« Wenn Menschen um das blanke Überleben kämpfen, erscheint es unvorstellbar, daß manche mehr Kraft aufbringen, als notwendig ist, um den nächsten Augenblick zu überstehen. Und doch nutzten Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen ihre Notlage, um elementare Wandlungen zu vollziehen. Tatsächlich gelangen viele andere Kranke zu seelischer und spiritueller Vollendung, ohne je physische Heilung zu erreichen. Viele Menschen, die außergewöhnliche Heilungen erlebten, beschrieben ihr Leben vor der Krankheit als düster und sinnentleert. Manche hatten sich in ihrem tiefen seelischen Schmerz verloren, und einige sahen die Krankheit als physische Manifestation dieses Schmerzes. Oft war es der erste Schritt zur Heilung, einen neuen Lebenssinn zu finden. Dieser Lebenssinn kam aus unterschiedlichen Quellen: Phina Dacri und Leo Perras fanden Lebenssinn in ihrem Glauben an Gott, Joe Godinski fand in der Musik einen Grund, weiterzuleben, und für Kurt Metzler wurde das Überleben selbst zu einer bedeutenden Sinnquelle. Eine liebeerfüllte Beziehung trägt bei den meisten außergewöhnlichen Patienten, denen ich begegnete, dazu bei, daß sie den Kampf um das Überleben nicht aufgeben. In 219
vielen Fällen haben Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen liebende Partner, die ihr intensives Engagement für das Überleben und ihr Bemühen um Heilung teilen. Die zweiundsiebzigjährige Ehefrau eines Patienten nahm aktiv an einigen Formen der Behandlung ihres Mannes teil. Nachdem er die Diagnose »Krebs im Endstadium« erhalten hatte, suchte das Paar verzweifelt nach Heilmitteln. Diese Frau beschreibt, wie sie und ihr Mann mit einem Aufguß unbekannter Pflanzen experimentierten: »Wir hörten von diesem Tee, der Krebs heilen sollte. Aber wie sollten wir wissen, ob er giftige Substanzen enthielt oder nicht? Die Gesundheitsbehörde fahndete nach dem Mann, der ihn verkaufte. Also sagte ich zu Carl: >Wenn du ihn trinkst, trinke ich ihn auch. Wenn du vergiftet wirst, werde ich auch vergiftet.< Also bestellten wir einen Vorrat, der für uns beide für einige Wochen reichte.« Die Menschen, die in diesem Buch ihre Geschichten erzählten, nahmen ihre Krankheit zum Anlaß, um ihre persönlichen Beziehungen grundlegend zu verändern. Sie drückten ihre Gefühle - insbesondere ihre Wut- und ihre Liebesgefühle - offener aus als zuvor, was ihnen ermöglichte, in ihren Beziehungen mehr Intimität zu etablieren. Auf diese Weise gaben sie mehr von sich selbst, erwarteten aber auch mehr als in der Vergangenheit. In manchen Fällen fanden sie es notwendig, Beziehungen, die wenig Erfüllung versprachen, zu beenden. Ärzte spielten oft eine bedeutsame Rolle in ihren Heilungsprozessen. Die Genesung wurde jedoch nicht dem fachlichen Können der medizinischen Erfahrung der Ärzte zugeschrieben. Ein Patient nach dem anderen versicherte, daß es die liebevolle Zuwendung des Arztes war, die zur Heilung beitrug. Bei manchen wurden die Beziehungen, die sie zu ihren Ärzten hatten, tatsächlich zu einem Grund, am Leben zu bleiben. Lindsey Reynolds sagte zum Beispiel, daß der Gedanke an die Liebe, die ihr Psychiater ihr entgegenbrachte, sie in Augenblicken größter Verzweiflung davon abhielt, sich das Leben zu nehmen. Nachdem sie krank geworden waren, entschlossen sich die Menschen, mit denen ich sprach, den innersten Sehnsüchten ihres Herzens zu folgen. Auf diese Art zu leben war so befriedigend, daß sie nicht in ihre alten Muster zurückfielen, nachdem sie geheilt waren. Joe Godinski gab die unbefriedigenden Jobs auf, mit denen er vorher seinen Lebensunterhalt verdient hatte, und wurde Jazzmusiker. Raymond Berté erfüllte sich den Wunsch, auf dem Land zu leben. Walter Purington gab eine Arbeit auf, die er seit mehr als dreißig Jahren verabscheut hatte, und wandte sich den Dingen zu, die ihm Spaß machten. Sie waren mit einer Ungewissen Zukunft konfrontiert und entschlossen sich, im Hier und Jetzt zu leben. Wie Phina Dacri sagte: »Mein Leben ist jetzt schön. Früher wachte ich auf und sagte: >Ach je, schon wieder ein Tag.< Jetzt wache ich auf und sage: >Danke, Gott.<« Das Leben dieser Menschen - das ganze Leben - war plötzlich von einer Kostbarkeit erfüllt, die sie vorher nie gekannt hatten. Sie warfen die belastende Vorstellung ab, gewissen Standards gemäß, die von außen vorgegeben waren, leben zu müssen. Sie fühlten sich weniger verpflichtet, anderen zu gefallen oder so zu handeln, wie ihre Umwelt es von ihnen erwartete. Als ein älterer Mann, ein Quäker, gefragt wurde, ob seine Krankheit ihm vielleicht eine neue Art von Freiheit vermittelt habe, antwortete er: »O ja, in jedem Fall! Ich hatte mein ganzes Leben lang versucht, ein spirituell zentrierter Mensch zu sein. Aber ich habe es so angespannt und so selbstbezogen versucht, daß es vermutlich ebensoviel Problematisches 220
wie Gutes hervorgebracht hat.« Generell ist es diesen Menschen, nachdem sie von ihrer Krankheit erfuhren, in bemerkenswerter Weise gelungen, früher gelernte Einstellungen und Verhaltensweisen, die sie im Ausdruck ihrer individuellen Persönlichkeit hemmten, von sich zu werfen. Wie bei Menschen, die Konzentrationslager überlebten, stand ihre Zuversicht im Widerspruch zur rationalen Logik. Manche legten einen unerschütterlichen Optimismus an den Tag, obwohl hinter ihrer tristen Prognose das volle Gewicht medizinischwissenschaftlicher Autorität stand. Walter Purington erklärte: »Ich habe nie geglaubt, daß ich nicht wieder gesund würde«, und Joe Godinski konnte sagen »Das ist völlig absurd, das mache ich nicht mit«, obwohl der statistischen Wahrscheinlichkeit nach ein Wunder nötig war, um ihn zu heilen, nachdem der Krebs im Gehirn und hinter dem Auge Metastasen gebildet hatte. Manche sahen in ihrer Krankheit eine Herausforderung, die sie mit der Gewißheit annahmen, den Kampf zu gewinnen. Norman Cousins erklärte: »Der Begriff >irreversibel< brachte mich innerlich zum Glühen. Ich kann diese unglaubliche Energieaufwallung immer noch spüren. Es war ein gewisses Maß an Freude damit verbunden, die aus dem Wissen kommt, daß du gewinnen wirst, ganz gleich, was dir dafür abverlangt wird.« Natürlich erlebten alle Zeiten quälender Selbstzweifel, in denen sie sich fragten, ob Heilung oder Weiterleben wirklich möglich sei. Am verletzlichsten waren sie in der Zeit nach der Diagnose, und Rückfälle im Krankheitsverlauf lösten Zweifel aus, ob der gewählte Weg wirklich der richtige sei. Gelegentliche Depressionszustände waren nichts Ungewöhnliches, aber generell waren sie optimistisch und vertrauten ihrer Fähigkeit, Einfluß auf die Krankheit zu nehmen. Hoffnung war für die Menschen in diesem Buch nicht einfach eine unverhoffte Segnung; sie schufen sich bewußt ein Umfeld, das die Geisteshaltung, die sie zu erreichen suchten, unterstützen würde. Barbara Dawson zum Beispiel suchte zahllose Ärzte auf, bis sie einen fand, der ihr zumindest einen Funken Hoffnung ließ; Leo Perras umgab sich mit Menschen, die glaubten, daß alles, auch das Wunderbare, möglich sei, während Carole Matthews sich bewußt von Menschen fernhielt, die eine negative Einstellung hatten. Walter Purington begab sich auf eine innere Reise, die ihn weit über seine vertraute Yankee-Welt hinausführte, bis zur Begegnung mit einem tibetischen Priester-Arzt, der ihm sagte, daß Heilung möglich sei.
Das Individuelle des Heilungsprozesses Die vorangegangene Diskussion könnte uns veranlassen, aus den Ähnlichkeiten in den Heilungserfahrungen dieser Menschen interessante Schlüsse zu ziehen, aber darin liegt auch eine Gefahr. Solche Generalisierungen könnten die charakteristischen Eigenarten im Heilungsprozeß jeder einzelnen Person und die individuellen Unterschiede verdunkeln oder sogar verzerren. Tatsächlich entwickelten alle Interviewten gewisse unverwechselbare und von anderen verschiedene Verhaltensweisen und Einstellungen, die sie ihrer Intuition, dem Lauschen auf ihr Unbewußtes und auf die Bedürfnisse ihres Körpers entnahmen, und entschieden danach, welche Richtung sie jeweils einschlagen würden.
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Mein Interview mit Lloyd Schmidt, einem Rentner, der früher in einer Asbestfabrik gearbeitet hatte, demonstriert das ausgesprochen Unverwechselbare und Individuelle des Heilungsgeschehens. Bald nachdem Lloyd an inoperablem Lungenkrebs erkrankt war, der auch die Luftröhre in Mitleidenschaft zog, entwickelten sich bei ihm Hirnmetastasen. (Die durchschnittliche Lebenserwartung wird in solchen Fällen auf etwa vier Monate geschätzt.) Ich führte mein Interview mit ihm fünf Jahre nach der Diagnose. Sein Onkologe schrieb mir: »Er erhielt eine palhative (das heißt der Milderung eines unheilbaren Krankheitsgeschehens dienende) Strahlendosis, und seitdem sind bei ihm keine Anzeichen der Krankheit mehr festzustellen, was überaus ungewöhnlich ist. Seine Chancen, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu überleben, standen 1:1000.« Obwohl Lloyd im vergangenen Jahr als Dreiundsechzigjähriger starb, etwa acht Jahre nachdem seine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, kann sein langes Überleben nach allen Maßstäben als herausragend bezeichnet werden. Lloyd Schmidt stellte sich seine Krankheit als etwas vor, das ihn von innen zu zernagen versuchte, wie gefräßige Schädlinge. Sein Handeln entsprach dieser Vorstellungswelt: »Sie sagten mir, ich hätte noch etwa sieben Monate zu leben, aber ich beschloß für mich, daß sie alle unrecht hatten. ... Ich war entschlossen, viel zu essen, so daß der Krebs etwas außer mir hatte, an dem er fressen konnte. Im Krankenhaus bestellte ich mir bei jeder Mahlzeit drei Portionen, während ich diese vierundzwanzig Kobalt-Behandlungen bekam. Ich aß eine Menge Obst und Gemüse, Eiercreme und Pudding. Es gab Grapefruit zum Frühstück, und ich aß drei Stück, und nach dem Mittagessen gab es Cremepudding, und ich nahm fünfmal davon. Abends bestellte ich mir Extra-Portionen, so daß ich vor dem Schlafengehen noch etwas hatte. Auf dem Fensterbrett über der Heizung hatte ich eine ganze Batterie Milchflaschen aufgestellt. Sie konnten gar nicht fassen, wie viel ich aß. Die Diätberaterin im Krankenhaus — sie konnte nicht glauben, daß jemand soviel wegputzte. Sie kam bei einigen Mahlzeiten und sah zu, wie ich aß. Ich sagte einfach: >Ich lasse den Krebs eine Menge Fett essen, bevor er mich auffrißt.<« Während einer Behandlung, bei der andere Patienten den Appetit verlieren und an Auszehrung und Unterernährung leiden, nahm dieser Mann über zwanzig Kilo zu und schien sich zu kräftigen und zu gedeihen. Die Unterschiede im Denken und im Handeln sind so vielfältig, daß es kaum möglich ist, allgemeine Charakteristika zu finden, die auf alle Menschen mit außergewöhnlichen Heilungserfahrungen zutreffen. Wenn man sie als Gruppe betrachtet, kann man zum Beispiel sagen, daß sie ihr Bedürfnis, die Behandlung aktiv mitzubestimmen und unter eigener Kontrolle zu halten, unnachgiebig durchsetzten. Aber Phina Dacri sagte, sie habe ihr ganzes Vertrauen in ihre Ärzte gesetzt und ihnen nie Fragen gestellt. In ähnlicher Weise gab es einen allgemeinen Konsensus, daß die Umstellung der Ernährung bei der Heilung eine wesentliche Rolle spielte. Und dennoch demonstrierte Joe Godinski während unseres Interviews durch sein Frühstück - Kaffee, heller Toast, Eier mit Schinken und zum Nachtisch eine Zigarette - seine Überzeugung, daß seine Ernährungsgewohnheiten bei seiner Heilung keine Rolle spielten.
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Der Wille, zu leben und zu lieben Ärzte und medizinische Laien sind übereinstimmend der Meinung, daß der Lebenswille eines Menschen den Verlauf schwerer Erkrankungen beeinflussen kann. Dennoch bleiben die Wirkungen dieser Kraft unerforscht und in der medizinischen Ausbildung unberücksichtigt. Weder Ärzte noch Patienten nehmen dieses immense Reservoir von Heilungspotential bewußt in Anspruch, um gefährliche und zerstörerische Krankheiten zu bekämpfen. Wie können wir uns dieses Paradox erklären? Ärzte und medizinisches Personal neigen - wie wir anderen alle auch - dazu, die menschlichen Fähigkeiten zur Veränderung und zum Wachstum der Persönlichkeit zu unterschätzen. Unsere eigentliche Seinsquelle, der Lebenswille, wird oft als etwas betrachtet, das sich der individuellen Einflußnahme entzieht. Von diesem Standpunkt aus gesehen besteht also für den Arzt oder den Patienten kein Grund, den Lebenswillen zu mobilisieren, da er in der inneren Ausstattung eines Individuums entweder existent oder eben nicht vorhanden ist. Menschen, die lebensbedrohliche Krankheiten oder katastrophale Unfälle überlebten, wissen, daß es sich anders verhält. »Ich war nicht wirklich am Leben interessiert, bis sie mir sagten, daß ich sterben müßte«, bekannte ein Mann im mittleren Alter, der eine tödliche Krankheit überstand, und diese Äußerung spiegelt die Gefühle vieler außergewöhnlicher Überlebender. Die Menschen in diesem Buch erzählen uns, daß sich der Wunsch, zu leben, im Lauf der Zeit immer stärker herausbildete. Sie vollzogen äußere und innere Veränderungen, die ihr Leben transformierten. Sie lernten, sich selbst zu vergeben und sich in ihrem So-Sein zu akzeptieren, was ihnen ermöglichte, sich zu lieben und andere zu lieben. In Liebe leben hieß, das Lebendig-Sein ohne Ambivalenzgefühle erfahren. Das Weiterleben war alle Anstrengungen wert. Sie hatten Grund, sich ganz für den Heilungsprozeß einzusetzen, und je mehr sie daran arbeiteten, desto stärker wurde ihr Wunsch, am Leben zu bleiben. Die Folgerungen, die man aus diesen Erfahrungen ziehen kann, sind für uns alle bedeutsam, nicht nur für die schwer Erkrankten. Die Menschen in diesem Buch erkannten nicht nur, was sie am Leben erhalten würde; sie gewannen Einsichten, die weit darüber hinausgingen, und lernten zu leben. Ihre Geheimnisse sind keine esoterischen Formeln für die physische Heilung. Sie lernten, jeden Augenblick ihrer Existenz zu schätzen. Sie hatten zweifellos eine starke Motivation, sich zu wandeln. Aber sie vermitteln die Botschaft, daß wir nicht warten müssen, bis eine Katastrophe uns heimsucht, um mit unserem innersten Wesenskern in Berührung zu kommen und Sinn in unserem Leben zu finden. Wir alle tragen die Kraft in uns, unser Dasein grundlegend zu verändern. Diese Menschen öffneten sich der Liebe. Sie wurden Zeugen, wie ihre eigene innere Schönheit hervortrat, und erkannten, daß sie es wert sind, geliebt zu werden. Sie fühlten sich von Gott geliebt, von Menschen geliebt, die ihnen wichtig waren, und sie lernten, sich selbst zu lieben — und so kamen sie mit der absoluten Wahrheit in Berührung. Inmitten furchtbarer Kämpfe und Qualen, die auch als sinnlose Angriffe eines blinden Schicksals interpretierbar gewesen wären, erfuhren sie die Vollkommenheit des Universums. Augenblicke der vollkommenen inneren Klarheit, des Friedens mit sich selbst und der Liebe führen zu seelischer und geistiger Heilung, die physische Heilung möglich macht. 223
Liebe transzendiert den Tod. Eltern, die sich tödlichen Gefahren aussetzen würden, um ihre Kinder zu retten, und alle Menschen, die je daran gedacht haben, ihr Leben für einen anderen Menschen hinzugeben, wissen, daß Liebe stärker ist als unser angeblich alles übersteigender Selbsterhaltungstrieb. Nichts ist stärker als die Liebe. Vielleicht ist ihre Macht sogar grenzenlos. Pierre Teilhard de Chardin sagte: »Eines Tages, wenn wir die Winde, die Wellen, die Gezeiten und die Schwerkraft gemeistert haben, werden wir für Gott die Energien der Liebe nutzbar machen. Dann wird der Mensch zum zweiten Mal in der Weltgeschichte das Feuer entdeckt haben.« Liebe überwindet den Tod. Das heißt nicht notwendigerweise, daß die Liebe unsere physischen Körper wiederherstellt, aber es kann geschehen. Wenn aber die Liebe den Körper nicht heilen kann und wir in Liebe sterben, haben wir dennoch das höchste Lebensziel erreicht.
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ANHANG I Muster des Fragebogens, den die Ärzte der Befragten ausfüllten. 1. Wie hoch war nach allgemeiner medizinischer Auffassung die Lebenserwartung der Patientin/des Patienten, als die Diagnose über das gravierendste Stadium der Erkrankung feststand? (Bitte kreuzen Sie auf der Skala an:) a) Die Chancen, zwölf Monate zu überleben, lagen etwa bei 1:1000 - nahezu aussichtslos 1:100 - sehr unwahrscheinlich 5:100 - unwahrscheinlich 10:100 - selten 25 :100 - unerwartet, aber nicht sehr ungewöhnlich 50 :100 - etwa in der Waage 50 :100 - etwa in der Waage, mit Besserungsaussichten a) Die Chancen, drei Jahre zu überleben, lagen etwa bei (Skala wie bei a) b) Die Chancen, fünf Jahre zu überleben, lagen etwa bei (Skala wie bei a und b) 2. Wenn Ihre eigene Einschätzung der Lebenserwartung der Patientin/des Patienten von der allgemeinen medizinischen Auffassung signifikant abwich, geben Sie bitte eine Zusammenfassung der Prognose und Ihre Begründung. 3. Bitte beschreiben Sie zusammenfassend den Krankheitsverlauf, die Behandlung und eventuelle Komplikationen. 4. (Antwort freigestellt) Woran lag es Ihrer persönlichen Meinung nach, daß die Patientin/der Patient die Krankheit so viel besser bewältigte als erwartet?
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ANHANG II Die Antworten der Ärzte Durch die folgenden Informationen soll dokumentiert werden, daß in jedem der dargestellten Fälle mindestens eine medizinische Autorität den Krankheitsverlauf beziehungsweise den Genesungsprozeß der Patientin oder des Patienten als außergewöhnlich betrachtete. In den meisten Fällen wurde diese Bestätigung dem Fragebogen entnommen, den der Arzt der Interviewpartnerin oder des Interviewpartners ausfüllte. Wenn möglich, wurden die Ärzte gebeten, eine Einschätzung der Lebenserwartung abzugeben. Vom Standpunkt der statistischen Wahrscheinlichkeit aus gibt es, was die Überlebenschancen angeht, unter den Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, gewisse Abstufungen. In dem (statistisch gesehen) am wenigsten ungewöhnlichen Fall schätzte der Arzt die Überlebenschancen auf 25 Prozent, während die Ärzte die Genesung in anderen Fällen als »Wunder« bezeichneten. Schätzungen haben keinen absoluten Wert. Andere Ärzte hätten vielleicht höhere oder niedrigere Werte angegeben. Die medizinische Situation (das heißt die Art der Erkrankung und das Stadium, bis zu dem sie fortgeschritten war, der Allgemeinzustand der Patientin oder des Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose, das Alter der Person und andere Faktoren) war in jedem dokumentierten Fall eine andere. Zwar wurden dieselben Fragebögen verwendet, aber da es darum ging, die relevantesten Informationen zu vermitteln, fielen die Ergebnisse nicht notwendigerweise ähnlich aus. In Fällen, in denen der Arzt keine spezifische Einschätzung der Lebenserwartung abgab, wurden andere medizinische Daten hinzugezogen, um den außergewöhnlichen Verlauf der Krankheit beziehungsweise des Genesungsprozesses zu verdeutlichen.
Raymond Berté 1. Einschätzung der Lebenserwartung: Nach den Angaben des Arztes standen die Chancen, die nächsten fünf Jahre zu überleben, zum Zeitpunkt der gravierendsten Diagnose etwa 25:100. (Anmerkung: Raymond hat seit dieser Diagnose mehr als elf Jahre überlebt.) 2. Wich der Krankheitsverlauf bei Raymond Berté signifikant von allgemeinen medizinischen Erfahrungen ab? »Eine eindeutige Prognose war kaum möglich wegen der Probleme, das Lymphom zu klassifizieren. In Anbetracht des Krankheitsstadiums bei der Diagnose, einschließlich der Veränderungen im Knochenmark und im Blutbild, erwartete ich nicht, daß der Patient so lange überleben würde.« 3. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Die Diagnose wurde am 22.9. 77 gestellt aufgrund einer Lymphknoten- und Knochenmarksbiopsie. Die Meinungen der Pathologen über die genaue Histologie waren geteilt. Manche beschrieben Lymphoma diffus, verhältnismäßig gut differenziert. Die Präsentation ähnelte der Lymphonodulusform, und das klinische Erscheinungsbild stimmte 226
am meisten mit dem Lymphom des verhältnismäßig gut differenzierten Typus überein (mittlere Lebenserwartung: 5—7 Jahre). Beim wenig differenzierten Typus liegt die mittlere Lebenserwartung bei 1-2 Jahren.« 4. Warum bewältigte der Patient die Krankheit besser als erwartet? »Der Pathologe, der die günstigste Form der Histologie beschrieb, hatte recht. Eine weitere, zusätzliche Lymphknotenbiopsie hätte vielleicht eine weniger bösartige Histologie ergeben - vielleicht vom nodularen Typus mit der günstigsten Prognose. Bei Patienten mit Lymphomen kann die Einschätzung der Lebenserwartung in Anbetracht des weiten Spektrums von Zelltypen und der Variationsbreite der Erscheinungsformen der Krankheit sehr schwierig sein.« (Anmerkung: Der Onkologe füllte den Fragebogen etwa fünf Jahre nach Raymond Bertés Diagnose aus.) Kommentar des Autors: Der behandelnde Onkologe deutete an, daß es Meinungsunterschiede gab, was die exakte Diagnose anging. Obwohl er jetzt glaubt, daß die günstigste Prognose korrekt war, gab er die Überlebenschancen für fünf Jahre immer noch mit 25 Prozent an. Trotz der späteren Annahme des Arztes, daß die günstigste Prognose richtig war, ist es interessant, anzumerken, daß die Spezialisten zum Zeitpunkt der Diagnose offenbar anderer Meinung waren, da sie Raymond sagten, er habe nur noch sechs bis achtzehn Monate zu leben.
Phina Dacri 1. Einschätzung der Lebenserwartung: Nach den Angaben des Arztes standen die Chancen, länger als drei Jahre zu überleben, zum Zeitpunkt der gravierendsten Diagnose etwa 5:100. (Anmerkung: Phina hat seit dieser Diagnose mehr als elf Jahre überlebt. Krebs ist bei ihr nicht mehr nachzuweisen.) 2. Wich der Krankheitsverlauf signifikant von allgemeinen medizinischen Erfahrungen ab? »Nein. Gute Einstellung der Patientin zur Behandlung und starker Lebenswille trotz generell schlechter Aussichten. « 3. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Erste Diagnose im August 1978: inoperables Adenokarzinom der Lunge. Symptome: Brustschmerzen (Diagnose lautete zunächst auf Myokardinfarkt, aber das war eine Fehldiagnose). Behandlung: Kurative Radiotherapie (6000 rad) vom 5.9.78 bis zum 31.10. 78. Geringfügige Strahlensymptome, Husten ohne Auswurf, keine Komplikationen. Die Patientin hatte außerdem Anfälle von Arthritis der Halswirbelsäule und Gallenblasenprobleme.«
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4. Warum bewältigte die Patientin die Krankheit besser als erwartet? »Die Patientin akzeptierte die Diagnose - ihr wurde gesagt, daß die Krankheit unheilbar sei. Der Ernst ihrer Prognose wurde nie vor ihr verborgen, aber die Dinge wurden ins Verhältnis gerückt. Die Patientin wurde ermutigt, sich auf die Zukunft auszurichten, nicht auf die Vergangenheit. Sie hielt durch, bemühte sich während ihrer gesamten Behandlung um eine positive Einstellung und ist nun gesund.«
Norman Cousins Aussagen von Ärzten in »The Healing Heart« verdeutlichen, wie gravierend Cousins Zustand war und wie außergewöhnlich seine Genesung verlief. Dr. William Hitzig, Cousins‘ langjähriger Hausarzt, sagte, er habe im Dezember 1980 einen Anruf von Dr. Kenneth Shine erhalten, der ihm mitteilte, Cousins sei von einer Ambulanz ins UCLA-Krankenhaus gebracht worden, in einem »aussichtslosen« Zustand: »Der Enzym-Test, der das Ausmaß der Zerstörung von Herzmuskelgewebe mißt, zeigte extrem hohe Werte; ebenso alarmierend waren die HBDH-Werte, ein weiterer wichtiger Indikator. In seiner Lunge hatte sich Flüssigkeit angesammelt; er hustete Blut. Ich verstand, warum man mir gesagt hatte, sein Zustand sei >auf Messers Schneide<.« Hitzig berichtete weiter, daß Cousins‘ Krankenzimmer eine Woche später mit Büchern, Papieren und einer Schreibmaschine angefüllt war und eher einem Redaktionsbüro ähnelte als einem Krankenhausraum. Hitzig sagte: »Ich war erstaunt, daß jemand, der einen so schweren Herzinfarkt erlitten hatte wie er, solche Kraft und Zuversicht an den Tag legen konnte. Und wieder dachte ich an meine eigene langjährige Erfahrung als Kardiologe und Internist zurück, und ich fand keine Parallele.« Hitzig weiß, daß ungewöhnliche Heilungsprozesse wie in Norman Cousins‘ Fall Ärzte dazu bringen kann, die Genauigkeit der ursprünglichen Diagnose anzuzweifeln: »Ich bin sicher, daß einige meiner Kollegen angesichts seines mittlerweile ausgezeichneten Zustands Zweifel anmelden werden, ob der Myokardinfarkt und das kongestive Herzversagen wirklich stattfanden. Ich muß gestehen, daß ich selbst Schwierigkeiten habe, zu glauben, daß jemand, der von einem schweren Herzinfarkt mit kongestivem Herzversagen betroffen war, die Erfahrung so unbeschadet überstehen kann, wie es bei ihm der Fall war.« (Hitzig schrieb diese Notiz etwa zwei Jahre nach Cousins‘ Herzinfarkt.) Dr. Kenneth Shine vom UCLA-Krankenhaus bestätigte, wie gravierend Cousins‘ Zustand war: »Das EKG und die Enzymveränderungen wiesen auf einen sehr schweren Herzinfarkt hin. Bevor er das Krankenhaus verließ, machten wir einen Belastungstest auf dem Laufband mit ihm, der uns mit großer Sorge erfüllte, denn der Blutdruck stieg nicht, wie man es nach einem solchen Test erwartet, sondern er sank ab. Das war ein sehr gravierendes Symptom, und ich setzte ihn davon in Kenntnis.« 228
Dr. Davis Cannom schrieb: »Die Blockierung der Arterien war eine unumstößliche Tatsache. Nach der vorherrschenden Auffassung unter Kardiologen ist dieser Zustand in aller Regel irreversibel; Ausnahmen sind außerordentlich selten.« Nachdem Cousins sechs Monate lang seinem selbsterfundenen Genesungsprogramm gefolgt war, unterzog er sich einem zweiten Belastungstest auf dem Laufband. Dr. Cannom erklärte, daß dieser Test völlig andere Ergebnisse hervorbrachte als der erste. Von den verhängnisvollen Veränderungen war auf dem Kardiographen nichts mehr zu sehen. Der Blutdruck fiel nicht ab. Nach den sechs Monaten Rehabilitationsprogramm war eine unbestreitbare Veränderung eingetreten.
Joe Godinski 1. Einschätzungen der Lebenserwartung: Nach den Angaben des Arztes standen die Chancen, die nächsten zwölf Monate zu überleben, zum Zeitpunkt der gravierendsten Diagnose etwa 1:1000. (Anmerkung: Joe hat seit dieser Diagnose mehr als vierzehn Jahre überlebt. Er ist vollständig geheilt.) 2. Wich der Krankheitsverlauf signifikant von allgemeinen medizinischen Erfahrungen ab? »Meiner Auffassung nach sind Menschen keine statistischen Ziffern. Joes Überleben überraschte mich nicht, denn >angesichts der Ungewißheit bleibt uns nur die Hoffnung<.« 3. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Vor acht Jahren wurde bei Joe Godinski Lungenkrebs diagnostiziert (Haferzellkarzinom).« (Der Arzt füllte den Fragebogen vor sechs Jahren aus.) »Der obere linke Lobus seiner Lunge wurde operativ entfernt; er erhielt Radiotherapie, lehnte Chemotherapie ab. Etwa ein Jahr später entwickelte sich eine Hirnmetastase, die durch Radiotherapie behandelt wurde. Dann bildete sich ein Tumor hinter seinem rechten Auge; Radiotherapie. Er ging zu den Simontons, leistete eine bemerkenswerte Arbeit an sich selbst und wurde vollkommen gesund. Welche Maßstäbe man auch anlegt, man kann seine Heilung nur als ein Wunder bezeichnen.« 4. Warum bewältigte der Patient die Krankheit besser als erwartet? »Ich glaube, daß Joe eine psycho-spirituelle Transformation durchlief, die seine Heilung bewirkte. Sagen wir es so: Sein Lebenswille wurde sehr stark, und gewisse psychoneuroimmunologische Vorgänge mobilisierten seine Abwehrkräfte in so hohem Maß, daß er fähig wurde, die Krebserkrankung vollständig zu überwinden.«
Lindsey Reynolds Die Ungewöhnlichkeit eines Genesungsprozesses im Bereich der psychischen Störungen zu beurteilen ist sehr schwierig; präzise Einschätzungen sind kaum möglich. In Lindseys Fall gab es keine unter dem Mikroskop analysierbaren Gewebeproben, keine pathologischen Befunde, die man mit anderen, ähnlichen Befunden hätte vergleichen 229
können. Um Diagnosen zu stellen, sind Psychiater auf die Beobachtung des Verhaltens ihrer Patienten angewiesen. Sie müssen in hohem Maß auf ihre Intuition zurückgreifen, um den psychischen Zustand einer Person einzuschätzen und über notwendige Interventionen zu entscheiden. In Anbetracht dieser Tatsachen und der langen Zeit, die seit Lindseys Erkrankung vergangen ist (fünfundzwanzig Jahre, vom Beginn der Krankheit an gerechnet), würden statistische Angaben auf einem Fragebogen kaum brauchbare Daten ergeben. Wie in der Einleitung zu Lindseys Geschichte berichtet wurde, werteten beratende Psychiater und Psychotherapeuten ihren Genesungsprozeß tatsächlich als sehr ungewöhnlich, obwohl die Daten, die ihnen vorlagen, nach einem so langen Zeitraum zwangsläufig nur begrenzte Einschätzungsmöglichkeiten boten. Es war möglich, die wesentlichen Ereignisse, die Lindsey in ihrer Erzählung schildert, anhand ihrer medizinischen Unterlagen und durch Gespräche mit ihrem Psychiater zu belegen. Die folgenden Exzerpte sind den Krankenberichten der Riverview-Klinik (Pseudonym) entnommen. Jede Eintragung war datiert und von einem Arzt signiert. Die Exzerpte sind nicht in der Absicht beigefügt, eine Chronologie ihrer Krankheit zu erstellen (viele der Eintragungen über ihre Einweisungen und Entlassungen wurden nicht aufgenommen), sondern es ging darum, einige charakteristische Beispiele ihres Krankheitsverlaufs anhand der medizinischen Unterlagen zu dokumentieren. »20.3.61 - Erste Einweisung in die Riverview-Klinik. Es handelt sich um eine zwanzigjährige College-Studentin mit einer langen Vorgeschichte (4-6 Jahre) von episodisch auftretenden Depressionen und sprunghaften Stimmungswechseln. ... Heute sprach sie von extremer depressiver Verstimmung und starken Ängsten, Grübeln über den Tod ihres Vaters vor fünf Jahren, Besuch am Grab. Sie fügte sich mit Flaschenscherben Schnittwunden an Handgelenken und Oberschenkeln zu ... Definitive Suizidgefährdung. 2.5.62 - Zweite psychiatrische Einweisung der Patientin nach Selbstverletzung am linken Handgelenk ... Nach einer Verabredung und mäßigem Alkoholgenuß wurde sie depressiv und wollte sich umbringen. Ergebnis der Anamnese: Eindruck: Das allmähliche Einsetzen der Krankheit, die extreme Symptomatik und ihre wiederholte Verschlimmerung (obwohl Wahnvorstellungen und Halluzinationen offenbar nicht auftraten) stimmen mit dem Erscheinungsbild der akuten undifferenzierten Schizophrenie überein. Diagnose: Schizophrene Reaktion, akuter undifferenzierter Typus Prognose: Wenig Besserungsaussichten 16.5. 62 - zerschnitt sich die Handgelenke mit einer Rasierklinge, die sie unter Bodenfliesen versteckt hatte. 20.5.62 - Patientin und ihr Zimmer sorgfältig überprüft und überwacht, Badezimmer verschlossen. Patientin erhielt nur eine Matratze auf dem Boden. Setzte die Ärmel ihres Pyjamas in Brand.
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25.5. 62 - Die vier Elektroschockbehandlungen, denen die Patientin unterzogen wurde, erbrachten keine erkennbaren Veränderungen im affektiven Bereich oder im Verhalten. Heute gab sie vielmehr erneut ihrer zwanghaften Neigung zur Selbstverletzung nach, zum zweiten Mal in 48 Stunden. Sie wird an drei aufeinanderfolgenden Tagen weitere Schockbehandlungen erhalten. 9. 6. 62 - Nach einem Anruf bei ihrer Mutter zerbrach die Patientin eine Glühbirne und zerschnitt sich die Handgelenke. Sie sagt, daß sie sterben will. 11.6. 62 - Es wurde festgestellt, daß Elektroschocks für die Patientin von keinem oder geringem Nutzen sind und daß in Anbetracht ihrer anhaltenden depressiven Verstimmung, ihrer Selbstverstümmelungsversuche und ihrer fortdauernden suizidalen Verfassung nur langfristige stationäre Behandlung sinnvoll erscheint. 14.8.63 - Patientin heute aus der Notaufnahme mit einer Schnittwunde an der Stirn eingewiesen, verursacht durch einen Unfall in ihrer Wohnung. Der Sturz ereignete sich im Badezimmer, während die Patientin ein Glas in der Hand hielt (vermutlich Ursache der Verletzung). Die Schnittwunde wurde genäht. 8. 9. 63 - Zweiundzwanzigjährige Frau mit langer psychiatrischer Vorgeschichte (acht Einweisungen in den letzten drei Jahren) heute im Koma in die Notaufnahme eingeliefert, nach Einnahme einer Überdosis von Barbituraten in eindeutiger Selbstmordabsicht. 2.10. 65 - Chronisch schizophrene Patientin wurde nach einer Überdosis Tuinol und Aspirin eingeliefert. Solche Vorfälle hat es in der Vergangenheit häufig gegeben. 13.4.66 - Chirurgischer Bericht: Fünfundzwanzigjährige Frau eingeliefert, die heute nachmittag nach Klinikurlaub >Glas schluckte<, offenbar Scherben eines zerbrochenen Marmeladenglases. Klagt über leichte Schluckbeschwerden und unklare Bauchschmerzen ... Röntgenaufnahme zeigt mögliche Fremdkörper in der Magenregion. Wir werden konservativ vorgehen und weiterhin sorgfältig beobachten. 19.10.66 - Entlassung - zusammenfassende Begründung: Fünfundzwanzigjährige Frau mit Vorgeschichte zahlreicher Hospitalisierungen, Diagnose: undifferenzierte Schizophrenie, Wiedereinweisung aufgrund von Kontrollverlust und suizidalen Neigungen. Der Zustand der Patientin verbesserte sich nur langsam, in den letzten Tagen jedoch generelle Zunahme der Reaktionsbereitschaft. Sie hat Klinikurlaub und Aufenthalt außerhalb der Klinik über Nacht gut bewältigt, empfindet Angstgefühle, suizidale Impulse sind jedoch verschwunden. Entlassung ist gerechtfertigt, da Klinikaufenthalt regressive Gefühle und Verhaltensweisen verstärkt.«
Walter Purington 1. Einschätzung der Lebenserwartung: Nach den Angaben des Arztes standen die Chancen, die nächsten zwölf Monate zu überleben, zum Zeitpunkt der gravierendsten Diagnose etwa 1:1000. (Anmerkung: Walter 231
hat seit dieser Diagnose mehr als acht Jahre überlebt. Krebs ist bei ihm nicht mehr nachzuweisen.) 2. Wich der Krankheitsverlauf signifikant von den allgemeinen medizinischen Erfahrungen ab? »Zur Zeit der Diagnose war der Patient nicht bei mir in Behandlung, aber nach allgemeinem Konsensus war seine Prognose sehr schlecht.« (Anmerkung: Walter konsultierte diesen Arzt nach der Diagnose.) 3. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Erste Einweisung im August 1981, aufgrund starker Schmerzen in Arm und Rücken. Zu diesem Zeitpunkt zeigte die Rückenmarksflüssigkeit undifferenzierte neoplastische Zellen in hoher Proliferation. Ultraschallabtastung zeigte erhöhte Aufnahme im spheroidalen Sinus. Der Patient erhielt Radiotherapie am Schädel und im Bereich der Brustwirbelsäule. Wurde nach Abschluß der Radiotherapie mit schlechter Prognose nach Haus entlassen. Verlegung in eine Klinik zur terminalen Pflege; erhielt Akupunkturbehandlung zur Schmerzlinderung.« 4. Warum bewältigte der Patient die Krankheit besser als erwartet? »Nach der Akupunkturbehandlung schien sein Zustand sich stetig zu verbessern, als er schließlich aus der Pflegeklinik entlassen wurde.« Zweiter Arzt: 1. Einschätzung der Lebenserwartung: Nach den Angaben des zweiten Arztes standen die Chancen, weitere drei Jahre zu überleben, zum Zeitpunkt der gravierendsten Diagnose etwa 1:1000. 2. Wich der Krankheitsverlauf signifikant von der allgemeinen medizinischen Erfahrung ab? »Meine Einschätzung stimmte mit dem allgemeinen Konsensus überein.« 3. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Bei Herrn Purington zeigten sich Abnormitäten der neurologischen Funktionen (Parese des Cranialnerven) als Sekundärsymptom einer als >meningeale Karzinose< diagnostizierten Erkrankung. Er erhielt einmal Chemotherapie und dann Radiotherapie am Schädel und im Bereich der Brustwirbelsäule. Sein Zustand verbesserte sich allmählich, obwohl er keine weitere Therapie erhielt. Zur Zeit ist bei ihm kein Krebs mehr nachzuweisen.« (Dieser Fragebogen wurde etwa zwei Jahre nach der ursprünglichen Diagnose ausgefüllt). 4. Warum bewältigte der Patient die Krankheit besser als erwartet ? »Die Pathologie seiner Rückenmarksflüssigkeit wurde von einem lokalen und einem landesweit bekannten Spezialisten überprüft; beide bestätigten die Diagnose >meningeale Karzinose<. Meine Vermutung: Obwohl Zellen unter dem Mikroskop als 232
Krebszellen erscheinen können, stellen sie vielleicht eine atypische Reaktion auf irgendeinen merkwürdigen Infektionsprozeß dar.« (Anmerkung: Trotz dieser Annahme setzte der zweite Arzt Walters Überlebenschancen für drei Jahre mit 1:1000 an. Ein beratender Arzt, der sich diesen Fragebogen ansah, äußerte die Vermutung, daß die Zweifel des Onkologen, ob es sich bei Walters Erkrankung um Krebs oder um eine »merkwürdige Infektion« handelte, erst nach seiner Heilung auftraten. Der beratende Arzt erklärte: »Wenn es nicht so wäre, müßte man sich fragen: Warum versuchte er nicht, die Infektion zu behandeln, da eine Behandlung der diagnostizierten Krebserkrankung ohnehin als aussichtslos erschien?«)
Kurt Metzler Erster Arzt: 1. Einschätzung der Lebenserwartung: Nachdem bei Kurt Mukoviszidose diagnostiziert worden war, standen die Chancen, daß er sein dreißigstes Lebensjahr erreichen würde, 1:1000. (Anmerkung: Kurt ist einunddreißig Jahre alt.) 2. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Bei Kurt zeigte sich im Lauf der Jahre ein langsamer, aber progressiver Verlust der Lungenfunktion. Von Zeit zu Zeit hatte er Anfälle von Bronchitis, die intravenöse Antibiotikagaben und/oder stationäre Krankenhausaufenthalte erforderten. Kurt ist im Lauf der Jahre sehr aktiv geblieben und versuchte, sich durch Körpertraining fit zu halten. Er ist durch seine Krankheit immer noch nicht erheblich behindert.« 3. Warum bewältigte der Patient die Krankheit besser als erwartet? »Glück? Gute physische Konstitution?« Zweiter Arzt: 1. Einschätzung der Lebenserwartung: Nach den Angaben des zweiten Arztes standen die Chancen, daß Kurt sein dreißigstes Lebensjahr erreichen würde, nach der Diagnose etwa 1:100. 2. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Mukoviszidose in der Kindheit diagnostiziert, Störung der GPI-Hormone, Wachstumshemmung. Während der letzten fünfzehn Jahre chronische progressive Lungeninsuffizienz mit Bronchiektasie; Hämoptysis und Pneumothorax waren die gravierendsten Probleme. Tägliche Physiotherapie mit dem Ziel der Pulmonaldrainage und Vermeidung von Unterernährung. Verschlimmerungen des Lungenleidens wurden mit Antibiotika behandelt und können Krankenhausaufenthalte erfordern. Seine Krankheit ist langsam progressiv und vermutlich lebensverkürzend; begrenzt durch progressive Lungenschädigung.« 3. Warum bewältigte der Patient die Krankheit besser als erwartet? »Viel Unterstützung innerhalb der Familie, gute Einstellung des Patienten zur Erhaltung seiner Gesundheit und regelmäßiges Körpertraining haben zweifellos dazu 233
beigetragen; es gibt jedoch in bezug auf die Schwere der Erkrankung ein weites Spektrum individueller Gradabstufungen.« (Anmerkung: Kurts Krankheit wird als sehr schwerwiegend betrachtet.)
Leo Perras Aus dem Gespräch mit Leos früherem Hausarzt ging hervor, daß seine Heilung in der Tat als außergewöhnlich betrachtet werden muß. Andere Quellen bestätigen die medizinische Einschätzung des Arztes. Ein Artikel in der medizinischen Zeitschrift »The Hampshire Hippokrat« vom Februar 1979 befaßt sich mit Leos außergewöhnlicher Heilung. Nach einer kurzen Beschreibung der Ereignisse, die seinen ersten Schritten nach zwanzig Jahren im Rollstuhl vorausgingen, berichtet der Artikel: »Seit diesen Ereignissen kann er wieder gehen, und nach den Angaben seines Arztes hat der Umfang seiner Beinmuskeln sich mittlerweile verdreifacht. Das Erstaunlichste ist jedoch das vollständige Verschwinden der starken Schmerzen in Armen, Rücken und Hals, die er durch Einnahme von Percodan, Seconal und gelegentliche DemerolInjektionen zu bekämpfen versuchte. Seine Krankheit begann vor zwanzig Jahren mit Problemen im unteren Rückenbereich, die zwei Operationen erforderlich machten. Nach der zweiten Operation war er querschnittgelähmt. Hartnäckige Schmerzen in Rücken, Hals und Armen gehörten während der letzten Jahre zu den Hauptproblemen. Ein lokaler Neurochirurg implantierte ihm einen Stimulator der Dorsalsegmente, wodurch jedoch keine Erleichterung der Schmerzen erreicht wurde. Der Patient nimmt nach eigenen Angaben jetzt kein Percodan mehr, höchstens gelegentlich ein Aspirin.« Am 29. August 1978 zitierte »The Hampshire Gazette«, eine Regionalzeitung, Leo Perras‘ Arzt: »Es ist wirklich ein Wunder ... neurologisch hat sich nichts verändert.« In dem Artikel heißt es weiter: »Der Arzt erinnert sich, daß er >es kaum fassen< konnte, als er Leo Perras auf seinen eigenen Beinen die Stufen zu seiner Tür hinaufsteigen sah ... Obwohl Perras zweifellos nicht zu sportlichen Leistungen fähig sein wird, mit Beinmuskeln, die durch lange Jahre im Rollstuhl atrophiert sind, ging er heute ohne fremde Hilfe umher, langsam, wie ein Kind, das die ersten Gehversuche macht. >Seine Beine haben jetzt den Umfang Ihrer Handgelenke<, sagte der Arzt einem Reporter.« Am 23. Mai 1979 hieß es in einem weiteren Artikel in »The Hampshire Gazette«: »Perras‘ langjähriger Hausarzt sagt, er habe seinen Patienten vor zwei Monaten untersucht und eine siebzigprozentige Wiederherstellung der Beinmuskulatur festgestellt. >Vorher war es Null<, sagte er. Der Arzt, der auch Katholik ist, bezeichnete die Heilung als ein Wunder. Neurologisch hat sich nichts verändert. Es ist sehr schwer zu begreifen.« Im Februar 1979 veröffentlichte die Zeitschrift »Yankee« einen kurzen Bericht über Leos Heilung. Darin heißt es: »Der Hausarzt bestätigte, daß Perras aufgrund einer chirurgischen Nervendurchtrennung, die vor Jahren vorgenommen wurde, um ihn von seinen Schmerzen zu befreien, weder Reflexe noch Empfindung in den Beinen hat. Über Leo Perras‘ wiederhergestellte Fähigkeit zu stehen und zu gehen sagt der Arzt: >Neurologisch ist es unmöglich. Seine Beine sind durch die vielen Jahre im Rollstuhl so abgemagert, daß sie ihn 234
anatomisch gesehen eigentlich nicht tragen könnten.<« Zu einem späteren Zeitpunkt berichtete die Zeitschrift »Yankee«, daß Leo Perras‘ Arzt »sich auch über die außergewöhnliche Wiederherstellung der vorher völlig atrophierten Beinmuskeln äußerte, deren Umfang sich in den ersten Monaten seit seiner Begegnung mit Pater Di Orio im Umfang vervierfacht haben«.
Barbara Dawson Erster Arzt: 1. Einschätzung der Lebenserwartung: Nach den Angaben des Arztes lag die Wahrscheinlichkeit des Weiterlebens für den Zeitraum, den Barbara bereits überlebt hatte (sechseinhalb Jahre seit der Diagnose) bei 1:100. (Anmerkung: Zur Zeit der Veröffentlichung wurde Barbaras Fall in medizinischer Hinsicht als ungeklärt betrachtet.) 2. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Klinische Diagnose 1980; sie fühlte einen Knoten in der Brust. Pathologische Diagnose am 8.10. 82; Bilaterale Ovarektomie am 15.11.82; danach blieb der Zustand stabil und war unverändert, als ich sie am 1.3. 83 zum letzten Mal untersuchte.« 3. Warum bewältigte die Patientin die Krankheit besser als erwartet? »Die Patientin hat eine langsam fortschreitende Art von Brustkrebs, der nicht metastasierte, und zwei Jahre vor der Biopsie - oder vielleicht viel länger - auf die Brust und die lokalen Lymphknoten beschränkt blieb. Offenbar kam es zu einem langsamen, aber deutlichen Rückgang der Erkrankung nach hormoneller Behandlung, und diese Remissionen sind häufig langfristig. Ich wünschte, alle Patientinnen mit Brustkrebs reagierten in dieser Weise.« Zweiter Arzt: 1. Einschätzungen der Lebenserwartung: Nach den Angaben des zweiten Arztes lag die Wahrscheinlichkeit des Weiterlebens für den Zeitraum, den Barbara bereits überlebt hatte (sechseinhalb Jahre seit der Diagnose) bei 1:3. 2. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Junge Frau mit langsam wachsendem Typus von Brustkrebs, Östrogenrezeptor vermutlich positiv, hat auf Ovarektomie reagiert. Dieser Typus von Krebserkrankung tritt sonst eher bei älteren Frauen auf und wird gewöhnlich mit verschiedenen Arten der Hormontherapie behandelt.« 3. Warum bewältigte die Patientin die Krankheit besser als erwartet? «Biologie der Krankheit«
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Carole Matthews 1. Einschätzungen der Lebenserwartung: Nach den Angaben des Arztes standen die Chancen, die nächsten drei Jahre zu überleben, zum Zeitpunkt der gravierendsten Diagnose etwa 1:100. (Anmerkung: Carole hat seit dieser Diagnose mehr als neun Jahre überlebt. Sie ist völlig geheilt.) 2. Wich der Krankheitsverlauf signifikant von den allgemeinen medizinischen Erfahrungen ab? »Ihr Allgemeinzustand und ihr Aktivitätsniveau in der Situation einer unvollständig therapierten Krebserkrankung waren besser als erwartet.« 3. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »Fünfunddreißigjährige Frau, Diagnose im März 1980: undifferenzierter Lungenkrebs (Zelltypus mit schlechter Prognose), inoperabel aufgrund mediastinaler Lymphknotenaffektion. Sie nahm 25 Prozent der geplanten Radiotherapie in Anspruch (1500 rad, vom 13.3.80 bis zum 20.3.80); lehnte weitere Strahlenbehandlung ab und entzog sich weiterer Beratung. Sie kam im Oktober 1980 mit Verschlimmerung ihrer Krebserkrankung zurück und erhielt ein zweites Mal Radiotherapie (2100 rad, vom 17.10. bis zum 27.10.80). Sie lehnte zusätzliche Behandlung ab. Zweite Verschlimmerung und erneute Behandlung vom 27.4. bis zum 8.5.81 ... Sie gab >Gesundheitskost< und andere Quacksalbermethoden als Therapie auf. Jetzt kommt sie von Zeit zu Zeit zur Kontrolluntersuchung.« 4. Warum bewältigte die Patientin die Krankheit besser als erwartet? »Sehr ungewöhnlich war ihre negative Einstellung zu Ärzten und zur etablierten Medizin. Sie konnte die Anwendung der Radiotherapie nicht akzeptieren. Sie brach die Strahlenbehandlung ab, sobald sich eine geringe Besserung zeigte, und begann meiner Vermutung nach auf den Rat eines Familienmitglieds hin - mit Ernährungstherapien. In Anbetracht ihrer inadäquaten Behandlung übersteigt ihre Zustandsverbesserung meine Erwartungen bei weitem, und es geht ihr immer noch gut. Sie kämpfte gegen ihre Ärzte, mich selbst eingeschlossen, und gegen ihre Krebserkrankung, was zu einer ungewöhnlichen Mischung orthodoxer und unorthodoxer Behandlungsmethoden führte. Sie kämpft weiter, aber aus medizinischer Sicht ist ihr Fall noch ungeklärt.« (Anmerkung: Dieser Fragebogen wurde vor etwa fünf Jahren ausgefüllt. Mittlerweile ist Carole völlig geheilt.)
Betty Preston 1. Einschätzung der Genesungschancen: Nach den Angaben des Arztes standen die Chancen der Genesung etwa 1:100. (Anmerkung: Da der ungewöhnlichste Aspekt ihrer Krankheit das Ausmaß der Wiederherstellung der gesunden Gehirnfunktionen nach einer schweren Hirnschädigung war, wurde der Arzt in diesem Fall nicht nach der Lebenserwartung, sondern nach den Genesungschancen gefragt.) 236
2. Aussagen des Arztes über die Krankheit und die Behandlung: »1975 schwere Hirnschädigung während einer Operation am offenen Herzen. Halbseitiger Verlust der Sehfähigkeit, expressive/rezeptive Aphasie.« In einem Telefongespräch berichtete der Kardiologe: »Die Herz-Lungen-Maschine war falsch angeschlossen. Statt Blut aus einem Teil abzuziehen und in den anderen zu leiten, wurde tatsächlich Luft in die großen Blutgefäße gepumpt und drang ins Gehirn ein. Die Folge war eine schwere Hirnschädigung ... Sie hatte eine Woche oder zehn Tage lang schwere Anfälle. Ich teilte ihrer Familie mit, daß eine schwere Gehirnschädigung zurückbleiben würde.« 3. Warum bewältigte die Patientin die Krankheit besser als erwartet? »Hoch motiviert, starke religiöse Überzeugungen, positive Lebenseinstellung, starke Unterstützung durch die Familie.« Im Telefongespräch sagte der Arzt außerdem: »Sie war immer hoch motiviert. Selbst in den schlimmsten Phasen der Erkrankung hatte sie immer ein Lächeln auf dem Gesicht und war hoffnungsvoll und optimistisch. Sie war offensichtlich entschlossen, das Beste aus jeder Situation zu machen, mit der sie konfrontiert sein würde.«
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