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© 1998 für diese Auswahl : Verlag Klaus Wagenbach, Ahornstraße 4,10787 Berlin Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlag München Wien Einbandgestaltung von Groothuis+Malsy unter Verwendung des Gemäldes Die Unterhaltung von Henri Matisse (1909, © 1998 Succession Henri Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn). Gesetzt aus der Korpus Van Dijck-Antiqua von der Offizin Götz Gorissen, Berlin. Druck und Bindung durch Clausen & Bosse, Leck. Leinen von Herzog, Beimerstetten. Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. A
S LTO ist patentgeschützt. ISBN 3 80311178
Die verzaubernde Erzählwelt Calvinos – in dieser Auswahl tauchen alle ihre Kontinente auf : von den frühen Abenteuergeschichten über die Erlebnisse des Straßenkehrers Marcovaldo bis zu den kosmischen Comics und den heiteren Strandspielen des Herrn Palomar. »So phantastisch, märchenhaft, abenteuerlich bei Calvino auch erzählt wird, so doch immer auf mediterrane Weise hell, durchsichtig, listig, doppelbödig.« Ulrich Greiner, die zeit
Italo Calvino
DER VERZAUBERTE GARTEN Die schönsten Erzählungen
Verlag Klaus Wagenbacb Berlin
Ausgewählt von Klaus Wagenbacb
INHALT
Der nackte Busen 9 Der Regen und die Blätter 15 Abenteuer eines Rekruten 25 Abenteuer eines Lesers 41 Die Betrachtung der Sterne 65 Die Dinosaurier 73 Schlangen und Schädel 101 Meiose 107 Die falsche Haltestelle 123 Die Paarung der Schildkröten 135 Der verzauberte Garten 139 Die Stadt für ihn allein 147 Abenteuer eines Kurzsichtigen 153 Der einzelne Pantoffel 167 QUELLEN
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Der nackte Busen
Herr Palomar geht einen einsamen Strand entlang. Vereinzelt triff t er auf Badende. Eine junge Frau liegt hingebreitet im Sand und sonnt sich mit nacktem Busen. Herr Palomar, ein diskreter Zeitgenosse, wendet den Blick zum Horizont überm Meer. Er weiß, daß Frauen in solchen Situationen, wenn ein Unbekannter daherkommt, sich häufig rasch etwas überwerfen, und das findet er nicht schön : weil es lästig ist für die Badende, die sich in Ruhe sonnen will ; weil der Vorübergehende sich als ein Störenfried fühlt ; weil es implizit das Tabu der Nacktheit bekräftigt und weil aus halbrespektierten Konventionen mehr Unsicherheit und Inkohärenz im Verhalten als Freiheit und Zwanglosigkeit erwachsen. Darum beeilt er sich, sobald er von weitem den rosigbronzenen Umriß eines entblößten weiblichen Torsos auftauchen sieht, den Kopf so zu halten, daß die Richtung der Blicke ins Leere weist und dergestalt seinen zivilen Respekt vor der unsichtbaren Grenze um die Personen verbürgt. Allerdings – überlegt er, während er weitergeht und, kaum daß der Horizont wieder klar ist, die freie Be9
wegung seiner Augäpfel wieder aufnimmt –, wenn ich mich so verhalte, bekunde ich ein Nichthinsehenwollen, und damit bestärke am Ende auch ich die Konvention, die den Anblick des Busens tabuisiert, beziehungsweise ich errichte mir eine Schranke, eine Art geistigen Büstenhalter zwischen meinen Augen und jenem Busen, dessen Anblick mir doch, nach dem Schimmern zu urteilen, das am Rande meines Gesichtsfeldes aufleuchtete, durchaus frisch und wohlgefällig erschien. Kurzum, mein Wegsehen unterstellt, daß ich an jene Nacktheit denke, mich in Gedanken mit ihr beschäftige, und das ist im Grunde noch immer ein indiskretes und rückständiges Verhalten. Auf dem Heimweg von seinem Spaziergang kommt Herr Palomar wieder an jener sonnenbadenden Frau vorbei, und diesmal hält er den Blick fest geradeaus gerichtet, so daß er mit gleichbleibender Gelassenheit den Schaum der rückwärtsfließenden Wellen streift, die Planken der an Land gezogenen Boote, den Frotteestoff des über den Sand gebreiteten Badetuches, den Vollmond von hellerer Haut mit dem braunen Warzenhof und die Konturen der Küste im Dunst, grau gegen den Himmel. Jetzt – denkt er mit sich zufrieden, während er seinen Weg fortsetzt –, jetzt ist es mir gelungen, mich so zu verhalten, daß der Busen ganz in der Landschaft aufgeht und daß auch mein Blick nicht schwerer wiegt als der einer Möwe oder eines fliegenden Fisches. Aber ist eigentlich – überlegt er weiter – dieses Ver10
halten ganz richtig ? Bedeutet es nicht, den Menschen auf die Stufe der Dinge niederzudrücken, ihn als Objekt zu betrachten, ja, schlimmer noch, gerade das an seiner Person als Objekt zu betrachten, was an ihr spezifisch weiblich ist ? Perpetuiere ich damit nicht gerade die alte Gewohnheit der männlichen Suprematie, die mit den Jahren zu einer gewohnheitsmäßigen Arroganz verkommen ist ? Er dreht sich um und geht noch einmal zurück. Wieder läßt er den Blick mit unvoreingenommener Sachlichkeit über den Strand gleiten, aber diesmal richtet er es so ein, daß man, sobald die Büste der Frau in sein Sichtfeld gelangt, ein Stocken bemerkt, ein Zucken, fast einen Seitensprung. Der Blick dringt vor bis zum Rand der gewölbten Haut, weicht zurück, wie um mit leichtem Erschauern die andersartige Konsistenz des Erblickten zu prüfen und seinen besonderen Wert einzuschätzen, verharrt für einen Moment in der Schwebe und beschreibt eine Kurve, die der Wölbung des Busens in einem gewissen Abstand folgt, ausweichend, aber zugleich auch beschützend, um schließlich weiterzugleiten, als sei nichts gewesen. So dürfte nun meine Position – denkt Herr Palomar – ziemlich klar herauskommen, ohne Mißverständnissen Raum zu lassen. Doch dieses Überfliegenlassen des Blickes, könnte es nicht am Ende als eine Überlegenheitshaltung gedeutet werden, eine Geringschätzung dessen, was ein Busen ist und was er bedeutet, ein Versuch, ihn irgendwie abzutun, ihn an den Rand zu drän11
gen oder auszuklammern ? Ja, ich verweise den Busen noch immer in jenes Zwielicht, in das ihn Jahrhunderte sexbesessener Prüderie und als Sünde verfemter Begehrlichkeit eingesperrt haben ! Eine solche Deutung stünde quer zu den besten Absichten des Herrn Palomar, der, obwohl Angehöriger einer älteren Generation, für welche sich Nacktheit des weiblichen Busens mit der Vorstellung hebender Intimität verband, dennoch mit Beifall diesen Wandel der Sitten begrüßt, sei’s weil sich darin eine aufgeschlossenere Mentalität der Gesellschaft bekundet, sei’s weil ihm persönlich ein solcher Anblick durchaus wohlgefällig erscheinen kann. So wünscht er sich nun, daß es ihm gelingen möge, genau diese uneigennützige Ermunterung in seinem Blick auszudrücken. Er macht kehrt und naht sich entschlossenen Schrittes noch einmal der Frau in der Sonne. Diesmal wird sein unstet über die Landschaft schweifender Blick mit einer besonderen Aufmerksamkeit auf dem Busen verweilen, aber er wird sich beeilen, den Busen sogleich in eine Woge von Sympathie und Dankbarkeit für das Ganze mit einzubeziehen : für die Sonne und für den Himmel, für die gekrümmten Pinien, das Meer und den Sand, für die Düne, die Klippen, die Wolken, die Algen, für den Kosmos, der um jene zwei aureolengeschmückten Knospen kreist. Das dürfte genügen, um die einsame Sonnenbadende definitiv zu beruhigen und alle abwegigen Schlußfolgerungen auszuräumen. Doch kaum naht er sich ihr 12
von neuem, springt sie auf, wirft sich rasch etwas über, schnaubt und eilt mit verärgertem Achselzucken davon, als fliehe sie vor den lästigen Zudringlichkeiten eines Satyrs. Das tote Gewicht einer Tradition übler Sitten verhindert die richtige Einschätzung noch der aufgeklärtesten Intentionen, schließt Herr Palomar bitter.
Der Regen und die Blätter
Im
Betrieb hatte Marcovaldo, neben allen anderen Pflichten, jeden Morgen die Topfpflanze im Eingang zu gießen. Es war eine jener grünen Pflanzen, die man sich zu Hause hält, mit einem geraden, dünnen Stamm, von dem zu beiden Seiten auf langen Stielen breite und glänzende Blätter abzweigen : eine jener Blattpflanzen also, die nicht echt zu sein scheinen. Und doch war es eine richtige Pflanze, und als solche litt sie auch, denn dort, zwischen Vorhang und Schirmständer, fehlte es ihr an Licht, Luft und Tau. Jeden Morgen entdeckte Marcovaldo irgendein böses Zeichen : Bei einem Blatt bog sich der Stiel, als könne er das Gewicht nicht mehr tragen, ein anderes Blatt überzog sich mit Flecken wie das Bäckchen eines masernkranken Kindes, bei einem dritten wurde die Spitze gelb ; bis schließlich das eine oder das andere, plumps !, auf dem Boden lag. Unterdessen (was einem das Herz am meisten zusammenzog) wurde der Stamm der Pflanze lang und immer länger, war gar nicht mehr richtig belaubt, sondern kahl wie ein Stock, mit einem Schopf obenauf, der ihm das Aussehen eines Palmwedels gab. Marcovaldo kehrte die abgefallenen Blätter vom 15
Fußboden auf, entstaubte die gesunden, goß (langsam, damit das Wasser nicht überlief und die Kacheln beschmutzte) auf den Fuß der Pflanze eine halbe Gießkanne voll Wasser, das augenblicklich von der Erde aufgesogen wurde. Und diese einfachen Handreichungen tat er mit einer Aufmerksamkeit wie bei keiner anderen Arbeit sonst, fast wie aus Mitleid mit dem Unglück eines Familienangehörigen. Und dabei seufzte er, man weiß nicht recht, ob über die Pflanze oder über sich selbst : Denn in jenem Gewächs, das hoch aufgeschossen zwischen den Wänden der Firma vergilbte, erkannte er einen Unglücksgefährten. Die Pflanze (nie wurde sie anders genannt, als sei jede genauere Bezeichnung sinnlos in einer Umgebung, in der sie allein das Pflanzenreich zu vertreten hatte) war so sehr zum Bestandteil von Marcovaldos Leben geworden, daß sie all seine Gedanken zu jeder Stunde des Tages und der Nacht in Anspruch nahm. Der Blick, mit dem er nunmehr zum Himmel sah, war nicht mehr der Blick des Städters, der sich fragt, ob er den Schirm nehmen soll oder nicht, sondern der des Bauern, der von Tag zu Tag das Ende der Trockenheit herbeisehnt. Und sobald er, von seiner Arbeit aufsehend, vor dem kleinen Lagerfenster draußen im Gegenlicht den Regenschleier erkannte, der dicht und geräuschlos niederfiel, ließ er alles stehn und liegen, lief zu seiner Pflanze, nahm den Topf auf den Arm und stellte ihn in den Hof hinaus. Kaum daß die Pflanze spürte, wie das Regenwasser 16
über ihre Blätter rann, schien sie sich zu recken, um den Tropfen möglichst viel Fläche zu bieten, und vor Freude färbte sie sich mit ihrem schönsten Grün : So glaubte Marcovaldo wenigstens, der stehengeblieben war, um sie zu betrachten, und dabei ganz vergessen hatte, sich vor dem Regen unterzustellen. So standen sie da draußen im Hof, der Mensch und die Pflanze, der eine vor der anderen, der Mensch beinahe die Empfindung einer Pflanze unter dem Regen nachfühlend, die Pflanze – an frische Luft und Natur nicht gewöhnt – verblüff t fast wie ein Mensch, der plötzlich von Kopf bis Fuß und durch die Kleider hindurch naß wird. Marcovaldo, mit der Nase nach oben, sog den Geruch des Regens ein, einen Geruch, der – für ihn – schon Wälder und Wiesen in sich trug, und hing unbestimmten Erinnerungen nach. Unter diesen Erinnerungen aber drängte sich deutlicher und näher der Gedanke an das Rheuma auf, das ihn alljährlich heimsuchte, und so ging er rasch wieder ins Haus. Nach Arbeitsschluß mußte der Betrieb zugesperrt werden. Marcovaldo fragte den Lagervorsteher : »Kann ich die Pflanze im Hof draußen stehenlassen ?« Der Chef, Herr Viligelmo, war ein Mann, der allzu großer Verantwortung lieber aus dem Wege ging. »Bist du wahnsinnig geworden ? Und wenn sie gestohlen wird ? Wer kommt mir auf dafür ?« Marcovaldo aber, der sah, wie gut der Regen seiner Pflanze bekam, brachte es nicht über sich, sie wieder in den geschlossenen Raum einzusperren : Das wäre einer 17
Vergeudung dieses Himmelsgeschenks gleichgekommen. »Ich könnte sie bis morgen früh bei mir behalten …«, schlug er vor. »Ich nehme sie auf den Gepäckträger und bringe sie nach Hause … Dann kann ich sie so lange im Regen lassen, wie es nur geht …« Herr Viligelmo überlegte einen Augenblick und meinte schließlich : »In diesem Falle übernimmst du die Verantwortung« und stimmte zu. Im strömenden Regen durchquerte Marcovaldo die Stadt, über sein Moped gebeugt, in eine wasserdichte Windjacke gehüllt. Hinten, auf dem Gepäckträger, hatte er den Blumentopf festgebunden, und Fahrzeug und Pflanze schienen eins zu sein, der gekrümmte und eingehüllte Mann war ganz und gar verschwunden, man sah nur noch die Pflanze auf dem Moped daherfahren. Ab und zu drehte sich Marcovaldo unter seiner Kapuze zurück, um hinter seinem Rücken ein tropfendes Blatt flattern zu sehen : Und jedesmal hatte er den Eindruck, die Pflanze sei schon wieder etwas gewachsen und dichter belaubt. Als Marcovaldo mit der Pflanze unterm Arm daheim ankam – in der Mansarde mit Fenstersims über den Dächern –, tanzten die Kinder vor lauter Freude Ringelreihen. »Der Weihnachtsbaum ! Der Weihnachtsbaum !« »Aber nicht doch ! Was fällt euch ein ? Bis Weihnachten ist noch lange Zeit !« widersprach Marcovaldo. »Gebt acht auf die Blätter, sie sind sehr empfindlich !« »Wir hausen hier sowieso schon zusammengepreßt 18
wie die Heringe«, brummte Domitilla. »Wenn du jetzt noch einen Baum mitbringst, müssen wir ausziehen …« Die Silhouette der Pflanze auf dem Fensterbrett war von der Stube aus zu sehen. Beim Abendessen blickte Marcovaldo nicht auf seinen Teller, sondern sah unverwandt auf die Fensterscheiben. Seit sie die Kellerwohnung mit der Mansarde vertauscht hatten, waren Marcovaldo und seine Familie viel besser dran. Doch auch das Wohnen unterm Dach hatte seine Nachteile : Die Zimmerdecke zum Beispiel war nicht dicht. In regelmäßigen Abständen fielen die Tropfen auf vier oder fünf ganz bestimmte Stellen, und Marcovaldo pflegte kleine Schüsseln oder Teller darunterzustellen. In Regennächten, wenn alle im Bett waren, hörte man das Tik-tìk-tik an den verschiedenen Stellen, und ein Schauer lief einem den Rücken hinunter wie eine Vorahnung von Rheumatismus. Immer wenn Marcovaldo in dieser Nacht jedoch aus seinem unruhigen Schlaf erwachte und lauschte, schien ihm dieses Tik-tik-tik wie heitere Musik : Sie bedeutete ja, daß weiterhin Regen fiel, leicht und stetig, und die Pflanze nährte, den Saft durch die schmächtigen Stengel trieb, die Blätter wie Segel spannte. Wenn ich morgen früh nachsehe, wird sie schon gewachsen sein, dachte er. Doch obgleich er sich so etwas gedacht hatte, wollte er am andern Morgen seinen Augen nicht trauen, als er das Fenster öffnete : Die Pflanze füllte nun das halbe Fenster aus, die Blätter waren mindestens doppelt so groß geworden und hingen nicht mehr schlapp 19
herunter, sondern waren prall und spitz wie Schwerter. Den Blumentopf fest an die Brust gedrückt, stieg er die Treppen hinunter, band ihn am Gepäckträger fest und eilte zum Betrieb. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, doch das Wetter sah noch ziemlich trügerisch aus. Marcovaldo war noch nicht abgestiegen, als schon wieder ein paar Tropfen fielen. Da es ihr so gut bekommt, laß’ ich sie noch ein bißchen im Hof stehn, dachte er. Im Lagerraum steckte er ab und zu die Nase zum Hoffenster hinaus. Diese dauernden Unterbrechungen erregten das Mißfallen des Lagerverwalters. »Was ist denn heute los mit dir, daß du dauernd hinausstarrst ?« »Sie wächst ! Sehen Sie doch selbst, Herr Viligelmo !« Und Marcovaldo winkte ihn heran und flüsterte, als dürfe die Pflanze es nicht hören. »Sehen Sie doch, wie sie wächst ! Nicht wahr, sie ist gewachsen ?« »Ja, sie ist ein hübsches Stück gewachsen«, gab der Chef zu, und das war für Marcovaldo eine Genugtuung, wie sie dem Personal in der Firma selten genug vergönnt war. Es war Samstag. Um ein Uhr war Arbeitsschluß, und bis Montag früh würde keiner mehr herkommen. Marcovaldo hätte die Pflanze gar zu gern mitgenommen, aber da es nicht mehr regnete, wußte er nicht, was für eine Ausrede er dafür finden sollte. Immerhin war der Himmel noch nicht ganz klar : Hier und dort waren schwarze Haufenwolken zu sehen. Er ging zum Chef, der aus Leidenschaft für die Meteorologie ein Barome20
ter über seinem Schreibtisch hängen hatte. »Wie sieht’s aus, Herr Viligelmo ?« »Schlecht, immer noch schlecht«, sagte der. »Hier regnet’s ja noch nicht, aber in dem Stadtteil, wo ich wohne : Eben habe ich mit meiner Frau telefoniert.« »Dann möchte ich die Pflanze ein bißchen dahin spazierenfahren, wo es regnet«, schlug Marcovaldo eiligst vor. Gesagt, getan. Er befestigte den Blumentopf auf dem Gepäckträger seines Mopeds. Den Samstagnachmittag und den Sonntag verbrachte Marcovaldo folgendermaßen : Auf dem Sattel seines Mopeds schaukelnd, die Pflanze auf dem Soziussitz, beobachtete er den Himmel, suchte nach einer Wolke, die gute Absichten zu haben schien, und sauste dann durch die Straßen, bis er auf Regen traf. Jedesmal, wenn er sich umdrehte, war die Pflanze ein bißchen größer geworden : groß wie die Taxen, die Lieferwagen, die Straßenbahnen ! Und die Blätter, von denen der Regen auf seine wetterfeste Kapuze herabrann wie eine Dusche, wurden immer breiter. Jetzt war es schon ein Baum auf zwei Rädern, der da durch die Straßen gefahren wurde und Schutzleute, Fahrer und Fußgänger verwirrte. Gleichzeitig eilten die Wolken auf den Straßen des Windes dahin, sprühten den Regen über einen Stadtteil und zogen weiter ; und die Passanten, einer nach dem andern, streckten die Hand aus und klappten den Regenschirm wieder zu ; und über Straßen, Alleen und Plätze fuhr Marcovaldo seiner Wolke nach, über die Lenkstange gebeugt, ganz 21
in seine Kapuze eingehüllt, aus der nur die Nase herausragte, der kleine Motor knatterte mit Vollgas, doch die Pflanze blieb unter den fallenden Regentropfen, gerade als habe die Regenspur, die die Wolke hinter sich herzog, sich in den Blättern verfangen, und so eilte alles dahin, von derselben Kraft getrieben : Wind, Wolke, Regen, Pflanze, Räder. Am Montag trat Marcovaldo mit leeren Händen vor Herrn Viligelmo. – »Und die Pflanze ?« fragte der Lagerverwalter augenblicklich. »Die steht draußen. Kommen Sie mit.« »Wo ?« fragte Viligelmo. »Ich sehe sie nicht.« »Dort drüben. Sie ist ein bißchen gewachsen …« Und Marcovaldo deutete auf einen Baum, der bis zum zweiten Stock aufragte. Der Baum stand nicht mehr in seinem alten Blumentopf, sondern in einer Art Kübel, und statt des Mopeds hatte Marcovaldo sich einen dreirädrigen Lieferwagen besorgen müssen. »Und was soll jetzt werden ?« Der Chef war ärgerlich. »Wie sollen wir dieses Ungetüm je wieder ins Vorzimmer bekommen ? Das paßt ja gar nicht mehr durch die Tür !« Marcovaldo zuckte die Achseln. »Da gibt’s nur eine Möglichkeit«, meinte Viligelmo, »wir müssen sie in der Gärtnerei gegen eine andere in passender Größe umtauschen !« Marcovaldo war schon wieder im Sattel. »Das besorge ich.« Und wieder begann die Fahrt durch die Stadt. Der Baum füllte die ganze Fahrbahn mit seinem Grün. 22
Die Schutzleute, um den Verkehr besorgt, hielten ihn an jeder Straßenkreuzung auf ; dann – nachdem Marcovaldo ihnen erklärt hatte, daß er die Pflanze in die Gärtnerei zurückbringen wolle, um sie aus dem Verkehr zu ziehen – ließen sie ihn weiterfahren. Und er fuhr und fuhr und konnte sich nicht entschließen, die Straße zur Gärtnerei einzuschlagen. Er brachte es nicht übers Herz, sich von dieser seiner Kreatur zu trennen, nachdem er sie so glücklich aufgezogen hatte : Ihm war, als sei er sein Leben lang noch nie so zufrieden gewesen wie mit dieser Pflanze. Und so fuhr er hin und her, über Straßen und Plätze, an den Flußufern entlang und über Brücken. Und über ihm breitete ein Grün sich aus wie von einem Tropenwald, bedeckte ihm Kopf und Schultern und Arme, ließ ihn schließlich ganz und gar verschwinden. Und alle Blätter und Stengel und der ganze Stamm (der dünn geblieben war) bebten unablässig in einem dauernden Erzittern, ob nun Regengüsse auf sie herniederprasselten oder die Tropfen seltener wurden oder ganz aufhörten. In der Tat hatte es zu regnen aufgehört. Es war gegen Sonnenuntergang. Ganz hinten auf den Straßen, in den Zwischenräumen zwischen den Häusern, lag ein ungewisses Regenbogenlicht. Nach all der mächtigen Anstrengung des Wachsens, die sie mit Spannkraft erfüllt hatte, war die Pflanze nun ganz erschöpft. Marcovaldo, der seine ziellose Fahrt fortsetzte, wurde nicht gewahr, wie hinter ihm die Blätter, eines nach dem anderen, von sattem Grün zu Gelb, zu Goldgelb hinüberwechselten. 23
Schon seit geraumer Weile folgte, von Marcovaldo unbemerkt, ein ganzer Zug von Mopeds und Autos und Fahrrädern und Jungen dem Baum, der da durch die Stadt fuhr, die Leute riefen : »Ein Affenbrotbaum ! Ein Affenbrotbaum !«, und laute Rufe der Verwunderung begleiteten das Vergilben der Blätter. Wenn ein Blatt sich ablöste und davonflog, streckten sich viele Hände aus, um es im Fluge zu erhaschen. Ein Wind kam auf ; die goldenen Blätter stoben in ganzen Schwärmen in halber Höhe auf und davon. Marcovaldo meinte immer noch, den grünen, dichtbelaubten Baum hinter sich zu haben, bis er sich plötzlich umdrehte – vielleicht weil er sich ungeschützt dem Wind ausgesetzt fühlte. Der Baum war nicht mehr da : nur noch ein dürrer Stecken, von dem ringsum lauter nackte Stiele ragten, und noch ein allerletztes gelbes Blatt an der Spitze. Im Licht des Regenbogens erschien alles andere schwarz : die Menschen auf den Bürgersteigen, die Häuserfassaden, die Spalier standen ; und über all dem Schwarz kreisten und kreisten in halber Höhe leuchtend und zu Hunderten die goldenen Blätter ; und rote und rosige Hände streckten sich zu Hunderten aus dem Schatten empor, um sie zu fangen ; und der Wind trieb die goldenen Blätter dem Regenbogen und den Händen und den Rufen entgegen und pflückte auch das letzte Blatt, das von Gelb ins Orangefarbene wechselte und dann rot, violett, blau, grün und noch einmal gelb wurde, bis es schließlich aus dem Gesichtskreis entschwand.
Abenteuer eines Rekruten
Eine große, gutgewachsene Dame kam in das Abteil und setzte sich neben den Soldaten Tomagra. Ihrer Kleidung und ihrem Schleier zufolge mußte es wohl eine Witwe aus der Provinz sein ; das Kleid war aus schwarzer Seide, wie es sich für eine lange Trauer ziemt, aber dabei mit überflüssigem Besatz und Stickereien verziert, und der Schleier fiel von einem gewichtigen und etwas altmodischen Hut rund um ihr Gesicht. Der junge Soldat stellte fest, daß noch andere Plätze im Abteil frei waren, und dachte sich, die Witwe werde zweifellos einen von ihnen belegen ; statt dessen setzte sie sich, ungeachtet seiner rauhen, soldatischen Nachbarschaft, ausgerechnet hierher, sicherlich wegen irgendeiner Reisebequemlichkeit – so überlegte er hastig – im Hinblick auf den Luftzug oder die Fahrtrichtung. Ihr Körper war blühend und fest, er würde geradezu kräftig gewirkt haben, wenn nicht eine mütterliche Weichheit die klar hervortretenden Rundungen hätte zarter erscheinen lassen ; auf den ersten Blick schien sie kaum älter als dreißig Jahre, doch wenn man in ihr Gesicht sah, hielt man es für möglich, daß sie die Vierzig überschritten hatte : man entdeckte eine zugleich mar25
morne und doch etwas erschlaff te Haut, streng verschlossene, flüchtig mit einem grellen Rot geschminkte Lippen, und unter tiefschwarzen Brauen und schweren Lidern einen unerreichbaren Blick. Tomagra, ein Rekrut der Infanterie beim ersten Urlaub (es war Ostern), machte sich ganz klein auf seinem Sitz, damit die so schöne und wohlgeformte Dame nicht an ihn stoße ; und schon empfand er den Duft ihres Parfüms, eines bekannten, vielleicht schon etwas überholten Parfüms, das hier jedoch durch lange Gewohnheit mit dem natürlichen Hauch ihres Körpers eins geworden war. Die Dame hatte sich mit bescheidener Zurückhaltung niedergelassen und zeigte nun, dicht neben ihm, Proportionen, die ihm weniger majestätisch erschienen als zuvor. Die üppigen, mit schmalen dunklen Ringen geschmückten Hände hielt sie verschränkt im Schoß über einer glänzenden Handtasche und ihrer Jacke, die, als sie fiel, runde und weiße Arme enthüllt hatte. Tomagra war gleich so weit wie möglich zurückgewichen, da er auf ein umständliches Ausziehen mit weit ausgestreckten Armen gefaßt gewesen war ; hingegen hatte sie sich kaum gerührt und war mit kurzen Bewegungen der Schultern und des Oberkörpers aus den Ärmeln geschlüpft. Die Sitzbank war bequem genug für zwei Fahrgäste, und Tomagra konnte die äußerste Nähe der Dame spüren, ohne fürchten zu müssen, daß er sie durch seine Berührung beleidige. Immerhin, überlegte Tomagra 26
weiter, wenn dies auch eine Dame war, so hatte sie seiner Uniform zum Trotz keinerlei Widerwillen gegen ihn gezeigt, sonst hätte sie sich ja woanders hingesetzt. Und seine eben noch angespannten Muskeln wurden bei diesem Gedanken frei und locker, mehr noch, sie versuchten sich so weit wie möglich auszudehnen, ohne daß er sich dabei bewegte ; sein Bein, das mit verkrampfter Wade sogar den Kontakt mit dem Stoff der Hose vermieden hatte, streckte sich, streckte wiederum den Stoff, der es umkleidete, bis dieser die schwarze Seide der Witwe berührte ; und so, durch dieses Tuch der Hose und diese Seide hindurch, drückte jetzt das Bein des Soldaten an das ihre, mit einer weichen, flüchtigen Bewegung gleich der Begegnung von Fischen, während der Strom in seinen Adern in einer Woge dem Strom jener anderen Adern entgegenschlug. Es war gleichwohl noch immer eine ganz leichte Berührung, die jedes Schlingern des Zuges auflösen und neu schaffen konnte ; die Dame hatte kräftige, üppige Knie, und in seinen eigenen Gliedern glaubte Tomagra bei jedem Rütteln des Zuges das träge Spiel ihrer Kniescheibe mitzuempfinden ; und die Wade hatte eine seidige, gewölbte Wange, die man durch einen unmerklichen Druck dazu bringen konnte, sich an die eigene zu schmiegen. Diese Berührung der Waden war köstlich, doch brachte sie einen Verlust mit sich : das Körpergewicht hatte sich verlagert, und es war nicht mehr möglich, wie vorher durch einfache Nachgiebigkeit der Glieder zu einer wechselseitigen Anlehnung der Hüf27
ten zu gelangen. Doch ließ sich eine natürliche und angenehme Haltung wiederherstellen, wenn man sich auf dem Sitz ein wenig rührte, was mit Hilfe einer Kurve des Schienenstrangs leicht möglich war und sich überdies aus dem verständlichen Wunsch nach etwas Bewegung dann und wann wie von selbst ergab. Die Dame saß unbeweglich unter ihrem matronenhaften Hut, mit dem starren und von den Lidern verhängten Blick und den Händen über der Tasche im Schoß ; und doch gab es da eine lange feine Linie ihren Körper entlang, mit der sie an ebendergleichen Linie des Mannes lehnte : sollte sie dessen noch gar nicht gewahr geworden sein ? Oder bereitete sie schon eine Flucht vor ? Würde sie sich brüsk abkehren ? Tomagra beschloß, ihr auf irgendeine Weise eine Botschaft zukommen zu lassen: er zog den Muskel der Wade zusammen, daß sie sich wie eine große Faust ballte, und mit dieser Wadenfaust klopfte er, sie entspannend wie eine Hand, die sich öffnet, an die Wade der Witwe. Gewiß, es war eine blitzschnelle Bewegung, gerade ebenso lange, wie es braucht, eine Sehne zu spannen; doch sie zog sich nicht zurück, jedenfalls nicht, soweit er es begriff – denn schon hatte er, um die geheime Geste zu rechtfertigen, sein Bein ganz ausgestreckt, als sei es steif in den Gelenken geworden. Man mußte also wieder von vorne anfangen ; das geduldige, behutsame Werk der Annäherung bis zum Kontakt war zerstört. Tomagra entschloß sich, etwas mutiger vorzugehen : als suche er etwas, steckte er eine 28
Hand in die Hosentasche – auf der Seite der Dame – und ließ sie wie aus Unachtsamkeit darin. Dies war eine heftige Bewegung gewesen, und Tomagra wußte nicht recht, hatte er sie berührt oder nicht ; eine Geste für nichts und wieder nichts. Doch in dem Augenblick begriff er, was für einen gewaltigen Schritt weiter er damit gekommen war und in welch gefährliches Spiel er sich eingelassen hatte. Auf den Rücken seiner Hand drückte sich leicht die Hüfte der Dame in Schwarz ; er fühlte ihre Last auf allen Fingern, auf jedem Fingerglied – wie auch immer er seine Hand jetzt rühren würde, es mußte als eine Geste von unerhörter Intimität der Witwe gegenüber wirken. Mit angehaltenem Atem drehte Tomagra die Hand in der Tasche um, so daß sich ihr Handteller, immer in der Tasche, zu ihr hin öffnete. Es war eine unmögliche Stellung mit verdrehtem Handgelenk. Doch nun wollte er eine entscheidende Geste wagen : mit der verdrehten Hand krümmte er leicht die Finger. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr : ausgeschlossen, daß die Witwe seine Geschäftigkeit nicht bemerkt hatte ! Und wenn sie sich nicht abwandte, wenn sie Gleichgültigkeit und Geistesabwesenheit vortäuschte, so hieß das eindeutig, daß sie seine Annäherungen nicht zurückstieß. Freilich, wenn man es länger bedachte, konnte die Tatsache, daß sie von Tomagras Handbewegungen kein Aufhebens machte, auch etwas anderes besagen : sie mochte an eine vergebliche Suche in jener Tasche glauben, eine Suche nach einer Fahrkarte, einem Streichholz … 29
Halt, nein : da die Fingerkuppen des Soldaten, wie mit plötzlicher Hellsichtigkeit begabt, durch die verschiedenen Stoffe hindurch die Ränder der unterirdischen Gewandung erahnten, bis hin zu kleinen Unebenheiten der Haut selbst, Poren, einem Muttermal – mußte dann nicht vielleicht auch ihre marmorne und etwas schlaffe Haut erkennen, daß es sich wirklich um die Innenseite der Finger handelte und nicht etwa um Nagelrücken oder Knöchel ? Da stahl sich die Hand des Soldaten aus der Tasche hervor, blieb einen Augenblick unschlüssig, glitt dann unvermittelt und eilig an der Hosennaht bis zum Knie hinab, um die Hose glattzustreichen. Man könnte auch sagen, daß sie sich einen Durchbruch erzwang, denn sie mußte sich zwischen ihm und der Dame hindurchwinden, und das wurde bei aller Geschwindigkeit zu einem Lauf, reich an beklemmenden und süßen Erregungen. Hier muß gesagt werden, daß Tomagra den Kopf weit zurückgelehnt hatte, so daß man auch hätte meinen können, er schliefe : dies war weniger als Alibi für ihn selbst gedacht, sondern vor allem ein Angebot an die Dame, das ihr die Möglichkeit gab, sich nicht belästigt fühlen zu müssen, falls seine Hartnäckigkeit ihr unangenehm werden sollte ; sie durfte seine Handbewegungen für unbewußt halten, für Gesten, die aus der schlafenden Ruhe eines Traumteichs auff uhren. So streckte sich jetzt von der eng an sein Knie gepreßten Hand Tomagras ein Finger aus, der kleine Finger, und ging 30
kreisend auf Entdeckungsreisen. Er strich leicht über ihr Knie, und sie blieb still und fügsam ; nun kreiste er vorsichtig auf dem seidigen Stoff des Strumpfes, dessen glänzende Wölbung Tomagra durch die halbgeschlossenen Lider musterte. Doch merkte er bald, daß die Kühnheit dieses Spiels nicht genügend belohnt wurde, denn der kleine Finger war zu fleischlos und zu ungelenkig, um mehr als winzige Gefühlsschauer übermitteln zu können ; jedenfalls reichte er nicht aus, um die Form und Substanz dessen, was er berührte, klar zu empfinden. Deshalb verband Tomagra den kleinen Finger wieder mit der ganzen Hand, aber nicht, indem er ihn zurückzog, sondern dadurch, daß er den Ring-, den Mittel- und den Zeigefinger ebenfalls ausstreckte : so ruhte seine Hand nun unbeweglich an diesem Frauenknie, und der Zug wiegte sie in einer Woge von Zärtlichkeit. Jetzt erst dachte Tomagra an die anderen Fahrgäste : wenn auch die Dame selbst, gewährend oder nur geheimnisvoll unempfindlich, auf seine Frechheiten nicht reagierte, so saßen doch noch andere im Abteil, und es konnte wegen seines unsoldatischen Benehmens der Dame gegenüber, die es auch noch zu dulden schien, zu einem Skandal kommen. Vor allem um die Dame von einem möglichen falschen Verdacht zu befreien, zog Tomagra seine Hand zurück, ja er versteckte sie, als sei sie die Schuldige. Dies wiederum war aber doch ein rechtes Versteckspiel, geboren aus heuchlerischer Überlegung, denn indem er die Hand verbarg, brachte er sie 31
dem Körper der Dame, die auf der Sitzbank ziemlich viel Platz einnahm, nur näher. Tatsächlich gaben die Finger, leicht wie ein Falter sich niedersetzt, die Empfindung weiter : da war sie. Jetzt nur noch ein wohliger Ruck mit der ganzen Handfläche – und regungslos blieb der Blick der Witwe unter dem Schleier, kaum hob sich die Brust im Atemzug … Aber wie auch : schon war Tomagras Hand zurückgeeilt wie eine flüchtige Maus. Sie hat sich nicht gerührt, dachte er, vielleicht will sie. Doch er dachte auch : Ein bißchen weiter, und es ist zu spät. Vielleicht lauert sie nur darauf, eine Szene zu machen. Daraufhin legte Tomagra, nur um auf gefahrlose Weise etwas mehr Sicherheit zu gewinnen, seinen Handrücken auf den Sitz und wartete ab, ob nicht das Schütteln des Zuges die Dame unmerklich auf seine Finger rutschen lassen werde. Er wartete ab, ist dabei etwas ungenau gesagt : die Fingerspitzen hoben sich hin und wieder empor, ihr entgegen mit winzigen Sprüngen, wie hochgeworfen vom Rattern der Räder. Wenn er die Fingerspitzen bei einem gewissen Punkt in der Luft zurückhielt, dann nicht etwa, weil die Dame ein Zeichen ihres Mißfallens von sich gegeben hätte, sondern deshalb : wenn sie mit ihm einverstanden war, konnte sie ihm ohne jede Schwierigkeit mit einer winzigen Drehung entgegenkommen, sich auf die wartende Hand leicht niederlassen. Um ihr diesen freundschaftlichen Vorschlag seiner Beharrlichkeit zu übermitteln, ver32
suchte sich Tomagra an einem diskreten Wedeln mit einem Finger ; die Dame sah aus dem Fenster und spielte mit träger Hand am Verschluß ihrer Handtasche, auf, zu, auf, zu. War dies ein Zeichen, er solle sie in Ruhe lassen, eine letzte Absage, die sie ihm warnend zukommen ließ, ein Hinweis, daß ihre Geduld bald erschöpft sein würde ? War es dies – so fragte sich Tomagra – war es das ? Jetzt drückte sich seine Hand schon wie ein Polyp mit zu kurzen Fangarmen an ihr Fleisch. Die Entscheidung war gefallen, er konnte nicht mehr zurück ; aber sie, sie, sie war eine Sphinx. Rückwärts wie ein Krebs kroch die Hand des Soldaten an ihrem Schenkel entlang ; war sie auch vor den Augen der anderen Reisenden gut verborgen ? Offenbar nicht : die Witwe hob ihr Jackett, das sie zusammengefaltet im Schoß hielt, und ließ es nach einer Seite hinunterhängen. Um ihm eine Abschirmung zu schaffen, oder um ihm den Weg zu versperren ? Bitte : frei und ungesehen bewegte sich seine Hand jetzt, rankte sich empor, wagte ein erstes zärtliches Streicheln. Doch das Gesicht der Dame blieb abgekehrt, in die Ferne gerichtet. Zwischen ihrem Ohr und dem aufgesteckten Haar sah Tomagra ein Stückchen nackter Haut. Und in der Höhlung des Ohres pulsierte eine Ader ; das war ihre Antwort an ihn, klar, gelöst, unwiderruflich. Plötzlich wandte sie ihr marmornes, stolzes Haupt – wie ein Vorhang schwankte der vom Hut herabwallende Schleier, verloren lag ihr Auge unter den schweren Lidern. Doch 33
der Blick war über Tomagra hinweggeglitten, hatte ihn nicht einmal gestreift. Über ihn hinweg sah sie auf irgend etwas oder auf nichts, auf einen Gegenstand vielleicht, der ihren Gedankenflügen Halt gab und jedenfalls viel wichtiger und bedeutender war als er, Tomagra. Doch dies alles dachte er erst etwas später. Zuvor, bei ihrer ersten Regung, hatte er sich sofort zurückgeworfen, die Augen zugepreßt wie im Schlaf und versucht, die Röte zurückzudrängen, die sein Gesicht zu überziehen begann. Und auf diese Weise hatte er vielleicht die Gelegenheit versäumt, im ersten Blitz ihres Blickes eine Antwort auf seine letzten Zweifel aufzufangen. Unter der schwarzen Jacke verborgen, war die Hand wie ohne Verbindung zu seinem übrigen Körper, für sich allein, abgestorben und mit den Fingern zum Puls zurückgekrümmt ; keine wirkliche Hand mehr, ohne Empfindung, es sei denn die der Verzweigung der Knochen. Doch da die unterbrochene Reglosigkeit der Witwe, nach dem ungewissen Kreisen ihres Blickes, wieder war wie zuvor, flossen Blut und Mut in diese Hand zurück. Und indem Tomagra aufs neue den Kontakt mit jenem nachgiebigen Stück Frauenbein aufnahm, wurde er gewahr, daß er eine Grenze erreicht hatte : die Finger spielten am Saum des Rockes, dahinter kam eine Leere, die Höhlung der Kniekehlen. Dies war das Ende der heimlichen Freuden, dachte der Rekrut, und sie erschienen seiner rückblickenden Erinnerung in einem recht armseligen Licht, mochte 34
er auch seine Vergnügungen geschickt dosiert und geizig gesteigert haben : dieses tölpelhafte Streicheln über ein Stückchen Seide hatte ihm nun wirklich nicht verweigert werden können, gerade im Hinblick auf seine bedauernswerte Lage als Soldat ; und auf ihre diskrete Weise, ohne es sich anmerken zu lassen, hatte die Dame es ihm gnädig gewährt. Doch als Tomagra nun, trübselig, die Hand wieder zurückziehen wollte, stockte er, denn er stellte fest, daß die Dame ihre Jacke jetzt anders im Schoß hielt : nicht mehr zusammengefaltet (wie zuvor bestimmt), sondern nachlässig hingeworfen, so, daß ein Teil ihr nach vorn über die Beine hinabhing. Seine Hand befand sich also in einem dichten Zelt ; ein letzter Vertrauensbeweis vielleicht, den die Dame ihm zukommen ließ, da sie sicher sein durfte, der Soldat werde den unüberbrückbaren Abstand zwischen ihnen beiden respektieren und die Gelegenheit nicht mißbrauchen. Mühevoll rief er sich noch einmal alles genau ins Gedächtnis, was zwischen der Witwe und ihm vorgefallen war, und er suchte in ihrem Verhalten irgend etwas zu entdecken, das auf ein größeres Entgegenkommen schließen ließ ; seine eigenen Gesten kamen ihm dabei abwechselnd vor wie unerhebliche, zufällige Berührungen und dann wieder wie entschiedene Intimitäten, die jeden Rückweg abschnitten. Seine Hand ergab sich offenbar dieser zweiten Deutung seiner Erinnerungen, denn ehe er sich der Unwiderruflichkeit dieser Handlung klargeworden war, hat35
ten die Finger den Paß schon überschritten. Und die Dame ? Sie schlief. Den Kopf mit dem großartigen Hut in die Ecke zurückgelehnt, hielt sie ihre Augen geschlossen. Mußte Tomagra diesen echten oder vorgetäuschten Schlaf achten ? Oder war er die Botschaft einer Komplizin, wie schon manches zuvor, und man mußte sich erkenntlich zeigen ? Der Punkt, an den er inzwischen gelangt war, duldete kein Zaudern ; es blieb ihm nichts übrig, als weiter vorzudringen. Die Hand des Rekruten Tomagra war klein und kurz, ihre harten Stellen waren so gut mit Fleisch und Muskeln verwachsen, daß nach außen alles weich und gleichmäßig wirkte ; die Knochen spürte man nicht, und die Bewegungen gingen, angenehm und geschmeidig, eher von den Nerven aus als von den Gliedern der Finger. Diese kleine Hand kannte regelmäßige, unverbindliche und winzige Bewegungen, um die Vollständigkeit des Kontaktes lebendig und glühend zu erhalten. Doch als schließlich ein erster Schauer durch die Erschlaff ung der Schlafenden rann, wie wenn ferne Meeresströmungen auf geheimen Wegen tief unter der Wasserfläche dahinlaufen, war der junge Soldat so überrascht, daß er, offenbar in der Annahme, die Witwe habe bis jetzt wirklich nichts bemerkt, erschrocken die Hand an sich riß. Jetzt saß er wieder in sich zusammengesunken da, die Hände auf den eigenen Knien, wie in dem Augenblick, als sie das Abteil betreten hatte ; er war sich dabei völlig klar darüber, wie absurd er sich benahm. Dann suchte 36
er mit betontem Hackenscharren und einem kräftigen Dehnen in den Hüften wieder eine günstige Lage einzunehmen, doch selbst diese Vorsicht, mit der er es tat, war absurd ; als ob es möglich wäre, die unendlich geduldige Arbeit wieder von vorne zu beginnen, als ob er nicht um die Tiefen wüßte, in die er inzwischen schon längst vorgedrungen war. War er in der Tat so weit vorgedrungen ? Narrte ihn nicht nur ein Traum ? Ein Tunnel fiel über sie her. Immer dichter wurde das Dunkel, und zuerst mit schüchternen Gesten, als handele es sich tatsächlich um erste Annäherungen und als staune er über die ungeheure Vertraulichkeit, die sich zwischen jener Frau und ihm gebildet hatte, hob er eine wie ein Wasserhuhn zitternde Hand und streckte sie nach ihrer Brust aus, ihrer großen, dem eigenen Gewicht sich hingebenden Brust ; und schwer atmend bemühte er sich, ihr mit seiner herumtastenden Hand zu erklären, in welch elendem und zugleich unerträglich glücklichem Zustand er sich befand, und wie notwendig es für ihn sei, daß sie, wenn auch sonst nichts anderes, aus ihrer Reserve heraustrete. Und wirklich reagierte die Witwe, aber mit einer heftigen Bewegung, die sie abschirmte und ihn zurückstieß. Sie genügte völlig, um Tomagra in seine Ecke zu scheuchen, wo er heimlich die Hände rang. Doch vermutlich handelte es sich um falschen Alarm, ein Licht war durch eine Mauerlücke in den Tunnel gefallen und hatte die Witwe fürchten lassen, der Tunnel sei gleich zu Ende. Vielleicht … oder aber er hatte ein Warnungs37
zeichen überfahren und sich eine schreckliche Inkorrektheit ihr gegenüber erlaubt, nachdem sie schon so großmütig gewesen war ? Nein, nunmehr konnte nichts zwischen ihnen unerlaubt sein, ihre Handlungsweise war vielmehr ein Zeichen, daß alles wirklich war, daß sie mit ihm übereinstimmte Und teilnahm. Tomagra näherte sich von neuem. Gewiß, mit all den Überlegungen hatte er wieder Zeit verloren, der Tunnel würde nicht mehr lange dauern, es war unvorsichtig, sich vom plötzlichen Tageslicht überraschen zu lassen, schon fürchtete er, die Wand des Tunnels ergrauen und heller werden zu sehen, aber je länger er wartete, desto gefährlicher wurde jeder neue Versuch, und doch war dieser Tunnel sehr lang, von anderen Reisen erinnerte er sich daran. Bestimmt, wenn er die Gelegenheit sofort genutzt, hätte er viel Zeit vor sich gehabt. Jetzt war es schon besser, das Ende abzuwarten. Aber warum hörte der Tunnel denn überhaupt nicht mehr auf, vielleicht war dies die letzte Möglichkeit für ihn gewesen – da lösten sich auch schon die Schatten auf, da war es zu Ende. Man hielt in einem der letzten Bahnhöfe der Provinzstrecke. Der Zug leerte sich ; aus dem Abteil waren schon die meisten Reisenden verschwunden, jetzt holten die letzten ihr Gepäck aus dem Netz und gingen davon. So kam es, daß sie schließlich allein zurückblieben, der junge Soldat und die Witwe, dicht nebeneinander und doch getrennt, stumm, die Blicke ins Leere gerichtet. Tomagra hielt es noch für nötig zu denken : 38
Jetzt, wo alle Plätze frei sind, wenn sie ihre Ruhe haben, wenn sie bequem sitzen will, wenn ich ihr lästig bin, sie kann ja … Irgend etwas hielt ihn noch zurück und erfüllte ihn mit Besorgnis, vielleicht eine Gruppe von Rauchenden im Gang draußen, oder ein Licht, das irgendwo aufflammte, da es Abend wurde. Ihm fiel ein, er könnte die Vorhänge an den Fenstern zum Gang zuziehen, wie jemand, der schlafen will ; mit elefantenhaften Schritten ging er hin, begann mit langsamer, minutiöser Sorgfalt die Vorhänge loszubinden, sie herunterzuziehen, wieder festzuknüpfen. Als er sich umwandte, sah er, daß sie sich hingelegt hatte. Als wollte sie schlafen ; aber abgesehen davon, daß sie die Augen starr geöffnet hielt, war sie in ihrer ganzen würdigen Aufmachung hingesunken, und auf dem Kopf, den sie an die Armlehne der Sitzbank drückte, trug sie noch immer ihren Hut. Tomagra stand jetzt über ihr. Um ihren simulierten Schlaf zu beschützen, wollte er auch das andere Fenster verdunkeln, und er beugte sich über sie, um den Vorhang zu lösen. Doch dies war nur eine eigene Art, ungeschickte Gesten über den reglosen Körper der Witwe hin auszuführen. Da hörte er auf, am Vorhangfetzen zu zerren und begriff, daß er anderes zu tun hatte. Er mußte ihr zeigen, wie unaufschiebbar sein Verlangen war, und sei es nur, um ihr zu erklären, in welche schiefe Lage sie versehentlich geraten war ; er wollte sagen : Sehen Sie, Sie waren entgegenkommend zu mir, weil Sie wissen, daß wir armen und einsamen Soldaten ein 39
wenig Zärtlichkeit brauchen, aber da haben Sie’s, sehen Sie selbst, was ich für einer bin, wie ich Ihre Liebenswürdigkeit aufgenommen habe, bis zu welchem Grade eines ganz und gar unmöglichen Wunsches ich gelangt bin, bitte, da, sehen Sie selbst. Und da es nunmehr offenbar war, daß nichts die Witwe in Erstaunen versetzen konnte, daß sie vielmehr alles und jedes schon vorhergesehen zu haben schien, blieb dem Infanteristen keine andere Möglichkeit ; er mußte tun, als gäbe es keinen Zweifel, bis endlich der Schauer seiner Tollheit auch das ergriff, was dieses Wahnes Gegenstand und Ziel war : sie. Als Tomagra sich erhob und die Witwe unter ihm blieb mit ihrem klaren und ernsten Blick (sie hatte blaue Augen), den schleierbesetzten Hut immer noch auf dem Kopf, und der Zug nicht aufhörte, mit hohem Ton durch die Landschaft zu pfeifen, und draußen die unendlichen Weinfelder sich immer weiter aneinanderreihten, und Regen mit Wucht gegen die Scheiben prasselte – : da empfand er noch einmal eine Regung der Furcht, daß er, der Rekrut Tomagra, so viel gewagt hatte.
Abenteuer eines Lesers
Die Küstenstraße verlief hoch oben über dem Kap; das Meer lag ringsum in der Tiefe, bis hin zum verschwommenen Horizont. Auch die Sonne war überall, als wären Himmel und Meer zwei Linsen, die sie vergrößerten. Unten rauschte das ruhige Wasser ohne Gischt gegen die bizarren Einschnitte der Felsen. Amedeo Oliva stieg eine steile Treppe hinab und trug sein Fahrrad auf dem Rücken. An einer schattigen Stelle ließ er es zurück, nachdem er es mit dem Speichenschloß gesichert hatte. Dann schritt er weiter die Stufen hinunter zwischen Einsturzstellen aus gelber, trockener Erde und Agaven, die im Leeren hingen, und seine Augen suchten bereits nach der bequemsten Falte im Felsen, wo er sich hinlegen könnte. Er hatte ein zusammengerolltes Handtuch unter dem Arm, in das die Badehose und ein Buch eingewickelt waren. Das Kap war ein einsamer Ort. Nur wenige Grüppchen Badender tummelten sich im Wasser oder nahmen ein Sonnenbad, voreinander verborgen in den schluchtähnlichen Einschnitten der Felsen. Zwischen zwei Blöcken, die ihn vor den Blicken schützten, kleidete Amedeo sich aus, zog die Badehose an und begann, 41
von Klippe zu Klippe zu setzen. So überquerte er mit Sprüngen seiner mageren Beine die Hälfte des Felsenriffs, wobei er manchmal dicht über die Nasen der halb versteckten Paare hinwegflog, die auf Frottiertüchern lagen. Das Massiv aus Sandstein mit poröser, unebener Oberfläche war überschritten, nun kamen glatte Felsen mit stumpfen Umrissen ; Amedeo streifte die Sandalen ab, nahm sie in die Hand und lief barfuß weiter, mit der schlafwandlerischen Sicherheit dessen, der ein geübtes Auge für die Entfernung von einer Klippe zur anderen und unempfindliche Fußsohlen hat. Er erreichte eine Stelle, die steil aus dem Wasser aufragte, über die Felswand führte in halber Höhe eine Art Sims. Dort hielt Amedeo an. Auf den flachen Vorsprung legte er seine Kleidungsstücke, ordentlich zusammengefaltet, und darüber, mit der Sohle nach oben, die Sandalen, damit nicht ein Windstoß alles fortriß – zwar wehte nur ein schwacher Lufthauch vom Meer, aber es war bei ihm wohl eine gewohnte Vorsichtsmaßnahme. Der kleine Beutel, den er bei sich hatte, war ein Gummikissen ; er blies es auf, legte es hin und breitete anschließend, auf einer Fläche, die vom Felsrand leicht abfiel, das Handtuch aus. Er warf sich mit dem Rücken darauf, und sofort öffneten seine Hände das Buch beim Lesezeichen. So lag er nun ausgestreckt auf dem Felsen, in der prallen Sonne, die von überall strahlte, mit uneingefetteter Haut – er war braungebrannt, doch ungleichmäßig, wie einer, der sich der Sonnenbestrahlung ohne Methode aussetzt, gegen Verbrennungen jedoch gefeit ist ; sein 42
Kopf, mit einer weißen Leinenmütze bedeckt, die er angefeuchtet hatte – denn er war auf eine niedrige Klippe hinuntergestiegen, um die Mütze ins Wasser zu tauchen –, ruhte auf dem Gummikissen, und nur die Augen – unsichtbar hinter der dunklen Brille – verfolgten auf den weißen und schwarzen Zeilen das Pferd Fabrizio del Dongos. Unter ihm gähnte eine kleine Bucht mit blaugrünem Wasser, das fast bis auf den Grund durchscheinend war. Die Klippen waren je nach ihrer Lage kalkig weiß oder mit Algen bedeckt. Ein kleiner Strand voller Kieselsteine wand sich im Hintergrund. Amedeo hob hin und wieder den Blick, betrachtete die sich darbietende Aussicht, ein Flimmern im Wasser oder den schrägen Lauf eines Krebses ; dann kehrte er voll innerer Sammlung zu der Seite zurück, auf der Raskolnikow die Stufen zählte, die ihn noch von der Tür der Alten trennten, oder auf der Lucien de Rubempré die Türme und die Dächer der Conciergerie anschaute, bevor er den Kopf in die Schlinge steckte. Seit einiger Zeit neigte Amedeo dazu, seine Teilnahme am aktiven Leben auf ein Minimum zu beschränken. Nicht, daß er die Tat an sich nicht liebte, im Gegenteil, sein ganzer Charakter und auch sein Geschmack waren von der Liebe zum Handeln bestimmt ; trotzdem verringerte sich von Jahr zu Jahr sein Tatendrang, er wurde immer schwächer, bis sich Amedeo schließlich selbst fragte, ob er tatsächlich jemals von einer solchen Manie besessen gewesen sein konnte. Das Interesse an rühriger Aktivität lebte jedoch weiter in seinem Ver43
gnügen, das er beim Lesen empfand ; seine Passion waren Tatsachenerzählungen, die Geschichten, die Verwicklungen menschlicher Schicksale. Vor allem also Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert, aber auch Memoiren und Biographien, und so weiter und so fort, bis hin zu den Kriminalschmökern und den utopischen Romanen, die er keineswegs verschmähte, die ihn jedoch weniger befriedigten, schon weil es dünnere Bände waren. Amedeo liebte die dicken Bände, und wenn er sie in Angriff nahm, dann tat er es mit dem physischen Vergnügen, mit dem man an eine schwere Arbeit geht. Sie in der Hand wägen, ihre Dichte, ihren Umfang, ihr Format genießerisch in Augenschein nehmen, ein wenig beklommen die Seitenzahl und die Länge der Kapitel abschätzen ; dann hineinsteigen, ein wenig widerstrebend am Anfang, ohne den Willen, die erste Mühe zu überwinden, die erforderlich ist, um sich die Namen zu merken und den roten Faden der Handlung zu erfassen ; dann, Vertrauen schöpfend, die Zeilen durcheilen, das Flechtwerk der einförmigen Seite bewältigen – und da erschien hinter den Bleilettern auch schon der Rauch und das Feuer der Schlacht, die Kugel, die durch die Luft pfiff und vor den Füßen des Fürsten Andrei einschlug, und da auch der Laden, vollgestopft mit Stichen und Skulpturen, und mit Herzklopfen machte Frédéric Moreau seinen ersten Besuch bei den Arnoux. Hinter der Oberfläche der Buchseite betrat man eine Welt, in der das Leben intensiver war als hier, auf dieser Seite : wie bei der Oberfläche des Mee44
res, die uns von jener blauen und grünen Welt trennt – Risse, so weit das Auge sehen kann, endlose Bereiche aus feinem, welligem Sand, Wesen, die halb Tier, halb Pflanze sind. Die Sonne stach, die Klippe war glühend heiß, und bald fühlte Amedeo sich eins mit der Klippe. Er war am Ende des Kapitels angelangt, klappte das Buch zu, wobei er die Werbebeilage als Lesezeichen benutzte, setzte Leinenmütze und Brille ab, richtete sich halbbenommen auf und lief in langen Sätzen bis an den äußersten Rand des Felsens, wo zu jeder Tageszeit Kinder ins Wasser sprangen und wieder heraufkletterten. Amedeo baute sich auf einer Stufe auf, die senkrecht über dem Meer hing, keineswegs hoch, nur wenige Meter über dem Wasser, musterte mit noch geblendeten Augen die flimmernde Transparenz unter sich und stürzte sich dann resolut hinein. Sein Sprung war stets der gleiche, ein Hechtsprung, ziemlich korrekt, doch zeichnete er sich durch eine gewisse Steifheit aus. Der Übergang von der sonnenheißen Luft in das warme Wasser wäre kaum zu spüren, wenn er nicht so plötzlich gewesen wäre. Amedeo tauchte nicht gleich wieder auf, er liebte es, unter Wasser zu schwimmen, tief unten, mit dem Bauch beinahe am Grund, solange der Atem reichte. Er fand Gefallen an physischer Anstrengung, an schwierigen Aufgaben ; deshalb kam er auf das Kap, um sein Buch zu lesen, und bewältigte den Aufstieg mit dem Fahrrad, wobei er wie wild in der mittäglichen Sonne die Pedale trat. Wenn er unter Was45
ser schwamm, dann suchte er jedesmal eine Klippenwand zu erreichen, die an einer bestimmten Stelle aus dem Sand des Meeresgrundes aufragte und mit einem dichten Seegrasflor bedeckt war. Er tauchte zwischen diesen Riffen auf, schwamm eine Weile im Kreise und begann methodisch zu kraulen, verbrauchte dabei jedoch unnötig viel Kraft ; bald war er es müde, mit dem Gewicht unter Wisser wie ein Blinder umherzurudern, und ging zu einem freieren Armschlag über, zum Kraul ; die bessere Sicht verschaff te ihm mehr Befriedigung als die Bewegung, und kurz darauf begann er auf dem Rücken zu schwimmen, immer weniger gleichmäßig, mit immer längeren Pausen zwischen den Bewegungen, bis er schließlich ganz still hielt. So wälzte und drehte er sich in diesem uferlosen Bett, einmal setzte er sich das Ziel, eine Insel zu erreichen, ein andermal eine bestimmte Anzahl von Armschlägen auszuführen, und er fand keine Ruhe, bevor er diese Aufgabe erledigt hatte ; eine Weile verharrte er träge, wandte sich wieder dem offenen Meer zu, von dem Wunsch beseelt, nichts weiter um sich zu haben als den Himmel und das Wasser, näherte sich dann den Riffen, die rings um das Kap verstreut waren, damit ihm ja keine der möglichen Schwimmrouten dieses kleinen Archipelagos entging. Doch als er so schwamm, merkte er, daß die Neugier, die jetzt in ihm die Oberhand gewann, jene war, zu erfahren, wie es – nehmen wir an – mit der Geschichte von Alberane weiterging. Würde Marcel sie wiederfinden ? Er schwamm mit Ungestüm, oder aber er ließ 46
sich treiben, doch sein Herz war zwischen den Seiten des Buches, das er am Strand zurückgelassen hatte. Nun war er mit kraftvollen, raschen Stößen an seiner Klippe angelangt, suchte die Stelle, an der er sich hinaufschwingen konnte, und da war er auch schon,, fast ohne es zu merken, oben und rieb sich mit dem Frottierhandtuch den Rücken ab. Er setzte sich wieder die Leinenmütze auf den Kopf, legte sich in die Sonne und begann ein neues Kapitel zu lesen. Er war kein hastiger, gieriger Leser. Er hatte ein Alter erreicht, in dem es mehr Vergnügen bereitet, ein Buch zum zweiten-, dritten- oder viertenmal zu lesen als zum erstenmal. Und doch hatte er noch viele Kontinente zu entdecken. Jeden Sommer kostete ihn das Packen des schweren Bücherkoffers vor der Abreise an die See die größte Mühe : Seinen Interessen und den Unterhaltungen gemäß, die er in den Monaten des Stadtlebens hatte, wählte Amedeo jedes Jahr bestimmte berühmte Bücher zu neuerlicher Lektüre aus und gewisse Autoren, die er zum erstenmal lesen wollte. Und hier auf der Klippe verdaute er sie, verweilte sinnend über den Sätzen, blickte häufig von dem Buch auf, um zu überlegen, um die Gedanken zu sammeln. Plötzlich, als er wieder einmal aufschaute, bemerkte er, daß sich auf dem kleinen steinigen Strand unten an der Bucht eine Frau niedergelassen hatte. Sie war braungebrannt, hager, nicht mehr jung, auch nicht besonders hübsch, aber es wirkte vorteilhaft, daß sie nackt war – sie hatte einen knapp sitzenden Bikini an, 47
der an den Rändern obendrein umgeschlagen war, um soviel Sonne wie nur möglich heranzulassen –, und Amedeos Auge fühlte sich davon angezogen. Er merkte, daß er beim Lesen immer häufiger von dem Buch aufsah und in die Luft schaute, und diese Luft war eben jene, die sich zwischen ihm und der Frau befand. Ihr Gesicht – sie lag schräg am Ufer, auf einer Luftmatratze, und Amedeo sah bei jedem Aufzucken der Pupillen die nicht überaus üppigen, aber ebenmäßigen Beine, den wundervoll glatten Bauch, die Brust, die zwar spärlich war, aber nicht unangenehm spärlich, sondern wahrscheinlich nur ein wenig verblüht, auf den Schultern etwas zuviel Knochen, ebenso am Hals und an den Armen, und das Gesicht maskiert durch eine schwarze Brille und durch die Krempe des Strohhuts – ihr Gesicht also war leicht gezeichnet, lebhaft, wissend und ironisch. Amedeo versuchte, ihren Typ einzuordnen : die unabhängige Frau, allein in der Sommerfrische, die den einsamen Felsenstrand den überlaufenen Anlagen vorzieht und sich mit dem größten Vergnügen von der Sonne schwarzbrennen läßt ; er schätzte den Teil an träger Sensualität und chronischem Unbefriedigtsein in ihr ab, dachte flüchtig an die Möglichkeiten, die er für ein Abenteuer mit raschem Erfolg verhieß, verglich dies mit der Aussicht auf eine konventionelle Unterhaltung, ein Abendprogramm, erwog die Verpflegungsschwierigkeiten, die sich wahrscheinlich ergeben würden, die anstrengende Aufmerksamkeit, die eine neue Bekanntschaft immer erforderte, selbst wenn man sie nur oberflächlich schloß, und er begann weiterzu48
lesen, überzeugt, daß diese Frau ihn wirklich nicht interessieren konnte. Er hatte wohl schon zu lange an dieser Stelle des Felsens gelegen, oder aber jene hastigen Gedanken hatten in ihm eine Spur von Unruhe hinterlassen, jedenfalls fühlte er sich unbehaglich ; die Unebenheiten der Klippe unter dem Handtuch, auf dem er sich ausgestreckt hatte, fingen an, ihm lästig zu werden. Er stand auf, um sich einen anderen Platz zu suchen. Einen Augenblick lang schwankte er zwischen zwei Stellen, die ihm gleichermaßen bequem schienen : einer, die weiter entfernt war von dem Strand, an dem sich die braune Signora sonnte – sogar hinter einem Felsvorsprung versteckt, der ihm völlig die Sicht nahm –, und einer anderen, die dichter daran war. Der Gedanke, näher heranzukommen, vielleicht durch einen unvorhergesehenen Umstand in ein Gespräch verwickelt zu werden und so die Lektüre unterbrechen zu müssen, ließ ihn sich sofort für den ersten Platz entscheiden ; aber dann überlegte er, daß es wirklich so scheinen würde, als wollte er weglaufen, kaum daß diese Signora aufgetaucht war, und das könnte vielleicht als Unhöflichkeit gewertet werden. Er wählte also den zweiten Platz ; schließlich fesselte ihn die Lektüre ja so sehr, daß es gar nicht sicher war, ob der Anblick dieser Frau – die übrigens nicht einmal besonders hübsch wirkte – ihn ablenken könnte. Er legte sich auf die Seite und hielt das Buch so, daß die Sicht zu ihr hin verdeckt war, aber es ermüdete ihn, den Arm ständig in dieser Höhe zu halten, und so ließ er ihn sinken. Jetzt 49
stieß sein Blick, der die Zeilen entlanghuschte, sobald er vorn beginnen mußte, gleich hinter dem Seitenrand auf die Beine der einsamen Sommerfrischlerin. Auch sie hatte ihre Lage ein wenig verändert, um es sich bequem zu machen, und daß sie die Knie angehoben und die Beine gerade in Amedeos Richtung übereinandergeschlagen hatte, erlaubte ihm, gewisse Proportionen ihres Körpers, die keineswegs unerfreulich waren, genauer zu betrachten. Kurz, Amedeo hätte, obwohl eine Felsenklinge ihm in die Hüfte schnitt, keine bessere Position fi nden können. Das Vergnügen, das er beim Anblick der sonnengebräunten Signora empfand – ein Vergnügen am Rande gewissermaßen, aber durchaus nicht zu verachten, und man konnte es genießen, ohne dabei die geringste Mühe aufwenden zu müssen –, beeinträchtigte nicht das Vergnügen an der Lektüre, sondern ordnete sich ein in deren normalen Ablauf, so daß er jetzt sicher sein durfte, weiterlesen zu können, ohne die Versuchung, den Blick abzulenken. Alles war still, ungehindert floß der Strom der Lektüre, dem die unbewegliche Landschaft als Rahmen diente, und die Signora war ein unerläßlicher Teil dieser Landschaft geworden. Amedeo hatte natürlich nur das eigene Vermögen, sich lange Zeit völlig reglos zu verhalten, in Betracht gezogen, nicht aber die Unruhe der Frau, die sich nun erhob und zwischen den Steinen hindurch ans Wasser ging. Sie war aufgestanden – so schloß Amedeo sofort –, um sich eine große Qualle von nahem anzusehen, die eine Schar Knaben mit 50
Rohrstöcken ans Ufer hob. Die braungebrannte Signora beugte sich über die Qualle und fragte die Jungen aus ; ihre Beine staken in Holzsandaletten mit sehr hohen Absätzen, die für die Klippen wohl wenig geeignet waren ; ihr Körper war, so wie ihn Amedeo jetzt sah – von hinten betrachtet –, der einer viel hübscheren und viel jüngeren Frau, als es vorher den Anschein hatte. Er überlegte, daß ihre Unterhaltung mit den Fischerjungen einem Mann, der auf ein Abenteuer ausging, eine »klassische« Gelegenheit bot : herantreten, selbst ein paar Worte über den Quallenfang zum besten geben und so ein Gespräch anknüpfen. Gerade das, was er um nichts in der Welt tun würde ! fügte er im stillen hinzu und vertiefte sich wieder in seine Lektüre. Gewiß, diese Verhaltensnorm hinderte ihn auch, eine natürliche Neugier bezüglich der Qualle zu befriedigen, die offenbar von ungewöhnlichem Umfang war und auch eine eigenartige Farbnuance zwischen Rosa und Lila aufwies. Dieses Interesse für Meerestiere war bei ihm keineswegs abwegig, es hing mit seiner Leseleidenschaft zusammen. In diesem Augenblick nun wurde seine Aufmerksamkeit für die Seite, die er las – einen langen, beschreibenden Absatz –, schwächer, kurz, es war widersinnig, daß er sich, allein wegen der Gefahr, ein Gespräch mit der Sommerfrischlerin anzuknüpfen, auch solch spontaner und durchaus gerechtfertigter Impulse hingab wie der Zerstreuung, ein paar Minuten lang eine Qualle von nahem zu betrachten. Er schlug das Buch beim Lesezeichen zu und erhob sich. Sein Ent51
schluß hätte nicht stürmischer gefaßt werden können, denn gerade in diesem Moment trennte sich die Dame von den Jungen und schickte sich an, auf ihre Luftmatratze zurückzukehren. Amedeo bemerkte dies, während er näher kam, und es drängte ihn, sofort etwas zu sagen. Er rief den Jungen also zu : »Vorsicht ! Sie kann gefährlich werden !« Die Jungen, die rings um das Tier hockten, blickten nicht einmal auf, sie bemühten sich noch immer, die Qualle mit den Rohrstöcken, die sie in den Händen hielten, anzuheben und umzudrehen. Die Signora aber wandte sich lebhaft um und ging wieder dem Ufer zu mit einer halb fragenden, halb entsetzten Miene : »Uh, wie schrecklich ! Beißt sie ?« »Wenn man sie berührt, verbrennt sie die Haut«, erläuterte er und merkte, daß er nicht auf die Qualle, sondern auf die Sommerfrischlerin zuschritt, die sich wer weiß weshalb die Brust in einem unnötigen Schaudern mit den Armen bedeckte und die Qualle, dann wieder Amedeo verstohlen anblickte. Er beruhigte sie, und so hatten sie, wie vorauszusehen war, ein Gespräch angeknüpft ; aber das tat nichts, Amedeo würde ja sofort zu seinem Buch zurückkehren, das auf ihn wartete ; er wollte nur einen Blick auf die Qualle werfen, deshalb veranlaßte er die braungebrannte Signora, wieder in den Kreis der Knaben zu treten. Jetzt schaute sie angewidert zu, die Fingerknöchel an den Zähnen, und plötzlich, als sie so Seite an Seite standen, berührten sich ihre Arme und zögerten eine Weile, bevor sie sich vonein52
ander lösten. Amedeo begann darauf, über Quallen zu dozieren. Seine Kenntnisse in dieser Materie reichten zwar nicht weit, doch er hatte einige Bücher bekannter Sportfischer und Unterwasserforscher gelesen, so daß er unter Umgehung der niederen Fauna gleich auf den berühmten Teufelsrochen zu sprechen kam. Die Sommerfrischlerin hörte ihm gespannt zu und redete dann und wann dazwischen, aber immer etwas Unpassendes, wie das bei Frauen so ist. »Sehen Sie die rote Stelle, die ich am Arm habe ? Es wird doch nicht etwa eine Qualle gewesen sein ?« Amedeo tastete die Stelle dicht über dem Ellenbogen ab und verneinte. Die leichte Rötung rührte daher, daß sich die Signora beim Liegen daraufgestützt hatte. Damit war alles zu Ende. Sie verabschiedeten sich, sie kehrte auf ihren Platz zurück, er auf den seinen, und er begann wieder zu lesen. Es war ein Intermezzo gewesen, das gerade die richtige Dauer gehabt hatte, nicht zu kurz und nicht zu lang, eine nicht unangenehme Kontaktaufnahme – die Signora war freundlich, zurückhaltend und gelehrig gewesen –, eben weil sie nur andeutungsweise war. Jetzt fand er in seinem Buch eine weit umfassendere und konkretere Beziehung zur Wirklichkeit, wo alles seinen Sinn, seine Wichtigkeit, seinen Rhythmus hatte. Amedeo fühlte sich in einer glänzenden Verfassung : Das bedruckte Papier öffnete ihm das wahre Leben, ein tiefgründiges Leben voller Leidenschaften, und wenn er aufschaute, dann fand er ein zwar zufälliges, aber fürs Auge wohltuendes Zusam53
menklingen von Farben und Empfindungen, eine periphere und dekorative Welt, die ihn zu nichts verpflichtete. Die braungebrannte Signora lächelte ihn von ihrer Matratze her an und winkte ihm zu, er antwortete mit einem Lächeln und einem Nicken und senkte wieder den Blick. Die Signora hatte jedoch etwas gesagt. »Wie bitte ?« »Sie lesen wohl immer ?« »Nun …« »Ist das so interessant ?« »Ja.« »Dann viel Spaß !« »Danke.« Er durfte die Augen nicht mehr heben, zumindest nicht vor dem Kapitelende. Er las es in einem Atemzug. Die Signora hatte jetzt eine Zigarette im Mund und gab ihm Zeichen, auf die Zigarette deutend. Amedeo hatte den Eindruck, daß sie schon seit einer Weile bemüht war, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Wie bitte ?« »… Streichhölzer …« »Leider nein, ich rauche nicht.« Das Kapitel war zu Ende, Amedeo überflog die ersten Zeilen des nächsten, die er außerordentlich anregend fand ; aber damit er das neue Kapitel unbehelligt beginnen konnte, mußte so rasch wie möglich die Streichholzfrage geklärt werden. »Einen Moment !« Er stand auf und begann, halb betäubt von der Sonne, von einer Klippe zur anderen zu springen, bis er schließlich ein 54
paar Leute fand, die rauchten. Er ließ sich eine Schachtel »Minerva« geben, eilte zu der Signora, zündete ihr die Zigarette an, lief zurück, um die Schachtel abzugeben, hörte die freundliche Aufforderung : »Behalten Sie sie nur«, eilte wieder zu der Signora, um ihr die Streichhölzer zu überlassen, sie bedankte sich, er zögerte einen Augenblick, um etwas zum Abschied zu sagen, doch da begriff er, daß er nach diesem Zaudern etwas anderes sagen mußte, und er fragte : »Sie baden nicht ?« »Bald«, entgegnete die Signora. »Und Sie ?« »Ich war schon im Wasser.« »Sie springen nicht noch einmal hinein ?« »Doch, ich lese noch ein Kapitel, dann schwimme ich wieder ein bißchen.« »Ich auch, ich rauche nur die Zigarette zu Ende, dann springe ich ins Wasser.« »Also bis nachher.« »Bis nachher.« Diese Art Verabredung verlieh Amedeo eine Ruhe, die er – das wurde ihm jetzt erst bewußt – nicht mehr kannte, seit er die einsame Sommerfrischlerin bemerkt hatte. Jetzt lastete nicht länger die Pflicht auf ihm, mit der Signora einen Kontakt aufrechterhalten zu müssen ; alles wurde auf den Augenblick des Badens verschoben – gebadet hätte er auch, wenn die Signora nicht dagewesen wäre –, und so konnte er sich jetzt ohne Hemmungen den Freuden der Lektüre widmen. Und das tat er in einem Maße, daß er gar nicht merkte, wie sich plötzlich – er war längst nicht am Ende des Kapitels angelangt – 55
die Sommerfrischlerin, nachdem sie die Zigarette aufgeraucht hatte, erhob und sich ihm näherte, um ihn zum Schwimmen aufzufordern. Er erblickte die Holzsandaletten und die schlanken Beine dicht über dem Buch, schaute auf, ließ, von der Sonne geblendet, die Augen wieder auf das Buch sinken und las in aller Eile ein paar Zeilen, blickte von neuem auf und hörte sie sagen : »Platzt Ihnen nicht bald der Kopf ? Ich springe ins Wasser !« Es war zwar schön, so weiterzulesen und dabei ab und zu aufzuschauen, aber da Amedeo nun nicht länger säumen durfte, tat er etwas, was ihm sonst nie unterlief : Er überging fast eine halbe Seite, bis zum Kapitelende, das er sehr aufmerksam las. Dann erhob er sich. »Also los ! Springen Sie von der Spitze ?« Obwohl die Signora viel von Springen geredet hatte, stieg sie vorsichtig von einer Stufe in Höhe des Wasserspiegels ins Meer. Amedeo stürzte sich von einem Felsen herab, und zwar aus größerer Höhe als üblich. Es war um die Stunde, da sich die Sonne langsam dem Horizont zuneigte. Das Meer schien vergoldet. Sie schwammen in diesem Gold in einigem Abstand voneinander. Amedeo tauchte dann und wann und machte sich einen Spaß daraus, die Signora dadurch zu erschrecken, daß er unter ihr hindurchschwamm. Sagen wir, er gönnte sich den Spaß. Im Grunde freilich war es kindisch, aber was sollte er auch tun ? Das Baden zu zweit war ein klein wenig langweiliger als sonst ; gleichviel, der Unterschied war nur gering. Außerhalb der Goldreflexe verdüsterte das Wasser sein azurnes Blau, 56
als breitete sich vom Grunde her eine tintenähnliche Finsternis aus. Es war zwecklos, nichts kam der Würze des Lebens gleich, die in den Büchern ist. Amedeo stieg über einige aus dem Wasser ragende Riffe hinweg und führte sie, die sich ängstlich gab ; er hatte, um ihr auf eine kleine Insel hinaufzuhelfen, sogar ihre Hüften und ihre Brust angefaßt, aber seine Hände waren dadurch, daß er so lange im Wasser gewesen war, fast unempfindlich geworden und hatten weiße, geriffelte Fingerkuppen bekommen. Immer häufiger blickte er zu der Stelle hinüber, wo der bunte Buchumschlag leuchtete. Es war keine andere Geschichte, keine andere Erwartung möglich außer jener, die er zwischen den Seiten, dort, wo das Lesezeichen lag, unterbrochen hatte ; alles andere war nur ein leeres Intervall. Trotzdem schuf die Rückkehr ans Ufer, die gegenseitige Hilfe beim Hinaufklettern und beim Abtrocknen letztlich eine gewisse Vertraulichkeit, so daß Amedeo glaubte, es sei unhöflich, wenn er jetzt auf seinen alten Platz zurückkehrte. »Ach«, sagte er, »ich werde hier weiterlesen, ich hole nur mein Buch und das Kissen.« Weiterlesen, hatte er gesagt, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen. Und sie : »Ja, recht so, ich werde eine Zigarette rauchen, und dann lese ich ein bißchen in der ›Annabella‹.« Sie hatte eine Frauenillustrierte bei sich, und so konnten nun beide lesen, jeder für sich. Ihre Stimme erreichte ihn wie ein kalter Tropfen auf den Nacken, aber sie sagte nur : »Warum liegen Sie auf dem harten Stein ? Kommen Sie auf die Matratze, ich 57
rücke ein Stück zur Seite.« Der Vorschlag war liebenswürdig, auf der Matratze war es gemütlich, und Amedeo akzeptierte das Angebot bereitwillig. Sie lagen nun beide dort, er in der einen Richtung, sie in der anderen. Sie redete nicht mehr, sondern blätterte die bebilderten Seiten durch, und Amedeo konnte sich ganz in seine Lektüre vertiefen. Die Sonne schien nicht untergehen zu wollen, das Licht und die Wärme nahmen nicht ab, sie wirkten nur leicht gedämpft. Amedeo war in seinem Roman bereits dort angelangt, wo die größten Geheimnisse der Gestalten und des Milieus enthüllt sind und man sich in einer vertrauten Welt bewegt, in der sich eine gewisse Parität zwischen Autor und Leser, eine Vertraulichkeit herausgebildet hat und man nun gemeinsam weiterschreitet und nie aufhören möchte. Auf der Gummimatratze konnte man auch jene kleinen Bewegungen ausführen, derer die Arme und Beine bedürfen, um nicht steif zu werden, und wie zufällig kam dabei eins seiner Beine mit einem ihrer Beine in Berührung. Ihm mißfiel das nicht, er rührte sich nicht ; ihr wohl ebenfalls nicht, denn auch sie regte sich nicht. Die Süße des Kontaktes summierte sich zu der Lektüre und machte sie, was Amedeo betraf, noch vollkommener ; doch sicherlich empfand die Sommerfrischlerin etwas anderes, denn sie stand auf, setzte sich hin und sagte : »Aber …« Amedeo war gezwungen, den Kopf vom Buch zu heben. Die Frau schaute ihn an, und in ihren Augen war Bitternis. 58
»Fehlt Ihnen etwas ?« erkundigte er sich. »Aber bekommen Sie denn das Lesen nie über ?« fragte die Frau. »Man kann nicht behaupten, daß Sie ein geselliger Mensch sind ! Wissen Sie nicht, daß man mit Damen Konversation pflegen muß ?« fügte sie mit einem schwachen Lächeln hinzu, das vielleicht nur ironisch sein sollte, das aber Amedeo, der in diesem Moment alles gegeben hätte, um sich nicht von dem Roman trennen zu müssen, geradezu drohend schien. Wie konnte ich mich bloß hierherlegen ! dachte er. Jetzt war ihm klar, daß er mit dieser Frau, an seiner Seite nicht eine einzige Zeile mehr lesen würde. Ich müßte ihr zu verstehen geben, daß sie sich geirrt hat, dachte er, daß ich mich am wenigsten eigne, den Strandgalan zu spielen, daß ich ein Typ bin, dem man sich lieber gar nicht anvertraut. »Konversation ?« fragte er laut. »Was für eine Konversation ?« Und er streckte die Hand nach ihr aus. »Sehen Sie, wenn ich Ihnen jetzt mit den Händen auf den Leib rücke, dann werden Sie sich gewiß durch eine so unpassende Bewegung beleidigt fühlen, Sie werden mich vielleicht sogar ohrfeigen und sich dann entfernen.« War es nun seiner natürlichen Zurückhaltung zuzuschreiben oder einer anderen Art Flirt, viel zärtlicher, der Art nämlich, die er in Wirklichkeit wollte – jedenfalls fiel die Liebkosung, anstatt brutal und herausfordernd zu sein, scheu, melancholisch, fast flehend aus : Er berührte ihren Hals mit den Fingern, hob die Halskette, die sie angelegt hatte, hoch und ließ sie wieder sinken. Die Antwort der 59
Frau bestand in einer zunächst langsamen, gleichsam resignierten und ein wenig ironischen Bewegung – sie drückte das Kinn seitlich an, um seine Hand festzuhalten –, dann in einer schnellen, einem berechneten, aggressiven Zuschnappen : Sie biß ihn in den Handrükken. »Au !« schrie Amedeo. Sie fuhren auseinander. »So machen Sie also Konversation ?« fragte die Signora. »Nun«, erwiderte Amedeo rasch, »diese Art, Konversation zu machen, gefällt Ihnen nicht, folglich unterbleibt jede Konversation, und ich lese weiter.« Und schon hatte er sich auf einen neuen Absatz gestürzt. Aber er versuchte, sich selbst zu betrügen. Er hatte sehr wohl begriffen, daß man schon zu weit gegangen war, daß zwischen ihm und der braungebrannten Signora eine Spannung entstanden war, die nicht mehr zu unterbrechen war ; er begriff auch, daß er der erste war, der sie nicht abbrechen wollte, zumal es ihm ja doch nicht gelingen würde, zu der alleinigen Spannung der Lektüre zurückzukehren, die ganz auf innere Sammlung abgestimmt war. Er konnte indes versuchen, es so einzurichten, daß diese äußere Spannung sozusagen parallel zu der andren verlief, daß er also weder auf die Signora noch auf das Buch zu verzichten brauchte. Da sich die Signora mit dem Rücken an eine Klippe gelehnt hatte, setzte er sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern, während er das Buch auf den Knien hielt. 60
Er wandte sich ihr zu und küßte sie. Sie lösten sich und küßten sich von neuem. Dann senkte er den Kopf und begann wieder zu lesen. Solange es möglich war, wollte er in der Lektüre fortfahren. Er fürchtete, es könnte ihm nicht gelingen, das Buch durchzulesen. Der Anfang eines Verhältnisses an der See konnte sehr wohl das Ende seiner einsamen, stillen Stunden bedeuten, einen grundverschiedenen Rhythmus, der sich seiner Ferientage bemächtigen würde ! Man weiß ja : Hat man sich erst einmal ganz in ein Buch hineingelebt, dann ist, wenn man die Lektüre unterbrechen muß und erst einige Zeit später wiederaufnimmt, der größte Teil der Freude verloren ; viele Einzelheiten sind vergessen, und es gelingt nicht, sich ebensogut wie zuvor hineinzuversetzen. Die Sonne ging allmählich hinter dem nächsten Vorgebirge unter, dann hinter dem folgenden und hinter dem, das danach kam, und ließ sie im Gegenlicht ohne Farben zurück. Die Badelustigen waren aus den Schluchten des Kaps verschwunden. Sie waren jetzt allein. Amedeo umspannte die Schultern der Sommerfrischlerin mit einem Arm, las, küßte sie auf den Hals und auf die Ohren – was ihr, wie er festzustellen glaubte, gefiel –, und wenn sie sich ihm zuwandte, küßte er sie auf den Mund ; dann las er weiter. Vielleicht hatte er diesmal wirklich das ideale Gleichgewicht gefunden : Er hätte so noch ein ganzes Hundert Seiten lesen mögen. Aber wieder war sie es, die die Situation zu ändern versuchte. Sie begann sich steif zu machen, ihn zurückzu61
drängen und sagte schließlich : »Es ist spät. Gehen wir. Ich ziehe mich an.« Dieser plötzliche Entschluß eröffnete ganz andere Perspektiven. Amedeo wirkte ein wenig hilflos, aber er erwog nicht lange das Für und Wider. Er war am Höhepunkt des Buches angelangt, und ihr Satz : »Ich ziehe mich an« hatte sich, kaum vernommen, in seinem Kopf in einen anderen verwandelt : Während sie sich anzieht, habe ich noch etwas Zeit, ein paar Seiten ungestört zu lesen. Sie aber forderte ihn auf : »Halte bitte das Handtuch hoch« – sie duzte ihn jetzt vielleicht zum erstenmal –, »damit mich keiner sieht.« Die Vorsicht war überflüssig, denn der Felsenstrand war menschenleer, aber Amedeo tat ihr gern den Gefallen, zumal er das Handtuch im Sitzen halten und in dem Buch weiterlesen konnte, das auf seinen Knien lag. Die Signora hatte hinter dem Handtuch den Büstenhalter abgelegt, ohne sich darum zu kümmern, ob er es sah oder nicht sah. Amedeo wußte nicht, sollte er sie anschauen und tun, als läse er, oder sollte er lesen, während er so tat, als schaute er zu. Ihn reizte das eine wie das andere, doch er hielt es für indiskret, sie anzustarren ; las er aber weiter, dann wirkte er gewiß allzu gleichgültig. Die Signora wandte nicht die übliche Methode der Badenden an, die sich im Freien ankleiden, indem sie sich zuerst die Sachen überstreifen und dann den Badeanzug darunter ausziehen ; nein, jetzt, da sie mit entblößter Brust dasaß, zog sie auch noch den Slip 62
aus. In diesem Moment wandte sie ihm zum erstenmal ihr Gesicht zu – es war ein trauriges Gesicht, mit einer Falte der Bitternis am Mund –, und sie schüttelte den Kopf, sie schüttelte den Kopf und blickte ihn an. Da es doch geschehen muß, soll es gleich geschehen ! dachte Amedeo und warf sich mit dem Buch in der Hand, einen Finger zwischen den Seiten, nach vorn ; aber was er in ihrem Blick las – Tadel, Mitleid, Niedergeschlagenheit, als wollte sie zu ihm sagen : »Dummer, wir machen das, wenn uns nichts anderes übrigbleibt, aber auch du begreifst nichts, wie die anderen Männer !« –, das heißt, das, was er nicht las, denn er verstand nicht, in den Augen zu lesen, sondern was er verschwommen merkte, rief in ihm einen solchen Gefühlsüberschwang für diese Frau hervor, daß er, während er sie umarmte und mit ihr auf die Gummimatratze fiel, kaum den Kopf nach dem Buch wandte, um zu sehen, ob es vielleicht im Meer gelandet war. Aber es lag dicht neben der Matratze, aufgeschlagen, nur ein paar Seiten waren umgeblättert, und Amedeo, obzwar noch immer im Feuer der Umarmung, suchte eine Hand freizubekommen, um das Lesezeichen an die richtige Stelle zu schieben. Nichts ist nämlich ärgerlicher, als wenn man lesen will und dann erst blättern muß, ohne den Faden finden zu können. Die Liebesharmonie war vollkommen. Sie hätte zwar etwas länger hinausgezögert werden können ; aber war nicht alles blitzartig gewesen bei dieser Begegnung ? Es wurde dunkel. Unten endeten die Felsen, schräg 63
abgleitend, in einer kleinen Bucht. Sie war jetzt dort hinuntergegangen und stand im Wasser. »Komm her, laß uns noch einmal schwimmen …« Amedeo biß sich auf die Lippen und zählte die Seiten, die er bis zum Schluß noch zu lesen hatte.
Die Betrachtung der Sterne
Wenn eine besonders sternklare Nacht ist, sagt sich Herr Palomar : Ich muß die Sterne betrachten gehen ! Er sagt wirklich »Ich muß«, weil er Vergeudung haßt und es unrecht findet, all diese vielen Sterne, die ihm zur Verfügung gestellt werden, zu vergeuden. Außerdem sagt er »Ich muß«, weil er nicht viel Übung im Betrachten der Sterne hat, so daß ihn dieses einfache Unternehmen immer eine gewisse Anstrengung kostet. Es beginnt mit der Schwierigkeit, einen geeigneten Platz zu finden, von dem aus sein Blick ungehindert und ohne die Aufdringlichkeit des elektrischen Lichts durch das ganze Himmelsgewölbe schweifen kann ; zum Beispiel einen einsamen Strand an einer sehr flachen Küste. Unerläßlich ist ferner die Mitnahme einer Himmelskarte, ohne die er nicht wüßte, was er gerade betrachtet. Doch von einem Male zum andern vergißt er, wie man sie ausrichtet, und muß sie erst wieder gründlich studieren. Um die Karte im Dunkeln entziffern zu können, muß er sich auch eine Taschenlampe mitnehmen. Das viele Vergleichen zwischen Himmel und Karte zwingt ihn, die Lampe fortwährend an- und auszu65
knipsen, und durch den ständigen Wechsel von Licht und Dunkel ist er dann jedesmal fast wie geblendet und muß seine Augen erst wieder umgewöhnen. Würde Herr Palomar ein Teleskop benutzen, so wären die Dinge einerseits noch komplizierter und andererseits einfacher. Für den Augenblick interessiert ihn jedoch die Erkundung des Himmels mit bloßem Auge, nach Art der antiken Seefahrer und der nomadischen Hirten. Mit bloßem Auge heißt freilich für ihn, der kurzsichtig ist, mit Brille, und da er die Brille zum Lesen der Karte abnehmen muß, kompliziert sich die Operation durch das ständige Hoch- und Niederschieben der Brille auf seiner Stirn und impliziert außerdem, daß er immer erst ein paar Sekunden warten muß, bis seine Augen die Sterne am Himmel oder auf der Karte wieder scharf erfassen. Auf der Karte stehen die Namen der Sterne schwarz auf blauem Grund, so daß er die Lampe ganz nah ans Blatt halten muß, um sie zu erkennen. Schaut er dann wieder zum Himmel hinauf, so sieht er ihn schwarz, übersät mit vagem Geflimmer ; erst nach und nach erkennt er einzelne Sterne, die sich zu klaren Sternbildern ordnen, und je länger er schaut, desto mehr sieht er auftauchen. Hinzu kommt, daß es zwei Himmelskarten sind, die er konsultieren muß, oder genauer vier : eine sehr allgemeine des Himmels in jenem Monat, die den nördlichen und den südlichen Teil getrennt voneinander zeigt, und eine sehr viel detailliertere des ganzen Firmaments, die in einem langgezogenen Streifen die Konstellationen 66
des ganzen Jahres für den mittleren Teil des Himmels rings um den Horizont auff ührt, während die Sterne der Kuppel rings um den Polarstern in einer beigefügten runden Karte dargestellt sind. Kurzum, das Lokalisieren eines Sterns verlangt jeweils den Vergleich der verschiedenen Karten mit dem Himmelsgewölbe samt allen dazugehörigen Handlungen wie Auf- und Absetzen der Brille, An- und Ausknipsen der Lampe, Auseinander- und Zusammenfalten der großen Karte, Verlieren und Wiederfinden der Orientierungspunkte. Seit Herr Palomar das letzte Mal die Sterne betrachtet hat, sind Wochen vergangen, wenn nicht Monate. Alles am Himmel hat sich verändert : Der Große Bär (wir haben August) reicht fast hinunter bis zu den Wipfeln der Bäume im Nordwesten. Arkturus versinkt hinter der Silhouette des Hügels und zieht den ganzen Bootes-Drachen mit sich hinab. Genau im Westen steht Wega, hoch und allein. Wenn jener Stern dort die Wega ist, dann ist dieser über dem Meer der Atair, und oben steht Deneb kaltglänzend im Zenit. Heute nacht scheint der Himmel noch viel überfüllter zu sein als jede Karte. Die schematisierten Konfigurationen erweisen sich in der Realität als viel komplexer und verworrener : Jeder Sternhaufen könnte das Dreieck oder die unterbrochene Linie enthalten, die man gerade sucht, und jedesmal, wenn man die Augen erneut von der Karte zu einem Sternbild hebt, kommt es einem ein bißchen anders vor. Um ein Sternbild zu erkennen, prüft man am besten, 67
wie es auf seinen Namen reagiert. Überzeugender als die Übereinstimmung der Distanzen und Konfigurationen am Himmel mit denen auf der Karte ist nämlich die Antwort, die der leuchtende Punkt auf den Namen gibt, mit dem er benannt worden ist : seine prompte Bereitschaft, sich mit dem Klang zu identifizieren und mit ihm eins zu werden. Die Namen der Sterne mögen für uns, die wir jegliche Mythologie verloren haben, noch so unpassend und willkürlich klingen, wir würden niemals auf den Gedanken kommen, sie für austauschbar zu halten. Wenn der Name, den Herr Palomar für einen Stern gefunden hat, der richtige ist, merkt er es gleich, denn der Stern bekommt durch ihn eine Notwendigkeit und Evidenz, die er zuvor nicht hatte. Ist es jedoch ein falscher Name, so hat ihn der Stern schon ein paar Sekunden später verloren, als hätte er ihn von sich abgeschüttelt, und man weiß nicht mehr, wer und wo er war. Mehrmals beschließt Herr Palomar, das Haar der Berenike (ein Sternbild, das er besonders liebt) sei dieser oder jener Lichterschwarm im Gebiet des Schlangenträgers, doch er verspürt nichts von der Erregung, die ihn früher beim Wiedererkennen dieses so prächtigen und dabei so zarten Gebildes erfaßte. Erst später wird ihm klar, daß er es deshalb nicht finden kann, weil das Haar der Berenike in dieser Jahreszeit nicht zu sehen ist. Ein Großteil des Himmels ist von hellen Streifen und Flecken durchzogen, die Milchstraße hat im August eine Konsistenz von so großer Dichte, daß es fast 68
scheint, als träte sie über die Ufer. Hell und Dunkel sind dermaßen miteinander vermengt, daß der perspektivische Eindruck eines schwarzen Abgrunds, vor dessen leerer Tiefe die Sterne sich abheben, gar nicht erst aufkommt. Alles bleibt auf der gleichen Ebene : funkelndes Blitzen und silbrige Nebel und tiefe Finsternis. Ist dies die exakte Geometrie, zu welcher Zuflucht zu nehmen Herr Palomar so oft das Bedürfnis verspürte, um sich von der Erde zu lösen, dem Ort der überflüssigen Komplikationen und vagen Annäherungen ? Jetzt, da er sich wirklich im Angesicht des gestirnten Himmels befindet, scheint ihm alles irgendwie zu entgleiten. Auch das, wofür er ein besonders feines Gespür zu haben glaubte, nämlich die Winzigkeit unserer Welt angesichts der grenzenlosen Entfernungen, tritt nicht unmittelbar zutage. Das Firmament ist etwas, das sich dort oben befindet ; man sieht, daß es da ist, doch man bekommt dadurch keinerlei Vorstellung von Distanzen und Dimensionen. Wenn die Lichtkörper so mit Ungewißheit geladen sind, bleibt einem nur, sich der Finsternis anzuvertrauen, den leeren Himmelsregionen. Was könnte beständiger sein als das Nichts ? Aber nicht einmal auf das Nichts ist hundertprozentig Verlaß : Wo Herr Palomar eine Lichtung im Firmament erblickt, will sagen ein leeres schwarzes Loch, starrt er unverwandt hin, als wollte er sich hineinversetzen, und plötzlich ist ihm, als käme auch dort ein winziges blinkendes Körnchen oder Fleckchen oder ein Sommersprößchen zum Vorschein, 69
aber er weiß nicht recht, ob es wirklich vorhanden ist oder ob er es nur zu sehen meint. Vielleicht ist es bloß ein Flimmern, wie man es kreisen sieht, wenn man die Augen geschlossen hält (der dunkle Himmel ist wie die von Lichteindrücken durchzuckte Innenseite der Lider), vielleicht ist es ein Reflex seiner Brillengläser, aber es könnte genausogut auch ein unbekannter Stern sein, der aus den fernsten Tiefen aufschimmert. Diese Betrachtung der Sterne vermittelt ein instabiles und widersprüchliches Wissen – denkt Herr Palomar –, genau das Gegenteil dessen, was die Alten aus ihr zu schöpfen wußten. Sollte es daran liegen, daß sein Verhältnis zum Himmel sporadisch und voller Erregung ist, statt eine regelmäßige stillvergnügte Gewohnheit zu sein ? Wenn er sich vornehmen würde, die Sterne Nacht für Nacht und Jahr für Jahr zu betrachten, unermüdlich ihr Hin und Her auf den gebogenen Gleisen des dunklen Himmelsrunds zu verfolgen, dann käme vielleicht auch er am Ende zu einem Begriff von kontinuierlicher und beständiger Zeit fern der labilen und zerstückelten Zeit des Geschehens auf Erden. Aber würde die Aufmerksamkeit für die Revolutionen am Himmel genügen, um ihn mit diesem Stempel zu prägen ? Oder bedürfte es nicht vor allem einer inneren Revolution, wie er sie nur theoretisch annehmen kann, ohne Vorstellung von ihren greifbaren Folgen für sein Fühlen und Denken ? Von der mythischen Kenntnis der Gestirne erhascht er nur einen blassen Schimmer, von der wissenschaft70
lichen nur den Widerhall in den Zeitungen ; dem, was er weiß, mißtraut er ; das, was er nicht weiß, hält seinen Geist in Atem. Bedrückt, unsicher und immer nervöser brütet er über den Himmelskarten wie über zerblätterten Fahrplänen auf der Suche nach einem Anschluß. Da, ein glänzender Pfeil durchpflügt den Himmel. Ein Meteor ? Schon möglich, dies sind genau die Nächte, in denen man häufig Sternschnuppen sieht. Aber es könnte ebensogut auch ein hellerleuchtetes Flugzeug sein. Herrn Palomars Blick hält sich wachsam, bereit, von jeder Gewißheit frei. Seit einer halben Stunde sitzt er jetzt da am Strand im Dunkeln, auf einem Liegestuhl, dreht sich abwechselnd bald nach Süden, bald nach Norden, knipst immer wieder die Lampe an, beugt sich über die Karten, die er ausgebreitet auf seinen Knien hat, und beginnt dann erneut seine Himmelserkundung, ausgehend vom Polarstern. Lautlose Schatten huschen über den Strand, ein Liebespaar löst sich aus der Düne, ein nächtlicher Angler, ein Zollbeamter, ein Schiffer. Herr Palomar hört ein Getuschel. Er blickt sich um : Wenige Schritte von ihm entfernt hat sich eine kleine Menschenmenge gebildet, die aufmerksam seine Gebärden verfolgt, als wären’s die Zuckungen eines Verrückten.
Die Dinosaurier
Mysteriös bleiben die Gründe für das rasche Aussterben der Dinosaurier, die sich während der ganzen Trias- und Jurazeit entwickelt und ständig vergrößert hatten und 150 Millionen Jahre lang die unangefochtenen Herrscher der Kontinente gewesen waren. Vielleicht waren sie unfähig, sich den großen Klima- und Vegetationsveränderungen anzupassen, die in der Kreidezeit eintraten. Am Ende dieser Epoche waren sie alle tot. Alle außer mir – präzisierte Q fwfq –, denn auch ich bin eine Zeitlang Dinosaurier gewesen, so an die fünfzig Millionen Jahre lang, und ich bereue es nicht. Wer damals Dinosaurier war, der konnte sicher sein, daß er im Recht war, und wußte sich Respekt zu verschaffen. Dann änderte sich die Lage, ich brauche euch die Einzelheiten nicht zu erzählen. Unglück aller Art brach über uns herein, Niederlagen, Fehlschläge, Zweifel, Verrat und Seuchen. Eine neue Erdbevölkerung wuchs heran, die uns feindlich gesonnen war. Sie fielen von allen Seiten über uns her, wir wußten nicht mehr wohin. Heute behaupten manche, die Lust am Untergang, der heimliche Wunsch, vernichtet zu werden, hätte schon 73
immer zur Mentalität von uns Dinosauriern gehört. Ich weiß nicht, ich habe dieses Gefühl nie gehabt ; wenn andre es hatten, dann sicher nur, weil sie sich schon verloren fühlten. Ich denke ungern zurück an das große Sterben, ich hätte nie geglaubt, ihm entrinnen zu können. Die lange Wanderung, die mich in Sicherheit brachte, führte mich über ein Totenfeld nackter Gebeine, auf dem nur hin und wieder ein Rückenkamm oder ein Horn, eine Panzerplatte oder ein Fetzen schuppiger Haut an die einstige Pracht des lebendigen Wesens erinnerte. Und an diesen kläglichen Resten taten sich nun die Schnäbel, die Zähne, die Krallen, die Saugnäpfe der neuen Herren des Planeten gütlich. Erst als ich nirgendwo mehr eine Spur von Lebenden und von Toten fand, machte ich halt. Ich verbrachte viele, sehr viele Jahre auf jenen verlassenen Höhen. Ich hatte Überschwemmungen, Seuchen, Hungersnöte und eisigen Frost überlebt, doch ich war allein. Ich konnte nicht ewig dort oben bleiben. So machte ich mich an den Abstieg. Die Welt hatte sich verändert, ich erkannte weder die Berge wieder noch die Flüsse oder die Pflanzen. Als ich das erste Mal auf lebende Wesen stieß, versteckte ich mich. Es war eine Horde der Neuen : kleinwüchsige, aber kräftige Exemplare. »He, du !« Sie hatten mich erblickt, und sofort verblüff te mich ihre vertrauliche Art, mich anzusprechen. Ich lief davon, sie liefen mir nach. Seit Jahrtausenden 74
war ich gewohnt, Schrecken um mich her zu verbreiten und selbst zu erschrecken über die Reaktion der anderen auf den Schrecken, den ich hervorrief. Jetzt nichts davon, nur dieses »He, du !« Sie kamen näher, als ob nichts wäre, weder feindselig noch erschrocken. »Wieso läufst du weg ? Was hast du denn ?« Sie wollten mich nur nach dem Weg fragen, keine Ahnung, wohin. Ich stammelte, daß ich nicht aus der Gegend sei. »Was ist denn in dich gefahren, daß du so plötzlich Reißaus nehmen wolltest«, fragte einer. »Es war ja fast, als hättest du … einen Dinosaurier gesehen !« Die anderen lachten. Aber in diesem Lachen vernahm ich zum erstenmal eine Spur von Angst. Sie lachten ein bißchen gezwungen. Dann wurde einer von ihnen ernst und ermahnte den, der gesprochen hatte : »Sag sowas nicht mal im Scherz ! Du weißt ja nicht, wie die waren …« Demnach wirkte also der Schrecken vor den Dinosauriern auch bei den Neuen immer noch fort, aber sie hatten vielleicht schon seit etlichen Generationen keine mehr zu Gesicht bekommen und wußten nicht, wie sie aussahen. Ich zog weiter, mit der gebotenen Vorsicht, aber auch voller Ungeduld, das Experiment zu wiederholen. An einer Quelle trank ein junges Weibchen der Neuen ; sie war allein. Ich näherte mich ganz leise und reckte den Hals, um neben ihr zu trinken ; schon hörte ich im Geiste ihren Entsetzensschrei, kaum daß sie mich erblicken würde, ihre keuchende Flucht. Gleich würde sie Alarm schlagen, die Neuen würden in Scharen herbeigeströmt kommen, um mich zu jagen … Im 75
selben Moment bereute ich meinen Schritt. Wenn ich mein Leben retten wollte, mußte ich sie auf der Stelle zerreißen : wieder von vorn beginnen … Sie drehte den Kopf zu mir und sagte : »Schön frisch, das Wasser, nicht wahr ?« Fing dann eine liebenswürdige Unterhaltung an, so eine mit etwas konventionellen Floskeln, wie man sie Fremden gegenüber benutzt ; fragte mich, ob ich von weither käme und ob ich unterwegs Regen oder gutes Wetter gehabt hätte und so weiter. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß man mit Nicht-Dinosauriern so plaudern konnte, ich blieb auf der Hut und fast stumm. »Ich komme immer zum Trinken hierher«, sagte sie, »zum Dinosaurier …« Ich zuckte zusammen und riß die Augen auf. »Ja, ja, so nennen wir hier diese Quelle, die Quelle des Dinosauriers, seit alters her. Es heißt, ein Dinosaurier hätte sich hier einst versteckt gehalten, einer der letzten, und immer wenn jemand zum Trinken herkam, fiel er über ihn her und riß ihn in Stücke, du meine Güte !« Ich hätte in den Boden versinken können. Gleich wird ihr aufgehen, wer ich bin, dachte ich, gleich wird sie mich genauer ansehen und mich erkennen ! Und wie man es macht, wenn man nicht erkannt werden will, schlug ich die Augen nieder und ringelte mir den Schwanz um den Leib, wie um ihn zu verstecken. Es war ein solcher Nervenstreß, daß ich, als sie schließlich mit einem strahlenden Lächeln »Tschüs« sag76
te und ihrer Wege ging, mich so erschöpft fühlte, als wenn ich eine Schlacht überstanden hätte, eine aus jener Zeit, da wir uns noch mit Zähnen und Klauen verteidigen mußten. Voller Scham bemerkte ich, daß ich nicht einmal fähig gewesen war, ihren Abschiedsgruß zu erwidern. Ich gelangte zum Ufer eines Flusses, wo die Neuen ihre Höhlen hatten. Sie lebten anscheinend vom Fischfang. Um eine Ausbuchtung im Fluß zu erzeugen, in der das Wasser langsamer fließen und die Fische zurückhalten würde, bauten sie gerade ein Wehr aus Ästen und Zweigen. Kaum erblickten sie mich, hoben sie die Köpfe von ihrer Arbeit und hielten inne. Sie sahen mich an, sie sahen einander an, schweigend, wie um zu beraten. »Das wär’s dann wohl«, dachte ich, »jetzt bleibt mir nur noch, mein Leben teuer zu verkaufen !« Und ich setzte zum Sprunge an. Zum Glück konnte ich mich gerade noch rechtzeitig bremsen. Diese Fischer hatten nichts gegen mich. Sie sahen, wie stark ich war, und wollten mich fragen, ob ich nicht bei ihnen bleiben könnte, um ihnen beim Holztransport zu helfen. »Die Gegend hier ist sicher«, beteuerten sie, als sie meine verblüff te Miene sahen. »Dinosaurier hat man hier seit den Zeiten der Großeltern unserer Großeltern nicht mehr gesehen …« Keinem von ihnen kam ein Verdacht, was für einer ich war. So blieb ich. Das Klima war gut, das Essen nicht gerade nach unserem Geschmack, aber anstän77
dig, und die Arbeit nicht übermäßig schwer für einen mit meiner Kraft. Sie nannten mich mit einem Spitznamen : »Der Häßliche«, aber bloß, weil ich anders als sie war. Diese Neuen – ich weiß ja nicht, wie ihr sie nennt, Pantotherier oder so ähnlich – waren eine noch etwas formlose Spezies ; faktisch gingen dann später alle übrigen Arten aus ihnen hervor, aber schon damals gab es zwischen den einzelnen Individuen alle möglichen Ähnlichkeiten und Unterschiede, so daß ich, obwohl vom Typ her ganz anders, mir schließlich doch sagen mußte, daß ich im Grunde eigentlich gar nicht besonders auffiel. Nicht daß ich mich völlig an den Gedanken gewöhnte. Ich fühlte mich immer noch als ein Dinosaurier unter Feinden, und jeden Abend, wenn sie anfingen, sich ihre von Generation zu Generation überlieferten Dinosauriergeschichten zu erzählen, trat ich nervös zurück in den Schatten. Es waren schreckliche Geschichten. Die Zuhörer hingen bleich und alle naselang in Entsetzensschreie ausbrechend an den Lippen dessen, der gerade erzählte, wobei seine Stimme eine nicht geringere Erregung verriet. Bald wurde mir klar, daß es Geschichten waren, die alle längst kannten (obwohl sie ein recht umfangreiches Repertoire darstellten), die aber, wenn man sie hörte, ihren Schrecken jedesmal neu verbreiteten. Wir Dinosaurier erschienen darin wie lauter Ungeheuer, ausgestattet mit Zügen, an denen man niemals einen von uns erkannt hätte, und immerzu nur darauf 78
aus, den Neuen zu schaden, als ob diese Neuen von Anfang an die wichtigsten Erdenbewohner gewesen wären und wir nichts andres zu tun gehabt hätten, als ihnen von morgens bis abends nachzustellen. Für mich dagegen hieß das Zurückdenken an uns Dinosaurier, mir eine lange Kette von Nöten, Todeskämpfen und Trauer ins Gedächtnis zu rufen ; die Geschichten, die sich diese Neuen von uns erzählten, hatten so wenig mit meiner Erfahrung zu tun, daß sie mich eigentlich hätten kaltlassen müssen, als handelten sie von Fremden, Unbekannten. Doch wenn ich die Neuen erzählen hörte, wurde mir unversehens bewußt, daß ich nie bedacht hatte, wie wir den anderen erschienen waren, ja daß sie bei all dem Unsinn, den sie in ihren Geschichten verzapften, in manchen Details und aus ihrer bestimmten Sicht doch auch etwas Wahres trafen. In meinem Kopf vermischten sich ihre Geschichten von den Greueln, die wir ihnen angetan hatten, mit meinen Erinnerungen an die von uns erlittenen Greuel, und je mehr ich erfuhr, wie sehr die anderen vor uns gezittert hatten, desto heftiger zitterte ich nun selbst. Sie erzählten jeder reihum so eine Geschichte, und nach einer Weile hieß es dann : »Und was erzählt uns der Häßliche ? Weißt du keine Geschichte ? Gab es in deiner Familie keine Abenteuer mit Dinosauriern ?« »Dochdoch, aber …«, stammelte ich, »ach, das ist schon so lange her … wenn ihr wüßtet …« Wer mir in solcher Bedrängnis zu Hilfe kam, war Farnblüte, das Mädchen von der Quelle. »Laßt ihn doch 79
in Ruhe … Er ist fremd hier, er hat sich noch nicht eingewöhnt, er kann unsere Sprache noch nicht so gut …« Schließlich wechselten sie das Thema. Ich atmete auf. Zwischen Farnblüte und mir hatte sich eine gewisse Vertrautheit eingestellt. Nichts Intimes, ich hatte sie nie zu berühren gewagt. Aber wir sprachen oft miteinander. Beziehungsweise sie war es, die mir allerlei von ihrem Leben erzählte ; ich dagegen, aus Furcht, mich zu verraten, einen Verdacht über meine Identität in ihr zu wecken, hielt mich eher an Allgemeinheiten. Farnblüte erzählte mir ihre Träume : »Heute nacht ist mir ein riesengroßer, schrecklicher Dinosaurier erschienen, so einer, der Feuer aus seinen Nüstern sprüht. Er kam näher, packte mich im Nacken, trug mich fort und wollte mich bei lebendigem Leibe fressen. Es war ein furchtbarer Traum, aber komischerweise hab ich mich gar nicht gefürchtet, ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll, es hat mir gefallen …« Dieser Traum hätte mir vieles klarmachen müssen, vor allem eins : daß Farnblüte sich nichts sehnlicher wünschte, als attackiert zu werden. Es war der Moment für mich, sie zu umarmen. Doch der Dinosaurier, den sie sich vorstellte, war zu verschieden von dem Dinosaurier, der ich war, und dieser Gedanke machte mich noch verschiedener und noch schüchterner – kurz gesagt, ich versäumte eine gute Gelegenheit. Danach kam Farnblütes Bruder vom Großen Fischzug in der Ebene heim, sie wurde viel mehr überwacht, und unsere Gespräche wurden seltener. 80
Dieser Bruder, sein Name war Zaahn, betrachtete mich vom ersten Moment an mißtrauisch. »Und wer ist der da ? Wo kommt der her ?« fragte er die anderen und zeigte auf mich. »Das ist der Häßliche, ein Fremder, er arbeitet hier im Holz«, antworteten sie. »Wieso, was ist denn so seltsam an ihm.« »Das will ich ihn gleich mal selber fragen«, knurrte Zaahn mit finsterer Miene. »He, du, was ist eigentlich so seltsam an dir ?« Was sollte ich sagen ? »An mir ? Nichts.« »Soso, du meinst also, du wärst nicht irgendwie seltsam, hä ?« Er lachte. Für diesmal ließ er’s dabei bewenden, aber ich hatte kein gutes Gefühl. Dieser Zaahn war einer der resolutesten Burschen im Dorf. Er war viel in der Welt herumgekommen und ließ die anderen spüren, daß er bedeutend mehr wußte als sie. Wenn er das Gerede über die Dinosaurier hörte, packte ihn eine gewisse Unduldsamkeit. »Märchen«, sagte er einmal, »ihr erzählt Märchen. Ich möchte euch sehen, wenn hier mal ein richtiger Dinosaurier käme.« »Es gibt doch schon lange keine mehr hier«, warf einer der Fischer ein. »Gar nicht so lange …«, fauchte Zaahn. »Und wer sagt euch, daß nicht hier und da noch ein Rudel die Gegend unsicher macht ? Drunten in der Ebene stellen unsere Leute Tag und Nacht Wachtposten auf. Aber dort können sie sich auch aufeinander verlassen, 81
dort nehmen sie keine Typen auf, die sie nicht kennen …«, und er warf einen langen, bedeutsamen Blick auf mich. Es war zwecklos, die Sache hinauszuzögern ; besser, er spuckte es gleich aus. Ich trat einen Schritt vor. »Hast du was gegen mich ?« »Ich hab was gegen Leute, bei denen man weder weiß, wer sie geboren hat, noch wo sie herkommen, und die sich anmaßen, bei uns mitzuessen und unseren Schwestern den Hof zu machen …« Einer der Fischer übernahm meine Verteidigung : »Der Häßliche verdient sich seinen Lebensunterhalt selbst, er arbeitet hart …« »Stämme schleppen mag er ja können, das will ich gar nicht bestreiten«, beharrte Zaahn, »aber im Augenblick der Gefahr, wenn wir uns mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen, wer garantiert uns dann, daß er sich richtig verhält ?« Ein allgemeines Palaver begann. Das Eigenartige war, daß niemand die Möglichkeit in Betracht zog, ich könnte ein Dinosaurier sein ; was man mir vorwarf, war immer nur, daß ich ein Andersartiger war, ein Fremder, also einer, dem man nicht so ganz trauen konnte ; und der Streit ging nur um die Frage, inwiefern meine Anwesenheit die Gefahr einer eventuellen Rückkehr der Dinosaurier vergrößern könnte. »Ich würde ihn gern mal kämpfen sehen, mit seiner komischen Eidechsenschnauze …«, provozierte mich Zaahn. 82
Ich trat schroff vor ihn hin, Nase an Nase. »Das kannst du gleich haben, wenn du nicht kneifst.« Das hatte er nicht erwartet. Er sah sich um. Die andern bildeten einen Kreis um uns. Jetzt blieb uns nichts andres mehr übrig, als uns zu schlagen. Ich stieß vor, wich seinem Biß mit einer Drehung des Halses aus und versetzte ihm einen Prankenhieb, der ihn auf den Rücken warf. Schon war ich über ihm. Das war ein Fehler – als hätte ich’s nicht gewußt, als hätte ich’s nicht so oft gesehen, wie sie starben, die Dinosaurier, wie sie elend verreckten an Bissen und Krallenhieben in Brust und Bauch, während sie glaubten, den Feind schon erledigt zu haben ! Immerhin wußte ich noch meinen Schwanz zu gebrauchen, um mich aufrecht zu halten ; ich wollte verhindern, daß Zaahn mich nun seinerseits auf den Rücken warf. Ich preßte ihn auf den Boden, spannte all meine Kräfte an, aber ich spürte, wie sie mir langsam schwanden … Da rief plötzlich einer aus dem Publikum : »Los, gib ihm Saures, Dinosaurier !« Zu hören, daß sie mich entlarvt hatten, und wieder der alte zu werden, war eins : Wenn sowieso alles verloren war, sollten sie wenigstens noch mal richtig den Schrecken von einst spüren ! Ich schlug zu, einmal, zweimal, dreimal … Wir wurden getrennt. »Siehst du, Zaahn«, riefen die andern, »wir haben’s dir ja gesagt, der Häßliche, der hat Muskeln, mit dem Häßlichen ist nicht zu spaßen !« Und sie lachten und gratulierten mir und hieben mir mit den Pfoten auf die Schultern. Ich, der ich mich entdeckt 83
glaubte, konnte es gar nicht fassen ; erst später begriff ich, daß der Zuruf »Dinosaurier« bei ihnen bloß so eine Redensart war, um die Gegner in einem Wettkampf anzufeuern, so etwas wie »Los, los, du bist der Größte !«, und es war nicht einmal sicher, ob der Zuruf mir oder Zaahn gegolten hatte. Seit jenem Tage wurde ich allseits geachtet. Auch Zaahn lief ständig hinter mir her und ermunterte mich, neue Proben meiner Kraft abzulegen. Und ich muß sagen, sogar ihr übliches Gerede über die Dinosaurier klang jetzt ein bißchen anders, wie es geschieht, wenn man es satt hat, die Dinge immer in derselben Weise zu sehen, und die Mode sich ändert. Wenn man jetzt im Dorf etwas kritisieren wollte, sagte man, bei den Dinosauriern wären gewisse Dinge nicht vorgekommen, die Dinosaurier könnten in mancher Hinsicht als Vorbild dienen, am Verhalten der Dinosaurier in dieser oder jener Situation (zum Beispiel im Privatleben) sei nichts auszusetzen, und so weiter. Kurzum, es schien beinahe so etwas wie eine postume Bewunderung für diese Dinosaurier auszubrechen, von denen doch keiner etwas Genaues wußte. Einmal konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen : »Übertreiben wir nicht ; was glaubt ihr denn, was so ein Dinosaurier schon Großes war, letzten Endes !« Sie fielen mir ins Wort : »Sei still, was weißt denn du davon, du hast doch nie einen gesehen !« Vielleicht war das der richtige Augenblick, um das Kind beim Namen zu nennen. »O doch, hab ich wohl !« 84
rief ich aus. »Und wenn ihr wollt, kann ich euch auch erzählen, wie sie waren.« Sie glaubten mir nicht ; sie dachten, ich wollte sie auf den Arm nehmen. Für mich war ihre neue Art, über uns Dinosaurier zu reden, fast genauso unerträglich wie die alte. Denn schließlich – ungeachtet meines Schmerzes über das grausame Schicksal, das meine Gattung erlitten hatte – kannte ich das Dinosaurierleben von innen ; ich wußte, was für eine Engstirnigkeit unter uns geherrscht hatte, voller Vorurteile, unfähig, sich auf neue Situationen einzustellen. Und jetzt mußte ich erleben, wie diese Neuen sich unsere so kleine Welt als Vorbild nahmen, eine Welt, die so rückständig war, so – sagen wir’s ruhig – langweilig ! Ausgerechnet von ihnen sah ich mir plötzlich eine Art heiligen Respekt vor meiner Gattung aufgenötigt, den ich selbst nie empfunden hatte ! Aber im Grunde war es ganz richtig so : Was hatten sie denn schon den Dinosauriern der großen Zeiten voraus, diese Neuen ? Abgekapselt in ihren Dörfern, mit ihren Dämmen und Fischtümpeln, hatten auch sie sich eine gewisse Aufgeblasenheit zugelegt, einen gewissen Dünkel … Manchmal empfand ich ihnen gegenüber den gleichen Widerwillen wie einst gegenüber meinem Milieu, und je mehr ich sie nun die Dinosaurier bewundern hörte, desto mehr verabscheute ich die Dinosaurier und sie allesamt miteinander. »Weißt du was, heute nacht hab ich geträumt, daß vor meinem Haus ein Dinosaurier vorbeikommen sollte«, erzählte mir Farnblüte, »Fein herrlicher Dinosau85
rier, ein Prinz oder König der Dinosaurier. Ich machte mich schön, schlang mir ein Band um den Kopf und schaute zum Fenster hinaus. Ich versuchte, den Blick des Dinosauriers auf mich zu lenken, verneigte mich vor ihm, aber er schien mich nicht einmal zu bemerken, er würdigte mich keines Blickes …« Dieser Traum gab mir einen neuen Schlüssel zum Verständnis der Gefühle, die Farnblüte mir gegenüber empfand. Sie mußte meine Schüchternheit für hochmütige Verachtung gehalten haben. Heute, wenn ich darüber nachdenke, wird mir klar, daß es genügt hätte, nur noch ein Weilchen in jener Haltung zu verharren, eine herablassende Distanz an den Tag zu legen, und ich hätte das Mädchen ganz erobert. Statt dessen rührte mich ihre Eröffnung so sehr, daß ich ihr zu Füßen fiel und sie mit Tränen in den Augen beschwor : »Nein, nein, Farnblüte, es ist nicht so, wie du glaubst, du bist besser als jeder Dinosaurier, hundertmal besser, und ich fühle mich dir tief unterlegen …« Sie erstarrte und wich einen Schritt zurück. »Was redest du da ?« Nicht das war es, was sie erwartet hatte ; sie war verwirrt und fand die Szene ein bißchen peinlich. Ich begriff es zu spät. Rasch stand ich wieder auf, doch von nun an war das Klima zwischen uns etwas getrübt. Mir blieb jedoch keine Zeit, lange darüber nachzudenken, bei allem, was bald darauf geschah. Keuchende Boten erreichten das Dorf : »Die Dinosaurier kehren zurück !« – Eine Horde unbekannter Ungetüme war ge86
sichtet worden, sie galoppierten wild durch die Steppe. Wenn sie im gleichen Tempo näher kamen, würden sie schon am nächsten Morgen in aller Frühe das Dorf überrennen. Man schlug Alarm. Ihr könnt euch vorstellen, was für einen Gefühlsaufruhr diese Nachricht in meiner Brust auslöste : Also war meine Gattung nicht ausgestorben, ich konnte mich wieder mit meinen Brüdern vereinigen und das Leben von einst wiederaufnehmen ! Doch was mir als Erinnerung an das Leben von einst in den Sinn kam, war nur die endlose Kette von Niederlagen, ständiger Flucht und Gefahr ; das Leben von einst wiederaufnehmen hieß vielleicht nur, diese Agonie ein kleines Stück zu verlängern, zurückzukehren zu einer Phase, die ich bereits überwunden wähnte. Inzwischen hatte ich hier in dem Dorf zu einer Art neuer Ruhe gefunden, die ich ungern wieder verlor. Auch die Neuen wurden von gegensätzlichen Gefühlen zerrissen. Zum einen von Panik, zum anderen vom Verlangen, über den alten Feind zu siegen, und schließlich von dem Gedanken, daß, wenn die Dinosaurier überlebt hatten und nun zur Rache schritten, dies nur bedeuten konnte, daß niemand sie aufzuhalten vermochte und daß ihr Sieg, wenn auch gnadenlos, am Ende womöglich ein Segen für alle sein würde. Kurzum, die Neuen wollten gleichzeitig kämpfen, fliehen, den Feind vernichten und sich ihm unterwerfen, und diese Zerrissenheit spiegelte sich im Durcheinander ihrer Verteidigungsvorbereitungen. 87
»Alle mal herhören !« schrie Zaahn. »Es gibt unter uns nur einen, der das Kommando übernehmen kann, nämlich der Stärkste von allen : der Häßliche !« »Ja, ja, der Häßliche soll uns führen«, riefen alle im Chor. »Ja, das Kommando dem Häßlichen !« Und sie unterstellten sich meinem Befehl. »Aber nein, nicht doch, wieso denn grad ich, ein Fremder, ich bin wirklich der letzte …«, wehrte ich ab, doch es half nichts, ich konnte sie nicht davon abbringen. Was sollte ich tun ? In jener Nacht bekam ich kein Auge zu. Die Stimme des Blutes gebot mir zu desertieren und mich mit meinen Brüdern zusammenzutun ; zugleich verlangte die Loyalität gegenüber den Neuen, die mich aufgenommen und beköstigt hatten und mir vertrauten, daß ich mich als einen der ihren betrachtete ; überdies war mir klar : weder die Dinosaurier noch die Neuen verdienten, daß man auch nur einen Finger für sie rührte. Denn wenn die Dinosaurier nun versuchten, ihre Herrschaft mit Hilfe von Invasionen und Massakern wiederaufzurichten, hatten sie ganz offensichtlich nichts aus der Geschichte gelernt und sozusagen nur aus Versehen überlebt. Und daß die Neuen mir das Kommando anvertraut hatten, war ganz klar einfach nur die bequemste Lösung für sie gewesen – nämlich die ganze Verantwortung auf einen Außenseiter zu schieben, der ebensogut ihr Retter sein konnte wie im Falle der Niederlage ein Sündenbock, den man dem Feind überantworten konnte, um ihn zu besänfti88
gen, oder auch ein Verräter, der, indem er sie dem Feind auslieferte, ihren uneingestandenen Wunsch nach Beherrschung durch die Dinosaurier erfüllte. Kurz gesagt, ich wollte nichts davon wissen, weder von den einen noch von den andern ; sollten sie sich doch gegenseitig zerfleischen, mir konnten sie alle egal sein ! Ich mußte so schnell wie möglich verschwinden, sie in ihrem eigenen Saft schmoren lassen, ich hatte nichts mehr mit all diesen alten Geschichten zu tun. Noch in derselben Nacht schlich ich im Schutze der Dunkelheit aus dem Dorf. Mein erster Gedanke war, mich so weit wie möglich vom Schlachtfeld zu entfernen, in meine geheimen Zufluchtsstätten zurückzukehren ; doch die Neugier war größer – es drängte mich, meinesgleichen wiederzusehen und zu erfahren, wer den Sieg davontragen würde. So versteckte ich mich auf einem Felsen, der die Flußbiegung überragte, und wartete auf die Morgendämmerung. Mit dem ersten Licht erschienen am Horizont Gestalten. Sie preschten zum Angriff heran. Noch ehe ich sie genauer sah, konnte ich definitiv ausschließen, daß je ein Dinosaurier sich mit so wenig Anmut bewegen würde. Als ich sie dann erkannte, wußte ich nicht, ob ich lachen oder mich schämen sollte. Nashörner, eine der ersten Herden, große plumpe, ungeschlachte Geschöpfe, gepanzert mit dicken Hornplatten, aber im Grunde harmlos, nur darauf aus, das niedere Steppengras abzuweiden. Und die hatte man mit den einstigen Herren der Erde verwechselt ! 89
Die Herde kam mit Donnergetöse herangaloppiert, hielt inne, um ein paar Grasbüschel abzurupfen, und polterte wieder davon, Richtung Horizont, ohne die Verteidigungsbauten der Fischer überhaupt wahrgenommen zu haben. – Ich eilte zurück ins Dorf. »Ihr habt nichts begriffen, das waren gar keine Dinosaurier !« rief ich. »Nashörner waren das ! Sie sind schon wieder auf und davon. Keine Gefahr mehr !« Und ich fügte hinzu, um meine nächtliche Exkursion zu rechtfertigen : »Ich war draußen, um auszukundschaften … Um die Lage zu sondieren und euch Bericht zu erstatten.« »Wir haben vielleicht nicht begriffen, daß es keine Dinosaurier waren«, sagte Zaahn kühl, »aber wir haben begriffen, daß du kein Held bist.« Sprach’s und drehte mir den Rücken zu. Natürlich, sie waren enttäuscht – von den Dinosauriern, von mir. Jetzt wurden ihre Dinosauriergeschichten Witze, in denen die schrecklichen Ungeheuer als lächerliche Figuren erschienen. Ich fühlte mich nicht mehr tangiert von dieser ihrer Kleingeisterei. Jetzt wußte ich die Seelengröße zu schätzen, die uns bewogen hatte, lieber unterzugehen als eine Welt zu bewohnen, die nicht mehr die unsere war. Wenn ich überlebt hatte, so nur, damit wenigstens ein Dinosaurier sich noch als solcher fühlen konnte inmitten all dieser Wichte, die mit banalem Gespött ihre Angst zu bemänteln suchten, von der sie noch immer beherrscht waren. Und welche andere Wahl hätten die Neuen denn auch gehabt als die Wahl zwischen Spott und Angst ? 90
Farnblüte offenbarte mir jedoch eine andere Haltung, als sie mir folgenden Traum erzählte : »Da war so ein komischer Dinosaurier, der war ganz grün, und alle machten sich über ihn lustig und zogen ihn am Schwanz. Da bin ich hingegangen und hab ihn in Schutz genommen, hab ihn weggebracht und gestreichelt. Und auf einmal ist mir klargeworden, daß er in seiner ganzen Lächerlichkeit das traurigste aller Geschöpfe war, und aus seinen gelbroten Augen floß ein Strom von Tränen.« Was war es, das mich bei diesen Worten überkam ? Widerwille, mich mit ihren Traumbildern zu identifizieren, Ablehnung eines Gefühls, das offenbar bloß noch Mitleid war, Ärger über die geringschätzige Meinung, die alle jetzt von der dinosaurischen Würde hatten ? In einem Anfall von Hochmut richtete ich mich auf und warf ihr verächtlich hin : »Was ödest du mich dauernd mit deinen Träumen an, die immer kindischer werden ! Kannst du nichts anderes träumen als sentimentalen Schwachsinn ?« Farnblüte brach in Tränen aus. Ich zuckte die Achseln und ließ sie stehen. Die Szene hatte sich auf dem Damm zugetragen, wir waren nicht allein gewesen ; die Fischer hatten zwar unser Gespräch nicht gehört, wohl aber meinen Ausbruch und die Tränen des Mädchens gesehen. Zaahn fühlte sich verpflichtet einzuschreiten. »Für wen hältst du dich eigentlich ?« fuhr er mich an. »Wie kannst du es wagen, meine Schwester zu beleidigen !« Ich blieb stehen und sah ihn schweigend an. Wenn 91
er sich schlagen wollte, bitte sehr, ich war bereit. Doch der Stil des Dorfes hatte sich in der letzten Zeit verändert : man machte sich jetzt einen Jux aus allem. Jemand aus der Gruppe der Fischer rief mit Fistelstimme : »Ach geh schon, geh, Dinosaurier !« Es war, ich wußte es, bloß so eine scherzhafte Redewendung, die neuerdings in Mode gekommen war, sowas wie »Nun mal langsam, plustere deinen Kamm nicht so auf« oder so. Aber mir ließ sie das Blut aufwallen. »Jawohl, ich bin einer, wenn ihr’s wissen wollt«, schrie ich, »ein Dinosaurier, ganz genau ! Wenn ihr noch nie einen Dinosaurier gesehen habt, bitte sehr, seht mich an !« Ein allgemeines Gelächter brach aus. »Gestern habe ich einen gesehen«, sagte da plötzlich ein Alter. »Er ist aus dem Schnee gekommen.« Sofort verstummten alle ringsum. Der Alte kam gerade aus einem Dorf in den Bergen zurück. Das Tauwetter habe einen Gletscher schmelzen lassen, berichtete er, und da sei das Skelett eines Dinosauriers zum Vorschein gekommen. Die Neuigkeit verbreitete sich auf der Stelle im Dorf. »Los, gehn wir den Dinosaurier begucken !« Alle rannten hinauf in die Berge, und ich mit ihnen. Nachdem wir eine Moräne aus Geröll, entwurzelten Bäumen, Schlamm und toten Vögeln überwunden hatten, tat sich vor uns eine Talmulde auf. Ein erster Schleier von grünen Flechten überzog die vom Eise befreiten Felsen. Mitten in der Mulde, langgestreckt wie 92
im Schlaf, der Hals noch verlängert durch die Leerräume zwischen den Wirbeln, der Schwanz hingestreut in einer langen Schlangenlinie, lag das Skelett eines riesigen Dinosauriers. Der Brustkorb wölbte sich wie ein Segel, und wenn der Wind zwischen die flachen Rippen fuhr, schien es, als schlüge darin noch ein unsichtbares Herz. Der Schädel lag verdreht, das Maul aufgerissen wie zu einem letzten Schrei. Die Neuen stießen ein Freudengeheul aus und rannten hin ; vor dem Schädel angelangt, fühlten sie sich von den leeren Augenhöhlen fi xiert und verharrten stumm in ein paar Schritten Entfernung ; dann machten sie kehrt und stimmten wieder ihr albernes Freudengeheul an. Hätte nur einer von ihnen den Blick von dem Skelett zu mir gewandt, während ich reglos danebenstand und es betrachtete, er hätte sofort bemerkt, daß wir in allem einander glichen. Doch keiner tat es. Jene Gebeine, jenes Gebiß, jene mörderischen Pranken sprachen nur noch eine tote, längst unverständlich gewordene Sprache, sie sagten keinem mehr etwas – bis auf jenen unklaren alten Namen, den nichts mehr mit den Erfahrungen der Gegenwart verband. Ich betrachtete weiter das Skelett : den Vater, den Bruder. Meinesgleichen. Mich. Ich erkannte meine vom Fleisch entblößten Glieder, meine in den Fels gegrabenen Züge, all das, was wir einst gewesen waren und nun nicht mehr waren, unsere Majestät, unsere Schuld, unsern Ruin. Nun würden diese irdischen Reste den neuen, ge93
dankenlosen Eroberern des Planeten als bloßer Markierungspunkt in der Landschaft dienen, sie würden das Schicksal des Namens »Dinosaurier« teilen, der zu einem vagen Klang ohne Sinn geworden war. Das durfte ich nicht zulassen ! Alles, was die wahre Natur der Dinosaurier betraf, mußte verborgen bleiben. In der Nacht, während die Neuen um das Skelett herum schliefen, das sie mit kleinen Fähnchen beflaggt hatten, trug ich es Knochen für Knochen fort und begrub meinen Toten. Am Morgen fanden die Neuen keine Spur mehr von dem Skelett. Sie zerbrachen sich aber nicht lange den Kopf darüber. Ein neues Mysterium eben, eins mehr in der langen Reihe der Geheimnisse, die sich mit den Dinosauriern verknüpften. Sie hatten es bald aus ihren Gedanken verdrängt. In einer Hinsicht allerdings hatte das Auftauchen des Skeletts eine Spur hinterlassen, denn von nun an blieb ihre Vorstellung von den Dinosauriern mit der eines traurigen Endes verbunden, und in den Geschichten, die sie erzählten, überwog jetzt ein Ton des Bedauerns, des Mitgefühls für unsere Leiden. Ich konnte mit diesem neuen Mitleid nichts anfangen. Wieso Mitleid ? Wenn je eine Gattung eine erfüllte und reiche Evolution gehabt hatte, ein langes und glückliches Herrscherleben, dann wir Dinosaurier. Unser Aussterben war ein grandioses Schlußwort gewesen, würdig unserer großen Vergangenheit. Was konnten diese Tröpfe davon schon begreifen ! Immer wenn ich sie nun so rührselig über die armen Dinosaurier reden hörte, kam mich die 94
Lust an, sie auf den Arm zu nehmen und ihnen ganz unwahrscheinliche Lügengeschichten zu erzählen. Die Wahrheit über die Dinosaurier würden sie ohnehin nicht mehr verstehen, sie war ein Geheimnis, das ich ganz für mich allein hüten würde. Eine Truppe von Landstreichern kam ins Dorf. Unter ihnen war auch ein junges Weibchen. Ich stutzte, als ich sie sah. Wenn mich meine Augen nicht täuschten, hatte sie in den Adern nicht nur das Blut der Neuen : Sie war eine Mulattin, eine dinosaurische Mulattin ! Ob sie es wußte ? Nein, sicher nicht, so unbefangen, wie sie sich bewegte. Vielleicht nicht einer ihrer Eltern, aber einer ihrer Großeltern oder Urgroßeltern oder Ururgroßeltern war bestimmt ein Dinosaurier gewesen, und nun schlugen die charakteristischen Merkmale, die Bewegungen unserer Rasse bei ihr mit einer fast unverschämten Offenheit wieder durch, wenn auch für niemanden mehr erkennbar, nicht einmal für sie selbst. Sie war ein anmutiges, fröhliches Kind ; sie hatte sofort einen Schwarm von Verehrern in ihrem Gefolge, und der hartnäckigste und am meisten in sie vernarrte war Zaahn. Es wurde Sommer. Die Dorfjugend gab ein Fest am Ufer des Flusses. »Komm doch mit !« lud mich Zaahn ein, der nach all den Streitigkeiten jetzt meine Freundschaft suchte ; gleich darauf war er schon wieder im Wasser bei der Mulattin. Ich trat zu Farnblüte. Vielleicht war der Moment gekommen, uns einmal auszusprechen und zu einer Ver95
ständigung zu gelangen. »Was hast du letzte Nacht geträumt ?« fragte ich, um ein Gespräch in Gang zu bringen. Sie ließ den Kopf hängen. »Ich hab einen verwundeten Dinosaurier gesehen, der sich im Todeskrampf wand. Er neigte das edle, feine Haupt und litt unsäglich … Ich sah ihm zu, ich konnte die Augen nicht von ihm abwenden, und da merkte ich, daß es mir ein geheimes Vergnügen machte, ihn leiden zu sehen …« Farnblüte hatte einen harten, bösen Zug um den Mund, wie ich ihn noch nie bei ihr gesehen hatte. Ich wollte ihr lediglich zeigen, daß ich mit ihren zwiespältigen Gefühlen nichts zu tun hatte – ich war einer, der sein Leben genoß, der Erbe einer glücklichen Rasse ! So begann ich um sie herumzutänzeln und spritzte sie naß, indem ich mit dem Schwanz ins Wasser schlug. »Du kannst immer nur Trübsal blasen !« sagte ich leichthin. »Hör endlich auf damit. Komm, laß uns tanzen !« Sie verstand mich nicht. Sie zog eine Grimasse. »Wenn du nicht mit mir tanzen willst, tanze ich eben mit einer anderen«, rief ich, schnappte mir die Mulattin an einer Pfote und zog sie davon, direkt vor Zaahns Nase. Der war so sehr damit beschäftigt, sie verliebt anzuhimmeln, daß er zuerst nur blöde hinter uns herglotzte. Dann packte ihn die Eifersucht, aber zu spät : Wir waren schon mitten im Fluß, die Mulattin und ich, wir schwammen ans andere Ufer hinüber und versteckten uns dort im Gebüsch. 96
Vielleicht wollte ich Farnblüte nur einmal zeigen, wer ich wirklich war, ihr die falschen Vorstellungen austreiben, die sie sich dauernd von mir machte. Und vielleicht war ich auch von einem alten Groll auf Zaahn erfüllt und wollte seine neuen Freundschaftsangebote demonstrativ zurückweisen. Oder es waren vielleicht auch vor allem die vertrauten und doch ungewohnten Formen der Mulattin, die mir den Wunsch nach einer natürlichen, unmittelbaren Beziehung eingaben, ohne Hintergedanken und ohne Erinnerungen. Die Karawane der Landstreicher wollte am nächsten Morgen weiterziehen. Die Mulattin willigte ein, die Nacht mit mir im Gebüsch zu verbringen. Wir liebten uns bis zum Morgengrauen. Dies waren jedoch nur flüchtige Episoden eines ansonsten ruhigen und ereignisarmen Lebens. Ich hatte die Wahrheit über mich und über die Ära unserer Herrschaft in Schweigen getaucht. Von den Dinosauriern sprach man inzwischen kaum noch ; vielleicht glaubte niemand mehr, daß sie je existiert hatten. Auch Farnblüte hatte aufgehört, von ihnen zu träumen. Als sie mir eines Tages erzählte : »Ich hab geträumt, daß in einer Höhle einer hockte, der war der einzige Überlebende einer Gattung, deren Namen niemand mehr kannte, und da bin ich hingegangen, um ihn danach zu fragen, und es war dunkel, und ich wußte, daß er da war, aber ich konnte ihn nicht sehen, und ich wußte genau, wer er war und wie er aussah, aber ich hätt’s nicht sagen können, und ich kapierte nicht, ob 97
er es war, der auf meine Fragen antwortete, oder ich auf die seinen …«, da nahm ich’s als Zeichen dafür, daß endlich ein liebendes Einverständnis zwischen uns begonnen hatte, wie ich es mir gewünscht hatte seit dem Tage, als ich das erste Mal an die Quelle getreten war und noch nicht wußte, ob es mir vergönnt sein würde zu überleben. Seit damals hatte ich vieles gelernt, vor allem jedoch die Art und Weise, wie Dinosaurier siegen. Zuvor hatte ich immer geglaubt, das Verschwinden sei für meine Brüder die großmütige Hinnahme einer Niederlage gewesen ; jetzt wußte ich, daß die Dinosaurier, je mehr sie verschwinden, desto mehr ihre Herrschaft erweitern, und zwar über viel grenzenlosere Wälder als jene, welche die Kontinente bedecken : im Gewirr der Gedanken jener, die weiterleben. Aus dem Halbschatten der Ängste und Zweifel unwissender Geschlechter hatten sie weiter die Hälse hervorgereckt und die klauenbewehrten Tatzen erhoben, und noch als der letzte Schatten ihres Bildes verblaßt war, hatte ihr Name weiterhin alle Bedeutungen überlagert und ihre Präsenz in den Beziehungen zwischen den Lebenden fortdauern lassen. Jetzt, da nun auch ihr Name verblaßt war, würden sie eins werden mit den stummen und anonymen Prägemustern des Denkens, durch welche die gedachten Dinge Form und Substanz gewinnen – bei den Neuen und bei denen, die nach den Neuen kommen würden, und bei deren Nachkommen. Ich sah mich um. Das Dorf, in das ich als Fremder 98
gekommen war, konnte ich nun mit Fug und Recht das meine nennen, auch Farnblüte konnte ich mein nennen, mein in der Art und Weise, wie ein Dinosaurier etwas sein nennen kann. So nahm ich mit einem stummen Wink von Farnblüte Abschied, verließ das Dorf und ging für immer von dannen. Unterwegs betrachtete ich die Bäume und Flüsse und Berge und konnte nicht mehr unterscheiden, welche aus den Zeiten der Dinosaurier stammten und welche nachher gekommen waren. Bei einer Höhlensiedlung hatte sich eine Landstreicherhorde gelagert. Von weitem erkannte ich die Mulattin, sie war immer noch attraktiv, nur etwas fülliger geworden. Um nicht gesehen zu werden, versteckte ich mich im Wald und spähte hinüber. Ein Junges lief hinter ihr her, ein Söhnchen, das gerade erst gelernt hatte, schwanzwedelnd auf den Beinen zu laufen. Seit wie langer Zeit hatte ich keinen so vollkommenen kleinen Dinosaurier mehr gesehen, so tief durchdrungen von seinem Dinosauriertum und so ahnungslos, was der Name Dinosaurier bedeutet ! Ich paßte ihn auf einer Lichtung ab, um zuzusehn, wie er spielte, wie er einem Schmetterling nachjagte, einen Zapfen auf einen Stein schlug, um die Kerne herauszuholen. Ich ging auf ihn zu. Er war wirklich mein Sohn. Er sah mich neugierig an. »Wer bist du ?« fragte er. »Niemand«, sagte ich. »Und du, weißt du, wer du bist ?« »So eine Frage ! Das weiß doch jeder«, sagte er. »Ich bin ein Neuer !« 99
Genau das hatte ich erwartet. Ich strich ihm über den Kopf, sagte »Bravo« und ging davon. Ich zog durch Täler und Ebenen. Ich kam zu einem Bahnhof, nahm den ersten Zug und verlor mich in der Menge.
Schlangen und Schädel
In
Mexiko besucht Herr Palomar die Ruinen von Tula, der alten Toltekenhauptstadt. Ein mexikanischer Freund begleitet ihn, ein begeisterter und beredter Kenner der präkolumbianischen Kulturen, der ihm wunderschöne Legenden von Quetzalcoatl erzählt. Bevor er ein Gott wurde, war Quetzalcoatl ein König, und hier in Tula stand sein Palast ; erhalten geblieben ist davon eine Anzahl stumpf abgebrochener Säulen, die sich rings um ein Impluvium verteilen, ein bißchen wie in einer altrömischen Villa. Der Tempel des Morgensterns ist eine abgeflachte Stufenpyramide, auf deren breiter Plattform sich vier hohe zylindrische Säulenfiguren erheben, sogenannte »Atlanten«, die den Gott Quetzalcoatl als Morgenstern darstellen (indem sie einen Schmetterling, das Symbol des Sterns, auf dem Rücken tragen), außerdem vier Reliefpfeiler, die den Gefiederten Schlangengott darstellen, also wieder denselben Gott, diesmal in Tiergestalt. All das kann man einfach nur glauben. Andererseits wäre es schwierig, das Gegenteil zu beweisen. In der altmexikanischen Archäologie stellt jede Figur, jeder Gegenstand, jedes Detail eines Flachreliefs etwas dar, 101
alles bedeutet etwas, das etwas bedeutet, das seinerseits etwas bedeutet. Ein Tier bedeutet einen Gott, der einen Stern bedeutet, der ein Element bedeutet oder eine menschliche Eigenschaft, und so weiter. Wir befinden uns in der Welt der Bilderschrift. Wenn die Tolteken schreiben wollten, zeichneten sie Figuren, aber auch wenn sie einfach nur zeichneten, war es, als ob sie schrieben : Jede Figur erscheint wie ein Bilderrätsel, ein zu entziffernder Rebus. Selbst noch die abstraktesten, rein geometrischen Friese auf einer Tempelwand können als Sonnenstrahlen gedeutet werden, wenn man darin ein Motiv mit unterbrochenen Linien sieht, oder man kann eine Zahlenabfolge in ihnen lesen, je nachdem, wie sich die Mäander verschlingen. Hier in Tula wiederholen die Flachreliefs stilisierte Tiere : Jaguare, Coyoten. Der mexikanische Freund erklärt Herrn Palomar jeden Stein, übersetzt ihn in kosmische Mythenerzählungen, Allegorien, moralische Reflexionen. In den Ruinen zieht eine Schülergruppe umher : schmächtige Buben mit indianischen Zügen, vielleicht Nachkommen der Erbauer dieser Tempel, gekleidet in eine schlichte weiße Uniform mit blauen Halstüchern, wie sie die Pfadfinder tragen. Ein junger Lehrer führt sie umher, nicht viel größer als die Buben und kaum viel älter, mit dem gleichen runden und ruhigen braunen Gesicht. Sie steigen die hohen Stufen zur Plattform der Pyramide hinauf und scharen sich um die Säulen, der Lehrer erklärt, zu welcher Kultur die Säulen gehören, aus welchem Jahrhundert sie stammen, aus wel102
chem Stein sie gehauen sind, dann schließt er : »Man weiß nicht, was sie bedeuten«, und die Schülerschar folgt ihm wieder hinunter. Zu jeder Statue, zu jeder Figur in einem Flachrelief oder auf einer Säule macht der Lehrer ein paar knappe sachliche Angaben, und jedesmal fügt er dann unweigerlich hinzu : »Man weiß nicht, was es bedeuten soll.« Hier zum Beispiel ist ein sogenannter Chac-mool, ein Statuentypus, dem man recht häufig begegnet : eine halb liegende Menschenfigur, die eine flache Schale trägt. Auf diesen Schalen, sagen übereinstimmend die Experten, wurden die blutigen Herzen der bei den Menschenopfern Getöteten präsentiert. An und für sich könnte man in diesen Figuren auch gutmütige, komisch-groteske Fratzen sehen, aber jedesmal, wenn Herr Palomar eine sieht, läuft ihm unwillkürlich ein Schauder über den Rücken. Die Schülerschar kommt vorbei. Der junge Lehrer erklärt : »Esta es un chac-mool. No se sabe lo que quiete decir«, und geht weiter. Immer wieder begegnet Herr Palomar, obwohl er den Erläuterungen seines Freundes folgt, am Ende der Schülergruppe und hört auf die Worte des Lehrers. Er ist fasziniert von der Fülle an mythologischen Querverweisen, mit denen sein kundiger Freund zu hantieren weiß, das Spiel des Interpretierens, die allegorische Deutung sind ihm stets als eine souveräne Übung des Geistes erschienen. Doch er fühlt sich auch von der entgegengesetzten Haltung des Schullehrers angezo103
gen. Was ihm zunächst als ein schroffer Ausdruck von Desinteresse erschienen war, enthüllt sich ihm langsam als ein wohlüberlegter pädagogischer Plan, eine bewußt gewählte Methode dieses ernsten und gewissenhaften jungen Erziehers, eine Regel, von der er nicht abgehen will : Ein Stein, eine Figur, ein Zeichen, ein Wort, die uns isoliert von ihrem Kontext erreichen, sind nichts als eben nur dieser Stein, diese Figur, dieses Zeichen oder Wort ; wir können versuchen, sie als solche zu definieren und zu beschreiben, aber mehr nicht ; wenn sie hinter dem Antlitz, das sie uns zeigen, noch ein verborgenes Antlitz haben, muß es uns verborgen bleiben. Die Weigerung, mehr zu begreifen als das, was diese Steine uns zeigen, ist vielleicht die einzig mögliche Art und Weise, ihr Geheimnis zu achten. Es erraten zu wollen, ist Anmaßung, Verrat an ihrer verlorengegangenen wahren Bedeutung. Hinter der Pyramide gelangt man in einen Gang oder Korridor zwischen zwei Mauern, eine aus gestampftem Lehm, die andere aus behauenem Stein : die Mauer der Schlangen. Sie ist vielleicht das schönste Stück in Tula : ein Fries als Flachrelief, bestehend aus lauter Schlangen, von denen jede einen menschlichen Schädel im Maul hält, als wollte sie ihn gerade verschlingen. Die Schüler kommen vorbei. Der Lehrer erklärt : »Dies ist die Mauer der Schlangen. Jede Schlange hält einen Schädel im Maul. Man weiß nicht, was sie bedeuten.« Herrn Palomars Freund kann nicht länger an sich halten : »Aber ja doch, das weiß man sehr wohl ! Es ist 104
die Kontinuität von Leben und Tod, die Schlangen bedeuten das Leben und die Schädel den Tod : das Leben, das Leben ist, weil es den Tod in sich trägt, und den Tod, der Tod ist, weil es ohne Tod kein Leben gibt …« Die Schüler stehen baff mit offenem Mund, die schwarzen Augen weit aufgerissen. Herr Palomar denkt : Jede Übersetzung verlangt nach einer weiteren Übersetzung und so fort. Er fragt sich : Was bedeuteten Tod und Leben, Kontinuität und Übergang für die alten Tolteken ? Und was können sie für diese Kinder bedeuten ? Und für mich ? Doch er weiß : Nie könnte er das Bedürfnis in sich ersticken, zu übersetzen, überzugehen aus einer Sprache in eine andere, von konkreten Figuren zu abstrakten Worten, von abstrakten Symbolen zu konkreten Erfahrungen, wieder und wieder ein Netz von Analogien zu knüpfen. Nicht zu interpretieren ist unmöglich, genauso unmöglich wie sich am Denken zu hindern. Kaum sind die Schüler um eine Biegung verschwunden, hebt die beharrliche Stimme des kleinen Lehrers wieder an : »No es verdad, es ist nicht wahr, was dieser Senor euch gesagt hat. Man weiß nicht, was sie bedeuten.«
Meiose
Die Dinge erzählen, wie sie sind, heißt sie von Anfang an erzählen, und selbst wenn ich die Geschichte an einem Punkt beginne, wo die Personen vielzellige Organismen sind, wie zum Beispiel die Geschichte meiner Beziehungen zu Priscilla, muß ich erst einmal gut definieren, was ich meine, wenn ich »ich« sage und wenn ich »Priscilla« sage, um dann zu erklären, welcher Art unsere Beziehungen waren. Ich sage also : Priscilla ist ein Individuum meiner Gattung mit mir entgegengesetztem Geschlecht, vielzellig wie auch ich es jetzt bin ; aber damit habe ich noch nichts gesagt, denn ich muß zunächst präzisieren, was ich mit vielzelligem Individuum meine, nämlich ein Ensemble von etwa fünfzig Trillionen Zellen, die untereinander sehr verschieden sind, aber alle gekennzeichnet durch bestimmte Ketten identischer Säuren in den Chromosomen jeder Zelle eines jeden Individuums, identischer Säuren, die verschiedene Prozesse in den Proteinen derselben Zellen steuern. Die Geschichte von mir und Priscilla erzählen, heißt also erst einmal die Beziehungen definieren, die sich zwischen meinen und Priscillas Proteinen herstellen, 107
im einzelnen wie insgesamt, meine wie ihre gesteuert von Nukleinsäureketten, die in jeder ihrer und jeder meiner Zellen in identischen Reihen angeordnet sind. Daher ist diese unsere Geschichte hier jetzt noch komplizierter zu erzählen als damals, wo es sich nur um eine Zelle allein handelte, nicht nur weil die Beschreibung der Beziehungen so viele Dinge beachten muß, die alle gleichzeitig passieren, sondern vor allem weil erst einmal festgestellt werden muß, wer da mit wem Beziehungen hat, bevor man präzisieren kann, um was für Beziehungen es sich handelt. Ja, wenn man’s genau bedenkt, ist die Definition der Art von Beziehungen gar nicht so wichtig, wie es scheint, denn etwa zu sagen, wir hätten, zum Beispiel, Beziehungen geistiger Art gehabt oder, zum Beispiel, körperliche Beziehungen, macht keinen großen Unterschied, da Beziehungen geistiger Art zwar jene sind, die ein paar Milliarden besondere Zellen interessieren, nämlich die sogenannten Neuronen, aber diese nur funktionieren, indem sie die Reize einer so großen Zahl anderer Zellen empfangen, daß wir dann genausogut gleich all die vielen Trillionen Zellen des Organismus im ganzen betrachten können, wie wenn wir von körperlichen Beziehungen reden. Wenn wir sagen, daß es schwer zu bestimmen ist, wer mit wem Beziehungen hat, müssen wir allerdings gleich ein Argument aus dem Feld räumen, das häufig im Gespräch auftaucht : nämlich daß ich von einem Moment zum andern nicht mehr dasselbe Ich sei und Priscilla 108
nicht mehr dieselbe Priscilla, wegen der ständigen Erneuerung der Proteinmoleküle in unseren Zellen, zum Beispiel durch die Verdauung oder auch durch das Atmen, das den Sauerstoff im Blut bindet. Dies ist genau eine Art zu argumentieren, die in die Irre führt, denn es stimmt zwar, daß die Zellen sich ständig erneuern, aber sie befolgen dabei nur das Programm, das von den vorigen Zellen festgelegt worden ist, und in diesem Sinne kann man sehr wohl behaupten, daß ich weiterhin ich bleibe und Priscilla Priscilla. Das Problem ist also nicht dieses, aber vielleicht war es nicht unnütz, es aufzuwerfen, weil es zeigt, daß die Dinge nicht so simpel sind, wie sie scheinen, und damit nähern wir uns allmählich dem Punkt, wo wir begreifen werden, wie kompliziert sie sind. Also, wenn ich hier »ich« sage, oder wenn ich hier sage »Priscilla«, was meine ich dann ? Ich meine die besondere Konstellation, die meine Zellen und ihre Zellen durch eine besondere Beziehung zur Umwelt eines besonderen genetischen Erbgutes annehmen, eines Erbgutes, das von Anfang an eigens dazu geschaffen und angelegt schien, meine Zellen eben meine und Priscillas Zellen Priscillas Zellen werden zu lassen. Im weiteren Verlauf werden wir sehen, daß es nichts eigens Geschaffenes gibt, daß niemand irgendwo etwas angelegt hat und sich in Wirklichkeit keiner einen Deut darum schert, wie ich und Priscilla beschaffen sind : Ein genetisches Erbgut hat nichts anderes zu tun als einfach weiterzugeben, was ihm zur Weitergabe weitergegeben 109
worden ist, ohne sich eine Bohne darum zu kümmern, wie es aufgenommen wird. Aber beschränken wir uns zunächst auf die Frage, ob ich, in Anführungszeichen, und, in Anführungszeichen, Priscilla unser, in Anführungszeichen, genetisches Erbgut sind oder unsere, in Anführungszeichen, Form. Und wenn ich Form sage, meine ich ebenso das, was man sieht, wie auch das, was man nicht sieht, also Priscillas ganze Seinsweise, ihre ganze Art, Priscilla zu sein, die Tatsache, daß Fuchsienrot und Orange ihr gut stehen, daß ihre Haut einen bestimmten Duft ausströmt, nicht nur weil sie mit einer Drüsenkonstitution geboren ist, die ihr genau diesen Duft auszuströmen erlaubt, sondern auch wegen all dem, was sie in ihrem Leben gegessen hat, und wegen der Seifenmarken, die sie benutzt hat, also wegen dem, was man, in Anführungszeichen, Kultur nennt, und ebenso ihre Art zu gehen und sich zu setzen, die von der Art und Weise herkommt, wie sie sich unter den Leuten bewegt hat, die sich in den Städten und Häusern und Straßen bewegen, wo sie gelebt hat – dies alles meine ich, aber auch das, was sie in Erinnerung hat, obwohl sie es vielleicht nur einmal gesehen hat und vielleicht nur im Kino, und auch all das, was sie vergessen hat und was trotzdem noch irgendwo im rückwärtigen Teil ihrer Neuronen gespeichert bleibt, wie all die psychischen Traumata, die man von klein auf in sich hineinfrißt. Nun, sowohl in der Form, die man sehen oder nicht sehen kann, wie auch im genetischen Erbgut haben ich und Priscilla identische Elemente – gemeinsam 110
uns beiden oder dem Milieu oder auch der Gattung – und andere, die eine Differenz zwischen uns etablieren. Mithin erhebt sich die Frage, ob die Beziehung zwischen mir und Priscilla nur die Beziehung zwischen unseren differierenden Elementen ist, denn die gemeinsamen können auf beiden Seiten vernachlässigt werden – mit anderen Worten, ob man unter »Priscilla« zu verstehen hat : »das, was Priscilla gegenüber den anderen Mitgliedern ihrer Gattung an Besonderem hat« –, oder ob es eine Beziehung zwischen unseren gemeinsamen Elementen ist, wobei dann zu prüfen bleibt, ob es sich um die gemeinsamen Elemente unserer Gattung handelt oder um die unseres Milieus oder um die von uns beiden als zwei besonderen Exemplaren, die sich vom Rest der Gattung abheben und womöglich schöner sind als die anderen. Daß zwei Individuen mit entgegengesetztem Geschlecht in eine besondere Beziehung zueinander treten, das entscheiden, genau besehen, nicht wir, sondern das entscheidet die Gattung, ja mehr noch die animalische Grundverfassung, ja die animalisch-vegetabilische Grundverfassung der in verschiedene Geschlechter geschiedenen Pflanzen-Tiere. Nun, bei der Wahl, die ich in Priscilla treffe, um mit ihr Beziehungen einzugehen, von denen ich noch nicht weiß, welcher Art sie sein werden – und bei der Wahl, die Priscilla in mir triff t, vorausgesetzt, daß sie mich wählt und sich nicht im letzten Augenblick eines anderen besinnt –, weiß man nicht, welche Prioritäten als erste ins Spiel kom111
men, und daher weiß man auch nicht, wie viele Ichs dem Ich vorausgehen, das ich zu sein glaube, und wie viele Priscillas der Priscilla vorausgehen, der ich entgegenzulaufen glaube. Kurz, je einfacher wir die Kategorien der Frage fassen, desto komplizierter werden sie : haben wir einmal festgelegt, daß das, was ich »ich« nenne, aus einer bestimmten Zahl von Aminosäuren besteht, die sich auf eine bestimmte Weise aneinanderreihen, so folgt daraus, daß im Innern dieser Moleküle bereits alle je irgend möglichen Beziehungen vorgesehen sind und daß von außen nichts anderes dazukommt als der Ausschluß einiger dieser möglichen Beziehungen in Gestalt gewisser Enzyme, die gewisse Prozesse blockieren. Daher kann man sagen, daß alles je irgend Mögliche so ist, als ob es mir schon passiert wäre, auch die Möglichkeit, daß es mir nicht passiert : sobald ich einmal ich geworden bin, sind die Würfel gefallen, ich verfüge über eine endliche Zahl von Möglichkeiten und basta, was draußen passiert, zählt für mich nur, wenn es sich in Operationen umsetzt, die von meinen Nukleinsäuren bereits vorgesehen sind, ich bin eingemauert in mich, festgekettet an mein molekulares Programm ; außer mir habe ich und werde ich nie Beziehungen haben, zu nichts und niemandem. Auch nicht zu Priscilla – ich meine die reale Priscilla, das arme Ding. Wenn es in meiner und ihrer Umgebung irgendwo etwas gibt, das mit etwas anderem irgendwie in Beziehung zu stehen scheint, so sind das Dinge, die uns nichts angehen : 112
in Wirklichkeit kann weder für mich noch für sie jemals etwas Substantielles passieren. Keine sehr erfreuliche Lage mithin ; und nicht weil ich mir eine komplexere Individualität erwartet hätte, als sie mir faktisch zuteil geworden ist, ausgehend von der besonderen Disposition einer Säure und vier verschiedener Basen, die ihrerseits die Disposition von rund zwanzig Aminosäuren in den sechsundvierzig Chromosomen jeder meiner Zellen bestimmen ; sondern weil diese in jeder meiner Zellen wiederholte Individualität nur, wie man so sagt, mir eigen ist, da von den sechsundvierzig Chromosomen dreiundzwanzig von meinem Vater und dreiundzwanzig von meiner Mutter stammen. Mit anderen Worten, ich schleppe weiterhin meine Eltern in allen meinen Zellen mit mir herum und werde mich nie von dieser Bürde befreien können. Was meine Eltern mir anfangs zu sein befahlen, das bin ich und nichts anderes. Und in den Instruktionen meiner Eltern sind die Instruktionen der Eltern meiner Eltern enthalten, ihrerseits weitergegeben von Eltern zu Eltern in einer endlosen Kette von Befehl und Gehorsam. Die Geschichte, die ich erzählen wollte, ist daher nicht nur unmöglich zu erzählen, sondern vor allem unmöglich zu leben, weil alles schon da ist, enthalten in einer Vergangenheit, die nicht erzählbar ist, da ihrerseits schon enthalten in ihrer eigenen Vergangenheit, in den vielen individuellen Vergangenheiten, bei denen man nie weiß, ob sie nicht eher die Vergangen113
heit der Gattung sind und dessen, was der Gattung vorausgegangen ist, eine generelle Vergangenheit, auf die alle individuellen Vergangenheiten verweisen, die aber, soweit man auch immer zurückgehen mag, nie anders existiert als in Form von Einzelfällen, wie ich und Priscilla sie sein mögen, zwischen denen jedoch nichts passiert, weder etwas Individuelles noch etwas Generelles. Was jeder von uns in Wirklichkeit ist und hat, ist die Vergangenheit ; alles, was wir sind und haben, ist das Verzeichnis der nicht gescheiterten Möglichkeiten, der Prüfungen, die sich jederzeit wiederholen können. Eine Gegenwart existiert nicht, wir gehen blind dem Draußen und Nachher entgegen, wir entwickeln ein prästabiliertes Programm mit Materialien, die wir uns immer gleich fabrizieren. Wir streben in keine Zukunft, es gibt nichts, was uns erwartet, wir sind gefangen im Räderwerk einer Erinnerung, die keine andere Arbeit vorsieht als die Erinnerung an sich selbst. Was mich und Priscilla jetzt drängt, uns zu suchen, ist kein Drang zum Danach : es ist der letzte Akt der Vergangenheit, die sich durch uns vollendet. Adieu, Priscilla, unsere Begegnung, unsere Umarmung sind nutzlos, wir bleiben einander fern, oder auch ein für allemal nahe, also für immer getrennt. Die Trennung, die Unmöglichkeit einer Begegnung ist uns von Anfang an einprogrammiert. Wir sind nicht aus einer Fusion geboren, sondern aus einer Juxtaposition verschiedener Körper. Zwei Zellen sind einander 114
nahe gekommen : die eine ist träge, ganz Fruchtfleisch, die andere ist nur ein Kopf und ein zuckendes Schwänzchen. Sie sind Ei und Samen : Sie geben sich etwas verschämt, dann legen sie los – jeder in seinem Tempo – und stürzen sich aufeinander. Der Samen dringt kopfüber ins Ei ; das Schwänzchen bleibt draußen ; der Kopf – ganz voller Kern – prallt auf den Kern im Ei ; die beiden Kerne zerspringen. Man erwartet werweißwas für eine Verschmelzung oder Vermischung oder Vertauschung der beiden Ichs, aber was in ihren beiden Kernen geschrieben stand, jene langgezogene Schrift, fügt sich zu wohlgeordneten Zeilen im dichtbedruckten neuen Kern ; die Wörter der beiden Kerne stehen allesamt wieder da, intakt und sauber getrennt. Kurz, nichts ist verlorengegangen, keiner hat sich im anderen aufgelöst, keiner hat sich dem anderen hingegeben ; die beiden nun eins gewordenen Zellen sind zwar zusammengepackt, aber jede ist so geblieben, wie sie vorher war. Das erste, was sie empfinden, ist ein bißchen Enttäuschung. Unterdessen hat der verdoppelte Kern mit der Serie seiner Verdoppelungen begonnen, indem er die kombinierten Botschaften von Vater und Mutter in jede Tochterzelle druckt, womit er weniger die Vereinigung als die unüberbrückbare Distanz verewigt, die in jedem Paar die beiden Partner trennt : das Scheitern, die Leere, die auch im glücklichsten aller Paare verbleibt. Gewiß, in jeder Streitfrage können sich unsere Zellen an die Instruktionen nur eines Elternteils halten und 115
sich somit von der Vorschrift des anderen befreit fühlen ; doch was wir in unserer äußeren Form zu sein vorgeben, zählt, wie wir wissen, nur wenig im Vergleich zu dem verborgenen Programm, das wir in jede Zelle eingedruckt in uns tragen und in dem die widersprüchlichen Gebote von Vater und Mutter weiterhin miteinander streiten. Was wirklich zählt, ist dieser unversöhnliche Streit zwischen Vater und Mutter, den jeder mit sich herumschleppt, wobei der Groll über jedes Mal, wenn einer der beiden hat nachgeben müssen, noch lauter nachhallt als der Triumph des siegreichen Partners. So sind die Charakterzüge, die meine innere und äußere Form bestimmen, wenn nicht die Summe oder der Durchschnitt der von Vater und Mutter empfangenen Gebote, so doch in den Tiefen der Zellen dementierte Gebote, aufgewogen durch ein latent gebliebenes anderes Gebot, ausgehöhlt vom Zweifel, ob dieses andere Gebot nicht womöglich das bessere war. Derart, daß ich manchmal sogar bezweifle, ob ich wirklich die Summe der dominanten Züge der Vergangenheit bin, das Resultat einer Serie von Operationen, die stets eine größere Zahl als Null ergaben, oder ob mein wahres Wesen nicht eher jenes ist, das sich aus der langen Reihe der unterlegenen Züge ergibt, die Summe der Größen mit Minuszeichen, die Gesamtheit all dessen, was in der Abstammungsreihe ausgeschlossen, erstickt, gestoppt worden war : Das Gewicht des Nichtgewesenen drückt mich nicht weniger schwer als das des Gewesenen, das nicht vermeiden konnte, zu sein. 116
Leere, Trennung und Warten, das sind wir. Und das bleiben wir auch an dem Tage, wenn die Vergangenheit in uns die ursprünglichen Formen wiederfindet, die Ballung zu Schwärmen von Samenzellen oder das konzentrierte Reifen von Eizellen, und wenn dann endlich die in die Kerne eingeschriebenen Worte nicht mehr dieselben sind wie zuvor, aber auch nicht mehr Teile von uns, sondern eine Botschaft jenseits von uns, die uns schon nicht mehr gehört. In einem verborgenen Punkt unserer selbst teilt sich die Doppelreihe der Gebote unserer Vergangenheit in zwei, und die neuen Zellen finden sich mit einer einfachen, nicht mehr verdoppelten Vergangenheit wieder, was sie beschwingt und ihnen die Illusion verleiht, wirklich neu zu sein, eine neue Vergangenheit zu haben, die fast als eine Zukunft erscheint. Jetzt habe ich das so rasch hingesagt, aber es ist ein komplizierter Prozeß, der da im Dunkeln des Kerns abläuft, in den Tiefen der Geschlechtsorgane, eine Folge von Phasen, die alle etwas überhaspelt sind, aber aus denen es kein Zurück mehr gibt. Zunächst scheinen sich die bisher getrennt gebliebenen Paare von Botschaften mütterlicher- und väterlicherseits zu entsinnen, daß sie Paare sind, und tun sich je zwei und zwei zusammen, lauter spinnwebdünne Fädchen, die sich ineinander verflechten und verknäueln ; das Verlangen, mich außer mir selbst zu paaren, bringt mich nun also dazu, mich in meinem Innern zu paaren, unten an den tiefsten Wurzeln der Materie, aus der ich gemacht bin, 117
ich paare die Erinnerung an das alte Paar, die ich in mir trage, das erste Paar, also ebenso das mir unmittelbar vorausgehende, Mutter und Vater, wie das absolut erste, das Paar an den animalisch-vegetabilischen Wurzeln der allerersten Paarung auf Erden, und so kommt es, daß die sechsundvierzig Fädchen, die eine dunkle und geheime Zelle in ihrem Kern trägt, sich jeweils zwei und zwei miteinander verknoten, ohne jedoch von ihrer alten Zwietracht zu lassen, jedenfalls versuchen sie sich gleich wieder zu lösen, bleiben aber noch an einem Punkt des Knotens hängen, und wenn es ihnen dann schließlich gelingt, sich mit einem Ruck zu trennen – denn inzwischen hat der Trennmechanismus die ganze Zelle erfaßt und dehnt ihr Fruchtfleisch –, findet jedes Chromosom sich verändert, zusammengesetzt aus Segmenten, die vorher teils dem einen und teils dem andern gehörten, und es entfernt sich vom andern, das nun gleichfalls verändert ist, geprägt vom wechselseitigen Austausch der Segmente, und schon lösen sich zwei neue Zellen ab, jede mit dreiundzwanzig Chromosomen, wobei die Chromosomen der einen verschieden von denen der anderen sind und verschieden von denen der alten Zelle, und bei der nächsten Verdoppelung werden es vier ganz verschiedene Zellen sein, mit je dreiundzwanzig Chromosomen, in denen das, was vom Vater und was von der Mutter stammte, ja von den Vätern und von den Müttern, nun vermischt ist. So kommt die Begegnung der Vergangenheiten, die nie in der Gegenwart derer stattfinden kann, die sich 118
zu begegnen glauben, am Ende als Vergangenheit derer zustande, die nachkommen und sie nicht als ihre eigene Gegenwart werden erleben können. Wir meinen unseren Hochzeiten entgegenzugehen, und es sind noch immer die Hochzeiten unserer Väter und Mütter, die sich durch unsere Erwartung und unser Verlangen vollenden. Was uns als unser Glück erscheint, ist vielleicht nur das Glück der Geschichte anderer, die dort endet, wo wir glauben, daß unsere beginne. Wir können uns abstrampeln, soviel wir wollen, Priscilla, um uns entgegenzulaufen und zu verfolgen : die Vergangenheit disponiert über uns mit blindem Gleichmut ; nachdem sie diese Fragmente von sich und uns einmal in Bewegung gesetzt hat, kümmert sie sich keinen Deut darum, wie wir sie nutzen. Wir waren nur die Vorbereitung, die Verpackung für die Begegnung der Vergangenheiten, die zwar in uns und durch uns stattfindet, aber schon zu einer anderen Geschichte gehört, zu der des Nachher ; die Begegnungen kommen immer nur vor und nach uns zustande, und in ihnen agieren die Elemente des Neuen, die uns verschlossen bleiben : der Zufall, das Risiko und das Unwahrscheinliche. So leben wir, wir Unfreien, umgeben von Freiheit, getrieben, umgetrieben von diesem kontinuierlichen Wogen, das die Kombination der möglichen Fälle ist und das durch jene Punkte von Raum und Zeit fuhrt, in denen der Kranz der Vergangenheiten sich mit dem Kranz der Zukünfte schließt. Das Urmeer war eine Suppe aus geringelten Molekülen, durchzogen von den Botschaf119
ten des Gleichen und des Ungleichen, die uns umgaben und neue Kombinationen erzwangen. So steigt die uralte Flut abwechselnd in mir und Priscilla auf, je nach dem Stand des Mondes ; so reagieren die geschlechtlichen Wesen auf die alte Konditionierung, die zum Lieben bestimmte Lebensalter und Zeiten vorschreibt und auch Zugaben und Verzögerungen des Alters und der Zeiten gewährt und sich manchmal auf Verbohrtheiten, Zwänge und Laster einläßt. Kurzum, ich und Priscilla sind nur Treff punkte für die Botschaften der Vergangenheit, das heißt Punkte, an denen sich nicht nur die Botschaften miteinander treffen, sondern auch die Botschaften mit den Reaktionen auf sie. Und da die verschiedenen Elemente und Moleküle ganz verschieden auf die Botschaften reagieren – von unmerklich bis maßlos verschieden –, sind auch die Botschaften nicht mehr dieselben, je nachdem, welche Welt sie empfängt oder interpretiert, oder sie müssen sich ändern, um dieselben zu bleiben. Also kann man im Grunde auch sagen, daß die Botschaften gar keine Botschaften sind, daß eine zu überliefernde Vergangenheit nicht existiert, daß es nur viele Zukünfte gibt, die den Lauf der Vergangenheit korrigieren, ihm Form geben, ihn erfinden. Die Geschichte, die ich euch erzählen wollte, ist die der Begegnung zweier Individuen, die nicht existieren, nicht vorhanden sind, da nur in Funktion einer Vergangenheit oder Zukunft definierbar, einer Vergangenheit oder Zukunft, deren Realität wechselseitig bezweifelt 120
wird. Oder sie ist eine Geschichte, die sich nicht abtrennen läßt von der Geschichte all dessen, was sonst noch existiert, und somit auch nicht von der Geschichte all dessen, was nicht existiert und was durch seine Nichtexistenz das Existierende existieren läßt. Alles, was wir sagen können, ist lediglich, daß an bestimmten Punkten und Momenten der leere Zwischenraum, den unsere individuelle Präsenz darstellt, von jener Woge berührt wird, die unablässig die Kombinationen der Moleküle erneuert und kompliziert oder ausradiert, und dies genügt, uns die Gewißheit zu geben, daß in der räumlichen und zeitlichen Verteilung der lebenden Zellen jemand »ich« und jemand »Priscilla« ist und daß etwas geschieht oder geschehen ist oder geschehen wird, was uns direkt und – ich wage zu sagen – glücklich und restlos miteinbezieht. Schon dies allein genügt, Priscilla, mich froh zu machen, wenn ich meinen gebeugten Hals über deinen recke und dir leicht in das gelbe Fell beiße und du die Nüstern blähst und die Zähne bleckst und dich in den Sand niederkniest, um den Höcker auf die Höhe meiner Brust zu senken, so daß ich mich auf ihn stützen und dich von hinten stoßen kann, die Hinterbeine fest in den Sand gestemmt, o wie süß, diese Sonnenuntergänge in der Oase, erinnerst du dich, wenn man uns die Last vom Saumsattel löst und die Karawane sich zerstreut und wir Kamele uns plötzlich erleichtert fühlen und du losgaloppierst und ich dir nachtrabe in den Palmenhain.
Die falsche Haltestelle
Für einen, der seine ungastliche Wohnung leid ist, bleibt an kalten Abenden das Kino immer noch der liebste Zufluchtsort. Marcovaldos Leidenschaft waren Farbfilme auf Breitwand, die weiteste Horizonte zu umfassen imstande ist : Prärien, Felsengebirge, Urwälder, Inseln, auf denen blumenbekränzte Menschen leben. Er pflegte sich jeden Film zweimal anzusehen und ging erst fort, wenn das Kino geschlossen wurde ; und in Gedanken lebte er dann weiter in den Landschaften, die er gesehen, atmete ihre Farben ein. Doch der Heimweg am regnerischen Abend, das Warten an der Straßenbahnhaltestelle der Linie 30, die Feststellung, daß sein Leben nie eine andere Aussicht bieten würde als Straßenbahnen, Verkehrsampeln, Kellerwohnungen, Gasherde, aufgehängte Wäsche, Lagerräume und Pakkereien, lösten den Glanz des Filmes in farblose, graue Traurigkeit auf. Der Film, den er an diesem Abend gesehen hatte, spielte in den Urwäldern Indiens : Aus sumpfigem Dikkicht stiegen Dunstschwaden, und Schlangen wanden sich an Lianen empor und glitten auf die Statuen uralter, vom Dschungel überwucherter Tempel. 123
Am Kinoausgang starrte er mit weit offenen Augen auf die Straße, schloß die Augen, öffnete sie von neuem : Er sah nichts. Rein gar nichts. Nicht mal eine Handbreit vor seiner Nase. In den Stunden, die er da drinnen zugebracht, hatte sich Nebel auf die Stadt gesenkt, dikker, bleicher Nebel, der Dinge und Geräusche einhüllte, Entfernungen in einen Raum ohne Maße verdrängte, die Lichter in der Dunkelheit vermischte und in ein Aufleuchten ohne Gestalt und Ort verwandelte. Marcovaldo ging mechanisch zur Haltestelle der 30 und stieß mit der Nase an den Hochleitungsmast. In diesem Augenblick merkte er, daß er glücklich war : Der Nebel, der die Welt ringsum auslöschte, gestattete ihm, die Bilder vom Breitwandkino in seinen Augen festzuhalten. Auch die Kälte hatte nachgelassen, fast als habe die Stadt sich eine Wolke als Decke übergezogen. Marcovaldo, in seinen Mantel vermummt, fühlte sich geschützt vor jeder äußeren Einwirkung, wie wenn er in einem leeren Raum stünde, und diesen leeren Raum konnte er ausfüllen mit den Bildern von Indien, vom Ganges, vom Dschungel, von Kalkutta. Die Straßenbahn kam angefahren, mit verschwommenen Konturen wie ein Gespenst, langsam klingelnd ; die Dinge existierten gerade soweit wie nötig ; für Marcovaldo war es an diesem Abend der ideale Zustand, hinten in der Straßenbahn zu stehen, mit dem Rükken zu den andern Fahrgästen, und durch die Scheiben in die leere Nacht hinauszusehen, die nur hier und da vom ungewissen Lichtschein unterbrochen wurde und 124
von Schatten, die noch schwärzer waren als das Dunkel ; so konnte er offenen Auges träumen und, wohin er auch fuhr, einen ununterbrochenen Filmstreifen auf unendlicher Bildfläche vor sich abrollen lassen. Unter solchen Träumereien war er mit den Haltestellen durcheinandergekommen ; plötzlich fragte er sich, wo er denn eigentlich sei ; er bemerkte, daß die Straßenbahn beinahe leer war ; angestrengt starrte er durch die Scheiben, suchte die auftauchenden Lichter zu deuten, kam zu dem Schluß, daß seine Haltestelle die nächste sein müsse, erreichte die Ausgangstür gerade noch rechtzeitig und stieg aus. Er sah sich nach einem Orientierungspunkt um. Doch die wenigen Schatten und Lichter, die seine Augen auffingen, fügten sich zu keinem bekannten Bild zusammen. Er hatte sich in der Haltestelle geirrt und wußte nicht, wo er war. Wäre er einem Passanten begegnet, so hätte er sich ohne weiteres die Straße zeigen lassen können ; aber ob nun die einsame Gegend, die späte Stunde oder das mißliche Wetter daran schuld war, er sah nicht die Spur einer Menschenseele. Endlich gewahrte er einen Schatten und wartete, daß er näher käme. Nein : der Schatten entfernte sich, vielleicht überquerte er die Straße, vielleicht ging er mitten auf der Straße, es konnte auch kein Fußgänger sein, sondern ein Radfahrer auf einem Fahrrad ohne Licht. Marcovaldo rief : »Bitte ! Bitte schön, mein Herr ! Wissen Sie, wie ich hier zur Via Pancrazio Pancrazietti komme ?« 125
Die Gestalt bewegte sich immer weiter fort, fast sah man sie nicht mehr. Und sagte : »Dorthin …« Aber es war nicht zu erkunden, in welche Richtung sie deutete. »Rechts oder links ?« rief Marcovaldo, doch wußte er nicht, ob er ins Leere sprach. Eine Antwort kam, oder der Fetzen einer Antwort : ein »… echts !«, das aber genausogut ein »… inks !« sein konnte. Einem, der nicht sah, in welcher Richtung der andere sich bewegte, war rechts oder links gleichermaßen nichtssagend. Marcovaldo lief nun einer Helligkeit entgegen, die vom andern Bürgersteig herzukommen schien oder von ein bißchen weiter weg. In Wirklichkeit war es viel weiter weg : Er mußte eine Art Platz überqueren, in dessen Mitte sich eine grasbewachsene Fläche befand, und dann waren da auch Richtungsweiser (das einzige klar Erkennbare) für den Kreisverkehr der Autos. Es war schon spät, aber gewiß hatte noch irgendein Café offen oder eine Wirtschaft ; die Leuchtschrift wurde deutlicher und lautete : Bar … Dann verlosch sie ; über das, was wohl ein beleuchtetes Fenster sein mochte, senkte sich etwas Dunkles wie ein Rolladen. Die Kaffeebar wurde geschlossen und war – wie er in diesem Augenblick zu erkennen meinte – noch sehr weit weg. Da war es schon besser, sich an ein anderes Licht zu halten : Und während Marcovaldo so dahinschritt, wußte er nicht, ob er geradeaus ging und der Lichtpunkt, dem er entgegenstrebte, immer derselbe war oder sich verdoppelte, verdreifachte oder von der Stelle 126
bewegte. Der etwas milchige, schwarze Sprühstaub um ihn war so fein, daß er spürte, wie er durch den Mantel drang und durch die Fäden des Gewebes, wie durch ein Sieb, und wie die Feuchtigkeit ihn wie einen Schwamm durchtränkte. Das Licht, das er schließlich erreichte, war der verräucherte Eingang einer Osteria. Drinnen saßen Leute oder standen an der Theke, aber wegen der schlechten Beleuchtung oder auf Grund des Nebels, der überall Eingang gefunden hatte, waren auch diese Gestalten verschwommen wie in Wirtshäusern aus alten Zeiten oder in entfernten Ländern, die man im Kino zu sehen bekommt. »Ich suche … vielleicht könnten Sie mir Auskunft geben … die Via Pancrazietti …«, hub er an, aber in der Osteria war es laut, Betrunkene, die lachten und ihn gleichfalls für einen Betrunkenen hielten, und die Fragen, die er stellte, und die Erklärungen, die er bekam, waren auch nebelhaft und verschwommen. Dies um so mehr, als er, um sich zu wärmen, zunächst ein Viertel Wein bestellte, dann noch eins – oder richtiger, sich von denen, die an der Theke standen, dazu überreden ließ – und schließlich noch ein paar Gläser, die ihm, mit viel Schulterklopfen, von den andern spendiert wurden. Kurz und gut, als er aus der Osteria kam, war seine Vorstellung über den Heimweg auch nicht klarer als zuvor, doch zum Ausgleich dafür barg der Nebel jetzt mehr denn je alle Kontinente und Farben in sich. Mit dem wärmenden Wein im Leib lief Marcovaldo 127
eine gute Viertelstunde lang mit Schritten, die stets danach trachteten, nach links und nach rechts auszuweichen, um die ganze Breite des Bürgersteigs zu erkunden (falls er noch auf dem Bürgersteig ging), und mit Händen, die das Bedürfnis empfanden, dauernd die Wände abzutasten (falls er noch an einer Wand entlangging). Der Nebel in seinem Kopf verzog sich beim Laufen ; doch der Nebel draußen blieb unvermindert dicht. Er erinnerte sich, daß man ihm in der Osteria geaten hatte, einem Straßenzug hundert Meter weit zu folgen und dann noch einmal zu fragen. Aber jetzt wußte er nicht mehr, wie weit er sich von der Osteria entfernt hatte oder ob er nicht vielleicht im Kreis um die Häusergruppe herumgelaufen war. Die Gegend zwischen den Backsteinmauern, die wie Fabrikmauern aussahen, schien unbewohnt. An der Ecke mußte sich doch ein Straßenschild befinden, aber der Lichtschein der Lampe, die mitten über der Fahrbahn hing, reichte nicht bis dort hinauf. Um die Beschriftung näher betrachten zu können, kletterte Marcovaldo an der Stange eines Halteschilds hinauf. Er kletterte so weit, daß er mit der Nase ans Schild stieß, doch die Schrift war verblichen, und er hatte keine Streichhölzer, sie zu beleuchten. Oberhalb des Straßenschilds war der Mauerrand flach und breit. Marcovaldo beugte sich von der Stange des Halteverbots hinüber und konnte sich so auf die Mauer hochziehen. Über dem Mauerrand hatte er ein großes, helles Schild gesehen. Er lief ein paar Schritte auf der Mauer entlang, bis 128
zum Schild ; hier ließ die Lampe die schwarzen Buchstaben auf weißem Grund klar erkennen, doch die Aufschrift »Unbefugten ist der Zutritt strengstens verboten« konnte ihm keinerlei Aufklärung geben. Der Mauerrand war breit genug, um sich im Gleichgewicht halten und auch weitergehen zu können ; wenn er es recht bedachte, war dies sogar besser als auf dem Bürgersteig, denn die Lampen hingen gerade in der richtigen Höhe, um die Schritte zu beleuchten, sie zeichneten einen hellen Streifen mitten in die Dunkelheit. Schließlich war die Mauer zu Ende, und Marcovaldo stand vor der Spitze eines Pfostens ; nein, sie beschrieb einen rechten Winkel und ging doch weiter … Und so beschrieb Marcovaldos Weg mit Einbuchtungen, Gabelungen und Pfosten eine unregelmäßige Bahn ; mehrmals glaubte er, die Mauer müsse nun aufhören, aber dann entdeckte er, daß sie in einer anderen Richtung weiterging ; bei all den vielen Biegungen wußte er nicht mehr, in welcher Richtung er abgebogen war, auf welche Seite er also hinunterspringen mußte, wenn er wieder auf die Straße wollte. Springen … Und wenn der Höhenunterschied sich vergrößert hatte ? Er hockte sich auf einen Pfosten und versuchte zu erkennen, was unten war, auf der einen wie auf der anderen Seite, doch kein Lichtstrahl drang bis auf den Grund : Es konnte also ein Sprung von zwei Metern sein oder auch ein Abgrund. Ihm blieb nichts übrig, als oben weiterzulaufen. Die Rettung zeigte sich alsbald. Eine ebene weiße Fläche, die an die Mauer grenzte : das Zementdach ei129
nes Gebäudes – wie Marcovaldo bemerkte, als er darüberlief –, das sich ins Dunkel erstreckte. Er bereute sofort, sich hinaufgewagt zu haben : Jetzt hatte er jeden Anhaltspunkt verloren, er hatte sich von der Reihe der Straßenlaternen entfernt, und jeder Schritt, den er weiterging, konnte ihn an den Rand des Daches bringen und, darüber hinaus, ins Leere. Das Leere war wirklich wie ein Sarg. Von unten schienen kleine Lichter herauf, wie aus großer Entfernung, und wenn sich die Laternen schon dort unten befanden, mußte der Boden ja noch tiefer liegen. Marcovaldo war so hoch droben, wie man es sich gar nicht vorstellen kann : Ab und an leuchteten in der Höhe grüne und rote Lichter auf, in unregelmäßigen Figuren, wie Sternbilder. Gerade als er sich diese Lichter mit emporgereckter Nase betrachtete, geschah es, daß er einen Schritt ins Leere tat und abstürzte. Jetzt bin ich tot, dachte er, aber im selben Augenblick wurde er gewahr, daß er auf weichem Boden saß ; seine Hände berührten Gras ; er war mitten auf eine Wiese gefallen und ganz unversehrt. Die tiefen Lichter, die ihm so weit weg erschienen waren, waren in Wirklichkeit eine Reihe Lämpchen direkt auf dem Boden. Ein ungewöhnlicher Ort, Lichter aufzustellen, doch hatten sie ihren Nutzen, denn sie wiesen ihm einen Weg. Seine Füße gingen jetzt nicht mehr übers Gras, sondern über Asphalt : Mitten durch die Wiesen rührte eine große asphaltierte Straße, die von dem Schein dieser Bodenlichter beleuchtet wurde. Ringsum nichts : 130
nur noch droben dies farbige Aufleuchten, das blinkte und wieder verschwand. Eine Asphaltstraße wird schon irgendwohin führen, dachte Marcovaldo und folgte ihr. Er kam zu einer Abzweigung, sogar zu einer Straßenkreuzung, und jeder Straßenteil war von diesen kleinen, niedrigen Lampen flankiert, und riesige weiße Ziffern waren daraufgemalt. Er wurde mutlos. Was hatte es schon für einen Zweck, sich für irgendeine Richtung zu entscheiden, wenn ringsum doch nichts war als Rasenfläche und leerer Nebel ? Da bemerkte er in Menschenhöhe eine Bewegung von Blinklichtern. Ein Mann, tatsächlich ein Mann, die Arme weit geöffnet und – wie es schien – in einem gelben Arbeitsanzug, bewegte zwei leuchtende Schildchen, wie sie die Bahnhofsvorsteher haben. Marcovaldo lief auf den Mann zu, und noch ehe er ihn erreicht hatte, keuchte er atemlos : »He ! Sie ! Sagen Sie, hier mitten im Nebel, was soll ich denn, so hören Sie doch zu …« »Seien Sie unbesorgt«, antwortete der Mann in Gelb ruhig und höflich, »über tausend Meter hoch ist kein Nebel, Sie können sich darauf verlassen, dort vorn ist der Einstieg, die andern sind schon hinaufgegangen.« Das war eine dunkle, doch ermutigende Rede : Marcovaldo freute sich vor allem, zu hören, daß noch andere Menschen in der Nähe waren ; er ging weiter, um zu ihnen zu kommen, und stellte keine Fragen mehr. Der so geheimnisvoll angekündigte Einstieg war eine kleine Treppe mit bequemen Stufen und einem Gelän131
der an den Seiten, das im Dunkel weiß aufleuchtete. Marcovaldo stieg hinauf. An der Schwelle einer schmalen Tür begrüßte ihn ein Mädchen so liebenswürdig, daß sie, wie er glaubte, unmöglich ihn gemeint haben konnte. Marcovaldo erging sich in Höflichkeitsfloskeln : »Meine Hochachtung, Signorina ! Und alle guten Wünsche !« Ganz durchfroren vor Kälte und Feuchtigkeit, schien es ihm wie ein Märchen, doch noch Zuflucht unter einem Dach gefunden zu haben … Er trat ein und mußte blinzeln, vom Licht geblendet. Dies war kein Haus. Wo war er dann ? In einem Autobus, wie ihm schien, in einem langen Autobus mit vielen leeren Plätzen. Er setzte sich ; zur Heimfahrt benutzte er für gewöhnlich nicht den Bus, sondern die Straßenbahn, weil die Fahrkarte etwas billiger war, diesmal aber hatte er sich in einen so entlegenen Stadtteil verirrt, daß von dort aus wohl nur Autobusse verkehrten. Welches Glück, daß er zu dieser gewiß letzten Fahrt noch rechtzeitig gekommen war ! Und was für weiche, einladende Polstersessel ! Jetzt, da er dies wußte, würde Marcovaldo nur noch Autobus fahren, auch wenn die Fahrgäste einigen Verpflichtungen unterworfen waren (»… Sie werden gebeten«, ertönte es vom Lautsprecher, »nicht zu rauchen und die Gurte anzulegen …«), auch wenn das Motorengeräusch bei der Abfahrt ungewöhnlich laut war. Ein uniformierter Mann ging zwischen den Sitzen hindurch. »Verzeihung, Herr Schaffner«, sagte Marco132
valdo, »können Sie mir sagen, wo es eine Haltestelle in der Nähe der Via Pancrazio Pancrazietti gibt ?« »Wie meinen Sie, mein Herr ? Die erste Landung ist in Bombay, dann kommt Kalkutta und dann Singapur.« Marcovaldo sah sich um. Auf den anderen Plätzen saßen unbewegte Inder mit Bart und Turban. Auch Frauen waren da, eingehüllt in bestickte Saris und mit Schönheitspflästerchen auf der Stirn. Die Nacht vor den kleinen Fenstern war voller Sterne, jetzt, da das Flugzeug die dichte Nebeldecke durchstoßen hatte und in großer Höhe durch den klaren Himmel flog.
Die Paarung der Schildkröten
Im offenen Innenhof sind zwei Schildkröten: Männchen und Weibchen. Klack, klack, schlagen die Schildplatten aufeinander. Es ist Paarungszeit. Herr Palomar späht im Verborgenen. Das Männchen bedrängt das Weibchen, treibt es mit Seitenstößen rings um das kleine Rasenrondell. Das Weibchen scheint sich gegen den Angriff zu wehren, zumindest setzt es ihm eine gewisse Trägheit entgegen. Das Männchen ist kleiner und viel aktiver, man möchte fast sagen, ein junger Heißsporn : Immer wieder versucht er, die Partnerin zu besteigen, aber ihr Rückenpanzer ist steil und er gleitet ab. Jetzt müßte es ihm gelungen sein, sich in die richtige Position zu bringen : Er preßt sich an sie und drückt sie mit rhythmischen Stößen, hält inne, drückt weiter ; bei jedem Stoß entfährt ihm ein fiepsiges Keuchen, beinahe ein Schrei. Sie stemmt die Hinterbeine fest auf den Boden, so daß sich ihr Hinterteil hebt. Er scharrt mit den Vorderfüßen auf ihrem Panzer, reckt den Hals und hängt japsend über ihr. Das Problem mit diesen Schildpanzern ist, daß sie keinen Halt bieten, und im übrigen können die Füßchen nicht greifen. 135
Jetzt läuft sie ihm weg und er hinterher. Nicht daß sie geschwinder wäre oder besonders entschlossen, ihm zu entkommen : Er schnappt mit dem Maul nach ihr, um sie zu halten, beißt sie ein paarmal leicht in ein Beinchen, immer ins selbe. Sie wehrt sich nicht. Jedesmal wenn sie stehenbleibt, versucht er wieder, sie zu besteigen, aber dann macht sie ein Schrittchen nach vorn und er gleitet ab, so daß sein Glied auf den Boden schlägt. Es ist ein ziemlich langes Glied, fast hakenförmig gebogen ; so wie es aussieht, möchte man meinen, er müßte sie damit eigentlich ganz gut erreichen können, trotz der störenden Panzer und der mißlichen Position. Daher kann man nicht sagen, wie viele seiner Vorstöße wohl gelingen, wie viele danebengehen und wie viele bloßes Spiel sind, Theater. Es ist Sommer, der Hof ist kahl bis auf einen Jasminstrauch in einer Ecke. Das Liebesspiel besteht darin, immer wieder das Rasenrondell zu umkreisen, mit Verfolgungen, Fluchten und kleinem Geplänkel nicht der Füßchen, sondern der Panzer, die dumpf aneinanderklacken. Schließlich versucht das Weibchen, sich zwischen die Stämmchen des Jasmins zu verkriechen. Es glaubt wohl (oder gibt vor), sich dort zu verstecken, aber in Wirklichkeit ist das der sicherste Weg, sich von dem Männchen stellen zu lassen, ohne noch einen Ausweg zu finden. Jetzt dürfte es ihm gelungen sein, das Glied richtig einzuführen, aber diesmal verharren die beiden reglos und still. Welche Gefühle haben zwei Schildkröten, die sich 136
paaren ? Herr Palomar kann sich’s nicht vorstellen. Er beobachtet sie mit kühler Aufmerksamkeit, als wären sie zwei Maschinen : zwei elektronische Schildkröten, programmiert auf Paarung. Was ist Erotik, wenn man statt der Haut einen Knochenpanzer und Hornplatten hat ? Aber ist nicht auch das, was wir Erotik nennen, ein Programm unserer Körpermaschinen, nur komplizierter, weil unser Gedächtnis die Nachrichten jeder Hautzelle, jedes einzelnen Moleküls der Gewebe aufnimmt und multipliziert, indem es sie mit den Impulsen kombiniert, die ihm von den Sehnerven übertragen und von der Vorstellung suggeriert werden ? Der Unterschied liegt nur in der Zahl der beteiligten Regelkreise : Milliarden von Drähten führen von unseren Rezeptoren zu jenem Computer der Gefühle, der Konditionierungen, der Bande zwischen Person und Person … Erotik ist ein Programm, das sich in den elektronischen Wirrnissen des mentalen Sinnes abspielt, aber Sinn ist auch Haut : berührte, gesehene, erinnerte Haut … Und die Schildkröten, eingeschlossen in ihre fühllosen Panzer ? Womöglich zwingt sie die Kargheit an Sinnesreizen zu einem hochkonzentrierten und intensiven Geistesleben, führt sie zu einer glasklaren inneren Erkenntnis … Vielleicht folgt die Erotik der Schildkröten absoluten spirituellen Gesetzen, während wir Menschen Gefangene einer Maschinerie sind, deren Funktionsweise wir nicht kennen und die sehr störungsanfällig ist, sich verklemmen oder in unkontrollierte Selbsttätigkeit ausbrechen kann ? 137
Ob die Schildkröten sich wohl besser begreifen ? Nach etwa zehnminütiger Paarung lösen die beiden Panzer sich voneinander. Sie voran, er hinterher, fangen sie wieder an, das Rondell zu umkreisen. Er bleibt jetzt etwas weiter zurück, scharrt noch ab und zu mit dem Füßchen auf ihrem Panzer, kriecht noch ein bißchen auf sie hinauf, aber ohne viel Überzeugung. Sie kehren zurück unter den Jasmin. Er beißt ihr ein bißchen ins Bein, immer an derselben Stelle.
Der verzauberte Garten
Giovannino und Serenella wanderten auf dem Bahndamm dahin. Unten lag das Meer, dunkelblau-hellblau gewürfelt, oben ein Himmel, kaum gestreift von weißen Wolkenstrichen. Die Schienen leuchteten und waren so heiß, daß man sich beinah verbrannte. Auf dem Bahndamm ging es sich gut, und man konnte allerlei Spiele erfinden : er schritt auf der einen Schiene voran und sie auf der anderen, und beide hielten sich in der Mitte an der Hand ; oder man konnte von einer Schwelle zur nächsten springen, ohne den Schotter dazwischen mit dem Fuß zu berühren. Giovannino und Serenella waren auf Krebsfang gewesen, und jetzt hatten sie beschlossen, den Eisenbahndamm bis in den Tunnel hinein zu erforschen. Es machte Spaß, mit Serenella zu spielen, denn sie war nicht so wie all die anderen Mädchen, die immer Angst hatten und bei jeder Kleinigkeit zu heulen anfingen. Wenn Giovannino sagte : gehen wir da und da hin !, folgte Serenella ihm ohne jede Widerrede. Deng ! Sie sprangen hoch und blickten auf. Die runde Scheibe am Arm der Signalanlage war emporgeschnellt. Das Signal sah aus wie ein eiserner Storch, der plötzlich seinen langen Schnabel geschlossen hatte. Noch ein 139
Weilchen standen sie so, die Nase in der Luft : wie schade, daß sie es nicht gesehen hatten ! Jetzt machte der Signalmast das nicht mehr so bald noch einmal. »Gleich kommt ein Zug«, sagte Giovannino. Serenella blieb auf dem Gleis. »Von wo ?« fragte sie. Giovannino blickte sich um, als wüßte er Bescheid. Er zeigte auf den Tunnel, das schwarze Loch, das bald klarer, bald verschwommener zu sehen war, je nach dem unmerklichen, zitternden Dunst, der über den glühenden Steinen des Bahndamms aufstieg. »Von da«, sagte er. Er glaubte das finstere Brausen im Tunnel zu hören und sah schon das Ungetüm aus Flammen und Rauch auf sie zuschießen und erbarmungslos mit den Rädern die Schienen verschlingen. »Wo gehen wir hin, Giovannino ?« Zum Meer hin standen große graue Agaven mit fächerförmig ausstrahlenden, undurchdringlichen Stachelarmen ; zum Berg hin bildete blätterüberladenes, blütenloses Gestrüpp eine Hecke. Vom Zug hörte man noch nichts : vielleicht fuhr er mit gelöschter Lokomotive lautlos dahin und würde plötzlich über sie hereinbrechen. Da hatte Giovannino jedoch eine Lücke in der Hecke gefunden. »Hier durch«, sagte er. Die Einfriedung am Fuß des Bahndamms bestand aus einem alten, herabhängenden Drahtzaun. An einer Stelle faltete er sich vom Boden auf wie die Ecke eines Papiers. Giovannino hatte sich bereits hindurchgezwängt. »Gib mir die Hand, Giovannino !« 140
Sie fanden sich im Winkel eines Gartens wieder, beide hockten sie auf allen vieren im Gras, die Haare voll trockener Blätter und Erdklumpen. Ringsum war es still, kein Blatt rührte sich. »Los !« sagte Giovannino, und Serenella sagte : »Ja.« Da waren große, uralte, fleischfarbene Eukalyptusbäume und da waren Kieswege. Giovannino und Serenella gingen die Wege auf Zehenspitzen entlang und achteten darauf, daß der Kies unter ihren Schuhen nicht knirschte. Wenn jetzt die Besitzer auf sie zukämen, was dann ? Herrlich war das alles : die Kurven der gebogenen Eukalyptuszweige hoch oben und dazwischen Stücke aus Himmelblau ; nur die ängstliche Unruhe blieb in ihnen, weil der Garten ihnen doch nicht gehörte und sie von einem Augenblick zum anderen daraus verjagt werden konnten. Doch kein Laut war zu vernehmen. Von einer Erdbeerstaude hinter einer Wegbiegung flogen plötzlich lärmend Spatzen auf. Dann wieder die Stille. War es vielleicht ein verlassener Garten ? Doch einmal hörten die Schatten der großen Bäume auf, und sie befanden sich unter freiem Himmel ; vor ihnen lagen wohlgeordnete Reihen von Blumenbeeten, mit Petunien und Kornwinden, und neue Wege und Spaliere und Buchsbaumhecken. Und oben auf der Höhe lag eine große Villa mit blitzenden Scheiben und gelben und orangefarbenen Markisen. Und alles war verödet. Vorsichtig schritten die beiden Kinder über den Kies auf das Haus zu ; vielleicht wür141
den die Fenster alle auf einmal aufspringen und entsetzlich strenge Herren und Damen auf den Terrassen erscheinen und große Hunde auf die Wege loslassen. In der Nähe eines Tümpels stießen sie auf einen Schubkarren. Giovannino packte ihn an den beiden Griffen und stieß ihn vor sich her : bei jeder Drehung der Räder gab er ein Kreischen von sich wie einen Pfiff. Serenella setzte sich darauf, und schweigend ging es weiter ; Giovannino schob Karren und Mädchen zwischen den Beeten und dem Spiel des Wassers vorwärts. »Die da«, sagte Serenella von Zeit zu Zeit leise und zeigte auf eine Blume. Giovannino setzte ab und ging, um sie zu pflücken. Das Mädchen hatte schon einen hübschen Strauß im Schoß. Doch wenn sie auf der Flucht über die Hecken springen mußten, blieb nichts übrig, als die Blumen alle wegzuwerfen. Sie kamen an einen freien Platz, der nicht mehr mit Kies bedeckt war, sondern mit Zement und Steinfliesen. Mittendrin öffnete sich ein großes, tiefes Rechteck : ein Schwimmbecken. Sie traten an den Rand heran – da lag es, mit blauen Kacheln, voll mit klarem Wasser, bis obenhin. »Springen wir hinein ?« fragte Giovannino. Es mußte schon etwas sehr Bedenkliches sein, wenn er sie nach ihrer Meinung fragte und nicht einfach sagte »Los !«. Doch das Wasser war so sauber und blau, und Serenella hatte nie Angst. Sie stieg aus dem Karren und legte ihren Blumenstrauß hinein. Ihr Badezeug hatten sie schon an, sie waren ja eben noch auf Krebsfang gewe142
sen. Giovannino tauchte ins Wasser ; nicht vom Sprungbrett aus, das hätte zuviel Lärm gemacht, sondern vom Rand des Beckens. Mit offenen Augen glitt er immer tiefer und sah nichts als Blau, und seine Hände schimmerten rosig wie Fische ; ganz anders als im Meer mit den ungleichmäßigen grünschwarzen Schatten. Und nun über ihm ein rosiger Schein : Serenella. Sie nahmen sich bei der Hand und tauchten, etwas keuchend, am gegenüberliegenden Rand wieder empor. Nein, es hatte sie tatsächlich niemand gesehen. So schön, wie sie es sich vorgestellt hatten, war es doch nicht : immer blieb jener bittere Rest von Angst in ihnen zurück, daß dies alles sie nichts anging und sie jeden Augenblick verjagt werden könnten. Sie kletterten aus dem Wasser, und da sahen sie nicht weit von dem Schwimmbecken einen Ping-Pong-Tisch. Giovannino ergriff rasch einen Schläger und jagte einen Ball über das Netz, und Serenella konnte ihn eben noch auffangen und zurückgeben. So spielten sie, aber mit sachten Schlägen, damit man es in der Villa nicht hörte. Einmal stieg der Ball steil auf, und als Giovannino ihn zurückschlagen wollte, flog er weit über den Tisch hinweg. Er traf auf einen Gong, der zwischen den Pfeilern einer Pergola hing und nun dumpf und lange tönte. Die zwei Kinder kauerten sich geduckt hinter ein Ranunkelbeet. Alsbald erschienen zwei Diener in weißen Jacken mit großen Tabletts in der Hand, stellten etwas auf einen runden Tisch unter einem gelb-orange gestreiften Sonnenschirm und entfernten sich. 143
Giovannino und Serenella traten auf den Tisch zu. Da waren Tee, Milch, Kuchen. Man brauchte sich nur zu setzen und zuzugreifen. Sie füllten zwei Tassen und schnitten zwei Stücke Kuchen ab. Doch es wollte ihnen nicht recht gelingen, richtig auf den Stühlen zu sitzen, sie klebten nur eben vorn am Rand und wußten nicht wohin mit ihren Knien. Auch den Geschmack von Tee und Milch und Gebäck konnten sie nicht wirklich empfinden ; so war alles in diesem Garten, schön und doch nicht ganz zu genießen, mit dieser Unruhe im Innern, dieser Besorgnis – es käme alles ja doch nur von einer Zerstreutheit des Schicksals, und bald würde man sie zur Rechenschaft ziehen. Tief geduckt schlichen sie auf die Villa zu. Durch die Spalten einer Jalousie sahen sie drinnen ein schönes schattiges Zimmer mit Sammlungen von Faltern und Schmetterlingen an den Wänden. Und in dem Zimmer saß ein blasser Junge. Das mußte wohl der Besitzer der Villa und des Gartens sein : dieser Glückliche. Er saß in einem Liegestuhl und blätterte in einem dikken Bilderbuch. Er hatte feine weiße Hände – und einen Pyjama, der bis obenhin zugeknöpft war, jetzt, mitten im Sommer. – Wie die beiden Kinder ihn durch die Jalousie hindurch anstarrten, beruhigte sich allmählich ihr klopfender Herzschlag. Es sah wirklich so aus, als habe der Junge, der in seinem Buch blätterte und sich im Zimmer umblickte, noch größere Angst, eine noch stärkere Beklemmung als sie. Und jetzt stand er ganz 144
vorsichtig auf, als fürchtete er, daß jeden Augenblick jemand kommen und ihn fortjagen könne, als habe er das Gefühl, dieses Buch, dieser Liegestuhl, die Schmetterlinge an den Wänden und der Garten mit Spiel und Vesper und Schwimmbecken und Kieswegen seien ihm nur auf Grund eines ungeheuren Irrtums zugestanden worden, und er könnte das alles unmöglich genießen, sondern nur die Bitternis dieses Irrtums empfinden, etwas wie eine eigene Schuld. Mit verhaltenen Schritten ging der blasse Junge durch das schattige Zimmer, strich mit weißen Fingern über die Ränder der Glaskästen, in denen die Falter aufbewahrt wurden, und blieb dann lauschend stehen. Giovannino und Serenella spürten, wie ihr eben zur Ruhe gekommenes Herz von neuem wild klopfte, stärker als zuvor. Es war die Furcht vor dem Zauberbann, der auf dieser Villa, auf dem Garten, auf all den herrlichen, bequemen Dingen lasten mußte wie ein ehemals begangenes Unrecht. Wolken verdunkelten die Sonne. Lautlos, lautlos schlichen Giovannino und Serenella davon. Schnell, doch nie laufend, gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Und geduckt zwängten sie sich durch den Drahtzaun. Zwischen den Agaven fanden sie einen Pfad, der zum Strand führte. Da lag er, kurz und steinig, mit Algenhaufen am Uferrand. Sie erfanden ein wunderbares Spiel : Algenschlacht. Sie warfen sich ganze Hände voll ins Gesicht, bis zum Abend. Es war wirklich gut, daß Serenella nie weinte.
Die Stadt für ihn allein
Elf Monate im Jahr liebte die Bevölkerung ihre Stadt, und wehe, wenn ihr einer zu nahe kam : Wolkenkratzer, Zigarettenautomaten, Breitwandkinos, lauter Dinge, über jede Diskussion erhaben und von dauernder Anziehungskraft. Der einzige Bewohner, dem man dieses Gefühl nicht mit Sicherheit zusprechen konnte, war Marcovaldo ; aber das, was er dachte, war – erstens – in Anbetracht seiner geringen Mitteilsamkeit schwer zu erfahren, und – zweitens – zählte es so wenig, daß es ohnehin auf dasselbe herauskam. Einmal in jedem Jahr aber begann der Monat August. Und da wurde man Zeuge eines allgemeinen Stimmungswechsels. Niemand konnte die Stadt mehr ausstehen : Dieselben Wolkenkratzer und Fußgängerunterführungen und Parkplätze, die bis gestern noch so beliebt, waren auf einmal unsympathisch und irritierend geworden. Die Bewohner hatten keinen anderen Wunsch mehr, als sich so rasch wie möglich aus dem Staube zu machen, und so waren in überfüllten Zügen und auf verstopften Autobahnen am 15. des Monats wirklich alle verschwunden. Ein einziger ausgenommen. Marcovaldo war der einzige Bewohner, der die 147
Stadt nicht verließ. – Morgens ging er aus, um sich ins Zentrum zu begeben. Die Straßen öffneten sich breit und ohne Ende, einsam, von Autos entleert ; die Häuserfronten, mit der grauen Hecke heruntergelassener Rollläden bis zu den unzähligen Holzlamellen der Klappläden, waren wie Festungen verrammelt. Das ganze Jahr über hatte Marcovaldo davon geträumt, die Straßen wirklich als Straßen benutzen, das heißt, mitten auf der Fahrbahn entlanglaufen zu können : Jetzt konnte er’s, er konnte auch bei Rot über die Straße gehen oder sie schräg überqueren und mitten auf den Plätzen stehenbleiben. Aber er wußte, daß das Vergnügen nicht so sehr darin bestand, all diese ungewohnten Dinge zu tun, als vielmehr alles plötzlich ganz anders zu sehen : die Straßen als Talschluchten oder ausgetrocknete Flußbetten, die Häuser als steile Gebirgsmassive oder Felswände. Gewiß, irgend etwas fehlte ihm : nicht die Reihe parkender Autos oder die verstopfte Straßenkreuzung oder der Menschenstrom am Warenhauseingang oder die Verkehrsinsel mit den vielen Leuten, die auf die Straßenbahn warteten ; was noch fehlte, um die leeren Räume auszufüllen und die rechteckigen Oberflächen zu krümmen, war zum Beispiel eine Überschwemmung, durch geplatzte Wasserrohre hervorgerufen, oder eine Invasion der Wurzeln aller Alleebäume, die das Straßenpflaster durchbrochen hätten. Marcovaldos Blick schweifte umher auf der Suche nach einer anderen Stadt, einer Stadt aus Rinden und Flechten und Erd148
klumpen und Gestränge unter der Stadt aus Lack und Teer und Glas und Putz. Und es zeigte sich, daß der Gebäudekomplex, an dem er alle Tage vorüberging, in Wahrheit nichts anderes war als ein Haufen aus grauem, porösem Sandstein ; das Gerüst einer Baustelle bestand aus noch frischen Fichtenstämmen mit Astlöchern, die wie Edelsteine blitzten ; auf dem Firmenschild eines großen Stoffgeschäftes saß eine ganze Reihe schlafender Motten. Man hätte sagen können, daß die Stadt, kaum hatten die Menschen sie verlassen, in die Gewalt von Bewohnern geraten sei, die – bis gestern noch verborgen – jetzt die Überhand gewonnen hatten : Marcovaldos Spazierweg folgte eine Weile einem Ameisenpfad, dann ließ er sich durch den Flug eines verirrten Käfers vom Weg abbringen, jetzt wieder verweilte er in der Beobachtung der sich krümmenden Fortbewegung eines Regenwurms. Nicht nur die Tiere behaupteten das Feld : Marcovaldo entdeckte, daß sich an der Nordseite der Zeitungskioske eine dünne Schimmelschicht gebildet hatte, daß die Bäumchen in den Kübeln vor den Restaurants sich mühten, ihre Blätter über den Schattenrand des Bürgersteigs hinauszustrecken. Aber war die Stadt denn überhaupt noch vorhanden ? Diese Anhäufung von synthetischem Material, das Marcovaldos Tage einschloß, erwies sich nun, beim Ansehen und Betasten, als ein Mosaik aus den unterschiedlichsten Steinen, ein jeder ganz verschieden von den anderen in seiner Härte und Wärme und Konsistenz. 149
Solcherart den Zweck des Bürgersteigs und der weißen Streifen mißachtend, schlenderte Marcovaldo im Schmetterlingszickzack durch die Straßen, als ihn plötzlich der Kühler eines im Hundertkilometertempo dahinsausenden »Spiders« um Millimeterbreite an der Hüfte streifte. Halb vor Schreck, halb infolge des Luftdrucks machte Marcovaldo einen Satz und fiel dann wie tot hin. Das Auto bremste mit fürchterlichem Quietschen, wobei es sich fast um die eigene Achse drehte. Eine Gruppe hemdsärmeliger junger Männer sprang heraus. Jetzt werden sie mich verprügeln, dachte Marcovaldo, weil ich mitten auf der Fahrbahn gelaufen bin. Die jungen Männer waren mit sonderbaren Gegenständen bewaffnet. »Endlich haben wir ihn ! Endlich !« riefen sie und umringten Marcovaldo. »Hier haben wir«, sagte einer von ihnen und hielt sich dabei ein komisches silbernes Stöckchen vor den Mund, »den letzten Einwohner, der am fünfzehnten August noch in der Stadt ist. Verzeihen Sie, mein Herr, würden Sie unsern Fernsehzuschauern nicht bitte etwas über Ihre Eindrücke verraten ?«, und er schob ihm das versilberte Stöckchen unter die Nase. Eine blendende Helligkeit war ausgebrochen, es wurde heiß wie in einem Backofen, und Marcovaldo war drauf und dran, in Ohnmacht zu fallen. Man hatte Scheinwerfer, Fernsehkameras und Mikrophone auf ihn gerichtet. Er stotterte irgend etwas ; nach jeder dritten Silbe, die er sagte, mischte der junge Mann sich ein 150
und drehte das Mikrophon seinem Munde zu : »Ach so, Sie wollen damit sagen …« und redete dann zehn Minuten hintereinander in einem fort. Kurz und gut, Marcovaldo wurde interviewt. »Kann ich jetzt gehen ?« »Aber sicher, gewiß doch, ich danke Ihnen sehr … Übrigens, falls Sie gerade nichts anderes vorhaben … und vielleicht Lust hätten, sich ein paar Tausendlirescheine zu verdienen … wäre es Ihnen unangenehm, noch etwas hierzubleiben und uns zu helfen ?« Auf dem Platz herrschte ein heilloses Durcheinander : Lieferwagen, Gerätewagen, fahrbare Aufnahmekameras, Akkumulatoren, Scheinwerferbatterien, Trupps von Männern in Arbeitskleidung, die schweißüberströmt und müde hin und her liefen. »Da ist sie ja ! Da ist sie ! Sie ist da !« Einem offenen Luxussportwagen entstieg ein Filmstar im Badekostüm. »Los, Jungs, jetzt können wir die Einstellung am Brunnen drehen !« Der Regisseur der Fernsehreportage »Tollheiten im August« gab seine Anweisungen, um den Sprung der berühmten Schauspielerin in den größten Brunnen der Stadt zu drehen. Dem Hilfsarbeiter Marcovaldo hatte man einen Standscheinwerfer anvertraut, der auf einen schweren Ständer montiert war und den er auf dem Platz hin und her tragen mußte. Nun surrten die Kameras auf dem großen Platz, knisterten die Bogenlampen, dröhnten die Hammerschläge auf die improvisierten Metallgerü151
ste und die geschrienen Befehle … In den Augen des geblendeten und von all dem Lärm betäubten Marcovaldo war die alltägliche Stadt wieder an die Stelle jener anderen getreten, die nur er allein einen Augenblick lang, vielleicht auch nur im Traum, gesehen hatte.
Abenteuer eines Kurzsichtigen
Amilcare Carruga war noch nicht alt und nicht mittellos, überdies ohne übertriebene materielle oder geistige Ansprüche : nichts hinderte ihn also, sein Leben zu genießen. Und dennoch begann dieses Leben, so spürte er, seit kurzer Zeit kaum merklich an Duft und Geschmack zu verlieren. Es waren lauter Belanglosigkeiten, wie zum Beispiel der Anblick der Frauen auf der Straße : früher starrte er ihnen gierig nach, jetzt hingegen blickte er nur instinktiv auf, und da ihm schien, als strichen sie flüchtig wie ein Windhauch vorüber, ohne das mindeste Gefühl in ihm zu erwecken, senkte er wieder gleichgültig die Lider. Die unbekannten Städte – es gab eine Zeit, da erfüllten sie ihn mit wilder Erregung, er reiste viel, als Kaufmann … jetzt empfand er nur noch Überdruß dabei, die Konfusion, fehlende Orientierung. Früher ging er, der allein lebte, am Abend gern ins Kino und fand sein Vergnügen daran, gleichviel, was für ein Film gespielt wurde ; für den, der oft ins Kino geht, rinnen alle Filme zu einem einzigen zusammen, zu einer Geschichte in Fortsetzungen, er kennt alle Schauspieler, auch die Sternchen und die kleinen Chargen, und schon dieses Wiedererkennen macht Spaß. Nun, auch 153
im Kino erschienen ihm all die vielen Gesichter wie getüncht, flach, anonym ; er langweilte sich. Endlich begriff er. Es lag an ihm selbst : er war kurzsichtig. Der Optiker versah ihn mit einer Brille. Von diesem Augenblick an veränderte sich sein Leben und wurde hundertmal reicher an interessanten Dingen als zuvor. Schon das Aufsetzen der Brille war jedesmal ein Ereignis. Er stand etwa an der Haltestelle einer Straßenbahn, und ihn überkam tiefe Betrübnis, daß alles ringsum, Menschen und Gegenstände, so nebensächlich war, so banal, abgenutzt, und er selbst inmitten einer weichen Welt verschwimmender Formen und fast aufgelöster Farben. Dann setzte er die Brille auf, um die Nummer einer ankommenden Bahn zu erkennen, und schon änderte sich alles ; die unbedeutendsten Dinge, selbst ein Telegraphenmast, zeichneten sich mit vielen winzigen Besonderheiten, mit ganz klaren Linien ab, und die Gesichter, all die unbekannten Gesichter, füllten sich mit kleinen Zeichen, eben hervorsprießenden Bartstoppeln, bewegten Mundwinkeln, Schatten des Ausdrucks, von denen er eben noch nichts geahnt hatte. Und jetzt sah er auch, aus welchem Stoff die Anzüge und Kleider gemacht waren ; er ging mit den Augen dem Gewebe nach, entdeckte abgeschabte Ärmel. Das Sehen wurde zu einem Vergnügen, einem Schauspiel – nicht die Betrachtung dieses oder jenes Dinges, sondern das Sehen. So kam es, daß Amilcare Carruga vergaß, auf die Nummern der Straßenbahn zu achten, und eine Bahn 154
nach der anderen verpaßte oder in eine falsche Linie stieg. Er sah eine derartige Vielfalt von Dingen, daß es schien, als sähe er gar nichts mehr. Er mußte sich erst allmählich daran gewöhnen, mußte von vorn anfangen und lernen, was anzuschauen wichtig und was überflüssig war. Wenn er nun den Frauen auf der Straße begegnete, die sich doch schon zu ungreifbaren Schatten verflüchtigt hatten, so war allein die genaue Betrachtung jenes Spieles von hervor- und zurücktretenden Kurven, das ihre Körper in den Kleidern vollführten, die Abschätzung ihrer Hautfrische, die im Blick enthaltene Glut nicht nur ein Sehen, sondern geradezu ein Besitzergreifen. Er ging zum Beispiel ohne Brille dahin (denn er trug sie nicht ständig, sondern nur, wenn er in die Ferne blicken wollte), und da hob sich vor ihm auf dem Bürgersteig ein Kleid in lebhafter Farbe ab. Mit einer schon automatischen Handbewegung zog Amilcare die Brille aus dem Futteral in seiner Innentasche und setzte sie auf die Nase. Oft mußte er seine straflose Genüßlichkeit dennoch bezahlen : es war eine Alte. Amilcare Carruga wurde vorsichtiger. Und wenn ihm jetzt eine entgegenkommende Frau nach Farbe und Bewegung zu bescheiden, zu unbedeutend erschien, als daß es sich lohnte, sie in Augenschein zu nehmen, kam es vor, daß er die Brille gar nicht erst aufsetzte ; trafen sie sich dann und streiften sich fast in der Begegnung, bemerkte er jedoch, daß an ihr irgend etwas war, das ihn stark anzog, und er glaubte in diesem Augenblick ei155
nen Blick ihrer Augen aufzufangen, in dem Erwartung stand, und vielleicht hatte sie ihn schon beim ersten Anblick so angesehen und er hatte es nicht bemerkt ; jetzt war es zu spät, und sie war um die nächste Ecke gebogen oder in den Autobus gestiegen, jedenfalls außer Sichtweite, und er würde sie nicht wiedererkennen. So, von der Brille gelenkt, lernte er langsam das Leben. Doch die neueste Welt, die ihm seine Brillengläser aufschlossen, war die der Nacht. Die nächtliche Stadt, vor kurzem noch in formlose Wolken der Dunkelheit und farbige Lichtflecken gekleidet, enthüllte jetzt eine klare Struktur, Vorsprünge, Durchblicke ; die Lampen zeigten deutliche Umrisse, die Neonlicht-Leuchtschriften traten Buchstabe für Buchstabe hervor. Das Schöne an der Nacht lag aber vor allem in jenem Rest von Unbestimmtem, das im Gegensatz zum Tag doch immer übrigblieb ; es geschah, daß Amilcare den Wunsch verspürte, die Brille aufzusetzen, um dann festzustellen, daß er sie bereits trug ; das Gefühl der Fülle ließ stets noch eine Spitze der Sehnsucht in ihm, und die Dunkelheit war ein bodenloses Land, in dem er nie müde wurde zu schürfen. Er schaute von den Straßen empor, über die Häuser mit den Reihen gelber Fenster hinaus, in den gestirnten Himmel, und entdeckte, daß die Sterne nicht auf dem Grund des Himmels klebten wie ausgelaufenes Eigelb und Eiweiß, sondern haarscharfe Lichtstiche waren, die unendliche Entfernungen durchdrangen und rings um sich öffneten. Diese neue Aufmerksamkeit, die er den Wirklichkei156
ten der äußeren Welt widmete, verband sich mit einer Sorge für sich selbst, die ebenfalls der Brille zu verdanken war. Amilcare Carruga hatte bisher nicht sehr auf sich geachtet, und doch war er, wie es gerade bei manchen bescheidenen Menschen vorkommt, übertrieben empfindlich, was seine Lebensweise betraf. Nun scheint zwar der Übergang von der Kategorie der brillenlosen Menschen zu der eines Brillenträgers unerheblich, und doch ist es bei genauerem Zusehen ein gewaltiger Sprung. Man denke nur einmal daran, daß jemand, der einen zu beschreiben versucht, vor allem anderen sagen wird : ›einer mit Brille‹ – dergestalt, daß diese Beigabe, die zwei Wochen früher noch gar nicht vorhanden und einem völlig fremd war, nunmehr zum ersten Attribut wird und mit dem Wesen des Menschen selbst verschmilzt. Amilcare jedenfalls ärgerte es ein wenig – dummerweise, wenn man so will –, daß er von einem Tag auf den anderen ›einer mit Brille‹ geworden war. Und ist das denn wirklich gar nichts ? Genügt es nicht, um einem den Zweifel einzuflößen, daß alles, was einen angeht, im Grunde zufällig ist und sich plötzlich zu wandeln vermag und daß man völlig anders sein könnte, ohne daß dies etwas ausmachen würde. Von diesem Gedanken aus ist es nicht weit bis zu der Schlußfolgerung, daß es dasselbe ist, ob man überhaupt existiert oder nicht, und von da führt nur noch ein winziger Schritt zur Verzweiflung. Als daher Amilcare ein Gestell für seine Gläser aussuchen mußte, entschied er sich instinktiv für ein ganz 157
schmales, kaum mehr sichtbares, das nur aus zwei dünnen versilberten Bügeln bestand, die den nackten Gläsern auf dem Nasenrücken Halt gaben. So blieb es eine Weile, dann stellte Amilcare fest, daß er sich damit nicht wohl fühlte : wenn er sich unversehens in einem Spiegel erblickte, empfand er lebhafte Abneigung gegen sein Gesicht, als wäre es das Gesicht einer ihm völlig fremden Menschengattung. Gerade diese so diskreten, leichten, fast weiblichen Gläser machten ihn zu »einem mit Brille‹, zu einem Geschöpf, das sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als eine Brille zu tragen, und es nun schon selbst gar nicht mehr spürte. Diese Brille schlich sich als Teil in seine Physiognomie ein, wurde eins mit seinen Zügen, und so verlor sich jeder natürliche Kontrast zwischen dem, was sein Gesicht war – ein beliebiges Gesicht, aber immerhin ein Gesicht – und dem, was ein fremder Gegenstand war, ein Produkt der Industrie. Er mochte diese Brille nicht, und daher dauerte es nicht lange, bis sie hinfiel und zerbrach. Er kaufte eine andere. Und diesmal traf er eine entgegengesetzte Wahl : er nahm eine mit einem Gestell aus schwarzem Kunststoff, einem zwei Finger breiten Rahmen, dessen Ränder an den Scharnieren wie die Scheuklappen eines Pferdes vom Schläfenknochen abstanden, eine Brille mit schwer lastenden Bügeln, die einem die Ohrmuschel herabdrücken. Es war geradezu eine Art Halbmaske, und trotzdem fühlte er sich darunter als er selbst : es gab keinen Zweifel daran, daß die Brille ein 158
Ding war und er etwas anderes, das nicht das geringste damit zu tun hatte ; es war klar, daß er nur zufällig und gelegentlich die Brille trug und ohne sie ein ganz anderer Mensch war. Und so kehrte er – für so lange, wie seine Natur es ihm erlaubte – zur freudigen Zufriedenheit zurück. In dieser Zeit mußte er einmal geschäftlich nach V. reisen. V. war Amilcare Carrugas Geburtsort und er hatte dort seine Kindheit und Jugend verbracht. Seit zehn Jahren jedoch war er nur noch gelegentlich und immer seltener in V. gewesen, und jetzt war es auch wieder mehrere Jahre her seit seinem letzten Besuch. Man weiß ja, wie das ist, wenn man sich aus einem Milieu löst, in dem man lange gelebt hat : kehrt man nur noch manchmal zurück, in großen Zeitabschnitten, so sieht man, daß die Straßen, die Freunde, die Gespräche im Café entweder alles sind oder nichts mehr ; entweder man sucht sie Tag für Tag auf oder findet überhaupt keinen Zugang mehr, und der Gedanke, sich dort nach so langer Zeit blicken zu lassen, gibt einem eine Art Stich und man verjagt ihn schnell wieder. So war Amilcare nach und nach davon abgekommen, eine Gelegenheit zur Heimreise zu suchen ; dann hatte er sie, wenn sie sich bot, des öfteren versäumt, und am Ende war er ihr geradezu ausgewichen. Doch in letzter Zeit war zu der gewöhnlichen schrittweisen Entfremdung auch jene allgemeine Unlust hinzugekommen, die er mit dem Fortschreiten seiner Kurzsichtigkeit identifizierte. Jedenfalls ergriff er nun, da er sich mit der 159
Brille in einem neuen Gemüts- und Geisteszustand befand, die nächste Gelegenheit beim Schopf und reiste nach V. Die Stadt erschien ihm in einem ganz anderen Licht als beim letzten Besuch. Und dies nicht auf Grund von Veränderungen ; gewiß, sie hatte sich in manchem gewandelt, überall standen Neubauten, er sah andere Cafés, Läden und Kinos als früher, eine neue Jugend war herangewachsen, und der Verkehr hatte sich verdoppelt. Gleichwohl betonte dieses Neue das Alte nur und ließ es deutlicher hervortreten ; es gelang Amilcare zum erstenmal wieder, die Stadt mit den Augen seiner Kindheit anzusehen, als habe er sie gestern erst verlassen. Mit der Brille sah er eine Unzahl nebensächlicher Einzelheiten, zum Beispiel ein bestimmtes Fenster, ein Treppengeländer, oder aber er sah es jetzt mit Bewußtheit, er konnte es aus all dem übrigen herausheben, während er es damals einfach angesehen hatte und damit genug. Gar nicht zu reden von den Gesichtern : ein Zeitungsverkäufer, ein Rechtsanwalt, dieser und jener, manche waren offensichtlich gealtert. Das waren die echten Familienangehörigen von V. Amilcare hatte selbst keine Verwandten mehr, und der engste Freundeskreis war längst in alle Winde zerstreut. Immerhin gab es noch zahllose Bekannte, das war ja in einer so kleinen Stadt gar nicht anders denkbar – klein war sie zumindest damals gewesen, als er hier lebte –, jeder kannte jeden, wenigstens vom Ansehen. Inzwischen war die Bevölke160
rungszahl stark gestiegen, es hatte, wie in allen günstig gelegenen Städten Norditaliens, ein Zustrom von Süden eingesetzt, weshalb die meisten Gesichter, denen Amilcare begegnete, ihm nichts sagten. Um so deutlicher unterschied er auf den ersten Blick die alten Einwohner ; Anekdoten kamen ihm ins Gedächtnis, Beziehungen, Spitznamen. V gehört zu den Provinzstädten, in denen die Gewohnheit herrscht, abends auf der Hauptstraße zu promenieren, und hieran hatte sich seit Amilcares Zeiten nichts geändert. Wie es in solchen Fällen meist zu sein pflegt, war einer der beiden Bürgersteige mit einer besonders dichten Menschenmenge angefüllt, während auf dem anderen nicht so viele dahingingen. Amilcare und seine Freunde waren aus einer Art Nonkonformismus immer auf der weniger belebten Seite gegangen, und von dort aus hatten sie den Mädchen auf dem anderen Bürgersteig Blicke und Grüße und Scherzworte zugeworfen. Er fühlte sich jetzt in einem ähnlichen Zustand, nur noch etwas aufgeregter, und schritt auf seinem Bürgersteig weiter, die Vorübergehenden musternd. Wenn er Bekannten begegnete, empfand er keine Verlegenheit, sondern Vergnügen, und er beeilte sich zu grüßen. Mit dem oder jenem wäre er auch gern stehengeblieben und hätte zwei Worte gewechselt, doch war der Verkehr so angewachsen, daß man nicht mehr halb auf dem Fahrdamm gehen und ihn, wo man wollte, überqueren konnte wie früher ; man mußte auf den schmalen Bürgersteigen bleiben, wo sich die Menschen 161
hastig aneinander vorbeidrängten. Man kam daher nur sehr schnell oder ganz langsam voran, je nachdem, ohne rechte Bewegungsfreiheit. Amilcare mußte sich dem Strom anschließen oder mühsam gegen ihn ankämpfen, und wenn er ein bekanntes Gesicht erblickte, fand er gerade noch Zeit, ihm einen Gruß zuzuwinken, ehe es verschwand, und er wußte nicht einmal, ob der andere ihn gesehen hatte oder nicht. Da stieß er auf Corrado Strazza, seinen alten Klassenkameraden und Billardgenossen vieler Jahre. Amilcare lächelte ihn an und vollführte eine weite Armbewegung ; Corrado aber kam näher und sah ihn dabei an, ohne ihn richtig wahrzunehmen, sein Blick glitt über ihn hin, und Corrado eilte weiter. Hatte er Amilcare tatsächlich nicht erkannt ? Es war Zeit vergangen, doch Carruga wußte genau, daß er sich nicht wesentlich verändert hatte ; es war ihm bis heute gelungen, einen Schmerbauch zu vermeiden und seine Haare zu behalten, in seinem Gesicht waren auch keine besonderen Veränderungen vorgegangen. Und da kam Professor Cavanna. Amilcare grüßte ihn auf andere Weise, mit einem kleinen Neigen des Kopfes. Der Lehrer machte zuerst Miene, instinktiv den Gruß zu erwidern, dann blieb er stehen und sah sich um, als suche er jemanden. Und das war Professor Cavanna mit dem berühmten Gedächtnis, das die Gesichter und Namen zahlreicher Generationen behielt, sogar die Rufnamen und die Zensuren ! Endlich erwiderte jemand Amilcares Gruß, Ciccio Corba, der Trainer der Fußballmann162
schaft. Doch gleich darauf schlug er die Augen nieder und fing an zu pfeifen, als habe er irrtümlich den Gruß eines Unbekannten auf sich bezogen. Es wurde Amilcare klar, daß niemand ihn erkennen würde. Die Brille, die ihm die übrige Welt sichtbar machte, die Brille mit dem riesigen schwarzen Rahmen, machte ihn unsichtbar. Wer sollte sich auch vorstellen können, daß hinter dieser Maske ausgerechnet Amilcare Carruga steckte, der seit so langer Zeit fern von V. lebte, den niemand von einem Augenblick zum anderen hier erwartete ? Er war eben zu dieser Schlußfolgerung gelangt, als Isa Maria Bietti auftauchte. Sie ging mit einer Freundin zusammen an den Schaufenstern entlang, Amilcare trat ihr in den Weg, stand unmittelbar vor ihr, und schon wollte er sagen : Isa Maria ! Doch die Stimme in seiner Kehle versagte, Isa Maria Bietti stieß ihn mit dem Ellbogen beiseite und sagte zu ihrer Freundin : »Merkwürdig, wie die Leute sich jetzt benehmen.. .« und schritt davon. Nicht einmal sie hatte ihn erkannt. Plötzlich begriff er, daß er nur wegen Isa Maria Bietti zurückgekehrt, nur ihretwegen so lange von V. ferngeblieben war, daß alles, alles in seinem Leben und in der Welt nur wegen Isa Maria Bietti geschah, und jetzt endlich sah er sie wieder, ihre Blicke kreuzten sich, und sie erkannte ihn nicht. Seine innere Bewegung war so groß, daß er gar nicht bemerkte, wie weit sie sich ihrerseits verändert hatte, ob sie dicker oder älter geworden war, ob der gleiche verlockende Zauber von ihr ausging wie früher 163
oder ein geringerer oder stärkerer ; nichts war ihm aufgefallen, als daß hier Isa Maria Bietti kam und Isa Maria Bietti ihn nicht gesehen hatte. Er war an das Ende der Häuserzeile gelangt. Dort, an der Ecke der Eiskonditorei, oder noch eine Laterne weiter, konnte man umkehren und in entgegengesetzter Richtung gehen. Auch Amilcare tat dies, wie viele andere vor ihm. Und die Brille hatte er abgenommen. Jetzt war die Welt wieder zu einer undurchsichtigen Wolke geworden, und er mochte seine Blicke noch so angestrengt hineinbohren, er zog mit seinen Augen nichts an Land. Nicht, daß er niemanden erkannt hätte ; an den bestbeleuchteten Stellen war er immer um Haaresbreite so weit, ein Gesicht zu entziffern ; doch ein Zweifel blieb, ob er sich nicht vielleicht doch geint habe, und außerdem, was machte es schon aus, wer das nun wieder war oder nicht war. Jemand winkte, grüßte, es konnte ja sein, daß dieser Gruß ihm galt, doch Amilcare erkannte nicht recht, um wen es sich handelte. Noch zwei weitere Passanten grüßten, er wollte schon erwidern, hatte aber keine Ahnung, wer das war. Vom anderen Bürgersteig rief eine Stimme : »Ciao, Carni !« Dem Tonfall nach mochte es ein gewisser Stelvi sein. Mit Befriedigung stellte Amilcare fest, daß man ihn erkannte, sich an ihn erinnerte. Doch war dies nur eine relative Befriedigung, denn er selbst sah niemanden richtig, die Leute verschwammen in seinem Gedächtnis, ein Mensch oder der andere, er konnte sie nicht mehr gut auseinanderhalten, und im Grunde waren sie ihm ziemlich gleichgültig. 164
»Guten Abend«, sagte er dann und wann, wenn er ein Nicken zu erspähen glaubte, eine Kopfbewegung zu ihm hin. Der dort, der ihn eben gegrüßt hatte, mußte entweder Bellintusi sein, oder Carretti oder auch Strazza. Wenn es Strazza war, hätte er wirklich ganz gern ein paar Worte mit ihm gesprochen. Doch nun hatte er seinen Gruß so eilig erwidert, und wenn er es genau bedachte, bestanden ihre Beziehungen auch aus weiter nichts als solchen konventionellen und flüchtigen Begegnungen. Daß er seine Augen so heftig umherwandern ließ, hatte natürlich einen besonderen Grund : Isa Maria Bietti. Sie trug einen roten Mantel, folglich mußte man sie schon von weitem entdecken. Ein Weilchen folgte Amilcare einem roten Mantel, doch als es ihm endlich gelang, auf gleiche Höhe zu kommen, sah er, daß es nicht Isa Maria war, und inzwischen waren zwei andere rote Mäntel auf der gegenüberliegenden Seite der Straße vorübergegangen. In dieser Saison trugen viele Frauen Rot. Vorhin zum Beispiel hatte er in einem solchen Mantel Gigina gesehen, die vom Tabakladen. Jetzt grüßte ihn sogar eine Frau im roten Mantel zuerst, und Amilcare antwortete äußerst kühl, weil es sich bestimmt um diese Tabak-Gigina handelte. Dann überfiel ihn der Zweifel, es könnte vielleicht doch nicht Gigina, sondern Isa Maria gewesen sein. Aber wie war es denn möglich, Gigina und Isa zu verwechseln ! Amilcare machte auf den Hacken kehrt, um sich zu vergewissern. Er begegnete Gigina, das war sie bestimmt, kein Zweifel ; doch wenn 165
sie jetzt von dieser Seite her kam, konnte sie es eben nicht gewesen sein. Er begriff überhaupt nichts mehr. Wenn Isa Maria ihn gegrüßt und er ihr derartig kühl geantwortet hatte, war seine ganze Reise, die ganze Erwartung, waren alle vergangenen Jahre sinnlos vertan. Hin und her ging Amilcare auf dem Bürgersteig, in dieser Richtung und in der entgegengesetzten, manchmal mit der Brille auf der Nase und manchmal ohne, zeitweilig teilte er Grüße aus, zeitweilig empfing er welche von nebelhaften, unkenntlichen Phantomen. Am anderen Ende der Promenade führte die Straße weiter und aus der Stadt hinaus. Da gab es eine Baumreihe, einen Graben, eine Hecke, und dann kamen die Felder. Damals war man mit einem Mädchen am Arm hierhergegangen, und auch wenn man allein war – dann fühlte man sich noch einsamer, auf einer Bank, umgeben vom Grillengezirp. Amilcare Carruga ging weiter ; die Stadt hatte sich auch in dieser Richtung ein wenig ausgedehnt, etwas, nicht viel. Da war die Bank, der Graben, das Grillengezirp, wie früher. Amilcare Carruga setzte sich. Von der ganzen Landschaft ließ die Nacht nur ein paar Schattenbündel stehen. Hier war es völlig gleich, ob er die Brille aufsetzte oder nicht. Und Amilcare begriff, daß die freudige Erregung, die ihm seine Brille geschenkt hatte, vermutlich die letzte in seinem Leben war, und nun ging es zu Ende.
Der einzelne Pantoffel
Auf einer Reise in ein orientalisches Land hat Herr Palomar sich ein Paar Pantoffeln gekauft, in einem Basar. Nach Hause zurückgekehrt, probiert er sie an und stellt fest : Der eine ist größer als der andere und fällt ihm vom Fuß. Er erinnert sich an den alten Händler in einem Winkel jenes Basars, wie er auf den Fersen hockte vor einem Haufen Pantoffeln in allen Größen, kunterbunt durcheinander ; er sieht ihn vor sich, wie er in dem Haufen wühlte, um einen Pantoffel in der passenden Größe zu finden, wie er ihn drängte, den empfohlenen anzuprobieren, wie er dann weiterwühlte und ihm den zweiten reichte, den er ohne Anprobe nahm. Vielleicht geht jetzt gerade ein anderer mit zwei verschieden großen Pantoffeln durch jenes Land – denkt Herr Palomar und sieht einen hageren Schatten durch die Wüste hinken, mit einem zu weiten Pantoffel, der ihm bei jedem Schritt abgleitet, oder mit einem zu engen, der ihm den Fuß einschnürt. – Vielleicht denkt auch er jetzt gerade in diesem Moment an mich und hoff t, daß wir uns begegnen, um tauschen zu können. Das Verhältnis, das uns verbindet, ist konkreter und klarer als ein großer Teil der Beziehungen, die sich zwi167
schen Menschen bilden. Und doch werden wir uns nie begegnen. – Herr Palomar beschließt, die beiden verschieden großen Pantoffeln weiter zu tragen, aus Solidarität mit seinem unbekannten Unglücksgenossen, um diese so seltene Komplementarität lebendig zu halten, diese symmetrische Spiegelung hinkender Schritte über Kontinente hinweg. Er verharrt eine Weile bei der Vorstellung dieses Bildes, obwohl er weiß, daß es nicht der Wahrheit entspricht. Eine Lawine serienmäßig genähter Pantoffeln ergießt sich periodisch über den Haufen des alten Händlers, um ihn wieder aufzufüllen. Zwar werden tief unten auf dem Grunde des Haufens stets zwei einzelne, ungepaarte Pantoffeln bleiben, aber solange der Alte seinen Vorrat nicht ausschöpft (und vielleicht wird er ihn nie ausschöpfen, und wenn er gestorben ist, geht die Ware an seine Erben über und an die Erben der Erben), braucht er nur in dem Haufen zu wühlen, und stets wird er einen Pantoffel finden, der zu einem anderen Pantoffel paßt. Nur bei einem zerstreuten Kunden wie Herrn Palomar konnte ein Irrtum passieren, aber es können Jahrhunderte vergehen, bis sich die Folgen dieses Irrtums auf einem anderen Kunden jenes alten Basars niederschlagen. Jeder Zersetzungsprozeß im Ordnungsgefüge der Welt ist irreversibel, aber die Auswirkungen des Prozesses werden verdeckt und hinausgezögert durch die Staubwolke der großen Zahlen, die praktisch unbegrenzte Möglichkeiten zu neuen Symmetrien, Kombinationen und Paarungen in sich birgt. 168
Doch wenn nun mein Irrtum – denkt Herr Palomar – nur einen früheren Irrtum ausgelöscht hätte ? Wenn meine Zerstreutheit nicht Unordnung, sondern Ordnung gestiftet hatte ? Vielleicht wußte der Händler sehr wohl, was er tat, als er mir den einzelnen Pantoffel gab, vielleicht hat er damit eine uralte Disparität behoben, die sich seit Jahrhunderten in seinem Haufen verbarg, weitergegeben von Generation zu Generation in jenem Basar ? Der unbekannte Genosse hinkte vielleicht in einer anderen Epoche, die Symmetrie ihrer Schritte spiegelt sich nicht nur über Kontinente hinweg, sondern auch über Jahrhunderte. Was indessen kein Grund für Herrn Palomar ist, sich weniger solidarisch mit ihm zu fühlen. So schlurft er weiter mühsam umher, um seinem Schatten Erleichterung zu verschaffen.
QUELLEN Aus ABENTEUER EINES LESERS (München, Carl Hanser Verlag, 1986 ; italienisch zuerst in »Racconti«, 1958) : Abenteuer eines Rekruten, Abenteuer eines Kurzsichtigen und Der verzauberte Garten, sämtlich übersetzt von Nino Erné. Abenteuer eines Lesers wurde von Caesar Rymarowicz übersetzt. Aus MARCO VALDO ODER DIE JAHRESZEITEN IN DER STADT (München, Carl Hanser Verlag, 1988 ; italienisch zuerst 1963) : Die falsche Haltestelle, Der Regen und die Blätter und Die Stadt für ihn allein, sämtlich übersetzt von Heinz Riedt. Aus COSMICOMICS (München, Carl Hanser Verlag, 1989 ; italienisch zuerst 1965) : Die Dinosaurier und Meiose, übersetzt von Burkhart Kroeber. Aus HERR PALOMAR (München, Carl Hanser Verlag, 1985 ; italienisch zuerst 1983) : Der nackte Busen, Die Paarung der Schildkröten, Die Betrachtung der Sterne, Schlangen und Schädel und Der einzelne Pantoffel, übersetzt von Burkhart Kroeber. Wir danken dem Carl Hanser Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung.
ITALO CALVINO wurde 1923 in Santiago de las Vegas (Kuba) geboren und wuchs in San Remo auf. Er arbeitete längere Zeit für den Verlag Einaudi in Turin, lebte in Rom und Paris. Sein umfangreiches erzählerisches Werk wurde in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen geehrt. Calvino starb 1985 in Siena und ist in Castiglione della Pescaia begraben.