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Buch Der Schlafende König von Aglirta ist erwacht und hat seinen Thron bestiegen. Aber er muss gleich darauf erneut freiwillig in den Schlaf sinken, um den mächtigen Erzzauberer, der als Schlange bekannt ist, zu dem gleichen Schicksal zu verdammen. Damit kehrt jedoch keine Ruhe in Aglirta ein: Die Anhänger der Schlange streben weiterhin nach der Macht im Land, und ein charismatischer Kriegsherr schart eine stetig wachsende Armee um sich und droht, den Thron an sich zu reißen. Wieder ist es die Bande der Vier (die junge Zauberin Embra, der kleine Dieb Craer, der hünenhafte Krieger Hawkril und der Heiler Sarasper), die sich dem drohenden Verhängnis entgegenstemmt und die Zukunft von Aglirta zu retten versucht. Autor Ed Greenwood, geboren 1959 in Toronto, hat mit den »Forgotten Realms« eine der beliebtesten Welten für die FantasyLeser und Rollenspieler erschaffen. Er hat sie in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben und dazu eine Reihe von Romanen verfasst, unter anderem den populären Zyklus »Die Legende von Elminster«. Ed Greenwood ist Bibliothekar und lebt in einem alten Farmhaus bei Ontario.
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Ed Greenwood
Die verzauberte Schlange Der Ring der Vier 3 Ins Deutsche übertragen von Marcel Bieger
BLANVALET
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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »A Dragon’s Ascension. A Tale of the Band of Four (vol. 3)« bei Tor Books, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2004 Copyright © der Originalausgabe 2002 by Ed Greenwood Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schluck GmbH, 30827 Garbsen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Maitz Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media, Pößneck Verlagsnummer: 24290 Redaktion: Cornelia Köhler Glossar: Marcel Bieger und Cornelia Köhler UH · Herstellung: Peter Papenbrok Made in Germany ISBN 3-442-24290-8 www.blanvalet-verlag.de
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Für Shalyena
Lass deine Straße hell leuchten Dein Herz glücklich sein Deine Freunde zahlreich Und die Schatzruhe deiner Erinnerungen voller Glanz
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Der Feind der Schlange Ist der Drache Keine echte kriechende Viper Sondern ein Magier in schwarzen Roben Sein Herz schwärzer als das Gewand der Nacht Seine Hände triefend von Blut Seine Zauber so tief Kriechen und schleichen Über Tod und dahinschwindende Jahre Könige fallen, Türme stürzen ein Immer wachsam Im Schatten lauernd Schlüpft sie in dunkle Träume Die Schlange, welche sich wieder erheben wird Er flüstert Fürsten ins Ohr Stiehlt sich des Nachts in ihren Geist Und tückische Männer singen seinen Namen Gierige Narren füllen seine Tempel Kronen fallen vor seinen Fängen Man murrt und verbirgt sich vor ihm Der wahren, kriechenden Viper Aber nicht vergeblich steht man gegen ihn auf Das Schwert geschärft, ihn zu verderben Irrt nicht zu Gipfeln tief von Schnee bedeckt Oder vergessenen Ruinen, hallende Grotten Jagd nicht den Lindwurm, der nach Golde strebt
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Denn der Feind der Schlange ist Der Drache Haelithe von Ranschree, Barde DER WEG DER TAPFERKEIT niedergeschrieben in den Tagen des Königs Gaur (also vor viel zu langer Zeit)
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Aus den Chroniken von Aglirta
Eine Geschichte C In der Zeit der Vielen Zauberer, als ganz Darsar nach den Dwaerindim suchte und sich jedes Jahr Königreiche erhoben und wieder vergingen, erschien in Aglirta die Bande der Vier, deren Schicksal es war, dem Land ohne König wieder einen Herrscher zu geben. Aber vielen erschien dies nicht die Erlösung und den Frieden zu bringen, von welchen die Weissagungen gesprochen hatten. Diese Viererbande erhob sich in verzweifelten Zeiten, in den Tagen, nachdem Fürst Schwarzgult versucht hatte, in seinem langen Zwist mit dem rivalisierenden Haus von Silberbaum an Boden zu gewinnen und gegen die reichen Inseln von Ieirembor in den Krieg zu ziehen. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, sich die riesigen Mengen an Bauholz und Erzen anzueignen, aber er wurde besiegt und musste sich unter großen Verlusten an Soldaten und Rittern zurückziehen, wobei Schwarzgult selbst im Getümmel verschollen ging. Dann bemächtigte sich der grausame Fürst Silberbaum dank der Mithilfe seiner die Dunklen Drei genannten Magier, der Ländereien Schwarzgults und bekriegte anschließend mit
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Erfolg die Fürstentümer, welche seinen eigenen Besitz umgaben. So großartig war der Aufstieg seiner Macht, dass es ganz danach aussah, als ob er bald der König von Aglirta sein würde, dessen wahrer Herrscher länger, als es sich irgendein lebender Mensch ins Gedächtnis rufen konnte, in einem Zauberschlaf gefangen lag. Dann kehrten zwei verzweifelte aglirtanische Krieger – der große Ritter Hawkril Anharu, der zuverlässigste unter Schwarzgults Männern, obgleich er jeden Rang ablehnte, und sein bester Freund, der scharfzüngige und geschickte Beschaffer Craer Delnbein – als Gesetzlose nach Aglirta zurück und versuchten unerhört kühn, die mit Juwelen besetzten Gewänder der Herrin der Edelsteine – Fürst Silberbaums Tochter – aus deren Schlafgemach zu stehlen. Die Dunklen Drei hatten die Fürstentochter in mancherlei Zauberkünsten ausgebildet, sie jedoch gleichzeitig versklavt. Die Burg Silberbaum war ihr Gefängnis, und die Pläne der Zauberer sahen vor, die Edle eines Tages in die Mauern der Burg zu bannen, auf dass sie ihnen als lebende Festung diene. Und aus diesem Grund verbündete sich Embra Silberbaum, welche die beiden Diebe mit Leichtigkeit hätte töten können, mit denselben und schloss einen Pakt mit ihnen, gemeinsam zu fliehen. Verfolgt von den Mächten des Fürsten flohen die drei zum Schweigenden Haus, dem verfluchten und seit langem leer stehenden Besitz des Hauses Silberbaum. Dort trafen sie auf einen alten Heiler, Sarasper Kodelmer, welcher unter anderem die Gestalt eines Langzahns – von manchen auch Wolfsspinne genannt – annehmen konnte.
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Craers Freund seit langer Zeit, hatte er sich vor allen Menschen verborgen, da er nicht in die Sklaverei geraten wollte. Die Fürsten trachteten nämlich danach, alle Heiler in Ketten zu legen, da sie ihnen nützlich sein mochten. So entstand die Viererbande, eine Gruppe, so fröhlich wie nur irgendeine Gaunerbande, welche von den Barden besungen wurde. Im Laufe ihrer Bemühungen wurden Fürst Silberbaum und seine Dunklen Drei niedergerungen und der Schlafende König aufgeweckt, auf dass er wieder von Treibschaum aus herrsche. König Kelgrael Schneestern belohnte sie, indem er einem jeden von ihnen den Titel eines Hochfürsten von Aglirta verlieh, so wie er den zurückgekehrten Fürsten Schwarzgult zum Regenten von Aglirta ernannte, bevor er in seinen Zauberschlaf zurückkehrte. Denn nur wenn Kelgrael schlief, konnte sein Feind seit altersher, der bösartige und höchst mächtige Erzmagier, welchen die Menschen nur als die Schlange kannten, ebenso im Schlaf gefangen und fern von der Welt gehalten werden, welche er so dringend zu beherrschen strebte. Aber während all dem Hader unter den ehrgeizigen Fürsten und Zauberern sowie allen möglichen Leuten, welche nach den vier mächtigen Dwaerindim-Steinen suchten, wurden die Bürger von Aglirta der schlechten Regierung von Herzen überdrüssig. Sie wandten sich der Anbetung der Schlange zu, deren geschuppte Priester – welche in Wirklichkeit keineswegs echte Priester, sondern Zauberer waren und, sobald ihre Macht zunahm, mehr und mehr die Gestalt von Schlangen annahmen – die Gläubigen in Verschwörungen verwickelten, welche die Erlangung der Krone von Aglirta zum Ziel hatten.
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Sie wandten sich ebenso Fürsten zu, welche auch nach der Krone gierten und von denen ein jeder hoffte, der große König zu werden, welcher Aglirta so lange gefehlt hatte und welcher Frieden und Gerechtigkeit ins Land ohne König zurückbringen würde. Das Volk sehnte sich nach Frieden und einem Wiedererblühen des Landes. Und während der ganzen Zeit beäugten fremde Zauberer das Tal von Aglirta und mischten sich in das Getümmel ein, und gleichzeitig lagen die geheimnisvollen Gesichtslosen auf der Lauer. Die Viererbande eilte hierhin und dorthin und versuchte, alle möglichen Fehler zu berichtigen. Aber trotzdem hielten die Schlächtereien und das Suchen nach den Dwaerindim unvermindert an, und keiner unter all denen, welche unbarmherzig hin und her galoppierten, sahen das Große Verhängnis voraus, welches auf sie zuraste. Oder besser gesagt das Jüngste Gericht, welches sie mit ihren eigenen Taten rasch und unbarmherzig über ihr geliebtes Aglirta brachten – und dazu über ganz Darsar.
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Eines Drachen Aufstieg
Prolog C Lampenlicht spiegelte sich auf den glänzend polierten Rändern eines Dutzends Delkamper-Schildern. Ein junger Mann in einem prächtigen seidenen Hemd starrte an üppigen blauen Wandteppichen vorbei in das Blinken und murmelte: »Wenn alle Welt mein Liebchen verriete ... der Wind ihre Lebensflamme mit sich trüge ... mit sich trüge ...« Er seufzte tief, ließ sein Pergament sinken und spießte mit seiner Feder eine unschuldige Wackelfrucht auf. »Oh, wäre ich doch nur der Barde, für den sie mich halten!«, murmelte er düster und blickte mit finster gerunzelter Stirn aus dem offenen Fenster zu den Sternen hinauf. Flaeros Delkamper ließ seine Stiefel krachend auf die glänzende Oberfläche seines besten Schlafzimmertisches fallen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Der Kampf gegen Drachen war ein Kinderspiel im Vergleich zu dem Schmieden von Balladen. Vom Strand her wehte eine Brise und brachte den vertrauten Geruch von Seetang mit sich. Ruhelos schwang Flaeros die Füße wieder auf den Boden, sprang auf und bewegte sich in der lässigen Parodie eines hö-
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fischen Tanzes geschmeidig quer durch den Raum. Dann ließ er seine Handflächen auf das Fensterbrett sinken und starrte über die Bucht von Ragalar, deren Wasser im Licht des aufsteigenden Mondes unter dem vertrauten Sternengewölbe schimmerten. Über Jahre hinweg hatte er hier am frühen Abend gestanden und auf den schmalen, sich vor ihm erstreckenden Streifen von Darsar geblickt, über welchen der Wind blies, ganz gleichgültig, wie hochmütig oder reich die Delkampers sein mochten oder wie laut und belebt es in der grauen Stadt Ragalar zuging. Sein Ururahn hatte hier gestanden, als er in seinem Alter gewesen war, und ohne Zweifel ebenfalls zu den gleichen Sternen hinaufgestarrt. Diese Burg, Varandaur, der Sitz der Delkampers, ragte seit mindestens vier Jahrhunderten wie ein grimmiges träges Maul aus Stein über dieser Ecke der Bucht von Ragalar auf – der Turm, in welchem er jetzt stand, mit all seinen neun Stockwerken, hing geradezu über den Wassern, da er vorsprang und über die Gischt ragte wie der Bug eines großen Schiffes aus Stein, und – Ein melodisches Läuten erklang hinter ihm. Flaeros wirbelte herum. Wer mochte ihn zu dieser nächtlichen Stunde stören? Das Geläut erklang erneut wie das Husten eines sich vornehm zurückhaltenden Dieners. Der Barde der Delkampers lächelte dünn und rief: »Nur herein!« Dann hob er eine Braue. »Janthlin?« »Selbstverständlich, Fürst Flaeros«, kam die achtungsvolle Antwort.
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Der Barde wandte sich wieder dem Fenster zu, so dass nur die Sterne erkennen konnten, wie sich sein Lächeln zu einem fröhlichen Grinsen verbreiterte. Janthlin klingt immer so, als sei er der Welt überdrüssig und geradezu schmerzlich darum bemüht, die hohen Herrschaften zu erfreuen, welchen er diente. Flaeros machte wieder ein ernstes Gesicht und wandte den Kopf um. »Was bringt euch nach Mondaufgang hierher?«, fragte er die Reihen von Schilden. »Braucht jemand dringend ein Lied?« »Nein, Herr. Unten in der Halle sind wir mit Musik wohl versorgt. Ein fahrender Sänger spielt als Gegenleistung für ein Festmahl bei Kerzenschein und ein Bett für die Nacht auf seiner Harfe. Er ist aus Aglirta hierher gereist, so sagt er wenigstens, ein –« Flaeros wirbelte herum und raste wie ein aufziehender Sturm an dem Diener vorbei. »Ja, Janthlin, das habt Ihr gut gemacht. Vielen Dank! Ja, seid bedankt!« Die letzten Worte hallten von der Treppe her in den Raum zurück, da Flaeros bereits die Stufen hinuntereilte. Der alte Diener drehte sich mit leicht unsicheren Schritten um, schaute zu, wie der Schatten seines jungen Herrn die Wand hinuntereilte, und lächelte jetzt seinerseits ein wenig. Der Junge glich so sehr seinem Vater. Flitzt wie ein Vogel umher, hüpft wie eine Flamme ... Janthlins Lächeln verschwand, als ihm zwangsläufig die nächste Zeile der alten Ballade in den Sinn kam. Sein Todesschrei hallt ungehört, und nur sein Name bleibt übrig. Das war so eine Sache mit Balladen. Nur zu oft nahmen
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sie eine Wendung, die einem nicht gefiel. So wie die Liebe. Wie das Leben. Hmmm. Janthlin langte in den Ausschnitt seines Gewandes, zog die Flasche flüssigen Feuers hervor, welche er dort bereithielt, um solch finstere, immer häufiger auftretende Gedanken einfach wegzuspülen – und benutzte den Inhalt. Das hell klingende, verschnörkelte Harfenspiel endete mit einigen letzten, wehmütigen Tönen, als Flaeros die UrdragonTreppe hinuntersprang und auf dem Absatz innehielt, von welchem aus man die Hohe Halle überblicken konnte. Unter den Lampen dort unten drängte sich eine große Menge von Dienern und Delkamper-Onkeln in ihren scharlachroten und goldenen Gewändern, und in vielen Händen befanden sich leere Kelchgläser, was einen nicht weiter verwundern durfte, da nirgendwo eine Maid zu sehen war, die herbeigeeilt wäre, sie zu füllen. Alle sprachen gleichzeitig und überschütteten den Mann mit den traurigen Augen und der abgetragenen Lederkleidung, welcher auf einem Stuhl mitten auf der langen Festtafel saß, ganz nahe bei dem großen, zum Meer hin offenen Fenster, mit Fragen. Die Harfe in seinen Händen vibrierte noch immer. Neuigkeiten aus Aglirta waren es immer wert, dass man ihnen lauschte – und hier saß auch noch ein Geschichtenerzähler, welchem man Fragen stellen konnte – das war etwas ganz anderes als das armselige, mit Vorsicht zu genießende Geflüster aus siebenter Hand ... Der Sänger schaute zu Flaeros herauf und schien leise zu nicken, obwohl man wegen seines herabhängenden Schnurr-
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bartes die Bewegung nicht ganz genau erkennen konnte. »Ich bin in dieses glückliche Haus gekommen«, hob der Fremde plötzlich an, und seine Worte schienen eine unerwartete Bresche in das laute Stimmengewirr zu schlagen, »denn unter all dem neuesten Auf und Ab der fürstlichen Prahlereien, der verlorenen Lieben und der Warenknappheiten gibt es eine wirkliche Neuigkeit für einen unter euch: Der Herrscher von Aglirta hat den dringenden Ruf ergehen lassen, mit einem gewissen Flaeros Delkamper sprechen zu wollen!« Köpfe fuhren herum, man runzelte die Stirn, und überall erklang Gemurmel. »Flaeros?«, fragte mehr als einer der Onkel, und zwar so erstaunt, dass es den jungen Barden tief gekränkt hätte, wäre der nicht gerade die letzten Treppenstufen hinuntergehastet mit den Worten: »Hier bin ich!« Der Sänger – die Dreifaltigkeit möge ihn segnen! – vollführte mit der freien Hand eine schwungvolle Bewegung von der Harfe weg, so wie es das Musikervölkchen zu tun pflegte, um einem fahrenden Sänger den Gruß zu entbieten. »Fürst Flaeros, ich heiße Taercever Rotmantel, fahrender Harfenspieler, und es ist mir eine Ehre, Euch zu begegnen. Bevor Ihr eine Frage stellt: Ich weiß auch nicht mehr zu berichten als die schlichte Bekanntmachung, die ich gerade übermittelt habe. Der Regent hofft, Euch so bald wie möglich in Treibschaum zu sehen, da er eine Unterredung mit Euch führen will.« Flaeros richtete sich hoch auf, da er spürte, dass die Augen aller in Varandaur Versammelten auf ihm ruhten. Dann bemühte er sich um eine möglichst tief und honigsüß klingende Stimme.
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»Ich danke Euch, Meister der Harfe. Es ist eine Ehre, dass Ihr Eure Musik in unserem Haus erklingen lasst, und ich stelle nur eine Frage, die uns allen auf der Seele brennt: Wie lauten die neuesten Neuigkeiten aus Aglirta?« Der Sänger Taercever lächelte, und ein gewisses Zucken seiner Mundwinkel erinnerte verdächtig an Spott. »Das übliche Gerangel der Fürsten um Macht. Die erwartungsvoll ausgestreckten Hände der Söldner füllen sich wieder mit reichlich Geld, weil die Straßenräuberei gewaltig zunimmt.« »Ist das denn tatsächlich der Fall?«, knurrte der Flaeros am nächsten verwandte Onkel und wedelte dabei mit einem glänzenden Kelch von der Größe zweier Dienerköpfe hin und her wie mit einem missbilligend gereckten Finger. Der Sänger zuckte mit den Schultern. »Wenn bewaffnete Männer ohne Anstellung ein solch reiches Land durchziehen, werter Fürst«, sagte er zu der glänzenden Kurve seiner Harfe, »dann entsteht immer Ärger, und zwar nicht zu knapp. Aber handelt es sich um so viel unaufschiebbaren, unvorhersehbaren Ärger, dass es Dutzender von Lanzenträgern und Zwanzigertrupps von Bogenschützen bedarf, um mit ihnen fertig zu werden?« »Tja«, polterte ein anderer Onkel, »ich verstehe, was Ihr sagen wollt. Das ist eine Melodie, die wir alle schon ein paarmal zu oft vernommen haben. Also bricht früher oder später wieder ein Krieg aus. Sonst noch etwas?« »Auf dem Markt von Ibryn sah man eine sprechende Kuh«, fuhr der Sänger leichthin fort und machte dann eine Pause, um das unvermeidliche und begeistert gewährte Schnauben und missbilligende Brummen entgegenzunehmen. »Oh, und noch etwas: Ein Flüstern wie von ausgeschüttelten seidenen
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Bettbezügen geht in ganz Aglirta um, dass nämlich der Regent Ausschau hält nach – diesem da!« Aus den Falten seines wetterfesten Umhangs, welcher in einem Bündel neben ihm lag, zog der Sänger etwas Helles, das einem Handspiegel gleich das Flackern des Herdfeuers einfing und widerspiegelte. Er hielt ein Zepter aus purem Gold in der Hand, dem man die Form eines Drachenkopfes mit leicht geöffnetem Maul gegeben hatte, welcher auf dem stolz geschwungenen Bogen eines Halses mit vielen Schuppen prangte. Der Sänger bewegte langsam den Arm, so dass alle, welche um ihn herum standen, die Schönheit des Zepters bewundern konnten. Die Augen, die aus bernsteinfarbenen Edelsteinen bestehen mochten, schienen zu glitzern, als ob der Drache tatsächlich in der Lage wäre, mit ihnen zu sehen. Alles schnappte nach Luft, und so manch einer wich zurück. »Der Feind der Schlange«, murmelte einer in der Menge, noch bevor Flaeros die Worte aussprechen konnte. Und dann löste sich aus der nach vorn blickenden Gruppe der Diener eine Gestalt. Ein gut aussehender Bediensteter stieß den Arm eines Delkamper-Onkels zur Seite, der nach ihm greifen wollte, und seine Finger glichen plötzlich zischenden, zustoßenden Schlangenköpfen. Die Menge keuchte und schrie, aber der Diener verlangsamte seinen Schritt nicht, sondern stürmte vorwärts und sprang auf den Tisch, auf welchem sich der Sänger vorbeugte, um seinen Mantel um seine Harfe zu wickeln. Taercever blickte auf, sah das Unheil nahen und schwang das Zepter in seiner Hand – aber nicht etwa in Richtung des heranstürmenden Dieners, sondern auf Flaeros zu, welcher
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noch immer am Fuß der Treppe stand. Der junge Barde griff nach dem Zepter und versuchte gleichzeitig, den Diener im Auge zu behalten; das schwere Zepter versetzte seinem Arm einen betäubenden Schlag und fiel dann klappernd auf die Stufen neben seinen Füßen. Ein Messer blitzte auf. Serviermädchen schrien auf. Der Sänger sprang zurück. Ein Onkel schleuderte vergeblich seinen Kelch, ein anderer bellte nach den Wachen, und dann verfing sich Taercever mit einem Absatz in seinem Stuhl. Das Möbel stürzte um, als der Diener sich in einem Hechtsprung nach vorn warf und seine schimmernde Klinge niederfahren ließ und dann wieder hochriss – und sowohl der Schlangenanbeter wie auch der Sänger stürzten gemeinsam aus dem Fenster. Von unten erklang ein donnerndes Platschen – und jeder im Raum setzte sich eilends in Bewegung. »Ergreift den Schlangenkopf!«, brüllte Onkel Hulgor. Seine heisere Stimme übertönte trompetengleich den allgemeinen Aufruhr. »Ich kümmere mich dann schon um ihn!« »Die Dreifaltigkeit möge auf uns niederschauen«, zischte Onkel Sarth Hulgor zu und bedachte seinen jungen Verwandten mit einem Blick, als der Barde das Zepter aufhob und erstaunt anstarrte, »aber der junge Flaeros scheint gezogene Schwerter und die Gefahr wie einen unablässig flatternden Umhang zu tragen!« »Jawohl«, bestätigte Hulgor mit einer gewissen Befriedigung, als beide Onkel ihre schlanken, reich verzierten Schwerter zogen und beobachteten, wie Wachen mit Hellebarden in den Händen in den Raum marschierten. »Der Jun-
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ge ist zu so etwas wie einer Berühmtheit geworden – jedenfalls in Aglirta.« »Ja«, bestätigte Sarth säuerlich. »Von dort pflegt auch immer aller Ärger herzustammen.« Und während Hulgor mit der Klinge in Richtung Fenster wedelte und Befehle im Hinblick auf Boote, Laternen, Netze und Haken gab, hielt Sarth Wache über den vom Donner gerührten Barden, welcher immer noch das Zepter in Händen hielt, es wieder und wieder herumdrehte, als könne er eine Bewegung darinnen spüren ... eine Magie, welche dafür sorgte, dass sein Arm klopfte und prickelte. »Der Regent braucht auf der Stelle dieses Ding hier – und meine Anwesenheit noch dazu«, murmelte Flaeros. »Augenblicklich.« Der junge Mann sprang hastig die Treppe hoch, als befolge er eigene Befehle, und eilte in seine Gemächer zurück, um Vorbereitungen zu treffen. Sarth schüttelte den Kopf und rannte, das glitzernde Schwert gezückt, dem Barden nach. Er keuchte und stöhnte aber bereits nach einigen wenigen Stufen, während rings um ihn herum ganz Varandaur in einen lauten Tumult ausbrach. Er wurde allmählich zu alt für solcherlei Ereignisse ... »So wie wir alle«, schimpfte er und köpfte im Vorbeilaufen ein besonders hässliches Gesteck aus Kronenblumen. Die Blüten fielen seinem Schwert ohne Gegenwehr zum Opfer und verstreuten einen Regen goldener Blätter. Sarth stürmte weiter, wobei sich seine Beine schwerer und immer schwerer anfühlten. Jawohl, viel zu alt.
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Etwas erhob sich tropfend aus der nachtschwarzen See und glitzerte feucht im Licht des Mondes, als aus einer Flosse Finger entstanden und dann ein menschlicher Arm. Der Arm hielt sich an einem feuchten Felsen fest, dann erschien eine gesichtslose Schnauze und gesellte sich dazu. Die Schnauze schob sich höher empor, verdickte sich und wurde zu einem Kopf, welcher eine zweite Kreatur beobachtete, die sich mit gewundenem Schwanz aus dem Wasser erhob und selbst Arme entwickelte, während sich ihr gesichtsloser Kopf zu einem großen Maul spaltete, welches eine in einen feuchten Mantel gewickelte Harfe auf den Fels spuckte. Im Kopf des anderen Gestaltwandlers klaffte ein ähnlicher Spalt auf. Er spuckte das Messer des Dieners auf den Fels neben dem Mantel, dann erschien so etwas wie ein verdrehtes Lächeln auf dem, was eigentlich kein Gesicht war. »Nettes Harfenspiel.« »Ich gebe mir Mühe, Indle. Ich gebe mir Mühe.« Der Koglaur, welcher sich für gewöhnlich Oblarma nannte, hievte sich vollends auf den Felsen. Schwanz und Flossen schmolzen im Mondlicht, bis schließlich eine wohlgeformte menschliche Frau dalag. Neben ihr trieb der Koglaur, welcher sich oft Indle nannte, ein Weilchen länger auf den leise plätschernden Wellen und starrte über die Bucht von Ragalar. Am Strand nahe der dunklen Masse von Varandaurs Türmen bewegten sich zahlreiche Laternen hin und her, und Fackeln flackerten spuckend auf Booten, welche die Wasser durchpflügten wie ein aufgebrachter Schwarm von Glühwürmchen. Ein echtes Glühwürmchen flog schnell wie ein Pfeil an Indles Kopf vorbei. Ein Tentakel schoss nach oben, ringelte
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sich zusammen und zuckte über Oblarmas Kopf. Nachdem der Fangarm sich zusammengezogen und wieder in Oblarmas neue Finger verwandelt hatte, schimmerte das Glühwürmchen inmitten von Oblarmas neu entstandenen glänzenden Locken. »Hmm«, machte Indle und musterte seine Gefährtin, während er das Kleiderbündel hochhob, welches sie früher am Tag hier verborgen hatten. »Warum ist mir das nicht schon eher eingefallen?« Eines von Oblarmas Augen quoll aus ihrem Kopf. Es saß auf einer Art fleischernem Stängel, welcher sich hochschlängelte und nach hinten verdrehte, so dass sie sich das lautlos grün und blau aufblitzende Insekt auf ihrem Kopf anschauen konnte. »Wie ein kleiner Edelstein«, murmelte sie erfreut und zog eine Weste über bemerkenswerten und seltsamerweise fast trockenen Brüsten zurecht, welche einen Augenblick zuvor noch nicht vorhanden gewesen waren. »Ich möchte gern –« Indle gab ein scharfes Zischen von sich und bedeutete ihr mit wedelnden Händen, still zu sein. Oblarma gab keinen Laut mehr von sich. In der Stille der Nacht hörten sie das Platschen von Rudern, Stimmengemurmel von Boot zu Boot, das dumpfe Geräusch, als ein Boot gegen alte, durchnässte Bohlen stieß – und das Donnern von Hufen. Das klang ganz nach Flaeros Delkamper, der mit zwei Rittern auf den Fersen so schnell wie möglich dahingaloppierte. Binnen weniger Augenblicke verklangen die Geräusche in der endlosen Dunkelheit.
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Sie mussten tatsächlich in Eile sein. »Zu manch einem kommt das Abenteuer spät«, sprach Indle zufrieden und hievte sich auf die Felsen. Dabei versprühte er so viel Wasser, dass Oblarma sich hastig zur Seite rollte, um ihre Kleidung halbwegs trocken zu halten. »Anscheinend hat unser kleines Täuschungsmanöver so gut funktioniert wie –« »Ein ganz normaler Tag auf Treibschaum«, erwiderte der andere Koglaur trocken. »Und ganz wie ein Höfling, welcher aus Versehen Verrat begeht und erwischt wird, so wird gerade eben der echte Diener von seiner kleinen Schlangenanbeterversammlung nach Hause schlendern – geradewegs in die Arme all der Delkamper’schen Ritter mit den harten Augen, ganz zu schweigen von den vor Wut kochenden DelkamperOnkeln.« Indle deutete eine kleine Verbeugung an. »Und es ist mir sogar gelungen, Euch nicht zu stechen.« Oblarma kicherte. »Das ist auch besser so. Mir gefällt es, Taercever zu sein.« »Solange Ihr nicht in die Nähe seiner Gläubiger kommt, was?«, meinte Indle und pflückte seine Kleider aus dem hohen Gras über den Felsen. »Er starb vor sechs Sommern einsam und allein irgendwo im Hinterland«, antwortete Oblarma mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Ungefähr so erfolgreich wie alle fahrenden Sänger. Glaubt Ihr, dass er überhaupt jemandem viel Geld geschuldet haben könnte?« Indle zuckte mit den Schultern. »Es bedarf nur einer Schuld, einem Mann den Tod zu bescheren – wenn es die
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falsche ist.« Oblarma antwortete mit einem dünnen Lächeln. »Das ist eine Lektion, welche viele Leute in Aglirta niemals zu lernen scheinen. Ich frage mich, wer als Nächster den tödlichen Preis zahlen muss.«
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Eins
Die huldvollen Gastgeber von Aglirta C Die Brise wehte viel zu gleichmäßig. Die Blätter auf den Bäumen rings um die vier Reiter raschelten unaufhörlich. Craer runzelte die Stirn und duckte sich ein wenig tiefer in seinen Sattel. Hunderte von Bogenschützen könnten zusammengekauert und in bequemer Schussweite irgendwo in diesem sonnendurchfluteten Wald auf uns warten – bei der Dreifaltigkeit, die Hälfte von ihnen könnte Bäume für Brennholz fällen, während der Rest sie mit lautem Geschrei anfeuert! – und wegen all dem Gezische und Geraschel der Blätter würden Reiter auf der Straße von der Gefahr nichts ahnen, bevor es zu spät wäre und alle von entschieden zu vielen Pfeilen gespickt wären, um sie missachten zu können. Ganz besonders diese vier Reiter: Die Bande der Vier, Aglirtas einzige Hochfürsten. Vier Leute, derer die Fürsten des Reiches, seien sie nun treu ergeben, gut oder was auch immer, Craers Vermutung nach aus tiefstem Herzen satt waren.
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Er warf einen Blick nach hinten, bemerkte Hawkrils ruhiges Nicken und murmelte seinem sanften Grauen zu: »Bei den Hörnern der Herrin! Ich weiß gar nicht mehr, wohin wir geritten sind! Warum können wir nicht einen Fürsten nach dem anderen aufsuchen, und zwar in einer vernünftigen Reihenfolge, anstatt hin und zurück und kreuz und quer durch das ganze gesegnete Tal zu reiten?« Embras melodisches Lachen durchdrang die Luft neben ihm und bewirkte, dass sein Pferd mit den Ohren zuckte. Craer seufzte; er hatte ihren Flüsterzauber ganz vergessen. Die Vier konnten murmeln und flüstern, und dennoch hörten sie einander so deutlich, als steckten sie in einer stillen Kammer die Köpfe zusammen und ritten nicht durch einen winddurchbrausten Wald, wobei sie Abstand hielten, um kein allzu leichtes, unübersehbares Ziel für Bogenschützen abzugeben. »Auf diese Weise«, erklärte die Fürstin Silberbaum mit geradezu aufreizend süßer Stimme, »werden es meine Mitfürsten einen Hauch zu schwierig finden, den freigebigen Gastgeber zu spielen, der sorgfältig irgendwelche ›Unfälle‹ für uns arrangiert ... oder uns den Preis, nach dem wir suchen, unter der Nase wegstiehlt.« Oh ja, der Preis: der vierte magische Dwaer-Stein. Derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt, aber zumindest an dem Tag, an welchem man sie zu Hochfürsten und Embras Vater, Fürst Schwarzgult, zum Regenten ernannt hatte, hatte sich der Stein insgeheim im Besitz eines der Fürsten von Aglirta befunden. Und um ihn ihrerseits zu finden, hatten die Hochfürsten entschieden zu viele Tage damit zugebracht, auf den Straßen
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entlang des Silberflusses und kreuz und quer durch Aglirta zu reiten und einen Fürsten nach dem anderen zu besuchen. Craer Delnbein fiel während ihrer Besuche nicht einmal die unangenehmste Aufgabe zu, aber hier im Wald, als vorderster Reiter und leichtestes Ziel ... »Ich danke Euch, Embra«, erwiderte er mit so seidiger Stimme wie nur möglich. »Wenn Ihr einen Zauber wüsstet, welcher lauernde Bogenschützen abweist, statt mir heimlich zu lauschen ...« »Immer mit der Ruhe«, rügte ihn Saraspers heisere Stimme, als sei Craer ein ungehorsamer, aber gutmütiger Hund. »Immer mit der Ruhe!« Behandelte man ihn etwa wie einen unwillkommenen Wurm? Dann würde er sich auch wie einer verhalten. Craer knurrte wie einer der kläffenden parfümierten Schoßhunde, welche die Fürstin Rildra so abgöttisch liebte und deren den Knöcheln nicht zuträgliche Bekanntschaft sie drei Burgen zuvor gemacht hatten. Wenigstens war ihm die Genugtuung widerfahren, unter den bewusst teilnahmslosen Blicken zweier grinsender Wachen eines dieser hartnäckigen, Stiefel zernagenden Geschöpfe aus einem Fenster in den Burggraben zu befördern. Was sahen solch dumme Personen wie die Fürstin nur in solchen – »Stimmt etwas nicht, Flinkfinger?«, murmelte Hawkril. Craer stieß ein Schnauben aus. »Eine Armee könnte neben uns herstampfen, Bäume fällen, um den Weg freizuhauen, und ich würde sie nicht hören.« Er starrte noch angestrengter nach vorn, als hätte er Fackeln statt Augen, um die ewig tanzenden Blätter zu durchdringen.
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»Ich bitte um Ruhe für seine Eminenz, den Hochfürsten Delnbein«, meldete sich Sarasper feierlich zu Wort. »Ihr Bäume, stillgestanden! Wind, lege dich!« Als einzige Antwort stieß Craer ein betont rüdes Geräusch aus. Sie befanden sich wenigstens einen Tagesritt von dem nächsten Fürsten entfernt – wo Embra hoffentlich ungestört wieder einmal ihren Dwaerindim-Suchzauber wirken würde, während Hawkril sie aufmerksam bewachte, Craer eine ach so kluge Unterhaltung mit den Dienern, Hauptmännern der Wache und Verwaltern führen und Sarasper seine Magie benutzen würde, um die Bedrohung durch alle Arten von Giften abzuwehren, welche dem Essen oder den Getränken der Vier beigemischt sein mochten. Bis jetzt war es ihnen nicht gelungen, den fehlenden Dwaer aufzutreiben, aber sie hatten zwei Versuche abgewehrt, vergiftet zu werden, und sich dafür entschieden, allen Tötungsversuchen mit einem Lächeln zu begegnen, statt ihre Gastgeber herauszufordern. »Wir erreichen lediglich, uns immer unbeliebter zu machen und uns zudem als willige Ziele darzubieten, nicht wahr?«, erklang plötzlich Saraspers Flüstern aus der Luft dicht neben Craers linkem Ohr. »Nun, aber vergesst nicht, dass wir auf diese Weise Aglirtas schöne Landschaft zu sehen bekommen«, brummte Hawkril. »Ich bin schon an übleren Orten eine Zielscheibe gewesen.« »Viel zu viel von Aglirtas schöner Landschaft, wenn ihr mich fragt«, grollte Craer. »Und wir haben uns verirrt und in äußerst schlechter Laune einen zusätzlichen Tag auf den Nebenstraßen verschwendet, nachdem uns ein gewisser Craer Delnbein mit lauter
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Stimme den falschen Weg gewiesen hatte, wenn Ihr uns schon daran erinnern müsst«, erzählte Embra müßig ihren Fingernägeln. Sarasper kicherte. »Ja, wir sind wirklich ganz besonders großzügig mit Fehlern behaftete Helden.« »Nein, mein guter Mitfürst von Treibschaum, wir waren ganz besonders großzügig mit Fehlern behaftete Helden – jetzt sind wir aufdringliche Hochfürsten«, erklärte Craer dem alten Heiler triumphierend. »Versucht, das im Gedächtnis zu behalten, und die nötige Großspurigkeit wird Euch viel leichter zufliegen.« Etwas summte so nahe an seiner Wange vorbei, dass es brannte. Craers Pferd bäumte sich mit einem erschreckten Schnauben auf, das beinahe einem Schrei glich, und der kleinste der Hochfürsten befreite sich mit einer Eile aus den Steigbügeln, welche plötzlich viel dringlicher geboten zu sein schien als jegliche Art von Großspurigkeit. Die lange erwarteten Pfeile drangen wie ein zischender Sturm aus den Bäumen, flackerten wie von magischem Feuer erfasst auf und verlangsamten sich sichtbar, als sie Embras Schildzauber erreichten. »Schon wieder Straßenräuber!«, zischte Craer und tastete nach den Zügeln, während er gleichzeitig einen Dolch zog und festzustellen versuchte, woher genau die Pfeile kamen und von wie vielen Bögen sie abgeschossen wurden. »Befreit einen Wald von den Ratten, und sie huschen zum nächsten!« Embras Schild flammte gut sichtbar rings um sie herum auf, als die Zauberin ihren Dwaer um mehr Kraft anrief. Die nach ihnen ausgeschickten Pfeile hingen zu Dutzenden im
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Zauberfeuer des Schutzschildes und glitten nur ganz träge vorwärts durch die Luft. Craer schlug einen mit der Klinge seines Dolches zur Seite und brachte dadurch den Zauber zum Erlöschen – der Pfeil schoss augenblicklich davon und fuhr bebend mitten zwischen die Steine der Straßeneinfassung – und der Beschaffer duckte sich unter der hässlichen Spitze eines weiteren Pfeils hindurch. »Ein Dutzend?«, rief er und starrte in die Bäume, während er versuchte, seinen schnaubenden Grauen unter Kontrolle zu bekommen. »Hier auf der Seite sind noch mehr«, erwiderte Hawkril bedächtig. »Mindestens zwanzig.« »Straßenräuber tun sich dieser Tage zu Armeen zusammen, will mir scheinen«, grunzte Sarasper. »Sollen wir versuchen, ihnen davonzureiten?« Als ob ihnen die unsichtbaren Angreifer zugehört hätten, sprangen in Leder gekleidete Männer mit grimmigen Mienen aus den Bäumen. Wieder andere kamen hinter dunklen Baumstämmen und wucherndem Unterholz zum Vorschein und schickten sich an, die sich vor den Vieren erstreckende Straße zu versperren – und das Gleiche geschah in ihrem Rücken. »Vierzig, wenn nicht noch mehr«, berichtigte sich Hawkril. »Diese Straßenräuber vermehren sich schnell!« Der Ritter beugte sich tief über seinen Sattel, um den Griff seines großen Kriegsschwertes besser packen zu können, welches er quer über seiner Schulter trug – und musste dann hastig an den Zügeln seines Rosses zerren, als das Pferd vor Schreck seitwärts auszubrechen drohte. Weitere Männer brachen aus den in der Nähe wachsenden
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Bäumen, und eine neue Ladung Pfeile raste aus den raschelnden Zweigen. Embra keuchte vor Schmerz, und ihr Dwaer flammte blendend hell auf. Hawkril riss fluchend sein Pferd herum und schlug mit dem Kriegsschwert wütend Pfeile beiseite, während er seinem Tier die Sporen gab. Wenn seine Herrin verletzt war – Die Fürstin Silberbaum schwankte mit verzerrtem Gesicht in ihrem Sattel. Der herannahende Ritter konnte keinen Pfeil erkennen, der ihr diesen Schmerz hätte bescheren können. Auch Sarasper hielt sich den Kopf und stöhnte. Unsichtbare Pfeilzauber, die jene trafen, welche Magie zu wirken vermochten? Also befanden sich auch Zauberer in den Bäumen. Aber das spielte keine Rolle; die Vier mussten sich so oder so aus dieser Falle befreien, sonst würden sie umkommen. Die echten Pfeile glitten immer näher heran und bildeten ein sich zusammenziehendes Netz aus glühenden Punkten rings um Sarasper und Embra herum. Hawkril machte seinem immer stärker anwachsenden Ärger knurrend Luft und griff nach dem Schild, welcher hinter ihm auf und ab tanzte. Er war zu klein, um sie alle zu schützen, aber wenn es dem Hünen gelang, Embra ein paar kostbare Sekunden für ein mächtiges Zauberfeuer zu verschaffen oder sie aus den sich schließenden Fängen dieser Falle zu reißen, dann könnte es durchaus sein, dass – Craer sprang aus seinem Sattel, und einen Augenblick darauf bohrten sich nicht weniger als sechs Pfeilspitzen in die Flanken seines todgeweihten Grauen. Craer schlug einen siebten Pfeil beiseite, warf sich in den Straßenstaub und rollte sich eilends aus dem Weg. Binnen eines weiteren Augen-
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blicks würde sein Pferd genau über ihm zusammenbrechen, sich hin und her wälzen, schreien und austreten, und Craer legte keinen Wert darauf, den schmerzvollen Todeskampf des Rosses direkt unter demselben mitzuerleben. Der Beschaffer wollte den Todeskampf von nirgendwo aus beobachten müssen, aber die Dreifaltigkeit schien zu verlangen, dass ihnen eine gewisse Viererbande von Hochfürsten immer wieder einmal eine gewalttätige Unterhaltung lieferte, und ... »Der Tag schreitet voran«, sprach Craer zu dem Dolch in seiner Hand, welchen er gleich darauf in das Gesicht eines brüllenden Bogenschützen schleuderte, der seinerseits ein grausam gebogenes Schwert gezückt hatte, »und wir sind anscheinend hinter unser gewohntes Blutvergießen zurückgefallen. All das friedliche Dahinreiten, das Feiern und die höflichen Gespräche bei einem Glas Wein sind schuld daran. Sterbt, Ihr Hund von einem Pferdeschlächter!« Der Bogenschütze gurgelte, versuchte, den Dolch zu ergreifen, welcher aus seinem Auge wuchs, und stolperte dann vorwärts, ohne eine weitere Antwort zu geben. Pfeile fuhren in die Erde und streiften einander dabei. Von Embras Schild befreit, schossen sie über die Steine am Boden oder summten mit neuer Energie davon. Craer wölbte sich um einen Schaft herum, holte einen weiteren Dolch aus einer handlichen Scheide und warf sich flach auf den Boden, um einem weiteren Pfeil zu entgehen. Dann rannte er zurück in Richtung der Hufe von Hawkrils gewaltigem Streitross. Erstickte Schreie und Flüche rings um ihn herum sagten ihm, dass es im Gegensatz zu ihm etlichen seiner Angreifer an Beweglichkeit mangelte.
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»Ha, ich vermute, die sind einfach nicht aus dem Holz gemacht, aus welchem man Helden schnitzt«, murmelte er und rannte weiter. »Craer«, krächzte Embra, und es klang schrecklicherweise so, als schluchze sie, »wollt Ihr endlich Ruhe geben?« Ihr nächstes Wort hätte sie geschrien, sofern sie noch über genug Luft zum Schreien verfügt hätte. Stattdessen kam ein entsetzliches, trockenes Keuchen aus ihrer Kehle – das augenblicklich von Hawkrils Gebrüll übertönt wurde: »Embra! Embra! So sprecht doch, Mädchen!« Jetzt war er mit Gurgeln und Stöhnen an der Reihe. Und Craer riskierte einen Blick nach oben, obwohl er doch vollauf mit seinem eigenen tödlichen Spiel beschäftigt war und sich hin und her wälzte, dann wieder vorwärts hastete und immer wieder nach links und rechts blickte, um nach heranfliegenden Pfeilen Ausschau zu halten. Er sah gerade rechtzeitig hin, um zu sehen, wie sein ältester Freund mit von Pfeilen gespickter rechter Schulter aus dem hohen Drachensattel kippte, während sein sich aufbäumendes Pferd in Todespein mit den Hufen auf die Luft eindrosch, weil aus seiner ganzen rechten Seite ein wahrer Wald aus Pfeilen spross. Embras Schutzschild zerschmolz. Sie würden hier, mitten auf der sonnengesprenkelten Straße unter den schönen Bäumen mit ihren verfluchten raschelnden Blättern sterben, besiegt von dieser Armee aus dem Nichts, und – Plötzliche purpurne Blitze zischten spuckend über die Straße und hätten den Beschaffer beinahe geblendet. Craer warf sich flach auf eine Stelle, von der er hoffte, dass kein Pfeil sie finden würde, und fragte sich, welche Magie ihnen
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wohl jetzt nach dem Leben trachten mochte. Bei den Göttern, Aglirta schien vor Leuten überzuquellen, die auf Mord aus waren. Konnten sie sich nicht an die fürstlichen Gepflogenheiten halten und ein mit ein wenig gutem, altem Gift gewürztes Festmahl veranstalten? Mussten ihre Mordanschläge immer auf staubigen Straßen stattfinden mit flammenden Zauberbannen und dreimal verfluchten Pfeilen? »Ich kann nur vermuten«, drangen Saraspers angespannte Worte in sein Ohr, »dass Ihr dem gespannt lauschenden Land einmal mehr Eure Beschwerde vortragen wollt. Zu viel Magie, zu viel Wälzerei im Staub, und noch dazu Pfeile – habe ich die Liste vollständig wiedergegeben?« »Ihr haltet Euch für einen Herold?«, gab Craer flüsternd zurück. »Also habe ich mit der Schreierei angefangen, ja? Bittet um Vergebung ... Embra muss immer noch über genug Bewusstsein verfügen, dass das Fernhören weiterhin funktioniert. Ich liege hier flach auf meinem Gesicht und sehe immer noch purpurne und weiße Blitze, wann immer ich versuche, irgendetwas anzuschauen – wollt Ihr so gnädig sein, mir mitzuteilen, was geschehen ist?« »Später«, sagte der Heiler grimmig. »Und jetzt bleibt still liegen und rührt Euch nicht.« »Wie bitte?« »Haltet den Mund, Beschaffer!« Etwas an Saraspers stählernem, wütendem Ton bewirkte, dass Craer schwieg, jedenfalls fürs Erste. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er den wirbelnden Staub an – welcher gerade eben sichtbar war als träger Schatten hinter dem weißen und purpurnen Feuer, welches immer noch vor seinen verwunderten Augen hin und her tanzte – und wartete,
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bis seine Sehfähigkeit so weit zurückgekehrt war, dass er ein wenig mehr von dem erkennen konnte, was Sarasper so sehr erschreckt hatte. Was auch immer es sein mochte, es hatte die Bogenschützen mittels der Blitze getötet oder vor Schreck erstarren lassen; die einzigen Laute stammten von dem gedämpften Ausschlagen eines getroffenen Pferdes, das sich im Todeskampf wand. Craer wartete voller Anspannung mit dem gezückten Dolch in der Hand. Er hoffte, den Feind ausmachen zu können, bevor er von einem Schwert oder einem Speer aufgespießt wurde. Ganz nahe bei seinem Kopf knirschte ein Stiefel über die Steine der Straße, und er hörte, wie Embra keuchte. Sollte er sich mit aller Kraft zur Seite werfen oder –? Nicht allzu weit von dem aufgewirbelten Staub und den vielen auf der Straße niedergestreckten Körpern entfernt schloss sich eine Hand behutsam um einen Knoten an einer Stelle, an der einst ein Ast gewachsen war. Der Besitzer der Hand lehnte sich um die Biegung eines dunklen, alten Baumstumpfes und spähte durch die raschelnden Blätter auf die wenigen Gestalten, welche sich dort bewegten, wo noch vor wenigen Augenblicken ein Kampf gewütet hatte. Kein Pfeil sirrte durch die Luft, und es stand auch kein Schütze bereit, weitere abzuschießen – aber die Hochfürsten von Aglirta hatten allem Anschein nach keinen Sieg errungen. Der Dieb der Bande lag reglos auf der Straße. Wäre da nicht das verräterische Beben seiner angespannten Schultern gewesen, so hätte man glauben können, er sei tot. Halb zusammengesunken hockte Hochfürst Hawkril An-
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haru ein Stück weit entfernt stöhnend auf der Straße. Einer seiner Arme war dunkel und nass von Blut und durch eine Vielzahl von Pfeilen an seinen Oberköper geheftet. Der Hüne grimassierte in Richtung einer einsamen Gestalt, die langsamen Schrittes die Straße entlang auf ihn zuschritt. Zweimal versuchte der schwerfällige Ritter, sein Kriegsschwert mit den zitternden, vor Blut triefenden Fingern seines verletzten Armes aufzuheben – und versagte zweimal. Hinter dem Ritter in seiner Rüstung lagen zusammengesunken der Heiler und die Zauberin an einem mit Farnen bewachsenen Wall, welcher die entgegengesetzte Seite der Straße begrenzte. Der alte Mann versuchte, den reglosen Körper der weißgesichtigen Frau mit seinem eigenen zu schützen. Er starrte ebenfalls die sich nähernde einsame Gestalt an. Der Beobachter im Wald zog sich zurück und drückte sich tief hinter den seinen Körper verbergenden Baumstumpf. Aber er schaute nach wie vor genau hin. Roter Nebel des Schmerzes kringelte sich in den Ecken von Hawkrils Blickfeld. Er spuckte Blut und versuchte, seiner Qual Herr zu werden und die klare Sicht auf den Mann zu behalten, der jetzt auf ihn zukam. Groß, schlank, dunkel und jung. Und gut aussehend ... auf seiner linken Wange prangte eine kleine Tätowierung in Form eines auf der Spitze stehenden Dolches, und scharfe – nein, glühende, schwarze Augen brannten darüber. Er trug ein paar Ringe an den langen, schlanken Fingern, und seine Hände wiesen keinerlei Spuren harter Arbeit auf. Im Gürtel steckte ein Dolch, und er trug schwarze, enge Hosen, darüber eine aufwändig gearbeitete Tunika, welche aber keinerlei Ab-
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zeichen oder adlige Farben aufwies. Diesen Mann, dessen war sich Hawkril gewiss, hatte er nie zuvor gesehen. Der Neuankömmling hielt knapp außerhalb der Reichweite des Ritters an und schaute auf den vor Schmerz zusammengekrümmten Krieger. Seine Hände baumelten leer nach unten, waren aber leicht gekrümmt. Fäden purpurfarbenen Rauchs, durchsetzt mit blitzenden weißen Funken, stiegen noch immer zwischen seinen Fingern auf – und die Funken prasselten bedrohlich, als er jetzt die Hände hob und auf Hawkril und Sarasper deutete. »Soll ich Euch alle töten, Ihr Hochfürsten von Aglirta?«, fragte der unbekannte Zauberer mit einer Stimme, welche kaum lauter klang als ein Flüstern. »Oder könnt Ihr mir einen guten Grund dafür nennen, warum ich Euch am Leben lassen sollte?« »Werter Fürst«, sagte der alte Verwalter unruhig, »ein Mann ist gekommen, Euch zu sehen. In voller Rüstung und mit gezücktem Schwert und begleitet von einem Dutzend kampfbereiter Männer. Er gibt als Namen lediglich ›Kleine Blume‹ an.« Fürst Nesmor Glarond lächelte dünn und hob die Hand zu einem Zeichen, welches seine Wachen hier und da im Thronsaal von Glarondar dazu brachte, hastig die Schwerter zu ziehen und dann wieder in einer neuen Position zu erstarren. Ihr Herr warf einen kurzen Blick hinauf zu den vergoldeten Galerien und gab ein weiteres Zeichen. Seine Pagen sahen die Geste, drehten sich um und bellten leise, aber tödlich
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kalte Befehle. Die Gesichter der zahlreichen Höflinge, welche täglich Stunde um Stunde damit zubrachten, sich entlang der reich geschnitzten Geländer aufzureihen, auf den Fürst niederzuschauen und auf einen noch so geringen Ausrutscher seinerseits zu warten – oder das kleinste Anzeichen für eine Gunst –, verschwanden von einem Augenblick auf den anderen unter missbilligendem Gemurmel. Glaronds Lächeln verschwand. Lasst sie sich nur darüber wundern, weshalb sie so plötzlich hinweggefegt wurden. Ehrgeiziger Pöbel, einer wie der andere, welchen man am besten von dem fern hielt, über was binnen Kurzem verhandelt werden würde. Nur diejenigen, welche zählten, mussten bleiben – oder erhielten die Erlaubnis dazu. Bei seiner ›Kleinen Blume‹ handelte es sich um einen gefährlichen Mann, und er würde zweifellos ein zäher Verhandlungspartner sein; falls sich die Sache schlecht für den Stolz von Glarond anließ, dann war es besser, wenn so wenig Leute wie möglich zuschauten. Fürst Glarond war sich der Tatsache durchaus bewusst, dass er nicht eben zu den beliebtesten Männern des Landes zählte. Binnen weniger Augenblicke hatte der Verwalter in der Nähe der Tür Haltung angenommen. Er verbeugte sich vor seinem Herrn. Inzwischen hielt sich nur noch so viel Pöbel im Saal auf, wie es den Wünschen des Stolzes von Glarond entsprach. Der Mann auf dem Thron antwortete mit einem Nicken, hob eine Hand und wies beinahe träge auf die Tür. Der Verwalter wandte sich um, öffnete die Türflügel weit und trat dann wieder zurück, ohne anzukündigen, wer da einzutreten im Begriff war.
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Man hätte beinahe brüllen müssen, um jemanden über all das plötzliche rhythmische Geklapper hinweg ankündigen zu können, welches sich jetzt erhob: Das Geräusch von Männern in voller Rüstung, die rasch im Gleichschritt heranmarschierten. Sie kamen mit entblößten Köpfen und leeren Händen in den Thronsaal von Glarondar, aber mit einem Schritt, als seien sie die Herren dieser Halle. Sie bestiegen das Podest, auf welchem der Thron stand, und kamen dann ebenso selbstverständlich zu einem Halt wie jede förmliche Wache bei einer Parade. Die Wachen des Fürsten versteiften sich und beäugten die Neuankömmlinge voller Unruhe. Es bedurfte nicht des geschärften Auges eines Veteranen, um beurteilen zu können, dass sie in der Minderzahl waren – und vielleicht sogar besiegt. Viele von ihnen bemerkten auch nicht, dass auf den Treppen zu den Galerien und entlang der rückwärtigen Wand der Halle kurze Handgemenge ausbrachen, als sich Beschaffer in Lederharnischen mit gespannten, gegen die Decke gerichteten Armbrüsten ihren Weg durch die Höflinge und Pagen bahnten und auf gewisse Standorte zustrebten, die ihnen einen Vorteil verschafften. Unbekannte Männer, welche mit harten, eifrigen Blicken den ganzen Saal nach Zielen absuchten. »Seid willkommen, Fürst Blutklinge«, sagte Glarond ruhig und erhob sich von seinem Thron. »Euer Ruhm eilt Euch voraus.« Der Mann an der Spitze der Bewaffneten lächelte ein geisterhaftes Lächeln, welches jedoch nicht bis zu seinen Augen reichte, und erwiderte: »Ein Fürst bin ich noch nicht, Glarond, obwohl mich manch einer als Kriegsherrn bezeichnet.
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Sendrith Duthjack, zu Euren Diensten – sofern wir zu einer Übereinkunft kommen.« Der Fürst neigte den Kopf. »Ich bin kein unvernünftiger Mann.« So manch einer in dem Saal hätte dieser Erklärung mitnichten zugestimmt, aber keiner unter den wie erstarrt dastehenden Anwesenden entschloss sich dazu, dies hörbar kundzutun. Der Fürst galt auch nicht als ein Mann, der leicht vergab. »Und ich«, sagte Duthjack, »halte die Bündnisse in Ehren, welche ich schließe. Ich denke, dass Ihr das wisst.« Wieder neigte Glarond den Kopf. »Das weiß ich in der Tat. Und wie es der Zufall will, halte auch ich mich an geschlossene Übereinkünfte. Sollen wir damit anfangen, dass ich verkünde, wofür ich Euch und die Klingen unter Eurem Befehl anheuern möchte?« »Tut das. Keine Aufgabe ist unannehmbar für mich, sofern wir uns über den Preis verständigen, und meine wird darin bestehen, Euch zu antworten«, erwiderte Duthjack. Seine Soldaten drehten sich wie ein Mann um, obwohl ihr Anführer weder einen Befehl noch ein Zeichen gegeben hatte. Sie blickten die Höflinge zu beiden Seiten des Podestes an – und ihre Panzerhandschuhe klirrten, als sie die Hände fest um die Waffen schlossen. Die Stille, die nun folgte, schien so angespannt zu sein wie eine zurückgezogene Bogensehne. Mehr als ein Mann in dem Saal schluckte – und musste feststellen, dass er eine trockene Kehle hatte. »Mich verlangt danach«, sagte Fürst Glarond ruhig, »König von Aglirta zu sein. Bevor noch der erste Schnee fällt, will ich
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als unbestrittener Herr über das ganze Tal auf dem Flussthron sitzen, und alle Fürsten sollen mir die Treue geschworen haben oder tot sein. Einfach genug?« Duthjack nickte. »Habt Ihr Zauberer, welche für Euch kämpfen?« Der Fürst schüttelte den Kopf. »Nicht einen«, entgegnete er in einem Tonfall, der nahe legte, dass er noch mehr sagen wollte. Stattdessen schwieg er. Ein Schweißfilm war auf seine Stirn getreten und glitzerte über seinen Brauen, aber er straffte das Kinn und starrte seine gewappneten Besucher an, als sei er bereits König. Duthjack erklärte tonlos: »Andere werden welche haben. Unsere Verluste werden groß sein. Zweitausend Goldstücke – Sundars aus Ragalar oder karraglanische Zostarrs, keine Münzen aus Aglirta – für jeden Schwertkämpfer, welchen ich Euch bringe. Eine schriftlich niedergelegte Liste der Aufgaben und Ziele meiner Truppe, von welcher wir beide Abschriften erhalten. Die Hälfte der Summe muss ausgezahlt werden, noch bevor eine Klinge gezogen wird; nur Überlebende dürfen die zweite Hälfte einfordern, die bis spätestens in der Mitte des Winters ausgezahlt sein muss.« Glarond nickte langsam. »Und Euer Anteil?« »Einhundert ragalanische Sundars und dazu ein Fürstentum flussabwärts. Hellbanner würde mir gefallen.« »Loushoond«, gab der Fürst entschlossen zurück. Schweigen breitete sich aus, zuerst zögernd, aber dann, als es nicht enden wollte, mit immer stärkerer Anspannung. Die im Saal verbliebenen Höflinge schauten einander an und dann geschwind in eine andere Richtung. Keiner traute sich, die beiden Männer, welche einander im Herzen des Saa-
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les gegenüberstanden, länger anzublicken. Langsam nickte Duthjack. Sein Gesicht sah nachdenklich und zurückhaltend aus. Der Fürst konnte kaum glauben, dass alles so einfach sein sollte, und lehnte sich auf seinem Thron nach vorn. Schweiß strömte über seine Stirn, und er fragte eilig: »Also haben wir ein Abkommen?« Der Mann, der oft Blutklinge genannt wurde, lächelte. Er zog seine Panzerhandschuhe aus und übergab sie ohne einen Blick zurück einem seiner Männer, welcher hinter ihm stand. Dann trat er vor und streckte eine Hand aus. Der Fürst erhob sich vom Thron, stieg die einzelne Stufe zum Podest hinunter, wo die Söldner standen, und streckte seinerseits die Hand aus, um Duthjacks Finger zu ergreifen. Die Hände der beiden Männer trafen sich und packten zu, und Glarond verzog schmerzlich das Gesicht. Bevor er auch nur einen Hauch von Unwillen äußern konnte, packte die freie Hand des Kriegsherrn den Fürsten bei der Kehle. Finger aus Eisen schlossen sich, und der Stolz von Glarond gab einen dünnen und erschrockenen, erstickten Ton von sich. Duthjacks Lächeln war ebenso eisig wie seine Stimme. »Nein, werter Fürst Glarond, das haben wir mitnichten. Von den Fürsten abgesehen, habe ich mich auch mit anderen im Tal beraten und mir andere Sichtweisen hinsichtlich der Zukunft des Tals angehört. Warum sollte ich mich damit begnügen, ein Fürst zu werden – unter so vielen fetten, verderbten, überheblichen fürstlichen Narren – wenn ich auf dem Thron von Aglirta sitzen könnte? Ihr braucht mich, werter Glarond ... ich hingegen brauche Euch nicht.«
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Er drückte die Finger unvermittelt mit aller Kraft zusammen, zermalmte den Knorpel in der Kehle des Fürsten, und Glaronds erstickte Laute erstarben. Geschickt pflückte Duthjack den goldenen Stirnreif vom Kopf des zusammensackenden Mannes – und dann strafften sich seine Schulternmuskeln, und der aus hundert schauerlichen Geschichten als Blutklinge berüchtigte Söldner schleuderte den Leichnam von sich. Schlaff kollerte der Körper die Stufen des Podestes hinunter. Mit den Händen am Schwertgriff und kehlig knurrend stürmten die Wachen des Fürsten vor ... und hielten dann unsicher inne, als sich überall im Saal kleine Armbrüste bedrohlich in Richtung ihrer Kehlen und Gesichter hoben. Der Stolz von Glarond lag inzwischen reglos am Boden, und seine blicklosen Augen starrten aus einem seltsam abgewinkelten, blaurot angelaufenen Kopf mit erfrorenem, ewigem Staunen zur Decke hoch. Aus der Gruppe der entsetzten Höflinge, welche dem Thron am nächsten standen, löste sich ein in reich verzierte rubinrote Seide gehüllter Mann. Er räusperte sich, hob eine mit schweren Ringen geschmückte Hand, brachte ein brüchiges Lächeln zustande und rief: »Gegrüßt sei Fürst Duthjack!« Der Kriegsherr lächelte, schritt auf den Mann zu und meinte kalt: »Nein. Das glaube ich nicht.« Mit einer weichen, bedachten Bewegung zog er sein Schwert – und rammte es dem Höfling in den Leib. Als blutiger Stahl aus dem zuckenden Rücken des Mannes drang und die rubinrote Seide beinahe lautlos durchschnitt, lösten sich überall im Saal Bolzen von Armbrüsten, und Höflinge
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stöhnten, schrien, keuchten oder gurgelten – und fielen hin und starben. »Fürsten sind schon lange genug der Fluch Aglirtas gewesen«, sagte Duthjack zu einem alten Wachposten, der eine Schwertlänge entfernt Haltung angenommen hatte; Angst ließ den grauweißen Schnurrbart des Mannes beben. »Es ist an der Zeit und eigentlich schon längst überfällig, dass jemand Jagd auf die Fürsten macht. Kein so edler Zeitvertreib wie die Hirschjagd, aber hoffentlich lohnender. Euer Name, alter Krieger?« »Th-Tharim, Fürst Blutklinge«, stammelte der Wächter, fiel auf die Knie und hielt sein Schwert mit dem Griff voran Duthjack hin. »Ehr seid ein kluger Mann, Tharim«, sagte der Kriegsherr mit einem eisigen Lächeln, »und vorsichtig noch dazu. Ich lasse Euch am Leben, sofern Ihr mir versprecht, mir einen kleinen Dienst zu erweisen: Teilt den Rittern von Glarond mit, dass von nun an ich ihr Herr bin. Fürst von Glarond, falls es denn sein muss. Ach, und sagt ihnen noch etwas: Ihr Kriegsherr befielt ihnen, sich zu bewaffnen, sich auf einen Krieg vorzubereiten und binnen zweier Nächte zu Pferde bereitzustehen.« »Jawohl, Fürst Blutklinge. Zu Pferde und bereit.« Der alte Soldat erhob sich, zögerte und wartete sichtlich ab. Duthjacks kaltes Lächeln verbreiterte sich. »Nein, ich werde Euch nicht sagen, wohin es geht. Sagt ihnen nur, dass wir in den Krieg reiten.« Der Wächter nickte. »Und auf dem Weg dorthin Fürsten jagen«, murmelte er und versuchte seinerseits, ein unstetes Lächeln zustande zu bringen.
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Blutklinges Lächeln wurde womöglich noch eisiger. »Klugheit wird gern überschätzt, meint Ihr nicht auch?« Während Tharim hastig »Ja, Fürst« murmelte und sich davonmachte, kehrte sein Zittern deutlich sichtbar zurück.
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Im Sattel ins Abenteuer C Die Gestalt hinter dem Baum lehnte sich weiter vor und versuchte, sich nicht ein einziges leise gemurmeltes Wort oder einen einzigen Atemzug auf der Straße dort drüben entgehen zu lassen. Über den aufgehäuften, wie Stoffpuppen aussehenden Leichen der Bogenschützen summten bereits Fliegen – und die todbringenden Blitze ringelten sich noch immer um die Finger des Zauberers, welcher auf der Straße stand. »Ihr solltet uns am Leben lassen, falls Euch das Schicksal Aglirtas am Herzen liegt«, krächzte Sarasper. Auf seiner Miene zeichnete sich nicht die geringste Spur von Furcht ab, als er jetzt den Zauberer anblickte. »Viel zu lange hat das Land nicht nur keinen König, sondern auch kein Gesetz gehabt, es sei denn, man bezeichnet die sich ständig verändernden Launen skrupelloser Fürsten und Tersepte als rechtmäßig. Wir streben ein Aglirta an, in welchem alle ohne Furcht einherwandeln können, die Gesetze stark sind und der Friede nicht gebrochen wird, auf dass alle Bewohner die Früchte ihrer Arbeit ernten, ihr Handwerk ausüben und Geld verdienen können, ohne befürchten zu
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müssen, dass grausame Fürsten und ihre ...« »Zauberer?«, fragte der wohlgestalte junge Mann spöttisch. »Ich glaube, dass wir alle den Frieden wollen und einen guten Herrscher, Heiler. Und Bögen hat man schon immer besser gespannt, um Wild für die Tafel zu schießen, statt das Leben von Männern auszulöschen.« Er stieß den am nächsten liegenden Bogenschützen mit der Spitze seines Fußes an und fügte hinzu: »Aber die da würden, sofern sie noch am Leben wären, für sich in Anspruch nehmen, dass sie der Erhaltung des Friedens dienen unter dem Kommando eines weisen und gerechten Herrschers – und wo ist der Unterschied zwischen ihnen und euch? Ihr seid nichts weiter als vier Gefährten, die großspurig sind wie Straßenräuber, während sie euch zahlenmäßig bei weitem übertreffen und zudem den Befehlen von irgend wem folgen ... und in diesen Tagen der Hochfürsten und Regenten fällt es mir schwer zu glauben, dass Rebellenarmeen durch Aglirta marschieren!« »Wer seid Ihr?«, fragte Sarasper in aller Ruhe, »dass Ihr Euch über uns lustig macht?« In diesem Augenblick keuchte Hawkril vor Schmerz, und die Köpfe des Zauberers und des Heilers wandten sich dem Hünen zu, welcher sich gerade einen Pfeil aus dem Arm zog. Ein Schwall schwarzen Blutes quoll hervor, und der Ritter sackte zur Seite und auf die Straße, wo er sich stöhnend hin und her wand. Sarasper bettete Embra sanft zwischen die Farne, erhob sich und eilte zu Hawkril. »Bleibt, wo Ihr seid!«, gebot der Zauberer barsch und hob eine Funken versprühende Hand.
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Sarasper kniete sich neben seinen verletzten Freund und erklärte seelenruhig: »Heilen ist das, was ich tue, Herr Zauberer. Die vielen Leute, denen ich während all der Jahre geholfen habe und welche ich, falls ich am Leben bleibe, über die nächsten Jahre hinweg heilen werde, können nur darauf hoffen, dass das Hinwegblasen von allen, die Euch nicht gehorchen, nicht die einzige Kunst ist, welche Ihr beherrscht.« Mit von Hawkrils Blut feuchten Fingern tastete er nach den Schnallen und Riemen, welche die Schulterplatten des Ritters zusammenhielten. »Gehorcht mir, Heiler!«, zischte der Zauberer mit vor Zorn scharfer Stimme. »Ich bin Jhavarr Bogendrachen, und –« Sarasper hob den Kopf, blickte in die Augen des Mannes und nickte. »Ihr seid nach Aglirta gekommen, um den Tod Eurer Schwester zu rächen«, sagte er leise. »Sie starb durch die Hand eines Zauberers, möchte ich hinzufügen.« Helle Blitze rasten kurz um zwei geballte Fäuste und lösten sich rasch wieder auf. Der Magier holte tief und bebend Luft und erwiderte dann so ruhig, als spräche er über das nicht weiter bemerkenswerte Wetter der vergangenen Tage: »Ihr seht die Dinge richtig, Heiler. Cathaleira Bogendrachen war die fähigste unter allen lebenden Magiern unserer Familie, und wir beide standen uns – sehr nahe. Wir sprachen oft über weite Entfernungen hinweg miteinander, und ich weiß sehr wohl, dass sie ihren Meister hier in Aglirta lieben lernte. Soweit mir meine magischen Fähigkeiten enthüllten, schlachtete er sie mit eigener Hand, und ihre Empfindungen wurden Teil eines Ungeheuers, welches er erschuf. Das kann ich kaum glauben, aber ...« Jhavarrs Stimme gewann an Stärke, und er zischte: »Ich
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habe auch erfahren, dass ihr Vier dabei geholfen habt, das Ungeheuer zu töten, und damit meine Schwester in den kalten, endlosen Schlaf schicktet, aus dem niemand mehr erwacht.« Sarasper seufzte. »Da hat Euch jemand etwas Falsches erzählt. Wir hatten daran keinen Anteil«, erklärte der Heiler. »Diejenigen, welche das Ungeheuer niedermachten, versuchten in dieser Nacht, auch uns zu töten. Tharlorn von den Donnern verriet Eure Schwester, ja – weil er Eifersucht und Überdruss empfand angesichts ihrer wachsenden Fähigkeiten als Zauberin, dessen bin ich mir gewiss. Vergebt mir meine unverblümten Worte, aber er schnitt ihren Körper auf wie ein Fischhändler aus Sirl, wenn er den größten Fisch des Tagesfanges ausnimmt. Einer seiner geringeren Lehrlinge war anwesend und vertraute sich einem Freund an, weil er hoffte, dass er gerächt würde, sollte Tharlorn ihm das gleiche Schicksal zugedacht haben.« »Und der berühmte und viel gefürchtete Tharlorn ist tot«, sagte Jhavarr grimmig. »Ich wollte, ich könnte mir dessen sicher sein.« Sarasper, der sich zitternd an die Heilung des unter seinen Händen gleichfalls bebenden Hawkril machte, schaute forschend auf. »Habt Ihr einen Grund, dies zu bezweifeln?« Jhavarr Bogendrachen richtete sich auf und sagte langsam und eisig: »Ich bezweifle gar nichts, denn bis jetzt weiß ich zu wenig. Aus dem gleichen Grund kann ich nichts und niemandem trauen. So hört denn dies: Ich werde alle töten, die irgendwie an Cathaleiras Tod beteiligt waren. Ganz gleichgültig, wo sie sich verstecken oder wie sie sich herausreden mögen. Das schwöre ich.«
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Der Zauberer schritt zwischen ausgestreckten Bogenschützen dahin, seufzte, als sein Blick auf die Fliegen fiel, welche über die gen Himmel gerichteten Augäpfel krochen, und fügte in gemäßigterem Tonfall hinzu: »Ich weiß ein wenig über die Gepflogenheiten von Magiern, Sarasper. Ich suche Tharlorns Lehrling, um sicherzustellen, dass sein Herr wirklich tot ist und niemand anderen in seiner Gestalt in den Kampf schickte ... und ob irgendjemand mitgeholfen hat, das Ungeheuer ins Leben zu rufen.« Er wirbelte herum und flüsterte beinahe schluchzend: »Alle sollen sie bezahlen – und sie werden unter Schmerzen sterben und genau wissen, warum ich ihnen das Leben nehme. Darsar ist ärmer seit ihrem Tod, aber ich werde es noch tiefer und äußerst gründlich in den Ruin treiben, bevor ich meine Aufgabe beendet habe!« Hawkril stöhnte, zog einen weiteren Pfeil heraus und erbebte von neuem. Sarasper nickte dem Zauberer müde zu und fuhr mit der Heilung fort. »Für gewöhnlich ein vergebliches Unterfangen«, murmelte er, »und viel zu oft eines, welches den Rächer beherrscht wie ein Sklaventreiber – aber keiner dieser Gründe macht Euer Unterfangen weniger ehrenwert. Ich hoffe, dass Ihr findet, wonach Ihr sucht, junger Bogendrachen ... und zudem auch noch Euren Frieden.« Die beiden Männer starrten sich für lange Zeit in die Augen, bevor Jhavarr mit nun ruhiger Stimme erklärte: »Danke für Eure Worte, Heiler, aber vernehmt meine ernste Warnung: Sollte ich erfahren, dass einer unter euch Hochfürsten oder der Regent Schwarzgult oder sonst jemand in Aglirta irgendetwas mit dem Tod meiner Schwester zu schaffen hat-
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te, dann werde ich den Schuldigen vernichten – und zwar so qualvoll und grausam, wie ich das nur kann.« Embra richtete sich in eine sitzende Haltung auf und murmelte: »H-Hawkril? Sarassss-? Bogendrachen starrte sie an, lächelte plötzlich, hob die Hände und ließ Blitze zucken. Sein Lächeln wirkte alles andere als freundlich. Blendend helle purpurweiße Strahlen schossen über die Straße und wieder zurück und brandeten über die im Staub zusammengeduckten Gestalten. Sarasper wurde herumgewirbelt, Embra fiel in die Farne zurück ... und dann gab Bogendrachen ein Zeichen, und die Blitze strömten wieder zu ihm zurück. Inmitten der prasselnden Windungen seiner Magie kam etwas auf ihn zu, das noch einen Augenblick zuvor auf Embras Brust gebaumelt hatte: ein gesprenkelter graubrauner Stein. Bogendrachen nahm den Dwaer-Stein, welcher die letzten Fünkchen des Zaubers hinter sich herzog, in die Hand und versuchte, sein Gewicht abzuschätzen. Der Stein war leichter, als es seiner Größe entsprochen hätte, aber der Zauberer hielt unzweifelhaft einen Weltenstein in Händen. Macht durchströmte seinen Arm, und sein Lächeln wurde breiter und endlich aufrichtig. »Der wird nützlich für mich sein – und viel weniger eine Gefahr für Aglirta darstellen, als er es in eurer laxen Obhut gewesen ist, ihr ach so mächtigen Hochfürsten. Keiner der Dwaerindim ist ein Spielzeug, welches sich für jeden eignet, es sei denn, es handelt sich um einen Zauberer ... und noch dazu einen verantwortungsbewussten, besonnenen Magier.«
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Hawkril versuchte mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht, sich auf die Füße zu kämpfen, wobei er sein Kriegsschwert als Stütze benutzte, um den nur wenige Schritte entfernten Zauberer zu erreichen ... Bogendrachen lächelte und benutzte dieses Mal den Dwaer, um Blitze hervorzurufen. Es würde Spaß machen, einen Mann so weit wegzuschleudern, wie das Auge reicht, und ihn gleichzeitig zu rösten, wo es jetzt so einfach war, solche Kräfte zu beschwören! Über die Hügelkuppe dort drüben ... Man brauchte einige Augenblicke, um ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie der Stein erweckt werden konnte, und während dieser kurzen Zeitspanne warf Jhavarr den Stein versehentlich in die Luft über seiner Handfläche, wo der Dwaer herumspann und eifrig Funken versprühte. Bogendrachen hob lässig die andere Hand, um den taumelnden Ritter zu töten – als plötzlich etwas silberhell Blitzendes und Eiskaltes zwischen seinen Fingern hindurchschoss und einen vor Schmerz keuchenden Zauberer zurückließ, der seine Hand schüttelte ... und Blut sah. Er zuckte zusammen und schaute in die Richtung, aus welcher das silbrige Ding gekommen war. Eine schmale Gestalt hatte sich zwischen den Leichen auf der Straße aufgerichtet. Ein zweiter Dolch schoss auf Jhavarr zu, und ein dritter befand sich bereits in Craers Hand. Bogendrachen zuckte hastig von der vorbeiwirbelnden Klinge weg, griff sich den Dwaer aus der Luft – und versetzte sich selbst an einen anderen Ort und hinterließ nichts als ein paar Fünkchen. Craers dritter Dolch sirrte um einen Lidschlag zu spät durch die Stelle, an der sich gerade eben noch der Ma-
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gier befunden hatte. Plötzlich herrschte auf der Straße tiefe Stille. Craer rannte hinter seinen Dolchen her für den Fall, dass sich der Zauberer nur ein paar Bäume weiter weg versetzt hatte und beschloss, Blitze zu der Stelle zu schicken, an der sich Craer befand. Er griff sich zwei der Dolche im Laufen, wirbelte herum, duckte sich und erstarrte, um zu lauschen ... und hörte nichts als das Rascheln der Blätter. Vorsichtig spähte der Hochfürst hier und da in die Bäume, hielt nach allem Möglichen Ausschau, sei es nun ein Bogenschütze oder ein mörderischer junger Zauberer. Die Blätter raschelten so fröhlich wie zuvor, sonnige Flecke tanzten im Grün der Bäume, und Craer konnte zwischen all den großen, dunklen Baumstämmen keine bedrohliche Gestalt ausmachen. Unter stummen, aber inbrünstigen Flüchen rannte Craer zurück zur Straße. Hawkril war aufs Gesicht gefallen und hatte dabei einen Laut von sich gegeben, welchen er nur ausstieß, wenn seine Verletzungen wirklich übel waren. Er rührte sich nicht. Genauso wenig wie Sarasper und Embra, und ohne den Dwaer gab es wenig, was sich ein Beschaffer zuzutrauen wagte, falls sie im Sterben lagen ... nicht viel mehr als Gebete. »Urvater Eiche und Gnädige Herrin«, begann Craer unsicher und kletterte dabei hastig über die toten Bogenschützen und durch die summenden Fliegenschwärme zu der Stelle, wo Hawkril zusammengebrochen war, »hört jetzt mein –« »Tanth der Straße! Ihr Hochfürsten, ich komme in Frieden!« Craers Kopf fuhr hoch. Die Stimme war männlich und klang jung, unsicher und anders als die von Jhavarr Bogendra-
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chen, und Tanth bedeutete in der Sprache des Hinterlandes >ich grüße Euch in friedlicher Absicht und wünsche keinen Pfeil zur Antwort‹, aber jedermann, der nahe genug herankommen wollte, um sein Ziel sicher zu treffen, konnte einen solchen Ruf ausstoßen! Mit einem einzigen, wütenden Sprung krachte Craer durch Farne und zwischen die Bäume, von wo aus der Ruf gekommen war, und in seinen beiden Händen glitzerten Dolche. »Warum«, fragte Aglirtas neuester Fürst die Ritter sanft, »wollt ihr mit mir reiten? Jetzt sagt mir die Wahrheit.« Der jüngere der Männer errötete und warf einen raschen Blick auf den älteren Ritter, welcher neben ihm stand. Der runzelte die Stirn, musterte Blutklinge mit festem Blick aus grauen Augen und meinte: »Ich habe von Euch gehört, Duthjack, Gutes wie auch Schlechtes, aber Eure Siege übertreffen Eure Niederlagen. Und Ihr lasst Eure Männer nicht im Stich. Das gefällt mir – und das wünsche ich mir von einem König. So, und um Euch die Wahrheit zu sagen, wir sind hier, um eine neue Straße zum Ruhm für Aglirta zu finden. Wir möchten in einem starken und gerechten Reich alt werden, nicht in diesem Land ohne König, dafür aber mit Fürsten, welche endlos aufeinander einstechen und Zauberer anheuern, die ihre neuesten und grausamsten Zauberbanne an den Bewohnern des Tales ausprobieren.« Blutklinge nickte nachdenklich. »Eine neue Straße zum Ruhm für Aglirta.« Er blickte auf und grinste wild. »Das klingt gut – denn das ist genau das, was ich ebenfalls wünsche.«
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Er erhob sich aus seinem Stuhl und streckte die Rechte aus. »Lasst uns diese Straße gemeinsam bauen.« Der Regent von Aglirta ging zu der Landkarte an der Wand, starrte zum vielleicht vierten Mal an diesem Tag darauf und seufzte. Weder der Schlafende König noch irgendeiner seiner gekrönten Vorgänger hatte je geglaubt, eine Karte von Aglirta sei notwendig – und jetzt wünschte er sich, er besäße deren drei, um mit Steinen und Holzstückchen markieren zu können, welche Winkelzüge und Bewegungen seine ehrgeizigen Fürsten mit ihren Armeen unternahmen. Ja, sie und die Magier von Sirl überschätzten sich so maßlos, dass sie Aglirta als einen zur Lese reifen Weinberg betrachteten – und zwar für ihren eigenen Bedarf – ganz zu schweigen von Aglirtas eigenen Zauberern und den geheimnisvollen Koglaur sowie den feindlichen Priestern der Schlange. Ja, die Schlangenanbeter trieben in jedem Weiler und bei jeder Dorfversammlung ihr Unwesen, und zwar von einem Ende des Landes ohne König bis zum anderen. Ezendor Schwarzgult stieß einen tiefen Seufzer aus. Als er noch unter dem Namen Goldener Greif bekannt gewesen war, als Kriegerfürst und Hauptwidersacher des schurkischen Fürsten Faerod Silberbaum, als ›Edler Fürst‹, welchen viele hassten und wieder andere priesen, alle jedoch achteten, konnte er ausreiten, sein Schwert schwingen und Recht sprechen, wie es ihm gefiel, gelegentlich einen Fluch über den abwesenden König oder deren viele gegenüber seinen Rivalen ausstoßen. Jetzt, da er die hallenden, gewölbten Kammern
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und den glänzenden Marmor von Treibschaum durchwanderte, beobachteten ihn zu jeder Zeit die ehrgeizigen Augen von hundert glattzüngigen Höflingen, und es juckte ihn in den Fingern, sein Schwert im Kampf zu schwingen. Aber er wagte es nicht, den Thron der Macht zu verlassen, damit kein anderer die Herrschaft an sich riss oder dringende Botschaften verloren gingen und er ahnungslos vor dem stand, was die Karten zeigten oder geschwätzige Zungen erzählten. Bei der Dreifaltigkeit, hatten Männer in Aglirta nichts Besseres zu tun, als Ränke zu schmieden, ihre Dolche zu wetzen und sie bei Nacht zu gebrauchen? »Wir könnten ein so großes Land sein!«, brüllte er plötzlich und erschreckte den am nächsten stehenden pflichtbewussten Pagen, der an der Tür neben einer reglosen Wache stand. »Frieden und ein paar gute Ernten, und wir würden nur so in Geld schwimmen und von Leuten überrannt werden, welche ihr Los verbessern wollen ...« Seine Stimme verklang, als er ein weiteres Mal wütend zu der Landkarte schritt. Und ich könnte auf die Jagd gehen, fügte er stumm hinzu, während seine Augen über die gemalten Abbilder der Windfangs wanderten. Wie unzureichend diese Karte doch all die kleinen Täler und versteckten Pfade zeigte – daran musste er bald etwas ändern ... sofern ein Friede dies zuließ. Auf die Jagd nach Verrätern und Gesetzlosen und schurkischen Magiern, die allesamt zu einem viel zu übermächtigen Fluch für dieses schöne Land geworden sind. Schwarzgults Lippen kräuselten sich, als er sich von der Landkarte abwandte. Als ob das etwas Neues wäre.
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»Verstehe ich das richtig«, fragte der Kriegsherr mit der glänzenden Rüstung, welcher in einem Sattel mit hohem Knauf saß, »dass hier ein Veteran namens Belth Ardurgan lebt? Habe ich Recht?« Der Junge mit dem offen stehenden Mund starrte zu dem Reiter hoch und riss die Augen weit auf, bevor er etwas Unverständliches stammelte, das aber ohne Zweifel die Frage bejahte. Blutklinge lächelte ermutigend und sagte: »Wollt Ihr mich zu ihm bringen? Ich bitte darum.« Zu dem Stammeln gesellte sich ein begeistertes Nicken. Blutklinge lächelte noch einmal, schwang sich aus dem Sattel und kam klirrend auf dem Boden auf. Er sah irgendwie noch größer aus, wenn er auf dem Boden stand. Sein jetzt vor Aufregung stummer Führer winkte ihn durch einen dunklen Eingang. Blutklinge zog den Kopf ein, spähte in den dahinter liegenden Raum – und stellte fest, dass er in die ruhigen Augen eines von Narben gezeichneten alten Mannes blickte, der einen gespannten Bogen in Händen hielt. Die Pfeilspitze wies genau auf Blutklinges Kehle. »Welch ein schöner Tag«, sagte der Kriegsherr ohne Zögern zu dem Bogenschützen. »Ich komme in Frieden und möchte ein Geschäft mit Belth Ardurgan abschließen. Habe ich ihn gefunden?« »Das habt Ihr«, kam die ruhige Antwort. »Euer Begehr, Herr Namenlos?« Der große Mann in der Rüstung lächelte. »Ich heiße Sendrith Duthjack, und man nennt mich Blutklinge. Ich bin jahrelang Söldner gewesen und habe einige
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Erfolge errungen.« Belth Ardurgan nickte. »Auch ich ritt einst gegen klingende Münze in den Krieg. Da war ich noch jünger.« Auch Duthjack nickte. »Auch ich werde alt – und stelle fest, dass ich mich ganz unsagbar nach Frieden sehne. Frieden für ganz Aglirta.« Der Bogenschütze stieß ein Schnauben aus. »Solche Worte habe ich schon früher vernommen.« Er senkte seinen Bogen und richtete die Pfeilspitze ein kleines bisschen zur Seite. »Und?« »Und jetzt brauche ich Hauptleute für meine Schwerter, und mir wurde gesagt, Ihr wärt einer der besten. Ich brauche Hauptmänner, weil ich jetzt auf einmal der Fürst von Glarond bin – und kein Bedürfnis verspüre, ein weiterer dieser endlos keifenden Fürsten von Aglirta zu sein mit ihren Überfällen und ihren Zauberern und ihren Messerstechereien in den Straßen von Sirl. Ich sehne mich nach Frieden. Ich wünsche mir einen neuen König für das Land ohne König – einen echten König, der für Recht und Ordnung im ganzen Land sorgt... für alle Aglirtaner und nicht bloß für die mit Geld und mit Schlössern.« »Ein neuer König«, meinte Ardurgan langsam, als ließe er sich die Worte auf der Zunge zergehen, »und dieser neue König wärt Ihr, so wie ich die Sache verstehe?« Blutklinge neigte den Kopf. »Wenn mir die Dreifaltigkeit diese Gunst gewährt.« Der Bogen des alten Soldaten hob sich wieder. »Ich bin all des Blutes und der Schwerter und der harten Ritte überdrüssig. Mehr als überdrüssig. Ich könnte all Euren Träumen in diesem Augenblick ein Ende bereiten – indem
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ich einfach die Bogensehne losließe.« Duthjack nickte. »Das könntet Dir in der Tat.« Er spreizte die Hände, um zu zeigen, dass seine Finger sich nicht in der Nähe irgendeiner seiner eigenen Waffen befanden, und fragte ruhig: »Wünscht Ihr Euch das für Aglirta?« »Nein«, erwiderte Belth Ardurgan bedächtig. »Nein, das wünsche ich mir nicht.« Er senkte den Bogen und räusperte sich. »Ihr stellt Hauptleute ein, habt Ihr gesagt?« »Für das Doppelte des üblichen Lohns«, erklärte Blutklinge beiläufig. »Ich wünsche mir gute Offiziere überall im Königreich, sobald ich auf dem Thron sitze – und nicht, dass Männer tapfer in den Tod gehen, damit ich an die Spitze gelange.« »Das klingt gerecht«, meinte Ardurgan, schüttelte den Kopf – und grinste dann plötzlich, trat vorwärts und streckte die Hand aus. »Ich glaube, Herr Fürst und zukünftiger König, wir haben ein Abkommen. Für Aglirta!« »Für Aglirta«, erwiderte Blutklinge und verschränkte nach Art der Krieger die Unterarme mit denen des alten Bogenschützen. »Auf dass es endlich einen wahren König bekommt!« »Auf dass es endlich einen wahren König bekommt«, erklangen wie ein Echo mehrere Stimmen hinter Duthjacks Rücken. Er fuhr herum und sah sich etlichen Fuhrleuten, einem Landarbeiter und einem Müller gegenüber, welche sich alle in der Tür drängten. Bei den Göttern, sie waren leise herangeschlichen. Einige trugen Dolche in den Händen – aber unter seinem Blick hoben sie die Waffen in eiligem Salut in die Höhe. »Ja?«, fragte Blutklinge milde.
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Der Müller leckte sich über die Lippen. »Nun ... Fürst... wir sind nicht gerade Krieger, aber ... Ihr werdet Soldaten brauchen, habe ich Recht?« »Und Fuhrleute, um Proviant und Bier heranzuschaffen«, fügte einer der Kutscher hinzu. »Geld ist in diesen Zeiten knapp?«, fragte der Kriegsherr leichthin. Der Müller spuckte auf den Boden. »Kupfer habe ich genug«, entgegnete er grob. »Aber mir mangelt es an einem König und gerechten Gesetzen und dem Gefühl der Sicherheit. Wenn Ihr ein guter König für Aglirta seid, dann stehen wir an Eurer Seite.« Blutklinge lächelte. »Dann bin ich der Richtige für euch. Alle, die mit mir reiten möchten – und ehrlich dafür bezahlt werden wollen –, finden sich heute Abend in meinem Lager im Schwarzhelmwald ein.« Er schaute zu Ardurgan zurück und fügte hinzu: »Kommt angetan in Eurer Rüstung, zum Reiten bereit, Hauptmann.« Ardurgan grinste und nickte. »Zu Befehl, mein Fürst.« »Oh«, machte der kleine Junge, der Blutklinge eben bis zum Gürtel reichte. »Heißt das, Ihr werdet nicht mit ihm kämpfen? Keiner wird sterben?« »Ich fürchte nein«, antwortete Blutklinge ernst und beugte sich vor. »Nicht hier, so die Götter es wollen.« Der Junge sah empört aus. »Wozu ist es dann nütze, König zu sein, wenn Ihr nicht Leute töten könnt?« Die rings umher stehenden Männer kicherten peinlich berührt, aber Blutklinge richtete sich auf und fragte ruhig: »Wie kann es der Bursche besser wissen, wenn er nichts anderes gehört und gesehen hat? Deshalb ist es höchste Zeit, aller-
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höchste Zeit, dass Aglirta einen neuen König bekommt!« »Ein neuer König für Aglirta!«, schrie jemand, und alle fielen in den Ruf ein. Blutklinge winkte Ardurgan zu, wandte sich um und ging zurück zu seinem Pferd, begleitet von aufgeregten Stimmen. Viele Frauen standen da und beobachteten ihn, und keine von ihnen sah glücklich aus. »Ihr nehmt uns unsere Männer weg, auf dass sie getötet werden?«, schrie eine. Blutklinge schwang sich in den Sattel und drehte sich um. »Nein. Ich reite um des Friedens willen – und für einen neuen König für Aglirta!« »Ha«, sagte eine der Frauen bitter, »das sagen sie immer.« Aber als Blutklinge lächelte, die Achseln zuckte und sein Pferd wendete, stiegen hinter ihm Rufe in den Himmel. »Ein neuer König!« und »Ein wahrer König!« und »Blutklinge! Für Blutklinge und den Sieg!« Er grinste und spornte sein Ross zum Galopp an. Für Blutklinge und den Sieg ... das hatte einen guten Klang. Er würde das zu seinem Schlachtruf machen. Der Kriegsfürst trieb sein Pferd noch mehr an; er brauchte jetzt viele Krieger und musste viele Ardurgans aufsuchen. »Wozu ist es dann nütze, König zu sein, wenn Ihr nicht Leute töten könnt?«, sprach er laut vor sich hin. Wie Recht der Junge hat. Wie entsetzlich Recht. Mittlerweile ritt ein einsamer Reiter über die Höhe von Shaunsel. Sein Umhang flatterte hinter ihm her, die Straße war frei, von der Sonne beschienen und so gut wie verlassen, und er hatte die ihn begleitenden Ritter – in voller Rüstung und mit
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zwei Reitpferden, welche schon bei ihrem Aufbruch in der Nacht zuvor erschöpft gewesen waren – weit hinter sich gelassen. Flaeros Delkamper lachte dem Himmel hoch über seinem Kopf aus schierer Freude laut zu. Er war wieder mitten in ein Abenteuer hineingeritten, der Regent wünschte, ihn zu sehen, und Sänger grüßten ihn wie einen der großen alten Barden aus vergangenen Zeiten! »Aha!«, brüllte er aus voller Kehle. »Ein Hoch den Delkampers!« Er hatte sich nie zuvor getraut, diesen Schlachtruf auszustoßen – nicht in all den Jahren, in welchen er sich zu schmächtig, zu schwach und zu ungeschickt mit dem Schwert geglaubt hatte, um auch nur einen Dolch zur Verteidigung der Familienehre zu ziehen ... und genau gesagt, befand er sich derzeit gar nicht in einer Schlacht, sondern galoppierte nur so schnell die Küstenstraße entlang, dass es seiner eigenen Sicherheit kaum zuträglich war. Aber keiner konnte ihn hier hören – aufgepasst, ihr aufmerksamen Lauscher in ganz Darsar – obwohl er doch jemand Wichtiges war, bei den Dreien! Dieser Ritt nach Teln würde seine Reise um ein gutes Dutzend Tage oder noch mehr beschleunigen. Er konnte an Bord eines der schnellen, mit Gewürzen und Seide beladenen Schiffe von Malavar Obalar gehen und geradewegs den Silberfluss nach Treibschaum hinaufsegeln! Ja! »Ein Hoch den Delkampers!«, schrie er noch einmal und lachte unbändig. »Bei der Dreifaltigkeit, was für ein Lärm!«, schimpfte ein neben der Straße aufgetürmter Heuhaufen, erhob sich plötzlich mannshoch und zog fest an einem gewachsten Seil, wel-
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ches zu seinen Füßen um einen alten Zaunpfosten gebunden war. »Jawohl! Es wird mir ein Vergnügen sein, diesen feinen, jungen Tölpel vom Pferd zu holen!«, erklärte ein anderer Heuhaufen auf der gegenüberliegenden Seite der Straße und zog am anderen Ende des Seils – und als das dahingaloppierende Delkamper-Pferd dagegen raste, stolperte es und ging wiehernd zu Boden. Das Tier schlug wie wild mit den Hufen aus, eine Staubwolke stieg in die Höhe, und ein benommener Reiter rollte über den Boden. Heubüschel hinter sich herziehend lachte Suskar laut und bewegte sich schwerfällig vorwärts, wobei er ein langes Messer zückte. Das Pferd hatte sich den Hals gebrochen und lag reglos da, von einem schwach austretenden Hinterlauf einmal abgesehen. Es gab keine Satteltaschen – aber der Reiter trug immerhin prächtige, seidene Gewänder ... und schimmerte dort nicht Gold? »Auf ihn, Baerm – lasst ihn nicht entkommen!«, brüllte er, als der Jüngling auf dem Boden unter Spucken und Husten und mit aufgerissenen Augen versuchte, auf die Füße zu kommen und wegzulaufen. Er lief heftig humpelnd und auf geradezu komische Weise stolpernd und mit wie Windmühlenflügel rudernden Armen, um das Gleichgewicht zu halten, über die Wiese, und Baerm hüpfte hinter ihm her. Ein langer, schmutziger Arm erwischte den stolpernden Jüngling an der Schulter, wirbelte ihn herum und schleuderte ihn zu Boden – und Baerm rammte dem jungen Mann beide Fäuste in den Magen und erzielte so das gewünschte Ergebnis.
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»Rindfleisch und Karotten«, stellte Suskar angewidert fest, als er schließlich neben dem sich krampfhaft übergebenden, in Seide gehüllten Bündel ankam, bei welchem Baerm Wache hielt. »Warum muss es immer Rindfleisch mit Karotten sein? Isst man in Aglirta nichts anderes?« »Nun«, grollte eine Stimme gleich hinter ihm, »Ihr könntet eine Mahlzeit aus – kaltem Stahl probieren!« Suskar erstarrte, als etwas Kaltes, Eisiges in seinen Rücken fuhr und eine Taubheit mit sich brachte, welche zuerst brannte und dann dunkel, feucht und spitz aus seinem Bauch brach. Baerm starrte für eine, wie es schien, endlos lange Zeit darauf nieder, bevor er beinahe widerstrebend den Blick hob und über Suskars Schulter schaute. Dann schrie er. »Ah«, sprach ihn die grimmige Stimme an, »Ihr seid wirklich erfreut, mich zu sehen. So gefällt es mir.« Baerm hatte nicht mehr als zwei Sätze gemacht, nachdem er sich eilends umgedreht und die Flucht angetreten hatte, als ihn eine schwere, mit aller Macht geschwungene Keule am Hinterkopf traf und ins rote Vergessen schickte. Dicht neben ihm sackte der stöhnende Körper Suskars auf den Boden. Flaeros ächzte, schüttelte den Kopf in dem Versuch, die Benommenheit in seinem Schädel loszuwerden, und japste: »W-wer –?« »Meine Eltern, welche über gewandte Zungen verfügt haben müssen, nannten mich Glarsimber Belklarravus«, antwortete die schroffe Stimme von weiter oben, und starke Finger griffen sich eine Hand voll Seide und zogen daran. Flaeros blinzelte, saß plötzlich aufrecht da und starrte in ein Gesicht, welches er kannte ... und zwar von dem prächtigen
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Schauspiel in Treibschaum her, als der Lächelnde Wolf von Sart umbenannt worden war in – »Fürst Hellbanner!«, keuchte er. »Ja, so lautet mein neuer Name«, meinte der Mann mit dem Doppelkinn und dem wild wuchernden Backenbart und steckte sein Schwert in die Scheide. Dann machte er ein paar Schritte vorwärts und hob seinen Streitkolben auf. »So wohlgeboren, dass ich mich noch nicht daran gewöhnt habe. Ihr seid natürlich der Barde Flaeros Delkamper.« »J-ja! Bei der Dreifaltigkeit, seid bedankt, Fürst! Ich – Ihr – Ihr habt mir das Leben gerettet!« Der Fürst zuckte die Achseln, lächelte und legte einen Arm so schwungvoll um die Schultern des Barden, dass dieser beinahe wieder auf den Boden gekippt wäre. »Nun kommt, junger Mann, zurück zur Straße«, sagte Glarsimber lebhaft. »Ihr wart in einiger Eile, wie ich annehme.« »Ja«, bestätigte Flaeros stockend. Sein Schädel dröhnte noch immer – alles war so plötzlich passiert, und – Er runzelte die Stirn. »Werter Herr Fürst«, sagte er, »die Drei müssen wahrlich auf mich herablächeln, dass Ihr mir so fern von Aglirta zu Hilfe eiltet!« Der Fürst kicherte in seine Armbeuge und murmelte so etwas wie: »Nur Narren!« Sie trampelten gemeinsam ein paar Schritte lang Heu nieder, dann traute sich Flaeros, seinen Retter anzuschauen und seiner Frage Nachdruck zu verleihen. »Fürst?« Glarsimber lächelte schief – und schaute dann weg in Richtung Meer. »Nun, Bursche«, teilte er der Luft direkt vor seiner Nase mit, »ich wurde hergeschickt, um – etwas zu er-
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ledigen.« Flaeros schnappte nach Luft. »Ihr müsst Euch auf einer von Schwarzgult befohlenen Mission befinden!« Der Fürst zuckte mit den Schultern, grinste noch schiefer und meinte nur: »Vielleicht.« Der tiefblaue Rauch stieg ein wenig höher, und der Zauberer, welcher daneben stand, hielt den Dwaer in seiner Hand in die Höhe und kicherte. »Denkt daran, denkt daran, wie es getan werden muss, und schon ist es geschehen. Keine Dutzende von Zauberbannen mehr und tagelange Suchereien nach seltenen Pülverchen und Bannwörtern. Kein Wunder, dass die Herrin der Edelsteine den Zaubermeister abwehrte und seither fast gleichgültig durch ein Dutzend Zauberduelle gegangen ist.« Jhavarr Bogendrachens Lächeln wurde immer breiter. »Und Schwarzgult besitzt zwei weitere dieser Steine, oder täusche ich mich da? Ich sehe mich zu dem Schluss gezwungen, dass er etwas mit dem Tod meiner Schwester zu schaffen hatte. Oh ja.« Der Rauch wirbelte immer rascher in die Höhe, und aus seinen Windungen ringelte sich etwas Langes und Dunkles mit vielen Schuppen: eine Talviper! Aber bislang waren noch keiner Talviper jemals kleine, flatternde Flügel hinter dem Kopf und noch weitere aus dem Rücken gesprossen so wie die, welche jetzt den Rauch aufwirbelten. »Kleine, fliegende Schlange«, murmelte der Zauberer, »gebunden an meinen Willen, sollst du sogleich nach Norden fliegen und mein Spitzel sein!«
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Er bewegte die Hand nach vorn, als wolle er einen Stein in einen Teich schleudern – und der blaue Rauch erhob sich zu einer brüllenden Spirale, raste heulend vor Zorn in ein Anderswo, welches sich in den Schatten hinter der Tür zu seiner Studierstube verbarg – und nahm die fliegende Schlange mit sich. »Eine plumpe Beschwörung«, erzählte er seinem Spiegelbild in dem ovalen Spiegel neben der Tür, »aber sie ist immerhin durch Magie an mich gebunden.« Er wandte sich wieder den letzten wirbelnden Fäden blauen Rauchs zu, welche sich drehten, sanken und wieder aufstiegen über den Resten der Beschwörung. »Schleiche dich an und verfolge die Bande der Vier«, flüsterte er. »Spioniere jede hochfürstliche Tat aus, so dass ich sie sehen kann und darüber Kenntnis erlange. Seien sie nun schuldig oder nicht, sie gleichen den umherstreifenden Jagdkatzen von Aglirta. Ärger folgt ihnen auf dem Fuße, und in ihrer Ungeschicklichkeit bringen sie ihn den anderen ... und irgendwo da draußen ist der vierte der Dwaerindim. Ja.« Er ging zu einem ganz besonderen Edelstein, welcher auf einem Tisch lag. Die Unterseite war flach und glatt, die Oberseite gewölbt und schimmernd, und das Juwel wies die Länge einer Hand auf. Er polierte den Edelstein mit den Fingern, und blaue Rauchwölkchen stiegen von dort auf, wo er ihn berührt hatte. Der Magier starrte in die Wölkchen hinein und erblickte eine mit Leichen übersäte Straße. Eine Straße, welche er kannte. Er zuckte die Achseln und wendete sich ab, während der Rauch verging. Sein Spitzel würde ohne Unterlass spionieren und sich an
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alles erinnern, was der Magier nicht durch seine Augen sehen konnte. Und falls diese vier Hanswurste von Hochfürsten den Spion bemerken sollten, dann würde die Schlange wachsen, sobald man auf sie einschlug. Hieb für Hieb würde sie anschwellen und zuschlagen wie ein turmgroßes, fliegendes Nilpferd, sollte das notwendig sein. Jhavarr Bogendrachen lächelte; da würde sich das Zuschauen lohnen. Ein eitler Zeitvertreib, sicher, aber wozu waren »Helden« sonst nütze?
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Drei
Zauberer fallen aus den Bäumen C Craer kannte das weiße Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen. Er hatte nicht damit gerechnet, es hier in diesem von der Dreifaltigkeit verfluchten Wald voller raschelnder Blätter und tödlicher Pfeile anzutreffen, aber trotzdem war es da über einer entsetzt schluckenden Kehle, welche sein Dolch im nächsten Augenblick aufzuschlitzen drohte. »Raulin Burgmäntel«, stieß Craer leise, aber keineswegs freundlich hervor, »was bei den heiligen tanzenden Göttern tut Ihr hier?« »I-ich –« Eine schmale Hand hob sich und schob Craers Dolch beiseite. Raulin wirkte ein wenig überrascht, als der Beschaffer dies zuließ, anstatt ihm die Kehle oder die Finger zu zerschneiden. Er räusperte sich, starrte Craer sehr, sehr vorsichtig an und meinte: »Ich habe euch Vier beobachtet und bin euch gefolgt.« »Warum? Wollt Ihr Eure Kleider zurückhaben?« Raulin lief dunkelrot an.
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»Hochfürst Delnbein, bitte. Ich – ich habe euch in der Hoffnung beobachtet, noch einmal eine Chance zu bekommen. Ich möchte wie ihr sein und mit euch reiten, um Aglirta stark zu machen, und – und euch zu helfen, wenn ihr –« Hinter Craer erklang ein äußerst lautes Schnauben. Hawkril stand blass, mit Blut befleckt und wackelig, aber mit klaren Augen und dem Kriegsschwert fest in der Hand auf den Beinen. »Ihr bekommt Eure Chance, junger Mann, und seid willkommen. Aglirta hat ohnehin zu wenige Freunde, so dass wir jede helfende Hand, welche uns beisteht, brauchen können. Craer, steckt den Dolch weg und kommt zu mir. Um Embra steht es nicht gut.« Mit einer Miene, auf der sich so etwas wie Ekel abzeichnete, wirbelte Hochfürst Delnbein von dem Jungen weg, der in einem Gasthaus an ihrer Seite gekämpft und sich trotz der Tatsache, dass ihn ein gewisser Beschaffer bewusstlos geschlagen und den größten Teil seiner Kleider gestohlen hatte, an dem großen Kampf im Schweigenden Haus beteiligt hatte. Craer lief durch den Farn voraus zu der mit Leichen übersäten Straße. Raulin starrte all das Blut und die von Fliegenschwärmen umsummten Toten an, wurde käsebleich und musste mehrere Male schlucken. Craer musterte den Jungen und wies dann auf die andere Seite der Straße, wo Sarasper und Embra Seite an Seite stumm, bleich und reglos zusammengesunken auf dem Boden lagen. Ihre Kleider waren angesengt, und ein starker Brandgeruch ging von ihnen aus. »Nun, mein Junge«, meinte Craer bitter, »kennt Ihr irgendeinen Heilzauber?«
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Raulin öffnete den Mund zu einer Antwort, die nicht »Ja« lauten würde, brachte aber nicht mehr als ein Stammeln zustande, als ein paar von Leichen versperrte Schritte entfernt die Luft zu schimmern begann. Ein paar silberne Schatten schienen über dem Boden zu tanzen, und plötzlich standen da vier Frauen. Sie standen dicht beieinander, in dunkle Gewänder gehüllt, schlank und groß – und dadurch, dass ihre gestiefelten Füße eine Handbreit über der Straße auf der Luft standen, wirkten sie noch größer. Sie schienen Schwestern zu sein, denn mit ihren wunderschönen Gesichtern und den riesigen, graugrünen Augen sahen sie sich sehr ähnlich. Sie hielten Zauberstäbe in den Händen, gekrönt von glitzernden Edelsteinen, welche vor Magie knackten. Sie betrachteten die Toten und die Überlebenden, und ihre Mienen sahen weder beeindruckt noch freundlich aus. Craer befleißigte sich eines Tones, der zu ihrem kalten, wortlosen Starren passte. »Was haben wir denn da? Eine Zaubererversammlung? Oder sind wir auf einen Weg gestolpert, welchen auch noch der letzte Magier und die letzte Zauberin von Darsar entlangwandelt, um jeden Morgen Zauberbanne aus der gleichen Quelle zu holen?« Ein Zauberstab hob sich träge und wies auf des Beschaffers Brust – und dann lächelte die Zauberin höhnisch und richtete den Stab bedrohlich auf Hawkril. »Wir folgen Jhavarr Bogendrachen«, erklärte die Besitzerin dieses Stabes kalt und schritt auf leerer Luft vorwärts, »und wissen, dass er hier gewesen ist. Wer seid ihr, und was hattet ihr mit ihm zu schaffen?«
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Craer sah die Frau finster an, aber Hawkril nannte grollend ihre Namen und Titel und stellte dabei Raulin als den »Barden Burgmäntel, Sohn eines berühmten Vaters« vor, worauf der Jüngling rot anlief, aber strahlte. Dann fügte der Ritter hinzu: »Keiner von uns hat diesen Bogendrachen-Zauberer je zuvor gesehen, und er hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als uns anzugreifen.« »Jetzt seid ihr an der Reihe«, mischte sich Craer ein. »Wir sind hier die Adligen von hohem Rang; enthüllt uns eure Namen.« »Ariathe, Dacele, Olone und Tschamarra«, kam Olones rasche und stolze Antwort. Ihr Finger wies jeweils auf die Namensträgerin, wobei sie jedoch ihren Zauberstab unentwegt auf Hawkrils gepanzerte Brust gerichtet hielt. »Wir sind Schwestern und keineswegs von so geringem Rang wie gewisse andere Anwesende. Talasorn ist der Name unserer Familie.« Craer erstarrte. »Seid ihr mit Raevur Talasorn aus Sirlptar Verwandt?« »Wir sind seine Töchter«, teilte ihm Olone kalt mit, »und wir wollen seinen Tod rächen. Der Erwachte König und sein Regent müssen sterben, und ein paar andere noch dazu.« »Talasorn fiel im Kampf gegen Fürst Kardassa«, meinte Hawkril bedächtig. »Viele verloren an jenem Tag ihr Leben. Der alte – äh, Kardassa stand für den König, und der Rest trachtete danach, den Thron zu stürzen.« Er runzelte die Stirn. »Was bedeutet, dass diejenigen, welche Kardassa in seiner eigenen Burg angriffen, Feinde von Aglirta gewesen sein müssen.« »Unser Vater war ein liebenswürdiger und diplomatischer
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Mann; er gehörte zu den führenden Magiern von Sirlptar«, erklärte Ariathe verärgert. »Er verbündete sich nicht etwa deshalb mit Fürst Adeln gegen den Erwachten König, um Schneestern die Krone zu entreißen, sondern weil er ein starkes, vereintes Aglirta anstrebte, in dem ein gesteigerter Handel und Wohlstand dafür sorgen würden, dass mehr Reichtum entstünde. Und damit wären mehr Bürger in der Lage, einen Zauberer anzuheuern. Auf diese Weise wollte unser Vater uns ein Leben voller Wohlstand und Ansehen verschaffen.« Craer zog die Brauen zusammen. »Wie bitte?«, fragte er gleichermaßen zweifelnd wie verblüfft. »Ihm ging es um Wohlstand und Ansehen?« Raulin Burgmäntel legte eine Hand auf Craers Arm und räusperte sich. Dann hob er, um Schweigen bittend, den Finger, schritt auf die Zauberinnen zu, bis er die vier Schwestern beinahe berührte. Die gleiche Anzahl von Zauberstäben richtete sich auf sein Gesicht. Raulin achtete nicht weiter darauf, sondern blickte in den Himmel und rezitierte einige Sätze, als riefe er sich vor langer Zeit gelernte Worte, welche ihm bis zu diesem Augenblick entfallen waren, ins Gedächtnis zurück. »Die Zauberkraft der vier Töchter Raevur Talasorns übertraf bei weitem die ihres Vaters. Da sein Eheweib Iyrinda vor langer Zeit gestorben war, richtete er seine ganze Liebe auf Olone, die älteste; Ariathe von den mächtigen Zaubern; Dacele; und Tschamarra. Er kam zu dem Schluss, dass seine vier Töchter zu klug und zu schön seien, um sie zu verheiraten – er wollte verhindern, dass irgendwelche Kriegerfürsten sie schlecht behandelten und unterbanden, dass sie ihre Magie
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benutzten oder ihrem eigenen Willen folgten.« Craer zog die Brauen hoch, aber die Zauberinnen lächelten. »Heutigentags sind die Barden wohl unterrichtet«, bemerkte Dacele. »Jedes Wort entspricht der Wahrheit.« »Genug davon«, schnappte Ariathe. »Diese Hochfürsten dienen dem Erwachten König – zerblast sie zu Staub, und lasst uns von hier verschwinden!« »Nein!«, warf Tschamarra ein. »Das allzu schnelle Schleudern von Bannen hat unseren Vater immer wieder in neue Schwierigkeiten gebracht. Wir täten besser daran, Bogendrachen zu folgen und erst einmal herauszufinden, wer wer ist.« »Gut gesagt«, stimmte ihr Olone zu. »Uns bleiben später alle Zeit der Welt und gewiss Gelegenheiten zuhauf, Burgen zu Staub zu zerblasen.« »Lasst uns nicht zu lange damit warten«, schnappte Ariathe und starrte Craer Unheil verkündend an. Der Beschaffer streckte ihr zur Antwort die Zunge heraus – einen Augenblick bevor Olones nach oben fahrende Hand die Schwestern wieder ins schimmernde Nirgendwo beförderte. Kein von einem Zauberstab geschleuderter Blitz traf den Beschaffer, und keine Spur wies darauf hin, dass hier noch vor einigen Herzschlägen die Erscheinungen gestanden hatten. Durch die ansonsten leere Luft summten nur die Fliegen. Craer schaute Hawkril an, und Hawkril erwiderte den Blick. Alle beide stießen zur gleichen Zeit einen Seufzer aus. Der Beschaffer machte einen tänzelnden Schritt vorwärts und wirbelte dann herum, um Hawkril und Raulin anzuschauen. Er spreizte die Arme und sagte in plötzlicher Ver-
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zweiflung: »Was ist nur in Aglirta los? Wir reiten an einem schönen sonnigen Tag die Straße entlang und haben nichts als ein nettes, sauberes Geheimnis im Sinn, und auf einmal fallen Zauberer aus den Bäumen und der Luft – die Dreifaltigkeit mag wissen woher –, Jünglinge wünschen, sich uns anzuschließen, und das Verhängnis droht uns jeden Augenblick auf den Kopf zu fallen –« Raulin hob eine Hand, um ein weiteres Mal um Ruhe zu bitten. Mit einer Geste bedeutete ihm der finster dreinschauende Craer, doch bitteschön weiterzumachen. Der Jüngling hielt dem Beschaffer eine kleine, fein verzierte Metallflasche hin. »Eine der Zauberinnen – Tschamarra, drückte mir das da in die Hand«, erklärte er und zeigte dann auf Sarasper. »Sie wollte nicht, dass ihre Schwestern das Fläschchen sahen.« Craer hielt den Flakon in die Höhe und starrte ihn mit einer Mischung aus Erstaunen und Misstrauen an. Hawkril lächelte und wiederholte: »Was ist bloß in Aglirta los?« Wortlos schaute der Beschaffer auf Sarasper und Embra und dann auf Hawkril. Hilflos zuckte er mit den Achseln. Hawkril hob ebenfalls die Schultern. »Haben wir eine Wahl?« Craer nickte, entkorkte das Fläschchen, verschloss es mit einem Finger und kippte es gerade so stark, dass der Inhalt seine Fingerspitze benetzte. Dann schnüffelte er daran und leckte an der winzigen Spur Flüssigkeit – und dann tat der Kleine das, von dem die beiden anderen gewusst hatten, dass er es tun würde: Craer steckte den Flaschenhals zwischen Saraspers Lippen und kippte einen kleinen Schluck in den
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Mund des Heilers. Der alte Mann hustete, schüttelte sich heftig vor Ekel und verzog das Gesicht, setzte noch einmal zu einem heftigen, quälenden Husten an und spuckte schließlich aus wie ein erzürnter Trunkenbold. Die Augen hielt er fest geschlossen. Mit gerunzelter Stirn blickte Craer auf Sarasper nieder, dann wandte er sich Embra zu. Eine klauenartige Hand zupfte von hinten am Ellbogen des Beschaffers, bevor dieser die Flasche in den Mund der jungen Frau schieben konnte, begleitet von dem mit rauer, krächzender Stimme ausgestoßenen Ruf: »Wartet!« Craer wandte sich um. »Seid sparsam damit«, stieß Sarasper hervor, »jeder von uns kann davon trinken. Überlasst mir ihre Heilung.« Craer winkte mit der Hand, um dem Heiler anzudeuten, er könne sich Embra zuwenden, verschloss die Flasche, hängte sie an seinen Gürtel und schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich wüsste nur einmal, was hier vorgeht«, sagte er zu den Bäumen über seinem Kopf. »Als wir als Soldaten im Dienste Schwarzgults kämpften oder meinethalben sogar als hungernde Gesetzlose umherzogen, waren die Dinge viel einfacher. Man wusste, wo man stand –« »Ja, meistens einen Schritt von der Schlinge des Henkers entfernt«, brummte Hawkril, »dank Eures Dranges, große, hässliche und nutzlose Sachen zu stehlen.« Craer spreizte die Finger. »Groß seid Ihr tatsächlich, das stimmt, und nutzlos ebenfalls, aber hässlich, na, ich weiß nicht ...« »Richtig«, bemerkte Sarasper mit einem Funkeln tief in seinen müden Augen, »ich würde nicht herumlaufen und erklären, ein Mann sei hässlich, das mögen die Drei 76
klären, ein Mann sei hässlich, das mögen die Drei verhüten.« »Wir sind verrückt, Junge«, erklärte Hawkril Raulin. »Lauft so schnell und so weit wie möglich weg, solange Ihr das noch könnt.« Der junge Barde grinste den Hünen an. »Um die Wahrheit zu sagen, Hochfürst Anharu, habe ich das vermisst. Es herrscht überall in Aglirta ein Mangel an guten Possenreißern.« Craer erstarrte. Sarasper schaute auf, zog dann langsam seinen Dolch aus dem Gürtel und musterte Raulin mit hartem Blick. Wie die Flanke eines schwerfälligen, gerüsteten Berges wandte sich Hawkril langsam um und starrte den jungen Barden an. Raulin riss die Augen auf und begann zu zittern, begegnete aber mutig dem Blick des Ritters. Augen so scharf und furchtlos wie eine Schwertklinge bohrten sich in Raulin Burgmäntel hinein und durch ihn hindurch ... Und dann teilte sich Hawkrils Gesicht zu einem breiten Grinsen. Plötzlich brüllend vor Lachen nahm er den Barden in eine blaue Flecke erzeugende, staubige und blutige Umarmung. Vor Erleichterung wie wild grinsend lachte Raulin ebenfalls, und die beiden tanzten kurz an einem ebenfalls grinsenden Craer vorbei zu Sarasper, welcher den Kopf schüttelte. Der alte Heiler senkte aber nicht seinen fein gearbeiteten Dolch. Der war ein Geschenk des Regenten Schwarzgult, fiel Raulin ein, als er sah, wie sich Saraspers Lippen zusammenpressten. Der Barde keuchte, als ein blauer Schimmer entlang der glänzenden Schneide des Dolches erschien und sich schnell in
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blauweißes Feuer verwandelte. Sarasper drehte den Dolch langsam hin und her und murmelte: »Und so mag alle Tötungsmagie vorbeiziehen.« Die Hand des alten Heilers zitterte ... und dann floss der blauweiße Schimmer langsam an der Schneide hinunter und anschließend über seine runzelige Hand, seinen Arm und über seine Brust zu seinem anderen Arm und von dort aus über den ausgestreckten Fingern seiner anderen Hand zu Embras Kehle. Während Raulin noch wie verzaubert zusah, bemerkte er, dass sich die wunderschöne Kehle der Zauberin in einem tiefen Seufzer bewegte. Sarasper hielt seine Hand möglichst still, und sein Dolch sah inzwischen dunkel und leblos aus, und Embra schluckte unter der Berührung des Heilers. Langsam wanderten Saraspers runzlige Finger zu ihrem Kinn hoch und berührten ihre Lippen. Ihre Augenlieder flatterten sofort, sie stöhnte leise – und öffnete die Augen und blickte ihn an. »Wie viele Male habt Ihr mich wieder zusammengeflickt?« »Weniger oft als Eure beiden Kleider stehlenden Tölpel dort drüben«, knurrte der alte Mann laut. »Sie haben schon für einen Ersatz für Euch gesorgt.« Er zuckte mit dem Kopf in Richtung Raulin, der Embra unbehaglich anlächelte, sich verneigte und in förmlichen Ton sagte: »Mein Tag ist erleuchtet von unserem Treffen, schöne Edle Hochfürstin – äh, Fürstin Silberbaum.« Als er sich ob seiner Unsicherheit, welche Anrede nun die richtige für Embra sein mochte, verhaspelte, grinste die Herrin der Edelsteine auffallend ähnlich wie Hawkril und antwortete: »Ich fühle mich durch Eure Hochachtung geehrt,
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Barde Burgmäntel. Nennt mich Embra – und bitte nicht einfach ›Em‹.« Sie musterte die anderen Mitglieder der Viererbande und fügte hinzu: »Ihr hört doch zu, werte Herren? Ein wenig Höflichkeit kann nie schaden.« Craer gab eine Parodie einer verzwickten höfischen Verbeugung zum Besten und lispelte geziert: »Meine gute, strahlende Edle, ich bereue zutiefst meine gegenwärtigen und vergangenen fehlgeleiteten Versuche, Eure Garderobe zu erleichtern, aber ich bin den wachsamen Göttern auf ewig dafür dankbar, dass sie zusahen, dass diese heimtückische Verfehlung dazu führte, dass wir beide uns in Harmonie und den liebenswürdigen Banden der Freundschaft einander annäherten!« Er straffte sich und bemerkte mit seiner normalen Stimme: »Und ich kann dem nur hinzufügen, dass mir als altem Soldaten scheinen will, dass wir uns besser von diesem Ort fortbewegen, bevor noch weitere Zauberer – oder Bogenschützen – hier erscheinen.« »Ganz richtig«, stimmte ihm Hawkril eilig zu. »Wir sollten uns auf den Weg machen – und sei es auch nur, um den Wölfen und Wildhunden Bewegung zu verschaffen, indem sie unseren Spuren folgen.« »Bewegung? Sie werden mit auf dem Boden schleifenden Bäuchen unserer Spur folgen, wenn sie erst all diese Bogenschützen verschlungen haben«, bemerkte Sarasper. Craer und Hawkril schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Nein«, erklärte der Hüne grimmig, »für die Jäger des Tales mit den Reißzähnen sind die Toten einer Schlacht sichere Beute; zudem werden neugierige Kreaturen davon angelockt, welche getötet werden und noch mehr Beute bringen. Unsere Spuren, die von diesem Ort wegführen, werden zuerst ver-
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folgt.« »Um den Vorratskeller immer voller zu machen«, fügte Craer hinzu. »Wir müssen los!« »Wohin?«, fragte Embra, während sie sich von den zerdrückten Farnen erhob und sich streckte – und sogleich stöhnte, schwankte und dann zuließ, dass Sarasper sie stützte. Bleich im Gesicht setzte sie sich anmutig wieder hin, winkte Hawkrils hilfreich ausgestreckte Hand weg und fügte hinzu: »Männer aus Aglirta scheinen großen Wert darauf zu legen, irgendwelche Orte zu erstürmen, mit den Schwertern zu wedeln und dabei zu brüllen – aber ich, faul und verwöhnt, wie ich adliges Ding nun einmal bin, frage erst einmal danach, wohin ich mich auf den Weg mache und aus welchem Grund solche Eile geboten ist, bevor ich anfange, herumzuschreien und durch die Gegend zu stampfen.« »Ihr habt ein bestimmtes Ziel vor Augen, das kann ich klar erkennen«, sagte Hawkril ruhig und starrte sie an. »Wohin und aus welchem Grund?« Embra zuckte die Achseln. »Mein Dwaer ist verschwunden. Ihr werdet mir sicher berichten, wie das passierte und wer ihn mir genommen hat, aber wartet damit bis später. Der Widerhall jüngst gewirkter Zauber strömt hier um uns herum so stark, dass es mir so vorkommt, als brüllten mir Männer unterschiedliche Schlachtrufe ins Ohr, wobei alle Schulter an Schulter in einem kleinen Ankleidezimmer stehen. Lasst uns nach Treibschaum gehen. Dort schützen uns Schwarz–, meines Vaters zwei Dwaerindim, und zudem noch ein paar weitere wertvolle Tintenfässer oder singende Schmuckkästchen meiner Familie. Dort kann ich einige vertrackte Zauber ausprobieren, um meinen Dwaer aufzuspüren.«
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Sie erhob sich von neuem, stieg geschickt über die ausgestreckten Körper und sprudelte heraus: »Ohne den Stein fühle ich mich nackt. Als sei er ein Teil von mir, etwas, das ich bestimmt war zu haben. Jeder Zauberer sehnt sich danach, einen Dwaer zu besitzen, ja, aber es ist jetzt meiner, als hätte ihn die Dreifaltigkeit für meine Hand gemacht.« Sarasper schaute sie an und steckte dann mit einem gewissen Unmut den Dolch ein, aus welchem er alle Magie abgezogen hatte, um die junge Frau zu heilen. »So einfach ist das nicht, Embra«, schnappte er. »›Die Götter wollten, dass ich das tue, also tue ich es‹. Ist Euch bewusst, wie gefährlich solche Worte sind? Wie verrückt jene werden, welche sie aussprechen, und welchen Schaden sie anrichten? Die Götter kündigen keine netten kleinen Schicksale für uns an, Mädchen. So einfach sieht das nie aus.« »Langsam, Sarasper, langsam«, murmelte Craer. »Aber Euer Einwand ist zweifellos stichhaltig. Barde, merkt Euch also, dass Embra das Gefühl hat, sie brauche den Dwaer zurück – und sich der Rest von uns todsicher ist, dass wir ohne ihn binnen Kurzem umgebracht werden ... nämlich genau dann, wenn wir dem nächsten unfreundlichen Zauberer begegnen.« Bevor Raulin noch antworten konnte, drehte sich der Beschaffer um, schaute ihm direkt in die Augen und fügte hinzu: »Nun, hier trennen sich am besten unsere Wege –« »Nein«, unterbrach ihn Hawkril mit fester Stimme. »Selbst wenn wir ihn dadurch nicht in die Fänge der Wölfe werfen würden, sage ich, dass der Junge bei uns bleibt. Das habe ich schon zuvor erklärt: Jede Hand, welche für Aglirta kämpft, muss uns willkommen sein – wie sonst sollte das Land jemals mehr sein als eine Ansammlung selbstsüchtiger Familien mit
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ihren Fehden, Ränken und ein paar Trupps von Schwertbrüdern? Was geschähe, wenn noch mehr Vierergruppen wütender Zauberinnen kreuz und quer durch das Land zögen, um Rache an wirklichen oder eingebildeten Feinden zu nehmen?« Sarasper seufzte. »Raulin Burgmäntel. Tapfer, willig, von gutem Wesen – und ein Körper mehr, den ich vielleicht wieder heilen muss«, sagte er zu seinen von getrocknetem Blut überzogenen Händen. Das meiste stammte von Hawkril, aber ein bisschen auch von Embra und ihm selbst. »Ein Leben mehr, das wir bei unseren kleinen Abenteuern verschwenden können.« Der Heiler blickte scharf nach oben und fügte hinzu: »Junge, wenn Ihr mit uns kommt, dann seid Ihr ein Narr. Euer Schicksal wird höchstwahrscheinlich ein schneller Tod sein, und den Göttern mag es gefallen, ihn Euch schneller zu bescheren, als Euch lieb ist – zumal wenn wir mit all unserer Mangelhaftigkeit beteiligt sind.« »Ich sage, dass Raulin uns und Aglirta seine Nützlichkeit bewiesen und jedes Recht hat, sich mit uns in Gefahr zu begeben – oder klüger zu sein und woanders hinzugehen – so er sich dafür entscheidet«, erklärte Embra. »Wir sprechen hier nicht über jemanden, der noch nie mit uns geritten ist und die Gefahren nicht kennt oder noch nicht bewiesen hat, dass er damit umgehen kann. Ihm soll die Wahl überlassen bleiben.« Craer schaute Sarasper an, und beide Männer zuckten mit den Schultern. »Herrin«, sagte schließlich der Beschaffer, während er sich wieder zu der Zauberin umwandte, »wir folgen Eurem Rat-
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schlag – und sei es nur, um unseren Ohren all die Dinge zu ersparen, welche Ihr uns in den vor uns liegenden Tagen mit Gewissheit immer und immer wieder vorhalten werdet, falls wir das nicht tun.« Embra lächelte zuckersüß. »Ah, zu guter Letzt verstehen wir uns richtig.« Sie schaute Raulin an. »Wollt Ihr immer noch mit uns reisen? Wir wetzen die ganze Zeit über unsere scharfen Zungen.« »Ich will«, erklärte der junge Barde entschlossen. »Gut«, meinte Craer kurz und bündig. Er zeigte auf die Leichen auf der Straße und fügte hinzu: »Dolche. Holt mir zwanzig Stück – und wickelt sie in einen Umhang, welchen jemand nicht mehr braucht. Benutzt einen anderen Umhang, um alle einigermaßen anständigen Stiefel einzusammeln, die Ihr seht; sie sind bare Münze wert. Dann –« »Craer!«, schimpfte Embra. »Wir haben einen Verbündeten gewonnen, keinen Packesel!« Mit großen Augen drehte sich der Beschaffer zu ihr herum und hob die Hände. »Was, werte Herrin Hochfürstin? Ist diese Sammelei nicht genau das, was ich täte, wenn Raulin nicht bei uns wäre? Hmmm?« Die hoch stehende Sonne brannte auf die Straße nieder, wo ein immer blasser werdender Jüngling vorsichtig Dolche aus Scheiden zog und dann auch Letztere einsammelte samt den Gürteln, an welchen sie hingen, wobei ihm der Hochfürst Delnbein zur Hand ging. An einem Ast hoch droben in einem Baum hingen zwei wache, aufmerksame Fledermäuse.
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Die Tiere beobachteten und belauschten die Menschen unter ihnen. Als die fünf schließlich die Straße hinuntergingen und immer noch Scherze und scharfzüngige Worte austauschten, schauten die Fledermäuse einander an und erhoben sich in die Luft. Eine flatterte hinter den sich entfernenden Menschen her, die andere schoss allem Anschein nach ganz bewusst zwischen den Bäumen hindurch in die entgegengesetzte Richtung. Craer hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich unvermittelt umzudrehen und im Gehen zurückzublicken – und zwar in regelmäßigen Abständen –, aber die Fledermaus, welche hinter der Viererbande und Raulin herflog, achtete darauf, hinter Blättern verborgen zu bleiben und den Menschen unbemerkt zu folgen. Genauso wenig bemerkte der aufmerksame und misstrauische Beschaffer einen Wirbel stiller Funken und seltsamer Farben, der plötzlich zwischen zwei Thaerulbäumen ein kleines Stückchen hinter der Fledermaus auftauchte. Aus dem Wirbel erschien inmitten eines kleinen, blauen Rauchwölkchens eine Viper mit vielen kleinen, den Rücken entlang angeordneten Flügelpaaren. Sie bäumte sich kurz auf und glitt dann vorwärts, um den fünf die Straße entlangtrottenden Menschen zu folgen. Auch die Schlange achtete darauf, unsichtbar zu bleiben und weder von dem sich ab und zu umdrehenden Beschaffer noch von der vor ihr dahinflatternden Fledermaus bemerkt zu werden. Falls die Fledermaus bemerkte, was sich hinter ihr abspielte, so ließ sie sich das nicht anmerken – aber andererseits tun das Fledermäuse insgesamt nicht allzu häufig.
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Die einsame Gestalt in der dunklen, warmen Höhle erstarrte über dem Fließzauber und beugte sich dann vor, um genauer darauf zu spähen. »Stark«, sagte sie überrascht«. »Sehr stark – aber schlafend. Kein Dwaer – aber was sonst?« Dann zuckte sie die Achseln und sagte in die leere Dunkelheit: »Egal. Was auch immer es sein mag, ich werde es bekommen! Wenn Kriegsherren Eisenköpfe sammeln, um auf den Thron zuzumarschieren, und sich zudem überall Schlangenanbeter herumtreiben, dann kann man gar nicht genug Magie haben.« Die Dunkelheit gab keine Antwort, aber darum kümmerte sich der einsame Zauberer schon lange nicht mehr. Er sprach oft mit der Dunkelheit. Gerade jetzt lächelte er auf ausgesprochen unangenehme Weise. Er begab sich in sichere Entfernung von dem schimmernden Nebel des Fließzaubers und wirkte einen anderen Bann. »Vorwärts, meine Geschmolzenen. Vorwärts, und schnappt euch dieses magische Ding für mich.« Dann seufzte er und fügte hinzu: »Selbst wenn eure Gefährten es bis jetzt nicht geschafft haben, vier stümperhafte Hochfürsten in meinem Auftrag zu töten. Korloun, Eure Geschöpfe lassen einiges zu wünschen übrig.« Korloun war selbstverständlich viel zu tot, um antworten zu können. »Wünsche«, murmelte der Zauberer in die Leere – und dachte wie immer an Embra Silberbaum. Nackt und wunderschön, so wie er sie oft erblickt hatte, wenn er sie ausspioniert hatte in jenem Sommer, als er sie an die Burg gebunden hatte. Wild ... und hilflos ...
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Er stieß einen weiteren Seufzer aus und erzählte dem Dunkel: »Embra, Ihr hättet eine wunderbare Sklavin abgegeben.« Dann lächelte er wieder. »Und vielleicht tut Ihr das ja auch noch eines Tages.« Wenn man dem verwitterten Schild draußen Glauben schenkte, dann handelte es sich bei dem »Ruhm von Aglirta« um eine Art goldenen Drachen mit zwei Köpfen und einem unmöglich langen, gewundenen und verknoteten Schwanz. Aber vielleicht zeitigten ein paar Krüge Dunkelbier zu viel bei den Visionen eines Künstlers die gleiche Wirkung wie bei dem gemeinen Volk, und der wirkliche Drache verfügte über nur einen Kopf und einen bescheideneren Schwanz. Vielleicht war der Künstler aber auch von den Göttern gesegnet gewesen und hatte die Gelegenheit gehabt, einen Nachtlindwurm zu Gesicht zu bekommen, und diese Erfahrung überlebt ... und sich lediglich bei den Farben geirrt. Drachen, Nachtlindwürmer und Ruhm welcher Art auch immer bekam man so selten zu Gesicht, dass man sie in dieser entlegenen Ecke des Tals nahe dem Vorgebirge der Windfangs, welche sich nördlich und westlich von Tselagra erstreckten, nur aus Geschichten kannte. Im düsteren, schmutzigen Inneren des »Ruhm von Aglirta« pflegten die Gäste übellaunige Gespräche zu führen, während Ratten über den mit Stroh bestreuten, alles andere als geraden Boden huschten. Erschöpfte Männer in abgetragenen Kitteln und mit flickenübersäten Umhängen sprachen eher dem Bier als dem Eintopf zu. Man vernahm viel öfter Murren über in Gold schwimmende Kaufleute im weit entfernten, von Die-
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ben bewohnten Sirlptar und die Narren in Treibschaum, als dass über Wölfe, das Wetter, Gesetzlose und seltsame Untiere aus den Bergen geschimpft wurde. Überall wetterten die Leute über ihre Könige und deren Taten, seien es nun Steuern, schwerfällige Soldaten oder drohender Krieg. Aber an diesem Nachmittag herrschte Verbissenheit im »Ruhm von Aglirta«, eine Dunkelheit der Herzen und eine Hoffnungslosigkeit, welche schon seit Monaten auf dem Grund der großen Bierhumpen gelauert hatte und immer stärker und schwer wiegender wurde. »Das Chaos erfasst Aglirta, so wie eines Würgers Hand eine Kehle zusammendrückt, das hat er gesagt«, sagte der alte Adbert und legte stöhnend den Stumpf seines linken Beines auf die Bank neben sich. »Ich hab ihn gehört – diesen Barden, der wie Seewind das Tal hoch und herunter alles sieht und bei den Dreien alles hört.« »Das Chaos erstickt Aglirta, seit ich denken kann, und davor auch schon«, antwortete Thaeker Schwarzmantel und spuckte auf eine vorbeihuschende Ratte. »Aglirta stirbt einen langsamen Tod, müsst Ihr zugeben.« »Bloß nichts zugeben!«, rief einer der Luroan-Brüder von seinem Ecktisch herüber. »Das ist immer sicherer!« »Das glaubt Ihr wohl, was, Guruld?«, gab Thaeker zurück und schwang seinen Humpen. »Seht es doch als Unterhaltung, welche uns von den Göttern geschickt wurde! Dieser Fürst widersetzt sich jenem Regenten, und wieder ein anderer trotzt ihm dort, einmal mehr und einmal weniger – deshalb erwachte der Schlafende König und ernannte einen der Fürsten zu seinem Stellvertreter. Schwarzgult ist immer noch der Gauner, als den wir ihn kennen, Zauberer töten sich mit-
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tels Zauberbannen, wie sie das immer getan haben, unser großartiger König zog sich wieder in seine Träume zurück, und – was? Das hier ist immer noch das Land ohne König, so sieht es doch aus!« »Jawohl, das stimmt«, meinte ein anderer Mann. »Seit den Tagen meiner Vorväter bekämpfen sich die Fürsten und greifen nach der Macht, und das haben sie wahrscheinlich schon immer getan. Nichts ändert sich.« »Und wie steht es mit diesen großartigen Hochfürsten?«, knurrte Guruld Luroan. »Wozu sind die gut? Das sind einfach nur ein paar Fürsten mehr, wenn ihr mich fragt.« Er spuckte auf das Stroh auf dem Boden und knallte seinen Humpen auf den Tisch, aber der alte Adbert drehte sich so schnell auf seinem Stuhl um, dass er beinahe umgekippt wäre. »Hütet Eure Zunge!«, bellte er ärgerlich und überraschte damit die Männer im ganzen dunklen Schankraum des »Ruhm von Aglirta«. »Ich habe die Viererbande auf meiner letzen Fahrt mit dem Wagen gesehen und mir meine Meinung gebildet – und das ist mehr, als der Rest von euch behaupten kann!« Er schwenkte seinen Humpen so heftig, dass Bier herausschwappte und auf den Tisch tropfte – und das schockierte seine Kumpane mehr als alle Worte, die er hätte sagen können. Der alte Adbert verschüttete einen Tropfen seines Bieres? »Ich habe von ihrem Kampf auf Treibschaum mit Silberbaums Zauberern gehört«, fügte der einbeinige Mann hinzu. »Das habt ihr alle, ich weiß, aber ich habe mit Männern gesprochen, die dort gewesen sind. Mit gezückten Schwertern und voller Angst, jeden Augenblick das Leben zu verlieren – und ich sage euch eins: Wir sollten der Dreifaltigkeit jede
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Nacht auf Knien dafür danken, dass sie uns die Bande der Vier geschickt hat. Sie sind die Einzigen, die jetzt noch die Fürsten in Schach halten!« »Gut gesagt!«, mischte sich ein Hausierer ein. »Ich habe mich überall im Tal umgehört und die Augen aufgesperrt. Sie halten die Fürsten zumindest davon ab, jedermann zu erstechen oder aufzuhängen, dessen Gesicht ihnen nicht gefällt oder dessen Land oder Tochter ihnen zu gut gefällt. Wenn die Viererbande fällt, wer soll dann noch die Fürsten zurückhalten?« »Ja«, fügte Thaeker Schwarzmantel düster hinzu, »und die Schlangenpriester.« Der älteste Mann in Raum, Saurn Belrastor, erhob seinen Humpen und schlug dagegen, um dem Wirt anzuzeigen, dass er Nachschub brauchte. Saurn tat das so selten, dass sich alle Männer bei dem Geräusch nach ihm umdrehten. Saurn musterte sie alle und meinte säuerlich: »Wenn das Schicksal von Aglirta auf den Schultern von vier herumziehenden Abenteurern ruht, dann sind wir in der Tat dem Untergang geweiht. Vier sollen uns retten? Vor ganzen Armeen?« »Wir sind tatsächlich verflucht«, stimmte ihm der alte Adbert ruhig zu und starrte in die Tiefen seines Humpens. Ihm schien nicht zu gefallen, was er dort erblickte. »Ich werde meine ganze Familie um die Windfangs herum nach Dalondblas bringen, Straßenräuber hin oder her«, erklärte Tarsam Faurolk grimmig, woraufhin viele im Schankraum den Mund aufsperrten. Die vier Hügel mit den Schafen verlassen und davonlaufen nach – nirgendwo? Als wolle er auf ihre Verwirrung antworten, fügte er düster hinzu: »Nichts als Tod und Verhängnis wandeln dieser Tage
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über Aglirtas Straßen. Lieber ohne Geld und lebendig als ein reicher Leichnam, wenn wieder Krieg im ganzen Tal wütet. Flieht, solange ihr das noch könnt, falls ihr noch bei Verstand seid.« Der alte Adbert stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Bei Verstand? Jüngelchen, ich bin Aglirtaner – natürlich besitze ich keinen Verstand!« Hier und da erklang als Antwort ein Lachen, aber keines davon kündete von Fröhlichkeit. Sogar dem Wirt, der mehr Humpen nachfüllte als seit vielen Monaten, fiel es schwer zu lächeln. Er konnte nicht anders, als viele tote Männer auf den Feldern in den Hügeln liegen zu sehen, die auf die Wölfe warteten. Dann wäre immer noch Zeit zum Lächeln. Schädeln fällt das Lächeln nicht schwer.
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Hoch zu Ross in den Krieg C Der Wachposten auf der Brücke schob sich wegen der heiß brennenden hellen Morgensonne den Helm in den Nacken. Angewidert fuhr er sich mit der Hand durchs schweißnasse Haar und schaute sehnsüchtig zu dem Schatten hinüber, welchen der alte Schildholzbaum spendete. Wenn die nächsten paar Leute vorbei sind, ja, bei der Herrin! Ein wenig Schatten, ein bisschen kühles Wasser, dann ein Schluck aus meiner Flasche, um den fauligen Flussschlammgeschmack zu vertreiben, und ... ja ... Sammarthes Kräuterkarren fuhr quietschend vorbei, und er bedachte die angestrengt ziehenden Frau und ihre beiden Töchtern mit einem Nicken und einem Lächeln. Das jüngste Kind hüpfte barfuß einher und trug einen Tanselzweig in den Händen. Das Mädchen erwiderte als Einzige das Lächeln. Kuldin zuckte die Achseln und dachte wieder an die baldige Abkühlung. Oh, wenn er nur schon aus der Sonne wäre! Er machte sich nicht die Mühe, seinen Speer zu senken oder seinen Helm vorschriftsmäßig aufzusetzen, als die nächsten Neuankömmlinge, welche nach Sart wollten, an der Brücke ankamen. Der Mann an der Spitze war schmutzig und
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hatte wild dreinblickende Augen. Seine Kleider hingen in Fetzen, und er brabbelte halb gesungene, sich reimende, aber ansonsten unverständliche und offenkundig sinnlose Wortfetzen vor sich hin. Um seine Stirn schlangen sich Lederbänder, ebenso um drei Stellen eines jeden Arms, seiner Schenkel und um die Fußknöchel, außerdem hingen welche an seinem breiten Gürtel. Die anderen Enden der Lederriemen hielten zwei Wächter, die genauso erschöpft wirkten, wie Kuldin sich fühlte. Sie trotteten hinter ihrem Gefangenen her. Jeder von ihnen trug außerdem eine kleine gespannte Armbrust – in Carraglas nannte man solche Waffen Pfeilgewehre – in der Hand. »Ein Verrückter«, erklärte der dem Mann am nächsten gehende Wächter und nickte in Richtung des sabbernden, brabbelnden Mannes, welchen er bewachte. »Wir bringen ihn zu dem Jahrmarkt, um lindernde Zaubertränke zu finden.« »Ein reicher Verrückter«, fügte der andere Wächter hinzu, »oder Ihr würdet nicht erleben, dass ich in dieser Hitze einen Mann wie einen Hund ausführe.« »Das glaube ich gern!«, erwiderte Kuldin aus tiefstem Herzen. Er winkte sie nach Sart hinein – und so kam es, dass er immer noch mit erhobenem Arm und freundlichen Gefühlen im Herzen dastand, als die Wächter sich wie ein Mann umdrehten und ihre Armbrüste abschossen. Ein Bolzen fuhr tief in Kuldins Nase, ein anderer bohrte sich in eines seiner Augen. Der Verrückte war schon herumgewirbelt und sprang auf den Wachposten zu, wobei ein Dolch in seiner Hand aufblitzte. Kuldin taumelte gegen das Brückengeländer zurück, sank in sich zusammen und kippte beinahe über das Geländer. Der
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Dolch hob und senkte sich, dann langte eine Hand unter die Knie des Wachpostens und hob die Beine des Mannes in die Höhe. Der Brückenwächter wurde nach oben und über das Geländer gehievt und fand zu guter Letzt mit einem lauten Platschen Kühlung. Der Verrückte drehte sich zu den beiden Männern um, welche ihn geführt hatten, und hielt grinsend Kuldins Signalhorn in die Höhe. »Ich hab’s!«, verkündete er, wandte sich um und rannte in der Richtung die Straße entlang, aus welcher sie gekommen waren. Die beiden Männer wechselten einen Blick, dann gingen sie links und rechts der Straße auf der zu Sart gehörenden Seite in Deckung. »Ihm macht das alles ein bisschen zu viel Spaß, was meint Ihr?«, murmelte einer der beiden und legte einen neuen Bolzen ein. »Manchmal denke ich, dass er wirklich ein wenig verrückt ist.« »Ach, so sind Schauspieler nun mal«, antwortete der andere. »Er spielt bloß deshalb verrückt, weil er zur Abwechslung mal Aussicht auf ein paar Goldstücke hat.« »Wir sollen ihn nicht töten, solange nicht alle über die Brücke sind, oder?« Die Worte erklangen hinter einem plötzlich bebenden Sroanbeerenbusch. »Ihr wollt doch nicht etwa, dass wir die Angelegenheit ein wenig beschleunigen?« »Einen Befehl von Blutklinge persönlich missachten? Heilige Drachenscheiße, nein! Aber vielleicht seid Ihr selbst ja auf der Suche nach einem frühen Grab?« »Schon gut, schon gut«, sagte der Sroanbeerenbusch säuerlich. »War nur mal so ein Einfall.«
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»Es ist am besten, wenn treu ergebene Krieger davon Abstand nehmen, nur mal so auf dumme Gedanken zu kommen«, erklang eine weitere Stimme nüchtern und ganz aus der Nähe. Daraufhin entstand ein Augenblick eisigen Schweigens, bis einer der Büsche zögernd fragte: »F-Fürst Blutklinge?« »Allerdings! Richtet eure Bolzen auf den Boden oder sterbt!« »Jawohl, Fürst!«, erklärten beide Stimmen hastig, während von der Straße her das Donnern von Hufen und das Quietschen von Ledersätteln stetig lauter wurden. Um die Biegung, um welche der Kräuterkarren und der Verrückte gekommen waren, aus den Bäumen des Waldes von Sirl (niemand benutzte den Namen, der auf den neuen Karten verzeichnet war; Schönwald schien einfach nicht zu einem solch düsteren, dornigen und überwucherten Ort zu passen) erschien eine Gruppe berittener Krieger ... dahinter einige Dutzend Armbrustschützen, eine lange Reihe von Speerträgern und noch weiteren Rittern zu Pferde. An der Spitze dieser Armee ritt ein großer Mann in großartig geriffelter Rüstung auf einem Ross, welches ebenfalls eine Panzerung trug. »Aber – wer –«, stammelte der Sroanbeerenbusch verwirrt. »Ein falscher Blutklinge natürlich für den Fall, dass irgendwelche Verteidiger von Sart aus Tapferkeit oder Verzweiflung beschließen, dass eine kopflose Armee so gut wie besiegt ist«, erklärte Blutklinge kalt. »Ich habe keinesfalls angeordnet, dass Ihr nicht nachdenken sollt, Lornelth. Ich habe vorgeschlagen, dass meine allertreuesten Kämpfer sich nicht irgendwelchen müßigen Grübeleien hingeben, wenn sie in die Schlacht ziehen.«
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»Ihr – Ihr kennt meinen Namen?« Der Bogenschütze, welcher bis jetzt zu den jüngsten und am wenigsten beachteten Mitgliedern der berittenen Garde Glaronds gezählt hatte, starrte den älteren Mann verblüfft an. »Selbstverständlich. Ein Fürst, der die Namen seiner Männer nicht kennt? Dieser Mann wäre ein Narr.« Auf der andere Seite der Straße kicherte ein Wyverndorn unbehaglich – und dann trampelten zwischen den beiden Büschen donnernde, Staub aufwirbelnde Hufe vorbei, und jedes Gespräch wurde unmöglich, als die Streitkräfte von Sendrith Duthjack, Fürst von Glarond und bekannt als Blutklinge, in Sart einfielen. »Beruhigt Euch, Craer«, sagte Sarasper spöttisch. »Zwischen hier und dem Silberfluss allein erstrecken sich bloß um die dreihundert Meilen an Nebenstraßen – ganz zu schweigen davon, wie es in dem nächsten Fürstentum aussieht oder gar im übernächsten. Und das königliche Begleitschreiben, welches uns freies Geleit zusichert, kann in jedem einzelnen in Stücke gerissen werden, jeden Tag mindestens zwanzigmal.« Schnaufend und schwitzend warf der Beschaffer Sarasper im Vorbeigehen einen bösen, wortlosen Blick zu und hastete in Richtung der nächsten Biegung, wo die Straße in tiefen Wald eintauchte und einen scharfen Zacken um eine zerklüftete, feuchte und von wildem Wein überwucherte Felsnase machte, welche so hoch aufragte wie sechs Männer. Craer spähte lange in den tiefen Schatten, bevor er die Hand hob, um den anderen anzuzeigen, dass sie zu ihm aufschließen sollten. »Ich habe etwas gehört, das versichere ich euch«, erklärte
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er mürrisch, als sich Raulin und seine Mithochfürsten um ihn versammelt hatten und Embra und Sarasper ihn breit anlächelten. »Wir werden verfolgt oder beobachtet, während wir auf eine wartende Falle aus Schwertern vor uns zulaufen. Das kann ich spüren.« »Oh, spürt Ihr so etwas öfter?«, fragte der alte Heiler unschuldig, als sie schließlich gemeinsam im Schatten unter den Bäumen standen. »Bevor oder nachdem Ihr eine Flasche geleert habt?« Craer bedachte Sarasper mit einem finsteren Blick und murmelte: »Seid ruhig. Bitte. Ich – da ist es wieder!« Alle erstarrten gehorsam und lauschten gespannt auf das, was Craer alarmiert hatte. Stille ... Stille ... ein weit entfernter Vogelschrei, dann das Rascheln von Flügeln, als sich viel näher bei den fünfen ein aufgeschreckter Waldvogel in die Luft schwang. »Da«, hauchte Craer. »Kein Gezwitscher in der Nähe, aber ein Vogel – vielleicht ein Pinienhahn, dem Geräusch nach zu schließen, und sie fliegen erst im letzten Moment auf, wenn unsere Stiefel schon fast auf sie treten – welcher ganz nahe bei uns aufgeschreckt wurde. Drückt euch an den Felsen, schnell und leise, und dann muss jeder wieder ganz still sein!« Alle gehorchten, und sobald sie mit den Schultern Stein berührten, beobachteten alle Craers erhobene Hand. Er forderte sie auf zu schweigen, und genau das taten sie auch. Es schien eine endlose Zeitspanne zu verstreichen, bevor sie das tiefe, schwache Geräusch von Steinen vernahmen, welche von einem schweren Tritt umgetreten wurden. Das Geräusch schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen, von hinten, von –
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Craer wies direkt nach oben zu der Spitze der Felsnase über ihren Köpfen. Dann legte er einen Finger auf die Lippen und vollführte die nach unten gerichtete, krallende Bewegung, welche »erstarrt zu Stein und gebt keinen Laut von euch« bedeutete. Raulin und die vier Hochfürsten pressten sich gegen die raue Oberfläche des Felsens und verharrten so für eine endlos lange Zeit, bevor kleine Steine niedergerieselt kamen. Etwas kletterte die Felsnase herunter. Ungefähr zur gleichen Zeit schritt plötzlich ein Krieger aus den Farnen und dem Unterholz und trat auf die Straße vor ihnen. Und sogleich folgten ihm weitere. Raulin sah die Gestalten an und stieß ein Keuchen aus. Die Krieger starrten blicklos vor sich hin, und ihr Fleisch wirkte irgendwie gesackt und verdreht wie altes Kerzenwachs, welches mitten in der Bewegung erstarrt ist. Sie bewegten sich stetig, aber ungeschickt vorwärts, als seien sie nicht so richtig lebendig, und – »Geschmolzene«, flüsterte Embra. »Hütet Euch! Wenn Ihr sie berührt, dann können sie in Flammen aufgehen!« Während sie sprach, hatte Hawkril sein großes Kriegsschwert gelöst und trat von dem Felsen weg, um den heranschreitenden Kriegern entgegenzutreten. Auf der Straße befanden sich jetzt sieben oder acht Geschmolzene, und zwischen den Bäumen verbargen sich vielleicht noch weitere. »Hinter uns?«, fragte der Hüne ruhig. Craer spähte um den Felsen herum. »Nein, aber –«, er verdrehte sich und schaute nach oben, »vier kommen den Fels herunter, und oben sind noch mehr.« Embra schaute ebenfalls nach oben und trat einen Schritt
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von dem Felsen weg, aber Sarasper fiel ihr in den Arm, welchen sie erheben wollte, und sagte: »Hebt Euch Eure Zauber auf, jedenfalls für den Augenblick. Vielleicht brauchen wir sie, um von hier wegzukommen.« »W-was soll ich tun?«, fragte Raulin unsicher. »Beobachtet den Weg, welchen wir gekommen sind, Junge«, schnappte Craer und wies in die angegebene Richtung, »und wenn Ihr jemanden seht, ganz egal, ob Mensch oder Ungeheuer, dann schreit laut, wer da kommt, wie viele und wie nahe sie sind.« Mit einem plötzlichen, schnellen Hieb schlug Hawkril einem Geschmolzenen die Fußknöchel durch. Das Wesen fiel in unheimlichem, atemlosem Schweigen schwer auf die Seite, und der ihm folgende Geschmolzene stolperte über seinen Kameraden. Das Kriegsschwert enthauptete den zweiten Geschmolzenen, noch bevor sich der erste auf Hände und Knie gerollt hatte und auf Hawkril zuzukriechen begann. Er schlug einmal auf das Wesen ein und duckte sich zurück, als eine Gruppe von drei weiteren Geschmolzenen rasch auf ihn zuschritt. »Welcher Magier? Was meint Ihr?«, fragte Sarasper die Herrin der Edelsteine. Die Zauberin zuckte die Achseln. »Es könnte jeder sein; wer weiß, wie viele Magier Korlouns Aufzeichnungen gelesen haben? Sie müssen nach uns ausgeschickt worden sein, und das erklärt Craers Gefühl, beobachtet zu werden – jemand beobachtet uns gerade in diesem Augenblick aus der Ferne.« Sie überquerte eilig die Straße und kniete sich neben einen abgestorbenen Schössling, murmelte ein paar Worte und rief
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Fingerflammen hervor. Sie benutzte eine Hand wie eine Axtklinge und brannte in Bodenhöhe den Schössling durch, fing ihn im Umkippen auf und übergab ihn Craer. Wortlos nickend drehte sich der Beschaffer um, rief Sarasper mit einer Kopfbewegung zu sich und stieß den hölzernen Stab die Felsnase hoch in Richtung des untersten Geschmolzenen. Der befand sich gerade eben außer Reichweite, und Craer schwang den Stab hastig nach unten und herum, um die Schulter eines der Wesen auf der Straße zu erwischen und ihn seitwärts in seine beiden Kameraden zu schleudern, die damit beschäftigt waren, auf Hawkrils parierendes Kriegsschwert einzuschlagen. In Windeseile beugte sich der Hüne vor, zog seine Klinge nach unten und hackte von der anderen Seite auf das Trio ein – und alle zusammen gingen wie ein einstürzender Heuhaufen zu Boden. Craer sprang mit seinem Dolch in der einen und dem Stab in der andern Hand herbei und schlug wie ein Wahnsinniger zu. Dann schoss plötzlich ein brüllendes Feuer von den sich windenden Körpern der niedergestreckten Wesen nach oben, und der Beschaffer schwang sich mit Hilfe seines Stabes hastig aus dem Inferno – versengt und mit einem wilden Grinsen im Gesicht. »Also wünscht der uns beobachtende Magier, dass wir gebraten werden?« Wieder stieß er das geschwärzte, glimmende Ende des Stabes nach oben, und dieses Mal gelang es ihm, den Beinen des untersten Kletterers einen kräftigen Stoß zu verpassen.
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Das Wesen verlor den Halt, versuchte, sich an Kletterpflanzen und Fels festzuhalten, und fiel – und der Beschaffer und Sarasper stürzten sich auf den Geschmolzenen, erwischten einen Stiefel und einen Ellbogen und zogen, so fest sie nur konnten. In der gleichen toten Stille wirbelte der Geschmolzene an Hawkril vorbei wie eine Stoffpuppe und krachte in den brennenden Haufen seiner Kameraden. Zwei weitere Geschmolzene versuchten, an dieser Feuersbrunst vorbeizugelangen, wurden aber durch gewaltige Schwünge von Hawkrils Kriegsschwert zurückgehalten, welche sie in die Flammen zu fegen drohten, selbst wenn es ihnen gelingen mochte, die Schläge abzuwehren, welche ihnen die Gliedmaßen abzuhacken drohten. Craer schaute den Felsen hoch und beobachtete die Geschmolzenen, die immer noch oben standen, dann wandte er sich um und musterte die steif einherschreitenden Wesen, welche um den flammenden Haufen herumtappten und versuchten, Hawkril einzukreisen. Dann rief er: »Raulin – ist immer noch alles leer?« »Ja«, schrie der junge Barde zur Antwort. Craer nickte und brüllte: »Zurück, alle miteinander! Hawkril, zieht Euch hinter die Felsnase zurück!« Der Hüne gab knurrend seinem Missfallen Ausdruck, wandelnde Leichen abschlachten zu müssen, trat dann aber widerstrebend den Rückzug an – und noch während er das tat, strömten Unmengen von Geschmolzenen zwischen den Bäumen hervor. Mit dem schwelenden Stab in der Hand schaute Craer immer noch nach oben, während er die anderen zurück auf
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die Straße winkte. Das, was er erwartet hatte, traf fast augenblicklich ein: Ein Geschmolzener sprang von dem Felsen und versuchte, auf Sarasper zu landen. Mit einem schiefen Lächeln schoss der Beschaffer zu haargenau der richtigen Stelle, stemmte die Füße in den Boden und hielt den Stab fest, so dass sich der herabspringende Krieger selbst pfählte. Das Wesen erbebte, brach auseinander und fiel dann in sich zusammen, und Craer sprang eilends zurück, gerade rechtzeitig, bevor der Geschmolzene in Flammen aufging. Ein weiteres der schrecklichen Wesen sprang oder fiel vom Felsen, und der keuchende Beschaffer rannte an Hawkrils Seite, um die Flanke des zurückweichenden Ritters zu decken. Dann drehte er sich plötzlich um und schrie: »Embra! Jetzt!« Die Hochfürstin hob beide Hände über den Kopf, murmelte zischend ein paar unverständliche Worte und warf die Arme nach vorn, als schleudere sie einen Mehlsack auf jemanden, der am Boden darauf wartete. Craer und Hawkril warfen sich von der Straße zwischen die Bäume, als Embras wohlgeformte Hände nach unten schossen. Flammen rollten aus der leeren Luft vor der Zauberin, eine große, zischende Feuersbrunst, welche die Geschmolzenen von dem Felsen pflückte, zwei aus den Bäumen fallen ließ und alles überschwemmte, was sich auf der Straße befand. Überall brach plötzlich Feuer aus, als wer auch immer die Geschmolzenen beherrschte die dahintaumelnden Männer in der Hoffnung in Flammen aufgehen ließ, einen der Vier zu erwischen. Embra lächelte grimmig und zerrte an ihrem Feuer, als
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greife sie nach einer unsichtbaren Steppdecke oder einem Fischernetz in der Luft, um es zurückzuziehen, und – Die Blätter dort oben fingen mit lautem Prasseln Feuer, und die letzten Geschmolzenen wurden vom Felsen geschleudert und stürzten in tödlicher Stille in die unten lodernden Flammen. Raulin und die anderen beobachteten die Feuersbrunst und den Wald zu beiden Seiten ganz genau, sahen aber keinen Feind außer einem einsamen, brennenden Geschmolzenen, der wenigstens zehn Schritte aus dem Feuer auf sie zukam und versuchte, nach ihnen zu greifen, obwohl er bereits zu Asche zerfiel. »Möchte jemand einen Festbraten?«, fragte Craer und winkte mit einer Hand in die ersterbenden Flammen. »Ich fürchte, das Fleisch ist ein wenig angebrannt«, antwortete Hawkril, »aber danke für die freundliche Einladung.« Er warf einen flüchtigen Blick auf die zerbröckelnden Knochen inmitten der wütenden roten Flammen, dann wies er auf etwas. »Dieser da dort drüben ist weniger verbrannt als die anderen. Gibt es eine Möglichkeit, mein liebes Mädchen, herauszufinden, welcher Magier die Geschmolzenen geschickt hat?« Embra zuckte die Achseln und lächelte. »Das glaube ich nicht, aber es kann nicht schaden, einen Blick darauf zu werfen.« Vorsichtig suchte sie sich einen Weg durch die Haufen von Asche und die spuckenden Flammen und strebte auf einen Geschmolzenen zu, welcher von den Hüften aufwärts den Flammen entgangen war – oder eher auswärts, denn
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dank Hawkrils Kriegsschwert lag das Wesen in einem Knäuel aus verletzten Gliedmaßen auf einer Seite der Straße. Embra warf vorsichtige Blicke nach allen Seiten und beugte sich dann vor, um mit gerunzelter Stirn den Geschmolzenen zu begutachten. Nach einer Weile stieß sie einen Seufzer aus, schüttelte den Kopf und richtete sich wieder auf – nur um auf eine glühende Kohle zu treten und hastig zur Seite zu springen, woraufhin sie ungeschickt auf ihren Knien landete. Mitten in ihrem Sprung schoss etwas an ihr vorbei – blitzte in Höhe ihrer Schulter auf und bohrte sich in einen nahen Baum. »Bei Sargh!«, keuchte Craer und stürzte sich mit einem wilden, krachenden Sprung zwischen die Bäume. Er stürmte über Stolperfallen und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch Büsche und Unterholz, ohne sich die Zeit zu nehmen, nach einem seiner Dolche zu greifen – aber es bedurfte nur eines Augenblicks, eine Waffe zu zücken und zu schleudern, als er eine kleine Lichtung erreichte und einen in lange Gewänder gehüllten Mann weglaufen und in einen tintenschwarzen Wirbel in der Luft eintauchen sah. Der Mann verschwand in dem sich drehenden Oval aus Dunkelheit, welches sich daraufhin schneller drehte und augenblicklich ins Nichts kreiselte. Es schluckte Craers Dolch, bevor es zu klein wurde, um es überhaupt noch erkennen zu können – und wenn der Stahl etwas traf, dann hinterließ er keine Spur davon. Knurrend stürmte Craer vorwärts, um mit einem weiteren Dolch auf die Stelle einzustechen, an welcher sich das Oval befunden hatte, aber er traf nichts als Luft. Er hatte von Anfang an gewusst, dass sein Angriff vergeb-
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lich sein würde, aber es war immerhin einen Versuch wert gewesen. Keuchend stapfte Craer durch den dichten Wald zurück und traf seine Kameraden auf den Pfeil starrend an, der Embra nach dem Leben getrachtete hatte. Aber es war gar kein Pfeil, sondern eine steif und gerade ausgestreckte Schlange mit aufgerissenem Maul, dessen Zähne sich tief in die Rinde des Baumes gebohrt hatten. Die geschlitzten Augen verdrehten sich nach hinten, um den Beschaffer anzusehen, als der sich vorbeugte und mürrisch auf die seltsame Erscheinung spähte. Der geschuppte Körper wurde durch einen Zauberbann steif und unbeweglich gehalten ... »Sie bleibt so, bis ihre Zähne mit Fleisch in Berührung kommen«, murmelte Embra. Craer zog eine Augenbraue hoch und streckte langsam eine Hand aus, um die Schlange zu packen. »Nein!«, zischte die Hochfürstin. »Sie kann als Mittelpunkt für gegen uns gerichtete Magie benutzt werden. Lasst sie, wo sie ist.« Craer zögerte und brachte die Hand näher an die Schlange heran – und das Tier verdrehte die Augen noch weiter, um ihn anzuschauen. Daraufhin zog Craer widerstrebend die Hand zurück. Er verzog ein wenig das Gesicht; es fällt einem Beschaffer immer schwer, etwas Interessantes in Reichweite zu haben, ohne zupacken zu können. »Nun«, murrte Sarasper hinter ihm, »wenigstens haben wir heute irgendetwas erreicht. Craer Delnbein hat ein klein wenig Besonnenheit gelernt. Zum ersten Mal, nehme ich an.« Craer drehte ganz langsam den Kopf und bedachte den
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Heiler mit einer alles andere als liebevollen Miene. Dabei streifte sein Blick Raulin – der sich darum bemühte, möglichst teilnahmslos auszusehen – und dann Embra und Hawkril, die vergeblich versuchten, ein Lächeln zu unterdrücken. Das Gesicht des Schwertkämpfers, der auf einem großartigen, kastanienbraunen Ross an der Spitze der hastig aufgebauten Garnison ritt, wirkte ziemlich blass. Genauer gesagt, so weiß wie der Schnee auf den Windfangs. Der große Mann in der geriffelten Rüstung lächelte, als er die offene Hand zum Gruß hob. »Seid gegrüßt, Hauptmann von Sart! Wo befindet sich der Fürst Hellbanner? Ich habe in Geschäften mit ihm zu reden!« Der Hauptmann leckte sich die Lippen. »N-nicht hier«, antwortete er widerstrebend. »Auf einer Reise im Dienste der Krone, wohin, das wissen wir nicht.« Er beäugte die Soldaten des großen Mannes in Rüstung und deren gezückte Waffen und fragte: »Wer seid Ihr, Herr – und welche Geschäfte führen Euch nach Hellbanner, dass Dir eine Armee braucht, um sie abzuschließen?« »Eure Augen erblicken den neuen Fürsten von Glarond«, erwiderte der Mann an der Spitze der Bewaffneten, »aber die Männer nennen mich weit öfter – Blutklinge.« Ein hastiges Gemurmel erhob sich unter den Wachen von Burg Sart, und einer in der Linie der Posten, welche den Weg durch das Tor versperrten, keuchte laut. »Mein Ruhm eilt mir voraus, wie es scheint«, sagte Blutklinge freundlich, »was unsere Geschäfte miteinander erheblich einfacher machen sollte.«
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»Äh – unsere Geschäfte?« »Nun, da der Fürst von Hellbanner so unvorsichtig ist, wenn es um die Sicherheit und Herrschaft in seinem Land geht, dass er es offen und ohne Verteidigung lässt und Armeen einmarschieren können – so wie diese hier, welche über die Straßen von Gilth zog, ohne dass auch nur eine Klinge gezückt wurde, um uns aufzuhalten, und die mit ähnlichem Mangel an Herausforderungen oder Überprüfung hierher kam. Ich erachte Glarsimber Belklarravus als unfähig, ein solches Amt zu führen, und erkläre, dass dieses Land an mich fällt. Kurz gesagt, ich bin von jetzt an der Fürst von Hellbanner, und –« »Wie könnt Ihr es wagen?«, schrie der Hauptmann, und in einer einzigen, blitzschnellen Bewegung zog er sein Schwert und schleuderte es durch die Luft. »Männer, widersteht diesem Abschaum von Gesetzlosen!« Der Wurf des Hauptmanns erfolgte ebenso unerwartet wie zielgenau, und der Mann in der geriffelten Rüstung kippte lautlos aus dem Sattel, und aus seinem hochgeklappten Visier Spross ein Schwertgriff, sodass Blut in alle Richtungen spritzte. Mit Gebrüll stürmten die Männer aus Hellbanner vor – nur um verwirrt vor einer Linie plötzlich auf sie gerichteter Lanzenspitzen innezuhalten. Eine andere tiefe Stimme befahl: »Bogenschützen!«, und die Speerträger warfen sich plötzlich alle wie ein Mann zu Boden und enthüllten eine Reihe steingesichtiger Armbrustschützen. Das Krachen, welches der Hagel ihrer Bolzen verursachte, erklang betäubend laut durch den Vorhof der Burg – und noch bevor das Echo in dem verrückten Surren eines
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halben Hunderts Winden verhallt war, da die Bogenschützen ihre Bögen wieder bereitmachten, waren der Hauptmann und sein Pferd bereits auf die Pflastersteine gestürzt, gespickt von so vielen Pfeilen, dass sie an vielzweigige Bäume erinnerten. Mausetote Bäume. Den Befehl hatte ein zweiter, ein wenig kleinerer Mann erteilt, welcher eine unauffällige, verschrammte Rüstung trug und auf einem Pferd hinter dem jetzt reiterlosen Ross des Hünen in der geriffelten Rüstung saß. Noch während die Männer von Hellbanner zusahen – und die Speerträger sich erhoben und sie erneut bedrohten –, konnte man sehen, dass dieser Mann lächelte, bevor er das Visier seines Helms entschlossen herunterklappte. »Wie der Zufall es will, bin ich Blutklinge«, dröhnte seine Stimme hohl und beinahe träge klingend zu ihnen herüber, als er seine gepanzerte Hand zum Gruß hob, »und ich biete euch eine Wahl an: Ihr gebt auf oder sterbt. Gilth gehört mir, und bis zur Abenddämmerung wird Sarth ebenfalls mein sein, ganz egal, was geschehen mag. Ich bin euer neuer Fürst; werdet ihr mir dienen oder nicht? Trefft eure Wahl, Männer von Hellbanner, denn ich bin weder besonders geduldig noch gnädig gestimmt.« Seinen Worten folgte ein kurzer Tumult am Eingang zur Burg, als die Soldaten von Hellbanner Blicke wechselten, hin und her drängten und Flüche ausstießen. Einige senkten die Arme und traten zurück. Andere blieben trotzig an Ort und Stelle stehen, und einer unter ihnen schlug mit dem Schwert nach einem Kameraden, der seine Waffe zu Boden geworfen hatte. Keiner machte Anstalten, die kurzen, brutalen Hiebe zu beenden, welche daraufhin fielen.
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Blutklinges Speerträger sahen teilnahmslos zu ... und dann breitete sich ein nicht enden wollendes Schweigen aus. Man konnte erkennen, dass vielleicht zwanzig Soldaten von Hellbanner mit erhobenen Schilden und Schwertern verteidigungsbereit im Eingang standen. Etwa ebenso viele standen unentschlossen und mit leeren Händen daneben und blickten ziemlich hilflos drein. »Diejenigen, welche sich ergeben haben«, knurrte Blutklinge, »ducken sich sogleich auf den Boden – mit dem Gesicht nach unten – und rühren sich nicht von der Stelle, bis ich es befehle.« Nach kurzem Zögern ließen sich die unbewaffneten Männer unter Geklapper auf die Bäuche fallen und ließen die wenigen zum Widerstand entschlossenen Bewaffneten im Eingang stehen. »Solche Treue sollte belohnt werden«, erklärte Blutklinge feierlich, schaute hoch und sah ringsherum aufgeschreckter Gesichter, welche aus Fenstern und von Balkonen herabstarrten. Dann senkte sich seine erhobene Hand nach unten. Die Reihe von Speeren wurde geschleudert, und beinahe gleichzeitig warfen sich Blutklinges Speerträger auf die Pflastersteine. Die Soldaten von Hellbanner wankten und drehten sich noch immer um die eigene Achse, als ein halbes Hundert Armbrüste so laut und zischend wie immer abgeschossen wurde. Als der Bolzenhagel versiegt war, standen nur noch drei Männer im Eingang. Blutklinges Ross tänzelte unruhig und schnaubte, als ihm der Geruch von Blut in die Nase stieg, aber sein Reiter saß so fest im Sattel, als handele es sich um einen soliden, unbeweglichen Thron. Dann fragte er in sanf-
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tem Ton: »Ihr drei tapferen Männer – habt ihr es euch noch einmal überlegt? Wollt ihr an meiner Seite kämpfen oder euch noch immer gegen mich stellen? Ich bezahle euch gut, und klingende Münze ist ein besserer Lohn als das wartende Grab.« Ein Soldat legte Schwert und Schild nieder – aber der neben ihm stehende Mann wandte sich um und trieb sein Schwert in die seitliche Verschnürung der Rüstung seines Kameraden, und der fiel zu Boden. Die beiden überlebenden Soldaten wechselten einen grimmigen Blick, strafften die Schultern und stellten sich entschlossen Blutklinges Armee. »Halduth«, sagte der Kriegsherr ruhig, und die Reihen seiner Männer teilten sich vor einem Mann, welcher sogar noch größer war als der falsche Blutklinge in der geriffelten Rüstung – einem Mann, der ohne Ankündigung oder Verzögerung einen Arm zurückriss und einen baumlangen Kriegsspeer schleuderte. Der Speer traf einen der beiden verbliebenen Verteidiger mitten in die Brust, riss den Mann von den Füßen und schleuderte ihn mindestens zwanzig Schritt weit in den Burghof. Als der Speer schliddernd zum Halten kam, erinnerte die um ihn gewickelte blutige, breiige Masse in nichts mehr an einen Menschen, und alles Leben war von ihr gewichen. Der letzte Mann warf schreiend den Schild von sich – und raste dann brüllend zwischen die Reihen von Blutklinges Männern, wobei er wie wild um sich hieb. Für eine erstaunlich lange Zeit hackte er zu, schlug aus und spuckte laut schreiend drei Mal »Hellbanner!«, aus, aber am Ende wurde er überwältigt, und Männer wandten sich von ihm ab, erhoben blutige Klingen und salutierten Sendrith Duthjack.
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Blutklinge wies wortlos auf die Burg, und unter Gebrüll stürmten seine Männer hinein, wobei sie die Schwerter schwenkten und ein Triumphgeschrei ausstießen. Die Befehle waren unmissverständlich: Keine Zerstörung und keine Brandschatzung, kein Plündern von Pferdefleisch, keine Gewalt gegen Angehörige welcher Kirche auch immer, gegen Köche oder Küchenmägde – aber mit allen anderen, nämlich Soldaten, Hauptmännern, Höflingen und Frauen konnten sie machen, was sie wollten. Als das Schreien anhub, wandte sich Blutklinge im Sattel um und schaute in bestimmte erwartungsvolle Gesichter, dann meinte er: »Lorthkul, bleibt mit Euren Männern um mich herum auf dem Posten. Darag, geht und sorgt dafür, dass meine Befehle befolgt werden.« Darag salutierte mit teilnahmsloser Miene und befahl seinen Männern, loszumarschieren. Blutklinge beobachtete eine Weile, wie johlende Männer kreuz und quer über den Burghof liefen, und lächelte. Dann wandte er sich wieder um und sagte zu Lorthkul: »Findet den Markt. Wir werden Kräuter kaufen und uns an der schönen Stadt von Sart erfreuen, bis Darag uns bestellen lässt, dass das Fest bereitet ist. Burgen sind solch laute, blutige Orte.«
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Ein Sturm von Schlangen C Die Gesichter der Gemeinen waren weiß vor Entsetzen; ohne jeden Zweifel rechneten sie damit, hier in dieser Nacht zu sterben, während sie unter den freundlichen, aber festen Händen der Soldaten von Blutklinges Armee in die Banketthalle der Burg von Sart schlurften. Als alle Platz genommen hatten – wobei jeweils vier bewaffnete Krieger in voller, immer noch blutverschmierter Rüstung gegenüber der gleichen Anzahl von Bürgern Platz nahmen –, und Hauptmänner an jedem Tisch erfolgreich Ruhe befohlen hatten, teilten sich die Wandteppiche hinter dem hohen Fürstenthron, und ein großer Mann in einfachem Waffenrock kam in Sicht, welcher den großen Kelch des Fürsten in der Hand hielt. »Willkommen« begann er in freundlichem Ton, »ich bin euer Fürst – Herr sowohl von Hellbanner als auch von Glarond. Ich bin mir sicher, dass ihr alle euch der Unannehmlichkeiten erinnert, welche sich heute hier ereignet haben, und meine Männer haben euch etliche Kammern voller Aas gezeigt, von welchem wir diese Hallen gesäubert haben: Höflinge, die schon vor Jahren sterben oder ehrliche Arbeit hät-
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ten verrichten sollen, wie ihr das tut, statt hier geziert in Festmählern zu schwelgen, während ihr schwitzen musstet.« Er bedachte alle mit einem Lächeln. »Nun, Freunde, es gibt hier keine Hinterlist. Solange keiner von euch so töricht ist, eine Klinge zu zücken und zu versuchen, einen meiner Männer zu verletzen, wird keiner von euch in dieser Nacht sterben. Esst und trinkt aus Herzenslust! Seid fröhlich, denn dies ist ein strahlender Neuanfang für Sart und Hellbanner!« Der Fürst hob seinen Kelch zu einem Trinkspruch. »Das ist euer Fest, und dies hier ist eure Burg. In Blutklinges Aglirta – ja, die Gerüchte sind wahr, mögen wir allezeit in solch erfreulichem Frieden zusammentreffen – wird es keine mit Juwelen behangenen Ausbeuter geben, die euch mit immer neuen Steuern ausbluten lassen. Ihr werdet feststellen, dass ich mit leichter und gnädiger Hand regieren werde, und meine Herrschaft wird gerecht sein – solange ihr nur ein wenig Essen und Trinken für meine Armee aufspart, wenn ich auf Treibschaum zumarschieren lasse, auf dass ich den Flussthron übernehme und euer rechtmäßiger König werde.« Das schwache Echo weit entfernten betrunkenen Singens erreichte ihn. Der Mann, der sich Blutklinge nannte, lächelte schwach und begab sich auf die Suche nach einem ganz bestimmten offenen Fenster. Als er es mitten unter all den feinen Wandvertäfelungen, Gobelins und glänzenden Statuen fand, stieß er es fest zu, um die Feiergeräusche auszuschließen, und murmelte: »Das Fest ist recht weit fortgeschritten«, und griff nach seinem Kelch mit Wein. Bei der Dreifaltigkeit, diese Fürsten verstanden zu leben!
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Dieser reiche, kirschrote Aluith-Wein aus dem Hochland von Sheiryn schmeckte wie Nüsse und Feuer und wärmte einem den Bauch ebenso angenehm, wie er die Zunge erfreute. Blutklinge ließ den Kelch kreisen, um die Spiegelung des Kerzenlichts auf dem Gefäß zu sehen, und ging barfüßig durch den Raum, bei dem es sich bis vor kurzem noch um die Studierstube des Glarsimber-Wolfes gehandelt hatte. Seine Männer hatten dafür gesorgt, dass zwei ängstliche, aber durchaus anziehende Dienstmägde in seinem Bett auf ihn warteten, aber der Kriegsherr hatte es nicht eilig, sein Gemach aufzusuchen. Darag hatte die Mädchen geknebelt, um sie ruhig zu halten, und an den Bettpfosten festgebunden, damit sie sich nicht verletzten oder etwa verschwanden; sie würden sich also kaum von der Stelle rühren, bis es ihm gefiel, sie aufzusuchen. Er wanderte in dem Studierzimmer auf und ab. Blutklinge sah Bücher, sehr viele Bücher, und einige unter ihnen schienen zu alt und zu staubig zu sein, als dass Glarsimber sie berührt haben könnte. Müßig zog er einen der Bände heraus, öffnete ihn und las auf der zufällig aufgeblätterten Seite: »Der gesegnete Text beginnt, ja, das tut er, und schallt trompetenhell über Hügel und Türme, Zinnen und Dächer, um in die Ohren und auch Herzen der törichten Menschen zu dringen und kein Leben unberührt zu lassen und keine Seele ungeleitet ...« Grinsend klappte Blutklinge das Buch zu und zog den Kopf ein, um nicht in die unvermeidliche Staubwolke zu geraten, und schob dann das Buch zurück an seinen Platz. Er schüttelte den Kopf. Warum verschwendeten ansonsten klar denkende Männer ihre Zeit mit solch nichts sagenden Kin-
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kerlitzchen – solch bedeutungslosen Unsinn? In dieser Nacht empfand er eine innere Unruhe. Sart war zu leicht gefallen; die Aufgabe erschien ihm irgendwie unvollendet. Der Fürst von Glarond und Hellbanner stand müßig vor Glarsimbers Landkarte von Aglirta und starrte gedankenverloren auf die Schleifen und Windungen des Silberflusses. »Welche Eroberung kommt als nächste?«, fragte er leichthin die leere Luft. »Ach, Entscheidungen, Entscheidungen ...« Die aus dem Nichts hinter seinem Rücken kommende Stimme erklang ebenso leise wie unerwartet. »Gemach, Blutklinge, verändert nichts, worauf wir uns verständigt haben. Wir können Euch nicht mittels Magie abschirmen, wenn Ihr Euch uns gegenüber absichtlich wie ein Tyrann verhaltet und dorthin reitet, wo wir dies nicht erwarten.« Sendrith Duthjacks Gesicht wirkte plötzlich so hart wie Stein, und seine Augen glitzerten wie Juwelen, als sich seine Hand wie eine Klaue um den fürstlichen Kelch schloss – aber er achtete darauf, dass sich seine Miene zu einer gleichmütigen Maske entspannte, bevor er sich zu dem Sprecher umdrehte. Aber ein Lächeln trug er nicht zur Schau. Rotgolden aufschimmernd und sich hell vor der Dunkelheit seiner Träume abzeichnend, ragte er glänzend und wild über ihm auf und starrte ihn geradewegs an. Er starrte zurück in die goldenen, wissenden Augen des Drachen, gefangen und festgehalten von der Ehre, als ob er auf ein Schwert aufgespießt wäre. Er konnte sich nicht rühren und auch nicht sprechen, und er war zu verängstigt, um zu schreien, als sich der große
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Wurm träge und so weich auf seinen riesigen Schwingen umwandte. Groß wie eine Burg schoss er auf ihn nieder, raste nach unten und öffnete die großen Kiefer und Klauen ... Und dann wachte er auf, so wie immer. Flaeros blieb stehen, schnappte nach Luft und wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von den Brauen. »Fürst«, japste er, »können wir vielleicht eine Rast machen?« Der Fürst von Hellbanner wandte sich um und musterte ihn mit einem prüfenden Blick. »Warum, Junge? Wir sind erst einen halben Tag unterwegs, und noch dazu ohne allzu große Eile. Seid Ihr in etwas getreten? Habt Ihr eine versteckte Verletzung oder so etwas Ähnliches?« Der Barde der Delkampers richtete sich kerzengerade auf und lächelte dann den Glarsimber-Wolf kläglich an. »Nein«, keuchte er, »ich bin einfach nicht daran gewöhnt – an –« Der Fürst schnaubte. »Wie könnt Ihr ein Barde sein und lange Verfolgungsjagden beschreiben, wenn Ihr nicht wenigstens einen einzigen Tag lang durch die Wälder gewandert seid? Ihr trieft vor Schweiß, dabei tragt Ihr nicht einmal eine Rüstung! Was haben die Delkampers anstelle eines Rückgrates? Zerknickte Strohhalme?« Flaeros zuckte zusammen, aber Glarsimber legte ihm eine schwere Hand auf die Schulter und zwang ihn nachgerade hinunter in eine sitzende Stellung auf einen Stein neben der Straße. »Setzt Euch, Junge, und ruht Euch aus«, knurrte er. »Es ist doch so, dass Aglirta schon seit etlichen Jahrhunderten auf Rettung wartet. Was machen da ein oder zwei Tage mehr schon aus?« Und mit diesen Worten pflanzte er sein eigenes ausladen-
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des Hinterteil auf den danebenliegenden Stein. Sie hatten eine ganze Weile dagesessen und gemeinsam schwer geatmet, als der Fürst erstarrte, den Kopf ein wenig zur Seite drehte und aufmerksam lauschte, wobei er die Hand warnend in die Höhe hielt. Flaeros beugte den Kopf und lehnte sich in die gleiche Richtung vor. Es dauerte nicht lange, und er vernahm das Geräusch, welches die Aufmerksamkeit des Fürsten erregt hatte und jetzt dafür sorgte, dass Glarsimber um Ruhe heischend einen Finger auf die Lippen legte und mit einer Geste bedeutete, dass sie sich alle beide erheben sollten. Der alte Krieger zog sofort mit beinahe übertriebener Vorsicht und Langsamkeit seine Klinge, sodass diese geräuschlos aus der Scheide fuhr, und legte die Finger auf ein Handgelenk des Barden, bevor Flaeros noch seinem Beispiel folgen konnte. Dann verlagerte er seinen Griff auf des Sängers Unterarm und führte den jungen Mann von den Felsen weg dorthin, wo sich eine freie Stelle über der Straße auf tat, weil dort vor langer Zeit ein Baum umgestürzt war. Dann drehte sich der Fürst wieder um und spähte in die Richtung, aus welcher die leisen Töne erklungen waren – das Geräusch von Schritten und heftig und ungeschickt auftretenden Stiefeln auf weichem Untergrund. Der Fürst duckte sich nieder und hielt den Schwertgriff in Nasenhöhe, wobei die Spitze hochragte wie der Bug eines Schiffes. Und dann tauchten schwerfällig taumelnd die Geschmolzenen auf. Sie waren tot oder sahen jedenfalls so aus, und dennoch bewegten sie sich. Steif und ungeschickt schritten sie mit leeren Augen dahin, hielten dabei die Schwerter in Händen, und
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ihr Fleisch schmolz tropfend auf abscheuliche Weise von ihren Schädeln und den weiter unten befindlichen Knochen. »Eiche und die Herrin seien mit mir!«, fluchte der Fürst und kniff die Augen zusammen. Geschmolzene! Waren sie nicht alle zusammen mit Korloun zugrunde gegangen? Oder – die Götter mögen dies verhüten – schrieb etwa jeder verdammte Zauberer alles und jedes nieder, sodass er damit prahlen konnte? Und diese Schriftstücke fielen dann in die Hände anderer Zauberer und so weiter und so weiter ... aber natürlich: Wahrscheinlich wusste inzwischen jeder Magier im Tal, wie man diese Wesen herstellte! »Lauft, Junge«, erklärte er knapp, »denen da könnt Ihr nicht standhalten. Versucht es, und lasst sie Euch packen, und sie werden auf der Stelle explodieren und Euch mit in den Tod nehmen!« »Aber – ich kann Euch doch nicht verlassen!«, wandte Flaeros ein, hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, so schnell wie möglich die Flucht anzutreten, und dem Widerstreben, den beruhigenden Schutz zu verlassen, welchen Glarsimbers Schwert bot. »Ach, Ihr wollt wohl bleiben und zusehen, wie der heldenhafte Fürst fällt, um dann eine Ballade darüber zu verfassen?«, meinte der Lächelnde Wolf, wobei er die herannahenden Geschmolzenen keinen Augenblick aus den Augen ließ. »Könnt Ihr das nicht auch aus der Ferne beobachten? Oder vielleicht irgendeine nützliche Magie mit dem Zepter wirken, welches Ihr so ungeschickt vor mir zu verbergen trachtet?« »Ich – äh –« Der Barde Flaeros mit der silbernen Zunge kämpfte noch immer um Worte, als der erste Geschmolzene Glarsimber er-
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reichte – und sein Schwert mit solch wilder Kraft und Schnelligkeit schwang, dass man gar nicht glauben konnte, es mit einem dahinstolpernden, ungeschickten Wesen zu tun zu haben. Aber der Lächelnde Wolf war nicht mehr da. Ein schneller Schritt zur Seite, eine Vorwärtsbewegung nach rechts – und die niedersausende Klinge verfehlte den gepanzerten Schenkel Glarsimbers um Haaresbreite. Der Wolf riss sein eigenes kurzes Schwert zu einem Schlag herum, welcher den Kopf des Geschmolzenen traf, der augenblicklich lose auf dem blutleeren Hals wankte, was aber den schlurfenden Kadaver nicht im Geringsten zu verlangsamen schien. Der Geschmolzene wandte sich taumelnd um und hieb wieder mit aller Gewalt zu, sodass sein Hieb Funken auf dem Schwert des Fürsten schlug – und dieses Mal sprang Glarsimber hastig zurück, denn drei weitere Geschmolzene kamen heran und hackten gemeinsam auf ihn ein, ohne auf die Klingen ihrer Gefährten oder den dazwischen geratenden Arm des ersten Angreifers zu achten. Dieser Arm baumelte nur noch an einigen wenigen Sehnen, als sie fertig waren, und einer der Geschmolzenen war vom Rückwärtsschwung eines anderen niedergeschlagen worden, aber keiner der lauernden Untoten schien Schmerz zu empfinden oder überhaupt die Wunden wahrzunehmen, welche ihnen zugefügt wurden, oder was mit ihren Gefährten geschah. Sie taumelten vorwärts, und Glarsimber warf einen kurzen Blick über die Schulter, knurrte einen Fluch und stieß mit seinem Schwert unter Flaeros Delkampers Achselhöhle hindurch. »Bei den Göttern, schaut Ihr Euch denn niemals um?«
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Flaeros schluckte, rannte ein paar Schritte und drehte sich rechtzeitig um, um zu sehen, wie der Fürst von Hellbanner in einem Wirbel von Schwerthieben einem Geschmolzenen das Gesicht aufschlitzte, vorwärts sprang und den Getroffenen umtrat, dann wieder herumwirbelte und zu der Stelle zurückeilte, wo er den Kampf aufgenommen hatte, und den Schwerthieb eines weiteren Geschmolzenen parierte, bevor dieser Flaeros aufspießen konnte. »Ist das die herzhafte Übung, für welche Ihr Euch Eure Kräfte aufsparen wolltet, Junge?«, keuchte Glarsimber im Vorbeilaufen. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Ihr ein wenig herumspringen würdet, da Ihr schon keine Klinge schwingen wollt – verschafft einfach diesen Leichnamen ein wenig Bewegung, das ist alles, was ich von Euch verlange!« Flaeros warf ihm einen entsetzten Blick zu, erkannte dann, dass der Fürst scherzte, und duckte sich danach wild entschlossen unter einem Schwertstreich eines Geschmolzenen hindurch – nur um den eisigen Stich einer weiteren Klinge zu spüren, deren Spitze sein Fleisch ritzte, nachdem sie einen dicken Umhang und feine Delkamper-Kleider durchschnitten hatte. Glarsimber schrie etwas und vertrieb den Geschmolzenen mit wütenden Schlägen, sodass der Feind mit abgetrennten Unterarmen zurücktaumelte, und dann erschien es dem keuchenden, stolpernden Barden so, als wären sie von dunkeln Klingen umgeben, deren Kreis sich langsam um sie schloss, dass die Geschmolzenen die Spitzen ihrer Schwerter gewissermaßen unbeteiligt auf sie richteten und sie trotz der Bemühungen des Fürsten dem Untergang geweiht waren ... Plötzlich schien die Luft um sie herum eiskalt zu werden, was Flaeros sehr ungewöhnlich vorkam, ein blauer Nebel o-
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der Rauch stieg auf, und da waren seltsame schattige Bäume, die so gar nicht zu dem Wald rings um sie herum passen wollten – und der blaue Schein formte einen Ring oder Bogen um sie herum, in welchen sie durch die zustoßenden Klingen der Geschmolzenen gezwungen wurden, und Glarsimber fluchte und stampfte auf den Boden und hackte zu ... Und plötzlich befanden sie sich an einem anderen Ort, in einem Wald, der ganz nach Aglirta aussah: Flaeros, Fürst Belklarravus und ein gutes Dutzend Geschmolzener. »Wir sind wie Vieh zusammengetrieben worden, Junge! Aufgepasst!«, brüllte Glarsimber und schlug und parierte wie ein Wahnsinniger. Flaeros duckte sich unter einem Geschmolzenen weg, rollte sich von der niederfahrenden Klinge eines anderen fort – und fand sich plötzlich ohne Feind mitten unter längst abgestorbenen Zweigen im Unterholz eines dichten Waldes wieder. Ein Stück weit entfernt malten Sonnenstrahlen kleine Lichtteiche auf den Boden – von Blättern umgebene Lichtungen leuchteten hell in der Sonne – und noch weiter weg wurde das grüne Dunkel heller, denn dort schien der Wald aufzuhören, und dahinter musste sich offenes Land erstrecken. Der Barde kam auf die Füße und rannte so schnell wie nie zuvor in seinem Leben. Er krachte durch brüchige, tote Zweige und rutschte schlüpfrig glatte, von abgestorbenen Blättern und Moos bedeckte Abhänge hinunter, rang nach Luft und lief und lief. Alle Gedanken an tapfere Fürsten und Drachenzepter und Herrscher waren ihm vergangen, er dachte nur noch an Flucht vor den stillen, lauernden Gestalten, welche nach ihm griffen mit ihrem herunterhängenden, tropfenden Fleisch.
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»Für Hellbanner! Für Sart! Ah, bei der Herrin – für mich, verdammt noch mal!« Fürst Glarsimber hackte durch das, was mittlerweile der vierzigste verwundete geschmolzene Arm sein musste. Keiner von ihnen hat bislang Feuer gefangen, den Göttern sei Dank – aber warum, frage ich mich? Er war gerade durch ein Zaubertor geschritten, und man hatte sie wie Schafe hindurchgetrieben, ihn und den Jungen – aber warum? Und wo bei den Klauen des Dunklen befand sich Flaeros überhaupt? Der Lächelnde Wolf schlug die Klinge eines Geschmolzenen beiseite, dann den Ellbogen der Hand, welche das Schwert geführt hatte, und wirbelte den Leichnam herum. Dann hieb er von hinten wild auf dessen Knie ein und warf ihn für immer auf den Rücken. Dies war der Letzte gewesen. Er war fertig. Müde stützte sich Glarsimber auf sein Schwert, rang nach Luft und bellte den Namen des Barden. Er bekam keine Antwort. Er schaute sich um, blickte, da er mit dem Schlimmsten rechnete, unter die Bäume, und rief dann noch einmal den Namen des Sängers. Aber rings um ihn herum lagen nur die in Stücke gehauenen Geschmolzenen, und er entdeckte nicht einmal eine Spur von Blut. Der Fürst von Hellbanner stieß einen herzhaften Fluch aus, welcher alle Barden dieser Welt einschloss, köpfte einen Schössling, welcher ihm im Weg stand, und machte sich grimmig auf die Suche.
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»Den Leinpfad entlang, Herr, den ganzen Tag und die ganze Nacht«, keuchte der Mann und fiel mit dem Gesicht zuerst auf den polierten Marmorboden von Treibschaum. Schwarzgult kniete neben ihm, achtete nicht weiter auf die schockierten Blicke der Höflinge und fragte den erschöpften, halb tot wirkenden Mann: »Blutklinge nahm für sich den Titel eines Fürsten von Glarond in Anspruch, noch bevor seine Männer Burg Sart einnahmen?« »Ja, werter Regent«, antwortete der Mann mit schwacher, ersterbender Stimme, »Glarond und Hellbanner, so sagte er – und dass unsere Armee sich seiner anschließen sollte.« Seine Worte endeten in einem Stöhnen, und seine Augen schlossen sich. »Meinen Dank für Eure Treue«, sagte der Regent und drückte die Schulter des Mannes. Er erhob sich und fuhr den am nächsten stehenden Höfling an: »Tempelheiler! Hierher, auf der Stelle, um nach diesem braven Mann zu sehen!« »F-Fürst?« Schwarzgult packte den ungläubigen Höfling an der Schulter, wies auf den bewusstlosen und von der Reise verdreckten Mann, welcher ausgestreckt auf dem Marmorboden vor dem Flussthron lag, und zischte: »So sollte ein Höfling sein! Prägt Euch wahre Treue gut ein, und außerdem den Lohn dafür – und bei den Hörnern der Herrin! Holt die Heiler herbei! Lauft augenblicklich los!« Seine letzten Worte schrie er so laut, dass der Höfling beinahe taub wurde, rückwärts die Stufen hinunter stolperte und hart und schmerzhaft auf dem Hintern landete – aber er kämpfte sich rasch auf die Füße und machte sich eilends auf den Weg, zwar unter sichtlichen Schmerzen, aber mit beein-
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druckender Schnelligkeit. Schwarzgult wirbelte herum und wies auf einen anderen Höfling. »Ihr da! Zu den Unterkünften mit Euch! Sagt den Hauptleuten, sie sollen sich bereithalten – für den Krieg!« Er deutete auf den nächsten Mann. »Und Ihr begebt Euch zum Südturm; sagt Halvan, er solle sich ebenfalls bereithalten. Dann lasst alles andere stehen und liegen und unterstellt Euch Garzhars Befehl. Er wird hier das Kommando führen.« Der Höfling glotzte ihn an. »Der alte Garzhar von der Wache? Das Kommando? Aber – Herr – wo werdet Ihr -?« »Ich werde in den Krieg reiten«, erwiderte der Regent mit einem grausamen Lächeln, »wenigstens ein letztes Mal. Für Aglirta und eine Zukunft für uns alle!« Sein Lächeln wurde bitter. »Um es mit den Worten der Barden auszudrücken.« Die Attacke kam vollkommen überraschend. Im Glauben, sich mit den hastig zusammengerufenen bewaffneten Kräften von Brostos zwischen ihnen und der Brigantenarmee von Blutklinge in Sicherheit zu befinden, suchten die Ritter von Maerlin in den roten Umhängen immer noch ihre besten Schwerter und prächtigsten Rüstungen zusammen, als Segelschiffe gegen die Hafenmauern knirschten und die Soldaten von Blutklinge ans Ufer stürmten und alles aufspießten, was ihnen vor die Lanzen kam – und die entrüstet Befehle schreienden Ritter mit Salven schwerer Armbrustbolzen begrüßten, welche wie pfeifende Todesstürme Hunderte binnen weniger Atemzüge töteten. Dann kam es nur noch darauf an, reiterlose Pferde einzufangen und durch das Fürstentum zu reiten und schlecht ge-
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wappnete, aber mit beeindruckenden Schnurrbärten ausgestattete Männer niederzustechen, welche versuchten, sich zu verstecken oder ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzuraffen. Brostos würde standhalten, und zwar mit einer allzu dünnen Reihe von Rittern und in aller Hast bewaffneten Bauern, welche angsterfüllt entlang den Grenzen des Fürstentums abwarteten. Sie würden nicht im Traum daran denken, ein Land zu betreten, welches nicht ihr eigenes war – weshalb sollte man also Klingen gegen sie verschwenden, wenn sie sich ergeben würden wie die dankbaren Feiglinge, welche sie waren, sobald der neue König sie nach Treibschaum befahl? Burg Maerlin wurde bei Einbruch der Nacht genommen, und in den Verliesen drängten sich verängstigte fürstliche Erben, Frauen, Gäste und Höflinge, welche Reichtümer versteckt hatten oder dies zumindest behaupteten, mit welchen sie sich freizukaufen gedachten, sofern man ihnen eine Bedeckung zur Verfügung stelle, um sich in deren Besitz zu bringen. Blutklinge arbeitete bereits an einer Liste der Männer, bei denen seine Leute sicherstellen sollten, dass ihnen ein »Unfall« zustieß, nachdem ihre Schätze sicher in Blutklinges Besitz waren, und jener, die harmlos genug schienen, um sie gehen zu lassen. In dieser Nacht warteten drei hübsche, in Ketten gelegte Mädchen in seinem Bett, aber sie würden warten müssen, bis ein weiteres Festmahl gerichtet und einer anderen verblüfften Versammlung einfacher Bürger erzählt worden war, dass es in Blutklinges Aglirta keine mit Juwelen behängten, ausbeuterischen Höflinge und viel zu hohe Steuern mehr geben würde
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– sofern sie ein wenig Essen und Trinken für seine Armeen aufsparen könnten, mit denen er nach Treibschaum marschierte, um den Thron einzunehmen. Der Erfolg war ihm inzwischen so nahe, dass er ihn förmlich riechen konnte. »Ich habe dabei ein schlechtes Gefühl«, knurrte Craer, als sie gemeinsam die Straße entlangtrotteten. »Was, beim Laufen? Versucht doch, Euch all die Jahre ins Gedächtnis zu rufen, in welchen Ihr noch kein Hochfürst gewesen seid, und Eure Füße sollten sich an dieses vertraute Gefühl erinnern«, erwiderte Sarasper mit falscher Besorgnis und Anteilnahme. »Nein, Ihr alter Tollpatsch, ich meinte nicht meine Füße, sondern die Straße. Es ist viel zu ruhig«, gab Craer zurück. »Wo sind all die Hausierer geblieben? Und die Fuhrleute? Bei der Dreifaltigkeit, nicht ein Wagen ist zu sehen, ganz zu schweigen von einer Karawane! Nur die Leute aus den Dörfern ringsumher, so wie diese Holzfäller dort drüben – jedenfalls niemand, der weit gereist wäre!« »Da habt Ihr nur zu Recht«, brummte Hawkril nachdenklich. »Ja, auf einer Straße wie dieser müsste mehr Betrieb sein.« Raulin und Embra schauten Craer aus großen, ängstlichen Augen an. Der Beschaffer nickte bedächtig und verlieh der Furcht Ausdruck, welche alle beschlich. »Was ist nur in Aglirta geschehen, während wir im götterverlassenen Hinterland herumgezogen sind? Was?«
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»Bereit, Halvan?«, rief Schwarzgult und zügelte entschlossen sein riesiges, vor Empörung wie ein Drache schnaubendes schwarzes Schlachtross. »Ho, mein Herrscher!«, brüllte der fette Mann in Rüstung, welcher im Sattel eines fast ebenso großen Pferdes saß. »Die Anzahl meiner Schwerter aus Sirl wird mit Leichtigkeit alles übertreffen, was Blutklinge uns entgegenschicken mag!« Schwarzgult grinste. »Für das Geld, das Ihr mich kostet, ist das auch das Mindeste, was ich erwarte! Was, es gibt keine Tanzmädchen als Zugabe?« Halvan warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. Sie verstanden einander, der Regent von Aglirta und der Söldnerhauptmann aus Sirl. Schwarzgult hatte ein paar Hundert Mann aus den Überresten seiner eigenen alten fürstlichen Streitmacht rekrutiert – falls aber die Nachrichten stimmten, dass Blutklinge Maerlin eingenommen hatte, dann bedeutete dies, dass der Herrscher von Aglirta kaum ausreichend Männer befehligte, um die Ställe der Burg Maerlin zu bewachen und für die Sicherheit der Pferde dieser MöchtegernThronräuber zu sorgen. Halvans Truppen zählten fast tausend Mann, aber bei einem Fünftel von ihnen handelte es sich um ungeübte Jünglinge, welche eifrig danach trachteten, ihre Schwerter zum ersten Mal in Blut zu tauchen – wobei sie durch ihre Unbesonnenheit und Hitzköpfigkeit Gefahr liefen, auf dem Schlachtfeld zur Gefahr für Freund und Feind zu werden. Aber Halvan konnte er trauen, und seine Ergebenheit wurde von den Bannen dreier Magier aus Sirl gewährleistet, welche aus der Ferne seinen Kopf zu blutigem Brei zerquet-
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schen konnten, sollte er Schwarzgult hintergehen. Das war das Beste am Anheuern von Söldnern aus Sirl und machte sie dreimal so wertvoll wie jeden anderen angeheuerten Soldaten. Selbst wenn sie alle dazu verdammt waren, von Blutklinges Hand zu sterben – nun, zumindest würde sich der Thronräuber als starker Kriegshauptmann erweisen müssen, wenn er sie alle töten wollte, und vielleicht würde es Blutklinge ja gelingen, den Thron gegen feindliche Zauberer und lauernde Schlangenpriester zu behaupten und Aglirta zu neuer Stärke zu führen. Der Goldene Greif hatte sich eines langen und guten Lebens erfreut, und am Ende rufen die Götter uns alle zu sich. Allerdings bereitete es viel mehr Freude, andere zuerst in die ewige Umarmung der Drei zu schicken und noch dazu die Unglücksboten ein weiteres Mal an der Nase herumzuführen ... Der Wind nahm an Stärke zu und ließ die Blätter in den Bäumen rascheln, und wieder grinste Schwarzgult wie ein sorgloser Junge, der zum Spielen nach draußen darf. Wieder einmal ritt er in seiner alten Rüstung in den Krieg, befreit von plappernden Höflingen, umherhuschenden Schreiberlingen und endlosen Papieren, Papieren und noch mehr Papieren, welche gelesen und unterschrieben werden mussten. Es kam zu einem kurzen Wirrwarr aus sich gegenseitig bedrängenden Pferden und gut gelaunt fluchenden Reitern, als sich der königliche Trupp von Aglirta formierte wie eine riesige Speerspitze und sich anschickte, sich in die dunkle, enge Straße zu ergießen.
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Sobald die Ordnung hergestellt war, gewannen die Reiter an Geschwindigkeit. »Die Lanzen gesenkt!«, befahlen Schwarzgult und Halvan wie mit einer Stimme den voranreitenden Rittern und tauschten dann ein Grinsen aus, als der Donner der Hufe laut durch den düsteren Hohlweg hallte. Von den Bauernhäusern nahe dem Hafen erstreckte sich die Hauptstraße durch den südlichen Teil von Silberbaum durch diese dicht gewachsenen Wälder bis zu dem offenen Gelände der Felder von Sarth. Dort, ganz in der Nähe des verschlafenen Dörfchens Sarth, würden sie auf Blutklinges Armee treffen und genügend Raum für das Schwingen von Schwertern haben. Wenn sich das Glück gegen sie wendete, konnten sie sich immer noch in die Wälder zurückziehen und im Schatten Mann gegen Mann kämpfen – aber wenn das geschah, würde Blutklinge höchstwahrscheinlich Segelschiffe an ihnen vorbeischmuggeln, Treibschaum einnehmen und sich selbst zum König ernennen. Ähnliche Wälder – und Sümpfe nach Süden hin, welche so gefährlich und von stechenden Insekten heimgesucht waren, dass kein Mensch sie je betrat – versperrten Blutklinge das Vorrücken von Maerlin aus nach Osten. Falls er seine Männer nicht schwimmen ließ oder über Nacht hundert neue Schiffe baute, dann würde der Thronräuber nach Sarth kommen müssen. Wenn es Schwarzgult nur gelänge, als Erster dort anzukommen – er könnte die alten Gräben und Wagenbrücken und Hecken als Schilde benutzen und Blutklinge teuer dafür bezahlen lassen, dass der Söldnerführer nach der Krone griff. Wenn ...
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Die vordersten Reiter stießen ein Triumphgeschrei aus, als sie aus dem Wald brachen und entdeckten, dass auf den hügeligen Feldern keine Fahnen wehten und auch kein glitzernder Stahl auf sie wartete. Sie waren rechtzeitig angekommen! Sie – Sie kippten stumm vor Überraschung aus den Sätteln und starben unter den Hufen der nachfolgenden Rösser – Mann für Mann von Schwarzgults besten Kämpfern. Was, bei den Göttern –? Dort! »Lanzen hoch! Seid zum Angriff bereit! Visiere nach unten!«, röhrte Schwarzgult in den Steigbügeln stehend, auf dass seine Stimme überall gehört würde. Schlangenpriester standen unter den letzten Bäumen am Waldrand und schleuderten aus erhobenen Händen kleine Speere auf die vorbeidonnernden Reiter. Speere, welche den flüchtigen Schimmer von Magie hinter sich herzogen und unbeirrbar ins Ziel trafen: Die ungeschützten Gesichter und Kehlen von Männern, welche ihre Brustpanzer nicht zugeschnürt und ihre Visiere nicht heruntergeklappt hatten. Nein, es handelte sich nicht um Speere, sondern um Pfeile ... Pfeile mit seltsamen Spitzen, welche wie die klaffenden Mäuler von – »Schlangen!«, fluchte Halvan. »Sie bewerfen uns mit Schlangen!« Die Priester warfen Schlange auf Schlange, kleine, steife Pfeile, welche viel zu viele Krieger trafen, sodass sie sterbend aus den Sätteln kippten. Diejenigen, welche ihr Ziel verfehlten, wanden sich zischend am Boden, obwohl viele von trampelnden Pferdehufen zerquetscht wurden. Schwarzgult
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sah einen Priester, welcher seine letzte Schlange schleuderte und dann mit dem blanken Messer in der Hand losrannte und dabei wie rasend schrie. Furchtlosen Auges hackte er auf die Schlachtrösser ein. Er wurde wieder und wieder von Reitern umgestoßen, erhob sich aber stets wieder aufs Neue. Furchtlos – sie wirkten alle furchtlos. Betäubt von einem Zaubertrank oder vielleicht einem magischen Bann ihres Schlangengottes. Schwarzgult beugte sich nach vorn und versetzte einem dolchschwingenden Priester einen Hieb quer übers Gesicht. Er begegnete einem hasserfüllten Blick aus glitzernden Augen und schlug noch einmal zu. Der Mann vergoss kein Blut! Der Schwertstreich hatte sein Fleisch aufgeschlitzt und war am darunterliegenden Knochen entlanggeschrammt, genau über Kiefer und Nase und Stirn – aber trotzdem kam kein Blut! »Noch mehr Magie!«, fluchte er und tastete nach den Dwaerindim in ihrem Beutel unter seiner linken Achselhöhle. Nun, wenn heutigentags Magie zu den bevorzugten Schwertern gehörte ... Während er diesem Gedanken nachhing, erreichte er die erste Wagenbrücke auf dem Feld von Sarth, wo die Straße den sich krümmenden Bachlauf des Krommor kreuzte. Vor ihm stießen Ritter Flüche aus und kämpften mit den Zügeln, und Schwarzgult sah, dass die Brücke verschwunden war. Um einen halsbrecherischen Sturz in das enge, tiefe Bett des Baches zu verhindern, mussten die Reiter nach rechts und links das Ufer entlang ausweichen – und dann erklangen Schreie und das Klirren von Waffen. Schwarzgult ritt in eine Richtung, Halvan in die andere – und alle beide fanden sich einem Heer gegenüber, welches zu
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Fuß die Uferböschung hochkletterte und sie in einer unregelmäßigen Linie aus dunklen, mit Dung verschmierten Pieken, Hellebarden und Heugabeln angriff. Söldner! Eine pöbelhafte, zusammengewürfelte Truppe tätowierter und mit seltsamen Rüstungen ausgestatteter Männer von, wie es schien, jedem Hafen und aus jeder Stadt in Darsar – und noch dazu Tausende von ihnen! Ungläubig und mit offenem Mund starrte Schwarzgult auf das sich vor ihm abspielende Geschehen. Er konnte Piraten mit roten Schärpen aus Jaranda erkennen, welche Schulter an Schulter mit grimmigen, Spitzhelme tragenden Rittern aus Pelaerth herbeirannten. Sogar als der königliche Trupp schwerfällig Halt machte in einem Durcheinander von schreienden, Schwerthiebe austeilenden Männern, erklang plötzlich das Donnern von Hufen von weit hinter den Scheunen von Sarth – und um einen Obstgarten herum kam eine lange, schnell galoppierende Reihe von Reitern in Sicht. Wimpel aus hell schimmernder Seide – in Orangetönen, Gold und lebhaftem Limonengrün, Farben, wie man sie in Aglirta noch nie zu Gesicht bekommen hatte – flatterten von den Spitzen ihrer langen Lanzen. »Flammenreiter!«, schrie Halvan und klang genauso ungläubig wie Schwarzgult. Die Furcht erregenden Krieger aus dem heißen Süden, welche man in Aglirta noch nie auf einem Schlachtfeld gesehen hatte ... dunkelhäutige Männer mit strohfarbenem Haar aus dem fernen Sarinda jenseits von Karraghas, welche in Seide gekleidet kämpften, wobei lange, an ihren Armschützern befestigte Bänder aus dem gleichen Material im Wind flatterten. Sie trugen keine Rüstung außer den gläsernen Platten auf ihren Unterarmen und magische
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Schwerter aus gehärtetem Glas! Die Schatzkisten der Geschuppten mussten wahrhaft tief sein, um solch weit entfernt lebende Kämpfer – noch dazu unbemerkt – hierher zu bringen. Nirgendwo zeigte sich auch nur eine Spur von Blutklinge – das hier musste sich um das von den Schlangenanbetern höchstselbst hervorgerufene Verhängnis für Aglirta handeln. Ein Speer zischte heran, prallte von Schwarzgults Schulterpanzer ab und fiel zu Boden, ohne Schaden anzurichten. Der Regent stieß einen Fluch aus und griff nach dem Horn, welches an seinem Gürtel hing, um das Signal zu geben, sich zu sammeln und einen Ring aus Lanzen zu bilden. Kaum auf dem Schlachtfeld, und schon würde der königliche Trupp seinen letzten Standort einnehmen! Halvan wartete bereits auf das Hornsignal. Schwarzgult hielt das Horn hoch, so dass der Hauptmann aus Sirl es genau sehen konnte, aber er wandte den Kopf wieder nach Süden, als er schließlich hineinblies, um auf den Fluss zu schauen. War das Unheil so grenzenlos, dass es Blutklinge gelungen war, auf Schiffen hinter diesem Getümmel hier durchzuschlüpfen? Nein, die Drei hatten ihm wenigstens diese kleine Gnade gewährt. Nun, jetzt war die Zeit gekommen, ruhmvoll zu sterben für Aglirta und den rechtmäßigen König! Er brüllte diesen Schlachtruf, als er sein Pferd herumriss und auf den höchsten nächstgelegenen Hügel zuritt, und dann hörte er, wie die Männer – seine eigenen, treu ergebenen Männer aus Schwarzgult – den Schlachtruf aufnahmen, zuerst zögernd, dann stolz, als die Hufe ihrer Schlachtrösser Gerste zerstampften und die Hügelspitze auf sie zuzuspringen
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schien. Hinter ihnen gewannen die dahingaloppierenden Flammenreiter an Geschwindigkeit, senkten ihre Speere und versuchten, den königlichen Trupp zu überrennen, bevor noch ein Lanzenring geformt worden war. Schlangenpriester rannten furchtlos neben den Rittern aus Aglirta einher und schleuderten Dolche auf die Männer. Schwarzgult sah, dass sich noch mehr von ihnen aus der Gerste erhoben und zu den anderen gesellten, und sie brachten noch mehr Schlangenpfeile mit – nein, ein Zauber hatte sie herbefördert. Egal. Er schaute in ihre Augen, und sie erwiderten seinen Blick – und in ihren Augen stand der Tod. Die kalt lächelnden Schlangenpriester hatten sich eingefunden, um sich an dem Spiel um die Krone zu beteiligen.
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Sechs
Ein König wird sich erheben C Die Straße wand sich durch verlassenes und verödetes Ackerland, und Craer knurrte vor sich hin. Das hohe Gras bot beste Versteckmöglichkeiten für Banditen aller Art. Der Weg senkte sich in eine schattige Mulde, überquerte einen Bach und verschwand in dem dahinter liegenden Gehölz. Die Gefährten spähten am Waldrand entlang, machten aber nicht mehr als ein paar tanzende Sonnenlichtflecke zwischen den Blättern aus. »Raulin?«, fragte der Beschaffer leise. Er befand sich an der Spitze des Zuges müder Wanderer. »Nur Fliegen und Flattermäntel«, antwortete der fahrende Sänger von seinem Platz hinten und warf schon wieder einen Blick über die Schulter. Craer wandte sich an Hawkril: »Mir kommt das recht unheimlich vor. Der Landstrich hier dürfte nicht so menschenleer sein ... Entweder ist eine Seuche ausgebrochen, von der wir noch nichts erfahren haben, oder letzte Nacht ist hier ein Dutzend Drachen mit einem Riesenhunger vorbeigekommen.«
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Der Hüne zuckte hilflos die Achseln. »Vielleicht haben sie Euch ja kommen sehen und rasch alles versteckt, was ihnen lieb und wert ist.« »In solchen Breiten wie dieser kann es sich dabei höchstens um ein Rindvieh handeln«, schnaubte der Beschaffer. Sarasper aber schüttelte das Haupt. »Nein, mein werter Hochfürst, wenn die Zeiten hart sind, bleibt einem armen Bauersmann nur ein einziger Besitz, nämlich er selbst!« Craer schnaubte verächtlich: »Ihr meint also, sie haben ihre Schatztruhen vom Speicher geholt, sich damit in den Keller begeben, hinter sich abgeschlossen, sich dann in die Kiste gelegt und von innen zugemacht?« »Ruhe!«, zischte der Alte. »Schaut nach vorn. Mir scheint, als hätte ich drüben jemanden zwischen den Bäumen herumhuschen sehen.« »Wahrscheinlich habt Ihr wieder zu tief ins Glas geschaut, alter Knabe«, murrte Craer. »Wer weiß, was Ihr Euch da eingebildet habt ...« Er brachte seinen Satz aber nicht zu Ende, denn eben funkelte eine Rüstung zwischen den Zweigen. In der steckte ein mächtiger Mann, und der hielt ein Schwert in der Hand. Die Gefährten beobachteten ihn und kamen zu dem Schluss, dass er allein durch das Gehölz schlich. Und etwas an seinen Zügen kam ihnen bekannt vor. Die langen Koteletten, das runde Gesicht – »Hellbanner!«, rief der Beschaffer. »Lächelnder Wolf, hier!« Des Recken Kopf ruckte hoch, und er spähte durch das Geäst nach dem Rufer. Offenbar hatte er zwar der Straße folgen wollen, aber nicht allzu sehr darauf geachtet, wohin ihn seine Schritte führten.
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Jetzt brach der Wolf durch das Unterholz und näherte sich mit gerunzelter Stirn der Truppe. »Einen schönen Tag wünsche ich, Ihr Herren Hochfürsten«, grüßte er sie. »Habt ihr womöglich einen dummen jungen Barden hier vorbeilaufen sehen?« Die restlichen Gefährten drehten sich wie ein Mann zu Raulin um, welcher seinerseits Glarsimber von Sart verwirrt ansah. Der Fürst zog eine Braue hoch und wandte sich an den Jüngling: »Nun, mein Freund, wie steht’s, habt Ihr einen solchen geschaut?« »Dieser hier zieht nämlich auch als fahrender Sänger durch die Lande«, erklärte Sarasper derweil dem Wolf und deutete auf Raulin. »Aber nein, nein«, wehrte Glarsimber ab. »Ich suche doch nach Flaeros Delkamper. Aber sagt an, ist jener Jüngling also wirklich auch Barde?« »Na ja, eigentlich hat mein Vater sich damit Ruhm erworben«, erklärte Raulin. »Aber verratet uns doch, lieber Fürst, was denn vorgefallen ist.« Glarsimber aber sah zunächst die Hochfürsten fragend an, bis Embra zustimmend nickte: »Ja, mein Herr, wir haben keine Geheimnisse voreinander und genießen auch das volle Vertrauen des jetzigen Regenten. Deswegen frisch von der Leber weg, Fürst.« Der Fürst von Hellbanner legte die Stirn wieder in Sorgenfalten. »Eine Menge hat sich getan, aber am wichtigsten dürfte sein, dass der Söldner, welchen man Blutklinge nennt, eine Armee um sich gesammelt hat und in diesem Moment nach Treibschaum marschiert ...
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Er will sich selbst zum König von Aglirta krönen, und dafür ist er bereit, über so viele Leichen wie nötig zu gehen. Jeglicher Widerstand wird sofort niedergeschlagen.« Die Wanderer starrten ihn mit offenem Mund an. »Was sprecht Ihr da, Glarsimber?«, fragte Craer erregt. »Habt Ihr den Kriegsfürsten denn mit eigenen Augen gesehen?« Der Fürst schüttelte den Kopf. »Nein, und unter normalen Umständen würde ich es nicht glauben. Aber derjenige, von welchem ich das erfahren habe, muss als vollkommen vertrauenswürdig angesehen werden.« »Und wer war das?«, wollte der Heiler gleich erfahren. Der Wolf wirkte unbehaglich und rückte erst nach einem Moment mit der Sprache heraus. »Seine Majestät, der König Kelgrael selbst ...« Er senkte die Stimme und fuhr im Verschwörerton fort: »Wie ein Geist erschien er mir und flackerte wie eine Kerzenflamme. Die ganze Zeit über habe ich durch ihn hindurchsehen können.« »Ja, das muss der König gewesen sein«, bestätigte Hawkril, auch wenn man ihm ansah, dass er es kaum glauben wollte. Danach überzog Betrübnis seine Miene. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass im Stromtal alles schief gelaufen war? Was stimmte nicht in diesem Land, welches er seine Heimat nannte und welchem er jetzt als Hochfürst diente? Der König war Hellbanner erschienen und hatte ihn vor einem Thronräuber gewarnt ... warum hatte er sich dann nicht den Gefährten gezeigt? Die anderen Hochfürsten sahen sich mit langen Gesichtern und kopfschüttelnd an. Ihnen gingen wohl ähnliche Gedan-
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ken durch den Kopf. »Vergebung, edle Hochfürsten, aber warum schaut ihr so bekümmert drein?«, wollte Raulin wissen. »Kann es sein, dass ihr unserem Gast gern glauben möchtet, aber seine Nachricht nicht zu fassen vermögt?« Craer grinste ihn humorlos an. »Ganz recht, mein Junge, Ihr habt damit den Nagel auf den Kopf getroffen.« »Wisst Ihr, so etwas passt eigentlich nicht zu einem Söldnerhauptmann«, erklärte ihm Sarasper. »Warum sollte man die Mühe auf sich nehmen und sich selbst auf den Thron setzen? Man fährt doch viel besser, wenn man hier und dort ein paar kleinere Scharmützel nährt und die Hand aufhält, um sie zu unterdrücken ... Deswegen fragen wir uns alle, was eigentlich im Lande vorgeht.« »Ein König wird sich erheben ...«, sang Hawkril leise vor sich hin und stellte dann zu seinem Verdruss fest, dass er den Rest der Worte vergessen hatte. Und das wollte dem Hünen als schlechtes Vorzeichen erscheinen. »Ein König wird sich erheben«, sprach eine sanfte Stimme in einer Kammer, in welcher es mit einem Mal ein wenig heller wurde. Das rührte von dem großen, in bunte Steine eingefassten Spiegel her, auf dem sich nun allerlei Farben drehten ... Und aus diesen entstanden die Mauern und Türme der Insel Treibschaum ... und Scharen von Kriegern, endlos wie der Strom, welche sich daran machten, die Wälle zu erklimmen. »Wird langsam auch Zeit«, meinte die Stimme.
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Der Mann in dem kostbaren Gewand, an welchem die Goldketten nur so klirrten, trug eine gelangweilte Miene zur Schau, als er durch die Halle schritt. Er summte etwas vor sich hin und betrachtete dabei seine vergoldeten Fingernägel. Zu ärgerlich! Schon wieder war an einer Ecke die Farbe abgeplatzt. Er blieb vor dem ovalen Spiegel neben der Statue von König Olaurian stehen, welcher Aglirta vor so langer Zeit beherrscht hatte, dass man damals noch keine Fürstentümer gekannt hatte. »In den Tagen, an welchen die Götter der Dreifaltigkeit über die Erde wandelten und die Bäume ihre Wurzeln noch nicht im Boden versenkt hatten, sondern frei durch die Luft schwebten und von den Stürmen hoch und höher getragen wurden«, zitierte der Höfling mit großen Gesten, »begab es sich aber, dass Aglirta geboren wurde.« Er breitete die Arme wie ein fahrender Geschichtenerzähler aus. »Mit ihm kam der König, ein großer Krieg hob an, und überall entstanden Tod und Zerstörung. Die Bestien wurden in fernste Ecken geschleudert, und die Straßen senkten sich auf das Land. Und endlich wurden die Dinge wichtig ... vertrieben ward die endlose, erstickende Langeweile ...« »Wenn es Euch nicht zu viele Umstände bereitet, edler Saraedrin«, sprach ihn da ein Wächter unumwunden an, »so bewegt doch Eure gelangweilten Beine gleich in den Thronsaal. Der Reichsverweser Garzhar erwartet nämlich dringend Euren Bericht!« Thelmert Saraedrin hob ruckartig den Kopf. »Ach wirklich? Ich pflege keine Anweisungen von alten Tattergreisen entgegenzunehmen, welche kaum noch in ihre Rüstung pas-
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sen ... und von vorlauten Tür Wächtern erst recht nicht!« »Wir alle sollten uns darauf freuen, Zeit unseres Lebens etwas dazulernen zu dürfen«, entgegnete der Wächter. »Und seien es nur gute Angewohnheiten. Selbst in der Stunde des Todes ist es dafür nicht zu spät ...« Der Soldat ließ das Ende des Satzes offen und zog dafür sein Schwert drei Fingerbreit weit aus der Scheide. »Drohen, immer nur drohen, dass ist alles, was ihr Stahlköpfe vermögt, nicht wahr«, höhnte der Mann mit den vielen Goldketten. »Dabei seid ihr nicht mehr als alte Knacker, die jetzt, da der Regent in den Krieg gezogen ist, wie Pfauen durch den Palast stolzieren und sich Wunder was einbilden, wie wichtig sie seien!« »Fein beobachtet, Herr«, gab der Wächter zurück, »der Regent ist tatsächlich in Sachen Krieg verreist. Deswegen bindet Euch Euer Treueid dem Thron gegenüber auch an den Stellvertreter des Regenten, an den Reichsverweser Garzhar. Und nun sputet Euch, sonst kommt es auf Treibschaum schon zu Mord und Totschlag, noch ehe Blutklinge vor unsere Tore gezogen ist!« Saraedrin aber winkte ab. »Seht Ihr, wie ich vor Furcht bebe? Meine Hände zittern so sehr, dass ich kaum die Tür öffnen kann.« Der Wächter ließ sich nicht lange bitten und öffnete ihm. Zum Dank erhielt er von dem Höfling ein spöttisches Lächeln. Darüber freute sich der alte Soldat so sehr, dass er Saraedrin einen Fußtritt in den Allerwertesten verpasste. Der Höfling flog geradezu in den Thronsaal und rutschte über den glatten Marmorboden auf den Herrschersitz zu. Fluchend richtete er sich wieder auf. Doch bevor er sich so recht
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wieder gefasst hatte, sprach ihn eine altersheisere Stimme an. »Eure Eile ehrt Euch, Saraedrin. Ich hoffe doch, dies geschieht, weil Ihr mir endlich die versprochenen Aufstellungen vorlegen könnt. Versteht bitte mein Drängen, ich bin nicht mehr der Jüngste und würde sie gern noch vor meinem Ableben zu Gesicht bekommen.« Der Höfling war vor Zorn und Scham rot angelaufen und gab unwirsch zurück: »Wen interessiert es denn schon, wie viele Fässer Salzheringe und wie viele Käseräder sich in unseren Lägern befinden? Der Regent ist in den Krieg gezogen, und wir beschäftigen uns hier mit nichts anderem als –« »Nun, bei einer Belagerung kommen sie uns gewiss sehr gelegen«, entgegnete Garzhar mit stahlharter Stimme. »Morgen, mein lieber Thelmert Saraedrin, passt man Euch eine Rüstung an und bringt Euch bei, das Schwert zu schwingen. Übermorgen möchte ich dann sehen, wie Ihr eine solche Waffe zu gebrauchen versteht, ohne dabei über Eure eigenen Füße zu stolpern.« »Was?«, kreischte der Vornehme. Er starrte den Reichsverweser an, zuckte bei dessen kalter Miene zusammen, fasste sich wieder und entgegnete spitzfindig: »Und womit darf ich Euch überübermorgen erfreuen?« »Ich rechne nicht damit, dass es für uns ein Überübermorgen geben wird«, erwiderte Garzhar, »weder für Euch noch für mich.« Der Höfling schüttelte ungläubig den Kopf. Daraufhin strich sich der Greis mit einer vernarbten Hand durch das schüttere weiße Haar, setzte eine grimmige Miene auf und fühlte sich zu einer Entgegnung bemüßigt. »Ich sehe keinen Weg, wie ich unsere Insel gegen einen
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Großangriff verteidigen könnte. Was steht mir denn schon zur Verfügung? Ein Dutzend alt gewordene Krieger, zwei Dutzend Zofen und Mägde, drei Dutzend verweichlichte und im Waffengebrauch völlig ungeübte Höflinge und noch einige Knechte, Köche und dergleichen ... Selbst wenn der Feind so blöde wäre, nur an einer einzigen Stelle anzugreifen, selbst wenn wir uns durch Zufall gerade alle an dieser Stelle befänden und nicht erst aus allen Teilen der Burg heranrennen müssten, und selbst wenn die Dreifaltigkeit es an diesem Tage besonders gut mit uns meinte, könnten wir keine Minute widerstehen – ein paar gut gezielte Pfeilschüsse und Speerwürfe, und der Dienst tuende Koch könnte uns alle von der Essensliste streichen.« »Was? Wieso? Warum?«, entfuhr es dem Vornehmen in rascher Folge und furchtbar laut. Er ruderte noch mit den Armen durch die Luft, als seine Worte von den hohen Wänden des Thronsaals hin und her geworfen wurden. »Aus welchem Grund halten wir uns dann noch hier auf?« Alle anderen im Thronsaal waren nun auf den erregten Höfling aufmerksam geworden und sputeten sich nun mehr oder weniger vornehm, näher zu kommen. »Die Kriegsmänner und ich bleiben hier, weil wir uns dazu verpflichtet haben«, antwortete der Reichsverweser langsam und kalt, »denn genau das verlangt ein Treueid auf König und Thron.« Mit einem verächtlichen Blick wandte er sich von dem Höfling ab. »Warum ihr Stutzer und Gecken aber immer noch hier seid, habe ich nie verstanden. Tagtäglich beklagt ihr euch doch darüber, wie unsäglich langweilig es hier sei. Dass ihr am Königshof stets einen reich gedeckten Tisch vorfindet,
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kann doch wohl nicht der Grund für euer anhaltendes Verweilen an diesem grässlichen Ort sein, oder?« »Mit Verlaub, Herr«, wandte einer der Höflinge ein, die eben näher gekommen waren, »aber gegen eine solche Darlegung muss ich mich ganz entschieden verwahren. In all den Jahren auf dieser Burg habe ich –« »Herr! Herr Reichsverweser!«, brüllte in diesem Moment der Wächter an der Tür. »Zu Hülf! Zu Hülf! Der Feind schwärmt in die Burg ein. Er ist beim Nordausguck-Turm über die Mauer gestiegen und hat schon das Gartentor erreicht. Daeruth verlangt dringend nach Verstärkung!« »Seid bedankt, Ilibar! Bewacht Ihr nun den Thron!« Garzhar erhob sich vom Thron und humpelte, so rasch er es vermochte, über den glatten Marmorboden. Im Lauf zog er sein Schwert und rief nach dem Pagen Tarth. Schon erschien der an seiner Seite, reichte ihm seinen Helm und hielt auch noch einen kühlen Trunk für den Reichsverweser bereit. Dem Greis blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Er klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Dass ich so viel Eifer noch erleben darf. Schafft Ihr nun die Köche, Knechte und Mägde fort.« »Wie, Herr?«, rief der hinzugetretene Höfling. »Ihr verfügt noch über Boote? Und ich glaubte schon, der Regent hätte sie alle mitgenommen ... Wo habt Ihr die Kähne vertäut?« »Begebt Euch endlich auf Euren Posten, Nilvarr!«, schrie Garzhar ihn an, ohne in seinem humpelnden raschen Lauf zur Tür innezuhalten. Aber der Höfling geruhte, den Befehl zu überhören, und eilte schon dem Knaben hinterher. »Page! He da, Junge. Ich
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verlange, dass Ihr auf der Stelle stehen bleibt –« »Tarth!«, brüllte der Greis über die Schulter. »Ihr folgt dem Befehl, welchen ich Euch letzte Nacht gegeben habe.« »Mit dem größten Vergnügen, Herr!«, bestätigte der Page und sauste schon in Richtung einer anderen Tür. Nilvarr und Saraedrin bemühten sich, ihn trotz ihrer Leibesfülle einzuholen. Saraedrin kam etwas rascher voran, aber daher war Nilvarr um einiges näher an dem Knaben heran. So nahe, dass er schon eine Hand ausstreckte, um sie dem Knaben auf die Schulter zu legen und ihn so zum Anhalten zu zwingen. »Stehen bleiben, Ihr kleine Kröte!«, schnaufte er. »Ich bin Fürst des Reiches und Beamter des Hofes! Wenn ich Euch einen Befehl erteile, habt Ihr zu gehorchen, andernfalls soll es Euch schlecht ergehen!« »Dann macht das ja jetzt auch nichts mehr!«, entgegnete der Knabe, blieb unvermittelt stehen und bückte sich. Der Höfling flog über den Knaben hinweg, landete hart auf dem Marmorboden, rollte hilflos noch ein Stück weiter und landete Saraedrin vor den Füßen. Thelmert konnte wirklich nichts dagegen unternehmen. Er flog ebenfalls der Länge nach hin. Als die beiden sich endlich aufgerappelt hatten und ihren Lauf zu der betreffenden Tür fortsetzten, hatte sich dort bereits ein halbes Dutzend andere Vornehme eingefunden – Und diesen stellte sich der getreue Türwächter Iliver Quelver mit gezücktem Schwert entgegen. Und mit einem gehässigen Grinsen. »Angesichts der angespannten Lage bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, erklärte er den hohen Herren, »als jeden, wel-
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cher versucht, an mir vorbeizukommen, als Verräter an der Krone und Spion des Thronräubers Blutklinge anzusehen.« Der Türwächter ließ seine Klinge ein wenig auf und ab wippen. »Und ihr wisst, wie man in Kriegszeiten mit Verrätern verfährt.« Die Höflinge hielten inne, um den anderen den Vortritt zu lassen. Sie wagten es nicht so recht, einander anzuschauen, und fortgehen wollten sie auch nicht. In diesen Moment der Unsicherheit platzten ein schriller Schrei und das Klirren von Waffen. An der Tür entstand Geraschel und Gestampfe, und ehe er sich versah, war Ilibar wieder allein und starrte kopfschüttelnd den entfliehenden Höflingen hinterher. Sie liefen die Treppen hinauf, um die Galerien zu erreichen und über sie zu ihren Gemächern zu gelangen. »Dann sterben sie eben einsam in ihren Verstecken«, murmelte der Wächter und schwang sein Schwert durch die Luft. In Gedanken hatte er sich längst darauf eingestellt, bald zu sterben. »Nicht einmal eine Zofe versüßt ihnen die letzten Stunden. Hoffentlich gehen sie nicht vor der Zeit an Langeweile ein.« Das Klirren von Waffen und Rüstungen wurde stetig lauter. Ilibar schluckte. Bei der Dreifaltigkeit, die Unseren weichen aber rasch! Nur die Greise unter den Wächtern waren in Treibschaum zurückgeblieben. Und natürlich die Hand voll sich zu wichtig nehmender Höflinge, welche andernorts niemand haben wollte. Alle anderen waren mit Schwarzgult geritten, um Blut-
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klinge aufs Haupt zu schlagen. Aber selbst mit der Hilfe der Söldner aus Sirl würde das sicher nicht einfach werden. Der Kriegsfürst hatte alle Fürstentümer auf seinem Weg wie eine Naturgewalt überrollt. Wer von den dortigen Soldaten überlebt hatte, hatte sich ihm angeschlossen. Wenigstens sterbe ich bei der Erfüllung einer wichtigen Aufgabe, sagte sich der Wächter. Vor meinem Ende kann ich noch etwas Wesentliches tun. Er baute sich breitbeinig vor dem leeren Thron auf, hielt das gezogene Schwert in der Hand und rief in den leeren, widerhallenden Saal hinein: »Gehörnte Herrin, schenk uns den Sieg, auch gegen alle Hoffnung! Vorvater Eiche, lass mich dem Feind widerstehen! Dunkler, führe meine tödliche Klinge. Bleib an meiner Seite, Dreifaltigkeit, wenn du Aglirta nur halb so sehr liebst wie ich!« Die letzten Worte hatte Ilibar nur noch geflüstert, aber sie erfüllten den ganzen, großen Raum. Als ihr letzter Widerhall vergangen war, hörte der Wächter von draußen einen verzweifelten Ruf. Dem folgte ein Krachen, Fluchen und ein ohrenbetäubender Knall. Die Türen, welche der alte Mann so lange bewacht hatte, wurden aufgestoßen. Reichsverweser Garzhar und zwei weitere Wächter kamen sich rückwärts bewegend in den Raum und wehrten ächzend und schnaufend die Angreifer ab, welche vom Flur nachdrängten. Garzhar hatte seinen Helm verloren, und sein linker Schulterschutz hing nutzlos herab. Wenn sie gegen junge, vor Kraft strotzende Feinde angetreten wären, lägen sie längst irgendwo in ihrem Blut. Aber sie hatten es mit Geschmolzenen zu tun.
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Und die waren auf ihre Art noch schlimmer. Ebenso blindlings wie unerbittlich drängten sie voran und ließen sich weder von eigenen Verlusten noch von Treffern aufhalten. Ilibar zuckte zusammen, als zwei Schwerter von verschiedenen Seiten auf den Reichsverweser zusausten. Garzhar riss seine Waffe hoch und wehrte die Gegner in einem verzweifelten Rundumschlag ab. Der alte Mann drehte den Kopf zur Seite, als die Klingen aufeinander krachten und Funken stoben. Garzhar entging so einem schweren Treffer, wich aber dennoch zurück und wäre dabei fast zu Fall gekommen. Ilibar konnte diesen Anblick nicht länger ertragen. »Herr! Hierher, zu mir!«, rief er ihm zu. »Kommt zum Thron! Ruht Ihr Euch aus, und lasst mich ein Weilchen mit ihnen spielen!« Das alte, wettergegerbte Gesicht drehte sich zu dem Wächter um, und Garzhar setzte ein mattes Grinsen auf. Dann zeigte der Reichsverweser mit seinem Schwert auf die beiden am weitesten vorgedrungenen Geschmolzenen. »Bitte, mein lieber Ilibar, bedient Euch.« Seine Worte übertönten das Todesächzen eines der beiden anderen Wächter, welcher, von zwei Schwertstreichen zugleich getroffen, stöhnend niedersank. »Mit mir geht es bald zu Ende ...« Ilibar stürmte, so rasch es seine alten Beine erlaubten, zum Kampfort und wäre fast auf dem glatten Marmor ausgerutscht. Als er dann die Geschmolzenen erreichte, geriet er endgültig aus dem Gleichgewicht, als er einer weit geschwungenen Klinge ausweichen wollte.
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Auf dem Hinterteil rutschte er in den Haufen der toten Gegner. Die Feinde waren blind, aber irgendwie wussten sie immer, wo sich lebendes Fleisch befand. Ilibar glitt einem zwischen den Beinen hindurch, richtete sich hinter ihm rasch wieder auf und hieb ihm einen Arm, ein Bein und den Kopf ab. Schon taumelte der nächste Geschmolzene heran, und der alte Mann wich ihm geschickt aus, damit er nicht plötzlich zwischen zwei Feinde geriet. Er konnte einen raschen Blick bis ans andere Ende der Halle werfen. Aus allen Eingängen schlurften die Scharen der Geschmolzenen heran. Außer ihm schien sich ihnen niemand mehr entgegenzustellen. Also würde er es ganz allein mit ihnen aufnehmen müssen. »Mögen die Götter mir beistehen!«, knurrte der Wächter und hieb auf den ersten Feind ein. Die Klinge drang tief in dessen Hals ein, und sein Kopf hing schief herab. Aber der Geschmolzene wehrte sich weiter, als sei nichts geschehen. »Rückzug zum Thron!«, gebot Garzhar. »Dort sammeln wir uns erneut!« Bei dem anderen übrig gebliebenen Wächter mochte es sich um Keldert handeln. Ilibar hatte nicht so genau hinsehen können. Von ihm ertönte zur Bestätigung nur ein Stöhnen, denn er empfing nur einen Stich in den Bauch und konnte nicht einmal einen Schritt in Richtung Thron machen. Während Ilibar zum Thron zurückeilte, wo sich der Reichsverweser bereitmachte, ein weiteres Mal die Geschmolzenen zu empfangen, zerhackten diese den zu Boden gegangenen Keldert. »So sind wir also die Letzten«, keuchte Garzhar, als Ilibar
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sich zu ihm gesellte. Sie zogen sich auf die Rückseite des Throns zurück, damit der ihnen die eine Seite sicherte, und stellten sich dann Rücken an Rücken hin. »Habt Ihr Euren Frieden mit der Dreifaltigkeit gemacht?«, fragte der Reichsverweser. »Ja, das habe ich«, nickte der Wächter. »Ihr sicher auch, oder?« Garzhar verzog das Gesicht zu einem schrecklichen Grinsen. »Da draußen gibt es ein Mädchen, das ich immer heiraten wollte. Aber irgendwie bin ich nie dazu gekommen.« Sie wehrten die ersten Gegner ab, und danach fuhr Garzhar fort: »Doch das dürfte jetzt nicht mehr wichtig sein, also bin ich wohl im Frieden mit den Göttern.« Er enthauptete einen Geschmolzenen mit einem einzigen kühnen Streich und brüllte: »Für Aglirta!« »Für Aglirta!«, nahm Ilibar seinen Schlachtruf auf, und sie hieben wie wild gewordene Schlachter auf die Menge der Feinde ein. Eine ganze Weile wehrten sie sich so, bis der Reichsverweser schließlich wort- und klaglos zu Boden sank. Daraufhin fand der letzte Wächter den Mut, etwas zu tun, was er früher nie gewagt hätte. Er bestieg hurtig den Thron, wehrte sich von oben und schrie den Angreifern, deren Scharen kein Ende zu nehmen schienen, seinen Trotz entgegen. Über einem glühenden Spiegel ertönte ein leises, angewidertes Zischen. Dem folgten einige leise Worte, und dann loderte der Spiegel gleißend hell auf.
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Die Geschmolzenen in seiner unmittelbaren Umgebung gingen unvermittelt in Flammen auf, und Ilibar brüllte ihnen seine Schmerzen trotzig entgegen. Schreiend sprang er die Stufen des Throns hinunter, hieb wie wild um sich und zerhackte die verkohlenden und zerbröckelnden Untoten. Doch immer noch drängten neue Feinde durch die Türen herein, welche Ilibar doch eigentlich zu bewachen hatte. Diese brannten nicht, und sie kannten nur ein Ziel: den letzten der Wächter zu erschlagen. Vor lauter Qualm konnte Ilibar nichts mehr sehen. Er sprang in die Richtung, in welcher er die Türen wusste. Der Gestank seines verbrannten Haares und seines versengten Fleisches bereitete ihm Übelkeit. Da traf ihn etwas Hartes und Schweres, und er wurde aus der Bahn geworfen. Noch während Ilibar sich um die eigene Achse drehte, verlor er sein Schwert irgendwo zwischen den Flammen. Ein weiterer Treffer beendete das Leben von Ilibar Quelver, und er sank der kühlen Dunkelheit entgegen. Sanftes Lachen erhob sich über dem flackernden Spiegel. Der zeigte ein ersterbendes Feuer im Thronsaal von Treibschaum, Dutzende von Geschmolzenen, welche auf den Herrschersitz von Aglirta zu drängten, dann nur noch leere Gänge und Räume, verlassene Küchen und marschierende Untote, welche in jedes einzelne Gemach eindrangen. Hie und da erhob sich vor ihnen eine Fledermaus unter die Decke und ergriff flatternd die Flucht. »Da frage ich mich doch«, meinte die leise Stimme, »ob der Herr der Fledermäuse wirklich immer noch lebt.«
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Der Sprecher schnaubte wieder und wehte mit einer Hand über den Spiegel, welcher darauf sofort dunkel wurde. Mit rauschenden Gewändern eilte er aus seiner Kammer, den langen Gang hinunter und durch den Wirbel der Magie hindurch, welcher sich am Ende um die eigene Achse drehte. Wieder ertönte das leise Lachen, doch diesmal in der Thronkammer von Treibschaum. Eine Hand bewegte sich kaum merklich, und schon machten die Geschmolzenen gehorsam eine Gasse zum Herrschersitz frei. Schatten umhüllten den Mann in den vornehmen Gewändern, als er am Ende der Gasse stand und den Thron in Augenschein nahm. Doch diese Schatten waren nicht nur Vorboten der Dunkelheit, sondern Schutzzauber, welche ihn vor allen Unbilden bewahren würden. Der Mann hob beide Hände und bewirkte einen neuen Zauber: Aus den Schatten löste sich ein bis dahin nicht vorhandenes Leuchten, waberte über den Marmorboden, bestieg die Stufen zum Thron und umschlich den Herrschersitz wie eine Raubkatze ihre Beute. Doch dort oben befanden sich weder Zepter noch Krone noch Reichsapfel – und auch sonst nichts. Daraufhin verging das Leuchten langsam. Der Mann verharrte für eine Weile in Schweigen, ehe er den gleichen Zauber ein zweites Mal aus den Schatten erzeugte. Wieder strömte suchendes Strahlen auf den Thron zu, umrundete ihn und stieg bis hinauf zur Decke. Doch keine zauberischen Fallen lauerten hier. Selbstredend war viel Magie in den Thron verwoben, aber man hatte keinen Hinterhalt gelegt, und keine böse Quelle war zur Abwehr erwacht.
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Erleichtert lächelnd setzte der Mann sich nun in Bewegung und ließ sich auf dem Herrschersitz nieder. Sein Schattenumhang verging im Nu, und Ingryl Ambelter, der Zaubermeister von Treibschaum, warf den Kopf in den Nacken, um laut zu lachen. Die Krone mochte zurzeit das Haupt dieses Toren Schwarzgult zieren, aber der Flussthron enthielt Zauber, von denen dieser nichts ahnte. Wer sich auf diese verstand, vermochte es, gewaltige Macht auszuüben. König, Regent und Reichsverweser spielten in diesem Moment keine Rolle mehr, denn eben hatte Aglirta seinen neuen Herrscher bekommen. Ingryl sandte einen Befehl aus, und im nächsten Augenblick fielen einige hundert Untote wie ein Mann vor ihm auf die Knie. Zufrieden lächelnd ließ Ambelter den Blick über seine getreuen Geschmolzenen wandern, legte die Arme auf die dafür vorgesehenen Lehnen und bezog vom Thron die Kraft, den Zauber zu bewirken, welchen er schon so lange auslösen wollte. Im Zeitraum einiger weniger Herzschläge und eines Funkenstiebens war alles erledigt. Ambelter heulte vor Begeisterung. Weit entfernt zuckte der Regent von Aglirta im Sattel zusammen. Rings um ihn herum wütete die Schlacht, doch er presste die Hände an den Kopf. Unsägliche Schmerzen hatten ihn aus heiterem Himmel befallen. Der Zauber hatte ihn getroffen, und inneres Feuer zerkochte ihm das Gehirn.
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Von Zeptern, Fledermäusen und verspielten Geiern C In der schattigen Senke war es angenehm kühl, und der Bach plätscherte dunkel, voll köstlichen Nasses und auch sonst einladend an ihnen vorbei. Raulin betrachtete den friedlichen Wald, welcher sich ringsherum erstreckte, und konnte es einfach nicht glauben, dass in eben dieser Stunde irgendwo in Aglirta Heere aufeinander prallten ... sich schreiend aufeinander stürzten und sich gegenseitig nach dem Leben trachteten. Er schüttelte leise den Kopf, wovon die fünf Gefährten, welche ihn umstanden, aber nichts mitbekamen. Wie üblich führte Craer das Wort. »Für den Augenblick wenigstens müssen wir von der Dwaerindim-Suche lassen! Zuerst gilt es, Blutklinge in den Staub zu zwingen. Dabei ist diese Aufgabe gar nicht so grundverschieden von unserem eigentlichen Anliegen ... Denn wenn Blutklinge damit fortfährt, einen Fürsten nach dem anderen zu meucheln, kann es uns eigentlich gleich sein, wer die Zaubersteine in seinen Besitz gebracht hat. Dann
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kann sich der Kriegsherr ihrer nämlich erfreuen ... wenn sie nicht in den Wirren der Schlacht verloren gehen, und das hülfe uns ja auch nicht weiter.« »Und wie, schlagt Ihr vor, sollen wir Blutklinge in den Staub zwingen?«, fragte Embra spitz. »Wir sind vier Hochfürsten, ein Fürst und ein fahrender Sänger, also sechs, wenn ich mich nicht verzählt habe. Reichlich wenig, um gegen ein Heer anzutreten.« Der Beschaffer lächelte und verbeugte sich vor ihr. »Edle Herrin Silberbaum, ich schlage vor, dass wir mit Blutklinge gewissenhaft so vorgehen, wie Ihr es in der vortrefflichen Strategie vorschlagt, welche Ihr uns jetzt unterbreitet.« »Das hätte ich mir ja gleich denken können«, murrte die Edle, musste dann aber doch kichern. Alle anderen beugten sich vor, um nichts von dem zu verpassen, was sie nun zu verkünden hatte. Warum gerade ich, ihr Götter! seufzte die junge Frau. Aber dann sprach sie schon und legte einen Plan dar, was sie selbst am allermeisten überraschte. Vielleicht hatte die Dreifaltigkeit sie ja überraschenderweise doch einmal gehört – auch wenn Embra nicht so recht verstand, was sie da eigentlich von sich gab. »Wir müssen auf dem schnellsten Wege nach Treibschaum zurück. Wenn ich mich der Macht von meines Vaters Dwaer bediene, vermag ich vielleicht, Blutklinge aufzuspüren. Danach verleihen wir Hawkril mit Hilfe des Zaubersteins das Aussehen des Kriegsherrn ...« Ja, das kam wirklich aus ihrem Munde, wunderte sich die Fürstin. »Und mittels eines Sprungzaubers schicken wir unseren
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Freund dann ins Lager des Feindes. Dort muss er versuchen, Blutklinge zu töten, um schließlich als der Kriegsherr vor seine Truppen zu treten. Diesen gibt er dann so widersprüchliche Befehle, dass die Soldaten in die unterschiedlichsten Richtungen auseinander laufen und sich das Heer so auflöst. Damit wäre diese Gefahr dann vom Flussthron abgewendet.« Die anderen hielten sich den Bauch vor Lachen, bis Sarasper schließlich ernsthaft sprach: »Das klingt so blödsinnig, dass es unter Umständen Erfolg haben könnte.« »Also gut, dann machen wir es so«, rief Craer dann gleich. »Schluss jetzt mit dem Herumschleichen auf abgelegenen Straßen. Wir haben ein Reich zu retten, ein paar Fürsten die Ohren lang zu ziehen und einigen Magiern den Hintern zu versohlen.« »Eine erfrischende Einstellung«, stimmte der Fürst von Hellbanner sofort zu. »Ihr werdet doch die Güte haben, mich mitzunehmen, oder?« Sofort kehrte Schweigen ein, und die Hochfürsten sahen sich betreten an. Schließlich ergriff Embra wieder das Wort. »Das dürfte, gelinde gesagt, auf Schwierigkeiten stoßen, denn im Moment vermag ich es noch nicht einmal, mich selbst nach Treibschaum zu befördern, geschweige denn die ganze Gruppe. Mir fehlt es einfach an magischer Kraft.« »Was könnte denn Abhilfe schaffen?«, fragte Glarsimber. »Alle Gegenstände, welchen einige zauberische Kraft innewohnt und die bedenkenlos geopfert werden können. Denn meine Banne werden alle Magie aus ihnen heraussaugen, bis von ihnen nur zerbröckelnde Reste übrig geblieben sind.« Schon grinste der Lächelnde Wolf und griff in seine Um-
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hängetasche. Er zog eine Halskette heraus und legte der Herrin etwas Glänzendes in die Hand. »Mein Notgroschen, der noch von der Schlacht im Schweigenden Haus übrig geblieben ist, als Ornentar sich in ein Schlangenungeheuer verwandelte und der Regent sich als Sturmharfe entpuppte.« Die Gefährten beugten sich rasch vor, um einen Blick auf das zu werfen, was Embra jetzt in der Hand hielt. Selbst Raulin verrenkte den Hals. Sie gewahrten eine Art Medaillon, wie es vornehme Fräulein trugen, bevor sie heirateten oder sich einem Liebhaber hingaben. Darin bewahrten sie dann eine Locke oder etwas anderes von demjenigen auf, für welchen ihr Herz schlug. Das Schmuckstück war fein gearbeitet, noch verhältnismäßig neu, bestand aus Kupfer und besaß die Form einer Hand. Hellbanner erklärte der Herrin: »Einer der Fürsten hat das Stück bei sich gehabt, übrigens derjenige, welcher sich später als Schlangenpriester herausstellte. Berührt mit dem Medaillon Metall, und es fängt an zu singen. Der Ton, welchen es von sich gibt, verrät Euch dann, ob das Metall echt ist.« »Das ist doch Schlangenzauber!«, rief Craer voller Misstrauen. »Und so etwas tragt Ihr mit Euch herum?« Aber der alte Sarasper schüttelte das Haupt. »Nein, mein Sohn, ein viel älterer Zauber, und ein besserer.« Embra hielt die Bronzehand seufzend hoch und setzte dazu an, ihren Sprungbann zu murmeln. »Ich hoffe, dieses Ding vermag mehr, als nur herauszufinden, ob es sich bei einem Stück Gold wirklich um Edelmetall handelt.« Sie beäugte den magischen Gegenstand. »Am liebsten würde ich diese Hand ja genauer prüfen, aber leider ...« Die
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Herrin schloss die Finger um die Bronze. »In wenigen Momenten wird davon nur Schlacke übrig geblieben sein, zu unserem Nutz und Frommen.« Während die Zauberin die Beschwörungsformel murmelte, verfolgte Raulin mit Erstaunen, wie der Beschaffer nun vorging. Der zog Embra nämlich über dem Hintern das Hemd aus der Hose, schob den Stoff so weit wie möglich hoch und hielt ihn auf halber Rückenhöhe fest. Die anderen traten darauf hin heran und legten ihrer Gefährtin eine Hand auf die nackte Haut. Glarsimber grinste plötzlich und gesellte seine behaarte Pranke zu den anderen. Raulin fasste sich schließlich auch ein Herz und folgte dem Beispiel der anderen. Embras Haut fühlte sich wunderbar samtig, weich und warm an. Blaues Leuchten erfüllte die Ränder ihrer Blickwinkel. Raulin drehte den Kopf, um nachzuschauen, bekam aber nur die Bäume des Waldes zu sehen. Dafür rührte sich etwas unter der Haut der Fürstentochter und erzeugte in seinen Fingerspitzen ein Prickeln ... Die Zauberformel endete in einem Vers: »Möge diese Bronze sich dazu verdingen, uns unserm Ziel näher zu bringen.« »In Aglirta muss sich in diesen Tagen so vieles verdingen«, grunzte der alte Weise. »Menschen, Vieh, Fürsten ... und dennoch geht so vieles zugrunde. Wertvolle Magie, Träume, Vertrauen und Menschen.« Raulin traten Tränen in die Augen, und er blinzelte den alten Heiler an. »Wollt Ihr wohl damit aufhören, mir die Laune zu verder-
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ben«, grollte Glarsimber. »Höchste Zeit, mal wieder jemanden zu erschlagen.« »Wann ist denn nicht die Zeit dazu?«, wandte Embra ein. Sie hob die Hände über den Kopf und spürte, wie die Magie an ihnen herablief. »Hat es je einen Zeitpunkt gegeben, der dafür ungünstig gewesen wäre?« WÄHRENDDESSEN Das Zepter lag glatt, schwer und gut in seiner Hand. Flaeros Delkamper hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man die in ihm schlummernde Magie wecken oder gar einsetzen sollte. Dabei konnte gar kein Zweifel daran bestehen, dass diesem Stab Zauberkräfte innewohnten. Warum sonst würde der Regent so großen Wert auf sein Zepter legen? Er spürte aber, wie viel Sicherheit es ihm gab, diesen Stab überhaupt zu halten. Ganz gleich, ob die Geschmolzenen nah oder fern waren. Auch jetzt umschloss Flaeros Delkamper ihn mit seiner Rechten, als er durch das faulende Laub, die abgefallenen Äste und die vielen Pilze auf dem Waldboden schritt. Als er durch die Farnwedel spähte, entdeckte er auf der Straße vorbeireitende Soldaten. »Ein König wird auferstehen«, sprach er beim Anblick der vielen Fahnen leise, welche von den Bannerträgern hochgehalten wurden. Flaeros erkannte die Farben von Loushoond, Ornentar und Tarlagar. Trupp nach Trupp donnerte über die Straße, und der Boden erbebte unter den Hufen. Krieg hatte in Aglirta Einzug gehalten, daran konnte jetzt
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kein Zweifel mehr bestehen, denn diese Straße führte zum Hafen, von dem aus man zur Insel Treibschaum gelangte. Und dorthin waren die Truppen von mindestens drei Fürsten unterwegs – wohl kaum zu einem Höflichkeitsbesuch. Unvermittelt ging ein Blitz auf die Straße nieder. Die Schwadronen gerieten in Unordnung, als die Reiter fluchend versuchten, ihre Rösser zum Stehen zu bringen. Flaeros beugte sich vor und spähte durch die Farne. Er musste mehrmals blinzeln, weil der Blitz ihn so geblendet hatte. Anstelle der Lichterscheinung zeigte sich jetzt ein Mann, welcher etwa einen Meter über dem Boden schwebte. Also konnte es sich bei ihm nur um einen Zauberer handeln, Groß und schlank schwebte er da und blickte der Schar zornig entgegen. Grüne und blaue Flammen loderten seine Arme hinauf und hinab. »Man nennt mich Jhavarr Bogendrachen!«, donnerte er ihnen entgegen. »Lasst euch ja nicht einfallen, eine Waffe gegen mich zu erheben. Ich suche nur einen Mann.« Ein alter Kämpe, welcher sein unruhiges Reittier immer noch zügeln musste, fragte: »So sagt denn an, wen Ihr sucht.« »Hält sich der Regent Schwarzgult unter euch auf? Ich konnte ihn auf Treibschaum nicht finden.« »Nein, das tut er nicht«, antwortete ein anderer Ritter. »Wie man uns sagte, soll er gegen den Kriegsfürsten Blutklinge in die Schlacht gezogen sein, irgendwo am südlichen Ufer des Stromes.« Der Magier schnaubte wütend, warf die Arme hoch und verschwand im Auflodern der Flammen. »Könige kommen ... und vor allem gehen sie auch wie-
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der«, murmelte Flaeros und ließ die Farnwedel los. Aber er beobachtete die Reiter noch eine Weile. Sie zeigten hierhin und dorthin, und unter ihnen erhob sich auch viel Geschrei. Nur ein Ritter blieb völlig ruhig und gelassen. Er stand ganz in Flaeros’ Nähe und grollte nur voller Verachtung »Zauberer!« vor sich hin. Nun näherte sich ein Reiter in hell glänzender Rüstung. Er trug die Farben des Hauses Tarlagar auf seinem offenbar neu angefertigten Waffenrock. Zwei Gefolgsmänner in der gleichen Aufmachung folgten ihm. »Ornentar!«, rief der Vornehme mit einer Stimme, welcher man anhörte, wie wichtig er sich vorkam. »Die Vorhut dürfte inzwischen den Hafen erreicht haben. Sollen wir ebenfalls dorthin aufbrechen?« »Aber unbedingt!«, erhielt er von einer mindestens ebenso eingebildet klingenden Stimme zur Antwort. »Wir sollten uns gleich auf den Weg machen und uns nicht länger von irgendwelchen verrückt gewordenen Magiern aufhalten lassen. Niemals werden wir größere Aussichten darauf haben, den Thron für uns zu erlangen, und wie seit langem nicht mehr bedarf Aglirta unseres Beistands und unserer Leitung!« Flaeros hatte nicht gesehen, ob einer von ihnen die Hand gehoben hatte, aber im nächsten Moment gaben sie alle wie ein Mann ihren Pferden die Sporen und preschten davon. Die vielen Hufe donnerten und hinterließen eine Staubwolke. »Und wer von euch will dann regieren, während die anderen so lange Aglirta beistehen dürfen?«, fragte Flaeros vor sich hin, kam leichtfüßig wieder hoch, als die letzten Ritter gerade hinter der Biegung verschwanden, und folgte ihnen – allerdings auf seiner Seite des Farnvorhangs.
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»Die alte Geschichte, meine Herren«, erklärte er der leeren Luft mit leise tadelndem Unterton, und Zweige zerbrachen unter seinem Schritt. »Wenn man solche Fragen nicht bald und von vornherein regelt, lässt das Unheil nicht lange auf sich warten.« Mit solch weisen Worten auf der Zunge stolperte Flaeros über eine Baumwurzel und fiel mitten im Laub aufs Gesicht. Im selben Moment zischte etwas über ihn hinweg und fuhr in einen nur wenige Schritte entfernten Baumstamm. Flaeros starrte darauf. Ein Pfeil? Nein, bei allen Göttern, eine starre Schlange! Ihre Zähne hatten sich tief in das Holz gebohrt, und jetzt drehte sie die Augen nach hinten, um nach ihrem Opfer zu schauen. Der Barde rappelte sich halb auf und drehte sich um, um festzustellen, woher dieses eigenartige Geschoss gekommen sein mochte. Im nächsten Moment starrte er mit offenem Mund auf einen Mann in einem eigentümlichen Gewand. Auf einen Schlangenpriester! Dieser grinste hämisch und zog schon eine weitere Schlange aus seinem Ärmel, ebenfalls starr und gerade wie ein Stab. Mit der holte der Priester weit aus und drohte, das Tier wie einen Speer nach Flaeros zu werfen. Der junge Mann schluckte und griff nach dem Einzigen, was ihm als Waffe dienen mochte, um damit die Schlange abzuwehren – dem Drachenzepter! Beim Anblick dieses Zepters verging dem Priester das gehässige Lachen. Entsetzt machte er auf dem Absatz kehrt und floh Hals über Kopf zwischen den Bäumen hindurch. Der Priester rannte, als ginge es um sein Leben. So voller Panik
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war nicht einmal Flaeros irgendwann während seiner zahlreichen Abenteuer gewesen. Der Sänger der Delkampers schaute verwundert auf die Stelle, an welcher der Schlangenpriester eben noch gestanden hatte. Dann betrachtete er kurz sein Zepter, zuckte die Achseln und nahm die Verfolgung der Ritterschar wieder auf. Diesmal bewahrte ihn ein gnädiges Schicksal davor, den Baumwurzeln ins Gehege zu kommen – den ersten wenigstens. In einer Burg, welche sich weitab vom Silberfluss, von heranpreschenden Rittern und mit Blut getränkten Schlachtfeldern erhob, stand ein Mann mit dem Rücken zu einem offenen Bogenfenster. Zu Paaren, Dreiergruppen oder gleich im Dutzend flatterten Fledermäuse aus dem Himmel und steuerten eben dieses Fenster an. Der Mann schenkte ihnen nicht einmal einen Blick, selbst dann nicht, als sie sich wie Vögel auf seine Schultern hockten, sich aneinander festhielten und so einen ständig wachsenden, lebenden Umhang für ihn bildeten. Der Gebieter dieses Ungeziefers hatte aber nur Augen für die Ansammlung von aufrecht stehenden Lichtbildern, welche die ganze Kammer anfüllten. Eines davon zeigte einen Mann, welcher lachend auf einem Thron saß und von einer Armee schweigender und leblos wirkender Krieger umringt wurde. Deren Fleisch befand sich ständig in Bewegung und schien wie Kerzenwachs von ihnen abzuschmelzen. Das nächste Bild wartete mit Rittern im gestreckten Galopp auf, welche die Farben von drei verschiedenen Fürsten
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trugen. Und das dahinter lenkte den Blick auf eine wilde Schlacht, in welcher Hunderte von Kriegern aufeinander einschlugen, -stachen und -hackten. Sie stiegen über Leichenberge und hatten oft genug Mühe, auf dem vor Blut rutschigen Boden nicht auszugleiten. Andere Lichtbilder zeigten andere Szenen, wie zum Beispiel von Thronsälen voller Bittsteller oder von Frauen, welche brütend in Spiegel starrten. Und auf wieder anderen drängten sich junge Zauberlehrlinge um Kristallkugeln. Der Magier schüttelte langsam den Kopf, während sein Blick von einem Bild zum nächsten wanderte ... »Wir haben eindeutig zu viele Mitspieler«, murmelte er vor sich hin und rieb sich die Wange, weil eine Fledermaus keine Ruhe geben wollte und ihm ständig etwas ins Ohr fiepte. Aber der Herr der Fledermäuse dachte überhaupt nicht daran, sich in das bevorstehende Gemetzel zwischen Ingryl Ambelter, Schwarzgult und seinen Spielzeugrittern, dem nach dem Thron strebenden Blutklinge und den Schlangenpriestern einzumischen. Das war ihm nun doch etwas zu heikel. Da erschien es ihm doch lohnender, die Hände in den Schoß zu legen und in Ruhe abzuwarten, bis sich günstigere Zeiten eingestellt hatten. Vor zwei Jahren noch hätte er nicht so viel Geduld aufgebracht und sich mitten ins Getümmel gestürzt, auch wenn er sich dabei die Finger verbrannt hätte ... und genauso war es ja dann auch gekommen. Hin und wieder sind aber auch die mächtigsten Magier nicht davor gefeit, dazuzulernen – wenn auch widerstrebend und alles andere als schnell. Dem Herrn der Fledermäuse war
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solches Glück widerfahren, und deswegen würde er in seiner Burg bleiben und sich einstweilen nicht aus seiner Deckung trauen. Natürlich wäre jeder, der bei einer solchen Schlacht verwundet liegen blieb – gleich ob Zauberer oder Krieger – eine leichte Beute. Doch selbst davor wollte er sich zurückhalten und lieber wie ein Geier auf das eigentliche Aas warten. Ezendor Schwarzgult nahm kaum wahr, wie sein Ross unruhig tänzelte und die Getreuen an seiner Seite alle Schwerter, Äxte, Keulen und Speere abwehrten, welche sich auf den Regenten richteten. Sie schirmten ihren Herren mit ihren Schilden ab und schützten ihn auch unter Gefahr für ihr eigenes Leben. Schwarzgult konnte sich nicht darum kümmern, denn er besaß weder die Kraft noch die Fähigkeit, etwas anderes zu tun, als mit dem Wurm in seinem Kopf zu ringen, welcher weiter durch sein Gehirn wütete und sich nach allen Seiten hin ausbreitete. Der Regent wusste aber, dass ihm die Tränen übers Gesicht liefen und er dummes Zeug redete ... wenn er sich nicht gerade erbrach, am ganzen Leib zitterte oder sich unter den magischen Peitschenhieben wand. Schwarzgult wusste auch noch, wer er war. Und dass Ingryl Ambelter, welcher diese Qualen bewirkte, vor Freude ganz außer sich sein musste. Er spürte geradezu, wie der verhasste Magier sich an seiner Pein labte und jede seiner Zuckungen genoss. Neugierig betrachtete Ingryl gewiss alles, was er im Gedächtnis von Kel-
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graels Statthalter auf dem Thron von Treibschaum vorfand. Währenddessen wichen die Soldaten des Regenten immer weiter zurück, und dieser vermaledeite Bannschmied ließ sich immer neue Teufeleien einfallen. Bei der Dreifaltigkeit, was musste man eigentlich noch alles unternehmen, um diesen Magier vom Leben zum Tod zu befördern? Ambelter war schon mehrere Male umgebracht worden -und hatte es sicher verdient, unter den grässlichsten Qualen zu sterben. Aber da stand Ingryl schon wieder auf den Beinen, setzte nach Belieben Wühlwürmer in anderer Leute Gehirn und lachte sich ins Fäustchen. Woher nahm er nur die dazu erforderliche Zauberkraft? Bei den Hörnern der Göttin! Ambelter musste den Flussthron errungen haben und sich dessen magischer Macht bedienen! Mit einem Wutschrei benutzte Schwarzgult die zauberische Verbindung, mit welcher Kelgrael ihn ausgestattet hatte. Kein starker Strang, sondern nur ein dünner Faden, welcher niemals gegen einen starken Recken auf dem Thron durchkäme. Und schon gar nicht gegen einen Erzmagier, welcher sich auf dem Herrschersitz breit gemacht hatte. Aber die Wut half dem Regenten, und für einen kurzen Moment gelang es ihm, die Magie des Throns anzuzapfen und den Wurm in seinem Kopf aus der Fassung zu bringen. Schwarzgult nutzte diesen Augenblick, um die Dwaerindim aus der Tasche zu reißen, warf sie vor sich in die Luft und rief ihre Macht auf. Als deren Energie in ihn strömte und ihn wie glühendes Feuer erfüllte, durchfuhr ihn auch ein gewaltiger Blitz, welcher ihn kurz durchrüttelte, aber, wichtiger
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noch, den Wurm wie auch das Feixen Ambelters vertrieb. Mit zusammengebissenen Zähnen und einem gequälten Grinsen sandte der Regent nun den Blitz durch die Thronverbindung gegen Ingryl. Die riesige Entfernung zwischen den Sarth-Feldern und der Thronkammer von Treibschaum wurde im Zeitraum eines Augenaufschlags bewältigt. Ohne Erbarmen schleuderte Schwarzgult alle Energie in den Geist des Erzmagiers und wütete darin mit der gleichen Zerstörungswut, wie Ambelter sie vorhin ihm hatte angedeihen lassen. »Sterbt, verwünschter Magier!«, brüllte er dazu. »Fort mit Euch, Elender!« Aber Ingryl würde auch diesen Angriff überleben, ahnte der Regent, mochte er sich auch noch so sehr das Gegenteil wünschen. Magier mogelten sich immer irgendwie durch. Wütend hieb Schwarzgult wieder und wieder auf den gepeinigten Geist ein. Ohne Plan und Ordnung schlug er das feindliche Gehirn, einzig von der Hoffnung beseelt, so viel Schaden wie möglich anzurichten. Doch viel zu früh schon spürte er, wie seine glühend heißen, aus der Energie der Zaubersteine gespeisten Angriffe abgewehrt wurden – so einfach wie bei einer parierenden Schwertklinge. Wie das seinem Feind möglich gewesen war, würde er wohl nie erfahren. Mit halbem Ohr vernahm der Regent das allgemeine Geschrei um ihn herum, sah mit einem Auge die Dwaerindim, welche um seinen Kopf herumschwebten, und bemerkte nun auch die Pfeile und Armbrustbolzen, welche in Wolken durch die Luft schwirrten, Schwarzgult riss seine Zaubersteinenergie zurück und fand sich im nächsten Moment auf der
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Hügelkuppe von Sarth wieder. Gerade machten die Flammenreiter die Letzten seiner Leibgarde nieder und drangen noch grimmiger vor, um auch ihm den Rest zu geben. Der Regent empfing sie mit einem harten Grinsen, und seine Augen funkelten drohend und gefährlich. Jemand stöhnte vor Furcht, dabei hatte der oberste Fürst sich noch nicht einmal im Sattel aufgerichtet, um allen Feinden Grund zur Verzweiflung zu geben. »Für Schwarzgult!«, rief er mit donnernder und weithin hörbarer Stimme. »Für Aglirta!« Und auf seiner Hügelkuppe schoss eine weiße Flamme in die Höhe, so hell und grell, dass sie die Sonne überstrahlte. Die Krieger schrien geblendet auf, noch bevor die Flamme nach ihnen griff. Die Dwaerindim sausten so rasch umeinander, dass die Luft sang, und die Feinde starben zu Tausenden. Sarindanische Seide löste sich von einem Moment auf den anderen in Nichts auf, und sarindanisches Fleisch warf Blasen und zerfiel. Der Regent schleuderte den Feinden seine Wut entgegen, brüllte sie hinaus, und wohin er auch den Blick wandte, vergingen die Feinde in ganzen Trauben. Ein Beben baute sich in Schwarzgult auf, und das sagte ihm, dass er bald damit aufhören musste, wenn er nicht vom rasenden Drehen der Zaubersteine zerrissen werden wollte ... In diesem Moment rettete Ingryl sein Abwehrschild. Er hatte ihn ganz aus Gewohnheit errichtet, um sich vor den bohrenden Blicken beobachtender Zauberer zu bewahren. Dabei nutzte ihm dieser Schutz unter den obwaltenden Umständen wenig.
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Der Zauberer entdeckte, dass der Schild zwei Löcher aufwies, groß genug, um ihn jedem Beobachter zu offenbaren ... Und dennoch reichte dieser Schild jetzt aus, ihm das Leben zu retten ... In den letzten Sekunden, bevor sein Gehirn zerkocht worden wäre, gelang es Ambelter, sich vor der Zauberenergie Schwarzgults zu ducken. Wirkungslos raste die Macht über ihn hinweg. Während er sich am Thron wie an einem Rettungsanker festhielt, gelang es ihm, dem Strahl einen Stoß zu versetzen und gegen den Abwehrschild zu senden. Dieser vermochte ihn zwar nur einen Augenblick lang aufzuhalten, so als wolle man mit einem Fischernetz einen Feuerball fesseln, aber dieser Zeitraum reichte ihm aus, die herumschwirrende Energie einzufangen und in seinen Abwehrschild zu stecken. Für einen Moment umgab ein fester Schild Treibschaum, welcher alle fremde Magie abwehrte. Des Regenten zauberischer Angriff wurde abgewiesen und dorthin zurück gesandt, woher er gekommen war. Gleichzeitig wurden die Absichten jedes auf der Lauer liegenden Feindes oder magischen Heckenschützen vereitelt. Der stark geschwächte Ambelter konnte sich etwas erholen. Was für ein Erfolg! Nicht umsonst nannte man ihn den Bannmeister. Mit einem grimmigen Lächeln, denn ihm war durchaus bewusst, dass er dem Tod gerade noch einmal von der Schippe hatte springen können, griff sich der Erzmagier hinters Ohr und löste den Drachenzahn, welchen er dort für Notfälle aufbewahrte. Dieser steckte in einem Haarnetz, das Ingryl vor langer Zeit irgendeiner besonders wenig bereitwilligen Jung-
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fer abgenommen hatte. Ambelter hatte nie wieder einen Drachenzahn gesehen, und man musste viel Sorgfalt aufwenden, um die ihm innewohnende Energie zu wecken. Ingryl hatte sich daher vorgenommen, sich dieser nur zu bedienen, wenn er sich in einer nahezu aussichtslosen Lage befand. Als er den Zahn aus seiner Fassung brach, löste sich dieser sofort in Nichts auf, wie es schon in der Sage hieß. Sofort erwachte dafür der innewohnende Zauber. Insofern Ambelter sich jetzt nicht schlafen legte oder einen Bann beschwor, wäre er für alle magische Energie nicht mehr vorhanden, gleich ob diese ihm offen oder versteckt gegenüberträte. Natürlich würde ein Schwerthieb ihn immer noch töten, aber kein Bann vermochte ihn zu treffen – ja, er würde ihn nicht einmal finden! Zumindest stand es so über diesen Zauberspruch geschrieben. Ingryl atmete schwer vor Erleichterung. Er glitt wie eine Schlange vom Thron und landete auf dem kalten Marmorboden. Die Geschmolzenen umringten ihn wie steinerne Statuen. Auf Händen und Knien kroch der Erzmagier zwischen ihnen hindurch. Er wollte zum rückwärtigen Ausgang, zur Nordtreppe, über welche er hinab in die dunklen Gänge des Herrscherpalastes gelangen würde; denn dort erwartete ihn Gadaster. Als die Geschmolzenen die harte Hand ihres Schöpfers nicht mehr auf sich spürten, liefen sie hierhin, dorthin und durcheinander. Ziel- und sinnlos taumelten sie durch den Saal ... Ambelter wurde es angst und bange. Wenn einer dieser
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Untoten über ihn stolperte und auf ihn fiel, würde er sich vielleicht nicht mehr von ihm befreien können ... nicht auszuschließen, dass er dabei auch eine schwere bis tödliche Verletzung davontrüge. Die gebrochenen Finger peinigten ihn, wenn er sich auf die Hände stützte, und andere, ebenso unangenehme Dinge taten sich in seinem Geist. Ständig tauchten dort Bilder von längst vergangenen Ereignissen auf und von Personen, welche der Erzmagier selbst aus gegebenem Anlass getötet hatte. Bilder, welche viel zu hell und deutlich aus seinem Gedächtnis entstiegen. Stöhnend quälte sich der Bannmeister voran und zum Thronsaal hinaus. Er hatte übrigens auch Gadaster Mulkyn erschlagen, seinen alten Lehrmeister – und sicher der kaltherzigste und grausamste Erzmagier, welchem Ingryl jemals begegnet war. Heute musste er die Gebeine dieses Mannes erreichen, sie umarmen und die Lebensenergie in sich aufnehmen, welche er dort vermittels Zauberkraft verborgen hatte. Zu seinem eigenen Nutzen lagerte sie in dem Gerippe, und er hatte sie schon bei früheren Gelegenheiten getrunken – wenn er ähnlich in der Klemme gesteckt hatte wie heute. Ingryl dachte nicht gern an diese Stunden zurück, aber sie hatten ihn wenigstens eines gelehrt: Aglirta konnte ihm den Buckel runterrutschen, solange er nicht ausreichend Kräfte gesammelt hatte, es wieder zu beherrschen. Und dieser Zeitpunkt würde wiederkommen. Oh ja, ganz ohne Frage. Lange Zeit lag er zitternd vor der Tür, hinter welcher sich die Treppe nach unten befand. Große Schwäche hatte ihn
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überkommen, und er musste abwarten, bis dieser Anfall vorübergegangen war. Zu seinem Glück waren weder überneugierige Höflinge oder allzu wachsame Wächter übrig geblieben, um ihn in dieser Lage aufzufinden. Treibschaum gehörte ihm ganz allein – genau so, wie er es schon seit so vielen Jahren haben wollte. Alles seins – die Große Insel, die Grabgewölbe, die Gänge und die Türme. Jedes vergessene Zauberbuch und jeder unnütze Frauenflitter, alles gehörte jetzt ihm. Sämtliche Dinge, welche die Silberbaums jemals geschaffen hatten. Oder gestohlen. Oder sonst wie an sich gerafft – abgesehen natürlich von den Gegenständen, welche noch im Schweigenden Haus untergebracht waren. Und Embra, dieses Miststück, war ihm ebenfalls durch die Lappen gegangen. Dabei hätte sie längst durch einen Zauber in seine hingebungsvolle Geliebte verwandelt worden sein können. Oder er würde ihr das gleiche Schicksal wie Gadaster bereitet haben, um sich an ihrer Lebensenergie zu nähren. Aber das dumme Ding wollte ja nicht auf ihn warten ... Ein weiteres Mal würde er sich nicht von ihr hereinlegen lassen. Sobald Ambelter sich wieder im Vollbesitz seiner Kräfte befand, würde er erbarmungslos Jagd auf die Prinzessin machen. Zuerst auf sie, dann auf die Dwaerindim und schließlich auf den Thron von Aglirta. Genau in dieser Reihenfolge. Sollten sich doch die Fürsten, die Magier und die Schlangenpriester um Thron und Reich prügeln – er konnte warten; denn zu gegebener Zeit würde ihm alles wie eine reife Frucht in den Schoß fallen.
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Erst musste ihm Embra zufallen ... und sie würde sich ihm vollkommen und bedingungslos unterwerfen. Blaues Licht wirbelte, funkelte auf und war schon vergangen. Noch eine Weile strömte es hinter den Augen der Gefährten, und dann standen die sechs Freunde etwas benommen am Hafen von Treibschaum. »Embra?«, fragte Craer streng wie ein ungehaltener Lehrer. »Treibschaum liegt auf der anderen Seite des Stroms. Warum habt Ihr uns gerade hierher gebracht?« Aber die Fürstin starrte an ihm vorbei, zog die Stirn kraus und immer krauser, bis sie leise antwortete: »Ingryl Ambelter. Er ist gerade kurz in meine Gedanken eingedrungen ... Er will mich haben ... bei den Göttern, wie sehr er mich will!« Die Herrin der Edelsteine schwankte auf dem Kai, an dessen Seiten die vertäuten Boote auf und ab tanzten. Hawkril eilte ihr gleich zu Hilfe, legte die Arme um sie, wiegte sie und beruhigte sie. Embra lehnte sich mit einem Seufzer an ihn und erklärte dann den Freunden: »Irgendeine Sperre wehrt alle Magie ab, welche nach Treibschaum hinein- oder daraus hinauswill. Natürlich fußt diese Blockade ebenfalls auf Zauberkraft – aber von einer Stärke, wie ich sie noch nie erlebt habe. Die Sperre hat uns abgewehrt. Wir sind von ihr abgeprallt und hier gelandet ...« »Was unsere junge Maid damit zart andeuten will, ist Folgendes«, warf Sarasper ein. »Seid alle froh, dass wir dabei nicht gestorben sind!« »Und wie wirkt sich so ein magischer Abwehrzauber auf unsere Pläne aus?«, wollte Fürst Hellbanner wissen und be-
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äugte die Prinzessin eigenartig. »Hält sich womöglich Euer Vater im Palast auf, bewaffnet mit seinem Dwaer? Oder steckt jemand anderer dahinter ... Und was wollen wir jetzt anfangen?« Embra breitete hilflos die Arme aus. Dabei spürte sie, wie der Hüne immer wütender wurde, weil man sie nicht in Ruhe ließ. Die junge Frau tätschelte ihm die Hand, damit er sich nicht noch mehr aufregte, und erklärte so heiter, wie es ihr nur möglich war: »Sagt an, Raulin, was lassen sich fahrende Sänger einfallen, wenn einmal so richtig alles schief zu gehen droht?« Raulin Burgmäntel hatte bislang bewundernd die Burganlagen von Treibschaum betrachtet, wandte sich jetzt zu der Zauberin um und legte zur Antwort ein Grinsen auf. »Nun, Herrin, wir entfernen uns möglichst unauffällig, pfeifen ein Liedchen und erwecken überhaupt den Eindruck, alles entwickle sich ganz genau so, wie wir uns das vorgestellt haben. Darauf fallen mehr Menschen herein, als man gemeinhin annimmt.« »Hoffen wir nur, dass wir es hier mit ähnlichen Einfaltspinseln zu tun haben, mein Sohn«, bemerkte Glarsimber von Sart mürrisch. »Hoffentlich kommt nicht alles ganz anders.«
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Acht
Magie ist eine zweischneidige Sache C Die Herrin der Edelsteine schloss die Augen, und die Freunde bemerkten sogleich, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich. Jetzt schwankte sie sogar in Hawkrils Armen und sackte schließlich wie ein leerer Mantel zusammen. »Herrin!«, rief Hellbanner entsetzt. »Was ist mit Euch?« »Der Bannmeister!«, antwortete sie kaum hörbar und betrachtete dabei ihre Hände, als sähe sie die zum ersten Mal in ihrem Leben. »Ich kann den Kerl auch nicht mehr riechen!«, schimpfte Craer, »aber verratet uns doch trotzdem bitte, auf welche Weise er Euch jetzt schon wieder heimsucht.« »Er hat mir eine Falle gestellt«, antwortete die Herrin, hob den Kopf und richtete den Blick über das silberne Wasser des Stroms auf die Wehrmauern und Zinnen der Burg. Raulin betrachtete die Edle vorsichtig von der Seite. Sie hatte eine ganz eigentümliche Miene aufgesetzt, welche sich zu gleichen Teilen aus Wut, Traurigkeit, Weisheit und Hunger zusammensetzte.
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»Einen Bann, welcher mich an ihn binden soll«, erklärte die Herrin der Edelsteine jetzt und wandte den Blick wieder von Treibschaum ab. »Dazu bedient er sich der Zauber um die Lebende Burg, welche er selbst vor Zeiten entwickelt hat, um mich zu versklaven ...« Sie schüttelte den Kopf. »Wie viel Macht er hat ... wie stark er ist ...« In diesem Moment donnerten Stiefel über ein Schiffsdeck. Die Freunde drehten sich rasch um und sahen einige erschrockene Knaben in schlecht sitzenden Lederwämsern, welche an Land rannten und offensichtlich den Wald erreichen wollten. Einer von ihnen trug ein Banner mit dem Wappen von Aglirta, das eine Krone und einen Fluss zeigte. Allem Anschein nach hatten die jungen Burschen gelauscht. So viel Magie, von der zwischen den Gefährten die Rede gewesen war, kam ihnen wohl nicht geheuer war. Und so verdrückte sich die kleine Besatzung des Hafens, welche Schwarzgult zur Bewachung desselben hatte entbehren können, Craer, Glarsimber und Sarasper sahen sich an, zuckten dann aber die Achseln und ließen die Jungen entkommen. Raulin verfolgte mit gerunzelter Stirn, wie die Burschen im Wald verschwanden, als sei der Teufel hinter ihrer Seele her. Verdammte Hasenfüße! Dann fiel ihm wieder ein, worüber sie sich eben unterhalten hatten, und er drehte sich zur Herrin der Edelsteine um. Die Edle hielt den Blick ebenfalls nicht mehr auf den ehemaligen Sitz ihrer Familie gerichtet, sondern sah Hellbanner freundlich an. »Seid vielmals bedankt, Fürst, denn Eure Magie hat mir das Leben gerettet.« »Meine was? Ich versichere Euch, ich verfüge über keiner-
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lei zauberische Kräfte ... Moment, Ihr sprecht von der Kupferhand, nicht wahr?« Nun lächelte auch Glarsimber freundlich. Embra nickte. »Ja, ich bin davon überzeugt, dass es irgendetwas mit den darin enthaltenen Bannen zu tun haben muss.« Danach verzog sie übergangslos das Gesicht. »Gleichwohl hat Ambelter es beinahe vermocht, mir eine ähnlich unangenehme Überraschung zu bereiten wie ich vorher ihm ...« Die Herrin drehte sich wieder nach Treibschaum um und presste die Lippen zusammen, bis diese nur noch eine dünne Linie bildeten. Einen Moment später befreite die junge Frau sich unwillig aus Hawkrils Armen, trat bis ganz an den Rand der hölzernen Mole und starrte auf etwas, das sich nun zwischen der Insel und dem Wasser als Schimmern zeigte ... Kurz darauf fuhr sie herum, sah ihre Gefährten erregt an, zeigte mit einer schlanken Hand auf die Burg und rief: »Wir müssen dort hinein!« Wie zur Antwort erschollen wütende Schreie von der Küstenstraße. Hawkril hatte noch nicht einmal die Gelegenheit gefunden, eines der Boote loszutäuen, da donnerten auch schon Hufe heran. Ritter näherten sich mit gesenkten Lanzen und wehenden Bannern dem Hafen. »Welch elender Verrat!«, keuchte Raulin, während er auf die heranstürmenden Ritter und die Staubfahnen starrte, welche hinter ihnen hochwirbelten. »Haben sie euch denn noch nicht erkannt? Ihr seid doch die Hochfürsten des Reiches von Aglirta!« Der alte Heiler lächelte ihn traurig an. »Ach, mein Junge,
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ich fürchte, die Recken dort wissen längst sehr gut, um wen es sich bei uns handelt. Seht nur, sie tragen das Wappen von Loushoond, von Tarlagar ... und dort drüben erkenne ich auch die Farben von Ornentar. Mit zweien dieser Fürsten haben wir kürzlich noch gesprochen ... Doch, doch, sie haben uns erkannt, gar keine Frage.« Mit einem dumpfen Grunzen hob Hawkril einen der angebundenen Kähne aus dem Wasser, wuchtete ihn hoch und rief: »Craer! Glarsimber! Wollt ihr nicht helfen?« Schwankend stand der Hüne da, und das Wasser tropfte vom Boot, als stünde er im Regen. Die Angesprochenen sprangen nach links und rechts, und gemeinsam hielt man das Wasserfahrzeug im Gleichgewicht. Gemeinsam trugen sie das umgedrehte Boot, aus dem nun die Ruder und das Steuer klappernd herausfielen, und stießen es zwischen zwei Tauhaufen. Das hintere Ende ließen sie auf ein drittes gewickeltes Reep hinab, und so ragte der Kahn wie eine dicke, hölzerne Lanze den Angreifern entgegen. »Können wir uns nicht einfach in eines der Schiffe setzen und davonrudern?«, rief Raulin und deutete auf die vielen angelegten Boote im Hafen. »Geht nicht!«, entgegnete der Beschaffer. »Sie haben Pfeil und Bogen dabei.« »Und Schlimmeres!«, fügte Sarasper grimmig hinzu und kletterte schon unter der Sperre hindurch auf das dahinter liegende Dock. »Mein Fräulein! Raulin!«, rief Hawkril und keuchte noch von der Anstrengung. »Kommt hierher! Rasch! Beeilt euch!« Er winkte ihnen zu und deutete dem entschwindenden Alten hinterher, damit sie ebenfalls in den Schutz hinter dem
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Kahn gelangen würden. Der junge fahrende Sänger setzte sich dann auch gleich in Bewegung, doch bevor er nur drei Schritte zurückgelegt hatte, richtete sich einer der anstürmenden Reiter im Sattel auf, bis er in den Steigbügeln stand, und holte in einer Weise mit einer Hand aus, welche Embra nur zu gut kannte ... Im nächsten Moment ging die ganze Welt in einer Feuerwolke unter. Jäh auflodernde Flammen, die rasend schnell alles auffraßen! Scharfkantige Holzsplitter sirrten überall durch die Luft und stachen in das allgemeine Getöse hinein. Craer schrie irgendetwas, das keiner verstand. Vielleicht ein Hilferuf, vielleicht aber auch nur eine weitere seiner dummen Bemerkungen. Wie dem auch sei, der junge Mann flog in hohem Bogen durch die Luft, ruderte hilflos mit den Armen, hielt das Schwert noch in der Hand und stürzte dann rasend schnell auf das Wasser im Hafenbecken zu. Hawkril riss die Rechte hoch, um sein Gesicht und vor allem die Augen zu schützen. Dafür rissen ihm die Splitter dann Wange und Ohrmuschel auf. Als der Hüne diese Attacke überstanden hatte, explodierten unter ihm die Bodenbretter, und er sauste wie eine Rakete hoch in die Luft. Mitten hinein in den Hagel von zerfetzten Booten, Kähnen und Molen. Es regnete unablässig gezackte Holztrümmer. Raulin fand im Flug ein Tauende, und er hielt sich verzweifelt daran fest. Zuerst glaubte er, auf seinen Freund, den Hünen zuzurasen, doch dann musste er erkennen, dass er sich
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wieder von ihm entfernte, weil sein Reep sich nämlich um einen Pfosten wickelte. Das Stöhnen und Ächzen von Holz nahm eine derartige Lautstärke an, dass jede Form menschlicher Verständigung zum Scheitern verurteilt war. Das Boot, welches die Männer zuvor zwischen den Seilhaufen verkeilt hatten, um die angreifenden Ritter abzuwehren, flog nun ebenfalls durch die Luft ... und erfüllte dennoch seinen Zweck. Denn wie ein Schmiedehammer rauschte der Kahn von oben herab und zerschmetterte drei Ritter. Die Wucht des herabfallenden Bootes reichte aus, nicht nur die Reiter, sondern auch ihre Rösser zu Brei zu schlagen. Raulin beobachtete das mit offenem Mund, und auch wenn er sich selbst nicht hören konnte, spürte der Jüngling doch, dass er wie von Sinnen schrie. Irgendwann später setzte sein Gehör wieder ein. Hinter ihm bohrten sich Holzstücke knirschend in den Boden oder köpften zischend Sträucher und Bäume. Dazu das krachende Platschen von vielen kaum noch zu erkennenden Dingen ins Wasser und das dumpfe Eindringen von zufällig entstandenen Holzspeeren in schreckensstarre Ritter. Hinter sich vernahm der Jüngling unheimliches Blubbern. Entweder handelte es sich dabei um die sagenhaften Ungeheuer des Stroms, welche sich von diesem Gemetzel angezogen fühlten und jetzt ein Festmahl abhalten wollten ... oder viel eher um leckgeschlagene Boote, welche nun unweigerlich versanken. Raulin wollte sich lieber nicht umdrehen und nachsehen... Außerdem regnete es jetzt Hafenteile vom Himmel – und
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alles stürzte auf die Reihen der Ritter aus drei Fürstentümern nieder, welche eben noch siegesgewiss herangeprescht gekommen waren ... Vor dem fassungslosen Blick des fahrenden Sängers spritzten Blutfontänen in die Luft, platzten Fleischklumpen in alle Richtungen davon und vermengten sich mit Pferdeköpfen und Hufen, fielen zerrissene Leiber einfach auseinander. Doch inmitten all dieses Unheils fanden sich dennoch Ritter, welche mit gesenkten Lanzen Jagd auf einen der Ihren machten. Einer holte mit seinem Streitkolben nach dem Reiter aus, welchen er gerade einholte, und schlug ihm den Schädel ein. Der Zauberer, welcher so viel Tod und Vernichtung über die Streitmacht gebracht hatte, spuckte Blut und Gehirnmasse. Er flog aus dem Sattel, und dabei wurde sichtbar, dass ihm der Hinterkopf zertrümmert war. »Elender Dummkopf! Sohn einer Hündin!«, schrie der Ritter den Stürzenden an. Einen solchen Schlachtruf hatte Raulin noch nie gehört – aber wenn er ehrlich war, so hatte er bisher ja auch noch nie ein Schlachtfeld besucht. Nun begannen sich Boote von den zerstörten Anlegestellen zu lösen – der Strom riss sie mit seiner Urgewalt fort. Einige kenterten sofort, andere liefen voll Wasser und würden in wenigen Augenblicken sinken ... und wieder andere würden an den Felsen im Fluss zerschellen. Danach erhielt der Jüngling erst einmal kaum Gelegenheit, sich weitere Dinge anzuschauen. Denn ein Wald von Lanzenspitzen näherte sich ihm. Da rannte eine Gestalt in zerfetzter Rüstung an ihm vorbei und bedachte die Ritter mit einem Wolfsgrinsen. »Aber, aber,
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meine Herren!«, rief Glarsimber Belklarravus leutselig und hob sein Schwert. »Immer langsam mit den jungen Pferden.« Und tatsächlich zügelten die Ritter ihre Reittiere, auch wenn diese Mühe hatten, so unvermittelt anzuhalten. Einem gelang das nicht so ganz, es rutschte auf dem von Trümmern übersäten Grund aus und plumpste mitsamt seinem Reiter ins Wasser. Der Fürst baute sich breitbeinig auf der verwüsteten Mole auf und donnerte den Reitern entgegen: »Haltet ein, ihr Männer von Aglirta!« Seine laute Stimme musste noch auf der anderen Seite des Stroms zu hören sein. »Als einer der Fürsten des Reiches befehle ich euch: Steht ab! Zieht euch zurück!« Zur Antwort erhielt er allseitiges höhnisches Gelächter, und zwei Lanzen stachen tückisch nach ihm. Glarsimber schlug eine zur Seite und rannte ein Stück weit an der anderen entlang, um dann fest an ihr zu ziehen. Der dazugehörige Ritter wurde davon überrumpelt, flog aus dem Sattel und landete im Holzwirrwarr. Blutige Splitterspitzen wuchsen aus seinem Körper. Er zuckte noch einige Male wie ein Fisch auf dem Trockenen und regte sich dann nicht mehr. Weitere Lanzen senkten sich in seine Richtung, doch der Fürst sprang zu seinem alten Platz zurück, setzte wieder sein breites Grinsen auf und sprach: »Oho, nach Verrat steht euch also der Sinn! Wohlan denn, Männer von Loushoond, Tarlagar und Ornentar, so klage ich euch des Verrats am Flussthron an. Und darauf steht der Tod!« »Tatsächlich?«, höhnten die Ritter. »Wartet nur, dann zeigen wir Euch gern den Tod!« Ein Kämpe löste sich aus der
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Menge, doch sein Pferd geriet auf den nassen Planken ins Rutschen. Er brachte es hastig zum Stehen, hatte Mühe, dabei auch noch seine Lanze zu halten, und musste erkennen, dass der kleine Hochfürst mit einem halben Dutzend oder mehr Wurfmessern über einen Balken auf ihn zu balancierte. Hellbanner lächelte, nickte dem Beschaffer zu seiner Rechten zu und wandte sich dann mit wohlgefälligem Grinsen nach links, wo sich zwischen verschiedenen geborstenen Rudern und Brettern der Älteste der Gefährtenschar in ein großes Ungeheuer mit behaartem Körper und langen Spinnenbeinen verwandelte ... Dann ertönte aus dem Wasser ein dumpfes Grollen, und eine große, in Stahl gekleidete Hand schob sich aus dem Becken. Sie schloss sich um ein Bündel Holz, zog mit Leibeskräften, löste ein knurrendes Schnauben aus und brachte die Schulterplatten des Hawkril zum Vorschein. Dieser folgte dann auch sogleich und stieg aus dem Wasser. Der halbe Fluss schien von ihm herunterzuströmen. Unter der gewaltigen und tropfnassen Mähne brannten seine Augen wie glimmende Kohlen. Die Ursache seines Zorns hielt er im Arm: ein schlankes Bündel, schlaff wie eine Stoffpuppe – Embra Silberbaum. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Mund stand offen. »Höchste Zeit«, erklärte der Hüne gefährlich leise, »dass ich jemanden abmurkse. So hat es mich schon lange nicht mehr in den Fingern gekribbelt. Vor allem, wenn ich sehe, dass ich keinen Falschen treffen werde.« Er trat zwei mächtige Schritte auf die Ritterschar zu und überreichte die Edle Raulin. »Hier, mein junger Freund. Lasst sie nicht fallen. Sorgt immer dafür, dass sie atmen kann, und
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stellt Euch dort dahinter, damit sie vor Pfeilen geschützt bleibt.« Hawkril zeigte auf das Wirrwarr der Holztrümmer, und der Jüngling schwankte mit seiner Last zu dem Versteck, wie ihm geheißen. Dann wandte sich der Hüne wieder den Rittern zu, und wie aus dem Nichts tauchte in seiner Rechten das riesige Schwert auf. Er sah sich einem Wald von Lanzen gegenüber. Dieser spross am Anfang des Stegs, auf welchem sich die Hochfürsten versammelt hatten. Hawkril marschierte ohne Zaudern auf sie zu. Einer der Ritter in der letzten Reihe der Kämpfer war abgestiegen und spannte nun seine Armbrust. Craer gedachte, dieses Treiben mit einem Dolch zu beenden. Die Klinge funkelte wie ein silberner Fisch, welcher aus dem Wasser gesprungen war, durch die Luft und landete mitten in einem Auge des Schützen. Der Mann erstarrte und kippte wortlos vornüber. Craer rief den anderen zu: »Na, sonst noch jemand so töricht, seine Armbrust oder seinen Bogen einsetzen zu wollen?« Der schmale Mann zeigte ihnen das Bündel Wurfmesser, welches er mitgebracht hatte. Die Ritter aus den drei Fürstentümern tuschelten und murmelten miteinander, und es klang ganz so, als sei ihnen die Lust an weiteren Unternehmungen vergangen. Dabei spielte sicher auch der Umstand eine Rolle, dass eben Sarasper in Gestalt einer Wolfsspinne hinter Hawkril auftauchte. Eines seiner langen, behaarten Beine hob ein Stück Holz in Kreuzform von dem Haufen und hielt es vor sich. Raulin, der alles genau beobachtete, fragte sich, ob der Heiler das als
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Schild oder als Waffe gebrauchen wollte. Da regte sich die Herrin der Edelsteine in seinen Armen. Rasch hockte er sich hinter den hölzernen Schutzwall, damit der Edlen kein Schaden entstünde, und beugte sich über sie. »Hawkril ... Aber wer seid Ihr?«, flüsterte die Herrin der Edelsteine. Der Jüngling hielt sie so vorsichtig, als habe er einen Kristall vor sich. »Raulin, Herrin«, teilte er ihr rasch mit. »Wie ... wie geht es Euch?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, als sie ihn in Augenschein nahm und bald erkannte. »Ihr besitzt bereits das gewählte sprachliche Ausdrucksvermögen eines Hochfürsten, mein lieber junger Sänger.« Embra klang fast liebevoll. »Meinen Halsanhänger hier, bitte, zupft ihn ab, ja? Ich würde es hassen, ihn zu verlieren, aber ich fürchte, wir werden ihn noch dringend brauchen, und ...« Die Edle brachte den Satz nicht zu Ende, aber der Jüngling wusste auch so, was sie meinte. Zögernd streckte er die Hand nach ihrem Hals aus und schloss die Finger um das kleine Schmuckstück. Dabei handelte es sich um einen glänzenden schwarzen Stein, welcher an einer dünnen Silberkette hing. »Meint Ihr das hier?«, fragte der Sänger zur Sicherheit. »Richtig. Reißt ihn bitte von der Kette, kurz und fest. Aber verliert den Stein bloß nicht. Ich kann das selbst leider nicht, weil meine Arme immer noch nicht zu gebrauchen sind.« Raulin schloss die Augen und zog an der Kette. »So lockt ihr sie nie«, bemerkte Craer in diesem Moment, und der junge Sänger hob den Kopf, weil er zunächst glaubte,
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der Beschaffer habe zu ihm gesprochen. Doch dann erkannte er, dass der Dieb neben Glarsimber stand. »Sie mögen zwar Narren sein«, fuhr Craer in seinen Ausführungen fort, »aber sogar sie erkennen, dass dieser Steg hier niemals ihre Reittiere tragen wird.« Der Jüngling drückte Embra rasch den abgetrennten schwarzen Stein in die Finger, um besser lauschen zu können. Schon schnaubte der Fürst: »Richtig. Schließlich haben sie schon mehr als genug gute Pferde verloren, ehe ihnen das endlich klar geworden ist.« Im nächsten Moment stürmte er mit seinem Schwert vor. »Für den Regenten und für den Erwachten König!«, brüllte er dabei. »Und für Aglirta!« Lanzen stachen nach ihm, doch nicht sehr treffsicher; offensichtlich waren die Ritter reichlich unsicher geworden. Nun erschien auch Hawkril und mähte die langen Speere mit mächtigen Hieben ab. Somit sahen sich die Ritter zwei starken Gegnern gegenüber und wussten nicht so recht, wie sie ihrer Herr werden sollten. In der nun folgenden Verwirrung, in welcher sie überlegten, ob sie die im Nahkampf unbrauchbaren Lanzen nicht fallen lassen sollten, die Pferde scheuten und die Reiter ihnen die Sporen geben mussten, erreichte der Hüne rasch den ersten Ritter. Der Kämpe wurde von der mächtigen Klinge aus dem Sattel geworfen, fiel herunter und verschwand unter den stampfenden Hufen. Kurz darauf ein neues Krachen: Unter einem Apfelschimmel brach der Steg zusammen. Ross und Reiter gingen schreiend im Silberfluss unter. »Wie ich schon sagte«, bemerkte Hellbanner, »was für eine
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Vergeudung von guten Pferden!« Er hieb mit seinem Schwert um sich. »Und so etwas schimpft sich nun Ritter!« Von hinten drängten die letzten Reihen der Kämpfer vor, um auch an der Schlacht teilnehmen und sich Ruhm erwerben zu können. Die Hauptleute dazwischen fluchten und brüllten ihnen zu, sich gefälligst zurückzuhalten und zurückzuziehen. Die Planken ächzten wirklich bedenklich. »Nehmt die Lanzen, und schiebt sie nach hinten!«, brüllte einer der Anführer. »Danach bringt ihr die Pferde von hier fort, und dann –« In diesem Moment hackte Hawkrils Klinge ihm den Hals auf, und vom Rest des Befehls war nur noch Gurgeln zu verstehen. Wenn ein Ritter noch seine Lanze hielt, wurde er jetzt daran aus dem Sattel gerissen. Ein weiteres Pferd sprang in seiner Panik vom Steg und landete in den Trümmern eines Kahns. Dann tat sich für einen Moment eine Lücke zwischen den Reihen der Ritter auf, und Hawkril und die Wolfsspinne sprangen sofort hinein. Hellblaue Flammen schlugen ihnen entgegen und schleuderten alle Ritter und Rösser beiseite, welche im Weg standen. Das Feuer ragte wie eine Wand vor den Gefährten auf und nahm ihnen die Sicht nach vorn. So mächtig loderte es auf, dass der Hüne davor auf die Knie sank. Der Fürst brüllte und wich davor zurück. Waffen und Lanzen fielen klappernd zu Boden, und nun zeigte sich das weiß glühende Herz der Flammenwand. Doch dieses Feuer verbreitete keine Hitze, sondern Kälte. Hawkril musste sich schütteln, um die Betäubung aus seinen
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Gliedern zu zwingen, welche die Kälte dort erzeugte. Zwei reiterlose Pferde galoppierten voller Panik davon. Vor lauter Hufgestampfe konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Da traten vier große, schlanke und dunkel gekleidete Gestalten aus der Weiße. Hawkril kamen sie gleich bekannt vor: die Talasorn-Schwestern. Als er die feindselige Miene der Zauberinnen sah, wurde ihm das Herz schwer. »Wir wissen nun, wer den Mördern unseres Vaters dient«, sprach Olone Talasorn mit kalter Stimme, »und wir wissen auch, wer es nie abwarten kann, bei seinen Besuchen in Aglirta Magier niederzuhauen. So sterbt denn, ihr Narren, die ihr euch zu oft eingemischt habt!« Vier Zauberstäbe richteten sich auf die Hochfürsten und die beiden Gefährten, welche bei ihnen standen. Zischende Flammen hüllten den ganzen Hafen ein. Seine Arme fühlten sich wie zerschmetterte Keulen an, und er befürchtete, sie nie wieder heben zu können. Sein Schädel fühlte sich an wie die Überreste eines Lagerfeuers: Schwarz, zu Asche heruntergebrannt und an einigen Stellen noch glühend heiß. Der Regent saß zwar immer noch aufrecht im Sattel, aber in seinem Innern fühlte er sich matt und ausgelaugt. Sein Pferd stand auf einem Hügel auf den Sarth-Feldern. Gefallene bedeckten die Hänge dicht an dicht. Inmitten der Fliegen, der hochfliegenden Aasvögel und der Krieger, welche zu erschöpft waren, um sich über den Sieg zu freuen, bemühte sich der Stellvertreter des Königs von Aglirta darum, sich sein Schwanken nicht anmerken zu lassen.
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Am liebsten hätte Schwarzgult sich ins Gras gelegt und geschlafen. Bei der Dreifaltigkeit, warum nicht gleich die Wahrheit: Er wollte sich ins Gras legen und sterben! Die Zaubersteine drehten sich immer noch geräuschlos über seinem Haupt. Ohne den geringsten Anflug von Mitleid winkte er den nächsten Übeltäter heran. Zwei kräftige, aber bleiche Krieger aus dem königlichen Gefolge zerrten einen weiteren sich heftig wehrenden Schlangenpriester vor den Herrscher und drehten den Kopf beiseite, weil sie den Speichel des Gefangenen fürchteten. Bei mehr als einem hatte sich der Speichel als hochgiftig erwiesen. Die Soldaten, welche davon getroffen worden waren, wälzten sich noch immer in furchtbaren Zuckungen und starben einen grässlichen Tod, ohne dass ihre Kameraden ihnen das Leid lindern konnten. Der Regent wusste, dass er sich schon viel zu lange der Energie der Dwaerindim aussetzte – aber als derjenige, welcher das Schicksal des Reiches lenkte, blieb ihm nichts anderes übrig. Er würde alles tun, um Aglirta zu retten. Und wenn sich dies nur bewerkstelligen ließ, indem er sich in ein mit Klauen bewehrtes Ungeheuer verwandelte, indem er wahrhaftig zum Goldenen Greif wurde, dann würde er auch davor nicht zurückschrecken. Doch lieber würde Schwarzgult in der Hölle schmoren, als sich vor seinen immer noch mitgenommenen, gleichwohl getreuen Kriegern anmerken zu lassen, dass er Freude an den hier vorgenommenen Hinrichtungen empfinden könnte. Der Regent begegnete ganz ruhig dem hasserfüllten Blick des nächsten Schlangenpriesters und hob dann wie ein Pries-
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ter zum Gemeindesegen die Hand. »Dies geschehe zum Wohle Aglirtas. Zur Mehrung der Gerechtigkeit und zum Nutz und Frommen des Reiches. Deswegen sterbt, Verräter, auf dass Aglirta leben kann!« Damit schaute der Regent dem Gefangenen mitten ins Gesicht und beschwor die schwärzeste Macht der Zaubersteine auf ihn herab. Doch inzwischen ging es ihm nicht mehr darum, den Unglücklichen zu zerreißen und sein Fleisch zu zerkochen. Nein, mittlerweile trank er dessen Leben, nahm es ihm, noch während dieser stöhnend zusammensackte. Die glitzernden Schlangenaugen verloren rasch jeden Glanz und wurden stumpf. Die Flüche und Gebete waren kaum mehr zu verstehen, als der Priester im Griff der ängstlichen Ritter zusammenbrach und starb. Ezendor Schwarzgult atmete tief durch, als die geraubte Lebensenergie seinen Körper durchspülte, ihm dabei neue Kraft schenkte und ihn von allen äußeren wie inneren Wunden heilte. Dann sprach der Herrscher leise und sachlich und ohne auf die grimmige Miene seines Hauptmanns Halvan zu achten: »Bringt mir den nächsten.« Der Regent wollte Halvans Blick nicht sehen, nicht den gut verborgenen Abscheu in dessen Augen erkennen müssen. Und erst recht nicht die langsam entstehende Überlegung, ob es nicht besser für ganz Darsar wäre, wenn die Schwerter von Sirl den Befehl erhielten, den Regenten von Aglirta niederzustechen, ehe der sich mit Hilfe der Dwaerindim noch mehr Leben einverleiben konnte. Um allen seinen Machtanspruch zu zeigen, stieg Schwarz-
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gult von seinem Ross, stellte sich so nah vor ihn, dass der Mann aus Sirl ihn hätte mit der Waffe erreichen können, und kehrte ihm auch noch den Rücken zu. Der Regent wusste, dass er ein großes Wagnis einging, aber ihm erschien es besser, wenn Halvan erkannte, welche große Möglichkeit ihm hier geboten wurde ... Und sich dann dafür entschied, sie ungenutzt verstreichen zu lassen. Denn auch der Hauptmann würde bei vernünftigem Überlegen irgendwann zu dem Schluss kommen, dass ein Schwarzgult, welcher sich riesige Mengen todbringender Energie einverleibt und darüber den Verstand verloren hatte, immer noch eher einen Segen für das Reich darstellte als die Barone, welche sich ja doch nur ständig in den Haaren lagen ... Und ganz gewiss eher als die Schlangenpriester, welche sich an den Ruinen und brennenden Städten erfreuten, listig eine Fehde nach der anderen auf den Weg brachten und nicht davon ablassen wollten, bis das ganze Flusstal entvölkert und vom Tode erstickt wäre. Leise Unruhe kam rings auf den Hügelhängen auf. Schwarzgult missachtete auch diese. Denn die Männer erzählten sich nur untereinander die alten Geschichten. Jetzt konnten sie mit eigenen Augen erkennen, warum die Dwaerindim darin mal als Fluch und mal als Segen dargestellt wurden. Das Reich hatte heute einen großartigen Sieg errungen, und von den Rittern Aglirtas waren noch genug am Leben geblieben, um davon zu künden. Halvan und seine Schwerter von Sirl hatten im Brennpunkt des Geschehens gestanden, als Seeräuber aus Jarradar und die letzten Ritter von Pelaerth sich mit dem Mut der
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Verzweiflung ihren Weg vom Schlachtfeld freikämpfen wollten. Von den stolzen und hochmütigen Flammenreitern lebte kein einziger mehr. Dafür hatte Schwarzgult mit seinen Zaubersteinen gesorgt. Die Dwaerindim hatten die Schlacht für ihn gewonnen, daran konnte kein Zweifel bestehen. Ohne diese Zauberwaffen wären die Kämpfer aus Sirl Mann für Mann niedergemacht worden. Der Abschaum aus Darsar hätte schon dafür gesorgt, hätten die Krieger des Königs auch für jeden eigenen Verlust fünf oder sechs Gegner mitgenommen. Doch auch diese Schlange hatte der Regent zerschmettern können. Wieder einmal hatte sich erwiesen, dass man die Schlangenanbeter als die wahren Feinde des Reiches ansehen musste. Ihre einschmeichelnde Zunge, ihre hinterhältigen Morde und ihr großzügig eingesetztes Geld hatten all dieses Unheil zusammengeführt. Schwarzgult hoffte inständig, dass keiner ihrer Priester vom Schlachtfeld hatte fliehen können. Halvan und seine Krieger hatten rücksichtslos jeden niedergeritten, welcher sich anschickte, von dieser Walstatt zu fliehen. Doch mit der Hilfe der Magie vermochte man sich von einem Moment auf den anderen an einen weit entfernten Ort zu versetzen. Ganz abgesehen davon, dass es durchaus dem einen oder anderen gelungen sein konnte, das allgemeine Getümmel auszunutzen und sich unbemerkt davonzustehlen. Schwarzgult stand mit unbewegter Miene da und gestattete
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sich weder ein Seufzen noch das Gesicht zu verziehen. Sechs Schlangenpriester hatte man gefangen genommen, und von diesen lebte noch einer. Dieser Letzte gab sich nicht so furchtlos wie die anderen. Er kreischte und trat um sich, als man ihn vor den Regenten zerrte. Schwarzgult musste sich dazu zwingen, sich nichts von der tiefen Befriedigung anmerken zu lassen, als er seinen Erzfeind sich so aufführen sah. Der Regent trat auf den Gefangenen zu und wusste, dass die zu seinem Haupt schwebenden Steine bereits wieder leuchteten. Der Schlangenpriester starrte sie auf jeden Fall entsetzt an. Er jammerte und stieß wilde Verwünschungen aus, bis einer der Soldaten ihm mit dem Handrücken auf den Mund schlug. Flink wie eine echte Schlange versenkte der Priester seine Zähne in den Handschuh des Kriegers. Doch dessen Stahlverstärkung hielt dem Biss stand. Dafür bekam der Gefangene die Faust des anderen Soldaten zu schmecken. Blut lief ihm danach über das Gesicht. Bevor der Mann nach hinten kippen konnte, packte der Regent ihn an den Schultern und schaute tief in dessen Gesicht. Bis hinter die Furcht und die Panik, und noch tiefer hinein. Dann strömte schon die Energie des Priesters in Schwarzgult hinein. Dieser erbebte unter dem Ansturm. Er musste sich abwenden, als das mittlerweile vertraute Rauschen ihn durchtoste, seine Sinne schärfte, ihm das Gefühl gab, unbesiegbar zu sein, und in ihm Hunger nach weiterer Energie weckte. Verdammter Ambelter! Warum hatte er ihm, wenn auch
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versehentlich, zeigen müssen, wie man sich der Zaubersteine solcherart bediente? Aber bei der Dreifaltigkeit, ihm gebührte auch Dank dafür, denn andernfalls hätte Aglirta heute keinen Sieg errungen. Schwarzgult schüttelte den Kopf. So viel Gemetzel und Blutvergießen. Dabei war er noch nicht einmal Blutklinge gegenübergetreten. »Stellt Wachen auf diesem Hügel und auf dem dort drüben auf«, befahl der Regent. »Halvan, schickt einige Männer aus, sämtliche Schlangenpfeile, bis auf den allerletzten, einzusammeln. Und auch alles Sonstige, was von einer Schlange stammt, seien es nun Schuppen, Zähne, Körperteile oder sonst etwas. Wir werden hier einen Scheiterhaufen errichten und das alles darauf verbrennen. Bis auf den letzten Krümel! Was die anderen Kriegsmänner angeht, so sollen sie sich in den Wald zurückziehen, aus welchem wir gekommen sind. Das offene Land birgt zu tödliche Gefahren für uns.« Der Regent ließ den Blick noch einmal über die SarthFelder wandern und stockte: War das dort im Westen eine Staubwolke? War der Thronräuber schon so nahe? Ein schwacher, dennoch vertrauter Donner ließ sich vom Boden vernehmen. Der Hauptmann fluchte, denn das konnte nur eines bedeuten: Da ritten Pferde heran, viele Pferde, ein ganzes Heer. Einer der Krieger aus Sirl schrie und deutete aufgeregt nach Südwesten. Ja, da zeigten sich jetzt Reiter in großer Zahl. Schwarzgult lief ein paar Schritte in diese Richtung, um besser sehen zu können. Ein Ruf von Halvan ließ ihn herum-
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fahren. »Jetzt kommen sie auch aus Westen. Das müssen über tausend Mann sein!« »Und ebenso aus dem Norden!«, meldete ein anderer. Alle Soldaten starrten jetzt über die Ebene. »Was für eine Zahl!«, stöhnte einer von ihnen. »So viele, dass ich sie nicht zählen kann ...« Der Regent schüttelte lächelnd den Kopf. Da kam ja endlich das heran, was er schon die ganze Zeit befürchtet hatte. Vermutlich waren die Götter wirklich Aglirtas überdrüssig geworden und wollten das ganze Reich hinweggefegt sehen. »Dann eben keine Wachposten und keine Schlangenjagd!«, befahl er mit lauter Stimme. »Alle ziehen sich in den Schutz der Bäume zurück. Nach Osten ziehen wir, zum Hafen von Treibschaum. Sobald wir den erreicht haben, bleiben wir stehen, drehen uns um und kämpfen bis zum letzten Blutstropfen ... Bis dahin soll der Wald unser Schild sein. Sammelt alle Pfeile ein, welche ihr unterwegs findet. Aber vergeudet keine Zeit damit, lange danach zu suchen.« »Die Mühe können wir uns sparen!«, widersprach ein Söldner. Er zeigte nach Westen. »Schaut nur!« Die Männer aber hatten sich schon in Bewegung gesetzt, und nur wenige machten sich die Mühe, sich nach Westen umzudrehen. Sie wollten lieber ihre Pferde erreichen und sie besteigen. Halvan und der Regent sahen aber in die angegebene Richtung. Ein ganzer Wald funkelnder Lanzen wogte heran. Mindestens zweitausend Ritter preschten dort vorwärts. »Sie wollen uns hier erwischen, ehe wir den Schutz des Waldes erreichen können«, bemerkte der Hauptmann und
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schwang sich auf seinen Rotbraunen. Das große Tier schnaubte und stampfte, weil es von der Schlacht noch ganz zerschunden war. Schwarzgult warf einen Blick auf die aufgerissene und blutende Flanke seines Reittiers. Dann wandte er sich an seine Soldaten und rief ihnen zu: »So lebt denn wohl, ihr Getreuen von Aglirta! Ich bin stolz, dass es mir vergönnt war, an eurer Seite zu kämpfen! Wenn die Felder von Sarth unser Grab werden sollen, so wollen wir so tapfer untergehen, dass die Sänger noch in hundert Sommern unser Schicksal besingen. Aber heute Nacht sehe ich euch bei den Totenfeuern wieder, wo die Dreifaltigkeit uns alle erwartet!« Er reckte sein Schwert in den Himmel, aber nur wenige Krieger Aglirtas erwiderten seinen Waffengruß, und kaum einer setzte gleich dem Regenten ein Lächeln auf. Wenn einem der Untergang gewiss ist, findet man nur selten Anlass zur Heiterkeit.
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Totenschädel grinsen gern C Magie leuchtete so hell wie ein Blitz und fauchte an der zertrümmerten Kaimauer entlang. Sarasper machte sich als Wolfsspinne so klein wie möglich, Craer kroch hinter ein Gewirr von Bootsteilen. Die Herrin der Edelsteine kniete sich unter ihrer Deckung neben Raulin und betete: »Lasst es genug sein. Bei der Herrin im Himmel, bitte lasst es jetzt gut sein!« Ein magischer Strahl rauschte so sanft wie die zarte Berührung einer Mutter an der Herrin der Edelsteine vorbei. Raulin schrie, als ihm plötzlich die Haare zu Berg standen und sich seine Gesichtshaut zusammenzog. Er duckte sich auf den Boden, um der zerstörerischen Energie zu entgehen – welche jedoch in Embras Hand fuhr, dorthin, wo sie den Halsanhänger hielt. Dieser kleine Stein war viel zu schwach, als dass sie damit alle Freunde hierher zum Hafen hätte befördern können. Deswegen hatte Embra dafür ja auch die Kupferhand des Fürsten geopfert. Raulin glaubte zu erkennen, welche Art von Zauberkraft der Anhänger enthielt. Ein leichtes Glühen ließ sich erken-
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nen, von der Art, wie edle Damen es von ihren Perlen beziehen, wenn sie in der Abenddämmerung ein wenig Licht benötigen. Enttäuscht wandte der Jüngling sich ab. Der Halsanhänger verfügte über nicht mehr als einen Lichtzauber! Sein Besitzer konnte sich nach Belieben in der Dunkelheit zurechtfinden. Sehr schön, aber was sollte ihnen das hier schon nutzen? Beim nächsten tosenden Angriff erhielt Raulin seine Antwort. Die Edle biss sich auf die Lippen und warf vor Schmerz den Kopf in den Nacken. Aber der magische Energiestoß des Feindes packte sie nicht und schleuderte sie auch nicht aufs Wasser hinaus. Ebenso wenig gelang es ihm, ihr die Hände bis zu den Ellenbogen wegzubrennen und nichts als die blanken Knochen übrig zu lassen ... Stattdessen tauchte diese Energie zwischen ihre Hände, welche sie zu einer Schüssel geformt hatte. Trotz des Feuerschweifs, welchen der Stoß hinter sich hergezogen hatte, verhielt die Energie sich bei Embra ganz friedlich. Zwischen ihren Fingern ließ die Kraft sich festhalten. Nur einzelne Fäden glitten zwischen den Fingern hindurch und fügten sich zu einer Art Netz zusammen. Zwei dieser Stränge schossen mit einem Mal vor und nahmen einen Blitz gefangen, welcher einen Stapel Balken in Brand gesetzt und damit den Fürsten Hellbanner aus seinem Versteck getrieben hatte. Dieser tauchte dahinter auf und hielt sich eine schmerzende Schulter. Die Stränge wickelten sich nun um den Feuerspeer, holten mit ihm aus und schleuderten ihn hinaus auf Treibschaum zu ...
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»Herrin!«, keuchte der Jüngling, als die Edle nicht mehr aufhörte zu zittern und unablässig Tränen aus ihren Augen flössen. »Was ist mit Euch? Wie kann ich Euch helfen?« »Mir ... helfen ...«, ächzte die Edle. »Lasst mich ... nur noch einen... Moment weitermachen ... Und wagt es ja nicht ... mich zu berühren ...« Jetzt löste sich etwas von der Inselburg und fuhr wie ein Blitz unter die Ritter. Sie schrien vor Wut und Enttäuschung und hielten sich die Hände vor die schmerzenden, geblendeten Augen. Raulin hatte selbst Schwierigkeiten, in der gleißenden Helligkeit etwas zu erkennen, aber dann bekam er doch mit, wie Embra befriedigt lächelte ... Denn jetzt flutete von Treibschaum eine Welle magischen Feuers heran, welche den zuvor eingefangenen Blitz um das Dreifache übertraf, und krachte heulend mitten in das blaue Leuchten der Talasorn-Schwestern. Der Knall, welcher diesen Aufprall begleitete, klang so, als würden alle Glocken des Flusstals mit einem Schlag zerschmettert. Raulin sprang schon auf und starrte hin. Gerade noch rechtzeitig, um zu verfolgen, wie ein Zauberstab sich in null Komma nichts in Asche verwandelte. Dieser gehörte den vier Zauberinnen, welche Hals über Kopf durch die Luft geschleudert wurden, über die toten Pferde und zu Boden geworfenen Krieger hinwegflogen und kreischend in die Bäume dahinter krachten. Vier blaue Flammen schossen aus den Kronen und verschwanden eine nach der anderen rasch wieder – das Schwestern-Quartett hatte sich lieber an einen anderen Ort versetzt.
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Die Edle grinste den Jüngling schief an. »Ein Zaubernetz. Einer der wenigen nützlichen Banne, mit welchen mich die Lebende Burg mit all ihren Beschränkungen und Fesseln versorgt hat. Mit Hilfe der Energie in der Lebenden Burg konnten die Feuerspeere der Schwestern gegen die Sperre gerichtet werden, welche uns daran gehindert hat, in den Palast zu gelangen. Die gleiche Energie ist dann zurückgesandt worden, und zwar gegen die Schwestern, welche so dumm waren, mich ausgerechnet an diesem Ort anzugreifen.« Sie grinste breit in Richtung der Bäume, in welchen die Talasorn-Schwestern gelandet waren. »Es schadet nie, in jungen Jahren gelegentlich einen Nasenstüber zu erhalten. So etwas dämpft den Hochmut.« Embra bedachte den Jüngling mit einem Grinsen. »Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede.« Und mit diesem Grinsen auf den Lippen fiel sie steif wie ein Baumstamm in Raulins ausgebreitete Arme. Die junge Frau fühlte sich schwer und sperrig an ... So wie zuvor, als ein erzürnter Hawkril sie einfach dem Jüngling überreicht hatte. Der Sänger starrte nun hilflos auf das Fräulein, dann auf den brennenden Hafen und schließlich wieder auf die Edle. »Hawkril?«, platzte es dann aus ihm heraus. »Herr Hawkril? Hochfürst Hawkril?« »Bin schon auf dem Weg, mein Junge!«, grollte es von der anderen Seite einer fetten Rauchwolke her. »Was ist denn vorgefallen?« Doch als noch schneller erwies sich Craer, welcher sich verrußt und zerzaust neben den Jüngling stellte und nach
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Embra spähte. Sarasper kam schon zu ihnen gekrabbelt. Zwei oder mehr seiner Spinnenbeine baumelten schlaff vom Körper. Ein Stück die Küste hinauf standen die Ritter und stöhnten und fluchten. Einer von ihnen war völlig am Ende und schluchzte nur noch. »Ist die Magie nicht eine großartige Erfindung?«, bemerkte der Beschaffer und berührte sanft mit zwei Fingern das Kinn der Edlen. »Blitz! Krach! Bumm! Und schon liegt wieder ein Dutzend Leichen herum. Wenn unsere Embra hier nicht so verdammt hübsch und für unser Fortkommen noch viel nützlicher wäre, würde ich auf der Stelle damit beginnen, allen anwesenden Zauberern den Hals umzudrehen.« »Und nachdem Ihr diese Heldentat vollbracht hättet«, wandte Glarsimber mit schmerzerfüllter und ächzender Stimme ein, »könnten die Fürsten erst recht schalten und walten, wie es ihnen beliebt. Dann würden sie sich noch zügelloser und durch das ganze Flusstal bekriegen. Ja, so ganz ohne Zauberer, das wäre wirklich ein Segen, was?« Der kleine Mann zog eine Augenbraue hoch. »Aus dem Munde eines Fürsten hört sich das wirklich eigenartig an.« Damit wandte er sich wieder der Herrin der Edelsteine zu und klopfte ihr sachte auf die Schulter. »Wenigstens lebt sie noch«, bemerkte Craer dann, »auch wenn die Gute wieder so schwach wie ein neugeborenes Kätzchen sein dürfte ...« Der Beschaffer musterte die Gefährtin. »Wenn das so weitergeht und wir es noch öfter mit Zauberinnen zu tun bekommen, die ebenso rasch auftauchen, wie sie wieder verschwinden, werde ich mir wohl bei Schwarzgult einen oder
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zwei Dwaerindim ausborgen müssen –« »Nein!«, widersprach Hawkril entschieden, und seine Stimme klang wie ein Donnergrollen, welches durch das Tal herangezogen kam. »Ich fürchte, uns stehen zunächst nur unangenehm viele blutrünstige Fürsten mit ihren Soldaten gegenüber. Deswegen nehme jetzt ein jeder sein Schwert zur Hand!« Raulin sah sich sofort erschrocken um. Der Beschaffer fluchte vor sich hin. Glarsimber stieg, von oben bis unten voller Blut, an ihnen vorbei, und alle erkannten, dass das eben nicht der Hüne gewesen war, sondern jetzt tatsächlich Donnergetöse heranwogte. Der Jüngling hatte noch nie vernommen, dass Wolfsspinnen auch seufzen können. Jetzt vernahm er es recht ausgiebig aus dem verwandelten Munde Saraspers, während dieser voranhumpelte, um sich Hawkril und Hellbanner anzuschließen. Neue Ritter sprengten mit erhobener Lanze und flatternden Bannern heran. Der Jüngling schaute hin und erkannte an den Farben und Wappen, dass die Herren Fürsten – Loushoond, Ornentar und Tarlagar – selbst mit ihrem Gefolge gegen den Hafen ritten. »Du liebe Güte, Aglirta bringt wirklich eine unglaubliche Menge an gierigen Menschen hervor«, bemerkte Craer in gespieltem Entsetzen. »Zu schade, dass wir nicht für jeden eine Krone zu verteilen haben.« Er sah sich so rasch und ruckartig um, als schleuderte er Speere, und wandte sich dann an den jungen Barden. »Raulin, rasch! Schneidet alle Boote dort unten los, damit Euch niemand darin folgen kann. Dann steigt Ihr mit Embra in jenen Kahn dort und bringt sie in Sicherheit.«
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Craer ließ dem Jüngling noch ein Messer da und hüpfte dann schon fort zu seinem Freund Hawkril, ohne sich noch einmal nach den beiden Zurückgebliebenen umzusehen. Der Jüngling aber starrte ihm nach. »Und, äh, was soll ich dann mit ... mit der Herrin anfangen?« »Wenn ich mich recht erinnere, besingen Barden so etwas als allerletzte Zuflucht«, gab Craer zurück. »Viele Fürsten haben sich schon gerühmt, bei so etwas beteiligt gewesen zu sein – natürlich nur einmal.« Der Fürst von Hellbanner hielt kurz inne, drehte sich zu dem Jüngling um und winkte ihm aufmunternd zu. Währenddessen senkten die Ritter die Lanzen und machten Miene, zum Angriff zu reiten. Einer, der dank seines gesenkten Visiers nicht auf Anhieb zu erkennen war, rief: »Steht ab oder sterbt!« »Als Hochfürst von Aglirta ist es wohl eher mein Recht«, brummte Hawkril, »hier Befehle zu erteilen. Wo stecken unter euch die Fürsten, deren Farben ihr tragt?« Schweigen entstand und ein wenig Unruhe, bis jemand aus der Mitte der Reiterschar gelangweilt befahl: »Haut sie alle kurz und klein.« Mit lautem Schlachtruf gaben die Ritter ihren Rössern die Sporen. Hawkril und Glarsimber aber liefen ihnen entgegen und hackten mit ihren Schwertern Lanzenspitzen ab. Die Wolfsspinne sprang über die Gefährten hinweg und landete auf den Rittern in der zweiten Reihe. Nach einigem Gerangel befanden sich die beiden ersten Reihen in heller Auflösung. Reiter krachten zu Boden, Klingen blitzten auf, und dazwischen hüpfte ein kleiner Mann in Lederkleidung herum.
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Craer war wie entfesselt. Kaum war er vor oder hinter einem Ritter in dessen Sattel gelandet, brachte er den Gegner auch schon zu Fall. Von dort aus ging es forsch zum nächsten Schlachtross, wo er dem Reiter einen Dolch in den Hals stieß. Doch einmal prallte die Klinge an der Rüstung ab, und es kam zwischen den beiden Männern zum Gerangel, ehe die Messerspitze endlich einen Durchlass gefunden hatte. Und schon ging’s weiter zum nächsten Kämpen. Bald wurden immer mehr Ritter auf ihn aufmerksam und stachen im Vorbeireiten mit ihren Lanzen nach ihm. Craer verlegte sich daher darauf, nach vorn zu hüpfen, und landete bei einem Recken, welcher alle Hände voll damit zu tun hatte, sich der Spinne zu erwehren, welche seinem Pferd auf den Kopf gesprungen war. Raulin verfolgte erregt diesen Kampf, bis der Beschaffer mit zwei Dolchen zustach und dabei brüllte: »Seid Ihr taub, Burgmäntel? Schafft die Herrin fort!« Damit verschwand der Beschaffer hinter dem stürzenden Ritter, und der Jüngling konnte ihn nicht mehr ausmachen. »Sie haben wirklich ihren Spaß an dieser Schlächterei«, bemerkte der Mann ohne Gesicht und erhob sich in einer einzigen gleitenden Bewegung von dem magischen Wirbel. Der andere Mann, welcher sich noch darüber beugte, entgegnete: »Ein Aglirtaner ist des anderen Aglirtaners Wolf. Wahrlich die Regel im Flusstal. Wo wollt Ihr denn jetzt hin?« »Flaeros Delkamper finden und dafür sorgen, dass sich das Drachenzepter in Sicherheit befindet – das ist nämlich mehr wert als tausend tote Ritter.« »Sogar noch mehr«, stimmte der Koglaur zu, welcher den
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Wirbel erschaffen hatte, in dem sich das Geschehen von weit entfernten Orten erkennen ließ. Er betrachtete noch eine ganze Weile die heftige Schlacht am Hafen von Treibschaum. »Dann wünsche ich Euch alles Gute für die Reise.« Eine große Hakennase und eine hohe Stirn wuchsen aus dem formlosen Gesicht des abziehenden Koglauren. »Ja, Euch auch alles Gute.« Er drehte an dem Ring, welchen er an der Linken trug, und war im nächsten Moment verschwunden. Der verbliebene Koglaur lächelte auf seine Art und richtete seine Gedanken auf den wirbelnden Spiegel. Gehorsam dehnte dieser sich aus, und einbestimmter Ausschnitt vergrößerte sich. Darin zeigte sich ein brüllender, heftig schwitzender Mann. Glarsimber Belklarravus, der Fürst von Hellbanner, trug ein grimmiges Grinsen im Gesicht, als er die Klinge herumwirbeln ließ, wobei es ihm aber nicht mehr allzu gut gelang, breitbeinig stehen zu bleiben. Das meiste Blut, welches ihn bedeckte, stammte aus eigenen Wunden, und er hinkte sichtlich. Lanzen stachen nach ihm und bohrten sich in bereits vorhandene Wunden. Die zusammengebissenen Zähne und die hervorstehenden Stränge an seinen Halsseiten kündeten von der Anstrengung und den Schmerzen, unter welchen der Mann litt. Auch machte ihm die wachsende Erschöpfung zu schaffen, aber dennoch lachte er immer wieder, wenn sich die Klingen kreuzten, und seine Augen tanzten aufgeregt wie bei einem spielenden Knaben. »Er scheint nicht mehr lange durchhalten zu können«, be-
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merkte eine neue Stimme, und deren Besitzer beugte sich über den Zuschauer. »Und daran scheint er seine Freude zu haben.« »Ja, so sind die Ritter Aglirtas«, entgegnete der beobachtende Koglaur. »Aber mir würde sicher einiges in Sarinda auch merkwürdig vorkommen ... An diese todesverachtende Tapferkeit gewöhnt man sich rasch. Sie stellt einen der Gründe dafür dar, warum mich dieses Land so fesselt.« Der Besucher aus Sarinda trat noch etwas näher. »Kenne ich vielleicht den einen oder anderen der Mitwirkenden?« Der Spiegelerschaffer lächelte auf eine Weise, wie sie nur ein Koglaur wahrnehmen konnte. »So viel uralte Magie liegt dort herum und wartet nur darauf, von jemandem gefunden und benutzt zu werden. Die Fürsten sind nur noch mit Ränken und Komplotten beschäftigt – und meistens stecken die Schlangenpriester dahinter; denn diese wollen unbedingt die uralte Magie und den Thron an sich bringen ...« Nach einem Moment des Schweigens fuhr er fort: »Die Menschen hier in Aglirta träumen auch gern und viel. Zurzeit vor allem von einem starken König, welcher ihnen Recht und Ordnung zurückbringt. Am ehesten erscheint ihnen ein gewisser Blutklinge dazu geeignet. Dieser marschiert schon auf den Thron zu.« »Und wird er ihn erobern?« »Das lässt sich nicht sagen, dafür ist es noch etwas zu früh. Kriegsfürsten entpuppen sich selten als weise Herrscher. Sie gehen brutal vor und bewirken auch durchaus etwas, aber nur für den Moment. Was Zukunftsplanung, Sicherung, Frieden und Mehrung des Wohlstands angeht, hapert es bei ihnen eher. Und sie sehen nur diejenigen als Feinde ihres Reiches
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an, welche es ihnen auf die gleiche Weise wegnehmen wollen, wie sie es an sich gerafft haben.« Der Koglaur zuckte nach dieser langen Ansprache die Achseln. »Aber lassen wir uns überraschen. Vielleicht stellt dieser hier ja die Ausnahme von der Regel dar.« Der zu Besuch weilende Koglaur deutete auf die Kämpfe, welche der Spiegel wiedergab. Man erkannte gerade den Fürsten Glarsimber, wie er unter den Rittern wütete und den Feinden seinen trotzigen Hohn entgegenrief. »Wenn Blutklinge die Krone erlangen soll«, bemerkte der Koglaur aus Sarinda, »muss dieser Mann hier baldmöglichst aus dem Weg geräumt werden.« Der andere blickte auf. »Wir lieben dieses Land, und wir bewundern seine Bewohner, aber bei unseren Ränken und Winkelzügen wagen wir es nicht, den einen oder anderen von ihnen zu bevorzugen.« Er deutete auf die miteinander fechtenden Fürsten und Ritter. »Wir haben diesen dort gebraucht, um etwas für uns zu erledigen. Diese Aufgabe hat er erfüllt, und damit ist seine Zeit abgelaufen. Thuulor macht sich nun auf den Weg, das Zepter zu schützen.« »Verstehe, dann war dieser dort Euer Werkzeug, dem Bannmeister die Klauen zu stutzen? Dabei weiß Hellbanner doch nichts von uns, und ihm dürften auch die Gründe unbekannt sein, warum er diesen jungen Tölpel Delkamper beschützen sollte.« Der Hausherr nickte. »Dieser Fürst wurde vor langer Zeit der Lächelnde Wolf genannt. Wir schätzen ihn als geübten Kämpfer, der auch über einen scharfen Verstand verfügt. Auch ist ihm die Treue nicht fremd, vor allem, wenn er auf
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Männer trifft, welchen er vertrauen kann ... Beide Herren haben ihm, unabhängig voneinander, aufgetragen, den Jüngling und sein Zepter zu beschützen.« »Von welchen Herren sprecht Ihr?« »Vom Regenten Schwarzgult und vom König von Aglirta. Bei Letzterem sollte man eher vom Geist desselben sprechen. Dieser erklärte Glarsimber, seine wahre Aufgabe bestehe darin, das Zepter zu beschützen. Kelgrael führte ihn dann zu einem Zaubertor, welches Hellbanner zur Küstenstraße nahe Ragalar führte – und ihm so die lange Schiffsreise ersparte ... Natürlich handelte es sich bei dem Schwarzgult und dem Kelgrael, welche sich ihm näherten, um zwei aus unseren Reihen.« Er lächelte breit. »Mir persönlich bereitet es großen Spaß, als Regent aufzutreten. Ein grimmiger, finsterer Schwertschwinger. Er verbreitet um sich eine Aura von Geheimnissen und wichtigen Dingen, und er erfreut sich einer Unzahl von Feinden, welche er sich allesamt redlich verdient hat.« Der Besucher aus Sarinda nickte. »Solange dieser Trottel Delkamper für uns wichtig bleibt, beschützen wir ihn natürlich weiterhin. Dabei verlassen wir uns auf die Bemühungen der Viererbande, uns die Arbeit gegen verschiedene schurkische Zauberer und Möchtegern-Könige abzunehmen ... So weit, so gut, aber warum beschützen wir dann die vier Gefährten nicht mit der gleichen Umsicht?« Der Spiegelbesitzer lächelte. »Wir lassen sie nicht aus dem Auge, lassen ihnen aber nur wenig Schutz angedeihen. Denn wir benötigen sie – ebenso wie es Aglirta tut – als vollkommen entwickelte Waffe. Dazu müssen sie sich in allerlei
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Schlachten erproben und bewähren, um sich in einigen Jahren als die vollkommenen Verteidiger des Reiches zu erweisen.« Der Koglaur von Sarinda lächelte schief. »Das leuchtet mir ein.« Er deutete auf den Spiegel: »Ich sehe, dass die Feuer ihrer Schmiede auflodern. Die Viererbande scheint im Augenblick nicht nur Spaß zu haben.« »Hallo, Leuchtturm, wie steht’s, wie geht’s?« »Ganz gut«, antwortete Hawkril und zog mit seinem großen Schwert eine weite Runde. Seine Klinge prallte gegen etliche der Gegner. Zwei Ritter taumelten darunter mit zitternden Händen zurück. »Wenn ich nur den wahren Fürsten ein Stück näher käme. Aber ich kann fechten, so viel ich will, ich erreiche sie einfach nicht.« »Das liegt daran«, verriet ihm Craer, »dass diese Nichtstuer und Tagediebe es vorziehen, sich hinter dichten Reihen von Leibwächtern zurückzuhalten. Lieber schicken sie Ritter vor, für sie ihr Leben zu lassen. In dieser Taktik bewähren sich die Müßiggänger ganz ausgezeichnet, wie Ihr selbst feststellen könnt.« »Wie viele habt Ihr denn schon?«, wollte der Hüne wissen, indem er den nächsten Ritter aus dem Sattel hieb und rasch zurücksprang, damit der nicht auf ihn fiel. Gleichzeitig entging er auf diese Weise anderen Waffen, die just nach ihm stachen. »Zweimal fünf und vier«, gab der Beschaffer zurück, »womit ich auf Platz eins liegen dürfte.« »Dreimal fünf«, warf Glarsimber ein, warf einen sterbenden
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Recken in die Runde. »Derjenige, welchen Ihr vorhin nur aus dem Sattel gestoßen zu haben glaubtet, spießte sich selbst auf die Lanze eines seiner Kameraden auf.« »Na, da habe ich aber mehr als nur ein Scherflein dazu beigetragen, dass wir den hohen Herren den menschlichen Schutzwall Stück für Stück einreißen«, rief Craer, zog dem Sterbenden den Dolch aus dem Gürtel und schleuderte diesen dem nächsten Angreifer ins Gesicht. »Ich fürchte aber«, gab Hawkril zu bedenken, »dass wir dann die drei Fürsten dabei zu sehen bekommen, wie sie das Hasenpanier ergreifen.« Er wehrte zwei Schwerthiebe ab, drehte sich um die eigene Achse und trennte im Schwung einem der Angreifer das Bein in der Kniekehle ab. »Ja gut, aber werden sie rasch genug laufen können?«, warf Hellbanner ein.« Er stürmte vor und hieb auf den Ritter ein, welcher Sarasper erstechen wollte. Die Wolfsspinne machte sich gerade über die Kehle eines anderen her. »Ich hätte große Lust, dem langsamsten unter ihnen wie weiland Wieland dem Schmied die Ferse zu durchtrennen.« Sarasper biss seinem Opfer jetzt die Kehle durch. Blut spritzte, und der Ritter sackte lautlos in sich zusammen. Glarsimber befreite den Sterbenden von seinem Dolch und reichte diesen dem Kleinen. »Bitte sehr, Ihr scheint diese Dinger ja zu sammeln.« »Tötet sie!«, schrie Fürst Tarlagar seinen Männern zu und schwang wohlweislich im Hintergrund ein Schwert, welches noch so neu aussah, als wäre es noch nie benutzt worden. »Es kann doch wohl nicht so schwer sein, mit zwei Männern, einem Gnom und einer Spinne fertig zu werden!« »Offensichtlich braucht man dazu mehr Ritter, als Ihr Fin-
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ger zum Rechnen habt, Euer Hochwohlgeboren!«, höhnte Craer zurück. »Ob das was mit dem ›Gnom‹ zu tun haben könnte? Aber warum zeigt Ihr ihnen nicht, wie es gemacht wird, Fürst hinter dem Busch? Oder soll man Euch vom heutigen Tage an ›Fürst Feigling‹ nennen?« »Ich muss doch sehr bitten«, mischte sich Hellbanner ein und wehrte einen Gegner ab, der ihm sehr nahe gekommen war. »Solche Ausführungen verwirren mich immer nur, und dann haue ich mit dem Schwert noch daneben – oder treffe Dinge, die ich mir für später aufgehoben hatte. Wir haben schließlich drei Edle vor uns. Wen genau meint Ihr mit Fürst Feigling?« »Erschlagt sie alle!«, brüllte nun auch Loushoond. Der Beschaffer schleuderte den nächsten Dolch und traf damit den Mann, welcher unmittelbar vor diesem Fürsten stand. Der Getroffene fiel zu Boden, und Glarsimber stürmte sofort in die Lücke, um »dem Fürsten meine Klinge zu schmecken zu geben!« »Tötet sie jetzt, oder –« Der Rest der fürstlichen Worte ging in einem Kreischen unter, als Hellbanner vorgeprescht war und seinem Gegenüber das mit Edelsteinen besetzte Schwert aus der Hand schlug. Der Fürst fuhr jammernd zurück und befahl nochmals, diesmal jedoch mit schriller Stimme: »Erschlagt sie!« »Da wendet Ihr Euch besser an Ornentar«, teilte Craer ihm mit, während er über eine heransausende Klinge hinwegsprang und dem Besitzer derselben einen Dolch mehrere Zoll tief in den Hals stieß. »Tarlagar hat schließlich eben mehr oder weniger zugegeben, dass er nicht versteht, was daran so
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schwer sein soll.« Drei Ritter stürmten jetzt mit funkelnden Klingen auf Hellbanner zu. Stahl krachte und klirrte, dann stöhnte Glarsimber auf, drehte sich um die eigene Achse und brach zusammen. Ein Schwert ragte aus seiner Seite. Schon sprang die Wolfsspinne heran, setzte über Hellbanner hinweg und wurde von sieben oder acht Rittern empfangen, welche sofort auf sie einstachen und -hackten. Sarasper zog sich vorsichtshalber wieder zurück. »Hawkril!«, brüllte Craer. »Unser Hellbanner ist zu Boden gegangen!« »Bin schon unterwegs!«, antwortete der Hüne und hieb mit solcher Macht auf seinen Gegner ein, dass es dem vor Stahlklirren in den Ohren klingelte. »Nur noch ein kleines Momentchen!« Mit lautem Gebrüll hieb der Hüne den ersten Gegner nieder und trat dem nächsten, welcher seinem Kameraden zu Hilfe eilte, in den Bauch. Der Mann flog durch die Luft und knickte bei der Landung wie ein Klappmesser zusammen. Als Hawkril sich in Bewegung setzte und einem dritten Angreifer geschickt auswich, hörte er den so unsanft Gelandeten ächzen: »Zu Hilfe! Man eile mir zu Hilfe!« Er rollte auf dem mit Leichen übersäten Boden hin und her. »Nun muss ich aber ernsthaft mit Euch schimpfen, Herr Hawkril!«, rief der Beschaffer, als sein Schwertbruder Glarsimber erreichte und sich über den Stöhnenden beugte. »Euer Fuß traf den hochwohlgeborenen Bauch von Fürst Tarlagar, und Ihr habt schon wieder vergessen, das im Absatz angebrachte Springmesser hinausfahren zu lassen! Damit wäre dieses Jahr bereits das Dutzend verpasster Gelegenheiten er-
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reicht!« »Rückzug!«, rief Fürst Ornentar, stampfte zum taumelnden Tarlagar und befahl seinen Getreuen, Loushoond zu stützen, der immer noch etwas wacklig auf den Beinen war. »Bildet um uns drei einen Schildwall!« Hawkril brüllte wieder wie Donnergrollen und verpasste seinem momentanen Gegner einen Hieb, so dass dieser ohnmächtig zusammenbrach und sich eine ganze Weile nicht mehr erhob. Sarasper krabbelte zwischen den Rittern hindurch, welche allesamt zu den Fürsten rannten, um sie mit ihrem Schild zu schützen. Der Beschaffer warf einen Blick über die Schulter und suchte nach seinen Gefährten. »Hawkril, zu Embra!«, rief er dann. Sein Freund mochte zwar blond sein, war aber noch lange nicht dumm. »Ihr meint, ich soll Hellbanner zur Edlen ins Boot tragen?« »Ganz recht«, erwiderte der Beschaffer. Die ganze Zeit über lief er herum und sammelte von den Toten die Dolche ein. Und das mit einer Besessenheit, als hinge sein Seelenheil davon ab. »Schließlich wollen wir unseren Freund nicht verlieren.« »Meinetwegen, aber wer beschäftigt so lange die drei Fürsten?« »Sarasper und der bestaussehende unter den Hochfürsten natürlich.« »Hm, also Embra«, bemerkte der Hüne in gespieltem Nachdenken. Aber er warf sich Glarsimber über die Schulter und setzte so rasch über Tote und Blutlachen hinweg, wie es
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der unsichere Boden nur zuließ. »Wenn Ihr hingegen an Saraspers Seite kämpft, habt Dir gewiss den gescheitesten Oberfürsten gemeint.« »Ja, so könnte man es auch ausdrücken«, entgegnete sein Freund und schleuderte in rascher Folge ein halbes Dutzend Dolche auf ebenso viele Ritter. »Wahrscheinlich habe ich mich nur versprochen.« Der Heiler landete mit allen Beinen gleichzeitig auf einem Ritter und sprang gleich weiter, während der Recke mit durchbissener Kehle zu Boden fiel. Den übrigen Kämpfern verging allmählich die Lust an solchen Einzelunternehmungen, und gehorsam schlossen sie sich dem Schildwall um die drei Edlen an. Hawkril hatte nun den Kai erreicht und blieb so unvermittelt stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. »Ein besseres Boot konntet Ihr nicht finden, mein Junge?« »N-nein«, stammelte der Jüngling und ruderte unbeholfen mit einem Ruder heran. »Aber die Herrin Embra liegt darin, und –« »Das adelt diesen Kahn natürlich«, entgegnete der Hüne schon etwas versöhnlicher. Er schaute zurück, um festzustellen, ob die ganze Ritterbrut hinter ihm her war. Aber niemand hatte sich an seine Verfolgung gemacht, was vermutlich auch an Craers nicht enden wollendem Strom von Beleidigungen und Verhöhnungen lag. Also klemmte Hawkril sich den blutenden Fürsten unter den Arm, ließ sich ins Wasser hinab und watete zu einem etwas größeren Nachen, um den Verwundeten dort hineinzulegen.
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Das zweite Boot schaukelte bedenklich, als er sich selbst an Bord wuchtete. Für einen Moment befürchtete der Hüne schon, es würde kentern, aber dann fand es sein Gleichgewicht wieder und trieb langsam auf Raulins Kahn zu. Der Jüngling schöpfte Wasser aus seinem Boot. Jemand hatte in Hawkrils Nachen einen Schild zurückgelassen, vermutlich weil die Ledergriffe an der Innenseite gerissen waren. Der Hüne benutzte ihn als Ruder, und mit ein paar kräftigen Stößen befand er sich längsseits von Raulins Kahn. »Kommt beide zu mir an Bord, mein junger Freund«, forderte er den Jüngling auf, »aber schön vorsichtig.« Hawkril hielt beide Boote nebeneinander, während der Sänger die Edle hinüberhievte und schließlich selbst folgte. Das Ganze nahm seine Zeit in Anspruch, und Raulin ließ einmal sogar einen deftigen Fluch vernehmen. Doch irgendwann schien es vollbracht zu sein. Der Hüne hatte keine Gelegenheit, nach hinten zu schauen. Drei andere Kähne trieben auf dem Wasser und waren schon ein gutes Stück flussabwärts vorangekommen. – Da rief der Jüngling: »Durchlauchtigster Oberfürst, edler Hawkril, Herr!« Jetzt drehte der Hüne sich zu ihm um und stellte fest, dass Embra, Hellbanner und Raulin sich alle an Bord befanden. Somit konnte er die restlichen Gefährten rufen: »Craer! Sarasper! Zu mir!« Zunächst hielt der Kampflärm an, und Rauch stieg auf. Hawkril fragte sich schon bang, ob seine Freunde der Übermacht erlegen waren. Doch da kam schon die Wolfsspinne herangelaufen. Eine
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Lanze flog ihr hinterher, aber weil solche Waffen nicht unbedingt zum Wurf geeignet sind, richtete sie auch keinen Schaden an. Da tauchte auch der Kleine zwischen den Bootstrümmern am Ufer auf. Er rannte, als ginge es um sein Leben, und rief: »Ihr kommt gerade recht, mir sind die Dolche ausgegangen!« »Vorsicht!«, rief Hawkril. »Hinter Euch! Achtung!« Der Beschaffer duckte sich, sprang ins Wasser. Der Ritter, welcher ihn verfolgt und mit seinem Schwert nach ihm ausgeholt hatte, wurde von der Wucht seines eigenen Hiebes nach vorn gerissen, verlor das Gleichgewicht und kippte mit dem Gesicht voran mitten hinein in einen Holz- und Splitterhaufen. Ein zweiter Ritter hatte mehr Glück. Er geriet zwar bei dem Versuch, seinem Kameraden auszuweichen, ins Stolpern, blieb aber auf den Beinen und bekam ein seltenes Schauspiel geboten: Am Ende des Kais verwandelte sich die Spinne in einen alten Mann, welcher ächzend nach unten stieg und einen Moment später nicht mehr zu sehen war. »Ihnen nach!«, brüllte Ornentar und schwang sein Schwert, als wolle er es mit einem ganzen Dutzend Gegner aufnehmen. »Lasst sie nicht entkommen!« »Nun wuchtet Euch schon hoch, altes Spinnenbein«, forderte der Beschaffer den Gefährten auf, als er neben ihm im Wasser auftauchte. »Unser nächstes Reiseziel heißt Treibschaum.« »Ach ja, natürlich«, entgegnete Sarasper säuerlich, »wo wir bestimmt Ruhe und Erholung in ausreichendem Maße finden werden.«
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Planschend und umständlich versuchte der alte Mann, sich an Bord zu hieven – bis Hawkril ihn so weit hochzog, dass er es aus eigener Kraft schaffte. Craer hingegen folgte so behände wie ein Flussotter. Hawkril holte derweil mit seinem mächtigen Schwert aus und stach es in den Boden von Raulins Kahn. Wasser schoss aus dem Leck, und der Hüne zog befriedigt seine Klinge heraus. Als der Kahn voll gelaufen war, sank er wie ein Stein. Die Gefährten beobachteten, wie die Ritter am Kai auf und ab liefen und doch kein einziges brauchbares Boot vorfanden. Da erschien Ornentar und deutete flussabwärts, wo ein paar auf und ab hüpfende Nachen verschwanden. Als der Hüne die Ruder vom Boden des Kahns nahm und dem Kleinen den Schild reichte, rannten die Ritter alle zum Ufer. »Hurra!«, rief Raulin. »Sie scheinen keine Bogenschützen mehr zu haben.« »Haltet den Schnabel, junger Mann!«, fuhr Sarasper ihn an. »Wir sind noch nicht außer Pfeilschussweite! Bringt unsere Feinde nicht auf dumme Ideen!« Der Heiler kroch nun umständlich nach vorn zu Hellbanner, der immer noch ein Schwert, welches ihm nicht gehörte, in der Seite trug. »Achtet darauf, ob unsere Freunde ins Wasser steigen, um zu uns zu schwimmen.« »Was? In ihrer Rüstung?«, fragte Craer zurück. »Nun gut, es sind arge Trottel, aber doch keine vollkommenen Blödiane.« »Nein!«, widersprach der Alte heftig. »Die vollkommenen Blödiane sind wir. Wir fahren zu der Burg dort, wissen nicht, was uns erwartet, haben unseren Dwaer verloren und können
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nicht einmal ahnen, was unsere Zauberin befallen hat ...« Er drehte sich zu dem Beschaffer um. »Aber wir kämpfen gut, das steht mal fest.« »Dreimal fünf und vier«, verkündete Craer stolz. »Und noch einer mehr, wenn der, welcher mich verfolgte, sich beim Sturz in die Splitter den Hals gebrochen oder selbst aufgespießt hat.« Sarasper schüttelte den Kopf. »Die anderen übertrumpfen ist nicht alles im Leben, das dürft Ihr mir ruhig glauben.« Er drehte vorsichtig Hellbanner um. »Wie? Was könnte denn sonst noch wichtig sein?«, fragte Craer in gespielter Unschuld. »Essen«, brummte Hawkril und legte sich kräftig in die Ruder. Sein Blick fiel auf Embras Figur. »Und ...«, fuhr der Hüne fort, bis er bemerkte, dass Raulin neugierig zuhörte.« Ja, eben essen«, beendete der Riese dann seinen Satz. Craer schnaubte, entgegnete aber nichts, denn eben stieg eine Fledermaus vom Hafen auf. Recht ungewöhnlich für solche Nachtjäger, denn es war noch helllichter Tag. Das Tier umkreiste das Boot einmal, flog tief über dem Wasser und jagte dann davon. Einmal drehte die Fledermaus sich in der Luft, so als werfe sie einen Blick zurück. Der Kleine wurde immer misstrauischer. Klingen kreuzten sich, und dann war nur noch ein Todesschrei zu hören. Schwarzgult schnaubte verdrossen. Noch ein Aglirtaner, welchen er hatte erschlagen müssen. Noch ein guter Kämpfer, welcher dem König verloren gegangen war. Warum hatte er sich auch nicht rechtzeitig auf dessen Seite stellen können?
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Überall schrien oder röchelten Sterbende. Wie viele Stunden war es jetzt schon her, seit sein Ross zusammengebrochen war und ihn beinahe unter sich zerdrückt hatte? Jetzt stand der Regent bis zum Bauch in Leichen und hielt immer noch die beiden Dwaerindim hoch, um deren Feuer zu verschießen. Mal traf er damit diese Gruppe Krieger, mal jene. Selten fiel nur einer ... Sie hatten es nicht bis zum Wald geschafft, wie auch? Halvan war längst tot und mit ihm der Großteil seiner Soldaten. Die Schar der Feinde hingegen schien kein Ende nehmen zu wollen. Und unter ihnen etliche Heckenmagier, welche in ihrer Masse zu Blutklinge übergelaufen waren. Vom königlichen Heer war hingegen nur eine Hand voll verwundeter und erschöpfter Kämpfer übrig geblieben. Doch diese letzten der Getreuen würden den Regenten nicht im Stich lassen. Sie schwangen weiterhin für ihn ihr Schwert, auch wenn ihnen durchaus klar sein durfte, dass ihnen der Untergang gewiss war. Aber Schwarzgult würde ebenso zu ihnen halten. Lieber gegen Tod und Teufel die Schlacht wagen, als sich mit Hilfe der Zaubersteine an einen sicheren Ort zurückzuziehen – und die tapferen Getreuen im Stich zu lassen. Niemals würde es diesen Soldaten widerfahren, dass sie in dem Bewusstsein sterben müssten, der Regent, welcher sie in diesen Krieg geführt hatte, habe sich durch Flucht entzogen. Aber auf der Gegenseite befanden sich Magier. Mochten ihre Kräfte zum Teil auch sehr bescheiden sein, sie könnten ihm bestimmt eine Flucht versalzen ... Doch wenn er hier bis zum bitteren Ende ausharrte, vermochten ihm die Zauber-
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steine nicht mehr weiterzuhelfen, sobald man ihn niedergeschlagen oder sobald ihn ein Pfeil ins Auge getroffen hätte. Und was würde dann aus den Dwaerindim? Wie könnte Embra entkommen und wie Aglirta den Schlangenanbetern entgehen, welche sich schon zusammenrotteten, wenn die Zaubersteine in die falschen Hände gerieten? Embra! Ja, nur sie konnte die Rettung bringen. Durch die Dwaerindim rief er nach ihr, bestellte ihr in Gedanken: Embra, meine Tochter! Schwarzgult muss sterben, damit Aglirta leben kann. Deswegen, Mädchen, ruft durch Euren Dwaer die meinen. Nehmt sie an Euch, sonst gehen sie mit mir verloren. Aber sputet Euch, meine Liebe, ruft meine Dwaerindim und nehmt sie von hier fort ... Sein Ruf verhallte im Nichts. Keine vertrauten Gedanken antworteten ihm, keine Wärme, keine Freundschaft, ja, nicht einmal Zorn fand den Weg zu ihm. Bei der Dreifaltigkeit, war die Prinzessin am Ende schon tot, vor ihm gefallen? »O ihr Götter«, murmelte er voller Verzweiflung und schwang sein Schwert schon wie in Trance gegen einen allzu siegesgewissen und damit unvorsichtigen Recken. Einem zweiten Angreifer wich er geschickt aus und schwang im Drehen die Klinge so, dass sie dem Feind die Kehle aufhackte. Mit den Dwaerindim blendete er den dritten, um ihn danach in aller Seelenruhe töten zu können. Reihe um Reihe rückten die Ritter gegen ihn vor. Bedrohlich marschierten sie gegen ihn an und bildeten dann doch eine Gasse. Schwarzgult verfolgte, wie sie ihn über ihre Waffen hin-
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weg anstarrten, und dann zeigte sich am Ende der Gasse Sendrith Duthjack. Blutklinge kam endlich zu ihm. Embra, warum hört Ihr mich denn nicht? Der Kriegsfürst ließ keinen Zweifel daran offen, dass er nun mit seinem Gegner abrechnen wollte. Die Ritter, welche gerade noch mit dem Regenten gefochten hatten, ließen nun von ihm ab und hoben ihre Schwerter, bis Schwarzgult von einem funkelnden Stahlwall umgeben war. Der Vertreter des Königs stand allein zwischen den Gefallenen. Nein, nicht ganz allein, denn urplötzlich entstand vor ihm in der Luft eine magische Entladung. Die Ritter schrien durcheinander und richteten ihre Waffen gegen die Erscheinung. Aus der trat jetzt ein großer, dunkelhaariger und gut aussehender Mann, der sich ganz in Schwarz gekleidet hatte. Auf seiner linken Wange zeigte sich eine Tätowierung – ein fliegender Dolch. Der Fremde griff nach Schwarzgults Dwaerindim, und der Regent erkannte die vielen Ringe an den Fingern des Mannes. Sie funkelten und glitzerten, während Schwarzgult es nicht vermochte, sein Schwert zu heben. Eine Vorsichtsmaßnahme des unbekannten Magiers, um nicht davon erschlagen zu werden. »Ich heiße Jhavarr Bogendrachen!«, rief der Neuankömmling, so als bringe dieser Name für gewöhnlich die Menschen ins Schlottern oder dazu, vor ihm auf die Knie zu fallen. Der Regent griff nach seinem Dolch. »Ja, und?« »Überlasst mir die Steine dort!« Der Zauberer tippte mit einem spitzen Finger auf die Dwaerindim, und seine Augen
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strahlten vor Aufregung. »Wie viel Macht ihnen innewohnt. Ich muss sie haben! Gebt sie mir, Schwarzgult, oder Ihr seid des Todes!«
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Zehn
Verwirrte Zauberer allerorten C Der Fernsichtwirbel drehte sich langsam um die eigene Achse. Da streckte der Koglaur aus Sarinda unvermittelt einen unfassbar langen Finger aus und steckte ihn in das Strahlen, um auf das gezeigte Bild zu verweisen – genauer gesagt auf eine Fledermaus, welche mitten am Tag über den Strom flatterte. »So etwas habe ich schon einige Male gesehen«, bemerkte der Besucher dazu. »Handelt es sich bei diesem Tier um einen verkleideten Zauberer oder um den Spion eines solchen?« »Um Letzteres«, antwortete der Erstere. »Es gehört dem Herrn der Fledermäuse, der ähnlich mir auch seine Augen überall hat.« Der zweite Koglaur seufzte. »Wo man in Aglirta geht oder steht, läuft einem ein Zauberer über den Weg.« »Ihr seid beileibe nicht der Erste, dem das auffällt«, entgegnete sein Gegenüber mit einem spitzbübischen Grinsen. »Die Aussicht auf neue Banne lockt sie aus ihren Verstecken, und natürlich das Geld eines Fürsten. Diese halten sich nämlich gern einen Magier an ihrem Hof. In der Regel zu dem Zweck, einen anderen Fürsten in Bedrängnis zu bringen.
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Oder um solch ein Vorhaben zunichte zu machen ... Eine zukunftssichere Tätigkeit, denn im Reich bedrohen sich ständig die Fürsten.« »Was, solch eine Schlacht ist hier gang und gäbe?« Der Sarinda-Koglaur schlug die Hände zusammen. »Ich muss gestehen, dass ich das noch nicht so ganz verstehe: Wenn hier alle von früh bis spät ausschließlich damit beschäftigt sind, einander den Schädel einzuschlagen, fragt man sich doch, wie denn die Ernte eingebracht wird. Oder warum das Land noch nicht längst verödet ist? Warum die Ordnung noch nicht gänzlich zusammengebrochen ist, wo man hier doch schon seit Jahrhunderten keinen König mehr hat ... Eigentlich sollte man doch damit rechnen, dass in Aglirta wilde Tiere und Räuberbanden an der Tagesordnung wären.« Der Wirbelschöpfer lächelte. »Spannungen und Ränkeschmieden sind hier Selbstverständlichkeiten, aber zu größeren Schlachten kommt es nur selten. Die Menschen scharen sich hinter Blutklinge, weil es sich bei ihm um ihre jüngste Hoffnung handelt. Sie haben die Nase voll von den Fürsten, welche sich nur gegenseitig ein Bein stellen, weil jeder selbst König werden will. In ihrer Streitlust verkennen die Fürsten, dass die Schlangenpriester sich hinter diesem Vorhang immer weiter ausbreiten. Die einfachen Menschen strömen Blutklinge zu, weil sie glauben, dass er mit diesem ganzen Spuk aufräumt. Und viele Fürsten sind zu ihm übergelaufen, weil sie sich unter dem Deckmantel seiner Erfolge Vorteile verschaffen wollen.« »Und wenn Blutklinge und seine Scharen Erfolg haben?«, wollte der Besucher wissen.
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»Wenn sie Aglirta erobern, fällt wenig später auch Sirlptar. Und dann eine Stadt nach der anderen, wie die Kegel ... Wenn sie nicht ein jetzt noch unbekannter Gegner findet, welcher sich ihnen entgegenstellt, werden Blutklinge und seine Scharen sich ganz Darsar unterwerfen ... Ein fahrender Sänger hat das schon einmal besungen: ›Der Mantel von Tod und Tyrannei bedecken wird das Land.‹ Die Furcht wird einige Menschen dazu bewegen, die Flucht zu ergreifen. Andere werden vor Angst erstarren, und so wird es den neuen Herrschern noch leichter fallen, ihre Herrschaft auszubreiten.« »Wie angenehm Ihr einen doch immer wieder zu beruhigen versteht«, bemerkte der Besucher bitter. »Warum haben wir dann all die Jahre damit vergeudet, uns mit minderen Feinden und Gefahren auseinander zu setzen? Wieso haben wir es zugelassen, dass die Schlangenanbeter sich zu einer solchen Bedrohung entwickeln konnten?« Der erste Koglaur beugte sich über das Fernsichtbild, bewegte flink die Finger und sah zu, wie der Wirbel in sich zusammenfiel und der Spiegel dunkel wurde. »Wir haben die Schlangenpriester wieder und wieder aufs Haupt geschlagen, ihnen eine Niederlage nach der anderen bereitet«, antwortete er seinem Freund. »Doch mindestens ebenso oft haben wir gegen sie eine Schlacht verloren. In der letzten Zeit häuft sich das noch, so als wüssten die Schlangen stets ganz genau, wo, wann und in welcher Verkleidung wir zuschlagen werden.« Der Sarindaner hob beunruhigt die Arme. »Nun, das war bestimmt nicht die Große Schlange, denn die schläft doch ebenso wie der König. Wahrscheinlich haben dabei wieder
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einmal die Magier ihre schmutzigen Finger im Spiel.« »Nein, diesmal nicht«, erwiderte der andere Koglaur aufs Höchste ergrimmt. »Ja, wer denn dann?« »Wer könnte uns besser schaden als einer aus unseren eigenen Reihen!« Das große Wesen mit dem dicken Schädel rannte durch das dichte und trockene Unterholz und erzeugte lautes Knacken und Krachen. Wie es da so über Baumstümpfe sprang und Reben auswich, murmelte es vor sich hin: »Schneller, Thuulor, schneller! Sonst ist Flaeros schon am anderen Ende von Darsar angelangt, bevor du ihn erreichst. Nun beeil dich doch gefälligst!« Das Wesen erreichte eine Stelle, wo der schattige Wald umgekippten Felsen Platz machte. Auf diesem festeren Grund kam es gleich besser voran. Es verwandelte sich im Lauf, und zwei riesige Flügel wuchsen ihm. Diese schlugen heftig, zerschmetterten Sträucher und kleine Bäume und hoben das Wesen in die Luft. Mit jedem Flügelschlag verkleinerten sich die Schwingen, wohingegen der Körper sich verlängerte, bis man glauben konnte, hier schwirre ein geflügelter Aal oder eine geflügelte Schlange zwischen den Baumkronen hindurch. Jeder Atemzug brannte wie Feuer, und seine Beine fühlten sich schwach und wie Pudding an. Flaeros Delkamper hatte keine Ahnung, wohin er rannte oder wo er sich mittlerweile befand. Er wusste nur, dass er sich immer noch in diesem verwünschten Wald aufhielt, wo es Bären und andere Untiere
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gab. Wenn er stehen blieb, wäre er gewiss des Todes. Also musste Flaeros immer weiter laufen. Irgendetwas krachte hinter ihm mit mächtigem Getöse durch den Wald. Ein großes und schnelles Wesen, das seine Gestalt verändern konnte und aus irgendeinem Grund hinter Delkamper her war. Zweimal war Flaeros übergangslos in eine andere Richtung weitergelaufen, und beide Male war ihm das Wesen ohne Zögern gefolgt. Mal lief es, und mal flog es, ganz nach der Beschaffenheit des Waldes – und es kam ihm immer näher und näher. Delkamper keuchte und schnaufte. Immer wieder strauchelte er, und zum hundertsten oder häufigeren Male fiel er der Länge nach hin. Aber er rappelte sich immer wieder auf und stolperte weiter an den großen, dunklen und mit Moos bewachsenen Bäumen vorbei, über das feuchte Laub auf dem Boden und über steinharte Wurzeln hinweg, welche sich hier wie Taue auf einem Schiff ausbreiteten. Heilige Dreifaltigkeit, beschützt mich! Wohin ging seine Reise, und wann würde sie zu Ende gehen? Da, schon wieder! Dieser Narr hielt das Zepter offen in der Hand. Delkamper lief immer weiter, und sein Hemd war von den vielen Ranken und Dornen schon ganz zerrissen. Er keuchte wie ein Ertrinkender, und manchmal torkelte er wie ein Betrunkener ... Vielleicht sollte das Wesen sich ein wenig zurückhalten, etwas im Hintergrund bleiben. Sonst machte der Jüngling in seiner Panik am Ende noch etwas kaputt.
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Der Bengel sollte erst einmal wieder zu Atem kommen, sich ein bisschen erholen. Danach konnte die Jagd dann so richtig weitergehen ... Die geflügelte Schlange umflog einen Baum, welcher die Dicke einer Bauernkate aufwies, setzte über einen riesigen Ast hinweg und unterflog einen anderen – Die beiden Äste klappten wie eine Zange zusammen und lösten sich dann ein kleines Stück voneinander. Thuulor hing gefangen zwischen ihnen und konnte sich vor Schmerzen nicht regen. Teile seines Körpers waren zerschmettert, und die anderen wurden von langen, dünnen Dornen gepeinigt, welche vorhin doch noch nicht hier gewesen waren, oder? Andere Zweige, welche sich als so scharf wie Schwertklingen erwiesen, peitschten aus dem Dickicht heran und schnitten die Schlange auf wie eine Wurst. Scheibe um Scheibe fiel hinunter auf den Moosboden. Eine Menschenhand ragte aus dem Stamm heraus, und aus einem Ring, den sie an einem Finger trug, spritzte Feuer. Die Scheiben brutzelten im Feuer und verbrannten, bis sie zu Asche zerfallen waren. Die beiden Scherenäste aber beugten sich hinab, um auch den Rest des Schlangenkörpers in die Flammen zu halten. Nur wenig später war von dem Wesen nichts mehr übrig bis auf schwarze formlose Asche. Sofort verschwanden die Flammen wieder. Die Äste schmolzen auf normales Maß zusammen, der Stamm färbte sich schiefergrau, und Stummelbeine wuchsen ihm. Damit zertrat er das, was von der Asche noch übrig geblieben war, und entfernte sich dann mit großen Schritten.
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Bis dahin hatte Flaeros schon längst einige bewaldete Hügel hinter sich gebracht. In seiner Angst und Erschöpfung prallte er immer wieder mit Bäumen zusammen. So bekam er nichts von den Ereignissen ein ganzes Stück hinter ihm mit. Dabei wäre er doch sicher überaus erfreut gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sein Verfolger vernichtet war und das schiefergraue Baumwesen sich in eine ganz andere Richtung bewegte. Andererseits hätte es ihn vermutlich mehr oder weniger um den Verstand gebracht, hätte er gewusst, welche Ungeheuer sich sonst noch in diesem Wald aufhielten. Denn für fahrende Sänger wie auch für alle anderen Menschen bestand das Leben eigentlich nur darin, blindlings von einer Gefahr in die nächste zu stolpern. »Ja, hinter all diesen Läden befinden sich Fenster«, erklärte Tonthan Goldmantel ernst. »Doch fürchtet euch nicht. Hier gibt es keine weiteren Kammern bis auf den Schankraum und den Abtritt im Stockwerk unter uns. Aber keinerlei Geheimgänge noch verborgenen Zimmer. Wir haben uns einen guten Ort für unser gemeinsames Vorhaben ausgesucht. Deswegen mögt ihr hier frei das Wort ergreifen.« Er wies mit einer Hand, an welcher schwere Goldringe mit daumendicken Edelsteinen funkelten, auf die leeren Stühle an dem Tisch. »Um der Liebe der Dreifaltigkeit willen, dann begutachtet meinetwegen auch noch die Unterseite des Tisches. Und auch den Boden, die Decke oder sonst was. Wir sind euch deswegen nicht gram. Setzt euch dorthin, wo es euch geeignet erscheint.« Die Vertreter der Inseln von Ieirembor betrachteten ihn
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mit ausdruckslosen Mienen und unternahmen dann all das, was er ihnen vorgeschlagen hatte. Sie untersuchten den Tisch, die Stühle und die Bänke. Tonthan und die anderen reichen Kaufleute aus Sirl warteten geduldig ab, bis das alles erledigt war. Als die Inselvertreter sich endlich niedergelassen hatten, reichten die Gastgeber ihnen Karaffen und Becher. Doch die Gäste lehnten ab. Stattdessen richteten sie alle den Blick auf einen der Ihren, einen großen und schweren dunkelhaarigen Mann mit grimmigen und dichten Augenbrauen, welcher das Kinn auf die Hände stützte. Dieser betrachtete die Sirler Kaufleute nun einen nach dem anderen. Dann sprach er, ohne sich etwas von dem anmerken zu lassen, was in ihm vorging: »Wir sind am heutigen Tage zusammengekommen, weil wir uns an Ezendor Schwarzgult zu rächen wünschen, welcher sich erdreistete, in unser Land einzudringen und in seinem Scheitern großen Schaden angerichtet hat. Wir erhoffen uns eure Unterstützung, um diese Rache nehmen zu können.« Tonthan nickte über seinen Becher hinweg. »Und was für eine Rache schwebt euch dabei vor?« »Der Tod des Schwarzgult. Er muss offen im Kampf fallen, nicht durch Gift oder einen aus dem Verborgenen geworfenen Dolch. Ganz Aglirta soll erfahren, dass er tot ist und warum er sterben musste. Und so wird die ganze Welt erfahren, dass wir die Macht besitzen, im Herzen des Reiches zuzuschlagen, wann immer wir wollen!« Tonthan verschränkte die Finger und sah einen der Kaufleute an, einen Mann in gelben Seidenkleidern mit großen dunklen Augen und mit einem geschwungenen, kurz ge-
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schnittenen Kinnbart. »Was meint Ihr dazu, Sathbrar?« »Wir sind eigentlich davon ausgegangen, dass eure Rache nicht mit dem Tod des Schwarzgult befriedigt wäre. Dass ihr darüber hinaus einen dauerhaften Vorteil für uns alle bewirken wolltet – nämlich jemanden auf den Flussthron zu setzen, welcher nach der Pfeife von uns tanzt, die wir in diesem Raum versammelt sind.« Die Inselvertreter saßen lange schweigend und wie versteinert da, bis ihr Sprecher vorsichtig und zurückhaltend fragte: »Und ihr wärt in der Lage, einer solchen Marionette auf den Thron zu verhelfen?« »Selbstverständlich«, antwortete Sathbrar. »Man könnte sogar sagen, unsere Teilnahme hängt in ganz entscheidendem Maße davon ab«, fügte Tonthan hinzu. »Am wichtigsten dürfte aber sein, dass wir vollkommen mit diesem Mann einverstanden sind.« Der Sprecher der Insel sah ihn an, blieb aber auf der Hut. »Derjenige, welchen ihr für den Thron ausgesucht habt?« »Das habe ich nicht gesagt. Nennen wir ihn lieber den König eurer Wahl, mit welchem wir uns einverstanden erklären können.« Die Männer von der Insel tauschten untereinander Blicke aus. Auch wenn ihre Mienen unbewegt blieben, schienen sie sich doch miteinander zu verständigen. Als anscheinend Einigkeit unter ihnen erzielt war, erhob der Sprecher wieder die Stimme. »Wir nehmen an – solange alle Magie, welche gegen den neuen König eingesetzt wird, und alle Ratschlüsse, welche man ihm einflüstert, vorher in gegenseitigem Einvernehmen abgestimmt worden sind.
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Beide Seiten verpflichten sich, einander auf das Genaueste ins Bild zu setzen, was man mit dem König plant. Genauer gesagt, alle von uns, welche hier anwesend sind, müssen im gleichen Maße und, jedenfalls so weit wie möglich, zur gleichen Zeit in Kenntnis gesetzt werden.« Er zog die Augenbrauen hoch, als erwarte er Widerspruch, aber Tonthan und Sathbrar nickten schon. Darüber brauchten sie sich nicht zu beraten. »Dann ist es also abgemacht?«, fragte der Sprecher. »Jawohl«, bestätigten die Kaufleute aus Sirl wie aus einem Munde. Doch dann hatte Sathbrar noch etwas vorzubringen: »Eine Bedingung müssen wir allerdings stellen, und zwar, bevor wir uns über die Einzelheiten unterhalten. Ich spreche hier nicht von der Anzahl der zu dingenden Söldner, von ihrem Anführer oder davon, wann und wo sie zuschlagen sollen. Ich darf euch auch versichern, dass wir eure bislang bewiesene Geduld, aber auch den Eifer zu schätzen wissen, mit welchem ihre eure Sache verfolgt. Doch leider widerstrebt es uns, im Moment etwas zu übereilen. Aglirta steht nämlich wieder vor dem Abgrund von Magierkriegen.« Auf den Stirnen der Inselmänner zeigten sich nun die ersten Falten. »Erklärt das bitte genauer«, verlangte der Sprecher. »Wir haben in den Straßen und Schänken Gerüchte über ›verwirrte Zauberer‹ im Oberland gehört. Doch wen immer wir auch fragten, alle versicherten uns, dies sei überhaupt nichts Ungewöhnliches.« »An Magiern herrscht im Reich gewiss kein Mangel. Doch haben wir Grund zu der Annahme, dass niemand übrig geblieben ist, der es mit den mächtigen Zauberern unserer
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Stadt aufnehmen könnte. Was nun die drohenden Kriege angeht, welche ich eben angedeutet habe, so meinen wir damit vielmehr die Schlangenanbeter. Deren Priester verteilen schon seit einiger Zeit Geld an jeden in Darsar, der eine Waffe halten kann. So tauchen immer mehr von ihnen bezahlte Söldner in Aglirta auf. Während wir hier sitzen, ziehen schon wieder neue Fürsten in den Krieg. Ein Söldnerführer mit Namen Duthjack, besser bekannt unter seinem Kriegsnamen ›Blutklinge‹, marschiert mit seinem Heer auf die Insel Treibschaum zu – und das unter dem erklärten Ziel, sich zum König von Aglirta aufschwingen zu wollen. Viele Bewohner des Stromtals haben sich ihm angeschlossen, weil sie sich von Blutklinge ein Ende aller Missstände erhoffen ... wie zum Beispiel des ewigen Haders zwischen den Fürsten, der Rechtlosigkeit im Reich, der verheerenden Wirtschaftslage und des Jahrhunderte währenden Ausbleibens einer starken Herrschermacht.« »Wird dieser Blutklinge denn Schwarzgult in seiner Stellung als Regent belassen?«, fragte der Inselsprecher. »Gut möglich, sofern er am Leben bleibt. Er hat einige Truppen gegen Blutklinge aufgeboten und ist ihm entgegengezogen. Aber uns liegen noch keine Nachrichten vor, wie es ihm und seiner Streitmacht ergangen ist.« »Das tut nichts zur Sache«, bemerkte einer der Inselmänner, der bislang geschwiegen hatte. »Beide haben unsere Heimat mit Krieg überzogen und das Blut unseres Volkes vergossen. Dafür haben sie beide den Tod verdient. Dennoch wäre es uns angenehmer, selbst die Klinge zu schwingen, welche Schwarzgult umbringt. So könnten wir
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nämlich seines Todes gewiss sein und gleichzeitig sicherstellen, dass er weiß, wem er sein Ende zu verdanken hat.« »Das mag sicher befriedigender für uns sein«, wandte der Sprecher der Inselmänner ein, »wäre aber keinesfalls ein kluges Vorgehen. Mir steht nämlich nicht der Sinn danach, in ein Reich zu reisen, welches kurz vor Ausbruch eines Krieges steht. Wer weiß denn zu diesem Zeitpunkt schon, welche Feinde in nächster Zeit in Aglirta einfallen wollen? Und ich strebe ganz bestimmt nicht danach, mir jetzt schon die Schlangenpriester zum Feind zu machen. Das hebe ich mir lieber für einen späteren Zeitpunkt auf, wenn ich selbst die nötigen Vorbereitungen dazu treffen kann.« Tonthan nickte. »Wir Kaufleute von Sirl teilen diese Ansichten. Aus diesem Grund schlagen wir auch vor, dass ihr eure Rache so lange aufschiebt, bis sich einer der Widersacher in Aglirta gegen seine Feinde durchgesetzt hat. Entweder ist dieser Mann den Schlangenanbetern genehm und sie glauben, bei ihm die Fäden ziehen zu können, oder aber sie sehen in ihm einen Gegner und rücken gegen ihn vor. Daher sollten wir abwarten, bis der Mann der Schlangen auch die Krone trägt. Und erst dann treten wir auf den Plan und erledigen mit einem Schlag den König, die Schlangenpriester und alle anderen.« Der Inselsprecher sah nacheinander seine Begleiter an und meinte dann: »Wir unterwerfen uns in diesen Fragen eurem Ratschluss. Also warten wir, haben aber noch eine Bitte: Besteht die Möglichkeit, einen Zauberer dergestalt über Schwarzgult wachen zu lassen, dass wir es sofort erfahren, wenn dem Regenten etwas zugestoßen ist?«
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»Das ließe sich in die Wege leiten«, entgegnete Tonthan, ohne sich genauer festzulegen. »Begreift bitte meine Zurückhaltung. Mich schrecken keineswegs die Kosten oder mögliche technische Schwierigkeiten oder gar, dass es mit der Geheimhaltung hapern könnte. Auch sollte es nicht daran scheitern, dass wir hier in Sirl keine guten Zauberer auftreiben könnten ... Nein, mich beschäftigt vielmehr, dass Schwarzgult über eigene magische Kräfte verfügt. Diese wurden ihm mit seinem Amt als Regent verliehen, und unserer Überzeugung nach hat er mit deren Hilfe bislang jeden Anschlag auf sein Leben zunichte machen können.« Der Sprecher der Kaufleute beugte sich vor, bis seine Nase beinahe auf dem Rand der Karaffe ruhte. »Damit wir uns richtig verstehen: Wir sehen viel Wünschenswertes und Brauchbares in eurem Vorhaben. Wenn all die Geschichten um den Regenten der Wahrheit entsprechen, dass er zum Beispiel in der Lage sei, den Schlafenden König zu wecken, und wenn das Erwachen Schneesterns ebenfalls die Schlange aus ihrem Schlummer holt, wie Seine Majestät es uns angedroht hat, dann haben wir hier in Sirl doch das Recht zu erfahren, was aus diesem Regenten wird. Immerhin waren etliche hoch geachtete Bürger unserer Stadt anwesend, als der Gekrönte Schwarzgult zu seinem Regenten ernannt hat.« Der Inselsprecher nickte grimmig. »Bislang sind wir ohne größere Mühen und Widerstände zu einer Abmachung gekommen. Wenn ich jetzt zum Schluss noch eine Kleinigkeit zur Debatte stellen dürfte, über welche ebenfalls Einigkeit zwischen uns erzielt werden sollte. Zugegeben, es handelt
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sich dabei nur um eine Kleinigkeit, an welcher uns aber dennoch etwas liegt. Diese Schänke hier soll auch in Zukunft unser Treffpunkt sein. Wir könnten uns gegenseitig wie bisher benachrichtigen und dann wieder hierher kommen, einverstanden?« Tonthan lächelte: »Natürlich. Wäre damit der geschäftliche Teil für heute beendet?« »Ja.« Beide Seiten erhoben sich, schoben scharrend die Stühle zurück und verabschiedeten sich nach Händlerart mit Handschlag voneinander. Zu Tonthans Verblüffung lachten die Inselvertreter jetzt. Wer hätte gedacht, dass sie dazu in der Lage wären? Die Anwesenden verließen das Wirtshaus einzeln und jeweils mit einigem zeitlichen Abstand voneinander und entfernten sich auf verschiedenen Wegen durch die Gassen von Sirl. Als Sathbrar sich dann von Tonthan verabschiedet hatte, weil die Reihe zu gehen nun an ihm war, stieg er zum Schankraum hinab und fand sich wenig später auf der Sandraeastraße wieder. Nach einigen Schritten blieb er an der Stelle stehen, an welcher viele verweilen, weil man hier eine wunderbare Aussicht auf die weiter unten liegenden Gärten erhielt. Er zog sich den Umhang fester um das gelbe Gewand. »Ein letztes Glas roten Thraevin«, murmelte er mit belegter Zunge, weil sich seine Mund- und Nasenpartie veränderten, »und dann wird es höchste Zeit, dem Regenten ein paar Neuigkeiten zuzuflüstern.« Ohne Zeit mit einer Antwort zu verschwenden, verschleu-
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derte der Regent die gesamte Macht seiner Dwaerindim auf den jungen Magier. Die Luft vor ihm zischte und bebte unter diesem Ansturm, aber Jhavarrs Heulen übertönte selbst das. Schwarzgult sah befriedigt zu, wie sein Gegner über das Schlachtfeld gefegt wurde. Flammen schlugen aus seinen Fingern, als die vielen Ringe einer nach dem anderen explodierten. Der Regent schüttelte den Kopf und sprach zu den Bergen von Toten rings um ihn herum: »Jhavarr Bogendrachen? Bei der Dreifaltigkeit, wer sollte das denn sein? Doch wohl nur ein weiterer dieser aufgeblasenen jungen Magier, welche vor Ehrgeiz kaum laufen können, oder? Und dieser Narr tritt ausgerechnet mir gegenüber ...« Sein Schwert war inzwischen so weit abgekühlt, dass er es wieder aufnehmen konnte. Doch als der Regent es probeweise schwang, stürmten sofort wieder Krieger auf ihn zu. Schwarzgult seufzte und nahm Kampfstellung ein. Dann erkannte er die Soldaten an der Spitze der kleinen Schar. Da rückten nicht erneut Blutklinges Schlächter heran, sondern Getreue des Reiches, welche ihn strahlend und mit dem Schlachtruf Aglirtas begrüßten: »Für den Auferstandenen König!« Der Regent empfing sie mit einem grimmigen Grinsen. »Na, wenigstens werde ich in der Gesellschaft von Freunden fallen. Und dieses Schlachtfeld ist zum Sterben genauso geeignet wie jedes andere.« »Wie bitte?«, entfuhr es einem Kriegsmann mit stacheligem Vollbart. »Und ich hatte immer gehofft, mich würde es bei einem Fass Wein und zwölf willigen Schönen im Arm erwischen. Die Dreifaltigkeit und ich haben da doch ein Abkom-
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men geschlossen. Gerade in der Frage des Weins und der Frauen lautet die Vereinbarung sehr präzise.« Die Männer lachten rau, bis der Bärtige über einen Leichenberg hinweg zeigte und zur Warnung rief: »Obacht, edler Schwarzgult!« Jhavarr Bogendrachen raste im Tiefflug über das Schlachtfeld heran. Von seinen Händen waren nur schwarz verfärbte Klauen übrig geblieben, dafür flammten seine Augen vor Zorn. Über seinem Haupt schwebte ein Dwaer. Schwarzgults Miene verhärtete sich. »Zurück!«, befahl er seinen Getreuen. »Haltet Abstand zu mir, und verbergt euch zwischen den Gefallenen. Jeden Moment kann hier der ganze Boden von magischen Einschlägen beben! Fort mit euch, geht schon!« Jhavarrs erster Energiespeer verwandelte den bärtigen Recken in eine schreiende Fackel. Daraufhin bedurften die anderen keiner Ermahnung mehr. Der Regent stand ganz allein da, als der junge Magier vor ihm anhielt und nur wenige Schritte entfernt in der Luft stehen blieb. »Regent von Aglirta«, höhnte Jhavarr, »für das, was durch Eure Schuld meiner Schwester zustieß, sollt Ihr sterben! Und für das, was Ihr mir antun wolltet, habt Ihr einen langsamen und schmerzensreichen Tod verdient.« »Ich weiß nicht einmal, wer Eure Schwester ist«, entgegnete Schwarzgult wenig beeindruckt. »Doch wenn ich so nachdenke, stand nicht einmal ein Zauberlehrling mit Namen Bogendrachen in den Diensten des Erzmagiers Tharlorn ... Den Stein, welcher da um Euren Kopf schwebt, kenne ich hingegen umso besser. Verratet mir bitte, wie Ihr in seinen
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Besitz gelangt seid.« »Ich habe ihn jemandem abgenommen, der ihn nicht verdient hat ... und auch nicht über genügend Macht verfügt, mich daran zu hindern. Und jetzt«, der junge Magier zog wie ein Raubtier die Lippen zurück, »werde ich Euch –« Schwarzgult war wirklich nicht mehr in der Stimmung, sich auf Spielchen einzulassen. Er richtete seinen Willen auf die beiden Dwaerindim über seinem Kopf und schuf zwei unsichtbare Klingen. Die sollten seinem Gegner die Glieder zerschmettern und ihm das Genick brechen, ehe dieser seinerseits Tod und Verderben verschleudern konnte. Lichtblitze kündeten den Angriff des Regenten an oder genauer gesagt sein Scheitern; denn die Klingen prallten wirkungslos gegen einen ebenso unsichtbaren Schutzschirm. Der junge Zauberer wollte sich vor Lachen schier ausschütten, ehe er zum Gegenschlag ausholte. Ezendor Schwarzgult besaß als Magier nicht genug Erfahrung, geschweige denn Ausbildung. Er sah sich nicht in der Lage, Dwaerindim zum Tanzen zu bringen, beziehungsweise vertrackte Banne von mehreren Ebenen tiefer zu sprechen. Aber er hatte sich lange Jahre an magischen Taschenspielertricks versucht und ging überhaupt die Zauberei ganz anders an als ein Magier, als Krieger nämlich. Deswegen vermochte der schwarze Speer, welcher Schwarzgult zusammen mit etlichen Gefallenen in die Luft schleuderte, den Regenten auch nicht zu töten. Mit Hilfe der Zaubersteine drehte er den Speer, sodass die Flammen, welche ihn sonst unweigerlich verbrannt hätten, nun in eine andere Richtung ausschlugen. Als Schwarzgult wieder zur Landung ansetzte, konnte er das Geschoss spalten
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und gegen Bogendrachen senden. Hintereinander fuhren die beiden Speere heran. Den ersten wehrte der Schutzschild mühelos ab, doch der zweite kam unerwartet, drang hindurch und schleuderte den jungen Magier zu Boden. Der Regent glaubte zu vernehmen, wie seinem Gegner bei dem schweren Sturz mehrere Rippen gebrochen wurden. »Pest und Hölle über Euch, alter Mann!«, brüllte Bogendrachen, und seine Stimme zitterte von den Schmerzen, welche er leiden musste. »Dafür sollt Ihr sterben!« Mit vor Pein verzerrtem Gesicht stand er wieder auf, und noch ehe er sein Gleichgewicht zurückerlangt hatte, schleuderte er schon wieder Feuerspeere auf den Regenten. »Nur zu, bis jetzt habt Ihr es ja nur bei Drohungen belassen«, gab Schwarzgult zurück, trat mit wirbelnden Zaubersteinen vor und saugte alle Feuerenergie seines Feindes auf, um dadurch noch stärker zu werden. Jhavarr stand jetzt endlich wieder auf eigenen Beinen und trat dem Regenten mutig entgegen. Doch dann traf sein Blick die Augen dieses Mannes in der mit Blut bespritzten Rüstung, und er trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Und dann noch einen. Schwarzgult hob sein Schwert. »Wenn Ihr meine Tochter gemeuchelt habt, um an ihren Dwaer zu gelangen«, sprach er schon fast zu ruhig, »und wenn Euer ganzes Bestreben darin besteht, mich hier aufzuhalten, damit Blutklinge umso schneller zum Thron gelangt, so habt Ihr Euer Ziel bereits erreicht. Dann bin ich nämlich schon so gut wie tot.« Nach dieser Ankündigung fühlte Jhavarr sich wieder obenauf. Er setzte sein gehässigstes Grinsen auf und ließ all seine
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Zauberkraft in den Schutzschild fließen. Dazu erzeugte er davor noch einen Vorhang aus sich drehenden Klingen. Aber Schwarzgult kam einfach weiter auf ihn zu, ohne auch nur einen Moment innezuhalten. Der junge Magier lief grau an, als sein Feind beide Dwaerindim dazu benutzte, den Schild und die Dolche zurückzudrängen. »Und so stürmt Ihr durch Aglirta und erschlagt Menschen im Namen Eurer Schwester«, fuhr der Regent mit schwarz und zornig lodernden Augen fort. »Ihr schadet allen, auch denjenigen, welche Eure Schwester nicht einmal gekannt haben. Deswegen halte ich Euch für nicht mehr als einen weiteren dieser gierigen jungen Magier, welche sich einen Mantel der Rechtschaffenheit schneidern, um darunter ihre gemeinen Morde und Diebstähle zu verbergen. Verratet mir doch, wie viele Höfe Ihr niedergebrannt und wie viele Bürger Ihr umgebracht habt.« Die Schwertspitze richtete sich auf Bogendrachen. In seiner Not bewirkte der erneut den Zauber, welcher die Klinge zum Glühen bringen würde. Doch stattdessen trieben die Flammen von dem Stahl davon und gesellten sich zu dem Feuertunnel, welcher sich um Schwarzgult gebildet hatte. Der Schild des jungen Magiers hatte ihn nun beinahe erreicht, und zu seinem Schrecken erkannte der Zauberer, dass die wirbelnden Messer sich in ihn zurückzogen ... nein, ihn durchdrangen und nun Jhavarr selbst bedrohten. Sie wuchsen an, scharten sich um das Schwert des Regenten und richteten sich gemeinsam auf des Magiers Herz. Schwarzgult wendete Jhavarrs eigene Magie gegen ihn, um ihn in die Knie zu zwingen, um ihn zu töten.
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Mit einem Wutschrei, der jedoch mehr dem Heulen der Verzweiflung glich, sprang der junge Zauberer in die Luft und ließ seinen Schild los, welcher sich daraufhin sofort in Nichts auflöste. Sollte der Regent doch gern versuchen, ihn jetzt noch zu erreichen, dachte Jhavarr, während sein Dwaer ihn umschwirrte. Vom Schlachtfeld unten drangen immer noch Schlachtrufe zu ihm hoch. Entweder »Für den Erwachten König!« oder »Nieder mit dem Regenten!« oder »Blutklinge auf den Thron!« Schwarzgult schwebte auf seinen schwarzen und roten Flammen ebenfalls in der Luft, und seinen Kopf umkränzten zwei Dwaerindim! Jhavarr fauchte, aber mehr aus Furcht denn aus Zorn. Zwei Zaubersteine waren einfach zu stark. Er benötigte ebenfalls einen zweiten Dwaer. Andernfalls blieben seine Banne gegen den Regenten wirkungslos ... Doch zum ersten Mal an diesem Tag beschlich ihn der Gedanke, dass es nicht unbedingt der Regent Schwarzgult sein musste, welcher dieses Schlachtfeld nicht mehr lebend verlassen würde ... »Waren das jetzt wirklich alle?«, fragte Blutklinge unwirsch und starrte in den Himmel. »Jawohl, Herr«, bestätigte sein Schwerthauptmann keuchend, als er neben ihm sein Pferd zügelte. »Wir glauben nicht, dass einem von ihnen die Flucht in den Wald geglückt sein dürfte. Diejenigen, welche ihre Waffe gegen uns erhoben haben, liegen nun alle in ihrem Blut da. Ich habe bereits ein paar Männer losgeschickt, auf dass die ihre Verwundeten und
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diejenigen unter ihnen, welche sich nur tot stellen, erschlagen.« »Gut. Ihr sorgt mir dafür, dass dieses Schlachtfeld von allen Feinden gesäubert wird«, entgegnete der Kriegsfürst langsam, weil all seine Gedanken auf das Schauspiel am Himmel ausgerichtet waren. Schließlich winkte er mit seinem blutverkrusteten eisernen Handschuh in Richtung der Hügel. »Haltet Euch von dem Geflimmer dort fern. Schwarzgult hat da Teufelswerk bewirkt. Irgendeinen tödlichen Bann, welcher uns jedoch nichts anhaben kann, solange wir ihm nicht zu nahe kommen. Sucht ansonsten aber das gesamte Gebiet nach Feinden ab, welche sich irgendwo verkrochen haben.« Blutklinge runzelte die Stirn und ließ die Hand von links nach rechts wehen. »Ihr anderen, verteilt euch. Keine größeren Gruppen sollen zusammenstehen. Nicht, solange die beiden da oben keine Einigung gefunden haben!« Der Schwerthauptmann wusste gleich, was sein Herr meinte: Zwei Wesen standen oben in der Luft, und zwischen ihnen flogen zauberische Feuerstöße hin und her. Einer von beiden schien sogar in hellen Flammen zu stehen, ohne jedoch zu verbrennen. Wie ein Stern strahlte er am Himmel. Der Offizier schüttelte den Kopf und lenkte sein Ross zu der ersten Gruppe Soldaten, um sie auseinander zu treiben. Immer wieder warf er einen unsicheren Blick nach oben, und mehr als einmal musste er schlucken. Ganz gleich, was von da oben auf sie niederkommen würde, dagegen besaß ein braver Krieger keinerlei Schutz. Hmmm ... Jetzt verstand er auch, warum so viele Priester Stein und Bein schworen, ihr Gott wohne im Himmel und
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schaue den ganzen Tag auf die Erde nieder. Eigentlich sollte man doch meinen, dass der eine oder andere unter ihnen gelegentlich einmal den Drang verspürte, helfend oder ordnend in die Geschehnisse auf der Erde einzugreifen ... und sei es nur, um der eigenen Langeweile entgegenzuwirken. Oder würde damit am Ende nur der Weltuntergang eingeläutet? »Was treibt Ihr da?«, kreischte Jhavarr, als sein Dwaer ihn immer langsamer umschwebte und er selbst allmählich nach unten sank. Aber was war das? Schwarzgult erging es ebenso! Verzweifelt klammerte der junge Magier seine Gedanken an den Zauberstein und ließ den Bannspruch fahren, welchen er gerade hatte sprechen wollen. Dreh dich schneller!, flehte er den Dwaer an. Dreh dich, und verleih mir wieder deine Macht, auf dass ich ... Aber was war das? Er war ja freigekommen! Ha! Schwarzgult entronnen! Was Furchtbares auch immer er für mich vorgesehen hatte, es wurde ihm zunichte gemacht! »Wolltet Ihr uns etwa beide umbringen, Schwarzgult?«, konnte Jhavarr schon wieder höhnen. »Seid Ihr Eures Amtes etwa so überdrüssig, Regent von Aglirta?« »Bis dahin wird noch ein Weilchen vergehen«, erwiderte der Mann ganz ruhig, und seine Stimme erklang dicht neben dem Ohr des jungen Magiers, obwohl sie beide doch mehrere Mannslängen trennten. »Ihr müsst noch viel lernen, junger Bogendrachen, ehe Ihr Euch auf ein Wortgefecht mit mir einlassen könnt. Vermutlich ist Eure Schwester ja gar nicht ermordet worden, sondern hat sich selbst das Leben genom-
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men, weil sie Euer ständiges Geschrei einfach nicht mehr ertragen konnte.« Wieder kochte die Wut in Jhavarr hoch, und zwar so gewaltig, dass er für einen Moment ebenso in Flammen stand wie sein Gegenüber. Seit einigen Minuten hatte er Schwarzgult schon nicht mehr erkennen können. Aber vielleicht handelte es sich bei dem sternenhellen Glanz, welcher ihn umgab, um eine bloße Vorspiegelung, bewirkt durch die Dwaerindim. Als Jhavarrs erstickende Wut sich so weit gelegt hatte, dass er wieder sprechen konnte, giftete er: »Ihr wagt es, den Namen Cathaleiras in den Mund zu nehmen? Ihr wollt Euch einen Spaß mit dem erlauben, was man ihr angetan hat?« »Junger Zauberer«, rief ihm der Regent ins Gedächtnis, »Ihr selbst habt Euch einiges herausgenommen, seit Ihr unangekündigt im schönen Aglirta aufgetaucht seid. Als Vertreter des Königs habe ich geschworen, dieses Land gegen alle Feinde zu verteidigen. Und wenn ich zu diesem Behuf den Namen einer Toten in den Mund nehmen und mir mit jemandem einen Spaß erlauben muss, werde ich nicht zögern, das auch zu tun, da könnt Ihr aber Gift draufnehmen!« Jhavarrs Dwaer drehte sich wieder langsamer, das Strahlen des jungen Magiers erlosch, und er selbst sackte ein Stück weit in die Tiefe. Als der junge Mann sich wieder gefangen hatte, schnürten so etwas wie unsichtbare Stahlbänder seine Brust ein, und er brauchte eine Weile, ehe er die Stimme erheben konnte. »Was macht Ihr da?«, schrie Jhavarr und kochte schon wieder vor Wut. »Ich zwinge Eurem Zauberstein meinen Willen auf, sofern
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mir das möglich ist«, erklärte Ezendor Schwarzgult immer noch ruhig, aber mit eisenfester Stimme. »Mir mangelt es leider an der Zeit, um mich länger mit Pinschern und kleinen Kläffern abgeben zu können, welche glauben, die Magie sei ein ausgezeichnetes Mittel, andere unter ihre Herrschaft zu zwingen und Dinge nach Herzenslust explodieren lassen zu können. Wer nur zerstört und keinerlei Verantwortung trägt, wer nur seinen Trieben frönt und sich um sonst nichts schert, hat im Reich nichts verloren – nicht einmal dann, wenn er Jhavarr Bogendrachen heißt!« Und ehe der junge Magier sich versah, wurde er spiralförmig in den Himmel geschossen und flog über dem blutigen Schlachtfeld dahin. Seine verkohlten Hände griffen hilflos in die Luft, welche ihm keinen Halt bot ... Dann drang ein Geräusch aus seinem Dwaer. Leise zuerst, aber rasch an Eindringlichkeit zunehmend ... Hellblaues Feuer fauchte unvermittelt vor ihm auf und bildete eine Flammenkugel, welche seinen Feind und die Hälfte des Himmels dazu einhüllte. Das Rauschen des Windes in seinen Ohren erstarb, und die Melodie aus seinem Dwaer zerfiel in unterschiedliche, unzusammenhängende Töne ... »Schwarzgult!«, kreischte eine Frauenstimme aus der Flammenkugel, »endlich!« Die Frau tobte vor Wut. »Schlagt zu, Schwestern!«, fiel eine zweite, ebenso Erzürnte ein. »Gewährt keine Gnade!« Feuer und Blitz, grelle und tödliche Energiespeere von einer Art, wie der junge Magier sie nie zuvor gesehen hatte, rasten auf die Flammenkugel zu, umflogen sie und pickten
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dann hinein. Schwarzgults Dwaerindim leuchteten auf. »Sterbt, Regent!«, keifte eine dritte Frau mit so schriller Stimme, dass man sie kaum verstehen konnte. »Im Namen von Raevur Talasorn, haucht Euer Leben aus!« Jhavarr Bogendrachen riss den Mund auf und jauchzte vor Begeisterung. Triumphierend hob er die Faust, und plötzlich explodierte vor dem jungen Magier die Luft, und überall flogen Speere durch die Gegend. Pferde wieherten und traten aus. Etliche Männer flogen aus dem Sattel. Andere brüllten und rannten umher oder versuchten, sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Das große Gemetzel am Himmel versetzte alle in Angst und Schrecken. Einige ließen sich einfach zu Boden fallen, andere verkrochen sich unter ihrem Schild, und alle warteten auf den tödlichen Stoß. In ihren Ohren hallte es wider, und das Echo des gewaltigen Halls rollte über die Wälder und Felder, von Sarth bis zu den Bergen und zurück. Doch es gab keine zweite Explosion. Nur ein Zischen am dunkel gewordenen Himmel ... und hier und da ein nasses Klatschen. Die gleichen Geräusche wie schon in Sarth ... Und wie auch schon auf den Straßen im Hinterland, wo die Menschen aus ihren Hütten gelaufen gekommen waren, um nachzusehen, was denn da vom Himmel herabregnete in ihre Schweinetröge und Obstgärten. Und hier waren es eben kleine Fetzen von Jhavarr Bogendrachen und bereits erschlagenen Reichssoldaten.
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Elf
Nach Treibschaum, um zu sterben C Ein dunkler Weg lag vor ihm. Doch er fand sich hier bestens zurecht. Jeder spitze Stein, über welchen er mit dem Kopf voran kroch, war ihm vertraut. Gelegentlich ließ er das Kinn auf einem kühlen, staubigen Kiesel ruhen – immer dann, wenn seine zerschmetterten und vielfach gebrochenen Finger zu heftig schmerzten. Sein Keuchen kam ihm hier draußen, in den kalten und öden Wüsten unterhalb von Treibschaum, unnatürlich laut vor. Aber seine Sorge war unbegründet. Außer Ratten und Ingryl Ambelter fand niemals jemand den Weg hierher. Er lächelte in die Dunkelheit hinein. Ja, tatsächlich, hier gab es nur Ratten. Die Treppe fand ihr Ende. Dem Himmel sei Dank, die letzte Stufe. Jetzt durch diesen unscheinbaren Raum, dann nach rechts, über die Bodenfliesen ... und jenseits davon wartete irgendwo die Tür ... Er stieß mit der Hand etwas zu hart an den Pfosten, und der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Zitternd
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wartete der Bannmeister ab, bis die Woge der Pein vergangen war. Schluchzend rollte er sich zu einem Ball zusammen, bis er sich wieder in der Lage fühlte, weiterzukriechen ... Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, Gadaster etwas weiter oben abgelegt zu haben, nur ein paar verwünschte Kammern näher ... Verdammnis! Alles vom Feuer umgeben! Luft, Luft, alles fort! Luft, bei den Göttern! Was um alles in der Welt war das gewesen? »Etwas Schwerwiegendes hat sich ereignet«, verkündete Ingryl ächzend der Luft. Er hörte, wie sein heiseres Flüstern widerhallte und dann verging. Dem folgten keine weiteren Geräusche. Er hatte nichts erweckt. Nichts huschte davon, und nichts fiel zerbröckelnd zusammen. Und das war gut so! Ambelter ließ das Gesicht auf den kühlen Stein sinken und blieb ganz still liegen. In seinem Geist herrschte immer noch der schönste Sturm, aber er vermochte wenigstens schon wieder, etwas zu fühlen. Und zwar große Wellen von Magie, welche von Süden und Westen heranrasten – für normale Menschen vollkommen unsichtbar, aber mindestens so lebendig wie hundert schreiende Soldaten. Bauern und Kriegsknechte bekamen davon nie etwas mit, aber Zauberer wie er spürten, dass ihnen davon weitergeholfen würde. Die Energie drang in ihren Kopf ein, tobte sich in ihrem Geist aus, überspülte sie von Kopf bis Fuß, strömte weiter und ließ die Betreffenden vollkommen benommen zurück.
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Irgendein großes Zauberstück war gerade bewirkt worden, oder zwei mächtige Magier hatten sich mit ihren Bannen bekämpft. Irgendwo nicht weit von hier ... vielleicht sogar in Aglirta selbst. Und jetzt kam diese Zaubermacht dahergebraust, um ihn zu treffen, wo er wie ein krankes Kind über einen kalten Steinboden kroch und versuchte, ein uraltes Gerippe zu erreichen, um es zu umarmen. Gadaster Mulkyn lag höchstwahrscheinlich genauso geduldig und grinsend wie immer in seinem offenen Sarg. Längst war er nicht mehr der Lehrer und Folterer Ingryls. Ambelter hatte ihn aufgebahrt und ihn in sein bestgehütetes Geheimnis verwandelt: Der alte Griesgram diente ihm Knochen für Knochen als Heilzauber. Und dieser Gebeine bedurfte der Bannmeister jetzt wieder einmal besonders dringend. Sobald er nicht die Schäden behoben hatte, welche der Regent ihm zugefügt, blieb von ihm kaum mehr als ein kriechender Wurm übrig. Ingryl gab sich dem erfreulichen Gedanken hin, dass dem Regenten bei dem, was für die Sturmflut von Zauberenergie verantwortlich war, etwas Schlimmes zugestoßen sein mochte. Möglicherweise war Schwarzgult bei dem Versuch, mit Blutklinge fertig zu werden, eine tödliche Wunde zugefügt worden. Nicht ausgebildete Magier und Anfänger verhedderten sich oft genug in ihren Bemühungen und scheiterten dann furchtbar. Und das war gut so. Manchmal hatten sie aber auch typisches Anfängerglück
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und sahen dann keinen Grund, ihr Tun zu überdenken. Wie so etwas ausging, ließ sich vorher nie sagen, und das konnte nur eines bedeuten: Die Götter hatten wirklich einen absonderlichen Sinn für Humor. Aber genug jetzt der Gedanken voller Tiefgang und Witz. Hier auf dem Stein wurde es ihm allmählich zu kalt. Auch brauchte er wohl nicht darauf zu hoffen, dass eine zweite Woge Zauberkraft heranströmte – oder eine Erklärung für das, was vorgefallen war. In seinen verwirrten Gedankengängen herrschte die gleiche Finsternis wie in den Kellern der Silberbaums, durch welche er kroch. »Etwas Gewaltiges muss vorgefallen sein«, sagte er sich noch einmal, und diesmal ein wenig säuerlich. »Zu dumm, dass ich es verpasst habe.« Matt und voller Schmerzen wand er sich durch den Eingang und kroch weiter durch die kalte und wartende Dunkelheit. Energiestrahlen wie Gewitterblitze rasten über die Decke einer bestimmten Kammer in Arlund, wo eine Zauberkugel Licht spendete. Dreimal prallten die Strahlen von der Lampe ab und heulten durch den Raum. Die fünf anwesenden Mitglieder der Familie Bogendrachen zuckten unwillkürlich zusammen, als die Blitze durch sie hindurchfuhren. Doch selbst dann, als Rauch von ihren kostbaren Gewändern aufstieg, als der Schmerz ihre Augen zu sprengen drohte oder als Blut sich in ihrem Mund sammelte und aus ihrer Nase lief, richteten sie ihre Aufmerksamkeit weniger auf die
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Strahlen als vielmehr auf die Lichtkugel. Die fünf Bogendrachen starrten sie unentwegt an. Irgendwann hielt es einer von ihnen nicht mehr aus und griff halbherzig nach der Licht spendenden Kugel. Dabei unterdrückte er mit Mühe ein Schluchzen. Die anderen fuhren entsetzt zurück. »Nein!«, riefen sie. »Nicht schon wieder! Nicht Jhavarr!« »Das war’s dann wohl!«, murrte einer von ihnen, richtete sich zur vollen Größe auf und reckte die Faust gegen den Himmel. Aus dieser sprossen nun eigene Blitze und Feuerspeere, quollen winzig klein zwischen den Fingern hindurch. »Aglirta und alles darin wohnende grausame und nichtsnutzige Magiergezücht muss vernichtet werden!« Blutklinge schien gar nicht zu bemerken, wie das leise Seufzen seiner eigenen Schutzzauber langsam um ihn erstarb. Er betrachtete den feinen Regen aus Blut, Rauch und anderen Fetzen und suchte nach einer bestimmten Anhöhe. Aha, das Schimmern, vor welchem er seine Krieger gewarnt hatte, verging jetzt. »Und so endet Schwarzgult«, grinste der Kriegsfürst und schaute hin, bis auch das letzte Fünkchen erloschen war. »Der Schild des Erwachten Königs ist zerbrochen!« Er zog das Horn aus seinem Gürtel, stieß laut hinein und spornte sein Streitross dann an, die nächste Anhöhe zu gewinnen. Dort winkte Blutklinge seine Soldaten mit weit ausholenden Armbewegungen zu sich heran. Bald sah Blutklinge sich von erwartungsvollen Gesichtern umgeben. Alle starrten ihn hungrig nach neuen Taten unter
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Helmen hervor an, auf welchen sich Blut wie Tau abgesetzt hatte. Alles, was aus Stahl oder Eisen gemacht war, wies diese Rötung auf. Bei den Göttern, die Magie mochte nicht zu viel taugen, doch wenn man mit ihr tötete, dann aber gründlich! »Setzt euch nach Treibschaum in Bewegung, wir wollen den Palast so rasch wie möglich erreichen!«, forderte der Kriegsfürst seine Männer auf. »Erobert mir den Thron! Sobald es mit Kelgrael ein für alle Mal vorüber ist, werden die anderen Fürsten schon einer nach dem anderen zu mir kommen ... Auf den Knien, mit reichen Geschenken oder mit den Füßen voran! Die Fürsten des Stromtals sind immer schon nach Treibschaum gekommen, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Vor der Herrscherinsel werde ich meinen alles entscheidenden Sieg erringen, so sicher, wie Wasser nach unten fließt!« Die Soldaten sahen ihn immer noch schweigend und erwartungsvoll an. Der Kriegsfürst starrte zurück und schlug sich mit der flachen Schwertseite auf die Rüstungsplatte des Oberschenkels. In das metallische Klingen hinein rief er: »Worauf wartet ihr denn noch? Reiten wir los!« »Für Blutklinge!«, brüllte einer von ihnen. »Reiten wir los!« »Reiten wir los!«, nahmen alle den neuen Schlachtruf auf, gaben schon ihren Pferden die Sporen und preschten wie von Sinnen davon. Jeder, welcher ein Hörn besaß, blies im Reiten aus Leibeskräften hinein. Blutklinge hielt die ganze Zeit sein Schwert hoch erhoben
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und gestattete sich endlich ein feistes Grinsen. Wie ein lang anhaltender, grollender Donnerschlag setzte sich sein Heer wieder in Bewegung, und wie eine wilde, verwegene Jagd stürmte es nach Osten. Zum Hafen und zum Thron von Treibschaum. »Embra«, sprach Sarasper leise, als die Bootsseite an der Kaimauer des Palastes schabte. »So wacht doch auf, bitte, ich bedarf Eures Wissens.« »Da seid Ihr nicht der Einzige«, murmelte die Edle schlaftrunken, »halb Aglirta bedarf meines Geistes, und wahrscheinlich würde die andere Hälfte auch nicht lange anstehen, danach zu verlangen ...« »Bitte nicht!«, zischte der Alte, als Craer und Hawkril, welche gerade mit dem Boot anlegten und es vertäuten, sich nach solchen Worten gegenseitig in die Seite stießen. »Überlasst die flauen Witze doch lieber dem Beschaffer und verratet mir lieber geschwind, wo sich in Treibschaum Magie finden lässt, welche ich an mich nehmen kann. Ihr seid angeschlagen, und Hellbanner geht es noch schlechter als Euch. Wenn ich nicht bald an Zauberkraft gelange, wird es mit uns noch böse enden!« Die junge Edle öffnete langsam die Augen und hatte einige Momente Mühe, etwas zu erkennen. »Oberhalb der obersten Stufe an der Kaimauer ... in der obersten Laterne ... findet sich ein Türchen ... und dahinter ein Glühstein ... für die Tage, in welchen ein zu ungemütliches Wetter herrscht ...« »Raulin!«, befahl Sarasper, und der Jüngling schwang sich schon aus dem Kahn und flitzte die Treppe an der Kaimauer hinauf.
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»Hört mal, junger Mann«, entfuhr es Craer, als der Sänger an ihm vorbeistürmte, »solltet Ihr nicht besser auf uns warten? Könnte doch sein, dass der Magier, welcher uns vorhin ein paar schlimme Überraschungen beschert hat, dort oben auf der Lauer liegt.« Der Beschaffer grinste seinen Freund, den Hünen, an. »Vielleicht sticht ihn ja gerade der Hafer, und er möchte zu gern unseren Jüngling in eine faulende Salatgurke verwandeln! Oder in eine Bierfontäne, aber ohne Krug oder Eimer, um Euch aufzufangen!« Raulin aber hielt nicht im Schritt inne und drehte sich auch nicht nach Craer um. »Bei dem ›Magier, welcher uns vorhin ein paar schlimme Überraschungen beschert hat‹, handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Ambelter. Wenn nicht, fresse ich einen Besen!«, grollte Hawkril und folgte dem Knaben schon, jeweils drei Stufen auf einmal nehmend und mit dem Schwert in der Hand. Aber da kam Raulin fast noch schneller wieder zurückgelaufen. Er hielt den Glühstein in der Hand, sah ansonsten aber so aus, als sei ihm noch nie so schlecht gewesen. »Was ist mit Euch, junger Freund?«, wollte der Hüne gleich erfahren. »L-Leichen«, stammelte der Sänger. »Viel Blut und Fliegen, welche auf allem herumkrabbeln –« Einen Moment später gab er auf andere Weise alles von sich. Sein Auswurf kroch am Treppenrand herunter. Sarasper schaute zu dem Jüngling hinauf. Embra und Glarsimber lagen reglos neben ihm. »Spuckt alles raus, mein Freund«, riet der Heiler ihm mit
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einem säuerlichen Lächeln. »Ich brauche nämlich gleich Eure Hilfe ... wir müssen dem alten Fürsten hier das Schwert aus der Wunde ziehen.« Raulin starrte ihn an, als glaubte er, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen, und dann schien sein Magen einen Satz zu machen und alles nach oben zu schleudern. Als Sarasper nicht mehr unmittelbare Gefahr lief, vollgespien zu werden, zog er den Jüngling zu sich herum. »Das trifft man heutzutage aber selten an, dass einem ein junger Mann sofort gehorcht.« Raulin krächzte ihm eine Verwünschung entgegen, legte dann den Kopf in den Nacken und atmete mehrmals tief durch. Nach einer Weile entschuldigte er sich für seine freche Bemerkung und erklärte: »Weiter oben muss eine Schlacht stattgefunden haben ... überall liegen Leichen herum.« »Wie sehen die denn aus?«, wollte der Heiler wissen. »Wie die Palastwache? Wie Höflinge? Oder wie fremde Eroberer?« Der Jüngling zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Scheint von allem etwas dabei zu sein.« Der Heiler legte Raulin eine Hand auf die Schulter. »Vielen Dank für den Glühstein. Und nun steigt wieder zu mir ins Boot, wir haben hier eine Hexe hinauszuhieven und auf die Beine zu bringen.« »Aber habt Ihr nicht eben gesagt, Fürst Hellbanner –« »Ja, unter anderen Umständen würde ich mich ja auch zuerst um ihn kümmern, aber es ist gut möglich, dass wir gleich ganz dringend die Zauberkünste unserer befreundeten Hexe benötigen. Entweder, um Glarsimber zu heilen, oder für Hawkril und Craer, wenn die dem alten Bannmeister oder irgendeinem anderen durchgedrehten Magier über den Weg
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laufen.« Sarasper lächelte dem Jungen aufmunternd zu. »Aglirta hatte immer schon haufenweise üble Überraschungen zu bieten. Dazu muss man nur ein oder zwei Schritte weit in den Palast eindringen. Und jetzt helft mir bitte. Ich möchte, dass Ihr die Edle festhaltet. Gut möglich, dass sie um sich schlägt und dabei den Glühstein ins Wasser stößt. Das wäre doch wirklich schade, oder nicht?« Raulin erkannte das belustigte Funkeln in den Augen des Alten und stieg rasch in den Kahn. Ihm wurde nur noch einmal so richtig schlecht, und er konnte alles, was noch hinauswollte, bequem dem Hafenwasser überantworten. »Der Junge hatte Recht«, bemerkte Hawkril. »Hier sieht es aus wie im Schlachthaus.« Der Beschaffer nickte und legte einen Finger auf die Lippen, um seinen Freund zum Schweigen zu ermahnen. Dann glitt er so leise wie möglich in die nächste Kammer. Überall stapelten sich Tote. Ruhe und Finsternis herrschten allerorten, so als lebte hier niemand mehr. Aber was war das? Hatte sich dort nicht gerade etwas bewegt? Geduckt schlich der Beschaffer darauf zu und wieselte um ein breites, vergoldetes Sofa herum, weil sich dahinter gut ein halbes Dutzend Ritter verstecken konnte. Am anderen Ende der Couch angelangt, legte er sich hin und lugte um die Ecke hinter das Möbelstück. Ein Stück voraus im Raum stolperte ein Mann blindlings umher. Er taumelte gegen Wände und Türrahmen. Sein Kopf hing in einem unmöglichen Winkel nach unten.
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Von den Augen waren nur noch die Höhlen vorhanden, und sein Gesicht sah wie geschmolzen aus ... Ein zweiter Mann ähnlichen Aussehens schlurfte herein. Ein Schwert hing schlaff in seiner Hand, und dessen Spitze schabte über den Boden. Der Neue sah weder den Ersten, noch bemerkte er den Beobachter bei der Couch. Craer schlich zurück zu seinem Freund. »Geschmolzene!«, zischte er. »Hier schlurfen überall Geschmolzene herum!« »Welcher Magier gebietet denn inzwischen über diese Burschen?«, fragte der Hüne und gab sich gleich selbst die Antwort: »Gewiss doch derselbe, welchen wir jetzt aufspüren und erschlagen werden.« Craer grinste ihn an. »Ihr habt so eine vortreffliche Art an Euch, die Dinge immer gleich auf den Punkt zu bringen, Leuchtturm.« »Es gibt schlimmere Wege, sein Leben zu führen«, entgegnete der Hüne und verfolgte, wie jetzt auch draußen auf dem Gang ein Geschmolzener auftauchte und näher kam. Aber er schien die beiden nicht zu sehen. Selbst dann nicht, als Hawkril mit seinem Schwert herumwedelte. Stattdessen lief er auf dem Flur an ihnen vorbei. Die beiden Freunde sahen sich verblüfft an. »Vielleicht hat uns ja jemand die Arbeit abgenommen«, fragte sich Craer, »und den Zauberer längst getötet.« »Das gefällt mir alles nicht«, murmelte der Hüne. »Wir wollen zum Boot zurück. Embra kommt von hier. Sie weiß sicher eine Lösung.« »Aber gewiss, sie weiß doch immer alles besser.« Die beiden sahen sich an und grinsten wieder.
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Raulin wandte den Blick ab, verzog das Gesicht und umfasste den Griff des Dolches so fest, dass die Finger sich verkrampften und ganz taub wurden. Die Klinge steckte im Bauch des Fürsten Hellbanner. »Zieht das Messer einfach gerade heraus, mein junger Freund«, forderte Sarasper ihn auf. »Nicht rütteln und nicht wackeln, nur möglichst gerade ziehen, verstanden?« Der Jüngling biss die Zähne zusammen. »Ich fürchte ... mir wird ... gleich wieder schlecht ...« »Lasst mich übernehmen«, schlug ihm jemand vor, und Raulin sah Embra über sich. Die Herrin lächelte ihn kurz an und strich ihm sanft über die Wange, was ihn aber keineswegs beruhigte, jedenfalls nicht in der von ihr beabsichtigten Weise. Und ehe er sich versah, hatten sich seine Finger bereits von dem Dolchgriff gelöst. Stattdessen befand sich dort nun ihre Hand. »Jetzt, Embra«, sprach der Heiler und blickte von dem leuchtenden Glühstein in seinen Händen auf. Die Herrin Silberbaum beugte sich kurz über den Jüngling, und ihr Busen streifte ihn – was bei ihm heftiges Erröten auslöste. Während er einige Male schluckte, zog die Edle einmal an der Klinge und hatte sie schon herausgezogen. Flugs schob Embra eine Hand in die Wunde, denn schon spritzte Blut nach allen Seiten. Raulin wandte sich angewidert ab, bis er zu seiner Schande feststellen musste, dass Hellbanners Rot bereits das Gesicht und die Brust der Fürstentochter bedeckte. Auch tropfte der Lebenssaft von Saraspers angespanntem Gesicht. Doch weder er noch sie hatten darunter auch nur mit der Wimper gezuckt.
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»Läuft schlecht ...«, stöhnte Sarasper. »Sehr schlecht ...« Das Licht zwischen seinen Händen flackerte. Embra legte die andere Hand auf den behaarten Unterarm ihres Gefährten. Für einen kurzen Moment strömte etwas zwischen ihnen, und die Luft prickelte. Raulin glaubte, die Magie wirklich sehen zu können. Glarsimber zuckte unter ihnen heftig zusammen. Er knurrte, schlug um sich, sackte zusammen und stöhnte im nächsten Moment laut. »Oh, ihr Götter!«, entfuhr es ihm. »Bei der Dreifaltigkeit, das war beinahe mein Ende. Oder bin ich vielleicht wirklich ...? Wo bin ich?« »Ihr lebt noch, trotz unserer Bemühungen«, grinste Sarasper. »Auf Euch warten noch viele Flaschen, die geleert werden wollen, und viele Damen, welche, äh ...« »Geküsst werden wollen!«, warf Embra rasch ein und beugte sich schon über den Fürsten. Hellbanner zwinkerte dem Jüngling zu, während er von der Herrin der Edelsteine geküsst wurde ... bis sie ihn losließ, damit er wieder zu Atem kommen konnte. »Bei meiner Seele«, lächelte Glarsimber, »das war es wert, eine halbe Ewigkeit lang mit einem Dolch im Bauch herumzulaufen.« »Aber nur fast«, frotzelte Sarasper. »Embra küsst ihn, und er fühlt sich bestimmt wie im siebenten Himmel«, bemerkte Craer, als sie über die Treppe zu den Freunden zurückkehrten. »Dann weiß der Ärmste aber gar nicht, ob er noch lebt oder schon in eine bessere Welt übergegangen ist.«
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»Jetzt hört doch endlich einmal auf damit«, grollte Hawkril. »Ihr erinnert mich an die Mädchen meiner Jugend, die immerzu gekichert haben. Ihr findet auch kein Ende. Die jungen Dinger konnte ich wenigstens zu anderen Lauten bewegen, aber bei Euch steht das Plappermaul wirklich niemals still.« »Ach, wisst Ihr, für eine ausreichende Menge Geschmeide würdet Ihr auch andere Laute von mir zu hören bekommen«, entgegnete der Beschaffer. »Ja, vermutlich für einen Haufen so groß wie ein Pferdefuhrwerk«, erwiderte der Hüne. »Verzeiht bitte, wenn mir bessere Verwendungszwecke für eine solche Menge Schmuck einfallen. Vorausgesetzt, dass es in ganz Aglirta überhaupt so viele Edelsteine gibt.« »Da wüsste ich eine Lösung: Wir nehmen Embra all ihre Kleider ab und schlagen damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Erstens hätten wir dann die gewünschte Menge Edelsteine, und zum zweiten würden wir von der Edlen ebenfalls andere Laute zu hören bekommen.« »Und noch ganz andere Sachen!«, rief Embra. »Aber im Ernst, im Moment würde ich wirklich alle meine Gewänder gegen meinen Dwaer eintauschen.« »Das würde ich auch für vernünftig halten«, stimmte Hawkril zu. »Im Palast muss sich irgendwo ein Magier aufhalten. Überall wimmelt es von Geschmolzenen. Wie blind taumeln sie durch die Gänge und Räume.« Embra kniff die Augen zusammen. »Das hört sich so an, als sei demjenigen, welcher über sie gebietet, etwas zugestoßen.« Sie seufzte, versuchte, sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, und verschmierte es dabei nur noch mehr. »Machen
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wir uns besser wieder an die Arbeit. Glarsimber, könnt Ihr schon wieder stehen?« »Ich würde lieber noch etwas liegen bleiben, mit Euch auf mir«, entgegnete der Fürst in gespielter Unschuld. »Auf mit Euch, Lehnsmann des Königs«, befahl sie ihm streng. »Wir brauchen Euch noch, um größere Heldentaten zu vollbringen als die zurückliegende.« »Wie?«, tat Craer völlig ahnungslos. »Noch mehr Gefahren lauern auf uns?« »Ihr dürft Euch auch gern dazu bereitmachen, bald zu sterben«, erklärte ihm die Herrin Silberbaum übertrieben freundlich. »Und jetzt los mit euch allen, ich will kein Wort mehr hören.« Die Männer setzten sich tatsächlich in Bewegung, und Craer lief an der Spitze. Raulin stützte den Fürsten, und der musste, oben an der obersten Stufe angekommen, ermattet für einen Moment innehalten, weil er sich doch etwas viel zugemutet hatte. Der Palast machte einen leeren Eindruck, wenn man von den Fliegen, den Leichen und den unheimlich herumschleichenden Geschmolzenen absah. »Säumt nicht«, mahnte Embra. »Mir gefällt das hier nur wenig.« »Wohin sollen wir denn?«, fragte der Beschaffer. »Ich weiß, dass Ihr hier aufgewachsen seid und Euch in diesem Gemäuer vermutlich noch immer bestens auskennt. Aber dieser Palast erstreckt sich über die gesamte Insel ...« »Natürlich zum Thronsaal, Ihr Tropf«, beschied ihn die Herrin. »Ich könnte mich jederzeit der Verbindungen zur Lebenden Burg bedienen. Aber wenn jemand anderes gerade auf dem Thron sitzt, könnte er dadurch erfahren, wie viele
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eingedrungen sind und wo wir uns gerade aufhalten.« Die Edle schaute sich um. »Sobald ich aber auf dem Herrschersitz throne, vermag ich ganz Treibschaum nach Gegnern abzusuchen, ohne meinen hochwohlgeborenen Hintern auch nur einen Fingerbreit bewegen zu müssen.« Hawkril blieb stehen, verdrehte die Augen zur Decke und erklärte: »Ich freue mich, von Euch so muntere Worte zu hören, Herrin. Was mich aber noch viel, viel mehr freuen würde, wäre, wenn Craer ausnahmsweise darauf verzichten würde, für dieses Töpfchen ein Deckelchen zu finden.« Der Beschaffer grinste breit, zwinkerte und – schwieg. »Soll ich mich wieder in die Spinne verwandeln?«, fragte der Heiler zögernd, während sie sich weiter zum Thronsaal bewegten. Sie kamen nun häufiger an grässlich zugerichteten Soldaten und Höflingen vorbei. »Nur wenn es Euch große Freude bereitet, auf acht Beinen herumzukrabbeln«, antwortete Embra. »Ich persönlich finde hingegen, dass man mit einer Wolfsspinne nur schlecht ein Gespräch in Gang halten kann.« »Bei Euch überrascht mich das wenig«, erwiderte der Heiler und trat geschickt einen Schritt zur Seite, um einen blindlings vorwärts taumelnden Geschmolzenen vorbeizulassen, ohne von ihm berührt zu werden. »Still jetzt«, mahnte der Beschaffer. »Nur noch ein Gang, und dann blicken wir auf den Thronsaal.« Dort, wohin der Beschaffer zeigte, ließen sich offene Türen erkennen. Etliche Leichen hinderten sie daran, zuzufallen. Embra schnüffelte, runzelte die Stirn und schüttelte schließlich den Kopf. »Das gefällt mir nicht«, bemerkte sie noch einmal, führte die anderen dann aber dennoch weiter.
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Craer und Hawkril folgten ihr rasch, aber Sarasper warf einen Blick nach hinten – und entdeckte Glarsimber, welcher schon einen Moment früher auf diesen Einfall gekommen war. Die Edle blieb vor der letzten Tür stehen und beugte sich vor, um so vorsichtig wie möglich dahinter zu spähen. Wortlos legte Craer ihr eine Hand auf den Arm, um sie zurückzuhalten, und schob sich dann an ihr vorbei. Wie ein Schatten verschwand er in der dahinter liegenden Dunkelheit. Die anderen sahen noch, wie der Beschaffer die Decke betrachtete. Der Hüne folgte seinem Freund hinein, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Mit gezogenem Schwert näherte er sich dem Thron, hinter den bereits der Beschaffer schaute. Danach überprüfte Craer die Türen. Embra gesellte sich zu dem Hünen, bis Craer schließlich nickte und sie zu sich winkte. Im Thronsaal hielten sich Mengen von Geschmolzenen auf. Doch diese liefen nur durcheinander. Wenn einige von ihnen zusammenstießen, holten sie nicht gleich mit der Waffe aus, sondern prallten nur zurück und taumelten in eine andere Richtung weiter. Dennoch war es der Fürstentochter angenehmer, nicht von diesen Wesen berührt zu werden. Genau wie der Beschaffer wich sie ihnen ständig aus. Auf dem Weg zum Thron musste die Edle auch darauf achten, nicht auf gefallene Wächter und Höflinge zu treten. Sie hielt den Kopf hoch erhoben, um den Toten nicht ins Gesicht blicken zu müssen. Als die Edle Silberbaum endlich vor dem Flussthron stand,
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ließ sie den Blick über den großen und leeren Herrschersitz wandern. Dann atmete die Prinzessin tief ein, schüttelte sich leicht und sprach zu Hawkril: »Bitte steht hier für mich Wache.« Der Hüne nickte, zog seinen Dolch und breitete die Arme aus, damit geschmiedeter Stahl jedem Eindringling den Weg zum Thron versperrte. Als Craer fragend eine Augenbraue hochzog, meinte die Herrin: »Versucht mal, ob Ihr eines von diesen Wesen nach draußen locken könnt, ohne von ihm angegriffen zu werden. Wenn Euch das gelingt, nehmt Ihr Euch den Rest vor. Und danach versperrt Ihr die Türen.« Der Beschaffer nickte und war schon fort. Unterwegs sammelte er Sarasper, Hellbanner und Raulin ein, damit sie ihn unterstützten. Embra stieg daraufhin zum Thron hinauf, und als sie sich auch oben umgesehen hatte, erklärte sie dem Hünen: »Hawkril, wenn meine Stimme sich sehr verändert anhört oder ich Euch barsch abfertige oder Dinge von Euch verlange, welche mir sonst nie in den Sinn kommen würden, dann schlagt mich bewusstlos und bringt mich hier rasch hinaus! Aber vorher müsst Dir unbedingt Euren Stahl ablegen.« Der große Recke nickte nur kurz, ohne sich zu ihr umzudrehen. Die Edle aber biss sich auf die Lippen, umklammerte die Armlehnen und ließ sich vorsichtig auf dem Herrschersitz nieder. Der Thron fühlte sich unter ihr kalt und hart an, und sie spürte gleich wieder das vertraute Prickeln – wie stets, wenn sie mit dem Zauber der Lebenden Burg in Berührung kam
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und von ihm wiedererkannt wurde. Die ganze Zeit über ging keine Veränderung bei den Geschmolzenen vor. Die Wesen liefen weiter herum und machten keine Anstalten, die Zauberin oder ihre Gefährten anzugreifen. Auch öffnete sich keine verborgene Zauberfalle. Nichts schlug auf Embra ein, keine Dolche flogen wie von Geisterhand auf sie zu, und überhaupt tat sich nichts Ungewöhnliches. Aber das war noch lange kein Grund, in der Wachsamkeit nachzulassen. Die Edle ließ ihren Geist ausschwärmen, und der traf auf ein ganzes Spinnennetz von miteinander verknüpften Bannbahnen, welche Ingryl und Gadaster vor sich selbst und einem halben Hundert anderer Magier ausgebreitet hatten – allesamt verschlagene, verräterische und hinterhältige Burschen, welche es ihrerseits nicht anders hielten. Ja, solche Zustände kannte Embra und fühlte sich gleich wieder zu Hause. Sie war mit solchen Verknüpfungen und Machtbahnen geradezu aufgewachsen. Deswegen ließ Embra sich auch nicht von den grässlichen Bildern beeindrucken, welche zur Abschreckung unerwünschter Neugieriger dienten. Als diese Flut vorübergezogen war, fand die Edle rasch eine echte Energiebahn und bewegte sich an ihr entlang. So gelangte sie in einen Raum tief unten im Palast und fand auch dort die Verbindungen zur Lebenden Burg. Rasch durchsuchte sie diese Räumlichkeiten. Aber die erwiesen sich als weitgehend leer. Keine gelagerte Magie, keine zauberischen Fallen und bis auf ein paar Ratten
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auch keinerlei Leben. Sämtliche Wege, Bahnen und Kreuzungen in und um Treibschaum zu untersuchen würde Stunden benötigen. Aber Embra spürte längst, dass der Regent entweder außer Haus oder tot war. Denn sie spürte überhaupt nichts von ihm. Weder im Palast noch in dessen Nähe. Dummerweise besaß die Edle keinen Dwaer mehr, um damit Schwarzgults Steine zu rufen, und leider stand ihr kaum Zeit zur Verfügung, nach einem anderen Hinweis zu suchen. Was mochte hier in Treibschaum vorgefallen sein? Kein Regent im Haus, kein Haushalt und überhaupt nur Tote. Wer hatte das angerichtet? Soweit es sich feststellen ließ, hatte niemand an den magischen Anlagen herumgespielt oder sie gar beschädigt. Wenn es hier zu einem Zweikampf von Zauberern gekommen wäre, hätte man auch jetzt noch etwas davon feststellen müssen. Entweder hatte die Bannschlacht außerhalb stattgefunden, oder die Gegner waren davor zurückgeschreckt, sich der uralten Magie der Insel zu bedienen ... Oder aber sie hatten sich so gut mit ihr ausgekannt, dass sie erfolgreich alle Spuren verwischt hatten. Wo steckt mein Vater?, fragte sich die junge Frau ergriffen. Ihr Vater, den zu hassen man die junge Frau erzogen hatte, der Erbfeind aller aus dem Geschlecht der Silberbaums und der Untergang des Tyrannen, welcher sich über all die Jahre hinweg als Embras Vater ausgegeben hatte. Fürst Schwarzgult, der dunkelhaarige, auf seine Art gut aussehende und lachende Goldene Greif. Die Heimsuchung aller hochwohlgeborenen Schönen im Stromtal, welcher vol-
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ler Selbstbewusstsein und betörend anzuschauen von einem Damengemach ins nächste stieg. Embra konnte noch immer nicht so recht fassen, woran es keinen Zweifel geben konnte: Dieser Mann hatte sie gezeugt, und er war beileibe nicht das Scheusal, als welches man ihn immer bezeichnet hatte, nicht nur bei den Silberbaums, sondern auch im ganzen Stromtal. Die Herrin der Edelsteine, wie man Embra landauf, landab nannte und von der man mit Furcht und Neid in der Stimme sprach. Früher hatte sie nur gelegentlich davon gehört, dass die einen ihre Familie mit Mitleid, andere sie mit blankem Hass betrachteten. Aber seitdem hatte sie das selbst miterleben dürfen. Jedermann im Land hatte angefangen zu zittern, wenn Faerod Silberbaum in seine Richtung sah. Seine Tochter Embra hingegen betrachteten einige als seine Marionette, andere hingegen als seine schärfste Klaue. Doch heute war der Tyrann tot, und seitdem hatte sich so viel verändert. Der verdammte und verbannte Feind des Fürsten war nach Aglirta zurückgekehrt und von dem König, welchen sie und ihre Gefährten geweckt hatten, zum Regenten erhoben worden. Doch heute fand sich von eben diesem Schwarzgult keine Spur, der Thron stand verwaist da, und sie brauchte dringend Antworten auf ihre Fragen. König Kelgrael hat uns zu Hochfürsten ernannt, uns Viererbande, uns gesetzlose Abenteurer. Er bat uns, sein Reich zu beschützen. Und wie furchtbar sind wir damit gescheitert! Ezendor Schwarzgult, Vater, wo seid Ihr? Doch nur Schweigen und Leere antworteten ihr. Weit
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reichten ihre Gedanken hinaus, zu dem hellen Geist, dem Witz und dem großen Verstand dieses Mannes ... suchten nach dem Goldenen Greifen und nach dem goldäugigen Falken ... Da blitzte eine blaue Geistesflamme vor ihren Gedanken auf ... ein anderes Bewusstsein ... vier Wächter, welche mich beobachten und ihre Magie bereithalten ... und mir nicht freundlich gesinnt sind ... Die Edle schrie. Hawkril wirbelte herum. Embra hatte den Kopf in den Nacken geworfen, blauweiße Funken flogen wie Sterne aus ihren Augen, und zauberische Entladungen rasten zwischen den Lehnen des Sessels hin und her, als wollten sie die Zauberin an den Thron fesseln. Die Herrin wand sich, als wolle sie die unsichtbaren Ketten sprengen, und rings um sie herum stieg Rauch von den Treffern der Energiepfeile aus dem Stein. Hawkril erinnerte sich seines Auftrags, warf die Waffen fort und schwang sich die Freundin über die Schulter. Embra war verletzt, und er musste ihr helfen – Schon brüllte er wie wahnsinnig vor Schmerzen. Magie durchtoste ihn, drang in ihn ein und stach ihn wie tausend Messer. Gegen solche Waffen besaß er keinerlei Verteidigung. Nur noch am Rande seines Bewusstseins bekam der Hüne mit, dass ihm sämtliche Haare am Körper zu Berge standen ... dass seine Rüstung knirschte und quietschte ... dass ihm sämtliche Glieder und Knochen schlotterten ... Er fühlte sich wie ein Spinnennetz in einem Sturmwind. Doch dann unternahm die Edle irgendetwas, was sie mit unsäglicher Pein erfüllte ... und ihn von ihr fortschleuderte,
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von ihr und dem magischen Unwetter. Der Hüne landete mitten zwischen einigen Geschmolzenen auf dem Boden. Er vermochte kaum, sich wieder in die Gewalt zu bekommen, als er dort wie ein Fisch auf dem Trockenen zuckte. Embra heulte und jammerte, und Hawkril versuchte, sich zum Aufstehen zu zwingen. Aber es gelang ihm nicht einmal, den Kopf zu heben. Über ihm wackelten die Kuppeldecke, die Wände und der Marmorboden schwankten wie bei einem Erdbeben. Da tauchte Craer taumelnd vor ihm auf, ruderte mit den Armen und versuchte auch sonst alles, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und am Ende in die magischen Entladungen zu fallen. Hawkril konnte sich nicht rühren, und die Freundin befand sich außerhalb seines Gesichtskreises. »Heilige Dreifaltigkeit, helft mir!«, grollte er heiser. »Egal, wer von euch, tut irgendwas!« Sie waren vier und miteinander verwandt. Sie waren alle weiblich und folglich ... Schwestern? Embra zuckte zusammen, als das Quartett sie mit neuen magischen Speeren bewarf. Warum taten diese Frauen das? Embra war ihnen in ihrem ganzen Leben noch nie begegnet! Gewiss stammten sie nicht aus Aglirta – und wie sollte die Zauberin jemals jemanden von außerhalb des Reiches beleidigt haben? Diese Schmerzen, diese Pein! Oh, ihr Götter, diese Folter! Doch wenigstens lebte sie noch, und das hatte sie allein den uralten Zaubern von Treibschaum zu verdanken, welche
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sie durchströmten und dank des Flussthrons verstärkt wurden. Ach, Hawkril, wie muss es Euch jetzt ergehen, da Euch doch nichts davon zur Verfügung steht? Die junge Frau biss sich auf die Lippen, und in diesem Moment war es ihr gleich, wie viel von ihr noch übrig geblieben sein mochte. Wenn sie doch nur einen Schild errichten könnte. Dreimal versuchte es die Zauberin, und dreimal durchschlugen die vier Schwestern das, was sie zustande gebracht hatte. Natürlich ahnten die Vier, was die Letzte der Silberbaums da versuchte. Überhaupt ahnten die vier Frauen offenbar alles voraus, was Embra anfing, und deswegen musste sie mit ihren sämtlichen Bemühungen scheitern. Und jedes Mal, wenn das Quartett wieder einen neuen Schild von ihr zerstört hatte, konnte es sie hemmungslos beschießen ... Dieser Palast hatte schon unzählige Magierzweikämpfe gesehen, kannte sich bestens aus mit zauberischen Stürmen, explodierenden Kugeln und blitzenden Bannspeeren. Da machte es ihm auch nicht viel aus, einen weiteren über sich ergehen zu lassen. Denn er überstand nahezu alles ... und das war die Lösung. Embra war mit dem Palast verbunden, und er konnte daher ihren Schild abgeben ... Dazu musste die Edle sich nur hinab in die Verbindungsbahnen der Lebenden Burg versenken, sich in den Steinumhang hüllen und sich in die Kühle, Tiefe und Dunkelheit fallen lassen ... Ja, sie hatten ihrem Körper übel mitgespielt und ihn mit ihren Angriffen zerschunden. Aber nach einer Weile blieb
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von der Pein nur ein dumpfes Pochen übrig, und sie sah sich wieder in der Lage nachzudenken. Die Prinzessin vermochte wieder Banne zu bewirken, ihren Geist auszusenden und Zauberisches zu empfangen ... Oh, wie wild und ungestüm die Schwestern angriffen. Sie waren noch jung, alle vier, und tatsächlich Schwestern. Und in der Tat hatten sie die Herrin der Edelsteine noch nie gesehen ... Doch ein bestimmter Name tauchte in ihren Beschwörungsformeln immer wieder auf. Embra runzelte die Stirn und spitzte die Ohren. Das fiel ihr gar nicht so leicht, denn wie sollte man still sitzen bleiben, wenn rings um einen Energieblitze einschlugen? Wirklich nicht einfach, nichts anderes tun zu können, als sich nicht vom Fleck zu rühren, es über sich ergehen zu lassen, wenn die nächsten Angriffe einen zwickten und zwackten, und darauf zu warten, bis diese Energien kurz darauf abgewehrt waren ... Moment, da war er wieder ... Tala – Talasorn! Ja, den Namen hatte sie schon einmal gehört. In Sirlptar hatte einmal ein Mann dieses Namens gelebt und sich unter Magiern eines guten Rufs erfreut. Sollten dies etwa seine Töchter sein? Aber wenn das tatsächlich zutraf – und auch, wenn das nicht zutraf –, warum fielen sie dann mit solcher Wut über Embra her? Oder gehörten die Vier zu der nicht seltenen Art von Hexen, welche jeden umzubringen trachteten, welcher ihnen während ihrer Zaubereien in die Quere kam?
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»Bei der Lieben Frau, was ist denn das?«, keuchte Fürst Tarlagar, als ein Mann mit grauer Haut und einem verformten Gesicht aus einem Bogengang kam – das Gesicht des Fremden sah aus, als bestünde es aus Kerzenwachs, sei der Flamme zu nahe gekommen und geschmolzen ... Der Graue trat steifbeinig und ungelenk die Treppe herunter und wäre zweimal beinahe hingefallen. Doch er kam schließlich heil unten an und taumelte weiter, vorbei an den Rittern und den drei Fürsten, anscheinend ohne sie zu sehen. »Bei der Dreiheit!«, schnaufte Loushoond, »die Geschmolzenen sind wieder unterwegs.« Ornentar nickte grimmig. »Das heißt, der Zauberer erwartet uns schon. Wir wollen auf der Hut sein und uns vorsichtig bewegen. Wenn wir den Thronsaal stürmten, würden wir geradewegs in den Tod laufen!« Tarlagar konnte dem nur zustimmen: »Lieber lebendig und Graf, als tot und mit einer Königskrone auf dem Haupt.« Loushoond verdrehte die Augen: »Bitte, mir steht jetzt nicht der Sinn nach platten Bardenversen. Gehen wir lieber folgendermaßen vor: Wir erkunden den Palast Raum für Raum und heben uns den Thronsaal bis ganz zum Schluss auf. Und wir beten darum, dass uns dort nur ein abgekämpfter, nicht besonders mächtiger Magier erwartet.« »Genau, kein weiterer von Silberbaums Bannmeistern!«, fand auch Tarlagar. »Dann sind wir uns also einig«, sprach Ornentar und deutete mit der Schwertspitze auf einen Gartenweg, den er kannte. »Dort entlang – und immer hübsch zusammenbleiben, nicht wahr?« Der Gartenweg führte zur Greifenwachentür, einem Sei-
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teneingang, welcher zu Zeiten des Faerod Silberbaum viel Ungemach über sich hatte ergehen lassen müssen – weil das hier abgebildete Fabelwesen viel zu sehr dem Wappentier seines Erzfeindes glich. Loushoond und Tarlagar schlossen sich Ornentar an. Denn trotz ihrer Gier, den Thron zu erlangen, wussten sie doch, dass manchmal Vorsicht die Mutter der Porzellankiste war. Als unten im Hafen blaue Flammen in den Himmel schossen, warteten die Ritter nicht lange auf Befehle, sondern liefen in alle Richtungen auseinander und suchten sich eine Deckung. Auch die drei Fürsten hielten sich nicht damit auf, über eine neue Taktik zu debattieren. Sie nahmen ebenfalls die Beine in die Hand. »Embra!«, keuchte Sarasper, während er sich durch das Labyrinth aus vorwärts schlurfenden Geschmolzenen schlängelte. Ein grimmiger Glarsimber und ein verängstigter Raulin folgten ihm auf dem Fuße. »Habt Ihr Euch etwas getan? Bedürft Ihr meiner Hilfe?« Craer drehte sich jetzt zu der ganzen Gruppe um. Seine bleiche Miene zuckte, und mit einem Mal schoss blaues Feuer aus seinen Augen. Im nächsten Moment erging es den Gesichtern der Geschmolzenen genauso. Sie hörten auf, ohne Sinn und Ziel dahinzutaumeln, drehten sich alle in die gleiche Richtung und starrten die Südwand der Thronkammer an. Sarasper schaute ebenfalls dorthin, konnte aber bis auf die Wand nichts ausmachen. Was sollte denn an der schon Besonderes sein?
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Aber da drang ein Geräusch an seine Ohren. Etwas, das rauschte oder toste, noch weit entfernt, aber rasch näher kommend. Mehr als eins, aber alle von der gleichen Art. Drei oder vier Quellen dieser Geräusche ... so ähnlich wie vom Wind angefachtes Feuer, welches durch trockene Bäume fährt ... Blaues Feuer flackerte hinter den Türen an der Südseite des Thronsaals! Die dortigen Türen flogen mit lautem Knall auf und krachten gegen die Wand – wo doch normalerweise drei Männer benötigt wurden, um eine von ihnen ganz aufzuschieben ... Blaues Feuer raste aus den dahinter liegenden Gängen heran und schoss auf den Saal zu. Magische Stürme, blau leuchtende Entladungen, und als handele es sich dabei um feurige Rösser, ritten vier ähnlich aussehende Frauen auf den Energiewogen. Dunkel gewandete, schrecklich anzusehende Frauen, welche offensichtlich miteinander verwandt waren. Wie Hexen auf ihrem Besen ritten sie in den Thronsaal ein, ließen rasch den ungnädigen Blick durch den Raum wandern und erkannten darum gleich das Wesentliche. Den Thron. Denn dort wand sich eine schluchzende Frau vergeblich in den Fesseln aus blauen Blitzen. Eine der Talasorn-Schwestern lächelte gehässig, und dann ritten alle vier aus Wolken aus wütend zischendem blauen Feuer auf den Flussthron zu und hoben die Hand zum tödlichen Schlag.
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Wenn man auf den König spuckt C Bleiches Feuer ergoss sich in die Finsternis. Der Bannmeister keuchte vor Erleichterung, als die Schmerzen endlich nachließen und ihn umso schneller verließen, je heller der Schein brannte. Ahhh, wie gut das tat ... Ingryl Ambelter lag in dem offenen Sarg auf dem grinsenden Gerippe von Gadaster Mulkyn. Dort war es nicht sonderlich bequem, aber dennoch grunzte der Magier leise, als die Erstarrung, welche ihn so lange gelähmt hatte, ebenfalls von ihm abfiel und seine Gliedmaßen ihm wieder gehorchten – auch wenn sie dafür jetzt schmerzhaft von den spitzen Knochen gepiekst wurden. Was für ein Narr war er doch gewesen, sich auf einen Zaubererzweikampf mit jemandem einzulassen, der über zwei Dwaerindim verfügte. Bei der Dreifaltigkeit, über welche Macht doch zwei solcher Weltensteine verfügten! Auch Schwarzgult selbst hatte sich als Überraschung erwiesen. Natürlich sah man ihm auf den ersten Blick an, welch
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verschlagenen, listigen Geistes Kind er war. Auch seine vielen Ränke und Bettgeschichten verrieten einen ebenso kühnen wie gewitzten Mann, den höchstens ein schwach entwickeltes schlechtes Gewissen plagte. Aber dass Schwarzgult sich auch auf die Magie verstand! Nicht nur einen messerscharfen Verstand nannte der Regent sein Eigen – wie sonst hätte es ihm gelingen können, gleich zwei Dwaerindim in seinen Besitz zu bringen? Vermutlich wäre es klüger, sich so bald nicht wieder mit ihm auf einen Zweikampf der Banne einzulassen ... Das Glühen um ihn herum ließ nun deutlich nach, und seine Schmerzen waren fast vollständig vergangen. Aber der alte Gadaster verlor rascher an Kräften als er selbst. Am besten stieg Ambelter gleich aus dem Sarg, ehe die Gebeine seines alten Lehrmeisters noch vollkommen zu Staub zerfielen. Doch da hellte sich das Licht wieder auf, und die festen Wände schlugen Wellen ... Bei allem, was recht war, wer beherrschte denn solchen Zauber? Der ganze Palast schien in Aufruhr geraten zu sein. Ambelter spürte, wie magische Energie durch uralte Kanäle strömte. Irgendwo polterten Steine herab, und Staub wirbelte vor ihm auf. Bei allen Göttern, so etwas Ähnliches war doch auch damals geschehen, als er zum letzten Mal hierher gekrochen war ... In fliegender Hast krabbelte Ingryl aus dem Sarg und schwankte hin und her, als er wieder auf eigenen Füßen stand. Seine Beine wollten noch nicht so recht ... Große Mengen Magie waren im Spiel ... über ihm im Pa-
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last prallten sie in einer gewaltigen Auseinandersetzung aufeinander. Ambelter wusste, dass er hier hinausgelangen musste! Jeden Moment konnte die Ecke herunterkommen! Oder irgendein Zauber wurde durch die Erschütterungen zum Leben erweckt und verschoss Feuerlanzen und Energieblitze! Während er sich vorankämpfte, kam er sich vor, als würde er gegen einen Sturmwind ankämpfen. Wie ein Schwimmer gegen die Strömung rang er gegen die Luft, welche so dick wie Wasser geworden zu sein schien. Und die ganze Zeit über prickelte es auf seiner Haut, und zusammengenommen waren das deutliche Hinweise auf die Zauberschlacht, welche im Haus tobte. »Schlange und Drachen!«, fluchte der Bannmeister – hörbarer Ausdruck seiner Angst – und griff am Rande der Panik in die Regale mit den Schriftrollen, den kleinen Truhen voller Ringe, Talismane und Zauberperlen. Davon stopfte er sich so viel in die Taschen, wie er nur greifen konnte. Etwas fiel ihm aus der Hand, als Ingryl den Zauberspruch herunterrasselte, welcher ihn von hier fortbringen sollte. Aber sein oberstes Gebot hieß Flucht, und deswegen konnte der Erzmagier nicht nach dem verlorenen Gegenstand suchen. Endlich war der Bann gesprochen. Ambelter atmete tief durch, während immer neue Steine herunterkrachten, und verschwand von Treibschaum. Vier Flammenwolken erschienen unter der hohen Decke des Thronsaals und blieben wie Galerien dort hängen. Auf jeder stand eine Hexe, aus deren Händen blaue Flammen schlugen. Sarasper fluchte leise vor sich hin, weil er genau wusste,
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wie machtlos er gegen diese vier war. Embra, welche auf dem Flussthron saß, wand sich unter den Einschlägen der Blitze und konnte sich immer noch nicht von der Stelle bewegen. Die vier Zauberinnen blickten mit kaltem Lächeln auf sie nieder. »Sollen wir sie töten?«, rief Ariathe in die Runde und sah Olone an. Craers Dolche rasten schon durch die Luft den Talasorn-Schwestern entgegen. Doch die Hexen ließen sich davon nicht im Mindesten beeindrucken. Einer nach dem anderen lösten sich die Dolche im blauen Feuer auf. Nur ein kurzer Funkenregen blieb noch von ihnen übrig. Olone zuckte die Achseln. »Wenn sie tot ist, ist sie eben tot. Denkt lieber an den Thron, Schwestern! Wenn wir den zerstören können, geht gewiss auch der Schlafende König unter. Und dann ist es aus mit der königlichen Familie von Aglirta! Im Namen unseres Vaters, lasst nichts von ihm übrig!« »Raevur Talasorn!«, kreischten die drei anderen zur Antwort und holten mit ihren Kugeln aus blauem Feuer aus. Hawkril kam eben wieder hoch, aber mit leeren Händen, und stand schwankend da. Er hatte mitbekommen, dass diese vier Frauen das Reich vernichten wollten, aber wie greift man jemanden an, welcher hoch über einem in der Luft steht? Mit einem Schwert! Der Hüne brauchte seine Waffen zurück. Er – bei den Göttern! Entweder besaßen die Talasorn-Schwestern wenig Übung darin, Messer zu werfen, oder sie hatten sich viel zu sehr in
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ihre Wut hineingesteigert, um noch ordentlich zielen zu können. Ein wirbelnder Flammenball verfehlte ihn um ein ganzes Stück, aber er nutzte die Gelegenheit, sich zur Seite zu werfen. Dabei riss Hawkril zwei Geschmolzene um, kam hart auf dem Marmorboden auf und schlidderte noch ein ganzes Stück weiter. Die nächsten Flammenblitze schlugen noch weiter von ihm entfernt in den Boden ein und verspritzten glühende Bänder. Darunter fingen einige Geschmolzene Feuer und taumelten hilflos kreuz und quer durch den Saal. Während der Hüne sich weiter abrollte und jedes Mal aufstöhnte, wenn er dabei eine seiner neu erworbenen Schrammen belastete, sah er, wie Craer einen Dolch fand, aufnahm und auf die nächstbeste Hexe warf. Diese drehte sich zu ihm um, blaues Feuer schoss aus ihren Augen, und der Beschaffer grunzte, als unsichtbare Magie ihn hochriss und durch den Raum warf. Mit zuckenden Armen und Beinen prallte der kleine Mann an die nächste Wand. »Craer!«, brüllte Hawkril, erhielt aber von seinem Freund keine Antwort. Aglirta noch mal! Was sollte er denn jetzt tun? Gegen Zauberkräfte halfen nur Zauberkräfte, und – Embra! Er musste das edle Fräulein irgendwie vom Thron herunterschaffen! Schon rappelte der Hüne sich wieder auf, kümmerte sich nicht um die prasselnden blauen Feuerlanzen und rannte zurück zum Herrschersitz. Wo immer ein Flammengeschoss der Hexen den Boden traf, brannte der Marmor wie Feuerholz. Offensichtlich war es diesen verrückten Zauberinnen vor
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allem um den Thron zu tun. Wenn das verdammte Ding nur nicht so klobig und schwer gewesen wäre! Hawkril bezweifelte, dass er den Sitz gehoben bekäme, ganz zu schweigen davon, ihn gegen die Eindringlinge zu werfen. Der Hüne befahl sich, damit aufzuhören, sich den Kopf zu zerbrechen über den Thron und was er damit anfangen könne. Denn das kostete ihn nur unnütz Zeit. Erst einmal musste er ihn erreichen, dann konnte er immer noch weitersehen. Von der anderen Seite liefen Sarasper, Glarsimber und der Jüngling zwischen den Geschmolzenen umher und wichen immer wieder einschlagenden Geschossen aus. Doch auch ihr Ziel schienen der Thron und die sich darauf windende Zauberin zu sein. Die Hexen-Schwestern bedienten sich nun einer neuen Waffe. Sie verschossen nämlich dünne silberne und rubinrote Strahlen auf das Podium und den Sitz selbst. Dieser Bann zeigte aber offensichtlich am von Magie durchtränkten Herrscherthron wenig Wirkung. Nur wenn ein solcher Strahl ein wenig abkam und Embra traf, schrie die so gellend, dass der Hüne befürchtete, seine Trommelfelle würden der Belastung nicht mehr standhalten. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, saß kerzengerade da und hieb mit gekrümmten Fingern in die Luft, als wolle sie diese zerfetzen. »Ihr Götter, steht der Edlen bei!«, schrie Hawkril, und die Furcht um seine Gefährtin überstieg die Wut über das, was die Hexen ihr antaten. »Ich komme, Embra! Haltet aus, ich bin gleich da!« Unbewaffnet, aber in seiner Rüstung sprang der Hüne durch die silbernen und roten Strahlen. Wenn sie ihn trafen,
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wurde es ihm für einen Moment so heiß, als sei er mit Eis in Berührung gekommen. Dazu stank es wie nach verbrannten Gewürzen. Aber insgesamt schienen die Zauberstrahlen mehr seiner Rüstung als seinem Körper etwas anhaben zu können. Noch jemand schimpfte vor sich hin, ein Stück weit über dem Geschehen. »Was für eine Energiemacht!«, schrie Dacele Talasorn mit zitternden Händen. »Schwestern, seid ihr euch auch ganz sicher?« »Beschießt ihn mit Sarandors Suchern!«, schrie Olone zur Antwort. »Wankt nicht, und haltet nicht inne! Dies ist der einzige Weg!« »Der Schlafende König muss untergehen!«, rief jetzt auch Ariathe und fletschte die zusammengebissenen Zähne. Zauberfunken sprühten aus ihren Augen. »Und mit ihm wird Aglirta untergehen! Deswegen schießt, Schwestern, erlahmt nicht in euren Bemühungen!« Hawkril war immer noch ein paar Schritte vom Thron und Embras flehendem Blick entfernt, als es über seiner rechten Schulter unvermittelt kupferfarben zu leuchten begann. Die Farbe veränderte sich zu einem satten smaragdf arbenen Leuchten und wurde schließlich strahlend grün. »Zurück!«, schrie Sarasper von irgendwo. »Hawkril, Ihr müsst davon fort!« Der Hüne konnte nicht mehr anhalten, selbst wenn er es gewollt hätte, und da sich das Fräulein, welches er liebte, so sehr in Nöten befand, lag ihm auch nichts ferner. Bei den Göttern, was würde er für ein Flusstal ohne Zauberei geben! Wenn die Dreifaltigkeit ihm schon diesen Wunsch nicht erfüllen wollte, dann vielleicht seinen zweiten,
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nämlich ausreichend Zauberenergie in die Hände zu bekommen, um diese dreimal verwünschten Hexen mitsamt ihrer Brut in den Himmel und weit, weit fortzuschleudern! Aber stattdessen taumelte er wie geblendet weiter, während rings um ihn herum kupfer- und smaragdfarbene Strahlen auf den Thron einstachen. Gerade als der Hüne die Hände nach der Edlen ausstreckte, um sie vom Sitz zu reißen, fuhren die Energieblitze wieder nieder. Der Flussthron leuchtete grell auf, als die vielen Geschosse ihn trafen, und nahm plötzlich einen kupferfarbenen Schimmer an. Embra saß mittendrin, schwebte eine Handbreit über dem Sitz, und ihr standen nicht nur die Haare, sondern auch die Finger in alle Richtungen ab, so dass man hätte glauben können, sie sei von Pfeilen gespickt. Smaragdgrüne Blitze schlugen warnend nach Hawkril aus, als dieser sich weiterhin dem Herrschersitz näherte. Dann ertönte ein Kreischen wie von einer Glocke, welche mitten im Schlagen zerbirst – Und dann breitete sich vor dem Hünen nur noch weiße Leere aus. Eine Marmorplatte unter seinen Füßen richtete sich auf, und er kippte vornüber. Hawkril fiel und fiel, und ein sonderbares, unmelodisches Singen entstand in seinen Ohren. Er war nicht allein in dieses Loch gestürzt, denn andere Dinge fielen mit ihm. Der Hüne konnte sie eher spüren als sehen ... Aber dann klatschte ihm etwas ins Gesicht und gegen die Brust. Der Hüne drehte sich um die eigene Achse und suchte
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vergeblich nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Doch da war nichts ... überhaupt nichts ... Raulin Burgmäntel ächzte und keuchte. Er klammerte sich so fest an Hellbanners Arm, dass dieser erschrocken aufschrie. Aber diese Laute gingen vollkommen im donnernden Getöse des explodierenden Flussthrons unter. Magische Energie zerplatzte in Strahlen, Spritzern und Lichtkränzen von einer solchen Helligkeit, dass man den Blick abwenden musste. Embra Silberbaum flog mit einem Mal kreischend durch den Saal und trug Hawkril mit sich. Sie mähten durch die Geschmolzenen, welche sich von einem Moment auf den anderen samt und sonders entzündeten. Wie ein Flammenwald wandelten sie weiter durch den Raum. Und mit ihrem Marsch löste sich die Decke und stürzte krachend ein. Sarasper Kodelmer erkannte als Erster die Sprünge und Risse, welche sich rasch ausdehnten. Sah, wie sich Deckensteine nicht mehr halten konnten. Und sagte sich, dass es im Moment wohl am sichersten wäre, sich unter eine der Wolken zu begeben, auf welchen die vier Hexenschwestern standen und vor Begeisterung feixten und tanzten. Der Heiler konnte nur darum beten, dass Raulin und Glarsimber auf die gleiche Idee gekommen waren. Der Boden erbebte unter dem Donnern vieler Hufe, und mehrere Männer fielen aus dem Sattel. Fürst Blutklinge von Aglirta umklammerte seine Zügel, während die Ritter um ihn herum vor Schrecken und Überraschung schrien. Das Grollen und Rumpeln nahm an Eindringlichkeit zu,
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und die Blätter an den Bäumen zischten darunter. Alle ahnten, woher das Getöse kommen musste. Es pflanzte sich bis zu den Bergen fort und wurde von dort zurückgeworfen, bis ganz Aglirta von dem Beben erfasst zu sein schien. Der Lärm stammte von der Insel Treibschaum. »Der König ist wieder erwacht!«, riefen die Männer einander furchtsam zu und »Der König kehrt zurück!« Diese Schreckensrufe breiteten sich nach allen Seiten aus. Mit einem ärgerlichen Knurren richtete sich Sendrith Duthjack im Sattel auf, setzte sein Hörn an die Lippen und blies hinein, was das Zeug hielt. Seine Töne überwanden das Geschrei der Ritter und sogar das Rumpeln vom Palast. »Weiterreiten!«, brüllte der Kriegsfürst danach. Der Verhüllte an seiner Seite bewegte unmerklich die Finger, und die Worte von Blutklinge verstärkten sich laut wie Trompetenschall. »Wenn wirklich der König wieder aufgetaucht und auch noch so unverfroren sein sollte, sich uns entgegenzustellen, so wird er von unseren Waffen zermalmt werden! Dann können wir das Reich endlich von allem reinigen. Reitet weiter, Männer! Reitet nach Treibschaum und zum Sieg!« »Nach Treibschaum, zum Sieg!«, antworteten ihm viele tausend Stimmen, und das Donnern der Hufe übertönte bald wieder das Grollen von der Insel. Gerade und gebogene behauene Steine krachten in rascher Folge auf dem Boden auf, zerplatzten dort und schickten Schauer von Splittern durch die Luft. Darunter auch solche aus Marmor, denn die Bodenplatten hielten solchem Beschuss nicht stand.
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Größere Brocken rollten noch ein ganzes Stück über den Boden und zogen Staubfahnen hinter sich her. Überall sah man zerschmetterte oder platt gehauene Geschmolzene. Sarasper kroch hustend unter einem Schauer von blauen Flammen hervor und kämpfte sich durch den Staub. Husten und Würgen von oben verrieten ihm, dass die vier Hexen fürs Erste mit sich selbst beschäftigt waren und so bald niemandem mehr mit ihrer Zauberei behelligen würden. Somit blieb ihm etwas Zeit, nach dem Jüngling und dem Fürsten zu suchen, sofern diese noch lebten. Doch schon einen Moment später hielt er erschrocken inne, weil eine Schwertspitze vor seiner Brust auftauchte. Glarsimber senkte die Waffe gleich wieder und murmelte eine Entschuldigung. »Wo stecken Hawkril und die Herrin?«, wollte der Jüngling wissen, der gleich neben Hellbanner auftauchte. Sarasper zuckte die Achseln und deutete auf die Staubvorhänge. Irgendwo dorthin waren die beiden eben noch geflogen, vermutlich bis ans andere Ende des Saals. Mit etwas Glück hatten sie es gerade noch bis dorthin geschafft, ehe die Decke heruntergekommen war. Der Heiler richtete den Blick auf die Galerie, welche ringsherum an den Wänden des Thronsaals entlanglief. Jetzt war dort ebenfalls nur wirbelnder Staub zu erkennen. Die blauen Flammen hatten mittlerweile den Boden erreicht und erloschen rund um die Fußknöchel der vier großen Zauberinnen in den dunklen Gewändern. Die Damen wirkten schlank, vornehm, leicht verdrossen über den allgegenwärtigen Staub und darüber hinaus über alle Maßen erzürnt.
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Wenn sie nicht innerlich gekocht und sich bis vor kurzem als so überaus gefährlich erwiesen hätten, hätte man sie vielleicht gern haben können. Selbst unter dem Staubvorhang wirkten sie betörend schön. Wie so viele der Gefahren, welche die Dreifaltigkeit den Sterblichen schickte, sie zu quälen oder zu bestrafen. Verlockend schöne, aber tödliche Gefahren. Der Heiler winkte Raulin und dem Fürsten zu, sich hinter einen Geröllhaufen zu hocken. Er selbst kniete sich hinter ein paar Steine und hielt sich gegen den Staub eine Hand vor die Nase. Einmal fiel der Blick einer der Talasorn-Schwestern auf ihn, hielt sich aber nicht lange bei ihm auf. Wie die drei anderen schaute auch sie immer wieder zum Thron hin. Weil die Schwestern danach immer wieder einander ansahen, vermutete Sarasper bald, dass sie sich auf diese Weise miteinander austauschten. Ein Leuchten entstand jetzt auf dem Herrschersitz, von einem unheimlichen Blau, dunkler noch als die Flammen der Talasorn-Schwestern. Je kräftiger das Feuer wurde, desto heller und leuchtender entwickelte sich seine Färbung. Dabei war von dem Thron nicht viel übrig geblieben, lediglich drei Stücke aus der Rückenlehne, welche anklagend wie Finger in den Raum zeigten. Nur das Leuchten gewann von Moment zu Moment an Kraft. Ariathe hob eine Hand, um diese Erscheinung mit einem Bann zu bekämpfen, aber Olone hielt sie zurück. »Nicht! Noch nicht! Lasst uns erst abwarten, was sich dort weiter tut!« »Mir steht es wirklich bis hier«, schnaubte Ariathe und
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hielt sich die ausgestreckte Hand ans Kinn, »immer abwarten zu müssen, was sich irgendwo tut.« Sie senkte die Hand nicht, aber dort zeigte sich auch kein blaues Feuer. Das ehedem dunkelblaue Leuchten an den Throntrümmern war mittlerweile grellweiß geworden, und die vier Hexen starrten nur noch darauf, ohne sich um das zu kümmern, was sich sonst noch im Saal tat. Sarasper hielt den Moment für günstig, sich zu erheben, sein Versteck zu verlassen und den Jüngling und Hellbanner aufzusuchen. Leise wies er die beiden noch einmal darauf hin, in welche Richtung Hawkril und die Herrin geschleudert worden waren. Nach einem Moment setzten sich alle drei dorthin in Bewegung. Sie achteten sehr darauf, nicht auf die Reste der zerquetschten Geschmolzenen zu achten. Auch die Steinhaufen machten ihnen das Vorankommen nicht leichter. Und immer wieder warfen sie vorsichtige Blicke zurück. In dem Leuchten über den Throntrümmern zeigten sich jetzt so etwas wie Sterne. Olone bewegte sich vorsichtig darauf zu, erst einen Schritt und dann noch einen. Zögernd folgten ihre Schwestern. Und immer noch nahm die Helligkeit zu. Doch unvermittelt bewegten sich die kleinen Leuchtpünktchen darin aufeinander zu und verschmolzen zu einer Gestalt ... Nach einem weiteren Moment zeigte sich dort König Kelgrael Schneestern – mit gezogenem Schwert. Rings um ihn verging das Leuchten, i;nd Seine Majestät blickte traurig auf die Zerstörungen in seinem Thronsaal. Kopfschüttelnd betrachtete er dann die vier Hexen.
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Das löste bei Ariathe ein ärgerliches Knurren aus, und im nächsten Moment begann sie mit einer Beschwörungsformel. Zwischen ihren erhobenen Fingern entstand ein rubinroter Strahl, welcher dem König entgegenschoss, um ihn zu vernichten. Kelgrael drehte sich nur ein wenig zu ihr um. Mehr brauchte er nicht zu tun. Der rote Strahl raste heran, wurde aber vom Schwert abgelenkt und aufgesaugt. Der Stahl leuchtete kurz und von innen auf, dann wurde die Zauberenergie auf die Erzeugerin zurückgeworfen. »Sterbt, Mörder!«, kreischte die Hexe, und ihre schrillen Worte hallten sonderbar von den Resten der eingestürzten Decke wider. Noch war ihr Echo nicht verklungen, als der rote Strahl sie traf, vollständig einhüllte und nicht mehr als ein Häufchen Asche von ihr übrig ließ. Das alles war so rasch vonstatten gegangen, dass die Zuschauer es noch gar nicht erfassen konnten. »Nein!«, schrie Dacele wie am Spieß. Dann wirbelte sie zu Olone herum und starrte sie herausfordernd an. »Steht mir bei, Schwester! Gemeinsam werden wir es schaffen – mit Dornenpfeilen!« »Jawohl!«, zischte die andere, und beide Schwestern bewirkten gemeinsam den Bann. Die vierte im Bunde – Raulin erkannte in ihr die Zauberin, welche ihm den Heiltrank zugesteckt hatte – stand etwas abseits von den anderen. Sie hatte zwar ebenfalls die Hände erhoben, bewegte die Finger aber nicht. Als der Hexe klar wurde, was ihre Schwestern beabsichtigten, trat sie einen Schritt zurück, schaute unsicher drein und schüttelte leise das Haupt.
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Sarasper und Hellbanner sahen sich grimmig an. Gegen solche Zauber vermochten sie nichts mehr zu bewirken. Selbst wenn sie jetzt etwas auf die Hexen werfen und sie auch noch so treffen würden, dass die Frauen die Besinnung verloren, wäre es zu spät; denn der Bann war bereits gesprochen. Olone war eine erfahrene Zauberwirkerin. Sie zapfte ihre Energie an und hielt sie bereit, bis Dacele mit ihrem Dornenpfeil so weit war. Dann nickten die Schwestern einander zu, stellten sich ein Stück weit auseinander und schleuderten gleichzeitig ihren Bann auf den König. Die Geschosse näherten sich ihm von zwei Seiten. Kelgrael hob wiederum nur sein Schwert, hielt es vor sich und schüttelte leise den Kopf. Lange, dünne und rotbraune Energienadeln – jede zwei Fuß lang – rasten auf den Stahl zu, drangen in ihn ein, tauchten auf der anderen Seite wieder auf, wendeten trotz ihrer Länge und mehrerer Zusammenstöße und schnellten zurück – auf die beiden Hexen zu. Diesmal fiel das Ende der Angreiferinnen blutiger aus. Raulin würgte, nachdem sein Blick auf Olone gefallen war, welche von einem Dutzend oder mehr Geschossen durchbohrt war. Eines ragte sogar aus ihrem Auge. Der Jüngling drehte rasch den Kopf zur Seite, und als er wieder hinschaute, waren die Pfeile in Flammen aufgegangen. Das Feuer loderte kurz und hoch auf, und die beiden Frauen zerfielen, bis von ihnen wiederum nur ein Häuflein Asche übrig blieb. Danach kam nur noch von Kelgraels Schwert Licht. Er hielt es wie eine Laterne hoch. In dem Schimmer erkannten
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Sarasper, Raulin und Hellbanner, dass er sie mit der anderen Hand grüßte. Aber dann bedeutete er den dreien, unbedingt zurückzubleiben und ihm nicht in die Quere zu kommen. Dreimal wiederholte der König die Warnung. Dann schritt er durch die Trümmer zu der letzten Hexe, welche vor ihren toten Schwestern auf die Knie gefallen war und sie beweinte. Die Hexe hob den Kopf, als das Schwert sich zu ihr herabsenkte und die Spitze ihren Hals berührte. Trotz der Ermahnungen Kelgraels trat Sarasper ein paar Schritte näher, um besser sehen zu können. Die letzte Talasorn-Schwester sah den König entschlossen an, ohne Furcht, aber voller Wut. »Wer seid Ihr?«, verlangte Seine Majestät zu erfahren, »und warum habt Ihr und Eure Gefährtinnen so viel Verwüstung angerichtet?« Er zeigte in den Thronsaal mit seinen vielen Trümmern. »Ich heiße Tschamarra Talasorn«, entgegnete sie zornbebend, »und wir vier Frauen, die wir Schwestern sind, haben uns auf den Weg gemacht, Euch umzubringen, König von Aglirta! Unser Vater musste Euretwegen sterben, und wenn ich statt Eurer das Schwert in Händen hielte, würde ich keinen Moment zögern, Euch damit zu durchbohren! Deswegen tötet mich besser hier und jetzt, König Schneestern! Denn ich habe geschworen, Euer Untergang zu sein. Beim Blute meiner Schwestern und meines Vater lege ich den Eid ab, Euch unnachgiebig zu verfolgen, bis einer von uns vom Leben in den Tod übergegangen ist!« Die Schwertspitze bewegte sich leicht und kalt wie ein
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Eisfinger über ihren Hals. »Ich bin all der Tode so müde«, entgegnete der Mann über ihr erschöpft. Seine Augen wirkten so alt wie die meerumspülten Berge der Inseln. »Doch was Aglirta bis jetzt an Toten sehen musste, ist nichts im Vergleich zu dem, was ihm noch bevorsteht.« Tschamarra starrte ihn herausfordernd an. »Wie könnte das möglich sein? Ihr habt wohl vergessen, welchen Blutzoll die vergangenen drei Jahre von uns verlangt haben. Ritter, Soldaten und Bauersleute starben ohne Zahl! Raevur Talasorn, mein Vater, ist tot! Desgleichen Fürst Eskulph Adeln, welchem mein Vater diente. Ebenso die Fürsten Kardassa und Eldagh Ornentar. Letzterer war Vorgänger des Trottels, welcher sich heute auf seiner Burg breit gemacht hat. Außerdem tot sind der Vater des heutigen Fürsten Loushoond, die Zauberer Korloun und Darlassitur! Ebenso Faerod Silberbaum und seine Dunklen Drei! Ebenso Ilisker Baerund, der Tersept von Tarlagar. Gar nicht erst zu reden von all den anderen Tersepten. Und nicht zu vergessen die Erzmagier Tharlorn von den Donnern und Bodemmon Sarr. Mögen die Götter Euch bespucken! Seid Ihr denn blind, König von Aglirta? Oder bedeuten Euch so viele Tode nichts?« »Sie verfolgen mich am Tag und in der Nacht, Tochter des Raevur«, erwiderte Kelgrael. »Aber ihre Anzahl ließe sich von einem fahrenden Sänger während eines Mittagsmahls vortragen. Ihr aber, ihr mörderischen Schwestern, habt noch viele mehr in den Untergang getrieben!« Die letzte Hexe lachte zu schrill und fragte ungläubig: »Wir? Wem hätten wir denn etwas zu Leide getan?«
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Der König schüttelte vor so viel Widerspenstigkeit den Kopf. Dann blickten seine alten Augen sie traurig an, und darunter verstummte die Tochter Raevurs. »Ihr vier habt mich erweckt«, erklärte Seine Majestät, »und indem ihr den Thron zerstörtet, habt ihr auch das einzige Mittel vernichtet, mich rasch wieder in den Schlummer zu versetzen.« Kelgrael deutete auf die drei Trümmerstücke von der Rückenlehne, denn mehr war ja nicht übrig geblieben. Dann wandte er sich wieder an die Hexe und erklärte ihr wie einem trotzigen Kind: »Tschamarra, Ihr seid von uns beiden die Hexe. Deswegen erklärt Ihr uns doch, was es zu bedeuten hat, wenn ich nicht mehr schlafen kann.« Die Frau hob den Kopf. Alle Mordlust war aus ihren Augen entschwunden, und stattdessen starrte sie ihn in tiefster Verwirrung an. Mehrere Male setzte Tschamarra zum Sprechen an, doch dann musste sie leise eingestehen: »Das weiß ich nicht, Herr. Sagt mir es doch, bitte.« Der König nickte, weil er wenigstens einen Teilerfolg errungen hatte, und fuhr gnädiger gestimmt fort: »Es bedeutet, dass sich nach langer, langer Zeit auch die Schlange wieder rührt. Sie ist gleich mir erwacht – und mir steht überhaupt keine Waffe zur Verfügung, den uralten Feind Aglirtas wieder zurückzutreiben. Die Magier des Reiches sind weit davon entfernt, mit mir zusammenzuarbeiten, um die Schlange zu vernichten, und noch nicht einmal alle Dwaerindim sind gefunden worden, um sie gegen den Erzfeind einzusetzen!« »Und was geschieht jetzt?«, fragte die Hexe kleinlaut. »Mir bleibt nur noch eines zu tun übrig«, antwortete der König und legte den Kopf in den Nacken, um tief durchzu-
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atmen, »nämlich die Verbindung zwischen mir und der Schlange dazu zu benutzen, Aglirta noch ein wenig Zeit zu verschaffen.« Kelgrael sah jetzt die anderen an. »Hochfürsten, vernehmt meinen königlichen Befehl: Begebt euch auf dem schnellsten Wege zur Schlange. Nehmt alle mit, welche ihr unterwegs trefft! Und dort angekommen, zögert nicht, das zu vollbringen, was getan werden muss. Das Überleben des Reiches hängt davon ab!« Dann legte sich die königliche Stirn in Falten, und er fragte: »Herrin Embra, oder wer sonst Auskunft geben kann, wo steckt mein Regent? Ich spüre weder Schwarzgult noch einen Dwaer. Wie ist das möglich?« Glarsimber und Sarasper sahen sich nur an und schwiegen. Dann drehten sich beide wie auf ein geheimes Zeichen hin zu Raulin um, welcher zwischen ihnen stand. Somit blieb es dem jungen fahrenden Sänger überlassen, Seine Majestät mit einer Antwort zu versorgen. Der Jüngling breitete erst einmal die Arme aus und schluckte. »Sie, äh, sind fort, Herr.« »So ist es immer schon im Reich zugegangen!«, grollte Kelgrael, riss sein Schwert hoch und betrachtete es. »Was muss ich noch alles bewerkstelligen, um endlich den Frieden zu gewinnen?« Wieder schüttelte er betrübt das Haupt. Danach sah er wieder die Hexe an, und seine Miene zeigte, dass er zum Zustechen bereit war. Tschamarra bewegte nämlich die Finger zum Bannschmieden, und der alte Hass hatte erneut in ihren Augen Heimstatt gefunden.
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Blitzschnell kam seine Rechte auf die Zauberin zu, packte ihre beiden Hände und presste sie so fest zusammen, dass die Finger sich nicht mehr bewegen ließen. Er schüttelte die Hexe durch, bis die Energie des unvollständigen Zaubers in kleinen blauen Entladungen über ihren Fingern verpuffte. Dann beugte Kelgrael sich über sie, bis sein Gesicht nur noch wenige Fingerbreit von ihrem entfernt war. »Wollt Ihr mich wirklich tot sehen, Herrin von Talasorn?«, fragte er sie ebenso leise wie eindringlich. Ihre Augen loderten auf. »Ja, unbedingt!« Sie spuckte ihm ins Gesicht. Der König setzte ein leises Lächeln auf und rief nach hinten: »Hochfürsten, haltet euch zurück.« Nur Sarasper bewegte sich unmerklich ein Stück zur Seite, um alles noch genauer verfolgen zu können. Kelgrael beugte sich wieder so weit vor wie vorhin, während ihr Speichel von seinem Kinn tropfte. Dann sprach er zu der Hexe: »Es gibt nur einen Weg, das zu erreichen: Wendet Euch von mir ab und gebraucht Eure Zauber, um meine Hochfürsten abzuhalten und alle, welche mit ihnen sind. Aber keiner von ihnen darf dabei zu Schaden kommen.« Sie sah ihn misstrauisch an. »Und was fangt Ihr inzwischen an?« »Ich werde mich selbst mit meinem Schwert entleiben und dabei eine bestimmte Zauberformel sprechen. Auf diese Weise schicke ich auch die Schlange dorthin zurück, woher sie gekommen ist.« Tschamarra starrte ihn ungläubig an. »Ihr habt die Wahl, Tochter des Talasorn, entscheidet Euch«, forderte Schneestern sie mit sanftem Druck auf. »Sonst
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zerteile ich mit dieser Klinge zuerst Eure Eingeweide, ehe ich die Waffe gegen mich selbst richte.« Die Frau geriet ins Zittern, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie entgegnete: »Einverstanden, Herr von Aglirta, ich will es so tun.« Der König lächelte sie an und ließ ihre Handgelenke los. Jetzt betrachtete die Hexe ihn erst recht voller Erstaunen. Dann streckte sie eine Hand aus und wischte ihm das Kinn trocken. Danach lief Tschamarra um den König herum, hob die Hände und erschuf so einen Schutzzauber. Funkenstiebend erhob sich der Schild und schirmte diese Ecke des Thronsaals ab. Die Hexe warf einen flinken Blick über die Schulter, und der König ruckte ihr zuversichtlich zu. Dann wandte er sich an Sarasper, schaute ihm in die Tiefe seiner Augen und sprach in Gedanken. Hört mich an, getreue Hochfürsten. Aglirta gehört jetzt euch. Bewacht es weiterhin so gut, wie ihr das bisher getan habt. Seid euch meines Dankes gewiss. Wenn meine Gebete erhört werden, werden alle Aglirtaner, welche guten Willens sind, sich diesem meinem Dank anschließen. Hütet das Reich, ganz gleich, wer gerade auf dem Flussthron sitzt. Meine große Hoffnung ist, dass einer von euch eines Tages mit dem Herrschermantel bekleidet wird. Darin mischt sich jedoch der Wermutstropfen, dass ich nicht gleich meine Krone an euch weitergeben kann. Sie stirbt mit mir, es sei denn, ich setzte sie vorher noch meinem unmittelbaren Nachfolger aufs Haupt. Ich hatte meine Hoffnungen auf Euch gesetzt, Edle Embra, und
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bedaure Eure Entscheidung, auch wenn ich sie auf der anderen Seite verstehen kann. Wir alle müssen unbedingt das tun, was uns unser Herz befiehlt. So habe ich es in meinem Leben für Aglirta gehalten, und so werde ich es auch im Sterben für das Reich halten ... Raulin, Glarsimber und Sarasper starrten den König wie vom Donner gerührt an. Sie vergaßen sogar, einander anzusehen. Kelgrael murmelte bereits eine Beschwörungsformel vor sich hin. Tschamarra konnte nicht anders, sie musste sich zu dem König umdrehen und ihm mit unübersehbarer Verwunderung lauschen. Sie hatte diesen Bann schon einmal vernommen und wusste, was er einem Magier abverlangte. Kelgrael musste noch viel mächtiger als jeder Erzzauberer sein. Schneestern lächelte ihr kurz zu und ließ sich ansonsten nicht in seiner Beschwörung beirren. Jetzt hob er sein Schwert und hielt es auf Armeslänge von sich. Um die Klinge verbreitete sich ein rötliches und weißes Leuchten, welches fortlaufend an Helligkeit zunahm. Rauch fein wie Nebel umwirbelte die Klinge, und ein singendes Geräusch entströmte der Waffe, um den Rauch zu jagen. Erst nach einer Weile bemerkten die Zuhörer, dass es sich dabei nicht um ein Musikinstrument, sondern um den feinen Gesang einer Jungfrau zu handeln schien. Nun bedeutete Kelgrael der Hexe, die Schwertspitze zu berühren. Vorsichtig und mit einem unguten Gefühl streckte sie einen Finger aus, zuckte dann aber zurück und schüttelte den Kopf. Der Heiler rückte noch ein Stück näher und konnte jetzt
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den König leise sagen hören: »Fürchtet Euch nicht, ich will Euch nicht in eine Falle locken. Berührt die Klinge und lasst alle Magie in Euch einströmen, welche sie Euch zu bieten hat, auf dass diese nicht verloren gehe. Aber erwartet bitte keine sofort gebrauchsfähigen Zaubersprüche. In Euch werden Worte der Macht und Bruchstücke von Zauberliedern fließen, mit welchen Ihr womöglich erst in einigen Jahren etwas anfangen könnt.« Als Tschamarra aber immer noch unsicher dreinblickte, lächelte Schneestern verständnisvoll und sprach: »Bitte, Tochter des Raevur. Euer Vater hat sein Leben lang nach Zaubergut gesucht. Wollt Ihr denn nicht seinem Beispiel nacheifern?« Die Hexe atmete tief durch und berührte dann den Stahl des Königs. Sarasper verfolgte, wie sie gleich zusammenzuckte und die Hand zurückzog. Ihre andere Hand fuhr hoch, als wolle sie dem König das Schwert entreißen und die Waffe selbst schwingen ... Doch immer noch lächelte der König und erklärte: »Um mir das Leben zu nehmen, muss ich schon selbst Hand an mich legen.« Während sie ihn noch eigentümlich anstarrte, ergriff er sein Schwert mit beiden Händen und sprach leise etwas vor sich hin, was niemand verstehen konnte. Seine Arme zitterten plötzlich und wuchsen. Sie gewannen eine Länge, wie man sie bei einem Menschen nicht für möglich halten sollte – bis sie lang genug geworden waren, dass er sich die singende Klinge ohne größeres Aufhebens in die Brust stoßen konnte. Der Stahl blitzte auf, Tschamarras Schild zersprang in tau-
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send Funken, und der eben erwachte König warf den Kopf in den Nacken und schrie seinen Schmerz hinaus. Magisches Feuer flutete aus seinem Mund, und im Thronsaal wurde es finster. Lichter blitzten auf und rasten durch die Dunkelheit. Das königliche Schwert war zerplatzt, und die Splitter surrten durch die Luft. In deren Licht erblickten die Gefährten, wie Kelgrael Schneestern sich in Staub auflöste. Dieser verging zu nichts, und die Welt erbebte ...
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Göttliche Gunst und bequeme Gräber C Unvermittelt rumpelte es in der Ferne. Der Mann mit dem Schlangenkopf schaute sofort dorthin, schüttelte seinen Schuppenmantel ab und lief nackt zu den nächsten Felsen. Auf seinem Rücken und auf seinen Oberschenkeln zeigten sich bereits an einigen Stellen Schuppen, und sein Steiß lief in einem Stummelschwanz aus. Der Schlangenpriester umarmte einen runden Fels, welcher höher war als er selbst. Er presste sich dagegen, um herauszufinden, was den Stein zum Grollen brachte. Hier, auf der öden, geröllhaltigen Hochebene störten nur selten laute Geräusche das ewige Seufzen des Windes. Und der Ausbruch eines Rauchberges, wie er in Sarinda und Harthlathan vorkam, wurde hier nicht geduldet, störte er doch den Geheiligten! Der Schlangenmann legte den Kopf zurück und schmeckte mit seiner langen, vorschnellenden Zunge die Luft. Doch das war kaum noch nötig, denn das Rumpeln schwoll zu einem widerhallenden Grollen an.
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Der Boden schwankte unter den Füßen des Priesters, und durch die Klippe, welche er umfasste, drang ein lärmendes Trommeln wie dumpfes Hufgetrampel. Aus den Tiefen Aglirtas raste etwas Großes und Gewaltiges heran! Genau auf diese Stelle zu! Der Schlangenmann ließ den Fels augenblicklich los und fuhr herum, um die anderen heiligen Wächter der Großen Schlange zu wecken. Doch diese kamen bereits aus den Höhlen und von den Wachtürmen herangelaufen. Ziellos rannten sie umher, schrien durcheinander und spähten hierhin und dorthin. Das Grollen schwoll immer noch an, und von den Höhen rollten die ersten Steine herunter. Das Beben gewann eine Stärke, dass einem die Zähne klapperten. Der Schlangenpriester entdeckte zu seinem Entsetzen, dass sich erste Risse im Boden und zwischen den Felsen auftaten. Hier einer, da einer, da drüben noch einer und endlich überall welche! Schon erschollen die ersten Freudenrufe. Die Wächter waren außer sich vor Freude, sie schrien und jauchzten. Der Schlangenpriester machte den Hals lang, um festzustellen, was sie so in Aufregung versetzte. Einen Moment später lag er selbst auf den Knien, warf die Hände in die Luft, verneigte sich wieder, richtete sich erneut auf und so weiter, während er sich die Lunge aus dem Leib brüllte. Und er setzte seine Zauberkraftvorräte dazu ein, seine Stimme laut wie einen Fanfarenstoß klingen zu lassen. Seine Rufe rollten an den Felswänden entlang und mischten sich als Widerhall in seine weiteren Schreie. »Freuet euch, Gesegnete Brüder der Schlange! Die Stunde,
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auf welche wir so lange gewartet und für welche wir so hart gearbeitet haben, ist endlich angebrochen! Der elende Erwachte König muss endlich tot und verröchelt sein, womit alle seine Bande zerrissen sind! Wir erleben jetzt den Moment des Erwachens der Schlange! Ganz Aglirta, ganz Asmarand, ja ganz Darsar werden bald unter der Gebenedeiten Macht der Schlange erbeben! Ihre schreckliche Rache wird über das Reich kommen und nur uns Gläubige verschonen! Mögen die Aglirtaner sich unter die Rockschöße ihrer Zauberer und ihrer Regenten verkriechen! Nicht einmal der Blutsäufer mit Namen Blutklinge vermag ihnen jetzt noch zu helfen. Denn nur zu bald sollen sie alle erfahren, was es heißt, sich wirklich verkriechen zu müssen!« Er kam kaum noch zu Atem, aber die Zauberkräfte füllten seine Lunge von neuem, und so vermochte der Priester weiter zu schreien: »Die Ehrfurchtgebietende ist endlich auferstanden! Auf die Knie, ihr alle, um Ihr die Ehre zu erweisen. Fallt vor ihr nieder und lobpreiset sie! Denn eben jetzt erfolgt IHRE AUFERSTEHUNG!« Zu heiser zum Weitersprechen verfiel der Priester in Schweigen, aber die anderen übernahmen mit ihren begeisterten und jubelnden Schreien. Und daraus entwickelte sich ein mehrstimmiger Gesang, welcher nur eine Zeile kannte: »Steht auf, Eroeha! Steht auf, Eroeha! Steht auf, Eroeha!« Obwohl das Grollen in der Erde zu den Bergen weitergezogen zu sein schien und eine breite Spur von Rissen und Sprüngen hinterließ, wölbte sich der felsige Boden zwischen
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den knienden Wächtern. Schon überragte sie der neu entstandene Hügel und wuchs immer weiter nach oben. Erdklumpen wurden ausgestoßen und rollten die neuen Hänge herab. Massen von Erdreich folgten ihnen, und schon sah man die ersten Teile des glänzenden schwarzen Schlangenleibs. Ein gewaltiger Körper, der sich zunächst noch langsam regte, aber bald schon ... Ja, es war wahr! Die Schlange war auferstanden! »Die Schlange erwacht!«, brüllte der Priester und gebärdete sich wie rasend. Er sprang auf, seine Reißzähne wuchsen, und neue leuchtende Schuppen bedeckten seinen Leib. »Die Erfüllung ist über uns gekommen! Eroeha, gebietet über uns!« Während die schuppigen Männer und Frauen außer sich gerieten und ihren Veitstanz aufführten, öffnete sich in dem riesigen, schwarzen Leib ein einzelnes rotgoldenes Auge. Eine geschlitzte Pupille so groß wie der Priester betrachtete die Welt mit Wut und Vorfreude. Der Leib bewegte sich weiter, und mehr Erde fiel von ihm herab. Doch da, was war das? Schatten legten sich wie Nebel vor das rotgoldene Auge. Die Schlange schob sich nicht weiter aus dem Boden. Mitten in der Bewegung war sie erstarrt! Der Priester und die Wächter konnten es noch gar nicht fassen. Sie starrten auf dieses unterbrochene Schauspiel, und ihr Gesang erstarb. Nur Schluchzen ertönte hier und da, und allen rannen die Tränen über das Gesicht.
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Von allen Vögeln, welche das Stromtal durchfliegen, ist der Wasserflitzer vielleicht der schönste. Dunkelblaues Gefieder und grau an Kopf und Schwanz, eine bunt schillernde Brust und dazu umrahmte schwarze Augen, als trüge er eine Maske. Der Vogel macht seinem Namen alle Ehre, flitzt er doch hierhin und dorthin. Manchmal tschilpt er leise, dann gibt er Laute wie leises Quaken von sich, und wenn der Wasserflitzer sich ärgert oder in Gefahr geraten ist, muht er. Die Neugierde ist das größte Laster des munteren Gesellen. Er wendet das Köpfchen hierhin und dahin, um auch ja nichts zu verpassen. Manchmal kommt er auch den Fischern ganz nahe. Oder den Hirten, wenn sie ihre Tiere zur Tränke führen, oder den Lastschiffern. Dann schaut er täglich zu Besuch vorbei, ehe er weiterfliegt, um einige der vielen Insekten zu fressen, welche über dem Strom schwirren. Der Wasserflitzer hat einen ganz eigenen Sinn für Humor, aber er ist kein räuberischer Bursche wie zum Beispiel der Sturmjack oder die Drale. Man kennt ihn auch, wenn er still wie eine Statue dasitzt und sich seine Umgebung ganz genau ansieht. Dass er in der Wahl seiner Sitzplätze nicht wählerisch ist, beweißt der Umstand, dass man den putzigen kleinen Kerl auch schon auf einem Menschenkopf verweilen gesehen hat ... Der Wasserflitzer, welcher jetzt über den Strom flog, zählte mehr Jahre als die meisten anderen Vögel seiner Art, und man hatte ihn schon oft in Treibschaum gesehen.
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Er tauchte und schwirrte über den Strom und tat sich an Stechgetier und anderen Plagegeistern gütlich. Wenn seine Neugier nicht gewesen wäre, hätte er den Palast heute wohl kaum eines Blickes gewürdigt. Aber über der königlichen Insel schien heute eine dunkle Wolke zu schweben und sich nicht von der Stelle zu bewegen, und da schaute der Vogel schon das ein oder andere Mal hin. Als er von den hier vorkommenden Insekten genug hatte, machte er sich auf den Weg nach Treibschaum. Mal sehen, was hier an Getier geboten wurde. Fröhlich tschilpend tauchte er in die Wolke ein – und erstarrte. Wenn ein anderer Wasserflitzer zufällig vorbeigekommen wäre und neugierig auf seinen Artgenossen geblickt hätte, hätte sich seinen Augen ein regloser Vogel geboten, der mitten im Flügelschlag innegehalten hatte und sich nicht mehr rührte. Sein Schnabel war noch zum Gesang geöffnet, und seine Augen blickten stur nach vorn. Der alte Wasserflitzer lebte noch, wusste aber nicht, was mit ihm geschehen war. Zauberkraft hatte ihn gefangen. Nach Kelgraels Selbstopferung bewegten sich im Palast nur noch Luft und Staub. Erstarrt in Kummer und Finsternis, vorn und hinten umgeben von tosender Magie, überkam Sarasper Kodelmer wieder der Traum. Dieser hatte ihn schon früher im Schlaf heimgesucht – früher selten, aber seit kurzem jede Nacht. Stets wachte er schreckensstarr und in Schweiß gebadet davon auf!
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Stets ging es in diesen Nachtgesichten um das Gleiche: um einen großen, rotgoldenen und schrecklichen Drachen. Nicht um ein Fabeltier oder eine Sagengestalt – sondern um ein höchst lebendiges Scheusal. Höchst lebendig, Sarasper nicht aus den Augen lassend, flog es auf ihn zu. Der Drache starrte den Heiler an, als könne er alles lesen, was in dessen Seele geschrieben stand. Jedes Mal stand der Heiler nur da und konnte sich nicht rühren. Und derweil brachte sich das Untier langsam und seiner selbst höchst bewusst in die richtige Ausgangsstellung, spreizte die Krallen, öffnete das Maul und kippte zum Sturzflug vornüber. Und wenn die Bestie nur noch ein kleines Stück von ihm entfernt war, wachte er auf. Jedes Mal. Dann saß er kerzengerade im Bett und zitterte wie Espenlaub. Lange ging sein Atem dann stoßweise. Er starrte mit großen Augen in die Dunkelheit, und erst nach einer ganzen Weile vermochte der Heiler, wieder auf sein Kissen zurückzusinken. Bald fiel er dann in den Schlaf zurück. Doch ob Sarasper nun in derselben Nacht noch einmal träumte oder nicht, ein Drache tauchte darin nicht mehr auf. Warum der Heiler sich so schrecklich vor diesem Ungeheuer fürchtete, war ihm selbst nicht klar. Vielleicht gehörte es zu den Urängsten der Menschen, vor allem in Panik zu geraten, was mitten in der Nacht aus dem Himmel auf einen herabfährt, die Klauen spreizt und das Maul zum Zuschnappen aufreißt ... In der Luft über dem Grab des Maeraunden Silberbaum flimmerte es. Über der geplatzten und zerbrochenen Stein-
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platte, unter welcher seit gut achthundert Jahren der Vorfahr ruhte, erschien plötzlich ein großer und schlanker Mann mit dunklen Augen. Dessen Gesicht war hier im Fürstentum Silberbaum noch längst nicht so vollkommen vergessen wie das des Vorfahren Maeraunden. Der Bannmeister sah sich rasch auf dem überwachsenen Friedhof um und lächelte schließlich zufrieden. Hier durfte er sich frei von allen beobachtenden Blicken und heimtückischen zauberischen Angriffen fühlen. Der Erzmagier spazierte an mehreren schief stehenden oder abgebrochenen Grabsteinen vorbei durch das hohe Gras und näherte sich dem Schweigenden Haus. Welche gewaltige magische Macht auch immer Treibschaum durchgerüttelt haben mochte, schien sich nicht bis hierher ausgewirkt zu haben. Der Bannmeister erkannte froh, dass dieses Beben weit hinter ihm, am Mittellauf des Stroms ausgebrochen war. Ingryl Ambelter fand zum dritten Mal Anlass zum Lächeln, als er hinter einer Silberbaum-Gruft stand, um die Ecke spähte und voraus weder lästige spielende Kinder noch Bauersleute entdeckte, Welche hier Schlingen auslegten. Dann wollten wir den Tanz wieder beginnen lassen, sagte er sich frohgemut in Gedanken. Ambelter schritt munter auf einen der Eingänge des Schweigenden Hauses zu. Er selbst hatte die Tür vor Zeiten auf Anordnung des Faerod Silberbaum mit einem Bann versiegeln müssen. Trotz aller Gerüchte und Schreckensgeschichten über diesen Palast fanden sich hier auch sichere Räumlichkeiten, und
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wenn man nicht zu wählerisch war, fand man sich in solchen Verstecken auch gut zurecht. Der Raum, welcher Ingryl vorschwebte, besaß eine herrliche Aussicht auf Treibschaum und stellte im Moment sicher das beste Versteck in ganz Aglirta dar. Von hier aus konnte man nämlich genau verfolgen, welche Recken anritten, um sich gegenseitig den Garaus zu machen. Wenn schließlich nur noch einer von ihnen übrig wäre, könnte er zur Königsinsel zurückkehren und sich zumindest anhören, was er zu sagen hatte. Oder ihn gleich in Stücke hauen. »Wohin man schaut, Fürsten und Barone«, sprach Ingryl vor sich hin. »Aber nicht einer von ihnen ist sein Gewicht in Bier wert.« Trottel und Einfaltspinsel, welche nichts anderes kannten, als ihr Schwert zu schwingen. Erbärmliche Gestalten, alle wie sie da waren, und längst nicht so gefährlich, wie man allgemein glaubte. Zum Aus-der-Haut-Fahren, wenn man daran dachte, dass solche Hanswurste sich überall im Reich auf einem Thron den Hintern platt saßen. Und auf der anderen Seite wurden Zauberer überall gehasst und gehetzt. Wenn sich die Magier doch nur einmal zusammenschließen und ein eigenes Reich begründen würden ... Heissa, das wäre eine Sache! Plötzlich raschelte es im Gras, und einige Zweige knackten am anderen Ende des Friedhofs. Mit zwei Schritten brachte sich Ambelter hinter einem ausgesucht geschmacklosen Silberbaum-Grabstein in Sicherheit.
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Jemand hatte den Friedhof des alten Fürstengeschlechts betreten und näherte sich in solcher Eile, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, Geräusche zu vermeiden. Er krachte durch Sträucher und brach Äste ab. Wer immer das sein mochte, erreichte nun den Hügel, auf welchem das Schweigende Haus stand, und atmete schwer ... nein, keuchte richtiggehend! Nach dem Lärm zu schließen, musste es sich sogar um mehr als einen handeln. Sie schienen nur noch wenige Schritte von dem Grabstein entfernt zu sein, hinter welchem sich der Bannmeister verbarg. Eine rasche Umschau bestätigte Ingryl, dass sich hier in der Nähe kein besseres Versteck fand. Aufs Höchste verstimmt, murmelte er einen Zauber, bewegte kurz die Finger einer Hand und war schon verschwunden. WÄHRENDDESSEN Flaeros Delkamper konnte nicht mehr weiterlaufen. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in seiner Brust, vor seinen Augen verschwamm die Welt, und er stolperte und strauchelte ununterbrochen. Seine Füße fühlten sich schwer wie Stein und ebenso taub an. Das Schweigende Haus schien ihm das beste Versteck vor seinem Verfolger zu sein, jenem sonderbaren Wesen, welches ganz nach Lust und Laune seine Gestalt wandeln konnte. Wer den alten Palast der Silberbaums betrat, sah sich einem Irrgarten von Geheimgängen und Fallen gegenüber. Aber vielleicht fand er ja eine Gruft, auf deren Dach er klettern und auf welches er sich flach hinlegen konnte.
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Entweder sich dorthin zurückziehen oder noch vor Erreichen des Palastes zusammenbrechen und nie wieder hochkommen. Ein tadelndes Wort seines Onkels kam ihm wieder in den Sinn. »Wir bringen keine Delkampers mehr wie früher zustande!« Na ja, das ließ sich wohl kaum abstreiten – und wenn die Götter nicht bald zu seinen Gunsten eingriffen, würde er nicht mehr alt genug werden, um noch eigenen Nachwuchs in die Welt zu setzen. Mit einem grimmigen Lächeln ergriff Delkamper das Drachenzepter, das sonst seiner schweißnassen Hand entglitten wäre, und schob sich zu einem Bogengang hoch. Dort würde er anhalten und sich umschauen. Wenn die Götter ihn nicht abgrundtief hassten, würde er nicht allzu weit vor sich eine geeignete Gruft ausmachen ... Und wenn nicht, würde er sich einfach hinhocken und auf das Ungeheuer warten, das ihn so lange verfolgt hatte. Mal sehen, für welch grässliche Form es sich diesmal entschieden hatte. Aber da war noch jemand, der ihn beobachtete und ihm nicht unbedingt freundlich gesinnt war. Flaeros spürte ganz genau den mordgierigen Blick in seinem Rücken, während er sich zu dem Bogengang hochschleppte. Er versuchte, lieber nicht daran zu denken, dass er sich möglicherweise mit der Gruft auch sein eigenes Grab aussuchte. Diese Sprungzauber waren doch wirklich eine segensreiche Erfindung. Ingryl fand sich auf einem hohen Balkon des
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Schweigenden Hauses wieder. Hier oben hatte er schon einmal gestanden und zugesehen, wie Mägde seine ungehorsamen Lehrlinge mit Stachelpeitschen verdroschen hatten. Was für herrliche Zeiten das doch gewesen waren ... die langen Gespräche mit Faerod Silberbaum, bei welchen es um finsterste Dinge gegangen war. Gemeinsam hatten sie aber auch Pläne für die Zukunft des Reiches geschmiedet ... oder wie man Schwarzgult endgültig vernichten könnte ... Damals hatte es noch kein Magier gewagt, ihm seine Stellung bei Faerod streitig zu machen ... Ja, das war wirklich ein Spaß an jenem Tag gewesen, als er miterleben durfte, wie diese dummen Bengel, welche nicht die geringste Begabung für das Erzmagiertum mitbrachten, sich unter den Hieben wanden ... Moment, da war ja auch der Trampler; der Stampfer, welcher einfach mir nichts, dir nichts in diesen Friedhof eingedrungen war. Schnaufend und mit schweißfleckigen, zerrissenen Sachen taumelte er heran, und – aber natürlich, wer hätte es auch sonst sein sollen? Niemand anderer als der Lieblingstolpatsch des Hofes und die Hoffnung aller fahrenden Sänger, Flaeros Delkamper! Wegen diesem Dummerjan hatte er einen schönen Sprungzauber vergeudet! Na, dann schickte Ingryl doch besser gleich noch einen Bann hinterher, aber diesmal einen an die Adresse dieses Riesentölpels! Voller Vorfreude rollte Ambelter seinen Ärmel zurück, bewegte lässig die Finger und sprach die vertraute Formel. Er rief Halaezers Geißel; denn mit der ließ sich trefflich das Hinterteil eines Barden gerben, der anständigen Zauberern nichts
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als Verdruss brachte! Der Erzmagier stieß ein eigentümliches Schnaufen aus, kippte ohne weitere Erklärung nach vorn und stürzte über die Brüstung. Kopfüber fiel er in ein uraltes Grab, welches zum Glück einerseits für Ingryls Fortleben und andererseits für das geistige Heil des jungen Flaeros, dem gerade so viel Schweiß in die Augen rann, dass er sie schließen musste, längst eingefallen war und eine Grube bildete. Oben auf dem Balkon fluchte jemand leise vor sich hin und senkte die Keule. Der Bannmeister verfügte immer noch über einen vollständigen Hinterkopf, verdankte das aber allein dem Umstand, dass sein Gegner sich zu sehr von seiner Hast hatte treiben lassen und deshalb nicht richtig zugeschlagen hatte. Das Ärgerliche bei Zauberern war, dass sie einem nur selten Gelegenheit zu einem zweiten Versuch gaben, um solche Fehler wieder gutzumachen. Ein Stück weiter entfernt tat sich umso mehr. Männer fielen von ihren Rössern ... nein, vielmehr stürzten die Pferde und schleuderten ihre Reiter in alle Richtungen davon. Und die nachfolgenden Schwadronen ritten einfach über die Gestürzten hinweg. Überall Schreien und Stöhnen. Die ersten fingen an, sich mit Hieben und Tritten Bahn zu brechen, und bald herrschten überall Verstopfung und Verwirrung. Wütend setzte Blutklinge wieder sein Horn an die Lippen. Doch schon bliesen seine Hauptleute das Signal zum Anhalten.
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»Bei der Drei-fal-tig-keit!«, fluchte der Kriegsherr. Er stand im Sattel und versuchte vergeblich festzustellen, was eigentlich geschehen war. Zu beiden Seiten der Straße versperrten dichte Wälder ein Ausweichen, und dazwischen drängten sich die Reiter so dicht an dicht, dass man kaum eine Hand dazwischen bekam. Der Kriegsfürst betrachtete besorgt die dunklen Wälder. Jeden Moment konnten sie eine Flut von Pfeilen ausspeien ... oder, was nicht ganz auszuschließen war, ein Rudel wütender Wildschweine käme herausgestürmt. Dabei wollte Blutklinge doch nichts dringender, als Treibschaum erreichen, bevor ein anderer ihm bei Krone und Thron zuvorkommen konnte ... oder dort eine neue Streitmacht gegen ihn zusammenzog. »Was ist denn da vorn los?«, brüllte der Fürst. »Warum geht es denn nicht weiter?« Seine Offiziere und Unteroffiziere nahmen den Ruf auf und trugen ihn über die sich prügelnden und mit ihren Rüstungen scheppernden Soldaten hinweg. Wenn es ihm gelänge, rechzeitig die Nachricht von Schwarzgults Tod zu verbreiten, wenn er allen vor und im Palast versichern könnte, dass der Regent auf der Insel verblichen sei, könnte es ihm möglich sein, Treibschaum ohne nennenswertes Blutvergießen einzunehmen. Er musste nur dort anlangen, ehe die Höflinge sich schon bedient hatten und alles fortschleppten, was nicht niet- und nagelfest war. Sie hatten es nicht einmal verdient, ihren Kopf auf den Schultern zu behalten! Die Rufreihe wirkte jetzt in die andere Richtung, und die Antwort befand sich bereits auf dem Weg zum Kriegsfürsten.
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»Die Pferde! Diese Explosion am Himmel vorhin, Herr!«, erklärte schließlich ein Offizier. »Viele der Tiere haben eine Kopfwunde davongetragen. Ihnen wird davon schwindlig, und sie können sich nicht mehr auf den Beinen halten und stolpern. Das erschöpft sie ganz furchtbar.« Duthjack war ein viel zu guter Hauptmann, um nicht zu erkennen, dass viele der Rösser erschöpft waren, ganz zu schweigen von den Reitern. Zwar sah er weder Ross noch Reiter in seiner unmittelbaren Umgebung fallen, aber nicht wenige ganz in der Nähe standen unverkennbar kurz vor dem Zusammenbruch, sollte er keine Rast befehlen. Auch wenn Blutklinge noch so eilig zum Palast wollte, es dürfte ihm nicht daran gelegen sein, auf dem Weg dahin sein ganzes völlig erschöpftes Heer zu verlieren! Der Kriegsfürst besann sich. Was nützte ihm ein Heer, das zwar an Zahl groß, mit der Kraft aber am Ende war? Noch befand er sich in keiner so verzweifelten Lage, dass er seine Soldaten zum Weitermachen zwingen musste und damit in den Augen der Aglirtaner den Ruf eines grausamen Tyrannen gewann. Letzteres würde schon früh genug eintreten, sobald er erst einmal auf dem Thron säße. Dennoch verdross es Blutklinge sehr, dass es nicht weiterging. Er ließ sich jedoch nichts von seinem Ärger anmerken und wies die umstehenden Hauptleute an: »Gebt Befehl, dass anzuhalten und ein Lager aufzuschlagen ist. Die Truppe soll sich weit genug auseinander ziehen, damit uns allen Platz genug bleibt, vom Pferd zu steigen, das Tier anzubinden und uns zur Nachtruhe hinzulegen. Die Vorhut rückt noch ein Stück vor, der Rest bleibt hier.«
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Doch da drehte der Verhüllte, welcher neben dem Fürsten ritt, den Kopf in dessen Richtung und sprach leise ein einziges Wort: »Nein.« Die Miene des Kriegsfürsten verfinsterte sich. »Seht doch selbst: Die Männer und die Rösser stehen am Ende ihrer Kräfte. Da ist es dringend geboten, eine Rast einzulegen, und zwar gleich hier und jetzt.« »Und wenn jetzt alle im Hafen von Treibschaum stünden?«, murmelte der Kapuzenträger. »Wie erschöpft würdet Ihr Euch dann fühlen?« Blutklinge starrte den Mann erst fassungslos an, dann verfärbten sich seine Gesichtszüge. Er glaubte, in den Tiefen der Kapuze ein hämisches Lächeln zu erkennen. Doch noch ehe der Fürst endgültig die Beherrschung verlieren konnte, schob sich eine Hand des Zauberers vor und schloss sich um den Nacken eines Recken, welcher gerade, nichts Schlimmes ahnend, vorbeiritt. Der Ritter, welcher seinen Helm am Riemen in der Hand hielt, erstarrte darob, drehte den Kopf mit den schweißverklebten Locken, starrte wütend auf den Mann, der ihn da so frech packte – Und erstarrte, als er in ihm den Magier erkannte. Der Verhüllte hob die freie Hand und bewirkte einen Bann. Dem Kriegsfürsten verging aller Unmut, als er entdecken musste, dass überall in seinem Heer Kapuzenträger aufgetaucht waren, welche dem Beispiel seines Begleiters folgend ebenfalls einen Reiter am Nacken festhielten und diesen mit einem Zauber bedachten. Mehr noch zog es Blutklinge den Magen zusammen, als er erkennen musste, dass die Kapuzenträger sich alle gleich be-
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wegten. Und so kam es, dass einen Moment später allen Reitern, welche die Zauberer ergriffen hatten, die Augen fehlten! Damit nicht genug, rutschten die Opfer im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Sattel und blieben in einem faltigen Haufen auf dem Boden liegen. Blut und Knochen fehlten in ihrem Körper, von welchem nicht mehr als eine formlose Hülle übrig geblieben war. Überall hatten die Verhüllten ihre Opfer losgelassen, auf dass diese in der gleichen Weise aus dem Sattel glitten und zerknüllt auf dem Boden landeten. Die Zauberer hielten nun beide Hände hoch, und Blutklinge erkannte an deren Fingerspitzen Fangzähne. Einen Herzschlag später war von diesen schon nichts mehr zu sehen, weil die Finger sie wieder eingezogen hatten. Die Hände verschwanden dann auch rasch in den Ärmeln des Umhangs. Doch der Kriegsfürst wusste, dass seine Augen ihm keinen Streich gespielt hatten. Vor Zorn umklammerte er den Griff seines Schwerts, bis die Knöchel weiß hervortraten. Im nächsten Moment drehte sich die Welt um ihn. Bäume, Soldaten, Pferde und gepanzerte Ritter vermengten sich und verschwammen ineinander. Dazu ertönte ein Zischen, als erfolgte ein Massenangriff von Schlangen. Bald konnte Blutklinge nichts anderes mehr hören als dieses Zischeln und nichts anderes mehr sehen als Farben, welche umeinander rasten ... Und einen Moment später war die Welt wieder im Lot. Sendrith Duthjack blinzelte, und ihm blieb die Spucke weg, sodass er sogar das Fluchen vergaß. Verschwunden waren Wald und schmale Straße. Dafür be-
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fand man sich jetzt am Stromufer vor der Königsinsel. Geordnet in Reih und Glied hatte sich das Heer aufgebaut. Den Hafen hatte irgendeine gewaltige Macht nahezu vollständig zertrümmert, im Becken trieben leck geschlagene Boote, und vor ihnen erhob sich die Insel mit dem Palast – zum Greifen nah, und doch so unerreichbar fern. Blutklinge stand aufrecht im Sattel und rief: »Sehet die Gnade, welche die Dreifaltigkeit uns hat zuteil werden lassen. Die Götter haben uns mitten ins Herz unserer Feinde geführt! Lasst uns ihnen nun den Rest geben und sie endgültig zermalmen! Sucht nun Boote und Kähne. Wenn ihr hier keine findet, lauft ein Stück flussaufwärts. Denn wir fahren nach Treibschaum, dem Sieg entgegen!« Der Kriegsfürst glaubte, den Verhüllten wieder unter der Kapuze lächeln zu sehen. Einen Moment später hörte er seine Worte von den hohen Mauern des Palastes widerhallen. Der Zauberer hatte sie auf magische Weise verstärkt. Alle Soldaten schwiegen, während sie die Ansprache noch einmal vernahmen. Danach trat ein Moment der Stille ein, und endlich machten sich alle mit Geschrei an die Arbeit. Die Männer liefen ins Wasser, zogen untergegangene Kähne an Land, bargen Ruder, enttäuten Stricke und Reeps, sammelten alles Holz ein und hoben gekenterte Boote hoch, um das Wasser aus ihnen zu kippen. Noch nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen, da standen dem Heer schon sieben einsatzbereite Nachen zur Verfügung. Schon sprangen die ersten eifrigen Ritter hinein und setzten über den Silberfluss. Die Hauptleute feuerten sie vom Ufer aus an, Tod und Verderben in den Palast zu tragen.
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»Jhavarr war unsere größte Hoffnung«, erklärte der Mann mit dem grauen Bart. »Natürlich gieren alle unsere Jungen nach dem Blute Aglirtas, und die Hälfte von euch, welche es doch eigentlich besser wissen sollte, auch! Doch, doch, ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie ihr voreinander geprahlt, wie ihr lautstark Racheschwüre in die Welt hinausposaunt habt! Und was unseren Nachwuchs angeht, so wähnen sie sich schon als verschworene Gemeinschaft und nennen sich nicht länger Vetter oder Base, sondern Bruder und Schwester. Aber wie könnten sie auch nicht von diesem Feuer erfüllt worden sein? Schließlich handelt es sich bei ihnen um Mitglieder derer von Bogendrachen!« Der Mann mit dem grauen Bart wandte sich von dem mit Edelsteinen verzierten, kreisrunden Gartenfenster ab und wandte sich den Angesprochenen zu. Nach einer kleinen Weile fuhr er mit der ihm eigenen Schärfe fort: »Beantwortet mir bitte folgende Frage, Multhas, Araunder und Ithim: Wie rasch wollt ihr eure wohlgeratenen Söhne und eure schönen Töchter verlieren? Stolz, große Worte und Wut im Herzen sind schwache Waffen gegen die Art von Zauberern, wie sie im Reich herumlaufen oder sich meinetwegen auch an gewisse Personen in Sirlptar verdingen. Und wenn man auch noch einen Heckenzauberer als Gegner vor sich sieht, welcher in den Besitz eines Dwaersteins gelangen konnte, dann sieht es aber finster aus, meine Freunde, aber stockfinster!« Multhas Bogendrachen zwirbelte die Enden seines langen, dünnen Schnurrbarts und nickte dann bedächtig. »Jedes ein-
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zelne Eurer Worte facht meinen Zorn zusätzlich an, Dolmar denn wie stets und immerzu habt Ihr auch dieses Mal wieder Recht.« »Ich fürchte, ich kann meine Söhne nicht aufhalten«, gestand Araunder langsam ein, »nicht einen von ihnen.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich über die sich ausbreitenden kahlen Stellen. »Dann bittet sie alle zu euch, feiert mit ihnen Abschied, und streicht sie dann völlig aus eurem Leben«, riet ihm der älteste Bogendrachen barsch, »denn vermutlich werdet ihr keinen von ihnen wiedersehen. Vielleicht begebt ihr alle euch aber noch einmal zu euren Hitzköpfen und erzählt ihnen die Geschichte vom Schwert der Rache ...« Die drei Jüngeren sahen sich ratlos an. »Was für ein Schwert?«, fragte Multhas schließlich. »Ich fürchte, wir haben diese Sage noch nie gehört.« Dolmar lächelte die drei humorlos an und erklärte: »Natürlich nicht, denn ihr habt diese Geschichte ja noch nicht erfunden ... Dabei handelt es sich um eine großartige Sage, und darin geht es um die fünfjährige Tochter eines Schmieds, welcher von einem Fürsten brutal erschlagen worden war. Das Mädchen wuchs schließlich zur Frau heran, ließ sich aber mit keinem Manne ein, denn ihre ganze Liebe gehörte allein der Schmiede. Sie brachte sich selbst bei, wie man Hacken und Schaufeln schmiedet, Pferdehufe beschlägt und schließlich Schwerter anfertigt. Nach vielen Jahren harter Arbeit hatte sie es zu solcher Meisterschaft gebracht, dass sie eine ganz hervorragende Klinge schmieden konnte.
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Diese reichte sie dem bösen Fürsten – und zwar in den Bauch. Bevor er verröchelte, teilte die Frau ihm mit, dass dieses Schwert den Namen Rache trüge ... Ich bin mir sicher, dass ihr diese Geschichte genügend auszuschmücken versteht, um eure Kinder zum Nachdenken zu bringen.« »Dolmar«, stöhnte der Jüngste, Ithim, »Euer Humor ist die reinste Folter ...« »Immer noch besser, Ihr seufzt über meinen Humor«, wandte der Älteste ein, »als dass Ihr seufzend vor einem frisch ausgehobenen Grab stehen müsstet. Ihr habt Jhavarr abgöttisch geliebt, weil er Euer Sohn und Nachfolger gewesen ist. Auch ich habe ihn geliebt ob seiner großartigen Anlagen. Im Stillen hatte ich bereits entschieden, ihn von meinen Magiern unterrichten zu lassen – sobald er erste Anzeichen von Verstand zeigen würde.« Alle drei Brüder sahen den Ältesten nun scharf an. Der Jüngste mit Tränen in den Augen, der Mittlere unglücklich und Multhas ärgerlich. »Aber, Dolmar«, meinte Letzterer schließlich, »was soll denn aus Erith werden, er ist doch Euer eigentlicher Sohn!« Der Älteste winkte nur ab. »Und unser einziger Überlebender. Ein Träumer, welcher noch keinerlei Anlagen zeigt, schon gar nicht zum Zauberer. Als ich meine Cathaleira verlieren musste, wusste ich, dass ich meinen Stab eines Tages einem anderen weiterreichen müsste.« Dolmar stellte sich wieder ans Fenster und schaute hinaus. »Und nun, meine Herren Bogendrachen? Heute weiß ich nicht mehr, wen ich zum Nachfolger küren soll. Und wenn es uns nicht gelingt, unsere hitzköpfigen Jungen zu zügeln,
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befürchte ich, dass niemand mehr von der Familie Bogendrachen vorhanden ist, dem ich meinen Stab zu treuen Händen übergeben könnte. Wenn dereinst mein Augenlicht bricht, gibt es dann keinen von uns mehr, weder einen Wohlgeratenen und Gescheiten noch einen Krummbuckligen und Geistesträgen!« »Ich bräuchte mir nur eine neue Frau zu suchen«, warf Multhas ein, »und mit ihr mehr Kinder in die Welt zu setzen.« »Und diesmal würdet Ihr sie anders als bei den Vorangegangenen zu Klugheit und einem kühlen Kopf erziehen?«, fragte der Älteste ganz ruhig. »Wie wolltet Ihr das anfangen, Bruder? Seit wann kann man mit Feuer Eis erzeugen?« Multhas ballte die Fäuste und entkrampfte die Hände wieder. Sein Gesicht war rot angelaufen, aber er sagte nichts. »Und nun, liebe Oberhäupter unserer Familie«, erklärte Dolmar zum Schluss der Versammlung, »wollen wir wenigstens dafür sorgen, die unseren aus Aglirta herauszuhalten. Damit sie am Leben bleiben. Um unserer selbst und um unser aller willen. Auf dass den Bogendrachen noch viele Jahre beschert sein mögen!« WÄHRENDDESSEN Flaeros Delkamper konnte nur noch stoßweise atmen und sah sich vollkommen am Ende seiner Kräfte. Er quälte sich ein paar weitere Schritte über den Friedhof und hielt an, um festzustellen, ob die nächste Gruft vor ihm sich besteigen ließe. In seiner Erschöpfung setzte er sich etwas zu hastig wieder in Bewegung, stolperte über die eigenen Füße, ruderte mit
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den Armen durch die Luft und konnte sich doch nicht davor bewahren, das Gleichgewicht zu verlieren. Kurzum, er landete wieder auf dem Hintern. Die Welt drehte sich um den Jüngling, und er verwünschte alle hartherzigen Götter und sämtliche verblichenen und beerdigten Silberbaums. Er stützte sich nach hinten mit den Armen auf und vermochte so, halbwegs schmerzfrei zu sitzen. Schmerzfrei ja, aber ihm war furchtbar schlecht. Erst jetzt fiel Delkamper auf, dass die Tür zu der Gruft, an welcher er hatte hinaufklettern wollen, offen stand. War sie die ganze Zeit über nicht geschlossen gewesen, oder war das gerade erst geschehen? Zuerst nahm der Jüngling in der Öffnung nur Dunkelheit wahr. Doch dann kam jemand aus der Gruft heraus! Dieser Jemand schlurfte langsam und taumelnd, war ganz in Tücher gehüllt und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Der Fremde hob eine Hand und schob die Kapuze zurück. Darunter trat ein völlig fremdes Gesicht zutage. Mit einem Lächeln, das einen frösteln ließ. Flaeros hatte es plötzlich furchtbar eilig, hochzukommen. Keuchend mühte er sich ab, ein Bein rutschte ihm weg, und er landete unsanft auf dem Drachenzepter. Der Mann öffnete am Hals den ersten Verschluss seiner Gewänder. Dann den darunter liegenden. Immer weiter knöpfte er den Mantel auf. Der fahrende Sänger rollte sich auf die Seite und benutzte das Zepter als Stütze, um sich nach oben zu schieben. Aber seine Hände rutschten ab, und er rollte um die eigene Achse.
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Das ganze Gewand des Fremden fiel zu Boden. Doch darunter bekam man weder Oberkörper noch Beine zu sehen, sondern den gewundenen Leib einer Schlange. Flaeros starrte wie gebannt darauf – und dann kehrte sein Blick wie aus eigenem Antrieb zu dem unheimlichen Lächeln zurück. Die Augen des Fremden hatten sich unverrückbar auf den jungen fahrenden Sänger gerichtet, und jetzt erwiesen sie sich auch wie bei einer richtigen Schlange als geschlitzt. Er warf den Kopf in den Nacken und zischelte, und überall an seinem Körper entstanden Schuppen. Flaeros schwante, dass er es hier mit einem ausgewachsenen Schlangenpriester zu tun hatte. Der Mund des Fremden weitete sich, ohne dass er im Zischen auch nur für einen Moment innegehalten hätte. Die Nase verbreiterte sich, und das Maul darunter öffnete sich, um gefährlich spitze Zähne zu zeigen. Delkamper wimmerte, ohne dass er sich zum Schweigen bringen konnte, und schob sich zurück. Unbeholfen rutschte er über den Friedhofsrasen. Geradezu gemächlich glitt der Schlangenmensch mit erhobenem Oberkörper hinter ihm her. Bis auf die Arme war nichts Menschliches mehr an dem Fremden. Wie bei einer Hutschlange schaukelte der Oberkörper hin und her. Der Feind breitete nun die Arme weit aus, so als wolle er sein Opfer packen und dann seelenruhig beißen. Mit letzter Kraft versuchte der Barde noch einmal, auf die Füße zu kommen. Aber die Schlange ragte schon über ihm auf, und ihre gegabelte Zunge zischte vor dem Maul, dessen Lächeln auf abstoßende Weise dem Lachen des Fremden vor-
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hin ähnelte. Der Oberkörper der Schlange schnellte vor, und Flaeros fiel wieder zurück. Das Reptil schob sich auf seine Brust und hinderte ihn so daran, sich noch einmal erheben zu können. Nun bog die Schlange den Kopf sehr weit zurück, betrachtete ihn aus ihren goldenen und schwarzen Augen und öffnete das Maul so weit, dass man es nicht für möglich halten wollte ... Dann blitzte unvermittelt grelles Licht vor dem Jüngling auf. Fleischklumpen, Schuppen und spitze Zähne flogen durch die Luft. Ein grüngoldener Strahl packte den kopflosen Körper der Schlange. Der Schuppenleib wurde so heftig durchgeschüttelt, dass die Schuppen von ihm abflogen. Flaeros selbst schleuderte es ein Stück weit fort. Der Strahl zerschnitt den Schlangenkörper wie ein Metzger eine Wurst, und die Scheiben lösten sich noch in der Luft in Rauch auf. Das letzte Stückchen Schwanz flog schließlich gegen den fahrenden Sänger und traf ihn hart wie ein Peitschenhieb. Er plumpste darunter noch einmal aufs Hinterteil, landete zwischen Gras und Ranken. Hilflos rollte er davon, bis er gegen etwas Hartes, Kaltes und Altes prallte. Der grüngoldene Strahl war aus dem Schweigenden Haus gekommen, erinnerte er sich jetzt. Flaeros hielt diesen Gedanken fest und betrachtete ihn von allen Seiten, ohne viel damit anfangen zu können. Etwas später wurde ihm bewusst, dass er die Nase gegen Stein presste ...
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Gegen eine Silberbaum-Gruft natürlich, was denn auch sonst? Wie schön, wenn man einen so klugen und aufmerksamen Verstand besaß ... Doch dann drang etwas an sein Ohr, das sofort alle hübschen und sinnvollen Erkenntnisse verscheuchte. Schlurfende Schritte näherten sich ihm langsam, kamen aus dem Schweigenden Haus und stampften schwer über das Gras. Kamen nicht nur stetig näher, sondern auch genau auf ihn zu...
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Vierzehn
Schlangen und Sturmharfe C Die Dunkelheit lag wie ein schwerer Umhang über der Stille. Nur träge wehender Staub bewegte sich in der verlassenen Thronhalle von Treibschaum ... Zwischen den heruntergefallenen Steinen erhoben sich einige Menschen wie Statuen, doch sie wirkten so starr, als könnten sie weder sehen noch hören. Tschamarra starrte auf eine vielleicht einen Meter von ihr entfernten Stelle, an welcher sich jedoch rein gar nichts erkennen ließ, nicht einmal der allgegenwärtige tanzende Staub. Die Talasorn-Schwester hatte den Mund leicht geöffnet, die Augen weit aufgerissen und wirkte auch sonst höchst erstaunt. Doch ebenso mischten sich Müdigkeit und Triumph in ihren Zügen. Sie hatte die Hände halb erhoben, so als gelte es eine Schar von Feinden und Widrigkeiten abzuwehren – und es waren gerade ihre Finger, welche sich als Erste wieder bewegten. Unendlich langsam, langsamer noch als die treibenden Staubkörner, richteten sie sich auf, bis sie gerade dastanden. Raulins Miene war mitten im Schrei erstarrt, und ihn überkam die Rückkehr der Bewegung als Zweiten. Sein Kiefer
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schloss sich um ein Wort, welches niemand jemals hören würde. Der Jüngling wollte »Nein!« rufen, und in diesem Laut lag die ganze Verzweiflung eines fahrenden Sängers, welcher mit ansehen muss, wie ihm alles genommen wird, was ihm lieb und teuer ist. Glarsimber hatte ebenfalls seinen Schrei nicht zu Ende ausstoßen können. Aber seine Augen suchten in einer anderen Richtung, und zwar die Frau, nach welcher er rief: »Embra!« Doch das verhallte ebenso ungehört, wie von niemandem bemerkt wurde, dass er sich vor Schmerzen um die eigene Achse wand. Sarasper stand noch wie vorhin da und sah den König an – nur war der längst nicht mehr da. Der alte Heiler hatte immer noch die Arme gehoben, um wieder einmal seine Gestalt zu verändern. Nicht als Spinne, sondern als Vogel, um als solcher Kelgrael Schneestern gerade noch rechtzeitig erreichen und das Schwert ablenken zu können ... den Stahl gar zu packen, mit ihm hoch hinauf in den Himmel zu steigen und davonzufliegen – bis zu der Stelle, wo er es der Erwachten Schlange auf den Kopf fallen lassen könnte ... Aber noch während des Bannspruchs wusste Sarasper, dass ihm das niemals gelingen würde. So etwas klappte nur in den wüsten Geschichten, welche man sich abends am Lagerfeuer erzählte. Überall im Thronsaal bewegten sich jetzt die Freunde und Gefährten. Nur die Stille blieb unverändert, während die Dunkelheit sich abmilderte, wenn auch unmerklich langsam. Hoch über dem wirbelnden Schaum an der Stelle, wo sich
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der Strom unterhalb der Burg Treibschaum an den Klippen rieb, hing ein Wasservogel vollkommen regungslos, erstarrt in der Luft ... Selbst gewaltige Zauber benötigten eben eine gewisse Zeitspanne, bis sie alles erreicht hatten. Die Ritter und Soldaten spähten vorsichtig voraus, als ihre Boote sich der Anlegestelle von Treibschaum näherten. Eine schattendunkle Wolke hüllte die gesamte Insel ein, und die Männer fürchteten sich vor deren düsterem Leuchten. »Zauberei!«, fluchte ein Soldat und packte sein Schwert fester. »Dreimal verwünschtes Hexenwerk!« Der verhüllte Schlangenpriester, welcher neben ihm hockte, lachte kalt auf, und der Kriegsmann wich erschrocken ein Stück vor ihm zurück. Andere Schlangenanhänger fielen in dieses höhnische Gelächter ein und erhoben sich einer nach dem anderen. Sie warfen ihre Umhänge ab, und darunter glitzerten Schuppen und Beine, welche bereits zum Schlangenleib zusammengewachsen waren. Noch während die Ritter und die Männer des Fußvolks nicht wussten, ob sie ihren Augen trauen durften, bedeckten sich auch die Schultern und Arme der Schlangenanhänger mit Schuppen. Ihr Haar ging zurück, und die ganze Zeit über lachten sie aus vollem Hals ... Als die Kähne endlich anlegten, sprangen die Männer so schnell hinaus wie noch nie in ihrem Leben. Aber schon schlugen die Schlangen zu. Wie es sich ergab, hatte jedes Boot einen ihrer Priester befördert.
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Die Schlangenmäuler bissen jeden, dessen sie habhaft werden konnten, und rasch wuchsen rings um die Priester die Leichenberge. Diese fingen nun an, eine Beschwörung in die sich langsam hebende Dunkelheit zu singen. Die Soldaten, welche rasch genug aus den Kähnen hatten kommen können, bemerkten nie, dass sie auf dem Weg nach oben mitten im Schritt stehen blieben. Sie sahen auch nicht die Schlangen, welche sich nun auf die Insel wanden, noch fiel ihr Blick auf den Wasservogel über ihnen, welcher übergangslos seinen Flug fortsetzte. Noch die Offiziere und Hauptleute, welche ins Wasser gesprungen waren und hofften, so den Schlangen zu entgehen, welche ganz versessen darauf zu sein schienen, an Land zu kommen. Wenn die Hauptleute diesen Tag überleben sollten, würden sie ihrem Herrn Blutklinge aber mal die Augen öffnen über die Art der Schlangenpriester. Mittlerweile dämmerte ihnen auch, dass es sich bei allen Verhüllten in ihrer Truppe um Schlangenpriester gehandelt hatte. Diese hatten sich auf die Kähne verteilt, sodass sich schon bei der ersten Überfahrt in jedem Kahn einer von ihnen befand. Wollten sie schon am ersten Ansturm auf die Königsburg teilnehmen? Dürstete es sie so sehr, ihr Blut zu vergießen? Aber nein, Schlangenpriester unterschieden sich nicht nur äußerlich von Menschen, sondern auch in ihrer Denkart. Und der Tod besaß für sie keinen Schrecken. Die Hauptleute hörten über sich das erste Waffengeklirr, und kurz darauf die ersten Schreie. Die Hauptleute wagten es noch nicht, sich aus ihren Verstecken zu erheben. Und im Warten kamen ihnen wieder die
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trüben Gedanken. Warum rief der Kriegsfürst, der Hoffnungsträger des Reiches, Schlangenpriester an seine Seite? Warum zog er mit ihnen gemeinsam in die Schlacht? »Was immer das auch für ein Bann gewesen sein mag«, grunzte ein in die Jahre gekommener Ritter seinem Kameraden zu, während sie beide um Atem rangen. Nach einem anstrengenden Sturmlauf den Berg hinauf hatten sie endlich die südlichen Gärten erreicht. »Er ist jetzt fort, und das freut mich doch ungemein. Jetzt renne ich doppelt froh mit meinem Schwert in den Palast.« Ein anderer Recke ruckte und meinte keuchend: »Lasst mich ... nur noch ... ein wenig ... verschnaufen ... dann komme ich gern mit!« »Klar doch, Landron, ich kann selbst noch einen Moment der Rast vertragen und – bei der Dreifaltigkeit!« Entschlossene Hände ergriffen Landron bei den Armen und zerrten ihn geradezu hinter sich her. »Was ist denn los mit Euch, Telezgrar?«, fuhr der Recke den Kameraden an und packte sein Schwert. »Was habt Ihr eigentlich vor?« »Lauft, Landron, blöder Kerl! Rennt um Euer Leben!« »Wieso?«, wollte der Mann wissen, ehe Telezgrar ihn an beiden Armen buchstäblich hinter sich herzog. Stolpernd fand Landron Steinturm erst nach einem oder zwei Momenten Gelegenheit, nach hinten zu schauen. Und da bekam er auch gleich den Grund für die Hast des Kameraden zu sehen. An der obersten Stufe richtete sich ein Schlangenleib steil
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in die Höhe auf. Während sein hinteres Ende sich noch über die Stufen wand, ragte das Vorderteil in doppelter Mannshöhe auf. Goldene Augen starrten Landron an, und bedrohlich langsam öffnete sich das Maul mit den langen Zähnen. Als hinter dieser eine zweite Schlange auftauchte, krächzte Steinturm einen Fluch hinaus. Da nahm er die Beine in die Hand und rannte hinter Telezgrar her, als ginge es um ein Wettrennen. Sie bekamen zwar nicht viel von den Schönheiten dieser Gärten mit, bemerkten aber doch die Farne am hinteren Ende – und die erschienen ihnen als lohnendes Ziel! »Seht nur!«, rief ein Ritter und zeigte mit seinem Schwert voraus. Ein Stück weiter vorn rannten zwei Ritter durch den Garten, als sei ein Schwarm Bienen hinter ihnen her. »Die gehören nicht zu uns«, brummte Fürst Loushoond. »Das müssen Palastwächter von Treibschaum sein.« »Sollen wir sie niedermachen?«, fragte ein Soldat begierig. Der Fürst lächelte säuerlich. »Zuerst prügeln wir aus ihnen heraus, wovor sie eigentlich davonlaufen.« »Vielleicht vor der Dunkelheit«, vermutete Tarlagar. »Die hat auf zehn Meilen gegen den Wind nach Magie gestunken.« »Wollt Ihr die Güte haben, uns endlich mit Eurer verdammten Finsternis zu verschonen?«, knurrte Loushoond. »Die Dunkelheit wurde also von einem Zauberbann ausgelöst, na und? Und in China ist ein Sack Reis umgekippt.« »Wo soll denn China liegen?« »Gebt beide Ruhe!«, grollte Ornentar so laut, dass sogar die beiden fliehenden Ritter ihn hörten. Sie blieben kurz ste-
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hen, sahen sich an und rasten dann wieder los. »Also«, meinte ein Hauptmann, »da wir nicht hinter den zweien her sind –« »Solltet Ihr das jetzt schleunigst nachholen«, unterbrach ihn Loushoond und sah ihn mit eiskaltem Lächeln an. »Und dabei, wenn Eure Zeit es erlaubt, feststellen, was die zwei so in Panik versetzt hat.« »Das lässt sich leicht beantworten, Herr«, erwiderte der Hauptmann. »Sie fliehen vor denen da!« Er deutete mit seinem Streitkolben auf zwei enorm große Schlangen, welche sich ziemlich flott durch den Garten wanden. »Der Regent stand mit den Schlangenanbetern im Bunde?«, entfuhr es Tarlagar. »Bei der Dreifaltigkeit, wir hätten ihn gleich in dem Moment erschlagen sollen, in welchem Schneestern ihm dieses Amt übertrug!« »Aber damit wären die beiden Ritter ja wohl kaum Palastwächter!«, murmelte Loushoond gereizt. »Oder glaubt Ihr etwa, die Hilfszauberer, über welche Schwarzgult noch gebieten dürfte, würden sich mit den zweien einen derben Spaß erlauben?« »Schwarzgult hat nichts mehr, weder Hilfszauberer noch Zauberlehrlinge!«, entgegnete Ornentar noch unwirscher. »Nun ja«, erwiderte Tarlagar gedehnt, »die SilberbaumHexe steht noch in Treue zu ihm. Fürstin Embra von den Drei Dutzend Edelsteinen, oder wie immer man sie nennt. Obwohl Schwarzgult der Todfeind ihres Vaters war, dient sie ihm jetzt. Einen von beiden wird sie wohl verraten, ihren alten Herrn oder ihren neuen ... Wer weiß schon, was Schneestern ihr versprochen hat?
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Wahrscheinlich irgendeinen ebenso hochtrabenden wie bedeutungslosen Titel.« »Hochfürsten!«, schnaubte Loushoond. »Was für Titel für die Buhle Seiner Majestät und ihre drei Schoßhündchen!« »Meine Herren«, warf Fürst Ornentar sein, »mir ist zu Ohren gekommen, Schwarzgult solle Embra gezeugt haben.« »Oho!«, grinste Tarlagar. »Kein Wunder, dass Silberbaum ihn so sehr gehasst hat! Dieser Frauenheld! Seit Jahren schon hört man immer wieder Geschichten, dass er hinter dieser oder jener Fürsten- oder Terseptengattin her gewesen sein soll. Na ja, wer weiß, was da dran ist –« »Wir alle haben auch genug Geschichten über Silberbaum gehört«, bemerkte Loushoond. »Gegen seine Ränke und Hinterhalte war Schwarzgult der reinste Chorknabe.« »Vorsicht!«, warnte der Hauptmann. »Ihr wagt es, uns Befehle zu erteilen?«, brauste Loushoond auf. Der Fähnleinführer sah ihn nur verächtlich von oben herab an. »Blast Euch nicht so auf, Fürst Köter von Lauseheim! Meinetwegen mögt ihr drei Hochwohlgeborenen noch den ganzen Tag hier Müßiggang betreiben und euch über Buhlen, Fürsten und Magier das Maul zerreißen – dann können sich die Schlangen dort nämlich in aller Ruhe an Euch gütlich tun!« Damit sprang der Hauptmann ins nächste Gebüsch und ward nicht mehr gesehen. »Was wollte der Hundsfott?« »Was für ausgemachte Hurensöhne habt Ihr nur in Euren Diensten?« »Schluss jetzt, und flugs das Schwert gezogen!«, brüllte Or-
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nentar dazwischen; denn eben schob sich ein Schlangenkopf von beachtlicher Größe in sein Sichtfeld und lächelte ein sehr fettes Grinsen. »Wie sssön«, zischte das Reptil, »da haben wir unsss ja alle eingefunden, um Aglirta eine neue Sssukunft sssu geben.« Damit bis sie einem Ritter den Kopf mitsamt Helm ab. Schon schob sich ein zweiter Schlangenkopf neben dem ersten hoch, und mit einem gemeinsamen Entsetzensschrei wandten sich die drei Fürsten mitsamt ihrem Gefolge zur Flucht. »Dort hinein!«, beschimpfte Tarlagar den Ritter vor ihm und schlug ihm mit der flachen Schwertseite aufs Hinterteil. »Verdammter Kerl!« »Aber da drinnen liegt einer, der ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, und er riecht noch wie ein Braten!« »Ach was!«, wandte ein anderer ein. »Der war schon verfault, ehe er ein Raub der Flammen wurde.« »Geht mir aus dem Weg!«, brüllte Tarlagar in höchster Not. Denn die Schlangen brachten gerade die Wiese hinter sich und schickten sich an, auf die Terrasse zu kommen, auf welcher der Fürst Zuflucht gesucht hatte. Er trat und schlug den Recken, welcher nicht hineinwollte und folglich, wenn auch sicher ohne Absicht, den Eingang versperrte. Dadurch angetrieben stieß der Ritter den Mann voran, welcher vor ihm stand. So gelangte der Fürst schließlich in den Palast und brüllte, kaum dass er Einlass gefunden hatte: »Die Pforte schließen! Zumachen und verriegeln!« Die anwesenden Ritter kamen dem Befehl sofort nach.
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Nicht nur aus Furcht vor ihrem Herrn, sondern auch bewegt von der Angst, die Schlangen könnten im nächsten Moment ihre hässlichen Köpfe hereinstecken. »Was nun, Herr?«, fragte einer der Recken danach sichtlich erleichtert. »Sie kommen durch das Fenster herein!«, kreischte ein anderer Ritter und zeigte aufgeregt auf dunkle Schatten, welche an der Scheibe vorbeihuschten. »Dann werden wir ihnen eben davonlaufen!«, schlug ein anderer Kämpfer vor. »Wenigstens sind wir schneller als sie.« »Wo ist denn eigentlich Fürst Loushoond abgeblieben?«, wollte ein anderer Kriegsmann wissen. »Ja, und Ornentar fehlt auch!«, bemerkte wieder ein anderer. »Sie sind durch eine andere Tür in den Palast«, antwortete ihnen ein vierter. »Ich habe gesehen, wie der Fürst dabei fast sein gesamtes Gefolge verloren hat.« »Was befehlt Ihr nun, Fürst Tarlagar?«, fragte der Erste. »Ich überlege noch«, entgegnete der Angesprochene, um zu verbergen, dass er keine Ahnung hatte. Doch als alle sich zu ihm umdrehten und ihn ansahen, fiel ihm in seiner Not nichts anderes ein, als mit dem Schwert voraus in die Dunkelheit zu zeigen. Sie gelangten in eine Halle, welche drei Zugänge aufwies. Von rechts kamen ebenfalls Gepanzerte hereinmarschiert. Noch während die Gefolgsmänner Tarlagars hinsahen, um auszumachen, um wen es sich bei diesen handeln mochte, fingen sie an zu rennen und brüllten: »Für Schwarzgult! Für Aglirta!« Dem Fürsten kamen die Tränen. Er machte auf dem Ab-
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satz kehrt und rannte aus der Halle. Seine Ritter sahen sich mit großen Augen an, zuckten die Achseln und stürmten ihm schon hinterher – der eine oder andere schnell genug, um seinen Herrn zu überholen. Blutklinges Getreue hingegen johlten und brüllten – und rannten noch schneller – galt es doch, die Feinde einzuholen, ehe sie sich in der weiträumigen Dunkelheit des Palastes verstecken konnten. Nun ertönte auch aus anderen Räumlichkeiten Geschrei und Waffengeklirr. Die Krieger von Loushoond und Ornentar waren ebenfalls auf Truppen des Duthjack gestoßen – und wurden von diesen Mann für Mann niedergehauen. WÄHRENDDESSEN »Auf mit Euch, Blume der Delkampers. Aglirta bedarf dringend der feinen Beobachtungsgabe und des ausgezeichneten Gedächtnisses eines fahrenden Sängers – und von dem Zepter in Eurer Hand will ich gar nicht erst anfangen.« Flaeros rollte herum und schaute zu dem Mann auf, welcher ihm vermutlich gerade das Leben gerettet hatte. Der Regent des Reiches stand groß und gut aussehend wie immer da, auch wenn seine Kleider verschmutzt und auch sonst wenig königlich wirkten und dunkle Linien sein Gesicht durchfurchten. Aber Schwarzgult konnte immer noch lächeln, und ein Dwaer kreiste über seinem Haupt. »Fürst? Herr?«, stammelte der Jüngling. »Was ist mit Euch geschehen? Wo kommt Ihr her?« »Ich bin in eine Schlacht zu viel geritten, so wie wir alle«, antwortete der Regent, löste die mit Silber beschlagene Feld-
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flasche von seinem Gürtel und reichte sie dem fahrenden Sänger. Flaeros nahm sie rasch entgegen und trank einen großen Schluck. Wein, und zwar ein edler Tropfen. Schwarzgult forderte ihn auf, noch mehr von dem Inhalt zu trinken. »Und was war das für eine überzählige Schlacht?«, fragte der Jüngling, nachdem er sich gestärkt hatte. »Nun, anfangs schien sich das Schlachtenglück mir zuzuneigen, dann wandte es sich gegen mich, und am Ende sah ich mich in finsterste Magie verstrickt.« Flaeros nahm einen weiteren Schluck von dem belebenden Getränk, ehe er seine nächste Frage zu stellen wagte. »Herr, edler Fürst, großmächtiger Regent ... Ihr wisst, dass ein Barde sich niemals mit so dürren Auskünften zufrieden gibt. Also, wem neigte sich Eurer Meinung nach zunächst das Schlachtenglück zu? Gegen wen habt Ihr dann doch verloren? In was für eine finstere Zauberei habt Ihr Euch verstrickt? Und wer hat sie gegen Euch bewirkt?« Schwarzgult hob eine Hand, um den Redef luss des Jünglings zu bremsen, ehe er anhub: »Die Schlangenpriester haben ihr eigenes Söldnerheer zusammengezogen. Diesen begegnete ich auf meinem Zug gegen Blutklinge, und ich schlug sie aufs Haupt. Doch hatte ich nicht mit diesem Feind gerechnet, und die Klingen der Schlangen wüteten furchtbar im Heer des Königs. Als diese Schlacht vorüber war, blieben mir kaum genug Männer, um gegen Blutklinge, welcher sich in seiner Vermessenheit schon als König sieht, anzureiten.« »Und darauf erkühnte sich der Emporkömmling, Euch an-
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zugreifen«, stellte der Jüngling fest. Als Barde kannte er ein Dutzend Geschichten, in welchen es sich ähnlich abgespielt hatte. Der Regent nickte. »Genauso kam es, und nun besteht kein königliches Heer mehr. Ein Unglück kommt selten allein, heißt es doch, und in dem Moment, in dem meine Krieger alle dahingesunken waren, kam zu mir der Magier Jhavarr Bogendrachen, welcher den Tod seiner Schwester zu rächen trachtete. Diese gehörte zu Tharlorns besten Zauberlehrlingen.« »Und sie war außerdem seine Buhlschaft«, warf der fahrende Sänger ein. »Doch als er ihrer Liebesspiele müde wurde, hat er sie beseitigt«, ergänzte Schwarzgult. »Zu meinem Leidwesen muss die Jungfer auf Reichsgebiet ihr Ende gefunden haben. Und da Tharlorn ebenfalls nicht mehr unter den Lebenden zu weilen scheint, mag Jhavarr zu dem Schluss gelangt sein, seinen Blutdurst an mir und Schneestern zu stillen – oder an jedem anderen, der auf Treibschaum irgendetwas zu sagen hat. Der Erzmagier hatte übrigens Embras Dwaer dabei und setzte ihn gegen mich ein.« Flaeros kam etwas zu Atem, fühlte sich aber immer noch schwach. Jeder einzelne Knochen im Leib tat ihm weh. »Die edle Herrin ist – tot?« Er bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen; denn vor ihm stand ihr leiblicher Vater ... Der Regent aber breitete hilflos die Arme aus. »Tut mir Leid, aber ich weiß nicht, was aus der Edlen geworden ist. Jhavarr meinte zwar, er habe sie vom Leben zum Tode befördert, aber ich glaube, dass es inzwischen eher ihm an den Kragen gegangen ist.«
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»Und was macht Euch da so sicher?« »Nun ja«, lächelte Schwarzgult, »immerhin habe ich zwei Dwaerindim gegen ihn geschleudert, und daraufhin entstand eine gewaltige Explosion. Da habe ich mich lieber in Sicherheit gebracht und bin mehr oder weniger glimpflich entkommen.« »Das nennt Ihr glimpflich?« Der Jüngling musterte das zerlumpte Äußere des Regenten. Danach betrachtete er dessen Gesicht. Auf seiner Miene spiegelten sich die Gefühlswallungen wider, welche ihn gerade bewegten. Darunter wechselten nicht nur die Schatten auf Schwarzgults Zügen, nein, sein Gesicht schien sich insgesamt dabei zu wandeln. Eigenartig, der Goldene Greif war ihm doch früher immer so gefasst und selbstbeherrscht erschienen. »Nun, die Explosionswucht hat nicht an mir gezerrt«, entgegnete der Regent. »Sie drang aber über den Dwaer in meinen Geist ein.« Er tippte sich zur Anschauung an die Stirn und fuhr lächelnd fort: »Ihr dürft nun gerne sagen, die Explosion habe mir den Verstand zerfetzt. Mein Gedächtnis spielt mir laufend Streiche – es kommt und geht, wie es gerade mag. Während der letzten Tage – wie viele es gewesen sind, wisst Ihr gewiss besser als ich – bin ich wie ein lebender Leichnam durch die Gegend gestolpert. Mir gebricht es an der Fähigkeit, die Heilkünste des Zaubersteins zu meinem eigenen Nutzen einzusetzen. Aber insgesamt habe ich den Eindruck, dass es mir heute ein ganzes Stück besser geht als noch vor Tagen.« »Mir erscheint Ihr in vorzüglicher Verfassung, Herr«, be-
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eilte Flaeros sich, ihm zu versichern. Er spürte den kalten Stein der Gruft an seinem Arm und wusste nicht, ob er es wagen durfte, sich zu bewegen. Schließlich wollte er ja nicht den Regenten aus seiner gegenwärtigen Stimmung aufschrecken, in welcher Offenheit Trumpf zu sein schien. Außerdem, bei den inneren Schwankungen, welche Schwarzgult gerade durchlitt, war es nicht auszuschließen, dass seine Freundlichkeit in Wut umschlug und er mit dem Schwert auf den jungen fahrenden Sänger losging. Momentan konnte man sich das zwar kaum vorstellen, aber jeder Mensch hatte nur ein Leben zu verlieren, und da war Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. »Was für eine Genugtuung«, lächelte Embras Vater, »dass ich immerhin noch einem guten Sänger etwas vorzumachen vermag.« Das konnte man so oder so verstehen, sagte sich der junge Delkamper. Er beschloss, sich so zu verhalten, wie das jeder gute Barde getan hätte. »Und wie ging es dann weiter?«, fragte Flaeros den Fürsten. »Was ist eigentlich aus dem zweiten Dwaer geworden? Und wenn wir schon dabei sind, wo ist der Zauberstein Jhavarrs abgeblieben?« Der Regent nickte zufrieden, so als habe der Jüngling gerade eine Bewährungsprobe bestanden. »Beide Steine, nach denen Ihr fragt, müssen wohl der Explosion zum Opfer gefallen sein.« Er breitete wieder zum Zeichen seines Unwissens die Arme aus. »Wahrscheinlich sind sie aber irgendwohin entschwun-
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den«, fuhr er nach einem Moment fort. »Wenn sie wirklich zerstört worden wären, hätte ich das sicher in meinem Geist gespürt ... Manchmal glaube ich, beide sind in verschiedene Richtungen entschwunden. Aber so, wie es mir in der letzten Zeit ergangen ist, kann ich mir natürlich bei überhaupt nichts mehr sicher sein.« Der Jüngling nickte, und die Männer sahen sich an. »Herr, verratet Ihr mir, wenn’s genehm ist, wie denn nun Eure weiteren Vorhaben aussehen?« »Ach«, wehrte Schwarzgult ab, »von irgendwo her beschleicht mich in diesen Tagen immer häufiger der Eindruck, nichts sei noch wirklich wichtig. Da meine Tochter offensichtlich tot ist, interessiert mich nichts mehr ...« Er ließ den Kopf hängen, doch der ruckte nach einem Moment wieder hoch. »Doch ich will verflucht sein und auf Ewigkeit in der Hölle schmoren, wenn ich zulasse, dass die elenden Schlangenküsser Aglirta in ihre Schuppenhände bekommen! Und auch die Zauberer will ich daran hindern, welche die Menschen unterdrücken und in ihrem ganzen Leben noch keinen Holzscheit gespalten, kein Brot gebacken und kein Gewand selbstständig angezogen haben!« Der Regent lief aufgeregt auf und ab, bis er zu Flaeros herumfuhr und grollte: »Von denen nehme ich so viele mit ins Grab, wie ich nur vermag. Und selbst wenn der Strom danach mehr Blut als Wasser führen sollte!« Wie zur Bestätigung seiner Worte bebte jetzt die Erde. Fluchtartig und laut schimpfend verließen ganze Vogelschwärme rings umher Bäume und Sträucher.
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Tief in der Erde rumpelte es mächtig, und Flaeros glaubte zu erkennen, dass sogar eine schwere Familiengruft wackelte. Das Beben lief unter den beiden Männern hinweg, erreichte das Schweigende Haus, brachte es zum Ächzen und entfernte sich dann in Richtung Fluss. Sowohl der Junge wie auch der Alte starrten schon zum Strom. Eine dunkle Wolke löste sich von der Insel Treibschaum und stieg immer höher in den Himmel über dem Stromtal. Eine fette und glänzende braune Wolke, wie der fahrende Sänger sie nie zuvor gesehen hatte. Noch während die beiden hinschauten, veränderte sich das Gebilde und färbte sich schwarz. Bestimmt war hier Zauberei im Spiel! Der Regent und der Barde verfolgten, wie die Wolke sich zu einer riesigen Schlange wandelte. Sie richtete sich auf und schien mit ihren großen Augen das ganze Reich erfassen zu wollen. Kurz zeigte sich eine gegabelte Zunge und verschwand ebenso rasch wieder im Maul. Letzteres öffnete sich nun und zeigte seine riesigen Zähne, so als wolle es ein tüchtiges Stück aus Aglirta herausbeißen ... Doch dann schloss die Schlange das Maul wieder, und das Untier löste sich auf. Es wurde nicht Rauchfäden gleich vom Wind davongetragen, sondern stetig dünner und durchsichtiger. Die beiden Männer starrten noch eine ganze Weile auf die Insel, auch dann noch, als von der Schlange schon nichts mehr zu erkennen war. Dann ergriff der Regent mit seinen kräftigen Armen den
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Jüngling, zog ihn hoch und stellte ihn auf die Füße. »Wohlan denn, junger Barde der Delkamper, stellt Euch hier zu mir und bezeugt«, befahl Schwarzgult mit einer Stimme, welche keinen Widerspruch zuließ. »Und während Ihr hinschaut, denkt Ihr Euch schon eine die Herzen bewegende Weise für Euer nächstes Lied aus, welches da den Namen tragen wird: Der letzte Kampf des Sturmharfe!«
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Wenn man dem Thron zu nahe steht C Die Dunkelheit verzog sich so rasch wie ein Leichentuch, welches man vom Körper eines Toten reißt. Die weise Frau fuhr halb erschrocken und halb enttäuscht davor zurück. Wenn der ungeduldige Kaufmann sie besser gekannt hätte, wäre ihm der Anflug von Panik auf ihrer Miene nicht entgangen, als sie sich erneut ihren Tanthor-Karten zuwandte. Dann sah sie es endlich. Leise den Kopf schüttelnd betrachtete sie jede einzelne Karte – verwundert und sich viel Zeit lassend, so als habe sie zum ersten Mal Tanthor gelegt. Der Blutstropfen, welchen sie von ihrem Finger in die Schale hatte tropfen lassen, hatte sich irgendwie entzündet und war im Nu fortgebrannt. So etwas hatte der Kaufmann noch nie gesehen, aber was ihm von den Karten ins Auge fiel, schien ihm mehr als gut, ja, geradezu ausgezeichnet zu sein. Kräftig leuchteten sie blau auf dem dunklen Tuch, nun da die übliche Wolke – der »Schatten der Götter« – sich verzogen hatte.
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Im Herzen der aufgedeckten Karten zeigte sich vornehmlich Gold. Das Beladene Schiff, die Fünf Goldsäcke, der Perlenregen, die Drei Kronen und die Sieben Rubine. Im nächsten Kreis fanden sich das Wagenrad, die Strahlende Burg und die Glücksbrücke. Und nirgends waren solche Karten zu entdecken wie die Karte des Narrenlandes oder die Räuberfalle ... Warum verzog die Alte dann das Gesicht? Die Karten verhießen ihm doch großen Reichtum. Bei der Dreifaltigkeit, so gut waren sie noch nie für ihn ausgefallen! Lediglich der Schädelhügel störte ein wenig in diesem Bild. Das bedeutete eine Schlacht, bei der ein ihm bekannter Mensch den Tod finden würde. Nun, Kirlstar der Seidenmann dachte aber gar nicht daran, in absehbarer Zeit in irgendeine Schlacht zu ziehen. Sollten die Trottel in Aglirta sich doch gegenseitig abmurksen und ihr Land ein weiteres Mal mit Blut tränken. Hauptsache, sie gaben ihm vorher ihre Reichtümer! He, Moment mal! Was war denn jetzt in diese verrückte Vettel gefahren? Sie schob ihm sein Geld zurück und hatte alle Farbe aus dem Gesicht verloren. »Geht«, forderte sie ihn mit Grabesstimme auf, so als stünde der Weltuntergang bevor und nichts und niemand würde gerettet. »Steckt Eure Goldmünzen wieder ein. Ich vermag Euch heute nicht Eure Zukunft vorherzusagen.« »Wie bitte?«, schrie der Seidenhändler, aber mehr aus Verblüffung als aus Wut. »Ihr vermögt es nicht? Was soll denn solche Narretei?« Er zeigte erregt auf die Kartenkreise. »Seht doch! Goldsäcke, Perlenregen, Kronen und Rubine. Alle im Innenkreis.«
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Seine Stimme klang immer schriller, aber das wollte er sich nicht entgehen lassen. »Noch nie haben die Karten mir eine so günstige Zukunft verheißen! Und da kommt Ihr jetzt und tut so, als könntet Ihr mit diesen Karten nichts anfangen? Was sollte mich daran hindern, an all diese versprochenen Reichtümer zu kommen?« »Bitte!«, flüsterte die weise Frau, ohne sich von ihrem Platz zu erheben. Funken schlugen aus den Karten, Rauch stieg von ihnen auf, und die Alte vergoss Tränen. Kirlstar bekam es nun mit der Angst zu tun, auch wenn er sich nicht erklären konnte, was ihn eigentlich in Schrecken versetzte. Er riss sein Geld an sich, schwankte zwischen Furcht und dem dringenden Wunsch, endlich zu erfahren, was eigentlich los war, und rannte dann wortlos aus dem kleinen Laden in der Graemere-Straße. Orathlee blickte derweil wieder auf ihre Karten und läutete dann mit zitternder Hand nach ihren Töchtern. Wenn sie die Botschaft dieser Karten richtig verstanden hatte, mussten die Mädchen packen und noch in dieser Nacht verschwinden. Vor allem störten die Weise der Drache in der Frühdämmerung, der Morgen über den Türmen ... Unmöglich zu erkennen, ob die deutliche Warnung der Göttin besagte, dass die Gefahr in Kürze wie ein Blitz über die Weise hereinbrechen würde, oder ob ihr noch bis zum nächsten Morgen Zeit bliebe. »Drachenfeuer!«, murmelte Orathlee, als sie hörte, wie ihre Töchter heraneilten. Bis die Mädchen eintrafen, schaute die Mutter noch einmal auf das ungeheuerliche Bild hinab.
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Drachenfeuer. Die Karten lügen nicht. Kein Zweifel möglich. Jahrhunderte waren vergangen, seit die Karten das letzte Mal so gefallen waren. Die alten Seher und weisen TanthorLehrer betonten das immer wieder. Damals hatten sich zwei Drachen über dem schönen Land Loroncel buchstäblich in der Luft zerrissen und mit ihrem Regen die ganze Gegend verwüstet. Seitdem war Loroncel bis auf den heutigen Tag eine Wüstenei geblieben. Und davor hatten keine Drachen das Land verwüstet, sondern ein Sturm, hervorgerufen von einigen Bannen, welche sich verselbständigt hatten, weil sie für den unerfahrenen Zauberer doch ein Nummer zu groß gewesen waren. Orathlee erinnerte sich noch gut daran, wie sie davon im Unterricht gehört hatte. Die Banne hatten sich zu furchtbarer Wucht vereint, bis sie von keinem Magier mehr aufgehalten werden konnten, und dann die berühmte und wunderschöne Stadt Chalsymbryl im Meer versinken lassen. »Drachenfeuer« hatte man das damals genannt. Die Seeleute nannten diese Untiefe mit ihren gefährlichen Strudeln heute noch das Untergegangene Chalsym. Seeleute – Schiffe! Sie mussten unbedingt eine Passage auf dem nächsten Kauffahrer ergattern – ganz gleich, was der geladen hatte oder wohin er unterwegs war. Nicht einmal vor einer Frachtladung Sklaven würden sie zurückschrecken – wozu auch, Orathlee war selbst jahrelang Sklavin gewesen. Die Weise schüttelte leicht den Kopf, als Meleira und
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Take mit grimmiger Miene und einem scharfen Dolch in der Hand die Treppe heruntergestürmt kamen. »Drachenfeuer«, murmelte die Alte. Wer hatte die Götter so herausgefordert, dass sie sich derart rächen wollten? Die Dunkelheit verging so rasch, als hätte man das Leichentuch von einem Toten gezogen. Helles Tageslicht strömte wieder durch die hohen Fenster und beleuchtete den Thronsaal. Raulin schaute immer wieder auf die leere Stelle neben Tschamarra Talasorn, an welcher sich eben noch der König befunden hatte. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Sarasper erging es nicht besser. Ohne dass er es bemerkte, verwandelte er wieder seine Gestalt. Mal wuchsen ihm Federn, dann wurde er wieder zum Menschen, und am Ende stand der Heiler wieder wie gewohnt als alter Mann da. Glarsimber trat vorsichtig zwei Schritte auf den Thron zu. Da! Was hatte sich da hinter den Steinen bewegt? Unwillig schüttelte er das Haupt. Was taugten schon Edle, wenn sie das ihnen verliehene Fürstentum nicht in Ehren hielten, sondern sich gegen den König verschworen? Er gelangte an eine Stelle, von welcher aus er mehr erkennen konnte. Embra und Hawkril lagen in völlig verdrehter Stellung zwischen den Steinen. Die Herrin hatte die Arme ausgebreitet, und ihr langes Haar bildete darüber einen glänzenden halben Heiligenschein. Der Ritter lag halb unter ihr begraben. Seine leeren Augen starrten zwischen Embras Stiefeln hinauf an die Decke. Hawkrils Mundwinkel zuckten, und dann kam ein Schwall
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unverständlicher Laute über seine Lippen. Endlich ertönte von ihm ein Geräusch, welches man am ehesten als Stöhnen bezeichnen konnte. Von der Edlen hörte man hingegen keinen Ton, als sie sich plötzlich auf Hände und Knie aufrichtete. Sie krabbelte ein Stück auf die Wand zu und kehrte ihren Gefährten den Rücken. »Herrin?«, rief Hellbanner und trat einen Schritt auf sie zu. »Ich habe einen Drachen gesehen ...«, flüsterte die Edle, aber man konnte nicht heraushören, ob sie das dem Fürsten oder sich selbst mitteilte. »Embra?«, fragte Glarsimber. »Fehlt Euch auch nichts?« Die Herrin hielt inne, drehte sich zu ihm um und starrte ihn für einen Moment verständnislos an, bis ein Schimmer des Wiedererkennens über ihre Züge huschte. »Ja, ich glaube schon«, antwortete sie. »Wenn ich Craer wäre, würde ich wohl entgegnen, dass es mir nicht nur an nichts fehlt, sondern vermutlich einigermaßen gut geht ... Aber ich glaube, nach Wortfechtereien steht uns jetzt beiden nicht der Sinn.« Hellbanner starrte sie an, als fürchte er ernsthaft um ihren Geisteszustand. Mehr wackelig als elegant kam sie hoch und auf die Füße. Vorsichtig lief sie ein paar Schritte zur Probe und konnte dann feststellen: »Nichts scheint gebrochen zu sein.« Damit baute die Edle sich mit den Fäusten in den Seiten vor dem Recken auf. »Hawkril! Auf mit Euch! Was liegt Ihr –« »Ich muss noch leben«, stöhnte der Hüne, »sonst hätte ich Eure liebliche Stimme kaum vernehmen können.« Er rieb
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sich die Stirn und die Augen. »Über alles andere kann ich jedoch im Moment keine Auskunft geben, da müsst Ihr schon die Götter fragen.« Embra fand das urkomisch. Sie hielt sich die Hände vor den Mund und prustete drauflos. Als der Anfall vorüber war, trat sie zu ihrem Gefährten und legte ihm ihre Hände auf den Kopf. Einen Moment später küsste sie ihn sanft – und musste danach schon wieder kichern. Der Recke erhob sich jetzt und umarmte sie. Ihr langes Haar legte sich über beider Gesichter, und von den zweien bekam man jetzt nur noch leise schrille Geräusche und dumpfes, kurzes Grollen mit. »Wie schön, den beiden geht es allem Anschein nach gut«, bemerkte Craer, der eben an Glarsimbers Seite trat. »Eines stört mich allerdings ein wenig: Zu mir ist niemand gelaufen gekommen, um mich auf ähnliche Weise in die Wirklichkeit zurückzuholen.« »Das mag daran liegen«, entgegnete Hellbanner, »dass wir alle genau wissen, wie wenig Euch etwas anhaben kann. Und wenn es auch für einen Moment so aussieht, als wäret Ihr in Gefahr geraten, so haben wir doch oft genug feststellen dürfen, dass sich dahinter nur eine Kriegslist Eurerseits verbirgt.« »Grundgütiger!«, entfuhr es dem Beschaffer. »Lernt man so etwas auf der Sonderschule für angehende Fürsten?« »Nun ja, meine Lehrmeister waren Diebe«, erwiderte Glarsimber. »Bitte um Vergebung, ich wollte natürlich ›Beschaffer‹ sagen.« »Das merkt man überdeutlich«, verdrehte Craer die Augen. »Zu viele Fürsten haben in der letzten Zeit auf ihren Leib-
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Beschaffer gehört, und seht nur, was sie aus Aglirta gemacht haben!« »Der König ist tot!«, unterbrach sie die bestürzte Stimme Raulins. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er sich entleibt hat!« »Ja, ich auch!«, bestätigte Sarasper vom anderen Ende des Saals. Glarsimber und Craer drehten sich zu dem Heiler um und entdeckten, dass er mit Tschamarra Talasorn dastand und die beiden sich anstarrten, als wären sie gerade Zeugen eines Wunders geworden. »Die Schlangenpriester haben die Bindungen des Königs zerstört!«, rief Embra aus einer ganz anderen Ecke des Saals dazwischen und löste sich von Hawkril. Der Recke trat zu ihr und hielt die Gefährtin, weil sie so sehr zitterte. »Gewiss kommen sie bald hierher. Helft mir, ich brauche alle Magie, derer ich habhaft werden kann!« Die anderen starrten sie an, und die Edle sah sich genötigt, hinzuzufügen: »Mag der König gefallen sein, Aglirta lebt noch. Deswegen sind wir alle – bis auf die Hexe dort natürlich – an unseren Eid gebunden. Meine Herren, tut eure Pflicht!« Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie nicht verstand, warum noch niemand die letzte Talasorn-Schwester beseitigt hatte ... und warum die nicht längst mit Blitzen und Zauberspeeren um sich warf. Aber Embra ging nicht weiter darauf ein und fügte sich offenbar ins Unvermeidliche. Immerhin standen wichtigere Dinge an. »Als Faerod Fürst Silberbaum noch dieses Haus regiert
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hat«, erklärte die Zauberin stattdessen, »haben seine Magier mich durch besondere Banne an dieses Gemäuer gebunden. Daher weiß ich heute, wo die Zauber untergebracht sind. Wenn die Dreifaltigkeit uns gnädig ist und ihr nicht länger dumm herumsteht, finden wir das meiste davon!« »So zeigt uns den Weg, o Herrin!«, äffte Craer ihren Tonfall nach. »Wo sollen wir nachschauen?« »Zunächst an der Rückseite der Tür hinter dem Thron«, antwortete die Edle sofort und zeigte darauf. »In das Zierwerk dort ist ein Zauberstab eingelassen. Den bringt mir rasch!« Nach einem kurzen Moment zeigte Embra in eine andere Richtung. »Den Flur dort hinunter – der dritte Schild rechts birgt ebenfalls einen Zauber – Am gleichen Haken hängt ein Armreif. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein Stück Schnur, doch das ist nur Tarnung – Den bringt mir auch.« Und weiter ging es ... »Craer, kennt Ihr den Balkon, von welchem man eine ausgezeichnete Aussicht auf die Farne hat? Tretet dort ans Fenster. Das Fensterbrett lässt sich öffnen, indem man die zwei schwarzen Ziersteine daran drückt. Bringt mir alles, was Ihr darin findet.« Die Edle schwieg, ließ aber den Mund offen, so als würde gleich noch etwas folgen. Nach einem Moment winkte sie ab: »Die anderen Gegenstände befinden sich zu weit fort ... die können wir niemals rechtzeitig herbeischaffen.« Der Beschaffer humpelte los und zupfte unterwegs Raulin am Ärmel. Zusammen schritten sie dann hinaus auf den langen Gang, wo sich unter dem Schild der Armreif befinden
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sollte. Glarsimber machte sich auf die Suche nach dem Zauberstab. Der Weg zur Tür war von herabgefallenen Steinen übersät. Nur mit Mühe konnte man über sie hinwegsteigen. »Na, habt Ihr Euch verletzt, alter Langfinger?«, fragte Hawkril Craer, als er dessen schmerzverzerrte Miene bemerkte. »Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter!«, gab der Beschaffer unwirsch zurück und humpelte weiter. Embra hatte sehr dringlich geklungen, und das bedeutete, dass Gefahr im Anzug war. Als Craer die Tür zum Flur aufstieß, erkannte er, wie Recht die Freundin damit hatte. Auf halber Ganglänge näherten sich drei oder vier Dutzend Ritter. Doch sie kamen nicht auf den Dieb zu, sondern gaben einem Feind Raum, mit welchem sie im erbitterten Gefecht standen. Noch während Craer und Raulin hinstarrten, brach ein Mann ächzend zusammen und hielt sich den Hals. Eine Klinge war dort vorn eingedrungen und im Nacken wieder ausgetreten. Der Beschaffer nahm die Feindesschar in Augenschein und erkannte die Wappen von Loushoond, Tarlagar und Ornentar. »Der Tanz geht schon los«, meldete Craer den Gefährten, doch die hatten den Ansturm der Feinde schon mitbekommen. Aus dem Thronsaal ließ sich durch die offene Tür leicht das Getümmel im Gang erkennen. Craer schloss die Tür gleich und suchte vergeblich nach
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einem Riegel. »Drei Fürsten machen uns ihre Aufwartung. Aber seltsamerweise haben sich Männer gefunden, welche sie und ihre Soldaten aufzuhalten versuchen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie ungewöhnlich für Treibschaum, oder? Schöne Hochfürsten sind wir, was? Aber erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt ...« Raulin stolzierte derweil auf die Fürstentochter zu und verkündete fröhlich: »Schild und Armreif, bitte sehr.« »Hawkril!«, rief Glarsimber von der Hintertür, »ich könnte hier Hilfe gebrauchen ...« »Bin schon unterwegs«, entgegnete der Recke und humpelte sichtlich unter Schmerzen zu Hellbanner. Als Sarasper das sah, seufzte er und verwandelte sich in die Wolfsspinne. Die Hexe schaute fassungslos zu, und als die Beine des Alten immer länger wurden und sein Kopf sich verformte, hob die letzte Schwester die Hände, um das vermeintliche Ungeheuer in die Schranken zu weisen. Ein warnender Blick Embras ließ sie jedoch innehalten. Die Spinne kümmerte sich aber auch gar nicht weiter um Tschamarra, sondern krabbelte an einer Wand hoch und dann über die Decke zu der Tür, welche Craer eben geschlossen hatte. Der Beschaffer selbst baute sich gegenüber diesem Eingang auf und tastete seine Stiefel und Ärmel ab, um festzustellen, ob sich alle Wurfmesser noch an Ort und Stelle befanden. Von einem unter einem Stein zerschmetterten Geschmolzenen borgte der Dieb sich das Schwert aus und fühlte sich nun ausreichend gerüstet. Nur Tschamarra stand noch an Ort und Stelle. Sie schaute hierhin und dorthin, um alles in sich aufzunehmen, was die
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Gefährten hier trieben. »Kann ich auch irgendwie helfen?«, fragte die Hexe schließlich unsicher. Embra zog die Brauen hoch, fasste sich aber gleich wieder und deutete stumm auf die Tür, an welcher Ilibar Quelver so viele Jahre lang Wache gestanden und entschieden hatte, wer Einlass in den Thronsaal fand und wer nicht. »Begebt Euch in den dortigen Vorraum«, gebot die Edle. »Von diesem gehen drei Türen ab. Im rechten stehen drei Rüstungen an der Wand aufgereiht. Bringt mir den Helm der hintersten!« Die Hexe verneigte sich und eilte schon los. Embra wandte sich an den Jüngling, welcher immer noch mit Schild und Schnur vor ihr stand. Sie nahm ihm den Reif ab und zog ihn sich bis über den Oberarm. Danach stellte die Herrin den Schild vor sich und stützte sich darauf. »Berichtet mir kurz und bündig, wie es dem König ergangen ist«, verlangte die Zauberin nun von Raulin zu erfahren. Als die letzte der Schwestern durch die Tür zum Vorraum verschwunden war, fügte Embra hinzu: »Und erzählt mir auch, welche Rolle die Hexe dabei gespielt hat.« »Äh, gern, Herrin«, stammelte Raulin mit der Beredsamkeit eines Jünglings in Gegenwart einer schönen Dame. »Also, die vier Talasorn-Hexen – nun, die Frau, welche Ihr gerade fortgeschickt habt, und ihre drei Schwestern – eben jenes Trio, welches zwischenzeitlich den Tod ... die drei, welche gestorben sind –« Der Jüngling hatte sich hoffnungslos verheddert, als die Tür aufflog, an welcher Sarasper und Craer Wache hielten. »Freunde!«, rief Embra ihnen rasch zu. »Haltet sie auf! Sie
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dürfen noch nicht herein!« Der Beschaffer nickte und zog sich in das Steinmeer zurück. »Da Ihr bis jetzt fast immer Recht gehabt habt, wollen wir Euch auch diesmal glauben«, brummte er vor sich hin. »Edle Herrin!«, rief Glarsimber, der sich noch hinter dem Thron befand. Als die Herrin der Edelsteine sich zu ihm umdrehte, tauchte er hinter dem Herrschersitz auf und warf ihr geschickt den Zauberstab zu. Hinter ihm bemühte sich Hawkril, die Tür wieder zu schließen. Embra fing den Zauberstab auf. Ja, genau den Gegenstand hatte sie haben wollen: einen Metallstab mit einem Kupfermantel. »Hawkril! Lasst die Tür offen. Vielleicht brauchen wir bald einen offenen Fluchtweg!«, rief sie ihm zu. »Oder eine enge Stelle, an welcher auch wir Wenige uns verteidigen können«, meinte Glarsimber. Neben ihm ließ Hawkril einen Steinbrocken fallen und kletterte aus den Trümmern. Nun wurden auch andere Türen aufgebrochen, und Soldaten und Ritter mit den Wappen der abgefallenen Fürsten drängten in den Thronsaal. Sie brüllten »Für Blutklinge! Für Blutklinge! Der Sieg ist unser!«, während das stetig kleiner werdende Häuflein der Verteidiger sie vergeblich aufzuhalten versuchte. Mit einem tierischen Knurren ließ Sarasper sich von der Decke mitten in den Strom der Angreifer fallen und brachte mindestens ein Dutzend von ihnen zu Fall. Er trat mit den langen, behaarten Beinen um sich und brach etlichen weiteren Soldaten die Knochen. Ehe die
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Schwerter der Angreifer ihn treffen konnten, war er schon wieder zurück unter die Decke gesprungen. Nur um sich kurz darauf wieder zwischen die Ritter fallen zu lassen und ihnen weitere Verluste beizubringen. »Eine Wolfsspinne! Ein Langzahn!«, riefen die Krieger Blutklinges sich jetzt zu. »Mit teuflischer Magie rufen sie die Untiere der Hölle zu Hilfe. Erschlagt sie alle! Gewährt keine Gnade! Tötet die Spinne!« Nun drangen sie von allen Seiten auf Sarasper ein. Die Soldaten warfen sich geradezu an seine Beine, um ihn festzuhalten und von den Kameraden erschlagen zu lassen. Doch die Beine einer Wolfsspinne besitzen mehr Kraft als ein durchgehendes Schlachtross. Der Heiler zog sie ein und biss jedem Krieger, welcher sich immer noch daran festklammerte, die Kehle durch. Danach konnte Sarasper wieder austreten und weitere Krieger ausschalten. Dann erreichte er mit einem Satz die Decke und sprang ein Stück weiter erneut in die Menge. Dort wo die Wolfsspinne die Angreifer abwehrte, entrichteten die Krieger Blutklinges einen furchtbaren Blutzoll und konnten nicht durchbrechen. Aber an allen anderen Eingängen hatten sie mehr Glück und drangen in immer größerer Anzahl ein. »Für Blutklinge! Für Blutklinge! Der Sieg ist unser!«, ertönte es bald von allen Seiten. Hawkril zog sein Riesenschwert und sah sich um, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Dann verengten sich seine Augen, als er die Gestalten in den kunstvoll verzierten Rüstungen ausmachte, welche von dichten Reihen von Rittern umgeben wurden.
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Die drei abgefallenen Fürsten selbst hatten sich hierher bemüht. Vermutlich hielten sie diesen Besuch für ebenso spaßig wie eine Jagdgesellschaft. Und wer wusste es schon, vielleicht gab es hier ja eine herrenlose Königskrone zu gewinnen! »Den Zahn werde ich euch ziehen«, knurrte der Hüne. Derweil musste Sarasper wieder einer Flut von Schwertern ausweichen und zog sich, wie schon zuvor, an die Decke zurück. Aber seine blutverklebten Klauen fanden an der glatten Decke keinen Halt. Der Spinnenmann fiel nach unten, und die Krieger schrien begeistert auf. Doch die Freude sollte ihnen rasch vergehen. Sarasper landete um sich schlagend unter ihnen und brach hier ein Rückgrat, da einen Hals und dort das Brustbein eines Soldaten. Die Verwundeten und Toten wurden gegen ihre Kameraden geschleudert, und so geriet der ganze Ansturm in Unordnung. Von den Verteidigern war mittlerweile niemand mehr übrig, der ihnen mit einer Waffe entgegentreten konnte. Craer hatte alle Hände voll damit zu tun, nicht von den Angreifern umzingelt zu werden. »Sie kriechen durch alle Ritzen!«, schnaufte er Embra zu, als er bis zu ihr abgedrängt worden war. »Ich finde, jetzt geht der Spaß aber langsam ein bisschen weit.« »Für heute haben wir wirklich genug gelacht«, stimmte Glarsimber zu, der eben mit Hawkril erschien, um den Gefährten beizustehen. Dann stürmten alle Soldaten und Ritter gemeinsam gegen die Vier, und diesen blieb keine Zeit für eine Fortsetzung ih-
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rer launigen Unterhaltung. Sarasper hatte sich wieder unter die Decke verzogen, und diesmal hielten seine Klauen ihn oben. Unter ihm rannten die Angreifer. Doch dann blieben einige von ihnen stehen, und der Alte musste zwei Beine von der Decke lösen. Die Soldaten unten stachen nämlich mit langen Spießen nach ihm, und die galt es abzuwehren. Eine ganze Weile später hing der Heiler immer noch so da. Die Gefährten hatten eben dem letzten Angreifer den Garaus gemacht. Hellbanner trat einen Schritt vor und fragte scheinheilig: »Irre ich mich, oder ist das da oben unser Freund Sarasper?« Als Craer nickte, fügte er hinzu: »Was treibt er denn dort oben. Sitzt er gern auf einem Logenplatz und schaut zu, wie seine Freunde die Arbeit tun?« »Tja, so verhält es sich nun einmal mit ihm«, bestätigte der Beschaffer. »Heiler sehen gern, wenn Menschen in Stücke gehauen werden. Dann können sie sie nämlich wieder zusammenflicken. Das verleiht ihnen das Gefühl, wichtig zu sein.« Embra verdrehte die Augen. »Craer, ändert Euch bitte nie. Mir würde die tägliche Dosis Irrsinn sonst wirklich fehlen.« Die Entgegnung des Beschaffers ging im Krachen der Tür unter, an welcher Quelver früher immer Wache gestanden hatte. Eine kreischende Hexe kam hereingelaufen und stürmte auf die Gruppe zu. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und schluchzte unbeherrscht. Den Helm, nach welchem Embra sie geschickt hatte, baumelte vom Arm der letzten Schwester.
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Und mit ihrer Frisur schien etwas nicht zu stimmen ... »Schlangen!«, bemerkte Hawkril schließlich. »Bei den Hörnern der Göttin, in ihrem Haar wimmelt es davon!« Die Herrin der Edelsteine legte die Stirn in Falten, hielt den Zauberstab hoch und murmelte etwas vor sich hin. Der Stab leuchtete kurz auf und verdunkelte sich dann. Mit der freien Hand zeigte Embra auf die kreischende Hexe. Plötzlich brannte hinter Tschamarra die Luft. Sich windende Gebilde fielen aus ihrem Haar und landeten zischend und spritzend auf dem Boden. Die Herrin ließ die Hand erst wieder sinken, als die letzte Schlange vergangen war. Als die heulende Hexe vor ihnen zusammenbrach, fing der Beschaffer sie gleich auf, und in seinen Armen beruhigte sie sich etwas. Embra studierte die Tür, durch welche die letzte Schwester so voller Panik erschienen war. Sie sprach leise einen neuen Bann, und ihr Zauberstab verdüsterte sich, bis ein Teil von ihm abgebröckelt war. Die letzte Schwester schluchzte noch immer an Craers Brust und schniefte ihm alles voll. Der Beschaffer versuchte, sie zu beruhigen. Als Glarsimber den Beschaffer anflaxte, tippte der sich mit Blick auf die Hexe beziehungsreich an die Stirn, und beide Männer grinsten. Wenige Momente später erschienen die, auf welche Embra schon die ganze Zeit wartete. Drei Schlangenpriester zeigten sich in der Tür und schauten mit kaltem Lächeln in den Thronsaal.
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Die Zauberin schickte die von ihnen geschleuderten Flugschlangen zu den dreien zurück, woraufhin die Priester sich hastig zurückzogen und Schutzzauber wirkten. Tschamarras Tränenstrom versiegte, und sie löste sich von dem Beschaffer. Sie lächelte ihn aus roten Augen an und drehte sich dann zu der Tür um. Gerade noch sah sie einen der Schlangenpriester in der Vorhalle dahinter verschwinden, weil Embra ihm die Flammenkugeln in seiner Hand in etwas anderes verzauberte. Dann aber war es an der Edlen, ein langes Gesicht zu machen; denn nach all den Bannen zerbröselte das letzte kleine Ende des Zauberstabs. Wieder zeigte sich einer der Schlangenpriester in der Tür – und er musste erfahren, dass das Sprichwort »Alles Gute kommt von oben« nicht immer wörtlich verstanden werden darf. Unbemerkt von den Schlangenanbetern war nämlich die Wolfsspinne an der Wand entlanggekrabbelt und lauerte nun über der Tür – mit einem dicken Stein zwischen den beiden Vorderklauen. Das Geschoss sauste nach unten und zerschmetterte dem Priester den Schädel. Er brach zusammen und riss einen seiner Kollegen mit, welcher sich zu weit vorgewagt hatte. Doch damit war längst nicht für Ruhe gesorgt. Inzwischen waren nämlich weitere Schlangenanhänger eingetroffen, welche endlich wissen wollten, was weiter vorn vor sich ging. Mit Gebrüll stürmten sie in den Thronsaal und verschossen aus den erhobenen Handflächen Feuerkugeln. Sarasper lief über die Decke zu den Gefährten zurück und erklärte Hawkril: »Alle die Waffen gezückt. Es wird nicht
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mehr lange dauern, ehe Blutklinge selbst hier erscheint – und dann hängt das Schicksal Aglirtas allein von uns ab!« »Lasst Ihr aber lieber Euer Schwert stecken, alter Mann«, entgegnete der Hüne, »und bleibt ein Untier.« »Alter Mann?«, entrüstete sich der Heiler. »Das möchte ich überhört haben!« Hawkril wollte etwas entgegnen, besann sich dann aber und sprach: »Tut mir Leid, mein Freund. Offenbar habe ich Euch mit einer anderen Wolfsspinne verwechselt, die auch hier herumschleicht.« »Bei den Göttern«, bemerkte Craer, »dieser Thronsaal hat wirklich mehr als genug Blut gesehen. Jetzt sind wir offensichtlich an der Reihe.« »Raulin, tretet zu mir«, befahl die Herrin. »Ich brauche jemanden, der alles abwehrt, was man nach mir wirft, und der mir die Zaubergegenstände in der Reihenfolge anreicht, welche ich ihm nenne.« Tschamarra hielt den Helm vor beide hin. Embra rümpfte erst die Nase, bedeutete dann aber dem Jüngling, den Kopfschutz an sich zu nehmen. Anscheinend traute die Edle der Hexe noch immer nicht. »Sobald die Damen damit fertig sind, Nettigkeiten auszutauschen«, machte sich Hellbanner bemerkbar, »sollten wir uns unweit der Tür hinter dem Thron aufstellen. Gut möglich, dass der Herrschersitz noch einige verborgene Energie enthält.« »Einverstanden«, stimmte der Hüne zu. Doch die Gefährten hatten sich kaum zu einem Halbkreis aufgebaut, als die letzte Tür aufkrachte und sich ein Schwall von Blutklinges Rittern in den Raum ergoss.
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In ihrer Mitte schritt ein Mann in einer ganz einfachen Rüstung, welche jedoch auf Hochglanz poliert war. »Für Blutklinge! Für Blutklinge! Auf zum Sieg!«, schrie sofort alles. Schon formierten sich die Ritter neu und marschierten auf den Thron zu. »Nieder mit allen Fürsten!«, verkündete der Kriegsführer jetzt. »Aglirta soll einen neuen König bekommen und mit ihm einen neuen Weg beschreiten!« Er hob sein Schwert, und seine Krieger stürzten sich auf alles, was sich außer ihnen in diesem Raum aufhielt.
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Fürst, Schlachten und Blutklinge C Die verblichene Inschrift über den ausgetretenen Stufen verkündete: DOLSTAN DREARIHEAD SCHREIBER FÜR ALLE GELEGENHEITEN Irgendwer hatte darunter gekritzelt: AUFTRÄGE ZURZEIT ZWECKLOS, DA VERSTORBEN Ein passender Text, wenn man bedachte, in welche Finsternis die Stufen hinabführten und welche Haufen übel riechender Knochen man unten antraf. Nur wenige in diesem heruntergekommenen Viertel Sirlptars verspürten den Drang, sich durch den knöcheltiefen Unrat am Boden zu wagen, der Dunkelheit zu trotzen und sich dann vor der Tür auch noch an das richtige Klopfzeichen erinnern zu müssen.
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Wer es dennoch tat, vernahm dort unten die unheimlichsten Geräusche, und die kamen mal von hier und mal von da. Das Quietschen darunter stammte von einem Fensterladen, denn tatsächlich hatte man hier unten ein Fenster in die Wand eingelassen. Dahinter befand sich ein Raum, in dem eine Lampe hing. Wenn sie brannte, was selten genug vorkam, geriet wenigstens etwas Licht in den Keller. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ebenfalls ein Fenster. Eine schmale Öffnung, durch welche sich gerade eine Armbrust schieben ließ – und die zielte genau auf denjenigen, welcher im Lichtkegel auf der anderen Seite stand. Die Leichen solcher allzu neugieriger Besucher lagen in den Ecken des Kellers und trugen wesentlich zum Gestank hier unten bei. Gar nicht erst zu reden von dem Fuhrknecht, der im berauschten Zustand die Tür am Ende des Kellers für den Eingang zu seiner eigenen elenden Hütte gehalten hatte. In wachsender Wut hatte er mit allem, was greifbar war, gegen die Tür geschlagen und getreten. Nun lag er unter den anderen Toten und streckte eine erstarrte Hand aus. Die gekrümmten Finger griffen nach dem Umhang eines späten Besuchers, welcher es offenbar sehr eilig hatte. Ärgerlich riss dieser sich los und klopfte in der vereinbarten Folge an die Tür. Zwei Riegel wurden zurückgezogen, und dann öffnete die Pforte sich geräuschlos nach innen. Der Besucher schlüpfte hinein, hielt sich nicht mit Grußworten auf und marschierte gleich auf einen Bogengang zu, hinter dem mehrere Laternen brannten.
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Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum diese Verschwörergruppe sich ausgerechnet an einem der schmutzigsten Orte dieser Stadt treffen musste. Tiefe Keller eigneten sich hervorragend zur Lagerung von Sore oder um Leichen verschwinden zu lassen. Aber Lebende, die etwas zu bereden hatten, konnten dies doch genauso gut an einem warmen Feuer und bei einer guten Flasche Wein tun. So gelangte er in den Lichtkreis, schritt an den beiden Wächtern vorbei, welche ihre Waffen bereithielten, und steuerte den einzigen freien Platz in der Runde an. »Seid mir gegrüßt, lieber Haelbaum, spät kommt Ihr, doch Ihr kommt!«, rief Fürst Kardassa mit aufgesetzter Freundlichkeit. »Ich wurde verfolgt«, entgegnete der Tersept, legte mit großem Schwung den Umhang ab und setzte sich. »Natürlich wieder einmal die Zauberer. Glaubt mir, ihre Banne zielen auf jeden Titelträger des Reiches.« »Das überrascht mich nicht«, sprach Maevur von Kardassa. »Sämtliche Magier und Kaufleute von Sirl sind zurzeit ganz versessen darauf, in Treibschaum geeignete Freunde zu finden. Oder sollte ich besser sagen, sie wollen herausfinden, wer am meisten dafür bietet, wenn die Sirler ihm dabei helfen, den Thron zu besteigen.« Die meisten am Tisch nickten säuerlich dazu. Zum überwiegenden Teil handelte es sich um Tersepte, frisch ins Amt bestellt. Auch der neue Fürst von Kardassa trug seinen Titel noch nicht lange. Diese Tersepte waren noch so neu, dass sie nicht einmal
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den Unterschied zwischen einem Ritter und einem reitenden Soldaten – einem Reisigen – kannten. Während Ersterer dem Fürsten seines Fürstentums persönlich die Treue geschworen hatte, kam Letzterer aus dem Aufgebot, welches das Land zu stellen hatte. Aber was scherte das einen Tersepten, der ja doch niemals freiwillig in eine Schlacht ziehen würde? Auch Fürst Maevur von Kardassa, der Mann mit dem Mondgesicht und dem öligen Haar, hatte nicht vor, seinen Boden mit dem Blut seiner Untertanen zu tränken. Als entfernter Vetter der Alten Krähe hatte er deren Thron bestiegen – nachdem er zuvor ein sorgenfreies Leben in Saus und Braus geführt hatte. In Elmerna, das weit genug von Kardassa entfernt lag, dass die Alte Krähe nichts davon mitbekam, was für ein Stutzer aus seinem Verwandten geworden war. Maevur lächelte Haelbaum jetzt überfreundlich an. »Ich würde jetzt gern fortfahren, wenn Ihr nichts dagegen habt ...« Der Tersept spürte, dass der Fürst es darauf anlegte, eine ablehnende Antwort zu hören zu bekommen. Deswegen entgegnete er: »Aber mitnichten. Nur zu.« Maevur griff hinter sich, und sofort trat ein Wächter vor, um ihm ein Bündel in die ausgestreckte Hand zu legen. Mit breitem Lächeln breitete der Fürst das dann vor sich aus. Er wickelte eine Röhre aus dem Tuch und entnahm dieser eine Landkarte. Anfänger im Verschwörerfach waren nichts ohne richtige Landkarte. Die Versammelten kannten bereits jede Biegung des Stroms und dazu jeden Gasthof und jede Pferdetränke auf den Überlandstraßen. Dennoch beugten sich alle vor, als der Fürst die Karte aus-
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rollte. Wie die Kinder zeigten sie sich gegenseitig, wo ihre Heimatstadt oder -burg lag, so als hätten sie noch nicht so recht begriffen, dass sie jetzt wirklich hohe Herren waren. Nun, dieses Amt und ihren Kopf dazu würden sie rasch verlieren, wenn sie sich in nächster Zeit einen Schnitzer leisteten ... Oder auch, wenn Kardassa beschloss, den einen oder anderen von ihnen gegen einen seiner Untertanen auszutauschen. Der würde dann auch nicht unbedingt in Treue fest zum Fürsten stehen, aber wenigstens wäre der Neue zu blöde, um sich an einer Verschwörung zu beteiligen. Und wenn nicht, ein Unfall ließ sich ja immer in die Wege leiten. Haelbaum war so ein Fall. Der Fürst war bereits zu dem Schluss gelangt, dass dieser Mann zu klug war und man ihn im Auge behalten musste. Außerdem neigte der Tersept zum Ungehorsam, und damit stand er endgültig ganz oben auf der Liste derjenigen, welche ersetzt werden mussten. Aber der Gehorsam stellte ja stets ein Problem dar, gleich ob man einen Stall voller Schweine oder ein Fürstentum beherrschte. »Richtet euren Blick nun auf Aglirta«, forderte Maevur die Mitverschwörer auf. »Vor euch seht ihr ein Reich, welches bald schon uns gehören könnte. Wir müssen nur abwarten, bis dieser Emporkömmling Blutklinge und der zu Recht gehasste Regent sich gegenseitig umgebracht haben ... Schon in dieser Stunde tobt zwischen ihnen die Entscheidungsschlacht. Selbst wenn einer von ihnen das Gemetzel überleben sollte, so dürfte er viel zu geschwächt sein. Ohne die Erlaubnis eines Magiers ist ihm dann nicht einmal mehr ein
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Niesen gestattet.« Der Fürst erhob sich nun, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und stolzierte auf und ab, ohne ein Wort von sich zu geben. Das gab den anderen die Gelegenheit, ihn zu beobachten, und keinem entging, wie sehr sich sein Bauch seit ihrem letzten Treffen gerundet hatte. »Wie man aber weiß«, sprach Maevur Kardassa nun in seiner hochnäsigen Art, »sind Magier immer schon der Fluch des Reiches gewesen – wenn man den alten Geschichten Glauben schenken darf. Immer fand sich ein Fürst oder ein Tersept, welcher meinte, ohne die Hilfe eines Zauberers nicht auskommen zu können. Doch dieser Bannschwinger hat dann in erster Linie danach getrachtet, sich die eigenen Taschen zu füllen. Einer ganzen Reihe von ihnen ist es sogar gelungen, sich zum wahren Herrscher aufzuschwingen und den eigentlichen Fürsten, der Fassade wegen, auf seinem Thron zu belassen, aber unter ihre Fuchtel zu bringen. Natürlich liebt keiner von ihnen sein Land so, wie wir ehrlichen Männer das tun. Sie fördern auch nicht das Land oder mehren seinen Reichtum, denn es geht ihnen nur um ein Leben voller Prasserei für sich selbst und darum, möglichst viele Frauen in ihr Bett zu bekommen.« Erbostes Gemurmel und heftiges Nicken gaben dem Fürsten in seinen Ausführungen Recht – und so kehrte er wieder an die Landkarte zurück. »Wenn nun auch wir die Unterstützung einiger Magier benötigen sollten«, erklärte Maevur mit einem wahrhaft teuflischen Lächeln, »werden wir doch in Wahrheit sie beherr-
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schen – nämlich durch die Frauen, welche wir ihnen zuführen!« Am ganzen Tisch brandeten Beifall und Gejohle auf. Der Fürst nutzte aber diesen Tumult, sich mit seinen Wachen darüber zu verständigen, wer beseitigt gehörte. Als das Gelärme verebbte, fuhr Kardassa rasch fort: »Und damit, meine lieben Freunde, ist unser großer Moment endlich gekommen!« Die letzten Worte brüllte er ihnen entgegen, aber er sah sich getäuscht, als er noch eine Steigerung ihres Jubels erwartete. Diese Holzköpfe waren zu langsam, kamen nicht mit und starrten ihn nur verständnislos an. Natürlich konnte es nicht überraschen, dass Haelbaum als Erster seine Sprache wieder fand. »Großartig! Einmalig! Unerreicht!«, rief der Tersept, und Kardassa hörte deutlich heraus, wie der Mann ihn verhöhnte. Maevur lachte breit, als die anderen sich daraufhin beeilten, ebenfalls ihre Begeisterung über den schlauen Plan zum Ausdruck zu bringen. Er tippte auf die Karte: »Die Gründe dafür, warum ich darum Euch gebeten habe, gerüstet und gespornt zu unserem heutigen Treffen zu erscheinen, dürften auf der Hand liegen.« Der Fürst legte eine kleine Pause ein ... Nein, bei ihnen war der Heller noch nicht gefallen. »Wir brechen noch in dieser Nacht von hier auf und bewegen uns durch geheime Tunnel bis zum Fluss, wo uns Schiffe erwarten. Die besteigen wir gemeinsam mit unseren Kriegern.« Er lächelte in die Runde, denn jetzt sah er die ersten vor
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Aufregung geröteten Gesichter. »Natürlich tarnen wir uns als Kauffahrer und segeln durch bis nach Treibschaum. Dort steigen wir aus und gehen mit unseren Bogenschützen auf Magierjagd. Und die Wahl, welcher Zauberer erledigt werden soll, dürfte uns nicht schwer fallen – denn nur ein toter Zauberer ist ein guter Zauberer!« Die Verschwörer brüllten vor Begeisterung. Haelbaum schrie mit den anderen, fragte sich aber im Stillen, welche Anweisungen all diese Tersepte in ihrer Burg hinterlassen hatten. Plante der eine oder andere von ihnen gar, sich Kardassas zu entledigen, wenn der nicht mehr gebraucht wurde? Oder waren die Verschwörer wirklich alle mit Feuereifer dabei? Maevur rollte die Karte wieder ein und erteilte die notwendigen Anweisungen. Alle sprangen auf und rannten zu den Stellen, wo Wächter mit brennenden Fackeln standen. Haelbaum schloss sich ihnen an. Ihm war nicht verborgen geblieben, dass es sich bei den anderen Tersepten um Einfaltspinsel handelte. Aber sie verstanden sich auf den Umgang mit der Waffe, und diese Fähigkeit benötigte man in der nächsten Zeit sicher dringender als jede andere. Die halb nackten tanzenden Frauen wanden und drehten sich erneut, als die Instrumente die Weise wieder aufnahmen. Die eine hatte sich mit einem roten Band das lange schwarze Haar wie zu einem Pferdeschweif gebunden. Sie reckte ihre blanken Brüste gegen die andere mit dem blauen Stirnband. Die Blaue stach daraufhin Nadeln in die dargebotenen
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Fleischhügel. Roter Traum keuchte und ächzte, und die Musik erstarb, damit man jeden ihrer Schmerzenslaute deutlich verstehen konnte. Blaue Leidenschaft, welche die andere an Körpergröße übertraf, beugte sich vor, um sie zu küssen, und darauf schien Roter Traum nur gewartet zu haben. Sie umarmten sich voller Leidenschaft, und die Blaue leckte das Blut der Roten auf. Im ganzen Raum beugten sich die Zuschauer vor und vergaßen ihre Krüge und Becher, um auch ja nichts zu verpassen. Die Glöckchen, mit welchen die Tänzerinnen behangen waren, klingelten leise, und ansonsten herrschte in dem Raum atemlose Stille. Rot und Blau drehten sich noch einmal im Kreis, damit auch jedermann in den Genuss des Anblicks ihrer entblößten Rundungen käme. Die beiden hatten einen sehr langen Tanz dargeboten und sich dabei selbst übertroffen. Ein Musikant löste durch einen raschen Griff in die Saiten die allgemeine Erstarrung, und das Leben kehrte in das Lokal zurück. Die Kellnerinnen kamen wieder mit gefüllten Tabletts heran, die Gespräche wurden wieder aufgenommen, und die Tänzerinnen verbeugten sich vor den Gästen, um ihren Beifall entgegenzunehmen. Ein paar Männer, welche einen Haufen Gold dafür bezahlt hatten, durften nun nach vorn, um die letzten Blutstropfen von den Brüsten des Roten Traums zu lecken.
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Die beiden Tänzerinnen drängten sich gegen diese Gäste und reichten ihnen danach den Wein. Schließlich halfen sie ihnen mit ihren Händen dabei, die sichtbare Erregung zum Höhepunkt zu bringen. Nur wenn jemand dem Wirt noch etwas mehr bezahlte, durfte er sich mit den Tänzerinnen in ein Privatgemach zurückziehen. Die anderen erhielten zum Trost die Haarbänder. Die Tänzerinnen verbeugten sich noch einmal vor ihrem Publikum, und das gelöste Haar reichte ihnen jetzt bis über das Hinterteil. Danach zogen sie sich endgültig und in Begleitung von gepanzerten Kriegerinnen zurück. Als sie vor zwei schweren Eisentüren standen, wurde hinter ihnen ein Fallgatter herabgelassen. Die Tänzerinnen verschwanden in dem Raum hinter der linken Tür, schlossen hinter sich ab und fanden endlich etwas Ruhe. Zwei Bäder erwarteten sie, und hier ließen sie sich gern hineinsinken. Blut, Haarpracht und runde Formen vergingen, während sich im warmen Wasser ihre Körper veränderten. »Als Drachentänzerin führt man doch wahrlich ein luxuriöses Leben«, bemerkte die jüngere der beiden Gestalten wohlig und betrachtete ein gefülltes Weinglas. »Aber nur, wenn man wie wir Koglaur ist«, entgegnete die andere, »sonst ist das luxuriöse Leben nur von kurzer Dauer.« »Führen Menschen denn nicht auch solche Tänze auf?«, wandte der Gestaltwandler ein. »Doch, von ihnen habe ich sie ja gelernt und führe sie schon seit einem Dutzend oder mehr Jahren auf.«
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»So lange?«, entfuhr es dem Jüngeren. »Und ich dachte, nur Schwerverbrecherinnen würden zu jahrelangem Tanz verurteilt ... oder wenn man öfter in Sirl zu tun hat und seinen Geschäftspartnern etwas bieten will ...« »Raegrel, nur Totengräber und Giftmischer haben öfter in Sirl zu tun. Doch nun lasst mich Euren Bericht hören.« »Dann steht mir jetzt also meine Strafe bevor.« »Es tut nicht so weh wie die Nadeln vorhin. Beantwortet nur meine Fragen, stärkt Euch am Wein, und dann haben wir es auch schon bald hinter uns – und Ihr mögt Euch in alle Lustbarkeiten stürzen, welche Sirlptar zu bieten hat.« Doch der Jüngere verzog das Gesicht. »Und woher soll ich wissen, dass es sich bei der Schönen in meinem Bett dann nicht um Euch handelt? Oder um einen der anderen Ältesten, die mich auf Schritt und Tritt überwachen wollen?« »Wir zwinkern Euch zu, bevor Ihr uns ins Bett mitnehmt«, entgegnete der Ältere. »Doch nun verratet mir endlich, ob die Schlange sich erhoben hatte.« »Ja, turmhoch ragte sie aus der Erde. Sie war auch bei Bewusstsein und hatte schon ein Auge geöffnet ... als alles innehielt.« »Also hat die Bindung gehalten. Nur diejenigen haben falsch gelegen, welche geglaubt haben, mit dem Tod Kelgraels würde auch die Schlange untergehen.« »Ja. Die Große Schlange erstarrte, aber sie war nicht tot. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist, Thaebred.« »Ich glaube Euch. Die Schlangenpriester treten auf wie immer und rennen nicht wie heulende Wahnsinnige durch die Straßen. Eine gute Nachricht für Blutklinge und all die Fürsten,
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Zauberer und anderen Wichtigtuer, welche zurzeit nach Treibschaum strömen, um den Thron des Reiches zu ergattern. Wenn die Schlange jemals auch nur in die Nähe des Herrschersitzes kommen sollte, werden die Bürger hier schon begreifen, was Tyrannei und Unterdrückung bedeuten!« »Wie?«, spottete Raegrel. »Und ich Tor glaubte, der Regent sei der Inbegriff des ungerechten, grausamen Herrschers! Wenn man die Aglirtaner über ihn wehklagen hört, könnte man glauben, er würde ihre Frauen und Töchter vergewaltigen und gleichzeitig mit beiden Händen ihre Schatzkammern leeren!« »Wenn Schwarzgult seiner lästigen Herrscherpflichten müde ist, springe ich für ihn ein«, verriet Thaebred ihm. »Doch nun sagt mir frisch an, was aus Blutklinge und seinen drei mutigen Fürsten geworden ist!« »Loushoond, Ornentar und Tarlagar sind ebenso einfältig wie ehrgeizig – und darüber hinaus die undankbarsten Tröpfe, welche ich je erlebt habe. Da besitzen sie ihr neues Amt gerade mal lange genug, um zu wissen, welche Burg denn nun die ihre ist, und schon verraten sie ihren Wohltäter Kelgrael. Sie sagen sich, der König werde ja doch nicht mehr erwachen, also brauchten sie seinen Zorn auch nicht zu fürchten. Sie sammeln haufenweise Truppen und ziehen bald hierhin und bald dorthin, um neue Heldentaten zu vollbringen. Zum Beispiel fallen sie mit einem Dutzend Rittern über einen dieser gefährlichen Kesselflicker her, oder sie metzeln im Blutrausch einen Hirten mitsamt seiner Herde nieder. Bei Tag und Nacht zeigen sie sich in der kunstvollsten
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neuen Rüstung, jagen ihre Bediensteten mit dem Schwert hin und her und lassen es sich vor allem gut ergehen. Kaum hatten sie erfahren, dass der Regent gegen Blutklinge gezogen ist, marschierten die tapferen Fürsten sogleich gegen das verlassene Treibschaum. Und anscheinend haben sie keinen Gedanken daran verschwendet, was wohl mit ihnen geschehen würde, wenn der Sieger der großen Schlacht sich in Treibschaum zeigte. Am Hafen vor dem Palast hat ein Zauberer mit seiner Energie alles kurz und klein geschlagen. Danach mussten sie sich dann mit den Hochfürsten um die wenigen Boote prügeln, welche die magische Zerstörungswut überlebt hatten. Die Hochfürsten obsiegten, brachten den Fürstentruppen große Verluste bei und setzten mit den wenigen Booten über. Mit Mühe gelang es Loushoond und den anderen, ihnen etwas später zu folgen. Doch da war auch Blutklinge schon nicht mehr fern, welcher wohl als Sieger aus der großen Schlacht hervorgegangen war. Und damit zum momentanen Stand der Dinge: Sämtliche Heere, welche Aglirta bislang durchzogen und verwüstet haben, befinden sich mittlerweile auf der Insel Treibschaum. Vermutlich kämpft dort jeder gegen jeden, aber bislang wurden keine Leichen gesehen, welche flussabwärts trieben ...« »Das wird noch kommen, keine Bange.« »Kürzlich zeigte sich über dem Palast auch noch in einer Erscheinung die Schlange, aber ich konnte nicht mehr in Erfahrung bringen, hatte man mich doch hierher beordert.« Der ältere Koglaur lächelte und füllte ihre Gläser nach.
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»Eine ungezogene Bande, nicht wahr«, bemerkte Craer, während er einen Schwerthieb abwehrte, mit dem Dolch in der anderen Hand zustach und sich dann wegduckte, um nicht von dem ganzen Blut bespritzt zu werden. »Wir bringen ihnen Anstand bei«, entgegnete Hawkril, »auch wenn nur die Wenigen davon etwas mit nach Hause nehmen können, welche diese Schlacht hier überleben.« »Wie? Ihr wollt tatsächlich einige von ihnen am Leben lassen?«, rief der Beschaffer in gespieltem Entsetzen. »Einigen gelingt doch immer die Flucht«, erwiderte der Hüne und schlug einem Ritter den Arm ab, mit welchem der nach ihm ausholte. Im riesigen Thronsaal wimmelte es von Kriegern, welche kein größeres Vergnügen zu kennen schienen, als gegenseitig aufeinander einzuhauen. Und stetig strömten neue Kämpfer nach, seien es nun Gefolgsleute der drei Fürsten, Blutklinges Soldaten oder Geschmolzene. Glarsimber und Hawkril wichen immer weiter vor dem machtvollen Ansturm zurück und stießen Raulin hinter sich. Er prallte gegen die Edle und entschuldigte sich gleich bei ihr. »Aber wir sind doch hier in einer Schlacht, und da ist alles erlaubt«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wenn Ihr mir einen Gefallen tun wollt, dann stellt Euch bitte zwischen mich und die Hexe – und haltet den Helm hoch, aber nicht zu hoch, denn wir müssen ihn noch erreichen können.« Tschamarra wob gerade einen Zauber, welcher sie mit Dornenpfeilen versorgen sollte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie der Jüngling sich zwischen sie und die Zauberin schob. Aufgrund des ohrenbetäubenden Lärms im Saal hatte sie
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nicht verstehen können, was die beiden beredet hatten. »Ha!«, rief die letzte Schwester dann, und ihre Dornenpfeile zerrissen die Gesichter der nächsten Angreifer. Ersticktes Röcheln, Schreien und Hilferufe waren die Folge. Einige Soldaten wollten zurück und die Flucht vor der Hexe ergreifen, aber gegen die Wand der Nachrückenden kamen sie nicht an. Embra nutzte die daraus entstehende Verwirrung und rief: »Jetzt, Edle Tschamarra, berührt den Helm.« Beide Frauen hoben eine Hand. Eine Sturmflut magischer Energie überspülte die Frauen, und Tschamarra hätte es beinahe von den Beinen gerissen. Raulin, welcher von den Blitzen unbetroffen blieb, stützte die Hexe – und die Energie sprang von ihr auf ihn über. Der Jüngling zitterte sofort am ganzen Leib. »Nicht loslassen!«, schrie Embra aus Leibeskräften. »Haltet durch, Raulin!« Der Jüngling biss die klappernden Zähne zusammen und staunte nicht schlecht, als die Energie aus den Händen der beiden Frauen hinausstürzte und sich wie ein Funkenregen über die Angreifer ergoss. Die Soldaten und Ritter in den ersten Reihen schrien fassungslos und sanken nieder. Mit ihren Waffen und Rüstungen waren sie viel zu bepackt, um sich nach hinten durchschieben zu können. Embra und die letzte Schwester sandten den Kriegern Salve um Salve entgegen. Berge von brutzelnden Leichen türmten sich rings um die Gefährten. Bald schien es so, als sei der halbe Saal von Toten und Verwundeten angefüllt. Aber der Strom der Soldaten Blutklin-
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ges schien nicht abreißen zu wollen – – und der Helm, welchen Raulin und die beiden Frauen hielten, schrumpfte immer mehr zusammen. Als keine Funken mehr stoben und der Zaubergegenstand nur noch spuckte, hörte der Jüngling Craer und Glarsimber im Schwertkampf ächzen. Der Fürst hatte zahllose Wunden davongetragen, und der Beschaffer war es gewohnt, hierhin und dorthin zu springen und seine Wurfmesser zu verschleudern – nicht aber an ein und derselben Stelle stehen zu bleiben und Gegner mit dem Schwert abzuwehren. Embra sah, wie es um ihre Freunde stand, und schleuderte ihre letzten Blitze gegen deren Bedränger, um ihnen eine Atempause zu verschaffen. Als die Hexe das bemerkte, folgte sie dem Beispiel der Zauberin. Der Helm war längst zu Asche zerfallen, und die Edle hielt es für an der Zeit, Tschamarra in ihren Reihen willkommen zu heißen. Das hatte die letzte Schwester sich durch ihren unermüdlichen Einsatz verdient. Embra küsste die neue Freundin und griff dann nach dem Schild. »Den heben wir uns bis ganz zum Schluss auf«, teilte die Herrin den beiden mit und warf einen Blick auf Craer und Glarsimber, die mittlerweile beide wie ein Blasebalg schnauften. »Vorwärts, ihr Tölpel!«, brüllte Blutklinge jetzt. »So macht sie doch endlich nieder! Sie haben ihre Zauberkräfte aufgebraucht! Ihr werdet doch wohl noch mit drei erschöpften Männern, zwei Dirnen und einem Knaben fertig!« Einige Ritter aus den hinteren Reihen ließen sich davon
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anspornen ... kamen aber nicht weit. Denn zuerst galt es, die Berge von Toten und stöhnenden oder schreienden Verwundeten zu besteigen. Mit einem breiten Grinsen nahm Hawkril sein riesiges Kriegsschwert wie eine Stange in beide Hände und stützte damit den Leichenberg ab, um ihn aufrechtzuerhalten. Als er dann von seinen Gefährten Unterstützung erhielt, erwies sich der Leichenberg als unüberwindliches Hindernis. Embra beobachtete das Treiben über den Rand des Schilds hinweg; denn irgendwann würde den Angreifern einfallen, dass man Hieb- und Stichwaffen auch als Wurfgeschosse einsetzen konnte. Raulin trat neben die Herrin und half ihr, den Schild hochzuhalten wie vorhin den Helm. Embra ließ los und stellte sich mit Tschamarra hinter die Schutzwaffe. »Vorwärts, ihr Elenden!«, donnerte der Kriegsfürst und wandte sich dann an den Hauptmann an seiner Seite: »Wo bleiben denn die Schlangenpriester?« »Vorhin waren noch welche hier, Herr, aber jetzt ...« »Und unsere Zauberer?« »Alle tot, Herr. Einen habe ich noch beim Übersetzen gesehen. Aber später lag er tot auf der Treppe. Ich befürchte, jemand hat ihn hinterrücks erdolcht.« Blutklinge schnaubte und grollte dann: »In Ordnung! Unsere Schwerter haben uns schon so weit gebracht, jetzt werden sie uns auch noch das letzte Stück Weg bis zum Thron dort drüben bahnen.« Er wandte sich wieder an sein Heer: »Stoßt die Toten und Verwundeten einfach beiseite. Schafft eine Gasse zu den letzten verblendeten Getreuen des Regenten und macht sie end-
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lich nieder!« Auf seinen Befehl folgte ein Blitz nebst grässlichem Krachen. Ein Energiewind kam auf, welcher die Soldaten wie Puppen davonwehte. Zwei Männer erschienen nun mitten in der Luft, und ihre Stiefelabsätze befanden sich über den Helmen der Soldaten. Bei dem einen handelte es sich um Schwarzgult, den Regenten von Aglirta, und um seinen Kopf tanzte ein DwaerZauberstein. Er hatte einen Arm um die Schultern des jungen fahrenden Sängers Flaeros Delkamper gelegt. »Meine Tochter lebt!«, schrie er, als er Embras angesichtig wurde. »Mädchen, hier bin ich, hier oben!« »Der Regent!«, heulte Blutklinge. Dann fasste er sich wieder und hieb mit der flachen Seite seines Schwerts auf die Rücken der Ritter vor ihm ein. »Erschlagt ihn! Tötet ihn, gleich wie, bevor er seine Dunkle Magie gegen uns einsetzen kann!« Die Aussicht auf eine weitere zauberische Flut spornte die Soldaten an wie sonst nichts. Schon stürmten die Gepanzerten los und zogen und zerrten an den Toten und Verwundeten. Die Todesangst verlieh ihnen doppelte Kräfte, und sie warfen mit allem, was sich greifen ließ, auf die beiden Männer in der Luft. Doch der Dwaer wehrte alle Geschosse ab. Als einige Ritter nahe genug heran waren, um mit ihren Lanzen nach Schwarzgult und Flaeros stechen zu können, überzogen sich ihre Waffen mit blauem Feuer, welches auf die Männer übersprang.
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Schreiend fielen die Ritter nach hinten. »Da kommen sie!«, rief die Zauberin und zeigte nach oben auf die Galerien, wo Männer mit Glatzen und gegabelten Zungen aufgetaucht waren. »Raulin, haltet den Schild wieder hoch!«, gebot die Herrin der Edelsteine, und einen Moment später regnete es grünes Feuer auf die Gruppe. Tschamarra wehrte es mit ihren eigenen Zaubern ab, musste dann aber erkennen: »Mir ist nicht mehr viel Magie geblieben. Edle, wenn Ihr eine Möglichkeit besitzt, neue Funkenregen oder Blitze zu erzeugen, dann nur zu, ich bitte Euch!« »Aber gern!«, lächelte Embra. »Lassen wir es also blitzen!« Wenige Augenblicke später bildeten die zwei Frauen und der Jüngling wieder eine Einheit. Die Herrin zapfte die Energie des Schilds an. Diese durchströmte sie und verließ sie in Form von Blitzen. Salven von einem Dutzend oder mehr Blitzen sausten zu den Galerien hinauf, wo die Schlangenpriester eifrig damit beschäftigt waren, mit den Händen Abwehrzauber zu wirken. Raulin beschränkte sich darauf, den Schild hochzuhalten, während die beiden Frauen das Feuern besorgten. Mehr als ein Schlangenpriester sank zusammen, und Rauch stieg von seinen Schuppen auf. Die Frauen vernahmen nach einer Weile Schwerterklirren und Hawkrils Schlachtruf. Offenbar hatten Blutklinges Scharen den Leichenwall durchbrochen und drangen nun auf die Gefährten ein. Aber weder Embra noch Tschamarra wagten es, dorthin zu schauen und sich Klarheit zu verschaffen. Denn die Schlan-
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genpriester hatten nun eine Möglichkeit entwickelt, die Blitze abzuwehren. Die Blitze verglühten in den unsichtbaren Abwehrschilden der Feinde, und es hatte den Anschein, als würden Letztere mit jedem Treffer stärker. Die Fürstin Silberbaum runzelte die Stirn und sandte dann ihren letzten Blitz nicht gegen die grinsenden Priester, sondern an die geborstene Decke des Thronsaals. Zunächst tat sich nichts, doch dann brach ein größeres Stück ab und krachte auf den Boden. Unter der Wucht flogen Trümmer und Bodenfliesen hoch und regneten auf die Soldaten herab. Diesmal traf es vor allem die Krieger der drei Fürsten, und denen nützten weder Helm noch Schild gegen die steinerne Flut. Die Trümmer flogen aber auch hinauf in die Galerien, und kreischende Schlangenanbeter stürzten von dort in die Tiefe. Die letzte Schwester half mit ihren verbliebenen Blitzen nach Kräften nach. Tschamarra vermutete nämlich richtig, dass die Abwehrschilde in der Luft vor den Geländern angebracht waren. Während die Priester jetzt kopflos hin und her rannten, beraubten sie sich jeden Schutzes und ließen sich umso leichter erledigen. Embra richtete ihre ganze Aufmerksamkeit aber auf die oberste Galerie. Die dortigen Schlangenmenschen wurden von den aufspritzenden Trümmern kaum getroffen, und wenn überhaupt, war von dort mit dem nächsten Angriff zu rechnen. Als Tschamarra gerade zwei Blitze ebenfalls an die Decke
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sandte und so dafür sorgte, dass es die Schlangen nun auch von oben traf, schickten die Glatzköpfe auf der obersten Galerie bunte Feuerstöße gegen die Abwehr des schwebenden Regenten. Im Mittelpunkt des Blitzgewitters befanden sich Schwarzgult und sein Begleiter. Der Dwaer wurde immer blasser, flackerte und blieb schließlich öfter dunkel als hell. Die beiden sanken langsam zu Boden, und Scharen von Schwertschwingern stachen und hieben bereits nach ihnen. Ezendor Fürst Schwarzgult war schon immer ein Hüne gewesen, und auch jetzt wollte er nicht kampflos untergehen. Mit wuchtigen Schlägen hieb er mit seinem Schwert nach links und nach rechts. Dennoch fand er auch noch die Zeit, den Dolch auf merkwürdige Weise im Auge zu behalten, welchen er in der anderen Hand hielt. Schließlich warf der Regent das Messer in die Luft. Es fiel jedoch nicht nach kurzem Flug zu Boden, sondern schwebte wie der Zauberstein um sein Haupt und verwandelte sich in einen Kranz von zwölf oder mehr Klingen. Die wirbelnden Messer hielten die Krieger auf Abstand. Schwarzgult grinste, griff mit der freien Hand nach oben, bekam den Dwaer zu fassen, rief Embra und warf ihn ihr zu. Noch während der Zauberstein durch die Luft flog, wirkten die Schlangenpriester zischend Banne. Die Fürstentochter aber streckte einen Arm aus, welcher immer länger wurde – Und fing den Dwaer aus der Luft. Der Schild, welchen Raulin mit beiden Händen hielt, zerbarst wie bröselige Kohle, Schwarzgults Kranz von Dolchen erlahmte und fiel herab, und Embra presste den Stein mit ver-
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zückter Miene an ihren Busen. Da umhüllte sie weißes Feuer, bis sie für alle anderen wie eine weiße Flammensäule aussah. Diese hob vom Boden ab und drehte sich spiralförmig nach oben. Alle, welche sich in der Nähe befanden, wichen vorsichtshalber ein paar Schritte zurück, aber die Flammen taten niemandem etwas zu Leide. Zu Schaden kam nur ein Schlangenpriester, welcher sich oben auf der Galerie zu weit vorbeugte und das Übergewicht bekam. Er stürzte mitten in das Gefolge von Fürst Tarlagar und erreichte nie den Boden, weil er vorher von vier Schwertern aufgespießt wurde. Craer und Hawkril machten sich natürlich gleich auf, dem Regenten zu Hilfe zu eilen, aber sie kamen nicht weit, denn jedem von ihnen stellten sich ein Dutzend oder mehr Krieger in den Weg. Schwarzgult richtete sich schließlich zur vollen Größe auf, hielt sein Schwert mit beiden Händen und fragte grinsend: »Wer von euch will als Erster sterben?« Die Soldaten hielten zögernd inne, und der Riese stellte ihnen die nächste Frage: »Wie viel von Blut ist der Tod des Regenten wert?« »Nicht nur des Regenten!«, rief Hellbanner, gab dem Ritter den Rest, welcher ihn bis eben aufgehalten hatte, und stellte sich neben Schwarzgult. »Weh uns, zwei alte Männer stehen gegen uns!«, höhnte Blutklinge. »Jetzt schlottern uns aber die Knie! Auf sie mit Gebrüll, Männer!« Er blies in sein Horn, und die Ritter stürmten mit frischem Mut voran.
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Hawkril brüllte laut genug, um das Horn zu übertönen, sammelte seine Kräfte und schob das Dutzend Soldaten, welches sich ihm in den Weg gestellt hatte, gegen deren angreifende Kameraden. Die anschließende Verwirrung nutzten der Hüne und Craer, um Schwarzgult zu erreichen. Tschamarra zog an Raulins Ärmel, führte ihn um die Flammensäule herum, in welcher Embra steckte, und gesellte sich zu den Gefährten. »Nehmt Euch ein Schwert und haltet es vor Euch hin«, gebot sie dem Jüngling. »Ich erledige dann den Rest.« Am anderen Ende der Gruppe befand sich ja bekanntlich ebenfalls ein fahrender Sänger, und der sprach jetzt zu dem Regenten: »Ich weiß nicht, ob Ihr etwas damit anfangen könnt ... aber wie wäre es hiermit?« Flaeros hielt ihm das Drachenzepter hin. Schwarzgult betrachtete den Gegenstand neugierig und zog ihn dann mitsamt dem Jüngling zu sich heran. »Was soll das denn sein?«, fragte er. Und schon im nächsten Moment erhielt er die Antwort darauf. Die Energie des Stabs sprang auf ihn über. Sie sprang sogar in sein Schwert und ließ es glühend aufleuchten. Das Zepter flammte in der Hand des Regenten auf, und zusammen mit Flaeros verschwand er von einem Augenblick auf den anderen. Das Zepter fiel klappernd zu Boden, und im selben Moment durchbohrten vier Klingen den Fürsten Hellbanner.
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Siebzehn
Die Auferstehung der Schlange C Glarsimber hatte noch nie solche Schmerzen verspürt. Vier Klingen aus Stahl waren tief in ihn eingedrungen und bohrten in ihm, während die Ritter ihre Schwerter in den Wunden drehten. Dennoch wehrte Hellbanner sich mit letzter Kraft und hieb so heftig um sich, dass die Gegner hastig ihre Klingen aus ihm herauszogen, um nicht im letzten Moment tödlich getroffen zu werden. »Für Aglirta!« ächzte der Waidwunde, taumelte einen Schritt zur Seite und griff sich das Zepter vom Boden. Dann warf er es dorthin, wo die Gefährten fochten. Endlich wurde ihm alles schwarz vor Augen, und er konnte nicht einmal mehr nachsehen, ob sein Vorhaben von Erfolg gekrönt wurde. Fürst Hellbanner kippte vornüber, und einer seiner Gegner rächte sich damit an ihm, dass er ihm mit seinem eisenbeschlagenen Stiefel an den Kopf trat. Aus weißen Höhen zurück in die düsteren Niederungen
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des Gemetzels. Embra blinzelte, während die gleißende Säule sie sanft auf dem Boden absetzte. Das Erste, was die Edle sah, war das haarige Bein einer Wolfsspinne vor sich. Freund Wolfsspinne war herbeigeeilt, sie zu beschützen. Sein Auftauchen verscheuchte gleich zwei allzu kühne Ritter. Die Edle tötete die beiden, ehe ihr Glarsimber ins Auge fiel und sie sich um ihn kümmern wollte. Doch der Fürst war tot. Wie eigenartig, dachte sie. Mit Hellbanner war ihnen von unerwarteter Seite ein Freund erwachsen – und jetzt lag er in seinem Blut da. Mehrere Ritter sorgten bereits dafür, dass er auch tot blieb, indem sie von mehreren Seiten auf ihn einstachen. Embra beendete diese Art der Leichenschändung und brachte auch diese um. Hinter ihr erkannte Sarasper, dass sein Schutz im Moment nicht benötigt wurde. Er verwandelte sich in den Heiler zurück. Während er das Zepter an sich brachte und Glarsimber betrachtete, schwebte die Herrin bereits wieder in der Luft, begleitet von Schwarzgults Dwaer. »Ihr Schufte! Ihr Unholde! Ihr Mörder!«, herrschte sie die Kriegsmänner an. »Sterben sollt ihr alle!« Embra ließ die Energie des Zaubersteins in sich einströmen und sandte dann ein Dutzend weiße Blitze in die Reihen der Feinde. Raulin wimmerte ängstlich, als er mit ansehen musste, wie binnen weniger Augenblicke haufenweise gegnerische Soldaten starben.
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Löcher taten sich in ihren Leibern auf, oder ihr Kopf wurde von den Schultern abgetrennt. Doch bevor der Jüngling voller Panik davonlaufen konnte, hielt der Beschaffer ihn am Kragen zurück. »Mir gefällt sie auch besser, wenn sie gut gelaunt ist«, zwinkerte er dem fahrenden Sänger zu. Dann sprang der Dieb hoch und landete auf der Brust eines Ritters. Er schlang die Arme um dessen Kopf, und bevor der Überrumpelte wusste, wie ihm geschah, sank er schon, mehrfach erdolcht, zu Boden. »Tötet die Hexe!«, feuerte Blutklinge seine Männer an. Ein Hauptmann hob einen Speer, welcher so lang war wie eine Turnierlanze. Hawkril bemerkte das Vorhaben, sprang los und hieb noch in der Luft den Speer entzwei. Die vordere Hälfte nutzte er als Sprunghilfe und versetzte sich mitten in eine Schar Ritter, welche auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet waren. Zwei Gegner hatte er schon erledigt, als er zum ersten Mal einer feindlichen Klinge ausweichen musste. Der Hüne stach noch in der Seitwärtsbewegung zu. Und zwar so fest, dass er einen Fuß auf den Schenkel des Sterbenden stellen musste, um sein Schwert herausziehen zu können. Die Zauberin sandte längst weitere Salven in die Scharen der Gegner, und jedes Mal sanken Dutzende getroffen zu Boden. Ihr Einsatz führte bald zum gewünschten Erfolg. An mehreren Stellen gerieten Soldaten in Panik und suchten das Weite. Jedenfalls auf dem Boden des Saals. Etwas höher, auf den
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Galerien, murmelten übellaunige Schlangenpriester ihre Beschwörungen und ließen dabei die Edle nicht aus den geschlitzten Augen. Die Ritter flohen auch vor Hawkril – bis dieser sich unvermittelt vor dem Krieger wiederfand, welcher eben den großen Speer hatte werfen wollen. Bei seinem Gegner handelte es sich um einen wahren Riesen, und dieser schwang jetzt eine gewaltige eisenbeschlagene Keule. Beim ersten Zusammentreffen von Schwert und Keule fand Hawkril zweierlei heraus. Zum einen, dass sein Gegner ihm an roher Körperkraft überlegen war, und zum anderen, dass er selbst eine Hand frei hatte, mit welcher er dem ungeschlachten Kerl Schaden zufügen konnte. Der Hüne hieb dem Riesen mit der behandschuhten Hand wieder und wieder auf die Stirn, bis dort Blut aus den Wunden strömte und dem Feind über die Augen rann. Beide stürzten gemeinsam, rangen miteinander, und Hawkril ließ ab von seinem Schwert, um den Dolch aus dem Gürtel zu ziehen. Als er sich einen Moment später erhob, brachte er sein Schwert wieder an sich und sah sich nach weiteren Gegnern um. Doch überall rannten alle um ihr Leben ... Nachdem Tschamarra sich vom ersten Schrecken darüber erholt hatte, was sich alles mit einem Dwaer anstellen ließ, wenn der Besitzer nur tüchtig genug verärgert war, suchte sie den Thronsaal nach Hinterhalten und Fallen ab, welche sich gegen die Zauberin richteten.
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Rasch wurde der letzten Schwester klar, dass Blutklinges Männer keine Bögen mitgebracht hatten. Also richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Galerien. Sie wirkte einen Zauber gegen die Schlangenpriester und stellte fest, dass ihre Energie beinahe aufgebraucht war. Doch davon konnte eine Hexe sich nicht aufhalten lassen. Rasch und geschickt ging Tschamarra zu Werke, und noch ehe die Schlangenanbeter ihre Bannwaffen geschmiedet hatten, wurden sie bereits vom grünen Feuer der Hexe getroffen. Dieser Zauber ließ sich natürlich nicht mit Embras Blitzen vergleichen, reichte aber trotzdem aus, um Tod und Verwirrung unter den Geschuppten auszulösen – und die von ihnen begonnenen Zauber gegen sie zu wenden. Ein Priester fiel über die Brüstung und blieb zuckend unten liegen. Fürst Ornentar eilte sofort zu ihm und zerhackte ihn. Die restlichen Priester zogen sich zum Ausgang zurück und versuchten hastig, Abwehrbanne zu wirken. Die letzte Schwester aber hob nur die Hände, so als wolle sie einen neuen Zauber wirken – da ließen die Schlangen alles stehen und liegen und rannten davon. Die Herrin der Edelsteine kannte kein Erbarmen. Mit ihren Blitzen tötete sie die feindlichen Armeen bis auf den letzten Krieger. Die drei Fürsten sahen, wie ihre letzten Getreuen sich hinter Steinen und anderen Hindernissen in Sicherheit brachten, und sagten sich, dass sie besser diesem Beispiel folgten. Die letzten Soldaten Blutklinges taten es ihnen nach – vor allem, nachdem sie entdeckt hatten, dass die wahnsinnig ge-
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wordene Zauberin im Moment auf alles schoss, was sich durch die Ausgänge bewegte ... Blutklinge hockte hinter einem besonders großen Steinbrocken und verfolgte fassungslos, wie seine Armee Mann für Mann vernichtet wurde. Nur ein halbes Dutzend Männer hatten sich noch um ihn geschart, und die Dreifaltigkeit allein mochte wissen, wohin sich noch weitere hatten retten können. Während der Kriegsführer sich nach einem Ausweg umsah, entdeckte er die Schlangenpriester, welche sich mit mehreren einander überlappenden Abwehrschilden schützten und dem Gemetzel tatenlos zuschauten. Plötzlich tauchte eine Art Zwerg mitten unter den Überlebenden auf. Von diesen fiel gleich einer durch ein Messer, welches ihm unvermittelt aus dem Auge ragte. Der Nächste folgte dichtauf mit durchschnittener Kehle, und drei weitere erlagen den Wurfmessern. Craer Delnbein, diese Ratte, entrüstete sich Blutklinge. Seine Hauptleute sollten ihm eine besondere Behandlung angedeihen lassen. Noch während dem Kriegsfürsten solche Gedanken durch den Kopf gingen, ragte plötzlich ein Hüne vor ihm auf und schwang ein riesiges Schwert. Blutklinge fuhr stolpernd vor ihm zurück, aber Hawkril ließ ihm keine Zeit zu entkommen. Der Fürst schaute hilfesuchend nach oben zu den Schlangen. Doch die blickten voller Gleichgültigkeit auf ihn hernieder. Ein Hauptmann, welcher herbeisprang, fand unter einem
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mächtigen Schwertstreich Hawkrils sein Ende. Blutklinge konnte den nächsten Hieb des Hünen parieren, doch dann entglitt die Waffe seinen kraftlosen Fingern. »Helft mir!«, schrie der Kriegsfürst den Schlangenmenschen zu; er wusste, dass sein Schwertarm nicht mehr zu gebrauchen war. Aber die Schuppengesichter lächelten ihn kalt an. »Gut möglich, dass Ihr unserer Unterstützung bedürft, aber wir nicht der Euren. Die Schlange dankt Euch. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Er lachte wie über einen gelungenen Witz und fügte dann mit wachsender Heiterkeit hinzu: »Die Fürsten des Reiches sind doch eine arge Plage, nicht wahr. Man weiß nie, welcher Lump unter ihnen gerade wieder eine Verschwörung anzettelt. Da bringt man sie doch besser gleich alle um. Und genau das beabsichtigt die Schlange.« »Nein!«, schrie Blutklinge, und im selben Moment durchbohrte Hawkrils Schwert seine Brust. Der Kriegsfürst mit dem Beinamen Blutklinge, welcher auf den Namen Sendrith Duthjack hörte, konnte nichts mehr sagen, weil zu viel Blut aus seinem Mund strömte. Der Hüne aber richtete seinen Blick nach oben. »Dann habt also ihr Schlangenpriester hinter allem gesteckt? Das hätte ich mir ja denken können!« »Das hätte ich mir ja gleich denken können!«, zeterte der Beschaffer. Der Schlangenpriester, welcher Blutklinge so höhnisch abgefertigt hatte, winkte dem Dieb mit einer Hand zu, deren Finger wie Schlangen zuckten. Craers Wurfmesser säbelte der Hälfte von ihnen die klei-
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nen Köpfe ab. Die Fürstin Silberbaum kniete inmitten einer Blutlache und hielt Glarsimbers Kopf in ihrem Schoß. Erst Fürst Silberbaum und nun auch noch Fürst Hellbanner. Dazu Regent Schwarzgult zusammen mit Flaeros verschwunden. Ihr leiblicher Vater hatte ihr seinen Dwaer gegeben und war schutzlos von irgendeinem Zauber fortgeschleudert worden ... Hawkril schüttelte sein Riesenschwert, bis Blutklinge daran hinabrutschte. Dann stach er noch einmal mit aller Kraft zu, um den letzten Rest Leben aus dessen Körper zu vertreiben. »Erwartet keine Gnade, wenn Aglirta noch unter Euren Schlägen leidet. Am liebsten würde ich Euch für jeden Toten einmal umbringen.« Doch stattdessen schlug Hawkril ihm mit dem Eisenhandschuh auf den Nacken, worunter dem Kriegsfürsten das Genick brach. Oben auf der Galerie brachten die Schlangenpriester einen neuen Zauber zustande. Ihr Anführer hob eine Hand, und auf dem Boden des Thronsaals entstand Rauch. Eine ganze Menge Rauch, nämlich überall dort, wo keine Leichen lagen oder Blutlachen sich ausgebreitet hatten. Und aus diesem Qualm schälten sich Schlangen. Bald zischte es überall im Saal, und weitere Kriechtiere fielen dort aus der Luft, wo der Rauch aufstieg.
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»Hilfe!«, kreischte die letzte Schwester. Schlangen landeten auf ihr, und Schlangen krochen ihr von den Bodenplatten unter die Röcke. Schreiend sprang die Hexe hierhin und dorthin, schlug um sich, als sei sie in einen Mückenschwarm geraten ... bis sie erkennen musste, dass die Schlangen sie umzingelt hatten und ihr kein Ausweg mehr blieb. »Embra!« Hawkrils Schwert mähte wie eine Sense durch die Kriechtiere. Doch aus den abgeschlagenen Köpfen wuchsen neue Körper, und die hauptlosen Leiber entwickelten neue Schädel. Craer griff mit seinen Wurfmessern die Schlangenpriester an. Doch die standen so sicher hinter ihren Abwehrschilden, dass sie den Dieb auslachten. Sie verhöhnten ihn, indem sie seine Dolche in neue Schlangen verwandelten. Endlich wurde auch die Zauberin auf die neue Gefahr aufmerksam. Sie entdeckte die Übeltäter gleich, neue Wut entfachte sich in ihr, und schon fing der Dwaer wieder an zu strahlen. Das grellweiße Feuer fuhr in das Gewimmel der Schlangen, doch deren Masse verging nur zäh darunter. Und kaum waren die Flammen fort, da erstanden die Kriechtiere aufs Neue. »Und nun kommt die berühmte Viererbande doch noch in den Genuss unserer Schlangenfangzähne«, spottete von oben der Priester, welcher vorhin Blutklinge jegliche Hilfe verweigert hatte. Er lächelte Embra frech an, krümmte den kleinen Finger und hatte schon die Krone von Aglirta auf dem Schuppen-
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haupt sitzen. Gleich darauf streckte er eine Hand nach der Zauberin aus, so als wolle er sie zum Tanz führen. Doch als die Edle genauer hinschaute, entdeckte sie, dass sich in der Schlangenhand ein Dwaer befand! »Herrin, gebt mir Euren Zauberstein!«, verlangte er jetzt von ihr. »Niemals!«, schrie sie voller Wut, so dass man es noch in den entlegensten Winkeln des Palasts hören konnte. In einem feuchten, muffigen Raum richtete sich ein leuchtendes Gerippe in seinem offenen Sarg auf, und zwei Flämmchen erschienen in den leeren Augenhöhlen. Das Skelett wollte etwas sagen, doch dazu fehlten ihm Lunge, Kehlkopf, Zunge und verschiedenes andere. Hilflos hob es eine Hand und sank dann enttäuscht zurück ... Embras Dwaer leuchtete so hell wie ein Stern, und sie sandte die weiße Energie gegen den Schlangenpriester. Doch kurz bevor der Strahl sein Ziel erreichte, teilte er sich davor, ohne dem Priester etwas anhaben zu können. Dafür wütete das weiße Feuer umso schlimmer unter den Gehilfen des Unholds. Diejenigen, welche nur leicht davon getroffen wurden, sanken auf die Knie und hielten sich den schmerzenden Kopf. Der Anführer aber lächelte und sprach eine leise Beschwörung, deren Worte von den anderen wieder und wieder gesungen wurden. Darunter leuchtete sein Dwaer erst rot, dann schwarz und endlich eindringlich rot. Der Gesang der anderen schwoll immer weiter an.
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Embra musste nicht lange rätseln, um zu erkennen, was dieser Zauber bewirkte, und die anderen Gefährten wussten es auch bald. Nur Raulin sah die Herrin fragend an, und so erklärte sie ihm: »Er ruft die Schlange, und ich vermag ihn nicht daran zu hindern.« Bald schien der Gesang aus dem ganzen Palast zu ertönen, und neue Schlangen glitten in den Thronsaal. Große Ungeheuer von mehrfacher Manneslänge. »Gebt mir Euren Dwaer«, verlangte der Priester noch einmal. »Überreicht ihn mir auf den Knien und gesenkten Hauptes. Oder ich komme herunter, ihn mir zu holen, und dann soll Euer Blut von ihm tropfen.« In diesem Moment explodiert das Dach des Palasts, und die Trümmer flogen weit in das Land und in den Strom. Die sechs Gefährten schauten nach oben und sahen zunächst nur vorbeiziehende Wolken. Doch dann verdunkelte sich das Firmament. Größer als ein Gebirge erschien die Schlange. Ihre Augen leuchteten wie die schwarzen Flammen der Hölle und blickten herab auf den Thron, dessen Inhaber sie so lange fern gehalten hatte. Mit einem wütenden Zischen schnellte der Kopf durch das offene Dach. Hawkril schluckte dreimal, ehe er vortrat und sein Schwert schwang. »Für Aglirta. Ich habe nur ein Leben zu geben. Versucht nur, Bestie, es mir zu nehmen.« Das weit aufgerissene Maul sauste auf ihn zu. »Ihr seht also«, erklärte Tonthan Goldmantel seinem Gast,
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dem Zauberer aus Elmerna, »dass uns große Möglichkeiten erwarten. Das reichste Land von allen. Natürlich nur, wenn man ihm den Frieden zurückgibt. Aber nach drei Jahren dürfte dort alles wieder im Lot sein. Und eine ganze Baronie soll Euch gehören.« Der Ring an der Hand von Mranrax Arandor blitzte kurz auf. Er untersucht, ob der Wein vergiftet ist, sagte sich Tonthan. Dann meinte der Gast: »Und wie kommt Ihr darauf, dass die braven Bürger Aglirtas einen Magier als ihren Herrn anerkennen? Müsste ich nicht vielmehr ständig befürchten, dass einer meiner Diener mich des Nachts erdolchen will?« »Nun ja, Zauberer haben in der Vergangenheit nicht immer den besten Ruf genossen. Zum Teil war das aber auch ihre eigene Schuld, weil sie sich zu sehr an den Dorfschönen vergriffen haben – oder weil sie im Dienst irgendeines Fürsten standen, welcher sich an einem Rivalen und dessen Untertanen rächen wollte. Aber wenn Ihr Euren Bürgern zeigt, dass Ihr alles anders angehen wollt, werden Euch ihre Herzen rasch zufliegen!« »Und was halten die Ieiremboraner davon, dass sich wie aus heiterem Himmel ein Erzmagier auf ihre Seite schlägt?«, wollte Arandor jetzt wissen. Goldmantel verkniff sich ein Lächeln, denn sein Gegenüber schien schon so gut wie überzeugt zu sein. »Sie wollen vor allem Kelgrael und Blutklinge beseitigt sehen. Und sie brauchen unser Geld, um ein Heer aufstellen zu können. Da dürften Kleinigkeiten wie die Teilnahme eines Erzmagiers nicht weiter stören.«
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Tonthan lächelte jetzt auf die gewinnende Art, welche ihm sein riesiges Vermögen eingebracht hatte. »Ein geschickter Erzmagier könnte leicht zwei oder drei Fürstentümer beherrschen ... oder sogar zum Kanzler des Königs aufsteigen ...« »Welche Vorbereitungen sind denn bereits getroffen worden?«, wollte der Elmernaner wissen. »Nun ja, es gäbe da gewisse Dinge zu bedenken ... wie zum Beispiel die Herrin Silberbaum oder die Dwaerindim ...« Der Zauberer wollte etwas sagen, doch in diesem Moment zerriss ein gewaltiger Donnerschlag den Himmel. Finsternis setzte ein. Der Kaufmann und der Magier stolperten zum Fenster. Sie befanden sich auf der höchsten Erhebung Sirlptars, von wo aus man weit in das Stromtal hinunterblicken konnte. Nun konnten die beiden sogar erkennen, wo die Insel Treibschaum lag. Denn über dem Palast befand sich etwas von der Größe eines Wolkengebirges. Ein Wesen, welches sich zusammenrollte wie ... eine Schlange ... Nein, wie Die Schlange! Eben stieß sie mit dem Kopf hinab ... »Und nun?«, fragte Arandor leise, um zu verbergen, wie sehr seine Stimme zitterte. »Sollten wir froh sein, nicht gerade im Palast zu sitzen«, entgegnete Tonthan leutselig und wunderte sich selbst über seine Ruhe. »Was für eine wohlklingende Bemerkung«, ertönte hinter ihm eine Stimme. »Wir werden uns dieser besonderen Fähigkeit erinnern, Tonthan Runthalan.« Niemand, wirklich niemand kannte seinen Nachnamen. Doch als Goldmantel herumgefahren war, war der Platz
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hinter ihm leer. Als der Kaufmann sich wieder seinem Gast zuwandte, starrte der noch immer voller Furcht auf die Riesenschlange über der Insel Treibschaum. Dem Magier schien der Appetit auf ein eigenes Fürstentum vergangen zu sein. Mehr noch, er wünschte sich offenbar nichts dringender, als wieder zu Hause zu sein. »Die Schlange kommt!«, brüllte jemand. »Sie gleitet auf uns zu!« Ein paar andere Kaufleute gesellten sich zu Tonthan, und er fragte sie mit Blick auf das Ungeheuer: »Nun, meine Herren, was meint ihr? Wie ließe sich daraus Profit schlagen?« Arandor fuhr vor ihm zurück. »Wie könnt Ihr nur? Wisst Ihr denn nicht, um wen es sich bei dieser Schlange da draußen handelt?« Der Kaufmann zuckte die Achseln. »Natürlich weiß ich das. Die Schlange ist endlich erwacht. Sie gilt als eine Schöpferin der Dwaerindim und soll vollkommen wahnsinnig sein. Weiterhin will sie alles und jeden beherrschen, kennt alle Grausamkeiten und kann Menschen mit einem Blick in Tiere verwandeln. Habe ich noch irgendetwas vergessen?« Der Zauberer heulte, drehte sich auf dem Absatz herum und rannte davon. Man hörte sein Schreien und das vieler anderer Flüchtlinge noch lange nachhallen. Tonthan schüttelte den Kopf. Dann würde es eben ohne zauberischen Beistand gehen müssen. Aglirta konnte ihnen schließlich auf die altmodische, wenn auch kostspielige Art in die Hände fallen ...
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Mulgor war unruhige Schafe gewöhnt. Kein Wunder, wo hier im Bergland so viele Wölfe, Füchse und Bären herumschlichen. Deswegen zog er auch so gern in Uls Senke. Fast nur Grasland; kaum ein Baum oder Strauch, hinter welchem sich ein Raubtier verstecken konnte; an beiden Enden eine Erhebung, von der aus ein Schäfer alles im Griff behalten konnte; und viele Wildvögel, die einen schmackhaften Braten abgaben. Vor zwei Sommern hatte er hier den Wolf mit einem Pfeil erlegt. Seit einiger Zeit war Mulgor hier auch mehr oder weniger allein. Die meisten waren entweder in irgendeinen der vielen Kriege gezogen oder vor deren Wirren geflohen. Seine Tiere wurden dieses Jahr fett, und er würde eine hübsche Stange Geld für sie einstreichen. Dann könnte der Hirte endlich Throrkans Feld kaufen – ein seit fünf Jahren vernachlässigtes Stück Land. Aber seine Schafe würden schon mit dem Unkraut aufräumen. Und wenn es ging, auch noch die dahinter liegenden Hügel, um darauf Wein anzubauen. Nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch zum Verkauf – Ein furchtbarer Knall, und alle Schafe rannten davon ... Aber nein, sie befanden sich nicht auf der Flucht, sondern strebten gemeinsam dem Rand der Senke zu. Der Schäfer sprang auf und lief ihnen hinterher – und der Boden unter seinen Füßen bebte, als würde die ganze Welt durchgeschüttelt. Der Himmel färbte sich schwarz, und Mulgor landete unsanft auf dem Rücken. Er musste wieder hoch und die Herde einsammeln, damit sie von dem Unwetter nicht auseinander
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getrieben würde. Aber was war das? Die Tiere rannten nicht mehr davon. Sie hatten oben am Rand der Senke angehalten, standen in langer Reihe da und starrten hinüber zur Insel Treibschaum. Von dort kam auch die Himmelsschwärze her ... eine Riesenschlange, gewaltiger noch als das mächtigste Raubtier ... Das konnte nur die Schlange aus der Sage sein ... diejenige, welche auf mannigfaltige Weise mit dem König verbunden war ... Und wenn sie jetzt dort auftauchte, konnte das doch nur bedeuten, dass ... Dass das ganze Reich unterginge und man nur noch Schlangenpriester und Sklaven anträfe ... Der Schäfer konnte das goldene Auge des Untiers deutlich erkennen. Jetzt riss die Schlange das Maul auf, und ihr Rachen musste doppelt so groß sein wie Uls Senke. Der geschuppte Kopf stieß in den Palast hinab. Kelgrael musste bereits tot sein, und wer immer noch auf der Insel lebte, würde jetzt von der Schlange gefressen werden. So ein Riesentier konnte eine Menge verdrücken. Mulgor erwachte aus seiner Starre. Er brauchte dringend seinen Bogen. Auch wenn er damit kaum der Schlange gefährlich werden könnte, gäbe er ihm doch das Gefühl, sich wenigstens gewehrt zu haben ... Steine fielen wie Regen, Sprünge zeigten sich in Decken und Böden, und ganze Gemächer fielen in sich zusammen. Die glühenden Gebeine von Gadaster Mulkyn fügten sich in ihre Ordnung zurück – obwohl doch sein einstiger Lehrling Ingryl Ambelter den Sarg wieder und wieder aufgesucht hatte, um sich an der Restenergie zu laben und wiederherzu-
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stellen. Nur den Willen hatte er Gadaster nicht nehmen können. Und deswegen würde in nicht allzu ferner Zeit der Tag kommen, an welchem Ambelter die andere Seite seines Zaubers zu schmecken bekommen würde. Denn es gab für einen Magier keine größere Gefahr, als mit Bannen herumzuspielen, welche er nicht vollständig verstand. Genauso, wie Gadaster den Zauber nicht begriff, welcher ihn gerade so furchtbar durchgerüttelt hatte. Der ganze Palast bebte ja noch darunter! Neugier ist der Fluch jedes Magiers – auch Gadasters; denn er erhob sich, um die Ursache dieses Ereignisses herauszufinden. Der Flussthron lag in Trümmern da, und das bedeutete, dass alle Verbindungen zwischen Kelgrael und der Schlange – Aber das bedeutete ja, dass der König tot war ... Und wo blieb die Schlange? Gadaster bekam es mit der Angst zu tun. Am besten legte er sich wieder in seine Gruft schlafen und betete darum, nicht entdeckt zu werden. Gerade noch rechtzeitig schaffte der alte Zauberer es zurück, löschte das Glühen seiner Knochen und versank in Schlummer – Da erschütterte das nächste Beben den Palast. Im höchsten Turm einer Burg weit weg von Treibschaum stand ein Fenster offen. In endloser Folge flogen Fledermäuse hier ein und aus – und das von früh bis spät. In dieser hohen Kammer saß ein Mann in schwarzen Ge-
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wändern am Schreibtisch und las in einem Zauberbuch, für dessen Besitz so mancher Bannschwinger gemordet hätte. Immer wieder nickte der Herr der Fledermäuse versonnen und bemerkte nichts davon, wie diese Tiere auf ihm landeten und sich wieder von ihm erhoben. Huldaerus gehörte nicht zu den Magiern, welche große Auftritte liebten und gern die Huldigungen der Menge entgegennahmen. Ihm bereitete es die höchste Genugtuung, alte und seltene Bücher zu studieren. Mit einem Mal erstarrten die Fledermäuse über ihm mitten im Flug, und die Glühkugel, welche er sich als Lesehilfe eingerichtet hatte, erlosch. Der Magier hob den Kopf. Aber er spürte weder einen feindlichen Bann noch einen Eindringling. Was – Die Welt rumpelte und grollte, als wollte sie zerspringen ... Huldaerus wusste sofort, dass dieses Getöse in Aglirta seinen Ursprung haben musste. Er lächelte matt, weil ja alles Weltbewegende aus dem Reich kam. Der Magier begab sich zu seiner Kristallkugel, und während er hineinspähte, fingen die Fledermäuse langsam wieder an, sich zu bewegen. Wie durch Zufall war die Kristallkugel auf den Thronsaal von Treibschaum ausgerichtet – und dort ging es offenbar drunter und drüber. Etwas unfassbar Riesiges schob sich über den Palast – und im nächsten Moment tauchte der Schädel der Schlange über der Thronkammer auf. Also war die Große Schlange doch noch freigekommen. Das konnte nur eines bedeuten: Schneestern war tot. Und damit würde das Reich bald nicht mehr wiederzuerkennen sein.
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Ja, wenn alle Zauberer – von den Erzmagiern bis zu den Heckenmagiern – zusammenarbeiten würden, ließe sich das Unheil unter Umständen aufhalten ... Der Herr der Fledermäuse schüttelte den Kopf. Wann würde so etwas jemals der Fall sein? Nein, rein gar nichts ließ sich jetzt mehr dagegen tun. Huldaerus ließ sich eine kostbare Flasche Wein bringen und genoss sie in seinem Lieblingssessel.
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Zepter, Drachen und Schlange C Zu seinem Glück waren nicht alle Zauber schief gegangen. Einer hatte ihn nämlich aus der Silberbaum-Gruft hierher gebracht. Die Kopfschmerzen brachten Ambelter zwar fast um, aber er wusste dennoch, dass er großes Glück gehabt hatte. Er wusste nicht, wie lange er hier schon lag, und eine vorsichtige Untersuchung ergab, dass auch niemand des Wegs gekommen war und ihn ausgeraubt hatte. Vielleicht würde ihn alle Welt mittlerweile für tot halten, und das wäre ja nicht das Schlechteste. Er musste jetzt dringend an einen Dwaer kommen, aber das war leichter gesagt als getan. Ingryl vermochte, an die Banne von Tharlorn, Sarr und sogar des sagenhaften Eroeha zu gelangen, aber sie alle würden ihm nichts gegen einen Weltenstein nützen. Er zog sich in sein Versteck zurück und beschloss, hier erst einmal zu bleiben. Was hatte er schon mit Aglirta zu schaffen? Vielleicht ließ es sich ja in einiger Zeit leichter an einen
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Dwaer kommen ... »Vergesst mich, ihr Narren ... geh allein deines Wegs, du schnöde Welt. Wenn ich erst einen Weltenstein besitze, komme ich gern zu euch zurück.« Ein Donner ertönte, der beinahe seine Erdhöhle zum Einsturz gebracht hätte. Als der Zauberer sich vom Erdreich befreit hatte, schaute er nach oben – und erstarrte. Der Königspalast lag in Trümmern, und an der Südseite ringelte sich die Große Schlange! Seine Augen spielten ihm keinen Streich, und er unterlag auch sonst keiner Sinnestäuschung. Der fette Körper des Kriechtiers brachte weitere Mauern zum Einsturz. Dann richtete die Bestie sich auf, und ihr Kopf stieg so hoch in den Himmel, dass Ambelter, ihrer Bewegung mit den Augen folgend, nach hinten überkippte. Die schwarzen und goldenen Augen sahen sich suchend im ganzen Stromtal um, und Ingryl machte sich in seinem Versteck ganz klein. Als das Untier das Maul aufriss und herunterstieß, verkroch sich Ambelter, so tief es ging, in die Erdhöhle. Der König war tot, die Schlange frei und das Reich dem Untergang geweiht! Er musste jetzt wirklich dringend an einen Dwaer gelangen. Nein, besser noch an alle Dwaerindim, bevor die Schlange an die Steine geriet ... »Aber Ihr wart doch schon letztes Mal Roter Traum«, schmollte die wohlgeformte Schöne und brachte das rote Band an sich. Die andere Frau zuckte die Achseln und nahm das blaue
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Band. »Nun beruhigt Euch wieder, Raegrel. Achtet lieber darauf, dass Ihr beim Auftritt genau wie ich ausseht. Die Haare müssen noch etwas dunkler, die Beine etwas länger werden.« Der Beschaffer, welcher mit dem Kopf nach unten draußen am Fenster hing, schluckte zum wiederholten Male. Er konnte sich einfach nicht dafür entscheiden, welche von den beiden aufregender aussah. Offenbar unterhielten die beiden sich über Brüste. Die eine mit dem blauen Band griff an die der anderen, und sie – Es krachte gewaltig, die Scheibe vor ihm zerklirrte, und er landete mitten zwischen den beiden Frauen. Die Blaue streckte einen Arm aus, bis dieser zwanzig Fuß lang war, packte den Eindringling am Nacken und stieß ihn ins Wasserbecken. »Soll ich ihn ersäufen?«, fragte Raegrel. »Hört auf zu spielen, und schaut lieber nach draußen«, gebot Thaebred. »Das scheint die Große Schlange zu sein, welche endlich freigekommen ist.« Der jüngere Koglaur gehorchte und schwieg lange. Dann fragte er: »Und was sollen wir jetzt tun?« »Weglaufen, uns verstecken und beten.« Von unten auf der Straße ertönte ein Platschen und Prusten. Raegrel schaute hinunter und sah den Beschaffer sich aufrappeln und davonlaufen. »Während Ihr nach Treibschaum geschaut habt, habe ich mir erlaubt, den Eindringung aus dem Fenster zu werfen – auf eine Ladung gefüllter Weinschläuche.« Der Ältere schwieg, bis der Jüngere ihn fragend ansah. »Ich bin einer der wenigen, welche sich noch an das letzte
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Erscheinen der Schlange erinnern können«, sprach Thaebred. »Und was wird jetzt aus uns?« »Kommt, Roter Traum, unser Auftritt wartet.« »Was war denn das?«, rief Multhas von draußen. Er klang aber weniger erbost als vielmehr verwirrt. »Bringt alle herbei, rasch«, erhielt er zur Antwort. »Jeden Bogendrachen, welchen Ihr antrefft.« Wenig später kehrte Multhas mit Araunder und Ithim zurück nebst allen Kindern. Dolmur sah sie alle ernst an: »Was ihr jetzt zu sehen bekommt, bildet den wichtigsten Grund dafür, warum keiner von euch nach Aglirta laufen darf, um unsere Toten oder unsere Ehre oder was auch immer zu rächen ...« Der älteste Bogendrachen bewegte sachte die Finger, und mitten in der Luft entstand ein Fenster von doppelter Mannshöhe. Darin führte Dolmur seiner Sippe alles vor, was er vorher gesehen hatte. Vom Donnerschlag über die Finsternis bis hin zu der Großen Schlange. Einige der Kinder verbargen die Gesichter, und auch die Größeren erschraken zutiefst. »Das war die Schlange aus der Sage, nicht wahr?«, fragte Araunder ganz gefasst. »Ja, die nämliche. Kein Trugbild, kein Zauber, sondern die echte. Die Große Schlange war einst der mächtigste Erzmagier, welchen das Reich je erlebt hatte ... Selbst wenn wir alle uns mit den anderen Sippen verbündeten und Seite an Seite mit ihnen stünden, vermögen wir mit all unseren gebündelten Zauberkräften kaum, ihr ein Härchen zu krümmen.«
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»Und deswegen dürfen wir nicht nach Aglirta?«, fragte die halbwüchsige Maedra. »Ehrwürdiger Onkel, Ihr wollt uns doch nicht mit einem so albernen Ammenmärchen dazu bewegen, hier herumzusitzen und Däumchen zu drehen! Damit wir uns zum hundertsten Mal die Geschichte anhören dürfen, warum Euch Eure Frau davongelaufen ist?« »Nein«, entgegnete Multhas, »ich bitte euch nur darum, euer Leben nicht mutwillig fortzuwerfen ... und wenn wir schon sterben müssen, dann mit so viel Würde, wie wir nur aufbringen können.« »Wir müssen sterben?«, fragte das Mädchen ungläubig. »Wann denn?« , »Wenn es der Schlange gefällt, hierher zu kommen.« Der Kapitän der Frischen Brise betrachtete Orathlee wieder mit diesem Blick. Sie ahnte, dass er gleich noch einmal fragen würde, warum sie den überteuerten Preis bezahlt habe, um so rasch wie möglich von Sirlptar fortzukommen. Da kam er auch schon. Der Kapitän konnte es sich erlauben, seinen Posten zu verlassen, denn sein Schiff machte gute Fahrt, und der Himmel sah freundlich aus. »Wie schön, Euch an Deck zu sehen«, begann Telgaert. »Die meisten bleiben lieber unten ... in der Nähe eines Eimers.« »Die Reise verlief doch bisher sehr angenehm, und da wollte ich etwas frische Luft um die Nase haben«, antwortete die Frau. »Meine Töchter und ich sind Euch nämlich überaus dankbar, dass Ihr uns ohne viele Fragen an Bord genommen habt.« »Ich bitte Euch, Damen in Not hilft man doch gern. Und
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Ihr scheint wirklich in großer Not gewesen zu sein.« Orathlee seufzte leise. Warum nicht gleich mit der Erklärung beginnen? »Herr Kapitän, ich will offen zu Euch sprechen: Meine Töchter und ich sind meinem Ehemann und ihrem Vater davongelaufen, einem Saufbold und Schläger. Fürchtet nicht eine Straftat, denn ich habe nichts verbrochen – der Mann lebt noch. Auch bin ich weder vor irgendwelchen Schulden davongelaufen noch eine Prinzessin, welche unerkannt um die Welt reisen will.« Der Kapitän lachte sie nach diesen Worten an, und spätestens damit hatte sie ihn auf ihre Seite gezogen. »Da bin ich aber erleichtert, gute Frau.« »Ihr habt auch wirklich nichts von mir zu befürchten, verehrter Herr.« Während die beiden sich im leichten Plauderton näher kamen, zerriss unvermittelt über ihnen der Himmel. Alle an Bord schraken zusammen, und diejenigen, welche sich auf Deck aufhielten, starrten ins Firmament. Ein ungeheurer Schlangenkopf war dort aufgetaucht und schien die Wolken beiseite schieben zu wollen. Doch dann tauchte er von einem Moment zum anderen weg, so als wolle er eine Beute schlagen ... Das Schiff durchquerte jetzt die Meerenge und fuhr auf die offene See hinaus. Am Horizont zog sich ein Gebirge entlang, und jenseits davon war die Schlange abgetaucht. Der Kapitän wandte sich mit grauem Gesicht an die Frau. »Verratet mir bitte, was das gewesen ist.« »Die Große Schlange«, antwortete Orathlee, denn sie hatte zu diesem Mann Vertrauen gefasst und wollte ihm nicht noch
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mehr Lügen auftischen. »Nicht irgendeine Märchengestalt und auch sonst kein Kinderschreck – Sondern die seit langem geweissagte allmächtige Schlange. Und in Wahrheit fliehe ich vor ihr. Ihr versteht also, dass ich weder eine Anhängerin noch eine Priesterin dieses Ungeheuers bin!« »Damit die Schlange auferstehen kann, muss der König von Aglirta tot sein«, murmelte Telgaert. Dann sah er die Frau noch einmal mit großen Augen an. »Woher wusstet Ihr ...?« Orathlee entblößte ihren Oberkörper, um dem Mann ihre Brandzeichen zu zeigen. »Ich bin eine Weise. Kürzlich habe ich einem Kunden die Tanthor-Karten gelegt und darin gesehen, dass eine große Gefahr dem Reich drohe. Und da wollte ich nicht länger in Sirlptar weilen.« Der Kapitän schüttelte leicht den Kopf. Dann nickte er in Richtung ihres vernarbten Busens und sagte: »Ihr müsst noch ein Kind gewesen sein, als man das mit Euch angestellt habt ... Meine Muhme war auch eine Weise, und ihr hat man in jungen Jahren so sehr den Rücken gepeitscht, dass sie zeitlebens nur noch mit krummem Buckel herumgelaufen ist, und das nur, weil man sich vor ihren hellseherischen Fähigkeiten gefürchtet hatte. Gute Frau, Ihr sollt Eure Passage bis auf den letzten Heller zurückerhalten.« Er trat noch einen Schritt auf sie zu. »Ihr müsst jetzt nicht antworten, wenn Euch das zu heikel erscheint ... aber wo wollt Ihr hin, nachdem ich in Teln eingelaufen bin?« Sie senkte den Blick und trat unmittelbar vor ihn. »Das
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weiß ich nicht ... vor der Schlange gibt es kein Entkommen ...« »Doch, übers Meer schon«, versicherte der Kapitän ihr. »Telgaert, ich kann kochen, mit Kräutern heilen und nähen. Ich habe als Sklavin gearbeitet, und ich habe noch mehr Narben. Einige sogar an Stellen, welche die Gelüste der Männer wecken. Ich bin bereit, mich jedem Seemann an Bord hinzugeben, solange man nur meine beiden Töchter in Ruhe lässt.« Der Kapitän lächelte und nickte. »Dann nehme ich Euch in meine Besatzung auf. Ich bin mir sicher, dass wir lange gut miteinander auskommen werden.« »Solange die Schlange uns lässt.« Orathlee machte sofort mit den Fingern ein Abwehrzeichen. Telgaert ahmte die Geste genau nach und offenbarte sich: »Auch ich bin ein Weiser, obwohl meine Muhme zu früh verstarb, um mir genug beibringen zu können. Deshalb lade ich Euch für heute Abend nach dem Essen in meine Kabine ein, damit wir uns dort in Ruhe unterhalten und ich Euch meine Weinsammlung zeigen darf.« »Fein«, lächelte sie, »aber nur, wenn ich Euch meine anderen Narben zeigen darf.« »Wissen Eure Töchter von Eurer Entscheidung?« »Sie besitzen ebenfalls die Gaben eines Weisen ... auch deshalb sollte keiner Eurer Matrosen ihnen zu nahe kommen.« Orathlee verabschiedete sich vom Kapitän und begab sich nach unten. Meleira und Talace würden bei ihrem Eintreten entweder die Augen verdrehen – dann hatten sie schon die Gedanken ihrer Mutter gelesen – oder wie erstarrt dasitzen – dann hatten sie die Karten gelegt und daraus gelesen, was dem
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Reich blühte. Wie dem auch sei, Orathlee wollte bei ihnen von jetzt an die Zügel locker lassen. Sollten sie doch tun, worauf sie Lust hatten. Wer konnte schon sagen, wie viel Leben ihnen noch blieb – jetzt, da die Große Schlange auferstanden war? Scharfe, harte Zähne kreischten über Stein, trafen aber nicht Hawkril oder einen seiner Gefährten, sondern den Thron. Sie bissen ihn mit einer solchen Wut aus dem Boden heraus, dass Hawkril ein ganzes Stück weit fortgeschleudert wurde und einige Schlangenpriester von der Galerie fielen. Als der riesige Kopf sich wieder in die Höhe erhob, fragte der Recke die Herrin der Edelsteine: »Was sollen wir jetzt tun?« »Was bringt Euch darauf, dass ich auch nur die geringste Idee hätte?« Der Beschaffer lächelte die beiden an. »Nun, Ihr seid doch eine Fürstentochter. Hat man Euch denn nicht dazu erzogen, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden und auf alle Fragen eine Antwort zu wissen?« »Craer«, sagte Embra mit zuckersüßer Stimme, »Ihr seid eine solche Landplage, dass man Euch lieben muss – weil es sonst mit Euch nicht auszuhalten wäre.« »Jetzt geht es mir schon deutlich besser«, lächelte der Kleine. »Soll die Schlange doch ruhig kommen. Gegen Euer Gift ist sie machtlos.« Im nächsten Keller stank es nach all dem Unrat, welchen die Bürger Sirls in den Fluss kippten und der sich hier sammelte. Vor dem Tersepten rannten zwei Männer ineinander und
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bedachten einander mit wüsten Beschimpfungen. Haelbaum lächelte. Das war ja eine schöne Verschwörung ... Da kam ein Bote gelaufen und rief nach dem Fürsten. »Hier bin ich, sprecht, guter Mann«, meldete sich Maevur. »Alles steht bereit, Herr«, sagte der Mann. »Aber dem Zauberer ist aufgefallen, dass einer in Eurer Begleitung einen Abwehrschild trägt.« »Fackeln zu mir!«, rief Fürst Kardassa. Während man sie ihm brachte und entzündete, blieben die anderen Verschwörer stehen und unterhielten sich erregt miteinander. Dann trat auch noch der Zauberer hinzu und zeigte ohne Umschweife auf den Tersepten von Shaeltor. »Der da ist’s!« Die Umstehenden wichen vor dem Ertappten zurück, als habe der mit einem Mal eine ansteckende Krankheit. »Ihr erstaunt mich, lieber Tersept«, erklärte Maevur ihm mit ätzender Stimme. »Trefft heimlich solche Vorkehrungen. Habt Ihr denn kein Vertrauen zu uns? Ich muss gestehen, ich bin von Eurem Verhalten ein wenig verletzt.« Shaeltor lief der Schweiß übers Gesicht, als er einen Ring von seinem Finger zog, den er vor sich auf den Boden legte, bevor er wieder einen Schritt zurücktrat. »Bitte, zerstört den Ring nicht. Mein Großvater schenkte mir einst das Stück, und es ist das Einzige, was mir von ihm blieb. Dass es sich dabei um einen Abwehrschild handeln soll, habe ich nicht gewusst. Ich hielt den Ring immer für einen Glücksbringer.« »Nun, jetzt hat er Euch aber kein Glück gebracht«, entgegnete der Fürst und tat so, als würde ihn das bekümmern. Der Zauberer näherte sich dem Ring, hob ihn auf, betrachtete ihn dann und verkündete: »Dieser Mann spricht die
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Wahrheit.« »Ich bin kein Magier«, beeilte sich der Tersept zu versichern. »Selbst wenn mein Leben davon abhinge, vermöchte ich keinen Zauber zu bewirken.« »Dann wollen wir mal sehen, wie wir dieses kleine Missverständnis aus der Welt –«, begann Kardassa und wurde von einem Donnerkrachen unterbrochen. Für einen Moment drohten alle Fackeln auszugehen, dann trat schlagartig Ruhe ein – doch nur für die Dauer eines Herzschlags. Dann brüllte und schrie alles durcheinander, die sonst eher schlaffen Wellen im Hafen schlugen wuchtig an, und die vertäuten Boote schwangen hin und her. »Was war denn das?«, fragte Maervus und wusste nicht, was ihn mehr bewegte – das, was sich draußen getan haben mochte, oder die Störung seiner Worte. »Der allzu sorglose und allzu unbesonnene Umgang mit Magie«, beeilte sich Tersept Shaeltor zu erklären. »Willkommen in Aglirta«, fügte Haelbaum hinzu. DIE ZEIT DES ABSCHIEDS IST GEKOMMEN »Vergesst mich nicht«, hauchte der alte Sarasper Kodelmer mit bleichen Lippen, »behaltet mich in ehrendem Angedenken ...« Craer hüpfte vor dem Schlangenmaul hin und her, hatte es eben ausreichend abgelenkt, dass Embra einen Ball aus Dwaer-Feuer in den Rachen werfen konnte. Die Schlange zog hastig ihren Kopf zurück. In diesem Moment der Ruhe drehten sich alle zu dem
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Heiler um. Der nahm mit letzter Kraft das Zepter an sich – und verwandelte sich. Dessen Energie drang machtvoll in ihn ein, und für einen Moment wurde ihm speiübel. Doch dann wuchsen seine Glieder an, seine Brust weitete sich, und schon überragte er alle seine Gefährten. Schuppen wuchsen ihm, und er strebte der eingestürzten Decke zu. Das Zepter fiel aus seinen Klauen, er brach durch die Decke – Und er war der Drache, welchen er sich immer gewünscht hatte! »Tschamarra!«, schrie Embra, als das Zepter am Boden zerbröselte. »Schleudert alles, was Ihr noch habt, auf die Schlange! Jetzt!« Während die Hexe Flammenspeere verschoss, lehnte die Zauberin sich restlos erschöpft zurück. Aber sie riss sich zusammen und setzte nochmals ihren Weltenstein gegen den Erzfeind ein. Sie mussten Sarasper seinen Zeitvorsprung verschaffen, sonst würde sein Opfer sinnlos sein, und alle Hoffnung für Aglirta wäre zerstoben! Und jetzt hatte ihr alter Freund sich in einen Drachen verwandelt, wie das Reich ihn noch nicht gesehen hatte. Er öffnete sein mächtiges Maul und spuckte Feuer auf die Riesenschlange! Doch der Erzfeind schluckte Embras Flammen und schüttelte sich lediglich. Tschamarras Geschosse konnten ihm überhaupt nichts anhaben. Die Schlange bog den Kopf zurück, ließ ihn rasend flink vorschnellen und bohrte ihre Zähne tief in den Hals des Drachen.
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Der Zauberin wich alle Farbe aus dem Gesicht, und sie stand bebend da. Ihr blieb nichts zu tun, während die beiden Titanen miteinander rangen. Diese Schlacht mussten die beiden allein miteinander ausfechten. Sarasper wehrte sich, schlug um sich, und sein wogender Schwanz brachte weitere Teile des Palasts zum Einsturz. Er versuchte, sich von dem Feind zu entfernen, doch der schlängelte seinen Unterleib um ihn herum. Der Drache versuchte noch einmal, Feuer zu spucken, doch nur ein Krächzen kam aus seiner Kehle. Er konnte sich nicht einmal mehr zur vollen Größe aufrichten, weil das Gewicht der Schlange ihn nach unten zog. Der Alte kippte nach hinten, und sein Feind nutzte die Gelegenheit, ihm die Beine endgültig zu umschlingen. Wie lange konnte Sarasper das noch aushalten? Der Heiler ging nun dazu über, der Schlange mit seinen Klauen den Leib aufzureißen. Rauchender Schleim quoll aus den Wunden. Die Schlange kreischte und riss den Kopf zurück. Als sie ihn wieder zustoßen lassen wollte und das Maul weit auf riss, schob Sarasper seine lange Schnauze in ihren Rachen ... Immer tiefer und tiefer, so dass die Kiefer stetig weiter auseinander strebten. Der Feind versuchte wütend zuzubeißen, bekam das Maul aber nicht mehr geschlossen. In ihrer Not versuchte die Schlange, den Kopf zurückzuziehen, aber das gelang ihr nicht weit genug. Sie konnte sich
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auch nicht von dem Drachen entfernen, weil der ja auf dem Rücken lag und sie ihm die Beine umwickelt hatte. Und die ganze Zeit über atmete Sarasper kräftig genug, um wieder Feuer spucken zu können. Der Flammenstoß fuhr tief den Rachen und den Hals hinunter und traf die inneren Organe des Feindes. Der Widerstand der Schlange schien gebrochen zu sein. Sarasper holte noch einmal aus und blies wieder Feuer in den Leib des Feindes. Die Welt explodierte in einem weißen, lilafarbenen und rotgoldenen Meer von Flammen, die nicht mehr erlöschen wollten. Die Schlange flog in tausend Teile auseinander und Sarasper mit ihr, es regnete blutige Fleischfetzen, und über dem schrillen Geheul der Schlangenpriester konnte man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Hawkril richtete sich langsam auf und schüttelte sich, um sich von den Kadaverteilen zu befreien. Dabei fiel sein Blick auf die Galerien, wo die Priester Veitstänze aufführten. Einige von ihnen stürzten sich in den Tod, andere entleibten sich an spitzen Gegenständen, und der Rest fiel schließlich übereinander her, um sich gegenseitig zu zerfleischen. Embra erkannte unter Letzteren den Priester, welcher den Dwaer an sich gebracht hatte, doch dieser gebärdete sich genauso wahnsinnig wie die anderen. Doch ehe die Prinzessin sich zu ihm begeben und ihm den Weltenstein abnehmen konnte, verwandelte sich einer der Priester in einen Soldaten und brachte den Dwaer an sich. Ein Koglaur?, fragte sich die Edle.
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Craer sprang schon die Trümmerhaufen hinauf und tat einen gewaltigen Satz, welcher ihn auf die Galerie bringen sollte. Doch da flammte der Dwaer auf, und der falsche Soldat war verschwunden. Einen Moment später tauchte der Stein allein wieder auf und sank in den Saal. Craer, der schwer aufgekommen war, rappelte sich wieder auf. Der Anführer der Schlangenpriester war nach dem Verlust des Steins zur Besinnung gekommen und wähnte nun, eine neue Gelegenheit zu erhalten. Er kroch auf den Dwaer zu und verlor dabei alles Schlangenhafte, verwandelte sich in einen Menschen zurück. Craer brauchte einen Moment zu lange. Der Beschaffer war noch einige Schritte entfernt, als der Priester die Hand um den Dwaer schließen konnte. Und kurz, bevor er ihn erreichte, flammte der Weltenstein auf und verschwand mit seinem Besitzer. Embra war zwischenzeitlich vor Erschöpfung zusammengesunken, und der Dwaer war ihr aus der Hand gerollt. Das hatte die letzte Schwester bemerkt. Sie eilte sofort zu der Edlen, kniete sich vor sie hin und sang etwas. »Steht ab, Tschamarra!«, brüllte Hawkril und schleuderte schon sein Kriegsschwert. Die Klinge drang der Hexe tief in den Rücken. Sie brach zusammen, verdrehte die Glieder und stöhnte: »Zieht den Stahl heraus ... sonst kann ich uns beide nicht heilen!« »Was habe ich getan!«, grämte sich der Hüne. Zusammen mit Craer hielt er die letzte Schwester. Lange pulste das Glühen des Weltensteins zwischen den
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beiden Frauen hin und her, bis Tschamarra seufzend erklärte: »Sie hat es überstanden ... und jetzt zieht endlich das Schwert heraus, ich bitte Euch von Herzen!« Der beschämte Recke erfüllte ihr gleich den Wunsch, und die beiden Freunde hielten die Hexe wieder über den Stein. Bis sie verkündete: »Es ist vollbracht, nun bin auch ich geheilt.« Raulin kam vorbei, und nach einer Weile fragte die Hexe: »Und was unternehmen wir nun? Verstecken wir uns wieder irgendwo, kommen zu Kräften und ziehen dann gegen diejenigen in die Schlacht, welche sich in den Kopf gesetzt haben, den Thron zu gewinnen? Oder treiben wir alle Fürsten und Tersepte zusammen und zwingen sie dazu, einen neuen König anzuerkennen?« »Was schert Euch denn das Schicksal Aglirtas?«, fragte Craer. »Ihr stammt doch aus Sirl.« »Nein, ich bin in Glarond geboren und aufgewachsen. Und ich will bei euch mitmachen. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich vor einer sinnvollen Aufgabe.« »Seid uns willkommen ... und danke«, sprach die Zauberin matt. Da ertönte ein Hilfeschrei des Jünglings. Raulin stand oben auf den Trümmern, und als die anderen heran waren, zeigte er auf eine rotschwarze Masse zwischen den Steinen. »Das war bis eben die Schwanzspitze der Schlange. Doch gerade hat sie sich in das da verwandelt.« Ein kleines Männlein lag dort und hatte nur noch einen Arm, welchen es nach oben richtete. Mehr brauchte Hawkril nicht zu sehen. Er holte mit seinem Kriegsschwert aus und wollte den Erzfeind erschlagen.
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Doch seine Klinge prallte ab, als sei sie auf ein unsichtbares Hindernis gestoßen. Craer warf ihm einen Dolch zu. Der Recke fing ihn aus der Luft und wollte sich damit über den uralten Zauberer hermachen. Doch der schrumpfte bereits zusammen, bis nichts, nicht einmal mehr Asche, von ihm übrig geblieben war. Von Schlange und Erzmagier war rein gar nichts mehr zu erkennen. Er hatte sich aufgelöst wie vor ihm schon Hellbanner und Sarasper.
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Neunzehn
Wie man die Götter unterhält C Das Licht in der Kristallkugel verging, und der Mann, welcher davor saß, knurrte unwillig. Einmal leuchtete es noch auf, zeigte ihm einen Hünen, welcher auf einen schrumpfenden Körper einhieb, und dann gar nichts mehr. »Bei der Dreifaltigkeit«, murmelte er, »da scheine ich ja doch einmal das Richtige getan zu haben –« »Bannmeister!«, ertönte eine Stimme vom Eingang seiner Höhle. Wer hatte ihn denn hier aufgestöbert? Er nahm zwei Zauberstäbe und ließ sie Feuer spucken. Nach einer Weile fragte der Magier dann höflich: »Ja, bitte, Ihr wünscht?« »Ich bin es, Fürst Phelinndar.« Er trat vor, und die letzten Flammen fielen von seinem Abwehrschild ab. Der Fürst war mit einem Dwaer gekommen. »Natürlich verstehe ich mich noch nicht auf die Bedienung dieses Weltensteins«, erklärte Phelinndar, »aber ich habe mich mit ihm vereint. Wenn Ihr mir also etwas antut, wird er sich dafür an Euch rächen. Ich bin gekommen, weil ich Eure Hilfe bei der Eroberung von Aglirta benötige. Und Ihr seid ebenso auf mich angewie-
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sen. Also, wollen wir uns zusammentun?« »Ja, vermutlich ...« Ingryl Ambelter wies dem Gast einen Sitzplatz zu, schenkte ihm Wein ein, und als ihm dann vollends bewusst wurde, wie sich die Dinge entwickelt hatten, musste er laut lachen. WÄHRENDDESSEN Ezendor Schwarzgult und Flaeros Delkamper stürzten endlos durch Schwärze. »Habe ich irgendwas Falsches angestellt?«, fragte der Jüngling nach einer Weile. »Nein. Das war wohl ich. Das Zepter besitzt die Fähigkeit, jemanden an einen sicheren Fluchtort zu versetzen, und das muss ich wohl irgendwie ausgelöst haben ... Wir befinden uns hier an einem Ort, welcher sich nur durch Magie erreichen lässt, und ... Junger Freund, habt Ihr vielleicht irgendetwas Magisches dabei?« »Nein, äh ... nur das hier.« Er reichte dem Regenten seinen Vodal. Schwarzgult nahm den Ring. »Das dürfte wohl reichen. Es kostet uns wohl sicher auch noch etwas Blut, aber wir dürften bald nach Aglirta zurückkehren. Was meint Ihr dazu, junger Mann?« Flaeros strich liebevoll über den Ring. »Ja, wir müssen zurück«, erklärte er mit großer Entschiedenheit. »Gleich, ob Schlange oder nicht.« Der Regent brachte erst dem Jüngling und dann sich selbst eine Schnittwunde bei. Darauf hielt er den Ring an beide
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Wunden. »Jetzt nur noch ein Weilchen ...« Aber es dauerte nur einen Moment, dann fanden sie sich inmitten der Farben und Geräusche der Welt wieder. »Lauft! Weg von hier! Die Schlangenpriester!«, zischte Narneth und schob seine Schwester an. Die junge Frau drängte durch die Rindolbeeren-Rebstöcke, und ihr Bruder folgte ihr. Beide scherten sich nicht darum, dass die Dornen ihnen die Kleider und die Haut zerrissen und das Haar zerzausten. Zum wiederholten Mal fragte sich Narneth voller Grimm, warum die Schlangenanbeter sich ausgerechnet ihren Weinberg dazu ausgesucht hatten, um einen Altar zu errichten. Und noch ärgerlicher war, dass sie seit einiger Zeit auch auf ihre Trommel verzichteten. Das Dröhnen hatte einen zwar beinahe verrückt gemacht, aber man hatte wenigstens früh genug erfahren, wann diese Wirrköpfe wieder im Anmarsch waren. Außerdem behielten sie ihre Schlangengestalt bei, kamen sogar, halb Tier und halb Mensch, zum Altar gelaufen. Mitten in seinen Überlegungen wurde ihm bewusst, dass seine Schwester kreischte. »Still! Oder wollt Ihr, dass sie uns folgen?« Sie erreichten ihr Versteck unter einem dichten Rankengewirr. Narneth kroch gleich zu der Stelle, von der aus man eine sehr gute Aussicht hatte. Briona aber legte sich flach hin, um wieder zu Atem zu kommen. Und dann kamen die Priester und ihr Gefolge: sieben mit Schlangenkopf und etwa ein Dutzend in unterschiedlichen Stadien der Verwandlung. Zwei der nur leicht Veränderten zerrten eine Jungfer aus
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dem Dorf mit sich. Sie hatten der Schönen die Hände aneinander gebunden, Narneth musste zweimal hinsehen, tatsächlich, mit lebenden Schlangen! Offenbar wollten sie das Mädchen opfern. Wenn sie als Priesterin auserkoren worden wäre, hätte man sie nämlich nicht gebunden, sondern mit lebenden Schlangen ausgepeitscht. »Was machen die denn da?«, wollte Briona wissen. Narneth kroch mit ihr ein Stück weiter zu der Stelle, von wo aus man den Altar besser sehen konnte. Die Priester zündeten gerade das Feuer auf dem Altar an, und auch sonst sah alles so aus wie immer ... Bis sie im nächsten Moment allesamt übereinander herfielen, als hätten sie den Verstand verloren! Die beiden Priesterinnen, welche das Opfer trugen, ließen es einfach fallen und gingen fauchend, kratzend und beißend aufeinander los. Ein anderer schlug seinen Kopf rhythmisch auf die Altarplatte, bis sich ihm ein Priester näherte, ihm mit einem Stein den Schädel aufschlug und das Gehirn auf dem Heiligtum verspritzte. Er konnte sich jedoch nicht lange seines Triumphes erfreuen, weil ein dritter hinzusprang und mit einem Dolch aus Schlangenzähnen auf ihn einstach, bis er sich kein bisschen mehr rührte. Andere bissen mit ihren scharfen Fangzähnen aufeinander ein oder rangen miteinander. Einer wurde sogar dabei beobachtet, wie er, im Irrsinn gefangen, sich selbst in den Schlangenschwanz biss und schließlich an einem abgerissenen Stück
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seiner selbst erstickte. Narneth wurde übel, und er wollte nur noch auf und davon, als ihm das Mädchen aus dem Dorf einfiel. Als er sein Versteck vorsichtig verließ, lagen die Schlangenanbeter bereits sämtlich in ihrem Blut da. Nur das leise Prasseln des Altarfeuers begleitete den jungen Mann bei seinen Bemühungen, die Schlangenfesseln zu durchtrennen. Nach einem köstlichen Mahl lehnten sich Orathlee und Kapitän Telgaert gesättigt zurück. »Ich weiß nicht, ob meine Fähigkeiten als Köchin ausreichen, der Besatzung solch schmackhafte Speisen vorzusetzen.« »Oh, aber das müsst Ihr nicht. Wir haben drei Köche an Bord«, entgegnete der Kapitän. Er hatte bisher mit seinen Füßen die ihren gestreichelt, schaute ihr nun tief in die Augen und wanderte mit den Zehen ein Stück höher. »Wenn ich denn so frei sein darf –«, bemerkte er mit rauer Stimme. »Ihr dürft, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, mich vom Oberteil zu befreien«, erwiderte sie mit rauchiger Stimme. »Wie könnte ich da Nein sagen?«, sprach Telgaert. »Nun, Ihr könntet mir ja helfen ...« Das ließ der Kapitän sich nicht zweimal sagen, ging der Weisen aber zu behutsam vor. »Nur zu, ich bin nicht aus Zucker.« Als ihr Mieder geöffnet war, bestaunte er kurz die entblößte Pracht und bedeckte sie dann mit Küssen. Orathlee geriet ins Stöhnen und machte sich ihrerseits daran, die Bänder sei-
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ner Hosen aufzubinden. Doch während er sich sehr eindringlich mit ihren Brustwarzen beschäftigte, riss die Weise sich unvermittelt von ihm los, richtete sich auf und trommelte mit den Fingern auf Holz. »Was ist, gute Frau? Habe ich irgendetwas falsch gemacht?«, fragte Telgaert bestürzt. »Nein«, flüsterte sie und schien ihn dann erst wieder zu erkennen. »Die Große Schlange ist ... fort.« Noch ehe der Kapitän etwas dazu sagen konnte, hämmerte es schon an seine Kajütentür. Telgaerts Blick wanderte hinter der entblätterten Schönen und der Störung an der Tür hin und her. Dann gab er Orathlee zu verstehen, sie möge sich rasch wieder anziehen, und rief: »Was gibt’s denn, in drei Teufels Namen?« Als sich nichts tat, fiel ihm ein, dass er ja den Riegel vorgeschoben hatte. Noch wütender stand er auf und öffnete. Draußen standen Orathlees Töchter. »Bitte um Vergebung, Kapitän, aber da wäre etwas, welches unsere Mutter unbedingt erfahren muss.« Die Schwestern sahen sich an, und Meleira erklärte: »Ich habe die Karten gelegt, und der Große Tod erschien über der Schlange. Gleich habe ich sie noch einmal gelegt, und wieder das gleiche Ergebnis. Ach so, ja, beide Male ist auch Drachenfeuer aufgetaucht.« »Der Drache hat die Schlange besiegt«, hauchte ihre Mutter und ließ ihren Tränen freien Lauf. Die Töchter rannten zu ihr, und alle drei hielten sich fest. Und dann schlang auch noch Telgaert seine langen Arme um sie. Als Orathlees Tränen versiegt waren, legte sie dem Kapitän
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eine Hand auf die Schulter. »Meine Mutter hat mir auf dem Totenbett geweissagt, ich würde den Mann finden, welcher für mich bestimmt sei, wenn der Drache die Schlange getötet habe.« Schwarzgult und Flaeros starrten in den Thronsaal von Treibschaum, wo es wie nach einem schweren Erdbeben aussah. Der Palast machte auch insgesamt einen zertrümmerten Eindruck. Hawkril war weiter hinten damit beschäftigt, die letzten Schlangenanbeter zu erschlagen. Sein Weg ließ sich leicht an den enthaupteten Feinden verfolgen, welche auf und zwischen Trümmerstücken lagen. Raulin lief überall herum und prägte sich nach guter Bardenart die Namen der Gefallenen ein, um sie später in einem Lied richtig wiederzugeben. Craer bewachte mit Wurfmessern in Händen die Frauen. Die Hexe beugte sich gerade über die Zauberin und bestrich sie mit dem Glanz des Weltensteins. Der Regent lächelte. »Da habt ihr aber Schindluder mit meinem Palast getrieben.« »Vater!«, rief Embra und richtete sich sofort auf. »Vater, mein Vater, Sarasper ist tot – und Hellbanner ebenso.« Die Edle hielt ihm die Dwaerindim hin. »Ich weiß nicht, wie man Menschen mit deren Hilfe wieder lebendig machen kann.« Aber Schwarzgult schüttelte den Kopf. Er ging vor ihr in die Hocke, strich ihr über die Wange und erklärte: »Magie hat sie hinfortgetragen ... an einen Ort, von welchem man sie nicht zurückholen kann –«
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Weiter kam er nicht, denn neben ihm brach Tschamarra in Schluchzen aus. Sie ließ den Dolch fallen, welchen sie unvermittelt in der Hand gehalten hatte. »Ich ... ich habe geschworen ... Euch zu töten ... Und jetzt kann ... ich es nicht ...« Der Regent trat zu ihr, nahm sie in die Arme und trug sie wie ein Kind zu einer umgefallenen Säule, welche sich nun als Sitzbank anbot. »Meine Liebe«, erklärte Schwarzgult ihr dort, »ich habe viel Blut vergossen und viele Schwüre gebrochen. Aber noch mehr habe ich gehalten ... Ich habe zwei große Fehler begangen, und für beide habe ich den Tod verdient. Zum einen hätte ich den Gemahl von Embras Mutter zuerst umbringen sollen, ehe ich mich mit ihr vergnügte. Und der zweite Fehler bestand darin, die Inseln zu überfallen. Aber für alles andere, was ich getan, unternommen oder angestellt habe, erbitte ich keinerlei Vergebung, denn deswegen verspüre ich keine Schuld. Ich habe getan, was ich eben getan habe.« Er reichte ihr einen Dolch aus seinem Gürtel. »Dass Eure Familie so leiden musste und so viele Tote zu beklagen hat, ist sicher bedauerlich, aber auch ich habe solcherart Schicksalsschläge hinnehmen müssen.« Der Regent nickte in Richtung der Klinge. »Wenn Ihr mich nun erdolchen wollt, nur zu. Ich bin stets bereit, vor die Dreifaltigkeit zu treten – doch bislang scheinen sie mich nie gewollt zu haben.« Hawkril trat zu den beiden und bemerkte: »Darin sind wir
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alle den Göttern sehr ähnlich.« Und Craer, welcher jetzt hinter der letzten Schwester auftauchte und mit einem Messer spielte, fügte hinzu: »Sie haben eben nur uns, an denen sie sich ergötzen können.« Vier Barken sausten, angetrieben von Magie, über den Silberfluss. Die Tersepte im zweiten Segelschiff warfen immer wieder verstohlene Blicke auf die Zauberer in ihrer Mitte. Fürst Kardassa lächelte und zog sein Schwert aus der Scheide. Es leuchtete grünlich. »Als wir noch in Sirlptar weilten, habe ich diese Klinge erstanden. Sie ist verzaubert und soll durch Rüstungen schneiden wie ein heißes Messer durch Butter.« Der Anführer der Verschwörung warf sich in die Brust: »Mit diesem besonderen Stahl in unserer Hand können wir gar nicht scheitern. Freunde, der Flussthron gehört schon so gut wie uns!« Ool kam jetzt in Sicht, und obwohl die Boote sich so rasend schnell bewegten, hatten sie immer noch einen weiten Weg vor sich. »Noch hurtiger!«, fuhr er die Zauberer an und lachte laut: »Wir können überhaupt nicht scheitern!« Maevur konnte sich endlich aus seiner Selbstberauschung lösen und schaute sich Beifall heischend in der Runde um – und erstarrte, denn alle schauten weg, so als hätten sie ihm gar nicht zugehört. Er drohte den Magiern mit dem Schwert, sich noch mehr anzustrengen. Doch da brach einer von ihnen vor Erschöpfung zusammen. Seine Augen hatten sich schwarz verfärbt. Sofort verlangsamte sich die Fahrt. Die Tersepte sprangen auf, sahen, was mit dem Zauberer geschehen war, und stießen
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furchtbare Verwünschungen aus. »Nehmt den Dolch wieder an Euch«, erklärte Tschamarra. »Ich werde nichts gegen Euch unternehmen, auch wenn ich damit Hochfürst Craer Delnbein zutiefst enttäusche.« Craer ließ sofort den Dolch im Ärmel verschwinden und setzte eine Unschuldsmiene auf. Schwarzgult half ihr galant auf und meinte: »Ich fürchte, jetzt beginnt die lange und mühselige Arbeit des Wiederaufbaus. Die verehrten Hochfürsten neigen leider dazu, reichlich viel kaputtzumachen.« »Vater«, wandte Embra ein, »Sarasper hat sein Leben gegeben, um uns zu retten.« »Vergebt bitte einem alten Narren«, bereute der Regent seine voreiligen Worte. »Ich fürchte, damit habe ich noch eine Menge zu tun«, entgegnete seine Tochter grinsend. Ein lautes Zischen ertönte, und oben auf einer Galerie stand ein Schlangenpriester und setzte sich gerade die Krone von Aglirta aufs Haupt. »Endlisss hat dasss Reisss wieder einen König!« Damit rannte er los und wich geschickt den Dolchen aus, welche der Beschaffer nach ihm schleuderte. Mit unglaublicher Behändigkeit strebte er dem Dach zu, wohl um sich durch das Loch ins Freie zu begeben. Hawkril holte weit mit seinem Kriegsschwert aus und warf es in Richtung des Feindes. »Viel zu weit nach links«, bemängelte Craer. »Mitnichten, Klugscheißer. Der Bursche muss dort hinü-
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bersteigen, wenn er noch weiter in die Höhe will.« Und tatsächlich schob sich der Schlangenpriester jetzt nach links – und die Klinge bohrte sich im selben Moment in seine Schulter. Er kippte nach hinten und stürzte ab. Der Hüne fing die fallende Krone aus der Luft auf. »Heil König Hawkril! Lange lebe der neue König von Aglirta!«, ertönte es von der Tür, wo die Gärtner und einige Höflinge, welche sich mit ihnen versteckt hatten, aufgetaucht waren. Nun erschienen auch andere an den weiteren Türen und nahmen den Hochruf auf. Der Hüne schüttelte den Kopf und trat zu Schwarzgult, um ihm die Krone zu überreichen, welche nach seiner Meinung allein dem Regenten zustand. Doch Embras Vater wehrte ab. »Die Fürsten würden mich niemals anerkennen. Deswegen brauchen wir einen neuen König, einen Mann wie – Hawkril Anharu!« Nun wandte der Hüne sich an die Zauberin: »Herrin Embra, die Krone gebührt viel eher Euch als mir.« »Aber das Volk hat Euch auserkoren, wie wir gerade hören durften. Wenigstens diesmal soll der Wille des Volkes gehört werden. Deshalb nehmt die Wahl an, Hawkril, und werdet ein guter Herrscher!« »Was, ich soll auf einem Thron sitzen, bis ich alt und klapprig geworden bin – oder bis zu dem Tag, an welchem jemand meint, er habe genug von mir. Nein, jetzt da die Schlange tot ist, wollen wir lieber nach neuen Abenteuern suchen!« Aber die Edle schüttelte den Kopf. »Wie Sarasper vor seinem Tod sagte: ›Niemals ist es so einfach.‹«
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Ein Dutzend Schwerter bedrohte den letzten Zauberer, und im nächsten Moment flogen die Barken wieder nur so dahin. Und nach einer weiteren Flussbiegung tauchte Treibschaum am Horizont auf. »Ich... kann ... nicht... mehr ...«, röchelte der Zauberer. Blut rann ihm aus Nase und Mund. Aber ein Tersept hielt ihm die Schwertspitze an die Kehle. »Haltet gefälligst durch. Wartet nur, im neuen Aglirta werden die Zauberer den Platz zugewiesen bekommen, der ihnen gebührt. Wer von ihnen sich weigert, mit dem wird kurzer Prozess gemacht!« »Dann werdet Ihr aber bald an Magier-Verknappung leiden«, krächzte der Alte. Damit verdrehte er die Augen und sackte in sich zusammen. Die Segelschiffe kamen zum Stillstand, drehten sich leise und trieben dann mit der Flussströmung von der Königsinsel fort. »Rudert, wir sind doch schon fast da!«, brüllte Fürst Kardassa und sprang vor Wut auf und ab. Rasend vor Zorn hieb er dann mit seinem magischen Schwert auf den Tersepten ein, welcher den Zauberer zum Schluss bedroht hatte. Und tatsächlich, der magische Stahl durchschnitt die Rüstung des Mannes wie Butter. Er kippte über Bord und wurde sofort von den Fluten verschlungen. »Will hier noch jemand seinen eigenen Kopf durchsetzen?«, fragte der Fürst dann in die Runde. Alle senkten den Blick.
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»Wer immer über Aglirta herrschen wird, braucht dazu als Erstes den Treueid der Fürsten. Deswegen wollen wir sie nun hier versammeln.« Der Regent hielt seine Hand kurz über den Dwaer, welchen seine Tochter ihm hinhielt. Der Stein leuchtete auf, und Schwarzgult hielt wieder die Rechte darüber. Mit jedem Aufleuchten erschien ein weiterer Fürst im Thronsaal. Die Neuankömmlinge sahen sich verwirrt um. Unter den Ersten befanden sich Maevur Kardassa und die Tersepte. Als mehrere Dutzend versammelt waren, bemerkte der Regent: »Allem Anschein nach hat Phelinndar einen Dwaer an sich gebracht.« Craer lief schon zur Tür. »Wo steht seine Burg? Ich habe unsere eigentliche Aufgabe noch nicht vergessen.« Kardassas Soldaten sahen sich verwundert an, als der Fürst von einem Moment auf den anderen verschwunden war. »Das müssen die Zauberer dort gewesen sein!«, rief einer von ihnen und zeigte auf die beiden zusammengebrochenen Magier. Aber noch ehe er mit seinem Schwert auf sie einstechen konnte, hielt Hauptmann Suldun ihn zurück. »Seid kein Narr. Diese zwei dort können keiner Maus mehr etwas zu Leide tun. Nein, uns droht eine viel größere Gefahr.« »Genug des Geschreis!«, rief Kardassa plötzlich. »Steckt die Waffen wieder weg.« »Ja, habt Ihr denn noch nie davon gehört, dass Treibschaum von einem Bann geschützt wird?«, meldete sich nun auch einer der zuvor verschwundenen Tersepten zu Wort.
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»Niemand kann sich der Insel mit einer Waffe in der Hand nähern.« Noch während er sprach, kehrten auch die anderen an Bord zurück. Der Fürst und die Tersepte berieten sich, dann befahl Maevur: »Legt dort in dem Fischerdorf an. Man hat uns entdeckt. In Treibschaum werden wir von zwanzig Magiern erwartet, welche uns Übles wollen.« »Ja, sollen wir denn hier darauf warten, dass sie kommen und uns finden?«, rief einer der Soldaten. »Nein«, grinste Kardassa. »Denn wenn ihnen das Warten zu lange wird, fallen sie übereinander her. Und im Thronsaal selbst herrscht große Uneinigkeit. Wir fahren morgen weiter, und wenn wir dann den Palast betreten, fällt uns die Krone wie von selbst zu.« Die Soldaten waren damit nicht einverstanden, gaben aber Ruhe, als sämtliche Tersepten zustimmend nickten. »Übertreibt Thaebred nicht etwas in seiner Rolle als Kardassa?«, fragte ein Tersept leise den anderen. »Nein, als Maevur kann man gar nicht genug übertreiben«, antwortete Raegrel. Der andere Koglaur lächelte: »Ich bin mir nicht sicher, ob alle Soldaten von meiner Geschichte mit dem Bann überzeugt sind. Sie werden uns sicher im Auge behalten, weil sie vermuten, hier wäre Magie im Spiel.« Immer noch erschienen neue Fürsten im Thronsaal, und über der Versammlung lag der Geruch von Unruhe und Furcht. Denn jeder hier hatte ein mehr oder weniger großes schlechtes Gewissen. »Willkommen, Verräter«, begrüßte der Regent sie schließ-
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lich. Zur Antwort erhielt er eisiges Schweigen. Lächelnd fuhr Schwarzgult fort: »Aber lassen wir die Vergangenheit einstweilen ruhen, und stellen wir fest, dass Aglirta sich verändert hat: Der Flussthron und ein Gutteil des Palastes sind während einer Zauberschlacht zerstört worden. Viele haben dabei ihr Leben verloren, und unter den Toten finden sich König Kelgrael Schneestern, der Kriegsfürst Blutklinge, die Große Schlange und der Hochfürst Sarasper Kodelmer.« Er legte eine kleine Pause ein, und als die Versammelten wieder anfingen, miteinander zu tuscheln, fuhr Schwarzgult fort: »Doch wir wollen auch die Ehrung dieser Tapferen auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Wir haben uns hier nämlich versammelt, um aus dem etwas aufzubauen, was die Toten für uns gerettet haben. Als Erstes und Wichtigstes müssen wir nun einen Herrscher wählen und uns als ihm treu erweisen.« Der Regent drehte sich zu Hawkril um und sah ihn auffordernd an. Doch der Hüne schüttelte den Kopf und begab sich zu Raulin, welcher etwas abseits stand. »Dieser hier soll der neue König sein!«, rief er in die Menge. »Aber das ist doch noch ein Kind!«, wandte einer ein. »Wäre das denn nicht ein Vorteil? Ein Junge hatte noch keine Gelegenheit, so viele Fehden und Feindschaften anzuhäufen wie die meisten von euch!«, hielt Craer den Fürsten entgegen. Raulin starrte nach vorn, wurde kalkweiß und erbrach sich.
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»Ich glaube, wir haben eine sehr gute Wahl getroffen«, verkündete nun Schwarzgult. »Er ist weiser als seine Altersgenossen und auch als wir. Nicht Gier und helle Begeisterung nach dem Thron treiben ihn um, sondern Furcht vor den Aufgaben, welche ihn dort erwarten.« Kardassa trat vor. »So einem soll ich huldigen? Wollt Ihr uns endlos demütigen, oder plant Ihr voller Tücke, Aglirta durch eine solche Wahl endgültig untergehen zu lassen?« »Was redet denn Ihr, Ihr durchtriebener Verschwörer?«, hielt einer der Tersepte ihm entgegen, welcher eben noch mit dem Fürsten über den Strom gefahren war. Ein Wort ergab das andere, und bald schrien und schimpften alle Fürsten im Saal. Diesmal brachte sie ein donnernder Ruf von Flaeros Delkamper zum Schweigen: »Hört mich an, Ihr Herren von Rang und Stand. In meinem jungen Leben habe ich schon so viel Zank und Hader der Fürsten gehört, dass sich damit eine Bücherei füllen ließe. Und ich habe viele brave Bürger und Bauersleute gesehen, welche wegen solcher Zwistigkeiten ihr Leben lassen mussten, obgleich sie doch überhaupt nichts dafür konnten. Aber dass ihr Fürsten euch einmal aufgerafft hättet, etwas Gutes zu bewirken, das habe ich nie gesehen. Wo wart ihr, als Blutklinge herangeritten kam, das Land zu verwüsten und den Thron zu erobern? Wo wart ihr, als die Schlangenpriester die unseren geopfert haben, die Untertanen, welche zu schützen ihr eigentlich geschworen habt?« Die Fürsten winkten ab, weil sie sich von einem Jüngling
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keine Vorhaltungen machen lassen wollten. »Lasst euch gesagt sein, ihr Herren, dass ich fahrender Sänger bin«, fuhr Flaeros fort, »und das, was ich der Welt zu verkünden habe, wird die Jahrzehnte und mehr überdauern. Alle Welt, ob im Flusstal oder darüber hinaus, soll aus meinem Mund erfahren, wie ihr euch hier und heute verhalten habt. Und davor und davor und davor! Und die Menschen werden meine Lieder weitertragen, sie ihren Kindern weitergeben, und –« »Und wenn Ihr schon gestorben seid, bevor Ihr Treibschaum verlassen konntet ...«, wandte ein Tersept grinsend ein, bis Craer ihm einen Dolch entgegenschleuderte, welcher dem Mann die Kappe vom Kopf riss. »Was scheren uns schon Barden, nichts weiter als Geschmeiß«, knurrte ein anderer Fürst. »Barde, aber auch Tersept des Reiches«, erwiderte Schwarzgult, »denn ich habe Flaeros Delkamper gerade dazu ernannt.« Wieder erhob sich Geschrei und Einspruch. Der Regent öffnete eine Hand, und Embra warf ihm einen der Dwaerindim zu. Das brachte die Versammelten wieder zum Schweigen. Mehr noch, ihnen standen vor Schreck die Haare zu Berge. Und so manche Hand, welche sich heimlich zum Schwertgriff bewegt hatte, zuckte hastig zurück. »Ich bin immer noch der Regent von Aglirta, ihr Herren. Ein Wink von mir genügt, euch alle enthaupten zu lassen. Oder euch allen Besitz abzunehmen und eurem größten Feind zum Lehen zu geben. Oder ...« Er hob den Dwaer, damit jeder ihn sehen konnte, »Euch zu Asche zu zerblasen. Behaltet das bitte im Gedächtnis,
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wenn ich euch jetzt noch einmal dazu auffordere, dem neuen König Raulin Burgmäntel eure uneingeschränkte Treue zu schwören und vor ihm das Knie zu beugen!«
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Noch einmal die Vier C Der »Aalkorb« war kein besonders beliebtes Wirtshaus. Hier fanden keine lauten Feiern statt, und weder edle Damen noch junge Klingen von Sirl legten Wert darauf, dort herumzuspazieren oder gar bei dem Wirtshaus gesehen zu werden. In den Alltagsgesprächen erwähnte man den Namen selten, ebenso wenig wie er bei Geselligkeiten oder auch nur in saftigen Tratschgeschichten eine Rolle spielte. Weder der Besitzer noch die Gäste versuchten, mit anderen Gastwirtschaften wie zum Beispiel der »Drachenrose« wetteifern zu wollen. Das Etablissement verfügte über keinen anheimelnden Spitznamen, noch wäre die feine Gesellschaft von Sirl je auf den Gedanken gekommen, den »Aalkorb« weiterzuempfehlen (aber nicht in Sirl ansässige Leute hätten ohnehin bestritten, dass es dort überhaupt eine »feine Gesellschaft« gab). Aber das Gasthaus hatte auch keinen so üblen Leumund, dass die Nachbarn sich gefürchtet hätten, und es brachen auch nicht in regelmäßigen Abständen Feuer, Messerstechereien oder gar ernsthafte Schlägereien aus. Es handelte sich auch nicht um ein von außen verrammeltes Hintergebäude, dessen
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Wirt, Schankmägde und sonstigen Frauenzimmer Not litten oder sich üblerer Arbeit zuwenden mussten, um sich den täglichen Napf Haferbrei zu verdienen. Es verhielt sich eher so, dass der »Aalkorb« mit einer ausgewählten Zahl von Kunden, welche größten Wert darauf legten, unerkannt zu bleiben, blühende Geschäfte betrieb. Nur wenige Schritte von der geschäftigen Tharaedastraße entfernt, welche vor Läden mit ihren glitzernden Waren und gerade in Mode gekommenen Häusern wie der »Drachenrose« nur so strotzte, lag der »Aalkorb« in Reichweite der Leute, die vorgeblich ein ganz anderes Ziel hatten. Menschen, welche die Abgeschiedenheit des Ortes nutzten, um andere mit ähnlichen Bedürfnissen zu treffen. Das Wirtshaus war so beliebt, dass zu bestimmten Zeiten die besten Versammlungsräume samt und sonders für Intrigen genutzt wurden, und die Teilnehmer an anderen Verschwörungen sahen sich dazu gezwungen, in dem vergleichsweise öffentlichen Schankraum im Erdgeschoss zu warten und dort an den diskret voneinander abgeschirmten, nur spärlich beleuchteten Tischen und Stühlen leise weniger wichtige Geschäfte miteinander zu besprechen. So kam es, dass an diesem Tag eine Anzahl von Ieiremboranern in der hintersten, dunkelsten Ecke des »Aalkorbes« saßen, außerdem mindestens ebenso viele reiche, allgemein bekannte Kaufleute aus Sirlptar. Tonthan Goldmantel hatte es ohnehin nicht sonderlich eilig, irgendeine der gut verborgenen Treppen zu ersteigen, denn Sathbrar war spät dran, und er bedurfte der tatkräftigen Unterstützung des Seidenhändlers, um seinen Standpunkt unter den hartnäckigen Blicken der Männer von Sirl durchzusetzen, welche glaubten, ihr größe-
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rer Reichtum gäbe ihnen das Recht, über alles bestimmen zu können – der Weinhändler Anglurthaul zum Beispiel, von dem man annahm, dass er mehr als einmal Sklaven statt Wein beförderte. Anglurthaul saß am anderen Ende des Tisches, und soweit es Tonthan betraf, war das immer noch nicht weit genug weg. Er hegte keinerlei Zweifel daran, dass der Weinhändler ihm gegenüber ganz ähnliche Gefühle an den Tag legte. Keiner der Verschwörer blickte auf, wenn Neuankömmlinge in die kühle Dunkelheit des Schankraums traten; niemand tat das jemals. Trotzdem konnte sich jeder durch rasche Seitenblicke und gewisse geschickt an den Wänden angebrachte Spiegel jederzeit vergewissern, dass es sich um drei Personen handelte, von welchen die größte – ein Kämpfer, der Stärke seiner Arme und Schultern nach zu schließen und der Art, wie er sich bewegte, und außerdem trug er einen langen Dolch an der Hüfte – einen Umhang mit Kapuze trug und sich geradewegs zu einem freien, kleinen Ecktisch begab. Der Mann setzte sich so, dass er die Ieiremboraner im Auge behalten konnte, welche wie immer die westlichsten Bänke gegenüber ihren Helfern aus Sirl eingenommen hatten. Tonthan hätte ihn eigentlich sofort des Gasthauses verwiesen, wären da nicht seine beiden, ebenfalls von Kapuzen verhüllten Begleiter gewesen. Einmal handelte es sich um einen kleinen, beweglichen Mann – dem Aussehen nach ein Beschaffer – und zudem um eine wunderschöne junge Frau von der groß gewachsenen, schlanken Sorte, die so manch einer als »knochig« bezeichnet hätte, wären da nicht ihre anmutigen Bewegungen gewesen. Die beiden schlenderten beiläufig durch den Schankraum
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und fragten weder nach Wein noch hielten sie inne, um sich umzuschauen, sondern gingen direkt auf Hardiman Anglurthaul zu, den ohne Zweifel fettesten und am prächtigsten gekleideten Kaufmann von allen. Der Beschaffer blieb gerade eben außerhalb der Reichweite von Anglurthauls Schwert stehen, lächelte freundlich und sagte laut und deutlich: »Neuigkeiten für Euch, guter Mann: Es gibt einen neuen König in Aglirta. Einen, welcher Wert darauf legt, Frieden mit den Inseln und mit Sirlptar zu schließen und Handel mit ihnen zu treiben. Am besten spart Ihr Euch Euer Geld auf und erobert Märkte, nicht Burgen.« Die Ieiremboraner erstarrten wie ein Mann. Anglurthaul blickte den Beschaffer eisig an. »Wer seid Ihr überhaupt?« Der Beschaffer stellte ein weiteres, unbeschwertes Lächeln zur Schau und verbeugte sich schwungvoll. »Oh, ich vergaß, mich vorzustellen: Craer Delnbein, Hochfürst von Aglirta. Ihr dürft Euch mir zur Verfügung halten, Anglurthaul.« Der Weinhändler grinste höhnisch und machte sich nicht die Mühe zu antworten, sonder winkte beinahe träge über die Schulter nach hinten. Ein an einem Tisch auf der anderen Seite des Raums lümmelnder Mann stand auf, ließ den Umhang von seinen Schultern gleiten, sodass ein Lederharnisch zum Vorschein kam, und warf mit tödlicher Schnelligkeit ein Messer. Lässig pflückte Craer die Waffe aus der Luft und übergab sie seiner weiblichen Begleitung. Die Frau lächelte dünn, umschloss den Dolch mit der Hand, murmelte einen raschen Zauberbann – und überall am Tisch erklangen plötzlich hastig unterdrückte Äußerungen
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der Überraschung. In der bislang leeren Luft vor jedem der Männer trieb plötzlich ein Messer wie das, welches Anglurthauls Wache geworfen hatte. Die Spitzen dieser kleinen, gefährlichen Todesboten befanden sich ein paar Zoll von den Kehlen eines jeden Verschwörers entfernt. »Nehmt das als Warnung«, sagte die Zauberin ruhig. »Wir könnten euch auch alle einfach töten, und dann hätten wir für alle Zeiten Ruhe vor euren Plänen.« Sie bedachte sie mit einem anmutigen Lächeln, wandte sich zum Gehen und fügte hinzu: »Ich weiß, dass ihr alle vernünftige Männer seid und euch entsprechend verhalten werdet.« Ihr an dem Tisch sitzender Begleiter erhob sich und schob seine Kapuze zurück – und überall an der Ieiremboraner Seite des Tisches stieß man wütende, abfällige Laute aus, als die Kauf leute Ezendor Schwarzgult erkannten, der sie an einem faustgroßen glühenden Stein vorbei, welcher neben seinem Kinn schwebte, kalt anlächelte. Der Stein blitzte plötzlich hell strahlend auf, als sich Schwarzgults Lächeln verbreiterte – und dann waren er, der Beschaffer und die Zauberin auch schon verschwunden. Wie ein Mann kämpften sich die Verschwörer fluchend auf die Füße – nur um plötzlich in Schweigen zu verfallen. Die dahintreibenden Messer waren nämlich keineswegs verschwunden, und wenigstens ein Mann – Hardiman Anglurthaul – machte die Erfahrung, dass sie tatsächlich solide und entsprechend scharf waren. Er tupfte an einer beachtlichen Wunde an seiner Kehle herum und musste sich mit einem Laut des Unbehagens zu seinen Stiefeln niederbeugen, um ein Taschentuch hervorzuziehen, mit welchem er das
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Blut stillen wollte. Während er dies tat, musste er feststellen, dass die treibenden Messer Tische zu durchdringen vermochten, um ihre bedrohliche Stellung beizubehalten. Tonthan für seinen Teil entdeckte die bemerkenswerten Qualitäten der Weinkeller tief unter dem »Aalkorb«, wo er mit zunehmendem Misstrauen saß, einen Schluck nach dem andern zu sich nahm und über den Verbleib von Sathbrar nachgrübelte. Die Messer verschwanden schließlich, wenn auch erst nach Stunden. Der Wiederaufbau des Palastes von Treibschaum würde lange Zeit in Anspruch nehmen, und die Gärten im Westen und im Süden würden für lange Jahre einer Wüstenei gleichen. Im Osten jedoch, wo sich die Insel zu einer scharfen, dem Bug eines Schiffs ähnelnden Spitze verjüngte, gegen welche der Silberfluss schäumte, wuchsen unversehrt die hohen Ultharnbäume. Sie umstanden einen kleinen moosigen Fleck Rasens, wo Embra Silberbaum einst die wenigen Überreste begraben hatte, welche von ihrer Mutter übrig geblieben waren – einen von der Sonne beschienenen Ort in der Wärme des Mittags über den von hier aus nicht sichtbaren, ihn dennoch umschließenden Mauern der Festung, aber unter den Palasttürmen und von innen abgeschirmt durch die Bäume. Auf dem Rasen gab es jetzt ein weiteres, von der Sonne beschienenes Grab, und eine Gruppe von Menschen mit grimmigen Gesichtern stand dort versammelt. Drei weitere kamen von den höher gelegenen Blumengärten herunter und gesellten sich zu ihnen: Craer, Tschamarra und, ein paar
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Schritte hinter ihnen, der Fürst Ezendor Schwarzgult. Als sie sich näherten, blickte Embra auf. Ihre Tränen waren inzwischen versiegt, aber ihre Hände trugen noch immer Blutspuren von den langen Stunden sorgsamer Arbeit, welche sie auf Knien rutschend damit verbracht hatte, Zauberbann um Zauberbann zu wirken und mit bloßen Händen auch noch die letzte Spur und den letzten Tropfen dessen aufzusammeln, was einst Sarasper gewesen war. »Nicht mehr vier«, war alles, was sie sagte, als Craer sie umarmte und Tschamarra darauf wartete, sie ebenfalls in die Arme zu nehmen. Auf des Beschaffers Gesicht glitzerten Tränen, als er sie losließ und sich der nächsten Umarmung zuwandte – den Armen von Hawkril Anharu, der mit ernster Miene am Fuß des frischen Grabhügels stand, welchen Embra so liebevoll mit ineinander greifenden Marmorscherben ausgestattet hatte. Das größte Kriegsschwert, welches sie im Palast von Treibschaum aufgetrieben hatten, war neben Hawkril in den Boden gerammt, und den Schwertgurt hatte er über den Schwertgriff gehängt. Ein Ritter legte seine Waffen ab, wenn er einem seiner Gefährten die letzte Ehre erweisen wollte. Auf der anderen Seite des Grabes stand einsam König Raulin Burgmäntel. Er wusste nicht so recht, was er tun oder sagen sollte, und die Trauer stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Hände zeigten die Spuren seiner ersten Handlung als König – nämlich dieses Grab auszuheben. »Auf Wiedersehen, Herr der Langzähne«, sagte Schwarzgult einfach und ließ Embra endlich los, auf dass sie sich umdrehen und das Grab anschauen konnte, an welchem die anderen mit gebeugten Köpfen standen. »Geht jetzt, und heilt
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die Dreifaltigkeit, alter Heiler, und macht Darsar dadurch glücklicher.« Dann schaute Schwarzgult Raulin an. Der König nickte und sagte leise: »Verweilt an einem glücklicheren Ort, Drachenfürst. Mögen lange Jahre vergehen, bevor wir hier ein weiteres Grab ausheben müssen.« Die anderen murmelten zustimmend und tauschten weitere stumme Umarmungen aus – denn niemand brauchte zu sprechen, um darin übereinzustimmen, dass sie sich trennen und für eine Weile jeder für sich umherwandeln würden. »Sind sie jetzt fertig?« »Geduld, Lameira. Ich kann nichts sehen, das habe ich Euch doch bereits gesagt.« Die älteste Hofdame spähte noch einmal durch das Fernglas, welches ihr Alresse Delkamper vor sechs Jahren aus Anlass ihres fünfzigsten Sommers des Leinenwendens und Abstaubens geschenkt hatte, und sagte ernst: »Faerla, ich wäre alles andere als erfreut, es Euch noch einmal sagen zu müssen: Hört mit Eurem nach Luft schnappen und Umherflattern auf. Wollt Ihr, dass ganz Treibschaum denkt, dass wir aus Varandaur niemals zuvor feine Dinge zu Gesicht bekommen haben? Oder nicht wissen, wie wir uns in Gegenwart von Mitgliedern des Königshauses benehmen sollen?« »Oh, Edle Orele, es liegt nicht an diesem Palast – obwohl er sich über Meilen erstreckt, nicht wahr? Noch sind es diese hochmütigen Höflinge, welche der Silberfluss schiffsladungsweise auszuspucken scheint. Es ist die mächtige Magie, über welche der Herr Flaeros zu verfügen scheint, die uns im Handumdrehen hierher versetzte!« »Er verfügt nicht über sie, Faerla, er hat sie so eingerichtet.
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Unser Herr Flaeros mag ja so allerhand sein, aber ein Zauberer ist er ganz gewiss nicht.« Orele richtete sich ein wenig auf und beugte sich dann auf ihren Stock mit dem silbernen Knauf gestützt vor – ein weiteres Geschenk der Delkampers, aber Lameira wusste sehr wohl, dass sie ihn mehr als verdient hatte in den unwillkommenen Umarmungen mindestens dreier feuriger Onkel, deren Vertrauen Orele niemals auch nur im Geringsten enttäuscht hatte – und schaute sich die weit entfernten Gärten genauer an. »Sie habe es ihren Bäumen erlaubt, weitgehend ungehindert zu wachsen«, meinte sie langsam, »so dass es äußerst schwierig ist, das andere Ende des Gartens zu sehen. Sie gehen jetzt anscheinend auseinander – ja, ich glaube, sie sind fertig.« Sie richtete sich auf, wirbelte herum und klatschte in die Hände. »Rasch, ihr Mädchen, rasch! Die Schlafkammern richten sich nicht von alleine her, müsst ihr wissen! Ich bin mir sicher, dass unser Herr Flaeros sich nicht die wahrlich entsetzlich hohen Kosten eines solch mächtigen Zauberwirkens aufgehalst hätte – und bedenkt, Faerla, dass die Kosten die bei weitem erschreckendste Sache bei dieser Magie sind und nicht der verschwommene Moment, welchen Ihr verbracht habt, als Ihr hergebracht wurdet, also hört bitte davon auf –, um uns, wie Ihr sagt, alle auf diese Weise hierher zu bringen, wenn er nicht im Sinn hätte, diesen Aglirtanern zu zeigen, wie wir aus Varandaur die Dinge angehen! Vergesst den Rauch und das Blut und den Schutt; diese Dinge gehen uns nichts an – aber wenn ich sehe, dass der Herr Flaeros auch
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nur einen Braue runzelt, wenn der König und die anderen Helden aus Aglirta zum Festmahl erscheinen und sich anschließend in ihre Betten zurückziehen wollen, dann werde ich in höchstem Maße verstimmt sein ... und merkt euch eins: Ich bin mir sicher, dass meine Verstimmung im Vergleich zu seiner nichts sein wird!« Als seien ihre Worte eine Warnung der Götter gewesen, öffnete sich die Tür, und Flaeros Delkamper stürmte in das Zimmer. »Sie kommen, Orele, sie kommen. Ist alles bereit?« Orele stützte sich auf ihren Stock und vollführte ihren tiefsten Hofknicks. Zwar mochte der jüngste Delkamper ein Tunichtgut und Barde und ewig in die Händel anderer verstrickt sein, aber er war ihres Wissens nach der einzige Delkamper, welcher der Dienerschaft dankte und sich um ihr Wohlergehen kümmerte oder sogar Hilfe anbot, beispielsweise beim Schleppen einer allzu schweren Kiste oder dem Abstauben einer Ecke, wenn diese nur durch gefährliches Herumhantieren mit dem Staubwedel erreicht werden konnte. »Nicht ganz so bereit, wie ich mir das gewünscht hätte, Herr, aber es wird uns keine Schande bereiten, nein ... das hoffe ich jedenfalls.« Flaeros streckte einen Arm aus, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein, küsste ihre Hand, als ob sie tatsächlich eine hochwohlgeborene Edle sei, und lachte. »Daraus schließe ich, dass alles so bereit ist, wie irgendein ausländischer Ort, welchen Ihr nicht jahrelang in Ordnung zu bringen die Zeit hattet, nur sein kann, edle Dame! Ich wusste, dass Ihr das schaffen würdet!« »A-aber warum?«, sprudelte es aus Faerla heraus. Sie war viel zu aufgeregt, um sich von Oreles wütendem Blick beein-
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drucken zu lassen. Die jüngste Kammerzofe hatte sich für ihre Aufgabe, nämlich das Abstauben, nicht sonderlich weit entfernt, wie es schien, jedenfalls nicht weit genug. »Es ist ein Vergnügen, Euch zu dienen, gnädiger Herr, und eine Freude, alles zu richten, vor allem an einem solch großartigen Ort – aber warum ein solcher Aufwand für Leute, welche sich halb Asmarand entfernt befinden? Aglirta hat sich unser halbes Leben lang hier befunden, noch zudem die meiste Zeit im Kriegszustand – weshalb also ein solcher Aufwand für einige wenige Leute?« Flaeros Delkamper wandte sich um und sah sie ziemlich steif an, aber anstelle des überwältigenden Zorns, welchen Orele befürchtet und mit einiger Gewissheit erwartet hatte, sahen die Kammerdienerinnen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Er lächelte und sagte: »Ich bin froh, dass Ihr mir diese Frage gestellt habt, Faerla. Ich bin mir gewiss, dass auch andere ähnliche Gedanken hegen; seid immer kühn genug, so frei heraus zu sprechen, und wir ersparen uns alle Unbehagen und Kummer und verschwendete Zeit.« Er wies mit der Anmut eines Tänzers auf die Fenster und fuhr fort: »Als Barde kam ich nach Aglirta, weil ich den größten Barden von allen hören und sehen wollte, nämlich Sturmharfe, von welchem sich herausstellte, dass er einer der Männer ist, denen ihr heute Abend aufwarten werdet: Fürst Ezendor Schwarzgult, der Goldene Greif. Ich blieb, weil ich solch großartige Geschichten hörte und Menschen sah, welche tapfer kämpften, allen voran die Bande der Vier, von der wir dort drüben gerade ein Mitglied begraben mussten. Aber wir erweisen ihnen jetzt die Ehre – und ganz Darsar sollte sich vor ihnen verneigen, denn sie haben
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uns allen das Leben gerettet. Die Schlange, die sonst alles einschließlich Varandaur erobert hätte, ist tot – und dieses schlimme Untier wurde getötet von ihrer Hand und durch ihren Heldenmut. Wir sollten sie für immer preisen, aber ich weiß, dass die Leute trotz großartiger Balladen nur allzu schnell vergessen. Es war mir eine Ehre, an ihrer Seite zu kämpfen und zu tun, was ich vermochte – selbst wenn mir das nur in geringem Umfang und nicht sehr geschickt möglich gewesen ist, und ich würde mit Freuden bis zu meinem Lebensende einem jeden von ihnen als Sklave dienen.« Nicht nur Faerla starrte ihn aus großen, ehrfürchtigen Augen an, als er sich vor ihnen verneigte, lächelte und sich in aller Bescheidenheit zurückzog. Oreles Blick wirkte ebenso schockiert wie der der jüngsten und sich am wenigsten gut zu benehmen wissenden Kammerzofe. Schließlich war es an Lameira, ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen. »Ein – ein Delkamper verneigt sich vor einem Aglirtaner? Und will sein Sklave sein? Ich hätte nie geglaubt, so etwas einmal zu hören zu bekommen!« Die Dame Orele bedachte sie mit einem ernsten Blick. »Hütet Eure Zunge, Mädchen. Wenn der gnädige Herr Delkamper beschließt, sein Knie vor jemandem zu beugen, dann könnt Ihr gewiss sein, dass er es wert ist, dass man vor ihm niederkniet! Ich erwarte, dass ich heute Nacht sehe, wie Ihr genau das tun werdet, wenn sie sich in ihre Gemächer zurückziehen!« Lameira hielt dem Blick stand. »Werdet Ihr Euch denn niederknien?« »Selbstverständlich – und ich werde froh sein, auch sonst
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alles zu tun, um was sie mich höflich bitten, Lameira – alles, vergesst das nicht.« Lameira sah aus, als nehme sie Anstoß an diesen Worten. »Wenn ich jemals gedacht hätte –« Orele blickte sie immer noch ernst an, und unter diesem Starren ging der jüngeren Frau die Luft aus, und ihr fiel keine Antwort mehr ein. »So ist es besser, Mädchen«, sagte die älteste Kammerzofe ruhig. »Ihr werdet in Eurem Leben noch so manche Überraschung erleben, wenn Dinge passieren, mit denen Ihr nicht gerechnet habt. Und Eure Erinnerungen werden umso reicher sein, so dass sie Euch vielleicht in einsamen Nächten wärmen mögen.« Sie drehte sich um, machte einen Schritt, welcher den wartenden Kammerfrauen mitteilte, welche Anstrengung ihr Hofknicks vor Flaeros ihre alten Glieder gekostet hatte, und wandte sich dann wieder auf ihren Stock gestützt um und fügte hinzu: »Wenn es Euch tröstet, Lameira, ich habe von nicht weniger als drei Personen gehört – einer von ihnen ist der neue König von Aglirta, die anderen beiden Palastbedienstete wie wir, und wir können ihnen insofern vertrauen, als der gnädige Herr Flaeros vor nicht allzu langer Zeit mit seiner spitzen Zunge jeden einzelnen Fürsten und Tersepten im Königreich in die Schranken wies! Der ganzen glitzernden Meute hat er damit gedroht, dass sie in Ungnade fallen würden, wenn sie sich schlecht benähmen – und es standen ihm ihrer dreißig gegenüber, und ein jeder von ihnen war kriegslüstern! Er hat sie zurechtgestutzt wie die Kinder und ihnen eine Moralpredigt über ihre Pflichten gehalten, so wie der alte Galuster das mit uns zu tun pflegt, wenn er uns zeigt, wie
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man einen Platz an einer Tafel deckt – und sie haben es sich gefallen lassen! Und diese Leute, welchen wir heute Abend aufwarten, standen bei ihm und hielten es keineswegs für merkwürdig, dass ein Delkamper dem Adel von Aglirta erzählte, wie man sich zu verhalten hat!« Die Kammerzofen schauten wieder ehrfürchtig drein, und sie wandte sich zufrieden um und machte drei weitere Schritte, bevor sie sich erneut umwandte und in scharfem Ton hinzufügte: »Vergesst nicht: Das gibt uns nicht das Recht, uns über diese armen Leute von Aglirta zu erheben und hochnäsig auf sie hinabzublicken oder verächtliche Reden zu führen. Ich bin hier Höflingen begegnet, welche genau das tun – genauso wie ich schlecht ausgebildete Diener in Ragalar angetroffen habe, die sich nicht anders verhalten ... und es würde überhaupt nicht nett aussehen, wenn ihr das ebenfalls tätet! Behaltet die Gewissheit eures unvergleichlichen Wertes für Euch, so wie ich, und schenkt der Welt ein Lächeln, wenn ihr dient.« Dieses Mal ging sie tatsächlich, und als Lameira hinter ihr herblickte, das Gesicht verzog und murmelte: »So wie ich«, versetzte ihr Faerla einen deftigen Schlag mit dem Staubwedel und schnappte: »Das reicht, Lameira! Ich will nicht, dass sich jemand über diese Frau lustig macht! Wo wären wir – bei der Dreifaltigkeit, wo wären die Delkampers – ohne sie?« Lameira erwiderte hitzig ihren Blick, senkte dann aber die Augen und sagte: »Das stimmt. Flaeros – der gnädige Herr Flaeros – meinte, er wolle die Besten aus Varandaur, weil Aglirta uns brauche ... und dann wählte er unter allen anderen uns aus.« Faerla lächelte. »Ja, das tat er – und – und, oh, Lameira, das
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ist alles so aufregend! Sie haben mir erzählt, dass die Knochen eines Zauberers in einem Sarg unten in den Kellergewölben liegen, und auf dem Weg nach unten gibt es überall Fallen – deshalb sollen wir auch nicht hinuntergehen –, und dort liegen tote Leute, und es lauern Schlangen so groß wie ein Mann, welche sie bisher noch nicht gefunden haben, und die eine, welche man die Herrin der Edelsteine nennt, hat Kammern voller über und über mit Juwelen besetzten Gewänder, genug, um ganz Ragalar siebzigmal zu kaufen, und sie kann geradewegs in die Steine dieses Palastes hineingehen und dann bewirken, dass sich die Türen öffnen und schließen und Lampen aufleuchten und wieder verlöschen, gerade so, wie sie das will, und –« Lameiera verdrehte die Augen. Feurige und anspruchsvolle Helden oder nicht, der Abend würde lang werden. »Aber, aber«, schnappte Maevur Kardassa, »es gibt keinen Grund, unruhig zu werden. Wir warten einfach ab, bis die Unannehmlichkeiten auf Treibschaum vorüber sind, und dann machen wir unseren Schachzug.« »Hmmmpf« erwiderte ein Soldat und starrte vielleicht zum hundertsten Mal auf das verrottende Durcheinander aus halb verfallenen Fischerhütten. »Können wir nicht heute Nacht wenigstens bis zu den Küchen von Treibschaum vordringen?« Überall erklang zustimmendes Gekicher und Gemurmel. »Nein, das können wir nicht«, erklärte der Fürst in ernstem Ton. »Ich fühle das nagende Hungergefühl ebenso stark wie ein jeder von euch –« »Noch viel stärker, so wie Ihr ausseht«, meinte jemand am
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anderen Ende des Bootes, und das Gekicher wurde lauter, was der Fürst jedoch nicht zu beachten geruhte. »– und trotzdem bin ich beherrscht genug, hier aufmerksam und geduldig zu warten, bis die Zeit gekommen ist. Wir riskieren hier unser Leben, darf ich euch ins Gedächtnis rufen!« »Wie sollen wir wissen, wann die Zeit gekommen ist?« »Ich – äh – nun, wenn wir sehen, dass bestimmte Leute Treibschaum verlassen«, antwortete Kardassa. »Ich werde euch Bescheid sagen, verlasst euch darauf! Und dann werden wir –« »Wir werden aber nicht viele Leute Treibschaum verlassen sehen, nachdem die Nacht hereingebrochen ist«, überlegte ein anderer Soldat laut. Zu etwa der gleichen Zeit schrie eine vertraute, wütende Stimme von hoch oben am Ufer: »Dort seid ihr also! Bei der Dreifaltigkeit, aber wir standen im Thronsaal von Treibschaum und sahen uns feindlicher Magie gegenüber und Schwarzgult und allen möglichen seiner Gefolgsleute – und wo seid ihr gewesen? Allein standen wir gegen sie, und nur durch unseren kühlen Kopf, unsere Furchtlosigkeit und – nun, Heldenmut, obwohl ich uns nicht selbst loben möchte – gewannen wir die Oberhand! Aglirta hat einen neuen König – einen mutterlosen Jungen, welchen wir mit Leichtigkeit lenken können, wie es uns gefällt – wir können ihn auch töten, wenn er sich als Hindernis erweist, aber im Augenblick besteht keine Notwendigkeit, die Schwerter zu zücken, und –« Maevur Kardassa hatte sich schnaufend und stolpernd seinen Weg um ein paar besonders baufällige Hütten herum
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zum Ufer herunter gesucht, während er all diese tapferen Worte sprach, und dabei sein verzaubertes Schwert als Stütze benutzte –, aber jetzt hielt er, gefolgt von einer hinter ihm hertrottenden Reihe von Tersepten, ungläubig an. Fürst Kardassa starrte auf – den Fürsten Kardassa. Tersepte starrten auf ihre Ebenbilder, und Bewaffnete und kardassische Leibwächter an Bord des Bootes schauten mit zusammengekniffenen Augen von einer Gruppe zur anderen. »Magie«, knurrte ein Soldat. »Das habe ich mir doch gedacht!« Er und Suldun von der Leibwache zogen gleichzeitig das Schwert und rückten in Richtung der Tersepte und des Fürsten vor, welche dieses Boot mit ihnen teilten. »So«, begann der Soldat und richtete seine Klinge bedrohlich auf den falschen Maevur Kardassa, »wer seid Ihr und der Rest dieser Männer in Wirklichkeit? Zauberer aus Sirl, welche unseren Griff nach dem Thron verhindern wollen, oder?« »Was für eine Art Verrat ist das?«, blubberte der fette Mann gleich vor der Schwertspitze. »Tut eure eingeschworene Pflicht und greift euch die Hochstapler dort drüben! Ich, Maevur von Kardassa, befehle es euch!« »Was?«, heulte der Fürst am Strand auf. »Was ist das für eine arglistige Täuschung? Diese Männer an Bord sind Betrüger! Tötet sie! Erschlagt sie mit dem Schwert, bevor sie ihre tödlichen Zauberbanne auf euch schleudern können!« »Vielleicht wäre es einfacher, alle zu töten«, meinte jemand säuerlich – einen Moment bevor die Soldaten und die Leibwächter auf dem Boot vorwärts drängten und auf all die Tersepte einhieben – und einige der Angegriffenen sprangen sogleich in den Fluss und gingen unter wie Steine.
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»Halt!«, schrie jemand hoch oben am Ufer, und dann ertönte ein Kriegshorn. Der Fürst, die Tersepte am Strand und alle auf dem Boot drehten sich um schauten nach oben, nur um festzustellen, dass sie auf etwa hundert Ritter und Soldaten, einige davon zu Pferde, starrten und viele gespannte Armbrüste auf sie gerichtet waren. »Wer«, stammelte am Strand der Fürst Kardassa, und die Furcht ließ seine Stimme schrill klingen, »seid ihr?« »Männer von Blutklinge, dem rechtmäßigen König von Aglirta«, kam die finstere Antwort. »Und für wen schwingt ihr das Schwert?« »Für einen neuen König von Aglirta«, antwortete der Fürst am Flussufer hastig. »Und die anderen?«, wollte Blutklinges Hauptmann nach einem Blick auf die Boote wissen. Ein Stimmengewirr war die Antwort, als Soldaten und Leibwächter die Namen ihrer verschiedenen Herren nannten, und der Hauptmann hörte zu, schaute angewidert drein und senkte in einer schroffen Bewegung den Arm. Armbrüste schnappten in tödlichem Chor, und die Boote waren plötzlich angefüllt mit taumelnden, sterbenden Männern, aus deren Leibern Bolzen ragten. Viele sprangen oder fielen ins Wasser, aber hoch oben am Ufer wurden Armbrüste neu gespannt, als die Schützen ihre Waffen bereitmachten, um erneut feuern zu können – und auf den Booten gab es keinerlei Deckung. Der Fürst und die Tersepte am Strand sahen voller Entsetzen zu, dann drehten sie sich auf dem Absatz um und ergriffen die Flucht. Der Hauptmann gab mit einem Winken ein weiteres Sig-
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nal, und die Reiter um ihn herum trieben ihre Rösser den Abhang hinunter und zogen im Dahingaloppieren die Schwerter. Die gleich darauf folgenden Schreie kamen erstickt und kurz. Die Armbrustschützen wechselten sich damit ab, auf die Köpfe der wenigen zu schießen, welche in den Fluss sprangen, und dann färbte sich das Wasser an vielen Stellen blutrot, und überall trieben leblose Körper in den Fluten. »Buldrim«, schnappte einer der Leute des Hauptmannes, »eine Menge dieser Boote sind einfach – verschwunden. Verschwunden durch Magie, während wir damit beschäftigt waren, die Armbrüste zu spannen und unsere nächsten Ziele auszuwählen.« »Wie viele?« Der Soldat zuckte die Achseln. »Mehr als zwanzig.« Buldrim erbleichte. »So viele Zauberer? Bei den Göttern, wir könnten unser tausend zählen, und sie könnten uns dennoch binnen eines Atemzugs töten! Aber wem dienen sie? Dem Regenten?« »Das mag sein, wie es will, aber wir sollten hier besser verschwinden«, antwortete der Soldat. Und Buldrim nickte. »Reiter!«, schnappte er. »Den Fluss hinauf zur Thuss-Spitze dort drüben! Nehmt diese Kais ein, und dann stellt eure Pferde in den Schuppen dort drüben unter und versteckt euch mit ihnen. Ihr könnt Heu besorgen, aber ansonsten bleibt ihr im Verborgenen. Alle anderen auf die Schiffe – wir rudern nach Treibschaum!« »Sollen wir den hier töten? Oder ihn in den Fluss werfen und dem Wasser die Arbeit überlassen?«
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Buldrim schaute nach unten, und ein von Schmerzen gequälter Suldun erwiderte den Blick. Er blutete heftig aus tiefen Wunden, welche drei Armbrustbolzen hinterlassen hatten. »Nun?«, fragte Buldrim. »Wollt Ihr hier liegen bleiben und zusehen, wie wir Treibschaum erobern, oder von Euren Schmerzen befreit werden?« »Gemach«, flüsterte Suldun heiser. »Wir sind von Zauberern übertölpelt worden ...« Buldrim nickte. »So viel wissen wir auch.« Er starrte nach Treibschaum hinauf, welches jetzt, da sich die Soldaten mit aller Kraft in die Ruder gelegt hatten, dicht vor ihnen aufragte, öffnete den Mund, wollte gerade nach vorne deuten, sich dann umdrehen und dem Rudergänger Befehle erteilen – und prallte zurück. Ein Mann stand an Deck und sah ihn an – und dort, wo er stand, hatte sich, von den Blutflecken abgesehen, noch einen Augenblick zuvor gar nichts befunden. Es handelte sich um Sendrith Duthjack in voller Rüstung, aber ohne Helm, und auf einer seiner Wangen klaffte eine frische Schwertwunde. Sein Blick glitzerte wild, als er jetzt den Hauptmann anschaute und ihn mit einem Nicken des Wiedererkennens und des Einverständnisses grüßte. »Fürst Blutklinge!«, stammelte Buldrim und fiel auf die Knie. »Fürst, erteilt mir Eure Befehle!« »Kehrt um!«, befahl Blutklinge mit fester Stimme. »Kehrt alle um! Zurück zu den Docks, von welchen ihr gekommen seid!« »Augenblicklich«, stimmte Buldrim hastig zu und gestikulierte in Richtung des Rudergängers, er solle das große Steuerrad herumreißen, »aber warum, mein Fürst?«
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»Bringt alle vier Boote zusammen, sodass alle mich hören können, und ich werde Euch antworten«, erklärte der Kriegsherr. Als dies vollbracht war und die Boote Reling an Reling dicht nebeneinander trieben, begab sich Blutklinge in die Mitte der aneinander liegenden Decks, schaute sich um und sagte: »Ihr treu ergebenen Aglirtaner, hört mir zu! Ihr seid an der Nase herumgeführt und schrecklich betrogen worden! Man hat euch in die Irre geleitet, auf dass ihr unser Land verratet!« »Wie folgen nur Euch, Fürst Blutklinge« rief einer der Soldaten, und man stimmte ihm eilends zu. »Glaubt ihr das wirklich?« Der Kriegsherr lächelte sie an – und dann veränderte sich sein Gesicht, wurde grün und schuppig – zu einem Schlangenkopf mit gegabelter Zunge! »Wie wäre essss, wenn isss Eusss etwasss ertsssählte, wasss eher der Wahrheit entsssprissst?«, fragte der Schlangenpriester und schaute die verblüfften Krieger auf den schaukelnden Booten einen nach dem anderen an. »WANs, wenn isst eusss sssage, dasss der rissstige Blutklinge sssson vor Jahren umgebracht wurde? Isss nahm mir sssein Gesssissst und ssseine Gessstalt, um Aglirta für die Sssslange ssssu erobern!« Ein Soldat schrie vor Entsetzen und tastete nach seiner Armbrust – und die Hand des Schlangenmannes fuhr hoch, und plötzlich befand sich ein schlanker Zauberstab darinnen. Ein Flammenstrahl schoss nach vorn, und die Soldaten sahen, wie das Gesicht ihres Kameraden wegschmolz und nur noch ein mit Asche bedeckter Schädel übrig blieb. Als der Mann vornüber kippte, fragte der Schlangenpriester in aller Seelen-
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ruhe: »Sssonssst noch jemand?« Er wirbelte herum, um sicherzugehen, dass kein Krieger hinter ihm verstohlen seine Waffe bereitmachte, und sagte ihnen: »Jessst issst alles vorüber. Ihr habt gewonnen, weil die Ssslange getötet wurde. Aber ihr habt verloren, weil isss eusss nissst am Leben lasse, damit ihr prahlen könnt!« Und mit einem schrecklichen Gelächter schlug er mit noch mehr Flammenstrahlen auf die Boote ein, feuerte kleine zischende Feuerkugeln in die Gesichter der Krieger, welche sich aufrappelten, um ihre Schwerter oder Dolche zu schleudern, bis überall um ihn herum Flammen auf den Planken des Decks loderten. Und dann verschwand er plötzlich in der dünnen Luft, aus welcher er erschienen war. Männer schrien und schoben die schaukelnden Boote auseinander, während um sie herum Flammen hochzischten; lediglich Buldrims Boot war von den Flammen verschont worden, und Männer versuchten, hineinzuspringen oder in den Fluss einzutauchen – nur um einem neuen Schlächter zum Opfer zu fallen. Der Rudergänger hatte einen eigenen Zauberstab gezogen, welcher lange Nadeln dunkler Macht ausspuckte. Zuerst erwischte eine Nadel Buldrim mitten im Bauch, durchfuhr die Platten der Rüstung, als trüge der Hauptmann keine, und ließ einen auf dem Gesicht liegenden, wimmernden Mann auf dem Deck zurück. Dann wandte er sich den Männern zu, welche im Fluss um sich schlugen oder versuchten, in die Boote zu klettern. Als keiner der sich mühsam über dem Wasser haltenden oder verzweifelt hüpfenden Männer mehr zu sehen war, beharkte der Rudergänger mit seinen tödlichen
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Nadeln das Boot und ließ sie durch Köpfe fahren, bis kein Mann mehr auf den Füßen stand. Die Boote trieben fröhlich brennend flussabwärts, während der Rudergänger auf seinem Boot umherging und hierhin und dorthin eine Nadel aussandte, wann immer er eine Bewegung sah. Als niemand mehr übrig war, den er hätte töten können, trat er Buldrims Schwert ins Wasser, beugte sich über den gefallenen Hauptmann und drehte ihn herum. Buldrim lag Schulter an Schulter mit dem schlimm zugerichteten Anführer der Leibwache von Kardassa und blinzelte hoch zu dem vertrauten Gesicht über ihm und erblickte ein Lächeln. »W-warum habt Ihr das getan, Ansyarde?«, keuchte Buldrim durch den immer dichter werdenden Nebel des Schmerzes. Der Mann grinste. »Ich bin nicht Ansyarde.« Sein Gesicht schien zu wabern, wegzutreiben – und war plötzlich das von Duthjack mit der Schwertwunde – und dann zerschmolz das Gesicht zu einer glatten Fläche, während Buldrim noch darauf starrte. »Und ich bin auch nicht Blutklinge.« Das Gesicht veränderte sich schon wieder und zeigte auf einmal die schuppigen Züge des Schlangenpriesters. »Und genaussso wenig ein Sssslangenanbeter. Dasss war allesss ein Trick, um eusss daran sssu hindern, noch einen König sssu töten. Thaebred issst ein guter Sssaussspiler, nissst wahr?« »Wer seid Ihr dann wirklich?«, stöhnte Buldrim verzweifelt. Alles um ihn herum wurde dunkler. Der schuppige Schlangenkopf blickte einen Moment auf
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ihn nieder, und dann hoben sich die Schultern darunter. »Nun gut, vielleicht sterbt Ihr leichter, wenn Ihr Bescheid wisst, denn wir sind nicht ganz ohne Gnade.« Sein Gesicht veränderte sich schon wieder und wurde vollkommen leer. Ein Mund wie ein Schlitz öffnete sich inmitten der glatten Maske aus Fleisch und lächelte auf ihn nieder. Buldrim und der neben ihm liegende Suldun ächzten gemeinsam den gleichen, Furcht erregenden Namen: »Gesichtslose!« »In der Tat. Koglaur, wie wir uns selbst nennen. Die wahren Hüter von Aglirta.« »Ihr ... Ihr ...« Buldrim kämpfte gegen das Blut und den Schmerz an, dann brach es aus ihm hervor: »Blutklinge sucht nach neuer Glorie für Aglirta, nach einem neuen Weg zur Größe. Ich und die anderen, die mit ihm reiten, können die Straße sehen ... sie schmecken ... Falls ihr Gesichtslosen die wahren Hüter von Aglirta seid, warum bringt ihr uns dann um?« Er hustete, rang nach Luft und fügte dann keuchend hinzu: »Weil wir versuchen, die neue Straße zum Ruhm zu bauen? Deshalb?« Der Koglaur lächelte grimmig. »Friede sei mit Euch, Buldrim. Ihr habt gut gekämpft und nur einen Fehler begangen: Ihr habt Euch die falsche Straße ausgesucht.« Buldrim stöhnte, als er den Kampf gegen die Schmerzen und das ansteigende Blut verlor. Er versuchte zu schluchzen, seine Hand zu heben... und beides gelang ihm nicht mehr. Sein Kopf rollte zur Seite, und das Letzte, was er sah, waren der Himmel und der endlos dahinfließende Silberfluss ... Sobald der letzte rasselnde Atemzug verstummt war, rollte der
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Koglaur die Leiche des Hauptmanns in den Fluss. Dann wandte er sich zu Suldun um – welcher zurückzuweichen versuchte und leise, wimmernde Laute ausstieß, aber zum Halten kam, da ihm sein verwundeter Köper den Dienst versagte und Schmerz mit Fingern aus Feuer nach ihm griff. Der gesichtslose Kopf über ihm veränderte sich schon wieder, floss wie Brei um einen Kochlöffel und wurde plötzlich zu ... dem Ebenbild eines reizenden braunäugigen Mädchens. Dem schönsten Mädchen, fuhr es dem betäubten Suldun durch den Kopf, welches er je erblickt hatte. »So«, sagte der Koglaur mit leiser, rauchiger und äußerst weiblicher Stimme, »ist es so einfacher?« Sie – der Koglaur schaute auf Suldun nieder, und während Suldun Großsarn um eine Antwort kämpfte, murmelte sie etwas Unverständliches, das sich zwar wie die Sprache eines anderen Landes anhörte, aber nicht wie eine, welche er auf den Märkten von Sirlptar je gehört hätte. Nun legte die weibliche Gestalt lange, gummiartige Finger auf Sulduns Wunden – genau in die klaffenden Löcher, welche – bei den Göttern! Suldun verkrampfte sich vor Schmerz, zuckte ... und sank dann aufs Deck zurück. Er seufzte, als ihn Kühle durchflutete. Irgendwie wusste er, dass er vollständig geheilt worden war. Dennoch fühlte er sich so schwach, dass er die Schultern nicht einen Zoll von den Planken heben konnte. »Liegt still«, erklang die rauchige Stimme von oben. »Ihr habt viel Blut verloren.« Er hörte Wellen schlagen und ein Plätschern, die Geräusche schwerer Körper, welche sich aus dem Wasser hievten – und da waren sie auch schon: Triefend nasse Gesichtslose, de-
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ren Köpfe keinerlei Züge aufwiesen, welche ihn aber anzusehen schienen, als sie auf die Füße kamen, über die Planken liefen und die Ruder eins nach dem anderen übernahmen, um dem Dahintreiben ein Ende zu machen. Sie befanden sich in der Nähe des Fischereihafens, von wo aus sie losgerudert waren, und die gesichtslosen Männer brauchten nur einige wenige Ruderschläge, bevor das Boot sanft gegen die Mole knirschte. Geschickte, gummiartige Hände vertäuten das Boot und verknoteten die Seile. »Lebt wohl, Suldun Großsarn«, sagte der Koglaur, zwinkerte und winkte Suldun zu, ehe sie – er konnte nicht anders, als die Gestalt ›sie‹ zu nennen, wenn er ihren großartigen Körper sah – sich erhob und auf den Kai hinübertrat. »Wa-warum habt Ihr mich geheilt?«, keuchte Suldun. »Was bin ich für Euch?« »Ein Aglirtaner«, sagte sie leise und schaute ihn an. »Wir mögen Aglirtaner und geben nur zu oft unser Leben, um sie zu verteidigen.« Sie beugte sich näher zu ihm herüber und fügte hinzu: »Es gefällt uns, immer ein paar von euch übrig zu lassen, welche uns gesehen haben, um in ganz Aglirta die Gerüchte über uns am Leben zu erhalten. Furcht ist wie eine zweite Waffe in der Hand.« »Und wenn ich erzähle, dass ihr uns verteidigt habt und dass man euch nicht fürchten muss?« Der Koglaur lachte. »Sie würden Euch nicht glauben. Das tun sie nie.« Und sie – er – wandte sich ab und ließ einen Suldun zurück, welcher bis an sein Lebensende fest daran glaubte, dass diese letzten drei Worte so viel Traurigkeit enthalten hatten,
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wie er sie niemals von einem Menschen gehört hatte. Sie waren doch Menschen, oder? Aber was bedeutete ›menschlich‹ überhaupt? »Ihr hättet König sein können«, murmelte Embra, als sie Hand in Hand langsam und ohne ein bestimmtes Ziel durch den Garten wandelten. Einige Höflinge entzündeten hier und dort Laternen, zogen sich aber zurück, um ihre Zweisamkeit nicht zu stören. »Ihr hättet Königin sein können«, brummte Hawkril. »Aglirta braucht jemanden Starken und Liebevollen, der noch dazu klug ist. Und warum sollte nicht eine Königin über das Land herrschen? Ihr wärt besser geeignet gewesen als jeder von uns.« Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte sie einfach. »Craer kann, falls er das muss, recht nett in einem Kleid aussehen.« Hawkril prustete. Nach ein paar Schritten sagte er: »Wir machen die ganze Zeit über Scherze, wir vi-drei. Mir gefällt das. Es wärmt mir das Herz und bewirkt, dass ich mich erwünscht und willkommen fühle. Und doch will ich jetzt schlichte Worte gebrauchen, edle Herrin.« »Eure Herrin«, berichtigte sie ihn, und er hielt an und hielt ihre Hand in festem Griff. »Darüber möchte ich mit Euch sprechen«, erklärte der Hüne ruhig und schaute sie unverwandt an. »Ich bin zu sehr ein Aglirtaner von niedriger Geburt, dass ich mir nicht wünschte, eine Frau im Bett zu haben, sei es nun eine Freundin, ein nur für eine Nacht gekauftes Weib oder ein flüchtiges Soldatenliebchen – oder eine, bei der ich bleiben kann, mein Leben lang, und welche ich heiraten sollte. Ihr gehört
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zur ersten Sorte, und ich werde nie zulassen, dass Ihr zur zweiten und dritten gehört, und ich – ich wünsche mir mehr als alles andere, dass Ihr auch die vierte sein werdet.« Embra erwiderte seinen Blick. »Habt Ihr nicht gehört, wie ich vor dem versammelten Hof Kelgraels Antrag ablehnte und mich an Euch klammerte?« »Ja, ja, das habe ich, und ich will, dass die Welt dies weiß. Ich möchte es von allen Zinnen verkünden«, knurrte Hawkril mit plötzlichem Feuer. »I-ich – können wir nicht heiraten? Ich meine ... wollt Ihr mich überhaupt?« Embra lächelte. »Natürlich will ich Euch, Ihr großer Tollpatsch. Ihr musstet mich nur fragen.« Seine Augen blitzten im Licht der Laternen. »Und – und es macht Euch nichts aus, einen ›großen Ochsen von einem Ritter‹ an Eurer Seite zu haben?« »Es macht mir nicht einmal etwas aus, einen pgroßen Ochsen von einem Ritter‹ in mir zu haben«, antwortete sie leise, »solange es sich dabei um Euch handelt. Heiratet mich, Fürst – bitte.« »Ah – äh – das wollte ich gerade ... Euch fragen«, erklärte Hawkril einigermaßen verwirrt und wurde flammend rot. »Ja, und ich möchte Eure Frau sein, und zwar so sehr, dass ich Euch darum anflehe ... hier auf meinen Knien.« Sie kniete sich vor ihm nieder, und ein verblüffter Ritter schaute sich um, um nachzusehen, wo die Höflinge geblieben sein mochten. Sie standen erheblich näher, als er geglaubt hatte, schauten aber bemüht in eine andere Richtung. »Sie werden glauben, Ihr – flehtet mich an –« »Das sollen sie auch«, erklärte sie mit funkelnden Augen. »Und wie der Zufall es will, muss ich Euch um noch etwas
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bitten – und Euch ein Versprechen geben.« »Äh – welches?«, stieß Hawkril mühsam aus in dem Wissen, dass seine Zunge ihm nicht allzu gut gehorchte, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich von der plötzlichen Verwirrung zu befreien, die ihn anscheinend ... überwältigt hatte. »Hawkril, bitte vergebt mir«, begann Embra, und ihre Stimme klang plötzlich ganz klein und den Tränen nahe, »dass ich meine Magie benutzt habe, um Euch zu etwas zu zwingen, was gegen Euren Willen geschah. Ich verspreche, das niemals wieder zu tun. Niemals.« »Mich gezwungen? Wann ...?« »In der Nacht unserer ersten Begegnung, als wir aus meines Vaters Haus geflohen sind und ich Euch dazu gebracht habe, mich in das Schweigende Haus zu tragen.« »Ich habe Euch geschlagen«, sagte Hawkril langsam, als es ihm wieder einfiel, und machte Anstalten, ebenfalls auf die Knie zu sinken. Sie presste die Hände mit erstaunlicher Kraft gegen seine Knie, um ihn daran zu hindern, stand dann mit einem angestrengten Stöhnen auf und presste sich gegen ihn, so dass er aufrecht stehen bleiben musste. »Hawkril«, sagte sie und schaute in des Ritters Augen, während sich ihre Nasen beinahe berührten, »tut das nicht. Ich will nicht, dass Ihr wie ein Diener vor mir kniet. Ich will, dass Ihr mir vergebt und mir sagt, dass zwischen uns alles in Ordnung ist.« »Oh«, machte Hawkril und blinzelte. »Nun, das ist es natürlich, meine Herrin.« Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick, und er verbesserte sich eilends: »Embra, ich vergebe Euch. Zwischen uns beiden ist alles in Ordnung.«
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Sie lächelte und gab ihm einen Kuss. »Gut.« Sie ergriff Hawkrils Hände, bevor sich seine Arme um sie schließen konnten, und trat an seine Seite, so dass sie wieder nebeneinander hergingen. Embra führte den Ritter auf einen anderen grasbewachsenen Pfad zu einer Stelle, welche dunkler war. Dann wandte sie den Kopf um, schaute ihm in die Augen und sagte: »Ihr könnt mich schlagen, wann immer Ihr wollt, wenn Ihr Euch dann besser fühlt.« »Hmmm«, antwortete Hawkril und umfasste ihre Finger noch fester. »Und Ihr werdet zurückschlagen, nicht wahr?« »Selbstverständlich.« Lange Zeit wanderten sie durch den Garten und unterhielten sich, und als sie endlich ins Haus traten, wartete die Kammerfrau Orele schon auf sie. Sie führte das Paar in den Ostflügel und zeigte zuerst der gnädigen Hochfürstin ihre Gemächer – zögerte aber keinen Augenblick, als Embra ihr leise erklärte, sie zöge es vor, die Nacht mit Fürst Hawkril in dessen Räumen zu verbringen. Orele lächelte bloß und geleitete die junge Frau wortlos durch die hohe Halle zu einer anderen Tür. Dort zupfte die alte Dame an Embras Ärmel, und als sich die Hochfürstin zu ihr niederbeugte, flüsterte sie: »Die Dreifaltigkeit soll Euch behüten und bewahren, liebe Dame.« Dann klopfte sie mit dem Silbergriff ihres Stockes an die Tür, und als sie sie öffnete, fügte sie hinzu: »Mögt ihr miteinander glücklich sein – Darsar weiß, dass ihr es verdient habt.« Und dann wandte sich die Hofdame um und ging ohne ein weiteres Wort sehr langsam und auf ihren Stock gestützt davon.
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»Hatte sie jemals einen Liebhaber?«, fragte ein Wächter leise seinen Kameraden, als Orele an ihnen vorbeihumpelte und sich noch schwerer auf ihren Stock stützte. »Vaevra wird uns das sagen können«, antwortete der andere Wächter, »oder wird ihre Gedanken ausspionieren und es herausfinden. Ihr seid zu weichherzig, Shalace.« »Ich glaube nicht, dass es für unsere Art etwas wie ›zu weichherzig‹ geben kann, Mrivin«, meinte der erste Koglaur mit einem winzigen Hauch von Schärfe. »Sobald wir wissen, wie ihr Mann ausgesehen hat, werde ich seine Gestalt annehmen und zu ihr gehen. Bei den Göttern, das hat sie sich verdient.« »Seid behutsam mit den Herzen der Alten«, warnte ihn Mrivin. »Findet zuerst heraus, was aus ihm geworden ist und ob sie das weiß, und wie sie auseinander gingen. Es sei denn, Ihr wollt den Rest Eurer Tage damit verbringen, Kammerdienerinnen anzugiften und Euch auf einen Stock zu stützen.« Shalace zuckte die Achseln. »Es gibt schlimmere Arten des Dienens.« »Seht Ihr? Selbst die Blumen verbergen sich vor Eurer Schönheit«, erklärte Craer leichtherzig. »Sie schließen sich jede Nacht«, erwiderte die schlanke, große Zauberin ruhig. »Macht Ihr Euch immer solche Mühe bei der Werbung, Hochfürst Delnbein?« »Herrin, Ihr verletzt mich«, seufzte der Beschaffer und schaute hoch, um ihr in die Augen blicken zu können. »Meine Absichten sind ehrenwert – vollkommen ehrenwert.« Tschamarra schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Ich bin mir
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gewiss, dass das immer gilt, wenn Ihr eine Frau umwerbt.« Sie ging weiter, und er musste sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten. Ruhig legte die Edle Talasorn eine Hand auf seinen Rücken und zog ihn an sich heran, so dass sie Hüfte an Hüfte nebeneinander herschritten – oder genauer gesagt Hüfte an Rippen. »Eure Augen leuchten wie das Licht der Lampen dort drüben«, schmeichelte Craer von neuem. »Mit kleinen Flammen darinnen und Motten, welche darum herum flattern? Hoffentlich nicht«, antwortete sie. »Werte Dame, Ihr macht es mir nicht leicht«, seufzte er. Ihre Zähne blitzten auf, als sie lautlos lachte. »Ihr bringt mich zum Lachen, Craer. Ich habe nie zuvor einen solchen Meister des verrückten Unsinns getroffen wie Euch, und –« »Werte Dame Talasorn, wollt Ihr mich heiraten?« Die Worte sprudelten fast ungewollt aus ihm heraus, und sie fühlte, wie er ich versteifte und aus dem Gleichschritt geriet. Tschamarra blieb stehen, und seine Hand legte sich um ihre Hüfte. Sie beugte sich nach unten, ergriff diese Hand und drückte die entschlossen nach unten auf ihr Hinterteil. »Nein, Fürst Craer«, antwortete sie, »jedenfalls nicht für viele Jahre – wenn überhaupt. Ich verspüre nicht das geringste Bedürfnis, mich dem Gesetz nach an irgendeinen Mann zu binden – ebenso wenig wie an eine Frau oder eine gestaltwandlerische Schlange, um Euren Fragen zuvorzukommen.« »Oh«, machte Craer bemerkenswert schlagfertig. »Und genauso wenig möchte ich mich den Vier anschließen, denn ich habe gehört, wie Ihr Embra genau das vorge-
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schlagen labt – Ihr hättet ein wenig leiser flüstern sollen.« »Ich ...« Er seufzte.« Ich wollte, dass Ihr das zufällig mit anhört.« »Ihr überrascht mich nicht, Craer. Und auch in Zukunft wird nich nichts von dem, was Ihr tut, überraschen. Ich kenne Euch allmählich nur zu gut.« »Zu gut?« »Wie ich sagte, beginne ich allmählich damit – und es ist an der Zeit, einen weiteren Schritt auf dieser Reise zu tun.« Tschamarra verließ den Pfad und betrat den Rasenkreis, unter welchem Sarasper begraben lag. »Ich habe nie zuvor die Umarmung eines Mannes gekannt«, verkündigte die große Hexe ruhig, »und ich möchte das ändern – in dieser Nacht, und mit Euch, Fürst Delnbein.« »Oh?«, fragte Craer und strahlte. »Entfernt Eure Kleider«, sagte sie lebhaft, wies mit einer Hand auf den Boden vor ihren Füßen und hob die andere zu den Schließen ihres Gewandes. »Es gibt keinen Grund, nach drinnen zu gehen, wenn es hier ein bestens geeignetes weiches Bett aus Moos gibt.«
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Epilog C Die Diener schienen genau zu wissen, wann die beiden Liebenden das Maß an Bereitschaft erreicht hatten, andere Dinge zu tun als aufzuwachen, sich zu recken und den Bettgenossen zu begrüßen. Wunderbare Düfte kündeten davon, dass zugedeckte Tabletts diskret abgestellt worden waren – und dazu warmer, gewürzter Apfelwein, ein Hochgenuss, welcher Tschamarra dazu brachte, die Augen weit aufzureißen und zu erklären, dass von diesem Tag an die letzten überlebenden Frauen der Familie Talasorn den Tag mit keinem anderen Zungenschmeichler begrüßen würden. »Bei den Göttern, das war mal gut!«, murmelte sie Craer ins Ohr, als die Diener das Paar in die Halle mit der gewölbten Decke geleiteten. »Ich meine natürlich den großen Craer ...« Der Beschaffer rang nach Luft, fingerte am Ansatz seines Halses herum und zischte: »Werte Dame, haltet an Euch! Ein Mann hat schließlich einen Ruf –« Tschamarra verdrehte die Augen. »Ja, und ich höre immer wieder Einzelheiten über den Euren. Von den Dienern, den
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Wachen, von einigen der Gärtner – Ihr kennt das Gelände hier recht gut, wie ich glaube –, von etlichen der Höflinge, und ohne Zweifel von vielen unter den guten Menschen von Aglirta, sollten sie mir zufällig über den Weg laufen.« »Oh, ihr Götter!«, murmelte Craer. »O ja, Hochfürst Delnbein, ich werde Euch ein lustiges Tänzchen liefern«, flüsterte sie, ergriff seinen Ellbogen und schob ihn durch die Tür, welche zwei mit dem Schwert salutierende Wachen gerade eben öffneten. »Verlasst Euch darauf.« »Ahem«, antwortete Craer wortgewandt, und sein Blick traf den von Embra, die ihm wissend zuzwinkerte. Hawkril schaute kurz zur Decke hoch, und Schwarzgult grinste unverblümt. König Raulin Burgmäntel schaute lediglich erfreut drein, ihn wiederzusehen, und hatte den Blick nicht bemerkt, mit welchem die Edle Talasorn den kleinsten, am besten aussehenden Hochfürsten von Aglirta eben noch bedacht hatte, bevor sie sich trennten und die letzten beiden freien Plätze am Tisch einnahmen. »Schaut Euch den Garten an«, murmelte Embra und wies auf die Fenster. Alle schauten nach Osten über die abfallenden Terrassen, Rasenflächen und Wälder, und Craer seufzte, lächelte und meinte: »Könnten wir nicht wenigstens einmal hier bleiben – nur für ein paar Tage?« »Wie es der Zufall will« erwiderte König Raulin ein wenig zögerlich, »haben Fürst Schwarzgult und ich uns darüber beraten. Ich möchte, dass ihr – es ist meine – es ist Unsere königliche Forderung, dass ihr –« »Raulin«, unterbrach ihn Craer, »sagt einfach nur ›ich möchte, dass Ihr‹, und wenn ich Nein sage, dann antwortet:
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›Das war ein königlicher Befehl, Ihr Narr‹, und wir werden gut miteinander auskommen.« Tschamarra prustete, schlug rasch die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf, während sie wegschaute. Raulin errötete, leckte sich über die Lippen – und brach dann in hilfloses Gelächter aus, bevor er sich beschwerte: »Wie soll ich jemals lernen, so etwas richtig zu machen, Craer, Fürst Craer, wenn ich zu dem einen so und zu dem anderen wieder anders sprechen soll?« »Das ist es, was einen König ausmacht«, meinte Craer. »Ihr schwindelt einige schamlos an, anderen wiederum erzählt Ihr honigsüße Lügen. Ihr behaltet Eure wahren Gedanken für Euch selbst, und – oh, bei der Dreifaltigkeit, Raulin, seid bitte anders als die anderen! Sprecht so, wie es Euch in den Sinn kommt. Immer. Das wird Euch das pure Vergnügen bescheren, jeden Höfling zu unterbrechen, der damit anfängt, irgendein glattzüngiges Trallala zu erzählen, und ihn dazu zwingen, mit klaren Worten zu sprechen. Vielleicht ruft Ihr ja eine neue königliche Mode ins Leben und könnt tatsächlich ein Stück Arbeit erledigen und Euch sogar die Achtung des Volkes erringen.« Um den Tisch herum grinsten viele, und Hawkril brummte: »Ich habe Euch gewarnt. Bringt ihn zum Schweigen oder schickt ihn nach draußen, auf dass er hinter einer Maid herjagt – oder es wird Euch nicht gelingen, irgendetwas zu Ende zu sagen oder zu erledigen.« »Oh«, mischte sich Tschamarra ein und verdrehte die Augen. »Jagt mich, Fürst Delnbein, jagt mich!« »Hmmm. Schickt sie ebenfalls hinaus«, empfahl Schwarzgult dem König. Als die Hexe ihn erschrocken anblickte, füg-
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te er eilig hinzu: »Nein, Edle Talasorn, ich habe nur gescherzt. Ich versuche nicht, Euch von unseren Ratsversammlungen oder aus unserer Gesellschaft auszuschließen.« »Fürst Schwarzgult, mein Name ist Tschamarra – schwer auszusprechen und zu buchstabieren, ich weiß, aber –« »Bei den Göttern«, seufzte Embra und schaute zur Decke hoch, »wir werden den ganzen Morgen hier verbringen! Ihr erinnert Euch an Craers Bitte, klar und mit einfachen Worten zu sprechen, Raulin? Versucht es jetzt gleich. Ihr habt mit meinem Vater gesprochen, und ihr beide habt beschlossen –« »Der König hat beschlossen«, berichtigte Schwarzgult seine Tochter. Embra bedachte ihn mit einem erschöpften Blick, und er hob die Hände und sagte: »Lasst dem Jungen ein wenig Würde, Embra, ich bitte Euch darum. Er ist immerhin der König.« »Ho!«, schrie Raulin und ließ eine Hand so fest auf den Tisch niedersausen, dass die Kelche ins Wanken gerieten. Als sich alle umwandten und ihn vor Schreck schweigend anschauten, zuckte er zusammen, schüttelte prüfend die Hand und verkündete: »Das tut weh!« »Ja«, bestätigte ihm Craer. »Und deshalb ist es Sitte, einen in bequemer Reichweite stehenden Diener bei der Kehle zu packen und ihn mit dem Kopf auf die Tischplatte zu knallen. Sucht Euch welche mit kurzen Nasen aus, die bluten nicht so stark.« Raulin stieß ein Schnauben aus, schüttelte den Kopf und räch in hilfloses Gelächter aus. »Schwa- Schwa–«, rief er und treckte die Hand nach dem Fürsten aus, der die Augen ver[rehte und sich nach vorn beugte. »Nach sorgfältiger Überlegung und Beratung mit seinem
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reuen Ratgeber –« Embra prustete, wenn auch nicht aus Heiterkeit; Schwarzgult achtete nicht weiter auf sie. »– ist der König zu einem Entschluss gelangt und wünscht Euch nun seinen königlichen Befehl zu verkünden: Die Hochfürsten sollen die ihnen zugewiesene Aufgabe wieder aufnehmen, allerdings mit einer Änderung. Um mit einfachen Worten zu sprechen, ihr müsst den Fürsten finden, welcher im Geheimen den Dwaer in seinem Besitz hat – Phelinndar, so glaube ich, wenn ich in Betracht ziehe, wie erfolgreich er meine Versuche abgewehrt hat, ihn vor mich zu zitieren. Außerdem sollt ihr die beiden anderen Weltensteine suchen. Bringt sie alle hierher zurück. Nun, da die Schlange verschwunden ist, mag ein jeder, welcher einen Stein besitzt, glauben, dass es jetzt keinen Grund mehr gibt, nicht mit den Steinen herumzuexperimentieren oder mit ihnen irgendetwas anzustellen.« »Wie sind drei und nicht vier«, warf Embra zögerlich ein, und uns fehlt ein Dwaer zum Kämpfen. Wie sollen wir am Leben bleiben und irgendetwas ausrichten, wenn wir auf Phelinndar treffen – oder sonst jemanden, welcher einen Dwaer besitzt?« Schwarzgult langte unter den Tisch. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt er darinnen einen Dwaer. Er übergab ihn seiner Tochter und schaute dann mit einem schiefen Lächeln der Reihe nach alle am Tisch an. »Was haltet ihr davon, einen ehemaligen Fürsten und Exregenten in euren Reihen aufzunehmen? Könntet ihr euch dazu herablassen?« Craer sah Hawkril an, der den Blick erwiderte und sich
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dann zu Embra umdrehte. Die junge Frau schaute zu Craer, dann zu Tschamarra, die mit einem Hin- und Herwedeln eines Fingers anzeigte, dass sie Craer begleiten würde und er sie. Die Herrin der Edelsteine hob den Blick und sah quer über den Tisch ihren Vater an. »Nun«, sagte sie mit einem leisen Lächeln, »wir könnten es versuchen.«
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Glossar
Aglirta: sagenumwobenes untergegangenes Königreich. Sein jetziger Herrscher, der einst von einem Zauber umfangene Schlafende König, wurde von der Viererbande mit Hilfe der Weltensteine erweckt, um seinem Land in der Stunde höchster Bedrohung beizustehen und es zu neuem Glanz zu führen. Das Reich ist jedoch auch nach dem Erscheinen des Auferstandenen Königs nicht geeint, da alle möglichen Feinde versuchen, den König zu stürzen und die Macht an sich zu reißen. Er kehrt freiwillig in den Zauberschlaf zurück, um der Schlange Einhalt zu gebieten, und ernennt Fürst Schwarzgult zum Regenten. Belklarravus Glarsimber: Fürst von Hellbanner, einst ein Tersept und als Lächelnder Wolf von Sart bekannt, steht loyal zu dem Regenten von Aglirta. Craer Delnbein: einst vogelfreier ehemaliger Beschaffer – also Kundschafter und Dieb – im Dienste des Goldenen Greifen, Freund des Hawkril, Mitglied der Viererbande, Hochfürst von Aglirta. Dwaer. einer der vier Weltensteine. Dwaerindim: die geheimnisvollen verschollenen vier Weltensteine, welche den Schlafenden König erwecken können und ungeahnte Zauberkräfte besitzen.
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Embra Fürstin Silberbaum: Zauberin und Hochfürstin, Tochter des Ezendor Schwarzgult, Mitglied der Viererbande. Ezendor Fürst Schwarzgult: vor dessen Tod Hauptwidersacher des bösartigen Faerod Silberbaum, von König Kelgrael eingesetzter Herrscher von Aglirta und identisch mit dem berühmten Barden Sturmharfe. Faerod Fürst Silberbaum: zu Lebzeiten ein skrupelloser Fürst, welcher durch den Einsatz übler Machenschaften beinahe das gesamte Land ohne König beherrschte. Vermeintlicher Vater von Embra. Flaeros Delkamper: Barde aus Ragalar. Gadaster Mulkyn: einst oberster Bannmeister im Dienst von Faerod Silberbaum, weilt allem Anschein nach nicht mehr unter den Lebenden. Geschmolzene: unheimliche untote Krieger mit Körpern wie aus geschmolzenem Wachs, welche von dem Magier Korloun geschaffen wurden und eine schreckliche Waffe darstellen. Goldener Greif: Bezeichnung für Ezendor Fürst Schwarzgult. Hawkril Anharu: einst Ritter und Schwertmeister im Dienst des Goldenen Greifen, zeitweilig vogelfrei, bester Freund von Craer Delnbein, Mitglied der Viererbande und Hochfürst von Aglirta.
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Huldaerus, Herr der Fledermäuse: Zauberer auf der Suche nach den Dwaerindim. Ilvrim Ornentar: neu ernannter verräterischer Fürst von Ornentar. Inderos Sturmharfe: Meisterbarde, identisch mit Fürst Schwarzgult. Jhavarr Bogendrachen: Zauberer, welcher den Tod seiner Schwester Cathaleira Bogendrachen rächen will. Kelgrael: aus diesem Hause stammt der Erwachte und jetzt wieder Schlafende König ab. Koglaur: gespenstische Gestaltwandler, welche aus eigenen Gründen über Aglirta wachen. Maevur Kardassa: neu ernannter verräterischer Fürst von Kardassa. Nesmor Glarond: neu ernannter verräterischer Fürst von Glarond. Orthil Tarlagar: neu ernannter verräterischer Fürst von Tarlagar. Priester der Schlange: unheimlicher Anführer des Schlangenkultes.
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Raulin Burgmäntel: Sohn eines berühmten Barden und zeitweiliger Gefährte der Viererbande, dem eine große Überraschung zuteil wird. Sarasper Kodelmer: Heiler, der auch die Gestalt der schrecklichen Langzahn-Wolfsspinne annehmen kann, Mitglied der Viererbande und Hochfürst von Aglirta. Schlafender beziehungsweise Erwachter König: sagenumwobener Herrscher, welcher dem Land Aglirta in der Stunde der höchsten Not zu Hilfe kommt, falls es mittels der Dwaerindim gelingt, ihn aus einem Zauberbann zu erwecken. Das Schicksal der Schlange, seines Hauptwidersachers, ist an das seine gekettet. Schlange: auch Schattenschlange, Heilige Schlange, Große Schlange genannt. Ein Wesen von großer Bösartigkeit, der Sage nach einst ein menschlicher Zauberer, welcher mithalf, die Dwaerindim zu verzaubern, dem Wahnsinn verfiel, Schlangengestalt annahm und wie der König in einen Zauberschlaf versetzt wurde. Die Schlange gilt als der größte Feind Aglirtas. Sie ist ihren Anhängern heilig und verleiht ihnen im Gegenzug magische Kräfte. Heutigentags von ihren Anhängern »Eroeha« genannt, was vermutlich eine Verballhornung eines Menschennamens oder Titels sein dürfte. Sendrith »Blutklinge« Duthjack: der einst in Diensten von Fürst Schwarzgult stehende Söldnerführer versammelt Gesetzlose und Unzufriedene um sich, um den Regenten zu töten und
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den Thron von Aglirta für sich zu gewinnen. Talasorn-Schwestern, die: Ariathe, Dacele, Olone und Tschamarra, mit mächtiger Magie ausgestattete Töchter eines berühmten Zauberers, welche den Tod ihres Vaters rächen wollen, was nur eine von ihnen überlebt. Treibschaum: Insel im Silberfluss mit einem Palast gleichen Namens, in welchem vor seinem Tod der Fürst Faerod Silberbaum herrschte. Inzwischen Regierungssitz des Regenten und Ziel so mancher Verschwörerbande. Viererbande: die Helden dieser Geschichte und gleichzeitig die Helden des Königs (sie haben ihn unter anderem aufgeweckt); zu ihnen gehören: Hawkril, Craer, Sarasper und Embra.
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