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1628, es ist der 29. Oktober, schifft sich im Amsterdamer Hafen tief vermummt der Apo‐ theker der Stadt auf der «Batavia» ein, dem Flaggschiff der niederländischen Ostindien‐ Compagnie. Wie ein Leichentuch liegt dichter Nebel über den Dächern, durch die Straßen geistern Gerüchte über geheime Orgien und blasphemische Zusammenkünfte. Es geht ein Raunen, dass der Apotheker mit heidnischen Ritualen und unerklärlichen Todesfällen in Verbindung steht. Und als das Flaggschiff mit ihm an Bord den Hafen verlässt, bekreu‐ zigen sich die Menschen in den Gassen. Die «Batavia» segelt mit unermesslichen Schätzen an Bord nach Süden. Aber auf der Reise scheint ein Fluch zu liegen, das Schiff kommt vom Kurs ab und zerschellt an einem Riff. Die Überlebenden retten sich auf eine kleine Insel. Unter ihnen ist der Apotheker. Und um sie herum der grenzenlose Ozean. Arabella Edge erzählt die Geschichte eines Menschen, den es wirklich gab. Vor 374 Jahren hat der Amsterdamer Apotheker Jeronimus Cornelisz nach dem Schiffbruch der «Batavia» ein Königreich des Schreckens errichtet und Verbrechen begangen, die das Ausmaß der Morde eines Charles Manson in den Schatten stellen. Das Grauen, das Jeronimus Cornelisz verbreitete, ist nur noch mit den Mitteln der Literatur zu fassen. Umgekehrt konnte sich auch die Literatur dem Unvorstellbaren nicht entziehen: Den Nobelpreisträger William Golding brachten die Begebenheiten um die «Batavia» auf die Idee zu einer anderen Geschichte, die er in seinem Roman «Der Herr der Fliegen» erzählt. Der Apotheker Jeronimus Cornelisz tat das Böse um des Bösen willen. Und damit nicht genug. Arabella Edge sperrt uns in den Kopf dieses Unmenschen: Das ganze Buch ist aus seiner Sicht erzählt.
Arabella Edge wurde in London geboren und lehrte Literatur in Bristol. 1991 zog sie nach Australien, wo sie zum ersten Mal von Jeronimus Cornelisz erfuhr. Im Bann der Begebenheiten um die «Batavia» arbeitete sie über vier Jahre an ihrem Romandebüt «Der Unmensch», mit dem sie für den Commonwealth Writers Prize nominiert wurde. Arabella Edge lebt in Sydney. Heike Steffen wurde 1968 geboren und studierte Literaturübersetzung in Düsseldorf und in Spanien. Sie hat englische und amerikanische Romane ins Deutsche übertragen. Heike Steffen lebt in Hamburg.
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Aus dem Englischen von Heike Steffen 3
Arabella Edge
Der Unmensch Roman marebuchverlag 4
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar. Die australische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel The Company bei Picador by Pan MacMillan Australia, Sydney/Melbourne. © 2000 by Arabella Edge Deutsche Erstausgabe 1. Auflage 2003 © 2003 by marebuchverlag, Hamburg Alle Rechte vorbehalten, auch das der fotomechanischen Wiedergabe Umschlaggestaltung sans serif, Berlin, unter Verwendung von Albrecht Dürers «Rosenkranzfest» (Ausschnitt), 1506 Typografie Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg Herstellung Jan Enns, Wentorf bei Hamburg Schrift Lexicon No. 2 Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3–936384–80–0 www.mare.de 5
Zum Gedenken an meine Mutter, Marianne Berthiez Edge ■ 6
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Dieser Roman handelt vom Untergang der Batavia vor der Westküste Australiens im Jahr 1629. Bei der Arbeit habe ich zahlreiche historische Quellen konsultiert und mir dennoch im Umgang mit den historischen Fakten im Hinblick auf das Ziel meiner Erzählung einige Freiheiten erlaubt: die Gedan‐ kenwelt von Jeronimus Cornelisz zu erforschen, dem Psy‐ chopathen und Urheber der Grausamkeiten. Wer mehr über den genauen Ablauf der Ereignisse um die Batavia erfahren möchte, sei an folgende historische Unter‐ suchungen verwiesen, auf die ich mich in weiten Teilen stütze: Henrietta Drake‐Brockman, Voyage to Disaster, Western Australia University Press 1995, der ich zu großem Dank verpflichtet bin; Philippe Godard, The First and Last Voyage of the Batavia, Abrolhos Publishing 1993, Hugh Edward, Islands of Angry Ghosts, Angus & Robertson 1989, und Rupert Gerritsen, And Their Ghosts May Be Heard, Fremantle Arts Centre Press 1994. Für Leser, die nach einer allgemeinen Abhandlung über das holländische Leben in jenem Goldenen Zeitalter suchen, mögen folgende Titel von Interesse sein: Simon Schama, Überfluss und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, Kindler Verlag 1988, und C. R. Boxer, The Dutch Seaborne Empire, Hutchinson 1965. Ohne diese ausgezeichneten und fesselnden Quellen hätte ich dieses Buch niemals schreiben können, und alle eventuellen Fehler sind ganz allein meine eigenen. 8
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Meine Kindheit hallte wider vom Flüstern der Stimmen. Die Diens‐t boten glaubten, ich sei vom Monde gezeugt, geboren im dreizehnten Monat. Wie die Ammen mich fürchteten. Sie hefteten sich Knob‐ lauchzehen an die Schürze und schlugen Kreuze, – wenn sie mich in meiner Wiege kauern sahen, die Augen noch geschlossen, wimmernd wie ein neugeborener Welpe. Vor ihrer Niederkunft, so erzählten sich die Dienstboten, ließ meine Mutter ihr Gemach mit großen Sträußen von Lilien und weißem Fliederfüllen. Sie verzehrte sich nach der Milch von Mutterschafen, warm und schäumend und frisch aus dem Euter, und starrte durch die Schlitze der Fensterläden zum Vollmond hinauf. Manche behaupteten, sie sei in ihrem vierten Monat vom leuchtenden Widerschein der Augen einer weißen Katze verschreckt worden, andere erinnerten an jenen Abend, als Fledermäuse mit roten, flammenden Augen auf der Terrasse umherflogen und auf sie niederstießen. Meine Mutter wurde flüchtig, fahrig, still. Am Ende war sie nicht mehr gewillt, ihr Gemach zu verlassen. Das Spinett verwaiste ungespielt unter dem Fenster, und zwischen den gewellten Seiten des auf‐ geschlagenen Notenbuches woben Spinnen ihre dichten Netze. Mit zusammengebissenen Zähnen, so heißt es, ihren seidenen Schal zu einer Aderpresse zwirbelnd, Schweiß auf der Braue, habe meine Mutter sich an die Hebamme geklammert. Ein schwefelgelber Mond ging vor dem Fenster auf und tauchte die Haut meiner Mutter in totenhaftes Weiß. Die Hebamme wickelte mich in grobes Flanell und drückte mich in die widerwilligen Arme der Amme. Von frühester Kindheit an vermeinte ich immer wieder, die Schritte meiner Mutter im Korridor zu gewahren, die vor meinem Zimmer Halt machten, ihre Stimme, die nach mir rief. Aber niemals kam jemand herein. Ich war ein ruheloses, schlafloses Kind und wartete jede Nacht, Sirius am Bimmel aufgehen zu sehen – den Hundsstern, meine einzige Sonne – und auf die weiße Nacht des Mondes. 10
Meine Ammen waren grobknochige Rekruten aus dem Heer der Bauersfrauen, deren Neugeborene entweder gestorben oder gegen Kost und Logis und einen Vierjahresvertrag in einem vornehmen Viertel der Stadt an eines der Findlingshäuser abgegeben worden waren. Ich erinnere mich dunkel an eine, die den Kopfüber die Bibel beugte, Gebete murmelte und nicht ein einziges Mal von den Seiten aufsah. Ich erinnere mich an rote, rissige Hände, die mich in ein Taftjäckchen kleiden und in eine samtene Decke wickeln, und an die Stimme einer anderen Frau, zänkisch und schroff, die schimpft, die Amme möge sich gefälligst die Brustwarze säubern, bevor sie sie mir in den Mund stecke. Aber das kann ebensogut ein kindlicher Traum gewesen sein. Wenn es an der Zeit war, legte die Amme seufzend die Schürze ab und öffnete mit zittrigen Fingern die Knöpfe ihrer Bluse. Wenn sie nach mir griff, schwangen ihre blaugeäderten Brüste vor meinem Gesicht und boten mir ihre dunkle, runzlige Frucht. Meine frühesten Erinnerungen sind erfüllt vom süßlich‐sauren Geschmack und dem warmen Geruch ihrer Haut. Ich sei schmächtig gewesen, so sagte man mir, doch mein Hunger war kaum zu stillen, und manchmal schrie sie auf vor Schmerz, wenn ich zu heftig saugte. Es dauerte lange, bis ich entwöhnt war. Noch heute träume ich von meiner Amme. Sie hält mich an ihren schweren Brüsten und drückt ihre rechte Brustwarze in meinen Mund. Meinen hungrigen Mund. Ich sauge. Frisches Blut, warm wie die Milch von Mutterschafen, läuft mir über das Kinn und befleckt mein seidenweißes Hemd. ■
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Amsterdam, 29. Oktober Anno 1628.
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ch stehe allein am Gewürzkai und atme den salzig‐süßen Duft von Zimt ein, der noch immer in der Luft hängt. Abermals prüfe ich meine Papiere. Alles in Ordnung, nichts wurde übersehen. Tutt hat seine Sache gut gemacht. Ich be‐ wundere die Sorgfalt, mit der er das Compagnie‐Siegel auf meinem Quartierschein für die Offizierskabinen gefälscht hat. Nun gibt es kein Zurück mehr. Seltsam, dass Torrentius – meinem Mentor und einzigem Freund – als Holländer und gefeiertem Miniaturenmaler bis auf weiteres Zuflucht am Hofe König Karls gewährt wurde, während ich wegen bestimmter Überzeugungen gezwungen bin, mich wie eine Ratte zu verkriechen, mich auf der Batavia einzuschiffen und das steife, geldschwere Gebaren eines holländischen Ostindien‐Kaufmanns auf seiner fünfmonatigen Reise nach Niederländisch‐Indien anzu‐ nehmen. Ich bin kein Seefahrer. Ich kann nicht einmal schwimmen. Ich fürchte den Tod durch Ertrinken, das kalte Wasser auf meiner Haut. Ich, Jeronimus, bin ein Mann der Phiolen, ich wiege Pulver auf bronzenen Schalen, ich braue Tränke, treibe Handel mit Opium und Arsen. In Scharen sind die geputzten und parfümierten Amsterdamer Bürger zu mir gekommen, wenn sie ein Mittel gegen Fieber wollten, einen Liebesbalsam, die Totgeburt eines Bankerts und, natürlich, Gift. Ah, Gift. Es gibt so viele. Man stäube davon auf einen Fächer aus Straußenfedern, auf den Rand eines Bor‐ 13
deauxglases, die Blüte einer Sommerrose – und wehe dem Unschuldigen, der mit den Lippen die in Spitze gehüllte Hand seiner Dame streift. Hexereien überlasse ich den alten Tanten, den Illusionisten auf den Marktplätzen, den Karten‐ mischern, den Kristallkugelsehern, den Deutern schatten‐ hafter Silhouetten in gesprungenen Teetassen, all denen, die mich an jenen anderen Hexenmeister erinnern, den verlo‐ renen Propheten, der Fisch und Brot verteilte, Wasser in Wein verwandelte und für die Fischerjungen und Netzflicker an den Flussufern phantastische Geschichten spann. Torrentiusʹ Gastfreundschaft kannte keine Grenzen. Die Villa meines Freundes gehörte zu den prachtvollsten Häusern der Stadt. Die Salons waren mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet, sie waren der Lustbarkeit geweiht. In der Orangerie sangen Nachtigallen, das Sommerhaus am Zierteich schmückten Fresken mit priapeischen Kobolden, Zentauren und Satyrn im arkadischen Stil. Mehrere Studierzimmer waren dem Streben nach Wissen geweiht. Eines, das meine Aufmerksamkeit eine Weile gefangen nahm, galt der Naturkunde und beherbergte vornehmlich die Missgriffe der Natur, die in Gläsern mit konservierender Flüssigkeit kauerten. Es gab ein Gelehrtenzimmer mit Tierkreistafeln, Him‐ melsjahrbüchern und den seltensten Tarotkarten. Tag für Tag habe ich diese Karten gelegt, bis die abgegriffenen Bilder mir vertraut waren wie alte Freunde. Ferner beherbergte die Villa eine große Bibliothek entlege‐ ner Schriften, und dort verbrachte ich den Hauptteil meiner Zeit. Neben griechischen und lateinischen Autoren blätterte 14
ich in den Werken Shakespeares und anderer Moderner. In Stille und Einsamkeit stand mein Freund über sein Pult gebeugt und entzifferte die Stammbäume seiner Familie, übertrug sie in schöner, bedächtiger Hand auf sorgsam kalligraphiertem Pergament vom Lateinischen ins Hollän‐ dische. Unter seiner Anleitung begann ich mein Studium der Wis‐ senschaften vom Menschen, durchstöberte jeden Winkel der Bibliothek, erkundete die Trompe‐lʹoeil‐Paneele, die sich auf eine einzige Berührung hin öffneten. In jenem geheimen Archiv voller wachs versiegelter Dokumente stieß ich auf eine kostbare Sammlung lasterhafter Literatur. Die in gelbes Kalbsleder gebundene Historia Flagellantium in der Über‐ setzung eines Abtes aus dem fünfzehnten Jahrhundert war das Erste, was mir ins Auge fiel, und es gab viel zu lernen aus diesem Buch. ■ Mein Freund hatte eine Vorliebe für Maskenbälle. Die Gäste wurden aufgefordert, sich dem Anlass entsprechend zu klei‐ den, und jede Einladung versetzte die gesamte Gegend im Umkreis von mehreren Meilen in fiebrige Erwartung. Wenn die schwarzen Schriftrollen überbracht wurden, geriet die übersättigte Aristokratie in helle Aufregung, und kaum wurde Torrentiusʹ Wagen auf der Straße gesichtet, schickte man die Diener hinaus, um am Tor zu warten. Und wehe dem unglücklichen Lakaien, der mit leeren Händen zurückkehrte. Pastorale mit Ziegenhütern und Schäferinnen oder Harems voller Sklaven in seidenen Gewändern waren 15
Torrentiusʹ Sache nicht – mein Freund bevorzugte an‐ spruchsvollere Motti. Seine Gäste kamen als Inquisitoren, Scharfrichter und Engel Satans, als heidnische Könige und Königinnen. Für ihn war das Leben ein Spiel, seine Insze‐ nierungen Theater im Theater. Torrentius unterrichtete seine Jünger bevorzugt in gemie‐ teten Hafenbordellen. Dort leitete er geheime heidnische Ri‐ ten, arrangierte prachtvolle Stillleben, ließ schmächtige Stra‐ ßenjungen in flehenden Gesten des Lasters und des Verlan‐ gens posieren. Eines Abends, als das Mondlicht sanft über das Mosaik‐ parkett kroch und aus den Schatten unruhige Seufzer entlockte, nahm mein Mentor mich zur Seite. «Ich werde dich zu einem Werkzeug des Schreckens ma‐ chen», flüsterte er. «Du wirst nicht existieren. Man wird nach dir suchen, und niemand wird dich finden.» Ich lächelte. Ich wusste, dass er Recht hatte. Denn ich war anders als die anderen, jene geckenhaften, gelangweilten Cherubim in seinem Gefolge, die über Geld und Zeit verfüg‐ ten und unter alten Göttern neues Leben hervorzubringen trachteten, die das Vaterunser rückwärts sprachen, Ziegen die Kehlen aufschlitzten, die auf verlassenen Friedhöfen Grabsteine schändeten – die üblichen, kindischen Vergehen. Mein Freund sah mich fest zu meinen Prinzipien stehen, denn diejenigen, die ich besaß, hatten sich früh geformt. Stets hatte mein Handeln mit ihnen in Einklang gestanden. Vor allem wusste ich um die Nichtigkeit der Tugend, denn schon in sehr jungen Jahren hatte ich gelernt, den Phantasiegebilden der Religion mit Verachtung zu begeg‐ nen, und ich war zu der Überzeugung gelangt, dass die 16
Existenz eines Schöpfers eine Absurdität ist, an die nicht einmal Kinder glauben sollten. Es gibt keinen Grund, einem neuen jungen Gott zu huldi‐ gen. Nicht, wenn andere unüberhörbar unsere Dienste for‐ dern. Auf diesem beengten Planeten bin ich schon in vielerlei Gestalt gewesen, und Torrentius, der meine Sternkarten er‐ stellt hat, hat vorhergesagt, dass ich zurückkehren werde. Paris. Raconteur, Boulevardier, Memoiren auf dünnem Per‐ gament und Revolutionen, die aus einer Zelle der Bastille heraus entfacht werden. Ohne die Indiskretionen der Jünger Torrentiusʹ – jenen Narren, die schreiend geflohen und zu ihren Müttern gelau– fen sind – und die lustfeindlichen calvinistischen Richter dieser Stadt stünde ich jetzt nicht hier mit gefälschten Papieren in der behandschuhten Hand, verbannt nach Batavia. ■ Im pulsierenden Herzen dieser Stadt, dort wo der Handel tobt, hat meine Wächterin, die Ehrenwerte Vereenigde Com‐ pagnie, ihren prunkvollen Sitz im Ostindien‐Haus, von dort verstrickt sie alle Welt in spekulative Geschäfte und durch‐ siebt die Erde von Amerika bis nach Formosa mit einer Vielzahl von Unternehmungen. Eine Oligarchie aus sieb‐ zehn Ratsherren hat das Gold zum Gott der Compagnie erklärt und einen veritablen souveränen Staat erschaffen, ihr Königreich Batavia, in das aller Abschaum Hollands fließt – Freibeuter und Bankrotteure, in Ungnade gefallene Hand‐ 17
lungsgehilfen der Compagnie und müßige Adlige, die es leid sind, den Kontinent zu bereisen. Das neue, compagnie‐ eigene Reich braucht Menschen, doch zeigt mir einen ehrlichen Bürger, der sich freiwillig für solchen Dienst anerbieten würde. Nein, vielmehr suchen sie um eine An‐ stellung als Schreiber nach, streben nach sicheren Pfründen in den hallenden Marmorsälen des Ostindien‐Hauses. Dort beugen sie sich über die riesigen Journale aus Batavia und verfassen Protokolle, die vom Großen Rat der Siebzehn gelesen werden, und bereiten Order vor, die an die Direktoren zu versenden sind. Wenn ein Schiff der Compagnie vor Anker geht, über‐ schlägt sich das schrille, merkantile Geschrei. Die wertvolle Fracht, Indigo, Kardamom, Safran, ballenweise Rohseide, wird aus den Laderäumen gelöscht und den Kai entlang in die verriegelbaren Speicher und uneinnehmbaren Magazine gerollt, in die Lagerhäuser der Compagnie, die wie Festun‐ gen gebaut sind und auf deren Zinnen bewaffnete Soldaten patrouillieren, um die Waren zu bewachen, die hier vom Verkauf zurückgehalten werden, um die Preise in die Höhe zu treiben. ■ In meiner derzeitigen Gestalt eines in Lohn stehenden Kauf‐ mannsgehilfen erwartet mich das Exil, das Ablegen des Schiffes, der Anblick der soliden Ziegel Amsterdams, die verblassen und sich auflösen werden, als würden sie von den Nebeln dieses Landes geschluckt. Man hat Pläne für unsere Stadt, es geht die Rede, ein Rat‐ 18
haus mit einer Kuppel und einem Glockenturm im franzö‐ sischen Stile zu errichten, die engen Gassen und Grachten zu erweitern, die Inseln mit der Stadt zu verbinden, auf dem gewonnenen Land Stadtpaläste zu errichten, ja, die alten Wälle in begrünte Promenaden und schattige Alleen zu ver‐ wandeln. Ich frage mich, ob ich meine Heimat je wieder‐ sehen werde. Das Flaggschiff der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie, die Batavia, sieht recht robust aus. Ein Leviathan aus la‐ ckiertem Holz mit gewaltigen sechshundert Tonnen. Wenn man der neuesten Verlautbarung der Compagnie Glauben schenken will, ist die Batavia nach modernster Weise ge‐ baut, Vorbotin einer neuen Generation von Handelsschiffen, schneller, schlanker, schöner; wenigstens dreimal so groß wie die Karavellen, die Christoph Columbus im Jahre 1492 an die Küsten Westindiens trugen. Die Batavia ist getakelt als Dreimaster mit einem Bugspriet, und wenn alle zehn Segel gesetzt sind, trägt sie gut neunhundert Quadratmeter Tuch vor den Passatwinden her; sie verfügt über zwei Offiziersaborte, die aus dem Heck ragen, und über eine gut bestückte Bibliothek. Und ich, in diesem neuen Leben als Kaufmannsgehilfe, wer bin ich, das Wort der Compagnie in Zweifel zu ziehen, ihren Glauben an Zahlen, die stolzen Abmessungen der Batavia in Länge, Tiefgang, Höhe zwischen den Decks und Breite? Wo man hinsieht, belagern Trödler, Träger, Taschendiebe, fliegende Händler und geschminkte Kurtisanen die Kauf leute und Matrosen, die auf den Kai strömen. Unzählige Familien wogen vorbei an den Ankerschmieden, Schiffs‐ ausrüstern und Segelmacherwerkstätten, sie deuten auf die 19
purpurroten Wimpel am Großmast der Batavia, auf denen der rote Löwe von Holland, ihre Galionsfigur, prangt. Die Kinder, die auf den Schultern ihrer Eltern sitzen, blasen in ihre Flöten und schlagen auf Blech trommeln. Über der unablässigen Litanei der Verkäufer in ihren Stän‐ den erhebt sich das Quieken der schwangeren Sauen, die in die Laderäume der Batavia gehievt werden. Auf dem Pier krähen die Hähne in ihren Käfigen und versetzen die Hennen in Aufruhr, die, den Schnabel vor Angst weit aufge‐ rissen, mit den Flügeln schlagen, um sich mehr Platz zu er‐ kämpfen. Jetzt wird ein Bulle an Bord gewinscht, er schnaubt vor Wut und schlägt mit den Hufen in die graue, frostige Luft. Anders als die Matrosen, die über das Hauptdeck schwär‐ men und wie ungezähmte Affen in der Takelage schwingen, gehen die Kaufleute und ihre Familien mit schwankenden Schritten an Bord, sie fürchten, den Halt zu verlieren, und misstrauen der schaukelnden Sicherheit des Hafens. Einer nach dem anderen gehen Mannschaft und Passagiere an Bord: der Hilfssteward, der Schiffskoch, die Kabinen‐ stewards, der Erste Trompeter, die Zimmerleute, Kanoniere, Soldaten und Kaufleute, der Schmied, der Böttcher, die Schneider und die Matrosen. So setzt eure Hoffnung nicht länger auf den Menschen, der nur ein Hauch ist. Wie viel ist er wert? Neuigkeiten verbreiten sich schnell in Amsterdam. Es heißt, die Laderäume der Batavia seien angefüllt mit Gold und Silber, geprägt und ungeprägt, mit randvollen Truhen und wertvollen Artefakten für den Handel mit feisten Sulta‐ nen an den Höfen der Moguln. All dieser Reichtum. 20
Während in meiner Tasche die letzten Gulden klimpern. Ich beobachte den fetten Pradikanten, sein verdrießliches Weib und die sechs drallen Töchter, wie sie an Bord trotten. Der bleiche Krankenpfleger des Pfarrers, sein Krank‐besoeker, folgt ihm wie ein Schatten. Der Pfarrer presst sich die Bibel an die Brust und beginnt zu beten. In vollem Staat, die Straußenfeder am Hut im Winde wehend, steht der Kommandant auf der Poop und über‐ wacht das Durcheinander unter sich. Der Schiffer marschiert längsschiffs auf und ab und brüllt seinen Männern Order zu. Ich drehe mich um, um Amsterdam Lebewohl zu sagen, der geliebten Stadt der Lindenbäume und graugrünen Grachten, die sich wie ein Fächer um den Hafen ziehen, der engen Gassen zwischen Lagerhäusern und der Inseln, die hinter einem Wald aus Schiffsmasten und Stengen verbor‐ gen liegen. Amsterdam, amphibische, schlüpfrigfeuchte Stadt, gehüllt in die Nebel der überfluteten Marsch, erbaut auf Pfählen norwegischer Pinie, die Tag für Tag den Gezeiten trotzen. Eine Stadt der Geheimnisse und der käuflichen Rendezvous auf den Fußwegen entlang der Grachten, im Schatten der Markt‐Kolonnaden, auf den Holzkais, den Schwellen der Freudenhäuser, in den stinkenden Dampfwolken der Bag‐ nios, wo im Tausch gegen kleine Geschenke wie Klöppel‐ spitze, silberne Haarnadeln und Ohrringe auch eine Jung‐ frau zu haben ist. Stadt des Handels, wo Bürger und Bürokraten wie im Fie‐ ber kaufen und verkaufen und die Rohstoffe der Welt in La‐ gerhäuser verbannt werden, die sie nur zu höheren Preisen wieder verlassen. 21
Monströse Kathedralen des Reichtums, deren Grundsteine im letzten Jahrzehnt gelegt worden waren, ragen jetzt in den Himmel empor: die Wisselbank, die Bank van Leening, die Bourse, die den Wert von Gold‐ und Silberbarren, von Pias‐ tren, Dukaten und Ducatonen, Münzen und Metallgeld be‐ stimmen, die alle Zahlungen beschleunigen und den Handel fiebrig machen und Investoren gegen Verluste aus gefälsch‐ tem oder entwertetem Geld absichern. In einem Labyrinth von Gängen und Gewölben lagert der König von Schweden seine Kupfervorräte, die habsburgi– schen Kaiser ihr Quecksilber aus den Minen Idrijas, der russische Zar seine Hermelinfelle, der König von Polen Salpeter. In keiner anderen Stadt werden Wechsel so freigebig aus‐ gestellt, die wöchentlich veröffentlichten Börsenkurse so eif‐ rig studiert, gehen Warenempfangsscheine so schnell von Hand zu Hand. Zur Hauptzeit zwischen Mittag und ein Uhr drängen sich in der Bourse Makler aus aller Herren Länder, die in dem wogenden Tumult ihre Geschäfte treiben. Nie‐ drige Zinsen von drei vom Hundert aufs volle Jahr gerech‐ net, ohne Pfand und Bürgen, versetzen die Kaufherren in einen wahren Handelsrausch, sie kaufen in den Jahreszeiten, in denen die Preise am niedrigsten sind – oder, wie es im merkantilen Jargon heißt, aus erster Hand. Sie setzen Bargeld auf noch nicht vorhandene Rohstoffe und stoßen sie gegen Handelskredite wieder ab. Sie kaufen in Deutschland ganze Wälder auf, um sie auf eine Order hin fällen zu lassen, sie kaufen das Korn noch vor der Ernte, Wein vor der Lese, und handeln mit Nachbarvölkern zu Preisen, bei denen niemand mithalten kann. 22
Amsterdam, trügerische, rechtlose, lichtscheue Stadt, Mu‐ nitionskammer der Welt, die ihren Profit daraus zieht, den spanischen Feind zu finanzieren, statt ihn zu befehden, die die kriegführende Flotte mit Musketen, Ledermänteln, Gür‐ teln und Schwarzpulver ausstattet, Schiffe auf Kriegsstärke aufrüstet und mit holländischen Schiffen, die unter falscher flandrischer Flagge segeln, Truppen an der iberischen Küste mit Korn beliefert. Wahnwitzige Stadt, wo ein seltener Schädling die Tulpe hoch über die Rose stellt und wo eine Epidemie, die schlanke blutfarbene Flammen in der Korolla einer Tulpe emporzüngeln lässt, auch den Verstand der Menschen infiziert, die drei Zwiebeln der Semper Augustus zum Preis einer Villa am Wasser feilbieten und Blumenbeete mit Gewehr und Klinge bewachen. ■ Handel – was würde der Mensch nicht alles geben im Tausch für seine Seele? Und doch musste ich meine weltlichen Besitztümer in eine Seekiste packen wie ein gewöhnlicher Matrose, musste meine Arzneien auflisten und davontragen wie der schäbigste aller Scharlatane. Auf richterliche Anordnung musste ich meinen spitzen Hut und die schwarze Apothekerrobe ablegen, das Schild mit dem grünen Krokodil aus den Angeln nehmen und ein lukratives, wenn auch heimliches Geschäft in medizinischer Beratung schließen. 23
Meine wertvolle Sammlung der Abgetriebenen und Zwei‐ köpfigen, der Gehörnten und Behuften, der Zwillinge und Drillinge, die bei der Geburt an den Hüften zusammenge‐ wachsen waren, all die bleichen, zusammengerollten Maden der Menschheit, beigesetzt in grünen Gläsern mit konser‐ vierender Flüssigkeit, haben die Richter der Gosse und den Krähen überantwortet. Die gemeinen Mäuler nennen mich einen Totenbeschwö‐ rer. Die Alchemie klingt so todbringend in ihren Ohren, dass viele meinen, ich hätte mich der Kunst der Hexerei verschrieben. Ich werde von ignoranten Badern und Ärzten gefürchtet, die sieben Jahre des Studiums keinesfalls für ausreichend halten, die ihr Fach niemals um Verbesserun‐ gen, neue Erkenntnisse und Entdeckungen bereichern, son‐ dern auf dem ausgetretenen Pfad der Tradition dahertrotten und sich von den althergebrachten Weisheiten lang verstor‐ bener Meister nähren, von primitiven Kräutersammlern wie Galen und Hippokrates, deren Verschreibungen von Nies‐ wurz und Koloquinte ohne jede Wirkung sind. Und doch hatte ich Kunden in Fülle. Wie viele verschleier‐ te Damen wurden von meiner Tür gewiesen und sahen sich somit genötigt, die Kräuterweiber auf den Märkten um zweifelhafte Mittelchen zu ersuchen, um sich einige Monate später auf Gedeih und Verderb in die Hände einer Hebam‐ me zu begeben. Ich habe für jeden erdenklichen Zweck eine Droge ent‐ deckt, habe jeden Trank vervollkommnet und einen umfas‐ senden Vorrat an Giften angelegt. Wie jedes Gewerbe, so regieren Moden und Maschen auch meines, das der tödlichen Elixiere. Im letzten Jahr favorisier‐ 24
ten die Hahnreie der Stadt Pulver, welche das Fleisch ab‐ töten und das Zahnfleisch lockern wie der Skorbut und auf diese Weise untreue Ehefrauen in kahle Vogelscheuchen verwandeln. Dieses Jahr verlangten elegante Damen, von ihren hurenden Liebhabern zur Verzweiflung getrieben, jene meiner Pastillen, die, vor dem Akt der fleischlichen Kopu‐ lation verabreicht, eine tödliche Fontäne Blut statt Samen aus dem Gemachte des Opfers hervorschleudern. Meine konventionelleren Bestände imitieren Krankheiten, zeichnen blasse Haut mit Pusteln und Borken, lassen Bäuche schwel‐ len wie bei schwerer Wassersucht, sie ahmen Hirnfieber und Herzanfälle nach und Geschwüre an allen Gliedern. Bei meinen Beratungen war ich immer wieder fasziniert, dass die planende Beschäftigung mit dem Tode des Gelieb‐ ten in vielerlei Hinsicht sehr viel intimer ist als der Akt der Liebe selbst. Ich war beeindruckt davon, mit welcher Auf‐ merksamkeit meine Kunden die Einzelheiten studierten, wie sie in meinem Rezeptbuch blätterten, mit aller Sorgfalt das Ausmaß der Schmerzen abwägten, den genauen Zeitpunkt erfragten, zu dem das Gift wirken würde, und wie lange der Tod auf sich warten ließe. Ich glaube, sie haben es genossen, einen Tag lang Gott zu spielen. Jetzt erwarte ich mein Exil; mögen alle Bankerts Amster‐ dams geboren werden und die buhlerische Bevölkerung der Stadt wachsen. Mögen Ehefrauen, Hahnreie und Kurtisanen ihre Gulden auf gemeinen Beinwell verschwenden, auf süßen Sirup, Lakritzwasser und Rosenöl. Mögen sie der Wirk‐ samkeit von Regenwurmasche, Eibischsalben, Seepferdchen‐ ziemern und getrocknetem Froschlaich aufsitzen, den leeren Versprechungen der Quacksalber und Kräutersammler. 25
■ Ich ziehe meinen Astrachanumhang fester. Ich sage Lebe‐ wohl zu den Möwen, die in den kalten grauen Wassern nach Klieschen tauchen, Lebewohl dem zweideutigen Lächeln eines Herbstkrokusverkäufers, den Flammen, die sich von der Zunge eines Feuerspuckers entrollen. Ich reiche dem Bootsmann meine Papiere. Er faltet sie auf und prüft jede Seite, dann kritzelt er seinen Schnörkel neben das Compa‐ gnie‐Siegel und meinen Namen. Mein Gepäck auf den Schultern balancierend, bahnen sich die Träger einen Weg durch die Menge. Ich straffe die Schultern und folge ihnen. Ich setze die Sohle meines Stiefels auf die Gangway der Batavia und werfe mein altes Leben ab wie eine Schlangenhaut. 26
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ast zwei Monate auf See, und nicht einmal war Land in Sicht. Ich misstraue dem stampfenden Drängen der Ba‐ tavia, dem geblähten Bauche des Großsegels. Die Offiziers‐ kabinen sind beengt. Feuchte Felle, verdreckte Wolldecken, ausgetretene Stiefel, Tabakrauch, der Gestank von Erbroche‐ nem, Kranke, Stunde um Stunde, und ich habe nichts als die Koje in meiner Kabine und einen Filz Vorhang, mich dahinter zu verbergen – das ist mein ganzes Zuhause. Jeden Morgen beim Aufwachen ist der Himmel mit beun‐ ruhigenden Rosa‐ und Grüntönen beschmiert. Mein Bullau‐ ge blickt auf das Achterdeck, wo die diensthabenden Solda‐ ten auf und ab marschieren. Dahinter schwärmen die Matro‐ sen über Hauptdeck und Back. Die einen legen Trossen aus, die anderen sind mit dem Spleißen und Aufschießen von Tauwerk beschäftigt. Eine öde Szenerie. Den ganzen Tag lang rufen sie sich eine Litanei nautischer Begriffe zu, die ich nicht verstehe: Oberbramsegel dicht, klar Wende, Klüver– und Fockschoten los, hieven hier, belegen dort. Zudem muss ich ihr endloses Geschwätz ertragen, ihre Fluchtiraden und Schimpfkanonaden. Und die ganze Zeit über pfeift der Wind eine Melodie im Rigg, und die Schiffsglocke läutet zur halben Stunde, wenn der Sand im Glas durchgelaufen ist und die Uhr umgedreht wird. Mir ist übel vom rastlosen Wogen der See, vom unaufhör‐ lichen Stampfen. Zuerst hebt sich das Heck, und das Schiff stürzt mit einem Rollen den Rücken der Welle hinab. Dann 27
schießt weißes Wasser die Längsseiten der Batavia entlang, bis der Schaum ihren Bug umspült. Auch auf die essigsauren Ausdünstungen der ausgewa‐ schenen Balken war ich nicht vorbereitet, auf die Nässe in Hanf und Segeltuch, die beißenden Gerüche von Farbe und Firnis, den üblen, modrigen Gestank des Wassers, das sich in der Bilge sammelt. Noch weniger war ich auf das wimmelnde Gedränge ge‐ fasst, in dem wir uns nun wiederfinden. Es gibt nicht einen Zentimeter auf Deck, den man sein Eigen nennen könnte. Noch im Galion der Batavia drängen sich die Männer, pinkeln durch die Reling oder waschen ihre flohverseuchten Hemden aus. Wenn man sich auf dem Schiff fortbewegt, ist es, als dränge man sich durch die schiebende und schubsen‐ de Menge auf einem immerwährenden Jahrmarkt, durch eine wogende, siedende, süßsaure menschliche Masse. Wenn man die Messe betreten will, heißt es abwarten, bis man an die Reihe kommt. Und immer wenn das Luk zum Unterdeck geöffnet wird, wo die Soldaten sich zu zweit eine Hängematte teilen, steigt ein fauliger Gestank auf. Wo man auch hinschaut, Matrosen überall, behände und trittsicher wie Bergziegen, sie flitzen durch die Takelage, schwingen sich wie Trapezkünstler von einem Tau zum nächsten oder klettern, mit Greifzehen die rauen, geteerten Tampen um‐ klammernd, vom Großmast herunter. Wenn ich jetzt nach oben schaue, sehe ich gleich zehn von ihnen über den Rahen am Kreuzmast hängen, um die Mars‐ segel zu setzen, wobei sie mit den Sohlen ihrer flinken nack‐ ten Füße unablässig auf den geknoteten Tampen hin und her balancieren. Mir wird schwindlig, wenn ich sie länger 28
beobachte. Tag und Nacht gehen sie ihren Aufgaben nach, schleudern Flüche und drängen sich an den Passagieren vorbei, die ihnen im Wege stehen. Und über diesem tobenden Pandämonium thront der Ka‐ pitän, der am hochgezogenen achteren Rand der Poop steht und auf das Meer hinausschaut. ■ Jeden Morgen meistere ich meinen Weg über das krängende Deck, den Blick fest auf meine Füße gerichtet, um nicht über das Tauwerk zu stürzen, das um die Klampen gewickelt ist. Auf dem Weg zur Messe komme ich an den Sauen vorbei, die in ihren Pferchen liegen und an ihren geschwollenen Zit‐ zen blinde, neugeborene Ferkel säugen. Der Anblick des fah‐ len, haarlosen Fleisches, ihrer zarten, zuckenden Nacktheit macht mich schaudern. Bald ist es für den Koch an der Zeit, seine Messer zu wetzen. Der Herbst und der Monat der Schwalben sind vorüber. Wir haben die Jahreszeiten hinter uns gelassen und treiben in endlosem Sommer dahin. Die Hitze ist nach und nach über uns gekommen. Zuerst wurde das Wasser in den Fässern faulig, dann krochen erste Kolonnen von Ungeziefer über die Kabinenwände. Ein steter seefeuchter Wind liegt drückend über uns. Ich träume oft und schlafe wenig. An den meisten Tagen liege ich in endloser Langeweile in meiner Koje, harre aus wie eine Spinne in der Dunkelheit und webe müßig die Netze meiner Vergangenheit. 29
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orrentius war stets die einzige männliche Autorität in meinem Leben, denn mein Vater starb, als ich noch jung
war. Mein Vater war ein Spieler, er liebte die Fuchsjagd und ro‐ ten Wein, frequentierte Konzertsäle, Salons und Trabrenn‐ bahnen, und er fand Vergnügen an der Sopranstimme eines Dienstmädchens. Meine Kindheit verbrachte ich in einem großzügigen Stadthaus, wo ich von einer Reihe gottesfürchtiger Kinder‐ frauen verhätschelt und mit Süßigkeiten gefüttert wurde, während meine Mutter auf der Suche nach Heilung von ei‐ nem nervösen Leiden und religiösen Wahnvorstellungen von Kirche zu Kloster irrte. Am Nachmittag, wenn die Schatten auf dem Rasen länger wurden und mein Kindermädchen im Schütze der Holunder und Fingerhutbüsche döste, wurde ich – ein frühreifes, einsames Kind, viel älter als meine zwölf Jahre – es schnell müde, den Reifen zu schlagen oder gegen einen Ball zu treten, und ich starrte hinauf zu den leeren Fenstern unseres Hauses, in denen sich in jenem Frühjahr die duftenden Blüten des zitternden Geißblatts spiegelten. Jeden Tag zur Stunde des Mittagsschlafes wurden die Fensterläden der Bibliothek im ersten Stock mit einem Knall geschlossen. Manchmal erhaschte ich einen Blick auf die Spitzenman‐ schette am Ärmel meines Vaters, auf das goldene Funkeln des Eherings, auf seine langen, schmalen Hände, die den Riegel vorschoben. Eines nicht enden wollenden Nachmittags im Garten ließ ich die Leine eines purpurroten Drachens durch meine 30
Finger gleiten und beobachtete, wie der Drachen sich hinauf in die Lüfte schraubte. Als er auf das Haus zu schwebte, folgte ich ihm, lauschte dem Trippeln und Trappeln meiner schwarzen Lederschuhe auf dem Pfad, lief vorbei an den Obstspalieren mit Birnen, Pfirsichen und Aprikosen, vorbei an der Statue des Pan im Rosengarten, bis ich endlich ins Haus trat, in jenes Reich gleißenden Zwielichts. Aus dem Esszimmer drang das vertraute Klappern des Zinngeschirrs, das Quietschen des Rollwagens, den eine Magd auf die Terrasse schob. Ich stieg die Haupttreppe empor und blieb vor der Biblio‐ thek stehen, die Wände dort schienen sich mit jedem Atem‐ zug zu dehnen und zusammenzuziehen. Ich kniete mich vor das Schlüsselloch. In der halbdunklen Bibliothek, auf einer mit Veloursamt bezogenen Chaiselon‐ gue, lag mein Vater mit Marie, dem Hausmädchen. Er dra‐ pierte ihre Röcke nach rechts und nach links, öffnete lang‐ sam ihr Unterkleid, die Satinbänder ihres Korsetts, spreizte ihre Schenkel, strich mit dem Elfenbeingriff seiner Reitpeit‐ sche über ihre kaum entwickelten Brüste. Dann zwang er sie, nackt und zitternd, vor sich auf die Knie. «Beug dich vor», befahl er. Und jedes Mal, wenn das Leder durch die Luft pfiff, hielt ich den Atem an. «Erlösung wird allein aus Gnade geboren», stieß Vater schwer atmend hervor. «Hier sollst du das Joch der Dis‐ ziplin kennen lernen. Auf mein Wort, du wirst Zucht und Strafe schmecken.» Und er riss an ihrem wunderschönen roten Haar. Ich schrie beinah laut auf und grub mir die Nägel in die Handflächen, bis sie bluteten. 31
Den ganzen Sommer hindurch war es für mich ein festes nachmittägliches Ritual, Vaters Spiele zu beobachten. Ich frage mich heute, ob er wusste, dass ich von draußen, aus dem Halbdunkel, zuschaute. Bei den endlosen Suppenmahlzeiten mittags im Schul‐ zimmer konnte ich kaum stillsitzen, konnte das Schlürfen und Rülpsen meines Kindermädchens kaum ertragen, ihren Damenbart, den sie mit der Serviette abtupfte. In diesen Mo‐ menten wünschte ich mir nichts sehnlicher, als sie zu bestra‐ fen. Ich starrte auf ihre großen Brüste, die sich gegen den ge‐ stärkten Stoff der Schürze pressten, und musste die Hände unter meine Schenkel schieben, um nicht nach ihnen zu greifen. Ich malte mir aus, wie Vater die Reitpeitsche auf ihr weiches, üppiges Fleisch niedergehen ließ, die wunden, blutroten Striemen auf ihrem breiten, cremeweißen Rücken. Doch dann stockte mir erneut der Atem beim Gedanken an Marie, wie sie nackt zu meinen Füßen kauert, wie ihr Haar nach vorn fällt und die rotbraunen Löckchen entblößt, die sich auf der weißen Haut in ihrem Nacken kringeln. Genau wie Vater würde auch ich ihre tränenverschmierte Wange mit der Spitze meines schweinsledernen Stiefels streicheln. Den ganzen Sommer über war ich wie im Fieber. Unsere nachmittäglichen Spaziergänge durch den Garten führten mein Kindermädchen und mich am Waschhaus vorbei, wo sich die Frauen breitbeinig vorbeugten, um Leintücher über die Büsche zu hängen. Ich wurde beinah ohnmächtig beim Anblick ihrer kräftigen, blaugeäderten Knöchel. Einmal schnitt ich mir einen Birkenzweig und prügelte den Windhund des Gärtners beinah zu Tode, nur um zu sehen, 32
wie es sich anfühlte. Aber es war nicht das Gleiche und würde nie das Gleiche sein wie jene Spiele, die Vater mit Marie spielte, ihre Hände über dem Kopf gefesselt, die Schenkel gespreizt. Schon bald wurde ich eifersüchtig auf ihn. Meine Träume waren durchtränkt von Lust und Fieber. Nicht einmal die Berührung mit meiner eigenen, nimmermüden Hand konnte den Schmerz lindern. Wenn ich vor dem Schlüsselloch kauerte, kannte meine Eifersucht keine Grenzen. Ich wollte die Tür zur Bibliothek aufstoßen und Vater die Peitsche aus der Hand reißen. Bald begann ich, nicht nur ihn zu verabscheuen, diesen Vater, der Tag für Tag das Fleisch zartester Früchte genoss, während ich, Tantalus, aus seinem Paradies verstoßen vor dem Schlüsselloch geiferte, ich verabscheute auch mein Kinder‐ mädchen, meine unansehnliche, mürrische Magd, die ein‐ fältige Wächterin vor meinem Himmelstor. Auch den Windhund, der jaulend davonlief, sobald ich mich ihm näherte, konnte ich nicht ausstehen. Sie hat es nie bemerkt, aber ich folgte Marie auf Schritt und Tritt. Mein einziger Trost lag darin, ihr Schatten zu werden, ihr von der Spülküche in den Weinkeller, vom Herd zur Speisekammer, in das Zimmer der gestrengen Haushälterin und die kleinen Dachbodenkammern der Dienstboten zu folgen, wo perlendes Gelächter von Zimmer zu Zimmer klang. An ihrem schweren Gang, dem streng aus dem Gesicht ge‐ kämmten Haar und der bleichen, ausdruckslosen Miene un‐ ter der schwarzen Baumwollhaube erkannte ich, dass Marie ein trauriges Mädchen war. Sie liebte Vater nicht, obschon er 33
sie gut bezahlte, denn seinen Spielen mangelte es an der Zärtlichkeit, die nur ich ihr geben konnte. Ich verzehrte mich nach ihr. Verzehrte mich danach, sie in Spitze zu kleiden und sie erschaudern zu sehen. ■ Beim Abendessen saß Vater am Kopfende des riesigen Eichentisches, mein Kindermädchen und ich am anderen Ende. Er richtete nur selten das Wort an mich, aber manch‐ mal befragte er das Kindermädchen, das sich stotternd und stammelnd durch das Gespräch quälte und versicherte, es sei gewiss ein ruhiges Leben für den jungen Herrn Jeronimus, der ohne Zweifel seine Mama vermisse, aber Mr. Chimes im Schulzimmer halte ihn für einen begabten Jungen, so wie er schon lesen könne, Abhandlungen und Aufsätze, die, gütiger Gott, kaum ein Mensch zu begreifen in der Lage sei, und wie er sich erst in der Chemie hervor‐ tue. An dieser Stelle hielt sie inne und strahlte mich an. «Ihr wäret stolz zu sehen, wie er sein kleines Köpfchen über all die Phiolen und Flammen beugt», sagte sie. Mit der Antwort zufrieden, versank Vater wieder in sein gewohntes Schweigen. Ich erinnere mich, dass der Sommer fast vorbei war, als ich meinen Plan entwarf. ■ Das Schulzimmer war hell und luftig, voller Kreidestaub, Bücherregale und poliertem Kiefernholz. Kurz nach seiner 34
Anstellung hatte Chimes, mein Lehrer, seine Flaschen mit Rheinwein im Regal hinter der Kreide, unter drei lockeren Fußbodenbrettern, in der Kiste mit Feuerholz und in seinem Pult versteckt. Doch da ich stets vorgab, das Klingen des Glases nicht zu hören, das hastige, heimliche Stürzen der Flüssigkeit und die verstohlenen Schlucke, die er nahm, sobald er mich in meine Bücher versunken glaubte, war er dazu übergegangen, stets einen mehr oder weniger vollen Becher neben seine Füße zu stellen. Kurz nach dem Früh‐ stück fiel er in tiefen Schlaf, sodass ich in meinen Studien ungestört war. Wie ich es liebte, an jenem Pult mit der Marmorplatte zu sitzen, auf dem sich zwischen kupfernen Pfeilern meine Ka‐ thedrale aus Glas erhob, ein Geschoss über dem anderen, und in jeder Phiole, jedem Röhrchen und jeder Pipette wallten Schwefeldämpfe, während unten die scharlachroten Flammenzungen aus dem Brenner leckten. Hier hatte ich die Stadt meiner Träume in Miniatur nach‐ gebildet, eine Stadt aus Feuer und Schwefel, in der Satan re‐ gierte, mein gefallener Verbündeter, der ohne viel Aufhe‐ bens aus dem Garten Eden mit seiner Ödnis grüner Täler entlassen worden war, entlassen aus seiner Anstellung als Unterhändler Gottes, der das Kleingedruckte in den himm‐ lischen Verträgen in punkto freier Wille und Prädestination beim Wort genommen hatte. Jeden Morgen widmete ich mich meiner Alchemie, beob‐ achtete die bauschenden Regenbögen in den Dampfwolken, die sprühenden Funken aus den erhitzten, sorgsam abge‐ wogenen Häufchen Goldregensamen, Christophskraut und Tollkirsche. Ich zerstieß Baumfreund, Liebeserbse und Rit‐ 35
tersporn und lauschte dem Knacken ihrer trocknen Hülsen. Ich destillierte Essenzen aus Giftpilzen und Stephanskraut und bestaunte die dunklen Gase, die in meinem Glasge‐ bäude aus Schläuchen und Zylindern ihre Schlangen‐ schwänze entrollten. Die ganze Zeit über schlummerte Chimes tief und fest, taub gegen das tosende Brodeln meiner Tränke, die ich mit aller Sorgfalt in unzähligen Versuchen kreierte, bis mein Werk vollendet war. ■ Ich beschloss, Chimes zu verschonen, der auf dieser Welt keiner Seele Unrecht getan hatte und dessen einzige Sünde es war, im Rheinwein das Vergessen zu suchen. Also warf ich eines Nachmittags dem Windhund eine schöne Hammelkeule hin. Würde er sie fressen? Die elende Kreatur verkroch sich im Gemüsegarten, die Ohren an den Wieselkopf gelegt, die Zähne gefletscht. Ich schleuderte ihm das Fleisch vor die Füße, doch der undankbare Kläffer lief davon, den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt. Als ich am folgenden Tag zurückkam, lag der Knochen un‐ berührt da, doch mit Genugtuung entdeckte ich einen toten Raben zwischen den Gartenwicken, der ein Stück Knorpel im Schnabel hielt. Mein Experiment war geglückt. ■ Es war Herbst, meine liebste Jahreszeit, der Frost setzte lang‐ sam ein, und in den Gärten wurden Feuer entzündet, als 36
mein Kindermädchen über einen seltsamen, roten Ausschlag auf Armen, Hals und Leib klagte. Der ortsansässige Arzt wurde gerufen, ein zaudernder, zaghafter Mann mit verkrampftem Krankenzimmerlächeln. Er stellte Untersuchungen an, nahm Abstriche, entkorkte ein Glas mit Blutegeln und hielt die sich windenden Tiere zwi‐ schen den Greifern seiner Pinzette, doch seine Diagnose war vage. Er konnte die Ursache für die Beschwerden meines Kindermädchens nicht ausmachen, obwohl zu diesem Zeit‐ punkt bereits ihr ganzer Körper von Furunkeln und Pusteln übersät war. «Die Pest ist es ganz bestimmt nicht», flüsterte er. Kaum war das Wort ausgesprochen, sickerte es wie die Pestilenz selbst durchs ganze Haus. Zu meinem Entsetzen ver‐ließen uns die Dienstboten in Scharen. Vom Schul‐ zimmer aus beobachtete ich, wie sie ihr zerlumptes Hab und Gut in Bündeln auf die Karren packten und die Maultiere mit der Peitsche im Galopp zum Tor hinaus trieben – wobei Chimes auf einem Esel die Nachhut bildete. Ich dankte den Göttern, dass Marie sich ihnen nicht an‐ schloss. Sie war ein pflichtbewusstes Mädchen, und Vater entlohnte sie gut. Er schenkte ihr Kleider nach der neuesten Mode und zahlte sogar die Pacht für die kleine Kate ihrer Mutter vor der Stadt. Durchs Schlüsselloch beobachtete ich weiterhin zur Mit‐ tagsstunde Vaters Spiele, doch in jenen Tagen hatten sie ihren Glanz verloren – selbst die verführerischen Posen meiner Liebsten wirkten hölzern, auch wenn sie auf seinen Befehl noch immer niederkniete oder sich mit gespreizten Beinen auf einem Stuhl ausstreckte. Auch war mir nicht ent‐ 37
gangen, dass Vaters Liebkosungen linkisch wirkten und er des Öfteren innehielt, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, obwohl es für die Jahreszeit ungewöhnlich kalt war und der Frosttod die Rosenbüsche heimgesucht hatte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich Marie für mich beanspruchen und ihr meine Begierden beichten konnte, bis ich sie dazu gebracht haben würde, mich bedingungslos zu lieben. Vaters Gesicht war weiß wie Kalk, und ein böser, purpurroter Ausschlag war von den Gelenken über seine Handrücken gewandert. ■ Der Tod meines Kindermädchens legte sich wie ein Sarg‐ tuch über das Haus. Da ich mich im Schulzimmer einsam fühlte, verbrachte ich meine Vormittage nun meist in der labyrinthischen Küche aus Sandstein und grünen Fliesen und half der Köchin bei der Zubereitung ihrer schweren, duftenden Speisen. Zunächst schien sie verwundert, als ich ihr meine Dienste anbot, doch dann fühlte sie sich geschmei‐ chelt ob meiner Gesellschaft, und vielleicht vermutete sie, dass ich Chimes und mein Kindermädchen vermisste. Die Köchin war gerührt von meiner kindlichen Hingabe, der Sorgfalt, mit der ich die Äpfel für Vaters Kompott in Scheiben schnitt, welches gemäß einer Empfehlung des Arz‐ tes das Fieber senken und den Appetit anregen sollte. Während ich Ingwer und Zimt rieb, hievte die Köchin rie‐ sige Kupferkessel auf den Ofen und murrte leise vor sich hin. «In diesem Haus geht das Verderben um», sagte sie im 38
Vertrauen dem Gärtner, der Körbe mit Rüben, Beeten und Schalotten an der Hintertür ablieferte. «Jetzt ist der Herr krank», flüsterte sie dem Wildhüter zu, der ihr einen Sack mit Fasanen hinwarf und sich ohne ein Wort davonmachte. «Der Arzt sagt, mit dem Ausschlag hat es angefangen», er‐ zählte sie den Waschfrauen, die kreischend zu den Wasch‐ zubern liefen, um sich die jungen, rosigen Hände zu schrub‐ ben. Eines Abends, als ich allein im Esszimmer am Kopfende des Tisches saß, sah ich Marie vorbeihuschen, in der Hand einen Holzteller mit dem von mir am Morgen liebevoll zubereiteten und einzig und allein für meinen Vater bestimmten Apfelkompott. Ich warf meine Serviette beiseite und eilte ihr nach. «Marie», rief ich. Sie blieb wie angewurzelt auf der Treppe stehen, die Dringlichkeit in meiner Stimme hatte sie erschreckt. Dann sah sie mich an und lächelte. Es war das erste Mal, dass ich sie lächeln sah. Ihr strahlendes Gesicht verschlug mir den Atem. Ich wollte diesen Alabasterengel in meine Arme schließen und sie mit den Küssen bedecken, nach denen sie sich sehnte. «Ihr seid ein guter Sohn», sagte sie. «Ich weiß, wir hattenʹs versprochen, aber dann konnten wir doch nicht wider‐ stehen, die Köchin und ich.» Sie deutete mit dem Kopf auf den Teller, den sie in ihren kräftigen, geschickten Händen trug. «Wir haben es probiert, nur ein kleines bisschen, und es ist gar nicht schlecht.» 39
Ich öffnete den Mund, um zu schreien, doch aus meiner Kehle drang kein Laut. Und dann endlich begriff ich, endlich hatte ich verstanden. Der Apfel ist eine verfluchte Frucht. ■ Als ich die erste und einzige Liebe meiner Kindheit verlor, als Marie starb, verhärtete sich mein Herz auf ewig gegen alle falschen Propheten und gegen Jesus, den Verräter, der sie von mir nahm. Doch wie um Rache zu nehmen, führten meine eigenen dunklen Engel mich zu Torrentius, meinem Freund. Ich rufe nach Tonks, dem Kombüsenjungen, er soll mir ein Glas Branntwein bringen. Der Gedanke an meine vergeudete Vergangenheit macht mich krank. 40
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ir treiben im Kalmengürtel. Die ununterbrochene Monotonie von Ozean und Himmel bietet wenig Ab‐ wechslung. Die sieben Schiffe im Verband der Batavia mühen sich redlich, die trägen Winde in ihren Segeln zu fangen. Das Kriegsschiff, die Buren, laviert querab. Außerdem begleiten uns drei Handelsschiffe auf der Reise, die Dordrecht, die Galiasse und die Gravenhage. Verglichen mit ihnen, heißt es, sei die Batavia ein Palast. Zwei Vorrats‐ schiffe, die Assendelft und die Sardam, bilden die Nachhut, zusammen mit der Yacht Kleine David, die zurückgefallen ist. Im Schatten eines ausgeblichenen, staubiggrünen Balda‐ chins ruhen die Passagiere auf Segeltuchrollen auf dem Mit‐ teldeck. Niemand kann sich zu einem Spiel aufraffen. Karten werden lustlos gemischt, die Seiten ungelesener Bücher recken sich fächerförmig empor, eine zerfledderte Bibel mit Eselsohren rutscht von jemandes Schoß. In der unendlichen Spanne zwischen Mittag‐ und Abend‐ essen scheint das Schiff zu schrumpfen. Voraus nur Ozean. Über uns der stechend blaue Himmel. Schlagschatten auf dem sonnengebleichten Deck. Keine Fliege, die es zu verjagen gäbe, keine Wolke, die dem Horizont Kontur verleiht. Das Schiff gleitet dahin. Die Tage schwinden. Servietten werden auseinander gefaltet, Speisekarten gele‐ sen. Heute Fisch, morgen Hammel, übermorgen gekochtes 41
Rindfleisch. Ich beobachte meine Mitreisenden, das Hin und Her zwischen Seekrankheit und Völlerei, losen Liebeleien und ehelichem Gezänk, doch jetzt senkt sich Trägheit über das Schiff. Wer sind diese Fremden, die sich den Schweiß von den Brauen tupfen und sich den Weg in die Messe erkämpfen, wo sie um einen Tisch unter dem großen Heckfenster rangeln? Inspektoren und Spekulanten, Seeräuber und Schreiber der Compagnie, die ihr Vertrauen in eine ferne Welt gesetzt haben, in die knar– zenden, wurmzerfressenen Planken dieses Schiffes, das sie mit jeder Welle, jedem Windstoß weiter von dem Orte entfernt, den sie einst ihr Zuhause nannten. ■ Mein Blick fällt auf eine hoch gewachsene Frau, die über Deck schreitet und sich mit ausgebreiteten Armen gegen die Reling lehnt, ihr rotbraunes Haar flattert im Wind, der Umhang aus Veloursamt bauscht sich hinter ihr wie eine Flagge, und ich kann nicht anders, als sie eingehend zu studieren: diesen verlorenen Blick hinaus auf die See, als erwarte sie irgendetwas, ihren alabasterfarbenen Teint, das Muttermal auf der Oberlippe, das goldene Funkeln eines Eherings – sie hat schmale Spinettspielerhände, Gelehrten‐ hände, die nichts Schwereres zu heben gewohnt sind als einen tintegetränkten Federkiel. Diese Frau sucht nicht wie die anderen den Schatten, sondern steht ohne Kopfbe‐ deckung im gleißenden Schein der Sonne, das Gesicht in die heißen, trockenen Passatwinde gewandt. Sie hat etwas 42
Herrisches und Herausforderndes an sich. Sie starrt noch immer hinaus auf die See. Die Strähnen ihres langen, roten Haares spielen ihr um Gesicht und Augen. Worauf wartet sie? Eine Schule Tümmler bricht zu einem pfeilschnellen Flug aus den Wellen hervor, die glänzenden, eleganten Körper dunkle Silhouetten vor der sprühenden Gischt. Sie klatscht vor Freude in die Hände, klettert auf die erste Sprosse der Reling und lehnt sich so weit wie möglich vor, um besser sehen zu können. Einige Händler lassen ihr Buch sinken und gaffen sie an. Sie haben ihre Freude an der Unbe‐ kümmertheit dieser Dame. Ihre Gattinnen hingegen tau‐ schen missbilligende Blicke und schnalzen mit der Zunge. Von der Poop aus nimmt auch der Schiffer sie durch sein Fernrohr eingehend in Augenschein, wobei er vorgibt, Aus‐ schau zu halten. Unser Schiffer ist ein durchtriebener, windiger Geselle mit fetter Pension und schmalen Narben, ein Rumtrinker und Sklavenhändler, der Weibsbilder mit geschminkten Lippen und drallen Oberschenkeln verführt. Diese Dame ist zu ele‐ gant, um ihm zu gefallen. Ich lasse meinen Blick über das überfüllte Deck schweifen, um ihren Ehegatten auszumachen. Gewiss wird er nicht zu‐ lassen, dass seine Frau sich in eine so gefährliche Lage bringt, ihre gelben Satinschuhe haben mittlerweile auf der zweiten Relingsprosse Halt gefunden, unter ihr das An‐ schwellen der schäumenden Gischtberge. Mir wird schwindlig, wenn ich nur daran denke. Ich schließe die Augen und presse mir ein lavendelbestäubtes Taschentuch an die Lippen. 43
Als ich wieder aufschaue, hat sich ein junges, molliges Frauenzimmer zu ihr gesellt, einen Sonnenschirm und eine purpurrote Toque mit schwarzem Schleier in den Händen. Die weiße Spitzenhaube, die Schürze und die Holzpantolet‐ ten an den bestrumpften Füßen geben preis, dass es sich um ein Dienstmädchen handelt. Sie könnte hübsch sein, wäre in ihrem Gesicht nicht dieser mürrische, zänkische Zug, der mir nicht gefällt. Ihre Herrin deutet lachend auf den Fischschwarm, der un‐ ter dem gischtschäumenden Kamm einer Welle dahin‐ schießt. Die Magd drängt sie hinabzusteigen und spannt den Sonnenschirm auf, der im Winde sofort umschlägt. Die Kaufleute kichern verstohlen. Selbst unser abgebrühter Schiffer bricht in schallendes Gelächter aus, fasst sich aber schnell wieder, indem er einen verängstigten Bootsmann anbrüllt, der eine Wuling in der Großmast‐Takelage zu entwirren versucht. Während die Zofe mit dem Schirm ringt, reißt ihr der Wind beinah den Hut ihrer Herrin aus der Hand. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, hüpft die Dame leichtfüßig auf Deck und eilt nach achtern, um die Tümmler zu beobachten, die im Kielwasser der Batavia herumkarriolen. Die Zofe trottet hinterdrein, ein Sinnbild trübseliger Langeweile, bis ihr Blick dem unseres Kapitäns begegnet und sie ihm ein schelmischscheues Lächeln zuwirft, gefolgt von einem tiefen, ehrerbietigen Knicks. Der Schiffer nimmt es mit Verwunderung zur Kenntnis und blickt ihr nach, während sie sich einen Weg über das Hauptdeck bahnt. Offensichtlich ist diese Magd fest entschlossen, ihre Jung‐ fräulichkeit zu verwirken und ihre Stellung zu verbessern, 44
noch ehe die Reise getan ist. Im Tausch gegen einen Gulden will ich sie nach ihrer Her‐ rin befragen, denn meine Neugierde ist geweckt. Vielleicht wird die Überfahrt doch nicht so eintönig, wie ich zunächst dachte. 45
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ast jeden Abend versammelt sich in der Messe eine Gruppe junger, betrunkener Burschen und bringen mit besten französischen Weinen Toasts auf ihren Brotgeber aus, die Compagnie. «Vereenigde Oost‐Indische Compagnie», skandieren sie. Während ich mir Branntwein aus einem Krug einschenke, höre ich zu, wie einer von ihnen die dünne, flötende Stimme des Kommandanten bei seiner Aufzählung all der Sorgen und Nöte der Compagnie nachahmt. Trotz seiner Trunken‐ heit ist der Junge ein virtuoser Imitator. «Aus wiederholter persönlicher Erfahrung», singt er in ho‐ hem Falsett, «weiß ich, dass die Ehrenwerte Vereenigde Compagnie sehr viel mehr Profit macht, wenn die Einkäufer die Ruhe bewahren. Der Himmel weiß, dass die Armenier schon genug Aufregung im Lande verbreiten, wenn sie von einem Dorf zum andren rennen und so tun, als wollten sie die gesamten Indigobestände aufkaufen. Sie treiben die Preise in die Höhe und machen selbst einige Verluste, aber vor allem fügen sie uns und anderen Käufern, die wir große Mengen erwerben, erheblichen Schaden zu.» Der Junge verbeugt sich mit schwungvoller Geste. Wie in einem weintrunkenen Traum neigt sich die Messe zur Seite. Alles lacht. Genau wie diese Burschen habe ich den Kommandanten stets für einen Langweiler gehalten. Sein Geschwafel über die Compagnie, das Auf und Ab des Indigohandels, sein ewiges Kaufmannsgeschwätz: dass jener Indigo dem 46
anderen insofern vorzuziehen sei, als er einen violetten Aufguss ergebe, und dass seine Qualität sich schon daran zeige, dass er leichter wiege, dass man jedoch, um ganz sicher zu gehen, ihn vor Mittag im Lichte der Sonne begutachten solle, denn nur wenn er rein sei, glitzere er in allen Farben des Regenbogens, und so weiter und so fort. Doch wie nur sind diese Abkömmlinge von Freibeutern und Opportunisten zu beschreiben, aufgewachsen allesamt in opulenten Villen mit Wasserblick? Ich denke, ich sollte je‐ dem dieser trunkenen Burschen ein paar Zeilen widmen. Da ist Wouter, der schlaue, gut aussehende Wouter – mit seinen achtzehn Jahren der Älteste und bereits Herr über ein kolossales Vermögen, Sohn eines Spekulanten: von der Compagnie ausgesandt, um einen Bericht über den indischen Kampferhandel zu verfassen. Mattys de Beere, Charmeur, Stutzer, Dandy und genau wie seine ungebildeten Vorfahren ein scharfsinniger und gewief‐ ter Händler. Pelgrom, ein belesener Philologe, der fließend Latein spricht und mit der Tochter des Niederlassungsdirektors der Compagnie in Masulipatam verlobt ist. Jacop, Sohn des Poetus laureatus, verträumt, romantisch, auf der Suche nach Abenteuern in fernen Ländern. Andries, seines Zeichens Spieler, gefürchteter Schachmeis‐ ter und Jongleur geschönter Zahlen, jüngst aufgestiegen zum ersten Buchhalter im Büro des Generalgouverneurs. Hans, Waise und Erbe einer riesigen Indigoplantage süd‐ lich von Surat. Und schließlich Carp, mit gerade vierzehn Jahren der Jüngste, der, weil er seinen Schulabschluss nicht geschafft 47
hat, nun das Geschäft des Baumwollhändlers erlernen soll. ■ Die Batavia drängt gen Süden. Bei einem Wind, der Steuer‐ bord achterlich kommt, schwankt das Deck umso mehr. Aber allmählich gewöhne ich mich an die ständige Neigung nach links. Heute Morgen beim Verlassen der Kabine war ich geblen‐ det von diesem intensiven Blau, aus dem unsere Welt rings‐ um gemacht ist, unendlich und grenzenlos. Der nackte, bloße Himmel wölbt sich über uns in nahtlosem Azur, bar aller Wolken. Man würde wahnsinnig, schaute man zu lange hin. Und unter uns der Ozean. Das Schiff wogt auf schwerer, schwindelerregender Dünung, die unter dem Heck auf‐ und abschwillt, ohne sich zu brechen. Beide Elemente verschmel‐ zen in einem überwältigendem Indigo, dem blauen Bogen des Horizonts, unserer einzigen Grenze. In Momenten wie diesen, angesichts der schieren Weite auf das Maß einer Ameise auf einem Blatt geschrumpft, sehne ich mich nach den Nebeln und grollenden Wolken‐ landschaften meiner Heimat, die das Himmelsgewölbe verhüllen und in Schach halten, es mit Regen und Dunst hernieder pressen und so der zivilisierten Welt ihre recht‐ mäßigen Dimensionen verleihen. Des Menschenstroms müde, der sich schiebend und schub‐ send den Weg zur Messe bahnt, bin ich versucht, in meine Kabine zurückzukehren, als ich sie in ihrer üblichen Pose auf dem Mitteldeck sehe, ohne Kopfbedeckung an die 48
Steuerbordreling gelehnt, das Haar im Winde wehend. Ja, wer könnte Lucretia Jansz übersehen, die junge, un‐ erfahrene Braut, die sich endlich befreit hat vom Schreck‐ gespenst des Altjungferndaseins, das wispernd durch die Empfangssäle der feinen Viertel der Stadt geistert und manch fromme Dame in Prüderie und Spitzenhäubchen zwingt. Endlich verheiratet und auf Reisen über gefährliche Meere, um sich mit ihrem langweiligen Gemahl zu vereinen, dem Oberkaufmann Boudewijn van der Mijlen, der von der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie mit einer Fracht nach Batavia geschickt wurde, wo er bis auf Weiteres zu verblei‐ ben hat. Ich sehe ihn vor mir, diesen geduldigen, getreuen Gatten, wie er auf einer Zedernholzveranda in Batavias verdorrtem Hinterland auf und ab schreitet. Sag mir, Lucretia, ist er jung oder alt? Erzähl mir, dass du zu spät geheiratet hast. Nein, lass mich raten, deine Hoch‐ zeitsreise sollte nach Venedig gehen, Gondeln auf sonnenbe‐ schienenen Kanälen, doch die Ehrenwerte Vereenigde Com‐ pagnie hat ihn auf einem Klipper fortgeschickt. Nicht eine gemeinsame Nacht, nicht eine einzige Zärtlichkeit im Mor‐ gengrauen. Erzähl mir, dass du seine einzige Liebe bist, aber nicht seine erste Frau; die liegt vor der Stadt begraben, ein gewickeltes, totgeborenes Kind zu ihren Füßen. Einmal hat er dich dorthingeführt, und du schrittest sanft über das feuchte, gemähte Gras zwischen den Gräbern des Friedhofs, wo Alabasterengel ihre Flügel strecken, um den Himmel zu berühren, wo du ein stilles Gebet sprachst und die Grabinschrift lasest – 1610‐1628. Ja, sie war jung, genau wie 49
du. In dem Alter, das sie erreichte, saßest auch du einge‐ wickelt in warmes Flanell vor dem Feuer, den Leib ge‐ schröpft und mit Pusteln übersät. Erinnere dich an das Ge‐ räusch des Wagens vor dem Haus, ein einziges Läuten der Glocke. Hast du geweint, Lucretia, als du deinem Gatten auf dem überfüllten Kai Lebewohl sagtest? Hast du bittere Tränen vergossen? Es ist immer das Gleiche mit diesen Schiffen, die über See fahren, sie lassen auf dem Festland Kummer und Verzweiflung zurück. Du siehst, Lucretia, ich weiß so vieles über dich. Zwaantie, deine Zofe, hat sich ihren Gulden redlich verdient. 50
a, wer wollte Lucretia Jansz nicht bewundern. Geboren in J einem jener vornehmen Häuser auf der Herenstraat, ihr Vater ein Arzt von großem Renommee, einer ihrer Brüder schlug die gleiche Laufbahn ein. Und schon in jungen Jahren teilte Lucretia diesen Hang zur Gelehrsamkeit, vernach‐ lässigte ihr Spinettspiel, ihr Petit point und ihr Stick‐ mustertuch, um stattdessen das Beste, was die Bibliothek des Vaters zu bieten hatte, zu verschlingen und ihren Wissensdurst zu stillen. Nachdem sie Pestkranke gepflegt hatte, entronn sie dem Tode nur knapp, und es schien höchste Zeit, sie zu verheiraten, bevor sie den Namen der Familie mit ungehörigem Ehrgeiz in Verruf brachte. Arme, gescheite Lucretia Jansz. Womöglich wünscht sie sich, diese Reise möge niemals zu Ende gehen, womöglich wird sie in eine Zweckehe gezwungen, verschachert an einen der reichen Kaufleute Batavias, einen jener Welten‐ herrscher über Baumwollfelder und Indigoplantagen, die allesamt Sachwalter der Compagnie sind, von deren Order abhängig, und die ihre Gewinne darauf verwenden, Sklaven nach Amsterdam zu verschiffen. Wie neu und aufregend muss diese Reise für sie sein, end‐ lich befreit von den Fesseln langweiliger Bälle und Salons, entkommen dem Wispern der Witwen und Anstandsdamen, die ihre jungen Proteges nach ihrem Werte auf dem Heirats‐ markt abschätzten. 51
Als spüre sie, dass sie beobachtet wird, dreht Lucretia sich langsam um und erspäht mich auf dem Achterdeck im Schatten eines Segels. O Madame, Ihr seid schön. Die Sonne hat Euer Haar in Flammen gesetzt, seht, wie es wie Feuer flackert. Ich mache eine tiefe, höfliche Verbeugung und lächle. Ihr antwortet mit einem kurzen Nicken. Ein Knicks ist das Mindeste, was ich erwartet hätte. «Madame», rufe ich und steige die Holzstufen zum Hauptdeck hinab. «Erlaubt, dass ich mich vorstelle. Jeroni– mus Cornelisz, Kaufmannsgehilfe und vordem Apotheker aus Amsterdam.» Als ich mich nähere, scheint Lucretia unter meinem Blicke zu schrumpfen. Dann sammelt sie sich und nickt mir zu, doch da ist keine Wärme in ihrer hochmütigen, herrischen Miene. «Lucretia Jansz», sagt sie leise und hält mir die Hand hin. Als ich mich vorbeuge, um das Familienwappen auf ihrem Siegelring zu küssen, zittern ihre Finger unter der Berüh‐ rung meiner Lippen, und sie zieht ihre Hand hastig zurück. Warum? Wo ich doch stets stolz darauf war, ein Homme á femmes zu sein. Erneut blickt Lucretia auf den Ozean hinaus. Ich bin solche Missachtung nicht gewohnt, aber ich werde auch diese Eis‐ königin zum Schmelzen bringen. «Ich hoffe, Ihr empfindet die Reise nicht als allzu be‐ schwerlich», sage ich. Sie schüttelt den Kopf, den Blick noch immer auf den Hori‐ zont geheftet. Wie sie die Lippen aufeinanderpresst und ihre Hand zum perlenbesetzten Halsausschnitt und zurück zur Reling flat‐ 52
tert, könnte man meinen, sie fühle sich unwohl in meiner Gegenwart. Ich kann es mir nicht erklären. Doch als ich mich verneige, um mich zurückzuziehen, hebt sie an zu sprechen. «Ihr sagtet, Ihr seid ein Apotheker.» Sie sieht mir noch immer nicht in die Augen. «Sagt mir, was hat Euch bewogen, Euren Beruf aufzugeben?» Ich lächle, denn ich habe einen schmalen Pfad zum Herzen dieser Dame ausgemacht. «Oh, von Aufgeben kann gar keine Rede sein», antworte ich. «Ganz im Gegenteil.» Ich erkläre: Ziel und Zweck dieser Reise ist es einzig und allein, mit unermesslichen Schätzen an fremdländischen Drogen und Heilmitteln aus Ostindien nach Amsterdam zurückzukehren, wertvollen Beständen an Kardamom, Sa‐ fran, Koschenille, Moschus und Spermazet, Mohnsamen, indischem Hanf und Opiaten, kostbaren Schätzen, die blatt‐ weise oder per Samenkorn gehandelt werden – mit deren Hilfe und mittels verschiedenster chemischer Experimente ich die Grundfesten der althergebrachten Kräuterküche zu sprengen und alle Männer meines Gewerbes in den Stand eines Messias zu erheben gedenke, wenn wir denn endlich über ein phantastisches Repertoire wundersamer Heilmittel verfügen. Ich erwärme mich derart für diese Geschichte, dass ich fast selbst an sie glaube. «Dieses Reden von der Alchemie missfällt mir, Mijnheer», sagt sie. «Es heißt, sie sei die Kunst der Geisterbeschwörer.» «Nur die Kräuterfrauen auf dem Markt sagen das, weil sie um ihre Profite fürchten.» 53
Lucretia wirbelt herum und sieht mir ins Gesicht. Ihre Wangen sind gerötet. Endlich eine Regung. Mir gefällt, wie meine Worte ihren Pulsschlag beschleunigen. «Wir, die wir uns hier auf dem Mitteldeck der Batavia be‐ finden», sage ich, «wir stehen an des Schicksals Schwelle. Je‐ des Zeitalter bringt seine Neuerungen hervor, warum nicht auch das unsre?» Sie schenkt mir ein flüchtiges Lächeln. «Ganz recht, Mijnheer, doch ich glaube, die Plagen dieser Welt können am ehesten von bescheidenen, gebildeten und mitfühlenden Menschen besiegt werden, die nicht das Be‐ dürfnis verspüren, sich zu einem Messias aufzuschwingen.» Mit solcher Vehemenz und Überzeugung werden diese Worte vorgebracht, dass ich, zum ersten Mal seit langer Zeit, vollkommen hilflos bin und eine Antwort schuldig bleibe. In der Tat, diese Dame hat Feuer. Ich betrachte sie und versuche zu ergründen, wer sie ist. Ich habe sie beobachtet, wie sie durch das wimmelnde Durcheinander an Deck wandelt, die Menschenmassen, die Hitze, den Lärm – sie schreitet ohne Blick für das Chaos um sie herum voran, losgelöst und unnahbar wie eine Königin. Ich mache einen Schritt auf sie zu. Bilde ich es mir ein, oder ist sie zusammengezuckt? «Entschuldigt mich, Mijnheer», sagt Lucretia und zieht ihren Umhang fester um den Körper. «Ich muss nach meiner Zofe suchen, sie ist schon zu lange fort.» Ich verbeuge mich. «Darf ich vorschlagen, unser Gespräch morgen an gleicher Stelle fortzusetzen?» Ein Ausdruck von Skepsis und Misstrauen huscht über ihr Gesicht. Doch sie erwidert furchtlos meinen Blick. 54
«Ich bin vermählt, Mijnheer», sagt sie mit ruhiger, fester Stimme. «Verzeiht, aber ein solches Treffen wäre gewiss nicht statthaft.» Und damit geht sie. Brüskiert und abgewiesen, tröste ich mich damit, ihre Zofe zu beobachten, wie sie auf der Poop mit dem Schiffer anbän‐ delt. Sie schaut durch sein Fernrohr zum geneigten Horizont und gackert jedes Mal, wenn er mit dem Davis‐Quadranten den Stand der Sonne misst. Jetzt legt der Schiffer ihr einen Arm um die Taille und drückt sie fest an sich. Doch als er Lucretia mit schnellen Schritten über das Hauptdeck gehen sieht, lässt er die Zofe fahren und gafft stattdessen mit staunender Bewunderung der Herrin hinterdrein, die Lippen zu einem wölfischen, lüs‐ ternen Grinsen gekräuselt. Zwaantie antwortet mit einem unsicheren Lachen, doch als sie Lucretia gewahrt, wird sie still. Es hat schon etwas Bemitleidenswertes, dieser Blick ei‐ nes verschmähten Weibes. Sie wirft die Haare in den Nacken und schenkt ihrem Kapitän ein tapferes Lächeln. Doch ihr Blick verdunkelt sich vor Groll und Furcht. Wie ein Hengst, der zur Zuchtkoppel geführt wird, giert unser Schiffer nach der besten Stute, um dann doch die geringere Schwester zu begatten, die zu diesem Zweck aus den Ställen geholt und vor ihm auf und ab geführt wird. Er tut mir Leid. 55
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urück in dem erbärmlichen Verschlag, der sich Kabine nennt, scheint mir die Luft noch drückender als zuvor, und ich rufe nach Tonks, damit er meine Waschschüssel auf‐ füllt. Trotz der primitiven Umstände, in denen ich mich derzeit befinde, achte ich peinlichst genau auf meine Toilette. Jeden Tag bewundere ich mein Spiegelbild in einem Handspiegel aus Zinn, zupfe mir die Augenbrauen zu Schwalbenflügeln, schminke mir die Lippen mit Koschenille, begutachte die schwachen blonden Schatten eines Schnurrbarts auf meiner Oberlippe und streiche mir über das unrasierte Kinn. Nackt bin ich ein Mann wie viele andere, dünn und ge‐ beugt, schmächtig wie ein Knabe, die Hüften knochig, aber ich habe die stechend blauen Wikingeraugen meines Vaters geerbt. Ich begutachte mein Profil im Spiegel, die anmutige, fast feminine Linie meines Kiefers, die schmale Adlernase, die hohen Wangenknochen wie gemeißelt, die Lippen voll und rot. Wenn ich mein Spiegelbild betrachte, bin ich stets aufs Neue verzaubert von diesem scharf geschnittenen, hellwa‐ chen Antlitz eines Fauns. Es ist mir zur täglichen Gewohnheit geworden, jenen Trick mit den Augen zu üben, den ich schon in jungen Jahren ein‐ studierte, als ich erkannte, dass man sein Gegenüber allein mit dem Blick in Bann schlagen kann, wenn das Auge nicht blinzelt. Die Schlange vor dem Kaninchen. Alt wie der 56
Teufel, verleiht dieser Trick die Macht der Überzeugung. Ich zähle bis zwanzig. Ich kann, wenn es darauf ankommt, bis hundert zählen, und man wird nicht das leiseste Zucken meiner Wimpern sehen. Den Blick auf mein Spiegelbild geheftet, versuche ich, Lucretia zu begreifen. Sie hat mich stehen lassen wie einen Dienstboten – hat man so etwas schon mal gehört? Hinter ihrem kühlen Auftreten habe ich eine rätselhafte, unbeholfene Reserviertheit gespürt. Doch mein Gewerbe hat ihre Neugier geweckt, und sie hat mich geradeheraus darauf angesprochen. Ich bin verwirrt, und wenn ich gefragt würde, müsste ich sagen, dass in ihrer Haltung etwas lag, das schlichter Abneigung nahe kam. Doch war ich nicht liebenswürdig und höflich? Sogar gelogen habe ich, um sie zu beeindrucken. Und doch, meine Antwort hatte durchaus einen wahren Kern. Diese Gewürzreisen nach Ostindien werden der Kunst des Apothekers ganz neue Macht verleihen. Ich schürze die Lippen zu einem verführerischen Aus‐ druck und bewundere einmal mehr das Faunengesicht, das mir aus dem Glas entgegenlächelt. Torrentius hat einmal erklärt, jede Konversation mit dem schönen Geschlecht gehorche einem bestimmten Code, und sei dieser erst entschlüsselt, entpuppe sich jedes Wort, jede fragend gehobene Braue, das leiseste Lächeln, jedes Wedeln des Fächers als Einladung, die Werbung mit maßvoller Wür‐ de fortzusetzen, auf dass kein Makel und kein Fehl den ehe‐ lichen Ruf beflecke. Er beherrschte dieses Spiel sehr gut, wie er sagte. Vielleicht verkenne ich Lucretia. Zweifelsohne können ihre 57
seltsame Schüchternheit, die plötzliche Beschleunigung von Herz und Puls, das Zittern ihrer Finger bei meiner Berüh‐ rung auch als klassische Symptome der Liebe gelesen werden, wie sie sich im Unvermögen jung Verliebter zeigt, den anbetungsvollen Blick des anderen zu erwidern, im Zittern der Hände beim Öffnen eines Billet doux, dem hastigen Rückzug in die privaten Gemächer, um sich wieder zu fangen. Vielleicht fühlt dieses arme, zur Ehe verdammte Geschöpf das Gleiche für mich und hat mich schon die ganze Zeit über beobachtet. Das würde alles erklären. Während ich mir Rouge auf die Wangen stäube, fasse ich den Entschluss, Lucretia zu beobachten, um zu sehen, ob meine Theorie sich als richtig erweist. Und ich bin bereit, zu warten – denn Zeit haben wir im Überfluss. Ich drehe den Kopf zu Seite und muss feststellen, dass die salzigen Passatwinde die Kringel und Locken meiner Perücke zerwühlt haben. Sie sieht schlaff und stumpf aus, ich werde sie noch vor Sonnenuntergang neu pudern müssen. 58
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er Wind von Steuerbord frischt auf, und die Batavia jagt über die Wellen, sodass sich viele in die Kabinen zurückgezogen haben. Das stechende Blau des Horizonts ist milchig geworden, und immer wieder schießt weiße Gischt über das Deck. Lucretia habe ich seit jenem ersten Treffen nicht wieder ge‐ sehen. Heute Morgen beim Verlassen der Messe läuft mir Zwaan– tie auf ihrem Weg zur Poop in die Arme, und ich frage sie, ob ihrer noblen Herrin irgendetwas fehle. Sie reißt den Blick von ihrem Kapitän los und sieht mich ungeduldig an. «O nein, Herr», antwortet sie. «Meine Herrin ist gesund und munter, aber äußerst beschäftigt.» So, es gibt also einen Verehrer, der ihre Zeit in Anspruch nimmt. Natürlich, denn ohne Grund würde sie mich kaum verschmähen. Doch als ich Zwaantie einen Gulden zustecke, um Näheres zu erfahren, stellt sich heraus, dass ihre Herrin tatsächlich sehr beschäftigt ist. Es gibt noch andere, die Lucretia brauchen, die nach ihr ru‐ fen. Andere, die von ihrer Stärke zehren. Zum Beispiel die Frau eines Kanoniers, anämisch und wund, die seit Wochen nichts als Portwein und Wasser zu sich genommen hatte, ausgezehrt von einer rätselhaften Seekrankheit. Und deren Kind, das mit jedem Tag weniger wurde, während es mit dürren Lippen an ihren Brüsten sog. Eine tödliche Kolik, und kein Opiat der Welt konnte helfen, und auch nicht die 59
Frauen, die es zu stillen versuchten, während das eigene wohlgenährte Kind warm in ihrem Schöße schlief. Niemand, außer vielleicht Lucretia, die es auf die Arme hob, ihm Pfeil‐ wurz und Branntwein verabreichte und was immer sonst es bereit war aufzunehmen. Das Kind wimmerte und zupfte an ihrem Kleid, bis seine Augen weit und starr wurden und sich seine Hände zu Fäusten verkrampften. Tod und Überlebende. Und jedes Mal erklimmt der Pfarrer mit ängstlichem und widerwilligem Gesicht die Poop und klammert sich fest an die Reling. Er schlägt sein kleines schwarzes Buch auf und räuspert sich. Wieder eine Seebestattung. In der Abenddäm‐ merung läutet einmal mehr die Schiffsglocke. Arme, tapfere Lucretia. Dann ist da Claudine Patoys, die unter Lucretias starken Händen ein gesundes, blauäugiges Mädchen zur Welt ge‐ bracht hat; Sussie Fredicxs, die sich an einem Lukendeckel gestoßen und eine schwere Kopfverletzung zugezogen hat, und unzählige Wunden und Wehwehchen, die nach Salben und Pflastern von Frauenhand verlangen. «Und wenn sie nicht bei den Frauen ist», vertraut Zwaan– tie mir an, «schreibt sie bis tief in die Nacht in ihr Tageuch.» Ein Tagebuch. Nicht das Logbuch eines Forschers, der Küsten und Untiefen, Felsen, Flussmündungen, Buchten und Kaps verzeichnet, sondern die Gedanken einer Frau, nicht weniger. Ich frage mich, wie viel diese Zofe verlangen würde, es an sich zu bringen. Denn ich würde mich von vielen Gulden trennen, um Lucretias Geist und seine Früchte erforschen zu können. 60
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ir haben die Hauptschifffahrtsroute verlassen, und seit Tagen gleitet der Verband auf dem Rücken der Wogen dahin. Die Takelage wirft Schattenmuster wie Sche‐ renschnitte auf die sonnenbeschienenen, windgebauschten Segel. In deren Schatten sitzen die Seeleute in Gruppen auf dem Hauptdeck und zupfen Werg. Seit einiger Zeit geht die Rede vom Einsatz des Spanischen Besens, offenbar eine Methode, das Unterwasserschiff zu reinigen, denn vom Bug hängt mittlerweile dicker, glitschiger Tang, und an der Wasserlinie der Batavia treiben dunkle, grünliche Ranken im Meer. «Spanischer Besen.» Ich habe den Ausdruck noch nie gehört. Bei seinen seltenen Spaziergängen an Deck blickt sogar unser Kommandant verwirrt. Der Stellvertreter der Compagnie verbringt die meisten Tage, von der Ruhr geschwächt, in seiner Kabine, sodass der Schiffer die höchste Autorität an Bord ist. Die Mannschaft spottet, der Kommandant habe die Seekrankheit, das mal de mer, und seine Leber sei so schwach wie die der Kaufmanns‐ weiber, die auf dem Decke liegen und sich ihre Taschen‐ tücher an die Lippen pressen. Auch der Pfarrer lässt sich nur selten blicken, außer natürlich zu den Mahlzeiten, wo er seine Ration hinunterschlingt wie ein Straßenköter. Seine endlosen Psalmrezitationen und die geflüsterten Gebete bei Tische zerren an meinen Nerven. 61
Was der Kommandant braucht, ist eine dreifache Dosis Laudanum. Er muss die Oberhand zurückerlangen. Für seine kleinlichen Vorschriften und Beschränkungen in Bezug auf Bierrationen, privaten Handel und Amsterdamer Hafenbordelle ist ihm die maßlose Verachtung des Schiffers sicher. Aus ganzem Herzen verabscheut der die abgünstige Abstinenz des Kommandanten. Wann immer der ihm Wie‐ sung gibt, sich in die Kajüte zu begeben und seinen Rausch auszuschlafen, lacht unser trinkfester Kapitän ihm ins Gesicht. Es mangelt an Loyalität zwischen den beiden. Und die Mannschaft, so scheint mir, ist in letzter Zeit reizbar, gallig geworden. Der Kommandant ist schwach. Er ist nicht der Richtige, das Kommando über den Schiffs verband der Compagnie und ihr Gold zu führen. Ab und an gefalle ich mir darin, mich an seine Statt zu träumen, ich, Generalkapitän dieses Flaggschiffes, Beför‐ derer der holländischen Herrschaft über die Weltenmeere. Und doch muss ich, der ich zum Herrscher geboren wurde, und in dessen Sternen steht, dass ich Reichtum erlangen und unter den Menschen zum Kaiser gewählt werde, muss ich in diesem floh verseuch ten Verschlag schmoren und jeden Tag in der Messe zwischen ordinärem Pöbel Platz nehmen, während unser Kommandant mit seiner Perücke vor aller Augen jeden Begriff von Autorität ins Lächerliche zieht. 62
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ei meiner Morgenpromenade auf dem Hauptdeck schlendere ich am Ersten Steuermann vorbei, der im Schneidersitz im Schatten eines Segels hockt und in einen gelblichen Walzahn den Bug der Batavia schnitzt. Als ich mich nähere, wirft er mir einen verschlagenen Blick zu. «Habe ich Euch schon von meinem Kapsturmvogel er‐ zählt?», sagt er und blinzelt in die Sonne. «Drall wie eine En‐ te ist er, von der Farbe des Schiefers, aber mit einem zinn‐ oberfarbenem Kamm und Federn, gespreizt wie ein offener Fächer.» Ich mache eine höfliche Verbeugung und gehe weiter. Doch der seltsame Walzahnschnitzer erhebt sich und folgt mir. «Nach meinem Dafürhalten jedoch», fährt er fort, «sind meine zwei Papageien aus Panama das Prachtvollste, was die gefiederte Rasse zu bieten hat.» Er reibt den Walzahn an seinem Ärmel blank. «Von edelstem Purpur der Kopf, krokusgelb der Hals, und erst die exquisite Färbung der blutroten Brustfedern, der scharlachrote Schwanz und die grünen Schwingen.» Er lächelt verzückt. «Sie werden mir ein hübsches Sümm‐ chen einbringen, wenn sie fertig sind.» Er lässt den Blick über das Deck schweifen. Dies ist die Stunde des Müßiggangs. Zu zweit oder in Gruppen stehen die Soldaten beisammen und vertreiben sich die Zeit mit einer Partie Pikett und müdem Geschwätz. «Fitz mein Name, Mijnheer», flüstert er. «Das Ausstopfen von Vögeln ist mein Zeitvertreib.» 63
Dieses neue Leben, das ich hier führe, kommt mir vor wie ein Traum. «Kaliumbichromat verfestigt das Gewebe, ohne es spröde zu machen, und Glycerin hält Augen, Schnabel und Krallen feucht und frisch», sagt er mit einem hastigen Blick über die Schulter, «aber nach meinem Dafürhalten bringt nichts so gute Ergebnisse wie feines Arsenpulver.» Arsen. Da verschwendet dieser Narr die geheimen Kräfte dieses Pulvers an ersoffene Möwen. «Warum erzählt Ihr mir das?», frage ich. «Nun, Mijnheer, mein Bruder der Schiffer ist ein großer Bewunderer Eurer Zunft», zischt er. «Er wünscht Euch zu sehen, Mijnheer.» Und er ist verschwunden. ■ Später bereite ich mir in der Abgeschiedenheit meiner Ka‐ bine eine kleine Opiumpfeife. Der Schiffer bittet also um ein Gespräch. Sucht den Rat eines Apothekers und Arsen‐ händlers. Signore Syphilis wird auf seinem Schiff umgehen. Oder der Schiffer und seine Männer träumen von dem Gold, das in den Laderäumen verborgen liegt. Von einem neuen Leben in Amerika, Brasilien, Valparaiso. Ihre jetzige Lage muss ihnen mehr als verhasst sein. Den Weisungen des steifen, spröden Kommandanten gehorchen zu müssen, der vorn nicht von achtern unterscheiden kann. Valparaiso. Welcher Mann von klarem Verstand würde zaudern? Arsen habe ich reichlich. Mehr als genug, um tausend Vö‐ gel zu präparieren und die Federn zahlloser Albatros‐ 64
schwingen geschmeidig zu halten. Merkwürdig, diese Begegnung mit Fitz. Es hatte den An‐ schein, als wollte er mir etwas mitteilen. Sein Gerede über ausgestopfte Vögel klang einstudiert, inszeniert wie eine Unterhaltung in geheimem Code. Und dann seine Bemer‐ kung über Arsen. Fallen gelassen wie nebenbei. Und diese kleinen, blauen Augen, die in meinem Gesicht nach einer Regung forschten. Aber ich weiß meine Gedanken zu verbergen. Es ist offensichtlich, dass es Parteiungen gibt an Bord. Jeder Dummkopf kann die Spannung spüren. Obwohl die Buren nicht fern ist und die Soldaten auf Deck patrouillieren und Tag und Nacht die Laderäume bewachen, stellt die unermessliche Anhäufung von Schätzen an Bord der Batavia für uns alle eine Versuchung dar. Wie viel mehr für die Matrosen, vierschrötige Kerle, die mit wenig mehr als einem Gulden in der Tasche zu ihren Eheweibern zurückkehren, weil die überteuerten Bier‐ und Essens‐ rationen am Ende jeder Reise von der Heuer abgezogen werden. Kein Wunder, dass die meisten Seeleute auf den Schiffen der Compagnie gepresst worden sind. Nicht mal der grünschnäbligste Ausreißer würde freiwillig ein solches Leben wählen. Dabei könnte schon eine Hand voll Münzen ihre Familien auf Jahre hinaus mit Kapaunen und Wein versorgen. ■ Ich hingegen, der ich den größten Profit aus meinem Arsen ziehen könnte, würde ich es auf diesem gärenden Kahn zu Höchstpreisen verkaufen, ich könnte mich, mit Lucretia viel‐ 65
leicht, in eine heitere Zitadelle am Ende der Welt zurückzie‐ hen. Dort würde ich Torrentiusʹ gescheiterten Traum zu neuem Leben erwecken, würde neue Jünger um mich scharen und das Credo meines Freundes in die Welt tragen: Lust und Genuss in all ihren Formen, ohne Hemmung und Hindernis. Tagelang kreisen meine Gedanken um diese Angelegen‐ heit. Der Schiffer ist ein stolzer Mann. Statt ohne Umschwei‐ fe an mich heranzutreten, wählt er Fitz zu seinem enigmati‐ schen Emissär. Unser Gespräch an Deck hätte mühelos be‐ lauscht werden können und hat doch zu keinem Zeitpunkt das Misstrauen der Soldaten erregt. Der Schiffer ist schlauer, als ich dachte. Fitz hat mir einen tollkühnen Plan eingegeben, das wird mir immer deutlicher bewusst. Einen Plan, der uns allen zu‐ träglich ist. Ich sollte mich mit dem Schiffer treffen und ihm auf den Zahn fühlen. Ich werde ihm erläutern, dass ich für einen be‐ trächtlichen Anteil am Gold der Compagnie bereit wäre, mein Arsenpulver zu teilen. Drei Teile müssten genügen für die Soldaten, Kaufleute und Matrosen, die auf dem letzten Stück unserer Reise nicht mehr erwünscht sind. Ich werde ihm sagen, dass die Luke beim ersten Signal zu vernageln ist und dass er zur Vorsicht an die Männer, denen er vertraut, Schwerter ausgeben soll, die sie in ihren Hängematten zu verwahren haben. Dankbar und wie ein wahrer Freund wird der Schiffer meine Hand nehmen und entgegnen, dass er die Batavia unter seinem Kommando an jeden Ort dieser Welt bringen kann, und dass es nicht mehr als dreißig Mann braucht, sie 66
einzunehmen. ■ Diarrhöe, Malariafieber, die verfallenen, mauerlosen Städte Ostindiens, Pestgestank in allen Straßen, Staub, Hitze und Fliegen, all das ist nichts für mich. Gebt mir den nächtlichen Duft von Zitronenbäumen vor fernen Piratenküsten und den einen oder anderen Handelssegler der Compagnie, den es zu entern gilt. Ich bin überzeugt, dass mir das Gelingen meines Plans be‐ reits vorhergesagt wurde. «Du bist ein Mensch und kein Gott», pflegte Torrentius zu sagen, «und doch betrachte dich als Ebenbürtigen Gottes, denn du wirst Gold und Silber in großen Mengen besitzen.» 67
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ir befinden uns am Äquator oder nur noch wenige Grade von ihm entfernt. Noch immer gleiten die Tage in der äquatorialen Windstille dahin. Fliegende Fische, groß wie Heringe, ziehen am Heck der Batavia vorbei. Heute nähert sich einer der Küchenjungen dem Pferch der Sauen, ein gewetztes Messer in der Hand. Die Ferkel, glän‐ zend wie Schweineschmalz, drängen sich am Bauch der Muttersauen zusammen, sie ahnen nichts von ihrem Schick‐ sal. Der Junge öffnet das Gatter und zwängt sich hinein. Die Sauen heben die Rüssel in die Luft, sie erwarten, gefüttert zu werden. Doch der Junge packt eines der Ferkel beim Nak‐ kenspeck. Es quiekt auf vor Schreck und Schmerz. Eine Sau rappelt sich schwerfällig auf die Füße. Schnell wie der Blitz ist der Junge aus dem Verschlag. Er drückt seine Beute aufs Deck und hebt das Messer. Die Klinge blitzt in der Sonne. Das Ferkel zuckt und zappelt unter seinem Fuß und quiekt in höchsten Tönen, eindringlich und mitleiderregend wie ein weinendes Kind. Die Sauen laufen schnaubend auf und ab und stoßen mit den Schnauzen gegen die Holzpfähle des Verschlags. Mit einer einzigen schnellen Bewegung schnei‐ det der Junge dem Ferkel die Kehle durch und macht dem Lärm ein Ende. Blut schießt aus der klaffenden Wunde. Der Junge fängt den zischelnden Strom in einem Eimer auf. Ich lächle. Gute Arbeit, sage ich. Er errötet vor Stolz. ■ 68
Für einen Mann von erlesenem Geschmack erweist sich das gebratene Milchferkel auf der heutigen Speisekarte als besonderer Leckerbissen, zart und aromatisch. ■ Fast jede Nacht beobachte ich, wie der Polarstern an den dunkelnden Himmeln tiefer und tiefer sinkt. Der Wagen hat bereits den zweiten Stern seiner Deichsel verloren, und der Orion berührt den Horizont. Der zunehmende Mond – heute Abend eine durchscheinende, schwefelfarbene Sichel – liegt auf dem Rücken, beide Spitzen auf gleicher Höhe. Wir sind weit gereist. 69
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ir segeln vor der Küste der Table Bay, als ich mich dem Schiffer zum ersten Mal mit der Absicht nähere, ihn in meine Pläne einzuweihen. Er steht breitbeinig auf der Poop und starrt finster in die Ferne. Von Zeit zu Zeit geht er mit großen Schritten zur Reling und spuckt ins Wasser. Als er mich sieht, nickt er. «Sie liegt ruhig in der See», brummt er. «Den Händlern drehtʹs den Magen um, dabei rollt sie nur ganz leicht.» Ich hefte den Blick auf den malvenfarbenen Küstenstreifen, der am Horizont auszumachen ist, und zwinge die Übelkeit in meiner Kehle nieder. Wie ich mich danach sehne, wieder festen Grund unter den Füßen zu haben. Aber der Schiffer teilt mir mit, dass die Batavia nur Vorräte an Bord nehmen und nicht im Hafen festmachen wird. Gerade als ich mich ihm anvertrauen will, marschiert er zur vorderen Reling der Poop. «Duff!», brüllt er. Ein verängstigter Bootsmann erscheint im Blickfeld. «Käptʹn?», stammelt er. «Ruf den Lotgasten, wir kommen allmählich in flaches Wasser.» Duff hastet davon. Nicht übel: Flaches Wasser. Das Knarren und Knarzen der Planken bei jedem Wellenschlag lässt befürchten, dass wir jeden Moment untergehen, und da ist es gerade recht, wenn wir nicht allzu tief sinken. Der Lotgast ist ein kleiner, knorriger Mann. Ich sehe zu, 70
wie er behände auf eine der Rüsten klettert, jene wenig Ver‐ trauen erweckenden Planken, die gut zwei Fuß über das Schiff hinausragen. Er stellt sich ganz an die äußere Kante, wo gewaltige Eisenlaschen entlanglaufen, die, wie man mir sagte, «Rüsteisen» genannt werden und die über die Wanten den Mast halten. Dort belegt er ein Tau, das er sich um die Brust wickelt und unter beiden Armen hindurchführt, und dann lehnt er sich in diesem wackligen Geflecht hinaus über die wogenden Weiten des Ozeans, wobei er das Lot, das an einem reichlich unhandlich aussehenden Tau mit Markie‐ rungen in Form von Stoffstreifen und Lederbändern hängt, wie ein Pendel schwingen lässt. Unter ihm türmen sich die gewaltigen, gischtgeflockten Wogen, doch er lehnt sich in den Wind und schwingt das Lot hoch über dem Kopf. Mit einem Male neigt sich das Deck, steht steil wie ein Hausdach. Ich klammere mich an die Reling, von plötz‐ lichem Schwindel übermannt. Der Schiffer bellt Order. Er wird Ruhe brauchen, um sich meinen Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen, deshalb hat es wenig Sinn, jetzt mit ihm zu sprechen. Ich werde warten, bis wir wieder auf hoher See sind, bevor ich erneut das Gespräch mit ihm suche. ■ Später, in seiner Kajüte, schenkt mir der Schiffer mehr Auf‐ merksamkeit. Spanischen Wein im Blut, lehnt er sich in sei‐ nem Stuhl zurück und taxiert mich, als deute er die Wind‐ böen in einem Segel. «Eure Alchemie, Mijnheer, ist eine Wis‐ senschaft voller Geheimnisse.» 71
Ich mache eine höfliche Verbeugung und schenke ihm nach. Er entfaltet eine alte Seekarte und wandert mit teer‐ beschmutztem Finger liebevoll über die verblassten Linien. «Die Welt ist rund, Mijnheer», sagt er. «Kein Zweifel.» Bei der nächsten Karaffe erzählt er mir, dass er mit seinem geheimen Wissen über Geographie und Navigation eben‐ falls ein Alchemist sei, dass er den Abstand von Mond und Sonne oder einem Stern berechnen könne, jede Sekunde jeder Stunde in einem einzigen Sandkorn, jede Welle und jede Woge des Ozeans, die Spannung eines Tampens, den plötzlichen Riss in einer Spant, den Wind in seinem Gesicht, die Melodien im Rigg, die Richtung und die Zyklen eines jeden vorüberfliegenden Sternbildes. Er legt beide Hände auf die Karte und beschreibt, wie sein Held Mercator im Jahre 1541 sphärische Linien auf die Ebene projizierte und auf allen Weltkarten die Darstellung des runden Globus möglich machte; wie 1599 anhand dieser Projektionen meridionale Linien berechnet wurden, was zur Folge hatte, dass auf einer flachen Karte Richtungen und Kurse als Gerade eingezeichnet werden konnten; wie bereits 1594 der Breitengrad anhand des Sonnenwinkels berechnet wurde, und wie seit 1625 für alle Aufgaben der Navigation Logarithmen zur Anwendung kommen. «Wir haben es weit gebracht, Mijnheer», sagt er. Ich nicke zustimmend. «Unsere Gewerbe haben vielerlei Gemeinsamkeiten», sage ich. «Beide ziehen sie ihren Ge‐ winn aus genauesten Beobachtungen.» «Jetzt gilt es nur noch, den richtigen Moment abzupassen», antwortet er. Wir schlagen ein. 72
«Es wird zu unserem Vorteil sein», sagt er. «Zumal dieser Tage in Ostindien ohnehin kaum noch Geld zu machen ist.» Vorher jedoch, erklärt er, müsse die Batavia den Verband abschütteln, der seit Amsterdam ihr ständiger Begleiter ist. «Wenn wir erst mal weit genug in südliche Gewässer vor‐ gedrungen sind», flüstert er, «werden die Monsunstürme sie schon vom Kurs abbringen.» Ich schlage vor, einem der Küchenjungen das Arsen zu übergeben, damit er es gegen einen gewissen Lohn in die Töpfe mischt. «Es ist ein feines, grünes Pulver», sage ich. «Ich verwende es seit vielen Jahren, und es hat mich noch nie im Stich gelassen.» Er wirft mir einen verschlagenen Blick zu. «Und die Frauen?», frage ich. «Es gibt da zwei Weibsbilder an Bord, die wir verschonen werden.» Wir lachen. ■ Mir ist nicht entgangen, dass Lucretia stets spät zu den Mahlzeiten erscheint. Mit geröteten Wangen betritt sie die Messe und richtet sich hastig mit einigen Nadeln das Haar. An ihrem Platz zwischen den Kaufleuten und deren ge‐ schwätzigen Weibern lässt sie die unendlich langweiligen, immer gleichen Gespräche über sich ergehen, die immer gleichen Klagen, die aufbranden, sobald das Essen serviert wird. Heute wird zu meiner Belustigung an ihrem Tische ein ab‐ 73
scheulich aufgedunsener, weißlicher Fisch aufgetragen. Das Zusammenleben auf einem Schiff ist derart beengt, dass wir allesamt das Lauschen zu einer wahren Kunst verfeinert haben. Es ist die einzige Abwechslung, welche die Batavia zu bieten hat. Also lehne ich mich zurück und lausche. «Das ist der größte Kabeljau, den ich je gesehen habe», ver‐ kündet die Gattin eines Goldhändlers aufgeregt und pikst mit der Gabel in den Fisch. «Ich mag mich irren», schaltet eine andere sich ein und lässt einen schwarzen Spitzenfächer aufschnappen, «aber stammt der Kabeljau nicht aus dem Atlantik, während wir uns doch wohl im Indischen Ozean befinden?» Sie starrt ihre Nachbarin an, die in ihr Taschentuch würgt, das sie wie einen Spucknapf in beiden Händen hält. «Kabeljau, da bin ich ganz sicher», sagt die Goldhändlers‐ gemahlin und sticht mit dem Messer in den blutleeren Fisch. Mit einem Lächeln blickt Lucretia in die Runde. Sie teilt ihren Tischgenossen mit, dass es sich bei der fraglichen Speise um Portugiesische Makrele handle, die den Bewoh‐ nern von St. Jago als Delikatesse gelte. «Unsinn», sagt die Goldhändlersgemahlin. «Ich weiß es nur deshalb», sagt Lucretia, die von dem bös‐ artigen Unterton in der Stimme der anderen verletzt scheint, «weil ich heute Morgen gesehen habe, wie die Seeleute ein Netz einholten, und ich habe sie gefragt, was sie gefangen haben.» Alles schweigt. «Ihr habt mit den Matrosen gesprochen?», flüstert fas‐ sungslos die Goldhändlersgattin. 74
Lucretia faltet ihre Serviette auseinander. «Liebes Kind», gackern die Gattinnen und gaffen sie mit großen, forschenden Augen an. «Wo soll das noch hinfüh‐ ren?» Zwaantie wirft ihrer Herrin einen gehässigen, triumphie‐ renden Blick zu und kichert hinter vorgehaltener Hand. Wie sehr muss sich Lucretia danach sehnen, zu entfliehen, hinauszueilen und die Meereswinde zu spüren, die ihr das schwere Haar aus dem Nacken blasen. Der Schiffer am Kopfende des Tisches vermag den Blick noch immer nicht von ihr zu wenden, obwohl Zwaantie ihn mit ihrem einfältigen Lächeln traktiert. Sie hat die Bänder ihres Ausschnitts gelöst und beugt sich in aufreizender Pose vor, um ihren prallen und sahnig‐ weißen Busen zu zeigen. Doch bei unserem Schiffer ist ihre Koketterie vergeudet, denn der starrt weiterhin Lucretia an wie ein liebestoller Narr. Wie würde es ihm gefallen, eine Dame von Rang seinem Willen zu unterwerfen, ihr das hochmütige Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, ihrem Gatten Hörner aufzusetzen, vor der Mannschaft mit seiner Manneskraft zu prahlen. Doch stattdessen wird ihm die ungebetene Aufmerksamkeit einer Zofe zuteil, wie sie in jeder Hafentaverne für billigen Tand zu haben ist. Die Falte zwischen Zwaanties Augenbrauen, der trotzige Zug um ihre Lippen, wenn sie ihre Nebenbuhlerin anschaut, verraten mir, dass sie das sehr genau weiß. Zu meiner großen Zufriedenheit schenkt Lucretia den lüs‐ ternen Blicken des Schiffers weiterhin keine Beachtung. 75
Seine ungehobelte Verwegenheit, die weiße Narbe auf sei‐ ner Wange, seine unablässig von der Poop gebrüllten Befeh‐ le geben diesem fremdartigen, schwimmenden Dorf, in dem sie sich befindet, lediglich die nautische Würze, mehr nicht. Ich lächle. Unerwiderte Liebe ist für einen Bordellgänger wie ihn zweifellos eine ganz neue und verwirrende Erfah‐ rung. Lucretia schiebt ihren Stuhl zurück, bittet die Anwesen‐ den, sie zu entschuldigen, und verlässt den Tisch. Sobald sie der Runde den Rücken gekehrt hat, schaut Zwaantie zum Schiffer hinüber und kichert. Dann schenkt sie sich nach und verschlingt den Fisch auf dem Teller ihrer Herrin, den diese nicht angerührt hat. Ich folge Lucretia nach draußen. Zu spät. Sie hat das Mitteldeck überquert und wendet sich nach achtern, als der Kommandant aus der Kajüte tritt. Unser Befehlshaber hat sichtlich abgenommen. Er wirkt ausgezehrt, abgemagert, verhärmt, und er stützt sich auf ei‐ nen Gehstock aus Elfenbein. Er deutet eine steife, militä‐ rische Verbeugung in Lucretias Richtung an und zuckt vor Schmerz zusammen. Statt mit einem ihrer Stellung und der Form genügenden Knicks zu antworten, lässt sie ihr hoch‐ mütiges und herablassendes Gebaren fallen, eilt an seine Seite und schiebt einen Arm unter den seinen, als wären sie die allerbesten Freunde. In trauter Zweisamkeit schlendern die beiden auf dem Mitteldeck auf und ab, sie angeregt plaudernd, er gewichtig mit dem Kopf nickend, wobei er mit seinem Stock das Tempo angibt. Als sie an einer Gruppe Matrosen vorbei‐ gehen, die auf dem Steuerbord‐Hauptdeck Trossen ausle‐ 76
gen, stoßen die Männer sich gegenseitig in die Rippen, zwinkern sich zu und tauschen wissende Blicke. Einer hebt die Hand zu einer obszönen Geste, die anderen lachen. Jetzt lehnt sich das unmögliche Paar im Schatten des Groß‐ segels an die Reling. Sollte der Schiffer Zeuge dieser verach‐ tenswerten Szene werden, er wäre alles andere als erfreut. Um die beiden belauschen zu können, verberge ich mich hinter einem Stapel Tauwerk. «... kein richtiges Tagebuch», sagt Lucretia. «Aber ein Be‐ richt unserer Reise ist es schon.» Der Kommandant betrachtet sie mit einem aufrichtigen, zärtlichen Dackelblick. «Ich hoffe, hier an Bord gibt es für eine Dame genügend Dinge, die festzuhalten sich lohnt.» «Aber ja», antwortet sie. «Ich habe hier in einem einzigen Monat mehr von der Welt erfahren als in meinem ganzen Leben zuvor.» In atemloser Hast beschreibt sie, wie sie ihre ersten Tümm‐ ler hat fliegen sehen; Albatrosse, die jede Welle mit den Flü‐ geln streifen; die großen, flachen Köpfe der Haie, die dem Schiff bedrohlich nahe kommen, Vorboten des Todes, wie die Matrosen ihr sagten. Ihre Seekiste aus Eichenholz berge inzwischen eine Sammlung von Möwenfedern und Muscheln, die mit Fischernetzen aus den Tiefen gezogen wurden, und sogar einen Walzahn, den der Erste Steuer‐ mann, der Bruder des Kapitäns, ihr als Glücksbringer in die Hand drückte. Bei diesen Worten zuckt der Kommandant zusammen. Ich bemerke einen gequälten, resignierten Ausdruck um seine Augen. «Madame, zu Eurer eigenen Sicherheit», sagt er mit ge‐ 77
senkter Stimme und wendet sich mit Mühen, um ihr in die Augen zu sehen, «flehe ich Euch an, sprecht nicht mit den Männern, und vor allem meidet den Kapitän und Fitz.» Dies ist die Stunde, zu der die Soldaten, die keinen Dienst tun, aus dem abscheulichen Gestank des Unterdecks entlas‐ sen werden. Als er sie aus der Luke klettern sieht, stößt der Kommandant einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Unser fiebernder Führer ist also des Glaubens, seine skor‐ butkranken Söldner könnten ihn schützen – der Narr. «Die Matrosen», fährt er fort, «sind ein rauer Menschen‐ schlag und nicht daran gewöhnt, Frauen an Bord zu haben.» Lucretia lässt ein ungläubiges Lachen vernehmen. Sie glaubt ihm nicht. Der Kommandant stützt beide Hände auf den Gehstock, damit sie nicht sieht, wie sie zittern. «Aber zweifellos, Mijnheer, wollt Ihr mir meine Freiheit nicht verwehren», sagt sie. «Sonst hätte ich tatsächlich nichts in mein Tagebuch zu schreiben als Berichte über das Wetter und die langweiligen Fortschritte der Petit‐point‐Stickereien der Damen.» Seufzend schüttelt der Kommandant sein müdes Haupt und erinnert Lucretia daran, dass er ihrem Gatten verspro‐ chen habe, auf dieser Reise ihr Beschützer zu sein, und eines sei gewiss, er werde zu seinem Worte stehen. Er hustet milchigen Schleim in sein Taschentuch. Auf sei‐ nen Brauen perlt der Schweiß, die frisierten Locken seiner Perücke sehen welk aus. Der Kommandant erzählt, der Generalgouverneur spräche in den höchsten Tönen von ihrem Gemahl und habe ihm so‐ gar anvertraut, dass dessen Wahl in den Verwaltungsrat nicht mehr lange auf sich warten lassen werde. Lucretia 78
habe einen guten Mann geheiratet und er werde höchst‐ selbst dafür sorgen, dass sie den Hafen wohlbehalten er‐ reiche. Große Worte. Doch bei seinem verdörrten, fahlen Ausse‐ hen würde ich nicht einmal darauf wetten, dass er selbst das Ende der Reise erlebt. Es herrscht eine wundersame Sterb‐ lichkeit auf diesen Schiffen, wie man sagt, und in den ersten Wochen werden viele vom Malariafieber hinweggerafft. «Es wäre mir eine außerordentliche Freude», sagt er und ergreift ihre schmale Hand, «wenn Ihr mir heute Abend die Ehre geben wolltet, mit mir in der Großen Kajüte zu speisen. Eure Gesellschaft würde meine Stimmung heben.» Ohne Zweifel wird sie, die meine bescheidene Bitte um ein vollkommen statthaftes Rendezvous auf dem Mitteldeck der Batavia, in aller Öffentlichkeit und vor aller Augen, die ein so harmloses Rendezvous ablehnte, einem solchen Ansinnen eine Absage erteilen. Was denkt sich dieser Mann – diesem zarten Ding, der naiven jungen Braut seine Protektion zu offerieren und sie dann in seine privaten Gemächer zu locken, ohne Beisein einer Anstandsdame? Denn ihre lüs‐ terne Zofe ist ja wohl kaum als eine solche zu betrachten. Ein Aufschrei würde die Batavia vom Heck bis zum Bug erschüttern, die Gerüchteküche würde brodeln. Schon sehe ich auf dem Achterdeck zwei Frauenzimmer stehen, die zu Lucretia hinübergaffen und hinter ihren Fächern Bösartig‐ keiten tuscheln. Doch Lucretia hebt den hübschen Kopf und lächelt. Die Grübchen auf ihren Wangen lassen für einen flüchtigen, schmerzhaften Moment das Bild dieses Weibes als Kind vor mir erstehen. Vertrauensselig, verletzlich und gewinnend, 79
ein Mädchen, das sich von einem Fremden Bonbons in bun‐ tem Papier schenken lässt. Sie erkennt nicht die Gefahr, in die sie sich begibt. Der Kommandant und ich warten auf ihre Antwort. «Ich nehme die Einladung mit Freuden an», sagt sie. «Aber bitte erlaubt mir, Euch die Güte zurückzuzahlen. Ich möchte Euch im Tausch etwas anbieten. Schließlich sind wir eine Nation von Kaufleuten.» Oh, Lucretia, das ist dreist. Aber ich werde deine Tollheit nicht dulden. Fitz eilt vorüber, und als er mich in dieser be‐ schämenden Position sieht, hinter einem Stapel Tauwerk kauernd, setzt er ein breites Grinsen auf und winkt mir zu. Ich gebe vor, die Schnalle an meinem Schuh zu richten. Sonnenlicht flackert auf Lucretias Haar. Ein Lächeln um‐ spielt ihre Lippen. Mir wird schlecht angesichts dieser Szene. Ängstlich erwarte ich ihre nächsten Worte. Der Kom‐ mandant beugt sich gebannt zu ihr. «Vielleicht, Mijnheer», hebt sie mit schüchternem Blick an und spielt mit dem Siegelring an ihrem Finger, «vielleicht würdet Ihr mir erlauben, Euch zu pflegen.» So, diese Tochter eines Arztes zieht meinem Berufsstand die Kunden ab, gewährt diesem altersschwachen Wrack von einem Mann eine Gunst, die sie mir verweigert. Ich habe mich in ihr getäuscht. Seht, wie lebhaft sie in seiner Gegen‐ wart ist, wie sie sprüht. Kein Anflug frigider Blasiertheit in ihrem leichten, liebenswürdigen Geplauder. Das schamlose Flittchen hat den Kommandanten um den Finger gewickelt, er schnurrt wie ein Kater. Bei mir hingegen – sehen wir den Tatsachen ins Auge – bei mir zuckt sie vor jeder Berührung zurück, hat mir sogar ihre Hand entrissen. 80
«Nur um Euch in Sicherheit zu wissen, nehme ich Euer freundliches Angebot an», sagt er mit dümmlichem Grinsen. «Aber seid unbesorgt, meine Krankheit ist gewiss keine töd‐ liche.» Darüber zu befinden, sollte er mir überlassen. 81
A
n Bord eines Schiffes machen Neuigkeiten schnell die Runde. Lucretia empfängt nun regelmäßige Einladun‐ gen, in der Großen Kajüte des Kommandanten zu speisen. Es geht das Gerücht, dass sie sich beim Kommandanten lieb Kind macht, um den Aufstieg ihres Gemahls in den Ver‐ waltungsrat des Generalgouverneurs zu befördern, dass er bereits einige Empfehlungsschreiben verfasst und dem Paar sogar hochherrschaftliche Gemächer im Kastell von Batavia versprochen habe; manche glauben, dieser Gatte sei nichts anderes als eine dreiste Erfindung und Lucretia jetzt die Kurtisane des Kommandanten, die es einzig darauf abge‐ sehen habe, von dem privaten Verkauf der wertvollen Kunstgegenstände zu profitieren, die in den Laderäumen der Batavia lagern; andere halten Lucretia für eine Hexe, die das Zeichen Satans trägt, und behaupten, sie habe das Kind der kranken Frau getötet, denn in ihren Armen verschmähte es die Milch seiner Mutter und starb, das arme Würmchen. Wann immer Lucretia die Messe betritt, knuffen sich die Kaufleute und ihre Weiber gegenseitig in die Seite, und alles wird still. Als der Schiffer erfährt, dass sie in die Kajüte des Kom‐ mandanten übergelaufen ist, wendet er sich der Zofe zu und straft ihre Herrin mit kalter, unverhohlener Verachtung. Ehrgeizige, getriebene Lucretia, Tochter eines Arztes, die du dich in einem männlichen Metier versuchst, siehst du denn nicht, in welcher Gefahr du schwebst, so allein auf der Batavia, umgeben von Fremden? Und doch behandelst du uns alle unverändert mit der 82
nämlichen gedankenlosen Nonchalance, hast nicht einmal die Gezeitenwende bemerkt, die sich in Zwaantie vollzogen hat, weil sie sich dir überlegen fühlt, seit sie die Hure des Kapitäns ist. Lucretia will hoch hinaus, schließt ein Bündnis mit dem meistgehassten Mann an Bord und treibt ihren Spott mit meinem Berufe. Ich sehe sie vor mir, wie sie ihm die Stirn kühlt und ihm löffelweise Eibischöl einflößt. Welch Arroganz, sich allen anderen überlegen zu fühlen. Wenn wir den Verband verloren und das Schiff übernom‐ men haben, wird Lucretia mir danken, dass ich sie vor einem Schicksal bewahrt habe, das sie mit den Harpyien an ihrem Tische teilte. Stell es dir vor, Lucretia, werde ich sagen, das Leben dieser Gattinnen in den Tropen, ausgemergelt von der Hitze, ra‐ send vor Langeweile, und dann die schlitzäugigen Sklaven, deren Patois sie erlernen und mit deren Hinterlist und Faulheit sie sich tagtäglich herumschlagen müssen, weil wieder einmal hier ein Ring fehlt und dort ein Zinnteller. Stell sie dir vor, die endlosen, müßigen Nachmittage, wenn die heiße Luft auf deiner Haut klebt und der Fächer aus Palm‐ blättern keine Erleichterung bringt, den der dösende Dienst‐ bote betätigt, indem er hin und wieder an einem Seil zieht, das er sich um den Zeh gebunden hat. Du würdest auf einem Rat‐ tanstuhl liegen und deine Minzlimonade mit billigem Brannt‐ wein versetzen, der Kopf würde dir dröhnen vom Lärmen der Grillen auf der Veranda vor dem Haus, vom Knallen der Peit‐ sche des Vorarbeiters, vom Hauen und Hacken der Sklaven auf den Indigoplantagen. Es hätte dich in den Wahnsinn getrieben, Lucretia, dieses Leben, und ich habe dich gerettet. 83
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ast jeden Abend suche ich Ablenkung bei den Burschen der Compagnie, jener verwöhnten Elite Amsterdams – Wouter und seinen Freunden, die in der Messe ihre Gelage abhalten und eine Weinkaraffe nach der anderen ordern. Manchmal jagen sie die Stewards ein ums andre Mal in die Bottlerei. «Hinaus, Hunde und Katzen», brüllt De Beere. «Ihr habt hier lang genug die Herren gespielt, jetzt sind wir an der Reihe.» Der friedfertige Pelgrom reicht dem verwirrten Steward einen Gutschein und ordert mehr Wein. Die Jünglinge haben die größte Freude daran, vulgäre Ta‐ vernenlieder zu schmettern, die Nationalhymne und biswei‐ len, aber nicht oft, die getragene Melodie der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie. Ich erfreue mich an ihrer Gesellschaft, ihrer jugendlichen, faunischen Anmut. Zwar habe ich sie in meinen Plan nicht eingeweiht, doch ich habe beschlossen, diese edlen Ritter auf die letzte Reise der Batavia mitzunehmen. Das Leben auf ho‐ her See wird ihnen gut bekommen. ■ Unterwegs zum Abort höre ich aus dem Vorschiff verstohle‐ nes Gekicher. Ich klettere durch das Luk und sehe unseren Schiffer, die Hosen bis zu den Knöcheln heruntergelassen, wie er seine Buhle die Zofe umarmt und mit einer Hand in 84
ihren Unterröcken wühlt, die andere fest auf ihre Brust ge‐ presst. Jetzt drückt er sie vor sich auf die Knie, die Röcke über die Hüften geschoben, und nimmt sie – in der Stellung der Wikinger – mit einem einzigen Stoß von hinten, wobei er ihren Hinterbacken von Zeit zu Zeit einen ordentlichen, derben Klaps verpasst. Selbst ich bin beeindruckt von der Kraft, mit der er sie reitet, und in meinem Nacken prickelt der Schweiß. Ich bewundere auch die Abdrücke seiner Finger, die rot auf ihrer milchweißen Haut brennen, wo er mit flacher Hand zugeschlagen hat. Als Zwaantie jenen selbstvergessenen, schluchzenden Schrei ausstößt, den ich schon so oft vernommen habe, durch‐fahren Zuckungen den Schiffer, und mit einem letzten Schauder ist er am Ende. Keuchend fallen sie über‐ einander auf die Planken. Ich habe die Vorführung genossen und will mich gerade davonschleichen, als Zwaantie ihre braunen Kuhaugen unter den dichten Wimpern öffnet, ihren Liebhaber ansieht und zu sprechen beginnt. «Heute hat meine Herrin mich beschimpft, weil ich den Kabinenboden nicht mit Karbolsäure gewischt habe.» Sie seufzt und spielt gedankenverloren mit ihren Brustwarzen. Seltsam, dieses weibliche Bedürfnis nach Unterhaltung, wenn der Moment der Ekstase vorüber ist. Obgleich ein treuer Bewunderer des schönen Geschlechts, bevorzugte mein Freund Torrentius die Gesellschaft jener jungen Bordellknaben, die, schlank und ausgehungert wie streunende Katzen, in den finsteren Straßen Amsterdam umherwandern und im Dunkel der Nacht verschwinden, wenn der Liebesakt vorbei ist. 85
Auf ihren drallen Arm gestützt, redet Zwaantie sich in Fahrt. «In der Kabine wimmelt es nur so von Wanzen, behauptet sie, und wirft mit einer Bürste nach mir. Und dann – kann man es glauben? – heißt sie mich ein verkommenes, faules Flittchen.» Unser befriedigter Kapitän liegt auf dem Rücken und blickt schläfrig in den Sternenhimmel. Zwaantie bedenkt ihn mit einem ungeduldigen, verschla‐ genen Blick. «Also, die muss grad reden, wo ich mit Sicher‐ heit weiß, dass sie in den Kommandanten vernarrt ist. Sie verzehrt sich nach ihm, da gibtʹs kein Vertun.» Hier runzelt der Schiffer die Stirn. «Vernarrt?», fragt er. Mit unverhohlener Schadenfreude erzählt Zwaantie, dass sie ab und an einen Blick in Lucretias Tagebuch werfe, schließlich sei sie keine dumme Magd, sondern habe in der Dorfschule lesen gelernt und mehr Bildung genossen als viele dieser vornehmen, feinen Damen, die sie von morgens bis abends mit einer endlosen Liste von furchtbar dringen‐ den Aufgaben durch die Gegend hetzen. «Komm zur Sache, Weib», brummt der Schiffer. Zwaantie mustert ihn, bevor sie ihm offenbart, dass Lu– cretia sich den Kopf zerbreche, ob der Kommandant wohl verheiratet sei, und nur eine Seite später frage sie, ob es wohl eine Frau gebe, die ihn liebe und in mancher Nacht in den Armen halte – und wenn nicht, dass sie gern diese Frau wäre. Der Schiffer vernimmt die Worte mit finsterer Miene. Dann spuckt er verächtlich aus. «Ich habʹs immer gewusst, sie ist ʹne dreiste Hure, nichts weiter», donnert er. «Eine 86
Hexe, sogar mich hat sie eine Weile zum Narren gehalten.» Zwaantie lacht auf vor Freude. Endlich hat sie ihren Ge‐ liebten an der Angel, er hat ihr Gift geschluckt und ihre schöne Rivalin aus seinen Gedanken verbannt. Ich bin fest entschlossen, Lucretias Tagebuch an mich zu bringen und diesen Wahnsinn selbst zu lesen, denn ich traue ihrer Zofe nicht. Jetzt begutachtet der Schiffer die wollüstige Zwaantie, die warm und willig in seinen Armen liegt. Er hebt ihre zer‐ knautschten Röcke und inspiziert die scharlachroten Strie‐ men auf ihren drallen Hinterbacken und Schenkeln. «Deine hurende Herrin hat uns alle getäuscht», flüstert er und erkundet Zwaantie mit geübter Hand. «Und sie wird ihre Lektion erhalten.» Sie windet sich unter seiner Berührung und kichert. «Aber wie, Mijnheer?» «Das überlass nur mir», antwortet er und bedeckt sie mit Küssen. «Und sei unbesorgt, mein Püppchen, deine Herrin wird so bald nichts mehr zu lachen haben.» Ich überlege, ob man Lucretia warnen oder sie den Launen des Schicksals überlassen sollte. Heißt mich grausam, wenn ihr wollt, aber ich neige zu Letzterem. Abermals lässt der Schiffer seine Buhle vor sich knien. Zwar bin ich versucht, ihnen zuzusehen, aber es ist spät und ich überlasse sie ihren Spielen. Nach Zwaanties schrillem Schrei zu urteilen, würde ich vermuten, dass unser Schiffer diesmal den Wikinger hat sausen lassen und einen dem See‐ mann vertrauteren Einlass gewählt hat. 87
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ndlich kommt der Monsun mit einer steifer werdenden, salzgetränkten Brise näher, peitscht die indigoblauen Himmel und überschwemmt die Morgendäm‐ merung mit malvenfarbenem Licht. Jetzt gilt es, den besten Moment abzuwarten, um die Begleitschiffe abzuschütteln. Die steigende Spannung lastet zusehends auf dem Schiffer und seinen Männern. Selbst die abgebrühtesten Seeleute sind in letzter Zeit schreckhaft geworden, mit allen geht die Phantasie durch. Über dem Ozean werden unerklärliche Erscheinungen gesichtet, Seenymphen umkreisen das Schiff, Monster mit Eidechsenzungen und Schlangenschwänzen. Während der Untätigkeit des Wartens ziehe ich mich in meine Kabine zurück. An diesem Morgen entzünde ich meine Opiumpfeife und blase wabernde Ringe blauen Rauchs in die heiße, bewegungslose Luft. Auf einmal schießt ein irisierender Streif in elegantem Bogen durch das offene Bullauge in die Kabine. Mit ausgebreiteten Finnen landet ein fliegender Fisch in meinem Schoß. Schaudernd stoße ich ihn von mir. Der Fisch schlittert über den Boden, wo er schlägt und zappelt. Ich zertrete einen Libellenflügel unter dem Absatz meines Stiefels. Der Fisch zuckt, seinen Flanken glänzen in allen Farben des Regenbogens. Ich befördere die immer noch zappelnde Kreatur mit einem Tritt aus der Kabine. Wie ich ihn verabscheue, diesen Ozean mit seinem frucht‐ baren Schoß aus Fischschuppen und Schleim. Und weiter gleiten die Tage dahin. Dann spielen die Götter 88
mir eine Trumpfkarte in die Hand, als der Kommandant beschließt, Fitz, unseren Vogelpräparator, standrechtlich zu verurteilen, weil er im Bug bei der Sodomie mit einem Netz– flicker erwischt wurde. Wäre der Kommandant auf der Hut, wäre er weniger abgelenkt, er hätte es sich zweimal über‐ legt, bevor er Weisung gab, den Bruder des Schiffers öffent‐ lich auspeitschen zu lassen. Unter den Männern kocht die Wut. Schweigend gehen sie ihrer Arbeit nach. Der Komman‐ dant spürt ihren Zorn. Atmet ihn ein durch geweitete Nüstern wie einen üblen Gestank. Bei den seltenen Gele‐ genheiten, wenn er in administrativen Dingen zur Mann‐ schaft sprechen muss – meist wegen Kürzungen der Rationen, weil die Vorräte in den Lagerräumen verdorben sind –, pulsiert die Ader an seiner Schläfe, flackert ein nervö‐ ses Zucken an seinem Augenlid, und, unmerklich zunächst, beginnt er zu stottern. Abermals zieht er sich in die Kajüte zurück. Malaria, lautet die offizielle Erklärung, doch für uns alle ist offensichtlich, dass ihm die Kontrolle entgleitet. ■
Am späten Nachmittag kocht die See, Hitzeblasen steigen auf, der Ozean wartet auf Regen. Gewaltige, regenschwere Wolkenwirbel, opak wie Perlmutt, lasten auf dem Schiff. Der Kapitän gibt Order, die Segel zu streichen. Der Wind ist abgeflaut, die Hitze wird immer drückender. Die Buren, beladen mit schwerer Artillerie und der Kanone auf dem Geschützdeck, bleibt in dieser neuerlichen Flaute zurück und verliert den Anschluss. 89
Ich schaue zum Schiffer auf dem Hauptdeck hinüber. Er antwortet mit einem verschwörerischen Lächeln und deutet auf die drei Schiffe in unserem Kielwasser. «Die Galiasse hätte längst die Segel einholen müssen», sagt er. «Seht Euch das an, wie sie da unter Vollzeug herum‐ dümpelt.» Er schnaubt verächtlich. «Von der Dordrecht und der Gra– venhage ganz zu schweigen, eine derart stümperhafte See‐ mannschaft hab ich seit Erfindung des Marinekompasses nicht mehr gesehen.» Er wühlt in einem Lederbeutel, der an seinem Gürtel hängt, und holt einen geschnitzten Walzahn in Form des Bugs der Batavia hervor. «Ein Talisman von Fitz, Mijnheer», sagt er und hält mir die Schnitzerei auf der flachen Hand hin. «Nehmt ihn», flüstert er. Obwohl es mich ekelt, das flecki‐ ge Ding zu berühren, nehme ich den Zahn in meine behand‐ schuhte Hand. «Bleibt unter Deck», beschwört mich der Schiffer. «Es gibt Sturm heute Nacht. Die Bastarde sind wir bald los, und dann kann die eigentliche Arbeit beginnen.» Später, bei meiner Abendpromenade, zerplatzt ein Regen‐ tropfen von der Größe eines Hagelkorns vor mir auf dem Deck. Noch einer. Langsamer, warmer, öliger Regen. Tropfen für Tropfen, wie Pockenblasen auf den sonnenge‐ bleichten Planken. Dann hämmert ein heftiger Schauer wie Musketenfeuer auf das Schiff ein. Um uns herum wogt die See, von einer verborgenen Kraft getrieben, auf und ab. Ich suche Schutz auf dem oberen Deck. Der Wind treibt den Regen gegen das Schiff. Die anderen aus dem Verband sind 90
nirgends auszumachen. Der Schiffer nimmt seine Mann‐ schaft hart ran. Die Kaufleute sind bereits in ihre Kabinen geflüchtet. Ich ergötze mich an dem Regen. Als ich in meine Kabine zurückkehre, feiere ich unseren sicheren Sieg mit einer Opiumpfeife. Ich stelle mir vor, wie der Kommandant gegen das Stamp‐ fen und Schlingern der Dünung ankämpft, wie er sich den Spucknapf dicht vor den Mund hält. Ich höre sogar seine keuchenden Gebete, unterbrochen von trocknem Würgen. Unser höchster Offizier, der Statthalter der Compagnie an Bord, muss sich in die Hose machen vor Angst. Und er hat allen Grund dazu. Denn morgen früh, wenn er erwacht, wird der Sturm sich gelegt haben, und der Verband, sein einzig Schutz und Schild, wird spurlos verschwunden sein. 91
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eltsam, wie einfach es letztendlich war, die Begleitschiffe abzuschütteln. Der Kapitän hat bloß dafür gesorgt, dass die Batavia vom Kurs abkommt. Der Kommandant ist außer sich, hat sogar eine ansehnli‐ che Belohnung ausgesetzt für jeden, der den Verband sichtet. Das Spiel kann beginnen. Morgen, am vierten Juno Anno 1629, wird Canot, der Küchenjunge, wie vereinbart die Was‐ serrationen mit meinem Pulver würzen. Der Schiffer wird die Nachtwache übernehmen, er hat Or‐ der gegeben, die große Hecklaterne mit frischem Talg zu fül‐ len. Wie er mir sagt, nähert sich die Batavia dem Unbekann‐ ten Südland. «Die Passatwinde stehen günstig», sagt er mir im Vertrau‐ en. «Wir haben keine Zeit zu verlieren.» Er nimmt einen kräftigen Schluck Branntwein. «Zumindest bleibt meinem hohlköpfigen Bruder das Auspeitschen er‐ spart», sagt er. «Morgen wollte ihn der Kommandant, dieser Bastard, an den Großmast binden.» Ich erinnere ihn daran, dass der Kommandant morgen früh der Erste sein wird, der die morgendliche Wasserration erhält. Er lacht und schüttelt mir die Hand. Dunkelheit senkt sich über das Schiff, als ich zu meiner Ka‐ bine zurückkehre, und die Batavia wirkt unnatürlich ruhig, seltsam verlassen, die wuselnde, barfüßige Besatzung ver‐ schwunden, die Rufe und Flüche aus dem Rigg verstummt. 92
Ich blicke mich um. Zu dieser Stunde sind die Soldaten be‐ reits in ihren unsäglichen, ranzigen Hühnerstall unter Deck zurückgekehrt, der Kommandant wälzt sich schweißüber‐ strömt in der Koje, und der Schiffer nimmt in der Messe sei‐ nen Platz unter dem großen Heckfenster ein. Und dennoch, es liegt etwas Unheilvolles in dieser Stille, als wäre die Batavia ein herrenlos treibendes Geisterschiff, in dessen Kielwasser versunkene Sterne schwimmen. Dann sehe ich sie an der Reling lehnen, allein und ohne Freunde. Was denkt sich diese Frau? Ich muss sie dringend ersuchen, bis zum Ende der Reise in ihrem Quartier zu bleiben. Wer weiß, was der Schiffer mit ihr vorhat – schließ‐ lich hat er seiner Gespielin, der Zofe, einen Schwur geleistet. Lucretia indes blickt hinaus auf die See, zu den grau‐ grünen Wolken, die über den dunkelnden Himmel ziehen. Ich eile zu ihr. Zu Eurer eigenen Sicherheit, Madame, wer‐ de ich sagen, bitte erlaubt mir, Euch unter Deck zu begleiten. Plötzlich ertönt ein Ruf. Lucretia dreht sich um und blickt verschreckt nach oben. Fünf maskierte Männer mit Messern zwischen den Zähnen springen behände aus der Takelage und umzingeln sie. Sie hat nicht einmal Zeit, zu schreien. Einer packt Lucretia bei der Kehle und presst ihr die Hand auf den Mund. Sie windet sich in seinem Griff und tritt um sich. Ein anderer verbindet ihr die Augen, ein Dritter stopft ihr mit einer Rolle Hanf den Mund. Er ist so grob, dass er ihr die zarten Lippen aufschürft. Die Männer bilden einen Kreis und schubsen Lucretia joh‐ lend von einem zum anderen. Mit den Klingen zerschlitzen sie ihr Kleid, zerschneiden die Bänder ihres Korsetts, zerfet‐ 93
zen ihre Röcke und Unterröcke. Lucretia wehrt sich tapfer, es braucht drei Mann, sie zu Bo‐ den zu drücken. Von lieblosen Armen gehalten, schlägt sie hilflos um sich, ihr elegantes Gewand hängt in Fetzen. Ich muss diesem Spiel ein Ende bereiten. Doch wenn ich Lucretia zur Hilfe eile, wie kann ich sicher sein, dass diese maskierten Schergen nicht ihre Klingen zü‐ cken und mir die Kehle aufschlitzen? Der Schiffer wäre gewiss nicht erfreut, dass Jeronimus, sein Bundesgenosse, diesen Überfall auf Lucretia sabotiert, den er als ersten Schritt der Meuterei veranlasst hat. Und wenn ich die Schiffsglocke läute, um Alarm zu schla‐ gen, werden meine Mitverschwörer mich zu ihren Feinden zählen und mich morgen zur verabredeten Zeit mit den an‐ deren über Bord werfen. Mir sind die Hände gebunden. Von irgendwo erklingt ein vertrautes, höhnisches Gackern – die Hure des Schiffers. Wie gern würde ich ihr das dummdreiste Schafsgesicht zu Brei schlagen. Jetzt wirft einer der Kerle eine Rolle Tau auf den Boden, stellt sich rittlings über Lucretia und fängt an, sich bedächtig und mit aufreizender Langsamkeit die Hosen aufzuknöpfen. Er wird es nicht wagen. Die anderen werden still, treten unsicher und abwartend von einem Fuß auf den anderen. Dann packt einer Lucretia bei den Fußknöcheln und bedeutet seinem Kumpanen, sie an den Handgelenken zu fassen. Gemeinsam drücken die Schurken sie aufs Deck. Ihr vergeblicher Kampf, ihre unter‐ drückten Schreie brennen sich mir in die Seele. Die Männer klatschen in die Hände und stimmen ein ob‐ 94
szönes Seemannslied an. Aller Augen sind auf den mas‐ kierten Matrosen gerichtet, der seine Hosen mit gleichgültiger Geste fallen lässt. Beim Anblick seiner grausam gekrümmten Rute stockt mir der Atem. «Nein», bellt eine Stimme. Ich kann nicht sagen, wem sie gehört. Ein sechster Mann tritt mit einem Eimer in der Hand aus dem Schatten und marschiert auf die anderen zu. «Haltet euch an die Order.» Er drängt den dreisten Lüst‐ ling zurück. «Sonst gibtʹs Ärger.» Er stellt den Eimer ab und verteilt verdreckte Stofffetzen an die Männer. «Macht schnell, wir haben nicht viel Zeit.» Lucretia liegt still wie ein Leichnam. Er stößt sie mit der Fußspitze an. «Wenn sich einer an ihr vergreift, werdet ihr alle dafür zahlen.» Er sieht zu, wie die Männer sich um Lucretia scharen. Einer nach dem anderen tauchen sie die Lappen in den Eimer und machen sich damit an ihr zu schaffen. «Das reicht», sagt der Mann. «Deckt sie zu und dann macht, dass ihr wegkommt.» Er schwingt den Eimer über die Reling, wäscht ihn aus und füllt ihn mit Meerwasser. Des Schiffers Spießgesellen verschwinden in die Nacht. Man hört das dumpfe Tapsen ihrer schwieligen, nackten Sohlen auf den Deckplanken. Nur einer steht noch da und gürtet sich die Hosen. Der sechste Mann geht auf ihn zu und schlägt ihm hart ins Ge‐ sicht. Dunkles Blut sickert durch die Maske aus Segeltuch. Der sechste Mann verpasst ihm einen letzten Faustschlag, der den Maskierten zu Boden schickt. «Meuterei hin oder her, deinetwegen hätten wir alle dran 95
glauben müssen», zischt er und reißt den elenden Schuft auf die Füße. «In Batavia würden sie dich für viel weniger aufs Rad flechten.» Ich warte, bis sie im Dunkel der Luke verschwunden sind. Jetzt kann ich es wagen. Ich krieche an Lucretias Seite. Das Bündel unter der Decke zuckt. Kein Laut, kein Wim‐ mern. Ein übler Gestank liegt in der Luft. Was haben sie ihr angetan? Ich hebe die Decke vorsichtig an und betrachte den reglo‐ sen Körper darunter. Der Gestank von Exkrementen schnürt mir die Kehle zusammen. Arme, Beine und Füße, sogar Strähnen ihres lieblichen Haars sind mit Kot beschmiert. Ich lasse die Decke fallen und presse mir ein Taschentuch vor die Nase. Ich kämpfe gegen die Übelkeit, die unter meiner Zunge ge‐ rinnt, ziehe mir die Handschuhe über, löse die Augenbinde und den Knebel und werfe diese abscheulichen Fesselwerk‐ zeuge so weit von uns, wie ich kann. Ihre Augenlider zucken, sie murmelt irgendetwas, aber ihre Sinne versinken in tiefem, gnädigem Schlaf. Ich nehme all meine Kraft zusammen, tauche mein Ta‐ schentuch in den Eimer und wasche sie mit Meerwasser ab, hebe ein lebloses Glied nach dem anderen. Ich nehme die Decke von ihrer schlaffen Gestalt, tauche den rauen Woll‐ stoff ins Wasser und wische ihr den stinkenden Schlamm aus dem Gesicht. Sie ist über und über befleckt und besu‐ delt. Welchen Ausgang auch immer die Meuterei nehmen wird, ich werde dem Schiffer sagen, dass er zu weit gegangen ist. Endlich bin ich fertig. Ich werfe meine verdreckten Hand‐ 96
schuhe aus Schweinsleder, die Decke und mein ruiniertes Taschentuch über die Reling. Ich zögere, bevor ich meinen Umhang ablege – nicht mein liebstes Stück, das mit Astrachan gefüttert ist, aber doch kostspielig genug, mit silbernen und goldenen Seidentressen bestickt und nach der Mode des französischen Hofes aus feinstem Damast geschneidert. Ich hebe Lucretia auf und hülle sie in den Umhang. Mor‐ gen wird der Kommandant dafür bezahlen, dass er seine holde Dame Gefahren wie dieser ausgesetzt hat. Es kostet mich einige Mühe, Lucretia über das Mitteldeck zu den Kabinen zu tragen. Bedenkt man, was für eine zarte Person sie ist, liegt sie doch schwer in meinen Armen. Hinter dem Großmast vernehme ich Getrappel von Frauen‐ füßen, gefolgt von dem vertrauten unterdrückten Lachen. «Zwaantie», flüstere ich. Stille. «Komm deiner Herrin zu Hilfe», rufe ich nun lauter. «Oder – und dafür werde ich persönlich Sorge tragen – du wirst so bald nichts mehr zu lachen haben.» Lautlos erscheint die Zofe an meiner Seite und blickt mich aus großen, furchtsamen Augen an. Ohne ein Wort hilft sie mir, und gemeinsam schaffen wir Lucretia, sie halb tragend, halb schleifend, über das Deck und die Stufen hinab zu den behelfsmäßigen Kabinen der Frauen. Noch immer in meinen Mantel gehüllt, liegt Lucretia to‐ tenbleich in ihrer Koje. Sie stöhnt leise. Zwaantie starrt auf ihre Herrin, Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie hat Angst. Vorsichtig zieht sie das Laken über sie, als bedecke sie einen Leichnam. Das Miststück glaubt, 97
die Handlanger ihres Geliebten hätten ihre Herrin getötet, und fürchtet, sie werde dafür am Galgen baumeln. «Sag Tonks, er soll heißes Wasser aus der Kombüse holen, und beeil dich.» Vollkommen verschreckt schießt das Flittchen durch den Segeltuchvorhang und ist verschwunden. Ich kniee neben Lucretia nieder. Weil ich teilhabe an der Meuterei, weil ich meine Liebste dieses eine Mal nicht be‐ schützen konnte, mache ich Lucretia das Geschenk eines Apothekers. Ich nehme eine kleine Phiole aus dem Lederbeutel in meiner Tasche und salbe ihre wunden Lippen mit einigen Tropfen eines Schlafmittels, das sie bis zum Ende der Reise in tiefen Schlummer wiegen und ihr das Gemetzel im Morgengrauen ersparen wird, bis schließlich der Kuss ihres Prinzen sie weckt. Auch wenn die Versuchung groß ist, bin ich doch zu sehr Kavalier, um die Kabine jetzt wie ein gemeiner Dieb nach ih‐ rem Tagebuch zu durchsuchen. Stattdessen werde ich Zwaantie anweisen, es mir zu bringen, wenn die Meuterei vorüber ist. Lebewohl, süße Maid, gute Nacht. ■
Morgen, wenn es vollbracht ist, wenn die Leichen eine nach der anderen in den Wellen versunken sind, werde ich meinen rechtmäßigen Platz in der Großkajüte des Komman‐ danten einnehmen. Die Unterwäsche des Kommandanten aus feinstgesponne‐ nem Leinen wird sich weich und verführerisch an meine 98
Haut schmiegen. Das Hemd leicht wie Spinnfäden. Ich werde in die seidenen Strümpfe steigen und die mit goldener Spitze gesäumten Stumpfbänder anlegen. Mir den Umhang des Kommandanten um die Schultern werfen. Die Perlmuttknöpfe bewundern, die Ärmel aus purpurnem Brokat, bestickt mit goldenen Fleurs‐de‐lys. Ich werde mir die gestärkte Spitzenkrause um den Hals binden. Nach dem federgeschmückten Kommandeurshut greifen. Wie er mich schmücken wird, und wie gut es mir ansteht, endlich meinen rechtmäßigen Platz unter den Menschen einzu‐ nehmen. Ich, Generalkapitän dieses Compagnieschiffes. 99
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wei Stunden vor Sonnenaufgang läutet die Glocke der Batavia. Ein schnelles, heftiges Läuten, ein wilder Lärm. Ich höre erregte Stimmen, seltsame Schreie, dazwi‐ schen von Zeit zu Zeit ein scharfes Sirren wie von stark gespannten Bogensehnen. Unversehens taumelt die Batavia zur Steuerbordseite, und ich werde aus der Koje geschleudert. Ein gewaltiges Krachen ertönt laut wie ein Donnerschlag. Die Kabine neigt sich in einem schwindelerregenden Winkel und ich werde gegen die Tür geworfen. Ich liege benommen in der Dunkelheit und lausche einer Kakophonie aus Rufen, Schreien, Pfiffen. Ein gellendes Kra‐ chen wie von berstendem Holz. Das ganze Schifferschaudert unter dem tosenden Gebrüll und legt sich ein weiteres Mal auf die Seite. Die Kabinenwände erzittern unter hämmernden Schlägen. In einem Zustand nüchterner Klarheit beobachte ich, wie das Holz sich krümmt. Als wäre das Grauen, das vor meinen Augen geschieht, nur eine seltsame Sequenz aus einem Traum. Jetzt wölbt sich die Tür und zerbirst, Holz und Staub wirbeln durch die Luft. Ich klettere durch die gesplitterte Öffnung und haste an Deck. Ein schluchzender Kabinenjunge stammelt, das Schiff sei auf ein Riff gelaufen. «Ich habe gesehen, wie sich die Wellen hier gebrochen ha‐ ben», sagt er. Der elende Wicht ist seekrank oder betrunken oder beides. Ein Strahl Erbrochenes platscht vor meine Füße. 100
Was gibt es da zu sagen? Erspart mir die Einzelheiten. Sie helfen uns jetzt nicht weiter. Wie kann es sein, dass diese Meere unsere Pläne durch‐ kreuzen? Mich packt der Zorn, treibt mir Tränen in die Au‐ gen. Die Soldaten strömen aus der Luk, um der Todesfalle des unteren Decks zu entfliehen. «Einer nach dem anderen, zack, zack», ertönt eine Stimme vom Unterdeck. So schnell habe ich sie noch nie zuvor laufen sehen. Zum Henker, was hat der Schiffer getan, uns diese Schlin‐ ge um den Hals zu legen? Ich sehe den Kommandanten. Er kauert in Strümpfen auf der Poop, die Perücke schief auf dem Kopf, unter seinem Umhang flattert das Nachtgewand. Die Rahen über mir zit‐ tern, einige reißen sich von ihren Brassen los. Das Großsegel schlägt gegen das Rigg. Der Schiffer stößt den Kommandan‐ ten zur Seite. «Aus dem Weg», brüllt er. Er rennt zu seinen Männern, die in dem verzweifelten Versuch, die Batavia von ihrem wäss‐ rigen Ballast zu befreien, an den Lenzpumpen schuften. «Setzt mehr Segel», schreit er. «Der Wind wird sie frei‐ holen.» Ein Brecher nach dem anderen rauscht über ihn hin‐ weg. Der Schiffer jedoch schüttelt den Kopf wie ein Otter und kämpft sich durch die Gischt. «Beide Anker fieren», schreit er. Fitz hastet über die über‐ flutete, windgepeitschte Back. Die Männer, die den Befehlen des Schiffers blind gehorchen, klettern flink wie die Affen ins Rigg hinauf, jeder nach der Stelle greifend, die der Fuß des Kameraden gerade verlassen hat. Doch in diesem Moment birst die Marsstenge und neigt 101
sich zur Seite, ein Gewirr aus Tauen, zerrissenen Segeln und gebrochenen Rahen schwingt über das Deck. Die Männer kämpfen, um sich aus der verworrenen Takelage zu befrei‐ en, bevor der Mast umstürzt. Einige werden in die Luft ge‐ schleudert und schlagen wie weiche, reife Früchte auf dem Deck auf. Ich renne auf die Offizierskabinen zu, die unter dem dumpfen Schlag eines Kanonenschusses erzittern. Tonks, der Kabinensteward, liegt hilflos eingeklemmt un‐ ter dem gestürzten Mast. Ich presse mir die Hände auf die Ohren, um seine Schreie nicht zu hören. Meine Eingeweide ziehen sich zusammen, Entsetzen macht sich in mir breit. Ich kann sie schmecken, meine Angst. Sie ist seltsam sauer und metallisch. Das Herz hämmert mir in der Brust, und mein Verstand rast. Die ersten Passagiere stolpern hinaus auf das Mitteldeck. Lucretia ist nicht dabei. «Zurück», schreit der Schiffer. «Drängt sie zurück.» Doch der Mob strömt weiter aus dem Niedergang. Ich sehe Zwaantie, die sich mit Nägeln und Klauen einen Weg durch die Menge bahnt und nach ihrem Kapitän ruft. Ich kämpfe mich zu ihr durch. «Wo ist deine Herrin?» Ich packe sie bei den Schultern. Sie reißt die Arme hoch, um ein Haar schlägt sie mir ins Gesicht. «Geh unter Deck, du musst sie holen», schreie ich. Rücksichtslos und in heller Verzweiflung stürmen die Pas‐ sagiere an uns vorbei, jeder kämpft nur für sich allein. Ich kann die mörderische Angst in ihrem Atem riechen. Der Pfarrer brüllt vor Entsetzen und klammert sich an sein Weib, 102
gemeinsam werden sie in der wogenden Menge davonge‐ tragen, die zu den Beibooten der Batavia drängt. «Glaubt Ihr, ich würde mein Leben für sie riskieren?», schreit Zwaantie. Sie befreit sich aus meinem Griff und ver‐ schwindet in dem irrsinnigen Gewühl. Auf der Poop rennt der Kommandant verwirrt im Kreis. «Wir haben keine Zeit zu verlieren», schreit er. «In die Boo‐ te!» Der Schiffer macht eine Handbewegung, als wolle er ihn schlagen. «Seid Ihr verrückt geworden?», schreit er. «Ich be‐ fehle, dass alle Mann an Bord bleiben, solange das Schiff noch schwimmt.» Fitz und die Mannschaft versuchen, sich den schreckerfüll‐ ten Passagieren entgegenzustellen, die auf das Mitteldeck stürmen, wo die Rettungsboote sind. Ich kämpfe mich gegen den Strom der menschlichen Flut zu Lucretias Kabine durch. Als ich die Leiter hinunter‐ springe, kommt mir ein Soldat entgegen. «Hilfe», schreie ich. «Da unten ist eine kranke Frau.» Gemein‐ sam stolpern wir durch den Vorraum zu den Passagiers‐‐ kabinen. Zu meiner Verwunderung schläft Lucretia noch immer. In meinen Umhang gehüllt, liegt sie bleich und reglos wie ein Kind in der Wiege. Sie scheint in Träumen zu baden, fast sieht es aus, als lächelte sie. Wasser dringt durch den Kabinenboden und schwappt unter ihre Koje. «Ich kann sie allein nicht tragen», sage ich. «Helft mir.» Ohne ein Wort hebt der Soldat Lucretia auf die Arme. «Bringt sie an Deck.» 103
Mit einem kurzen Nicken stapft er zur Tür hinaus. Ich will ihm gerade folgen, als ich es sehe, es treibt in einer Ecke der Kabine. Ein Tagebuch aus feinstem Kalbsleder. Ich stopfe mir das triefende Bündel in die Manteltasche. Die Soh‐ len meiner Stiefel rutschen auf den glatten Stufen der Leiter, als ich in das tosende Durcheinander auf Deck zurückkehre. Der Pfarrer kauert auf Händen und Knien und betet. Der Krankbesoeker klammert sich in ohnmächtigem Taumel an alles und jeden, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Soldat und Lucretia sind nirgends zu sehen. «Drängt sie zurück», bellt der Schiffer. Plötzlich läuft ein Zittern durch das Schiff, das sich zur Sei‐ te neigt und mit einem knirschenden Geräusch liegen bleibt. Eine unheimliche, unirdische Stille senkt sich über die Bata‐ via. Die bleiche Sonne ergießt sich über den Horizont, ihr mattes, gelbliches Licht quillt hinter den rasch sich auftür‐ menden Wolken hervor. In der einsetzenden Hitze der Mor‐ gendämmerung steigen Nebelschwaden auf, die den Bug des Schiffes umwabern. Der Kommandant verläßt kriechend sein Versteck aus durchnässtem Segeltuch. Die Matrosen wenden die Gesich‐ ter gen Himmel. Der pfeifende Wind ist schneidend wie Glas. Alle lauschen dem Knarren des Kreuzmastes, dem Schlagen der geblähten Segel. Die schwellende See färbt sich aschgrau, hier und da ein Flecken grünen Lichts. Südlich der Batavia erhebt sich eine Insel aus den Nebeln. Daneben ist ein schwächerer Umriss auszumachen. Im Norden ein kleiner Berg. Die Inseln der unbekannten Welt wachsen aus den Wassern. 104
Der Kapitän gibt Befehl, das Schiff zu verlassen, doch ich ha‐ be kein Vertrauen in die zerbrechlichen Boote und halte mich abseits. Kaum ist die erste, mit Frauen, Kindern, Proviant und Wasserfässern überladene Pinasse in die dampfenden Wasser hinabgelassen, als eine Welle so hoch wie eine Kerkermauer das Boot anhebt und gegen die Schiffswand schleudert. Canot, der Küchenjunge, wird über Bord ge‐ spült. Prustend kommt er an die Oberfläche und schlägt mit den Händen um sich, bevor die grauen Wasser sich über ihm schließen. Dann sehe ich sie, sie sitzt im Heck des Bootes neben der Frau des Kanoniers. Sie blickt mit großen, leeren Augen um sich, ohne etwas zu sehen. «Lucretia», schreie ich in das Getöse. Sie schaut auf, doch sie hat mich nicht gehört. Die Männer reißen hart an den Rudern. Diesmal erklimmt das Boot den Kamm der steilen Wellen und schießt außer Sicht. Was bin ich für ein Narr, dass ich nicht mit ihr ging ... Doch allein der Gedanke, ein Bein über die Reling zu schwingen, dann das nächste, mich an das glitschige Tau zu klammern, ohne festen Grund unter den Füßen, niemand, der mir hilft, das Boot, das unter mir auf– und absteigt, die Angst vor dem Sprung – nein, ich könnte es nicht. Nicht ein‐ mal, um mein Leben zu retten. ■
Fitz und die Matrosen versuchen das zweite Boot zu Wasser zu lassen, aber das erweist sich als hoffnungslos. Die Leinen 105
und Blöcke sind nicht mehr zu entwirren. Fitz, der sich einen Jutesack auf den Rücken gebunden hat, macht sich da‐ ran, die dicken Taue mit einem Messer zu durchschneiden. Der Kommandant sitzt mit dem Kopf in den Händen da, geschüttelt von unterdrückten Schluchzern. Dem Chaos um sich herum schenkt er keine Beachtung. Schaut nicht einmal auf, als der Schiffer und Fitz den Mast aufentern und mit letzter Kraft auf eine Rah kriechen, um die Leinen zu zerschneiden und das Boot zu befreien. Fitz hat sein Messer zwischen den Zähnen, als er in das zerrissene, windge‐ peitschte Rigg steigt. Ich beobachte ihn, wie er in den nassen Tauen hängt. Einen Moment lang hält er sich reglos wie eine Spinne in einem taugetränkten Netz. Dann stürzt eine gewaltige Welle auf ihn ein, er verliert beinah den Halt und klammert sich an die Rah. Eine zweite Woge reißt ihm den Jutesack vom Rücken. Seine geliebten Vögel bersten aus dem Sack und werden von den heulenden Winden hoch in die Lüfte geschleudert, die scharlachroten Schwingen spreizen sich in spiralförmigem Flug, das leuchtende Gefieder verfängt sich im Rigg. Eine weitere wütende Welle schlägt über das Deck. Als ich wieder nach oben blicke, ist Fitz nicht mehr da. Der Schiffer kriecht weiter hinaus auf die Rah und nimmt den gefähr‐ lichen Platz ein, an dem kurz zuvor noch sein Bruder stand. «Nein», schreit Zwaantie und muss von einem der Seeleu‐ te zurückgehalten werden. Der Schiffer müht sich mit aller Kraft, das Boot zu befreien. Mir zittern die Hände. Ich kniee mich auf die Planken, in meiner Kehle sammelt sich Speichel. Ich würge, und jedes Mal, wenn ich ausspucke, schmeckt meine Galle nach Blut. 106
Ich weiche zurück, finde mich in der Messe wieder. Dort wird geprügelt und geplündert. Wouter und seine Freunde stechen die Branntweinfässer an. De Beere und Pelgrom zer‐ ren Geldtruhen aus der Kommandeurskajüte. Mit einer Axt brechen sie die Schlösser und stopfen sich die Taschen voll. All diese Reichtümer. Das Gold der Compagnie. Der Erde entrissen, geschmolzen, gestempelt und mit dem Siegel der Stadhouders versehen. Vergesst Samt, Seide und Brokat. Tretet die vergoldeten Spiegel aus dem Weg, die Silberteller, das gestapelte Zinngeschirr. Gold wollen sie. Sinnloses Gold wiegt schwer in ihren vollen Taschen, Gold wird schaufel‐ weise in die Luft geschleudert oder wie Reiskonfetti von der breiten Krempe ihrer Filzhüte geschnippt. Die ganze Zeit wüten um uns herum die Wasser, und der Wind treibt Flocken von braunem Schaum über das Deck. Und die Wellen kommen näher, bedrohlich wie Haie. ■ Endlich wird das befreite Boot in die mörderischen Wogen gesenkt. Der Kommandant nimmt mit ausdruckslosem Gesicht als Erster Platz, Zwaantie wird über die Reling geholfen. Ich sollte mich ihnen anschließen. Der Schiffer ruft nach mir. Mich, den Außenseiter, der ich die Einsamkeit meiner ei‐ genen Gesellschaft dem Lärmen der gemeinen Masse vorzie‐ he, mich möchte man unter denen im Boot wissen. Doch ich zittere im kalten Schweiß der Angst und bleibe wie festge‐ wachsen auf den Planken stehen. Wie ich die Matrosen um ihre sichere, akrobatische Ba‐ 107
lance beneide. Sie treten niemals fehl, wenn sie sich an einem Tau zum Boot schwingen, während unter ihnen die Wellen fauchen und nach ihren Füßen schnappen. Wohingegen ich mich hier verstecke und die Angst mein Herz durchbohrt wie ein Messer. ■
Ich blicke dem Boot nach, wie es in den gefährlichen Winden davonsegelt. Der Kommandant und der Schiffer steuern nach Süden auf die kahle, schroffe Insel zu, die in ungefähr zwei Meilen Entfernung zuerst gesichtet worden war und wo sie ihre Fracht von fünfzig Seelen auf einem unfruchtbaren Felsen mit Dünen und ein paar Grasbüscheln abzusetzen gedenken. Durch mein Fernrohr scheint die Insel kahl und dürr, un‐ barmherzig. Sie ist aus Korallen gewachsen, von Korallen umkränzt. Auf einem schmalen Saum aus Sand, der mit Seetang und Treibholz übersät ist, erhebt sich hier und da verkümmertes Gestrüpp. Auf den flachen Hügeln dahinter wächst vereinzelt karges, verdorrtes und unbestimmbares Gebüsch, darüber strecken einige größere Bäume ihr grau‐ grünes Blattwerk in den Dunst. Der fette Pfarrer ist der Erste an Land, er liegt wie ein ge‐ strandeter Wal im Sand. Seine blauen Lippen bewegen sich, wahrscheinlich murmelt er unsinnige Gebete. Kinder klam‐ mern sich an ihre Mütter, drängen sich an die breiten Hüften der Kaufmannsweiber. Die Frauen weinen. Ich sehe, wie sie die Totenklage anstimmen. Wie sehr müssen sie sich danach sehnen, die im Wrack Ertrunkenen unter Marmorplatten zu 108
begraben, sie in der fünfzehnten Generation in die Familien‐ gruft zu legen oder in die immer gleichen Parzellen auf dem Friedhof vor Amsterdam, statt sie diesen wilden, heid‐ nischen Wassern überlassen zu müssen, dem Ozean, der gegen die Küste schlägt und keine Erklärungen bietet. In der Messe genehmige ich mir einen Branntwein und be‐ obachte, wie sich das erste Boot, das es zur Küste geschafft hatte, gegen die schlagenden Wellen zurück zur Batavia kämpft. Der trunkene Pöbel um mich herum johlt und sticht weitere Fässer aus der Bottlerei an. Ich halte mir die Ohren zu, um das irrsinnige Hyänengelächter nicht hören zu müssen, Eselsgebrüll von weingefärbten Lippen. Ihre Angst zeigt sich nur im Weiß ihrer blutunterlaufenen Augen. Ich setze mein Glas ab und zwinge mich aufzustehen. Der Raum schwankt und kippt zur Seite. Ein Weinkrug rutscht über den Tisch und zerbirst klirrend zu meinen Füßen. Das Boot muss die Batavia inzwischen erreicht haben. Ich torkle zur Tür. Dieses Mal bin ich fest entschlossen. Nichts und niemand wird mich davon abhalten, diese gottverlassene Küste zu erreichen. Aus den Schatten taumelt ein Mann auf mich zu, packt mich am Arm und drückt mich auf einen Stuhl. «Trink», zischt er und zieht eine Branntweinflasche aus der Tasche. Ich erkenne ihn nicht. Ich nehme die Flasche und sehe, dass meine Hand zittert. «Lasst uns alle trinken», sagt er. «Bevor wir sterben.» «Nein», schreie ich und will aufstehen, aber er drückt mich zurück in den Stuhl. «Wozu noch?», murmelt er und leert ein halb volles Glas, das vor ihn hingerutscht ist. Wein läuft ihm übers Kinn. Er 109
legt den Kopf auf die Arme und heult. Ich nehme einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Meine Beine sind schwer wie Blei. Meine Stiefel ziehen mich nach unten. Ich stürze den Branntwein hinunter und weine wie ein verlassenes Kind in der Dunkelheit. Einer nach dem anderen machen sie sich davon: Der Hilfs– kellner, der Koch, die Kabinenstewards, der Erste Trompe‐ ter, die Schiffszimmerleute, die Kanoniere, die Soldaten, der Schmied, der Böttcher, die Schneider und Matrosen. Die Compagnie ist auf einen nackten Felsen geworfen, ei‐ nen Steinbrocken, gerade gut genug, um Fischernetze darauf zu trocknen. 110
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m zweiten Tag nach dem Schiffbruch erwache ich im Licht der Morgendämmerung. Ich zittere am ganzen Leib, doch ich könnte nicht sagen, ob der Grund in der Kälte oder dem unsäglichen Gefühl der Verlassenheit liegt. Ich bin allein auf dem Schiff. Der trunkene Pöbel ist geflohen, die meisten haben wohl versucht, sich auf den gesplitterten Überresten der gebrochenen Masten an Land treiben zu las‐ sen. Aus dem Schiff dringen unheimliche Laute, das Jaulen jun‐ ger Hunde, das beharrliche Summen eines Bienenschwarms. Die freiliegenden Stufen des Niedergangs sind zu Kleinholz zerborsten. Der Kiel schlägt gegen das Riff. In den Laderäumen hämmert das angebundene Vieh gegen die Stallwände und brüllt vor Angst. Ich fürchte die Schläge der schweren Hufe. Das wutentbrannte Brüllen des Bullen schmerzt mir in den Ohren. Ich hoffe, die Tiere ersaufen dort unten ungesehen. Ich kraxle über das Deck. Dieses endlose Deck. Ich muss mich aufwärts kämpfen, das Heck des Schiffes liegt höher als der Bug. Ein paar Möwen kreisen um den gebrochenen Großmast. Andere sitzen im zerfetzten Rigg und putzen sich mit schar‐ fen Schnäbeln die schneeweiße Brust. Soll ich an Bord bleiben, solange das Schiff fest vor seinem korallenen Anker liegt, oder soll ich versuchen, die Insel zu erreichen? Doch wie? Die Strömung heute ist stark, und die Spieren sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus. Was tun? Am besten auf Rettung warten, auf den Schiffer, 111
der im Boot zur Batavia zurückkehren wird. Jetzt, wo die pa‐ nischen Menschenmassen verschwunden sind, werde ge‐ wiss auch ich in der Lage sein, an Bord zu gehen. Doch wenn das Boot kentert – werde ich in den kalten, grauen Wassern versinken? Ich bin müde. Wenn ihr mich heute fragtet, ich würde sagen, dies ist die schwärzeste Stunde. Der Hunger treibt mich, die Vorräte in Augenschein zu nehmen. In der Kombüse dieses Geisterschiffes ist die Asche im Ofen noch warm. Kupferne Kochtöpfe und Kellen hängen, alle im gleichen Winkel, von der niedrigen Decke herab. Der Tisch ist gegen die Wand gerutscht und hat in der Mitte des Raumes sechs Stühle zurückgelassen, die an ihrem Platz verschraubt sind. Auf der marmornen Arbeitsfläche liegen zwei gerupfte Gänse, ohne Zweifel für die Kommandeurskajüte bestimmt. Auf dem Boden: Kris‐ tallkrüge, zerbrochenes Geschirr, verbogene und verbeulte Silberteller, Serviertabletts, Gewürzgläser, Zuckertöpfe mit dem Wappen der Compagnie und Servietten, die sorgfältig durch geschnitzte Elfenbeinringe gezogen sind. Aus den Laderäumen immer noch das Hämmern der Hufe, die gegen die losen Planken schlagen. Der Bulle brüllt noch immer. Ich wage mich nicht dorthin. Noch nicht. Ich steige die Leiter zu den Vorratsräumen hinab und zähle die Fässer mit Nahrungsmitteln, die ordentlich an der Wand aufgereiht sind und von Tauen sicher gehalten wer‐ den. Gepökeltes Rindfleisch, Essig, Heringe, Sprotten, Oli‐ ven. Einfache, salzige Kost. Mit dem Schwert des Komman‐ danten stemme ich die Holzkisten auf, die in einer Ecke gestapelt sind – Knollen aus Amerika, die saftige, grüne Triebe gebildet haben; Kokosnüsse, die man in Table Bay 112
gegen Spitzenfächer getauscht und hier zu Hunderten ge‐ stapelt hat, und natürlich Jamswurzeln. Ich pelle eine davon. Das freigelegte Fleisch wimmelt von bleichen, bräunlichen Maden. Bei den anderen Wurzeln das Gleiche. Die Kokos‐ nüsse sehen nicht viel besser aus. Aber, zaghaft zunächst, bringe ich es über mich, die säuerliche, grüne Milch heraus‐ zusaugen. Wie ich mich nach einem einfachen, geschälten Apfel sehne. Im anliegenden Vorratsraum fördert meine Bestandsauf‐ nahme der Weine einen hervorragenden Burgunder aus bes‐ tem Jahrgang zutage. Der Räucherschinken scheint in passa‐ blem Zustand, die Sauerkrauttöpfe sind unversehrt, selbst die Eier liegen heil in ihren Körben. Die Frage ist jetzt, wie die Vorräte zu retten sind. Die Methode des gelernten Schiffbrüchigen wäre es nun, die Strömungen des Ozeans zu studieren, die trügerischen Brandungswellen einzuschätzen, die genauen Zeiten von Hoch‐ und Niedrigwasser zu erkunden und zu bestimmen, wie oft und wie lang zwischen Morgengrauen und Abend‐ dämmerung Niedrigwasser auf der Insel herrscht. Endlose Berechnungen in Einheiten von Messingklampen und Seil‐ längen. Wenn die Flut kommt, beginnt das mühevolle Herablassen der Fässer mit Hilfe einer ausgeklügelten Apparatur aus Taljen und Gewichten, die in der Offiziers‐ messe lagern. Aber ich bin kein Deckschrubber, Lastenzieher und Fässer‐ roller mit tausend Zahlen im Kopf. Wenn der Schiffer kommt, mich zu holen, werden wir einen anderen Weg finden. 113
Ich werde des Wartens müde. Des beständigen Schiagens der Wellen. Ein ums andre Mal klettere ich in den Vorratsraum hinab, schleppe was ich tragen kann auf die Poop, die höchste Stelle des Schiffes, und verstaue meinen vergänglichen Schatz – der fünfzig Mann nicht einen Tag ernähren wird – zwischen den Taurollen. 114
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ch habe mich in die Kajüte des Kommandanten zurück‐ gezogen, als ich mich plötzlich an Lucretias Tagebuch er‐ innere. Es scheint eine Ewigkeit her, dass ich den Lederband in meine Tasche gestopft habe. Ich hole das seewasserge– tränkte Büchlein hervor. Das glatte, cremeweiße Pergament ist ruiniert, die Seiten kleben aneinander. Ich versuche, sie zu trennen. Die lilafarbene Tinte ist in feinen Bächlein verlaufen, Kleckse verunzieren die saubere, geneigte Hand‐ schrift. Ich kann Lucretia vor mir sehen, wie sie in ihrer Kabine sitzt, das Tagebuch vor sich auf der Schreibklappe, wie sie den Federkiel in ein silbernes Tintenfass taucht und jedes Blatt sorgfältig mit Löschpapier trocknet. Ich sehe sie vor mir, wie sie sagt: «Ich schreibe dies nieder, weil es wichtig ist, diese Dinge in der Erinnerung zu bewah‐ ren. » Am Rande einer Seite entziffere ich ein Datum: 2ter April, Anno 1629. Oben auf der Seite die Worte Kabine sorgfältig eingerichtet, alles verschnürt und gesichert. Weiter unten: hat er etwas Trauriges an sich und darunter: als sei ihm ein lieber Mensch gestorben. Auf der nächsten Seite: Noch nie zuvor habe ich mich für furchtlos gehalten. Ich schlage das Tagebuch in der Mitte auf, wo es noch fest ist und das Salzwasser anscheinend am wenigsten Schaden angerichtet hat. Zwischen zerlaufener Tinte und Klecksen lese ich matt und allein, und Gefühl der Angst. Im letzten Eintrag – ohne Zweifel vom Abend vor dem Schiffbruch, kurz vor dem 115
vom Kapitän befohlenen Überfall, als ich nichts tun konnte, sie zu retten – lese ich: Vergiss niemals ein Gesicht. Weiter unten entziffere ich: Die Wangen glatt wie die eines Knaben, die Brauen zu schmalen Bogen gezupft, ein Aus‐druck verwunderter Unschuld. Ganz unten auf der Seite: ohne zu blinzeln, kein –. Danach sind alle Seiten leer. Von wem spricht sie? Gewiss nicht vom Kommandanten – von einem der Matrosen viel‐ leicht, oder einem Burschen im Dienste der Compagnie. Ich werfe das Tagebuch beiseite, denn aus seinen ver‐ schmierten, fleckigen Seiten ist nichts zu erfahren, und blicke in den Spiegel des Kommandanten. Ich lächle und drehe den Kopf bald in die eine, bald in die andere Richtung. Im hermelingefütterten Mantel des Kommandanten, der mit goldenen, von Perlen und Opalen durchwirkten Tressen besetzt ist, gehe ich vor dem Spiegel auf und ab. Ich setze die federgeschmückten Samthüte auf, probiere die Stiefel aus Kalbsleder. Ich öffne seine Seekiste und falte die sei‐ denen Hemden auseinander, die spitzenbesetzte Leib‐ wäsche, die Strümpfe aus feinster Baumwolle, Kniehosen aus Satin mit perlmutternen Knöpfen. Ich kleide mich in seinen besten Staat und bewundere die purpurne Schärpe um meine Taille, die steife, weiße Halskrause mit dem gerüschten Rand, und es ist genau so, wie ich es mir immer erträumt habe. Dann bereite ich mich auf meine Rettung vor, denn wo‐ möglich bleibt keine Zeit, mein Gepäck an Bord zu nehmen, wenn das Boot kommt. Zuerst wickle ich die Phiolen mit meiner Medizin und die 116
Päckchen mit Opium in die Hemden und Socken des Kom‐ mandanten. Die Bänder, Schleier und Spitzen, unverzichtbar für mein Gewerbe der Galanterie, die Broschen, Hand‐ schuhe und Strumpfbänder, all die Accessoires der buhlen‐ den Liebe, verstaue ich in einem Lederbeutel, den ich fest zuziehe. Ich schneide das Pelzfutter des Mantels auf – obgleich es mir das Herz bricht – und stecke diese kostbaren Güter in die Satinfalten, dann nähe ich den Schlitz von einem Ende zum anderen mit Nadel und grobem Zwirn zu, den ich im Escritoire des Kommandanten entdeckt habe. Außerdem bin ich umsichtig genug, eine Kerze zu entzün‐ den und meine Gifte in ihren angestammten Behältnissen zu versiegeln: den schweren Silbermedaillons auf meiner Brust, den Ringen an meinen Fingern, die auf die leiseste Berüh‐ rung hin aufspringen, den Döschen aus Schildplatt, die schwer in den Taschen meiner Kniehosen liegen. Endlich bin ich bereit. Abermals erklimme ich die Poop. Am Horizont schäumt der Ozean purpurrot, doch wenigs‐ tens für den Moment scheinen die Wellen innezuhalten. Vielleicht wagt der Schiffer heute Nacht die Überfahrt. Wenn der Wind sich dreht, stöhnt die Batavia wie ein an‐ geschossener Bär, der im Sterben liegt. Vom Fockmast kracht eine Rah auf den Bugspriet. Vorbramsegel und Klü‐ ver bauschen sich nach hinten, und lose Blöcke und Leinen schlagen mit sirrendem Pfeifen gegen das Rigg. Der geborstene Stumpf des Großmastes schwankt unter der Last eines unentwirrbaren Geflechts aus Segeln und Tauen. Es wäre gefährlich, sich aufs Mitteldeck zu wagen, und an die Toten dort unten will ich gar nicht denken. 117
In der herabsinkenden Dunkelheit werde ich eines seltsam glimmenden, flackernden Lichtes gewahr, das geisterhafte Schatten auf das Deck wirft. Der Mund wird mir trocken vor Angst, ich wende mich um und starre in die dunkle Nacht. Kann es sein, dass dort jemand mit einer Fackel oder einer Laterne in der Hand auf mich zukommt? «Hallo», rufe ich. «Wer dort?» Stille. Immer noch flackert ein fahles Licht hinten am Heck, geis‐ terhaft wie das Glimmen der Glühwürmchen. Ich klettere auf die höchste Stelle der Poop. Als ich aufbli‐ cke, sehe ich es. Die große Hecklaterne schwingt fröhlich hin und her, der Docht in dem letzten Rest Waltran glimmt noch immer, und eine winzige Flamme blinkt und blinzelt durch rauchiges Glas. Ich sinke auf die Knie und schluchze vor Er‐ leichterung, die bald in Verzweiflung umschlägt, denn ge‐ wiss wäre ein zweiter Überlebender an einem Orte wie diesem durchaus willkommen. Dann wische ich die Tränen mit dem Handrücken fort und beschließe, die Laterne hell brennen zu lassen. Wie ein Leuchtfeuer soll sie lodern, und in dieser Nacht sollen alle, der Schiffer eingeschlossen, sehen, dass eine letzte, vergessene Seele an Bord zurück‐ geblieben ist. Ich, der ich der führende Kopf der Meuterei war, der ich den fehlerlosen Plan erdachte – und diese Meu‐ terei, daraufgebe ich euch mein Wort, wäre zur Legende ge‐ worden, sie wäre für alle nachfolgenden Generationen in die Geschichtsbücher eingegangen –, ich verlange, gerettet zu werden. Ich eile in die Kommandeurskajüte, durchwühle den Escri‐ 118
toire nach einer Zunderbüchse, reiße alle Kerzen aus dem Kandelaber und haste zurück zur Poop. Da ist nur eine Kleinigkeit. Ich muss auf die Reling der Poop klettern, um das Türchen der Laterne zu öffnen. Bei dem böigen Wind, allein auf einem Schiffe, das dem Untergang geweiht ist, ein wahnwitziges Unterfangen. Doch um wie viel wahnwitziger ist es, sich nicht den anderen in der Pinasse angeschlossen zu haben? Was hätte es mich gekostet? Einen Stiefel über die Reling. Dann den nächsten. Ich hätte um Hilfe schreien können, wäre ich ausgerutscht oder nicht kräftig genug gewesen, mich zu halten, oder hätte ich mir die Hände an dem rauen Werg blutig gerissen – irgendjemand hätte Jeronimus Cornelisz, Kaufmannsgehilfe und vormaliger Apotheker, aufgefangen und an Bord gehievt. Stattdessen habe ich die Rufe des Schiffers ignoriert, mich in die Schatten geduckt und zugesehen, wie sie davonsegelten. Hier stehe ich also, noch immer allein. Vor mir eine gefähr‐ liche, verzweifelte Mission. Ich wünschte, Fitz wäre hier, würde flink wie ein Affe den Kreuzmast aufentern, das Messer zwischen den Zähnen, und der tosenden Gischt unter sich spotten. Ich klettere auf die Reling. Ich schließe die Augen und at‐ me die kalte, klare Luft in tiefen Zügen ein. Und wenn ich versage? Wenn die salzige Gischt den Zunder durchnässt? Wenn ich die Laterne öffne und die Flamme ausgeblasen wird? Was bleibt mir dann? Die Himmel verfluchen. Ich wage kaum zu atmen, als ich den Riegel löse und die Laterne mit einer Hand gegen den Wind abschirme. 119
Vorsichtig tauche ich neue Dochte in den geschmolzenen Talg, lege mit dem Zunder zarte, grüne Flämmchen und drücke die Kerzen an ihrem Platze fest. Behutsam schließe ich die Tür. Ein immer größer werdender Kegel silbrigen Lichts erhellt die Poop. Sie werden den hellen Schein der Laterne sehen und kommen, mich zu retten. 120
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m dritten Tag ziehen die Seeleute die Pinasse endlich in die Wellen. Die See geht hoch an diesem Morgen, und die Männer haben ihre Mühe, das Boot ruhig zu halten, damit der Schiffer in den Bug klettern kann. Es folgt der Kommandant, der von den starken Wellen beinah umge‐ worfen wird. Zu meiner Überraschung gewahre ich auch Zwaantie, die ins Wasser watet und ein ums andre Mal von den glasgrünen Brechern emporgehoben wird. Statt seine Gespielin zurück an Land zu beordern, wirft der Schiffer Zwaantie ein Tau zu und zieht sie zum Boot, wo sie über die Seite gehievt wird. Mir ist unerklärlich, warum die Zofe bei meiner Rettung dabei sein soll. Was stellt sie anderes dar als einen zusätzlichen Ballast an Bord? Genauso der Komman‐ dant, der per Gesetz dazu verpflichtet ist, bei den Überle‐ benden zu verbleiben, und sich doch zum Boot vorkämpft, ohne Zweifel in der Absicht, das Gold der Compagnie zu retten. Denn warum sonst sollte er sich unter die Teilnehmer dieser Mission zählen? Ich beobachte, wie die Pinasse die Brandung zu überwin‐ den versucht, doch sie wird von der Dünung zurückge‐ worfen. Wie lange muss ich hier ausharren, in meinem Nest aus salzgetränkten Planken, das in einem endlosen verstei‐ nerten Dickicht auf Korallenzweigen sitzt? Abermals sticht das Boot in See. Diesmal wird es von einer Bö über die Brecher hinausgetragen und dreht aufs Wrack zu. Ich juble meinen furchtlosen Kameraden zu, starke Män‐ ner allesamt, die sich ohne zu Klagen hart in die Riemen le‐ 121
gen. Ich salutiere gar dem Kommandanten, der bibbernd im Heck sitzt. Am Strand schreien Frauen und Kinder nach Brot und Wasser. «Brood», rufen sie wie ein eintöniger griechischer Chor. Unter den Überlebenden habe ich zweihundert Männer, dreißig Frauen und achtzehn Kinder gezählt. Zweihundert– achtundvierzig Seelen. Wouter, De Beere, Pelgrom und die anderen ungestümen Jünglinge sind ebenfalls darunter. Zu‐ mindest die, welche überlebt haben. Die sich in die Fluten warfen und nicht vom Gold in ihren Taschen in die Tiefe ge‐ zogen wurden. Lucretia habe ich noch immer nicht gesehen. Oder ist sie es, die dort hinten am entlegenen Ende der Küste umherwandert? Warum ist sie nicht bei den anderen? Sobald der Schiffer hier ist, werde ich in Erfahrung bringen, was aus der Dame geworden, der ich allein das Leben gerettet habe. Das Boot taucht in die Wellen und steigt wieder auf. Der Schiffer hisst das Großsegel. Der Wind wetzt die breiten Rü‐ cken der schnell heranrollenden Wellen. Die massiven Weiten des Ozeans verdunkeln sich und kommen näher. Eine pfeifende Bö treibt das Boot in stärkere Strömungen. Eine zweite reißt das Großsegel in Fetzen. Das Boot schaukelt auf der monströsen schwarzen Dü‐ nung. Eine donnernde Welle nach der anderen droht es um‐ zuwerfen. Eine kräftige Bö schleudert es auf einen zerklüfte‐ ten, ausgewaschenen Korallenkopf zu, der zwischen dem Wrack und der Insel aus dem Meer ragt. Der Bug des Bootes kratzt über die Felsen. Gerade noch rechtzeitig wirft der Schiffer den Anker. Unser gestrandeter 122
Kommandant taumelt erschöpft und geschlagen auf das kleine Fleckchen Land. Ich schlage mit der Faust auf die Reling und verfluche sie, doch dann tröste ich mich damit, dass der Schiffer dem Wrack nun näher ist als zuvor. Obschon ich mich fürchte auf dieser seeumtosten Bark, die in den Fluten zu versinken droht, obschon ich selbst in großer Gefahr schwebe, komme ich doch nicht umhin zu bemerken, dass unser Kommandant, unser ergebene Sach‐ walter der Compagnie, abermals einen taktischen Fehler begangen hat, indem er so viel als möglich vom Reichtum der Compagnie retten wollte. Denn nun ist er getrennt von den anderen, von den dürstenden Kaufleuten, die ihm die Treue geschworen haben. Und wer würde mit ihm tauschen und jenen korallenen Sockel mit dem Schiffer teilen wollen, der jetzt seinen Blick über die See schweifen lässt, der ohne Zweifel um seinen ertrunkenen Bruder trauert und dem Kommandanten die Schuld gibt an ihrer Lage? Wenn die Pinasse das Wrack endlich erreicht hat, werde ich dem Kommandanten einen meiner unfehlbaren Tränke bereiten. Dann werden der Schiffer und ich uns über einem Krug Wein die Hände reichen und einen neuen, mutigen Plan besiegeln, nachdem unsere Meuterei im Meer versun‐ ken ist. ■
Während der eintönigen Warterei habe ich am Horizont einige größere Inseln ausgemacht, und einmal, noch weiter jenseits, einen blassen, indigoblauen Flecken Land. 123
Ich wage mich in die Kapitänskajüte und finde die Wände bedeckt mit Karten, Stichen und detailreichen Illustrationen Ostindiens, sogar ein Panorama von Batavia ist darunter, aufs Sorgfältigste gezeichnet vom compagnieeigenen Schwa‐ dron der Kartographen. Eine Weltkarte von Houtman, die‐ sem Emporkömmling, der in der Compagnie seinen Weg gemacht hat, zeigt die Route der von ihm befehligten Flotte. Ganz wie ich erwartet hatte, sind die Kompasse aus ihren kupfernen Halterungen gerissen worden, der Davis‐Qua‐ drant wurde vom Tisch montiert, und auch das Logbuch ist verschwunden. Unter den Papieren im Schreibpult finde ich ein Vergrößerungsglas, ein Teleskop, ein Paket abgenutzter Spielkarten, eine leere Taschenflasche. Wie ein Gelehrter studiere ich mit dem Vergrößerungsglas die sauber schattierten Tintenarbeiten der Legionen schwarz‐ gewandeter Schreiberlinge der Compagnie. Ich lasse das Glas über die kartographierten Ozeane wandern und kehre doch zur holländischen Ostindienflotte zurück, die auf malerisch geschnörkelten Wellen vor Batavia vor Anker liegt. Gerade als mir die Augen zu brennen beginnen und ich mein zielloses Umherwandern auf gepunkteten Linien been‐ den will, da sehe ich es. Der Name Houtman in kursiven Lettern neben einer Anhäufung kleinerer Inseln von ganz ähnlicher Gestalt wie just diese Korallenbänke. Ein sichelför‐ miges Halbrund stellt die Insel dar, auf der die Überlebenden gestrandet sind, dieser Fleck hier den Sockel des Kommandanten, dort im Norden die höhere Insel, hier das Riff, auf dem die Batavia auf Grund gelaufen ist. Die Abrolhos. «Halt die Augen offen», warnte der portu‐ 124
giesische Seemann. «Vorsicht», schrieen die Möwen. Aber wir haben nicht gehört, haben unser Vertrauen blind in den Kurs der Batavia gesetzt. Ich kann sogar den winzigen Eintrag des bedeutungslosen Breitengrades entziffern – 30 Meilen vom Südland entfernt. Südland – jener mystische Kontinent, der Stoff, aus dem die Träume der Seefahrer sind. Südland, wer hätte je daran geglaubt? Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, diese Inseln liegen auf der dunklen Seite der Welt. Ich wähle die edelste Feder, streiche Houtmans Namen von der Karte und setze meinen eigenen darüber. 125
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m vierten Tag lassen die Stürme nach. Die Bark schau‐ kelt auf ihrer korallenen Wiege. Zum ersten Mal ist es mir möglich, aufrecht auf der Poop zu stehen. Ohne das Rauschen der Winde im Rigg und das Knattern der zerris‐ senen Segel herrscht auf dem Schiff eine eigentümliche Stille. Unser gestrandeter Kommandant betrachtet von seinem nackten Vogelfelsen aus das Wrack durch sein Glas. Zwaantie die Verräterin liegt zusammengerollt unter einer Decke, ihre Kappe zum Schutz vor der Sonne ins Gesicht gezogen. Ich beobachte den Kapitän und seine Mannschaft, wie sie das Boot instand setzen. Die Warterei macht die Männer wütend. Sie sind über‐ zeugt, dass sie hier an Ort und Stelle sterben werden. Und sie kommen nicht umhin, sich zu fragen, wer dafür verant‐ wortlich zu machen sei. Wie ein solcher Fehler zustande kommen könnte, ohne dass irgendjemand eine Nachlässig‐ keit begangen hat. «Eine gerade Route», so hat der Kom‐ mandant es genannt. Agra, Surat, Batavia. Versprochene Reichtümer aus dem Handel mit Koschenille und Gewürz‐ nelken. Sie werden ungeduldig und sind bereit, jeder Erklä‐ rung Glauben zu schenken, jeden Befehl zur Weiterfahrt zu befolgen. Derweil sitzt der Kommandant zitternd in der Sonne, ein Malariaanfall lässt ihn frieren, das Logbuch hält er auf den Knien. Seine Feder wandert unermüdlich über die Seiten, vermutlich verfasst er Meldungen an die Compagnie. 126
Wozu? Wenn alles verloren ist, das Schiff auf Grund gelau‐ fen, die Überlebenden dem Tode geweiht, die Schätze auf dem Boden der Meere verteilt – was gibt es da zu sagen? Außer natürlich das Offensichtliche: Unter heißer Sonne, un‐ gefähr zwei Stunden vor Mittag, sind wir noch immer damit befasst, unser Boot mit Planken zu reparieren. ■
Dann endlich ruft der Schiffer den Kommandanten und seine Männer zusammen und marschiert wild gestikulie‐ rend vor ihnen auf und ab. Jetzt deutet er nach Norden in Richtung der höchsten Insel. Dahinter ragt kaum sichtbar ein schattiger Bergkamm aus der Dünung: Land. Verräter. Deserteure allesamt. Der Schiffer und seine Männer klettern ins Boot. Der Kom‐ mandant steht allein auf dem meerumtosten Felsen. Der Schiffer macht sich daran, das Großsegel zu hissen. Das Boot bockt im Wind. Der Schiffer wird ungeduldig. Der Wind steht günstig, es ist an der Zeit. Er ruft den Komman‐ danten. Schließlich schickt er vier seiner Männer, meiner ehemaligen Mitverschwörer, ihn zu holen. Widerwillig waten sie durch die Wellen. Ein ums andre Mal werfen sie wachsame Blicke über die Schulter, als rechneten sie damit, dass die Pinasse ohne sie davonsegeln könnte. Sie sind nicht allzu behutsam mit unserem Kommandanten. Er wird ohne Umschweife gepackt und halb zum Boot getragen, halb ge‐ schleift. Gäbe es Zeugen, sie würden einen Eid darauf schwören, dass er entführt wurde. Das Boot liegt hoch am Wind und kämpft sich auf das 127
Wrack zu. Endlich Rettung. Ich wusste, der Kapitän würde mich niemals im Stich lassen. Gemeinsam werden wir dieses Höllenloch verlassen und gen Norden nach Batavia segeln. Ich halte mich am Giekbaum fest und ziehe das Schwert des Kommandanten aus der Scheide, sodass die Klinge in der Sonne blitzt. «Hierher», schreie ich und renne zur Leeseite der Poop. Ich lehne mich über die Reling. Der Moment ist gekommen. Ich wage es nicht, in die schäumende Weite unter mir zu schau‐ en, in die ruhelosen, hungrigen Wellen. Wage es nicht, an den todesmutigen Sprung vom Wrack ins Boot zu denken. Die Pinasse gewinnt an Fahrt, kommt immer näher. Der Schiffer steht im steigenden Bug. Ich feure sie an. Bald wer‐ den sie längsseits gehen. Jetzt neigt sich das Boot auf dem Rücken einer Brandungswelle auf die Seite. Die Segel schlagen back. Das Boot geht auf den anderen Bug. Der Schiffer duckt sich unter dem Baum hindurch und schmeißt die Schot los. Zu spät. Er fällt ab, ändert den Kurs und hält auf die Insel zu. «Nein!», schreie ich. Alle Hoffnung zunichte. Alles ver‐ loren, keine Rettung. Tränen brennen mir in den Augen. Ich habe ihr Spiel viel zu lange mitgespielt. Sobald ich auf der Insel bin, werden die Mörder für ihren Verrat am Galgen baumeln. Eine günstige Strömung treibt das Boot nun auf die Insel zu. Bei seinem Anblick erhebt sich ein Freudenschrei unter den Überlebenden. Die Narren brechen in Jubel aus. Frauen und Kinder schwärmen zur Küste. Der Pfarrer und sein Krankbesoeker winken. Wouter und Pelgrom rennen in die Brandung. Mehrere Soldaten feuern mit den Musketen und 128
jagen unzählige graubraune Vögel in die blaue Luft, am Strand erheben sich kreischend die Möwen. Die Pinasse segelt dicht an die Insel heran. Dann gibt der Kapitän einen Befehl so scharf wie einen Peitschenknall, das Großsegel schwingt herum und das Boot nimmt Kurs hinaus aufs Meer! Ein wütendes Murren geht durch die Menge. Die Segel flattern über die Wellen hinweg, bis sie zuletzt nordwärts hinter der Dünung verschwinden. Am Strand herrscht ungläubige Stille. Als wäre soeben ein Zirkustrick fehlgeschlagen. ■
Jetzt weiß ich, was der Schiffer und seine Mannschaft im Sinn haben. Mit vollen Segeln nach Batavia und dort schnelle Erleichterung bei einheimischen Mädchen und billigem Branntwein suchen. Später bei der gerichtlichen Untersuchung den dreifachen Lohn wegen Tapferkeit einstreichen, für das Navigieren mit defektem Kompass unter einem Labyrinth unbekannter Sterne. Und mein Kommandant, was wird aus ihm? Man wird ihn postwendend auf einem zweiten Schiff zur Rettung aussen‐ den, zusammen mit einer Mannschaft indischer Perlentau‐ cher, denn bis dahin wird dieses Wrack gesunken sein. ■
Seltsam, dass unsere Chancen auf Rettung jetzt allein vom Geschick des Kommandanten abhängen. Er wird die rhetori‐ 129
schen Künste eines Politikers brauchen, die Hinterlist eines Höflings, die Beharrlichkeit eines Speichelleckers, um nach dieser Sache in gutem Lichte dazustehen. Man versetze sich in seine Lage. Was würde ich tun, wenn wir die Rollen tauschten? Wie dem Verwaltungsrat der Compagnie dieses Desaster erklären – denn an einem kann es keinen Zweifel geben: Den Kommandanten wird man zur Rechenschaft ziehen. Das Wort vom Skandal wird die Runde machen, und die Vestibüle, die Antechambres, die Ratssäle und die Kontore des Generalgouverneurs werden widerhallen von geflüster‐ ten Verdächtigungen. Der Generalgouverneur wird wenig erfreut sein. Ein Frachtschiff auf eine Rettungsmission zu schicken ist kostspielig, zusätzliche Heuer wäre zu zahlen, dann die Fra‐ ge der Besatzung zu klären, ein neuer Schiffer müsste ange‐ mustert werden, eine neue Mannschaft, ganz zu schweigen vom Papierkram, den endlosen Berichten, die hin und her geschickt werden, um die Kosten der Unternehmung abzu‐ schätzen. Es wird Gutachten geben und Gegengutachten, Abhand‐ lungen und eingehende Untersuchungen. Nur wenn die Chance besteht, das Gold zu bergen, werden die Advokaten der Compagnie bei der nächsten Sitzung des Verwaltungs‐ rates empfehlen, ein Rettungsschiff auszusenden. Den Körper vom Salzwasser geschunden, die Eingeweide vom Durchfall berstend, wird der Kommandant dennoch ganz den Edelmann geben müssen, den Offizier und Kapitän der Indigoindustrie, Beförderer der holländischen Weltherrschaft über die Meere. 130
Ein Kammerdiener wird ihm die gerissenen Fingernägel maniküren, die windgegerbte Haut eincremen, die dünnen Strähnen sonnengebleichten Haars unter der gepuderten Perücke glätten. Der Kommandant wird Acht geben müssen, dass ihm der Wille nicht versagt, dass seine Hand nicht zittert, wenn er seinen Namen unter all die Dokumente setzt. Ich frage mich, ob er dieser Aufgabe gewachsen ist. Fast hebe ich die Hand zum Gruß, als ich dem Boot nach‐ blicke, nunmehr ein schwarzer Fleck am Horizont. Da ihr Schicksal für uns alle hier von besonderem Belang ist, salutiere ich. Denn sollten sie versagen, bliebe diese Geschichte auf ewig unerzählt, das Flaggschiff der Ostindienflotte spurlos verschwunden. Endlose Welt.
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m späten Nachmittag regnet es. Die Insel wabert wie eine Luftspiegelung, aus der alle Farbe gewaschen ist. Die Menschen an Land jauchzen und recken die weit geöffneten Münder dem Himmel entgegen. Das Wasser rinnt ihnen über die Lippen, schlängelt sich zwischen ihren Schenkeln und verwandelt gestrenge Kaufmannsweiber in ausgelassene Meerjungfrauen. Doch vor allem fällt mir auf, dass nur die Soldaten die leeren Fässer mit Wasser füllen. In der Kommandeurskajüte unter der Schlafkoje treiben Briefe, Kaschmirhandschuhe, Spielkarten und ein lackierter Globus und schwappen gegen die holzverschalten Wände. Es ist an der Zeit, diesen sinkenden Wasserpalast zu verlas‐ sen. Was soll ich mit mir nehmen? Was zurücklassen? Ein sil‐ bernes Behältnis, zu dem ich den Schlüssel nicht gefunden habe, den Lederbeutel voller Goldmünzen, die in Öllein‐ wand gewickelten Kleider des Kommandanten? Ich lege all diese Dinge und eine Flasche Branntwein in den Umhang des Kommandanten, binde ihn an den Enden zusammen und schnüre ihn mir wie einen Sack auf den Rücken. Als ich nach draußen komme, krabbeln Hunderte von blauschimmernden Taschenkrebsen seitwärts über das Deck und heben klappernd ihre purpurfarbenen Zangen, so als wäre ich ihr neuer Gott. Meine Angst ist größer denn je. Ich war mir so sicher, ge‐ 133
rettet zu werden. Mein Herz schlägt schneller vor Furcht, als ich auf die Poop klettere, wo die grauen Wellen wabern, ohne sich zu brechen. Ich höre, wie der Kiel gegen die Felsen schlägt. Wasser dringt durch das Deck und ergießt sich in jeden finsteren Winkel. Es reicht mir bereits bis an die Knöchel, und die See steigt. Werden die Wellen mich aufnehmen wie das Fruchtwasser im Schöße meiner Mutter? Werden diese salzigen Wogen mich wiegen und tragen? Wird der Tod durch Ersticken mich an den Anbeginn zurückwerfen? Mit ohrenbetäubendem Krachen bricht ein Teil der Poop weg. An der Außenseite der Reling überwachen die ge‐ schnitzten Maskarone der Batavia, jene wachsamen Fratzen aus Zedernholz, weiter mit blinden, hervorquellenden Augen den leeren Horizont. Die Reling wölbt sich empor und birst auseinander. Mehrere Maskarone stürzen in einem Schauer von Holzsplittern hinab. Mein Blick fällt auf das wohlvertraute Hohngesicht eines der Maskarone – mein alter Freund Beelzebub, Herr der Fliegen. Die Reling bebt und splittert. Mein Maskaron wird nicht mehr lange halten. Ich beschließe, meine Geschicke an ihn zu knüpfen. Mit einem Tampen schirre ich mich selbst an seine Hüften, zwischen die tanzenden, gespaltenen Hufe. Mit dem kreischenden Getöse berstenden Holzes reißt er sich langsam aus der Befestigung und stürzt in die stürmi‐ schen Fluten. Schwarze, luftleere Wasser schlagen über mir zusammen, das Blut donnert mir in den Ohren, etwas Kaltes und Uner‐ gründliches schlängelt sich um mein Bein. Ich klammere mich an meinen blinden, gefallenen Engel, der mich nach 134
oben trägt und endlich die glatte Membran der See durch‐ stößt. Das Licht blendet mich. Ich lasse meiner Angst in hastigen, heiseren Schluchzern freien Lauf und weine salzige Tränen wie ein reuiger Pilger. ■
Stunden, in Angst gemessen, treibe ich dahin, bis ich von ei‐ ner starken Strömung auf die Insel geworfen werde. Von der Sonne geblendet, liege ich ausgestreckt auf hei‐ ßem Sande und fühle mich wie ein Ertrunkener, verrottet wie ein Weizenkorn. Jeder einzelne Knochen schmerzt. Von überall her Flüstern, Wortfetzen nur, die abebben, umschlagen und wieder aufbranden. ■
«Ein Wunder!», schreit jemand. «Der Apotheker ist am Le‐ ben.» Die Menge drängt sich um mich. Der süßlich–saure Geruch des Todes steigt mir in die Nase. Flinke forschende Hände knüpfen den klatschnassen Umhang von meinem Rücken. Ich höre das Klingen der Branntweinflasche, die von einem Überlebenden zum nächsten gereicht wird. Zustimmendes Gemurmel. «Seht nur, was er uns mitgebracht hat.» Abermals macht die Flasche die Runde. «Branntwein für die Kranken.» 135
«Der Apotheker wird uns heilen.» Die Stimme einer Frau. Nicht die von Lucretia. «Seine Ankunft ist ein Zeichen Gottes.» Der näselnde Jam‐ merton des Pfarrers. «Denn er ist es, den der Herr erwählt hat, uns von diesen finsteren, gottverlassenen Küsten zu führen.» Alles schweigt. Ein Kind beginnt zu weinen. «Mit dem Schall der Trompete hat der Herr seine Engel ausgesandt», verkündet der Pfarrer im Ton der Verzückung. «Sie haben seinen Auserwählten aus allen vier Winden ge‐ sammelt, aus den fernsten Winkeln der Himmel. Lasset uns niederknien.» Mit einem Lächeln öffne ich die Augen. Aufgeregt tragen sie mich die Küste entlang. Ich sehe, dass man versucht hat, im spärlichen Schatten der Dornbüsche, die unserem heimischen Stechginster ähneln, eine Reihe von primitiven Behausungen zu errichten. Einfache Einfriedungen aus Treibholz, das in den Boden gerammt und zum Schutz vor dem Wind mit Steinen gesichert wurde. In den kläglichen Löchern flackern kleine Feuer, und Rauchschwaden kräu‐ seln sich in die heiße Luft. Überall bläst Sand so fein wie Mehl. ■
Seltsam, das Wrack von Land aus zu sehen. Die Batavia muss sich aus ihrem korallenen Schraubstock gelöst haben, denn sie scheint der Insel jetzt näher als zuvor. So nah, dass es den Überlebenden möglich sein müsste, bei Niedrig‐ wasser ein Floß bis auf eine Viertelmeile heranzubringen. 136
Hätte ich abwarten sollen, bevor ich mein Los an die Ze– dernholzfratze band? Doch das Schiff krängt gefährlich nach Steuerbord, und auf der zerschmetterten Poop schwingt ein letzter, zersplitterter Maskaron an der geborstenen Reling. ■
Ich werde in eine schmale Einfriedung gebracht – Holzplan‐ ken, die man in den weichen Sand getrieben hat – und auf ein zerrissenes, klammes Stück Leinwand gelegt, das mir als Bett dienen soll. Die vom Seewasser durchweichte Bibel unter den Arm ge‐ klemmt, kniet der Pfarrer neben mir nieder. «Wo ist sie, wo ist Lucretia?», frage ich. Er erzählt mir, wie man sie am entlegenen Ende der Küste aufgegriffen habe, fiebernd und phantasierend, die Füße von den Felsen und Dornen dieses Eilands zerschunden. «Sie ist stark, Mijnheer», sagt er. «Und sie ist in Sicherheit. Die Frauen werden Tag und Nacht von den Soldaten be‐ wacht. Der Barbier ist bester Hoffnung, dass sie genesen wird.» Ich lächle. Ich wusste, dass mir Lucretia über kurz oder lang wiedergegeben würde. Der Pfarrer befingert das Kruzifix an seinem Hals und fängt an zu beten. «Ohne die starken Regenfälle gestern hätte es längst Mord und Todschlag gegeben und großen Schrecken unter den Menschen», stammelt er, und Tränen laufen ihm über die Wangen. Sein Wanst zittert unter der scharlachroten Schärpe. «Gleichwohl», flüstert er, sein Gesicht dicht vor meinem, 137
«bei dem wenigen Wasser, das wir haben, kann die große Zahl der Menschen hier nicht darauf hoffen zu überleben.» Mit zustimmendem Nicken gebe ich ihm Anweisung, alle Männer, Frauen und Kinder herbeizuholen, damit sie nach Wasser graben. «Jetzt wo der Sturm vorüber ist, muss das verbleibende Boot übersetzen, um Vorräte aus dem Wrack zu bergen.» Der Pfarrer schüttelt den Kopf. «Das Boot wurde zer‐ schmettert, als es die Küste erreichte», sagt er mit zitternder Stimme. «Aber wenigstens wurden alle an Bord gerettet.» «Dann muss ein Floß gebaut werden», fahre ich fort. «Die Vorräte der Batavia sind noch fest verschnürt und unver‐ sehrt.» Unser gefräßiger Geistliche leckt sich die Lippen. «Seit Eurer wundersamen Ankunft», sagt er, «ist die See glatt wie Seide.» Ich weise ihn an, dafür Sorge zu tragen, dass die Männer, die auf die Rettungsmission geschickt werden, auch die Reichtümer bergen, damit die Ehrenwerte Vereenigde Com‐ pagnie von unserer Loyalität erfährt, wenn wir gerettet wer‐ den. «Wie viel Vorräte gibt es hier?», frage ich. Der Pfarrer zählt die mageren Bestände an den Wurstfin‐ gern auf: zwölf Fässer Wasser, auf dem ersten Boot herge‐ bracht und inzwischen vom Regen aufgefüllt, außerdem ein wenig Wasser, das in einem Teil des Großsegels aufge‐ fangen wurde, welches vom Wrack an Land gespült worden war. Es wird kaum länger halten als eine Woche, höchstens. An Proviant: sieben Fässer mit gekochtem Fleisch, die wie durch ein Wunder von den Gezeiten an Land getragen 138
wurden. Ein spärlicher Bestand, da muss ich ihm beipflichten. Nicht ein einziges Fass Wein oder Rum. «Es ist keine Zeit zu verlieren», sage ich. «Wir müssen so viel wie irgend möglich von der Batavia bergen.» Ich reiche ihm eine kleine Phiole mit Opium. «Bringt das dem Barbier, der sich um die Kranken kümmert. Tragt Sorge, dass Lucretia ihren Teil erhält.» «O Herr, ohne Euch wäre alles verloren», seufzt der Pfar‐ rer. Er beugt sich vor, um den Smaragdring des Komman‐ danten zu küssen, der sich wie angegossen um den Zeige‐ finger meiner linken Hand schmiegt. «Wie das?», frage ich. Er bedenkt mich mit einem hoff‐ nungsfrohen, sehnsuchtsvollen Blick. «Jetzt wo der Kommandant, die höchste Autorität an Bord ...» «Euch verraten hat», werfe ich ein. «Die Vorschriften der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie missachtet und uns alle betrogen hat, indem er sich auf dem Boot davon‐ machte.» Der Pfarrer blickt sich verstohlen um. «Ich muss gestehen, Mijnheer, seit er und der Schiffer fort sind», flüstert er, «ist jede Ordnung zusammengebrochen. Jeder denkt nur an sich, bis auf die Soldaten, aber selbst sie lassen den Mut sinken an diesem Ort.» Er berichtet, dass am dritten Tag eine Gruppe Schiffbrü‐ chiger aus Angst um ihr Leben einen zwölfköpfigen Inselrat gewählt habe, dem auch er selbst angehöre und der ge‐ schworen habe, für Ruhe und Ordnung nach den Gesetzen Amsterdams zu sorgen. 139
«Doch das hat sich als äußerst schwierig erwiesen, Mijn‐ heer», sagt er und blickt noch einmal über die Schulter. «Es gibt niemanden unter uns, der ein geborener Führer wäre.» Ich hebe die Augenbraue. «Kein Anführer?», frage ich. «Was ist mit Euch, mein lieber Pradikant?» «Zu freundlich, zu freundlich», murmelt er. «Doch ich bin nur ein einfacher Mann Gottes, der eine hungrige Familie zu beschützen hat.» Er setzt eine gedankenvolle Miene auf. «Um die Wahrheit zu sagen, Mijnheer, ich zähle auf Euch.» Er hält inne und tupft sich die Stirn mit einem Taschen‐ tuch. «Niemand hat vergessen, wie Ihr in jener schrecklichen Pa‐ nik beim Verlassen des Wracks beiseite standet und einen klaren Kopf bewahrtet, wie Ihr darüber wachtet, dass Frauen und Kinder zuerst von Bord gingen. Wie man mir sagte, kehrtet Ihr sogar in die Kabinen zurück, um Lucretia zu retten, nachdem ihre treulose Zofe sie dem sicheren Tode überlassen hatte.» Ich starre ihn verwundert an und muss ein Lachen unter‐ drücken. Jetzt fängt dieser sentimentale Fettkloß auch noch zu heulen an. «Ein so heldenhaftes, selbstloses Betragen, Mijnheer, das uns allen die Schamesröte ins Gesicht treibt.» Haben sie mich also zu ihrem Helden erkoren. Es könnte leichter sein, als ich dachte, die Herrschaft über diese Insel an mich zu reißen, zumal mein Arsenal an Medizin‐ fläschchen ein Heilsversprechen birgt. Für das gemeine Volk steckt die Kunst des Apothekers voller Mysterien, scheint durchdrungen von der gleichen wundersamen himmlischen 140
Macht wie das Gewerk unseres Geistlichen, der mit den endlos heruntergeleierten Psalmen aus jenem kleinen schwarzen Büchlein Heil verspricht. Seht ihn euch an, den Geistlichen, wie er auf Knien hockt, die Bibel in den weichen, weißen Händen, und nicht auf‐ hört, von meiner wundersamen Ankunft zu salbadern. «Jeden Tag habe ich für Euch gebetet. O Herr, habe ich gesagt, errette den Kaufmannsgehilfen, der willens war, sein Leben für uns zu geben. Und heute Morgen hat der All‐ mächtige meine Gebete erhört.» Der Pfarrer blickt auf. Ein Ausdruck freudiger Erregung erleuchtet sein blasses, rundes Gesicht. Wie er mich anödet. «Meine Stimme ist Euch gewiss», sagt er. «Ihr müsst für Ordnung sorgen, sonst werden die Leute sich bald gegensei‐ tig in ihren Betten meucheln.» Ich danke ihm mit huldvoller Geste. Dieser Mann ist Wachs in meinen Händen. Die Kaufleute und vor allem die Soldaten sind es, die ich auf meine Seite ziehen muss. «Glaubt Ihr, Euer Zwölferrat würde mich als Gouverneur dieser Insel anerkennen?» «Ganz ohne Zweifel, Mijnheer. Der Rat hat zu regieren versucht und versagt.» «Haltet mich auf dem Laufenden», sage ich. «Denn ich werde nur handeln, wenn die Menschen es wünschen.» Ich strecke die Hand aus. Schwerfällig rappelt der Pfarrer sich auf die Füße und küsst erneut den Ring an meinem Zei‐ gefinger. Mit einer Verbeugung schlägt er die Klappe aus Segeltuch beiseite, die als Tür dient. «Eines noch», rufe ich ihm nach. «Bitte versichert Lucretia 141
meiner tiefsten Verehrung und erklärt ihr, dass das Opium von mir stammt und ihre Genesung beschleunigen wird. Ich werde ihr meine Aufwartung machen, sobald ich vom Barbier höre, dass sie wohlauf ist.» «Euer Wunsch ist mir Befehl, Mijnheer.» Der Pfarrer stolpert nach draußen und hält sich eine Hand über die Augen, um sie vor der gleißenden, schneeweißen Helligkeit der Küste und dem unbarmherzigen Glitzern des türkisfarbenen Ozeans zu schützen. Wie ich mich nach den sanften, schattigen Farben meiner Heimat sehne, den Mor‐ gennebeln, die in grauen taugetränkten Schwaden über die Grachten ziehen, mich sehne nach den Winterkrokussen, die durch frostharte Erde stoßen. Ich würde meine Seele geben für jene ersten Frühlingsmonate, wenn die milchigfeuchte Luft in klaren, kalten Wolken aus der Lunge dringt, wenn der morgendliche Dunst sich in Wirbeln am Saume des Umhangs sammelt und die Sonne, von Wolken verschluckt, unsichtbar bleibt, bis auf ein schwaches Glimmen hier und dort zwischen den tropfnassen Zweigen der Lindenbäume. Ich würde alles geben für das Rauschen des Regens im Laub, für einen plötzlichen Schauer, der auf das Dach trommelt. Ich trauere um die Farbe Grün. Nicht um jenes grell smaragdfarbene Mosaik aus lebendiger Koralle, das wie billiges Geschmeide unter jeder Welle glitzert, oder um diese Tupfer von derbem Moos, das zwischen dem Gebüsch wächst, sondern um das süße, saftig‐duftende Grün wie von frisch gemähten Wiesen oder der Hundsrose in den Hecken in den Feldern um Amsterdam. ■ 142
Diese Insel ist ein trostloser Flecken: flach geriffelte Dünen im Osten; zerklüftete Korallenfelsen im Westen, kahle Hügel im Norden. An ihrem südlichen Rand wird die Insel von kargen Korallenbänken begrenzt, die sich in einem langen, weiten Bogen dahinziehen. Überall kriecht dorniges, dichtes Buschwerk zum Wasser hinunter. Und unablässig spült der unermüdliche Ozean dunkelgrüne Algenkränze an den Sandgürtel. Am Ufer liegen hier und da verknotete Tampen von der Batavia. Ausgeblichenes, weißes Treibholz liegt kreuz und quer übereinander wie die Gebeine in einem Armengrab. In Gruppen durchstreifen die Überlebenden dieses, ihr schroffes, neues Zuhause. Ich beobachte die Soldaten, die mit bloßen Händen Löcher in die rissige Erde graben, noch immer auf der Suche nach Wasser. Die Kaufleute rufen einander von den felsigen An‐ höhen aus zu, sie haben Angst, sich in den Dornen und Ranken fremdartiger Büsche zu verlieren. Die Kaufherren der Nation werden schwach. Es sind Men‐ schen, keine Götter, und mich dünkt, es gibt zu viele von ih‐ nen. Einzig und allein ich, Jeronimus, habe einen Plan. Einzig ich denke in die Zukunft, an das Schiff, das uns zur Rettung kommen und unsere Insel bei Niedrigwasser sichten wird. Die Matrosen, die an Land rudern. Meine neuen Meuterer, wie sie die Musketen anlegen. Schnell, sauber, sicher. Wenn es vorüber ist, werde ich eine andere Uniform tragen, steif und gestärkt, von jungfräulichem Weiß, und ich werde einen Schiffer anmustern, der mich mit Hilfe der wandern‐ den Sternbilder zur Elfenbeinküste segelt. 143
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outers Besuche verkürzen mir die Zeit der Genesung. Er bringt Austern und Neuigkeiten: Die Kaufleute haben dieses Eiland Insel des Verrats getauft, weil der treulose Kommandant sie hier im Stich gelassen hat; und sie beten für meine Gesundung. Als er von den Streitereien erzählt, die vor dem Regen über die Wasserrationen entbrannten, läuft er unter meinem prüfenden Blick immer wieder hochrot an. Wie unschuldig er ist, und doch wie verderblich, sein Mund wie eine Rosen‐ knospe. «Am ersten Tag», sagt er, «haben wir vier Wasserfässer für uns behalten und hinter den Felsen versteckt.» «Ihr habt wohl getan», sage ich. «Wie sonst solltet Ihr überleben?» «Dann haben wir Brot und Käse beiseite geschafft, die wir an die Frauen und Kinder verteilen sollten. Schließlich und endlich stehen uns einige Privilegien zu.» «Selbstredend», pflichte ich bei. «Ihr seid Edelmänner aus Amsterdam. Von hoher Geburt und Rang.» Er zieht einen Satz Spielkarten aus der Tasche und teilt sie liebevoll. «Wertvolle Vorräte», sagt er, «dürfen nicht an die Händler vergeudet werden.» «Das habe allein ich zu entscheiden.» Ein gezielter Schlag; Wouters Wangen glühen scharlachrot. Er weicht meinem Blick aus. Er weiß, wäre er begabter, ein geborener Führer wie ich, er hätte eine anständige Ber‐ 144
gungsmission auf den Weg gebracht, statt von gefräßigen Kaufleuten Brotkrumen und Wasser zu mausen. Diesen kleinen Kolonialbeamten fehlt es an Entschluss‐ kraft, was meinen Zwecken nur dienlich sein kann. Obwohl ich im Grunde mit Wouter übereinstimme, dass die Überlebenden kurz zu halten sind, fraglos weitaus mehr als unsereiner, so ist es doch unerlässlich, dass ich diese ver‐ zärtelten Jünglinge, die Elite Amsterdams, klar in ihre Schranken weise. Wouter nimmt sich in diesem meinem Königreich bereits zu viel heraus. «Sie graben nicht einmal Latrinen.» Er ist klug genug, nicht weiter darauf einzugehen, doch seine Stimme überschlägt sich vor Zorn. «Sie würden vor die eigene Hütte scheißen wie die Schweine.» «Nun, unter meinem Kommando», sage ich, «wird es Eure erste Aufgabe sein, die Schaufeln auszugeben.» Jetzt schmollt er, verschränkt die Arme vor der Brust und legt die Stirn in Falten. Erst laufen wir auf Grund, dann wer‐ de ich vom Schiffer verraten, und jetzt habe ich mit dieser Primadonna zu tun. Ich betrachte den mürrischen Zug um seinen Mund und beschließe, mich zumindest für den Moment aufs Schmei‐ cheln zu verlegen, die sicherste Methode, die sauertöpfische Miene zu vertreiben. «Seid unbesorgt», hebe ich an, «in Anerkennung Eurer gehobenen Stellung in der Compagnie sollt Ihr mir dabei be‐ hilflich sein, diese Insel zu regieren, und Ihr sollt den höchs‐ ten Rang bekleiden.» Er wirft mir einen verschlagenen Blick zu. «Wie viel Macht werde ich haben?» 145
«Mehr als Ihr Euch vorzustellen vermögt», antworte ich. «Denn mir liegt nur Euer Bestes am Herzen.» Vielleicht sollte ich mich Wouter anvertrauen. Da das Was‐ ser knapp ist, muss die Zahl der Menschen auf dieser Insel mit List verringert werden, denn Musketenfeuer allein wird den Mob nicht zurückhalten. Umso einfacher wird es später, das Rettungsschiff einzunehmen. Wouter und seine Freunde werden die Mannschaft betrunken machen, es wird ein Leichtes sein, sich ihrer zu entledigen. Dann werde ich mit meinen treuen Gefolgsleuten und den Schätzen der Compa‐ gnie in den Laderäumen zu Piratenküsten ferner Länder se‐ geln. Zeigt mir ein namenloses Königreich auf der Seekarte ei‐ nes Kartographen, auf Hoffnung und günstige Passatwinde gegründet. Krönt mich zu eurem König, tragt mich im Tri‐ umphzug auf euren Schultern zu einem Schloss aus Segel‐ tuch, setzt mich auf einen Thron aus Stroh, reicht mir ein hölzernes Zepter und unterschreibt mit eurem Blut, und ihr werdet meine Auserwählten sein. 146
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m sechsten Tag vereinigen sich Himmel und ruhige See in einer ebenen Linie aus durchscheinendem Blau. Ich bin so weit genesen, dass ich meine missliche Unter‐ kunft verlassen und die Insel in Augenschein nehmen kann, die keine dreizehn Meilen lang und vier Meilen breit ist. Unter meinen Stiefeln knirschen Muscheln und Korallen‐ splitter, ein Geräusch wie von Glas. Landkrebse so groß wie Ratten krabbeln in meinem Schatten und verschwinden in dunklen, feuchten Haufen aus Seealgen und Korallenresten. Meile für Meile zieht sich die Küste endlos dahin, bis sie zu einer Landspitze aus zerklüftetem Kalkstein zusammenläuft, wo die Gischt des Ozeans in die Lüfte sprüht. Dahinter glit‐ zert das offene Meer, allwo die unheilverkündenden Silhou‐ etten von Haien gesichtet worden sind, die mit ihren Finnen die Wellen zerschneiden. Das Riff verläuft gute zwei Meilen vor der Küste parallel zu ihr und bildet so einen natürlichen Wall. Auf dem scharf gezackten Rücken der Korallen widersteht die Batavia den erbarmungslosen Attacken der salzigen Flut. Es sollte den Männern gelingen, sie rechtzeitig zu erreichen. Hier und da wiegt sich unten am Wasser nadeldünnes Gras im Winde. Auf den toten Korallen wachsen üppige, purpurfarbene Blumen mit dichten Knospen. Ihre dunkel gekräuselten, fleischigen Blütenblätter wirken beinah schamlos zwischen den spröden, grellweißen Splittern. Zwischen dem Gebüsch erheben sich Dünen so flach wie Grabhügel, die schlaffen Flanken vom Winde ausgezehrt. 147
Die Küste fällt langsam, fast eben zum Wasser hin ab, als treibe dieses winzige Atoll auf den Wogen des Meeres dahin. Als wären wir noch immer auf Reisen. Wohin ich auch blicke, von überall wird das grelle, lapisla– zulifarbene Licht des Ozeans zurückgeworfen. Es gibt hier nichts Weiches, nichts, das Erlösung verheißt. Jeder Umriss ist scharf wie ein Scherenschnitt und unveränderlich. Die verbrannten Blätter der Büsche werden in alle Ewigkeit im Winde zittern, Sand und Korallensplitter immerdar in Wirbeln über die Insel treiben, die Eidechsen auf den Felsen werden mit ihren Zungen endlose Schwärme von Fliegen fangen, Tag für Tag, Jahr um Jahr, in alle Ewigkeit, über die vom Menschen gemessene Zeit hinaus. Mich fröstelt bei dem Gedanken. Diese Insel nimmt mir allen Mut. Noch nie habe ich eine solche Ödnis gesehen. Ich habe nicht einmal das Herz, meine Erkundungen über die Landzunge hinaus auszudeh‐ nen. Ich fühlte mich heimischer auf dem Mond als auf die‐ sem unfruchtbaren, windgepeitschten Eiland. Und wieder blicke ich zu dem Wrack hinüber, das fest in seiner seeumtosten Verankerung liegt. Kaum zu glauben, was aus dem Stolz der Compagnie geworden ist: ein menschenleeres Geisterschiff mit brüllendem Vieh in den Laderäumen. Ich höre Schreie. Ich sehe die Soldaten, die, endlich, ein Floß zu einer Sandbank im flachen Wasser schleppen. Ein Gezerre an den Tauen. Es ist ein treffliches Floß: zwei mit‐ einander vertäute Spieren, über die zerbrochene Deck‐ planken und Bretter gelegt wurden, die man aus dem zer‐ schmetterten Beiboot geschlagen hat. Es ist schmal und fast 148
so lang wie ein Lastkahn. Der Zimmermann und sein Sohn haben gute Arbeit geleistet. Sie sollen für ihren Fleiß belohnt werden. Die Männer stehen hüfttief im Wasser, von der Dünung umspült. Es kostet sie einige Mühe, das Floß zu halten. Einer der Soldaten hievt sich auf die Bretter. Ich eile zu ihnen. «Lasst nichts verloren gehen», schreie ich. «Aus allem, was ihr rettet könnt, wollen wir diese Insel nach unserem Rang und Stand ausstatten.» Die Männer, die um das sperrige Gefährt herumstehen, ni‐ cken zustimmend. Es gelingt ihnen, das Floß mit Stangen und Staken in dem flachen Wasser langsam luvwärts zu be‐ wegen, bevor sie in schnellem, hastigem Rhythmus über tie‐ fere Kanäle rudern. Ich beobachte, wie das Floß das Heck der Batavia erreicht. Ihre Steuerbordseite liegt inzwischen fast gänzlich unter Wasser, und ich verfolge mit Erstaunen, wie die Soldaten dennoch in die überfluteten Laderäume hinabsteigen. Sie sind so wild entschlossen, die Vorräte an sich zu bringen, dass diese erste Überfahrt Stunden dauert. Zu guter Letzt wird sogar der Bulle an Seilen ins Meer ge‐ lassen, wobei er wild mit den Hufen in die Luft schlägt. Im Wasser wird er vom Geschrei der Männer angetrieben und paddelt mit rollenden Augen, Gischt aus den Nüstern bla‐ send, durch die Wellen. Die Ziegen werden dem gleichen Schicksal überantwortet, und nach einer Weile klettern sie eine nach der anderen an Land. Sie sind so erbärmlich anzu‐ schauen wie halb ersoffene Katzen und schütteln sich das Salzwasser aus dem triefnassen Fell. Jetzt werden die Hüh‐ nerkäfige fest auf dem Floß vertäut. Unsere zarten Ferkel 149
und Sauen sind leider nirgends zu finden. Wouter und seine Freunde schwärmen in Gruppen aus, um die Fässer einzusammeln, die in der Strömung herantrei‐ ben. Ich muss sie im Auge behalten. Auch der Pfarrer watschelt auf die Jubelschreie am Riff zu. Proper wie eine Entenfamilie trippeln Frau und Töchter hin‐ ter ihm drein. Den ganzen Tag lang fahren die erschöpften Männer auf dem Floß zwischen Wrack und Insel hin und her, bringen Seile, Zeltbahnen, Bettzeug, Teppiche, Kochtöpfe, Fässer mit Rindfleisch, gepökeltem Schweinefleisch, Hering, Wein, Branntwein und natürlich Wasser. Mit unendlicher Vorsicht werden die Geldtruhen, das Gold der Compagnie und all die unbezahlbaren Kunst‐ schätze auf dem Floße gesichert und an Land gebracht. Ich bin zufrieden. Denn ich allein, ich, der Generalkapitän die‐ ser Insel, ich werde das Gold der Compagnie in Besitz nehmen, die Kleider des Kommandanten und all die Schätze der Nation, die einst für den privaten Handel bestimmt waren. ■
Für meine Unterkunft habe ich einen kleinen Hügel ins Auge gefasst, der aus dem Schatten dichten Blattwerks und von der Meeresbrise gekühlt das Hauptlager überragt. Auf der ganzen Insel scheint der von mir gewählte Flecken der fruchtbarste zu sein. Fröhliche bunte Schmetterlinge flattern zwischen den Blüten des wilden Weins, die unserer heimi‐ schen Akelei nicht unähnlich sind. In dem Gebüsch dahinter 150
trillern gelbgefiederte Vögel von der Größe des Zaunkönigs in Tönen so rein wie die der Nachtigall. 151
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m siebten Tag setzen die Männer ihre Fahrten zum Wrack fort, laden die verbliebenen Vorräte auf das Floß und bewerkstelligen es sogar, Möbel an Land zu bringen, Vorhänge, Decken, Läufer, Stühle, sogar den Escritoire des Kommandanten und die Kapitänstafel aus der Messe, des Weiteren Truhen mit Damast, Borten und goldenen Epaulettes, um die Uniformen der Kolonialbe‐ amten zu zieren, Ballen mit Seide, Kambrik und Satin für die Ballkleider der Damen. Ihre zahlreichen Fahrten haben sie mutiger gemacht, und so bringen die Männer jetzt auch Besteck und Teller, alle erdenklichen Küchenutensilien aus der Kombüse, außerdem die Gerätschaften ihres jeweiligen Handwerks, Teer und Seile, Eimer, Sägen, Stifte, Nägel und Hämmer, Dechsel, Marlspieker, Schaufeln, Segelmacher‐ nadeln und Zwirn, sämtliche Waffen, Kisten mit Schieß‐ pulver, Musketen, Säbel und Entermesser. Ich frohlocke ob ihres Erfolgs. Hin und her geht das Floß. Ich werde dafür sorgen, dass die Männer, die für diese Mission ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, heute Abend die dreifache Ration Bier bekommen. ■
So wie die Götter, meine Götter, mich auf dieses Eiland ge‐ worfen haben, so lenken sie jetzt meine Schritte. Denn glaubt nicht, dass die Stimmen, dass der Gesang der Sirenen, der die Bilder in meinen Träumen begleitet, verstummt ist. 152
Im Gegenteil, sie werden immer deutlicher, und es wäre eine Tollheit, nicht auf sie zu hören. ■
Als ich den Hügel zum Lager hinabsteige, sitzen die Frauen‐ zimmer misslaunig und müde da. Sie könnten wenigstens Fische fangen, da die Riffe nachmittags bei Niedrigwasser frei liegen. Stattdessen hocken sie bei den mickrigen, flackernden Feuern im Sande und hängen trübseligen Grübeleien nach, den Blick beständig aufs Meer hinaus ge‐ richtet, als erwarteten sie etwas, das Eintreffen des Rettungs‐ schiffes, irgendeines Schiffes. Die Zustände im Lager sind unsäglich. Gelangweilte Kin‐ der spielen im Staub. Überall der Gestank von Exkrementen, dazu Schwärme von Fliegen. Ich muss den Zimmerer an die Arbeit bringen. Eine plötzliche Bö, und das Lager ist dem Erdboden gleich. Auch wenn die Vegetation hier unten äußerst kümmerlich ist, das Land muss gerodet werden, um Baracken zu bauen, das Hauptquartier des Rates und, nicht zu vergessen, Latrinen. Lucretia hockt zusammengekauert im Schatten eines Se‐ geltuchs vor einem elenden Verschlag aus Treibholz neben der windschiefen Hütte des Pfarrers, deren Dach aus zerris‐ senen Segeln besteht. Offensichtlich hat der Barbier sie aus dem Krankenzelt entlassen. Ein Soldat döst in der Sonne, neben sich eine geladene Muskete. Jemand hat Lucretia Kleider zum Wechseln gegeben. Sie trägt jetzt ein einfaches, blaues Unterkleid aus Baumwolle, ihr prachtvolles Haar steckt unter einem Haarnetz und ent‐ 153
blößt den anmutigen Schwung ihres Schwanenhalses. Sie starrt mit dem gleichen leeren Ausdruck vor sich hin wie die anderen Weiber und wiegt sich auf meinem Umhang vor und zurück – jenem Mantel, in den ich sie in jener letzten, schicksalsschweren Nacht hüllte. Der Schlaftrunk, den ich ihr gab, war stark, und ich frage mich, ob sie sich an den Überfall erinnert. Als ich mich nähere, schreckt Lucretia auf. Ihr liebliches Gesicht ist ausgezehrt und bleich, die schlanken Arme und Hände mit blauen Flecken und schwärenden Schrammen übersät. Ich werde ihr eine Salbe geben, bevor die Schnitte in der Hitze Geschwüre bilden. Ich kniee nieder und küsse den Ring an ihrem Finger. Die‐ ses Mal, so fällt mir auf, zieht sie ihre Hand nicht zurück. «Man sagte mir, Ihr habet mir das Leben gerettet, als die Batavia auf Grund lief. Und dafür, Mijnheer, stehe ich in Eu‐ rer Schuld», sagt Lucretia mit matter, tonloser Stimme. «Ich erinnere mich nicht an die näheren Umstände des Un‐ glücks», fährt sie in kaum hörbarem Flüstern fort, sodass ich mich vorbeugen muss, um sie zu verstehen. «Ich weiß nur, dass ich geschlafen habe wie betäubt, von Albträumen ge‐ quält, schaurigen, abnormen Träumen, die ich abzuschütteln versuchte, doch sosehr ich mich auch mühte, der Schlaf wollte mich nicht aus seinen Fängen entlassen.» Schaudernd zieht sie einen dünnen Baumwollschal enger um die Schultern. Ich nehme ihre Hand in meine. Sie fühlt sich schlaff an, leblos. Lucretia schließt die Augen. «Und als ich endlich erwachte, fand ich mich hier.» Sie spricht dies mit solcher Bitterkeit und Bestimmtheit, dass es mir das Herz zerreißt. 154
Doch genau wie erhofft, hat mein Schlaftrunk seine magi‐ schen Kräfte entfaltet. Lucretias Erinnerungen an den Über‐ fall sind übertüncht, umkränzt von den bewegten, wunder‐ lichen Visionen und Gesichten des Opium: Schlachten zwi‐ schen dem Gehörnten und den Heiligen, das Donnern ge‐ spaltener Hufe, das unablässige Schlagen von Engelsflügeln, schreiende Stimmen, Schreie in der Messe eines sinkenden Schiffes, eines endlos in graugrüne Wasser hinabsinkenden Schiffes. Ja, diesen Traum kenne ich nur zu gut. «Der treulose Kommandant hat uns unserem Schicksal überlassen», sage ich. «In seiner Abwesenheit flehe ich Euch an, Jeronimus Cornelisz als Euren Beschützer zu betrach‐ ten.» Lucretia starrt mich an, dann lässt sie den Blick zu dem Soldaten wandern, der im Schatten der Büsche schlummert, zur Pfarrersfrau, die ihre nörgelnden Kinder verscheucht, die vor ihren Füßen im Sande spielen. «Vielen Dank, Mijnheer, aber ich denke, das wird nicht nötig sein.» Ich sehe sie an, und sie erwidert furchtlos meinen Blick. «Ich hoffe nur, in Würde und Anstand zu sterben», sagt sie. «Sollte kein Schiff zu unserer Rettung kommen.» Plötzlich wirft sie den Kopf in den Nacken und lacht. Es ist ein trotziges, blasphemisches, schockierendes Gelächter, als fordere sie die Götter heraus, uns zu vernichten. Dann legt sie den Kopf in die Arme und schluchzt wie ein verlassenes Kind. Ich rätsele, wie diese Dame zu trösten wäre. Eine zweite Dosis Opium vielleicht. Sie wischt sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Auch diese Geste ist schockierend für mich, 155
und ich taste in meinen Kleidern nach einem Taschentuch. «Meine Zofe hat mich verraten, nicht aber der Komman‐ dant», sagt sie. «Der Kommandant ist ein Ehrenmann. Er wird zurückkehren. Wir müssen stark sein.» Zwar bin ich versucht, Lucretia in diesem Punkte eines Besseren zu belehren – der Kommandant ist ein Feigling und Verräter, was sonst gäbe es da zu sagen? –, doch als ich ihre gespenstische Blässe sehe und den Kummer, der sich in ihre Stirn gebrannt hat, schweige ich. Wenn der Komman‐ dant ihre einzige Hoffnung verkörpert, dann seiʹs drum. Zuerst und vor allem will ich alles in meiner Macht Stehen‐ de tun, damit Lucretia am Leben bleibt. Sie nimmt das Taschentuch, das ich ihr reiche, und zer‐ knüllt es in der Faust. «Doch wenn ich Eure Protektion zu akzeptieren beschließe, wäret Ihr dann willens, etwas für mich zu tun?» Ich, der ich bestimmt bin, über sie zu herrschen, ich bin entwaffnet von dieser Dame, meiner Zunge beraubt. Jedes andere Weib auf dieser Insel würde in Jubelschreie aus‐ brechen beim Angebot des Kaufmannsgehilfen, ihr sicheren Hafen zu gewähren, doch nicht so Lucretia, die sich ohne Feilschen und Schachern keinen Handbreit bewegt. Sie deutet auf ein älteres Frauenzimmer, das ein halbtotes Kind im Schöße wiegt, ein Weib, das zetert wie eine Beses‐ sene, und zwei Kinder, die in der gleißenden Sonne zittern. «Die Leute halten Euer Überleben für ein Wunder, sie be‐ ten jeden Tag, dass Ihr, der Apotheker, sie heilen und erret‐ ten möget.» Sie schaut zu mir auf, ein betörender Blick. «Nun, Ihr müsst ihnen den Beweis liefern, Mijnheer», sagt 156
sie. «Und im Gegenzug verspreche ich, alle Eure Anweisun‐ gen meine Sicherheit betreffend zu befolgen.» So, Lucretia will schlau sein und einen Handel schließen. Dennoch bin ich beeindruckt, wie sehr ihr Vorschlag für mich in jeder Hinsicht von Vorteil ist. Zwar ist es mir ein Gräuel, meine kostbaren Opiate für diesen zerlumpten Pöbel zu verschwenden, dessen Zahl ich ohnehin zu verringern gedenke, doch mit einigen wenigen Tröpfchen meiner Medi‐ zin werde ich ohne Frage ihr Vertrauen gewinnen und meine Wahl zum Gouverneur dieser Insel sichern. Und Lucretia, die Tochter eines Arztes, wird mich für mein Wissen in der Kunst des Apothekers bewundern, wird sich ihrem Herren beugen, ihn am Ende sogar lieben oder doch zumindest schätzen lernen. Aber sie ist nicht dumm. Hört, wie sie sich mit einem win‐ zigen Einschub ein Hintertürchen offen lässt – «meine Si‐ cherheit betreffend» – ein Zusatz, der es ihr erlaubt, meine Wünsche zu missachten, wann immer es ihr behagt. Ich erkläre Lucretia, dass es mir gelungen sei, den Großteil meiner Vorräte an Land zu bringen, und dass der Grund meines Besuches allein darin liege, mir ein Bild von den Bedürfnissen der Kranken zu verschaffen. Außerdem erin‐ nere ich sie daran, dass ich dem Barbier bereits eine Phiole mit Opium ausgehändigt habe, die ohne Zweifel ihre Gene‐ sung beschleunigt hat. Lucretia schenkt mir ein Lächeln, und sehr zu meiner Be‐ lustigung läuft sie rot an. Ich denke, dass es ein Leichtes wäre, sie zur Komplizin zu machen, denn bei allem from‐ men Gerede von Würde und Anstand hat sie den Willen zu leben. 157
Ich trage ihr auf, die Frauen zusammenzurufen, damit sie sich morgen zur Mittagszeit vor meiner Unterkunft versam‐ meln, wo sie nach meinem Ermessen mit Arzneien versorgt werden sollen. Sie mustert mich mit großen, wachsamen Augen. «Gut», sagt sie. Mehr nicht. Warum enttäuscht sein von dieser Antwort? Lucretia weiß ihre Gedanken zu verbergen. Ich reiche ihr einen kleinen Topf mit Salbe. «Dieser Balsam wird die Schnitte auf Euren Armen hei‐ len.» Lucretia hält ihn gegen das Licht. «Wer hätte je geahnt, was aus uns werden würde?», sagt sie. Ich schenke ihr ein wenig Branntwein ein. Sie nimmt einen kleinen Schluck, dann noch einen. «Wir müssen stark sein», flüstert sie immer und immer wieder. Der Branntwein scheint sie zu beruhigen. «Ich habe mich bei Euch zu entschuldigen, Mijnheer», sagt sie schließlich. «Wie das, meine Liebe?», frage ich. «Ich fürchte, ich habe Euch womöglich Unrecht getan damals auf der Batavia, und ich entschuldige mich für mein abweisendes Verhalten.» Behutsam, ganz behutsam, so, wie man einen wilden Sing‐ vogel dazu bringt, sich auf dem Finger niederzulassen, so muss ich diese schöne Amsel zähmen. «Macht Euch darum keine Gedanken, wir haben Zeit im Überfluss, unsere Bekanntschaft zu erneuern.» Ich nehme ihre Hand und hebe sie an die Lippen. Ich be‐ trachte sie aufmerksam, doch sie zuckt mit keiner Wimper. 158
Ich würde jeden Flecken ihres Körpers mit Küssen bedek‐ ken, aber ich muss behutsam vorgehen. Also beschreibe ich den grünen Hügel mit Blick über die Küste, der von Meeresbrisen gekühlt wird, wo Vögel in Scharen im wilden Wein singen und Schmetterlinge von der Größe eines Zaunkönigs wie flüchtige Juwelen von Blatt zu Blatt flattern. Ich frage sie, ob sie mit mir dort oben wohnen will, in einer eigenen Unterkunft neben der, die ich mir errichten zu lassen gedenke. «Die Soldaten kampieren in unmittelbarer Nähe. Ihr wäret in Sicherheit.» Lucretia blickt mich ruhig und nachdenklich an. «Ich danke für Eure Freundlichkeit, Mijnheer», sagt sie. In meinem Herzen keimt Hoffnung. «Aber ich kann nicht.» Sie blickt zur Pfarrersfrau hinüber, die Korallensand aus ihren Schuhen schüttelt, zu zwei Frauenzimmern, die mit verzagter Miene neben einem Feuer kauern und von Zeit zu Zeit wispernd zu uns herübersehen. «Bitte versteht, die Frauen würden es nicht hinnehmen, wenn ich vor aller Augen Privilegien erhielte», flüstert sie. «Ich muss hierbleiben.» Widerwillig räume ich ein, dass sie Recht hat. Ich werde den richtigen Moment abwarten müssen, denn ich, Jeroni‐ mus Cornelisz, künftiger Generalkapitän dieser Insel, ich spiele mit dem Gedanken, dieses vornehme Weib zur Frau zu nehmen. Und merkt euch meine Worte, man wird sie wie eine Kaiserin in meine Gemächer führen. 159
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m achten Tag geht der Wind in heißen, trockenen Böen, die Büschel aus Seegras über die Küste treiben. Unter Anleitung des Zimmerers schuften die Männer, um das Land hinter dem Lager zu roden. Von morgens bis abends hallt die Insel wider vom Krachen der Äxte und dem Splittern des Holzes. ■
Wir können von Glück sagen, dass ein Großteil der Nah‐ rungsmittel und der Reichtümer der Compagnie aus den Frachträumen an Land geschafft wurde, da die hohe See die Batavia langsam davonspült, bis nur noch die Überreste der zerstörten Poop zurückbleiben, die auf dem Riff schaukeln. Heute hat die morgendliche Flut eine ertrunkene Sau an‐ gespült, ihr rosafarbener Leib war vom Seewasser geschwol‐ len, aber durchaus essbar. Die Männer fanden eine Seekiste voller Hauben, Pantoffeln, Haarnetzen, Handschuhen, Perl‐ muttknöpfen, Halskrausen aus Spitze und dem üblichen Be‐ stand eines Kurzwarenhändlers an seidenen Garnen und Nadeln, außerdem eine angestoßene silberne Suppenterrine, einen Tabletttisch, dessen poliertes Walnussfurnier vom Salzwasser wellig geworden ist, die Taufschale eines Kindes mit den Initialen FC, und, seltsam genug, die Schiffsglocke, die noch immer am Deckbalken hängt und von den Soldaten wie ein Leviathan aus den Tiefen an Land gezogen wurde. Sie hängt nun an einem Holzpfahl vor dem Ratszelt. 160
Und was hatte unser kindischer Pfarrer den ganzen Mor‐ gen über für eine Freude, die Glocke zu läuten. Es erinnere ihn an das Glockenspiel in der Heimat, sagte er und schwang munter vor und zurück, bis ich ihm mit gestren‐ gem Blick zu bedenken gab, dass die Glocke besser nur zu läuten sei, um Insel‐ oder Ratsversammlungen einzuberu‐ fen oder wenn große Gefahr drohe. Ich habe eine Liste der geborgenen Güter erstellt: einhun‐ dert Fässer mit Zwieback und Brot, sechzig Fässer mit kon‐ servierten Lebensmitteln, allem voran Hering und ge‐ pökeltem Rind‐ und Schweinefleisch, fünfzig Säcke Reis, dreißig Säcke Korn, neunzehn Kisten mit Eiern, sechzehn Branntweinfässer und fast alle Kisten mit den guten Weinen des Kommandanten, die ich noch nicht die Zeit hatte zu öffnen und zu zählen. An einem Pflock auf einer Rodung schwindet der Bulle in der Hitze dahin und wird von Tag zu Tag weniger, ohne auch nur an einem einzigen Blatte zu knabbern, geschweige denn an den Bergen von Tang, die ihm täglich vorgesetzt werden. Bald ist es an der Zeit, die Messer zu wetzen. Wir können es uns nicht leisten, Wasser an dieses Vieh zu verschwenden, das vor unseren Augen alles Fleisch von den Knochen verliert. Abgesehen davon freue ich mich auf einen guten Rinderbraten. Die Ziegen dagegen scheinen putzmunter, sie hüpfen von Fels zu Fels und stöbern in den Büschen, doch über kurz oder lang wird sie das gleiche Schicksal ereilen. Zusätzlich zu den bisherigen Wasservorräten haben wir nun weitere zweiundfünfzig Fässer, was in den nächsten paar Wochen für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind drei 161
Tassen pro Tag ergibt, natürlich ohne in Betracht zu ziehen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach weitere Regenschauer unsere Vorräte auffüllen werden. Doch wenn einige der Überlebenden auf die Nachbar‐ inseln umgesiedelt würden – sagen wir die Hälfte, wenn alles nach meinem Plan verläuft –, könnten die Vorräte die Zurückbleibenden einen weiteren Monat lang ernähren, und bis dahin müsste das Rettungsschiff eingetroffen sein. Die Glocke der Batavia läutet. Ich werde vom Inselrat geru‐ fen, jenen zwölf Weisen, die vor meiner Ankunft gewählt worden sind. «Die vordringlichste Frage», hebt der Pfarrer an, «betrifft die Zuteilung der Rationen.» Die Ratsmitglieder gaffen ihn mit kummervoller Miene an. Diese gestrengen, aufrechten, anständigen Männer, heraus‐ ragende Bürgersleute, Kaufherren und Bankiers vom Schlage derer, die bei langweiligen Rathausbanketten voller Stolz den Vorsitz führen, sie wirken unsicher und hilflos in ihrer neuen Rolle. Nervös rutschen sie auf den grob gehaue‐ nen Bänken in dem kochend heißen Zelt hin und her. Ein älterer Graukopf räuspert sich. Der schnauzbärtige Standes‐ genosse an seiner Seite fragt, ob alle Fässer gerettet werden konnten. «Ist der genaue Wert der Vorräte ermittelt worden?», fragt ein anderer. Wieder ein anderer plädiert dafür, alle Gelder und Gegen‐ stände von Wert Tag und Nacht zu bewachen, da es sich unverändert um rechtmäßiges Eigentum der Compagnie handle. «Aber was ist mit dem Essen?», fragt der Pfarrer in weh‐ 162
leidigem Ton. «Als gewählte Ratsmitglieder steht uns doch wohl die doppelte Ration zu.» Dies klägliche Geplänkel geht noch eine Weile so weiter, es wird um jedes Glas Wein gestritten, bis ich sie unterbreche und ihnen mitteile, dass der Kommandant mir vor seiner Desertion mittels lauter Schreie vom Boot aus zu verstehen gegeben habe, dass die Zahl der Menschen auf dieser Insel auf einige wenige verringert werden müsse. Zu meiner großen Überraschung nicken sie zustimmend. Alle bis auf einen dickwanstigen Bürgersmann, der mich er‐ schreckt und verwirrt ansieht. «Unsere Vorräte an frischem Wasser sind knapp», fahre ich fort, «also müssen Suchtrupps zu den Nachbarinseln ausgesandt werden, zur hohen Insel nördlich des Wracks und zur Insel südlich der unsrigen. Und falls dort Wasser gefunden wird, werden viele der Überlebenden ihr Lager dort aufschlagen wollen. Einige werden selbstredend hier verbleiben, um das Eigentum der Compagnie zu be‐ wachen.» Wie ein Kind in der Schule hebt der Pfarrer die Hand. «Aber würden diejenigen, die sich zum Verlassen dieser Insel entschließen, regelmäßig beköstigt werden?» «Vielleicht», antworte ich. «Doch aus nahe liegenden Gründen sollten sie angehalten werden, sich von der heimi‐ schen Flora und Fauna zu ernähren.» Der Pfarrer ist sichtlich erfreut. Er tätschelt sich die schlaffe Plauze. «Welch ein exzellenter Plan.» Doch unser beleibter Bürgersmann legt die Stirn in Falten und schüttelt den Kopf. «Wir sollten alle zusammenbleiben», sagt er. «Nur gemein‐ 163
sam sind wir stark.» «Dem schließe ich mich an», erklärt ein anderer Altgedien‐ ter. «Außerdem würde sich niemand freiwillig melden und das eigene Leben für die Suche nach Wasser aufs Spiel set‐ zen.» Mit einem Lächeln versichere ich ihm und den anderen, dass mir einige der Überlebenden, junge, beherzte, mutige Männer, bereits aus Amsterdam bekannt sind. «Verlasst Euch ganz auf mich», sage ich, «und ich versiche‐ re Euch, diese tapferen Jünglinge werden sich geehrt fühlen, mit einer solchen Mission betraut zu werden.» Der Pfarrer klatscht in die Hände. Unser Bürgersmann erhebt sich mühsam. «Wir sind gewählt worden, diese Insel bis zur Rückkehr des Kommandanten zu regieren», sagt er in gewichtigem, schwülstigem Ton. «Ihr jedoch, Mijnheer, gehört nicht da‐ zu.» «Wir müssen abstimmen», grummelt sein greiser Genosse, «nur so kann entschieden werden, ob eine Expedition diese Inseln erkunden soll.» Die Ratsherren flüstern untereinander. «Wir haben bereits so viele verloren», hebt ein älterer Kerl mit Doppelkinn an. «Da werde ich ganz gewiss nicht für ein Abenteuer stimmen, bei dem noch mehr junge Leben aufs Spiel gesetzt werden.» So, die windigen Gesellen ergreifen Partei gegen mich. Mich, der ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie sie Frauen und Töchtern Wasserrationen stehlen. Diesen Krä‐ mern ist nicht einmal in den Sinn gekommen, ein Floß zu bauen, um alle Vorräte aus dem Wrack zu bergen. 164
Zumindest nicht vor meiner Ankunft. Der Pfarrer bittet um Ruhe. «Ich setze mein Vertrauen in den Apotheker», ruft er und hebt die rechte Hand. Am Ende stehen neun gegen drei Stimmen. Ein klarer Sieg. Als die Sitzung geschlossen ist, sprechen mir die Ratsher‐ ren, die in meinem Sinne gestimmt haben, ihren Dank aus. «Ohne Euch wären wir alle hier des Todes», flüstert der Pfarrer. ■
Ich kehre zurück in die Abgeschiedenheit meiner Behau‐ sung auf dem Hügel mit Blick über den Strand und den Ozean. Noch ist mein Heim nur eine wacklige Hütte, die von Tauen und Segeltuch zusammengehalten wird und darauf wartet, anständig verschalt zu werden, eine Tür zu bekommen und vielleicht ein Dach aus geflochtenem Blattwerk. Aber sobald meine Gemächer fertig sind, werde ich sie mit den persönlichen Gegenständen des Komman‐ danten ausstatten, die derzeit zusammen mit den Vorräten unten im Lager bewacht werden. Seine Perserteppiche werden den Fußboden aus nackter Erde bedecken, mein ein‐ faches Bett – eine kratzige Kapokmatratze auf Holzkisten – werde ich mit Satindecken und Seidenkissen mit gestickten Pfauenfedern schmücken. Den Schreibtisch des Komman‐ danten, dessen grüner Filzbelag nur hier und da kleine Flek‐ ken aufweist, werde ich in die Mitte des Raumes stellen. Die Geldtruhen der Compagnie werden mir als Tisch dienen. Jetzt habe ich Zeit und Muße, mit aller Sorgfalt die Arz‐ 165
neien in meinen Phiolen zu verdünnen. Immer wieder muss ich die Fliegen von meinem Glas mit Branntwein vertreiben. Ich bin sicher, dass es frisches Wasser gibt auf dieser Insel. Ich würde eine Wette darauf abschließen. Ein dumpfer Schlag draußen lässt mich zusammenfahren. Ich hebe die Klappe aus Leintuch und sehe mich einer rattenähnlichen Kreatur gegenüber, etwas größer als ein Hase, die auf ihren Hinterbeinen hockt. Sie scheint reichlich unbekümmert und blickt mir unverwandt ins Gesicht, ihre Nüstern beben mit wachsamer Neugier. Als ich mein Schwert ziehe und mich anpirsche, stellt sie sich auf die Hinterbeine und drückt die kleinen grauen Pfoten an die Brust wie im Gebet. Ich hebe das Schwert. Mit milde vorwurfsvollem Blick hüpft sie davon und verschwindet im Gebüsch. Also muss es frisches Wasser geben. Wie sonst sollten diese Kreaturen überleben? Ich folge ihr in die Büsche. In einiger Entfernung höre ich das Klopfen ihres Schwanzes auf der Erde, das Getrappel der Hinterpfoten. Mit dem Schwert bahne ich mir einen Weg durch das staubige Unterholz. Von allen Seiten höre ich das Scharren und Rascheln unzähliger unsichtbarer Kreaturen. Mein Herz macht einen Sprung bei all dem Gezirpe und Gewisper. Es gibt Wasser auf dieser Insel. Kein Zweifel. Blassgelbe Sonnenstrahlen dringen durch das Blattwerk. Schwärme von Stechmücken umschwirren mich. Ich lasse mich nicht beirren, sondern schlage und haue eine breite Bresche in das dornige Dickicht. Auf einer Lichtung, die sich zur Küste hin öffnet, halte ich inne und ringe nach Atem. Ich 166
befinde mich ganz in der Nähe jener ausgedehnten Felsland‐ schaft, die zweimal pro Tag von den Gezeiten geflutet wird. Dann entdecke ich eine große Herde ebenjener hoppelnder Kreaturen, die in großen Sprüngen zum Strand hinunter‐ hüpfen. Es sind dies die seltsamsten Säugetiere, die ich je zu Gesicht bekommen habe. Am Ufer wächst stellenweise dickes grünes, schwammartiges Moos. Dort versammeln sie sich. Ich beobachte, wie sie auf dem dichten Grün grasen, sich dabei immer wieder umschauen und bei jedem Donner der Brandung zusammenzucken. Ich schleiche mich an sie heran. Eine der Ratten hebt den Kopf, bläht die Nüstern und lauscht. Als ich auf einen Zweig trete, machen sie allesamt auf dem Absatz kehrt und verschwinden mit einem einzigen Satz im Gebüsch. Wie auch immer diese Kreaturen sich an die Entbehrungen auf diesem unfruchtbaren Eiland anpassen konnten, sie wer‐ den in jedem Fall unseren Speiseplan bereichern. Die Kauf‐ leute brauchen davon nichts zu wissen. Besser, ich bestimme meine eigenen Jäger. Wouter wird die frühmorgendlichen Ausflüge anführen. Als ich bei dem grünen Fleckchen ankomme, das von den Pfoten jener Ratten plattgetrampelt ist, fällt mir eine Stelle ins Auge, wo das Moos weicher und grüner scheint. Ich gehe in die Knie, um die Vegetation genauer in Augenschein zu nehmen, und stelle mit Staunen fest, dass es sich gar nicht um Moos handelt, sondern um einen Teppich aus saftigen Blättern, ähnlich der wilden Kresse, was bedeutet, dass diese Geschöpfe nicht, wie ich angenommen hatte, gegrast haben. Ich reiße an dem Grün, und mir kommen fast die Tränen vor Freude, als ich die Hände in dunkles, brak‐ 167
kiges Wasser tauche. Ein Wasserloch, nicht tiefer als ein Hüftbad, bis zum Rande gefüllt. Vorsichtig lecke ich die Tropfen von meinen Fingern und versuche, dabei nicht an die Kreaturen zu denken, die vor mir die Schnauzen in diese Quelle gesteckt haben. Das Wasser ist lauwarm und bräun‐ lich wie Tee und hat einen rostigen, säuerlichen Nachge‐ schmack und ist dennoch in vielerlei Hinsicht frischer und süßer für den Gaumen als die Vorräte der Batavia. Ich fülle meine Branntweinflasche auf. Halb und halb, genau wie ich es mag. Ich versichere mich, dass niemand in der Nähe ist, und markiere die Stelle mit gebrochenen Zweigen. Dann decke ich das Grün mit Blättern zu. Sollte einer der Überlebenden zufällig auf dieses Wasserloch stoßen, werde ich überrascht tun und vorschlagen, ihn zu belohnen, andernfalls will ich dieses Geheimnis für mich behalten und es weder mit Wouter und den Jünglingen, noch mit Lucretia teilen, wie ich mit Bedauern eingestehen muss. Ich weiß, wie die Menschen sind. Wenn die Vorräte zur Neige gehen, denkt jeder nur an sich. Doch diese Entdeckung wird mir das Leben retten. Es ist eine Schande, dass diese elenden, hoppelnden Krea‐ turen aus meinen Quellen saufen. Unsere Musketen werden die Insel von diesem Getier säubern und uns zugleich reich‐ lich Bratenfleisch liefern. ■
Zur Mittagszeit versammelt sich ein zerlumpter Haufen Frauen und Kinder vor meiner Unterkunft. Teilnahmslos und gefügig welken sie in der glühenden Sonne dahin. Auch 168
Lucretia erklimmt den Hügel, ein Kleinkind auf der Hüfte tragend. Sie geht mit großen, geschmeidigen, schwung‐ vollen Schritten, die Hitze und die Fliegen, die sich in ihren Augenwinkeln und auf den Lippen niederlassen, scheint sie nicht zu wahrzunehmen. Jetzt bleibt sie stehen, um einer Frau zu helfen, die sich mit dem Rock im Stechginster ver‐ fangen hat. Ich bin erfreut zu sehen, dass Lucretia wieder zu Kräften gekommen ist und sich von ihrem Martyrium erholt hat. Sie setzt ihren Weg fort, wobei sie den anderen, die weniger be‐ hände und flink hinter ihr drein stolpern, aufmunternde und warnende Worte zuruft. Als sie mich bemerkt, nickt sie mir zu. Ihr Gesicht ist strah‐ lend, leuchtend. Meine tapfere Dame hat sich geschworen, stark zu sein. Beim Anblick dieser Szenerie bin ich amüsiert über den Wandel, der sich in jenen Matronen vollzogen hat, die mit wirbelnden Sonnenschirmen über das Mitteldeck der Batavia stolzierten und Lucretia hinter ihrem Rücken grausam ver‐ höhnten und verleumdeten. Seht sie euch jetzt an: Kläglich und verlassen, den Härten dieses unfruchtbaren Eilands ausgesetzt, sind dieselben Frauen nun dankbar, dass Lucretia die Führung übernimmt, sie Schritt für Schritt über Fels und Geröll leitet und über die stachligen Grasbüschel führt, während sie jammernd und aus Angst vor Insekten und Schlangen die Unterröcke an‐ heben. «Meine Liebe, wartet», rufen sie außer Atem und stolpern und straucheln in zerschlissenen Schühchen mit weichen Sohlen daher. Und mit endloser Geduld nimmt Lucretia ein 169
weiteres wimmerndes Gör auf den Arm oder eilt einer alten Witwe zur Hilfe, die vor einer Anhöhe verzagt, welche nicht steiler ist als die Brücken in Amsterdam, die ebendiese Dame vor nicht allzu langer Zeit ohne einen Gedanken daran zu verschwenden auf dem Weg von einer Partie Pikett zur nächsten leichtfüßig überquert hätte. Mit dem scharfen Auge des Apothekers kann ich unter ih‐ nen keine ausmachen, die ernstlich erkrankt oder des Todes wäre. Nicht einmal jenes Kind, das inzwischen auf Lucretias Schultern sitzt, einen Stock in den dicken Fingern hält und sich am Glitzern der unzähligen Blätter erfreut, die von der Meeresbrise bewegt in der Sonne blitzen. Ich begrüße Lucretia mit einem höflichen Lächeln und geleite sie zu einem Platz im Schatten. Mit schwungvoller Geste ziehe ich den Hut und verbeuge mich vor meinem Publikum. Die Vorstellung beginnt; ich eröffne meinen Zirkus mit einer Scharade. Wie ein Heiliger gehe ich von einer zur nächsten und salbe geschwollene Zungen mit Tröpfchen aus Anissamen und Wasser. Mein Zaubertrick tut seine Wirkung. Vermutlich hat auch Jesus sich dieses simple Phänomen der Herrschaft des Geistes über den Körper zunutze gemacht. «Er lebt. Sein Fieber ist gesunken», schreit eine Mutter. «Ein Wunder», ruft eine andere. Welch ein Jubel und Frohlocken. Wie sie jeden Atemzug genießen und sich voller Staunen in dieser Ödnis um‐ schauen. Sieh her, Jesus, Scharlatan, Blender mit billigen Wundern, ich kenne alle deine Tricks. Ich kann Kranke heilen und Tote aus ihren Gräbern erwecken. Hörst du das Klappern ihrer 170
dürren Gebeine? Und obschon ich nie zu schwimmen gelernt habe, weiß ich jetzt, dass auch ich übers Wasser gehen kann. Und auch ich werde es noch in Wein verwandeln, besser als du. Ich zucke zusammen, als ich bemerke, dass Lucretia mich mit ihren grünen Augen aufmerksam betrachtet. «Ihr seid ein guter Christenmensch», sagt sie. «Ich danke Euch.» Auf meine Bitte, mir noch eine Weile Gesellschaft zu leis‐ ten, schüttelt sie den Kopf und schließt sich dem Zug an, der sich an den Abstieg ins Lager macht. Beinah erleichtert lasse ich sie ziehen. Es ist zwar erst früher Nachmittag, aber der Tag war lang, und ich bin müde. Mich verlangt nach einer Opiumpfeife. 171
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ls ich später einen Spaziergang am Strand mache, finde ich meine Jünglinge, die wie ein Rudel Hunde unter ein paar Bäumen mit tief hängenden Ästen dösen. Beim Geräusch meiner Schritte schrecken sie aus ihrem Schlummer. Wouter reibt sich den Schlaf aus den Augen. «Ihr erscheint hier vor uns wie aus einem Traum», sagt er. De Beere, kultiviert wie er ist, breitet seinen Mantel im Sande aus und lädt mich ein, mich zu ihnen zu gesellen. Wouter blickt mit mürrischer Miene in Richtung des Lagers. Er rümpft seine römische Adlernase, als beißender Rauch von den infernalischen Feuern herüberweht. «Diese Höker stinken», sagt er schließlich. De Beere blickt von der Maniküre seiner Fingernägel auf. «Es sind einfach zu viele.» Pelgrom spuckt verächtlich aus. «Sie stehlen und ver‐ schwenden das Wasser.» Also erzähle ich ihnen von meinem Plan, auf den Nachbar‐ inseln nach frischem Wasser zu suchen. «Was auch immer dabei herauskommt», sage ich, «wir müssen die Zahl der Menschen hier verringern, wenn wir alle überleben wollen. Eine Erkundungsfahrt wird zeigen, ob eine zweite Kolonie gegründet werden kann.» De Beere fächelt die stillstehende Luft mit seinem Hut. «Vielleicht sollten wir den Suchtrupp anführen», sagt er. «Dann können wir die Inseln in Ruhe erkunden.» Er wirft Wouter ein verstohlenes Grinsen zu. «Womöglich gibt es dort noch mehr zu holen.» 172
Wouter hält sich eine Hand über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und nickt zustimmend. «Wenn ja, sollten wir es besser für uns behalten», sagt er mit leiser Stimme. Die beiden Jüngeren, Carp vor allem, halten sich etwas ab‐ seits, sie sind unsicher und schüchtern in meiner Gegenwart. Ich winke sie heran. Durch ihre wirren Locken hindurch be‐ äugen sie mich ängstlich. Mir fällt auf, dass Hans und Carp die einzigen sind, die ihr Äußeres vernachlässigen und sich nicht die Mühe gemacht haben, sich zu waschen. De Beere hingegen sieht aus, als sei er soeben aus einem Kaffeehaus getreten. Wouter ebenso. «Bitte, Mijnheer», wagt Carp sich vor und vergräbt seine Zehen im Sand. «Bitte, wann wird das Rettungsschiff hier sein?» Was soll ich diesem mageren kleinen Kerl sagen? Die anderen schweigen. Sie wollen lieber nicht an ihre missliche Lage erinnert werden, diesen Schlenker auf ihrem Lebens‐ weg. Sie sind jung. Junge Burschen. Dies ist ein Abenteuer. Eine Schatzinsel. Das Gold, das sie sich in die Taschen gestopft hatten, ist bereits sicher vergraben. Ich nehme Carps kleine Hand und schlage ihm vor, eine Wette abzuschließen. Bei diesen Worten horcht Andries auf. Also vertreiben wir uns die Stunden damit, verschiedene Hypothesen aufzustellen, die Geschwindigkeit der Passatwinde zu berechnen, die Strömungen der Jahreszeit, die Navigationskünste des Kapitäns und seiner Mannschaft. Am Ende setzt Andries einen Sovereign auf den vierzigsten Tag. Hiernach packe ich einen Korb mit Käse, Brot und einer 173
guten Flasche französischen Weines aus. Wouter und De Beere fallen über diese einfache Mahlzeit her und schütten den Wein hinunter. Nur die Jüngsten nip‐ pen zögerlich an der Flasche, denn sie haben noch keinen Geschmack am Wein gefunden. Wie schön es ist, hier mit meinen Jünglingen im sonnen‐ gefleckten Schatten zu liegen. Wir reden von unseren frühe‐ ren Leben, von Amsterdam. Es tröstet sie, so glaube ich, von der Alten Welt zu hören, von der bekannten Welt, den ver‐ trauten uralten Linien auflackierten Globen. Also erzähle ich ihnen von dem Land, das wir unsere Heimat nannten. ■
Wenn ich erst das Vertrauen meiner tapferen Verlorenen ge‐ wonnen habe, meiner zukünftigen Jünger, die sich hier im heißen Sande rekeln, werde ich ihnen von den Lehren Torrentius̉ erzählen, von seinen Wanderungen durch die Wüsten Ägyptens, wo er in einer Sprache ohne Worte mit den weisesten Scheichs von Syrien Zwiesprache hielt. «Sünde ist nur das, was der Mensch in sich zu haben glaubt», pflegte er zu sagen und verzog den Mund zu einem Patrizierlächeln. Er hatte eine fleischige, volle Unterlippe, die sich wie ein rosafarbener Wurm an seinen grauen Schnauzbart schmiegte. Trotz seiner achtundvierzig Jahre trug er das Haar noch immer rundum frisiert und makellos gepudert. Wann immer ich niederkniete, um den Rubinring an seinem rechten Zeigefinger zu küssen, fiel mir auf, das seine Hände erstaunlich glatt und ohne Altersflecken waren. Seine Haut roch nach Rosenwasser und noch etwas an‐ 174
derem, einem stechenden, moschusartigen Duft, den ich nicht benennen kann. In seinen Lehren verkündete Torrentius, dass die Worte Christi und der Apostel vor Hunderten von Jahren mit ihnen ins Grab gegangen seien. Er verachtete ihre Schriften und brandmarkte die Auferstehung. Wir, seine Jünger, wir saßen zu seinen Füßen und hunger‐ ten nach Antworten, verlangten ungeduldig nach Aufklä‐ rung, uns schwirrte der Kopf vom Gefühl unbeschränkter Freiheit. Dem selbstzufriedenen Lächeln der einfältigen Ma‐ ria mit dem dicken Kinde auf dem Schoß, das stets gen Him‐ mel deutet, hatten wir abgeschworen. Wir lachten über das Jesuskind und trieben unseren Spott mit der schwülstigen Sprache der Gebete. Von Anfang an stellte Torrentius Regeln und Gesetze auf, die wir mit klösterlicher Strenge befolgten. Ich hatte seit jeher meine Freude an der Askese, der Reinheit, wenn man so will, an einem geordneten Tagesablauf, und ich gewöhnte mich leicht an diese Lebensart. Alle Gebete, ja jedes Anzeichen von Religiosität war strengstens verboten. Kaum ein Verbrechen wurde so hart bestraft wie dieses. Wieder und wieder warnte mein Freund uns vor den lachhaften Legenden der Scharlatane und Betrüger. Er bestimmte sogar Spione, die des Nachts die Schlafräume zu überwachen hatten. Außerdem mussten sie ihn über alle Verbrüde‐ rungen informieren, jene albernen Freundschaften, wie sie unter Jungen leicht entstehen. Wobei diese Berichte eher seinem Amüsement dienten und niemals Strafen nach sich zogen. Zu jener Zeit brodelte ganz Amsterdam vom Gärstoff der 175
Religionen, die so unersättlich und gefräßig wie die Wollust sind. Der Feldzug gegen Philipp II. von Spanien und die maskierten Inquisitoren in seinem Gefolge hatten unsere Stadt in einen Jahrmarkt verwandelt, einen Marktplatz für sämtliche Religionen, die mit fanatischem Gerassel allerlei Firlefanz und Tand an den Mann zu bringen trachteten. Häretiker, die aus anderen Ländern fliehen mussten, strömten durch unsere Tore. Portugiesische Juden, franzö‐ sische Calvinisten, deutsche Lutheraner und eine Unzahl Sekten fluteten aus den Käfigen der Inquisition. Diese Flüchtlinge lernten schnell, dass ein Silberstück den schärfsten Meinungsverschiedenheiten den Stachel nehmen kann, und sie zahlten hohe Gebühren, um Versammlungen abhalten zu dürfen, wo die einen die Sakramente nackt empfingen, andere sich in promisken Kopulationen ergingen oder sich selbst zu den wahren Kindern Gottes ausriefen. Jede Scheune, jeder Dachboden und jeder Keller der Stadt hallte wider vom trunkenen Johlen der Bacchanten, den Schusterversen der Freikirchler, den Panisken, die zu ihrem Hirtengott Pan blökten, dem Geschrei der nackten Adamiten und jener langweiligen Familie der Liebe, welche die Unzucht mit der Frau des Nachbarn für originell hielten. «Lasst uns sehen, wie hell ihr Licht leuchtet und wie lange sie Bestand haben», sagte Torrentius. «Lasst uns sehen, ob sie mit ihren Hörnern den Staat vom Sockel stoßen können.» Ich war ganz seiner Meinung, dass diese Sekten eher zu belächeln als ernst zu nehmen waren. Doch zugleich waren wir stolz auf unsere freizügige Stadt mit ihren laschen Gesetzen, wo keine Fragen gestellt wurden und die Bürger‐ 176
meister uns gewähren ließen. Sogar die Katholiken, als römische Papisten unsere Feinde, konnten Empfangszimmer in Kapellen verwandeln, die den Gestank von Weihrauch und Talg verbreiteten. Nonnen und Mönche konnten weiterhin hinter Klostermauern die Perlen ihrer Rosenkränze zählen. Portugiesische Rabbis errichteten mächtige Synagogen, Nachbildungen des Tempels Salo‐ mons. Anabaptisten drängten sich auf den Marktplätzen, ohne in ihrer albernen schwarzen Tracht aus fransen‐ behängten Kniehosen und runden Samthüten irgendwelche Kränkungen oder Kommentare auf sich zu ziehen. Torrentius ergötzte sich an diesem aberwitzigen Babylon mit all seinen Zungen, das seiner Lehre zupass kam: die wei‐ bischen Sprüche Christi zu verachten, insbesondere jene von der Liebe zum Nächsten wie zu sich selbst. «In Amsterdam sind die Menschen frei», sagte er. «Sie können ihren Glauben praktizieren ohne Zensur oder Schranken.» Er las sogar die Pamphlete, die, noch warm von der Dru‐ ckerpresse, von Fanatikern mit schriller Stimme an allen Straßenecken verteilt wurden. Wir stimmten mit den Adamisten insofern überein, als sie Christus für einen einfachen Menschen hielten und seine Göttlichkeit leugneten. Wir spielten sogar mit dem Gedan‐ ken, zu unseren Versammlungen so splitternackt zu erschei‐ nen, wie wir geboren waren, doch zu jener Zeit hatte Torrentius uns neue, purpurfarbene Uniformen gegeben, die wir sehr mochten. Wir teilten die Vorliebe der Bacchanten für Ausschweifungen und guten französischen Wein. Und ob– schon wir über die Familie der Liebe spotteten, 177
respektierten wir doch ihren Glauben, dass die Frauen nicht anders zu behandeln seien als Vieh und anderer beweglicher Besitz, der brüderlich zu teilen ist. Die Doktrin der Anti‐ nomier, alle Gesetze zu brechen, war für uns nichts Neues, und die Panisken lehnten wir als primitive Ziegenhirten ab. Es war eine Zeit des Überschwangs, in der eifrige Jünger von anderen Sekten zu unserem Credo überliefen. Dabei war uns am Anfang nicht bewusst gewesen, dass wir in den Menschen eine verwandte Saite anrührten. Unsere Reihen wuchsen unter einem endlosen Zustrom frischer junger Rekruten. Doch in der Rückschau mussten wir feststellen, dass wir ein Monster geschaffen hatten, statt unsere Organi‐ sation schlank zu halten und unsere Jünger bei all ihrem heißblütigen Trachten auf Geheimhaltung einzuschwören, auch wenn ihre Spiele nur harmlose Vergnügungen waren im Vergleich zu dem opulenten Repertoire der Sünde, das es zu entdecken gibt. Und doch haben diese unsere eitlen, entfesselten Kinds‐ köpfe es geschafft, mit ihren Indiskretionen meinen Messias zu stürzen, mit fleischlichen Vergnügungen auf Kirchhöfen, infantilen Obsessionen mit maskierten Flagellanten und der albernen Schuljungenphantasie, käuflichem Fleisch mit ge‐ stohlenen Kruzifixen und Altarkerzen Erregung zu verschaf‐ fen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Gerüchte und bös‐ williger Klatsch unter den gestrengen, bornierten Kauf‐ leuten der Stadt die Runde machten und die Richter uns auf den Fersen waren und Torrentius sich schließlich gezwun‐ gen sah, seinen ungebärdigen Mob hinter Schloss und Riegel zu verwahren. ■ 178
Heute bin ich voller Liebe für meine Jünglinge, für Wouter, der mit seinen Ausflügen in Hafenbordelle und Tavernen prahlt, für De Beere, der ihm mit eigenen Eroberungen gleichzukommen sucht, für Pelgrom und Jacop, die obszöne Scherze einwerfen, Andries, der mit der geübten Hand eines Croupiers Spielkarten mischt, für den kleinen Carp und sei‐ nen Freund Hans, die schüchtern nebeneinander sitzen und die anderen mit großen, unschuldigen, verständnislosen Au‐ gen anstarren. Sie sollen Torrentius̉ neue Jünger werden. Ich schwöre, sie alles zu lehren, was ich weiß, und jeden von ihnen bis zum Grunde seiner Seele zu verderben. 179
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m neunten Tag ist der Himmel weiterhin regenlos und klar. Man hat in die Dünen Kanäle gegraben und mehrere Quellen und Rinnsale freigelegt, jedoch keinen größeren Born frischen Wassers entdeckt. Es liegt auf der Hand, dass diese Quellen nicht alle mit Wasser versorgen können. Meine Unterkunft ist fast fertig, die Wände sind mit fä‐ cherförmigen Blättern verkleidet, das Dach mit geflochtenen Gräsern gedeckt. Fehlt nur noch eine Tür, damit ich diese armselige Segeltuchklappe ersetzen kann, die im Winde flat‐ tert und mich nachts nicht schlafen lässt. Sehr zu meiner Überraschung hat der mit wenig Verstand geschlagene Rat meinem Vorschlag zugestimmt, die Vorräte aus der Batavia vor meinem Quartier in einem schlichten, aus Treibholz gezimmerten Schuppen zu lagern, in einiger Entfernung von den langfingrigen Überlebenden und nahe bei den Soldaten, die ein Stück unterhalb in einer Senke kampieren. Kein Diebstahl wird unbemerkt bleiben, da diese Stelle einen ungehinderten Blick über das Hauptlager und alles Tun und Treiben unten am Wasser bietet. Ich bin gebe‐ ten worden, eine tägliche Bestandsliste der Vorräte zu füh‐ ren und einen gerechten Schlüssel zur Zuteilung der Ratio‐ nen zu errechnen. Bei der Abstimmung darüber stand es wieder neun zu drei. Alles verläuft nach Plan. Ich habe immer gewusst, dass es so sein würde. Der Zimmerer und seine Mannschaft tüchtiger Handlanger 180
haben beim Bau des neuen Lagers einiges Geschick an den Tag gelegt. Ich bewundere sie für ihre Mühen. In einem Gewirr aus Trampelpfaden und entlaubten Stümpfen stehen die schäbigen Zelte und Hütten eng beiein‐ ander, erbaut mit Pfählen, die vom Großmast der Batavia stammen, und einem wackeligen Holzgerüst, das sich knar‐ rend im Winde wiegt. Die Soldaten suchen jeden Zentimeter der Küste nach Überresten von Masten und Deckplanken ab. Nägel zwischen den roten Lippen und den Hammer in der geübten Hand, eilt der Zimmerer hin und her. Er ist froh, wieder bei der Arbeit zu sein und sich nützlich machen zu können. Schweiß läuft ihm über den nackten Rücken. Sein sommersprossiges Gesicht glänzt in der Sonne. Die schwülen Seewinde haben sein dunkelblondes Haar in eine filzige Matte wie von Astrachan verwandelt. Erst jetzt fällt mir auf, dass sein Körperbau und das blaue Glitzern seiner Augen etwas von einem Wikinger haben. Zwischendrin ruft er seinem jungen, pflichteifrigen Sprössling Anweisungen zu, welcher Zedernholzplanken von der Poop der Batavia mit dicken Hanfseilen bindet. Auch der Schneider ist bei der Arbeit, er hockt mir gekreuzten Beinen und spleißt Taue, flink wie ein Elf. Der behäbige Barbier, eine ruhige, gutmütige Seele, schuftet unermüdlich am Bau einer Kran‐ kenhütte auf einer Lichtung außerhalb des Lagers, wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, die Verletzten zu ver‐sor‐ gen. Er benutzt seine Lanzette, um Holzpfähle zurechtzu‐ schnitzen. Seltsam, seine scharfe Klinge in dieser abson‐ derlichen Verwendung zu sehen, jenes wohlvertraute Instrument, bei dessen Anblick in der Heimat allen Men‐ 181
schen angst und bange wird. Sie pfeifen bei der Arbeit, scherzen und reißen Witze. Selbst Stoffel, der strengge‐ sichtige Kalfaterer, lacht über den einen oder anderen Spaß, bevor er sich wieder darauf konzentriert, aufgeschwemmte Planken glatt zu hobeln. Judith, die dralle älteste Tochter des Pfarrers, sitzt zwischen ihnen und flicht Blätter. Ein Tableau der Geschäftigkeit, ein Bild der Kameradschaft. Ich, der Au‐ ßenseiter, muss mich manchmal fragen, wie es wohl wäre, zu diesen gewöhnlichen Menschen zu gehören. Diese Kaufleute sprechen eine Sprache, die ich nicht ver‐ stehe. Manchmal, aber nicht oft, überkommt mich ein plötz‐ licher Neid auf das einfache Leben, das sie führen, auf die Liebe ihrer Frauen, während ich keinen Zugang finde zu ihrer launigen, lauschigen Häuslichkeit und außen vor bleibe, hager und hungrig wie ein Wolf. Ich suche Lucretia, lasse den Blick über die Küste schwei‐ fen und entdecke sie, wie sie mit anderen Frauen auf den Felsen unten am Wasser hockt und mit ernster, entschlos‐ sener Miene Austern aus den Spalten und Rissen im Gestein hebelt. Hin und wieder hält sie inne, um sich den Schweiß von den Brauen zu wischen oder das Haar zurückzu‐ streichen, das sich aus dem purpurfarbenen Band gelöst hat. Was mag sich dieses Weib dabei denken? Meine Herrin hat nicht mit den anderen zu schuften, die Früchte dieser Meere zu ernten wie ein gemeines Fischweib. Jetzt fängt sie an, im nassen Sand nach Herzmuscheln und Wellhornschnecken zu wühlen, sie buddelt wie wild mit bloßen Händen und wirft jedes Fundstück in einen Eimer. Sie wird sich die Fin‐ gernägel ruinieren. Sie muss diese unwürdige, erniedri‐ gende Plackerei sofort beenden. 182
Ich laufe über die ausgedörrten Korallensplitter. Der Strand flimmert im leuchtenden Dunst der Hitze. Seltsam, dass ich mit jedem Tag auf dieser verlassenen In‐ sel geschäftiger werde, viel mehr als in meinem vergan‐ genen Leben in Amsterdam. Die nicht enden wollende Betriebsamkeit vom Morgengrauen bis zum Sonnenun‐ tergang, gestern zum Beispiel, gewährt nicht einen Moment zum Verschnaufen. Dabei möchte man annehmen, das Schicksal des Schiffbrüchigen hieße Langeweile. Doch nicht so hier, für den Moment zumindest. Den Kopf gesenkt, rammt Lucretia ihre Klinge unter eine bärtige Molluske mit Rankenfüßen, die fest an einem Felsen klebt. Mit einer kurzen Drehung des Handgelenks löst sie das Tier aus seinem uralten Netz aus Seegrassamen und Saugnäpfen. Sie wiegt ihre Beute in der Hand, dann nimmt sie das Messer, legt sie auf den Sand und öffnet die Schale. Auf Perlmutt gebettet, liegt dort eine fahle, fleischige, zuckende Masse. Verstohlen und mit schuldbewusster Miene blickt Lucretia sich um, ohne mich, der ich sie aus den Schatten heraus beobachte, zu entdecken, hebt die Schale an die Lippen und schluckt die lebende Kreatur hinunter. Angeekelt wende ich mich ab; Lucretias unbedingter Wille, um jeden Preis zu überleben, macht mir Angst. «Madam», rufe ich. Sie blickt auf, läuft rot an vor Scham und wirft die leere Schale in die Wellen. «Ich bitte Euch, lasst ab von diesen Arbeiten», sage ich. «Sie stehen Eurem Rang nicht an.» Lucretia setzt sich auf die Fersen, wischt das Messer am Saum ihres Kleides ab und lächelt. 183
«Wenn ich nicht arbeite, denke ich nach, und wenn ich nachdenke, werde ich traurig.» Lucretia rammt die Klinge mit solch wütender, brutaler Geste unter eine Auster, dass ich zusammenfahre. «Abgesehen davon, an diesem Ort zählt so etwas wie Rang oder Stand nicht», sagt sie und wirft die Muschel in den Ei‐ mer. «Auch wenn wir noch Vorräte vom Schiff haben, Mijn‐ heer, müssen wir alles Menschenmögliche tun, uns am Leben zu erhalten, bis das Schiff zu unserer Rettung ein‐ trifft.» Lucretia legt ihr Messer beiseite und starrt auf den blen‐ dendweißen Strand und hinaus auf den Ozean. Gischt um‐ schäumt das Riff. Ich schütze meine Augen vor den türkis‐ blauen Wassern, welche die endlosen Weiten verwobener Korallen umspülen, bis sie vom dunklen Blau der offenen See geschluckt werden. Die Hitze lastet beinah sichtbar auf der Insel. Lucretia trägt nicht einmal eine Kopfbedeckung. «Ihr dürft Euch dieser unbarmherzigen Sonne nicht aus‐ setzen», sage ich. Sie nimmt einen Strang gelbbraun gefleckter Algen und lässt sie im Winde flattern. «Gekocht, Mijnheer, sind die gewiss genießbar.» Ich bemerke einen leicht spöttischen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Will Lucretia mich auf den Arm nehmen, will sie mich tadeln, weil ich mich an der Knochenarbeit der anderen nicht beteilige? «Es wäre mir eine große Freude», sage ich und biete ihr den Arm, «wenn Ihr mir erlauben wolltet, Euch zu Euren Gemächern zu begleiten.» 184
«Gemächer», sagt sie. «Ihr beliebt zu scherzen. Das hier ist kein Salon, Mijnheer. Wir sind Schiffbrüchige.» Die Wut in ihren Worten verletzt mich, und ich fühle mich hilflos. Lucretia wendet ihre Aufmerksamkeit einer An‐ sammlung von Napfschnecken zu, die zum Teil unter der Wasseroberfläche am Felsen kleben, bedeckt von grünen Seealgen. «Ich bitte um Verzeihung», flüstert sie und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ich bin nicht ich selbst. Am besten, man lässt mich allein.» Abermals entlassen wie ein Küchenjunge. Doch ich be‐ schließe, mich zurückzuziehen, denn Lucretia scheint heute Morgen unpässlich, gedrückter Stimmung. Genau wie uns allen fehlen auch ihr die feinen Nuancen, die Nebelschleier der wechselnden Jahreszeiten Amsterdams. Auf dem Weg zurück zum Lager trete ich mit aller Wucht gegen die widerwärtigen Korallenbrocken, die mit rasseln‐ dem Klirren unter meinen Füßen zerbröseln. Ich stampfe auf die geborstenen Splitter und zermahle sie zu knochenwei‐ ßem Staub. Ich schleudere einen Stein nach einer Seemöwe, die über dem Wasser schwebt, und sie weicht kreischend aus, dann dreht sie seitlich ab. Ich verfluche dieses elende Eiland, das endlose Rauschen der See, das zermürbende Brüllen der Wellen, die gegen das Riff anbranden, den Wind, der Sand über die Küste wirbelt, die glühende, die sengende Hitze, unter der jedes einzelne sonnenverdörrte Blatt im Gebüsch zittert und knistert, und den flimmernden Dunst, der seltsame Muster auf den Sand malt, sodass man niemals sicher sein kann, ob die Algenklumpen, das ausgeblichene Treibholz oder die Dünen wirklich sind, oder 185
nur die Launen einer Luftspiegelung. Ich verabscheue diese Insel aus Korallen und Staub, denn sie wird mir mein schönes grünäugiges Mädchen nehmen. Ich führe den Branntwein an die Lippen. Mir zittern die Hände. Ich muss mich beruhigen. Ich muss meinen Ver‐ stand hüten. An diesem Ort kann sich der Wahnsinn unbe‐ merkt anschleichen und ohne Warnung über einen kommen. Ich leere die Flasche. Jetzt bin ich ruhig. Stark. ■
Später ertappe ich die Jünglinge der Compagnie, meine neu‐ en Jünger, bei ausgelassenen Spielen am Strand. Sie sind blind und taub gegen die Geschäftigkeit um sie herum, die Rufe der Soldaten, die einen Teil des Bugs der Batavia aus den Wellen bergen und Hilfe brauchen könnten, die Flüche des Zimmermanns, die bösen Blicke der Kaufmannsweiber, die die Felsen absuchen. Warum auch sollten sich meine Jünglinge darum scheren, wenn sie doch, genau wie Lucretia, den anderen nach Geburt und Rang überlegen sind? Wouter: so unübersehbar der Anführer. Seht, wie er da‐ herschreitet, mit schnellen, eleganten Schritten wie eine Gazelle, ein Faun. Er hat sein Hemd ausgezogen. Auf seinen Schultern sind schon die ersten Sommersprossen zu sehen. De Beere, der einen gespitzten Stock in der Luft schwingt, gibt sich alle Mühe, ihm gleichzukommen. Vergeblich. Doch mit dem makellosen Höflingslächeln unter dem getrimmten Schnurrbart gibt er einen vorzüglichen Zweiten Offizier ab. Pelgrom macht allerhand Faxen und schummelt. Er blin‐ 186
zelt durch die Augenbinde und schießt auf alles zu, was sich bewegt. Jacop der Träumer schreibt ein ums andre Mal seinen Namen in den Sand. Andries ist gelangweilt von Pelgroms Kaspereien, teilt ein Trumpfblatt aus und lädt Jacop zu einer Partie Whist ein. Die Stirn in Falten gelegt wie zwei griechische Wucherer, hocken sie auf den Fersen und spielen um Kaurischnecken. Der arme Carp hat Heimweh. Er starrt zum Horizont, jener versiegelten Grenze zur bekannten Welt. Carp vermisst seine Mama, seine hübsch gerüschten Geschwister. Er träumt von seinem Spielzimmer, den Holzpuppen, der rauen Mähne seines Schaukelpferdchens, das wie ein alter Freund beim Fenster steht. Einsam und verlassen teilt Hans sein Leid. Arm in Arm versuchen sie, dem Johlen der ande‐ ren zu entfliehen, doch De Beere schnappt mit seinem spitzen Stock wie ein Schäferhund nach ihren Fersen und jagt sie über den Strand. Wenn ich eine Partie Schach spielen wollte mit diesen Jünglingen, Wouter würde ich als Ersten ziehen. ■
Zur Mittagszeit beobachte ich, wie mein Trupp von Entde‐ ckern sich auf den Weg macht, um auf den Nachbarinseln nach frischem Wasser zu suchen. Meine beiden Expeditions‐ leiter, Wouter und De Beere, mühen sich, auf das Floß zu klettern, können es auf den kräftigen Flutwellen jedoch nicht ruhig halten. Andries versucht, sich bäuchlings voran aufs Floß zu robben. Pelgrom klammert sich mit weißen Knöcheln fest. Carp scheint zu ertrinken. Er bläst Schaum 187
durch die Nase. Ich habe vergessen, dass es Stadtkinder sind, die dem Schwanken des Ozeans hilflos ausgeliefert sind. Sie sind es gewohnt, festen Grund unter den Füßen zu haben, poliertes Eichenparkett, Fliesen im schwarzweißen Schachbrettmus‐ ter. Fußböden, von denen man essen könnte. Wie ich meine Jünglinge so in den Wellen strampeln sehe, frage ich mich, ob sie dieser Aufgabe gewachsen sind. Viel‐ leicht wäre es besser, es gäbe mehr von ihnen. Während ich über meinen nächsten Zug nachdenke, sehe ich, dass sie es alle an Bord des wackeligen Gefährts geschafft haben. Carp spuckt bittere Galle in die Dünung. ■
In der Abenddämmerung, als die Sonne goldene Fäden in den tintenblauen tropischen Himmel webt, erstattet Wouter mir in meinen Gemächern Bericht. Er erzählt, wie sie die Inseln der Länge und Breite nach abgesucht haben, sich durch dorniges Gebüsch kämpften und zuletzt doch alle Hoffnung verloren, denn auf keiner der Inseln war Wasser zu finden. Sie hatten das Floß jeweils eine gute Stunde lang über labyrinthartige Untiefen und Kanäle staken und steuern müssen, bis sie weit genug luvwärts waren, um beide Inseln erreichen zu können. An flachen Stellen mussten meine tapferen Jünglinge bis zu den Knien im Wasser über nadelspitze Korallen waten und das Floß anschieben. In tieferen Gewässern wurden sie von Haien verfolgt, einige kamen so nah, dass sie das Floß mit der breiten Schnauze berührten, andere 188
zogen ihre Kreise, wobei die mörderischen Finnen aus den Wellen ragten. Auf der ersten Insel waren nur stehende Pfützen mit blass‐ grünem Moos zu finden, auf der anderen mehrere Senken, in denen sich brackiger Schlamm gesammelt hatte. Als er seinen atemlosen Vortrag beendet, bricht Wouter in Tränen aus. «Es ist sinnlos, wir werden alle sterben», schluchzt er. Ich wiege ihn in meinen Armen. «Wir nicht», sage ich. «Nicht, wenn es uns gelingt, die Zahl der Menschen hier zu verringern.» Ich tupfe ihm Hamamelis auf die geschundenen Füße. «Wenn die Leute Euch nach der Expedition fragen, wisst Ihr doch, was Ihr zu sagen habt, nicht wahr?» Wouter hebt den Kopf und sieht mich mit ernster Miene an. «Dass wir Wasser gefunden haben?», flüstert er. «Wir haben keine Wahl», antworte ich. «Wir oder sie.» Der arme Wouter grübelt und runzelt die Stirn. Er weiß nicht, was er denken soll. «Angenommen, Ihr habt Euch geirrt», sage ich. «Vielleicht habt ihr nicht tief genug gegraben. Würden mehr Menschen hinübergeschickt – sagen wir fünfzig, höchstens –, könnte eine zweite Suche durchaus erfolgreich sein, wo Eure kleine Gruppe versagt hat.» Wouters grüne Augen leuchten. Er nimmt meine Hand und küsst den Ring des Kommandanten. «Manchmal», sagt er, «muss man die Menschen zu ihrem Glücke zwingen.» 189
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m zehnten Tag mache ich meinen Wassersuchern den Vorschlag, sich die heißen Stunden des Tages damit zu vertreiben, in den schattigen Lagunen Korallenforellen zu fangen, und als besondere Belohnung für ihre Tapferkeit be‐ reite ich jedem Einzelnen eine starke Opiumpfeife. Dann läute ich die Schiffsglocke, um den Inselrat einzube‐ rufen. Der Lärm der Bauarbeiten vor dem stickigen Ratszelt ist mir unerträglich, also bitte ich sie in meine Gemächer. Der Rat besteht inzwischen aus neun Mitgliedern. Die Anstrengungen der letzten Tage waren wohl zu viel für unsere drei Abweichler, die dagegen votiert hatten, einen Suchtrupp zu den Nachbarinseln zu schicken. Betagt wie sie waren, sind sie friedlich im Schlafe verschieden. Die Kaufleute und der Barbier sind zu dem Schluss ge‐ kommen, dass ein Eimer mit Meeresfrüchten, den sich das gierige Trio – entgegen allen Vorschriften – unter den Nagel gerissen hat, wohl zu lange in der Sonne gestanden hatte. Und ich kann ihnen nur zustimmen, denn eine Lebensmittelvergiftung ist die wahrscheinlichste Erklärung. Ich bedeute den Ratsherren, an dem großen Holztisch im Schatten Platz zu nehmen, welchen der Zimmerer nach mei‐ nen Anweisungen aus verzogenen Fässern für Pökelfleisch gefertigt hat, die nicht länger von Nutzen waren. «Die Suche nach Wasser auf den Nachbarinseln war ein voller Erfolg», verkünde ich. «Auf der schmalen Landzunge zu unserer Linken sprudeln die Quellen so reichlich und ist die Zahl der Seehundkolonien an der Küste so groß, dass ich sie Seehundinsel getauft habe.» 190
Die Ratsmitglieder applaudieren. Ich erzähle ihnen von Teichen, die so klar sind, dass man die wogenden Kränze aus Gras erkennen kann, die einer über dem anderen aus einem einzigen Stamme entwachsen, und die runden Kieselsteine auf dem geriffelten Sandboden. Zwischen malvenfarbenen Schatten, sage ich, schwimmen schillernde Fische umher, und auf der Wasseroberfläche spiegeln sich die wogenden Äste mit ihrer Last aus runden, saftigen Früchten, manche so reif, dass sie fast platzen. Auf jenem Eiland hängen an den Weinstöcken Trauben von der Größe einer Faust, wachsen berstende Granatäpfel so groß wie Teller. «Unsere erste Aufgabe ist es nun», erkläre ich, «ungefähr fünfzig Mann auf diese Insel umzusiedeln. Derweil sollen die Soldaten auf der Berginsel, so benannt nach ihren steilen Kalksteinhängen, nach Wasser suchen.» Einer der Ratsherren ringt die weichen, weißen Hände. «Es wird Tumulte geben», sagt er. «Alle werden zur See‐ hundinsel wollen.» Der Pfarrer erhebt sich. «Aber sollten nicht wir zu den Ers‐ ten gehören?» Ich bitte um Ruhe. «Mijnheers», hebe ich an, «Eure Namen stehen allesamt auf der Liste.» Ich entrolle ein Pergament. Die Schafsköpfe starren mich verdutzt an. «Ihr seid von den Menschen hier gewählt wor‐ den, damit stehen Euch gewisse Privilegien zu.» «Jawohl, jawohl», jubelt ein Goldhändler. «Auf zur See‐ hundinsel!» Er reißt das Schriftstück an sich und unterzeich‐ net mit schwungvoller Geste. «Und um die Menge im Zaume zu halten», füge ich hinzu, 191
«sollen alle einen Strohhalm ziehen.» Dann schlage ich vor, die Versammlung zu schließen. «Alles, was ich brauche», sage ich, «sind Eure Namen auf der Liste.» Meine edlen Kaufleute stecken die Köpfe zusammen und tuscheln leise. Ich lausche dem Summen ihrer Stimmen – alle sind sie fest entschlossen, zu den Ersten in meinem mythischen Garten Eden zu gehören, welcher nur in der Phantasie existiert, im Wunschtraum eines Kartographen. Zweifel beschleichen mich, ob ich vielleicht übertrieben habe. Doch alle unterzeichnen die Liste. Alle, bis auf den Pfarrer. Er hält sich entfernt von den anderen und lungert bei den Vorratsfässern vor meinem Quartier herum. Ich sehe ihm an, dass er sich nicht entscheiden kann. Soll er die Umsiedler auf ihrer Reise begleiten oder hier bleiben, wo, zumindest für den Moment, ausreichend Vorräte vorhanden sind? Er windet sich die Kette seines Kruzifixes um die Hand. Jetzt zählt er die Weinfässer, inspiziert die Eierkörbe und schnüf‐ felt zwischen den Holzgestellen herum, auf denen Korallen‐ fische zum Trocknen in der Sonne liegen. Unbemerkt schleiche ich mich an. Er steht mit dem Rücken zu mir und wühlt in den Kartoffelkisten. Ich tippe ihm sanft auf die Schulter. Er fährt zusammen und lässt das Kruzifix fallen. Dann bückt er sich mühsam, um es aufzuheben. «Verzeiht, wenn ich Euch erschreckt habe», sage ich. «Aber Ihr habt noch nicht unterschrieben.» Seine Wangen sind gerötet, Schweiß perlt ihm auf der Oberlippe. Mit einem dreckigen Spitzentaschentuch tupft er sich die Brauen. 192
«Ich sage Euch, diese Hitze», stöhnt er. «Die bringt mich noch um, ganz sicher.» Ich erkläre ihm, dass alle Überlebenden baldmöglichst einen Strohhalm ziehen sollen. Es bleibe nicht viel Zeit. Er weicht meinem Blicke aus. Er hat helle Wimpern, seine hell‐ braunen Augen stehen schräg wie bei einem Schwein. «Ich muss abwägen, wo ich mehr gebraucht werde», sagt er leise und blickt zu den Vorratsfässern hinüber. «Wo die geistigen Bedürfnisse am größten sind. Wo die Kranken und Sterbenden Trost brauchen.» Trost brauchen, entfährt es mir beinah. Dass ich nicht lache. Die ganze Reise über habe ich dich beobachtet, mein fetter Freund, wie du laut aus deinem kleinen schwarzen Büchlein vorlasest. Wie sehr die Kranken sich danach sehn‐ ten, von deinen gelispelten Gebeten erlöst zu werden. «Was ist mit den Seelen auf der Seehundinsel?», frage ich. «Sollen sie im Stich gelassen werden?» «O nein, Mijnheer, ganz gewiss nicht.» Er knüllt das Spitzentuch zu einem feuchten Ball und steckt es zurück in die Tasche. «Der Rat hat zugestimmt, meinen Krankenpfleger mit auf die Insel zu nehmen», sagt er. So, er schickt seinen ungebildeten Krankbesoeker, jenen bleichen Jüngling, um seinen Platz unter den anderen ein‐ zunehmen. Meinetwegen. «Ich hoffe, Ihr werdet keinen Anlass haben, Eure Entschei‐ dung zu bereuen.» Er wirft mir einen misstrauischen Blick zu. «Ich habe es mir nicht leicht gemacht», murmelt er. Ich muss ihn im Auge behalten, womöglich ist er schlauer, als ich dachte. 193
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m elften Tag türmen sich am Horizont tief hängende graue Wolken, die Regen versprechen. Die Batavia ist auseinander gebrochen, das Flaggschiff der Ostindienflotte ohne eine Spur verschwunden. In zahllosen Überfahrten mit dem Floß haben die Männer jede Bohle und jede Planke aus dem Wrack entfernt, haben das Schiff bis auf das Gerippe geflenst wie einen Wal. Die morgendliche Flut bringt noch immer reichliche Ernte. Heute waren es vier zusammengebundene Bettpfosten, ein Nachttopf und eine Kiste mit fünf ovalen Rasierschalen aus reinem Gold, die auf Bestellung für den Hof eines Moguls gefertigt worden waren. Weiterhin fanden sich unter ande‐ rem eine Kette mit zwanzig Walrosszähnen, marmorweiß mit schwarzen Äderchen, und eine Kiste mit Betelnüssen. All diese Dingen werden, natürlich, in meine Gemächer ge‐ bracht werden, sobald die Soldaten und einige der Über‐ lebenden auf die anderen Inseln umgesiedelt sind. ■
Ich läute die Schiffsglocke, um eine Inselversammlung ein‐ zuberufen. Die Männer legen ihre Werkzeuge nieder, wischen sich den Schweiß von der Stirn und machen sich auf den Weg zu mir. Lautlos tauchen die Soldaten mit geschulterten Musketen aus den Schatten der Büsche auf. Sie sind ein hagerer, zäher Menschenschlag, und ich traue nicht einem von ihnen. 194
Ich sehe Wouter und meine Jünglinge im Sande herum‐ tollen, ihre Schatten tanzen im flimmernden Dunst der mor‐ gendlichen Hitze. Sie blicken nicht einmal auf, als ich die Glocke der Batavia zum dritten Mal läute. Überlassen wir sie also ihren Spielen, denn ohnehin wäre ich mir nur bei Wouter sicher, dass er sich nicht den Mund verbrennt, wenn er über die Erkundungsfahrten zu den Nachbarinseln berichten soll. Frauen und Kinder trotten über den Strand, sie haben See‐ gras und Treibholz für die Kochfeuer gesammelt. Lucretia läuft hinterdrein, sie trägt das größte Bündel. In letzter Zeit habe ich einen gehetzten, ruhelosen Zug an ihr bemerkt. Wenn sie nicht damit beschäftigt ist, Mollusken zu sam‐ meln oder dem Barbier bei der Pflege der Kranken zur Hand zu gehen – die mit lindernden Essenzen aus meinen Phiolen behandelt werden, welche ich bereitwillig hergegeben habe –, verbringt Lucretia den Großteil ihrer Zeit allein auf den Fel‐ sen nahe der Landzunge. Manchmal wandert sie wie in Ge‐ danken versunken auf und ab, dann wieder steht sie stun‐ denlang da und starrt in die donnernde Brandung der unermüdlich ans Riff schlagenden Wellen. Nun, wo ich Lucretias Wünschen nachgekommen bin und ein nicht geringer Teil meiner kostbaren Opiate an Simulan‐ ten vergeudet wird, die in einem stärkeren Gebräu als billi‐ gem Grog das Vergessen suchen, nun werde ich abermals gemieden von dieser Dame, die wieder ihr kühles und hoch‐ mütiges Gebaren zeigt. Und doch habe ich nicht vergessen, wie Lucretia vor ge‐ rade vier Tagen den Hügel hinauf zu meiner Unterkunft 195
schlenderte, ein lachendes Kind auf den Schultern, und mich mit einem strahlenden Lächeln beschenkte. Ich führte sie in die kühlen, grünen Schatten der Weinstöcke, und als ich den Umhang des Kommandanten auf einem breiten, flachen Stein ausbreitete, erhoben sich Schwärme von Schmetter‐ lingen mit saphirfarbenen Flügeln in die Lüfte. Irgendwo im Gebüsch sang ein Vogel eine reine, trillernde Melodie. Und in diesem Augenblick wusste ich, ich hatte meinen Platz im Paradies gefunden, an dem ich mein Leben neu würde gestalten können. Das Kind gluckste zufrieden in Lucretias Schoß, sie kitzelte ihm die Wange, so dass es gar nicht mehr aufhörte zu lachen. Obwohl die Frauen ungeduldig wie Vieh in einem Pferch auf meine Heilsversprechen warteten, küsste ich Lucretia die Hand. Sie zog sie nicht zurück, und ich habe nicht vergessen, wie sie sagte: «Ihr seid ein guter, freundlicher Mensch.» Als die Götter mir Marie wegnahmen, als sie starb und in einem Armengrab vor der Stadt verscharrt wurde, als ich eine einzelne weiße Rose auf den grässlichen Haufen frisch gegrabener Erde warf, hätte ich nie für möglich gehalten, dass jemals wieder eine sterbliche Seele mein Herz berühren würde. ■
Ich betrachte Lucretia, wie sie ihre Last absetzt und ihren Platz unter den Frauen einnimmt. Aber ich darf jetzt nicht an sie denken, muss sie für diesen Moment aus meinem Kopfe verbannen. Wenn wir überleben 196
wollen, muss ich diese Menschen dazu bringen, meinem Plan zuzustimmen. Sie sitzen im Kreis und blicken mit erwartungsvollen Gesichtern zu mir auf, aller Augen sind auf mich gerichtet, wachsam, nachdenklich, geduldig. Also beginne ich mit der Ankündigung, dass alle Überle‐ benden morgen früh bei Sonnenaufgang einen Strohhalm ziehen werden, um so auf denkbar gerechteste Weise zu er‐ mitteln, wer auf die Seehundinsel umsiedeln wird und wer nicht. Eine Welle der Erregung läuft durch die Menge. Meine Schilderung der Reichtümer dieses Eilands hat schnell die Runde gemacht. Gerade die Ratsherren können es augenscheinlich kaum erwarten, endlich aufzubrechen. Die Luftveränderung wird ihnen gut tun. Ich erkläre, dass sich alle Ratsmitglieder außer mir selbst und dem Pfarrer bereit erklärt haben, die Umsiedler zu be‐ gleiten und die Gründung einer zweiten Kolonie zu beauf‐ sichtigen. Nun würden noch fünf starke und geschickte Männer gesucht, die sich freiwillig melden möchten, um bei dieser Unternehmung ihren Beitrag zu leisten. Mehrere Hände schießen in die Höhe. Die ehrwürdigen Ratsmitglieder, Treuhänder dieses meines Gartens Eden, tauschen erleichterte, zufriedene Blicke. «Und für die seelischen Bedürfnisse», ich bedeute dem Krankbesoeker, sich zu erheben, «wird der Krankenpfleger des Pfarrers für alle zur Verfügung stehen.» Der ziegen‐ füßige Jüngling steht da mit der Bibel vor der stolzge‐ schwellten Brust. «Für die Zurückbleibenden gilt, dass die Insel des Verrats von nun an streng wie ein Schiff geführt wird», sage ich. «Es 197
wird für alles strikte Regeln geben, das gilt für die Fischzüge ebenso wie für die Verteilung der Rationen und die Benut‐ zung der Latrinen.» Ich deute auf eine Rinne in einiger Ent‐ fernung des Lagers, die gnädigerweise zweimal am Tag von der See geflutet wird. «Wenn weiterhin unkontrolliert offene Latrinenlöcher ge‐ graben werden, haben wir bald Zustände, die unweigerlich zur Ausbreitung von Krankheiten führen», füge ich hinzu. «Gar nicht auszudenken, mit welcher Geschwindigkeit sich ein Fieber unter uns verbreiten würde. In weniger als einer Woche würden wir alle dahingerafft.» Mit Genugtuung nehme ich zur Kenntnis, dass einige der Soldaten zustimmend nicken: Sie befürworten meinen Ruf nach Disziplin und Ordnung. Die Menge fängt an zu klatschen. Einige Männer brechen in Hochrufe aus. Dann sehe ich Lucretia, die sich langsam erhebt, sich zu mir dreht und einen Knicks macht. Als sie ihrer gewahr werden, stecken die Leute die Köpfe zusam‐ men. Ich sehe zum Barbier hinüber. Dem Lächeln auf seinem gutmütigen Gesicht entnehme ich, dass keine Gefahr droht, wenn Lucretia zum Pöbel spricht. Vielleicht will meine ge‐ heimnisvolle Dame endlich die Gelegenheit ergreifen, Jero‐ nimus Cornelisz dafür zu danken, dass er die Kranken geheilt hat. Mein Blick ruht auf diesen Menschen, auf meinen zukünf‐ tigen Untertanen. In Abwesenheit des Kommandanten, wer‐ de ich sagen, mögt ihr mich Euren Generalkapitän heißen. Und ich sollte Lucretia nicht vorschnell aus meinen Ge‐ danken verbannen. Womöglich hat sich das gute Kind bei 198
ihren Wanderungen an diesen Küsten lediglich die Worte zu einer Lobesrede zurechtgelegt. Mit einem Nicken bedeute ich ihr, zu sprechen. «Gestern», verkündet sie, «sah ich bei einem Spaziergang an der Landzunge einen Punkt am Horizont, und ich bin der festen Überzeugung, dass es sich um ein Schiff handelte.» Ist sie des Wahnsinns? Wie kann sie es wagen, über Ange‐ legenheiten zu sprechen, die weder sie noch irgendeine andere Frau angehen und die ausschließlich im erlauchten Kreis des Inselrates zu behandeln sind? Alles redet wild durcheinander. Lucretia hebt mit königlicher Geste die Hand und bittet um Ruhe. Laut und deutlich schlägt sie vor, ein Feuer aufzu‐ schichten, ein Leuchtfeuer, das Tag und Nacht brennen sol‐ le, sodass es von allen Vorüberfahrenden gesichtet werden könne, für den Fall, dass das Schiff zu unserer Rettung auf sich warten lasse. «Warum hat daran noch niemand gedacht?», schreit ein Händler. «Wir sind mitten in der Handelssaison! Die Galiasse und die Dordrecht, die wir zusammen mit dem Verband ver‐ loren haben, könnten in diesem Moment vorbeifahren! Wäh‐ rend wir hier sitzen und zaudern.» «Schnell, schnell», kreischt unser schwachköpfiger Pfarrer. «Wir dürfen keine Zeit verlieren.» Ich läute die Glocke, um die Menge zur Ordnung zu rufen. Wie kann Lucretia es wagen, diese hilflose Herde derart in Aufruhr zu versetzen? Ein Leuchtfeuer – man stelle sich vor –, um aller Welt kundzutun, dass wir hier gestrandet sind, um jeden Freibeu‐ ter und Piraten im Umkreis von Meilen mit der Nase darauf 199
zu stoßen, dass hier womöglich ein Schiff der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie auf ein Riff gelaufen ist? Nicht ein‐ mal die Soldaten mit ihren Blechtrommeln und feucht ge‐ wordenen Musketen könnten uns gegen die grausamen An‐ griffe verteidigen, gegen die Plünderer, die die unschätzbare Fracht der Batavia an sich reißen wollen, mein rechtmäßiges Eigentum. Morgen werde ich für diese Insel als Erstes eine Verord‐ nung erlassen, der gemäß alle Mahlzeiten in einer gemein‐ schaftlichen Küche in einiger Entfernung von den Unter‐ künften zuzubereiten sind. Eigene Feuer werden verboten, da sie das gleiche Risiko bergen wie Lucretias albernes Leuchtfeuer. Ein Leuchtfeuer – hat man so etwas schon mal gehört? Mein schöner Plan wäre sabotiert. Doch es tut nicht Not, die Leute mit derlei Gefahren zu beunruhigen. Je weniger über die Schätze der Compagnie gesprochen wird, welche ich zu beanspruchen gedenke, umso besser. «Ich danke für Euren Vorschlag», sage ich und versuche, den Zorn in meiner Stimme zu verbergen. «Aber leider man‐ gelt es dieser Insel an Holz, um ein Feuer Tag und Nacht am Brennen zu halten.» Als ich hinzufüge, dass damit wertvolles Material ver‐ schwendet würde, das dringend für den Bau eines Lazaretts benötigt wird, wagt Lucretia den offenen Widerspruch. «Ist es nicht weitaus wichtiger, von dieser Insel zu flie‐ hen», sagt sie in einem ungehaltenen Ton, der mir nicht ge‐ fällt, «als ein neues Lager zu bauen, wo die vorhandenen Unterkünfte durchaus ihren Dienst tun?» Die Kaufmannsweiber sind anderer Ansicht, sie schütteln den Kopf. 200
«Dieses Gebüsch brennt wie Zunder», entgegne ich. «Ein achtloser Funke genügt, und die Insel steht in Flammen.» Alles schaut sich nervös um, dieser Gedanke ist ihnen neu. «Oh mein Gott», schreit der Pfarrer. «Wir werden bei le‐ bendigem Leibe in unseren Betten verbrennen.» Die Frauen schnalzen mit der Zunge und ziehen ihre Kin‐ der enger an sich. «Wir können Wachen postieren», erklärt Lucretia. «Und wenn alles Holz verbraucht ist, was sollen wir Eurer Ansicht nach dann tun?», frage ich. Lucretia starrt mich an, ihre Augen blitzen in wildem Zorn. Warum nur muss sie eine so erbärmliche Szene machen, meinen Autorität vor aller Augen derart in Frage stellen? «Ich bin der Ansicht, dass es das Risiko wert ist», sagt sie ruhig. «Und noch eins. Wenn wir alle Anstrengung darauf verwenden, ein vorüberfahrendes Schiff auf uns aufmerk‐ sam zu machen, gibt es keinen Grund mehr, auf die anderen Inseln umzusiedeln.» Durch die Gruppe der Soldaten geht ein aufrührerisches Raunen. Woher nimmt diese Frau das Recht, meinen Plan in Zweifel zu ziehen? «Nein», schreit einer der Ratsherren und springt auf. «Auf gar keinen Fall, meine Dame, werden wir uns auf ein solches Hasardspiel einlassen.» Zustimmendes Gemurmel. Der korpulente Kerl, vormals Kassierer einer Bank, wirft mir einen kriecherischen, durchtriebenen Blick zu. «Wenn diese Insel durch übermütigen Leichtsinn in Brand gesetzt wird, werden alle Mann zur Seehundinsel übersetzen, und 201
wir wären in der gleichen Lage wie zuvor.» «Nur ohne die Wasserfässer», schreit ein anderer. Er schüt‐ telt die Faust in Lucretias Richtung. «Setzt Euch, Weib, Ihr verschwendet unsere Zeit.» Der wankelmütige Pöbel hebt an zu buhen und zu pfeifen. Abermals läute ich die Glocke. «Wir wollen abstimmen», sage ich. «Wer ist dafür, ein Leuchtfeuer zu entzünden?» Lucretia hebt die Hand, außerdem ein so klägliches Grüppchen, dass es nicht der Mühe lohnt, die Stimmen zu zählen. Die Menge applaudiert. Ohne ein Wort macht Lucretia einen Knicks, dreht sich auf dem Absatz um und verlässt die Versammlung, bevor sie offiziell geschlossen ist. Ich werde sie später zur Rede stellen, denn dieser Dünkel geht zu weit. ■
Ich werde in das Lager der Soldaten gebeten. Beherzte, kräftige Naturburschen allesamt, voller Stolz und Vater‐ landsliebe, die ihre Freude haben an langen Märschen im Gleichschritt und komplizierten Kriegsspielen in den Dünen und die sich nach bedeutenden Aufgaben sehnen: Festungen bauen, auf den Hügeln Schlachten schlagen, einen Gegner ausmachen, sich an ihm messen und ihn erlegen. Vielleicht ist das der Grund, warum ich sie so schnell wie möglich loswerden will – ihren Anführer vor allem, Wiebbe Hayes, eine Heldenfigur mit gemeißelt schönen Zügen. Im Rund der kerzengeraden, straff gespannten Zelte put‐ zen Hayes und seine Männer ihre Schuhe und polieren die Schnallen an ihren Gürteln. Als er mich kommen sieht, lo‐ 202
ckert Hayes seine strengen Züge zu einem Ausdruck, der wohl einem Lächeln ähneln soll. Mit der Geschicklichkeit einer Näherin flickt er ein Paar Kniehosen, jeder Kreuzstich gleicht dem vorherigen wie ein Ei dem anderen. Er fädelt neues Garn in die Nadel und beißt es von der Rolle ab. Seine Zähne sind scharf und weiß und ebenmäßig. Als ich vorschlage, die Soldaten mögen die genaue Position der auf der Berginsel gefundenen Wasserstellen ermitteln, sieht er mich prüfend an. «Haben wir einen Beweis, dass es diese Wasserstellen wirklich gibt?» Hayes ist ein schwieriger, sturer Geselle, und er hat eine Vorliebe für nackte Fakten, hart an der Grenze zum Pedanti‐ schen. Wie ich den ehrlichen Blick seiner blauen Augen verabscheue. Doch dies Vorgeplänkel wird ihm bald lästig sein, und ich weiß, dass er seine Männer am Ende doch zur Berginsel führen wird. Letztendlich genießt auch er es, das Sagen zu haben und vom eigenen Zelt auf dem Befehlshügel aus seine Order zu erteilen. Die Soldaten pfeifen leise vor sich hin und geben vor, unser Gespräch nicht zu belauschen. Unbeirrt polieren sie weiter ihre Stiefel. Wie sehr müssen sie ihre Lage verab‐ scheuen. Und sie zählen auf Hayes, sie daraus zu befreien. «Die Zivilisten sind unser Verderben», höre ich einen nar‐ bigen Kämpen seinem Kameraden zuflüstern. Der nickt zu‐ stimmend und spuckt auf seine Stiefelspitze. Obwohl es unter ihnen auch französische Söldner gibt, sind die Soldaten zu einer verschworenen Gemeinschaft ver‐ schmolzen. Sie sind gedrillt, zu überleben und Widerstände zu überwinden – das gehört zu ihrem Handwerk. 203
Hayes stößt die Nadel in den fadenscheinigen Stoff. «Wenn Quellen gefunden wurden», sagt er, «warum hat man die Wasserfässer nicht aufgefüllt?» Ich erkläre, dass es nur eine Erkundungsfahrt war. «Aber jetzt, wo wir wissen, dass es dort Wasser gibt», sage ich, «werden die Soldaten diese ehrenvolle Aufgabe doch gewiss übernehmen wollen.» Hayes, der ehrgeizige Faktensammler, macht einen dop‐ pelten Knoten. Ich schätze sein Alter, Größe und Gewicht, das Volumen seines Herzens. Eine Fingerspitze aus einer meiner Phiolen wird genügen. Abermals beschreibe ich die Berginsel. Weniger poetisch diesmal. Ich berichte lediglich ausführlich von den klaren Tropfen, die aus Felsspalten rinnen, den Farnen, die unter den Felsen wuchern und weitere Quellen vermuten lassen. Dies ist die lange, trockene Stunde. Die Stunde der Dürre zwischen den Wasserrationen. Einige Soldaten fahren sich mit der Zunge über die Lippen. Als Hayes darauf dringt, unter vier Augen mit Wouter zu sprechen, der die erste Expedition geleitet hat, weiß ich, dass ich gewonnen habe. Denn wer könnte Wouters Worten misstrauen, seinem Charme widerstehen, der Anmut und Unschuld meines grünäugigen Ritters? ■
Als Hayes zurückkehrt, ist er überzeugt. «Ein mutiger Bur‐ sche», sagt er. «Wir hätten ihn gern bei uns.» Ich erkläre ihm, dass die Leute Wouter in den Rat wählen wollen. Wieder durchbohrt er mich mit seinem Blick. 204
«Dieser junge, tapfere Bursche», sage ich, «ist ihre einzige Hoffnung.» Er antwortet mit einem unverbindlichen Nicken. «Wenn Ihr jemanden aus der ersten Expedition dabei ha‐ ben wollt, um Euch zu den Wasserstellen zu führen, würde ich den jungen Carp vorschlagen.» Hayes wirft den Kopf in den Nacken und lacht. «Dieses jammernde Häufchen Elend wird uns eine große Hilfe sein», sagt er. «Wo er Tag und Nacht nach seiner Mutter weint.» Ich strecke meine Hand aus, damit wir die Angelegenheit endlich besiegeln können. Doch sehr zu meinem Ärger ver‐ schränkt er die Arme vor der Brust. «Wie sollen wir eigentlich zur Insel gelangen?», fragt er wie nebenbei, als sei ihm der Gedanke gerade erst gekom‐ men. «Wir werden ein zweites Floß bauen müssen.» Der Mann wird lästig. Wie lange muss ich hier noch her‐ umstehen und feilschen, ohne eine Pfeife oder wenigstens ein Glas Wein? Als ich ihm darlege, dass der Bau eines zweiten Floßes eine Verschwendung der knappen Ressou‐ rcen der Insel bedeuten würde, zumal das verbliebene Holz zum Bau des Lagers gebraucht werde, runzelt er die Stirn. «Pelgrom und De Beere werden Eure Männer übersetzen», sage ich. «Auf dem Floß, das wir bereits haben.» Nachdenklich reibt er sich die schmale weiße Narbe über der Braue. Hinter seinem schroffen Auftreten verbergen sich ein Scharfsinn und eine Wachsamkeit, die mir nicht gefallen. Bevor er noch einen Einwand vorbringen kann, schlage ich vor, dass die Soldaten ein Feuer entzünden, sobald sie die Quellen gefunden haben, um so anzuzeigen, dass das Mili‐ tärlager bis zur Ankunft des Rettungsschiffes auf der Insel 205
verbleiben kann. «Und wenn wir kein Wasser finden?», fragt er. «Unmöglich. Ihr habt doch mit Wouter gesprochen», ent‐ gegne ich. «Aber solltet Ihr kein Feuer entzünden, werden wir nach fünf Tagen das Floß schicken, Euch zu holen.» Ohne ein Wort stapft Hayes den Hügel hinauf und ruft seine Männer zu einer Besprechung zusammen. Und wieder einmal muss ich, Generalkapitän dieser Insel, darauf warten, dass Mijnheer Hayes eine Entscheidung trifft. Aber ich weiß, dass die Soldaten in meinem Sinne stimmen werden. Zu guter Letzt winkt Hayes mich in sein kahles, spartani‐ sches Quartier: nur eine grobe, zusammengerollte Decke auf dem Boden, daneben seine Ausrüstung, es gibt nicht einmal eine Sitzgelegenheit. «Da die Wasservorräte nicht für alle reichen», hebt er an, «drängen meine Männer, diese Insel zu verlassen. Doch zu‐ erst müssen wir eine förmliche Abmachung treffen, dass das Floß kommen wird, uns zu holen, wenn wir keine Rauch‐ signale geben.» Argwöhnischer, misstrauischer Hayes. Spielt es wirklich eine Rolle, auf welchem Stückchen Land wir sitzen? Ich unterzeichne den Vertrag auf einem zerknitterten, abge‐ griffenen Stück Pergament. Als es endlich so weit ist, erklären sich einige der Soldaten sogar bereit, ihre Musketen zurückzulassen, um das Floß mit Vorräten und Wasser für fünf Tage beladen zu können. «Entzündet Feuer», sage ich, «sobald Ihr die Quellen ge‐ funden habt.» «Zu Befehl», rufen sie und schlagen die Hacken zusammen wie die bemalten Bleisoldaten aus meiner Kindheit. 206
Nur Hayes sieht beunruhigt aus. Er scheint Bedenken zu tragen. Während ich zusehe, wie die Soldaten auf das Floß klettern, bin ich einmal mehr beeindruckt vom Erfolg meines einfachen Plans, die Zahl der Menschen hier zu verringern. Nur zwei Überfahrten, und ich kann vierzig Namen von meiner Liste streichen. 207
I
n der Abenddämmerung finde ich Lucretia an der Land‐ zunge, sie kniet mit gefalteten Händen und ruft die Him‐ mel an. Ausnahmsweise geht kein Wind. Nicht einmal die kühle Seeluft bringt Erleichterung. Ockergelbe Wolken glü‐ hen wie gewaltige Pilze am Horizont. Es wird eine heiße, schlaflose Nacht. Vor dieser heidnischen Szenerie sitzt Lucretia und betet. Um ein Schiff vermutlich, die Segel gesetzt, über perlblaue Meere eilend, kreisförmige Rippeln in indigofarbenem Was‐ ser, wenn der Anker in die See platscht, das Boot, das von Matrosen an Land gerudert wird, der Kommandant, der aus dem Bug springt und Lucretia in die Arme schließt, ein Kuss vor kupferfarbenen Himmeln – jedes Theaterpublikum der Welt würde in Begeisterung ausbrechen ob dieses glück‐ lichen Ausgangs, unsere sturmerprobten, schicksalsgebeu‐ telten Liebenden endlich vereint – aber nicht mit mir. «Ich bin enttäuscht, meine Liebe», sage ich mit strenger Stimme. Mit einem erschreckten Aufschrei fährt Lucretia herum, sie hatte nicht bemerkt, dass ich hinter ihr stehe. «Und ebenso Euer Gott. Wie konntet Ihr solch falsche, fruchtlose Hoffnungen in den Menschen wecken, sie glauben machen, ein vorüberfahrendes Schiff könne uns retten, wo wir beide doch genau wissen, dass uns von dieser Seite keine Hilfe kommen wird, dass wir uns in Geduld üben und auf die Rückkehr des Kommandanten warten müssen.» 208
Lucretia schweigt. «Es fehlte nicht viel, und Ihr hättet eine Rebellion angezet– telt», fahre ich fort. Der harsche, herrische Ton macht mir Freude, es ist, als würde ich ein starrköpfiges Kind schelten. «Hätten die Überlebenden auf Euch gehört, die ganze Insel hätte in Flammen aufgehen oder von Freibeutern überfallen werden können. Und was, bitte, wäre dann aus uns gewor‐ den?» Noch immer kein Wort von Lucretia. Die kupferroten Himmel verblassen, eine graugrüne Patina zieht über den Horizont. Ich breite meinen Mantel auf dem dunkler werdenden Sande aus und setze mich neben sie. «Meine Liebe, ich sage das doch nur zu Eurem Besten.» Lucretia scheint zu zittern. «Sind die Soldaten schon weg?», fragt sie und zieht sich den Schal enger um die Schultern. «Ja, und morgen wird die Gruppe der Umsiedler überset‐ zen.» Ich lächle. «Alles verläuft nach Plan.» Lucretia sieht mich voller Entsetzen mit großen Augen an. «Doch als Euer Beschützer», versuche ich sie zu beruhigen, «habe ich nicht vor, Euch zu dieser Gruppe zu zählen.» «Was habt Ihr vor, Mijnheer?», fragt sie mit leiser, zittriger Stimme. Mit einiger Verblüffung sehe ich sie an. Hat sie denn Grund, mir zu misstrauen? Habe ich nicht jeder Bitte um Opiate und Heilmittel gehorcht? «Gute Frau, mir liegt nur Euer Bestes am Herzen», ant‐ worte ich. «Das müsst Ihr doch wissen.» Es folgt eine lange Pause. Lucretia nimmt eine Hand voll 209
Sand und beobachtet, wie er ihr durch die Finger rinnt. «Und was ist mit den anderen?» Wäre ich nicht ein Ehrenmann, ich wäre versucht, ihr in das verdrossene, verschlossene Gesicht zu schlagen. «Es gibt Wasser auf der Seehundinsel, es wird ihnen gut ergehen.» Lucretia runzelt die Stirn. Sie grübelt und denkt zu viel, was ich bei einer Frau für unnatürlich, ja krankhaft halte. «Vergebt mir, Mijnheer, aber manchmal frage ich mich, ob Eure Beschreibung der Überfülle jener Insel fehlgehen mag, denn steht nicht zu vermuten, dass diese Eilande dem unse‐ ren sehr ähnlich sind?» So, das Miststück glaubt, mich mit ihrem abnormen Scharfsinn ausstechen zu können. «Da niemand von uns irgendwelche Kenntnisse über diese mannigfaltige Region besitzt, seid Ihr natürlich überrascht, genau wie ich es war, als Wouter alle Erwartungen Lügen strafte und Wasser in Hülle und Fülle fand.» Ich fühle, wie der Zorn in mir steigt. «Wenn das so ist», sagt sie mit naseweiser Miene, «warum setzen wir dann nicht alle über zur Seehundinsel, statt uns in kleinere und aller Wahrscheinlichkeit nach verwund‐ barere Gruppen zu teilen?» Nicht einmal der starrsinnige Hayes hat mich einem der‐ artigen Verhör unterzogen. Frage und Antwort. Wie lange noch? «Und dieses Lager aufgeben, das mit so viel Mühen errich‐ tet wurde?» Ich leere meine Branntweinflasche. Ich biete Lu‐ cretia den letzten Schluck, aber sie schüttelt mit verkniffener Miene den Kopf. Sie treibt mich zur Weißglut heute Abend. 210
Nicht genug, dass sie unser Allerheiligstes in Schutt und Asche legen, unseren Aufenthaltsort wilden, mörderischen Piratenbanden ausliefern will, die nicht gerade sanft zu Werke gehen mit Axt und Säbel – wie würde sie um Hilfe schreien! –, jetzt plädiert Lucretia auch noch dafür, dieses Lager zu verlassen, sodass alle Arbeit für die Katz gewesen wäre. Passend zu ihrer aufmüpfigen, starrköpfigen Art und ge‐ nau wie viele andere Vertreterinnen des schönen Ge‐ schlechts, denen die Gulden in den großen Börsen klimpern, die das Geld für jedweden Prunk und Protz aus dem Fenster werfen – ein Paar Satinschühchen hier, Ziegenleder‐ handschuhe dort –, legt auch Lucretia ein vollkommenes Unverständnis für die einfachsten Regeln des Haushakens an den Tag, den sorgfältigen Umgang mit den Gütern, von denen unser aller Überleben abhängt. «Abgesehen davon», füge ich hinzu, «ich glaubte, deutlich gemacht zu haben, dass wir unmöglich alle auf einer Insel überleben können.» Lucretia steht auf und fegt sich mit schnellen Strichen den Korallensand von den Röcken, als habe sie nach langer Überlegung endlich einen schwierigen Entschluss gefasst. «Gut, Mijnheer», sagt sie. «Da ich keinen Anlass habe, an Euren Worten zu zweifeln, werde ich morgen genau wie die anderen das Los über mein Schicksal entscheiden lassen.» Sie läßt den Blick schweifen und schaudert. «Unvorstell‐ bar, dass es dort schrecklicher sein könnte als hier.» Verdammt sei sie. Nicht einmal ich kann den Zufall narren und dafür aufkommen, dass sie aus dem Bündel in meiner Hand einen kurzen Halm zieht. 211
Sie wünscht mir eine gute Nacht, lehnt mein Angebot ab, sie zum Lager zurück zu begleiten, und schreitet in die Dun‐ kelheit. Auf ganzer Strecke geschlagen, blicke ich Lucretia nach. Ihr Schal flattert im Wind wie eine Flagge. Sie ist mit allen Wassern gewaschen, keine Frage, und sie hat mich schach‐ matt gesetzt. Wenn ich ihr gegen ihren Willen befehle, auf der Insel des Verrats zu bleiben, wird sie misstrauisch wer‐ den und womöglich die anderen warnen. Und wenn sie ihr Hasardspiel gewinnt, ist es nur eine Fra‐ ge der Zeit, bis sie weiß, dass ich gelogen habe. Andererseits kann ich dann immer noch Wouter die Schuld in die Schuhe schieben und verkünden, dass wir allesamt von ihm und sei‐ nen Sachwaltern der Compagnie getäuscht wurden. Müde wandere ich am Wasser entlang, meine Stiefel sin‐ ken in den weichen, nassen Sand. Nur das Schlagen der Wellen ist zu hören, ansonsten atmet die Insel eine beängsti‐ gende Stille. Das Kreischen der Möwen über den Wassern ist verstummt. Während ich Lucretia nachblicke, den gebeugten Kopf, den entschlossenen, zügigen Gang sehe, frage ich mich, ob ein paar Tage auf der Seehundinsel ihr nicht vielleicht gut bekommen würden. Vielleicht würde das meine dünkelhafte Dame auf den Teppich zurückholen, sie vom hohen Sockel ihrer Selbstgerechtigkeit dort oben in der ewigen, dünnen Luft der Moral stoßen und sie die wahre Bedeutung des Wortes Überleben lehren. Bittere Tränen wird sie vergießen, wird ihre Entscheidung verfluchen, mein Angebot von Protektion und sicherem Obdach neben dem meinigen abzulehnen, von Privilegien in Form von zusätzlichen Ratio‐ 212
nen und Wonnen, die den Kaufleuten verwehrt bleiben. Wenn ich schließlich – ich habe ein gutes Herz – das Floß schicken werde, sie zu holen, dann werden wir ja sehen, ob sie auch gefällig sein kann. Ganz zahm wird sie sein und jeder Laune ihres Generalkapitäns gehorchen. So soll es sein. Ohnehin habe ich als Gouverneur dieses Eilands viel zu erledigen, und das kann ich am besten, ohne dass Lucretia ihren Spott mit meinem Herzen treibt. 213
A
m zwölften Tag ist auf der Berginsel noch kein Feuer gesichtet worden. Unter glühendheißer Sonne steht die Menge in Reih und Glied entlang der Küste. Der Barbier presst seiner Frau einen Strohhalm in die begierige Hand. Der Kalfaterer stößt einen Fluch aus und zertritt einen kurzen Halm unter dem Absatz. Der Schneider legt ihm einen Arm um die Schultern, und sie bejammern ihr gemeinsames Schicksal. Schließlich steht Lucretia vor mir, das Haar aus dem aus‐ druckslosen Gesicht gekämmt. Sie sieht mich an mit einem herausfordernden, bohrenden Blick, der mir das Herz zer‐ reißt, und streckt die Hand aus. Ich sehe, dass ihre Finger vom Austernsammeln zwischen den Felsen zerschunden und zerschrammt sind. «Ich bitte Euch, bleibt hier unter meinem Schutz», flüstere ich. Mit kalter, beinah höhnischer Miene schüttelt sie den Kopf. Ich muss mich zurückhalten, sie nicht wie ein dummes, störrisches Kind zu ohrfeigen, ihr das hochmütige Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, damit sie endlich Vernunft an‐ nimmt. Als sie die Hand nach den Strohhalmen in meiner Faust ausstreckt, nehme ich jedes Detail in mir auf, die Falten im Oberteil des verwaschenen, blauen Baumwollkleides, die aus‐ gefranste Spitzenborte am Ärmel, die Sommersprossen auf Handgelenk und Unterarm, einen entzündeten Korallen‐ schnitt am Daumen, die gesplitterten Nägel, unter denen sich Blut gesammelt hat, das Aufblitzen des Eherings in der 214
Sonne. Lucretias Fingerspitzen streifen meine, ihre Berührung prickelt auf meiner Haut. Langsam, fast zärtlich, zieht sie einen langen Halm aus meinem widerwilligen Griff. Nein, platzt es beinah aus mir heraus. ■
Es ist lange her, doch ich habe nicht vergessen, wie die früh‐ morgendlichen Rufe von Marie, meinem hyazinthfarbenen Mädchen, in meine süßesten Träume drangen. Jene Träume, in denen ich geräuschlos wie eine Katze durch die labyrinthischen Straßen Jerusalems strich. Die Luft war kühl, es duftete nach Jasmin. Bei jedem Schritt schienen meine Sandalen über die gepflasterten Straßen zu gleiten, als seien mir an den Fersen Flügel gewachsen. In diesen Träumen war ich Jesus, und mein Heiligenschein leuchtete hell. In meinem Rücken woben die Schatten sämt‐ licher Heiligen und Sünder anderer Welten. In diesen Träumen war das Hyazinthmädchen immer an meiner Seite. Ihr Haar duftete nach Meer und nach Regen. Ich nannte sie Marie, meine Jüngerin, meine Magdalena. Denn ich war sicher, dass nur ich die Welt verändern könne. Ich war auserwählt. Sohn Gottes. Der Gesalbte. Dann, eines Morgens, riss mich ein durchdringender Hah‐ nenschrei aus dem Schlaf. Das Hyazinthmädchen hatte sich davongemacht. Und ich wusste, meine Träume, die Träume von der Liebe, waren nichts anderes als die schlangenhaften Einflüsterungen falscher Propheten in meinem Kopf. ■ 215
Die Ratsherren hasten hin und her, um die Menge in zwei Gruppen aufzuteilen: die einen, die zur Seehundinsel über‐ setzen werden, und die anderen, die bleiben werden. Die Prozedur geht feierlich, fast zeremoniell vonstatten. Es kommt sogar zu herzanrührenden Szenen, als einige der Männer, die das Glück hatten, lange Halme zu ziehen, ihren Gewinn mit ihren weniger glücklichen Gattinnen tauschen wollen. Seltsam, welch grausames Spiel der Zufall treibt. Nicht ein einziges Paar hat zwei lange Halme gezogen. Die Frauen flehen ihre Männer an. Doch die bleiben hart, sind entschlos‐ sen zu bleiben. Hin und her gehen die Halme. Ihr Wert wiegt schwerer als Gold. «Still, Mayken. Sie haben dort Wasser gefunden.» Wie er seufzt, der junge Liebende. Er streicht seinem hübschen Weibe ein letztes Mal über die Wange und schubst sie sanft hinüber zur Gruppe der Umsiedler. Mayken. Das ist alles, was ich von ihr und all den anderen weiß. Da geht sie dahin, dünn wie ein Spatz, und gesellt sich zu ihren schönen Schwestern. Mitleid. Herr im Himmel. Ich zeig euch euer Mitleid. Wol‐ len wir die Lage einmal nüchtern betrachten. Ohne mich würden diese Leute hier sterben. Doch ich habe ihnen Glau‐ ben und Hoffnung gegeben, gar einen Garten Eden für sie geschaffen, denn jeder Dummkopf kann sehen, dass wir nicht alle auf einer Insel bleiben können. Sagen wir es so: Ich habe die Tore zu meinem Königreich geöffnet. Sie sind frei. Frei, ihr Schicksal zu wählen, ihre Zukunft zu bestimmen. Niemand kann mich zur Rechenschaft ziehen. Und außer‐ 216
dem, wenn ich eurem Gott glauben wollte, eurem großen Schachmeister, dann ist es seine Entscheidung, sein Wille. Soll er eine nach der anderen die Seelen auswählen, die er zu sich in den Himmel holen will. Ist nicht ohnehin alles vorherbestimmt, längst beschlossen? Warum sollte ich mir zu Herzen nehmen, wer am Leben bleibt und wer nicht, wenn euer Himmelsgott die Karten bereits gelegt hat? Offen gesagt, kann ich mir darüber nicht länger den Kopfzer‐ brechen. Lucretia blickt hinüber zu einer schimmernd weißen Linie im Wasser, mehr ist von der Seehundinsel mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Sie wickelt sich den Halm wieder und wieder um den Finger, dann wirft sie ihn hoch in den Wind. Eine Möwe schwebt kreischend herbei und fängt ihn mit einem Seitwärtsschwung im Schnabel. Was jetzt, Jesus, was soll ich deiner Meinung nach tun? Vortreten, ihr die Hand reichen, sie retten? Doch warum, wenn ihr Name bereits im unfehlbaren Buche deines Vaters auf Steintafeln gemeißelt ist? Sieh sie an, sie müsste dir gefallen. Ihre trocknen Lippen murmeln Gebete. Sag mir, wo ist er, ihr Gott, wenn sie ihn am nötigsten braucht? Ich soll seine Rolle übernehmen, mit höflichen Worten und freundlichem Lächeln. Und ich bin versucht. Denn meine Gier heute ist gewaltig. Der Pfarrer wird nicht müde, die beiden Gruppen zu mi‐ schen wie ein Kartenspiel. «Hier entlang», sagt er und stellt die Frauen in einer Reihe auf. Carp hüpft zwischen den Leuten umher und tut der jüdi‐ schen Harfe Gewalt an. Was für ein Kindskopf. Niemand hat ihm gesagt, wohin diese Frauen gehen. Pelgrom und De 217
Beere wissen, was die Stunde geschlagen hat. Wie ich Wouter schon sagte, es ist ganz einfach: wir oder sie. Befremdlich ist nur, wie Jacop immer wieder darauf beharrt, dass er es war, der die Wasserquellen gefunden hat. Ich habe gut daran getan, ihre tägliche Dosis Opium zu er‐ höhen. In dieser karnevalesken Stimmung voller Hoffnung und freudiger Erwartung werden die Kleinsten unruhig. Ein kleiner Junge, ein blauäugiger Cherub, rennt zu seiner Mutter. Mehrere Mädchen, keines älter als zehn Jahre, heben ihre greinenden Geschwister auf die Hüften. Und der Pfarrer macht Faxen, verwandelt sein Taschentuch in eine Hand‐ puppe, eine Turteltaube, eine Blume. Im Schatten der Felsen steht seine Gattin, zwirbelt den Sonnenschirm in der Luft, beißt sich auf die Lippen und begreift nicht, warum ihre Namen nicht auf der Liste stehen. Außer den Ratsherren und den Handwerkern umfasst die Gruppe der Umsiedler Frauen, Knaben und Kleinkinder, alles in allem nun achtundvierzig. Nachdem die Frauen das vom Rat aufgesetzte Dokument unterzeichnet haben, schlage ich vor, dass sie all ihre Wert‐ gegenstände zurücklassen, da diese hier bis zu ihrer Rück‐ kehr, also bis das Rettungsschiff eintrifft, sehr viel sicherer aufgehoben seien. Einige der Kaufmannsweiber scheinen mit der Erklärung zufrieden, viele jedoch murren, als sie ihre Eheringe ablegen sollen, die goldenen Medaillons, Silberketten und anderen Firlefanz aus der alten Welt. «Es ist doch nur vorübergehend», verkündet eine junge 218
Gattin. Sie schenkt mir ein gewinnendes Lächeln. Ich sehe, dass sie noch ihre Perlohrringe trägt. Verschlagenes Weibs‐ stück. Lucretia steht am Wasser. Die Wellen umschäumen ihre Füße. Noch könnte man sie dazu bringen, ihre Meinung zu ändern, noch ist es nicht zu spät, aber als ich ihre strenge, herrische Haltung, den wilden, beinah wütenden Ausdruck auf ihrem Gesicht sehe, weiß ich, dass es keinen Sinn hat. Schweren Herzens wende ich mich ab und tröste mich da‐ mit, dass ich jederzeit Wouter schicken kann, sie zu holen. Ich gebe ihr drei Tage. Im Schneidersitz hocken De Beere und Wouter im Sand und begaffen die Frauen. Wouter steht sogar auf, um besser sehen zu können. Erst kann er den Blick nicht von dem Mädchen mit den Perlohrringen wenden, sie ist mollig und weich wie Eva, dann nimmt er Lucretia in Augenschein. Zu meiner Überraschung versetzt die Schamlosigkeit seines lüsternen Blickes meinem Herzen einen Stich. Als der Barbier seine kurzen, aber gründlichen medizi‐ nischen Untersuchung durchführen will, erhebt sich lauter Protest, bis ich erkläre, dass kein Kranker zur Seehundinsel geschickt werden kann. Die Frauen, die allesamt Kinder geboren haben und es ge‐ wöhnt sind, auf entwürdigende Weise von Fremden betat‐ scht zu werden, lassen die geschäftigen Berührungen des Barbiers pflichtschuldigst über sich ergehen. Die Kinder und die jüngeren Frauen zucken vor seinen Fingern zurück. Als der Barbier zu Lucretia gelangt, geht er auf die Knie, küsst ihr die Hand und empfiehlt ihre Seele dem Himmel an, der ihr beistehen möge; dabei bin ich es, dem er zu danken hat. 219
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Man teilt Weinkelche, vergießt Tränen, drückt die Liebsten an sich, die zurückbleiben werden. Familien klammern sich verzweifelt aneinander. Eine erbärmliche Szenerie. Alles küsst sich und seufzt. Zu guter Letzt muss ich den Pfarrer bitten, die Leute zu trennen. Ohne mir Lebewohl zu sagen, macht Lucretia sich als Erste auf zum Floß, ihre Röcke treiben auf den Wellen. Die Rats‐ herren folgen im Gänsemarsch. Des Pfarrers Krankbesoeker watet hinterdrein, den durchnässten Filzhut in der Hand. Mit aller Kraft stemmen sich Wouter und De Beere gegen die Stangen. Die vertäuten Deckplanken ächzen. Die Strö‐ mung ist nicht allzu stark heute. Pelgrom hilft Lucretia auf die rauen Holzplanken, sie kauert sich in den Bug, sofern bei diesem primitiven, eigenwilligen Gefährt von einem Bug die Rede sein kann. Irgendwie schaffen es auch die Ratsmitglie‐ der, an Bord zu klettern. «Wie viele trägt das Floß?», schreie ich und renne zum Wasser hinunter. «Zwanzig, höchstens», grummelt De Beere mit zusam‐ mengebissenen Zähnen, während er sich mit aller Kraft gegen eine steigende Dünung stemmt. «Die Frauen sollen sich beeilen», schreit er. «Zwei Überfahrten müssen reichen.» ■
Trotz der schweren Fracht kommt das Floß rasch voran, De Beere und Wouter staken mit der Eleganz venezianischer 220
Gondolieri. Meine lieblichen Wallfahrer rufen Adieu. Ich sa‐ lutiere. Lucretia sitzt wie eine Galionsfigur im Bug, ihr rotes Haar weht im Wind. Ihr Blick hängt noch immer am Hori‐ zont.
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einen Berechnungen zufolge ist die Zahl der Menschen hier auf ungefähr einhundert Männer und Jungen reduziert, meine neuen Jünger, Wouter und sein Gefolge, und die Kranken ausgenommen. Als die letzte Floßladung diese Küsten verlässt, legt sich Melancholie wie ein Nebelschleier über das Lager. Nach all der Aufregung, der Geschäftigkeit, scheinen die Hiergebliebenen, vornehmlich Kaufleute und die Handwer‐ ker der Batavia, nicht mehr zu wissen, wohin mit sich. Der Zimmerer wandert am Strand entlang. Maykens Ehe‐ gatte hockt zusammengesunken auf einem Stein, ich sehe seine Schultern zucken. Der Pfarrer wandert ziellos umher und bietet Trost und Gebete. Dieser Müßiggang macht mich rasend, und ich weise den Geistlichen an, die Männer zum Fischen in Gruppen einzu‐ teilen. Denn die Menschen hier haben für ihr täglich Brot zu arbeiten. In der heißen, trockenen Mittagsstunde sitze ich draußen im dunklen Schatten am Kopfende des Tisches auf dem Stuhl des Kommandanten, meinem Thron aus Sandelholz. In der blauen Ferne am äußersten Riff sehe ich Haie, die mit ihren Finnen die Wellen teilen. Ich bewundere ihr mühe‐ loses, erbarmungsloses Gleiten. Bisweilen liegt der Ozean still und träge da, bleischwer, bis plötzlich und ohne Warnung eine Welle aus der See herein‐ rollt und sich in einem überwältigenden weißen Schwall 223
über eine Länge von mindestens einem Faden über das Riff ergießt. Ich bin glücklich hier, der Rhythmus der See beruhigt mich, das Wispern des Windes im Grün um mich herum, all die Geräusche dieser Insel. So viele Geräusche. Das lärmen‐ de Trommeln der Zikaden auf pulverweicher, papierweißer Rinde, das unsichtbare Rascheln von Pfoten und Vögeln, das knisternde Gebüsch, das sein Laub niemals zu verlieren scheint. ■
Endlich kommt Wouter, um mir Bericht zu erstatten. Ich bin schockiert von seinem Anblick, den Wunden an seinen ge‐ schundenen, geschwollenen Füßen. «Sind alle sicher angekommen?», frage ich und schenke ihm ein Glas Branntwein ein. «Die letzte Überfahrt war am schlimmsten», antwortet er und nimmt einen Schluck. «Es waren viel zu viele an Bord, das Floß war kaum mehr manövrierbar. De Beere dachte, wir würden alle ertrinken.» Ich beruhige ihn, dass dies die letzte Überfahrt dieser Art war. «Und die Dame, Lucretia?» «Sie und die Herren vom Rat sind ohne Schwierigkeiten angekommen – bei der ersten Überfahrt waren Wind und Wellen günstig.» Ich lächle. Mein tapferer Jüngling hat seine Sache gut ge‐ macht. Wouter beschreibt, wie bei der zweiten Überfahrt Niedrig‐ wasser einsetzte und sie gegen die Strömung ankämpfen 224
mussten, die das Floß in tiefere Kanäle zog und ihr geringes Fortkommen zunichte machte. Als sie die Küste endlich er‐ reichten, hatten die Gezeiten ein gefährliches Riff freigelegt, so dass ihnen keine Wahl blieb, als abzusteigen und das Floß über das umspülte Gewirr aus Korallenriffen zu schieben und sich die Füße blutig zu reißen. Mehrere Frauen rutschten aus und zogen sich böse Schnitte an Armen und Beinen zu. «Eine halbe Stunde später, und wir hätten es nicht mehr geschafft», sagt er. «Und als Ihr die Insel erreichtet, wie fandet Ihr die Rats‐ herren und Lucretia vor?» Er erzählt, dass sie sich um die Kinder kümmerte, während die anderen im Gebüsch ihr Lager aufschlugen; ein Wasserfass war bereits geöffnet worden, und man hatte beschlossen, die Erkundung der Insel auf den nächsten Tag zu verschieben, da man sich zunächst von der anstrengen‐ den Überfahrt erholen müsse. «Wie viel Wasser haben sie?» «Genug für eine Woche, höchstens.» Wouter hält mir sein Glas hin, damit ich ihm nachschenke. «Ich muss sagen, Mijn‐ heer, ich finde, Ihr ward äußerst großzügig mit den Vorrä‐ ten.» Er grinst mir ins Gesicht. «Dieses Frauenzimmer, Lucretia, ist wahrlich eine Augenweide, und mutig ist sie auch.» Und er lacht. Eine Woche sollte genügen und wird mir außerdem Zeit geben, meine Gedanken auf drängendere Angelegenheiten zu richten als meine Spiele mit der schönen Lucretia. Nachdem ich Wouters Schürfwunden versorgt habe – die‐ 225
se elenden Korallen reißen die Haut regelrecht in Fetzen – drücke ich ihm einen Lederbeutel voller Goldmünzen in die Hand, die er mit De Beere und den anderen teilen soll. Sie haben sich eine Belohnung verdient. ■
In der Abenddämmerung sehe ich zu, wie die Sonne am kar‐ mesinroten Himmel, blutgetränkt wie ein Feld nach der Schlacht, tiefer und tiefer sinkt. Heute Abend scheinen sogar die Wellen von Flammen durchwirkt, und der Horizont brennt purpurrot. Ich gehe die Namen der neuen Mitglieder meines Insel‐ rates durch und bin voller Stolz auf meine Jünger und voller Vertrauen, dass sie die Herausforderungen ihrer neuen Stel‐ lungen meistern werden. Ich habe mir sogar die Mühe ge‐ macht und eine Zusammenstellung ihrer Aufgaben verfasst, denn jeder von ihnen hat eine andere Rolle zu erfüllen. Wouter habe ich, natürlich, zum Ratsvorsitzenden ernannt, denn er hat herausragende, bewundernswerte Qualitäten. Zuweilen erinnert er mich an mich selbst, als ich jung war. ■
Als Vater starb – und ich in unserer Gegend zu einiger Be‐ rühmtheit gelangt war, weil ich als Einziger die Plage über‐ lebte, die unser Haus heimgesucht hatte –, wurde ich von meinen beiden Tanten aufgenommen, da man sich noch im‐ mer um die Gesundheit meiner Mutter sorgte. Mein Überleben war für sie ein Akt der Gnade ihres 226
Gottes, und so sahen sie in mir ein Wunder, ein Mirakel, eine Ikone, der alle Launen verziehen wurden. In ihrer Mitte wurde ich zu einem Tyrannen, und da sie in mir einen Engel sahen, einen goldgelockten Jesus, wurde mir kein einziger Wunsch verwehrt. Ich vertrieb mir die Tage im Garten mit meinen Spielka‐ meraden, den Söhnen der Ärzte, Kauf leute und Rechtsanwälte der Stadt. Am Anfang waren es unschuldige Spiele. Himmel und Hölle auf den Fußwegen zwischen den Rasenflächen, Murmelspiele mit Achatkugeln, Rosskas‐ tanien, die wir an Bindfäden gegeneinander schleuderten. Im Wohnzimmer saßen meine Tanten, pickten ihre Stickereien wie die Hennen und lächelten mir durch die halb geöffneten Fenster wohlwollend zu. Ich wurde in dem Glauben erzogen, den anderen überle‐ gen zu sein, und entwickelte mich zu einem verzogenen, rechthaberischen Kind, anspruchsvoll wie eine spanische ln– fanta. Ich regierte mein Rasenkönigreich wie ein Despot, und die alten Spiele verloren nach und nach ihren Reiz. Wie Torrentius zu sagen pflegte, gibt es keinen größeren Ansporn als die ersten Untaten, die ungesühnt bleiben. Es gab einen dicken Jungen, Jacques den Bankierssohn, mit dem wir alle unseren Spott trieben. Genau wie die Eltern der anderen Kinder, die tagtäglich in mein Herrschaftsgebiet entsandt wurden, glaubte auch der Bankier, sein Sohn könne für den Rest seines Lebens auf meine Unterstützung zählen. Der Junge fürchtete mich. Ich konnte die Angst in seinem säuerlichen Atem riechen, sah sie in den Schweißperlen auf seiner Stirn, den grauen Spuckeflecken in seinen Mund‐ winkeln, den feuchten Händen, die sich bei den häufigen 227
Zusammenkünften unserer Bande nur widerwillig in meine legten. Wenn wir Blindekuh oder Verstecken spielten, rannte er quiekend wie ein Schwein in Deckung. Wir mussten nur auf seinen rasenden Herzschlag und das asthmatische Keuchen lauschen, um ihn zu finden. Bei jedem Spiel musste sich der Verlierer einer Bestrafung unterziehen, die von mir ersonnen wurde. Zuerst gab ich Anweisung, mein Opfer an den abblätternden Zaun im rückwärtigen Teil des Gartens zu binden. Noch heute habe ich die starken, geflochtenen Seile vor Augen, den schimmernden Roststaub der Haken, die in das Holz geschlagen worden waren. Dann kleidete ich mich dem Anlass entsprechend. Wie Torrentius sich ausdrückte, hatte ich von frühester Jugend an einen besonderen Reiz darin entdeckt, den Höhepunkt hinauszuzögern. Vaters Kleider, die mit Kampfer bestäubt in einer Truhe lagerten, waren für mich eine Schule in Stil und Staffage. Je‐ den Abend frisierte ich die Locken seiner Perücke, polierte seine Stiefel, die militärischen Orden und Schwerter. Am Fußende meines Bettes stand eine Schneiderpuppe, die meine Tanten schon lange nicht mehr benutzten und der ich die verschiedensten Gewänder anlegte: eine scharlach‐ rote Tunika, Uniformen aus Goldbrokat, Ausgehmäntel aus Astrachan, und die ganze Zeit über hallte in meinem Kopfe Vaters Stimme wider wie das Brausen einer Menschen‐ menge. In vollem Staate – die Feder an meinem Hut wippte im Wind – kehrte ich zu dem Dicken zurück, der in der prallen Sonne schnaufte. Die Schlinge scheuerte die zarte Haut an 228
seinem speckigen Hals wund. ■
Wie viele Menschen in unserer Gegend waren auch meine Tanten besessen von Blumen. Man ordnete sie je nach Spezies und Farbe in gesonderten Beeten symmetrisch an, Lilien, Hyazinthen und natürlich Tulpen wurden in alter‐ nierenden Streifen gepflanzt wie eine Nationalflagge. Eines Jahres im Frühling kauften sie für teures Geld drei‐ ßig Tulpenzwiebeln, deren Blütenblätter am Ansatz blutrot leuchteten und mit scharlachroten Flammen verziert waren. Meine Tanten ergötzten sich an dieser Explosion der Far‐ ben. In der Abenddämmerung konnte ich sie beobachten, wie sie mit einer Gießkanne in den zarten, zittrigen Händen im Garten die Runde machten. Eines Tages kamen meine Freunde, um mit einem Labra‐ dorwelpen anzugeben, der an der Leine zerrte und den eige‐ nen Schwanz jagte. Ich beschäftigte sie mit meinen neuen, bemalten Zinnsol‐ daten, ließ den Hund von der Leine – ohnehin ein albernes Spielzeug – und schleuderte einen Stock mitten in die Blu‐ menbeete. Mit einem einzigen Satz sprang die Töle hinter‐ her, und einer nach dem anderen brachen die schlanken Stiele der Tulpen. Wie die Furien flatterten meine Tanten von ihren Hühner‐ stangen herbei und zerrten die unglücklichen Knaben an den Ohren ins Wohnzimmer. Meine Freunde schluchzten und zeigten mit dem Finger auf mich. Das war zu viel. Meine Tanten rissen ihnen die Hosen herunter – noch heute 229
erfreue ich mich am Schnappen der Strumpfbänder – und zwangen die schniefenden Kleinen auf die Knie. Dieser Gang der Ereignisse brachte mein Blut in Wallung, und so sank ich auf eine Sitzbank nieder, doch meine Tanten winkten mich herbei. «Du bist der Herr des Hauses», sagten sie und reichten mir den Stock. «Du musst sie bestrafen.» Und das tat ich. Immer und immer wieder. Und noch bei zahllosen anderen Gelegenheiten. Was aus dem Welpen ge‐ worden ist, habe ich vergessen. Vielleicht haben meine Tanten ihn ersäuft, denn genau wie ich hegten sie eine Ab‐ neigung gegen Tiere. 230
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ur verabredeten Zeit, zur violetten Stunde, wenn sich der Ozean, durchwirkt von malvenfarbenen Lichtern, korallenrosa färbt, erscheinen meine neuen Ratsherren vor meinen Gemächern. Der eine oder andere wirkt schläfrig, die Augen leicht glasig vom Opium. Ich heiße sie vor mir niederknien. «Ich habe Euch zusammengerufen, um die neuen Mitglie‐ der des Rates zu bestellen.»Ich spüre, dass ich ob dieses würdigen Ereignisses am ganzen Leibe zittere. «Und ich heiße Euch alle zu Eurer Ernennung willkommen.» Wouter wird rot vor Stolz. Carp kaut auf der Unterlippe. «Doch zuvor», ich gehe auf sie zu, «brauche ich Eure Un‐ terschriften mit Eurem Blute.» Carp fängt an zu flennen. Langsam ziehe ich das Schwert des Kommandanten aus der Scheide, denn genau wie Torrentius hege auch ich ein Faible fürs Theatralische. Als ich das Schwert hoch in die Luft hebe, spüre ich, wie eine Welle der Furcht durch meine Jünglinge läuft, ausgenommen natürlich Wouter, der jede meiner Bewegungen aufmerksam verfolgt. «Als Ratsvorsitzender», sage ich, «wird Wouter den Blutri‐ tus leiten.» Pelgrom klatscht höflich in die Hände. Wouter packt das Schwert mit starker, ruhiger Hand. In kurzen Worten erkläre ich das Protokoll der Zeremonie. Auf meinen Befehl hin knöpfen sie sich die Ärmel auf. Hans und Carp kämpfen 231
mit Haken und Öse. Ich vergaß, dass sie wohl noch immer die flinken Finger ihrer Kindermädchen vermissen. Jenseits der Insel sickert die sterbende Sonne in die See wie in eine Wunde und färbt den Horizont tiefrot. Die Wellen scheinen blutgetränkt, als wäre ein Leviathan aus uner‐ gründlichen Tiefen grausam hingeschlachtet worden. Lang‐ sam steigt der zunehmende Dreiviertelmond in den Himmel. Das Ritual kann beginnen. Wouter legt das Schwert mit der flachen Seite auf und ritzt kühn und ohne mit der Wimper zu zucken eine dünne Linie in sein von blauen Adern gezeichnetes Handgelenk. Die Klinge ist schärfer, als er dachte. Blut füllt den Schnitt bis zum Rand und rinnt ihm den Arm hinab, bevor er den Federkiel greifen kann. De Beere eilt ihm zur Hilfe und taucht die Spitze ein. Ich bin beeindruckt von dem vollendeten, aristokratisch gotischen Schriftzug, mit dem Wouter neben seinem Namen unter‐ zeichnet. De Beere will unbedingt der Nächste sein und rollt sich den Ärmel auf wie ein Arbeiter. Wouter will sich wichtig machen und schwingt das Schwert wie ein General, sodass Andries bei jedem Klingenhieb einen Schritt zurückweicht. «Schneid zu», schreit De Beere. «Ich habe keine Angst.» Und Wouter tut, wie ihm geheißen. Er trennt eine dünne Schicht Haut sauber aus dem Handgelenk. Jacop schnappt nach Luft wie das Publikum bei einem Feuerwerk. Bleich und feierlich setzt De Beere mit aller Sorgfalt ein Kreuz neben seinen Namen. «Wenn die Wunde geheilt ist», sage ich, «wird die Narbe nicht nur Zeuge Eurer Tapferkeit sein, sondern auch Eures 232
neuen Ranges im Rate als Zweiter Vorsitzender.» In diesem Moment versucht Carp, sich leise ins Gebüsch zu stehlen. Wouter packt ihn und fährt ihm schnell wie der Blitz mit der Spitze des Schwertes über die Wange. Der Schnitt füllt sich langsam mit Blut. Carp ist stumm vor Schreck und Schmerz und schlägt sich eine Hand an die Wange. «Wenn die Wunde geheilt ist», sagt Wouter, «wird die Narbe Zeuge deiner Feigheit sein.» «Du wirst es hier nicht lange machen.» De Beere gibt ihm einen Klaps auf die Ohren. «Die Leute hier sind gefräßig. Eines Tages wird unser fetter Pfarrer dich zum Frühstück rösten.» Während Wouter das Ritual unter meiner Aufsicht zu En‐ de führt, erkläre ich, dass der neue Rat schlau und wachsam sein muss – denn in der Tat sind die Menschen treulos und, was sie noch gefährlicher macht, hungrig. «Wir können niemals sicher sein, dass sie uns nicht in un‐ seren Betten meucheln.» Der verzärtelte, vertrottelte Carp macht sich in die Hosen. Jacop muss den elenden Tropf zum Wasser führen und dafür sorgen, dass er sich säubert. Als die Branntweingläser gefüllt sind, läute ich die Glocke und bitte um Ruhe. Ich will eine Rede halten. Jedes bedeutende Ereignis, so auch dieses, verlangt nach einem zeremoniellen Abschluss. Also fange ich an. «Ihr habt bei Eurer Ehre geschworen, mit mir diese Insel zu regieren.» Wouter donnert sein Glas auf den Tisch. Pelgrom jubelt. «Und jeder, der sein Wort nicht hält, wird unverzüglich 233
unter Arrest gestellt und nach Kriegsrecht verurteilt.» «Knüpft die Verräter an den nächsten Baum!», schreit De Beere. «An den Füßen sollen sie hängen», ruft Pelgrom. Wouter bringt sie zum Schweigen und hebt das Glas. «Hoch lebe der Generalkapitän!» Sie trampeln mit den Füßen. «Er lebe hoch!» Und ich nehme ihre Huldigungen entge‐ gen wie ein römischer Kaiser. Diese Insel ist wie eine Stadt mit einer hohen Mauer. Was will ich mit einem Königreich aus Lehm? Dies hier ist mein Reich. Hier spiele ich eine raffinierte Partie Schach. Meine Jünger sind die Springer, die Kaufleute die Bauern. Das Spiel beginnt in der Abenddämmerung, wenn die Möwen mit den Spitzen der indigofarbenen Flügel die Wellen strei‐ fen. 234
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ie Soldaten sind klug und umsichtig, daran zweifle ich nicht. Und doch sind am vierzehnten Tag auf der Berginsel, die wie ein Buckel aus dem Kranz grünlichen Wassers ragt, noch immer keine Feuer gesichtet worden. Bei aller anfänglichen Hartleibigkeit war Hayes letztend‐ lich doch leichter hinters Licht zu führen, als ich erwartet hatte. Und Wouter hat mir versichert, dass das Gestrüpp auf der Berginsel zu kümmerlich und karg sei, um ein seetüch‐ tiges Floß zu bauen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Adieu, meine tapferen Krieger, lebet wohl. Sollten die leichtgläubigen Händler darauf verfallen zu fragen, warum die Soldaten noch keine Rauchzeichen gege‐ ben haben, werde ich ihnen von meinem Verdacht erzählen, dass sie von den treulosen französischen Söldnern gemordet wurden, jenen verachtenswerten Franzmännern, die niemals an Bord der Batavia hätten geholt werden dürfen. Wenn nächste Woche noch immer kein Rauch zu sehen ist, werde ich ankündigen, dass das Floß geschickt wird zu ergründen, was aus den Männern geworden ist. ■
Auf meine Anweisung hin sind sämtliche Geldtruhen, Kunstgegenstände und Schätze der Ehrenwerten Vereenig‐ den Compagnie in meine Gemächer verbracht worden. Zuweilen hat es, wie ich finde, eine beruhigende Wirkung auf den Geist, die Hände im Gold der Compagnie zu baden, 235
die glänzenden Barren auf dem nackten Boden aufzu‐ schichten, zu zählen und gegen das Licht zu halten. Wouters Jagdausflüge haben meine Vermutung bestätigt, dass es auf dieser Insel eine reiche Tierwelt gibt: Wildgeflü‐ gel, Strandläufer, Steinwälzer, Brachvögel, Möwen, mehrere Spezies einer Eidechse mit stacheligem Schwanz und diese kuriosen, hoppelnden Tierchen, deren Geschmack an Reh‐ braten erinnert und die meine Jäger im dichten Gehölz an‐ getroffen haben, wo sie während der heißesten Stunden des Tages Zuflucht suchen. Auch Meeresfrüchte gibt es in Hülle und Fülle. Die goldgestreiften Korallenfische, die bei Nie‐ drigwasser in den Wasserlöchern im Riff gefangen werden, erweisen sich als ebenso schmackhaft wie unser heimischer Dorsch. Trotz der überreichen Fauna um uns herum und obwohl keine unmittelbare Gefahr besteht, dass wir Hunger leiden könnten, werden die Kaufleute selbstverständlich weiter streng auf Ration gesetzt, denn es können noch Monate ver‐ gehen, bis das Rettungsschiff eintrifft. Der Zimmerer und seine begabten Gesellen haben sich beim Bau des neuen Lagers als überaus tüchtig erwiesen. Es besteht nun aus zwei Baracken, eine für meine Ratsherren, die andere für die Männer. Ich bin sehr zufrieden mit den einfachen Behausungen, die ausreichend Schutz vor schar‐ fen Winden und der erbarmungslosen Sonne bieten. Der Zimmerer hat die längeren Stücke von Masten und Sparren, die an Land gespült worden sind, klug eingesetzt – sie wurden aufrecht stehend in den Boden eingelassen und bilden die Stützpfeiler der rechteckigen Gebäude von unge‐ fähr zwölf Fuß Breite und zwanzig Fuß Länge. Die Zedern‐ 236
planken der Poop wurden schichtweise wie Schindeln vertäut und geben die Seitenwände ab. Jede Baracke hat ein Dach aus starkem Segeltuch. Drinnen sind sie geräumig, der Boden ist mit trockenen Gräsern bedeckt. Der Pfarrer und seine Familie haben eine eigene Hütte aus Stangen und Schilfrohr zugewiesen bekommen. Ein Stück hinter dem Lager liegt das Hühnergehege, wo die Hennen einen recht glücklichen Eindruck machen und in faulendem Seegras nach Algenwürmern scharren. Wie ein Gutsherr herrsche ich über ein richtiges Dorf und bin stolz auf die Leistungen jedes Einzelnen. Ich läute die Glocke der Batavia, um eine Inselversamm‐ lung einzuberufen. Wouter und De Beere treten mit den Musketen über der Schulter aus dem Quartier des Rates und nehmen ihren Platz als Wachposten zu beiden Seiten ihres Führers ein. Grüppchenweise trotten die Männer vom Riff über den Strand herbei und bringen die morgendliche Ernte ein: schimmernde Korallenfische, die mit Haken an einer Schnur befestigt sind und mit den Schwänzen schlagen. Wie ich sehe, hat unser geschicktes Schneiderlein aus den vom Wrack hereingetriebenen Seilen und Tauen ein aufwändiges Netz geknüpft. Eine andere Gruppe bricht aus dem Gebüsch hervor, Zwei‐ ge und Blätter unter den Armen. Als ich diese Händler auf mich zustapfen sehe, bemerke ich einen verlorenen, beinah resignierten Zug an ihnen. Auch der Pfarrer scheint zurück‐ haltender und schweigsam in letzter Zeit, nicht mehr so diensteifrig und unterwürfig wie sonst in meiner Gegen‐ wart. Einer nach dem anderen lassen sich meine ergebenen 237
Untertanen zu meinen Füßen nieder. «Die Insel des Verrats soll streng wie ein Schiff geführt werden», sage ich. «Dazu müssen Vorschriften erlassen wer‐ den, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.» Der Zimmermann und sein Sohn wirken beunruhigt und tauschen Blicke. Sie schauen zu Wouter und De Beere hin‐ über, die voller Stolz die Musketen in den Händen halten, dann blicken sie sich wieder in die Augen. Als Erstes schlage ich zur Sicherheit aller vor, von Sonnen‐ untergang bis Sonnenaufgang eine Ausgangssperre zu ver‐ hängen. Die Menge schweigt. «Fürchtet Euch nicht», sage ich. «Ich werde bewaffnete Wachen aufstellen, Euch zu beschützen.» «Wovor?», blökt der Pfarrer. Ich lächle. «Vergesst nicht, wir haben eine Reise zur dunk‐ len Seite der Welt getan», antworte ich. «Ohne Zweifel wim‐ melt es in diesen Gewässern von Freibeutern und Piraten.» Jetzt, wo sich alle Schätze sicher in meinem Besitz befinden, kann ich die Angst in diesen Männern mit der neuen Bedro‐ hung grausamer Überfälle wach halten. «Oh mein Gott, ich wusste ja nicht ...», kreischt der Pfarrer. «Ein Angriff ist unwahrscheinlich, da bin ich sicher», unterbreche ich ihn. «Aber Ihr werdet mir beipflichten, dass eine Nachtwache nicht nur uns, sondern auch die wertvolle Fracht der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie beschüt‐ zen wird, bis das Rettungsschiff eintrifft.» Leises, zustimmendes Gemurmel. Bei dem Wort Rettung hebt sich jedes Mal ihre Stimmung. Zweitens, sage ich, werden die Rationen aus den Vorräten 238
der Batavia – vier Unzen pro Kopf – ab jetzt jeden Tag zur Mittagszeit ausgegeben. «Vier Unzen», heult der Pfarrer und tätschelt sich den Wanst. «Selbstredend ist geplant, diese Vorräte mit geregelten Jagdausflügen und Fischzügen aufzufüllen», sage ich, ohne dem Gejammer des Geistlichen Beachtung zu schenken. «Und derjenige, der am meisten Beute bringt, soll die drei‐ fache Ration erhalten.» Noch immer mustert der Zimmerer mich voller Argwohn. Seltsam, dass es in jedem Mob immer einen Abweichler gibt, einen Unruhestifter. Aber er würde es nicht wagen, sich mir zu widersetzen. Nicht, wo sich diese Kaufleute so dankbar zeigen für alles, was ich getan habe. Ernst und erwartungsvoll blicken die Leute zu mir auf. Ich bin überzeugt, dass sie das feierliche Zeremoniell dieser öffentlichen Versammlungen begrüßen, dass die vertraute Förmlichkeit sie an die Ratssitzungen in Amsterdam erinnert und ihnen das Gefühl von Sicherheit vermittelt. Vermutlich begreifen sie die Zusammenkünfte inzwischen als eine Art Unterhaltung, einen Zeitvertreib. «Wer einwilligt, sich den vom Rat vorgeschlagenen Vor‐ schriften zu unterwerfen, möge die Hand heben», rufe ich. Alle votieren in meinem Sinne, bis auf den Zimmermann und seinen Sohn. Ich bin mit dem Ergebnis zufrieden und schließe die Ver‐ sammlung. ■
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Auf dem Weg zurück zu meinem Quartier taucht aus dem Gebüsch auf einmal Maykens Gatte an meiner Seite auf. «Mijnheer», stößt er hervor, «einige von uns haben sich ge‐ fragt, ob wir vielleicht das Floß benutzen dürfen, um unse‐ ren Ehefrauen einen Besuch abzustatten.» Ich mustere den naiven Goldhändler, der sich nach seiner Liebsten verzehrt. Er ist groß gewachsen und krumm und schmächtig wie ein Mädchen. «Seid Ihr ein Seemann?», frage ich, und es kostet mich einige Mühe, die Verachtung in meiner Stimme zu unterdrü‐ cken. «Könnt Ihr schwimmen?» «Die wenigsten von uns können das.» Er stockt. «Seid Ihr Euch darüber im Klaren, dass Wouter und De Beere beinah ihr Leben einbüßten, als sie Eure Frauen über‐ setzten, um sie in Sicherheit zu bringen? Das Floß ist unter der Last beinah gekentert.» Er sieht mich aus kläglichen, flehenden Augen an. «Wir wären nicht so viele», bettelt er. «Wir wollen doch nur sicher sein, dass sie gesund und wohlauf sind.» «Und Eure Weiber dabei zur Witwe machen und unsere Lebensversicherung aufs Spiel setzen, das einzige Schiff, das wir besitzen? Seid kein Narr, Mann.» Tränen treten ihm in die Augen. Sein Gesicht ist bleich und verquollen, als habe er seit Tagen nicht geschlafen. Mein Herz wird weich, nachgiebig, denn dieser junge Mann bringt mich auf eine neue Idee, die Zahl der Men‐ schen hier zu verringern. «Hört zu», sage ich in freundlicherem Ton, «in den nächs‐ ten Tagen werden Wouter und De Beere sich zur Berginsel aufmachen, um nach den Soldaten zu sehen. Ich werde sie 240
bitten, auch die Seehundinsel aufzusuchen, um sicherzu‐ gehen, dass alles in Ordnung ist.» «Mijnheer, ich flehe Euch an», er fällt auf die Knie, «lasst mich mit ihnen fahren.» Ich lächle und frage ihn, wie viele Männer den gleichen Wunsch geäußert haben. «Wir sind zehn, Mijnheer», sagt er, und seine Miene hellt sich hoffnungsfroh auf. Ich muss fast laut lachen. Es ist so herzerfrischend einfach. Ich wandere auf und ab und gebe vor, über die Angelegen‐ heit nachzudenken. «Ihr müsst Euer Weib sehr lieben», sage ich. «Immerhin sind erst wenige Tage vergangen, seit Ihr getrennt wurdet.» Der kindische Trottel ringt die schmalen, goldwiegenden Hände und erzählt mir, dass sie sich von frühester Jugend an verbunden waren und sich ewige Liebe schworen, dass er sein Herz und seine Seele seinem geliebten, süßen Mädchen verschrieben habe, seiner Mayken; er weiß noch genau, wie sie ihn schon als Jungen bezaubert hat, als er sie das erste Mal zu Gesicht bekam und sie bei einem Dorffest um den Maibaum tanzte, Blüten im Haar, Butterblumen und Ringel‐ blumen, er weiß es noch wie heute; und als er seine jung‐ fräuliche Braut zum ersten Male küsste, duftete sie süß wie eine frisch gemähte Wiese. «Ich würde mein Leben für sie geben, Mijnheer», sagt er. So soll es sein. Genau wie sein launischer Gott, der mir Marie genommen hat, so will auch ich mit dem Schicksal dieses Jünglings meine Spiele spielen und dafür sorgen, dass er diese schäbige Schlampe von einer Gattin nie wieder zu Gesicht bekommt. 241
Ich erkläre, dass seine Worte mich berührt haben, dass ich mit dem Kummer eines jeden Kavaliers hier mitfühle, der von seiner Liebsten getrennt ist, ich erzähle ihm sogar vom tragischen Tod meiner ersten und einzigen Liebe, Marie, die in einem namenlosen Grab vor Amsterdam verscharrt liegt. Er senkt den Kopf und vergießt eine Krokodilsträne, denn was kümmert es diesen Kerl, dem einzig daran gelegen ist, die warmen, weichen Brüste und die zarte Haut seiner Mayken zu berühren. Bei meinem Worte, er wird seinen schmutzigen Verrat noch bereuen. Wie kann er es wagen, mein gebrochenes, sehnsuchtsvolles Herz mit eitlem Gerede von der Liebe zu verhöhnen, von flatterhaften Jungfrauen und ihrem gackernden Sirenengesang, von bunten Bändern an einem Maibaum. Ich bemerke, dass er sich erhoben hat und mich mit selt‐ samem Blicke mustert. Abermals setze ich mein freundlichstes Lächeln auf. «Sagt Euren Kameraden, sie mögen ihre Namen auf eine Liste setzen, und Wouter wird sie zu vereinbarter Stunde abholen.» Er schleudert seinen Hut in die Luft und jauchzt vor Freude. «Seid bedankt, Mijnheer», schreit er. «Ich habe dem Pfarrer immer Recht gegeben, Ihr seid ein guter Mensch.» Ich bedeute ihm, leise zu sein, und nehme ihm das Ver‐ sprechen ab, vor den anderen kein Wort darüber zu verlieren. Nur zehn Mann werden von Wouter auf eine Expedition mitgenommen werden, für die sie sich freiwillig melden sollen – zum Fischen zum Beispiel. 242
«Nun, da ich Euer leichtsinniges Unterfangen gebilligt habe», flüstere ich und beuge mich näher, «was bietet Ihr im Gegenzug?» Er küsst den Kommandeursring an meinem Finger und schwört, er werde sein Bestes tun, alle Männer, auch die Zweifler – er nennt den Zimmerer und seinen Sohn – zum Gehorsam gegenüber dem Generalkapitän und seinem neuen Rat zu veranlassen. Mit einer Verbeugung tritt er in die Schatten des Busch‐ werks und ist verschwunden. Da dieser schwächliche, hilflose, liebeskranke Jüngling ohnehin nicht einen einzigen Fieberanfall in den pestgeplag‐ ten Städten Ostindiens überlebt hätte, fliegt seine Seele nun eben ein wenig schneller den Himmelstoren entgegen, mehr nicht. Kein Grund, das eigene Gewissen zu belasten, wenn sein Schicksal bereits vorherbestimmt, längst beschlossen ist. ■
In der Abgeschiedenheit meiner Gemächer beobachte ich die Frauen auf der Seehundinsel durch mein Fernrohr. Könnte das Lucretia sein, die dort die karge Küste entlangwandert? Ihr Umhang flattert im Winde, das flammende Haar leuchtet rotglühend in der unbarmherzigen Mittagssonne. Sie muss es sein, die da Zweige, Blätter und getrockneten Seetang sammelt und mit bloßen Händen im Sande gräbt. Jetzt kehrt sie zum kläglichen Lager zurück, wo die anderen zusammengesunken vor einem flackernden Feuer hocken. Bei den Wasserfässern stehen zwei Männer Wache. Sie wirkt entschlossener als die meisten, als sie mit einem verkohlten 243
Stock verbrannte Muscheln aus der knisternden Glut holt und das zähe, salzige Fleisch verschlingt. Wie ich Lucretia so sehe, frage ich mich, ob von uns allen vielleicht sie dazu be‐ stimmt ist, zu überleben. Ich lasse das Fernrohr sinken. Bald werde ich Wouter schi‐ cken, sie zu holen. 244
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m sechzehnten Tag noch immer keine Rauchzeichen von der Berginsel. Es ist wohl an der Zeit, die Namen der Soldaten von meiner Liste zu streichen, allen voran den von Hayes. Den Kaufleuten habe ich erzählt, dass das Floß bei günstiger Strömung übersetzen wird, um einen mög‐ lichen Aufstand oder eine Meuterei der Franzmänner nie‐ derzuschlagen. Die Männer scheinen es zufrieden, denn es herrscht wenig Liebe zwischen den Kaufleuten und den Soldaten, die, unter den Decks der Batavia von den anderen abgeschieden, genau wie die Seeleute eine ganz eigene Gemeinschaft geblieben sind. ■
Noch immer kein Regen aus den dunstfreien Himmeln, den flachen blauen Wüstenhimmeln, die ausgedörrt sind wie dieses Eiland. Tag für Tag pfeift mir ein heißer Wind um die Ohren, zerzaust die Locken meiner Perücke, bläst mir Sand in die Augen, leckt unsere flachen Wasserlöcher leer und zwingt uns, immer breitere Kanäle zu graben, die wir mit Segeltuch abdecken, um das wertvolle Nass vor der gleißenden Sonne zu schützen. Das Wasser wird schal und braun wie Tee. Bei der letzten Zählung hatten wir einen Wasservorrat von sechsunddreißig Fässern. Zwölf waren den Frauen und Hayes und seinen Männern mitgegeben worden. Natürlich 245
fülle ich meine Flasche aus meiner eigenen, privaten Quelle auf, die zu meiner Überraschung noch niemand entdeckt hat. Ich habe über andere Methoden nachgedacht, die Zahl der Menschen hier zu verringern. Zwar haben wir Nahrungs‐ mittel im Überfluss, doch aus meiner täglich geführten Bestandsliste geht hervor, dass lebenswichtige Vorräte an die Kranken verschwendet werden. Ein Missbrauch wertvoller Rationen, denn diese Leute werden möglicher‐ weise nicht überleben oder zu schwach bleiben, um ihren Teil zu den täglichen Arbeiten auf der Insel beizutragen. Es stehen noch immer siebenundzwanzig auf der Liste der Kranken, vor allem Kinder und solche, die beim Schiffbruch verletzt wurden. Unter dem strohgedeckten Dachvorsprung der Kranken‐ hütte liegen sie schlaff herum, zu dritt auf einer Matte, und verbreiten einen ranzigen Gestank. Schweigend und barfüßig läuft der Barbier von einem zum anderen. Als ich mich nähere, watschelt er auf mich zu. «Ohne Medizin kann ich nichts weiter tun. »Er spricht mit gesenkter Stimme, wie in der Kirche. Ich erkläre ihm, dass unsere Bestände knapp sind. Die Fal‐ te zwischen seinen Brauen vertieft sich. Der Barbier ist besessen von dem Gedanken, diesen Pöbel zu retten. Ich habe Mitleid mit ihm. «Das Kind hier ...» Er führt mich zu einer reglosen, kleinen Gestalt unter einer Decke. «Der Junge braucht Opium. Und hier.» Eine Frau, eine hübsche, nebenbei bemerkt, im Fieber‐ wahn. Unablässig zählt sie ihrer Magd irgendwelche Re‐ 246
zepte auf. «Und vergiss nicht», sagt sie, «es ist Spargelzeit.» «Sie wird den Morgen nicht erleben», vertraut er mir an. Und dann die Amputierten, die in blutgetränkten Laken liegen. Bei ihrem Anblick wendet er sein argloses, glattes Gesicht ab. Ich stimme zu, dass wir gegen diese Woge des Todes wenig ausrichten können. «Es sei denn ...» Bei diesen Worten spitzt er die Ohren. Darauf hat er ge‐ wartet. Seine sanften Dackelaugen weiten sich voller Hoff‐ nung. «Es sei denn, der Rat entscheidet, kostbare Arzneien für diesen Zweck bereitzustellen. Schreibt auf, was benötigt wird, und der Rat wird heute Abend darüber abstimmen.» Der Narr fällt auf die Knie. Will sich lieb Kind machen mit seinem «Hoch lebe der Generalkapitän». ■
Schierling ist eine knorrige, weißliche Wurzel. Von allen Gif‐ ten der bekannten Welt ist es das schmerzloseste, das subtilste. Eine sanfte Taubheit der Sinne. Bei dieser Wurzel beginnt der Tod in den Füßen und wandert dann nach oben. Unmerklich zunächst folgt die Paralyse den schnellen Strömen des Blutes auf seinem Wege zum Herzen. Ein edler Tod. Der Tod eines Philosophen, der dem Sterbenden ein letztes Geschenk macht: die Zeit, über Drachenformationen in den Wolken zu sinnieren. Man reibe die Wurzel wie eine Möhre. Dann zerstoße man das Fleisch zu einem Brei und presse den Saft durch ein Musselintuch. Dann vermische 247
man es mit süßem Dessertwein. Ich gehe zum Barbier, der ungeduldig am Eingang der Hütte wartet. «Der Rat hat in Eurem Sinne votiert», sage ich. «Die Kran‐ ken sind gerettet.» Ich drücke ihm den Weinkrug in die Hand, die groß ist wie eine Bärentatze, und weise ihn an, je‐ dem Patienten einen einzigen Schluck zu verabreichen. «Sollte das nicht möglich sein, tränkt einen Zwieback in dem Elixier und legt jedem einen auf die Zunge.» Der Barbier kommt seiner Aufgabe gewissenhaft nach. Jedem Kranken führt er den Trank an die Lippen. Flüstert freundliche Worte des Trostes und der Aufmunterung. Ich bin sicher, dass er sich um alle kümmern wird, und lasse ihn allein. Er folgt mir nach draußen. «Generalkapitän, Ihr seid ein guter Mensch.» Er verbeugt sich. «Das wird man Euch nie vergessen.» 248
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m siebzehnten Tag, als ich gerade Wasser in meinen Lieblingskrug gieße, eine gravierte Achatvase mit ge‐ hörnten und bärtigen Satyrn in lüsternen Posen, umrankt von Akanthusblättern, höre ich unten am Strand Geschrei. «Tot, alle tot!» Der Barbier kniet im Sand und schlägt sich mit lautem Geheul auf die Brust wie ein überspannter Schauspieler in einer Tragödie. Das Meer heute ist grau, bedeckt von schieferfarbenen Wolken. Beißende Worte von Bosheit und Arglist fliegen zu mir herauf und werden vom Winde verschluckt. Wie immer lässt der Pfarrer sich nirgends blicken. Die Männer wimmeln über den Strand wie Ameisen in einem Sack Mehl und umringen die Krankenhütte. Von hier oben brauchte ich nur die Hand auszustrecken und könnte ihrem Treiben mit einer einzigen Bewegung ein Ende bereiten, könnte sie mit einer Hand wegwischen. Die Fakten sind klar. Schreib sie nieder. Am siebzehnten Tage sind die Kranken im Schlafe verschieden. Und was gibt es Neues? Sie lagen ohnehin im Sterben. Habt ihr vergessen, wie sie gelitten haben? Weder der Barbier noch alle Opiate dieser Welt hätten helfen können. Da war es doch wohl das Gebot der Stunde, den Prozess zu beschleunigen, statt ihn hinauszuzögern, wie man es auch für jeden Hund und jedes lahmende Pferd tun würde. In unseren modernen Zeiten der chirurgischen Möglichkeiten, wo man Krebsgeschwüre aus der Haut schneidet, wo Ärzte die Leichenhäuser plündern und Studenten die Muskeln und Kranzgefäße des Herzens 249
erforschen, in diesen Zeiten neigen wir dazu zu vergessen, dass der Mensch sterblich ist. Dass er nur ein Hauch ist. Sagt mir, euer Mensch – wie viel ist er wert? Die Männer drängen sich in engen Grüppchen um den Barbier, der noch immer heulend auf der Schwelle zur Kran‐ kenhütte hockt. Allen brennt die Frage auf den Lippen, wor‐ an diese Menschen gestorben sind. Der Pfarrer gesellt sich nur widerwillig zu ihnen, ein Ta‐ schentuch vor die Lippen gepresst. Als der Mob seiner gewahr wird, treten sie mit banger Miene zurück und ver‐ suchen, den Barbier auf die Füße zu heben. Der Sohn des Zimmermanns ist der Letzte, der begreift. Dann rennt er schreiend in die Wellen. «Pest!», ruft er. Ach, wie dieses magische Wort die Angst in die Herzen der Menschen jagt, bis nur noch der Barbier zurückbleibt, der sich weigert, seine Schützlinge unter ihren baumwol‐ lenen Leichentüchern der Verwesung zu überantworten. Es ist wohl an der Zeit, dass ich einschreite. Als ich bei der Baracke eintreffe, sehe ich durch den Ein‐ gang, dass der Schmied versucht, die panisch gewordenen Kaufleute zu beruhigen. Sie sprechen sich einstimmig dafür aus, mit dem Floß zur Seehundinsel überzusetzen. Der Schmied, ein kleiner, untersetzter Mann, muss auf eine Holzkiste klettern, um sich Gehör zu verschaffen. «Ich für meinen Teil werde hier bleiben», übertönt er die anderen. «Wollt ihr Feiglinge etwa riskieren, eure Frauen und Töchter anzustecken?» Die Kaufleute werden still. «Der Apotheker hatte Recht», verkündet Stoffel der Kal‐ faterer. «Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Fieber diese 250
gottverlassenen Küsten heimsuchte.» «Plagen und Pestilenz, Schrecken über Schrecken», heult der Pfarrer in sein Taschentuch. «Wir müssen unverzüglich eine Trauerfeier abhalten», sagt der Schneider. Er sitzt auf seinem Lager und sieht abge‐ spannt und bleich aus, seine frühere Leichtigkeit scheint da‐ hin. Der Erste Trompeter fährt mit dem Finger über den zer‐ beulten Trichter seines seegeprüften Instruments. «Ich werde den Marsch spielen», schlägt er vor. «Dann sollten wir die Hütte abbrennen und die Asche im Sand vergra‐ ben.» «Feuer!», kreischt der Pfarrer. «Der Apotheker hat gesagt, diese Insel brennt wie Zunder. Wenn die Pest uns nicht hin‐ wegrafft, werden wir bei lebendigem Leibe verbrennen.» Pestilenz, Feuer und Schwefel – wie ihre Phantasie mit ihnen durchgeht. Der Zimmerer hämmert mit der Faust gegen die Wand. «Ruhe!», ruft er mit fester Stimme, die ich noch nie zuvor gehört habe. «Warum setzen wir so viel Vertrauen in diesen Apotheker?», fragt er. «Was wissen wir über diesen Kerl, der wie ein Hexenmeister an diesen Küsten auftaucht, das Ruder an sich reißt und uns befiehlt, ihm zu folgen?» So, der Holzhobler zweifelt noch immer am Worte des Ge‐ neralkapitäns, meinem Wort, der ich sie alle aus Schmutz und Erniedrigung erlöst habe. «Aber ohne ihn sind wir verloren», flüstert der Pfarrer. Er ist entsetzt, dass das Gespräch eine so aufrührerische Wen‐ dung nimmt. «Nein, sind wir nicht», entgegnet der Zimmerer. «Seht ihn 251
euch an, stolziert durch die Gegend wie ein Fürst und gibt Befehle, ohne selbst auch nur den kleinen Finger zu rühren.» Stoffel, der Vorsichtige, der Furchtsame, blickt sich um. Ich drücke mich in die Schatten. «Still», zischt er. «Wenn er uns hört!» Der Zimmerer starrt ihn verächtlich an. «Ich bin dafür, neue Wahlen auszurufen», sagt er. «Wir brauchen den Apotheker nicht. Außerdem ist er ein eigen‐ artiger Geselle, er gefällt mir nicht.» So, dieser Undankbare, dieser gemeine Handwerker, droht mich von meinen Thron zu stoßen. Kein Wort von den verwirrten Kaufleuten. Sie wissen nicht, was sie denken und wem sie trauen sollen. Sie sehnen sich nach der Heimat, nach ihrem behüteten Händlerleben. Was für ein Dilemma, in dem sie da stecken. Ich werde sie beschwichtigen und ihnen neuen Mut geben, werde vorschlagen, eine Begräbnisfeier abzuhalten. Und um die tragischen Ereignisse zu würdigen, werde ich den mor‐ gigen Tag zum allgemeinen Feiertag erklären. Denn ich, ihr Regent, ich bin großzügig, ich bin gütig. 252
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ie sehr sie sich langweilen, meine Jünger. Wie sie um meine Anerkennung buhlen. Immer ist einer da und bittet um Erlaubnis, mein Schwert zu schärfen, meine Stiefel zu polieren, meine Rasierschüssel mit heißem Wasser füllen zu dürfen oder die Möweneier für mein Frühstück zu kochen. Als ich ihnen auftrage, am Strand Gräben zu buddeln, sind sie heilfroh, endlich eine Beschäftigung zu haben. Ich habe meinen Jünglingen einen strengen Tagesablauf auferlegt. Messer und Äxte sind geschärft, obwohl jedes an‐ dere Werkzeug es auch tun würde. Den Einsatz der Muske‐ ten habe ich verboten. Wir werden sie brauchen, wenn ein Rettungsschiff die Insel bei Niedrigwasser sichtet. Die letzten drei Nächte waren gesegnet mit einem schwe‐ felgelben Vollmond, der über dem Horizont in den Himmel stieg. Es ist stets ein unverzeihliches Vergehen, meine abendlichen Spaziergänge entlang der Küste – das Rauschen von Möwenschwingen in der nächtlichen Luft, goldenes Phosphoreszieren der Wellen, all die unerwarteten Freuden der Tropen – zu stören. Heute Abend sind es der Zimmermann und sein Sohn, beide angeheitert vom Wein, den sie aus dem Vorratsraum entwendet haben. Der Zimmermann muss sich auf seinen Sohn stützen. Als ich näher komme, reißt der Trottel die Fäuste hoch. «Ich habe Euer Spiel durchschaut», sagt er. «Ich weiß, was hier vor sich geht.» «Ihr seid betrunken», entgegne ich. «Ihr habt gegen die 253
Vorschriften verstoßen und den Wein der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie gestohlen.» «Und Ihr habt uns betrogen!», schreit er. Ich schlage ihm hart ins Gesicht. Wutentbrannt will er sich auf mich stürzen, doch sein ängstlicher Sohn hält ihn zurück. ■
Ich rufe den Rat zusammen und gebe Befehl, die Strafe un‐ verzüglich zu vollstrecken und die beiden in den Fluten zu ertränken. Doch meine Ratsherren, träge Taugenichtse alle‐ samt, erheben Einwände. Weichen meinem Blicke aus. De Beere will den Vater bestrafen, aber nicht den Sohn. Pelgrom erinnert daran, dass sie es waren, die beim Bau des Floßes geholfen haben. Lasst beide frei, schreit Carp. Wouter jedoch wirft eine Rolle Tau vor sie hin und macht sich daran, die beiden an Händen und Füßen zu fesseln. Der Zimmerer wehrt sich. Der Sohn will davonlaufen, aber De Beere packt ihn bei den Ohren. Das Hemd des Zimmer‐ manns ist schweißdurchnässt. Wouter presst ihm eine Hand auf den Mund. «Das Urteil ist gesprochen», sage ich. Carp hält sich im Hintergrund. «Hierher, Junge», schreie ich. Ich bin wütend. «Als ge‐ wählte Ratsmitglieder werdet Ihr weder Mitleid noch Gnade zeigen.» Carp steht zitternd vor mir. Ich deute mit der Spitze mei‐ nes Schwertes auf einen runden, flachen Stein. «Nehmt den, Junge, und dann zieht diese Schufte für ihren schmutzigen Verrat zur Rechenschaft.» 254
Die anderen stehen schweigend da. Dem Zimmermann sind die Hände auf den Rücken gebunden, er versucht noch immer, sich zu befreien. De Beere packt den Jungen fester. Carp zielt auf den wimmernden Sohn, der laut aufschreit. Der Stein fällt vor seinen Füßen in den Sand. «Na los», sage ich sanft. «Möge der Rat Carp zeigen, wie Gerechtigkeit geübt wird.» Am Ende war es eine stümperhafte Angelegenheit. Un‐ schöne Geschichte. De Beere schlug dem Zimmerer mit dem Stein den Schädel ein. Der Zimmerer fiel rücklings in den Sand. Der Sohn kreischte, Wouter fürchtete, man könne ihn hören, und schlitzte ihm die Kehle auf. Sie zerrten die Körper an den Füßen in die Wellen. Im Wasser kam der Vater wieder zu sich, schlug um sich wie ein Fisch an der Angel, und De Beere erhob abermals den Stein. An diesem Punkt bin ich in meine Quartiere zurückge‐ kehrt, denn nichts verabscheue ich so sehr wie den Anblick von Blut. 255
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m achtzehnten Tag legt sich feiner Morgenregen wie ein austerngraues Leichentuch über die Insel. Kaum genug, die Wasserfässer aufzufüllen und die heiße, salzige Luft zu kühlen. Jetzt brennt eine gnadenlose Sonne durch den Nebel und saugt die Regentropfen auf, die sich in den gerollten Blättern gesammelt haben. Meine Jünger wirken bedrückt. Sie lungern am Wasser herum. Selbst Wouter enthält sich seiner spektakulären Delphinsprünge, bei denen er ohne einen Spritzer in die blauen Weiten taucht. Was mag sie bekümmern? Doch wohl nicht die Ereignisse der letzten Nacht? Reißt euch zusam‐ men, meine Kinder. Der Gerechtigkeit wurde genüge getan. Ich habe heute Morgen zweimal die Glocke geläutet, doch noch immer kein Zeichen von Carp. Die Jünglinge genießen die Extrarationen und den guten Wein an meiner Tafel, all die Privilegien ihrer Stellung, doch vor der Verantwortung, die damit einhergeht, schrecken sie zurück. Wieder läute ich die Glocke. Welchen Nutzen hat mein Rat, wenn ich mich in der entscheidenden Stunde nicht darauf verlassen kann, dass sie ihr Pfund in die Waag‐ schalen der Gerechtigkeit werfen? Welchen Nutzen, wenn sie am Schafott auf einmal empfindsam werden? Sie haben bei ihrer Ehre geschworen, mit mir diese Insel zu regieren. Und das werden sie. Oder ich werde ihnen die Abzeichen herunterreißen, die bunten Rockaufschläge, und werde sie mit den Händlern zum Fischen hinaus schicken, zwei Unzen 256
Zwieback in den Taschen. Vor allem Wouter ist eine Enttäuschung. Ihm zitterten die Hände, als er den blutbefleckten Stein im Sande vergrub. Vielleicht lag es an der Art und Weise der Exekutionen. Selbst ich räume ein, dass es nicht leicht ist, einen Menschen zu töten. Beim nächsten Mal werde vorschlagen, die Sache schnell und sauber mit der Säbelspitze zu erledigen. Ah – endlich höre ich ein Platschen. Wouter schwimmt mit kräftigen, mühelosen Zügen. Schwärme von saphirgrünen Fischen schimmern in seinem Gefolge. Mit einem Schrei stürzt sich De Beere ins Wasser. Jetzt rennt Pelgrom in die Wellen. Es dauert nicht lang, da planschen und paddeln sie alle ohne eine Sorge auf dieser Welt. So, wie es sein sollte auf dieser paradiesischen Insel. Alle außer Carp. Der ängstliche, sorgenvolle Carp. Jetzt se‐ he ich ihn, er hockt zusammengesunken auf einem Felsvor‐ sprung, das Kinn auf die knochigen Knie gestützt. Carp, der Schwierige, der des Nachts noch immer von unsäglichen Suckuben und Schemen aus dem Schlaf gerissen wird. Ich frage mich, warum er sich das Leben so schwer macht. Er war nur Beisitzer des Gerichts, Zeuge des Verfahrens. Warum kann er nicht sein wie die anderen? Abgesehen davon, die Schuld trägt der Zimmermann. Er und sein Sohn haben sich am Eigentum der Compagnie vergriffen. Sie haben gegen die Vorschriften verstoßen, die nächtliche Ausgangssperre missachtet, die zu ihrer eigenen Sicherheit und zu ihrem Besten eingeführt worden war. Wä‐ ren sie in der Baracke geblieben, nichts davon wäre gesche‐ hen. Selbstverständlich bedauern wir die Ereignisse, würden uns wünschen, es wäre anders verlaufen, denn eines muss 257
gesagt werden: Der Zimmerer war ein Meister seines Faches. Carp muss sich zusammenreißen. Er bringt meine Jüng‐ linge durcheinander, wenn er da kichernd in der Sonne sitzt und Selbstgespräche führt. Als sie zum Frühstück erscheinen, fallen Wouter und De Beere über das Brot, den Käse, den Wein her. Ich frage Wouter, warum Carp nicht bei uns ist. Plötzlich herrscht Stille. Wouter hält beim Kauen inne. «Carp geht es nicht gut», sagt er. «Carp ist durcheinander wegen letzter Nacht.» Die Jungen rutschen auf ihren Stühlen hin und her, den Stühlen, die der Zimmermann gebaut hat. De Beere schnippt eine Fliege von seinem Glas. Pelgrom knabbert an den Nä‐ geln, die bereits bis aufs Fleisch abgekaut sind. Jacop zerkrü‐ melt die Brotrinde. Hansens Unterlippe zittert. Der junge Carp ist sein bester Freund. Was ist los, eben noch beste Laune und jetzt diese plötzli‐ che Schwermut? Wouter legt das Messer nieder. «Carp hat uns die ganze Nacht wach gehalten. Er hat geredet und gesungen und ge‐ weint.» De Beere legt die Stirn in Falten und kämpft mit einem Gedanken. «Wouter, ich meine, der Ratsvorsitzende, glaubt, Carp habe den Verstand verloren.» Die anderen sitzen schweigend und ernst da. Sie warten auf eine Antwort. «Nun», sage ich, «dann müssen wir ihm helfen, ihn wie‐ derzufinden.» De Beere kichert, Wouter jedoch blickt unbehaglich drein. «Wir müssen ihm die Zweifel nehmen», sage ich. «Ihm 258
helfen, seinen Gram zu überwinden.» Lächelnd betrachte ich die besorgten, erwartungsvollen Gesichter meiner Jünglinge. Carps Betragen scheint sie mehr zu beunruhigen als die Schreie des Zimmerers. «Noch heute werden wir ihn zum Obersten Scharfrichter ernennen.» Sehr zu meiner Enttäuschung wird Wouter bleich. «Aber niemand hat ein Verbrechen begangen», sagt er. Ich fülle mein Glas nach. Heute Morgen sind meine Jüng‐ linge ganz ausgesprochen schwer von Begriff. «Der Barbier redet zu viel», sage ich. «Der Barbier ist des Glaubens, die Kranken seien vergiftet wurden.» Ich erkläre ihnen, dass der Barbier ein heimtückischer, Ränke schmie‐ dender Geselle sei, Anführer einer verschworenen Intrige. Ich ziehe ein Pergament aus dem Ärmel, rolle es ausein‐ ander und zähle auf, dass zu den Helfershelfern des Barbiers der Böttcher, der Erste Trompeter, der Schmied und der Goldhändler gehören. «Habt ein Auge auf sie.» Wouter hebt die Hand. «Wird es einen Prozess geben?» Ich lache laut auf. Wouter läuft rot an vor Scham. «Wohl kaum. Die Männer sind schon aufmüpfig genug. Wir wollen doch keine Rebellion riskieren.» Bei dem Wort Rebellion werden Pelgrom und Jacop nervös. Ich glaube fast, meine Ratsherren haben Angst. So‐ gar Wouter. «Wie soll es vonstatten gehen?», fragt er mit leiser Stimme. «Ihr werdet den Barbier und seine Männer auf einen Fisch‐ zug mitnehmen.» 259
«Und dann?» «Bindet die Verräter mit Tauen, beschwert ihre Füße mit Steinen, und Carp der Scharfrichter soll sie über Bord wer‐ fen.» «Und wenn Carp sich weigert?» «Das wird er nicht, denn sein Leben hängt davon ab.» Wouter runzelt die Stirn. Die Ader an seiner Schläfe pul‐ siert. Er wirft einen Seitenblick auf De Beere, der mit offe‐ nem Munde meinen Plan bewundert, dann zur anderen Seite auf Andries, der ein Grinsen aufgesetzt hat, um zu zeigen, dass er keine Angst hat. Hans bricht in Tränen aus. Wouter schweigt noch immer. Seine Lippen sind schmal und bleich. Die Stille wird drückend. Ich lasse das Pergament auf seinen Teller fallen. Wouter, der bei seiner Seele geschworen hat, dieser gesetzlosen Insel Gerechtigkeit zu bringen, starrt auf die Liste mit den Namen, die sich in der Hitze langsam aufrollt. Zu guter Letzt nimmt De Beere das Dokument an sich und steckt es in die Tasche. Hans schluchzt. Aller Augen sind auf ihn gerichtet, als Wouter den Stuhl zurückschiebt und sich langsam erhebt. «Eines noch.» Ich verleihe meiner Stimme einen freund‐ licheren Ton. «Nehmt auch Hans mit, falls Carp es nicht über sich bringt.» Hans versucht sich zwischen Jacops Beinen zu verstecken. De Beere packt ihn beim Kragen. Als Wouter sich zu mir dreht, ist er ein anderer geworden, härter. Als habe der alte Wouter – der vom Schicksal verwöhnte Goldjunge aus Amsterdam, auf dessen schmalen Schultern unsägliche Reichtümer ruhten, dessen sorgloses 260
Gelächter aus den Innenhöfen und Bordellen der Stadt tönte, dessen Blick Jungfrauen schwindelig machte und Nonnen unter ihren Hauben erröten ließ – als habe dieser Wouter seine Haut abgeworfen. Der alte Wouter ist nicht mehr. Eine leere Hülle, die der Wind davongetragen hat. Statt seiner steht nun meine Schöpfung vor mir und schlägt mit ihren gewaltigen Engelsflügeln. Mein Menschensohn, wiederge‐ boren. Rache singt in seinen Adern. Mit der Zeit werden alle meine Jünglinge sein wie er, und ich werde nicht mehr einen vom anderen unterscheiden. Noch mir ihre Namen merken müssen. ■
Bei Sonnenuntergang kehren Carp, Wouter und De Beere mit dem Floß zurück. Wouter paddelt schnell. Carp kneift die Augen zusammen und wendet sein schrumpeliges Af‐ fengesicht in die blendende, violette Sonne. Hin und wieder bedeckt er sein seltsam schiefes Grinsen mit dem Hand‐ rücken. Ich sehe, dass Hans bei der Mission wohl versagt hat. Ich habe den Winzling nie gemocht. Also sind meiner Jünger jetzt sechs. 261
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m neunzehnten Tag beobachte ich die Frauen auf der Seehundinsel durch mein Fernrohr. Ich sehe, dass sie nur noch zwei Wasserfässer haben, neben denen mehrere Ratsherren Wache stehen. Und dort ist Lucretia, sie hockt vorn am Wasser und tippt einen selbst gebogenen Haken an einer Schnur in die geriffelte Oberfläche eines weiten Wasserbeckens in den Felsen, einen Ausdruck angestrengter Konzentration auf dem Gesicht. Sie sieht schmaler aus, ausgezehrt. Wenn ich Wouter schicke, sie zu holen, soll meine Herrin in meinen Gemächern speisen und sich an der üppigsten Kost delektieren, die dieses Eiland zu bieten hat. Mit einer geschickten Drehung des Handgelenks zieht sie die Schnur aus dem Wasser. Ich lache auf vor Freude, denn mein kluges Mädchen hat einen Fisch gefangen! Nicht viel größer als eine Elritze, aber nichtsdestoweniger ein Erfolg. Behutsam steckt sie ihren Fang in einen Beutel, den sie um die Hüfte trägt. Dann erhebt sie sich, watet tiefer hinein und wirft die Schnur über reglosem, smaragdfarbenem Wasser aus. Lucretia, die ohne Kopfbedeckung in der gleißenden Son‐ ne steht, ist die einzige Menschenseele, die sich abplagt. Sie hat sich ein Tuch um Schultern und Hals gebunden. Ihre helle Haut ist voller Sommersprossen wie die einer Bäuerin. Mit dem Fernrohr suche ich das Gebüsch ab. Dort liegen ein paar Frauen teilnahmslos und lethargisch im kärglichen Schatten, dort drüben spielt eine Rotte halbnackter Gören, über und über von Staub bedeckt, im pulverweißen 262
Korallensand. Neben einem flackernden Feuer hockt das Mädchen mit den Perlohrringen und windet sich vor Schmerz, während sie eine eitrige Wunde am Fußgelenk mit einem Streifen Baumwolle aus ihrem Unterrock verbindet. Und da sehe ich Mayken, die Liebste des Goldhändlers, die mit verbrannten und geschwollenen Lippen Gebete murmelt und ihren lieblosen, rücksichtslosen Gott anruft. Und im Schatten der Wasserfässer sitzt schluchzend des Pfarrers bleicher Krankbesoeker unter der breiten Krempe seines Filzhutes, die in der Sonne dahinwelkt. Ich richte das Glas wieder auf Lucretia. Sie blickt hinaus auf die See, sucht den Horizont ab. Dann, plötzlich, wendet sie den Kopf zur Seite, und es scheint, als blicke sie mir gerade ins Gesicht. Erschreckt lasse ich das Glas sinken. Seht, wie sie dort steht, die Hände in den Hüften, sie wird nicht wanken und nicht weichen, ein Sinnbild stummen Vorwurfs. Ich greife nach meinem Branntweinglas. Ich nehme einen Schluck und lache. Das muss ich mir eingebildet haben. Auf dieser Insel heißt es wachsam sein, um nicht den Halt zu verlieren, hier ist es lebenswichtig, die genaue Abfolge der vergehenden Tage im Gedächtnis zu behalten, gleichgültig, wie schnell sie einer mit dem anderen verschmelzen, wie schnell jede Minute der anderen gleicht wie das endlose Wogen der Wellen. Ein rosafarbenes Krebstier kriecht über meine Stiefelspitze, es hat die Zangen geöffnet und ist bereit, jeden Widersacher von dieser fremden, zerfurchten Lederlandschaft zu ver‐ treiben, die es nun überquert, verbannt aus seiner Heimat 263
aus Sand und Korallenfindlingen und den kühlen, feuchten Höhlen zwischen den Wurzeln und Ranken verrottender Seegräser. Als ich den Krebs wegschnippe und er auf dem Rücken landet, überkommt mich plötzliches Mitleid mit der miss‐ lichen Lage dieses einsamen, verstoßenen Geschöpfs. Es zappelt mit seinen Spinnenbeinen und wiegt sich vor und zurück. Ich könnte gütig sein, gnädig wie ein Gott, und diese krabbelnde Kreatur in das feuchte, dunkle Loch setzen, aus dem sie gekommen ist. Stattdessen zermahle ich sie mit dem Stiefelabsatz. Lucretia dort an fernen Küsten zu sehen, ist mir aufs Ge‐ müt geschlagen. Ich lege mein Fernrohr beiseite. Wie schwer die Zeit wiegt. Nicht eine Welle auf dem Ozean. Nicht der leiseste Windhauch. Nicht eine Wolke am flachen Himmel aus Pappmache. Ich bin es leid, dieses Panorama, diese blaue Leere. Selbst eine römische Kamee vermag mich nicht zu erhei‐ tern. Dabei ist dieses kostbare Juwel laut Gasper, dem Amsterdamer Juwelier, eine der erlesensten Arbeiten in der bekannten Welt, die der kluge Kommandant an Bord ge‐ schmuggelt hat, um in heimlichem Handel mit den Sulta‐ nen am Hof der Moguln private Profite einzufahren. Der Kommandant gibt sich als Treuhänder der Compagnie aus, als Mann von Ehre, verlässlich wie sein Wort, un‐ bestechlich und mit untadeligen Referenzen, doch anhand der Papiere in seinem Schreibtisch bin ich daraufgestoßen, dass er ein Agent Rubens̉ ist, jenes alternden Lüstlings, der seine Antiquitätensammlung zu Geld machen will, um sich eine noch jüngere, noch weißere, noch korpulentere Gattin 264
kaufen zu können. Wenn die Compagnie dem Komman‐ danten auf die Schliche kommt, wird der Generalgouver‐ neur wenig erfreut sein. Ich lege den antiken Achat beiseite. Dabei kann sein Motiv fast immer mein Blut erwärmen – ein römischer Kaiser im Streitwagen, von zwei Kentauren gezogen, deren gefederte Hufe die gefallenen Feinde in den Staub treten, darüber eine geflügelte Victoria, die einen Kranz in kräftigen, athletischen Armen hält. Mir gefällt der Gedanke, dass es der gleiche Rö‐ mer sein könnte, der unseren falschen Propheten ans Kreuz nagelte. Wie oft habe ich die Linien dieses Kleinods nachgezogen, habe die Falten im kaiserlichen Gewand bewundert, jedes einzelne Weinblatt im geflochtenen Kranz der Victoria, die feinen Windungen in den Hörnern der Kentauren. Ge‐ schwindigkeit, Weite und Tiefe ist in diesem Bild. Heute jedoch lege ich es zurück in die Truhe mit dem Gold und dem Silber, geprägt und ungeprägt, den Schmuckstü‐ cken und den anderen Kunstgegenständen, die einst für den privaten Handel in Ostindien bestimmt waren. Lieber narre ich Fliegen mit meinem Fächer, fange sie in der Hand und zupfe ihnen die Gazeflügel von den trocknen, zerbrech‐ lichen Körpern. ■
Der Pfarrer kämpft sich den Hügel hinauf. Er scheint aufge‐ bracht, und er hat es ungewöhnlich eilig. Seltsam, dass er trotz strikter Rationierung noch immer so fett ist. Von so schwabbeliger Feistigkeit. Es sei denn – ist es zu fassen –, 265
unsere psalmenträllernde Elster stiehlt Vorräte. Als er mich erblickt, winkt er. «Generalkapitän», ruft er von unten. Er bleibt stehen und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. Dann stolpert er keu‐ chend weiter. Als er es endlich geschafft hat, muss ich warten, bis er wieder zu Atem gekommen ist. «Schlechte Neuigkeiten», bringt er schließlich hervor. «Ei‐ nige Männer werden vermisst.» Zuerst nennt er den Barbier und seine Mitverschwörer, wie zu erwarten war. Seine kleinen Schweinsaugen sind weit aufgerissen vor Angst. «Es muss etwas passiert sein», sagt er. «Wann sind sie zuletzt gesehen worden?» Er zögert. Umsichtig wie eine Diplomat. Denn es geht nicht an, meine Jünglinge geradeheraus zu beschuldigen. «Mit Mijnheers Wouter, De Beere, Hans und Carp, sie sind zum Fischen ausgefahren.» «Und nicht zurückgekehrt?» Er schüttelt den Kopf. «Und seit zwei Tagen, Mijnheer, ich meine mein General‐ kapitän, sind auch der Zimmerer und sein Sohn verschwun‐ den, zwei so dienstwillige Seelen, wie Ihr sicher bestätigen werdet.» Er streicht über das Kruzifix an seinem Hals. Ich plane meine nächsten Züge. Wie kann ich diesen Läufer schlagen? «Vater», sage ich, «ich habe etwas zu beichten.» Beim Wort beichten wirft er mir einen hoffnungsfrohen, er‐ wartungsvollen Blick zu, faltet die Hände im Schoß und setzt sein vollendetes Krankenzimmerlächeln auf. Also hebe 266
ich an: «Diese Männer sind im Vertrauen zu mir gekommen und haben um die Erlaubnis gebettelt, zu ihren Frauen auf die Seehundinsel umsiedeln zu dürfen – denn sonst, so sagten sie, bräche es ihnen das Herz.» Der Pfarrer blickt auf den Ozean hinaus, zu den schwachen Umrissen der in Dunst gehüllten Inseln, zu den Haien, die jenseits des Riffs eine Witterung aufgenommen haben und schnell wie der Wind daraufzuschießen. «Sie werden sich doch nicht der Verzweiflung hingegeben haben», sagt er verschreckt. «Ganz im Gegenteil», versichere ich ihm. «Da Euer Gott Liebe und Mitgefühl predigt, nahm ich ein Blatt aus seinem kleinen schwarzen Buch und habe ihren Wunsch erfüllt, je‐ doch nicht ohne sie zuvor zur Verschwiegenheit zu ver‐ pflichten, denn wenn ein jeder übersiedeln wollte, wären wir bald in der gleichen Zwangslage wie ehedem.» Er nickt mit ernster Miene. «Eine Insel kann uns nicht alle ernähren.» «Ganz genau», sage ich. Ich habe mich in Fahrt geredet und bin fast selbst gerührt von der Geschichte, die mir so leicht von den Lippen geht. «Warum, könntet Ihr nun fragen, wurden diese Männer vor den anderen ausgezeichnet?» Der gefräßige Trottel hängt mir an den Lippen. «Nun, wegen ihrer Standhaftigkeit und ihres Geschicks, ohne die wir nicht den Stuhl hätten, auf dem Ihr sitzet, die Holzschuhe an Euren Füßen, jene hölzernen Piken, die unser findiger Barbier gefertigt hat.» Der Pfarrer nimmt die Piken in Augenschein. 267
«Doch hätte Euer tyrannischer Himmelsgott ihnen die glei‐ che Gnade gewährt, wie ich es getan habe?», frage ich. «Wo er so unerbittlich darauf beharrt, dass wir durch das Tal der Tränen gehen?» Die Frage verunsichert ihn, und er atmet tief durch. Ich bringe mein Gesicht dicht vor seines. «Sagt mir, mein Pradikant, dass ich ein guter Mensch bin.» «Ihr habt Eure Beichte nicht beendet, Mijnheer», sagt er mit leiser Stimme. Sein Kruzifix blitzt in der Sonne. Beichte, dass ich nicht lache. «Ich habe nichts weiter zu beichten», sage ich. «Denn Euer Gott, der vollkommen ist in Tugend und Güte, kann unmög‐ lich das Böse in mein Herz säen, denn an ihm ist kein Falsch.» Schachmatt. Der Pfarrer seufzt. Vielleicht liegt es an der Hitze, aber er wirkt älter und müder, als ich ihn je gesehen habe. «Auch wenn die Vorräte rationiert werden müssen», sage ich, «hat der Rat doch alles Vertrauen verdient, welcher de facto als Kurator für Euch alle sorgt.» Doch ich erspare ihm die traurige Nachricht, dass weitere kleine Diebereien entdeckt wurden, namentlich ein kleiner Klumpen Käse in der Hängematte des Kabinenstewards. Es wird Repressalien geben. Dieses Mal werde ich De Beere zum Scharfrichter ernennen. Denn ich will, dass sich alle meine Jünglinge an den Geruch von Blut gewöhnen. 268
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m zwanzigsten Tag beschließe ich, eine Inselversamm‐ lung einzuberufen. Beim ersten Läuten der Glocke der Batavia nehmen Wouter und De Beere ihre Plätze rechts und links von mir ein, die Musketen in den Händen. Die Kaufleute trudeln einer nach dem anderen über den Strand ein und gesellen sich zu der größer werdenden Gruppe, die zu meinen Füßen kauert. Ihre Gesichter blicken wachsam und prüfend. Wilde Gerüchte und Tratsch gehen um seit dem mysteriösen Verschwinden des Barbiers und seiner Mitverschwörer, des Zimmerers und seines Sohnes und der anderen Männer. Einige glauben, Haie hätten die Männer beim Fischen auf dem Riff angegriffen, andere behaupten, sie seien von Wilden entführt oder von Leviathanen in die Tiefe gerissen worden. Einige beharren, sie hätten sich im Buschwerk verlaufen und ein Suchtrupp müsse ausgesandt werden. Ich werfe dem Pfarrer einen scharfen Blick zu, und obwohl er hochrot anläuft, schafft er es, den Mund zu halten. Ich hebe die Hand. «Trotz dieser rätselhaften Vorkomm‐ nisse, mit deren Aufklärung der Rat befasst ist, habe ich gute Neuigkeiten zu verkünden.» Aller Augen sind auf mich gerichtet. «Gestern wurde die gefährliche Überfahrt zur Berginsel gewagt, wo die Soldaten lebendig und wohlbehalten ange‐ troffen wurden.» Die Menge jubelt. «Warum haben sie keine Rauchsignale gegeben?», ruft 269
jemand. Ich lächle. «Hayes hat beschlossen, das Floß noch einmal kommen zu lassen, denn er hatte eine wichtige Mitteilung zu machen.» Ich erzähle ihnen, Hayes habe uns alle wissen lassen wol‐ len, dass seine neue Kolonie blühe und gedeihe und bis zu zwanzig weitere Übersiedler aufnehmen könne. Die Menge bricht in Begeisterungsrufe aus. «Er sagte auch, dass diejenigen unter Euch, die verheiratet sind, Ihre Gattinnen von der Seehundinsel holen und ge‐ meinsam mit ihnen in seinen sicheren Hafen einlaufen kön‐ nen.» Wouter wirft mir ein verschlagenes, verstohlenes Grinsen zu und tritt vor. «Beeilt Euch», schreit er. «Wer zuerst die Hand hebt, ist dabei.» Der Anblick des armen, verdutzten Pfarrers, dessen Frau an seinem Ärmel reißt, um seine Hand in die Luft zu heben, amüsiert mich. Ängstlich, fast entschuldigend blickt er zu mir, dann winkt er mit den anderen Wouter zu – doch zu spät. Zwanzig sind bereits auserwählt. Sie schluchzen vor Erleichterung und rennen zur Schlafbaracke, um ihre Habse‐ ligkeiten zu packen. Dieses Mal sollen De Beere und Carp das Floß lenken, be‐ waffnet mit Musketen und Säbeln; eine Fahrt sollte genügen. 270
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m einundzwanzigsten Tag werde ich von einem Sing‐ sang geweckt, der vor meinem Quartier ertönt. Elende Bibelverse. Der Pfarrer und sein kniebeugendes Pack von Psalmensängern fängt an, mir auf die Nerven zu gehen. Wie oft muss ich noch erklären, dass es weder Himmel noch Hölle gibt, dass die Bibel ein reines Märchen ist, nichts weiter? «Kommt her, ihr Teufel mit den Sakramenten, wo steckt ihr?», rufe ich durch die Leintuchklappe. Der Chor ver‐ stummt. Doch später beim Frühstück bin ich zufrieden zu sehen, wie leicht meine Jünger meinem Glauben verfallen, dass ihr Gott, der vollkommen ist in Tugend und Güte, dass dieser Gott unmöglich das Böse in die Herzen der Menschen säen kann, denn an ihm selbst ist weder Schlechtigkeit noch Falsch. Ich erkläre ihnen, dass es für uns weder Gut noch Böse gibt. Der primitive Gegenpol von Heiligen und Sündern, von Himmel und Hölle, Gott und Satan, dieses simple Werkzeug der Unterdrückung, ist nur auf den gemeinen Mann anzuwenden. Mit großen Augen sitzen meine Jünger schweigend da, nur Pelgrom hebt die Hand. «Was gibt es denn dann?», fragt er mit kläglicher Stimme wie ein verängstigtes Kind. Ich lache. 271
«Nun, Freiheit natürlich.» So. Ich gebe Befehl, dass jeder auf dieser Insel, den Pfarrer eingeschlossen, der beim Beten erwischt wird, dem General‐ kapitän zu melden ist. Denn alle Religionen sind Feinde der Lust. Wie Wouter die Lippen schürzt bei diesem runden, saftigen Wort: Lust. ■
Jeden Morgen beobachte ich die Frauen auf der See‐ hundinsel durch mein Fernrohr, die Verlorenen, die die Korallenküste auf und ab wandern. Sie wühlen im Seegras nach Mollusken, suchen unter Steinen nach brackigem Wasser. Es ist an der Zeit, Lucretia aus ihrem Exil zu erretten. Was die anderen betrifft, so versuche ich die Lage abzuschätzen. Welche Verzweiflung diese Frauen überkommen wird, wenn sie schwach werden wie neugeborene Kätzchen, wenn sie an ranzigen Wasserpfützen ihren Durst stillen. Die Kin‐ der besonders. Sie werden nicht einmal die Kraft haben, ihre Toten zu begraben. Bei der letzten Zählung war die Anzahl der Männer hier auf fünfundsechzig gesunken, meine Jünger natürlich nicht eingeschlossen. ■
Fast jede Nacht lenkt Orion seinen Wagen am Fixpunkt des östlichen Himmels auf einen leuchtenden Nebel unbekann‐ 272
ter, willkürlicher Sterne zu. Der Mensch hat eine solche Ge‐ staltlosigkeit wie in diesen chaotischen Konstellationen nie ertragen können. Ohne die Beständigkeit des Polarsterns ha‐ ben die hastenden Himmel ihre Bedeutung verloren. Die Planeten sind auf die Seite geworfen, aus ihrer Achse gerutscht, und die bekannte Welt steht Kopf. ■
Wouter und De Beere machen sich einen Spaß daraus, vor der Baracke im Hauptlager herumzulungern. «Jesus war ein Greis in Kinderkleidern», schreit Wouter. «Und der Vater der Lüge.» Er weiß nicht, dass ich ihn aus den Schatten heraus beob‐ achte, während er eine vollendete Parodie meiner Worte gibt. Voller Stolz, Übermut und Trotz blickt er zu De Beere hinüber und feixt. De Beere starrt ihn bewundernd und entgeistert an. «Es gibt keinen Gott», flüstert Wouter. Mit ausgestreckten Armen wirbelt er in einem irrsinnigen Freudentanz um die eigene Achse, den Kopf in den Nacken geworfen, den Blick hinauf zu den Sternen gerichtet. «Es gibt keinen Gott», schreit er in triumphierendem Überschwang. Ein ängstlicher Ausdruck huscht über De Beeres Züge. Seine Schultern versteifen sich, fast duckt er sich in der Er‐ wartung, von einem feurigen himmlischen Blitz getroffen zu werden. Mit einem unwillkürlichen Schaudern blickt er in die Dunkelheit, die ihn umgibt. Wouter lacht, hämisch wie ein Schuljunge, der glaubt, sei‐ nen gestrengen Lehrmeister mit Spottnamen und Tinten‐ 273
spritzern aus dem Federkiel narren zu können. De Beere kichert. Er will hinter dem Mut seines Freundes nicht zurückstehen und schreit: «Gott ist tot.» Die Worte verhallen in der Nacht. «Ich erkläre alle Gebete und Sakramente für null und nich‐ tig», verkündet Wouter. Der Schneider und der Kalfaterer sind die Ersten, die voller Entsetzen die Köpfe aus der Baracke stecken. Anders als der Schneider, der seine Fäuste schüttelt, bedenkt der Kalfaterer Wouter mit einem vorwurfsvollen Blick. «Kind», sagt er, «Gebete sind das Einzige, was uns bleibt.» Wouter lacht ihm ins Gesicht. «Das ist Blasphemie!», schreit der Schneider. «Da spricht der Satan selbst!» Er will auf Wouter losgehen, doch der Kal‐ faterer hält ihn mit festem Griff zurück. Von dem Lärm geweckt, erscheinen nun auch der Koch und sein Lehrling in der Tür. Der Lehrling, ein ängstlicher Knabe, versteckt sich hinter seinem Meister. De Beere wiederholt meine neuesten Anweisungen. «Jeder, der auf dieser Insel beim Beten erwischt wird», er wirft dem Schneider einen zornigen Blick zu, «wird dem Generalkapitän gemeldet.» Entsetztes Schweigen. «Das ist ein Befehl des Generalkapitäns», sagt Wouter. «Er wird keinen Ungehorsam dulden.» Die Männer sind entrüstet und flüstern wild durcheinan‐ der, als sie in die Baracke zurückkehren. Ich lausche Wouters Gelächter, das durch die Dunkelheit schallt. 274
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m zweiundzwanzigsten Tag regnet es, ein heftiger, peitschender Regen, der die Wasserfässer bis zum Überlaufen füllt und den festgebackenen Matsch in unseren gähnenden Truhen aufwühlt. Er zaubert große, köstliche Kelche in den schlaffbäuchigen Ozean, der schnaufende Wellen an die Küste wirft, die hoch in die feuchte Luft steigen und nach mehr verlangen. Im Schutze meiner Gemächer beobachte ich, wie der Regen in Fontänen von den Blättern spritzt und sich auf dem gero‐ deten Land in tiefen Rinnsalen neben den Fußpfaden sam‐ melt. Der wohltätige Wolkenbruch hat unsere Bestände bereits aufgefüllt, ungefähr dreißig Wasserfässer, außerdem einige ehemalige Schweine‐ und Rindfleischfässer. Auch der Pegel in den Wasserlöchern ist gestiegen. Ich muss gestehen, dass meine Ungeduld mit den arbeits‐ scheuen Kaufleuten wächst, die zwischen den Fischzügen untätig auf den Felsen hocken und sich die Läuse aus den verfilzten Haaren klauben. Also werden sie auf meinen Befehl hin und unter Aufsicht meiner Jünger das Korallen‐ riff abtragen, um dort einen Ausguck zu errichten, denn für sie und für uns alle ist es das Beste, einen geregelten Tagesablauf zu wahren. Faule Meeresgaffer allesamt, haben sie sich in kürzester Zeit gehen lassen, haben jeglichen Sinn für die eigene Person verloren. Und dann der Dreck, das Ungeziefer – ein nicht zu tolerierender Anblick. Heute Morgen habe ich Wouter Anweisung gegeben, dass 275
den Kaufleuten die Köpfe zu scheren sind. Es ist eine Frage der Hygiene, von Anstand ganz zu schweigen. Sollten sie sich widersetzen ... nun, der Rat wird ihnen verständlich machen, dass es nur zu ihrem Besten ist. Und ich habe angeregt, den Männern in der alphabeti‐ schen Reihenfolge ihrer Namen Nummern zu geben. Umso leichter für den Rat, sie unter Kontrolle zu halten. Abgese‐ hen davon ist es eine echte Entlastung, sich nicht all die Namen merken zu müssen, all die Hanse und Jans. Carp ist jetzt für meine Toilette zuständig und für die Rei‐ nigung der weißen Seidenstrümpfe des Kommandanten und der weichen Leinenhemden, die so überaus geeignet sind für die Hitze der Tropen, und ich bin zufrieden, ihn mit allem Ernst bei der Arbeit zu sehen. Jeden Tag schrubbt er – schrubb‐schrubbe‐didubb – die Kleider im seichten Wasser, und inzwischen hat er begriffen, dass ein einziger Fleck ge‐ nügt, mein Missfallen zu erregen. Trotz der primitiven Umstände, unter denen wir hier leben, bin ich penibel und streng. Jeden Morgen bewundere ich mein Bild in einem Handspiegel aus Zinn, der einst als Handelsware geführt wurde. Ich stutze mir den Schnurrbart und reibe mir Koschenille auf die Lippen, und bei Todes‐ strafe bestehe ich darauf, dass der Rat es mir gleichtut. Die äußere Erscheinung, sage ich ihnen, ist alles. Weder auf dieser verlassenen Insel noch irgendwo sonst auf dem bekannten Planeten werden wir uns zu Barbaren herabwür‐ digen lassen. Wir sind keine Paviane, sondern Edelleute aus Amsterdam. Nach Geburt und Rang von den anderen unter‐ schieden, die zum Arbeiten aufs Riff geschickt werden. ■ 276
Gegen Mittag lässt der Regen nach. Die Sonne durchsticht den ausgebleichten Himmel. Die Insel dampft. Warmer, stil‐ ler Nebel verhüllt das graugrüne Buschwerk, hängt an jedem Farnwedel und jeder Blattspitze. Unten an der Küste marschieren meine Jünglinge auf und ab, die Säbel blitzen in der Sonne. Wie stolz sie sind auf ihre neuen, scharlachroten Uniformen, geschneidert aus den Samtvorhängen, die vom Wrack gerettet werden konnten. Jeder Ärmel und jede Epau‐ lette ist mit Goldbrokat besetzt. Am späten Nachmittag dringt Wouter unter einem Kranz aus Kletterpflanzen hervor wie eine Nymphe, wie mein ganz persönlicher Ariel von Prosperos Insel. Ich lege die Opium‐ pfeife beiseite. «Die Händler haben sich zuerst geweigert, sich rasieren zu lassen», sagt er, streicht sich das dichte blonde Haar aus der Stirn und geht neben mir in die Hocke. Sonnenlicht strömt durch das Blattwerk, Schweißperlen glänzen auf Wouters schmalen Schultern. Wieder einmal war mein Ratsvorsitzender ungehorsam und hat sich seines Hemdes entledigt. Ich muss ihn anhalten, das nicht noch einmal zu tun. Ich frage, ob der Rat dargelegt habe, dass die Männer aus Gründen der Hygiene rasiert werden sollten und dass ihre Namen nicht mehr benötigt würden, um Recht und Ord‐ nung aufrechtzuerhalten. Wouter klatscht auf eine Fliege an seinem Ellbogen. «Der Koch, der störrische Kerl, meinte, wenn der Rat den Menschen ihre Gebete nimmt, ihr Haar und ihren Namen – was bleibt ihnen dann noch?» Ich klatsche in die Hände vor Freude. Denn es ist nicht zu 277
leugnen, der Koch hat Recht. Jetzt fängt Wouter an, die Szene nachzuspielen. «‹Schande über Euch›, habe ich gesagt. ‹Wie könnt Ihr die Worte des Generalkapitäns in Zweifel ziehen, dem doch nur Euer Wohl und Wehe am Herzen liegt?›» Mit geschwellter Brust stolziert mein Jüngling auf seiner imaginären Bühne auf und ab. Er erzählt, De Beere habe sie daran erinnern müssen, wer und was sie einst gewesen seien – Kaufherren der Compagnie. Er habe ihnen sogar einen Spiegel vorgehalten, damit sie das Elend selbst sehen konn‐ ten. Er lacht. «Schließlich haben wir den Schneider dazu gebracht, jeden Mann mit seiner Schere so kurz wie ein Osterlamm zu scheren.» Doch als er zur Abschaffung der Namen kommt, schüttelt Wouter den Kopf. «Pelgrom war überzeugt, dass sie über uns herfallen würden», sagt er. «Er war drauf und dran, eine Ladung Schrot in die Luft zu feuern.» An dieser Stelle lege ich die Stirn in Falten, denn das Ab‐ feuern der Musketen ist strengstens verboten. Wouter be‐ merkt meinen Unmut und schenkt mir sein verführerisch‐ stes Höflingslächeln. «Gerieben wie sie sind, wollten sie sich nur dann Num‐ mern aufs Revers nähen, wenn im Gegenzug das Gebetsver‐ bot aufgehoben würde.» «Und Eure Antwort?» «Ich sagte, dass genau diese Vorschrift des Rates die aller‐ wichtigste sei und niemals gebrochen werden dürfe.» Ich hebe mein Weinglas. Seltsam, wie einfach es ist, diesen Kaufleuten allen Mut und alle Gegenwehr zu nehmen. 278
«Ihr habt Eure Sache gut gemacht.» ■
Jede Nacht beobachte ich die Kaufleute durch die Schlitze in der aus groben Planken zusammengehauenen Wand der Ba‐ racke, wie sie die Dochte in den Stumpen gestohlener Kerzen entzünden. Man wird sie zur Rechenschaft ziehen. Auch die Ehrenwerte Vereenigde Compagnie würde solch kleinliche Diebereien ächten. Wouter wird davon erfahren müssen. Die Männer liegen keuchend und schlaflos auf ihren Bettstätten wie Hähne im Hühnerhaus in jenen schläfrig schleichenden Stunden, in denen Kreuzottern und Ratten ihr Unwesen treiben. Ich atme ihre Angst mit dem sauren Geruch ihres Schweißes ein, dem beißenden Gestank der Urinpfützen hinter ihren Lagern. Ich höre die Angst im verstohlenen Flüstern von Flucht. «Wir werden das Floß klauen», wispern sie, «und zur Berginsel fahren.» Ich, der ich nicht schlafen kann und ruhelos daraufwarte, dass Sirius, meine Sonne, aufgeht, ich genieße ihre Angst. Ich schleiche um die Baracke wie ein Wolf. Ich lache in die übervollen Himmel, die ihren sinnentleerten Sternenballast gen Westen schiffen. 279
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m dreiundzwanzigsten Tag verläuft der Raubzug mei‐ ner Jünglinge zur Seehundinsel nicht so reibungslos, wie ich es mir gewünscht hätte. Statt Lucretia meinen Anweisungen entsprechend zu er‐ greifen, haben die Jünglinge, wie Wouter sagt, die Nerven verloren, als die Schiffbrüchigen auf sie losstürmten. Einige der Frauen sind in die Wellen gerannt und haben das Floß beinah zum Kentern gebracht, als sie an Bord zu klettern versuchten. Andere wollten Wouter und De Beere ins Was‐ ser zerren. Jacop hat beim Staken in einer Untiefe den Halt verloren und ist ausgerutscht. Einer der Ratsherren stürzte sich auf ihn und drückte ihn, der wild um sich schlug, unter Wasser. In diesem Durcheinander war Lucretia zunächst nirgends auszumachen, und da meine Burschen um ihr Leben fürchteten, hatten sie keine andere Wahl, als das Feuer zu eröffnen. Einige der Insulaner konnten entkommen. Eine unbekann‐ te Zahl ist in die Büsche geflüchtet oder hat sich ins Wasser geworfen. Die Ratsherren und vier Frauenzimmer wurden auf Holzplanken treibend jenseits der Dünung gesichtet. Ich werde meine Jünglinge noch einmal schicken müssen. Doch wenigstens haben uns die Flüchtigen einige Arbeit erspart: denn wer kann hoffen, diese haiverseuchten Gewässer sicher zu durchschwimmen? Bei Nacht und Nebel kehrten Wouter und meine Jünglinge zurück und legten an der jenseitigen Küste der Landzunge an. Carp kam, mich zu holen, und marschierte mit großen, 280
platschenden Schritten über die Felsen voran, sodass ich dem flackernden Lichte seiner Wachskerze folgen musste. Während ich von Fels zu Fels stolperte und auf schleimi‐ gen Algen ausrutschte, während die sprühende Gischt uns zu durchnässen drohte, verfluchte ich diesen Irrsinn, die un‐ begreifliche Heimlichtuerei, bis ich endlich in einem Licht‐ kranz opaleszierender Nebelschwaden das Floß erblickte. Mit aller Kraft stemmte sich De Beere gegen die Stake, die in einer Felsspalte im Riff steckte. Und dann begriff ich. Sieben Frauenzimmer kletterten vom Floß. Als ich sie sah, erhellte ein Lächeln mein Gesicht – endlich war mir meine schöne Dame zurückgegeben, nicht allein, wie ich geplant hatte, aber doch gesund und wohlbehalten. Dennoch – ohne mich zu konsultieren, hat mein lüsterner Ratsvorsitzender der Versuchung dieser sechs Weiber nach‐ gegeben, die allesamt Augenzeugen der Schießerei gewor‐ den sind, was bedeutet, dass sie hinter Schloss und Riegel und unter dauernder Bewachung gehalten werden müssen. Und wer soll das Wouters Ansicht nach übernehmen? Er tut gut daran, mir einen vorsichtigen Blick und ein reuiges Grinsen zuzuwerfen, als er die Herde jugendlicher Bräute an Land führt. Doch ich muss eingestehen, dass es anständige Mädchen sind, und könnte man ihnen ein Lächeln ent‐ locken, wären sie sogar hübsch anzuschauen. Dann treibt Wouter die Frauenzimmer mit dem Büffelle‐ dergriff seiner Peitsche vorwärts. Sie stehen knöcheltief im glatten, grauen Wasser und drängen sich ängstlich aneinan‐ der, die Nüstern gebläht wie Vieh, wenn es plötzlich und unerwartet um eine unbekannte Ecke und durch das Schlachthoftor getrieben wird und zum ersten Mal den 281
Geruch des eigenen Blutes wittert. Ich bin nicht aus der Dunkelheit vorgetreten, habe nicht die Hand ausgestreckt, sie zu begrüßen, habe Lucretia nicht in meine Gemächer geführt, denn zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass ich es genoss, sie wie die anderen behandelt zu sehen, wie eine Konkubine, die brüderlich von uns allen geteilt wird. Carp sagte ich, dass die Frauen unverzüglich in die Vor‐ ratskammer neben meiner Unterkunft zu bringen seien, wo die Hochzeitsfeiern stattfinden sollen. Ich wies Pelgrom an, mit der Muskete bewaffnet vor der Baracke der Kaufleute Wache zu stehen. Dann stahl ich mich ungesehen davon in die schwindende Dunkelheit der Nacht. ■
Als die aufgehende Sonne wie Eigelb über dem Horizont zerrann, trafen meine tapferen Ratsherren einer nach dem anderen ein. Geputzt und in Uniform, standen sie schwei‐ gend und feierlich da. Wouter war der erste im Vorratsraum, als ich den Holzrie‐ gel der Tür schließlich zurückschob. Zusammengebunden wie dressierte Truthennen kauerten die Frauen in der Mitte des Raumes und blinzelten in die Strahlen der matten Morgensonne, die durch die Ritzen drangen. De Beere war klug genug gewesen, sie mit alten Lumpen zu knebeln. Als wir uns näherten, gaben sie aus tiefster Kehle ein Stöhnen von sich. Wouter ließ die Frauen vor den Fässern mit gepökeltem 282
Schweinefleisch an der Rückwand der Hütte Aufstellung nehmen. Welch eine Augenweide. Selbst ich konnte meine Bewunderung nicht verhehlen, wie sie so Seite an Seite und an Händen und Füßen gefesselt dastanden. Die Ratsherren spazierten auf und ab und nahmen ihre künftigen Gattinnen in Augenschein. Sie lösten die Knebel, steckten ihnen einen Finger in die zarten Münder und prüften die perlweißen Zähne. Sie nahmen Maß an Fußknöcheln und Handgelenken und legten ihnen die Arme um die schlanken Hüften. Zu guter Letzt entschied sich Wouter für ein Mädchen mit rabenschwarzem Haar, etwas blass um die Nase für meinen Geschmack, aber keine schlechte Wahl. De Beere war ver‐ krampft und unentschlossen. Er wanderte von einem Weib zum nächsten. Carp hüpfte in der Hütte umher und plap‐ perte unsinniges Zeug vor sich hin. Die Frauen zuckten vor den Berührungen zurück und er‐ schauderten schweigend. Ihre bleichen Züge und das unter‐ würfige Erdulden ließen mich an Heiligenfiguren aus Gips denken. Später gab ich Wouter Anweisung, in einiger Entfernung vom Lager und im dichten Gebüsch einen Konkubinenzwin‐ ger zu errichten. ■
Ich habe meine Braut huldvoll empfangen, das versteht sich von selbst. Bleich und ausdruckslos wie eine Puppe sitzt sie in meinen Gemächern. Sie ist schlank. Die Rubensbrüste und ‐schenkel hat sie verloren, die Grübchen an den cherubini‐ 283
schen Hinterbacken, die ich so verabscheue. Sie wird den Anforderungen genügen. Ich werde ihr das lange, rote Haar bürsten. Werde ihr die Ratsuniform an‐ und ausziehen. Werde sie nackt vor mir auf und ab marschieren lassen, bekleidet nur mit dem Hut des Kommandanten. 284
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m vierundzwanzigsten Tag sichte ich sehr zu meiner Überraschung Rauch in der dünnen blauen Luft über der Berginsel. Entgegen allen Erwartungen haben unsere Spielzeugsoldaten offensichtlich Wasser gefunden. Denn an‐ dernfalls hätten sie unmöglich so lange überlebt. Wieder eine Wolke, die sich im Winde bläht. Stellt sich die Frage, was tun mit ihnen. Verdammt sei Wouter. Erst versichert er mir, dass es auf dem Eiland der Soldaten kein Wasser gebe, dann dieser Pfusch auf der See‐ hundinsel, wo er zahlreiche Augenzeugen entkommen lässt. Wenn es auf jener Insel Wasser gibt, warum hat Hayes dann nicht innerhalb der vereinbarten Frist Feuer entzün‐ det? Und andererseits, wenn mein misstrauischer Hayes Lunte gerochen hat – er hatte immer etwas Grüblerisches an sich, das mir noch nie gefallen hat –, wenn er sehen wollte, ob ich mich treu an unsere Vereinbarung halte und das Floß schicke, um sie zu holen, warum dann jetzt das Feuer? Es sei denn, natürlich, die Flüchtigen der Seehundinsel haben es irgendwie geschafft, sich seinem Mob anzuschließen. In welchem Falle die Rauchzeichen nichts anderes bedeuten als eine Kriegserklärung. Hayes ist Soldat mit Leib und Seele, wie muss er es da be‐ dauern, zahlreiche Musketen zurückgelassen zu haben. Was glauben diese Narren gegen unsere Artillerie ausrichten zu können? Regierte hier ein Tyrann, sie würden nach Kriegs‐ recht verurteilt und an den nächsten Baum geknüpft. Ich je‐ doch, der mildtätige Herrscher über dieses mein entlegenes 285
Reich, ich werde den Soldaten goldene Brücken bauen, werde ihr Vertrauen gewinnen. Denn Zwistigkeiten zwischen uns würden nur meinen Plan zunichte machten. Womöglich würden sie das Rettungsschiff vor uns warnen. Ich werde Wouter mit dem dreifachen Sold hinüberschicken, dem Gold der Compagnie. Ich kenne den Weg in ihre Herzen, insbe‐ sondere das der französischen Söldner, die frei nach dem Gewicht des Goldes in ihren Taschen die Seiten wechseln. 286
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m fünfundzwanzigsten Tag hängt blauer Rauch wie ein Gazetuch über der Berginsel. Sie entzünden immer noch neue Feuer. Heute Morgen sind meine hohlköpfigen Unterhändler von der Insel der Soldaten zurückgekehrt – geschlagen. Wouter sagt, das Floß sei auf das Riff gelaufen und sie hätten den rutschigen Weg über schlickige Seealgen zu Fuß fortsetzen müssen. Dann hätten die Soldaten aus dem Hinterhalt mit primitiven Katapulten Steine auf sie geschleudert. Und wie ich vermutet hatte, haben es tatsächlich einige Flüchtige von der Seehundinsel zu ihnen geschafft. Sie haben weder Fleisch noch Wein, ihre Uniformen sind in Fetzen gerissen. Wie um alles in der Welt können Hayes und seine Männer da eine solche Widerstandskraft an den Tag legen? Doch gewiss haben meine Jünglinge nicht den richtigen Ton getroffen, und in diesem Winkel der Welt hat sogar Gold seinen Wert verloren. Ich werde sie mit Brot und Decken zu verführen suchen. ■
Ich tauche meine Feder in die letzte Tinte und wäge meine Worte sorgfältig ab. Verehrter Wiebbe Hayes, geliebte Brüder und Freunde, fange ich an. Je mehr wir uns Eure vorherige Treue und brüderliche Freundschaft in Erinnerung rufen, umso mehr muss es uns verwundern, dass Ihr – die Ihr auf meine Bitte hin bereitwillig 287
ausgezogen seid, die Berginsel zu erforschen – uns so lange kein Zeichen gegeben habt. Mehr noch, fahre ich fort, mutet es seltsam an, dass Ihr augen‐ scheinlich den Verleumdungen der Verbrecher Euer Gehör geschenkt habt, welche hier wegen Meuterei zum Tode verurteilt worden waren und ohne unser Wissen zu Euch gelangt sind. Nun denn, geliebte Brüder, lasst uns einen Waffenstillstand schließen, damit der Gerechtigkeit genüge getan werden kann. Wenn Ihr dieses Schreiben erhalten habt, wird Wouter innerhalb von fünf Tagen mit dem Floß zurückkehren, um Eure Antwort entgegen‐ zunehmen. Ich unterzeichne mit schwungvoller Geste. 288
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ie immerwährende Hitze wird langsam drückend. Tag für Tag verjagen Piratenwinde alle Wolken von den flachen, frigiden Himmeln, die uns mit ihrer Unfrucht‐ barkeit verhöhnen. Wie ich mich sehne nach den frucht‐ baren, fröhlichen Vereinigungen von Luft und Nebel, den ersten Tropfen duftenden Sommerregens, die den Staub von den Blättern der Lindenbäume spritzen und das Kopfstein‐ pflaster in den Straßen Amsterdams mit Blattern übersäen. Das Schweigen meines Weibes wird mir langweilig. Sie sitzt reglos auf dem Bett unter dem einzigen Moskitonetz, das aus dem Wrack gerettet werden konnte. Ich, Kavalier, der ich bin, ich verbringe meine Nächte in einer Hänge‐ matte, die von den Querbalken rechts und links der verrie‐ gelten Tür baumelt. Meine Gattin hat einen aparten, aristokratischen Namen. Lucretia. Wie die tragische Heldin eines romantischen Melo‐ drams. Und sie ist tragisch, wie sie so bleich dasitzt. Eine Dame in Not. Für die tapfere Ritter Drachen erlegen, Riesen den Kopf abschlagen und den Heiligen Gral Heiligen Gral sein lassen würden. Stell dir nur die Freudenschreie des Theaterpublikums vor, das auf billigen Parkettplätzen seine Bonbons lutscht, wenn du, Lucretia, von meinen wilden, ungestümen Jünglingen, zuweilen selbst nicht allzu sanft im Umgang mit Axt und Säbel, aus den Klauen des Todes befreit wirst. Gerettet für das große Finale mit dem gut aussehenden Helden, der in 289
scharlachroter Goldbrokatuniform in die Mitte der Bühne schreitet. Hör nur den rasenden Applaus. Lucretia ist ein netter Name, nur für meinen Geschmack viel zu dramatisch für unser sanftes Idyll, diese paradie‐ sische Pastorale. Ich sollte sie Marie nennen. Marie die Mario‐ nette. Was spielt es schon für eine Rolle? Sie würde auf keinen der beiden Namen antworten und ihr stolzes Patri‐ zierprofil zur Wand drehen. ■
Heute Morgen badet Carp meine Braut in Rosenwasser, malt ihre Lippen zu Cupidos Bogen, bürstet ihr wallendes Haar, bis es wie eine Flamme lodert und knistert. Noch immer kein einziges Wort. Carp gerät bei der Arbeit ins Schwitzen. Seine Hingabe sollte belohnt werden. Er darf die Dame küssen. Eifrig klebt der kleine Carp sein fratzen‐ haftes Grinsen auf ihre Finger. Ah – eine Regung. Sie zuckt zusammen und zieht die Hand weg. Grausame Gebieterin, Ihr solltet freundlicher sein zu die‐ sem liebeskranken Trottel. Seht nur, was Ihr aus ihm gemacht habt. Der Sabber läuft ihm aus dem schiefen Mund. Ein Kuss, meine Liebe, nur ein einziger Kuss. Aber nein. «Zieh sie an, Carp», sage ich. Gehorsam hebt Carp ihre Arme. Zieht ihr die seidenen Unterröcke über den starrsinnigen Kopf. Knöpft meinem be‐ törenden Püppchen das Unterkleid zu, hüllt sie in die Ge‐ wänder der Toten. Ich entlasse Carp und blicke ihm nach, wie er den Hügel hinab zu seiner Kindfrau trottet, die mit den anderen gefes‐ 290
selt in der Konkubinenhütte hockt. Denn, wie ich schon sag‐ te, alle Ratsherren sollen gleichen Anteil haben an den Ratio‐ nen, den Handelswaren, den beweglichen Gütern. ■
Ich sollte mich zurückziehen. Dann kann sie dem Gesang der Vögel draußen lauschen und von ihnen das Trillern und Jubilieren lernen. Doch es ist an der Zeit, dass meine Frau und ich ein ernstes Wort miteinander reden. Ich schenke zwei Gläser Burgun‐ der ein und ziehe einen Stuhl ans Bett. Lucretia wendet ihr Gesicht ab. Behutsam hebe ich das Moskitonetz. Sie kauert sich an die Wand. Ich möchte sehen, wie sie spricht, möchte ihre Lippen betrachten. Ich verzehre mich vor Verlangen nach meinem verlorenen grünäugigen Mädchen. Sie fängt an zu zittern. Womöglich hat mein armer Lieb‐ ling Angst. Ja, es ist an der Zeit für ein Gespräch, und es gibt viel zu sagen. Sie versteift sich, aber sie widersetzt sich nicht. Ich drücke ihr ein Weinglas in die kalte Hand und dränge sie sanft, ganz sanft, einen Schluck zu nehmen, was sie tut. Dann noch einen. Zuvörderst entschuldige ich mich für das primitive Quar‐ tier in ihrer ersten Nacht auf dieser Insel. «Die Härten des Lebens hier haben die Männer verrohen lassen», sage ich. «Ihr wurdet allein zu Eurer eigenen Sicher‐ heit im Lagerhaus untergebracht.» Sie sitzt zusammengesunken da, aber ich weiß, dass sie zu‐ hört. Sie sagt kein Wort, ihren Blick hat sie auf die verriegelte Tür geheftet. 291
«Fürchtet Euch nicht», flüstere ich. «Ich habe bei meiner Seele geschworen, Euch zu beschützen, und ich versichere Euch, es gibt hier keine sicherere Festung als diese Gemä‐ cher.» Sie schaut mich von der Seite an, dann wendet sie den Blick wieder ab. Ich betrachte sie. Sie presst ihren dünnen, kindlichen Kör‐ per gegen die Wand und umklammert das Weinglas, als hätte sie noch nie zuvor eines in Händen gehalten. Ich schaue zu, wie sie einen weiteren Schluck nimmt. Ich sehe sie an. Ich höre nicht auf, sie anzusehen. Sie hat et‐ was Unwirkliches an sich. Ich will jeden ihrer Atemzüge ein‐ saugen. Doch ihr Schweigen weist mich ab, sodass ich meine Hände um ihren zarten, blaugeäderten Hals legen möchte. Wenn sie mir nur Einlass gewährte in ihren Geist. Wenn sie nur spräche. Doch nicht ein Wort. In ihrem ausdrucks‐ losen, abgewandten Gesicht steht nichts zu lesen, keine Gefühle spiegeln sich in ihren großen, leeren Augen. Meine Herrin ist eine Maske. Ich sehne mich danach, ihr die Maske herunterzureißen und ihr nacktes Gesicht zu sehen. Aber wie? Wenn sie doch nur spräche, denn dies sind seltsame Spiele in der Dunkelheit. Wouter erzählte, er habe sie an der jenseitigen Küste der Seehundinsel gefunden, ein totes Kind im Schoß. Ich wäge meine nächsten Züge ab. Wie kann ich diese Da‐ me schlagen? Als rechtmäßiger Kaiser wäre es ein Leichtes für mich, sie zu besitzen. Die schlanken Schenkel sanft zu spreizen, die kindlichen Brüste zu berühren – aber ich tue es nicht. Denn wo liegt der Reiz, es zu erzwingen? Ebenso gut könnte ich eine jener bunten, paillettengeschmückten 292
Puppen nehmen, die mein Freund Torrentius ersonnen hat, Holzfiguren mit fransigem Haar und seidengepolsterten Brüsten. Nein – diese Gattin stellt eine echte Heraus‐ forderung für mich dar. Am Ende wird sie mich lieben. Also. Wie kann ich Lucretias Vertrauen gewinnen? Denn viel lieber würde ich eine Königin krönen, als meine Gattin wie eine Gefangene zu halten, die auf dem blätterbestreuten Boden kauert. Doch ich habe ihre Stärke geschätzt, ihren Willen gewogen. Nur unter Zwang würde sie sich meinen Wünschen beugen und das Zepter entgegennehmen. Wenn ich so darüber nachdenke, wäre es ein Leichtes, Wouter zum Feind zu machen, zum Schurken in diesem Stück. Ich könnte ihr erklären, dass Wouter und seine Horde irrer Helfershelfer den Verstand verloren haben. Wahnsinn singt in ihrem Blute, seit sie die Kontrolle über diese Insel an sich gerissen und mich zu ihrer Marionette gemacht haben, mit dem schwachsinnigen Carp als Wächter. Ich könnte sie in die Arme nehmen und sie beschwören, die Augen nicht vor der tödlichen Gefahr zu verschließen, ihr begreiflich machen, dass wir uns als eine der ihren ausgeben müssen, dass wir und mit unserer Hilfe vielleicht auch andere nur dann überleben können, wenn wir mit dem Feinde pak‐ tieren. Ich würde ihre wortlosen Lippen küssen, meine Wange an die unaussprechliche Zartheit ihrer Haut schmie‐ gen und ihr Mut zusprechen, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Rettungsschiff eintrifft. Ein verführerisches Szenario, keine Frage, und Wouter die Rolle des Bösewichts anzudichten, wäre ein gerissener Schachzug. Doch meine eigene Rolle überzeugt weniger. Es mangelt ihr an Gewicht. Ich kann mir nicht helfen, es will 293
mir einfach nicht gelingen, mich in der Rolle des vom Schicksal gebeutelten Helden zu sehen. Nein, sie soll mich für das lieben, was ich bin: Generalkapi‐ tän dieser Insel. Ich muss Lucretia ihre Freiheit wiedergeben, den Türriegel zurückschieben, sie aus eigenem freien Willen wählen lassen, ob sie bei mir, ihrem Beschützer, bleiben oder ihr Glück mit Wouter und seinen Männern versuchen will. Ich werde ihr sagen, wie die Dinge liegen, und sie wird mir zuhören. Ich erkläre ihr, dass diese Insel ein gefährlicher Ort ist und meine Stellung als Gouverneur derselben keinesfalls eine leichte. Tag für Tag werden wir von langfingrigen Überle‐ benden belogen und betrogen. Meine heißblütigen Rats‐ herren sind es gewohnt, zu bekommen, wonach ihnen der Sinn steht, erlauben sich alle Freiheiten mit den Vorräten an Alkoholika und lösen Streitigkeiten im Rate mit geschärften Klingen. Ich teile ihr mit, dass es ihr freistehe, bei wem auch immer Schutz zu suchen. Und ich weise sie daraufhin, dass, sollte sie die Sicherheit dieser Gemächer verlassen, ich für keinerlei Unbill, die ihr widerfahren mag, zur Verantwor‐ tung zu ziehen wäre. Jetzt sieht sie mich an. Der Blick ihrer großen, dunklen Augen dringt mir ins Herz. «Wisst Ihr, warum Ihr hierher gebracht wurdet?», frage ich. Wieder verharrt sie in Schweigen. Nicht das leiseste Auf‐ flackern von Gefühlen in ihrem Gesicht. Sie schwenkt den restlichen Wein in ihrem Glase und nimmt einen verstohle‐ 294
nen Schluck, noch einen, bis nur noch blutroter Bodensatz übrig ist. Sie starrt auf die Tröpfchen, als handle es sich um kostbarste Juwelen. Wie Perlen auf einem Abakus lässt sie sie von einer Seite zur anderen rollen. Wieder blickt sie zu mir. Sie will, dass ich sie anschaue. Und das tue ich, unfähig, den Blick von ihr zu wenden. 295
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m achtundzwanzigsten Tag, als ich meine Ratsherren in ihren neuen scharlachroten Uniformen am Strand marschieren lasse, bemerke ich ungewöhnlich viele Haie in der Nähe des Riffs, die jedes Mal einen blauen Lichtstrahl in die Luft schicken, wenn sie an die Oberfläche kommen. Auch Seeschwalben fliegen in Scharen herbei. Schwärmen wie Bienen über den Wellen und verstören meine Jünglinge, deren Nerven in letzter Zeit bloß zu liegen scheinen. Beim Frühstück lege ich meiner Frau, die noch immer still ist und ohne ein Lächeln, sechs der größten Austern auf den Teller. Sie starrt auf den Ozean hinaus, der von Haifinnen durchpflügt wird. Um uns herum das Schlagen von Schwal‐ benschwingen. Wouter hat einen Arm über seinen Teller ge‐ legt, als fürchte er, die Vögel könnten uns das Essen vom Ti‐ sche klauen. Es gibt ihm etwas Verstohlenes, das mir nicht gefällt. Eine Wolke von Seeschwalben steigt in Spiralen in die Luft. Anscheinend streiten sie um Fischeingeweide, die wie blass‐ rosa Wimpel aus ihren Schnäbeln flattern. Ich kann nicht umhin, die erbarmungslose Pracht ihres Fluges zu bewundern. Sie kreischen und hacken aufeinander ein, während sie auf uns zufliegen. Ein zäher, blutiger Fetzen Haut plumpst in den Teller mei‐ ner Gattin. Bei ihrem Schrei fährt Wouter zusammen. Ich nehme den fleischigen Knorpel auf die Gabel. Bemer‐ kenswert. Das Ohrläppchen, von einer einzelnen Perle durchstochen, ist unversehrt. Ich erinnere mich gut an sie, 296
sie war mollig und weich wie Eva. Meine Ratsherren sitzen mit gesenktem Kopf da. Ich bin mehr amüsiert als enttäuscht, dass Pelgrom heimlich das Knie beugt. Gebete werden ihm jetzt nicht helfen. 297
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m neunundzwanzigsten Tag wird mir bewusst, wie viel Zeit ich auf dieser Insel mit Warten zubringe. Ich warte darauf, dass das Rettungsschiff eintrifft. Dass meine Frau spricht – doch noch immer kein Wort. Auf die täglichen Berichte über kleinliche Diebereien und Übertretungen. Dass Wouter endlich ablässt von den Ehefrauen. Tag und Nacht fällt er über sie her wie ein Bulle. Doch ich gönne ihm sein Vergnügen. Obschon ich ihn lieber an meiner Seite hätte. Dass der Ausguck fertiggestellt wird. Die Korallenberge auf dem Strand wimmeln vor Sandfliegen und verrotten wie ein Haufen Dung. Aber ich habe mir nie viel versprochen von diesen Goldzählern und Indigohändlern, die nicht wissen, was harte Arbeit bedeutet. Mehr Vieh als Menschen. Nun, dem Kalfaterer kann man bereits durch die Rippen blasen. Jeden Morgen stolpern sie über die eigenen Füße, um mit De Beeres Hornsignalen Schritt zu halten. Ich habe De Beere beobachtet. Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst. Er ist ein gu‐ ter Aufseher, der seine Freude hat am Knallen der Peitsche und an den Hieben, die er austeilt. Und er legt eine große Neugier für menschliches Leiden an den Tag. Er handelt nicht etwa aus Hass oder Wut, vielmehr ist er neugierig herauszufinden, wie man mit einem bestimmten Schlag der Peitsche den Schorf von einer Wunde schnippen kann. Ich würde es eine wissenschaftliche Studie nennen. Und er 298
gibt einen eifrigen Studenten ab. Seine Begabung zeigt sich nicht nur an der Peitsche, er vermag auch den richtigen Ton zu treffen, um einen Menschen zu brechen. «Wer braucht einen Schlag ins Gesicht?», brüllt er. «Na los, ich warte.» Wenn einer der Männer, Stoffel der Kalfaterer zum Bei‐ spiel, das Jammern beginnt, weil er sich am Riff die Hände blutig reiße, wird er vor die anderen gezerrt. «Wie ist deine Nummer?», schreit er. «Wer bist du?» Wenn einer den Fehler macht, seinen Beruf zu nennen, spuckt er ihm ins Gesicht. «Hier bist du ein Nichts, vergiss das nicht.» Wenn er einen Bummelanten erwischt, der mit spitzen Fingern Korallenkrümel sammelt, knüpft er sich den Kerl vor. «Du Dreckschwein», schreit er. «Ich habe dich schon die ganze Zeit beobachtet. Ich werde dir zeigen, was Arbeit be‐ deutet.» Dann stürzt er sich wie ein Leopard auf den Mann und drückt ihn mit dem Gesicht ins seichte Wasser. «Mit den Zähnen sollst du graben.» Er reißt den Mann wieder hoch, der keuchend nach Luft schnappt. «Wie ein Köter sollst du verrecken.» Das Seltsamste ist, dass die anderen in ihrer eintönigen Plackerei fortfahren und weiter Korallen vom Riff brechen, ohne von der Not ihres Kameraden Notiz zu nehmen. Das Mitleid ist ihnen abhanden gekommen. De Beere ist nicht nur ein vorbildlicher Student, sondern auch ein tüchtiger Schulmeister. Es scheint eine Ewigkeit her 299
zu sein, dass ich den wütenden Pöbel mit Begräbnissen und Gebeten in der Abenddämmerung besänftigen musste. Seht sie euch jetzt an. Gefügig wie Streichelhasen. Gehorsam wie Schafe im Pferch. Wieder drückt De Beere den Kopf des Unglücklichen unter Wasser, dann zerrt er ihn auf die Füße. Der Mann schwankt traurig und verlassen hin und her, als tanze er zu einer halb vergessenen Melodie. Vielleicht vermisst er sein Weib. Ge‐ fesselt an einen Pfahl im Konkubinenzelt! Denn sie wissen noch immer nichts von unseren Neuankömmlingen. Wohl‐ behalten hinter Schloss und Riegel. ■
Bei der letzten Zählung war die Zahl der Gefangenen auf zweiundvierzig gesunken. 300
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m dreißigsten Tag gieße ich Wasser in meine Achatvase und sehe irisierende, ölige Wirbel, die an die Oberfläche steigen. Unser Wasser wird faulig. In Anbetracht der Hitze und ohne die Hoffnung auf Regen aus den leergefegten Himmeln müssen wir baldmöglichst eine Allianz mit Hayes auf der Berginsel schließen, um unsere Kräfte zu bündeln und die Vorräte zu teilen. Heute werde ich Wouter mit dem Floß schicken, um Hayesʹ Antwort auf meinen Brief zu holen, welcher für meine Begriffe alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt hat, die möglicherweise einst zwischen uns standen. Es ist zu meinem Vorteil, dass Hayes ein so vernünftiger und praktischer Mensch ist. Gewiss ist er der Letzte, der den überhitzten Phantasien hysterischer Weibsbilder Gehör schenkt. Zeternde Xanthippen eine wie die andere, die da zusammen mit den ehemaligen Ratsherren vor meinen Jünglingen zur Berginsel geflohen sind. Welcher Mann von klarem Verstand würde ihre Wahnvorstellungen für bare Münze nehmen, ihr irrwitziges Gefasel von Säbeln und Meuchelei? Hayes und ich werden ein Geschäft abschließen. Er wird Wasser schicken und ich Vorräte. ■
Mein Weib liegt zusammengerollt unter dem Moskitonetz auf dem Bett. Apathisches Miststück. Ich habe sie mit sanf‐ 301
ten, schmeichelnden Worten und Zärtlichkeiten hofiert. Kein böses Wort, keine Züchtigungen. Ich habe mich als vollen‐ deter Kavalier erwiesen, ritterlich bis zum Letzten. Ich habe ihr auch ihre Ruhe gelassen. Sie findet Trost in der Einsam‐ keit und hat keine Veranlassung zu vermuten, dass in den Schatten Spione stecken, Spinnen in der Dunkelheit lauern. Von allen Überlebenden auf dieser Insel speist sie die feinsten Delikatessen: pochierte Möwenbrust, Fischfilet, die kostbaren Vorräte der Batavia, gepökeltes Rindfleisch, Räucherschinken, sogar Eier von holländischen Hühnern. Und diese saftigen Opfergaben nimmt die schöne Dame entgegen. Von Vornehmheit keine Spur. Sie packt das Essen mit den Händen und schlingt es herunter wie ein Hund, ob‐ wohl man ihr einen Holzlöffel gegeben hat. Messer habe ich natürlich verboten. Die kleine Feinschmeckerin kann den Delikatessen, die ich ihr biete, nicht widerstehen. Nach jeder Mahlzeit rülpst sie wie eine gewöhnliche Bordellhure. Manchmal glaube ich, sie führt sich so auf, um mich zu ärgern. Sie weiß, dass es mir nicht gefällt. Heute setze ich das Tablett neben ihr aufs Bett. Schinken aus den Hinterbacken der hoppelnden Tiere, von Wouter mit großem Geschick im Buschwerk gefangen und von Carp perfekt zubereitet; einen Teller Korallenfisch, knusprig wie Karausche, und ein Dutzend Austern. Immer wenn ich diese Festessen hereinbringe, kommt mein Weib über das Bett gekrochen und kauert sich auf die Knie. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, streckt sie die Hand aus, schnappt sich das Tablett und gleitet schnell wie eine Schlange auf ihren üblichen Platz an der Wand zurück, 302
um sich an ihrer Beute gütlich zu tun. Wie sie nagt und knabbert und kaut. Mir dreht es den Magen um. Dabei bin ich sicher, dass Lucretia in ihrem früheren Leben beim Mittagessen – in der Stunde zwischen Petit point und Spinettunterricht, zwischen einer Partie Landsknecht und einem Besuch der Pfarrersfrau – ihr Brot mit Spitzenhand‐ schuhen in kleine, akkurate Krümel zerbröselte und mit matter Geste zum Munde führte. Sie nippte am Kräutertee und setzte das Tässchen ohne das leiseste Klirren oder Klappern auf die Untertasse. Mit silbernem Obstmesser schälte sie Pampelmusen, entkernte Granatäpfel und zer‐ teilte eine Birne. Sie schnitt kleine Törtchen in elegante, waffeldünne Scheiben und schob die Krümel auf ihrem Teller zu höflichen Häufchen zusammen. Wenn das Haus‐ mädchen in Rüschen und Haube durch den Salon getrippelt kam, um den Kirschholztisch abzuräumen, wenn die Teller beiseite geschafft und die gestärkte weiße Tischdecke gefaltet war, die nicht ein einziger Tropfen Bier, nicht ein Butterfleck verunzierte, tupfte sich mein Weib die makellos geschminkten Lippen mit einer nach Lavendelwasser duf‐ tenden, bestickten Serviette. Seht sie euch jetzt an. Im Schneidersitz auf zerknüllten La‐ ken, den Rücken an die Wand gelehnt. Wie eine Raubkatze beobachtet sie mit weit aufgerissenen Augen, wie ich den Wein einschenke, ganz langsam, einen rubinroten Tropfen nach dem anderen. Ich atme das kräftige Bukett des Burgunders ein, den Duft nach schwarzen Johannisbeeren. Es scheint ihr Lieblingswein zu sein. Zuweilen wird mein Weib ungeduldig und gibt aus tiefster Kehle ein leises Knurren von sich. 303
Wenn ich ihr den Wein durch das Moskitonetz reiche, stürzt sie sich auf das Glas, nimmt einen tiefen Schluck und schmatzt mit den Lippen, ohne mich aus den Augen zu las‐ sen. Gewöhnlich gebe ich ihr das Tablett, heute jedoch habe ich einen anderen Ablauf im Sinn. Ich ziehe ein goldenes Messer und eine goldene Gabel aus meiner Hemdtasche, einst vom Hofe des Moguls in Auftrag gegeben. Als Erstes tranchiere ich den Schinken. Mein Messer gleitet durch das leicht blutige Fleisch, das weich wie Butter in duf‐ tenden Scheiben vom Knochen fällt. Mein Weib kneift die Augen zusammen und leckt sich die Lippen. Ich schneide das Fleisch in kleine Stücke und spieße eines auf. Sie kriecht über das Bett zu mir. Ich halte ihr die Gabel hin. Sie stößt darauf herab wie eine Möwe und verschlingt den Bissen. Seltsam, dieser Hunger. Dabei ist gewiss, dass mein ele‐ gantes Weib in Amsterdam zahllose Bälle und Bankette besuchte, nur um ihr Essen auf dem Teller hin und her zu schieben, weil ihr jeder Bissen gegen das Walbeinkorsett drückte. Außerdem bin ich sicher, dass sie gestern gefüttert wurde, oder wenigstens vorgestern. Doch auf dieser Insel schrumpft die Zeit, dehnt sich aus und verkürzt sich wieder, spielt listige Spiele, und es wird immer schwieriger, die Vergan‐ genheit wie einen Fächer aufzublättern. Wieder biete ich ihr einen saftigen Bissen, wieder reißt sie ihn von der Gabel. Das Fett läuft ihr übers Kinn. Sanft wische ich es mit dem Taschentuch des Komman‐ 304
danten fort. Dann spieße ich ein weiteres Stück Fleisch auf und gewähre ihr noch eine Kostprobe. Ich habe mich schon oft gewundert über die viehische Angst des Menschen vor seiner Sterblichkeit, über seinen Überlebenswillen, wo doch das größte Geschenk in diesem Leben die Macht ist, es zu beenden. Doch vermutlich kriegt mein Weib das große Zittern bei dem Gedanken, eine Todsünde zu begehen. Beim nächsten Gabelbissen, Fisch diesmal, verlange ich einen Kuss. «Nur einen», sage ich. Jetzt starrt sie mich ängstlich an. Sanft lege ich ihr eine Hand in den Nacken. Sie isst mein Essen, aber ansehen will sie mich nicht – verschlagenes Weibsstück. Sie zittert, dennoch lässt sie es zu, dass ich ihre Lippen mit meinen berühre. Ihr hungriger Mund ist fettverschmiert. Obwohl sie zusammenzuckt, erlaubt sie mir, dass ich ihr übers Haar streichle, es in meiner Hand wiege wie einen Strang gekämmter Seide. Und für dieses bescheidene und doch erlesene Vergnügen wird mein Weib reichlich entlohnt. Seht sie euch an, wie sie die salzigsüßen Austern aus der Schale lutscht. Weil ich die Tür letzte Nacht unverriegelt ließ und mein Weib nicht zu fliehen versuchte, weil Lucretia heute augen‐ scheinlich beschlossen hat, bei mir zu bleiben, weil mit un‐ seren Küssen und Liebkosungen der Vollzug unserer Ehege‐ lübde näher zu rücken scheint – und weil wir dafür Zeit im Überfluss haben –, beschließe ich, den Tag zu feiern. Ich öffne den Escritoire des Kommandanten und will meine Freude an all den Schätzen mit ihr teilen. 305
Zuerst nehme ich die römische Achatkamee und ziehe mit der Fingerspitze die vertrauten Linien nach. Ich halte sie ge‐ gen das Fenster. Das sanfte Licht des frühen Morgens spielt mit dem honigfarbenen Stück, lässt es schimmern wie Gold. Ich knie mich neben ihr Bett und zeige Lucretia meine Kostbarkeiten. Doch nachdem sie sich gemästet hat, kehrt sie erneut die Gleichgültige heraus. Ich erzähle ihr, dass die Kamee einst Rubens gehörte, der sie dem Kommandanten zum privaten Verkauf anvertraut habe. Ich öffne das samtene Halsband und winke sie an meine Seite. Sie rührt sich nicht von der Stelle. Ich beuge mich vor, streiche ihr das schwere Haar aus dem Nacken und lege ihr die Kamee um den Hals. «Jetzt gehört sie Euch.» Sie berührt das Juwel sanft mit den Fingerspitzen. «Dafür könnt Ihr Euch ein Königreich erkaufen», sage ich. «Stellt Euch nur vor, welch ein Aufsehen ein solcher Verkauf unter den Bürgern Amsterdams erregen würde.» Bilde ich es mir ein, oder hat sie mich angesehen und gelä‐ chelt? Ich betrachte sie. Aber sie versteckt sich hinter der Maske des Schweigens, zwingt ihre Züge zurück in jenen hölzernen Ausdruck stillen Erduldens. Ihr Schweigen schwingt vor mir wie ein Pendel. Es blockiert die Tür zu ihrer Seele, dem einzigen Besitz, der mir verwehrt ist. Und doch bin ich bereit, ihr alles zu geben als Unterpfand meiner Liebe. Ich streife den Kommandeursring von meinem Finger, lege ihn ihr in die Hand und schließe ihre Finger darum. Ihre kleine Faust verkrampft unter meiner Berührung. Ich bin sogar versucht, ihr die geschnittene Achatvase dar‐ 306
zubringen, beschließe aber, damit bis zu unserer Hochzeits‐ nacht zu warten, wenn ich das wertvolle Stück mit den kost‐ barsten Parfümen Arabiens füllen und meine Braut salben und für das Lager der Liebe vorbereiten werde. Wenn das Rettungsschiff uns erst von diesen Küsten fort‐ getragen hat, werde ich mit Lucretia in ein fernes Land fah‐ ren, wo ich als Kaiser herrschen werde und sie als meine Kaiserin. Auf juwelengeschmückten Elefanten werden wir mit einem Gefolge aus Leoparden, die nach unseren Fersen schnappen, unser neues Reich durchqueren. Ich werde Tor– rentius̉ Worte zu neuem Leben erwecken und neue Jünger unterweisen, die seine Kinder der Sonne werden sollen. Gemeinsam werden mein Weib und ich auf einer endlosen Reise die Lust erforschen. Ich werde eine Stadt erbauen mit marmornen Palästen, jasminduftenden Gärten, goldenen Minaretten und Kuppeln. Ich werde meiner Königin den Schlüssel zu ihrem Harem überreichen, und ich werde mich daran ergötzen, wie sie wie Cleopatra über Eunuchen, Zwerge und jungfräuliche Sklavinnen herrscht, die wir günstig auf dem Marktplatz erworben haben. Mein Blut pocht schneller, wenn ich daran denke. Wie muss mein Weib sich glücklich schätzen, ihr Heil beim Generalkapitän gefunden zu haben, der ihr mit vollendeter Höflichkeit und Huld begegnet, der ihr jede Mahlzeit dar‐ bringt wie ein ergebener Diener, sie jeden Tag mit Geschen‐ ken und kostbaren Juwelen überhäuft. Sie, die zu einer Ver‐ nunftehe verdammt war. Ich kann ihn vor mir sehen, diesen Ehegatten, wie er in perfekter Haltung auf einer grauen Stute sitzt, die Stiefel fest in den Steigbügeln, der Rücken kerzengerade, trotz der 307
Hitze, trotz der Fliegen in seinen Mundwinkeln. Er treibt sein Pferd in den Galopp und fliegt hinunter zum Hafen, wo kein Anker geworfen wurde, kein Schiff anlegt. Ich frage mich, was die geschniegelten Kolonialbeamten der Compa‐ gnie hinter ihren wohlgeordneten, polierten Pulten ihm erzählt haben. Ich frage mich, was sie zum Verlust der Batavia, ihres Flaggschiffes, zu sagen haben. «Wenn ich bei dir bin», höre ich Lucretia zu ihm sagen, «werden wir in sichelförmigen Buchten Orangen kosten und Muscheln sammeln an wellenbeleckten Küsten.» Wie naiv du damals warst. «Wenn ich bei dir bin», sagtest du, «werde ich Moskitonet‐ ze flicken und Wäsche in die Sonne hängen, werde das Patois der schlitzäugigen Hausmädchen erlernen, die Platten zum Trocknen des Indigo schrubben und Ameisen von un‐ serem Herd fegen.» Aber du bist nicht bei ihm. Und die Götter haben mir mein verlorenes, grünäugiges Mädchen zurückgegeben. 308
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ndlich bringt Wouter Nachricht von Hayes. Wir sitzen draußen im Schatten, außer Hörweite meines Weibes, die zu dieser matten Mittagsstunde schläft und sich in ihren Träumen verliert. Manchmal ist ihr Leben wieder so, wie es einst war, wenn sie erwacht, sich reckt – und sich mit Schrecken erinnert. Wie reglos sie dann daliegt, einen Arm unter den rostfarbenen Locken, die sich in ihrem Nacken kräuseln, den anderen um die Knie geschlungen. Die zer‐ knitterten Baumwollunterröcke entblößen ihre schlanken Fesseln, die blau pulsierenden Adern auf dem gewölbten Spann. Ich verzehre mich danach, dieses verbotene Netz aus Tinte zu küssen. Unser Ehebett ist Lucretias verhülltes Heiligtum. Jede Nacht baumle ich wie eine Fledermaus in meiner Hänge‐ matte von den Dachsparren dieses Verschlags, eingespon‐ nen in enthaltsame Einsamkeit, schlaflos in der Dunkelheit. Aber ich werde sie nicht anrühren. Noch nicht. Während ich Wouter ein Glas Wein einschenke, kommt mir der Gedanke, dass eine Ewigkeit vergangen scheint, seit ich einen ängstlichen, aufgelösten Knaben trösten musste, der überzeugt war, dass wir alle hier sterben würden, der la‐ mentierte, dass kein Wasser zu finden sei, weder auf der Insel der Soldaten noch auf der Seehundinsel. Zumindest bei Letzterer hat er Recht behalten. Heute wirkt Wouter rastlos, reizbar. Seine Hände zittern, als er den Wein hinunterschüttet. Vielleicht sollte ich seine Nerven mit einer Opiumpfeife beruhigen. 309
Während er den aromatischen Rauch durch die Nase bläst, erzählt Wouter, dass Pelgrom und er Hayesʹ Aufforderung, das Floß zu landen, wegen des Steinhagels, der bei ihrem ersten Besuch aus den Katapulten der Soldaten auf sie niedergegangen war, klugerweise nicht entsprochen hätten. Stattdessen hätten sie darauf bestanden, Hayes möge sie allein auf einer Felsnase an der nördlichen Spitze der Insel erwarten. Allen Zweifeln und allem Misstrauen zum Trotz, die seit dem letzten Rendezvous zwischen den Parteien gewachsen sind, hat es doch den Anschein, dass Hayes meinen Vorschlag, die Vorräte zu teilen, für überlegenswert hält. Er sagte, er müsse die Angelegenheit mit seinen Männern erörtern, die jedoch leicht zu überzeugen seien. Darüber hinaus hat er Wouter mitgeteilt, dass die Flüchtlinge der Seehundinsel in Gewahrsam gehalten werden, bis zwischen uns eine Einigung erzielt sei, was, wie er hoffe, möglichst bald der Fall sein möge. Also hat er Wouter aufgetragen, unbewaffnet und mit Wein und Kleidern zurückzukehren, dann werde er ein Datum für den Abschluss des offiziellen Versöhnungspaktes mit uns aushandeln. Wein und Kleider – ich habe immer gewusst, dass Hayes billig zu haben ist. Die französischen Söldner werden mehr verlangen. 310
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m einunddreißigsten Tag flutet eine zitrusgelbe Däm‐ merung über den Horizont. Zu dieser Stunde ist die Luft rein. In den Strahlen neugeborenen, goldenen Lichtes erheben sich Möwen in den Himmel. Ich liebe diese frühen, noch trägen Regungen des Tages, bevor die Sonne am flam‐ menden Himmel zusammenschrumpft. Die Auswahl der Vorräte, die zur Berginsel geschickt wer‐ den sollen, fällt auf ein Fass feinsten Branntweines für Mijn‐ heer Hayes und seine kühnen Krieger, Bordeaux für die französischen Söldner, zwei gepökelte Flanken vom Rind, fünf Krüge Sauerkraut, drei Krüge Salzheringe. Bei näherer Betrachtung muss man sagen, dass Hayes ein guter Kerl ist, vielleicht ein wenig vaterländisch für meinen Geschmack, aber er ist ein Kämpfer. Es gab viel zu viele Paraden in Amsterdam und junge Männer wie Hayes, die im Gleichschritt im Takt des Trompeters marschierten. In Scharen strömten die Zivilisten auf die Straße, wedelten mit den Fähnchen in den frostverbeulten Fingern und ließen die Söhne der Nation hochleben, die mit hoch erhobenen Häuptern, die Helme unter dem glatten Kinn geschnürt, weder rechts noch links schauten. Während ich meine nächsten Züge plane, frage ich mich, ob ich ein Risiko eingehen und den Einsatz in diesem Spiel erhöhen sollte – zum sicheren Schachmatt. Wenn ich sein Vertrauen erst gewonnen habe, was spricht dagegen, Hayes einzuweihen? Meinen geheimen Plan zu offenbaren, den ge‐ nauen Ablauf der Maßnahmen, die zu ergreifen sind, wenn 311
das Rettungsschiff eintrifft. Ein Bündnis zwischen uns beiden würde den Erfolg mei‐ nes Plans besiegeln, da Hayes über mehr Ritter verfügt als ich. Stellt Euch vor, werde ich ihm sagen, das Rettungsschiff sichtet unsere Insel, stellt Euch die Jubelrufe vor, das Plat‐ schen der Ruder im Meer bei Niedrigwasser. Die lange Reise wird der Mannschaft arg zugesetzt haben. Sie werden außer sich sein vor Begeisterung über das Festmahl, das gebratene Fleisch, die Reden, die Trinksprüche, die Weine. Und Hayes, der Lebemann, wird lächeln, ein verschwöre‐ risches Lächeln im Kerzenlicht. Wir sollten die Mannschaft betrunken machen, werde ich ihm erklären, dann können wir sie umso leichter aus‐ schalten. Und Hayes wird meine Hand nehmen wie ein echter Freund, ein alter Freund. Wie Torrentius, der mir ein trau‐ riges Adieu zurief, bevor der englische Botschafter ihn zum Hofe König Karls eskortierte. Je länger ich darüber nachdenke, umso überzeugter bin ich: Hayes ist mein Mann. Wenn Wouter den Proviant ablie‐ fert, soll er auch um ein Treffen zwischen Hayes und mir nachsuchen. Ich will mit ihm von Gleich zu Gleich auf seinem eigenen Terrain verhandeln, an der Küste der Berginsel. ■
Seit unserer letzten Unterredung hat der Pfarrer mich nicht mehr mit einem Gespräch beehrt. Seltsam, denn ich dachte, 312
er sei erpicht darauf, mir die Beichte abzunehmen. Statt‐ dessen verschanzt er sich in seiner Hütte und verbietet Frau und Kindern, sich vor die Tür zu wagen. Die täglichen Rationen holt immer nur er ab. Außerdem fällt auf, dass der Pfarrer seine Plauze verloren hat, die dicken Fettwulste. Sein Gewand sitzt loser, scheint länger und wirbelt Sand und Blätter hinter ihm auf. In der Morgendämmerung, zur Stunde der Wachablösung, wenn der nächste Wachhabende noch schlummert, stiehlt er sich hinüber zur Baracke und schreitet von einem Gefan‐ genen zum anderen, offeriert Trost und Gebete, fleht sie an, bei aller Hoffnungslosigkeit nicht die Hoffnung zu verlieren, sich nicht der Verzweiflung hinzugeben. In den länger werdenden Schatten, im rosa schimmernden Licht, knien sie nieder. Mein listiger Pfarrer holt ein Päckchen hervor. Keine Bibel, sondern geschmuggelte Vor‐ räte. Er bricht sie in Krümel und verteilt sie an die Männer, die um mehr betteln. Eine Schande, dass er den alten Trick mit den Fischen und dem Brot nicht beherrscht. Warum nur blicken diese Händler so gehetzt und so ver‐ härmt drein, wo doch in diesem meinem Reich jeder die Freiheit der eigenen Wahl genießt? Sie können viele Wege wählen, um zu überleben. Sie können sich meinen Jüngern bei ihren Spielen um einen weiteren Tag Leben anschließen, können versuchen, die Waage in ihre Richtung ausschlagen zu lassen. Doch sie tun nichts, nichts als warten, nie‐ dergedrückt vom Gefühl der Demütigung und der Nieder‐ lage. De Beere meint, es liege daran, dass sie alle zu jeder Zeit mit ihrer Exekution rechnen. Auf der Batavia haben die Kaufleute keine Sekunde daran 313
gezweifelt, dass sie ihr Ziel erreichen würden. Wie schnell sie sich langweilten auf der Reise und sich die Zeit mit Tanz‐ abenden und Landsknechtpartien versüßten, findigen Manö‐ vern, um der Langeweile ein Schnippchen zu schlagen und beschäftigt zu sein. Jetzt würden sie ihre Seele geben für jene endlose, dunstig‐ blaue Eintönigkeit. Natürlich hörten sie die Gerüchte an Bord, Gerede über Piraten, Flüstern von Meuterei und Mala‐ ria unter den Matrosen, aber sie haben sich nicht darum ge‐ schert. Schließlich war die Batavia ein Schiff der Compagnie, eine rein geschäftliche Angelegenheit, ein unternehmeri‐ sches Abenteuer. Dann eines Tages Möwen im kräftigen Wind. Angst hätte sie befallen sollen angesichts ihres anmu‐ tigen, geräuschlosen Flugs. Doch sie feuerten die Matrosen an, die die Möwen mit langen Hakenstangen traktierten. Ich glaube wirklich, dass der Pfarrer sich gewandelt hat. Die Zeit auf dieser Insel hat einen Mann aus ihm gemacht. Einen mutigen noch dazu, denn sollte De Beere ihn bei seiner wohltätigen Arbeit ertappen, er würde sein Schwert ziehen und ihm den Kopf abschlagen. Dieser Mann Gottes ist hier wahrhaftiger als jemals zuvor. In seinem damaligen Heiligtum aus Marmorkolonnaden und Glasbildern in den Bogenfenstern war unser Pfarrer an‐ fällig für die Pfründe seiner Profession: ein Paar Fasane, ein Krug Rotwein, selbst gebackene Kuchen von tränenreichen, bußfertigen Kaufmannsweibern, die ihre Sünden in Rühr‐ schüsseln mit Mehl und Wasser sieben, während die Butter den Ehering an ihren dicken Fingern lockert. Sünde. Was wissen sie schon von diesem Wort? Sünde, rund und saftig wie ein Apfel. Rot wie die Wangen der 314
Gattin des Schneiders, der jüngsten Schwester des Böttchers, der Tochter des Kalfaterers. Heute erinnert der Pfarrer mich an einen anderen. Wie er sich über den Bart streicht, wie er den Klagen eines jeden sein Gehör schenkt. Der schwebende Schritt, die Sandalen an den Füßen, das wehende Gewand lassen mich an meinen alten Widersacher denken. Im Dunste der frühmorgend‐ lichen Hitze schimmert sogar ein Heiligenschein um seinen Kopf. Sag mir, Seelentröster, bist du dazu bestimmt, dich zum ersten Heiligen dieser unvermessenen Erdhalbkugel aufzuschwingen? 315
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eine Frau gewährt mir noch immer das Privileg, sie zu füttern, rechnet sogar fest damit. Und ich genieße meine neue Rolle als Lucretias Ernährer. Meine Liebe zu ihr hat aus meiner Seele eine Zärtlichkeit gekeltert, von der ich bisher nichts ahnte. Ihr Appetit kennt keine Grenzen. Sie hat die Wasserbecken im Riff bereits leer gegessen, dort gibt es keine Hummer, keine Langusten, keine Krabben mehr. Carp muss jenseits der Landzunge auf Beutezug gehen und sich immer weiter vorwagen auf den zerklüfteten Korallenbänken, die von wilden Gezeiten umspült werden und die er, wie ich weiß, fürchtet und nicht mag. Wouter hat jene hüpfenden Ratten in so großer Zahl erlegt, dass die Herde bereits arg ge‐ schrumpft ist. Doch mein Weib muss essen, und ich habe ihr mein Wort gegeben, dass sie sich am Feinsten laben soll, was diese Insel zu bieten hat. Seht ihr, wie ich für sie sorge? Ohne meine Liebe, meine zärtliche Besorgnis, würde sie am Hungertuch nagen wie die elenden Kaufleute. Doch das werde ich niemals zulassen. In vielerlei Hinsicht haben mein Weib und ich, wie ich glaube, einiges gemein. Herausgehoben aus der gemeinen Masse der Menschen, stehen wir über der mühseligen Plackerei und Schinderei des Lebens – plumpen Kopu‐ lationen, Bastardgeburten, Gebrechlichkeit und Tod –, dem endlosen Geratter der Sterblichkeit wie von den Rädern eines Pfluges auf staubigen, ausgefahrenen Straßen. Sie spricht noch immer nicht, aber ich gewähre ihr diese 316
eine Freiheit und habe mich an ihr Schweigen gewöhnt. Überhaupt, warum sollte sie reden, warum auch nur ein einziges Wort sagen, wenn ich mir ihr früheres Leben so le‐ bendig ausmalen kann, als wäre ich selbst dabei gewesen? Wenn ich sie bitte, das Haus auf der Herenstraat zu be‐ schreiben, in dem sie geboren wurde, schreite ich bereits über die gepflasterten, mit Herbstlaub bedeckten Wege, die gesäumt sind von Lindenbäumen. Ich gehe an der akkurat getrimmten Hecke entlang, öffne das Tor mit einem Klicken und betrete den von Mauern umstandenen Garten. Ich halte inne, um die Spaliere mit blühenden Pfirsichbäumen zu be‐ wundern, denn immer wenn ich mir das Leben meiner Frau in Amsterdam vorstelle, ist es Frühling, ein Tag unter Makrelenhimmeln, die sich zum Horizont hin grün färben. Ich folge dem Pfad zur Sonnenuhr, und dort sehe ich sie, wie sie auf einer Steinbank im schattengefleckten Sonnen‐ licht sitzt. Sie beugt den Kopf und stickt Pfauenfedern mit smaragdfarbenem Seidenfaden. Ihr falscher Freier kniet zu ihren Füßen und spielt den liebestollen Trottel, flicht rasch dahinwelkende Kränze aus Gänseblümchen. Er ist älter, als ich dachte. Er redet über ihr neues Zuhause in Batavia, erzählt ihr von stillen Safrannüssen, von der Erde, die von der Sonne dunkelrot gebrannt ist, von Kopfsteinpflaster im violetten Licht. Er schlingt ihr die Blumen um die blendend weißen Schultern und wiehert vor Freude wie ein gewöhn‐ licher Ziegenhirt. Sie kann diesen Mann nicht lieben, der sich verneigt, um den goldenen Ring an ihrem Finger zu küssen. Arm in Arm schlendern sie auf das Haus zu, und ich folge ihnen. Ein Gärtner hebt die Hand zum Gruß, ein Windhund 317
rennt jaulend davon, als ich mich nähere. Er erinnert sich an eine andere Begegnung, deren Einzelheiten mir entfallen sind. Ich bewundere meine neue Familie und wäge den Wert der Mitgift ab, einer schmucken Kaufmannsvilla mit einem Giebel in traditioneller Bauweise. Dort steht Mutter im Türrahmen, die beim Anblick ihrer ältesten, verlobten Tochter feuchte Augen bekommt. Dort sitzt Vater im Arbeitszimmer und beugt sich über seine Pachteinnahmen. Eine jüngere Schwester mit flachsblonden Locken, die unter der Haube hervorlugen, schlägt mit einem Stöckchen einen Reifen über den Weg. Im Salon sehe ich eine zweite Schwester, die eine traurige Melodie auf dem Spinett klimpert. Ein älterer Bruder geht in der Eingangshalle auf dem Schachbrettmuster der gebohnerten Fliesen auf und ab, gewiss wartet er auf die Stunde der Bagnios und Bordelle. Mich als Apotheker würde es nicht überraschen zu hören, dass ihm das Gemachte juckt und er bald ein ärztliches Rezept benötigt. Vielleicht sollte ich, ihr zukünftiger Schwiegersohn, mich vorstellen. Ihre Familie würde mich willkommen heißen, da bin ich sicher. Und der farblose Rivale an ihrer Seite würde in meiner Gegenwart zusammenschrumpfen. Ich sehe Lucretia an und lächle. Ich sage ihr, dass sie sich mir nicht anvertrauen muss, da ich all ihre Geheimnisse be‐ reits kenne. Mein armer Liebling sitzt so bleich und mit so eingefalle‐ nen Wangen da. Dabei möchte man meinen, sie könnte sich an meinen Ausflügen in die Vergangenheit erfreuen und mir zumindest danken, sie bewahrt zu haben vor einem lang‐ 318
weiligen Lebensabend als einfache Ehefrau in einem primitiven, unbewohnten Land. Ich muss ihr das Blut in die Lippen treiben. Es ist Zeit für ihre Medizin. Sie scheint nicht zu ahnen, dass der Wein, den sie hinunterstürzt, die endlosen Trankopfer, die ich ihr dar‐ bringe, selbst der billige Branntwein, versetzt sind mit den raffiniertesten Essenzen. Heute bereite ich ihr eine Essenz aus Mithridatium, Kalzi‐ umvitriol und Opiumtinkturen. Mit unendlicher Hingabe mische ich den Liebestrank in einen Kelch mit kanarischem Wein. Trotz ihrer zierlichen Gestalt hat mein Weib eine bemer‐ kenswerte Konstitution: es dauert eine Weile, bis das Aphrodisiakum die gewünschte Wirkung entfaltet und ihre Glieder schlaff werden, die Augen glasig. Und dabei habe ich ihr die doppelte Dosis verabreicht. Ich habe meine Zaubertränke seit jeher selbst zubereitet, um sie vor gewöhnlichen Apothekern geheim zu halten. Dieser Trank reinigt das Blut von allem Phlegma und melancholischen Säften und ruft hektisches Fieber in Brust und Lenden beider Geschlechter hervor, und er wirkt schnell. Ich habe ein großes Sortiment an Zutaten angelegt und die Wirkungen meiner Tränke bei Experimenten mit Verurteilten in den Gefängnissen Amsterdams immer wieder überprüft – denn die Richter unserer Stadt haben der Zunft der Apotheker die Erlaubnis erteilt, neue Arzneien zum Wohle der Menschheit an Schwerstverbrechern zu testen. Und zum Wohle der Menschheit waren sie in der Tat. Wie keine anderen Tränke sonst. Denn ich bin keiner dieser 319
Wald‐ und Wiesenärzte, die die Eingekerkerten und Verdammten heimsuchten, die ihnen einen Löffel mit Säften oder Sirup in den Mund stopften und Zäpfchen und Pillen in den verkrampften Sphinkter zwangen. Wie dankbar waren die Verdammten, die sich damit abgefunden hatten, im Morgengrauen am Galgen zu baumeln und mit den Toten zu tanzen, nun ihr armseliges, geschrumpftes Glied ein letztes Mal sich aufrichten zu sehen. In verschiedenen Stärken verabreicht, brachten meine Tränke den Seelen der Verdammten mehr Trost und Glückseligkeit als die Gebete des Pfarrers. Bevor sie vor ihren Schöpfer traten, zogen sie es vor, ihren Samen zu verspritzen, statt schalen Wein und trockne Hostien hinunterzuwürgen. Ich betrachtete meine Experimente als bürgerliche Pflicht, als Akt barmherziger Menschenliebe, denn es muss gesagt werden, dass meine gehorsamen und willigen Patienten, wenn man ihnen die Schlinge um den Hals legte, zufrieden starben. Ich habe meine Arzneien auch im Frauengefängnis erprobt und einen ähnlichen Effekt beobachtet. Einmal erklärte die Aufseherin ihre Insassinnen zu meinem Amüsement für vom Teufel besessen und ließ den Kaplan rufen, einen stotternden Tropf, der schnell rot anlief. Er war bereits in der vorangegangenen Woche herbeizitiert worden, um im benachbarten Konvent den Teufel auszutreiben, welches von ähnlich hysterischen Zuständen heimgesucht ward: Unzucht mit Kerzen und Kruzifixen, abgeschnürte Glieder und Selbstgeißelung in allen Zellen, eine grausige Epidemie der Lust, die unsere schönen, verhüllten Schwestern selt‐ 320
samerweise zu genießen schienen. Doch der Kaplan kauerte sich hinter die Gefängnismauern, traktierte die Frauen mit wirkungslosen Spritzern geheiligten Wassers und schrumpf‐ te schließlich hinter seiner Bibel zusammen, gestand, noch nie zuvor eines solchen Falles ansichtig geworden zu sein, und ergriff die Flucht. Meines Weibes Wangen sind gerötet, ihr Puls rast, die ge‐ öffneten Lippen sind rosig und voll. Das Opium tut seine Wirkung, sie schläft, gebadet in Träumen wie eine Prinzessin im Märchen. Ich will, dass sie schläft, ich will, dass sie in weiten Wirbeln immer tiefer und tiefer unter Wasser taucht und mich nicht länger aus leeren Augen anstarrt. Denn heute habe ich vor, mein Weib zu studieren. Wie jeder Anatom bestätigen wird, ist die eingehende Erforschung des menschlichen Körpers grundlegend für die Kunst des Apothekers und erbringt genaue Kenntnisse über seine natürliche Beschaffenheit in allen Bereichen. Zuerst entledige ich meine Braut eines Jäckchens aus indi‐ scher Baumwolle, welches die Compagnie der Frau des Zim‐ mermanns zum Geschenk machte, dann eines ärmellosen Mieders mit purpurfarbenen Bändern, das der Gattin des Kalfaterers gehört. Dann knöpfe ich das blassgrüne Satin‐ kleid auf. Wie stolz die Frau des Goldhändlers den eleganten, sich verjüngenden Schnitt zur Schau getragen hat und die Rüschenschleppe bei jeder Drehung fliegen ließ. Ich lasse das mit Vergissmeinnicht bestickte Unterkleid von ihren Schultern gleiten, ziehe ihr den rosafarbenen Spit‐ zenunterrock aus (am Saum sauber und ordentlich von der Tochter des Böttchers gestopft) und die gerüschte Unterwä‐ sche. Zuletzt löse ich die Toque aus braunem Samt, die jenes 321
schamlose Flittchen, das Mädchen mit den Perlen im Ohr, in kecker Neigung an ihrem Haarnetz festzustecken pflegte. Ich bin zufrieden mit Wouter, der die Seekisten der Frau‐ enzimmer auf der Seehundinsel entdeckt hat. Denn es wäre wenig passend für die Gattin des Generalkapitäns, in gemei‐ nen Lumpen zu gehen. Mein Weib liegt nackt auf dem Lager, eingesponnen in die Schleier meiner Drogen. Sie seufzt und wispert im Schlaf. Ihre Lider flattern. Bei ihrem Anblick frage ich mich, ob sie vielleicht nur vorgibt zu schlafen, ob sie sich nach meiner Umarmung sehnt, ob sie ein Spiel mit mir spielt. Sanft löse ich die Zöpfe in ihrem Haar, sehe die vollen, burgunderfarbenen Strähnen aus ihren Fesseln bersten und über ihre Schultern wallen. Ich bin sprachlos angesichts des Kontrasts von rotem Haar und weißer Haut. Meine Lady Godiva, die mit hoch erhobenem Haupte durch die Stadt reitet. Ich streichle die unerforschte, exquisite Zartheit ihrer Haut. Ich schiebe ihr einen Finger in den Mund, suche ihre feuchte Zunge, die scharfen Zähne. Seltsam, aber heute, in diesen intimsten Momenten, die wir je geteilt haben, fühle ich nichts. Kein Verlangen nach ihr, nur das Gefühl erregten Staunens ob ihrer makellosen Schönheit, als wäre sie ein Sinnbild ihres Geschlechts, eine kostbare Skulptur, der ich den Odem des Lebens eingehaucht habe und die endlich in meinen Besitz gelangt ist, um zusammen mit den anderen seltenen und kostbaren Kunstwerken verwahrt zu werden, die wertvollste Anschaffung, die je die Privatsammlung eines Connaisseurs bereicherte. Ich küsse die Kamee an ihrer 322
Kehle, den Smaragdring an ihrem Finger. Ich möchte sie wie eine Statue auf ein Podest setzen, auf dieses Bett, und möchte sie posieren sehen in allen lasterhaf‐ ten Posen des Verlangens. Ich würde sie nicht anrühren. Ich will nur schauen, ihrem Körper huldigen, der noch unschul‐ dig ist und nichts weiß von der sagenhaften Macht seiner Schönheit. Nichts weiß von den kleinen, kindlichen Brüsten, die sie in ihren Träumen unwissendlich Händen zum Liebkosen darbietet, Lippen zum Saugen und Zähnen zum Beißen. Ich will ein Verzeichnis ihrer Glieder erstellen, das model‐ lierte Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das Mutter‐ mal auf der Oberlippe, die Linie ihres Rückgrats, jeden einzelnen Wirbelkörper, die sich wie gemeißelt über den kräftigen, schlanken Rücken ziehen, die engen Kurven ihrer Hüften, die porzellanzarte Glätte ihres Leibes. Ich betrachte sie und weide mich an meiner absoluten Macht über meinen Besitz, und ich spüre Befriedigung. Das sind die Gefühle, die ich meinem Weibe entgegenbringe. Sie liegt in leichtem Schlummer, schwebt auf dem Scheitelpunkt des Schlafes. Sie wird sich an diese Träume erinnern, und wenn sie erwacht, wird sie darauf hoffen, dass sie zurück‐ kehren. Ihre Schönheit zehrt an mir. Es ist zu viel. Eine Kostbar‐ keit, die man aus einer parfümierten Schachtel nimmt, die man bewundert und verehrt, in goldene Stoffe hüllt und wieder verstaut. 323
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m dreiunddreißigsten Tag wabern Himmel und See in leuchtend blauem Dunst. Fünf Gefangene sind ent‐ flohen. Sie haben sich während der Arbeit auf dem Riff in die sich auftürmenden Wogen geworfen. De Beere feuerte mit der Muskete, aber sie tauchten unter Wasser und waren nicht mehr gesehen, dafür gewahrte er mehrere Haie, die sich rasch näherten. Diese Raubtiere der Meere haben sich für unser Eiland als äußerst wirkungsvolles Mittel der Abschreckung erwiesen, weit mehr als jede Gefängnis‐ mauer. Doch von nun an werden die Männer aneinander gekettet, damit ein solcher Vorfall sich nicht wiederholt. Ich verliere alle Hoffnung, dass der Ausguck je vollendet wird. Seeschwalben umschwirren die Korallenhaufen auf dem Strand und stoßen auf Flohkrebse und anderes unsäg‐ liches Getier nieder, das aus den Überresten des Riffs hervorkriecht. So, wie er da steht und inmitten schlagender Schwingen seine Peitsche knallen lässt, hat De Beere etwas Satanisches an sich. Er gemahnt mich an einen gefallenen Engel. Einen Wächter an den Toren zur Hölle. Dieser Jüngling hat sich einen Weg in mein Herz gebahnt. Mehr noch bisweilen als Wouter, mein feuriger, hitzköpfiger Hengst. Hätte ich das geahnt, ich hätte die Frauenzimmer schon eher einfangen lassen und vor allem mehr zurück‐ behalten, damit sie fortwährend für ihn im Einsatz sein kön‐ nen. Wenn er nicht bei den Frauen ist, schleicht Wouter durch 324
das Lager. Hätte das Schicksal ihn nicht auf diesen Friedhof am Ende der Welt verschlagen, wären die Umstände andere, Wouter mit seiner raffinierten Wortgewandtheit hätte einen phantastischen Politiker abgegeben. In seinem alten Leben hätte er die gesamte Nation zu blenden vermocht. Hört ihn euch jetzt an: «Wer von euch will sich aufspießen lassen?», schreit er. «Ich kann das in Vollendung. Wer will aufgespießt werden?» Als ich näher komme, lassen sich die Möwen vom Winde davontreiben. De Beere muss mit seinen Befehlen das unab‐ lässige Staccato ihrer Schreie übertönen. Sie treiben wie Blü‐ tenblätter auf den Wellen, dann drehen sie wieder bei zur Küste. De Beere stellt eine Art Experiment an. Sanft zieht er die Peitsche über den geschundenen Rücken eines Kabinenjun‐ gen. Der Junge scheint unempfindlich gegen den Schmerz. Er zuckt bloß kaum merklich zusammen und arbeitet weiter. Ich beobachte die Männer, die mit bloßen Händen an dem Riff zerren. Bei der fruchtlosen Plackerei kommt mir die Gal‐ le hoch. Über das Kreischen der Möwen hinweg rufe ich De Beere. «Zu langsam», schreie ich. De Beere nickt, er kann den Blick nicht von dem Jungen wenden. Die Möwen schaukeln im Rhythmus des Ozeans vor und zurück. Ich ziehe meinen Dolch. «Erstecht Stoffel», sage ich und deute auf den Kalfaterer, der sich taumelnd und torkelnd durch das flache Wasser kämpft. «Erstecht Stoffel», wiederhole ich lauter. «Den Tage‐ dieb da vorn, der sich anstellt, als hätte er sich das Kreuz ge‐ 325
brochen.» De Beere packt das Messer. «Erstecht ihn», befehle ich. «Ins Herz.» Und De Beere tut, wie ihm geheißen. Immer und immer wieder. Es muss gesagt werden, unter meinen Jünglingen ist De Beere mein ganzer Stolz. ■
In der Abenddämmerung betrachte ich den Schweif schiff‐ brüchiger Wolken, die über den verbrannten, rostroten Him‐ mel treiben. Dies ist die Stunde der Stille, wenn die Möwen sich in wirbelndem Flug auf ihre Kolonien aus Zweigen und Gräsern niedergelassen haben und nur noch der Wind, der der Insel den Korallenpelz kratzt, und das kriechende Drän‐ gen der Wellen zu hören sind. Der leuchtende Widerschein des Mondes liegt auf der See, und die schwellenden Wasser sehen aus wie Muskeln unter einer Membran, glatt wie der Rücken eines Delphins. Es ist die lange Stunde der Muße, wenn ich mich freue, in mein Quartier zurückzukehren, Lucretia von ihrem Lager zu heben, all die kostbaren Waren auszubreiten, die Quint‐ essenz weiblicher Schönheit zu sezieren. Zur Vorsicht bin ich erneut dazu übergegangen, die Tür zu verriegeln. Nicht etwa, um meine Braut als Gefangene zu halten, sondern um ihr in diesen gefährlichen Zeiten Schutz zu gewähren. Doch als ich an diesem Abend den Riegel vorschiebe, emp‐ fängt sie mich mit so kläglichem, vorwurfsvollem Blick, dass ich es nicht ertrage, sie anzusehen, und mich abwenden 326
muss. Und da ist noch etwas in ihrer Miene, ein Hochmut, den ich schon früher gesehen habe, dem ich nicht traue und den ich nicht mag. Dabei hatte ich geglaubt, mein wildes Vöglein gezähmt zu haben, das mir stets so possierlich aus der Hand frisst, wenn ich die Tür zu seinem goldenen Käfig öffne. Doch womög‐ lich habe ich die Macht dieses monströsen Schweigens unterschätzt, das sie bewahrt als ihre einzige Freiheit und ihr einziges Recht. Ich entzünde den Kandelaber. In den langen, flackernden Schatten spüre ich ihren Blick auf mir ruhen. Vielleicht beginne ich erst jetzt, die unbeugsame Stärke dieses stummen, wortlosen Weibes zu begreifen, das so unterwürfig scheint und doch sein Schweigen auf mich hetzt wie einen Wolf, der nach Blut lechzt. Ich schenke mir Wein ein. Meine Hände zittern. Ich bin wohl müde heute Abend. Ihr Schweigen lebt und atmet. Von überall spüre ich seine dräuende Gegenwart. Der Raum hallt wider von seinem Dröhnen, es presst gegen die Wände, drückt die Tür auf, treibt zähe Schösslinge und Stämme wie von Baumheide um das Bett meiner schlafenden Schönen. Ja, langsam begreife ich es, dieses diabolische Schweigen, das mir unter ihrem Befehl zuzwinkert und mich verhöhnt, einen obszönen Schwall ungesagter Worte ausspeit, mit den verderbten, verpesteten Fledermausflügeln schlägt, sobald ich mich nähere. Sie glaubt, ihren Generalkapitän für dumm verkaufen zu können, ihn mit ihrem Schweigen zum Hahnrei zu machen. Ich habe lange gebraucht, ihr listiges Spiel zu durchschauen, 327
habe mir weismachen lassen, mit einem Püppchen zu spielen – Marie, die Marionette –, die sich ein laszives Lächeln auf das Puppengesicht malt, während die wahre Lucretia, Frau aus Fleisch und Blut, ungerührt hinter dem Schild ihres Schweigens steht und meine liebende Zärtlichkeit verschmäht. Endlich habe ich sie durchschaut. Indem sie sich weigert zu sprechen, bewahrt mein Weib sich die Unschuld. Ich be‐ wundere ihre Selbstbeherrschung, ihre unablässige Wach‐ samkeit. Sie ist stärker, als ich dachte. Nicht ein Satz, nicht eine Silbe wird über diese verschlossenen Lippen kommen. Kein Wort wird ihr Verhängnis sein. Dazu ist sie viel zu schlau. Um zu überleben, muss mein einfallsreiches Weib ih‐ ren Einsatz verdoppeln, auf beiden Hochzeiten tanzen, sich die Wahrheit ein wenig zurechtbiegen. Dieses Schweigen macht sie unsichtbar, unbesiegbar und, das vor allem, un‐ schuldig. Obendrein bietet es eine Freistatt ohne Gewissens‐ qual. Warum sich um die Not der hungernden Händler sor‐ gen oder für die Ertrunkenen beten, deren letzter Odem wie Glaskugeln durch die Wellen steigt, wenn auch sie vom Schicksal zum Opfer erkoren ist, auch sie eine Schiffbrüchige, auf diesem Eiland gestrandet – obschon gegenüber den anderen mit beachtlichen Privilegien ausgestattet? Würde sie gefragt, mein gewieftes Weib könnte erklären, dass ihr Schweigen einen Vertrag besiegelt, ihr einziger Wechsel auf das Unaussprechliche ist: Zuflucht, Sinnen‐ freuden, Schutz, meine Liebe vielleicht – ehrlich und anstän‐ dig erworben, ohne Fehl und Tadel. Ja, ich habe dieses doppelgesichtige Schweigen begriffen, 328
das sich im heulenden Winde dreht wie eine griechische Maske und mir alle Macht über das Meine verwehrt. 329
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m vierunddreißigsten Tag erscheint Wouter vor mei‐ nem Quartier. Während ich das Opium zubereite, be‐ wundere ich meinen anmutigen Jüngling, der mit jedem Tag in diesem friedvollen Refugium abseits der bekannten Welt noch schöner geworden ist. Ich frage ihn, wie der Rat mit Hayes und seinen Männern verfahren ist. Er lächelt und nimmt einen tiefen Zug aus der Pfeife. «Leichter zu kaufen, als wir dachten», sagt er. «Vor allem bei den Franzosen war es fast schon zu einfach, sie haben sich auf die Vorräte gestürzt und geplappert wie die Affen.» Er entrollt ein Schriftstück und reicht mir eine Einladung von Hayes, unser Bündnis auf der Berginsel in aller Form zu beschließen. Der höfliche Hayes ist kein Briefschreiber. Keine Schnörkel aus seiner Feder. Lediglich klare Anweisungen von einer ungestümen, hastigen Hand. In sechs Tagen zur Mittags‐ stunde werden wir uns treffen. So, Hayes gibt also immer noch den Ton an, befiehlt seinem Führer, eine Woche zu warten. Vermutlich ist er der Ansicht, wir brauchten eine Phase der Abkühlung, bevor wir die Vereinbarung unterzeichnen, um diesen sinnlosen Zank zwischen zwei winzigen Inseln zu beenden. Wie Wouters Augen leuchten, als er vom letzten Ausflug zur Seehundinsel erzählt. Als sie das Floß anlandeten, jagten De Beere und Pelgrom fünf Knaben in die Wellen, worauf‐ hin Andries sein Messer zückte und ihnen die Kehlen auf‐ 330
schlitzte. Alle starben bis auf einen, der ein Stück weit über die Fel‐ sen entkommen konnte. Pelgrom lief ihm nach. Das Kind fiel zu Boden, flehte bitterlich um sein Leben, um die Gnade, seine Gebete sprechen zu dürfen. Pelgrom setzte sich dem Jungen auf die Brust und stach ihm zweimal in den Hals. Doch er konnte ihn nicht zu Tode bringen, denn sein Messer war stumpf, also bat er De Beere um sein Schwert. Dann schlugen sie auf die Büsche, um die Frauenzimmer herauszutreiben, und Carp stieß auf eine Schwangere, die De Beere wiedererkannte. De Beere nahm sie bei der Hand. «Mayken, meine Liebe», sagte er. «Du musst jetzt sterben.» Sie wand sich wie ein Aal. Pelgrom kam De Beere zu Hilfe. Sie drehten einen Strick aus ihrem Haarnetz und erdrossel‐ ten sie. «Ihr Haarnetz?», hake ich nach. Wouter lächelt. «Ein Haarnetz, Mijnheer», sagt er. «Dieses Weib war halb‐ nackt, als sie aufgegriffen wurde, aber ihr Haar hatte sie in ein Netz geflochten – wenn auch ein zerfetztes.» Wir lachen. Die Eitelkeit des schönen Geschlechts kennt keine Grenzen. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und blase den Rauch durch die Nase. Die Dinge entwickeln sich ganz nach meinem Geschmack. Ich habe immer gewusst, dass es so sein würde. Und doch gestehe ich eine gewisse Melancholie. Dabei habe ich mich nie freier gefühlt, losgelöst von den Fesseln jenes alten, kartographierten Kontinents, den wir einst Heimat nannten. Dies ist mein Reich. Eine raffinierte 331
Partie Schach. In letzter Zeit träume ich, dass das Rettungs‐ schiff niemals eintrifft. Der Netzflicker, der Lustknabe des Ersten Steuermanns, wurde auf der Seehundinsel aufgegriffen. Morgen werde ich entscheiden, was mit ihm geschehen soll. 332
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ein Weib wird immer verschlagener, daran besteht kein Zweifel. Heute morgen lasse ich sie zum ersten Mal mit Carp allein. Ich hocke vor dem vergitterten Fenster und sehe, wie sie den Jungen studiert wie ein Gemälde. Aber noch spricht sie nicht mit ihm. Seit die Exekutionen begonnen haben, bewegt sich Carp wie in Trance. Wenn er dienstfrei hat, versteckt er sich im Gebüsch. Er trägt ein unentwegtes Lächeln auf dem Gesicht. Seht ihn euch an, den Schwachsinnigen, angetan in seiner feinsten Uniform, tänzelt er um mein Weib herum wie ein Affe auf der Drehorgel. Mein Weib sitzt vor dem verschlossenen Escritoire und will ihn dazu bewegen, näher zu kommen, aber der Trottel hüpft zur Seite und starrt sie mit großen leuchtenden Augen an. Dann summt sie ein Wiegenlied, eine sanfte Melodie aus der Vergangenheit, was Carp sichtlich verwirrt. Den Kopf auf die Seite gelegt, steht er da und lauscht. Mein Weib summt weiter, den langen Schwanenhals vorgestreckt. Ich kann sie vor mir sehen beim jährlichen Ball der Ehren‐ werten Vereenigden Compagnie, ich höre das Rascheln ihres Fächers und der Chantillyspitze, sehe sie in ihren gelben Sa‐ tinschuhen tanzen, in wirbelnden Quadrillen von einem Verehrer zum nächsten schweben, während ich, im Mantel eines anderen Lebens, mit drei fettwanstigen Kaufleuten an einem Spieltisch sitze und im fröhlichen Takt der Kapelle mit dem Stiefel wippe. Ich frage mich, wie viele Verehrer sie zum Sommerhaus neben dem Zierteich geleitet haben, in die 333
grünen Schatten unter den Weidenbäumen, wo sie um ihre Hand anhielten. Mir gefällt diese Vorstellung und jene Selbstgewissheit in dem jungfräulichen Lächeln ihrer vollen Lippen. Wie verzaubert schleicht Carp auf Zehenspitzen näher und kniet sich neben sie auf den Boden. Leise summend streicht sie ihm über das rattenbraune Haar, dann sieht sie ihn an. «Diese Schlüssel da an deinem Gürtel», sagt sie und lässt sie wie zum Spaß klappern. «Zeig mir doch, zu welchen Schlössern die gehören, Carp.» Er schüttelt den Kopf, verängstigt und erfreut zugleich über das, was sie gerade gesagt hat. So, mein verschlagenes Weib glaubt, sie könne Carps Ver‐ trauen gewinnen, zumindest so weit, dass er den Riegel der Tür zurückschiebt. Und was dann? Weglaufen, das Floß stehlen, ihr Glück mit den Haien und schnellen Strömungen versuchen? Flüchten – wohin? Es gibt keine Flucht, meine Süße. Weder für dich noch für irgendjemanden. Deine Welt ist geschrumpft, umfasst nicht mehr als dieses Bett, den Umkreis einer verkümmerten Pal‐ me. Du kannst nur hoffen, dass eines Tages ein Seemann, ein Reisender, ein Historiker oder Langustenfischer seine Stiefel in den Sand dieser Küsten setzt, sonnengebleichte Knochen‐ splitter wie Sand durch die Finger rieseln lässt und versucht, sich einen Reim darauf zu machen. Und doch beharrt mein Weib auf diesen albernen Possen. «Schließ die Tür auf», sagt sie mit unverändert ruhiger Stimme. Carp reibt sich die Narbe auf der Wange und kichert. 334
«Bitte, Carp», flüstert sie. «Ich versprech dir, ich sagʹs nie‐ mandem.» Sie begreift nicht, dass Carp zu dumm ist, den Feind zu wechseln. 335
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m fünfunddreißigsten Tag sitzt der Pfarrer reglos am Strand und bibbert in der gleißenden Mittagssonne. «Schrecken über Schrecken», flüstert er. «Was machen wir mit dem da?», fragt De Beere. Wouter will ihm die Kehle aufschlitzen, Pelgrom würde ihn lieber vergiften. Sie ermüden mich. Ununterbrochen verlangen sie meine Aufmerksamkeit, plappern wie die Kinder. Sie stechen mit ihren Klingen nach dem Pfarrer und lassen ihn auf den messerscharfen Korallen tanzen wie einen Zirkus‐ bären. «Lasst ihn noch am Leben», rufe ich. «Vielleicht brauchen wir ihn noch, damit die Soldaten auf der Berginsel ihr Wort halten und sich mit uns verbünden.» Jetzt muss ich meine bockigen Jünger besänftigen, sie sind wütend, weil sie ihren Willen nicht bekommen. Ich gehe mit einer Flasche Wein hinunter zum Strand und lasse den Netzflicker holen, den bevorzugten Lustknaben der Schiffs‐ mannschaft. Ich bin ungeduldig, trotzdem erlaube ich De Beere, ein Viertel Wein hinunterzustürzen, bevor ich ihm mein Schwert reiche. «Probiert das am Netzflicker aus», sage ich. «Mal sehen, ob es scharf genug ist, ihm den Kopf abzuschlagen.» Der Pfarrer rappelt sich mühsam hoch. «Seit langer Zeit schon», hebt er mit leiser, zitternder Stimme an, «rechne ich jeden Moment damit, hingemordet zu werden. Um des gütigen Himmels willen, tötet mich und 336
verschont das Kind.» Pelgrom schleudert ihm Sand in die Augen. «Spar dir den Atem, Dreckschwein.» Wouter drückt den Netzflicker auf die Knie und bindet ihm die Augen. «Sitz still, Junge», sagt er. «Sie machen nur Spaß.» De Beere zieht das Schwert. Die Klinge beginnt ihren sir– renden Weg durch die Luft – doch Carp stellt sich vor den Jungen. «Nein», schreit er. Tränen strömen ihm über die Wangen. Stille. Die Hosen des Netzflickers färben sich dunkel mit Urin. In jammerndem Tonfall erklärt Carp, dass De Beere nicht stark genug sei, dass ein anderer es tun müsse. Ich lächle. All diese Wutanfälle und Stimmungswechsel. Es ist schwer, sie zufrieden zu stellen. Carp will De Beere das Schwert aus der Hand reißen. Wie zwei Welpen rollen sie über den Strand, balgen und beißen zu meinen Füßen. Ich nehme das Schwert auf und schicke Wouter, es zu schärfen. Die anderen lachen, nur Carp wimmert wie ein verwöhn‐ tes Balg, weil er nicht derjenige ist, der es tun darf. Ich über‐ lasse sie ihren Spielen. Der Pfarrer stolpert knöcheltief in schäumenden Wassern. Er reißt sich das Kruzifix vom Hals und wirft die Kette hoch in die Luft. Es schleudert blaue Blitze in dem wässrigen Licht. Die Möwen stoßen herab. Mit einem Kreischen fängt eine das Kreuz im Schnabel. «Es gibt keinen Gott», schreit der Pfarrer und verflucht die Himmel. 337
So, zu guter Letzt leugnet er seinen grausamen Himmels‐ gott. In diesem Punkte kann ich ihn nur loben, wenn er auch reichlich lange gebraucht hat. ■
Später, zu jener Stunde, die Himmel und Ozean in Brand setzt, das Eiland mit gelbroten Flammen beleckt und scharfe Nachtwinde auf mein Quartier hetzt, öffne ich die Gold‐ kisten des Kommandanten. Ich bewundere meine erlesene Sammlung, Münzen im Dutzend, die römische Kamee, die Achatvase, die Medail‐ lons, die Kästchen mit Betelnüssen, die Silberschalen, mein Weib natürlich – und doch fange ich an mich zu fragen, ob diese Schätze genügen, ob sie wirklich befriedigen, wo es doch immer auch neue zu entdecken gibt. Ich nehme die wertvolle Vase von ihrem Platz und fahre mit dem Finger die Adern der Akanthusblätter entlang, über die perlenartigen Früchte, die geriffelten Hörner der beiden Köpfe Pans, die Locken ihrer Barte, bis zur Durchsichtigkeit honigfarbenen Porzellans, geschliffen von einem ekstati‐ schen Kunsthandwerker des fünfzehnten Jahrhunderts. Und doch macht seine Schönheit mich so müde. Presst mich nieder, erdrückt mich. Ich brauche etwas Neues, dem ich nachjagen kann, das meinen Appetit anregt. Etwas Besseres. Ich könnte die Vase bei einer Auktion versteigern lassen und sie ohne Skrupel in die Hände eines Fremden wechseln sehen. Es gibt so viele Kunstwerke. Und nicht ein einziges ist von wirklich unschätzbarem Wert oder überragender 338
Bedeutung. Vielleicht fühle ich genau das Gleiche für mein Weib. Viel‐ leicht habe ich erkannt, dass man auch das erlesenste Stück nur für kurze Zeit wirklich besitzen kann, bevor man fest‐ stellt, dass man es verkaufen und weiterziehen möchte. Ich verwöhne mein Weib nicht länger mit Delikatessen. Wozu, wo sie nichts zu geben bereit ist, aber doch so viel verlangt? Wenn Carp daran denkt, stellt er ihr einen Teller hin, die ganz gewöhnliche Ration, eine dicke Scheibe Brot vielleicht, mit Schweinefett beschmiert. Ich habe auch ihren Weinkonsum gesenkt. Die schweren roten Burgunder neigen dazu, in einer so schmächtigen Person melancho‐ lische Säfte freizusetzen. Ich schenke mir nach, proste ihr zu und nehme einen lan‐ gen, tiefen Schluck. Heute Abend, im kalten Licht der Kerzen, sieht Lucretia verbittert und ausgemergelt aus. Ich gestehe eine gewisse Ungeduld mit meinem Weibe. Die nur dem Namen nach mein Weib ist. Sie, die mir ihr Leben verdankt. Die ritterliche Brautwerbung hat lang genug gewährt. Ich hebe das Moskitonetz. Sie sitzt im Schneidersitz an der Wand, die Füße stecken unter den zerknüllten Laken. Ich bin schockiert über die verdreckten und zerschlissenen seidenen Betttücher, die einst die Koje des Kommandanten zierten. Es scheint eine Ewigkeit vergangen, seit ich mein Weib in den besten Putz ihrer schönen Schwestern kleidete. Jetzt ist das elegante grüne Gewand abgetragen und fadenscheinig, am Saum zerfranst. Auch der kupferne Glanz ihrer Haare wirkt matt und stumpf. Ihr Gesicht ist von kränklicher 339
Blässe. Sie sieht ungewaschen aus und teigig. Ihr Bett ver‐ strömt einen säuerlichen, muffigen Gestank. Ich frage mich, wann sich Carp das letzte Mal ihrer Toilette angenommen hat. Ich beuge mich vor und streichle die Kamee an ihrer Kehle. Sie hebt den Kopf und starrt mich teilnahmslos an. Ich breche den goldenen Verschluss. Das samtene Band fällt ihr in den Schoß. Ich habe es wohl zu fest gebunden, denn auf der entblößten Haut an ihrem Hals sehe ich raue, rote Striemen. Ich ziehe ihr den Smaragdring vom Finger und presse ihre Hand an meine Wange. Heiße Tränen suchen sich ihren Weg entlang der Linien in ihrer Handfläche. Warum weine ich? Doch gewiss nicht um dieses wortlose Weib, das, unbewegt und unberührt von meiner Trauer, so reglos dasitzt. Eine Motte fliegt unter das Moskitonetz. Lucretia beachtet sie nicht. Die Motte flattert über die Laken. Lässt sich auf ih‐ rem Arm nieder, streift ihre Lippen. Und Lucretia lässt es sich bieten. Gewährt dem Tier Intimitäten, die sie mir verweigert. Sie ist zu weit gegangen. Ich läute nach Wouter. Er erscheint grinsend wie ein Satyr, zerzaust und unge‐ kämmt, nicht einmal rasiert, ohne Hut und ohne Halskrause, die goldenen Trassen auf seiner Jacke sind blutbespritzt, und mir wird bewusst, wie die Würde auf dieser Insel verloren geht. Der Ratsvorsitzende gibt ein schlechtes Bei‐ spiel. Ich werde ihn für seine Nachlässigkeit maßregeln müssen. Aber kommen wir zuerst zu meinem eigentlichen Anlie‐ gen. Ich nehme ihn zur Seite und erkläre ihm, dass ich weder mit Zärtlichkeit noch mit Zorn zum Ziel gelange. 340
Wouter begutachtet mein Weib mit dem geübten Auge des Kaufmanns. Sie drückt sich an die Wand. «Ihr wisst nicht, wie damit umzugehen ist?», fragt er. «Ich werde sie schon so weit bringen.» Er marschiert zum Bett und reißt das Moskitonetz auf. Mein Weib kauert in ihrer Höhle. Sie hüllt sich in die Laken und wirft das Haar zurück. «Wenn Ihr Euch weigert, mir zu Gefallen zu sein», sage ich, «wird Eure Schönheit welken und vergehen, und ehe Ihr Euch̉ s verseht, werdet Ihr eine alte Jungfer sein, deren Atem nach geronnener Milch riecht und die ihren Katzen dummes Zeug erzählt, und auf dem Markt werden die Leute mit Fin‐ gern auf Euch zeigen.» Wie gewöhnlich straft sie mich mit Nichtachtung. Wouter steht vor ihr. «Ich höre Klagen über dich.» Seine Stimme ist streng. Mein Weib hockt auf den Knien und verbirgt ihr Gesicht in den Händen. «Du kommst den Wünschen des Generalkapitäns nicht nach, nicht im Guten», sagt er. Wouter beugt sich vor und schüttelt sie grob. «Du musst dich jetzt entscheiden.» Sie blinzelt durch die Finger zu ihm auf. «Entweder du gehst den Weg der anderen», sagt er, «oder du tust, was wir von den Frauen verlangen.» Sie wiegt sich vor und zurück und vergräbt den Kopf in ihren Armen. Ungeduldig packt Wouter sie bei den Hand‐ gelenken. «Na los, zeig dem Generalkapitän dein hübsches Gesicht.» Sie kämpft wie eine Katze. Doch Wouter ist stärker. Er 341
packt sie um die Hüfte, reißt ihr wunderschönes Haar zurück und legt ihr eine Hand an den Hals. «Kommt, Generalkapitän», sagt er, «gebt der Dame einen Kuss.» Mein starrköpfiges Weib beißt die Zähne zusammen. Ich suche sie mit meiner Zunge. Doch bald bin ich ihres man‐ gelnden Verlangens überdrüssig, ziehe einen Stuhl heran und befehle Wouter, mein Fohlen für mich zuzureiten. Er läuft auf der Stelle hochrot an und lässt Lucretia fahren. Sie reibt sich die blauen Flecke an den Handgelenken und starrt mich mit inständig flehendem Blick an. Ich sehe, dass sie zittert. Hilflos wandert Wouters Blick zwischen mir und Lucretia. Ich klatsche in die Hände zum Zeichen, dass die Vorstel‐ lung beginnen möge. Doch meine Marionetten geben sich schüchtern und entmutigt ob dieser Wendung, die unser Spiel genommen hat. Wouter lässt gar schamerfüllt den Kopf hängen, er, der sich an allen unseren Frauen gelabt und gütlich getan hat, außer, natürlich, an der schönen Lucretia. Bis zum heutigen Abend. «So», sage ich. «Diesmal seid also Ihr es, der mich ent‐ täuscht.» Seine Wangen brennen blutrot. Ich lächle. Diese schüchter‐ ne Bescheidenheit, man möchte den Burschen nachgerade für eine Jungfrau halten, dem angesichts der leuchtend nackten Unschuld der ersten Liebe der Mannesmut versagt. Als ich uns einen dreifachen Branntwein einschenke, macht Lucretia einen Satz auf die Tür zu. Wouter packt sie und wirft sie aufs Bett, wo sie schluchzend liegen bleibt. Er nimmt einen kräftigen Schluck. 342
«Ist das ein Befehl, Mijnheer?», fragt er mit leiser Stimme und betrachtet mein Weib mit prüfendem Blick. «Ihr würdet mir die größte Freude machen», antworte ich. Zu guter Letzt knöpft Wouter sich mit hastigen Fingern die Hosen auf. Er tritt die Stiefel von den Füßen und öffnet lang‐ sam Jacke und Hemd. Ich genieße es, ihm zuzusehen, und zum ersten Mal seit langer Zeit spüre auch ich eine Regung. Es gibt so vieles zu bewundern an meinem geschmeidigen, heidnischen Faun. Ich bitte ihn, nackt vor mir auf und ab zu marschieren, nur mit dem Hut des Kommandanten bekleidet, und bedeute ihm, sich von allen Seiten zu zeigen. Ein mutwilliges Lächeln spielt um Wouters Lippen, er stolziert auf und ab, die Hände an den schmalen Hüften. Mir scheint, dass auch er erregt ist von der Heiterkeit unserer Spiele und Geschmack findet an der Aussicht, sie noch ein ums andre Mal spielen zu können. Lucretia hat die Arme um die Knie geschlungen und sich an der Wand zu einer Kugel zusammengerollt. Wouter, der Verführer, der Verstohlene, schleicht sich zum Bett. Der Schweiß läuft ihm in glänzenden Rinnsalen über den straffen, starken Rücken. Als er näher kommt, schreit Lucretia auf. «Mein liebster Jüngling», sage ich, «zögert nicht, sie hier‐ mit zu züchtigen.» Ich reiche ihm einen geschnitzten Stock mit scharfen Ker‐ ben und grausamen Knoten aus Tau und Leder, den ich liebevoll für diesen Moment vorbereitet habe, für den Voll‐ zug unserer Hochzeitsnacht. Und Wouter tut, wie ihm geheißen. Immer und immer 343
wieder. Ich genieße das Schauspiel, die außergewöhnliche Choreo‐ graphie. Mein Weib wehrt sich. Wouter reitet sie mit schnel‐ len Stößen. Ab und an verspüre ich den Drang, die eine oder andere Szene zu unterbrechen, gewisse Stellungen anders zu gestalten, die Rollen neu zu verteilen. Wie bei jedem Tableau geht es auch hier darum, Perspektiven zu entwickeln, Sze‐ nen zu komponieren; kurz, der Zeremonie von Anbeginn an ein Protokoll zu verleihen. 344
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m sechsunddreißigsten Tag liegt mein Weib auf dem Bett und winselt wie ein geprügelter Köter. Draußen geht ein sanfter, warmer Wind. Ich denke, dass sie lang genug hier eingesperrt war. Die Ozeanbrise wird ihr gut tun, wird Farbe auf die blassen Wangen zaubern. Außer‐ dem ist es an der Zeit, dass Carp das Bettzeug wäscht, die zerrissenen, befleckten Laken. Denn obschon meine Leiden‐ schaft geschwunden ist, werde ich sie nicht aus meiner Für‐ sorge entlassen. Ich entriegle die Tür. Sonnenlicht flutet über das Bett. Lu– cretia stöhnt und schirmt ihr Gesicht mit einer Hand ab, als wolle sie vermeintliche Schläge abwehren. Ich spüre eine neuerliche Welle der Zärtlichkeit für dieses mein Weib in mir aufsteigen. Nie zuvor habe ich sie so gebrochen, so allein gesehen. Sanft hebe ich meine Braut auf die Arme und trage sie nach draußen. Über unseren Köpfen stößt ein Vogel einen langen, schrillen Warnschrei aus. Lucretia unternimmt keinen Versuch, sich zu wehren. Ich staune, wie leicht sie ist. Wenn ich sie fahren ließe, sie würde davonfliegen und wie Distelwolle über das Buschwerk schweben, ihr Haar würde sich in den Blättern verfangen. Ich beschließe, sie auf meinen hölzernen Thron in den Schatten zu setzen. Als ich Anstalten mache, ihre Hände und Füße mit einem Seil zu binden, faltet sie ohne Gegenwehr die Hände hinter dem Rücken, fast als wolle sie mir helfen. Ich lege ihr stramme Fesseln an, doch zuvor ziehe ich ihr 345
die Ärmel über die Handgelenke, damit das raue Seil ihre zarte Haut nicht wund scheuert. Seht, wie ich für sie sorge. Ihre Augen sind riesig und nach innen gekehrt, als habe sie sich in einen dunklen, fernen Winkel ihrer Selbst zurück‐ gezogen. Ich ertrage es nicht, ihr lange ins Gesicht zu sehen. Später höre ich das Geräusch von Schritten auf dem Pfad. Sie versteift sich und fährt bei jedem Knacken eines Zweiges zusammen. Wouter muss sich in der Zeit geirrt haben, verabredet war die violette Stunde, wenn das Licht voller Ruhe ist und lange, träge Schatten auf das Bett wirft. Doch nicht Wouter, sondern der Pfarrer ist unser ungebe‐ tener Gast. Wer hätte gedacht, dass er so flink, so leichtfüßig sein kann? Nun, seine Speckschwarte schmilzt dahin wie ein Sorbet. Mein Weib starrt ihn an, als versuche sie sich zu erinnern, dann schüttelt sie den Kopf und runzelt die Stirn. Als er sie erblickt, bleibt der Pfarrer stocksteif stehen. Er scheint in seinem Gewand zu schrumpfen, als sei aller Atem aus ihm herausgeprügelt worden. Dann kniet er zu ihren Füßen nieder und nestelt an den verknoteten Fesseln. Mir schwindelt vor Verlangen, als ich daraufwarte, dass sie die Lippen öffnet und spricht. Zuerst rollt sie die Laute im Munde hin und her. Doch meine edle Dame muss erkennen, dass ihr die Worte im Halse stecken bleiben. Sie würgt fast daran. In der alten Welt würde sie in der Zwangsjacke in einer Anstaltszelle gehalten. Der Pfarrer ist noch immer damit beschäftigt, die Knoten ihrer Fesseln zu lösen. 346
«Nein, lasst mich», bringt sie schließlich hervor. «Dies hier ist mein Platz.» Hat mein widriges Weib also ihre Wahl getroffen. Schade nur, dass es zu spät ist. «Sie morden Frauen und Kinder», flüstert der Pfarrer. Mein Weib öffnet den Mund, um zu schreien, aber kein Laut kommt über ihre Lippen. Der Pfarrer schließt sie in die Arme. Er lässt sie wütende Tränen vergießen, bis sie nicht mehr weinen kann und den Kopf an seine Schulter lehnt. In dieser hassenswerten Haltung verharren sie eine Weile, bis er ihr sanft, mit unendlicher Zärtlichkeit und einem ver‐ dreckten Taschentuch die Augen trocknet. Das tränenüberströmte Gesicht zu ihm auf gewandt, hält mein Weib ihn für ihren Jesus und sich selbst für ein schutz‐ suchendes Lämmlein. Wieder versucht der Pfarrer, die Fesseln zu lösen. Wieder schüttelt sie den Kopf, will seine Hilfe nicht. Mein gewieftes Weib ist nicht auf den Kopf gefallen. Wenn die Händler ihr auf die Schliche kommen, wenn sie erfahren, dass sie die ganze Zeit über Privilegien genossen hat, die ihnen versagt blieben, nun, sie würden ihr die Glieder einzeln ausreißen. Während ich den Geistlichen beobachte, der sich zögernd zurückzieht, beschließe ich, eine Lustbarkeit zu arrangieren, ein Fest zur Feier unseres ersten Monats auf dieser Insel. Überdies ein willkommener Zeitvertreib für meine Jünglin‐ ge. Sie kommen mir mit Klagen, werden aufsässig. Die Insel bietet wenig Ablenkung, sagen sie. Heute Abend sind der Pfarrer und seine älteste Tochter eingeladen, in meinen Gemächern zu speisen. Er wird sein Mahl genießen, den Wein trinken, sein Brot in die Soße 347
tunken. Auf mein Zeichen, wenn ich zum dritten Male mit dem Zeigefinger gegen die Branntweinkaraffe tippe, wird Wouter sich zu seiner Hütte schleichen. «Schlaft ihr schon?», wird er dem jüngsten Kinde des Pfar‐ rers zurufen. Die Kleine wird vor die Tür treten und sich die ängstlichen Hasenäuglein reiben. «Willst du mir Böses tun?» Bei diesen Worten wird er ein verführerisches Höflings‐ lächeln auf seine Lippen zaubern und ihr einen Arm um die Schultern legen. «Nein, nein, meine Kleine, ganz gewiss nicht.» Und die Nacht wird widerhallen vom Hieb der Axt. 348
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es Pfarrers älteste Tochter heißt Judith. Ein guter, alt‐ testamentarischer Name. Diese frühen biblischen Frauenzimmer waren zäh, aus härterem Holz geschnitzt als unsere schönen, sanften holländischen Mädchen. Die friedfertige Judith mit den langen Wimpern sitzt neben ihrem Vater und kann den Blick nicht von dem Festessen wenden, das vor ihr auf dem Tische steht. Möwenflügel natürlich, heute in einem duftenden Ragout mit Sauer‐ ampfer und Fenchel. Geschälte Taubeneier in Aspik. Ein gutes halbes Dutzend Korallenfische so groß wie Forellen, vom Schwanz bis zum Maule aufgespießt. Der Neumond hat sich vom Horizont gelöst und zappelt in einem Spinnennetz heidnischer Sternbilder. Beim Wein beginnen wir mit einem aromatischen portu‐ giesischen Roten. Judith gafft in vollkommenem Staunen, als würde eine ihrer heiligen Reliquien blutige Tränen weinen. Der Pfarrer hingegen ist nervös wie eine Katze. Dem Fest‐ essen vor sich schenkt er nicht die geringste Beachtung. Carp serviert das reichhaltige Ragout. Verteilt es behutsam auf die Zinnteller. Ich ermutige den Pfarrer, den würzigen Dampf einzuatmen, denn Carp hat sich zu einem exzellen‐ ten Koch gemausert. Als er einen Teller vor die heißhungrige Judith setzt, packt sie den Löffel und macht sich daran, die Sauce zu schlürfen und an den Möwenknochen zu nagen. Darin gemahnt sie 349
mich an mein Weib, das nicht willens war, an unserem fest‐ lichen Mahl teilzuhaben, und drinnen zusammengekauert auf dem Bette liegt. Seltsam, aber der Tag en plein air hat Lucretias Verfassung nicht wohl getan. Auch der Besuch des Pfarrers vermochte sie nicht aufzumuntern. Als ich sie zur vereinbarten Stunde zu ihrem Lager trug und nach Wouter läutete, tobte sie wie von Sinnen in Fieber und Raserei. In ihrem Jähzorn hat sie sogar gesprochen. Hat gedroht, sich die Augen auszukrat‐ zen, um nie wieder mein Gesicht zu sehen. Nachdem Wouter sich verabschiedet hatte, entzündete sie eine Wachskerze und wollte mein Quartier niederbrennen. Doch der Docht, mit Salz verkrustet, knisterte nur und wollte nicht einmal den Saum ihres Kleides in Brand setzen. Dennoch, es wäre mir nicht recht, wenn mein hübsches Weib leichtsinnig würde und sich selbst verunstaltete. Wie lüstern Wouter auf seine neue Braut schielt. Er ist froh über meine Entscheidung, Judith zu retten, schenkt ihr Wein nach und begrüßt ihren gesunden Appetit. De Beere, wähle‐ risch und formvollendet wie immer, filetiert den Fisch mit chirurgischem Geschick. Judiths schmatzende Völlerei quit‐ tiert er mit missbilligenden Blicken. De Beere präferiert seine zierliche, enthaltsame Gemahlin, die mittlerweile so ausge‐ mergelt ist, dass ich mich frage, wie sie die Nächte übersteht. Der Pfarrer schiebt seinen Teller zur Seite. Judith reißt ihn gierig an sich und schlingt seine Portion hinunter. «Nun, Mijnheer Pfarrer», sage ich und reiche ihm den Fisch auf einem goldenen Teller, «Ihr scheint unpässlich heute Abend. Darf man fragen, was Euch fehlt?» Glüh‐ 350
würmchen flackern zwischen den Kandelabern umher. Der Pfarrer hebt den schweren Kopf. Betrachtet mich mit irrem Blick. Seine Pupillen sind geweitet. Diesmal muss ich mich fragen, ob er sich am Opium vergriffen hat. Ich bedeute De Beere, mir den Branntwein zu bringen. «Womöglich plagt Euch ein Fieber», sage ich und nehme die Karaffe entgegen. «In letzter Zeit waren die Nächte feucht, und es liegt Donner in der Luft. Ein Gläschen Brannt‐ wein wird Euch gut tun.» Als ich das erste Mal mit dem Finger an den Silberrand der Karaffe tippe, stößt Wouter De Beere in die Seite. Pelgrom leert sein Glas. Beim zweiten Zeichen sind meine Jünglinge auf den Beinen und werfen sich die Umhänge um die Schul‐ tern. Beim dritten gebe ich ihnen die Erlaubnis, sich zurück‐ zuziehen. Ich schenke dem Pfarrer Branntwein ein. Sein Anblick macht mir Sorgen. Sein Gesicht ist aschfahl. Judith isst noch immer und leckt sich von einem Teller zum nächsten. Ich fürchte, der Geistliche wird uns nicht mehr lang mit seiner Gesellschaft erfreuen. 351
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m siebenunddreißigsten Tag betrachte ich mit Verwunderung den Wandel, der sich in unserem Pfarrer vollzogen hat – das ausgemergelte Gesicht, der wilde, starre Blick. Welch ein Theater um sein spitzzüngiges Weib, wo ich Wouter danken würde für seine Tat, die, wie ich höre, nicht leicht zu vollbringen war. All ihren Gebeten und hergesagten Psalmen zum Trotz war die Frau des Pfarrers nicht gar so erpicht darauf, ihrem Herrn zu begeg‐ nen. Es brauchte fünf Hiebe mit der Axt, sagt Wouter, bis ihr Schädel platzte wie eine Kokosnuss. Dabei hat der Pfarrer allen Grund, sich glücklich zu schät‐ zen, schließlich hat der Rat ihn am Leben gelassen. Und doch, seht ihn euch an. «Sie erdrosseln schwangere Frauen, morden Männer und Kinder», heult er unten am Strand und blinzelt sich in der Sonne die Tränen aus den Augen. Mord, dass ich nicht lache. Diese Menschen haben ihr Schicksal selbst gewählt. Sogar Ihr, Mijnheer Pfarrer, habt Strafe verdient für Eure unzähligen Übertretungen, Eure heimlichen Gebete. Ihr müsst mich für einen Trottel halten. Ihr kanntet die Vorschriften des Rates und habt sie mit Vor‐ satz gebrochen. Nennt mir einen Mann in Amsterdam, der ein heimliches Stelldichein eines anderen mit seinem Weibe tolerieren würde. Und doch habt Ihr Lucretia ungebeten aufgesucht. Warum sollten Vorschriften für Euch nicht gel‐ ten, die an unserer Statt die Compagnie aufstellen würde? 352
Abgesehen davon, Ihr begreift nicht. Eure Zeit ist Euch nur geliehen. Wäre die Batavia nicht auf Grund gelaufen, ihr wäret schon vor über einem Monat verreckt. Der Schiffer war ein Mann, der zu seinem Worte stand. Wir hatten einen Pakt geschlossen. Beim ersten Signal wäre die Luk verram‐ melt worden, und ich erinnere mich nicht, Euren Namen auf der Liste gesehen zu haben. Stellt Euch nur Euer Entsetzen vor beim Dröhnen der ersten Nägel, die in das Holz geschlagen werden. Doch stattdessen wurdet ihr verschont und solltet dankbar sein für das Leben, das Euch geschenkt wurde. Und doch wolltet Ihr nicht eingestehen, dass ich ein guter Mensch bin. Lauscht den Melodien dieser windgepeitschten Insel, dem Sirren der Möwen im Flug und Wouters unaufhörlichem Gesang, der aus dem Lager schallt, gleichförmig wie das Rieseln des Sandes im Stundenglas. «Wer will einen Schlag ins Gesicht?», ruft er. «Wer will ein Messer ins Herz?» Wenn Wouters Geschrei ertönt, zucken die Schultern des Seelentrösters. Und erneut stimmt er sein Klagelied an. «Nichtsahnend sind wir zu dieser Hütte gegangen, Judith und ich, wie der Ochs zur Schlachtbank.» Meine Güte, so viele Tränen, man möchte meinen, das ver‐ dorrte Gebüsch müsste Blüten treiben. Es müssten Blumen wachsen so groß wie Trompeten, mit saftigen Stängeln und reinstem Nektar, an dem sich die Bienen berauschen. «Judith nahm ich mit mir, nichts Böses ahnend», sagt er. Meine Herren, was für ein Gejammer. «Frau und Kinder, alle gemeuchelt in jener Nacht, und ich – mit Judith, meiner Tochter.» Zu guter Letzt verflucht er die 353
unbewohnten Himmel, die gleichgültigen Sterne, die verein‐ zelten Wolken von Seeschwalben im Dämmerlicht. Ich werde meinen Spaß haben mit dem Kleriker. Heute Abend soll er der Hochzeit seiner einzigen Tochter vorsitzen. ■
«Ich habe ein Amüsement arrangiert», berichte ich meinem Weibe und nehme ihre geschundenen Hände in meine. Lucretia hat gelernt, diese Worte zu fürchten, meine raffinierten Methoden, die Zeit totzuschlagen – denn davon habe ich im Überfluss. «Heute Abend, meine Liebe», vertraue ich ihr an, «werdet Ihr Brautjungfer sein für Judith, des Pfarrers Tochter und schon bald Wouters wunderschönes Weib.» Ich küsse ihre kalten Lippen. Sie holt aus, mich zu schla‐ gen, doch ich packe sie bei den Handgelenken und ergötze mich an ihrem hilflosen Kampf. «Nicht doch, meine Liebe, keine Eifersüchteleien», sage ich. «Alle Mitglieder des Rates sind übereingekommen, die Gemahlinnen mit allen zu teilen, auch Euch, meine Schöne.» ■
Die fröhlich gestreiften Wimpel an Wouters Brautzelt flattern im Abendwind. Feuer wurden entzündet, Wein‐ fässer angestochen. Carp zupft eine muntere Melodie auf der Harfe. Er trägt Möwenfedern im Haar und Blutspritzer auf dem Hemd. Die Jünglinge haben sich mit ihrer Toilette alle Mühe ge‐ 354
geben. In der Tat, Judith ist ein glückliches Mädchen. Wie stolz ihre liebe Mama wäre, ihre Älteste mit Wouter ver‐ mählt zu sehen, jenem verheißungsvollen Jüngling aus Ams‐ terdam. Ich führe meine Gemahlin in einem Abendkleid aus wei‐ ßem Kambrik zum Quartier der Ratsherren. Beim Feuer am Strand stampfen meine Jünger zu den wilden Rhythmen ei‐ ner Trommel im Sand. Judith wird vor sie gezerrt, ihre angstgeweiteten Augen sind mit Kohle geschwärzt. Dahin‐ ter der Pfarrer, eine Schlinge um den Hals, ein weiteres Mal wie ein Ochs, der zur Schlachtbank geführt wird. ■
Danach ein Fest, wie es noch nicht gesehen ward. Wouter trunken vom Branntwein. Judith schwankt und stolpert über den Damastsaum ihres Kleides. Carp serviert den Champa‐ gner, erst den Damen, dann den Herren. Die Compagnie wäre stolz auf dieses Spektakulum. Toasts auf Holland und ein weiteres Mal auf den Generalgouverneur. 355
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m achtunddreißigsten Tag ist die Zahl der Menschen auf der Insel des Verrats auf einige wenige geschrumpft. Ich habe immer gewusst, dass ich meine Mission erfüllen würde. Wäre doch Torrentius hier, diese Zitadelle am Ende der Welt mit mir zu teilen. Hier habe ich jenen unerhörten Gar‐ ten Eden geschaffen, den es nur in seinen Träumen gab. Wie stolz wäre er zu sehen, dass ich sein Evangelium in alle vier Winde dieser Welt getragen habe. Ich habe seinem Glauben‐ satz vom absoluten Genuss ohne Schranke und Zensur wahre Bedeutung verliehen. Nur ich, Jeronimus der Auser‐ wählte, habe seine Vision geteilt. Denn er hat meine Sprache gesprochen. Wenn er von Lust erzählte, sah seine Gefolgschaft Bordelle vor sich, geschminkte Jünglinge, maskierte Flagellanten, während ich hier mit seinen Worten Wunder vollbrachte. Torrentius wusste um meine Macht. Er wusste, am Ende würde ich ihn in den Schatten stellen. ■
Seltsam, dass es ausgerechnet meine Tanten waren, die mich mit meinem Mentor zusammenbrachten. Er hatte sich unter den Damen Amsterdams mit seinen Miniaturen einen Ruf erworben, mit exquisiten Stillleben, detailreichen Komposi‐ tionen mit Fasanen und Früchten und verschlungenen wilden Blumen. Reizende Arrangements, die bei meinen 356
Tanten, welche seinem Atelier im Zentrum der Stadt regelmäßige Besuche abstatteten, stets einen guten Preis erzielten. Als sie mich zum ersten Mal in sein innerstes Heiligtum führten, einen Raum mit hoher Decke und dichten Vorhän‐ gen vor den Fenstern – er litt an Photophobie, einer extremen Empfindlichkeit gegen Tageslicht –, erhob Torrentius sich von seinem Sessel beim Feuer und streckte uns die Hände zur Begrüßung entgegen. Unvermittelt spürte ich den forschenden Blick seiner schwarzen, glän‐ zenden Augen auf mir ruhen, und ich schrumpfte. Während meine Tanten leise tuschelnd über den Preis kon‐ ferierten, den sie für die Miniatur einer Hundsrose, die es ih‐ nen besonders angetan hatte, zu bieten bereit waren, führte Torrentius mich durch einen Vorhang in ein geräumiges Vorzimmer. Auch hier hingen seine Werke an den Wänden, doch die Motive waren gänzlich andere und schon eher nach meinem Geschmack: feinsinnige Arrangements aus Ketten, Peitschen und Zaumzeug. Besonders beeindruckt war ich von einer kreisrunden Mi‐ niatur mit dem Titel Emblematisches Stillleben, die später zu‐ sammen mit den anderen auf Anweisung der Richter ver‐ brannt werden sollte. Es war eine Komposition aus Sporen, Geschirr und polierten Gebissstangen, die vor einem Hinter‐ grund aus schwarzem Samt ihren düsteren Glanz verbreite‐ ten. Im Vordergrund stand eine Zinnkanne mit grausam aufgerichtetem Schnabel neben einem Weinkrug von nuss‐ brauner Farbe wie der Wanst eines Bauern, die fleckige Glasur dem Kerzenlicht zugewandt. In der Mitte des 357
Gemäldes stand ein silberner Weinkelch, der Stiel mit Rubinen übersät, auf einem gefalzten Pergament, auf dem ich das Vaterunser rückwärts geschrieben entzifferte. Mein künftiger Mentor trat hinter mich und legte mir die Hände auf die Schultern. «Sag mir, was du siehst», flüsterte er. «Die Kanne repräsentiert Macht, uneingeschränkte und absolute Macht», antwortete ich. «Das Zaumzeug Unterwer‐ fung, der Krug Sinnlichkeit.» Er lachte vor Entzücken über meine einsichtsvolle Exegese. «Du hast dich lange genug von deinen Tanten verhät‐ scheln lassen», sagte er. «Es ist Zeit für den Hahn, das Hüh‐ nerhaus zu verlassen. Du wirst dein Lebenswerk unter meiner Führung beginnen.» Meine Tanten wurden immer gebrechlicher und vergess‐ licher, verlegten ihre Stickrahmen, das Riechsalz, Taschentü‐ cher, die Schlüsselringe. Sie wagten sich nur noch selten aus dem Haus und waren dazu übergegangen, ihre Schlafzim‐ mer des Nachts zu verriegeln. Drinnen hörte ich ihr verstoh‐ lenes, furchtsames Flüstern. Manchmal, wenn ich im Morgengrauen aus der Taverne heimkehrte, sah ich in ihren Fenstern Kerzenlicht schim‐ mern, und ich wusste, meine Tanten lagen ängstlich und schlaflos Seite an Seite unter der großen Häkeldecke, an der sie Jahr um Jahr gearbeitet hatten, als ich noch ein Junge war. Beim Essen musste ich nur mit meiner Tasse klappern oder einen Löffel fallen lassen, und sie fuhren verschreckt in die Höhe, als hätte jemand im Salon eine Salve Musketenfeuer abgegeben. 358
Dann sah ich meine Tanten an und versicherte ihnen mit einem Lächeln, dass sie ja mich hätten, den Herrn des Hauses, sie zu beschützen. Bei diesen Worten wurden sie still und tauschten Blicke. Sie erfanden dutzendweise Entschuldigungen, um mit ihren Tablettes auf ihre Zimmer entschwinden zu können – sie seien müde, hieß es dann, oder von Rheuma geplagt; eine hatte Migräne, bei der anderen war eine Erkältung im Anflug –, und in meinem letzten Jahr bei meinen Tanten speiste ich allein. Wann immer ich mich anerbot, ihre häufigen Beschwerden zu behandeln, setzten sie ein nervöses Lächeln auf und lehnten stets dankend ab. Auch entging mir nicht, dass sie, wie schwach und fiebrig sie auch sein mochten, darauf beharrten, alle häuslichen Arbeiten mit eigenen Augen zu überwachen – die Köchin an ihren Töpfen, die Magd beim Spülen des Geschirrs –, ungeachtet meiner wiederholter Hinweise, dass ihre lauernde Anwesenheit in der Küche ihrem Rang nicht angemessen sei. «Gewiss, mein Junge», murmelten sie und ließen sich von mir die Treppen hinaufführen, doch kaum kehrte ich ihnen den Rücken, hasteten sie zurück in die Küche. Beim Anblick ihrer müden, geplagten Gesichter fragte ich mich oft, ob das Alter, der Gang von sechzig Jahren, ihren Geist beeinträch‐ tigt habe, und abermals empfahl ich ein Heilmittel, was sie nur umso mehr in flatternde Aufregung versetzte wie Hennen auf der Stange, wenn sie den sanften, steten Schritt des Fuchses vernehmen, der um den Hühnerstall streicht. Sodass ich, als ich an jenem Abend meinen Koffer packte und meine Tanten ob meines bevorstehenden Auszugs Trä‐ 359
nen vergossen, wusste, dass sie im Grunde ihres Herzens er‐ leichtert waren. Sie konnten Torrentiusʹ Bitte, mein Vor‐ mund werden zu dürfen, nicht abschlagen und übertrugen ihm alle Verantwortung für ihren Schützling, der inzwi‐ schen zu einem groß gewachsenen, aristokratischen Frem‐ den herangereift war, nicht länger ihr geliebter, kindlicher Cherubim, sondern ein eigensinniger Jüngling von siebzehn Jahren. Ich schloss mich den Jüngern Torrentius̉ an, die sich mit ihrem Schwur zu seiner geheimen Sekte bekannt hatten. Doch mir war stets bewusst, dass ich allein war, denn ich be‐ saß ein Wissen, auf das ich nur leise anspielen konnte, von dem die anderen augenscheinlich nichts ahnten und das sie zumeist auch nicht teilen wollten. Nur mein Freund Torrentius vermochte das Durcheinan‐ der der Zungen in meinem Kopfe zu entwirren. Wenn seine Jünger sich zurückgezogen hatten und außer der Glut im Kamin alles still ward, lud er mich oft auf ein Glas Armagnac in sein Arbeitszimmer. Es waren dies die violetten Stunden so vieler Geschichten. ■
«All das war vor langer Zeit. Ich erinnere mich, wie mir die Diamanten in den Taschen klimperten, als ich in fremden Wüsten Zedernkästchen voller Weihrauch und Myrrhe feil‐ bot. All das war vor langer Zeit, als ich in einer dürren Zeit der Zeichen und Kometen Meile um Meile über wellige Dünen wanderte. Ich erinnere mich an eine weiße Stadt mit hohen Mauern. Sand pfiff durch die kopfsteingepflasterten 360
Gassen, sammelte sich vor den Brunnen auf den menschen‐ leeren Plätzen, rieselte wie aus zerbrochenen Stundenglä‐ sern über die Stufen der Stadt. Die Straßen waren verlassen. Die Tavernen ausgestorben. Ich hämmerte gegen die Türen. Nirgends ein Geräusch, nicht einmal das Klappern von Würfeln auf einem Tisch, das Porzellanklirren von Jasminteetassen oder ein zänkischer Portier, mich zu begrüßen. Die Stille der Stadt dröhnte in meinen Ohren. Schließlich gelangte ich zu einem einfachen Gasthaus, wo drei alte Männer halbherzig eine Partie Backgammon spiel‐ ten. Sie kämen aus einem fernen Königreich, erzählten sie mir, und reisten gen Norden, wobei ein einziger Stern ihre Schritte lenke. Sie konnten mir nicht sagen, warum die Stadt verlassen sei, noch was genau sie hierher getrieben habe. Doch bevor sie sich wieder ihrem Spiel zuwandten, breitete ich, der Kaufmann, meine Waren vor ihnen aus: entknotete die Musselinbeutel mit Süßwaren, öffnete die Kästchen mit Gewürzen, entkorkte die Parfümphiolen. Zum ersten Male schenkten sie mir ihre ganze Aufmerksamkeit. Und ohne zu feilschen, kauften sie Weihrauch und Myrrhe zum Fünffachen des Preises, den ich mir erhofft hatte. ‹Geschenke›, murmelten sie und tauschten verstohlene Blicke, doch auch als ich in sie drang, wollten sie nicht mehr sagen. Wir setzten unsere Reise gemeinsam fort und blieben ein oder zwei Wochen lang zusammen, bis wir in ein kühles, grünes Tal gelangten. Wir trennten uns bei einer kleinen Ortschaft, die sie begierig waren zu erreichen. Es waren 361
viele Menschen dort, die in den Olivenhainen lagerten. Eine festliche Atmosphäre lag über dem Städtchen. Die Balladen des Troubadours, die Possen der Zwerge, die mit Blumen‐ girlanden geschmückten Kinder ließen mich an einen Zirkus denken oder einen fahrenden Jahrmarkt. In einer Scheune zwischen dem Vieh knieten die drei Männer nieder und hielten das neugeborene, greinende Kind einer Fremden gen Himmel. Jahre später, als ich im Schneidersitz beim Hochzeitsfeste in Kana saß, jenem elenden Hühnerkaff, warnte ich die Heilige Familie, die ganz in edles Blau gekleidet war, dass ihr Sohn ein schlimmes Ende finden würde.» Dies war Torrentius̉ liebste Geschichte. Er nahm die grün‐ gefärbten Gläser der Lorgnette herunter, die ihm der Arzt verschrieben hatte, und rieb sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch. «Vous êtes un komme qui sait tout», sagte er, «mais qui meurt jamais.» Wie er mich umschmeichelte mit seinem formvoll‐ endeten Französisch. Und es gab noch andere Geschichten. ■
«Nordfrankreich, weit in der Saison der Vendange. Ich erinnere mich, wie ich mich neben ein flohverpestetes Bett kniete und einer Bauernmagd lüsterne Worte ins Ohr flüs‐ terte. Ihr Name war Jeanne, wenn ich mich recht entsinne. Sie war empfänglich für meine Stimmen. Ich war es, der ihr das flachsblonde Haar schnitt und ihr eine Rüstung anlegte wie einem Chevalier. Am Pfahl, kurz bevor die Feuer 362
entzündet wurden, offenbarte sie der leichtgläubigen Men‐ ge, sie sei vom Teufel verführt worden. Ich genoss die schrillen Schreie, die über dem Mob in die Lüfte stiegen, beißend wie Knoblauch in einem gewaltigen Cassoulet. Ich nahm die Henkersmütze ab, verbeugte mich und dankte ihr für das brave Kompliment.» 363
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eltsam, dass unter all den Schätzen der Nation, den goldgefüllten Truhen der Compagnie, ausgerechnet unser Pfarrer unsere wertvollste Ware ist, das wichtigste Gut des Rates, der lebende Beweis, dass wir Gutes tun, ohne den alle Verhandlungen mit den Soldaten von Misstrauen durchdrungen wären. Als ich dem Pfarrer mitteile, dass er mit uns auf dem Floß zur Berginsel fahren wird, fleht er mich um die Erlaubnis an, Judith mitzunehmen. Ich mahne den besorgten Vater zur Vernunft. Sie ist Wouters Gemahlin und nicht länger seine Tochter. Eine gute, hübsche Gemah‐ lin obendrein – wenn auch recht mollig für meinen Geschmack –, die brüderlich mit allen Ratsmitgliedern zu teilen ist. Denn die Monogamie habe ich seit jeher für über‐ holt gehalten. Der Pfarrer fällt zu meinen Füßen auf die Knie. «Tötet mich, nur schont mein einziges Kind.» Dieser Geistliche ist ein trauriger, armseliger Geselle. Wie viele Männer seines Metiers leidet er an einer fiebrigen Phantasie, gespeist aus den blutrünstigen Legenden der Bibel, jener populären Dichtkunst, die aus allen Schulen verbannt gehört. Sein ständiges Geschwafel von Mord beginnt mir an den Nerven zu zerren, zumal ich ihm eine Hochzeit ausgerichtet habe. In Amsterdam wäre seine verdrießliche Tochter als alte Jungfer geendet, hier jedoch hat sie bei meinen Jungen die Erlösung gefunden. Der Mann muss lernen, sich zusammenzureißen. 364
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m vierzigsten Tag kleide ich mich in meine volle Pracht. Der Wind spielt mit der Feder an meinem Hut. Wouter hievt den Pfarrer auf das Floß. Alles ist genau so, wie ich es erwartet habe. Und doch scheinen die Soldaten beinah zu leicht zu verführen. Ich vermisse die Heraus‐ forderung. Als sie mich übersetzen, sind meine Jünglinge unnatürlich still. Dann lächelt Wouter erfreut. «Ich habe einen phantastischen neuen Plan erdacht.» «Und der wäre?» Eifrig und mit verschwörerischer Miene dreht er sich zu mir um. «Wenn ein Schiff kommt, uns zu retten, sollten wir es en‐ tern und als Piraten nach Madagaskar segeln.» Aus diesem Winkel, hinter ihm, sieht sein Genick zer‐ brechlich aus. «Guter Gedanke», sage ich und zause ihm das blond ge‐ bleichte Haar. Manchmal vergesse ich, dass sie noch Kinder sind. Für sie ist alles ein Spiel, eine Mutprobe. Gleich fahren wir über das Wrack. Werden wir wagen, in die Wellen zu blicken? Tief unten wabert das versunkene Schiff. Die gebrochenen Masten tragen Segel aus Tigergras. Anemonen versiegeln die Bullaugen mit ihren Saugnäpfen. Die Fracht der Ehrenwerten Vereenigden Compagnie be‐ deckt den Meeresboden wie ein Teppich, klebt wie Krebse auf den Felsen. Gold‐ und Silbermünzen wirbeln in der sanften Strömung und schicken ein unirdisches Licht an die 365
Oberfläche. Als wir uns der Berginsel nähern, betrachte ich die Solda‐ ten durch mein Fernrohr. Jämmerlich anzusehen, halb nackt, stehen sie in einer Reihe am Strand. Beim Anblick des Floßes brechen sie in Jubel aus. Hayes schwenkt eine weiße Fahne. Sie setzen einen Scheiterhaufen in Brand, der auf den Felsen aufgetürmt ist. Ich bin gerührt von dieser unbeholfenen, schlichten Zeremonie, fühle mich gar geehrt, und ich salu‐ tiere. ■
De Beere breitet seinen Umhang auf dem Sande aus. Ich trete an Land. Die Schnallen auf meinen polierten Kalbs‐ lederstiefeln blitzen. Bald wird mein Gefolge neue Ratsuni‐ formen tragen, bestickt mit goldenen Fleurs‐de‐lys. ■
Hayes, mein Mitverschwörer, und einige seiner Männer kommen mir entgegen. Die anderen werfen weiter Blätter und Zweige in das Feuer. Einige reißen sich zu meiner Über‐ raschung sogar die zerschlissenen Hemden vom Leib und schleudern sie in die Flammen. Und an einem Mast flattert die weiße Fahne. Ein solches Spektakel, eine Feier von solchem Ausmaße habe ich nicht erwartet, und ich bin geschmeichelt von ihrer Ergebenheit. Ich strecke Hayes beide Arme zum Willkommen entgegen, will ihn ans Herz drücken, meinen einzig wahren Freund. Es ist an der Zeit für eine Rede. 366
Seine Männer stehen im Kreis um mich. Ich heiße sie nie‐ derknien. Und als ich zu sprechen anhebe, rauscht meine Stimme wie der Lärm einer Menge von Menschen – Und plötzlich, alle zugleich, fallen die Soldaten über mich her. Das Fernrohr wird mir aus der Hand geschlagen und zer‐ bricht zu meinen Füßen – es ist Hayes, der mich zu Boden wirft. Ich scheue die kalte Berührung seiner Haut. Raue, wergene Stricke schneiden in meine Handgelenke. Ich höre, wie sich Schwingen ausbreiten und ein Rauschen die Luft erfüllt. ■
Auf den Inseln aller Meere wird sich Grauen verbreiten ob dieses Endes. Dass ich, Jeronimus, ein Mann der Phiolen, Generalkapitän der Korallenbänke, so schmählich verraten wurde von Hayes, meinem einzigen Freund. Ich trauere um mein verlorenes Reich unter seiner Dornen‐ krone, dem dunklen Kreis der Seeschwalben. In meinem Herzen wohnt unaussprechliches Leid. Ich denke sogar da‐ ran, davon zu gehen, all dem den Rücken zu kehren, in die Wildnis zu entschwinden, ins Schweigen. Heißt mich einen Verrückten, aber diese Zitadelle am Ende der Welt, die ich geschaffen habe, ist alles, was ich je begehr‐ te, dieser Flecken Land inmitten der Meere alles, was ich je gewollt, alles, was ich brauche. Wenn ihr mich jetzt fragtet, ich würde sagen, dies ist die 367
Stunde des Bösen, wenn die Sonne in der grauenvollen Weite des wolkenlosen Himmels zu einer Nadelspitze schrumpft, wenn die Erinnerung schwindet und die Zeit ohne Erklärung vergeht. Dann sehe ich es. Auf den Horizont gemalt. Flimmerndes Trugbild. Das Rettungsschiff, das die Insel bei Niedrig‐ wasser sichtet.
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Epilog Sie halten mich hier, auf meiner Insel, in meinem verlorenen Reich, das sie Batavias Grab nennen, in einer verdreckten Grube, getrennt von den anderen. Keine Liebe haben sie für mich, aber Angst, ich könne eine Meuterei anzetteln. Spione allesamt. Die Wächter wie die Gefangenen. Und verschont mich mit dem Kommandanten. Jenem Offizier mit Perücke und Epaulettes, der uns alle verraten hat. Wie ich ihn verachte, seine verlogenen Predigten, seine verkniffene Frömmig‐ keit, das Zittern seiner weichen, weißen Hände, wenn er in seiner kostbaren, kalbsledergebundenen Bibel blättert. ■
Heute Morgen befahl mir der Kommandant, niederzuknien und die Worte Gottes zu empfangen. Ich habe entgegnet, er möge mir bloß den Kleriker vom Leibe halten mit seinen bösartigen und gemeinen Lügen, den Geschmacklosigkeiten, die er gegen mich ins Feld führt und die ich unter Androhung der Wasserfolter gezwungen bin zugestehen. Ich werden mich diesem scheußlich stinkenden Trichter nicht noch einmal unterwerfen. Unter Folter erpresste Geständnisse sind verabscheuungswürdig und null und nichtig. Dieser Prozess ist eine Farce. Über meine Schuld ist längst entschieden. Draußen werden Nägel ins Holz geschlagen. Sie bauen einen 370
Galgen. Ich soll von geborgenen Planken und Treibholz baumeln. Man gab mir drei Tage, meine Sünden zu bereuen. Als ich das hörte, spuckte ich dem Kommandanten ins Gesicht. «Habe ich recht gehört?», sagte ich. «Drei lausige Tage?» Er zuckte zurück und wischte sich mit einem Spitzentaschentuch die Spucke von den Lippen. «Wo steckt Wouter?», schrie ich. «Knüpft ihn an den Strappado, hängt ihn an den Armen auf, brecht ihm jeden Knochen im Leibe – und schon bald werdet ihr die Wahrheit hören und von meiner Unschuld erfahren.» Das hat diesen Mummenschanz von einem Gericht zum Schwei‐ gen gebracht. Sie sahen mich seltsam an, und ich habe gelacht und erklärt, dass ich nicht um Gnade bitte, da ich kein Unrecht getan habe. Wie können sie es wagen, mir das Sakrament der Taufe anzubieten, wie können sie behaupten, ich hätte die Seele eines Sünders, bar aller Menschlichkeit, wie können sie behaupten, ich hätte unschuldiges Blut vergossen? Was wissen sie von der Sünde, von unendlicher Lust, von Genuss ohne Zensur und Zwang? Wieder das dumpfe Hämmern, das die Nägel ins Holz treibt. Ein Wunder, dass überhaupt noch welche übrig sind. Als meine Scharfrichter ihr Urteil endlich gefällt hatten, mir ein gerechtes Verfahren in Batavia verweigert worden war, verlangte ich, enthauptet zu werden statt gehängt. Ein sauberer und schneller Tod, wie ich glaube, ein rascher Schwung des Schwertes, eine scharfe Klinge, die auf den entblößten Nacken niedergeht. Doch auch das wurde mir von jenen mörderischen Folter‐ knechten verweigert, dem Kommandanten und den Unter‐ zeichnern des Urteils. Stattdessen hat man entschieden, mir zuerst die Hände abzu‐ hacken und mich dann am Galgen mit dem Strang zu Tode zu 371
bringen. Falls es ein letztes Körnchen Wahrhaftigkeit gibt in diesem Spin‐ nennetz der Lügen, das von hartherzigen, gottlosen Männern gewebt ist, sagt mir, hätte ich, Generalkapitän dieser Insel, je ein solch grausames, qualvolles Ende befohlen? Nein, lautet eure Antwort, auch wenn einige meiner Untergebenen es durchaus verdient haben mochten. Ich verbringe die letzte Nacht damit, meine Angst zu bezwingen. Ich rufe nach Lucretia, manchmal vermeine ich, das Rascheln ihrer Röcke zu hören, ihre Schritte, die vor meinem Gefängnis Halt machen, und ihre Stimme, die nach mir ruft. Aber niemals kommt jemand herein. Ich stelle mir vor, wie mir die raue Baumwollkapuze über den Kopf gezogen, die grobe Schlinge um den Hals gelegt wird, wie man mich stolpernden Schrittes vorwärts zerrt. Ich stelle mir vor, wie man mir die Hände bindet und auf einen Baumstumpf zwingt – nein, ich verschließe meinen Geist vor solcher Barbarei, ich werde nicht daran denken. Ich weigere mich, diesem Tod schweigend zu begegnen. Sie werden mich die Leiter hinaufdrängen und mich auf die Plattform führen, wo ich, bevor ich gestoßen werde, einen letzten Atemzug von der grauen, wilden Luft dieser Insel nehmen und schreien werde: Rache, Rache. ENDE 372
Anmerkung Als Kommandant Francisco Pelsaert mit dem Rettungsschiff Sardam zu den Abrolhos zurückkehrte, saß er an Ort und Stelle über Jeronimus und seine Mitverschwörer zu Gericht – er fürchtete, sie könnten eine weitere Meuterei anzetteln, wenn er sie als Gefangene mit nach Batavia nahm. Jeronimus wurde der Wasserfolter unterworfen und legte ein vollständiges Geständnis ab, woraufhin Pelsaert ihn zum Tode verurteilte. Die Mitverschwörer verlangten, Jeronimus möge als Erster gehenkt werden, denn sie wollten mit eigenen Augen sehen, wie der Verführer der Menschen starb. Am 2. Oktober 1629 wurde Jeronimus zu einem gezimmerten Galgen auf der Seehundinsel geführt. Bevor man ihm die Schlinge um den Hals legte, wurden ihm auf einem Holz‐ block die Hände abgehackt. Seine letzten Worte waren «Rache, Rache». Zwei von Jeronimus̉̉ Handlangern, Wouter und Jan de Bye (Carp), wurden begnadigt und am 16. November 1629 auf dem australischen Festland ausgesetzt, um die Möglich‐ keiten dieses Landes zu erkunden, sei es Gold oder Silber, bis sie von einem vorüberfahrenden Schiff gerettet würden. Sie wurden nie wieder gesehen. Der Schiffer der Batavia, Adriaan Jacobsz, wurde von den Meuterern verraten, die ihn auf den Abrolhos unter Folter beschuldigten, einer der führenden Köpfe hinter dem 373
Vorhaben gewesen zu sein, die Batavia vom Kurs abzu‐ bringen, das Kommando über das Schiff zu übernehmen und sich mit der wertvollen Fracht davonzumachen. Er wurde in den berüchtigten Kerker von Batavia geworfen. Das letzte bekannte Dokument, in dem sein Name auf‐ taucht, ist ein Brief von höchster Stelle der holländischen Oost–Indischen Compagnie: Adriaan Jacobsz, Schiffer der auf Grund gelaufenen Bark Batavia, ist unter der schweren Anklage der beabsichtigten Meuterei mit dem Ziel, das Schiff an sich zu reißen, einer schärferen Befragung zu unter‐ziehen und dem Folterknecht zu übergeben. Pelsaerts Entschluss, die Schiffbrüchigen zurückzulassen, um in Batavia Hilfe zu holen, wurde von der Oost– Indischen Compagnie als schwere Verletzung seiner Pflichten betrachtet, sodass er trotz seiner beherzten Ent‐ scheidung, noch auf den Abrolhos über die Meuterer zu Gericht zu sitzen, in Ungnade fiel. Er war bereits an Malaria erkrankt und nicht mehr in der Lage, seinen Namen rein‐ zuwaschen, und wurde nach Sumatra versetzt, wo er in Depressionen versank, von denen er sich nie wieder erholte. Er starb irgendwann zwischen Juni und September 1630. Der Soldat Wiebbe Hayes, der Jeronimus schließlich auf der Berginsel gefangen nahm, wurde als Nationalheld ge‐ feiert, weil er der Meuterei ein Ende gesetzt hatte. Sein Sold wurde um vierzig Gulden pro Monat erhöht. Er wurde in den Rang eines Standartenträgers erhoben, weitere Beför‐ derungen wurden ihm in Aussicht gestellt. Nach seiner Ankunft in Batavia finden sich keine Aufzeichnungen über seinen weiteren Verbleib. Der Praedikant, Gijsbert Bastiaensz, ehelichte im Jahre 1631 374
in Batavia die Witwe eines Gerichtsvollziehers. Zwei Jahre später starb er auf den Banda Islands an Ruhr. Seine Tochter Judith heiratete zweimal und wurde zwei‐ mal zur Witwe. Nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes im Jahr 1634 war sie mittellos. Die Oost–Indische Compagnie gewährte ihr eine Zahlung von dreihundert Gulden in Anbetracht ihrer Witwenschaft und als Entschädigung für das Leid, welches sie im Verlaufe der Tragödie der Batavia hatte erdulden müssen. Lucretia von den Mylen, die von Jeronimus als Konkubine gehalten wurde, musste bei ihrer Ankunft in Batavia erfah‐ ren, dass ihr Ehemann kurz zuvor verstorben war. Sie heira‐ tete Jacob Cornelisz Cuick, den Schwager ihrer Halbschwes‐ ter. Das Paar, das kinderlos blieb, kehrte im Jahre 1635 in die Niederlande zurück und ließ sich in Leiden nieder. Das letzte bekannte Dokument von ihr stammt aus dem Jahr 1643 – ein Taufschein der örtlichen Kirchengemeinde, als sie Patin eines kleinen Neffen aus der Familie ihres Mannes wurde. ■
Quelle: Voyage to Disaster von Henrietta Drake‐Brockman, Erstausgabe 1963 bei Angus & Robertson, Neuausgabe 1995 bei University of Western Australia Press. 375
Danksagung Es gibt viele Menschen, denen ich für ihre Unterstützung während meiner Arbeit an diesem Buch danken möchte. Zuerst und vor allem geht mein tiefempfundener Dank an meinen Mann Nick Gaze, der mir die Geschichte der Batavia erzählte und mich dazu inspirierte, diesen Roman zu schreiben. Dank auch an Glenda Adams, meine Tutorin an der University of Technology in Sydney, die mich von Anfang an großzügig und mit Rat und Tat durch mein Schreiben manövrierte, meine Agentin Lyn Tranter für ihre Ermutigungen, ihren Enthusiasmus und ihre Geduld, Nikki Christer bei Picador, weil sie an dieses Buch geglaubt hat, Judith Lukin‐Amundsen für ihr einfühlsames und genaues Lektorat und Sara Douglass, die einige historische Fakten gerade gerückt hat. Außerdem gilt mein Dank allen an der University of Technology in Sydney, unter anderem Jan Hutchinson, Joyce Kornblatt, Stephen Muecke, Graham Williams und der Schreib‐ gruppe an der UTS: Rowanne Couch, Belinda Alexander, Pat Cranney und Brian Purcell. Ich danke auch dem Kunstministerium der Regierung von New South Wales für die Verleihung des Writers in the Park‐Stipen‐ diums für junge Schriftsteller, das es mir ermöglichte, dieses Buch zu vollenden. Ein aufrichtiger Dank geht auch an John Fielding, meinen Eng‐ lischlehrer auf der Highschool, der mich die Liebe zu Wörtern lehrte. Und last but not least danke ich dir, Zoe, dass du mir jeden Tag, wenn du aus der Schule kamst, geduldig zuhörtest, wenn ich laut aus meinem Manuskript vorlas.
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