Fred McMason
Der Tiger von Kanchipuram Immer vordem Mittagessen befragte Thakazhi Pillai sein Orakel. Dieses Orakel be...
89 downloads
629 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Fred McMason
Der Tiger von Kanchipuram Immer vordem Mittagessen befragte Thakazhi Pillai sein Orakel. Dieses Orakel bestand aus einer Handvoll kleiner Knochen, die von einem indischen Wolf stammten. Thakazhi hatte diesen Canis lupus pallipes eigenhändig erlegt. Bisher hatten die Knochen nichts Aufregendes gezeigt, aber als er sie diesmal über den Boden seiner kleinen Hütte warf, da blieben sie in einer merkwürdigen Anordnung liegen. Drei Spitzen der Knochen zeigten wie bei einem Dreieck in verschiedene Richtungen. Am Rande des Dreiecks lagen weitere Knochen zu einem kleinen Häufchen zusammen. Thakazhi blickte erschrocken auf das Orakel, an dessen Zuverlässigkeit er keinen Augenblick zweifelte. Schließlich hatte das Orakel sein Schicksal immer genau bestimmt. Diesmal bedeutete die Anordnung der Knochen den Tod...
Die Hauptpersonen des Romans: Thakazhi Pillai - benutzt eine Handvoll kleiner Wolfsknochen als Orakel und erfährt, daß er sterben wird. Der Sultan von Golkonda - hält sein Versprechen und räumt der Königin von England Handelslizenzen ein. Rabin - der Zuchtmeister auf der Sultans-Galeere erweist sich als Dieb und erleidet eine barbarische Strafe. Old Donegal O'Flynn - hat einen Wahrtraum, mit dem er allen Leuten auf den Geist geht. Philip Hasard Killigrew - steht Sudar, dem Menschenfresser, allein gegenüber und hat nur einen Schiffshauer gegen den Tiger.
1. Der zweite Wurf zeigte fast genau das gleiche Ergebnis. Auch hier teilte ihm das Orakel den Tod mit. Irgendwann innerhalb der nächsten Tage würde sich sein Schicksal erfüllen. Thakazhi sammelte schnell die Knochen ein und verstaute sie in dem kleinen Leinenbeutel. Danach setzte er sich mit trübem Blick zum Essen nieder. Auf dem kleinen Bambustisch lag ein frischgrünes Blatt einer Bananenstaude. Seine Frau, Kamalakshy, erschien und schöpfte aus irdenen Töpfen Curry-Ragouts, essigsaure Papaya und kleine geschmorte Fleischstückchen auf das Bananenblatt. Draußen blies der Bhoot, ein trokkener Staubwind, sein eintöniges Lied. Es war eine schmirgelnde Melodie aus disharmonischen Tönen, die sich anhörte, als riebe Sand gegen Sand. Das schmale Gesicht des Mannes war verkniffen. Er nahm zuerst die Schale mit Wasser und trank sie leer.
Sein Gaumen war staubtrocken wie der Bhoot, der um die Hütte blies. Völlig verkrampft saß er dann vor dem Bambustisch und starrte aus leeren Augen auf das Essen. Er saß da mit nackten Beinen und nacktem Oberkörper, nur einen grauen und durchlöcherten Dhoti um die Hüften geschlagen. „Was ist mit dir, Thaki?" fragte seine Frau flüsternd. Das seltsame Gebaren ihres Mannes war ihr nicht entgangen. Sie nannte ihn immer Thaki, schon seit ihrer Kindheit, als sie sich mit sieben Jahren kennengelernt hatten. „Mir ist nicht gut", erwiderte Thaki heiser. Lustlos griff er mit den Fingern in den Reis, drehte ihn zu einem kugelförmigen Gebilde zusammen und stopfte es sich mit ein wenig Soße in den Mund. Er fand, daß das Essen nicht schmeckte und ihm speiübel davon wurde. „Was fehlt dir denn, Thaki?" Sie war jung, hübsch, hatte langes, schwarzes und glattes Haar, das ihr
5 bis über die schmalen Schultern fiel und war von jener Zierlichkeit wie die kleinen Antilopen, die er zu jagen pflegte, um seine Familie satt zu kriegen. „Mir ist nicht gut, Kama", wiederholte er. „Vielleicht liegt es an dem Bhoot. Immer wenn der Staubwind bläst, fühle ich mich nicht wohl. Ich vertrage ihn einfach nicht." Das war gelogen. Der Wind hatte damit nichts zu tun, aber er konnte Kamalakshy nicht sagen, was wirklich passiert war. Sie hätte sich furchtbar darüber aufgeregt. „Du mußt trotzdem etwas essen." Sie sah zu, wie er lustlos den Reis zusammenformte und widerwillig in den Mund schob. Er kaute nicht mal, er schluckte es nur hinunter, als erweise er ihr damit einen Gefallen. Kama sah ihn immer wieder besorgt an, und auch der kleine Sabu betrachtete seinen Vater, der heute ganz anders als sonst war. „Hat das Orakel schlechte Zeichen gezeigt?" fragte seine Frau schließlich. „Das Orakel? Nein,.nichts Besonderes. Es war wie meist. Ich gehe jetzt ein paar Bankivahühner jagen, werde nach Hirschziegenantilopen und dem Nilgau Ausschau halten, und wenn ich Glück habe, finde ich auch noch ein Honignest." „Wir haben noch für zwei Tage Reis. Außerdem verträgst du den Bhoot nicht. Geh lieber morgen." Sie sagte das sehr besorgt, doch er schüttelte den Kopf. Er raffte seine Utensilien zusammen, das große Messer, den Speer
und einen Haken zum Angeln. Als letztes nahm er einen Jutesack mit. Er verabschiedete sich sehr hastig von Frau und Sohn, und er drehte sich gegen seine sonstige Gewohnheit auch kein einziges Mal um, als er die armselige Hütte verließ. Dahinter befand sich ein Stück gerodetes Land, auf dem sie Pisang, Mango, Papaya und Gemüse anbauten. Sie hatten auch ein kleines Reisfeld, außerhalb, am Fluß, einem winzigen Nebenarm des Penner, der so viel oder so wenig Wasser führte, daß es zur Bewässerung von ein paar kleinen Reisfeldern gerade ausreichte. Er ging an den Pisangstauden und den Mangobäumen vorbei und schritt zügig aus. Die Sonne stand hoch über ihm, und der staubige Bhoot blies ihm unaufhörlich ins Gesicht. Er brachte trockenen Sand und Staub aus den nördlichen Hochebenen des Andhra Pradesh mit und trug ihn nach Osten bis hinüber in den Golf von Bengalen. Außer Sichtweite seiner Hütte, nur von der trockenen Einsamkeit umgeben, setzte er sich auf einen Stein und dachte über sein künftiges Schicksal nach. Er würde sterben, das war sicher. Aber er fragte sich, wie ein Mann seines Alters wohl sterben mochte. Er war jung, gesund und kräftig. Als er all die Möglichkeiten überschlug, erschrak er doch heftig, denn es waren unglaublich viele. An einer Krankheit würde er in den nächsten Tagen nicht sterben, das konnte er ausschließen. Er konnte aber von einer Kobra gebissen werden, wenn er zufällig in dit
6 Nähe einer ihrer Nesthügel geriet, in denen die Weibchen die Eier bewachten. Das war ein ziemlich schneller Tod. Einige der Einwohner aus dem kleinen Dorf waren der Kobra zum Opfer gefallen. Ein umstürzender Baum konnte ihn erschlagen. Ein tollwütiger Wolf konnte ihn angreifen. Er konnte den aggressiven Riesenbienen zum Opfer fallen. Wilde Elefanten konnten ihn zu Tode trampeln. Es war erschrekkend, wie viele Möglichkeiten es gab. Weiter oben an den Flüssen sollte es Panzerechsen geben, so hatten die Leute erzählt. Krokodile, die plötzlich aus dem Wasser auftauchten und ihre Opfer rissen. Aber er hatte noch keine gesehen, und so weit hinaus wollte er auch nicht gehen. Erst seit heute, als ihm das Orakel den Tod angekündigt hatte, wußte er, wie gefährlich das Leben in seiner Umwelt war - und daß ein guter Geist ihn bisher immer beschützt hatte. Jetzt sah das alles ganz anders aus. Der Geist hatte sich von ihm abgewandt und überließ ihn dem Tod. Angst kroch in ihm hoch. Er packte seine Utensilien fester und sah sich nach allen Seiten um. Weit und breit war er allein. Auf der linken Seite begann der dichte Dschungel, weiter hinten gab es Bambuswälder und zu seiner rechten Seite erstreckte sich sumpfiges Gelände. Den Sumpf hatte ein Wasserlauf geschaffen, der weiter östlich in einen Weiher mündete, wo die Leute aus dem Dorf ihr Wasser holten. Am späten Abend fanden sich hier auch Affen, Antilopen und der Nilgau ein, um zu trinken.
Und manchmal fand sich auch Sudar ein - Sudar, vor dem die Leute Angst hatten und zitterten. * Als Thaki an Sudar dachte, krampfte sich sein Magen zusammen, und er stand hastig von dem Stein auf. Nervös sah er sich wiederum nach allen Seiten um. Hoch über ihm kreisten ein paar Vögel, die sich immer höher in den Himmel schraubten. Im Dschungel knackte es leise, und er packte seine speerähnliche Waffe fester. Aber er sah kein Tier außer den Vögeln. Sudar, hieß es, sei ein Menschenfresser, ein fürchterlich großer Tiger, der hauptsächlich Menschen riß. Die Menschen waren meist nur mit kleinen Speeren oder einem Bogen bewaffnet, und sie konnten nicht so schnell flüchten wie das Wild. Sudar schien das sehr schnell begriffen zu haben, und offenbar hatte er Gefallen an seiner ungewonnten Nahrung gefunden. Innerhalb der letzten zwei Jahre waren mehr als zwanzig Menschen aus dem Ort verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Man hatte lediglich einmal einen Oberschenkelknochen und Blutspuren im Gras gefunden. Einer wollte Sudar einmal gestellt haben. Er hatte einen rostigen Säbel dabei und damit zugeschlagen, als der Menschenfresser gerade zum Sprung ansetzte. Er hatte das rechte Ohr des Tigers getroffen und ein Stück daraus herausgefetzt.
7 Aber der Mann, der das erzählt hatte, galt im Ort nicht gerade als vertrauenswürdig, und so fehlte immer noch der letzte Beweis. Allerdings war auch Vieh an den Tränken gerissen worden, doch bis auf wenige Blutspritzer hatte sich keine Spur gefunden. In die Fallen, die man schließlich aufgestellt hatte, war der schlaue Tiger ebenfalls nicht gegangen. Er schien eine sehr feine Witterung zu haben. Auch am Weiher und bei den Tränken hatten sie Sudar schon aufgelauert, gleichfalls ergebnislos. Er war wie ein Phantom, das zuschlug und auf geheimnisvolle Weise wieder verschwand. Mit ihm verschwanden auch jedesmal Männer, Frauen, Kinder oder größere Haustiere. Anfangs hatte sich Thaki vorgenommen, diesen blutrünstigen Räuber zu jagen, doch er war kein Held, und beim Anblick eines anderen herumstreifenden Tigers hatte er blitzschnell die Flucht ergriffen. Dabei hatte der Tiger keinerlei feindliche Absichten erkennen lassen. Er schien beim Anblick des Menschen genauso verstört zu sein wie Thaki. Mittlerweile hatte sich Thaki eine knappe Meile von seiner Hütte entfernt. Der Bhoot wehte hier nicht mehr so sandig. Einen Teil des Staubes schluckte der immergrüne Regenwald. Etwas später sah er den Nilgau und vergaß in seiner Aufregung darüber das Orakel. Der Nilgau, der auch Blaubull genannt wurde, stand vor einer Ein-
buchtung des Dschungels, wo saftige Gräser wuchsen. Der Waldbock, der zu den Antilopenarten gezählt wurde, schien ein Einzelgänger zu sein, oder er hatte sich von der Herde abgesondert. Unbekümmert äste er und wandte nur hin und wieder den rindähnlichen Schädel. Thaki blieb wie erstarrt stehen. Hohes Gras verbarg ihn vor den Blicken des Nilgau, und auch der staubige Wind stand günstig für ihn. Der Bulle konnte ihn nicht wittern. Sehr vorsichtig pirschte er sich an. Messer, Sack und Haken legte er auf den Boden, um die Hände für den Speer frei zu haben. Der Nilgau konnte ihn auf keinen Fall wittern, und doch hörte er ganz plötzlich mit dem Äsen auf. Der rindähnliche Schädel hob sich, die Augen blickten erstaunt und verwirrt zugleich. Thaki blieb immer noch wie erstarrt stehen. Er blickte sich nur aus den Augenwinkeln mißtrauisch um und wunderte sich über den Blaubull, der noch mißtrauischer als er zu sein schien. Das Tier schien doch etwas gewittert zu haben, traute sich aber noch nicht, zu flüchten. Es stand jetzt unentschlossen da. Die stark abfallenden Hinterläufe zitterten ein wenig. Das Gras, in dem Thaki stand, bewegte sich wie Wellen, als der Bhoot stärker darüber strich. Wie eine , Woge rauschte es auch, die der Wind vor sich hertrieb. Dabei bogen sich manche Gräser bis tief auf den Boden. Der geduckte Schädel fiel in dem Gras daher kaum auf, weil er fast die
8 gleiche Farbe hatte. Thaki sah erst die Streifen und schließlich die Augen. Sie waren bernsteinfarben und blickten ihn ruhig an. Der Tiger sah direkt friedlich aus, und er erweckte außerdem den Eindruck, als könne er keinem Menschen etwas zuleide tun. Der Anblick dieser Großkatze lähmte ihn. Er hatte den Speer halb erhoben, vermochte ihn aber nicht zu bewegen. Deutlich sah er das rechte Ohr des großen Tigers, der geduckt im Gras lauerte und es wohl auch auf den Nilgau abgesehen hatte. Von dem rechten Ohr fehlte ein handtellergroßen Stück. Kein Zweifel - es war Sudar, der Menschenfresser! Auf der anderen Seite schien der Nilgau etwas gemerkt zu haben. Noch einmal hob er den Schädel. Dann raste er plötzlich davon und verschwand hinter der Einbuchtung des Dschungels. Thaki war mit dem fürchterlichen Raubtier allein. Die Großkatze hatte nur einmal ganz kurz den Schädel gewandt, als der Nilgau flüchtete. Zuerst sah es aus, als wollte sie hinterherjagen, doch sie überlegte es sich anders. Diese Beute konnte ihm nicht entgehen, das wußte der Tiger, der über die Zweibeiner eine Menge Erfahrung gesammelt hatte. Thaki drehte den Speer jetzt unendlich langsam in Richtung des Tigers, der ihn unverwandt anstarrte. Er wußte, daß er kaum eine Chance hatte, denn er zitterte so stark, daß er den Speer kaum halten konnte.
Ebenso unendlich langsam wich er einen Schritt zurück, gleich darauf einen weiteren. Er hatte nur dann eine Chance, wenn es ihm gelang, den äußeren Rand des Dschungels zu erreichen. Dort gab es so viele Bäume, daß er auf einen flüchten konnte. Doch bis zum Dschungel waren es mindestens zweihundert Schritte. „Zerstöre ihn, Schiwa", flehte Thaki mit versagender Stimme. „Du hast mir immer geholfen, hilf mir auch jetzt." Ein neuerlicher Windstoß durchkämmte das Gras und ließ es wieder wie eine heranrollende Woge rauschen. Der Tiger blieb unbeweglich stehen, als sei er eine Attrappe. Auch die Augen blickten friedlich und ruhig. Vielleicht will er gar nichts von mir, dachte Thaki nach dem fünften oder sechsten Schritt. Es kann ja sein, daß er erst kürzlich Beute gerissen hat und nun satt ist. Die Angst saß ihm übermächtig in den Knochen, und bei jedem kleinen Schritt rückwärts zitterte er stärker, bis er sich vor Angst kaum noch auf den Beinen halten konnte. Jetzt hatte er etwa zehn Schritte zurückgelegt, als sich der mächtige Schädel mit dem zerfetzten Ohr ruckartig bewegte. Sudar tat zwei schnelle Sätze und kauerte sich dann ins Gras, sein Opfer dabei wieder unverwandt anstarrend. Damit hatte er mühelos die Distanz zurückgelegt, die auch Thaki in seiner Angst geschafft hatte. Schweiß perlte in dicken Tropfen
9 von seiner Stirn. Sein Atem ging flach. Gehetzt sah er sich nach einer Möglichkeit um, noch schneller zu entwischen. Es gab keine, höchstens die, daß er losrannte. Aber gerade das würde den Tiger vielleicht reizen, wenn er flüchtete. Das alte Spiel wiederholte sich. Ein paar tastende Schritte zurück, wieder ein paar, bis die Distanz schon fast zwanzig Meter betrug. Der Tiger erhob sich aus seiner kauernden Stellung und tat zwei schnelle Sprünge, als wolle er mit dem Inder Katz und Maus spielen. Das hielten Thakis Nerven nicht mehr durch. Sein Körper war in Schweiß gebadet, seine Knochen aus Gummi, und im Schädel hämmerte es wie verrückt. Seine Nerven vibrierten, und er drehte durch. Er warf den Speer weg, drehte sich um und stieß einen wilden Schrei der Angst aus. Gleichzeitig rannte er los, und er rannte so schnell wie noch nie in seinem Leben. Vor sich sah er den rettenden Wald, zum Greifen nahe, und doch so unendlich weit entfernt für einen Mann in seiner Lage. Während er laut schreiend um sein Leben rannte, waren alle seine Sinne ganz besonders empfindlich und wach. Er hörte den Tiger - oder glaubte ihn zu hören, wie er durch das Gras raste. Mit letzter Kraft drehte er sich um und wandte schnell den Kopf. Er hatte sich getäuscht. Sudar war mehr als fünfzig Schritte entfernt und äugte wie interessiert in seine Richtung. Thaki ließ mit einem wilden Schrei
die Luft aus seinen Lungen. Nur noch zwanzig, dreißig Schritte, dann war er im Dschungel. Das war der Augenblick, in dem Sudar zum Sprung ansetzte. Der Tiger duckte sich und fegte los, geschmeidig, unglaublich schnell und vor Kraft strotzend. Fast spielerisch legte er die Strecke mit ein paar schnellen Sätzen zurück. Diesmal trogen Thakis Sinne nicht, als er abermals gehetzt den Kopf wandte. Die große, gefährliche Katze raste heran. Es gab kein Entrinnen und kein Ausweichen mehr. Die Distanz schrumpfte schneller zusammen, als Thaki denken konnte. Er versuchte noch, sich zur Seite zu werfen. Dabei sah er den Tiger immer größer und riesiger werden, sah das fürchterliche Gebiß und die breiten und starken Pranken, die wie Keulen durch die Luft hieben. Mit einem wilden Knurren erreichte ihn der erste Prankenhieb und wirbelte ihn durch die Luft. Thaki fühlte einen stechenden Schmerz durch seinen Körper rasen, einen so wilden Schmerz, daß er ihm fast die Besinnung raubte. Er schrie laut und gellend, in der Hoffnung, Sudar möge dadurch erschrecken und von ihm ablassen. Doch was der riesige Tiger erst einmal in den Pranken hatte, das ließ er auch nicht mehr los. Ein zweiter Prankenhieb fuhr über seinen schmerzenden Rücken und riß ihm die Haut auf. Diesmal schrie Thaki instinktiv. Und ganz plötzlich erwachte so etwas wie Kampfgeist in ihm.
10 Er wollte nicht von diesem blutrünstigen Monster gefressen werden. In seiner Todesangst entwickelte er erstaunliche Kräfte und mobilisierte Reserven, die er selbst nicht für möglich gehalten hätte. Trotz seiner unerträglichen Schmerzen wirbelte er herum und fetzte dem Tiger beide Hände wie Krallen durch die Augen. Ein fürchterliches Fauchen war die Antwort. Die große Katze fuhr brüllend zurück, schlug dann aber wieder zu. Thakazhi Pillai wurde von einem mörderischen Hieb getroffen. Der Prankenschlag war so gewaltig, daß er ihm augenblicklich das Genick brach. Der Tiger schleppte seine menschliche Beute ein paar Schritte weiter und stürzte sich voll Heißhunger auf sie. 2. In dem kleinen Dorf herrschte Aufregung, als Thaki auch am zweiten Tag nicht zurück war. Der Dorfälteste meinte, man müsse wohl das Schlimmste annehmen und befürchten, daß Thaki von dem gefährlichen Menschenfresser Sudar angefallen worden sei. Daraufhin erlitt Kama einen Ohnmachtsanfall und begann später laut klagend durch den Ort zu rennen. „Sudar hat sich wieder ein Opfer geholt", raunten die Einwohner des kleinen Ortes, und die meisten verkrochen sich vor Angst in ihren Hütten.
Eine Handvoll mutiger Männer zog jedoch am frühen Morgen los, um nach Thaki zu suchen. Bewaffnet waren sie mit alten, schartigen und rostigen Säbeln, Holzkeulen oder Dreschflegeln. Trauer, Angst, aber auch Empörung über diese Bestie trieben sie vorwärts. Sie hatten auch Taue dabei, um Tigerfallen anzulegen, denn Sudar war ein schlaues Tier, das sich beim Auftauchen mehrerer Menschen erst gar nicht zeigte. Wo Thaki immer zu jagen pflegte, wußten sie ungefähr. Es war das Gebiet, wo die Nilgaue grasten und sich die Bankivahühner herumtrieben. Schon ein paar Stunden später stießen sie auf die erste Spur. Abdrücke eines großen Körpers waren im Gras zu sehen, dann die gewaltigen Pranken, die der Tiger im feuchten Gelände hinterlassen hatte. „Hier hat er sich angeschlichen", sagte einer der Inder. „Dann müßten wir auch Thakis Spuren finden." Sie bewegten sich jetzt vorsichtig durch das Gelände und blickten immer wieder zum Rand des Dschungels hinüber. Dort war kaum noch ein Geräusch zu hören. Auch Nilgaue oder Hühner waren nicht zu sehen. Die Tierwelt schien wie gelähmt zu sein und verharrte in Schweigen. Kurz darauf fanden sie auch Thakis Spur und die Sachen, die er weggeworfen hatte. Hier mußte er den Tiger erblickt haben. Zwei Männer gingen der Spur nach, die anderen blieben sichernd zurück und beobachteten.
11 Plötzlich blieb der eine so abrupt stehen, daß der andere unsanft gegen ihn prallte. Entsetzt sahen sie auf den Boden. „Bei allen Geistern! Hier hat Sudar zugeschlagen." Der andere schluckte hart. Schnell schloß er für einen Augenblick die Augen. Hier hatte ein fürchterlicher Kampf stattgefunden, ein Kampf zwischen Mensch und Raubkatze. Blutspritzer bedeckten die Gräser. Ein paar schwarze Haare waren zu sehen. Der Tiger hatte sein Opfer ein paar Schritte weitergeschleift und war dann über Thaki hergefallen. Sie fanden einen Knochen von seinem Oberschenkel, und etwas weiter einen Teil des linken Beines, das in einer getrockneten Blutlache lag. Die anderen kamen herüber, erschüttert, aber auch ängstlich. Mit gesenkten Köpfen betrachteten sie das, was von Thaki noch übrig war. Einer der schweigsamen Wächter wickelte die Überreste in einen Fetzen Tuch. „Was jetzt?" „Wir werden diese Bestie jagen und Fallen aufstellen." „Sudar ist noch nie in eine Falle gegangen. Und gejagt haben wir ihn bisher immer vergeblich." „Einmal erwischen wir ihn", versprach der eine grimmig. „Sonst rottet er noch das ganze Dorf aus." Für Thaki konnten sie nichts mehr tun. Aber sie konnten möglicherweise verhindern, daß dem Tiger weitere Menschen zum Opfer fielen. Daher begannen sie mit dem Anlegen von
Fallen. Vielleicht war es wieder vergebliche Mühe, doch sie mußten es versuchen. Sie hoben eine Grube aus, spitzten mit ihren schartigen Säbeln Pfähle an und rammten sie in den tiefen Boden der Falle. Es war ein Pfad, den der Tiger oftmals benutzte. Bei der Arbeit gingen sie sehr sorgfältig vor. Die Falle wurde so gut getarnt, daß ein menschliches Auge sie nicht entdeckte. Gras wurde darübergelegt, ein paar Äste und größere Zweige. Die zweite Falle wurde ebenfalls dort angelegt, wo Sudar sich vorzugsweise aufhielt. Mit Ködern konnten sie nicht dienen, aber sie hofften darauf, daß Sudar über den Pfad jagte und so in eine der Fallen unerwartet einbrach. Die dritte Falle bestand aus einer großen Hanfschlinge, die um einen herabgebogenen Baum geschlungen wurde. Das waren hier die üblichen Tigerfallen, die oftmals wirkungsvoller als die Gruben waren. Geriet der Tiger mit einer Pranke in die Schlinge, dann zog sie sich blitzschnell zu, und der junge Baum schnellte in die Höhe. Der Tiger hing dann mit einer Pranke so fest, daß er sich nicht mehr befreien konnte. Insgesamt legten sie fünf Fallen an. Anschließend suchten sie noch länger als eine Stunde nach dem Räuber. Doch seine Spuren verloren sich wie immer in der Tiefe des Dschungels. „Wir gehen jeden Tag hinaus und sehen nach", sagte einer der Männer. „Und wenn er in eine der Fallen gegangen ist, werden wir im Dorf ein
12 großes Fest feiern und sein Fleisch an die Hunde verfüttern." Doch auch drei Tage später war Sudar noch in keine der Fallen gegangen, obwohl wieder deutlich seine Spuren zu sehen waren. Er war zumindest ebenso schlau wie die Menschen, die ihn jagten. * Bei den Arwenacks herrschte eine Stimmung wie schon lange nicht mehr, seit sie wieder zurück in Madras waren. Fast alles hatte sich ins Gegenteil verkehrt. Sie waren keine Sklaven mehr, die angekettet auf der Galeere schuften mußten. Sie waren freie Männer, die hoch in der Gunst des Sultans von Golkonda standen. Man achtete und respektierte sie, seit es ihnen gelungen war, den Schatz für den große Akbar zurückzuerobern. Der Sultan war die Freundlichkeit in Person, äußerst höflich, zuvorkommend und las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. „Er scheint ein fürchterlich schlechtes Gewissen zu haben", sagte Hasard zu Ben Brighton. Sie standen auf dem achteren Deck der Schebecke und sahen dem bunten Treiben im Hafen von Madras zu. „Kein Wunder", brummte Ben. „Erst hat er uns als Diebe, Piraten und Halunken bezeichnet, dann auf seine Galeere gezwungen, angekettet und geschunden. Der Gute war ein bißchen voreilig. Ich an seiner Stelle hätte auch ein schlechtes Gewissen. Immerhin haben wir ihm ja bewiesen, was wir können, und er hat auch
eingesehen, daß es eine recht peinliche Verwechslung war, der wir zum Opfer fielen. Wenn du jetzt seinen Palast verlangen würdest, ich glaube, er würde keinen Augenblick zögern, ihn dir samt Inhalt zu schenken." Der Seewolf lachte leise. „Ich bin in der Hinsicht sehr bescheiden. Mir genügt die Schebecke oder unsere alte ,Isabella'. Was soll ich auch mit einem Palast im Landesinnern von Indien?" „Wir könnten uns zur Ruhe setzen und von vorn und hinten bedienen lassen", sagte Ben ernst. „Schließlich gerät man ja irgendwann in die sogenannten gesetzten Jahre." „Mittags aufstehen", murmelte Hasard, „den Tag mit Spielen vertrödeln, vielleicht auf die Jagd gehen und abends große Feste feiern. Wie lange würdest du das aushalten?" „Mindestens drei Tage, dann hätte ich die Nase voll. Nein, das wäre nichts für uns. Dazu sind wir ganz einfach nicht geboren." „Sehr richtig." Auf der pompösen Galeere des Sultans mit dem klingenden Namen „Stern von Indien" waren bereits alle Männer an Deck. Es war früher Morgen, und die Sonne brannte schon wieder mit jener erbarmungslosen Heftigkeit nieder, die sie in Madras zur Genüge kannten. Nur der Sultan war noch nicht zu sehen, wie Hasard lächelnd feststellte. Seine Hoheit beliebten immer lange und ausgiebig zu schlafen. Die Männer des Sultans waren allerdings bereits aktiv gewesen. Schon gestern, gleich nach der Ankunft der
13 Galeere, waren etliche von ihnen aufgebrochen, um Elefanten zu holen, auf die der Gold- und Silberschatz des Ischwar Singh aus Bombay verladen werden sollte. Sie hatten sie in Madras geholt und würden sie nach ein paar Tagen wieder zurückgeben. Hasard sah, daß ein halbes Dutzend bereits antrabten und mit ihren Mahauts auf die Pier zuhielten. Mac Pellew und der Kutscher begannen ihren Morgen mit der üblichen Kombüsenroutine. Sie bereiteten das Frühstück, und wie immer half ihnen dabei der Moses Clint Wingfield. Einmal sah Mac zu den Elefanten hinüber, die im Schatten an einer Stelle standen, wo der Dschungelrand begann. Sein Blick wurde richtig versonnen und träumerisch. „So ein Elefantchen müßte man mal auf den Speisezettel setzen", meinte er. „Das läßt sich in handliche Stücke zerlegen und bereitet nicht soviel Arbeit. Jeder erhielte einen Brokken und wäre tagsüber völlig satt. Stell dir nur mal vor, was dieser Achtersteven für ein großes Stück hergeben würde. Ob ich mal den Sultan fragen soll? Ich meine natürlich nur andeutungsweise oder so." „Du hast vielleicht einen sonnigen Humor. Untersteh dich bloß", sagte der Kutscher. „Diese Elefanten sind hochgeschätzte Arbeitstiere, die haut man nicht in die Pfanne." „War ja nur ein Vorschlag", sagte Mac säuerlich. „Paddy hätte ihn sicher mit Begeisterung aufgenommen." „Das kann ich mir lebhaft vorstel-
len. Für Paddy hätte ein Elefant zum Mittagessen auch gerade gereicht." „Wenn das Fest steigt", sinnierte Mac weiter, „das der Sultan uns versprochen hat, gibt's bestimmt auch Elefanten, um all die Leute satt zu kriegen." „Zum Nachtisch, was?" höhnte der Kutscher. „Hör jetzt bloß auf zu spinnen und geh an deine Arbeit." Mac bereitete ziemlich grämlich das Frühstück zu und war etwas verbiestert, daß sein Vorschlag keine weltweite Anerkennung fand. Die Hitze nahm noch zu, als sie schließlich an Deck saßen und kräftig zulangten. Vom fernen Markt und dem kleinen Bazar lärmten die Händler herüber. Alles schien ruhig und friedlich zu sein, und doch hatte es gerade in dieser scheinbaren Idylle eine Menge Ärger gegeben, als die Hafenratten von Madras die Schebecke überfielen. Jetzt hatte sich die Bande in alle Winde zerstreut. Seit die „Stern von Indien" hier lag, ließ sich sowieso niemand mehr blicken, denn der Sultan pflegte mit solchen Bastarden nicht gerade sanft umzugehen. Meist wurden sie kurzerhand geköpft oder aufgehängt. „Ein paar von uns müssen an Bord zurückbleiben", sagte der Seewolf. „Seine Hoheit hat bereits angedeutet, daß ein großes Fest steigen soll, das vermutlich in Kanchipuram stattfindet, wie ich annehme. Bis dahin sind es zwei Tagesmärsche mit den Elefanten. Hat jemand die Absicht, an Bord zu bleiben, bis die anderen wieder zurück sind? Ich möchte nicht gern ein paar Männer dazu verdam-
14 men, aber vielleicht gibt es Freiwillige, die kein Interesse haben." Der alte Segelmacher Will Thorne meldete sich als erster. „Ich bleibe an Bord, Sir. Für mich ist das nichts", sagte er mit einem bescheidenen Lächeln. Paddy Rogers streckte schon etwas voreilig die Hand hoch, zog sie dann aber beschämt und sehr schnell wieder zurück. Ihm fiel gerade ein, daß ein Fest auch mit einer riesigen Tafel voller Köstlichkeiten verbunden war, und diesen Schmaus wollte er sich nicht entgehen lassen. Verlegen sah er zu Boden, als die anderen grinsten. Sie hatten seine Gedanken längst erraten. Batuti meldete sich ebenfalls, und auch Big Old Shane hielt es für angebrachter, auf der Schebecke zu bleiben. Old Donegal tippte sich auf die Brust. „Bleibe auch hier", sagte er. „Für einen langen Marsch durch den Dschungel habe ich nichts übrig. Dann klopfe ich lieber den Hafenratten auf die Finger, falls die wieder auftauchen." „Wohl kaum", sagte Hasard. „Die Galeere wird nämlich mit Sicherheit in Madras zurückbleiben." „Paddy wollte wohl auch zurückbleiben", sagte der Profos und grinste hinterhältig. „Oder hast du nicht eben deine Gichthaken in die Luft gestreckt?" „Gichthaken?" stammelte der knubbelnasige Paddy verstört. „Ach so, du meinst meine Hände, Mister Profos. Das muß einer aber erst mal verstehen."
„Kann's auch auf lateinisch sagen", erklärte Carberry ungerührt. „Dann heißt es nämlich arthritis harpago. Habe ich im schlauen Buch vom lieben Kutscherlein nachgelesen." „Um Gottes willen", sagte der Kutscher entsetzt. „Laß das bloß keinen hören, Gicht in den Händen heißt chiragra und harpago ist nichts anderes als ein Enterhaken. Das paßt doch gar nicht zusammen. Da hast du wieder was in den falschen Hals gekriegt." „Haut doch bei Korsaren genau hin", erwiderte der Profos trocken. „Die haben doch alle Enterhaken." „Wie du meinst, Ed", sagte der Kutscher erschlagen. „Dann hat er eben Arthritis im Enterhaken, was soll's? Im Prinzip ist das dann also doch ein Gichthaken." „Sag ich doch die ganze Zeit." Paddy stand immer noch sehr verlegen herum und rieb seine Knubbelnase. „Gut, dann bleibe ich auch hier", sagte er entsagungsvoll. Doch Hasard winkte ab. „Dann würde dir ein Festessen entgehen, Paddy, und das kann ich nicht verantworten." Schließlich meldete sich noch etwas schüchtern Clint Wingfield. Aber auch da winkte der Seewolf ab. Das Bürschchen hatte in seinem kurzen Leben noch nicht viel Freude erfahren, hatte schuften müssen wie ein Erwachsener und dazu noch Prügel bezogen. ,,Du gehst mit, Clint", sagte Hasard kurz. „Eigentlich reichen vier Mann aus, um das Schiff zu bewachen. Es ist nicht anzunehmen, daß sich ein derartiger Vorfall wiederholt"
15 Als sich noch weitere Männer meldeten, schüttelte Hasard den Kopf. „Vier Mann genügen", wiederholte er. „Abgesehen davon, daß die Galeere vorerst hier liegenbleibt, werden sich die Inder gegenseitig auf die Finger sehen." Er drehte sich um, als Dan O'Flynn mit dem Daumen über die Schulter zeigte. „Der Galeerenkapitän will uns sicher seinen Gruß entbieten. Oder er überbringt die Einladung zum indischen Frühstück." „Dann hat er sich leider etwas verspätet." Der Inder, der sich Rameshand nannte, hielt mit einem weiteren Mann auf die Schebecke zu. Noch vor kurzer Zeit hatte er die auf der Galeere angeketteten Arwenacks ziemlich mies behandelt. Das hatte sich allerdings schlagartig geändert, als sie den Schatz des Akbar wieder an Bord hatten. Er grüßte freundlich, aber nicht unterwürfig. „Wir haben die Elefanten beisammen, Sir Hasard", sagte er. „Seine Hoheit, der Sultan von Golkonda, entbietet Euch seinen Gruß. Wir wollen unverzüglich mit dem Beladen beginnen, darüber möchte ich sie unterrichten. Gleichzeitig bittet Seine Hoheit Sie zu einem Besuch an Bord der Galeere." „Dankend angenommen", sagte Hasard. „Es wird wohl schneller gehen, wenn einige meiner Leute beim Beladen helfen." Hasard dachte dabei an die Galeerensklaven, die ohnehin genug hatten schuften müssen. Wenn sie ihnen ein
wenig Arbeit abnahmen, würde das eine große Erleichterung sein. Das Beladen der Elefanten wurde dabei gleichzeitig auf viele Männer verteilt, und niemand mußte sich sonderlich abplagen. Rameshand nickte erfreut. Inzwischen trabten noch mehr Elefanten an. Sie waren nicht feierlich geschmückt wie die Elefanten des Sultans. Es waren große, graue Kolosse, die man zur Arbeit abgerichtet hatte. Neunzehn Tiere zählte der Seewolf, und ein paar weitere waren auf den Feldern vor Madras bereits als Staubwolke zu erkennen. Ferris Tucker stieß hörbar die Luft aus, als die beiden Inder wieder zur Galeere zurückgingen. „Bin mal gespannt, wie oft wir das Zeug noch umstauen müssen. Es ist fast unglaublich, wie viele Male wir es schon in den Händen hatten. Ein richtiger Problemschatz." „Es wird hoffentlich das letzte Mal sein", erwiderte Hasard. „Aber ich habe unsere Hilfe im Interesse der Galeerensklaven zugesagt. Sie haben es dadurch ein wenig leichter." „War auch nicht verärgert gemeint", sagte Ferris. „Je mehr wir sind, desto schneller ist die Arbeit erledigt." Hasard verließ etwas später mit seinen Mannen die Schebecke und marschierte mit ihnen zur Galeere hinüber. Dabei passierten sie die grauen Kolosse, die auf dem staubigen Weg hinter der Pier warteten. Dem Seewolf entging nicht, daß einige der Mahauts unruhig waren und miteinander tuschelten.
16 Der Grund war offenbar einer der Elefanten, der ständig seinen Rüssel schwang und trompetete. Hin und wieder fuhr der Rüssel in den knochentrockenen Staub, sog eine Menge davon ein und blies sie über seinem gewaltigen Rücken wieder ab. Es war ein großes Tier, und es wirkte gereizt und nervös. Seine Unruhe übertrug sich allmählich auch auf die anderen Tiere. „Fragt die Mahauts mal, warum sie den nervösen Burschen nicht absondern", sagte der Seewolf zu Jung Hasard. „Der bringt doch nur unerwünschte Unruhe über die ande-ren." Jung Hasard übersetzte und hörte zu, was der eine Mahaut sagte. „Sie können ihn nicht absondern", sagte er. „Er ist der Leitbulle einer Herde, die ohne ihn verrückt spielen würden. Er ist nervös, weil er von fremden Elefanten umgeben ist." „Hoffentlich kriegen wir keinen Ärger mit dem lieben Tierchen", meinte der Profos, der vorsichtig von dem Bullen abrückte. Der Elefant starrte ihn aus kleinen Augen tückisch an und schlenkerte wieder seinen Rüssel. „Na ja, die Mahauts sollten es wissen", entgegnete Hasard. „Schließlich sind sie mit den Tieren vertraut." Hinter ihnen erklang wieder das Trompeten, zornig und laut. Der Graue schlenkerte seinen Rüssel voller Wut wild hin und her, und die Mahauts versuchten, beruhigend auf ihn einzureden. *
Der Sultan empfing sie auf dem Achterdeck, wo unter dem Baldachin noch die Reste eines opulenten Frühstücks herumstanden. Von der Schebecke aus war dieser Teil des Achterdecks nicht einsehbar gewesen, weil seine Hoheit hinter geschlossenen Vorhängen zu speisen beliebte. Der Sultan war strahlender Laune, erhob sich von seinen vielen Kissen und begrüßte die Arwenacks. Seinem Gesicht war anzusehen, daß er immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, obwohl alles längst bereinigt und sie fast Freunde waren. „Wir haben die Elefanten beisammen, Sir", sagte er. „Das Verladen kann unverzüglich beginnen, und ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Hilfe anbieten." „Keine Ursache", entgegnete Hasard. „Wir sind bestens vertraut im Umstauen der kostbaren Ladung." Seine Hoheit hatte die Angewohnheit, den Seewolf mal zu duzen, ihn dann Engländer zu nennen oder ihn auch als Kapitän anzusprechen. Hin und wieder rangierte er als „Sir Hasard". Im Moment war wieder der „Engländer" dran. „Was ist mit diesem Elefanten, Engländer?" fragte er, auf das große und unruhige Tier deutend. „Hat er sich etwas in den Fuß getreten?" „Er ist der Leitbulle einer Herde, die hier aus der Nähe von Madras stammt, wie die Mahauts sagten. Die Umgebung ist ihm fremd und die anderen Elefanten ebenfalls. Deshalb ist er gereizt." „Der Bulle gefällt mir nicht. Er kann alles durcheinanderbringen und viel Ärger verursachen."
17 „Leider können sie ihn nicht absondern, weil dann auch die Kühe nicht mehr ruhig bleiben." „Allerdings. Haben Sie schon mal einen wildgewordenen Elefantenbullen erlebt, Kapitän?" „Einen richtig wildgewordenen noch nicht. Ich bin auf die Erfahrung allerdings auch nicht scharf." „Es ist die Hölle, das kann ich Ihnen versichern." Hasard glaubte das unbesehen und konnte sich ausmalen, was so ein Koloß alles anstellen konnte. „Man müßte vielleicht die Herde zurückgeben", schlug er vor. Der hochgewachsene Inder schüttelte den Kopf. „Meine Diener können keine Elefanten mehr auftreiben. Und aus Kanchipuram kann ich keine holen. Das würde allein zwei Tage dauern und weitere zwei Tage, bis sie hier sind. Dann aber müßten die Tiere mindestens zwei Tage ausruhen." „Das wäre eine ganze Woche Verspätung." „So ist es. Das aber möchte ich dem großen Akbar nicht zumuten. Es hat lange Verzögerungen gegeben, sehr lange, hauptsächlich durch diesen Schurken Shastri." Die anderen Arwenacks fanden es nicht besonders aufregend, daß sich der Elefantenbulle so seltsam benahm. „Die veranstalten ein Heckmeck, als stehe der Weltuntergang bevor", raunte der Profos Smoky zu. „Wäre ich der Mahaut, dann würde der Rüsselschwinger mal kurz den Profoshammer an den Schädel kriegen, da-
mit das liebe Tierchen wieder friedlich wird." „Nichts gegen deine Bärenkräfte", entgegnete Smoky grinsend, „aber der Profoshammer dürfte ihn wohl kaum beeindrucken. Möglicherweise empfindet er ihn nur als Mückenstich." „Wenn selbst die Mahauts schon so besorgt sind, dann muß es eine besondere Bewandtnis mit einem tobenden Elefanten haben", sagte Don Juan de Alcazar. „Ihre Sorge ist wahrscheinlich sehr berechtigt, und sie wird offenbar jeden Augenblick größer." Inzwischen versammelten sich immer mehr Inder und Mahauts um den grauen Koloß, der sich so unruhig gebärdete. Als einer seinen Rüssel packte und leise auf ihn einredete, schlug der Bulle mit dem Rüssel einmal kurz zu. Es sah mehr wie eine spielerische Bewegung aus, war aber alles andere als das. Der Inder war ein mickriges Kerlchen und nur mit einem Dhoti bekleidet. In der Hand hielt er seinen Stock mit der aufgesetzten Eisenspitze. Als ihn jetzt der Rüssel erwischte, sauste das Kerlchen wie eine Kanonenkugel durch die Luft. Der Schlenker fegte ihn sieben, acht Yards weiter bis auf die Pier. Dort überschlug er sich noch ein paarmal und blieb wimmernd liegen. Sie hörten sein Stöhnen bis aufs Achterdeck der Galeere. Ein paar andere Inder kümmerten sich um ihn. Sie mußten ihn tragen, denn offenbar hatte er sich was gebrochen. „Ich werde ihn mir mal ansehen",
18 sagte der Kutscher. „Das war ein ungewöhnlich harter Schlag für den mageren Burschen. Fürchte, er wird sich ein paar Rippen gebrochen haben." Auf das Zeichen des Sultans brachten sie den Mahaut an Bord und legten ihn auf die Planken. Der graue Koloß stand jetzt wieder ruhig da. Die Mahauts hatten sich von ihm zurückgezogen und umstanden ihn in respektvoller Entfernung. Der Kutscher untersuchte den Inder und stellte entsetzt fest, daß er tatsächlich mehrere Rippenbrüche hatte. Da halfen nur noch ein extrem strammer Verband und viel Ruhe. Viel mehr konnte er für ihn nicht tun. Die Zeit würde die Brüche heilen. „Dabei sah es nur wie ein freundlicher Schlenker aus", sagte der Kutscher. „In Wirklichkeit war es ein Schlag wie mit einem gewaltigen Schmiedehammer." „Er darf auf der Galeere bleiben", entschied Seine Hoheit in einer Anwandlung von Großmut, die er seinen Untertanen sonst nur selten angedeihen ließ. „Bringt ihn ins Vordeck nach unten." Sie trugen den Mahaut fort, der leise vor sich hinwimmerte. Immer wieder schnappte er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. „Ich denke, wir werden heute nacht aufbrechen", sagte der Inder. „Bis zum späten Nachmittag dürfte alles auf den Elefanten verstaut sein, falls dieser Bulle nicht verrückt spielt. Wir werden ihn aber so beladen, daß er fast in die Knie bricht. Dadurch werden sie meist etwas ruhiger." Die Antwort vom Land her war ein lautes Trompeten. Der Rüssel fegte
wie eine Sense nach allen Seiten. Die Mahauts flitzten nur so weg, um von dem fürchterlichen Knüppel nicht getroffen zu werden. „Nun zu Ihnen und Ihren Männern, Sir Hasard", sagte der Sultan. „Wir haben ja bereits darüber gesprochen, daß im Palast von Kanchipuram gleich nach unserer Ankunft ein Fest gefeiert wird. Bis wir dort eintreffen, wird alles arrangiert sein. Ich bitte Sie daher, meine Gäste zu sein." „Im Namen meiner Mannschaft nehme ich dankend an", sagte der Seewolf. „Es wird uns eine Ehre sein." „Wir sprechen dann auch über die Handelsbeziehungen zwischen unseren Ländern", deutete der Sultan an. „Darüber haben wir uns ja ebenfalls schon kurz unterhalten. Die Feier wird etwa zwei Tage dauern, daran anschließend könnten wir noch eine Tigerjagd veranstalten. Das ist meist der Höhepunkt eines Festes." Hasard ließ sich nichts anmerken, daß er von Tigerjagden nichts hielt. Hier galten andere Gesetze, und der Sultan hätte seine Abneigung nicht verstanden. „Wir haben in der Tigerjagd nur wenig Erfahrung, Hoheit. Genauer gesagt, so gut wie gar keine. Ist diese Jagd ein heiliges Ritual?" Der hochgewachsene Inder mit den kohlschwarzen Augen lachte leise. „Nein, ganz sicher nicht. Es gibt nur einfach zu viele Tiger, und aus diesem Grund werden sie regelmäßig bejagt, um die Art in Grenzen zu halten. Das ist jedoch nicht der einzige Grund." „Sondern?"
19 „Ich habe es auf einen ganz speziellen Tiger abgesehen, Engländer. Ein ungewöhnlicher Tiger, der hier seit vielen Jahren sein Unwesen treibt. Alle zwanzig oder dreißig Jahre wird so ein Tiger geboren, der dann ganze Landstriche terrorisiert. So einen haben wir auch. Er hat schon mehr als zwanzig Leute getötet und sehr viel Vieh gerissen. Die Bauern haben Angst, auf die Felder zu gehen, die Kinder trauen sich nicht mehr in die Wälder und auch nicht an die Viehtränken." „Und es ist immer derselbe Tiger?" „Ja, er hat auch einen Namen. Sie nennen ihn Sudar. Einem Mann soll es angeblich gelungen sein, ihm mit einem Säbel einen Teil des rechten Ohres abzuschlagen. Man hat den Tiger schon oftmals gesehen, aber er verschwindet wie ein Geist." „Hat man keine Fallen augestellt?" „Man hat alles getan: ihn gejagt, gehetzt, verfolgt und viele Fallen aufgestellt. Aber Sudar geht in keine Falle, dazu ist er zu gerissen." „Ein Menschenfresser also", sagte Hasard. „Ich habe von solchen Tigern gehört, die plötzlich Geschmack an Menschenfleisch gefunden haben. Meist sind es extreme Einzelgänger." „Aber Sudar ist nicht zu fassen. Wer ihn mir tot bringt, erhält als Belohnung einen Elefanten, vollbehangen mit Schätzen und Kostbarkeiten aus dem Palast. Der Elefant wartet immer noch, und er wird wohl auch noch sehr lange warten müssen." Hasard dachte jetzt etwas anders über die Tigerjagd, zumal dies offenbar ein ganz spezieller Fall war. Natürlich mußte man so ein Exemplar
töten, wenn es kleine Kinder oder hilflose Frauen jagte. Darum war er auch entschlossen, an der Jagd auf die Bestie teilzunehmen, wenn der Sultan es wünschte. Aber das stand erst viel später zur Debatte. Jetzt hatten sie anderes zu tun. Das Ausladen der Gold- und Silberbarren begann - insgesamt elf Tonnen, die auf die Elefanten verteilt werden mußten. Das alles befand sich gut verstaut in Kisten, Fässern und Ballen. Anfangs ließ sich alles hervorragend an, als Kiste um Kiste an Deck gehievt und auf die Pier gestellt wurde. Die Mahauts führten ihre Elefanten dichter heran, und einer nahm sich den großen Grauen vor, der wieder nervös wurde, als das Beladen mit den ersten Kisten begann. Aber es schien so, als hätten die Muhauts den Grauen jetzt unter Kontrolle. Einer schwang sich blitzschnell auf seinen gewaltigen Rücken und ignorierte das wütende Trompeten. Er half ebenso schnell einem anderen Mahaut nach oben. Jetzt saßen sie zu zweit auf dem riesigen Bullen und drückten ihm die eisenbewehrten Treiberhaken hinter die Ohren. Daraufhin verhielt sich der Leitbulle so fromm wie ein Lamm. „Jetzt haben sie ihn offenbar in der Hand", sagte Hasard, als die ersten Kisten nach oben gereicht und festgezurrt wurden. Aber der Graue war ein tückischer Bulle. Er schien direkt logisch den-
20 ken zu können und wollte die Mahauts nur in Sicherheit wiegen. Als die allgemeine Aufmerksamkeit ein wenig nachließ, begann er ganz plötzlich, verrückt zu spielen. 3. Smoky, der gerade eine Kiste aufhievte und an Deck stellte, fuhr verstört herum. Hinter der Pier tönte ein nervtötendes Trompeten, so laut und grell, wie er es noch nie gehört hatte. Der Koloß bäumte sich wild auf, riß sich los und schleuderte mit einem wilden Schlenker die beiden Mahauts von seinem Rücken. Es half auch nicht mehr, daß sie ihm noch die Treiberhaken in die Ohren bohrten. Es stachelte seine Wut nur noch mehr an. Der erste Mahaut flog in hohem Bogen durch die Luft und wurde krachend auf den staubigen Boden geschmettert. Er schrie wie am Spieß, als der Bulle mit blitzschnellen Schritten über ihn hinwegtobte. „Oh, mein Gott", sagte Smoky. „Jetzt dreht er ganz durch." Der Sultan, der dicht neben dem Seewolf stand, wurde merklich blaß und schluckte krampfhaft. Dieser Mahaut wurde regelrecht von den walzenförmigen Riesenbeinen zertrampelt. Reglos und blutend blieb er im Staub liegen. Der zweite Mahaut hatte etwas mehr Glück. Er wurde gegen eine Palme geschleudert und bewegte sich kriechend vorwärts, um dem Gefahrenbereich zu entwischen. Seine Nase
blutete, und in seinen Augen stand nackte Angst, als das Ungetüm an ihm vorbeitobte. Die beiden Kisten, noch nicht fest genug verzurrt, wurden losgerissen und krachten auf den Boden. Dort zerplatzten sie, und etliche Silberbarren fielen heraus. Der Koloß drehte sich um, als suche er nach einem geeigneten Gegner, aber die Treiber und Helfer waren bereits in blinder Panik nach allen Seiten davongestoben und waren auch durch die Zurufe einiger Soldaten nicht mehr zur Umkehr zu bewegen. Offenbar kannten sie amoklaufenden Elefanten zur Genüge. Jetzt ließ der Graue seine Wut an der Palme aus, die ihm im Wege stand. Er senkte den großen Schädel und rammte sie voller Zorn. Ein Hagel von Kokosnüssen prasselte auf ihn nieder. Die Palme bog sich und knickte um, als hätte sie ein Hurrikan umgerissen. Hasard glaubte zu sehen, daß die Augen des Leitbullen jetzt rot vor Wut waren. Er drehte sich wieder blitzschnell um und rannte zwei Indern nach, die brüllend vor ihm flohen. Dabei entwickelte der Elefant eine Geschwindigkeit, die keiner der Arwenacks auch nur annähernd vermutet hätte. Ein Inder schlug sich angstvoll kreischend in die Büsche. Der andere schaffte es nicht mehr. Der Rüssel hieb zu, umschlang ihn, hob ihn spielerisch leicht wie eine Puppe hoch und schmetterte ihn dann zu Boden. Der Angstschrei erstarb abrupt in höchster Tonlage. Zum Glück blieben die anderen
21 Elefanten relativ ruhig, sonst hätte es in und um Madras eine Massenpanik gegeben. Sie blickten dem Treiben ihres verrückt spielenden Artgenossen fast neugierig zu, griffen aber selbst niemanden an. „Das Tier muß erschossen werden!" rief der Sultan. „Es ist bösartig und unberechenbar. Ziehen Sie Schützen zusammen, Rameshand." Der Kapitän der Galeere, ebenfalls bleich und fassungslos, gab in seiner Sprache ein paar schnelle Befehle. Inzwischen entdeckte der Graue ein paar andere Kisten am Boden und bearbeitete sie mit Brachialgewalt, indem er mit seinen säulenförmigen Beinen darauf herumtrampelte. Die Kisten zerbarsten und gaben ihren Inhalt preis - Goldbarren, die der Koloß wütend nach allen Seiten schleuderte. „Schützen aufs Vordeck!" schrie Rameshand wild. Ein halbes Dutzend Inder, in der Uniform der höfischen Soldaten, stürmten nach vorn und stellten die Gabelstützen auf. Die Arwenacks sahen fassungslos zu, wie der Leitbulle immer mehr in Wut geriet. Da er keine Gegner mehr hatte, raste er in einem irrsinnigen Tempo auf die Galeere zu, um sie zu attackieren. „Feuert endlich!" schrie der Sultan von Golkonda. Er wich ein paar Schritte zurück, als sich der Graue der Galeere näherte und mit dem Rüssel nach der großen Laufplanke hieb. Das Geländer zersplitterte wie bei einem Kugeleinschlag. Ein paar Trümmer nahm
er mit dem Rüssel auf und schlenkerte sie in die Luft. „Der wird doch nicht an Bord entern", sagte Blacky entsetzt. Auch er sprang schnell ein paar Schritte zurück. Das war der Augenblick, in dem der Bulle mit gesenktem Schädel gegen die Bordwand der Galeere anrannte. Der Stoß war so gewaltig, daß das ganze Schiff erzitterte. Der Ruck verlief von vorn bis achtern durch die „Stern von Indien". Ein paar Planken knackten verdächtig. Erst jetzt feuerten drei Inder ihre Musketen ab. Sie hatten kein Ziel gefunden, weil sich der Bulle rasend schnell bewegte. Drei Schüsse krachten fast gleichzeitig. Rauch wölkte vor den Läufen auf, drei andere Schützen rückten vor. Die erste Kugel traf den Koloß in das linke Schulterblatt, die zweite erwischte ihn unterhalb seines Kniegelenkes, und die dritte schien ihr Ziel verfehlt zu haben. Es waren grobe Bleigeschosse, abgefeuert aus einer Distanz von höchstens fünfzehn Yards. Das Tier blieb stehen. Seine rotunterlaufenen Augen sahen die Männer bösartig an. Dunkles Blut sickerte aus der Wunde im Schulterblatt. Urplötzlich stieg der Gigant in die Höhe, als wolle er an Deck springen. Männer wichen aufschreiend zurück. Der Rüssel wischte voller Wut über die Verschanzung und umschlang einen der Schützen, der über seine Gabelstütze fiel. Wie ein Spielzeug wurde der Mann
22 angelüftet, durch die Luft gewirbelt und auf den sandigen Boden geschmettert. Der Elefant trampelte auf ihm herum, bis er nur noch eine unkenntliche Masse war. Allen saß das Entsetzen vor dem tobsüchtigen Bullen jetzt in den Gliedern. Hasard riß seinen Radschloßdrehling heraus, steckte ihn dann aber wieder verbissen ein. Der Drehling war nichts als ein lächerliches Spielzeug gegen dieses Monstrum. Ein Treffer würde seine Bösartigkeit nur noch weiter steigern. Die beiden anderen Treffer hatten nichts bewirkt, sie reizten den Bullen nur bis zur Weißglut. Unter seinem gewaltigen Tritt brach der Handlauf des Schanzkleides mit berstendem Knall. Der Rüssel schlug mit wilder Wut zu. Diesmal war es Ferris Tucker, der dem Hieb gerade noch entging, indem er sich abduckte, auf die Planken fallen ließ und blitzschnell zur Seite rollte. Haarscharf vor seinem Gesicht knallte der Rüssel hart auf die Planken. Der Bulle schrammte mit seinem Rücken an der Bordwand entlang. Dabei stieß er ein fürchterliches Brüllen aus, das die anderen Elefanten aufscheuchte. Zwei Kühe nahmen Reißaus und stürmten auf den nahen Dschungel zu. Dort blieben sie erregt stehen und wiegten die Köpfe. Hasard wollte schon erleichtert aufatmen, da fuhr der Bulle aber blitzschnell herum und donnerte seinen Schädel gegen die Bordwand. Mit dem Rüssel umschlang er dabei einen
Teil des Handlaufs und riß ihn mühelos heraus. Zwei Schüsse aus den Musketen krachten und übertönten das Splittern von Holz. Ein Bleibrocken traf den Rüssel, und diesmal schien der Koloß wilde Schmerzen zu empfinden. Wieder stieg er auf die Hinterbeine und riß das Maul auf. Als er zurückkippte, zersplitterte unter seinen mächtigen Beinen der Laufsteg und brach zusammen. „Jetzt sehen Sie, was ein tobsüchtiger Bulle anstellen kann", sagte der Sultan tonlos. „Auf der ganzen Ladung scheint ein Fluch zu liegen. Sie ist verdammt. Es passiert immer wieder etwas." „Das scheint mir fast auch so", sagte Hasard gallig. Seine letzten Worte wurden wieder von dem bestialischen Krachen überlagert, als der Bulle wütend gegen die Galeere stürmte. Die Planken erzitterten unter seinem Anprall. Das Tier hatte sich in Raserei gesteigert und gab keine Ruhe mehr. Beängstigend war vor allem die Schnelligkeit des Bullen, der sich mitunter wie rasend um seine eigene Achse drehte. „Der bringt es fertig und zertrümmert die Galeere", sagte Bill, der mit offenem Mund den wilden Angriffen zusah. Carberry, der vorher noch groß herumgetönt hatte, blieb angesichts dieses rasenden Elefanten glatt die Sprache weg. Er mußte sich kläglich eingestehen, daß es hier mit dem Profoshammer wohl nichts war, selbst wenn er ihn hundertmal hintereinan-
23 der abgefeuert hätte. Gegen diesen Dickschädel war kein Kraut gewachsen. Er zuckte zusammen, als der nächste Anprall erfolgte. Diesmal hatte sich der Leitbulle eine Stelle am Achterdeck ausgesucht, die weit überkragte. Die Männer bedauerten lebhaft, daß sie nicht an der hölzernen Pier lagen, denn dann wäre die Attacke längst vorbei, und der wütende Riese im Wasser gelandet. Hier aber war harter Untergrund, in den man ein paar Holzpoller gerammt hatte. Da konnte selbst ein tonnenschwerer Koloß nicht einbrechen. Die Galeere erzitterte bis ins Kielschwein. Die Masten schwankten, und es knackte auch wieder verdächtig. Die riesige Hecklaterne brach mit einem Knall, knickte ab, schlug achtern auf den verlängerten Ruderschaft auf und zerplatzte in tausend Scherben, die wie eine Wolke ins Wasser regneten. Dem Bullen schien sein Zerstörungswerk regelrecht Freude zu bereiten, als rings um ihn herum die Fetzen flogen. Laut trompetend raste er an der Galeere vorbei und nahm Kurs auf die Schebecke, die an der Holzpier lag. „Da wird er keine Freude dran haben", sagte Carberry mit einem hoffnungsvollen Grinsen. „Der schwimmt schneller im Bach, als er denken kann." Ferris konnte das nur bestätigen. „Die Pier hält das Gewicht nicht
aus, vor allem nicht, wenn er so wild darauf herumtrampelt." „Bist du sicher?" fragte der Seewolf. „Unser Schiff ist etwas leichter als die Galeere. Wenn er die attakkiert, gibt's Kleinholz." Der Bulle stürmte unterdessen rüsselschwingend und trompetend weiter und blieb erst dicht vor der Pier stehen. 4. „Der scheint wirklich Verstand zu haben", sagte Smoky. „Es scheint, als überlege er sehr genau, ob er sich auf die Pier wagen soll." So war es tatsächlich. Der Bulle war nicht unschlüssig, er schien nur zu überlegen, auf welchen Untergrund er sich begab. Von einem Augenblick zum anderen war er auch ruhiger geworden, doch er setzte gleich darauf sein Zerstörungswerk fort. Zuerst schlug er probehalber mit dem Rüssel nach einem aus dem Wasser ragenden Balken. Dieser Balken war nicht mehr ganz neu und mit einem Teil der Pier verbunden. Das Monstrum wackelte daran, bis der Balken wie ein großer Zahnstocher aussah und zweimal abbrach. Der Rüssel umschlang die Reste und zog sie mühelos heraus. Dadurch erzitterte der gesamte Steg, und die zurückgebliebenen Arwenacks auf der Schebecke hielten die Luft an. Sie hatten ja gerade miterlebt, zu was dieser Koloß fähig war. Als er den Balken herausgezogen hatte, begann er mit dem rechten Fuß
24 nach den Pollern und Stützpfosten der Pier zu treten. Wieder wackelte der Steg wie ein Lämmerschwanz. Luke Morgan, Gary Andrews, Al Conroy und Sam Roskill standen ziemlich ratlos an Bord. „Verdammt, der zertrümmert uns gleich mit", sagte Luke Morgan. „Oder er trampelt den ganzen Steg zusammen." Al Conroy sah ziemlich gelassen aus, als er den Bullen fixierte. „Dem ist nicht anders beizukommen als mit einer Drehbasse oder einem Siebzehn-Pfünder", sagte er. „Aber ich möchte hier nicht eigenmächtig entscheiden, sonst gibt es wieder Ärger." „Die anderen haben auch auf ihn geschossen", meinte Gary Andrews. „Der Sultan hat es angeordnet. Schließlich hat der Bulle schon ein paar Männer getötet." „Uns hat er jedenfalls nichts angeordnet", erwiderte der Stückmeister. „Deshalb werden wir uns hüten, etwas auf eigene Faust zu unternehmen. Vielleicht ist das ein kostbarer Zuchtbulle - kann man ja nie wissen." Von der Galeere erfolgte auch kein Zeichen. Dort standen sie nur herum und sahen hilflos zu dem rasenden Ungetüm. Tückisch und boshaft, anders ließ sich das nicht auslegen, rammte der Elefant jetzt mit der Schulter eine weitere Reihe von Pfählen und setzte den rechten Vorderfuß auf die dicken Bohlenbretter der Pier. Erwartungsgemäß gaben sie unter dem tonnenschweren Körper sofort
nach und brachen berstend auseinander. Luke wollte schon voller Schadenfreude grinsen, doch der Bulle zog nach der Attacke sofort sein Bein zurück. Dicht vor ihm gähnte ein zersplittertes Loch, durch das er im Wasser sein Spiegelbild sah. Er hob den Rüssel und trompetete triumphierend, ehe er abermals mit der rechten Schulter gegen die Balken drückte. Als sie sich nicht gleich lösten, nahm er den Rüssel zu Hilfe. Das war eine wirksame Waffe. Er zerrte so lange, bis zwei Balken knirschend nachgaben und aus dem morastigen Untergrund brachen. Dieses Mal zuckte auch Al Conroy zusammen, als ein Teil der Pier einstürzte und die Verbindungen barsten. Die Überreste verschwanden im Hafenwasser. Teile der Pier hingen schief nach unten. Das ganze ähnelte einer halbeingestürzten Brücke. An dem Rest dieser Trümmer war die Schebecke vertäut, und auf ihrem Deck standen mehr als ein halbes Dutzend Arwenacks, die wenig geistreich zu dem Leitbullen starrten. Noch einmal setzte der Koloß wie prüfend sein rechtes Vorderbein auf die traurigen Überreste. Der Rest gab nach, splitterte, barst, flog auseinander. Die kleine Pier war nur noch ein armseliger Trümmerhaufen, der weiter zersplittert wurde. Die Schebecke war frei, das heißt, sie war noch mit einem Teil der Pier vertäut, der an ihr klebte und jetzt ebenfalls frei herumschwamm. Sie sah aus, als seien alle Masten
25 über Stag gegangen, die sie jetzt mit sich herumschleppte. Die Arwenacks konnten es nicht fassen, als sie sich unmerklich langsam vom Ufer entfernten. „Das ist ja wohl ein schlechter Witz", stöhnte Sam Roskill. „Das gibt es doch gar nicht. Dieses Mistvieh ist gefährlicher als eine Horde wüster Piraten." „Da hast du allerdings recht", sagte Al. „Doch jetzt sollten wir uns wohl von dem schmückenden Beiwerk befreien. Löst mal die Leinen, damit wir wenigstens manövrieren können." Gary schüttelte schnell den Kopf. „Wartet noch damit. Achteraus gibt es noch eine kleine Leinenverbindung zu einem Poller. Daran können wir uns später zurückziehen, falls das Monster den Rest nicht auch noch zertrümmert. Außerdem verläßt unser Kapitän gerade die Galeere." Die Köpfe fuhren herum. Ungläubig sahen sie, daß der Seewolf über das Schanzkleid an Land flankte und vorsichtig Kurs auf die Schebecke nahm. „Zurück, Sir!" schrie Al Conroy fast hysterisch, denn genau in diesem Augenblick drehte sich der Koloß um. Sein Zerstörungswerk hatte er so gut wie beendet und es immerhin geschafft, den ganzen Hafen in hellen Aufruhr zu versetzen. Auf der anderen Seite sammelten sich inzwischen Neugierige, die schaudernd und schweigend dem Schauspiel beiwohnten. Aber sie standen in so sicherer Entfernung, daß ihnen nichts passieren konnte. Jetzt bemerkte der Bulle einen
Menschen, und sofort ließ er von dem Trümmerhaufen an der Pier ab. Menschen schienen es ihm heute ganz besonders angetan zu haben. Er hob den Rüssel hoch über den Schädel und walzte auf Hasard zu. Der Koloß wankte und bebte und näherte sich rasend schnell. Hasard lief in langen Zickzacksprüngen in Richtung einer Palme, blieb dort einen kurzen Augenblick stehen und spurtete dann auf den nahen Dschungelrand zu, als der Elefant die Palme erreichte. Das Tier donnerte mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Die große Palme wurde mitsamt ihrem Wurzelballen aus dem Boden gebrochen. Kokosnüsse rollten nach allen Seiten. Der Rüssel griff zu und schüttelte den Rest der Palme wild hin und her, bis sich auch die letzten Nüsse lösten. Gleich darauf nahm er wieder Kurs auf den Seewolf und bewegte seinen tonnenschweren Leib noch schneller als Hasard. Der Seewolf ließ sich auf ein riskantes Spiel ein, aber er wollte an Bord der Schebecke, und davon hielt ihn nichts ab. Er erreichte den Rand des Dschungels, verschwand in einem Verhau aus Bäumen, Lianen und dichtem Buschwerk und war ein paar Augenblicke später wieder draußen auf dem Stückchen freien Feldes. Der Graue walzte wie ein Dinosaurier durch das Gestrüpp, zermalmte und zertrampelte alles und fegte, einem Gewittersturm ähnlich, ebenfalls aus dem Dschungel heraus. Hinter sich ließ er ein Chaos zurück.
26 Sein Trompetenton klang herausfordernd und bösartig. Als Hasard sich einmal umdrehte, sah er, daß ihm der graue Riese unmittelbar auf den Fersen war. Und er hatte keine Möglichkeit mehr, Deckung zu suchen. Das Monstrum war einfach zu schnell. * Einen tollwütigen Elefantenbullen hinter sich zu haben, war nicht jedermanns Sache. Der Gigant war noch wesentlich schneller, als Hasard angenommen hatte. Er hörte das wilde Trommeln der Säulenbeine und war so hilflos wie selten in seinem Leben. Jeden Augenblick konnte ihn der Rüssel erwischen und mit einem einzigen Schlag töten. Oder die gewaltigen Beine trampelten ihn nieder. Hasard lief wiederum Zickzack mit Kurs auf das Hafenwasser. Er sah die Gestalten an Bord der Schebecke nur schemenhaft. „Schießt!" rief er keuchend. „Der Sultan will es so!" Das Trommeln war trotz des Zickzack-Kurses jetzt unmittelbar hinter ihm. Er konnte das Schnaufen des wilden Tieres hören. Eine unbeschreibliche Wut hatte sich in dem Bullen aufgestaut. „Schießen", sagte Al Conroy hilflos. „Mit was denn - mit Grobschrot etwa? Dann treffen wir den Sir gleich mit. Die Drehbassen können wir nicht einsetzen, sie streuen zu stark." „Dann eben mit der Culverine", sagte Luke Morgan. „Die kann man nicht einfach herumschwenken. Wir müßten da schon
sehr viel Glück haben, daß er uns genau vor die Rohre läuft." „Vielleicht ist es genau das, was Hasard beabsichtigt", sagte Gary Andrews. „Er lockt den Bullen hierher, in der Hoffnung, daß wir ihn mit einem gezielten Schuß außer Gefecht setzen. Wenn der weiter frei herumläuft, gibt es noch mehr Tote." Al Conroy, der erfahrene Stückmeister, der die Schießkunst bis fast zur Perfektion beherrschte, fühlte sich unbehaglich. „Gut, dann bringt ein paar glimmende Luntenstöcke. Die Culverinen sind ja alle geladen." Die Luntenstöcke waren innerhalb kürzester Zeit an Deck. Sechs Culverinen wurden an der Steuerbordseite besetzt. Hinter einer stand Al selbst und visierte. Aber es war schlichtweg unmöglich, auf einen heranstürmenden Elefanten mit einem Siebzehnpfünder zu feuern und auch noch zu treffen. Der Bulle bewegte sich nicht geradlinig, sondern raste wie verrückt von einer Seite zur anderen. Hasard tat aus dem Laufen heraus einen wilden Satz nach links und blieb einen kurzen Augenblick stehen. Der Leitbulle bremste sein beachtliches Gewicht ab, rutschte noch ein paar Schritte weiter und blieb dann ebenfalls stehen, wobei sein Rüssel wilde Kreise beschrieb. Übergangslos fuhr er zornig herum, um sich erneut auf sein Opfer zu stürzen. Doch da war Hasard längst weiter. Der kurze Augenblick hatte ihm genügt, um die Situation genauer zu er-
28 fassen. Er sah, daß auf der Schebecke ein paar Mann an die Culverinen sprangen. Sie würden feuern, sobald sie eine günstige Schußposition erreichten. Noch einmal wiederholte er das tödliche Spiel mit dem gereizten Elefanten. Das Tier wurde immer wilder und unberechenbarer, und wenn es von dem Seewolf abließ, würde es sich jemand anderen vornehmen oder mit seinen Verwüstungen fortfahren. Hinter den Culverinen lauerten die Arwenacks. Es tat ihnen leid, auf dieses Tier schießen und es töten zu müssen, aber sie hatten keine andere Wahl, wenn er nicht noch mehr Menschen zertrampeln sollte. Hasard lief diesmal buchstäblich um sein Leben. Zum Glück hatte er den Degen nicht umgehängt, der ihn nur behindert hätte. So konnte er sich freier und schneller bewegen. Er lief auf die Schebecke zu, nachdem er einen Kreis beschrieben hatte. Die Schebecke lag jetzt mitsamt dem größten Teil der zertrümmerten Pier ein paar Yards vom Ufer entfernt. Nur eine dünne Leine verband alles noch mit dem Land. Hinter ihm dröhnte und zitterte die Erde wie bei einem starken Beben. Das Monstrum walzte mit tödlicher Präzision heran. Mit einem wilden Satz hechtete Hasard ins Wasser und tauchte unter. Der Bulle war regelrecht verblüfft und bremste seinen Amoklauf erst dicht vor der Trümmerpier. Wieder hob er sich auf die Beine und stieß sein schrilles und wildes Trompeten aus. Eine Culverine krachte, und ihr Ab-
schuß überlagerte jedes andere Geräusch im Hafen. Der Krach war bestialisch und dröhnte überlaut. Hinter einer Wolke von zähem Pulverqualm tauchte der Stückmeister Al Conroy auf und wischte sich über die Stirn. Stumm sahen er und die anderen auf die Szene. Der bösartige Bulle ließ sich gerade wieder auf alle vier Beine zurückfallen, als ihn der Siebzehnpfünder traf. Er schlug mit unglaublicher Wucht in den riesigen Schädel und trieb den Leitbullen ein paar Schritte zurück. Wie vom Blitz getroffen, sank das riesige Tier lautlos in sich zusammen. Die mächtigen Beine zuckten noch ein paarmal konvulsivisch, dann rührte es sich nicht mehr und blieb still auf der Seite liegen. Der Schädel mit den langen Stoßzähnen war zerschmettert. Der amoklaufende Riese war tot. Hilfreiche Hände zogen den Seewolf aus dem Wasser, bis er triefendnaß an Deck stand. Er hatte den letzten Teil des Dramas nicht mehr ganz mitgekriegt. Jetzt blickte auch er auf das tote Tier, und es tat ihm trotz seiner Bösartigkeit leid. Die Inder auf der Galeere dachten darüber allerdings ganz anders. Sie rissen die Arme hoch und brüllten vor Begeisterung. Hasard stand nur da und sog tief die Luft in seine Lungen. Er fühlte sich völlig ausgepumpt. Alles erschien ihm plötzlich unwirklich. Die Hitze flimmerte vor dem Dschungel wie eine langgestreckte Woge, und dort, wo der tote Bulle lag, stand unbeweglich eine große Staubwolke über dem Boden.
29 Sie senkte sich so zögernd, daß man es kaum sah. Vor wenigen Augenblicken noch hatte eine geisterhafte Stille geherrscht, doch jetzt kreischten, krächzten und schrien aus dem nahen Dschungel fast pausenlos irgendwelche Tiere. Das alles vermischte sich mit dem frenetischen Gebrüll der Inder, die die Galeere verließen und zu jener Stelle stürmten, wo der tote Elefant lag. Hasard wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. „Viel länger hätte ich das nicht durchgestanden", sagte er. „So ein Elefantenbulle kann einem ganz schön zusetzen. Du hast ihn wenigstens mit einem sauberen Schuß getroffen, Al." Al stand noch neben der zurückgerollten Culverine, die in den Brooktauen hing. „Gern habe ich es nicht getan, aber es mußte wohl sein." „Ja, es mußte sein. Der Sultan sagte mir, es passiere hin und wieder, daß einer dieser Burschen Amok laufe. In seinem Palastgarten hat ein Elefant einmal acht Diener zu Tode getrampelt und eine Menge anderen Schaden angerichtet." Er blickte zu den Trümmern an der Pier. Da gab es nichts mehr zu reparieren, der gesamte Holzsteg war restlos zerstört. „Wir verholen vor die Galeere", sagte der Seewolf. Hand über Hand zogen sie die Schebecke weiter, bis sie an der anderen Pier lag. Die Arwenacks, die auf der Galeere gewesen waren, nahmen die
Leinen wahr und belegten sie an den Pollern. Inzwischen hatte auch der Sultan das große Schiff verlassen, und alle versammelten sich um den toten Elefanten. Ein paar Mahauts waren zurückgekehrt und beruhigten die anderen Elefanten. Sie waren immer noch sehr nervös und schienen sich über den Tod des Bullen aufzuregen. „Ein prachtvoller Schuß", sagte lobend Seine Hoheit. „Sie haben sehr viel riskiert, Sir Hasard. Leider wird es mit unserem Aufbruch heute abend nichts mehr werden, die Elefanten sind noch zu nervös. Wir möchten nach Möglichkeit vermeiden, daß sich ein solcher Vorfall wiederholt." „Das kann ich gut verstehen. Außerdem gibt es noch eine Menge aufzuräumen. Das Tier hat reichlich viel zerstört. Die Toten müssen auch noch bestattet werden." „Das erledigen meine Diener. Ich werde auch dafür sorgen, daß jemand den Mann entschädigt, von dem wir den Elefanten geliehen haben." Immer mehr Leute fanden sich ein, um den gefällten Koloß zu bestaunen. Jetzt im Tode, wirkte er fast noch gewaltiger als vorher. Es war ein riesiger Berg, der da auf dem staubigen Boden lag. „Was geschieht jetzt mit dem Riesenklops?" fragte der Profos. „Der kann doch hier nicht liegenbleiben, bis ihn die Geier holen." „Hier gibt es nicht viele Geier", sagte der Sultan. „Das Fleisch ist auch zu schade für sie. Sie finden anderweitig genug. Wir werden das Fleisch unter den beiden Mannschaf-
30 ten verteilen, damit es nicht verdirbt. Elefantenfleisch ist eine Delikatesse, Engländer. Aber man ißt es hier aus Respekt vor den Tieren nur sehr selten." Der Sultan klatschte in die Hände und rief in seiner Sprache ein paar Befehle. Daraufhin flitzten etliche Männer zur Galeere zurück. Als sie zurückkehrten, trugen sie Beile, Äxte und Schiffshauer mit sich, um den Koloß zu zerteilen. Der Kutscher stieß Mac Pellew an und grinste flüchtig. „Jetzt bist du ja doch auf wundersame Weise zu deinem Elefantchen gelangt, Mac. Es wird gerade in handliche Stücke zerlegt. Das hättest du nicht gedacht, was?" „Bestimmt nicht", sagte Mac tonlos. Und dann: „O Gottchen, was sollen wir nur mit dem vielen Fleisch anfangen? Das gibt ja einen halben Schiffsraum voll, gibt das. Aber es muß verwertet werden, sonst geht es in der Hitze schnell kaputt." „Du hast ja noch Paddy", tröstete ihn der Kutscher. „Der wird schon dafür sorgen, daß die Masse sich verkleinert." „Paddy kriegt den Elefantenarsch", sagte Mac ernsthaft. „Da ist am meisten dran. Sollen wir mithelfen?" „Natürlich, sonst werden die doch nie fertig." Der Kutscher sah sich um. Auf dem Platz vor dem Hafen herrschte eine chaotische Unordnung. Silberbarren lagen herum, Goldbarren funkelten matt im Sonnenlicht. Ein paar umgestürzte Palmen lagen dort, und nach allen Richtungen waren Kokosnüsse
verstreut und davongeroUt. Die toten Inder waren bereits weggebracht worden. Hinten am Dschungelrand, stießen ein paar Elefanten klagende Laute aus, die den Arwenacks durch Mark und Bein gingen. Es hörte sich an, als weinten sie laut. Ferris Tucker und Big Old Shane sammelten Gold- und Silberbarren ein, packten sie in die noch heilen Kisten und nagelten sie zu. Die anderen säbelten inzwischen an dem monströsen Fleischkoloß herum. Der Seewolf erinnerte es ein wenig an das Abspecken von Walen, wenn die Kerls mit ihren langen Flensmessern anrückten. In erstaunlich kurzer Zeit war der Koloß in große Portionen zerlegt. Ein Teil davon wurde auf die Galeere gebracht, etliche andere Stücke an die Treiber und Mahauts verteilt, aber die meisten lehnten verlegen und dankend ab und hatten Angst, der Sultan würde es als Beleidigung auffassen. Aber er kümmerte sich nicht darum. Seine Sorge galt einzig und allein dem Schatz, den er an den großen Akbar weiterleiten sollte. 5. Die nichtverwertbaren Teile des Grauen wurden an den Dschungelrand gebracht. Dort würden sie wilde Tiere oder nächtliche Räuber holen. Die Stoßzähne bot der Sultan dem Seewolf an. Ablehnen konnte Hasard nicht, denn das wäre eine Beleidigung gewesen. Also wanderten die mächtigen Elfenbeinzähne in den
31 Stauraum der Schebecke, nachdem sie von Fleischresten befreit und gesäubert waren. Mac Pellew und der Kutscher aber hatten ein Problem am Hals. Erst hatte Mac noch groß herumgetönt, doch als er jetzt die Fleischmassen sah, kratzte er sich verzweifelt das stopplige Kinn. „Wo lassen wir das Zeug nur?" jammerte er ein ums andere Mal. „Wenn wir heute davon hundert Pfund in die Pfanne hauen, bleibt immer noch so viel übrig, daß wir es nicht unterbringen. Spätestens morgen ziehen wir mit dem Sultan und seinem Gefolge los, und dann bleiben nur vier Mann an Bord zurück. Sollen die etwa den Rest vertilgen?" „Ihr könnt es ja einpökeln", schlug Matt Davies vor. „Fässer haben wir genug an Bord." „Diesen Berg schaffen wir niemals", jammerte Mac Pellew. „Der Bulle wog gut und gern seine vier bis fünf Tonnen. Das schafft ja nicht einmal Paddy, obwohl der für zehn frißt." Paddy Rogers wußte auch keinen Rat und sah sich angesichts dieser gewaltigen Fleischmenge restlos überfordert. „Ich werde kräftig reinhauen", versprach er. Um das viele Fleisch war es wirklich schade, wie sie alle meinten. In spätestens zwei Tagen würde es verderben. Unterdessen schnippelten Mac, der Kutscher, die Zwillinge, Batuti und Clint an den riesigen Brocken herum, um sie in handliche Portionen zu zerlegen.
Old O'Flynn tauchte auch einmal auf und sah stirnrunzelnd auf die gewaltige Menge. „Man hätte einen kleineren Elefanten erschießen sollen", erklärte er, aber da tippte ihm der Profos mit dem Zeigefinger an die Stirn, weil er so einen Stuß von sich gab. „Wenn dir nichts Besseres einfällt, dann verschwinde lieber", sagte er. „Steht hier rum und verzapft Blödsinn. Deine Weisheiten sind auch wirklich die allerletzten." Der kauzige Alte war allerdings nicht beleidigt, wie der Profos annahm. Er grinste sogar ein bißchen. „War ja nur ein Scherz", entgegnete er. „Aber dieser Mister Carberry kriegt ja grundsätzlich alles in den falschen Hals. Hm, ihr wißt also nicht, was ihr mit dem Fleisch tun sollt?" „Einpökeln, hat Matt vorgeschlagen. Aber eingepökeltes Fleisch ist auch nicht jedermanns Sache. Das Zeug ist zu salzig." Der Kutscher, der das sagte, sah etwas betrübt auf den Fleischberg. Old O'Flynn grinste immer noch. „Nun, Will, Batuti, Shane und ich bleiben ja an Bord zurück, wie wir vereinbart haben. Wir werden mit dem Berg schon fertig." „Haha", sagte der Profos. „Willst du dürrer Zausel etwa jeden Tag eine halbe Tonne davon in dich reinstopfen? Da kann ich nur ganz vornehm lachen." ' Das tat der Profos auch, aber es hörte sich nicht sonderlich vornehm an, wie er lachte. „Auch ein dürrer Zausel kann viel essen", erwiderte der Admiral. „Ich habe aber eine andere Idee."
32 „Er nun wieder!" tönte Carberry. „Deine Ideen haben sich meist als Schnickschnack erwiesen." „Diese ganz bestimmt nicht. Shane wird nämlich ein kleines Öfchen bauen, und darin werden wir das Fleisch räuchern. Dadurch kriegen wir eine Menge prächtigen Schinken. Na, Mister Carberry, hast du plötzlich die Maulsperre? Du siehst direkt dämlich aus." Der Ex-Schmied von Arwenack, der im Hintergrund stand, nickte bekräftigend dazu. Er feixte auch ein bißchen. „Die einfachsten Dinge fallen einem mitunter nicht ein", sagte der Kutscher und klopfte dem Admiral anerkennend auf die Schulter. „Das . ist wirklich eine prächtige Idee, Donegal. Beim Räucherfleisch kann so schnell nichts verderben, und wir haben einen riesigen Vorrat an feinem Schinken, zumal der Profos doch so gern Schinken mit Rührei in Mengen frißt." Der Profos schluckte ein bißchen und klappte die erstaunt geöffnete Futterluke wieder zu. „Ich nehme natürlich alles zurück", sagte er spontan. „Auch mein dämliches Grinsen. Du bist der Größte, Donegal. Daran hat wirklich niemand gedacht." Für Shane war es kein Problem, einen Räucherofen anzufertigen. Er hatte schon mal einen gebaut, als sie im Baltischen Meer waren, und in diesem Ofen hatten sie damals Heringe geräuchert. Er, Will Thorne und Donegal gingen sofort mit Feuereifer an die Arbeit, während der Kutscher und Mac ein paar Fässer mit Lake
füllten, in die das Fleisch gelegt wurde. Inzwischen war der Platz aufgeräumt worden, und es sah nicht mehr so wüst aus. Etliche Mahauts kehrten mit den Elefanten vorsichtig zurück. Die Tiere verloren langsam ihre Scheu und fügten sich wieder. Ebenso vorsichtig ging das Beladen der grauen Kolosse weiter. Carberry fiel ein Kerl auf, der etwas gebückt ging und sich immer wieder die Hand auf den Bauch hielt, als habe er Schmerzen. Der Profos kannte diesen Bastard. Der Kerl hatte ihm ein paarmal eins mit der Peitsche übergezogen, als er auf der Galeere angekettet war. Das war nichts als reine Schikane gewesen. Dem Kerl hatte es einfach Spaß bereitet, die Arwenacks zu piesacken. Er hatte mit dem bärtigen Kerl noch eine Rechnung offen und ihm auch versprochen, daß sie noch abrechnen würden. „Was fehlt denn dem edlen Meister der Peitsche?" fragte er einen der Inder, von dem er wußte, daß er ganz leidlich Portugiesisch sprach. „Er ist von dem Leitbullen getreten worden", sagte der Mann. „Deshalb kann er auch nicht arbeiten." „Davon habe ich aber nichts gesehen", erklärte der Profos. „Der Kerl war doch die ganze Zeit an Deck der Galeere und hat erst später beim Einsammeln der kleineren Barren geholfen." Der Inder wußte darauf keine Antwort. Es schien ihn auch nicht weiter zu interessieren. Carberry näherte sich dem Bur-
33 schen unauffällig und musterte ihn. Der Bärtige hatte über seinen Dhoti ein weiteres Tuch geschlungen, wie eine große Binde. Blut war allerdings daran nicht zu sehen. Der Sklaventreiber lehnte an einem Baum und sah zu Boden. Hin und wieder stöhnte er leise, wenn jemand an ihm vorbeiging. Jung Hasard näherte sich dem Profos, als er den Inder bemerkte. Carberry wollte sich den Kerl jetzt offenbar zur Brust nehmen. „Du wirst doch hier und jetzt keine Schlägerei anfangen, Mister Profos", sagte er. „Wir alle haben auf den Bastard eine Wut, aber jetzt ist die Gelegenheit äußerst ungünstig. Der Sultan ist in der Nähe." „Wer hat was von einer Schlägerei gesagt?" fragte Carberry mit Unschuldsmiene. „Wollte mich nur nach dem Befinden des guten Mannes erkundigen. Angeblich soll ihn der Leitbulle getreten haben, deshalb krümmt er sich auch ständig vor Schmerzen. Er hat auch eine Beule am Bauch, obwohl man am Bauch normalerweise keine Beulen kriegt." Der bärtige Schläger wandte sich ab und ging in gekrümmter Haltung ein paar Schritte weiter. Anscheinend war es ihm unangenehm, beobachtet zu werden. „Vielleicht sollte der Kutscher mal nach ihm sehen", meinte Jung Hasard. „Der braucht keinen Kutscher. Den Kerl kann von mir aus der Teufel holen. Ich wette mit dir, Söhnchen, daß der Bursche absolut keine Schmerzen hat."
„Warum benimmt er sich denn so merkwürdig?" „Das weiß ich noch nicht, ich vermute nur etwas." „Fragen wir ihn doch mal", schlug Jung Hasard vor. „Keine schlechte Idee. Du verstehst ja die Sprache." Hasard ging zusammen mit dem Profos zu dem bärtigen Inder hinüber. Als der die beiden auf sich zurükken sah, wurde sein Blick finster, und die Brauen zogen sich drohend zusammen. Mit der linken Hand griff er nach seinem Dhoti, wo er ein Messer stecken hatte. „Aber nicht doch, alter Freund", sagte der Profos. „Wenn du damit anfängst, dann hänge ich dir das Kreuz aus und schlage es dir um deine drekkigen Horchlöffel." „Hast du Schmerzen?" fragte Jung Hasard den Inder. Die Antwort war ein bitterböser Fluch. „Verschwindet, ihr dreckigen Engländer!" schrie der Inder. Die eine Hand hielt er weiterhin auf den Körper gepreßt. „Warum regst du dich so auf? Wenn du Schmerzen hast, kann dir geholfen werden. Aber vielleicht hast du gar keine Schmerzen und tust nur so. Laß mal sehen." Als Jung Hasard die Hand vorstreckte, riß der Inder einen Krummdolch aus dem Dhoti. Die Bewegung geschah blitzschnell und war kaum zu erkennen. Doch der Profos hatte es vorausgeahnt. Das kurze und tückische Auf-
34 blitzen in den dunklen Augen war ihm nicht entgangen. Er handelte auf seine unkonventionelle Art, als der Inder mit dem Messer nach Jung Hasard stechen wollte. Er drehte sich kurz und säbelte dem Inder mit einem schnellen Fußtritt die Beine unter dem Körper weg. Der Bärtige fiel mit einem erschrekkenden Schrei genau auf die Nase. Jung Hasard trat ihm auf das rechte Handgelenk, drückte kräftig zu, bückte sich dann und entwand dem Bärtigen das scharfe Messer. Er hatte es kaum in der Hand, als der Profos schon zupackte. Er ergriff den Inder an seiner Beule am Bauch und riß ihm das graue Tuch von der Hüfte. „Au, verdammt!" knurrte der Profos, als ihm etwas auf die Füße fiel. Im Staub lag ein Goldbarren, einer jener kleinen Barren, die nicht größer als eine Hand waren, aber ein beträchtliches Gewicht hatten. „Das ist aber eine feine Beule", sagte der Profos staunend. Er hob den Goldbarren auf und wog ihn in der Hand. „Hat der Bastard beim Einsammeln abgestaubt", meinte Jung Hasard. „Klebrige Gichthaken liebe ich ganz besonders", sagte der Profos und gab dem Inder eine Ohrfeige, kaum daß er wieder auf den Beinen stand. Der Kerl setzte sich mit einem Schrei erneut auf den Boden. Inzwischen waren etliche andere aufmerksam geworden. Auch der Sultan, der gerade mit dem Seewolf sprach, blickte einmal zu ihnen. Hasard zeigte zu Carberry und sei-
nem Sohn, und dann kamen beide herüber. Der Goldbarrenklauer erhob sich blitzschnell, um zu türmen. Er fand den Augenblick gerade günstig und nutzte ihn aus. Aber er hatte wieder mal nicht mit dem narbigen Kerl gerechnet. Eine Riesenfaust packte mit großer Kraft zu. Der Lendenschurz, den die Inder als Dhoti bezeichneten, ging in Fetzen. Gleichzeitig erhielt er wieder eine von diesen fürchterlichen Ohrfeigen, und jetzt hatte er wirklich das Gefühl, als habe ihn der Leitbulle getreten. Mit tränenden Augen sauste er auf Hasard und den Sultan zu und beschrieb dabei eine saubere Bauchlandung. „Was ist hier passiert?" fragte der Seewolf. Carberry zeigte den Goldbarren und wies mit dem Kinn auf den am Boden liegenden Inder. „Den hatte er sich mit einem Fetzen Tuch um den Bauch gewickelt. Er fiel mir durch sein seltsames Benehmen auf, und als wir ihn ansprachen, wollte er mit dem Messer auf Jung Hasard los." „Er trug das an seinem Körper?" fragte der Sultan. „Gold aus dem Schatz des großen Akbar?" „So ist es, Hoheit." Dem Sultan schwoll eine Ader auf der Stirn an. Seine Augen begannen unheilvoll zu funkeln. Der Bärtige kroch vor Angst in sich zusammen und wollte wieder türmen, doch da war dieses narbige Ungeheuer, und das stellte seinen riesigen
35 Stiefel direkt auf seine nackten Zehen. „Bist du nicht Rabin, der Zuchtmeister des Unterdecks?" fragte der Sultan hart. „Du Sohn einer auf ewig verdammten Hure wagst es, mich und damit auch den großen Akbar zu bestehlen? Das ist eine Ungeheuerlichkeit, du nichtsnutziger Hundesohn. Bist du Rabin oder nicht?" Der Dieb wuchs fast in den Boden hinein. Er hatte hündische Angst vor dem Sultan. Ihm brach der Schweiß aus allen Poren, wenn er an die Folgen dachte. „Ja, hoher Herr, ich bin Rabin", sagte er stammelnd. Der Sultan winkte zwei anderen Indern, die eilig herbeiliefen und sich vor ihm verneigten. Verächtlich deutete er auf den am Boden kauernden Bärtigen. „Er hat Gold gestohlen. Ihr wißt, wie ihr mit Dieben umzugehen habt. Verfahrt mit ihm nach alter Sitte der Parsen." Als die beiden eifrig nickten, wandte er sich wieder an den Dieb. „Mit welcher Hand hast du das Gold gestohlen?" „Mit der linken Hand hob ich es auf, hoher Herr. Ich bitte untertänigst um Gnade." „Es gibt keine Gnade", sagte der Sultan hart. „Nur ein dummer Vogel beschmutzt sein eigenes Nest. Du hast es gut gehabt auf der Galeere. Jetzt wird es dir nicht mehr gutgehen." Die beiden Inder packten den schreienden Mann. Zwei weitere brachten von der Galeere einen Gegenstand, der wie ein Hackklotz aus-
sah. Ein anderer trug ein schweres Beil mit breiter Klinge. Hasard holte tief Luft. Er kannte den Sultan als harten und unnachgiebigen Mann, der nicht das geringste Vergehen durchgehen ließ. Er konnte sich hier auch nicht einmischen, denn hier galten andere Gesetze. „Wird er hingerichtet?" fragte der Seewolf. „Nein, er wird nach dem Gesetz der Parsen bestraft, wie es meine Väter und Urgroßväter ausgeübt und gehalten haben. Die Todesstrafe wäre für ihn vielleicht angenehmer." „Also wird ihm die Hand abgehackt", sagte Hasard. „Ganz recht. Und ich hoffe, Sie versuchen nicht, sich für ihn einzusetzen, Sir Hasard." „Keine Sorge. Jedes Land hat seine eigenen Gesetze. Ich respektiere sie, wenn ich auch nicht immer damit einverstanden bin." * Ein Mann, der ausgesprochen finster aussah, hielt das breite Beil in den Händen und trat vor den groben Hauklotz. Ein anderer brachte einen Topf mit grobkörnigem Pulver und eine brennende Fackel. Dem Dieb wurde eine dünne Schnur über die Finger gezogen und seine Hand auf den Klotz gelegt. Einer hielt die Schnur straff gespannt, die beiden anderen hatten den Inder gepackt, der sich anfangs verzweifelt gewehrt, jetzt aber offenbar resigniert hatte. „Rabin hat Gold aus dem Schatz
36 des ehrwürdigen Akbar gestohlen!" rief der Sultan. „Seht jetzt mit an, wie ein nichtsnutziger Dieb bestraft wird! Und merkt euch, daß jedem das gleiche Schicksal widerfährt wie diesem Lump. Hackt ihm die Hand ab!" befahl er scharf. Der Kerl mit dem Beil fackelte nicht lange. Völlig emotionslos schlug er mit Wucht zu. Die Hand fiel vom Hauklotz. Rabin stieß einen gellenden Schrei aus. Die Farbe in seinem Gesicht wich einer fahlen Blässe. Seine Augen wurden glasig, als er auf den blutigen Stumpf blickte. Danach schrie er noch einmal laut und grell wie ein verwundetes Tier. Sie packten ihn und steckten den Stumpf in den Topf. Schießpulver befand sich darin, grobkörnig und dunkel. Der Stumpf wurde darin herumgedreht, bis er voller Pulver klebte. Zwei Inder hielten Rabin mit aller Gewalt fest. Der dritte nahm die Fakkel mit unbewegtem Gesicht und hielt sie an den pulyerverklebten Armstumpf. Eine Stichflamme zuckte hoch und versengte dem Mann mit der Fackel die Haare. Gleichzeitig breitete sich ein entsetzlicher Geruch aus. Rabins Schrei ging in ein Gurgeln über, das plötzlich erstarb. Er wurde in den Griffen der beiden Männer schlaff und sank in sich zusammen. Sie ließen ihn einfach fallen. Der Inder war vor Schmerzen ohnmächtig geworden. „Ich finde es widerlich", sagte Hasard leise zu Dan. „Geht mir genauso, Sir. Ein Dutzend Hiebe hätten den Kerl vielleicht
auch zur Besinnung gebracht. Zum Glück ist die scheußliche Prozedur jetzt vorbei." Hasard stutzte, denn die Szene veränderte sich nicht. Der Kerl mit dem Beil stand so reglos, als sei er im Boden festgewachsen, und der andere hielt immer noch die Fackel. Auch der mit dem Pulvertopf stand in stoischer Ruhe da. Sie alle schienen auf etwas zu warten. „Was denn jetzt noch?" flüsterte Dan. Hasard hob die Schultern. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich warten sie darauf, daß er erwacht." Der Inder lag reglos am Boden. Aus seiner gräßlichen Wunde sickerte kein Blut mehr. Das brennende Pulver hatte die Wunde verklebt und versiegelt. Um dem Erwachen ein bißchen nachzuhelfen, erschien einer mit einer Pütz voll Wasser, die er Rabin ins Gesicht goß. Jetzt zeigte sich eine Reaktion, als der andere mit der Fackel auch noch vor seinem Gesicht herumfuchtelte. Der Dieb schüttelte sich, stöhnte laut auf und versuchte, auf die Beine zu gelangen. Sie halfen ihm dabei. Erst starrte er auf seinen Arm, dann stieß er wieder einen klagenden Schrei aus, als er die Situation begriff. Es hatte den Anschein, als wolle er blindlings davonrennen, doch die beiden Inder stoppten ihn und hielten ihn fest. Sein Gesicht war grauweiß vor Angst. Der Sultan deutete auf den Dieb. „Wer einmal den großen Akbar gestohlen hat", sagte er, „bei dem liegt
37 der Verdacht nahe, daß er es auch ein zweites Mal tun wird. Ein Dieb ist und bleibt ein Dieb. Rabin wird aber keine Gelegenheit mehr gegeben werden, ein zweites Mal zum Dieb zu werden. Darum hackt ihm jetzt auch die rechte Hand ab." „Das darf nicht wahr sein", sagte der Seewolf erschüttert. „Das sind barbarische Strafen. Dagegen sind Auspeitschen und Kielholen fast harmlose Strafmaßnahmen." Die gräßliche Prozedur begann von neuem, nur mit dem Unterschied, daß Rabin sofort in Ohnmacht fiel, als der Kerl mit dem Beil wieder zuschlug. Einer warf die beiden Hände in einen Korb, ging damit zum Wasser und schüttete den Korb aus. Kaum jemandem war bei dieser höllischen Prozedur eine Regung anzusehen. Das Gesetz wollte es so, und das Gesetz wurde befolgt - inschallah! Es war das Gesetz der Parsen, die um 750 n. Chr. auf der Flucht vor dem Islam nach Indien ausgewandert waren. Sie hatten den Islam abgelehnt, nicht aber seine drakonischen Strafen, die immer noch praktiziert wurden. „Was geschieht jetzt mit ihm?" fragte Hasard und konnte nur mühsam verbergen, daß er angewidert war. „Er kann nicht mehr mit den Händen essen, er kann nichts greifen, nichts anfassen. Er ist nur noch ein bedauernswerter Krüppel, der keine Freude mehr am Leben hat." „Gerade das soll die Strafe bezwekken, Engländer. Er wird sich daran gewöhnen, mit den Stümpfen leben zu müssen, und er wird auch keinen Diebstahl mehr begehen. Man be-
stiehlt keinen Maharadschah, Sultan oder Nawab und bleibt dann ungeschoren. Er kannte die Strafen, und er kannte auch das Risiko, das er einging. Von nun an ist er weniger als ein Aussätziger, ein Paria, denn jeder, der ihn sieht, wird wissen, was er getan hat und sich von ihm abwenden. Was jetzt mit ihm geschieht? Er wird in den Dschungel gejagt und sich selbst überlassen. Aus der Gesellschaft ist er ausgestoßen." „Eine harte Strafe." „Was geschieht mit einem, der Ihre Regentin, die Königin, bestiehlt?" fragte der Sultan. „Oder sich anderweitig an ihrem Eigentum vergeht?" „Ich glaube, man würde ihn hängen." „Sieh an. Er würde den Diebstahl also nicht überleben." Hasard sagte nichts mehr. Auch dann nicht, als der Fackelträger seine Fackel löschte und eine kurzstielige Peitsche holte. Damit zog er Rabin ein paar Hiebe über, bis der aus seiner Ohnmacht erwachte und hochtaumelte. Der Dieb begriff recht schnell. Trotz seiner rasenden Schmerzen begann er zu laufen und stieß dabei Schreie der Angst aus. Der andere tobte hinter ihm her, und immer wenn er ihn einholte, dann schwang er die Peitsche, die auf Rabins Rücken blutige Striemen hinterließ. Er trieb ihn bis an den Rand des Dschungels, und es war grotesk mitanzusehen, wie der Mann ohne Hände sich bewegte. Er hüpfte und sprang, schrie dabei laut und gellend und
38 reckte seine schwarzverbrannten Stümpfe wie anklagend in die Luft. Kurz vor der wildwuchernden Vegetation holte ihn der andere noch einmal ein und drosch ihm erbarmungslos die Peitsche über das Kreuz. Mit einem letzten wilden Schrei verschwand der Dieb in dem dichten Laubwerk des Dschungels. Es raschelte noch ein paarmal, dann trat Ruhe ein. „Diesen Burschen hätte ich zwar auch zum Teufel gejagt und ihn ordentlich verdroschen, aber die Bestrafung finde ich zu hart, obwohl der Karl ein lausiger Bastard ist. Man kann einem doch nicht beide Hände abhacken", empörte sich der Profos. „Da muß ich dir recht geben", sagte Hasard. „Aber es ist zwecklos, darüber zu diskutieren. Hier gelten eben andere Gesetze, die uns zu hart erscheinen mögen. Doch in England gilt ja ebenfalls die Todesstrafe für Diebe, Mörder und Gesindel. Und nicht nur das. Auch die Spanier können ein Lied von der heiligen Inquisition singen. Ich habe beschlossen, mich darüber nicht mehr aufzuregen. Wir nehmen es so hin, wie es hier gehalten wird. Dagegen tun, können wir absolut nichts, außer, daß wir uns unbeliebt machen." Der Profos nickte schließlich und starrte zu der Stelle am Dschungelrand, wohin der Dieb mit der Peitsche getrieben worden war. Carberry konnte nichts dafür, aber er war nun mal so. Er fühlte sich mitschuldig an der Sache, und das sagte er dem Seewolf schließlich auch. Hasard winkte jedoch ab. „Ein
Schuldgefühl ist völlig unangebracht, Ed. Der Kerl war ein hinterhältiger Bastard, der uns auf der Galeere ziemlich höllisch zugesetzt hatte. Du hast nur einen Dieb und Halunken entlarvt. Die Konsequenzen daraus hat der Sultan gezogen." „Na ja, wenn man es so sieht." „Ich sehe es so." Damit war das Thema erledigt. Der Sultan von Golkonda sah immer noch finster aus und blickte zu dem Indern, die schweigend herumstanden. „Falls noch jemand Gold oder Silber gestohlen hat", sagte er mit ruhiger Stimme, „dann soll er sich jetzt melden. Er wird dann lediglich mit zehn Peitschenhieben bestraft; Das ist eine Gunst, die ich euch nur heute gewähre. Sollte sich später ein Dieb finden, lasse ich ihm nicht nur die Hände abhacken, sondern auch die Füße. Er wird dann lebend auf einem Baum festgebunden, bis ihn die Geier finden." Er wartete ein paar Augenblicke, musterte die Männer der Reihe nach und nickte dann, als sich keiner meldete. „Beladet die Elefanten weiter!" Damit wandte er sich ab und ging auf Hasard zu. „Ich denke, wir werden morgen nachmittag aufbrechen, wenn die Sonne schon etwas tiefer steht, Sir Hasard. Die Elefanten haben sich noch nicht ganz beruhigt. Sie müssen sich auch erst noch an die Lasten gewöhnen, denn sie waren bisher größtenteils im Dschungel eingesetzt, um Holz zu transportieren. Sie werden ein paar Stunden mit den Kisten und
39 Ballen beladen dastehen, Für die Nacht nimmt man ihnen die Last wieder ab und ladet sie morgen neu auf." „Dann sollten wir heute nacht Wachen aufstellen, Hoheit. Ich werde ein paar meiner Männer dazu einteilen." „Einverstanden, Engländer." Einige der Tiere wurden wieder unruhig, als sie die schweren Kisten auf ihren Rücken spürten. Aber es passierte nichts mehr. Am Nachmittag gab es Fleisch in rauhen Mengen, und Paddy Rogers haute rein, als wollte er alles allein verspeisen. 6. In der Nacht war es schwülwarm. Vom Wasser stiegen Mückenschwärme auf und stürzten sich auf alles, was lebte. Diejenigen, die es vorgezogen hatten, an Deck zu schlafen, verholten nach einer Weile und verschwanden unter Deck, wo sie vor den Plagegeistern einigermaßen sicher waren. So auch Old O'Flynn, der immer grimmiger wurde, seit ihm die Mükken so zusetzten. Er legte sich in die Koje und wollte schlafen. Er konnte nicht einschlafen, die Hitze setzte ihm zu, und so starrte er grimmig über sich an die Decke. Einmal stand er brummelnd wieder auf, ging nach oben, schnappte sich eine Pütz voll Wasser und goß den Inhalt über seinen Kopf. Für ein paar Augenblicke half das, doch schon bald war er wieder in Schweiß gebadet und fluchte leise vor sich hin. „Auf Great Abaco müßte man jetzt
sein", knurrte er gegen die Decke, „in der Rutsche sitzen und kaltes Bier schlucken. Da umweht einen immer ein frisches Lüftchen, aber hier erstickt man ja fast." Eine ganze Weile brummelte er vor sich hin und stellte sich vor, wie er jetzt in der Karibik weilte und seine Kneipe, die sie die „Rutsche" nannten, bis auf den letzten Platz gefüllt war. Ja, und natürlich wäre auch Mary da, seine Snugglemouse, und Edwin Shane, sein Söhnchen, nach dem er lebhafte Sehnsucht verspürte. Aus dem kleinen Windelpisserchen war sicher schon ein strammes Kerlchen geworden. Er dachte an den Wikinger, an Jean Ribault, an den ehemaligen fetten Exgouverneur von Havanna und all die anderen, die sich jetzt im Stützpunkt aufhielten. Das Bild wurde immer plastischer. Old Donegal grinste und dröselte übergangslos ein, und schon war er auf Great Abaco und sah seine „Empress of Sea" vor sich liegen. Aber die richtige Stimmung herrschte dort auch nicht. Der Wikinger lief mit einem Gesicht herum, daß es einen grausen konnte. Nicht mal sein Kupferhelm war poliert, und das wollte schon etwas heißen.' „Was ist denn hier los?" fragte Old Donegal. „Ihr seht alle so eigenartig aus." „Hast du wieder mal die Zeit verpennt?" schnaubte Thorfin Njal. „Du weißt doch selbst, was hier los ist." Der Wikinger hielt sein riesiges Schwert in der Faust, das er liebevoll
40 sein „Messerchen" nannte, und blickte grimmig zum Horizont. „Kann mich nicht erinnern", erwiderte Old O'Flynn und fühlte sich selbst wie ein Fremdkörper. Ihm fiel auch auf, daß in der versteckt gelegenen Bucht nur noch ein Schiff lag. Es war „Eiliger Drache über den Wassern". Das fand Old Donegal sehr seltsam. Und er fand es auch seltsam, daß ihm wahrhaftig ein großer Teil seiner Erinnerung fehlte. „Na, die Armada!" rief der Wikinger. „Sie ist im Anmarsch, und wir können uns nicht gegen sie wehren! Haben nur noch das eine Schiff und deinen alten Schlickrutscher!" Old Donegal sann über die Worte nach, aber zuerst sah er sich gründlich nach allen Seiten um. Alles war ganz anders auf der Insel. Da lagen zerfetzte Palmen am Strand, die Hütten waren verbrannt oder zerschossen und weiter hinten, wo die Landzunge begann, lagen Wrackteile und etliche Tote auf dem Strand. Auch die Werft von Hesekiel Ramsgate war dem Erdboden gleichgemacht worden. Über die Schulter blickend, sah er, daß auch seine Rutsche nur noch einem armseligen Pinsel ähnelte. Er konnte das nicht begreifen, es ging ihm nicht in den Kopf. „Welche Armada?" fragte er heiser. Der Wikinger stieß mit einem wilden Knurren sein Schwert in den Boden und schüttelte den Kopf. „Du mußt wohl da oben unter deinem Hirnkasten was abgekriegt haben. Warst doch immer dabei. Oder nicht?"
„Ich glaube schon, aber irgend etwas ist hier anders." „Natürlich ist hier alles anders. Vor ein paar Tagen tauchten hier mitten in der Nacht plötzlich mehr als zwanzig spanische Kriegsschiffe auf und überfielen den Stützpunkt. Die Kerle, die wir hier aufgenommen hatten, die haben die Spanier herbeigelockt, diese Bastarde. Das war ihr Dank, nachdem sie uns noch beklaut hatten." „Welche Kerle?" „Ein paar englische Schnapphähne." Der Wikinger musterte den Alten wieder kopfschüttelnd von oben bis unten und behandelte ihn so vorsichtig, als sei Donegal ein bißchen wirr im Kopf. „Und die haben alles zusammengeschossen?" „Ja, sie haben die ganze Insel verwüstet." „Wo - wo sind denn Gunhild, Gotlinde und - und ..." Old O'Flynn konnte vor Entsetzen nicht mehr weitersprechen. Er ahnte schon die fürchterliche Wahrheit. „Sie sind mit den Kindern auf einer anderen Insel. Wir konnten sie gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber die Dons kehren bald wieder zurück und werden uns den Rest geben. Wir brauchen dringend Hilfe, sonst ist der Stützpunkt verloren." „Das ist ja furchtbar", stammelte Old Donegal erschlagen. „Noch viel furchtbarer. Jean Ribault ist mit seinem Schiff untergegangen, Arne von Manteuffel hat es auch nicht überlebt, und Siri-Tong ist
41 spurlos verschwunden, ebenso wie der alte Hesekiel und viele andere. Mich wundert, daß du dich daran nicht erinnerst. Es waren die schrecklichsten Augenblicke auf dem Stützpunkt. Aber sicher hast du ein bißchen unter den Folgen gelitten. Manche werden dabei richtig verrückt." „Ich bin aber nicht verrückt", sagte Old Donegal. „Mir ist nur so, als würde dichter Nebel vor meinen Klüsen hängen." „Du hast dich auch wirklich sehr verändert, Donegal, seit die ,Isabella' ohne dich losgesegelt ist." Das kapierte Old Donegal erst recht nicht, aber er traute sich auch nicht, genauer danach zu fragen. „Wann glaubst, werden die Dons hier wieder aufkreuzen?" „Wenn es wieder neblig ist, und wir sie nicht sehen, so wie beim letzten Mal, bei Nacht und dichtem Nebel." Old O'Flynn blickte schluckend auf die See hinaus, die auch ganz anders als sonst aussah. Die kleinen Wellen schienen auf unwirkliche Art erstarrt zu sein, und er glaubte, ein feines Nebelgespinst über dem Wasser zu erkennen, mehr ein dünnes Spinnennetz, das sich langsam, aber ständig verdichtete. Er war so erschüttert wie noch nie in seinem Leben und mußte sich immer wieder die Kehle freiräuspern. ' „Dann sollten wir die beiden Schiffe besetzen", sagte er mit brüchiger Stimme, „und die Dons vor der Küste abfangen." Die Antwort des Wikingers war ein hohles Lachen, das tief aus seiner Kehle ertönte.
„Die Schiffe besetzen", wiederholte er verächtlich. „Mit wem denn - mit dir und mir? Du bist vielleicht witzig." „Mit den restlichen Männern natürlich." „Es gibt keine restlichen Männer mehr, du Prielwurm!" brüllte der Wikinger. „Geht das immer noch nicht in deinen Torfschädel? Es ist niemend mehr da. Die Dons haben alle ausgerottet, und jetzt erscheinen sie, um den großen Schatz aus den Höhlen zu holen." Old Donegal zuckte entsetzt zusammen und schaute sich wieder nach allen Seiten um. Nein, er sah weit und breit keinen einzigen Mann. Die ganze Insel lag wie ausgestorben da, und er fühlte eine hilflose Wut in sich aufsteigen. Auch über der Insel hing jetzt wie ein Kokon dieser merkwürdige Nebel, der sich zusehends verdichtete und nach einer Weile selbst den Wikinger einhüllte. „Wir müssen aber etwas tun!" rief Old Donegal. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer. Er kam gegen den Nebel nicht an, der ihm die Worte in den Mund zurückdrückte. „Wir segeln mit der ,Empress' zu der Insel hinüber, wo unsere Frauen sind." „Die laufen uns schon nicht weg", sagte Thorfin, und Old Donegal wurde das Gefühl nicht los, als wachse der Wikinger ganz allmählich und werde ständig größer. „Ich bleibe nicht hier!" kreischte Old Donegal. Der Wikinger seufzte daraufhin abgrundtief. „Bei Odin und seinen Raben, ver-
42 dammt noch mal. Wir können nichts tun, denn du bist ja nicht ganz richtig im Hirn. Ich schlage vor, wir saufen die letzten Buddeln aus, die noch hier lagern und laufen dann einfach zu den Dons über. Ich habe nämlich die Nase gründlich voll." „Du bist es, der hier verrückt ist!" schrie Old Donegal. „Ein Wikinger, der zu den Dons überläuft - wo gibt's denn so was! Du segelst jetzt mit, oder ich klopfe dir deinen verdammten Helm durch den Schädel, du verlauster Polaraffe!" Der Wikinger wuchs weiter in die Höhe, gleichzeitig verdichtete sich auch der Nebel. Old Donegal mußte den Kopf tief in den Nacken legen, um zu ihm aufblicken zu können. Fast übergangslos wurde es dunkel und der Nebel so dicht, daß Old Donegal kaum noch etwas sah. Er schrie und rief nach dem Wikinger, und als er näher zum Wasser hastete, da sah er sie. Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht. Riesige Kriegsgaleonen, zwei große Galeeren, etliche Karavellen und alte Karacken. Auf dem Achterdeck des größten Schiffes stand ein Mann mit harten Augen und einem höhnischen Grinsen im Gesicht. „Feuer!" brüllte er aus Leibeskräften. „Schießt die ganze Insel zusammen, gebt's den Bastarden, den englischen." Lichtblitze zuckten auf, Donner rollte über die See. Ein unerträglicher Lärm und ein wildes Rumoren begannen. Old O'Flynn hörte die Kugeln einschlagen, hörte das höllische Zwit-
schern von Grobschrot, das ihm um die Ohren flog, und rannte in panischer Angst landeinwärts. Das Meer war jetzt eine einzige Flammenwand, aus der pausenlos feurige Eisenkugeln flogen, die den Sand aufwühlten und alles das zertrümmerten, was noch einigermaßen heil gewesen war. Old Donegal flüchtete voller Entsetzen in die Höhle, die er hier entdeckt hatte und die jetzt voller Beutegut und Schätze war. Die Spanier rächten sich fürchterlich für das, was sie ihnen einmal abgenommen hatten. Gnadenlos schossen sie alles zusammen, und bald stürzte auch die Decke der Höhle ein. Old Donegal konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen. Er sprang mit einem wilden Satz ins Wasser und schwamm drauflos. Über ihm war es jetzt so finster wie in einem Grab, und er spürte das Wasser über sein Gesicht rinnen. Und dann fiel ihm auch noch der ganze Himmel auf den Kopf.
Er brauchte lange, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Sein Erwachen war ebenfalls ein Alptraum, als er mit dem Kopf an die Decke über sich stieß. Ein paar Augenblicke lag er reglos da und lauschte. Sein Körper war in Schweiß gebadet, und er empfand fürchterliche Angst. Jede einzelne Szene sah er noch deutlich und seltsam eindringlich vor sich. Er erinnerte sich nicht, jemals so intensiv geträumt zu haben. Klar und
44 deutlich sah er die Verwüstungen auf Great Abaco vor sich, hörte die donnernde Stimme des Wikingers und sah die vielen spanischen Kriegsschiffe, die die Insel in Stücke schossen. Ein Wahrtraum, durchzuckte es ihn, einer jener fürchterlichen Träume, die eigentlich gar keine waren. Nein, es war kein Traum, er hatte wirklich hinter die Kimm geblickt, oder ein Teil seines Geistes war auf Great Abaco gewesen. Old Donegal hatte hin und wieder das Erlebnis, aus seinem eigenen Körper herausgetreten und auf Reisen gegangen zu sein, und diesmal mußte es ähnlich gewesen sein. Es gab gar keinen Zweifel. Er sprang aus seiner Koje, getrieben von einem panikartigen Gefühl voller Angst und rannte fast die Kammer des Seewolfs ein. Hasard hatte normalerweise einen tiefen Schlaf, reagierte aber rein instinktiv und blitzartig auf unnormale Geräusche, die ihn sofort wach werden ließen. Als der Admiral wie ein angestochener Büffel in die Kammer raste, fing er sich erst mal ein Ding ein, das ihn an die Wand zurückwarf. Es ging derart schnell, daß er nicht mehr reagieren konnte. Im Mondlicht, das in einem schmalen Streifen in Hasards Kammer fiel, erkannte der Seewolf seinen kauzigen Schwiegervater, der benommen auf dem Boden hockte und irgend etwas krächzte. Vorsichtig half Hasard ihm auf und stellte den torkelnden Alten auf die Beine.
„Great Abaco ist überfallen worden!" schrie Old Donegal, wobei seine Stimme noch etwas lallend klang. Hasard drückte den alten Zausel auf die Koje. „Tut mir leid", sagte er entschuldigend, „aber ich wußte nicht, daß du es warst. Und Vorsicht ist nun mal die Mutter der Flaschensammlung. Geht es dir wieder besser?" „Der Stützpunkt in der Karibik ist von Spaniern überfallen worden", wiederholte der Alte. „Sie haben alles niedergemetzelt, die Schiffe versenkt, die Hütten in Brand geschossen. Gunhild, Gotlinde und Mary sind auf einer anderen Insel vorläufig in Sicherheit. Nur der Wikinger ist noch da und ganz allein." „Ah ja", sagte Hasard und gähnte verstohlen. „Und du bist jetzt direkt hierhergesegelt, um mir das mitzuteilen." „Wir müssen etwas tun, Sir." Old O'Flynn war ganz durch den Wind. „Und wir müssen schnell handeln. Ich habe das sehr deutlich gesehen. Die Dons haben ganz Great Abaco ausgeräuchert." „Ja, die Dons sind schon üble Kerle", sagte der Seewolf. „Das haben wir ja bereits zur Genüge erfahren." „Aber es ist wahr." „Woher weißt du das?" „Weil ich es geträumt habe. Und ich habe auch mit dem Wikinger gesprochen, der das Massaker überlebt hat." „Wie geht's ihm denn so?" fragte Hasard geduldig. Daß er öfter mal gähnte, schien den alten Zausel nicht zu stören.
45 „Es geht ihm schlecht, und er hat gesagt, am liebsten würde er sich besaufen und dann zu den Dons desertieren." „Der spinnt doch", entrüstete sich Hasard. „Sag ihm, daß er sich besaufen kann, aber gefälligst auf der Insel zu bleiben hat. Es gibt doch noch die Bruderschaft der Freibeuter." Old Donegal kapierte immer noch nicht, daß Hasard. ihn nicht ganz ernst nahm und sich amüsierte. „Ribault ist tot, Hesekiel Ramsgate und all die anderen", begann Old Donegal mit seiner Nerverei von neuem. „Wir können die Einladung nicht mehr annehmen, Sir. Wir müssen sofort los segeln. In Great Abaco liegen nur noch meine ,Empress' und ,Eiliger Drache' von Thorfin. Alle anderen Schiffe sind versenkt worden." „Waren ja auch schon ein paar alte Kähne dabei", meinte Hasard. „Und wie geht es der Roten Korsarin - hast du auch mit ihr gesprochen?" „Siri-Tong ist spurlos verschwunden", stieß Old Donegal hervor. „Der Wikinger weiß nicht, wo sie steckt. Auch seine Raben - ich meine, seine Kerle, sind alle fort." „Vielleicht hocken sie in deiner Rutsche und besaufen sich." Jetzt erst ging Old Donegal eine Hecklaterne auf. „Du nimmst mich nicht ernst, Sir", klagte er. „Träume nehme ich selten ernst und solche schon gar nicht." „Aber es war kein Traum im üblichen Sinne." „Was denn sonst?" „Ein Wahrtraum, Sir." „Aha, und was ist das?"
„Das ist schwer zu erklären, aber ich habe es schon ein paarmal erlebt. Ich schlafe, aber mein Geist tritt aus dem Körper heraus und wird an einen anderen Ort versetzt. Und dort bin ich dann wirklich und höre und sehe alles, was passiert. Meist ist ein grauer Schleier davor oder ein bißchen Nebel, und dann verwischt alles zu einem feinen Gespinst. Die Welt ist ein bißchen anders, verstehst du, Sir?" „Ja, ich glaube, ich verstehe, Donegal. Aber ich glaube einfach nicht daran. Wenn in Great Abaco wirklich Dons auftauchen, werden sich unsere Männer schon zu wehren wissen. Sie haben noch jeden Gegner zurückgeschlagen, genau wie damals auf der Schlangeninsel." „Diesmal haben sie es nicht geschafft", sagte Old Donegal düster. „Und deshalb müssen wir ihnen zu Hilfe eilen." Langsam, aber sicher ging der Alte dem Seewolf mächtig auf die Nerven. „Ich weiß, daß du mitunter das sogenannte Zweite Gesicht hast, und du hast auch dann und wann recht gehabt. Diesmal hast du ganz sicher nicht recht, denn alles war nur ein schlimmer Alptraum, der eben ein bißchen plastisch wurde, und da hast du Einzelheiten gesehen. Jetzt hältst du das alles für Realität. Am besten, du vergißt das alles, legst dich wieder hin und bereitest dir keine unnötigen Sorgen." „Tu ich aber", sagte der alte Wunderling trotzig, „weil es nämlich der Wahrheit entspricht. Ich schlage noch einmal vor, daß wir hier alles stehen und liegen lassen und sofort lossegeln."
46 „Und ich wiederhole meinen Vorschlag von eben", sagte Hasard schon eine Spur härter. „Du gehst jetzt auf die Matte und schläfst weiter. Außerdem können wir nicht so ohne weiteres absegeln, ohne unsere ganze Mission in Frage zu stellen. Der Sultan hat mir nämlich ein weiteres Angebot unterbreitet und will mir auch ein Empfehlungsschreiben mitgeben. Wir könnten, wenn wir es wünschen, nach Bandar segeln, um dort auf den einflußreichen Nawab von Bandar zu treffen, der ein Verwandter des Sultans ist. Für unsere Handelsbeziehungen wäre das geradezu ideal. Ich weiß noch nicht, ob wir das tun werden, aber ich werde mir das gründlich überlegen. Gute Nacht, Donegal, buenos noches." Aber so leicht ließ sich der Alte nicht abspeisen. Er hatte einen Granitschädel und gab so schnell nicht auf. „Es geht um das Leben unserer Männer", sagte er pathetisch. „Wir müssen sie retten." „Ich denke, sie sind alle tot", entgegnete Hasard. „Hast du doch eben noch gesagt. Nur der Wikinger lebt noch, und der will zu den Spaniern überlaufen, wenn er besoffen ist. Wen sollen wir da noch retten?" „Vielleicht sind doch nicht alle tot", sagte Old Donegal zaghaft. „Ein paar könnten ja überlebt haben." „Dann ist es auch kein Wahrtraum." „Sir, es war ein Wahrtraum!" rief Old Donegal beschwörend. „Ich kenne mich da genau aus. Ribault zum Beispiel lag mit dem Gesicht
nach unten im Sand, und in seinem Körper steckte ein - äh, Degen." Das war ein bißchen geflunkert, aber damit glaubte Old Donegal, den Seewolf aus der Reserve locken zu können. Hasard merkte jedoch an gewissen kleinen Anzeichen, daß der Admiral ihm etwas vorflunkerte. Er fing dann meist unmerklich an zu stottern, so wie eben. „Das war nicht Ribault", sagte er bestimmt. „Er sah aber genauso aus. Ich habe ihn erkannt." „Wie denn, wenn er mit dem Gesicht nach unten im Sand lag?" Der Alte zögerte ein bißchen und kniff die Lippen schmal. „Na ja, äh, ein bißchen lag er auf der Seite, und da erkannte ich ihn sofort." „Weißt du was, Donegal", sagte Hasard, „wir alle haben uns heute ein bißchen aufgeregt, als der Elefant Amok lief und ein paar Inder tötete. Dann passierte die Sache mit dem Dieb, dem der Sultan die Hände abhacken ließ. Das alles hat sich summiert und im Traum umgesetzt, und zwar nach Great Abaco. In den Träumen ergibt das meist ein wirres und abstraktes Chaos, in dem alles durcheinander gerät. So war es auch bei dir, weil du vermutlich oft an den Stützpunkt gedacht hast. Sei unbesorgt, da ist garantiert nichts passiert." „Und die Feuerzungen, der Krach und die Eisenkugeln?" Hasard brauchte nicht lange zu überlegen. „Die hat es heute auch gegeben, als Al auf den Elefanten schoß und ihn tötete. Da gab es Krach, Pulverrauch und Blitze."
47 „Einspruch, Euer Ehren!" rief Old Donegal. „Du legst das viel zu einfach aus, obwohl es sehr kompliziert war. Du hast den Wikinger vergessen." „Mein Gott!" Der Seewolf seufzte. „Das ist so eine Art Symbolfigur, die auch in meinen Träumen immer wieder auftaucht. Der Wikinger ist nun mal eine dominierende Persönlichkeit und außerdem ein Sonderling. Klar, daß man von ihm träumt." „Aber er hat mit mir gesprochen. Das bereitet mir wirklich verdammt viel Sorgen, Sir. Ich bleibe dabei, daß auf Great Abaco was passiert ist und die Leute in Gefahr sind. Was haben wir denn in Indien noch zu verlieren, wenn wir gleich lossegeln?" „Hier haben wir alles zu verlieren, alles, was wir so mühsam für die geplante Handelsniederlassung vorbereitet haben. Der Sultan würde das nicht verstehen, und die anderen auch nicht. Überlege dir nur mal all die Schwierigkeiten, die wir auf der letzten Reise hatten. Jetzt befinden wir uns dicht vor dem Ziel, um England zu einem ungeahnten Aufschwung zu verhelfen, und da willst du so einfach alles hinwerfen?" „Unsere Leute, Frauen und Kinder sind wichtiger als die Interessen der Königin." Der Alte ließ nicht locker, er faßte immer wieder nach und ging dem Seewolf jetzt gehörig auf den Geist. „Angenommen, wir segelten jetzt los", sagte Hasard, „dann kämen wir in jedem Fall zu spät. Oder ist dir die Strecke nicht bekannt?" „Wir müßten ein Stückchen durch den Indischen Ozean und ein weiteres kleines Stückchen durch den Atlanti-
schen Ozean segeln", entgegnete Old Donegal unbekümmert. „Für unsere schnelle Schebecke ist das nur ein Klacks." „Ein Stückchen durch zwei riesige Ozeane!" höhnte Hasard. „Wir haben mindestens sieben- oder achttausend Meilen vor uns. Bis wir die Karibik erreichen, vergehen ein paar Monate." „Dann eben anders herum", beharrte der alte Zausel. „Es gibt noch den Pazifischen Ozean. Da könnten wir getrost bis nach Panama segeln..." „Zu Fuß über den Isthmus spazieren und vom Karibischen Meer durch die Windward-Passage zu den Bahamas schwimmen. Mann, Donegal, die Entfernung ist noch größer und beschwerlicher. Schlag dir das jetzt endgültig aus dem Kopf. Wir bleiben hier. Sobald, unsere Mission abgeschlossen ist, segeln wir zurück. Bist du nun zufrieden?" „Nein, bin ich nicht. Bis dahin ist von Great Abaco nichts mehr übrig, und selbst der Wikinger ist dann vergammelt. Er kann doch nicht die ganzen Inseln allein verteidigen." „Scher dich zum Teufel!" brüllte Hasard mit einer Stimme, daß ein paar Arwenacks vor Schreck erwachten und verdutzt aus ihren Kojen fuhren. „Ich will davon nichts mehr hören!" Old Donegal zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Instinktiv hob er abwehrend die Arme hoch. „Deine Schuld, Sir!" keifte er am Schott. „Deine Schuld, wenn etwas schiefgeht! Ich habe dich jedenfalls gewarnt!"
48 Er zog gerade in dem Augenblick das Schott zu, als Hasard einen Stiefel nach ihm warf. Der Stiefel knallte an das Schott. Old Donegal zog den Kopf ein und verschwand fluchend und unablässig vor sich hinknurrend. Aber er konnte nicht mehr schlafen. Also stieg er an Deck, lehnte sich ans Schanzkleid und spuckte voller Zorn alle Augenblicke ins Hafenwasser. „Mich nimmt ja keiner ernst", brabbelte er wütend. „Im Gegenteil: Da ist man besorgt, peilt hinter die Kimm und warnt die. Leute. Und was tun die? Nichts! Zum Dank wird man angebrüllt, und dann fliegt einem noch ein Stiefel an die Ohren. Scheiße!" Old Donegal zuckte zusammen, als eine Hand seine Schulter berührte. Smoky und der Profos waren im Mondlicht zu erkennen und sahen ihn gespannt an. „Was war denn da eben los?" erkundigte sich der Profos. „Der Sir hat rumgebrüllt, daß wir fast aus den Kojen flogen. Hast du etwas Krach mit ihm gehabt?" „Der Sir ist heute ganz besonders stinkig", sagte Old Donegal. „In Great Abaco ist der Teufel los. Spanier haben die Insel überfallen, die Leute umgebracht und die Schiffe versenkt. Das habe ich dem Sir erzählt, aber er glaubt mir ja kein Wort." „Woher willst du das denn wissen?" fragte Smoky verblüfft. „Das habe ich eben geträumt, und zwar so deutlich, als sei ich selbst dabei gewesen. Ich werde euch den Traum mal erzählen. Paßt mal genau auf."
Old Donegal ließ seine Litanei vom Stapel. Er redete und redete, und als er sich umdrehte, stellte er entgeistert fest, daß er keine Zuhörer mehr hatte. Die beiden, Smoky und der Profos, hatten sich still und heimlich empfohlen und waren längst wieder unter Deck. „Verdammte Rattenbande!" schimpfte er. „Die werden nie wieder einen Ton von mir hören. Eine Frechheit ist das, eine bodenlose Frechheit und Unverschämtheit." Schließlich fand er doch noch einen Zuhörer, der auch nicht schlafen konnte. Das war Paddy Rogers mit der Knubbelnase. Der Grund seiner Schlaflosigkeit war aber nicht die Sorge. Er hatte sich an dem Elefantenfleisch ganz einfach überfressen und konnte kaum schnaufen. Und so hörte er geduldig zu, was Old O'Flynn aus dem reichen Schatz seiner Erfahrungen zum Besten gab. 7. Am Nachmittag des anderen Tages brachen die Arwenacks mit der Karawane in Richtung Kanchipuram auf. Obwohl die Tiere schwer mit Gold und Silber beladen waren, schritten sie zügig aus. Die Arwenacks, die noch Platz auf den Elefanten hatten, ritten auf den Tieren oder hockten in den sänftenartigen Körben. Ein paar andere liefen nebenher und wechselten sich alle paar Stunden mit den Reitern ab. Hin und wieder wurde eine kurze Rast eingelegt. Durch das ausgetrocknete Flußbett
49 ging es meilenweit in westsüdwestlicher Richtung, dann durch einen Trampelpfad im Dschungel, durch Bambuswälder und bewaldete Ebenen. In der Nacht, beim Licht des Mondes, gelangten sie besser voran. Da war die Hitze nicht mehr so stark. Dafür war die Geräuschkulisse fast unerträglich. Im Dschungel brüllten Affen, Dämmertiere erwachten und gaben wilde Töne von sich, und das alles wurde überlagert vom pausenlosen Zirpen Tausender von Zikaden. Nach der Dämmerung des nächsten Tages gab es Aufregung bei den Mahauts. Einer von ihnen hatte einen Tiger gesichtet, der durch hohes Gras schlich und sich darin verbarg. Der Sultan war sichtlich aufgeregt. „Wir befinden uns in der Gegend, wo Sudar sein Unwesen treibt", sagte er. „In diesem Bezirk ist er oft gesichtet worden, und hier hat er auch etliche Menschen angefallen und getötet. Wir werden versuchen, diesen Tiger einzukreisen und zu umstellen. Ich kann nur hoffen, daß wir durch Zufall auf ihn gestoßen sind." Das Jagdfieber hatte jetzt die Inder gepackt. Die Mahauts hatten offenbar große Erfahrung im Umgang mit der Tigerjagd. Zwei von ihnen kletterten auf hohe Bäume, um einen besseren Überblick zu haben. Von dort aus dirigierten sie mit leisen Worten und Gesten das Vorgehen der anderen. Die Elefanten verteilten sich zu einem langen Halbkreis, der später geschlossen wurde. Vom Tiger selbst war nichts zu se-
hen, aber die Mahauts behaupteten, er befände sich in dem Kreis. Der Sultan ließ die Musketen seiner Diener überprüfen. Auch Hasard und seine Arwenacks waren bewaffnet. „Er hält sich jetzt verborgen", sagte der Sultan zum Seewolf. „Irgendwo kauert er reglos im hohen Gras. Wenn sich der Ring dichter um ihn schließt, wird er ganz plötzlich versuchen, auszubrechen." „Verstanden", sagte Hasard. Die Elefanten witterten den Tiger und wurden unruhig. Hin und wieder war ihr lautes Trompeten zu hören. Eine halbe Stunde verging, in der sich nichts tat. Das Tier lauerte irgendwo vor ihnen, aber es zeigte sich nicht. „Wenn Sie ihn zuerst sehen, schießen Sie sofort, Sir Hasard", sagte der Sultan. „Ein in die Enge getriebener Tiger springt in seiner Angst auch Elefanten an und reißt sogar die Mahauts von ihrem Rücken. Das nur zu Ihrer eigenen Sicherheit." „Wir werden aufpassen", versprach der Seewolf. „Diesem Sudar fehlt ein Teil des rechten Ohres, wie Sie sagten, Hoheit?" „Ja, es ist ein unverwechselbares Erkennungszeichen. Noch besser ist es, wenn Sie sofort schießen, sobald sie das Fell sehen. Es gibt hier Tiger genug, mehr als uns lieb ist. Sie entwickeln sich allmählich zu einer Plage." Nach ein paar weiteren Minuten deutete einer der reglos auf den Elefanten hockenden Mahauts nach links. Dort hörten die Bäume und Büsche auf, und es gab nur noch ho-
50 hes und dichtes Gras. Weiter hinten war auch eine Spur von umgeknickten Gräsern zu sehen. Unendlich vorsichtig wurden die Elefanten weiter nach vorn getrieben. Immer enger schloß sich der tödliche Kreis um den Tiger. Musketen wurden auf jene Stelle angelegt, wo die umgeknickten Gräser endeten. Dicht davor mußte der Tiger geduckt am Boden kauern, so eng an das Erdreich gepreßt, daß man ihn meist erst dann sah, wenn es bereits zu spät war. Fast alle hielten den Atem an. Ihre Blicke saugten sich an dem hohen Gras fest. Niemand sprach mehr ein Wort. Die Spannung stieg auf den Höhepunkt. Das war der Augenblick, in dem der Tiger ausbrach. Ganz plötzlich wurde er für einen kurzen Augenblick sichtbar, dann ging alles so blitzschnell, daß Hasard nur noch einen durch die Luft huschenden Schatten erkennen konnte. Die Großkatze fauchte wild, jagte mit ein paar unglaublich schnellen Sätzen regelrecht durch die Luft und sprang eine Elefantenkuh an. Mit einem mächtigen Satz erreichte der Tiger den Rücken, stieß sich wieder ab und flog abermals durch die Luft. Musketen krachten. Überall blitzte es auf. Die Elefantenlady stieß einen Laut der Angst aus, als sei sie getroffen worden. Hasard sah aus den Augenwinkeln, daß auch der Sultan mit einer Muskete auf den flüchtenden Schatten feuerte. „Die reagieren ja fast noch schneller als wir", sagte er anerkennend.
„Die sind auch darauf geeicht", meinte der Spanier Don Juan. „Wir haben darin keine Erfahrung." Mindestens zwanzig Musketenschüsse waren gefallen. Jetzt, als die Waffen sich senkten, rauchten noch ein paar Läufe. Weit hinter dem Gras, wo wieder dichtes Buschwerk und Verhau wuchterten, erklang ein brüllendes Fauchen. Die Sträucher bewegten sich wild, und dann sprang ein Körper hoch, krümmte sich wie eine Bogensehne zusammen und fiel wieder zurück auf den Boden. Zwei Mahauts ritten rücksichtslos und mit ihren Elefanten alles niedertrampelnd auf die Stelle zu. Einer schleuderte von oben ein großes Messer auf den tobenden Tiger, der andere schoß. Noch einmal bäumte sich der Tiger auf, sank auf die hinteren Läufe und schlug mit den Pranken wild um sich, als sei er in einen Hornissenschwarm geraten. Durch den Eisentreiber vorwärtsgejagt, sprang der Elefant vor, hob das rechte Bein und preßte den Tiger damit auf den Boden. Da erstarb das wilde Fauchen der Großkatze. Sie rollte auf die Seite und blieb blutüberströmt liegen. Von allen Seiten jagten die Mahauts heran. Der Sultan ließ sich über den Rüssel seines Elefanten absetzen und lief auf die Stelle zu. Während die Tiere im Dschungel und dem angrenzenden Verhau verängstigt schwiegen, setzte ein lautes und aufgeregtes Geschnatter von allen Seiten ein. Hasard und ein paar Arwenacks
51 waren ebenfalls auf die Stelle zugelaufen, wo die Großkatze in ihrem Blut lag. Zwei Mahauts drehten sie um. Das Gesicht des Sultans wirkte verkniffen, als er sich wieder aufrichtete. Hasard las ihm die Enttäuschung deutlich vom Gesicht ab. „Es ist nicht Sudar", sagte er leise. „Es wäre auch zu schön gewesen, ein reiner Zufall. Wir haben wieder den falschen Tiger erlegt." Die Mahauts packten den Tiger und hielten ihn an den Ohren fest. Beide Ohren waren heil, man sah ihnen keine Verletzung an. Damit stand einwandfrei fest, daß es nicht der Tiger von Kanchipuram war Der Sultan ließ ihm das Fell über die Ohren ziehen, während die anderen eine Rast einlegten, etwas tranken und aßen. Der Schädel wurde dem Tiger ebenfalls abgeschnitten und in einem Bach gründlich gewaschen. Der Rest des herrlichen Tieres sah jetzt erbärmlich aus und erinnerte abgezogen an ein übergroßes Karnikkei. Kopf und Fell, das ebenfalls gewaschen wurde, wanderten in einen Jutesack und wurden verstaut. „Wir trösten uns eben mit dem Gedanken, daß wir ihn eines Tages doch noch kriegen", sagte der Sultan. „Leider ist das Tier schlauer und gerissener als alle meine Männer zusammen." „Solche Tiere gibt es", stimmte Hasard zu. „Es scheint, als hätten sie übermenschliche Intelligenz entwikkelt."
Nach einer Stunde brachen sie wieder auf. * Als sie Kanchipuram erreichten, war der Seewolf doch überrascht. Die Inder nannten es Conjeeveram, ein größerer Ort, der an der Palar lag. Es schien sich um einen reichen Ort zu handeln. Es gab Häuser aus Stein und keine dreckigen Hütten, und es gab zahlreiche Tempel mit vergoldeten Dächern. Madras war direkt ein mieses Kaff gegen diesen Ort. mit seinen fast schneeweißen Häusern. „Sie scheinen überrascht zu sein, Engländer", sagte der Sultan mit einem feinen Lächeln. Hasard nickte mehrmals und ließ seinen Blick über die Dächer und Häuser wandern, über die Tempel mit ihren aus Blattgold bedeckten Kuppeln und den schlanken Minaretten. ' „Ich bin tief beeindruckt", sagte er, „und meine Männer auch. Das hatte ich nicht erwartet." „Conjeeveram ist eine der sieben heiligen Städte der Hindus", erklärte der Sultan. „Deshalb sind hier auch so viele Tempel gebaut worden. Mein Palast liegt weiter südlich, wir werden ihn bald sehen." Die Ankunft des Sultans hatte sich längst herumgesprochen, und so säumten viele Menschen den Weg der Karawane. Dem Sultan wurde gehuldigt, die Leute brachten ihm Ovationen dar. Viele warfen sich sogar vor "ihm in den Staub der Straße. Der Herrscher über Golkonda er-
52 wies sich auch hier als großzügiger Mann, der die Ovationen huldvoll entgegennahm. Aus einem Säckchen ließ er Münzen unter die Menge werfen, lächelte nach allen Seiten und bedeutete den Leuten gestenreich, wieder aufzustehen, damit sie ihre Münzen einsammeln konnten. Die Arwenacks wurden angestarrt, als stammten sie von einem fernen Stern. Offenbar hatte man in diesem von der Küste fernen Ort noch nie Europäer gesehen. Der Palast, den sie wenig später erreichten, stellte die absolute Krönung dar. Nicht mal Ischwar Singh, der Vetter des Sultans, konnte sich damit messen. Ein riesiger, durch Kakteen umzäunter Park tat sich vor den staunenden Arwenacks auf. In der Anlage tummelte sich allerlei Getier. Es gab ein paar Springbrunnen und eine unzählige Dienerschar, die unermüdlich beschäftigt schien. Dem herrlichen Park schloß sich der eigentliche Palast an, fast schon ein burgähnliches Gebäude mit vielen kleinen und großen Türmen, ein regelrechter Monumentalbau, in dem man sich verirren konnte. Es gab zahlreiche Innenhöfe mit Brunnen, in Marmor gehauene Figuren aus der indischen Mythologie, und natürlich fehlte auch das Triumvirat des großen Schiwa nicht. Die Innenhöfe, lichtdurchflutet, von hohen Palmen umsäumt, wiesen zum Teil kostbare Mosaikböden auf, die nahtlos in dunkelgrünen Rasen übergingen. Auf jedem Mosaikboden plätscherte ein Brunnen, der jeweils
eine Figur der indischen Sagenwelt darstellte. Eingänge und Portale waren mit Halbedelsteinen eingefaßt. Vor allen Eingängen des Palastes standen stumme Diener in blütenweißen Uniformen herum. Ein riesiges Portal wurde geöffnet. Lanzenträger traten stumm zur Seite und verneigten sich, als die Karawane durch den ersten Innenhof zog. Der Sultan gab ein paar Befehle in seiner Sprache und blickte lächelnd auf den kleinen Blondschopf Clint Wingfield, der sich anscheinend in eine andere Welt versetzt fühlte. Das Bürschchen stand da, hatte die Futterluke aufgeklappt und sah sich fassungslos um. „Wie im Märchen", stammelte er. „Alles weiß und die Türme aus purem Gold." „So schlimm ist es nun auch wieder nicht", sagte der Profos und tat so, als sei es für ihn etwas ganz Alltägliches durch die Gärten und botanischen Anlagen der Herrscher zu lustwandeln. „Die Türme sind vergoldet, Clint. Wenn sie aus purem Gold wären, würden sie unter dem Gewicht zusammenbrechen." Der erste, der sie begrüßte, war der Neffe des Sultans, ein hochgewachsender, junger Mann, etwa im Alter der Zwillinge Hasard und Philip. Sie alle fanden ihn auf Anhieb sympathisch mit seinen schwarzen Haaren, den dunklen Augen und dem melancholischen Lächeln. „Er heißt Ischwar, nach meinem Vetter in Bombay", erklärte der Sultan. „Ischwar jagt seit zwei Jahren Sudar, aber bisher immer vergeblich.
53 Ein paarmal stand er ihm schon gegenüber." „Stimmt", sagte der junge Mann auf Hindi unbekümmert. „Er ist eben schlauer als ich. Zwischen uns beiden ist es ein Spiel mit tödlichem Ausgang. Es steht nur noch offen, wer der Verlierer sein wird." „Hoffentlich Sudar", sagte der Seewolf, „ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Glück." „Ein paar Treiber und ich haben ihn vorgestern gesehen. Wir waren zu fünft, und da hielt er es für angebracht, sich leise davonzuschleichen. Wir sind ihm den ganzen Tag lang gefolgt, doch er konnte uns immer wieder zum Narren halten. Übrigens ist vor ein paar Tagen ein Kaufmann spurlos verschwunden, der Sudar auf eigene Faust jagen wollte. Es ist anzunehmen, daß er der Verlierer war." Für die Inder in und um Kanchipuram, wo Sudar hauptsächlich sein Unwesen trieb, schien es eine Art ehrgeiziger Sport zu sein, den Tiger zur Strecke zu bringen. Hasard erfuhr, daß immer wieder Leute aufbrachen, um das Monstrum zu erlegen, daß aber viele nicht zurückkehrten. Ganz besonders davon betroffen war die Landbevölkerung, die in den Außenbezirken und am nahen Dschungelrand lebte. Das waren Bauern oder Viehzüchter. Auch die umliegenden kleinen Dörfer und Orte waren von dem Tiger dezimiert worden. Das unheimliche Tier geisterte schon jahrelang durch die Phantasie aller, und man wob bereits Legenden und Ammenmärchen um Sudar. Von nun an - da atmete Hasard er-
leichtert auf - war es nicht mehr seine Angelegenheit, was mit dem Schatz geschah. Er hatte ihn nach langwierigen Kämpfen und einer Menge Ärger abgeliefert für den großen Akbar. Um den weiteren Transport mußte sich der Sultan kümmern - oder Akbar persönlich, das war nicht mehr seine Sache, und er wollte auch nichts mehr damit zu tun haben. Im Innenhof, wo die Elefanten wie in einem riesigen Zirkus herumstanden, begannen Diener und Vertraute des Sultans jetzt mit dem Abladen der vielen Kisten und Ballen. Sie würden etliche Stunden damit beschäftigt sein, alles in einer der Schatzkammern des Palastes zu verstauen. „Ihre Männer und Sie selbst möchten sich nach den Strapazen des langen Marsches sicherlich gern erfrischen." „Das wäre sehr angenehm, Hoheit." „Ich lasse sofort kühle Bäder bereiten", versprach der Sultan und klatschte in die Hände. Auf sein Zeichen erschienen wie hingezaubert Diener und Dienerinnen. Der Profos machte freundliche Nasenlöcher, als er die holde Weiblichkeit sah, und Mac Pellew spielte sich wieder mal als der große Frauenheld auf, als er einen heißen Blick einfing. Danach blähte er seine magere Brust auf und begann wie ein Gockel umherzustolzieren, was Edwin Carberry zu der provozierenden Frage veranlaßte, ob das Muskeln oder Krampfadern seien. Sie wurden in das Bad geführt, und da gingen den Arwenacks die Augen über.
54 „Fast so groß und schön wie bei uns Bord", sagte Smoky beklommen. Er untertrieb öfter mal gern. Das Bad war eine kleine Halle, ausgelegt mit feinen Fliesen und kleinen Kacheln, die wiederum Motive aus der indischen Mythologie zeigten. In den Boden waren kleine Pools eingelassen, und in jedem dieser Pools, wo bequem zehn Mann drin Platz hatten, sprudelte Wasser. Es roch nach den betäubenden Düften des Orients und auch ein kleines bißchen „verrucht", wie Mac Pellew meinte. Aber mit dieser heuchlerischen Ansicht stand er völlig allein da. Eifrige Diener brachten handtellergroße Stücke allerfeinster Seife und in verschiedenen Farben. Sie brachten auch leichte Gewänder, die die Arwenacks für die Dauer ihres Aufenthaltes anlegen konnten. Die anderen Plünnen nahmen ein paar Dienerinnen mit, um sie gründlich zu waschen. Die Seife tat es den meisten ganz besonders an, denn sie duftete nach Cardamom, Ginger, Cinnamon, Zitrone und Vanille. Der Duft war geradezu berauschend. Als die Diener gegangen waren, stürzten sich die Arwenacks wie übermütige Lümmel ins Wasser, seiften sich ein, tollten in den Becken herum und benahmen sich ähnlich wie eine lärmende Kinderschar. Das war mal was! Und so unterzogen sie sich freudig einer gründlichen Reinigung. „Mann, so sauber war ich noch nie in meinem Leben", sagte Ferris Tuk-
ker strahlend, als er das sprudelnde Bad verließ. „Und so geduftet hat du auch nur selten", sagte der Profos grinsend zu seinem Freund. „Du riechst wie eins dieser liederlichen Frauenzimmer aus den gewissen Etablissements." „Da geht es dir auch nicht anders." Als das Badevergnügen vorbei war, zeigte der Sultan persönlich ihnen vom oberen Teil des Palastes aus den Ort Kanchipuram. Von hier aus war der Blick märchenhaft und berauschend. Ihr Blick fiel auf all die vielen Tempel und architektonischen Wunderwerke, von denen sich der Blick nur schwer lösen ließ. „Das ist der Tempel des Kailasanatha, erbaut vor knapp achthundert Jahren", erklärte der Sultan. „Links davon liegt der Vaikunthanata-Perumal-Tempel, ebenfalls so alt wie der andere. Er ist besonders verehrungswürdig wegen seiner vielen Skulpturen, Malereien und dem großartigen Juwelenschatz. Das da drüben ist der heilige Varadaraja-Swami-Tempel." Hasards Blick wanderte weiter und blieb an einem Prachtbau hängen, den er auf über fünfzig Yards Höhe schätze und der zehn Stockwerke mit hohen Türmen aufwies. Dieser Tempel sah aus, als sei er gerade eben erst fertiggestellt worden. Es war eine Meisterleistung der Architektur und von atemberaubender Schönheit. „Das ist der Ekambareswarar-Tempel. Er ist unser ganzer Stolz. Von ihm aus hat man den herrlichsten Ausblick weit und breit." Hasard nickte beeindruckt. Hier, in Kanchipuram, regierte der Superla-
55 tiv, zumindest, was die Tempelanla- Traubensäfte, kühlen Tee und vergen betraf, die reich und verschwen- schiedene Fruchtsäfte. Reis in Schalen und in verschiedederisch ausgestattet waren. nen Curryfärbungen bedeckte den „Er scheint noch nicht sehr alt zu Rest der Tafel mit Schüsseln voller sein, Hoheit." Gemüse. „Nein, noch keine hundert Jahre. Hasard fragte sich betroffen, was Er ist längst fertiggestellt worden, sie erst alles auffuhren, wenn das aber in seinem Innern wird immer Fest stieg. Das konnte doch kaum noch gearbeitet." noch gesteigert werden. „Überwältigend", sagte Hasard. Sie ließen sich Zeit beim Essen, wie „Auch die Badeanlage, von der einer das üblich war. meiner Männer meinte, sie könnte Der Sultan hatte oben an der Tafel sich fast mit unserer an Bord mesPlatz genommen. Neben ihm saß der sen. Seewolf, auf der anderen Seite gegenDaraufhin lachte der Sultan. Er über Ben. Alle waren von einer wimhatte jetzt strahlende Laune, seit der melnden Dienerschar umgeben. Gold- und Silberschatz seinen BeMan deutete auf etwas, das man hastimmungsort erreicht hatte. ben wollte, und schon wurde es auf „Ich darf Sie dann zu einer kleinen frischen Bananenblättern von den Vorspeise bitten", sagte der Sultan. dienstbaren Geistern lautlos darge„Heute abend beginnt das eigentliche reicht. Fest." Etwas später sprach der Sultan Fleißige Hände hatten eine Tafel über die Handelsbeziehungen zwiaufgebaut, die auch immer im Super- schen den beiden Ländern. lativ prunkte. Sie war etwa sechzig Yards lang, und was Seine Hoheit als „kleine Vorspeise" bezeichnete, ver8. schlug den Arwenacks wieder mal den Atem. „Was beabsichtigt Ihre Königin geEin Teil der Tafel bog sich unter nau?" wollte der Sultan wissen. „Ich der Last von Früchtepallaos. Da la- habe ja schon anklingen lassen, daß gen gleich zentnerweise duftende es mir unverständlich ist, von einer Trauben, riesige Ananas, Nüsse, an- Frau regiert zu werden. Kann denn dere unbekannte Früchte und Melo- ihr Gatte nicht regieren, oder ist das nen. Von der Tafel stieg ein atembe- so üblich?" raubender Duft auf. „Unsere Königin ist nicht vereheAuf einem anderen Teil fanden sich licht, und es ist nur in einigen europäiRebhuhn, Wachteln, Schnepfe und schen Ländern üblich, daß eine KöEnte. Einen riesigen Berg bildeten nigin regiert. Nach ihr wird es wieder Tanduri-Hühner, scharf gewürzt und einen König geben. Später vielleicht auf einem Holzkohlenfeuer gebraten. wieder mal eine Königin. Das ist Zum Trinken gab es vergorene durch die Erbfolge geregelt."
56 „Sie möchte also einen Austausch von Waren verschiedener Art, Sir Hasard, wie wir ihn auch mit anderen Ländern pflegen?" „Ganz recht, Hoheit. Wir sprachen ja schon kurz darüber. In England beabsichtigt man, eine Handelsgesellschaft zu gründen, eine Company, die ganz auf den ostindischen Handel fixiert ist. Das soll schon in kurzer Zeit geschehen. Ehrenwerte Kaufleute werden eine gewisse Summe investieren und Schiffe ausrüsten, die den Handel mit dem jeweiligen Land aufnehmen." „Ähnlich dem Handel mit den Portugiesen. Sie bringen uns ihre Waren und erhalten dafür Gewürze, Elfenbein, Silber, Teppiche, Seide und Brokatstoffe. Sie bringen dafür Eisenwaren, Gebrauchsgegenstände und auch Waffen, Kanonen, Musketen, Pulver und Blei." „Das ist richtig. Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, bei dem beide Seiten verdienen, das kaufmännische Prinzip. Wenn die Portugiesen jetzt Pfeffer aus Ihrem Land bringen und feste Verträge mit den herrschenden Regenten haben, dann erringen sie ein Monopol und verkaufen den anderen Pfeffer beispielsweise zu Wucherpreisen. Leider haben die Portugiesen hier bereits viele Verträge mit den Moguln und Radschahs und können so die Preise diktieren." Der Sultan verstand sofort. Er trieb" schließlich ja selbst schwunghaften und lukrativen Handel. „Es sollen also englische Schiffe in den Genuß etlicher Privilegien gelangen, die sie noch nicht haben. Gut, Sie können in meinem Herrschaftsbe-
reich später eine Niederlassung gründen. Ich stelle Ihnen dafür Madras zur Verfügung. Hier werden keine Portugiesen mehr geduldet. Wir hatten ohnehin genug Ärger mit ihnen, wie Sie ja selbst erst kürzlich erfahren haben. Ich werde veranlassen, daß man den Hafen von Madras etwas größer ausbaut, aber natürlich geht das nicht von heute auf morgen und braucht eine gewisse Zeit." Hasard hatte Mühe, die angehaltene Luft wieder auszustoßen. Erst als er rötlich anlief, atmete er aus. Er wollte sich bedanken und ein paar Worte sagen, doch der Sultan wehrte schnell ab. „Keinen Dank, Engländer. Ich verdanke Ihnen viel. Wir werden nachher die genauen Einzelheiten festlegen." Uff, die Hürde war genommen! Hasards Freude war groß, denn er wußte, daß der Sultan auch das hielt, was er versprochen hatte. Er langte kräftig zu und sah seine Arwenacks grinsen. Wenn sie nach England zurückkehrten, konnten sie einen einmaligen Erfolg aufweisen. Der war noch mehr wert, als ein ganzer Geleitzug spanischer Silberschiffe. Den Dons selbst würden Handelsbeziehungen dieser weitreichenden Art ebenfalls einen harten Stich versetzen. So nach und nach würde auf diese Art und Weise ihre Weltherrschaft einmal enden. Das waren die vielen kleinen Stiche, die zum Schluß eine tödliche Wunde ergaben, eine Wunde, an der auch die stärksten Gegner einmal verbluteten. Die Engländer konnten hier mit der
57 Zeit sogar eine Monopolstellung erreichen und sogar die Portugiesen aus dem Handel drängen. Bis dahin würde allerdings noch einige Zeit vergehen. Der Sultan bat ihn etwas später in eins seiner Gemächer und ließ von einem Sekretär etliche Bogen kostbaren Papiers beschreiben. Es handelte sich um Schreiben an die englische Königin, um Vollmachten und Verträge, aber auch um Empfehlungsschreiben an den Nawab von Bandar. „Ich weiß nicht, welches Ihr nächstes Ziel ist, Sir Hasard", sagte der Sultan. „Aber falls Sie beabsichtigen, noch höher nach Norden zu segeln, so sollten Sie auf keinen Fall versäumen, den Nawab aufzusuchen. Er ist ein Verwandter von mir. Ich bin sicher, daß er für künftige Handelsbeziehungen sehr aufgeschlossen ist. Er sprach einmal mit mir darüber, und er legt Wert auf ehrliche und reelle Handelspartner. Seine Verträge mit den Portugiesen hat er gekündigt. Man hat ihn des öfteren nach Strich und Faden betrogen. Sollte Ihre Zeit aber nicht mehr zu einem Besuch reichen, so werde ich später alles mit ihm regeln und die Kaufleute, die nach Madras segeln, auch zu ihm schicken. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen aber ein Empfehlungsschreiben mit." Hasard bedankte sich sehr herzlich. „Keine Ursache", wehrte der Sultan ab. „Es ist ja ein Geschäft auf Gegenseitigkeit, von dem jeder profitiert. Werden Sie noch nach Norden segeln?" „Wie weit ist es bis Bandar?"
„Es dürften nach Ihrer Rechnung etwa knapp zweihundert Meilen sein. Sie segeln immer an der Küste entlang über Nellore und Kavali. Etwas weiter nördlich treffen Sie auf eine riesige Landzunge. Wenn Sie die gerundet haben, sind es nur noch ein paar Stunden bis Bandar. Weit und breit gibt es keinen anderen Ort." „Ich werde mir das überlegen, Hoheit. Sehr viel Zeit bleibt uns allerdins nicht. Wir hatten vor, über die Karibik nach England zurückzusegeln, und das so schnell wie möglich." „Sie haben auf jeden Fall das Schreiben, Sir Hasard. Es liegt ganz bei Ihnen. Ich werde innerhalb der nächsten vierzehn Tage mit der Galeere ebenfalls nach Bandar segeln, und mit meinem Verwandten sprechen, falls Sie es nicht mehr schaffen sollten." „Das ist sehr großzügig von Ihnen, Hoheit." Gegen Abend waren die aufgesetztten Schreiben fertig und wurden Hasard übergeben. Es handelte sich um regelrechte Verträge, die bereits erste Einzelheiten festlegten. Damit war der Boden für die Gründung einer späteren Company vorbereitet, und die Engländer würde man - zumindest in Madras - mit offenen Armen empfangen. Unterdessen streiften die Arwenacks durch die Palastgärten und „verlustierten" sich. Sie hatten Zugang zu allen Räumen, und der Sultan persönlich zeigte ihnen später die Schatzkammer. Der Profos wurde etwas mißtrauisch. „Vor Schatzkammern habe ich ei-
58 nen heimlichen Bammel", sagte er. „Uns wurde schon mal eine gezeigt, die sich später als Falle entpuppte. Da hockten wir dann, umgeben von Tigern, und wurden zum Tode verurteilt. Oder habt ihr das schon vergessen?" „Hier passiert uns das ganz sicher nicht", sagte Hasard. „Welchen Grund hätte der Sultan wohl, uns einzusperren? Wir sind inzwischen gute Freunde geworden, Ed. Du kannst also unbesorgt mitgehen." „Na ja", meinte der Profos, „etwas unbehaglich ist mir schon. Ich traue so schnell keinem mehr über den Weg." Carberrys Mißtrauen war jedenfalls unbegründet. Hier gab es keine Tiger wie im Palast von Bombay, und hier gab es auch keine heimtückischen Fallen. Die Schatzkammer war die Krönung des Märchens aus Tausendundeiner Nacht. Sie befand sich in den Kellergewölben des Palastes tief unter der Erde. Der Sultan zeigte ihnen zuerst seine Edelsteinsammlung, dann sein kostbares Porzellan und seltene Schmuckstücke. Die Regale an den Wänden waren damit bis fast zur Decke gefüllt. Was sich hier angehäuft hatte, war noch kostbarer als das, was die Arwenacks auf Great Abaco zusammengetragen hatten. Der Sultan mußte einer der reichsten Männer der Welt sein. Von der Pracht geblendet, verließen sie die unterirdischen Gewölbe wieder. „Ich bin wie erschlagen", sagte Dan
O'Flynn. „Da werden wir in England hoch angesehen sein, wenn wir das alles erzählen. Die Königin wird begeistert sein." Hasard nickte ebenfalls tief beeindruckt. „Ja, das wird sie. Da können wir uns selbst gratulieren." „Segeln wir denn noch nach Bandar?" wollte Dan wissen. Der Seewolf hatte lange hin und her überlegt. „Eigentlich hatte ich das nicht mehr vor. Aber wir können darüber später zusammen abstimmen. Mir persönlich wäre lieber, in die Karibik zurücksegeln." „Du meinst, wegen meines Vaters, Sir?" „Ach, das weißt du schon?" „So was spricht sich herum", erwiderte Dan und grinste ein bißchen. „Old Dad war sehr aufgeregt. Vielleicht ist an seiner Geschichte wirklich etwas dran." „Es war ein Traum." „Aber ein Wahrtraum, wie er das ausdrückt. Wir haben ihn deswegen oft ausgelacht und uns später darüber gewundert, wie präzise alles gestimmt hat." „Das ist richtig, aber das Ganze war ein wenig konfus. Außerdem hat er mich ein paarmal angelogen, um etwas Druck dahinter zu setzen." „Ja, so ist Väterchen nun mal. Wenn er etwas nicht durchsetzen kann, greift er auch mal zur Notlüge." „Wir überlegen uns das mit Bandar noch", versprach Hasard. *
59 Am Abend, als es etwas abkühlte, stieg dann das große Fest, das sich bis zum Morgen hinziehen sollte. Riesige Tafeln waren in den Innenhöfen gedeckt. Musikanten und Gaukler waren da, die für Unterhaltung sorgten. Auch die Ladies hatte der Sultan nicht vergessen, die lieblich anzusehen an der Tafel saßen und die Arwenacks mit Leckerbissen verwöhnten. Der Sultan hatte immer noch prächtige Laune und ließ eine Überraschung nach der anderen steigen. Zauberer traten auf, Artisten und Feuerschlucker. Der Seewolf wurde von einem braunhäutigen Mann um seinen Degen gebeten. Der Mann stellte sich breitbeinig hin, legte den Kopf in den Nacken und schob sich den Degen langsam in den Hals. Zum Schluß war nur noch der Korb des Degens zu sehen. Clint Wingfield, der so etwas noch nie in seinem Leben gesehen hatte, kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Atemlos folgte er jeder Vorführung und war ganz aufgeregt. Die Arwenacks klatschten Beifall, als der Mann auch noch schwere Säbel schluckte und schließlich einen der breiten Schiffshauer. Hasard fiel auf, daß der Neffe des Sultans nicht anwesend war, und so sprach er seine Hoheit daraufhin an, „Ist der junge Mann erkrankt, Hoheit?" „Nein, im Gegenteil, er ist sehr gesund. Ischwar ist wieder mal auf Tigerjagd." „Jetzt, in der Nacht?" „Ja, mit einigen Dienern, Elefanten
und Fackeln. Er ist sehr ehrgeizig und will Sudar unbedingt zur Strecke bringen. Leute aus dem Ort haben ihm vor ein paar Stunden gemeldet, sie hätten Sudar am Dschungelrand gesehen, und da hielt ihn nichts mehr." „Sudar scheint hier der Alptraum zu sein." „Ja, er wird mehr gefürchtet als alles andere." Ein paar dunkelhäutige Ladies begannen zu tanzen. Dazwischen erklang Musik - mehr Gedudel, das für englische Ohren fremd und aufreizend klang. Gegen Morgen war das Fest immer noch im Gange. Danach sollte eine längere Pause eingelegt werden, ehe es fortgesetzt wurde. Aber als die Sonne ihre ersten Strahlen im Osten über den Horizont schob, gab es eine Hiobsbotschaft, und damit war das Fest so gut wie beendet. Zunächst war im Palastgarten großes Geschrei zu hören. Stimmen riefen durcheinander, aufgeregte Rufe erklangen. Der Sultan sprang von seinen Kissen auf. Eine steile Falte erschien auf seiner hohen Stirn. „Wer wagt es, mein Fest zu stören?" rief er. „Vielleicht hat man Sudar gefangen, hoher Herr", wagte ein Diener zu sagen. Das Gesicht des Sultans glättete sich wieder. „Wenn das stimmt, wird das Fest drei Tage dauern", versprach er. „Laßt die Leute in den großen Innenhof."
60 Was dann folgte, lähmte alle vor Entsetzen. Vier Diener mit betrübten Gesichtern brachten schweigend eine aus Bambushölzern gefertigte Trage in den Innenhof. Auf der Trage lag eine Gestalt, die mit einer Decke zugedeckt war. Plötzlich herrschte Totenstille im Palast, als der Sultan zögernd auf die Trage zutrat. „Nehmt die Decke weg", sagte er tonlos. Die Decke wurde weggezogen. Hasard ahnte schon, was passiert war, aber er sagte nichts. Stumm sah er auf die Gestalt, die reglos auf der Bahre lag. Der Sultan war bleich geworden. Seine Gesichtsfarbe wechselte in Grau über. Er schluckte heftig. Der Mann auf der Trage war Ischwar, sein Neffe, benannt nach dem großen Ischwar Singh aus Bombay. Aber man konnte ihn nicht mehr erkennen. Urgewalten schienen ihn zerfleischt zu haben. Riesige Pranken hatten ihn buchstäblich zerrissen. Hasard hatte nur selten einen Menschen gesehen, der so übel zugerichtet worden war. Es dauerte lange, bis der Sultan die Sprache wiederfand. „Wie ist das passiert?" fragte er die Männer, die schweigend und tief betroffen um die Leiche herumstanden. „Wir hatten Sudar gefunden, hoher Herr. Der junge Herr stöberte ihn hinter einem Busch auf. Wir erkannten deutlich das abgerissene und zerfetzte Ohr des Tigers. Bevor wir noch etwas unternehmen konnten, sprang Sudar den jungen Herrn an. Er
brachte dem Tiger noch einen Stich bei, und das muß ihn in rasende Wut versetzt haben. Er tötete auch noch einen der Treiber und verletzte uns." Die beiden Diener zeigten ihre Wunden. Der eine blutete stark am Oberarm, der andere hinkte und hatte Wunden an den Beinen. „Das muß ja ein wahres Ungeheuer sein", sagte Hasard erschüttert. Der Sultan stand da und sagte nichts. Lange Zeit schwieg er und starrte auf die Überreste seines Neffen, der seinen Jagdeifer mit dem Leben bezahlt hatte. „Das Fest ist hiermit zu Ende", sagte er nach einer Ewigkeit mit brüchig klingender Stimme. „Wir werden eine Shikar veranstalten, eine Großjagd mit allen Elefanten, die wir haben. Seid ihr sicher, daß es Sudar war?" Die beiden Treiber bestätigten das. „Es gibt keinen Zweifel, hoher Herr. Wir haben ihn einwandfrei erkannt. Er ist sehr gereizt und völlig unberechenbar. Ehe wir helfen konnten, war schon alles vorbei." „Ihr findet die Stelle wieder?" „Ja, hoher Herr." „Dann jagen wir ihn, aber zuerst laßt eure Wunden versorgen." „Das wird mein Feldscher tun", sagte Hasard. „Er versteht sich auf die ärztliche Kunst." Der Kutscher hatte seine Instrumentenkiste dabei und sie schon vorsorglich mitgenommen, falls unterwegs etwas passieren sollte. Er nahm sich der beiden Männer an, reinigte ihre Wunden und verband sie. Jetzt erst setzte Gemurmel ein,
61 Worte der Trauer waren zu hören, ein Paar Frauen begannen laut zu klagen. Der Sultan wandte sich schluckend ab. In den Parks trieben sie bereits die Jagdelefanten zusammen, die speziell für Großwildjagden ausgebildet waren. „Ich werde mit einigen meiner Männer dabei sein", versprach Hasard, „und ich bin überzeugt davon, daß wir dieses Ungeheuer zur Strecke bringen." „Das hoffe ich von ganzem Herzen. Diese Bestie ist schlimmer als die Pest und terrorisiert den ganzen Bezirk schon jahrelang." Das Fest war vergessen, das einen so betrüblichen Ausklang gefunden hatte. Schon eine halbe Stunde später zogen die Männer los, um Sudar, den Menschenfresser, zu jagen. 9. Zwei Meilen vom Palast entfernt, stießen sie auf die entsetzlichen Spuren des Kampfes. Überall war Blut, selbst das Gras zeigte eine lange Blutspur, die bereits eingetrocknet war. Zwei Tiger wurden von den Elefanten aufgestöbert und sofort getötet. Aber Sudar war nicht darunter. Sie hatten eine langauseinandergezogene Kette gebildet, einen Kreis, der sich langsam, aber sicher schloß, und in dem man den Menschenfresser vermutete. Hasard hatte auf eine unhandliche Muskete verzichtet und war mit seinem Radschloßdrehling und einem
Schiffshauer bewaffnet wie die meisten seiner Männer auch. Sie hielten Blickkontakt miteinander. Aus seiner jetzigen Position konnte der Seewolf zwei weit entfernt stehende Elefanten sehen und den Schweden Stenmark, der gebückt durch das Gras schlich. Die Fährte des Tigers hatten sie auf dem steinigen Boden verloren, hofften aber, sie im Dschungel oder den angrenzenden Bambuswäldern wieder zu finden. Einmal sah er, wie Stenmark auf eine Stelle im hohen Gras zeigte, doch es war eine kleine Antilope, die verstört aufsprang und vor ihnen in langen Sprüngen flüchtete. Von irgendwoher krachte ein Musketenschuß, traf die Antilope aber nicht mehr. Die Treiber waren nervös und schossen auf alles, was durch das Gras schlich. Langsam zog sich der Ring zu. Hasard trat an den Dschungelrand und blickte auf einen kleinen See, auf dem zwei Krickenten schwammen. Für ein paar, Augenblicke wurde ihm die Sicht verwehrt, und er verlor Stenmark aus den Augen. Auch die Elefanten sah er vorerst nicht. Er drehte sich um und wollte an dem See vorbei, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Blitzschnell fuhr er herum. Ihm gegenüber, kaum zwanzig Schritte entfernt, stand ein riesiger Tiger direkt am Rand des Urwalds. Seine bernsteinfarbenen Augen schienen, sehr friedlich zu blicken. Aber der erste Eindruck täuschte. Das Tier war keineswegs friedlich, es
62 war eher äußerst gereizt und übernervös. Und dann sah der Seewolf, daß dem Tiger ein Stück des rechten Ohrs fehlte, Die Erkenntnis lähmte ihn fast. Er stand Sudar gegenüber, Sudar mit dem blutbefleckten Fell, der ihn unverwandt anstarrte. Sehr langsam und dabei den Menschenfresser nicht aus den Augen lassend, zog Hasard den Radschloßdrehling und legte an. Als er den Schädel im Visier hatte, drückte er ab. Die Waffe gab keinen Knall von sich, kein Rauchwölkchen blitzte auf. Sie versagte zum zweiten Male, seit er sie hatte, den Dienst. Der Tiger bleckte sein Gebiß und fauchte leise. Sein Schweif fuhr wie eine Peitsche über den Boden. Hasard holte tief Luft und packte den Schiffshauer fester. Ihm war mulmig zumute, diesem reißenden Untier allein gegenüber zu stehen. Erst wollte er die anderen warnen, doch das würde Sudar vielleicht verscheuchen. Er sah jetzt auch Stenmark, der zu ihm herüberblickte, und Jack Finnegan, die den Tiger aus ihrer Position aber nicht sehen konnten. Mensch und Tier starrten sich einige Augenblicke lang an, wie um sich abzutasten. Dann ging alles unglaublich schnell, so rasend schnell, daß Hasard den Bewegungen kaum zu folgen vermochte. Sudar sprang mit einem wilden Fauchen los. Grasbrocken flogen unter ihm hoch, als er losraste, Gräser wirbelten durch die Luft.
Wie im Unterbewußtsein hörte Hasard Schreie. Das mußten die Arwenacks sein, aber er registrierte es nicht richtig. Geduckt stand er da, den Schiffshauer in beiden Fäusten. Er duckte sich noch tiefer und hieb wild zu. Gleichzeitig sprang er mit einem schnellen Schritt zur Seite. Der Tiger fauchte noch im Sprung wie ein Drache. Seine Pranken wirbelten durch die Luft, fetzten Erde hoch. Hasard spürte, wie der schwere Schiffshauer in den Körper eindrang, sah, wie der Tiger sich auf dem Boden herumwälzte und blitzschnell wieder auf den Beinen war. Aus seinem Maul lief eine schaumige Blutspur. Und wieder sprang er. Sein Körper krachte seitlich gegen den Seewolf und brachte ihn zu Fall. Noch im Fallen schlug Hasard mit aller Kraft zu. Er traf erneut. Das Fauchen wurde zu einem höllischen Gebrüll. Fauliger Atem drang ihm in die Nase. Ein Prankenhieb erwischte sein Bein, als der riesige Tiger auf dem Boden lag. Hasard schlug zu wie mit einer Sense, wie in einem wilden Rausch. Er sah die geifernden Reißzähne vor sich, fühlte abermals einen harten Schlag und landete im Gras. Schwer atmend und keuchend gelangte er wieder auf die Beine und starrte auf die Raubkatze. Sudar vergoß Ströme von Blut, wo ihn der Schiffshauer getroffen hatte. Das große Tier taumelte, und immer wenn es fauchte, drang ihm schaumiges Blut aus dem Rachen. Sudar torkelte auf Hasard zu, kraftloser
63 Der Kutscher sah sich den Seewolf geworden, zum letzten Schlag aushokurz an. Er war nicht ernsthaft verlend. Hasard kniff die Augen zusammen letzt, hatte nur ein paar Prellungen und stieß wieder zu, mitten zwischen und eine Menge Schürfwunden, die in zwei, drei Tagen wieder heilen würdie wirbelnden Pranken. Das war das Ende. Der Tiger kippte den. zur Seite und blieb zuckend und zitDann ging es zurück zum Palast des ternd auf dem Boden liegen. Sultans, und vier Inder trugen den toMänner umringten den Seewolf, re- ten Sudar an einer großen Bambusdeten auf ihn ein. Der Sultan klopfte stange wie eine Trophäe. ihm auf die Schulter und stammelte Hasard hatte den Neffen des SulWorte. tans gerächt, so jedenfalls sahen es „Das ist Sudar", hörte er immer die Inder, und der Sultan wollte ihm wieder. „Und das ist der Mann, der unbedingt den Elefanten mit den umihn besiegt hat." gehängten Kostbarkeiten geben. Ein wilder Freudentaumel erfaßte „Wir werden ihn mitnehmen und die Inder, ein Rausch, der kein Ende den Leuten schenken, die durch den nahm. Tiger soviel Leid erfahren haben",
64 sagte Hasard. „Ich hoffe, das ist auch in Ihrem Sinne, Hoheit." Dem Sultan war es recht. Am späten Nachmittag brach die
Karawane erneut auf. Diesmal zurück nach Madras, wo die Schebecke lag und die anderen Arwenacks auf sie warteten...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 707
Rache von Jan J. Moreno Bill, einst Moses der Arwenacks, bemerkte am Felsrand eine Bewegung, aber sie verlief so schnell, daß er sich ebensogut getäuscht haben konnte. Er tastete nach der in seinem Gürtel steckenden Pistole. Augenblicke später fand er den Inder. Der Mann gehörte zur Leibgarde des Sultans. Bill erinnerte sich. Der Mann war tot. Jemand hatte ihm von hinten einen langen schmalen Dolch ins Herz gestoßen. Da war plötzlich ein Rascheln. Dicht neben Bill. Er wirbelte herum, doch bevor er die Pistole ziehen konnte, krachte etwas Hartes gegen seine Schläfe. Vergebens versuchte er, sich auf den Beinen zu halten. Er sah ein bärtiges, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht vor sich, das er zu kennen meinte - von der „Cabo Mondego" her, der portugiesischen Karavelle...