Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Fürwahr, es ist pietätlos, ein Hochzeitsfest in eine Trauerfeier umzuwandeln. Doc...
102 downloads
590 Views
902KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Fürwahr, es ist pietätlos, ein Hochzeitsfest in eine Trauerfeier umzuwandeln. Doch was soll die couragierte Christina machen, wenn Gäste aus nah und fern geladen sind und der künftige Bräutigam mir nichts, dir nichts erschlagen wird, noch dazu auf einer Müllhalde. Ein ungewöhnlicher Tod, den sich der prominente Schau spieler Manfred Löffler gewiß nicht hat träumen lassen. Hätten sich die Dinge nach seinem Willen entwickelt, gäbe es nicht nur eine neue Frau in seinem bewegten Privatleben, sondern auch ein neues Testament… Hauptmann Heym und Unterleutnant Kabel haben es nicht leicht, aus dem Kreis der Verdächtigen den Täter herauszufinden.
Delikte Indizien Ermittlungen
Heiner Rank
Der bengalische Tiger
Verlag Das Neue Berlin
Da dies ein Roman ist, sind sämtliche Figuren und Ereignisse frei erfun den. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Begebenheiten könn te nur auf einem Zufall beruhen.
1 Der Mann lag auf dem Rücken. In seine offe nen Augen und die Wunde an der Stirn fiel der Herbstre gen. Ein Blutrinnsal war über Schläfe und Wange in den weißen Hemdkragen gelaufen und hatte dort einen rost braunen Fleck hinterlassen. Erwin Sauerknecht starrte ungläubig auf seinen Fund. Dem Menschen war nicht mehr zu helfen, das erkannte er auf den ersten Blick. Im Krieg hatte er genug Tote gese hen, um zu wissen, wann einer den Löffel abgegeben hatte. ,Mitten in die DDR’, dachte er, ,am hellichten Vormit tag, und plötzlich liegt da ‘ne Leiche. Das gibt’s doch gar nich! – Was mach ick denn jetzt? – Polizei?’ Bei dem Gedanken an die Polizei durchzuckte ihn Ent setzen. Ausgeschlossen! Die stellen doch gleich einen Haufen Fragen nach woher und wohin, und ick bin krankgeschrieben von wegen Grippe und müßte eigent lich im Bette liegen. Wär ick bloß nach dem Abladen rasch wieder abgehauen. Aber nee, ick dämlicher Hund muß erst noch hier aufm Müll rumkriechen. Weil meis tens ist ja noch was Brauchbares zu finden. Wat die Leu te heutzutage alles wegschmeißen, det geht auf keine Kuhhaut. Und denn der Sitte, was unser ABV is! Der ist doch schon lange scharf drauf, einen von die Schweinekerle zu erwischen, die mit ihr Gerümpel den Wald versauen. Hat er mir neulich erst persönlich mitgeteilt. Der brummt mir glatt fünfhundert auf wegen Umwelt. Gepfefferte Preise haben die. Wenn ick so denke, der olle Millionär Wal lach, der durfte noch für ‘ne Mark aufm Bürgersteig rad fahren, und die hat er ohne abzusteigen dem Schupo zu
geschmissen. Mensch, det waren noch Zeiten! Und heute fünfhundert Märker. Und woher nehmen? Wenn meine Erna det erfährt, die macht mir fix und fertig. Ick hör sie schon fauchen: Bist du denn noch zu retten, du Hornoch se? Ich in der Gewerkschaftsleitung, und der eigene Mann ein Similant. Ich habe dir gewarnt, noch und noch, aber du wolltest ja nicht hören. Nun sieh mal zu, wie du klarkommst. Von mir jedenfalls gibt’s keinen Pfennig, die Strafe bezahlst du von deinem Taschengeld. Und im Betrieb wär’s natürlich auch gleich ‘rum. Die drehen dir mächtig ein Ding ‘rein, Erwin, und det Kran kengeld, det kannst du sowieso vergessen. Und dann die Familie! Mein lieber Mann, die lachen sich doch ‘n Ast vor lauter Schadenfreude. Haben mir ja schon lange aufm Kieker, weil ick de Herrschaften nich spendabel genug bin. Letztens erst, bei Ernas Geburtstag. Kommen scha renweise angelatscht und wollen sich uff meine Kosten vollaufen lassen bis übern Eichstrich. Aber nich bei mir. Ich denk doch gar nich dran, für die buckliche Verwandt schaft Orgien zu veranstalten mit meine schwerverdien ten Kröten, da können sie sich det Maul zerreißen soviel sie wollen. Zwei Flaschen Bier pro Nase und drei Schnäpse, basta. Is auch viel gesünder. Von den Birken rieselten gelbe Blätter. Die Luft war diesig, es roch nach Moder und Bauschutt. Die feuchte Kälte kroch Sauerknecht in die Hosenbeine. Trotz seiner langen Unterhosen begann im linken Knie der vertraute Rheumaschmerz zu bohren. Irgend etwas mußte gesche hen. Sauerknecht zwang sich, den Blick wieder auf den Toten zu richten. Der Mann kam ihm bekannt vor. Doch so sehr er auch sein Gedächtnis strapazierte, er wußte
einfach nicht, wo er ihn hinstecken sollte. Ende Fünfzig mochte er sein. Ein längliches, von Falten durchzogenes Gesicht, schweres Kinn, wasserblaue Augen. Schütteres, sauber gescheiteltes Haar, auf der Oberlippe ein Bärt chen. Der vom Regen durchweichte Kamelhaarmantel stammte offensichtlich aus einem Exquisitladen, ebenso die grauen Flanellhosen, aus denen elegante graue Halb schuhe mit dem Salamanderknopf hervorsahen. An seiner linken Hand blitzte ein haselnußgroßer Stein in einem schweren Goldring. Obwohl naß und tot, der Mann war noch immer eine noble Erscheinung. ,Bestimmt einer von die feinen Pinkel’, dachte Sauer knecht neidvoll. ,Schicke Klamotten, schicke Wohnung, schicke Weiber. Und die Weiber brauchen den ganzen Tag nich arbeiten, damit sie abends frisch sind. Und am Wochenende fährt er sie spazieren in sein schickes Auto, bloß so zum Spaß, nach die Kosten wird nich gefragt. So’n Leben möchte ick auch mal führen.’ Ihm fiel der dunkelgrüne Volvo ein, der am Rande des Wäldchens stand, etwa fünfzig Meter entfernt. ,Hab mir doch gleich gewundert, wem der Schlitten gehört. Vielleicht dem hier, möglich wär’s schon. Den haben sie in den Wald gelockt und ausgeraubt. Und wenn was fehlt und sie den Mörder nich schnell genug finden, denn binden sie mir det Ding ans Bein.’ Empörung wallte in ihm auf. ,Wie komm ick überhaupt dazu, für den Mist von andere Leute den Hintern hinzu halten? Der da hat sein feines Leben gelebt, bestimmt besser wie ick. Jetzt mußte auch mal an dir selber den ken, Erwin. Hast schon viel zu lange hier rumgestanden, zum Glück ist noch keiner gekommen.’
Er machte einige Schritte in Richtung auf seinen Fahr radanhänger und blieb wieder stehen. ,Wenn mir nun aber einer gesehen hat?’ fragte er sich voller Unbehagen. ,Oder wenn sie meine Spuren finden, wat denn? Die sol len ja ausgesprochen gemeine Methoden haben, wissen schaftliche und so, von die ‘n einfacher Mensch keinen blassen Schimmer hat. Die kriegen bestimmt ‘raus, daß ick hier war. Und wenn ick’s denn nich gemeldet hab, na Prost Mahlzeit, denn hauen sie mir erst recht in die Pfan ne. Det haste nun von deine blöde Sparsamkeit. Hättste das Zeug nich aus die Säcke gekippt, könnste jetzt ein fach aufladen und dir ausn Staub machen. Aber wer soll det ahnen? Die schönen Säcke wegschmeißen!’ Sauer knecht wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Verbittert und ratlos sah er auf die beiden Abfallhaufen, die er vor zehn Minuten unbekümmert in den Wald ge schüttet hatte. Ein blechernes Scheppern. Sauerknecht fuhr herum. Hurtig hoppelte ein Radfahrer über die Wurzeln des Waldweges, kam direkt auf die Müllhalde zu. Sauerknecht warf sich hinter einen Holunderbusch und spähte durch die Zweige. ,Knochenkarl! Der Knilch hat mir gerade noch gefehlt. Jetzt steigt er auch noch ab. Wenn der mir hier sieht, bin ick geliefert.’ Sauerknecht schob sich rückwärts tiefer in die nassen Brennesseln. Knochenkarl hatte indessen den Fahrradanhänger ent deckt. Gemächlich trat er näher und taxierte ihn mit Ken nerblicken. „Einwandfreier Hänger“, murmelte er. „Viel zu schade fürn Schrott, oder? Aber dann müßte doch ir gendwo der Besitzer rumkrebsen.“
Er sah sich um. Stille. Weit und breit keine Menschen seele. „Hallo! – Ist hier jemand? – Gottverdammich, da liegt ja einer.“ Sauerknecht kauerte in den Brennesseln und spürte, wie sich seine Haare vor Entsetzen sträubten. ,Nischt wie weg!’ war der einzige Gedanke, der ihn beherrschte. Oh ne eine Sekunde die Folgen zu bedenken, robbte er hastig über einen Wall zerbrochener Dachziegel. Es begann zu knacken und zu rascheln, ein paar Ziegelstücke kollerten über den Schutthang. Knochenkarl blickte auf. ,Da war ja noch einer! Was ging denn hier eigentlich vor?’ Undeutlich gewahrte er eine Gestalt, die sich in pani scher Eile durch das Unterholz davonmachte. „He! Warte mal!“ brüllte er. „Bleib stehen, du Lump!“ Er wollte hin terher, sein Fahrrad behinderte ihn. Das gute Stück ein fach fallen zu lassen, ging ihm gegen den Strich. Er zö gerte einige Sekunden, dann hatte er die Chance verpaßt. Die Gestalt war im Dickicht verschwunden. Achselzu ckend lehnte er das Fahrrad auf die Stütze und ging hin über, um dem Mann am Boden aufzuhelfen. Als er nie derkniete und seine Hand berührte, erschrak er bis ins Mark. ,Kalt wie Eis! Und ich hätte fast versucht, den Mörder aufzuhalten. Gottverdammich!’ Er sprang auf, griff sein Fahrrad und radelte los. Weni ge Minuten später hatte er eine Telefonzelle erreicht, hob keuchend den Hörer ab und wählte Eins-Eins-Null.
2 Hauptmann Heym saß in seinem Arbeitszim mer und sah dem Regenwasser zu, das im letzten Licht des Tages an den Fensterscheiben hinunterrann. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein geöffnetes Notizbuch, daneben ein Kugelschreiber. Gedämpfte Geräusche drangen ins Zimmer, ein fernes Summen und Brodeln. In dem großen Gebäude mit sei nen vielen Räumen und Gängen fühlte sich Heym gebor gen wie in einem Bienenkorb, angeregt von der geschäf tigen Energie, ungestört, aber nicht einsam. Er erhob sich und trat ans Fenster. Zwischen dunklen, kiefernbewach senen Höhenzügen lag die Bezirkshauptstadt. In den wei ten Wasserflächen der Havel spiegelten sich die Lichter, und durch die Straßen floß ein endloser Autostrom, der einem Wanderzug leuchtender Käfer ähnelte. Heym genoß den Ausblick auf die Stadt einige Minu ten, dann wandte er sich ab, entzündete seine Pfeife und begann nachzudenken. Vor kurzem war er vom Tatort zurückgekehrt. Unbelastet von den Zeugenaussagen und den Meinungen der Experten wollte er die ersten Eindrü cke und Fragen notieren. Schon oft waren ihm diese Auf zeichnungen eine Hilfe gewesen, wenn er im Gewirr von Fakten und Kombinationen betriebsblind zu werden drohte; das naive, zuweilen aber erstaunlich treffsichere Gefühl für die psychologische Grundsituation eines Fal les konnte damit lebendig bleiben. Gewiß, es war ein schwaches Flämmchen, man mußte es sorgfältig hüten. Manchmal schon war es erloschen. Manchmal hatte es sich als Irrlicht erwiesen. Doch Heym gehörte nicht zu den Leuten, die eine Chance ungenutzt ließen. Etwas Unfaßliches hatte sich ereignet: Der bekannte
und weithin berühmte Schauspieler Manfred Löffler, dreiundsechzig Jahre alt, Träger von Kunstpreisen und staatlichen Auszeichnungen, seit Jahrzehnten mit großem Erfolg am Theater, bei Film, Funk und Fernsehen tätig, war auf schändliche Weise mit einem Kistenbrett er schlagen worden, in dem rostige Nägel steckten. Oben drein noch auf einer illegalen Müllkippe. Nein, das war nicht nur schändlich, das war makaber. Ein solches Schicksal blieb unter zivilisierten Verhältnissen selbst einem herrenlosen Hund erspart. Und ein Mann wie Manfred Löffler sollte doch, wenn er schon überhaupt ein gewaltsames Ende nehmen mußte, einen Tod in Würde finden. Als Herzog Alba zum Beispiel, auf offener Bühne von einem geistesgestörten Rivalen erdolcht, am Steuer einer Limousine nach einer rauschenden Premierenfeier oder vergiftet von einer überaus schönen, zu rasender Eifersucht entflammten Frau… Mit einem Kopfschütteln versagte sich Heym das Vergnügen, seiner Phantasie noch länger freien Spielraum zu lassen, und kehrte zum Ernst des Dienstes zurück. Er nahm am Schreibtisch Platz, schaltete die Tischlampe ein, zog den Notizblock heran und schrieb auf das weiße, noch unberührte Blatt: Punkt eins. Manfred Löffler war bei seiner Auffindung durch den Bürger Karl Fröhlich seit etwa zehn Stunden tot. Was hatte Löffler veranlaßt, in einer stockdunklen Regennacht diesen Müllplatz aufzusuchen? Punkt zwei. Entsprang die Tat einer zufälligen Begeg nung zwischen Täter und Opfer? Wenn man die Tatzeit, den Tatort und das Wetter bedenkt, erscheint das wenig wahrscheinlich. Punkt drei. War die Tat geplant? Dem steht entgegen, daß der Täter ein Werkzeug benutzte, das
ihm allem Anschein nach am Tatort zufällig in die Hände geriet. Punkt vier. Besteht eine nähere Beziehung zwischen Täter und Opfer? Haben sie sich gemeinsam zum Tatort begeben? Oder wußte der Täter, daß er Löffler dort an treffen würde? Punkt fünf. Der Volvo parkte knapp fünfzig Meter vom Tatort entfernt und war nicht abgeschlossen. Hatte Löff ler demnach die Absicht, sich nur auf kurze Zeit zu ent fernen? Punkt sechs. Dem Toten fehlen Uhr und Brieftasche. Vorhanden waren ein Brillantring, eine goldene Halskette mit Amulett, ein goldenes Feuerzeug, Kleingeld und Au toschlüssel. Im Volvo lagen weitere Wertgegenstände, unter anderem ein Fotoapparat, ein Fernglas, ein Kasset tenrecorder. Darf man unter diesen Umständen Raub mord als Tatmotiv ausschließen? Punkt sieben. Hatte es der Täter nur auf die Brieftasche abgesehen? Befand sich darin etwas für ihn Wertvolles oder Belastendes? Wenn ja, warum hat. er es nicht herausgenommen und die Brieftasche zurückgesteckt? Punkt acht. Wozu brauchte er die Uhr? Punkt neun. War es zu einem Streit gekommen? Hatte der Täter diesen Tatbestand vertuschen wollen, indem er Brieftasche und Uhr mitnahm, um einen Raubüberfall vorzutäuschen? Punkt zehn. Hat der Besitzer des Fahrradanhängers Brieftasche und Uhr gestohlen? Wurde er beim Diebstahl durch den Zeugen Fröhlich gestört? Punkt elf. Falls er Brieftasche und Uhr nicht gestohlen hat, weshalb ist er geflüchtet? Fürchtete er Komplikatio
nen, weil er den Toten kannte? Oder wollte er ihn ab transportieren? War er nach der Tat in Panik davongelau fen und später zurückgekehrt, um den Leichnam zu ver stecken? Hätte sich der Volvo dafür nicht besser geeignet als ein Fahrradanhänger? Kann der Täter nicht Auto fah ren? Punkt zwölf. Existiert außer dem Täter und dem Besit zer des Fahrradanhängers noch ein dritter Unbekannter, der sich an dem Toten zu schaffen machte? Heym legte den Kugelschreiber zur Seite, stützte das Kinn in die Hand und kehrte in Gedanken zum Punkt eins seiner Notizen zurück. Was macht ein Mensch auf einem Müllplatz? Er wirft etwas weg. Warum in einer dunklen Regennacht? Weil er unbemerkt bleiben will? Oder sucht er etwas, was ein anderer weggeworfen hat? Dazu wäre Licht nötig gewe sen, zum Beispiel eine Taschenlampe. Es klopfte an die Tür. Bevor Heym antworten konnte, trat Unterleutnant Kabel, ein pausbäckiger jungem Mann, geräuschvoll ins Zimmer. Kabel besaß die Figur eines Ringerchampions, ein sonniges Gemüt und einen vor nichts zurückschreckenden Forschergeist. Erst kürzlich hatte Heym mit einiger Verwirrung zur Kenntnis nehmen müssen, daß sich dieser Forschergeist bis auf den Inhalt seiner Butterbrotbüchse erstreckte. Die Lösung des Rät sels fand sich in Kabels unstillbarem Appetit, eine weite re seiner hervorstechenden Eigenschaften. Drei Portionen Kantinenessen verputzte er, ohne mit der Wimper zu zu cken. Kabel schüttelte energisch die Wassertropfen von sei nem dunkelbraunen Anorak, breitete ihn auf dem Heiz
körper unter dem Fensterbrett aus, nahm die feuchte Bas kenmütze ab und hängte sie liebevoll auf das Heizungs ventil. Dann öffnete er einen schwarzen, mit Zahlen schlössern versehenen Aktenkoffer, zog zwei Hefter her aus und legte sie vor Heym auf den Schreibtisch. „Spurensicherung und Obduktionsbericht. Erste Ergeb nisse, noch nichts Endgültiges.“ Er ließ sich in seinen Bürostuhl fallen, riß die Schreib tischtür auf und legte andächtig ein großes, in Seidenpa pier gehülltes Päckchen auf die Tischplatte. „Nun, was steht in den Berichten?“ fragte Heym. „Wollen Sie nicht selbst lesen, Genosse Hauptmann?“ „Ich höre es lieber von Ihnen. Sie haben doch schon reingeschaut – oder etwa nicht?“ „Doch, doch. Klar.“ „Dann fangen Sie mit dem Obduktionsbericht an.“ Ka bel räusperte sich und schob mit einem wehmütigen Blick das Päckchen außer Reichweite, dem ein lieblicher Kuchenduft entströmte. „Manfred Löffler, Beruf Schauspieler, geboren am fünfzehnten April neunzehnhunderteinundzwanzig. Er wurde am Dienstag, dem zwanzigsten November, zwi schen neunzehn und einundzwanzig Uhr – also gestern abend – durch einen heftigen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand an der linken Schädelhälfte verletzt. Vermut lich war er sofort bewußtlos. Der Tod trat erst fünf Stun den später ein, heute gegen ein Uhr morgens, mit großer Wahrscheinlichkeit infolge eines epiduralen Hämatoms, einer Blutstauung zwischen Schädeldecke und Gehirn. Das Tatwerkzeug ist ein altes Kistenbrett mit rostigen Nägeln, an dem Spuren vom Blut des Toten nachgewie
sen wurden. Mehrere Bretter der gleichen Art fanden sich am Tatort. Toxische Mittel oder Alkohol konnten im Körper des Toten bisher nicht gefunden werden. Die A nalyse des Mageninhalts wird endgültigen Aufschluß geben. Der Gesundheitszustand Löfflers war seinem Alter ent sprechend gut. Nach der Krankenkartei und der Aussage seines Arztes, Professor Kranemichel, neigte Löffler zu erhöhtem Blutdruck, einer Überempfindlichkeit des Ma gens, die im wesentlichen durch psychische Einflüsse bedingt war, und zu gelegentlichen rheumatischen Be schwerden.“ Kabel lehnte sich befriedigt zurück. „Ist das alles?“ fragte Heym. „Bis jetzt ja.“ „Gibt es neue Erkenntnisse bei den Trassologen?“ „Nicht viel. Durch den nächtlichen Dauerregen waren die zur Tatzeit entstandenen Schuhspuren nicht mehr auszuwerten. Gesichert wurden frische Reifenspuren des Fahrradanhängers im Verein mit den Abdrücken von Gummistiefeln, Größe zweiundvierzig, Sohlenprofil stark abgenutzt. Vorausgesetzt, Fröhlich sagt die Wahrheit, müßten sie von dem Besitzer des Fahrradanhängers stammen.“ „Haben Sie etwa Zweifel an der Aussage des Zeugen Fröhlich?“ Kabel zuckte die Achseln. „Nun ja, der Mann macht allgemein einen recht glaubwürdigen Eindruck. Guter Leumund, keine Vorstrafen, tüchtiger Arbeiter. Er hat ohne Verzug die Volkspolizei informiert, das bestätigt die Aussage eines Zeugen, der ihm kurz zuvor am Rande des Wäldchens begegnet ist.“
„Dann verstehe ich nicht Ihre Bemerkung, vorausge setzt ,Fröhlich sagt die Wahrheit’.“ „Das bezieht sich nur auf seine Behauptung, er habe ei ne männliche Person davonlaufen sehen. Eine Beschrei bung kann er aber nicht geben, weiß weder etwas über die Kleidung, noch etwas über Größe oder Alter. Den noch besteht er darauf, es wäre ein Mann gewesen, ,er habe das im Gefühl’. Hinzu kommt, daß die Fährtenhun de die Spur dieser Person nicht aufnehmen konnten.“ „Das mag an den besonderen Umständen liegen: Re genwetter, zu viele Spuren anderer Personen rings um den Tatort, eventuell auch streunende Hunde, Katzen, Wildtiere. Aber davon abgesehen, welchen Grund sollte der Zeuge Fröhlich haben, eine flüchtige männliche Per son zu erfinden?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht Wichtigtuerei. Er hat bei seiner Aussage immer wieder davon geredet, er wäre um ein Haar mit dem ,Mörder’ zusammengetroffen. Ich hatte den Eindruck, er wollte damit hervorheben, in welcher entsetzlichen Gefahr er geschwebt hat.“ Heym nickte. „Wurde sonst noch etwas gefunden?“ „Verwaschene Abdrücke von LKW-Niederdruckreifen, Fabrikat Pneumant. Sie gehören zur Serienausrüstung des IFA W 50 für Armee- und Baufahrzeuge. Der Tote lag etwa fünf Meter von diesen Abdrücken entfernt. Nach Meinung der Trassologen können sie zur Tatzeit entstan den sein. Weitere Spuren oder Beweismittel, die auf ei nen unmittelbaren Tatzusammenhang hindeuten, ließen sich nicht feststellen.“ „Auch keine abgebrannten Streichhölzer oder eine Ta schenlampe?“
„Nein. Wie kommen Sie darauf?“ „War nur so eine Idee von mir. Was ist mit dem Fahr radanhänger?“ „Der Hänger ist zehn bis zwölf Jahre alt, kein Eigen bau. Er wurde schon mehrmals mit grüner Ölfarbe gestri chen. Am hölzernen Ladekasten befinden sich zahlreiche Spuren von Latex, Leim- und Ölfarbe, außerdem Reste von Bauschutt, Gartenerde, Kaninchenmist und Laub. Die Kugelkupplung ist gleichmäßig mit Rost bedeckt, der Hänger wurde also schon längere Zeit nicht mehr von einem Fahrrad gezogen, sondern mit der Hand bewegt. An der Zugstange konnten Fingerspuren beider Hände gesichert werden, die für eine Identifizierung ausreichen. Im Ladekasten lagen zwei leere, mit Flicken versehene Jutesäcke, aus denen vermutlich die beiden Abfallhaufen neben dem Hänger stammen. Der Abfall besteht aus zer brochenen Plasteflaschen, Glasscherben und leeren Farb büchsen. Er ist nur an der Oberfläche feucht, was darauf hindeutet, daß er erst kürzlich ausgeschüttet wurde. Eine nähere Untersuchung muß noch nachweisen, ob der Ab fall tatsächlich in den Säcken war. Falls das Ergebnis positiv ist, wäre es möglich, daß sich noch weitere Hin weise auf den Besitzer des Hängers entdecken lassen. Es dürfte also kein allzu großes Problem sein, den Mann zu finden.“ Heym lächelte. „Nun gehen Sie selbst davon aus, daß es sich um einen Mann handelt.“ „Aber ich behaupte es nicht, ich vermute es nur. Es wä re auch ziemlich ungewöhnlich, wenn eine Frau einen Fahrradanhänger durch die Gegend schiebt. Außerdem spricht die Schuhgröße zweiundvierzig dafür.“
„Es soll auch Frauen geben, die auf großem Fuße leben. Na gut, lassen wir das vorerst. Was meinen Sie, in wel cher Beziehung steht dieser seltsame Hängerbesitzer zur Tat?“ „In keiner direkten“, sagte Kabel spontan. Er dachte ei nen Augenblick nach und fügte hinzu: „Da ist erst einmal die Zeitdifferenz. Die Tat wurde gestern abend begangen, der Mann erschien heute am späten Vormittag auf dem Müllplatz. Ich nehme an, er ist so eine Art Laubenpieper. Er hält sich Kaninchen, vielleicht noch anderes Klein vieh, hat ein Häuschen mit Garten oder ein Wochenend grundstück. Es befindet sich wahrscheinlich nicht weiter als zwei Kilometer vom Tatort, der am Rande der Wohn siedlung liegt. Auf der anderen Seite der Siedlung, etwa vier Kilometer vom Tatort entfernt, ist ein ,für die Be völkerung zugelassener’ Müllplatz. Aber dem Mann war es zu weit, bis dorthin zu laufen. Er begibt sich also mit seinem Hänger in das näher gelegene Wäldchen, kippt seinen Abfall aus, stößt dabei auf den Toten, schnappt sich Uhr und Brieftasche und wird von dem Zeugen Fröhlich überrascht. Natürlich kriegt er einen Mords schreck und rennt so schnell er kann davon.“ „Ich stimme Ihnen zu. Bis auf die voreilige Annahme, er habe Uhr und Brieftasche gestohlen.“ „Warum sollte er sonst weglaufen? Der Mann hat in Panik gehandelt, er hat nicht bedacht, daß er mit dem Hänger ein wunderbares Beweisstück zurückläßt. Jeder Mensch, der auch nur einen Augenblick Zeit zum Nach denken hat, würde sich doch sagen, daß wir in einem solchen Fall nicht lockerlassen und ihn früher oder später am Kragen haben.“
„Vermutlich ist der Mann naiv, vielleicht sogar dumm. Wenn es nicht so viele Dumme gäbe, gäbe es nicht so viele Straftaten. Aber das beweist noch lange nicht, daß er die Uhr und die Brieftasche gestohlen hat. Es sind auch andere Gründe für seine Flucht denkbar.“ „Was für welche?“ „Nun, er könnte mit dem Toten bekannt gewesen sein, einen Streit mit ihm gehabt haben und jetzt fürchten, durch die Ermittlungen in eine peinliche Lage zu kom men. Er könnte in eine Straftat verwickelt sein, die mit unserem Fall gar nichts zu tun hat, und schon deshalb jedem Kontakt mit der Kriminalpolizei ängstlich aus dem Wege gehen. Er könnte auch nur ein bißchen schwach sinnig sein, ein halber Analphabet, der die abenteuer lichsten Vorstellungen hegt, was ihm alles Schreckliches widerfährt, wenn er in die Hände der Behörden gerät. Genug der Beispiele?“ „Allerdings“, brummte Kabel. „Gut. Dann ist es Ihre Aufgabe, diesen Mann so schnell wie möglich zu ermitteln. Haben Sie schon eine Idee, wie Sie vorgehen?“ „Ich werde mit Leutnant Sitte zusammenarbeiten, er war ja heute bereits an der Tatortsicherung beteiligt. Wir werden erst einmal feststellen, wer im Umkreis von zwei Kilometern vom Tatort einen Fahrradanhänger besitzt. Als ABV müßte er seine Pappenheimer kennen.“ „Naja“, sagte Heym skeptisch. „Die Gemeinde hat rund fünfzehntausend Einwohner. Hinzu kommt, daß in dieser Gegend fast zu jeder Wohnung ein Garten gehört, von den vielen Wochenendgrundstücken und Bungalows ganz abgesehen. Es könnte also nahezu jede Familie ei
nen Fahrradanhänger haben. Und bedenken Sie auch, daß der Hänger ausgeliehen sein könnte.“ „Eine Menge Arbeit“, seufzte Kabel. „Aber wie gesagt, ich vermute, daß der Mann Kaninchen hält. Außerdem hatte er mit Farben zu tun, vielleicht sogar beruflich. Ich werde auf jeden Fall den Genossen Sitte danach fragen. Notfalls ziehen wir die ABVs aus den anderen Abschnit ten hinzu.“ „Gut, tun Sie das. Und versuchen Sie es auch bei der Sparte Kleintierzüchter.“ „Danke. Wertvoller Hinweis.“ Heym winkte ab. „Sie haben mit Manfred Löfflers Fa milie gesprochen? Wie ist das ausgegangen?“ – Er hätte das erste Gespräch mit den Angehörigen lieber selbst geführt, obwohl es gewiß keine erfreuliche Aufgabe ist, eine Todesnachricht zu überbringen, aber es war nicht möglich gewesen. Er hatte einen dringenden Termin bei Staatsanwalt Sommerfeld nicht zum dritten Mal ver schieben können. „Ich habe nur eine Frau von Oxkill angetroffen“, sagte Kabel. „Sie ist die Schwiegermutter des Toten.“ „Wie hat sie die Nachricht aufgenommen?“ „Gefaßt. Oder besser noch, in tadelloser Haltung. Die Frau muß bestimmt siebzig sein, aber sie ist zäh wie Ei chenholz und fast so groß wie ich. Bin mir in ihrer Ge genwart wie ein Schuljunge vorgekommen.“ „Haben Sie erfahren können, wo sich Löfflers Ehefrau befindet?“ „Sie wohnt zur Zeit im Landhaus der Familie, in Alten golm, Uferweg. Wir haben angerufen, leider vergeblich. Frau von Oxkill sagte, sie würde es später noch einmal
versuchen.“ „Haben Sie meinen Besuch für heute abend angekün digt?“ „Genau wie befohlen.“ „Konnte Löfflers Schwiegermutter etwas über die Uhr und die Brieftasche sagen?“ „Die Uhr soll ein ziemlich seltenes Exemplar sein, eine goldene Rolex-Automatic, Präzisionschronometer, Schweizer Fabrikat. Ich habe die Beschreibung an die einschlägigen Fachgeschäfte gegeben und auch an die An- und Verkaufsläden.“ „Gut. Und die Brieftasche?“ „Das ist ebenfalls ein kostbares Stück. Handarbeit, schwarzes Krokodilleder. Inhalt etwa zweitausend Mark in bar, dazu fünfhundert Mark in Forum-Schecks und ein Scheckheft.“ „Wer sagt das?“ „Frau von Oxkill.“ „Wie kommt es, daß sie so genau darüber Bescheid weiß?“ „Ja, das hat mich auch gewundert. Sie erklärte mir, sie verwalte schon seit mehr als dreißig Jahren die Finanzen ihres Schwiegersohnes und habe auch den Schlüssel für den im Hause befindlichen Safe in ihrem Besitz. Manfred Löffler hatte für heute größere Einkäufe geplant und sich das Geld erst gestern abend von ihr aushändigen lassen.“ „Sie scheint eine wichtige Rolle in der Familie zu spie len.“ „Den Eindruck hatte ich auch. Und sie handelt sehr um sichtig. Als sie von der verschwundenen Brieftasche hör te, hat sie sofort die Sparkasse angerufen und die Schecks
sperren lassen.“ „Sehr umsichtig, wie wahr. Na, ich werde diese Frau von Oxkill ja kennenlernen. – Was hat die Untersuchung des Volvos erbracht?“ „Fingerspuren von fünf Personen wurden gesichert, die meisten stammen von Manfred Löffler selbst. Auf dem rechten Vordersitz und auf den Rücksitzen befanden sich einige Hundehaare. Im Haus der Löfflers lebt ein brauner Setter, der hin und wieder im Wagen mitgenommen wird. Ich habe aus dem Hundekorb in der Diele Vergleichspro ben entnommen und sie der Kriminaltechnik übergeben. Das Ergebnis wird uns morgen früh mitgeteilt.“ Heym nickte zustimmend. „Eine Liste der im Wagen gefundenen Gegenstände“, fuhr Kabel fort, „liegt dem kriminaltechnischen Bericht bei. Ich habe sie der Frau von Oxkill vorgelesen. Es scheint nichts zu fehlen. Es scheint auch nichts dabei zu sein, was ihrem Schwiegersohn nicht gehörte. Sie wies aber darauf hin, daß sie sich irren könne und daß sie die se Angaben mit Vorbehalt mache.“ „Schön. Gibt es noch etwas?“ „Nein“, erwiderte Kabel, griff sich dann aber an den Kopf und sagte: „Doch! Der Zeuge Fröhlich wartet noch wegen des Protokolls.“ Heym sah auf seine Armbanduhr. „Machen Sie das al lein und lassen Sie die Abschrift auf meinen Schreibtisch legen. Falls noch etwas Dringendes sein sollte, erreichen Sie mich nach zwanzig Uhr zu Hause.“ Er klappte seinen Notizblock zu, versenkte ihn in der Aktentasche und er hob sich. „Also bis morgen.“ „Bis morgen.“ Kabel griff zum Telefon und begann zu
wählen. Kaum hatte sich hinter seinem Chef die Tür ge schlossen, zog er mit der linken Hand das Kuchenpäck chen heran. Besetztzeichen. Rasch legte er wieder auf. Und wäh rend er andächtig das Seidenpapier öffnete, verklärte sich sein Gesicht zu einem glücklichen Lächeln.
3 Nasser Schnee trieb in dicken Flocken gegen die Frontscheibe. Die Wischer zuckten hektisch, der Ven tilator summte. Die Sicht war miserabel, der schwarze Asphalt schluckte das Scheinwerferlicht. Und immer wieder beschlugen die Scheiben. Heym fuhr langsam eine dunkle, von hohen Bäumen gesäumte Allee entlang, hielt angestrengt Ausschau nach den Hausnummern. Es war ein Villenviertel, erbaut in den zwanziger Jahren, die meisten Häuser lagen tief in den weitläufigen Gärten versteckt. Endlich entdeckte er Licht. Auf den Pfeilern einer Ein fahrt brannten gelbliche Lampen. Die schmiedeeisernen Torflügel waren geschlossen. In ihrem Gitterwerk glänz ten eine vergoldete „34“ und die Initialen „M.L.“. Heym war am Ziel. Er parkte den Wagen unter einer Laterne, stieg aus, setzte die Mütze auf und schloß die Tür ab. Aus dem Geäst einer riesigen Eiche ging ein Regen schauer auf ihn nieder, die Tropfen schlugen einen Trommelwirbel auf dem Blechdach des Ladas. Hinter einer Eibenhecke lag das große, zweistöckige Haus. Es war aus rotem Klinkerstein, hatte ein schöngeschwunge nes Mansardendach, weiße Fensterläden und einen efeu bewachsenen Kamin. Einige Fenster im Erdgeschoß wa
ren erleuchtet. Neben dem Haus, am Ende der langen Auffahrt, befand sich eine Doppelgarage mit weißen Tü ren. Heym durchquerte den Vorgarten, auf dessen Rasenflä chen Blaufichten und schlanke Wacholder wuchsen. Drei Stufen im Halbkreis, überdacht von einem kupfernen Baldachin, führten zur Haustür hinauf. Der Hauptmann drückte auf eine Messingklingel. In der Tiefe des Hauses ertönte ein Gong. Es öffnete ein junger Mann in Jeans und dunkelblauem Rollkragenpullover. Er war hager und schlecht rasiert, hatte eine kränkliche Gesichtsfarbe, eng stehende Augen und aschblondes Haar, das sich in schüt teren Locken bis auf die Schultern ringelte. In seinem linken Ohrläppchen glitzerte ein Straßstein. Er lehnte sich an den Türrahmen und musterte Heym gelangweilt. Das Schweigen wurde dick. Heym überwand seinen auf keimenden Unwillen. „Guten Abend“, sagte er. „Ich möchte Frau Löffler sprechen.“ „Welche soll’s denn sein? Die Ehemalige oder die Zu künftige?“ „Wie bitte?“ „Sie wissen es nicht? Na, spielt ja auch keine Rolle. Die Damen sind beide nicht im Hause.“ Heym zückte seinen Dienstausweis. „Es handelt sich um…“ „Darf ich mal sehen?“ Der Jüngling griff ungeniert nach der Hand mit dem Ausweis. „Kriminalpolizei? Hauptmann Heym?“ Er zögerte einen Augenblick, dann wich er zurück und machte eine übertriebene Verbeu gung. „Bitte treten Sie reichlich ein, Herr Hauptmann. Sie kommen in amtlicher Mission?“
Heym überhörte die Frage. Er gelangte in einen Vor raum, der als Garderobe diente. An der Stirnwand hing ein hoher Barockspiegel, flankiert. von zwei Kristall leuchtern. Auf einer Kommode stand eine prachtvolle Vase, gefüllt mit Chrysanthemen, die einen intensiven herbstlichen Duft verströmten. Der junge Mann half Heym beflissen aus dem Mantel und machte dabei einen neuen Anlauf. „Darf man erfahren, in welcher Angele genheit Sie vorsprechen, Herr Hauptmann?“ „Wer sind Sie denn überhaupt?“ „Gerechter Gott, er kennt mich nicht!“ Der Jüngling sah mit theatralischem Entsetzen zum Himmel auf. „Ich bin der Hans-Peter und spiele den Butler in diesem eh renwerten Haus. Ehrenamtlich, versteht sich. Ansonsten habe ich leider zur Zeit keine feste Beschäftigung, halten zu Gnaden.“ „Und der Familienname?“ „Wieso? Löffler natürlich.“ „Sie sind ein Sohn des Schauspielers Manfred Löffler?“ „Bestehen daran Zweifel? Sind Sie gekommen, mir den Argwohn mütterlichen Ehebruchs ins Herz zu senken? Hans-Peter ein Bastard? Die Schande überleb ich nim mermehr!“ Heym lächelte. In seiner langjährigen Praxis waren ihm schon die seltsamsten Vögel begegnet. Den Redseligen war meistens besser beizukommen als den Sturen, die ihre Zähne nicht auseinanderkriegten. Also würde er auch mit diesem Kasper fertig werden. „Recht so, lieber Freund“, sagte er, „immer einen Scherz auf den Lippen, auch wenn es unpassend ist. Oder hat Ihnen Frau von Oxkill noch nichts erzählt?“ „Wie sollte sie? Kehrt ich doch eben heim erst aus der
rauhen Welt, mir auf Geheiß des Vaters Lohn und Brot zu suchen. Indes vergeblich, wie so häufig schon.“ Energische Schritte näherten sich auf dem fliesenbeleg ten Gang, der in die Wirtschaftsräume führte. Frau von Oxkill erschien in der Tür. Hans-Peter wandte sich um, machte einen Kratzfuß und eine elegante Armbewegung. „Da tritt sie ein, die edle Frau. Zu spät geboren, ach zu spät! Könnt ich das Schicksal lenken, ich ließe sie des Husarengenerals von Ziethen würdige Gattin sein. Ein Hoch auf Preußens Glo ria!“ „Laß die Possen, Hansi. Ab in die Küche. Frau Willroth wartet mit dem Abendessen.“ Hans-Peter schnitt eine spöttische Grimasse, entfernte sich aber ohne Widerspruch. Frau von Oxkill überragte Heym um Haupteslänge. Ihr weißes Haar, zu einer hohen Frisur aufgesteckt, machte sie noch größer. Sie trug ein langes, bis zum Kinn ge schlossenes Kleid aus schwarzer Seide und an silberner Kette ein silbernes Lorgnon. „Hauptmann Heym.“ Die alte Dame nickte und streckte ihm eine knochige, pergamentfarbene Hand entgegen. „Oxkill. Hier entlang bitte. Wenn Sie gestatten, gehe ich voran.“ Er folgte ihr in eine Wohnhalle, aus der in weitem Bo gen eine Eichenholztreppe zum oberen Stockwerk führte. Ledersessel vor einem Kamin, Wände voller Bücher mit goldgeprägten Rücken, Vitrinen, gefüllt mit Porzellan, dunkle Ölbilder in geschnitzten Rahmen, Bronzefiguren auf Konsolen und zierlichen Tischen. An der Fenster front, zwischen gerafften weißen Tüllgardinen, ein
schwarzer Konzertflügel. Im Vorübergehen streifte Heyms Blick das rustikal möblierte Speisezimmer und den erleuchteten Wintergarten, in dem Strelitzien und Hibiskus blühten. Sie gelangten in einen kleinen Raum, der in freundli chem Biedermeier gehalten war. Geblümter Teppich, Lampen mit rosa Seidenschirmen, auf der gestreiften Tapete zartkolorierte Stiche. Frau von Oxkill nahm auf einem schmalen Sofa Platz, ihrem Gast wies sie einen gebrechlich wirkenden Arm stuhl zu. Vorsichtig ließ sich Heym darin nieder. Was er in den wenigen Minuten gesehen hatte, war beeindru ckend, das gestand er sich unumwunden ein. Private Wohnhäuser eines solchen Zuschnitts waren ihm bisher nur im Film begegnet. Er fühlte sich in eine fremde, längst vergangen geglaubte Zeit versetzt. Die Möbel, das Porzellan, die Bilder, das alles mußte sehr viel Geld ge kostet haben. Er war kein Fachmann, schaute nur hin und wieder durch die Scheiben der Antiquitätengeschäfte und wußte, welche Preise für Dinge dieser Art gefordert und bezahlt wurden. Dennoch empfand er keinen Neid, das alles war ihm zu unwirklich, zu weit entfernt von seinem normalen Leben. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, ein solches Haus besitzen zu wollen, ebenso wie er bei einer Schloßbesichtigung zwar Bewunderung, aber nicht den Wunsch verspürte, in einem Schloß zu wohnen. Frau von Oxkill riß ihn aus seinen Gedanken. „Wün schen Sie Kaffee oder Tee?“ Ein kleiner runder Tisch war gedeckt, in einem Leuch ter brannten rosa Kerzen. „Tee bitte.“
Sie nahm die Kanne vom Rechaud und schenkte ein. Sie nippten an ihren Tassen. Dann holte Heym tief Atem und sagte: „Es tut mir sehr leid, Frau von Oxkill…“ „Bemühen Sie sich nicht um Anteilnahme“, unterbrach sie ihn. „Stellen Sie einfach Ihre Fragen.“ Heym nickte. „Wann haben Sie Manfred Löffler zum letzten Mal gesehen?“ „Gestern abend. Er verließ gegen neunzehn Uhr das Haus.“ „In seinem Volvo?“ „Ja.“ „Wohin wollte er?“ „Nach Berlin. Er hatte eine Verabredung mit Bettina Sommer.“ „Wer ist das?“ „Eine Schlagersängerin.“ Heym meinte, in ihrem Tonfall eine leichte Gering schätzung bemerkt zu haben. „Worum ging es bei dieser Verabredung?“ fragte er. „Manfred hatte die Absicht, in der Wohnung der Dame zu übernachten. Heute wollten sie in der Stadt Einkäufe für ihre Hochzeit machen. Deshalb die größeren Summen in seiner Brieftasche.“ „Hochzeit? Wessen Hochzeit?“ „Nun, am Wochenende gedachten die beiden zu heira ten. Alle Vorbereitungen sind bereits getroffen.“ „Ich nahm an, Herr Löffler wäre verheiratet.“ „Er wurde vor drei Monaten geschieden.“ „Aus seinem Personalausweis ist das aber nicht zu er sehen.“ Frau von Oxkill zuckte die Schultern. „Ich weiß. Ich
habe ihn mehrmals erinnert, das ändern zu lassen, aber er fand bisher keine Zeit dazu. Er wollte es nun am Freitag erledigen.“ „Verstehe. Dann ist seine Frau wegen der Scheidung in das Landhaus nach Altengolm gezogen?“ „Ja.“ „Und weshalb leben Sie noch im Hause Ihres Schwie gersohnes?“ „Ich? Ja, wo sollte ich denn sonst leben?“ „Zum Beispiel bei Ihrer Tochter. Oder findet sich dort kein Platz?“ Frau von Oxkill sah Heym mit kaltem Blick in die Au gen und hob das Kinn. „Diese Bemerkung ist nicht sehr geschmackvoll, mein Herr.“ „Wieso?“ fragte Heym ahnungslos. „Meine Tochter liegt seit dem fünfzehnten Mai neun zehnhundertfünfundvierzig auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof. Sie wurde bei den Kämpfen um Berlin von der SS erschossen, als sie sich weigerte, das für Schwer verwundete bestimmte Trinkwasser herauszugeben.“ Heym errötete und schwieg. Was für einen Blödsinn hatte ihm der verdammte Kabel aufgetischt? Er war doch sonst so genau. „Verzeihen Sie meinen Irrtum“, sagte er. „Dann sind Sie also nicht die Schwiegermutter von Man fred Löffler?“ „Selbstverständlich bin ich das. Meine Tochter Sylvia war mit Manfred verheiratet. Es war seine erste Ehe.“ „Die wievielte wäre es mit Frau Sommer gewesen?“ „Die fünfte.“ „Wieviel Kinder hat Herr Löffler?“ „Vier, allerdings nicht von derselben Frau. Das fünfte
ist unterwegs.“ „Das fünfte. Und wer ist die Mutter?“ „Bettina Sommer natürlich.“ „Natürlich, ja.“ Heym trank einen Schluck von seinem Tee und lehnte sich zurück. ,Fünf Ehen, fünf Kinder’, dachte er. Reichlich kompliziert. Der Mann hatte ein be wegtes Leben geführt.’ „Könnten Sie mir einen Überblick über Manfred Löff lers Entwicklung geben? Beruflich und familiär?“ „Wenn Sie es wünschen, bitte. Manfred stammt aus dem Ruhrgebiet. Nach einer Bäckerlehre bewarb er sich als Schauspielschüler und wurde in die Schauspielklasse der damaligen Filmakademie in Babelsberg aufgenom men. Dort lernte er meine Tochter kennen. Sie heirateten im Dezember vierundvierzig. Nach Sylvias Tod blieb Manfred bei mir, in der Wohnung, die ich für die Kinder in unserem Hause in Dahlem eingerichtet hatte. Er war allein, seine Eltern kümmerten sich nicht um ihn, eine geistige Beziehung zu ihrem Sohn hat nie bestanden. Auch ich war allein, mein Mann, Joachim von Oxkill, war im Sommer zweiundvierzig vor Tobruk gefallen. Ein eigener Sohn war mir nicht vergönnt, so nahm Manfred dessen Stelle ein, er gab meinem Leben einen Sinn. Dank einiger Verbindungen zum Kulturleben – mein Schwager war in diesen Jahren Verwaltungsdirek tor der Städtischen Bühnen – konnte ich ihm kurz nach dem Kriegsende ein Engagement am Schillertheater ver schaffen. Im Frühsommer sechsundvierzig heiratete Manfred Mildred Schreiber, ein sehr junges, ungewöhnlich hüb sches Mädchen. Sie arbeitete als Sekretärin bei der DE
FA. Die Ehe ist leider nicht zuletzt auf meinen Rat hin zustande gekommen. Es war das erste und letzte Mal, daß ich mich auf diese Weise in Manfreds Leben eingemischt habe. Ein knappes Jahr später wurde ihnen ein Sohn ge boren, Wolf-Dieter. Dennoch konnte Mildred nicht glücklich werden. Ihre kleinbürgerliche Erziehung war den Ansprüchen einer Künstlerehe nicht gewachsen. Sie verließ mit dem Baby das Haus, bald darauf kam es zur Scheidung. Manfred litt damals sehr unter der Trennung von seinem Sohn, auf den er große Hoffnungen gesetzt hatte.“ „Was ist aus den beiden geworden?“ „Mildred kehrte in ihre Heimatstadt Dresden zurück. Sie heiratete dort einen Zahnarzt namens Theodor Burg hardt, mit dem sie heute noch lebt.“ „Und der Sohn?“ „Wolf-Dieter?“ Über das Gesicht der Frau, das bisher keinerlei Gefühlsregungen gezeigt hatte, huschte ein Lä cheln. „Er ist Schauspieler, genau wie sein Vater. Er wohnt jetzt hier ganz in unserer Nähe, er ist verheiratet und hat zwei niedliche Kinder.“ „Wie ging es weiter mit Manfred Löffler?“ „Er wechselte in der nächsten Spielzeit zum Deutschen Theater und verliebte sich Hals über Kopf in Marianne Kirsch, die dort als Dramaturgie-Assistentin beschäftigt war. Auch diese Ehe blieb nur eine Episode. Die künstle rischen und politischen Auffassungen der beiden erwie sen sich als unvereinbar, schon sieben Monate nach der Hochzeit wurden sie wieder geschieden. Heute lebt Ma rianne als Hörspiel-Autorin in München. Im Jahre neunzehnhundertfünfzig schloß Manfred seine
vierte Ehe mit Ilse Walldorf. Sie war Medizinstudentin. Er hatte sie nach einem Autounfall im Krankenhaus ken nengelernt. Im April einundfünfzig wurde ihre Tochter Barbara geboren, im Mai zweiundfünfzig Cordula. Indes sen war Manfred ein recht bekannter Schauspieler ge worden, spielte Hauptrollen am Theater und hatte erste Erfolge bei der DEFA. Zu dieser Zeit reifte eine grund sätzliche Entscheidung heran. Das Haus in Dahlem war für die Familie zu klein geworden, Ilse erwartete ihr drit tes Kind. Zudem stiegen uns die finanziellen Verpflich tungen über den Kopf, denn Manfred verdiente seine Ga gen fast ausschließlich im Osten. Also verkaufte ich das Haus. Ende vierundfünfzig siedelten wir in die DDR ü ber, wo im Juni fünfundfünfzig Hans-Peter zur Welt kam, Manfreds seit langem erhoffter zweiter Sohn. Lei der konnte er den Erwartungen seines Vaters nicht ge recht werden. Nach der Übersiedlung begann für Manfred ein steiler beruflicher Aufstieg, er…“ „Augenblick bitte“, unterbrach Heym. „Hans-Peter wurde den Erwartungen seines Vaters nicht gerecht? Weshalb nicht? Welches Verhältnis bestand zwischen den beiden?“ „Das sind Familieninterna, darüber möchte ich nicht sprechen.“ „Ich muß auf meiner Frage bestehen, Frau von Oxkill.“ Die alte Dame dachte nach. „Na gut“, sagte sie schließ lich, „Sie werden es sowieso herausfinden. Der Junge hat kein Stehvermögen. Er fängt alles an und bringt nichts zu Ende. Vermutlich ein Erbteil seiner Mutter. Der Vater baute ihm goldene Brücken, zu viele, wie mir schien,
aber es half alles nichts. Natürlich ergaben sich daraus Spannungen, zumal die Fehler des Knaben immer wieder vertuscht wurden. Wie zu erwarten, trat keine Besserung ein. Man darf eben nichts vertuschen. Man muß einen Übeltäter zwingen, seine Fehler zu erkennen und seine Schuld wiedergutzumachen, sonst lernt er nie etwas.“ „Und wodurch hatte er sich schuldig gemacht?“ „Mit ständigen Lügen, Schulschwänzereien, kleinen Diebstählen im Elternhaus. Sie mögen das vielleicht ver zeihlich finden, Nachsicht ist heute allenthalben modern. Doch was geschah? Als Hans-Peter etwas größer war, nahm er unerlaubt den Wagen seines Vaters und fuhr ihn betrunken gegen einen Baum. Wieder kam er davon, die Mutter behauptete, sie hätte den Wagen gefahren. Als sich ein zweiter Unfall auf die gleiche Weise ereignete, rief man schließlich einen Psychotherapeuten. Mit dessen Hilfe und dem Einfluß des Vaters kam der Junge noch einmal ungestraft durch, diesmal allerdings mit Bewäh rung.“ „Wann ist das gewesen?“ „Vor zehn Jahren.“ „Wie alt war Hans-Peter zu dieser Zeit?“ „Etwa neunzehn.“ „Ist er noch immer in psychotherapeutischer Behand lung?“ „Nur gelegentlich.“ „Sind noch mehr Vorfälle dieser Art geschehen?“ „Kriminelle Delikte nicht, soviel ich weiß.“ „Und was sonst?“ „Er verliert häufig seine Arbeitsstelle. Weil er zuviel trinkt und dann tagelang nicht arbeitet. Beim zweiten –
oder drittenmal wirft man ihn hinaus, wenn er nicht schon vorher selbst gekündigt hat.“ Heym nickte und blickte in seine Notizen. „Manfred Löffler hat sich vor drei Monaten scheiden lassen. Was war der Grund?“ „Er brauchte ein Heim, in dem Ruhe und Ordnung herr schen, einen Ort der Entspannung. Das konnte ihm Ilse nicht mehr bieten.“ „Weshalb nicht? Sie sind doch jahrzehntelang gut mit einander ausgekommen.“ „Ilse hat sich in den letzten Jahren sehr zu ihrem Nach teil verändert. Früher wurde sie von den Pflichten als Mutter und Hausfrau in Anspruch genommen, da war ihr Leben ausgefüllt. Als vor sieben Jahren auch Barbara, ihr liebstes Kind, aus dem Hause ging, suchte sie Trost im Alkohol. Und sicher haben ihr auch die Schwierigkeiten mit Hans-Peter zu schaffen gemacht. Kurz, Manfred mußte immer häufiger als Blitzableiter herhalten für ihre Unzufriedenheit.“ „Wie äußerte sich das?“ „Sie nörgelte, sie war grundlos eifersüchtig, fühlte sich ständig ausgeschlossen, Manfred konnte ihr nichts mehr recht machen, sosehr er sich bemühte. Verständlich, daß ihm dann zuweilen auch die Nerven durchgingen und es zu häßlichen Szenen kam. Er mußte hart arbeiten, an manchen Tagen bis zu achtzehn Stunden, Film, Funk, Fernsehen, Theater, Gastspiele im Ausland, gesellschaft liche Verpflichtungen. Dazu hat er begonnen, seine Me moiren zu schreiben. Sie wissen ja, der Erfolg kommt nicht von selbst.“ „Und bei all der Arbeit fand er dann noch Zeit, sich um
Frau Sommer zu kümmern.“ „Ich erwähnte schon, er brauchte einen Ruhepunkt. Bettina Sommer nahm diese Chance wahr. Als sie auf Tournee war, stellte sie ihm ihre Wohnung zur Verfü gung. Darauf verlor Ilse vollends die Beherrschung, ihre Eifersucht kannte keine Grenzen, sie benahm sich wie eine Megäre. Der Streit hier im Hause nahm für Manfred existenzbedrohende Ausmaße an und trieb ihn erst recht in die Arme von Frau Sommer. Natürlich konnte dieser Zustand nicht ewig fortdauern, als einziger Ausweg blieb nur die Scheidung. Von jeher wünschte Manfred in der Beziehung zu seinen Frauen klare Verhältnisse, deshalb wollte er Bettina so schnell wie möglich heiraten, auch aus Rücksicht auf das Baby. Ich hielt es für übereilt, aber er muß seine Entscheidun gen selbst treffen. Er ist ein erwachsener Mann.“ Frau von Oxkill schwieg verwirrt. Dann hob sie die Fingerspitzen an die Schläfen und sagte leise: „Ich mein te, er war ein erwachsener Mann.“ Nach einer taktvollen Pause fragte Heym: „Wie hat Herr Löffler den gestrigen Tag verbracht?“ „Gegen acht Uhr morgens fuhr er ins Studio, um neun war Drehbeginn. Kurz nach siebzehn Uhr kam er nach Hause, duschte, zog sich um, nahm sein Abendessen ein. Er sagte mir, daß er noch am Abend zu Bettina fahren werde und Geld brauche, da er für den morgigen Tag größere Einkäufe vorhabe. Ich ging zum Safe und gab ihm das Geld. Darauf ließ ich ihn in seinem Arbeitszim mer allein.“ „Er sagte ausdrücklich, er brauche das Geld für Einkäu fe?“
„Ja.“ „Später haben Sie ihn nicht mehr gesehen?“ „Nein, es war unser letztes Gespräch. Um achtzehn Uhr dreißig zog ich mich ins Gartenhaus zurück. Dort wohne ich.“ „Woher wissen Sie dann, daß er gegen neunzehn Uhr fortgefahren ist?“ „Frau Willroth sagte es mir heute früh.“ „Und wer ist das?“ „Unsere Haushaltshilfe. Sie ist schon seit sechzehn Jah ren bei uns.“ „Lebt sie hier im Haus?“ „Ja, sie hat ein Zimmer im oberen Stockwerk.“ „Wer wohnt sonst noch hier?“ „Zur Zeit nur Hans-Peter. Es war vorgesehen, daß in der nächsten Woche Frau Sommer einzieht.“ „Wo war Hans-Peter gestern abend?“ „Das weiß ich nicht. Er ist selten zu Hause, seitdem es ihm nicht mehr gestattet ist, seine zweifelhaften Freunde mitzubringen.“ „Hat Ihnen Manfred Löffler etwas über den Verlauf des gestrigen Tages mitgeteilt?“ „Er erwähnte beiläufig, daß er zufrieden sei. Sie hatten mehr Einstellungen abgedreht als geplant.“ „Gab es in der letzten Zeit einen ungewöhnlichen Vor fall in der Familie oder im Beruf? Interessenkonflikte, Streit, Drohungen?“ „Wie ich schon sagte, es gab Konflikte zwischen Man fred und seiner Frau, aber die sind seit der Scheidung zumindest äußerlich beigelegt.“ „Beruflich hatte Herr Löffler keine Probleme?“
„Künstlerische Arbeit bringt immer Probleme.“ Die alte Dame lächelte weise. „Ein Schauspieler in einer so expo nierten Stellung wie Manfred bleibt nicht ohne Konkur renten und Neider. Das ist normal.“ „Haben Sie irgendeine Vermutung über die Gründe, die zum Tode Ihres Schwiegersohnes geführt haben könn ten?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Mir ist diese abscheuliche Tat völlig unbegreiflich.“ „Sie erwähnten, Herr Löffler habe an seinen Memoiren geschrieben. Ich möchte Sie um das Manuskript bitten.“ „Wozu das?“ fragte Frau von Oxkill sichtlich über rascht. „Glauben Sie etwa, darin einen Hinweis auf den Mörder zu finden?“ Heym schmunzelte. „Nein, nein. Ich versuche mir nur einen Eindruck zu verschaffen, wie Manfred Löffler die Umwelt sah. Vielleicht auch von seinem Charakter und seinen Neigungen.“ „Können Sie mir versprechen, daß die Einsicht vertrau lich bleibt? Und daß ich das Manuskript unversehrt zu rückbekomme?“ „Aber gewiß kann ich das.“ Irgendwo im Hause schlug der Gong an, mehrmals hin tereinander. Kurz darauf war Gepolter zu vernehmen und ein Gewirr weiblicher Stimmen. Frau von Oxkill erhob sich. „Bettina Sommer. Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?“ „Ich möchte gern ein paar Worte mit ihr reden.“ „Dann kommen Sie.“ Als sie sich der Diele näherten, schlug ihnen feuchte Luft entgegen, die Haustür war weit geöffnet. In der Garderobe waren zwei Frauen damit be schäftigt, sich ihrer Mützen, Handschuhe und Pelzmäntel
zu entledigen. Ein älteres weibliches Wesen in weißer Schürze huschte emsig hin und her und nahm ihnen die Sachen ab. Hans-Peter lehnte mit dem Rücken an der Wand, die Beine gekreuzt, die Hände in den Taschen. Sein Gesicht war verdrossen. Überall auf dem Fußboden lagen Kartons und Papp schachteln, und eben kam ein Mann in der Uniform der Berliner Verkehrsbetriebe mit einer neuen Ladung Pakete herein. „Wohin damit?“ fragte er. „Irgendwohin, wo Sie Platz finden“, sagte die größere der beiden Frauen, während sie vor dem Spiegel stand und mit den Händen über ihren hochgewölbten Leib strich. Sie hatte langes blondes Haar und das Gesicht eines Engels. „Du könntest auch mal zugreifen, Hansi. Im Taxi sind noch ein paar Koffer.“ Hans-Peter rührte sich nicht. „Na los, worauf wartest du?“ „Ich bin heut nicht in Laune. Schick deine Zofe.“ Betti na Sommer wandte sich amüsiert zu ihrer Freundin um. „Wie findest du meinen Herrn Stiefsohn, liebste Karla? Ist er nicht entzückend?“ Karla kicherte. Sie war klein und rundlich. Mit ihrem kurzen roten Wuschelhaar und dem blauen Hosenanzug sah sie aus wie ein Gummibär. „Wenn du das seinem Pappi sagst, zieht er ihm die Hosen stramm.“ Sie zündete zwei Zigaretten an und schob eine Bettina zwischen die Lippen. Hans-Peter wollte zu einer wütenden Entgeg nung ansetzen, da bemerkte er Heym und Frau von Ox kill in der Tür. Er zögerte, schluckte. Sein Adamsapfel bewegte sich krampfhaft. „Ihr könnt mich doch alle
mal!“ stieß er endlich hervor, trat nach einem Karton, drängte sich an Heym vorbei und verschwand in der Wohnhalle. Man hörte, wie er die Treppe zur Galerie hinaufrannte. Eine Tür fiel krachend ins Schloß. Der Taxifahrer brachte die Koffer und stellte sie in die Diele. „Siebenundachtzigfuffzig, Frollein.“ „Okay. Gib ihm einen Blauen, Karla.“ Der Fahrer nahm den Geldschein, betrachtete ihn von beiden Seiten, tippte an die Mütze und verschwand. „Jetzt brauche ich was zu trinken“, seufzte die Blondine. „Ich bin restlos fertig. Bringen Sie uns den Bourbon und eine Schale Eiswürfel in die Halle, liebe Frau Willroth.“ „Sogleich, Frau Sommer, sogleich“, wisperte Lina Willroth und wieselte davon. Bettina und Karla setzten sich in Bewegung. „Moment noch“, sagte Frau von Oxkill. „Ich habe Ihnen etwas mit zuteilen.“ „Morgen, Verehrteste, morgen. Für heute hab ich ge nug.“ Frau von Oxkill trat ihr entgegen. „Nein, Sie wer den mir jetzt zuhören.“ „Gehen Sie mir aus dem Weg. Es war doch vereinbart, daß Sie wieder im Gartenhaus leben, Frau von Oxkill. Also bitte, sonst…“ „Schweigen Sie!“ „Seid ihr denn hier alle übergeschnappt?“ Bettina stei gerte sich in Wut. „Und überhaupt, wo ist eigentlich mein Mann? Wo treibt er sich herum?“ „Reden Sie nicht so anmaßend daher! Manfred ist nicht Ihr Mann.“ „Jetzt reicht es mir aber!“ Bettinas Stimme wurde
schrill, an ihrem Hals schwollen die Adern. „Ich renne in meinem Zustand stundenlang durch die Stadt, mache alle Einkäufe allein, schleppe die Pakete, weil mein Herr Gemahl keine Zeit dafür hat, und dann kommen Sie mir auch noch in die Quere und spielen die Gouvernante. Den Zirkus habe ich satt, verflucht noch mal! Gehen Sie, bevor ich explodiere!“ Frau von Oxkill sagte kein Wort. Unbeweglich stand sie da, die Lippen zusammengepreßt, und maß die Sommer mit eiskaltem Blick. Bettina beg riff, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein mußte. „Was starren Sie so?“ fragte sie mit veränderter Stimme. „Und wer ist dieser Mann dort?“ „Hauptmann Heym. Kriminalpolizei.“ „Kriminalpolizei? – Was soll das bedeuten? Was geht hier vor? Ich will wissen, wo Manfred ist.“ „Manfred ist tot“, sagte Frau von Oxkill. „Ermordet.“ „Nein“, flüsterte Bettina, „nein, das kann nicht wahr sein – das – ist…“ Wie eine Schlafwandlerin ging sie Heym entgegen, die Augen unnatürlich weit geöffnet. „Sagen Sie, daß es nicht wahr ist.“ Ihre grellroten Lippen bewegten sich kaum. „Ich muß das leider bestätigen, Frau Sommer. Manfred Löffler ist in der letzten Nacht verstorben.“ Bettina schwankte, griff haltsuchend ins Leere. Hätte Heym sie nicht in letzter Sekunde aufgefangen, wäre sie auf die Steinfliesen geschlagen.
4 Ein Bett mit rosa Steppdecke, ein Tisch, zwei Stühle, ein Kleiderschrank, ein Fernseher. Eine Wasch nische hinter einem Plastevorhang. In einer Vitrine
Sammeltassen und Porzellantiere, an den Wänden Sinn sprüche auf Birkenholzscheiben. Und Wachsblumen. Wo immer sich ein freies Plätzchen fand, auf dem Nachttisch, zwischen den Fensterscheiben, auf den Schränken. „Nein, so ein Unglück, so ein Unglück!“ Frau Willroth saß in ihrem Zimmer am Tisch und schluchzte in die Schürze. „Seit das junge Fräulein sich umgebracht hat, gab’s hier im Haus nicht so ein Unglück. Und nun auch der Herr Löffler selber. Wo er doch noch so gesund und mitten im Schaffen war!“ Ein neuer Ausbruch von Trä nen. Dann sah sie mit rotgeweinten Augen zu Heym, doch da die erwartete Zustimmung ausblieb, wanderte ihr Blick zu dem schwarzen Kruzifix über dem Bett. „Jaja, Herr Kommissar, wie schon der Apostel sagt, die Welt ist voller Teufel.“ Hastig schlug sie ein Kreuz über der flachen Brust und preßte das Gesicht wieder in die Schürze. Heym hatte es aufgegeben, ihr zu erklären, daß er kein Kommissar war. Bisher hatte jedes seiner Worte eine Tränenflut verursacht. Er holte tief Atem, wappnete sich mit dem Ausspruch seiner Großmutter „immer schön geduldig sein“ und dachte darüber nach, wer wohl das „junge Fräulein“ war, das sich umgebracht hatte. Plötzlich erhob sich Frau Willroth unerwartet, nahm ih re naß-geweinte Schürze ab, ging zum Schrank und band sich eine frische um. „Jetzt hab ich mich ausgeheult.“ Sie putzte sich ge räuschvoll die Nase. „Jetzt können Sie mich befragen, Herr Kommissar.“ „Sehr schön“, sagte der Hauptmann und öffnete seinen Notizblock. „Um welche Zeit ist Herr Löffler gestern
abend weggefahren?“ „Um sieben.“ „Sind Sie sicher?“ „Ganz sicher. Ich habe doch gehört, wie er unten das Tor aufgemacht hat, da war es im Fernseher gerade sie ben. Und dann habe ich auch die Scheinwerfer gesehen. Mein Fenster geht nämlich aufs Garagendach, Sie kön nen ja selber mal gucken.“ Heym stand auf. Durch das Mansardenfenster sah man die Garage und die Auffahrt bis zur Straße. „War Herr Löffler allein im Wagen?“ „Jaja.“ „Woher wissen Sie das?“ „Sonst war doch niemand da.“ „Ach so, Sie vermuten es nur.“ „Wie meinen Sie?“ „Schon gut. Wann ist Hans-Peter nach Hause gekom men?“ „Eine Viertelstunde später. Ich habe ihn von hier oben gefragt, ob er was essen will, aber er wollte nicht. Er war wütend. Hat geflucht und die Türen geschmissen.“ „Was hat ihn denn so geärgert?“ „Weiß ich nicht. Ich bin gleich wieder ins Zimmer, weil ich den Film weitersehen wollte.“ „Welchen Film gab es?“ „Im Land der Käuze“. Die Serie von den Ungarn. Sie wissen doch, so ein Tierfilm und schöne Musik.“ Ihre Augen strahlten. Heym nickte. „Ist Hans-Peter zu Hause geblieben?“ „Keine Ahnung.“ „Sie sagten, er war wütend. Was macht er denn, wenn er wütend ist?“
„Also früher ging er immer an den Schnaps. Das kann er nicht mehr, weil die Frau von Oxkill die Flaschen weggeschlossen hat. Und darum rennt er jetzt meistens in die Tute.“ „In die Tute?“ „So nennen doch die jungen Leute die Gaststätte drü ben im Fuchsgrund. Richtig heißt sie ,Zum Posthorn’.“ „War er gestern auch dort?“ „Das konnte ich leider nicht rauskriegen. Beim Frühs tück hat er ja kein Wort geredet. Aber sechs Tassen Tee hat er getrunken, da muß man sich seinen Teil eben den ken.“ „Was muß man sich denken?“ „Na, daß er wieder mal blau war.“ Sie verzog das Ge sicht zu einer Grimasse des Ekels und klopfte mit dem Knöchel auf den Tisch. „Der Alkohol ist die Geißel der Menschheit, ich hab es durchlitten, mein Seliger ist dran gestorben. Aber wenn ich dem Hansi ins Gewissen red, dann macht er sich nur über mich lustig und über die A postel auch, und da sag ich lieber gar nichts mehr.“ „Sie erwähnten vorhin das junge Fräulein, das sich das Leben genommen hat. Wer war das?“ „Das war unsere Cordula.“ „Warum hat sie das getan?“ Frau Willroth rückte näher und senkte die Stimme. „Sie war schon immer ein bißchen spinnerich, so ganz anders, so mehr für sich. Wollte nicht richtig spielen, wollte nicht richtig essen. Und dann die Alpträume. Gespenster, Vampire, Dämonen. Eines Tages hat sie eben Tabletten geschluckt. Aber ich glaube nicht, daß sie es wirklich ernstgemeint hat, es war wohl mehr aus Versehen. Blut
jung war sie noch, gerade erst neunzehn. Und schön wie eine Heilige. Wenn Sie sie hätten so liegen sehen, Sie hätten gar nicht glauben wollen, daß sie tot ist.“ „Wann ist das passiert?“ „Das sind jetzt vierzehn Jahre her. Der arme Hansi hat sie gefunden, in ihrem Zimmer. Geschrien hat er wie ein Tier, durch Mark und Bein ist’s einem gegangen.“ „Was für einen Beruf hatte sie?“ „Noch gar keinen. Sie mußte doch studieren.“ „Hat es ihr denn keine Freude gemacht?“ „Aber ja. Das Geigespielen war ihr ein und alles. Bei der Beerdigung hat sogar ein Professor von dem Konser vatorium gesprochen, und der hat sie auch nur gelobt.“ „Dann verstehe ich nicht, warum sie sich das Leben ge nommen hat.“ „Das habe ich auch nicht richtig verstanden, es wurde ja auch nie darüber geredet. Vielleicht weil sie einen Freund hatte, den Thomas, und der ist ihr weggelaufen.“ „Wie war ihr Verhältnis zu Eltern und Geschwistern?“ „Ich glaube, das war ganz gut. Sie war ja auch immer so still. Der Hansi, das war ihr Lieblingsbruder, und der hat sich auch ihren Tod am meisten zu Herzen genom men, der war monatelang richtig krank.“ „Noch einmal zum Hausherrn, Frau Willroth. Wie ist Herr Löffler mit seinen Söhnen ausgekommen, zum Bei spiel mit Wolf-Dieter?“ „Die beiden haben sich gut verstanden. Der Wolf hat doch fast acht Jahre hier im Haus gewohnt.“ „Ist er nicht mit seiner Mutter nach Dresden gegan gen?“ „Da war er noch ganz klein. Später wollte er so gerne
Schauspieler werden, und deshalb ist seine Mutter, die jetzt die Frau Doktor Burghardt ist, mit ihm hierher zu Besuch gekommen, und da hat ihm dann der Herr Löffler einen Platz verschafft an der Schauspielschule. Und seit dem hat er auch hier gewohnt. Erst an den Wochenenden, und als er mit der Schule fertig war und ans Theater ging, für immer.“ „Weshalb ist er wieder ausgezogen?“ „Er hat dann das Fräulein Verena geheiratet, und sie haben zwei Kinder gekriegt, die haben den ganzen Tag Krach gemacht. Der Herr Löffler braucht aber Ruhe, wenn er seine Rollen studieren muß, und darum hat man dem Wolf die Wohnung am Distelberg gegeben. Ist gar nicht weit von hier, zehn Minuten zu Fuß.“ „Aber das gute Verhältnis zwischen den beiden hat bis jetzt fortbestanden?“ „Gewiß doch. Er kommt ja auch regelmäßig zu Besuch, mit der ganzen Familie, Weihnachten, Ostern und wenn Geburtstage sind.“ „Wie stand Wolf-Dieter zu seiner Stiefmutter?“ „Die haben sich eigentlich immer vertragen, nur manchmal hat sie gesagt, der Wolf ist ein bißchen zu sehr hinter dem Geld her. Aber bloß, wenn es ihr Mann nicht gehört hat. Und auch die Frau von Oxkill nicht. Die kann nämlich von allen den Wolf am besten leiden, weil er so fleißig ist wie sein Vater und es mal weit bringen wird. Nur mit dem Hansi steht sich der Wolf nicht gut, die bei den sind wie Hund und Katze.“ „Weshalb denn?“ „Weil der Wolf immer alles dem Vater verpetzt hat, wenn sein Bruder mal Dummheiten gemacht hat, und er
nennt auch den Hansi einen Schmarotzer und Drückeber ger, was aber ganz häßlich von ihm ist, denn es kann ja nicht jeder so tüchtig sein wie er, und der Hansi war in der Kindheit auch viel krank, fast so viel wie die Cordu la.“ „Hans-Peter läßt sich das gefallen?“ „Früher hat er bloß geweint, heimlich, in seinem Zim mer, es sollte ja keiner sehen. Aber heute, da wehrt er sich schon und sagt auch mal so Sachen.“ „Was für Sachen?“ „Ich möchte das nicht aussprechen, Herr Kommissar, es ist nicht anständig.“ „Es bleibt unter uns, Frau Willroth.“ Der Hauptmann nickte ihr aufmunternd zu. Frau Willroth zögerte, dann schlug sie die Augen nie der und flüsterte: „Anscheißer. Raffgieriges Schwein. Arschkriecher.“ Heym verzog die Mundwinkel. Beson ders freundschaftlich schienen die Beziehungen zwischen den jungen Herren in der Tat nicht zu sein. Und das in so einer Familie. Es war eben wie überall, wenn man ein wenig an der Fassade kratzte, kam nicht nur Gold zum Vorschein. Er warf einen Blick in seine Notizen. „Es gibt noch ei ne Tochter Barbara. Was macht sie jetzt?“ „Die ist verheiratet, oben in Stralsund. Eigentlich war sie ja Tänzerin, aber das ist ein zu schwerer Beruf. Möch te man nicht glauben, wenn man sie wie die Schwäne auf der Bühne rumgehen sieht. Und mit Geldverdienen ist es auch ziemlich schlecht. Da hat sie dann den Herrn Wer ner genommen, weil der ihr jeden Tag Rosen in die Gar derobe schickte. Ein feiner Mensch, und Lebensart hat er
auch. Mir bringt er jedesmal Schokolade mit, und wenn ich dann sage, das ist aber nicht nötig, dann lacht er nur und sagt; lassen Sie mal, Muttchen Willroth, wir zwei beide müssen zusammenhalten. Hat er auch nicht so un recht, denn der Familie hier wollte er anfangs gar nicht so recht gefallen, weil er man bloß Installateurmeister ist, sie hatten wohl mehr an was Akademisches für die Bar bara gedacht. Aber wo nun die drei Enkelkinder da sind, sind auch die Großeltern ganz zufrieden. Und ich freue mich auch immer besonders auf die Kleinen, sind ja alle eingeladen zur Hochzeit.“ Frau Willroth hielt erschreckt inne. „Großer Gott, was rede ich denn? Hochzeit!“ Wie der traten ihr die Tränen in die Augen. „Nein, so ein Un glück!“ stöhnte sie. „Wo doch schon alles bestellt ist, das ganze teure Essen und die Kellner und die Musik. Über fünfzig Gäste sollten wir haben, die Familie gar nicht gerechnet.“ „Wer von der Familie war denn eingeladen?“ „Alle natürlich.“ „Alle? Auch die kürzlich geschiedene Frau?“ „Na, wenn ich’s doch sage!“ „Das erscheint mir aber recht ungewöhnlich, Frau Will roth. Ein Zusammentreffen der beiden Rivalinnen, noch dazu am Tage der Hochzeit. Dabei kann doch nichts Gu tes herauskommen.“ „Der Herr Löffler hat es aber ausdrücklich so ge wünscht. Er hat immer gesagt, die Harmonie in der Fami lie, das ist das Allerwichtigste. Es kommen ja auch seine anderen geschiedenen Frauen. Die Leute sollen sehen, hat er gesagt, daß wir uns alle gut vertragen.“ „Welchen Grund sollte eine eben erst geschiedene Frau
haben, sich mit ihrer Nachfolgerin zu vertragen?“ „Sie mußte es, Herr Kommissar, sie mußte es, auch wenn sie es zuerst gar nicht gewollt hat. Der Herr Löffler hatte nämlich für den Tag nach der Hochzeit eine große Aussprache angesetzt, da sollte das mit dem Geld und der Erbschaft neu geregelt werden, weil er ja nun seiner jun gen Frau auch eine Menge zugedacht hatte. Der Herr Doktor Specht, der unser Anwalt ist, der war auch schon bestellt, damit alles gleich an Ort und Stelle besiegelt werden konnte. Und wer zur Hochzeit nicht erscheint oder sich schlecht benimmt, der sollte ausgeschlossen werden, der hätte nicht einen einzigen Pfennig gekriegt. Jedenfalls hat es mir Herr Löffler so erklärt, denn für mich ist ja im Testament auch etwas vorgesehen.“ Heym lehnte sich zurück und dachte nach. Soweit er es übersah, hatte er alle notwendigen Fragen gestellt. Er stand auf und bedankte sich für die Auskünfte. Frau Willroth ließ es sich nicht nehmen, ihn zur Haus tür zu begleiten. Sie half ihm in den Mantel und ließ ihn hinaus. Langsam ging er durch den Vorgarten. In wenigen Tagen wäre Bettina Sommer die neue Frau Löffler gewesen und hätte damit nach dem Willen ihres Mannes Anspruch auf sehr viel Geld gehabt. Wenn man die Dinge vom finanziellen Standpunkt der Familie be trachtete, war Manfred Löffler in einem ungewöhnlich günstigen Augenblick gestorben.
5 Heym hatte sich mit Löfflers Memoiren in sei ne Leseecke zurückgezogen, die ein quergestellter Schrank vom Wohnzimmer trennte. Nebenan saß die Familie vor dem Fernseher. Er hörte das Programm und die Kommentare seiner Lieben; und wenn es interessant wurde, konnte er mal um die Ecke schauen oder sich mit vor den Bildschirm setzen. Mit Genuß trank er einen Schluck Rex-Pilsner, lehnte sich in den Ohrensessel zurück, stülpte die Brille auf die Nase und griff nach der roten Ledermappe, die neben ihm auf dem Klapptisch lag. Sie enthielt einen dünnen Stapel gelblichen Papiers, numeriert und geheftet, bedeckt mit einer sauberen, gut lesbaren Handschrift. Raum wurde nicht verschwendet. Die kleinen Druckbuchstaben standen wie die Soldaten, neigten sich weder nach vorn noch nach hinten. Das Schriftbild wirkte nicht unsympathisch. Es machte einen präzisen, fast schon pedantischen Eindruck. Wenn Heym nicht genau gewußt hätte, daß die Schrift nichts über den Charakter aussagen kann, wäre er geneigt gewe sen, als Urheber eher einen Buchhalter als einen Künstler zu vermuten. So war es zuweilen mit den wissenschaftli chen Erkenntnissen, der Verstand akzeptierte sie, das Gefühl sprach dagegen. Er schüttelte über diesen Wider sprach den Kopf und begann zu lesen. Tanz der Masken Notizen aus einem Schauspielerleben Caput I Auftakt und frühe Bestimmung Zu Wanne-Eickel am 15. April 1921 als viertes Kind eines Kranfahrers geboren, stand meine Wiege sogleich
im dunkelsten Daseinsschatten, aus dem es ein Weiterhi nunter nicht mehr gab, sondern nur noch ein Hinauf. En ge, Streit, Mangel an allem Notwendigen waren in der Küche und den zwei kümmerlichen Zimmern der elterli chen Behausung, die den Namen Wohnung nicht ver diente, meine tägliche Erfahrung. Soweit ich in die Kind heit zurückzudenken vermag, immer nur lebte ich in Angst. Der Kampf um das Stück Brot, um das Recht, in einer Ecke des düsteren Hinterhofs zu spielen, um das Bett, das ich mit meinem Bruder zu teilen hatte, all das nahm meine geistigen und körperlichen Kräfte bis zum Äußersten in Anspruch. Da ich nun aber als Jüngster der physischen Gewalt meiner Geschwister nicht gewachsen war, blieben mir zur Selbstbehauptung nur die List und das Mittel der Verstellung. So lernte ich schon in frühes ter Jugend mein Minenspiel zu beherrschen, Mitleid zu erwecken, den Clown zu machen, zu trauern und zu froh locken, wohl auch Kraft und Überlegenheit zu Zeigen, die nicht vorhanden waren. Kurz, ganz aus eigener Phan tasie und ohne fremdes Vorbild hatte ich mich zum Schauspieler gemausert, wobei mir nicht im geringsten in den Sinn kam, daß es einen ganzen Berufsstand gab, der aus Mimik, Körperbeherrschung und Sprechgewandtheit sein Auskommen zog, ein dürftiges in den meisten Fäl len, wie ich heute weiß, jedoch erträglich gemacht durch die fortwährende und durchaus nicht immer trügerische Hoffnung, aufzusteigen aus der Namenlosigkeit, Ruhm zu erwerben und weithin sichtbar ah Stern am Himmel der Thalia zu leuchten. Im Alter von acht Jahren durfte ich erstmals mit der Schulklasse eine Theateraufführung erleben, Humper
dincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“, die auf mich einen überwältigenden und bis heute unvergessenen Ein druck machte. Von diesem Tage an gab es für mich die Gewißheit, daß ich Schauspieler werden würde. Heym blätterte halb belustigt, halb interessiert weiter, überflog eine Anzahl Seiten, die von den Geschwistern, der Schule und der ungeliebten, vom Vater erzwungenen Lehre im Bäckerhandwerk erzählten. Dann stieß er auf eine Überschrift, die seine Aufmerksamkeit erregte. Caput III Zwiesprache mit einem Toten Mein Vater war ein harter und äußerst selbstgerechter Mann. Längst glaubte ich, ihm alle Sünden vergeben zu haben, mit denen er meine Kindheit im Elternhaus zu einem Leidens- und Schreckensweg gemacht hatte, da mußte ich erfahren, daß ich das Opfer einer Selbsttäu schung geworden war. Was ich für die Änderung meines Gefühls gehalten hatte, war nur das Werk des Verstandes gewesen; ich hatte gelernt zu verstehen, verzeihen aber konnte ich nicht. Das wurde mir in erschreckender Weise klar, als ich vor drei Jahren die Nachricht von seinem Tode erhielt. Eine Welle der Erleichterung und des Froh lockens durchflutete mich. Endlich war das Scheusal tot! Ich erschrak bis ins Mark bei diesem Gedanken, mußte mir aber bei näherer Prüfung eingestehen, daß ich noch immer das Bedrohliche seiner Existenz, die übersinnli che, ja magische Gewalt, die er über mich ausübte und mit der er meinem Leben die Richtung gegeben hatte, empfand. Und erst jetzt, nach seinem Tode, konnte ich hoffen, mich davon zu befreien, durch eine Zwiesprache, die im Leben nie stattgefunden hat und wohl auch nicht
hätte stattfinden können, die ohnmächtige Wut, den blin den Haß und die Mordgelüste, die ich ihm gegenüber hegte, zu überwinden. Ja, ich sage es in aller Offenheit – denn welchen Sinn sollte ein Lebensbericht haben, wenn er nicht frei von aller Schönfärberei der Wahrheit und nur der Wahrheit diente? –, während vieler Jünglingsjahre schmiedete ich im stillen detaillierte Pläne, meinen Erzeuger ins Jenseits zu befördern, und nur die Feigheit, aus heutiger Sicht vielleicht besser die Vernunft, hinderten mich daran, sie in die Tat umzusetzen. Ich bin gewiß, mein Vater ahnte von alldem nichts. Denn anders als mein Bruder und meine beiden Schwestern, war ich ein stilles Kind, wi dersprach den Eltern selten, führte mich gesittet auf, be schmutzte weder Kleidung noch Schulbücher. Die Ge schwister brüllten und tobten, wenn ihnen Unrecht wider fuhr, es setzte Prügel und Kellerarrest, doch wenn sie ihre Strafe hinter sich hatten, war alles vergessen, und sie hüpften mit unbeschwerter Fröhlichkeit vom Schauplatz. Anders dagegen ich. In mir glühte der Haß. Kränkungen, Verbote, Schläge, ich konnte sie nicht mit spontanem Geschrei beantworten, vielmehr verschloß ich mich, und erst in der Einsamkeit ließ ich meiner Empörung freien Lauf und schwor Rache. Heute, da ich diese Zeilen niederschreibe, glaube ich meinen Vater verstehen zu können, entdecke ich ver wandte Züge in unseren Charakteren. Die Sorgen, die ich mit der Erziehung meiner eigenen Kinder hatte, und die Art, wie ich ihnen zu begegnen suchte, lassen mich im nachhinein stutzig werden, und ich frage mich, ob ich nicht die gleichen Fehler gemacht habe, ob ich nicht aus
der Sicht meiner Kinder das gleiche Scheusal war, wel ches er für mich gewesen ist. Nein, eigentlich frage ich mich das gar nicht, ich bin mir dessen sicher. Diese Ein sicht aber erweckt in mir das Gefühl einer geheimnisvol len, schicksalhaften Verflechtung, und ich finde plötzlich in mir zu meiner tiefen Verwunderung die Identität und die Fortsetzung eines Menschen, den ich ein Leben lang meinte fürchten, verachten, hassen und sogar austilgen zu müssen. Welch rätselhaftes Spiel, das die Natur mit uns treibt! Heym ließ die Blätter sinken und schob die Brille auf die Stirn. Hinter allem Pathos, aller Gespreiztheit standen ja erstaunliche Bekenntnisse. Ob sie gestatteten, Paralle len zu ziehen? Aber was nutzte das schon, der Staatsan walt verlangte Beweise, mit Vermutungen, und wenn sie psychologisch noch so begründet schienen, ließ er sich nicht überzeugen. Heym seufzte und griff wieder nach dem Manuskript. Er überschlug etliche Seiten, bis er ei nen Abschnitt fand, in dem er Hinweise über Löfflers Verhältnis zu dessen Kollegen erwartete. Caput XIV Der bengalische Tiger Der Höhepunkt meines bisherigen Schaffens besteht für mich ohne Zweifel darin, daß es mir vergönnt war, die Titelrolle des Films „Der bengalische Tiger“ zu spielen. Schon nach der ersten Lektüre des Drehbuchs war mir klar, dieses Werk könnte ein weltweiter Erfolg werden, wenn es nur gelänge, es mit unnachgiebigem Anspruch auf allerhöchste künstlerische Qualität zu realisieren. Dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, scheint uns ge
glückt zu sein. Die internationalen Zuschauerzahlen und die Resonanz bei der Kritik übertreffen inzwischen selbst meine kühnsten Träume. Dennoch gibt es durchaus „Wohlmeinende“, die, auf dem Kothurn stehend, durchblicken lassen, ich würde die Bedeutung des „ Tigers“ überschätzen. Nein und aber mals nein! Die Gestaltung dieser Rolle, die tägliche Her ausforderung, der Titelfigur Überzeugungskraft zu geben, veränderte mein Leben. Wie zweifellos bekannt, wurde der Film in Indien gedreht, es war eine Co-Produktion, die sich für beide Seiten als vorteilhaft erwies. Die vier Monate in diesem Märchenland werden für mich ein un vergeßliches Erlebnis bleiben, beglückend und von un schätzbarem Erfahrungswert. Ich gewann fundamentale Einsichten, erlebte am eigenen Leibe, was zu erkennen in unserem, an sozialer Sicherheit so reichen Land wohl kaum möglich gewesen wäre. Die krassen Widersprüche, sinnenbetörender Luxus auf der einen, verzweifelte, le bensbedrohende Armut auf der anderen Seite, haben mich aufgeschreckt aus meiner europäischen Selbstgefäl ligkeit. Gleichgültigkeit, Trägheit, Faulheit des Herzens und der Sinne, Anspruch auf Leistung, ohne selbst etwas zu leisten, ist mir seitdem aus tiefster Seele verhaßt. So viel zu den Gründen, die mich veranlassen, in Bezug auf dieses Erlebnis von einem Wendepunkt zu sprechen. Bleibt noch zu erwähnen die Tätigkeit, in die ich dabei unerwartet und eigentlich zufällig hineingeraten bin, nämlich in die des Regisseurs oder Regie-Assistenten. Ich sage bewußt Regie-ASSISTENT, obwohl ich auf dem Vorspann in schmeichelhafter Übertreibung als CoRegisseur genannt werde. Ich habe das gelten lassen,
weil man nicht gleichzeitig als Darsteller der Titelrolle und als Regie-Assistent bezeichnet werden kann, die Diskrepanz wäre zu groß und hätte beide Aufgaben ins Zwielicht, wenn nicht gar in den Bereich des Lächerli chen gerückt. Dennoch muß ich noch einmal mit aller Deutlichkeit feststellen, daß die Dienste, die ich meinem Freund Tobias Meyerlink bei der Regiearbeit erwiesen habe, nur in seltenen Fällen über die Aufgaben eines As sistenten hinausgingen; genaugenommen war ich nur Dolmetscher und habe seine Anweisungen mit den Kor rekturen, die bei Übersetzungen unvermeidlich sind, den, englischsprachigen Mitgliedern des Drehstabes und den indischen Schauspielern verständlich gemacht. Immerhin muß ich eingestehen, daß mich dieser Hilfsdienst zwang, die Filmarbeit erstmals nicht nur mit den Augen des Schauspielers, sondern auch mit denen des Regisseurs zu sehen. Ich leckte Blut und begann die Möglichkeit zu erwägen, ob nicht auch Anlagen in mir schlummern, die mich zur Regie-Arbeit befähigen. Wenn also böse Zun gen von einer Rivalität, reden zwischen Tobias Meyer link und mir, dann muß ich das zurückweisen, sofern es den „Bengalischen Tiger“ angeht. Für die Zukunft jedoch mögen sie nicht ganz Unrecht haben. Nebenan wurde der Fernsehton lauter gedreht, eine Er kennungsmelodie drang in die Leseecke. „Gregor!“ rief eine weibliche Stimme, „hörst du nicht? Deine Lieblingssendung beginnt.“ Heym klappte die rotlederne Mappe zu, nahm Glas und Bierflasche und gesellte sich zu seiner Familie. Die letz ten Seiten des Manuskripts, die von Löfflers Theatergast spielen im Ausland handelten, würde er vor dem Schla
fengehen lesen.
6 Produktionsleiter Rademann hielt nichts von Metaphysik. Er war ein Mann der Praxis, ein nüchter ner Rechner, der auf Tatsachen vertraute und mit Vorlie be der Überzeugung Ausdruck gab, daß sich die Welt in Zahlen spiegeln ließe. Mit dieser Haltung hatte er in dreißig Jahren sechsundzwanzig Filme produziert. Und nun war im Fundament seines Weltbildes ein Riß ent standen. In der vorletzten Nacht hatte ihn seine Frau Renate aus dem Schlaf gerüttelt und mit bebenden Lippen erklärt, eine überirdische Stimme zu hören, die um Hilfe rufe. Er selbst hörte nichts. Dennoch war er aufgestanden, um nach dem Rechten zu sehen. Aus dem Flur war ihm der Pudel entgegengestürzt und hatte sich jaulend im Ehebett verkrochen. Im selben Augenblick gab es einen lauten Krach. Die handsignierte Fotografie Manfred Löfflers war von der Wand gefallen und das Glas in tausend Stü cke zersprungen. Renate hatte unter Tränen verlangt, er solle sofort die Polizei anrufen, denn eine innere Gewiß heit sage ihr, Manfred sei etwas zugestoßen. Natürlich hatte er sich auf diesen Humbug nicht einge lassen. Er würde nicht morgens um ein Uhr dreiund zwanzig eine VP-Dienststelle alarmieren und sich der Lächerlichkeit preisgeben, nur weil ein Bild von der Wand gefallen war. Nachdem er seine Frau halbwegs beruhigt und sie beschworen hatte, über das Ereignis zu schweigen, war er wieder eingeschlafen. Am folgenden Morgen hatte er die Versuchung, bei Löffler anzurufen,
zur Seite geschoben und den Vorfall dann auch bald über des Tages Arbeit vergessen. Als ihm aber heute früh von seiner Sekretärin mitgeteilt wurde, Manfred Löffler sei in der vorletzten Nacht ermordet worden, hatte ihn fast der Schlag getroffen. Mit weichen Knien war er zu1 seinem Schreibtischsessel gewankt und hatte minutenlang um Fassung gerungen. Ein körperloses Gefühl, eine Art Schwebezustand, war seitdem nicht von ihm gewichen. Rademann kämpfte dagegen an, versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufin den. Doch der Zweifel an der Allmacht des Rationalis mus geisterte wie ein boshafter Kobold durch seine Ge danken und erschwerte ihm die Konzentration. Und konzentrieren mußte er sich. Zwei Herren saßen in seinem Büro, mit denen die Lage zu besprechen war. Der eine war der Regisseur Tobias Meyerlink, der zweite der stofführende Dramaturg Werner Kowalski. Beide waren vom Tode Manfred Löfflers tief betroffen, aus berufli chen Gründen nicht weniger als aus privaten. Seit vielen Jahren hatten sie mit Löffler zusammengearbeitet, hatten sich zerstritten und wieder vertragen, hatten Erfolge ge feiert und sich über Fehlschläge die Köpfe heißgeredet. Die Luft war erfüllt von Tabakschwaden, auf dem Tisch standen Kaffeetassen, die Aschenbecher quollen über. Die drei sahen sich vor der schwierigen Frage, wie es weitergehen sollte. Ihr Film „Blut und Eisen“ war in diesem Jahr einer der wichtigsten Plantitel. „Wir müssen einen Ausweg finden!“ sagte Rademann beschwörend. „Zweikommadrei Millionen sind schon ausgegeben, die kann ich nicht einfach abschreiben. Be greift ihr das nicht?“
„Das sagen wir uns seit einer Stunde, Paul. Aber wie soll ich weitermachen ohne Hauptdarsteller? Wie denn?“ Meyerlink wühlte verzweifelt im Kranz seiner grauen Haare, aus dem die Glatze wie ein Osterei hervorragte. „Wir könnten den Drehplan umstellen. Ziehen wir erst mal alle Einstellungen vor, in denen Manfred nicht drin ist. Das bringt Luft, und wir rutschen mit der Planerfül lung nicht gleich in den Keller. Später wird uns schon irgendwas einfallen.“ Meyerlink drückte seine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. „Das ist doch Selbst betrug! Ohne klare Vorstellung, ohne eine prinzipielle Lösung kann ich. nicht arbeiten. Ich stehe hier vor einer Grundsatzfrage, einer künstlerischen Gestaltungsfrage allerersten Ranges, und du redest von Planerfüllung! – Jaja, ich weiß! Dein Geld ist auch wichtig. Aber was ist es gegen die Kunst? Von dem Geld spricht in einem Jahr kein Mensch mehr. Machen wir aber einen großen Film, dann hat der noch in fünfzig Jahren Bestand. Das ist doch der Unterschied, Mensch!“ „Was glaubst du denn, wovon ich rede“, empörte sich Rademann. „Will ich etwa nicht, daß wir den Film ma chen? Vielleicht könnte man das Drehbuch umschreiben, was meinst du, Werner? In manchen Szenen wird Bis marck nicht unbedingt gebraucht. Oder wir fotografieren ihn von hinten. Das läßt sich doubeln.“ „Oder Bismarck sitzt für den Rest des Films auf dem Klo“, sagte Meyerlink höhnisch. Der Dramaturg hob die Hände. „Nun bleibt doch mal sachlich, Freunde. Noch mal umschreiben kommt nicht in Frage. Die Autoren reißen mich in Stücke. Außerdem muß in einer so wichtigen Frage der General entscheiden.
Also habt etwas Geduld!“ „Geduld! Geduld!“ fuhr Meyerlink auf. „Das bringt gar nichts. Der General schafft mir keinen neuen Bismarck her. Was ich brauche, ist ein Schauspieler, der aussieht wie Manfred Löffler. Und den gibt es nicht.“ „Kinder, ich habe eine Idee“, sagte Rademann plötzlich und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wir nehmen den jungen Löffler. Der hat große Ähnlichkeit mit seinem Vater. Neulich habe ich ihn als Teilheim gesehen, da war er gar nicht schlecht.“ „Wie denn? – Was denn? – Du meinst, Wolf-Dieter Löffler soll meinen Bismarck spielen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst! Der Junge ist doch noch viel zu grün, der hat viel zuwenig Erfahrung. Und überhaupt – stell dir das mal vor – Wahnsinn!“ Meyerlink schüttelte heftig den Kopf. „Langsam, Tobias, langsam. Wer behauptet denn jeden Tag, es liegt einzig und allein am Regisseur, was ein Schauspieler leistet? Oder willst du das jetzt bestreiten?“ „Nein, das bestreite ich nicht. Vorausgesetzt, es handelt sich überhaupt um einen Schauspieler, und das hat mir Wolf-Dieter Löffler noch nicht hinreichend bewiesen.“ „Wie soll er es beweisen, wenn man ihm keine Chance gibt?“ „Hör auf! Er ist zu jung für den Bismarck.“ „Mit einer guten Maske läßt sich alles machen, das weißt du genausogut wie ich. Und außerdem – wir haben gar keine Wahl. Oder hast du einen besseren Vorschlag?“ „Na schön“, sagte Meyerlink widerwillig, „wenn du unbedingt deinen Schädel durchsetzen mußt! Wir können ja ein paar Probeaufnahmen machen. Ich weiß aber nicht,
ob er überhaupt zustimmt. Kaum ist der Vater tot, da soll der Sohn dessen Rolle übernehmen. Scheint mir reichlich pietätlos.“ „Wieso pietätlos?“ fragte Kowalski. „Das Leben geht weiter. Und es kommt doch ganz auf den Standpunkt an. Er könnte das Vermächtnis seines Vaters erfüllen, indem er dessen Arbeit vollendet und zum Erfolg führt. Natür lich muß er das selbst entscheiden. Ich jedenfalls würde ihn mit allen Mitteln unterstützen, denn ich habe dafür zu sorgen, daß dieser Film fertig wird.“ „Manchmal frage ich mich“, sagte Rademann, „wo wir eigentlich leben. Da wird einem mir nichts, dir nichts mitten in den Dreharbeiten der Hauptdarsteller hinge mordet. So was gab es doch früher nur in Hollywood. Was muß das für ein Strolch sein, der einen so wunder baren Menschen umbringt.“ „Na-na-na“, sagte Kowalski gedehnt. „So ein wunder barer Mensch war Manfred ja nun auch wieder nicht.“ „Was willst du damit sagen?“ „Ich könnte mir vorstellen, daß es ein paar Leute gibt, die sich heute nicht gerade die Augen ausweinen vor Verzweiflung. Eher doch wohl im Gegenteil.“ „Wieso denn das? Wer sollte denn? – Also ich habe mit Manfred nur die besten Erfahrungen gemacht.“ „Ja du, Paulchen. Du bist eben ein grundanständiger Mensch, ehrlich bis auf die Knochen, gerecht zu jeder mann. Daß jemand gemein sein kann, kommt dir gar nicht in den Sinn. Du schwebst sozusagen über den Was sern in schöner Arglosigkeit. Was in den Niederungen der menschlichen Seele vorgeht, was sich unter der De cke abspielt, davon hast du keinen Schimmer.“
„So? Meinst du?“ Rademann war konsterniert. „Was spielt sich denn unter der Decke ab?“ Kowalski winkte ab. „Schon gut. Lassen wir das.“ „Nein, nein, mein Lieber, so kommst du mir nicht da von. Jetzt will ich was hören.“ „Na schön, meinetwegen. Wenn mal einer eine Ziga rette für mich hat? Meine sind gerade alle.“ Meyerlink stieß einen höhnischen Grunzlaut aus und warf ihm seine Schachtel zu. Kowalski zündete sich eine Zigarette an, machte ein paar genüßliche Züge und rückte an seiner Brille. „Erin nert ihr euch an ‚Beschwingte Nächte’? Bullerjahn wollte die Rolle der Anja mit Ramona Lehmann besetzen, Man fred machte sie bei den Probeaufnahmen derart lächer lich, daß Bullerjahn zähneknirschend das Handtuch warf und Bettina Sommer nahm.“ „Nun tust du Manfred aber Unrecht“, wandte Meyer link ein. „Bullerjahn ist doch eine Pflaume. Der weiß nie, was er will. Praktisch hat Manfred für ihn Regie geführt, zumindest in den wichtigen Szenen, sonst wäre nämlich die Kiste an den Baum gegangen.“ Kowalski lachte. „Recht so, Tobias! Nimm ihn nur in Schutz. Du hast ja auf diesem Gebiet einschlägige Erfah rungen.“ Meyerlink zerrte an dem Seidenschal, den er statt einer Krawatte trug. „Was soll denn das nun wie der?“ „Beim ,Bengalischen Tiger’ konntest du froh sein, daß er sich auf dem Vorspann mit der Co-Regie zufrieden gab. Das hast du wohl verdrängt?“ Meyerlink wurde rot wie eine Tomate und begann vor Wut zu stottern. „Also ich – also das ist – eine Nieder
tracht! Jeder weiß – warum mußt du diese idiotische Ge schichte wieder aufwärmen? Darüber ist längst Gras ge wachsen. Ich habe das öffentlich klargestellt.“ „Immerhin hat er dich erstklassig an die Wand gespielt. Mir wurde erzählt, daß du am Ende nur noch die Bröt chen geholt hast.“ „Gottverdammter Blödsinn ist das! Was konnte ich denn dafür, daß der Dolmetscher eine Niete war? Die Regie habe ich geführt, ich allein!“ „Es war bloß dein Pech, daß dich keiner verstanden hat.“ „Himmel, Arsch und Zwirn, ich geb zu, daß mein Eng lisch mangelhaft ist! Manfred hat meine Anweisungen übersetzt, nichts weiter.“ „Und hat bei den indischen Kollegen den Eindruck er weckt, daß du sein Assistent bist.“ „Ich weiß, ich weiß. Leider hab ich’s erst bemerkt, als es schon zu spät war. Aber er hat sich ja entschuldigt und erklärt, es wäre ein Scherz gewesen.“ „Netter Scherz. Und wie ist er dann als Co-Regisseur auf den Titel gekommen?“ „Nun halt mal endlich die Luft an! Wenn es um seinen Erfolg ging, konnte Manfred knallhart sein, das ist kein Geheimnis. Aber er hatte auch eine Menge guter Seiten. Und jetzt ist er tot, und wir sollten damit aufhören, ihn in den Dreck zu ziehen. Jeder kann doch behaupten, was er will. Der alte Ärger ist längst vergessen. Manfred und ich, wir sind Freunde gewesen.“ Auf dem Schreibtisch schrillte das Telefon. Rademann hob den Hörer ab. „Nein, keinen Besuch jetzt, Frau Stein. Ich hatte doch gebeten, daß wir nicht gestört werden. –
Wie? Ein Genosse von der Kriminalpolizei? Gut, schi cken Sie ihn herein.“ Heym trat ins Zimmer und glaubte beim ersten Atem zug, er müßte ersticken. Die Luft war so heiß und ver qualmt, als wäre ein Ofenrohr geplatzt. Nur mit Über windung brachte er es fertig, die Tür hinter sich zu schließen. Der Herr hinter dem Schreibtisch stand auf und kam ihm entgegen. Ein kleiner, agiler, elegant gekleideter Mann, gebügeltes Hemd, dezente Krawatte. „Rademann“, sagte er. „Wir diskutieren gerade über unseren Hauptdarsteller…“, er brach ab. „Ich bin der Produktionsleiter. – Das ist der Regisseur unseres Films, Tobias Meyerlink.“ Meyerlink machte einen erschöpften Eindruck. Seine Augenlider waren gerötet und auf dem zerfurchten Ge sicht mit der großporigen Nase standen Schweißperlen. „Und hier haben wir den stofführenden Dramaturgen“, sagte Rademann mit weltmännischer Geste, „den Herrn Kowalski.“ Heym mußte den Blick nach oben richten. Kowalski war lang und schlank, hatte eine Bürstenfrisur und trug eine markante Brille. Trotz der Hitze und seines Rollkragenpullovers wirkte er frisch. Eine sympathische, jungenhafte Erscheinung mit der Ausstrahlung ernsthaf ter Tüchtigkeit. „Ich bin mit den Ermittlungen im Fall Löffler betraut“, sagte Heym. „Herr Löffler spielte die Hauptrolle in Ihrem Film. Gab es in letzter Zeit irgendwelche Zwischenfäl le?“ „Keine Zwischenfälle“, erwiderte Rademann. „Alles verlief reibungslos.“
„Sie hatten also mit Herrn Löffler keinerlei Differen zen?“ „Ich kann nicht klagen. Er war ein sehr disziplinierter Kollege. Und ein ausgezeichneter Schauspieler.“ Heym wandte sich an Meyerlink. „Was sagen Sie?“ „Ich kann dem nur zustimmen.“ „Wie stand er denn mit den anderen Kollegen?“ „Da müssen Sie die Kollegen selbst fragen. Ich war mit Manfred befreundet. Niemand kann von mir verlangen, daß ich jetzt negative Vermutungen über ihn äußere.“ „Sie wollen mich offenbar mißverstehen, Herr Meyer link. Ich ermittle nicht gegen Manfred Löffler. Ich suche nach Motiven für die Tat, und ich rechne dabei auf Ihre Mithilfe. Gab es Gründe für Rivalität, Haß, Eifersucht, Rache?“ Die Befragten sahen sich an und hoben die Schultern. Langsam wurde Heym ungeduldig. Die Renitenz dieser Leute deutete darauf hin, daß sie etwas verbergen woll ten. „Es herrschte also eitel Sonnenschein“, sagte er. „Friede und Freundschaft, wohin man schaut.“ Meyerlink war gekränkt. „Das habe ich nicht behauptet. Natürlich, wo gehobelt wird, fallen Späne. Muß man deswegen gleich einen Mord begehen? Nein, bei aller Bereitschaft, Ihnen zu helfen, das will und kann ich nie mandem unterstellen.“ „Ich will ja auch nicht wissen, wem Sie einen Mord un terstellen, sondern wer ein Motiv haben könnte.“ „Tut mir leid. Ein unmittelbarer Anlaß für das Verbre chen ist mir nicht bekannt. Kleinkarierte Gründe für Ri valitäten und Eifersucht gibt es wie Sand am Meer, aber ich fürchte, damit wäre Ihnen nicht gedient, das würde
ins uferlose führen.“ „Was können Sie mir über Herrn Löfflers Privatleben sagen? Da gab’s doch in letzter Zeit einige Aufregung.“ „Warum ausgerechnet ich? Was geht mich das an?“ „Sie waren sein Freund.“ „Das ja – schauen Sie“, sagte Meyerlink einlenkend, „ich habe den Eindruck, Sie suchen am falschen Ort. Manfred wurde auf einem Müllplatz erschlagen, und…“ „Woher wissen Sie das?“ unterbrach ihn Heym. „Wie bitte?“ Meyerlink sah verblüfft auf. „Ach so, ja. Wir sind Nachbarn. Mein Garten grenzt an das Löfflersche Grund stück.“ „Das ist noch keine hinreichende Erklärung. Wann und von wem haben Sie es erfahren?“ „Heute früh, von Frau Mohn. Frau Mohn arbeitet vor mittags in unserem Haushalt. Sie kennt den Mann, der Manfred gefunden haben soll, er heißt Knochenkarl oder so ähnlich.“ „Sie wollten noch etwas über den Müllplatz sagen, ich hatte Sie unterbrochen.“ „Was wollte ich sagen? – Müllplatz? Ach so, ja, nach meiner Überzeugung können die Täter nur irgendwelche Rowdys sein, Asoziale oder ähnliches Gelichter. In der Richtung sollten Sie mal suchen.“ Heym hatte weder Lust noch Veranlassung, über diesen Vorschlag mit Meyerlink zu diskutieren. Er wandte sich dem Dramaturgen zu. „Sie haben sich noch gar nicht geäußert, Herr Kowals ki.“ „Ich? – Ja, das ist richtig. – Also, ich habe Löffler ja nur oberflächlich gekannt, eigentlich nur beruflich. Seine
private Sphäre entzieht sich meiner Einsicht, da habe ich überhaupt keine Ahnung. Und sonst, wenn ich mal gene rell etwas sagen darf, Manfred Löffler war einer unserer Besten, einer der hervorragendsten Menschendarsteller, ich meine Charakter…“ Kowalski unterbrach sich und sah stirnrunzelnd zur Tür, hinter der ein Grollen und Pol tern zu vernehmen war, überlagert von einer empörten Frauenstimme. Die Tür flog auf. Herein stampfte ein wohlbeleibter Mann mit schwarzer Mähne und blitzenden Augen. „Ich mich nicht entschuldige!“ gurgelte er. „Niemals! Ist er also tot, gut so. Gibt noch Gerechtigkeit in Welt. Mein bester Freund, wer hat kaputtgeschlagen den alten Bock! Oder wer sagt anderes?“ Herausfordernd blickte er in die Runde. Rademann faßte sich als erster. „Mein Gott, Ljuben! Red keinen Unsinn. Geh nach Hause.“ „Ich nicht nach Hause. Ich zahle Sekt für alle.“ Rade mann wies auf Heym. „Der Herr ist von der Kriminalpo lizei. Wir haben eine Besprechung.“ Ljuben erstarrte. Nur seine Augen funkelten noch im mer entsetzlich. „Oh, du Verfluchter!“ schrie er plötzlich, machte kehrt und stürmte aus dem Zimmer. „Wer war denn das?“ fragte Heym. Er hatte schon des öfteren erfahren, daß es beim Film seltsam zuging, aber dieser Auftritt übertraf dann doch seine Vorstellungen. Rademann winkte ab und setzte sich. „Das war unser Komponist Ljuben Bulkov. Normalerweise ein lieber harmloser Mensch. Nur manchmal geht das südländische Temperament mit ihm durch.“ „Mit dem ,alten Bock’ meinte er zweifellos Manfred Löffler.“
Kowalski lachte. „Das hat eine Vorgeschichte. Fragen Sie doch mal Frau Bulkov, die kann es sicher am besten erklären.“
7 Heym durchquerte das lange, düstere Gewölbe einer Hauseinfahrt, öffnete eine schwere Tür und stand dann in einem Hinterhof, der mit Katzenkopfsteinen ge pflastert war. An den Fachwerkwänden rankte Weinlaub, Fuchsien und gelbe Tagetes blühten vor den Fenstern. Der Hof beherbergte eine Tischlerwerkstatt eine Schmie de und einen alten Nußbaum. Tauben gurrten, es roch nach frischem Holz; ein Hammer pinkte. Eine überdachte Treppe führte zur Galerie im oberen Stockwerk. Heym stieg sie hinauf und fand an einer der Wohnungstüren ein ovales Porzellanschildchen mit dem Namen „Bulkov“. Er klopfte. Durch das halboffene Fenster neben der Tür drangen Küchendüfte, irgendwo spielte ein Radio „Mein Papagei frißt keine harten Eier“. Er klopfte noch einmal. „Kommen Sie ‘rein, die Tür ist auf.“ Heym trat in einen schmalen Flur, den ein mit Klei dungsstücken überladener Garderobenständer fast unpas sierbar machte. Auf dem Fußboden lagen allerlei Schuhe in wirrem Durcheinander. Links neben dem Eingang hing ein Vorhang aus bunten Glasperlenschnüren. Heym schob ihn auseinander und blickte in eine Wohnküche. Am Herd stand eine junge Frau im Dirndlkleid und war mit der Zubereitung eines Bratens beschäftigt. Sie hatte kastanienbraune Locken und schrägstehende grüne Au gen, die ihrem Gesicht etwas Katzenhaftes gaben. Noch
bevor Heym den Mund öffnen konnte, deutete sie mit der Kelle auf ihn und sagte: „Moment! Lassen Sie mich mal raten. Sie sind Inspektor Warnicke. Sie kommen von der Versicherung wegen des Brandlochs in der Couch.“ „Falsch, Frau Bulkov.“ Heym zeigte ihr seinen Dienstausweis. Sie las. Ihre Stupsnase mit den Sommersprossen begann sich mißtrau isch zu kräuseln. Dann sah sie auf und musterte den Hauptmann mit unverhohlener Neugier. „Polizei. – Hm. Ach ja, natürlich, ich weiß schon. Er ist Ihnen wieder einmal entwischt.“ „Wer ist wem entwischt?“ „Nun tun Sie doch nicht so“, sagte sie schmollend. „Mein armer Ljuben ist der Polizei entwischt.“ „Ich verstehe kein Wort.“ „Er kennt wirklich alle Regeln. Er kann die ganze Stra ßenverkehrsordnung auswendig, ich habe ihn hundertmal abgefragt. Aber wenn es drauf ankommt, macht er doch alles falsch. Das ist seine kleine Schwäche, das muß man verstehen.“ „Ja und?“ „Ja und – dann reißt er aus. Nicht etwa aus böser Ab sicht, nein, er kann nicht anders, er hat eine panische Angst vor Uniformen. Es ist ein Kindheitstrauma. Wenn er auch nur von weitem einen Polizisten sieht, möchte er sich schon in ein Mauseloch verkriechen. Eigentlich ist es ja traurig, aber ich finde es wahnsinnig komisch.“ Sie prustete los und schüttelte sich vor Lachen. „Was finden Sie daran so komisch?“ „Stellen Sie sich bloß mal vor, wie sie hinter ihm her sind, die gesamte Streitmacht mit Funkwagen und was
sie sonst noch haben. Sie veranstalten eine richtige Gangsterjagd, und sie kriegen ihn einfach nicht. In seiner Angst ist er schlau wie der Teufel. Wo hat er sich nicht schon überall versteckt. Auf einem Friedhof, in einem Krankenhaus, auf einem Fabrikgelände, in einem Müll container.“ Sie sank auf einen Stuhl, immer noch lachend, und an gelte nach ihrer Handtasche. „Also, wieviel kostet es? Oder müssen Sie ihn diesmal einsperren?“ Heym schüt telte den Kopf. Frau Bulkov schob mit dem Unterarm das Suppengrün auf dem Küchentisch zur Seite. „Entschuldigung. Bitte nehmen Sie doch Platz.“ „Danke.“ Heym setzte sich. „Das sind ja erstaunliche Geschichten, die Sie mir erzählen. Aber deswegen kom me ich nicht.“ Sie machte runde Augen. „Nein? Weswegen denn sonst?“ „Ist Ihnen der Schauspieler Manfred Löffler bekannt?“ „Ja, allerdings.“ „Gut, dann…“ „Ich weiß schon, ich weiß schon!“ rief sie und hüpfte ungeduldig auf ihrem Stuhl. Heym lächelte. ,Sie läßt einen einfach nicht zu Worte kommen’, dachte er. ,Na, der Herr Gemahl wird seine Freude dran haben’. „Also was wissen Sie?“ „Löffler hat meinen Mann angezeigt.“ „So! Weshalb denn?“ „Wegen Körperverletzung. Aber es ist meine Schuld. Ljuben kann gar nichts dafür.“
„Erzählen Sie das doch mal ein bißchen genauer.“ „Augenblick, ich muß nur schnell den Braten begie ßen.“ Sie sprang auf, begoß sorgfältig das Fleisch und kehrte dann an den Tisch zurück, in der Hand ein Glas Rotwein. „Möchten Sie auch einen Schluck? – Nein? – Also ich muß beim Kochen etwas trinken, sonst gelingt mir nichts. Hoffentlich stört Sie das nicht.“ „Durchaus nicht.“ Sie nickte und nahm einen kräftigen Zug. „Also was den Herrn Löffler betrifft: Mein Ljuben ist auf ihn rasend eifersüchtig. Ich geb zu, nicht so ganz ohne Grund, aber was er sich einbildet, ist natürlich übertrieben. Außerdem liegt die Sache schon zwei Monate zurück, ich habe Manfred Löffler seitdem gar nicht mehr gesehen. Vor ein paar Tagen nun kommt Ljuben stolz nach Hause und er klärt, er hätte Löffler endlich erwischt und ihm eine Ohr feige verpaßt. Ich habe nur gelacht. Ljuben benimmt sich zwar manchmal ein bißchen verrückt, er streitet gern und regt sich über alles furchtbar auf, aber eine Prügelei an zufangen, das habe ich ihm einfach nicht zugetraut. Dann entdeckte ich eine Schwellung an seinem Auge und dach te, vielleicht war es umgekehrt, vielleicht hat ihm Löffler eine runtergehauen. Und leider habe ich das auch ausge sprochen. Darauf geriet Ljuben schrecklich in Wut, rann te aus dem Haus und ließ mich mit dem Abendessen sit zen. Aber Gott sei Dank ist er nicht nachtragend. Am nächsten Morgen haben wir uns wieder versöhnt.“ „Sie sagten, das war vor ein paar Tagen. Wann genau?“ „Vorgestern.“ „Am Dienstag?“ „Ja.“
„Wo und um welche Zeit hat der Zwischenfall mit Herrn Löffler stattgefunden? Wann ist Ihr Mann nach Hause gekommen, wann ist er weggegangen? Und wann kam er wieder zurück?“ Frau Bulkov seufzte. „Mein Himmel, ist denn das alles so wichtig? Er will ja die Ohrfeige gar nicht leugnen.“ „Es ist wichtig.“ „Na schön. Es war am Nachmittag, gegen halb fünf. Die beiden sind sich zufällig auf dem Parkplatz des Stu dios begegnet. Ljuben kam ungefähr um Viertel vor sechs nach Hause. Etwa zehn Minuten später ist er wie der gegangen. Zurück kam er gegen ein Uhr nachts.“ „Wie hat Ihr Mann die Ereignisse auf dem Parkplatz geschildert?“ „Gar nicht. Zuerst ist er nicht dazu gekommen. Und am nächsten Tag wollte ich nicht mehr fragen, um ihn nicht noch einmal in Wut zu bringen.“ „Wo ist er in der Zeit zwischen sechs Uhr abends und ein Uhr morgens gewesen?“ „Wahrscheinlich in einer Kneipe. Er hatte einen hüb schen Affen, als er nach Hause kam. Gesprochen haben wir nicht darüber. Beim Frühstück hat er sich entschul digt, und damit war die Sache für mich erledigt.“ „Sie sagten, Ihr Mann wäre eifersüchtig auf Herrn Löff ler, und das nicht ganz ohne Grund. Können Sie mir den Grund erklären?“ „Das ist eine ziemlich lange Geschichte.“ „Stört mich nicht, ich höre gerne zu.“ „Bitte, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Es fing vor einem hal ben Jahr an, als Ljuben den Auftrag bekam, die Musik für einen Film zu machen, in dem Manfred Löffler die
Hauptrolle spielt. Gleich zu Beginn der Dreharbeiten ging ich einmal mit ins Studio, und da habe ich Löffler zum ersten Mal persönlich erlebt, vorher kannte ich ihn nur von der Leinwand. Ich gebe zu, er hat mich beein druckt, er ist zweifellos eine Persönlichkeit mit einer starken Ausstrahlung. Das habe ich ihm auch gesagt. Und daß ich ihn für einen großen, Schauspieler halte und ihn sehr bewundere. Wie man eben so etwas sagt, teils aus Überzeugung, teils aus Höflichkeit. Viel gedacht habe ich mir jedenfalls nicht dabei, und das war mein Fehler. Da mals wußte ich noch nicht, wie unglaublich eitel er ist.“ Frau Bulkov trank von ihrem Rotwein und lächelte iro nisch. „Von Stund an wurde ich ihn nicht mehr los. Er benahm sich, als hätte ich ihm eine Liebeserklärung ge macht. Noch am gleichen Tag lud er mich zum essen ein. Ich lehnte dankend ab. Das machte ihm nichts aus. In den folgenden Wochen rief er mich unermüdlich an. Anfangs fand ich es noch komisch, doch dann wurde mir seine Zudringlichkeit allmählich lästig. Ich ließ es ihn schließ lich wissen, aber es hat ihn nicht abgeschreckt. Er hielt sich für unwiderstehlich. Dann kam der neunte Septem ber. Vierzigster Jahrestag der Befreiung, Nationalfeier tag. Die Botschaft gab einen Empfang. Ljuben und ich hatten eine Einladung. Natürlich war auch eine Menge Prominenz erschienen, unter anderen Manfred Löffler mit Bettina Sommer, seiner zukünftigen Frau. Doch das hinderte ihn nicht, mit mir sofort wieder einen Flirt anzu fangen. Ich versuchte ihn zu ignorieren, leider vergeb lich. Offenbar hatte er schon zu viel Sekt getrunken, er wurde handgreiflich, und da ich keinen Skandal wollte, mußte ich nachgeben und mit ihm tanzen.
Indessen hatte Bettina Sommer meinen Mann aufge hetzt, der mit einigen Landsleuten in der Kellerbar der Botschaft saß. Ljuben kam sofort gelaufen, und Sie kön nen sich vorstellen, wie er reagiert hat. Er wollte Löffler auf der Stelle zur Rechenschaft ziehen, ihn verprügeln, den Hals umdrehen, die Arbeit am Film hinwerfen und dergleichen Unfug mehr. Wir konnten die beiden dann irgendwie auseinanderbringen. Es blieb mir nichts übrig, als mit Ljuben in ein Taxi zu steigen und nach Hause zu fahren. Natürlich hat er getobt, aber schließlich habe ich ihn einigermaßen beruhigen können, indem ich ihm er klärte, es sei wirklich nichts passiert, was seine Ehre ver letzt hätte.“ „Und damit gab er sich zufrieden?“ „Nun, zähneknirschend. Jedenfalls ließ er sich zu dem Versprechen herab, vernünftig zu sein und sich von Man fred Löffler fernzuhalten. Zur Sicherheit habe ich noch Herrn Meyerlink angerufen, den Regisseur, und ihn gebe ten, dafür zu sorgen, daß sich Ljuben und Löffler vorerst nicht über den Weg laufen. Und das ist ja auch ganz gut gegangen, wenigstens bis vorgestern.“ Frau Bulkov seufzte und trank ihr Glas aus. „Die Ohrfeige war gewiß eine Riesendummheit, aber wer auch nur ein bißchen Gefühl für Gerechtigkeit hat, der wird verstehen können, daß sie nicht ganz unverdient war.“ Heym gab darauf keine Antwort, er dachte nach. Der Augenblick war gekommen, Frau Bulkov den Tatbestand mitzuteilen. Er wollte es möglichst schonend tun, hatte aber zugleich zu bedenken, daß allzuviel Rücksichtnah me der Wahrheitsfindung hinderlich sein könnte. „Frau Bulkov“, begann er, „Manfred Löffler hat ei
ne…“ „Das weiß ich doch schon“, unterbrach sie ihn wieder. „Er hat eine Anzeige gemacht. Na gut. Wir werden für die Folgen einstehen.“ „Nein!“ sagte Heym gereizt. „Hören Sie doch erst ein mal zu.“ Auch seine Geduld war nicht grenzenlos. „Wieso? Dann hat er keine Anzeige gemacht?“ „Das sage ich doch. Manfred Löffler hat keine Anzeige gemacht.“ „Ja was hat er denn sonst gemacht?“ „Gar nichts. Er ist vorgestern abend umgebracht wor den.“ Frau Bulkov starrte den Hauptmann ungläubig an, mit weit aufgerissenen Augen. Nur langsam begriff sie die. Bedeutung seiner Worte. Dann schlug sie entsetzt die Hände vor den Mund.
8 Das Büro war überheizt. Heym hatte die Fens terflügel geöffnet, um etwas Erfrischung zu schaffen, aber der feuchtkalte Luftzug an seinem Rücken behagte ihm auch nicht. Also stand er auf und schloß sie wieder. „Nun, was halten Sie von diesem Herrn Bulkov?“ fragte er, als er an den Schreibtisch zurückkehrte. „Ich weiß nicht“, sagte Unterleutnant Kabel und schob einen Drops in den Mund. „Hat er überhaupt ein Alibi?“ „Nach dem Ärger mit seiner Frau ist er angeblich über eine Stunde durch den Regen gelaufen. Zur Abkühlung, wie er sagte. Gegen neunzehn Uhr dreißig kehrte er in sein Stammlokal ein, wollte nur etwas essen, geriet dann aber in ein Gespräch mit einem Ehepaar aus Sachsen. Sie
begannen Wodka zu trinken. Ehe er sich versah, war es eine halbe Stunde nach Mitternacht. Das Restaurant schloß, er ging nach Hause. Die Zeit seines Erscheinens und das Gespräch mit dem Ehepaar bestätigt die Kellne rin.“ „Besitzt er einen Wagen?“ „Einen alten Renault. Die Tatzeit liegt zwischen neun zehn und zwanzig Uhr. Seine Wohnung ist rund fünfzehn Kilometer vom Tatort entfernt. Um achtzehn Uhr ist er von zu Hause fortgegangen, um neunzehn Uhr dreißig war er im Lokal. In eineinhalb Stunden konnte er bequem hin – und zurückfahren und hätte noch genügend Zeit gehabt, sich mit Löffler zu treffen.“ „Es muß sich doch feststellen lassen, ob er den Wagen benutzt hat“, sagte Kabel, „Eben nicht. Er hat keine Garage, er stellt den Renault über Nacht auf einen öffentlichen Parkplatz. Dort stehen an die hundert Fahrzeuge. Unter diesen Umständen einen Zeugen zu finden, ist so gut wie unmöglich.“ „Wie äußert er sich zu dem Ohrfeigen-Drama?“ „Er stellt es so dar: Vorgestern nachmittag war er zu ei ner Orchesterprobe im Studio. Sie dauerte bis sechzehn Uhr fünfzehn, das konnte ich nachprüfen. Gegen sech zehn Uhr dreißig, es wurde bereits dunkel, begab er sich auf den Heimweg. Dabei sah er Löffler auf dem Studio gelände. Er ist ihm bis zum Parkplatz gefolgt, um ihm die Meinung zu sagen wegen des Vorfalls in der Botschaft. Löffler ließ es aber zu keinem Gespräch kommen, schloß seinen Volvo auf und sagte nur verächtlich ,Scher dich zum Teufel, du Kameltreiber!’ Bulkov sah rot. Nach fünfhundert Jahren Kampf gegen das Türkenjoch habe
niemand das Recht, ihn Kameltreiber zu schimpfen, schrie er und gab Löffler eine Ohrfeige. Der sprang in den Wagen und fuhr davon. In einiger Entfernung hielt er noch einmal an und rief durch das Fenster ,Das hat ein Nachspiel! Verlaß dich drauf!’ Bulkov behauptet steif und fest, Löffler seitdem nicht mehr gesehen zu haben.“ „Einen Zeugen hat er natürlich nicht.“ „Nein. Außer Löffler war niemand in der Nähe. Erkun digungen im Studio haben bisher nichts Gegenteiliges ergeben.“ „Und woher stammt die Schwellung an seinem Auge?“ „Erregt durch den Zusammenstoß mit Löffler, ist er beim Einsteigen in seinen Wagen gegen die Dachkante gestoßen, sagt er.“ „Wie erklärt er den Auftritt im Büro des Produktions leiters Rademann?“ „Damit habe er nur ausdrücken wollen, daß er trotz Löfflers Tod die Ohrfeige nicht bereue.“ Kabel rieb nachdenklich seinen Nasenrücken. „Es gibt noch ein paar Unklarheiten. Trotzdem, ich glaube, der Mann sagt die Wahrheit.“ „Glauben Sie es, oder können Sie es auch begründen?“ „Wenn er etwas mit der Tat zu tun hatte, wäre er nicht so dumm, mit einer Szene wie der in Rademanns Büro den Verdacht auf sich zu lenken.“ „Auf den ersten Blick scheint das einzuleuchten. Aber vielleicht wollte er uns genau zu dieser Schlußfolgerung verleiten: Wer sich selbst verdächtig macht, kann nicht der Täter sein.“ „Wenn er der Täter ist, wäre es klüger gewesen zu schweigen. Den Verdacht auf sich zu lenken, ist immer
ein Risiko.“ „Er weiß ja nicht, ob es nicht doch einen Zeugen gibt für den Streit auf dem Parkplatz, oder ob Löffler nicht irgendwo davon erzählt hat. Also offenbart er es lieber selbst, das macht einen besseren Eindruck, als wenn wir es ohne seine Hilfe erfahren. Die erfolgreichsten Lügner sind Leute, die sich so dicht wie möglich an die Wahrheit halten.“ „Sie unterstellen ihm eine ziemlich komplizierte Denkweise, dazu braucht man einen kühlen Kopf. Mir scheint, Bulkov neigt eher zu impulsiven Handlungen. Weshalb hat er Löffler nicht gleich auf dem Parkplatz niedergeschlagen?“ „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ein impulsiver Mensch nicht unbedingt dumm sein muß.“ „Und wie sollte er Löffler veranlaßt haben, sich mit ihm auf dem Müllplatz zu treffen? Insbesondere nach der Ohrfeige?“ „Die Ohrfeige ist nicht verbürgt. Könnte nicht Bulkov etwas gegen Löffler in der Hand gehabt und ihn damit zu einer Aussprache gezwungen haben?“ Kabel schüttelte skeptisch den Kopf, „Was ist denn schon Großartiges geschehen? Löffler hatte etwas zuviel getrunken und hat Bulkovs Frau genötigt, mit ihm zu tanzen. Na schön! Das war vor zwei Monaten. Und jetzt geht Bulkov hin und schlägt ihn dafür tot.“ „Mancher Totschlag wurde schon aus geringeren Grün den begangen.“ „Daß Bulkov in der Wut tätlich wird, will ich noch glauben. Daß er aber danach sein Opfer bewußtlos lie genläßt, eine ganze Nacht in Kälte und Regen, dazu an
einem Ort, wo es so schnell niemand finden kann, nein, das geht mir zu weit, das wäre ja Mord. Dafür ist das Motiv zu schwach.“ „Was wissen wir über Bulkovs Motive? Es wäre doch denkbar, daß Löffler auch in letzter Zeit seine Annähe rungsversuche fortgesetzt hat, und zwar mit mehr Erfolg. Vielleicht hat Frau Bulkov nur einen Teil der Wahrheit gesagt und den Rest wohlweislich verschwiegen? Solan ge diese Fragen nicht geklärt sind, können wir Bulkov als Tatverdächtigen nicht streichen.“ „Soll ich mich darum kümmern?“ fragte Kabel. „Nicht nötig. Ich habe schon den Genossen Reuter damit beauf tragt.“ „Wie steht es eigentlich mit Löfflers anderen Kollegen? Existieren da auch Motive?“ „Zunächst taten sich die Herren schwer, niemand schien etwas zu wissen. Aber so edel und selbstlos, wie sich Löffler in seinen Memoiren darstellt, ist er offenbar nicht gewesen. Bei seinem Aufstieg hat er kräftig mit den Ellenbogen gearbeitet, und das führte zu Reibungen mit einigen Schauspielern, mit dem Regisseur Bullerjahn zum Beispiel und auch mit Meyerlink. Aber das scheint mehr oder weniger normal zu sein. Einen konkreten An haltspunkt für einen Verdacht konnte ich nicht finden.“ Heym unterbrach sich und zündete sich seine Pfeife an. Dann fuhr er fort: „Übrigens, der Regisseur Meyerlink ist Löfflers unmittelbarer Nachbar. Am Abend der Tat saß er von sechs bis zehn Uhr in seinem Zimmer, um die Dreh arbeit für den nächsten Tag vorzubereiten. Das ist ein wenig dünn, aber wenn jemand ein bombensicheres Alibi hat, macht mich das eher mißtrauisch.“
„Apropos Alibi. Hans-Peter Löffler hat auch nur ein sehr dünnes. Er ist heute pünktlich um neun Uhr hier er schienen, um seine Aussage zu machen. Möchten Sie das Protokoll lesen?“ „Später. Oder hat sich noch etwas Neues ergeben?“ „Eigentlich nicht. Am Dienstagnachmittag war er in Potsdam, anschließend besuchte er einen Freund. Um neunzehn Uhr fünfzehn kam er mit dem Bus zurück, stieg aus an der Haltestelle Schleusenweg und konnte sogar noch den Fahrschein vorweisen. Etwa fünf Minu ten später war er zu Hause. Er ging sofort in sein Zim mer, wo er in einem Buch von Bulgakow las, ,Der Meis ter und Margarita’ und dabei eine Flasche Klaren aus trank.“ „Eine ganze Flasche?“ „Ja. Er sagt, er mußte seinen Ärger runterspülen, weil er die Arbeitsstelle in einem Antiquariat, die ihm schon so gut wie versprochen war, nicht bekommen hat.“ „Haben Sie das überprüft?“ „Es stimmt. Ich habe angerufen.“ „Und er hat das Haus an diesem Abend nicht mehr ver lassen?“ „Angeblich nicht.“ „Hm, na ja. – Was wußte er über die Änderung des Testaments?“ „Sein Vater hätte vorgehabt, am Tag nach der Hochzeit die Neuverteilung der Erbschaft zu verkünden, vor allem sollte es um das Landhaus in Altengolm und um die Ab findung der geschiedenen Frau Löffler gehen. Über Ein zelheiten konnte er nichts sagen, weil ihn die Angelegen heit nicht interessiert. Er meinte, wir sollten den Anwalt
Specht fragen.“ „Das werden wir tun. Lassen Sie sich bei Doktor Specht einen Termin geben, möglichst noch heute. Ich möchte wissen, welche Änderungen Löffler geplant hat te, zu wessen Nachteil und zu wessen Vorteil.“ „Wird gemacht“, sagte Kabel und gestattete sich einen zweiten Orangendrops. „Haben Sie schon einen Hinweis auf den Besitzer des Fahrradanhängers?“ „Leider nicht. Die Sache ist schwieriger, als befürchtet. Leutnant Sitte hatte eine Liste der nach seiner Meinung in Frage kommenden Personen angefertigt, aber sie reichte nicht aus. Als wir mit dem Vorsitzenden der Spar te Kleintierzüchter sprachen, waren wir überrascht, wer alles sich heutzutage Viehzeug hält. Neben dem klassi schen Schrebergärtner auch Ärzte, Wissenschaftler, In genieure, Künstler; man kann sagen, fast jeder, der ein Stückchen Garten hat. Und damit fangen die Schwierig keiten erst richtig an. Manche Leute haben Kaninchen, aber keinen Anhänger, andere haben einen Anhänger, aber keine Kaninchen. Oft genug muß man dreimal zur gleichen Adresse laufen, ehe man eine brauchbare Ant wort erhält. Entweder, es ist niemand zu Hause, oder der Anhänger ist ausgeliehen, und die Anwesenden wissen nicht, an wen. Oder der Anhänger ist einfach verschwun den, niemand kann sich erinnern, wo er geblieben ist. Man muß erst einmal nachforschen, zum Beispiel den Opa fragen, aber der ist gerade verreist, kommt erst in drei Tagen wieder oder der Teufel weiß wann. Und so geht es immer weiter, diese elende Klinkenputzerei macht mich fertig.“
„Nun ja, das sind die Härten des Berufslebens, Genosse Kabel. Sie wissen doch so gut wie ich, daß wir auf den Zeugen nicht verzichten können.“ Kabel seufzte. „Wie es aussieht, wird es wohl noch eine Woche dauern, bis wir ihn haben.“ „Kommt überhaupt nicht in Frage. Wenn sich bis mor gen kein Erfolg einstellt, werden wir für das Wochenende eine Suchaktion organisieren mit allen verfügbaren Kräf ten.“ Kabel schlug die Augen zur Zimmerdecke auf. „Ich weiß, es paßt Ihnen nicht. Sie gehen sonnabends lieber auf den Fußballplatz, um zu randalieren.“ „Woher wissen Sie das schon wieder?“ brummte Kabel. „Eine markante Erscheinung wie Sie läßt sich nur schwer übersehen. Daran sollten Sie denken, wenn Sie in der Öffentlichkeit auftreten.“ „Würden Sie mich eventuell wissen lassen, wie der Zu träger heißt? Ich möchte ihn über meine Rechte als Pri vatperson aufklären.“ „Er heißt Dietmar.“ „Etwa Ihr Sohn?“ „Erraten.“ „Ach so, Entschuldigung.“ „Dietmar hat mir von Ihren Aktionen eine sehr plasti sche Schilderung geliefert. Sie und Ihre Fans müssen ja drauf und dran gewesen sein, den Schiedsrichter in Stü cke zu reißen.“ „Von wegen Schiedsrichter!“ protestierte Kabel. „Drei Abseitstore hat der Kerl gegeben, gegen den Einspruch der Linienrichter. Drei Abseitstore! Das muß man sich mal vorstellen. Vermasselt uns den Aufstieg in die Be zirksliga. Wer dabei ruhig bleibt, der hat kein Herz.“
„Na wenn das so ist“, sagte Heym und lächelte. „Wel che neuen Erkenntnisse gibt es denn bei der Gerichtsme dizin?“ Kabel öffnete einen gelben Aktendeckel, der auf seinem Schreibtisch lag. „Die Analyse des Mageninhalts hat den ersten Befund bestätigt. Keine Vergiftung, kein Alkohol. Die Todesursache ist ein epidurales Hämatom, verursacht durch einen Schlag auf die Schädeldecke. Mit großer Wahrscheinlichkeit verlor Löffler sofort nach dem Schlag das Bewußtsein und hat es bis zu seinem Tode nicht wiedererlangt. Bodenkälte und Regen haben den Körper unterkühlt. Die Ausbildung des Hämatoms wurde dadurch verlangsamt, was den Tod verzögert hat, ihn jedoch nicht verhindern konnte. Hätte Löffler rechtzeitig Hilfe bekommen, etwa innerhalb von zwei Stunden nach der Tat, wäre er vermutlich gerettet worden.“ „Und wie?“ „Mittels einer Trepanation. Die Schädeldecke wird durchbohrt und die Blutstauung abgesaugt. Ein relativ harmloser Eingriff mit großen Erfolgsaussichten. Habe ich mir gerade im Institut erklären lassen.“ „Und wie steht es mit dem Volvo?“ „Fingerspuren von fünf Personen konnten identifiziert werden. Die meisten stammen von Manfred Löffler, die übrigen von Bettina Sommer, Hans-Peter Löffler, Frau Willroth und Frau von Oxkill. Nach übereinstimmender Aussage der vier letztgenannten Personen ist aus dem Wagen nichts gestohlen worden. Es fanden sich auch keine fremden Gegenstände. Das ist leider schon alles.“ „Bleibt noch das Kistenbrett.“ „Das Blut daran stammt eindeutig vom Opfer. Andere Spuren konnten trotz gründlicher Untersuchung nicht
gesichert werden. Zu rauhe Oberfläche. Falls überhaupt Fingerspuren vorhanden waren, hat sie der Regen ver dorben.“ „Das dachte ich mir“, sagte Heym resignierend. „Es wäre ja auch zu schön gewesen: ein Tatwerkzeug mit Visitenkarte.“
9 Nachmittagsstille. Fernab rumorte die Stadt. Mit monotonem Plop-plop-plop tropfte Wasser in die Regentonne. Erwin Sauerknecht kniete unter dem Küchenfenster, schob vorsichtig eine Ecke der Gardine zur Seite und spähte hinaus in den Vorgarten. Nebel hing im kahlen Geäst der Obstbäume. Jenseits des Schlackeweges, auf einem Streifen umzäunter Wiese, bewegten sich ein paar weiße Flecke, die Gänse der Witwe Kulicke. Ansonsten war nichts zu sehen, wie aus gestorben lag die Laubenkolonie in der trüben Dämme rung. Aufatmend ließ sich Erwin auf den Fußboden zurück sinken, schob das Kissen unter den Hintern und lehnte sich gegen die Wand. Vor einer Stunde hatte es geklingelt. Er war in den Flur getappt, war auf den Schemel gestiegen, um nach altem Brauch durch das kleine Ausstellfenster über der Garde robe erst einmal die Lage zu peilen – und wäre fast vom Hocker gefallen. Draußen vor dem Gartenzaun hatte der ABV Sitte gestanden, neben ihm ein junger Hüne in Bas kenmütze und braunem Anorak. Erwin war ins Wohnzimmer gerobbt, hatte den Fernse
her ausgeschaltet und sich hinter dem Sofa versteckt. Als alles ruhig blieb, war er in die Küche gekrochen und hat te seinen Beobachtungsposten unter dem Fenster bezo gen. Dort hockte er nun und fragte sich zum hundertsten Male: ,Was wollen die Bullen? Was wissen die? Wann werden die wiederkommen? Hatte ihn einer verpfiffen? Knochenkarl vielleicht? Hatte ihn jemand gesehen, als er mit dem Hänger in das Wäldchen gegangen war? Hatten sie seine Spuren enträtselt?’ Bei dieser Vorstellung ent rang sich ein gequältes Stöhnen seiner Brust. Ob er nicht lieber abhauen und in Würzen bei Schwager Manfred unterkriechen sollte, bis sie hier den richtigen Mörder gefunden hatten? Aber sicher bewachten sie schon alle Bahnhöfe. Und seine Erna würde ihn zu Hühnerfutter verarbeiten, wenn er ohne Abmeldung verschwand. In den dreißig Jahren Ehe hatte er sich so eine Eigenmäch tigkeit noch niemals erlaubt. Aber irgend etwas mußte geschehen, irgendwie mußte er sich Gewißheit über den Stand’ der Dinge verschaffen. Noch so eine Nacht wie die letzte würde er nicht durch stehen. Er hatte ja kaum ein Auge zugetan, war bei jedem Geräusch aufgefahren, hatte Blut und Wasser geschwitzt und sich gesagt, jetzt ist es soweit, jetzt holen sie dich. Das tatenlose Herumsitzen würde ihn noch um den Verstand bringen und seine letzte Kraft rauben. Er mußte etwas tun, aber was? In seinem Hirn entstand eine vage Idee, verdichtete sich und – na klar, Frau Mohn. Die konnte ihm vielleicht helfen. Gestern abend hatte sich die Nachricht vom Mord an dem Schauspieler Manfred Löffler wie ein Lauffeuer durch die Laubenkolonie verbreitet. Knochenkarl war der
Held des Tages, fast hätte er doch den Mörder gefangen! Erna war randvoll mit diesen Neuigkeiten nach Hause gekommen, doch er, Erwin, war gegen seine Gewohnheit ziemlich wortkarg geblieben, aus lauter Furcht, er könnte ein Wort zuviel sagen und sich verraten. Bei Ernas Be richt war der Name Trude Mohn gefallen, eine Bekannte, die in der Nachbarschaft des Ermordeten als Haushalts hilfe arbeitete und Einzelheiten wissen mußte, an die be stimmt nicht jeder herankam. Kriechend verließ Erwin die Küche. Im Flur war es dunkel. Er öffnete leise den Kleiderschrank und tastete nach seiner alten Lodenjacke. Nun noch den schwarzen Kalabreser auf, den er sonst nur zum Fasching trug, und kein Deibel würde ihn erkennen. Durch die Hintertür schlüpfte er in den Hof, schloß ab und schob den Schlüssel zwischen die Holzscheite, die an der Hauswand aufgestapelt waren. Geduckt huschte er am Schuppen vorbei und an den Kaninchenställen, durch den Garten, dann am Schilfrand entlang hinunter zum Kanal, wo Weidenbüsche und Brombeergestrüpp De ckung boten. Während er durch das Gelände pirschte, nach allen Seiten sichernd, stiegen alte Erinnerungen in ihm auf. Flandern einundvierzig. Stoßtruppunternehmen zur Ergänzung der Proviantvorräte. So manche fette Sau war ihnen in die Hände gefallen, vom Federvieh gar nicht zu reden. Erwin grinste, seine düstere Stimmung begann sich zu lichten. Oh du schöner Westerwald, über deine Höhen pfeift der Wind so kalt… Mit neuerwachtem Selbstvertrauen erreichte er das Häuschen der Frau Mohn. Es war aus Holz, hatte ein schwarzgeteertes Pult dach und ähnelte mehr einem Schuppen als einer menschlichen Behausung. Der Zaun war am Zusammen
brechen, von den schiefen Fensterläden blätterte die Far be. ,Fehlt der Mann’, dachte Erwin, ,sieht man gleich’. Er patschte durch den aufgeweichten Gartenpfad und bum merte an die Tür. Neben der Tür ging ein schmales Fenster auf, ein graumelierter Lockenkopf erschien. „Huch! Wer sind denn Sie?“ „Kennen Sie mir nich, Frau Mohn? Ick bin doch der Mann von der Erna, die wo mit Ihre Schwester Käthe inne Blechbude arbeitet.“ „Ach Sie, Herr Sauerknecht! Was haben Sie fürn komi schen Hut auf?“ „Det is kein Hut, det is ein Südwester. Von wegen det schlechte Wetter.“ „Wirklich? Na, dann kommen Sie doch erst mal ‘rein.“ Eine Kette klirrte, die Haustür öffnete sich knarrend. Er win kratzte auf dem Eisenrost seine Schuhsohlen ab und trat in den Flur. „Also worum geht’s denn, Herr Sauerknecht?“ „Ja, wissen Sie…“ Verdammt, jetzt hatte er sich ja ü berhaupt nicht überlegt, womit er anfangen sollte. Er konnte doch nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, das wäre ja verdächtig. Er klopfte sich umständlich die Re gentropfen von seiner Lodenjoppe und begann zu hüs teln. „Nee, also det Wetter, det wird ooch immer schlech ter. Kommt von dem Schmok. Ick hab’s im Hals, wissen Se, und det werde ick überhaupt nich mehr los.“ Frau Mohn nahm ihm die Joppe ab und hängte sie an einen Haken. „Da haben Sie recht, Herr Sauerknecht, das Sauwetter macht einem ganz schön zu schaffen. Beson ders, wenn man nicht mehr die Jüngste ist.“
„Na, na, nu übertreiben Sie mal nich, Frau Mohn. Ja al so, weswegen ick komme – wenn ick mir recht erinnere, haben Sie doch Karnickel. Und ick brauchte mal ein biß chen frischet Blut in meine Zucht, da dachte ick mir…“ „Das war mal, Herr Sauerknecht, das war mal. Da sind Sie zwei Jahre zu spät dran. Mir ist die Viecherei zuviel geworden. Jeden Tag das Futter schleppen, die Ställe ausmisten, und wer soll mir die armen Tiere schlachten? Ich kann doch kein Blut sehen.“ „Ach – diss is aber schade.“ Erwin trat von einem Fuß auf den anderen und wußte nicht weiter. „Wir müssen ja nicht hier im Flur rumstehen. Immer ‘rein in die gute Stube.“ Gertrud Mohn führte Erwin ins Wohnzimmer und rückte ihm einen Sessel zurecht. „So, nun nehmen Sie erst mal Platz.“ Sie war eine rundliche Frau Mitte der Fünfzig und trug über ihrem geblümten Kleid einen hellroten Nylonkittel. Erwin ließ sich in das Polster sinken, warf einen Blick in die Runde, rieb sich die Hände und nickte anerkennend. „Allet wat recht is, Frau Mohn, gemütlich haben Sie’s hier, sehr gemütlich. Und mollig warm. Haben Sie det selber gemacht, die ville Kissen aufm Sofa und die Pup pen und so?“ „Was soll man denn den ganzen Abend machen? Ich kann nicht bloß so vorm Fernseher sitzen, da stricke ich eben, Pullover und Kissen und was gerade so kommt.“ „Jaja, fleißig wie’n Bienchen. Und trotzdem immer noch janz alleine hier in det schmucke Häuschen.“ „Sind ja man erst drei Jahre, Herr Sauerknecht. Und wer weiß, vielleicht findet sich wieder einer. In meinem Alter soll man nichts überstürzen.“
„Also wenn man bedenkt, wat so alles passiert. Mal ehrlich, wenn ick eine alleinstehende Frau wäre, also ick hätte Angst, richtiggehend Angst. Wo sie doch vorges tern erst hier ganz in der Nähe…“ Frau Mohn schlug mit der Faust auf den Tisch. „Da bringen Sie mich auf das richtige Thema, Herr Sauer knecht! Von hinten auf einen wehrlosen Menschen ein dreschen, eine riesengroße Schweinerei ist das! Dabei war der Herr Löffler so ein feiner Mensch, dauernd im Fernsehen und trotzdem kein bißchen eingebildet. Hat mich immer als erster gegrüßt, wo er das eigentlich gar nicht nötig hätte. Ich könnte heulen, wenn ich daran den ke.“ Sie zog ein Taschentuch aus dem Kittel und tupfte sich die Augen. „Und dann kommt so ein Strolch und schlägt ihn einfach tot und will ihn aufm Fahrradanhänger weg schleppen und irgendwo verscharren.“ „Verscharren? Wieso denn det?“ „Hat mir der Fröhlich Knochenkarl haarklein erzählt. Beinahe hätte er ja selber noch dran glauben müssen. Weil er den Saukerl gestört hat, wie der die Leiche in einen Sack stecken wollte.“ „Na det is doch Blödsinn! Ein erwachsener Mensch paßt in keinen Sack. Jedenfalls nicht in einen normalen.“ „Aber wenn ich es Ihnen doch sage! Zersägen wollte er ihn!“ „Zersägen? Det ick nich lache. Der hatte ja gar keine Säge.“ „So? Woher wissen Sie denn das?“ empörte sich Frau Mohn. „Waren Sie vielleicht dabei? – Na also! Auf dem Hänger lagen ein alter Sack und eine rostige Säge. Der
Fröhlich hat es mit seinen eigenen Augen gesehen.“ „Wat hat denn Fröhlich sonst noch gesehen?“ „Na alles!“ „Alles?“ Erwin erschauerte. „Hat er auch den Mann er kannt?“ „Was für einen Mann?“ „Den mit dem Fahrradanhänger.“ „Sie meinen den Mörder! Nein, leider nicht. Aber die Polizei wird ihn trotzdem kriegen, und dann gnade ihm Gott.“ „Wie wollen sie den schon kriegen?“ „Die fragen jetzt überall ‘nun, wo ein Hänger fehlt. Und dann machen sie Haussuchung, finden die goldene Uhr und die Brieftasche von dem Herrn Löffler und schwupp – schon ist er geliefert.“ „Die Brieftasche hat man ihm geklaut und ‘ne goldene Uhr? Also deswegen hat man ihn umgebracht?“ „Genau so ist es.“ „Und wenn er nun die Sachen gar nicht hat?“ „Also Herr Sauerknecht, nun hören Sie mal gut zu!“ Frau Mohn stützte die Ellbogen auf den Tisch, nahm Er win bei der Weste und zog ihn dicht an sich heran. „Was ich Ihnen jetzt sage, das weiß ich aus allererster Quelle, eigentlich dürfte ich es gar nicht erzählen. Ich habe mit der Lina geredet, die bei den Löfflers seit fünfzehn Jah ren in Dienst ist, und die schwindelt nicht. Die geht näm lich zweimal in der Woche zum Beten. Und selbige Lina Willroth hat mir wörtlich gesagt, daß sie den Herrn Löff ler bloß wegen der goldenen Uhr und der Brieftasche mit dem vielen Geld drin ermordet haben. So! Ist das nun
klar?“ Sie ließ Erwin los und blies sich eine Locke aus der Stirn. „Und wenn die Polizei auch nichts findet, weil er es irgendwo vergraben hat, das macht gar nichts. Haupt sache, sie können ihm beweisen, daß es sein Hänger ist. Dann stecken sie ihn lebenslänglich in den Knast. Ja wohl, der sieht keine Sonne mehr. Und eigentlich ist das noch viel zuwenig. Die Rübe sollten sie ihm abhacken, oder ihn auch mit ‘nem Brett totschlagen, genau wie er es gemacht hat. Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ Erwin hielt sich die Ohren zu und stöhnte herzerwei chend. „Ist Ihnen nicht gut, Herr Sauerknecht? Sie sehen plötzlich so grün aus.“ „Ick weeß ja auch nich, mir is ganz komisch im Ma gen.“ „Nun machen Sie mir bloß nicht schlapp. – Klar, als ich das erstemal von dem Mord gehört habe, war mir auch ein bißchen schwummerig. Wollen Sie vielleicht einen Pfeffi? Der hilft immer.“ „Könnte nischt schaden“, flüsterte Erwin. Frau Mohn erhob sich, holte aus der Anrichte zwei Gläser und eine Flasche mit einer ölig-grünen Flüssigkeit und schenkte ein. „Dann wollen wir mal. Auf die Gesundheit!“ Sie trank ihr Glas aus und verdrehte genießerisch die Augen. „Nicht schlecht, sprach der Specht. Noch ‘nen Kleinen? Auf einem Bein kann man nicht stehen.“ Erwin nickte, Frau Mohn füllte nach. „Greifen Sie zu. Was haben Sie denn? Ihnen zittern ja die Hände. Mein Gott, und so was nennt sich nun das starke Geschlecht.“ Sie schenkte zum drittenmal ein. „Mein Vater sagte im
mer, bei uns kommt kein Tropfen Alkohol auf den Tisch – wenn wir vorsichtig eingießen. Na ja, der mußte es wis sen, der war bei der Reichsbahn. Aber Spaß beiseite, wa rum sind Sie denn so verstört, Herr Sauerknecht?“ „Mir geht das alles im Kopp ‘rum, Frau Mohn, die gan ze Geschichte. Wie’n Mühlrad. Überlegen Sie doch mal, wenn det nun ein Unschuldiger is, ick meine, der mit den Hänger. Wenn der nun bloß ganz zufällig vorbeigekom men is,“ „Was Sie nicht sagen! Zufällig? Vielleicht hat er den Herrn Löffler auch bloß zufällig erschlagen, was? Und ihn zufällig beklaut, wie?“ „Aber solche Zufälle gibt’s doch!“ „Nun machen Sie mal ‘nen Punkt!“ sagte Frau Mohn und knallte ihr leeres Glas auf den Tisch. „Warum ist er denn abgehauen? Warum hat er nicht die Polizei geru fen? Weil er ein anständiger Mensch ist? Weil er ein rei nes Gewissen hatte? Nee, der Schubiack wußte ganz ge nau, warum er getürmt ist. Denken Sie bloß an die Säge und den Sack.“ „Der Sack, der Sack! Er hätte ja auch was auskippen können. Also wenn in dem Sack was drin war, ein biß chen Abfall vielleicht, den er schnell mal loswerden wollte. Das war doch ein Müllplatz, nich wahr? Verste hen Sie nich, könnte doch sein?“ Frau Mohn schob ihm ein randvolles Glas zu. „Hier! Sie müssen sich erst mal mit ‘nem Doppelten die Brille putzen. Sie bringen ja schon alles durcheinander. Prost! Also nichts für ungut, Herr Sauerknecht, aber was Sie da reden, das ist doch der reinste Unsinn. Überlegen Sie mal selbst: Sie sind der Mörder, und Sie haben…“
Erwin fuhr wie elektrisiert aus seinem Sessel auf. „Ick doch nicht!“ keuchte er. „Ick bin doch nicht der Mörder! Ick habe bloß…“ „Nein, nein Herr Sauerknecht! Nur so, als Beispiel, verstehen Sie richtig. Ich meine, wenn Sie der Mörder wären, dann hätten Sie Ihr Opfer auch nicht einfach so rumliegen lassen. Dann hätten Sie Ihren Hänger ge holt…“ „Hören Sie auf! Solche Beispiele kann ick nich vertra gen, det geht mir zu weit!“ Erwin bebte am ganzen Kör per. „Ist ja schon gut, war doch keine böse Absicht. Sie sind ja ganz aus dem Häuschen. Setzen Sie sich wieder hin, bitte!“ „Nee danke, mir reicht et. Mit so wat macht man keine Scherze, Frau Mohn.“ „Nun trinken Sie noch einen, das beruhigt die Nerven. Daß Sie so empfindlich sind, kann doch keiner wissen.“ Erwin ließ sich langsam in den Sessel nieder und starrte vor sich hin. Der Schreck saß ihm in den Knochen. Das Weib hatte ihn tatsächlich so weit gebracht, daß er sich um ein Haar verplappert hätte. Er mußte hier ‘raus, wer weiß, was die noch für Fragen stellte. Vorsichtig tastete er nach seinem Glas, leerte es mit ei nem Schluck und stemmte sich aus dem Sitz. „So, nun muß ick aber machen, daß ick nach Hause komme. Det janze Gequatsche bringt nischt ein.“ „Na, wie Sie meinen“, sagte Frau Mohn. Er war schon etwas unsicher auf den Beinen, sie mußte ihren Gast am Arm führen, als sie ihn in den Flur brach te. Wortlos ließ er sich in seine Joppe helfen, tippte an den Kalabreser und schwankte hinaus in die Dunkelheit.
Frau Mohn sah ihm grübelnd nach. ,Komischer Kauz’, dachte sie, ,und vertragen tut er auch nichts.’ Sie schloß die Haustür, legte die Kette vor und kehrte ins Wohn zimmer zurück. Sie räumte die Flasche und die Gläser weg, schaltete den Fernseher ein und sagte zu sich selbst: „Möchte wirklich mal wissen, was mit den Männern heutzutage los ist. Die werden immer affiger.“
10 Das Löfflersche Landhaus lag am Krienitzsee. Es war ein solider Bau aus den sechziger Jahren mit aus ladendem Rohrdach und imitiertem Fachwerk. Hauptmann Heym saß im Wohnzimmer, in einem der üppigen Ledersessel. Sein Blick ging hinaus in den a bendlichen Garten, dessen Rasenflächen sich in sanfter Neigung bis zum Wasser erstreckten. Hin und wieder ertönte der Schrei eines Nebelhorns, und über den in Dunst gehüllten See glitten die Lichter der Motorschiffe. Ilse Löffler, die geschiedene Frau des Toten, stand an der Bar und mixte sich einen Drink. Mit dem Whiskyglas in den beringten Händen kehrte sie zu ihrem Sessel zu rück, nahm Platz und schlug die Beine übereinander. „Tja, wie ich schon sagte, Herr Hauptmann, es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe Löffler schon seit mindestens drei Wochen nicht mehr gesehen. Und was Ihre Vermutung betrifft, ich hätte ihn umgebracht, da muß ich Sie erst recht enttäuschen. Ich habe es nicht getan.“ Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch hinauf zu den dunklen Deckenbalken. Heym schüttelte den Kopf. „Davon war nicht die Rede, Frau Löffler. Ich
habe gefragt, wie Sie den Dienstagabend verbracht ha ben.“ „Eben. Damit rechnen Sie mich doch wohl zu den Ver dächtigen was ich Ihnen nicht einmal verübeln kann. Der Mensch hat mir in seinem Leben soviel angetan, daß ich Gründe genug gehabt hätte, ihn zu erschlagen. Ich gebe sogar zu, mir ist der Gedanke daran des, öfteren durch den Kopf gegangen. Doch wie sich gezeigt hat, gibt es auch noch andere, die ihn hassen und weniger Skrupel haben als ich.“ „Darf ich Sie an meine Frage erinnern?“ „Ja, natürlich. Am Dienstagabend war ich hier im Hau se. Wir hatten unseren monatlichen Bridge-Abend, wie üblich von sieben bis gegen zehn Uhr, meine Freundin Annegret Seil, ihr Mann Stefan und Johannes Seidel. Sie können das überprüfen.“ „Wer ist Johannes Seidel?“ „Ein Bekannter. Er ist geschieden und wohnt in der Nachbarschaft. Und ich füge auch gleich hinzu, daß er zuweilen hier schläft.“ „Am Dienstagabend auch?“ „Ja.“ „Dann waren Sie vermutlich sofort einverstanden, als Sie hörten, daß Ihr Mann die Absicht hatte, sich scheiden zu lassen?“ „Durchaus nicht“, sagte Frau Löffler und nahm einen Schluck von ihrem Whisky. „Zunächst glaubte ich ja, es würde sich nur um eine seiner üblichen Affären handeln, es war nicht das erstemal, daß er mich betrogen hat. Des halb sah ich gar keine Veranlassung, die Rechte, die ich in einer über dreißigjährigen Ehe erworben hatte, so ohne
weiteres aufzugeben. Dann aber erfuhr ich, daß Bettina Sommer ein Kind erwartet, und daß Löffler ernsthaft ent schlossen war, sich von mir zu trennen. Also gab ich nach. Unsere Ehe war ohnehin nur noch eine Farce, es gab keine Gemeinsamkeiten mehr, er hat mich durch sei ne Launen und seine Untreue völlig zermürbt.“ „Mit Herrn Seidel hatte Ihre Scheidung gar nichts zu tun?“ „Nein“, sagte sie und lächelte spöttisch. „Ich habe nicht die Absicht, noch einmal zu heiraten, falls Sie das mei nen.“ „Wie lange kennen Sie Herrn Seidel?“ „Seit drei Jahren etwa.“ „Ihr geschiedener Mann hat diese Beziehung ohne Wi derspruch hingenommen?“ „Löffler war zufrieden, daß ich ihn in Ruhe ließ. Ich war ihm gleichgültig, er ließ das hin und wieder deutlich genug durchblicken.“ „Und wie stehen Sie zu Herrn Seidel?“ „Es ist kein Verhältnis im landläufigen Sinne. Johannes ist fünfundzwanzig Jahre jünger als ich, er liebt mich, er ist mir in vielen Dingen eine große Stütze. Ich wüßte nicht, wie ich ohne ihn auskommen sollte.“ „Hat Ihnen Ihr Mann ein finanzielles Angebot gemacht, um die Scheidung zu erreichen?“ „Sicher, ich leugne nicht, daß Geld bei meiner Zustim mung eine Rolle spielte.“ „Wie sah sein Angebot aus?“ „Ich sollte fünfzig Prozent des während der Ehe erwor benen Vermögens bekommen. Es war mir zugesagt, daß zu meinem Anteil das Landhaus gehört. Nur für den Fall,
daß ich es veräußern wollte, hatte Löffler das Vorkaufs recht.“ „Augenblick bitte. Ist das so zu verstehen, daß diese Vereinbarungen im Scheidungsurteil gar nicht festgelegt würden?“ „Ja, das ist richtig.“ „Warum haben Sie sich darauf eingelassen?“ „Das hatte zwei Gründe. Erstens wünschte Löffler, daß unsere Ehe so schnell wie möglich geschieden wurde, weil er Bettina Sommer noch vor der Geburt des Kindes heiraten wollte. Zweitens sind die Vermögensverhältnis se ziemlich kompliziert, ich wollte die Einzelheiten nicht unter Zeitdruck aushandeln. Für mein Entgegenkommen hat sich Löffler im Scheidungsurteil freiwillig zu einem monatlichen Unterhalt für die nächsten drei Jahre ver pflichtet.“ „Ich verstehe. Aber haben Sie nicht befürchtet, daß Ihr Mann nach der Scheidung seine übrigen Versprechungen vergessen könnte?“ „Nein. Das Angebot wurde mir von Doktor Specht un terbreitet, er hat in Löfflers Auftrag verhandelt. Georg Specht ist ein langjähriger Freund der Familie, ich sehe keinen Grund, ihm zu mißtrauen.“ „Gibt es ein Schriftstück über diese Regelung?“ „Das nicht. Löffler hat mir in Gegenwart von Doktor Specht die Abmachungen ausdrücklich bestätigt.“ „Na schön. Aber rechtliche Ansprüche können Sie dar aus nicht geltend machen.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Daß Ihr Mann de facto an nichts gebunden war. Wie ich hörte, hat er ja auch die Absicht geäußert, gleich nach
der Hochzeit neue Verfügungen in Bezug auf sein Tes tament zu treffen.“ „Ja und? Was geht mich das an?“ „Jetzt können Sie natürlich gelassen sein. Aber als Ihr geschiedener Mann noch lebte, sah das sicher anders aus. Er wollte über sein Testament neu verfügen, und das wä re vermutlich nicht zu Ihren Gunsten ausgegangen.“ Ilse Löffler nickte, als hätte sie Heyms Gedanken vo rausgesehen, und trank nachdenklich ihren Whisky aus. Doch schien sie nicht die Absicht zu haben, auf das Thema näher einzugehen. Heym wartete einen Augenblick, dann fragte er: „Wel che Verfügungen waren in dem alten Testament getrof fen?“ Sie bedachte ihn mit einem langen, mißtrauischen Blick, und ihr Mund würde um eine Nuance schmaler. „Es war sehr einfach“, sagte sie. „Wolf-Dieter sollte das Landhaus bekommen. Die Anteile der beiden anderen Kinder, Barbara und Hans-Peter, sollten dem Wert des Landhauses entsprechen. Für Frau von Oxkill ist das Gartenhaus bestimmt und eine Rente, Frau Willroth er hält einen Geldbetrag. Der Rest gehört mir.“ „Wie hoch schätzen Sie das Vermögen Ihres geschie denen Mannes?“ „Wenn man alles zusammenrechnet, die Immobilien, die Kunstsammlungen, die Bankguthaben, wird wohl eine ansehnliche Summe herauskommen.“ Heym über schlug, was das bedeutete und sagte: „Finanziell ge sehen war also der Tod Manfred Löfflers für Sie von er heblichem Vorteil. Und auch der Zeitpunkt war günstig, denn nach der Heirat wären zwei neue Erben hinzuge kommen. Von der geplanten Änderung des Testaments
ganz abgesehen.“ Frau Löffler wollte Einspruch erheben, doch Heym fugte schnell hinzu: „Das gilt natürlich nicht nur für Sie, es gilt für alle Mitglieder der Familie.“ „Ich verstehe schon“, sagte sie und erhob sich. „Die Schuldfrage ist geklärt. Ich bin die Haupterbin, also habe ich meinen Mann umgebracht.“ Sie ging zur Bar und kam mit einem vollen Glas zu rück. „Aber Sie irren, Herr Hauptmann. Ich habe mir gewünscht, daß er Bettina Sommer heiratet, denn sie ist noch skrupelloser als er. Sie hätte ihn das Fürchten ge lehrt, sie hätte ihn kalt und erbarmungslos zu einem alten Narren gemacht und ihn Schritt für Schritt zugrunde ge richtet. Und um das mitzuerleben, hätte ich gern auf mei ne Erbschaft verzichtet, ob Sie es nun glauben oder nicht.“ „Sicher“, sagte Heym, „Sie sind enttäuscht, Sie sind verbittert. Das ist verständlich in Ihrer Lage. Aber urtei len Sie nicht doch ein wenig zu hart?“ „Zu hart?“ Ilse Löffler lachte höhnisch und trank von ihrem Whisky. „Ich war mehr als dreißig Jahre mit ihm verheiratet. Ich habe ihm drei Kinder geboren und groß gezogen. Wenn ihn jemand kennt und das Recht hat, über ihn zu urteilen, dann bin ich es. Und ich denke nicht dar an, irgendein sentimentales Zeug zu faseln, nur weil er jetzt tot ist.“ Ihre Wangen hatten sich gerötet. Sie zündete sich eine Zigarette an und machte einige hastige Züge. „Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen über Manfred Löff ler, den großen, den erfolgreichen, den bei aller Welt so ungemein beliebten Schauspieler. Dieser Mann war nichts weiter als ein eitler, aufgeblasener Egozentriker.“ Heym machte eine Handbewegung, die einen Einwand
anzudeuten schien, doch dann lenkte er ihre Gedanken in eine andere Richtung. „Sie hatten Medizin studiert. Wa rum haben Sie Ihren Beruf aufgegeben?“ „Das frage ich mich heute auch. Weil ich zu jung und zu dumm war, um zu begreifen, was Selbständigkeit für eine Frau bedeutet. Weil ich den Versprechungen meines Mannes glaubte, den ich zu Beginn unserer Ehe für einen strahlenden Helden hielt. Ich war bereit, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Und es paßte ihm eben nicht, daß ich arbeiten ging, ich sollte nur für ihn und die Familie da sein.“ „Konnten Sie bei Frau von Oxkill keine Hilfe finden?“ „Bei der? Wo denken Sie hin? Nach Meinung von Christina ist das Leben der Frau ein Opfergang. Sie hat sich dem Mann unterzuordnen, egal wie sie behandelt wird. Wer sich die Fingernägel lackiert, ist in ihren Au gen schon eine halbe Hure. Und ich bin obendrein cha rakterschwach, ich trinke, ich kritisiere meinen Mann. So etwas verzeiht sie nicht.“ „Wenn eine Ehe schiefgeht, Frau Löffler, trifft selten nur einen allein die Schuld.“‘ „Über mein Schicksal will ich mich gar nicht beklagen, gewiß habe ich Fehler gemacht. Was ich Löffler nicht verzeihen kann, ist, daß er das Leben der Kinder zerstört hat. Nehmen Sie zum Beispiel Cordula. Er wollte ihr un bedingt seinen Willen aufzwingen, alle ihre Versuche, einen eigenen Weg zu gehen, hat er durchkreuzt. Und als sie ganz am Ende war, hatte er keine Zeit für sie. Er muß te in sein Theater, um die Proben nicht zu verpassen, weil sonst vielleicht ein anderer die Hauptrolle bekommen hätte. Währenddessen ist unsere Tochter an einer Über
dosis Schlaftabletten gestorben.“ „Wo waren Sie zu dieser Zeit?“ „Ja, auf die Frage habe ich gewartet. Ich war in diesem Haus, und damals gab es hier noch kein Telefon. Und mein Mann kam gar nicht auf den Gedanken, mich über Cordulas Zustand zu informieren.“ „Haben Sie denn nicht selbst gewußt, daß sich Ihre Tochter in einer Krise befand?“ „Sie argumentieren genau wie Löffler. Es ist alles mei ne Schuld. Ich habe mich nicht genug um die Kinder ge kümmert, ich habe sie falsch erzogen, ich habe ihnen Flausen in den Kopf gesetzt. Aber dabei vergißt man, daß er meine Art von Erziehung nicht gelten ließ, daß er mir bei jeder Gelegenheit in die Parade fuhr, daß er mein Verständnis für die Sorgen der Kinder als eine Ver schwörung gegen seine Autorität empfand. Immer wieder hat er mich und uns alle mit seiner Beredsamkeit an die Wand gedrückt, und ich habe es geschehen lassen, ich habe schließlich resigniert. Darin liegt meine Schuld, nur allein darin.“ Sie schwieg, schweratmend, die Hände ineinander ver krampft. „Entschuldigen Sie, es war nicht meine Absicht, Ihnen Vorwürfe zu machen“, sagte Heym. „Ich möchte gern noch etwas über Hans-Peter hören. Wie war das Verhält nis zwischen ihm und seinem Vater?“ Ilse Löffler seufzte und griff wieder nach den Zigaret ten. „Das Verhältnis war unerfreulich, um es milde aus zudrücken. Hansi sollte um jeden Preis das Ebenbild sei nes Vaters werden, es ging nicht in Löfflers Kopf, daß der Junge aus weicherem Holz geschnitzt war. Das fing
schon in der Schule an. Hansis Leistungen waren schlechter Durchschnitt, natürlich war der Vater unzu frieden. Er habe sich in seiner Jugend alles selbst er kämpfen müssen, warum zeigte sich der Lümmel nicht ein wenig dankbar für das Leben in Sicherheit und Wohlstand, für die Bildungschancen, die man ihm bot? Die Vorhaltungen bewirkten nichts. Wir versuchten es mit Belohnungen, dann mit Drohungen und Strafen. Es half nichts, der Junge war einfach überfordert. Die Lehrer rieten zum Zehn-Klassen-Abschluß und einem hand werklichen Beruf. Nein, sagte der Vater. Wie sieht denn das aus? Was willst du damit werden? Gärtner? Wir brauchen keinen Krauter in der Familie. Studieren mußt du.“ Frau Löffler schaute in ihr leeres Glas. Sie zog einen Servierwagen heran und füllte aus einem Kristallflakon nach. „Ja“, sagte sie, nachdem sie sich gestärkt hatte, „und so ging es weiter. Löffler machte seinen Einfluß in der Schule geltend, es gab Nachhilfestunden, mit Hängen und Würgen wurde endlich das Abitur bestanden. Na also! Jetzt entscheide dich, ich lasse dir alle Freihei ten. Werde Jurist, Naturwissenschaftler, Architekt, Philo soph. Na gut, meinetwegen auch Arzt. – Wie bitte, Veteri närmedizin? Schweinedoktor? Kommt überhaupt nicht in Frage. – Medizin ist überlaufen, es gibt keine Studien plätze? Das wäre ja gelacht! Ich werde dafür sorgen, daß du angenommen wirst. Aber dafür verlange ich erstklas sige Leistungen, verstanden? Hansi war den Anforderun gen des Studiums natürlich erst recht nicht gewachsen. Er fing an zu bummeln, zu trinken, geriet in schlechte
Gesellschaft. Und es geschah, was unvermeidlich war, im zweiten Semester flog er von der Uni. Löffler machte einen Riesenskandal und jagte seinen Sohn aus dem Haus. Meine Vermittlungsversuche scheiterten an der Sturheit von beiden Seiten. Hansi trieb sich ein paar Mo nate herum, ich weiß bis heute nicht, wo, versetzte seine Sachen, machte Schulden. Als er nicht mehr weiter wuß te, fälschte er einige Unterschriften auf einem Scheckheft seines Vaters. Die Sache platzte. Löffler bekam einen neuen Tobsuchtsanfall und wollte den ,kriminellen Strolch’ hinter Gitter bringen. Doch plötzlich besann er sich, sah von einer Anzeige ab und nahm den gefallenen Sohn wieder in die Familie auf. Danach war er ganz ge rührt von seiner Großmut.“ Sie lächelte und setzte hinzu: „Ich wurde allerdings nie den Verdacht los, daß er es vor allem getan hat, um sei nem Ruf in der Öffentlichkeit nicht zu schaden.“ „Nun gut“, sagte Heym, „das war vor zehn Jahren. Wa rum hat Hans-Peter inzwischen keinen Beruf erlernt?“ Frau Löffler hob hilflos die Hände. „Fragen Sie ihn selbst. An unserer Unterstützung jedenfalls hat es nicht gefehlt. Auch Löffler, das muß man gerechterweise zugeben, hat immer wieder versucht, ihm Lehrstellen oder Arbeitsplätze zu vermitteln, leider alles vergeblich. Dabei fing es nach seiner Rückkehr ganz hoffnungsvoll an. Wir gaben Hansi in psychotherapeutische Behand lung zu Professor Oede, sein Verhalten besserte sich. Wenig später wurde er zur Volksarmee eingezogen. Er leistete seinen Wehrdienst ohne Zwischenfälle, doch be ruflich konnte er nicht mehr Fuß fassen. Er hat einfach keine Ausdauer, er wechselt die Arbeitsstellen. Wenn er
etwas Geld in der Tasche hat, beginnt er zu bummeln, hin und wieder kommt’s auch immer noch zu alkoholischen Zwischenspielen. Selbst Professor Oede ist dagegen machtlos, bleibt jedoch bei seiner Auffassung, man müs se eben Geduld haben. Gestörtes Sozialverhalten lasse sich nur langsam und erst über längere Zeiträume aus gleichen. Und ich kann dem Jungen auch nicht mehr hel fen, ich bin mit meiner Kraft am Ende. Im übrigen glaube ich, daß Hansi gar nicht die Absicht hat, sein Leben zu ändern. Sein Vater hat doch genug Geld, der soll gefäl ligst für ihn aufkommen. Bewußt oder unbewußt ist das wohl seine Art von Rache.“ Über die Trauerweide im Garten huschte der Lichtkegel eines Scheinwerfers. Ein Motor heulte auf und erstarb, Autotüren schlugen zu. Frau Löffler zog die Stirn in Falten. „Besuch? Wer um Gottes willen kommt jetzt noch zu Besuch? Oder ist das jemand von Ihren Leuten?“ Heym schüttelte den Kopf. „Dann kann es nur mein Herr Stiefsohn sein.“ „Wir sind es, Mama!“ tönte vom Flur her eine geschul te Baritonstimme. „Hab ich’s doch befürchtet“, sagte Ilse Löffler und zog ihr Tuch fester um die Schultern. Durch den Rundbogen trat das junge Ehepaar Löffler ins Zimmer. Wolf-Dieter war groß, schlank, trug einen dezenten dunkelgrauen Anzug und eine schwarze Kra watte. Abgesehen von dem dichten, leicht gewellten Haar hatte er eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Manfred Löff ler, wie ihn Heym von Filmplakaten her kannte. Sie war eine zierliche Blondine mit frechen Augen und blutrot lackierten Fingernägeln. Wolf-Dieter umarmte seine
Stiefmutter und küßte sie auf die Wange. „Verzeih, Ma ma, wenn wir so reinplatzen. Wir konnten nicht ahnen, daß du einen Gast hast.“ Statt einer Antwort hob Ilse Löffler nur die Brauen, entzog sich der Umarmung und schaute ausdruckslos in ihr Glas. Heym hatte sich erhoben. Das Schweigen wurde pein lich. „Würdest du uns bitte bekanntmachen, Mama?“ „Mein Stiefsohn Wolf-Dieter. Das dort ist seine Frau Verena. – Hauptmann Heym von der Kriminalpolizei.“ Wolf-Dieter warf dem Hauptmann einen kurzen, taxie renden Blick zu und machte eine knappe Verbeugung. „Also bitte“, sagte Ilse Löffler ungeduldig, „was ver schafft mir die Ehre?“ „Nun, es gibt doch eine Menge Formalitäten zu erledi gen. Wir dachten, wir könnten dir vielleicht behilflich sein.“ „Ich brauche eure Hilfe nicht. Außerdem weißt du, daß ich unangemeldete Besuche nicht ausstehen kann. Schon vorgestern mußte ich dir das sagen. Doch wie man sieht, machen freundlich geäußerte Wünsche keinen Eindruck auf dich, vermutlich muß ich wieder einmal grob wer den.“ Wolf-Dieter räusperte sich. „Die Situation hat sich ge ändert, Mama. Und wir wollten dich wissen lassen, daß du jederzeit über uns verfügen kannst.“ „Ach ja, wie aufmerksam! Wie rücksichtsvoll! All die Jahre habt ihr euch nicht sehen lassen. Nicht einmal wäh rend der Scheidung habt ihr euch um mich gekümmert. Aber jetzt hat sich die Situation geändert: Der Erblasser ist verblichen. Die Hyänen kriechen aus dem Busch.“
„Hyänen?“ fragte Verena schrill. „Was willst du damit sagen?“ „Spiel bitte nicht die Naive, liebes Kind. Ich verzichte darauf, deine edlen Motive näher zu benennen, allerdings nur aus Rücksicht auf unseren Gast.“ „Wolf-Dieter!“ Verena stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Wenn du zuläßt, daß sie mich beleidigt, dann ver lasse ich auf der Stelle dieses Haus! Ich habe es…“ Wolf-Dieter dämpfte ihren Ausbruch mit beschwörend erhobenen Händen, dann wandte er sich seiner Stiefmut ter zu. „Ich habe volles Verständnis für deinen Unwillen. Wir machen jetzt einen Spaziergang, Verena und ich. Wenn du das Gespräch mit dem Herrn von der Kriminalpolizei beendet hast, stehen wir dir gern zur Klärung der Miß verständnisse zur Verfügung.“ „Den Spaziergang könnt ihr euch sparen. Es gibt keine Mißverständnisse, jedenfalls keine, über die ich bereit wäre mit euch zu reden.“ Wolf-Dieter schien aus dem Konzept gebracht. Unent schlossen sah er zu Boden. „Nun; da wäre noch etwas anderes, worüber wir sprechen müßten, Mama, eine drin gende…“ „Sag nicht immerfort Mama zu mir“, unterbrach sie ihn, „es geht mir auf die Nerven.“ „Gut. Könnten wir dann später…“ „Wenn es so dringend ist, dann ‘raus damit.“ „Es handelt sich um eine vertrauliche Angelegenheit.“ „Vertraulich? Das bedeutet in deiner Sprache, du brauchst Geld.“ Wolf-Dieter atmete tief durch. Seine Kinnmuskeln
zuckten, doch er sagte beherrscht: „Klettenboom drängt
auf eine Entscheidung.“
„Ich habe dir meinen Standpunkt erst vor zwei Tagen
klargemacht, und daran ändert sich vorerst gar nichts.“
Sie trank ihren Whisky aus, nahm den leeren Kristallfla
kon und ging zur Bar.
„Immerhin ist jetzt eine neue Lage eingetreten. Wir wollen doch nichts geschenkt, wir wollen nur wissen, woran wir sind.“ „Ich lasse mich nicht unter Druck setzen, begreif das endlich.“ Sie wandte sich um, in der Hand ein randvolles Glas. „Warte gefälligst bis nach der Testamentseröff nung. – Wo ist übrigens die Kaminuhr? Wo sind die bei den Barockengel? Wer gibt dir das Recht, die Sachen hinter meinem Rücken fortzuschleppen?“ „Gewiß, Mama, ich hätte vielleicht damit warten sollen. Aber du weißt doch auch, Vater hatte sie mir geschenkt.“ „Unter der Bedingung, daß sie bis zu seinem Tode hier im Hause bleiben.“ „Darf ich dich darauf aufmerksam machen“, sagte Ve rena, „daß diese Bedingung seit zwei Tagen erfüllt ist?“ Ilse Löffler machte zwei Schritte auf Verena zu und sagte leise, mit unterdrückter Wut: „Was ich so besonders an dir schätze, ist deine Raffgier.“ Wolf-Dieter hatte diesen Augenblick genutzt. Er war an die Bar gegangen und schloß sie zu. Es gab ein klickendes Geräusch. Ilse Löffler fuhr herum. „Was machst du da? Gib sofort den Schlüssel her!“ „Sei doch vernünftig, Mama“, sagte er in bittendem Ton. „Du solltest jetzt nichts mehr trinken.“ Ihre Augen begannen zu glitzern, ihr Atem ging keu
chend. „So, sollte ich nicht? Ich werde dir etwas sagen: Es geht dich einen Kehricht an, ob ich trinke oder nicht. Und nun schließ die Bar wieder auf, du Affe!“ „Was kümmerst du dich auch um sie, Wolf-Dieter?“ schrillte Verena. „Laß sie doch saufen! Um so eher ist sie in der Klapsmühle.“ „Schaff mir dieses Biest aus den Augen, oder es pas siert ein Unglück, ‘raus hier, alle beide ‘raus!“ Verena begann provozierend zu lachen. Mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk schwappte ihr Ilse Löffler den Whisky ins Gesicht. Verena kreischte auf und rieb sich die Augen. Ilse Löffler wollte sich auf ihre Kontrahentin stürzen, doch Wolf-Dieter konnte sie ab fangen. „Laß mich los!“ keuchte sie. „Laß mich los!“ Sie trommelte mit den Fäusten auf ihn ein. Wolf-Dieter pack te sie an den Armen. Sie wand sich hin und her und ver suchte dabei, ihn mit den Füßen zu treten. „Steh nicht ‘rum, sieh zu, daß du Seidel auftreibst“, zischte Wolf-Dieter über die Schulter seiner Frau zu. „Du siehst doch, was los ist.“ „Wo ist er denn?“ „Wo ist er denn! Was weiß ich! Wahrscheinlich im Keller. Nun mach schon, beeil dich!“ Verena rannte aus dem Zimmer. „Soll ich einen Arzt rufen?“ fragte Heym irritiert. „Nein, nein, nicht nötig, es geht gleich vorüber.“ „Ich bring dich um!“ fauchte Ilse Löffler. „Laß mich los, oder ich bring dich um!“ Sie biß ihm ins Handge lenk. Erschrocken lockerte Wolf-Dieter seinen Griff. So fort versuchte sie, nach einem Leuchter zu greifen, der auf dem Rauchtisch stand. Heym kam ihr zuvor, indem er den Leuchter an sich nahm. Da ließ sie sich plötzlich
zu Boden fallen, drehte sich auf den Bauch, verbarg den Kopf in den Armen und begann hysterisch zu schluch zen. Ein untersetzter Mann erschien, hinter ihm Verena. Er hatte dichtes krauses Haar und buschige Brauen. An sei ner Kordhose und dem karierten Baumwollhemd hingen ein paar Hobelspäne. Schweigend sah er in die Runde, schüttelte halb vorwurfsvoll, halb bedauernd den Kopf, dann kniete er sich neben Ilse Löffler nieder. „Na komm“, sagte er mit ruhiger Stimme, „komm, steh auf.“ „Soll ich Ihnen helfen?“ Wolf-Dieter trat beflissen nä her. „Bloß das nicht“, brummte Seidel und machte eine abwehrende Geste. Er hob die Frau, die noch immer von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, mühelos vom Boden auf und trug sie aus dem Zimmer.
11 Einige Augenblicke herrschte Stille. Dann gab sich Wolf-Dieter einen Ruck und sagte: „Uff! Ich hätte jetzt einen Kaffee nötig. Sie auch?“ Heym nickte. „Verena, hab doch bitte die Güte. Du weißt in der Kü che Bescheid, nicht wahr?“ Verena öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Als sie dem Blick ihres Mannes begegnete, wandte sie sich wortlos ab und verließ das Zimmer. Die beiden Männer nahmen Platz. Wolf-Dieter zupfte an seinen Manschetten, strich sich über das Haar, rückte die Krawatte zurecht. Dann zog er aus der Innentasche seines Sakkos eine flache, schwarz goldene Blechschachtel, klappte den Deckel auf und hielt
sie Heym entgegen. „Möchten Sie?“ „Danke. Ich rauche Pfeife.“ Wolf-Dieter wählte umständlich einen Zigarillo, zünde te ihn an und sah sinnend den Rauchwolken nach. „Ja“, sagte er, „es mag Ihnen schwerfallen, das zu be greifen, Herr Hauptmann, aber ich kann meine Stiefmut ter durchaus verstehen. Gewiß, sie trinkt zuweilen ein bißchen viel – es ist wohl die einzige Möglichkeit, ihren Kummer zu vergessen. Die vergangenen Jahre waren sehr belastend. Dann kam die Scheidung, nun auch noch Vaters Tod. Ich fände es geradezu übermenschlich, wenn sie nicht manchmal die Nerven verlieren würde. Sie hat ihn geliebt, ja, sie liebt ihn noch immer, sonst würde sie sich nicht in einem solchen Maße über alles erregen, was mit ihm in Zusammenhang steht.“ Er streifte die Asche ab und fuhr fort: „Im Grunde ihres Herzens ist sie lieb und freundlich. Sie möchte es jedem recht machen und kann nicht einsehen, daß sie sich damit zwischen alle Stühle setzt. Wenn die Dinge nicht so lau fen, wie sie es erhofft, wird sie in ihrer Hilflosigkeit wü tend. Aber sie meint es nicht so. Ich möchte Sie deshalb bitten, die Ereignisse in der Familie Löffler, die für Au ßenstehende vielleicht etwas dramatisch wirken, nicht mit der landläufigen Verbissenheit zu sehen.“ Heym ließ sich nicht anmerken, was er von diesem Rat schlag hielt. „Sie haben am Dienstag Ihre Stiefmutter besucht“, sag te er. „Um welche Zeit war das?“ „Am Dienstag?“ Wolf-Dieter runzelte die Stirn. Er schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, daß Heym so unvermittelt zur Sache kam. „Ja – warten Sie –
es war nach der Vorstellung, etwa gegen halb elf, soweit ich mich erinnere.“ „Wenn man abends um halb elf unangemeldet er scheint, muß man einen Grund dafür haben.“ „Allerdings. Nur, um die Gründe zu verstehen, müßte ich Ihnen die Vorgeschichte erläutern.“ „Bitte. Erläutern Sie.“ „Gut, es ist aber etwas kompliziert. Also, meine Fami lie, Verena, ich und die beiden Kinder, wir leben äußerst beengt in einer Zweieinhalbzimmerwohnung. Seit Jahren haben wir uns um mehr Wohnraum bemüht, leider immer wieder vergeblich. Am Dienstag nun erhielt ich von mei nem Kollege Klettenboom überraschend das Angebot, sein Haus zu kaufen, und zwar zu einem sehr akzeptablen Preis. Mir war klar, eine so günstige Gelegenheit würde nicht so bald wiederkommen, deshalb mußte ich die Sa che so schnell wie möglich mit meiner Stiefmutter be sprechen.“ „Was geht das Ihre Stiefmutter an?“ „Nun, ich konnte natürlich nicht sofort den gesamten Kaufpreis aus eigener Tasche bezahlen. Es war meine Absicht, mir das fehlende Geld von meinem Vater zu leihen, aber dazu brauchte ich formell die Zustimmung meiner Stiefmutter. Die Ursache liegt in folgendem: Wie Sie vermutlich wissen, haben sich meine Eltern vor drei Monaten scheiden lassen. Seitdem sind die Vermögens verhältnisse zwischen ihnen in einem Schwebezustand, eine verbindliche Regelung sollte erst nach Vaters Hoch zeit mit Bettina getroffen werden. Bis zu diesem Zeit punkt konnten meine Eltern über größere Summen nur in gegenseitigem Einverständnis verfügen. Habe ich mich
verständlich ausgedrückt?“ „Durchaus“, sagte Heym. „Aber warum wollen Sie ü berhaupt ein Haus kaufen? Im Testament Ihres Vaters wurde Ihnen doch das Landhaus als Erbteil zugesichert.“ Wolf-Dieter hob verblüfft die Brauen und fixierte Heym mit einer Mischung aus Respekt und Mißtrauen. Dann seufzte er und sagte: „Sehr richtig, Herr Hauptmann. Ich hatte ja auch zunächst versucht, mit meiner Stiefmutter in dieser Frage zu einer Übereinkunft zu gelangen.“ „Zu einer Übereinkunft welcher Art?“ „Sehen Sie, das Landhaus wurde schon längere Zeit ei gentlich nicht genutzt, abgesehen vielleicht von ein paar Sommerwochen. Warum also sollte ich es nicht mit mei ner Familie bewohnen, da es mir ohnehin als Erbe zuge dacht war? Wir hatten meinen Vater schon halb und halb für diesen Plan gewonnen, da zog die Scheidung am Ho rizont herauf. Meine Stiefmutter stellte unter anderem die Forderung, das Landhaus zu bekommen, und mein Vater ging darauf ein, weil er so schnell es irgend ging ge schieden sein wollte. Natürlich ist das Haus für eine Per son viel zu groß, deshalb empfanden wir das Verhalten meiner Stiefmutter ein bißchen unfair, doch zunächst konnten wir nichts dagegen tun. Immerhin hofften wir, daß sie ihre Meinung noch ändern würde, und so wollte ich am Dienstagabend erst einmal ganz allgemein ihre Absichten in bezug auf das Haus erfahren. Falls sie daran dachte, in absehbarer Zeit auszuziehen, hätte ich auf Klettenbooms Angebot verzichten können. Falls nicht, wäre ich auch bereit gewesen, meinen Erbanspruch auf das Landhaus aufzugeben, wenn sie mir dafür die sech zigtausend Mark ausgezahlt hätte, die ich für das Klet
tenboomsche Haus brauchte. Wollte sie sich aber weder für das eine noch das andere entscheiden, so hatte ich zumindest erwartet, sie würde ohne große Umstände die Zustimmung geben, daß mir mein Vater von ihrem ge meinsamen Konto einen Kredit gewährt.“ „Ich verstehe. Aber Sie haben noch immer nicht die Frage beantwortet, warum Sie zu so später Stunde ge kommen sind.“ „Weil die Zeit drängte. Klettenboom verlangte Barzah lung innerhalb einer Woche, darum ist ja auch der Preis relativ niedrig. Er erzählte mir von seinen Verkaufsab sichten nachmittags auf der Probe. Am Abend hatte ich Vorstellung, wie bereits erwähnt. Gleich danach bin ich losgefahren.“ „Konnten Sie nicht zuvor anrufen?“ „Ich kenne doch meine Stiefmutter, sie mag keine schnellen Entschlüsse. Sie hätte ein Dutzend Ausreden gehabt, und am Ende wäre ein Termin in vierzehn Tagen herausgekommen. Nein, es blieb mir wirklich nur der Versuch, mit der Tür ins Haus zu fallen.“ Heym nickte anerkennend. „Ja, Herr Löffler, ich finde das alles schon sehr beachtlich.“ „Was finden Sie beachtlich?“ „Nun, Ihre Gewandtheit, mit der Sie sich innerhalb we niger Stunden eine komplette Strategie ausgedacht haben, um Ihre Stiefmutter moralisch unter Druck zu setzen.“ „Was sagen Sie?“ Wolf-Dieter war entrüstet. „Ich hätte sie unter Druck gesetzt? Und wie bewerten Sie ihr Ver halten? Ist das etwa moralisch?“ Verena erschien mit dem Kaffee und enthob Heym einer Antwort. Sie stellte das Tablett schwungvoll auf den Tisch. Die Tassen klirr
ten, aus dem Kännchen schwappte die Sahne. „Pardon!“ sagte sie sanft. „Kellnerin ist nicht mein Fach. Haben die Herren sonst noch Wünsche? – Nein? Dann werde ich nicht länger stören.“ Sie warf den Kopf in den Nacken und schritt hinaus. Ihr Rücken sprach von der tiefen Ver achtung aller Pascha-Allüren. Wolf-Dieter lächelte nachsichtig, schenkte den Kaffee ein, bot Zucker und Sahne an. Heym lehnte dankend ab. Er trank seinen Kaffee schwarz. Ungern zwar, doch irgend etwas mußte er tun, um den Kalorienverbrauch zu senken. „Sie hatten also keinen Erfolg“, sagte er und probierte das Getränk, das heiß und bitter war. „Wie hat denn Ihre Stiefmutter die Ablehnung begründet?“ „Gar nicht. Sie hörte mir überhaupt nicht zu.“ „Weshalb nicht?“ „Es hatte beim Bridge zwischen ihr und Seidel eine Mißstimmung gegeben. ,Erst kommt er zu spät, und dann spielt er wie ein Idiot’, sagte sie verärgert. Dieser Gedan ke schien sie ganz und gar in Anspruch zu nehmen. Nachdem ich ihr alles dreimal mit größter Geduld erklärt hatte, schüttelte sie den Kopf und meinte, sie sei jetzt müde, und die Sache sei ihr zu kompliziert, ich möge mich damit erst einmal an meinen Vater wenden.“ „Haben Sie das getan?“ „Wie sollte ich? Sie wissen doch, daß er zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr lebte.“ „Das Angebot von Herrn Klettenboom erhielten Sie am Nachmittag. Da Sie es so eilig hatten, warum haben Sie die Zeit bis zum Abend nicht für ein Gespräch mit Ihrem Vater genutzt?“
„Weil ich ihn an diesem Tag nicht mehr erreichen konnte.“ „Demnach waren Sie über seinen Tagesablauf infor miert?“ „Er hatte mich angerufen und mir gesagt, daß er am frühen Abend nach Berlin fahren würde.“ „War nur das der Grund seines Anrufs?“ „Nein. Er wollte mich fragen, ob ich es einrichten könnte, anstelle von Hansi am Sonnabend den Volvo zu fahren.“ „Wohin?“ „Zum Standesamt.“ „Sie sollten den Chauffeur machen für das Brautpaar?“ „Ja.“ „Und?“ „Ich sagte nach einigen Bedenken zu.“ „Warum Bedenken?“ „Eigentlich hatten wir nicht die Absicht, an der stan desamtlichen Trauung teilzunehmen.“ Wolf-Dieter starrte verdrossen in seinen Kaffee. „Zwi schen meiner Frau und Bettina besteht eine gewisse Ge reiztheit. Wegen einer Lappalie, die längst der Vergan genheit angehört.“ „Was für eine Lappalie?“ „Ich sagte doch, es ist längst vorbei.“ „Um so leichter läßt sich darüber sprechen.“ „Na schön.“ Wolf-Dieter seufzte. „Es gab einmal eine Beziehung zwischen Bettina und mir. Allerdings nur für kurze Zeit.“ „Hm!“ sagte Heym und war bemüht, sich die Überra schung nicht anmerken zu lassen. „Wann war denn das?“
„Vor etwa einem Jahr.“ „Was sagte Ihr Vater dazu?“ „Wieso? Wir haben nie darüber gesprochen. Es war auch kein Anlaß dazu. Er lernte Bettina erst näher ken nen, als ich mich bereits von ihr getrennt hatte.“ „Mit anderen Worten, in dieser Sache hatten Sie nie mals einen Streit mit Ihrem Vater?“ „Genauso ist es.“ „Warum sollten Sie nun anstelle von Hans-Peter den Volvo fahren?“ „Mein Vater befürchtete, Hansi könnte dazu nicht in der Lage sein.“ „Wieso nicht? War er krank?“ „Ja, so kann man es nennen. Er hat wieder einmal seine alkoholische Strähne, und die dauert meist eine Woche und länger.“ „Gab es dafür einen besonderen Anlaß?“ „Soviel ich weiß, nicht. Monatelang ist bei ihm alles in Ordnung. Doch sobald er an hochprozentigen Schnaps gerät, gibt es nach dem dritten Glas kein Halten mehr. Er wird dann plötzlich unberechenbar, ein völlig fremder Mensch. Und das passiert drei – oder viermal im Jahr.“ „Von wo hat Ihr Vater angerufen?“ „Aus dem Filmstudio.“ „Erwähnte er etwas über die Ereignisse dort oder über seine Absichten im Laufe des Tages?“ „Nein, die Zeit war knapp. Er telefonierte in einer Drehpause.“ „Wann genau war das?“ „Am Vormittag. Zwischen elf und halb zwölf.“ „Persönlich sind Sie Ihrem Vater an diesem Tag nicht
begegnet?“ „Wie meinen Sie das?“ „Ganz wörtlich.“ Wolf-Dieter war einen Moment verdutzt, dann grinste er. „Ach so, Sie wünschen ein Alibi. Also gut. Während des Vormittags war ich zu Hause. Um vierzehn Uhr fuhr ich ins Theater. Um vierzehn Uhr dreißig begannen die Proben, die etwa um siebzehn Uhr beendet waren.“ „Und danach?“ „Danach machte ich ein paar Einkäufe in der Stadt. Nach achtzehn Uhr habe ich mich dann in der Theater kantine aufgehalten, denn um zwanzig Uhr begann die Abendvorstellung, und es lohnte sich nicht mehr, nach Hause zu fahren. Dienstags haben wir ,Minna von Barn helm’, ein sehr lohnenswertes Stück, sollten Sie sich auch einmal ansehen. Ich spiele übrigens den Major von Teilheim.“ „Wie lange dauerte die Vorstellung?“ „Bis kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Danach kam ich dann hierher zu dem Gespräch mit meiner Stiefmutter.“ „Können Sie mir ein oder zwei Kollegen nennen, die mit Ihnen in der Kantine waren?“ „Auf Anhieb leider nicht. Ich sitze ja fast jeden Tag dort. Aber wenn Sie Wert darauf legen, werde ich mich darum kümmern.“ „Nicht nötig, das erledigen wir.“ Heym klappte sein Notizbuch zu und steckte es ein. „Noch eine Frage, Herr Löffler. Am Dienstag haben Sie von hier einige Kunstgegenstände mitgenommen, die Sie doch erst nach dem Tode Ihres Vaters erhalten sollten. Wußten Sie bereits, was geschehen war, oder wie erklä
ren Sie diesen merkwürdigen Sachverhalt?“ „Ich hatte schon lange die Absicht, die Sachen mitzu nehmen, und zwar mit der Einwilligung meines Vaters. Natürlich wollte ich meine Stiefmutter informieren, aber es ergab sich nicht. Wissen Sie, ich war an diesem Abend ziemlich verärgert und dachte mir, ich könnte es ihr auch später sagen.“ „Weshalb hat Ihr Vater eingewilligt? Es war doch an ders vereinbart.“ „Ja schon, aber diese Vereinbarung stammte noch aus der Zeit vor der Scheidung. Inzwischen sind einige wert volle Stücke verschwunden. Das habe ich meinen Vater wissen lassen, und wir waren der Meinung, ich sollte nicht so lange warten, bis alles fortgeschleppt ist, was mir gehört.“ „Wer schleppt es Ihrer Meinung nach fort?“ „Ich weiß es nicht. Eines Tages sind die Stücke weg, meine Stiefmutter hat sie verschenkt oder zum Restaurie ren gegeben und kann sich offenbar nicht mehr erinnern, daß sie darüber gar nicht verfügen darf. Und ich stehe dumm da, denn es gibt nichts Schriftliches, die Schen kung beruht auf einer mündlichen Zusage meines Vaters. Falls meine Stiefmutter das jetzt bestreitet, kann ich gar nichts beweisen.“ „Haben Sie schon früher einmal etwas mitgenommen?“ „Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu.“ „Also ausgerechnet an dem Tage, an dem Ihr Vater ums Leben kommt, fangen Sie an, Ihre Erbschaft einzutrei ben. Und ich soll Ihnen glauben, daß es sich dabei um einen reinen Zufall handelt. Nein, Herr Löffler, damit kommen Sie bei mir nicht durch.“
Wolf-Dieter schwieg. „Nun? Ich erwarte eine Antwort. Eine ehrliche, ohne Ausflüchte.“ „Was soll ich Ihnen darauf antworten?“ Wolf-Dieter seufzte dramatisch und stützte den Kopf in die Hand. „Wenn ich jetzt sage, es war eine Vorahnung, werden Sie mir das ja doch nicht glauben.“ „Warum nicht? Vorahnungen kommen nicht von selbst. Es müssen gewisse Anzeichen vorliegen. Verborgene Hinweise, Ideenverbindungen. Lassen Sie mal hören, vielleicht können Sie mich überzeugen.“ „Eigentlich wollte ich davon gar nicht reden, aber Sie zwingen mich dazu. Wenn Ihnen also die Geschichte zu absurd erscheint, lachen Sie mich bitte nicht aus. Es war an jenem Dienstagabend. Ich hatte mich bereits verab schiedet und war im Begriff, das Haus zu verlassen, da läutete dort drüben das Telefon.“ Er deutete auf einen roten Apparat mit Drucktasten, der auf einem Tischchen in einer Nische neben der Bar stand. „Meine Stiefmutter hatte sich schon in ihre Zimmer im oberen Stockwerk zurückgezogen. Ich habe gerufen, doch sie gab keine Antwort. So nahm ich dann selbst den Hörer ab. Zunächst hörte ich nur ein Lallen und Stöhnen, bis ich schließlich begriff, daß es sich um einen Betrun kenen handelte, der meine Stiefmutter zu sprechen wünschte. Ich fragte ihn, worum es ginge, doch das woll te er mir nicht sagen, statt dessen bestand er hartnäckig darauf, ich solle seine Mutter ans Telefon holen. Natür lich dachte ich nicht daran, sie wegen irgendeiner Schnapslaune zu stören und erklärte, sie wäre bereits im Bett, und er möge es unterlassen, sie um diese Zeit noch
zu belästigen.“ Wolf-Dieter machte eine Pause, nahm einen Zigarillo aus der Blechschachtel und suchte nach dem Feuerzeug. „Und weiter?“ „Nachdem ich sein Ansinnen zurückgewiesen hatte, wurde er aggressiv. Er beschimpfte mich auf eine un glaubliche Weise. Ich möchte seine ordinären Ausdrücke nicht wiederholen, jedenfalls lief es darauf hinaus, daß ich ein Erbschleicher wäre. Und ich sollte mich freuen, weil der von mir ersehnte Augenblick nun gekommen wäre.“ „Haben Sie nicht gefragt, was das bedeuten soll?“ „Na sicher. Doch er lachte nur und fuhr fort, mich un flätig zu beschimpfen. Da wurde es mir zuviel, und ich legte auf.“ „Er sagte ,Erbschleicher’, und ,der ersehnte Augenblick sei für Sie gekommen’. Spätestens nachdem Sie vom Tode Ihres Vaters erfahren hatten, mußte Ihnen doch klargeworden sein, daß dieser Anruf ein wichtiges Indiz ist. Warum, zum Teufel, haben Sie uns nicht sofort in formiert?“ Wolf-Dieter zuckte die Schultern. „Mir kam das alles so unwirklich vor, wie ein schlechter Traum. Und ich kann auch noch immer nicht begreifen, was dieses Ge schwätz mit dem Tod meines Vaters zu tun haben soll.“ Heym schüttelte den Kopf und unterdrückte nur mit Mühe seinen Ärger. „Nannte der Anrufer seinen Namen?“ „Nein.“ „Aber Sie wissen natürlich, wer es war?“ „Nicht mit Sicherheit.“
„Weichen Sie nicht aus, Herr Löffler. Er wollte seine Mutter sprechen. Das läßt doch nur auf eine Person schließen.“ „Der Mensch war betrunken. Er röchelte und schluchz te und keuchte. Ich konnte ihn ja kaum verstehen.“ „Man erkennt die Stimme eines nahen Verwandten, und wenn er noch so betrunken ist.“ „Also gut, ich hatte den Eindruck, es war Hansi. Aber ich hielt sein Gerede für einen Bluff. Deshalb habe ich der Sache keine ernstliche Bedeutung beigemessen. Han si neigt unter Alkohol zu makabren Scherzen. Einmal hat er behauptet, er hätte mit dem Auto einen Radfahrer tot gefahren, ein andermal, er hätte meiner Frau Gift in den Tee getan. Jedesmal gab es eine Riesenaufregung, und am Ende stellte sich alles als Unfug heraus.“ „Immerhin haben Sie dem Anruf genug Bedeutung bei gemessen, um die Kaminuhr und die Barockengel mitzu nehmen.“ „Das hatte ich ja ohnehin vor.“ „Womit wir wieder am Anfang wären. Haben Sie über den Anruf mit jemandem gesprochen?“ „Nein.“ „Auch nicht mit Ihrer Frau?“ „Ich sagte bereits, ich hatte den Eindruck, es wäre nur ein geschmackloser Scherz gewesen.“ „Und ich habe den Eindruck, daß Sie nicht die Wahr heit sagen. Erst reden Sie von Vorahnung, dann von Bluff. Einerseits wollen Sie mit dem Anruf die Mitnahme der Kunstgegenstände begründen, andererseits messen Sie ihm keine Bedeutung bei.“ „Ich wußte ja, daß Sie mir nicht glauben würden“, sagte
Wolf-Dieter vorwurfsvoll und lockerte seine Krawatte. „Hätte ich nur nicht damit angefangen. Aber Moment mal, da fällt mir ein, Seidel müßte das Gespräch gehört haben. Er war im Flur, als ich ging.“ „Dann wollen wir mal Herrn Seidel befragen.“ WolfDieter sprang auf. „Ich werde ihn holen.“ „Warten Sie hier“, sagte Heym. „Das ist meine Sache.“ „Worum geht’s denn?“ Die beiden sahen sich um. Im Rundbogen zum Flur stand Seidel. „Was machen Sie denn da?“ fragte Heym. „Ich war in der Küche. Habe mir was zu essen geholt.“ Zum Beweis hob er beide Hände. In der rechten hielt er eine Flasche Bier, in der linken ein belegtes Brot. „Kommen Sie bitte her. Nehmen Sie Platz.“ Seidel kam widerwillig näher, stellte die Flasche auf den Tisch und ließ sich in einen Sessel fallen. „Hauptmann Heym, Kriminalpolizei. Bitte Ihren Na men und Ihren Beruf.“ „Seidel, Johannes, Kraftfahrer. Achtunddreißig, ge schieden, zwei Kinder.“ „Sie haben gehört, worüber gesprochen wurde?“ „Meinen Sie vielleicht, ich mache lange Ohren? Da sind Sie auf dem Holzweg. Hab bloß zufällig aufge schnappt, wie mein Name genannt wurde.“ „Herr Löffler sagt, er hätte am Dienstagabend hier tele foniert. Wissen Sie etwas davon?“ „Nee.“ Seidel biß in sein Brot und begann zu kauen. „Haben Sie vielleicht das Läuten gehört?“ „Ich habe überhaupt nichts gehört. Ich kam aus dem
Keller und wollte…“ „Das können Sie doch nicht behaupten“, unterbrach ihn Wolf-Dieter. „Sie standen im Flur und…“ „Bitte lassen Sie Herrn Seidel ausreden. Also, wie war das?“ „Gar nichts war. Als ich aus dem Keller kam, wie ge sagt, stand Herr Löffler an der Garderobe und zog seinen Mantel an. Da habe ich ihn rausgelassen und hinter ihm die Haustür abgeschlossen.“ „Erinnern Sie sich an die Zeit?“ „Halb zwölf.“ „Was hat sich sonst noch ereignet?“ „Nichts.“ „Das stimmt nicht!“ fuhr Wolf-Dieter auf. „Ich fragte Sie, ob meine Stiefmutter schon zu Bett sei, und Sie ant worteten, sie wäre im Bad. Und zuvor standen Sie im Flur und haben mich beobachtet. Also müssen Sie be merkt haben, daß ich telefoniert habe.“ „Nischt is“, sagte Seidel unbeeindruckt. „Das war frü her, bevor ich zum Heizen in den Keller gegangen bin. Und dann haben Sie die Uhr und die beiden Holzfiguren in Ihr Auto gebracht.“ „Woher wissen Sie das, wenn Sie im Keller waren?“ fragte Heym. „Ich habe ihn durch das Fenster vom Heizraum gese hen.“ „Bleiben Sie dabei, daß Sie von einem Telefongespräch nichts wissen?“ „Na klar!“ Wolf-Dieter schüttelte entrüstet den Kopf, unterließ a ber jeden Kommentar.
„In welchem Betrieb arbeiten Sie, Herr Seidel?“ „Autobahnbaukombinat.“ „Auf der Straße steht ein W-50-Muldenkipper. Ist das Ihr Fahrzeug?“ „Ja.“‘ „Haben Sie auch am Dienstag diesen Kipper gefah ren?“ „Dienstag? Ja, da hatte ich Spätschicht, daß von zwei Uhr mittags bis abends um acht auf dem Bock.“ „Dann sind Sie nach acht Uhr hier eingetroffen?“ „Halb neun. Mußte mich noch waschen und umziehen.“ „Haben Sie einen Beifahrer?“ „Ich brauche keinen, ich mache Erdtransporte.“ „Na, schönen Dank erst mal.“ Seidel erhob sich und griff nach seiner Bierflasche. „Kann ich gehen?“ „Ja, aber bleiben Sie bitte in der Nähe. Ich habe später noch einige Fragen an Sie.“ Kaum hatte Seidel das Zimmer verlassen, sagte WolfDieter mit wutbebender Stimme: „Das ist unglaublich! Dieser Mensch tut, als könnte er kein Wässerchen trüben, dabei spioniert er überall herum und lügt obendrein wie gedruckt.“ „Wie ist er eigentlich hier in das Haus gekommen?“ „Anfangs war es so gedacht, daß er nach dem Rechten sieht, wenn niemand da ist. Aber inzwischen ist er eine Art Faktotum geworden, pflegt den Garten, heizt, macht Reparaturen, Für meine Stiefmutter ist es sicher ange nehm, jemanden zu haben, der sich um die praktischen Dinge kümmert. Was er sonst noch treibt, weiß ich nicht, es geht mich auch nichts an. Aber eines möchte ich noch
einmal betonen: Er weiß ganz genau, daß ich telefoniert habe. Wenn er jetzt etwas anderes behauptet, tut er das nur aus Niedertracht.“ Heym lächelte, trank seinen Kaf fee aus, der inzwischen kalt geworden war, und stand auf. „Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Herr Löff ler. Es ist wie beim Bridge. Früher oder später stellt sich heraus, wer mit falschen Karten spielt.“
12 Der Freitagmorgen war kalt und regnerisch. Innerhalb von acht Tagen zog das dritte Tiefdruckgebiet vom Atlantik über die Nordsee nach Mitteleuropa. Zum Wochenende wurden „im Rahmen einer wechselhaften Gestaltung des Wettergeschehens örtlich verstärkte Schauertätigkeit und graupelversetzte Sturmböen“ voraus gesagt. Unterleutnant Kabel hatte die Meldung in den Frühnachrichten gehört. Seine gute Laune ließ er sich davon nicht verderben, denn mit den Ermittlungen ging es voran. Am vergangenen Abend kurz vor Ge schäftsschluß war aus einem An- und Verkaufsladen der Innenstadt eine vielversprechende Mitteilung eingegan gen. Ein junger Mann hatte eine Uhr in Kommission ge geben, die in allen Einzelheiten mit der Beschreibung der am Tatort verschwundenen Armbanduhr Manfred Löff lers übereinstimmte. Kabel hatte sich die Personalien des Mannes durchsagen lassen und einen Genossen beauf tragt, das Beweisstück sicherzustellen. Danach war er mit seinem Chef in telefonische Verbindung getreten, um ihn über die neue Lage zu informieren. Sie waren übereinge kommen, daß Kabels erste Amtshandlung am folgenden Morgen darin bestehen sollte, den Mann zu Hause aufzu
suchen und in die Dienststelle zu bringen. » Diese Aufgabe hatte der Unterleutnant inzwischen erle digt. Schwungvoll betrat er das Arbeitszimmer. „Guten Morgen, Genosse Hauptmann!“ sagte er mit drohender Stimme und rieb sich vergnügt die Hände. „Wir haben ihn. Er wartet im Vorzimmer.“ „Sehr schön.“ Heym blickte gequält von seinen Papie ren auf. Er hatte nicht besonders gut geschlafen, und Ka bels morgendliche Fröhlichkeit ging ihm auf die Nerven. „Was macht der Mann für einen Eindruck?“ „Naja, ziemlich phlegmatisch. War wohl sauer, daß er so früh aufstehen mußte. Ist in der letzten Nacht erst um zwei Uhr nach Hause gekommen.“ „So? Hat er Ihnen das erzählt?“ „Seine Mutter beklagte sich darüber. Eine sehr sympa thische Frau. Man könnte sie ohne weiteres für seine Schwester halten.“ „Alter, Beruf, Arbeitsstelle des Mannes?“ „Neunundzwanzig. Gelernter Werkzeugmacher, zur Zeit halbtags beschäftigt in einer Töpferei. Unverheiratet, wohnt bei den Eltern. Das Haus liegt übrigens keine fünf Minuten vom Tatort.“ „Tatsächlich?“ Heym dachte einen Augenblick nach, dann winkte er ab. „Hören wir erst einmal seine Aussage. Wie steht es mit der Familie?“ „Sein Vater ist Tierarzt, die Mutter Hausfrau. Früher war sie mal Sprechstundenhilfe. Es gibt noch vier jünge re Kinder in der Familie, alles Mädchen.“ „Zeigte er sich schuldbewußt?“ „Eigentlich nicht. Er wollte nur wissen, was wir mit ihm vorhaben. Als ich erklärte, das würde er in der
Dienststelle erfahren, gab er sich zufrieden und hat wäh rend der Fahrt geschlafen.“ „Gut, dann holen Sie ihn herein.“ Kabel begab sich ins Nebenzimmer und führte einen jungen Mann ins Büro. „Der Bürger Ulrich Bierbach“, stellte er ihn vor. Der Unterleutnant rückte einen Stuhl vor seinen Schreibtisch und forderte Bierbach auf, sich zu setzen. Bierbach blin zelte und ließ sich mißmutig nieder. Er war mittelgroß, bereits etwas dicklich, trug Parker, Jeans, hatte lange Haare und einen Vollbart. Nach einer Minute hätte man ihn in der Menge nicht mehr wiedererkannt. „Also, Herr Bierbach“, sagte Kabel, „Sie haben gestern eine Arm banduhr zum Verkauf angeboten. Stimmt das?“ Bierbach blickte mit Erstaunen von einem zum anderen. „Soll das heißen, es geht um nichts weiter als um diese Uhr?“ „Wie sind Sie zu der Uhr gekommen?“ Bierbach ignorierte Kabel und wandte sich an Heym. „Erst mal eine Gegenfrage. Was ist denn daran verboten, eine Uhr zu verkaufen? Sie sind doch bestimmt der Vor gesetzte von dem hier. Darf der mich bloß wegen einer blöden Uhr morgens um sechs aus dem Bett holen?“ „Vergessen Sie nicht, wo Sie sich befinden, Herr Bier bach. Das ist Unterleutnant Kabel. Er hat sich doch vor gestellt, oder nicht?“ Bierbach grinste verlegen. „Ich habe den Namen nicht mitgekriegt, bin noch ein bißchen verkatert.“ „Die Uhr stammt aus einer Straftat“, sagte Kabel. „Aus einer Straftat? Also ehrlich, davon weiß ich nichts.“ „Schön für Sie. Dann sagen Sie uns, wie sie in Ihren
Besitz geraten ist.“ „Was?“ „Die Uhr natürlich.“ „Sagen Sie mal, muß ich das eigentlich? Als Bürger hat man doch gewisse Rechte.“ Kabel schnaufte. „Wollen Sie sich der Beihilfe ver dächtig machen?“ „Nee, das nicht.“ „Dann reden Sie!“ „Ich habe sie eingetauscht.“ „Von wem?“ „Von so’nem Typ.“ „Was für ein Typ?“ „Ich kenne ihn nicht.“ „Beschreiben Sie ihn.“ „Kann ich nicht.“ „Warum nicht?“ „Ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Hatte schon zuviel getrunken.“ „Wann haben Sie die Uhr eingetauscht?“ „Vor ein paar Tagen.“ „Genauer bitte.“ „Anfang der Woche.“ „Noch genauer.“ „Muß ich erst mal nachdenken.“ „Dann denken Sie nach.“ „Ich glaube Dienstag.“ „Um welche Zeit am Dienstag?“ „Abends.“ „Jetzt reicht’s mir!“ Kabel schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen klirrten. „Wo waren Sie am Diens
tagabend? Wie kam es zu dem Tausch? Erzählen Sie das im Zusammenhang!“ Bierbach zog den Kopf ein, sicht lich beeindruckt von Kabels Temperamentsausbruch. „Ist ja schon gut, Mann. Ich war in der ,Tute’, habe Skat ge spielt mit’n paar Kumpels. Und wie’s sich so ergibt, wir hatten einen gekümmelt, da tauchte der Typ auf und wollte eine Uhr verhökern. Geld konnte ich ihm nicht geben, das brauchte ich für die Zeche, da hab ich sie ein getauscht gegen eine Flasche Klaren, die ich noch im Beutel hatte.“ „Um welche Zeit war das? Aber präzis.“ „Genau weiß ich’s nicht. Zwischen halb zehn und zehn.“ „Wie heißen die Zeugen?“ „Ich habe doch keine Zeugen.“ „Fangen Sie nicht schon wieder an! Sie sagten, Sie hät ten Skat gespielt. Mit wem?“ „Schrotti und Mülli.“ „Was sind denn das für Namen?“ „Wie? – Ach so, Schrotti heißt Neubert, Karl-Heinz. Und Mülli – Eberhard Jastro. Die grasen die Müllkippen ab, bringt allerhand ein, können Sie glauben.“ „Na bitte. Ihre Mitspieler müssen demnach den Mann gesehen haben, von dem Sie die Uhr eintauschten.“ „Die haben gar nichts gesehen. Ich habe den Tausch nicht in der Kneipe gemacht. Der Typ hat mich aufm Klo angequatscht. Und dann hat er draußen gewartet, und ich habe ihm bloß noch die Flasche gebracht.“ Kabel seufzte. „Eine goldene Uhr für eine Flasche Schnaps. Wem wollen Sie das erzählen?“ „Stimmt aber. Ist wirklich so gewesen.“
„Na wenn schon. Davon wird es auch nicht besser. Sie müßten sich doch gedacht haben, daß an der Sache etwas faul ist.“ „Nee, hab ich nicht. War ja auch nicht meine Sache.“ „Ich glaube Ihnen kein Wort, Herr Bierbach. Wir fan gen noch einmal von vorne an.“ „Was wollen Sie eigentlich?“ sagte Bierbach entrüstet. „Wenn ich gewußt hätte, daß die Uhr geklaut ist, hätte ich sie nicht zwei Tage später im An- und Verkaufsladen angeboten. So dämlich bin ich nun auch wieder nicht.“ „Darum geht es gar nicht. Sie haben den Mann ge kannt.“ „Hab ihn nicht gekannt“, brummte Bierbach bockig. „Ich werde es Ihnen beweisen.“ „Da kann ich ja nur lachen.“ „Mit einem Fremden hätten Sie sich auf das Geschäft gar nicht eingelassen. Sie hätten befürchtet, daß er Sie anschmiert.“ „Wieso denn? Der Kerl mußte unbedingt einen saufen, da war ihm der Preis egal. Eben ein Suchttyp. So was gibt’s doch.“ „Ein Suchttyp, aha! Eben wußten Sie nicht mehr, wie er aussieht, und jetzt können Sie ihn plötzlich so gut ein schätzen. Bei einem Unbekannten weiß man nicht auf den ersten Blick, ob er ein Gewohnheitstrinker ist, zumal wenn man selber angetrunken ist. Außerdem war das Vertrauen gegenseitig. Der Mann hat Ihnen die Uhr ge geben, und erst danach haben Sie ihm die Flasche raus gebracht.“ „Woher wissen Sie’n das?“ fragte Bierbach verblüfft. „Nein, auf die Masche legen Sie mich nicht ‘rein, das
habe ich nämlich gar nicht gesagt.“ „Sie haben gesagt: Und dann hat er draußen gewartet, und ich habe ihm bloß noch die Flasche gebracht. Das ist eindeutig.“ Bierbach starrte mißmutig auf den Fußboden, er schien nicht zu wissen, was er dagegen vorbringen sollte. Schließlich raffte er sich auf und sagte in gekränktem Ton: „Sie drehen einem ja das Wort im Munde um. Am besten ist, man redet überhaupt nicht mehr.“ „Wie heißt der Mann?“ Bierbach zuckte die Schultern und blickte aus dem Fen ster. „Gut, wie Sie wollen. Ihre Verstocktheit bringt Sie in den Verdacht, in die Straftat verwickelt zu sein. Wir werden also eine Hausdurchsuchung veranlassen.“ „Wo denn?“ „In Ihrer Wohnung natürlich.“ „Ich habe gar keine eigene Wohnung, ich wohne noch bei meinen Eltern.“ „Ja und? Die Haussuchung findet dort statt, wo Sie po lizeilich gemeldet sind.“ „Sie können nicht einfach das Haus von meinem Alten durchwühlen, bloß weil ich eine Uhr eingetauscht habe und nicht weiß, von wem.“ „Selbstverständlich können wir das. Sie haben sich hin reichend verdächtig gemacht.“ Bierbach rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. „Mann, hören Sie auf. Sie wollen doch nur bluffen. So einfach ist das gar nicht. Dazu brauchen Sie einen Haussuchungsbefehl.“ Kabel lächelte freundlich. „Den gibt mir der Staatsan walt in fünf Minuten. Bei der Sachlage kein Problem.“
„Mann, wenn Sie meinen Eltern die Bude auf den Kopf stellen, da flippt mein Vater aus. Das können Sie doch nicht wollen, daß der alte Herr wegen nichts und wieder nichts einen Herzinfarkt bekommt. So unmenschlich können Sie doch nicht sein. Und Louise würde mir das nie verzeihen.“ „Sagen Sie uns, von wem Sie die Uhr haben. Wenn Sie stur bleiben, gibt’s Ärger.“ „Sie bringen mich da ganz schön in die Bredouille!“ Bierbach griff sich in die Haare und wiegte seinen Ober körper wie ein Eisbär. „Was soll ich denn machen? Wenn ich hier nicht bei der Kripo wäre, würde ich so was Er pressung nennen! – Also gut, also gut, hau ich eben einen Kumpel in die Pfanne, bleibt mir ja nichts weiter übrig. Sein Name ist – mein Gott, ich habe ihm versprochen, nichts zu sagen, aber man wird ja systematisch demorali siert!“ Er wartete einen Augenblick, um seine Worte wirken zu lassen. Als er sah, daß er damit nichts erreichte, setzte er eine verzweifelte Miene auf und holte tief Atem. „O kay! Ich habe die Uhr von Hansi. Kann mir aber nicht denken, daß der sie geklaut hat.“ Heym und Kabel wechselten einen Blick. Kabel ver suchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen. „Han si? Und der Familienname?“ „Löffler. Der Sohn von dem Schauspieler. Kennt doch jeder.“ „Hans-Peter Löffler?“ „Na klar. Wir sind zusammen in die Schule gegangen.“ „Was hat Hans-Peter gesagt, als er Ihnen die Uhr gab?“ „Verrücktes Zeug hat er geredet, in Versen. Wer nie
mals einen Rausch gehabt, der ist kein braver Mann oder so ähnlich. Aber das macht er ja eigentlich immer.“ „Ist Ihnen sonst nichts aufgefallen an seinem Aussehen oder seinem Verhalten?“ ‘ „Nein.“ „Haben Sie ihn nicht gefragt, warum er die Uhr so bil lig weggibt?“ „Solche Sachen macht der öfter. Plötzlich kriegt er ei nen Rappel und will unbedingt irgend etwas haben, da ist es ihm ganz egal, was es kostet. Meistens, wenn er was zu trinken braucht.“ „Sie haben also die Notlage eines Kumpels rücksichts los ausgenutzt?“ Bierbach hob abwehrend beide Hände. „Nun kommen Sie mir bloß nicht moralisch! Die Uhr wäre sowieso hin gewesen, Wenn er von mir keinen Schnaps gekriegt hät te, hätte er sie an irgendeinen anderen verscheuert. Ich habe schon erlebt, daß er einem Knilch einen Hunderter gegeben hat, bloß damit der ihn mal auf seinem Motorrad ‘ne Runde drehen läßt.“ „Warum ist er nicht in den Schankraum gegangen, wenn er etwas trinken wollte?“ „Hab ich ihn auch gefragt. Er sagte, er hätte kein Bares.“ „Gibt ihm der Wirt keinen Kredit? Er ist doch im ,Posthorn’ Stammgast.“ „Weiß ich nicht. Er wollte eben nicht reinkommen. Er brauchte eine Flasche und hatte es eilig.“ „Weshalb? Wurde er von jemandem erwartet, von sei ner Freundin vielleicht?“ „Glaube ich nicht. Der hat keine Freundin. Die Mäd
chen, die er kriegen könnte, die sind ihm zu dumm. Und die, die er haben möchte, die lachen ihn aus. Deswegen säuft er ja.“ „Aber einen Freund hat er doch?“ „Nee, hat er eigentlich auch nicht. Weil er nämlich ei nen Sprung in der Schüssel hat. Läuft nicht ganz rund, wie man so sagt, mit dem hält’s keiner aus. Und er selber will auch keinen, sind ihm alle zu blöd. Sein bester Freund ist der Hund, auf den kann man sich wenigstens verlassen, hat er jedenfalls mal behauptet.“ „Hatte er zu diesem Zeitpunkt schon getrunken?“ „Kann man bei dem nie sagen. Manchmal spielt er bloß den Besoffenen, und wenn man denkt, er ist nüchtern, fällt er plötzlich vom Stuhl.“ „Na gut. Jetzt brauchen Sie noch jemanden, Herr Bier bach, der Ihre Angaben bestätigen kann.“ „Ich habe doch schon gesagt, es gibt keine Zeugen. Im Klo waren wir alleine. Und ob ihn sonst noch einer gese hen hat, weiß ich nicht. So, das ist alles. Kann ich jetzt gehen?“ „Erst müssen wir Ihre Aussage prüfen. Wenn sich her ausstellt, daß Sie die Wahrheit gesagt haben, können Sie selbstverständlich gehen.“ „Verstehe ich nicht“ sagte Bierbach erregt. „Sie haben doch die verdammte Uhr. Warum machen Sie so ein Theater?“ „Weil die Uhr Manfred Löffler gehörte. Und weil sie ihm am Dienstagabend gestohlen wurde.“ „Na meinetwegen. Trifft ja keinen Armen. Wieso muß ich das ausbaden, wenn Hansi seinem Alten eine Uhr klaut? Ich hatte keine Ahnung davon, sonst hätte ich sie
nicht genommen.“ „Sie wissen nicht, was passiert ist? Oder stellen Sie sich nur dumm?“ „Nun hören Sie aber auf! Ich war die letzten zwei Tage in Treuenbrietzen, hab’ aushilfsweise bei der ,PoppMopp-Band’ als Schlagzeuger gearbeitet. Und weiter weiß ich überhaupt nichts.“ „Auch das werden wir prüfen.“ „Also was ist denn nun Großartiges passiert?“ „Man hat Herrn Löffler nicht nur die Uhr gestohlen. Man hat ihn umgebracht.“ „Umgebracht? Wie denn? Wann denn?“ „Am Dienstagabend.“ „Und das sagen Sie mir erst jetzt?“ stöhnte Bierbach. In seinen Augen stand das blanke Entsetzen. „Wie ich mei nen Kumpel Hansi kenne, wird der doch alles abstreiten. Und ich falle mal wieder voll auf die Schnauze, ich Idi ot!“
13 In Begleitung eines Oberwachtmeisters hatte Ulrich Bierbach das Büro verlassen. Kabel wolle sich eben mit Feuereifer auf die Verdachtsmomente gegen Hans-Peter Löffler stürzen, als auf Heyms Schreibtisch das Telefon schrillte. Die Wache meldete, ein Bürger namens Fröhlich sei erschienen, der sich im Zustand höchster Erregung befände und in der Ermittlungssache Löffler eine Anzeige zu machen wünsche. Ob man ihn raufschicken solle? Zwei Minuten später polterte Karl Fröhlich ins Zimmer. Er hatte rote Flecke im Gesicht, und seine Hände knete
ten eine Stoffwurst, die kaum noch Ähnlichkeit besaß mit der Schottenmütze, die ihm kürzlich seine Frau zum Ge burtstag geschenkt hatte. „Meinen guten Namen wollen sie mir versauen, die Lumpen!“ krächzte er. „In Mordverdacht bringen wollen sie mich! Aber bei mir nicht. Ich mache eine Anzeige, jawoll, egal was passiert. Ich lasse mir nicht an die Wim pern klimpern, ich nicht!“ „Nehmen Sie erst einmal Platz, Herr Fröhlich“, sagte Heym beruhigend. „Und dann erzählen Sie bitte schön der Reihe nach.“ „Entschuldigung, aber ich brauche Auslauf, sonst platze ich vor Wut. Im Bus bin ich auch immer hin und her ge rannt.“ „Also worum geht’s denn?“ „Mein Fahrradanhänger! Stellen Sie sich vor, mein Fahrradanhänger ist weg! Gestern war er noch da. Sie wissen ja, ich habe die Woche Spätschicht. Als ich um halb zwei weggefahren bin, stand er noch im Schuppen, und heute morgen ist er einfach weg. Verschwunden, geklaut! Und deswegen mache ich eine Anzeige. So! Damit mir keiner an den Wagen kann.“ „Schon in Ordnung, Herr Fröhlich. Gewiß ist es ärger lich, wenn einem der Fahrradanhänger gestohlen wird, aber Sie hätten sich deshalb nicht den weiten Weg zur Bezirksbehörde machen müssen. Für die Anzeige ist Ihr ABV zuständig.“ „Sehen Sie, sehen Sie! Genauso hat der Schweinehund auch gedacht. Aber was ist, wenn der ABV keinen Dienst hat? Oder er ist krank oder nicht zu Hause? Dann wird die Anzeige verschoben, nicht wahr? Ist ja man bloß ein
Fahrradanhänger. Aber auf den Leim läßt sich Fröhlich nicht locken, der nicht. Überlegen Sie mal: Der Fahrrad hänger ist doch nicht zufällig weg. Wenn einer einen Hänger braucht, warum klaut er den ausgerechnet bei mir, so ganz ohne Sinn? Nee, da steckt was anderes da hinter, da besteht ein Zusammenhang. Seit zwei Tagen sucht die Kripo bei uns in der Siedlung, wo ein Hänger fehlt. Und heute kommen sie vielleicht zu mir und fra gen, bitte schön, Herr Fröhlich, wo ist denn Ihr Hänger? Und was dann?“ Karl Fröhlich hieb wütend seine Schottenmütze durch die Luft und fuhr fort: „Ich war auf dem Müllplatz. Ich habe den toten Herrn Löffler gefunden, und ein Fahrrad anhänger stand auch daneben. Den hat die Polizei zur Untersuchung. Und meiner ist plötzlich verschwunden, und nichts ist gemeldet. Na, da wird doch der Dümmste stutzig, und die Polizei muß sich fragen, was ist denn das für einer, dieser Fröhlich Karl? Schon werden Nachfor schungen angestellt. Und was kommt ‘raus? Ich sage es Ihnen jetzt freiwillig, und ohne daß Sie mich zwingen müssen. Ich habe mit dem Toten Streit gehabt, und zwar, als er noch lebendig war. Habe mir gedacht, wirst nicht weiter drüber reden, ist nicht so wichtig, aber jetzt, wo mein Hänger verschwunden ist, da sieht die Sache anders aus. Also, so vor vier, fünf Wochen war es, an. einem Sonnabendvormittag. Ich war mit meinem Pinscher spa zieren, Quinte heißt er, ein ganz friedliches Tier, nur wenn er wen nicht leiden kann, da wird er manchmal krötig. Wir gehen so spazieren und kommen auch am Hundeplatz vorbei, wo sie die großen Köter abrichten und auf Mann dressieren. Und ich sage noch zu Quinte,
siehste Quinte, wie deine Artgenossen springen müssen für ihr täglich Brot, da kannst du mal sehen, wie gut du es hast, du fauler Knochen, und plötzlich kommt so ein jungscher Mensch mit einem großen braunen Viech von einem Hund, und der fällt doch über meinen Quinte her. Es gibt eine wilde Beißerei, und als ich Quinte zu Hilfe kommen will, da fährt mir doch der Braune ans Bein und zerreißt mir die Hose. Ich bin bestimmt ein geduldiger Mensch, aber da gingen mir dann doch die Knöppe auf! Sagt der Kerl zu mir, es wäre alles meine Schuld, als Fremder hätte ich auf dem Hundeplatz nichts zu suchen und schon gar nicht mit so einer Promenadenmischung. Wie wir uns noch rumstreiten, kommt ein Auto angefah ren und ein Mann steigt aus und fragt, was los ist, und das war der Schauspieler Löffler. Erst stößt er dem Jung schen Bescheid – es war sein Sohn, wie ich später erfah ren habe – , weil der nicht aufgepaßt hat, und der muß mit dem Köter hinten ins Auto steigen. Dann kommt er zu mir und fragt, worauf ich noch warten täte. Ich war natürlich immer noch stockwütend und sagte, ich will meine Hose bezahlt haben. Darauf sagt er, eigentlich hät te ich keinerlei Rechtsanspruch gemäß unbefugten Betre tens von Privatgelände oder so ähnlich, aber er wünsche keinen Trouble und würde ausnahmsweise seine Versi cherung veranlassen, mir den Schaden zu ersetzen. Und das alles sagte er auf eine so hochnäsige Tour, daß ich ihm an liebsten eins in die Schnauze gehauen hätte. Statt dessen lasse ich mich belatschern, nehme seine Visiten karte und sage ihm meinen Namen und meine Adresse. Aber ehrlich, es tut mir heute noch leid, daß ich mich zurückgehalten habe, auch wenn die Hose futsch gewe
sen wäre, denn bis jetzt habe ich sowieso noch nichts gekriegt von der Versicherung außer einer Postkarte, auf der steht, daß sie den Fall bearbeiten.“ Heym nickte. „Ich verstehe Sie, Herr Fröhlich. Sie be fürchten, wir könnten Ihren Ärger über die zerrissene Hose für ein Tatmotiv halten.“ „Richtig. Deswegen bin ich gleich hergekommen, da mit Sie so was erst gar nicht denken. Mein Hänger sieht nämlich fast genau so aus wie der von dem Müllplatz.“ „Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl Ihres Hängers und dem Umstand, daß Sie den Toten gefunden haben. Gibt es dafür irgendeinen Hin weis?“‘ „Na klar! Der Lump will mich in Verdacht bringen. Und außerdem hat er nun selber wieder einen Hänger, den er vorzeigen kann, wenn die Polizei kommt. Ist doch logisch.“ „Logisch ist es vielleicht, aber deshalb muß es doch nicht wahr sein. Einen konkreten Hinweis auf den Hän gerdieb haben Sie also nicht?“ „Wieso? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, was der für Gründe hat.“ „Ich meine, ob Sie Schuhspuren bemerkt haben oder sonstige Spuren, oder ob es jemanden gibt, der ihn gese hen haben könnte?“ Karl Fröhlich schüttelte den Kopf. „Habe nichts be merkt. Und so dumm wird der auch nicht sein, sich beim Klauen erwischen zu lassen. Das ist ein ganz gerissener Hund, der wußte genau, daß ich Spätschicht hatte und daß meine Frau als Verkäuferin erst um halb sieben nach Hause kommt.“
„Sie haben doch einen Hund. Wo war denn der?“ „Quinte ist im Haus eingesperrt, wenn wir nicht da sind. Der Gartenzaun hat ein paar Löcher, die muß ich im Frühjahr erst zumachen. Das hat der Strolch alles ausspi oniert, sonst hätte er sich gar nicht reingetraut.“ „Gut, Herr Fröhlich, wir danken Ihnen, daß Sie uns so prompt informiert haben. Noch heute werden wir Ihnen die Genossen von der Spurensicherung schicken.“ „Sonst wollen Sie nichts unternehmen?“ fragte Fröhlich enttäuscht. „Was sollten wir Ihrer Meinung nach unternehmen?“ „Der Mörder muß bei mir in der Nähe wohnen. Der kennt mich, der beobachtet mich. Wenn der rauskriegt, daß ich mit der Polizei zusammenarbeite, dann bringt der mich womöglich auch noch um. Und der kriegt das ‘raus! Der hat ja auch nichts mehr zu verlieren. Wenn der einen Mord gemacht hat, kann er auch einen zweiten oder drit ten machen, das ist dem doch jetzt schon egal.“ „Nun, ich denke, in diesem Punkte sind Ihre Sorgen unbegründet, Herr Fröhlich. Gehen Sie nach Hause und warten Sie ruhig ab, was die Ermittlungen ergeben.“ „Ja, aber…“ Karl Fröhlich schnappte nach Luft. „Sollte ich nicht wenigstens ein bißchen rumhorchen in der Nachbarschaft? Vielleicht könnte ich dabei noch mehr erfahren.“ „Auf gar keinen Fall“, sagte Heym mit Entschiedenheit. „Das ist allein unsere Aufgabe. Und wenn ich Sie bitten darf, reden Sie in der Öffentlichkeit auch nicht über Ihre Vermutungen. Dadurch entstehen nur Gerüchte.“ „Bitte, wenn Sie meinen“, erwiderte Fröhlich gekränkt, „werde ich mich eben um nichts mehr kümmern. Dabei
heißt es doch immer, die Mitarbeit der Bevölkerung und so.“ „Unter Mitarbeit ist zu verstehen, daß Sie uns wissen lassen, was Ihnen im Zusammenhang mit einer Straftat bekannt wird. So wie Sie das heute getan haben. Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar. Es bedeutet aber nicht, daß Sie auf eigene Faust Detektiv spielen sollen. Das wäre ja auch für den Bürger viel zu gefährlich, nicht wahr?“ Nach kurzem Nachdenken stimmte Herr Fröhlich dieser Ansicht zu. Versöhnt reichte er den Kriminalisten die Hand, dankte dafür, daß man ihm so lange zugehört hatte und entfernte sich im Besitze der Versicherung, einen wichtigen Beitrag zur Lösung einer Straftat geleistet zu haben. Während des Gesprächs zwischen Heym und Fröhlich hatte Kabel seine Ungeduld kaum noch bezwin gen können. Jetzt sprang er auf und sagte: „Also noch einmal zurück zu diesem Bierbach. Wenn der nicht gelo gen hat, bin ich verdammt neugierig, wie sich Hans-Peter Löffler aus der Klemme ziehen will. Irgendwie kommt mir Bierbachs Geschichte ein bißchen verrückt vor, ob wohl ich nicht sagen möchte, daß sie völlig aus der Luft gegriffen ist. Andererseits läßt sich nur schwer vorstellen, daß der junge Löffler ein so kompletter Schwachkopf ist, eine Uhr zu vertauschen, die er gerade erst seinem Vater gestohlen hat.“ Heym zeigte wenig Neigung, über eine Hypothese zu diskutieren, die noch zur Hälfte in der Luft hing. Statt dessen berichtete er seinem Kollegen, was er am Abend zuvor von Wolf-Dieter Löffler über den Tele fonanruf erfahren hatte, der in der Tatnacht angeblich von Hans-Peter gekommen war. Allerdings hatte der Kraftfahrer Johannes Seidel auch bei einer zweiten Be
fragung Wolf-Dieters Aussage nicht bestätigt. Kabels Ungeduld näherte sich dem Siedepunkt. Er eilte zum Schrank und zerrte seinen Anorak vom Bügel. „Trotz dem“, sagte er über die Schulter, „wenn man die beiden Aussagen zusammenrechnet, ist das ein dicker Hund. Wir sollten keine Minute mehr verlieren und uns den Knaben jetzt mal richtig vorknöpfen.“ „Moment noch. Setzen Sie sich wieder hin. Ich möchte erst einmal hören, zu welchem Ergebnis Ihr Gespräch mit Rechtsanwalt Specht geführt hat.“ Kabel legte den Anorak über die Stuhllehne, nahm Platz und faltete wie ein braver Schüler die Hände auf dem Schreibtisch. „Doktor Specht ist ein vielbeschäftig ter Mann, etwa sechzig Jahre alt, klein, agil – unser Ge spräch dauerte fünf Minuten. Im Telegrammstil teilte er mir mit, daß Manfred Löffler und seine damalige Ehefrau Ilse kurz nach dem Tode ihrer Tochter Cordula, also vor vierzehneinhalb Jahren, ein gemeinsames Testament auf setzen ließen, in dem sie sich gegenseitig zu Universaler ben ernannten. Dreißig Prozent des Vermögens sollten zu je einem Drittel an die Kinder Wolf-Dieter, Barbara und Hans-Peter fallen, allerdings nur dann, wenn Manfred Löffler vor seiner Frau sterben sollte. Die gleiche Bedin gung gilt für ein Legat von zwanzigtausend Mark an Frau Lina Willroth, das vor fünf Jahren dem Testament hinzu gefügt wurde. Das Landhaus in Altgolmen ist mit einem Wert von fünfzigtausend Mark Löfflers Sohn WolfDieter zugesichert, wobei je nach Vermögenslage ein Wertausgleich zwischen den erbberechtigten Kindern vorgesehen war. Inzwischen ist durch die Scheidung der Eheleute Löffler eine neue Lage eingetreten. Frau Ilse
machte fünfzig Prozent des Gesamtvermögens inklusive des Landhauses zur Bedingung für ihre Einwilligung in die Scheidung. Da Manfred Löffler auf eine schnelle Scheidung drängte, war es nicht möglich, in der Kürze der Zeit den Wert des Gesamtvermögens exakt zu ermit teln, so daß sich die Parteien auf eine mündliche Verein barung verständigten, die dann später, nach der Festle gung des Vermögenswertes durch noch zu bestellende Sachverständige in einem schriftlichen Vertrag endgültig fixiert werden sollte. Durch Manfred Löfflers Tod ist die mündliche Vereinbarung jedoch hinfällig. Das gemein same Testament besitzt in allen seinen Bestimmungen volle Rechtskraft.“ „Was wußte Doktor Specht über Manfred Löfflers Ab sicht, am Tage nach der Hochzeit ein neues Testament zu verkünden?“ fragte Heym. „Löffler hatte Doktor Specht gebeten, an dieser Famili enveranstaltung teilzunehmen und ihn in einem kurzen Gespräch wissen lassen, er beabsichtige eine Neurege lung der Erbverteilung unter seinen. Kindern, wobei sein noch ungeborenes Kind von Bettina Sommer besonders berücksichtigt werden sollte. Weitergehende Einzelheiten waren nicht zur Sprache gekommen.“ „Löfflers Tod“, sagte Heym, „hat also Bettina Sommer und ihr Kind besonders betroffen. In finanzieller Hinsicht sind sie sogar die einzigen Leidtragenden.“ „Das meinte auch Doktor Specht. Wäre Manfred Löff ler nur wenige Tage später gestorben, dann wäre Bettina als Ehefrau seine Rechtsnachfolgerin gewesen und hätte die Hälfte des gesamten Vermögens bekommen.“ „Haben Sie sonst noch etwas von Doktor Specht erfah
ren? Nein? Na gut. Dann werde ich mich jetzt um HansPeter Löffler kümmern. Und Sie überprüfen die Aussage von Ulrich Bierbach. Befragen Sie die Familie, und se hen Sie zu, was Sie im Restaurant ,Zum Posthorn’ über den Dienstagabend erfahren, können. Möglicherweise finden Sie doch jemanden, der bestätigt, daß Hans-Peter zu der von Bierbach genannten Zeit dort war. Wenn nicht, müssen Sie die beiden Skatspieler Neubert und Jastro ermitteln. Vielleicht bringt uns das weiter.“ „Was wird denn aus der Suche nach dem Hängerbesit zer? Ich bin in einer halben Stunde mit dem ABV Sitte verabredet.“ „Sagen Sie ihm, er soll allein weitermachen. Informie ren Sie ihn über die Anzeige von Herrn Fröhlich. Die Idee, daß der Gesuchte in Fröhlichs Nachbarschaft wohnt, klingt gar nicht so Verkehrt. Jedenfalls soll sich der Genosse Sitte Fröhlichs Hänger gründlich beschrei ben lassen und bei seinen Kontrollen darauf achten.“ „Geht in Ordnung.“ Kabel zögerte, dann sagte er in plötzlichem Entschluß: „Kann ich nicht erst mal bei der Vernehmung von Hans-Peter Löffler dabeisein, Genosse Hauptmann? Vielleicht kriegen wir ein Geständnis und alle weitere Arbeit ist überflüssig.“ Heym schüttelte lächelnd den Kopf. „Tut mir leid. Sie müssen den Sachverhalt Bierbach klären. Wir können den Mann nicht länger als unbedingt nötig festhalten.“ „Dann werde ich mich auf die Socken machen“, seufzte Kabel. „Aber gerecht finde ich es nicht. Der Nachwuchs macht den Routinekram, und der Chef pickt sich die Rosinen ‘raus. Wie soll man dabei etwas lernen?“
14 Mit schnellen Schritten durchquerte Heym den Vorgarten der Löffler-Villa. Unter dem Baldachin über der Haustür fand er Schutz vor dem Regen. Er drückte auf den blankgeputzten Klingelknopf. Bettina Sommer öffnete. Sie trug ein locker sitzendes schwarzes Kleid mit weißem Kragen. Ihr blondes Haar war in der Mitte gescheitelt und über den Ohren zu Zöp fen zusammengebunden. Als sie Heym erblickte, schlug sie die Augen nieder. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen. „Ich fürchte, ich habe mich vorgestern ziemlich schlecht benommen“, sagte sie. „Bitte entschuldigen Sie. Es gibt Tage, da bin ich unausstehlich.“ Heym war von ihrem veränderten Benehmen sichtlich überrascht. „Reden wir nicht mehr davon, Frau Som mer.“ Sie lächelte dankbar, ließ ihn eintreten und nahm ihm Mütze und Mantel ab. Keine Spur von Anmaßung mehr, keine Allüren. Heym hatte Mühe, in dieser be scheiden wirkenden jungen Frau den hochfahrenden Vamp wiederzuerkennen, als den er sie vor kurzem erlebt hatte. Er fand nur zwei Erklärungen. Entweder war sie eine hervorragende Schauspielerin, oder der Tod ihres zukünftigen Mannes hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht und ihre Haltung grundlegend verändert. „Was kann ich für Sie tun, Herr Hauptmann?“ „Ich möchte Hans-Peter sprechen.“ „Er ist in seinem Zimmer. Aber bitte kommen Sie doch herein.“ Sie führte Heym in die Wohnhalle und bot ihm einen Sessel an. „Wenn Sie mich einen Augenblick ent schuldigen, werde ich ihn rufen.“
Trotz ihres hochschwangeren Zustandes lief sie leicht füßig die Treppe zur Galerie hinauf. Heym hörte, wie sie im ersten Stockwerk an eine Tür klopfte. Es gab einen kurzen, gedämpften Wortwechsel; gleich darauf erschien sie wieder in der Halle. „Er kommt sofort, er will sich nur etwas anziehen. Es geht ihm heute nicht besonders gut. Nervöse Magenbe schwerden. Aber das ist ja verständlich bei all der Aufre gung. – Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht?“ „Nein danke.“ Sie nickte und setzte sich Heym gegenüber auf die Lehne eines Sessels, kreuzte die Beine und legte die Hände in den Schoß. Sie schwiegen. Eine Minute verging. Dann klappte eine Tür, und HansPeter kam die Treppe herunter. Er hatte sich in einen dunkelroten Bademantel gewickelt, unter dem die Beine eines gelben Pyjamas hervorsahen. Die nackten Füße steckten in Fellpantoffeln. Bettina erhob sich. „Sicher wollen Sie das Gespräch unter vier Augen führen.“ Heym widersprach nicht. Bettina lächelte Hans-Peter aufmunternd zu und ver schwand. Der junge Löffler hatte die Hände tief in den Manteltaschen. „Morgen!“ sagte er brummig und ließ sich in einen Sessel sinken, „Was gibt’s denn schon so früh? Mir geht’s nämlich zum Kotzen, wenn Sie den schlichten Ausdruck gestatten.“ Aus der Tasche seines Bademantels brachte er eine halbe Flasche Kräuterlikör zum Vorschein. „Sie erlauben doch? Ich habe noch nicht gefrühstückt.“ Er schraubte sie auf und nahm einen lan gen Schluck.
„Sie kennen Ulrich Bierbach?“ „Gewiß.“ „Er hat gestern versucht, die Armbanduhr Ihres Vaters zu verkaufen.“ „Ach herrje!“ „Herr Bierbach behauptet, er hätte die Uhr von Ihnen bekommen. Am Dienstagabend im Restaurant ,Zum Posthorn’.“ Hans-Peter schwieg. Er machte ein Gesicht, als hätte ihn eine schwere Enttäuschung getroffen. „Nun, was sagen Sie dazu?“ drängte Heym. „Ich bin erschüttert.“ „Haben Sie Bierbach die Uhr gegeben oder nicht?“ „Selbstverständlich.“ „Und weiter? Ich verlange eine Erklärung.“ „Die Erklärung ist denkbar einfach. Am Dienstag war scheußliches Wetter. Ich kam durchfroren und naß bis auf die Knochen nach Hause. Ich war verstimmt, verär gert, niedergeschlagen, kurz, in einer saumäßigen Verfas sung. In dieser Lage bedarf man dringend eines Trostes. Verständlich, nicht wahr?“ „Kommen Sie zur Sache.“ „Nur gemach, ich bin ja auf dem Wege. Die alkoholi schen Erfrischungen in diesem Hause sind mir unzugäng lich. Mein letztes Geld hatte der Bus verschlungen, und die Damen Willroth und Christina verweigern mir schnöde jeden Kredit. So sah ich mich gezwungen, mir aus der Nachttischschublade meines Vaters eine Uhr an zueignen, und sie gegen eine Flasche Lebensfreude ein zutauschen.“ „Wie denn?“ sagte Heym ärgerlich, „Sie wollen mir weismachen, Sie hätten die Uhr aus dem Nachttisch ge
nommen? Das ist doch lächerlich! Es handelt sich um die Uhr, die Ihr Vater an seinem Todestag trug und die am Tatort gestohlen wurde.“ „Ich enttäusche Sie ungern“, sagte Hans-Peter, „aber das ist unmöglich.“ „Die Uhr entspricht haargenau der Beschreibung, die Frau von Oxkill gegeben hat.“ „Wer bestreitet denn das? Doch Sie übersehen die Tat sache, daß mein Vater eine ganze Uhrensammlung in seinem Nachttisch aufbewahrt. Er kaufte sie wie andere Leute Kaugummis. Sie können sich davon überzeugen. Von der Rolex, zum Beispiel erwarb er drei Stück. Auf den Filmfestspielen in Cannes, zu einem Spottpreis bei einem Straßenhändler. Eine verehrte er seinem vorbildli chen Sohn Wolf-Dieter, die zweite war für mich be stimmt. Sie wurde mir aber nicht ausgehändigt, weil ich just zu dieser Zeit wegen unliebsamen Betragens in Un gnade gefallen war.“ „Sie wollen also in der Tatnacht ausgerechnet diese Uhr aus dem Nachttisch genommen haben?“ „Warum nicht? Sie stand mir doch gewissermaßen zu. Wenn ich gewußt hätte, was passiert war, hätte ich natür lich eine andere Uhr genommen oder eines von den über flüssigen Schnupftabakdöschen, die dort drüben in den Regalen verstauben.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter auf eine Nußbaumvitrine, hinter deren gewölbten Scheiben eine Kollektion barocker Nippsachen aufgereiht war. Heym ging darauf nicht ein. Es war ihm allmählich zu wider, über die merkwürdigen Begriffe von Eigentum zu streiten, die von den Söhnen der Familie Löffler gehegt
wurden. Er sagte: „Frau von Oxkill erwähnte nichts vom Vorhandensein dreier gleicher Uhren. Wie erklären Sie das?“ „Vielleicht wußte sie nichts davon. Vielleicht hat sie es vergessen, sie ist immerhin fast achtzig Jahre alt. Daß die Uhren vorhanden waren, daran gibt es keinen Zweifel. Fragen Sie meine Mutter, fragen Sie meinetwegen auch Wolf-Dieter oder seine schöne Verena.“ „Gestern haben Sie zu Protokoll gegeben, Sie wären um neunzehn Uhr zwanzig zu Hause gewesen und hätten danach das Haus nicht mehr verlassen. Das war ganz offensichtlich gelogen. Daraus folgt, daß Sie auch die Gelegenheit hatten am Tatort gewesen zu sein.“ Hans-Peter riß die Augen auf, beugte sich nach vorn und begann prustend zu lachen. „Sie meinen…“, japste er, „Sie denken, ich, Hans-Peter Löffler, hätte meinen eigenen hochverehrten Herrn Vater gemeuchelt, um ihm seine Armbanduhr zu rauben? Du lieber Himmel, Herr Hauptmann! Da sind Sie aber gar schrecklich auf dem Holzweg!“ Er lehnte sich zurück und wurde unversehens wieder ernst. „Gut, ich räume ein, auf den ersten Blick hätte das Hercule Poirot vielleicht auch gedacht, aber auf den zweiten Blick, ich bitte Sie, da wären doch gewisse Zweifel angezeigt. Gesetzt einmal den absurden Fall, ich hätte die Missetat begangen. Wäre ich da wohl am glei chen Abend mit der Uhr in die ,Tute’ gerannt? Das hätte doch praktisch bedeutet, Selbstmord zu begehen. Und ganz so weit bin ich nun trotz meines desolaten Zustan des doch noch nicht. Außerdem ist auch seine Brieftasche verschwunden, und die war, soviel ich hörte, recht üppig
gepolstert. Folgt daraus, ich hätte es gar nicht nötig ge habt, die Uhr zu versetzen. Ich hätte mir bei Schweineba cke eine ganze Batterie von Labeflaschen kaufen kön nen.“ „Schweinebacke?“ „So nennt der Volksmund den geldgierigen Sack, der die ,Tute’ bewirtschaftet. – Nein, weiß Gott, ich bin nicht der Typ, der mordet wegen einiger Moneten und einer goldenen Uhr. Das entspricht nicht meiner Auffassung von Lebenskunst. Ich bediene mich am Überfluß, ich nehme, falls die Umstände es erfordern, von den sinnlos aufgehäuften Schätzen. Schlicht gesagt, ich klaue ein bißchen, aber nur bei Leuten, denen es nicht weh tut. Meine laxe Haltung in puncto Eigentum mag Sie verbit tern, allein von Amts wegen sind Sie ja schon dazu ver pflichtet, aber versetzen Sie sich doch einmal in meine Lage. In diesem Haus werden Unsummen verschwendet, nur um sich selbst und einigen Hohlköpfen Kultur vorzu täuschen. Scheiße ist das! Und ich soll mich zu gleicher Zeit für ein paar Pfennige abrackern, bis ich umfalle. Wozu denn? Damit ich ein Held bin? Oder damit mein Herr Erzeuger vor aller Welt beweisen kann, daß er ein erfolgreicher Pädagoge ist? Daß ich nicht lache! Warum läßt man mich nicht in Frieden meine Art von Leben füh ren? Ich brauchte dazu ja nur die paar Brosamen, die vom Tisch meines Vaters fallen, aber nein! Wenn ich als er wachsener Mensch hin und wieder einmal das Bedürfnis habe, einen Schnaps zu trinken, dann ist kein Tröpfchen vorhanden. Dann sind die Vorräte verriegelt und ver rammelt wie der heilige Gral.“ Hans-Peter blies entrüstet die Backen auf und zog den Kräuterlikör aus der Tasche
des Bademantels. Er bediente sich reichlich und ließ die Flasche wieder verschwinden. „Entschuldigen Sie meine Beredsamkeit“, brummte er, „aber ich hatte den Ein druck, Ihnen eine Erklärung schuldig zu sein.“ „Gut, diese Gelegenheit haben Sie gehabt. Jetzt möchte ich hören, wie Sie nun wirklich den Dienstagabend ver bracht haben. In allen Einzelheiten bitte.“ „Immer noch mißtrauisch?“ Hans-Peter zuckte mit den Achseln. „Nun denn! Kurz vor halb acht kam ich nach Hause und bin sofort in mein Zimmer geflattert. Ich kroch ins Bett und hielt Zwiesprache mit einem Restchen Kümmel und dem Satan, der sich in Moskau eingenistet hat. Er hext, daß sich den Leuten die Haare sträuben. Ru bel in Dollars, Sowjetbürger in Eber, Trugbilder in Tat sachen. Weltliteratur. Sollten Sie unbedingt lesen.“ „Die Empfehlung ist überflüssig“, sagte Heym. „Ich kenne Bulgakow. – Als Sie nach Hause kamen, haben Sie geflucht und mit den Türen geschlagen. Warum?“ „Schon möglich. So etwas kommt bei mir öfter vor. Ich bin leicht erregbar, sagt mein Psychiater.“ „Was Ihr Psychiater sagt, genügt mir nicht. Ich habe Sie nach dem Grund gefragt.“ „Etwas Wichtiges kann es nicht gewesen sein. Ach ja, ich erinnere mich. Ich bin über den Hundekorb gestol pert, den hatte irgendein Trottel mitten in der Diele ste hen lassen.“ Hans-Peter zog den Saum des Bademantels in die Höhe. An seinem rechten Schienbein befand sich eine verschorfte Schramme. „Wann haben Sie Ihr Zimmer wieder verlassen?“ „Als der Kümmel alle war, so gegen neun, Viertel zehn. Ich zog mir etwas an, holte die Uhr und trabte auf dem
schnellsten Wege in die ,Tute’.“ „Sind Sie unterwegs jemandem begegnet?“ „Weiß ich nicht, ich habe nicht darauf geachtet. Einem Bekannten jedenfalls nicht.“ „Um welche Zeit kamen Sie in das Restaurant?“ „Es müßte etwa halb zehn gewesen sein. Man braucht von hier eine Viertelstunde, wenn man sich beeilt.“ „Was geschah dann?“ Hans-Peter verdrehte gelangweilt die Augen. „Das hat Ihnen doch Bierbach bestimmt schon haarklein erzählt.“ „Ich möchte es von Ihnen hören.“ „Na schön. Ich begab mich in die Herrentoilette, um meine Notdurft zu verrichten. Zufällig traf ich dort be sagten Bierbach. Ich wollte ihm die Uhr verkaufen, aber der Kerl hatte kein Geld. Er bot mir eine Flasche Klaren, und wir wurden handelseinig.“ „War das nicht ein schlechter Tausch?“ „Was sollte ich denn machen? Meine Seele schrie nach Fusel.“ „Warum haben Sie von Bierbach verlangt, über das Ge schäft zu schweigen?“ „Sie stellen vielleicht Fragen! Sie wissen doch Be scheid über die Herkunft der Uhr. Sollte ich das an die große Glocke hängen?“ „Wußte Bierbach auch Bescheid?“ „Gesagt habe ich es ihm nicht, aber er wird es wohl ge ahnt haben, dieser Schwätzer. Ergo: Man kann keinem Menschen mehr trauen.“ „Gerade Sie haben solche Sprüche nötig“, sagte Heym sarkastisch. „Haben Sie Zeugen für Ihre Begegnung mit Bierbach?“
„Nein, wir waren allein auf dem gewissen Örtchen. Es liegt auf dem Flur, ich habe den Schankraum gar nicht betreten.“ „Wie sind Sie zu der Flasche gekommen?“ „Bierbach hat sie mir rausgebracht.“ „Wohin sind Sie gegangen, nachdem Sie den Tausch gemacht hatten?“ „Wieder zurück ins traute Heim.“ „Wann trafen Sie zu Hause ein?“ „Ich schätze, kurz vor zehn.“ „Sie sind also auf direktem Wege nach Hause gegan gen?“ „Aber gewiß doch. Wie ich bereits erwähnte, hat es an diesem Abend junge Hunde geregnet, und meine Ge sundheit ist nicht die beste. Ich wollte mich nicht vol lends ruinieren.“ „Gibt es hier im Hause jemanden, der Ihre Aussage be stätigen kann?“ „Glaube ich kaum. Christina hatte sich in ihr Garten haus zurückgezogen. Frau Willroth saß im Mansarden zimmer. Meistens pflegt sie um diese Zeit schon zu schlafen.“ „Nun gut, wir werden Ihre Angaben prüfen. Falls Sie wieder gelogen haben, finden wir das heraus, und dann sind Sie in einer sehr schlechten Lage. Also, haben Sie mir noch etwas zu sagen? Denken Sie gut nach.“ Hans-Peter grinste. „Walten Sie getrost Ihres Amtes. Sie werden nichts mehr entdecken, was Sie mir ans Bein binden können.“ „Eine andere Frage: Sie haben am Dienstagabend ge gen dreiundzwanzig Uhr dreißig im Landhaus Ihrer Mut
ter angerufen. Sie erklärten Ihrem Halbbruder WolfDieter, er sei ein ,Erbschleicher’ und ,der ersehnte Au genblick sei für ihn gekommen’. Woher wußten Sie zu diesem Zeitpunkt schon, daß Ihr Vater tot war?“ Hans-Peter riß die Hände aus den Taschen und starrte Heym mit offenem Munde an. „Antworten Sie! Woher wußten Sie das?“ Hans-Peter schüttelte heftig den Kopf. „Ich wußte gar nichts. Ich kann mich nicht erinnern. Dreiundzwanzig Uhr dreißig sagen Sie? Um diese Zeit hatte ich eine ganze Flasche Klaren intus, da war ich stockbesoffen.“ „Sehr richtig. Das deckt sich genau mit der Aussage Ih res Halbbruders. Sie waren stark betrunken und be schimpften ihn in ordinärer Weise.“ „Warum hätte gerade ich ihn anrufen sollen? Freiwillig rede ich mit dem Stinktier kein Wort.“ „Sie wollten Ihre Mutter sprechen.“ „Mitten in der Nacht? Das ist doch idiotisch. Was sagt denn sie dazu?“ „Er wollte sie nicht stören. Deshalb wurden Sie wü tend.“ Hans-Peter grunzte verächtlich. „Allerdings, das würde dem lackierten Affen ähnlich sehen. Er hat sich schon immer zum Sittenrichter aufgeschwungen. Und er hat auch schon immer jede Gelegenheit ausgenutzt, mir eine Schweinerei in die Schuhe zu schieben. Nach der alten Taktik, wahr oder unwahr, irgend etwas bleibt hän gen. Aber diesmal ist er einen Schritt zu weit gegangen, der verfluchte Hund!“ Hans-Peter ballte die Fäuste. Sein Atem ging heftig. „Sie behaupten also, Sie hätten nicht angerufen?“ „Ja, das behaupte ich. Und ich kann es sogar bewei
sen.“ „So? Und wie?“ „Er kann überhaupt nicht im Landhaus gewesen sein. Er hat nämlich Hausverbot. Weil er meiner Mutter mit seinen ewigen Erpressungsversuchen auf die Nerven geht. Sie hätte ihn gar nicht reingelassen.“ „Was verstehen Sie unter Erpressungsversuchen?“ „Er will sie aus dem Haus drängen. Weil er damit bei ihr nicht durchkommt, führt er Vater ins Feld, der ihm die Bude als Erbteil zugesagt hatte, und verlangt eine Abfindung. Ein widerwärtiger Intrigant.“ „Trotzdem ist Ihr Beweis nichts wert. Wolf-Dieter war am Dienstag im Landhaus. Dafür gibt es Zeugen.“ „Tatsächlich? Ich möchte bloß wissen, wie er das ange stellt hat. Und da er so verflucht gerissen ist, hat er sicher auch ein paar Zeugen, die das Telefongespräch mitgehört haben, nicht wahr?“ „Ich kann Ihnen keine Auskunft über die Ermittlungen geben.“ Hans-Peter lachte. „Sehen Sie denn nicht, daß er mich belasten will? Ich habe doch erst am Mittwoch von Chri stina erfahren, daß Vater tot ist. Und somit ist mein eh renwerter Herr Halbbruder der Polizei die Auskunft schuldig, zu welchem Zweck er diesen Anruf erfunden hat. Vielleicht deshalb, weil er anders nicht erklären konnte, daß er schon am Dienstagabend über Vaters Tod informiert war? Na, wie auch immer, er wird einen hüb schen Eiertanz aufführen müssen, um sich da herauszu winden.“
15 Zur gleichen Zeit, als Hauptmann Heym HansPeter Löffler befragte, entstieg Unterleutnant Kabel der froschgrünen Wartburg-Limousine, die ihm als Dienst wagen zur Verfügung stand. Er begab sich zu einem Haus mit blauem Ziegeldach, in dem die Familie des Tierarztes Doktor med. vet. Eberhard Bierbach wohnte. Das Gebäude war vor kurzem renoviert worden. Am Straßenrand lagen noch der Bauschutt und die Reste von Kies und Mörtel. Auf der betonierten Einfahrt zur Garage parkten zwei Wagen, ein älterer, mit Schlammspritzern bedeckter Moskwitsch und ein blitzender Lada, in dessen Rückfenster auf einem Samtkissen eine Marilyn-MonroePuppe thronte. Unterleutnant Kabel hielt sich nicht damit auf, am Gar tenzaun nach der Klingel zu suchen. Das hatte er schon am Morgen vergeblich getan. Er öffnete die Tür mit der Aufschrift “privat“, schritt über einen Plattenweg, der am Südgiebel des Hauses zu einem buntverglasten Windfang führte, und klopfte an die Scheibe. , Fast augenblicklich erschien Frau Louise Bierbach in der Tür. Sie mußte sein Nahen durch das Küchenfenster beobachtet haben. Statt des lila Morgenmantels mit dem tiefen Ausschnitt trug sie jetzt eine rosa Bluse und hell blaue Pluderhosen. „Guten Tag, Frau Bierbach“, sagte Kabel. „Wir brau chen einige Auskünfte über Ihren Sohn.“ „Ich bitte Sie, Herr Unterleutnant!“ sagte Frau Bierbach mit gespieltem Entrüsten. „Ulrich ist nicht mein Sohn. Eberhard hat ihn mit in die Ehe gebracht. Sonst hätte ich ja schon mit fünf Jahren…“ Sie schüttelte vorwurfsvoll
den Kopf. „Aber kommen Sie doch erst einmal ins Haus.“ Kabel trat ein. Frau Bierbach schwebte voran, begleitet von einer Wolke aus Moschusduft. Das Wohnzimmer war ausgestattet mit weißen Möbeln, cremefarbenen Gardinen und cremefarbenen Teppichen. Es gab ein gekacheltes Blumenfenster, einen imitierten Kamin und eine weiße Schrankwand voller Kristall. Als Wandschmuck dienten die beliebten, dem VEB See mann-Verlag entstammenden Kunstdrucke französischer Impressionisten. Auf Bitten der Hausfrau ließ sich Kabel vorsichtig in einem der schwenkbaren Ledersessel nieder und kam ohne Umschweife zur Sache. „Ihr Stiefsohn war am Dienstagabend in der Gaststätte ,Zum Posthorn’. Was wissen Sie darüber?“ „Das war vor drei Tagen?“ „Ja.“ Sie drückte den Zeigefinger auf ihre Stupsnase und be gann nachzudenken. „Er ist gegen sechs Uhr weggegan gen und kam irgendwann nach Mitternacht wieder. Was hat er denn angestellt? Mein Mann und ich, wir machen uns nämlich schon die größten Sorgen.“ „Es handelt sich um die Bestätigung seiner Aussage.“ „So? – Er steckt in der Klemme, nicht wahr? Sonst wä ren Sie doch heute nicht schon zum zweitenmal hier.“ „Nun – die Aussage steht im Zusammenhang mit einen! Tötungsverbrechen.“ „Tötungsverbrechen?“ Frau Bierbach sprang entsetzt von ihrem Hocker. „Darf ich meinen Mann holen? Er weiß in diesen Dingen viel besser Bescheid.“ „Ich habe nichts dagegen.“ Sie eilte davon. Wenig später, während Kabel noch darüber nachsann,
was sie mit „diesen Dingen“ gemeint haben könnte, nä herten sich dröhnende Schritte. Doktor Bierbach stapfte ins Zimmer. Er war ein massiger, ungewöhnlich großer Mann in Stiefeln und Reithosen, der die Fünfzig bereits überschritten hatte. Das graue Haar stand ihm wirr um den Schädel, und der mächtige Brustkasten drohte die Knöpfe seines Baumwollhemdes zu sprengen. Er begrüß te Kabel mit einem kräftigen Händedruck und ließ sich ächzend auf die Ledercouch sinken. „Ich höre, Sie ermit teln in einem Tötungsverbrechen? Auf deutsch also Mord. Kann mir zwar beim besten Willen nicht denken, was Ulrich damit zu tun haben soll, aber schießen Sie mal los.“ „Was hat er Ihnen über den Abend in der Gaststätte ,Zum Posthorn’ erzählt?“ „Er sagte, er hätte Skat gespielt. Und er hätte dabei sei nen letzten Groschen verloren.“ „Erwähnte er vielleicht eine Uhr?“ „Uhr? Ja. Gestern beim Frühstück zog er eine Uhr aus der Tasche und fragte, ob ich sie kaufen will. Das Ding schien ganz ordentlich zu sein, Schweizer Fabrikat. Aber ich hatte kein Interesse. Ich habe schon zwei, das genügt mir.“ „Hat er Ihnen erklärt, wie er zu der Uhr gekommen ist?“ „Nein. Wir haben nur kurz miteinander gesprochen. Meine Zeit ist morgens knapp bemessen, und ich sagte schon, die Uhr interessierte mich nicht.“ „Wo ist er am Mittwoch und am Donnerstag gewesen?“ „Soviel ich weiß, spielte er mit seiner Musikantentrup pe in einem Jugendklub in Treuenbrietzen. Jedenfalls hat
mir das meine Frau so berichtet. Stimmt doch, Louise?“ Frau Bierbach hatte wieder auf ihrem Fellhocker Platz genommen und nickte eifrig. „Ja, Eberhard, das stimmt. Am Mittwoch früh wurde er von einem Barkas abgeholt und kam am Donnerstagnachmittag zurück. Ich habe ihm Spiegeleier mit Bratkartoffeln gemacht, dann ist er wie der fort. Er sagte, er hätte noch etwas in der Stadt zu er ledigen.“ „Was war das?“ „Das weiß ich leider nicht.“ Kabel wandte sich an den Hausherrn. „Wissen Sie et was darüber?“ „Nein. Aber nun verraten Sie uns doch mal, mit welchem Mordfall Ulrich etwas zu tun haben soll. Man möchte schließlich wissen, woran man ist.“ „Augenblick bitte noch. Was können Sie mir über seine Beziehungen zu Hans-Peter Löffler sagen?“ Bierbach runzelte die Stirn. „Besteht da etwa ein Zu sammenhang?“ „Ihr Sohn sagte aus, er habe die Uhr am Dienstagabend in der Gaststätte ,Zum Posthorn’ von Hans-Peter erhal ten. Gegen eine Flasche Klaren.“ „Ja und? Welche Schlußfolgerungen ziehen Sie dar aus?“ „Die Uhr gehörte Manfred Löffler, dem Vater von Hans-Peter. Herr Löffler wurde am Dienstagabend getö tet. Als wir ihn auffanden, war unter anderem seine Uhr verschwunden.“ Bierbach sah zu seiner Frau hinüber. Louise hob langsam beide Hände und preßte sie auf den Mund. Bierbach schüttelte den Kopf und wandte den
Blick von ihr ab. Er atmete schwer. Auf seiner Stirn standen winzige Schweißperlen. „Wie gut sind HansPeter und Ulrich befreundet?“ fuhr Kabel fort. „Wäre es den beiden zuzutrauen, daß sie sich die Geschichte mit der Uhr ausgedacht haben, um den wahren Sachverhalt zu vertuschen?“ „Ausgeschlossen!“ Bierbach beugte sich nach vorn und starrte den Unterleutnant mit traurigen Augen an, die an einen verwundeten Stier erinnerten. „Ich werde Ihnen mal etwas sagen, junger Mann! Ich bin mit der Familie Löffler seit ewigen Zeiten befreundet. Und ich kenne die beiden Knaben, um die es hier geht, seit ihrer Kindheit. Die haben nach Meinung der Eltern gewiß eine Menge Mist gebaut, Hans-Peter auf seine Weise, und mein Herr Sohn nicht minder. Aber einen Mord? Das traue ich ihnen nicht zu. Auch keine Vertu schung oder Beteiligung.“ „Ihr Sohn hat sich nicht sehr hilfreich gezeigt bei seiner Vernehmung. Wir mußten mit einer Haussuchung dro hen, bevor er sich bequemte, etwas über die Herkunft der Uhr zu sagen.“ „Er macht vielleicht mal ein Geschäft, das nicht ganz astrein ist. Er hängt zu viel in den Kneipen ‘rum. Anstatt seinem erlernten Beruf nachzugehen, murkst er in einer Töpferwerkstatt herum. Alles nicht nach meinem Gusto. Aber leider muß ich sagen, daß ich daran nicht ganz un schuldig bin. Ich war ihm einige Jahre ein elendes Vor bild, habe selber gesoffen wie ein gefleckter Waldesel, besonders nach der Scheidung. In dieser Zeit hat er einen Knacks bekommen, und das geht auf mein Konto. Zum Glück habe ich dann Louise kennengelernt, sie brachte
mich wieder auf die Beine. Ohne sie wäre Ulrich in ei nem Heim gelandet und ich todsicher in der Entzie hungsanstalt.“ Bierbach nickte seiner Frau mit einem dankbaren Lä cheln zu. Louise senkte den Kopf. „Manfreds Tod hat mir einen schweren Schlag ver setzt“, fuhr Bierbach fort. „Er war mein Freund. Und daß wir im Streit auseinandergegangen sind, daß es nun übers Grab hinaus keine Versöhnung gibt, damit werde ich nicht fertig, das tut mir verdammt leid.“ Kabel schwieg. Bierbachs Worte hatten ihn berührt. „Worüber haben Sie sich mit Manfred Löffler gestrit ten?“ fragte er schließlich. Bierbach stutzte. Dann kam tief aus seiner Kehle ein knurrendes Lachen. „Das hat mit Ihrem Fall nichts zu tun. Können Sie absolut sicher sein.“ „Sicher kann ich erst sein, wenn ich etwas weiß.“ „Mißtrauen ist die Berufskrankheit der Kriminalisten, was? Na, meinetwegen. Es war vor ein paar Tagen, um genau zu sein, am Montag, da stand er abends hier vor der Tür. Er hatte am Vormittag angerufen und meine Frau um einen Termin für Axel gebeten, den Löffler schen Setterrüden. Eigentlich machen wir keine Klein tierpraxis mehr, nur noch für ein paar alte Bekannte. Es wurde mir zuviel. Tag und Nacht über die Dörfer; Rin der, Schweine, Schafe, Hunderte von Viechern und im mer mehr, das kann man gar nicht schaffen. – Also, Man fred kam und benahm sich irgendwie komisch. Und ich wunderte mich auch, daß er den Hund nicht mit rein brachte. Er fing an, überschwenglich zu erzählen, wie glücklich er wäre, daß sich sein Leben von Grund auf
geändert hätte, daß seine Bettina kurz vor der Entbindung stehe, daß sie am Wochenende heiraten würden. Und bei alldem machte er überhaupt keinen glücklichen Eindruck. Er redete von seiner Verantwortung als Vater, von dem Baby, von Bettina, daß sie so schrecklich sensibel wäre und sich immerfort Sorgen mache. Sie hätte eine wahnsinnige Angst vor Trichinen und Viren und Bakteri en und solchem Zeug, und sie weigere sich mit dem Ba by bei ihm einzuziehen, solange ein Tier im Hause sei. Und dann kam er damit heraus, ich möge ihm doch den Gefallen tun und den Hund einschläfern, es gäbe keinen anderen Ausweg, Bettina würde darauf bestehen. Ich dachte erst, ich höre nicht richtig. Einmal abgese hen von dem Hygieneargument, das ich für Blödsinn hal te, habe ich es seit jeher abgelehnt, ein Tier zu töten, wenn nicht zwingende pathologische Gründe vorlagen. Davon konnte in diesem Falle keine Rede sein. Axel ist sechs Jahre alt, ein sehr schönes, gutartiges Tier, gesund und munter. Ich meinte also, wenn es denn gar nicht an ders ginge, sollte man den Hund für die ersten Monate in ein Tierheim geben oder ihn in gute Hände verkaufen. Dazu bot ich meine Hilfe an, doch Manfred war nicht zu überzeugen. Allerdings schien mir, als ob hinter seiner Hartnäckigkeit noch ein anderer Beweggrund steckte, über den er mit mir nicht sprechen wollte. Kurz, wir ge rieten uns ziemlich heftig in die Haare. Er nannte mich einen albernen, weltfremden Tierschutzapostel, darauf wurde ich ernstlich wütend und schmiß ihn ‘raus. Hätte ich geahnt, daß es unser letztes Gespräch sein sollte, wäre ich natürlich nicht so grob mit ihm umgesprungen.“ Bierbach stieß einen bekümmerten Seufzer aus. „Den
Hund haben Sie gar nicht zu Gesicht bekommen?“ „Nein, den hatte er wohlweislich im Auto gelassen.“ „Sind Sie sicher, daß dieser Besuch am Montag und nicht am Dienstag stattgefunden hat?“ „Ganz sicher. Dienstags um diese Zeit bin ich immer in der Sauna. Das lasse ich mir bei aller Arbeit nicht neh men, nicht wahr, Louise?“ „Wie bitte?“ Frau Bierbach schreckte aus ihren Gedan ken auf. „Natürlich, ja, am Dienstag warst du in der Sauna, E berhard.“ „Haben Sie das Gespräch miterlebt, Frau Bierbach?“ „Nur den Anfang. Dann wurde es mir zu peinlich, und ich bin in die Küche gegangen.“ „Warum wurde es Ihnen peinlich?“ Sie zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht recht. Ich hatte doch dem Herrn Löffler den Termin zugesagt, und dann kam es zu dieser häßlichen Auseinandersetzung. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß ich irgendwie schuld daran wäre.“ „So ein Unsinn, Louise!“ Bierbach winkte energisch ab. „Du hast doch gar nicht gewußt, mit welchem Ansin nen er hier aufkreuzen würde.“ „Nein, aber trotzdem.“ Kabel erhob sich. „Ich denke, das wäre dann alles.“ Als sie aus dem Haus traten, fiel ein leichter Regen. Das E hepaar begleitete den Unterleutnant zur Gartentür. „Wenn sich herausstellt, daß Ulrich die Wahrheit gesagt hat, lassen Sie ihn dann gehen?“ fragte Bierbach. Kabel nickte. „Das wird bald geklärt sein.“ Er dankte für die Auskünfte und verabschiedete sich.
Frau Bierbach hatte die Arme gekreuzt und hielt die Schultern mit den Händen umklammert. Sie schien zu frieren. Ihre Lippen zitterten. Auf ihrem Gesicht lag ein besorgter Ausdruck, als lauschte sie auf Stimmen, die von drohenden Gefahren flüsterten. Bierbach legte schüt zend den Arm um seine Frau und führte sie ins Haus. Indessen war Kabel in den Wagen gestiegen. Langsam fuhr er die holprige Straße entlang, bog nach zweihundert Metern in einen Sommerweg ein und kam wenig später auf eine von alten Lindenbäumen gesäumte Chaussee, auf der er sich nach links wandte. Beiderseits der Fahr bahn lagen einige verwilderte Grundstücke, an die sich ein Mischwald mit Farnkraut und dichtem Unterholz an schloß. Kabel bremste, lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt genau an der Stelle, an der Löfflers Volvo ge standen hatte. Durch das offene Seitenfenster sah er hin über zu der mit Glassplittern und zerdrückten Blechdosen übersäten Einfahrt, die zur Müllhalde führte. Vom Hause Bierbachs bis zum Tatort waren es mit dem Auto nicht mehr als fünfhundert Meter, zu Fuß, wenn man die Abkürzung durch die verwilderten Grundstücke nahm, vielleicht nur die Hälfte. Reglos saß Kabel hinter dem Lenkrad und dachte dar über nach, ob sich nicht mit dem, was er von der Familie Bierbach erfahren hatte, irgendeine Beziehung zur Tat herstellen ließe. Auf den ersten Blick erschien der Ge danke verlockend, doch je länger er überlegte, um so we niger wollten sich die Fakten zu einem logischen Gebäu de fügen. Am Ende stand er dort, wo er angefangen hatte: Was Verdacht hervorrief, war allein die Nähe zum Tat
ort. Alles andere paßte nicht zusammen. Und vielleicht war auch diese Nähe nur ein Zufall. Kabel seufzte. Der Tag hatte so hoffnungsvoll begonnen, und nun saßen sie wieder in der Sackgasse. Verdrossen startete er den Mo tor und fuhr zurück zur Dienststelle. Erst unterwegs, als ihm einfiel, daß die Kantine heute sein Lieblingsgericht anbot, Rinderbrust mit Meerrettichsauce, hellte sich seine Stimmung ein wenig auf.
16 Frohen Mutes vertilgte Erwin Sauerknecht, was ihm seine Frau zum Mittagessen vorbereitet hatte: sechs Paar belegte Brote und drei Tassen Kaffee aus der Thermosflasche. Die Dinge entwickelten sich zufrieden stellend. Am Vormittag war er in der Poliklinik gewesen und hatte sich ab Montag gesund schreiben lassen, vor sichtshalber, obwohl eigentlich ein Päuschen von vier zehn Tagen vorgesehen war. Die eine Woche, die seiner Meinung nach vom jährlichen SV-Urlaub noch offen blieb, würde er dann zwischen Weihnachten und Neujahr nehmen. Rheuma, zum Beispiel, war etwas, was zu die ser Jahreszeit mit ziemlicher Sicherheit einen Kranken schein einbrachte. Nachdem er in der Apotheke sein Rezept vorgelegt und sich den Beutel mit Tabletten, Tinkturen und Salben hat te füllen lassen, trollte er sich nach Hause. Jetzt rechnete er aus, wieviel er daran verdienen würde, und kam auf ein erfreuliches Sümmchen. Er selbst verabscheute Me dikamente, er verkaufte alles an feste Abnehmer, die kei ne Lust hatten, wegen einiger Pillen stundenlang im War tezimmer zu hocken. Erwin schlürfte den letzten Schluck
Kaffee und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Noch genau eine Stunde, bis seine Frau von der Frühschicht nach Hause kam, genug Zeit also, um eine Sache zu erle digen, für die er keine Zeugen brauchte. Mit dem Ärmel fegte er die Krümel vom Küchentisch, zog den Arbeits kittel an und begab sich zu seinem Werkstattschuppen. Er schloß die Tür auf, räumte ein paar Kisten und eine Plane zur Seite und brachte einen Fahrradanhänger ans Licht, der bis auf die Farbe große Ähnlichkeit mit dem seinen hatte. Eigentlich war es nicht seine Art, die Nachbarn zu beklauen, aber was hätte er sonst machen sollen? Wenn man in der Patsche saß, durfte man nicht pingelig sein. Und außerdem war Knochenkarl, der alte Esel, im Grun de genommen selber schuld. Warum mußte er ihm auf dem Müllplatz in die Quere kommen? Wenn man seinen dämlichen Rüssel überall reinsteckt, soll man sich nicht wundern, daß er mal eingeklemmt wird. Bei diesem Ge danken kicherte Erwin vergnügt vor sich hin, holte den Nitrolack und eine Flasche Schnelltrockner aus dem Schrank, griff zum Pinsel und machte sich ans Werk. Mit Hilfe von grüner Farbe würde er das Beutestück endgül tig in Besitz nehmen. Und dann konnte er kommen, der Genosse Sitte, bei ihm war nichts mehr zu holen. Die Zeit verflog. Kaum hatte Erwin die letzten Spuren seiner Tätigkeit beseitigt, als er das vertraute Geräusch der ins Schloß fallenden Gartentür vernahm. Eine Minute später bog Erna um die Hausecke, lehnte das Fahrrad an die Wand und hob die Einkaufstaschen vom Lenker. Erwin trabte herbei, wollte seinen Begrüßungsschmatz anbringen und, falls unvermeidlich, beim Taschentragen helfen. Seine Frau musterte ihn mit einem giftigen Blick,
raffte ihre Taschen allein auf und entfernte sich in Rich tung Haustür. „He, was ist denn los?“ „Komm ‘rein!“ knurrte sie über die Schulter. „Ich habe mit dir zu reden.“ Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf, gemischt aus Un gewißheit und Angst, denn sein Sündenregister war lang. Er eilte in den Flur, half seiner Frau beflissen aus der gelben Gummijacke, schnappte sich die Taschen, trug sie in die Küche und begann auszupacken. Erna pflanzte sich auf ihren Platz am Küchentisch. Sie setzte die Brille ab, putzte die beschlagenen Gläser und musterte dabei grimmig ihren Gatten, der mit ungewohn tem Eifer die Graupentüten in den Vorratsschrank stapel te. Sie hatte sich nicht einmal Zeit genommen, die Schu he auszuziehen und in die Pantoffeln zu schlüpfen, ein schlechtes Zeichen, das seinen Pulsschlag weiter in die Höhe trieb. „Nun laß mal das Gefummel und setz dich hin!“ sagte sie barsch. „Wat fehlt dir denn? Ist dir ‘ne Laus über die Leber je loofen?“ Seine Stimme schwankte zwischen Unterwür figkeit und Aufbegehren. „Ja, mir ist eine Laus über die Leber gelaufen. Eine Riesenlaus. Und die hat verdammte Ähnlichkeit mit dir.“ „Versteh ick nich.“ „Hast du mir nichts zu erzählen von gestern nachmit tag?“ „Icke? Von jestern nachmittag? Nich det ick wüßte.“ „Man hat dich draußen rumrennen sehen.“ „Wer denn?“ „Herbert Keßler hat es mir erzählt, der aus der Stanze
rei.“ „Der spinnt doch.“ „Der spinnt nicht. Du hattest die alte Joppe an und den schwarzen Hut auf.’ Die Klamotten sind jetzt noch feucht. Also, wo hast du dich rumgetrieben?“ „Mein Jott, Erna! Ich wollte bloß ein bißchen frische Luft schnappen.“ „So, frische Luft schnappen! Du bist krank geschrieben und hast zu Hause zu bleiben. Aber ich weiß schon, deine ganze sogenannte Angina ist simuliert. Möchte bloß mal wissen, wo die Ärzte ihre Augen haben.“ „Nischt is similiert. Nur det ick mir schon besser fühle. Deswegen bin ick ja heute inne Poliklinik und habe mir jesund schreiben lassen. Montag früh jeht’s wieder ‘ran.“ „Merkwürdig. Die letzten Tage konntest du doch kaum kriechen. Und wo warst du nun gestern?“ „Wo soll ick denn jewesen sein?“ „Stell dich nicht dumm, du Hundekopp! Bei der mannstollen Trude bist du gewesen. Und ich habe mich gewundert, warum du so viel Pfeffis kaust. Weil du mit der Trude gepichelt hast, die steht auf Pfefferminzlikör. Und mir wolltest du Sand in die Augen streuen. Aber da siehst du mal wieder, es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen.“ „Ich weeß überhaupt nich, wer det sein soll, die Trude.“ „Nun halt mal die Luft an! Auf dem Erntefest letzten Herbst hast du mit ihr wie ein Verrückter getanzt. Bloß da habe ich mir noch nichts Böses bei gedacht.“ „Ach so, du meinst die Trude Mohn, ja, die kenn ick. Aber det ick mit die jetanzt haben soll, daran kann ick mir nich erinnern.“
„Nee, weil du voll warst wie sieben Schweden. Fritze mußte dich in der Schubkarre nach Hause fahren, daran kannst du dich wohl auch nicht mehr erinnern? Und mit so einer Person, von der jeder weiß, wie sie hinter den Mannsbildern her ist – die ganze Gegend redet doch schon davon –, ausgerechnet mit der mußt du dich hin setzen und saufen. Was sonst noch gewesen ist, darüber will ich mal schweigen. Pfui Deibel.“ Erwin sah einen Silberstreifen am Horizont. Erna ahnte also nichts von den wahren Zusammenhängen, und mit ihrer Eifersucht hoffte er schon fertig zu werden. „Wie kannst du mir bloß so’n Quatsch in die Schuhe schieben, Mausi“, sagte er im Tone des gekränkten Bie dermannes. „Ick hab doch nich im Traum daran jedacht, mit die olle Schnapsdrossel wat anzufangen.“ „Angefangen oder nicht. Ich will wissen, was du da gemacht hast.“ „Gar nischt hab ick gemacht.“ „Du kannst nicht zwei geschlagene Stunden mit ihr rumgesessen haben wegen nichts und wieder nichts.“ „Woher willst du nu schon wieder wat von zwee Stun den wissen? Ick war vielleicht zehn Minuten da.“ „Du hast vergessen, daß Keßlers schräg gegenüber wohnen. Die haben keinen Grund, mir die Hucke vollzu schwindeln. Herberts Frau hat dich beobachtet. Es waren zwei Stunden, und damit basta. Nun rück endlich mit der Sprache ‘raus, oder es passiert ein Unglück. Damit du klar siehst!“ „Aber Mausi, nu hör doch mal zu…“ „Nischt mit Mausi! Und komm mir nicht länger mit Ausreden, du Lump. Die Wahrheit will ich wissen, sonst
sind wir geschiedene Leute. Dann kannst du gleich deine Koffer packen und zusehen, wo du bleibst.“ „Wat denn, wat denn?“ stotterte Erwin verdattert, und ein heißer Schreck fuhr ihm durch die Glieder. „Wülste mir rausjagen! Det darfste gar nich.“ „Und ob ich darf! Das Haus gehört mir, das habe ich von meinem Vater. Deine paar ollen Möbel, die kannst du mitnehmen, auf den Plunder kann ich verzichten. Vielleicht findest du bei Trude ein Unterkommen, dann hat sie erreicht, was sie wollte.“ „Nee! Bloß nich, bloß det nicht!“ Erwin keuchte und ruderte hilflos mit den Armen. Wo war ein Ausweg? Die Wahrheit konnte er nicht sagen. Erna würde ihn ohne Federlesens zur Polizei schleppen, und das wäre sein En de. Lieber zu Hause die Hölle als in den Knast. Er be merkte die frischen grünen Farbspritzer auf seinen Schu hen, und die Verzweiflung gab ihm eine Idee ein, die er für die Rettung hielt. „Also jut“, stöhnte er, „ick jeb et zu. Aber nicht, wat du denkst. Die Frau hat mir leid jetan, verstehste? Kiek dir doch mal die Bude an, wie die aus sieht, is ja bloß noch det blanke Holz. Und da hat sie mir jefragt, ob ick ihr nich die Fenster streichen kann, na, und da hab ick eben ja jesagt.“ „Die Fenster streichen?“ fragte Erna verblüfft. „Jenau. Ick wollte darüber nich reden, weil du dir immer gleich über allet aufregst, und ick weeß ja, hier is auch noch je nug zu tun, ick komm ja kaum ‘rum. Aber aus Mitleid hab ick mir eben belatschern lassen. Wenn du druff be stehst, Erna, denn jehe ick hin und blase die Sache wie der ab. Wülste det? Denn mache ick mir sofort uff de Socken.“
„Moment mal, das geht mir alles ein bißchen zu schnell. Die Person hat also die Frechheit gehabt, dich in ihr Haus zu locken? Und dich mit Pfefferminzlikör zu traktieren, damit du ihr die Fenster streichst? Warum denn ausgerechnet du? Kann sie sich nicht einfach die Maler bestellen? Oder wolltest du es umsonst machen?“ „Keen Jedanke! Zehn Mark die Stunde hatte ick je dacht, unter dem nich.“ Erwin wandte sich zur Tür. „Ick jehe jetzt hin und sage, det ick’s mir überlegt habe.“ „Hiergeblieben!“ Seine Frau packte ihn energisch am Ärmel. „Die Sache bringe ich selber in Ordnung. Der Dame werde ich mal die Meinung sagen, was ich von solchen Methoden halte, von wegen Pfefferminzlikör und Fensterstreichen. Die denkt, auf die Masche kann sie sich einen Kerl übern Zaun ziehen. Aber da hat sie sich bei mir verrechnet.“ Entschlossen begab sich Erna in den Flur und riß die Gummijacke vom Haken. Doch dann besann sie sich und holte den Sonntagsmantel aus dem Schank. „Nu warte doch mal“, jammerte Erwin, „det hat jetzt keinen Zweck, die is nich zu Hause.“ „Ich werde sie schon finden.“ „Det bringt nischt ein, wenn du mit der Stunk an fängst.“ Er brachte es fertig, ihr den Mantel aus den Hän den zu winden. „Ick jehe auch nie wieder hin, ick ver spreche es dir!“ „Und wer soll ihr sagen, daß aus der Streicherei nichts wird?“ „Ick kann sie ja anrufen.“ „Wie denn? Die hat doch gar kein Telefon.“ „Aber die Meyerlinks, det sind die Leute, wo sie als
Aufwartung arbeitet.“ „Woher weißt du denn das?“ „Weil sie et mir erzählt hat.“ „Und warum?“ „Naja – die wohnen gleich nebenan von den Manfred Löffler, det is der Schauspieler, den sie uffn Müllplatz abgemurkst haben. Und die Mohn, die hat det alles aus erster Hand, die kennt nämlich die Haushilfe von die Löfflers.“ Erna sah ihren Mann verwundert an, und von neuem erwachte ihr Argwohn. „Ach nee!“ sagte sie. „Warum interessiert dich denn plötzlich dieser Schau spieler? Weil es Trude Mohn erzählt hat? Als ich neulich davon angefangen habe, hast du mir mit keiner Silbe ge antwortet.“ „Weil ick noch gar nicht begriffen hatte, wat eigentlich los war.“ „Du bist doch sonst nicht so begriffsstutzig. Irgend et was ist hier faul, Sauerknecht. Wenn ich das rauskriege, kannst du was erleben. Und ich kriege es ‘raus. Ich muß nur mal richtig nachdenken.“ Grübelnd kehrte Erna in die Küche zurück und begann, die Einkäufe im Kühlschrank zu verstauen. Erwin stand in der Tür und kaute unschlüssig an der Unterlippe. „Steh nicht ‘rum“, fuhr sie ihn an. „Hol ein paar Kartof feln aus dem Keller.“ Flugs nahm er den Korb und machte sich erleichtert davon. ,Wenn sich die Alte erst mal ausgekollert hat’, dachte er, ,ist das Schlimmste überstanden.’
17 Verena Löfflers Erwerbsquelle war ein schmalbrüstiger Laden im Hochparterre eines Zweifamilien hauses, dessen Fassade nach einer Renovierung schrie. Im Schaufenster hing das Bildnis einer Jungfrau aus der Kaiser-Wilhelm-Ära, die dem Beschauer zwischen ne ckisch gespitzten Lippen zwei Kirschen am Stiel entge genstreckte. Auf einem gußeisernen Tischchen standen Flakons mit farbigen Flüssigkeiten sowie andere Utensi lien der Schönheitspflege, umschlungen von einem Kilo Glasperlenschmuck. Ein ovaler Spiegel, drapiert mit rosa Tüll, trug in Goldbuchstaben die Aufschrift: Studio Verena Dekorative Haar- und Gesichtsgestal tung. Heym betrachtete sinnend das Schaufenster, dann lä chelte er und stieg die Terrazzotreppe hinauf zur Laden tür. Als er sie öffnete, klingelte über ihm eine Traube Messingschellen. Ein Schwall feuchtwarmer Luft, ge schwängert mit Kosmetikdüften, schlug ihm entgegen. Der vordere Teil des Geschäftes bestand aus einem schlauchartigen Raum, mäßig erhellt von rotbeschirmten Wandlampen. Längs der Wand reihten sich Korbstühle, dazwischen kugelförmige Aluminiumaschenbecher und kleine Tische, auf denen Stapel von zerlesenen Mode journalen lagen. Aus einer erleuchteten Milchglaskabine im Hintergrund drangen klatschende Geräusche und keu chendes Atmen. Heym wartete einige Zeit, doch da das Keuchen und Klatschen seinen Fortgang nahm, räusperte er sich und rief: „Hallo, Frau Löffler! Besuch!“ Die Geräusche erstarben. Einen Augenblick war Stille. Dann wurde der Vorhang zur Seite geschoben, und Vere
na trat aus der Kabine. Beim Anblick ihres Besuchers blieb sie zögernd stehen. „Ich suche Ihren Mann“, sagte Heym. „Wissen Sie viel leicht, wo ich ihn finden kann? Zu Hause ist er nicht.“ Sie schüttelte überrascht den Kopf. „Nein? Eigentlich müßte er zu Hause sein. Er wollte den Vormittag nutzen, um sich mit dem Drehbuch vertraut zu machen.“ „Mit dem Drehbuch?“ Ihre Augen strahlten. „Er spielt doch nun den Bis marck. Gestern wurde der Vertrag unterschrieben.“ „Gratuliere. Das war eine schnelle Entscheidung.“ „Ja, die Dreharbeiten müssen weitergehen. Und wir wa ren der Meinung, es wäre nicht im Sinne seines Vaters gewesen, wenn sich Wolf-Dieter dieser Verpflichtung entzogen hätte.“ Heym nickte. „Eine interessante Aufgabe, kann ich mir vorstellen, diese Doppelrolle.“ „Wieso Doppelrolle?“ „Nun, er muß den Bismarck spielen, und er muß gleichzeitig seinen Vater spielen.“ „So sehen Sie das? Daran hatte ich noch gar nicht ge dacht.“ Verena wischte ein wenig irritiert eine Haarsträh ne aus der feuchten Stirn. Sie dachte einen Moment nach und sagte dann: „Wenn Sie warten wollen, könnten Sie ihn hier treffen. Wir sind gegen drei Uhr verabredet.“ Heym sah auf seine Armbanduhr. „Ja, das läßt sich ma chen.“ „Dann nehmen Sie bitte im Büro Platz.“ Verena geleitete Heym an der Kabine vorbei, hinter de ren halboffenem Vorhang eine üppige Dame mit rosa Wattebäuschchen auf den Augen in einem Ledersessel
saß. Am Ende eines verwinkelten Ganges befand sich das Büro. Es erwies sich als ein fensterloser Verschlag, in dem ein Schreibtisch, ein Aktenschrank, zwei Stühle und ein kleines Geschirrregal nur mit Mühe Platz fanden. „Bitte entschuldigen Sie mich“, sagte Verena und zog hinter sich die Glastür ins Schloß. Heym quetschte sich auf den Besucherstuhl, zog den Tabakbeutel hervor und begann, die Pfeife zu stopfen. Auf dem Schreibtisch lagen allerlei Papiere, obenauf ein an Frau Verena Löffler adressierter Brief, der unten links den gedruckten Absender Dr. Leopold Rodegast, Rechts anwalt und Notar, trug. Heym kannte Rodegast. Er war spezialisiert auf Immo bilien und Erbschaftsangelegenheiten. Wollte sich Vere na über das Erbrecht informieren? Oder hing der Brief mit dem Hauskauf zusammen, den Wolf-Dieter erwähnt hatte? Heym zündete, sich eine Pfeife an. Ob es etwas einbringen könnte, sich mit Rodegast in Verbindung zu setzen? Er war noch zu keinem Entschluß gelangt, als in der Ferne die Messingschellen klingelten. Wolf-Dieters sonore Stimme erklang, laut und fröhlich. Wenig später erschienen Herr und Frau Löffler im Büro. Heym erhob sich. Wolf-Dieter schüttelte ihm jovial die Hand. „Nett, Sie zu sehen, Herr Hauptmann. Sie wollen mich sprechen?“ „Ja, es haben sich neue Fragen ergeben.“ „Bitte, bitte, stehe gern zur Verfügung. Hoffentlich dauert es nicht allzu lange. Ich habe nämlich meiner Frau versprochen, mit ihr einkaufen zu fahren. Wir bekommen heute abend Gäste, und es ist so gut wie nichts im Hau
se.“ „Wollen Sie Ihren Vertragsabschluß feiern?“ WolfDieter schmunzelte. „In aller Stille natürlich, rauschende Feste wären in dieser Situation nicht angebracht. Ande rerseits bekommt man nur einmal im Leben zum ersten mal die Hauptrolle, dazu in einem so wichtigen Film. Es wäre geheuchelt, wollte ich behaupten, ich würde mich nicht darüber freuen – trotz der schmerzlichen Umstände, die dazu geführt haben. Und schließlich bin ich auch den Kollegen eine kleine Würdigung schuldig, die mir diese große Aufgabe anvertrauen.“ „Falls Sie mich hier nicht brauchen“, sagte Verena, „möchte ich mich zurückziehen. Ich habe noch zu tun.“ Niemand erhob Einspruch, und so schob sie sich hinter dem Rücken ihres Mannes vorbei und verließ das Zim mer. Die beiden Herren nahmen Platz, Wolf-Dieter Löff ler am Schreibtisch, Heym auf dem Besucherstuhl. „Ihrem Vater wurde am Tatort eine Rolex-Uhr gestoh len. Stimmt es, daß auch Sie eine solche Uhr besitzen?“ „Das ist richtig. Er hat sie mir geschenkt, als er von seiner Frankreich-Reise zurückkam.“ „Gab es davon noch mehr Exemplare?“ „Wenn ich mich nicht irre, existierten drei. Eine behielt er, eine bekam ich, die dritte war für Hans-Peter be stimmt.“ „Hat er sie nicht bekommen?“ „Keine Ahnung. Aber da Sie es erwähnen, fällt mir ein, daß ich eine Rolex nie bei ihm gesehen habe.“ „Wo bewahrte Ihr Vater die Uhren auf?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen, um so etwas habe ich mich nicht gekümmert.“
„Darf ich Ihre Rolex mal sehen?“ „Gern. Ich habe sie aber nicht bei mir.“ „Sie tragen sie nicht?“ „Nur selten. Sie ist etwas auffällig.“ Er schob den lin ken Ärmel seines Sakkos zurück, wobei eine silberfarbene Digitaluhr zum Vorschein kam. „Für den täglichen Bedarf bevorzuge ich diese. Die Rolex liegt zu Hause in der Kassette.“ „Kann ich sie für ein paar Tage haben? Wir brauchen sie zu Vergleichszwecken.“ „Selbstverständlich.“ „Ich lasse sie dann abholen. Wann würde es Ihnen pas sen?“ „Nun, sagen wir in etwa zwei Stunden.“ Eine kleine Pause entstand. „Mit welchen Auskünften kann ich Ihnen sonst noch dienen?“ Heym setzte schon zu einer Antwort an, als er bemerkte, dass der Rodegast-Brief verschwunden war. Wolf-Dieter hatte keine Gelegenheit gehabt, ihn an sich zu bringen, blieb also nur Verena. Vor wem wollte sie etwas verbergen, vor der Kriminalpolizei oder vor ihrem Mann? „Irgendein Problem, Herr Hauptmann?“ fragte WolfDieter mit einem mokanten Lächeln. Heym sah auf. „Sie stehen mit Rechtsanwalt Rodegast in Verbindung?“ „Rodegast? Wie kommen Sie denn auf den?“ Die Ge lassenheit in Löfflers Haltung war verschwunden. „Er hat Ihrer Frau einen Brief geschrieben.“ „Woher wissen Sie?“ „Bevor Sie kamen, lag er dort auf dem Schreibtisch.“
Löffler sah sich suchend um und lief dabei rot an. „Und jetzt? Wo ist er jetzt?“ „Danach sollten Sie Ihre Frau fragen.“ „Dieses Weib!“ sagte Wolf-Dieter wütend. „Es war ausdrücklich vereinbart, daß wir vor der Beisetzung nichts unternehmen. Aber sie kann es nicht abwarten. Dabei sind ihre Befürchtungen absolut gegenstandslos.“ „Welche Befürchtungen?“ Löffler schüttelte ärgerlich den Kopf. Offenbar hatte er sich zu einer Bemerkung hinreißen lassen, die er bereute. Er starrte auf seine Hände und sagte dann achselzuckend: „Verena befürchtet, mein Vater könnte noch kurz vor seinem Tode eine schriftliche Festlegung zugunsten von Bettina Sommer getroffen haben. Dem ist aber nicht so. Ich hatte eben in dieser Angelegenheit ein Gespräch mit meiner Stiefmutter. Sie war bei Doktor Specht, der ihr versichern konnte, daß die geplante Testamentsänderung nicht stattgefunden hat. Mein Vater hatte zwar mit Specht einen Termin vereinbart, bei dem Einzelheiten für eine neue Regelung ausgearbeitet werden sollten, dazu ist es aber nicht mehr gekommen.“ „Welche Personen wußten von der Absicht Ihres Va ters, das Testament zu ändern?“ „Das wußten alle in der Familie. Vater hat daraus gar kein Geheimnis gemacht. Im Gegenteil, es schien ihm eine gewisse Genugtuung zu bereiten, uns spüren zu las sen, daß wir von seinem Wohlwollen abhängig waren. Vielleicht hatte er sogar erwartet, wir würden uns vor ihm im Staube wälzen, um ein paar Mark zu retten. Aber den Gefallen hat ihm niemand getan.“ „Statt dessen hat man etwas anderes getan.“
„Wie meinen Sie?“ Wolf-Dieter zuckte zurück. „Sie meinen, jemand von uns hätte ihn umgebracht um das neue Testament zu verhindern?“ „Ein Motiv wäre es allemal.“ „Das ist doch Wahnsinn.“ Heym winkte ab. „Über das Landhaus haben Sie sich mit Ihrer Stiefmutter geeinigt, nicht wahr?“ „Ja sicher, unser Streit ist beigelegt; alles geschieht, wie es mein Vater gewünscht hat. Universalerbin ist meine Stiefmutter, ich bekomme das Landhaus, Frau von Ox kill, Barbara und Hans-Peter erhalten Bargeld zu glei chen Teilen.“ „Sollte nicht Frau Willroth ebenfalls bedacht werden?“ „Das Willroth-Legat beträgt zwanzigtausend Mark. Die gute Seele wird es sofort ihrem Neffen zuschanzen, den sie abgöttisch liebt, aber das ist nicht mein Problem.“ „Dann ist doch alles bestens geregelt. Was veranlaßt unter diesen Umständen Ihre Frau, sich mit Rechtsanwalt Rodegast in Verbindung zu setzen?“ „Ich habe meine Vermutungen schon geäußert.“ „Nein, die Frage, ob ein neues Testament existiert, kann es nicht gewesen sein. Damit hätte sie sich an Specht und nicht an Rodegast wenden müssen.“ Wolf-Dieter verzog schmerzlich das Gesicht. „Also gut, dann werde ich auch darüber offen mit Ihnen reden, ob wohl es mir nicht leichtfällt. Es handelt sich nämlich um – nun ja, um eine komplizierte und etwas heikle Sache, die zur Intimsphäre der Familie gehört. Falls etwas davon in die Öffentlichkeit gelangt, könnte uns das erheblichen Schaden zufügen.“ Heym lächelte. „Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen,
Herr Löffler. Und was Ihre Intimsphäre betrifft, sie ist bei mir gut aufgehoben.“ „Danke“, sagte Wolf-Dieter mit einem treuherzigen Blick. „Wissen Sie, meine Frau hegt den aus ihrer Sicht nicht ganz unbegründeten Verdacht, Bettina habe meinen Va ter nicht aus Liebe, sondern aus recht eigennützigen Mo tiven heiraten wollen.“ „Spielen Sie auf das Kind an, das Frau Sommer erwar tet?“ „In der Tat, es geht vor allem um das Kind. Verena nimmt an, daß Bettina beabsichtigt, für das Kind Erban sprüche geltend zu machen, obwohl ihr eigentlich nur Alimente zustehen. Um auf diese Ansprüche vorbereitet zu sein, hatten wir erwogen, uns von Doktor Rodegast beraten zu lassen. Das hätte allerdings noch Zeit gehabt, doch meine liebe Frau neigt dazu, etwas voreilig zu sein.“ Verena trat ein, bereits in Mantel und Pelzkappe. „Wie so neige ich dazu, voreilig zu sein? Worüber redet ihr überhaupt?“ „Der Herr Hauptmann hat bemerkt, daß du hinter mei nem Rücken mit Rodegast korrespondierst. Natürlich hat er daraus seine Schlüsse gezogen.“ „Was für Schlüsse könnte er schon daraus ziehen?“ „Jedenfalls hättest du dich besser zurückgehalten. Statt uns zu nutzen, erzeugst du mit deinen Aktionen nur einen zwielichtigen Eindruck,“ „Das ist ja grotesk! Ich soll mich zurückhalten? Du re dest doch hier die ganze Zeit. Und was heißt zwielichti ger Eindruck? Ich versuche nur, den Schaden abzuwen
den, den du mit deiner Eitelkeit angerichtet hast.“ „Bitte ereifere dich nicht, liebes Kind. Vorhin habe ich mit Mama gesprochen, mit der Erbschaft ist alles klar. Deine Aufregung war also überflüssig.“ „Ach, schweig doch!“ Verena stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Und laß das alberne Grinsen. Denkst du viel leicht, Bettina gibt sich geschlagen? Ich kenne diese Per son! Alle Welt glaubt, Manfred sei der Vater ihres Kin des. Und jetzt wird sie erst recht versuchen, aus diesem Umstand Kapital zu schlagen.“ „Na, laß sie es doch versuchen.“ „Ich lasse sie nicht! Sie wird das Testament anfechten, um für sich und das Kind einen Erbanteil herauszuschin den. Aber durch diese Rechnung wirst du ihr einen di cken Strich machen.“ „Unmöglich. Ich habe mit ihr eine Vereinbarung getrof fen.“ „Vereinbarung? Daß ich nicht lache. Erpreßt hat sie dich.“ „Augenblick bitte“, sagte Heym. „Von welcher Verein barung ist die Rede?“ Betretenes Schweigen. Dann lachte Verena spöttisch auf. „Nun sage es ihm schon, du Held.“ „Ich finde es unfair, ihr das anzutun.“ „Dann werde ich eben die Sache aufklären.“ „Nein, nein!“ Wolf-Dieter hob abwehrend die Hände. „Ich mache das selbst. Also – Bettina und ich, das liegt aber schon einige Zeit zurück, hatten bei einer Fernseh produktion ein Liebespaar zu spielen, und dabei ergab es sich, daß wir uns näherkamen. Ich…“ „Näherkamen?“ unterbrach ihn Verena. „Ihr hattet ein
handfestes Verhältnis.“ „Gut, hatten wir ein Verhältnis. Ich fühlte mich aber nicht wohl dabei und suchte nach Wegen, mich von ihr zu lösen, doch sie…“ „Du fühltest dich sehr wohl dabei, nur hattest du das Weib unterschätzt. Sie war nicht auf ein paar Schäfer stündchen aus, sie wollte dich heiraten. Und erst als dir das klar wurde, kriegtest du kalte Füße.“ „Also, wie auch immer, ich wollte meine Familie nicht im Stich lassen und habe der Sache ein Ende gemacht. Und Bettina hat sich damit abgefunden. Wir trafen die Vereinbarung…“ „Das Wichtigste hast du ausgelassen.“ „Wer erzählt denn? Du oder ich?“ „Ich helfe nur deinem schlechten Gedächtnis nach.“ „Keine Sorge, ich wäre schon darauf gekommen. Also bitte, unterbrich mich nicht ständig. So, wo war ich denn stehengeblieben?“ „Bei dem Kind.“ „Bei welchem Kind? – Ja, bei dem Kind. Es hatte sich unglücklicherweise ergeben, daß Bettina schwanger wur de. Und das komplizierte in gewisser Weise die Tren nung. Dann aber entschloß sich Bettina zu einer Unter brechung, und ich versprach ihr, über unsere Beziehung und die Herkunft des Kindes Stillschweigen zu bewah ren.“ „Nein! Nein!“ schrie Verena. „Das ist doch nicht aus zuhalten!“ „Was ist denn nun schon wieder? Habe ich etwa gelo gen?“ „Nein du hast nicht gelogen. Du hast nur die Wahrheit
auf eine Weise verbogen, daß einem die Haare zu Berge stehen.“ „Jetzt habe ich es aber satt!“ sagte Wolf-Dieter empört. „Wenn du alles besser weißt, dann erzähle du doch.“ Er zündete sich eine Zigarette an und warf verärgert das Feuerzeug auf den Schreibtisch. „Ganz wie du willst, mein Liebling“, schnurrte Verena. „Die Schwangerschaft hatte sich natürlich nicht unglück licherweise ergeben. Die liebe Bettina wollte das Kind, um dich unter Druck zu setzen. Und plötzlich wurde sie großmütig und ließ dich aus ihren Krallen. Was steckte dahinter? Sie hatte begriffen, daß sie bei dir nicht weiter kam und hatte sich ein neues Opfer gesucht: deinen Herrn Vater. Manfred war ja für ihre Karriere noch nütz licher. An eine Abtreibung dachte sie nicht einmal im Traum, das war nur ein Vorwand, um dich von ihren Plä nen abzulenken. Ein Kind paßte ausgezeichnet in die Rechnung, Sie machte deinen Vater glauben, es sei von ihm. Der Arme platzte vor Stolz aus allen Nähten und zeigte sich unter diesen Umständen sofort bereit, sich scheiden zu lassen und die glückliche Mutter zu heira ten.“ „Lächerlich! Vor unserer Trennung konnte sie gar nicht wissen, daß mein Vater sich in sie verlieben würde.“ „Konnte sie nicht? Natürlich hatte sie es ausprobiert. Etwas anderes anzunehmen, so einfältig kann doch nur ein Mann sein.“ „Aber es wäre ein großes Risiko gewesen.“ „Ach was, es war überhaupt kein Risiko. Auf dein Schweigen konnte sie sich aus guten Gründen verlassen. Erstens weil du Angst hattest vor dem Papa, der dir seine
Blamage niemals verziehen hätte. Zweitens, weil du sehr billig aus der Affäre herausgekommen bist. Und oben drein blieb die Vaterschaft in der Familie, in puncto Ähn lichkeit hatte sie also auch nichts zu befürchten.“ „Du sagst es, die Vaterschaft bleibt in der Familie. Schon deswegen können wir überhaupt nichts tun.“ „Selbstverständlich können wir etwas tun. Oder willst du zulassen, daß sie mit ihrem niederträchtigen Schwin del Erfolg hat? Nein, wir werden Manfreds Vaterschaft anfechten und beweisen, daß du der Vater des Kindes bist. Die wissenschaftliche Genetik ist dazu durchaus in der Lage.“ „Aber nicht gegen den Willen der Mutter. Sie muß sich und das Kind für die Untersuchung zur Verfügung stel len.“ „Falls der begründete Verdacht des Betruges vorliegt, läßt sich eine medizinische Untersuchung auf dem Rechtswege erzwingen.“ „Woher willst du den begründeten Verdacht nehmen? Dazu müßtest du ihr erst einmal nachweisen, daß sie wis sentlich und in betrügerischer Absicht die Unwahrheit über die Vaterschaft ihres Kindes sagt. Dieser Beweis dürfte uns schwerfallen.“ Verena schüttelte heftig den Kopf. „Nein, da bist du im Irrtum. Denn das hieße, den Beweis für etwas zu verlan gen, was ja gerade durch die Untersuchung erst bewiesen werden soll. Es genügt, dem Gericht begründete Zweifel an der Wahrheit der von Bettina aufgestellten Behaup tung vorzulegen und die sind ja zur Genüge vorhanden, um den Antrag auf Feststellung der Vaterschaft durchzu setzen.“
„Wie ich sehe, sind Sie juristisch gut informiert“, sagte Heym. „Haben Sie das von Doktor Rodegast?“ „Allerdings.“ „Falls Sie mit der Vaterschaftsfeststellung Recht be kommen, muß Ihr Mann Alimente zahlen.“ „Die zahlen wir mit Vergnügen. Gegen einen Erbanteil sind das Pfennige.“ „Wissen Sie, wie lange ein solcher Prozeß dauern kann?“ „Sehr lange. Ich weiß auch, das Bettina durch einen Antrag auf Sicherstellung ihres Erbanteils die Freigabe der Erbschaft blockieren kann, und zwar bis zur endgül tigen Klärung, also unter Umständen einige Jahre. Und ich weiß sogar, daß man uns die Prozeßkosten aufbrum men wird, denn bis zuletzt wird sie behaupten, in gutem Glauben zu handeln. Aber das macht mir alles nichts, und wenn wir draufzahlen, durchkommen wird sie nicht, eher gehe ich in Lumpen.“ Heym wandte sich an Wolf-Dieter: „Übrigens, Ihr Halbbruder bestreitet, Dienstagnacht im Landhaus ange rufen zu haben. Er sagt, Sie hätten sich das aus den Fin gern gesogen, um ihn zu belasten.“ „Sagt er das?“ Wolf-Dieter hob die Brauen. „Nun, nie mand will ihn belasten. Der Junge hat Komplexe, er fühlt sich ständig mißverstanden. Natürlich ist das Unsinn, wir alle sind ihm freundlich gesonnen, trotz seiner zuweilen etwas verqueren Art. Und wenn er diesen Anruf bestrei tet, mag er damit durchaus im Recht sein.“ „Gestern haben Sie mir etwas anderes erzählt!“ „Wieso? Ich sagte doch nicht, daß mein Stiefbruder an gerufen hat, ich sagte, ich hätte den Eindruck gehabt.
Sollten Sie etwas anderes verstanden haben, dann bitte ich sehr um Entschuldigung, dann habe ich mich unprä zis ausgedrückt.“ „Und jetzt drücken Sie sich präzis aus, ja?“ sagte Heym ärgerlich. „Soll das heißen, daß Sie Ihre Aussage zurück nehmen?“ „Durchaus nicht. Das Gespräch hat stattgefunden, exakt so, wie ich es geschildert habe. Nur in Bezug auf die Per son des Anrufers bin ich in Zweifel geraten. Sie wissen, der Mensch war betrunken, oder er hat es vorgetäuscht. Seine Stimme war undeutlich, doch da sie in Diktion und Tonfall Ähnlichkeit mit der von Hans-Peter hatte, war ich zunächst der Meinung, er müsse es gewesen sein. Es kann aber auch der Mörder gewesen sein, der in der Ab sicht anrief, Zwietracht zu säen. Oder um mich und mei nen Halbbruder bei der Kriminalpolizei in Verdacht zu bringen.“ „Sehr hübsch haben Sie sich das ausgedacht. Hat Ihre Stiefmutter dabei nachgeholfen?“ „Nein, sie hat mir nur deutlich gemacht, welche Trag weite meine Aussage für Hans-Peter haben könnte. Dar an zu erinnern, wird doch wohl erlaubt sein.“ Heym hatte einen faden Geschmack im Mund. Nach dem nun alle ihr Schäfchen im trockenen hatten, erwach te wieder der .Familiensinn. Er wußte, gegen diese Art von Doppelzüngigkeit war wenig auszurichten, dennoch unternahm er einen Versuch und sagte: „Überlegen Sie gewissenhaft, was Sie tun, Herr Löffler. Falls Sie lügen, machen Sie sich mitschuldig.“ „Ich bitte Sie, mitschuldig! Ich sage nichts weiter, als daß ich eine Stimme, die ich am Telefon hörte, noch dazu
die eines Betrunkenen, nicht mit Sicherheit identifizieren kann. Und dabei muß ich der Wahrheit zuliebe bleiben, so leid es mir für Sie tut.“
18 Erna Sauerknecht fand keine Ruhe. Sie hatte das Problem nach allen Seiten durchdacht, und je länger sie grübelte, um so undurchschaubarer wurde es. Einer seits war ihr Erwin kein Kostverächter. Wenn sich eine günstige Gelegenheit bot, mit einem Weibsbild zu schmusen, beim Laubenfest, zum Beispiel, oder auf dem Betriebsausflug, dann griff er zu, besonders, wenn er schon einen in der Krone hatte. Andererseits, ein regel rechtes Verhältnis anzufangen, das sah ihm nicht ähnlich, dazu war er zu träge. Und zu feige wohl auch. Denn die Folgen, die er damit heraufbeschwor, die konnte er sich ausmalen, soviel Phantasie hatte er allemal. Aber wenn sie sich nun irrte? Erna fühlte, wie ihr die Vorstellung von Erwins Un treue das Blut in den Kopf trieb. Das sollte er sich erlau ben, der Kerl, da würde sie ihm aber Licht ans Fahrrad machen. Oder war alles Unsinn? Eigentlich kannte sie ihn lange genug, ein Casanova war er nun auch wieder nicht. Er wollte pünktlich seine Mahlzeiten, seine Sport zeitung, seinen Fernseher, sein bißchen Pusseln im Gar ten. In der Hauptsache aber wollte er seine Bequemlich keit, und die hatte er, mit allem, was dazugehörte, da war ihr auch bei gründlicher Prüfung nichts vorzuwerfen. Warum also sollte er plötzlich das Bedürfnis haben, mit einer anderen Frau anzubändeln? Sie ließ das Strickzeug sinken, schob die Brille auf die
Stirn und blickte aus dem Küchenfenster. Es war dunkel geworden. Die Laterne hinter dem Gartenzaun glimmte in bläulichem Nebel. In der Regentonne an der Haus wand gluckste das Wasser. Irgend etwas stimmte an seiner Geschichte nicht. Aber was? Meistens ließ sie ihm seine Flunkereien durchge hen, weil sie wußte, was er im Schilde führte, weil sie seine Tricks durchschaute. Diesmal wußte sie nichts. So sehr sie sich abmühte, sie konnte keine Erklärung finden, und das brachte sie allmählich aus der Fassung. Nach dem Essen hatte sie Geschirr gespült und abge trocknet; sie hatte das Hühnerfutter für den nächsten Tag auf den Herd gebracht; sie hatte in der Speisekammer ein aufgegangenes Glas entdeckt und einen Stachelbeerku chen gebacken – und während der ganzen Zeit waren ihr die Fragen wie ein Mühlrad im Kopf herumgegangen. Und jetzt saß sie immer noch in der Küche und war nicht einen Deut klüger als zuvor. Nebenan im Wohnzimmer lief der Fernseher. Erwin lag in seinem Stammsessel und fragte schon zum drittenmal, ob ihm „seine Mutti“ nicht ein Schnäpschen spendieren wolle. Erna erhob sich. Sie hatte einen Entschluß gefaßt. Klarheit mußte her! Wenn man sie durch Nachdenken nicht fand, mußte man sie auf anderem Wege suchen, selbst wenn man dabei in eine dumme Lage geraten sollte. Immer noch besser, als sich die ganze Nacht mit einem ungelösten Rätsel herumzu schlagen. Aus ihrem Versteck hinter den Küchenhandtüchern zog sie eine halbe Flasche Korn hervor, drehte den Verschluß ab, stärkte sich mit einem kleinen Schluck, stellte die Flasche auf ein Tablett, zwei Gläser dazu, und trug das
Tablett ins Wohnzimmer. „Hier hast du deine Pulle, alter Suffkopp!“ sagte sie nicht unfreundlich. Erwin strahlte. Die Alte rückte den Schnaps ‘raus, der Sturm hatte sich verzogen. Die Lippen genüßlich gespitzt, schenkte er sich das erste Gläschen ein. „Ich fahre noch mal rasch in den Konsum.“ „Wat denn, jetzt noch?“ fragte Erwin verwundert. „Bei dem Sauwetter?“ „Bin in zwanzig Minuten wieder da, hab ein paar Klei nigkeiten vergessen fürs Wochenende. Und laß mir auch noch ein bißchen was in der Flasche, verstanden?“ „Ja doch, ja doch.“ Erwin winkte ab. Er war mit wich tigeren Dingen beschäftigt. „Dynamo“ hatte das zweite Tor geschossen. Hastig kippte er seinen Korn. Jetzt kam die Zeitlupenwiederholung. Er klemmte eine Juwel in den Mundwinkel und tastete nach den Streichhölzern, während er gebannt auf die Mattscheibe starrte. Erna begab sich in den Flur. Sie zog ihre Gummistiefel an, schlüpfte in die gelbe Wetterjacke und trat durch die Hintertür in den Hof. Der Regen war heftiger geworden. Erna stülpte die Ka puze über, holte das Fahrrad aus dem Schuppen und schwang sich auf den Sattel. Fünf Minuten später erreichte sie die Wohnlaube von Gertrud Mohn. Mit dem Vorderrad stieß sie das wacklige Gartentor auf, lehnte ihr Fahrrad an einen Baum und klopfte an den Fensterladen, durch dessen Ritzen Licht schimmerte. Eine Weile regte sich nichts. Nur der Regen trommelte auf das flache Pappdach, und neben ihren Fü ßen spritzte Wasser aus einem defekten Fallrohr. Endlich ging eine Lampe an, die Haustür öffnete sich einen Spalt.
,,’n Abend, Trude. Ich habe ein paar Takte mit dir zu reden.“ „So?“ Gertrud kniff mißtrauisch die Augen zusammen. „Wer sind Sie denn? Ich kann Sie gar nicht erkennen.“ Erna streifte ihre Kapuze vom Kopf. „Ach Gott nee! Du bist es, Frau Sauerknecht. Was ver schafft mir die Ehre?“ Die Kette klirrte, die Tür schwang auf. „Kannst du dir das nicht denken?“ „Nee.“ „Mein Mann war gestern bei dir, geschlagene zwei Stunden.“ „Kommst du etwa deswegen?“ „Was hast du von ihm gewollt?“ „Ich hab gar nichts von ihm gewollt. Aber wir können drinnen weiterreden, mir zieht die olle Nässe ins Haus.“ „Danke. Habe nicht die Absicht, mich lange aufzuhal ten. Ich will nur wissen, was hier vorgegangen ist.“ „Und ich stehe nicht in der Zugluft und hole mir dei netwegen den Tod.“ Die Tür begann sich zu schließen. „Moment!“ Erna schob ihren Gummistiefel auf die Schwelle. „So einfach kommst du mir nicht davon.“ „Na denn ‘rein!“ Gertrud ließ ihren Besuch eintreten, knipste in der Küche das Licht an und deutete auf einen Stuhl. „Also, was willst du von mir hören?“ Erna sah sich mit kritischen Blicken um und nahm dann vorsichtig auf der Stuhlkante Platz. „Wie hast du es bloß fertiggebracht, meinen Erwin in diese Remise zu lo cken?“ Gertrud lächelte nachsichtig. „Der Herr Gemahl ist von ganz alleine gekommen. Er wollte sich einen Karnickelbock auspumpen.“
„Haha, einen Karnickelbock? Was Dümmeres fällt dir wohl nicht ein? Von der Keßler Ursel weiß ich zufällig, daß du gar keine Karnickel mehr hast.“ „Wenn du mir nicht glaubst, frag ihn doch selber. Du bist schließlich mit ihm verheiratet.“ „Genau. Und so wird es auch bleiben!“ Gertrud runzelte die Stirn. „Was meinst du denn damit? – Großer Gott nee!“ Sie schlug sich an den Kopf. „Bil dest du dir etwa ein, daß ich hinter deinem alten Knacker her bin?“ „Nun mal sachte, ja? Bei deiner Kürbisfigur und der Wirtschaft hier, da mußt du doch froh sein, wenn du ü berhaupt noch einen abkriegst.“ Frau Mohn brach in Heiterkeit aus. „Nee, mir geht’s nicht wie dir, Erna, Hauptsache einen Mann, und wenn er im Bett sitzt und hustet. Da kannst du wirklich ganz be ruhigt sein, ich will deinen Gartenzwerg nicht. So was wie den hätte ja mein Seliger in der Pfeife geraucht.“ Erna sprang von ihrem Stuhl auf und schnappte nach Luft. „Also frech willst du werden? Lügen erzählen und auch noch frech werden! Du hast mit ihm Pfefferminzli kör gesoffen, damit du ihn bequatschen kannst, daß er dir die Fenster streicht. Was man so Fenster nennt. Ein an ständiger Mensch würde die nicht mal als Brennholz be nutzen.“ Jetzt war es Gertrud, die mit offenem Mund dastand und sich erst einmal fassen mußte. „Was sagst du? Ich habe ihn bequatschen wollen, daß er mir die Fenster streicht?“ „Aber daraus wird nichts, das schlag dir aus dem Kopf.
Mein Mann hat was Besseres zu tun, als bei einer mannstollen Schrippe die Bruchbude zu pinseln.“ „Von pinseln war überhaupt nicht die Rede. Merk dir das mal.“ „Du hast doch bloß eine Gelegenheit gesucht, um dich an ihn ranzuschmeißen.“ „Wer hat dir denn diesen Quatsch erzählt?“ „Ich will wissen, was in den zwei Stunden passiert ist.“ „Was willst du?“ Langsam geriet auch Frau Mohn in Wallung. „Aber nicht von mir! Frag doch deinen alten Esel, wenn du wissen willst, was passiert ist. Der ist dir Rechenschaft schuldig, nicht ich.“ „So ist das also“, sagte Erna dumpf. „Die Unzucht scheut das Wort, auch wenn die Tat vor Augen liegt.“ „Nun ist aber Schluß! Ich habe die Nase pleng!“ Ger trud reckte sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter fünfundfünfzig auf und wies gebieterisch zur Tür. „Da hat der Zimmermann das Loch gelassen!“ „Rausschmeißen? Du willst mich rausschmeißen? Na versuch’s doch mal!“ Gertrud griff nach Ernas Handgelenk und mühte sich aus Leibeskräften, den unerwünschten Gast aus der Kü che zu zerren. „Laß mich los! Faß mich nicht an! Ich sa ge dir, nimm deine Pfoten weg!“ „Mach, daß du rauskommst!“ keuchte Gertrud. „Das ist Hausfriedensbruch!“ Erna wand sich wie ein Aal, stemmte sich in den Tür rahmen und versuchte mit der freien Hand, irgendwo Halt zu finden. Sie erwischte ein Handtuch, das an einem Regal hing. Auf dem Regal stand eine Batterie Gewürzdosen. Im
nächsten Augenblick krachte die ganze Pracht mit lautem Scheppern zu Boden. „Das Luder ruiniert mir die ganze Einrichtung!“ rief Gertrud, holte zu einem weiten Schwinger aus und setzte – sie wußte selbst nicht wie – der Gegnerin die Faust un ter das rechte Auge. „Au!“ stöhnte Erna, beide Hände auf die schmerzende Stelle gepreßt. Sie kippte gegen die Wand und ließ sich auf die Dielen fallen. Gertrud hielt erschrocken inne; mit dieser Wirkung hat te sie nicht gerechnet. Wenigstens war dem Trampel die blöde Brille nicht zu Bruch gegangen. „Das sollst du mir büßen, du Aas!“ zischte Erna. „Das gibt eine Anzeige wegen Körperverletzung! Und zwar sofort!“ Behende sprang sie auf und stürmte aus dem Haus. Gertrud stand einen Augenblick ratlos, dann jagte sie hinterher. „Erst gibt es eine Anzeige wegen Hausfrie densbruchs!“ schrie sie. Draußen, unter dem Süßkirschenbaum, entbrannte der Kampf aufs neue. Gertrud wollte nicht zulassen, daß die Rivalin durch die Benutzung ihres Fahrrades einen unfai ren Vorteil erlangte. Es gab ein Gezerre und Geschubse, bis das Vehikel schließlich in die Brombeerhecke flog. Verbissen um die Führung ringend, sich gegenseitig sto ßend und an den Kleidern festhaltend, hasteten die beiden Frauen durch Regen und Pfützen, besessen von der Idee, diejenige würde triumphieren, die zuerst das Ziel erreich te. Um die gleiche Zeit betrat Leutnant Sitte sein gemütli ches Wohnzimmer. Ein Glas mit dampfendem Grog in der Hand, ließ er sich erleichtert auf das Sofa sinken. Vor
einer Viertelstunde erst war er völlig durchnäßt vom Dienst heimgekommen. Wieder einmal hatte er vor zahl losen Türen gestanden, hatte zahllose Fragen gestellt und eine Menge unergiebiger Antworten bekommen. Wieder einmal war die Suche nach dem Besitzer des Fahrradan hängers vergeblich gewesen. Der ABV wünschte den Kerl insgeheim zum Teufel, massierte seine kalten Füße, zog die Socken aus Schaf wolle an, nippte an seinem Grog und lehnte sich wohlig zurück. Ah – endlich kamen ein paar friedliche Stunden im Kreise der Familie. Darauf hatte er sich schon den ganzen Tag gefreut. An der Haustür klingelte es Sturm. Was war nun schon wieder? Leutnant Sitte ahnte nicht, was auf ihn zukam. Er warf noch einen traurigen Blick auf seinen Grog, dann erhob er sich und ging hinaus, um nachzuschauen, wer es da so eilig hatte.
19 Es war Abend geworden, ein langer Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Heym und Kabel saßen in ih rem Büro. Sie waren damit beschäftigt, Fakten zu ord nen, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Viele Widersprüche gab es, viele offene Fragen. Einen konkreten Hinweis auf den Täter besaßen sie noch immer nicht. Vor einer Stunde hatten sie Ulrich Bierbach nach Hause gehen lassen. Von den Zeugen Neubert und Jastro sowie von dem Posthorn-Wirt war seine Aussage bestä tigt worden. Es gab keinen Grund, ihn länger festzuhal ten. „Heute morgen war ich ziemlich sicher“, knurrte Kabel, „daß wir mit Bierbachs Hilfe ein Stück voran kommen würden. Irrtum. Wer konnte aber auch ahnen,
daß in der Familie Löffler drei Uhren vom gleichen Mo dell existierten?“ „Vorangekommen sind wir trotzdem. Wolf-Dieters Uhr weist Gebrauchsspuren auf, die von Hans-Peter nicht. Sie wurde also nie getragen, was darauf hindeutet, daß er in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hat.“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Noch etwas anderes ist mir rätselhaft. Die Kriminaltechniker teilen uns mit, daß beide Rolex-Uhren Imitationen sind. Die Werke von schlechter Qualität, Firmenzeichen und Goldstempel ge fälscht. Ich frage mich, wie der wohlhabende Herr Löff ler an solchen Schund geraten ist.“ „Er glaubte, er hätte ein großartiges Geschäft gemacht, nehme ich an.“ „Wieso das?“ „Er kaufte sie bei einem Straßenhändler in Cannes. Vermutlich ließ der Mann durchblicken, es sei heiße Wa re und deshalb günstig zu haben. Ein uralter Trick, um mit billigen Imitationen den Leuten das Fell über die Oh ren zu ziehen.“ „Woher wissen Sie das?“ „Hans-Peter machte eine Andeutung, die diese Vermu tung nahelegt. Doch kommen wir zurück zu unseren ei genen Sorgen. Falls es wirklich der Täter war, der Uhr und Brieftasche gestohlen hat, wollte er einen Raubmord vortäuschen, das heißt, er wollte das wahre Motiv ver schleiern. Aber in der Eile hatte er wohl vergessen, den Volvo auszuplündern. Und mit diesem Fehler stößt er uns erst recht auf die Frage nach seinem Motiv. Um sie zu beantworten, müssen wir herausfinden, was Manfred Löffler auf dem Müllplatz zu suchen hatte.“
„Es wäre denkbar, daß er etwas wegwerfen wollte.“ „Gut, nehmen wir an, er wollte etwas wegwerfen. Aber was? Die Umstände könnten darauf hinweisen, daß es etwas war, das ihn in irgendeiner Weise belastete. Doch leider wurde nichts gefunden, das diese Annahme unter stützt.“ „Vielleicht hat der Täter dieses ,Etwas’ mitgenommen.“ „Wenn es ihm nur um einen Gegenstand ging, warum hat er dann sein Opfer umgebracht? Weshalb hat er nicht gewartet, bis Löffler gegangen war? Dann hätte er sich doch in aller Ruhe aneignen können, was er haben woll te.“ „Sie haben recht. Aber es wäre auch möglich, Löffler suchte etwas, und der Täter wollte verhindern, daß er es findet.“ „Um in der Dunkelheit etwas zu suchen, braucht man eine Taschenlampe oder eine andere Lichtquelle. Nichts dergleichen wurde am Tatort gefunden. Ich wage zu be haupten, der Täter schlug sein Opfer nieder im Zustand heftiger Erregung. Es muß dabei nicht einmal unbedingt eine Tötungsabsicht vorgelegen haben. Der Tod trat Stunden später ein, verursacht durch den keineswegs vorhersehbaren Umstand, daß sich unter Löfflers Schä deldecke ein Hämatom bildete. Worum ging es bei dem Streit? Um einen Gegenstand? Wenn ja, dann wird die Suche nach dem Motiv eingeengt auf die Frage nach die sem geheimnisvollen Gegenstand.“ Kabel wollte etwas einwenden. Heym hob abwehrend die Hand, griff nach seinem Notizbuch und schlug es auf. „Wir haben folgende Motive: Haß, Eifersucht, berufliche Rivalität, Streit um die Erbschaft. Alle diese Motive ha
ben keine zwingende Verbindung zum Tatort. Soweit bisher ersichtlich, spielt auch ein Gegenstand keine Rol le. – So, jetzt können Sie Ihren Einwand vorbringen.“ Kabel lächelte. „Hat sich schon erledigt.“ „Nach dem gerichtsmedizinischen Gutachten wurde die Tat am Dienstag zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr begangen. Betrachten wir jetzt die Liste der Perso nen, die mit dem Opfer in Beziehung standen. Falls ich etwas übersehen habe, ergänzen Sie mich bitte. - Ljuben Bulkov, Komponist. Wenige Stunden vor der Tat hatte er einen handgreiflichen Streit mit dem Opfer. Er ist impulsiv und leugnet nicht, Löffler zu hassen. Bul kov hatte die Möglichkeit, den Tatort zu erreichen. Der Beweis, daß er in der fraglichen Zeit seinen Wagen oder andere Transportmittel benutzte, konnte bisher nicht er bracht werden. - Katharina Bulkov, Übersetzerin. Durch die Ermitt lungsarbeit wurde mit großer Sicherheit nachgewiesen, daß zwischen ihr und Manfred Löffler seit dem Ereignis in der Botschaft keine Kontakte stattgefunden haben. Zur Tatzeit war sie allein in ihrer Wohnung. - Tobias Meyerlink, Regisseur. Meyerlink und Löffler hatten berufliche Rivalitäten, die von Meyerlink im Ge gensatz zu den Aussagen seiner Kollegen als bedeutungs los dargestellt werden. Meyerlink wohnt in der unmittel baren Nachbarschaft Löfflers. Während der Tatzeit war er in seinem Arbeitszimmer, aus dem er sich unbemerkt hätte entfernen können. - Johannes Seidel, Kraftfahrer. Nach eigener Aussage fühlt er sich für Ilse Löffler verantwortlich. Ihren ge
schiedenen Mann nennt er einen ,Angeber’ und ,Egoisten’, die von Löffler geplante Testamentsänderung eine ,Affenschande’. Am Tatort gesicherte Reifenspuren stimmen mit dem Reifentyp an Seidels Muldenkipper überein, die Identität konnte infolge des nächtlichen Dauerregens nicht nachgewiesen werden. Zur Tatzeit war Seidel allein mit dem Muldenkipper unterwegs. – Wolf-Dieter Löffler, Schauspieler. Der Tod seines Vaters bringt ihm erhebliche Vorteile, neben der Haupt rolle in einem Spielfilm den seit langem ersehnten Besitz des Landhauses. Außerdem hatte er zu fürchten, sein Va ter könnte die wahren Zusammenhänge über Bettina Sommers Schwangerschaft erfahren. Bereits zehn Stun den vor der Auffindung des Opfers war er über dessen Tod informiert, angeblich durch einen Telefonanruf, der nicht bezeugt werden kann. Seine Behauptung, er habe sich am Abend der Tat von achtzehn Uhr bis kurz vor zwanzig Uhr in der Theaterkantine aufgehalten, ließ sich trotz gründlicher Befragung der Kantinengäste und der Kantinenangestellten nicht zweifelsfrei nachweisen. – Hans-Peter Löffler, ohne erlernten Beruf. Er hatte ein gestörtes Verhältnis zu seinem Vater, der ihn bevormun dete und ihn wegen seines beruflichen Versagens verach tete. Hans-Peter ist labil und unbeherrscht, als Alkohol gefährdeter steht er in psychotherapeutischer Behand lung. Schon des öfteren hat er aus Geldmangel seine El tern bestohlen, was er nicht bestreitet, sondern zu recht fertigen versucht. Den Anruf im Landhaus seiner Mutter leugnet er, doch schließen die Umstände seine Urheber schaft nicht aus. In der Tatnacht war er im Besitz einer Uhr, die der seinem Vater am Tatort gestohlenen gleicht.
Seine Erklärung, wie er in den Besitz der Uhr kam, konn te durch die kriminaltechnische Untersuchung nicht wi derlegt werden. Der Verdacht seiner Täterschaft wird dadurch nur unwesentlich eingeschränkt. Während der Tatzeit war er in der Nahe des Tatortes unterwegs.“ „Darf ich Sie unterbrechen?“ fragte Kabel. „Ja, was gibt es?“ Heym sah von seinen Notizen auf. „Falls Hans-Peter der Täter sein sollte, dann hatte er die Brieftasche, in der sich genügend Geld befand. Warum mußte er die Gefahr auf sich nehmen und die Uhr eintau schen? Es wäre einfacher gewesen, die Flasche Klaren in bar zu bezahlen.“ „Nicht unbedingt. Erst einmal steht doch gar nicht mit absoluter Sicherheit fest, daß der Täter auch Uhr und Brieftasche gestohlen hat. Der Dieb könnte jemand sein, der den Toten zufällig fand, denken Sie an den flüchtigen Besitzer des Fahrradanhängers. Zum zweiten wußten wir, daß Hans-Peter am Abend der Tat kein Geld besaß. Wenn er die Flasche bar bezahlt hätte, wäre er von uns zweifellos gefragt worden, wie er an das Geld gekommen ist, und das hätte ihn in Schwierigkeiten gebracht. Für den Besitz der Uhr dagegen kann er eine Erklärung lie fern, die ihm bis jetzt nicht zu widerlegen ist. Vielleicht verhält sich der Bursche klüger, als wir gedacht haben.“ „Na, ich weiß nicht. Gleich nach der Tat die gestohlene Uhr versetzen, das tut doch nur ein Verrückter. Wenn er wirklich klug gewesen wäre, hätte er sich still verhalten und den Verdacht erst gar nicht auf sich gelenkt.“ „Sie vermuten, daß er verrückt ist? Gut, dann müssen Sie zugestehen, daß Verrückte ihre eigene Logik haben. Vielleicht konnte er ohne Alkohol die seelische Belas
tung nicht durchstehen. Er mußte sich etwas zu trinken beschaffen, egal mit welchem Risiko, sonst hätte er die Nerven verloren.“ Kabel zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer. Es fällt mir schwer, in diesem Hanswurst den Täter zu se hen. Er ist nicht die Spur eines Schlägertyps.“ „Als ob es darauf ankäme! Bei starker Erregung kann jeder zuschlagen. Auch eine Frau. Im übrigen sagt das Gutachten, der Schlag wäre nicht besonders heftig gewe sen. – Gestatten Sie, daß ich jetzt mit der Liste fortfah re?“ „Aber ja.“ „Danke.“ Heym nahm wieder sein Notizbuch zur Hand. - Ilse Löffler, Hausfrau. Sie hatte schwerwiegende Gründe, ihren geschiedenen Mann zu hassen. Wäre es zu einer Testamentsänderung gekommen, hätte sie große materielle Verluste erlitten. In Streßsituationen neigt sie zu hysterischen Anfällen, verbunden mit Gewalttätigkei ten. Zur Tatzeit war sie im Landhaus, dafür gibt es Zeu gen. Es wäre denkbar, daß sie ihren Vertrauten Johannes Seidel, der ihr treu ergeben ist, zur Tat angestiftet hat. - Verena Löffler, Kosmetikerin. Der Tod ihres Schwie gervaters bringt ihr die gleichen Vorteile wie ihrem Mann Wolf-Dieter. Sie hegt eine intensive, von starken Emotionen beherrschte Abneigung gegen Bettina Som mer. Während der Tatzeit war sie allein mit den schla fenden Kindern in der Wohnung. Entfernung zum Tatort rund zwei Kilometer. – Christina von Oxkill, Rentnerin. Abgesehen von der Tatsache, daß sie wie alle Familienmitglieder an der Erb schaft beteiligt ist, bestanden zwischen ihr und Manfred
Löffler keine Interessengegensätze. Seit mehr als vierzig Jahren stand sie ihm in allen Lebensfragen mit Rat und Tat zur Seite. Sie hatte zu ihm ein mütterliches Verhält nis und besaß sein uneingeschränktes Vertrauen. Am Dienstagabend befand sie sich allein in ihrem Garten haus. - Bettina Sommer, Sängerin. Sie ist die einzige der be teiligten Personen, die durch Löfflers Tod nur Nachteile erleidet. Zur Tatzeit war sie mit einer Freundin in ihrer Berliner Wohnung. – Lina Willroth, Haushälterin. Seit sechzehn Jahren ar beitet sie im Dienst der Familie Löffler, führt ein an spruchsloses Leben und ist Mitglied einer Religionsge meinschaft. Aus der Erbmasse erhält sie ein Legat von zwanzigtausend Mark. Zur Tatzeit war sie nach eigener, allerdings unbestätiger Aussage in ihrem Mansarden zimmer. Heym klappte das Notizbuch zu und lehnte sich zurück. „Wollen Sie diesen Ausführungen noch etwas hinzufü gen?“ „Wie steht es mit Löfflers Tochter Barbara Schmidt und deren Ehemann? Die beiden sind schließlich auch an der Erbschaft beteiligt.“ „Ich denke, wir können sie mit gutem Gewissen als Tatverdächtige ausschließen. Die Ermittlungen der Stral sunder Genossen haben eindeutig ergeben, daß die Schmidts am Dienstagabend eine Theatervorstellung be suchten. – Da fällt mir übrigens ein, war es nicht Ihre Absicht, das Alibi von Doktor Bierbach nachzuprüfen?“ „Habe ich getan. Bierbach war tatsächlich von achtzehn bis zwanzig Uhr in der Sauna. Anschließend fuhr er mit
zwei Bekannten, einem Doktor Fritsche und einem Ar chitekten Öhmhausen, zu sich nach Hause. Die drei Her ren tauschten bis gegen zweiundzwanzig Uhr Briefmar ken. Dieser Sachverhalt wurde von beiden Zeugen bestä tigt.“ „Also auch nichts“, seufzte Heym. „War ja zu erwar ten.“ „Wie schön wäre es gewesen“, sinnierte Kabel, „wenn der Krach zwischen Bierbach und Löffler nicht am Mon tag stattgefunden hätte, sondern am Dienstag. Dann hät ten wir ein Motiv und den Tatort gleich nebenan.“ „Moment mal! Dieser Doktor Bierbach! Sie bringen mich auf einen Gedanken.“ Heym schwieg und starrte nachdenklich ins Leere. Kabel sah seinen Chef erwartungsvoll an. Der Haupt mann zog seinen Tabaksbeutel hervor und begann geis tesabwesend die Pfeife zu stopfen. „Was meinen Sie damit, ,dieser Doktor Bierbach’?“ Keine Antwort. Eine Minute verging schweigend. Kabel fing an, sich zu ärgern. Der Alte benimmt sich wieder wie Sherlock Holmes, dachte er, wenn er eine Idee hat, spielt er den Geheimnisvollen. Plötzlich legte Heym die Pfeife auf den Schreibtisch und sah seinen Kollegen an. „Wissen Sie, was ich denke? Wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben ein längst bekanntes Indiz nicht mit der nötigen Sorgfalt geprüft. Was halten Sie von jemandem, der sich den Spruch an die Wand hängt ,Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere’?“ „Wieso?“ fragte Kabel verblüfft. „Gar nichts halte ich von dem. Vorausgesetzt, er meint es ernst.“
„Versuchen Sie mal, seinen Charakter zu beschreiben.“ „Hm – mißtrauisch, kontaktarm. Hat vermutlich schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht.“ „Kann man sagen, jemand, der sein Herz ausschließlich an Tiere hängt, hat die Beziehung zur Umwelt verloren?“ „Schon möglich. Trotzdem begreife ich nicht, was der Spruch mit unserem Fall zu tun hat.“ „Ich habe ihn kürzlich gelesen.“ „Und wo, wenn man fragen darf?“ „Im Zimmer von Lina Willroth.“ Kabel blies die Backen auf. „Willroth?“ fragte er mehr zweifelnd als überrascht. „Und was hat nun dieser Spruch, der bei Lina Willroth im Zimmer hängt, mit Doktor Bierbach zu tun?“ Heym stand auf und griff nach seinem Jackett. „Kom men Sie, Kabel, wir müssen mit ihr sprechen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
20 Der Morgen begann unheilvoll. Erwin spürte es sofort, als er die Augen aufschlug. Es war später als sonst. Das Bett neben ihm war leer. Warum hatte Erna ihn nicht geweckt? Irgendwann am vergangenen Abend war sie nach Hau se gekommen. Er hatte gehört, daß die Haustür klappte und daß Erna im Schlafzimmer rumorte. In der Annah me, sie würde sich schon sehen lassen, hatte er sich nicht weiter darum gekümmert. Der französische Lustspielfilm mit dem pampigen kleinen Glatzkopf und die Flasche Korn hatten seine Aufmerksamkeit schon bald wieder ganz in Anspruch genommen. Und dann war es plötzlich
halb elf gewesen. Als er ins Schlafgemach gekommen war, hatte Erna bereits leise geschnarcht, den Kopf in ein Kissen gewickelt. Und jetzt war sie nicht mehr da. Erwin fing an, sich Sorgen zu machen. Er wälzte sich aus dem Bett und tappte zur Tür. Im Haus war es empfindlich kalt, also hatte sie noch nicht einmal geheizt. Keine fröh liche Musik drang aus dem Küchenradio, wie es sonst am Sonnabend üblich war. Es duftete auch nicht nach Kaffee und Rühreiern mit Speck. Es schien überhaupt nichts vorbereitet zu sein. Sauerei, so was! Erwin lugte durch die Tür in die halbdunkle Küche. Seine Frau saß im Bademantel am Tisch, den Kopf in die Hand gestützt. „Morjen! Wat issen los mit dir?“ fragte er sauer. Schweigen. „Jib’s keen Frühstück heute?“ Schweigen. Erwin griff zum Lichtschalter, die Lampe über dem Küchentisch flammte auf. Erna fuhr blitzschnell von ih rem Stuhl und knipste das Licht wieder aus. Er starrte sie entgeistert an. Sie trug eine Sonnenbrille. Ihr linkes Auge war geschwollen und leuchtete blau wie ein Veilchen im Frühling. „Mein Jott, wat hast du denn jemacht?“ „Glotz dich selber an! Bist auch keine Schönheit!“ Erna beugte sich schluchzend über den Tisch und verbarg den Kopf in den Armen. Sosehr sich Erwin bemühte, über die Herkunft des Veilchens etwas herauszubringen, es war nichts zu erfah ren. Erna sagte kein einziges Wort. Endlich zog er kopf schüttelnd ab. Barfuß auf dem kalten Linoleum, das machte sein Rheuma nicht lange mit. Als er nach einer Viertelstunde in die Küche zurück
kehrte, rasiert und angezogen, war ein kümmerliches Frühstück bereitet. Zwei Brötchen, etwas Butter, Marme lade. Erna hatte dem Tisch den Rücken zugekehrt. Sie blickte durch das Fenster hinaus zum Gartentor, als wür de sie jemanden erwarten. Erwins Versuche, ein Ge spräch in Gang zu bringen, scheiterten. Weder mit Bitten noch mit Sticheleien vermochte er ihr Schweigen zu durchdringen. Resigniert schob er den Teller von sich, der Appetit war ihm vergangen. Nicht mal Kaffee schenkte sie ihm nach! Mit den Fingerspitzen trommelte er auf die Wachstuch decke, während er sich das Gehirn zermarterte. Was war bloß passiert, verdammt noch mal? Nichts Vernünftiges fiel ihm ein. Die Grübelei verstärkte nur seine ohnehin vorhandenen Schuldgefühle. Wütend sprang er auf, pol terte in den Flur, zog Arbeitsjoppe und Gummistiefel an, hieb sich den grünen Filz auf den Schädel und ging an die frische Luft. Seinem geheiligten Prinzip zum Trotze, am Wochenende keinen Handschlag zu tun, holte er Kar re, Schaufel und Forke aus dem Schuppen und machte sich daran, die Kaninchenställe auszumisten, „‘raus ihr Krepel, aber dalli!“ fauchte er. „Euch Saubande wer’ ick Beene machen!“ Er packte die Zibben und Böcke im Ge nick, schmiß sie in eine Kiste und knallte den Deckel zu. Als er die erste Fuhre Mist zum Komposthaufen schob, knarrte die Gartenpforte. Erleichtert ließ er die Karre ste hen und eilte über die Erdbeerbeete, um zu erkunden, wer zu so früher Stunde einen Besuch machen wollte. Abschnittsbevollmächtigter Sitte schritt mit weitausho lenden Schritten und finsterer Miene über den gepflaster ten Gartenweg. Er trug Uniform, kam also dienstlich. Bei
seinem Anblick fuhr Erwin Sauerknecht der Schreck der artig in die Knochen, daß er sich hinter einem entlaubten Johannisbeerstrauch zu verstecken suchte. Natürlich hatte ihn Sitte mit amtlichem Blick sofort entdeckt. Erwin richtete sich zögernd wieder auf, wobei er seine alberne Neugier verfluchte und so tat, als hätte er sich zufällig nach einem Unkraut gebückt. Sitte verließ den Weg zur Haustür und steuerte geradli nig auf Erwin zu. Er winkte mit der Hand. Schlimmes ahnend, trat Erwin näher. „Morgen, Herr Sauerknecht! Ich habe ein Problem, das mir Sorgen macht. Und Sie sind daran beteiligt, wie’s scheint.“ „Beteiligt? Wieso denn? Wat denn für ein Problem?“ „Problem ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es geht um die Klärung eines Sachverhalts. Also nicht eiern, frisch von der Leber weg die Wahrheit sagen, das spart uns beiden Zeit und Ärger.“ „Aber – aber ick weiß doch ja nich, was Sie meinen.“ Der ABV nickte. „Fakt ist, es liegen zwei Anzeigen vor. Wir werden jetzt klären, was daran wahr ist und was nicht.“ „Anzeigen?“ stöhnte Erwin. Die Knie wurden ihm weich, er lehnte sich haltsuchend an den Apfelbaum. „Wer soll mir denn anjezeigt haben? Es weiß doch gar keiner wat.“ „Na, na!“ sagte Sitte streng und runzelte die Stirn. „Nun wollen wir mal nicht den Dummen spielen.“ Er schwieg und sah Erwin nachdenklich an. Dann nickte er nochmals und fuhr fort: „Ich schlage vor, wir gehen ins Haus. Im Sitzen läßt sich die Sache besser verhandeln.“
Erwin hob entsetzt die Hände. „Bloß det nich! Da drin nen hockt meine Alte. Und wenn die…“ „Unsinn, Ihre Frau weiß Bescheid.“ „Wat denn? Die weeß schon…?“ „Selbstverständlich. Die eine der Anzeigen ist doch von ihr.“ „Nee!“ keuchte Erwin. „Nee, det gloobe ich nich. Mei ne eigene Frau hat mir anjezeigt? Wie konnte sie mir so wat antun?“ Er wich langsam in Richtung Schuppen zu rück. Der ABV verstellte ihm den Weg. „Keine Aufre gung, Herr Sauerknecht. Ich muß ein Protokoll schreiben, dazu brauche ich einen Tisch. Also, gehen wir.“ Er schob Erwin vor sich her. Der gab seinen Wider stand auf, trottete mit einem Gesicht, als würde er zum Schafott geführt, in Richtung Haustür. Plötzlich blieb er stehen, drehte sich um und sah den ABV flehend an. „Hören Sie mal, Herr Genosse Leutnant, ick werde Ih nen bestimmt allet sagen, aber bitte unter vier Augen. Wenn Sie mir versprechen, det meine Frau nich dabei is. Einverstanden?“ „Was haben Sie mir denn zu sagen, Herr Sauerknecht?“ „Ein volles Geständnis lege ick ab, verstehen Sie? Mir is sowieso schon allet ejal, ick habe die Schnauze voll. Nur will ick nich, det meine Frau det hören soll. Denn sage ick keen Wort, und wenn Sie mir noch so piesa cken.“ Sitte dachte nach. Die Sache lief anders, als erwartet. Da war etwas im Busch. So benahm sich kein Zeuge mit einem reinen Gewissen. Also nicht gleich alle Karten auf den Tisch, erst einmal hören, was der Mann zu berichten hatte. Er räusperte sich und sagte eindringlich, mit dem
ganzen Gewicht seines Amtes: „Dann wollen wir vorerst auf eine Gegenüberstellung verzichten. Aber dafür wird alles gesagt, was Fakt ist, ohne Wenn und Aber, ohne etwas zu verheimlichen. Ist das klar?“ Erwin nickte, ergriffen von so viel Nachsicht. „Dann mal los!“ „Ja… also… ick habe… also ick war doch krank jeschrieben, und deshalb konnte ick mir nich melden… ick meine, vielleicht hätte ick mir doch jemeldet, janz bestimmt sojar, aber ick hatte ja keene Zeit richtig zum Überlegen, da kam ooch schon der dämliche Knochen karl, und da habe ick eben den Kopp verloren und bin einfach abjehaun.“ Erwin sah verständnisheischend zu Sitte auf. Der nickte ermunternd. „Weiter. Und immer schön der Reihe nach.“ „Na, weiter is eijentlich ja nischt mehr jewesen. Kno chenkarl hat doch sofort die Polizei jeholt, Schaden is da keener entstanden.“ „Knochenkarl? Sie meinen wohl den Bürger Fröhlich? Wenn der die Volkspolizei geholt hat, wieso ist da kein Schaden entstanden? Da muß doch ein Grund vorliegen. Nun mal ‘raus mit der Sprache!“ „Eigentlich bloß wejen den Hänger, aber den kriegt er doch wieder. Gestrichen habe ick ihn ooch, sieht aus wie neu, und dafür will ick nich mal wat haben. Ick hole ihn jetzt und bring ihn gleich ‘rum, und damit is die Sache denn erledigt, ja?“ „Also Sie haben dem Bürger Fröhlich den Fahrradan hänger gestohlen!“ „Nich jestohlen, bloß jepumpt.“
„Das ist im Moment unerheblich. Warum, will ich wis sen!“ „Na weil… weil ick… ick brauchte doch einen, weil Sie überall rumjefragt haben, wo einer fehlen tut.“ „Was sagen Sie da?“ Der ABV starrte Erwin mit einem so fürchterlichen Gesichtsausdruck an, zählte innerlich bis zehn und sagte gepreßt: „So, Sie brauchten einen! Tagelang rennt man sich die Füße platt, und dann steht der Mensch vor einem und tut, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Na, das hat noch ein Nachspiel!“ „Wieso denn?“ stammelte Erwin verdattert. „Wat is denn?“ Er schien den Stimmungsumschwung des ABV nicht zu begreifen. Leutnant Sitte straffte sich. „Herr Sauerknecht, Sie werden mich jetzt zum Revier begleiten.“ „Ick habe alles gesagt“, jammerte Erwin. „Ick weeß nischt weiter. Dafür könnt ihr mir doch nich einsperren!“ „Reden Sie keinen Unfug. Es geht um die Klärung ei nes Sachverhalts. Kommen Sie!“ Erna saß ungeduldig am Küchenfenster. Sie hatte den ABV in den Garten treten sehen und gedacht, daß er sich noch einmal, wie versprochen, in Gegenwart ihres Man nes nach den Umständen erkundigen würde, die zu der tätlichen Auseinandersetzung mit Gertrud Mohn geführt hatten. Darauf hatte sie schon mit Genugtuung gewartet. Doch nichts dergleichen geschah. Statt dessen sah sie verwundert, daß ihr Erwin zusam men mit dem ABV das Grundstück verließ, wie es schien, in bestem Einvernehmen. Was hatte das nun wie der zu bedeuten? Erna sank auf den Stuhl zurück und schlug heftig mit der Faust auf den Tisch. Sie begriff die
Welt nicht mehr.
21 Vier Tage waren vergangen, seit der Schau spieler Manfred Löffler an einem höchst unpassenden, im wahren Wortsinn anrüchigen Ort tot aufgefunden worden war. Hätten sich die Dinge nach seinem Willen entwi ckelt, wäre er heute die fünfte Ehe eingegangen mit der jungen und schönen Bettina, die sich durch diese Verbin dung einen steilen Aufstieg erhofft hatte. Doch die Dinge hatten sich nicht nach seinem Willen entwickelt. Und so war Christina von Oxkill, Oberhaupt des Hauses und der Etikette, genötigt gewesen, das Hochzeitsfest in eine Trauerfeier umzuwandeln. Zunächst war ihr Vorschlag den meisten Mitgliedern der Familie makaber erschienen. Aber was sollte man tun? Die Gäste waren geladen, nicht wenige kamen von weit her, manche von jenseits der Grenzen. Horsd’ceuvres, Menüs, Kalte Platten, Kondito reiprodukte, Getränke, alles war mit beträchtlichen Kos ten geordert, auch die keineswegs beliebig verfügbaren Spitzenkräfte unter den Facharbeitern für Serviertechnik waren bereits verpflichtet. Christina von Oxkills praktischer Sinn war schließlich durchgedrungen: Die Familie Löffler hatte sich der Ver nunft gebeugt. Ein neuer Termin für eine Feierlichkeit, die dem ernsten Anlaß in Aufwand und Würde entsprach, war nicht nur sinnlose Geldverschwendung, er erwies sich aus technischen Gründen als schlechterdings unmög lich. So brachte die Post den Hochzeitsgästen eine Trau eranzeige ins Haus, versehen mit dem Zusatz, daß man sich nunmehr – infolge höherer Fügung – bereithalten
möge, zu festgesetzter Stunde der Totenehrung beizu wohnen. Die Stunde war gekommen. Sonnabend, der siebzehnte November, ein Uhr nachmittags. Es schien, als würde auch das Wetter auf Bestellung arbeiten. Dunkle Wolken ballten sich über der Landschaft, der Nebel wallte, dumpf fiel der Regen. Die Luft war erfüllt vom Geruch verwe senden Laubes, der so sehr an Abschied und Vergäng lichkeit erinnerte. Auf dem Rasenstreifen vor der Villa Löffler reihten sich die Limousinen, Krönung der Nobel karossen war ein langgestreckter, zwölfzylindriger Sportwagen, dessen Eigentümer, ein junger Lord aus dem heimischen Handwerkeradel, nicht zuletzt aus Gründen der Nützlichkeit mit einer Einladung beehrt worden war. Immer mehr Automobile rollten heran. Der regennasse Lack funkelte im Schein der Lampen, die auf Zaunpfei lern und an Gartenwegen in verschwenderischer Fülle brannten. Die Wagenschläge öffneten sich, Herren in schwarzen Anzügen schoben ihre Bäuche hinter den Lenkrädern hervor, ließen Schirme aufspringen, holten Blumengebinde aus den Kofferräumen, halfen ihren Da men beim Aussteigen und führten sie gemessenen Schrit tes dem Hause zu. Heym und Kabel saßen in ihrem Dienst-Lada, der jen seits der Straße ein wenig abseits parkte. In dem kleinen Gehäuse war es kühl geworden. Auf den Scheiben hatte sich ein grauer Belag gebildet, in den sie hin und wieder Gucklöcher wischen mußten. Das Gespräch war einsilbig. Es beschränkte sich auf Bemerkungen, die Heym über die Ankömmlinge machte,
Name, Beruf, Beziehungen zu Manfred Löffler. Kabel schwieg. Er dachte an die Ereignisse des vergan genen Abends und ärgerte sich, daß er nicht selbst die Zusammenhänge durchschaut hatte. Warum war er nicht auf den Gedanken gekommen, daß ein Mann wie Man fred Löffler, der gewohnt war, seinen Willen durchzuset zen, sich durch einen Streit nicht von seinem Vorhaben abbringen ließ? Er wollte Bettina Sommer heiraten. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er weder Mühen noch Op fer gescheut. Und dann sollte ausgerechnet ein Hund, der dem Eheglück als letzte Hürde im Wege stand, ihn daran hindern? Am Dienstagabend, bevor Löffler mit dem Volvo weg fuhr, war der Hund Axel im Hause gewesen, Frau Will roth hatte ihn gefüttert. Am nächsten Morgen war das Tier verschwunden. Angeblich hatte sie sich darüber kei ne Gedanken gemacht, denn der Hausherr hatte sie weni ge Tage zuvor wissen lassen, das Tier werde für einige Zeit ins Landhaus gebracht, um bei der Hochzeitsfeier nicht zu stören. Doch im Landhaus war der Hund nicht, Heym hatte es vorausgesagt, eine telefonische Nachfrage brachte die Bestätigung. Durch die Aufregung um Löff lers Tod, so wurde behauptet, war allen Familienmitglie dern das Verschwinden des Hundes entgangen. Und auch ihm, dem Unterleutnant Kabel, war dieser Umstand nicht aufgefallen. Er hatte zwar aus dem Hundekorb in der Diele einige Haare sichergestellt, doch vom Vorhanden sein des Hundes selbst hatte er sich nicht überzeugt. Wie hätte er auch auf die Idee kommen sollen, daß zwischen dem Tod des Hausherrn und einem dem Anschein nach zufällig nicht anwesenden Hund ein Zusammenhang be
stehen könnte? Falls man das einen Fehler nennen wollte, gut, dann hatte er ihn begangen. Da niemand wußte, wo der Hund geblieben war, lag die Vermutung nahe, daß Löffler ihn am Abend der Tat mitgenommen hatte. Das Haus des Tierarztes und der Tatort lagen dicht beieinan der. Heym und Kabel führten mit der Familie Bierbach ein Gespräch. Den zielsicheren Fragen des Hauptmanns konnte Louise Bierbach nicht lange Widerstand leisten: Nachdem Manfred Löffler am Montag von Doktor Bier bach abgewiesen worden war, hatte er am Dienstagvor mittag Frau Louise angerufen und so lange auf. sie einge redet, bis sie schließlich nachgab und sich bereit erklärte, Löfflers Wunsch zu erfüllen. Natürlich mußte das hinter dem Rücken ihres Mannes geschehen. So war Löffler am Dienstagabend erschienen, kurz nach neunzehn Uhr, zu einer Zeit, als sich Doktor Bierbach in der Sauna befand. Als ehemalige Krankenschwester war es für Frau Bier bach keine Schwierigkeit, dem Tier die tödliche Injektion zu geben. Den Kadaver konnte sie nicht im Hause behal ten. Gegen neunzehn Uhr dreißig verließ Manfred Löffler mit dem getöteten Tier die Praxis und fuhr zum nahege legenen Müllplatz. Die letzten Gäste waren in der Villa verschwunden. Auf der Straße herrschte Stille, Kabel wurde ungeduldig. Nach seiner Meinung war nun der Augenblick gekom men, den Täter dingfest zu machen. Er räusperte sich, begann zu hüsteln. Heym schien davon nichts zu bemer ken. Entspannt saß er auf seinem Sitz, die Augen halb geschlossen, die Hände über dem Bauch gefaltet. Schließlich überwand sich Kabel und fragte: „Wieso sitzen wir hier? Worauf warten wir? Hatten wir nicht
heute morgen bei der Dienstbesprechung die Festnahme beschlossen?“ Heym sah aus den Augenwinkeln zu Ka bel hinüber. „Während der Trauerfeier? Kennen Sie denn gar keine Pietät?“ „Die Trauerfeier kann noch Stunden dauern.“ „Allerdings.“ „Wieso sind wir dann schon hier?“ „Aus psychologischen Gründen.“ „Wieso?“ „Wieso, wieso! Denken Sie doch mal nach.“ „Ich habe ja schon nachgedacht. Es liegt ein handfester Verdacht vor, Sie selbst haben ihn überzeugend begrün det. Warum also können wir nicht handeln?“ „Weil ein Verdacht, so begründet er sein mag, für eine Festnahme ausreicht, aber nicht für ein Geständnis. Wir müssen warten, bis der Täter die Nerven verliert.“ „Warum sollte er die Nerven verlieren, wenn wir hier im Auto hocken?“ „Aus den erwähnten psychologischen Gründen.“ „Verstehe ich nicht.“ Heym seufzte. „Der Täter hat ein schlechtes Gewissen. Er sieht uns hier warten und fragt sich, was wir im Schil de führen. Er findet darauf keine Antwort und wird ner vös.“ „Nervös?“ Kabel stieß höhnisch die Luft durch die Na se. „Das ist doch eine ganz abgebrühte Sippe. Solange man denen nicht mit harten Fakten kommt, lachen die sich doch bloß ins Fäustchen.“ ‘ „Wenn ein Kriminalist auf der Bildfläche erscheint, wird der Täter nervös. Von dieser Überzeugung müssen Sie durchdrungen sein, sonst werden Sie niemals Erfolg
haben.“ „Gut. Der Täter wird nervös. Was folgt daraus?“ „Bemühen Sie mal Ihre Phantasie. Was würden Sie an seiner Stelle tun?“ „Ich? – Erst einmal würde ich mir mit einem Doppelten die Brille putzen. Das liegt doch nahe bei freiem Aus schank.“ „Und dann?“ „Weiß nicht. Wahrscheinlich würde ich mich mit einem Pfund Kaviar in eine Ecke setzen und dem Schicksal sei nen Lauf lassen.“ „Ja, das traue ich Ihnen zu“, sagte Heym lachend. „A ber gehen Sie doch mal vom Charakter des Täters aus.“ „Der würde aggressiv werden. Oder würde die Be weismittel vernichten, wenn er es noch nicht getan hat. Oder einfach wegrennen.“ „Na bitte, da haben wir schon ein paar schöne Mög lichkeiten. Irgend etwas wird passieren. Nur Geduld.“ „Geduld, Geduld!“ brummte Kabel. „Wir sitzen hier draußen in Kälte und Regen, und die da drinnen schlagen sich den Wanst mit Delikatessen voll.“ Unmutig starrte er durch das Guckloch im Fenster zur Löffler-Villa hinüber. Doch bald hellte sich seine Miene wieder auf. Er beugte sich nach vorn, zog sein Proviant päckchen unter dem Sitz hervor und wickelte einen Sta pel belegter Brötchen aus. „Möchten Sie auch?“ fragte er und streckte seinem Chef das Päckchen entgegen. Heym schüttelte den Kopf. „Danke. Ich muß ein biß chen auf die Linie achten.“ „Ach was – lieber dick und fröhlich als dünn und ver
gnatzt“, sagte Kabel und schlug die Zähne herzhaft in ein Salamibrötchen.
22 Mit mildem Blick und einem leichten, ins iro nische spielenden Lächeln sah Manfred Löffler auf die Leute hinunter, die sich versammelt hatten, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Sein überlebensgroßes Porträt, verse hen mit einem schräg über die untere Ecke gespannten Trauerband und einer schwarzen Rosette, stand auf dem Kaminsims. Davor erhob sich ein Hügel aus Kallablüten und rosa Nelken, flankiert von zwei Messingleuchtern, in denen flackernd die Kerzen brannten. Links neben dem Blumenhügel stand der geöffnete Flügel. Der Pianist Johann-Adam Willeking hatte daran Platz genommen. Er hob die Arme – einem Adler ähn lich, der über der Beute schwebt – und verharrte unbe weglich, bis das letzte Raunen erstorben war. Dann warf er sich in die Tasten. Verhalten und leidenschaftlich zu gleich brachte er Rachmaninows Klaviersonate in b zu Gehör. Die Trauernden, etwa fünfzig an der Zahl, saßen auf hochlehnigen Stühlen in der großen Wohnhalle, in der ersten Reihe die engsten Angehörigen. Der Ernst der Stunde hatte alle Rivalitäten, allen Streit zurücktreten lassen. In der Mitte thronte in königlicher Haltung Frau Ilse, zur Rechten ihre Tochter Barbara, zur Linken ihren Stiefsohn Wolf-Dieter. Es folgten Verena und Frau von Oxkill, auf der anderen Seite Bettina Sommer. Der Stuhl neben ihr war frei. Man hatte ihn für Hans-Peter vorge sehen, der aber zu beschäftigt war, um Platz zu nehmen.
Er stand mit Frau Willroth im Hintergrund an der Tür, ständig gewärtig, eventuelle Nachzügler in Empfang zu nehmen. In der zweiten Reihe saßen die anderen ehemaligen Löffler-Frauen. Mildred, Wolf-Dieters Mutter, seit lan gem verehelicht mit dem Zahnarzt Theodor Burghardt, der ebenfalls anwesend war. Marianne Kirsch-Löffler, Hörspielautorin, alleinstehend, angereist aus der bayeri schen Metropole. An ihrer Seite Werner Schmidt aus Stralsund, Barbaras Ehemann, dann die vier Enkel des Verstorbenen und Johannes Seidel, der sich in Krawatte und schwarzem Anzug höchst unbehaglich fühlte. Alle waren sie gekommen, die Offiziellen von Theater und Fernsehen, Funk und Film, Redakteure, Komponis ten, Bildende Künstler, die Freunde und Kollegen, unter ihnen Produktionsleiter Rademann und Hauptdramaturg Kowalski mit Gattinnen, sogar Ljuben Bulkov nebst Frau Katharina. Die Klaviersonate war verklungen. Nach einer Pause, welche Gelegenheit zur Sammlung gab, erhob sich Frank Tobias Meyerlink und trat nach vorn. In der Kehlung des Flügels nahm er Aufstellung, verbeugte sich tief vor dem Bilde des Toten, strich eine graue Haar strähne hinter das Ohr und hub zu reden an. Leise, mit einer von Trauer ergriffenen Stimme begann er Zwiesprache zu halten mit dem dahingeschiedenen Freund, machte ihm schmerzliche Vorhaltungen, sie so plötzlich verlassen zu haben, die Familie, die Kollegen, die große Schar derer, die ihn seiner Kunst wegen verehr ten und liebten. Für immer war er von ihnen gegangen, ohne Abschied, ohne Hoffnung auf Rückkehr. Doch sogleich gab er Antwort aus der Sicht des Verstorbenen,
sprach von einem glücklichen, durch erfolgreiche Arbeit gesegneten Leben, dessen schöne Erfülltheit wiederum mit dem Tod versöhne, der doch seit eh und je die un vermeidliche Bedingung sei für neues Werden und Wachsen. Er wandte sich dem PhilosophischMetaphysischen zu, indem er in beredten Gleichnissen dem Gedanken Ausdruck gab, der Mensch sei unsterb lich, solange er in seinen Kindern und seinen Werken weiterlebe. Als er sich dann nach einer zweiten, langwährenden Verbeugung vor dem Bildnis des teuren Toten auf seinen Platz zurückzog, war es ihm gelungen, eine schmerzlich entrückte Stimmung zu verbreiten, gemildert jedoch durch die Gemeinsamkeit des Leides. Johann-Adam Willeking knetete die schlanken Finger, schob die Manschetten zurück und intonierte das Noc turne S-Dur von Frederic Chopin. Wolf-Dieter Löffler, in tadellos sitzendem Smoking, rezitierte mit gedämpfter Stimme Verse aus Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“. Nochmals trat Willeking in Aktion. Aus der Tondich tung „Abschied und einsame Klage“ von FaldonyBiberstein gab er Präludium und ersten Satz. Dann waren die letzten Akkorde verhallt. Christina von Oxkill erhob sich, womit sie kundtat, daß der offizielle Teil der Totenehrung beendet war. Unter Hüsteln und Stühlerücken standen die Gäste auf und begaben sich in die angrenzenden Räume, wo auf langen Tafeln das kalte Büfett bereitstand. Anfangs herrschte beklommene Stille, nur hier und da fiel ein leises Wort, untermalt von den Geräuschen, die
Bestecke auf Porzellan erzeugen. Dann wurden mit dis kretem Plop die ersten Sektflaschen geöffnet, Eiswürfel klirrten in Whiskygläsern, und bald schon verbreitete der Weingeist seine wohltätige Wirkung. Die deprimierenden Gedanken an das eigene, unerbittlich näherrückende En de, die sich bei Meyerlinks Rede eingestellt hatten, be gannen zu verblassen. Noch lebte man. Genug des Jam mers und der Zerknirschung. Die Gespräche wurden leb hafter. Es gab viel zu erzählen in dieser Gesellschaft, die in Freundschaft und Haß, Gunst und Mißgunst miteinan der verbunden war. Erinnerungen wurden beschworen, Erlebnisse zum besten gegeben. Genüßlich wühlte man im Klatsch, labte sich an Skandälchen und Affären. Marianne Kirsch-Löffler, klein und wohlgenährt, hatte vorerst anderes im Sinn. In der Linken einen Martini und einen Krebscocktail, in der Rechten eine Pyramide aus Rehrücken, Lachs und Pasteten, schob sie sich behend in den Wintergarten, entdeckte einen freien Korbsessel und begann andächtig ihr Mahl zu verspeisen. Als sie den Teller geleert hatte und zufrieden aufblickte, sah sie in die Augen von Tobias Meyerlink, der sie wohlwollend betrachtete. ‘ „Grüß Gott, Tobias! Der Lachs ist himmlisch!“ stöhnte sie und griff nach ihrem Martini. Meyerlink küßte sie auf die Wange. „Wenn man dich so voller Hingabe futtern sieht, meine Süße, bist du un widerstehlich.“ Nach Mariannes Scheidung von Löffler hatten die beiden einige Monate zusammengelebt, dann waren sie ohne Groll auseinandergegangen, und Marian ne hatte gemeint, ihr Glück in einer anderen Welt suchen zu müssen. Ob sie es gefunden hatte, darüber schwieg sie
sich aus. „Ich muß dir zu deiner Grabrede gratulieren“, sagte sie mit rollendem R. „Es ist dir in der Tat gelungen, kein einziges wahres Wort zu sagen.“ Meyerlink grinste. „Das imitierte Bayerisch steht dir wirklich allerliebst.“ Er kannte ihre Art zur Genüge und gedachte nicht, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Marianne nahm einem vorbeischwebenden Kellner ei nen Kognak vom Tablett. „Du weißt, wie ich über Man fred denke. Aber diese Lobhudeleien hat er nun doch nicht verdient. Ich konnte mir ja kaum das Lachen ver kneifen.“ „Es gibt gewisse Konventionen“ sagte Meyerlink, „an die man sich halten muß. Schon aus Rücksicht auf die Familie.“ „Rücksicht auf die Familie kannst du dir mir gegenüber sparen.“ Sie holte sich den zweiten Kognak vom Tablett. Meyer link nickte nachdenklich. Dann erzählte er seine Fassung von der Geschichte, in der am Ende Manfred Löffler von Ljuben Bulkov geohrfeigt worden war. Marianne klatschte amüsiert in die Hände, trank ihren Kognak aus und ließ sich den nächsten reichen. „Gnädigste saufen ja wie ein Loch“, bemerkte Meyer link. Marianne hob ihr Glas. „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Prost!“ Meyerlink nippte betrübt an seinem Orangensaft, den er entgegen dem Rat des Arztes mit etwas Wodka aufge stockt hatte. „Wenn man könnte, wie man möchte“, seufzte er, „ist
die Zeit vorbei, in der man kann. Und man ahnt nicht einmal, wie nahe das Ende ist. Der arme Manfred hat es auch nicht geahnt. Also, was soll’s.“ Er hob sein Glas und trank es aus. „Er hätte es aber ahnen müssen“, sagte Marianne. Ihre Augen hatten schon einen glasigen Schimmer. „Er hat sich benommen wie die Axt im Walde. Sein Leben lang.“ „Nun mach mal einen Punkt!“ protestierte Meyerlink. „Es gehört sich nicht, so über einen Toten zu reden, noch dazu heute.“ Marianne war nicht mehr zu halten. „Bedenke bitte mal, wie viele Frauen er unglücklich gemacht hat. Wenn ihm eine nicht mehr paßte, flog sie in die Ecke. Die näch ste her! Weiber gibt’s wie Sand am Meer.“ „Mit Ilse war er dreißig Jahre verheiratet.“ „Papperlapapp, Ilse! Die hat doch immer nur nach sei ner Pfeife getanzt, hat alle seine Liebschaften mit Schafsgeduld ertragen. Was hat es ihr genutzt? Einen Dreck. Ein Mann in seinem Alter, der eine Zwanzigjähri ge heiraten will, der muß doch von Selbstüberschätzung völlig verblendet sein.“ „Er hat Bettina nun mal geliebt. Der dritte Frühling ist der gefährlichste.“ „Er konnte gar nicht lieben. Nein, es ging ihm nur um sich selbst, um seinen Vorteil, alles andere war unwich tig. Sieh dir doch mal an, was er aus dem Hansi gemacht hat. Er hat dem Jungen das Rückgrat gebrochen, bloß weil er nicht so wollte wie sein unfehlbarer Vater.“ „Du übertreibst, Marianne. Ohne die Hilfe des Vaters wäre dieser – gelinde gesagt – problematische Knabe längst in der Gosse gelandet.“
„So? – Und wie ist es dazu gekommen? Weißt du noch, was damals passierte, als der große Manfred Löffler ei nen seiner ,Protokollgeburtstage’ feierte? Die Bude hier war gerammelt voll, fast so wie heute. Der Jubilar als strahlender Mittelpunkt, charmant und liebenswürdig zu jedermann. Doch plötzlich entdeckt er, daß sein Söhn chen bei der Huldigung nicht anwesend ist. Ihm schwillt der Kamm. Er stürmt die Treppe hinauf ins Kinderzim mer, zerrt den Jungen aus dem Bett, schleppt ihn vor das versammelte Publikum. ,Nun seht euch diesen Schlapp schwanz an’. Er traut sich nicht, seinem Vater zum Ge burtstag zu gratulieren. Warum? Eine Fünf in Mathe! Eine Fünf in Russisch! Und anstatt zu arbeiten, schwänzt er die Schule und verkriecht sich im Bett. Und das ausge rechnet heute!“ Marianne gab einen wütenden Grunzlaut von sich. „Nein, so darf man sein Kind nicht behandeln.“ Meyerlink nickte bekümmert. „Ich weiß, es war eine häß liche Szene. – Na ja, ich gehe mal und hole mir noch ei nen Orangensaft.“ Marianne gab keine Antwort. Sie hatte den Kopf in eine Hand gestützt und blickte melancholisch in ihr leeres Kognakglas. Meyerlink drängte sich durch eine Ge sprächsgruppe, die in der Tür des Wintergartens stand, gelangte ins Speisezimmer und von dort in die Wohnhal le, aus der man inzwischen die Stühle fortgeräumt hatte. Auf dem Parkett unter Manfred Löfflers Bildnis breitete sich ein Blumenmeer, und noch immer flackerten die Kerzen unruhig in den Messingleuchtern. Meyerlink blieb stehen und sah zu Löffler auf. Das vertraute Gesicht erschien ihm auf einmal fremd, der freundliche Blick geheuchelt, das Lächeln zynisch und unerbittlich. Ganz
plötzlich empfand er ein undeutliches Gefühl der Erleich terung, daß dieser Mann tot war. Betroffen wandte er sich ab. Die Hände in den Taschen, schob er sich durch ein überfülltes Zimmer bis zur Bar, hinter der Hans-Peter den Shaker schwenkte. Frau Willroth stand in schwarzem Kleid und weißer Schürze an seiner Seite, öffnete Fla schen und spülte die Gläser. Hans-Peters Augen glänzten wie im Fieber, sein Ge sicht war von hektischer Röte überzogen. Er trug eine weiße Jacke und eine riesige schwarze Fliege. Auf dem wirren Haar saß ein viel zu kleines Käppi. Es schien, als wollte er sich vorsätzlich zum Clown machen. Während er den vielen Wünschen nachkam, gab er pausenlos Sprüche von sich, denen er mit theatralischen Gesten Nachdruck verlieh. Als Meyerlink an die Reihe kam, füllte er ihm ein Glas mit Orangensaft, fügte einen kräfti gen Schluck Wodka hinzu und kredenzte das Getränk mit einer Verbeugung. „Sehr zum Wohle, der Herr Marquis de Regie! Motto des Tages: Es trinkt der Mensch, es säuft das Schwein, doch heute soll’s grad anders sein. Helau!“ Meyerlink empfand Mitleid. Fast gegen seinen Willen griff er nach Hans-Peters Hand. „Nimm dir das Unglück nicht so zu Herzen, mein Jun ge“, sagte er leise. Hans-Peter entzog ihm brüsk die Hand. „Wollen Sie mir vielleicht die Stimmung versauen? Abgang ist über all.“ Er wandte sich dem nächsten Gast zu. Meyerlink gab nicht auf. „Falls du Hilfe brauchst, ich bin immer…“ „Humanität, wie?“ fragte Hans-Peter schrill. „Dafür
können sich der Herr Marquis ein Ei pellen.“ „Im Ernst, Junge. Wenn du Sorgen hast, solltest du mit mir darüber reden.“ Hans-Peter nahm ein rohes Ei zwischen zwei Finger und zeigte es herum wie ein Zauberkünstler. Dann zer quetschte er es und ließ es langsam in ein Glas laufen. „Prärie-Oyster gefällig?“ Meyerlink schüttelte den Kopf. „Hast du Ärger mit deiner Familie?“ fragte er. Hans-Peter griff unter die Bar, hob ein randvolles Whiskyglas an die Lippen und leerte es auf einen Zug. Ein Teil der Flüssigkeit lief ihm über das Kinn in den Kragen. Er setzte das Glas ab, knallte es auf die Bar und schrie: „Empfehle untertänigst allen Herrschaften, mich mit Ihrem Beileid am Arsch zu lecken!“ Meyerlink verlor die Beherrschung. „Ich will dir hel fen“, sagte er scharf, „also benimm dich nicht wie ein Irrer!“ Hans-Peter glotzte ihn an. Seine hervorquellenden Augen füllten sich mit Tränen. „Warum hältst du nicht endlich die Schnauze?“ gurgel te er, schlug mit dem Kopf auf die Bar und fegte mit bei den Armen die Gläser zu Boden. Klirrend zersprangen sie auf dem Parkett. Die Damen stießen spitze Schreie aus und wichen zu rück. Entsetzte Stille. Hans-Peter richte sich auf, sah grinsend in die Runde und flüsterte in geziertem Ton, als würde er etwas sehr Kostbares aussprechen: „Scheißbande!“
23 Früher als ohnehin im November üblich, war es Abend geworden. Die heftigen Schauer hatten nachge lassen, ein leichter Sprühregen fiel und bildete Höfe um die Lampenkugeln, die den Vorgarten in fahles Licht tauchten. Hinter der festlich erleuchteten Fensterfront der Villa Löffler bewegten sich lautlose Schatten. Was im Hause selbst vorging, blieb den geduldig wartenden Kri minalisten verborgen. Dann endlich regte sich etwas. Die Eingangstür unter dem Baldachin öffnete sich langsam, und heraus trat eine Gestalt, nicht erkennbar hinter einer Fülle frischer Blumen, die sie mit beiden Armen um klammert hielt. Sie ging an der Klinkerwand entlang, vorbei an den Toren der Doppelgarage, bog um die Ecke und verschwand in der Dunkelheit zwischen Haus und Nachbargrundstück. Kabel hatte sich in seinem Sitz aufgerichtet. „Haben Sie gesehen?“ fragte er Heym. „Kommen Sie, rasch! Und machen Sie die Tür leise zu.“ Die Kriminalisten verließen ihren Wagen. Schnell überquerten sie die Straße, schlängelten sich durch die parkenden Limousinen und liefen hinter der Eibenhecke entlang, die den Fahrweg zu den Garagen begrenzte. Ü ber einen Plattenweg am Hausgiebel gelangten sie in den rückwärtigen Teil des Gartens und krochen unter nassen, tiefhängenden Zweigen hindurch, um die hellen Licht streifen zu umgehen, die aus dem Wintergarten auf die Terrasse fielen. Suchend blickten sie sich um. Von der blumenbeladenen Gestalt war nichts zu sehen. Vorsich tig, jedes Geräusch vermeidend, bewegten sie sich am
Rande dichter Nadelgehölze tiefer in den dunklen Garten. Sie trafen auf eine flache Trockenmauer. Am Ende der Mauer, auf einem steinernen Sockel, stand eine weibliche Bronzefigur. Als Kabel bewundernd zu ihr aufblickte, trat er fehl und wäre um ein Haar in ein leeres Wasser bassin gefallen, wenn Heym nicht den Sturz mit einem raschen Griff verhindert hätte. Während sie noch still standen und sich von ihrem Schreck erholten, vernahmen sie einen gespenstischen Laut. Es klang wie der Schrei eines verwundeten Tieres. Rasch folgten sie einem schmalen Pfad, der sich zwischen Wacholder und Rho dodendron hindurchwand. Plötzlich hob Heym die Hand und verharrte. Vor ihnen, von Sträuchern halb verdeckt, ließen sich die Umrisse eines Bauwerkes erkennen. Es war ein Gartenhäuschen mit geschwungenem Dach und hoch aufragendem Schornstein. Hinter den Fenstern schimmerte Licht. Wieder hörten sie den gespenstischen Laut, diesmal ganz in der Nähe. Auf einer winzigen Lichtung, umgeben von dichtem Buschwerk, erhob sich ein frisch aufgeworfener Erdhü gel, überschüttet mit Blumen. In der Mitte des Erdhügels flackerte ein Windlicht. Davor ein Mensch, auf den Knien kauernd, die Hände vor das Gesicht gepreßt, von Weinkrämpfen geschüttelt. Kabel blieb ruckartig stehen. „Großer Gott!“ entfuhr es ihm. „Was ist das?“ „Ein Hundegrab“, sagte Heym. , Er trat an den Knienden heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Stehen Sie auf!“ Hans-Peter Löfflers tränennasses Gesicht wandte sich
ihnen zu. „Haut ab!“ kreischte er. „Laßt mich in Ruhe!“ Er warf sich quer über den Grabhügel. Seine Beine zuck ten, die Hände krallten sich in den Boden. Die Kriminalisten versuchten, ihn aufzurichten. HansPeter wehrte sich aus Leibeskräften, heulte, schlug um sich, warf sich dann unvermutet mit einem Sprung zur Seite und entkam auf allen Vieren in die Büsche. Ohne Zeit zu verlieren, nahm Kabel die Verfolgung auf. Das Geräusch brechender Zweige kennzeichnete seinen Weg. Kurz darauf blitzte vom Gartenhaus her ein Lichtschein auf, und eine Tür fiel krachend ins Schloß. Als Heym das Häuschen erreichte, nahm Kabel zum zweiten Mal Anlauf, rannte mit der Wucht seiner hundert Kilo gegen die Tür. Das Holz des Rahmens splitterte, die Tür sprang auf. Frau von Oxkill stand mit ausgebreiteten Armen im Eingang und wollte ihnen den Zutritt verweh ren. Kabel hob sie wie eine Puppe zur Seite und stürmte ins Zimmer. Es war ein kleiner, spartanisch eingerichteter Raum. Auf den blanken Dielen ein Tisch mit drei Stüh len, daneben ein Erdglobus in einem Eisengestell. Ein Bücherbord, ein schmales Bett. An der Wand über dem Schreibtisch ein Gemälde in düsteren Farben: Schlacht kreuzer in schwerer See, aus allen Rohren feuernd. Hans-Peter stand auf dem Tisch. Er hatte einen Säbel vom Haken gerissen, offenbar ein Erbstück derer von Oxkill, und drehte sich mit der klobigen Waffe wie ein Derwisch im Kreise. Tränen, Speichel und Schmutz hat ten sein Gesicht zu einer Fratze entstellt. In den von Angst geweiteten Augen war ein irres Flackern. Kabel bückte sich, ergriff den Tisch an den Füßen und hob ihn an. Hans-Peter rutschte von der Platte und fiel zu
Boden, wobei er den Säbel verlor. Bevor Kabel etwas tun konnte, war Hans-Peter wieder auf den Beinen, schrie markdurchdringend und sprang, den Kopf voran, mit al ler Kraft gegen einen Schrank. Es krachte, Glas klirrte, in der Schranktür klaffte ein Loch. Hans-Peter lag reglos auf den Dielen, die Augen ver dreht, aus der Nase sickerte Blut. Kabel und Heym hoben den Bewußtlosen auf und leg ten ihn auf das Bett. „Krankenwagen und Kriminaltechnik“, sagte Heym. Kabel nickte und eilte hinaus. Auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß Christina von Oxkill und zitterte am ganzen Körper. Heym wandte sich ihr zu. Er wollte eine Frage stellen, doch als er sah, in welchem Zustand sie sich befand, verschob er seine Absicht auf später. Wie es schien, hatte die alte Dame einen Schock erlitten. Kabel kehrte zurück und erstattete die Meldung, den Auftrag ausgeführt zu haben. „Danke“, sagte Heym. „Lassen Sie die beiden nicht aus den Augen.“ Er trat hinaus in den Garten. Der Regen hatte aufgehört, die Luft war frühlingshaft mild. Heym atmete einige Male tief durch. Sein Herzschlag wurde ruhiger. Dann hörte er in der Ferne das Jaulen der Martinshörner. Er setzte seine Mütze auf und ging hinaus auf die Straße, den Fahrzeugen der Einsatzgruppe entge gen.
24 Protokoll der Aussage des Untersuchungshäftlings Hans-Peter Löffler, geboren am 01. 06. 1955, zur Zeit in stationärer medizinischer Behandlung.
Diagnose: Gehirnerschütterung. Verdacht einer endo genen Psychose. Anwesender Arzt: Dr. med. Wilfried Gernot, Major der VP Untersuchungsführer: Gregor Heym, Hauptmann der K. Frage: Am Abend des dreizehnten November kam es zu einem Streit, in dessen Verlauf Sie Ihren Vater Manfred Löffler niederschlugen. Was führte zu diesem Streit? Löffler: Mein Vater hatte sein Versprechen gebrochen, er hat meinen Hund Axel ermorden lassen. Frage: Woher wußten Sie, daß Ihr Vater mit dem Hund zum Hause Doktor Bierbachs unterwegs war? Löffler: Er war schon am Montag mit ihm bei Bierbach gewesen, das hat mir Frau Willroth erzählt, Als ich am Dienstagabend nach Hause kam, war Axel verschwun den, sein Halsband und seine Leine waren auch weg. Kurz zuvor hatte ich meinen Vater im Volvo in Richtung der Bierbachs fahren sehen, da wußte ich Bescheid. Ich bin sofort losgerannt, weil ich verhindern wollte, daß er ihn umbringen läßt. Frage: Weshalb haben Sie es nicht verhindert? Löffler: Ich kam zu spät. Gerade als ich in die Straße einbog, in der Bierbachs wohnen, sah ich meinen Vater mit dem toten Hund ins Auto steigen. Er fuhr durch den Waldweg zum Müllplatz, ich lief hinterher, quer durch die Gärten. Ich kam dazu, als er Axel unter dem Müll verscharren wollte. Das konnte ich nicht zulassen. Doch mein Vater sagte, ich solle mich zum Teufel scheren, ich würde den Kadaver nicht kriegen. Als ich versuchte, ihn trotzdem zu nehmen, stieß er mich zur Seite. Da habe ich mich gewehrt und habe um mich geschlagen, mit einem
alten Brett, das mir in die Hände fiel. Damit habe ich ihn am Kopf getroffen. Dann bin ich mit Axel nach Hause gelaufen und habe ihm im Garten ein Grab gemacht. Frage: Um Ihren Vater haben Sie sich nicht geküm mert? Löffler: Nein. Frage: Warum nicht? Löffler: Ich dachte, er wird schon wieder zu sich kom men. Frage: Was taten Sie, nachdem Sie den Hund begraben hatten? Löffler: Mir war ganz elend zumute, ich mußte etwas trinken. Es war aber nur noch ein Rest Kümmel da. Geld hatte ich nicht, und der Schnaps wird von Christina im mer eingeschlossen. Deshalb habe ich die Uhr aus dem Nachttisch genommen und sie bei Ulrich Bierbach gegen eine Flasche Klaren eingetauscht. Frage: Was geschah dann? Löffler: Ich habe mich in mein Zimmer eingeschlossen und die Flasche ausgetrunken, weil ich dachte, mein Va ter würde bald nach Hause kommen und einen Riesenter ror anfangen. Aber er kam nicht. Da kriegte ich es mit der Angst und bin noch einmal zum Müllplatz gelaufen. Er lag noch genauso da und war schon tot. Frage: Woher wußten Sie denn, daß Ihr Vater tot war? Löffler: Ich weiß nicht, er sah eben so aus. Und seine Haut war auch schon ganz kalt. Frage: Warum haben Sie die Uhr und die Brieftasche gestohlen? Löffler: Das war so eine Art Panik. Ich habe geglaubt, wenn die Sachen fehlen, dann denkt man, er ist von ir
gendeinem Fremden überfallen worden. Frage: Was haben Sie mit der Uhr und der Brieftasche gemacht? Löffler: Ich habe sie auf dem Weg nach Hause wegge worfen. In den Ententeich, ins Schilf. Frage: Wußten Sie, was in der Brieftasche war? Löffler: Nein, ich habe gar nicht reingesehen. Ich woll te die Sachen nur loswerden, so schnell wie möglich. Frage: Um welche Zeit waren Sie zum zweiten Mal auf dem Müllplatz? Löffler: Es muß gegen elf Uhr in der Nacht gewesen sein. Frage: Haben Sie danach im Landhaus Ihrer Mutter an gerufen? Löffler: Ja. Frage: Warum? Löffler: Ich wußte nicht, was ich machen sollte, ich wollte meine Mutter um Rat fragen. Aber da kam dieses Mistvieh an den Apparat, ich meine, mein Halbbruder Wolf-Dieter, und der sagte, er könnte sie nicht mehr stö ren. Da wurde ich wütend und bin wohl auch ausfallend geworden. Frage: Haben Sie bei diesem Gespräch Ihrem Halbbru der mitgeteilt, daß Ihr Vater tot ist? Löffler: Schon möglich. Ich hatte getrunken, ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe. Ich weiß nur noch, daß mir alles egal war. Frage: Wollen Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzufü gen? Löffler: Nein – das heißt, doch. Es tut mir leid, daß mein Vater sterben mußte. Nicht seinetwegen. Und auch
nicht meinetwegen. Er hat mich gehaßt, und ich habe ihn gehaßt. Es tut mir nur leid wegen meiner Mutter und we gen Christina. Gelesen und als richtig anerkannt:
Hans-Peter Löffler
ENDE
ISBN 3-360-00076-5 1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1987 Lizenz-Nr.: 409-160/244/87 ■ LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Lichtsatz: Karl-Marx-Werk Pößneck VI5/30 Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 788 4 00200