C.H.GUENTER
Der Strich durch die Rechnung
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Bei Sonnenuntergang stand der Ti...
53 downloads
802 Views
551KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
C.H.GUENTER
Der Strich durch die Rechnung
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1. Bei Sonnenuntergang stand der Tigerpanzer von Leutnant Erlander der Division um 35 Kilometer voraus. Durch sein Zeiss-Glas sah der Kommandant in der Ferne den riesigen Strom aufblitzen. Aber der Weg zum Don war versperrt. Hinter den Hügeln hatten sich starke feindliche Kräfte gesammelt. Stalinpanzer und Stalinorgeln. Allein in diesem Abschnitt zählte der Leutnant vier Dutzend Tanks und zwei Kompanien Rohrwerfer. Vor dem Fluß war das Gros der Russen, der letzte Verteidigungsring um Woronesch, aufgebaut worden. »Funkspruch an Division!« befahl Erlander. »Panzer und Werfer in Planquadrat vierzig fünfhundertdrei. Umgehung und Einkesselung über Rollbahn Ida möglich.« Während der Funker die Meldung absetzte, beobachtete Leutnant Erlander weiter den Feind. Dies und nichts anderes war seine Aufgabe. Da wegen des tagelang anhaltenden Regens die Aufklärer der Luftwaffe nicht starten konnten, bildete sein Tigerpanzer das Auge des Adlers. Den Stoßkeilen der Heeresgruppe vorauseilend, erkundete er das Gelände, das die Speerspitze am nächsten Tag einnehmen sollte. Über die Bordverständigungsanlage befahl er seinem Fahrer: »Langsam zurückziehen!« 5
Der Motor sprang an. Mit rasselnden Ketten bewegte sich der Panzer rückwärts in den Wald hinein. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war dadurch geringer. Trotzdem bekam der Spähpanzer jetzt Beschuß. Heulend pfiffen die Werfergeschosse heran. Die Russen deckten sie gleich mit einer 16er Salve ein. »Kehrt marsch!« befahl der Kommandant und schloß die Turmklappe. Der Fahrer riß am Knüppel. Das Getriebe stoppte die linke Kette, alle Kraft wuchtete auf die andere. Sie riß den Panzer wie auf dem Teller linksherum. Dann ab mit Vollgas durch den lichten Birkenwald. Was sich ihm an kleinen Bäumen und Buschwerk in den Weg stellte, würde der Tiger niederwalzen, um möglichst rasch dem Feuer zu entkommen. Schon lagen die Einschüsse verdammt nahe. Der Motor heulte auf, aber der Panzer fuhr nicht, er tanzte nur im Kreis. »Kettenbruch!« schrie der Fahrer. In ihrer Lage war das wirklich das Letzte. Sie sprangen aus dem Panzer, alle vier, um ihre Haut zu retten. Wenig später hörte das Feuer auf. Der Leutnant beschloß, die Kette instand zu setzen. Nur ein Bolzen war gebrochen. Es sah aus, als sei das zu schaffen. Ein knochenbrechendes Stück Arbeit allerdings. Im Dunkel der Nacht schufteten sie bis zum Umfallen. Sie zogen die Kette wieder auf, schlugen einen Reparaturbolzen durch die Ösen, jede Sekunde gewärtig, daß die Russen kamen. 6
Aber die hockten wohl lieber zwischen ihren Stalins am Lagerfeuer. Nach Mitternacht war der Tiger endlich fahrbereit. Fast zu spät. Ein sowjetischer Stoßtrupp hatte sich lautlos herangearbeitet. Als der Motor ansprang, schossen sie Leuchtkugeln und feuerten aus allen Rohren. Erlanders Tigerpanzer wäre trotzdem entkommen, MG-Feuer hielt er aus, aber der Kaltstart bekam dem Motor nicht. Beim Hochschalten in den zweiten Gang entstand ein fürchterliches Kreischen, als brächen in ihm stählerne Knochen. Aus. – Keine Kraft mehr. Die Besatzung feuerte bis zur letzten Granate. Aber zwei Russen robbten heran und sprengten den deutschen Tigerpanzer mit gebündelten Handgranaten. * Im heißen Sommer 1942 wurden die Ausfälle kritisch. Als die Panzerdivisionen der Heeresgruppe Mitte weiter Richtung Stalingrad an die Wolga vorstießen, rissen die Ketten reihenweise, und bei den Motoren häuften sich die Pleuelschäden. Zunächst schob man es auf die Überbeanspruchung, auf die Tagestemperaturen von 45 Grad und den immerwährenden Staub. Als schließlich der Vormarsch stand, weil mehr als sechzig Prozent der Panzer ausgefallen waren, rief die Armeeführung die verantwortlichen Offiziere der Divisionen in Woronesch zusammen. 7
Zuerst fuhr ein Donnerwetter über die versammelten Ingenieure hernieder, bei dem von Wartungsfehlern, von Fahrlässigkeit, ja von Wehrkraftzersetzung die Rede war. Doch in der anschließenden Diskussion schälte sich allmählich die Wahrheit heraus. Ein Major, dem unter anderem das Gerät der 4. Panzeraufklärerdivision unterstand, ein Mann mit hohen Auszeichnungen, wagte offenen Widerspruch. »Ihre Vorwürfe sind nicht berechtigt, Herr Oberst«, sagte er, »wie Ihnen bekannt ist, unterliegen die Panzeraufklärungsverbände wegen ihrer extrem forcierten Fahrweise einer besonders aufmerksamen Wartung. Auch hier Bolzenbrüche und Motorausfälle am laufenden Band.« »Dann wurden die Ketten mit hohen Kilometerleistungen eben nicht rechtzeitig gewechselt.« »Alle Ketten wurden laut Vorschrift überholt«, erklärte der Major. »Mit den alten Bolzen.« »Nein, mit den neuen Bolzen. Bei den alten Bolzen hatten wir keine Ausfälle.« Der Oberst wechselte das Thema. »Wie kam es zu den Motorschäden? Wurde etwa beim Einsatz der Staubfilter geschlampt?« Wie sich ergab, waren 465 der ausgefallenen 471 Panzer mit den neuen Filtern bestückt. Die meisten Panzer hatten aber im Frühjahr Austauschmotoren bekommen. Da ähnliche Schäden im vergangenen Sommer trotz gleich hoher Beanspruchung nicht aufgetreten waren, 8
machte sich ein schlimmer Verdacht breit. Doch niemand sprach ihn aus. Damit das strategische Ziel, nämlich im Mittelabschnitt die Wolga und im Süden den Kaukasus zu erreichen, nicht in Gefahr geriet, wurden strenge Vorschriften erlassen. Die Panzermotoren durften nur noch bis zu 2400 Touren gedreht werden, Belastung mit Kampfleistung war nur für wenige Minuten statthaft. In der Nacht hielt der Oberst vor dem Chef der Heeresgruppe Vortrag. Nachdem er seinen Vortrag beendet hatte, nannte der General die Dinge beim Namen. »Sabotage?« »Sabotage scheidet aus, Herr General«, erwiderte der Oberst-Ingenieur. »Die defekten Bolzen, Kurbelwellen und Pleuel wurden von den Werkstattkompanien ausgebaut und von uns untersucht. Wir entdeckten Materialfehler, Haarrisse.« »Beim Stahl?« »Es handelt sich um die höchstbeanspruchten Teile eines Panzers. Entweder liegen Gußfehler vor, oder«, der Oberst zögerte, »man ging aus Rohstoffmangel zu anderen Ersatzlegierungen über.« Daraufhin füllte der General zwei Gläser mit Cognac. Nachdem er sie mit seinem obersten Techniker geleert hatte, sagte er leise: »Die Luftwaffe hat es noch schlimmer erwischt, speziell bei den thermisch hoch beanspruchten Sternmotoren der He 177. Auch die Flak hat es getroffen. Alle Regimenter, 9
die im Winter neu ausgerüstet wurden, melden Rohrbrüche und Laufaufbauchungen bei der Achtkommaacht. Ich fürchte, jetzt muß etwas geschehen.« »Wir werden der Industrie in den Hintern treten, Herr General.« »Der Industrie?« fragte der General mit den himbeerroten Hosenstreifen. »Dem Rüstungsminister, meinen Sie. Einer muß sofort nach Berlin.« »Das wird nicht zu umgehen sein.« »Ich kann hier nicht weg«, bedauerte der General, »jetzt, wo der Vormarsch stoppt, würde man mir das als Feigheit vor dem Feind oder wer weiß wie auslegen. Nein, Sie fliegen, Oberst. Ich stelle Ihnen meinen FieselerStorch zur Verfügung. Wenn Sie gleich starten, können Sie morgen früh schon im Führerhauptquartier sein.« * Der Befehl kam direkt aus Rastenburg in Ostpreußen. Vom Oberkommando der Wehrmacht lief er über Führerblitz zur, Marineleitung. Dort schickte ihn der zuständige Admiral sogleich nach Paris zum Chef der U-Boote. Für den Operationsstab Dönitz war alles weitere ebenso schwierig wie einfach. Schwierig insofern, als es galt, für diesen strategisch wichtigen Geheimauftrag das optimale Instrument einzusetzen, nämlich das bestgeeignete Boot mit der bestmöglichen Besatzung. Vereinfacht wurden alle Probleme dadurch, daß lediglich zwei frontklare U-Boote zur Verfügung standen. 10
Denn nur der Typ IX-Dora kam in Betracht. Ein Boot, das selten für die Geleitzugsschlachten im Nordatlantik eingesetzt wurde, da es wegen seiner Größe und Reichweite in der Lage war, den U-Bootkrieg bis ins südchinesische Meer zu tragen. Man konnte es einen U-Kreuzer nennen. Bei der Marine lief es unter dem Namen ›Monsun‹. Zwei dieser großen 1800-Tonnen-Boote lagen im UBoot-Bunker von St. Nazaire. Das eine war bereits vollgepackt mit Flugmotoren, Elektronik, neuen Torpedotypen und Nachbauplänen für die japanische Rüstungsindustrie. Das andere Boot unter Korvettenkapitän Harri Martin sollte nach Südamerika gehen und dort CanarisAgenten absetzen. Der Einsatz wurde gestoppt und Kapitän Martin zum Flotillenchef befohlen. Mit dem alten VW-Kübel fuhr er hinaus in die Villa. »Der Admiral hat da etwas ganz Feines für Sie, Martin«, empfing ihn der Flotillenchef. »Hochinteressant, kriegswichtig und supergeheim. Also gerade das Richtige für den alten Haifischzahn.« »Wohin geht es denn?« erlaubte sich Kapitän Martin zu fragen. Der Flotillenchef deutete auf das Kuvert mit den Operationsbefehlen. Es war versiegelt. »Aus Sicherheitsgründen erst vierundzwanzig Stunden nach Auslaufen auf See zu öffnen. Und dann bis zur Rückkehr absolute Funkstille.« »Wie ist die Generalrichtung, Herr Admiral?« »Kurs Südspitze Irland wie gehabt. Aber die Tropen11
ausrüstung können Sie zu Hause lassen. Kleiden Sie sich besser für die Polarzone ein.« »Die Khakisachen sind schon an Bord«, erklärte Martin. »Die Leute werden Fragen stellen, wenn wir statt dessen Pelze übernehmen.« Der Admiral überlegte nur kurz. »Sagen Sie ihnen, daß von Südamerika aus ein Vorstoß in die Antarktis geplant sei.« Korvettenkapitän Martin lächelte. »Darf ich daraus schließen, daß es in die entgegengesetzte Richtung geht?« »Ich bin nicht eingeweiht«, bedauerte der Flo-Chef, »aber soviel ist sicher, schwitzen werden Sie gewiß, auch wenn es gar nicht heiß ist.« Damit händigte er seinem bewährten Kommandanten den Umschlag, der per Kurier überbracht worden war, aus, wünschte ihm viel Glück und eine gesunde Rückkehr. 12 Stunden später verließ das große U-Boot den Bunker, schleuste aus und fuhr bei Dunkelheit im Kielwasser eines Sperrbrechers bis zur Kriegsansteuerungstonne. Gleich dahinter begann das tiefe Wasser. – Im Morgengrauen tauchte U-934 ab. Außerhalb der Reichweite des britischen Küstenschutzes passierte U-934 in Überwasserfahrt Lands End und später mit doppeltem Ausguck die Einfahrt zum St.-Georgs-Kanal. Bei Nacht wurde die Südspitze von Irland umrundet. Dann öffnete Korvettenkapitän Martin befehlsgemäß den versiegelten Umschlag. Nachdem er staunend die Befehle gelesen hatte, rief er 12
seinen ersten Wachoffizier, einen Kapitänleutnant. »Lammers«, sagte er, »lassen Sie die Seekarten für das Eismeer heraussuchen, dann setzen Sie Kurs Grönland ab.« Der Offizier schluckte. »Durch die Dänemarkstraße?« »Nein, den kürzesten Weg an Island vorbei. Wir müssen nach Norden, hoch in den Norden. Und studieren Sie schon einmal im Segelhandbuch den Verlauf der Packeisgrenze.« »Was darf die Besatzung wissen?« erkundigte sich der I. WO. »Daß es zu den Eskimos geht«, sagte der Kommandant grinsend, »aber bei deren Damenwelt handelt es sich bekanntlich um eine weniger begehrenswerte Ausführung des weiblichen Geschlechts. – Was für ein Film läuft denn heute abend?« »Rühmann. Fünf Millionen suchen einen Erben.« »Danke, den kenne ich schon«, sagte Martin. * Bei den Faröer-Inseln entging U-934 gerade noch den Fotolinsen eines britischen Fernaufklärers durch Alarmtauchen. Es blieb so lange unter Wasser, bis der Leitende Ingenieur meldete: »Jetzt lutscht der E-Motor den letzten Saft aus den Batterien, Herr Kapitän.« 13
Martin wußte aus vielen Fronteinsätzen, daß ein guter LI selbst dann noch eine kleine Reserve hatte. Trotzdem gab er die Zickzack-Flucht auf. Als das Boot nach oben stieß und der Turm frei war, schien der Mond zum Luk herein. Um das Boot herum dampften die Kälte und der Nebel des Nordmeeres. Oben am Polarkreis hatten sie eine Begegnung mit einem amerikanischen Fischdampfer, die fast ins Auge gegangen wäre. Der Amerikaner meldete seine Beobachtung. Zwölf Stunden später wurde U-934 von britischen Zerstörern gejagt. »Wir hätten ihm einen Torpedo in den Wanst schmettern sollen«, sagte der I.WO. »Nur zum Zwecke der Verteidigung, so lautet der Befehl.« Die Verfolgung mit Wasserbomben, das gegenseitige Spiel der Täuschung dauerte zweiundzwanzig Stunden. Dann glaubte Martin, den Gegner ausgetrickst zu haben. Aber erst bei Nacht wagte er aufzutauchen. Anschließend wußte er, daß sie einen Schutzengel gehabt hatten. Oben herrschte einer der wütendsten Stürme, die Martin je erlebt hatte. Orkanböen fetzten ganze Wände von Schnee aus Richtung Jan Mayen herunter. »Es war das Wetter«, sagte Martin in den Wachpelz gehüllt, »was sie zur Aufgabe zwang. Aber soviel Glück hat man nicht oft.« Auf 76 Grad Nord gerieten sie in Eis, das sich immer mehr verdichtete. Von jetzt ab liefen sie aber schon Kurs 14
West und suchten eine Fahrrinne in die Upecknik-Bay. Eisberge, groß wie mittelalterliche Dome, zwangen sie immer wieder zu Umwegen. Einmal saßen sie so im Packeis fest, daß der LI um die Schrauben fürchtete. Sie retteten sich durch Tauchen und tasteten sich in Unterwasserfahrt unter der geschlossenen Eisdecke weiter ihrem Ziel entgegen. Nicht zuletzt dem Navigationsgenie von Martins Obersteuermann, einem ehemaligen Walfängerkapitän, war es zu verdanken, daß sie nach 22tägiger Reise im Sehrohr die zwei mächtigen Eistürme ausmachten. »Thor und Donar«, sagte Martin, »haben die Nordlandfahrer sie genannt. Laut Segelhandbuch markieren sie die Einfahrt zum oberen Upecknik-Sund. Wir haben es geschafft, Männer.« Sechsunddreißig Stunden später stießen die Eispickel der Besatzung unter metertiefem Schnee auf das Geheimdepot. Es handelte sich um den Rumpf des Frachters »Fichtelberg«. Den Laderaum voll kriegswichtiger Rohstoffe, hatte er im Herbst 1939 – damals bestand noch das deutsch-sowjetische Handelsabkommen – Murmansk verlassen. Die Engländer hatten ihn gejagt und beschossen. Mit letzter Kraft, schon sinkend, hatte sich der Frachter hierher gerettet, wo er von der Besatzung in die Klippen gesetzt worden war. Seine Position in der Spezialkarte stimmte auf die Viertelmeile genau. Der Geheimauftrag von U-934 bestand darin, soviel wie möglich von der Ladung der »Fichtelberg« zu über15
nehmen. Im wesentlichen bestand sie aus Jutesäcken mit außergewöhnlich schwerem silberkörnigem Inhalt. * Das Verbringen der schweren Säcke, erst vom Wrack der Fichtelberg auf das Eis, dann über das Eis zum U-Boot und durch das Torpedoluk in die Enge der Stahlröhre, war eine für technische Experten ungewohnte schwere Arbeit. Hebezeug und Schlitten mußten erst mühsam gebaut werden. Da alles mit Muskelkraft bewegt wurde, schafften die Männer von U-934 in den ersten Tagen nur jeweils neun Tonnen. Zu Hilfe kam ihnen der Polarsommer mit seinen hellen Nächten, in denen die Sonne nicht völlig unterging. Um die Monatsmitte herum machten Schneestürme aus dem Inneren Grönlands jede Arbeit unmöglich. Die Männer hockten in der Enge des Bootes und lauschten beunruhigt den Wetterberichten der kanadischen Baffin-Bay -Station. Allen war klar, daß man für immer hier festsaß, wenn der Sturm das Packeis in der Bucht auftürmte und das Boot beschädigte. Doch plötzlich flaute der Sturm so rasch ab, wie er gekommen war. Gegen den hohen Neuschnee kämpfend, schafften die Männer des Korvettenkapitäns Martin in Achtstundenschichten bis zu zwanzig Tonnen pro Tag. Am 26. August waren alle verfügbaren Räume des Bootes bis in die letzten Winkel mit den Jutesäcken vollgeschichtet. Der Kommandant beschloß auszulaufen. 16
Das Boot wurde seeklar gemacht. Doch das Packeis hielt es so fest umschlossen, daß ein Freikommen nur durch ständige Veränderung der Trimmlage möglich wurde. Sobald das Echolot sechzig Meter Tiefe anzeigte, tauchte U-934 ab und verließ die Bay in Richtung offene See. Korvettenkapitän Martin ließ an die Freiwache Bier ausgeben. Der Koch öffnete Schinkendosen und hinterher gab es Torte. »Männer«, sprach der Kommandant ins Zentralemikrofon, »das Schwerste liegt hinter uns, aber vor uns liegt das Schwierigste, nämlich diesen grauen Mist in Säcken auch heil dorthin zu bringen, wo man ihn dringend benötigt. Die feindlichen U-Boot-Jäger und Flugzeuge sind überall. Bei Tag und bei Nacht. Jetzt heißt es, vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr aufzupassen. Das gilt für alle. Wir laufen große Fahrt und nehmen den kürzesten Weg. Damit ist es in sechs Tagen zu schaffen. Dann kriegt jeder Urlaub. Das verspreche ich euch. Und jetzt Kurs Heimat!« Der Funker legte eine Schallplatte auf. Zarah Leander. ›Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn‹. * Östlich der Shetlands sichteten sie ein britisches Patrouillenflugboot. Es stieß aus einer Wolke, als sie gerade aufgetaucht waren, um das Boot durchzulüften. Sie waren ebenso überrascht wie der Engländer. Aber die Männer 17
der 2cm-Zwillingsflak waren schneller. Sie schafften das Unglaubliche und schossen den Briten ab. Sicher, ein schwerfälliges Flugboot war leichter zu treffen als ein Moskito-Aufklärer, aber ein Kunststück blieb es trotzdem. Die Bomben des Engländers fielen weitab. Mit der letzten Bombe schlug auch er in der See auf. Hauptsache, er hatte keine Meldung mehr abgesetzt. Vor Lindesnes rammte sie im Nebel fast ein Dickschiff. U-934 konnte unter ihm wegtauchen. Der Kiel streifte die Antennen. Sie hörten das drohende Hämmern seiner Maschine. Bis sich der Schock gelegt hatte, herrschte atemlose Stille im Boot. Leise sagte Korvettenkapitän Martin zu seinem I.WO: »Soviel Glück hat man nur zweimal.« Eine Befürchtung, die sich schnell bewahrheitete. Vierundvierzig Stunden später erreichten sie Kiel. Kaum hatte das Boot am Howaldt-Pier festgemacht, begannen die Entladearbeiten. Eine Hundertschaft Hafenarbeiter, ausgerüstet mit Spezialkränen und Elektrokarren, stürzte sich auf die Fracht. Die Säcke kamen in bereitstehende Eisenbahnwaggons. Eine D-Zug-Maschine stand schon unter Dampf. Sie sollte die dreizehn Güterwagen im Eilzugtempo zu den Bestimmungsorten bringen. Wie Korvettenkapitän Martin unter der Hand erfuhr, lagen sie im Ruhrgebiet. Einer in Essen, einer in Dortmund, einer in Bochum. Um welches Rohprodukt es sich bei dem Inhalt der Säcke handelte, konnte Martin nur vermuten. Er erfuhr es auch nicht, als er frisch gebadet und rasiert dem Be18
fehlshaber der U-Boote in Berlin gegenüberstand. Wie üblich untertreibend, schnarrte er seine Meldung herunter. »Das Vaterland ist Ihnen zu Dank verpflichtet«, versicherte der Admiral und öffnete ein mit schwarzem Leder überzogenes Etui in Größe einer Juno-Packung. »Das Ritterkreuz haben Sie ja schon, Martin. Aufgrund Ihrer Verdienste verleiht man Ihnen durch mich das Eichenlaub.« Fast achtlos nahm Martin das Etui entgegen. Mit einem schmalen Lächeln sagte er: »Könnte statt dessen nicht der Urlaub meiner Besatzung beschleunigt werden? Was diese Männer im Eis leisteten, dafür fehlen mir die Worte.« Der Admiral bekam einen harten Mund, als befehle er das, was er jetzt befehlen müsse, gegen seinen Willen. »Abgelehnt, Martin.« »Wenn es je ein Haufen Seeleute verdient hat…« »Abgelehnt.« »Wie darf ich das verstehen, Herr Admiral?« »Sie müssen sofort wieder raus, Martin.« Das war kein Guß kalten Wassers, das war ein voller Brecher. »Mit dieser genervten, überbeanspruchten Besatzung ist das ein echtes Risiko«, wandte Martin ein. »Weiß ich«, entgegnete der Admiral. »Aber die zweihundert Tonnen reichen der Industrie gerade über den schlimmsten Engpaß hinweg. Zwei Frachter, mit denen das Amt Speer sicher rechnete, wurden im Südatlantik versenkt. Nachschub aus Rußland ist erst im Herbst zu 19
erwarten. Vorausgesetzt, unseren Truppen gelingt es, die Vorkommen zu erobern. Wir sitzen verdammt in der Klemme, glauben Sie mir das, Martin.« Der Korvettenkapitän schluckte. »Ist kein anderes Boot verfügbar?« »Mit Frachtern läßt sich so was nicht machen, das wissen Sie. Für Flugzeuge gibt es da oben keine Landemöglichkeit. Was könnte eine Viermotorige oder ein Flugboot denn schon laden? Zehn Tonnen maximal. Und sie würden runtergeputzt wie nichts. Außer Ihrem U-934 habe ich kein anderes intaktes Neun-Dora-Boot zur Verfügung. Bedaure, Martin.« »Vierundzwanzig Stunden Kurzurlaub für meine Männer«, versuchte Martin als letztes Zugeständnis herauszuschlagen. Eine fast feindliche Pause entstand. »Ihr Boot wird zu dieser Stunde frisch bebunkert und verproviantiert«, schnarrte der Admiral. Dann schaute er auf die Uhr: »Auslaufen bei Sonnenuntergang!« Martin spürte deutlich, wann ein Mann keine Chancen mehr hatte und wann eine Unterredung beendet war. Das Etui mit dem Eichenlaub legte er wie versehentlich auf den Rauchtisch zurück. Dann grüßte er und ging. Der Admiral brachte ihn bis zur Tür seines Büros. »Im Krieg, Martin«, sagte er, »gibt es nur zwei Möglichkeiten. Siegen oder verlieren. King oder Kopf ab. Sie, Martin, gehören in diesem Moment zu den wenigen Leuten, die es in der Hand haben, daß letzteres nicht eintritt. Kommen Sie heil zurück.« 20
U-934 lief aus, Kurs Skagerrak. Zweitausend Nordmeermeilen lagen vor ihm. Auf jede Meile kam eine Möglichkeit zu sterben. In Küstennähe waren es die Minen. Bei Tag die Aufklärer, dann die Zerstörer mit ihren Wasserbomben, ihrem Asdic. Wenn die einen im Griff hatten, dann Mahlzeit. Die Männer von U-934 nahmen es stumm hin. Befehl war Befehl. Die Kameraden, die im Kaukasus krepierten oder in der Wüste, die fragte auch keiner. Verbissen versahen sie ihren Dienst. Selten drang ein Lachen durch das Boot. Die Hinfahrt verlief glatt. Am elften September tastete sich das Boot wieder in die einsame Grönlandbay hinein. Das Packeis hatte noch ein paar Wasseradern. Die Wetterlage im Spätsommer schien stabil zu bleiben. Wieder begann die Knochenarbeit. Aber diesmal hatten sie Spezialgeräte dabei, einen Elektroaufzug, der über Kabel vom Boot aus gespeist wurde und zwei Aluminiumtransportschlitten. Sie schafften zweihundertzehn Tonnen in fünf Tagen. Vereinbarungsgemäß gab der Kommandant auf UBootwelle ein Kurzsignal, daß sie die Rückfahrt antreten würden. »Vielleicht«, sagte er zu seinem Wachoffizier, »haben wir doch dreimal Glück, Lammers.« Sie hatten es nicht. Nach Berechnungen des Stabes beim Kommando der U-Boote mußte das Boot Martin am 24. spätestens am 26. September Kiel erreichen. U-934 erreichte die Heimat 21
weder am 30. September, noch eine Woche, einen Monat oder ein Jahr später. In den Verlustlisten wurde es als vermißt verzeichnet. Zwar gelang es der Dechiffrierabteilung im Amt Canaris den Funkspruch des britischen Zerstörers ›Sussex‹ an den Stab der Home-Fleet zu entschlüsseln, wonach er südlich Island ein havariertes U-Boot mit Wasserbomben versenkt habe. Ob es sich dabei um U-934 handelte, blieb jedoch ungewiß. Es konnte auch ein Atlantik-Boot gewesen sein, das bei der letzten Geleitzugschlacht im September, weidwund geschossen, auf 64 Grad Nord verlorenging. 2. In seinem eleganten Zweireiher sah André Montagne ein bißchen aus wie ein reichgewordener Pfadfinder. Der Maßanzug paßte nicht recht zu seinen 23 Jahren. Auch der teure Sportwagen nicht, der unten auf dem Parkplatz des Ministeriums stand. Andererseits war André Montagne einer der besten Computerleute von Internationale Electronique. Er genoß so viel Vertrauen, daß man ihn beauftragt hatte, die alten Archive des Verteidigungsministeriums auf Datenspeicher umzuprogrammieren. Auch dies war ungewöhnlich für einen Dreiundzwanzig jährigen. Genaugenommen war André Montagne im Beruf wie im Privatleben ein Außenseiter. Stets lief er auf Übertouren. Er machte Überstunden bei der Arbeit wie beim 22
Geldausgeben. Er litt nur unter einem Handikap. Er war nicht reich geboren. Als Sohn eines in Algerien gefallenen Corporals und einer Verkäuferin, die durch gelegentliche Prostitution die Haushaltskasse aufbesserte, hatte er sich jeden Knopf selbst verdienen müssen. Deshalb hatte er auch Schulden. Einem Gläubiger schuldete er sogar schon die Zinsen. Doch darüber machte sich André wenig Sorgen. Er dachte über etwas anderes nach, als er sich noch weiter zurücklehnte, obwohl er schon lässig zurückgelehnt dasaß. Unglaublich, was er heute entdeckt hatte. Da gab es doch Reichtümer, auf die keiner Anspruch erhob, weil sie keinem gehörten und keiner von ihnen wußte. Ihre Existenz bewiesen aber die verstaubten Akten, die niemals ein Mensch wieder durchlesen würde. Nach der Einspeicherung in das elektronische Gehirn würden sie mikrofotografiert und dann vernichtet werden. Und er allein entschied, was gespeichert und auf diese Weise unter x-Millionen Mikrofotos wieder auffindbar sein würde. Im Augenblick fühlte sich Montagne von den Zukunftsaussichten so überfordert wie ein Verdurstender gegenüber einem Bierfaß ohne Spundloch. Er brauchte eine Denkpause. Rasch machte er einige Notizen. Dann verließ er das Büro im Ministerium. Acht Minuten dauerten die üblichen Sicherheitskontrollen, bis er am Parkplatz endlich seinen Porsche Turbo anlassen konnte. 23
Unter dem Scheibenwischerblatt des metallicschwarzen Autoungeheuers klemmte eine Visitenkarte. Darauf mit Bleistift in einer Handschrift, die jeder Ästhetik widersprach: - Sofort anrufen. Wird endlich Zeit. Jean. Wenn Montagne an diesen Jean nur dachte, wurde ihm schon schlecht. »Kann warten«, zischte er, warf die Mahnung zerknüllt weg und steckte sich mit seinem goldenen Dunhill eine Dunhill an. Seitdem er wußte, daß es Zigaretten gab, die doppelt so teuer waren wie Gauloise und viermal so teuer wie selbstgedrehte, rauchte er selbstverständlich nur diese. Er lebte einfach gern wie ein Industriellensohn, der vom Vater monatlich einen Fünfzigtausend-FrancScheck bekam mit keiner anderen Auflage, als diesen Betrag zu verputzen. Eine Drehung am Zündschlüssel. Der luftgekühlte Sechszylinder kam mit dem dunklen, porscheüblichen Wummern. Boney M. in vollem Stereosound durch das offene Schiebedach pressend, fuhr er die Champs Elysees hinauf. * Um diesem lästigen Mahner Jean zu entgehen, der so knickerig war, daß er sich das Haar zu Hause mit Hilfe von zwei Spiegeln selbst schnitt, nahm André Montagne eine Einladung in die Normandie an. 24
Für den Porsche bedeuteten die 150 Kilometer nach Dieppe unter Mißachtung so gut wie aller Tempobeschränkungen eine Stunde Fahrzeit. Im Hafen lagen außer den Fischkuttern mehrere Yachten. Eine ganz große, mehrere mittlere und eine sehr kleine. Die kleine gehörte André Montagne. Zu mehr hatte es noch nicht gereicht als zu einem Siebenmeeterboot mit Kutterbesegelung und Hilfsdiesel. An diesem Freitagabend würdigte André sein eigenes Schiff keines Blickes. Er war auf der großen schottischen Aluminiumyacht zu Gast. Seinen Hermés-Koffer bugsierte ein Steward in die Kajüte. »Zwanzig Uhr lassen Madame und Monsieur zum Diner bitten, Monsieur.« Drei Minuten nach zwanzig Uhr erschien Montagne in schwarzer Hose und weißem Smoking Jackett bei Tisch. Daß er in Bankierskreisen zu Gast war, kam nicht alle Tage vor. Aber dieser Reserve-Rothschild verdankte ihm viel. Montagne hatte ihm einige von seinen steuersparenden Computertricks in die neue DV-Anlage eingebaut. Seitdem waren sie befreundet, und der Bankier empfahl Andrés Können diskret weiter. An diesem Abend saßen neben der vollerblühten Bankiersgattin am Tisch des Salons ein Ehepaar aus Italien und ein grauhaariger Junggeselle, Typ Seewolf, aus Holland. Mit seinem Talent, Gespräche einzufädeln und sie dorthin zu lenken, wohin er sie haben wollte, hatte Montagne rasch herausgefunden, daß der Holländer van 25
Dyckens hieß und der größte Bergungsreeder des Landes war. Zu Beginn des zweiten Ganges, zu dem es Rotwein gab, stand der Hausherr auf, nahm die Flasche und füllte eigenhändig die Gläser. Dabei verschüttete er ein wenig auf das blütenweiße Damasttischtuch. Er hatte das wohl bei vornehmen Adligen gesehen, daß der Hausherr die Tafel mit Rotwein bekleckerte. Es sollte den Gästen die Steifheit nehmen und soviel bedeuten wie »fühlt euch wohl bei mir«. Etwa in der Mitte des vielgängigen Diners verwickelte der Industrielle aus Mailand den jungen Montagne in ein Gespräch über Computer. Welches der am Markt befindlichen Systeme wohl am zukunftssichersten, am perfektesten und zugleich am preiswertesten sei, wollte er wissen. Die Wahl zwischen den vorhandenen Systemen falle außerordentlich schwer. Die Verkäufer würden einem das Blaue vom Himmel versprechen. Versuche man dann aber die Produktionssteuerung drauf zuschalten, heiße es, dazu reiche die Kapazität nicht, man empfehle das neue System Dreitausend. Und wieder sei eine Milliarde Lire futsch. André beriet den Herrn aus Oberitalien auf eine Weise, daß eventuell eine Provision für ihn heraussprang. Der Italiener war zufrieden, und der Holländer zeigte sich an Computern völlig desinteressiert. Um so mehr gefiel ihm die Gattin des Bankiers. Um nicht aus der Rolle zu fallen, beschränkte er sich auf das Anfassen von Flaschen, und jede, die er anfaßte, leerte er auch. Er war ein von harten 26
Drinks ausgepichter Seemann. Um vom Champagner betrunken zu werden, brauchte er zwei MagnumFlaschen. Um Mitternacht war van Dyckens noch so klar, daß er Geschichten über die Bergung von Luxuslinern logisch und ohne zu stottern erzählen konnte. Um auf diesem ihm fremden Gebiet nicht völlig unergiebig zu bleiben, sagte Montagne: »Dazu fällt mir eine gute Geschichte ein, Mijnheer.« »Es gibt keine guten Seefahrtgeschichten mehr, seitdem Melville seinen Moby Dick geschrieben hat.« »Meine wird Ihnen gefallen.« »Dann fahren Sie ab, mein Junge!« »Sie ist ganz kurz«, begann Montagne, »nur drei Sätze. Im Kriegsjahr 1942 holte ein deutscher U-Kreuzer aus einem Geheimdepot in Nordgrönland strategische Rohstoffe für die Rüstungsindustrie. Auf der Heimfahrt wurde er von einem britischen Zerstörer entdeckt und mit Wasserbomben versenkt. Er liegt heute noch nahe den Faröern auf 120 Meter Wassertiefe.« Der Gesichtsausdruck des Holländers veränderte sich, als falle an einem bedeckten Tag Sonnenlicht durch ein Wolkenloch. Er packte Montagnes Unterarm. »Woher haben Sie das?« fragte er. »Ich arbeite alte Beuteakten auf. – Aus welcher Tiefe, Mijnheer von Dyckens, kann man Schiffe heben?« »Aus jeder«, erklärte der Bergungsunternehmer und fragte mit angekniffenem Auge: »Wo bei den Inseln liegt das Wrack?« 27
»Das«, antwortete André Montagne und entnahm seiner Reverstasche ein Notizblatt voll Zahlen, »kann ich Ihnen zufällig recht genau sagen, Mijnheer.« * Das amüsante Wochenende auf der Yacht des Bankiers endete insofern unangenehm, als vor Montagnes Wohnung in Paris seine Gläubiger warteten. Jean, der sich aus Geiz die Haare eigenhändig schnitt, hatte noch einen Schläger mitgebracht, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. »Habe ich schon einmal nicht bezahlt?« fragte André herablassend. »Irgendwann fängt jeder damit an. Diesmal laufen schon die Zinsen der Zinseszinsen auf.« »Ich bringe das in Ordnung«, versprach Montagne. »Gib den Autoschlüssel her!« Der Porsche war das letzte, wovon sich Montagne getrennt hätte. Weil er zögerte, hatte der mit dem Mardergesicht plötzlich ein Messer in der Hand, lang und sehr spitz zugeschnitten. »Damit malen wir dir ein Monogramm in die Visage, Playboy«, drohte Jean. Montagne hob beide Hände. Er war kein Feigling, er wollte nur Zeit für Verhandlungen gewinnen. Der mit dem Messer riß ihm den Wagenschlüssel aus den Fingern. »Das Auto kann nicht jeder fahren«, protestierte Montagne. 28
»Es bleibt ja hier«, sagte Jean, trotz allem noch Geschäftsmann. »Bis Freitag die Hälfte der fünfzig Mille, und du hast den Schlüssel wieder. Ansonsten geht die Karre an einen Zuhälter. Pit le Boeuf ist mächtig scharf darauf. D’accord?« »Ja, wir sind d’accord«, sagte Montagne, obwohl er keine Ahnung hatte, woher er das Geld nehmen sollte. Er wußte es nicht bis Donnerstag 15 Uhr 45. Eine Minute später rief ihn der Chef der Mailänder Niederlassung des größten amerikanischen Computerherstellers an. Er faßte sich kurz. »Wir verdanken Ihnen einen Abschluß mit Saltimbucci S.A. Auf Ihre Empfehlung hin machte unser Vertreter heute den Vertrag. Ein Drittel der Provision geht an Sie. Das sind zwanzigtausend Dollar. Wohin möchten Sie den Betrag haben, Monsieur Montagne?« »Möglichst schnell«, bat André. Obwohl in seinem Horoskop stand, daß es abwärts ging, hatte André Montagne das Gefühl, es ginge aufwärts. Er bezahlte seine Schulden bei Jean, bekam den Autoschlüssel zurück und machte bei einem anderen Kredithai neue Schulden. Er erzählte, er habe ein Erbe zu erwarten, obwohl alles, was ein Montagne jemals erben konnte, bestenfalls aus Hypotheken bestand. Am Wochenende lud er seine Freunde zum Essen ein. Noel, den Ex-Düsenjägerpiloten, und Balmain, den Mann, der zwar Sportartikel verkaufte, sich aber in den Alpen am wohlsten fühlte. 29
»Mes amis«, schwadronierte André zu vorgerückter Stunde, »im Vergleich zu euch Weltmeistern bin ich nur ein Anfänger, aber glaubt dem windigen kleinen André, eines Tages, wenn wir an diesem Tisch sitzen, dann sitzen an diesem Tisch drei Millionäre. Ich bin da an einer Sache am Basteln.« »Wir lieben dich, wie du bist«, versicherte der Pilot, »auch mit roten Zahlen auf dem Konto.« Am Montag fuhr André Montagne wieder ins Ministerium an seine Arbeit. Wie es aussah, würde er bestenfalls im Spätherbst mit Materialsichtung und Programmanalyse fertig sein. Im Winter würde er dann Urlaub nehmen und ein paar Wochen im warmen Süden verbringen. * Sechs Wochen später, André Montagne drückten schon wieder neue Zahlungstermine, rief ein Unbekannter bei ihm an. »Kann ich Sie sprechen, André?« fragte er vertraulich. »Das tun Sie bereits.« »Nicht per Kabel, sondern persönlich.« Montagne, der den gebrochen Französisch sprechenden Mann für den Geldeintreiber eines Gläubigers hielt, war vorsichtig. »Kaum zu machen. Ich muß nach New York.« Das war gelogen, aber nun mußte der andere reagieren. »Ich habe Ihnen etwas zu übergeben«, erklärte dieser, 30
»von einigem Wert. Mein Auftrag lautet, es Ihnen nur direkt, nicht aber über eine dritte Person auszuhändigen.« Das ist ein Trick, überlegte Montagne. Aber warum sollte sich der Geldeintreiber eines solchen Tricks bedienen? Der konnte ihn auch vor seiner Wohnung in der Rue des Eaux abfangen. »Wer schickt Sie?« erkundigte sich Montagne. Daraufhin schwieg der Anrufer. Montagne faßte nach: »Wer sind Sie?« Die Antwort klang unbefriedigend. »Ich komme aus Rotterdam.« Montagne erinnerte sich nicht, dort Bekannte, geschweige denn Freunde zu haben. »Extra Ihretwegen, Monsieur«, fügte der Fremde hinzu. Nun wurde Montagne doch neugierig. »In einer Computer-Angelegenheit?« »Eigentlich nein«, hörte er. »Mijnheer van Dyckens läßt grüßen.« Richtig, einen Dyckens kannte er. Dyckens war ihm vor Monaten auf der Yacht eines Bankiers in Dieppe begegnet. Nur eine flüchtige Bekanntschaft, die sich Montagne nicht sonderlich stark eingeprägt hatte. Als Treffpunkt schlug er eine Bar am Boulevard St. Michel vor. Doch dem Anrufer behagte das nicht. »Kennt man Sie dort?« »Schon möglich.« »Geht es nicht diskreter? Vielleicht bei Ihnen zu Hause, Monsieur?« 31
Wieder flackerte Mißtrauen in Montagne auf. »Was halten Sie davon, wenn Sie mich an der Place de l’Opera erwarten? Ich komme den Boulevard Madeleine herauf. Porsche schwarz. Wir unterhalten uns im Wagen.« Mitten im Stadtverkehr wird er wohl nicht das Messer zücken, dachte Montagne. Der Anrufer war einverstanden. Er habe einen weißen Trenchcoat an, erwähnte er noch. »In fünfzehn Minuten«, sagte Montagne, ließ sich aber Zeit. Der Holländer sollte ruhig warten. Ohne Hast verließ Montagne seinen Arbeitsplatz in der Rue Royale und fädelte sich in den Verkehr ein. Als er zur Oper kam, sah er schon von weitem einen großen rothaarigen Mann am Bordstein stehen und winken. In der Hand hatte er eine Zeitung, es konnte aber auch etwas anderes sein. Montagne bremste, öffnete die Tür, ließ den Holländer zusteigen und setzte seine Fahrt fort. Während er durch den dichten Nachmittagsverkehr rollte, wartete er voll Unruhe darauf, was dieser Herr ihm zu bieten hatte. Stumm überreichte er Montagne einen länglichen Umschlag, den Montagne für eine Zeitung gehalten hatte. »Legen Sie ihn ins Handschuhfach«, bat Montagne. »Aber vergessen Sie ihn nicht«, bemerkte der Holländer. »Wäre ein teurer Spaß.« Montagne blickte ihn schräg an. »Wie teuer?« »Hunderttausend…«, der Mann aus Rotterdam machte eine kurze Pause, »… Dollar.« 32
Montagne schaltete vor Verblüffung in den vierten statt in den zweiten Gang. »Und wie komme ich dazu?« »Quittung ist nicht notwendig«, fuhr der Geldbote fort. »Vertrauen gegen Vertrauen.« »Wer ist der Spender?« »Mit einem Gruß von Mijnheer van Dyckens. Es handelt sich um Ihren Anteil.« Montagnes Verblüffung steigerte sich eher noch. Sollte es sich um einen Anteil aus dem Geschäft handeln, zu dem die kärglichen Angaben über das gesunkene deutsche U-Boot geführt hatten? »Unsere Firma«, berichtete der Holländer, »hat das deutsche U-Boot gehoben. Es lag in internationalen Gewässern, befand sich seit über 35 Jahren dort und war somit Eigentum dessen, der die Bergung durchführte. Eine überaus komplizierte Arbeit, aber es hat sich gelohnt.« »Und mein Anteil an dem Haufen Schrott ist so hoch?« erkundigte sich Montagne erstaunt. »Dann steige ich auch ins Schrottgeschäft ein.« »Was wir für den Schrott erzielten«, erklärte der Rotblonde, »ist nicht der Rede wert. Die Ladung brachte es.« »Ein Fracht-U-Boot also, genau wie ich vermutete.« »Ein U-Kreuzer, der bis in die letzten bestaubaren Ekken mit einem Material angefüllt war, das bei der heutigen Knappheit außerordentlich hohe Preise erzielt, zumal der Rohstoff bereits gereinigt war.« Montagnes Neugier war jetzt so groß, daß er den Por33
sche an der Place Touduze in eine Parklücke drückte. Er stellte den Motor ab, ließ die Scheibe herabsurren. »Ein Rohstoff welcher Art?« »Chemisches Zeichen Cr. Spezifisches Gewicht 6,7, Schmelzpunkt 1550 Grad.« »Chrom?« tippte Montagne. »Nicht als Erz, sondern schon in reduzierter sehr reiner Form. Es handelte sich um ein silberweißes sehr hartes Metall, ziemlich grobkörnig, wie es sowjetische Hüttenwerke vor dem Krieg in den Kombinaten um Murmansk herstellten. Heute zieht man die pulverisierte Form vor, weil sie sich besser zu hochwertigen Stahllegierungen verarbeiten läßt.« »Chrom ist wichtig, wie?« äußerte Montagne. Der Holländer, offenbar Geschäftspartner von van Dyckens, nickte. »Ohne Chrom gehen in der Stahlindustrie die Öfen aus. Das war gestern so, ist heute so und wird in der Zukunft nicht anders sein. Ohne Chrom konnte die deutsche Rüstungsindustrie kein Ausgangsmaterial für Kurbelwellen, Kolben, Ventile, Maschinenwaffen et cetera herstellen. Ohne Chrom, Mangan, Kobalt kann die europäische Industrie binnen weniger Wochen ihre Produktionsstätten schließen. Daher der hohe Preis.« Eigentlich war damit alles gesagt. Der Holländer hätte sich also empfehlen können. Sein Auftrag war erledigt. Offenbar lag ihm aber noch etwas auf dem Herzen. Er steckte sich eine Zigarette an, rauchte zum Fenster hinaus. 34
»Gibt es noch ein Problem?« erkundigte sich Montagne, Asche von seiner blütenweißen Hemdmanschette blasend. »Im Grunde nein«, äußerte der Holländer. »Aber wenn Sie wieder einen ähnlichen Tip haben, finden Sie bei uns jederzeit offene Ohren. Das soll ich Ihnen von Mijnheer van Dyckens bestellen, verbunden mit herzlichen Grüßen.« * Die alte Akte aus dem Keller des Verteidigungsministeriums, deren Inhalt André Montagne zunächst nur als interessante Geschichte angesehen hatte, war plötzlich zu purem Gold geworden. Also mußte sich aus den anderen auch etwas herausschlagen lassen. Seine Andeutung den Freunden gegenüber, wenn auch mit betrunkener Zunge gemacht, konnte durchaus Wirklichkeit werden. Wenn er jetzt keinen Fehler beging. Soviel stand für André Montagne bald fest. Wenn es noch mehr versunkene vergessene Schätze gab, dann würde er sich nicht mit dem unkontrollierbaren Anteil am Gewinn einer Bergungsfirma begnügen, sondern sie selbst ans Tageslicht befördern und versilbern. Das Startkapital dazu hatte er, ebenso Freunde, auf die er sich verlassen konnte. Zunächst ging er daran, das Basismaterial zu sichern. Er kaufte eine Minox und stellte von allen erreichbaren Unterlagen Fotos her. Wo dies nicht möglich war, weil 35
das Material bereits im elektronischen Datenspeicher lag, zapfte er diesen an. Zugang zu den Magnettrommeln hatte er. Zu Hause in seinem Appartement kombinierte er einen kleinen Mietcomputer mit einem Plattenspeicher und einem Drucker. Über seine Telefonleitung nahm er, meist in den ruhigen Mittagsstunden, Datenfernübertragung vor. Wenn er dann spätabends nach Hause kam, hatte die elektronische Schreibmaschine schon den Klartext auf Endlosbogen gehämmert. In den Nächten wertete er das Material anhand von Landkarten und Reisehandbüchern aus. Die Notizen aus dem Ministerium vernichtete er, die Aktenfotos verbrannte er, die Magnetaufzeichnungen überschlüsselte er mehrmals. Soweit ergriff André Montagne alle nur denkbaren Vorsichtsmaßnahmen. Nur in einem Punkt beging er eine entscheidende Dummheit. Binnen einer Woche bezahlte er alle seine Schulden. 3. Ihr Busen war gut. Und was ihren Anblick von der Rückseite her betraf, so stand er dem der vorderen in nichts nach. Sie hatte einen aufreizenden Gang, pechschwarzes Haar und eine so nahtlos braune Haut, daß man die Gleichmäßigkeit ihrer Bräunung sogar unter dem dünnen Sommerfummel noch sah. Sie war Witwe und ziemlich vermögend. Sie hatte ei36
nen Bungalow mit drei Hektar Gras drumherum, eine Masse Verehrer und ein Auge auf Bob Urban geworfen. Aber sie hatte einen entscheidenden Mangel. Sie war strohdumm, als hätte ein Blitz sie schon in der Wiege gestreift und die Hälfte ihrer Gehirnzellen beschädigt. Urban beschloß, ihre Einladung zum Abendessen auszuschlagen. Er hatte wenig Lust, mit dieser gähnend langweiligen Schönheit auch noch dieselbe Hummersuppe zu löffeln. Nur wußte er noch nicht, wie das zu schaffen war. Er arbeitete noch an der Ausrede, als ihm der Boß zu Hilfe kam. Er rief im richtigen Moment an. Hundertmal hatte er die Anrufe des Operationschefs aus dem Hauptquartier verflucht, diesmal war er sein Rettungsanker. Die Schönheit hob ab, lauschte. »Für tich, Ropert!« rief sie. »München!« Sie hielt es für vornehm, alle weichen Konsonanten hart auszusprechen. »Tanke«, sagte er. Sekunden später vernahm er die gequälte Stimme von Oberst a.D. Sebastian. »Alle trampeln auf einem rum. Alle.« Das war seine Masche. Wenn er getreten wurde, mußte er weitertreten. Nur so hielt er es aus. »Sie Ärmster«, erwiderte Urban. »Soll ich mit der Pillenschachtel kommen?« Solche Töne hörte Sebastian ungern. Er witterte gleich Insubordination. Er hatte eben keinen Humor. Und Mitleid in jeder Form haßte er auch. Also kam er knochentrocken zur Sache. 37
»Anna ist weg!« »Welche Anna? Ich kenne Dutzende von Annas.« »Nummer 36. Deckname Anna.« »Die schlanke Rothaarige?« Urban pfiff. »Hübsche Frau, aber man soll keine Laien beschäftigen in unserem Job.« In diesem Punkt war der Alte anderer Ansicht. »Erstens«, entgegnete er, »muß man die Laien und die Profis mischen, weil die Profis von den Laien sehr viel lernen können. Zweitens: sollte ich etwa einen Mann ins Freudenhaus schicken?« »Wen sonst«, fragte Urban, »sie sind nun mal für Männer eingerichtet.« Auch dies überging Sebastian. »Anna nahm die Spur eines Matrosen auf, der im Suff gequatscht hat. Er war wohl wütend auf seinen Arbeitgeber, weil der ihn feuerte. Er erzählte etwas von einem alten deutschen U-Boot, das bei den Faröern gehoben wurde. An der Ladung sollen sich die Bergungshaie eine goldene Nase verdient haben plus zwei goldenen Ohren zusätzlich. Da das mit verrostetem Stahlschrott wohl nicht möglich war, muß es sich um die Ladung gehandelt haben. Anna sollte den Burschen ausfindig machen und zum Sprechen bringen. Ihre Routinemeldung ist seit achtundvierzig Stunden überfällig.« Das war in kurzen Worten die Situation. »Wo suchte sie den Matrosen?« »Der Tip an uns kam aus einem Puff in Saint Malo.« Urban berechnete überschlägig die Entfernung dorthin. 38
Von Sylt, wo er gerade war, bis an die Bretagneküste. Dann versuchte er den Auftrag abzuschütteln wie ein Hund die Nässe aus dem Fell. »Haben Sie keinen, der näher bei St. Malo sitzt?« »Keinen besseren.« »Ich mache nämlich gerade Urlaub.« »Dem letzten Auftrag folgt der nächste. Wo steht geschrieben, daß Sie jedesmal dazwischen eine Pause einlegen dürfen?« »Habe ich vielleicht etwas vom Kleingedruckten überlesen?« fragte Urban. Bei der Aussicht, schon wieder volle PS liefern zu müssen, kam ihm die Witwe aus dem Ruhrgebiet klüger vor, als er selbst war. »Und beeilen Sie sich«, drängte der Alte, »nicht nur wegen Anna. Auch die Sache mit dem gehobenen U-Boot ist ein dicker Hund. Wenn wir nicht sofort darauf anspringen, sind die Duftmarken verweht.« »So etwas läßt sich nicht aus der Hüfte schießen«, wandte Urban ein. »Deshalb setzen Sie sich gleich aufs Pferd, Cowboy.« Urban bekam ein paar Fakten nachgeschoben, dann hängte der Oberst ein. Urban starrte durch das Fenster aufs Meer hinaus. Der Strand war so nahe, daß man die Dünung rauschen hörte. Der Duft eines aufdringlichen Parfüms wurde stärker. »Warum pist du so traurig, mein Freunt«, flötete die Dame von der Schrottaristokratie hinter ihm. 39
»Muß leider weg.« »Tienst ist Tienst«, sagte sie. »Aper hat tas nicht pis morgen früh Zeit?« Sie trat so nahe an ihn heran, als wolle sie sein Herz pochen fühlen. »Die Sache ist kein Kinderspiel und duldet keinen Aufschub.« »Kefährlich?« »Sagen wir nicht gefährlicher als eine Fahrt mit dem Auto um 17 Uhr durch Hamburg. – Ohne Bremsen.« Ihre Augen wurden feucht und rund. »Tu willst also unpetingt trauf gehen.« »Ich bin schon lange drauf gegangen.« Jetzt, wo Schluß war mit Nichtstun in Wind, Sand und Wellen, fand er sie gar nicht mehr so langweilig. Auch Dummheit hatte ihre Reize, wenn sie in einem schönen Körper steckte. Hinzu kam sein alter Horror vor überperfekten Menschen. Eine kleine Macke mußte sein. Das versöhnte einen mit den eigenen Fehlern. Und wenn er an das breite Prunkbett oben im Schlafzimmer unter dem Reetdach dachte. Bei der Party vorgestern hatten sie dort ihre Jacketts abgelegt. »Okay«, sagte er. »Was meinst tu mit okay, Tarling?« »Stell den Wecker auf morgen früh sieben Uhr.« »Wunterpar«, flüsterte sie. »Tu machst mich klücklich.« Das war wieder so ein Tag, an dem einem unter der Kopfhaut langsam das Hirn weich wurde. 40
In der Stadt der Piraten hielten sie zusammen wie die Quadersteine des Turmes von Quic-en-Groigne, die sogar die Bombardierung 1944 überstanden hatten. Urban parkte sein BMW-Coupe an der Port San Vincent und betrat eine Bar. Verwitterte Kabeljau-Kapitäne, noch mit den Bärten der letzten Neufundlandreise im Gesicht, tranken dort ihren Pastis. Urban bestellte ein Glas Wein und fragte den Patron: »Sie haben doch Zimmer?« »Nein, ich führe ein Cafe und kein Hotel.« »Madame Pireau wohnte bei Ihnen.« Der Patron hielt im Gläserspülen inne. »Die Rothaarige?« »Also doch.« »Ich habe nur vier Zimmer und alle belegt.« »Auch das von Madame Pireau?« erkundigte sich Urban hartnäckig. »Ja und nein«, sagte der Wirt. »Sie hat für eine Woche im voraus bezahlt. Bis morgen. Morgen stelle ich ihren Koffer vor die Tür.« »Falls sie nicht wieder auftaucht.« Der Wirt wischte sich die Hände trocken. »Hören Sie, Monsieur! Was gehen mich die Ausflüge meiner Gäste an. Sie kommen zu uns, um sich die schöne Bretagne anzusehen. Die Küste, den Mont St. Michel, und nicht, um auf der Bude rumzuhocken.« »Auch nicht wenn es regnet?« fragte Urban. »Sie hatten doch vier Tage Regen. Da wundert es Sie keine Sekunde, daß Madame die ganze Zeit…« 41
Der Patron ging und kümmerte sich um seine Gäste. Sie wollten, daß er den Schrank für die Billardstöcke aufschloß. Als der Patron wiederkam, nervte ihn Urban erneut. »Ich möchte das Zimmer sehen.« »Sind Sie ihr Ehemann?« »Oder hätten Sie lieber die Polizei im Haus?« »Lieber die Polizei als ’nen Schnüffler«, zischte der Patron. »Von mir kriegen Sie den Schlüssel nicht.« Es fing an schief zulaufen. Urban steckte sich eine MC an. Der Wirt hatte offenbar noch nie eine Zigarette mit Goldmundstück gesehen. Sie waren ja auch aus der Mode. Urban bot ihm eine an. Der Wirt lehnte ab. »Zum Duguay-Haus«, fragte Urban, »wie muß ich da fahren?« Die Adresse stammte vom Hauptquartier München. Das Luxusbordell war offenbar nach dem berühmtesten bretonischen Seeräuber getauft worden. »Meinen Sie das historische Museum?« fragte der Patron schief. »Nein, den Puff«, sagte Urban geradeheraus. »Nie gehört, daß es hier so was gibt«, erklärte der Wirt. Sie hielten hier wirklich zusammen wie die Quader ihrer mittelalterlichen Türme. Urban verließ die Bar de l’Univers. Draußen in der Sonne lungerte ein Typ herum, der aussah wie ein Dealer ohne Stoff. Den fragte er noch einmal nach dem Maison Duguay. 42
»Richtung Parame, Monsieur.« Parame war der nächste Ort an der Küste und praktisch mit St. Malo zusammengewachsen. Urban schob einen Zwanziger nach. »Durch Parame, fast das letzte Haus am Strand«, wurde der Junge gesprächig. Mit Sicherheit stammte er nicht aus der Gegend. * Um diese Nachmittagsstunde war man im Maison noch nicht auf Freier eingerichtet. Weil die rote Laterne noch nicht brannte, war die Chefin äußerst unfreundlich. So früh kamen offenbar nur Perverse. Die verblichene Pracht der alten Villa, die Mischung aufdringlicher Parfüms, das wirkte im Sonnenlicht schäbig und stank ordinär. Und dann noch diese verwitterte Vettel, total überschminkt, eine Figur von Toulouse-Lautrec. »Ich möchte zu Adeline«, sagte Urban. Den Namen hatte er vom Hauptquartier. Die Chefin des Hauses steckte sich eine Zigarette an, blies ihm den Rauch ins Gesicht. »Ich sag dir was«, sagte sie. »Ja bitte, aber rasch.« »Du glaubst es nicht.« »Ich glaube alles«, beteuerte Urban. »Adeline ist nicht mehr hier.« 43
Er zog die Mundwinkel tiefer. »Glaube ich nicht, Madame.« »D’accord, und nun verschwinden Sie, mon ami!« »Nicht, bevor ich hier eine Razzia abgehalten habe.« Die Alte lachte, daß Busen und Kinn wabbelten. »Du allein? Das haben andere schon zehnmal versucht.« »Vielleicht klappt es beim elftenmal.« »Und das waren Männer«, fügte die Mutter des Hauses noch hinzu. Bei ihr zählten wohl nur nach Fisch stinkende Kutterkapitäne. Urban hatte sich schon an schöneren Frauen vergriffen. Er überwand sich, packte die Zweizentnerdame am Handgelenk und drückte ihr etwas in den Hüftspeck, das sich hart anfühlte, obwohl es nur sein Zeigefinger war. Die Alte fing zu zetern an. Er preßte ihr den Mund zu. Aber es kam noch so etwas heraus wie ein Ton. Der wirkte wie eine Sirene. Im Parterre und oben sprangen die Türen auf. Mädchen in allen Haut- und Haarfarben, von bekleidet bis gar nichts an, stürzten heraus. Urban musterte sie der Reihe nach. »Adeline!« rief er. Eine mit blonder Lockenperücke nickte. »Komm runter, und ich lasse sie frei.« »Wozu, sie hat’s doch gern«, kicherte eine Algerierin. Urban ließ die Dame des Hauses trotzdem los. »Ich rufe die Polizei«, schrie sie. »Ich bitte darum, Madame«, sagte Urban, was sie sofort mißtrauisch machte. 44
Sie leerte ein Glas Cognac und verschwand in ihrem Büro. Urban hastete die Treppe hinauf. »Muß mit dir reden, Adeline.« Wie es aussah, hatte das Mädchen mehr Angst als reines Gewissen. Kaum war die Tür hinter ihnen zu, warf sich die kleine Nutte aufs Bett und fing an zu heulen. »Man feuert mich hier raus«, jammerte sie in einem fort, »sie zerschneiden mir das Gesicht, sie halten mich für einen Spitzel.« »Was du ja auch bist.« Urban wurde ganz kühl, er fror praktisch ein. »Das ist Erpressung.« »Du bist immer gut bezahlt worden, oder?« Sie hob den Kopf. Die Perücke war verrutscht. Ihr Haar darunter schimmerte dunkelbraun. Wußte der Teufel, warum sie eine Perücke trug. Ihre Augen waren weder rot noch verheult. Eine kleine Schauspielerin also, diese Adeline. Dann sah er aber doch Tränen in ihren Augen. »Mitgegangen, mitgehangen«, sagte Urban. »Aber wir lassen dich nicht fallen.« »Das hat die Dame aus Paris auch versprochen.« »Madam Pireau?« »Und sie hat nicht Wort gehalten.« »Wie könnte sie«, fragte Urban, »wenn man sie daran hindert.« Adeline erkannte den Fehler, den sie gemacht hatte und verstrickte sich in Lügen. 45
Urban ließ sie reden, bis es ihm zu bunt wurde. »Hör auf mit dem Blech. Ich bringe dich hier weg. Hilf mir, Madame Pireau zu finden, und du kriegst einen prima Job.« »Ich tauge zu nichts anderem.« »Wo ist Madame Pireau?« »Weg, seitdem wir uns trafen.« »Um über den Matrosen zu sprechen?« »Madame la Patrone sah uns zusammen.« »Pack deinen Koffer«, entschied Urban. »Die paar Klamotten.« Sie warf alles, was im Schrank lag, in einen großen Leinenbeutel mit Schottenmuster. Urban zog sie die Treppe hinunter und betrat mit ihr das Büro. Madame la Patrone legte gerade den Telefonhörer auf. »Ich nehme an, daß Sie eine Art Schutzgebühr an die Polizei entrichten«, erklärte Urban. »Aber gegen Kidnapping hilft keine noch so große Summe. Letzte Chance für Sie. Wo ist Madame Pireau?« Obwohl die rote Laterne noch immer nicht brannte, wurde Madame plötzlich freundlich, als hätte das Telefongespräch einen entscheidenden Einfluß auf den Zusammenhalt der Einwohner von St. Malo und Umgebung ausgeübt. Urban gewann den Eindruck, daß sich in den Quadersteinen Risse bildeten. Die alte Vettel rang theatralisch die Hände. »Es ist eine Katastrophe, was in meinem Haus geschieht«, rief sie künstlich empört, »und das alles ohne mein Wissen! Ich erfahre erst jetzt davon, Monsieur. Ich schwöre Ihnen… mon dieu!« 46
»Was?« fragte Urban. Sie grapschte einen Schlüsselbund vom Haken, eilte durch das Erdgeschoß eine gewundene Kellertreppe abwärts in eine feuchte nach Wein duftende Kühle. Unten im grauen Licht öffnete sie einen Verschlag. »Voilà!« Mit ›Voilà‹ meinte sie ein Rechteck von sechs Quadratmetern, ein Feldbett, einen Stuhl, einen Eimer, einen Wasserkrug und die Frau, die auf dem Bett saß, den Rücken gegen die Wand gelehnt. »Hallo!« rief Urban. »Hallo!« antwortete Anna kleinlaut. Man muß Laien und Profis mischen, erinnerte sich Urban an das Chefrezept, weil Profis von Laien eine Menge lernen können. »Kannst du gehen?« erkundigte er sich. »Mir fehlt nichts, außer einer Dusche und was zu essen.« »Und einer gehörigen Portion Wut im Bauch.« »Was bringt das?« fragte die gescheiterte Nachwuchsagentin. Minuten später saßen sie in Urbans BMW und fuhren Richtung St. Malo. »Erklär mir das alles«, bat sie Urban. »Wenn ja, wozu?« »Weil Profis von Laien lernen können.« »Der Laie bist du, Dynamit«, höhnte Anna mit der Codenummer hoch in den Dreißig. »Mich zu befreien war höchst unnötig und außerdem absolut idiotisch.« 47
»Befehle sind oft idiotisch.« »Erfahrene Altagenten müssen in der Lage sein, das zu unterscheiden.« »Hätten wir dich hier weiter schmoren lassen sollen?« Die rothaarige Anna lächelte kopfschüttelnd. »Dieses dreckige Kellerloch hätte ich schon nach einer Minute verlassen können. Schlösser dieser Art öffne ich mit dem langen Fingernagel.« Obwohl er allmählich den nötigen Durchblick bekam, bemerkte Urban: »Und warum hast du es nicht gemacht?« »Weil ich nicht wußte, wo Hirondaux steckt.« »Der Matrose?« »Adeline wollte mir die Adresse besorgen. Der Junge wohnt irgendwo in der Nähe. Ab und zu kommt er vorbei und schüttet bei ihr für hundert Franc sein Herz aus.« »Wie oft kam er?« »So zweimal im Monat«, ließ sich Adeline von hinten vernehmen. »Wie lange war er schon nicht mehr da?« »Drei Wochen.« »Wird ihm doch nichts zugestoßen sein«, spottete Urban. »Hirondaux war sicher«, fuhr Anna fort, »solange ich im Keller saß. Deshalb blieb ich auch dort hocken. Aber von den Herren Profis hat das ja keiner kapiert.« Urban schaltete jetzt ziemlich schnell. Das Telefongespräch der Puffmutter und ihre Bereitwilligkeit, Anna freizugeben, ließ einen bösen Verdacht in ihm keinem. 48
»Dann nichts wie hin zu Hirondaux.« »Wo zum Teufel wohnt er, du Superschlauer?« »Frag Adeline«, riet ihr Urban, »sie hat dich nur hingehalten. Merkst du das nicht?« Im Rückspiegel sah Urban die Französin zusammenzucken. »Egal, wer dich unter Druck setzt, Adeline«, drohte Urban, »gegen den Druck, den ich ausüben werde, wenn du den Schnabel nicht auftust, war das andere eine Wohltat. Sag uns, wo der Matrose haust, oder du lernst mich von meiner schlimmsten Seite kennen!« Schließlich bekam er die Adresse. Der Matrose wohnte in Saint Servan. »Nicht, daß Laien voll Profis besonders viel lernen könnten«, wandte sich Urban an Anna, »aber jetzt müssen wir uns beeilen, schätze ich.« * Er hatte wirklich nichts unversucht gelassen, den Fall aus der Hüfte heraus zu schießen. Aber ein anderer hatte schneller gezogen. Und getroffen. Als sie in dem kleinen Haus in der schmalen Gasse nach dem Matrosen fragten, sagte eine Nachbarin, er sei krank. »Liegt er im Bett?« wollte Urban wissen. »Im Krankenhaus.« »Seit wann?« Die Nachbarin wirkte ein wenig ratlos. 49
»Vor ’ner Stunde wurde er abgeholt, Monsieur.« »Dann muß es sich um eine akute Erkrankung handeln.« Urban fuhr gleich weiter zum Hospital. Er verließ es schon wenige Minuten später. Wieder im Auto, steckte er sich eine MC an und rauchte stumm vor sich hin. »Was ist?« fragte Anna besorgt. »George Hirondaux ist tot. Unfall. Angeblich brachte er sich beim Pistolenreinigen versehentlich einen Kopfschuß bei. Das war’s, Herrschaften.« »George hatte gar keine Pistole«, gestand Adeline unter Tränen. Urban fuhr herum. »Wenn du das so genau weißt, weißt du noch mehr. Du hast uns die ganze Zeit nur hingehalten.« Die kleine Nutte fing jämmerlich zu heulen an. »Was kann ich dafür.« »Sie schickten einen Killer«, kommentierte Anna die Nachricht. »Der war schon unterwegs«, befürchtete Urban. »Aber wem lag daran, daß Hirondaux starb? Seinem Arbeitgeber, dieser Wrackbergungsfirma, oder anderen Leuten?« »Vielleicht fühlte er sich verfolgt, kaufte sich eine Pistole und konnte mit dem Ding nicht umgehen.« Urban fand, daß diese Überlegungen nicht weiterführten. »Was wißt ihr über die U-Boot-Geschichte? Warum wurde George entlassen?« »Die Van-Dyckens-Reederei in Rotterdam, sie verfügt 50
über zwei Bergungsschiffe und mehrere Hochseeschlepper«, erklärte Anna, »heuerte ihn als Taucher und Autogenschweißer an.« »Van Dyckens hob das alte Weltkriegsboot.« »Bei den Faröerinseln. Die Mannschaften der Bergungsschiffe werden ähnlich wie in der Hochseefischerei nach Anteilen bezahlt. Hirondaux erhielt einen festgelegten Promillesatz aus jener Summe, die bei der Verwertung des Wracks als Stahlschrott zu erzielen war. Damit gab er sich nicht zufrieden.« »Er wollte auch seinen Anteil an der Ladung.« »Man versuchte den Männern weiszumachen, daß es sich um wertlosen Ballast handle. Aber George Hirondaux wußte es offenbar besser.« »Und wiederholte seine Forderung.« »Deshalb feuerte man ihn.« »Er aber konnte den Mund nicht halten und plauderte überall herum, daß man ihn beschissen hatte.« Urban wandte sich jetzt an Adeline: »Erzählte er dir von der Ladung?« Adeline erinnerte sich bruchstückhaft. »Angeblich war das Boot vollgestopft mit Jutesäcken, wie sie früher zum Kohlentransport verwendet wurden. Aber sie enthielten keine Kohle, sondern ein silbriggraues Material, körnig bis schottergroß. Nachdem die Dykkens-Leute das Boot abgedichtet, leergepumpt und gehoben hatten, wurde es von den Schleppern auf den Haken genommen und weggebracht. Vielleicht nach Schottland. Keiner wußte genau, wohin.« 51
Der französische Matrose hatte bei dem Freudenmädchen mehr als nur sein Herz ausgeschüttet. Er hatte ihr nächtelang Geschichten erzählt und wohl einiges Seemannsgarn drumherum gesponnen. Bis jetzt war den Einzelheiten nicht zu entnehmen, worum es sich bei der Ladung handelte. Urban wußte aber, daß im zweiten Weltkrieg bisweilen U-Boote und Transportflugzeuge zur Herbeischaffung von raren Erzen und Naturgummi eingesetzt wurden. Vor dem Krieg waren nicht nur im Inland, sondern auch weltweit verstreut geheime Lager mit Rohstoffen angelegt worden. Zum Teil mußten diese Lager noch existieren. Ebenso wie es noch napoleonische Depots in Ägypten und Rußland oder Vorratslager von Expeditionen im Himalaja, am Amazonas und in der Antarktis gab. Soweit man ihren Lageort nicht kannte, würden sie auch niemals geleert werden, es sei denn, man entdeckte sie durch Zufall. So wie dieses Transport-U-Boot. »Oder«, beendete Urban seinen Gedankengang halblaut, »es war ganz anders.« »Wie?« fragte Anna. Urban teilte ihr auf deutsch seine Überlegungen mit. »Oder es existieren doch gewisse Aufzeichnungen. Irgend jemand fand sie beim Aufräumen.« Nun steuerte die Agentin Nr. 36 bei, was sie im Zuge der Ermittlungen im Hauptquartier herausgefunden hatten. »Über geheime deutsche Rohstoffreserven im Ausland gab es ziemlich genaue Unterlagen, was in einem nach preußischen Ordnungsprinzipien organisierten 52
Beamtenstaat auch gar nicht anders denkbar ist. Aber die Akten kamen bei der Besetzung Berlins abhanden.« »Sie wurden kassiert.« »Mit Sicherheit.« »Aber von wem? Von den Russen?« »Außer den Russen sitzen noch drei andere Besatzungsmächte, pardon Schutzmächte, in Berlin.« »Die Russen scheiden wohl aus. Wenn die DyckensReederei einen Tip bekam, dann nicht von östlicher Seite, sondern aus. dem Westen. Hier muß man nachfassen.« »Wenn Pullach es verlangt.« »Schätzchen«, Urban seufzte, »man hat mich nicht losgeschickt, um dich herauszupauken, weil du so hübsch bist, sondern weil der ganze Komplex brisant zu werden scheint.« In St. Malo setzte er die Mädchen vor der UniversumBar ab. »Kümmere dich um Adeline«, sagte er noch. Mit so viel Gefühl, wie es nur eine Frau gegenüber einer anderen Frau aufbringen konnte, fragte Anna: »Und wie stellt man sich das vor?« »An ihren alten Arbeitsplatz kann sie nicht zurück. Laß dir etwas einfallen. Nimm sie mit nach Paris, vielleicht hat die Residentur einen Job für sie.« »Und du«, motzte Anna, »hältst dich da raus, machst einfach eine Fliege.« »Abgesehen davon«, rief Urban aus der halboffenen Tür, »daß die Reinigung des Arbeitsplatzes Sache des Lehrjungen und nicht des Meisters ist, habe ich wirklich etwas Wichtigeres zu tun.« 53
»Fortsetzung des High-life in Sylt«, ergänzte sie anzüglich. »Merk dir eines, Schlaumeier«, riet ihr Urban, »aufhören kann man nur, wenn man gewinnt. Und nicht, wenn man auf dem Verlierergleis fährt.« Er zog die Tür zu und drückte die Automatic auf D. 4. »Weiter beobachten!« befahl der breitschultrige Hüne, dessen massigen Schädel blaugraues Haar wie ein Karakulpelz bedeckte. Mit der Hand, die das Telefon auflegte, führte er das Glas zum Mund, trank, bis nur noch Eis darin war, und ging dann hinaus zur Terrasse. Dort saß einer, der sein Bruder hätte sein können, und blickte hinunter aufs Meer. Aus einem beschlagenen Krug gossen sie sich vorfabrizierte Martinis ein. »Ist das nicht Kükenkram?« fragte der im Rattansessel. »Geld ist nie Chickenshit.« »Kommt auf die Menge an. Nach einem Centime würde ich mich nicht mehr bücken.« »Es gab sehr wohl Zeiten«, antwortete der, der eben noch telefoniert hatte, seinem Partner, »da bückten wir uns sogar nach einer Ami-Kippe.« »Ich erinnere mich nicht mehr daran«, erwiderte Rabol. »Ich schon«, gestand Marc. »Du hast das bessere Gedächtnis oder einfach mehr Angst, daß es dir wieder schlechtgehen könnte.« »Das macht vorsichtig.« 54
»Und zum Kükenkrämer«, spottete Rabol. Marc, sein Partner, stand noch immer, auch wenn sein Glas jetzt wieder voll war. »Hör zu, Rabol«, sagte er, eine barsche Erwiderung unterdrückend, »wir sind hier, um uns zu erholen. In diesen Wochen ist Paris ohnehin eine abgeweidete Steppe. Aber es wird wohl nicht verboten sein, die Geschäfte an der langen Leine zu führen. Du weißt, daß man drei Nadeln einfädeln muß, um mit einer nähen zu können. Ist nun mal sehr spröde, das Material, das wir verarbeiten. – Du nennst mich ängstlich. D’accord, das bin ich. Einer, der so oft vom Sensemann rasiert wurde, wird einfach so, oder er ist dumm. – Aber…« Geschickt hatte er das ›aber‹ angefügt, um das Wort ›dumm‹ nicht zu stark wirken zu lassen. »Aber?« fragte Rabol. »Ich höre auch das Gras wachsen.« »Und wo wächst es deiner Meinung nach unbotmäßig? Bei diesem Chickenshitter etwa?« Marc setzte sich, steckte sich eine Zigarre an und leerte den neuen Martini bis zu den Eiswürfeln, die jetzt allerdings schon kleiner waren. »Wenn einer vor drei Monaten zweimal hunderttausend Franc Schulden hatte und sie ruckzuck abbezahlt, obwohl er nur siebentausend verdient, dann hat er eine Quelle auf getan oder eine Druckerei, oder er weiß etwas. Und das interessiert mich.« »Geerbt hat er.« Marc lachte leise, aber anhaltend. »Von wem? Der Junge kommt doch aus derselben Ecke 55
wie du und ich. Der erbt so wenig wie wir beide zusammen in tausend Jahren. Wenn die Weltbevölkerung mit einem Schlag um neunzig Prozent verringert würde, dann würden alle Überlebenden pausenlos nur erben, außer uns beiden und diesem André Montagne.« »Die ersten Fünfzigtausend tilgte er mit einer Provision aus Italien.« »Und den großen Brocken, womit deckte er den ab?« »Der Junge ist voll im Computergeschäft.« »Als Denker, als Analytiker, als Programmierer vielleicht, aber nicht im Handel, nicht im Verkauf, wo das dicke Geld gemacht wird.« »Ein kleiner Fisch«, tat Rabol das ganze ab, »vergiß ihn, genieße lieber den Sommer, das Haus, das Boot, die Jagd, die Frauen.« »Bon«, sagte Marc, »und was, bitte, tun wir im Herbst?« »Die Geschäfte laufen doch.« »Wenn immer nur die alten Geschäfte laufen, ist das Rückgang.« »Sie sind todsicher.« »Aber die neuen sind reizvoller und bringen den Gewinn. Außerdem steigen die Kosten.« »Und auch die Einnahmen. Ich bin zufrieden.« »Du bist alt, du bist bequem, obwohl du erst fünfzig wirst.« »Na schön«, lenkte Marcs Partner ein, »wenn es dir Spaß macht, dieses Würstchen beobachten zu lassen, dann tu’s.« 56
»Besser, unsere Leute in Paris bleiben in Übung, als daß sie auf der faulen Haut liegen.« »Ist es gut, dann ist es gut, ist es nichts, dann ist es eben nichts.« »Ich habe da so ein Gefühl«, deutete Marc an. »Daß die Mädchen kommen«, ergänzte Rabol. Man hörte einen Wagen herauf brummen. Nach einiger Zeit wurde ein großes amerikanisches Cabrio mit vier Damen darin in der Einfahrt sichtbar. Sie kamen vom Strand. Braun, mit sehr winzigen Bikinis bekleidet, die außerdem noch aus dem neuen durchsichtigen Material gefertigt waren. Der Wagen hielt, und die Mädchen stürzten sich auf die eiskalten Cocktails. * Je weniger der Franc wert war, desto besessener kauften die Leute. Sie machten Schulden auf Teufel komm raus. Unter anderem auch bei der Finanzierungsgesellschaft von Marc & Rabol. Von den Wucherzinsen, die sie nahmen, lebten die Inhaber herrlich und in Freuden. Damit die Zinsen regelmäßig hereinkamen, beschäftigten Marc & Rabol ein Team von harten Jungens, die schnell mit den Fäusten zur Stelle waren, die, wenn nötig, verdammt hart zuschlugen, die je nach Höhe der Schulden auch das Messer zeigten und in ganz schweren Fällen einem Schuldner auch mit der geladenen Schrotflinte zur Zahlung ermahnten. 57
Doch damit war die Organisation nicht ausgelastet. Deshalb hatte sich eine Unterabteilung von Marc & Rabol auf das Betreiben von Geldern im Namen anderer Banken spezialisiert. Das brachte bis zu dreißig Prozent der kassierten Beträge. Ein Geschäft, das sich von Jahr zu Jahr vergrößerte. Darüber hinaus befaßten sich Marc & Rabol mit allem, was das investierte Kapital möglichst verdoppelte. Ob es nun Immobilien waren, der Warenterminhandel oder ein bißchen Hehlerei. Auch Burschen wie André Montagne, die sich aufführten, als wären Millionen in ihren Schoß gefallen, gehörten dazu. Wieder klingelte das Telefon. Marc ging hinein. Damit keiner seiner Gäste lange Ohren machte, ließ er die Panoramascheibe aus der Versenkung nach oben surren, was sie vollelektrisch tat. Mit einem deutlichen Klick rastete sie ein. Rabol sah ihn mit weitausholenden Armbewegungen sprechen und dabei auf und ab gehen. Rabol war beruhigt. Bei Marc lagen die Geschäfte in ebenso bewährten Händen wie bei ihm. Auf Marc konnte man sich verlassen. Er war ein Aufreißer, aber auch vorsichtig abwägend, wenn es darum ging, Entscheidungen zu fällen. Und Marc hatte keine Geheimnisse vor ihm. Nach Mitternacht, als alle Gäste zu Bett gegangen waren, trafen sich die Partner am Swimmingpool. Während sie gemächlich ihre Runden zogen, berichtete Marc. »Sie haben bei Montagne die Tausend-zu-eins-Möglichkeit eines Erbonkels in Amerika gecheckt. Ergebnis negativ.« 58
»Hat er sich etwa nur umgeschuldet und anderswo ein Loch aufgemacht?« »Gegenteil. Sein Kontostand bei der Credit Lyonnaise beläuft sich immer noch auf vierzigtausend.« »Was ist das schon.« »Dollar!« Rabol pfiff. Bei Dollar vervierfachte sich die Francsumme mit einem Schlag. »Wer ist das Huhn, das goldene Eier legt?« »Außer bei diesem Italiener hat er keine Computerberatung durchgeführt.« »Wo lernte er den Commendatore kennen?« »Auf einer Bankiersyacht in Dieppe. Ist schon Monate her.« »Wer war noch da?« »Wird überprüft.« »Was hält ihn bei der Sommerhitze in Paris?« »Ein Auftrag des Verteidigungsministeriums.« »Die machen doch alle Ferien.« »Offenbar eine Terminsache. Sämtliche Uraltakten werden in elektronische Datenbanken eingespeichert.« »Ob sein plötzlicher Reichtum damit zusammenhängt?« tippte Rabol. Marc hatte genug vom Schwimmen. Er hängte sich an die Stange und ließ sich von der Gegenstromanlage den Bauchspeck massieren. »Von seinen alten Freunden kommt der Goldregen bestimmt nicht.« »Was sind das für Leute?« 59
»Montagne trifft sich in letzter Zeit auffällig oft mit zwei Typen. Der eine ist Ex-Capitaine der Luftwaffe, Düsenjägerpilot. Er flog die Mirage. Der andere ist Sportartikelvertreter und Bergsteiger.« »Expilot und Bergsteiger, das sind keine Berufe«, wandte Rabol ein. »Aber Holz, aus dem man Abenteurer schnitzt. Die Knaben werden ebenfalls noch überprüft.« »Durchsucht Montagnes Wohnung«, riet Rabol. »Die hat seit einem Monat vier Schlösser wie ein Tresor plus Alarmanlage.« »Und wir haben Spezialisten. Ich würde ihm kurzerhand ein Messer an den Knorpel setzen.« »Das heben wir uns für zuletzt auf.« »Wenn wir wissen, was läuft.« »Oder wenn wir es nicht herausfinden sollten, was ich für unwahrscheinlich halte.« »Ich bin neugierig«, gestand Rabol, »es wird spannend.« »Dieser Montagne verhält sich auf irgendeine Weise geheimniskrämerisch«, ergänzte Marc seine Ausführungen. »Früher war er immer wie aus dem Ei gepellt. Heute läßt er seinen Porsche schon mal ungewaschen stehen und trägt dasselbe Hemd sogar länger als einen halben Tag. Da muß doch Einschneidendes passiert sein. Welches Ereignis änderte dermaßen seine Gepflogenheiten, ja, seinen ganzen Stil.« »Warten wir es ab«, schlug Rabol vor. »Ich muß morgen nach Marseille, wegen dieser Diamantengeschichte.« 60
»Ich würde nicht höher gehen als bis 25 Prozent des Marktpreises.« »Ich sehe mir die Steine an.« »Vergiß nicht, wir müssen sie im Safe lassen, bis Gras darüber gewachsen ist, also mindestens zwei Jahre. Bis dahin kann der Preis unten sein.« »Nicht bei Diamanten.« »Sei vorsichtig«, riet ihm sein Partner, »und komm gleich zurück. Ich fürchte, einer von uns muß demnächst nach Paris.« Sie kletterten aus dem Pool. Als sie zum Haus hinaufgingen, kamen sie an der Hollywoodschaukel vorbei. In die Polster gekauert lag eine dunkelhaarige Frau und schlief. Die Schaukel bewegte sich sanft. Marc berührte das Mädchen an der Schulter. »Komm ins Haus, Manon«, sagte er, »es wird kühl.« Daß Manon sie belauscht haben könnte, auf die Idee kam er gar nicht erst. Manon hatte nicht nur sein volles Vertrauen, sie genoß mehr davon, als er einer anderen Frau je geschenkt hätte. * »Da laufen seltsame Vorbereitungen«, meldete Marcs Statthalter aus Paris. »Was verstehen Sie unter seltsam?« fragte Marc scharf. Er duldete keine Ungenauigkeiten. Und Vermutungen haßte er ebenso wie unbewiesene Behauptungen. »Dieser Montagne treibt neuerdings Sport.« 61
»Was ist dabei?« »Der war doch bisher der absolute Antisportler, wenn man von ein bißchen Fischen, Segeln und Gasgeben absieht.« »Was tut er?« »Morgens schon in aller Frühe macht er Dauerläufe, obwohl die ganze Nacht Licht in seiner Wohnung brennt. Anschließend schindet er sich in einem BodyBuilding-Studio an den Muskelmaschinen, als gelte es, Weltmeister zu werden.« »In was?« »Sieht aus wie ein Abhärtungsprogramm für einen Kongotrip, Monsieur«, fuhr der Anrufer fort. »Und was seine Freunde betrifft, Noel und Balmain, so hat sich bei denen auch einiges geändert. Der Ex-Capitaine, der von seiner knappen Pension lebt, sucht ein kleines Flugzeug, und der Bergsteiger kauft Afrikakarten und Expeditionsausrüstungen zusammen, wo er sie billig kriegen kann.« »Wenn da nur eine Saharafahrt geplant ist«, drohte Marc, »und ihr macht Sturm aus Wind, dann trete ich euch in den Hintern. Sollte aber mehr dahinterstecken, dann gibt es Prämien. Also, Augen und Ohren auf und immer in Deckung bleiben.« »Warum hocken die drei nächtelang in Montagnes Bude zusammen?« »Abwarten«, sagte Marc. »Noch ein paar Fakten, und wir schnappen ihn und drehen ihm die Luftzufuhr ab.« »Bis morgen, Patron«, sagte der Anrufer. Ungeduldig erwartete Marc die Rückkehr seines Part62
ners aus Marseille. Sie zog sich noch einige Tage hin. Als Rabol schließlich in Antibes aufkreuzte, sah das Diamantengeschäft so vielversprechend aus, daß sie beide nach Marseille mußten. »Paris verlangt uns auch dringend.« Marc weihte den Partner in die neuesten Entwicklungen ein. »Was heißt dringend?« »Damals, bei dem Bankiersdiner auf der Yacht in Dieppe, lernte Montagne einen Bergungsreeder aus Rotterdam kennen«, berichtete Marc. »Van Dyckens soll ein deutsches U-Boot gehoben und Millionen damit gemacht haben. Wenn der Tip von Montagne kam, hat Montagne noch mehr auf Lager und arbeitet jetzt auf eigene Rechnung.« Da sie in Marseille zu tun hatten, beschlossen sie, in Paris anders vorzugehen. Nicht mit brutaler Gewalt, sondern mit List. »Montagne steht auf langbeinige Ladys«, sagte Marc, »nicht auf blutjunge, mehr auf Damen um die Dreißig, elegant, gebildet, Jet-Set.« Sein Partner hatte verstanden. »Haben wir so was auf Lager?« Marc nickte und machte eine Kopfbewegung zum Tennisplatz hinüber, wo sich zwei ihrer Mädchen gerade austobten. »Silvie?« fragte Rabol. Marc winkte ab. »Silvie ist nicht intelligent genug. Aber Manon hat alles.« 63
»Ob du Manon trauen kannst? Wie lange kennst du Silvie, und wie lange kennst du Manon?« »Sivlie ist mir auf den Bahamas zugelaufen, vor zwei Jahren.« »Und Manon im Winter in St. Moritz.« »Von zugelaufen kann keine Rede sein. Ich habe sie einem Verleger aus London ausgespannt. Sie ist eine Lady.« »Um so weniger begreife ich«, äußerte Rabol vorsichtig. »Sei mir nicht böse deswegen, mon ami, daß sie so anhänglich ist.« »Bin ich häßlich?« fragte Marc. »Du bist nicht schöner als andere.« »Ich habe Geld. Geld macht sexy.« »Es gibt reichere Männer als dich.« »Und klügere meinst du. Kluge Frauen wie Manon machen um kluge Männer einen Bogen. Sie lieben mehr das animalische.« »Bist du animalisch?« fragte Rabol augenzwinkernd. Marc verfiel in Nachdenken. Im Grunde hatte er über sein Verhältnis zu Manon nie besonders nachgedacht. »Es gibt schönere«, zählte er zusammen, »reichere, witzigere Männer. Warum ist sie so anhänglich? Geld hat sie selbst und einen attraktiven Beruf auch. Die Möbel, die sie entwirft, findest du sogar im Harem von König Faisal.« »Sie hat ihr Dessinstudio längst aufgegeben. Sie amüsiert sich nur noch. Warum aber ausgerechnet mit dir?«
64
»Es ist«, sagte Marc in weiser Selbsterkenntnis, »das halbseidene Milieu, in dem wir uns bewegen.« . »Nach außen hin kann uns keiner was anhaben. Und was wirklich läuft, ist hier…«, Rabol deutete auf seinen Kopf, »… und dort«, Rabol deutete auf Marcs Kopf, »verschlossen«, beendete er seinen Satz. »Aber unter der Hand hält man uns für Gangster.« »Auch da gibt es größere.« »Ja, in Sizilien und in New York.« Nach längerer Pause fuhr Marc fort: »Wie immer liegt die Wahrheit in der Mitte. Was Manon an mir reizt, ist die Mischung aus allem. Die ideale Mittelmäßigkeit, die ich verkörpere.« »Man kann es nicht anders erklären«, stimmte ihm Rabol zu und segnete damit Marcs Idee, Manon nach Paris zu schicken, ab. »Wie du sie dazu bringst«, schränkte er ein, »das ist allerdings deine Sache.« »Mit dem Kitzel des Neuen«, hoffte Marc. »Leg ein paar Brillanten dazu«, riet ihm sein Partner. * Am nächsten Morgen brachte Marc Manon zum Flugplatz. Sie sah so umwerfend aus wie immer, wie eine spanische Tänzerin aus den Händen eines Mailänder Modeschöpfers. »Du tust mir einen außerordentlichen Gefallen damit«, betonte Marc noch einmal. 65
»Dafür ist man befreundet«, antwortete Manon in ihrem leicht britisch gefärbten Französisch. »Der Junge schuldet unserer Bank eine Million Franc.« »Er bekam sie ohne Sicherheit?« »Mein Prokurist muß verrückt gewesen sein. Er räumte ihm auf seine blauen Augen und sein perfektes Mundwerk hin immer höhere Kredite ein.« »Du solltest dich von deinem Prokuristen trennen«, erwiderte Manon. Marc lachte in kurzen Stößen. »Er weiß ein bißchen zuviel.« »Und worauf gründet sich deine Hoffnung, daß du eines Tages doch noch zu deinem Geld kommst?« »Dieser André Montagne ist Computerexperte.« »Die gibt es wie Flöhe an einem Hund.« »In jedem Gebiet der Technik, so auch im DV-Bereich, braucht man sogenannte Vordenker, Programmacher. Die einen entwickeln Programme für Schachcomputer, andere für Warenbörsen oder Wirtschaftscomputer, die auf Knopfdruck Vorhersagen erstellen. Je besser das Programm ausgetüftelt ist, desto genauer die Prognose. Dieser Montagne bastelt an so etwas. Ich traue ihm zu, daß er wer weiß was auf die Beine stellt, vielleicht einen Computer, der Schlager komponiert oder Bücher schreibt oder sich neue Parfummischungen ausdenkt. Solche Programme bringen ein Heidengeld. Um Montagne in den Griff zu kriegen, müssen wir wissen, woran er arbeitet.« »Um wieder an euer Geld zu kommen.« »Und dies, mein Schatz, wäre deine Aufgabe.« 66
»Das habe ich kapiert«, betonte die schöne dunkelhaarige Frau neben Marc im Maserati. »Bei unbegrenzten Spesen«, sagte Marc, »das ist selbstverständlich.« »Unbegrenzten Körpereinsatz setzt du ohnehin voraus.« »Was ist dabei, wenn du die Bluse ein bißchen weiter öffnest.« »Und die Beine auch«, fügte Manon kühl hinzu. Marc verblüffte ihre Offenheit. »Schätze, so etwas hast du noch nie gemacht.« »Nein, Spionin war ich noch nicht.« »Detektivin«, verbesserte sie Marc. »Der Reiz des Neuen schmeckt dir.« »Ich tu’s aus Freundschaft«, erklärte Manon noch einmal, »und weil es die Langeweile vertreibt.« »Und weil es deine Intelligenz fordert«, ergänzte Marc. Er blickte ihr nach, wie sie den Zubringerbus bestieg und zu der Paris-Maschine hinüberfuhr. Er winkte noch, aber sie sah es nicht oder wollte es nicht sehen. 5. Weil er wußte, daß Umwege oft eine Abkürzung waren, ließ sich Bob Urban von dem Taxi zum Rotterdamer Außenhafen durchlotsen. Dort lag der Hochseeschlepper einer deutschen Reederei und lauerte auf Beute. Der Kapitän des Schleppers ›Tatkraft‹ hieß Pierre 67
Schumski. Pierre war Reserveoffizier der Bundesmarine. Urban kannte ihn von gemeinsamen Manöverfahrten her. Als er in die Kajüte trat und Schumski ihn sah, ging er wortlos zur Ginflasche und goß zwei Gläser voll. Erst nachdem sie getrunken hatten, umarmte er Urban. Seine Worte waren in dem schauerlichen Gequäke von vier Funkgeräten kaum zu verstehen. Schumski schloß mit einem Fußtritt das Schott zum Funkschapp und rief: »Willkommen an Bord!« Urban quetschte sich hinter die Back auf das lederne Rundsofa. Schumski gab etwas in den Funkraum durch und setzte sich dann zu seinem Gast. »Sieht aus, als sei vor Den Helder ein Grieche havariert, aufgelaufen auf Untiefe. Jetzt wartet er das Mittagshochwasser ab und versucht freizukommen. Aber er kommt nicht frei. Ein Zwanzigtausendtonner mit Fullspeed in den Schlick gebumst, den zieht die eigene Maschine niemals wieder frei.« »Gute Ladung?« fragte Urban, denn vom Wert des Schiffes und der Ladung hing die Höhe der Bergungsprämie ab. »Kaffee aus Costarica und Fleisch aus Argentinien. Es würde sich lohnen.« »Und warum bist du nicht schon dort?« »Er zeigt sich noch hartleibig, der Grieche. Glaubt, es noch allein zu schaffen. Aber warten wir die Nacht ab. Sie haben Sturm gemeldet. Der schiebt seinen Pott vollends aufs Trockene. Dann wird er schnell Kontrakt machen, der Herr aus Piräus.« 68
»Keine Angst, daß dir ein anderer den Brocken wegschnappt?« fragte Urban. Kapitän Schumski deutete auf die Karten an der holzverschalten Wand. »Für den Job kommen nur Schlepper mit mindestens fünfzehntausend PS Leistung in Betracht ›Energie‹ und ›Ausdauer‹ liegen an der mittelamerikanischen Tankerroute. Zwei Holländer würgen schon seit einer Woche an einem Containerschiff herum, das vor Cornwall in den Klippen hängt, und die Norweger haben mit ihren Ölplattformen zu tun. Ich kann hier also in Ruhe abwarten, bis es um Hilfe schreit, das Bürschchen. Je höher ihm das Wasser in der Bilge steht, um so besser der Kontrakt. Los, trinken wir einen, Dynamit! Aufs Zigeunerleben!« Sie tranken noch einen. Behutsam kam Urban zur Sache. »Ich brauche dein Wissen als Kenner der Bergungsbranche, Pierre.« »Klar doch, daß du nicht zu Schumski kommst, um seine alten Witze zu hören.« Urban gab das Stichwort. »Van Dyckens.« Schumski hob die buschigen Brauen und massierte seine großporige Knollennase. »Dyckens ist einer von den größten. Will sich jetzt sogar an die gesunkene ›Andréa Doria‹ ranwagen.« »Erst kürzlich wagte er sich an ein altes Römischneun-U-Boot heran, wie ich hörte.« »Man munkelt so was.« 69
»Der Kruppschrott brachte nichts, aber die Ladung war top.« »Die Leichen von sechzig Seeleuten?« »Ein paar hundert Tonnen Chrom gehörten wohl auch dazu.« Schumski pfiff gedehnt. Dazu spitzte er nicht die Lippen, sondern erzeugte den Ton über die Zähne hinweg. »Sieht ihm ähnlich, dem Halunken. Sitzt ihm jetzt dein Geheimdienst im Nacken?« »Wir werden nur mit Mühe eine Handhabe gegen ihn konstruieren können. In erster Linie interessiert uns der Tipgeber. Wer wußte, wo dieses alte Transport-U-Boot lag, und woher wußte es Dyckens? Er kann es nur von einem gehört haben, der Zugang zu alten Marineakten hat. Sie verschwanden aus Berlin. Wer hat sie jetzt?« »Zu viele Fragen auf einmal.« »Ich muß einen von Dyckens Kapitänen sprechen«, erklärte Urban. »Wo finde ich sie?« Schumski bat ihn auf die Brücke. Draußen deutete er hinüber zum Dock, wo man ein Stück grauen Pier sehen konnte. In schwarzer Farbe stand es dort in großen Druckbuchstaben. »Dyckens«, las Urban ab. »Siehst du ein Schiff?« »Nicht eine Gemüsekiste.« »Die sind alle unterwegs. Weltweit, in allen Meeren eingesetzt.« »Wo ist Dyckens’ Büro?« »Der Bau dahinter.« 70
Es handelte sich um einen modernen Kasten aus Stahl, Glas und Beton. »Wie willst du an Dyckens rankommen?« »Einfach hingehen«, sagte Urban, »wenn er ein sauberes Gewissen hat, steht er Rede und Antwort. Könnte aber sein, daß er kein ganz sauberes Gewissen hat. Ein Matrose, der bei der Bergung von U-934 dabei war, wurde gefeuert, weil ihm die Abrechnung nicht paßte. Jetzt ist er tot.« »Dyckens ist kein Killer.« »Aber Millionär«, bemerkte Urban. »Er kann sich Killer kaufen.« Schumski trat wieder in seine Kajüte und begann zu telefonieren. Er rief unter irgendeinem Vorwand bei der Dyckens-Reederei an. Er hatte offenbar eine Bekannte in der Telefonzentrale. Schulterzuckend legte er bald wieder auf. »Dyckens weilt in Übersee.« »Und sein Stellvertreter?« »Die ganze Geschäftsleitung und das technische Team sind in New York. Sie verhandeln wegen der Andrea-Doria-Bergung.« Urban zog ein Gesicht, als habe es ihm alle Blüten verhagelt. »Soll ich einen Flug für dich nach New York buchen?« fragte der Kapitän, der genau wußte, für wen und in welchen Dimensionen Urban zu arbeiten pflegte. Statt dessen rief Urban München an.
71
Auf der Fahrt nach Paris, über das belebte holländischbelgische Autobahnnetz, ließ Urban noch einmal die Recorderkassette mit der Gesprächsaufzeichnung ablaufen. Pullach hatte zum Schlepper ›Tatkraft‹ zurückgerufen. Urban hatte alles mitgeschnitten. »Wo sind Sie?« fragte der Alte. »Rotterdam. Die zuständigen Van-Dyckens-Leute kriege ich nur in New York zu fassen.« »Vielleicht gibt es einen anderen Weg«, sagte der Alte. »Die Sache in Berlin, 1945, war höchst mysteriös.« »Sie meinen, wie die Akten der Marineleitung verschwanden.« »Erst gehörten sie den Russen. Die brauchten aber die Keller für ihre prominenten Gefangenen. Also karrten sie die Akten in eine Flugzeughalle in Tempelhof. Die Akten wurden vergessen, und Tempelhof wurde US-Sektor. Die Amerikaner entdeckten die Akten, fanden sie interessant und flogen sie aus.« »Wohin?« »Nach unserer Meinung gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder in ihre Besatzungszone nach Bayern oder in die USA.« »Letztendlich müßten die Akten bei der CIA in Washington gelandet sein«, erklärte Urban aus Erfahrung. »In Bayern wurden sie vielleicht kurzfristig gelagert, aber auswerten konnte man sie nur im Hauptquartier.« Er wollte damit sagen, faßt gefälligst beim großen Freund auf der anderen Seite des Atlantiks nach. Er sprach es nicht aus, es wäre auch unnötig gewesen. 72
»Wir haben alles versucht. Sowohl der Vize als auch ich haben mit den zuständigen Leuten gesprochen. Von alten Akten aus der Marineleitung Berlin ist drüben nichts bekannt.« »Weil die damaligen Bearbeiter längst pensioniert sind.« »Weil diese Akten niemals Washington erreichten«, versicherte Oberst Sebastian. »Wie man uns schwört.« »Dann sind sie eben in London.« »Ich habe auch mit MI-6 telefoniert. Lord Babington hat seinen zuständigen Oberarchivar kommen lassen. Die gesuchten Akten befinden sich auch nicht in Händen der Engländer. Man erinnert sich in der Prince Annes Gate aber eines Vorfalls, der für die Amerikaner äußerst peinlich war. 1952, auf dem Flug von Stuttgart nach New York, mußte eine Superconstellation der US-Army in Paris zwischenlanden, obwohl Gander in Neufundland vorgesehen war. Sie hatten Motorschaden, murksten daran herum und starteten trotz schlechten Wetters ohne Freigabe. Die Maschine stürzte irgendwo bei Le Havre brennend ins Küstenvorfeld. Die Franzosen haben das Wrack später geborgen. Angeblich fand man unter anderem Akten in feuerfesten Behältern. Die Akten wurden nicht herausgegeben, sondern sollen in den Safes der französischen Sicherheitsbehörden verschwunden sein.« »Sollen angeblich sein«, wiederholte Urban. »Immerhin wäre das einer Nachprüfung wert. Gelingt es uns, eine Verbindung Paris-Rotterdam herzustellen, dann…« 73
»Was dann?« fragte Urban weil der Alte nicht weitersprach. »Was haben wir Jetzt noch davon?« Endlich rückte der Chef damit heraus. »Angenommen, es gibt noch weitere Fundgruben ähnlich diesem U-Boot, dann kann dies aus den Akten hervorgehen, und wir wollten den Grabschändern zuvorkommen.« »Doch nicht wegen der paar Tonnen Chrom, Kupfer, Iridium oder Kobalt.« »Aber wegen der Gefahr, daß vergessene Depots mit Kampfgiften wie ›Soran‹ zum Beispiel entdeckt werden. So was wird immer gleich zum Tief schlag, weil die ganze Weltpresse aufheult, wenn es bekannt wird. Im Augenblick sind wir verdammt nicht scharf auf Tiefschläge.« »Danke für die präzise Order«, sagte Urban. »Wir sind hier der Meinung, daß es in Paris weitergeht.« »Im Bayrischen Wald wahrscheinlich nicht.« Urban vernahm ein Knackgeräusch im Band. – Aufzeichnung beendet. – Nachdem Urban das Gespräch noch einmal analysiert hatte, sah es in seinem Innenleben aus wie draußen. Plötzlich regnete es stark. Schlagartig war es so dunkel geworden, daß man am frühen Nachmittag volles Licht brauchte. Er reduzierte sein Tempo auf die für seine 70er Walzen angemessene Geschwindigkeit. Das Aquaplaning fing bei achtzig an und war bei hundert kaum noch beherrschbar. Also fuhr er nicht schneller als 130. 74
Noch zwei Stunden bis Paris. Wenn er an Paris dachte, an die große Stadt und an das staubige Bündel Akten, das er fort finden sollte, dann wurde ihm einiges klar. Sein Job war kein Job, sondern fast schon eine tragische Berufung. * »Lieber Freund«, sagte Bob Urban, »alle Polen, die mit ski enden, müssen zusammenhalten.« Der SDECE-Agent, Gil Quatembre, war weder Pole noch endete sein oder Urbans Name auf ski, aber er wußte, wie es gemeint war. Urban hatte ihm geholfen, eine ganze böse Sache in den Pyrenäen zu meistern, also stand er in seiner Schuld. Daß der konfirmandengesichtige Gil die Drinks in der Montparnasse-Bar bezahlte, damit war es nicht abgetan. Urban erklärte ihm genau, womit er aus der Kreide käme. »Ich brauche Einblick in alte deutsche Geheimakten über Rohstoffdepots. Anleger der Akten waren die Marineleitung und die oberste Heeresführung, 1939-44 Berlin. Danke für die freundliche Unterstützung.« Gil seufzte schwer. »Wo soll ich ansetzen?« »Bei euch oder beim Staatsarchiv.« »Kein Problem, wenn ich schon pensionsberechtigt wäre. Dann würden sie mich mit halben Bezügen in den vorläufigen Ruhestand versetzen, falls sie mich dabei kriegen. Aber so…« 75
»Keine Angst, du bist ein Spitzenmann. Um Leute wie dich reißen sie sich in Addis Abeba und Timbuktu.« »In Paris leider weniger.« Gil ließ sich vollaufen. Spät brachte ihn Urban nach Hause. Gil lallte in einem fort: »Ich verfluche den Tag, der uns zu Freunden machte.« Das meinte er keineswegs ernst. Ohne Urban hätte er in mindestens zwei Fällen nicht überlebt. In den folgenden vierundzwanzig Stunden hörte Urban nichts von Gil. Vermutlich brauchte er allein zwölf Stunden, um seines Katers Herr zu werden. In dieser Zeit blieb Urban nicht untätig. Er aktivierte andere Kontakte in Paris, drehte an allen möglichen Schrauben und spannte auch die Partyhengste von der Residentur ein. Das Ergebnis war erschreckend. Die widersprüchlichen Ermittlungen mußten mit weniger als Null bewertet werden. Als Urban in Gedanken schon ein Gespräch formulierte, um Oberst Sebastian zu offiziellen Schritten Bonns in Paris anzuregen, rief ein zerquälter Typ an. Mit einer Stimme, als habe er Hundehaare gegurgelt, sagte Quatembre: »Der Service de Documentation Exterieure et de Contre-Espionage, mein Arbeitgeber also, hat nichts Diesbezügliches.« Mit ›Diesbezügliches‹ meinte er Urbans Anliegen. »Wo sind die Fetzen dann abgeblieben?« »In einem Archiv in einem Ministerium.« 76
Gils Antwort erinnerte Urban an einen Romantitel der Sagan: Im letzten Sommer im letzten Jahr – oder ähnlich. »In welchem Ministerium?« faßte Urban nach. »Verteidigung.« Früher hatten die Länder diesen Einrichtungen einen ehrlichen Namen gegeben, den Namen, der ihnen zustand: Kriegsministerium. Aber bei der Friedensheuchelei neuerdings hießen sie Verteidigungsministerien. »Bist du sicher?« »Ganz.« »Wie komme ich an das Material?« »Nicht einmal mit Erlaubnis des Staatschefs.« »Armes Frankreich.« »Glückliches Frankreich«, antwortete Gil. »Der ganze Mist wurde nämlich vernichtet.« Urban bezweifelte das. »Beamte zerstören keine Akten. Das wäre für sie wie Selbstmord.« »Stimmt«, Gil rückte jetzt mit der Wahrheit heraus, »man hat die Akten vorher in winzige Teilchen zerlegt. In Minus und Plus, Bits genannt. Sie wurden elektronisch gespeichert. Natürlich nur die wichtigsten«, schränkte er ein. »Und wo ist die undichte Stelle?« fragte Urban. »In französischen Ministerien gibt es keine undichten Stellen.« »Schön, wer hat sie dann von außen angebohrt?« »Frag mich nach den Kreuzzügen, frag mich nach napoleonischen Reformen, frag mich nach der Jungfrau von Orleans, aber frag mich nicht danach.« 77
Urban stellte eine Querkombination an. »Die Übertragung auf EDV muß eine Privatfirma auf dem Dienstleistungswege erledigt haben.« »Sicher.« »Welche Firma?« Urban erfuhr einen Namen. IE – Internationale Electronique. Gil hatte den Namen, also hatte er sich auch Gedanken darüber gemacht. »Und wer ist der beste Mann dort?« »Ein gewisser André Montagne.« »Typ?« »Gigolo, Stenz, Angeber, Windmacher.« »Lebt er über seine Verhältnisse?« »Weit.« »Wo finde ich den?« »Näheres heute abend.« »Merci!« sagte Urban. Wie es aussah, hatte auch der SDECE mittlerweile angebissen. * Montagne wohnte in einem eleganten Appartementhaus in einem der besten Viertel an der Seine, westlich des Eiffelturms. »Rue des Eaux, Ecke Quai de Pass«, sagte Quatembre neben Urban im BMW. »Hier zu wohnen, davon habe ich als Junge geträumt.« »Heute kannst du es dir leisten«, erwiderte Urban und 78
musterte die Fassaden der vornehmen alten Häuser, bis er ein Fenster entdeckte, hinter dem rotes, gedämpftes Licht brannte. »Heute träume ich von einem Haus an der Côte«, gestand Gil. »So ist es mit den alten Träumen«, bemerkte Urban. »Wenn man sie eines Tages verwirklichen kann; sind sie eine Nummer zu klein. Du kriegst deine RivieraVilla schon noch, wenn du schön tust, was Bruder Dynamit dir rät.« »Was rätst du mir jetzt zum Beispiel?« »Nimm ein Taxi, fahr heim und halte dich raus.« »Warum?« Urban deutete durch die Frontscheibe des Coupes nach oben. »Milchbubi André ist da.« »Weiß nicht, das Licht brannte gestern schon. Wenn du jetzt rauf gehst und läutest und er öffnet dir, dann war die ganze Mühe umsonst.« Gil hatte es einen Tag gekostet, um von der Firma, die bei Montagne die neuen Sicherheitsschlösser, die Stahlbänder an der Tür und das Alarmsystem eingebaut hatte, ein paar Tips zu bekommen. »Die Mühe war ohnehin umsonst«, entgegnete Urban. »Sie haben dir gesagt, daß die Anlage in eingeschaltetem Zustand nicht stillzulegen ist, es sei denn durch eine Handgranate. Wenn man Pech hat, heult die Sirene selbst nach erfolgter Detonation noch weiter.« »Das war ein klarer Hinweis.« 79
»Daß man von oben durch das Atelierfenster einsteigen muß.« »Durch Drahtglas.« »Das nur mittels einer einzigen Induktionsschleife gesichert ist, die man vielleicht überbrücken kann.« Urban holte von hinten den Leinenbeutel mit dem Werkzeug. Dann zog er die dünnen Glacelederhandschuhe an und den Glenchecksakko aus. Er trug ein schwarzes Hemd zu schwarzen Hosen. Bei Sonnenlicht war er damit gut, bei Dunkelheit schlecht zu erkennen. »Nimm ein Taxi«, sagte er noch einmal zu Gil. »Ich warte hier.« »Dein Risiko. Du exponierst dich für nichts und wieder nichts.« »Für die Befriedigung meiner Neugier«, erklärte der französische Geheimagent, »tu ich eine Menge.« »Oder haben sie dich als Aufpasser abkommandiert?« »Denk, was du denkst«, maulte Gil, »aber denk das Richtige, denn das Falsche ist die Wahrheit.« »Idiot!« zischte Urban und stieg, den Leinenbeutel umgehängt, aus. Die gläserne Haustür mit ihrem Aluminiumrahmen, sie war erst neuerdings in die klassische Fassade eingehängt worden, hatte nur ein elektrisches Schloß. Der Riegel gab dem Plastikstreifen nach. Urban tastete sich bei Notbeleuchtung zum Lift. Dieser war nur mit einem Extraschlüssel zu betätigen. Doch dafür hatte er einen Passepartout. Der Lift brachte ihn bis zur fünften Etage. Von dort nahm Urban die Treppe zum Dach. – Die Tür war von innen verriegelt, machte aber keine Proble80
me. Draußen auf dem patinierten Kupferblech hielt sich Urban nahe bei den Falzen, weil Hohlräume unter Blechplatten oft häßliche Knackgeräusche verursachten. Zwischen den Schornsteinen sah er Licht heraufschimmern. Das Dach der Atelierwohnung. Das grünliche Glas ruhte in einem L-förmigen Eisenrahmen, Segmentgröße etwa 100 x 150 cm, war wenigstens sechs Millimeter dick, von einem engen Drahtnetz durchzogen und außen stark verschmutzt. Urban wischte die Rußschmiere weg, brachte die Augen dicht an das Glas heran, konnte aber nur wenig sehen. Im Atelier brannte eine Stehlampe. Bewegung war nicht zu erkennen. Auch Geräusche ließen sich nicht wahrnehmen. Urban wartete mehrere Minuten, ohne daß sich etwas unter dem Glasdach änderte. Vermutlich war André Montagne doch nicht zu Hause. Der Verlauf der Induktionsschlinge unter dem Glas war deutlich erkennbar. Kein Zweifel. Wenn man sie unterbrach, heulte die Alarmsirene los. Zwei Möglichkeiten gab es, um in die Wohnung einzudringen. Entweder er schnitt mit der Zange ein Loch in das Glas, oder er hob eine ganze Platte aus dem Stahlrahmen. Urban entschloß sich zu letzterem, weil es die fachgerechtere Arbeit war. Flach auf das schräge Glasdach gestreckt, börtelte er den alten Kitt aus dem Rahmen. An manchen Stellen war er hart wie Zement. Nach zwanzig Minuten lag die Glasplatte frei, nur noch auf die innere 81
Gummidichtung geklebt. Urban setzte zwei breite Schraubendreher an und hebelte die Platte vom Sitz. An den Kanten bröselte und knirschte es. Sie schien sich durchzubiegen. Schließlich löste sie sich mit einem knisternden Geräusch von der Auflage. Links, wo sie Spannung hatte, überbrückte Urban die Induktionsschleife der Alarmanlage mit einem Meter Kupferlitze und zwei Alligatorklemmen. Dann zwickte er sie durch. Einen Moment hielt er den Atem an. Kein Alarm. Die Technik hatte sich überlisten lassen. Rasch befestigte er am Kamin die Drahtstrickleiter, ließ sie innen hinab und stand Sekunden später in dem Atelierraum. Erst ein Blick in die Küche, ins Bad, ins Schlafzimmer. Die Wohnung war wirklich leer. Es sah nicht danach aus, als sei hier am Vortage noch jemand gewesen. Nun kümmerte sich Urban in aller Ruhe um die linke Ecke des großen Studios. Sie war mit einer Fülle von Elektronik angefüllt. Bald erkannte er, daß es sich hier um ein modernes kleines Computerterminal, bestehend aus den neuen Mikrobausteinen, handelte. Was zu Anfang eine Turnhalle, vor zehn Jahren noch ein Zimmer ausgefüllt hatte, paßte jetzt in einen mittleren Koffer. Vom Spezialadapter für Nutzung der Telefonleitung als Datenübermittler bis zum Programmrechner, Magnetaufzeichner, Sichtschirm und Schnelldrucker, und Eingabegerät war alles vorhanden. Säuberlich verkabelt und funktionsbereit. Aber nur von einem Kenner zu benutzen. 82
Welche von den dutzend Schaltern, Knebeln, Knöpfen, Tasten in welcher Reihenfolge zu drücken waren, um das Gerät mit Leben zu erfüllen, das wußten nur Insider. Zum Glück hatte Urban Elektronik studiert. Außerdem hielt er sich in Computerseminaren auf dem laufenden. Bis er den nötigen Überblick hatte, vergingen dennoch mehrere Minuten. Dann gab er dem System Strom und schaltete auf Dateneingang. – Die Leitung blieb tot. Wie der Speicher, zu dem sie hinführte, erreicht und zum Sprechen gebracht wurde, das wußte der liebe Gott. Das lief mit Sicherheit über eine Codenummer. Sie zu ermitteln, hätte es eines neuen Computers bedurft und die Arbeit von zehn Experten. Also begnügte sich Urban mit dem, was im Haus war, in diesem Fall auf den Magnetplatten. Erst aktivierte er den Drucker, dann schaltete er so lange hinauf und herunter, bis sich der Speicher rührte. Jetzt dauerte es nur noch wenige Sekunden, bis er die Verbindung vom Speicher zum Rechner und vom Rechner zum Drucker hergestellt hatte. Die elektronische Schreibmaschine begann zu rattern. In einer Geschwindigkeit, der das menschliche Auge nicht zu folgen vermochte, hämmerte sie Zeile um Zeile auf den endlosen Faltbogen. Aber leider nicht im Klartext. Nicht einmal im Computertext, sondern in einer mehrfach überschlüsselten elektronischen Sprache. Allein aus dem Umstand, daß alles bis zur absoluten Unverständlichkeit verschlüsselt war, schloß Urban, daß es sich um wichtige Daten handelte. Seine Aufgabe war es nicht, konnte es nicht sein, sie zu 83
enträtseln. Aber er mußte dafür sorgen, daß den Fachleuten im Hauptquartier möglichst viel Material zur Verfügung gestellt wurde. Er wartete, bis sich der Speicher erschöpft hatte, was nach vier Minuten und zwei Metern engbedrucktem Bogen der Fall war. Was der Drucker ausgeschrieben hatte, bestand sowohl aus Kolonnen der üblichen 0-1-Kombination wie aus Buchstaben des Computeralphabets in zungenbrecherischer Folge. Wichtig war es nun, diese Anhäufung von rund dreißigtausend Zeichen nach München zu bringen. Wenn er gleich losfuhr, konnte er am nächsten Morgen bei Dienstbeginn in der Zentrale sein. Aber schneller ging es, wenn er den ganzen Mist ebenfalls per Telefondraht nach München übermittelte. Er versuchte eine Schaltung herzustellen. Als er glaubte, daß sie stand, hob er den Hörer von der Gabel und wählte Deutschland, München, das BND-Hauptquartier in Pullach. »Datenfernübermittlung«, sagte er, »macht schnell. EinXVC-Fall!« Es dauerte nur Sekunden,bis sich der Nachtdienst der zuständigen Abteilung aufnahmebereit meldete. »Was immer es auch bedeutet«, sagte Urban, »versucht es zu entschlüsseln. Ich fahre jetzt ab.« Bevor er wieder auflegte, ließ er die Maschinerie anlaufen. Womit der Speicher vorher den Drucker gespeist hatte, das lieferte er jetzt über die Fernleitung in den Speicher des BND-Hauptquartiers. 84
Als alles lief, legte Urban auf und steckte sich eine MC an. Doch in den Genuß des Rauchens kam er nicht. Wer fand schon eine Mischung aus ägyptischen und Virginiatabaken noch würzig, wenn er im Kreuz ein stählernes Rohr fühlte. Es lag an dem verdammten Schnelldrucker, daß er es überhört hatte. Zweifellos gehörte zu der Waffe eine Hand, zu der Hand ein Mensch, und der war lautlos hereingeschlichen. Vermutlich mit einem etwas besseren Tip der Alarmanlagenfirma, als Gil ihn erhalten hatte. Urban wollte sich umdrehen. »Keine Bewegung«, wurde ihm ins Ohr gezischt. »Was läuft hier für ein Programm?« Da Computer für Laien kaum durchschaubar waren und es unter tausend gerade einen halben Fachmann gab, hoffte Urban, er könne den Mann im Rücken übertölpeln. »Ich habe das Programm abgerufen.« »Die Maschine steht aber.« »Weil ich noch einen Kontrolldurchlauf vornehme.« Eine Hand faßte um ihn herum, riß den zwei Meter langen Bogen aus dem Drucker, faltete ihn zusammen und steckte ihn weg. Danach stellte der Bursche mit der Waffe so wenig Fragen wie das Napoleongrab im Invalidendom. Er schlug einfach zu. Urban sah den Schatten seiner Rechten hochfahren, dann spürte er den Hieb, einen vorzüglich plazierten und dosierten Handkantenschlag. 85
Er konnte nicht anders. Er mußte beidrehn, obwohl er noch allen Wind in den Segeln hatte. 6. »Und du bist sicher?« fragte Balmain, die Bratpfanne auf dem Wohnbuskocher schüttelnd. »In meiner Wohnung brennt seit sieben Tagen Licht«, sagte André, »sie glauben, ich mache immer noch Nachtschichten.« »Das werden sie nicht immer glauben.« »Unser Vorsprung genügt.« »Wenn sie nicht gleich mißtrauisch wurden«, gab Noel, der Expilot, zu bedenken, »und schon am Freitag unserer Spur folgten.« »Das alte Motorhome hat Balmain besorgt, und der wurde nicht überwacht.« »Hatte da einen anderen Eindruck«, äußerte Balmain. Die Hammelkoteletts waren jetzt knusprig braun und mußten heiß gegessen werden. Sie hauten rein wie die Scheunendrescher. »Welchen Eindruck hattest du?« fragte André seinen Freund, den Hobby-Alpinisten. »Nun, mein Telefon ging. Ich hob ab. Keiner war dran. Und das mehrmals am Tag. Dann trieb sich so ein Typ herum. Mal in der Tiefgarage, mal im Park gegenüber. Dann wieder war mir, als folge mir ein grüner CX durch die Stadt. Sogar beim Geländelauf frühmorgens im Bois hörte ich hinter mir eine Suzuki knattern.« 86
André ließ sich den Appetit nicht verderben. »Wie war es bei dir, Noel?« »Ähnlich. – Und bei dir, André?« »Nun«, Montagne spritzte den Rotwein im Glas mit Vichy-Wasser auf, »daß sie an mir klebten wie Schmutz am Hemdkragen, das ist ja bekannt.« »Nur weil du plötzlich zu Geld kamst.« »Leute wie Marc & Rabol macht das eben nervös. Wenn einer unverhofft zu Geld kommt, denken sie, er habe ein Ding gedreht. Da sie Gaunerstücke jeglicher Art aber als ihre Domäne ansehen, als ihr Privileg, ihre alleinige Pfründe, gönnen sie keinem anderen einen einträglichen Coup. So etwas darf nicht sein und muß abgestellt werden. Entweder man macht es mit ihnen oder gar nicht. Entweder du teilst, oder du wirst der Beute nicht froh. Wehret den Anfängen, sagen sie, Brutalitäten muß man am Anfang begehen. Wenn die Konkurrenz erst stark ist, ist es zu spät. So lauten die Gesetze der Unterwelt.« »Du hast doch geerbt, André.« »Wer’s glaubt.« »Du hast es ihnen erzählt.« »Sie forschten nach. Vermutlich sind ihre Checks noch nicht ganz abgeschlossen, sonst wären sie wiedergekommen. Diesmal aber mit den Spezialisten.« »Jetzt hast du sie los«, sagte Noel. »Und Manon leider auch.« »Manon ist nur eine Frau. Frauen gibt es überall.« »Keine wie Manon.« 87
»Du weißt zu wenig von der Welt«, sagte Balmain. Und Noel sagte: »Wie kann man sich an einem Tag so verknallen.« »Es waren drei Tage.« »Und wie viele Nächte?« »Sonntag sollte die erste werden.« »Wie, du hattest sie in deiner Wohnung und noch nicht im Bett?« »Manon ist eine Dame, da dauert es.« »Kürzer«, ergänzte Noel, »viel kürzer.« André machte eine resignierende Handbewegung. »Aus, vorbei, fini! Und wenn wir reich werden wie Krösus, nach Paris führt kein Weg zurück.« »Es sei denn mit einer Privatarmee«, feixte der Expilot. »Was mich betrifft, ich finde mein Paris auch in Madrid oder in Hongkong.« Balmain schaute auf die Uhr. »Schätze, jetzt haben sie kapiert, daß wir sie an der Nase herumführten.« »Tut uns nicht weh, dreihundert Kilometer östlich von Paris.« »Zeit ins Bett zu steigen«, drängte Balmain, »morgen geht es an die Muskeln.« Sie besprachen, was am nächsten Tag zu tun war, lüfteten das große amerikanische Wohnmobil noch einmal durch, bauten die Betten und löschten das Licht. Im Dunkeln hörten sie, wie Noel seine alte Dienstpistole durchlud und unter das Kopfkissen schob. »Nur wegen des Viehzeugs«, sagte er, »ob ihr es glaubt 88
oder nicht, mich hat mal nachts beim Pinkeln ein Iltis angefallen. Kann auch ein Wiesel gewesen sein.« »Ein Löwe«, murmelte Balmain, »immer diese Übertreibungen.« * Am Morgen erreichten sie nach mühsamem Aufstieg durch die Waldberge den Punkt, den keine Karte verzeichnete, den André aber auf Grund der Aktennotizen rekonstruiert hatte. Metergenau, wie sich herausstellte. Von der Höhe in das weit offene Wiesental hinabblikkend, rief Noel: »Voilà, die einst größte Festung der Welt, la MaginotLinie!« »Nur ein Bunkerwerk davon«, schränkte Balmain ein. »Ich seh keinen Bunker«, äußerte André Montagne. Noel reichte ihm das Fernglas und deutete auf einen sich unnatürlich aus dem Gelände wölbenden Grasbukkel mit scharfer Kante nach Osten. »Außenfort Frederic«, erklärte der Pilot. »Bin hier oft drüber weggezischt. Ganz in der Nähe war unser Abdrehpunkt. Die deutsche Grenze ist ja nicht weit.« André verglich die Position des Festungswerkes noch einmal mit seinen Aufzeichnungen. »Kein Irrtum möglich.« »Du glaubst es nicht, he?« »Es ist wie beim ersten Kuß. Du hoffst immer darauf, und es überrascht dich, wenn er tatsächlich stattfindet.« 89
»Worauf warten wir noch«, fragte Balmain, packte den Werkzeugkoffer und wollte aufspringen. Doch Noel hielt ihn zurück. Dem Piloten, der auch die kleinste Unregelmäßigkeit im Ton seiner Jet-Turbine bemerkt hatte, fiel etwas auf. In der Morgenstille vernahm er ein fernes Rattern. »Ein Diesel«, sagte er. Also blieben sie in Deckung und warteten. Das Motorgeräusch wurde lauter. Um die Bachbiegung herum rollte ein Gespann aus dem Schutz der Weidenbüsche. Ein Traktor mit einem luftbereiften Ackerwagen fuhr genau auf das Außenfort Frederic zu. Auf dem Sitz federte ein Bauer in grüner Schürze mit Strohhut. Seine Pfeife brannte. Als sei er den Weg schon tausendmal gefahren, zog er den Traktor vom Weg, kurvte in die Wiese ein und rollte mit Schwung um die Bunkeranlage herum. Dann hielt er an, stieg vom Bock und sperrte die Tür unterhalb des Geschützturmes auf. »Was sucht der da?« fragte Balmain bestürzt. In diesem Punkt kannte sich André ein wenig aus. »Von den zweitausend Bunkern, Forts und Geschützkasematten der Maginot-Linie wurden über siebzig Prozent verkauft. An jeden, der sich dafür interessierte. Sei es als Wochenendhaus, als Weinkeller oder als Kartoffellager.« »Stimmt«, bestätigte Noel. »Meine Tante in Metz hat auch einen erworben und zwei Hektar Acker drumherum. Jetzt züchtet sie Champignons in der feuchten Dun90
kelheit. Sie hat die fettesten Champignons der ganzen Gegend.« »Was jetzt?« Balmain wurde unruhig. »Abwarten.« Es dauerte gut eine Stunde, bis der Bauer mit der Arbeit am Bunker fertig war. Er trug irgend etwas hinein und etwas anderes heraus, das er auf seinen Rübenwagen warf. Dann leierte er den Diesel wieder an und fuhr in derselben Richtung, aus der er gekommen war, davon. Kaum war er außer Sicht, marschierten die drei hügelabwärts auf Fort Frederic zu. Von dem ehemals sechzig Meter langen Betonwürfel mit dem ausfahrbaren Geschützturm obendrauf sah man nur noch wenig. Die graubraunen Betonwände waren von Moos überwuchert. Die Tür auf der Ostseite widerstand ihnen nicht lange. Der Bauer hatte das schwere Schloß gut geölt. Drinnen knipsten sie Handscheinwerfer an. Bald sahen sie, was der Bauer hergebracht hatte. Es handelte sich um alte Benzinkanister der deutschen Wehrmacht. Sie wogen schwer. »Kleiner Treibstoffhamsterer, unser Landmann«, bemerkte Noel. »Die leeren zur Tankstelle, die vollen ins Bunkerchen.« »Landleute sorgen eben für schwere Zeiten vor.« »Piloten auch«, erklärte Noel und stieg, der Karte folgend, über eine Wendeltreppe in die Tiefe. Im zweiten Untergeschoß, den Mittelgang hinauf in einer der linken Kasematten, dort mußte es sein. Aber dort war es nicht. 91
Der ehemalige Hilfsmaschinenraum war zu einem Wohnzimmer ausgebaut worden. »Unser braver Landmann hat sich dort ein privates Atombunkerchen eingerichtet«, staunte Balmain, »mit Radio und Fernsehen.« »Und mit Konserven für ein Jahr.« André schaute sich um. »Hier müßte es sein.« »Ja, im Kabelschacht. Ich sehe bloß keinen Kabelschacht.« Sie klopften die Wände ab. Der jetzige Besitzer hatte den Raum mit Brettern verschalt. Die Bretter gaben alle denselben Ton von sich. »Verdammt, fängt ja schön an«, fluchte Balmains. André studierte noch einmal seine Unterlagen. »Irrtum ist ausgeschlossen. Der alte Partisan war der letzte vom Maquis im Distrikt Petite Pierre. Auf dem Sterbebett im Hospital von Saverne gab er der Krankenschwester zu Protokoll, wo die Kriegskasse der Abteilung liegt. Die Nurse leitete das Protokoll nach Paris weiter, wo es unter den Akten verschwand, weil sich mittlerweile die Frontlage geändert hatte. Die Amerikaner standen schon am Rhein. Das war vor genau sechsunddreißig Jahren. Die Kasse ist so gut versteckt, daß niemand sie finden konnte, es sei denn, er hätte mit Preßluftbohrern alle Kabelschächte freigelegt. Aber warum sollte er das tun.« »Kein Kabelschacht«, stellte Noel fest, »keine Kriegskasse.« 92
Nach langem Hin und Her kamen sie zu der Schlußfolgerung, daß das Protokoll Fehler enthalten müsse. Entweder handelte es sich um einen anderen Raum, oder die Kabelschächte verliefen nicht hier. Sie suchten weiter. Schließlich entdeckten sie die Kabelschächte nicht in Kopfhöhe an den Kasemattenwänden, sondern im Fußboden. André stieg, gehüllt in einen eleganten Aluminiumschutzanzug, in den Schacht. Sie sicherten ihn mit einer Leine. Von der Leine waren schon mehr als zehn Meter durch Balmains Hände gelaufen, als er endlich ein Signal empfing. André zog dreimal heftig. Sie warteten, bis er zurückkam, dann zogen sie an der Leine. »Eine Kassette«, berichtete André, »ziemlich mickrig und total verrostet.« Mit dem Inhalt sah es nicht viel besser aus. Nachdem sie den Kasten gewaltsam geöffnet hatten, fanden sie zunächst mehrere hunderttausend Franc und Dollar in Papiergeld. »Taugt gerade noch zum Zigarrenanzünden«, spottete Balmain. »Diese Banknoten sind längst aus dem Verkehr gezogen worden und ungültig.« »Aber es beweist…« setzte André an. »Was? Daß wir um ein Menschenleben zu spät dran sind.« »Daß die Aufzeichnungen in Ordnung gehen.« Sie stemmten den Blecheinsatz mit den Banknotenbündeln aus dem Rost und stießen auf Hartgeldrollen, auf 93
silberne Hundert-Franc-Stücke und etwa dreißig alte Louisdor, die im Krieg ein Zahlungsmittel darstellten, für das so gut wie alles zu bekommen war. Balmain, der sich damit auskannte, rechnete laut: »Immerhin«, lautete sein Ergebnis, »bringt ein Louisdor heute zweitausend neue Franc und das Silber vielleicht ein Zehntel davon pro Unze.« »Und wenn man den Altertumswert rechnet?« »Summa summarum hunderttausend Franc.« »Erst muß man sie losschlagen.« »Das Gold nimmt jede Bank, das Silber jeder Münzhändler.« »Ohne zu fragen?« »Wenn sie erst fragen, können sie ihre Geschäfte zumachen.« Sie löschten alle Spuren, verließen den Bunker und marschierten über die Waldberge zu ihrem Wohnmobil. Während der Fahrt nach Straßburg einigten sie sich über die Route. »Basel«, riet Noel. »Zürich, die Schweiz zahlt die besten Preise für alte Münzen. Dann über die Alpen, Generalrichtung bella Italia.« Sein Vorschlag fand volle Zustimmung. In der Schweiz würden sie die Münzen verkaufen und dann weiter nach Süden rollen. An den Küsten des Mittelmeers lag ihr nächstes Ziel. Allerdings auf der anderen Seite des Wassers.
94
Sie stellten das Wohnmobil auf einen Parkplatz der Züricher Innenstadt. Noel und Balmain gingen los. »Versteht bitte meine Vorsicht«, sagte André noch einmal, »Münzhändler, Hehler und kleine Privatbanken stecken doch alle unter einer Decke. Marc & Rabol in Paris sind eine Privatbank. Sie haben längst ihre Fühler ausgestreckt. Wenn ich meine gepflegte Visage nur blikken lasse, erfolgt sofort Rückmeldung. Ich werde gesucht, nicht ihr.« »Er hält sich für ungeheuer wichtig«, scherzte Noel. »Er ist der große Boß und wir nur die Handlanger. D’accord, mon ami, wir hauen mit der Beute ab, nur damit du Bescheid weißt, falls wir bis 18 Uhr nicht zurück sind.« »Niemand verläßt bei der Vorspeise das Diner«, erwiderte André, »wenn der Koch einigermaßen sein Handwerk versteht. Eh bien, verjubelt ruhig die paar Kröten an der Riviera, dann schiebe ich mir den Hauptgang allein in den Rachen.« »Würde dir so passen«, sagte Balmain, Jaß dir einen Bart sprießen, bis wir zurück sind.« André lag da, rauchte zur Decke und dachte nach. Er würde sich wirklich einen Bart wachsen lassen und den großen Bissen würde er auch allein für sich reservieren. Er brauchte nur das nötige Startkapital. Dazu sollten ihm Balmain und Noel verhelfen. Balmain, der Mann mit nie nachlassender Energie, und Noel, der mutige, der jedes Risiko voll anging. Doch wenn er das Startkapital hatte, würde er es anders aufziehen, nämlich mit ein paar Spezialisten, die er nicht am Gewinn beteiligte, sondern 95
die er nur anständig bezahlte. Dazu brauchte er mindestens eine halbe Million, andere Papiere und ein anderes Aussehen. Dran hatte sich schon einiges geändert. Er trug nur noch Jeans, wenn auch von St. Laurent, und halbhohe Stiefel, allerdings von Bally. Dazu eine Lederjacke, deren Schnitt der alte Hermes noch entworfen hatte. Auch die Maßhemden aus Seide hatte er zu Hause gelassen. In seinem Gepäck befanden sich nur karierte Jagdhemden aus strapazierfähigem Baumwollstoff, original ›canadien made‹. Seine Entwicklung vom Gigolo zurück zum harten Fighter machte Fortschritte.« André war nicht einmal unglücklich darüber. Er trank ein Glas Rotwein. Trotz des Straßenverkehrs, der am Limmatkai vorüberbrauste, schlief er in seinem Wohnmobil, bis ihn Noel weckte und auf gebündelte Banknoten deutete. »Haben gleich D-Mark, Lire und Dollar eingetauscht!« »Stellten sie Fragen?« »Dumme.« André richtete sich auf. »Verdammt!« »Keine einzige Frage, nicht einmal nach dem Reisepaß.« »Nur gestaunt hat der Herr Numismatiker«, berichtete Balmain von der Sitzecke her, »wie ich die silbernen Münzen vor ihm ausschüttete. – Von meiner Tante in Metz, sagte ich.« 96
»Es ist meine Tante«, erklärte Noel, »aber das macht fast gar nichts. Er hat einen guten Preis erzielt, unser Bergkamerad. Dafür trete ich ihm die Tante in Metz und die nächsten drei gerne ab.« Sie fuhren gleich los. André, der frisch war, übernahm das Lenkrad des neun Meter langen Wohnmobils, bewegte es in die Nacht hinein Richtung Vierwaldstättersee und weiter nach Altdorf, Wassen, Gotthard-Paß. Am Morgen rollten sie schon durch die oberitalienische Lombardei, immer auf der Autostrada del Sol. »Vielleicht kriegen wir in Ancona die Samstags-Fähre noch«, frohlockte Noel. »Sicher«, sagte André, »wir haben nämlich eine Glückssträhne.« 7. Als der Rauch der Zigarette und der Nebel vor seinem Bewußtsein verweht waren, sah Urban die Bescherung. Nicht einem brutalen Killer war er zum Opfer gefallen, sondern einer überaus gutaussehenden weiblichen Person. Eine niederschmetternde Erkenntnis. Sie saß ihm gegenüber im Sessel, hatte die Beine weggestreckt und blickte mit einem Ausdruck von Spott und Mitleid auf ihn herunter. »Habe ich Ihnen weh getan?« Er richtete sich auf, massierte den Nacken, tastete sich zur Couch. Unter seiner Schädeldecke krabbelte ein mittlerer Ameisenstaat. 97
»Nicht der Rede wert«, log er. »Warum gingen Sie dann ins Aus?« »Ein Trick, nichts sonst«, antwortete er. »Wozu sollte der Trick gut sein?« fragte die Brünette mit der wunderbar tief tönenden Stimme. »Ich habe immer noch die Kanone, und Sie haben nichts.« Urban hütete sich, zu André Montagnes Heimcomputer zu schielen. Der Stille entnahm er, daß das Gerät nicht mehr arbeitete und seine Daten mittlerweile nach München übertragen hatte. »Ich wollte Sie nur ablenken«, sagte er, »durch Befriedigung. Welche Frau empfindet kein Hochgefühl, wenn sie einen Mann ausknockt.« »Mir scheint, Sie haben wieder klare Sicht durch die beschlagenen Scheiben. Wer sind Sie?« »Der alte Blaurote Methusalem«, flunkerte Urban. Sie verhüllte ihr Gesicht wieder mit dem aufsteigenden Vorhang von Zigarettenrauch und lächelte. »Ich will Ihnen sagen, wer Sie sind.« »Ich höre.« »Entweder ein Computerexperte oder ein Polizist.« »Beides ist wohl nicht gut möglich.« Sie winkte ab. »Ich tippe auf Internationale Electronique oder auf Behörde, genauer auf Verteidigungsministerium.« Er ließ sie raten und kombinieren. Das verschaffte ihm Zeit, wieder in Form zu kommen und verriet ihm außerdem einiges über sie. »Warum gerade Ministerium?« 98
»André, unser gemeinsamer Freund, arbeitet dort an einer Systemumstellung. Seitdem ereignen sich erstaunliche Dinge. Das könnte bei der Sicherheitsabteilung aufgefallen sein, und man schaut sich seine Wohnung an.« »Ja, das wäre möglich«, räumte Urban ein. »Oder das Ministerium hat den Verdacht, Monsieur Montagne koche mit Geheimakten sein eigenes Süppchen und teilte dies seiner Firma mit. Nun möchte die Geschäftsleitung der Internationale Electronique gerne erfahren, warum sich Montagne einen Heimcomputer besorgte.« »Auch das wäre möglich«, sagte Urban, tastete seine Tasche ab und blickte in die Lauföffnung der Pistole. »Keine Bewegung, Monsieur!« »Dann lassen Sie mich bitte einen Zug aus Ihrer Zigarette machen.« »Wäre möglich«, äffte sie ihn nach, »und was, zum Teufel, ist möglich?« Langsam fühlte er sich ihr ebenbürtig werden. »Was ist wahrscheinlich«, verbesserte er sie, »denn möglich ist fast alles.« Sie stand auf, ständig die Waffe gegen ihn gerichtet und schaute sich die Computerecke an. Sie konnte soviel damit anfangen wie ein analphabetischer Wilder mit einer Gutenberg-Bibel. Urban sah das sofort. Hinter der Glasscheibe des Speichers hatte die Magnettrommel jetzt aufgehört zu zucken. Die wechselnden Kontrollichter waren bis auf zwei erloschen. Sie zeigten 99
an, daß das System noch unter Strom stand und auf neue Befehle wartete. »Hat die Apparatur soeben gearbeitet?« fragte die Dunkelhaarige im beigefarbenen Lederanzug. Urban nickte. »Mit welchem Ergebnis?« »Der Drucker schrieb aus, was auf den Platten gespeichert ist. Sie haben den Bogen an sich genommen, Madame, wenn ich mich recht erinnere.« ,,Ein völlig unleserlicher Text.« »Er ist verschlüsselt.« »Können Sie ihn entschlüsseln?« »Das ist eine Frage der Zeit.« »Also sind Sie doch Experte.« »Ich verstehe von allem ein bißchen was«, äußerte er in einem Ton, der nicht ahnen ließ, was sich eine Sekunde später ereignen würde. Blitzschnell schlug Urban der hübschen Person auf den Strickbund über dem Handgelenk, daß die Waffe zu Boden fiel. Mit einer Fußbewegung schob er sie unter die Möbel. »Damit«, sagte er, »wäre die Gleichheit der Waffen hergestellt, Gnädigste. Jetzt wollen wir ganz offen miteinander reden.« »Was ich will, das überlassen Sie gefälligst mir«, entgegnete sie plötzlich unfreundlich, als versuche sie das Fehlen der Waffe auf andere Weise auszugleichen. »Und wer sind Sie, bitte?« fragte Urban, indem er sie antippte, daß sie rückwärts in den Sessel fiel. 100
»Mein Name ist Manon.« »Andrés Geliebte?« »Das wäre eine Nuance zu direkt kombiniert, Monsieur.« »Man hat sie auf unseren seidenweichen Bubi angesetzt. Stimmt’s?« Sie steckte sich eine Zigarette an, schlug die Beine übereinander und wippte mit den Füßen. Sie trug keine Strümpfe. Unter dem dünnen Leder zeichnete sich ihr schmaler Slip ab. Das Ganze wirkte nicht unerotisch. »Was verdienen Sie?« fragte Manon sachlich. »Genug.« »Geld hat man nie genug. Ich biete Ihnen hunderttausend, wenn Sie uns Ihr Wissen verkaufen. Sie verfügen doch über eine Menge Wissen.« »Und wenn nicht?« fragte er. »Siegen oder verrecken, lautet die Devise.« Das klang unerwartet ordinär aus ihrem Mund. »Jede Sache«, erwiderte er nachdenklich, »hat zwei Seiten. In unserem Fall die Ihre und die meine, oder anders ausgedrückt, die falsche und die richtige. Was sind schon hunderttausend Franc.« »Ich könnte notfalls noch erhöhen«, deutete Manon an, »aber nicht ohne Rücksprache.« »Mit dem Boß?« »Das werden Sie erfahren, wenn Sie mitmachen.« Es gab nichts Idiotischeres, das wußte er, als auf solche Angebote sofort einzusteigen. Dann nahm keiner den anderen mehr ernst. 101
»Wenn Sie noch etwas drauflegen«, sagte er, »zieh ich es in Erwägung.« »Was«, fragte sie, »soll ich drauflegen?« »Dich!« forderte er kühl bis in die Fingerspitzen. Im Grunde wollte er nur wissen, wie weit sie ging, um einen Erfolg nach Hause zu bringen. Ihre Antwort überraschte ihn. »Und die Sicherheiten, Monsieur?« »Frag den Boß«, schlug er vor. * Urban ließ Manon im unklaren, wer er war, ob Ganove oder Kontrollbeauftragter, ob Einzelgänger oder Glied eines Teams, ob Beamter oder freier Unternehmer. Sie klammerten Fragen, die ja doch keiner beantwortet hätte, aus und versuchten sich zu arrangieren. »Bedingung ist«, forderte Manon, »daß wir zusammenbleiben, bis man sich geeinigt hat.« »Damit keiner dem anderen eine Falle baut.« »Wir fahren zu mir. Einverstanden?« Aber da gondelten sie schon in Manons CX durch das nächtliche Paris. Urban blickte sich immer wieder verstohlen um, ob ihnen Gil im BMW folgte. Aber von dem war wenig zu sehen. Vielleicht schnarchte er noch auf dem Beifahrersitz in der Rue des Eaux. Urban beobachtete auch Manon und versuchte sich ein Bild von ihr zu machen. Gerade beim Autofahren entblößte der Mensch seinen Charakter besser als auf dem 102
Sofa des Psychiaters. Äußerlich war sie eine weiche südliche Schönheit. Auch ihr Fahrstil verriet nichts von verdeckten männlichen Zügen. Was hatte diese Frau bei André Montagne gesucht? Was hatte den schweren Browning in ihre zarten Hände gebracht? In wessen Auftrag handelte sie? Wer war der Boß? Sie fuhr ziemlich weit hinaus in einen westlichen Vorort. Die Straße, in die sie einbog, hieß Rue Tulipe und war gesäumt von kleinen Villen und Bungalows. Mannshohe Ligusterhecken flankierten den plattenbelegten Weg in eine Doppelgarage. Zündung ab. Motor aus. Sie saßen im Dunkeln. Urban hörte sie atmen. »Inzwischen hätten Sie zehnmal die Chance gehabt«, sagte Manon, »auszusteigen.« »Oder Sie auf einem Polizeirevier abzuliefern, Madame.« »Mit welcher Begründung?« »Einbruch.« »Das wäre zu einem Bumerang geworden«, erwiderte Manon, »denn eines haben Sie dabei übersehen, Monsieur. Sie kamen durch das Dach, ich hingegen durch die Tür.« »Was ist da für ein Unterschied?« Er kannte den Unterschied, wollte ihn aber von ihr hören. »Die Wohnung von André Montagne verfügt über eine neue, sehr wirkungsvolle Alarmanlage. Die Tatsache, 103
daß sie nicht ansprang, spricht zu meinen Gunsten. Ich wußte, wie man sie abschaltet. Und von wem wußte ich das wohl? Von Monsieur Montagne persönlich. Wir sind befreundet. Ich hatte den Auftrag, mich während seiner Abwesenheit um die Wohnung zu kümmern.« »Das wäre in der Tat eine gute Ausrede gewesen«, räumte Urban ein, »wenn auch eine ziemlich haarsträubende. Wir hätten wohl beide die Karten auf den Tisch legen müssen. Aber soweit kam es zum Glück nicht.« »Weil Ihre Geldgier siegte«, betonte sie. »Oder die Neugier.« »Worauf?« »Was eine so interessante Person wie Sie, Madame, bei Montagne zu suchen hat. Sie haben doch etwas Bestimmtes gesucht.« Im Dunkeln tastete sie zur Tür und öffnete sie. Die Türbeleuchtung sprang an. Manon betätigte einen Motor, der das Garagentor schloß. Dann gingen sie ins Haus. »Einen Drink?« fragte sie. Urban schaute auf die Uhr. »Immer«, erwiderte er. »Warum orientieren Sie sich dann über die Zeit?« »Mein Mütterchen könnte sich Sorgen wegen meines Ausbleibens machen.« Sie deutete auf das Telefon. »Dann rufen Sie doch an.« Vermutlich forderte sie ihn deshalb zum Telefonieren auf, weil sie einen Recorder in die Leitung geschaltet hatte. 104
Sie brachte Gläser, Wodka und Bitterlemon. Dann ging sie noch einmal hinaus und holte Eis. Sie tranken. Als die Gläser leer waren, trug sie sie ungewöhnlich schnell ab. Nachdem Sie noch ein wenig in der kleinen Küche herumgewerkelt hatte, kam sie wieder in den Wohnraum, der beinah das ganze Erdgeschoß des Hauses einnahm. »Und jetzt?« »Soll ich das Zimmer verlassen, damit Sie mit Ihrem Chef sprechen können?« fragte er. Sie lächelte. »Einem Computerexperten traue ich nicht über den Weg. Sie hätten gewiß einen Trick auf Lager, um das Gespräch zu belauschen. Ich verlasse Sie für eine halbe Stunde. Werde ich Sie noch vorfinden, wenn ich zurückkehre?« »Mit Sicherheit«, versprach er. In der Diele drehte sie sich noch einmal um. »Sie dürfen mein Haus ungeniert durchsuchen. Vom Keller bis zum Dachfirst. Vielleicht finden Sie, was Sie suchen. Aber höchstwahrscheinlich finden Sie nichts.« Dann hörte er die Haustür gehen und ihre Schritte auf den Platten der Einfahrt. Warum nimmt sie nicht den Wagen, überlegte er. * An seinem Glas in der Spülmaschine entdeckte Urban den Grund, warum Manon so rasch abgetragen hatte. 105
Über der Griff stelle sah man noch die scharfen Konturen eines abgezogenen Tesafilmstreifens und etwas grauen Staub. Manon war offenbar an seinen Fingerabdrücken interessiert gewesen und verstand sich darauf, sie zu sichern. Einen Schluß auf ihre Rolle ließ das leider nicht zu. Modern organisierte Gangsterorganisationen bedienten sich schon lange der gleichen Mittel wie die Polizei. Urban hob das Telefon ab. Die Leitung war tot. Er verfolgte das Kabel. An der Wand steckte es in einer Dose. Der Rest verlief unter Putz. Vermutlich gab es einen Abschalter. Aber wo saß der? Nächste Frage: War die ganze Leitung totgeschaltet, oder nur diese Dose? Antwort: Wahrscheinlich nur diese eine Dose, sonst hätte der Anschluß ein dauerndes Belegtzeichen abgegeben. Urban zog den Stecker heraus, nahm den Apparat, suchte im Flur, dann oben in den zwei Schlafzimmern. Neben einem überaus einladenden Rundbett fand er die Dose. Stecker hinein, Freizeichen. Er wählte Gils Privatnummer. Keine Antwort. Dann wählte er nach München durch. Sie bestätigten den klaren Empfang der Computerdaten und wollten sich unverzüglich an die Entschlüsselung machen. Urban nannte ihnen die Nummer, die auf dem Telefonapparat stand und die Adresse. Dann begab er sich mit dem Telefon wieder ins Erdgeschoß. Nach zwanzig Minuten etwa kam Manon zurück. Als sie den Wohnraum betrat, schaute sie sich suchend um. Das Telefon stand noch am gleichen Platz. 106
»Mit Mütterchen gesprochen?« »So gut das bei einer toten Leitung möglich war.« »Gruß vom Boß«, bestellte sie, faßte in die Manteltasche und entnahm ihr mehrere Papiere. Es war nicht der originale Computerausdruck, sondern eine Fotokopie davon, auf das Format von Geschäftsbogen zusammengeschnitten. »Im ganzen ging es leider nicht«, sagte Manon, »kein gewöhnliches Fotokopiergerät kann einen zwei Meter langen Streifen vervielfältigen. Aber es ist alles drauf.« »Und was soll ich damit?« »Das Original liegt bei uns in Verwahrung. Sie könnten es verschwinden lassen oder unbrauchbar machen.« Erstaunt hob er die Brauen. »Warum sollte ich das tun? Haben wir nicht gemeinsame Interessen?« Manon steckte sich, an der Tür lehnend, eine Zigarette an. Das dunkle Haar war feucht. »Regnet es?« fragte Urban. »Erzählen Sie lieber etwas über unsere gemeinsamen Interessen.« »Meine sind die Ihren. Ich nehme an, daß Sie die Ihren kennen. Also kennen Sie auch die meinen.« »Entschlüsselung von Monsieur Montagnes Datendiebstählen«, erklärte sie jetzt offen. »Und Auswertung derselben.« »Was erwarten Sie als Endergebnis?« »Dasselbe wie Sie, Monsieur. Wir haben doch gemeinsame Interessen, denke ich.« 107
Urban holte ein Glas aus der Vitrine und goß, weil es keinen Bourbon gab, wieder Wodka ein. Das Glas stellte er achtlos auf die Fotokopien. Manon nahm das Glas und deutete auf den Rand, den es am Papier hinterlassen hatte. »Man bittet Sie, diesen Symbolwirrwarr in Klartext zu übersetzen.« »Wer bittet? Der Boß?« »Er ist mit unseren Abmachungen einverstanden.« »Und Sie, Manon, Sie auch?« Sie senkte die Lider. »Unter gewissen Bedingungen.« Urban lehnte sich zurück und gähnte. »Jeder stellt hier nur Bedingungen. Wann fangen endlich die Leistungen an?« »Und was, bitte, haben Sie als Vorleistung geliefert?« »Ich brachte den Computer zum Sprechen. Ist das etwa nichts?« »Dann übersetzen Sie jetzt seine Sprache, daß man sie versteht.« Er wußte, daß das so gut wie unmöglich war. Einer profimäßig und maschinell durchgeführten Verschlüsselung kam man entweder nur mit Decodier – maschinen bei oder mit einem Expertenteam und sehr viel Zeit. Natürlich konnte er ihnen etwas vorflunkern, aber wenn schon, dann mußte er richtig flunkern, und zwar in der Richtung, die sie erwarteten. Doch darüber war er sich leider im Unklaren. »Ich bin müde«, sagte er. »Gehen wir zu Bett.« 108
Sie deutete auf die Couch. »Bitte.« »War das so abgemacht?« Sie hatte verdammt ihre Reize. Sein Typ war sie auch. Und wenn man den Gegner im Bett hatte, dann erfuhr man meist eine ganze Menge über ihn. Speziell über seine Schwächen. Noch einmal erinnerte er sie an die Abmachung. »Liefern Sie erst ein Kapitel Klartext ab«, lautete ihre Forderung. Der Ton, wie sie das äußerte, ließ einen Entschluß in ihm reifen. So ging das nicht, nicht auf diese Weise. Er sah wenig Aussicht, auf dem Weg über diese Gruppe weiterzukommen und seine eigentliche Aufgabe, André Montagne das Handwerk zu legen, zu erfüllen. Also trank er den Wodka aus, nahm die Fotokopien und sagte: »Bon soir, Madame.« Manon hielt ihn nicht auf. Sie ging ihm auch nicht nach. Sie starrte nur hinter ihm her, wie er das Zimmer verließ, die Diele durchquerte, den Schlüssel der Haustür mehrmals umdrehte und die Schließkette aus der Führung zog. Urban tat einen Schritt in die Dunkelheit, saugte die Lunge voll mit kühler Nachtluft, als sich in der Mauernische etwas bewegte. »Pardon, Monsieur«, sagte jemand freundlich, »aber das geht leider nicht.« »Was?« fragte Urban und schlug sofort hart zu. Er traf den Nachtwächter genau unter den Rippen. Der Bursche klappte vornüber zusammen, wobei er zwei 109
Geräusche verursachte. Ein gräßliches Ausatmen, als rülpse ein Nilpferd, und ein Klappern. Was da klapperte, war sein Revolver auf den Steinstufen. Urban war noch dabei, die Fixigkeit zu bewundern, mit der Manon den Aufpasser besorgt hatte, als er schon seine Unvorsichtigkeit bedauern mußte. Er bekam einen Stoß ins Kreuz, hart wie von einem Gewehrlauf. »Ich drücke ab«, drohte der andere. Es waren also zwei. Urban leistete keinen Widerstand mehr. 8. Der erste Anruf kam aus der Schweiz. Ein Mann, der Marc gefällig sein wollte, weil auch Marc ihm bisweilen gefällig war, sagte: »Haben Sie Interesse an silbernen Hundert-FrancMünzen, Prägung 1926, und an goldenen Louisdors?« »Herkunft?« fragte Marc noch völlig ahnungslos. »Ungewiß.« »Und da glauben Sie nun, mon cher Petry, Sie seien bei mir an der richtigen Adresse?« »Ich glaube es nicht nur«, erwiderte der Schweizer, »ich bin sogar ganz sicher. Die silberne HundertFranc-Prägung von 1926 ist so gut wie nicht mehr auf dem Markt. Wer sie hat, gibt sie nicht her. Die Preissteigerung beträgt bis zu 30 Prozent im Jahr. Man kann fast von einer numismatischen Rarität sprechen. Da kommt nun so ein ahnungsloser Typ in meinen Laden und 110
schüttet mir eine Mütze voll davon auf den Ladentisch. Ich hatte zu tun, daß ich den Schock überwand. Er überließ mir die ganze Sammlung, ohne lange zu handeln, für die Hälfte des Tagespreises. Ich frage Sie jetzt, Marc, woher stammen die Silberlinge, wenn sie nicht gestohlen, gefunden oder ausgegraben wurden?« »Der Verkäufer war Franzose?« erkundigte sich Marc. »Mit Sicherheit. Und die Münzen sahen aus, als hätten sie fünfzig Jahre in einer rostigen Schatztruhe verbracht und wären nur oberflächlich gereinigt worden.« »Beschreiben Sie mir den Mann, Petry«, bat Marc. Der Schweizer tat dies, so gut er konnte. Marc war nicht zufrieden damit. »Ein besonderes Kennzeichen?« Petry überlegte. »Er hatte eine Narbe um die Nasenspitze, als wäre sie einer Schleifscheibe zu nahe gekommen.« »Oder einer Felswand«, tippte Marc lauernd. »Der andere, der draußen wartete, trug eine Pilotenjakke.« »Es waren also zwei?« Die Beschreibungen paßten recht gut auf Montagnes Freunde, auf Noel und Balmain. »Merci, Petry«, sagte Marc, »an den Münzen bin ich nicht interessiert.« »Die verkaufe ich einzeln an vorgemerkte Sammler«, sagte der Schweizer, »und was die beiden Messieurs betrifft, die bestiegen später ein Motorhome. Sie wissen schon, so einen selbstfahrenden Camping-Bus.« 111
Marc räusperte sich. »Woher wissen Sie das? Parkten sie gegenüber?« Der Münzhändler, der auch seltene Briefmarken ankaufte, ohne zu fragen, woher sie stammten, hatte das fein entwickelte Gespür von Kriminellen. »Die Herren erweckten einiges Interesse bei mir. Merkte das am Kräuseln meiner Nackenhaare. Wenn mich eine Sache gepackt hat, dann möchte ich mehr darüber wissen. Deshalb schickte ich meinen Sohn hinter den beiden her. Sie benahmen sich auf eine Weise, als versuchten sie einen sichtbaren oder unsichtbaren Beschatter abzuschütteln. Aber mein Sohn blieb auf ihren Fersen, bis zum Limmatkai, wo sie in ein Reisemobil kletterten und rasch wegfuhren.« »Typ?« »Ein amerikanisches Modell auf Chevrolet-Basis.« »Farbe?« »Weiß mit roter Bauchbinde.« »Kennzeichen?« »Paris«, sagte der Schweizer. »Deshalb rufe ich Sie ja an, Marc. Die Sache kam mir reichlich mysteriös vor. Wenn ich richtig informiert bin, dann ist Paris die Domäne von Marc & Rabol. zumindest was gewisse Branchen betrifft.« »Merci, Petry«, sagte Marc. »Sie können in Zukunft auf mich zählen.« Freunde zu haben, die einem verpflichtet waren, nichts war wichtiger in diesem Geschäft.
112
Marc besprach mit seinem Partner Rabol die Neuigkeit. Rabol telefonierte sofort mit Freunden in Italien, die ihm gerne gefällig waren. Als er aufgelegt hatte, fragte Marc: »Warum hast du ausgerechnet Pellerini in Mailand gebeten? Du weißt, daß er zu den Freunden der Freunde gehört.« »Und er ist mein Freund.« »Und wird Fragen stellen.« »Erst wenn er Montagne hat«, sagte Rabol. »Montagnes Freund kaufte dieses Ungetüm von Wohnmobil. Sie kratzten damit die Kurve und glaubten, wenn sie kein Hotel zur Übernachtung aufsuchen müßten, seien sie aus der Klemme. Jetzt sind sie erst recht in der Klemme.« »Wenn Pellerinis Leute sie finden.« »Erst dann wird Pellerini Fragen stellen.« »Und was wirst du ihm antworten?« Rabol grinste. »Ich werde ihm sagen, der Fahrer des Wohnmobils habe meine Tochter entehrt. So was verstehen Sizilianer.« »Ob sie es auch glauben?« »Sie sind meine Freunde.« »Aber du hast keine Tochter, Rabol.« »Dann hat der Bursche eben mit Falschgeld bezahlt, oder meine Hunde vergiftet. Ich werde der Sache mehr privaten Charakter geben. Mir wird schon etwas einfallen.« Nun falteten sie die Landkarten auf. »Nach Frankreich zurück können sie nicht«, kombinierte Marc, »da bin ich sicher.« 113
»Käme noch Österreich und Deutschland in Betracht.« »Dann hätten sie die Silberlinge dort verkauft. Zwei Grenzen hinter sich zu haben, ist besser als nur eine.« »Also fahren sie nach Italien.« »Warum verhökerten sie das Zeug nicht dort?« »Sie fürchten, die Italiener würden sie übers Ohr hauen.« »Und in Zürich versteht man Französisch besser als in Italien.« »Das leuchtet doch ein, oder?« »Daß sie nach Süden weiterziehen, meinst du.« »Ich bin sicher«, sagte Rabol, »daß sie den Gotthard nehmen. Bahnverladung oder Paßfahrt, das kommt auf dasselbe heraus. Sie müssen immer über den Mailänder Autostrada-Ring. Dort hat Pellerini seine Leute an den Zahlstellen sitzen.« Marc riet abzuwarten. »Mit wahrer Gelassenheit«, äußerte Rabol und füllte sein Cognacglas nach, »denn auch unsere schöne Manon ist nicht ganz untätig, wie man hört.« »Oui, sie macht sich überraschend gut.« »Ein Naturtalent? Fast zuviel Talent.« »Nicht zuviel«, ergriff Marc Manons Partei, »mit dem Seidenbubi André hatte sie Pech. Der zog es trotz ihrer Reize vor, das Weite zu suchen. Dafür fing sie diesen merkwürdigen Fisch ein.« Rabol fragte über den Glasrand hinweg. »Weiß sie schon Näheres über ihn?« »Vermutlich ist er ein Kontrollorgan von Internationale 114
Electronique. Dort fielen Montagnes Aktivitäten allmählich auf. Der Kontrolleur sollte ihm auf den Zahn fühlen. Aber er ist bestechlich.« »Oder er ist von Interpol.« Marc winkte ab. »Wäre er dann durch das Dach gekommen?« »Non, wäre er wohl nicht«, meinte Rabol. »Manon soll ihr Bestes tun, und wir tun auch unser Bestes.« »Ich habe ihr eine Leibwache geschickt.« Rabol steckte sich eine Havanna an. »Findest du nicht auch, Marc«, bemerkte er gutgelaunt, »daß wir immer besser werden, wir zwei alten Grauköpfe?« »Oui«, sagte Marc, »wir haben alles im Griff. Wie immer.« * Die Nachrichten aus Mailand klangen schlecht. »Möglich«, meldete Pellerini, »daß der gesuchte Wagen schon vor Tagen vorbeikam. Einer der Leute an den Zahlstellen erinnert sich, daß der Fahrer um die Gebühr feilschen wollte. Der Mann an der Zahlstelle erklärte ihm, daß die Gebühr erst am Zielort zu entrichten sei. Daraufhin fragte man ihn, was es wohl bis Ancona kosten würde. Der Angestellte rechnete den Betrag aus. Der Fahrer nahm die Kontrollkarte in Empfang und fuhr weiter. Das war Freitag oder Samstag. Ob es das Wohnmobil aus Paris gewesen ist, können meine Leute nicht garantieren.« 115
»Ancona also«, murmelte Rabol. »Was, zum Teufel, ist um diese Zeit in Ancona los?« »Mit Ausnahme von Sonne, Meer und Strand wenig«, meinte Pellerini. »Es sei denn, man hat die Absicht, eine der Fähren zu benutzen. Von Ancona gehen täglich mehrere Autofähren nach Dubrovnik, nach Piräus, nach Kreta und nach Ägypten.« »Na wunderbar.« Rabol überlegte fieberhaft. »Sollen wir nachfassen?« fragte Pellerini. »Rentiert sich nicht«, meinte Rabol, »wir lassen ihn laufen. Den kriegen wir schon eines Tages.« »Ein säumiger Zahler?« »Er hat unser Silberbesteck geklaut«, sagte Rabol. »Ich danke dir, Pellerini. Stets zu deinen Diensten.« Er legte auf und fühlte Marcs Blick auf sich ruhen. »Und jetzt?« »Unsere besten Leute sollen sofort hinterher. Entweder die drei hocken auf einem Campingplatz in Ancona und lassen sich bräunen, oder sie schwimmen Richtung Griechenland.« »Und wenn?« »Dann stellt sich die Frage, was, zum Teufel, suchen ein Gigolo wie Montagne und seine Freunde dort? Wollen sie das Land des Zeus mit der Seele suchen? Montagne hat bei van Dyckens abkassiert, weil er ihm Informationen lieferte. Montagne hat einen, wenn auch unerheblichen Silberschatz gehoben, weil er wußte, wo er lag. Welche Informationen lassen ihn weiter nach Südosten ziehen? Der Bursche hatte zweimal Erfolg. Jetzt vertraut 116
er seinen Kenntnissen hundertprozentig. Bevor er versunkene Millionenschätze ausbuddelt, müssen wir ihn haben.« Marc griff zum Telefon. »Paul und Remond sollen sich reisefertig machen«, ordnete er an. Und zu Rabol sagte er: »Dies nur zu unserer Sicherheit.« »Für den Fall, daß Manons Wunderknabe bei den Computer-Hieroglyphen nicht weiterkommt.« »Man muß ihm Beine machen«, riet Marc. »Am besten, wir kümmern uns persönlich um ihn.« Marc war einverstanden. »Vier Räder sind besser als drei, und zwei Gleise sind sicherer als eines.« Rabol betrachtete das Foto von Manons neuester Errungenschaft. Manon hatte es heimlich aufgenommen. »Kennst du den Burschen?« »Er kommt mir bekannt und auch wieder nicht bekannt vor«, sagte Marc. »Wir schicken Pierre damit los. Er soll es herumzeigen. Dann wird man sehen.« »Aber mit aller Vorsicht.« »Leute, die man nicht kennt«, murmelte Marc, »die leben auch nicht.« »Und Leute, die man nicht kennt«, ergänzte sein Partner, »die sterben auch nicht.«
117
Die Nachforschungen in Ancona ergaben, daß ein amerikanisches Masterson-Wohnmobil mit der SamstagFähre den Hafen verlassen habe. Die Passage war bis Alexandria gebucht. »Dann fliegt nach Ägypten hinterher!« befahl Marc seinen Leuten. »Aber wenn sie schon vorher von Bord der Fähre rollen, in Kreta oder auf Cypern, dann hänge ich euch das Kreuz aus.« Rabol kam herauf und warf sich in den Ledersessel. Er war so voluminös, daß der großgewachsene Rabol schier darin versank. »Der Fingerabdruck hat wenig ergeben«, berichtete er. »Mein Kontaktmann bei der Sürete hat nichts in der Kartei. Und Manon spurt auch immer schlechter.« »Manon, Manon«, murmelte Marc, »sie enttäuscht mich.« »Ich habe dich gewarnt.« »Sie läßt den gehörigen Druck vermissen.« »Dann übe du ihn aus.« »Bevor wir bei diesem Burschen in Erscheinung treten«, sagte Marc, »sollten wir wissen, wer er ist.« »Zumindest wer er nicht ist«, schränkte Rabol ein. »In der Fingerabdruckkartei führen sie Unterlagen über jeden jemals erfaßten Kriminellen, über Beamte und natürlich auch über jeden Polizisten, ganz egal, welcher Einheit er angehört, ob Kripo oder Sondergruppe für Wirtschaftsvergehen.« »Wenn er in keiner dieser Karteien auftaucht, dürfen wir davon ausgehen, daß er von Internationale Electroni118
que als Fahnder gegen Montagne eingesetzt wurde«, vermutete Marc. »Dort kennt ihn aber auch keiner«, äußerte Rabol. »Dann kommt er vielleicht von einer anderen Firma. Auf jeden Fall ist er Computerexperte von hohen Graden.« »Und müßte demnach in der Lage sein, diesen Mist zu entschlüsseln.« »Vertrauen wir auf Manon«, schlug Rabol vor. »Sie wird ihn schon kleinkriegen.« Marc hob zwei Finger. »Und auf unsere Leute in Ägypten.« »Wann können sie dort sein?« »Spätestens morgen früh.« Der Anruf aus Alexandria kam schon in der Nacht. »Sie sind weiter nach El Alamain«, meldete Remond, ihr Vertrauensmann. Der immer kritische Rabol schaltete sich in das Gespräch ein. »Woher wissen Sie das, Remond?« Die Verbindung war miserabel. Sie verstanden die Antwort ihres Mannes kaum. Er sagte, sie hätten alle Tankstellen abgeklappert. An einer hätte der gesuchte Wagen Frischwasser gezapft. Die Leute im Wohnmobil hätten auch eine Karte gekauft und nach den Straßen zwischen El Alamain und Matruh gefragt. Dann hätten sie wissen wollen, ob es möglich sei, einen Tanklastzug zu mieten, ob es eine private Mineralölfirma in Alexandria gebe und noch einiges mehr.« 119
»Versucht sie zu finden«, forderte Marc. »Und wenn ihr sie habt«, fügte Rabol hinzu, »dann konzentriert euch auf dieses Milchgesicht Montagne. Nur den wollen wir haben. Was mit den anderen passiert, ist mir schnuppe. Am besten, es gibt keine Zeugen von dem Zwischenfall.« Der Anrufer hatte verstanden. »Zehntausend für jeden von euch extra«, lobte Marc aus, »wenn ihr das Milchgesicht unbeschädigt bei mir abliefert.« »Verlassen Sie sich auf uns«, sagte der Mann in Ägypten. Marc und Rabol erteilten noch Anweisungen, dann wurde die Verbindung so schlecht, daß sie auflegten. »Montagne hat nach einem leeren Tanklaster gefragt«, murmelte Marc, »wollen sie Wasser in die Wüste fahren und Bäumchen setzen? Verstehst du das?« »Der Schlüssel könnte Matruh sein.« »Was ist Matruh?« erkundigte sich Marc. »Vielleicht fällt es dir ein, wenn ich den ganzen Namen nenne. Marsa-Matruh.« Marc schlug sich gegen die Stirn. »Rommel!« rief er. »Tobruk, Cyrenaika.« »Das ist schon libysches Gebiet.« »Aber in Marsa-Matruh hat er seine größten Schlachten geschlagen.« »Dort an der Küste hatte er auch seinen Nachschubhafen«, erwähnte Rabol. »Das ist es!« Marc war entzückt. »Wo Tausende von 120
Tonnen Nachschub für eine Armee gelandet werden, bildet man auch Reserven. Stille Reserven. Notreserven. Beim Rückzug konnte man sie nicht mehr mitnehmen, aber es gab Aufzeichnungen darüber. Und unser Eierkopf Montagne hatte Zugang zu ihnen. – Ich sage dir, Rabol…« »Was?« »Die ganze Erde ist gespickt mit solchen versunkenen Schätzen.« Rabol wurde rasch wieder skeptisch. »Alte verrostete Munition, verrostete Panzermotoren, vergammelte Konserven. Nur noch Schrott das alles!« »Schrott pumpt man aber nicht in Tankzüge«, wandte Marc ein. »Aber Benzin in unterirdischen Tanks hält sich gut und ist heute eine Menge wert.« »Benzin kenne ich bisher nur als Flüssigkeit im Tank meines Autos«, erklärte Marc, »laß uns überlegen, wie man damit Geschäfte machen kann.« Rabol ging in die Bibliothek hinüber und zog aus dem Regal ein Lexikon mit dem Buchstaben B. Das reichte er seinem Partner. »Schlag nach bei Brockhaus«, sagte er. 9. Bob Urban zog die Lampe tiefer. Mehrmals schon hätte er die Möglichkeit gehabt, seine Bewacher zu überwinden und sein Gefängnis in der Pari121
ser Vorstadtvilla zu verlassen. Aber er erlag dieser Verlockung nicht. Auch wußte er zu wenig über diese Organisation, bei der die schöne Manon und die zwei Gorillas nur die Außenposten darstellten. Für seinen Auftrag sah er keine Gefahr, wenn er noch eine Weile bei ihnen blieb. Im Gegenteil. Er hatte die Computeraufzeichnung beschafft. Entschlüsseln konnte sie nur ein Expertenteam. Wenn, wie befürchtet, in den alten Depots auch deutsches Giftgas lagerte, dann war der Zugriff jetzt weitgehend abgesichert. Vorausgesetzt, Manons Hintermänner ergriffen nicht André Montagne. Weil diese Gefahr aber bestand, mußte er weiter mitspielen. Urban zog die Lampe noch tiefer und starrte auf die Fotokopien. Die Zahlen- und Zeichenkolonnen verschwammen vor seinen Augen. Nicht einen Satz davon konnte er in Klartext bringen. Nur das System war durchschaubar. Bei dem Text handelte es sich um etwa fünfzig verschiedene bis zu zehn Zeilen lange Einzelpositionen, vermutlich mit Angaben des Depot-Inhaltes und der geographischen Lage. Die Tür ging auf. Manon trat ein. »Kunstlicht schadet den Augen. Zu helles Licht, das auf weißes Papier fällt, erst recht«, rief sie. »Sag deinen Gorillas«, Urban nahm ihr das Teetablett ab, »sie sollen die Jalousien öffnen.« »Sie haben Angst, daß du aus dem Fenster steigst.« »Sie haben alles verschraubt, wie ich sah.« »Das genügt ihnen offenbar nicht.« Der Tee duftete und das Gebäck auch. Nach Vanille. 122
»Ich bitte trotzdem um Hafterleichterung.« Urban tat, als sei er nicht in der Lage, sie sich selbst zu verschaffen. »Es sind nicht meine Gorillas«, äußerte Manon. »Wessen Gorillas dann?« Doch darüber schwieg sie, wie schon seit Tagen. »Dachte, der Boß billigt unseren Kontrakt«, fuhr Urban fort. Sie stand hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. »Erst mußt du liefern, mon ami.« »Ich habe nur ein Gehirn«, bedauerte Urban, »dazu braucht man aber ein Dutzend. Mindestens jedoch zwei.« Er ließ die Hand fallen, berührte mit den Fingerspitzen ihre Beine. Sie waren nackt, ohne die Kunsthaut von Nylon. Er spürte ihre Reaktion, ein kurzes gegen seine Hand Drängen, ein öffnen der Beine. Doch dann zog sie sich blitzschnell zurück. Er gab etwas Zitrone in den Tee, zwei Tropfen. »Du heißt Robert. Und wie noch?« »Boulanger«, sagte er, von denen es allein in Paris achthundert gab. »Was rauchst du da für Zigaretten? Monte Christo? Nie gesehen diese Marke.« »Die hat mir ein Freund aus Italien mitgebracht.« »Es sind nur noch vier Stück.« »Besorg mir neue.« »Gitanes?« »Ich kann auch selber drehen«, sagte er und wechselte das Thema. »Angenommen, es gelingt mir, diesen Computeraufschrieb zu entziffern, was passiert dann?« 123
»Man wird sehen.« »Das ist zu wenig. Dabei fällt mir nicht viel ein.« Er rauchte und blickte ihr nach, als sie ging. Man konnte sich schnell an sie gewöhnen. Sie war ein fast scheues, zurückhaltendes Mädchen von offenbar guter Erziehung. Wie geriet so etwas in diesen Kreis von Gangstern? Manon fühlte offenbar Urbans Blick und drehte sich um. »Ich kann nichts tun«, versicherte sie bedrückt. »Warum?« »Ich fürchte, ich genieße kein Vertrauen mehr.« »Dann müssen wir uns gemeinsam etwas einfallen lassen.« Urban deutete auf das Fenster. »Keine hundert Meter von uns entfernt ist die Durchgangsstraße. Jede Minute fahren Hunderte von Menschen dort vorbei. Ich sitze hier, und sie haben keine Ahnung davon.« »Ist es in einem Gefängnis nicht ebenso?« »Ins Gefängnis geht man nicht freiwillig.« »Was ist freiwillig«, fragte sie, »wo ist Zwang? Weißt du das?« »Auch sogenannte freiwillige Entscheidungen entstehen meist unter Druck«, räumte er ein. »Druck von innen, Zwang der Logik, der Vernunft, der Berechnung.« Die Tür schnappte zu. Er war allein. Manchmal fragte er sich, wie lange er dieses sonderbare Spiel noch mitmachte. Eines Tages würde sich alles ändern, das wußte er. Aber wann?
124
Die Vermutung, daß sich die nächsthöheren Funktionäre dieser Organisation zu erkennen geben würden, sobald er Fakten vorlegte, drängte sich auf. Es wäre Urban ein leichtes gewesen, diese Fakten zu liefern. Er besaß genug Insiderwissen und genug Phantasie, um ihnen einen Klartext hinzulegen, der sie faszinierte. Aber wie lange wäre das gutgegangen? Eine einzige Stichprobe an Ort und Stelle hätte genügt, um das Kartenhaus seiner Lügen zusammenfallen zu lassen. Deshalb wählte Urban einen anderen Weg. Er wollte versuchen, an die entschlüsselten Originaltexte heranzukommen und Kontakt mit seinen Leuten aufzunehmen. In der blaugoldenen MC-Packung lagen noch drei Zigaretten. Eine davon opferte er. Vorsichtig schälte er mit dem Nagelreiniger den Inhalt aus dem Goldfilter. Früher hatte man als Filter eng zusammengerolltes Kreppapier benutzt. Heute verwendete man faseriges Material aus Zellwolle, das wohl mehr Nikotin aufsaugte und leichter von den Filteraufsetzmaschinen in die Hülle einzubringen war, weil man es von einem Endlosstrang abschnitt. Urban riß einen Streifen Papier, etwas schmäler als die Filterlänge vom Paris-Soir und beschriftete ihn mit Kugelschreiber. Er überlegte noch, ob er die Geheimtinte benutzen sollte, die jeder Mensch in Form seines Urins bei sich trug. Urinschrift wurde, wenn man das Papier über eine Flamme röstete, rasch sichtbar. Diese Vorsicht hielt er jedoch für unnötig. Mit geläufigen Geheimdienstbegriffen fixierte er seine Wünsche. Durch die 125
Worte ›secret‹ und ›dringend‹ vermittelte er ihnen den nötigen Nachdruck. Dann rollte er den Zeitungsrand zusammen, stopfte ihn anstelle der absorbierenden Watte in den Filter. Durch einen kaum wahrnehmbaren Punkt markierte er die so präparierte Zigarette. Bald darauf löschte er das Licht und legte sich auf das Bett. Wie in jeder Nacht dachte er vor dem Einschlafen noch einmal seine Lage durch und analysierte sie nach allen Richtungen. Man konnte nicht behaupten, daß sie besser geworden war. Er kam einfach nicht weiter. Er saß fest. * Erst spürte er Kühle, dann Wärme, die eines Körpers. Nackte Haut, ohne etwas darüber. Manon lag neben ihm. Sie umarmte ihn stumm, drängte sich an ihn. »Ohne Vorleistung?« fragte er. »Vielleicht regt es dich an.« »Ist es dir denn erlaubt?« »Ich frage nicht mehr.« »Seit wann?« »Seitdem sie mir mißtrauen.« »Wie äußert sich das?« »Sie sind unzufrieden, weil es bei dir nicht vorwärtsgeht.« Er genoß ihre Bereitschaft und fackelte nicht lang. »Wir werden abhauen, alle beide«, schlug er vor. »Das geht nicht«, sagte sie flüsternd. 126
»Laß uns ein wenig korrupt sein.« »Auch ich bin nur noch eine Gefangene, Robert.« »Bist du gekommen, um mir das zu sagen?« fragte er. Sie verneinte und schüttelte den Kopf. »Oder aus Trotz?« »Aus Zuneigung«, antwortete sie. »Weil du jetzt einen Freund brauchst, und weil man sich Freunde am ehesten im Bett macht.« »Schweig bitte.« Also schwieg er und wartete. Es dauerte lange, bis sie wieder mehr von sich gab als ein lustvolles Stöhnen. Sie lag neben ihm und starrte zur Decke, wo schmale Lichtreflexe, soweit die Metalljalousien sie durchließen, vibrierten. »Hast du eine Zigarette?« »Nein«, log er, »das heißt, eine noch.« »Laß uns weggehen, hast du gesagt.« Sie war heiß und deckte sich auf. »Wohin sollen wir gehen?« »Die Welt ist groß, Madame.« »Und wovon leben wir?« »Ich kann arbeiten.« »Sie werden uns finden, Robert.« »Wir hängen sie schon ab.« »Du hast«, setzte sie an, »du hast so wenig Angst wie ein…« »Wie wer?« »Wie ein Polizist, wie ein Agent.« Das war der Schock, da fiel bei ihm der Groschen. Darauf also lief es hinaus. Sie hatte das alte Mittel eingesetzt, 127
das er schon in x-Fällen gebraucht hatte, lange vor ihr. Schon zu einer Zeit, als er noch nicht wußte, daß es eine Manon gab. Wie oft war er mit Frauen intim geworden, um sie gesprächig zu machen. Heute war es umgekehrt. Genau dieses Verfahren probierte Manon nun bei ihm aus. Er überlegte kühl. Am besten er reagierte so, als merke er nichts und falle auf ihre Gefühlsmasche herein. »Wenn ich Polizist wäre, hätte ich es längst gewagt«, äußerte er. »Die Flucht?« »Was sonst.« »Ohne bei mir den vereinbarten Preis zu kassieren?« »Leben oder lieben, was ist wertvoller?« »Und dauerhafter.« »Liebe kann zu Ende gehn, das Leben kann eine neue Liebe bringen.« »Ich habe ein wenig Geld«, sagte Manon. Sie gab nicht auf, fing immer wieder an, mehr aus ihm herauszukriegen. »Ich nicht«, gestand er. »Der Wagen ist nicht mal bezahlt.« »War er teuer?« »Auf der Wohnung liegt eine Hypothek.« »Entlohnen sie dich so schlecht?« »Ich bin freier Mitarbeiter. Computerfahnder mit speziellen Fachgebieten. Du machst dir keine Vorstellungen, welche Betrügereien mit Computern anzustellen sind. Allein im Bankgeschäft, im Rechnungswesen, in der Lohnabrechnung. Ein Computer so programmiert, daß er 128
die zweite Stelle hinter dem Komma, also die CentimeBeträge, abrundet und auf ein bestimmtes Konto überweist, das kann bei einem Großunternehmen im Jahr Hunderttausende einbringen. Es tut keinem weh, keiner merkt es. Aber der geschickte Programmierer sahnt ab und hat eine zusätzliche Einnahmequelle. »Was tust du sonst noch?« Er erzählte ihr viele Geschichten. Er erzählte ihr alle Storys, die er je über das Computerwesen gehört hatte, ein wenig abgewandelt zwar, aber doch so, daß sie glauben mußte, daß er nichts anderes sein könnte als ein Experte für elektronische Datenverarbeitung. Als er sie noch einmal an sich ziehen wollte, entzog sie sich seinem Zugriff. »Morgen.« »Wer weiß, was morgen ist, Manon.« »Schon möglich«, sagte sie, »kann schon sein, daß sich manches sehr schnell ändert. Man muß auf alles gefaßt sein.« »Wir sollten zusammenhalten«, schlug er vor, »zwei sehen, hören, vermögen mehr als einer allein.« Da lachte sie nur kehlig. »Allein kann ich immer noch zehnmal mehr als mit einer Flasche wie dir am Hals.« »Bon«, sagte er und warf sie aus dem Bett. Sie ging, ohne noch ein Wort zu verlieren. Ihre nackten Füße klatschten auf dem Boden. Er glaubte ihren Schatten zu sehen, als sie den Bademantel aufhob und anzog. Dann ging die Tür. Wenig später hörte er im oberen Ge129
schoß die Dusche. Was du da verfolgst, dachte er, ist verdammt kein Meisterplan, das ist gar nichts. Er mußte versuchen, die Dinge in Bewegung zu bringen. Am nächsten Morgen ging er hinaus und stand seinem Leibwächter gegenüber. »Ich hab’s«, knurrte er. »Sag deinem Boß, die Arbeit sei getan. Jetzt möchte ich Money sehen.« 10. Bei Sonnenaufgang war es so heiß, daß man sich fragte, wovon in Afrika die Schneider lebten. Man wagte sich kaum aus dem Schatten des Vorzeltes. Balmain blickte immer häufiger auf die Uhr. »Wo sie nur bleiben«, sagte er. »Beim Warten schwitzt man mehr als beim Arbeiten.« Auch André wurde unruhig. »Um sechs Uhr wollte Noel den Tankzugfahrer treffen. Jetzt ist es gleich acht. Sie fahren nicht länger als eine Stunde.« »Mit dem leeren Tankzug höchstens fünfzig Minuten.« Die Straße war gut bis auf das letzte Stück zum Meer herunter, wo einst Marschall Rommels Versorgungshafen für das Afrikakorps gelegen hatte. Jetzt sah man davon nur noch flachgebaggerte Hügel und Dünen. Eine Rampe, etwa zwanzig Meter breit, führte hinauf Richtung Sidi-Barrani. Was die Deutschen am Strand zurückgelassen hatten, war von den Einheimischen bis zur letzten Kartusche, bis 130
zum letzten Kanister und Lkw-Reifen verwertet worden. Auch noch so verrostete Fahrzeugwracks waren in die Schrottöfen gewandert. Nur was unter der Erde lag, was Rommels Pioniere zum Schutz gegen britische Jagdbomber tief eingebuddelt hatten, das hatten die drei Freunde unversehrt vorgefunden. Eigentlich hatten sie schon aufgeben wollen, weil sie fürchteten, die Angaben seien ungenau. Doch dann hatte Balmain, halb vom Sand überweht, den Betonklotz entdeckt. Beton hatte die Einheimischen nicht interessiert. Damit konnte man nichts anfangen. Man konnte ihn nicht einmal zerschlagen. André fand die Erklärung. Rommels Pioniere hatten den Endstutzen der kleinen Benzinpipeline beim Rückzug einfach zubetoniert. Also waren sie den Klotz mit Pickeln angegangen. Dreiunddreißig Jahre lang Sommerhitze und Winterstürme hatten dem Beton mächtig zugesetzt. Er war mürber gewesen, als sie erwarten konnten. Oder die Pioniere hatten damals aus Materialnot mehr Sand als Zement verarbeitet. Nach sechs Stunden schweißtreibender Arbeit hatten sie im Beton den Endstutzen gefunden. Sie hatten die Verschraubung gelöst und eine Leine mit einem Stein daran in die Tiefe gelassen. Als sie die Leine heraufzogen, war sie auf vier Meter Länge mit Benzin getränkt. »Wir brauchen einen Tankzug«, sagte André, »der über eine Saugpumpe verfügt. Von allein sprudelt das Zeug nicht aus der Erde.« »Noel ist der Techniker von uns. Er kennt sich aus.« 131
»Deshalb dauert es eben länger. Er wird nicht den erstbesten Wagen akzeptiert haben.« Sie warteten weiter. Balmain überlegte, ob er ein Stück hinausschwimmen sollte. Aber am flachen Strand hatte das Meerwasser 28 Grad. Es kühlte nicht ab und man bekam die verdammte Salzschmiere nicht mehr von der Haut. »Wieviel, glaubst du, ist in dem Tieftank?« wandte er sich an seinen Partner. »Etwa achthundert Kubikmeter«, schätzte André. »Sie schweißten ihn damals aus den Trinkwassertanks eines gestrandeten Lazarettschiffes zusammen.« »Dann f aßt er rund eine Million Liter.« »Wenn er voll ist. Im Lauf der Jahre dürfte aber einiges versickert sein.« »Sagen wir Minimum eine halbe Million Liter. Dann muß der Tankzug zwei Dutzend mal fahren.« »Pro Ladung hat Noel zweitausend Dollar ausgehandelt. Wenn die Qualität in Ordnung ist. Zehn Cent pro Liter.« »In Paris würde man das Fünffache erzielen.« »Nicht im Großhandel. Da wohl nur das Dreifache. Aber wir sind nicht in Paris. Bin froh, wenn das Geschäft über die Bühne geht, ohne daß es zu sehr auffällt.« »Der Treibstoffhändler wird schweigen. Er umgeht die Steuer.« »Aber es wird wenigstens drei bis vier Tage dauern.« »Wir haben Zeit.« »Zeit hat man nie genug, Balmain.« 132
»Siehst du schon wieder Gespenster, André? Glaubst du, daß man uns noch immer verfolgt, hier in Ägypten, am Rande der Sahara?« André gab sich einen Ruck. »Unsinn!« rief er und holte das Suzuki-Motorrad vom Dachständer, um Noel entgegenzufahren. Es war nicht nötig. Wenig später hörten sie einen schweren Diesel, der rasch näher kam. Bald tauchte zwischen den Sandhügeln die Motorhaube eines riesigen Stutz-Sattelzuges auf. Durch ein schornsteinartiges Rohr blies er schwarze Abgase in den Himmel. Noel hing draußen auf dem Trittbrett und wies den Fahrer ein. Zwanzig Minuten später saugte der Schlauchrüssel des Tankzuges schon die ersten Gallonen Rommelsprit aus der Erde. * Balmain stand oben auf dem Kessel. Mit einer Holzlatte maß er durch die geöffnete Entlüftungsklappe den Füllungsgrad. Bei diesem ungebauten US-Armeetankzug ging alles noch etwas altertümlich zu. Plötzlich machte Balmain heftige Armbewegungen. Aber man verstand ihn nicht wegen des Lärms. Der Tankzugfahrer stellte die Pumpe ab. »Schon voll?« rief Noel hinauf. Balmain deutete Richtung Küstenstraße. »Ein Wagen hat angehalten. Zwei Männer sind ausgestiegen.« 133
»Werden pinkeln«, sagte Noel. »Jetzt sind sie verschwunden«, meldete Balmain aus fünf Metern Höhe. »Los, weiter!« drängte Noel. Der Tankzugfahrer riß den Pumpenmotor wieder an. Der Zweitakter knatterte durch den verrosteten Auspuff. Er schaffte nicht mehr als fünfhundert Liter pro Minute. Noel sprach mit dem Ägypter wegen der nächsten Fuhre. André suchte mit dem Glas die Dünen ab, dann das Meer. Weil er nichts zu tun hatte, bekam er Lust, wenigstens die Füße zu kühlen. Er zog die Schuhe aus, rollte die Jeans hoch, watete ein Stück ins Meer und nach Westen. Er war noch keine hundert Meter weit gekommen, als der Pumpenmotor merkwürdig knallte. Offenbar eine Reihe von Fehlzündungen. André hatte die Sonne gegen sich. Gestrüpp verdeckte die Sicht zu den Freunden. Nur Balmain konnte er oben auf dem Tankzug sehen. Plötzlich warf Balmain die Arme himmelwärts und taumelte. Wenn einer von ihnen absolut schwindelfrei war und mit verbundenen Augen auf einer schmalen Mauer ging, als sei es ein Spazierweg, dann Balmain. Warum verlor er die Balance? Balmain glitt ab, versuchte sich festzuhalten und schrie. Wieder dieses Knattern. Verdammt, das kam nicht vom Pumpenmotor. Das waren Schüsse. 134
Sie wurden erwidert. Natürlich von Noel, der seit ihrer Landung in Alexandria keinen Schritt ohne Pistole ging. Jetzt vernahm André ein Fauchen. Dem Fauchen folgte ein metallisch harter Aufschlag, als betätige man einen schweren Gong. Ein greller Blitz entstand. Ehe der Blitz in einen gelben Feuerball überging, schleuderte die Druckwelle André zu Boden. Er lag flach in der Dünung und dachte immerzu, mein Gott, was ist geschehen? Er spürte den salzigen Schaum der Dünung nicht im Mund, nicht in den Augen. Er sah nur das Feuer, das lodernd, heiße, alles zerstörende Benzinfeuer und den Rauch, der von ihm in den milchigen Himmel quoll. Noch einmal hörte er Schüsse. Dann war Stille. Nichts wie weg, dachte er. Diese Schweinehunde haben uns eingeholt. Er verbarg sich im Dickicht zwischen Strand und Küstenstraße. Im Laufe des Mittags sah er zwei Männer. Sie suchten die ganze Gegend ab. Einen davon kannte er. Das war Remond von Marc & Rabol. Die Sonne stand jetzt senkrecht. Es wurde unerträglich heiß. André überstand es, weil er fühlte, daß es um sein Leben ging. Aber die Männer, die ihn suchten, gaben bald auf. Er hörte sie wegfahren. Gegen Abend kehrte er zurück zum alten Rommeldepot. Der Tankzug war Schrott, ein noch schwelendes Wrack. Der Wohnbus hatte nur 20 Meter entfernt davon geparkt. Er sah nicht viel besser aus. 135
Drei Leichen fand André. Die total verkohlte von Balmain. Noel hatten mehrere Schüsse getötet, den Ägypter eine abgerissene Stahlfelge. Im Schutt suchte André nach der Kassette mit ihren Pässen und dem Bargeld. Das Papier war mürbe, wie geröstet, aber noch brauchbar. * Ein Lastwagen hielt an und brachte ihn vom Rande der Wüste nach Matruh. Dort mietete André ein Taxi und ließ sich nach Alexandria zum Flugplatz fahren, wo er den erstbesten Platz in einer Maschine nach Europa buchte. Am nächsten Morgen um zehn Uhr schlenderte er über die Rue Canebiere von Marseille. Wegen seines Äußeren machte sich André Montagne keine Illusionen. Er mußte es gründlich ändern. Denn worauf es diesen Killern angekommen war, das ahnte er. Nur ihn hatten sie gewollt. Gegen seinen Stil betrat er ein Kaufhaus und kleidete sich dort neu ein, wenn auch von der Stange. Dann suchte er einen guten Friseur, noch besser einen Coiffeur, am besten einen Visagisten, wie man jene Salons nannte, die in der Lage waren, durch geschicktes Umarbeiten von Haarfarbe, Brauen, Bart und Hauttönung ein ganz neues Gesicht herzustellen. André verfügte über einen sicheren Instinkt für solche Dinge. Er fand einen Salon, der ihm vertrauenswürdig schien, ging hinein und sagte bescheiden: 136
»Mir gefällt meine Visage nicht mehr.« Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Gesichtskünstler kam man rasch zu einem Ergebnis. Haar und Bart wurden blondiert und gekürzt. Das Gesicht sollte eine dauerhafte Bräunung erhalten, dazu ein paar markante Falten, die ihn älter und seriöser machten. André unterzog sich gerne der Prozedur. Vier Stunden hatten sie ihn in Behandlung. Er bekam Masken, die die Poren öffneten und verdammt heiß wurden. Dann bekam er Masken, die Sonnenbräune in die offenen Poren eindringen ließ. Nur so hielt die Kunstbräune dauerhaft. Er wurde ausrasiert, gefärbt und onduliert. Man zog seine Hautpartie zwischen Nasenflügel und Mundwinkel auseinander. Die Stelle wurde mit Klebstoff betupft. Nach wenigen Minuten wurde die Spannung der Haut gelockert. Die Magenfalten blieben. »Hält gut zehn Tage«, versprach der Maskenbildner und baute den Rundspiegel auf. André sah sich von allen Seiten mit Panoramaeffekt. »Sie verdienen den Oskar«, erklärte er und zahlte vierhundert Franc. Als er das Studio verließ, kam er sich wie ein anderer Mensch vor. Er fühlte sich wie frisch gehäutet. Außerdem glaubte er, mit einer Tarnkappe versehen zu sein, nicht identifizierbar für den erfahrensten Verfolger, selbst wenn er über Röntgenaugen verfügte. André Montagne spürte zum ersten Mal seit Tagen wieder eine gewisse Sicherheit. So schlenderte er durch 137
die engen schattigen Gassen hafenwärts. Was er jetzt brauchte, war ein Fahrzeug, einen Wagen, klein, schnell, robust. Nichts so Auffälliges wie einen Porsche. Weiter unten kam er an der halbgeschlossenen Wellblechjalousie einer Autowerkstatt vorbei. Sie handelte mit Renault-Automobilen. Er betrat die kühle Garage. Niemand war zu sehen. Sie hielten wohl noch Siesta. Schritte näherten sich ihm von hinten. André fuhr herum und erblickte Waffen. Zwei Meter entfernt sah er den Lauf eines großkalibrigen Revolvers und eine spitz zugeschliffene Klinge. »Jetzt keine Sperenzchen mehr, Montagne«, sagte der mit der Kanone. »Wir sind lange genug hinter dir her. Der Boß will dich sprechen.« Da wußte André, daß seine Chancen schlechter standen als je zuvor. 11. Urbans Lage änderte sich von einer Minute zur anderen. Sie holten ihn aus seinem Zimmer und bugsierten ihn hinten in den CX. Dann fuhren sie stadteinwärts. Manon saß vorn neben dem Fahrer. Der andere Leibwächter hinten neben Urban. Es ging auf 23 Uhr. »Eine Brille«, rief der neben Urban nach vorn. Urban bekam ein schwarzes Ding aufgesetzt. Damit konnte er praktisch nichts sehen. Tastend steckte er sich die letzte MC aus dem Päckchen an. Nach wenigen Zügen tat er, als ekle ihn davor. 138
»In den Ascher!« befahl der neben ihm. »Wie denn, wenn ich blind bin.« Längst hatte Urban die Fensterkurbel ertastet, drehte sie rasch herunter und warf die Kippe nach draußen, ehe der Bewacher es verhindern konnte. »Noch so eine Eigenmächtigkeit, und du bist reif.« »Wofür?« fragte Urban. Der Bursche mochte ihn nicht. Er hatte Urbans Magenschwinger nicht vergessen. Seitdem war ihr Verhältnis getrübt. Urban wußte nicht, ob sein Signal verstanden, ob seine angerauchte Zigarette gesehen und aufgelesen worden war. Er wußte nicht einmal, ob man Manons Haus unter Beobachtung hielt. Seit Tagen war der Kontakt zur Zentrale und auch zu Gil völlig abgerissen. Er konnte nur noch hoffen. Die Fahrt durch Paris mochte vierzig Minuten dauern. Sie überquerten, was deutlich zu hören war, die Seinebrücken. Dann wurde die spärliche Helligkeit, die die Brille durchschimmern ließ, immer geringer. Entweder sie hatten jetzt die Vorstädte der anderen Stadtseite erreicht oder das Industrieviertel, das nachts tot war. Wenig später witterte Urban den typisch brackigen Geruch von stehendem Wasser. Sie fuhren also durch den Seinehafen. Der Fahrer bog scharf ab. Etwas klapperte metallisch unter den Rädern. Vermutlich eine Schleusenbrücke. Wieder ging es scharf um die Ecke. Der Wagen wurde 139
gebremst, ein Tor rollte auf. Sie fuhren hinein, das Tor rollte zu. Sie nahmen ihm die Brille ab. Er durfte aussteigen. Das Gebäude sah nach einem verlassenen Getreidespeicher aus. Mit einem altertümlichen Hydrauliklift ging es nach oben in ein Büro. Dort standen sie dann, Manon und Urban, vor einem Schreibtisch. Dahinter im Chefsessel lümmelte ein Graukopf, typisches Lebemanngesicht, rivierabraun mit tiefen Falten, im Ausdruck kalt und glatt wie das aller erfolgreichen Ganoven. Obwohl es genug Sessel gab, mußten sie stehen. »Du hast versagt, Manon«, griff der Boß Manon an, »das war kein Ruhmesblatt. Du steckst mit ihm unter einer Decke. Das ist alles, was du mir an Dankbarkeit erweist.« »Dankbarkeit«, fragte Manon, »wofür?« Ruckartig stand der Bursche auf, er sprang sie schier an, packte sie an der Bluse und ohrfeigte sie. Alles nur Theater, dachte Urban. Panikmache. Er will sich als Schläger einführen. Angewidert drehte der elegante Fünfzigjährige Manon den Rücken zu. »Geh mir aus den Augen!« zischte er. »Wir rechnen noch ab.« Dann setzte er sich halb auf den Schreibtisch und nahm sich Urban vor. »Und wann rechnen wir ab?« fragte Urban trocken. »Ihr Name?« 140
»Der ist bekannt. Mit wem, bitte, habe ich das Vergnügen?« »Ich bin Marc.« »Eh bien, Marc«, sagte Urban. »Ihre Schau mit Manon war ganz mieses Provinztheater. Sie beeindruckt mich nicht.« »Und mich nicht Ihre Kaltschnäuzigkeit, Monsieur Boulanger.« »Vielleicht aber meine Kenntnisse, Monsieur Marc.« »Los, dann packen Sie aus.« Urban setzte sich, schlug die Beine übereinander und betrachtete seine Fingernägel. »Packen Sie erst die Kohlen aus, Marc.« Der Boß beherrschte sich mühsam. »So spricht gewöhnlich keiner mit mir.« »Diesmal habe ich etwas«, äußerte Urban, »was Sie gerne hätten. Das ist der Unterschied.« Marc schluckte auch das hinunter und versuchte der kühle Geschäftsmann zu bleiben. »Was fanden Sie auf dem Computerausdruck?« »Millionenwerte«, faßte es Urban in ein Wort. »Das weiß ich«, erwiderte Marc. »Hinter einem lausigen Heißluftballon bin ich in der Regel nicht so scharf her.« »Dann sollten wir zur Sache kommen«, schlug Urban vor. »Am besten, Sie legen alles, was Sie wissen, schriftlich nieder.« »Einverstanden«, erklärte Urban. 141
»Hier ist eine Schreibmaschine und Papier.« »Fabelhaft«, tat Urban begeistert. »Jetzt lassen Sie die Maschine nur noch ins Hotel Commodore bringen und mich dazu. Dann fange ich sofort an. Meine Notizen gegen hunderttausend Franc.« Marc lächelte säuerlich. »Sie sind offenbar von Sinnen, Boulanger.« Urban war völlig nüchtern, aber was er brauchte, war einfach Zeit und Kontakt mit Pullach. »Hotel Commodore«, ließ sich Marc wieder vernehmen, »kann leider nicht in Frage kommen.« »Ich gehe auch ins Ritz, ich bin da gar nicht so.« Marc winkte ab. »Das ist keine Frage von vier oder fünf Sternen. Ich darf Sie aus Sicherheitsgründen nicht auf freien Fuß setzen.« »Verstehe. Das bedeutet, daß Sie mich nach Abwicklung des Geschäftes auch nicht auf freien Fuß setzen, sondern umlegen werden und mit einem Betongewicht beschwert in den Fluß werfen lassen.« Marc zog jetzt wieder eine Schau ab. »Wir sind Kaufleute. Vielleicht nicht ganz seriös, aber nach der Devise leben und leben lassen. Sie liefern Fakten, und wir bezahlen. Das sollten Sie uns schon glauben.« »Glaube ich aber nicht«, bedauerte Urban mit einem langen Seufzer. »Sie werden müssen.« »Ich bin neugierig, wie«, gestand Urban. 142
Marc drehte sich um, betätigte einen Schalter der Gegensprechanlage und nannte zwei Namen. Die Träger der Namen standen wenig später in der Tür. »Zeigt ihm, was ich ihm ersparen will. Vielleicht bringt ihn das zur Vernunft«, befahl Marc. Sie nahmen Urban in die Mitte. Beide hatten sie Waffen bei sich, aber nicht in der Hand. Urban hätte sie überrumpeln können. Aber was hätte das gebracht? Bis Gil mit seinen Leuten kam oder die Polizei, war das Lagerhaus mit Sicherheit geräumt. Der Hydrauliklift brachte sie eine Etage höher. Sie führten ihn durch Gänge bis vor eine Speichertür. Was er durch die Tür hörte, genügte ihm. Es war das Keuchen eines gequälten Menschen. Sie stießen die Tür auf. In der leeren Getreidebox im Licht greller Lampen saß gefesselt auf einen Stuhl ein fast nackter Mann. Sie hatten ihn schon übel zugerichtet und würden so weitermachen, bis er weich wurde. Ein Bursche, der Ähnlichkeit mit Marc hatte, sagte: »Das ist Monsieur André Montagne. Nach unseren Informationen besitzt er dieselben Kenntnisse wie Sie, Boulanger. Einer von euch wird sprechen. Er oder Sie. Da er sehr tapfer ist, wird das Maß seiner Qualen nicht zuletzt von Ihrer Bereitschaft zur Kooperation abhängen. Sie haben Zeit bis morgen früh.« Dann kümmerte er sich wieder um Montagne und saugte an seiner Zigarre, um tüchtig Glut zu erzeugen. »Bringt ihn weg«, rief er über die Schulter. 143
Die zwei Aufpasser schlossen den Nebenraum auf und schoben Urban hinein. Das vergitterte Fenster führte hinaus zum Pier. Urban sah Ladekräne, Elevatoren und das Hafenbecken. In der Ferne blinkten die roten Warnlichter des Eiffelturms. * Urbans Augen waren gut. Nicht die eines Falken, aber bis jetzt war er noch durch keine Sehprüfung gerasselt. Vielleicht neigte das linke ein wenig zur Weitsichtigkeit. Im Grau der Morgendämmerung glaubte Urban, daß sich am stählernen Gitterwerk des Krans etwas bewegte. Ein Mann mußte von unten heraufgeklettert sein. Jetzt schob er sich bäuchlings, auf Deckung bedacht, über den Ausleger hinaus. Dabei beobachtete er ständig die Fassade des Getreidespeichers. Urban hatte keine Zigarette mehr, aber noch das Feuerzeug. Als er sicher war, daß der Mann im Krangeäst weder zu Marcs Truppe noch zum Hafenpersonal gehören konnte – sein Verhalten war zu außergewöhnlich-, knipste Urban das Feuerzeug an und beschrieb damit mehrere Kreise. Dann wartete er ab. Nach einer Minute wiederholte er das Signal, woraufhin der Mann im Kran durch eine ähnliche Kreisbewegung der Hand antwortete. Urban morste nun die Buchstaben B-N-D, indem er das Feuerzeug anknipste, die Flamme mit der Hand abdeckte 144
und sie im Rhythmus von kurz-lang sichtbar werden ließ. Sofort kam von drüben die Bestätigung. Urban« versuchte weiter zu morsen, sah aber plötzlich den Mann nicht mehr. Er war vom Ausleger in die Steuerkabine abgestiegen und betätigte sich dort als Kranführer. Es dauerte nicht lange, dann begann sich der Kran zu bewegen. Zunächst wurde das Fahrgestell auf der Schiene um etwa zwanzig Meter näher an den alten Speicher herangebracht. Danach wurde der Ausleger um einen Achtelkreis pierwärts geschwenkt. Nun kletterte der Mann wieder in seine ursprüngliche Position. Er war jetzt bedeutend näher. Zwar konnte Urban sein Gesicht noch immer nicht erkennen, dafür sah er etwas anderes. Mit einem glänzenden Gegenstand fing der Mann die erste Helligkeit der Morgenröte am Osthimmel ein und reflektierte den milchigen Schein an die nachtdunkle Wand des Speichers, genau vor Urbans Fenster. Gleichzeitig morste er durch Abdecken des Spiegelglases. »Halte Kontakt.« Urban morste zurück: »Benötige Übersetzung Computerlatein.« Der Mann im Kran war offenbar gut vorbereitet. Ohne Pause setzte er das Gespräch im Morse-Code fort. In Stichworten gab er Urban drei Positionen durch. Als Urban bestätigen wollte, daß er verstanden habe, versagte sein Feuerzeug den Dienst. Die Gasfüllung war 145
zu Ende. Er schüttelte es, wartete, bis durch die Düsenwärme der letzte Tropfen im Tank vergast war und versuchte zu antworten. Es mißlang. An der Düse glimmte es nur noch blau. – Nun versuchte er es mit Handzeichen. Doch die Speicherfront zeigte nach Westen, und in seiner Zelle herrschte noch tiefe Dunkelheit. Außerdem fuhr jetzt unten ein Wagen vor. Der Mann im Kran mußte in Deckung gehen. Vielleicht, dachte Urban, klappt es wieder, wenn es heller wird. Doch dann veränderte sich rasch alles zu seinen Ungunsten. Im Nebenraum nahmen sie sich wieder Montagne vor. Urban hörte, wie ihm der Grauhaarige drohte, wie Montagne erst keuchte, dann gequält aufschrie. Er schrie so jämmerlich wie ein kranker Hund, den man prügelte und dann noch mit den Füßen trat. Es hörte nicht auf. Sie bringen ihn um, dachte Urban. Das hält er nicht mehr lange durch. Stur war dieser Montagne, das mußte man ihm lassen. Aber bevor er eine Aussage machte, die nicht in Urbans Konzept paßte, mußte er einschreiten. In einem Moment, als Montagne drüben Atem holte, hämmerte Urban mit geballten Fäusten gegen die Wand. »Hört auf!« schrie er. »Aufhören! Ich will den Patron sprechen.« Drüben wurde es tatsächlich still. Den Gang herauf näherten sich Schritte. Die Tür wurde aufgesperrt, der Graukopf stand da. 146
»Macht es nicht kaputt«, sagte Urban, »das glattrasierte Baby. Bringt ihn nicht um, den Säugling.« »Sie erklären sich also zur Zusammenarbeit bereit?« Urban bleckte alle Zähne wie ein freundlicher Sägefisch. »Da es sich nicht anders machen läßt.« »Bon«, sagte Rabol, »aber ich lasse mich nicht aufs Kreuz legen.« Er mochte mißtrauischer sein als Marc, aber aufs Kreuz zu legen war er auch. * Urban gab etwas Wasser in den Bourbon, dann beendete er seine Ausführungen. »Und damit hat es sich, Messieurs.« »Das waren vier Zeilen«, konstatierte Marc, »der ganze Text umfaßt mindestens vierhundert.« »Ich weiß, wie lang der Computerausdruck ist«, erklärte Urban, »das brauchen Sie mir nicht zu erzählen, Monsieur Marc, aber weiter als bis hierher gehe ich nicht« »Dann muß Montagne wieder leiden«, drohte Rabol, der Marc wie ein jüngerer Bruder glich. »Aus dem holen Sie nichts raus«, antwortete Urban. »Er mag ein Seidenbubi sein, aber seine Gürtellinie liegt tief. Weit unterm Knie.« »Wir kriegen ihn schon weich.« »Der stirbt lieber, bevor er etwas preisgibt«, warnte Urban. »Mit mir haben Sie es leichter. Außerdem bringt mein Vorschlag nur Vorteile mit sich. Sie beenden diese 147
Menschenschinderei und prüfen meine Angaben. Wenn sie in Ordnung sind, rücke ich mit der nächsten Position heraus. So geht es Zug um Zug. Und ich erhalte jedesmal meinen Anteil.« Rabol blickte erst Marc, dann Urban an. »So stellen Sie sich das vor.« »Ohne Risiko für alle.« »Ich sehe das anders. Ich sehe das so, daß Sie bis jetzt nur zwei oder drei Abschnitte des Computertextes entschlüsseln konnten.« Urban nickte. »Sie sehen das völlig korrekt, Monsieur Rabol. Aber was sollte mich daran hindern, auch den Rest zu entschlüsseln? Wenn es mir gut geht, fällt mir das entschieden leichter. Außerdem sind wir von Coup zu Coup stärker verbündet.« Wieder blickte Rabol zu seinem Partner hin. »Von mir aus«, sagte Marc. Rabol stand auf, ging erregt hin und her. »Aber mir gefällt das alles nicht.« Urban hob die Schultern. »Was gefällt Ihnen nicht? Sie haben mich in der Hand und haben Montagne in der Hand. Ich machte Ihnen Angaben über eine Sache, die seit einem Jahrhundert vergraben ist, die Sie nur zu heben brauchen. Wenn Sie sie finden, bedeutet das für Sie ein Vermögen und die Bestätigung, daß ich nicht mit gezinkten Karten spiele. Außerdem bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mit offenen Karten zu spielen.« 148
Marc drückte die Zigarre aus und wandte sich an seinen Partner. »Wenn du mich fragst, wie es ist, dann sage ich dir, so ist es. Er hat recht.« Allmählich wurde Rabol überstimmt. »Nun gut«, entschied er, »aber wenn nur das geringste schiefgeht, dann lösen wir das Problem kurzerhand auf sizilianisch.« »Einverstanden«, sagte Urban. »Und erwarten Sie nicht, daß ich dabei Trauer anlege«, fügte Rabol noch hinzu und verließ das Büro. Marc gab telefonisch Anweisungen, die Fahrzeuge aufzutanken und fertigzumachen. Er teilte seine Leute ein, ordnete die Mitnahme von Geräten an. Dann wandte er sich an Urban. »Mein Partner hält, was er verspricht.« »Ich weiß«, sagte Urban. 12. Die Kolonne bestand aus zwei Fahrzeugen, einer großen Peugeot-604-Limousine und einem Renault Kleinlaster. Vorneweg fuhr der Luxuswagen mit Rabol im Fond. Er fuhr nicht sehr schnell, damit der Lieferwagen mit dem Werkzeug und den drei Männern folgen konnte. Zuerst rollten sie auf der Nordautobahn Richtung Compiegne, dann neben der Oise bis Noyon. Dort verließen sie die Hauptstraße und hielten sich entlang dem alten Napoleonkanal bis Chauny. 149
Rabol hatte die Karte. Seine Leute suchten mit den Ferngläsern die hügelige Wiesenlandschaft ab. »Schleuse neunzehn«, meldete einer von ihnen. »Dann muß hier der Stichkanal nach Westen führen.« Aber sie fanden keinen Stichkanal. Rabol fürchtete schon, daß es ihn nicht gebe und man ihm einen Bären aufgebunden habe, als der Fahrer auf eine Senke deutete, die sich wie ein überwuchertes Flußbett hinzog. Rabol ließ anhalten. »Warum haben sie hier einen Stichkanal gebaut?« fragte einer von Rabols Leuten. Sie stiegen aus. Der 604 und der Kleinlaster folgten ihnen im Schrittempo quer über die feuchte Wiese. Die Räder mahlten. »Napoleon ließ den Kanal anlegen«, sagte Rabol, »weil der Fluß zu viele Schleifen hat, um mit Kähnen durchzukommen. Aber um eine Hammermühle zu betreiben, dazu taugte er. Und was macht man in Hammermühlen?« »Sensen«, sagte einer, »Beile.« »Früher stellte man Säbel, Blech für die Helme und Brustpanzer der Kürassiere her. Vielleicht auch die Rohlinge von Kanonenrohren aus Eisen oder Bronze, was weiß ich.« »Und den Kanal zogen sie herüber, um Kohle, Eisen und Erze herbeizuschaffen.« »Und um das fertige Rüstungsgut nach Paris zu bringen.« Die Böschungen des zugewachsenen Kanals machten 150
eine Biegung. Dahinter wurden die Konturen kantiger. Sie standen vor der verfallenen Hammermühle, einem ehemaligen napoleonischen Rüstungsbetrieb. »Sieht aus, als sei hier gesprengt worden«, meinte einer der Fahrer. »Vom Kaiser selbst oder von den Siegern?« fragte sich Rabol. »Fest steht, daß sich keiner jemals darum kümmerte.« Sie fingen zu graben an und legten eine Fensterhöhle frei. Sie räumten Dreck weg, stiegen ein, drangen in den Keller vor und standen schließlich vor einem wahren Gebirge von Rost. Vor hundertsiebzig Jahren, als Napoleon nach Rußland zog, mochten die Säbel und Gewehre einigen Wert besessen haben. Heute war vielleicht ein Teil davon noch für den Antiquitätenhandel zu retten. Sie fanden auch etwas Kleingeld, eine alte Truhe mit Kupfermünzen, aber kein Silber und erst recht kein Gold. »Immerhin«, sagte einer von Rabols Leuten, »immerhin was.« »Schade ums Benzin«, knurrte Rabol. Am späten Nachmittag kehrten sie nach Paris zurück. Rabol fuhr nicht zum Seinehafen, sondern in seine Wohnung. Marc erwartete ihn dort. »Schlechte Nachrichten?« fragte er, als Rabol eintrat. »Keine guten.« Rabol faßte sich kurz. »Immerhin ist aber bewiesen, daß auf dieser Liste alte Depots, Waffenlager et cetera aufgeführt sind. Nur wenn alle so mies sind wie das an der Oise, dann merci, mon ami.« 151
»Es wird miesere geben und fündigere.« »Man wird sehen.« »Oder nicht«, antwortete Marc. »Meine Nachrichten klingen schlechter als deine. Wir hatten eine Panne.« »Ist einer von den Halunken entwischt?« »Keine Panne bei uns. Aber auf der anderen Seite.« »Auf welcher?« Die Frage war berechtigt. Sie hatten nicht nur einen Gegner. »Einer trieb sich in der Nähe des Silos herum. Das heißt, wir entdeckten ihn, als er mit dem Kranausleger auf dem Dach landete.« Rabol goß Cognac ein und trank hastig. »Ihr habt ihn geschnappt und zum Sprechen gebracht.« »Er konnte nicht mehr sprechen, als wir ihn hatten. Sie schossen auf ihn, während er über das Dach zu entkommen versuchte. Ich rief noch, schießt auf seine Beine. Das taten sie auch. Er stürzte in den Innenhof. Tot.« »Polizei?« »Keine Papiere.« »Ein Freund von Montagne?« »Oder von unserem Computergenie.« »Ob er Kontakt aufnehmen konnte?« »Wie denn?« Rabol leerte das Glas und faßte einen Entschluß. »Wir müssen sie loswerden, müssen allen Ballast abwerfen. Aber vorher quetschen wir sie noch einmal aus. Werden schon die richtigen Tasten an diesen lebenden Computern drücken.« 152
»Olli«, stimmte Marc zu. »Man muß sie loswerden, die beiden, ebenso wie zu gute alte Freunde.« Rabol fuhr herum. »Meinst du mich damit?« »Du bist nicht mein Freund«, sagte Marc, »wir sind nur Partner.« * Sie holten die zwei Gefangenen aus den Silozellen und brachten sie mit dem Elevator in den Keller. Dort roch es nicht nach Getreide und Schrot wie oben, sondern nach Moder und Kanalisation. Rabol leuchtete in einen der Kellerräume hinein. Auf dem Steinboden lag ein Mensch in Jeans und Pullover. Eine Frau, jung und rothaarig. Der Kopf Stellung nach zu urteilen, hatte sie sich das Genick gebrochen. Aber nicht nur das, sondern auch andere Gliedmaßen, wie Oberschenkel und Arme. Rabol beobachtete seine zwei Gefangenen scharf. »Wer ist die Tote?« Nur in Montagnes Gesicht zuckte es. Boulanger beherrschte sich entweder meisterlich, oder die Tote war ihm fremd. »Ihr kennt sie.« Montagne verneinte. »Du hast dich verraten.« Montagne drehte sich zur Wand und übergab sich. »Kann kein Blut sehen«, keuchte er. Offenbar versprach sich Rabol keine weiteren Auf153
schlüsse durch die Gegenüberstellung seiner Gefangenen mit der Toten. Er ging ins Büro und befahl, gegen Abend Boulanger vorzuführen, den großen Kräftigen, mit den grauen Augen und dem frechen Grinsen im Gesicht, das besser zu einem Cowboy gepaßt hätte als zu einem Elektroniker. Als sie ihn hereingebracht hatten, sagte Rabol: »Ihr Tip war Bockmist, Mann. Lauter alter Plunder. Wenn Sie so weitermachen, sehe ich schwarz für meine Geduld, von Partnerschaft gar nicht zu reden. Von jetzt an arbeiten wir unter knallharten Bedingungen. Entweder Sie liefern uns eine ertragreiche neue Quelle und den Schlüssel für den Computertext, oder wir halten uns an Montagne. Selbst wenn er so enden sollte wie diese Dame auf dem Dach.« Der Gefangene verzog keine Miene. »Verstanden?« fragte Rabol. »Sie reden laut genug, Monsieur.« Rabol schaute auf die Uhr. »Sie haben eine Stunde Zeit, alles, was Sie wissen, niederzulegen.« Er senkte drohend die Stimme: »Also suchen Sie Ihren Datenspeicher unter der Schädeldecke gefälligst nach neuen Kombinationen ab.« »Auch Computer haben schwache Stellen«, bekam er zu hören. »Die ganze Sache«, erklärte Rabol abschließend, »ist nicht unser eigentliches Geschäft. Es steckt eine Masse Gewinn drin, da sind wir sicher, aber wir sind nicht davon abhängig. Wir nehmen es nur am Rande mit. Sobald 154
wir Probleme bekommen, steigen wir aus. Noch heute fällt die Entscheidung. Also tun Sie gefälligst etwas. Aber tun Sie das Richtige. Es geht um Ihr Leben.« Er drehte sich um. Boulanger war fortan Luft für ihn. »Bringt ihn weg!« rief er in die Gegensprechanlage. »Kann sie nicht mehr sehen, diese Visage.« Um 22 Uhr, als ihnen weitere Teile des Computerausdrucks im Klartext nebst einer hochkomplizierten Entschlüsselungsanleitung vorlagen, besprach sich Rabol mit seinem Partner und ließ dann Manon kommen. Als sie eintrat, entnahm er der Schublade eine Pistole. Er ließ das Magazin aus dem Kolben gleiten und entlud es vollständig. Dann nahm er eine einzige Patrone und führte sie vor Manons Augen wieder in das Magazin ein. Das Magazin schnappte zurück in die Waffe. Ohne durchzuladen, reichte Rabol dem Mädchen die Beretta. »Eine Kugel«, sagte er, »triff gut!« »Wen?« »Den Mann, den wir dank deiner Tüchtigkeit auf dem Hals haben. Du solltest Montagne kleinkriegen, nicht aber eine Laus in unseren Pelz setzen.« »Laus?« fragte sie bestürzt. »Wir haben den begründeten Verdacht, daß er auf uns angesetzt wurde«, fuhr Rabol fort. »Ihr glaubt, daß er mit dem Mädchen auf dem Dach in Kontakt stand?« »Soweit kam es zum Glück nicht«, ergriff Marc das Wort. »Aber du hast uns diese Suppe eingebrockt, nun löffle sie auch aus.« 155
»Das kann ich nicht«, weigerte sich Manon. »Andernfalls würden wir annehmen; daß du mit ihm gemeinsame Sachen machst.« »Das ist doch Schwachsinn«, rief sie empört. »Dann töte ihn«, zischte Rabol, »und beweise uns damit, daß du zu uns gehörst. Vorbehaltlos.« Widerstrebend nahm Manon die Waffe. »Damit kann ich nicht weiterleben.« »Du hast keine Ahnung, womit man weiterleben kann«, erwiderte Marc. Rabol warf ihr noch den Autoschlüssel zu. »Natürlich nicht hier«, sagte er. »Er ist gefesselt. Bring ihn hinaus in den Wald bei Chapelle. In einer Stunde bist du wieder hier.« »Da kannst du lange warten.« Rabol lachte nur. »Dafür ist gesorgt«, erklärte er, »daß du wiederkommst. Andernfalls würden wir deinen Freund, den hübschen Montagne, versenken. Im Hafenbecken, mit einem Sonnenschirmsockel um den Hals.« 13. Manon fuhr Urban durch die Stadt. Er saß mit Handschellen gefesselt und am Liegesitzgestänge angekettet neben ihr. Ob ihnen Rabols Leute folgten, wußten sie nicht. Jetzt, um 23 Uhr, waren immer Autos und Lichter hinter ihnen. »Du sollst mich töten?« fragte Urban. »Wer bist du?« 156
Jetzt sagte er die Wahrheit. »Oberst Urban, Bundesnachrichtendienst.« Obwohl sie so etwas geahnt hatte, überraschte es sie. »Mister Dynamit also. Und wie kommst du an diesen Job?« »Durch Zufall. Mit der Computerliste hatte ich eigentlich schon genug.« »Dann war alles weitere meine Schuld?« Er blickte sie an. »Und wer bist du?« »Inspektor Manon St. Valery von Interpol.« »Also nicht zufällig mit diesen Gangstern befreundet.« »Verdammt nein«, gestand sie. »Jahrelang versucht die Sürete Marc & Rabol das Handwerk zu legen. Bis man erkannte, daß dies nur auf internationaler Basis möglich sein würde, so schleuste man mich ein.« »Dachte ich mir.« »Was brachte dich darauf?« »Instinkt, Gefühl, Erfahrung.« »Was für ein strahlender Sieg«, spottete sie. »Wir wissen eine Menge, aber reicht das aus?« »Kaum.« »Die Tote, kennst du sie?« »Eine Kollegin. Unsere Agentin Nr. 36. Deckname Anna.« »Hattest du Kontakt?« Aus irgendeinem Grund, Urban konnte es rational nicht begründen, es war ein Warnsignal aus der Tiefe des Bauches, log er. 157
»Nein.« »Und deine Computerentschlüsselung ist in Ordnung?« »Ja, leider.« »Kennt sie außer dir noch jemand?« »Montagne.« Sie fuhren den Boulevard St. Germain hinaus, am Bois vorbei, in die Vororte. »Du wirst mich töten?« »Oui«, sagte Manon, »zumindest werde ich ihnen den leergeschossenen Revolver als Beweis vorlegen. Um Montagne zu retten.« »Und ich werde eine Falle organisieren«, versprach Urban. »Ich nannte ihnen eine Sache, die sie reizen wird. Wenn wir sie dort kriegen, die ganze Firma Marc & Rabol, dürfte das genug sein, um sie für die nächsten fünfzehn Jahre aus dem Verkehr zu ziehen.« »Vielleicht.« Manon war voller Zweifel. Sie besprachen Einzelheiten, aber Manon glaubte nicht an einen durchschlagenen Erfolg. »Ist diese Sache«, fragte sie, »wirklich so reizvoll für diese Halunken?« »Todsicher«, erklärte Urban. »Es handelt sich um ein Lager von Kunstgegenständen, von Skulpturen, Bildern, Teppichen, antikem Schmuck, den die Nazis bei der Invasion 1944 aus den Pariser Museumskellern wegbrachten und in einer Kreidehöhle in der Champagne einlagerten. Es war eine Höhle, in der vorher KZ-Häftlinge V-2Raketen montierten. Der Höhleneingang wurde an158
schließend gesprengt. Weiß der Teufel, warum diese wichtige Akte bisher unbeachtet blieb.« »Damit Montagne sie finden konnte«, bemerkte Manon in einem Anflug von Galgenhumor. »Das werden sich diese Hyänen nicht entgehen lassen.« »Kaum«, befürchtete Manon. Sie sprachen nur noch wenig während der letzten Kilometer bis zum Wald von Chapelle mit seinen uralten Buchen und Eichen. Manon bog in eine Schneise ab, hielt an und löschte das Licht. Sie rückte zu Urban hin, suchte seine Nähe, als habe sie Angst. »Wir müssen versuchen, Glück zu haben«, sagte sie leise und machte ihn vom Sitzrahmen los. Sie umarmte ihn und küßte ihn, als sei es das letzte Mal, daß sie sich sehen würden. Dann feuerte Manon den einzigen Schuß durch das offene Fenster. Urban wußte, daß die Zeit drängte. Er stieg aus. »Adieu«, rief er, machte drei Schritte und rannte gegen Widerstand, gegen eine Wand aus Männern mit Waffen. Urban hatte geahnt, daß Marc & Rabol im CX eine Wanze eingebaut hatten und seine Unterhaltung mit Manon abhörten. Damit hatte er gerechnet und jedes seiner Worte darauf abgestimmt. Aber daß sie schon hier waren und auf sie warteten, überraschte Urban dennoch. Licht flammte auf. Rabol hatte noch die Kopfhörer des Funkempfängers auf den Ohren. »Bon soir, Mister Dynamit«, rief er. »Guten Abend Inspektor St. Valery. Willkommen zu Hause!« 159
Nachdem im alten Getreidespeicher am Seinehafen alle Spuren gelöscht waren, begab sich die Wagenkolonne westwärts. Sie fuhren auf der Autobahn bis kurz vor Reims, dann aber der Marne entlang nach Süden in jenes Gebiet, wo im ersten Weltkrieg erbitterte Schlachten stattgefunden hatten und das die Franzosen die lausige Champagne nannten. Rabol lenkte den 605. Marc saß neben ihm. »Wollte immer schon wissen«, sagte Marc, »wo in diesem steppenhaft trockenen Schafweideland der Wein wächst.« »Er wächst«, erwiderte Rabol, »das dürfte bewiesen sein. Unbewiesen jedoch ist, was es mit diesem Stollen auf sich hat. Nur das interessiert mich. – Und was wir mit unserem zauberhaften Traumpaar machen werden.« »Sie sind zweifellos eine Gefahr«, räumte Marc ein. »Ich sage dir etwas«, fuhr Rabol fort, »vorausgesetzt, wir finden den Stollen, dann räumen wir ihn aus, und das einzige, was wir zurücklassen, sind diese zwei. Dann einen Sprengsatz vor den Eingang, Detonation, daß der ganze Berg runterkommt, mit Planierraupe drüber und ab nach Antibes.« Marc nickte stumm. »Anders wird es nicht zu machen sein.« »Wenn wir noch ein paar Jahre das Leben genießen wollen, mein Freund, dann geht Sicherheit über alles. Und die haben wir nicht, solange dieser, wie heißt er doch…« 160
»Oberst Urban.« »… auf zwei Beinen herumläuft. Soll ja eine Koryphäe sein auf seinem Gebiet.« »Der Beste, sagt man.« »Auch die Besten machen Fehler.« »Schon Engel soll der Teufel geholt haben.« Rabol fuhr langsamer, hielt an. Die anderen Fahrzeuge rückten hinter ihm auf. Er nahm die Karte, suchte den günstigsten Weg bis zu der Kreuzmarkierung, und fuhr weiter. Bei Condy folgte er dem Wegweiser nach Jalons. Auf einer alten Brücke überquerten sie den Fluß und rollten hinauf in die Kreidehügel. »Dieser Oberst Urban«, fing Rabol wieder an, »ist vielleicht mehr wert, als wir je aus dieser Schatzkiste herausholen.« »Er würde bestimmt eine Million Dollar Kopfgeld bringen.« »Wenn wir Russen wären und ihn seiner Zentrale anbieten könnten. Aber hier im Westen, auf NATO-Gebiet, ist mir dieses Spiel zu heiß.« »Leider«, bedauerte Marc. »Inspektor Manon St. Valery wäre auch eine Kleinigkeit wert.« »Dieses schöne Biest.« »Ich habe mich in ihr getäuscht. Merk dir, eine Frau, die schön ist, intelligent, wohlerzogen und trotzdem leicht zu haben, mit der stimmt etwas nicht.« »Merke du es dir«, sagte Rabol. »Ich weiß es längst. Ich wußte es schon immer. Glaube nicht, daß sie mich nicht 161
scharfgemacht hätte. Wäre mal etwas anderes gewesen, diese Manon. Aber irgendwie bekam ich eine Gänsehaut, wenn sie mich aus ihren schrägen Augen ansah.« Nachdem sie noch vierzehn Kilometer abseits der D-9 Richtung Wassy gefahren waren, studierte Rabol wieder die Generalkarte und verglich die Landschaft. »Wir sind richtig.« Marc deutete auf die Silhouette eines Höhenzugs, der blau gegen den Nachmittagshimmel stand. »Dort muß es sein.« »Wenn er uns nicht an der Nase herumführt«, äußerte Rabol mißtrauisch. »Wie sollte er. Als er uns diese Position verriet, wußte er noch nicht, daß wir den Verdacht hatten, er könnte ein Agent sein.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« Rabol fuhr das letzte Stück über schmale, steinige, erst kurvige und dann steil bergauf führende Wege. »Wie in Algerien«, erinnerte sich Rabol. »Im hohen Atlas. So einsam und trocken.« »Nur war der Staub dort ockerfarben. Hier ist er fast weiß.« Es war schwierig, aber leichter als sie befürchtet hatten. Der Weg mündete in einen Steinbruch. Seine vierzehn Meter hohen Wände wirkten verwittert. Daraus schlossen sie, daß er nicht mehr in Betrieb war. Es lag wohl daran, daß den weißen Kalkstein Röteladern durchzogen und man deshalb keine Abnehmer dafür fand. 162
»Alles stopp!« befahl Rabol, »und absitzen. Die Gefangenen bleiben im Wagen.« Es ging auf 16 Uhr. Da sich der Himmel bedeckte, fiel in den kesselförmigen Steilhang frühe Dunkelheit. »Die Scheinwerfer heraus!« befahl Rabol, »die Echosonden, die Boschhämmer, den Sprengstoff. George fährt zurück bis zur Brücke und zeigt der Planierraupe den Weg. Los, Männer, an die Geräte! Keine Müdigkeit vorschützen. Erst nehmen wir uns die Nordseite vor.« * Sie suchten die alten Stollen und jedes Sprengloch ab. Im Norden fanden sie keinen Gang, der tiefer als zehn Meter in den Kalk hineinführte. »Gerade dort sah es verdammt positiv aus«, fluchte Rabol. »Ich mache den Burschen kalt, wenn er mich aufs Kreuz gelegt hat.« »Dachte, das würdest du ohnehin.« »Eigenhändig«, sagte Rabol. Er wurde von Remond unterbrochen. Remond bat ihn, mitzukommen. Auf der anderen Seite des weiten Ovals, etwa zweihundert Meter von der Wand, wo sie begonnen hatten, entfernt, stand der Bagger mit laufendem Diesel. Seine Suchscheinwerfer leuchteten in ein gezacktes Felsloch. »Der Wassertank hat sie versperrt«, sagte Remond, »war nur so hingestellt, als Tarnung.« Die Tunnelöffnung mochte einen Radius von fünf Me163
tern haben. Die Hälfte davon war zugeschüttet. Rabol befahl dem Raupenfahrer, den Weg freizuräumen. In knapp einer Stunde waren sie soweit, daß man den Stollen gefahrlos betreten konnte. Rabol setzte einen Helm auf, zog eine Ölhautjacke und Stiefel an und ging allen voran hinein. Auf den ersten fünfzig Metern sah er nichts. Dann machte der Stollen eine Kurve. Noch vor der Kurve kam eine Art Gefängnisgitter. Dahinter waren die Wände voll von Kritzeleien französischer Gefangener. Ganze Geschichten hatten sie aufgeschrieben, samt Datum und Nummern. Viele Kreuze erinnerten daran, daß die meisten 1944 gestorben waren. Aber die Stollen und alle Gänge, die von ihm abzweigten, waren leer. Marc kam hinzu. »Soweit stimmt es«, rief er. »Der Fuchsbau existierte.« »Und wo, bitte, sind die eingelagerten Kunstschätze, he?« »Bestimmt nicht vorne am Tor. Weiter hinten, nehme ich an.« Sie suchten das ganze System ab, jeden Seitenstollen, jeden Quergang, alle Geschosse darüber und darunter. Sie entdeckten verrostete Maschinen, auf denen einstmals Flugzeugteile hergestellt worden waren. Sie entdeckten auch Schlaf räume mit Pritschen, Räume mit Öfen, auf denen Essen gekocht worden war, und Waschkabinen, aber keine Wertgegenstände. Rabol befahl, die Wände abzuklopfen. 164
»Ein Stollen könnte ja zugemauert sein.« »Das würde man erkennen«, meinte Marc. »Stein ist Stein, Mauer ist Mauer.« Sie suchten bis 22 Uhr, dann gaben sie auf. »Er hat nicht gelogen«, äußerte Rabol wütend. »Er sprach auch nicht die Wahrheit. Er hat uns ganz einfach in die Pfanne gehauen. Ich habe geschworen, daß ich ihn umlege. Eigenhändig!« Marc beschwichtigte seinen Partner. »Überlaß das der Zeit«, riet er ihm. Rabol verstand ihn erst nicht. Dann kapierte er. »Die Gefangenen herschaffen!« schrie er. »Nicht Montagne, mit dem habe ich etwas anderes vor. Dann Sprengsätze an den Stolleneingang. Der Bagger soll sich bereithalten. Die anderen fertigmachen zur Rückfahrt.« Als sie Urban und Manon hereinbrachten, deutete Rabol auf Urbans Fesselung. »Noch eine Lage!« Die Männer holten Stricke. »Mit Draht!« forderte Rabol. »Bedenken Sie, was Sie tun«, warnte ihn Urban. »Es ist, als würden Sie einen Polizisten umbringen. Dann steht alles zusammen und gibt keine Ruhe, bis man den Schuldigen hat.« Rabol lachte nur höhnisch. »Wenn ich Sie laufenlasse, dann jagen Sie mich wie einen räudigen Hund.« »Stimmt«, erwiderte Urban, »aber Sie hätten eine Chance.« 165
»Danke«, sagte Rabol, »die habe ich so noch viel mehr.« Die Männer hatten Draht gefunden. Man preßte Urbans Arme nach oben, um sie ihm in den Nacken zu binden. Da nützte Urban die letzte noch verbleibende Möglichkeit. Er riß sich los, drückte die Ellbogen auseinander, so daß sich eine Art Schlinge ergab, und warf die Arme mit einem blitzschnellen Sprung über Marcs Kopf. Urban drückte sofort hart zu. »Laßt Manon frei, oder ich breche ihm das Genick.« Doch niemand reagierte. Als sich Urban umdrehte, sah er den Revolverlauf an Manons Schläfe und das Messer an ihrer Kehle. »Vorher geht sie in Fetzen«, drohte Rabol. Da konnte Urban nichts anderes tun, als Marc freizugeben. Sie führten Manon und Urban hinter das Gitter, schlossen es, wickelten eine Kette um die Tür und verschweißten die Endglieder. Dann gingen sie weg. Erst hörte man noch ihre Schritte und sah das schwankende Licht ihrer Lampen. Dann war es dunkel und still. »Sie haben Ekrasit in die alten Bohrlöcher gestopft«, erwähnte Manon, »ziemlich fachgerecht.« »Ja, sie sprengen den Stollen zu.« »Der Bagger beseitigt alle Spuren.« »Bald gibt es zwei Agenten weniger«, murmelte Urban. »Bald?« fragte Manon. »Wir sind doch schon von der Liste gestrichen. Nicht nur theoretisch. Auch praktisch.« »Noch atmen wir.« Aus Urbans Worten klang wenig Hoffnung. 166
»In kurzer Zeit hat man uns vergessen.« »Das Heute«, sagte Urban, »ist immer das Gestern von morgen.« * Sie warteten auf die Detonation, die den Stollen zu ihrem Grab machen würde. »Ob es einen Hinterausgang gibt?« »Notausgang wie im Kino? Keine Sorge, das haben sie überprüft.« Urban hörte, wie Manon aufstand und sich zum Gitter tastete. Sie suchte es ab und rüttelte daran. Plötzlich, mit schepperndem Getöse, fiel das ganze Tor um. Rabols Leute hatten es zwar zugekettet, aber übersehen, daß die morschen Angeln nur noch eines kleinen Stoßes bedurften, um aus dem Fels zu brechen. Manon und Urban verständigten sich durch Zuruf. Manon half Urban auf die Beine. Gemeinsam versuchten sie sich dem Tunnelausgang zu nähern, indem sie sich an den Wänden entlangtasteten, wie Blinde. »Besser, wir werden hier von der Detonation verschüttet«, keuchte Manon, »als langsam zu verdursten.« Urban blieb stehen. Er spürte, im Gegensatz zur abgestandenen Luft im Innern des Stollens, eine belebende Frische. Das Dunkelblau über dem tiefen Schwarz konnte ein Streifen Nachthimmel sein. »Zum Teufel, warum sprengen sie nicht?« stieß er hervor. 167
Sie stolperten weiter an der Stollenwand entlang, überkletterten herumliegende Gesteinsbrocken und lauschten immer wieder hinaus in den Steinbruch. Sie vernahmen keinen Ton, nicht die Unterhaltung von Männern, auch nicht die Geräusche abfahrender Fahrzeuge. »Was ist los?« Manon preßte sich an Urban. Er spürte ihr Herz pochen und wie sich ihre Brust beim Atmen hob. Sie stolperten vorwärts, überwanden den Schuttberg am Stolleneingang. Manon half und stützte Urban, der die Hände nicht bewegen konnte. In einer Atempause fühlte er Manons Finger nach den Drahtenden suchen. Sie bekam die Fesselung soweit frei, daß er die Arme vom Nacken wieder nach vorne nehmen konnte. Etwas verfing sich in seinem Fuß. Er bückte sich. Ein Stück Sprengkabel. Er verfolgte es bis zum Verteilerkasten und riß sämtliche Kabel aus den Kontaktschrauben. Aber das war wohl unnötig. Niemand war zur Stelle, um die Zündanlage zu bedienen. Auch die Pionierraupe stand ohne Fahrer mit abgestelltem Motor da. Nicht weit davon entfernt parkte der Tieflader, mit dem man sie herauf gebracht hatte. »Die Autos«, sagte Manon zum Steinbruchausgang deutend. Sie hatten den Stollen jetzt endgültig hinter sich gebracht. Nach fünfzig Metern etwa bot sich ihnen ein freier Blick nach Norden. Bei dem, was sie dort sahen, glaubten sie zu träumen. 168
Manons Fingernägel krallten sich in Urbans Arm. »Ist das wahr?« Im scharfen Rund eines Lichtkegels, der von einem in der Höhe postierten Scheinwerfer kam, standen sie alle: Rabol, Marc, Remond, George, Paul und die anderen. Ein dutzend Männer in Reihe aufgebaut, die Hände zum Himmel gestreckt, als erwarteten sie in einer Demutsgeste den Gnadenschuß. Urban schaute nach oben. Da er abseits des Lichtkegels stand, konnte er erkennen, welche Streitmacht rings um den Steinbruch aufgefahren war. Ein kompaniestarkes Kommando, schätzte er. »Meine Leute?« fragte Manon. »Dürfte sich wohl um eine kombinierte Aktion handeln«, vermutete Urban. »Ja, aber wie wußten sie…« Urban sagte es ihr. »Von meiner Kollegin Nr. 36, Anna, im Kran, erfuhr ich nur zwei Positionen. Die am Oise-Kanal diente dazu, Rabol Appetit zu machen. Die zweite war als Falle gedacht, wenn sich das als nötig erweisen sollte.« »Und die anderen Angaben, die Entschlüsselungsanleitung für den Computertext, was ist damit?« »Reine Erfindung von mir. Das war der Strich durch die Rechnung.« »Und wenn sich Rabol nun andere Testorte ausgesucht hätte, was dann?« »In Polen?« fragte Urban lächelnd, »im Sinai, in Westindien? Erst nahm er die näher liegenden unter die Lupe.« 169
»Wir hatten trotzdem Glück.« »Glück halte ich für reichlich untertrieben«, sagte Urban. Sie durchquerten die Sohle des Steinbruchs. Von oben dröhnte eine Lautsprecherstimme und forderte sie auf, stehenzubleiben. Man wollte verhindern, daß sie in die Ziellinie der Maschinenwaffen gerieten. Aus dem diffusen Helldunkel trat ein Mann auf sie zu. Das runde Bubigesicht, die schmale Figur, der schnelle kurze Schritt, das konnte nur Gil Quatembre sein. Als erstes befreite er Urban von den Handschellen. »Zigarette?« fragte Gil. »Du weißt, ich rauche nur MC. Die letzte warf ich am Boulevard St. Michel aus dem Fenster.« »Seitdem haben wir alles im Griff«, versicherte Gil. Urban zweifelte nicht eine Sekunde daran. * Jeder von ihnen hatte ein bißchen gesiegt. Manon hatte Marc & Rabol endlich das Handwerk gelegt, Gil Quatembre war mit André Montagne die undichte Stelle im Verteidigungsministerium in die Hände gefallen, und Urban hatte der Bundesregierung eine Auflistung von Positionen geliefert, wo noch Massenvernichtungsmittel aus dem zweiten Weltkrieg lagerten. Auf diese Weise konnte das Giftzeug unschädlich gemacht werden. »Du hast einen Wunsch frei«, sagte Gil generös. »Ein Bier.« 170
»Ein Bad und ein Bett«, zog Urban vor. Weil es in dieser Einöde nicht zur Verfügung stand, warf ihm Gil seinen Wagenschlüssel zu. »Bis später«, rief er, »habe hier noch einiges zu erledigen.« Manon spürte offenbar auch das Bedürfnis nach einem Bad und einem Bett. Vielleicht war es mehr. Nun, das würde sich ergeben. Sie fuhren los durch die mondbeschienene Landschaft, immer die schnurgeraden napoleonischen Pappelalleen entlang, durch längst schlafende Ortschaften. Endlich kam eine kleine Stadt mit einem schäbigen kleinen Hotel. Urban hielt unter der Lampe an. »Sollen wir das nehmen?« »Es ist besser als gar nichts«, äußerte Manon. Urban wäre das Commodore lieber gewesen. »Aber manchmal ist gar nichts besser als so was«, antwortete er. »Gegen die Aussicht, in der Kreidehöhle zu krepieren, ist es schön wie einst im Mai«, erklärte Manon. »Nein«, sagte Urban, als sie hineingingen, »wie einst im Mai wird es niemals wieder.« ENDE
171