Silber Grusel � Krimi � Nr. 76 �
Bob Fisher �
Der Moloch von � Balmoral � NEBELGEISTER Nr. 8
Viele folgten ihm blin...
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Silber Grusel � Krimi � Nr. 76 �
Bob Fisher �
Der Moloch von � Balmoral � NEBELGEISTER Nr. 8
Viele folgten ihm blindlings, gaben ihm alles, was sie besaßen, und glaubten fasziniert an seine Prophezeiung, � daß ihnen das Paradies des ewigen Glücks offenstehe. � Nur wenige von ihnen ahnten, daß sie einem Moloch gefolgt waren, der sie anstatt ins Paradies ins Grauen führte. � Sie waren seine willenlosen Werkzeuge, und viele von ihnen gingen freiwillig in den Tod, weil sie seinen Worten � glaubten. � Dabei war er nichts weiter als ein fetter, widerlicher Moloch, der von einer unsichtbaren Macht gelenkt wurde. � *** Nackt und verführerisch stand sie vor ihm. Ihre Augen hatten einen seltsamen Glanz angenommen, als die beiden muskulösen Gestalten sie zu dem gelben Opferstein führten. Das Licht der Fackeln zuckte, und an den steinernen Seiten haftete ausgetrocknetes Menschenblut. Ein Gong ertönte und hallte in mehrfachem Echo von den kahlen Wänden der riesigen Höhle wider. Der betäubende Duft asiatischer Räucherstäbchen lag wie eine Wolke über dem unwirklich anmutenden Geschehen. Sphärengesang ertönte, leise und unheimlich. Dann traten aus zahlreichen Nebenhöhlen nackte junge Mädchen. Die Blicke der meisten von ihnen waren starr auf den blutbeschmierten Opferstein gerichtet. Von den beiden muskelbepackten, kahlköpfigen Männern begleitet, hatte die Nackte den gelben Stein erreicht. Stumm neigte sie den Kopf und kreuzte die Arme über die festen Brüste. Nach einer Weile, wie in stiller Andacht, hob das Mädchen den Kopf und blickte mit verzücktem Lächeln auf den fetten Moloch, 3 �
der über ihr auf einem goldenen Thron hockte, die Beine im Schneidersitz, die mit kostbaren Ringen geschmückten Hände ineinander verschränkt. Die kohlschwarzen Augen des fetten Molochs, der eine Körperpartie unterhalb seines mehrfaltigen Bauchs mit einem roten Lendenschurz bedeckt hatte, ruhten starr auf dem Mädchen hinter dem Opferstein. Ein neuer Gongschlag, tiefer und dröhnender als der erste, schwang durch die Höhle. Es war das Zeichen dafür, daß die Nackte sprechen durfte. Zum letztenmal in ihrem jungen Leben! Doch das wußte sie. Freiwillig und ganz ohne Zwang war sie vor den von ihr geliebten und verehrten Gott getreten. Das Mädchen zeigte keine Angst vor dem, was auf sie wartete. »Deine unwürdige Dienerin Yana ist erschienen, um dir, dem verehrten Guru, dem Künder einer glücklichen Welt, ihr Leben zu schenken«, begann das nackte Mädchen mit ruhiger, heller Stimme. »Ich wurde deine gelehrige Schülerin und erkannte, daß du, mein Guru, mir den rechten Weg zeigen würdest, den Weg zur ewigen Glückseligkeit, den Weg in die Unsterblichkeit, in das Paradies des Glücks.« Der Guru bewegte kaum die wulstigen Lippen, als er sprach. »Meine Liebe wird dich auf deiner Reise begleiten«, ertönte seine Fistelstimme. »Das Universum wird sich dir öffnen, und man wird dich für deine irdische Tat belohnen.« Ein Leuchten ging über das hübsche Gesicht des nackten Mädchens. »Was ich dir gab, mein Guru, gab ich aus vollem Herzen und im Bewußtsein, mir damit den Weg in die ewige Glückseligkeit erkauft zu haben«, verkündete sie mit fester Stimme. »Nicht erkauft, Yana«, warf der fette Moloch ein. »Du hast dir das Glück verdient, weil du eine würdige Dienerin warst. Bist 4 �
du bereit, den Weg ins Paradies des Glücks zu beschreiten?« Yana nickte. »Ich bin bereit«, flüstere sie. Die nackten jungen Frauen und Mädchen, die aus den Nebenhöhlen gekommen waren, hatten einen weiten Halbkreis gebildet. Ihre gedämpften Stimmen, die weder Begeisterung noch Abscheu, Angst oder Ekel erkennen ließen, erfüllten die Höhle. In den Augen einiger Mädchen aber stand unverhohlene Angst, und sie wandten alle Kraft auf, den Blick nicht vom Mittelpunkt des Geschehens zu wenden. Sie standen unter dem Einfluß einer unsichtbaren Macht, diese Macht hatte es bei ihnen jedoch noch nicht geschafft, gewisse Gefühle und Gedankengänge auszuschalten und unter Kontrolle zu bringen. Hinter ihnen erschienen gelb- und dunkelhäutige, kahlköpfige Männer, die lediglich einen Lendenschurz trugen. In ihren Händen hielten sie neunschwänzige Lederpeitschen, an deren Enden kleine Bleikugeln eingeflochten waren. Kalt und ausdruckslos glitten ihre Blicke über die nackten Gestalten und registrierten jede ihrer Bewegungen. Yana hatte inzwischen die drei Stufen genommen, die hinauf zum gelben Opferstein führten. Als sie die Opferstätte erreicht hatte, blieb sie hochaufgerichtet stehen und blickte hinunter zu ihren Geschlechtsgenossinnen. »Ich gehe von euch, Schwestern«, sagte sie und lächelte wie eine, die bereits das Paradies betreten hatte. »Bald habe ich die Schwelle zur ewigen Glückseligkeit überschritten, und ich weiß, daß viele von euch mir folgen und das Glück und die immerwährende Liebe mit mir teilen werden. Wie ihr, so gab ich alles, was ich besitze, unserem Guru und folge seiner Prophezeiung, im Universum für meine Tat belohnt zu werden. Euch allen rufe ich nun zu: Auf Wiedersehen im Reich des ewigen Glücks.« Das nackte Mädchen kniete nieder und verneigte sich ein letz5 �
tes Mal vor dem fetten Moloch. Der Guru streckte die Arme aus und spreizte die dicken Finger. Nadeldünne Blitze schossen plötzlich aus den Fingerspitzen und zuckten auf die Kniende nieder. Yanas Körper erschauerte wie unter leichten Stromstößen. Mit langsamen Bewegungen legte sie sich auf den Rücken, faltete die Hände über dem Bauch und schloß die Augen. Ein dritter dröhnender Gongschlag hallte durch die Höhle. Langsam hob der Moloch die rechte Hand und stieß den Zeigefinger in die Luft. Einer der muskulösen Männer trat hinter den Kopf des Mädchens. In seiner rechten Hand blitzte ein spitzer Dolch auf. Langsam senkte er die Spitze auf die bloße Kehle des Opfers. Ein kurzer, harter Stoß, und die Schneide zerriß die Schlagader. Kein Laut kam über die zusammengepreßten Lippen der Nackten, als Blut aus der Wunde schoß und das Leben aus ihrem Körper floh. Nur ein leises Zittern erfaßte ihre Gestalt, deren Haut eine weißgelbe Färbung annahm. Ein gepreßter Schrei zerriß die Stille. Eines der Mädchen hatte die Bewußseinssperre durchbrochen und erfaßte die volle Tragweite des blutigen Geschehens. Niemand rührte sich, um das zusammenbrechende Mädchen aufzufangen. Mit verkrümmtem Körper blieb es bewußtlos liegen. Einige der anderen stöhnten verhalten und unterdrückten ihre Gefühle. Blut hatte die rechte Seite von Yanas Oberkörper überzogen und rann am Opferstein herunter. Wenig später hatte Yana die irdische Welt verlassen. Der fette Moloch faltete die Hände wieder über dem mächtigen Bauch. Seine schwarzen Augen glitten über die erstarrten Zuschauer. 6 �
»Yana wurde für ihre edle Gesinnung, ihre Treue zu mir und ihre Opferbereitschaft belohnt«, verkündete er mit bebender Stimme. »Sie hat das Reich des ewigen Glücks soeben betreten, und ich höre ganz leise ihre Stimme.« Der Moloch richtete den Blick zur Decke der Höhle und schloß die Augen. »Hört ihr nicht ihre Stimme, Priesterinnen des großen Guru von Ghadnipur?« flüsterte er in die atemlose Stille hinein. »Hört, sie spricht zu mir, zu allen von uns…« Die mit Priesterinnen angesprochenen Mädchen und Frauen folgten dem Blick. Ihre Augen weiteten sich, als sie aus weiter Ferne deutlich Yanas Stimme vernahmen. »Ich habe das Paradies gefunden, mein Guru, meine Schwestern«, tönte es aus der Sphäre. »Mich umgibt ewige Sonne, das Singen der Vögel, das Plätschern kristallklarer Bäche, Bäume, die mit köstlichen Früchten überladen sind. Ich schreite durch Felder, deren Duft meine Sinne betäubt.« Die Stimme verebbte. Die nackten Wesen lauschten der Stimme nach. Dann brachen einige von ihnen in Entzückungsrufe aus, andere schwiegen nachdenklich. Als sie ihre Blicke wieder auf den gelben Opferstein richteten, war er leer. Von Yanas Körper war nichts mehr zu sehen. Nur noch frische Blutspuren erinnerten an die grausige Zeremonie. Zwei junge Mädchen lösten sich wie in Trance aus dem Halbkreis und gingen zu einer dunklen Nische. Als sie wieder herauskamen, trugen sie eine goldene Schale und weiße Tücher. Sie knieten vor dem Thron des Guru nieder und begannen, seine Füße mit duftendem Rosenwasser zu waschen. Gesang ertönte. Es waren Loblieder auf den Guru. Die Zeremonie war kaum beendet, da lief ein Mädchen zu dem fetten Moloch und warf sich vor ihm auf den Bauch. 7 �
»Mein Guru«, flüsterte sie. »Ich will Yana als nächste ins Glücksparadies folgen. Erhörst du meine Bitte?« * Mitten in der Nacht wurde sie durch ein Geräusch geweckt. Sie schlug die Augen auf und sah nur schwach das Rechteck des Fensters. Das Geräusch kam von draußen, leise, unregelmäßige Schritte, begleitet vom rhythmischen Hämmern eines Stocks. Gloria Stanford schloß die Augen wieder, nachdem das Geräusch verstummt war. Irgendwo in dem kleinen Hotel knarrte eine Tür. Dielen ächzten. Wind kam auf und pfiff jaulend. Gloria erschauerte und zog die Decke bis ans Kinn. Eine unheimliche Gegend, dachte sie. Sie war an diesem Abend, von Oxford kommend, mit ihrem Wagen in Crathle, einem kleinen Ort in der Nähe von Balmoral Castle eingetroffen. Gloria Stanford, die Kunstgeschichte studiert und eine dicke Erbschaft gemacht hatte, war unabhängig und ging ihrem kostspieligen Hobby, dem Sammeln alter Meister, nach. Nur aus diesem Grund war sie in den mittleren Norden des schottischen Hochlandes gefahren. Ein kleines Inserat in einem Fachblatt hatte sie auf einen Makler aufmerksam gemacht, der im Auftrag eines nicht genannten Klienten Gemälde von Gainsborough, Fairbanks und Renoir zum Verkauf anbot. Umgehend hatte Gloria den Kunstmakler aufgesucht, ihr Interesse bekundet und drei Tage später telefonisch die Nachricht erhalten, nach Crathle zu fahren, wo der Verkäufer sich persönlich bei ihr melden würde. Bedenken über das seltsame Geschäftsgebaren hatte sie rasch über Bord geworfen, da es oft vorkam, daß die Eigentümer von Kunstschätzen kauzige Typen waren. Spät am Abend war die junge Kunstsammlerin in Crathle ein8 �
getroffen und nahm sich in dem einzigen Hotel des Ortes ein Zimmer. Verwundert stellte sie fest, daß niemand etwas von ihrer Ankunft wußte und sie vermutlich von niemand erwartet wurde. Gloria Stanford nahm die Geschichte nicht weiter tragisch. Sie aß zu Abend, trank dazu eine Flasche Wein und ging kurz vor elf Uhr auf ihr Zimmer. Mit dem Gedanken, daß der Verkäufer sich am nächsten Tag bei ihr melden würde, schlief sie ein… Das Pfeifen des Windes hatte sich verstärkt. Irgendwo klapperte ein Fensterladen, wimmerte ein Hund und kreischte ein Nachtvogel. Wenn nur die Nacht bald vorüber wäre, überlegte die Millionenerbin. Sie machte sich jetzt schon Vorwürfe darüber, daß sie nicht im Esso-Motel bei Perth abgestiegen war und die Fahrt am nächsten Morgen fortgesetzt hatte. Aber die Sucht, die Gemälde rasch zu sehen, zu prüfen und in ihren Besitz zu bringen, hatte sie ans Ziel getrieben. Sie spürte, wie ein kalter Schauer über ihren Rücken rieselte, als sie vor der Tür ein undefinierbares Geräusch vernahm. Gloria hielt den Atem an und wandte den Kopf. Sie hatte sich nicht getäuscht. Jemand war draußen. Vielleicht ein später Gast, der sich in der Tür geirrt hat, dachte Gloria Stanford. Die Türklinke wurde gedrückt. »Wer ist da?« stieß Gloria hervor. »Miß Stanford?« kam es prompt zurück. Leise zwar, doch klar und deutlich. »Ja?« gab sie überrascht zurück. »Wir haben eine Verabredung, Miß Stanford«, erwiderte der Unbekannte. Gloria hatte schon mit exzentrischen Typen Bekanntschaft gemacht, aber das hier schoß den Vogel ab. Der Fremde schlich sich zur Nachtzeit in das Hotel und verlangte, in ihrem dürfti9 �
gen Zimmer empfangen zu werden! »Sie haben sich in der Zeit geirrt, Verehrtester«, sagte Gloria spitz. »Morgen früh, beim Breakfast…« »Ich habe wichtige Gründe, Miß Stanford«, unterbrach der Unbekannte sie mit eindringlicher Stimme. »Öffnen Sie die Tür! Sie werden mich verstehen, sobald ich Ihnen alles erklärt habe.« Die Kunstsammlerin zögerte einen Augenblick, dann glitt sie aus dem Bett, schlüpfte in den seidenen Hausmantel und ging zur Tür. Sie überlegte, ob sie Licht machen sollte, ließ es aber bleiben, weil sie vermeiden wollte, daß jemand den Lichtschein sah und falsche Schlüsse daraus zog. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, daß sie schnell die Konturen eines hageren, hochgewachsenen Mannes mit grauem Haar und dichtem Schnurrbart ausmachte. »Sie gestatten, daß ich eintrete?« murmelte der späte Besucher höflich. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann nicht anders handeln.« Gloria gab den Weg frei. »Mister Gibbs in London verriet mir zwar, daß man sich mit mir in Verbindung setzen werde«, erwiderte sie gedämpft. »Daß es aber auf so ungewöhnliche Art geschehen würde, hat er mir nicht verraten. Ich hoffe, daß ich nicht in illegale Geschäfte gezogen werde.« Der Fremde, der sich noch immer nicht vorgestellt hatte, drückte die Tür behutsam hinter sich ins Schloß. »Ich werde sie bald davon überzeugen, daß Sie es mit einem reellen Geschäftspartner zu tun haben«, zerstreute er Glorias Bedenken. »Meine gegenwärtige Situation läßt es leider nicht zu, ins Licht der Öffentlichkeit zu treten. Ich bin ein ziemlich bekannter Mann in dieser Gegend und kann es mir nicht leisten, mich bloßzustellen.« 10 �
»Es soll also niemand erfahren, daß Sie gezwungen sind, Bilder aus Ihrer Sammlung zu verkaufen«, fiel Gloria Stanford ein. »Sie haben einen klugen Kopf, Miß«, brummte der Fremde. »Ja, ich bin gezwungen, mich von einigen meiner Gemälde zu trennen. Glauben Sie mir, es fällt mir schwer, aber mir bleibt keine andere Wahl.« »Die Bilder befinden sich in Ihrem Haus?« »Ja, in meinem Landsitz, vier Meilen von hier entfernt«, bestätigte der Besucher. »Mein ungewöhnlicher Besuch ist somit auch mit einer ungewöhnlichen Bitte verbunden.« Auch diesmal schaltete Gloria schnell. »Ich soll also mit Ihnen kommen, mir die Gemälde in dieser Nacht ansehen und meine Entscheidung fällen«, stellte sie fest. »Ich nehme an, Sie verfügen über Gutachten anerkannter Sachverständiger, die die Echtheit Ihrer Gemälde bestätigen.« »Sie werden zufrieden sein, Miß Stanford«, versicherte der Fremde. »Sie haben sich noch nicht vorgestellt, Mister…?« sagte die junge Millionärin. »MacKillearn«, erwiderte der andere rasch. »Verzeihen Sie, aber ich vergaß, daß ich Mister Gibbs bat, meinen Namen nicht zu nennen. Versprechen Sie mir auch, meinen Namen nirgends zu erwähnen, ganz gleich, ob wir ins Geschäft kommen oder nicht?« »Ich gebe Ihnen mein Wort, Mister MacKillearn. Würden Sie bitte draußen auf mich warten, bis ich mich angekleidet habe!« MacKillearn verschwand. Zehn Minuten später war Gloria fertig. Sie dachte praktisch, packte ihren kleinen Autokoffer, legte Geld für Zimmer und Verzehr auf den Tisch und hinterließ auf einem Zettel die Nachricht, daß sie plötzlich habe abreisen müssen. Niemand im Haus bemerkte, wie sie das Hotel durch den hin11 �
teren Ausgang verließ, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Lautlos tauchte MacKillearn aus der Dunkelheit. »Ich bin zu Fuß gekommen«, erklärte er gedämpft und zog die Tür zum Beifahrersitz auf. Gloria sagte nichts und schwang sich hinter das Lenkrad. Der Motor sprang leise summend an. Die Scheinwerfer flammten erst auf, als sie die holprige Dorfstraße erreicht hatten. MacKillearn beschrieb Gloria Stanford den Weg, der nach einer Meile durch felsiges Hügelland führte. Der schmale Pfad schlängelte sich durch schmale Täler, in denen Farn und Moos zwischen kahlen Felsblöcken wucherte. Er wand sich erneut hügelan und führte auf eine flache Ebene im karstigen Hochland. Deutlich hoben sich die Konturen eines mächtigen alten Gebäudes vom fahlen Nachthimmel ab. »Balmoral Castle?« wandte die Fahrerin sich an den schweigsamen Mann. »Devils Lodge«, erwiderte MacKillearn. »Mein Landsitz. Balmoral Castle liegt vier Meilen nördlich.« »Devils Lodge?« murmelte Gloria Stanford. »Haus des Teufels? Ein seltsamer Name!« MacKillearn zuckte die Achseln. »Einer meiner Vorfahren hat das alte Gemäuer so getauft«, brummte er. Devils Lodge rückte näher und entpuppte sich als ein schloßähnliches Gebäude mit dicken Mauern, rechteckigen Fenstern mit bleiverglasten Butzenscheiben, massiven Eingangstüren und unzähligen Schornsteinen auf dem mit Schiefer gedeckten Dach. Am Ostflügel des Steinkastens schmiegte sich eine Kirche an, deren Kreuz auf dem First schief im Wind hing. Gloria blickte stirnrunzelnd auf das mächtige Gebäude, das einen drohenden Eindruck auf sie machte. Sie spürte, daß ir12 �
gendwo in der Dunkelheit hinter den massiven Mauern Gefahr lauerte. Sie lenkte den Wagen über die Einfahrt. Der kiesbestreute Weg war von dornigen Büschen gesäumt. Hinter zwei Fenstern im Erdgeschoß flammte Licht auf. Die Flügeltür öffnete sich, und Gloria sah einen breitschultrigen Mann in Dienerlivree, der dem ankommenden Wagen in steifer Haltung entgegensah. »Das ist George, mein Sekretär und Butler«, erklärte MacKillearn, als Gloria auf die Bremse trat und den Wagen vor dem Eingang stoppte. George kam mit unbeweglichem Gesicht heran. Er zog die Wagentür auf, grüßte die Besucherin dezent und half ihr beim Aussteigen. Die junge Kunstexpertin warf ihre Bedenken über Bord. Gewiß, das Zusammentreffen mit MacKillearn war unter ungewöhnlichen Umständen erfolgt. Die Nähe von Balmoral Castle aber, das seit 1882 in den Herbstmonaten Residenz des englischen Hofes war, mußte eine Garantie dafür sein, daß in dieser Gegend alles mit rechten Dingen zuging. Sie grüßte freundlich zurück und ließ sich in den hallenähnlichen Vorraum führen, von dem ein Dutzend Türen abzweigten. »Eine kleine Erfrischung, Miß Stanford?« erkundigte MacKillearn sich höflich. »Ein Kaffee und ein Brandy würden mir zusagen«, erwiderte Gloria. Erst jetzt hatte sie Gelegenheit, MacKillearn eingehend zu mustern. Der Schotte hatte ein schmales, scharfgeschnittenes Gesicht, eine leicht gebogene Nase und tiefliegende, graue Augen, die an das Wasser eines Bergsees erinnerten. Über dem schmallippigen Mund breitete sich ein buschiger, leicht rötlicher Schnurrbart aus. Viele junge Männer in diesem kargen Hochland sehen so aus, 13 �
fand die junge Engländerin. »Bring’ die Getränke in die Galerie, George«, ordnete MacKillearn an und wandte sich wieder an seine Besucherin. »Ich kann mir vorstellen, daß Sie begierig darauf sind, die Gemälde zu Gesicht zu bekommen.« Gloria nickte. Sie war in der Tat daran interessiert, die angepriesenen Bilder zu sehen und zu erwerben, wenn sie ihre Echtheit festgestellt hatte. MacKillearn ging auf die vorletzte Tür an der linken Seite der Empfangshalle zu und zog einen Sicherheitsschlüssel aus der Tasche. Umständlich sperrte er das Schloß auf und betätigte einen verborgenen Schalter im Türrahmen. Surrend glitt die Tür zur Seite. Im gleichen Augenblick flammten in dem dahinter liegenden, fensterlosen Raum mehrere Lampen auf. Ihr Strahl war auf die an den Wänden hängenden Gemälde und Radierungen gerichtet. »Sie haben Ihren Schatz gut abgesichert«, flüsterte Gloria Stanford und spürte, wie ihr Herz beim Anblick der alten Meister schneller schlug. »Die Versicherung verlangte es so«, erklärte MacKillearn, der Gloria den Vortritt ließ und sie bat, an dem kleinen Tisch mit der Rundbank Platz zu nehmen. Auf Anhieb entdeckte sie die drei Bilder, denen ihr ganzes Interesse galt, für die sie die lange Autofahrt unternommen hatte. Langsam näherte sie sich dem Gainsborough, der ein Reitermotiv darstellte. Sie wußte sofort, daß sie vor dem Original stand. George betrat die Gemäldegalerie und servierte die Getränke. Der Butler wollte sich zurückziehen, doch ein Ruf der Besucherin hielt ihn zurück, obwohl er an MacKillearn gerichtet war. »Würden Sie mir bitte die Expertisen zeigen, Mister MacKillearn«, bat sie, ohne den Blick von den wertvollen Gemälden zu 14 �
lassen. Der Hausherr gab den Auftrag an George weiter und forderte ihn auf, die Dokumente aus dem Safe zu holen. »Ich bin davon überzeugt, daß wir in der nächsten Stunde zum Abschluß kommen«, sagte Gloria sachlich. »Vorausgesetzt, wir werden uns über den Preis einig.« MacKillearn lächelte. »Die Experten, die die drei in Frage kommenden Meisterwerke geprüft und deren Echtheit bestätigt haben, legten zugleich den Liebhaberpreis fest«, erklärte er. »In diesem Punkt dürften wir also auch zu einer raschen Einigung kommen.« Er schenkte Kaffee ein und reichte Gloria die Tasse nebst Unterteller. »Sie wollen noch in dieser Nacht zurückfahren?« »Natürlich, die Nacht ist ohnehin bald vorüber«, erwiderte Gloria Stanford. »Und ins Hotel brauche ich auch nicht mehr zurück.« Ihr entging das zufriedene Aufleuchten in Georges Augen, der gerade mit einer ledernen Dokumentenmappe die kleine Gemäldegalerie betrat und die Mappe auf den Tisch legte. Die nächste Viertelstunde verbrachte die junge Frau damit, die Gutachten zu studieren. Sie hatte keinerlei Bedenken mehr, das Geschäft abzuschließen. Die Gemälde waren von international anerkannten Sachverständigen geprüft und als echt befunden worden. Auch gegen die Preise hatte Gloria nichts einzuwenden. »Ich kaufe die Gemälde«, sagte sie entschlossen und wandte sich an MacKillearn. »Die Rahmen benötige ich nicht. Zudem lassen die Bilder sich dann leichter transportieren.« »Wie Sie wünschen«, erwiderte MacKillearn. »Aber ist es nicht zu riskant. Sie allein im Wagen mit den wertvollen…?« Gloria schüttelte den Kopf. »Kein Mensch weiß, was ich im Kofferraum habe«, meinte sie und zog das Scheckbuch aus der Tasche, die an einem Riemen 15 �
über ihre Schulter hing. »Achthunderttausend Pfund Sterling… einverstanden?« MacKillearn tat, als fiele ihm der Entschluß schwer. »Einverstanden«, seufzte er. »George wird sofort die Verkaufspapiere ausfertigen.« Gloria Stanford, kunstsachverständig und ebenso geschäftstüchtig, stellte den Scheck aus, unterschrieb ihn jedoch noch nicht. »Ich nehme an, daß Sie eine Bankauskunft über mich eingeholt haben«, meinte sie. »Mister Gibbs hat sich darum gekümmert«, gab MacKillearn zu. »Ihr Name hat einen guten Ruf.« Gloria hatte sich umgedreht und musterte die anderen Gemälde, die an den Wänden hingen. Vor einem Bild, das ein nichteuropäischer naiver Maler angefertigt haben mußte, blieb sie stirnrunzelnd und unangenehm berührt stehen. »Wo stammt denn dieses Bild her, und wen soll es darstellen, Mister MacKillearn?« erkundigte sie sich mit leiser Stimme. »Mein Großvater lebte lange in Indien«, sagte MacKillearn. »Er hat es von dort mitgebracht. Es zeigt den Guru von Ghadnipur.« Guru? Gloria Stanford überlegte und spürte erneut, wie ihr Herz rascher schlug. Diese häßliche Gestalt hat mehr Ähnlichkeit mit einem fetten Moloch, der durch Menschenopfer gütig gestimmt werden muß, dachte sie. Gloria wollte sich von dem häßlichen Anblick losreißen. Doch es gelang ihr nicht. Ihr Blick wanderte über die fleischigen, wurstdicken Finger, die kostbare Ringe zierten, die über den fetten Bauch gefalteten Hände, erfaßte die wabbligen Brüste, das herabhängende Doppelkinn und blieb schließlich an den pechschwarzen, stechenden Augen haften. Plötzlich hatte Gloria das Gefühl, als lebten diese schwarzen 16 �
Augen, als ginge eine hypnotische Kraft von ihnen aus, die Besitz von ihrem Bewußtsein ergriff. Krampfhaft bemühte Gloria Stanford sich, nicht mehr in diese unheimliche Augen zu blicken, aber sie folgten ihr und ließen die junge Frau nicht los. »Ist Ihnen nicht gut, Miß Stanford?« Wie aus weiter Ferne drang MacKillearns Stimme in ihr Bewußtsein. Klang es nicht sogar wie ein verschleierter Befehl, den Blick von dem schrecklichen Bild abzuwenden? Langsam drehte Gloria sich um. Der Schotte stand neben dem kleinen Tisch und hielt die Verkaufsbestätigungen in der Hand. »Vielleicht fehlen mir doch ein paar Stunden Schlaf.« Gloria lächelte verlegen und ging schleppend zum Tisch. Sie überflog die Papiere, die MacKillearns Unterschrift trugen, nur flüchtig und setzte ihren Namen darunter. Dann unterschrieb sie den Scheck und reichte ihn dem Schotten. Erst jetzt fiel ihr auf, daß die drei von ihr soeben erworbenen alten Meister noch im Rahmen an der Wand hingen. »Aber ich bat doch…« Unwillig runzelte sie die Stirn. MacKillearn war wie vom Erdboden verschwunden. Dafür erschien Georges massige Gestalt im Türrahmen. »Nicht mehr nötig, Miß«, knurrte er. Der freundliche, ergebene Ton in seiner Stimme war eisiger Kälte gewichen. »Die Bilder bleiben, wo sie sind!« »Sie sind mein Eigentum!« stieß Gloria verwirrt hervor. »Mister MacKillearn erhielt von mir einen Barscheck, der…« George stieß ein häßliches Lachen aus »Mehr wollten wir doch gar nicht«, triumphierte er. »Ich werde den Scheck sperren lassen und Sie bei der Polizei…« »Zu spät, Verehrteste«, höhnte George, dessen Gesicht in hämischem Triumph verzerrt war. 17 �
Er betätigte den Schalter, und die Tür glitt vor ihm zurück. Erst in diesem Augenblick war Gloria Stanford bewußt, was sie von Anfang an gespürt hatte, daß hier etwas faul war. Hätte sie doch nur ihrem ersten Gefühl nachgegeben und wäre MacKillearn nicht in der Nacht hierher gefolgt! Ihr war klar, daß sie einem Gaunerpaar aufgesessen war, das es nur darauf abgesehen hatte, ihr die achthunderttausend Pfund abzunehmen. Garantiert würden die beiden Halunken das Geld bei der Bank abheben und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Wie aber kamen sie an die nachweislich echten Gemälde? Waren die Bilder gestohlen? Da sie illegal praktisch nicht an dem Mann zu bringen waren, hatten sie sich dieser sicheren Methode bedient, um ein Vermögen zu machen, völlig risiko- und gefahrlos. Daß sie einem scheußlichen Irrtum unterlag, konnte die Millionenerbin nicht ahnen. Wenig später sollten ihr die Augen aufgehen. Schlagartig verlöschten die Lampen. Dunkelheit umgab sie, als sie sich zu der Rundbank zurücktastete und zitternd darauf niederließ. Glorias Kopf ruckte hoch, als ein schwacher Lichtschein die Dunkelheit durchbrach. Sie glaubte ersticken zu müssen, und ihre Augen weiteteten sich in wildem Entsetzen, denn der Lichtschein kam von der Stelle, an der das scheußliche Bild des Guru von Ghadnipur hing. Wieder starrte sie in die kohlschwarzen Augen der fetten Gestalt. Kein Zweifel, die Augen lebten und starrten sie zwingend an! Die Hände mit den beringten, fleischigen Fingern waren nicht mehr über dem Bauch gefaltet. Die weißen, faltigen Handflächen 18 �
nach oben gerichtet, streckte die Gestalt die Arme einladend nach der jungen Frau aus. Was Gloria Stanford sah, war kein Bild mehr, es war grausige Wirklichkeit! Das Bild war ins Überdimensionale verwandelt. Der Guru hatte volle Lebensgröße angenommen… In welches Schreckenskabinett bin ich nur geraten, dachte Gloria. Ihr Atem ging stoßweise. Sie wollte fliehen, zurückweichen vor dem Anblick der fetten Gestalt, deren nackte Haut schweißnaß glänzte. Doch sie vermochte nicht, sich auch nur einen Millimeter vom Fleck zu rühren. Hatte man sie in eine Salzsäule verwandelt, in einen Stein, in eine Skulptur? Nein, sie lebte und spürte ihren Herzschlag, das schmerzhafte Stechen in ihren Lungen, das Schwindelgefühl, das sie überkam. Plötzlich drang eine hohe, eunuchenhafte Stimme in ihr Bewußtsein. »Ich danke dir für die großherzige Spende, die du meinem Reich, der Welt der Glückseligkeit, hast zukommen lassen, Tochter der Sünde.« Die Gefangene erschauerte. Die wulstigen Lippen des Guru bewegten sich kaum. Spende, überlegte sie… Man hatte sie um achthunderttausend Pfund betrogen. Der Guru mit dem Aussehen eines Molochs vermochte ihre Gedanken zu lesen. »Du hast einen hohen Beitrag zur Weiterentwicklung der Welt der Glückseligkeit geleistet«, fuhr die hohe Stimme singend fort. »Niemand hat dich betrogen, aber das kannst du noch nicht begreifen. Dank deines Beitrags habe ich dich dazu ausersehen, mir als Priesterin zu dienen und dich teilnehmen zu lassen an der Welt der Glückseligkeit.« Gloria Stanford vernahm jedes Wort. Plötzlich roch sie den 19 �
süßlich betäubenden Duft, der ihre Sinne verwirrte und ihre Abwehr lähmte. Der Guru ließ sie nicht aus den Augen. »Gleich wirst du eingehen in diese Welt der Glückseligkeit«, versicherte er. »Schließe jetzt die Augen und bereite dich vor zu dem bedeutenden Schritt!« Der letzte Widerstand war aus Gloria gewichen. Gehorsam schloß sie die Augen und merkte deshalb nicht, wie der lebensgroße Moloch sich in nichts auflöste, und der Raum sich verdunkelte. Gloria fühlte sich plötzlich leicht wie eine Feder. Sie spürte nicht mehr den Boden unter ihren Füßen und hatte das Gefühl zu schweben. Der intensive Geruch asiatischer Räucherstäbchen wurde stärker und nebelte sie ein. Wie auf einer Wolke des betäubenden Rauchs schwebte sie dahin und glaubte, hinaus in die Unendlichkeit zu fliegen. Die Gemäldegalerie lag weit zurück. Schwaches Licht breitete sich vor ihr aus und wurde langsam heller. Rote, blaue und gelbe Farbfetzen tauchten wie Nebelschwaden auf und blieben hinter ihr zurück. Eine Symphonie von Farben umgab sie, als sie eine saalartige Grotte erreichte. Rätselhafte Gestalten irrten zwischen den bunten Lichttürmen umher und stießen seltsame Laute aus. Plötzlich geriet der Guru in ihr Blickfeld. Wie ein Gott hockte er auf einem goldenen Sessel, die schwarzen Augen mit wilder Gier auf die nackten, schlanken Mädchen gerichtet, die sich in seltsamem Rhythmus vor ihm wiegten. Gloria Stanford war von ihrer schwerenlosen Reise in diese unheimliche Welt benommen. Aber noch funktionierte ein Rest ihres Verstandes und sie begriff, daß sie in eine Welt geraten war, aus der es kein Entkommen mehr gab. 20 �
Mit einem irren Schrei brach sie zusammen und verlor das Bewußtsein… * Sie machten einen großen Bogen um ihn, wenn sie ihn von weitem kommen sahen. Das steinerne Gesicht, die knochige Gestalt, deren dürre Beine unter dem karierten Kilt herausragten wie vertrocknete Äste, der hinkende Gang und das rhythmische Hämmern des Krückstocks auf dem Katzenkopfpflaster, lehrten die Einwohner von Crathle das Fürchten. Dorian MacKillearn, Clan-Chef der Sippe, Herr über umfangreiche Ländereien, Schafherden und zwei Whisky-Destillerien, erschien einmal in der Woche in dem kleinen Ort am Dee River und stattete der einzigen Bank einen kurzen Besuch ab. Was er dort trieb, welche Geldgeschäfte er abwickelte, wußten nur die beiden Bankangestellten. Und die hielten pflichtgetreu den Mund. Die Gerüchte, die in Crathle kursierten, wollten es jedoch ganz genau wissen. MacKillearn zahle wöchentlich die Gelder ein, die aus dem Erlös von Gemälden und Kunstwerken stammten und seinen spurlos verschwundenen Opfern abgetrickst wurden. In der Tat waren einige vermögende, alleinstehende Personen von der Bildfläche verschwunden. Das wußten die Leute von Crathle und zogen ihre Schlüsse daraus. Allerdings hatten sie nie etwas beweisen können. Die Polizei der Grafschaft Aberdeen war den Gerüchten natürlich nachgegangen und hatte Dorian MacKillearn einen Besuch abgestattet. Seit über vier Jahrhunderten residierten die MacKillearns auf Devils Lodge, wie der mächtige Steinkasten inmitten der Lochnagar Hills getauft worden war. 21 �
Unverrichteter Dinge waren die Beamten wieder abgezogen, nachdem sie sich mit Dorian MacKillearn und seinem Hauspersonal unterhalten und im Gebäude umgesehen hatten. Trotzdem waren die Gerüchte nicht verstummt. Und dann hieß es sogar, der hinkende Dorian habe die Beamten gehörig geschmiert. So fanden das Zimmermädchen und der Wirt es auch recht seltsam, daß die vornehme Lady mitten in der Nacht das kleine Hotel verlassen hatte und verschwunden war. Als sie jedoch das Geld und den Hinweis entdeckten, daß sie plötzlich habe abreisen müssen, sprachen sie nicht mehr darüber. * Wie jeden Freitag, so ging Dorian MacKillearn auch an diesem stürmischen, wolkenverhangenen Tag über die holprige Dorfstraße, deren Pflastersteine feucht im Dunst glänzten. Der dreiundfünfzigjährige Mann achtete nicht auf die düsteren Blicke, die ihm folgten, bis sich die Tür des kleinen Bankgebäudes hinter ihm geschlossen hatte. Was sich hinter den Milchglasscheiben abspielte, blieb den Blicken Neugieriger verborgen. Nach knapp zehn Minuten verließ der hinkende Dorian die Bank wieder. Hochaufgerichtet, die verstohlenen Blicke der Dorfbewohner ignorierend, stapfte er über die Straße zum Ortsausgang. Er war längst den Blicken Neugieriger entschwunden, aber sie vernahmen noch lange das harte Aufstoßen seines Krückstocks. Erst als das Hämmern verklungen war, wandten die Leute sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Der Wirt des Jumping Dog, des springenden Hundes, stand mit Cliff Bogart, seinem Nachbarn, in der Tür. Auch sie hatten 22 �
MacKillearn beobachtet und ihm finster nachgeblickt. »Ein unheimlicher Bursche«, murmelte Bogart. »Jedesmal, wenn ich ihn sehe, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Trinken wir lieber einen Schluck, Burt, und vergessen ihn.« Burt Orwell, der einen mächtigen Bauch vor sich hertrug, strich sich über die spiegelnde Glatze und nickte brummend. »Möchte nur zu gern wissen, was er heute in der Bank getrieben hat«, kam es über seine Lippen. »Ob er wieder ein Opfer gefunden hat?« »Was weiß ich?« Cliff Bogart zuckte die Achseln und folgte dem Wirt in den Schankraum. Orwell goß zwei Gläser randvoll und schob eines davon Bogart hin. Schweigend tranken die beiden Männer und hingen ihren Gedanken nach. »Was ist mit der flotten Lady, die gestern abend bei dir abgestiegen ist«, fragte Cliff Bogart nach einer Weile. Der Wirt leckte sich die Lippen. »Abgereist ist sie«, brummte er. »Und das mitten in der Nacht.« »Was ist sie?« knurrte Bogart. »Ohne zu zahlen? Mann, das ist ein Ding!« »No, sie hat bezahlt, reichlich sogar«, wehrte Burt Orwell ab und erzählte von der Nachricht, die Gloria Stanford zurückgelassen hatte. »Und du findest das nicht reichlich seltsam, Burt?« stieß Bogart nach. »Wieso? Gäste kommen oft auf die verrücktesten Einfälle.« Cliff Bogart, der Möbel- und Sargschreiner von Crathle, schüttelte den Kopf. »Es ist und bleibt seltsam«, beharrte er stur und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Du liest zuviel den ›Daily Mirror‹«, spottete Burt Orwell. 23 �
»Wenn man das ›St.Patricks-Wochenblatt‹ liest wie du, geht einem ja mit der Zeit die Phantasie flöten«, stieß der Schreiner hervor. »Die Lady sah doch elegant und vermögend aus, nicht wahr?« »Ja«, brummte Orwell. »Einen teueren Schlitten fuhr sie auch, wie?« fuhr Bogart fort. »Richtig«, knurrte der Wirt. »Und an einem Finger trug sie mindestens einen Zweikaräter. Ihre Unterwäsche war aus reiner Seide, und ihr Höschen bestand aus echtem Nerz. Sonst noch etwas?« »Allerdings«, murmelte Cliff Bogart. »Eine Frage, Burt: Was hat eine Lady von ihrem Format in unserem Kaff zu suchen? Solange ich mich erinnern kann, sind bei dir nur Vertreter, Hausierer und mal ein Pfarrer abgestiegen. Der High Society ist dein Laden doch zu popelig.« »Na und?« brummte der Wirt beleidigt. »Bei mir ist noch jeder gut und real bedient worden. Und jedem steht es zudem frei zu verschwinden, wann es ihm paßt.« »Denk doch mal scharf über die Geschichte nach, Burt«, ließ der Schreiner nicht locker. »In deinen Zimmern gibt es kein Telefon, und der Briefträger liefert nachts auch keine Expreßbriefe ab. Wie also konnte die Lady wissen, daß sie so plötzlich abreisen mußte?« »Ist doch nicht mein Bier«, knurrte Burt Orwell und nippte nachdenklich an seinem Glas. »Frauen kommen eben manchmal auf die verrücktesten Einfälle. Vielleicht hat eine Fliege sie gestört.« »Ich sehe das ganz anders«, brummte Cliff Bogart. »Die Lady muß einen ganz bestimmten Grund gehabt haben, daß sie bei dir abstieg. Hast du nicht bemerkt, wie sie immer wieder zur Uhr schaute, so als erwarte sie jemand. War doch möglich, daß die Person, auf die sie wartete, sich erst spät in der Nacht meldete.« 24 �
Burt Orwell schien auf der Leitung zu stehen. »Was machst du dir darüber Gedanken, Cliff?« sagte er wegwerfend. »Weil ich dabei an den hinkenden Dorian denke«, zog Cliff den Schluß. »Könnte doch sein, daß er mit der Lady ein Geschäft gemacht hat und das Geld heute auf die Bank brachte.« Der Wirt sah seinen Nachbarn erschreckt an. »Du siehst Gespenster«, knurrte er. »Könnte der hinkende Dorian sie nicht in sein Gemäuer gelockt haben, um tüchtig bei ihr abzusahnen?« spann Cliff Bogart den Faden weiter. »Schließlich weiß jeder hier in der Gegend, daß er sich ständig in Geldverlegenheit befindet, da seine Geschäfte miserabel gehen.« »Pah, Geldverlegenheit«, murrte der Wirt. »Glaubst du etwa, daß die Bank ihm jeden Freitag neue Kredite gewährt?« Cliff Bogart grinste schlau. »Ich meinte genau das Gegenteil«, erwiderte er. »Wenn du mich fragst, dann bringt der Bursche sein Schäfchen ins trockene.« »Die Lady sah mir nicht danach aus, als ließe sie sich so einfach übers Ohr hauen«, brummte Burt Orwell. »Zugegeben, der hinkende Dorian ist ein unangenehmer Typ, aber ich halte die umlaufenden Gerüchte doch für übertrieben. Schließlich schläft unsere Polizei auch nicht.« Der Schreiner war anderer Ansicht. Er hatte vor drei Jahren einen Sarg nach Devils Lodge gebracht, als der alte Gärtner gestorben war. Es war bereits dunkel gewesen, als er dort ankam. Und er war heute noch felsenfest davon überzeugt, seltsame Geräusche und Schreie gehört zu haben. Allerdings hatte er nie zu jemand darüber gesprochen, um nicht ausgelacht zu werden. Es dämmerte, und weitere Gäste betraten den Jumping Dog. Die Unterhaltung ging auf andere Themen über, und die Farmer 25 �
unterhielten sich über die Preise, die sie auf dem Wochenmarkt erzielen würden. Es war kurz vor Lokalschluß, als ein gellender Schrei die Männer in die Höhe fahren ließ. »Hörte sich an, als sei einer umgebracht worden«, flüsterte Burt Orwell verstört. Die Männer hatten sich umgewandt und starrten schweigend auf die geöffneten Fenster. »Vielleicht haben wir uns ge…« Wieder ertönte ein Schrei, noch lauter und schmerzhafter, als ob jemand sich in Todesangst befände. »Verdammt, da wird einer umgebracht!« stieß Cliff Bogart hervor und war als erster an der Tür. * Sie lag leise vor sich hinweinend in einer der zahlreichen Höhlen. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, die Hände zu Fäusten geballt, die Knie an den nackten Körper gezogen. Es war nicht Kälte, die den schlanken Körper wie Espenlaub zittern ließ. Vor ihren Augen erschien immer wieder Yana, wie sie nackt und gelassen auf dem gelben Opferstein lag und der spitze Dolch in ihre Kehle fuhr. Immer wieder erlebte sie nach, wie das Blut aus der Wunde quoll und alles Leben aus Yana wich. Der Guru und seine Helfershelfer hatten dazu beigetragen, daß Yana der Macht und dem Einfluß des scheußlichen Molochs erlegen war und nur das tat, was man ihr einflüsterte. Jetzt war sie tot und befand sich angeblich im Paradies der ewigen Glückseligkeit. Welcher Hohn! Yana war tot, und was danach kam, lag nicht in der Macht des Guru, der sich als seltsamer Gott aufspielte. Aber 26 �
die bedauernswerte Yana war nicht die einzige, die dem Guru hörig war. Viele andere hatten ihm alles geopfert und waren bereit, Yana zu folgen. Auch sie hatte zuerst seiner Lehre, seinen Prophezeiungen geglaubt. Doch als ihr die Erkenntnis gekommen war, war es zu spät gewesen, sich aus seinem Machtkreis zu entfernen. Sie war eine Sklavin, eine Gefangene des schrecklichen Molochs, der immer wieder Blutopfer verlangte. Der Tränenstrom des Mädchens war versiegt, und plötzlich erfüllte sie eine seltsame Ruhe. Langsam streckte sie ihren Körper und hob lauschend den Kopf. Vor ihr lag die leere Höhle. Der Guru hatte seinen goldenen Sessel verlassen und war von seinen Dienern in einer Art Sänfte weggetragen worden. Zwei Fackeln brannten in ihren Eisenhalterungen an den kahlen Wänden und warfen einen gespenstischen Schein auf den gelben Opferstein. Das Mädchen hob sich auf die Knie und kroch aus ihrer kleinen Höhle. Sie wagte kaum zu atmen, als sie sich auf die Füße stellte und mit dem Rücken an die Felswand gelehnt stehen blieb. In der riesigen Höhle war es still. Nur aus den kleinen Wohnhöhlen der anderen vernahm sie Atemzüge und verhaltenes Stöhnen im Schlaf. Dann aber hörte das nackte Mädchen andere Geräusche. Woher sie kamen, vermochte sie nicht auszumachen. Sie vernahm die fremdartige Musik, registrierte den schwachen Duft betäubender Räucherstäbchen und hörte den monotonen Singsang der Priesterinnen. Er hat ein weiteres Opfer eingefangen, schoß es dem Mädchen durch den Kopf. Sie erinnerte sich an die Zeremonie, die man bei ihrem Einzug abgehalten hatte. Sie war ähnlich gewesen. 27 �
Die Zeremonie, deren Zeuge in diesem Augenblick die Lauscherin wurde, unterschied sich jedoch von den anderen. Es war die telepathische Messe, bei der die Opfer, die in Gurus Gewalt gelangt waren, gefügig gemacht wurden. Solange die Zeremonie dauerte, waren die Mädchen unbeobachtet. Das bestätigte die Erfahrung. Auf Zehenspitzen löste sie sich von der Wand und durchquerte hastig die Höhle. Ihre Gedanken waren klar und auf ein einziges Ziel gerichtet: Sie mußte hier heraus, koste es, was es wolle! Lange genug hatte sie auf diese Gelegenheit gewartet und gebetet, daß ihre Stunde kam. Jetzt war sie da. Die Nackte war eine der wenigen, die sich den geistigen und telepathischen Kräften des Guru entziehen konnte, ohne daß er es merkte. Aber sie hatte es in all den Monaten nicht gewagt, sich einer ihrer Leidensgefährtinnen anzuvertrauen. Ihren Weg mußte sie allein gehen. Als sie die gegenüberliegende Seite der Höhle erreichte, blieb sie erneut lauschend stehen. Die Beschwörungszeremonie war noch in vollem Gang. Vorsichtig tastete das Mädchen sich wenig später in den Stollen, durch den die kahlgeschorenen Diener des Guru kamen, wenn sie ihnen die kargen Speisen brachten. Nach einigen Metern spürte die Flüchtende den frischen Luftzug, der ihr entgegenwehte. Hoffnung erfüllte sie, dem Vorhof zum tödlichen Paradies entrinnen zu können. Der Stollen verbreiterte sich und mündete in einer Grotte, in der eine Notleuchte brannte. Elektrisches Licht! Ja, sie täuschte sich nicht… In all den schrecklichen Monaten hatte sie nur das Licht von Fackeln und Kerzen gesehen. Die Tatsache war für sie ein Beweis, daß sie sich der Zivilisati28 �
on näherte. Und die Hoffnung beschleunigte ihre Schritte, als sie den nächsten Stollen nahm. Der unebene Boden führte bergan. Die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt, die Wände mit den Händen abtastend, hastete sie weiter. Die Luft wurde zunehmend frischer und kühler. Trotzdem fror sie nicht. Die Aussicht, bald wieder unter normal denkenden Menschen zu sein, durchströmte ihren Körper mit einer Glutwelle. Bald würde alles wie ein böser Spuk hinter ihr liegen. Vorbei die grauenhafte Opferszenen, die Beschwörungszeremonien, die widerlichen Götzendienste vor dem fetten Moloch, der nichts Menschliches an sich hatte und an ein Wesen einer außerirdischen Welt erinnerte. Das Mädchen schätzte, mindestens zwei Meilen zurückgelegt zu haben, als sie weit vor sich den fahlen Nachthimmel zu erkennen glaubte. Sie blieb einen Augenblick schwer atmend stehen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, das Blut rauschte in ihren Ohren, die Pulse jagten. Nach einigen weiteren Schritten blieb sie erneut stehen. Ein entsetzlicher Gedanke erfüllte sie. Was passierte, wenn weiter vorn ein Wächter postiert war? Er würde sie ohne weiteres überwältigen und in Molochs Reich zurückbringen. Das würde den Tod bedeuten! Das Mädchen nahm all seinen Mut zusammen und tastete sich behutsam weiter. Ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht. Wenige Meter weiter machte sie kurz vor dem von Büschen getarnten Stollenausgang die Konturen einer schlafenden Gestalt aus. Regelmäßige Atemzüge waren deutlich zu hören. Lautlos näherte sie sich dem Schläfer und erkannte, daß es einer der kahlgeschorenen Diener des Guru war. Angst überkam das Mädchen beim Vorbeitasten. Endlich er29 �
reichte sie den Stollenausgang. Vorsichtig schob sie sich durch die Büsche und blickte hinaus in die dunkle Freiheit, in ihre Welt. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Aber sie war davon überzeugt, daß irgendwo Menschen lebten, die ihr weiterhalfen. Die frische Luft tat ihr gut, und die Nachtkühle spürte sie nicht. Ihre nackten Füße berührten hartes Gras und spitze Steine. Nach etwa zwanzig Metern stolperte sie über einen trockenen Ast und konnte sich gerade noch mit den Händen auffangen. Das knackende Geräusch des Astes tönte wie Geschützfeuer in ihren Ohren. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie. Wenn nur der Kahlgeschorene nichts gehört hatte! Ihre Vermutung sollte zur schrecklichen Gewißheit werden. Sie hörte, wie sich die Büsche hinter ihr teilten, und jemand einen dumpfen Laut ausstieß. Panik erfaßte die Flüchtende. Die Angst saß ihr im Nacken, als sie davonlief in die Dunkelheit. Sie erreichte eine Talsenke und war für eine Weile den Blicken des Verfolgers entzogen. Verzweifelt schlug sie einen Haken, rannte die Senke hinunter und erreichte einen schmalen Bach. Sie spürte nicht das eiskalte Wasser, das hochspritzte, als sie den Bach durchquerte und die Flucht hinter einer langgezogenen Buschkette fortsetzte. Heftige Stiche in der Seite zwangen das Mädchen, eine Verschnaufpause einzulegen. Besorgt wandte sie sich um. Von dem Kahlgeschorenen war nichts mehr zu sehen und zu hören. Hatte er die Verfolgung aufgegeben oder lauerte er irgendwo in der Dunkelheit? Ein freudiger Schreck durchzuckte sie, als sie weit in der Ferne einige Lichter ausmachte. Kein Zweifel, da hinten wohnten Men30 �
schen, war Sicherheit und würde das Entsetzen ein Ende haben. Das Licht und die Gewißheit, einen Ort vor sich zu haben, verlieh ihr neue Kraft. Den Blick auf die fernen Punkte gerichtet, hastete sie weiter, und bald konnte sie die Umrisse einiger Häuser und den spitzen Kirchturm ausmachen. Sie sah die Scheinwerfer eines Autos, das den Ort ansteuerte und über eine Straße rollte. Das Mädchen änderte sofort die Richtung und hastete mit keuchendem Atem auf die Straße zu. Du mußt die Straße erreichen, hämmerte sie sich ein. Dort bist du in Sicherheit, bewegen sich Menschen, und kann niemand etwas von dir wollen. Ein Weidezaun versperrte ihr den Weg. Schwer atmend blieb sie stehen und suchte verzweifelt nach einem Durchlaß, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, das Gatter zu überklettern. Du mußt weiter, du mußt das letzte Hindernis überwinden! Ihre Hand glitt über das Gatter, während sie sich mühsam weiterschleppte. Sie atmete erleichtert auf, als sie zwischen zwei Koppeln einen schmalen Pfad ausmachte, der zur Landstraße führte. Nur vierzig oder fünfzig Meter noch, dann hatte sie die Straße erreicht. Ihr keuchender Atem und das Hämmern der Pulse in den Ohren verschluckte das Rascheln ihrer Füße im harten Gras. Er tauchte wie ein Geist dicht vor der Straße vor dem entsetzten Mädchen auf. Die Nackte erstarrte, dann löste sich ein schriller Entsetzensschrei aus ihrer Kehle und zerriß die Stille der Nacht. Ihre Füße waren wie gelähmt, als sie den schlitzäugigen Kahlkopf, der nur einen Lendenschurz trug, erkannte. Es war der Wächter aus dem Eingang zur Unterwelt des Molochs. Sie sah, wie sein Arm, in dessen Hand ein Dolch blitzte, ruckartig hochkam. 31 �
»Nein«, wimmerte sie. »Nein, nicht, ich will leben… ich… will nicht…« Sie wich zurück. Aus der Kehle des Kahlgeschorenen ertönte dumpfes Grunzen und kamen Worte in einer unverständlichen Sprache. »Nein!« schrie das Mädchen mit letzter Kraft und wollte dem tödlichen Stich ausweichen. Sie stolperte und fiel mit dem Rücken gegen ein Gatter. In diesem Augenblick sah sie, wie die Klinge auf ihren Hals stieß. In wildem Entsetzen bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Die scharfe Klinge, die sich durch ihre Kehle bohrte, ließ ihren Schrei abrupt abbrechen. Blut strömte, als sie zusammenbrach. Zu spät, war ihr letzter Gedanke, als das Bewußtsein sie langsam verließ… Sie spürte, wie der Kahlgeschorene sie aufheben wollte, plötzlich aber ins Gras fallen ließ. Dann vernahm sie Stimmen, die aus ihrer Welt stammten. Würden die Menschen, denen diese Stimmen gehörten, das mißhandelte Mädchen ins Leben zurückrufen? * Cliff Bogart hatte das nackte Mädchen als erster erreicht. Ganz flüchtig sah er noch die seltsame kahlköpfige Gestalt, die in der Dunkelheit untertauchte. »Verfolgt den Mörder!« rief er den anderen zu, die ihn inzwischen erreicht hatten. Der Schreiner kniete neben der Verletzten und riß ein Streichholz an. Bogart, der im Krieg an der Front gekämpft hatte, erkannte sofort, daß dem jungen Mädchen nicht mehr zu helfen war. Aber noch lebte sie. Er sah, wie ihre Augenlider zuckten und die Lippen Worte formten. 32 �
Vielleicht will sie den Namen ihres Mörders verraten? überlegte Cliff Bogart und brachte sein Ohr dicht an ihre Lippen. »Sprechen Sie!« stieß er erregt hervor. »Wer war es, der Sie angegriffen hat?« Mit letzter Kraft formte die bleichen Lippen der Sterbenden zwei Worte. Ihr Körper bäumte sich noch mal auf, als wolle er sich gegen den Tod stemmen. Dann fiel er zusammen. Das Mädchen war tot. Die anderen kehrten zu Bogart und der Toten zurück. »Der Hund ist uns entwischt«, keuchte einer und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn. »Sie ist tot?« Cliff Bogart nickte. »Das einzige, was ich noch für sie tun kann, ist, ihr einen Sarg zu zimmern«, murmelte er. Die beiden seltsamen Worte, die das Mädchen ihm zugeflüstert hatte, spukten in seinem Kopf herum. Aber sie ergaben keinen Sinn, fand er. Sicher waren es die Phantasien einer Sterbenden gewesen, ohne Sinn und Hinweis auf den brutalen Killer. »Sie ist ja nackt«, stelle einer plötzlich fest, der in der Aufregung nicht darauf geachtet hatte. »Himmel, das sieht ja so aus, als hätte ein Sexualmörder sie umgebracht!« »Wir müssen die Polizei alarmieren«, stieß ein anderer hervor. Ein junger Mann, dem beim Anblick des Blutes übel geworden war, schlurfte davon. »Ich rufe die Polizei!« murmelte er und war froh, den schaurigen Tatort verlassen zu können. »Ein Sittlichkeitsverbrechen in unserer Gegend«, knurrte ein von Wind und Wetter gegerbter Schafhirte. »Das hat es bei uns seit Menschengedenken noch nicht gegeben.« Cliff Bogart hatte sich wieder aufgerichtet und seine erloschene Pfeife angebrannt. »Einmal ist es immer das erste Mal«, brummte er und rief sich 33 �
die beiden letzten, seltsamen Worte des Mädchens ins Gedächtnis zurück. »Hat einer von euch das Mädchen schon mal gesehen?« »Sie ist nicht von hier«, meinte der Schafhirte. »Ich bin während der letzten dreißig Jahre viel durch das Country gekommen und bilde mir ein, jeden zu kennen oder mal gesehen zu haben.« »Die Kleine ist bestenfalls zwanzig Jahre alt«, brummte Cliff Bogart. Er dachte an die kahlköpfige Gestalt, die er in der Dunkelheit hatte untertauchen sehen. War der Mann nicht auch nackt gewesen, rief er sich die Situation wieder ins Gedächtnis zurück. Ja, der Mörder war auch nackt gewesen! Deutlich erinnerte er sich an den muskulösen Rücken und den kahlen Schädel des Flüchtenden. Er berichtete den anderen von seiner Beobachtung. »Das war garantiert dieser Sexualmörder«, meinte einer. »Der hat sich beeilt, daß er zu seinen Kleidern kam. Wir sollten unsere Fahrzeuge holen und die Umgebung absuchen. Vielleicht erwischen wir das Schwein noch.« »Dürfte bei der Dunkelheit nichts bringen«, wandte der Schäfer ein. »Ihr kennt doch die Gegend. Wenn der Kerl einen Wagen dabei hatte, ist er bestimmt längst über alle Berge. Wir können nur noch hoffen, daß die Polizei erfolgreich ist.« »Ich gehe in den Jumping Dog zurück«, sagte Cliff Bogart. »Wartet hier auf die Polizei.« * Da ein Ausnahmefall eingetreten war, hatte der Wirt des kleinen Hotels eigenhändig die Sperrstunde verlängert. Es stand für ihn fest, daß die Beamten der Mordkommission schnell hier aufkreuzen und die Zeugen verhören würden. Zwei Stunden später betraten Inspektor Whittle, ein Sergeant 34 �
und der Stenograf der Mordkommission den Jumping Dog. »Sie können sicher einen heißen Tee gebrauchen, Gentlemen«, begrüßte der Wirt die Beamten. »Eine gute Idee«, fand der Inspektor und blickte die Anwesenden der Reihe nach an. »Wer von Ihnen ist Mister Bogart?« Der Schreiner schob sich vom Tresen auf den grauhaarigen Inspektor zu. »Sie haben die Tote als erster erreicht, sagte man mir«, begann Whittle. Cliff Bogart nickte ernst. »Richtig«, bestätigte er. »Zu dem Zeitpunkt lebte sie noch.« Whittle hob die buschigen Brauen. »Hat die Sterbende noch etwas gesagt?« stieß er nach. »Sie sagte zwar etwas, aber ich konnte es nicht verstehen«, erwiderte er. »Zwei fremdartig klingende Worte.« »Haben Sie die Worte wenigstens behalten, Mister Bogart?« fragte der Inspektor rasch. »Es hörte sich an wie Gubu oder Gudu. Das zweite Wort war Radnipur oder Radimur.« Der Inspektor runzelte die Stirn. »Haben Sie genau hingehört?« knurrte er. »Überlegen Sie bitte, ob Sie sich nicht geirrt haben.« »Ich habe gute Ohren«, brummte der Schreiner. »Was ich gehört habe, sagte ich Ihnen soeben.« »Kannte jemand von Ihnen die Tote?« Alle schüttelten den Kopf. »Nie gesehen«, knurrte der Schäfer aus seiner Ecke. »War es nun ein Sexualverbrechen, Inspektor?« »Das wird die Obduktion ergeben«, erwiderte der Beamte. »Dann haben Sie auch keine Ahnung, was die Tätowierung oberhalb des Bauchnabels der Ermordeten bedeutet?« »Eine Tätowierung?« echote Cliff Bogart. »Hab’ keine gesehen. 35 �
War auch viel zu aufgeregt, um mir die nackte Leiche genauer zu betrachten. Um was für eine Tätowierung handelt es sich denn?« »Eine Blume«, brummte der Inspektor. »In Hippiekreisen erlebt man oft tätowierte Blumenmotive. – Well, ist Ihnen während der letzten Tage jemand verdächtig vorgekommen, haben Sie Fremde gesehen, die sich außerhalb der Norm benommen haben. Oder sahen Sie ein Paar mit einem Wagen, in dem das Mädchen saß?« Diese Fragen konnte niemand beantworten. »Ich erinnere mich nur noch an den nackten Kerl mit dem kahlen Schädel«, platzte Cliff Bogart heraus. »Die Gentlemen, die versuchten ihn zu erwischen, haben davon nichts berichtet«, sagte der Inspektor interessiert. »War ja auch zu dunkel, Inspektor«, erklärte der Schäfer. »Wir hörten nur noch seine Schritte und verloren dann die Richtung.« Whittle wandte sich an Cliff Bogart. »Erzählen Sie alles von Anfang an, Mister Bogart«, bat er den Schreiner. Bogart begann mit den beiden Schreien, die sie gehört hatten und endete mit den unverständlichen Worten der Sterbenden. »Danke«, sagte Whittle abschließend. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, selbst wenn Sie es für unwichtig halten, lassen Sie es mich bitte wissen.« Es war kurz nach zwei Uhr am frühen Morgen, als die Kriminalisten wieder abzogen. Das Lokal leerte sich, nur Cliff Bogart blieb noch auf einen letzten Schluck zurück. »Sag’ mal, Burt«, wandte er sich an den Wirt. »Glaubst du, ich hätte dem Inspektor etwas von der Lady erzählen sollen? War doch schließlich auch ’ne verrückte Geschichte, auch wenn sie unwichtig ist.« 36 �
»Unsinn«, knurrte Burt Orwell, der dabei war, die Gläser zu spülen. »Was soll die Lady mit dem Mord zu tun haben. Zudem hat sie keinen Glatzkopf.« * Gloria Stanford war speiübel, als sie die Augen aufschlug. Sie benötigte eine Weile, um sich daran zu erinnern, was mit ihr geschehen war. Dann tauchte das Bild des fetten Molochs vor ihr auf. Sie sah seine schwarzen, hypnotisierenden Augen und erinnerte sich an seine hohe Stimme. Sie solle ihm als Priesterin dienen und an der Welt der ewigen Glückseligkeit teilnehmen, hatte er ihr gesagt. Gloria glaubte, wieder den betäubenden Duft zu riechen, der ihre Sinne umnebelt hatte. Von welch bedeutendem Schritt hatte der Moloch gesprochen? War alles nur ein schrecklicher Alptraum, ein böser Spuk, der sie narrte? Sie wollte drei wertvolle Gemälde kaufen, fiel ihr plötzlich wieder ein, und hatte einen Scheck über achthunderttausend Pfund ausgestellt. Ja, sie war in die Hände einer üblen Gangsterbande gefallen, die sie mit allen möglichen Tricks fertigmachen wollte. Nur so konnte es gewesen sein. Gloria Stanford fror auf einmal. Entsetzt stellte sie fest, daß sie völlig nackt war und auf einem weichen Fell lag. Was hat man mit dir angestellt, schoß es ihr durch den Kopf. Hat man dich mißbraucht, während du ohne Bewußtsein warst? Sie erinnerte sich daran, zuletzt in der kleinen Gemäldegalerie gewesen zu sein. Wie aber kam sie nackt in diese finstere Höhle? Ihre Zähne schlugen aufeinander, als sie sich langsam aufrich37 �
tete und auf den Ausgang der kleinen Höhle zukroch. Fahles, gelbliches Licht lockte sie an. Jetzt fiel ihr ein, daß sie die riesige Höhle, die sich vor ihr auftat, bereits einmal gesehen hatte, und zwar, bevor sie das Bewußtsein verlor. Ihr Blick erfaßte den gelben, blutbesudelten Opferstein, und sie überlegte schaudernd, welche Bewandtnis es damit haben mochte. Sie sah den leeren, goldenen Thron und erinnerte sich daran, den fetten Moloch dort gesehen zu haben. Gloria konnte sich noch immer keinen Reim darauf machen, wo sie gelandet war. Sie wußte nur, daß sie weitab ihrer gewohnten Umgebung war. War dies die verkündete Welt der ewigen Gückseligkeit? Sie empfand das genaue Gegenteil. Trostlosigkeit erfüllte sie. Sie stieß einen entsetzten Schrei aus, als vor ihr eine nackte, kahlköpfige Gestalt auftauchte. Kalte Schlitzaugen funkelten sie drohend an. Zitternd vor Angst wich Gloria Stanford an die Wand zurück und kreuzte schützend die Arme über die Brüste. »Wer sind Sie?« brachte sie mühsam hervor und erkannte, daß der Asiate lediglich einen spärlichen Lendenschurz trug, aus dessen Bund der Griff eines Dolches ragte. Gutturale Laute, die für die Engländerin keinen Sinn gaben, kamen über die Lippen des Kahlgeschorenen. »Wo bin ich?« war ihre nächste Frage, und sie nahm all ihren Mut zusammen. Was der schlitzäugige Muskelmann sagte, verstand sie auch jetzt nicht. Nur an seiner Armbewegung erkannte sie, daß sie in die Höhle zurückzukriechen habe. »Komm zu mir«, vernahm sie in diesem Augenblick eine helle Mädchenstimme dicht neben sich. »Dir geschieht nichts, wenn du dich fügst.« 38 �
Gloria fuhr herum und war überrascht von dem schlanken, nackten Mädchen, das sie freundlich anlächelte und die Hand nach ihr ausstreckte. »Ich bin Kona, eine Novizin des großen Guru, unseres allmächtigen Herrschers«, fuhr das Mädchen fort, das sich Kona nannte. Kona faßte Gloria bei der Hand und zog sie in eine andere geräumigere Höhle. »Ich heiße dich willkommen in der Welt der Glückseligkeit, Schwester Safi«, fuhr Kona fort. »Safi?« fragte Gloria Stanford und schüttelte den Kopf. »Ich heiße Gloria… »Dein Name ist Safi«, wurde sie unterbrochen. »Safi, das ist die Großzügige. Namen des irdischen Daseins haben in unserer Welt keine Geltung.« Gloria sah die tätowierte Blume über Konas Nabel. Sie erinnerte sich, ähnliche Blumenmuster auf den Körpern von Hippies gesehen zu haben. Unwillkürlich blickte sie an ihrer Figur hinunter. Kona war ihrem Blick gefolgt. »Der Lotos, Symbol der ewigen Glückseligkeit, wird dir gegeben, sobald du die Austreibung bestanden hast und zur Novizin erklärt wirst«, erläuterte sie mit heller, fast fröhlicher Stimme. »Austreibung?« stammelte Gloria und konnte nicht verhindern, daß ihr Körper erschauerte. »Du wirst erkennen, daß sie notwendig ist«, fuhr Kona mit ruhiger Stimme fort. »Dein Geist und dein Denken sind noch sehr mit deiner irdischen Welt verbunden. Du wirst rasch lernen, sie zu vergessen und erkennen, daß es nur eine Welt der Glückseligkeit gibt. Was uns froh und glücklich stimmt, ist die Tatsache, daß du unserem Guru bereits ein großherziges Opfer gebracht hast.« Gloria Stanford lachte bitter auf. 39 �
»Ein Opfer?« stieß sie erregt hervor. »Man hat mich in eine Falle gelockt und mit einem gemeinen Trick übers Ohr gehauen!« Kona lachte belustigt. »Manche müssen zu ihrem Glück gezwungen werden, liebste Schwester«, erwiderte sie. »Auch du wirst eines Tages erkennen, daß du richtig und im Unterbewußtsein freiwillig gehandelt hast.« Die Kunstexpertin fand zu ihrem kühlen Verstand zurück und hielt es für angebracht, erst mal alles zu erfahren, was sie unter Umständen zu ihrer Rettung verwenden konnte. »Und was fängt der Guru, du nennst ihn Gott, mit nüchternen, irdischen Werten an?« wollte sie wissen. »Es wird zum Nutzen seines Reiches verwendet«, war die ausweichende Antwort. »Weshalb sind wir nackt?« war Glorias nächste Frage. »Dienen wir diesen nackten Schlitzaugen als Lustobjekte, wenn man uns das Bewußtsein geraubt hat?« Wieder lachte Kona hell auf. »Liebe wird in unserem Reich auf andere Weise praktiziert, Schwester«, sagte sie. »Wir benötigen nichts, auch keine Kleidung, um zu unserem Glück zu finden. Besitzlosigkeit ist unser Gebot. Nur wer nichts besitzt, wird in das Paradies der ewigen Glückseligkeit eingehen.« »Wo liegt dieses Paradies?« murmelte Gloria Stanford. »In der Hölle oder in der Welt der Nebelgeister, der Dämonen und Verfluchten?« »Der Guru wird dir den Weg dorthin weisen, wenn er den Zeitpunkt für gekommen hält«, philosophierte Kona. »Zuerst wirst du die Prüfungen bestehen müssen. Dann aber wirst du glücklich sein, losgelöst von allem Bösen und Schlechten und den Guru anflehen, dich ins Paradies zu geleiten.« »Wo befinden wir uns jetzt, ich meine, wo befindet sich dieses 40 �
Reich?« wollte Gloria wissen. »Das Reich des Guru ist überall, im Diesseits wie im Jenseits«, erwiderte Kona. »Spielt es denn eine Rolle, wo unsere irdische Hülle existiert?« »Existieren in diesem Reich auch Männer, abgesehen von den schrecklichen, kahlgeschorenen Schlitzaugen?« war Glorias nächste Frage. »Dieses Reich benötigt keine Männer«, sagte Kona abfällig. »Nur die reinen Seelen von uns Frauen und Mädchen sind dazu auserwählt, ins ewige Paradies zu wechseln. Die kahlgeschorenen Diener des Guru sind keine Männer mehr. Sie sind geschlechtslose Kreaturen, die Gurus Befehle ausführen.« »Und um die Flucht aus diesem Reich zu verhindern, wie?« fragte Gloria Stanford spöttisch. Konas Gesicht verfinsterte sich. »Niemand, der wirklich glücklich ist, würde von hier wegwollen«, erwiderte sie. »Und die Unglücklichen?« hakte Gloria nach. »Gehen ein in das Reich der ewigen Finsternis«, antwortete Kona. Gloria verstand die versteckte Drohung, auf keinen Fall einen Fluchtversuch zu unternehmen. Kona erhob sich mit geschmeidigen Bewegungen. »Ich verlasse dich jetzt, Schwester«, sagte sie. »Wenn du Hunger oder Durst hast, findest du Hirsefladen, Honig und Wasser hinter dir.« Gloria verzog das Gesicht. »Und das nennst du Paradies, Schwester?« sagte die Engländerin ironisch und verbittert zugleich. »Du denkst an das, was man im irdischen Leben Fleisch nennt«, stellte Kona fest. »Im Reich des Guru besitzt jedes Lebewesen, also auch ein Tier, eine Seele. Und unser Gott verbietet es 41 �
uns, sie zu töten und zu verzehren. Sobald du die Austreibung deiner irdischen Gedanken und Gefühle hinter dir hast, wirst du den Sinn dieser Lehre erfassen.« Nach diesen Worten verschwand Kona lautlos aus der Höhle. Verwirrt blickte Gloria Stanford ihr nach. Ihr Verstand arbeitete noch einwandfrei, das fühlte sie, und dachte an die Fragen, die sie an Kona gerichtet hatte. Gehörte diese finstere Unterwelt, das Reich eines fetten Molochs, noch zu der Welt, in der sie bisher gelebt hatte? Nein, das hier war nicht die Welt, um glücklich zu sein, und Furcht breitete sich in ihr aus, Furcht vor dem, was Kona ihr angekündigt hatte. Schlimm genug, daß sie der Gewalt und der Macht des scheußlichen Molochs, der sich Guru nannte und als Gott aufspielte, hilflos ausgeliefert war. * Die Beamten einer kleinen Spezialeinheit bei New Scotland Yard in London verbrachten einen Teil ihrer Tätigkeit damit, die Zeitungen des Landes zu studieren. Ihr Hauptinteresse richtete sich dabei auf Polizeiberichte und kleine Meldungen, die nie ans Licht der Weltöffentlichkeit gerückt wurden. Detektive-Sergeant Ashley überflog gerade die Lokalseite des ›Daily Reporter‹, einem unbedeutenden Lokalblatt im Angus Country, als seine Augen an einem Zwölfzeilenbericht haften blieben. »Mysteriöser Mord an unbekanntem Mädchen«, las der Sergeant halblaut vor und verfolgte aufmerksam die nächsten Zeilen. Wenig später griff er zur Schere, schnitt den Artikel aus, nachdem er eine kleine Randnotiz hinzugefügt hatte. 42 �
Die Meldung landete auf einem überladenen Schreibtisch im Nebenzimmer. Hier residierte Inspektor John McAllister, dem man nicht nur einen sechsten Sinn, sondern auch eine Nase fürs Übersinnliche und Unwirkliche nachsagte. Stirnrunzelnd studierte der Mann die kurze Mitteilung aus dem Norden des Inselreiches. John McAllister, hochgewachsen und mit kühlen, klugen Augen, strich sich nachdenklich über das gepflegte Clark-GableBärtchen. Er fand, daß Detektive-Sergeant Ashley ein feines Gespür für Ungereimtheiten besaß und wieder mal bewies, daß er auf dem richtigen Stuhl saß. Die kleine Notiz im »Daily Reporter« verriet auf den ersten Blick nicht allzuviel. Der winzige Hinweis aber, daß auf dem Bauch der Ermordeten eine Lotosblume tätowiert war und kein Sexualverbrechen vorlag, lenkte McAllisters Gedanken in eine bestimmte Richtung. Die Beamten der Mordkommission in Aberdeen hatten den Fall handwerklich gut bearbeitet und die Vermutung geäußert, daß es sich um einen Mord in Hippiekreisen handeln könne. Beweise dafür hatten sie jedoch nicht gefunden, wie Inspektor McAllister nach einem eingehenden Telefongespräch mit seinem schottischen Kollegen erfuhr. Als der Kollege ihm dann noch die mysteriösen letzten Worte der Toten buchstabierte, wurde der Chef der geheimnisumwitterten Ghost Squad, der Geisterschwadron, nachdenklich und versprach, sich um den Sinn der Worte zu kümmern. Gubu oder Gudu, notierte er auf seinem Notizblock. Dann die Worte Radnipur oder Radimur. »Sergeant!« rief er durch die offenstehende Tür. »Sir«, meldete sich Ashley sofort und erschien auf der Bildflä43 �
che. Der Inspektor reichte ihm den Zettel mit den geheimnisvollen Worten. »Sagen Ihnen diese Worte etwas?« brummte er. Stirnrunzelnd las Ashley die Worte. »Hört sich nach Asien an«, meinte er. »Genauer gesagt Indien oder Pakistan.« »Ich tippe auf Indien«, warf der Chef der Ghost Squad ein. »Was halten Sie von Guru?« »Guru, geistlicher Lehrer, Verkünder, Prophet und eine Art Gottheit«, gab der Detective-Sergeant sein Wissen preis. »Richtig«, pflichtete McAllister ihm bei. »Einige dieser Gurus kennen wir schließlich«, fuhr Ashley fort. »Fette Burschen, die sich eine Horde Krishna-Mönche zugelegt haben und von der Leichtgläubigkeit und Dummheit ihrer Mitmenschen leben und zu Multimillionären emporsteigen. Und das alles vor den Augen der Öffentlichkeit und völlig legal. Diese scheinheiligen Knaben verkünden eine irre Heilslehre und bringen eine hübsche Anzahl Leichtgläubiger dazu, ihr gesamtes Vermögen einem solchen Guru zu vermachen.« »Möglich, daß die Ermordete Verehrerin eines Gurus war«, murmelte der Inspektor. »Mich stört nur eins an der Mordgeschichte: bisher gab es keinen einzigen Mord innerhalb dieser Kreise.« »Einen Ritualmord vielleicht?« warf Detective-Sergeant Ashley ein. John McAllister zuckte die Achseln. »In der Welt des Mystizismus ist alles möglich«, meinte er. »Well, ich bin dafür, daß wir unsere Nasen in den Fall hineinstecken. Wühlen Sie unser Archiv durch! Vielleicht hat es in der Umgebung von Balmoral Castle früher mal ungelöste Probleme gegeben.« 44 �
»Und was ist mit Radimur oder Radnipur, Sir?« erkundigte der Sergeant sich, bevor er das Office verließ. »Die Frage kann mir wahrscheinlich das Foreign Office beantworten«, meinte der Inspektor. Der Tatsache, daß England bis 1947 in Indien präsent war, verdankte McAllister es, daß das Auswärtige Amt über ein Archiv verfügte, das jede diesbezügliche Frage beantworten konnte. Eine Stunde später wußte er, daß es einen Guru von Ghadnipur gegeben hatte, der bis zum Abzug der britischen Kolonialherren von sich reden machte. Nach der Unabhängigkeitserklärung Indiens war der Heilige, wie er genannt wurde, spurlos von der Bildfläche verschwunden. Gerüchte besagten, er sei an Fettsucht gestorben. Möglicherweise hat der Guru von Ghadnipur einen Nachfolger gefunden, überlegte der Inspektor. Einen Burschen, der in seine Fußstapfen getreten ist… Inzwischen war Sergeant Ashley aus den Tiefen des Archivs wieder aufgetaucht. In der Hand hielt er einen leicht angestaubten Aktenordner. »Recht mager, Sir«, verkündete er und blies den Staub von der Oberseite des Hefters. »Die Ortschaft Crathle, wo das Mädchen ermordet wurde, ist eine unserer alten Gerüchteküchen. Seit Jahren hält sich dort das Gerücht, daß ein gewisser MacKillearn etwas mit dem spurlosen Verschwinden einer Reihe vermögender, alleinstehender Frauen zu tun habe, die er vorher um ihr Geld erleichterte. Unsere Kollegen gingen den Gerüchten selbstverständlich nach, fanden aber keine Hinweise für die Behauptung und mußten noch den Vorwurf einstecken, der alte MacKillearn habe sie geschmiert.« Inspektor John McAllister schien im Gegensatz zu seinem Mitarbeiter recht zufrieden mit dem Ergebnis. »Wo wohnt MacKillearn?« wollte er wissen. 45 �
»Sein Landsitz nennt sich Devils Lodge und liegt auf halber Strecke zwischen Crathle und Balmoral Castle«, las der Detective-Sergeant vor. McAllister nickte. »Ich werde mich ein wenig in Crathle umhören«, entschied er. »Setzen Sie sich mit der Bereitschaft in Verbindung! Die Kollegen sollen mir einen Platz in der nächsten Maschine nach Aberdeen besorgen.« * Es war früher Nachmittag, als die Trident auf dem Airport von Aberdeen aufsetzte und ein Dienstwagen der Metropolitan Police den Yard-Mann ins Präsidium beförderte. Inspektor Whittle empfing den Gast aus London mit Tee, Biskuits und einer Zigarre. Dann zeigte er ihm die Tatortfotos und den Obduktionsbericht. McAllister studierte die grausigen Bilder und den Bericht eingehend. »Weiß man noch nicht, wer die Tote ist?« brummte er nachdenklich. »Ihr Foto ging an sämtliche Vermißtendienststellen, ebenso ihre Fingerprints«, erwiderte Whittle. »Bisher habe ich noch keinen positiven Bescheid. Vielleicht haben wir mehr Glück mit ihrem Zahnbild, das einige vorzügliche Korrekturen eines tüchtigen Zahnarztes aufweist.« »Haben Sie schon mal was vom Guru von Ghadnipur gehört, Whittle?« fragte John McAllister. »He, Sie haben das Geheimnis der verstümmelten Worte gelöst?« strahlte er. »Gratuliere! Leider habe ich den Namen nie gehört. Was hat es damit auf sich?« »Ich bin hier, um das herauszufinden«, erwiderte der Yard46 �
Mann. »Heißt das, der Guru hält sich in diesem Revier auf?« grunzte Inspektor Whittle. McAllister zuckte die Achseln. »Was ich suche, weiß ich selbst noch nicht«, meinte er. »Ich folge meiner Nase, und die hat mich selten im Stich gelassen.« Er hielt sich absichtlich mit seinen Äußerungen zurück, um ungestört vorgehen zu können. Sein schottischer Kollege war jedoch auch nicht von gestern. »Ich habe da mal was läuten hören, Sie seien so etwas wie ein Geisterdetektiv«, sagte er und grinste breit. »Wenn Sie den Schnabel halten, gebe ich zu, daß ich in dieser Richtung arbeite«, brummte der Yard-Mann. »Sie haben mein Wort«, versicherte. Whittle. »Well, ich gehe dann wohl richtig in der Annahme, daß Sie hinter dem Mord sowie den Gerüchten in Crathle eine geisterhafte Geschichte vermuten.« Erneut zuckte der Inspektor die Achseln. »Ob Geister oder greifbare Wesen da mitmischen, dürfte sich noch herausstellen«, wich er aus. »Ich halte Sie jedoch auf dem laufenden, falls ich Ihre Hilfe brauche.« Per Telefon bestellte er einen kleinen Mietwagen und machte sich auf die Fahrt nach Crathle, dem Ort, an dem seiner Ansicht nach der Fall aufgerollt werden mußte. McAllisters berühmte Nase führte ihn wieder mal in die richtige Richtung… * Grübelnd und besorgt um ihr Zukunft saß Gloria Stanford in der kleinen Höhle. Sie hatte von dem kühlen Wasser getrunken und lustlos auf einem Hirsefladen herumgekaut. 47 �
Sie mußte immer wieder an Konas Worte denken, als sie über die Austreibung sprach, die ihr bevorstand, um sie zur Novizin des Guru zu verwandeln. Gloria dachte an die Teufelsaustreibungen, die in letzter Zeit immer häufiger wurden und einander an Grausamkeit übertrafen. Erschauernd ließ sie sich zurücksinken. Wie sollte sie ihre Gefühle und ihr Denken, das für sie Leben bedeutete, vergessen, um plötzlich zu erkennen, daß es nur eine Welt der Glückseligkeit gibt? Das Bild des fetten Molochs tauchte vor ihr auf. Wie konnte Kona in ihm ihren allmächtigen Herrscher und Gott sehen? Hatte man ihr Gedächtnis ausgeschaltet und das Bewußtsein umfunktioniert? Ein leises Geräusch am Höhleneingang ließ sie zusammenzucken. Schwach sah sie die Konturen einer schlanken, nackten Gestalt, die schlangengleich auf die zuglitt. »Pst, nicht erschrecken«, warnte eine gehauchte Stimme sie. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie sah, wie die Gestalt tiefer in die Höhle glitt. Dann spürte sie die warme Haut eines Mädchens dicht an ihrem Körper. »Wer sind Sie?« flüsterte Gloria. »Eine Verrückte wie Sie«, kam es leise zurück. »Verrückt?« »Wie konnten Sie den Worten der Mönche glauben, die ihnen das Paradies versprachen und Sie in die Höhle des unheimlichen Molochs führten?« »Ich verstehe nicht«, murmelte Gloria. »Mich hat niemand verführt; man hat mich auf mysteriöse Weise entführt. Ich bin nicht freiwillig hier.« »Sieh einer an«, kam es leise zurück. »Dann ist es Ihnen genauso ergangen wie Brenda Short, der sie den hübschen Namen 48 �
Loki verpaßt haben.« Brenda Short, überlegte Gloria. Sie glaubte, den Namen mal in der Zeitung gelesen zu haben. »Loki, das heißt Brenda, erbte von ihrem Vater eine wertvolle Bildersammlung, wie sie uns erzählte«, fuhr das Mädchen leise fort »Sie bot die Gemälde zum Verkauf an und verschwand danach spurlos von der Erdoberfläche. Hier ist sie gelandet, ohne Bilder, ohne Erlös.« Gloria lachte verbittert in sich hinein. »Bei mir liegt der Fall ähnlich, nur umgekehrt«, murmelte sie. »Der Moloch und seine Helfer haben es nur auf unser Vermögen abgesehen und spiegeln uns ein Paradies vor.« »Das in der Hölle endet«, flüsterte das Mädchen. »Ich bin übrigens Carla Preston, genannt Pina.« »Carla Preston?« sagte Gloria. »Habe ich Sie nicht schon im Fernsehen gesehen und gehört?« »Ja, Carla, der berühmte Popstar – in der Gruft des Molochs von Balmoral, wie ich ihn getauft habe«, fuhr sie kopfschüttelnd fort. »Wie sind Sie hier gelandet, Carla?« »Weil ich eine Meise hatte«, gab sie offen zu. »Durch Zufall und durch ein paar Bekannte geriet ich in die Lesung und Predigt eines indischen Sektierers. Seine Worte haben mir gefallen und mich davon überzeugt, daß man erst glücklich sei, wenn man vollends besitzlos sei. Einer der Krishna-Mönche lud mich zu einer Andacht ein. Dort lullten sie mich ganz raffiniert ein, verpaßten mir Rauschgift und brachten mich dazu, ihrem Guru meinen gesamten Besitz zu vermachen. Mein Bankkonto und meinen Sportwagen warf ich weg wie ein Stück Papier. Wie ich hier in der Unterwelt landete, weiß ich allerdings nicht zu sagen.« »Wie steht es mit den anderen sogenannten Novizinnen und 49 �
Schwestern?« erkundigte sich Gloria Stanford. »Ähnlich wie mit uns beiden«, murmelte Carla Preston. »Und was das Schlimmste ist, die meisten glauben den Prophezeiungen des Molochs und drängen sich ihm als Menschenopfer auf, um schnell ins Paradies der ewigen Glückseligkeit überzuwechseln.« »Weshalb sind Sie zu mir gekommen und erzählen mir das alles?« wollte Gloria wissen. »Ich habe Ihr Gespräch mit Kona, dieser gläubigen Fanatikerin, belauscht«, erklärte die Popsängerin. »Sie sträuben sich dagegen, sich dem Moloch auszuliefern, das hörte ich aus Ihren Worten heraus. Auch ich habe mich dagegen gesträubt, nachdem ich zur Vernunft gekommen bin und mir die Augen geöffnet wurden. Ich möchte nicht, daß es Ihnen ergeht wie den anderen, die jede Silbe des Molochs wie ein Evangelium in sich aufsaugen.« Gloria Stanford nickte ernst. »Ich werde mich bemühen, einen klaren Verstand zu bewahren«, murmelte sie, obwohl sie nicht sicher war, ob es ihr gelingen würde. Eine bange Frage lag auf ihrer Zunge. »Was hat es mit der Austreibung auf sich, Carla?« »Ich bin gekommen, um Sie davor zu warnen und vorzubereiten«, flüsterte der Popstar, und Gloria spürte, wie das Mädchen neben ihr erschauerte. »Es ist eine seltsame Zeremonie, bei der man mit aller Macht versucht, ihren Geist auf die Welt im Jenseits zu lenken. Machen Sie es wie ich, und gehen Sie so schnell und glaubhaft wie nur möglich…« Carla Preston brach abrupt ab, als sie draußen die leisen Schritte nackter Füße hörte. »Ich muß verschwinden!« flüsterte Carla hastig und schob sich vorsichtig zum Ausgang der Höhle. Die tappenden Schritte verklangen, Sekunden später war das Mädchen verschwunden. 50 �
Gloria Stanford hatte keine Ahnung, wie lange sie hier bereits gefangen war. Bei der ständig gleichbleibenden Dunkelheit hatte sie jeden Zeitbegriff verloren. Angst mischte sich mit Besorgnis. Niemand aus ihrem kleinen Bekanntenkreis wußte, daß sie nach Schottland gefahren war. Man würde sie vielleicht eines Tages vermissen, schließlich aber vermuten, daß sie eine längere Auslandsreise unternommen habe, wie sie es öfter getan hatte, ohne jemand darüber zu informieren. Würde überhaupt jemand nach ihr suchen…? * Es dämmerte, als Inspektor John McAllister in Crathle eintraf und vor dem ›Jumping Dog‹ stoppte. Einen kleinen Autokoffer in der Hand, stieg er aus und betrat das gutbesuchte Lokal. Natürlich war ein Zimmer für ihn frei, und er ließ so nebenbei verlauten, daß er für eine Zeitung im Süden des Landes schreibe. Wen ging es hier schon etwas an, daß er sich in der Hauptsache um mysteriöse Dinge kümmerte? Von seinem Kollegen Whittle hatte er eine Beschreibung der Zeugen bekommen. Cliff Bogart, der Schreiner, befand sich nicht unter den Gästen. Da er diesen Mann als ersten sprechen wollte, verließ er das Lokal und suchte Bogart in seiner Werkstatt auf. Der Schreiner war gerade dabei, einen Sarg zusammenzusetzen. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir?« fragte Bogart erstaunt, einen Fremden in seinem Betrieb zu sehen. Vielleicht war er Vertreter für Lacke oder Leime. »McAllister«, stellte der Inspektor sich vor. »Ich arbeite für eine Zeitung. Man sagte mir, daß Sie der Hauptzeuge bei dem schrecklichen Mord vor drei Tagen seien.« 51 �
Verlegen lächelnd winkte Cliff Bogart ab. »Hauptzeuge ist stark übertrieben, Mister McAllister«, sagte er. »Ich war nur als erster am Tatort. War ein schrecklicher Anblick, kann ich Ihnen verraten. In den Hals hat der Mörder sie gestochen.« »Es war kein Sexualmord, sagt man«, brummte John McAllister. »Daran dachten wir zuerst alle«, erwiderte Cliff Bogart. »Aber mysteriös ist die Geschichte trotzdem.« McAllister nickte mit ernstem Gesicht. »Es heißt, daß die Tote eine tätowierte Blume auf dem Bauch hatte«, fuhr er fort. »Hielten sich Hippies in der Umgebung auf?« »Hat man nie hier gesehen«, antwortete er. »Aber Sie haben den Mörder gesehen, nicht wahr?« stieß der Yard-Mann nach. »Leider nur von hinten, und das nur für ein oder zwei Sekunden«, erwiderte Cliff Bogart. »Ein kräftiger, nackter Bursche mit kahlem Schädel. Ich frage mich nur, wer läuft nachts bei der kühlen Temperatur in diesem Aufzug durch die Gegend. Soviel ich weiß, ziehen Sittenstrolche sich nie aus, wenn sie… na ja, Sie wissen, was ich meine.« »Ja, kommt mir auch seltsam vor«, brummte der Inspektor. »Ist in letzter Zeit etwas passiert, was Ihnen komisch erschien?« zog er Bogart weiter die Würmer aus der Nase. Der Schreiner zuckte die Achseln und kratzte sich dabei im Nacken. »Was soll hier schon passiert sein?« brummte er. »Man munkelt von Personen, die spurlos verschwanden«, blieb John McAllister am Ball. »Die Polizei soll sich doch mal dafür interessiert haben. Ohne Erfolg, wie ich hörte.« Cliff Bogart leckte sich über die Lippen. 52 �
»Das viele Sprechen macht durstig«, sagte er listig. »Wie wär’s, wenn wir uns nebenan im ›Dog‹ weiter unterhalten?« »Keine schlechte Idee«, fand der Inspektor. Ein paar harte Drinks würden den Mann sicher gesprächiger machen. Zehn Minuten später saßen sie an einem kleinen Ecktisch, neugierig beobachtet von den anderen Gästen und dem Wirt. Zwei volle Gläser alten Malt-Whiskys standen vor den beiden. Bogart nahm einen tiefen Schluck und verdrehte genießerisch die Augen. »Da ist in der Tat ’ne komische Geschichte passiert«, wurde Bogart gesprächig. »Das war am Donnerstag, einen Tag bevor das Mädchen ermordet wurde. Burt, der Wirt, hält die Story allerdings nicht für erwähnenswert.« »Ist etwa jemand verschwunden?« »Nicht direkt«, brummte Cliff Bogart. »Er hatte einen Gast, ’ne teure Lady, möchte ich sagen. Sie verschwand mitten in der Nacht aus ihrem Zimmer, bezahlte aber die Rechnung und ließ nur einen Zettel zurück, daß sie dringend weg müsse. Ist doch komisch, oder?« »Vielleicht«, meinte McAllister. »Wer war die Dame?« Der Schreiner zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte er. »Nur, daß sie Geld hatte, das erkannte man auf Anhieb. Und eine teuren Wagen fuhr sie auch.« »Es gibt eben Leute, die kommen nachts auf die verrücktesten Ideen«, sagte der Yard-Mann. »Klar gibt es das«, pflichtete Cliff Bogart ihm bei. »Für mich bleibt es trotzdem eine mysteriöse Geschichte. Und als dann am Freitag der hinkende Dorian im Dorf aufkreuzte…« »Der hinkende Dorian?« unterbrach McAllister den anderen verständnislos. »Dorian MacKillearn«, erklärte Cliff Bogart. »Er besitzt draußen den alten Landsitz Devils Lodge und ist total verschuldet, 53 �
wie man sagt. Aber er kreuzt jeden Freitag bei uns auf, geht in die Bank und hinkt dann wieder in seinen alten Kasten zurück. Wir alle fragen uns, was er da treibt.« »Sehen Sie denn einen Zusammenhang zwischen der abgereisten Lady und Dorian?« fragte der Inspektor. Bogart nahm einen weiteren Schluck und schüttelte den Kopf. »Einen Zusammenhang sehe ich nicht«, gab er zu. »Aber mir kommt das alles spanisch vor.« »Was ist dieser Killearn für ein Mensch?« hielt der Inspektor das Gespräch in Gang und hörte zu, was Bogart ihm zu sagen hatte. »Und wie kommt man darauf, ausgerechnet ihn mit den verschwundenen Personen in Verbindung zu bringen?« fragte John McAllister anschließend. Eine logische Antwort wußte Cliff Bogart nicht. Trotzdem war die Neugier des Geisterdetektivs geweckt. »Ich habe mir übrigens die Autonummer der Lady gemerkt«, platzte der Schreiner unvermittelt heraus. Er zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Jacke und schob ihn dem Inspektor zu. »Vielleicht wissen Sie etwas damit anzufangen.« McAllister warf einen Blick auf die Zahlen- und Buchstabenkombination. Der Wagen war erst in diesem Jahr zugelassen, wo, das würde er rasch herausbekommen. »Waren Sie schon mal auf Devils Lodge, Mister Bogart?« fragte McAllister. Der Schreiner nickte. »Ich lieferte vor gut drei Jahren einen Sarg in dem alten Kasten ab«, berichtete er und beugte sich über den Tisch. »Ich hab’s noch keinem hier erzählt, um nicht ausgelacht zu werden«, fuhr er gedämpft fort. »Aber ich hörte seltsame Schreie und Gesänge, die aus der Tiefe zu kommen schienen.« »Könnte nicht irgendwo ein Radio gelaufen haben?« brummte 54 �
der Inspektor. »Ist schließlich auch möglich«, schränkte Cliff Bogart ein. »Devils Lodge ist trotzdem ein undurchsichtiger Kasten. Einmal sah ich einen Wagen, wie ihn die Banken benutzen. Es war so ein gepanzertes Fahrzeug mit zwei bewaffneten Fahrern und fuhr über den Weg nach Devils Lodge. Was hat ein Panzerwagen dort zu suchen, frage ich mich?« »Vielleicht handelt MacKillearn mit wertvollen Kunstgegenständen«, meinte der Inspektor. Bogart hatte ein finsteres Gesicht aufgesetzt. »Ja, mit den Gegenständen, die er und seine Hintermänner ihren Opfern abgenommen haben«, murmelte er. »Haben Sie für Ihren Verdacht Beweise?« »No, leider nicht.« Cliff Bogart leerte sein Glas. Inspektor John McAllister sprach noch eine Weile mit dem Schreiner und verzog sich dann auf sein Zimmer, ging aber nicht zu Bett. Er setzte sich ans Fenster, blickte hinaus in die Nacht und ließ sich das Gespräch mit Bogart noch mal durch den Kopf gehen. Er gestand sich ein, daß vieles, das der Mann ihm erzählt hatte, aus der Gerüchteküche stammte. Aber es gab trotzdem einige Anhaltspunkte, denen er nachgehen mußte, um ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Nachdem er ein halbes Päckchen Navy Cut geraucht hatte, stand für ihn der Entschluß fest, noch vor Sonnenaufgang abzureisen, um die Geschichte von hinten anzugehen, da seine Gegenwart in Crathle bei gewissen Personen Verdacht auslösen konnte. * Am nächsten Morgen saß McAllister gegen zehn Uhr im Dienst55 �
zimmer seines Kollegen Whittle. Man war einen Schritt weitergekommen und hatte die Identität des ermordeten Mädchens festgestellt. Sie hieß Susan Lawson und stammte aus Liverpool. Seit neun Monaten war sie als vermißt gemeldet, nachdem sie im Fußballtoto einen großen Gewinn gemacht und sich damit nach London abgesetzt hatte. Dort verlor sich ihre Spur. Nachforschungen bei ihrer Bank ergaben, daß sie ihr gesamtes Geld abgehoben hatte. »Über zwanzigtausend Pfund«, knurrte Inspektor Whittle. »Dafür muß eine alte Frau lange stricken.« Wenig später traf aus London ein Telex ein. Stirnrunzelnd las John McAllister das Fernschreiben. »Der Wagen der Lady, die in Crathle nachts abgereist ist, gehört einer Gloria Stanford aus Oxford«, murmelte er. »Kunstsammlerin und Expertin, dazu noch Erbin eines Millionenvermögens.« Inspektor Whittle pfiff wie eine Feldmaus durch die Zähne. »Noch ein betuchtes Mädchen«, knurrte er. »Weiß man, wo die Lady sich aufhält?« »Ihr Hausmeister wußte nur zu berichten, daß sie am vergangenen Donnerstag mit ihrem Wagen abgereist sei und er sie seitdem nicht mehr gesehen habe«, fuhr der Yard-Mann fort. Einem Gespür folgend griff er nach dem Telefon und wählte die Nummer seines Büros im Yard-Gebäude. Detective-Sergeant Ashley meldete sich sofort. »Erkunden Sie umgehend, welche Bankverbindungen Miß Gloria Stanford hat, Ashley«, sagte er hastig. »Ordnen Sie zudem eine Großfahndung nach ihr und ihrem Fahrzeug an!« »Sofort, Sir«, tönte es zurück. »Wann kommen Sie nach London?« »Das kommt auf die Ermittlungsergebnisse an«, erwiderte der Inspektor. 56 �
Er legte auf und blickte hinüber zu Whittle, der ebenfalls telefonierte, sich eifrig Notizen machte und das gespannte Gesicht eines Jagdhundes aufgesetzt hatte. Als er schließlich den Hörer auflegte, blickte er John McAllister triumphierend an. »Ich habe mit der Hauptgeschäftsstelle der Croft Bank gesprochen«, verkündete er. »Der Bank, die in Crathle eine kleine Filiale unterhält?« schaltete der Yard-Mann. Whittle nickte. »Sie sagen es«, brummte er. »Was glauben Sie, hat Dorian MacKillearn am vergangenen Freitag in der Bank gemacht?« »Eine Pfundnote in Pennystücke wechseln lassen?« »Viel besser«, erklärte Inspektor Whittle. »Er hat einen Scheck über achthunderttausend Pfund eingereicht und ihn auf ein Konto der Barclay Bank in London gutschreiben lassen. Was sagen Sie dazu?« »Der Scheck wurde von Gloria Stanford ausgestellt, habe ich recht?« stieß McAllister nach. »Genauso ist es«, krächzte er aufgeregt. »Demnach ist Miß Stanford in der Nacht hinaus nach Devils Lodge gefahren«, überlegte der Yard-Mann laut. »Um MacKillearn den Scheck zu bringen?« sagte Inspektor Whittle kopfschüttelnd. »Das hätte sie auch am nächsten Morgen tun können.« »Das hätte sie allerdings«, pflichtete McAllister ihm bei. »Es steht fest, daß sie eine Verabredung mit MacKillearn hatte, um einen Kauf zu tätigen. Der Kauf kam zustande, und sie zahlte per Scheck. Daß sie nachts aus dem ›Jumping Dog‹ auszog, kann verschiedene Gründe haben.« »Dann sollten wir Dorian MacKillearn schleunigst auf den Zahn fühlen«, schlug Whittle vor. 57 �
»Genau das wäre im Augenblick falsch«, winkte der Geisterdetektiv ab. »MacKillearn würde die geschäftliche Transaktion sofort zugeben, ansonsten aber nicht wissen, wohin seine Geschäftspartnerin gefahren ist. Und wenn er Dreck am Stecken hat, wird er alles tun, sich abzusichern.« »Und wie wollen Sie ihm auf die Sprünge kommen?« knurrte Whittle. McAllister grinste humorlos. »Von hinten durch die kalte Küche«, murmelte er. Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon. Detective-Sergeant Ashley war in der Leitung. »Miß Stanford hat drei Konten bei verschiedenen Banken, Sir«, erklärte er hastig und nannte die einzelnen Unternehmen. »Dank der Einschaltung des Lordrichters erfuhr ich, daß der Betrag von achthunderttausend Pfund von ihrem Konto abgebucht und auf ein Konto bei der Barclay Bank in London überwiesen wurde. Das Konto gehört einem Kunsthändler namens MacKillearn.« »Okay. Stellen Sie fest, welche Beträge von wem innerhalb der letzten drei Jahre gutgeschrieben wurden«, sagte McAllister. »Geht klar, Sir«, erwiderte Sergeant Ashley. »Vor zwei Minuten meldete sich Inspektor Hawley aus Oxford. Er hat Gloria Stanfords Haus mit seinen Leuten auf den Kopf gestellt, aber keinen Hinweis über ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort gefunden. Dafür fand er etwas anderes. In einem Fachblatt über alte Kunst entdeckte er ein rot markiertes Inserat eines Kunstmaklers namens Gibbs aus London, der drei alte Meister im Auftrag eines Klienten zum Verkauf anbot.« »Prächtig«, zensierte McAllister. »So prächtig ist das auch wieder nicht«, schwächte der Sergeant rasch ab. »Dieser angebliche Gibbs hat für ein paar Tage ein solides Büro in der City gemietet, ist aber seit vorigen Mittwoch spurlos verschwunden.« 58 �
»Die Nachricht ist trotzdem ganz prächtig«, fand der YardMann. »Dienstag oder Mittwoch war Gloria Stanford bei Gibbs. Donnerstag fuhr sie nach Crathle und stellte den Scheck Freitag früh aus. Seitdem ist sie überfällig. Die Geschichte wird immer undurchsichtiger.« »Sehr richtig, Sir«, bemerkte der Detective-Sergeant zurückhaltend. »Aber dürfte ich mir die Bemerkung gestatten, daß dieser Fall absolut nicht in unser Ressort fällt.« »Damit haben Sie sogar recht, Sergeant«, erwiderte der Inspektor trocken. »Sobald sich herausstellt, daß Gloria Stanford in einen gewöhnlichen Kriminalfall verwickelt ist, geben wir die Sache an die zuständigen Abteilungen weiter. Solange ich aber nicht weiß, was hinter dem Guru von Ghadnipur steckt, bleiben wir am Ball.« »Sehr wohl, Sir«, steckte Ashley zurück. »Ist Sergeant Gaby O’Connors aus Portsmouth zurück?« wollte McAllister wissen. »Seit einer Stunde.« »Ich möchte die Lady sprechen«, brummte der Chef der GhostSquad und führte ein ausgiebiges Gespräch mit dem weiblichen Sergeant seiner Abteilung. * Gloria Stanford schlief unruhig. Sie hatte ein Stück des Felles, auf dem sie lag, über den Körper gezogen, da sie sich nicht an die Kühle der Höhle gewöhnen konnte. Immer wieder wurde sie wach und dachte mit Schrecken an das, was ihr noch bevorstand. Würde es dem Moloch und seinen gefühllosen Novizinnen gelingen, ihr irdisches Bewußtsein auszulöschen und ihr eine neue, völlig veränderte Gedankenwelt einzugeben? 59 �
Alles in ihr sträubte sich dagegen, und sie mußte an Carla Preston, den Popstar, denken. Das Mädchen hatte sie warnen wollen, war aber in seinen Ausführungen unterbrochen worden, als draußen einer der entmannten, kahlköpfigen Diener des Guru entlanggeschlichen war. Gloria hatte sich auf die Seite gewälzt und die Augen geschlossen, als ein dröhnender Gongschlag sie von ihrem Lager hochriß. Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Verwirrt starrte sie hinaus in die große Höhle, in der verschiedenfarbiges Licht aufzuckte. Nackte Gestalten hasteten durch den Raum und knieten im Halbkreis vor dem Thron und dem gelben Opferstein. Kona, die Novizin, die versucht hatte, ihr die Welt des Guru in bunten Farben zu schildern, erschien im Höhleneingang. »Komm mit mir, Safi«, sprach sie Gloria mit ihrem neuen Namen an. »Gleich hält unser Gott Einzug, um seine Dienerinnen zu sehen und sich von ihnen huldigen zu lassen.« Glorias Worte fielen ihr wieder ein. ›Machen Sie es so schnell und glaubhaft wie möglich‹. Die Glieder schmerzten ihr, als sie sich erhob und Kona nach draußen folgte. Ihr Blick erfaßte etwa zwanzig nackte Mädchen, die mit gesenkten Köpfen auf dem kahlen Boden knieten und Worte in einer ihr unverständlichen Sprache murmelten. Kona führte sie in den Halbkreis und bedeutete ihr, ebenfalls auf die Knie zu gehen. Ein zweiter dumpfer Gongschlag ließ Gloria Stanford zusammenzucken. Sie spürte, wie Konas Hand ihren Oberarm umklammerte und wie ihre Hand zitterte. Kona schien dem Moloch mit Haut und Haaren verfallen zu sein. In diesem Augenblick gingen die Mädchen in einen mononen 60 �
Singsang über. Gloria spürte, wie eine Gänsehaut über ihren Körper rieselte, als vier der nackten, kahlköpfigen Diener den fetten Moloch auf einer goldenen Sänfte hereintrugen, die Stufen zum Thron hinaufstiegen und dort absetzten. Sie wollte den Blick abwenden, aber es gelang ihr nicht. Von der fleischigen Gestalt ging eine nie gekannte Faszination aus. Es war die Faszination des natürlichen Abscheus und des Ekels, die sie den Anblick ertragen ließ. Ihr Atem ging gepreßt, als sie mit starrem, versteinertem Gesicht sah, wie der Körper von den vier muskulösen Dienern von der Sänfte auf den Goldsessel gehoben wurde. Hatte der Guru keine Beine und Füße, um sich selber fortzubewegen? überlegte Gloria. Der dritte Gongschlag ertönte und hallte hundertfach von den kahlen Wänden wider. Die vier Kahlgeschorenen verbeugten sich und bezogen dann ihre Positionen neben dem thronenden Guru, dessen breitflächiges, ausdrucksloses Gesicht auf die knienden Frauen gerichtet war. Ist er überhaupt ein lebendiges Wesen, schoß es Gloria Stanford durch den Kopf. Fließt in dieser Gestalt überhaupt Blut, schlägt ein Herz hinter seiner schwammigen Brust? Der Guru hatte die Augen geschlossen. »Er erfaßt jetzt unsere Gedanken«, flüsterte Kona. »Er schaut in unsere Seelen und prüft, ob unsere Liebe zu ihm echt ist und wir unerschüttert in unserem Glauben zu ihm stehen.« Blendwerk, Lüge, Phantasterei! Die Schlagworte purzelten pausenlos durch Glorias Kopf. Oder ist der fette Moloch eine geisterhafte Erscheinung, die vor unseren Augen lediglich existent ist? Der Gesang war verstummt… Stille lastete über der Höhle. Der 61 �
betäubende Duft von Räucherkerzen wehte über die Köpfe der Anwesenden und betäubte die Sinne. Mühsam kämpfte Gloria Stanford gegen die aufkommende Übelkeit. Sie zuckte zusammen, als sie die geisterhaft klingende Stimme des fetten Molochos vernahm. »Ich heiße eine neue Gläubige in unserer Mitte willkommen«, hörte Gloria die eunuchenhafte Stimme. »Ich gab dir den Namen Safi, die Großzügige.« Aus geweiteten Augen starrte die junge Engländerin in das Gesicht des Molochs. Sie stellte fest, daß er gesprochen hatte, ohne die Lippen zu bewegen. »Steh auf und verneige dich vor unserem Guru!« flüsterte Kona neben ihr. »Erhebe dich und flehe ihn an, dich einzuweihen und ins Paradies des ewigen Glücks zu führen!« Alles in Gloria sträubte sich dagegen, der Aufforderung Folge zu leisten. »Ich verneige mich nicht vor einem Wesen, daß mit meiner Welt nichts gemein hat«, kam es über Glorias Lippen, und sie wußte selbst nicht, woher sie den Mut nahm. »Ich bin Gloria Stanford und wurde…« Sie fing den warnenden und gleichzeitig flehenden Blick Carla Prestons auf, die in ihrer Nähe kniete und ihr das Gesicht zugewandt hatte. Die Warnung kam zu spät… »Du bist Safi, eine Ungläubige, die es wagt, den Gott der Glückseligkeit zu verhöhnen«, wurde die helle Stimme schrill und drohend. »Ich habe niemand darum gebeten, mich hierherzubringen«, sagte Gloria tapfer. »Ich wurde bestohlen und…« »Schweig, Ungläubige!«, wurde sie unterbrochen. »Dein Bewußtsein ist noch gespalten. Du gabst dem Guru freiwillig einen 62 �
Teil deiner Habe. Das ist dir im Augenblick nur noch nicht bewußt. Dein irdisches Denken sträubt sich noch dagegen, aber du wirst bald erkennen, daß es für dich nur ein Ziel gibt: dem Guru zu dienen und dich auf das Paradies des ewigen Glücks vorzubereiten.« Gloria stellte fest, daß nicht der Moloch gesprochen hatte. Die Stimme war irgendwo aus den dunklen Tiefen der Höhle gekommen. »Bereiten wir die Ungläubige auf die Austreibung vor«, fistelte der Moloch. »Danach wird die Erkenntnis über sie kommen, und Safi wird erkennen, wo das Glück ihres Daseins sich befindet.« Austreibung, hämmerte es in Glorias Kopf. Was würde ihr bevorstehen? Sie warf einen raschen Blick auf Carla Preston, die sie aufmunternd ansah, während ihre Lippen stumme Worte formten. Kona hatte sich erhoben. Ihre Hand umklammerte Glorias rechten Oberarm. Aus starren Augen blickte sie auf die blonde Frau, die sich dem Guru nicht unterwerfen wollte. »Nimm Vernunft an, Safi!« zischte sie. »Es geht allein um dein Glück. Die Lehre des Guru wird auch dich erleuchten und die Liebe von uns allen ist dir gewiß.« Gloria preßte die Lippen zusammen, daß sie einen weißen Strich bildeten. Ihr war bewußt, daß sie zu weit gegangen war und alle Vorsicht und Vernunft außer acht gelassen hatte. »Vielleicht hast du recht, Kona«, murmelte sie einlenkend. »Für mich ist das alles so neu und ungewohnt, daß ich einfach noch nicht in der Lage bin, meinen bevorstehenden Übertritt in das Reich des Glücks zu erfassen. Laßt mir Zeit, Schwestern!« »Der Guru verlangt, daß du nur ihn anredest und um seine Gnade bittest«, flüsterte Kona. »Gnade – wofür, Kona?« entgegnete Gloria leise. »Denke an die Austreibung«, erklärte Kona. »Flehe ihn an, daß 63 �
er sich bei dir mit dem ersten Grad begnügt!« Gloria Stanford erschrak. Demnach mußte es verschiedene Methoden der Austreibung geben. Mit gesenktem Blick wandte sie sich dem fetten Moloch zu, der regungslos auf seinem Thron hockte und mit starrem, maskenhaftem Gesicht auf sie herabblickte. »Mein Geist ist verwirrt von der Fülle der Eindrücke, die mir in der Welt des Glücks begegnet sind«, begann sie mit leiser Stimme. »Ja, ich gab dir einen großen Teil meiner irdischen Habe, ohne daß mein Geist es erfaßte und wahrhaben wollte. Ich werde dir dienen und…« Die harte Stimme, die von überall herzukommen schien, unterbrach sie. »Deine Worte stimmen nicht mit deiner Überzeugung überein, Safi«, hallte es durch die Höhle. »Du redest nur so, um in den Genuß des schwächsten Austreibungsgrades zu gelangen. Der Guru kann deinen Worten keinen Glauben schenken, da deine Seele sich ihm nicht zugewandt hat und deine Gedanken nicht die unserer Welt sind.« Gloria spürte, wie ihre Knie zitterten, und sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick zusammenzubrechen. Ihr Blick fiel auf die wulstigen Lippen des Guru. Sie bewegten sich kaum sichtbar. Plötzlich drang seine Kastratenstimme an ihr Ohr. »Bereite dich auf die Austreibung zweiten Grades vor, Safi!«, sagte er. »Wenn du sie hinter dir hast, wirst du die Welt des ewigen Glücks mit offenen Augen sehen und mit deinen Schwestern teilnehmen an den Segnungen des künftigen Paradieses.« Gloria Stanford erschrak. Zweiter Grad! Was mochte es damit auf sich haben? »Du wirst dich hinterher wie befreit fühlen«, vernahm sie Konas Stimme dicht an ihrem Ohr. »Die alte schmutzige Welt wird 64 �
dann weit hinter dir liegen und vergessen sein.« Zwei der Kahlgeschorenen kamen auf Gloria zu und packten sie bei den Armen. Mühelos hoben die muskelbepackten Diener sie hoch und trugen sie zum Opferstein. Angst und eine nie zuvor gekannte Scham erfaßten Gloria. Nackt und entwürdigt war sie diesen Bestien ausgeliefert. Sie fühlte die Blicke aller auf ihren Körper gerichtet, und eine Glutwelle schoß ihr ins Gesicht, als man sie mit gespreizten Beinen auf den kühlen Opferstein warf und ihre Glieder fesselte. Ekel und Abscheu wallten in ihr hoch, als sie das Blut roch, das an dem Stein haftete. Sie wollte schreien, aber die Stimme versagte. Carla Prestons Rat fiel ihr ein. Ob er ihr wirklich etwas nützte? Süßlicher Nebel senkte sich plötzlich auf sie herab. Aus ihm schob sich das Gesicht des Guru auf sie zu. Gloria sah seine kohlschwarzen Augen, die starr auf sie gerichtet waren. Sie erfaßte, daß ein Zwang von diesen Augen ausging und in ihr Bewußtsein drang. Stimmen wehten zu ihr hinüber, Sphärengesang ertönte; dann spürte sie, wie Hände ihren Körper berührten, über die Brüste strichen, weiter nach unten glitten und zwischen den gespreizten Oberschenkeln Halt machten. Fingerkuppen berührten ihre erogenen Zonen. »Woran denkst du in diesem Augenblick?« vernahm sie eine sanfte Stimme. Sie spürte die Berührungen und begriff die Frage, obwohl sie Mühe hatte, klare Gedanken zu fassen. »Ich denke an Liebe«, murmelte sie. »An geistige große Liebe, wie sie im irdischen Leben nicht möglich ist.« Die Berührungen wurden intensiver, und Gloria hatte Mühe, sie zu ignorieren. Aus weitaufgerissenen Augen starrte sie in das Gesicht des 65 �
Molochs, der Gestalt annahm. Aber seltsam, er war jetzt nicht mehr fett und abstoßend. Sein nackter Körper war groß und kräftig, und sie erkannte jede Einzelheit seiner Gestalt, die langsam auf sie zuglitt. Der betäubende Duft wurde intensiver. Gloria spürte, wie ihre natürliche Abwehr sich in Willenlosigkeit und Ergebenheit verwandelte. »Wo sind deine Gedanken, Safi«, schmeichelte die sanfte Stimme. Die nackte Gestalt glitt immer näher auf sie zu und zwischen ihre gespreizten Beine. Die Finger wurden in diesem Moment zurückgezogen. Ein Kälteschauer überrieselte Gloria, als sie glaubte, den Körper des Guru zu spüren. »Ich will keinen Mann… ich hasse alle Männer, die körperliche Liebe. Nur mein Geist verlangt nach Liebe…« Noch war ihr Bewußtsein nicht stark getrübt, und Gloria Stanford rief sich immer wieder Carlas Worte ins Gedächtnis zurück. Dies hier war eine Welt der Frauen, eine Welt, in der Männer nichts zu suchen hatten. »Geh, laß mich in Ruhe«, stieß sie hervor. »Ich verachte deinen Körper.« Erleichtert stellte sie fest, wie die nackte Männergestalt sich langsam zurückzog. »Warum verachtest du die Männer, Safi?« vernahm sie erneut die sanfte Stimme, von der sie nicht wußte, woher sie kam. »Hat körperliche Liebe dir nie etwas gegeben? Sie ist doch das Schönste, was eine junge Frau sich wünschen kann. Nimm dir diese Liebe und weise sie nicht von dir, Safi!« Gloria bereitete es Mühe, klare Gedanken zu fassen und so zu reagieren, daß sie ihre wahren Gefühle nicht offenbarte. Wie durch einen Nebelschleier sah sie die nackte Männerge66 �
stalt über sich gebeugt. »Ich will nicht«, murmelte sie. »Kannst du mich nicht endlich in Frieden lassen? Ich möchte die Liebe von euch allen hier gewinnen, um euch lieben zu können. Was kannst du mir denn schon geben? Den Genuß eines flüchtigen Augenblicks, von dem nur ein schaler Geschmack übrigbleibt.« Sie war überrascht, wie flüssig ihr die Worte über die Lippen kamen. Wurden ihr diese Worte aber auch abgenommen? Die nackte Gestalt wich weiter in den wallenden Nebel zurück und nahm wieder die Form des fetten Guru an, aus dessen Gesicht die kohlschwarzen Augen sie zwingend anstarrten. »Du forderst die Liebe von all deinen Schwestern, Safi«, drang die Eunuchenstimme in ihr Bewußtsein. »Du wirst sie empfangen, sofort…« Die Stimme verebbte. Eine rosarote Nebelwolke kroch auf Gloria zu und legte sich wie ein Schleier über sie. Sie erschauerte, als heiße fleischige Hände sie berührten und ihren Körper streichelten. Das Gesicht einer häßlichen alten Frau, die der Hölle entsprungen schien, tauchte vor ihr auf. Es grinste, gelbe, lange Eckzähne, wie die eines Vampirs, ragten über die Unterlippen hervor. Ein schwammiger Körper schob sich aus dem Nebel auf sie zu. »Du wolltest meine Liebe, Schwester«, kam es krächzend aus dem abstoßenden Mund der Frau. »Ich bin erschienen, sie dir zu geben.« Die Berührung der fleischigen Hände ließ Gloria zittern. »Nicht mein Körper verlangt nach Liebe«, keuchte sie verzweifelt. »Ich sehne mich nach Liebe auf geistiger Ebene, nach der Liebe und dem Glück, das der Guru uns verheißt.« Das häßliche Gesicht wich unter teuflischem Lachen zurück, 67 �
der schwammige Körper wurde vom Nebel aufgesogen, die Hände lösten sich von ihrer Haut. Sekunden später sah Gloria wieder in das Gesicht des Molochs. »Du verschmähst die Liebe einer unserer ältesten Schwestern«, fistelte die Stimme. »Sie ist ein Wesen wie du, wie alle hier. Auch sie möchte deine Liebe.« Gloria stöhnte. Sie spürte, daß ihre Gedanken beeinflußt und in eine von ihr nicht gewollte Richtung gelenkt wurden. Und sie kam nicht mehr dagegen an. Die Macht des anderen war stärker als ihr Willen. »Ich bin bereit, mir deinen Willen zu eignen zu machen, großer Guru«, stieß sie hervor. Die schwarzen Augen des Molochs wurden größer, und sie kamen ihr vor wie überdimensionale unheimliche Seen, deren Tiefe nicht abzuschätzen war. »Bist du bereit, Schmerzen für mich zu erdulden, Safi?« hallte die Fistelstimme wieder. »Ich bin bereit«, flüsterte Gloria Stanford schwach. Pfeilschnell schossen die fetten Hände des Guru aus den Nebelschwaden auf sie zu. Feurige Blitze zuckten auf seinen Fingerspitzen und ließen ihren Körper zusammenzucken. Es traf die Wehrlose wie ein elektrischer Schlag. Jeder Nerv brannte, der Schädel drohte zu platzen. Schwach sackte ihr Körper auf den kahlen, gelben Opferstein zurück. Erschöpft wollte sie die Augen schließen. Es gelang ihr nicht. Die unsichtbare Macht war stärker als ihre Gegenwehr, die immer schwächer wurde. »Bist du bereit, mir zu dienen und ins Paradies der ewigen Glückseligkeit zu gehen, Safi?« kam die nächste Frage aus den Nebelschwaden. »Ja«, krächzte sie. »Ich bin bereit…« 68 �
»Bist du bereit, auf alles zu verzichten, was an dein früheres Dasein erinnert?« hämmerte die schrille Stimme auf sie ein. »Willst du deine Existenz der Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit opfern?« »Ich verlange nichts weiter als eure Liebe«, murmelte Gloria, deren Geist bereits dem anderen untergeordnet war. »Ich werde alles hingeben, was ich habe.« »Dann steht dir das Paradies weit offen, Safi.« Die helle Stimme aus dem Nebel klang plötzlich versöhnlich. In diesem Augenblick wurden die Fesseln an ihren Hand- und Fußgelenken gelöst. »Steh auf, Safi«, vernahm Gloria Stanford jetzt die dunkle Stimme, die von überall herzukommen schien. »Nur noch ein kleiner Schritt, eine abschließende Zeremonie, dann bist du eine von uns.« Langsam schwang Gloria die Beine herunter. Ihre nackten Füße berührten den Boden, und sie hatte das Gefühl, auf einer Wolke zu schweben. Die Nebel lichteten sich, und Gloria befand sich im Halbkreis der anderen Mädchen, die der Zeremonie mit gesenkten Köpfen gefolgt waren. Kona löste sich aus dem Halbkreis und huschte auf Gloria zu. »Ich bin glücklich, daß du eine der unseren geworden bist, Safi«, flüsterte sie und schmiegte sich dicht an ihre neue Mitschwester. »Komm mit mir! Unser großer Guru hat mich dazu ausersehen, dich zur abschließenden Zeremonie zu führen und den Schlußstrich unter dein früheres Dasein zu ziehen.« Gloria Stanford nickte benommen. Sie mußte das soeben erlebte erst mal verkraften und war noch nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Vor ihren Augen erschienen noch immer die geisterhaften Spukgestalten; die schwammige alte Frau mit den Vampirzähnen, der kräftige Mann, der sich ihr in ein69 �
deutiger Absicht nähern wollte, die Berührungen an gewissen Stellen ihres Körpers und dann wieder die zwingend blickenden Augen des Guru von Ghadnipur, dem sie eine Lösung von ihrem früheren Dasein versprochen hatte. Hatte sie diese Zusagen wirklich freiwillig, aus einer inneren Eingebung heraus, gegeben? Darauf vermochte sie in diesen Minuten keine Antwort zu geben. Ein Gong hallte durch die weite Höhle der Unterwelt. Gesang ertönte, fremde Laute drangen an Glorias Ohr, während Kona sie in eine kleine Nebenhöhle führte. »Setz’ dich zu mir«, sprach Kona beschwörend auf die blonde Gloria ein und legte den Arm um ihre nackte Schulter. »Du bist eine von uns, und ich beglückwünsche dich, allen Versuchungen widerstanden zu haben. Unser großer Guru hat dich milde behandelt und die Austreibung gnädig über dich ergehen lassen, da er gesehen und gehört hat, daß du bereit bist, alles zu vergessen, was mit deinem früheren Leben zusammenhängt.« Gloria nickte geistesabwesend. Kona zog einen niedrigen Tisch heran. Sie nahm eine Schale mit einer dunkelroten, süßlich duftenden Flüssigkeit, und reichte sie Gloria. »Trink den geweihten Wein unseres göttlichen Guru«, sagte sie feierlich. »Er verleiht dir Güte und Weisheit und läßt dich in Gedanken das ewige Glück erkennen.« Widerspruchslos nahm Gloria die Schale mit beiden Händen und trank. Sie fand, daß der Wein gut schmeckte und erfrischend kühl war. Wohlige Wärme durchströmte ihren Körper, erfaßte ihren Geist und ließ alles in rosarotem Licht erscheinen. Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte sie und ließ sie vollends vergessen, wo sie sich befand. 70 �
Die Engländerin lächelte glücklich, als sie die Schale geleert hatte und Kona zurückgab. »Ich sehe mein Leben plötzlich ganz anders«, sagte sie. »Was ist nur mit mir geschehen, daß alles, was hinter mir liegt, wie ein böser Traum erscheint?« »Es ist die Eingebung unseres Guru, die deine Sinne geklärt hat«, erwiderte Kona lächelnd. »Du gehörst jetzt zu den besitzlosen Novizinnen im Vorhof zum Paradies der Glückseligkeit.« Kona nahm eine in Leder gebundene Mappe, schlug sie auf und breitete sie auf dem niederen Tisch aus. Ein Pergament, das in Sanskrit beschriftet war, lag obenauf. »Unterzeichne mit deinem Namen dieses Dokument«, forderte sie Gloria auf und reichte ihr eine Feder, die sie zuvor in Tinte getaucht hatte. »Mit deiner Unterschrift gibst du dem Guru dein Wort zu ewiger Treue.« Ohne Bedenken unterschrieb Gloria das Pergament, ohne den Sinn der Sanskrit-Schrift zu verstehen. Kona mußte wissen, was sie ihr vorlegte… Gloria befand sich in einem rauschartigen Zustand des Glücks. Ohne zu zögern unterschrieb sie zwei kleinere Papiere mit ihrem richtigen Namen. »Kann ich noch mehr von dem geweihten Wein haben, Schwester?« fragte sie und ließ die Feder aus der Hand gleiten. »Soviel du willst«, erwiderte Kona lächelnd und stellte eine volle Schale auf den kleinen Tisch. Sie lächelte auch noch, als sie die Papiere in die Mappe zurücklegte. Dann stand sie auf und ging mit der Ledermappe zum Ausgang der kleinen Höhle. »Ich lasse dich jetzt allein, Safi«, sagte sie. »Ruhe dich aus und genieße es, eine der unseren, eine Novizin des Glücksparadieses zu sein.«
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* � Inspektor John McAllister hatte sein Hauptquartier in Aberdeen aufgeschlagen und zog von dort aus an den Fäden, die Licht in das Dunkel bringen sollten. Sein Kollege Whittle hatte ihm ein paar tüchtige Leute überlassen, die mit ihm die Listen vermißter Personen überprüften und auf seine Anweisung diejenigen heraussuchten, die McAllisters Meinung nach in den Kreis seines Verdachtes einbezogen werden konnten. Fünfzehn junge Frauen und Mädchen, die vermögend waren, kamen in die engere Wahl. Die Telefondrähte glühten, die Fernschreiber liefen sich heiß, während die Beamten im ganzen Land Erkundigungen über die fünfzehn vermißten Frauen einholten. Endlich stand ein erstes Ergebnis fest: Bei allen handelte es sich um Personen ohne Anhang oder familiäre Bindungen. Keine von ihnen war älter als dreißig Jahre. Elf von ihnen waren in London zuletzt gesehen worden, vier kamen von einer Reise nach Schottland nicht mehr zurück. Was dem Inspektor besonders interessant und wichtig schien, war die Tatsache, daß diese vier Frauen sich zuletzt in der Grafschaft Aberdeen aufgehalten hatten. Gloria Stanford war die letzte Frau, die man auf die Vermißtenliste gesetzt hatte. An den Gerüchten, die in Crathle kursierten, war also tatsächlich etwas dran. Am nächsten Morgen erhielt McAllister einen Anruf, der wie eine Bombe bei ihm einschlug. Der Direktor der Bank, bei der Gloria Stanford ihr Konto unterhielt, meldete sich mit aufgeregter Stimme. »Vor einer halben Stunde ging ein Überweisungsauftrag von Miß Stanford bei uns ein«, begann er. 72 �
»Was sagen Sie da?« unterbrach der Inspektor ihn. »Von wann ist er datiert, wo wurde er ausgestellt und ist die Unterschrift echt?« »Das Datum ist von gestern, Ausstellungsort Oxford, und die Unterschrift ist so echt wie die Kronjuwelen unserer Queen«, gab der Bankdirektor zurück. »Und die Höhe des Betrages?« stieß McAllister nach. »Einskommaneun«, krächzte der Geldexperte. »Damit hat Miß Stanford ihr gesamtes Guthaben abgehoben und auf eine Bank in der Schweiz überweisen lassen.« »Können Sie den Auftrag nicht stornieren?« knurrte der Inspektor. »Unmöglich«, lautete die Antwort. »Wo denken Sie hin? Wenn einer unserer Kunden uns einen Auftrag gibt, dann wird er auch prompt erledigt. Es sei denn, ein…« »Es sei denn, es läge eine kriminelle Handlung vor«, unterbrach der Yard-Mann ihn erneut. »Ihnen ist bekannt, daß wir nicht wissen, wo Miß Stanford sich im Augenblick aufhält. Wir haben Grund zu der Annahme, daß sie in eine Angelegenheit verstrickt ist, die außerhalb ihres Machtbereiches liegt. Ich werde den Lordrichter bitten, eine einstweilige Verfügung über das Konto von Miß Stanford zu erlassen. Damit sind Sie aus dem Schneider, Sir.« »Okay«, stöhnte der Bankdirektor. »Und was ist, wenn Miß Stanford persönlich bei mir aufkreuzt und eine Szene macht?« »Dann bin ich aus dem Schneider«, sagte John McAllister und legte den Hörer auf die Gabel. Er diktierte ein Fernschreiben in den Ticker, um beim Lordrichter die einstweilige Verfügung zu erwirken. Eine Stunde später schlug die zweite Nachrichtenbombe ein. Sein Kollege aus Oxford war in der Leitung. »Der Hausmeister von Miß Stanford rief mich kurz nach acht 73 �
Uhr an und meldete aufgeregt, daß ein amtlich bestellter Taxator mit einer Vollmacht von Miß Stanford aufgekreuzt sei«, verkündete der Beamte in Oxford. »Er hielt dem Hausmeister eine von der Vermißten unterschriebene Vollmacht unter die Nase. Aus der Vollmacht, die ich mir von dem Taxator, ein untadeliger Mann übrigens, zeigen ließ, geht hervor, daß er beauftragt sei, ihren gesamten Besitz zu taxieren und zur Versteigerung auszuschreiben.« »Von wem erhielt er den Auftrag?« verlangte John McAllister zu wissen. »Per Post von Miß Stanford«, erwiderte der Anrufer. »Den Erlös soll er nach Abzug seiner Unkosten auf ein Schweizer Bankkonto überweisen, da sie die Absicht habe, sich in der Schweiz niederzulassen.« »Verdammt«, knurrte der Inspektor. »Lassen Sie die Geschichte stoppen! Diskret natürlich. Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache.« Nachdenklich lehnte der Yard-Mann sich im Sessel zurück, legte die Beine auf den Schreibtisch und brannte sich eine Zigarette an. Die Geschichte gefiel ihm immer weniger. Gloria Stanford lebte, das war gewiß. Wer aber zwang sie dazu, ihr Konto aufzulösen und ihren gesamten Besitz versteigern zu lassen? McAllister konnte sich nicht vorstellen, daß Gloria aus freien Stücken gehandelt hatte. War da nicht sogar eine Parallele mit dem ermordeten Mädchen? Sie hatte vor ihrem Verschwinden in Liverpool ebenfalls ihren Besitz flüssig gemacht… Steckte der mysteriöse Guru von Ghadnipur hinter allem? Inspektor John McAllisters Hauptinteresse galt von diesem Augenblick an nur noch Devils Lodge und seinen Bewohnern. * � 74 �
An diesem Nachmittag rollte ein bordeauxroter MG-B durch Crathle und hielt mit kreischenden Pneus vor dem Jumping Dog. Eine schlanke, dunkelblonde Frau, die wie fünfundzwanzig aussah, stieg aus und betrat das alte Gebäude. Burt Orwell, der dickbäuchige Wirt, schlurfte aus seinem kleinen Büro und trat hinter die winzige Rezeption. Mit leichtem Mißtrauen und Unbehagen musterte er die elegante Erscheinung. Von Frauen dieses Typs hatte er fürs erste die Nase gestrichen voll. »Was kann ich für Sie tun, Madam?« fragte er ohne große Begeisterung. »Wünschen Sie ein Zimmer?« »Ich bin Lorna Dew«, stellte sie sich vor. »Miß Dew aus Oxford.« »Oxford?« echote der dicke Wirt. »Ja, aus Oxford«, bestätigte Lorna Dew und hob verwundert die Brauen. »Ich möchte zu Miß Stanford. Sie ist doch bei Ihnen abgestiegen, nicht wahr?« Burt Orwell schluckte, als säße ihm ein dicker Kloß in der Kehle. »Ja, das heißt…« Orwell geriet ins Stottern. »Miß Stanford hat nur einen halben Tag, nein, eine halbe Nacht hier gewohnt. Sie ist mitten in der Nacht abgereist. Wohin, das weiß keiner.« Lorna Dew starrte den Wirt betroffen an. »Aber das ist doch unmöglich!« stieß sie hervor. »Ich bin Miß Stanfords Privatsekretärin und war mit ihr verabredet. Leider hielten mich einige Verpflichtungen in Paris auf, so daß ich erst jetzt kommen konnte. Sie schrieb mir noch am vergangenen Donnerstag, daß sie nach Crathle fahren werde, um ein Geschäft zu tätigen.« »Ihre Chefin zog in der Nacht zum Freitag aus«, knurrte Burt Orwell. »Ich nehme an, sie war mit jemand verabredet.« 75 �
Das dunkelblonde Mädchen zuckte die Achseln. »Das ist mir nicht bekannt«, erwiderte sie. »Sie teilte mir lediglich mit, daß ich mich hier mit ihr treffen würde.« »Ist Ihre Chefin denn nicht nach Oxford zurückgekehrt, Miß Dew?« brummte Orwell. »Nein«, murmelte das Mädchen und blickte den dicken Wirt besorgt an. »Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen.« Burt Orwell brummte etwas Unverständliches in sich hinein. »Um was für Geschäfte handelte es sich denn?« fragte er dann, neugierig geworden. »Sie wollte ein paar wertvolle Gemälde kaufen«, erklärte Lorna Dew. »Kennen Sie jemand in der Umgebung, der Gemälde zu verkaufen hat, oder jemand, der mit Kunstwerken handelt?« Orwells Gesicht verfinsterte sich. Er hatte es im Prinzip bisher immer abgelehnt und sich dagegen gesträubt, den kursierenden Gerüchten glauben zu schenken. »Da gibt es diesen MacKillearn draußen auf Devils Lodge«, brummte er schließlich. »Er soll einige wertvolle Schinken aus Geldmangel verkauft haben. Ob es stimmt, weiß ich allerdings nicht. Man erzählt sich viel in dieser Gegend, müssen Sie wissen.« »Ich habe den Namen nie gehört«, sagte Lorna Dew. Sie schob sich eine Benson & Hedges zwischen die Lippen und ließ sich von Orwell Feuer geben. »Können Sie mir den Weg dorthin beschreiben? Vielleicht weiß man dort, wo Miß Stanford sich aufhält.« Burt Orwell nagte unbehaglich auf der Unterlippe. Konnte er es verantworten, das hübsche Mädchen zum hinkenden Dorian zu schicken? Zweifel plagten ihn. Wenn an den Gerüchten nichts dran war und diese Miß Stanford tatsächlich Gast bei MacKillearn war und nur versäumt hatte, ihre Sekretärin zu benachrichtigen, dann war er der Blamierte… 76 �
»Ich weiß nicht, Miß Dew«, druckste er herum. »Mister MacKillearn genießt bei uns einen zweifelhaften Ruf. Er ist ein seltsamer Kauz, der mit niemand in der Gegend Kontakt hat. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß eine so feine Lady, wie Ihre Chefin es ist, mit Killearn Geschäfte machen könnte.« Lorna nahm noch einen Zug aus ihrer Zigarette und stieß sie halb aufgeraucht in den Ascher. »Miß Stanford ist eine selbstbewußte Person«, erklärte sie bestimmt. »Mit jemand, der sie übers Ohr zu hauen versucht, würde sie rasch fertig.« »Das ist es nicht«, murmelte Burt Orwell. »Sie haben nicht zufällig die Zeitungen gelesen…?« »Ich kam erst vor zwei Tagen aus Frankreich zurück«, erinnerte Lorna Dew den Dicken. »Ist etwas passiert?« »Ein Mord an einem jungen Mädchen«, flüsterte der Wirt und beugte sich vertraulich vor, als verrate er ein Geheimnis. »Nackt und erstochen fanden wir sie am Ortsausgang.« Lorna zuckte gleichmütig die Achseln. »Morde passieren leider immer wieder auf dieser Welt«, meinte sie. »Wollen Sie etwa sagen, daß Mister MacKillearn mit dem Mord in Verbindung zu bringen ist?« »No, sonst hätte man ihn ja verhaftet«, erwiderte Burt Orwell rasch. »Aber unheimlich ist er uns allen in Crathle doch. Bestimmt hat Miß Stanford eine andere Route eingeschlagen und ist längst auf der Rückfahrt nach Oxford.« »Das wäre möglich«, schränkte die hübsche Sekretärin ein. »Ich werde mich trotzdem auf Devils Lodge nach ihr erkundigen. Nach dem Dinner werde ich hinüberfahren.« »Wie Sie wollen«, brummte Burt Orwell. »Um sieben Uhr können Sie essen. Wollen Sie auch hier absteigen?« Das dunkelblonde Mädchen zuckte die Achseln. »Das kommt darauf an«, meinte sie. »Falls es spät wird, steige 77 �
ich bei Ihnen ab. Ich komme auf alle Fälle bei Ihnen vorbei und sage Bescheid. Einverstanden?« »Einverstanden«, erwiderte der dicke Wirt erleichtert. »Okay, und jetzt beschreiben Sie mir bitte den Weg nach Devils Lodge«, sagte Lorna Dew. * Der alte graue Steinkasten mit der benachbarten Kirche macht bei Dunkelheit keinen vertrauenserweckenden Eindruck, stellte Lorna Dew beim Herannahen bei sich fest. Lediglich hinter zwei Fenstern im Untergeschoß brannte Licht. Behutsam lenkte sie den niedrigen Sportwagen über den holprigen Weg, der sich durch das hügelige Land schlängelte. Das Gebäude, das auf den Namen Devils Lodge getauft worden war, rückte näher. Endlich wurde der Weg breiter, und Kies knirschte unter den Reifen. Lorna blendete die Scheinwerfer auf und musterte in ihrem grellen Licht die Fassade des alten Gemäuers. Zu ihrer Überraschung wirkte alles recht gepflegt und keineswegs verkommen, wie es bei vielen alten Gebäuden in diesem Land oft der Fall war. Der Eingang mit der breiten Doppeltür aus massivem Eichenholz geriet in ihr Blickfeld. Von Gloria Stanfords Wagen war nichts zu sehen, wie Lorna Dew auf Anhieb feststellte. In diesem Augenblick öffnete sich ein Flügel der Doppeltür und ein breitschultriger Mann in Butlerlivree erschien auf der Bildfläche. Lorna hielt vor dem Eingang, schaltete die Scheinwerfer und den Motor aus und stieg behutsam aus dem flachen Wagen, um ihre hochgesteckte Frisur nicht zu zerstören. 78 �
Langsam kam sie um den Wagen herum und blieb vor dem Butler stehen. »Ist das hier Devils Lodge?« erkundigte sie sich kühl. »Sehr wohl, Madam«, erwiderte der Butler. »Haben Sie sich verfahren, oder…?« »Nein, ich möchte Mister MacKillearn sprechen«, erwiderte sie. »Würden Sie mich bitte melden? Mein Name ist Lorna Dew.« »Wenn Sie bitte in der Halle warten wollen, Madam«, sagte der Butler steif und ließ die Besucherin eintreten. »Einen Augenblick bitte!« Lorna sah ihm nach, wie er hinter einer Tür verschwand. Kurz darauf hörte sie Stimmen. Was gesprochen wurde, konnte sie nicht verstehen. Wenig später öffnete sich die Tür, und Dorian MacKillearn kam hinkend auf die Besucherin zu. »MacKillearn«, stellte er sich vor. »Sie wünschten mich zu sprechen, Miß Dew. In welcher Angelegenheit, wenn ich fragen darf?« Das dunkelblonde Mädchen wirkte etwas verlegen. »Ich bin auf der Suche nach meiner Chefin«, erklärte sie. »Es ist mir sehr peinlich, Sie mit dieser Frage belästigen zu müssen, Sir, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen, als sämtliche in Frage kommenden vornehmen Landhäuser aufzusuchen.« MacKillearn blickte Lorna befremdet an. »Ihre Chefin?« murmelte er. »Ja, Miß Stanford ist Kunstexpertin und -sammlerin«, erklärte Lorna Dew rasch. »Sie schrieb mir nach Paris, daß sie mich in Crathle erwarten würde. Dort erklärte man mir nur, daß sie frühzeitig abgereist sei. Wohin, das wußte man nicht zu sagen. Als ihre Sekretärin habe ich natürlich die Pflicht, mich schnellstens mit ihr in Verbindung zu setzen. Well, ich dachte mir, daß sie vielleicht mit Ihnen in geschäftliche Beziehungen getreten ist 79 �
und…« Dorian MacKillearn sah das dunkelblonde Mädchen lächelnd an und bat sie, in den Salon zu kommen. »Sie haben eine gute Nase, Miß Dew«, erklärte er. »Miß Stanford war in der Tat bei mir und hat sich meine Gemäldegalerie angesehen. Die Suche hat Sie sicher erschöpft.« Er drückte eine Klingel, und der Butler erschien auf der Bildfläche. »George, servieren Sie uns einige Erfrischungen und ein paar Snacks.« George verbeugte sich knapp und verschwand wieder. Lorna Dew blickte den Schotten mit der Hakennase erleichtert an. »Dann wissen Sie sicher, wohin sie von hier aus gefahren ist, nicht wahr?« fragte sie erregt. »Leider sind Miß Stanford und ich noch zu keinem Abschluß gekommen«, erwiderte MacKillearn bedauernd. »Sie ist von hier aus zu einem Kunstexperten gefahren, um sich ein Gegengutachten über den Wert meiner Gemälde einzuholen, aber sie versprach, spätestens morgen abend zurück zu sein, um zu einem Abschluß zu kommen. Miß Stanford hat Sie sicher herbestellt, um die Verkaufsverträge zu fixieren, nicht wahr?« »Das ist meine Aufgabe«, sagte Lorna Dew. »Bin ich froh, daß ich noch hierhergefahren bin.« »Sie waren in Paris«, plauderte der Schotte. »Eine sehenswerte Stadt! Waren Sie im Auftrag von Miß Stanford dort?« »Zum Teil«, sagte die Sekretärin. »Ich besuchte in ihrem Auftrag zwei Ausstellungen junger Künstler.« George betrat den Salon und schob einen Servierwagen mit delikaten Snacks und einigen Flaschen vor sich her. Lautlos verzog er sich wieder nach draußen. »Scotch, Brandy oder einen alten Port, Miß Dew?« fragte MacKillearn. Das Mädchen wehrte verlegen ab. 80 �
»Danke, ich trinke keinen Alkohol«, murmelte sie. »Meine religiöse Anschauung verbietet es mir, mich geistigen Getränken hinzugeben. Ein Orangensaft wäre mir lieb.« MacKillearn blickte das hübsche Mädchen überrascht an. »Sie sind doch nicht etwa Muselmanin?« erkundigte er sich und zog eine Flasche mit Orange-Juice aus dem Kühlfach. Lorna schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das nicht«, flüsterte sie. »Sie lachen mich vielleicht aus, wenn ich Ihnen davon erzähle.« »Wo denken Sie hin?« protestierte der Schotte. »Alles ist nur eine Frage der Toleranz. Gehören Sie einer religiösen Sekte an?« »Das nicht«, erwiderte Lorna und bekam rote Wangen. »Die Lehre des Krishna hat meine Zustimmung gefunden. Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß nur noch Besitzlosigkeit und Armut den Menschen glücklich machen können. Alles auf dieser Welt giert nach Besitz und Reichtum und vergißt darüber die geistigen Werte, das innere Glück.« »Ich habe auch oft darüber nachgedacht«, murmelte Dorian MacKillearn. »Sie haben in Paris also Kontakte zu den Mönchen der Krishna-Bewegung geknüpft?« Das Mädchen nickte versonnen. »Ihre Lehre ist die einzige, die wegweisend ist und ein glückliches Dasein im Jenseits verspricht«, sagte sie eifrig. »Wenn man den Predigern lauscht, ist man losgelöst von aller Last und vergißt die Welt, in der wir gezwungen sind zu leben. Sobald der Vertrag mit Miß Stanford beendigt ist, werde ich nur noch dieser Lehre folgen. Alles, was ich besitze, werde ich hergeben und… »Sie wollen Ihr Vermögen opfern, Miß Dew?« fiel MacKillearn kopfschüttelnd ein. Lorna Dew entging das begehrliche Funkeln in den Augen des anderen. »Meine Eltern haben mir ein Haus und einige tausend Pfund 81 �
hinterlassen«, sagte das Mädchen naiv. »Alles wird eines Tages für den Bau eines großen Gebetshauses hergegeben werden.« Sie nippte an ihrem Glas. »Ich rede zu viel von mir«, wurde sie dann sachlich und lächelte ihr Gegenüber entschuldigend an. »Nun, ich werde nach Crathle zurückfahren, um dort zu übernachten. Sobald Miß Stanford zurück ist, kann sie mich dort erreichen.« »Das kommt gar nicht in Frage, Miß Dew!« protestierte der Schotte und stampfte mit seinem Krückstock auf den Teppich. »Bei uns wird Gastfreundschaft großgeschrieben. Selbstverständlich übernachten Sie in meinem Haus. George wird das schönste Gästezimmer für Sie richten.« »Das kann ich doch nicht annehmen, Sir«, sagte Lorna. »Keine falsche Bescheidenheit«, brummte MacKillearn und läutete nach seinem Butler. George schien stets in den Startlöchern zu stehen, denn er erschien drei Sekunden später auf der Bildfläche. »Sir?« »Miß Dew ist unser Gast, George«, erklärte der Hausherr. »Sie bekommt unser bestes Gästezimmer.« »Sehr wohl, Sir«, erwiderte der Butler steif und kniff ein Auge zu, bevor er den Salon verließ. »Sicher möchten Sie die Gemälde auch mal sehen, für die sich Ihre Chefin interessiert«, plauderte der Schotte. »Aber nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir«, erwiderte Lorna Dew. »Natürlich bin ich neugierig darauf, welche Kunstwerke Miß Stanford zu erwerben gedenkt.« Dorian MacKillearn erhob sich schwerfällig und stützte sich auf seinen Stock. »Ein altes Kriegsleiden«, sagte er entschuldigend und ging voraus in die Halle. Er steuerte die fensterlose Gemäldegalerie an und sperrte die 82 �
Sicherheitstür umständlich auf. Lautlos glitt die Tür zur Seite, und die Lichter flammten auf. Lorna machte große Augen, als sie die kostbaren Gemälde erblickte. »Phantastisch«, sagte sie begeistert. »Ich würde die Gemälde auch ohne Nachprüfung kaufen. Man sieht doch auf Anhieb, daß sie echt sind.« »Sie müssen aber auch Miß Stanford verstehen«, meinte MacKillearn. »Sie wird ein Vermögen für die Bilder opfern müssen. Sie ist wohl sehr vermögend, nicht wahr?« »Ja, das ist sie«, murmelte Lorna und wandte sich der anderen Seite der Wand zu. Als sie das pastellfarbene Bild des fetten Guru von Ghadnipur erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen, kreuzte die Arme über die Brust und verneigte sich vor dem Bild. »Was machen Sie denn da?« brummte MacKillearn. »Woher haben Sie das Gemälde des großen Guru?« flüsterte das Mädchen hingerissen. »Ich habe den göttlichen Guru in einem Tempel gesehen. Sein Blick hat mich vom ersten Augenblick an fasziniert.« »Mein Onkel brachte es seinerzeit aus Indien mit«, erwiderte der Schotte. »Ich wußte gar nicht, daß es so bekannt ist.« »Für mich ist er einer der größten Propheten«, murmelte Lorna Dew hingerissen. »Ich las über ihn in alten Schriften und halte seine Lehre für die wichtigste.« MacKillearn zuckte die Achseln. »Davon verstehe ich leider nichts«, bemerkte er. »Dürfte ich das Gemälde morgen fotografieren, Sir?« bat das Mädchen. »Es würde sehr viel für mich bedeuten.« »Ich habe nichts dagegen«, sagte der Hausherr lächelnd. »Sie sind sicher müde. George wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.« Sie verließen die Galerie, und die Tür schloß sich automatisch 83 �
hinter ihnen. Lorna holte ihre Reisetasche aus dem Wagen. Als sie in die Halle zurückkehrte, reichte George ihr die Handtasche. »Sie haben die Tasche im Salon vergessen, Madam«, sagte er mit dünnem Lächeln. »Darf ich Ihnen die Reisetasche abnehmen?« »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht!« rief MacKillearn hinter ihr her. Das Gästezimmer lag im Erdgeschoß, schräg gegenüber der kleinen Galerie. Lorna blieb begeistert in der Tür stehen. »Ist das herrlich«, flüsterte sie, als sie den mit indischen Kunstwerken und Gottheiten angefüllten Raum betrat. »Hier werde ich mich wohl fühlen.« * Grinsend kehrte George in den Salon zurück. Dorian MacKillearn saß wieder in seinem Sessel und nippte an einem Whiskyglas. »Nun, was hältst du von unserem Gast, George?« brummte er. »Wie kommt es, daß wir nicht wußten, daß Gloria Stanford eine Sekretärin hat?« »Da sie verreist war, kamen wir nicht auf sie«, meinte George. »Aber sie ist zweifellos echt. Ich habe ihre Handtasche überprüft. Sie heißt Lorna Dew, ist von Beruf Sekretärin und wohnt ebenfalls in Oxford. Sie hat ein Foto von der Stanford mit einer persönlichen Widmung dabei.« »Bring ihren Wagen weg, George«, sagte MacKillearn. »Wird gemacht«, erwiderte George. »Ich habe vorhin jedes Wort mitbekommen: Spinnt ja ganz schön, die Kleine… Sie wäre also tatsächlich bereit, ihr Vermögen der Lehre des großen Guru 84 �
zu opfern. Ihr Wunsch ließe sich doch leicht in die Tat umsetzen, wie?« MacKillearn grinste George an. »Wir sollten ihr den Wunsch erfüllen«, schlug er vor. »Zudem dürfte sie eine der wenigen sein, die ohne Protest ins Nirwana überwechselt. – Well, bereite alles vor!« * Gloria Stanford hatte keine Ahnung, wie lange sie in dem rauschartigen Zustand verbrachte. Dämmerlicht umgab sie. In der riesigen Höhle war es still, nur einige Fackeln warfen ihr zuckendes Licht über die kahlen Wände. Sie benötigte eine Weile, um Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Was hatten sie mit ihr angestellt? Du heißt jetzt Safi, überlegte sie. Kona hatte es ihr gesagt, als sie ihr den geweihten Wein reichte. Ihr fiel ein, daß sie einige Papiere unterzeichnet hatte. Aber sie wußte nicht mehr, was sie unterschrieben hatte. Dann kehrte die Austreibungszeremonie in ihr Bewußtsein zurück. Sie erschauerte, als sie an die geisterhaften Wesen dachte, die sie bedrängt hatten. Sie hatte ihrem früheren Leben abgeschworen und sich der Lehre des fetten Molochs verschrieben. Hast du das wirklich? schoß es ihr durch den Kopf. Bist du wirklich nicht mehr Gloria Stanford? Bist du in die geisterhafte Welt des Guru eingetaucht, einer Welt, aus der es keine Rückkehr mehr gibt? Sie erschrak, als eine nackte Gestalt in ihre Höhle glitt und sich an sie schmiegte. 85 �
»Ich bin’s, Carla Preston«, hauchte eine Stimme, dicht an ihrem Ohr. »Carla?« »Erinnerst du dich nicht an mich, Gloria?« Die Frage der jungen Popsängerin klang besorgt. »Ich war doch bei dir und gab dir den Rat, stark zu bleiben.« »Ja, ich erinnere mich«, sagte Gloria nach einer Weile. »Was hat man mit mir gemacht? Ich erlebte alles in einer Nebelwelt, und ich fühlte mich wie betäubt.« »Ich habe dich beobachtet, Gloria…« »Gab man mir nicht den Namen Safi?« warf Gloria ein. »Du heißt Gloria«, blieb Carla fest. »Du hast deine Rolle gut gespielt. Als die Nebelschwaden aufwallten, vernahm ich nur noch deine Stimme. Hast du dabei an meine Worte gedacht?« Glorias Gedanken wurden allmählich klarer. »Ich habe dir vieles zu verdanken, Carla«, flüsterte sie. »Ja, ich habe den Stimmen die Antworten gegeben, die sie hören wollten. Ich habe den widerlichen Erscheinungen widerstanden, aber dann verließ mich doch die Kraft.« »Du hast es geschafft, denn du weißt, wie du heißt und wer du bist«, sagte Carla eifrig. »Nur das zählt! Aber sei vorsichtig! Kona ist gefährlich. Sie ist dem fetten Moloch total hörig. Spiele deine Rolle, wie ich sie auch spiele! Wir müssen Kona täuschen und darauf hoffen, eines Tages wieder in unsere Welt zurückkehren zu können.« »Ich werde vorsichtig sein«, versprach Gloria. »Was habe ich eigentlich für Papiere unterschrieben?« »Du hast deine Armut und Besitzlosigkeit erklärt«, erwiderte Carla Preston. »Man hat dich in einen Rausch versetzt, der deinen letzten Willen brach. Ich unterschrieb in meiner Einfalt damals alles freiwillig. Versuch’ dich zu erinnern!« »Da war ein Papier mit einer fremden Schrift«, grub Gloria in 86 �
ihrem Gedächtnis nach. »Aber da waren auch kleinere Papiere, die ich mit meinem wahren Namen unterschrieb. Was kann das nur gewesen sein?« Carla blickte ihre Leidensgefährtin entsetzt an. »Bist du vermögend?« fragte sie. »Ich bin eine reiche Frau«, murmelte Gloria Stanford. Dann berichtete sie von ihrer Fahrt nach Devils Lodge und dem Kauf der Gemälde. »Du warst eine reiche Frau«, murmelte Carla. »Ich bin sicher, daß du dein Vermögen dem Moloch überschrieben hast. Du bist wie ich eine Besitzlose geworden.« Gloria schwieg betroffen. »Sagt dir der Name MacKillearn etwas?« fragte sie nach einer Weile. »Eine von den anderen nannte ihn mal im Schlaf«, erwiderte die Popsängerin. »Ich glaube, daß er die Kontaktperson zwischen der irdischen und dieser Unterwelt ist«, sagte Gloria. »Er paktiert mit dieser geisterhaften Welt, daran zweifle ich nicht mehr! Siehst du einen Weg, von hier wegzukommen?« Carla zuckte hilflos die Achseln. »Eine von uns fand den Weg in die Freiheit«, sagte sie. »Aber sie ist tot. Die Wächter des Guru sind überall.« Sie hob lauschend den Kopf. »Ich muß weg!« flüsterte sie. »Bleib stark!« Carla Preston hatte ein gutes Gehör. Sie war kaum verschwunden, als Kona die kleine Höhle betrat. Gloria hatte sich rasch hingelegt und täuschte Benommenheit vor, als Kona sich neben sie hockte. »Habe ich lange geschlafen, Kona?« murmelte sie. »Wo bin ich? Was ist mit mir geschehen?« Kona lachte leise. 87 �
»Du hast den geweihten Wein getrunken, Safi«, erwiderte sie. »Der Wein trug dich hinüber in unsere Welt.« »Ins Paradies des ewigen Glücks«, sagte Gloria und zwang sich zu lächeln. »Ich fühle mich wie befreit von aller Last. Die Besitzlosigkeit macht mich glücklich. Ich bin Safi, eine von euch. Seltsam, wer war ich zuvor? Wie lange bin ich schon eine Dienerin des göttlichen Guru?« Kona sah ihr starr in die Augen. Gloria hielt dem zwingenden Blick stand. »Eine Ewigkeit, Safi«, murmelte Kona nach einer Weile. »Ja, es ist eine Ewigkeit«, sagte Gloria versonnen, ohne den Blick von Konas Gesicht zu wenden. »Macht es dich froh, nicht mehr zu wissen, was vorher war?« stieß Kona nach. Jetzt kommt die Gehirnwäsche, schoß es Gloria Stanford durch den Kopf. Konas dunkle Augen blickten sie durchbohrend und hypnotisierend an. »Was war vorher, Kona?« murmelte sie. »Ich bin doch bereits eine Ewigkeit im Reich des göttlichen Guru, in der Welt der geistigen Liebe.« »Ja, du bist eine von uns«, bestätigte Kona. »Du bist aufgenommen, bist eine Novizin des großen Guru und wirst einst als Priesterin ins Paradies der ewigen Glückseligkeit eingehen.« »Das wird der größte Augenblick meines Daseins werden«, flüsterte Gloria und hatte Mühe, ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. »Hast du deine Mitschwester Lorna bereits kennengelernt, Safi?« Konas Frage kam hart und provozierend. Gloria spürte instinktiv die Gefahr, die in dieser Frage lag. »Lorna?« sagte sie gedehnt. »Ich weiß nicht…« Lorna, überlegte sie krampfhaft Welche Lorna mochte sie meinen? Sie kannte drei Frauen, die so hießen. In dieser Vorstufe 88 �
zur Hölle hatte sie den Namen jedenfalls noch nie gehört. »Ist sie eine unserer Schwestern?« fuhr sie fort und tat so, als denke sie angestrengt nach. »Lorna Dew!« stieß Kona eindringlich nach. »Ich erinnere mich jetzt«, murmelte Gloria Stanford. »Es ist eine Ewigkeit her, seit ich den Namen hörte. Ich muß die Nebel durchbrechen, die mein Bewußtsein in dieser Richtung trüben. Hilfst du mir dabei, Kona?« »Es ist nicht weiter wichtig«, schwächte Kona ab. »Sie war in deinem früheren Dasein als Sekretärin tätig.« Eine Falle, schoß es Gloria Stanford durch den Kopf. Sie will dich in eine Falle locken, und daraufhin prüfen, ob die telepathischen Einflüsse voll bei dir gewirkt haben… »Da war mal etwas mit Lorna«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht mehr genau was. Es gab mal ein Mädchen mit diesem Namen. Sie half mir, nur wann und wo…?« Kona strich ihr mit der Hand über Stirn und Augen. »Vergiß, was ich dich gefragt habe, Schwester«, sagte sie eindringlich. »Bereite dich auf das vor, was vor dir liegt! Lerne unsere Gebete und Lobgesänge auf unseren großen Guru, und das Paradies ist dir sicher!« Sekunden später war Kona verschwunden. Ein ungutes Gefühl beschlich Gloria Stanford. Hatte sie etwas falsch gemacht? Hatte Kona gemerkt, daß sie ihrem hypnotisierenden Blick widerstand? Resigniert ließ sie sich zurücksinken und dachte besorgt an die düstere Zukunft… * Burt Orwell hatte an diesem Abend Hochbetrieb. Einer feierte � seinen Geburtstag und hatte ein Dutzend Freunde mitgebracht. � 89 �
So hatte er alle Hände voll zu tun und verschwendete keinen Gedanken an Lorna Dew, die ihm versprochen hatte, auf jeden Fall noch mal hereinzuschauen. Erst als er kurz vor elf Uhr Feierabend gebot, dachte er an das hübsche Mädchen. Um sein Gewissen zu beruhigen, rief er Cliff Bogart an den Tresen und erzählte ihm von dem Besuch der Sekretärin. »Das ist ja ein Ding«, knurrte der Schreiner, nachdem der dicke Wirt ihm alles erzählt hatte. »Sie hätte auf keinen Fall zum hinkenden Dorian gehen dürfen.« »Was blieb mir weiter übrig?« verteidigte sich Burt Orwell säuerlich. »Oder hast du Beweise dafür, daß MacKillearn reihenweise Mädchen umbringt und verschwinden läßt?« »Darum geht’s doch nicht, Burt«, knurrte Cliff Bogart. »Streng doch mal deine grauen Gehirnzellen an! Ihre Chefin verließ unter ungewöhnlichen Umständen dein Haus. Eine Woche später taucht die Sekretärin bei dir auf und sucht verzweifelt nach dieser Miß Stanford. Fällt dir da noch immer nichts auf?« »Magst schon recht haben, Cliff«, gab er zu. »Es ist gleich elf Uhr, und sie hat mir versprochen, Bescheid zu sagen, ob sie bei mir absteigt oder nicht. Sicher hat sie’s vergessen und ist gleich weitergefahren.« »Oder sie sitzt beim hinkenden Dorian in der Falle«, murrte der Schreiner. »Du landest noch mal wegen falscher Anschuldigung vor dem Richter«, sagte der Dicke. »Und du wegen verweigerter Hilfeleistung«, konterte Cliff Bogart bissig. »Wir müssen etwas unternehmen, kapierst du das endlich? Denk doch mal daran zurück, was die Sekretärin dir von den Gemälden gesagt hat! Miß Stanford war in der Gegend, um wertvolle Bilder zu kaufen. Da kommt nur der hinkende Dorian auf Devils Lodge in Frage. Zudem glaube ich bestimmt, daß 90 �
Lorna hierher zurückgekehrt wäre, wenn alles in Ordnung ist.« Orwell kratzte sich im Nacken und blickte seinen Nachbarn unschlüssig an. »Was schlägst du vor?« brummte er. »Wir melden den Vorfall Inspektor Whittle«, entschied der Schreiner. »Er bat uns ja ohnehin, ihm jedes Ereignis zu melden. Wenn das kein Ereignis ist, kannst du mich in Zukunft mit Schafskopf anreden!« »Okay, du weißt ja, wo das Telefon steht«, murmelte der dicke Wirt und machte sich daran, die Gläser zu spülen. * Gedämpftes Licht umgab Lorna Dew in dem mit asiatischen Kunstgegenständen möblierten Gästezimmer. Eine mystische, geheimnisvolle Atmosphäre lag über dem Raum. Das hübsche Mädchen besah sich die Buddhafiguren, die indischen Tempeltänzerinnen aus Elfenbein und die zahlreichen alten Bilder, die Götter der verschiedenen Religionen Asiens zeigten. Langsam ging Lorna hinüber zu dem breiten Bett, über dem sich ein dunkelblauer Baldachin spannte. Ohne Hast zog sie sich aus und blieb nackt vor dem goldgerahmten Spiegel stehen. Dann befaßte sie sich eingehend mit ihrer hochgesteckten Frisur, prüfte ihre Sitz und den Halt der vielen Klammern. Erst danach ging sie hinüber zum Bett und zog das Laken bis ans Kinn. Ein seltsames Gefühl beschlich das Mädchen beim Anblick der zahlreichen mystischen Gegenstände. Ihr Blick wanderte über die Gesichter der Elfenbeinstatuen, und sie hatte den Eindruck, als komme Leben in die schwarzen Achataugen. Lorna fror plötzlich. Wäre es nicht doch besser gewesen, die 91 �
Einladung höflich abzulehnen und im Jumping Dog zu übernachten? Tapfer wischte sie die Bedenken fort und suchte nach dem Lichtschalter. Dann erlosch das Licht. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die verschwundene Gloria Stanford zu suchen und verspürte plötzlich das Gefühl, ganz in ihrer Nähe zu ein. Nach einer Weile hob sie schnuppernd die Nase. Ein Duft von Lavendel, Myrrhe und Sandelholz lag über dem Raum und kroch auf sie zu. Lorna Dew wollte nach dem Lichtschalter tasten, überlegte es sich dann aber doch anders. Etwas Ungewöhnliches spielte sich um sie herum ab, das spürte sie. Der Duft wurde intensiver und betäubender. Lorna Dew hatte die Augen geöffnet. Obwohl sie nichts sah, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Behutsam richtete sie sich etwas in den Kissen auf, sorgsam darauf bedacht, daß ihre kunstvoll getürmte Frisur erhalten blieb. Der betäubende Duft erfaßte ihre Sinne, und ein leichtes Schwindelgefühl überkam sie. Lorna empfand es als nicht unangenehm, und sie hatte den Eindruck, auf einer rasenden Achterbahn auf und ab zu gleiten. Träumte sie oder hörte sie wirklich die sphärenhaften Klänge, die in ihr Bewußtsein drangen. Sah sie wirklich den rosaroten Nebel, der aus der Dunkelheit aufwallte und wie eine Wolke auf sie zukroch? Nein, sie war wach, obwohl alles wie ein Traum schien. In der Nebelwolke aktivierte sich ein Wesen und formte sich zu einer Gestalt. Ein Gesicht, breit und freundlich lächelnd blickte auf sie herab. 92 �
»Guru«, flüsterte das Mädchen. »Bist du es wirklich, göttlicher Guru? Erscheinst du mir im Traum oder…?« Eine helle Stimme drang in ihr Bewußtsein. »Ich bin bei dir, Schwester«, kam es über die Lippen der Erscheinung. »Du bist zu mir gekommen, freiwillig und aus Liebe und Verehrung. Dafür sollst du belohnt werden, Pola.« »Pola?« flüsterte das Mädchen. »Dein Name ist Pola, die alles Umfassende«, tönte leise die Stimme aus der Nebelwolke. »Du beschämst mich Unwürdige«, murmelte Lorna. »Was ist an mir, daß du mich so würdigst?« »Ich habe in deine Seele geschaut, Pola«, verkündete die helle Stimme. »Deine Seele ist rein wie ein Bergsee, du bist bereit dein irdisches Dasein zu opfern und meine gelehrige Schülerin zu werden.« »Du bist allwissend, mein Guru«, sagte Lorna mit leichtem Schauder. »Komm in mein Reich, Pola«, fuhr die Stimme fort, während die sphärenhaften Klänge seine Worte weiterhin untermalten. »Ich werde dich lehren, das wahre Paradies zu finden. Nichts soll dich mehr mit deinem früheren Dasein verbinden. Ewiges Glück wird um dich sein.« »Wo finde ich dich?« flüsterte das Mädchen. »Ich sehe dich, aber du bist nicht greifbar. Wie finde ich zu dir?« »Steh auf, Pola«, forderte die Stimme. »Ich werde dir den Weg in mein Reich weisen. Komm nackt in mein Reich! Nichts soll dich an dein früheres irdisches Dasein erinnern.« »Ich komme«, erwiderte Lorna mit fester Stimme. Ihr schwindelte, als ihre Füße den Boden berührten und sie sich aufrichtete. Es bereitete ihr Mühe einen Schritt vorwärts zu tun und aufrecht zu gehen. »Wo bist du, mein göttlicher Guru?« rief sie und streckte su93 �
chend die Hände aus. Süßlicher Nebel wehte ihr entgegen und ließ ihre Gedanken durcheinanderpurzeln. Sie wußte nicht mehr, wo sie sich befand. Schwebte sie, oder befand sie sich in einem rasend in die Tiefe gleitenden Lift? Die nebelhafte Erscheinung des Guru war verschwunden. Finsternis umgab sie auf ihrer Reise in das Reich des Guru. Dann erlosch auch der Rest ihres Bewusstseins. * Lorna Dew fand rasch wieder in die Gegenwart zurück, als Kühle ihren nackten Körper umgab und sie die Augen aufschlug. Verwirrt blickte sie in die Gesichter von zwei Mädchen, die nackt waren wie sie. »Wo bin ich?« stammelte sie verwirrt. »Wo ist der große Guru, der vorhin noch mit mir sprach und mir versicherte, mich in sein Reich zu führen?« »Du bist im Reich des göttlichen Guru«, sagte das dunkelhaarige Mädchen mit den zwingenden Augen. »Ich bin Kona, deine Schwester, die dich einweisen wird.« Lornas Blick umfaßte die zweite Gestalt und blieb an ihrem Gesicht haften. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie. »Miß Stanford?« stieß sie hervor. »Ich wußte nicht, daß auch Sie den großen Guru anbeten und…« »Stanford?« echote Gloria. »Wer ist das?« »Gloria Stanford! Erkennen Sie mich nicht? Ich bin Lorna, Ihre Sekretärin während unseres irdischen Daseins!« Gloria blickte Lorna verständnislos an. »Ich habe den Namen irgendwann mal gehört«, flüsterte sie. »Auch dein Gesicht kommt mir bekannt vor. Aber…« 94 �
»Schwester Safi ist mit ihrem Geist ganz in unserer paradiesischen Welt aufgegangen, Pola«, erklärte Kona hastig. Sie vermochte den Triumph in ihren dunklen Augen nicht zu unterdrücken. »Umarme sie, deine Schwester Safi! Vergiß, was früher mal war und gib dich ganz der Lehre unseres Propheten hin!« Lorna umarmte Gloria fest und drückte sie an sich. Beide spürten sie gleichzeitig, daß etwas Besonderes sie verband. Ein Geheimnis, ein stiller Pakt. »Ich kann es noch immer nicht fassen«, wandte Lorna sich anschließend an Kona. »Wie konnte es nur geschehen, daß mein Wunsch, dem Guru zu dienen, so schnell erfüllt wurde.« »Deine Gebete und geheimen Wünsche wurden erhört, Pola«, erwiderte Kona. »Du wirst nur deine Vergangenheit vergessen müssen, dann bleibt dir die Austreibung erspart.« »Austreibung?« fragte Lorna. »Schwester Safi wird es dir erklären« sagte Kona. »Wir sehen uns bald in der großen Halle zur Opferung. Der göttliche Guru hat die Gebete unserer Schwester Hera erhört und wird sie in der Opfermesse ins Paradies der ewigen Glückseligkeit hinübergeleiten.« Lorna Dew und Gloria Stanford blieben allein in der kleinen Höhle zurück. Gloria blickte Lorna eine Weile schweigend und prüfend an. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mein Geist noch richtig funktioniert und ob mein Gedächtnis intakt ist«, murmelte sie. »Aber ich möchte schwören, daß ich nie im Leben eine Sekretärin gehabt habe!« Lorna Dew lächelte Gloria erleichtert an. »Darauf können Sie schwören, Miß Stanford«, sagte sie und prüfte den Sitz ihrer Hochfrisur. Dabei kam sie sich in ihrem nackten Zustand recht lächerlich vor. 95 �
* � Cliff Bogarts Anruf alarmierte Inspektor John McAllister. Er saß mit seinem Kollegen Whittle und zwei Funkspezialisten des Yard in einem Spezial-Wagen, der zwischen der Ortschaft Crathle und Devils Lodge abseits der Straße abgestellt worden war. Der hintere Teil des Spezialwagens glich einer modernen Funkund Abhörzentrale. Ausfahrbare Antennen und Richtmikrophone nahmen jedes Geräusch in der Umgebung auf und übertrugen es auf hochempfindliche Verstärker und Lautsprecher. »Ich hätte nicht gedacht, daß Lorna von MacKillearn eingeladen wird«, sagte Inspektor Whittle, der Bogarts Gespräch angenommen hatte. John McAllister gab keine Antwort. Er stülpte sich die Kopfhörer über und gab einem Techniker das Zeichen, auf volle Empfangsstärke zu gehen. In den Kopfhörern rauschte es, dann vernahm er leise Stimmen. »Lorna unterhält sich mit MacKillearn«, flüsterte der YardMann. Der Techniker verbesserte den Empfang und schaltete auf die Bordlautsprecher um. »Ein höflicher Bursche«, murmelte Whittle gespannt. »Fast habe ich das Gefühl, als säßen wir auf der falschen Spur.« Die Stimmen der beiden Menschen im Salon von Devils Lodge drangen klar aus den Lautsprechern. »Spinnt Miß Dew?« stieß Whittle plötzlich hervor, als sie Lorna über Krishna und Armut parlieren hörten. John McAllister gab keinen Kommentar, er schien nicht mal zu hören, was Whittle sprach. »Ein vollendeter Gastgeber«, fuhr Whittle dafür im Selbstge96 �
spräch fort. »Jetzt zeigt er ihr auch noch seine Gemäldegalerie.« Der Yard-Mann sog jedes Wort in sich auf. Als er dann Lornas Stimme vernahm und sie das Gemälde des Guru von Ghadnipur erwähnte, stieß er Whittle erregt in die Rippen. »Was sagen Sie nun, Sie Schwarzhörer?« knurrte er. »Die Spur ist superheiß, sage ich Ihnen!« »Dann sollten wir die Kleine rechtzeitig herausholen«, schlug Inspektor Whittle vor. »Wir fahren näher an Devils Lodge heran«, entschied der YardMann. Inspektor Whittle startete den Motor und lenkte den Wagen hinaus auf den holprigen Weg. Ohne Licht fuhr er langsam auf den alten Landsitz zu. Erst als die Konturen des mächtigen Gemäuers sich vom nächtlichen Horizont abzeichneten, trat er auf die Bremse und stellte den Motor ab. »Man, ist das Mädchen verrückt?« krächzte Whittle, als er hörte, daß Lorna die Einladung, über Nacht zu bleiben, angenommen hatte. »Sie wird schon wissen, was sie zu tun hat«, erwiderte McAllister trocken. »Und was ist, wenn ihr etwas passiert?« stöhnte Inspektor Whittle. »Dann schiebt man es mir in die Schuhe.« »Noch ist nichts passiert«, beruhigte der Yard-Mann ihn. »Daß da drüben ein Bild des Guru hängt, ist längst kein Beweis dafür, daß MacKillearn ein Schlitzohr ist.« »Kein Schlitzohr, sagen Sie?« knurrte Whittle bissig. »Da – hören Sie doch selbst! Dieser George hat ihre Handtasche durchschnüffelt…« Er schwieg betroffen, als er den letzten Dialog zwischen Killearn und George vernahm. 97 �
»Was jetzt, McAllister?« murmelte er. Der Geisterdetektiv, der brenzligere Situationen überstanden hatte, behielt auch jetzt die Ruhe und Überlegenheit. »Wir müssen abwarten, wie es weitergeht«, brummte der YardInspektor. Die Zeit vertropfte wie zähflüssiger Blütenhonig, als es in den Lautsprechern ruhig wurde und nur einige undefinierbare Geräusche zu hören waren. »Glauben Sie, daß die vermißte Gloria Stanford wirklich auf Devils Lodge steckt?« brummte Whittle ungeduldig. »Dem Dialog der beiden nach zu urteilen, liegt es im Bereich des Möglichen«, meinte McAllister. »Wenn nur dem Mädchen nichts passiert«, stöhnte Whittle. »Still!« zischte McAllister, als eine flüsternde Stimme in den Lautsprechern ertönte. »Lorna…« Atemlose Spannung erfüllte die vier Männer in dem Spezialfahrzeug während der nächsten Minuten, als sie Lornas leise Stimme vernahmen. »Sie spricht mit dem Guru«, ächzte Whittle. »Es gibt ihn also tatsächlich. Oder ist er ein Geist?« »Das wird sich noch herausstellen«, murmelte der Yard-Mann mit angespannten Nerven. McAllister war sich der Tatsache bewußt, daß er jetzt einen kühlen Kopf bewahren mußte und sich nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen lassen durfte. Da kam das Stichwort, daß Whittle hochriß. »Nackt«, stieß er hervor und umklammerte das Lenkrad. »Die Ermordete war auch nackt! Wenn das kein Beweis ist? Die Schweine mißbrauchen die Mädchen und bringen sie anschließend um…« »Ganz ruhig bleiben, Mann«, knurrte John McAllister. Auch er hatte plötzlich große Sorge um Lorna. 98 �
Fünfzehn Minuten später starrten sich die beiden Beamten verwirrt an. »Sie spricht mit Gloria Stanford«, murmelte der Yard-Mann. »Ich habe gewußt, daß sie noch lebt. Eine Kuh, die man melken will, bringt man so schnell nicht um.« »Wie gehen wir vor?« knurrte Whittle, bedeutend ruhiger geworden. »Getrennt marschieren, vereint schlagen«, erklärte John McAllister und unterbreitete dem Kollegen seinen Schlachtplan. »Die Ermordete hat auf keinen Fall ihre Flucht aus dem Gebäude unternommen. Also muß es einen versteckten Ausweg aus der Unterwelt des Guru geben.« Er verstummte, als er Konas Stimme vernahm. »Opfermesse!« stieß er hervor. »Der Guru ist ein Moloch, dem Menschenopfer gebracht werden. Vorwärts, wir müssen das Schlimmste verhindern.« Inspektor Whittle hatte wenig Hoffnung, daß es ihnen gelingen würde… * Gloria Stanford atmete erleichtert auf, als sie mit Lorna die kleine Höhle erreichte, in der Carla Preston vegetierte. »Ihr verdanke ich, daß ich nicht den telepathischen Einflüssen erlag«, sagte Gloria hastig. »Carla hat mir sehr geholfen.« »Verstärkung ist immer gut«, meinte Carla zuversichtlich und lächelte Lorna an. »Nur müssen wir Geduld haben, bis sich uns eine Chance bietet.« Lorna Dew hätte dazu etwas sagen können, zog es aber vor, nicht allzuviel Optimismus zu verbreiten. Sie wußte nur, daß die Zeit für sie arbeitete. Ein dumpfer Gong ertönte. Gloria und Lorna wechselten einen 99 �
besorgten Blick. »Wir müssen zur Opfermesse«, stöhnte die Popsängerin und begann zu zittern. »Ich habe bereits zwei dieser teuflischen Handlungen erleben müssen und bin jedesmal zusammengeklappt.« »Können wir das nicht verhindern?« flüsterte Gloria entsetzt. Carla schüttelte den Kopf. »Wenn wir nicht erscheinen, bestraft uns der Moloch mit dem Tod«, murmelte sie. »Schließt die Augen und hört nicht hin! Aber das ist leichter gesagt als getan…« »Die Mädchen gehen freiwillig in den Opfertod?« vergewisserte Lorna sich. Der Popstar nickte und blickte aus großen Augen in die Haupthöhle, in der die anderen bereits im Halbkreis knieten. »Sie sind nicht mehr sie selbst«, flüsterte Carla hastig. »Man hat ihre Sinne systematisch verwirrt, und sie gehen mit der Überzeugung in den Tod, im Jenseits das Paradies des ewigen Glücks zu betreten. Und seltsam, ich hörte die Stimme von Yana, die als letzte die Schwelle überschritt. Bin ich etwa doch dem geisterhaften Moloch verfallen?« Lorna Dew betrat als erste den Halbkreis der Priesterinnen. Sie mußte ihre Rolle spielen, sonst war ihre Mission gefährdet. Trotzdem würde sie alles daransetzen, den Freitod eines der Mädchen zu verhindern. In diesem Augenblick sah sie den fetten Moloch zum ersten Mal auf seinem goldenen Thron. Er ähnelte genau dem Bild, das sie in der Galerie gesehen hatte. Aber er hatte nichts Menschliches an sich. Ein Fleischkoloß ohne Seele und Gefühl, stellte das Mädchen bei sich fest. Betäubender Duft zog durch die Höhle und legte sich wie eine Wolke über den Opferstein. Die nackten Gestalten knieten und hielten die Köpfe gesenkt, 100 �
als eine schlanke Gestalt sich aus dem Halbkreis löste und von zwei Kahlgeschorenen zum Opferstein geführt wurde. Ekel würgte in Lornas Kehle, als sie hilflos zusehen mußte, wie das verblendete Mädchen sich zur Schlachtbank führen ließ. »Ich bin bereit, mein göttlicher Guru«, drang die klare Stimme des opferwilligen Mädchens an ihr Ohr. »Tritt näher heran, Schwester«, hörte sie dann die gleiche Eunuchenstimme, die bereits im sogenannten Gästezimmer ihren Abscheu erregt hatte. Lorna hörte Gloria und Carla neben sich stöhnen. Gab es denn keine Möglichkeit, die blutige Zeremonie zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern? Lornas Schädel schmerzte, während sie nach einer Lösung suchte. Sie biß die Zähne zusammen, als sie sah, wie das Mädchen, das sie auf höchstens zwanzig Jahre schätzte, sich bereitwillig auf den blutbefleckten Opferstein legte und ununterbrochen den göttlichen Guru pries und ihn anflehte, sie in das Paradies des Glücks zu geleiten. Dann war es soweit… Ein muskulöser kahlgeschorener Diener des Molochs hatte sich hinter dem Kopf des Opfers aufgebaut und zog langsam den rasiermesserscharfen Dolch aus dem Bund seines Lendenschurzes. Lornas Nerven vibrierten wie angespannte Drahtseile. Neben ihr fiel Carla in Ohnmacht, und Gloria beugte sich würgend vor. Wieder erschallte ein Gong und ließ die Luft erzittern. Wie durch einen Schleier sah Lorna Dew, daß der Kahlgeschorene den Dolch auf die Kehle des Opfers richtete und zum tödlichen Stoß ausholte. Lorna hielt die Anspannung nicht mehr aus. Mit einem Satz war sie auf den Füßen und rannte zum Opferstein. 101 �
»Nein!« gellte ihre Stimme. »Bringt sie nicht um, ihr Mörder!« Für Sekunden lastete tödliche Stille über der Szene. Dann brach infernalischer Lärm los, und Sekunden später sah Lorna sich den wütenden Dienern des Guru gegenüber, die mit stoßbereiten Dolchen auf sie eindrangen… * Inspektor John McAllister betätigte den altmodischen Klingelzug neben dem Eingang. Innen im Gebäude schepperte eine Glocke. Der Funktechniker, der McAllister begleitete, blickte den YardMann nervös an. »Wir sollten die Tür aufbrechen, Sir«, schlug er vor. In diesem Augenblick vernahmen sie Schritte. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und sie blickten in das mißtrauische Gesicht des Butlers. »Ja…?« McAllister zögerte nicht lange. Mit der Schulter drückte er die Tür auf und betrat mit seinem Begleiter die Halle. »Das… das ist Hausfriedensbruch!« fauchte der Butler. »Ich werde…« »Falls Sie die Polizei rufen wollen, wir sind schon da«, zischte der Inspektor und zeigte kurz seine Dienstmarke. »Legen Sie ihm Handfesseln an, Lark!« George protestierte wütend. »Wo ist MacKillearn«, knurrte McAllister. Lark hatte George die Hände auf den Rücken gefesselt und beschäftigte sich mit seinem tragbaren Peilgerät, das mit dem Empfänger gekoppelt war. »Ich fange einige Impulse auf, Sir«, sagte er gespannt. »Sie kommen von einer der Türen da drüben.« »Sehen Sie nach, Lark«, sagte McAllister und dirigierte George 102 �
in den Salon, dessen Tür offen stand. Um sicherzugehen, schloß er den angeblichen Butler an dem soliden Kamingitter an und sah sich suchend im Raum um. Die Einrichtung wirkte keineswegs verdächtig. Hier kam er nicht weiter. Ohne auf das wütende Protestgeschrei Georges zu achten, lief er zurück in die Halle. In diesem Augenblick betrat der hinkende MacKillearn aus einer gegenüberliegenden Tür die Halle. »Was hat das zu bedeuten!« tobte er und stampfte wütend mit dem Stock auf. »Scotland Yard«, sagte der Inspektor. »Wo haben Sie Miß Dew und Miß Stanford sowie die anderen Mädchen versteckt? Vorwärts, wir haben wenig Zeit!« Ein hämisches Lächeln überzog das Gesicht des Schotten. »Ja, da war vor wenigen Stunden eine Miß Dew hier, die nach einer Miß Stanford suchte«, erwiderte er. »Aber sie ist wieder weggefahren. Ich habe schließlich kein Mädchenpensionat.« »So leicht bekommen Sie uns nicht von hier weg«, knurrte John McAllister. »Wir wissen, daß die Frauen hier sind!« »Dann suchen Sie doch nach ihnen«, höhnte MacKillearn boshaft. »Ich halte Sie nicht auf!« Lark hatte sich vor einer der Türen aufgebaut und bedeutete dem Inspektor, daß er etwas entdeckt habe. »Machen Sie die Tür da drüben auf!« wandte McAllister sich an den Hausherrn. »Da drin ist niemand!« sträubte sich der hakennasige Schotte. »Sprengen Sie die Tür, Lark«, befahl McAllister und ließ MacKillearn nicht aus den Augen. Sekunden später sprang die Tür auf. Verblüfft starrten sie auf die gewaltige, technische Einrichtung, die dieser Raum aufwies. Ein Schaltpult mit drei Fernsehmonitoren nahm die eine Wand ein. Lautsprecher und Mikrophone, 103 �
Tonbandgeräte, deren Spulen sich drehten und geheimnisvolle Stahlflaschen, von denen aus Kupferrohre in den Boden mündeten, vervollständigten die Einrichtung. »Treten Sie doch näher, Killearn«, forderte McAllister den Hausherrn auf. »Sie haben uns sicher einiges zu erklären.« Da MacKillearn zögerte, schob der Inspektor ihn einfach vor sich her. Lark stieß einen entsetzten Schrei aus, als er die Monitoren einschaltete und die TV-Bilder sich auf den Bildschirmen aktivierten. »Inspektor, sehen Sie nur…!« krächzte er. McAllister zerrte den Schotten hin über zum Bildschirm, damit er auf keine dummen Gedanken kam. »Eine Hexenmesse mit lauter nackten Mädchen und ein paar halbnackten Kerlen«, fuhr Sergeant Lark fort. »Da haben Sie sich ja ein hübsches Studio eingerichtet, Mister MacKillearn. Wo findet das Schlachtfest statt? Raus mit der Sprache!« MacKillearn gab sich noch nicht geschlagen. »Es ist weder eine Hexenmesse noch ein Schlachtfest«, erklärte er. »Ja, ich weiß«, winkte der Inspektor ungeduldig ab. »Der göttliche Guru von Ghadnipur hält Hof. Ihnen ist wohl nicht bewußt, daß Sie wegen Menschenraub und Mord dran sind.« »Menschenraub und Mord?« Der hinkende Dorian grinste siegessicher. »Das muß mir erst einer nachweisen. Ich habe dem Guru lediglich die Möglichkeit verschafft, seine Lehre zu verkünden und ihm und seinen Anhängern eine angemessene Stätte für ihre Übungen geschaffen.« Sergeant Lark hatte sich inzwischen mit der raffiniert konstruierten technischen Anlage befaßt. Ohne die Monitore aus den Augen zu lassen, hatte er das Sicherheitsventil einer der meter104 �
hohen Stahlzylinder geöffnet. Nebelartiger, betäubender Duft zischte aus der Düse. Lark drehte das Ventil rasch wieder zu. »Halluzinationsgas«, stellte der Inspektor sofort fest. »Drehen Sie alle Zuleitungen ab!« Auf dem Bildschirm sah er, wie der Nebel in der Höhle wich. Doch da unten schien es noch niemand aufgefallen zu sein. Und dann sah er Lorna, die mit angewidertem Gesicht in Richtung eines Steinblocks starrte, auf dem ein nacktes Mädchen lag. McAllister wußte, was das zu bedeuten hatte. Das Mädchen sollte den Opfertod erleiden. »So also werden Sie die überflüssigen Mädchen los«, knurrte er empört in MacKillearns Richtung. »Sobald Sie die vermögenden Frauen und Mädchen abkassiert haben, mit den betörenden Worten des Guru natürlich, werden Sie soweit gebracht, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, damit Sie Platz für Nachschub bekommen.« »Sie sind alle freiwillig gekommen«, ächzte Dorian MacKillearn. »Es ist ihre Angelegenheit, wenn sie…« Lark hatte den Lautsprecher aufgedreht. Die eunuchenhafte Stimme des Guru war zu vernehmen, dazwischen das helle Organ des opferwilligen Mädchens. McAllisters Blick fiel auf das eine Tonbandgerät, dessen Spulen langsam rotierten. Gleichzeitig beobachtete er den Bildschirm. Dort spitzte sich die Situation bedrohlich zu. Der kahlgeschorene Bursche stand hinter dem Opfer und wollte zustoßen. Dann sah er zu seinem Entsetzen, daß Lorna aufsprang. Ihre Stimme tönte aus dem Empfangsgerät, das Lark an einem Riemen über der Schulter trug. »Nein… bringt sie nicht um, ihr Mörder!« Für Sekunden herrschte irgendwo in der Tiefe tödliches 105 �
Schweigen. Dann brach höllischer Lärm los. John McAllister erfaßte für einen Augenblick MacKillearns hämisch grinsendes Gesicht. »Rufen Sie Lorna!« wandte er sich an Lark. Er schaltete das Tonbandgerät ab, und griff nach dem Mikrofon, das mit dem Recorder gekoppelt war. Dann gab er volle Lautstärke. Lark war seinerseits damit beschäftigt, Lorna über sein Gerät zu erreichen. Doch der Lärm übertönte alles. Dann hatte der Yard-Mann einen Einfall, der entscheidend in das Geschehen eingriff. * Inspektor Whittle und Korporal Boyd umrundeten mit dem Spezialfahrzeug das Gelände um Devils Lodge. Boyd hatte die beiden Richtmikrofone in Winkelposition gebracht. Mit Infrarot-Gläsern durchdrangen sie das Dunkel und erkannten jede Einzelheit im Umkreis von einer Meile. Der Wagen kroch über Hügel, durchquerte einen flachen Bach und rumpelte dann durch ein niedriges Tal. »Halten Sie kurz an, Sir«, stieß der Korporal hervor. »Ich sehe da drüben bei dem Hügel hinter den Büschen eine Bewegung.« Whittle stoppte und starrte in die angegebene Richtung. »Sie haben recht, Boyd«, knurrte er. »Da kriecht jemand herum.« Der Inspektor ließ den geländegängigen Wagen vorrollen. Ein Hügel erhob sich vor ihnen. Büsche säumten den Fuß des Hügels. »Mir fällt’s wie Schuppen von den Augen«, stöhnte Whittle plötzlich auf. »Daß ich nicht früher darauf gekommen bin.« »Auf was, Sir?« 106 �
»Noch nie etwas von den Höhlen von Balmoral gehört?« stieß er hervor. »Sie wurden seinerzeit von den Römern entdeckt, gerieten aber im Lauf der Jahrhunderte in Vergessenheit. Das Höhlensystem zieht sich von Balmoral bis hier herüber. Noch bevor man Balmoral Castle baute, gab es mal ein kleines Erdbeben, bei dem die Höhleneingänge verschüttet wurden.« »Und unser Freund MacKillearn hat ein Loch entdeckt, das in die Unterwelt führt?« brummte Boyd. »Nur so kann es sein.« Whittle trat auf die Bremse und stellte den Motor ab. »Wir nehmen Pistolen, Tränengas und Stablampen mit, Boyd. In diesem Fall haben wir Schießerlaubnis.« Zwei Minuten später bewegten sie sich auf die Buschkette zu. Sie sahen zwar keine Bewegung mehr dahinter, aber ihnen war auch klar, daß man sie entdeckt haben mußte. Vor den Büschen blieben sie stehen. »Polizei!« rief der Inspektor. »Ergeben Sie sich und kommen Sie mit erhobenen Armen heraus!« Nichts rührte sich. Sie schalteten die Stablampen an. Der grelle Strahl fraß sich durch die Büsche, und dann sahen sie den Höhleneingang. »Vorsichtig, Boyd«, warnte Whittle den Korporal, der mit einem Satz durch die Büsche brechen wollte. Seine Warnung kam rechtzeitig. Aus dem Dunkeln flog ein Wurfmesser auf sie zu und streifte Boyds Schulter. Erst jetzt gingen die beiden Beamten zum Angriff über. Mit ein paar Sätzen waren sie am Höhleneingang. Wenige Meter vor ihnen tauchte die Gestalt eines schlitzäugigen, kahlgeschorenen Mannes auf, der mit gezücktem Dolch sprungbereit auf sie wartete. »Laß das Messer fallen!« befahl Whittle und richtete den Revolver auf den Gegner. Keine Reaktion… 107 �
»Der versteht unsere Sprache nicht«, zischte Boyd. Langsam gingen sie auf den Halbnackten zu. Whittle hob die Waffe und zielte sorgfältig auf die Messerhand. In dem Augenblick, in dem der Asiate zum Wurf ausholte, drückte der Inspektor ab. Der Gegner schrie auf, als die Kugel sein Handgelenk durchschlug und das Wurfmesser klirrend auf den felsigen Boden fiel. Mit einem Satz war Boyd über dem anderen und verpaßte ihm einen gezielten Kinnhaken, der den Burschen ins Reich der Träume schickte. »Gut gemacht, Boyd«, lobte der Inspektor, während sie über den Bewußtlosen hinwegstiegen. »Wird auch Zeit, daß Sie meine Qualitäten schätzenlernen, Sir«, knurrte der Korporal trocken. Sie leuchteten den bergabführenden Stollen sorgfältig ab, um keine bösen Überraschungen zu erleben. Je tiefer sie kamen, desto deutlicher vernahmen sie die seltsamen Geräusche aus der Unterwelt. »Wenn Sie nicht bei mir wären, bekäme ich direkt Angst«, brummte Boyd. »Deshalb bin ich ja auch mitgekommen«, flaxte Whittle. Immer tiefer führte der Stollen, der Lärm wurde deutlicher und infernalischer. Als sich die weite Höhle vor ihnen öffnete, glaubten sie im ersten Augenblick, in den Vorraum der Hölle geraten zu sein. Und dann vernahmen Sie eine Stimme, die ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. * Lorna Dew war klar, daß ihr Leben keinen Penny mehr wert war. Gegen die vier muskulösen Asiaten kam sie nicht an. 108 �
Die nackten Mädchen schrien wie irr und wollten sich ebenfalls auf sie stürzen. Das Mädchen, das auf dem gelben Opferstein den tödlichen Stoß erwartete, um ins Paradies zu gelangen, hatte sich aufgerichtet und starrte verstört auf das Geschehen. Dann brach sie in hysterisches Heulen aus. In diesem Augenblick schob Kona sich in den Vordergrund und baute sich vor Lorna auf. In ihren dunklen Augen flackerte ungebändigte Wut. »Verräterin!« zischte sie Lorna an. Unvermittelt trat tödliche Stille ein. »Verräterin?« gab Lorna kühl zurück. »Es war die höchste Zeit, daß man euch euer Handwerk legt! Göttlicher Guru, wenn ich das schon höre! Hokuspokus wäre besser… Warum sagt er denn nichts, euer mächtiger, fetter Moloch? Hat’s ihm die Sprache verschlagen?« »Schweig!« fauchte Kona und zitterte am ganzen Körper. »Ich lasse dich vernichten! Du bist nicht wert…« Eine leise männliche Stimme, die aus Lornas Richtung kam, ließ Kona verwirrt verstummen. »Lorna, hören Sie mich? Bitte melden!« Mit einer raschen Bewegung zerstörte Lorna Dew ihre hochgesteckte Frisur und zerrte ein kleines Funksprechgerät aus den Locken. »Wird Zeit, daß ihr euch meldet!« rief sie zurück. Kona erstarrte. Die vier messerbewehrten Asiaten standen unschlüssig herum und wußten nicht mehr, wie sie sich verhalten sollten. Gloria und Carla hatten als erste die Lage erfaßt und hasteten auf Lorna zu, die ein zweites kleines Gerät aus ihrer Frisur zerrte. Es war eine daumendicke, zehn Zentimeter lange Aluröhre, an deren Ende eine Drucktaste eingelassen war. Lorna wollte die Düse gerade auf Kona richten, dann hallte 109 �
eine tiefe Stimme durch die Höhle. »Der Guru hat versagt!« verkündete sie, die von überall her zu kommen schien. »Er ist nicht mehr euer mächtiger Gott. Ich bin der Herrscher, der Meister aller Gurus. Werft euch zu Boden, Schwestern! Bald werde ich erscheinen und verlange eure Huldigung.« Kona starrte verwirrt um sich, als sie sah, wie die meisten sich auf den Boden warfen und vor sich hin wimmerten. Keifend fuhr Kona herum und starrte auf den Guru, der in seinem Sessel langsam in sich zusammensank und sichtlich schrumpfte. Lorna hatte als erste die Situation erfaßt. »Seht, der Moloch zieht es vor, sich in Nichts aufzulösen«, schrie sie. »Es hat ihn nie gegeben, den Guru von Ghadnipur! Ihr seid einer Halluzination zum Opfer gefallen! Man hat euch hypnotisiert, mit geheimnisvollen Drogen vollgepumpt und in die Irre geführt!« Lorna riß den Kopf herum, als sie die Schritte von zwei Männern hörte. Sie atmete erleichtert auf, denn sie erkannte Inspektor Whittle und den Korporal. Kona gab ihr Spiel noch nicht verloren. »Schwestern!« schrie sie mit sich überschlagender Stimme. »Hört nicht auf die Ketzerin! Sie ist eine Lügnerin aus der anderen Welt, die unser glückliches Reich vernichten will.« Inzwischen hatten die beiden Beamten die Gruppe vor dem Opfertisch erreicht. Wieder ertönte die tiefe Stimme aus dem Nichts. »Ich verlange Ruhe, bis ich erscheine!« Ein helles Geräusch war irgendwo im Hintergrund zu hören. Die Novizinnen des Guru verharrten in ihrer Hypnose folgsam und murmelten irre Worte vor sich hin. 110 �
Das singende Geräusch brach ab. Dort, wo der Thron stand, ertönte ein weiteres Geräusch. Von dem Guru, dem fetten Moloch, war nur noch eine geschrumpfte leere Hülle zu sehen. Die Wand hinter dem Thronsessel teilte sich und ein hochgewachsener, durchtrainierter Mann erschien auf der Bildfläche: Inspektor John McAllister. Kona stieß bei seinem Anblick einen hysterischen Schrei aus und wälzte sich wimmernd am Boden. In diesem Augenblick stürzten sich Whittle und Boyd auf die erstarrten Wächter und machten sie kampfunfähig. Mit einem Seufzer der Erleichterung stürmte Lorna auf die Empore und hastete auf McAllister zu. Ihr kam gar nicht zu Bewußtsein, daß sie völlig nackt war. »Gut gemacht, Sergeant O’Connors«, lobte der Yard-Mann seine Assistentin. »Ich glaube, wir haben die Sache im Griff.« Gloria und Carla, die Lorna gefolgt waren, starrten sie verblüfft an. »Sergeant?« murmelte Gloria. »Meine angebliche Sekretärin ist von der Polizei? Himmel, wie habt ihr das nur geschafft?« »Das erklären wir Ihnen später«, sagte McAllister und blickte auf die Reste des Molochs. »Es war weder ein Gott noch ein Geist und kein Mensch. Er war lediglich eine aufgeblasene Hülle, die von gewissenlosen Halunken ferngesteuert wurde.« »MacKillearn?« fragte Gloria Stanford. Der Inspektor nickte. »Ja, er zog an den Fäden dieser unwirklichen Welt«, erwiderte er ernst. »Er baute diese Welt auf, schickte seine sogenannten Priester und Priesterinnen in die Städte und ließ dort die Lehre des Guru verbreiten. MacKillearn war lange in Indien und hat sich mit den mystischen Religionen befaßt. Er kannte sich aus in Telepathie, in Halluzinationsdrogen und Rauschgiften, mit de111 �
nen er seine ahnungslosen Opfer in seine Gewalt brachte.« Die verwirrten Gestalten unter ihnen lauschten verständnislos den Worten des Inspektors, den sie in diesen Minuten noch für den Herrscher des Jenseits hielten. »Warum aber brachte er mich in seine Gewalt?« fragte Gloria Stanford fassungslos. »Es fanden sich immer weniger vermögende Opfer, die ihm und seinen Verkündern auf den Leim krochen«, erklärte John McAllister. »Deshalb verfiel er auf den Trick mit dem Gemäldeverkauf. Sobald er jemand wie Sie an der Angel hatte, indem er einen Makler vorschob, zog er Erkundigungen ein, um sicherzugehen, daß sein Opfer keine Angehörigen hatte. Das war bei Ihnen leider der Fall, Miß Stanford.« »Ich verstehe«, murmelte Gloria. »Und da kamen Sie auf die Idee, meine Sekretärin in die Unterwelt zu schicken.« Sie blickte Sergeant Gaby O’Connors dankbar an. »Das werde ich Ihnen nie vergessen!« »Danken Sie meinem Chef«, meinte Gaby O’Connors bescheiden. »Und danken Sie auch den Leuten in Crathle! Ohne die Gerüchte, die sie verbreiteten, hätte es noch eine Weile gedauert, bis man Sie gefunden hätte.« »Vergessen wir nicht das Mädchen, dem die Flucht aus dem Reich des Molochs zwar gelang, das aber trotzdem sterben mußte«, erinnerte McAllister. »Sie gab mir den wichtigsten Hinweis auf den Guru!« Er wandte sich an Inspektor Whittle und die beiden Spezialisten. »Bleiben Sie hier unten und sorgen Sie dafür, daß keine Panik ausbricht«, sagte er. »Ich fordere umgehend Verstärkung, Ärzte und Fahrzeuge an. Ich möchte nur noch ein Schlußwort mit dem hinkenden Dorian wechseln.« Mit den drei Mädchen betrat McAllister einen raffiniert getarn112 �
ten Lift, der sie direkt in die Schaltzentrale des Schotten führte. Sergeant O’Connors blickte sich erstaunt um. »Man muß mich ganz schön betäubt haben«, stellte er fest. »Ich kann mich nur noch daran erinnern, daß ich zuletzt im Gästezimmer war, bevor mir der Moloch im Nebel erschien.« »Man schleppte sie hierher und verfrachtete sie in den Lift«, erklärte der Yard-Mann. »Mittels ferngesteuerter Projektoren, deren Zerrbilder auf die wallenden Nebel geworfen wurden, hat man allen, auch Ihnen, die Erscheinung des geisterhaften Guru vorgezaubert. Halluzinations- und Betäubungsgase vervollständigten den Zauber.« »Aber der fette Moloch lebte doch?« sagte Carla Preston. »So kam es allen da unten jedenfalls vor«, erwiderte John McAllister. »Eine raffinierte ferngesteuerte Technik belebte das Wesen, dessen eunuchenhafte Stimme über Tonband abgespielt wurde.« »Welche Rolle spielte Kona?« murmelte Gloria. »Sie war MacKillearns rechte Hand«, fuhr der Inspektor sachlich fort. »Sie ist perfekt in Hypnose. Konas telepathische Kräfte reichten aus, die Opfer dahin zu führen, wohin sie sie haben wollten.« »Dank Carla hat sie es bei mir nicht geschafft«, fiel Gloria Stanford ein. »Aber was ist mit den Papieren, die ich unterschrieb.« McAllister lächelte. »Sie verschrieben MacKillearn ihr gesamtes Vermögen und ließen ihr Geld auf ein Schweizer Konto überweisen«, antwortete er. »Ich muß schön benommen gewesen sein, als ich das tat«, murmelte Gloria entsetzt. »Dann bin ich also doch eine Besitzlose, wie der Moloch uns einreden wollte.« »Wir haben nicht geschlafen und alles verhindern können«, sagte McAllister bescheiden. 113 �
»Wie wäre es, wenn wir uns auf die Suche nach unseren Kleidern machten?« schlug Gaby O’Connors vor. »Wird Zeit, daß wir uns wieder wie irdische Wesen aufführen.« Sie verließen die Zentrale, und Inspektor McAllister half den Mädchen bei der Suche nach ihrer Kleidung. Dorian MacKillearn saß gefesselt und zusammengesunken in seinem Sessel. Er starrte den Inspektor giftig an, als der Mann vom Yard den Salon betrat. »Ihr Reich ist zusammengebrochen«, sagte McAllister ohne Triumph in der Stimme. »Den Rest überlasse ich dem Richter.« »Ich habe nichts mit dem zu tun, was in der Unterwelt geschah«, versuchte er sich herauszureden. »Ich tat nur, was ein außerirdisches Wesen mir befahl.« John McAllister grinste. »Machen Sie das den Geschworenen klar«, meinte er. »Im übrigen paßt sogar Ihr Name zu Ihnen. MacKillearn – töten und verdienen! Schon mal daran gedacht?« * Eine Stunde später wimmelte es draußen vor Devils Lodge von Fahrzeugen und Helfern, die den bedauernswerten Opfern in den Höhlen des Molochs von Balmoral zu Hilfe kamen. Gemeinsam mit den drei Frauen, die ihre Kleidung in einem abgelegenen Zimmer des Gebäudes gefunden hatten, stieg der Inspektor in einen Dienstwagen. Der Tag war angebrochen, und die Sonne ging hinter den fernen Bergen auf. »Ist das schön, wieder auf der Welt zu sein«, sagte Carla Preston seufzend. »Über acht Monate habe ich keine Sonne mehr gesehen.« McAllister fuhr an und steuerte in Richtung Crathle. 114 �
»Ladies«, wandte er sich an seine Begleiterinnen. »Was halten Sie davon, wenn wir die Leute in Crathle überzeugen würden, daß das Feuer in ihrer Gerüchteküche endgültig erloschen ist?« »Ein gutes englisches Frühstück wäre mir lieber, Inspektor«, meinte Carla Preston sehr realistisch. »Verbinden wir das Angenehme mit dem Nützlichen«, erwiderte John McAllister. Er war froh, seinen Job zu einem guten Ende geführt zu haben. ENDE
Silber-Grusel-Krimi Nr. 77:
Leichenvögel � Mrs. Mallory wohnt in einem uralten Haus in der Nähe eines abgelegenen Friedhofes, der schon seit Jahren nicht mehr benutzt wird. Aber das ist ein Irrtum… Die Frau soll eine Hexe sein und Menschen in wilde Tiere verwandeln können. Inspektor Twister, der das Schicksal eines ortsfremden Vertreters klären will, spricht mit Mrs. Mallory, glaubt aber den Unsinn nicht. Das ist der zweite Irrtum… Seit dem Tod von Mr. Mallory hat man angeblich in der Nähe des alten Hauses einen großen Vogel gesehen, der sein Versteck irgendwo auf dem Friedhof hat. Merkwürdig, daß nach dem Verschwinden von Inspektor Twister und des Vertreters plötzlich drei unheimliche Vögel die Bewohner des kleinen Ortes in Atem halten… Larry Brent und Morna Ulbrandson nehmen sich der Sache 115 �
an und werden von geheimnisumwitterten Leichenvögeln gejagt! Dan Shocker läßt Sie fühlen, was es heißt, einen Grusel-Krimi aus seiner Feder zu lesen. Mit diesem Roman lernen Sie ihn von einer ganz neuen Seite kennen!
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