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HEYNE-BUCH Nr. 3313 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der amerikanischen Originalausgabe THE HUMAN ANGLE Deutsche Übersetzung von Gretl Friedmann Redaktion und Lektorat Günter M. Schelwokat Copyright © 1956 by William Tenn Copyright © 1972 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1972 Umschlagentwurf: Atelier Frank & Zaugg, Wabern/BE, Schweiz Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
Scan & K-Lesen: WS64
INHALT
Unternehmen Pst (PROJECT HUSH)
Grüße aus dem Jahr 2487 (THE DISCOVERY OF MORNIEL MATHAWAY)
Mittwochs Kind (WEDNESDAY’S CHILD)
Das Dienerproblem (THE SERVANT PROBLEM)
Der Zweigeteilte (PARTY OF THE TWO PARTS)
Das flachäugige Ungeheuer (THE FLAT-EYED MONSTER)
Der menschliche Standpunkt (THE HUMAN ANGLE)
Ein Mann mit Familie (A MAN OF FAMILY)
2 William Tenn – Der menschliche Standpunkt
Unternehmen Pst Geheim? Freundchen, wir waren so geheim, daß wir kaum noch existierten. Wissen Sie, unter welchem offiziellen Namen wir in den Armeeunterlagen geführt wurden? Unternehmen Pst! Den Rest können Sie sich denken. Oder, genauer betrachtet, Sie werden es nicht können. Natürlich erinnert sich noch heute ein jeder an die schreckliche Spionageangst, von der unser Land Ende der sechziger Jahre geschüttelt wurde. Damals wurde jeder Beamte – wir wollen ihn Meier nennen –, von einem Müller bewacht, der seinerseits wieder von einem Huber kontrolliert wurde. Worin die Aufgabe des Meier bestand, wußte der Huber natürlich nicht, denn auch einem Mann der Abwehr vertraute man nicht unbegrenzt. Aber richtig begreift man erst, was Abwehr heißt, wenn man an einem streng geheimen Militärprojekt arbeitet. Wo man sich mehrmals wöchentlich zwecks TD und HA beim Klapsdoktor melden muß (Traumdeutung und Hypno-Analyse für euch unbeschwerte Zivilisten). Wo selbst der kommandierende General des schwerstbewachten Forschungslabors vors Kriegsgericht zitiert wird, wenn er sich erfrecht zu fragen, was, in drei Teufels Namen, man denn eigentlich den ganzen lieben Tag treibt. Und wo er bei jedem Knallen einer Explosion seine Fantasie rigoros abdrehen muß wie einen Wasserhahn. Und wo ein Projekt nicht mal namentlich im Heeresbudget aufscheint, sondern sich unter der schlichten Bezeichnung Diverse Versuche verbirgt. Dabei schwellen die Zuwendungen unter diesem Titel jährlich stärker an wie ein wildgewordener Schneeball mit Lawinenambitionen. Und wo… Na ja, vielleicht erinnern Sie sich doch noch. Wie gesagt, wir hießen jedenfalls ›Unternehmen Pst‹. Unsere Aufgabe bestand nicht nur darin, den Mond anzufliegen und dort eine Dauerstation zu errichten, die zu Beginn mit zwei Mann besetzt werden sollte. Das war uns an jenem beinahe
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schon historisch gewordenen 24. Juni 1967 soeben gelungen. In jenen Tagen des hektischen Wettlaufes um die wirksamsten Vernichtungswaffen, als die Angst vor der Atombombe das Volk zu einem zähflüssigen Konglomerat der Hysterie aufpeitschte, ging es vor allem darum, als erster auf dem Mond zu landen und ohne daß ein anderer davon erfuhr. Wir waren am nördlichen Zipfel des Mare Nubium gelandet, gleich hinter Regiomontanus. Nachdem wir mit einer geziemend ergreifenden Feier eine Fahne gehißt hatten, wandten wir uns dem praktischen Teil unserer Aufgaben zu, den wir sozusagen im Trockenschwimmkurs auf Erden geübt hatten. Major Monroe Gridley machte die Rakete startklar, in der er allein den Rückflug zur Erde antreten sollte. Oberstleutnant Thomas Hawthorne untersuchte unsere Vorräte und tragbaren Unterkünfte gewissenhaft auf Schäden, die eventuell bei der Landung entstanden waren. Und ich, Oberst Benjamin Rice, Erster Befehlshabender Offizier des Militärstützpunktes Nr. 1 auf dem Mond, schleppte auf meinem schmerzenden Akademikerrücken eine schwere Kiste nach der anderen aus dem Raumschiff und stapelte sie etwa zweihundert Fuß vom Raumschiff entfernt auf. An dieser Stelle sollte der Plastikiglu entstehen. Programmgemäß waren wir alle ungefähr gleichzeitig fertig und nahmen Stufe zwei in Angriff. Monroe und ich begannen, den Iglu zu bauen. Er bestand zwar aus Fertigteilen, war jedoch so groß, daß wir uns lange Zeit mit dem Zusammensetzen plagten. Schließlich aber stand er doch. Nun wurde es noch mühsamer: Wir mußten die komplizierten Apparaturen einbauen und betriebsfertig machen. Tom Hawthorne verstaute seine beleibte Person inzwischen in der Ein-Mann-Rakete, die uns bis dahin als Rettungsboot gedient hatte. Er war unser Aufklärer und sollte etwa drei Stunden lang in
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immer weiteren Bogen um unseren Iglu kreisen. Die Bodenstationen hatten diese Aufklärungstätigkeit zwar als Verschwendung von Zeit, Treibstoff und Arbeitskraft angesehen, aber die Sicherheitsmaßnahme stand nun mal auf dem Programm. Wir rieten ihm, sich nach triefäugigen Ungeheuern umzusehen, die eventuell in der Mondlandschaft lustwandelten. Im Grund jedoch sollte der Rundflug geologische und astronomische Ausbeuten erbringen, über die Monroe bei seiner Rückkehr der Bodenstation berichten sollte. Nach vierzig Minuten war Tom wieder da. Sein pausbäckiges Gesicht schimmerte weiß wie ein Fischbauch aus seinem durchsichtigen Kugelhelm. Als wir wußten, was er gesehen hatte, waren wir genauso käsig wie er. Er hatte einen anderen Iglu gesehen! »Hinter dem Mare Nubium – im Riphagebirge!« schnatterte er aufgeregt. »Er ist etwas größer als unserer und oben stärker abgeflacht. Und er ist auch nicht durchsichtig mit vereinzelten Farbflecken, sondern von einfarbigem, stumpfem Grau. Mehr war nicht zu sehen.« »Keinerlei Kennzeichnung?« fragte ich verstört. »Und niemand – oder nichts – in der Nähe des Iglus?« »Weder noch, Colonel.« Mir fiel auf, daß er mich zum ersten Mal seit Beginn der Reise mit meinem Titel anredete. In schlichtes Deutsch übersetzt hieß das ungefähr: »Mensch, du hast vielleicht eine Entscheidung zu treffen!« »Eine regelmäßig geformte Bodenerhebung könnte es nicht sein, wie?« mischte Monroe sich ein. »Ich bin Geologe, Monroe. Ich kenne den Unterschied zwischen künstlerischer und natürlicher Topographie. Außerdem -« Er blickte auf. »Da fällt mir eben ein, daß ich etwas ausgelassen habe. Neben dem Iglu war ein ganz frischer winziger Krater. Von der Art, wie sie durch Raketenauspuff entstehen.« Darauf stürzte ich mich sofort. »Raketen, hm?«
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Tom grinste beinahe mitleidig. »Raumschiffauspuff, hätte ich sagen sollen. Aber der Krater läßt keinen Schluß darauf zu, welche Antriebsart diese Typen verwenden. Jedenfalls sieht er anders aus als die Krater unserer Heckdüsen, falls Ihnen das etwas hilft.« Das half mir natürlich gar nichts. Wir zogen uns also in unser Raumschiff zurück und hielten Kriegsrat. Todernsten sogar. In jedem zweiten Satz titulierten Tom und Monroe mich als Colonel. Ich hingegen verwendete beharrlich und so oft wie möglich ihre Vornamen. Trotzdem lag die Entscheidung einzig und allein bei mir. Ober unsere nächsten Maßnahmen meine ich. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte ich schließlich. »Entweder wissen sie von unserer Anwesenheit, weil sie uns vor zwei Stunden landen sahen oder weil sie Toms Aufklärer beobachtet haben – oder sie wissen es nicht. Entweder sind es Menschen von unserer guten alten Erde – in diesem Fall handelt es sich höchstwahrscheinlich um feindliche Ausländer – oder aber es sind unbekannte Wesen von einem anderen Stern. Die können uns freundlich, feindlich oder weiß der Teufel wie gegenüberstehen. Meiner Meinung nach verpflichtet uns der gesunde Menschenverstand und militärisches Denken, sie als Feinde zu betrachten, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist. Inzwischen ist äußerste Vorsicht geboten. Ein interplanetarischer Krieg mit eventuell harmlosen Marsbewohnern, oder wer sie auch sein mögen, fehlte uns gerade noch. Schön. Unser Hauptquartier muß sofort verständigt werden. Nachdem aber eine Funkverbindung vom Mond zur Erde erst auf dem Reißbrett existiert, bleibt uns nichts anderes übrig, als Monroe mit dem Raumschiff zurückzuschicken. In diesem Fall riskieren wir, daß unsere Besatzungstruppe, nämlich Tom und ich, in Gefangenschaft geraten, während Monroe noch unterwegs ist. Geschieht das, so fallen wichtige Informationen über unsere Mannschaft und Geräte in ihre Hände, während wir selbst nichts weiter wissen, als daß auf dem Mond ein Stützpunkt unbekann-
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ter Herkunft vorhanden ist. Logische Schlußfolgerung: Wir müssen mehr über unsere Nachbarn erfahren. Ich schlage daher vor, ich bleibe mit dem Sprechgerät im Iglu zurück. Tom hingegen setzt sich ins Raumschiff und hält die Hand am Drücker, damit er sofort zur Erde rauschen kann, wenn ich ihm den Befehl dazu erteile. Monroe fliegt im Einsitzer zu den Riphabergen und landet so nahe beim anderen Iglu, wie er es für ratsam hält. Den Rest des Weges legt er dann zu. Fuß zurück. Ich erwarte von ihm die beste Anpirschung, die mit einem Mondanzug zu vereinbaren ist. Sein Sprechgerät benützt er nur, um mir mit vorher vereinbarten, scheinbar sinnlosen Silben zuerst die Landung seines Einsitzers zu melden, dann, daß er sich nun zu Fuß dem Iglu nähert und notfalls, daß ich Tom das Startzeichen geben soll. Was ist die oberste Pflicht eines Aufklärers, der in Gefangenschaft gerät? Kenntnisse über den Feind zu erlangen und weiterzugeben. In diesem Falle wird er also sein Sprechgerät auf volle Lautstärke stellen und das meiste an Informationen durchgeben, was die Zeit und das Reaktionsvermögen des Feindes erlauben. Was haltet ihr davon?« Beide nickten. Sie waren ja schließlich auch nur Befehlsempfänger. Ich hingegen dampfte unter einer zentimeterdicken Schweißschicht. »Eine Frage«, meldete sich Tom. »Warum soll Monroe der Aufklärer sein?« »Diese Frage hatte ich befürchtet«, antwortete ich. »Wir drei sind die unsportlichsten Akademiker, die man sich denken kann und dienen seit Abschluß unserer Studien in der Armee. Die Auswahl ist also eher kläglich. Dann fiel mir ein, daß Monroe ein halber Indianer ist – ein Arapahoe, hab’ ich recht, Monroe? Ich kann nur hoffen, daß die Jagdinstinkte seiner Vorfahren in ihm erwachen werden.« »Die Sache hat bloß einen Schönheitsfehler, Colonel«, sagte Monroe gedehnt und stand auf. »Ich bin nur ein Viertel Indianer
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und selbst dieses Viertel… Habe ich Ihnen schon erzählt, daß mein Urgroßvater der einzige Arapahoe-Fährtenleser war, der Custer zum Little Big Horn begleitete? Er war überzeugt, Sitting Bull sei meilenweit entfernt. Jedenfalls will ich mein Bestes tun. Und sollte mich der Heldentod ereilen, dann haben Sie die Freundlichkeit, meinen Namen aus den Geschichtsbüchern tilgen zu lassen. Diesen Dienst zumindest sind Sie mir schuldig.« Das versprach ich ihm natürlich. Nachdem er aufgebrochen war, blieb ich mit dem Sprechgerät im Iglu zurück. Ich machte mir die schwersten Vorwürfe, Monroe diese Aufgabe zugeschanzt zu haben. Aber ich hätte die gleichen Gewissensbisse gehabt, wenn ich Tom geschickt hätte. Und wenn etwas schiefging und ich Tom das Signal zum Abflug geben mußte, blieb ich höchstwahrscheinlich mutterseelenallein im Iglu zurück und konnte nichts anderes tun als warten. »Broz negglel« tönte Monroes Stimme aus dem Sprechgerät. Er war gelandet. Ich wagte nicht, per Funk mit Tom zu quatschen, der im Raumschiff saß. Sonst hätte ich am Ende noch eine wichtige Mitteilung unseres Aufklärers überhört. Ich hockte also mit angehaltenem Atem da und strengte meine Ohren an. Nach einer Weile hörte ich ganz deutlich »Mishgashu!« Das hieß, daß sich Monroe in der Nähe des anderen Iglus befand und sich im Schütze der mehr oder minder vorhandenen Felsblöcke näherte. Und dann hörte ich Monroe plötzlich ganz laut meinen Namen schreien, und es krachte fürchterlich in meinen Kopfhörern. Störung! Es hatte ihn erwischt! Und der Feind hatte gleichzeitig Monroes Funkgerät mit einem kräftigeren Sender des Iglus außer Betrieb gesetzt. Dann herrschte Stille. Nach einer Weile sagte ich Tom, was geschehen war. »Armer Monroe«, meinte er bloß. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er dabei aussah.
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»Hören Sie, Tom, wenn Sie jetzt starten, können Sie noch immer keine Meldungen zur Erde mitnehmen. Die Wesen im anderen Iglu werden uns jetzt sicher suchen. Ich werde sie ganz nahe herankommen lassen, damit ich wenigstens weiß, wie sie aussehen und ob wir es überhaupt mit Menschen zu tun haben. Jede kleinste Kleinigkeit, die wir ermitteln können, ist jetzt wichtig. Ich werde Ihnen meine Beobachtungen zurufen. Dann haben Sie noch immer genug Zeit zum Starten. Einverstanden?« »Sie sind der Boß, Colonel«, antwortete er mit Grabesstimme. »Viel Glück!« Und dann konnte ich nur abwarten. Der Iglu war noch ohne Sauerstoffversorgung, also mußte ich mir aus der Verpflegungstasche meines Raumanzuges ein flüssiges Sandwich herausquetschen. Ich saß da und dachte über die Expedition nach. Neun Jahre strengster Geheimhaltung, astronomische Kosten und unermüdliche Forschung – und nun waren wir am Ende. Da saß ich nun und wartete darauf, vom Todesstrahl einer unvorstellbaren Waffe ausgelöscht zu werden. Ich begriff Monroes letzte Bitte. Wir hatten oft das Gefühl, derart geheim zu sein, daß unsere unmittelbaren Vorgesetzten am liebsten vor uns selbst verheimlicht hätten, woran wir arbeiteten. Aber auch Wissenschaftler sind nur Menschen und sehnen sich genau wie alle anderen nach ein bißchen Anerkennung. Ich hatte gehofft, mit diesem Vorstoß zum Mond in die Geschichte einzugehen, aber es sah gar nicht danach aus. Zwei Stunden später landete der Einsitzer vor unserem Iglu. Ich stand in der offenen Tür, sah Monroe aus der Ein-MannRakete klettern und auf mich zukommen. Sofort versetzte ich Tom in Alarmbereitschaft und befahl ihm, aufmerksam zuzuhören. »Vielleicht handelt es sich um eine List – oder er steht unter Drogeneinfluß.« Nach einem Drogenrausch sah er aber eigentlich nicht aus. Er drängte sich an mir vorbei und setzte sich neben dem Iglu auf eine Kiste. Dann legte er die in Stiefeln steckenden Füße auf eine
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zweite kleinere Kiste. »Wie geht’s, Ben?« fragte er. »Was tut sich so rundum?« Ich brummte: »Nun?« Meine Stimme war nicht ganz fest. Er spielte den Erstaunten. »Was, nun? Ach so, verstehe. Der andere Iglu. Sie möchten wohl wissen, wer sich dort aufhält, wie? Ich kann Ihnen Ihre Neugier nachfühlen, Ben. Und wie! Der Kommandant einer streng geheimen Expedition wie dieser – Unternehmen Pst nennt man uns, Ben, wie? – findet auf dem Mond einen anderen Iglu vor. Da er sich für den ersten Menschen auf dem Mond hält, möchte er natürlich gerne wissen…« »Major Monroe Gridley!« brüllte ich ihn an. »Ich verlange, daß Sie Haltung annehmen und Meldung erstatten. Auf der Stelle!« Mir schwollen die Nackenmuskeln unter meinem Helm an. Monroe aber stützte bloß den Rücken an den Iglu. »Ja, ja, so verlangt es die Armee«, sagte er voll Bewunderung. »Wie sagen doch die Rekruten? Du kannst eine Sache richtig machen, falsch machen oder so, wie es die Armee verlangt. Bloß gibt es auch noch andere Möglichkeiten.« Er lachte stillvergnügt. »Und sehr viele sogar.« »Er spinnt«, hörte ich Tom durchs Telefon flüstern. »Ben, Monroe hat den Verstand verloren.« »Im anderen Iglu hausen keine außerirdischen Wesen, Ben«, verkündete Monroe plötzlich zugänglich. »Nein, nein, es sind auch Menschen. Von unserer lieben Mutter Erde. Raten Sie, von wo.« »Ich bringe Sie um«, warnte ich ihn. »Ich schwöre, daß ich Sie umbringe, Monroe. Von wo kommen sie – aus Rußland, China, Argentinien?« Er schnitt eine Grimasse. »Was können diese Länder schon groß geheimhalten? Weiter! Versuchen Sie’s noch mal.« Ich riß die Augen auf und sah ihn fest an. »Dann bliebe nur mehr…«
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»Klar«, sagte er. »Gewonnen, Colonel. Der andere Iglu gehört der Marine. Der lieben Marine unserer Vereinigten Staaten!«
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Grüße aus dem Jahr 2487 Jeder staunt, wie sich Morniel Mathaway seit seiner Entdeckung verändert hat. Nur ich staunte nicht darüber. Die Leute erinnern sich an ihn als ungewaschenen und unbegabten Maler aus dem Greenwich Village, der beinahe jeden zweiten Satz mit »Ich« begann und jeden dritten mit »mir« beendete. Er besaß jene aufdringliche, halb ängstliche Überheblichkeit eines Menschen, der insgeheim selbst keine hohe Meinung von sich hat. Nach einem halbstündigen Gespräch mit ihm gellten einem die Ohren von seinem prahlerischen Geschrei. Ich begreife seine Wandlung, seine leise abwehrende Bescheidenheit und seinen schlagartigen überwältigenden Erfolg. Aber schließlich war ich auch dabei, als er ›entdeckt‹ wurde. Das heißt, ›entdeckt‹ ist wohl nicht das passende Wort dafür. Ehrlich gesagt, wüßte ich keine treffende Formulierung, wenn man bedenkt, wie unmöglich – ganz richtig, ich sagte unmöglich und nicht unwahrscheinlich – die ganze Sache war. Eines jedenfalls steht für mich fest: Sooft ich es mit logischer Überlegung versuche, bekomme ich Magenkrämpfe, und mein Schädel droht zu zerspringen. An dem bewußten Tag unterhielten wir uns über seinen Durchbruch. Ich balancierte vorsichtig auf dem einzigen hölzernen Stuhl seines kleinen kalten Ateliers in der Bleecker Street, weil ich viel zu schlau war, mich auf den Sessel zu setzen. Morniel bezahlte die Miete für das Atelier praktisch mit diesem Sessel. Er war ein aus den Fugen geratener Haufen schmieriger Polsterung, die an der vorderen Sitzkante hoch und hinten völlig niedergedrückt war. Kaum setzte man sich darauf, begann der Inhalt sämtlicher Taschen zu gleiten. Kleingeld, Schlüssel, Brieftaschen, was man nur will, alles versank im Dschungel durchgerosteter Federn und im morschen Holzrahmen darunter. So oft Neulinge ins Atelier kamen, überschlug sich Morniel vor Höflichkeit, ihnen »den bequemen Stuhl« aufzudrängen. Und wenn sie gequält herumratschten, um ein flaches Plätzchen zwi-
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schen den Sprungfedern zu finden, leuchteten seine Augen auf, und er sprühte vor guter Laune. Je heftiger sie sich nämlich bewegten, desto mehr fiel aus ihren Taschen. Nach jeder Party nahm er den Stuhl auseinander und zählte die Einnahmen, beinahe wie ein Ladenbesitzer, der Kasse macht. Der hölzerne Stuhl hatte allerdings den Nachteil, daß man beim Sitzen völlig konzentriert bleiben mußte. Er wackelte nämlich. Morniel war schlau. Er selbst saß immer auf dem Bett. »Ich kann es schon nicht mehr erwarten, bis ein Kunsthändler oder Kritiker mit einem Funken Verstand endlich meine Arbeit zu sehen bekommt«, sagte er eben. »Es kann nicht schiefgehen, Dave. Ich weiß das genau. Ich bin einfach zu gut. Manchmal packt mich direkt die Angst, wenn ich überlege, wie gut ich bin. Ich habe fast zuviel Begabung für einen einzelnen Menschen.« »Na ja«, sagte ich, »es könnte immer noch…« »Nicht, daß die Begabung für mich zuviel wäre«, fuhr er fort, ängstlich darauf bedacht, von mir nicht mißverstanden zu werden. »Ich habe ja zum Glück die Größe, mit ihr fertig zu werden. Meine Seelengröße ist enorm. Aber ein anderer, weniger überragender Mensch ginge an dieser Vollkommenheit der Empfindung, an dieser Einfühlungskraft in die geistige Form, wenn man so sagen will, zugrunde. Die Fülle der Wahrnehmungen würde ihm den Verstand rauben. Aber bei mir ist das etwas anderes, Dave. Ich bin die Ausnahme.« »Prima«, sagte ich. »Freut mich. Würdest du jetzt…« »Weißt du, was ich heute früh dachte?« »Nein, aber um ganz aufrichtig zu sein, ich will gar nicht…« »Ich dachte an Picasso, Dave. Picasso und Rouault. Ich schlenderte über den Markt, um ein Frühstück zu besorgen – du kennst ja den alten Morniel, dessen Hand flinker ist als jedes Auge –, und da begann ich, mir über den Stand der modernen Malerei Gedanken zu machen. Ich denke viel darüber nach, Dave. Ich
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mache mir Sorgen.« »Tatsächlich?« sagte ich. »Also ich…« »Ich schlenderte die Bleecker Street entlang, bog dann in den Washington Square Park ein, und als ich so ging, dachte ich mir: Wo gibt es heute noch einen wahrhaft großen Maler? Es sind mir ganze drei Namen eingefallen: Picasso, Rouault – und ich. Sonst ist keiner da, der bahnbrechende und originelle Ideen hätte. Nur drei Namen aus dem ganzen Schwung Menschen, die auf unserer Erde malen; drei Namen bloß, nicht mehr. Ich habe mich richtig einsam gefühlt, Dave.« »Kann ich mir vorstellen. Aber du…« »Und dann fragte ich mich: Warum ist das so? Waren Genies schon immer so rar, dürfen in jedem Jahrhundert nur ganz wenige geboren werden oder ist der Geist unserer Zeit daran schuld? Und warum läßt meine Entdeckung, die ja doch unvermeidlich ist, so lange auf sich warten? Ich habe lange Zeit darüber gegrübelt, Dave. Ich habe leidenschaftslos und sorgfältig überlegt, weil das eine ungemein schwerwiegende Frage ist. Und das ist das Ergebnis meiner Wahrheitssuche.« Ich gab es auf. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück – natürlich nicht zu weit – und ließ ihn eine Theorie der Schöngeistigkeit entwickeln, die ich schon zumindest ein Dutzend Mal von einem Dutzend anderer Maler gehört habe. Diese Theorien unterschieden sich einzig in der Frage voneinander, wer der absolute Gipfelpunkt und der vollkommenste lebende Vertreter dieser Schöngeistigkeit sei. Es wird Sie sicher nicht wundern, daß Morniel sich selbst dafür hielt. Er war als hoch aufgeschossener, linkischer Bursche, der sich ungern rasierte und sich für einen Maler hielt, von Pittsburgh, Pennsylvania, nach New York gekommen. Damals hatte er Gauguin bewundert und versucht, ihn zu imitieren. Stundenlang quatschte er über die Mystik des einfachen Volkes, aber was wie ein falsch verstandener Filmjargon aus Brooklyn klang, war in Wirklichkeit reinstes Pittsburghisch.
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Kaum hatte er aber ein paar Kurse an der Kunstschule absolviert und sich seinen ersten spärlichen blonden Bart wachsen lassen, war die Gauguinmasche auch schon überwunden. Vor kurzem nun hatte er seine eigene Maltechnik entwickelt, die er Fleck-auf-Fleck nannte. Er malte erbärmlich. Daran war nicht zu rütteln. Dabei ist das nicht nur meine persönliche Meinung – auch echte unvoreingenommene Kunstkenner urteilten genauso, wenn sie sich seine Arbeiten genau angesehen hatten. So starrte zum Beispiel einmal ein anerkannter Experte für moderne Malerei mit langem Gesicht ein Gemälde an, das Morniel mir nicht nur aufgezwungen, sondern obendrein auch noch ohne Rücksicht auf meinen Einspruch eigenhändig über meinem Kamin aufgehängt hatte. Dieser Kritiker sagte: »Nicht nur, daß er vom Figuralen her keine Aussage zu machen hat, stellt er sich auch keinerlei malerischen Problemen. Weiß-auf-Weiß, Fleckauf-Fleck, Gegenstandslosigkeit, Neo-Abstraktionismus – nennen Sie es, wie Sie wollen, es ist einfach nichts da, rein gar nichts! Er ist um nichts besser, als die anderen unbefriedigten, vergammelten angeberischen Dilettanten, die sich im Village eingenistet haben.« Warum ich dann meine Zeit mit Morniel verbrachte? Weil er gleich um die Ecke wohnte. Auf seine bescheuerte Art war er doch irgendwie amüsant: Und wenn ich die ganze Nacht über einem Gedicht saß, aus dem nichts werden wollte, fand ich es entspannend, einen Sprung in sein Atelier zu machen und mit ihm über verschiedene Themen zu plaudern, die nichts mit Literatur zu tun hatten. Leider bedachte ich niemals, daß Morniel jedes Gespräch im Keim erstickte. Er hielt seine Monologe, und ich durfte mit knapper Not ab und zu ein Wort einwerfen. Der Unterschied zwischen uns bestand nämlich darin, daß meine Arbeiten bereits erschienen waren, wenn auch nur in billigst gedruckten Literaturzeitungen, die von Abonnenten lebten. Seine
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Bilder hingegen waren noch kein einziges Mal ausgestellt worden. Es gab noch einen weiteren Grund, mich gut mit diesem Menschen zu stellen. Und der hatte etwas mit dem einzigen Talent zu tun, das Morniel wirklich besaß. Ich schlage mich mehr schlecht als recht durchs Leben. Aber nach Dingen wie gutem Schreibpapier oder schönen Buchausgaben für meine Bibliothek sehne ich mich ebenso beharrlich wie vergebens. Ich kann sie mir einfach nicht leisten. Wird mein Verlangen unerträglich – wie zum Beispiel nach den neu erschienenen Werken von Wallace Stevens –, dann klopfe ich bei Morniel an und weihe ihn ein. Dann gehen wir in den Bücherladen, den wir einzeln betreten. Ich beginne mit dem Inhaber ein Gespräch über ein besonders kostspieliges vergriffenes Werk, das ich zu bestellen wünsche. Während ich mit dem Buchhändler verhandle, klaut Morniel den Stevens. Darin ist er unschlagbar. Noch nie ist er in Verdacht geraten oder gar ertappt worden. Natürlich muß ich mich bei ihm auf die gleiche Weise in einem Laden für Malutensilien revanchieren, damit Morniel seinen Vorrat an Leinwand, Farben und Pinseln ergänzen kann, aber das ist mir die Mühe wert. Überzahlt finde ich dabei nur die gähnende Langeweile, die mich überfällt, wenn ich mir den Burschen anhören muß, oder auch meine Gewissensbisse, weil ich nämlich genau weiß, daß er nicht die leiseste Absicht hat, jemals zu bezahlen. Na schön, dann werde eben ich es tun, sobald es mir möglich ist. »Ich kann gar nicht so einmalig sein, wie ich mich fühle«, sagt er soeben. »Bestimmt werden auch andere Menschen mit dem Potential dieses überragenden Talents geboren, nur verkümmert es in ihnen, ehe es die künstlerische Reife erreicht hat. Warum? Wodurch? Analysieren wir einmal, welche Rolle die Gesellschaft…« In diesem Augenblick sah ich es zum ersten Mal. Eben als er
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»Gesellschaft« sagte, fiel mir ein rötliches Flimmern in der gegenüberliegenden Wand auf. Ich sah die seltsame, schimmernde Kontur eines Kastens und darin eine seltsame, schimmernde Kontur eines Marines. Das Ganze schwebte etwa eineinhalb Meter über dem Boden und sah aus wie farbige Hitzewellen. Dann war die Wand wieder leer. Um diese Jahreszeit aber gab es keine Hitzewellen. Und ich habe niemals unter Trugbildern gelitten. Also nahm ich an, daß es sich höchstwahrscheinlich um den Beginn eines neuen Risses in Morniels Wand handeln mußte. Genau genommen hauste er gar nicht in einem Atelier, sondern in einer zugigen, billigen Wohnung. Sein Vorgänger hatte die Trennwände niederreißen lassen, wodurch ein einziger langer Raum entstanden war. Die Wohnung lag im obersten Geschoß, und das Dach war nicht ganz dicht. Der Regen hatte breite, wellenförmige Spuren auf den Wänden hinterlassen. Aber weshalb rötlich? fragte ich mich. Und warum die Kontur eines Mannes in einem Kasten? Für einen schlichten Mauerriß war das reichlich kompliziert. Und wieso war es jetzt weg? »… der ewige Konflikt mit dem einzelnen, der seine Individualität bewahren will«, dozierte Morniel. »Ganz zu schweigen von…« Eine ganze Kette rasch aufeinanderfolgender hoher Töne wurde laut. Und dann erschienen die rötlichen Umrisse wieder, diesmal in der Mitte des Raumes, etwa einen halben Meter über dem Fußboden. Sie schimmerten immer noch durchsichtig und zeigten einen Mann im Kasten. Morniel schwang die Beine vom Bett und starrte die Erscheinung an. »Was zum…«, begann er. Und wieder war nichts mehr zu sehen. »W-was…«, stotterte Morniel. »Was soll das?« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Aber was es auch sein mag, wir scheinen Besuch zu bekommen.«
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Da waren die hohen Töne wieder. Und der rote Kasten wurde sichtbar. Diesmal stand er auf dem Boden. Er wurde zusehends dunkler und dichter. Die Noten liefen die Tonleiter hinauf und wurden immer leiser. Der Kasten war nicht länger durchsichtig. Gleichzeitig verstummten auch die Töne. Die Kastentür glitt zurück, und ein Mann trat hervor. Seine Kleidung schien rundum in Schnörkeln zu enden. Er sah zuerst mich an, dann Morniel. »Morniel Mathaway?« fragte er. »J-ja«, sagte Morniel und wich zum Eisschrank zurück. »Morniel Mathaway«, sagte der Mann aus dem Kasten. »Ich heiße Glescu. Ich überbringe Ihnen Grüße aus dem Jahr 2487.« Dagegen waren wir machtlos, deshalb hielten wir auch den Mund. Ich stand auf und stellte mich zu Morniel. Ich hatte das Verlangen nach Tuchfühlung mit einem bekannten Wesen. So standen wir alle eine Zeitlang reglos da. Das Jahr 2487, überlegte ich. Nie zuvor hatte ich jemand in annähernd ähnlicher Kleidung gesehen, ja, ich hatte mir nicht mal vorgestellt, daß jemand sich auf diese Art kleiden könnte. Dabei bin ich bestimmt kein fantasiearmer Mensch. Die Kleidung war nicht eigentlich durchscheinend, aber auch nicht völlig undurchsichtig. Prismatisch käme der Sache wohl am nächsten. Verschiedene Farben wechselten einander in den Schnörkeln dauernd ab. Der Farbenwechsel unterlag einem gewissen Muster, das mir unergründlich blieb. Der Mann selbst, dieser Mr. Glescu, war ungefähr so groß wie Morniel und ich und schien auch nicht viel älter als wir zu sein. Aber er strahlte etwas aus, sagen wir: Würde. Ja, das war es, eine unbeschreibliche, lässige Würde, die den Herzog von Wellington eingeschüchtert hätte. Oder vielleicht käme Kultur der Sache näher. Er war der kultivierteste Mensch, der mir jemals begegnet war.
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Er trat herzu. »Wir wollen nun einem Brauch des zwanzigsten Jahrhunderts frönen, nämlich dem Händeschütteln«, sagte er mit weicher, ungemein klangvoller Stimme. Wir frönten also und schüttelten ihm die Hand. Zuerst Morniel, dann ich – beide reichlich zaghaft. Mr. Glescu benahm sich dabei so unsicher, daß ich an einen Farmer aus Iowa denken mußte, der zum ersten Mal mit chinesischen Stäbchen ißt. Nach beendeter Zeremonie stand er da und strahlte uns an. Das heißt, nicht uns, sondern Morniel. »Was für ein Augenblick, wie?« sagte er. »Was für ein grandioser Augenblick!« Morniel holte tief Luft. Nicht umsonst lauerte ihm seit vielen Jahren der Gerichtsvollzieher immer wieder im Treppenhaus auf. So etwas stärkt das Reaktionsvermögen. Seine Fassung kehrte wieder, sein Gehirn begann zu arbeiten. »Was meinen Sie mit ›Was für ein Augenblick‹?« fragte er. »Was ist an ihm besonders? Sind Sie der – der Erfinder der Zeitreise?« Mr. Glescu lachte verschmitzt. »Ich? Ein Erfinder? O nein. Die Zeitfahrt wurde von Antoinette Ingeborg erfunden im Jahre – aber das war nach Ihrer Zeit. Steht nicht dafür, im Augenblick näher darauf einzugehen. Besonders, da ich nur eine halbe Stunde zur Verfügung habe.« »Warum eine halbe Stunde?« fragte ich, weniger aus Neugier, sondern weil ich das für eine gute Frage hielt. »Weil das Epidermidrom nicht länger hält«, klärte er uns auf. »Das Epidermidrom ist – nun, sagen wir, ein Beförderungsmittel, mit dessen Hilfe ich in Ihrer Epoche erscheinen kann. Es erfordert jedoch einen derart gewaltigen Kraftaufwand, daß nur alle fünfzig Jahre eine Reise in die Vergangenheit angetreten werden kann. Diese Vergünstigung wird als eine Art Gobel verliehen. Hoffentlich habe ich mich richtig ausgedrückt. Er heißt doch Gobel, nicht wahr? Der Preis, der in Ihrer Epoche verliehen wur-
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de?« Ich hatte einen Genieblitz. »Meinen Sie vielleicht Nobel? Den Nobelpreis?« Er nickte heftig. »Ganz recht. Den Nobelpreis. Berühmten Gelehrten wird diese Reise als eine Art von Nobelpreis zuerkannt. Wie gesagt, alle fünfzig Jahre wird der Würdigste gewählt – na, Sie wissen schon. Bisher ging dieser Preis natürlich immer an die Historiker, und sie haben ihn an die Belagerung von Troja, die erste Atombombenexplosion in Los Alamos, die Entdeckung Amerikas und ähnliches verschwendet. Diesmal jedoch…« »Ja?« fiel Morniel ihm mit zitternder Stimme ins Wort. Uns beiden war plötzlich eingefallen, daß Mr. Glescu seinen Namen gekannt hatte. »Auf welchem Gebiet sind Sie tätig?« Mr. Glescu verneigte sich leicht vor uns. »Ich bin Kunsthistoriker. Mein Spezialgebiet in der Kunstgeschichte…« »Ja?« unterbrach ihn Morniel neuerlich. Jetzt zitterte seine Stimme nicht mehr, sie war knapp vor dem Umkippen. »Was ist Ihr Spezialgebiet?« Wieder neigte Mr. Glescu den Kopf. »Sie sind es, Mr. Mathaway. Ich darf mit Recht behaupten, in unserem Jahrhundert die unbestrittene Autorität für alle Fragen über das Leben und Werk Morniel Mathaways zu sein. Mein Spezialfach sind Sie.« Morniel wurde kreidebleich. Er taumelte zum Bett und nahm Platz, als wäre sein Hinterteil aus Glas. Mehrmals machte er den Mund auf, ohne einen Ton hervorzubringen. Schließlich schluckte er krampfhaft, ballte die Fäuste und hatte sich wieder in der Gewalt. »Wo-wollen Sie damit sagen, daß ich berühmt bin?« krächzte er. »So berühmt?« »Berühmt? Aber Hochverehrtester, das ist gar kein Ausdruck. Sie gehören zu den wenigen Unsterblichen des Menschengeschlechts. Wie ich es in meinem jüngsten Buch ›Mathaway, der
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Mann, der die Zukunft prägte‹, so treffend formulierte: ›Kaum je zuvor hat das Geschick einen Menschen dazu auserkoren…‹« »So berühmt.« Der blonde Bart zuckte. »So berühmt!« »So berühmt!« versicherte Mr. Glescu ihm. »Wer ist der Mann, mit dem die moderne Malerei in ihrer ganzen Pracht ihren Anfang nahm? Wer der Mann, dessen Entwürfe und Farbtechnik die Architektur der letzten fünf Jahrhunderte bestimmte, dem wir die Planung unserer Städte, die Form jedes Gebrauchsgegenstandes, ja selbst das Material unserer Kleidung verdanken?« »Ich?« fragte Morniel schwach. »Sie! In der gesamten Geschichte der Kunst hat kein anderer Mensch jemals einen annähernd gewaltigen Einfluß auf die Formgebung eines derart weiten Gebietes über eine so lange Zeitspanne ausgeübt. Mit wem könnte ich Sie vergleichen, Sir? Welcher andere berühmte Künstler käme an Sie heran?« »Rembrandt?« schlug Morniel vor. Er schien seinem Gast helfen zu wollen. »Da Vinci?« Mr. Glescu schnaubte verächtlich. »Rembrandt und Da Vinci in einem Atemzug mit Ihnen? Lächerlich! Nie hatten sie etwas von Ihrem Universalgenie, Ihrem Sinn für die kosmischen Zusammenhänge, Ihrem Verständnis für alles Lebendige. Nein, um Sie mit einem Gleichrangigen zu vergleichen, müssen wir die darstellende Kunst verlassen und uns eventuell an die Literatur wenden. Shakespeare mit seiner tiefgründigen Menschenkenntnis, mit den mächtigen Orgelklängen seiner Verse und seinem ungeheuren Einfluß auf die moderne englische Sprache – aber selbst Shakespeare, fürchte ich, selbst Shakespeare…« Bekümmert schüttelte er den Kopf. »Wau!« hauchte Morniel Mathaway. »Weil Sie eben von Shakespeare sprechen«, fiel ich ein, »kennen Sie zufällig einen Dichter namens David Dantziger? Ist viel von seinem Schaffen unsterblich geworden?«
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»Sind das Sie?« »Ja«, bestätigte ich dem Mann aus dem Jahre 2487 eifrig. »Das bin ich. Dave Dantziger.« Er runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht entsinnen – welcher Stilrichtung gehören Sie an?« »Ach, dafür gibt es verschiedene Namen. Am häufigsten nennt man sie wohl Anti-Imagismus. Oder auch Post-Imagismus.« Mr. Glescu dachte ernsthaft nach. »Nein«, entschied er schließlich. »Der einzige Dichter, der mir aus diesem Jahrhundert und diesem Land bekannt ist, heißt Peter Tedd.« »Wer ist Peter Tedd? Nie gehört!« »Dann leben Sie wohl noch in den Tagen vor seiner Entdeckung. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß ich Kunsthistoriker bin und kein Literaturexperte«, tröstete er mich. »Es ist durchaus möglich, daß ein Fachmann für die unbedeutenderen Reimeschmiede des zwanzigsten Jahrhunderts Ihren Namen ohne größere Schwierigkeiten einzustufen imstande wäre. Durchaus möglich.« Ich warf Morniel einen Blick zu. Er hockte grinsend auf dem Bett. Er hatte sich mittlerweile völlig erholt und genoß die Situation mit jeder Pore. Die ganze Situation. Seine Stellung. Und meine. Seine Selbstzufriedenheit machte mich rasend. Mit welchem Recht erwies das Schicksal ausgerechnet einem Knilch wie Morniel Mathaway diesen Kniefall? Es gab so viele nette, sympathische Maler, aber nein, dieser faule Maulheld mußte es sein… Dabei wanderte die ganze Zeit über ein Hauptteil meines Denkens im Kreis. Das beweist nur, wiederholte ich mir dauernd, das der Abstand der Geschichte nötig ist, um ein gültiges Werturteil über die Kunst zu fällen. Wie viele Leute genossen zu Lebzeiten das größte Ansehen, und heute kräht kein Kahn mehr nach ih-
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nen – Beethovens Zeitgenosse, zum Beispiel, der damals als der unvergleichlich Begabtere galt, während heute nur mehr die Musikforscher seinen Namen kennen. Und trotzdem… Mr. Glescu sah auf seinen rechten Zeigefinger, auf dem ein kleiner schwarzer Fleck abwechselnd größer und kleiner wurde. »Meine Zeit verrinnt«, bemerkte er. »Wenn es mich auch mit unbeschreiblichem, überwältigendem Entzücken erfüllt, in Ihrem Atelier zu stehen, Mr. Mathaway, und Sie endlich leibhaftig vor mir zu sehen, frage ich mich doch, ob Ich Sie wohl um einen kleinen Gefallen bitten dürfte?« »Aber sicher«, nickte Morniel und stand auf. »Schießen Sie los. Für Sie ist mir nichts zu gut. Was wollen Sie?« Mr. Glescu schluckte, als wollte er Mut fassen, um an die Pforten des Paradieses zu pochen. »Ich frage mich – aber natürlich nur, wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht –, ob ich vielleicht einen Blick auf das Gemälde werfen dürfte, an dem Sie eben arbeiten? Die Vorstellung, einen unvollendeten Mathaway zu sehen, an dem die Farbe noch feucht ist…« Er drückte die Augen zu, als wagte er nicht an so viel Glück zu glauben. Morniel lud ihn mit großartiger Geste ein, ihm zur Staffelei zu folgen. Er schob das Tuch beiseite, das sein Gekleckse verhängte. Seine Stimme klang ölig, »Es soll Figurative Figurinen Nr. 29 heißen.« Langsam und genußvoll öffnete Mr. Glescu die Augen und beugte sich vor. »Aber…«, sagte er nach langem Schweigen. »Das können doch nicht Sie gemalt haben, Mr. Mathaway?« Überrascht drehte Morniel sich um und betrachtete das Bild. »Sicher habe ich das. Figurative Figurinen Nr. 29. Erkennen Sie es?« »Nein, ganz und gar nicht. Und darüber bin ich herzlich froh. Dürfte ich bitte etwas anderes sehen? Ein späteres Werk?« »Das ist mein letztes«, antwortete Morniel etwas unsicher. »Alle anderen sind älter. Moment mal, vielleicht gefällt Ihnen das
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hier.« Er nahm ein Bild vom Ständer. »Ich nenne es Figurative Figurinen Nr. 22. Ich halte es für das beste meiner früheren Periode.« Mr. Glescu schauderte. »Sieht aus wie Farbkleckse, die aufeinander auf getropft sind.« »Genau! Bloß daß ich diese Technik Fleck-auf-Fleck nenne, aber das wissen Sie ja sicher, da Sie eine solche Autorität auf dem Gebiet meines Schaffens sind. Und hier sind die Figurativen Figurinen Nr….« »Könnten wir diese – diese Figurinen beiseite lassen, Mr. Mathaway?« flehte Glescu. »Ich möchte eines Ihrer farbigen Werke sehen, verstehen Sie? Farben und Formen!« Morniel kratzte sich den Kopf. »Also richtig in Farben habe ich schon eine Ewigkeit nichts mehr gemacht. Doch, warten Sie!« Seine Miene erhellte sich und er kramte in dem Gestell. Dann zog er ein altes Gemälde hervor. »Das hier ist eine meiner wenigen Arbeiten aus meiner lila-gesprenkelten Periode.« »Unfaßbar«, murmelte Mr. Glescu. »Das ist doch wirklich…« Er zog die Schultern bis an die Ohren. Wer jemals einen Kunstkritiker in Aktion gesehen hat, kennt diese Art Achselzucken. Es erübrigt jedes weitere Wort. Ein Maler, der dieses Achselzucken erntet, hat auch kein Verlangen nach weiteren Worten. Inzwischen zerrte Morniel wie besessen neue Bilder hervor. Er zeigte sie Glescu. Aber bei jedem neuen Opus gurgelte Glescu, als drängte er einen Brechreiz zurück, worauf Morniel weitere Bilder hervorzerrte. »Das verstehe ich nicht«, sagte Glescu und starrte den Fußboden an, auf dem sich die aufgespannten Bilder häuften. »Zu diesem Zeitpunkt haben Sie ganz offensichtlich sich selbst und Ihre unverkennbare Technik noch nicht gefunden. Aber ich suche nach einem Anzeichen, einem Hinweis, der das spätere Genie verrät. Und ich finde nichts als…« Ratlos schüttelte er den Kopf. »Wie war’s mit dem da?« fragte Morniel keuchend.
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Mr. Glescu schob es mit beiden Händen fort. »Ich bitte Sie, nehmen Sie das weg!« Wieder blickte er auf seinen Zeigefinger. Das Pulsieren des schwarzen Flecks war bedeutend langsamer geworden. »Ich werde bald aufbrechen müssen. Und ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, meine Herren.« Er ging in den violetten Kasten, kam mit einem Buch zurück und winkte uns zu sich. Morniel und ich traten hinter ihn und starrten über seine Schulter. Die Blätter klingelten sonderbar beim Umdrehen. Eines stand fest für mich: Aus Papier waren sie nicht. Und die Titelseite… Das Gesamtwerk Morniel Mathaways, 1928-1996. »Sind Sie 1928 geboren?« fragte er. Morniel nickte. »Am 23. Mai 1928.« Dann schwieg er. Ich wußte, woran er dachte, und stellte einen hurtigen Überschlag an. Achtundsechzig Jahre. Den wenigsten Menschen ist es gegeben, ihr genaues Lebensalter zu kennen. Achtundsechzig Jahre – nicht Übel. Mr. Glescu wandte sich dem ersten Gemälde zu. Selbst wenn ich jetzt an diese erste Konfrontation denke, werden meine Knie weich und geben unter mir nach. Es war eine abstrakte, vielfarbige Komposition, die meine kühnsten Träume übertraf. Als seien die Arbeiten sämtlicher abstrakter Maler bis zu diesem Zeitpunkt Übungen auf Kindergartenniveau gewesen. Jedem, der Augen im Kopf hatte, mußte es gefallen, selbst wenn sein Kunstverständnis bis dahin bei der gegenständlichen Malerei geendet Ratte, ja sogar, wenn er sich für keinerlei Kunstrichtung besonders erwärmt hatte. Ich möchte nicht rührselig klingen, aber ich spürte effektiv die Tränen in den Augen. Wer nur einigermaßen empfänglich für Schönheit war, konnte gar nicht anders reagieren. Aber nicht Morniel. »Ach, dieses Zeug«, sagte er, als sei ihm
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ein riesiges Licht aufgegangen. »Warum haben Sie nicht gleich gesagt, daß Sie sich für dieses Zeug interessieren?« Mr. Glescu krallte sich an Morniels schmierigem Hemd fest. »Dann haben Sie also auch solche Bilder?« »Nicht Bilder – Bild. Ein einziges. Ich habe es vorige Woche als Experiment gemalt, aber das Ergebnis hat mich nicht befriedigt. Deshalb habe ich es dem Mädchen unter mir geschenkt. Möchten Sie es sehen?« »O ja! Ich bitte darum!« Morniel griff nach dem Buch und warf es gleichgültig aufs Bett. »Schön. Kommen Sie. Dauert höchstens ein bis zwei Minuten.« Wir marschierten nach unten. Meine Gedanken liefen Sturm. Eines wußte ich genau – so genau wie die Tatsache, daß Geoffrey Chaucer vor Algernon Swinburne gelebt hatte – nichts, was Morniel jemals gemalt hatte oder jemals zu malen imstande war, kam der Reproduktion in jenem Buch auch nur auf Millionen Meilen nahe. Und ich war überzeugt, daß auch er das trotz aller Angeberei und seiner scheinbar bodenlosen Eitelkeit wußte. Zwei Treppen tiefer blieb er vor einer Tür stehen und klopfte an. Niemand öffnete. Er wartete kurz und klopfte nochmals. Wieder rührte sich nichts. »Verflucht, sie ist nicht zu Hause. Dabei hätte ich Ihnen das Bild gern gezeigt«, sagte er. »Ich möchte es sehen«, sagte Mr. Glescu ernsthaft. »Ich möchte alles sehen, das Ihrer reifen Arbeit ähnelt. Aber meine Zeit ist beinahe abgelaufen…« Morniel schnalzte mit dem Finger. »Wissen Sie was? Anita hat zwei Katzen, die ich füttere, wenn sie verreist ist. Deshalb hat sie mir ihren Wohnungsschlüssel gegeben. Soll ich ihn holen?« »Wunderbar!« sagte Mr. Glescu erfreut, blickte aber unruhig auf seinen Zeigefinger. »Aber bitte beeilen Sie sich.« »Gemacht.« Morniel drehte sich zur Treppe um. Dabei kreuzten
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sich unsere Blicke. Und er gab mir das Signal, das wir bei unseren Einkäufen benutzten. Es hieß: »Koch den Kerl ein. Ich brauche Zeit.« Ich begriff. Das Buch. Ich habe Morniel viel zu oft im Einsatz erlebt, um nicht zu wissen, daß die lässige Gebärde, mit der er das Buch aufs Bett geworfen hatte, alles andere als lässig war. Er hatte es dort placiert, wo er es im Bedarfsfall am raschesten fand. Sicher versteckte er es irgendwo im Atelier, und wenn Mr. Glescu uns verlassen mußte, nun, dann war das Buch eben leider unauffindbar. Verdammt schlau. Auf diese Weise würde Morniel Mathaway die Bilder Morniel Mathaways malen. Nur mit dem Unterschied, daß er sie nicht schuf, sondern kopierte. Mittlerweile hatte das Signal mein Mundwerk in Bewegung gesetzt, und mein Redestrom plätscherte automatisch dahin. »Malen Sie selbst auch, Mr. Glescu?« fragte ich. Daß er darauf anbeißen würde, war mir klar. »O nein! Als junger Mensch wollte ich natürlich selbst Maler werden. Vermutlich beginnen die meisten Kritiker auf diese Weise. Ich habe sogar einige Gemälde verbrochen. Aber sie waren schlecht, richtig schlecht! Da fand ich es schon bedeutend einfacher, über Gemälde zu schreiben, als selbst produktiv zu sein. Und als ich dann einmal begonnen hatte, mich in das Leben Ivlorniel Ivlathaways zu vertiefen, wußte ich, daß ich meine Berufung gefunden hatte. Ich empfand nicht nur sofort eine innige Verbundenheit mit seinem Werk, sondern auch er selbst erschien mir merkwürdig vertraut. Das ist übrigens auch etwas, das ich nicht recht begreife. Er ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe.« »Kann ich mir denken«, nickte ich. »Natürlich erscheint jede bedeutende Persönlichkeit aus geschichtlicher Perspektive leicht verklärt. Manche seiner Charakterzüge eignen sich vielleicht auch dazu, ihm im Laufe der Jahrhunderte eine Romantik zu verleihen, die – wie unerzogen von mir, so vor Ihnen zu sprechen, Mr. Dantziger. Sie sind sein
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Freund.« »Das ist zuviel gesagt, aber außer mir hat er überhaupt niemand.« Dabei bemühte ich mich die ganze Zeit über, den Anfang des Kreises zu entdecken. Aber je angestrengter ich überlegte, desto verwirrter wurde ich. Diese Ungereimtheiten! Wie konnte Morniel Mathaway denn in fünfhundert Jahren durch Gemälde berühmt werden, die er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Buch sah, das erst in fünfhundert Jahren erscheinen sollte? Wer malte diese Bilder? Morniel Mathaway? So stand es geschrieben, und da er sich dieses Buch nun angeeignet hatte, würde er die Bilder auch sicherlich malen. Aber er kopierte doch nur die Reproduktionen. Von wem stammten dann aber die Originale? Mr. Glescu schielte ängstlich auf seinen Zeigefinger. »Meine Zeit ist beinahe abgelaufen!« Er eilte die Treppe hinauf, ich hinter ihm her. Während wir ins Atelier stürzten, wappnete ich mich heimlich für die Auseinandersetzung wegen des Buches. Sehr wohl war mir nicht in meiner Haut, weil ich Mr. Glescu nämlich nett fand. Das Buch war nicht mehr da. Das Bett war leer. Und noch zwei Dinge waren nicht mehr da – das Epidermidrom und Morniel Mathaway. »Er ist damit abgereist!« schrie Mr. Glescu auf. »Er hat mich hier ausgesetzt! Sicher hat er sich ausgerechnet, daß er nur in den Kasten zu steigen und die Tür zu schließen braucht, um die Rückreise anzutreten!« »Ja, im Ausrechnen ist er groß!« sagte ich verbittert. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bei dieser Gemeinheit hätte ich ihn niemals unterstützt. »Und garantiert wird er sich auch eine durchaus glaubhafte Geschichte ausdenken, mit der er Ihren Zeitgenossen erklärt, wie es zu diesem Austausch kam. Wozu soll er sich im zwanzigsten Jahrhundert abrackern, wenn er im fünfundzwanzigsten eine beweihräucherte Berühmtheit sein
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kann?« »Aber was geschieht, wenn ihn jemand bittet, auch nur ein einziges Bild zu malen?« »Dann wird er höchstwahrscheinlich antworten, daß sein Werk vollendet ist und er ihm nichts Großartigeres mehr hinzuzusetzen hat. Und zum Schluß wird er Vorlesungen über sich selbst halten. Keine Angst, der geht nicht unter. Aber um Sie mache Ich mir Sorgen. Sie sitzen hier fest. Wird man eine Rettungsmannschaft nach Ihnen aussenden?« Mr. Glescu schüttelte traurig den Kopf. »Jeder Forscher, dem dieser Preis zuteil wird, muß einen Revers für den Fall unterschreiben, daß er verschollen bleiben sollte. Der Apparat kann nur alle fünfzig Jahre einmal verwendet werden. Das nächste Mal wird ein anderer Forscher die Auszeichnung beanspruchen, um vielleicht den Sturm auf die Bastille, die Geburt Gautama Buddhas oder etwas Ähnliches mitzuerleben. Nein, ich sitze hier fest, wie Sie es ausdrückten. Ist es sehr schlimm, in diesem Jahrhundert zu leben?« Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Herzlich klopfte ich ihm auf die Schulter, »Durchaus nicht. Eine Sozialversicherungskarte werden Sie allerdings brauchen und wie Sie die in Ihrem Alter beschaffen sollen, ist mir unklar. Vielleicht – aber das weiß ich nicht genau – werden Sie auch vom FBI oder der Einwanderungsbehörde vorgeladen werden, da Sie sozusagen illegal eingewandert sind.« Er sah mich entsetzt an. »Du lieber Schreck! Das klingt schlimm genug!« Plötzlich kam mir die rettende Idee. »Warum eigentlich? Hören Sie zu. Morniel besitzt eine Sozialversicherungskarte, weil er vor einigen Jahren in Stellung war. Und sein Geburtsschein liegt bei seinen übrigen Personaldokumenten in der Kommodenlade. Warum nehmen Sie nicht einfach seine Identität an? Er wird Sie niemals als Eindringling entlarven!«
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»Glauben Sie wirklich? Werde ich nicht – werden nicht seine Freunde – seine Verwandten…« »Seine Eltern sind tot, von Angehörigen ist mir nichts bekannt. Und ich sagte Ihnen vorhin, daß ich der Rolle eines Freundes noch am nächsten komme. Außer mir hat er keinen.« Ich sah mir Mr. Glescu gründlich an. »Sie könnten sich getrost für ihn ausgeben. Vielleicht lassen Sie sich einen Bart wachsen und färben ihn blond. Das sind Kleinigkeiten. Es fragt sich nur, wovon Sie leben sollen. Daß Sie das Werk Mathaways und die davon inspirierten Kunstrichtungen im kleinen Finger haben, wird Sie in unserem Jahrhundert nicht satt machen.« Er packte mich am Ärmel. »Aber ich könnte malen! Ich habe schon immer davon geträumt, ein Maler zu sein! Ich bin zwar nicht sehr begabt, aber dafür kenne ich eine ganze Reihe künstlerischer Möglichkeiten und graphischer Neuerungen, die es in Ihrem Jahrhundert noch gar nicht gibt. Davon müßte ich doch selbst ohne Talent leben können, zumindest als dritt- oder viertklassiger Maler!« Er hatte recht. Bloß entwickelte er sich nicht zu einem drittoder viertklassigen Maler, sondern zu einem erstklassigen. Heute ist Mr. Glescu-Morniel Mathaway der bedeutendste lebende Maler. Und der unglücklichste. »Was haben diese Leute bloß?« fragte er mich aufgebracht nach seiner letzten Ausstellung. »Loben mich über den grünen Klee! Ich besitze nicht eine Unze echtes Talent. Alles, was ich arbeite, ist nichts weiter als abgeleitet. Ich habe zwar versucht, etwas Eigenständiges zu schaffen, aber ich habe mich so restlos mit Mathaway identifiziert, daß er mich gänzlich verschlungen hat. Und diese idiotischen Kritiker heben mich in den Himmel! Dabei stammt die Arbeit nicht mal von mir!« »Von wem aber stammt sie dann?« fragte ich. »Von Mathaway natürlich«, antwortete er unglücklich. »Unser Jahrhundert hielt ein Zeitparadoxon für ausgeschlossen. Ich wollte, Sie könnten die vielen wissenschaftlichen Abhandlungen
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über dieses Thema lesen. Sie füllen ganze Bibliotheken. Unsere Zeitspezialisten behaupten, es sei unmöglich, ein Gemälde von zukünftigen Reproduktionen zu kopieren und auf diese Weise den Originalmaler zu überspringen. Aber genau das tue ich! Ich kopiere jenes Buch aus dem Gedächtnis!« Ich wollte, ich könnte ihm die Wahrheit verraten. Er ist ein so sympathischer Bursche, besonders im Vergleich zu Mathaway, der wirklich ein Schmarotzer war, und er macht sich das Leben so schrecklich schwer. Aber ich kann es nicht. Er strengt sich nämlich wahnsinnig an, jene Bilder nicht zu kopieren. Das geht so weit, daß er sich weigert, an das Buch auch nur zu denken oder gar darüber zu sprechen. Vor kurzem ist es mir endlich gelungen, ihn einige Sätze daraus zitieren zu lassen, und wissen Sie, was geschehen ist? Er erinnert sich gar nicht mehr daran oder doch nur mehr höchst verschwommen! Ganz klar, es kann auch gar nicht anders sein: Er ist der echte Morniel Mathaway, und es existiert keine Zeitumdrehung. Würde ich ihm jedoch jemals sagen, daß seine Bilder Originale und keine Kopien sind, dann wäre es um den letzten Rest seines erschütterten Selbstvertrauens geschehen. Also muß ich ihn in dem Glauben lassen, er sei ein Fälscher, obwohl das nicht stimmt.
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Mittwochs Kind Fabian Balik richtete seine wäßrig blauen Augen hinter der randlosen Brille zum ersten Mal kritisch auf Mittwoch Gresham, ohne etwas von den biologischen Widersprüchen zu ahnen, die einen Teil ihres Körperbaues ausmachten. Bisher war ihm noch nicht einmal aufgefallen, daß sie ein außerordentlich hübsches Mädchen war, deren Augen wie regennasse Veilchen leuchteten. Sein Interesse an ihr beschränkte sich ausschließlich auf ein innerbetriebliches Problem. An sich war das nicht weiter verwunderlich, da Fabian Balik ein ungemein gewissenhafter und ernster junger Bürovorsteher war, der seinen Hormonhaushalt im Zuge erbitterter Selbstverleugnung restlos davon überzeugt hatte, daß es nur ein einziges Interesse zu wahren galt, nämlich das der Werbeagentur SLAUGHTER, STARK & SLINGSBY. Mittwoch war eine der besten Stenotypistinnen der Schreibstube, die ihm unmittelbar unterstand. Allerdings gab es in ihrer beruflichen Laufbahn kleine, aber höchst ungewöhnliche Pflichtversäumnisse. Sie bestanden in Eigenarten, die ein minder eifriger und ehrgeiziger Personalchef als unerheblich abgetan hätte. Fabian jedoch hatte ihr Betragen im Laufe ihrer sechsjährigen Firmenzugehörigkeit gründlich unter die Lupe genommen und war zu dem Schluß gelangt, daß er diese Unregelmäßigkeiten nicht dulden durfte. Andererseits war zur Aufklärung dieser Fragen bestimmt eine längere Unterredung nötig, und sein Pflichtgefühl gestattete es ihm nicht, eine Angestellte von ihrer Arbeit abzuhalten. Deshalb trat er, sehr zur Verwunderung des Personals und zu Mittwochs größter Verwirrung, eines Tages an ihren Schreibtisch und eröffnete ihr, daß sie gemeinsam zu Mittag essen würden. »Das ist ein nettes Lokal«, verkündete er, nachdem man ihnen einen Tisch angewiesen hatte. »Nicht teuer, sondern ungemein preiswert. Außerdem liegt es ein bißchen abseits und ist dadurch nicht überfüllt. Hierher kommen nur Leute, die genau wissen,
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was sie wollen.« Mittwoch sah sich um und nickte. »Ja. Mir gefällt es auch. Ich esse hier oft mit meinen Kolleginnen.« Fabian griff nach der Speisekarte. »Sie gestatten doch, daß ich für uns beide bestelle?« fragte er. »Der Küchenchef kennt meinen Geschmack. Er wird uns bestimmt bestens bedienen.« Das Mädchen runzelte die Stirn. »Tut mir schrecklich leid, Mr. Balik, aber…« »Ja?« sagte er ermunternd, obwohl er mehr als überrascht war. Er hatte vorausgesetzt, daß sie seinen Vorschlag begeistert annehmen würde. Schließlich war sie aus Freude über seine Einladung vermutlich außer sich. »Ich möchte mein Essen lieber selbst auswählen«, sagte sie. »Ich bin nämlich auf… auf Diät.« Er zog die Brauen hoch und sah mit Genugtuung, daß sie errötete. Langsam und hoheitsvoll nickte er, ließ sich sein Befremden aber deutlich an dem Ton anmerken, in dem er sagte: »Selbstverständlich. Ganz wie Sie wünschen.« Dann gewann aber doch seine Neugier die Oberhand, und er vergaß seine Unnahbarkeit. »Was ist denn das für eine Diät? Obstsalat, ein Glas Tomatensaft, rohe Kohlblätter und eine gebratene Kartoffel? Wenn Sie Kartoffeln essen, werden Sie nicht ein Gramm abnehmen.« Mittwoch lächelte schüchtern. »Ich will gar nicht abnehmen, Mr. Balik. Alle diese Dinge haben einen hohen Gehalt an Vitamin C. Ich brauche nämlich sehr viel Vitamin C.« Fabian erinnerte sich an ihr Lächeln. Hinter ihren Lippen hatte es unnatürlich weiß aufgeblitzt. »Schlechte Zähne?« erkundigte er sich. »Schlechte Zähne und…« Ihre Zungenspitze wurde sichtbar und ragte sekundenlang nachdenklich vor. »Vor allem schlechte Zähne«, sagte sie. »Wirklich ein nettes Lokal. In der Nähe mei-
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ner Wohnung gibt es ein ganz ähnliches Restaurant, nur ist es natürlich weniger nett…« »Wohnen Sie bei Ihren Eltern, Miß Gresham?« »Nein, ich lebe allein. Ich bin Waise.« Er wartete, bis der Kellner den ersten Gang serviert hatte, dann spießte er ein Stückchen Krabbe auf und setzte seinen Angriff fort. »Seit wann?« Sie sah ihn über den Obstsalat hinweg groß an. »Wie bitte, Mr. Balik?« »Seit wann sind Sie schon Waise?« »Seit meiner frühesten Kindheit. Jemand hat mich an der Tür eines Waisenhauses abgelegt.« Obwohl sie seine Fragen ruhig beantwortete, bemerkte er doch, daß sie den Blick nicht von ihrem Teller hob und rot geworden war. Schämte sie sich, weil sie höchstwahrscheinlich ein lediges Kind war? überlegte er. Aber daran hatte sie sich doch im Laufe ihrer – wie alt war sie? – vierundzwanzig Jahre bestimmt längst gewöhnt. Lächerlich, das war kein Grund zur Verlegenheit. »In Ihrem Fragebogen haben Sie aber Thomas und Mary Gresham als Ihre Eltern angegeben, Miß Gresham.« Mittwoch hatte zu essen aufgehört und spielte mit ihrem Wasserglas. »Das war ein altes Ehepaar, das mich adoptierte«, sagte sie kaum hörbar. »Sie starben, als ich fünfzehn Jahre alt war. Ich habe keine Verwandten mehr.« »Von denen Sie wissen«, berichtigte er und hob warnend den Finger. Zu Fabians Überraschung begann sie zu kichern. Es war ein äußerst merkwürdiges Kichern, das ihm größtes Unbehagen einflößte. »Stimmt, Mr. Balik. Ich habe keinerlei Verwandte mehr – von denen ich weiß.« Sie sah über ihn hinweg und kicherte neuerlich. »Von denen ich weiß«, wiederholte sie leise.
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Fabian spürte gereizt, daß ihm die Unterredung irgendwie entglitt. Mit erhobener Stimme fragte er: »Wer ist dann aber Dr. Morris Lorington?« Sofort kehrte ihre Wachsamkeit wieder. »Dr. Morris Lorington?« »Ja, der Mann, dessen Adresse Sie uns nannten, und den wir auf Ihren Wunsch verständigen sollen, falls Ihnen etwas zustößt.« Jetzt wirkte sie ausgesprochen mißtrauisch. Sie kniff die Augen zu und beobachtete ihn scharf. Auch ihr Atem ging schneller. »Dr. Lorington ist ein alter Freund. Er – er war der Waisenhausarzt. Nachdem die Greshams mich adoptiert hatten, ging ich zu ihm, sooft…« Sie verstummte. »Sooft Sie ärztliche Hilfe benötigten?« half Fabian aus. »J-ja«, sagte sie erleichtert, als hätte er ihr einen völlig neuen Grund für einen Besuch beim Arzt genannt. »Ich ging zu ihm, sooft ich ärztliche Hilfe brauchte.« Fabian knurrte. Irgend etwas stimmte nicht, aber er kam nicht dahinter. Jedenfalls beantwortete sie seine Fragen. Das konnte er nicht leugnen. »Werden Sie ihn im Oktober wieder aufsuchen?« erkundigte er sich. Jetzt war Mittwoch zu Tode erschrocken. »Im Oktober?« fragte sie zitternd. Fabian verspeiste den letzten Rest seiner Krabbe und wischte sich den Mund ab. Aber er ließ sie nicht aus den Augen. »Ja, im Oktober, Miß Gresham. Sie haben doch per fünfzehnten Oktober um einen einmonatigen Urlaub angesucht. Vor fünf Jahren, als Sie dreizehn Monate bei Slaughter, Stark und Slingsby angestellt waren, haben Sie ebenfalls um einen Oktoberurlaub gebeten.« Er staunte über ihre unverhohlene Angst. Dann hatte er also doch recht gehabt, der Sache nachzugehen! Was ihn dazu veran-
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laßt hatte, war nicht bloß Neugier gewesen, sondern der Spürsinn des tüchtigen Personalchefs. »Aber es handelt sich doch um einen unbezahlten Urlaub. Ich erwarte für diese Zeit auch gar kein Gehalt, Mr. Balik. Und ich bekam auch nichts bezahlt beim… beim anderen Mal.« Sie hielt sich die Serviette vors Gesicht und sah aus, als wollte sie im nächsten Augenblick durch die Hintertür des Restaurants flüchten. Die Röte war so gründlich aus ihren Wangen gewichen, daß sie jetzt kalkweiß waren. »Die Tatsache, daß es sich um einen unbezahlten Urlaub handelt, Miß Gresham…«, setzte Fabian an, wurde aber vom Kellner unterbrochen, der die Vorspeise brachte. Als der Mann sich zurückzog, stellte Fabian ärgerlich fest, daß Mittwoch in dieser kurzen Atempause ihre Fassung zum Teil wiedergewonnen hatte. Zwar war sie noch immer blaß, aber langsam kehrte wieder Farbe in ihre Wangen zurück. Sie lehnte sich nun bequem nach hinten. »Daß es sich um einen unbezahlten Urlaub handelt, ist nebensächlich«, fuhr er trotzdem fort. »Das versteht sich von selbst. Schließlich haben Sie jährlich zwei Wochen bezahlten Urlaub. Und damit bin ich beim zweiten Punkt angelangt. Sie haben jedes Jahr zwei ungewöhnliche Ansuchen gestellt. Erstens baten Sie um eine zusätzliche Urlaubswoche ohne Bezahlung, wodurch Sie der Firma insgesamt drei Wochen fernblieben, und zweitens…« »… wollte ich den Urlaub im Vorfrühling haben«, beendete sie den Satz für ihn. Sie hatte ihre Stimme nun völlig in der Gewalt. »Ist das etwa nicht erlaubt, Mr. Balik? Wenigstens gerate ich nicht mit meinen Kolleginnen in Konflikt, und außerdem kann sich die Firma darauf verlassen, daß eine Sekretärin den ganzen Sommer über zur Verfügung steht.« »An sich wäre dagegen auch nichts einzuwenden, bloß stiften solche Sonderwünsche Verwirrung und reißen Lücken in die Organisation. Und Verwirrung, Miß Gresham, Verwirrung und Or-
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ganisationsschwierigkeiten haben in einem reibungslos funktionierenden Büro nichts verloren.« Zu seiner größten Befriedigung machte sie neuerlich einen leicht verstörten Eindruck. »Heißt das – wollen Sie damit sagen, daß ich gekündigt werden könnte?« »Denkbar wäre es«, bestätigte Fabian. Daß eine Sekretärin, die so tüchtig wie Mittwoch Gresham war, kaum eine Kündigung zu befürchten hatte, verschwieg er allerdings. Sorgfältig schnippelte er den gelben Fettrand von einem mundgerechten Bissen Roastbeef, ehe er fortfuhr: »Betrachten Sie die Sache mal so: Wohin kämen wir, wenn jede unserer Angestellten jährlich zusätzlich eine Woche Urlaub haben wollte, selbst wenn dieser Urlaub unbezahlt bleibt, was wohl nicht besonders hervorgehoben werden muß! Und wenn jede obendrein noch alle paar Jahre einen Monat Urlaub dazu verlangte? Wie sähe unser Büro dann aus, Miß Gresham? Wo bliebe der reibungslose Ablauf?« Bedächtig kaute er sein Roastbeef und freute sich über ihre besorgte Miene. Im stillen war er froh, daß er mit dieser Beweisführung keine intelligentere Gesprächspartnerin, wie es eventuell Arlette Stein gewesen wäre, zu überzeugen brauchte. Er wußte genau, daß ihm die verwitwete Dreißigerin mit den schwingenden Hüften sofort entgegnet hätte: »Aber es ersucht ja eben nicht jede Angestellte darum, Mr. Balik.« Wohlwollend vermerkte er, daß Mittwoch nicht zu solchen Gegenangriffen neigte. Sie biß sich bekümmert auf die Lippen und dachte verzweifelt über einen Vorschlag nach, den sie ihm als ergebene Angestellte anbieten durfte. Es gab nur eine einzige Lösung, die ihr ganz von selbst einfallen mußte. Und sie fiel ihr ein. »Wäre Ihnen damit gedient«, setzte sie an und brach wieder ab. Sie holte tief Luft. »Wäre Ihnen damit gedient, wenn ich Ihnen den Grund für meine Urlaubswünsche erklärte?« »Allerdings«, sagte er. »Sehr sogar, Miß Gresham. Weil ich als
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Büroleiter dann nämlich von Tatsachen ausgehen könnte und nicht im dunkeln tappen müßte. Ich höre mir Ihre Gründe an, erwäge ihre Berechtigung, berücksichtige auch, daß Sie eine gute Arbeitskraft sind und kann dann entscheiden, ob das alles die organisatorischen Schwierigkeiten aufwiegt, die Ihr Fehlen im Betrieb heraufbeschwört.« »M-m-m«, meinte sie unsicher. »Ich würde gerne kurz darüber nachdenken, wenn Sie gestatten.« Fabian winkte ihr großmütig mit der Gabel zu, auf die er Blumenkohl gehäuft hatte. »Lassen Sie sich nur Zeit! Überlegen Sie genau! Sie sollen mir um Himmels willen nichts verraten, was Sie nicht freiwillig preisgeben. Daß ich alles, was Sie mir eventuell sagen, absolut vertraulich behandle, brauche ich wohl nicht erst zu betonen. Ich würde Ihre Mitteilungen als Betriebsgeheimnis betrachten, Miß Gresham, und nicht als persönliche Geständnisse. Niemand würde etwas erfahren. Aber essen Sie doch Ihren Kohl«, setzte er hinzu. Sie nickte und stocherte geistesabwesend und sichtlich ohne großen Appetit in ihrem Teller herum. »Wissen Sie«, begann sie unvermittelt, als hätte sie eine gute Absprungbasis gefunden, »mir geschehen nämlich Dinge, die anderen Menschen nicht widerfahren.« »Das liegt auf der Hand, würde ich sagen.« »Es sind keine schlimmen Dinge. Und sie sind eigentlich auch nicht gefährlich. Es sind eher physische Angelegenheiten, Zustände, die meinem Körper widerfahren.« Fabian hatte zu Ende gegessen. Jetzt lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme. »Würden Sie sich etwas deutlicher ausdrücken? Es sei denn -«, ein fürchterlicher Verdacht hatte ihn beschlichen – »es handelt sich um Zustände, die man als Frauenprobleme bezeichnet. Dann natürlich…« Diesmal errötete sie nicht. »Aber nein. Keine Rede. Zumindest nur ganz am Rande. Nein, es sind andere Dinge. Mein Blind-
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darm, zum Beispiel. Jedes Jahr muß ich mir den Blinddarm herausnehmen lassen.« »Ihren Blinddarm?« sagte er nachdenklich. »Jedes Jahr? Aber der Mensch hat doch nur einen Blinddarm. Ist der einmal draußen, wächst er nicht wieder nach.« »Meiner schon. Jedes Jahr, pünktlich am zehnten April bekomme ich Blinddarmentzündung und muß mich operieren lassen. Deshalb nehme ich im Frühjahr Urlaub. Und dann meine Zähne. Alle fünf Jahre fallen mir sämtliche Zähne aus. Das beginnt etwa um diese Jahreszeit. Ich habe schon seit meiner Kindheit Zahnprothesen, und die verwende ich, bis mir die Zähne wieder nachgewachsen sind. Ungefähr Mitte Oktober verliere ich dann die letzten Zähne, und die neuen kommen nach. Während sie wachsen, kann ich keine Prothese tragen. Deshalb sehe ich eine Zeitlang recht komisch aus. Daher beantrage ich einen Urlaub. Mitte November sind die neuen Zähne fast komplett. Dann komme ich wieder ins Büro zurück.« Sie tat einen tiefen Atemzug und sah ihn schüchtern an. Mehr hatte sie offenbar nicht zu sagen. Stumm verzehrte er seine Nachspeise und dachte über das soeben Gehörte nach. Er war überzeugt, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte. Ein Mädchen wie Mittwoch Gresham schwindelte nicht. Zumindest nicht in diesem Maße. Und schon gar nicht ihrem Chef gegenüber. »Tja«, sagte er schließlich, »das ist allerdings höchst ungewöhnlich.« »Ja«, bestätigte sie, »höchst ungewöhnlich.« »Haben Sie sonst noch… Ich meine, gibt es noch weitere Eigentümlichkeiten – ach, Quatsch! Ist sonst noch was los mit Ihnen?« Mittwoch überlegte. »Ja. Aber, wenn Sie gestatten, Mr. Balik, würde ich darüber lieber nicht…« Damit gab Fabian sich nicht zufrieden. »Jetzt hören Sie mir gut
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zu, Miß Gresham«, sagte er energisch. »Wir wollen nicht Verstecken spielen. Kein Mensch hat Sie gezwungen, mir etwas anzuvertrauen. Sie haben es aus eigenem Willen getan. Jetzt aber verlange ich, die ganze Geschichte zu hören. Welche physischen Schwierigkeiten haben Sie sonst noch?« Das saß. Sie duckte sich in ihren Sessel, richtete sich aber wieder auf und begann: »Ich bitte um Vergebung, Mr. Balik, ich würde auch nicht im Traum wagen, mit Ihnen Verstecken zu spielen. Ich habe noch eine ganze Reihe von Eigenheiten aber die behindern meine Arbeit nicht. Ehrlich. So wachsen mir zum Beispiel winzige Härchen auf den Fingernägeln. Sehen Sie?« Sie streckte ihm die Hand über den Tisch entgegen. Aus jedem blitzenden Nagel sprossen beinahe mikroskopisch kleine Fühler. »Was sonst noch?« »Meine Zunge. An ihrer Unterseite habe ich auch einige Haare. Allerdings stören sie mich überhaupt nicht. Und dann – dann…« »Ja?« half er nach. Wer hätte das von dieser farblosen, kleinen Mittwoch Gresham gedacht… »Die Sache mit meinem Nabel. Ich habe nämlich keinen.« »Sie haben keinen… Aber das ist unmöglich!« rief er betroffen. Die Brille rutschte ihm auf die Nasenspitze. »Jeder Mensch hat einen Nabel! Jedes Wesen, das jemals geboren wurde!« Mittwoch nickte. Ihre Augen waren unnatürlich groß und glänzend. »Vielleicht…«, sagte sie und brach überraschend in Tränen aus. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte schwer. Fabian war so bestürzt, daß er sich nicht zu helfen wußte. In seinem ganzen Leben war er noch nie mit einem weinenden Mädchen in einem überfüllten Lokal gewesen. »Aber, aber Miß Gresham – Mittwoch«, würgte er hervor und ärgerte sich, weil seine Stimme schrill und quäkend klang. »Dazu besteht doch kein Anlaß. Das ist doch wirklich kein Grund zum Weinen! Na – Mittwoch?«
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»Vielleicht«, schnupfte sie unter Tränen, »v-vielleicht ist das die Antwort.« »Was für eine Antwort?« fragte Fabian laut. »Auf – auf die Geburt. Vielleicht – vielleicht bin ich gar nicht geboren worden. Vi-vielleicht hat man mich gemacht!« Und jetzt heulte sie richtig los. Fabian Balik begriff, was er tun mußte. Er beglich die Rechnung, packte das Mädchen um die Mitte und zerrte es aus dem Restaurant. Das wirkte. Kaum schnupperte sie die frische Luft, beruhigte sie sich. Sie lehnte sich an die Hausmauer und weinte nicht mehr. Schließlich japste sie ein-, zweimal auf und drehte sich taumelnd nach ihm um. Ihr Gesicht sah aus, als hätte ein Maler es kräftig mit seinem Terpentinlappen abgerieben. »Ver-verzeihen Sie«, sagte sie. »E-es t-tut mir schrecklich lleid. Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Aber wissen Sie, Mr. Balik – ich habe auch seit Jahren nicht mehr über mich gesprochen.« »Dort an der Ecke weiß ich eine nette kleine Bar«, sagte er erleichtert. Eine Zeitlang hatte es ausgesehen, als wollte sie überhaupt nie mehr aufhören zu weinen! »Machen wir einen Sprung hin, ich trinke eine Kleinigkeit und Sie können sich auf der Toilette wieder frisch machen.« Er nahm sie beim Arm und führte sie ins Lokal. Dort kletterte er auf einen Barhocker und bestellte sich einen doppelten Kognak. Was man alles erlebte! Und was war das doch für ein merkwürdiges Mädchen! Natürlich hätte er sie nicht ganz so brutal über ein Thema ausquetschen sollen, das ihr wunder Punkt war. Aber was konnte er schließlich für ihre Empfindlichkeit? Fabian überlegte die Frage sorgfältig und gelangte zu dem Schluß, daß er sich wirklich keinen Vorwurf zu machen brauchte.
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Aber was für eine wüste Geschichte! Ein Findelkind, der Blinddarm, die Zähne, die Haare auf Fingernägeln und Zunge… Und schließlich noch der Knüller mit dem Nabel! Das mußte gründlich überdacht werden. Vielleicht sollte er verschiedene Leute um ihre Meinungen fragen. Eines aber stand für ihn genauso unumstößlich fest wie seine eigene Begabung im Umgang mit Menschen: Mittwoch Gresham hatte in keiner Einzelheit gelogen. Mittwoch Gresham war einfach nicht der Typ Mädchen, der sich gerne interessant machte. Sie kam zu ihm zurück. Er bestand darauf, daß sie etwas trank. »Das gibt Ihnen neue Kraft.« Sie lehnte ab. Sie sei nicht gewohnt zu trinken, sagte sie. Aber er gab nicht nach, und sie fügte sich. »Dann eben einen kleinen Likör. Sie werden schon das Richtige bestellen, Mr. Balik.« Ihre Demut schmeichelte Fabian ungemein. »Sie sehen noch immer etwas mitgenommen aus«, sagte er. »Wenn wir wieder im Büro sind, setzen Sie sich gar nicht erst an Ihren Schreibtisch. Gehen Sie gleich zu Mr. Osborne und nehmen Sie sein Diktat auf. Ihre Kolleginnen sollen keinen Grund zum Klatschen haben. Ich schreibe Sie ins Präsenzbuch ein.« Sie senkte ergeben den Kopf und nippte brav an ihrem Glas. »Was meinten Sie mit Ihrer letzten Bemerkung im Restaurant – Sie seien nicht geboren, sondern gemacht worden? Eine ausgefallene Idee.« Mittwoch seufzte. »Sie stammt nicht von mir, sondern von Dr. Lorington. Vor vielen Jahren hat er mir bei einer Untersuchung gesagt, allem Anschein nach sei ich gemacht worden. Von einem Dilettanten. Von jemand, der nicht alle notwendigen Blaupausen gehabt oder sie nicht verstanden oder sich nicht ausreichend konzentriert hätte.« »Hm.« Fasziniert starrte er sie an. Sie sah völlig normal aus. Das heißt, sogar bedeutend besser als normal. Und trotzdem…
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Am Spätnachmittag rief er Jim Rudd an und ließ sich gleich nach Büroschluß bei ihm vormerken. Jim Rudd war am College sein Stubenkamerad gewesen und war nun Arzt. Er sollte imstande sein, etwas Licht in die Sache zu bringen. Aber Jim Rudd konnte ihm kaum helfen. Geduldig hörte er sich Fabians Geschichte von »einem Mädchen, das ich eben kennengelernt habe« an. Zum Schluß lehnte er sich in seinem neuen, gepolsterten Drehsessel zurück, spitzte die Lippen und betrachtete sein Diplom, das säuberlich eingerahmt an der Wand gegenüber hing. »Du hast eine erstaunliche Vorliebe für Verrückte, Fabe. Auf den ersten Blick könnte man dich für einen ausgeglichenen, selbstsicheren Menschen halten, der gern eile Annehmlichkeiten des Lebens genießt, und dann suchst du dir plötzlich die verdrehtesten Weiber aus. Aber das ist deine Angelegenheit. Vielleicht holst du dir damit die nötige Prise Abenteuerlichkeit in den Alltagstrott. Oder du versprichst dir davon den Ausgleich für den langweiligen Delikatessenladen deines Vaters.« »Dieses Mädchen ist nicht verrückt«, widersprach Fabian empört. »Sie ist eine ganz durchschnittliche kleine Sekretärin, nur eben etwas hübscher als die anderen. Das ist aber auch schon alles.« »Wie du meinst. Für mich ist sie eine Verrückte. Nach deiner Schilderung besteht für mich kein großer Unterschied zwischen ihr und der spinösen Weißrussin, mit der du dich im ersten Semester herumgetrieben hast. Du weißt doch, wen ich meine – wie hieß sie gleich?« »Sandra? Also, Jim, ich verstehe dich nicht! Sandra war eine Ladung Dynamit, aber diese Kleine wird blaß und vergeht vor Schreck, wenn ich nur die Stimme erhebe. Außerdem war ich in Sandra verliebt wie ein junger Hund. Das andere Mädchen habe ich aber eben erst kennengelernt, wie ich dir bereits sagte, und empfinde nicht das geringste für sie.« Der junge Arzt grinste. »Deshalb kommst du auch sofort in
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meine Ordination gelaufen und willst dich von mir über sie aufklären lassen! Na schön, mir kann’s recht sein! Also, was möchtest du wissen?« »Woher stammen diese – diese physischen Absonderlichkeiten?« Dr. Rudd stand auf und setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches. »Erstens einmal«, sagte er, »ist sie eine schwere Neurotikerin, auch wenn du nichts davon hören willst. Dafür spricht der hysterische Anfall im Restaurant und dafür spricht der fantastische Unsinn, den sie dir über ihren Körper erzählt hat. Darüber kommen wir nicht hinweg. Wenn auch nur ein Prozent von dem zutrifft, was sie dir erzählt hat – und meiner Meinung nach ist selbst ein Prozent noch zu hoch gegriffen –, so haben wir es mit einem klaren Fall psychosomatischer Labilität zu tun. Unsere heutige Medizin hat noch keine Erklärung dafür, aber eines steht fest: Jeder geistig oder seelisch Angeschlagene leidet unter irgendwelchen körperlichen Störungen.« Fabian überlegte angestrengt. »Jim, du ahnst nicht, was es für diese kleinen Sekretärinnen aus der Schreibstube bedeutet, ihren Büroleiter anzulügen! Hier und da mal flunkern sie vielleicht, wenn sie einen Tag nicht zur Arbeit erschienen sind. Zugegeben. Aber ausgeklügelte Lügen? Ausgeschlossen! Das würden sie mir gegenüber niemals wagen!« Dr. Rudd zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wofür sie dich halten, Fabe. Ich bin ja schließlich nicht eine deiner Angestellten. Aber alle deine Einwände gelten nicht für eine Psychopatin. Und dafür muß ich sie halten. Sei doch vernünftig. Manche der von ihr beschriebenen Phänomene existieren nicht, über andere wurde in medizinischen Fachzeitschriften geschrieben. Zum Beispiel gibt es erwiesenermaßen Leute, denen mehrmals im Leben ein neues Gebiß gewachsen ist. Bei einem von einer Million Menschen leistet sich die Natur ab und zu einen Witz. Aber das restliche Märchen? Und alles das soll einer einzigen Person widerfahren? Ich bitte dich!«
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»Manches davon sah ich mit eigenen Augen. Die Haare auf ihren Fingernägeln zum Beispiel.« »Du sahst etwas auf ihren Fingernägeln. Dafür gibt es ein Dutzend verschiedener Erklärungen. Aber Haare waren es ganz bestimmt nicht. Damit allein hat sie sich als Schwindlerin entlarvt. Himmeldonnerwetter, Mensch, Haare und Nägel bestehen aus der gleichen Grundsubstanz. Da wächst nicht eines auf dem anderen!« »Und der Nabel? Der fehlende Nabel?« Jim Rudd glitt vom Tisch und lief aufgeregt im Zimmer auf und ab. »Möchte bloß wissen, warum ich soviel Zeit an dich verschwende«, beschwerte er sich. »Ein menschliches Wesen ohne Nabel oder irgendein beliebiges Säugetier ohne Nabel ist genauso möglich wie ein Insekt mit einer Körpertemperatur von hundert Grad. So etwas gibt es nicht. Ausgeschlossen.« »Und wenn ich sie einmal in deine Ordination brächte?« schlug Fabian vor. »Angenommen, du untersuchst sie und findest keinen Nabel. Überlege doch einen Augenblick. Was würdest du dann sagen?« »Plastische Chirurgie«, antwortete der Arzt wie aus der Pistole geschossen. »Wohlgemerkt, ich bin überzeugt, daß sie sich niemals einer solchen Untersuchung unterziehen würde, aber selbst wenn sie es täte und wirklich kein Nabel feststellbar wäre, bliebe immer noch die plastische Chirurgie die einzige Antwort.« »Aber warum soll sich jemand am Nabel einer Schönheitsoperation unterziehen?« »Was weiß ich. Keine Ahnung. Vielleicht ein Unfall. Vielleicht auch ein entstellendes Geburtsmal. Aber Narben werden vorhanden sein, verlaß dich darauf. Sie muß mit einem Nabel geboren worden sein.« Rudd ging wieder an seinen Schreibtisch. Er griff nach einem Rezeptblock. »Ich schreibe dir die Adresse eines guten Psychiaters auf, Fabe. Seit dieser Geschichte mit Sandra war mir klar,
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daß du unter unbewältigten persönlichen Problemen leidest, die dir eines Tages über den Kopf wachsen könnten. Dieser Mann ist einer der besten…« Fabian entfernte sich wortlos. Sie war ganz aus dem Häuschen, als er sie am Abend telefonisch zum Ausgehen einlud. Soviel Erregung ließ sich nicht mal mit einem Rendezvous zwischen Chef und Sekretärin begründen. Fabian stand vor einem Rätsel. Aber er wartete und ließ sich den Abend absichtlich einiges kosten. Später, als sie nach dem Essen und nach dem Theater in der Nische einer kleinen Bar bei ihren Getränken saßen, fragte er sie danach. »Sie gehen nicht viel aus, Mittwoch, wie?« »Nein, Mr. Balik. Will sagen, Fabian«, berichtigte sie sich mit schüchternem Lächeln, da er ihr gestattet hatte, ihn einen Abend lang mit seinem Vornamen anzureden. »Meist gehe ich nur mit Freundinnen aus, nicht mit Männern. Ich lasse mich nie einladen.« »Warum nicht? Auf diese Weise werden Sie niemals einen Ehemann finden. Und Sie möchten doch heiraten, oder nicht?« Mittwoch schüttelte langsam den Kopf. »Ich – ich hätte Angst davor. Nicht vor der Ehe. Aber vor den Kindern. Ich finde, eine Person wie ich sollte kein Kind haben.« »Unsinn! Gibt es irgendein wissenschaftliches Argument dagegen? Wovor fürchten Sie sich denn? Daß es ein Monstrum werden könnte?« »Ich weiß nicht, was es werden könnte. Alles mögliche. Bei meinem komischen Körper darf ich mich sicher auf kein Risiko einlassen. Dr. Lorington meint das auch. Außerdem gibt es doch das Gedicht.« Fabian stellte sein Glas nieder. »Was für ein Gedicht?« »Sie kennen es sicher. Über die einzelnen Wochentage. Ich habe es als kleines Mädchen auswendig gelernt. Es geht so:
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Das Montagskind ist hübsch anzuschaun, dem Dienstagskind darfst du vertraun. Das Mittwochskind ist voller Sorgen, das Donnerstagskind muß dauernd borgen, das Freitagskind ist klug und gut… Und so weiter. Im Waisenhaus habe ich mir als kleines Mädchen oft gedacht: Ich bin Mittwoch. Ich bin auf ganz merkwürdige Art anders als alle anderen kleinen Mädchen. Und mein Kind…‹« »Wer gab Ihnen diesen Namen?« »Man hat mich zu Silvester vor dem Waisenhaus abgelegt. Dort wurde ich Mittwoch früh gefunden. Niemand wußte, wie er mich nennen sollte, besonders, als man bemerkte, daß ich keinen Nabel habe. Und dann haben mich die Greshams adoptiert, wie ich Ihnen bereits sagte, und ich nahm ihren Familiennamen an.« Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Zufrieden bemerkte er, daß auf ihren Nägeln doch Haare wuchsen. »Sie sind ein sehr hübsches Mädchen, Mittwoch Gresham.« Als sie sah, daß er aus Überzeugung sprach, errötete sie. »Und Sie haben wirklich keinen Nabel?« »Nein, wirklich nicht.« »Und was ist sonst noch ungewöhnlich an Ihnen?« fragte Fabian. »Außer den Dingen, von denen Sie mir bereits erzählten, meine Ich.« Sie überlegte. »Na ja, die Sache mit dem Blutdruck.« »Lassen Sie hören.« Sie erzählte es ihm. Zwei Tage später teilte sie Fabian mit, daß Dr. Lorington ihn zu sprechen wünsche. Allein. Aufgeregt marschierte er an den Stadtrand, wo das altmodi-
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sche Backsteinhaus stand. Nervös biß er sich auf die Fingerknöchel. Er hatte so viele Fragen! Dr. Lorington war ein großer, alter Herr mit blasser Haut und schlohweißem Haar. Mit langsamen Bewegungen bot er seinem Besucher einen Stuhl an, aber seine Augen ruhten gespannt und forschend auf Fabians Gesicht. »Mittwoch sagte mir, daß Sie sehr häufig mit ihr zusammenkommen, Mr. Balik. Darf ich fragen, warum?« »Weil sie mir gefällt. Weil sie mich interessiert«, antwortete Fabian achselzuckend. »Wie interessiert sie Sie? Vom klinischen Standpunkt – oder als Exemplar?« »Was für ein Ausdruck, Doktor! Sie ist ein hübsches und sympathisches Mädchen, das ist doch Grund genug.« Der Doktor strich sich über das Kinn, ohne den prüfenden Blick von Fabian zu wenden. »Sie ist ein hübsches Mädchen«, bekräftigte er, »aber davon gibt es viele. Sie sind ein junger Mann, der vermutlich eine beachtliche Karriere vor sich hat. Außerdem sind Sie ihr gesellschaftlich weit überlegen. Was Mittwoch mir von Ihnen erzählt hat – und ich betone, daß sie nur Gutes über Sie spricht –, hat den festen Eindruck in mir erweckt, daß Sie sie nur als Exemplar betrachten, ein Exemplar allerdings, dem Sie, sagen wir, die Begeisterung eines Sammlers entgegenbringen. Wie Sie zu dieser Einstellung gelangt sind, kann ich nicht beurteilen. Dazu kenne ich Sie zu wenig. Aber so sehr sie auch von Ihnen schwärmt, werde ich den Verdacht nicht los, daß Sie nicht die üblichen Gefühle eines verliebten Mannes für sie hegen. Und nachdem ich Sie jetzt selbst gesehen habe, bin ich doppelt überzeugt, mich nicht geirrt zu haben.« »Freut mich, daß sie von mir schwärmt.« Fabian rang sich das verschämte Lächeln eines schüchternen Liebhabers ab. »Sie machen sich ganz überflüssige Sorgen, Doktor.« »Diesen Eindruck habe ich leider ganz und gar nicht. Offen ge-
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sagt, Mr. Balik, hat Ihr Äußeres meine vorgefaßte Meinung verstärkt. Sie gefallen mir nicht. Und vor allein gefallen Sie mir nicht für Mittwoch.« Nach kurzer Überlegung zuckte Fabian die Achseln. »Jammerschade. Aber sie wird bestimmt nicht auf Sie hören. Dazu hat sie zu lange auf männliche Gesellschaft verzichten müssen. Außerdem schmeichelt ihr mein Interesse ungemein.« »Sie sprechen meine geheimsten Ängste aus. Hören Sie auf mich, Mr. Balik. Ich habe Mittwoch sehr gern und weiß, wie vertrauensselig sie ist. Ich bitte Sie beinahe wie ein Vater, lassen Sie das Mädel in Ruhe. Ich habe mich ihrer von dem Tage ihrer Ankunft im Waisenhaus angenommen. Ich habe dafür gesorgt, daß die medizinischen Fachzeitungen nichts von ihrem Fall erfuhren, denn ich wollte ihr die Chance für ein halbwegs normales Leben geben. Inzwischen habe ich meine ärztliche Praxis eingestellt. Mittwoch Gresham ist meine einzige Dauerpatientin. Haben Sie Erbarmen mit ihr und brechen Sie die Bekanntschaft ab.« »Was soll die Geschichte, daß sie angeblich nicht geboren, sondern gemacht wurde?« gab Fabian zurück. »Angeblich ist das Ihre Idee.« Der alte Herr seufzte und schüttelte mehrmals den Kopf. »Das ist die einzige vernünftige Erklärung«, sagte er schließlich verzagt. »Angesichts der somatischen Ungenauigkeiten und Zwiespältigkeiten.« Fabian verschränkte die Hände und rieb seine Ellbogen an den Armstützen seines Stuhles. »Haben Sie niemals daran gedacht, daß eine andere Erklärung möglich wäre? Eine Mutation vielleicht, eine neue Art der menschlichen Entwicklung? Oder vielleicht stammt sie von Wesen einer anderen Welt, die, sagen wir, durch einen Unglücksfall auf unserem Planeten gestrandet sind?« »Höchst unwahrscheinlich«, antwortete Dr. Lorington. »Keine dieser physischen Abwandlungen wäre in irgendeiner denkbaren
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Umgebung von Nutzen, ausgenommen eventuell die sich ständig erneuernden Zähne. Und die Absonderlichkeiten sind auch nicht tödlich. Sie sind nur unbequem. Als Arzt, der in seinem Leben eine Unmenge Patienten untersucht hat, behaupte ich, daß Mittwoch durch und durch menschlich ist. Nur ist sie eben ein bißchen – dilettantisch. Ich wüßte keinen treffenderen Ausdruck dafür.« Der Doktor richtete sich in seinem Stuhl auf. »Und noch etwas, Mr. Balik. Bei Leuten wie Mittwoch halte ich eine Fortpflanzung in höchstem Maße gewagt.« Fabians Augen leuchteten fasziniert auf. »Warum? Wie würden ihre Kinder aussehen?« »Das weiß kein Mensch. Angesichts dieser ungeheuren biologischen Unordnung ist auch mit einer gravierenden Beeinflussung der Fruchtbarkeit zu rechnen. Deshalb bitte ich Sie, Mr. Balik, sich von Mittwoch zurückzuziehen und keine Heiratsgedanken in ihr zu wecken. Wenn es ein Mädchen gibt, dem ich dringend empfehlen würde, keine Kinder zu bekommen, dann ist es Mittwoch!« »Abwarten.« Fabian erhob sich und streckte dem Arzt die Hand hin. »Jedenfalls vielen Dank, Doktor, daß Sie sich die Zeit und Mühe genommen haben, mich zu empfangen.« Dr. Lorington legte den Kopf schief und sah zu ihm auf. Dann sagte er, ohne Fabian die Hand zu geben: »Gern geschehen. Adieu, Mr. Balik.« Natürlich kränkte sich Mittwoch über die Feindseligkeit der beiden Männer. Allerdings gab es kaum einen Zweifel, für wen sie sich im Ernstfall entscheiden würde. Die jahrelang erzwungene Enthaltsamkeit schlug nun in einen wahren Liebestaumel um. Sobald sie sich erst gestattet hatte, Fabian mit den Augen einer Liebenden zu betrachten, war sie erledigt. Sie erzählte ihm, daß sie völlig berauscht von der Vorstellung sei, sie könne Ihm gefallen. Ihre Büroarbeit leistete sie wie im Traum. Ihren Kolleginnen allerdings verschwieg sie ihre Liebesgeschichte.
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Fabian badete in ihrer Bewunderung. Die meisten Frauen, denen er jemals begegnet war, behandelten ihn mit wachsender Geringschätzung, je länger sie ihn kannten. Mittwoch hingegen wurde täglich anschmiegsamer. Zugegeben, sie war nicht die Klügste, aber, so sagte er sich, dafür war sie auffallend hübsch, und er hatte daher keinen Grund, sich ihrer zu schämen. Um jedoch ganz sicherzugehen, führte er ein Gespräch mit Mr. Slaughter herbei, dem Seniorchef der Firma. Zuerst unterhielt er sich über Personalfragen mit ihm, erwähnte aber dann beiläufig, daß er ein mildes Interesse an einem der Mädchen aus der Schreibstube hätte. Ob die Obrigkeit etwas dagegen hätte? »Geht Ihr Interesse so weit, daß Sie ans Heiraten denken?« fragte Mr. Slaughter und musterte ihn durch seine dicken Brillengläser. »Vielleicht. Durchaus möglich, daß es dazu kommen könnte, Sir. Wenn Sie nichts da…« »Ich habe absolut nichts dagegen, mein Junge! Im allgemeinen sehe ich es zwar nicht gerne, wenn meine leitenden Angestellten mit ihren Schreibkräften flirten, aber wenn es diskret geschieht und zur Ehe führt, könnte eine solche Bindung dem Büro nur dienen. Ich sähe Sie gerne verheiratet und seßhaft. Das könnte meine anderen ledigen Angestellten ausnahmsweise mal auf nützliche Gedanken bringen. Aber wohlgemerkt, Balik, kein Verhältnis. Und keine Schmusereien, besonders während der Dienstzeit!« Befriedigt ging Fabian nun daran, Dr. Loringtons Einfluß auf Mittwoch zu unterbinden. Er erklärte ihr, daß der alte Herr nicht ewig leben würde und sie einen Hausarzt brauchte, der jung genug war, um ihr bei den körperlichen Schwierigkeiten beizustehen, mit denen sie bis an ihr Lebensende zu kämpfen haben würde. Jim Rudd, zum Beispiel, sei ein ausgezeichneter junger Arzt. Mittwoch weinte zwar, war aber unfähig, sich ihm lange zu wi-
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dersetzen. Schließlich stellte sie nur die Bedingung, daß Dr. Rudd das gleiche Stillschweigen bewahren müsse, wie Dr. Lorington es bisher getan hatte. Sie wollte weder eine Sensation für die ärztlichen Fachzeitschriften noch das Opfer sentimentaler Reportagen werden. Damit war Fabian einverstanden, allerdings nicht aus Großmut, sondern weil er ihre Geheimnisse mit niemandem teilen wollte. Sandra hatte er wie ein blitzendes Juwel an einer Kette an seinem Busen getragen. Mittwoch wollte er in einem winzigen Rauhlederbeutel für sich behalten, um sich, nur ab und zu wie ein Geizhals an ihrem Anblick zu weiden. Und vielleicht bekam er mit der Zeit ein zweites, kleineres Juwel… Jim Rudd nahm die Bedingung an. Und wurde verblüfft. »Nicht die geringste Spur eines Nabels!« rief er aus. Er hatte die erste Untersuchung beendet und war wieder zu Fabian ins Wartezimmer gekommen. »Ich habe die Haut genau nach Narben abgetastet, aber es gibt keine. Und das ist noch lange nicht alles! Sie hat keine erkennbaren Herztöne! Mann, weißt du, was das bedeutet?« »Das interessiert mich im Augenblick weniger. Vielleicht später«, sagte Fabian. »Wirst du ihr bei ihren physischen Problemen helfen können, wenn sie sich wieder einstellen?« »Aber sicher! Zumindest ebensogut wie der alte Knacker.« »Und wie steht’s mit Kindern? Kann sie welche haben?« Rudd breitete die Hände aus. »Ich sehe nicht ein, warum nicht. Trotz ihrer Abwegigkeiten ist sie eine erstaunlich gesunde junge Frau. Und wir haben keinen Grund zu der Annahme, daß diese Verfassung – wie immer wir sie nennen wollen – erblich ist. Natürlich kann das eine oder andere Merkmal in abgewandelter Form auch bei einem Kind auftreten, aber im großen und ganzen…«
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Unmittelbar vor Fabians Urlaubsbeginn wurden sie im Rathaus getraut. Nach dem Mittagessen kehrten sie ins Büro zurück und gaben ihre Vermählung bekannt. Fabian hatte bereits eine neue Sekretärin eingestellt, die seine Frau ersetzen sollte. Zwei Monate danach gelang es Fabian, sie zu schwängern. Er staunte, wie sehr sie sich darüber aufregte, obwohl er sie seit Beginn ihrer Ehe dazu erzogen hatte, keinen eigenen Willen zu haben. Er versuchte es mit Strenge und verbot sich jedes Melodrama. Dr. Rudd hätte gesagt, daß sie nach menschlicher Voraussicht ein normales Kind bekommen würde, hielt er ihr vor. Na also! Aber es nützte nichts. Da versuchte er, ihr zu schmeicheln und sich sanft über sie lustig zu machen. Er nahm sie sogar in die Arme und versicherte ihr, er liebe sie so sehr, daß er sich ein kleines Mädchen genau nach ihrem Ebenbild wünsche. Aber auch das nützte nichts. »Ach, mein lieber Fabian«, jammerte sie, »begreifst du denn nicht? Ich soll kein Kind haben. Ich bin nicht wie die anderen Frauen.« Schließlich verfiel er auf einen Ausweg, den er sich als letzte Rettung für diese Krise ausgedacht hatte. Er nahm ein Buch vorn Regal und schlug es auf. »Ich begreife durchaus«, sagte er. »Zur Hälfte ist es Dr. Lorington und sein abergläubisches Gewäsch aus dem vorigen Jahrhundert, und zur Hälfte ein dummes kleines Gedicht, das einen fürchterlichen Eindruck auf dich machte, als du noch ein Kind warst. Nun, gegen Dr. Lorington bin ich machtlos, aber dafür kann ich etwas gegen das Gedicht unternehmen. Da, lies das.« Sie las: Geburtstage Von B. L. Farjeon Das Montagskind ist hübsch anzuschaun, dem Dienstagskind darfst du vertraun, das Mittwochskind ist klug und gut, das Donnerstagskind hat großen Mut, das Freitagskind ist voller Sorgen,
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das Samstagskind muß dauernd borgen, doch das Kind, das am Sonntag die Welt erblickt, das hat Gottvater persönlich geschickt. Mittwoch sah auf und drückte die Tränen aus den Augen. »Das versteh ich nicht«, murmelte sie verwirrt. »Ich habe es doch anders gelesen?« Er hockte sich neben sie und setzte ihr geduldig auseinander: »In dem Gedicht, das du kennst, waren zwei Zeilen vertauscht, nicht wahr? Bei dem Mittwoch- und Donnerstagskind standen die Zeilen, die sich in diesem Gedicht auf Freitag und Samstag beziehen und umgekehrt. Ursprünglich stammte das Gedicht aus Devonshire, und niemand weiß genau, welche Version die richtige ist. Ich habe eigens darüber nachgelesen. Ich wollte dir nämlich beweisen, wie dumm du warst, daß du deine gesamte Lebenseinstellung auf zwei Verslein aufgebaut hast, die man nach Belieben lesen kann; ganz davon zu schweigen, daß dieses Gedicht einige Jahrhunderte früher entstand, als jemand daran dachte, dich Mittwoch zu nennen.« Sie schlang die Arme um ihn und hielt ihn fest. »Ach, mein lieber Fabian! Sei mir nicht böse! Ich habe nur ganz schreckliche Angst!« Auch Jim Rudd war bestürzt. »Ich bin ziemlich sicher, daß alles gutgehen wird, aber es wäre mir lieber gewesen, du hättest gewartet, bis ich mich mit der Patientin besser vertraut gemacht habe. Eines muß ich dir allerdings sagen, Fabe. Ich werde einen erstklassigen Gynäkologen zuziehen müssen. Allein übernehme ich nicht die Verantwortung. Daß er nichts über Mittwoch und ihre Absonderlichkeiten durchsickern läßt, verspreche ich dir. Sobald sie aber in den Kreißsaal geschoben wird, kann ich für nichts mehr garantieren. Diese vielen Abweichungen vom Normalen müssen auffallen. Zumindest einer Schwester.« »Tu dein Bestes«, sagte Fabian. »Wenn es sich irgendwie vermeiden läßt, möchte ich meiner Frau jede traurige Berühmtheit ersparen. Läßt sich das allerdings nicht machen – tja, dann ist es
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eben höchste Zeit, daß Mittwoch lernt, sich in der harten Wirklichkeit zu behaupten.« Die Schwangerschaft verlief normal. Mittwoch litt nur unter den üblichen Beschwerden. Der von Jim Rudd empfohlene Gynäkologe staunte genau wie alle anderen über Mittwochs körperliche Merkmale. Allerdings versicherte er ihnen, daß die Schwangerschaft einen normalen Verlauf nähme und der Embryo sich völlig programmgemäß entwickle. Mittwoch wurde wieder ganz vergnügt. Abgesehen von ihren kleinen Ängstlichkeiten war sie eine äußerst angenehme und nützliche Frau, fand Fabian. Sie brillierte zwar nicht auf Parties, wenn sie mit anderen Ehepaaren von Slaughter, Stark und Slingsby zusammenkamen, aber sie beging auch niemals einen schweren Fehler. Im Grunde war sie sehr beliebt, und da sie ihm in jeder Kleinigkeit bedingungslos gehorchte, hatte er keinen Grund zur Klage. Seine Tage gingen bei trockenem, pedantisch genauem Papierkram im Büro dahin, den er noch zufriedenstellender als sonst erledigte, und seine Nächte und Wochenenden verbrachte er mit seiner Frau, von der er mit Recht annehmen konnte, daß sie auf der Welt nicht ihresgleichen hatte. Er war äußerst zufrieden. Knapp vor der zu erwartenden Geburt bat Mittwoch um Erlaubnis, Dr. Lorington ein einziges Mal zu besuchen. Das mußte Fabian zu seinem Bedauern ablehnen. »Nicht, daß ich es ihm vielleicht nachtrage, daß er uns weder ein Glückwunschtelegramm noch ein Hochzeitsgeschenk geschickt hat, Mittwoch. Das nehme ich nicht wichtig. Ich bin nicht kleinlich. Aber du bist jetzt in ausgezeichneter Verfassung. Du hast deine dumme Angst überwunden. Lorington würde sie bloß wieder aufleben lassen.« Und sie gab nach, wie immer. Ohne Widerspruch, ohne Klage. Sie war wirklich eine sehr brave Frau. Fabian freute sich bereits auf das Kind.
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Eines Tages rief ihn die Klinik in seinem Büro an. Mittwoch hatte während der Untersuchung beim Gynäkologen Wehen bekommen. Sie war sofort in die Klinik gebracht worden und hatte dort kurz darauf ein Mädchen geboren. Mutter und Kind ging es gut. Fabian öffnete die Kiste Zigarren, die er für diesen Anlaß besorgt hatte. Er ließ sie im Büro herumgehen und nahm die Glückwünsche aller entgegen, einschließlich jener Mr. Slaughters, Mr. Starks und beider Mr. Slingsbys. Dann fuhr er in die Klinik. Kaum hatte er die Entbindungsstation betreten, da wußte er auch schon, daß etwas nicht stimmte. Die Leute sahen ihn neugierig an und blickten dann rasch wieder fort. Er hörte, wie eine Schwester hinter ihm sagte: »Das muß der Vater sein.« Sein Mund wurde schmal und trocken. Sie führten ihn zu seiner Frau. Mittwoch lag seitlich im Bett und hatte die Knie hochgezogen. Sie atmete mühsam und schien bewußtlos zu sein. Etwas an dieser zusammengekauerten Haltung war ihm gar nicht geheuer, aber er wußte nicht genau, was ihn störte. »Ich dachte, sie würde eine natürliche Geburt haben«, sagte er. »Sie hat mir erzählt, daß man ihr keine Narkose geben würde.« »Wir haben sie auch nicht narkotisiert«, sagte ihm der Gynäkologe. »Kommen Sie, Mr. Balik, jetzt möchte ich Ihnen Ihr Kind zeigen.« Er ließ sich eine Maske vors Gesicht binden und zu dem verglasten Raum führen, wo die Neugeborenen in ihren Bettchen lagen. Sein Gang war langsam und zögernd. In seinem Kopf nistete sich die Gewißheit einer unvorstellbaren Katastrophe ein. Eine Schwester hob ein Neugeborenes aus einem Bett, das abseits von den anderen in einer Ecke stand. Fabian stolperte näher. Die Erleichterung überrollte ihn wie eine Welle, als er be-
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merkte, daß das Kind normal aussah. Es war weder verunstaltet, noch verkrüppelt. Mittwochs Tochter war keine Mißgeburt. Aber das Kind streckte die Ärmchen nach ihm aus. »Ach, mein lieber Fabian«, lispelte es mit zahnlosem Mund, und seine Stimme klang erschreckend vertraut. »Ach, mein lieber Fabian, du kannst dir nicht vorstellen, was für eine verrückte, unglaubliche Sache geschehen ist!«
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Das Dienerproblem Es war der Tag der vollkommenen Kontrolle… Garomma, der Diener der Menschheit, der Fronknecht der Welt, der Sklave der Zivilisation, preßte die parfümierten Fingerspitzen ans Gesicht, schloß die Augen und gestattete sich, im Gefühl unumschränkter, unwidersprochener Macht zu schwelgen, einer Macht, von der bis zu diesem Tage kein Sterblicher auch nur zu träumen gewagt hätte. Vollkommene Kontrolle. Vollkommene… Über alle. Mit Ausnahme eines Mannes. Eines einzigen ehrgeizigen Außenseiters. Eines äußerst brauchbaren Mannes. Sollte er heute nachmittag an seinem Schreibtisch erdrosselt werden? Das war die Frage. Oder sollte man ihm noch einige wenige Tage oder Wochen scharf überwachter Verwendbarkeit gestatten? Zweifellos spitzten sich seine Treulosigkeiten und seine Intrigen immer mehr zu. Garomma beschloß, seine Entscheidung später zu fällen. In Ruhe. Ansonsten aber war in jeder Hinsicht und über sämtliche Menschen die vollkommene Kontrolle erreicht. Nicht nur über das Gehirn der Menschen, sondern auch über ihre Drüsen. Und jene ihrer Kinder. Und, wenn Moddos Schätzungen stimmten, auch über die ihrer Kindeskinder. »Ja«, murmelte Garomma vor sich hin. Ihm war plötzlich ein Bruchstück der mündlichen Überlieferung eingefallen, die ihn sein bäuerlicher Vater vor vielen Jahren gelehrt hatte: »Ja, bis ins siebente Glied.« Aus welchem vorgeschichtlichen Buch, das in einem längst erloschenen Kulturfeuer verbrannt worden war, stammten diese Worte? überlegte er. Das konnte ihm weder sein Vater sagen, noch einer der Freunde oder Nachbarn seines Vaters. Sie alle waren vor dreißig Jahren nach dem Bauernaufstand des Sechs-
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ten Distrikts ausgerottet worden. Ein Aufstand dieser Art konnte sich nie mehr wiederholen. Denn jetzt gab es die vollkommene Kontrolle. Eine Hand berührte ihn sanft am Knie. Das ziellose Umherirren seiner Gedanken hörte auf. Moddo. Der Diener des Unterrichts, der unter ihm in den Tiefen des Fahrzeugs saß, deutete unterwürfig auf den durchsichtigen, kugelsicheren Panzerturm, der seinen Herrn bis zur Mitte umgab. »Das Volk«, sagte er in seiner sonderbar stammelnden Sprechweise. »Dort. Draußen.« Ja. Sie rollten durch die Tore des Lagers des Dienens in den Stadtkern. So weit das Auge reichte, wurde die Straße zu beiden Seiten von der jubelnden Menge gesäumt. Garomma, der Diener der Menschheit, durfte sich nicht anmerken lassen, daß er seinen eigenen Gedanken nachhing, denn nun sollten ihn jene zu sehen bekommen, denen er so gewaltig diente. Er verschränkte die Arme über der Brust und verneigte sich in der kleinen Kuppel nach rechts und links, die wie ein Turm aus dem schweren, schwarzen Fahrzeug ragte. Diener nach rechts, Diener nach links. Und laß es nicht an der nötigen Demut fehlen. Vergiß nicht, daß du der Diener der Menschheit bist. Das Gebrüll schwoll an. Sein flüchtiger Blick streifte Moddo, der ihm von unten anerkennend zunickte. Der gute, alte Moddo. Auch für ihn war es ein Tag des Triumphs. Daß die vollkommene Kontrolle erreicht werden konnte, verdankte er ganz und gar – und unglaublicherweise – seinem Diener des Unterrichts. Und doch saß Moddo im Schatten der Anonymität hinter dem Fahrer bei Garommas Leibwächtern und genoß nun schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren den Triumph aus zweiter Hand. Zu Moddos Glück genügte ihm diese Art der Freude völlig. Leider gab es auch andere – oder zumindest einen anderen –, die mehr verlangten… Garomma verneigte sich nach rechts und nach links und spähte dabei neugierig durch die fließende Eskorte schwarz uniformier-
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ter Polizisten auf Motorrädern, die um seinen Wagen schwärmten. Er betrachtete das Volk der Hauptstadt, sein Volk, wie alles und jeder auf Erden sein Eigentum war. Die Leute drängten sich wie verrückt auf den Gehsteigen und breiteten begeistert die Arme aus, sobald sein Wagen vorbeirollte. »Diene uns, Garomma!« brüllten sie im Chor. »Diene uns! Diene uns!« Er registrierte ihre verzerrten Gesichter, den Schaum, den viele vor dem Mund hatten, die halb geschlossenen Augen und entrückten Mienen, die schwankenden Männer, die zuckenden Weiber, und dazwischen den einen oder anderen, dem das übermächtige Glücksgefühl die Besinnung raubte. Und er verneigte sich. Die Arme über der Brust verschränkt, verneigte er sich. Nach rechts und nach links. In bescheidener Ergebenheit. Vorige Woche hatte Moddo seine Weisungen über den Ablauf der Feier und das Protokoll der heutigen Parade eingeholt. Dabei hatte sich der Diener des Unterrichts selbstgefällig über die bevorstehende, alle Grenzen sprengende Massenhysterie geäußert, die jedesmal ausbrach, wenn das Volk das Gesicht seines Führers zu sehen bekam. Da hatte Garomma eine Frage gestellt, die ihn schon seit langem bewegt hatte. »Was geht bei meinem Anblick in ihren Köpfen vor, Moddo? Anbetung, Verzückung und all das Zeug kenne ich natürlich. Aber wie definieren Sie und Ihre Kollegen dieses Gefühl, wenn Sie in den Labors und im Unterrichtszentrum darüber reden?« »Wir sprechen von einer Spontanauslösung«, sagte Moddo langsam. Dabei starrte er über Garommas Schulter auf die Rückwand mit der großen Abbildung der elektronisch kartierten Welt. »Tausendfältige kleine Verbote und dauernde Einschränkungen stauen in diesen Leuten Tag für Tag Spannungen auf. Pausenlos wurde ihnen eingehämmert: ›Das darfst du nicht, aber jenes mußt du tun.‹ Diese geballten Aggressionen wurden vom Unterrichtsdienst organisiert, um sich explosionsartig zu entladen, sobald das Volk Ihr Bildnis sieht oder Ihre Stimme
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hört.« »Spontanauslösung. Hm. So hatte ich es eigentlich niemals aufgefaßt.« Moddo hob gebieterisch die Hand. »Schließlich sind Sie der Mann, der sein Leben in einer Selbstverleugnung verbringt, die so tief ist, daß sie alle Vorstellungen des Volkes sprengt. Sie sind es, in dessen geduldigen, niemals ermüdenden Fingern die verworrenen Fäden der Weltordnung zusammenlaufen. Sie sind der letzte und am schwersten arbeitende Diener; der Sündenbock der Massen!« Garomma hatte zu Moddos gelehrtenhafter Ausdrucksweise nur gelächelt. Jetzt allerdings, da er aus demütig niedergeschlagenen Augen zu seinem Volk hinüberblinzelte, pflichtete er dem Diener des Unterrichts rückhaltslos bei. Oder trug das Wappen des Weltstaats etwa nicht die Inschrift: Alle Menschen müssen dienen, aber nur Garomma dient allen? Ohne ihn würden die Dämme bersten, und das Meer würde das Land überfluten, Infektionen würden um sich greifen und rasch zu Seuchen anwachsen, die ganze Distrikte zu dezimieren imstande waren; lebenswichtige Versorgungen würden ins Stocken geraten, daß eine ganze Stadt innerhalb einer Woche verdursten konnte und föderalistische Beamte würden die Leute knechten und sich blutrünstige Schlachten liefern. Das wußte das Volk. Tag und Nacht schuftete Garomma, damit alles reibungslos funktionierte und die gigantischen Kräfte der Natur und Technik niemals ihre Fesseln sprengen konnten. Seine Untertanen wußten das, denn sooft »Garomma des Dienens müde war«, traten Katastrophen ein. Was war die kleine Mühsal des allgemeinen Lebens im Vergleich zu seiner unvorstellbaren Arbeitslast? Hier, in diesem schwachen, ernsthaften Mann, der sich demütig nach rechts und links verneigte, offenbarte sich ihnen nicht nur die Gottheit, die es dem Menschen ermöglichte, ein bequemes Erdendasein zu genießen. Er war auch das Sinnbild aller entrechteten Rassen,
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die selbst noch im ausgebeutetsten Mann das wohlige Gefühl erweckten, daß es ihm verhältnismäßig immer noch ganz gut ginge und er im Vergleich zu diesem tief unter ihm stehenden Auswurf der Gesellschaft ein kleiner König sei. Was Wunder, daß sie ihm verzückt die Arme entgegenstreckten, ihm, dem Diener der Menschheit, dem Knecht der Welt, dem Sklaven der Zivilisation, und ihm übermütig befahlen und ihn mit dem nächsten Atemzug angsterfüllt anflehten: »Diene uns, Garomma! Diene uns, diene uns!« Hatten die gutmütigen Schafe, die er als Junge im nordwestlichen Sechsten Distrikt gehütet hatte, ihn nicht ebenfalls für ihren Diener gehalten, wenn er sie bewacht und zu besseren Weiden und kühleren Flüssen geführt, sie vor Unheil bewahrt und ihnen Kiesel aus den Zehen entfernt hatte, und das alles nur, damit ihr Fleisch auf dem Tisch seines Vaters besonders köstlich mundete? Diese bedeutend nützlichere Herde zweibeiniger, denkfähiger Schafe war nicht minder an ihren Herrn gewöhnt. Und das alles, weil man den Menschen den Grundsatz eingehämmert hatte, die Regierung sei der Diener des Volkes und der mächtigste Mann der Regierung der niederste Knecht. Seine Schafe. Väterlich und voll heimlichem Besitzerstolz lächelte er ihnen zu, als sein Sonderwagen an dem Meer johlender, brüllender Gesichter vorbeirollte. Seine Schafe. Und die Polizisten auf Motorrädern und jene zu Fuß, die seinen Weg säumten und sich an den Armen hielten, um die entfesselten Menschenmengen zurückzudrängen, das waren seine Hirtenhunde. Also ebenfalls Haustiere, wenn auch von einer anderen Gattung. Auch er war nicht mehr gewesen, als er vor dreiunddreißig Jahren auf dieser Insel gelandet war, nachdem er auf dem Land seine Schulung als Sicherheitsbeamter beendet hatte und seine erste Staatsstelle als Polizist in der Hauptstadt antrat. Ein ungeschickter, aufgeregter Hirtenhund. Drei Jahre später aber hatte ihm der Bauernaufstand in seinem Heimatdistrikt eine Chance geboten. Er hatte nicht nur die Hin-
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tergründe des Aufstandes gekannt, sondern auch gewußt, wer die Drahtzieher waren. Dadurch hatte er wesentlich dazu beitragen können, die Empörung niederzuschlagen. Seine gehobene Stellung im Sicherheitsdienst hatte ihm dann zur Bekanntschaft begabter junger Leute in anderen Dienstgattungen verholfen. Vor allem hatte er Moddo getroffen, den ersten Menschen, den er persönlich domestiziert hatte. Er hatte sich Moddos ausgezeichnetes Organisationstalent dienstbar gemacht und sich zu einem Meister der Kunst des politischen Meuchelmordes entwickelt. Als sich dann sein Vorgesetzter um das höchste Amt der Welt bewarb, hatte Garomma alle Trümpfe in der Hand, um der neue Diener der Sicherheit zu werden. Mit Moddo im Kielwasser, der alle Feinheiten seines Kriegsplanes ausarbeitete, war es von da an nur mehr eine Frage einiger Jährchen gewesen, bis er auf den rauchenden Trümmern der gestürzten Regierung seinen eigenen Machtantritt feiern konnte. Er war fest entschlossen, niemals die Lektion zu vergessen, die er selbst den Insassen des durchlöcherten, zerbombten Gebäudes erteilt hatte. Er konnte nicht abschätzen, wie viele Diener der Sicherheit ihr Amt vor ihm dazu benützt hatten, um sich auf dem breiten hölzernen Stuhl des Dieners der Menschheit zu inthronisieren. Schließlich wurden die Geschichtsbücher und alle anderen Aufzeichnungen bei Beginn jeder neuen Regierung von Grund auf umgeschrieben. Und die mündliche Oberlieferung, die im allgemeinen ein guter Wegweiser in die Vergangenheit war, wenn man es verstand, die Tatsachen herauszusieben, schwieg sich über dieses Thema aus. Eines allerdings stand fest: Was ihm gelungen war, stand auch einem anderen offen. Der Diener der Sicherheit war ein Emporkömmling und daher der logische Nachfolger des Dieners der Menschheit. Dieser ständigen Bedrohung stand er machtlos gegenüber. Er konnte sich nur auf seine eigene Wachsamkeit verlassen. Deutlich erinnerte er sich, wie sein Vater ihn von seinen Kinderspielen abberufen und ihn ins Gebirge geführt hatte, wo er die Schafe hüten mußte. Wie hatte er diese einsame, mühevolle
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Arbeit gehaßt! Das hatte sein Vater eingesehen und sich ausnahmsweise zu einer gewissen Erklärung herbeigelassen. »Schafe sind sogenannte Haustiere, mein Junge. Und auch Hunde sind Haustiere. Nun, wir können Schafe domestizieren und Hunde dazu abrichten, daß sie die Schafe bewachen, aber als klugen, aufmerksamen Hirten, der sich in jeder unvorhergesehenen Notlage zu helfen weiß und uns benachrichtigt, dazu, mein Junge, brauchen wir einen Mann.« Er hatte dem langen Hirtenstab, dem Zeichen seiner neuen Würde, einen Tritt versetzt und gesagt: »Warum domestiziert man dann nicht gleich einen Mann?« Sein Vater hatte leise vor sich hin gelacht und war dann über den Kamm des Berges gestapft. »Manche Leute versuchen das bereits, und es gelingt ihnen immer besser. Die Sache krankt nur daran, daß ein domestizierter Schafhirt nicht mal mehr seine Suppe wert ist. Ein gezähmter Mann büßt seine Wachsamkeit und Einsatzfreude ein. Er verliert jedes Interesse und ist dadurch zu nichts mehr zu gebrauchen.« Damit war der Kern des Problems umrissen, fand Garomma. Ein Diener der Sicherheit konnte nicht zum frommen Haustier werden. Das vertrug sich nicht mit seinem Amt. Er hatte versucht, Hirtenhunde an die Spitze des Sicherheitsdienstes zu stellen. Unverdrossen hatte er es immer von neuem versucht. Aber sie hatten regelmäßig versagt und mußten von Männern abgelöst werden. Und irgendwann, ob nach einem, drei oder fünf Jahren, packte jeden Mann, der dieses Amt zufriedenstellend ausfüllte, der Machthunger, und dann mußte er aus dem Weg geräumt werden. Beim derzeitigen Diener der Sicherheit war es in Kürze soweit. Dabei war dieser Mann sagenhaft tüchtig! Es verlangte einen ausgeklügelten Terminplan, um die maximale Leistung eines jener raren, einfallsreichen Männer zu ernten, dem sein Amt wie auf den Leib geschrieben war, und ihn trotzdem genau dann zu vernichten, wenn er begann, gefährlicher als nützlich zu sein.
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Und da beim richtigen Mann die Gefahr von allem Anfang an vorhanden war, hieß es, die Waagschalen pausenlos sorgfältig beobachten… Garomma seufzte. Das war seine einzige Sorge in einer Welt, die ansonsten faktisch darauf ausgerichtet war, ihm Genuß zu verschaffen. Und es war eine Sorge, die ihn ständig begleitete, bis in den Schlaf. Gestern nacht erst hatte er wieder ganz schrecklich geträumt. Moddo berührte nochmals sein Knie, um ihn daran zu erinnern, daß er sich dem Volk zur Schau stellte. Er riß sich zusammen und lächelte dankbar. Träume darf man nicht überschätzen, nahm er sich vor. Jetzt hatten sie das Gedränge hinter sich. Vor ihnen öffnete sich langsam das schwere Metalltor des Zentrums des Unterrichts, und sein Wagen fuhr dröhnend ein. Die motorisierten Polizisten sprangen geschmeidig von ihren Motorrädern, und die weiß uniformierten bewaffneten Wachen des Unterrichtsdienstes nahmen Haltung an. Moddo half Garomma nervös beim Aussteigen. Im gleichen Augenblick stimmte das Zentrumsorchester, unterstützt vom Zentrumschor das aufwühlende Credo der Hymne der Menschheit an: Garomma plagt sich Tag und Nacht, Garomma ist stets auf der Wacht; Nicht eine Freude gönnt er sich, lebt nur für dich und nur für mich. Mit diesen Versen war dem Protokoll Genüge getan, und das Orchester intonierte Das Lied des Unterrichts, Der Hilfsdiener des Unterrichts, ein wohlerzogener junger Mann, kam die Treppe herab. Oberflächlich, aber völlig korrekt breitete er die Arme aus und grüßte »Diene uns, Garomma«. Dann trat er beiseite, um Garomma und Moddo die Treppe freizugeben, schwenkte hinter den beiden ein und folgte ihnen in strammer Haltung nach. Der Chormeister ließ inzwischen die Hymne in einem hohen Ton ausklingen. Sie traten durch den mächtigen Torbogen mit seiner gemeißel-
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ten Inschrift: Wir Alle Müssen Vom Diener Der Menschheit Lernen und gingen den darunterliegenden breiten Hauptkorridor des riesigen Gebäudes entlang. Die grauen Lumpen, in die Garomma und Moddo gehüllt waren, umflatterten sie bei jedem Schritt. An den Wänden standen rangniedere Beamte und sangen: »Diene uns, Garomma! Diene uns! Diene uns!« Etwas weniger Fanatismus als beim Volk, stellte Garomma fest, aber trotzdem absolut zufriedenstellende Gefühlsausbrüche. Er verneigte sich und warf dem hinter ihm gehenden Moddo einen verstohlenen Blick zu. Er vermochte kaum ein Lächeln zu unterdrücken. Der Diener des Unterrichts sah genauso nervös und unsicher aus wie immer. Armer Moddo! Er war einem derart hohen Amt einfach nicht gewachsen. Seine hohe, stämmige Gestalt war gebeugt wie die eines müden Beerenpflückers. Er sah nach allem eher aus als nach dem bedeutendsten Beamten der Regierung. Und genau das machte ihn unersetzlich. Moddo war klug genug, seine eigene Unzulänglichkeit zu erkennen. Ohne Garomma würde er auch heute noch in irgendeiner Unterabteilung des Unterrichtsdienstes abstrakte Statistiken nach Fehlern absuchen. Er wußte genau, daß er nicht stark genug war, auf eigenen Füßen zu stehen. Außerdem war er viel zu gehemmt, um nützliche Verbindungen anzuknüpfen. Von sämtlichen Dienern des Kabinetts war Moddo der einzige, dem Garomma blind vertrauen durfte. Schüchtern berührte Moddo seine Schulter, und Garomma betrat den großen Raum, der genau nach seinen Angaben ausgestattet worden war. Dort stieg er auf das kleine mit Goldbrokat ausgeschlagene Podium. Er setzte sich auf den schlichten, hölzernen Stuhl. Gleich darauf nahm Moddo eine Stufe unter ihm Platz, und der Hilfsdiener des Unterrichts setzte sich noch eine Stufe tiefer auf einen Stuhl. Nun betraten die leitenden Beamten des Unterrichtszentrums hintereinander den Raum. In ihren weißen, reich gefältelten, fließenden Tuniken nahmen sie vor dem Podium Aufstellung. Garommas persönliche Leibwache bildete vor dem Podium eine abschirmende Phalanx.
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Und dann begannen die Feierlichkeiten, um das denkwürdige Ereignis der vollkommenen Kontrolle zu zelebrieren. Als erstes rezitierte der Rangälteste des Unterrichtsdienstes die passenden Absätze der mündlichen Überlieferung: Wie schon seit den beinahe prähistorischen demokratischen Zeiten alljährlich und unter jeder Regierung in den Abschlußklassen der Grundschulen der ganzen Welt psychometrische Stichproben angestellt worden waren, um einen Überblick über die politische Schulung der Kinder zu erlangen. Und wie man jedes Jahr dabei auf eine überwältigende Mehrheit gestoßen war, die felsenfest davon überzeugt war, daß der jetzige Regent die Stütze des menschlichen Wohlergehens war, die Quelle des täglichen Lebens. Daneben aber gab es eine verschwindende Minderheit – fünf Prozent, sieben Prozent, drei Prozent –, die sich der Belehrung erfolgreich widersetzt hatte. Diese Kinder mußten daher, sobald sie erwachsen waren, als mögliche Unruhestifter überwacht werden. Als vor fünfundzwanzig Jahren Garomma und sein Diener des Unterrichts, Moddo, die Geschicke der Welt zu lenken begonnen hatten, war eine neue Ära intensiver Meinungsformung angebrochen, die sich nicht mit Halbheiten zufrieden gab. Der alte Mann endete, verneigte sich und zog sich zu seinen Kollegen zurück. Der Hilfsdiener des Unterrichts erhob sich und wandte sich Garomma zu. Er umriß die neuen Ziele, die sich als »vollkommene Kontrolle« zusammenfassen ließen, während die früheren Regierungen sich mit einer Kontrolle von 97 Prozent oder 95 Prozent begnügten. Er erörterte die neuen, umfassenden Angstmechanismen und verstärkten psychometrischen Stichproben in den unteren Schulklassen, auf die diese Mechanismen angewandt wurden. Diese Methoden hatte Moddo – »unter der nie erlahmenden Inspiration und dauernden Führung Garommas, des Dieners der Menschheit«, entwickelt. Schon innerhalb weniger Jahre hatten Stichproben ergeben, daß die Zahl selbständig denkender Jugendlicher auf weniger als ein Prozent abgesunken war. Alle übrigen priesen Garomma mit jedem Atemzug.
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Von da an verlangsamte sich der Fortschritt. Sie hatten die intelligentesten Kinder mit dem neuen Prozeß der Meinungsbildung erfaßt, waren jedoch immer wieder auf das unbelehrbare Element jener nicht auszurottenden Abtrünnigen gestoßen, der seelischen, milieugestörten Außenseiter, denen es nicht gelang, die vorherrschenden Ansichten ihrer Gesellschaftsschicht zu teilen, ohne Rücksicht darauf, wie diese Ansichten aussehen mochten. In jahrelanger Kleinarbeit waren die Methoden der Gleichschaltung des Denkens verfeinert worden, bis es selbst störrische Individualisten fertigbrachten, sich der Mehrheit in der Verehrung Garommas anzuschließen. Im Laufe der Jahre zeigten die Stichproben, daß sich die negativen Reaktionen auf die Meinungsbildung dem Nullpunkt näherten: 0.16 Prozent.007 Prozent.0002 Prozent. Und jetzt! Der Hilfsdiener des Unterrichts schaltete eine Pause ein und holte tief Atem. Vor fünf Wochen hatte das einheitliche Unterrichtssystem der Erde einen neuen Jahrgang aus den Grundschulen entlassen. Die übliche, den ganzen Erdball umfassende Probe war am Schulschlußtag erfolgt. Soeben war die Auswertung der Ergebnisse beendet worden. Und siehe da – die Abweichung von der Einheitsmeinung war bis auf die letzte Dezimalstelle Null! Die Kontrolle war vollkommen. Spontaner Beifall erfüllte den Raum. Selbst Garomma applaudierte. Dann beugte er sich vor und legte die Hand väterlich und gebieterisch auf Moddos braunen Scheitel. Bei dieser ungewohnten Ehrung ihres Chefs brachen die Beamten in Hochrufe aus. Garomma benutzte den Wirbel, um Moddo zu fragen: »Kennt auch das Volk das Ergebnis? Was sagen Sie den Leuten eigentlich?« Moddo wandte ihm das nervöse Gesicht mit dem energischen Kinn zu. »Vor allem, daß heute ein Feiertag ist. Und dann noch eine Menge diffuser Phrasen des Inhalts, daß Sie zum Wohle aller nun die vollkommene Kontrolle über die ganze Welt erlangt haben. Wir berichten dem Volk nur, daß Sie zufrieden sind und die Menschheit mit Ihnen frohlocken darf!«
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»Über die eigene Versklavung. Das gefällt mir.« Genußvoll kostete Garomma die Süße unumschränkter Herrschaft aus. Doch dann überfiel ihn seine ständige Sorge wieder, und sein Sieg schmeckte sauer. »Moddo, ich will noch heute nachmittag die Angelegenheit des Sicherheitsdieners erledigen. Sobald wir wieder in unseren Büros sind, wollen wir die Sache besprechen.« Der Diener des Unterrichts nickte. »Ich habe gewisse Bedenken. So einfach ist die Sache nämlich nicht, müssen Sie wissen. Sie wirft die Frage des Nachfolgers auf.« »Ja. Es ist immer dasselbe. Nun, vielleicht gelingt es uns in einigen Jahren, wenn wir diese Stichproben aufrechterhalten und die Meinungsbildung auch auf die milieugeschädigten Elemente der erwachsenen Bevölkerung ausdehnen können, völlig auf den Sicherheitsdienst zu verzichten.« »Möglich. Allerdings lassen sich eingefleischte Meinungen bedeutend schwerer berichtigen. Und in den obersten Beamtenständen werden Sie immer ein Sicherheitssystem brauchen. Aber ich werde mich anstrengen und mein Bestes tun.« Garomma nickte und lehnte sich befriedigt zurück. Moddo würde immer sein Bestes tun. Und sein Bestes war durchaus brauchbar, wenn es über gewisse eingefahrene Gleise auch nicht hinausging. Abwehrend hob er die Hand. Die Hochrufe und der Beifall verstummten. Ein anderer Unterrichtsbeamter trat vor, um die Art der Stichproben in allen Einzelheiten zu erläutern. Die Feier ging weiter. Es war der Tag vollkommener Kontrolle… Moddo, der Diener des Unterrichts, der Lehrer der Menschheit, rieb sich mit seinen dicken, sorgfältig manikürten Fingern die Stirn und gestattete sich, im Gefühl unumschränkter, unwidersprochener Macht zu schwelgen, einer Macht, von der bis zu diesem Tage kein Sterblicher auch nur zu träumen gewagt hätte. Vollkommene Kontrolle. Vollkommene… Nur die Frage des Nachfolgers des Dieners der Sicherheit blieb
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noch zu lösen. Garomma erwartete bestimmt eine Entscheidung von ihm, sobald sie sich wieder ins Lager des Dienens zurückgezogen hatten. Und er war weit von einer Entscheidung entfernt. Jeder der beiden Hilfsdiener der Sicherheit eignete sich ausgezeichnet für das Amt, aber darum ging es nicht. Es ging vielmehr darum, welcher der beiden imstande war, Garommas ständige Ängste stets aufs neue zu schüren, die Moddo ihm seit dreißig Jahren pausenlos suggerierte. Von Moddos Standpunkt aus bestand darin die einzige Daseinsberechtigung des Dieners der Sicherheit. Er hatte solange der Prügelknabe für das von Furcht zerfressene Unterbewußtsein des Dieners der Menschheit zu sein, bis der seelische Konflikt seine periodische Krise erreichte. Dann wurde der Mann entfernt, um den sich diese Ängste wunschgemäß drehten, und eine kurzfristige Entspannung trat ein. Moddo erinnerte der Vorgang entfernt ans Fischen. Man verlängerte die Leine, an der der Fisch zappelte, indem man den Diener der Sicherheit absägte. In den anschließenden Jahren zog man die Leine unauffällig, aber beharrlich durch wiederholte Andeutungen über den offenkundigen Machthunger seines Nachfolgers wieder ein. Bloß wollte man den Fisch gar nie an Land ziehen. Er sollte an der Angel und damit dauernd in Moddos Gewalt bleiben. Der Diener des Unterrichts lächelte unter seiner starren Maske, wie er sich das seit seiner frühesten Kindheit angewöhnt hatte. Den Fisch aus dem Wasser ziehen? Das hieße ja, selbst der Diener der Menschheit zu werden. Und welcher weitblickende Mann hatte Lust, seinen Machthunger an diesem lächerlichen Ziel zu befriedigen? Nein, das überließ er seinen Kollegen, den hohen Würdenträgern im Lager des Dienens, die dauernd intrigierten, sich verbündeten und bekämpften. Das überließ er dem Diener der Industrie, dem Diener der Landwirtschaft, dem Diener der Wissenschaft und dem Rest dieser Narren.
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Als Diener der Menschheit war man die Zielscheibe sämtlicher Intrigen und stand pausenlos im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Die herrschende Gesellschaftsordnung lehrte einen klugen Mann bald, daß Macht das einzige erstrebenswerte Lebensziel sei, selbst wenn sie sich noch so verschleiert darbot. Und der Diener der Menschheit war die Macht schlechthin, auch wenn er sie hinter hunderterlei Masken der Unterwürfigkeit verbergen mochte. Nein. Um wieviel lohnender war es doch, vor der Welt den nervösen, unsicheren Untergebenen zu spielen, dessen Knie unter der Last einer Verantwortung schlotterten, die weit über seine Fähigkeit hinausging. Hatte er hinter seinem Rücken nicht ihr verächtliches Wispern gehört? »… Garommas Verwaltungspuppe…« »… Garommas kopfloser dienstbarer Geist…« »nichts als ein Schemel, allgegenwärtig zwar, aber trotzdem bloß ein Schemel, auf dem Garommas schwerer Absatz ruht…« »… der arme, farblose, ängstliche Tölpel…« »… wenn Garomma niest, putzt Moddo sich die Nase…« Aber aus dieser untergeordneten, verachteten Stellung heraus bestimmte er jegliche Politik, bestimmte er, wer begünstigt und wer vernichtet wurde, war er der wahre Diktator der gesamten Menschheit… Wieder griff er an die Stirn. Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Und die offizielle Feier der vollkommenen Kontrolle dauerte bestimmt noch eine weitere Stunde. Er mußte sich auf zwanzig oder dreißig Minuten zu Loob dem Heiler stehlen, ohne daß Garomma deshalb unruhig wurde. In solchen Krisensituationen war der Diener der Menschheit mit größter Vorsicht zu behandeln. Seine sorgfältig genährte Unruhe mochte so übermächtig werden, daß er am Ende noch versuchte, einen selbständigen, überstürzten Entschluß zu fassen. Und dieser Möglichkeit durfte nicht Vorschub geleistet werden. Das war viel zu gefährlich.
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Einen Augenblick hörte Moddo dem jungen Mann zu, der ein wahres Geschützfeuer über verschiedene Methoden, Korrelationskoeffizienten und mehrfach gekrümmte Raumkurven und all den statistischen Jargon niederprasseln ließ, hinter dem sich die Meisterschaft der psychologischen Revolution verbarg, die er, Moddo, ersonnen hatte. Ja, das erforderte gewiß noch eine Stunde. Vor fünfunddreißig Jahren, als er an der Hochschule der Zentralstelle für Unterricht an seiner Dissertation gearbeitet hatte, hatte er im Berg der Statistiken über die Massenmanipulation im Laufe der Jahrhunderte einen beachtlichen Goldklumpen entdeckt: Den Begriff der individuellen Anwendung. Lange Zeit war es ihm schwergefallen, sich mit diesem Begriff anzufreunden. Wer jahrelang auf die geheime Manipulation von Millionen Menschen gedrillt wurde, dem entwindet sich der Respekt vor den Ansichten und Emotionen des einzelnen, wie sich ein frisch gefangener Aal entwinden mag, dem die Todesangst ungeahnte Kräfte verleiht. Nachdem seine Dissertation jedoch beendet und angenommen worden war – sie betraf neue Methoden zur Erlangung vollkommener Kontrolle und war von der vorigen Regierung ordnungsgemäß abgelegt und vergessen worden –, da hatte er sich nochmals dem Problem restloser Beherrschung des Individuums zugewandt. Und In den anschließenden Jahren, während er seine geisttötende Arbeit im Statistischen Büro des Unterrichtsdienstes leistete, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, das Individuum aus der Gruppe zu schälen, oder den Oberbegriff auf den untergeordneten zu reduzieren. Dabei wurde ihm eines klar. Je jünger das Menschenmaterial, desto leichter die Aufgabe – genau wie bei der Massenmanipulation. Begann man jedoch mit einem Kind, dann vergingen Jahre, ehe es imstande war, seine Rolle in der Welt entsprechend dein Wunsch seines Lehrmeisters zu spielen. Außerdem war ein Kind
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dem dauernden Sperrfeuer der politischen Meinungsformung ausgesetzt, das die ersten Schuljahre ausfüllte. Er brauchte also einen jungen Mann, der bereits ein gewisses Amt in der Regierung bekleidete, jedoch aus irgendwelchen Gründen über ein starkes, unverbrauchtes – und nicht manipuliertes – Potential verfügte. Am geeignetsten war ein junger Mann, dessen Herkunft ihn mit Ängsten und Wünschen ausgestattet hatte, die sich als wirksames Gängelband benutzen ließen. Moddo begann, die Nächte durchzuarbeiten. Er ackerte sich auf der Suche nach jenem Mann durch die Personalunterlagen seines Büros. Er fand zwei oder drei, die zu Hoffnungen zu berechtigen schienen. Dieser aufgeweckte Bursche im Transportdienst war ihm zum Beispiel eine Zeitlang interessant erschienen. Dann war er auf Garommas Personalbogen gestoßen. Und Garomma war Maßarbeit. Vom ersten Augenblick an. Er war eine Führerfigur, war sympathisch, intelligent – und ungemein aufnahmefähig. »Von Ihnen könnte ich eine Menge lernen«, hatte er Moddo bei der ersten Begegnung schüchtern gestanden. »Hier, auf der Hauptinsel, ist alles so riesig und unübersehbar. Ständig ist etwas los. Mir schwirrt der Kopf, wenn ich nur daran denke. Aber Sie sind hier geboren. Sie wissen über sämtliche Fallen und Schlangengruben Bescheid.« Durch mangelhafte Arbeit des Beauftragten für die Meinungsformung des Sechsten Distrikts hatte sich in Garommas Heimat in allen Intelligenzschichten ein erstaunliches Quantum pseudounabhängigen Denkens entwickelt. Die meisten dieser Individualisten waren potentielle Aufrührer. Daran war besonders ein Jahrzehnt verheerender Mißernten schuld, die Hungersnot heraufbeschworen, und obendrein die außerordentlich schwere Steuerbelastung. Garomma jedoch war ehrgeizig gewesen. Er hatte seine bäuerliche Herkunft verleugnet und war den unteren Rängen des Sicherheitsdienstes beigetreten. Als es dann im Sechsten Distrikt zum Bauernaufstand kam,
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hatte er sich bei dessen Niederschlagung solche Verdienste erworben, daß er schlagartig befördert wurde. Das wesentlichste aber war, daß er dadurch von der dauernden Beobachtung und zusätzlichen Erwachsenenschulung befreit wurde, die einen Mann mit seinen zweifelhaften Familienverhältnissen sonst erwartet hätten. Es bedeutete weiter, daß Moddo, der Garommas Bekanntschaft herbeiführte und seine Freundschaft gewann, nicht nur einen aufgehenden Stern, sondern auch eine Persönlichkeit zur Verfügung hatte, die in ihrer Modellierfähigkeit einzigartig war. Dieser Persönlichkeit wollte er in unermüdlicher Anstrengung sein eigenes Siegel aufdrücken. Den Ansatzpunkt bildeten Garommas Schuldgefühle, weil er sich seinem Vater widersetzt und schließlich das Gehöft verlassen hatte. Später wurde er sogar zum Denunziant an seiner eigenen Familie und den Nachbarn. Dieser aus Angst geborene Schuldkomplex, der haßerfüllt alles verfolgte, was auch nur entfernt dem ursprünglichen Anlaß ähnelte, ließ sich leicht auf die Person seines Vorgesetzten, des Dieners der Sicherheit, umlenken, der damit zur neuen Vaterfigur wurde. Später, als Garomma zum Diener der Menschheit geworden war, übertrug sich sein Schuldkomplex und die allgegenwärtige Angst vor Strafe auf das jeweilige Haupt des Sicherheitsdienstes. Moddo schürte diese Angst gewissenhaft. Und das war nötig. Sonst hätte Garomma vielleicht erkannt, daß sein wahrer Herr der große Mann war, der rechts neben ihm saß und so nervös und unsicher aussah… Und dann hatte die Schulung begonnen. Und die Umschulung. Von Anbeginn hatte Moddo erkannt, daß er Garommas engstirnigen Bauerndünkel nähren mußte, und hatte sich vor ihm erniedrigt. Er erweckte in Garomma den Glauben, er selbst sei der Urheber jener umstürzlerischen Gedanken, die sich allmählich in seinem Kopf einnisteten. Ja, er verführte ihn sogar zu der Annahme, daß er Moddo domestiziere – komisch, daß dieser Bur-
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sche seine bäuerliche Herkunft selbst in Sprachbildern nicht verleugnen konnte – und nicht umgekehrt. Moddo schmiedete nämlich jetzt gigantische Zukunftspläne, du er nicht eines Tages durch einen wachsenden Widerwillen gefährdet sehen wollte, den Garomma gegenüber einem Herrn und Lehrmeister entwickeln mochte. Ganz im Gegenteil. Er wollte sein Vorhaben durch jene liebevolle Zuneigung verwirklichen lassen die man für seinen Hund empfindet, dessen schweifwedelnde Abhängigkeit das Ego dauernd nährt und eine weit zwingendere Gegen-Abhängigkeit hervorruft, als der Besitzer ahnt. Was für ein Schock war es für Garomma gewesen, als er langsam begriff, daß der Diener der Menschheit praktisch der Diktator der Menschheit war! Die Erinnerung an diesen Augenblick zauberte beinahe ein Lächeln auf Moddos Lippen. Nun ja, als er vor vielen Jahren mit seinen Eltern eine Segelpartie unternommen hatte, da sein Vater ein kleiner Beamter im Dienst der Fischer und Marine war, und seine Eltern schon damals denselben Verdacht äußerten –, hatte er sich nicht so entsetzlich darüber aufgeregt, daß er die Steuerstange fahren ließ und sich übergab? Für jede Altersstufe ist es ein schwerer Schlag, wenn ihre Götter entthront werden, aber je älter man wird, desto stärker leidet man darunter. Andererseits hatte Moddo im Alter von sechs Jahren nicht nur seinen Glauben verloren, sondern auch seine Eltern. Sie hatten vor zu vielen Leuten bedenkenlos ihre staatsfeindliche Meinung geäußert, weil sie sich darauf verlassen hatten, daß der Schlendrian des damaligen Dieners der Sicherheit ewig anhalten würde. Er massierte sich die Schläfen mit den Fingerknöcheln. Diese Kopfschmerzen waren seit vielen Tagen die schlimmsten! Er mußte zumindest fünfzehn Minuten abzweigen, um Loob aufzusuchen. Der Heiler würde ihn wieder einsatzfähig machen, damit er den Tag gut überstand, der sehr ermüdend zu werden drohte. Und überhaupt brauchte er eine Erholungspause von Garomma, um ungestört und wohlüberlegt zu entscheiden, wer der nächste Diener der Sicherheit werden sollte.
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Moddo, der Diener des Unterrichts, der Lehrer der Menschheit, nützte die kurze Pause zwischen zwei Ansprachen, um sich zu Garomma zu neigen und ihm zuzuflüstern: »Ich muß noch einige verwaltungstechnische Dinge erledigen, ehe wir aufbrechen. Darf ich mich entschuldigen? Es – es dauert nicht länger als höchstens zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten.« Garomma starrte beleidigt vor sich hin. »Hat das nicht Zeit? Der heutige Tag ist genauso Ihr Triumph wie meiner. Ich hätte Sie gerne in meiner Nähe.« »Das weiß ich, Garomma, und ich bin Ihnen dafür zutiefst verbunden. Aber -«, in demütiger Bitte berührte er Garommas Knie – »ich ersuche Sie, mich gehen zu lassen. Es handelt sich um sehr dringende Geschäfte. Eines davon hat – es hat indirekt mit dem Diener der Sicherheit zu tun. Vielleicht hilft es Ihnen bei dem Entschluß, ob Sie eben jetzt auf seine Dienste verzichten wollen.« Garommas Gesicht belebte sich schlagartig. »Wenn das so ist, dann gehen Sie nur. Aber seien Sie vor dem Ende der Feier wieder hier. Ich wünsche den Saal gemeinsam mit Ihnen zu verlassen.« Der große Mann nickte, stand auf und wandte sich seinem Führer zu. »Diene uns, Garomma«, sagte er mit ausgebreiteten Armen. »Diene uns, diene uns.« Rücklings verließ er den Raum, das Gesicht dauernd dem Diener der Menschheit zugewandt. Draußen im Korridor eilte er mit großen Schritten zwischen den salutierenden Wachen des Unterrichtszentrums zu seinem privaten Fahrstuhl. Er drückte den Knopf für die dritte Etage. Erst, als sich die Tür schloß und sich die Kabine in Bewegung setzte, gestattete er sich ein flüchtiges Schmunzeln. Was hatte er sich geplagt, um Garommas dickem Schädel diesen einen Begriff einzuhämmern: Oberstes Gebot der modernen, nach wissenschaftlichen Grundsätzen geführten Regierung ist es, diese Regierung so unauffällig auszuüben, daß niemand ihr Vorhandensein bemerkt. Das Volk braucht die Illusion der Freiheit,
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damit man ihm die unsichtbaren Fesseln um so fester anlegen kann. Vor allem aber, regiere unter jedem beliebigen Namen, aber sprich das Wort Herrschaft niemals aus! Garomma selbst hatte diese Worte in seiner umständlichen Art geprägt, als sie eines Tages, kurz nach ihrem großen Coup, beisammen gestanden hatten – beide noch etwas unsicher in den Kleidern ihrer Macht –, und dem Bau des neuen Lagers des Dienens auf dem verbrannten Grundstück zugesehen hatte, auf dem sich das alte Regierungsgebäude beinahe ein halbes Jahrhundert lang erhoben hatte. Ein riesiges, buntes, rotierende Lichtsignal auf dem Giebel des unvollendeten Hauses hatte der Bevölkerung verkündet: VON HIER AUS WIRD JEDER EURER WÜNSCHE UND JEDES EURER BEDÜRFNISSE ERFÜLLT, VON HIER WIRD EUCH EIFRIGER UND LIEBEVOLLER GEDIENT ALS JE ZUVOR. Garomma hatte das Signal angestarrt, das Tag und Nacht pausenlos über die Videoempfänger der ganzen Welt ausgestrahlt wurde, in den Wohnungen genau wie in den Fabriken, den Büros, den Schulen und den Pflichtversammlungen. »Genau, wie mein Vater immer sagte«, meinte er schließlich mit dem typischen Schmunzeln, das er für jeden Gedanken bereit hielt, den er als seine Eingebung betrachtete. »Ein tüchtiger Vertreter muß hartnäckig sein. Hämmert er seinem Opfer lange genug ein, daß sich die stacheligsten Dornen weich wie Rosen anfühlen, dann wird ihm zum Schluß jeder glauben. Ausdauer ist alles, wie, Moddo?« Moddo hatte langsam genickt, als sei er von diesem analytischen Scharfblick völlig überwältigt und koste ihn nun in seiner vollen Tragweite aus. Wie immer hatte er dann getan, als überprüfe er die vielseitigen Möglichkeiten, die Garommas Einfällen innewohnten, und hatte dem neuen Diener der Menschheit gleich die nächste Lektion erteilt. Er hatte betont, daß nach außen hin jeder Pomp und Luxus vermieden werden müsse. Bei den vor kurzem verschiedenen Beamten der letzten Regierung war diese Weisheit in den Jahren vor dem Sturz in Vergessenheit geraten. Er hatte unterstrichen,
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daß die Diener der Menschheit sich immer ihrer Rolle bewußt sein müßten, nämlich das demütige Organ des mächtigen Willens der Massen zu sein. Wer sich dann Garommas Launen widersetzte, wurde bestraft, nicht etwa wegen Ungehorsams gegen seinen Regenten, sondern wegen seines Widerstandes gegen die menschliche Rasse. Und er hatte eine Neuerung angeregt, die ihn schon seit langem beschäftigte, die fallweise Inszenierung von Katastrophen in besonders treu ergebenen und gehorsamen Gebieten. Sie würden den greifbaren Beweis dafür liefern, daß selbst der Diener der Menschheit fehlbar sei, der eine unvorstellbare schwere Bürde auf seinen Schultern trug und manchmal ermüdete. Auf diese Weise vertiefte sich der Eindruck, daß die Verwaltung der Welt und eine zufriedenstellende Versorgung mit Waren und Dienstleistungen die Kräfte eines einzelnen schon fast überstieg. Das sollte die verschiedenen Gebiete zu überflüssigen Höchstleistungen an bedingungsloser Regierungstreue und Selbstkontrolle anspornen, um sich durch solche Fleißaufgaben der maximalen Aufmerksamkeit des Dieners der Menschheit zu vergewissern. »Natürlich«, bestätigte Garomma. »Genau, was ich sagte. Das Volk darf niemals erkennen, daß man es gängelt und daß es sich in seinem Übereifer sogar selbst in Ketten schließt. Das ist der springende Punkt. Ich sehe, daß Sie mir allmählich folgen.« Er folgte ihm. Er, Moddo, der seit frühester Jugend ein System studiert hatte, das vor Jahrhunderten entstanden war, als die Menschheit begonnen hatte, sich aus den primitiven Urzuständen der Selbstverwaltung und freien Entscheidung zum organisierten sozialen Universum der Gegenwart zu entwickeln… er folgte ihm! Dankbar hatte er gegrinst. Und hatte weiterhin jene Meinungsbildung bei Garomma angewandt, die Garomma unter seiner Führung bei der gesamten Menschheit anzuwenden lernte. Jahrein, jahraus, während er scheinbar in den erdrückenden Anforderungen des von ihm entwickelten Programms für den Unter-
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richtsdienst aufging, hatte er seine Geschäfte in Wahrheit seinen Untergebenen überlassen und sich ausschließlich auf Garomma konzentriert. Und heute, da er äußerlich die vollkommene Kontrolle über das Denken einer ganzen Generation erlangt hatte, spürte er zum ersten Male, daß er unbegrenzte Macht über Garomma besaß. Seit fünf Jahren hatte er daran gearbeitet, seinen Einfluß auf eine einfachere Formel zu reduzieren, die der umständlichen Wunschmechanismen und Denkschablonen nicht mehr bedurfte. Heute hatten die mühsamen Stunden behutsamer, verstohlener Schulung zum ersten Mal Früchte getragen. Das Handzeichen, die Stimulanz durch die Berührung, auf die er Garomma dressiert hatte, waren jedesmal vom erwünschten Erfolg begleitet worden! Auf dem Weg zu Loobs bescheidener Ordination suchte er nach einem treffenden Vergleich. Es war, als brächte man einen mächtigen Kreuzer durch die Berührung eines Rades zum Wenden, – fand er. Das Rad betätigte die Steuerung, die Steuerung stemmte sich gegen das enorme Gewicht des Ruders, und die Bewegung des Ruders zwang schließlich das schwere Schiff zum Kurswechsel. Nein, überlegte er, Garomma soll sich nur in der Anbetung des Volkes suhlen. Seine geheimen Paläste und unzähligen Konkubinen seien ihm vergönnt. Ihm selbst jedoch genügte die vollkommene Kontrolle. Loobs Warteraum war leer. Er stand einen Augenblick ungeduldig dort, dann rief er: »Loob! Ist denn niemand da? Ich bin in Eile!« Ein dicker kleiner Mann mit einem winzigen Spitzbart kam aus dem Nebenzimmer angelaufen. »Meine Sekretärin – alle mußten nach unten, sobald der Diener der Menschheit das Haus betrat – alles steht kopf – sie ist noch nicht zurückgekehrt. Aber natürlich habe ich dafür gesorgt«, schnaufte er, »alle anderen Patienten abzubestellen, solange Sie im Hause sind. Bitte, treten Sie ein.«
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Moddo streckte sich auf der Couch in der Ordination des Heiles aus. »Ich kann nur etwa – etwa fünfzehn Minuten erübrigen. Ich muß eine ungemein wichtige Entscheidung fällen, aber die Kopfschmerzen rauben mir jeden klaren Gedanken.« Loobs Finger schlössen sich um Moddos Nacken und begannen, seinen Hinterkopf mit sanfter Zielstrebigkeit zu massieren. »Ich will tun, was ich kann. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Entspannen. So ist’s recht. Ganz locker. Hilft es?« »Enorm«, seufzte Moddo. Er mußte einen Weg finden, Loob in seinen Stab zu holen, um ihn immer um sich zu haben, wenn er mit Garomma verreisen mußte. Der Mann war unbezahlbar. Es wäre herrlich, ihn jederzeit in Rufweite zu wissen. Er mußte Garomma die Sache nur einsuggerieren. »Stört es Sie, wenn ich einfach rede?« fragte er. »Ich bin heute nicht in der rechten Stimmung für – für freie Assoziierung.« Loob lehnte sich in dem dick gepolsterten Stuhl hinter seinem Schreibtisch zurück. »Tun Sie, was Ihnen am liebsten ist. Wenn Sie möchten, sprechen Sie aus, was Ihnen im Augenblick Sorgen bereitet. In fünfzehn Minuten können wir nicht mehr tun, als versuchen, Ihnen zur Entspannung zu verhelfen.« Moddo begann zu sprechen. Es war der Tag vollkommener Kontrolle… Loob, der Heiler der Seelen, der Assistent des Dritten Hilfsdieners des Unterrichts, zog die Finger durch den kleinen Spitzbart, der sein Berufssymbol war. Er schwelgte im Gefühl unumschränkter, unwidersprochener Macht, einer Macht, von der bis zu diesem Tag kein Sterblicher auch nur zu träumen gewagt hätte. Vollkommene Kontrolle. Vollkommene… Natürlich wäre es ihm eine große Genugtuung gewesen, die Angelegenheit des Sicherheitsdienstes persönlich zu regeln, aber auch diese Annehmlichkeiten würden sich noch einstellen. Seine Techniker im Büro der Heilforschung hatten die Aufgabe beinahe
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gelöst, die er ihnen gestellt hatte. Mittlerweile genoß er seine Rache und die Befriedigung der unbegrenzten Herrschaft. Reserviert und unverbindlich horte er sich Moddos Probleme an und hielt sich die runde, dicke Hand vor den Mund, um sein Lachen zu verbergen. Dieser Mensch bildete sich doch allen Ernstes ein, daß er ihm nach siebenjähriger intensiver Therapie noch etwas verbergen konnte. Aber das war ganz natürlich. Er mußte es ja glauben. Loob hatte die ersten beiden Jahre darauf verwendet, ihn auf diesen Glauben umzupolen. Erst dann hatte er mit der Umstellung seiner gesamten Seele begonnen. Er hatte die Elternbindung aus Moddos Kindheit auf sich gelenkt und war dadurch widerstandslos in die nun arglos gewordene Psyche seines Patienten eingedrungen. Anfangs hatte er seinen Ohren nicht getraut. Dann aber, nachdem er seinen Patienten schon bedeutend besser kannte, war er restlos von dem unwahrscheinlichen Glücksfall überzeugt, der ihm beinahe den Atem verschlug. Mehr als fünfundzwanzig Jahre hindurch hatte Garomma, der Diener der Menschheit, die Welt regiert und noch länger als das hatte Moddo, sozusagen als Privatsekretär, jede Entscheidung Garommas gesteuert. Als Psychotherapeut und unentbehrliche Stütze eines unsicheren, zersplitterten Ichs hatte Loob jedoch Moddo seit fünf Jahren dirigiert und auf diese Weise die unbestrittene Herrschaft über die Welt angetreten, ohne daß jemand es ahnte. Er war die Graue Eminenz hinter der Grauen Eminenz. Konnte es eine unerschütterlichere Position geben? Natürlich wäre es wirksamer, Garomma selbst in den therapeutischen Griff zu bekommen. Aber das würde ihn zu stark ins Licht der Öffentlichkeit rücken. Auf den persönlichen Seelenarzt des Dieners der Menschheit mußte sich zwangsläufig die Aufmerksamkeit sämtlicher intrigierender hoher Beamten konzentrieren. Nein, es war besser, der Vormund des Vormunds zu sein, be-
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sonders, wenn dieser Vormund sich den Anschein gab, der unbedeutendste Mann der gesamten Hierarchie des Dienens zu sein. Hatten seine Techniker dann eines Tages die erforderliche Entdeckung gemacht, dann konnte er den Diener des Unterrichts abschieben und mittels der neuen Methode Garomma selbst beherrschen. Belustigt hörte er sich an, daß Moddo anstatt vom Diener der Sicherheit von einer hypothetischen Person aus seiner Abteilung sprach, die abgelöst werden sollte. Er fragte sich nur, welchem der beiden gleichermaßen tüchtigen Kandidaten er das Amt zuerkennen sollte? Loob überlegte, ob sein Patient ahnte, wie durchsichtig seine naive Verschleierungstaktik war. Nein, das erkannten solche Leute nie. Das seelische Gleichgewicht dieses Mannes war restlos zerrüttet. Durch geschickte Lenkung hatte Loob ihn dazu getrieben, daß er schon beim Auftreten der leisesten Schwierigkeiten zu ihm um Rat laufen mußte und daß er sich obendrein einbildete, bei diesen Konsultationen den wahren Sachverhalt verschweigen zu können. Als die Stimme auf der Couch ans Ende ihrer zerfahrenen Darlegung gelangt war, ergriff Loob das Wort. Ruhig, leise, beinahe monoton ging er auf Moddos Problem ein. Oberflächlich gesehen, faßte er bloß die Ansichten seines Patienten in übersichtlicher Weise zusammen. In Wahrheit jedoch schnitt er die Überlegungen auf die persönlichen Wertbegriffe und Grundhaltung Moddos zurecht, und legte so dem Diener des Unterrichts die fertige Antwort bereits in den Mund. Er hatte gar keine andere Wahl, als sich für den jüngeren der beiden Kandidaten zu entscheiden, dessen Vergangenheit den geringsten Widerstand gegen die Zunft der Heiler erwarten ließ. Obwohl auch das keine große Rolle spielte. Entscheidend war für Loob nur der Beweis, daß er Moddo restlos in der Hand hatte. Das war nötig, damit Moddo spurte und Garomma von der Not-
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wendigkeit überzeugte, den Diener der Sicherheit ausgerechnet jetzt zu eliminieren. Dabei steckte der Diener der Menschheit im Augenblick in keiner besonderen seelischen Krise. Im Gegenteil, er befand sich sogar auf dem Gipfel seines Wohlbefindens. Allerdings bereitete es Loob ein zusätzliches Vergnügen, endlich jenen Mann zur Strecke zu bringen, der vor Jahren, als er noch Chef des Sicherheitsdienstes im Siebenundvierzigsten Distrikt war, Loobs einzigen Bruder zum Tode verurteilt hatte. Zwei Fliegen mit einem Schlag zu treffen, war genauso köstlich wie eine jener Torten mit zweierlei Geschmack, für die der Geburtsort des Heilers berühmt war. Er seufzte erinnerungsschwer. Moddo setzte sich auf der Couch auf. Er drückte die gespreizten Hände auf beiden Seiten in den Bezug und räkelte sich. »Sie werden staunen, wie sehr mir diese einzige kurze Behandlung geholfen hat, Loob. Der Kopfschmerz ist wie weggeblasen, die Ratlosigkeit verschwunden. Offenbar genügt es, daß man seine Gedanken in Worte faßt. Jetzt weiß ich genau, was ich zu tun habe.« »Gut«, sagte Loob mit schleppender, auf Reserviertheit bedachter Stimme. »Ich will versuchen, morgen eine volle Stunde für die Behandlung abzuzweigen. Und ich trage mich mit der Absicht, Sie in meinen persönlichen Stab versetzen zu lassen, damit Sie die Schmerzen immer sofort beheben können, sobald sie mich überfallen. Allerdings steht mein Entschluß noch nicht fest.« Loob zuckte die Achseln und begleitete seinen Patienten zur Tür. »Das liegt ganz bei Ihnen. Ich will nichts weiter, als Ihnen in der bestmöglichen Weise dienen.« Sein Blick folgte dem großen Mann zum Fahrstuhl. »Allerdings steht mein Entschluß noch nicht fest.« Wie sollte er auch, solange Loob keine Entscheidung gefällt hatte. Vor sechs Monaten hatte Loob ihm diesen Gedanken suggeriert, ohne ihn zur Tat ausreifen zu lassen. Er war sich nicht sicher, ob es vorderhand von Vorteil sei, so nahe an den Diener der Menschheit heranzu-
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rücken. Außerdem gab es im Büro der Heilungsforschung dieses kleine Projekt, dem er nach wie vor täglich sein Hauptaugenmerk widmen sollte. Seine Sekretärin kam zurück und begann sofort, auf ihrer Schreibmaschine zu hämmern. Loob beschloß, nach unten zu gehen und nachzusehen, wie weit die Arbeit heute gediehen war. Die Feier wegen der vollkommenen Kontrolle und das damit verbundene Erscheinen des Dieners der Menschheit hatten einen solchen Wirbel ausgelöst, daß die Wissenschaftler ihr Arbeitspensum bestimmt nicht bewältigt hatten. Trotzdem war jetzt jeden Augenblick mit einem Resultat zu rechnen. Er wollte die Forschungsmethoden der Techniker begutachten. Die Leute selbst waren ja sagenhaft kurzsichtig! Er schritt durch den Haupteingang und überlegte dabei, ob Moddo irgendwo in den geheimsten Winkeln seiner Seele ahnte, wie abhängig er bereits vom Heiler geworden war, wie dringend er ihn brauchte. Der Mensch war ein einziges Bündel neurotischer Angst und Unsicherheit. Natürlich spielte dabei auch der gewaltsame Tod seiner Eltern eine Rolle, als er noch ein Kind gewesen war, aber schon damals hatte er schon unter Verdrängungen gelitten. Nie war ihm der leiseste Verdacht gekommen, daß er Garomma nur deshalb als Aushängeschild benützte, weil er selbst vor der geringsten persönlichen Verantwortung zurückscheute. Er war stolz darauf, vor der Welt als schüchterner, unentschlossener Mensch zu erscheinen und erkannte nicht, daß genau diese angeblich vorgetäuschten Charakterzüge seine Persönlichkeit ausmachten. Der ganze Unterschied bestand darin, daß er gelernt hatte, seine Ängste und Schüchternheit positiv einzusetzen. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Als er sich vor sieben Jahren an Loob gewandt hatte (»um einen kleinen psychotherapeutischen Auftrieb im Zusammenhang mit einigen nebensächlichen Problemen«), war er am Rande des völligen Nervenzusammenbruchs gewesen. Loob hatte das zerrissene Gefüge provisorisch geflickt und ihm kaum merklich veränderte Funktionen zugewiesen. Funktionen in Loobs Interesse.
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Unwillkürlich fragte er sich weiter, ob die Kollegen aus der grauen Vorzeit imstande gewesen wären, Moddo grundlegend zu helfen. Knapp vor Anbruch der modernen Zeit hatten sie eine Psychotherapie entwickelt, die beim einzelnen ganz wunderbare Änderungen im Persönlichkeitskonzept bewirkt hatten. Zumindest behauptete das die mündliche Überlieferung. Aber worauf hatte die Umgliederung des Menschen abgezielt? Ihm war von keinem ernst zu nehmenden Versuch bekannt, diese Methode für den ins Auge springenden Zweck zu verwenden, den einzigen gültigen Zweck einer jeden Methode… Erlangung der Macht! Loob schüttelte den Kopf. Diese Alten waren unwahrscheinlich naiv gewesen! Und viel von ihrem nützlichen Wissen war verlorengegangen. Begriffe wie Ober-Ich existierten nur mehr als leere Worte in der mündlichen Überlieferung der Zunft der Heiler. Ihre ursprüngliche Bedeutung ließ sich nicht mehr entschlüsseln. Entsprechend angewendet, mochten sie heute vielleicht äußerst nützlich sein. Andererseits, waren denn die meisten Mitglieder seiner eigenen modernen Heilerzunft jenseits des großen Wassers weniger naiv, sein Vater und der Onkel inbegriffen, der jetzt den Vorsitz führte? Von dem Tag an, da er die Abschlußprüfungen der Zunft bestanden und begonnen hatte, sich den Spitzbart des beglaubigten Meisters wachsen zu lassen, hatte Loob eingesehen, daß dem beruflichen Ehrgeiz seiner Kollegen lächerlich enge Grenzen gezogen waren. Sogar hier, in dieser Stadt, wo der Legende nach die Zunft der Seelenheiler gegründet worden war, stellte kein Kollege größere Ansprüche an das Leben, als mit seinen mühsam erworbenen Fähigkeiten Macht über zehn oder fünfzehn reiche Patienten zu erlangen. Über solche klägliche Ambitionen konnte Loob bloß lachen! Er hatte das logische Ziel erkannt, an dem seine Kollegen seit Jahren vorbeigegangen waren. Je einflußreicher die Person war, die man einer Umwandlung unterzog und damit in zwingende Abhängigkeit brachte, desto mehr Macht gewann ihr Heiler. Das Machtzentrum der Welt lag auf der Hauptinsel jenseits des Mee-
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res im Osten. Und dorthin hatte Loob beschlossen, sich zu wenden. Einfach war es nicht gewesen. Das unerbittliche Gewohnheitsrecht, nach dem man nur aus amtlichen Gründen seinen Wohnsitz verändern durfte, hatte ihm ein volles Jahrzehnt den Weg versperrt. Erst als die Frau des Leiters des Telegrafenamtes des Siebenundvierzigsten Distrikts seine Patientin geworden war, ging es leichter. Ihr Mann war auf die Hauptinsel berufen und zum zweiten Vizediener des Telegrafenwesens befördert worden, und Loob hatte die Familie begleitet. Er war bereits unentbehrlich geworden. Diese Leute hatten ihm als Sprungbrett zu einer untergeordneten Stelle im Unterrichtsdienst gedient. Da er seinen Beruf nebenher ausübte, war es ihm gelungen, im Amt so viele Leute von sich reden zu machen, daß ihn schließlich der Diener des Unterrichts persönlich mit seiner Aufmerksamkeit beehrte. Mit einem derart hohen Sprung hatte er gar nicht gerechnet. Aber ein bißchen Glück, überdurchschnittliches Können und dauernde, unermüdliche Einsatzbereitschaft gaben eine unübertreffliche Kombination ab. Fünfundvierzig Minuten, nachdem Moddo sich zum ersten Mal auf seiner Couch ausgestreckt hatte, war sich Loob darüber klar gewesen, daß er zum Herrscher der Welt auserkoren war, mochte er auch klein und dick und alles andere als eine imponierende Erscheinung sein. Die einzige Frage lautete jetzt nur, was fing er mit dieser Herrschaft an? Mit unbegrenzter Macht und unerschöpflichem Reichtum? Nun, da war erstens einmal sein kleines Forschungsprojekt. Das war ungemein interessant. War es erst ausgereift, dann sollte es vor allem dazu dienen, seine Macht zu verstärken und zu festigen. Es gab Dutzende kleiner Annehmlichkeiten und Besitztümer, die jetzt ihm gehörten, aber kaum hatte er sie, verlor er auch schon das Interesse an ihnen. Bleibenden Wert jedoch behielt die Wissenschaft.
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Wissen. Besonders Geheimwissen. Jetzt durfte er sich diesen Wissenschaften straflos hingeben. Er durfte die verschiedenen mündlichen Überlieferungen zu einem verständlichen Ganzen zusammenfassen und war damit als einziger Mensch der Welt in der Lage zu wissen, was sich in der Vergangenheit wirklich zugetragen hatte. Durch mehrere Arbeitsgruppen, die er mit dieser Aufgabe betraut hatte, war es ihm bereits gelungen, Wissensfragmente aufzuspüren, wie zum Beispiel den ursprünglichen Namen seines Geburtsortes, der vor Jahren in einem Zahlensystem untergegangen war, das den Zweck hatte, patriotische, mit einem Weltstaat unvereinbare Vorstellungen auszurotten. Lange, ehe er die fünfte Stadt des Siebenundvierzigsten Distrikts gewesen war, hatte sein Geburtsort Österreich geheißen, so hatte er erfahren, die Hauptstadt der stolzen Wiener Monarchie. Und die Insel, auf der er stand, war Havanakuba gewesen; zweifellos einmal ein mächtiges eigenständiges Reich, das irgendwann in den kriegerischen Anfängen der modernen Zeit die Oberherrschaft über sämtliche anderen Reiche ausgeübt hatte. Solche Informationen erfüllten ihn mit persönlicher Genugtuung. Aber er bezweifelte es zum Beispiel sehr, ob es Garomma interessieren würde zu erfahren, daß er nicht aus dem zwanzigsten landwirtschaftlichen Gebiet des Sechsten Distrikts stammte, sondern aus dem sogenannten Kanada, einer der achtundvierzig Gründerrepubliken der längst verschollenen Nordischen Vereinigten Staaten von Amerika. Ihn hingegen, Loob, interessierte das. Jedes zusätzliche Wissensfragment verlieh ihm zusätzliche Macht über seine Mitmenschen, und irgendwann und irgendwo würde sie ihm zugute kommen. Ja, würde Moddo wirklich etwas von den Umstellungsmethoden verstehen, wie sie in den höheren Logen der Zunft der Seelenheiler gelehrt wurden, könnte er selbst jetzt noch die Weltregierung an sich reißen! Aber nein. Es mußte so sein, daß ein Garomma nichts weiter als ein Werkzeug, das Geschöpf eines Moddo war. Und genauso mußte es sein, daß ein Moddo mit seinem speziellen Einfluß, dem er sein Wissen verdankte, gar nicht anders konnte, als zu Loob zu kommen und in dessen Abhängigkeit
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zu geraten. Genauso zwingend war es, daß Loob, der dank seiner gezielten Studien alle Spielarten kannte, mit denen sich das Denken eines Menschen manipulieren ließ, heute der einzige freie Mensch auf Erden war. Und dieser Gedanke war äußerst erfreulich. Zutiefst mit sich zufrieden, fuhr er ein letztes Mal durch seinen Bart und stieß die Tür des Büros der Heilforschung auf. Der Bürovorsteher eilte ihm entgegen und verneigte sich. »Heute ist nichts Neues zu melden.« Er deutete auf die winzigen Zellen, in denen die Techniker über alten Büchern saßen oder Versuche an Tieren und verurteilten Verbrechern machten. »Nach dem Eintreffen des Dieners der Menschheit konnten sie nicht sofort wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Alle wurden auf den Hauptgang befohlen.« »Ich weiß«, beruhigte Loob ihn. »An einem Tag wie heute erwarte ich auch keinen großen Fortschritt. Hauptsache, Sie halten Ihre Leute zur Arbeit an. Es ist ein gewaltiges Vorhaben.« Der andere zuckte vielsagend die Achseln. »Ein Vorhaben, das noch keiner gelöst hat, soviel uns bekannt ist. Die vergilbten Manuskripte, die wir entdeckten, befinden sich natürlich alle in einem fürchterlichen Zustand. Aber wo immer die Rede von Hypnose ist, herrscht die einhellige Meinung, daß sie sich unter den drei von Ihnen genannten Bedingungen nicht durchführen läßt: Gegen den Willen der Versuchsperson; wenn ihm hypnotische Aufträge erteilt werden sollen, die mit seinen persönlichen Wünschen und seinem Gewissen unvereinbar sind; und wenn es darum geht, ihn eine lange Zeitspanne hindurch im ursprünglichen Zustand der Willenlosigkeit zu halten, ohne daß die Hypnose wiederholt wird. Ich behaupte ja nicht, daß es unmöglich ist, aber…« »Aber sehr schwierig. Nun, Sie hatten dreieinhalb Jahre Zeit, an der Lösung zu arbeiten, und Sie werden auch weiterhin jede gewünschte Menge Zeit haben. Plus Hilfsmittel. Plus Personal. Sie brauchen es nur zu verlangen. Ich sehe mich inzwischen et-
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was bei Ihren Mitarbeitern um. Begleiten Sie mich nicht. Ich stelle meine Fragen gerne selbst.« Der Bürovorsteher verneigte sich abermals und kehrte zu seinem Schreibtisch im Hintergrund des Saales zurück. Loob, der Heiler der Seelen, der Assistent des Dritten Hilfsdieners des Unterrichts wanderte langsam von Zelle zu Zelle, sah sich die erzielten Fortschritte an und stellte Fragen. Vor allem aber bildete er sich ein Urteil über die menschlichen Qualitäten der Psychologietechniker in den einzelnen Zellen. Er war überzeugt, daß der richtige Mann imstande sein müßte, die Lösung zu finden. Und es ging nur darum, den richtigen Mann zu finden und ihm ein Maximum an Behelfen in die Hand zu geben. Der richtige Mann mußte klug und ausdauernd genug sein, die Forschung in der zielführenden Richtung voranzutreiben, gleichzeitig aber mußte es ihm an Fantasie fehlen, damit er nicht vor einem Ziel zurückschreckte, das die besten Köpfe seit Jahrhunderten vergebens gesucht hatten. Und war das Problem erst gelöst, konnte er bei einem einzigen kurzen Zwiegespräch Garomma für den Rest seines Lebens seinem unmittelbaren persönlichen Willen unterordnen. Dann hatte er die Erschwernisse der langen psychotherapeutischen Stunden mit Moddo nicht mehr nötig, wo er dauernd nur anregen durfte und das auf die unauffälligste Art, statt kurze, klare und eindeutige Befehle zu erteilen. War das Problem erst gelöst… Er gelangte zur letzten Zelle. Ein junger Mann mit Pusteln im Gesicht saß an dem glatten braunen Tisch und las in einem zerfetzten, verschimmelten Wälzer. Er horte ihn nicht eintreten. Loob beobachtete ihn kurze Zeit. Was für ein freudloses, armseliges Leben diese jungen Techniker doch führten! Man sah es den tiefen Falten ihrer Gesichter an, die einander alle irgendwie ähnelten. In einer der straffsten Organisationen des Weltstaates aufgewachsen, die ein Herrscher bisher jemals geschaffen hatte, besaßen sie keinen einzigen Gedanken, der tatsächlich ihnen gehörte und konnten nicht davon
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träumen, Freuden zu genießen, die ihnen nicht amtlich zugebilligt wurden. Und trotzdem war dieser Bursche noch der aufgeweckteste von allen. Wenn einer im Büro der Heilforschung die perfekte Hypnotisiermethode entwickeln konnte, dann war er es. Loob beobachtete ihn schon seit langem mit wachsender Zuversicht. »Wie kommen Sie voran, Sidothi?« fragte er. Sidothi blickte von seinem Buch auf. »Schließen Sie die Tür«, sagte er. Loob schloß die Tür. Es war der Tag der vollkommenen Kontrolle… Sidothi, der Labor-Assistent, Psychologietechniker Fünfter Klasse, schnippte vor Loobs Gesicht mit den Fingern und gestattete sich, im Gefühl unumschränkter, unwidersprochener Macht zu schwelgen, einer Macht, von der bis zu diesem Tage kein Sterblicher auch nur zu träumen gewagt hätte. Vollkommene Kontrolle. Vollkommene… Ohne sich zu erheben, schnippte er nochmals mit den Fingern. »Berichte«, befahl er. Loobs Augen nahmen den wohlbekannten glasigen Blick an. Sein Körper erstarrte. Die Arme hingen schlaff herab. Mit einförmiger, tonloser Stimme begann er seinen Bericht. Ausgezeichnet! In wenigen Stunden war der Diener der Sicherheit tot, und der Mann, der Sidothi sympathisch war, würde an seine Stelle treten. Die Erprobung der vollkommenen Kontrolle hatte vorzüglich geklappt. Mehr war es nicht gewesen; ein Versuch. Mittels eines einsuggerierten Bruders hatte er in Loob ein Rachegefühl erweckt, um festzustellen, ob er den Heiler zu einer Vorgehensweise bewegen konnte, die dessen eigenen Wünschen zuwiderlief. Prompt hatte Loob dem Diener des Unterrichts einen Entschluß suggeriert, der Moddo nicht den geringsten Vorteil
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brachte, und Moddo hatte Garomma in einem Augenblick völligen seelischen Gleichgewichts zu heftigem Argwohn gegen den Diener der Sicherheit aufgestachelt. Das Experiment hätte nicht besser ausfallen können. Vor drei Tagen hatte er einem Dominostein namens Loob einen sanften Stoß versetzt, und schon war eine ganze Reihe anderer Dominosteine hintereinander ins Purzeln geraten. Wenn der Diener der Sicherheit heute an seinem Schreibtisch erdrosselt wurde, war der letzte Stein des Spiels gefallen. Ja, die Steuerung war absolut. Natürlich hatte es auch noch einen nebensächlichen Grund gegeben, warum er das Leben des Dieners der Sicherheit zur Zielscheibe seines Experiments gemacht hatte. Er mochte den Mann nicht. Vor vier Jahren hatte er ihn dabei beobachtet, wie er in der Öffentlichkeit einen Schnaps getrunken hatte. Nach Sidothis Meinung durften sich die Diener der Menschheit solche Laster nicht erlauben. Sie sollten ein sauberes, spartanisches Leben führen, um der ganzen menschlichen Rasse ein leuchtendes Beispiel zu geben. Er hatte Loob befohlen, den Hilfsdiener der Sicherheit zu befördern, ohne diesen Mann jemals mit eigenen Augen gesehen zu haben, aber man sagte diesem Mann ein sehr bescheidenes Leben nach. Angeblich gönnte er sich auch privat keinerlei Luxus. Das nahm Sidothi für ihn ein. Loob hatte seinen Bericht beendet und stand abwartend da. Sidothi überlegte, ob er ihm befehlen sollte, diese verderbliche, anmaßende Idee einer direkten Beeinflussung Garommas aufzugeben. Doch nein, das wäre verkehrt. Dieser Vorsatz löste den Mechanismus der täglichen Erkundigungen im Büro der Heilforschung aus. Zwar konnte Sidothi ihm auch den simplen Befehl erteilen, jeden Tag hier zu erscheinen, aber es war vernünftiger, zuerst die Tragweite seiner Macht zu erproben und ihrer völlig sicher zu sein. Bis dahin rührte Sidothi nicht an den ursprünglichen Individualmechanismen, vorausgesetzt, sie durchkreuzten
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seine Pläne nicht. Dazu fiel ihm etwas ein. Eines von Loobs Interessen war wirklich reinste Zeitverschwendung. Jetzt, da er diesen Menschen völlig in der Hand hatte, wollte er diesem Unsinn ein Ende setzen. »Du brichst deine Geschichtsforschung sofort ab«, befahl er. »Die auf diese Weise gewonnene Zeit widmest du einer genauen Untersuchung von Moddos psychischen Schwächen. Das wirst du bedeutend spannender finden, als das Studium der Vergangenheit. Das ist alles.« Er schnippte die Finger vor Loobs Gesicht, wartete kurz und schnippte dann nochmals. Der Heiler der Seelen holte tief Luft, straffte sich und lächelte. »Gut, weitermachen«, sagte er aufmunternd. »Gewiß, Sir. Vielen Dank, Sir«, versicherte Sidothi ihm. Loob öffnete die Tür und entfernte sich selbstzufrieden. Sidothi sah ihm lange nach. Die Überheblichkeit dieses Laffen war einfach lächerlich! Wie konnte er sich allen Ernstes einbilden zu ernten, wenn die Methode des restlosen hypnotischen Dirigismus wirklich erforscht war! Sidothi war dieser Lösung schon vor drei Jahren auf die Spur gekommen. Natürlich hatte er das Resultat sofort vertuscht und seine Nachforschungen nach außen hin in eine andere Richtung gelenkt. Kaum hatte er dann die Methode vervollkommnet, hatte er sie an Loob ausprobiert. Das war ja klar. Anfangs war es ein fürchterlicher, an Übelkeit grenzender Schock für ihn gewesen, als er entdeckte, wie sehr Loob Modele beherrschte und jener wieder Garomma, den Diener der Menschheit. Nach kurzer Zeit jedoch hatte er sich mit der Situation abgefunden. Schließlich hatten er und seine Zeitgenossen schon in den untersten Schulstufen erkannt, daß die einzige Wirklichkeit jene der Macht war. Macht in jeder Klasse, in jedem Verein, in jeder Form des menschlichen Zusammenlebens war das einzige Ziel, für das zu kämpfen sich lohnte. Und man wählte
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einen Beruf nicht nur deshalb, weil man sich für ihn eignete, sondern weil man im Beruf die spezifischen Talente entfalten konnte, die zur Macht führen sollten. Aber eine Macht dieses Umfangs hatte er sich niemals vorgestellt, auch nicht in seinen kühnsten Träumen. Nun, jetzt besaß er sie jedenfalls. Das war die Wirklichkeit, und der Wirklichkeit gebührte die größte Hochachtung. Die Frage lautete jetzt nur: Was sollte er mit der Macht beginnen? Und das war eine verteufelt schwierige Frage. Aber mit der Zeit würde er die Antwort finden. Bis dahin hatte er die einmalige Gelegenheit, dafür zu sorgen, daß jeder sein Amt ehrlich verwaltete und daß schlechte Menschen bestraft wurden. Er beabsichtigte, vorderhand seine untergeordnete Stelle zu behalten, bis sich der richtige Zeitpunkt für eine Beförderung abzeichnete. Im Augenblick war ein anspruchsvoller Titel nicht notwendig. Wenn Garomma als Diener der Menschheit regieren konnte, wollte er seinerseits Garomma aus dritter Hand als schlichter Psychologietechniker der Fünften Klasse beherrschen. Auf welche Art aber wünschte er, Garomma zu beherrschen? Wie sahen die umwerfenden Taten aus, zu denen er Garomma zwingen wollte? Es klingelte. Aus einem Lautsprecher hoch oben an der Wand ertönte eine Stimme: »Achtung! Alle Angestellten herhören! In wenigen Minuten wird der Diener der Menschheit das Zentrum verlassen. Alle haben sich im Hauptkorridor einzufinden, und seine fortgesetzten Dienste für die Menschheit zu erflehen. Alle…« Sidothi schloß sich der Schar der Techniker an, die aus dem großen Labor strömten. Von allen Seiten kamen Leute aus ihren Büros gelaufen. Er wurde von der Menge mitgerissen, die aus den Fahrstühlen und von den Treppen ständig neuen Nachschub erhielt und in den Hauptkorridor stürmte, wo die Wachen des Unterrichtsdienstes sie gegen die Wände drückte. Er lächelte. Wenn sie wüßten, wen sie hier stießen! Ihren Meis-
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ter, der jeden einzelnen von ihnen hinrichten lassen konnte. Den einzigen Menschen der Welt, der alles tun konnte, was er wollte. Alles. Am anderen Ende des Korridors entstand plötzlich Bewegung, und Hochrufe wurden laut. Alle begannen unruhig zu drängeln, jeder versuchte auf Zehenspitzen zu stehen, um besser zu sehen. Selbst die Wachen atmeten hastiger. Der Diener der Menschheit näherte sich. Die Rufe wurden lauter. Die weiter vorne Stehenden verrenkten die Hälse. Und plötzlich erblickte Sidothi ihn! Er riß seine Arme hoch. Unbeschreibliches Entzücken drohte seine Brust zu sprengen, und er brüllte aus Leibeskräften: »Diene uns, Garomma! Diene uns! Diene uns!« Die Liebe überflutete ihn wie Sturzwellen, eine Liebe ohnegleichen, Liebe zu Garomma, Liebe zu Garommas Eltern, Liebe zu Garommas Kindern, Liebe für alles, das mit Garomma zusammenhing. Sein Körper schüttelte sich, die Sehnsucht schoß ihm wie Flammen in die Lenden, er wand und drehte sich, tanzte und hüpfte. Selbst sein Magen preßte sich in dem Versuch, seine Ergebenheit auszudrücken, gegen sein Zwerchfell. Das alles war nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, daß seine Seele seit frühester Kindheit auf diese Erscheinungen ausgerichtet worden war… »Diene uns, Garomma!« kreischte er mit Schaum vor dem Mund. »Diene uns! Diene uns!« Er kippte vornüber zwischen zwei Wachen. Seine ausgestreckten Finger berührten einen raschelnden Tuchfetzen, als der Diener der Menschheit vorbeischritt. Seine Seele schoß wie ein Komet zu den höchsten Gipfeln der Entrücktheit. Noch mit schwindenden Sinnen lallte er: »Diene uns, o Garomma!« Als alles vorbei war, halfen ihm seine Kollegen wieder ins Büro der Heilforschung zurück. In ehrfürchtiger Scheu staunten sie ihn an. Es gelang einem Menschen nur selten, Garommas Gewand zu berühren. Was für ein überwältigendes Erlebnis mußte das
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sein! Sidothi brauchte beinahe eine Stunde, um sich zu erholen. ES WAR DER TAG DER VOLLKOMMENEN KONTROLLE.
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Der Zweigeteilte GALAKTOGRAMM VON STELLAR-SERGEANT O-DIK-VEH, KOMMANDANT DES AUSWÄRTIGEN PATROUILLENBÜROS 1.001.625, AN UNTEROFFIZIER VOM DIENST HOY-VEH-CHALT, GALAKTISCHES PATROUILLEN-HAUPTQUARTIER AUF WEGA XXI – (ACHTUNG: DIES IST ALS PRIVATES, NICHT DIENSTLICHES ASTROGRAMM ZU BEFÖRDERN UND ALS SOLCHES MIT DEM ÜBLICHEN WELTRAUMTARIF ZU BERECHNEN) Lieber Hoy! Es tut mir schrecklich leid, dich schon wieder zu belästigen, aber ich stecke ganz fürchterlich in der Klemme. Und wieder handelt es sich nicht darum, daß ich etwas falsch gemacht, sondern daß ich etwas nicht richtig gemacht habe. Garantiert wird der Alte »unverzeihliche Pflichtverletzung« brüllen. Und da ich überzeugt bin, daß er genauso ratlos sein wird wie ich, wenn die Gefangenen eintreffen, die ich euch per Unterlicht-Transport überstelle (wenn er meinen offiziellen Bericht liest, den ich mitschicke, sehe ich im Geist sein Gesicht immer länger werden), bleibt mir nur zu hoffen, daß du durch diese Vorwarnung Zeit gewinnst, dich mit den besten Juristen des Wega-Hauptquartiers zu beraten und irgendeinen Ausweg zu finden. Hast du dem Alten nämlich einen Ausweg anzubieten, wenn er meine Meldung liest, dann wird er sich nicht mehr so giften, daß ich ihm die Sache anhänge. Aber ich habe das dumpfe, ungute Gefühl, daß sich das Hauptquartier in dem Problem genauso verheddern wird wie mein Büro. Wenn ja, wird dem Alten sicher einfallen, was das letzte Mal im Auswärtigen Patrouillenbüro 1.001.625 geschehen ist, und dann, mein lieber Hoy, wirst du um einen Sporenvetter ärmer sein. Wie man’s auch dreht und wendet, die Sache ist und bleibt eine schmutzige Geschichte. Ich sage mit voller Absicht schmutzig. Im Sinn von ordinär, verstehst du? Wie du dir inzwischen bestimmt schon gedacht haben wirst,
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hängt der ganze Ärger wieder mit jenem feuchten und lästigen dritten Solplaneten zusammen, den viele seiner Bewohner Erde nennen. Diese verdammten Zweibeiner kosten mich mehr schlaflose Nächte, als jede andere Gattung meines Sektors. Technisch haben sie zwar schon bereits die Entwicklungsstufe 15 erreicht – eigenständige interplanetarische Reisen –, sind aber noch jahrhunderteweit von der für gewöhnlich damit verbundenen Entwicklungsstufe 15A entfernt: Freundschaftlicher Kontakt mit der galaktischen Zivilisation. Sie befinden sich daher also noch im Zustand geheimer Überwachung, das heißt, daß ich dauernd einen Stab von rund zweihundert Agenten auf ihrem Planeten sitzen habe, die in unbequemer protoplasmischer Verkleidung stecken, um die blöden Menschen daran zu hindern, sich selbst in die Luft zu sprengen, ehe sie das Zeitalter ihrer geistigen Reife erreicht haben. Und um das Unglück voll zu machen, umfaßt ihr Sonnensystem nur neun Planeten, mit anderen Worten, mein ständiges Büro darf sich nicht weiter von der Sonne entfernen, als der Planet, den sie Pluto nennen, eine Welt, in der sich der Winter eben noch ertragen läßt, aber dafür ist der Sommer irrsinnig heiß. Glaub mir, Hoy, das Leben eines Stellar-Sergeanten ist nicht eitel gloor und skubbets, was der rückwärtige Stab auch behaupten mag. Um bei der Wahrheit zu bleiben, muß ich allerdings zugeben, daß der Ärger diesmal nicht auf Sol III begonnen hat. Seit sie unerwartet die Atomspaltung entdeckten, was mich, wie du weißt, meine Beförderung kostete, habe ich die Anzahl der Geheimagenten auf dem Planeten verdoppelt und meinen Leuten strengstens eingeschärft, jede technische Neuerung unverzüglich zu melden. Jetzt könnten diese Menschen vermutlich nicht einmal die einfachste Zeitmaschine erfinden, ohne daß ich im voraus davon unterrichtet wäre. Nein, diesmal hat es auf Rugh VI begonnen, auf jener Welt, die von ihren Bewohnern Gtet genannt wird. Wenn du einen Blick in den Atlas wirfst, Hoy, wirst du sehen, daß Rugh ein größerer
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gelber Zwergstern am Rande der Milchstraße ist, und Gtet ein völlig unbedeutender Planet, der erst vor kurzem die Stufe 19 erreicht hat – unmittelbare interplanetarische Staatsbürgerschaft. Die Gtetaner sind modifizierte Amöben. Sie erzeugen eine durchaus annehmbare Marke Ashkebac, den sie an ihre Nachbarn auf Rugh IX und XII exportieren. Sie sind ein Volk von Individualisten und ecken selbst heute noch innerhalb einer zentralistischen Gesellschaft an. Trotz einiger Jahrhunderte fortgeschrittener Zivilisation betrachten die meisten Gtetaner das Gesetz nicht als Ausdruck eines geregelten Lebens, sondern als amüsantes Problem, das es zu umgehen gilt. Eine ideale Ergänzung meiner Zweibeiner auf Erden, wie? Ein gewisser L’payr scheint einer der übelsten Unruhestifter von Gtet gewesen zu sein. Es gibt kaum ein Verbrechen, das er nicht begangen und kaum ein Gesetz, das er nicht gebrochen hätte. L’payr fiele selbst noch auf einem Planeten aus dem Rahmen, wo volle fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung regelmäßig ins Kittchen wandern. Soviel mir bekannt ist, lautet ein gtetanisches Modewort: »Mensch, du bist wie L’payr – du weißt auch nicht, wann du einen Punkt machen sollst.« Trotzdem hatte L’payr einen Punkt erreicht, bei dem es einfach nicht mehr weiterging. Er war wegen insgesamt 2.342 Schwerverbrechen festgenommen und verurteilt worden und bei 2.343 Straftaten wird man auf Gtet als Gewohnheitsverbrecher behandelt und bekommt lebenslänglich. Er machte den tapferen Versuch, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und sich ganz der Meditation und der Wohlfahrt zu widmen, aber es war zu spät. Beinahe gegen seinen Willen, wie er mir bei der Einvernahme in meinem Büro versicherte, wanderten seine Gedanken immer wieder zu kriminellen Handlungen, die er noch nicht begangen hatte. Und so schlitterte er eines Tages ganz beiläufig und ohne es recht zu wissen in ein weiteres Verbrechen. Aber dieses Verbre-
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chen war so einmalig in seiner Abscheulichkeit und beleidigte sowohl die Moral als auch das bürgerliche Gesetz, daß sich die ganze Bevölkerung gegen L’payr stellte. Er wurde beim Verkauf pornographischer Bilder an Jugendliche ertappt. Die Nachsicht, auf die sich eine prominente Persönlichkeit verlassen kann, verwandelte sich in Wut und grenzenlose Verachtung. Selbst der Gtetanische Fürsorgeverein der zweitausend ehemaligen Strafgefangenen weigerte sich, die Kaution für ihn zu erlegen. Als seine Verhandlung näherrückte, wurde es L’payr klar, daß er diesmal ausgespielt hatte. Seine einzige Hoffnung lag in der Flucht. Da leistete er sich den kühnsten Streich seines Lebens. Er brach aus dem hermetisch verschlossenen Tresor aus, der vierundzwanzig Stunden täglich bewacht wurde. (Wie er das anstellte, hat er mir bis zu seinem beklagenswerten Hinscheiden oder wie immer du es nennen willst, nicht verraten.) Jedenfalls gelang es ihm, den Raumhafen in der Nähe des Gefängnisses zu erreichen. Dort stahl er sich an Bord des Stolzes der gtetanischen Handelsflotte, eines neu entwickelten interstellaren Schiffes mit zweifachem Hyperraumantrieb. Dieses Schiff wartete auf eine Mannschaft für seine Jungfernfahrt. In den wenigen Stunden vor Bekanntwerden seiner Flucht machte L’payr sich irgendwie mit den Armaturen des Schiffes vertraut. Es gelang ihm, von Gtet abzuheben und in den vierdimesionalen Raum zu gelangen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, daß dieses Schiff, bei dem es sich erst um ein Probemodel handelte, mit einem Sender ausgerüstet war, das den Raumhafen laufend über seinen jeweiligen Aufenthalt informierte. Obwohl die planetarische Polizei zwar kein annähernd rasches Schiff besaß, um ihn zu verfolgen, wußte sie auf diese Weise dennoch genau, wo er sich befand. Hundert Mitglieder eines amöboiden Überwachungskomitees nahmen wohl die Verfolgung
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in altmodischen Schiffen mit Normalantrieb auf, gaben es aber nach etwa einmonatiger interplanetarischer Reise auf und kehrten um. Als Versteck schwebte L’payr ein primitives, unbedeutendes Eckchen der Milchstraße vor. Das Gebiet rund um Sol war ideal. Etwa in der Mitte zwischen dem dritten und vierten Planeten tauchte er aus dem vierdimensionalen Raum auf. Aber er benahm sich dabei sehr ungeschickt (schließlich erfassen die hellsten Köpfe seiner Rasse erst allmählich das Prinzip des zweifachen Antriebs) und verlor seinen gesamten Treibstoff. Mit knapper Not erreichte er noch die Erde und landete. Die Landung erfolgte bei Nacht und blieb unbemerkt. Da sich die Lebensbedingungen auf der Erde ganz wesentlich von den gtetanischen unterscheiden, wußte L’payr, daß er viel von seiner Wendigkeit einbüßen würde. Daher setzte er seine ganze Hoffnung auf die Hilfe der Erdbewohner. Er mußte einen Platz wählen, der ihm zwar die größten Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme bot, bei dem aber nicht mit einer zufälligen Entdeckung des Schiffes zu rechnen war. Er entschied sich für einen leeren Bauplatz in einer Vorstadt von Chicago. Dort grub er sein Schiff rasch ein. Inzwischen setzte sich die gtetanische Polizei mit mir, dem lokalen Befehlshaber der Galaktischen Patrouille, in Verbindung. Sie informierte mich über L’payrs Versteck und verlangte seine Auslieferung. Ich wandte ein, daß mir dazu vorderhand die rechtliche Handhabe fehle, da ja kein Verbrechen interplanetarischer Natur begangen worden war. Das Raumschiff hatte er auf seinem Heimatplaneten gestohlen und nicht im Weltraum. Anders lag die Sache erst, wenn er während seines Aufenthalts auf der Erde irgendein galaktisches Gesetz verletzte oder einen Friedensbruch beging, so unwesentlich er auch sein mochte. »Was halten Sie davon?« fragte mich der gtetanische Polizeikommissar über den interstellarischen Funk. »Über die Erde ist der Status geheimer Überwachung verhängt, soviel wir wissen. Es ist verboten, die Erde mit Erfindungen überlegener Zivilisatio-
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nen bekannt zu machen. Ist die Landung L’payrs in einer Maschine mit zweifachem Hyperraumantrieb nicht Vorwand genug, ihn festzunehmen?« »An sich nicht«, antwortete ich. »Dazu müßte das Schiff erst von einem Bewohner jenes Planeten gesehen und in seiner Konstruktion begriffen werden. Soviel wir hier wissen, ist nichts dergleichen geschehen. Und solange er in seinem Versteck bleibt, keinem Menschen von uns erzählt und die technische Entwicklung auf Erden nicht vorantreibt, muß L’payrs galaktische Staatsbürgerschaft respektiert werden.« Die Gtetaner murrten natürlich und fragten, wofür sie eigentlich Sternsteuer zahlten, aber sie sahen meinen Standpunkt ein. Sie warnten mich allerdings, daß L’payrs verbrecherische Anlagen früher oder später zum Vorschein kommen würden. Schließlich sei er in einer unmöglichen Lage, sagten sie. Um sich den nötigen Treibstoff zu verschaffen, um die Erde zu verlassen, solange seine Vorräte noch reichten, mußte er irgendein Verbrechen begehen. Für diesen Fall erbaten sie dringend seine Verhaftung und Auslieferung. »Der widerliche Perverse«, hörte ich den Polizeikommissar murmeln, als er abschaltete. Ich muß dir nicht lange schildern, wie mir zumute war, Hoy. Auf dem so ungemein anfälligen Planeten Erde trieb sich ein gerissener amöboider Verbrecher herum! Ich verständigte alle unsere Agenten in Nordamerika und lehnte mich zurück, um die Fühler zum Gebet zu verschränken und abzuwarten. Den überwiegenden Teil dieses Gesprächs hatte L’payr über das Empfangsgerät seines Schiffes mitangehört. Natürlich entfernte er daraufhin als erstes das Peilgerät, durch das die gtetanische Polizei ihn aufgespürt hatte. Beim nächsten Einbruch der Dunkelheit gelang es ihm, sich und sein winziges Schiff in ein anderes Viertel der Stadt zu verlegen, was ihn unvorstellbare Mühe gekostet hatte. Auch diesen Umzug führte er unbemerkt durch. Er schlug sein Quartier in einem baufälligen, ärmlichen
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Häuserblock auf, der zugunsten eines neuen Wohnbauprojekts abgerissen werden sollte und daher praktisch leer stand. Dann begann er, über sein Problem zu grübeln. Und es war ein sehr verzwicktes Problem, das kannst du mir glauben, Hoy! Einerseits wollte er jeden Ärger mit dem Patrouillendienst vermeiden, andererseits mußte er schleunigst eine beachtliche Menge Treibstoff in seine Greifer bekommen, sonst war er in Kürze ein toter Einzeller. Er brauchte den Treibstoff nicht nur zum Abflug von der Erde, sondern auch für die Umwandlungsreaktoren, die auf diesem ziemlich primitiven gtetanischen Schiff den Abfall wieder in brauchbare Luft und Nahrung zurückverwandelten. Wenn er diese Reaktoren nicht raschest nachfüllte, setzten sie aus. Seine Zeit war knapp, und er besaß so gut wie keine Hilfsquellen. Wohl gab es auf dem Schiff genügend Raumanzüge, die den Anforderungen eines molluskenartigen Gebildes genügten, aber für einen derart primitiven Planeten wie die Erde waren sie nicht geeignet. Bei längeren Aufenthalten außerhalb des Schiffes traten an ihnen Mängel auf. Er wußte, daß mein Büro von seiner Landung unterrichtet war und wir nur auf die kleinste Übertretung irgendeines Gesetzes lauerten. Dann würden wir uns auf ihn stürzen, und nach den üblichen diplomatischen Formalitäten würde er den Rückflug nach Gtet antreten. Sein ursprünglicher Plan, einen raschen Raubzug in einem Vorratslager der Menschen zu starten und sich mit jeder nötigen Ausrüstung zu versorgen, war undurchführbar geworden. Ihm blieb nur mehr die Hoffnung auf einen Tauschhandel. Er mußte ein Geschäft mit einem Menschen abschließen, dem er etwas zu bieten hatte, was zumindest diesem einen Menschen jene Treibstoffmenge wert war, die L’payrs Schiff benötigte, um ihn in einen weniger scharf überwachten Winkel des Kosmos zu befördern. Aber alles, was sich auf dem Schiff befand, war zu
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seiner Flugtüchtigkeit nötig. Und L’payr mußte sein Geschäft tätigen, ohne dabei die Existenz und Art der galaktischen Zivilisation zu verraten und ohne der technischen Entwicklung der Menschen durch sein Tauschobjekt Gewicht zu verleihen. L’payr erzählte uns später, er hätte über dieses Problem nachgedacht, bis sein Kern eine einzige zerfurchte Masse gewesen sei. Immer wieder suchte er das Schiff vom Bug zum Heck ab, aber alles, was ein Mensch reizvoll finden mochte, war entweder zu wertvoll oder zu verräterisch. Und dann, als er schon fast aufgeben wollte, fand er, was er brauchte. Seine Handelsware waren die Bilder, mit denen er sein letztes Verbrechen begangen hatte! Du mußt nämlich wissen, Hoy, daß nach gtetanischem Recht jedes Indiz eines begangenen Verbrechens bis zum Beginn des Prozesses im Besitz des Angeklagten verbleibt. Dafür gibt es äußerst komplizierte Gründe. Einer davon ist die gtetanische Rechtsauffassung, jeder Gefangene sei solange schuldig, bis es ihm mit Hilfe von Lügen, Gesetzeslücken und brillanter Rechtsverdrehung gelingt, die abgebrühten und skeptischen Geschworenen davon zu überzeugen, daß sie ihn gegen ihr besseres Wissen unschuldig sprechen sollen. Da es Aufgabe des Gefangenen ist, seine Unschuld zu beweisen, bleibt er eben auch im Besitz des Corpus delicti. Und als L’payr sein Corpus delicti betrachtete, wußte er, daß er das gesuchte Tauschobjekt gefunden hatte. Jetzt brauchte er nur noch einen Käufer. Nicht bloß einen, der ihm seine Ware abnehmen wollte; nein, es mußte ein Käufer sein, der ihm die gewünschte Treibstoffmenge zur Verfügung stellen konnte. Und in der Gegend seines derzeitigen Stützpunkts waren solche Kunden rar. Die Gtetaner stehen auf der Entwicklungsstufe 19 und beherrschen daher die primitivste Form der Telepathie. Allerdings nur auf ganz geringe Entfernung und für verhältnismäßig kurze Zeitspannen. L’payr wußte, daß meine Geheimagenten bereits nach ihm suchten und seinen Aktionsradius sehr beträchtlich ein-
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schränken würden, wenn sie ihn fanden. Deshalb begann er, hastig die Gedanken aller Menschen zu durchkämmen, die sich im Umkreis der benachbarten Häuserblocks befanden. Tage vergingen. Wie ein Insekt, das nach einem Loch im Einsiedeglas des Sammlers sucht, so surrte er von einem menschlichen Geist zum anderen. Er mußte den Umwandlungsreaktor des Schiffes auf halbe Kraft drosseln und schließlich sogar auf ein Drittel. Da sich damit auch seine Nahrungsmittel entsprechend verringerten, begann er zu hungern. Seine pulsierende Vakuole schrumpfte durch den Bewegungsmangel auf Stecknadelgröße zusammen. Selbst sein Endoplasma verlor die pralle Fülle der gesunden Amöbe und wurde bedenklich dünn und durchsichtig. Eines Abends, als er beinahe schon entschlossen war, die Gefahr zu mißachten und den benötigten Treibstoff zu stehlen, prallten seine Gedanken plötzlich vom Gehirn eines Passanten ab, kehrten ungläubig zurück, prüften nochmals nach und erlangten begeisterte Gewißheit. Endlich ein Mensch, der nicht nur seinen Bedarf decken konnte, sondern, wichtiger als das, vielleicht an gtetanischer Pornographie interessiert war! Mit anderen Worten, Mr. Osborne Blatch. Dieser ältliche Lehrer jugendlicher Irdischer behauptete während seiner sämtlichen Verhöre, daß er nach bestem Wissen unter keinerlei geistigem Zwang gestanden hätte. Er wohnte in einem neuen Miethaus am anderen Ende des Abbruchgrundstücks und beschrieb wegen des rauflustigen Gesindels, das dieses Viertel unsicher machte, jedesmal einen weiten Bogen um die Schutthalden. An jenem Abend jedoch hatte ihn eine Lehrerversammlung in seiner Oberschule aufgehalten, und er kam bereits zu spät zum Abendessen. Deshalb beschloß er, seinen Weg abzukürzen, wie er das schon früher ein- oder zweimal getan hatte. Er beteuerte, diesen Entschluß absolut freiwillig und unbeeinflußt gefaßt zu haben. Osborne Blatch sagte, er sei munter ausgeschritten und habe seinen Schirm wie einen Spazierstock verwendet, als er plötzlich
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vermeinte, eine Stimme zu hören. Schon bei der ersten Einvernahme gab er an, selbst in Gedanken das Wort »vermeinte« gebraucht zu haben, weil die Stimme zwar eindeutig Modulation und Ton erkennen ließ, ihr aber erstaunlicherweise jedes Volumen fehlte. Die Stimme sagte: »He, Sportsfreund! Komm mal her!« Neugierig drehte er sich um und suchte den Schutt zu seiner Rechten ab. Von dem ehemaligen Gebäude war nur mehr die untere Hälfte des Haustors stehen geblieben. Rundum war alles niedergerissen, und es gab nirgends ein Plätzchen, wo ein Mensch sich verstecken konnte. Während er sich jedoch suchend umsah, hörte er die Stimme wieder. Sie klang verschwörerisch und leicht ungeduldig. »Komm her, Sportsfreund! Na komm schon!« »Was – was gibt es, Sir?« fragte er vorsichtig und wohlerzogen, kam näher und spähte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Das helle Licht der Straßenlampe hinter ihm, so sagte er, verlieh ihm Mut. Ebenso der dicke, altmodische Schirm, den er bei sich trug. »Komm her. Ich zeig dir was. Komm schon!« Mr. Blatch stieg behutsam über lose Ziegel und alten Müll und gelangte zu einem kleinen Loch an der Seite der demolierten Tür. Und dieses Loch füllte L’payr aus. Der Mensch jedoch glaubte auf den ersten Blick eine kleine, schmutzig-rote schimmernde Pfütze zu sehen. Hier möchte ich ausdrücklich festhalten, Hoy – und das bestätigen auch die eidesstattlichen Erklärungen, die ich mitschicke –, daß Mr. Blatch das dickflüssige Kleidungsstück niemals als Raumanzug erkannte. Ebensowenig sah er das gtetanische Schiff, das L’payr in hoch verdünntem hyperräumlichem Zustand hinter sich im Schutt versteckt hatte. Obwohl der Mann über eine lebhafte Fantasie und einen sehr aufgeschlossenen Verstand verfügte und daher sofort begriff,
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daß er es mit einem Geschöpf aus dem Weltraum zu tun haben mußte, fehlte ihm doch der objektive technische Beweis dafür. Außerdem ahnte er nichts vom Vorhandensein unserer speziellen galaktischen Zivilisation. Hier zumindest lag also keine strafbare Übertretung des interstellaren Gesetzes 2,607.193 nebst den Ergänzungen 126 bis 509 vor. »Was wollen Sie mir denn zeigen?« erkundigte sich Mr. Blatch höflich und sah die rote Pfütze gebannt an. »Und darf ich fragen, woher Sie kommen? Vom Mars? Oder von der Venus?« »Hören Sie, Sportsfreund, wenn Sie klug sind, stellen Sie keinerlei Fragen. Passen Sie auf, ich hab’ was für Sie. Heiße Ware. Extra heiße!« Mittlerweile hatte sich Mr. Blatchs ursprüngliche Angst verflüchtigt, eine der in der Gegend hausende Bande könnte versuchen, ihn zu überfallen und auszurauben. Solchermaßen beruhigt, schweifte seine Erinnerung zu einem ähnlichen Zwischenfall bei einer Auslandsreise zurück, die er vor Jahren gemacht hatte. Da war jenes dunkle Pariser Gäßchen gewesen und der schäbige kleine Franzose im abgerissenen Pullover… »Worum handelt es sich?« fragte er. Es entstand eine kurze Pause, in der L’payr neue Eindrücke in sich aufsaugte. »Ah-h-h«, sagte die Stimme aus der Pfütze. »Ick ‘aben M’sieu etwas zu zeigen, was M’sieu wird serr gefallen. Wenn M’sieu kommen bißchen nä’er?« M’sieu kam bißchen nä’er. Dann schob sich die Pfütze in der Mitte etwas empor, streckte einen Greifer aus, in dem flache, viereckige Gegenstände lagen, und telepathierte heiser: »’ier, M’sieu. Smutzige Fotos.« So verdutzt Blatch auch war, zog er doch bloß beide Augenbrauen fragend hoch und sagte: »Ach? Sieh da, sieh da.« Er legte seinen Schirm in die linke Hand, nahm die Fotos einzeln und in der Reihenfolge an sich, in der sie ihm ausgehändigt wurden,
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und trug jedes Bild einige Schritte von L’payr fort, um es im Licht der Straßenlampe besser zu sehen. Sobald sämtliche Beweisstücke eintreffen, wirst du dir selbst ein Urteil über diese Produkte machen können, Hoy. Es waren billige Drucke, dazu angetan, die niedrigsten Gelüste der Amöben aufzustacheln. Wie du vielleicht weißt, pflanzen sich die Gtetaner durch simple geschlechtslose Teilung fort, aber nur, wenn eine Salzlösung vorhanden ist. Sodium Chlorid kommt verhältnismäßig selten in ihrer Welt vor. Das erste Foto zeigte eine nackte Amöbe, dick und mit Nahrungsvakuolen vollgefressen, die am Grund einer Metallwanne in jenem faulen, formlosen Zustand völliger Entspannung schwamm, der der Fortpflanzung vorausgeht. Das zweite Bild glich dem ersten, nur zeigten sich an der unteren Seite der Wanne ein paar Tropfen Salzlösung, denen sich mehrere Greifer neugierig entgegenreckten. Um nur ja nichts der Fantasie zu überlassen, war in die obere rechte Ecke des Fotos eine Zeichnung des Sodiumchloridmoleküls eingeblendet worden. Auf dem dritten Bild plätscherte der Gtetaner ekstatisch in der Salzlösung. Sein Körper war bis an die Grenzen des Möglichen aufgebläht, und Dutzende von Greifern streckten sich zitternd aus. Beinahe das gesamte Chromatin hatte sich in Chromosomen um die Mitte des Kerns konzentriert. Für eine Amöbe war dieses Foto zweifellos das gewagteste. Die vierte Aufnahme zeigte, wie sich der Kern zwischen den beiden Reihen der sich teilenden Zellen verengte. Auf der fünften war die Teilung vollzogen, die beiden Kerne lagen an den entgegengesetzten Enden des sich fortpflanzenden Geschöpfs, und der ganze zellplasmatische Körper zog sich in der Mitte eng zusammen. Auf dem sechsten Bild waren die beiden entstandenen Gtetaner dabei, sich mit der ganzen Erschlaffung gesättigter Leidenschaft aus der Salzwasserlösung zu erheben. Damit du dir ein Bild von L’payrs Verworfenheit machen kannst, sollst du wissen, was ich von der gtetanischen Polizei
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erfahren habe. Nicht nur, daß er die pornographischen Bilder an minderjährige Amöben verkaufte, soll er die Fotos angeblich selbst geschossen und seinen eigenen Bruder als Modell verwendet haben – oder sollte ich Schwester sagen? Oder vielleicht sein einziges Geschwister? Dieser Fall hatte viele, viele verwirrende Aspekte. Blatch gab L’payr das letzte Foto zurück und sagte: »Ja, ich bin bereit, die Serie zu kaufen. Was kostet sie?« Der Gtetaner nannte seinen Preis in Form der entsprechenden Chemikalien, die im Labor der Oberschule vorrätig waren, an der Blatch unterrichtete. Er erläuterte ihm genauest die erforderliche Zusammensetzung und schärfte Blatch ein, mit niemandem über L’payrs Existenz zu sprechen. »Sonst wenn M’sieu kommen morgen ‘ier, die Fotos sein fort, ich sein fort – und M’sieu ‘aben nix für sein Mü’e. Comprenez?« Es scheint Osborne Blatch leichtgefallen zu sein, das von L’payr eingehandelte Zeug zu beschaffen und vorzubereiten. Er sagte, daß es sich nach menschlichen Begriffen um eine winzige und lächerlich billige Menge gehandelt hat. Außerdem bezahlte er das Zeug aus der eigenen Tasche, wie er es auch in der Vergangenheit gewissenhaft getan hatte, sooft er Schulvorräte für seine eigenen Versuche verwendete. Aber er gibt zu, daß die Fotos nur ein kleiner Teil dessen waren, was er sich von der Amöbe erhofft hatte. Sobald erst eine solide Geschäftsverbindung angebahnt war, hatte er erwartet zu erfahren, aus welchem Teil des Sonnensystems der Besucher gekommen war, wie seine Welt aussah und ähnliches mehr, was begreiflicherweise ein Geschöpf interessiert, dessen Zivilisation sich in der letzten Phase der geheimen Überwachung befindet. Kaum war der Tauschhandel jedoch erfolgt, legte L’payr ihn hinein. Der Gtetaner forderte Blatch nämlich auf, am nächsten Abend wiederzukommen. Dann würde er mehr Zeit haben und sie könnten sich in Ruhe über das Universum unterhalten. Sobald sich aber der Irdische mit den Fotos entfernt hatte, lud
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L’payr seine Umwandlerreaktoren mit dem Treibstoff auf und traf die nötigen subnuldearen Umlagerungen seiner atomaren Beschaffenheit. Und da sein Hyperraumantrieb wieder auf vollen Touren lief, schwirrte er wie ein Rilg aus der Gwokuldady davon. Soweit wir unterrichtet sind, trug Blatch den Betrug mit Fassung. Schließlich blieben ihm immer noch die Fotos. Mein Büro erhielt die Meldung, daß L’payr die Erde in Richtung Herkules Sternhaufen M13 verlassen hatte, ohne erkennbare Spuren in der technischen Entwicklung der Erde hinterlassen zu haben. Wir atmeten alle dankbar auf. Der Fall wanderte aus der Ablage BESONDERS DRINGEND in den Ordner für SCHWEBENDE ANGELEGENHEITEN. Wie üblich, gab ich den Fall ab und beauftragte meinen Vertreter auf Erden, Stellar-Korporal Pah-Chi-Luh, mit der weiteren Verfolgung der Angelegenheit. Ein Suchstrahl wurde auf L’payrs rasch verschwindendes Schiff gerichtet, und ich hatte wieder freie Köpfe für meine eigentliche Aufgabe – Verzögerung der Entwicklung interplanetarischer Reisen, bis die verschiedenen menschlichen Gesellschaften den nötigen Grad geistiger Reife erreicht haben. Die Folge war, daß Pah-Chi-Luh sechs Erdenmonate später, als uns L’payr wieder zu schaffen machte, den Fall selbst behandelte und mich erst verständigte, als er allein nicht mehr weiter wußte. Ich weiß, daß das keine Entschuldigung für mich ist. Bei mir liegt die volle Verantwortung für alles, was in meinem Auswärtigen Bezirk geschieht. Aber unter Verwandten, Hoy, erwähne ich diese Tatsachen nur, um dir zu zeigen, daß mich eigentlich keine allzu große Schuld trifft und ich ein wenig Schützenhilfe von deiner Seite verdiene, wenn der Fall vor den Alten kommt. Tatsächlich war es so, daß ich und der Großteil meiner Untergebenen ein äußerst heikles Problem zu lösen hatten. Ein mohammedanischer Mystiker aus Saudi-Arabien hatte versucht, den jahrhundertealten Streit, der in seinem Glauben zwischen den Shiiten und den Sunniten-Sekten besteht, dadurch zu schlichten,
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daß er sich mit den dahingegangenen Seelen von Mohammeds Schwiegersohn Ali, dem Patron der ersten Gruppe, und Abu Bekr, dem Schwiegervater des Propheten und Begründer der Sunnitendynastie, in Verbindung setzte. Zweck dieses okkulten Ausflugs war es, im Paradies eine Art schiedsrichterliche Entscheidung zwischen den beiden gegnerischen Geistern zu erzielen, die festlegte, wer von Rechts wegen der Nachfolger Mohammeds und der erste Kaliph von Mekka hätte sein sollen. Aber auf Erden geht ja nichts glatt. Im Zuge seines lobenswerten Vorstoßes ins Jenseits bekam der junge Mystiker rein zufällig telepathische Verbindung mit einer Zivilisation der Stufe 9 der körperlosen großen Geister auf Ganymed, dem größten Satelliten des Planeten Jupiter. Na, du kannst dir vorstellen! Gewaltiger Aufruhr auf dem Ganymed und in Saudi-Arabien, ein Pilgerstrom von hüben und drüben, der die Wesen zu beiden Seiten der telepathischen Verbindung sehen wollte, und täglich geschahen die merkwürdigsten Wunder. Eine Katastrophe! Und mein Büro hat fieberhaft Überstunden gemacht, um die Sache im Rahmen des Glaubens zu halten und zu verhindern, daß unversehens vernünftigere Wesen auf beiden Seiten Wind von der Sache bekommen! Es ist ein Axiom des Patrouillendienstes, daß nichts die unterentwickelten Völker heftiger zur Raumfahrt antreibt als Kenntnis von der erwiesenen Existenz intelligenter planetarischer Nachbarn. Ehrlich gesagt, wenn Pah-ChiLuh gleich damals zu mir gekommen und den Unsinn von gtetanischer Pornographie in den Lehrbüchern irdischer Oberschulen erzählt hätte, ich hätte ihm vermutlich den Kopf abgebissen. Seit etwa zehn Jahren tarnt sich Pah-Chi-Luh als Erhebungsbeamter eines Kongreßkomitees der Vereinigten Staaten. Diese Verkleidung hat sich bei den verschiedenen Störmanövern, die wir heimlich auf dem nordamerikanischen Kontinent durchführen, als unerhört wirksam erwiesen. In dieser Rolle also stieß er auf die Lehrbücher. Es handelte sich um ein neu erschienenes Biologiebuch, das für den Gebrauch an den Oberschulen geschrieben worden war. Berühmte Universitätsprofessoren hatten
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sich ungemein lobend darüber ausgesprochen. Natürlich ließ das Komitee ein Exemplar dieses Buches kommen und übergab es dem Erhebungsbeamten zur Überprüfung. Korporal Pah-Chi-Luh schlug es auf und sah sich jenen unsittlichen Bildern gegenüber, über die er vor sechs Monaten Instruktionen erhalten hatte. Und diese pornographischen Aufnahmen waren veröffentlicht worden! Jeder Irdische konnte sie kaufen, und die Minderjährigen erhielten sie sogar an den Schulen! Völlig gebrochen hat er mir später gesagt, daß er in diesem Augenblick an eine freche Wiederholung von L’payrs abstoßendem Verbrechen auf seinem Heimatplaneten geglaubt hätte. Sofort strahlte er durch die ganze Milchstraße einen Haftbefehl für den Gtetaner aus. L’payr hatte inzwischen in einer kleinen, etwas abseits gelegenen, mäßig zivilisierten Welt ein neues Leben als AshkebacHersteller begonnen. Er war sorgfältig darauf bedacht, gegen kein Gesetz zu verstoßen, verdiente gut und war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung bereits so bürgerlich – und zufällig auch dick – geworden, daß er erwog, eine achtbare Familie zu gründen. Keine große – er wollte sich bloß verdoppeln. Entwickelte sich auch weiterhin alles zufriedenstellend, so schloß er für die spätere Zukunft eine mehrfache Zellteilung nicht aus. Er war sehr beleidigt, als er verhaftet und bis zum Eintreffen einer Auslieferungskommission in eine Arrestzelle auf dem Pluto überstellt wurde. »Mit welchem Recht hindern Sie einen friedlichen Gewerbetreibenden an der Ausübung seines Berufs?« fragte er. »Ich verlange augenblickliche, bedingungslose Entlassung, eine umfassende Entschuldigung sowie Schadenersatz für Verdienstausfall und die peinliche Situation, in die Sie mich gebracht haben! Ich werde mich bei Ihren Vorgesetzten beschweren! Unberechtigte Verhaftung eines galaktischen Staatsbürgers kann ernste Folgen nach sich ziehen!« »Sicherlich«, antwortete Stellar-Korporal Pah-Chi-Luh, »aber
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die öffentliche Verbreitung pornographischer Bilder ist noch bedeutend ernster. Dieses Verbrechen wiegt genauso schwer wie…« »Welche Pornographie?« Mein Assistent sagte, er habe L’payr lange Zeit durch die transparente Zellenwand angestarrt und die Frechheit dieses Kerls insgeheim bewundert. Trotzdem überfiel ihn ein gewisser Zweifel. Nie zuvor war er solcher unerschütterlichen Selbstsicherheit angesichts einer lückenlosen Indizienkette begegnet. »Sie wissen ganz genau, welche Pornographie ich meine. Da – sehen Sie selbst. Dabei ist das nur ein einziges Exemplar von 20.000, die in sämtlichen Vereinigten Staaten Nordamerikas speziell zum Gebrauch halbwüchsiger Menschen verbreitet wurden.« Er entmaterialisierte den Biologietext und reichte ihn durch die Wand. L’payr sah sich die Bilder an. »Schlechter Druck«, fand er. »Diese Menschen müssen noch in jeder Hinsicht eine ganze Menge lernen. Allerdings zeigen sie eine erfreuliche technische Frühreife. Aber wozu geben Sie mir das? Sie glauben doch nicht im Ernst, ich hätte etwas damit zu tun?« Pah-Chi-Luh sagte, daß der Gtetaner sehr verblüfft, aber auch sehr geduldig war, als versuchte er, das hysterische Gestammel eines geisteskranken Kindes zu enträtseln. »Sie leugnen also?« »Was um alles im Universum gibt es da zu leugnen? Zeigen Sie her.« Er sah sich die Titelseite an. »Es scheint sich um ein Erstes Lehrbuch der Biologie eines gewissen Osborne Blatch und Nicodemus P. Smith zu handeln. Sie haben mich doch wohl nicht mit Blatch oder Smith verwechselt, oder? Mein Name ist L’payr. Nicht Osborne L’payr und nicht mal Nicodemus P. L’payr, sondern ganz schlicht und einfach L’payr. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich komme vom Gtet, das ist der sechste Planet der…«
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»Gtets astrographische Lage ist mir bestens bekannt«, teilte Pah-Chi-Luh ihm frostig mit. »Auch daß Sie der Erde vor sechs Monaten einen Besuch abgestattet haben, ist mir bekannt. Und daß Sie damals ein Geschäft mit Osborne Blatch abwickelten, das Ihnen jenen Treibstoff verschaffte, den Sie brauchten, um den Planeten wieder zu verlassen. Blatch bekam dafür jene Bildserie, die später als Illustration in dem bewußten Lehrbuch veröffentlicht wurde. Wie Sie sehen, funktioniert unsere Geheimorganisation auf Erden ausgezeichnet. Wir haben das Buch als Beweisstück A gekennzeichnet.« »Eine geniale Benennung«, sagte der Gtetaner bewundernd. »Beweisstück A! Bei dieser verwirrenden Auswahl haben Sie genau jene Bezeichnung gewählt, die sich als die einzig treffende anbietet. Meine Hochachtung!« Du begreifst natürlich, Hoy, daß der Kerl in seinem Element war, weil er mit einem Polizisten debattieren konnte. L’payrs ganze glänzende Verbrecherlaufbahn in einer gesetzesbrecherischen Welt hatte ihn auf diesen Augenblick vorbereitet. Pah-Chi-Luhs Denken hingegen war schon seit langem hauptsächlich auf Spionage und geheime kulturelle Manipulationen ausgerichtet. Der Woge juristischer Spitzfindigkeiten, die ihn zu überschwemmen drohte, war er nicht gewachsen. Ich will ihm nicht unrecht tun und gebe gerne zu, daß ich unter den gegebenen Umständen vielleicht auch nicht besser abgeschnitten hätte. Du übrigens bestimmt auch nicht und nicht mal der Alte persönlich! L’payr fuhr fort: »Ich habe mich darauf beschränkt, einem gewissen Osborne Blatch eine Reihe künstlerischer Studien zu verkaufen. Was er später damit gemacht hat, geht mich nichts an. Angenommen, ich verkaufe einem Irdischen Waffen einer freigegebenen altmodischen Entwicklungsstufe – sagen wir, eine Steinaxt oder einen Kessel, aus dem man siedendes Öl auf die Belagerer einer befestigten Stadt gießen kann –, und er verwendet die Waffe, um einen ebenfalls primitiven Zeitgenossen ins Jenseits zu befördern, trifft mich dann etwa eine Schuld? Nein, mein Bester! Nicht, wie ich die bestehenden Gesetze des galaktischen Bundes kenne. Also entschädigen Sie mich endlich für
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meinen Zeitaufwand und meine Mühe und setzen Sie mich in ein Expreßschiff, das mich wieder an meinen Arbeitsort bringt.« Sie kamen nicht vom Fleck. Verzweifelt stöberte Pah-Chi-Luh in der Rechtsbibliothek des Pluto-Hauptquartiers. Dutzende Male kehrte er mit einem tückischen kleinen Fallstrick in einer der Verordnungen zurück, aber jedesmal setzte L’payr ihm auseinander, daß die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichtshofes ihn von jeder Schuld freispräche. Ich schwöre dir, diesem Gtetaner scheint es einen Riesenspaß zu machen, sämtliche Präzedenzfälle im Gedächtnis zu haben. »Aber Sie geben doch zu, dem Irdischen Osborne Blatch persönlich Pornographien verkauft zu haben?« brüllte ihn der Korporal schließlich an. »Pornographie, Pornographie«, sinnierte L’payr. »Wie heißt doch die korrekte Definition der Pornographie? Billige Erregung der Wollust durch aufreizende Unzüchtigkeiten. Stimmt’s?« »Natürlich!« »Tja, Korporal, dann beantworten Sie mir mal eine Frage. Sie haben die bewußten Bilder gesehen. Wurden Sie dadurch zu Wollust oder Unzüchtigkeit verleitet?« »Natürlich nicht. Aber ich bin ja auch keine Amöbe vom Gtet.« »Genau«, versetzte L’payr freundlich. »Das gleiche trifft auf Osborne Blatch zu.« Vielleicht hätte Korporal Pah-Chi-Luh einen vernünftigen Ausweg aus dem Dilemma gefunden, wäre nicht genau in diesem Augenblick das von ihm angeforderte Schiff vom Gtet gelandet. So aber stand er nun sechs weiteren Amöben von umwerfender Argumentationsfreudigkeit gegenüber. Einige von ihnen zählten sogar zu den verschlagensten Gesetzeskennern ihres Heimatplaneten. Die Polizei von Rugh VI hatte mit L’payr schon viele schwierige Verhandlungen vor gtetanischen Gerichten durchgestanden. Um daher jedes Risiko zu vermeiden, hatten sie ihre besten Vertreter entsandt.
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Zahlenmäßig war L’payr nun natürlich unterlegen, aber vergiß nicht, daß er sich seit seinem Abflug von der Erde auf etwas Ähnliches vorbereitet hatte. Und der Umstand, daß es sein Leben war, das auf dem Spiel stand, spornte ihn und seinen Einfallsreichtum zur Höchstleistung an. Im Sperrfeuer von L’payr und den Beamten der gtetanischen Auslieferungskommission bekam Pah-Chi-Luh zu fühlen, wie unselig das Los eines galaktischen Polizisten sein kann. Er pendelte hin und her, vom Gefangenen zu den Anwälten, stolperte durch Sümpfe der Rechtsauffassung, fiel in Abgründe der Gesetzgebung. Die Auslieferungskommission war fest entschlossen, nicht mit leeren Greifern zu ihrem Planeten zurückzukehren. Das gelang ihr jedoch nur, wenn L’payr in Haft blieb. Dann durften die Gtetaner als erstklagende Partei L’payrs Bestrafung vollziehen. L’payr hingegen war nicht minder entschlossen, seine Verhaftung durch den Patrouillendienst ungültig erklären zu lassen, weil er damit nicht nur unser Büro in Verlegenheit brachte, sondern auch das Auslieferungsbegehren automatisch erlosch und er den Anspruch auf Schutz vor den Staatsbürgern seiner eigenen Heimat anmelden konnte. Schließlich schleppte sich ein erschöpfter, bleicher und restlos heiserer Pah-Chi-Luh auf spindeldürren Fühlern zur Auslieferungskommission und teilte ihr mit, er sei nach gründlicher Überlegung zu dem Schluß gelangt, daß sich L’payr während seines Aufenthaltes auf der Erde keines Verbrechens schuldig gemacht hätte. »Unsinn«, hielt ihm der Wortführer entgegen. »Natürlich wurde ein Verbrechen begangen. Auf jenem Planeten wurden eindeutige, unmißverständlich pornographische Bilder verkauft und in Umlauf gebracht. Also muß ein Verbrechen vorliegen.« Pah-Chi-Luh wankte zu L’payr zurück und fragte ihn unglücklich, was er davon hielte? Spräche denn nicht alles für die Annahme, sagte er beinahe flehend, daß sämtliche Voraussetzungen eines Verbrechens gegeben seien? Irgendeines Verbrechens?
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»Stimmt«, antwortete L’payr nachdenklich. »Ganz unrecht haben die Leute nicht. Vielleicht wurde tatsächlich ein Verbrechen begangen – aber nicht von mir. Osborne Blatch allerdings…« Nun verlor der Stellar-Korporal gänzlich die Köpfe. In einem Astrogramm zur Erde befahl er, Osborne Blatch aufzuspüren. Zu unser aller Glück, den Alten eingeschlossen, ging Pah-ChiLuh nicht so weit, Blatch verhaften zu lassen. Der Irdische wurde nur als wichtiger Zeuge vorgeführt. Wenn ich mir die Folgen einer irrtümlichen Verhaftung eines Bewohners einer heimlich überwachten Welt ausmale, besonders in einem Fall dieser Art, dann wird mein Blut beinahe flüssig, Hoy. Allerdings beging Pah-Chi-Luh die zusätzliche Dummheit, Osborne Blatch in die Zelle neben L’payr zu sperren. Du siehst, daß sich alles entsprechend dem Wunsch der Amöbe entwickelte. Als Pah-Chi-Luh endlich die Zeit fand, Blatch zu verhören, war der Irdische längst von seinem Zellennachbarn präpariert worden. Allerdings zeigte sich das erst nach und nach. »Pornographie?« antwortete er auf die erste Frage. »Was heißt hier Pornographie? Mr. Smith und ich hatten schon längere Zeit hindurch an einem Buch für den Biologieunterricht gearbeitet und hatten gehofft, unseren Text mit völlig neuen Bildern zu illustrieren. Wir wollten deutlichere, größere Aufnahmen haben, die den Kindern sofort begreiflich sind. Vor allem aber wollten wir jene verschwommenen Zeichnungen ausschalten, die seit Jahren in sämtlichen Schulbüchern verwendet werden. Mr. L’payrs Serie des Fortpflanzungszyklus der Zelltierchen war eine wahre Gottesgabe. In gewissem Sinne haben wir den ersten Abschnitt unseres Buche auf diesen Bildern aufgebaut.« »Sie leugnen jedoch nicht«, nahm Korporal Pah-Chi-Luh ihn unerbittlich ins Kreuzverhör, »daß Sie zum Zeitpunkt des Kaufe genau wußten, daß es sich um pornographische Fotos handelt und daß dieses Wissen Sie nicht davon abhielt, die Bilder zur Ergötzung der Halbwüchsigen Ihrer Rasse zu verwenden?«
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»Zur Erbauung«, berichtigte ihn der ältliche irdische Lehrer. »Nicht zur Ergötzung. Ich versichere Ihnen, daß kein einzige Schüler beim Anblick dieser Fotos – die übrigens ihrer Struktur nach wie Zeichnungen aussahen – zu irgendwelchen verfrühten erotischen Anwandlungen verführt wurde. Ich gebe zu, daß ich zum Zeitpunkt des Kaufes den deutlichen Eindruck von dem Herrn in der Nachbarzelle hatte, daß er und seine Artgenossen die Illustrationen für ziemlich gepfeffert hielt…« »Na also!« »Aber das war sein Problem, nicht meines. Wenn ich schließlich von einem außerirdischen Geschöpf einen Gegenstand erwerbe – sagen wir eine Steinaxt oder einen Kessel, mit dem man siedendes Öl auf die Belagerer einer befestigten Stadt gießen kann – und ich beide zu völlig friedlichen und nützlichen Zwecken verwende: Die Axt, um damit Zwiebeln aus der Erde zu buddeln und den Kessel, um aus diesen Zwiebeln eine Suppe zu kochen habe ich dann ein Unrecht begangen? Tatsächlich ist es ja so, daß das bewußte Schulbuch die besten Kritiken und wärmsten Empfehlungen von internationalen Größen des Unterrichtswesens und der Wissenschaft erntete. Möchten Sie ein paar davon hören? Es ist durchaus möglich, daß ich ein oder zwei Buchbesprechungen bei mir habe. Augenblick mal. Ja, rein zufällig steckt eine Handvoll Zeitungsausschnitte in meiner Anzugtaschen! Da schreibt zum Beispiel das Magazin der Oberschulen der südlichen Präriestaaten: ›Ein ganz wesentlicher und beachtenswerter Beitrag, der lange in den Annalen der pädagogischen Grundwissenschaften fortleben wird. Die Autoren dürfen sich rühmen…‹« Da wurde es Pah-Chi-Luh zuviel, und er schickte mir einen verzweifelten Hilferuf. Zum Glück war ich in der Lage, mich dieser Angelegenheit restlos zu widmen, da die saudi-arabische Ganymed-Affäre inzwischen völlig harmlos geworden war. Wäre ich jedoch beschäftigt gewesen…
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Nachdem wir es mit allen möglichen Ablenkungsmanövern versucht hatten, einschließlich dem Einsatz von Geheimagenten, die wir als Tänzerinnen verkleideten, war es uns endlich gelungen, den jungen Mystiker in ein langatmiges theologisches Streitgespräch über die Art und die moralischen Folgen der von ihm bewirkten Wunder zu verwickeln. Berühmte mohammedanische Religionswissenschaftler des betroffenen Gebiets hatten für die eine oder andere Seite Partei ergriffen, und die Luft qualmte von Zitaten aus dem Koran und den späteren Sunnitischen Büchern. Der Mystiker ließ sich von den erbitterten Meinungsverschiedenheiten mitreißen und vertiefte sich derart in den Streit, daß er seine ursprünglichen Ziele vergaß und die geistige Verbindung mit Ganymed unwiderruflich löste. Eine Zeitlang entstand dadurch auf diesem Satelliten ein ernstes Problem. Es sah aus, als wären die körperlosen Intellektuellen nahe daran, sich schließlich ein reales Bild von der Wahrheit zu machen. Zu unserem Glück hatte man auch auf Ganymed die ganze Sache als religiöses Phänomen betrachtet. Der Intellekt, der durch die Verbindung mit den Menschen zu größtem Ansehen gelangt war, geriet gänzlich in Mißkredit, als der telepathische Kontakt abriß. Allgemein wurde angenommen, daß er die ganze Sache vorgetäuscht hatte, um unter den höher entwickelten Geistern seiner Rasse Unglauben zu säen. Ein geistliches Gericht verurteilte den unseligen Telepathen zur Verkörperung bei lebendigem Leib. Ich kehrte daher mit dem wohligen Gefühl vollbrachter Leistung in mein Hauptquartier auf Pluto zurück, um auf Pah-ChiLuhs Hilferuf zu reagieren. Ich brauche dir wohl nicht erst lange zu schildern, daß sich dieses Gefühl blitzartig in tiefste Niedergeschlagenheit verwandelte. Nachdem mir der überarbeitete Korporal die Zusammenhänge erklärt hatte, setzte ich mich mit der gtetanischen Ausweisungskommission in Verbindung. Sie hatte Kontakt mit ihrem Innenministerium aufgenommen und drohte mit einem galaktischen Skandal, falls der Verhaftungsbefehl des Patrouillendienstes auf-
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gehoben und L’payr ihrer Untersuchungshaft entzogen würde. »Sollen denn die heiligsten und intimsten Einzelheiten unseres Liebeslebens schamlos im ganzen Universum breitgetreten werden?« fragte man mich. »Pornographie ist Pornographie, und Verbrechen bleibt Verbrechen. Die kriminelle Absicht ist erwiesen, der Tatbestand gegeben. Wir wollen unseren Gefangene haben.« »Wie kann denn von Pornographie die Rede sein, wenn die Unsittlichkeit fehlt?« gab L’payr zurück. »Wenn ein Chumblostianer einem Gtetaner eine Lieferung Krrgllwss verkauft – was sie als Nahrung verwenden und wir als Baumaterial –, hat dann die Bezahlung nach dem Lebensmittel- oder nach dem Bautarif zu erfolgen? Wie Ihnen nur zu gut bekannt ist, Sergeant, gilt der Bautarif. Ich fordere meine sofortige Freilassung!« Die böseste Überraschung jedoch bereitete mir Blatch. Der Irdische saß in seiner Zelle und lutschte am Griff seines Regenschirm. »Auf Grund der Gesetze über die Behandlung aller geheim überwachter Rassen«, legte er los, sobald er mich sah, »und dann beziehe ich mich nicht nur auf die Rigellianisch-Sagittarische Konvention, sondern auch auf die Statuten des dritten kosmischen Himmelskreises und die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs in den Fällen Khwomo gegen Khwomo und Farziplok gegen Antares XII, beantrage ich die Rückführung in mein Heimatland sowie Entschädigung nach den Sätzen, die von der Nobri-Kommission im jüngsten Vivadischen Streitfall bewilligt wurden Außerdem verlange ich Genugtuung für…« »Sie scheinen sich gute Kenntnisse des interstellaren Rechts angeeignet zu haben«, bemerkte ich gedehnt. »Das habe ich, Sergeant, das habe ich. Mr. L’payr war so liebenswürdig, mich über meine Rechte aufzuklären. Offenbar habe ich die verschiedensten Ansprüche auf Wiedergutmachung. Zumindest aber kann ich diese Entschädigungen beantragen. Ich finde Ihre galaktische Kultur ungemein interessant, Sergeant.
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Unzählige Menschen wären entzückt, Näheres darüber zu erfahren. Aber ich bin durchaus bereit, Ihnen die Verlegenheit zu ersparen, die derartige Bekanntmachungen nach sich ziehen würden. Ich bin überzeugt, daß es für zwei vernunftbegabte Personen wie uns bestimmt eine gütliche Beilegung geben wird.« Als ich L’payr der Preisgabe galaktischer Geheimnisse beschuldigte, blähte er sein Zellplasma zu einem gewaltigen amöboiden Achselzucken auf. »Ich habe ihm gar nichts verraten, Sergeant. Alle Kenntnisse, die sich der Irdische angeeignet hat – und ich gebe zu, daß alle Kenntnisse außerirdischer Kulturkreise einen schweren Verstoß gegen die herrschenden Gesetze bedeuten –, fallen ausschließlich in die Zuständigkeit Ihres Hauptquartiers. Da man mich überdies völlig zu Unrecht eines abstoßenden Verbrechens bezichtigte, hatte ich doch gewiß das Recht, mir meine Verteidigung zurechtzulegen, indem ich die Angelegenheit mit dem einzigen Tatzeugen besprochen habe. Ich könnte sogar noch weitergehen. Da nämlich Mr. Blatch und ich sozusagen auf derselben Verteidigungsbank sitzen, könnte niemand dagegen Einspruch erheben, wenn wir unsere Gesetzeskenntnisse austauschten.« Ich zog mich in mein Büro zurück und unterrichtete Pah-ChiLuh über den jüngsten Stand der Dinge. »Es ist wie ein Sumpf«, jammerte er. »Je mehr man um sich schlägt, um sich zu retten, desto tiefer versinkt man. Und erst dieser Irdische! Er bringt die plutonischen Wachen beinahe um den Verstand. Dauernd stellt er Fragen – was ist dies und was ist jenes und wie funktioniert es. Oder es ist nicht heiß genug für ihn, die Luft riecht verkehrt, sein Essen schmeckt ihm nicht. Sein Hals kratzt, er verlangt etwas zum Gurgeln, er braucht…« »Geben Sie ihm alles, was er verlangt, aber innerhalb vernünftiger Grenzen«, sagte ich. »Wenn uns dieser Kerl stirbt, können wir beide von Glück sagen, wenn man uns nur zu einer Strafexpedition ins Schwarze Loch des Schwans verurteilt. Darüber hinaus aber – also ich muß sagen, Korporal, daß ich der Ausliefe-
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rungskommission vom Gtet beipflichte. Es muß ein Verbrechen begangen worden sein.« Pah-Chi-Luh starrte mich an. »Sie – Sie wollen damit sagen…« »Ich will damit sagen, wenn ein Verbrechen vorliegt, ist L’payr zu Recht verhaftet worden. Infolgedessen kann er auch ausgeliefert werden. Dann sind wir ihn und ebenso das Rudel dieser greiferrasselnden gtetanischen Winkeladvokaten endgültig los. Eine Sorge bleibt uns allerdings selbst dann noch, nämlich Osborne Blatch. Ist aber L’payr aus dem Weg geräumt und haben wir den Irdischen für uns allein, dann werden wir wohl mit ihm fertig werden – so oder so. Vor allem aber, Korporal Pah-Chi-Luh, müssen wir L’payr nachweisen, daß er während seines Ausflugs zur Erde ein Verbrechen begangen hat. Welches, ist mir einerlei. Schlagen Sie sich Ihr Bett in der Rechtsbibliothek auf.« Kurz nach dieser Unterredung flog Pah-Chi-Luh zur Erde ab. Spiele dich jetzt nur, bitte, nicht als Moralist auf, Hoy! Du weiß; so gut wie ich, daß man schon früher zu solchen Lösungen gegriffen hat, sowohl im Hauptquartier als auch im auswärtigen Patrouillendienst. Mir gefällt es genauso wenig wie dir, aber ich befand mich in einer Zwangslage. Außerdem stand für mich fest, daß dieser L’payr, der Verbrecherzar sämtlicher Amöben, schon längst eine Strafe verdient hat. Man kann sogar mit Fug und Recht behaupten, daß mein Vorgehen moralisch restlos gerechtfertigt war. Pah-Chi-Luh kehrte also, wie gesagt, zur Erde zurück. Diesmal benützte er die Maske eines Lektors. Er bekam eine Stelle in dem Verlag, bei dem das Biologiebuch erschienen war. Die Originalfotos ruhten noch in der Ablage des Unternehmens. Nun sah sich der Stellar-Korporal nach einem geeigneten Mann um, dem gegenüber er viele gedankenstimulierende Bemerkungen machte. Schließlich flößte er dem Cheflektor den Wunsch ein, die Bilder gründlich zu überprüfen und das Material, auf dem sie gedruckt waren, analysieren zu lassen. Das Material war Fahrtuch, eine auf Gtet häufig verwendete
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synthetische Faser, die von den Menschen erst in drei Jahrhunderten entwickelt werden sollte. Im Handumdrehen trugen die meisten Amerikanerinnen Wäsche aus Fahrtuch, dem Modegespinst des Jahres. Und da letzten Endes L’payr für diesen illegalen technischen Fortschritt verantwortlich war, hatten wir ihn endlich dort, wo wir ihn haben wollten! Er hat es sehr elegant hingenommen, Hoy. »Damit bin ich am Ende einer langen Reise angelangt, Sergeant. Herzlichen Glückwunsch. Verbrechen lohnt sich nicht. Letzten Endes verliert jeder Gauner, und die Polizei siegt immer.« Leichten Herzens zog ich mich zurück, um die Ausweisungspapiere auszustellen. Blatch blieb uns natürlich erhalten, aber der war ja bloß ein Mensch. Und da ich mich inzwischen selbst auf die verschiedensten fragwürdigen Methoden eingelassen hatte, war ich entschlossen, mit ihm kurzen Prozeß zu machen. Ob man wegen eines Skreek oder eines Launt zu Tode gestrahlt wird, ist schließlich einerlei. Als ich jedoch zurückkehrte, um den Gtetaner zu seinen MitAmöben zu eskortieren, erschrak ich beinahe zu Tode. Anstelle eines L’payrs waren jetzt zwei vorhanden! Natürlich waren es kleinere L’payrs – halb so groß wie der ursprüngliche L’payr, um genau zu sein –, aber unmißverständlich L’payrs. Er hatte sich in der Zwischenzeit geteilt! Wie? Du erinnerst dich, daß der Irdische ein Mittel zum Gurgeln verlangt hat, Hoy. Hinter diesem Wunsch hatte natürlich von allem Anfang an L’payr gesteckt. Er hatte das Gurgelwasser in seiner Zelle versteckt. Als letzte Zuflucht, sozusagen. Das Gurgelwasser, Hoy, war nämlich Salzwasser! Da stand ich nun da! Die Gtetaner teilten mir zwar mit, daß ihre Gesetze auch für solche Zwischenfälle vorgesorgt hätten, aber was nützten mir ihre Gesetze?
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»Der Tatbestand des Verbrechens ist gegeben. Es wurden pornographische Bilder verkauft«, wiederholte der Wortführer. »Wir verlangen unseren Gefangenen. Alle beide!« »Unter Berufung auf die galaktischen Gesetze 6,009.371 bis 6,106.514 verlange ich meine augenblickliche Entlassung, Entschädigung im Betrag von zwei Milliarden galaktischen Megawhars, ein vollständiges, schriftliches…« In dieser Tonart ging es von selten Osborne Blatch weiter. Aber das war noch lange nicht alles! »Mag schon sein, daß unser Ahne L’payr die verschiedensten Indiskretionen begangen hat«, lispelten die beiden jungen Zelltierchen in Osborne Blatchs Nachbarzelle. »Aber was hat das mit uns zu tun? L’payr hat für seine Verbrechen gesühnt und ist bei der Geburt gestorben. Wir sind schrecklich jung und ganz ganz unschuldig! Die dumme alte Milchstraße will doch bestimmt nicht kleine Kinder für die Sünden ihrer Eltern strafen?« Was hättest du getan? Ich habe den ganzen Alptraum ins Hauptquartier des Patrouillendienstes geschickt – die gtetanische Auslieferungskommission samt ihren unerschöpflichen Gesetzeszitaten, Osborne Blatch und seinen Regenschirm, das Lehrbuch für Biologie, die Originale der pornographischen Aufnahmen und letztlich zwei taufrische junge Amöben. Nenne sie meinethalben L’payr a) und L’payr b). Tu mit ihnen, was du willst, aber bitte verschone mich mit jedem Bericht darüber! Und wenn dir mit Hilfe der älteren und weiseren Köpfe im Hauptquartier eine Lösung einfällt, bevor sich der Alte einen Weichteil bricht, werden Pah-Chi-Luh und ich dir ewig dankbar sein. Und gelingt es dir nicht – ja, wir stehen bereits mit gepacktem Tornister im auswärtigen Patrouillendienst-Büro 1001.625. Und das Schwarze Loch des Schwans ist auch nicht das Schlimmste. Aber eines sage ich dir, Hoy: Schuld an allem sind nur diese
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Geschöpfe, die sich unbedingt auf ausgefallene und fantasievolle Methoden der Fortpflanzung versteifen, statt die Sache vernünftig hinter sich zu bringen, indem sie ihren Sporenfuß platzen lassen!
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Das flachäugige Ungeheuer In den ersten Minuten versuchte Clyde Manship, der bis dahin als Dozent für vergleichende Literaturwissenschaft an der Kelly Universität tätig gewesen war, in den ersten Minuten also versuchte Manship sich einzureden, daß er schlecht träume. Er schloß die Augen und redete sich ein, daß es in der Realität nichts annähernd Häßliches gäbe. Unmöglich. Er träumte. Schon war er halb davon überzeugt, als er niesen mußte. Das Niesen fiel zu laut und zu feucht aus, um übergangen zu werden. So nieste man nicht im Traum – falls man überhaupt nieste. Er gab es auf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Augen zu öffnen und sich nochmals umzusehen. Die Vorstellung allein reichte aus, daß sich seine Halsmuskeln verkrampften. Kurz vorher war er über einem Artikel eingeschlafen, den er für eine wissenschaftliche Zeitschrift schrieb. Und zwar in seinem eigenen Bett in seiner eigenen Wohnung in der Callahan Hall – »einer bezaubernden und preiswerten Unterkunft für die ledigen Mitglieder des Professorenkollegiums, die auf dem Universitätsgelände zu wohnen wünschen«. Ein schmerzhafter Kitzel am ganzen Körper hatte ihn geweckt. Er hatte das Gefühl, immer stärker und stärker gedehnt und – losgelassen zu werden. Dann war er plötzlich vom Bett geschwebt und wie eine sich rasch auflösende Rauchwolke aus dem offenen Fenster gesegelt. Pfeilschnell hatte es ihn in den sternenübersäten Nachthimmel getragen, und er war immer mehr zusammengeschrumpft, bis er das Bewußtsein gänzlich verlor. Und dann war er auf dieser riesigen weißen Tischplatte zu sich gekommen. Über ihm spannte sich ein vielfach gewölbter Plafond, und seine Lungen waren voll dumpfer Luft, die sich kaum zum Atmen eignete. Von der Decke hing eine Unzahl zweifellos elektronischer Apparate, wie die Kollegen aus der Abteilung Physik sie sich ausdenken mochten, wenn die Subvention, die ihnen soeben von der Regierung für militärische Strahlenforschung zugewiesen worden war, ein Millionenfaches des Betrages ausge-
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macht hätte, den sie tatsächlich bekamen, und wenn der Vorstand der Fakultät, Professor Bowles, die Bedingung gestellt hätte, daß bei der Konstruktion eines jeden Apparates sorgfältig darauf zu achten sei, daß er sich grundlegend von allen bisher bekannten elektronischen Geräten unterschied. Die Apparaturen über ihm hatten gerasselt und gegurgelt und gezischt, geleuchtet, geblitzt und gefunkelt. Dann trat Ruhe ein, als sei jemand mit dem Ergebnis zufrieden und hätte einen Schalter ausgedreht. Da hatte Clyde Manship sich aufgesetzt, um zu sehen, wer hier den Schalter ausgedreht hatte. Und er hatte gesehen. Weniger einen Jemand als ein Etwas. Und es war kein hübsches Etwas gewesen. Genau genommen, war kein einziges Etwas, das ihm ein schneller Rundblick enthüllte, auch nur eine Spur hübsch gewesen. Deshalb hatte er die Augen wieder schleunigst geschlossen und nach einem geistigen Ausweg aus seiner Lage gesucht. Jetzt aber mußte er neuerlich einen Blick riskieren. Vielleicht war es beim zweiten Mal nicht mehr ganz so schlimm. Bewußt klammerte er sich an die Binsenweisheit, »am dunkelsten ist es immer vor Morgengrauen«, setzte aber unwillkürlich fort: »wenn nicht gerade Sonnenfinsternis herrscht.« Trotzdem aber öffnete er die Augen, wenn auch unwillig wie ein Kind, das den Mund für den zweiten Löffel Rizinusöl auftun soll. Ja, alles war genau wie zuvor. Hübsch häßlich. Die Tischplatte war von uneinheitlicher Formlosigkeit und wurde in Abständen von wenigen Zentimetern von dicken, runden Knöpfen umrandet. Und etwa zwei Meter rechts von ihm hockten auf diesen Knöpfen zwei Geschöpfe, die wie schwarze Lederkoffer aussahen. Nur waren sie nicht mit Griffen oder Riemen geziert, sondern mit einem Gewirr schwarzer Fühler. Dutzende Fühler mußten es sein, und jeder zweite oder dritte endete in
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einem feuchten, türkisblauen Auge, das zwischen den längsten Wimpern eingebettet lag, die Manship jemals gesehen hatte. Gleichsam zur weiteren Verschönerung zierten die Koffer selbst Schwärme zusätzlicher himmelblauer Augen, die allerdings unbewimpert waren und wie riesige Edelsteine aus Myriaden winziger, schimmernder Facetten glotzten. Ohren, Nase oder Mund ließen sich nirgends an den Körpern entdecken. Dafür gab es eine Art Schleim, dicken, grauen Schleim, der aus den schwarzen Körpern quoll und in schöner Regelmäßigkeit klatschend auf den Boden tropfte. Links von ihm, etwa fünf Meter entfernt, wo sich die Tischplatte zu einer langen Halbinsel vorschob, befand sich ein drittes dieser Wesen. Seine Fühler umklammerten ein pulsierendes Sphäroid, über dessen Oberfläche pausenlos Lichtflecken huschten. Soweit Manship es beurteilen konnte, wurde er von sämtlichen sichtbaren Augen der drei aufmerksam beobachtet. Ein Frösteln überlief ihn, und er versuchte, die Schultern einzuziehen. »Nun, Professor, was halten Sie davon?« fragte plötzlich jemand. »Ich halte das für eine schauerliche Art des Erwachens«, antwortete Manship. Schon wollte er sich darüber verbreitern, als ihn zwei Dinge verstummen ließen. Die erste Überlegung lautete: Wer hatte die Frage gestellt? In dein ganzen riesigen, feuchten Raum hatte er nirgends einen Menschen entdeckt. Genau betrachtet, gab es außer den drei mit Fühlern ausgestatteten Koffern hier überhaupt kein anderes Lebewesen. Und zweitens war er verstummt, weil ein anderer gleichzeitig mit ihm geantwortet hatte. Er überschrie Manship einfach, ohne sich um seine Worte zu kümmern. »Der Versuch ist offenbar geglückt«, sagte diese Person. »Damit sind die Spesen und die langen Jahre der Forschung restlos gerechtfertigt. Wie Sie mit eigenen Augen sehen, Ratsherr
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Glomg, ist die einbahnige Teleportation eine vollendete Tatsache.« Manship erkannte, daß die Stimmen von rechts kamen. Der breitere der beiden Koffer – offensichtlich »der Professor«, dem die Frage gegolten hatte, sprach mit dem schmaleren Koffer, der die meisten seiner Stielaugen von Manship abgewendet und auf seinen Kollegen geheftet hatte. Bloß, verdammt noch mal, woher kamen die Stimmen? Aus dem Kofferinnern? Sprechwerkzeuge ließen sich jedenfalls nirgends erkennen. UND WIESO SPRECHEN SIE ENGLISCH? schrien Manships Gedanken auf. »Das sehe ich«, gab Ratsherr Glomg mit schlichter Unumwundenheit zu. »Und ich gebe die vollendete Tatsache zu, Professor Lirld. Bloß, worin besteht, genau genommen, diese vollendete Tatsache?« Lirld hob rund dreißig bis vierzig Fühler, und Manship begriff fasziniert, daß es sich um ein ungeduldiges Achselzucken handelte. »In der Teleportation eines lebenden Organismus von der astronomischen Einheit 649-301-3 ohne Hilfe eines Beförderungsapparates auf dem Ursprungsplaneten.« Der Ratsherr schwenkte die Augen wieder zurück zu Manship. »Das nennen Sie lebendig?« fragte er zweifelnd. »Aber Ratsherr«, sagte Professor Lirld vorwurfsvoll. »Keine Flefnomorphismen, wenn ich bitten darf. Eine gewisse Empfindungsfähigkeit sowie ein begrenztes Bewegungsvermögen ist zweifellos vorhanden…« »Also gut. Es lebt. Meinethalben. Aber trauen Sie dem Ding Empfindungen zu? Von hier aus betrachtet, scheint es ja nicht mal zu pmbffen. Und dann diese gräßlichen, einsamen Augen! Bloß zwei – und so flach! Und die entsetzlich trockene Haut ohne die kleinste Spur Schleim. Ich gebe wohl zu, daß…« »Sie sind auch nicht gerade eine Augenweide!« schrie Manship empört. Er war zutiefst verletzt.
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»… ich in meiner Einschätzung fremdartiger Lebensformen zum Flefnomorphismus neige«, fuhr der andere fort, als hätte Manship nichts gesagt. »Ich bin nun eben mal eine Flefnobe und bin stolz darauf. Aber vergessen Sie nicht, Professor Lirld, daß mir von unseren Nachbarplaneten schon die unmöglichsten Geschöpfe untergekommen sind, die mein Sohn und andere Entdecker mitgebracht haben. Die fremdartigsten davon, die primitivsten, können aber doch zumindest pmbffen! Aber dieses – dieses Ding hier! Läßt nicht die kleinste, leiseste Andeutung eines pmb erkennen! Direkt unheimlich finde ich das. Jawohl, richtig unheimlich!« »Durchaus nicht«, versicherte Lirld. »Wir haben es nur mit einer wissenschaftlichen Anomalie zu tun. An den äußeren Rändern des Milchstraßensystems, wo diese Tiere häufig vorkommen, dürften Lebensbedingungen herrschen, die das Pmbffen überflüssig machen. Ich verspreche mir die besten Ergebnisse von einer gründlichen Untersuchung. Vorderhand jedoch haben wir bewiesen, daß auch andere Teile der Galaxis bevölkert sind und nicht nur ihr sonnenverbrannter Kern. Und sobald die Zeit für Forschungsreisen in diese Gebiete reif ist, werden unerschrockene Pioniere wie Ihr Sohn mit den entsprechenden Kenntnissen ausgestattet sein. Sie werden wissen, was sie erwartet.« »Hallo, Sie!« brüllte Manship ratlos. »Hören Sie mich, oder hören Sie mich nicht?« »Sie können jetzt den Strom abschalten, Srin«, sagte Professor Lirld. »Wäre schade, ihn zu verschwenden. Unser Bedarf an diesem Geschöpf ist gedeckt. Sollten noch mehr seiner Art materialisieren, so werden sie mit dem restlichen Strahl landen.« Der Flefnobe links von Manship wirbelte das merkwürdige Sphäroid in seinen Fühlern herum. Langsam erstarb ein leises Summen, das bisher kaum merklich im Raum geschwungen hatte. Aufmerksam verfolgte Srin die Lichtflecken an der Oberfläche des Instruments. Manship erriet plötzlich, daß diese Flecken eine Meßskala waren. Jawohl, genau das, eine Meßskala. Hoppla, woher weiß ich das? wunderte er sich.
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Die Antwort lag auf der Hand. Wenn sie ihn nicht hören konnten, so laut er auch schrie, und nichts darauf hindeutete, daß sie überhaupt wußten, daß er schrie, und wenn sie gleichzeitig aller Vernunft zum Trotz in seiner Muttersprache redeten – dann mußten sie Gedankenleser sein. Deshalb hatten sie weder Mund noch Ohren. Er gab genau acht, als Srin seinem Vorgesetzten eine Frage stellte. In seinen Ohren klang die telepathische Botschaft wie Worte, englische Worte, von einer klaren, tragenden Stimme gesprochen. Und doch war es nicht dasselbe. Dieser Stimme fehlte etwas, die Frische, durch die sich echtes Obst von künstlichem Obstgeschmack unterscheidet. Und hinter Srins Worten plätscherten leise andere Worte dahin, ungeformte Satzteile, die zeitweise so weit »hörbar« wurden, daß sie ein Thema erkennen ließen, das nicht im »Gespräch« behandelt wurde. Daß er auf diese Weise gelernt hatte, daß es sich bei den zuckenden Lichtflecken auf dem Sphäroid um Meßwerte handelte, war Manship nun klar. Genauso klar war allerdings, daß sein Denkvermögen ihn mit einer sinnlosen Silbe abspeiste, wenn die Kerle Dinge erwähnten, die im Englischen nicht existierten. Na schön. Ein telepathischer Koffer namens Lirld oder so ähnlich, der mit einer Unmenge von Augen und Fühlern behaftet war, hatte ihn aus seinem warmen Bett in der Callahan Hall gefischt. Dann war er von einem Planeten eines völlig fremden Systems am Mittelpunkt der Milchstraße angesaugt worden, und jetzt saß er hier und war nur mit seinem apfelgrünen Pyjama bekleidet. Er befand sich in einer Welt von Telepathen, die keine Möglichkeit hatten, ihn zu hören. Für ihn hingegen war es ein Kinderspiel, sie zu belauschen. Sein Gehirn brachte sichtlich alle Voraussetzungen einer guten Antenne mit. Binnen kurzem sollte er also einer »gründlichen Untersuchung« unterzogen werden. Das war weniger nach seinem Geschmack, um so mehr, als er hier anscheinend als eine Art Versuchskaninchen betrachtet wurde.
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Und schließlich hatten die Kerle keine hohe Meinung von ihm, vor allem deshalb, weil er nicht pmbffen konnte. Im großen und ganzen fand Clyde Manship, es sei höchste Zeit sich bemerkbar zu machen. Er wollte ihnen schon zeigen, daß er absolut kein niedriges Lebewesen war, sondern ein ganzer Mann! Mitglied des Klubs »Geist-über-Materie«, und sowohl väterlicherals auch mütterlicherseits von einer langen Reihe helle Köpfe stammte. Aber wie sollte er sich bemerkbar machen? In seiner Erinnerung tauchten unklar die Abenteuergeschichte auf, die er als Kind gelesen hatte. Entdecker landen auf eine unbekannten Insel. Eingeborene, mit Speeren, Prügeln und Steinen bewaffnet, stürmen ihnen aus dem Urwald entgegen und stoßen ein schauerliches Gebrüll aus. Den Entdeckern bricht der Schweiß aus, weil sie die Sprache der Insel nicht beherrschen. Trotzdem müssen sie schnell handeln. Natürlich nehmen sie Zuflucht zu der universellen Zeichensprache! Zeichensprache! Un verseil! Immer noch sitzend, streckte Clyde Manship beide Arme hoch. »Ich Freund«, begann er. »Ich kommen in Frieden.« Zwar erwartete er nicht gehört zu werden, aber er vermutete, daß das gesprochene Wort Ihm eine seelische Stütze sein werde. »… und das Aufnahmegerät stellen Sie auch gleich ab«, wie Professor Lirld seinen Assistenten an. »Alles weitere nehmen wir mit einem doppelten Gedächtnis-Fixierer auf.« Wieder fummelte Srin an seinem Sphäroid herum. »Soll ich die Feuchtigkeit verringern, Sir? Die trockene Haut des Geschöpf scheint mir auf ein Wüstenklima hinzuweisen.« »Keineswegs. Ich vermute vielmehr, daß es einer jener primitivsten Formen angehört, die unter den verschiedensten Lebensbedingungen existieren können. Das Exemplar scheint sich ausgezeichnet zu halten. Glauben Sie mir, Srin, wir dürfen mit den bisher erzielten Ergebnissen recht zufrieden sein.«
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»Ich Freund«, fuhr Manship verzweifelt fort und ruderte mit den Armen. »Ich intelligente Wesenheit. Ich haben Intelligenzquotient 140 der Wechsler-Bellevue Skala.« »Sie mögen zufrieden sein«, sagte Glomg, während Lirld den Tisch mit einem leichten Satz verließ und zu den Apparaturen der Decke emporschwebte, »aber ich bin es nicht. Mir behagt die Sache nicht.« »Ich friedliche und intelligente Wesen…«, setzte Manship an. Dann mußte er nochmals niesen. »Verdammt feuchte Luft«, brummte er. »Was war denn das?« fragte Glomg. »Nichts von Bedeutung, Ratsherr«, versicherte Srin. »Das hat das Geschöpf schon vorhin getan. Es scheint sich um eine biologische Reaktion auf niederer Ebene zu handeln, die in periodischen Abständen einsetzt. Vermutlich eine primitive Methode, sich glrnk anzueignen. Aber von einem Verständigungsmittel kann kein Gedanke sein.« »Ich dachte nicht an eine Verständigung«, versetzte Glomg gereizt, »sondern vielmehr an den Auftakt einer aggressiven Handlung.« Der Professor glitt zurück zum Tisch. Er hatte ein Bündel kalt leuchtender Drähte bei sich. »Kaum anzunehmen. Womit sollte ein solches Geschöpf schon aggressiv werden? Ich fürchte, Sie lassen sich von Ihrem Mißtrauen gegen alles Unbekannte fortreißen, Ratsherr Glomg.« Manship hatte die Arme über der Brust verschränkt und war in hilfloses Schweigen versunken. Außer der Telepathie schien es keinen Weg zu geben, sich verständlich zu machen. Aber wie beginnt man, Gedanken zu übertragen? Was braucht man dazu? Wenn er nur seine Doktorarbeit in Biologie oder Physiologie gemacht hätte, statt über Die Anwendung des zweiten Aorists in den ersten drei Büchern der llias, dachte er bekümmert. Hol’s
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der Kuckuck. Jetzt war er jedenfalls fern der Heimat. Er konnte es ja mal versuchen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß Professor Lirld keine Absicht hatte, sich ihm mit dem neuen Gerät zu nähern, schloß er die Augen. Er runzelte die Stirn und krümmte in höchster Konzentration den Rücken. Probe, dachte er, so fest er nur konnte. Probe. Probe. Eins, zwei, drei, vier – Probe. Probe. Hören Sie mich? »Mir behagt das alles nicht«, wiederholte Glomg. »Ich bin damit nicht einverstanden. Nennen Sie es Vorahnung oder wie immer Sie wollen, aber ich habe das Gefühl, daß wir uns an der Unendlichkeit vergehen und kein Recht haben, herumzufuschen.« »Ich bitte Sie, Ratsherr«, wehrte Lirld ärgerlich ab. »Das ist doch wohl wirklich nicht die richtige Einstellung. Schließlich handelt es sich um ein wissenschaftliches Experiment.« »Schön und gut. Trotzdem bin ich der Meinung, daß es Geheimnisse gibt, an die sich kein Flefnobe heranwagen sollte. Ungeheuer von diesem grauenhaften Aussehen – kein Schleim auf der Haut, bloß zwei Augen und die ganz flach, unfähig oder nicht willens zu pmbffen, keine nennenswerten Fühler – ein solches Monstrum sollte unbehelligt auf seinem eigenen höllischen Planeten weitervegetieren. Selbst die Wissenschaft hat ihre Grenzen, mein gelehrter Freund – oder zumindest sollte sie sie haben. Es geziemt uns nicht, das Unerforschliche zu erforschen!« Können Sie mich nicht hören? flehte Manship. Fremde Wesenheit an Srin, Lirld und Glomg: Ich versuche, eine telepathische Verbindung herzustellen. Bitte melden. Irgendeiner. Nach kurze Überlegung fügte er hinzu: Verstanden. Ende. »Für mich existieren solche Grenzen nicht, Ratsherr. Meine Wißbegierde ist so unendlich wie das Universum.« »Mag sein«, blendete Glomg sich düster ein. »Aber es gibt mehr Dinge zwischen Tiz und Tezbah, Professor Lirld, als unsere
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Schulweisheit sich träumen läßt.« »Meine Schulweisheit…«, begann Lirld, unterbrach sich jedoch und sagte: »Da kommt Ihr Sohn. Warum fragen Sie den nicht? Ohne die Ergebnisse eines halben Dutzends wissenschaftlicher Forschungsarbeiten, deren Abbruch Leute wie Sie immer wieder empfohlen haben, wären die gewaltigen Erfolge seiner interplanetarischen Entdeckungen unmöglich gewesen.« Tief enttäuscht, aber immer noch neugierig, öffnete Mansli die Augen eben rechtzeitig, um einen auffallend schmalen, schwarzen Koffer mit einem spaghettiartigen Gewirr von Fühlern auf die Tischplatte schwirren zu sehen. »Was ist denn das?« fragte der Neuankömmling und ringelte ein Knäuel von Stielaugen über Manships Kopf. »Sieht aus wie ein Yurd, der an schwerer Hipplestatch leidet.« Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: »Gallopierender Hipplestatch.« »Es ist ein Geschöpf der astronomischen Einheit 649-301-3, das ich soeben erfolgreich auf unseren Planeten teleportiert habe«, erklärte ihm Lirld stolz. »Und das ohne jede Sendeanlage auf der anderen Seite! Warum der Versuch bisher fehlschlug und plötzlich glückte, weiß ich zwar nicht, aber darüber werden uns weitere Forschungsarbeiten Klarheit verschaffen. Aber es handelt sich um ein Prachtexemplar, Rabd. Und so weit wir es beurteilen können, befindet es sich in ausgezeichneter Verfassung. Sie können es jetzt abräumen, Srin.« »Lassen Sie den Blödsinn, Srin…«, schrie Manship entsetzt auf, aber da fiel auch schon ein großes Rechteck aus schmiegsamem Material von der Decke und hüllte ihn ein. Im nächsten Augenblick wurde die Tischplatte, auf der er gesessen hatte, unter ihm weggezogen, die Enden des Materials wurden unter ihm zusammengerafft und von einem trippelnden Wesen, das er für einen Labordiener hielt, mit leisem Zuschnappen geschlossen. Ehe er auch nur die Arme hochheben konnte, schoß ihm die Tischplatte mit erschreckendem Tempo entgegen. Da saß er nun, eingepackt wie ein Geburtstagsgeschenk. Es
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ließ sich beim besten Willen nicht behaupten, daß sich seine Situation verbesserte. Aber zumindest schienen die Kerle ihn jetzt in Ruhe lassen zu wollen. Außerdem deutete nichts darauf hin, daß sie ihn zusammen mit etlichen Gläsern voll ungeborener, in Alkohol schwimmender Flefnoben in ein Regal schieben wollten. Daß ihm vermutlich als erstem Menschen der Geschichte der Kontakt mit einer außerirdischen Rasse vergönnt war, bedeutete keinen Trost für Clyde Manship. Erstens hatte sich dieser Kontakt nicht als denkwürdige Begegnung von stolzen Vertretern zweier verschiedener Zivilisationen abgespielt, sondern auf einer äußerst bescheidenen Ebene, etwa in der Art, in der eine ungewöhnlich gefärbte Motte die Bekanntschaft mit dem Einsiedeglas eines Sammlers schließt. Und zweitens, und das war noch bedeutend wesentlicher, war dieser Handschlag quer durch den Kosmos eher dazu angetan, einen Astronomen, Soziologen oder selbst einen Physiker zu begeistern, nicht aber einen Dozenten der vergleichenden Literaturwissenschaft. In seinem Leben war er den verschiedensten Wunschträumen nachgehangen. Zum Beispiel, daß er der Uraufführung von Macbeth beiwohnte und einem schwitzenden Shakespeare zusah, der Burbage beschwor, den Monolog »Morgen und morgen und morgen« im letzten Akt nicht herauszubrüllen. »Herrgott, Dick, deine Frau ist eben gestorben, du wirst in Kürze dein Königreich und dein Leben verlieren – also plärre nicht wie eine Kellnerin, wenn sie sechs Maß Bier bestellt. Du mußt es philosophisch anlegen, Dick, verstehst du? Langsam, trauernd und philosophisch. Mit einer Spur Fassungslosigkeit.« Oder er hatte sich ausgemalt, etwa 700 vor Christi dabei zu sein, wenn sich ein blinder Dichter erhob und zum ersten Mal deklarierte: »Zorn, wilder Zorn ist meine Geschichte…« Oder er hatte sich als Logierbesuch in Jasnaja Poljana gesehen, als Tolstoj sinnend aus dem Garten kam und murmelte: »Mir ist eben eine großartige Geschichte über Napoleons Einmarsch in
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Rußland eingefallen. Und erst der Titel: Krieg und Frieden. Nicht Anspruchsvolles, nichts Umständliches. Ganz schlicht Krieg und Frieden. Den St. Petersburgern wird die Luft wegbleiben. Natürlich ist es im Augenblick erst das Gerippe einer Kurzgeschichte, aber ich werde mir schon noch ein paar Zwischenfälle zur Abrundung einfallen lassen.« Aber eine Reise zum Mond und zu den anderen Planeten des Sonnensystems, von einer Reise zum Mittelpunkt der Milchstraße ganz zu schweigen – und das im Pyjama? Nein, also dieses Menü war wahrhaftig nicht dazu angetan, Clyde Manships Mund wässern zu lassen. In dieser Hinsicht hatten sich seine Wünsche nicht weiter als zu einem kurzen Blick auf, sagen wir, Victor Hugo Balkon in St. Germain des Prés aufgeschwungen, oder auf die griechischen Inseln, wo die leidenschaftliche Sappho liebte und zwischendurch, wenn ihr danach zumute war, auch mal sang. Professor Bowles, allerdings, oder ein anderer Rechenschiebermann der Physikabteilung – was würden die darum geben, an seiner Stelle zu sein! Selbst die Vivisektion, der Manship trübselig als Ende der Lustbarkeiten entgegensah, würden sie noch als einmalige Gelegenheit, ja beinahe als Vorrecht auffassen, wem sie dafür Gegenstand eines tatsächlichen Experiments sein durften, vor dem sämtliche theoretischen Träume auf Erden verblaßten. Diesen Brüdern wäre es ein Hochgenuß, einer Technik ausgesetzt zu sein, die ihrer eigenen um Jahrhunderte voraus war. Tja, die Physiker… Manship erinnerte sich plötzlich an den unheimlichen mit Dipolantennen gespickten Turm, den die naturwissenschaftliche Fakultät auf dem Murphygelände errichtet hatte. Von seinem Fenster in der Callahan Hall aus hatte er der Vollendung des von de Regierung geförderten Forschungsprojekts der elektromagnetischen Wellen zugesehen. Erst gestern abend hatte er sich gedacht, daß der Turm ehe an eine mittelalterliche Belagerungsmaschine zur Schleifung befestigter Städte erinnerte als an eine moderne Funkanlage.
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Nachdem er jetzt aber Lirlds Bemerkung gehört hatte, daß die einbahnige Teleportation bisher noch nie gelungen war, fragte er sich, ob nicht der unvollendete Turm, der einen zackigen Arm elektronischer Sonderkonstruktion gegen sein Schlafzimmerfenster reckte, teilweise für diesen Alptraum verantwortlich war, in dem er jetzt steckte. War dieser Turm die nötige Ergänzung zu Lirlds Apparat, eine Art Freiluftkabel oder so? Wenn er nur etwas von Physik verstünde! Er knirschte mit den Zähnen und biß sich in die Zunge. Da mußte er sein angestrengtes Nachdenken unterbrechen, bis sich der Schmerz gelegt hatte. Aber was nützte ihm selbst die Gewißheit, daß der Turm eine Rolle bei seiner Entführung in den Weltraum gespielt hatte? Selbst wenn er diese Rolle nach Megavolt und Ampere und weiß der Teufel wonach noch messen konnte – würde ihm dieses Wissen in seiner unmöglichen Lage auch nur einen Schritt weiterhelfen? Nein. Er blieb trotzdem ein abstoßendes, flachäugiges, unintelligentes Ungeheuer, das ziemlich wahllos aus der Peripherie des Universums gerupft worden war und sich nun von Geschöpfen umringt fand, für die seine gründlichen Kenntnisse der verschiedenen Literaturepochen der astronomischen Einheit 649-301-3 sicher nichts weiter als ein schizophrener Wortsalat waren, selbst wenn sie seine Gedanken übersetzen könnten. In seiner Verzweiflung zupfte er ratlos an dem Verpackungsmaterial, in dem er steckte. Zwei kleine Eckchen davon blieben zwischen seinen Fingern. Zwar fehlte zu einer genauen Betrachtung das Licht, aber dafür gab ihm sein Tastsinn eine unmißverständliche Antwort: Papier. Er war in einen überdimensionalen Bogen eines papierähnlichen Stoffes eingeschlagen. Gar nicht so verrückt, überlegte er. Da die Fortsätze der Flef-
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noben, soweit er bisher gesehen hatte, nur aus zarten Fühlern bestanden, die entweder in Augen oder Pünktchen endeten, und da sie knopfähnliche Buckel auf dem Labortisch brauchten, um sich neben ihn zu hocken, mußte ein Papierkäfig für ihre Begriffe ausbruchsicher sein. Er bot ihren Fühlern keinerlei Ansatzpunkte, und sie hatten offenbar auch nicht die nötige Muskulatur, ihn zu zerreißen. Nun, bei ihm war das anders. Zwar hatte er sich nie mit sportlichen Leistungen ausgezeichnet, war aber von seiner Fähigkeit überzeugt, sich notfalls seinen Weg aus einer Papiertüte zu erkämpfen. Dieser Gedanke war tröstlich, im Augenblick jedoch kaum nützlich. Wenn er Lirlds Begleitern nur wenigstens eine Botschaft übermitteln könnte! Dann würden sie vielleicht begreifen, daß das derzeitige Musterexemplar ihres unbeseelten Ungeheuers aus dem vierdimensionalen Raum doch manche versöhnlichen geistigen. Qualitäten besaß, und vielleicht würde ihnen eine Lösung einfallen, ihn wieder nach Hause zu schicken. Vorausgesetzt, daß sie es wollten. Aber leider konnte er ihnen keine Botschaften übermitteln. Aus Gründen, die wohl mit der äußerst unterschiedlichen Entwicklung von Mensch und Flefnobe zusammenhingen, war er nur imstande zu empfangen. Der ehemalige Dozent Clyde Manship seufzte also schwer, ließ die Schultern noch mehr hängen und schickte sich ergeben darein, Botschaften zu empfangen. Außerdem strich er seinen Pyjama liebevoll glatt. Dazu veranlaßte ihn weniger ein Hang zur Eleganz, als entsetzliches Heimweh. Schlagartig war ihm klar geworden, daß dieses bescheidene grüne Kleidungsstück das einzige Erzeugnis darstellte, das ihm von seiner Welt verblieben war. Es war gewissermaßen ein Souvenir jener Zivilisation, die Tamerlan und Terza Rima hervorgebracht hatte. Abgesehen von seinem Körper war dieser Pyjama die letzte Verbindung mit der Erde. »Mir persönlich«, sagte Glomgs Sohn, der Entdecker – also
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hatte sich die Diskussion fortgesetzt, und die Papierschranke behinderte Manships Gehör nicht im geringsten –, »sind diese fremdartigen Monstren einerlei. Sind sie allerdings so abstoßend wie dieses hier, dann will ich lieber nichts mit ihnen zu tun haben. Ich will damit bloß sagen, daß ich zum Unterschied von Pa keine Hemmungen habe, an der Unendlichkeit herumzupfuschen. Andererseits aber kann ich mir einfach nicht vorstellen, daß Ihre Arbeiten, Professor Lirld, zu irgendwelchen wertvollen Entdeckungen führen könnten.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ich hoffe, Sie nicht gekränkt zu haben, Sir, aber das ist eben meine ehrliche Überzeugung. Ich bin ein praktischer Flefnobe, und als solcher denke ich realistisch.« »Wie können Sie diesen Entdeckungen den Wert absprechen?« Trotz Rabds Entschuldigung hörte Manships Gehirn aus der geistigen »Stimme«, daß der Professor beleidigt war. »Gegenwärtig kennt die flefnobische Wissenschaft keine dringlichere Aufgabe, als die Verwirklichung einer Reise in ein Randgebiet der Galaxis. Dort ist die Entfernung zwischen den einzelnen Sternen im Gegensatz zu ihrem dichten Auftreten bei uns im galaktischen Zentrum ungeheuer. Flüge zwischen den vierundfünfzig Planeten unseres Systems sind für uns eine Kleinigkeit. Vor kurzem ist es uns auch gelungen, einige unserer Nachbarsonnen anzufliegen. Eine Reise in die mittleren Gebiete der Milchstraße aber, woher dieses Exemplar stammt, ist für uns heute noch genauso undurchführbar wie vor dem Beginn des außer-atmosphärischen Fluges vor mehr als zwei Jahrhunderten.« »Richtig!« fiel Rabd ihm schroff ins Wort. »Und warum? Etwa, weil uns die geeigneten Schiffe fehlen? Nicht um Ihr sembleswol, Professor! Seit der Erfindung des Bulvonn-Antriebs kann jedes Schiff der flefnobischen Kriegs- oder Handelsmarine die Entfernung bis zur astronomischen Einheit 649-301-3 – um nur irgendein Ziel zu nennen – und wieder zurück überwinden, ohne daß die Motoren heißlaufen. Dasselbe gilt sogar für meine kleine Drei-Düsen-Sportmaschine. Aber wir tun es nicht. Und mit gu-
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tem Grund.« Jetzt lauschte – oder empfing – Clyde Manship so angespannt, daß seine beiden Gehirnhälften zu rauchen schienen. Nichts interessierte ihn mehr, als die astronomische Einheit 649-301-3 und alles, was den Flug dorthin erleichterte oder erschwerte, so unbegreiflich die Transportmethoden für die derzeitigen irdischen Begriffe auch sein mochten. »Und der Grund ist natürlich ein sehr naheliegender«, fuhr der junge Entdecker fort. »Geistiger Verfall. In den zweihundert Jahren, in denen wir jedes Problem der Raumfahrt gelöst haben, konnten wir diese Frage nicht mal von weitem pmbffen. Kaum entfernen wir uns mickrige zwanzig Lichtjahre von der Oberfläche unseres Heimatplaneten, setzt auch schon prompt der geistige Verfall ein. Die aufgeweckteste Besatzung benimmt sich plötzlich wie eine Schar schwachsinniger Kinder, und wenn sie nicht schleunigst umkehrt, erlischt ihr Geist wie eine Kerzenflamme.« Na klar, dachte Manship aufgeregt, das ist logisch! Eine telepathische Rasse wie die Flefnoben… kann ja gar nicht anders sein! Seit frühester Kindheit sind sie daran gewöhnt, dauernd die geistige Aura ihrer gesamten Rasse um sich zu haben. Daher kennen sie keine andere Verständigungsart als die Gedankenübertragung und brauchten auch nie eine andere Möglichkeit zu entwickeln. Wie abgeschnitten, wie erdrückend einsam und verloren mußten sie sich dann also fühlen, wenn ihre Schiffe sich so weit von ihrer Welt entfernten, daß die Gedankenverbindung abriß! Und dann ihre Bildung – Manship konnte nur Mutmaßungen über das Bildungssystem dieser fremdartigen Wesen anstellen, aber bestimmt mußte es sich um eine verfeinerte, fortgesetzte geistige Osmose auf Gegenseitigkeit handeln. Wie dieses Bildungssystem auch funktionieren mochte, sicherlich unterstrich es die Zugehörigkeit des einzelnen zur Gruppe. Wurde diese Zugehörigkeit zu schwach, sei es durch eine Absperrung oder die unüberbrückbaren Entfernungen der Planeten, ließ sich die psychologische Auflösung des Flefnoben nicht mehr aufhalten.
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All das war jedoch nebensächlich. Wichtig war nur, daß Raumschiffe vorhanden waren. Es gab Transportmittel, die Clyde Manship zurück zur Erde, zur Kelly Universität und zu seiner begonnenen Arbeit bringen konnten, von der er sich die Professur für vergleichende Literaturwissenschaft erhoffte: Stil bzw. Inhalt von fünfzehn repräsentativen Firmenberichten an Kleinaktionäre in den Jahren 1919 – 1931. Zum ersten Mal regte sich die Hoffnung in seiner Brust. Im nächsten Augenblick lag er auf dem Rücken und massierte sein verrenktes Knie. Denn angenommen, es gelang ihm von hier zu flüchten und sich irgendwie durch die Flefnobenwelt zu schlagen, in der er sich auf jede Widersinnigkeit gefaßt machen mußte, und tatsächlich die von Rabd erwähnten Raumschiffe zu finden – konnte sich dann selbst die wildeste Fieberfantasie zu der Annahme versteigen, daß er, Clyde Manship mit seinen zwei linken Händen und noch linkeren Fingern, über dessen technische Begabung der Neandertaler gegrunzt und der Sinanthropus gehustet hätte, daß er imstande sei, sich bei den verschiedenen Drucktasten und Hebeln eines futuristischen Raumschiffes zurechtzufinden, von den Absonderlichkeiten ganz zu schweigen, die die merkwürdigen Flefnoben garantiert in ihren Raumschiffen eingebaut hatten? Schweren Herzens mußte sich Clyde Manship eingestehen, daß das kühne Projekt so gut wie keine Chancen hatte. Aber er schickte seinen gesunden Menschenverstand zum Teufel. Wie stand es nun mit Rabd? Rabd konnte ihn zurück zur Erde pilotieren, wenn (a) Rabd fand, daß die Reise für ihn dafür stünde, und wenn (b) eine Verständigung mit Rabd erzielt werden konnte. Doch womit konnte man Rabds Interesse am ehesten wecken? Das Problem des geistigen Verfalls schien sein Steckenpferd zu sein. »Wenn Sie hier eine Losung finden, Professor«, sagte er eben, »würde ich Hurra schreien, bis meine glrnk wund ist. Dieses unüberwindliche Hindernis hält uns schon viel zu lange hier im Mittelpunkt der Milchstraße fest. Das ist das praktische Problem.
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Aber wenn Sie diesen Qrra-verlassenen Protoplasmatropfen vom anderen Ende des Universums aus seinem Loch holen und mich fragen, was ich davon halte, kann ich Ihnen nur antworten, daß mich die ganze Angelegenheit völlig trocken läßt. In meinen Augen ist das ein sinnloses Experiment.« Manship fing das geistige Äquivalent eines Nickens von Rabds Vater auf. »Ich bin völlig deiner Meinung, mein Sohn. Sinnlos und gefährlich. Und ich glaube, daß ich meine Ratskollegen in diesem Sinne beeinflussen kann. Es ist schon viel zuviel an dieses Projekt verschwendet worden.« Das Echo ihrer Gedanken wurde schwächer. Manship schloß daraus, daß sie das Labor verließen. Er hörte noch die Ansätze eines verzweifelten »Aber – aber« von Lirld. Dann richtete Ratsherr Glorng, der den Wissenschaftler entlassen zu haben schien, in der Ferne eine Frage an seinen Sohn: »Und wo bleibt die kleine Tekt? Ich dachte, sie würde mit dir kommen?« »Oh, sie ist draußen auf dem Flughafen«, antwortete Rabd, »und überwacht die letzte Verproviantierung des Schiffes. Schließlich fliegen wir heute abend auf Hochzeitsreise.« »Ein prächtiges Mädchen«, sagte Glorng mit beinahe unhörbar gewordener »Stimme«. »Du bist ein vom Glück bevorzugter Flefnobe.« »Das weiß ich, Pa«, versicherte Rabd. »Glaube nur nicht, daß ich es nicht wüßte. Der schönste Strauß beäugter Fühler, und jeder davon gehört mir!« »Tekt ist eine äußerst intelligente Flefnobin mit Herz«, ertönte aus weiter Ferne die Zurechtweisung seines Vaters. »Sie besitzt viele Vorzüge. Es gefällt mir nicht, wenn du tust, als ginge es beim Paarungsprozeß um nichts anderes als eine Anzahl beäugter Fühler, die einem weiblichen Wesen gehören.« »Nein, Pa, gewiß nicht«, versicherte Rabd. »Ich betrachte den Paarungsprozeß als eine gewichtige und – äh – ernste Sache.
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Und ich bin mir meiner Verantwortung voll bewußt. Daß aber Tekt mehr als hundertsechsundsiebzig schleimfeuchte Fühler hat, und jeden davon ein bezauberndes, feuchtes Auge ziert, tut unserer Beziehung keinen Abbruch. Im Gegenteil, Pa, ganz im Gegenteil.« »Ein abergläubischer alter Spinner und ein eingebildeter junger Trottel«, bemerkte Professor Lirld erbittert. »Aber die beiden haben die Macht, mir die Zuwendungen sperren zu lassen, Srin. Sie können meine Arbeit unterbinden. Ausgerechnet jetzt, da die ersten positiven Ergebnisse vorliegen. Wir müssen unbedingt Gegenmaßnahmen ergreifen!« Manship kannte diese bittere Enttäuschung eines Wissenschaftlers nur zu gut, aber sie interessierte ihn nicht. Angestrengt versuchte er, Glomgs und Rabds zurückweichende Gedanken zu erfassen. Als Rabd nämlich die letzten Vorbereitungen zum Abflug erwähnte, hatte sich ein Nebengedanke des Flefnoben kurz mit der Konstruktion des kleinen Schiffes, seiner Wartung und vor allem seiner Bedienung befaßt. Sekundenlang hatte ein Armaturenbrett mit bunten Lämpchen aufgeblitzt, und der Beginn einer alten, unzählige Male wiederholten Anleitung war durch sein Denken gezuckt: »Die Motoren des Bulvonn-Antnebs durch langsame Umdrehungen der obersten drei Zylinder warmlaufen lassen…« Mit heftigem Herzklopfen begriff Manship, daß Srin vor kurzem ein ähnliches unterbewußtes Gedankenbild ausgestrahlt hatte. Nur so hatte er erraten, daß die abwechselnden Lichter und Schatten auf dem Sphäroid des Laborassistenten Meßwerte waren. Also konnte er nicht nur die bewußt ausgesandten Gedanken der Flefnoben lesen, sondern war imstande, wenn schon nicht ins Unterbewußtsein, so doch bis in ein weniger verstecktes persönliches Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen vorzustoßen. Aber das bedeutete ja, daß er mit ein bißchen Übung und Fleiß
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dem Gehirn jedes Flefnoben des gesamten Planeten jedes gewünschte Wissen entnehmen konnte… Bei dieser Vorstellung begannen seine Wangen zu glühen. Immer schon eher zur Schüchternheit neigend, hatte sein Ego in der letzten halben Stunde fürchterliche Hiebe bezogen, als er den verächtlich forschenden Blicken von hundert türkisblauen Augen ausgesetzt gewesen war und sich Dutzende von telepathischen Spötteleien anhören mußte. Ein Mensch, der, seit er erwachsen war, dauernd nach Macht gehungert hatte, entdeckte plötzlich, daß sein Gehirn unter Umständen einen ganzen Planeten kontrollieren konnte. Ja, jetzt fühlte er sich unvergleichlich besser. Er brauchte nur zu wollen, und schon verfügte er über alle Kenntnisse der Flefnoben. Was, zum Beispiel, wollte er eigentlich gerne wissen? So als Anfang gewissermaßen. Dann erinnerte sich Manship wieder. Sein Hochgefühl erlosch abrupt. Alle Gelehrsamkeit war für ihn bedeutungslos. Ihn interessierte nur eines: Wie kam er wieder nach Hause? Eines der wenigen Geschöpfe dieses Planeten, vielleicht sogar das einzige, dessen Gedankenrichtung Manship zur Heimkehr verhelfen konnte, begab sich soeben mit seinem Vater in ein flefnobisches Äquivalent einer irdischen Bar. Nach der herrschenden Stille zu schließen, hatte sich Rabd endgültig aus dem telepathischen Sendebereich entfernt. Mit einem heiseren Aufschrei, mit einem enttäuschten Wutgeheul sprang Manship auf, riß das Verpackungsmaterial mit beiden Händen entzwei und landete mit einem Satz auf der geschwungenen Tischplatte. »… und sieben bis acht mehrfarbige Tabellen über den Stand der Teleportation vor diesem Versuch«, erläuterte Lirld seinem Assistenten eben. »Wenn Sie die Zeit hätten, dreidimensionale Tabellen anzufertigen, Srin, wäre der Rat bestimmt noch stärker beeindruckt. Wir befinden uns im Kriegszustand, Srin, und müssen alles tun…«
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Seine Gedanken brachen ab, als ein Stielauge sich herumdrehte und Manship anstarrte. Im nächsten Augenblick folgte nicht nur der ganze Satz von Lirlds Stielaugen nach, sondern auch die Augen seines Assistenten züngelten herum, hielten zitternd an und richteten den Blick auf den entsprungenen Menschen. »Heiliger Qrm!« Der Geist des Professors war kaum imstande, den zitternden Gedanken auszustrahlen. »Den Blaster«, verlangte er gebieterisch. »Fühlern Sie mir den Blaster her, Srin. Subvention oder nicht, wir dürfen uns mit einem solchen Ungeheuer auf kein Wagnis einlassen. Wir leben in einer überfüllten Stadt. Wenn es erst einmal in Freiheit ist…« Ein Schütteln überlief seinen ganzen schwarzen Kofferkörper. Rasch stellte er das verschnörkelte Instrument ein, das Srin ihm gereicht hatte. Er richtete es gegen Manship. Nachdem er sich aus der Papiertüte gekämpft hatte, war Manship unentschlossen auf der Tischplatte stehengeblieben. Dynamik war niemals seine starke Seite gewesen, und er wußte beim besten Willen nicht, was er jetzt anfangen sollte. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung sich Papa Glomg und Sohn gewandt hatten. Außerdem sah er sich vergeblich nach einer türähnlichen Öffnung um. Ein Jammer, daß er nicht bemerkt hatte, wie Rabd vorhin in den Raum gelangt war, als der junge Flefnobe sich ihrem Kreis angeschlossen hatte. Er war schon drauf und dran, eine Reihe von Zickzackkerben an der gegenüberliegenden Wand genauer zu untersuchen, als er bemerkte, daß Lirld den Blaster zwar schlotternd, aber wild entschlossen auf ihn richtete. Sein Geist, der das Gespräch zwischen Professor und Assistent automatisch auf ein Nebengeleise gedrängt hatte, teilte ihm plötzlich mit, daß er als erster unbekannter Soldat in einem Krieg der Welten sterben sollte. »Hallo!« zeterte er. »Ich will mich doch nur nach Rabd umsehen. Ich bin kein gefähr…« Lirld drehte an dem verschnörkelten Instrument. Es sah aus, als zöge er eine Uhr auf, in Wirklichkeit aber entsprach es wohl eher dem Entsichern und Abdrücken der Waffe. Gleichzeitig
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schloß er all seine Augen. Das war an sich schon eine Meisterleistung. Nur diesem Umstand verdankte er sein Leben, überlegte Clyde Manship später, als er Zeit zum Nachdenken hatte. Und natürlich auch seinem gewaltigen seitlichen Weitsprung, als aus dem Instrument Millionen knatternder roter Punkte auf ihn losprasselten. Die roten Punkte sausten an seiner Pyjamajacke vorbei und bohrten sich in eine der tieferen Wölbungen der Zimmerdecke. Lautlos entstand ein etwa drei Meter großes Loch im Gebälk. Es war so lief – etwa einen Meter oder mehr –, daß dahinter der nächtliche Himmel des Planeten sichtbar wurde. Wie der Staub aus einem kräftig geklopften Teppich rieselte eine schwere weiße Puderwolke herunter. Manship starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Sein Magen drückte sich gegen die Bauchwand und versuchte, sich unbemerkt hinter die Rippen zu schleichen. Nie zuvor hatte er so entsetzliche Angst ausgestanden. »Hallo-o-o«, begann er. »Etwas zuviel Druck, Professor«, bemerkte Srin spöttisch. Er lümmelte bequem mit ausgestreckten Fühlern an der Wand. »Etwas zuviel Druck und nicht genug glrnk. Geben Sie mehr glrnk darauf, dann wird es klappen.« »Danke«, sagte Lirld inbrünstig. »Meinen Sie so?« Wieder hob er das Instrument und brachte es in Anschlag. »Hallo-o-o!« setzte Manship in der gleichen Tonart fort, weniger, weil er sich vom Ergebnis einer solchen Bemerkung viel versprach, als weil ihm im Augenblick nichts Besseres einfiel. »Hallo-o-o!« wiederholte er mit klappernden Zähnen. Seine fest auf Lirld gerichteten Augen traten aus ihren Höhlen. Abwehrend hob er die zitternde Hand. Die Angst schnatterte in ihm wie eine Herde aufgescheuchter Affen. Der Flefnobe machte an dein Instrument wieder die sonderbare Bewegung des Aufziehens. Manships Gedanken stockten. Jeder Muskel an seinem Leib ver-
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krampfte sich unerträglich. Und dann begann Lirld sich zu schütteln. Er glitt über die Tischplatte zurück. Die Waffe entfiel seinen erstarrten Fühlern und zersplitterte zu vielen Bündeln runder Drähte, die nach allen Seiten kollerten. »Srin!« ächzte er. »Das Ungeheuer… Sehen Sie, was aus seinen Augen kommt? Es – es…« Sein Körper sprang auf, und heraus quoll ein blaßblauer, zähflüssiger Saft. Die Fühler fielen von ihm ab wie Herbstlaub unter einem kräftigen Windstoß. Die Augen in seinem Körper verfärbten sich von Himmelblau zu einem stumpfen Braun. »Srin!« flehte er mit einem kraftlosen, entschwindenden Gedanken. »Helfen Sie mir… Das flachäugige Ungeheuer… Hilfe… Hilfe!« Und dann löste er sich auf. Von ihm blieb nichts als eine dunkle Flüssigkeit mit blauen Flecken übrig, die von der geschwungenen Tischkante floß. Verständnislos starrte Manship die Pfütze an. Er begriff nur, daß er noch lebte. Wahnwitzige Angst zuckte in Srins Geist auf und traf Manship. Der Laborgehilfe sprang von der Wand, an der er gelehnt hatte, schlitterte wild mit rudernden Fühlern über die Tischplatte, hielt einen Augenblick an den Knöpfen am Rand der Tischplatte, um sich den nötigen Schwung zu holen, und schnellte dann in einem gigantischen Bogen zur Rückwand des Gebäudes. Die ZickzackKerben dehnten sich und ließen ihn durch. Dann war das also doch eine Tür! dachte Manship und bildete sich einiges auf seinen Spürsinn ein. Bei den spärlichen Anhaltspunkten war das wirklich schlau von ihm gewesen. Dann erst erfaßten seine kleinen grauen Zellen den vollen Umfang des Geschehens, und er begann noch nachträglich zu zittern. Von Rechts wegen sollte er jetzt tot sein; ein Stück zerfetztes Fleisch und zersplitterte Knochen. Was war geschehen? Lirld hatte aus der merkwürdigen Waffe auf ihn geschossen und ihn das erste Mal verfehlt. Als er das zweite Mal anlegte, war
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der Flefnobe wie von einem Fausthieb hingestreckt worden. Wieso? Manship hatte keine Waffe benützt. Soviel er wußte, besaß er in dieser Welt keinen einzigen Verbündeten. Er blickte sich in dem weiten, gewölbten Raum um. Stille. Außer ihm war niemand da. Was hatte der Professor telepathisch gebrüllt, ehe er zur Suppe geworden war? Etwas über Manships Augen? Daß etwas aus den Augen des Irdischen käme? Manship war noch völlig verwirrt. Natürlich freute er sich übe seine Rettung aus höchster Not, aber unwillkürlich tat es ihr leid um Lirld. Vielleicht wegen seines verwandten Berufs war de Flefnobe das einzige Geschöpf dieser Rasse gewesen, für da Manship eine gewisse Sympathie empfunden hatte. Jetzt fühlte er sich in seinem tiefsten Innern schuldig. Und dann verschwanden die widerstreitenden Gedanken, die durch seinen Kopf wirbelten, und machten einer unerhört wichtigen Beobachtung Platz. Die Zickzacktür, durch die Srin geflohen war, schloß sich wieder Der Spalt verengte sich! Und nach Manships Wissen gab es in diesem Gebäude keine andere Tür! Mit einem mächtigen Satz sprang er von der riesigen Tisch platte. Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten machte er mit dieser Leistung den wenigen Turnstunden, die er vor sechs Jahren pflichtgemäß hinter sich gebracht hatte, die größte Ehre. Er erreichte die langsam zusammengleitende Tür. Er war entschlossen, sich notfalls den Fluchtweg auch mit bloßen Nägeln durch den harten Stein zu graben. Auf keinen Fall durfte er hier festsitzen, wenn die Flefnoben Polizei mit ihren Hilfsmitteln eintraf, die sie anstelle von Tränengas und Maschinenpistolen verwendete. Und er hatte auch nicht vergessen, daß er Rabd finden mußte, um sich von ihm ein paar Fluginstruktionen erteilen zu lassen. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung weitete sich die Öffnung
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von selbst, als er sie berühren wollte. Irgendeine Spielerei mit Selenzellen? überlegte er, oder reagierte sie auf jede körperlich Annäherung? Er stürmte durch die Öffnung. Zum ersten Mal stand er auf den Planeten im Freien. Rund um ihn wölbte sich der Nachthimmel. Der Anblick des Himmels verschlug ihm beinahe den Atem. Vorübergehend vergaß er die Flefnobenstadt, die sich nach allen Seiten ausdehnte. Wie viele Sterne es hier gab! Sie sahen aus wie achtlos im Himmel ausgestreutes Zuckerwerk und funkelten so hell, daß mildes Dämmerlicht herrschte. Allerdings gab es keinen Mond, aber man bemerkte sein Fehlen gar nicht. Es hatte eher den Anschein, als sei ein halbes Dutzend Monde in Milliarden winziger weißer Tupfen zersplittert worden. In diesem Überfluß ließ sich kein einziges Sternbild erkennen. Manship nahm an, daß man sich statt dessen mit Bezeichnungen wie dritthellster Fleck oder fünftgrößter Sektor behalf. Hier, im Mittelpunkt der Milchstraße, sah man die Sterne nicht nur – man lebte mitten unter ihnen! Dann fiel ihm auf, daß er nasse Füße hatte. Er blickte hinunter. Er stand in einem seichten Bach irgendeiner rötlichen Flüssigkeit, die zwischen den abgerundeten Flefnobehäusern dahinzog. Müllabfuhr? Wasserversorgung? Vermutlich keines von beiden, eher irgend etwas, das die Menschen nicht brauchten. Manship bemerkte jetzt nämlich, daß andere bunte Flüsse parallel zu dem rötlichen Bach verliefen – grüne, violette, rosige. Weiter vorne an der Straßenkreuzung zog der Fluß ganz allein durch ein Gäßchen, während sich einige andersfarbige Bäche in den Hauptstrom ergossen. Nun, er war nicht hier, um außerirdische Soziologieprobleme zu lösen. Schon ließ ein Kitzeln in der Nase einen bevorstehenden Schnupfen ahnen. In dieser Atmosphäre, die an einen vollgesogenen Schwamm erinnerte, waren nicht nur seine Füße naß. Auch sein Pyjama klebte an seiner Haut, und immer wieder trüb-
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te der Dampf seinen Blick, und er mußte sich die Augen trockenreiben. Zur Zeit verspürte er noch keinen Hunger, aber er hatte seit seiner Ankunft nicht nur nichts gesehen, was sich mit gewohnten, irdischen Lebensmitteln vergleichen ließ, sondern es fehlte auch jeder Hinweis darauf, daß die Flefnoben Mägen oder gar einen Mund hatten. Vielleicht nahmen sie ihre Nahrung durch die Haut auf, sogen sie aus den verschiedenfarbigen Flüssen an, die durch ihre Stadt liefen. Rot konnte Fleisch sein, grün das Gemüse, und die Torten waren… Er ballte die Fäuste und riß sich zusammen. Für dieses philosophische Ping-Pong habe ich keine Zeit, sagte er sich energisch. Schon in wenigen Stunden werde ich gräßlich hungrig und durstig sein. Und von allen Seiten gejagt werden. Also los – ich muß mir dringend etwas einfallen lassen. Aber wohin sollte er sich wenden? Zum Glück war die Straße von Lirlds Labor leer. Vielleicht fürchteten sich die Flefnoben vor der Dunkelheit? Oder sie waren allesamt solide, brave Bürger, die abends in ihre Betten stiegen und bis zum Morgengrauen durchschliefen? Oder… Rabd. Er mußte Rabd finden. Wenn er der Lösung seiner Probleme auch nur einigermaßen nähergerückt war, seit er sich auf dem Labortisch Professor Lirlds wiedergefunden hatte, dann hieß diese Lösung Rabd. Angestrengt versuchte er, mit seinen Gedanken zu »lauschen«. Durch sein Gehirn plätscherten die verschiedensten flüchtigen Gedanken der Flefnoben aus den umliegenden Gebäuden. »Schon gut, Liebling, schon gut. Wenn du nicht gadeln willst, müssen wir nicht gadeln. Wir können ja auch was anderes tun…« »Dieser neunmalkluge Borgh! Den nehme ich mir morgen gründlich vor…«
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»Hast du zufällig drei Zamshkins für ein Plet? Ich möchte einen Ferngedanken senden…« »Garantiert kommt Borgh morgen früh angerollt und bildet sich ein, daß alles beim alten geblieben ist. Na, der wird sich wundern…« »Du weißt, Nernt, wie gern ich dich habe. Deshalb halte ich es für meine Freundschaftspflicht, dir zu sagen, nur zu deinem eigenen Vorteil natürlich…« »Nein, Liebling, das soll nicht heißen, daß ich nicht gadeln möchte. Ich dachte, du willst nicht. Da wollte ich eben Rücksicht auf dich nehmen, wie du mir das doch immer predigst. Natürlich möchte ich gadeln. Nein, bitte, sieh mich nicht so an…« »Hör zu. Ich haue leicht jeden einzelnen Flefnoben hier in die Pfanne…« »Ehrlich, Nernt, ich glaube, du bist der einzige, der es nicht weiß. Alle anderen…« »Jetzt habt ihr also Angst, wie? Na schön, ich nehme es mit Zweien von euch gleichzeitig auf. Na kommt doch, traut euch…« Und keine Spur von Rabd. Vorsichtig schritt Manship durch die Straßen, watete durch die seichten Bäche. Einmal kam er der Mauer eines dunklen Gebäudes zu nahe. Sofort tat sich eine zickzack-förmige Tür einladend auf. Nach kurzem Zaudern trat er ein. Auch hier war niemand. Schliefen die Flefnoben etwa in einer Zentrale, wie in Schlafsälen? Brauchten sie überhaupt Schlaf? Er durfte nicht vergessen, sich in einen auskunftswilligen Geist einzublenden und diese Fragen zu klären. Die Antwort mochte nützlich sein. Dieses Haus sah aus wie ein Magazin. Überall sah er Regale. Die Wände waren allerdings kahl. Die Flefnoben schienen Hemmungen zu haben, Gegenstände an die Wand zu stellen. Die Regale erhoben sich wie hohe, asymmetrische Türme aus der Mitte des Fußbodens.
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Manship schlenderte an eines der Regale heran, das ihm an die Brust reichte. Dutzende dicker grüner Bälle lagen in weißen Porzellantassen. Lebensmittel? Möglich. Jedenfalls sah das Zeug eßbar ans. Wie Melonen. Er streckte den Arm aus und ergriff einen Ball. Sofort breitete die Kugel Schwingen aus und flog zur Decke empor. Sämtliche anderen grünen Bälle auf allen Regalen entfalteten ebenfalls mehrere winzige Schwingen und flatterten auf wie Vögel, die aus ihren Nestern gescheucht worden waren. Als sie die gewölbte Decke erreichten, verschwanden sie. Eiligst zog sich Manship durch die zackige Öffnung aus dem Gebäude zurück. Wo immer er war, schien er Furcht und Schrecken auszulösen! Draußen auf der Straße schlug ihm ein neues Gefühl entgegen. Rundum herrschte atemlose Erregung und ängstliches Warten. Einzelne Gedanken kamen kaum durch. Plötzlich ballte sich die Unruhe zu einem gewaltigen ohrenbetäubenden telepathischen Aufschrei. »Guten Abend!« brüllte es. »Wir erbitten Ihre Aufmerksamkeit für eine Sondermeldung. Hier ist Pukr, Sohn des Kimp. Ich begrüße Sie in einer planetenweiten Gemeinschaftsschaltung. Ich bringe die letzten Nachrichten über das Ungeheuer mit den flachen Augen: Heute abend, vierunddreißig skims nach bebblewort, ließ Professor Lirld dieses Geschöpf im Zuge eines Versuchs der einbahnigen Teleportation von der astronomischen Einheit 649-301-3 erscheinen. In Ausübung seines Amtes wohnte Ratsherr Glomg dem Experiment als Augenzeuge bei. Ober die aggressive Haltung des Monstrums beunruhigt, warnte er Lirld davor, das gefährliche Geschöpf am Leben zu lassen. Lirld schlug die Warnung in den Wind. Nachdem sich Ratsherr Glomg und sein Sohn Rabd, der bekannte interplanetarische Entdecker und Lebe-Flefnobe zurückgezogen hatten, lief das Un-
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geheuer Amok. Es brach aus seinem starken Papierkäfig aus und griff den Professor mit einem hierorts unbekannten geistigen Hochfrequenzstrahl an, der aus seinen unvorstellbar flachen Augen zu dringen schien. Dieser Strahl scheint in seiner Wirkung jenem der Grepsas zweiten Grades zu gleichen, der sämtliche Sicherungen durchbrannte. Gegenwärtig arbeiten unsere besten Psychophysiker fieberhaft an diesem Aspekt des Problems. Professor Lirld jedoch bezahlte seinen Forschungsdrang und den Leichtsinn, mit dem er die Warnungen des Ratsherrn ausschlug, mit dem Leben. Obwohl Lirlds Laborgehilfe Srin sofort einsprang und das Monstrum mit Todesverachtung abzulenken suchte, um den alten Wissenschaftler zu retten, kam jede Hilfe zu spät, und Lirld erlag dem entsetzlichen Angriff des Ungeheuers. Als Srin sah, daß sein Vorgesetzter tot war, zog er sich fühlerweise und pausenlos kämpfend zurück. Nur mit knapper Not konnte er sich in Sicherheit bringen. Dieses rätselhafte Ungeheuer mit seinen ungeahnten Kräften treibt sich jetzt frei in unserer Stadt herum! Alle Bürger werden dringend aufgefordert, Ruhe zu bewahren und keine Panik aufkommen zu lassen. Seien Sie versichert, daß die Behörden alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen werden, sobald sie sich über die Art dieser Maßnahmen klar sind. Vor allem aber vergessen Sie nicht, Ruhe zu bewahren! Glorngs Sohn Rabd hat inzwischen seinen Paarungsflug verschoben, den er heute abend antreten wollte. Wie Sie alle wissen, paart er sich mit Tekt, der Tochter des Hilp. Tekt ist der berühmte Star aus Fnesh und Blelg vom südlichen Kontinent. Unter Rabds Kommando marschiert jetzt eine Gruppe Freiwilliger ins Universitätsviertel der Stadt, wo das Ungeheuer zuletzt gesichtet wurde. Sie wollen versuchen, das Geschöpf mit konventionellen Waffen zu erlegen, ehe es anfängt, sich fortzupflanzen. Ich melde mich wieder, sobald mir neue Nachrichten vorliegen. Das ist im Augenblick alles.« Für Manships Geschmack war es mehr als genug. Jetzt durfte er nicht mehr auf Mittel und Wege einer Verständigung mit die-
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sen Wesen hoffen, um mit ihnen in aller Ruhe seine Rückreise zur Erde zu erörtern. Dabei hatten die Flefnoben selbst das größte Interesse daran, ihn wieder loszuwerden. Aber leider war nun die Parole ausgegeben: Fangt den Menschen! Das paßte ihm gar nicht. Andererseits brauchte er nicht länger nach Rabd zu suchen. Wenn Manship nicht zum Flefnoben kommt, kommt der Flefnobe eben zu Manship. Allerdings schwer bewaffnet und mit Mordabsichten… Manship beschloß, sich zu verstecken. Er ging auf ein Gebäude zu und lief so lange an der Wand entlang, bis sich die Tür öffnete. Er trat ein, beobachtete, wie sich die Öffnung hinter ihm schloß und sah sich dann um. Aufatmend bemerkte er, daß sich der Ort ausgezeichnet zum Versteck eignete. In der Mitte standen viele große, schwere Gegenstände, die, soviel er feststellen konnte, nicht lebendig waren. Er zwängte sich zwischen zwei dieser Dinge, die wie abgestellte Tischplatten aussahen. Hier hoffte er, unentdeckt zu bleiben. Was gäbe er doch darum, wieder ein Dozent an der Kelly Universität zu sein und nicht ein flachäugiges Ungeheuer, das völlig unabsichtlich in einer extraterrestrischen Stadt wütete! Angestrengt dachte er über die merkwürdigen Kräfte nach, die er angeblich besaß. Was sollte der Unsinn von dem geistigen Hochfrequenzstrahl seiner Augen? Er hatte nichts dergleichen bemerkt. Dabei hätte ihm ein solcher Strahl doch zu allererst auffallen müssen. Und doch hatte Lirld knapp vor seiner Auflösung eine derartige Bemerkung gemacht. Gab es etwa ein Nebenprodukt des menschlichen Gehirns, das nur Flefnoben sichtbar wurde und eine Gefahr für sie bedeutete? Immerhin konnte er sich in das Denken der Flefnoben einblenden, was ihnen umgekehrt bei ihm nicht gelang. Vielleicht konnte er ihnen seine geistige Präsenz nur mit einem mächtigen Ge-
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dankenblitz begreiflich machen, der sie im wahrsten Sinne des Wortes zerriß. Nur ließ sich dieser Gedankenstrom nicht bewußt ein- und ausschalten. Als Lirld das erste Mal auf ihn schoß, hatte er nicht die leiseste Veränderung an dem Professor bewirkt. Plötzlich brandeten die Wellen neuer, aufgeregter Gedanken gegen ihn. Sie kamen von draußen, von der Straße. Rabd und sein Aufgebot waren eingetroffen. »Drei von euch gehen dort entlang«, befahl der junge Flefnobe. »Je zwei suchen die Nebenstraßen ab. Haltet euch nicht zu lange damit auf, die Häuser zu durchsuchen. Ganz bestimmt schleicht das Ungeheuer irgendwo durch die dunklen Straßen und lauert auf neue Opfer. Tanj, Zogt und Lewv – ihr begleitet mich. Und bleibt untereinander auf Fühlerabstand. Die Bestie ist unberechenbar und gefährlich. Denkt daran, daß wir sie töten müssen, bevor sie sich fortpflanzt. Stellt euch unseren Planeten vor, wenn zweihundert dieser flachäugigen Ungeheuer umherliefen!« Manship stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Wenn sie ihn auf der Straße suchten, blieb ihm vielleicht noch etwas Zeit. Er hetzte seine Gedanken auf Rabds Spur. Das war nicht mal besonders schwierig. Mit entsprechender Konzentration gelang es ihm, die Gedanken der anderen Wesen fast gänzlich auszuschalten. Du folgst Rabds Geist. Rabds Gedanken. Jetzt überspringst du Rabds bewußtes Denken. Brav. Du erreichst das Unterbewußtsein, die Erinnerungen. Nein, verdammt noch mal, laß den Quatsch über die Flefnobin vom letzten Monat, die nichts als Augen und Fühler war! Ich brauche die Erinnerungen. Die älteren. »Bei der Landung auf einem Planeten der Type C-12…« Nein, das war nicht das richtige. Noch ein kleines Stückchen weiter. Jawohl! »Zum Starten die Vorwärtsdüse ziehen, dann drückt man langsam auf…« Manship durchkämmte die Bedienungsanleitung in Rabds Gedächtnis, hielt zwischendurch kurz an, um sich über einen Begriff
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der flefnobischen Terminologie klar zu werden, und machte ab und zu eine kurze Pause, sooft sich ein Gedanke an Tekt einschmuggelte und alles über den Haufen warf. Er bemerkte, daß der Stoff, den er sich auf diese Weise aneignete, wie eingebrannt in seinem Gedächtnis haftete. Wiederholungen waren überflüssig. Das Wissen schien unauslöschlich zu sein. Jetzt hatte er sich mit allen nötigen Kenntnissen über die Bedienung des Schiffes vollgetankt, zumindest, soweit er die Ausdrücke verstand. Zum Schluß flog er noch mit dem Schiff, das heißt, er identifizierte sich mit Rabds Erfahrungen und besaß plötzlich jahrelange Routine. Zum ersten Mal erwachte etwas wie Zuversicht in Manship. Aber wie sollte er das kleine Raumschiff in den Straßen dieser unbekannten Stadt finden? Schwitzend vor Ratlosigkeit rang er die Hände. Zuerst dieser wunderbare Anfang und jetzt Dann fand er die Antwort. Rabds Gehirn müßte ihm den Weg weisen. Natürlich! Rabd war ein verläßliches Nachschlagewerk. Er erinnerte sich ganz bestimmt, wo er sein Schiff abgestellt hatte. Seine Überlegung stimmte. Mit einer Wendigkeit, die auf jahrelange Übung schließen ließ, durchstöberte Clyde Manship die Gedanken des Flefnoben, verwarf den einen, eignete sich den anderen an »… fünf Blocks am Indigofluß entlang. Dann beim ersten roten Nebenfluß einbiegen…«, bis er den Weg zu Rabds Dreidüsen-Zweisitzer so genau kannte, als hätte er ihn sechs Monate lang gebüffelt. Nicht übel für einen schwerfälligen jungen Dozenten der vergleichenden Literaturwissenschaft, der bis zu diesem Abend soviel von Telepathie verstanden hatte wie von der Löwenjagd in Afrika! Aber vielleicht – vielleicht handelte es sich nur um ein bewußtes Erleben des Gedankenlesens; vielleicht war der menschliche Geist seit Kindesbeinen an eine regelmäßige, unbewußte Telepathie gewöhnt, und die Begegnung mit Wesen, deren
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Gedanken sich so leicht empfangen ließen wie es bei diesen Flefnoben der Fall war, hatte die verborgenen Fähigkeiten ans Tageslicht gebracht. Damit wäre das schnell erworbene Können erklärt, das der schlagartig und überraschend einsetzenden Fähigkeit ähnelte, ganze Wörter und Sätze auf der Maschine zu tippen, nachdem man monatelang nichts anderes getan hatte, als sinnlose Buchstabenbilder nach einem vorgeschriebenen Schema zu üben. Nun, das war zwar recht interessant, hatte aber nichts mit seinem Fach zu tun und war nicht sein Problem. Zumindest nicht heute abend. Im Augenblick ging es darum, das Gebäude zu verlassen, ohne von der Schar freiwilliger Flefnoben entdeckt zu werden, und sich auf den Weg zu machen. Sonst wurde am Ende noch die Bürgerwehr aufgeboten, um den gräßlichen Menschen zu überwältigen. Er kroch aus seinem Versteck und ging zur Wand. Die ZickZack-Tür ging auf. Er trat durch die Öffnung – und warf einen fühlertragenden schwarzen Koffer um, der eben eintreten wollte. Der Flefnobe erholte sich rasch von seinem Schreck. Liegend richtete er seine spiralförmige Waffe auf Manship und zog sie auf. Wieder erstarrte Manship vor Angst. Er hatte schließlich erlebt, was dieses Ding anrichten konnte. Und daß er jetzt sterben sollte, nach allem, was er durchgemacht hatte… Aber auch dieser Flefnobe begann zu zittern und stieß einen telepathischen Hilferuf aus. »Das flachäugige Ungeheuer… ich habe es gefunden… Seine Augen… seine Augen. Zogt, Rabd, Hilfe! Seine Augen…« Nichts blieb übrig als ein oder zwei zuckende Fühler und eine Pfütze, die sich in einem kleinen Loch neben der Hausmauer kräuselte. Ohne sich umzusehen, flüchtete Manship. Ein roter Funkenregen knatterte über seine Schulter und zerfetzte dicht vor ihm ein Kuppeldach. Dann war er um die Ecke
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gebogen und rannte, was er nur konnte. Aus dem leiser werdenden telepathischen Gebrüll hinter ihm schloß er aufatmend, daß Füße rascher liefen als Fühler. Er fand die Flüsse in den angegebenen Farben und steuerte die Richtung zu Rabds Raumschiff an. Nur ein- oder zweimal begegnete ihm ein Flefnobe. Aber keiner war bewaffnet. Bei seinem Anblick wanden die Passanten ihre Fühler um den Leib, preßten sich gegen die nächste Wand, ächzten mehrmals verzweifelt: »Qrm stehe mir bei, Qrm stehe mir bei!« und kippten um. Er war froh, daß die Straßen wie ausgestorben waren. Trotzdem staunte er darüber, besonders, da er sich nun den Wohnviertel der Stadt näherte, wie er aus dem geistigen Stadtplan wußte, den er von Rabd entlehnt hatte. Ein neuerliches ohrenbetäubendes Gebrüll in seinem Kopf gab ihm eine Antwort. »Hier ist Pukr, der Sohn des Kimp. Ich bringe Ihnen weitere Meldungen über das flachäugige Ungeheuer. Zuvor aber habe ich auf Geheiß des Rates für alle jene, die es noch nicht durch ihre Blelgdienst wissen, bekanntzugeben, daß über die Stadt das Kriegsrecht verhängt wurde. Ich wiederhole: Ab sofort herrscht Kriegsrecht in unserer Stadt. Bis auf weiteres haben sämtliche Bürger die Straßen zu räumen. Einheiten des Heeres und der Raumflotte sowie schwere Maßeltowers sind im Anmarsch. Verstellen Sie ihnen nicht den Weg! Bleiben Sie in den Häusern! Und wieder hat das flachäugige Ungeheuer zugeschlagen. Vor knapp zehn skims hat es Lewv, den Sohn des Yifg, in einem heftigen Kampf vor der Akademie für moderne Turkaslerg hingemäht. Dabei hätte es beinahe Rabd, den Sohn des Glomg, niedergetrampelt, als er sich im heldenhaften Versuch, die Flucht zu vereiteln, dem Ungeheuer tapfer in den Weg stellte. Rabd vermutet allerdings, daß ein wohlgezielter Strahl seines Blasters das
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Untier schwer verletzt hat. Auch diesmal benützte das Ungeheuer als Waffe den Hochfrequenzstrahl aus seinen Augen. Kurz vor dem Gefecht muß sich der flachäugige Schrecken aus der fernen galaktischen Wildnis in einem Museum herumgetrieben haben, wo es eine wertvolle Sammlung grüner Fermfnaks restlos zerstörte. Sie wurden in unbrauchbarem, geflügeltem Zustand gefunden. Warum hat er das getan? Aus reiner Bosheit? Mehrere Wissenschaftler sind der Ansicht, daß diese Tat auf höchstgradige Intelligenz schließen läßt. Dank dieser Intelligenz plus den bereits bewiesenen fantastischen Kräften dürfte das Ungeheuer unvergleichlich schwerer zu erlegen sein, als die Lokalbehörde annimmt. Dieser Meinung ist auch Professor Wuvh. Er ist überzeugt, daß es ohne genaue psycho-soziologische Abschätzung des Ungeheuers und ohne Verständnis des besonders kulturellen Milieus, dem es offenbar entstammt, unmöglich ist, wirksame Gegenmaßnahmen zu treffen und den Planeten zu retten. Im Interesse der Flefnobenheit haben wir deshalb heute den Professor zu uns geholt und ihn um seine Ansichten gebeten. Als nächstes senden wir die Gedanken von Professor Wuvh.« Eben als der Neuankömmling gewichtig anstimmte: »Um ein beliebiges kulturelles Milieu zu erfassen, müssen wir uns zuerst darüber klar sein, was wir unter Kultur verstehen. Verstehen wir zum Beispiel…«, erreichte Manship den Flughafen. Er näherte sich der Ecke, in der Rabds dreidüsiger Zweisitzer zwischen einem riesigen interplanetarischen Frachtschiff und einem Ding stand, das wie eine Lagerhalle aussah; nur hatte Manship inzwischen gelernt, wie gründlich er sich bei der Beurteilung von flefnobischen Gegenstücken zu menschlichen Wirkungsbereichen irren konnte. Wachen schien es hier nicht zu geben. Der Raumhafen war nur mäßig beleuchtet, und die meisten Anwesenden machten sich beim Frachtschiff zu schaffen. Er holte tief Luft und preschte zu dem verhältnismäßig kleinen
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Sphärenschiff, das oben und unten stark eingebuchtet war und ungefähr wie ein überdimensionaler Apfel aus Metall aussah. Dort angelangt, lief er längs des Schiffes weiter, bis er die inzwischen schon vertraute Zickzack-Linie des Eingangs sah, und drückte sich ins Schiff. Niemand schien ihn bemerkt zu haben. Abgesehen von den gemurmelten Lade- und Stauanweisungen aus dem großen Frachter vernahm er bloß die lauteren Gedanken Professor Wuvhs, die ihr kompliziertes sozio-philosophisches Netz spannen: »… das erlaubt uns den Schluß, daß das flachäugige Ungeheuer zumindest in dieser Hinsicht nicht das typische Persönlichkeitsbild eines Analphabeten aufweist. Versuchen wir allerdings, die Charakteristika einer hochentwickelten Kulturform zu deuten, über die wir keinerlei schriftliche Unterlagen besitzen, dann…« Manship wartete, bis sich der Eingang zugezogen hatte. Dann kletterte er über ein schmales, leiterförmiges gewundenes Ding in die Kanzel des Raumschiffs. Beklommen setzte er sich vor das Armaturenbrett und begann. Die verschiedenen Instrumente waren für die Bedienung mit Fühlern gedacht und eigneten sich schlecht für menschliche Finger, aber damit mußte er sich abfinden. »Die Motoren des Bulvonn Antriebs warmlaufen lassen…« Behutsam ließ er jeden der obersten drei Zylinder eine volle Umdrehung beschreiben. Sobald über das rechteckige Feld links neben ihm in regelmäßigen Abständen rote und weiße Streifen liefen, zog er an dem großen schwarzen Knopf, der aus dem Boden ragte. Draußen heulten die Düsen auf. Seine Handgriffe erfolgten beinahe automatisch. Er verließ sich völlig auf sein Gedächtnis. Es war, als würde Rabd selbst das Schiff bedienen. Wenige Sekunden später hatte er den Planeten verlassen und schwebte durch den Weltraum. Er schaltete auf interplanetarische Steuerung, stellte das Zielgerät auf die astronomische Einheit 649-301-3 ein und lehnte sich zurück. Bis zur Landung hatte er jetzt nichts mehr zu tun.
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Der Landung selbst sah er mit einigem Unbehagen entgegen, aber da bisher alles glatt gegangen war, betrachtete er sich bereits als interplanetarischen Teufelskerl. »Alter Raketenhäuptling Manship«, grinste er stolz vor sich hin. Nach Rabds unterbewußten Berechnungen sollte er die Erde in zehn bis zwölf Stunden erreichen, wenn er die eingeschaltete Höchstgeschwindigkeit des Bulvonn-Antriebs beibehielt. Bis dahin war er sicher ganz schön hungrig und durstig, aber – was für ein Aufsehen würde er erregen! Die Sensation auf Erden war bestimmt noch größer, als die bei den Flefnoben. Das flachäugige Ungeheuer, aus dessen Augen ein geistiger Hochfrequenzstrahl schoß. Wenn er nur wüßte, was wirklich dahinter steckte! Er hatte nichts als Todesangst empfunden, sooft sich ein Flefnobe vor seinem Blick aufgelöst hatte. Schlotternd vor Furcht hatte er erwartet, in winzige Teilchen zersprengt zu werden. Nach den Ergebnissen zu urteilen, hatte ihm diese Angst eine vernichtende Ausstrahlung verliehen. Vermutlich vertrugen die Flefnoben das Adrenalin nicht, das der menschliche Körper in Augenblicken großer Belastung in erhöhtem Maße erzeugte. Oder vielleicht verfügte das menschliche Gehirn in Gefahrensituationen über eine Ausstrahlung, die den buchstäblichen Zerfall der Flefnoben bewirkte. Das war einleuchtend: Wenn er so stark auf ihre Gedanken reagierte, mußten auch sie in irgendeiner Weise auf ihn reagieren. Und wenn er sich sehr fürchtete, sandte er offenbar gewalttätige Impulse aus. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und blickte zu Kontrollgeräten auf. Alles funktionierte vorschriftsmäßig. braunen Kreise auf dem Sekkelbiett dehnten und verengten in der von Rabds Denken gewünschten Weise. Die kleinen cken am Rande des Steuerquadrats verliefen gleichmäßig, der Bildschirm zeigte – der Bildschirm!
den Die sich Zaund
Manship sprang entsetzt auf. Auf dem Bildschirm waren sämtli-
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che Geschwader des flefnobischen Heeres und der Raumflotte aufgetaucht, von den schweren Maßeltowers ganz zu schweigen. Und sie alle hatten seine Verfolgung aufgenommen. Und kamen immer näher. Ein großes Raumschiff hatte ihn beinahe schon eingeholt und begann nun, eine Reihe greller Strahlen auszustoßen. Wie Manship aus Rabds Gedächtnis wußte, waren diese Strahlen Enterhaken. Weshalb das gewaltige Aufgebot? Wegen des Diebstahls eines einzigen Düsenzweisitzers? Oder befürchteten sie, daß er geheime Forschungsergebnisse der Flefnoben entwendet hatte? Sie hätten selig sein sollen, ihn los zu sein. Und dann gab ihm ein beharrlicher Gedankenimpuls aus dem Innern seines eigenen Schiffs einen Anhaltspunkt. Er hatte diesen leisen Gedanken schon die ganze Zeit über gespürt, war aber zu sehr mit den Problemen der Raumschiffahrt beschäftigt gewesen, um auf ihn zu hören. Er hatte unwissentlich jemand – oder etwas – in seinem Schiff mitgenommen! Clyde Manship krabbelte über die gewundene Leiter in die Hauptkabine hinunter. Dabei gewannen die fremden Gedanken an Deutlichkeit, und noch ehe sich die Kabinenöffnung vor ihm auftat, um ihn einzulassen, wußte er genau, wen er vorfinden würde. Tekt. Der berühmte Star aus Pnesh und Blelg vom südlichen Kontinent, Rabds zukünftige Frau, drückte sich in die fernste Ecke. Ihre sämtlichen Fühler – einschließlich der hundertsechsundsiebzig schleimigen Stück, die von feuchten Augen geziert wurden – krampften sich in den unwahrscheinlichsten Verschlingungen, die Manship jemals gesehen hatte, um ihren winzigen schwarzen Körper. »Uu-uuh!« jammerte ihr Geist. »Qrm! Qrm! Jetzt geschieht’s!
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Das Fürchterliche! Entsetzliche! Gleich wird es mir widerfahren! Das Ungeheuer kommt näher – näher…« »Hören Sie, meine Teuerste. Ich habe nicht das leiseste Interesse an Ihnen«, begann Manship, ehe ihm einfiel, daß es ihn noch nie gelungen war, sich mit einem Flefnoben zu verständigen geschweige denn mit einer hysterischen Flefnobin. Ein Rütteln durchlief das Schiff, als es von den Enterhaken berührt wurde. Na also, da wären wir wieder! dachte er. Im nächsten Augenblick würden Flefnoben das Schiff betreten, und ihm blieb nichts übrig, als sie in eine bläuliche Suppe zu verwandeln. Offenbar hatte Tekt im Schiff geschlafen, als er aufgestiegen war. Sie hatte wohl auf Rabd gewartet, um mit ihm ihren Paarungsflug anzutreten. Und sie schien so prominent zu sein, daß ihrethalben die gesamte Raumflotte aufgeboten worden war. Sein Gehirn meldete ihm, daß jemand das Schiff betreten hatte, Rabd. Soviel Manship feststellen konnte, kam er allein, nur mit seinem Blaster bewaffnet und entschlossen, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Und genau dazu mußte es ja leider kommen. Clyde Manship war ein ziemlich rücksichtsvoller Mensch und fand es deshalb schrecklich, daß er einen jungen Mann vor Antritt seiner Flitterwochen auflösen sollte. Da er aber beim besten Willen nicht imstande war, seine friedlichen Absichten zu verkünden, hatte er keine andere Wahl. »Tekt!« telepathierte Rabd leise. »Bis du unverletzt?« »Mord!« kreischte Tekt. »Hilfe-Hilfe-Hilfe-Hilfe…« Ihre Gedanken rissen ab, sie war ohnmächtig geworden. Die Zickzack-Tür erweiterte sich, und Rabd hüpfte in die Kabine. In seinem Raumanzug sah er aus wie ein Bündel länglicher Ballone. Nach einem kurzen Blick auf die hingestreckte Tekt wandte er sich mit dem Mut der Verzweiflung um und richtete seiner verschnörkelten Blaster auf Manship.
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»Armer Teufel«, dachte Manship. »Armer, dummer Teufel. In der nächsten Sekunde schon bist du nichts mehr als ein Haufen klebriges Zeug.« Zuversichtlich wartete er ab. Er fühlte sich so sicher, daß er nicht die geringste Angst hatte. Und deshalb kam auch nichts anderes aus seinen Augen als ein bißchen mitleidige Verachtung. Also tötete Rabd das scheußliche flachäugige Ungeheuer. Und zog seine Braut in die liebevollen Fühler. Und trat den Rückflug in die Heimat und zur Heldenehrung an.
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Der menschliche Standpunkt War das eine erbärmliche Straße! Dreckig, schlammig und ohne jede Sicht! Und beim Geist des alten Horace Greeley, war das ein blödsinniger Auftrag! John Shellinger verwünschte die beschlagene Windschutzscheibe, von der der Scheibenwischer das Regenwasser schleuderte. Angestrengt spähte er durch das nasse, schmutzige Glasdreieck und versuchte zu erraten, wo die Landstraße aufhörte und die verwilderten braunen Herbstwiesen begannen. Vielleicht war er bereits an der langsam vorrückenden Schar mordgieriger Männer vorbeigefahren, die rechts und links von der Landstraße ausschwärmten; vielleicht auch war er irrtümlich in eine Nebenstraße eingebogen und fuhr immer weiter. Aber daran dachte er nicht. Einen feinen Auftrag hatte er da! »Ich brauche die menschliche Seite der Vampirjagd«, hatte Randall befohlen. »Sozusagen den menschlichen Standpunkt. Alle anderen Zeitungen werden sich auf das Hinterwäldlertum stürzen, den mittelalterlichen Aberglauben, der sich ins Atomzeitalter verirrt hat. Diese kurzsichtigen Trottel! Mit diesem Aufhänger ist mir nicht gedient. Bilden Sie sich eine persönliche, ergreifende Meinung über die Blutsaugerei und schluchzen Sie rund dreitausend Worte in dieser Tonart. Und legen Sie mir keine hohe Spesenrechnung vor. Diese ländliche Notstandsgegend trägt kein groß aufgemachtes Sensationsblatt.« Worauf ich meinen Wagen sattle und mich zu diesen Schwachsinnigen begebe, dachte Shellinger verdrossen, wo keine Seele mit einem Fremden spricht, »besonders jetzt, weil der Vampir schon drei Kinder geholt hat.« Und keiner will mir die Namen dieser Kinder nennen oder auch nur verraten, ob eines von ihnen noch lebt. Und dauernd telegrafiert mir Randall, wo denn mein Artikel bleibt. Dabei habe ich in dieser verfluchten Gegend noch immer keine geschwätzige Louise gefunden. Ich hätte nicht mal etwas von dieser Treibjagd erfahren, wenn ich mich nicht gefragt
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hätte, wohin denn alle männlichen Dorfbewohner an diesem verregneten Abend verschwunden sind. Die Straße war schon für den zweiten Gang riskant. Die Schlaglöcher waren auch nicht das gesündeste für die Federn. Shellinger rieb mit seinem Taschentuch die beschlagene Windschutzscheibe ab und wünschte sich ein Paar Zusatzscheinwerfer. Er konnte kaum etwas sehen. Der dunkle Fleck dort vorne, zum Beispiel. Konnte einer der Vampirjäger sein. Oder ein Stück Wild, das die Männer aus seinem Versteck gescheucht hatten. Oder sogar ein kleines Mädchen. Er trat auf die Bremse. Es war wirklich ein Mädchen. Ein kleines Mädchen mit dunklem Haar und langen blauen Hosen. Er kurbelte das Fenster auf und streckte den Kopf in den Regen. »Hallo, Kleine! Soll ich dich mitnehmen?« Leicht gebückt stand das Kind vor dem trüben Hintergrund des Abends und der nassen Wiesen. Ihr Blick huschte über den Wagen, kehrte wieder zu seinem Gesicht zurück und musterte es nachdenklich. Wahrscheinlich hatte die Kleine gar nicht gewußt, daß es derart chromblitzende Autos überhaupt gab. Sicher hätte sie sich niemals träumen lassen, in einem dieser Dinger zu fahren. Damit konnte sie dann wenigstens vor den anderen Kindern der armseligen Umgebung angeben. Sie schien zu dem Schluß gelangt zu sein, daß er keiner jener bösen Fremden war, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte, und daß es außerdem bequemer sei, im Auto zu sitzen als durch den Regen zu wandern. Also nickte sie. Langsam ging sie rund um den Wagen und kletterte auf den Beifahrersitz. »Danke, Mister«, sagte sie. Shellinger startete wieder und sah das Mädchen flüchtig von der Seite an. Ihre blauen Hosen waren zerschlissen und durchweicht. Sicher war ihr kalt und unbehaglich, aber das gab sie nicht zu. Sie ertrug es mit der Unerschütterlichkeit der Bergbau-
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ern. Aber sie hatte Angst. Sie saß geduckt da, hielt die Hände artig im Schoß gefaltet und drückte sich scheu an die Wagentür. Wovor fürchtete sich die Kleine? Na klar, vor dem Vampir! »Wie weit willst du denn?« fragte er freundlich. »Etwa eineinhalb Meilen. Aber in der Richtung.« Sie deutete mit einem breiten Daumen über ihre Schulter. Sie war rundlich und bedeutend besser ausgepolstert als die meisten dieser zaundürren Pächterskinder. Eines Tages würde sie sogar schön sein, vorausgesetzt, daß sie keinen ungebildeten Bauerntölpel heiratete und sich für den Rest ihres Lebens in einer windschiefen Holzhütte zu Tode arbeiten mußte. Bedauernd wendete er den Wagen und fuhr wieder zurück. Er würde zwar die Jäger verpassen, aber er konnte schließlich ein empfindsames Kind nicht zu dieser lächerlichen Vampirhatz mitschleifen. Da brachte er sie schon lieber vorher nach Hause. Außerdem war aus diesen harten Bauern mit ihren zugespitzten Pfählen und den Silberkugeln in den Kleinkalibergewehren ohnehin kein Wort herauszubringen. »Was bauen denn deine Eltern an – Tabak oder Baumwolle?« »Vorläufig noch gar nichts. Wir sind erst seit kurzem hier.« Das stimmte. Sie sprach nicht den Dialekt der Gegend. Überhaupt wirkte sie ein bißchen ordentlicher als die meisten Kinder, die ihm hier über den Weg gelaufen waren. »Ist es nicht schon reichlich spät für einen Spaziergang? Haben deine Eltern keine Angst um dich, so ganz allein, wo sich ein Vampir herumtreibt?« Sie zitterte. »Ich… ich passe schon auf«, sagte sie dann. Hoppla! dachte Shellinger. Da hatte er doch seine menschliche Seite. Genau, was Randall haben wollte. Ein verschrecktes kleines Mädchen, das die Neugier dazu trieb, ihre Angst hinunterzuwürgen und ausgerechnet an einem Abend wie diesem auf Erkundung zu gehen. Vorläufig wußte er zwar noch nicht, wie sich
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das reimte, aber seine Reporternase hatte Lunte gerochen. Das war erstklassiges Material. Die Verkörperung der zu Herzen gehenden Seite saß verschüchtert auf dem roten Ledersitz. »Weißt du überhaupt, was ein Vampir ist?« Sie sah ihn verblüfft an, schlug die Augen nieder und betrachtete unter angestrengtem Nachdenken ihre gefalteten Hände. »Einer, der Leute statt Mahlzeiten braucht.« Nach kurzem Zögern fragte sie. »Ist es nicht so?« »Ja.« Das war ausgezeichnet. Kinder hatten eben immer originelle Ansichten, die noch nicht vom Aberglauben der Schulbücher verdorben waren. Das kam in seinen Artikel – »Leute statt Mahlzeiten.« »Ein Vampir ist angeblich ein unsterbliches Geschöpf – das heißt, er stirbt nicht –, solange er oder sie das Blut und das Leben von lebendigen Menschen bekommt. Einen Vampir kannst du nur töten, wenn…« »Jetzt geht’s rechts rein, Mister.« Er steuerte den Wagen in den schmalen Karrenweg. Hier war es schrecklich eng. Nasse Zweige schlugen gegen die Windschutzscheibe und fuhren mit ihren Blättern über das Stoffverdeck. Ab und zu entließ ein Wipfel das angesammelte Regenwasser. Shellinger drückte das Gesicht dicht an die Windschutzscheibe, um die braune Morastrinne zwischen dem Unkraut zu erkennen, das im Scheinwerferkegel auftauchte. »Feine Straße! Deine Leute fangen aber ehrlich ganz unten an. Was ich sagen wollte, du kannst einen Vampir nur mit einer silbernen Kugel töten. Oder Du bohrst ihm einen Pfahl ins Herz und begräbst ihn um Mitternacht an einer Weggabelung. Das werden diese Männer heute nacht tun, wenn sie ihn fangen.« Sie schnappte erschrocken nach Luft. Er drehte sich zu ihr um. »Was hast du denn? Gruselt es dich?« »Ich finde das entsetzlich«, sagte sie aus tiefstem Herzen.
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»Warum? Oder bist du der Meinung, leben und leben lassen?« Sie dachte nach, nickte und lächelte. »Ja, leben und leben lassen. Leben und leben lassen. Schließlich…« Wieder suchte sie mühsam nach den passenden Worten. »Schließlich können sich manche Leute eben nicht ändern. Ich denke mir«, sagte sie langsam und nachdenklich, »wenn jemand ein Vampir ist, kann er ja auch nichts dafür, oder?« »Da ist etwas daran, Kleine.« Er konzentrierte sich nun wieder ganz auf den haarsträubenden Weg. »Die Sache hat nur einen Haken: Wenn man überhaupt an Vampire glaubt, dann erwartet man nichts Gutes von ihnen, sondern nur Übeltaten. Diese Leute im Dorf behaupten, daß der Vampir schon drei Kinder umgebracht hat, und deshalb hassen sie ihn und wollen ihn unschädlich machen. Wenn es so etwas wie Vampire gibt – und wohlgemerkt, ich sage ›wenn‹ –, dann müssen diese Wesen ihrer Veranlagung nach derartige Grausamkeiten begehen, daß jedes Mittel recht ist, sie loszuwerden. Begreifst du das?« »Nein. Man soll niemandem einen Pfahl ins Herz stoßen.« Shellinger lachte. »Du hast schon recht. Und ich persönlich möchte es auch nicht tun. Wenn ich mich oder meine Angehörigen jedoch durch einen Vampir bedroht fühlte, könnte ich höchstwahrscheinlich meine Hemmungen lange genug vergessen, um Schlag Mitternacht ein paar Handlangerarbeiten zu verrichten.« Er schwieg. Ihm war aufgefallen, daß das Kind etwas zu aufgeweckt für diese Gegend war. Vorderhand schien sich die Kleine noch nicht mit dem Aberglauben angesteckt zu haben, und er fütterte sie mit seinen Schauermärchen. Das war gemein. Vernünftig fuhr er fort: »Leider durchstreift eine Schar Männer, die diesen Aberglauben bitter ernst nehmen, heute nacht die Gegend. Die Leute glauben nämlich, daß hier ein Vampir sein Unwesen treibt. Und höchstwahrscheinlich werden sie irgendeinen harmlosen Landstreicher aufscheuchen und bestialisch ermorden. Nur, weil er nicht begründen kann, was er in einer Nacht
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wie der heutigen im Freien zu suchen hat.« Schweigen. Sie überlegte seine Worte. Shellinger imponierte ihre ernste, nachdenkliche Art. Er bemerkte, daß sich ihre Angst gelegt hatte und sie näher an ihn herangerückt war. Komisch, wie stark ein Kind spürt, daß man ihm nichts Böses tun will. Sogar ein Bauernkind. Nein, besonders ein Bauernkind, weil das nämlich noch naturverbundener und instinktsicherer war. Jedenfalls hatte er ihr Vertrauen gewonnen, und dadurch war auch sein Selbstvertrauen zurückgekehrt. Nach einer vollen Woche unter wortkargen Dummköpfen, die ihm ihre Verachtung deutlich zu verstehen gegeben hatten, war er etwas unsicher geworden. Jetzt fühlte er sich wieder besser. Und er wußte endlich, worauf er seinen Artikel aufbauen sollte. Nur mußte er ihn natürlich ausschmücken. In seiner Story mußte die Kleine das typische Kind einer gottverlassenen Gegend sein, bedeutend magerer und nicht halb so ansprechbar. Ja, jetzt hatte er die menschliche Seite. Sie war wieder ein Stückchen näher gerückt, daß sie seinen Anzug streifte. Armes Kind! Sie suchte seine Körperwärme, um nicht allzu sehr in ihren durchnäßten Hosen zu frieren. Es tat ihm leid, daß er keine Heizung im Wagen hatte. Nun verschwand der Weg völlig zwischen verwachsenem Gestrüpp und knorrigen Bäumen. Er hielt an und zog die Handbremse. »Hier kannst du doch nicht wohnen? Hier scheinen seit einer Ewigkeit keine Menschen mehr gehaust zu haben.« Er staunte über die Trostlosigkeit der Gegend. »Aber sicher wohne ich hier, Mister«, flüsterte ihre warme Stimme dicht an seinem Ohr. »In dem kleinen Haus dort drüben.« »Wo?« Er rieb die Scheibe blank und starrte angestrengt über das Licht seiner Scheinwerfer hinweg. »Ich sehe kein Haus. Wo
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ist es?« »Dort.« Sie hob die Hand und deutete hinaus in die Nacht. »Dort drüben.« »Ich sehe noch immer…« Zufällig bemerkte er aus dem rechten Augenwinkel, daß ihre Handflächen von weichen, braunen Haaren bedeckt waren. Merkwürdig. Mit weichen, braunen Haaren bedeckt. Ihre Handflächen! »O Gott, was ist dir an der Form ihrer Zähne aufgefallen?« durchzuckte es ihn. Schon wollte er hastig den Kopf wenden, um sich ihre Zähne nochmals anzusehen. Aber es gelang ihm nicht. Sie hatte ihm die Zähne bereits in den Hals geschlagen.
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Ein Mann mit Familie Blicklosen Auges und mit Knien, die weich wie Watte waren, fand Stewart Raley seinen Sitzplatz im Pendler, dem Stratodüsenflugzeug, das ihn täglich vom New Yorker Geschäftsviertel in sein Haus im Grünen im Norden von New Hampshire trug. Nur durch die jahrelange Gewohnheit und tägliche Wiederholung des gleichen Vorganges war er imstande, seinen angestammten Fensterplatz neben Ed Greene zu finden. Gewohnheit war es, die seinen Zeigefinger auf den Knopf in der Rücklehne des Vordersitzes drückte, Gewohnheit, die seine Augen auf den winzigen Bildschirm in der Lehne vor ihm bannte, über den soeben die 17-Uhr-Nachrichten huschten. Aber er nahm keine der hastig hervorgesprudelten Meldungen auf. Verschwommen hörte er das Aufheulen der Düsen beim Start. Mechanisch stemmte er die Füße auf den Boden und spannte die Bauchmuskeln gegen den umgeschnallten Gurt. Er wußte, daß ihn bald auch die Gewohnheit nicht mehr retten konnte, wenn das so weiterging. Nichts konnte ihn dann noch retten. Vor dem Ärgsten, was einem Menschen im Jahre 2080 widerfahren konnte, versagten alle Hilfsmittel. »Anstrengenden Tag gehabt, Stew?« erkundigte sich Ed Greene mit lauter Bierstimme. »Siehst ja ganz durchgedreht aus.« Raley bewegte die Lippen, aber es dauerte ein Weilchen, bis sich ein Laut aus seiner Kehle löste. »Ja«, sagte er endlich. »Es war ein anstrengender Tag.« »Warum mußtest du auch zu den Solar-Mineralien gehen?« fragte Ed, als wollte er eine bittere Beschwerde entkräften. »Bei diesen interplanetarischen Gesellschaften ist es immer dasselbe: Hetzen, hetzen und nochmals hetzen. Die Fakturen müssen sofort fertig sein, auf der Stelle, weil das Frachtschiff zum Neptun abfliegt und das nächste erst wieder in sechs Monaten geht; und die Korrespondenz mit dem Merkur muß ebenfalls unverzüglich zu Ende diktiert werden, weil… Das kenne ich! Vor fünfzehn Jah-
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ren habe ich selbst für die Außerplanetarische Pharmazie gearbeitet. Mir reicht’s! Da lobe ich mir das Grundstückgeschäft auf dem New Yorker Sektor. Ruhig, solide, gemächlich.« Raley nickte schwer und rieb sich die Stirn. Er hatte keine Kopfschmerzen, aber er wünschte sich welche. Jede Ablenkung wäre ihm recht, um nicht grübeln zu müssen. »Natürlich wird man dabei nicht reich«, zählte Ed nun mit dröhnender Stimme die Nachteile auf. »Es steckt nicht viel Geld in der Branche, aber dafür auch kein Magengeschwür. Vermutlich werde ich mein ganzes Leben in der Zwei-Kinder-Grenze verbringen, aber es wird ein langes Leben sein. In meinem Büro geht es langsam und gemütlich zu. Wir wissen, daß unser liebes kleines New York schon seit langem besteht und noch lange bestehen wird.« »Ja«, sagte Raley und stierte vor sich hin. »Sicherlich. New York wird es noch lange geben.« »Mann, nun sag das nicht mit einer solchen Leichenbittermiene! Auch den Ganymed wird es noch lange geben. Kein Mensch wird ihn dir stehlen!« Von der hinteren Sitzreihe beugte sich Frank Tyler vor. »Wie war’s mit einer kleinen Kartenrunde, Freunde?« erkundigte er sich. »Wir müssen eine halbe Stunde totschlagen.« Raley hatte zwar keine Lust zum Kartenspielen, aber er war Frank zu dankbar, um abzulehnen. Sein Kollege bei den SolarMineralien hatte Greene zugehört – genau wie alle anderen Fluggäste es zwangsläufig getan hatten. Er allein wußte, welche Wunde der Grundstücksmakler unwissentlich frisch aufgerissen hatte, Vermutlich war ihm die Lage immer peinlicher geworden, bis er beschlossen hatte, das Gespräch an sich zu reißen. Nett von ihm, dachte Raley, während er und Ed ihre Sitze herumdrehten. Schließlich hat man mich über Frankes Kopf hinweg zum Ganymedbevollmächtigten befördert. Ein anderer an Franks Stelle hätte es mir vielleicht vergönnt, daß Ed mir jetzt lange
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Zähne macht. Aber Frank war ein anständiger Bursche und nicht schadenfroh. Es war das übliche Spiel mit den üblichen vier Spielern. Bruce Robertson, der Buchillustrator, der links von Frank Tyler saß, hob seine riesige Aktenmappe vom Boden und legte sie wie eine Tischplatte auf seine Knie. Frank riß ein neues Päckchen Spielkarten auf, und sie knobelten, wer geben sollte. Ed gewann. »Einsätze wie gehabt?« fragte er, während er mischte. »Zehn, zwanzig, dreißig?« Sie nickten, und Ed begann auszuteilen. Das hinderte ihn allerdings nicht am Reden. »Ich sagte Stew eben«, erklärte er mit einer Stimme, die sicher bis in die Kanzel des Piloten drang, »daß der Realitätenhandel gut für den Blutdruck ist, wenn auch für nichts anderes. Meine Frau liegt mir dauernd in den Ohren, auf ein einträglicheres Gebiet umzusteigen, ›Ich schäme mich ja so‹, sagt sie, ›daß ich in meinem Alter erst zwei Kinder habe. Stewart Raley ist zehn Jahre jünger als du, und Marian hat bereits ihr viertes Kind. Wenn du ein richtiger Mann wärest, würdest du dich auch schämen. Und du würdest endlich etwas tun!‹ Wißt ihr, was ich dann immer darauf antworte? ›Sheila‹, sagte ich, ›du bist 36Asüchtig.‹« Bruce Robertson sah verständnislos auf. »36A?« »Ach, du unbeschwerter Junggeselle du!« lachte Ed Greene. »Warte nur ab, bis du erst verheiratet bist! Dann wirst du schon wissen, was 36A ist. Es wird dich beim Essen, Trinken und Schlafen verfolgen.« »Formblatt 36A«, setzte Frank Tyler Bruce halblaut auseinander, während er den Gewinn einstrich. »Das füllt man nämlich aus, wenn man beim FPB um ein weiteres Kind ansucht.« »Ach ja, natürlich. Bloß die Nummer war mir nicht geläufig. Aber Moment mal, Ed. Die finanzielle Lage ist doch nur eine der nötigen Voraussetzungen. Darüber hinaus geht es dem Familien-
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planungsbüro aber auch noch um die Gesundheit der Eltern, die Erbfaktoren, die Harmonie im Elternhaus…« »Was hab’ ich euch gesagt?« grinste Ed. »Ein Junggeselle! Naiv, noch nicht trocken hinter den Ohren und kinderlos!« Bruce Robertson wurde kreidebleich. »Ich werde demnächst heiraten, Ed Greene«, zischte er mit schmalen Lippen. »Und dann werde ich mehr Kinder haben, als du jemals…« »Du hast ganz recht, wenn du sagst, daß die finanzielle Lage nur eine der Voraussetzungen ist«, fiel Frank Tyler beschwichtigend ein. »Aber sie ist die wichtigste Voraussetzung. Wenn eine Familie bereits zwei Kinder hat, die sich gut entwickeln, dann hängt die Bewilligung des FPB ausschließlich vom Einkommen des Antragstellers ab.« »Stimmt genau!« Ed schlug auf die Aktenmappe, die als Unterlage diente, daß die Karten nur so tanzten. »Nimm doch nur zum Beispiel meinen Schwager Paul. Tag und Nacht höre ich von meiner Frau ›Paul dies und Paul das‹. Kein Wunder, daß ich mehr über ihn weiß als über mich selbst. Paul besitzt den halben Anteil des Mars-Erde-Frachtsyndikats. Daher fällt er in die Achtzehn-Kinder-Klasse. Seine Frau ist etwas nachlässig und legt keinen großen Wert auf gesellschaftliche Stellung. Daher haben sie nur zehn Kinder, aber…« »Wohnen sie in New Hampshire?« fragte Frank. Knapp vorher hatte Stewart Raley bemerkt, daß Frank ihn ehrlich besorgt betrachtete. Offenbar wollte er von etwas anderem sprechen, weil er fühlte, daß Raley durch dieses Gespräch nur noch verzweifelter wurde. Höchstwahrscheinlich sah man ihm das an. Er mußte sich zusammennehmen. In wenigen Minuten würde er Marian gegenüberstehen. Wenn er nicht aufpaßte, schöpfte sie sofort Verdacht. »New Hampshire?« fragte Ed verächtlich. »Mein Schwager Paul? Bei seinem Geld? Nein, Sir. Diese schäbige Vorstadt genügt ihm nicht. Er wohnt wirklich auf dem Land, westlich der
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Hudson Bay, oben in Kanada. Aber wie ich bereits sagte, ist seine Ehe nicht besonders, und die Kinder haben nicht eben das glücklichste Zuhause, wenn ihr wißt, was ich meine. Aber glaubst du, sie hätten Schwierigkeiten mit einer 36A-Bewilligung? Keine Spur! Sie reichen das Formular ein, und schon am nächsten Morgen ist es wieder da, und quer drüber steht in fetter Blauschrift bewilligt. Das FPB denkt natürlich: Wenn schon, die Leute sind so stinkreich, daß sie die besten Kinderschwestern und Kinderpsychologen engagieren können. Und sollten die Kinder auch als Erwachsene nicht glücklich sein, werden sie sich eben die beste Psychotherapie leisten, die man um Geld kaufen kann.« Bruce Robertson schüttelte den Kopf. »Das finde ich nicht in Ordnung. Schließlich erhalten zukünftige Eltern tagtäglich abschlägige Bescheide wegen negativer Erbanlagen.« »Erbanlagen sind etwas anderes als der Umwelteinfluß«, stellte Ed richtig. »Das eine läßt sich nicht ändern, das andere schon. Und glaub mir, mein Guter, nichts vermag die Umwelt entscheidender zu verändern als Geld. Vermögen, Moos, Zaster, Pinke, Mäuse. Reich mußt du sein, dann schwört das FPB darauf, daß dein Kind einen guten Start im Leben hat – besonders, wo das Büro in den ersten Jahren laufend Kontrollen durchführt. Du bist dran, Stew. Hallo, Stew! Trauerst du noch dem letzten Einsatz nach? Seit fünfzehn Minuten hast du nicht mehr den Mund aufgetan. Man hat dich doch heute nicht etwa rausgeworfen, wie?« Raley nahm sich krampfhaft zusammen. Er griff nach den Karten. »Nein«, sagte er gepreßt. »Man hat mich nicht rausgeworfen.« Marian wartete mit dem Sport-Jet neben der Landebahn. Zum Glück brannten ihr die jüngsten Klatschgeschichten auf der Zunge. Daher fiel ihr nichts an ihrem Mann auf. Nur einmal, als er sie küßte, sah sie ihn mißtrauisch an. »Das war aber reichlich müde«, meinte sie. »Du warst schon besser.« Er grub sich die Fingernägel in die Handflächen und witzelte mühsam: »Damals war ich eben auch noch nicht müde. Heute
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ging’s wieder hoch her im Büro. Hab’ also Geduld und Nachsicht mit mir, mein Schatz, und erwarte nicht zuviel.« Sie nickte mitfühlend, und sie kletterten in den Sport-Jet. Ihr erstes Kind, die zwölfjährige Lisa, saß mit Mike, dem Jüngsten, hinten. Lisa gab ihrem Vater einen schallenden Kuß und hielt ihm dann den Säugling für eine ähnliche Begrüßung entgegen. Er mußte sich zwingen, den Kleinen zu küssen. Sie schossen in die Luft. Rundum stiegen die Sport-Jets vom Flughafen auf und schwirrten in allen Richtungen ab. Stewart Raley starrte die Hausdächer an, die unter ihnen vorbeiflitzten, und zermarterte sich den Kopf, wann er es ihr am besten erzählen sollte. Vielleicht nach dem Abendessen? Nein, lieber abwarten, bis die Kinder im Bett lagen. Wenn er und Marian dann allein im Wohnzimmer saßen… Sein Magen verkrampfte sich, genau wie heute nach dem Mittagessen. Er war nicht sicher, ob er es überhaupt fertigbringen würde, ihr alles zu sagen. Aber es mußte sein. Es ging nicht anders. Er mußte es ihr sagen – und zwar noch heute abend. »… weil Sheila doch immer schwindelt«, sagte Marian. »›Das glaube ich nicht von Connie Tyler, und Schluß!‹ habe ich ihr gesagt. Du weißt doch noch, Herz, wie Connie mich im Vormonat in der Klinik besuchte? Natürlich war mir klar, was sie sich dachte. Sie sah sich Mike an und überlegte dabei, wenn bloß Frank statt dir zum Bevollmächtigten für den Ganymed ernannt worden wäre, hätte er die Gehaltserhöhung von zweitausend Territ erhalten, und dann läge sie jetzt mit ihrem vierten Kind hier, und ich würde sie besuchen. Ich wußte, was in ihrem Kopf vorging, weil ich mir umgekehrt genau dasselbe gedacht hätte. Aber dann sagte sie, sie hätte noch nie ein süßeres, gesünderes Baby gesehen, und das war ehrlich gemeint. Und auch, daß sie mir fürs nächste Jahr ein fünftes Kind wünscht, war keine Höflichkeitsphrase, sondern kam von Herzen.«
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Ein fünftes Kind, dachte Stewart Raley verbittert. Ein fünftes! »… also überlasse ich das ganz dir. Was soll ich aber antworten, wenn Sheila morgen wieder vorbeikommt und nochmals von vorne beginnt?« »Sheila?« fragte er begriffsstutzig. »Sheila?« Marian schüttelte ungeduldig den Kopf. »Sheila Greene. Eds Frau. Ja, hast du mir denn überhaupt nicht zugehört, Stewart?« »Doch, mein Herz. Du hast von der Klinik gesprochen und von Connie. Und Mike. Ich habe jedes Wort gehört. Aber wie kommst du jetzt auf Sheila?« Sie drehte sich vollends zu ihm herum und sah ihn an. Die großen grünen Katzenaugen musterten ihn forschend. Dann schaltete sie auf automatische Steuerung, damit sie die Hände frei hatte. »Irgend etwas stimmt nicht, Stewart. Dahinter steckt mehr als ein hektischer Tag im Büro. Was ist los?« »Später«, wehrte er ab. »Das sage ich dir später.« »Nein, sofort. Dieses Gesicht halte ich keine Sekunde länger aus.« Er stieß die Luft aus und wandte kein Auge von der dicht gedrängten Wohnsiedlung, über die sie flogen. »Heute hat die Jupiter-Chemie die Keohula-Mine gekauft.« »Na und? Was hat das mit dir zu tun?« »Die Keohula-Mine«, setzte er ihr gequält auseinander, »ist das einzige aktive Bergwerk auf Ganymed.« »Entschuldige, aber ich begreife noch immer nichts. Bitte, Stewart, sage mir in schlichten Worten, was los ist, aber sag’s schnell. Also?« Er hob den Blick und bemerkte, wie erschrocken sie war. Sie ahnte zwar nicht, wovon er sprach, aber sie hatte immer schon einen untrüglichen Instinkt besessen.
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»Da die Keohula-Mine verkauft ist, und zwar zu einem stattlichen Preis, halten es die Solar-Mineralien für unwirtschaftlich, eine Zweigstelle auf dem Ganymed zu unterhalten. Daher schließen sie den Betrieb und zwar ab sofort.« Entsetzt fuhr Marian sich an den Mund. »Das heißt, daß… daß…« »Das heißt, daß die Abteilung Ganymed überflüssig geworden ist. Und damit auch der Bevollmächtigte.« »Aber man kann dich doch nicht wieder auf deinen alten Platz zurückschicken!« rief sie aus. »Das können sie dir nicht antun! Sie dürfen dich nicht degradieren, Stewart! Schließlich hast du auf Grund deiner Gehaltserhöhung ein weiteres Kind in die Welt gesetzt! Es muß doch noch eine andere Abteilung geben, etwas…« »Nein«, antwortete er. Seine Zunge lag trocken wie ein Stück Pappkarton in seinem Mund. »Die Bergwerke auf sämtlichen Satelliten des Jupiter sind stillgelegt. Ich bin nicht der einzige, den es trifft. Cartwright von der Europa-Abteilung und McKenzi von lo geht’s genauso. Und beide sind länger in der Firma als ich. Ab jetzt werden sich die Solar-Mineralien vor allem auf ihre Besitzungen auf dem Uranus, Neptun und Pluto stützen. Alles andere fällt kaum mehr ins Gewicht.« »Und wie steht es mit diesen Planeten? Dort wird man doch auch Abteilungsleiter brauchen?« Raley seufzte bekümmert. »Die gibt es bereits. Und eine Ersatzgarnitur ebenfalls. Durchwegs ausgezeichnete Leute mit langjähriger Erfahrung. Und was deine nächste Frage betrifft, mein Liebes, so habe ich mich schon bei der Jupiter-Chemie um eine Versetzung bemüht. Nichts zu machen. Sie haben bereits eine Ganymedabteilung und sind mit ihrem Abteilungsleiter sehr zufrieden. Ich bin den ganzen Tag rumgelaufen und habe alles Erdenkliche versucht. Aber ab morgen bin ich wieder in der Erzverladung.«
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»Zum alten Gehalt?« flüsterte sie. »Siebentausend Territ im Jahr?« »Ja. Um zweitausend weniger als jetzt. Zweitausend unter dem Minimum für vier Kinder.« Marian faßte sich wie betäubt an ihren Kopf. »Ich tu’s nicht!« schluchzte sie. »Nein! Nein!« »Liebes«, sagte er. »Es ist Gesetz. Was bleibt uns übrig?« »Ich… ich weigere mich mit allem Nachdruck zu entscheiden, welches meiner Kinder ich aufgeben werde!« »Man wird mich wieder befördern. Im Handumdrehen werde wieder neuntausend Territ verdienen. Sogar mehr. Du wirst schon sehen!« Sie hörte auf zu weinen und sah ihn aus glanzlosen Augen an. »Aber wenn ein Kind einmal adoptiert ist, dürfen es die Eltern nie mehr zurückfordern. Auch nicht, wenn ihr Einkommen steigt. Das weißt du genauso gut wie ich, Stewart. Sie können andere Kinder haben, aber das überzählige bekommen sie nie wieder.« Natürlich wußte er das. Mit diesem Gesetz wollte das FPB die Stiefeltern schützen und die Adoption in höheren Einkommensklassen ankurbeln. »Wir hätten eben warten sollen«, sagte er. »Verdammt, wir hätten warten sollen!« »Aber das taten wir doch«, erinnerte sie ihn. »Sechs volle Monate haben wir gewartet, um ganz sicher zu sein, daß dir dein Job bleibt. Erinnerst du dich noch an jenen Abend, als wir Mr. Halsey zum Essen eingeladen hatten und er dir eine glänzende Karriere in der Firma prophezeite? ›Sie werden es noch auf zehn Kinder bringen, Mrs. Raley‹, hat er gesagt. ›Und deshalb rate ich Ihnen, so bald wie möglich damit anzufangen.‹ Das waren seine eigenen Worte.« »Der arme Halsey. Er konnte mir heute bei der Ausschußsitzung nicht in die Augen sehen. Knapp ehe ich aus dem Büro ging, war er noch bei mir und hat mir versichert, wie leid es ihm
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tue und daß er sich sehr einsetzen wird, damit ich raschest wieder befördert werde. Allerdings hat er mir auch gesagt, daß sich heutzutage praktisch alle einschränken. Es war ein schlechtes Jahr für außerirdische Waren. Und wenn ich wieder meinen alten Platz in der Erzverladung besetze, werfe ich meinen Nachfolger zurück. Er rutscht eine Stufe tiefer und wirft dadurch wieder einen anderen zurück. So setzt sich das fort.« Marian trocknete sich die Augen. »Mir genügen unsere Sorgen, Stewart. Andere Leute lassen mich im Augenblick kalt. Was sollen wir tun?« Er lehnte sich zurück und schnitt eine Grimasse. »Ich habe meinen Anwalt angerufen. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Cleve hat versprochen, heute nach dem Abendessen zu uns zu kommen und die ganze Sache mit uns zu besprechen. Wenn es einen Ausweg gibt, findet Cleve ihn bestimmt. Er hat große Erfahrung mit Gnadengesuchen ans FPB.« »Das wäre immerhin ein Anfang«, stimmte sie bei. »Wieviel Zeit haben wir denn?« »Morgen muß ich die Überzähligkeitsmeldung einreichen. Dann bleiben uns zwei Wochen, um zu entscheiden, welches… welches Kind.« Wieder nickte Marian. Reglos saßen sie da und ließen sich von der automatischen Steuerung ihres Jets ans Ziel tragen. Nach einer Weile griff Stewart Raley nach der Hand seiner Frau. Ihre Finger klammerten sich krampfhaft an ihn. »Ich weiß, welches Kind«, meldete sich von hinten eine Stimme. Beide drehten sich heftig um. »Lisa!« rief Marian entgeistert. »Ich habe vergessen, daß du hier bist! Du hast zugehört!« Lisas Wangen waren tränennaß. »Ja«, gab sie zu. »Und ich weiß, welches Kind es sein muß. Ich. Ich bin die Älteste. Also muß ich zur A-Adoption freigegeben werden. Nicht Penny oder Susie oder Mike, sondern ich.«
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»Halt den Mund, Lisa. Darüber werden dein Vater und ich beschließen. Höchstwahrscheinlich wird überhaupt nichts geschehen.« »Als Älteste muß ich zur Adoption freigegeben werden. Das weiß ich von meiner Lehrerin. Die Frau Lehrerin sagt, daß die kleineren Kinder stärker darunter leiden als die älteren. Und die Frau Lehrerin sagt auch, eine Adoption ist ganz prima, weil man dann von einer sehr reichen Familie angenommen wird und mehr Spielsachen bekommt und bessere Schulen besucht und – und so. Die Frau Lehrerin sagt, am A-Anfang ist man vielleicht ein bißchen t-traurig, aber dann geschehen so viele sch-schöne Dinge, daß man sehr glück-glücklich ist. Und überhaupt ist es eben so, sagt die Frau Lehrerin, und das ist Gesetz.« Stewart Raley hieb auf seinen Sitz. »Genug jetzt! Deine Mutter hat dir gesagt, daß sie und ich die Entscheidung treffen werden.« »Und außerdem«, fuhr Lisa störrisch fort und wischte sich das Gesicht mit einer Hand trocken, »außerdem mag ich gar nicht zu einer Drei-Kinder-Familie gehören. Alle meine Freundinnen kommen aus Vier-Kinder-Familien. Ich müßte wieder zu meinen schäbigen Freundinnen von früher zurückgehen, und ich…« »Lisa!« brüllte Raley erbittert. »Immerhin bin ich noch dein Vater! Oder muß ich dir das beweisen?« Schweigen. Marian stellte zur bevorstehenden Landung wieder auf Handsteuerung um. Sie nahm der Zwölfjährigen das Baby ab. Ohne einander anzusehen, kletterten sie alle aus dem Jet. Raley stellte noch rasch den mechanischen Diener von »Gartenarbeit« auf »Servieren« um. Dann folgte er dem rasselnden Roboter ins Haus. Leider hatte Lisa recht. Bei sonstiger Chancengleichheit wurde zumeist das älteste Kind zur Adoption vorgeschlagen. Bei ihm war die Gefahr eines seelischen Schadens am geringsten. Und das Familienplanungsbüro wählte die neuen Eltern bestimmt
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sorgfältig aus der Schar der Antragsteller aus und würde auch dafür sorgen, daß die Verpflanzung so glatt und schmerzlos wie möglich vor sich ging. Innerhalb der ersten Jahre sahen Kinderpsychologen zweimal wöchentlich nach dem Adoptivkind und sorgten für die höchstmögliche Anpassung an die neue Umgebung. Wer würden wohl ihre neuen Eltern sein? Vermutlich jemand wie Ed Greenes Schwager Paul, jemand, dessen Einkommen ihm bedeutend mehr Kinder erlaubte, als er hatte. Dafür gab es verschiedene Gründe: Eine nachlässige, unkonventionelle Frau, Sterilität eines der beiden Ehepartner, eine plötzlich notwendig gewordene Hysterektomie. Jedenfalls gab es immer einen Grund, weshalb ihnen jenes heißersehnte Prestige verwehrt blieb, das über jeden Zweifel erhaben war. Man mochte den schnellsten und teuersten Familien-Jet besitzen und ihn trotzdem auf Kredit gekauft und die Gehälter der nächsten zehn Jahre dafür verpfändet haben. Man konnte auch eine riesige Villa im Nobelviertel Manitoba haben, wo die Magnaten aus New York neben ihren Kollegen aus Chicago und Los Angeles wohnten; die Villen konnten mit den kostbarsten Hölzern vom Mars getäfelt und mit jeder erdenklichen Art von Spezialrobotern ausgestattet sein – das alles hatte nicht viel zu bedeuten. Vielleicht bezahlte man diesen Luxus mit einer Hypothek, die einen langsam, aber sicher abwürgte. Kinder jedoch waren etwas anderes. Sie waren unwiderruflich. Ein Kind konnte man nicht auf Kredit nehmen und auch nicht als Vorgriff auf einen erhofften wirtschaftlichen Aufschwung bekommen. Ein Kind hatte man nur dann, wenn das FPB mit den Erbanlagen und familiären Verhältnissen der Bewerber einverstanden war und entschied, daß das Einkommen ausreichte, um einem Kind alle jene Vorteile zu bieten, die ihm zustanden. Jedes Kind bedeutete für seine Eltern einen Zulassungsschein, den das FPB erst nach gründlichsten Erhebungen ausstellte. Das war Status. Wer einen Zulassungsschein für sechs Kinder aus der Briefta-
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sche ziehen konnte, brauchte bei Ratenkäufen keinerlei Referenzen oder Gehaltsbestätigungen vorzuweisen. Der Verkäufer notierte bloß Namen und Anschrift des Käufers und die Nummer des Zulassungsscheins, und damit hatte sich die Sache. Man verließ den Laden mit der gewünschten Ware. Während des ganzen Abendessens dachte Raley an nichts anderes. Er schämte sich doppelt für seine Degradierung bei den Solar-Mineralien, wenn er sich an seinen ersten Gedanken in jenem Monat erinnerte, an dem die Bewilligung für Mike eingetroffen war. Jetzt werden wir in den Country-Club aufgenommen! Man wird uns zum Beitritt auffordern, hatte er glückstrahlend gedacht. Natürlich hatte es ihn gefreut, daß sie ein weiteres Kind haben durften. Er und Marian liebten Kinder und zwar möglichst viele. Aber er hatte damals bereits drei Kinder gehabt. Das vierte jedoch bedeutete den großen Sprung nach oben. »Na schön, welcher Vater würde nicht so denken?« überlegte er. »Selbst Marian hat einen Tag nach Mikes Geburt begonnen, ihn ›unseren Country-Club-Sohn‹ zu nennen.« Das waren stolze, glückliche Tage gewesen! Er und Marian waren wie junge Monarchen auf dem Weg zur Krönung ausgeschritten. Und jetzt… Marian brachte Lisa zu Bett, als Raleys Anwalt Cleveland Boettiger eintraf. Die beiden Männer gingen ins Wohnzimmer und ließen sich vom mechanischen Diener einen Cocktail mixen. »Ich will Ihnen nichts vormachen, Steve«, sagte der Anwalt und breitete den Inhalt seiner Aktenmappe auf dem antiken Kaffeetisch aus, zu dem Marian eine Armeefeldkiste aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert geschickt umgebaut hatte. »Es steht nicht gut. Ich habe mir die jüngsten FPB-Statuten durchgelesen. Sie räumen Ihnen keine großen Chancen ein.« »Gibt es denn gar keinen Ausweg? Irgendeine Rettung?« »Genau darüber wollen wir uns jetzt unterhalten.«
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Marian kam ins Zimmer und kuschelte sich neben ihrem Mann aufs Sofa. »Diese Lisa!« sagte sie empört. »Beinahe hätte ich sie ohrfeigen müssen. Sie betrachtet mich bereits als Fremde, die ihr nichts zu befehlen hat.« »Lisa läßt sich nicht ausreden, daß sie es ist, die adoptiert werden muß«, erläuterte Raley. »Sie hat uns belauscht.« Boettiger griff nach einem voll beschriebenen Blatt und entfaltete es. »Lisa hat ganz recht. Sie ist die Älteste. Aber gehen wir erst mal die Daten durch. Ihr beiden habt auf Grund eines Anfangsgehalts von dreitausend Territ im Jahr geheiratet, dem Minimum für ein Kind. Das ist Lisa. Im Laufe von drei Jahren haben verschiedene Gehaltserhöhungen das Einkommen um zweitausend gesteigert. Das ist Penelope. Nach eineinhalb Jahren waren es neuerlich um zweitausend mehr. Susan. Voriges Jahr im Februar wurden Sie Abteilungsleiter für Ganymed. Jahresgehalt: Neuntausend. Mike. Heute wurden Sie in Ihre alte Gehaltsklasse von siebentausend zurückversetzt, das entspricht einem DreiKinder-Status. Sind meine Zahlen korrekt?« »Ja«, bestätigte Stewart. Die Geschichte meines Lebens, auf wenige Sätze zusammengedrängt, dachte er. Daß wir Penny beinahe durch eine Frühgeburt verloren hätten, bleibt dabei unerwähnt. Auch, daß der mechanische Diener der Gehschule einen Kurzschluß hatte und Susies Kopf mit sechs Stichen genäht werden mußte. Auch, daß… »Gut. Sehen wir uns also zuerst mal die Einkommenssituation an, Stew. Hat einer von euch beiden in nächster Zeit einen größeren Vermögenszuwachs zu erwarten, sagen wir, eine Erbschaft oder eine wesentliche Wertsteigerung eines vorhandenen Grundbesitzes?« Sie sahen einander an. »Stewart und ich stammen aus Familien innerhalb der Drei- bis Vier-Kinder-Grenze«, antwortete Marian. »Da ist nicht viel zu erwarten. Und wir selbst besitzen außer dem Haus und den Möbeln und dem Sport-Jet nur ein paar Pfandbriefe und einige Aktien der Solar-Mineralien, die heute kaum mehr
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wert sind als bei ihrer Anschaffung.« »Damit erledigt sich die Frage des Einkommens. Eine weitere Frage…« »Augenblick!« rief Raley. »Wieso erledigt sich damit die Frage des Einkommens? Angenommen, ich bekomme hier in New Hampshire eine Nebenbeschäftigung für die Abendstunden oder zum Wochenende?« »Die Zulassung für ein Kind stützt sich auf das Einkommen der normalen Dreißig-Stunden-Woche«, belehrte ihn der Anwalt. »Kann das erforderliche Einkommen nur durch zusätzliche Arbeit des Vaters erzielt oder erhalten werden, bekommt das Kind ihn zu selten zu sehen. Im Gesetz heißt das: ›Das Kind wird um die üblichen Privilegien einer normalen Kindheit betrogen.‹ Vergessen Sie nicht, daß unsere moderne Gesetzgebung den Kindern die allerhöchsten Rechte einräumt. Diese Vorschriften sind nicht zu umgehen.« Stewart Raley starrte die Wand an. »Wir könnten auswandern«, sagte er leise. »Weder auf der Venus noch in den anderen Kolonien gibt es Geburtenkontrolle.« »Sie sind achtunddreißig, Marian ist zweiunddreißig. Auf dem Mars und der Venus ist man nur an blutjungen Einwanderern interessiert. Ganz abgesehen davon, daß Sie kaufmännischer Angestellter sind und kein Ingenieur, Mechaniker oder Landwirt. Ich glaube kaum, daß Sie ein Dauervisum erhalten könnten. Nein. Die Einkommensklausel läßt keinen Weg für uns offen. Bliebe noch die Besondere Härte. Haben Sie zu diesem Titel irgendwelche Vorschläge zu machen?« Marian erkannte den Strohhalm und klammerte sich daran. »Da wüßte ich etwas. Bei Mikes Geburt mußte ich einen Kaiserschnitt haben.« »Hm.« Cleveland Boettiger griff nach einem anderen Dokument und vertiefte sich darin. »Laut ärztlichem Gutachten war daran die Lage des Ungeborenen schuld. Es spricht aber nichts dafür,
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daß dieser Kaiserschnitt weitere Geburten bedenklich erscheinen ließe. Gibt es nichts anderes? Zum Beispiel negative psychologische Gutachten über Lisa, aus denen hervorgeht, daß man ihr einen Wechsel des Elternhauses nicht zumuten darf? Denken Sie nach.« Sie dachten nach. Sie seufzten. Sie wußten nichts. »So ungefähr habe ich mir das vorgestellt, Stew. Leider sieht es nicht gut aus. Dann unterschreiben Sie hier und legen Sie das Formular morgen Ihrer Überzähligkeitsmeldung bei. Ausgefüllt habe ich es bereits.« »Was ist das?« fragte Marian und schielte ängstlich nach dem Vordruck, den er ihnen vorgelegt hatte. »Ein Ansuchen um Aufschub der Vollstreckung. Ich habe es mit Ihrer außergewöhnlichen beruflichen Tüchtigkeit begründet, die in Kürze wieder eine Beförderung erwarten läßt. Falls das FPB einen Erhebungsbeamten in Ihr Zentralbüro schickt, fallen wir damit natürlich um, aber das dauert. Auf jeden Fall gewinnen Sie einen Monat Zeit, um sich zu entscheiden, welches Kind Sie aufgeben wollen. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich bis dahin etwas: ein besserer Job in einer anderen Firma oder eine Beförderung.« »Bei den Zeiten bekomme ich nirgends einen besseren Job«, sagte Raley unglücklich. »Wie die Dinge liegen, muß ich froh sein, daß ich diesen habe. Und mit einer Beförderung ist innerhalb eines Jahres überhaupt nicht zu rechnen.« Aufheulende Düsen verkündeten, daß draußen auf dem Rasen eine Maschine gelandet war. »Besuch?« staunte Marian. »Wir erwarten niemand.« Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Besuch! Der fehlt uns gerade noch. Sieh nach, wer es ist, Marian, und schick ihn mit ein paar freundlichen Worten wieder fort.« Sie verließ das Wohnzimmer, winkte aber vorher noch dem
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mechanischen Diener zu, daß er Boettigers leeres Glas nachfüllen möge. Ihr Gesicht war starr vor Schmerz. »Warum ist das FPB nur ein solcher Paragraphenreiter!« stieß Stewart Raley hervor. »Die könnten einem Menschen doch auch einen gewissen Spielraum lassen!« »Das tun sie«, sagte der Anwalt und schob seine Unterlagen sorgfältig in seine Aktenmappe zurück. »Und wie sie das tun! Ist ein Kind einmal bewilligt und gezeugt worden, darf das Familieneinkommen um maximal neunhundert Territ sinken. Diese Konzession an einen unvorhergesehenen Rückschlag räumt das Büro ausdrücklich ein. Bei zweitausend allerdings…« »Und trotzdem ist es eine schreiende Ungerechtigkeit! Daß eine untergeordnete Dienststelle der Weltregierung das Recht hat, einem ein Kind wegzunehmen, das man in die Welt gesetzt und großgezogen hat…« »Reden Sie keinen Unsinn, Raley!« wies Boettiger ihn scharf zurecht. »Ich bin Ihr Anwalt und unterstütze Sie nach besten Kräften. Aber ich habe keine Lust, einem Gefasel zuzuhören, an das Sie selbst nicht glauben. Entweder hat eine Familienplanung auf weltweiter Grundlage einen Sinn oder nicht. Entweder wir schaffen die Voraussetzungen für Wunschkinder, denen nach menschlichem Ermessen ein vernünftiges, glückliches und erfülltes Leben bevorsteht, oder wir verfallen wieder in die unverantwortlichen Methoden des Kinderkriegens der früheren Jahrhunderte. Wir beide wissen, daß sich die Zustände auf unserer Welt durch vernünftige Familienplanung ungemein gebessert haben. Das Formblatt 36A ist das Symbol der Familienplanung – und die Überzähligkeitsmeldung ist eben die Kehrseite der Medaille. Eines ist ohne das andere nicht möglich.« Raley ließ den Kopf sinken und spreizte die Hände. »Dagegen wende ich ja auch nichts ein, Cleve. Es ist nur, daß…« »Daß Sie im Augenblick der Schuh drückt. Das tut mir leid. Aus ganzem Herzen. Aber mein Standpunkt ist folgender: Kommt ein Klient zu mir und beichtet, daß er nicht aufgepaßt hat und mit
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seinem Privatjet über Sperrgebiet geflogen ist, dann werde ich all meine Gesetzeskenntnisse aufbieten und keinen noch so üblen Trick auslassen, um eine möglichst geringe Strafe für ihn zu erwirken. Versteigt er sich aber zu der Behauptung, daß die Verkehrsgesetze nichts taugen, dann reißt mir die Geduld, und ich sage ihm, er soll still sein. Dasselbe gilt für die Paragraphen der Geburtenkontrolle: Es sind Vorschriften, die den Fortpflanzungsverkehr der menschlichen Rasse in geregelte Bahnen lenken.« Die Stimmen im Flur verstummten plötzlich. Sie hörten Marian einen sonderbaren Laut ausstoßen, halb Schrei, halb Gelächter. Beide Männer sprangen auf und rannten zu ihr. Sie stand im Flur neben Bruce Robertson. Ihre Augen waren geschlossen, und sie stützte sich an die Wand, als befürchtete sie, sonst umzufallen. »Tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe, Stew«, sagte der Buchillustrator hastig. Er war sehr blaß. »Ich möchte nämlich gerne Lisa adoptieren. Frank Tyler hat mir gesagt, was heute geschehen ist.« »Du? Du möchtest…? Aber du bist doch Junggeselle!« »Stimmt, aber mein Einkommen berechtigt mich zu fünf Kindern. Ich dürfte Lisa adoptieren, wenn ich nachweise, daß ich ihr ein ebenso gutes Elternhaus bieten kann wie ein Ehepaar. Und das kann ich. Ich möchte nämlich gar nichts weiter, als daß ihr Name offiziell in Robertson abgeändert wird. Wie sie sich in der Schule oder bei ihren Freundinnen nennt, ist mir einerlei. Und sie soll weiterhin in deinem Hause bleiben. Ich komme nur für ihren Unterhalt auf. Das FPB würde das bestimmt als beste Lösung betrachten.« Raley sah Boettiger gespannt an. Der Anwalt nickte. »Richtig. Wenn die leiblichen Eltern einen vernünftigen Vorschlag zur Adoption machen, wird er gerne angenommen. Aber was hätten Sie davon, junger Mann?« »Ein Kind. Offiziell gesehen«, sagte Robertson. »Ein Kind, über
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das ich reden und mit dem ich angeben könnte, wenn die anderen Männer mit ihren Kindern prahlen. Ich habe die Rolle des ewigen kinderlosen Junggesellen satt. Ich möchte auch jemand sein.« »Aber vielleicht willst du selbst eines Tages heiraten«, meinte Raley und legte den Arm um seine Frau, die einen tiefen Seufzer ausgestoßen und sich ihm zugewandt hatte. »Ganz bestimmt sogar. Und dann wirst du eigene Kinder haben.« »Eben nicht«, sagte Bruce Robertson verlegen. »Bitte, macht keinen Gebrauch davon, aber meine Familie leidet unter einer Erbkrankheit: Amaurotische Idiotie. Wenn ich überhaupt heiraten sollte, dann nur eine unfruchtbare Frau. Ich glaube für mich nicht an eine Ehe. Bestimmt aber werde ich niemals Kinder haben. Diese Gelegenheit wäre meine einzige Chance.« »O Liebling!« schluchzte Marian selig in Raleys Armen. »Es wird klappen. Es wird wirklich klappen!« »Ich hätte nur eine einzige Bitte«, fuhr der Buchillustrator verlegen fort. »Daß ich ab und zu vorbeikommen darf, sozusagen, um Lisa zu besuchen und zu sehen, wie es ihr geht.« »Ab und zu!« brüllte Raley begeistert. »Jeden Abend kannst du kommen. Du gehörst ja dann quasi zur Familie. Was heißt quasi? Du gehörst zur Familie! Was heißt gehörst? Du bist die Familie!« Ende
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