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Wie schon in seinem ersten Buch An den Grenzen des Wissens unternimmt John Horgan einen Streifzug durch verschiedene Wissenschaften: Diesmal durch jene Disziplinen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Geist und Psyche des Menschen beschäftigen. Der Streifzug führt von der Psychologie über die Neurologie, die Pharmakologie, die Evolutionsbiologie bis zur Genetik. Die Ansätze und Methoden dieser Disziplinen werden bündig vorgestellt, die in ihnen gewonnenen Kenntnisse zentralen Fragen gegenüber gestellt, die um die immer noch ungelösten Rätsel des menschlichen Geistes und des psychischen Innenlebens kreisen. John Horgan ist Wissenschaftsjournalist des Scientific American. Im Fischer Taschenbuch Verlag liegt vor: ›An den Grenzen des Wissens. Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften‹ (Bd. 14364). Unsere Adresse im Internet: www. fischer-tb.de
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John Horgan
Der menschliche Geist Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt
Fischer Taschenbuch Verlag
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Ungekürzte Ausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, November 2001 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Literaturverlages, München Die amerikanische Ausgabe erschien 1999 unter dem Titel ›The Undiscovered Mind: How the Human Brain Defies Replication, Medication, and Explanation‹ bei The Free Press, New York © 1999 John Horgan Für die deutsche Ausgabe: © 2000 Luchterhand Literaturverlag GmbH, München Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-15139-2
Ungekürzte eBook-Ausgabe mit freundlicher Genehmigung des Autors Erscheint in der Reihe: Eine Welt des Wissens - Eine Welt des Friedens © 2003 E.V.C. Elaboraziones, Vatican City Diese Ausgabe ist unverkäuflich.
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Für meinen Vater
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[leere Seite]
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Inhalt
EINLEITUNG: »ICH-ZEUGE« 11
Naturwissenschaft versus Wissenschaft vom menschlichen Geist 17 Wo bleibt das Positive? 24 1. DIE »ERKLÄRUNGSLÜCKE« DER NEUROWISSENSCHAFT 30
Das Dilemma des Reduktionismus 34 Patricia Goldman-Rakics Erklärungslücke 41 Emotionen erkunden 48 Gagesche Neurowissenschaft 53 Die Anfälligkeit der Psychologie für Moden 58 Psychoanalyse und Seehasen 63 Freud als Neurowissenschaftler 70 2. WARUM FREUD NICHT TOT IST 73
Ziegen, Schafe und der Ödipuskomplex 78 »Crews Missiles«» 87 Der Skeptiker Steven Hyman 96 Freud als Erzähler 102 Freuds versöhnender Pessimismus 108 3. PSYCHOTHERAPIE UND DIE DODO-HYPOTHESE 110
Psychoanalytiker bewerten sich selbst 117 Die Dodo-Hypothese - Teil I 120 Psychotherapie als Placebo 125 -7
Therapien im Hier und Jetzt 131 Der Mythos von der Sachkompetenz 134 Ein Rundgang durchs Psychiatrische Museum 137 4. FLUCTIN UND ANDERE PLACEBOS 146
Fieber, Koma und andere Therapien 149 Peter Kramer lauschen 158 Die Dodo-Hypothese - Teil II 167 Vom Placebo zum Allheilmittel 172 Placebos zur Behandlung von Depressionen 177 Die Renaissance der Elektroschocktherapie 181 In der EST-Abteilung 186 Zur Verteidigung der EST und anderem 190 5. GEN-MAGIE 194
Die Minnesota-Zwillinge 200 Die Fahndung nach Psychosegenen 207 Wird Schizophrenie durch Prionen verursacht? 211 Die Alkoholspur 214 Die Glockenkurve und der Flynn-Effekt 217 Auf der Suche nach Intelligenzgenen 225 Das Temperament von Jerome Kagan 229 Das andere genetische Paradigma 233 6. DARWIN, RETTE UNS! 236
Steven Pinkers Umgang mit Wörtern 245 Was Noam Chomsky wirklich denkt 250 Ist Altruismus ein Instinkt? 252 Das Syndrom vom bösen Vater 258
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Verhaltensgenetische Erklärungen vermeiden 261 Darwinistische Kulturalisten 264 Die Hypothese der Geburtenfolge 266 Darwin und Freud 270 Unsere unwahrscheinliche Vergangenheit und Zukunft 273 7. KÜNSTLICHER ALLTAGSVERSTAND 279
Herbert Simons Prophezeiungen 283 Die Revanche des Philosophen 293 Douglas Lenats Angriff auf den Alltagsverstand 298 Rodney Brooks sucht nach dem Lebenselixier 304 KI und Psychoanalyse 310 Die Bedeutung des Turing-Tests 313 8. DAS RÄTSEL BEWUSSTSEIN 319
Christof Kochs Bewußtsein 337 Roger Penroses Quantensprung 331 Thermostate mit Bewußtsein 335 Bewußtsein - wegerklärt 337 Der Aufstieg der »Hysteriker« 343 Der mystische Weg zur Erkenntnis 347 Brian Josephsons »Tunnelkontakt« 352 EPILOG: DIE ZUKUNFT DER WISSENSCHAFTLICHEN ERFORSCHUNG DES MENSCHLICHEN GEISTES 357
Der Mythos vom wissenschaftlichen Erlöser 359 Die Gefahren der Wissenschaftsgläubigkeit 361 Die Sehnsucht nach einer Offenbarung 367
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ANHANG 373
Anmerkungen 375 Literaturhinweise 412 Danksagung 414 Register 415
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EINLEITUNG »ICH-ZEUGE« Die Naturwissenschaften entwickelten sich in genau umgekehrter Reihenfolge, als man es hätte erwarten sollen. Der Bereich, der uns am fernsten lag, wurde als erstes der Herrschaft des Gesetzes unterworfen, dann, nach und nach, alles Näherliegende: zuerst der Himmel, dann die Erde, dann das Tier- und Pflanzenreich, anschließend der menschliche Körper und zu guter Letzt (und bis jetzt äußerst unvollkommen) der menschBERTRAND RUSSELL1 liche Geist.
I
m Verlauf der letzten Jahrzehnte haben Anthropologen eine Dokumentationsmethode entwickelt, bei der sie die kulturellen, intellektuellen und emotionalen Präferenzen offenlegen, die ihre Beobachtungen verzerren könnten. Clifford Geertz, Anthropologe am Institute for Advanced Study in Princeton, der zu den Begründern dieses Ansatzes gehörte, hat ihn »IchZeuge-Sein« (»I-witnessing«) genannt.2 Indem Ich-Zeugen ihre subjektiven Vorlieben offenbaren und dadurch implizit zu verstehen geben, daß jeglicher Anspruch auf Objektivität naiv, wenn nicht unlauter ist, hoffen sie, ein größeres Vertrauen beim Leser zu gewinnen. Allerdings führt dies häufig dazu, daß der Leser - der sich vermutlich mehr für das Sexualleben der Fidschianer als für das Heimweh des Harvard-Doktoranden interessiert - gelangweilt ist und vor allem, daß sein Argwohn hinsichtlich der Absichten des Erzählers nicht zerstreut, sondern geradezu angefacht wird. Bekenntnisse sind für Wissenschaftler genauso gefährlich wie für Politiker und Liebende - oder auch für Wissenschaftsjournalisten. Dennoch fühle ich mich genötigt, dieses Buch mit einem Ich-Zeugnis zu beginnen, weil sein Gegenstand - mehr als beispielsweise die Elementarteilchenphysik oder die Chaostheorie - Fragen hinsichtlich der Grenzen der Objektivität aufwirft. Anfang der neunziger Jahre, als ich bereits zehn Jahre - 11
lang als Wissenschaftsjournalist arbeitete, störte mich die Art und Weise zunehmend, in der die meisten Naturwissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten einschließlich meiner selbst die Wissenschaft präsentierten. Aus verständlichen Gründen konzentrieren sich sowohl Forscher als auch Journalisten auf die Grenzgebiete der wissenschaftlichen Forschung, auf denen die meisten - echten oder vermeintlichen - Fortschritte gemacht werden. Diese Konzentration führt jedoch zu einer Überzeichnung der Leistungsfähigkeit und der positiven Ergebnisse in den Wissenschaften. Paradoxerweise bestätigt sie auch die postmoderne Kritik, die Wissenschaft könne keine absoluten, dauerhaften Wahrheiten hervorbringen, weil alle Theorien nur vorläufig gültig seien und sich ständig wandelten. All die Wissenschaftsgebiete, in denen nur langsame oder gar keine Fortschritte gemacht werden - entweder weil die Hauptprobleme bereits gelöst wurden und keine fundamentalen Fragen mehr geblieben sind oder weil die Probleme allen Angriffen widerstanden haben -, werden übersehen. In meinen Beiträgen für den Scientific American (dt. Spektrum der Wissenschaft), meinen ehemaligen Arbeitgeber, befaßte ich mich immer weniger mit den Errungenschaften der Wissenschaft und zunehmend mit ihren Beschränkungen. Mein Interesse an den Grenzen der Wissenschaft gipfelte in dem Buch An den Grenzen des Wissens, das 1997 erschien. Dort untersuchte ich die Kerngebiete der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung, wie etwa Elementarteilchenphysik, Kosmologie und Evolutionsbiologie. Ich behauptete, diese Disziplinen würden zu Opfern ihrer phänomenalen Erfolge. Die Physiker würden niemals über die allgemeingültigen Theorien der Quantenmechanik und die Relativitätstheorie, die zusammen sämtliche Kräfte und Teilchen der Natur beschreiben, hinausgelangen; die Kosmologen würden nie mehr etwas so Tiefsinniges zustande bringen wie das vereinheitli- 12
chende Modell der Urknalltheorie; die Biologen könnten nicht hoffen, jemals die Darwinsche Evolutionstheorie und die DNA-basierte Genetik zu übertreffen. In den Kapiteln »Das Ende der Sozialwissenschaften« und »Das Ende der Neurowissenschaften« erörterte ich eine andere These: Wissenschaftler, die das menschliche Bewußtsein erklären wollen, sind womöglich von dessen schierer Komplexität überfordert. Hierbei wie bei anderen Überlegungen ließ ich mich von Günther Stent von der Universität von Kalifornien in Berkeley anregen.3 In seinen zukunftsweisenden Büchern The Coming of the Golden Age und Paradoxes of Progress behauptete Stent, die Naturwissenschaft sei dazu verdammt, ein Opfer sowohl ihres Erfolgs als auch ihrer Grenzen zu werden. Stent erkannte die Bedeutung der Neurowissenschaft. Dies veranlaßte ihn sogar dazu, in den siebziger Jahren von der Molekularbiologie auf dieses Fachgebiet umzusatteln, und später fungierte er als Leiter der Abteilung Neurobiologie der National Academy of Sciences. Doch Stent schätzte die Fähigkeit der Neurowissenschaft, Bewußtsein und andere ungelöste Fragen des menschlichen Geistes* zu erklären, pessimistisch ein. Er vermutete, daß »das Gehirn letzten Endes nicht in der Lage sein wird, eine Erklärung von sich selbst zu liefern.«4 Einige Kritiker meines Buchs An den Grenzen des Wissens räumten zwar ein, die Elementarteilchenphysik, die Kosmologie und die Evolutionsbiologie hätten möglicherweise in der Tat ihren Zenit überschritten, meine Analyse der Hirnforschung fanden sie indes – gelinde gesagt – nicht überzeugend. Lewis Wolpert, eine Säule der britischen Biologie, fühlte sich durch meine Darstellung der Neurowissenschaft persönlich angegriffen.5 Als ich ihm bei einer Wissenschaftskonferenz in London im Jahr 1997 vorgestellt wurde, geriet er so in Rage, * Der englische Begriff mind wird im folgenden meist mit »Geist« wiedergegeben, gelegentlich aber auch mit »Psyche« und »Gehirn«. (A.d.Ü.) - 13
daß ich für einen spannungsgeladenen Augenblick fürchtete, er würde gleich auf mich einprügeln. Mit knallrotem Gesicht fauchte er, das Kapitel über Neurowissenschaft in An den Grenzen des Wissens sei »entsetzlich! absolut entsetzlich!«. Es befasse sich nicht überwiegend mit Neurowissenschaftlern, die ihr Metier von der Pike auf gelernt hätten, sondern mit Wissenschaftlern, die erst spät auf dieses Gebiet umgesattelt hätten, wie Gerald Edelman, einen ausgebildeten Immunologen, und Francis Crick, der gelernter Physiker sei! Und wie könne ich überhaupt schreiben, die Neurowissenschaft gehe ihrem Ende zu, wo sie doch offenkundig gerade erst beginne? Wolpert stolzierte davon, bevor ich antworten konnte. Wenn wir unser Gespräch hätten fortsetzen können, hätte ich versucht, ihn mit der Bemerkung zu besänftigen, daß sein Einwand gegen mein Buch nicht völlig unberechtigt sei. Tatsächlich war ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß meine Behandlung der Wissenschaft vom menschlichen Geist in Anbetracht der enormen Breite und Bedeutung des Themas unzureichend war. An den Grenzen des Wissens konzentrierte sich in erster Linie auf Versuche, das unmittelbarste und unbestimmteste aller mentalen Phänomene, nämlich das Bewußtsein, zu erklären. Bewußtsein ist wohl das Problem des Geistes, das die größte philosophische Tragweite hat, aber es ist auch das am schwersten zu packende Problem. Die meisten Hirnforscher beschäftigen sich mit anderen, konkreteren Fragestellungen: Was geschieht im Gehirn, wenn wir sehen, hören, lernen, logisch denken, Emotionen empfinden, Willensentschlüsse fassen oder handeln? Weshalb leiden so viele Menschen an psychischen Erkrankungen wie Depression und Schizophrenie ? Wie wirksam sind die Medikamente, Psychotherapien und andere Heilverfahren, die zur Behandlung dieser verheerenden Leiden eingesetzt werden? Auf welche Weise wird die Persönlichkeit des einzelnen durch das Zusammenwirken von Erbanlage und Umwelt geformt ? Wel- 14
che Rolle spielt die natürliche Selektion bei der Prägung unseres Gehirns und unserer Psyche? In welchem Ausmaß werden wir durch unser biologisches Erbe bestimmt? Lassen sich die Funktionen des menschlichen Geistes durch einen Computer kopieren? Mein Argument, die Wissenschaft habe ihren Zenit überschritten, basierte auch auf einer Definition der Wissenschaft, die implizit Gebiete, die sich mit der Erforschung des Geistes befassen, abwertet und Physik und Kosmologie überbewertet. Nach dieser Definition, die ich von den Elementarteilchenphysikern Steven Weinberg und Murray Gell-Mann übernommen habe, lassen sich wissenschaftliche Theorien nach dem Umfang ihres Gültigkeitsbereichs in Raum und Zeit in eine Rangfolge einordnen. Die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativitätstheorie sind die fundamentalsten Theorien, weil sie, soweit wir wissen, für das gesamte Universum gelten. Innerhalb der Biologie sind die Darwinsche Evolutionstheorie und die DNA-gestützte Genetik die fundamentalsten Theorien, weil sie - wiederum soweit wir wissen - für alle Organismen gelten, die jemals auf der Erde gelebt haben. Gebiete wie Psychologie, Psychiatrie und Verhaltensgenetik befassen sich dagegen mit einem einzigen Organismus, der erst seit ein paar hunderttausend Jahren auf der Erde lebt. Andererseits sind diese Disziplinen, die uns helfen, unseren Geist und unser Verhalten zu verstehen, für die meisten von uns bedeutungsvoller als Physik oder Kosmologie. Wie schrieb doch der Arzt Sherwin Nuland in seiner Betrachtung über die Sterblichkeit Wie wir sterben: »Mir ist der Mikrokosmos wichtiger als der Makrokosmos; mich interessiert das Leben eines Menschen mehr als das Verlöschen eines Sterns oder das Vorüberziehen eines Kometen. [...] Was mich fasziniert, ist die Conditio humana, nicht die Struktur des Kosmos.«6 So narzißtisch, wie wir nun einmal sind, gibt es kein Thema, das uns mehr interessierte als wir selbst. - 15
Die wissenschaftliche Erforschung des Geistes ist jedoch nicht nur bedeutungsvoll. Auch in einem streng praktischen Sinne besitzt die Erforschung des Homo sapiens von allen wissenschaftlichen Unternehmungen die größte Tragweite. Selbst pseudowissenschaftliche Erklärungen der menschlichen Natur haben die Macht, den Lauf der Geschichte zu verändern. Die Bewegungen, die von Karl Marx und Sigmund Freud ins Leben gerufen wurden - oder auch von Jesus, Buddha und Mohammed, deren Theologien ebenfalls implizite Theorien über die menschliche Natur enthalten -, haben dies gezeigt. Krieg, Armut, Umweltverschmutzung, Verbrechen, Rassismus, ja praktisch alle gesellschaftlichen Übel haben ihren Ursprung zumindest teilweise in unserem Gehirn. Das gleiche gilt für Depression, Angststörungen, Schizophrenie und Alkoholismus. Laut Auskunft der Weltgesundheitsorganisation leiden über 1,2 Milliarden Menschen an neuropsychiatrischen Erkrankungen oder Verhaltensstörungen.7 Die neuropsychiatrischen Erkrankungen verursachen allein in den Vereinigten Staaten jährliche Kosten von über dreihundert Milliarden Dollar;8 das sind mehr als die geschätzten Ausgaben für Krebsund Herzerkrankungen sowie AIDS zusammengenommen. Auch die Lösungen für diese Probleme werden vielleicht aus dem menschlichen Geist hervorgehen. Wenn Neurowissenschaftler, Psychologen, Forscher auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) und andere Erforscher der Psyche ihre Träume verwirklichen, werden wir eines Tages vielleicht in einer Kultur leben, die von wahren Theorien der menschlichen Natur geprägt sein wird. Wir werden uns nicht länger an der Anlage-Umwelt-Kontroverse oder dem Geist-Körper-Problem aufreiben, weil sie zu jedermanns Zufriedenheit gelöst sein werden. Wir werden vielleicht genug über unsere Natur wissen, um ein politisches System zu konzipieren, das Elend minimiert und Glück maximiert. Wir werden vielleicht über - 16
Medikamente verfügen, die Hoffnungslosigkeit vertreiben und das Erinnerungsvermögen verbessern, über Gentherapien, die manisch-depressive Erkrankungen heilen und die Intelligenz optimieren. Wir werden vielleicht von Robotern bedient werden, die so intelligent und liebenswürdig wie Commander Data aus der Serie Star Trek sind. Wir werden vielleicht zu Robotern werden, die so intelligent und liebenswürdig wie Commander Data sind. Aus all diesen Gründen beschloß ich, ein weiteres Buch zu schreiben, das die wissenschaftliche Erforschung des Geistes sehr viel eingehender untersuchen sollte, als ich dies in An den Grenzen des Wissens getan hatte. Das Buch sollte sich nicht nur mit den wissenschaftlichen Ansätzen zur Erklärung der Eigenschaften des Geistes einschließlich des Bewußtseins befassen; es sollte auch Versuche, die Psyche von Personen, die an seelischen Störungen leiden, medikamentös zu behandeln und die Eigenschaften des Gehirns in Maschinen zu kopieren, einer kritischen Würdigung unterziehen.
Naturwissenschaft versus Wissenschaft vom menschlichen Geist In An den Grenzen des Wissens prägte ich den Ausdruck »ironische Wissenschaft« für eine Wissenschaft, die die Wirklichkeit niemals richtig durch Erkenntnis erfaßt und sich folglich nicht der Wahrheit annähert. Die ironische Wissenschaft stellt keine präzisen Tatsachenbehauptungen über die Welt auf, die empirisch bestätigt oder widerlegt werden können. Sie ist daher näher mit der Philosophie und der Literaturtheorie oder gar der Literatur verwandt als mit der echten Naturwissenschaft. In den sogenannten exakten Wissenschaften, wie etwa der Physik, der Astronomie und der Chemie, taucht sie plötzlich auf. (Ein unverkennbares Beispiel für ironische Wissen- 17
schaft ist eine Theorie, welche die Existenz weiterer Welten neben dem bekannten Universum postuliert.) Doch sie dominiert vor allem in den Gebieten, die sich mit dem menschlichen Geist befassen. Die wissenschaftliche Erkundung des menschlichen Geistes stellt Forscher, die nach exakten, dauerhaften Wahrheiten suchen, vor eine Herausforderung ganz eigener Art. Der Evolutionsbiologe Ernst Mayr von der Harvard-Universität hat darauf hingewiesen, daß kein Zweig der Biologie es mit der Genauigkeit und Allgemeingültigkeit der Physik aufnehmen könne, weil sämtliche Lebewesen, anders als etwa Elektronen und Neutronen, einzigartig seien.9 Doch die Unterschiede zwischen beispielsweise zwei Bakterien der Art Escherichia coli oder zwei Blattschneiderameisen sind belanglos im Vergleich zu den Unterschieden zwischen zwei beliebigen Menschen, seien sie auch genetisch identisch. Und auch jedes einzelne Gehirn macht möglicherweise drastische Veränderungen durch, je nachdem, ob sein Besitzer verprügelt wird, das Alphabet lernt, Also sprach Zarathustra liest, LSD nimmt, sich verliebt, sich scheiden läßt, eine jungianische Traumtherapie absolviert oder einen Schlaganfall erleidet. Die Variabilität und die Formbarkeit des Gehirns erschweren die Suche nach allgemeingültigen Prinzipien der menschlichen Natur enorm. Die Erforschung des Gehirns hat bislang auch nicht jene Arten von praktischen Nutzanwendungen hervorgebracht, die zweifelsfrei für ein bestimmtes Paradigma sprächen. Physiker können mit Lasern, Transistoren, Radar, Düsenflugzeugen, Atombomben prahlen. Biologen können mit Impfstoffen, Antibiotika, der Klonierung und anderen Wundern auftrumpfen. Die Nebenprodukte der wissenschaftlichen Erforschung des Gehirns nehmen sich dagegen viel bescheidener aus: kognitive Verhaltenstherapie, Fluctin, Elektroschocktherapie, vermeintliche genetische Marker für Homosexualität, IQ-Tests und Schachcomputer. - 18
Der Philosoph Thomas Kuhn behauptete, moderne wissenschaftliche Theorien seien nicht wahrer als die Theorien, die sie abgelöst hätten, sondern bloß anders.10 Kuhns These trifft auf bestimmte wissenschaftliche Fachgebiete wie etwa die Astronomie einfach nicht zu. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert glaubten die Astronomen, daß die Lichtflekken im Himmel, die als Nebel bezeichnet wurden, Gaswolken in unserer Galaxie, der Milchstraße, seien. Als sich dann das Auflösungsvermögen der Teleskope verbesserte, erkannten die Astronomen, daß jeder Nebel eine eigene Galaxie ist, die weit jenseits der Grenzen der Milchstraße liegt. Das ist nicht bloß eine andere Sichtweise; es ist die richtige Sichtweise. Doch Kuhns Modell des wissenschaftlichen Nicht-Fortschritts paßt recht gut auf die wissenschaftliche Erforschung des Gehirns. Clifford Geertz wies unlängst darauf hin, daß die Psychologie »durch grundverschiedene Vorstellungen dessen, ›worum‹ es ihr geht - welche Erkenntnisse, über welche Wirklichkeit, zu welchem Zweck sie gewinnen soll -, sich in grundverschiedene Richtungen entwickelt hat. [...] Paradigmen, völlig neue Herangehensweisen an die Welt der Dinge, entstehen nicht alle hundert, sondern alle zehn Jahre; ja, manchmal hat man fast den Eindruck, sie änderten sich im monatlichen Abstand.«11 Theorien der menschlichen Natur sterben niemals völlig aus; sie kommen nur in und aus der Mode. Oftmals werden alte Ideen einfach in schmackhafteren Formen neu verpackt. Die Phrenologie wird als Modularitätstheorie der kognitiven Psychologie wiedergeboren. Die Soziobiologie wandelt sich zur Evolutionspsychologie. Die von ihren anstößigen politischen Implikationen (weitgehend) gereinigte Eugenik schlüpft ins Gewand der Verhaltensgenetik. Auch ältere Behandlungstechniken bestehen fort. Schockbehandlungen und Lobotomien, die in den letzten Jahrzehnten weitgehend durch Fluctin - 19
und Lithium verdrängt worden waren, werden bei schweren Psychosen noch immer verordnet. Ein Paradigma, das ein unglaubliches Beharrungsvermögen bewiesen hat, ist die Psychoanalyse, die Sigmund Freud vor einhundert Jahren erfand. Obgleich das Ansehen der Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten gesunken ist, machen nach wie vor Millionen von Menschen eine Psychotherapie, die, zumindest indirekt, auf der Lehre Freuds basiert. Zudem brachten viele Intellektuelle - darunter nicht nur französische Philosophen, sondern auch Neurowissenschaftler, KI-Forscher und andere, die es vermeintlich besser wissen sollten - ihre Bewunderung für die Psychoanalyse zum Ausdruck. Weshalb ist die Psychoanalyse noch immer so einflußreich? Freud-Gegner beantworten diese Frage, indem sie Freud als Sektenführer anprangern, der sich auf nichts so gut verstanden habe wie auf die Werbung in eigener Sache. FreudAnhänger huldigen ihm als Genie, dessen Erkenntnisse über die Psyche, obgleich empirisch nur schwer zu überprüfen, dennoch intuitiv plausibel erscheinen. Beide Auffassungen sind vertretbar, doch beide übersehen auch den entscheidenden Faktor, der dem Überdauern der Psychoanalyse zugrunde liegt: die Unfähigkeit der Wissenschaft, eine zweifelsfrei überlegene Erklärung für die Psyche und ihre Störungen zu liefern. Die Freudianer können keine eindeutigen Beweise für die Überlegenheit ihres Paradigmas vorlegen, doch das gleiche gilt für die Verfechter modernerer Paradigmen. Die Antifreudianer behaupten in der Tat, die Psychoanalyse stehe wissenschaftlich auf ebenso tönernen Füßen wie das Phlogiston, der Stoff, von dem die Physiker im achtzehnten Jahrhundert glaubten, er würde bei allen Verbrennungsvorgängen freigesetzt. Doch die Physiker erörtern heute die Phlogiston-Hypothese deshalb nicht mehr, weil sie dank der Entdeckung des Sauerstoffs und weiterer Fortschritte in der Chemie und der Thermodynamik als gänzlich überholt gilt. - 20
Dagegen haben hundertjährige Forschungsanstrengungen in der Psychiatrie, der Genetik, der Neurowissenschaft und den angrenzenden Gebieten kein so allgemeingültiges Paradigma hervorgebracht, daß Freud ein für allemal erledigt wäre. Wenn die Psychoanalyse dem Phlogiston entspricht, wie die Antifreudianer behaupten, dann gilt dies auch für ihre selbsternannten Nachfolgerinnen. Um mit Thomas Kuhn zu sprechen: Diese Alternativen sind nicht wahrer oder besser, sondern einfach anders. Die Freiheit, gegensätzliche Standpunkte zu vertreten, ist in der Wissenschaft genauso unentbehrlich wie in der Rechtsprechung. Doch die Zerstrittenheit unter den Wissenschaftlern, die sich mit der Erforschung des Geistes befassen, unterscheidet diese Wissenschaften von anderen. Die Forscher sind, wenn sie das von ihnen bevorzugte Paradigma anpreisen, häufig mit weniger Ernsthaftigkeit und Begeisterung bei der Sache, als wenn sie die Paradigmen anderer heruntermachen. So verhöhnt ein Neurowissenschaftler die Evolutionspsychologie als ein Sammelsurium von kasuistischen Fallgeschichten, ein Anhänger der Elektroschocktherapie stellt die sexuellen Nebenwirkungen von Fluctin heraus, ein Verhaltensgenetiker verspottet die Roboterphantasien von Forschern auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Selbst unter Forschern, die sich für ein und dasselbe Paradigma einsetzen, kann das Kreuzfeuer tödlich sein. Ich habe diesen internen Konflikt für meine Zwecke ausgeschlachtet. Einige Leser mögen es unfair und widersprüchlich finden, daß ich beispielsweise die Verhaltensgenetik in einem Kapitel kritisiere und mich dann im nächsten Kapitel auf sie berufe, um die Evolutionspsychologie in Frage zu stellen. Doch bei Theorien über die menschliche Natur sollten die umgekehrten Beweisanforderungen gelten als vor Gericht. Theorien sollten so lange als schuldig - das heißt falsch oder zweifelhaft - angesehen werden, bis ihre Richtigkeit über jeden - 21
berechtigten Zweifel hinaus erwiesen ist. Deshalb sollte es Kritikern erlaubt sein, eine Theorie in Zweifel zu ziehen, indem sie eine entgegengesetzte Hypothese aufstellen, die ebenso zweifelhaft sein mag. Zudem ist die Tatsache, daß sachkundige Wissenschaftler so unterschiedliche, sich widersprechende Paradigmen vertreten, Grund für Skepsis gegenüber allen Paradigmen. Wissenschaftler verteidigen die Neurowissenschaft und verwandte Gebiete vielfach mit der Bemerkung, daß sie »noch am Anfang stehe«, wie etwa mein britischer Gegner Lewis Wolpert. Tatsächlich hat die Neurowissenschaft eine Geschichte, die mit der anderer wissenschaftlicher Disziplinen vergleichbar ist. Im fünften Jahrhundert vor Christus stellte Hippokrates die Hypothese auf, das Gehirn sei beim Menschen Sitz der Wahrnehmung und des Denkens,12 und Galen bestätigte diese Annahme sechs Jahrhunderte später. Luigi Galvani zeigte im späten achtzehnten Jahrhundert, daß Nerven elektrische Ströme aussenden und darauf ansprechen. Etwa zur selben Zeit erfand Franz Joseph Gall die Phrenologie, die Vorläuferin der Modularitätstheorie des Geistes, die heute von Kognitionswissenschaftlern und anderen gepriesen wird. Francis Galton versuchte im neunzehnten Jahrhundert, das AnlageUmwelt-Problem durch Untersuchung eineiiger Zwillinge zu lösen. William James schrieb 1890 die Principles of Psychology. Und Freud begann wenig später mit der Darlegung seiner psychoanalytischen Theorie, nachdem er bereits eine solide Monographie über Sprachstörungen, die durch Hirnschäden verursacht werden, geschrieben hatte. Unterdessen enträtselten Camillo Golgi, Ramon y Cajal und andere Aufbau und Funktion der Nervenzellen. Die Behauptung, die Neurowissenschaft »stehe an ihrem Anfang«, fußt nicht auf dem tatsächlichen Alter der Disziplin, sondern auf ihrer Produktivität. Wolpert räumte dies in seinem 1993 erschienenen Buch The Unnatural Nature of - 22
Science auch ein. Er schrieb, die wissenschaftliche Erforschung des Geistes befinde sich im Vergleich zu ausgereiften wissenschaftlichen Disziplinen wie der Kernphysik und der Molekularbiologie noch immer in einem »primitiven« Zustand. Als Beleg führte er die Unfähigkeit der Neurowissenschaftler an, die Grundkonzepte der Psychoanalyse zu bestätigen beziehungsweise zu widerlegen: »Es ist gegenwärtig unmöglich, ein Experiment auf einer niedrigen Organisationsebene - das heißt der Ebene der Hirnfunktion oder der Neurophysiologie durchzuführen, das die psychoanalytische Theorie widerlegen würde.« Dennoch lehnte Wolpert die pessimistische Auffassung entschieden ab, daß »menschliches Verhalten und Denken niemals jener Art von Erklärungen zugänglich sein werden, die in den physikalischen und biologischen Wissenschaften so erfolgreich sind«. Er behauptete: »Wir wissen einfach nicht, was wir nicht wissen, und folglich, was die Zukunft bringen wird.«13 Ich stimme mit Wolpert überein, was den gegenwärtigen »primitiven« Zustand der Neurowissenschaft und anderer Disziplinen, die sich mit der Erforschung des Geistes befassen, anbelangt. Die Frage ist, wie weit es die Wissenschaft vom menschlichen Geist, angesichts der geringen Fortschritte, die sie bislang erzielt hat, in Zukunft bringen wird. Wie die meisten anderen Wissenschaftler ist Wolpert ein Optimist. Im Grunde genommen behauptet er, das bisherige Ausbleiben von Fortschritten bei der Erforschung des Geistes bedeute, daß um so wichtigere Entdeckungen vor uns lägen. Anders gesagt, der Mißerfolg in der Vergangenheit läßt auf künftige Erfolge schließen. Dies ist allerdings weniger ein Argument als eine Glaubensaussage. In Anbetracht ihrer dürftigen Erfolgsbilanz bis heute fürchte ich, daß Neurowissenschaft, Psychologie, Psychiatrie und andere Fachgebiete, die sich mit der Erforschung der Psyche befassen, möglicherweise an fundamentale wissenschaftliche Grenzen stoßen. Den Wissenschaftlern wird - 23
es vielleicht niemals endgültig gelingen, die Psyche zu heilen, sie auf Rechnern zu simulieren oder zu erklären. Womöglich wird der menschliche Geist bis zu einem gewissen Grad immer ein Rätsel bleiben.
Wo bleibt das Positive? Bevor ich mit dem Schreiben dieses Buches begann, bat ich einen auf Naturwissenschaft spezialisierten Verlagsagenten, mir zu sagen, was er von der Idee halte. »Ja, ich verstehe«, sagte er, nachdem ich alle Disziplinen, die ich kritisieren wollte, durchgegangen war. »Sie legen uns all die negativen Punkte auseinander. Aber welchen hoffnungsvollen Ausblick setzen Sie dem entgegen?« - »Hoffnungsvoll?« fragte ich zurück. »Ja, die positive Botschaft. Was sagen Sie den Lesern am Ende Ihres Buches, damit sie das Buch nach Lektüre nicht in gedrückter Stimmung weglegen?« Auf diese Frage war ich nicht gefaßt. »Ich bringe nichts Optimistisches«, sagte ich und faselte etwas von der Befriedigung, die dem Streben nach Wahrheit als solchem innewohne. Obgleich der Agent nicht überzeugt zu sein schien, bohrte er nicht weiter. Als ich mich dann an die Arbeit machte, änderte sich meine pessimistische Einschätzung der gegenwärtigen Lage der wissenschaftlichen Erforschung des Geistes nicht. Im Gegenteil. Doch ich empfand ein starkes Bedürfnis, meine kritische Einstellung zu begründen und etwas Positives zu finden. Zu Beginn meiner Recherchen beobachtete ich am New York State Psychiatrie Institute Patienten, die einer Elektroschocktherapie unterzogen wurden. Eine der Patientinnen war eine schlanke, zierliche Frau mit kurzem braunem Haar. Sie lag auf einer Untersuchungsliege und wartete auf ihre Behandlung, während ich ein paar Schritte von ihr weg stand und Notizen auf einen Block mit gelbem Papier kritzelte. Als ein Techniker die - 24
Schläfen der Frau mit elektrisch leitendem Gel einrieb, drehte sie plötzlich den Kopf und starrte mich unvermittelt an. Sie schien gleichzeitig verwirrt, erschrocken und zornig zu sein, als dächte sie: Wer zum Teufel ist der da, und was steht er da herum und gafft, wie ich leide ? Ähnliche Gedanken überkamen mich, als ich auf einer Party zufällig einem Bekannten aus Kindertagen begegnete, den ich Harry nennen will. Wir hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Er fragte, was ich mache, und ich erzählte ihm von meinem Buchprojekt, wobei ich, wie ich es häufig gegenüber Laien tat, meine geplante Kritik an Medikamenten wie Fluctin als Beispiel wählte. Je länger ich sprach, um so verlegener blickte Harry drein, und er sagte mir schließlich, warum. Vor ein paar Jahren war Harry einer so tiefen Depression verfallen, daß er an Selbstmord dachte. Fluctin hatte ihm geholfen, die Depression zu überwinden. Ohne das Medikament wäre er möglicherweise tot. Er fragte mich freundlich, was ich mir davon verspräche, ein Medikament anzuprangern, das ihm und vielen anderen das Leben gerettet habe? Eine weitere Unsicherheit kam auf, als ich in einem Vortrag an einer kalifornischen Universität einige Themen dieses Buches angeschnitten hatte.14 Während der anschließenden Diskussion fragte mich ein Genetiker empört, worauf ich eigentlich hinauswolle. Ob ich der Ansicht sei, er und seine Kollegen sollten einfach mit ihrer Arbeit aufhören? Solle der US-Kongreß seine finanzielle Förderung einstellen? Diese Begegnungen führten dazu, daß ich zunehmend meine persönliche Einstellung zu dem Thema, das ich erörtern wollte, hinterfragte. Weshalb war ich so negativ eingestellt? Was war mein Motiv? Wollte ich im Grunde genommen, daß diese Forschungen scheitern? Angenommen, meine Sichtweise der Erforschung des menschlichen Geistes war richtig, was versprach ich mir davon, sie öffentlich kundzutun ? Wozu sollte es gut sein, oder, um mit dem Verlagsagenten zu reden: Was war das Positive daran? - 25
Ich befasse mich zunächst mit dem Einwand meines Bekannten aus Kindertagen, Harry. Es macht mich betroffen, daß Kritik an Fluctin, an der Psychotherapie und an anderen Behandlungsverfahren möglicherweise den Glauben daran untergräbt und so deren Wirksamkeit bei Menschen wie Harry beeinträchtigt; schließlich hat die Wissenschaft gezeigt, daß der Glaube an eine bestimmte Therapie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. Doch zweifellos wäre es unverantwortlich, ja sogar grausam, wenn ein Journalist bewußt die Wirksamkeit eines Behandlungsverfahrens übertriebe, nur damit irgend jemand eventuell größeren Nutzen daraus zöge. Dann könnten Journalisten genausogut die Heilkräfte von Blutegeln, Kristallen oder der Homöopathie anpreisen. Der Glaube ist nicht allmächtig und auch nicht immer nützlich. Religiöser Glaube ist wohl die erfolgreichste psychologische Therapie, die je erfunden wurde, aber er hat auch Unwissenheit und Intoleranz gefördert. Der Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnisse muß den Nutzen des Glaubens übertreffen. Weshalb sollte man andernfalls überhaupt Wissenschaft betreiben? Eindringliche Hinweise auf die Grenzen von Neurowissenschaft, Verhaltensgenetik und verwandten Disziplinen könnten vermutlich auch Wissenschaftler davon abhalten, diese Art von Forschung fortzusetzen, und Politiker abschrecken, Fördermittel für weitere Studien zu bewilligen. Doch diese Möglichkeiten rechtfertigen nicht, Tatsachen zu ignorieren oder falsch darzustellen. Ich möchte in diesem Buch konstruktive Kritik an den Disziplinen üben, die sich mit der Erforschung des menschlichen Geistes befassen, mit der vielleicht wichtigsten wissenschaftlichen Fragestellung überhaupt. Gerade weil diese Forschungen so wichtig sind, bedürfen sie einer sorgfältigen Überprüfung. Meine Kritik mag sich manchmal schroff anhören. Das liegt daran, daß ich eine Unausgewogenheit beheben möchte: Die meisten Bücher zum Thema menschlicher - 26
Geist sind, gleich ob sie von Forschern oder Journalisten stammen, in einem allzu verklärenden Ton geschrieben. Einige Probleme, mit denen sich die Forscher herumschlagen, entziehen sich möglicherweise dem wissenschaftlichen Zugriff, doch ich möchte keinesfalls, daß diese Prognose zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Trotz ihrer Fehltritte und Grenzen sind Neurowissenschaft, Psychologie, Psychiatrie, Verhaltensgenetik, Evolutionspsychologie, Künstliche Intelligenz und sogar die Psychoanalyse keineswegs wertlos. Sie haben uns wichtige Erkenntnisse über unser Wesen verschafft, wenn auch problematische und widersprüchliche. Jede dieser Disziplinen kann zumindest als ein Gegengewicht zu den anderen dienen und sorgt dafür, daß keine zu mächtig wird. Zudem werden die Wissenschaftler vielleicht eines Tages wirklich damit anfangen, die menschliche Natur zu verstehen, und Methoden finden, sie zu verbessern. Doch der feste innere Glaube und die Zuversicht, die Wissenschaftler brauchen, um ihre Suche durchzuhalten, können sie auch in Schwierigkeiten bringen. In der Vergangenheit brachte die Überbewertung der Macht von Wissenschaft und Vernunft pseudowissenschaftliche Ideologien hervor wie den Sozialdarwinismus, die Eugenik und den totalitären Kommunismus. Ich würde gern glauben, daß Wissenschaftler - und andere Menschen - mittlerweile gelernt haben, keiner Theorie zuviel Glauben zu schenken, doch ich sehe zu viele gegenteilige Anzeichen. Ich bin beunruhigt über die Ausbreitung der erinnerungsaufdeckenden Therapie, die immer weiter um sich greifende Behandlung von Kindern mit Psychopharmaka, das Weiterbestehen rassistischer Intelligenztheorien, die Veröffentlichung karikaturistischer Darstellungen der männlichen und weiblichen Sexualität. Subtilere Schäden können die Behauptungen prominenter Forscher anrichten, wonach wir Menschen nur ein Haufen Neurone oder nur Vehikel für die Fortpflanzung von Genen oder nur Maschinen sind. Solcher - 27
Reduktionismus erweist sowohl der Menschheit als auch der Wissenschaft einen schlechten Dienst. In bezug auf die menschliche Natur kann unsere Gier nach absoluten Wahrheiten, nach vereinheitlichten Theorien und nach Allheilmitteln gefährliche Konsequenzen haben. Der Schlüssel liegt darin, den Ergebnissen der Wissenschaft skeptisch gegenüberzustehen und gleichzeitig die Wissenschaft als solche zu fördern. Der Philosoph Karl Popper verkörperte diese Einstellung. Er behauptete, wir könnten nicht beweisen, daß unsere Theorien wahr seien; wir könnten Theorien lediglich widerlegen beziehungsweise falsifizieren. Alle unsere Erkenntnisse seien nur vorläufig gültig. So wird die Wissenschaft, zur Freude des wissenschaftsliebenden Popper, zu einem endlosen Unternehmen. In An den Grenzen des Wissens behauptete ich, das Poppersche Modell lasse sich nicht aufrechterhalten, wenn man es auf die gesamte Wissenschaft beziehe.15 Ein Großteil der Erkenntnisse, die wir in der Physik, der Astronomie und der Biologie gewonnen haben, sind nicht vorläufig, sondern dauerhaft und absolut, wie etwa die Tatsache, daß die Erde rund und nicht flach ist. Die Poppersche Philosophie ist allerdings, bezogen auf die Erforschung des menschlichen Geistes, der wissenschaftlich so schwer zu bezwingen ist, sehr plausibel. Popper nannte seine Philosophie kritischen Rationalismus. Ich ziehe den Begriff optimistischer Skeptizismus vor. Zuwenig Skepsis läßt uns wissenschaftlichen Quacksalbern auf den Leim gehen. Zuviel Skepsis kann zum Solipsismus führen, zu einer radikalen postmodernen Anschauung, die nicht nur die Möglichkeit vollkommener menschlicher Selbsterkenntnis, sondern die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt bestreitet. Nur das richtige Maß an Skepsis - gemischt mit dem richtigen Maß an Hoffnung - kann uns vor unserer Gier nach Antworten schützen und uns gleichzeitig so aufgeschlossen sein lassen, daß wir echte Wahrheiten erkennen, wenn sie - 28
auftauchen. Falls dieses Buch auch nur annähernd sein Ziel erreicht, wird es den Leser dazu bringen, die wissenschaftliche Erforschung des Geistes mit optimistischem Skeptizismus zu betrachten. Das ist ein positiver Aspekt. Doch selbst wenn der Geist weiterhin den Bemühungen von Wissenschaftlern, ihn zu erklären, zu therapieren und zu simulieren, widersteht - selbst wenn er ein Rätsel bleiben sollte -, gibt es einen weiteren positiven Aspekt. Die Wissenschaft hat der Menschheit eine gewaltige, edle Aufgabe gegeben; wenn dieses Streben nach Erkenntnis enden sollte, werden wir etwas Wertvolles verlieren. Die Ziele der Erforschung des Geistes sind so verlockend, daß die Wissenschaftler zweifellos niemals aufhören werden, sie zu verfolgen, noch werden Regierungen, Unternehmen und Philanthropen jemals aufhören, dieses Streben finanziell zu unterstützen. Die Tatsache, daß diese Ziele möglicherweise nie ganz erreicht werden, bedeutet paradoxerweise, daß die Wissenschaft vom menschlichen Geist vielleicht nie zu einem Ende kommen wird. Solange wir uns selbst ein Rätsel bleiben, solange wir leiden, solange wir nicht in eine utopische Apathie verfallen, werden wir weiterhin mit den Instrumenten der Wissenschaft unseren Geist analysieren und ihm auf den Grund gehen. Könnten wir anders? Die Innenwelt ist vielleicht das letzte - ewig - unerforschte Grenzgebiet der Wissenschaft.
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1. DIE »ERKLÄRUNGSLÜCKE« DER NEUROWISSENSCHAFT
Im Jahr 1979 behandelte man die freudianische Psychologie nur noch als eine interessante historische Fußnote. Die neueste wissenschaftliche Mode war die klinische Erforschung des Zentralnervensystems. [...] Heute sind die neuen Gelehrten eifrig dabei, das Gehirn von allen Seiten zu sondieren und in hauchdünne Scheibchen zu zerlegen, und sie projizieren ihre Dias und betrachten Freuds theoretische Konstrukte, seine »Libido«, seinen »Ödipuskomplex« und alles weitere, als kuriose Scharlatanerien der Vergangenheit, ähnlich Mesmers »animali1 schem Magnetismus«. TOM WOLFE, In Our Time
Im Phaidon beschrieb Platon die letzten Stunden des Sokrates, der von der Athener Regierung ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt worden war. Sokrates erklärte seinen Freunden, die sich im Gefängnis versammelt hatten, weshalb er die Todesstrafe angenommen habe und nicht geflohen sei. Im Verlauf seiner Rede führt Sokrates die Vorstellung, sein Verhalten lasse sich rein physisch erklären, ad absurdum. Jemand, der dies glaube, argumentierte Sokrates, sage im Grunde folgendes über ihn aus: Da nun die Knochen in ihren Gelenken schweben, so bewirkten die Sehnen, wenn ich sie nachlasse und anziehe, daß ich jetzt imstande sei, meine Glieder zu bewegen, und aus diesem Grund säße ich jetzt hier mit gebogenen Knien. Ebenso, wenn er von unserm Gespräch andere solche Ursachen anführen wollte, die Töne nämlich und die Luft und das Gehör und tausenderlei dergleichen herbeibringen, ganz vernachlässigend, die wahren Ursachen anzuführen, daß nämlich, weil es den Athenern besser gefallen hat, mich zu verdammen, deshalb es auch mir besser geschienen hat, hier sitzenzubleiben, und gerechter, die Strafe geduldig auszustehen, welche sie angeordnet haben.2
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Dies ist die meines Wissens älteste Anspielung auf das, was zeitgenössische Philosophen die »Erklärungslücke« nennen. Der Begriff wurde von Joseph Levine geprägt, einem Philosophen an der Staatsuniversität von North Carolina. In seinem Aufsatz »Materialism and Qualia: The Explanatory Gap«3 befaßte sich Levine mit der rätselhaften Unfähigkeit physiologischer Theorien, psychische Phänomene zu erklären. Er konzentrierte sich dabei hauptsächlich auf das Bewußtsein beziehungsweise »Qualia«, also unsere subjektiven Empfindungen von der Welt. Doch die Erklärungslücke kann sich auch auf mentale Funktionen wie Wahrnehmung, Gedächtnis, logisches Denken und Emotion sowie auf das menschliche Verhalten beziehen. Die Disziplin, die am ehesten imstande sein dürfte, die Erklärungslücke zu schließen, ist die Neurowissenschaft, die Wissenschaft vom Gehirn. Als Platon seinen Phaidon schrieb, wußte man nicht einmal, daß das Gehirn der Sitz der mentalen Funktionen ist. (Aristoteles' Beobachtung, daß Hühner nach ihrer Enthauptung oftmals noch eine Zeitlang umherlaufen, brachte ihn zu der Überzeugung, daß das Gehirn keinesfalls die Steuerungszentrale des Körpers sein könne.) Heute erkunden die Neurowissenschaftler die Zusammenhänge zwischen Gehirn und Geist mit einer Reihe immer leistungsfähigerer Instrumente. Sie können mit Hilfe der Positronenemissions- und der Kernspinresonanztomographie die Aktivität sämtlicher Hirnareale messen. Sie können mit Mikroelektroden die extrem schwachen elektrischen Impulse registrieren, die zwischen einzelnen Nervenzellen weitergeleitet werden. Sie können die Wirkungen spezifischer Gene und Neurotransmitter auf die Funktionsweise des Gehirns verfolgen. Die Forscher hoffen, daß die Neurowissenschaft schließlich für die Wissenschaft vom menschlichen Geist das leisten wird, was die Molekularbiologie für die Evolutionsbiologie leistete, nämlich sie auf eine feste empirische Grundlage zu stellen, die - 31
zu weitreichenden neuen Erkenntnissen und Nutzanwendungen führt. Die Neurowissenschaft ist zweifellos eine Wachstumsbranche. Die Anzahl der Mitglieder der Society for Neuroscience4 die ihren Sitz in Washington, D. C., hat, stieg drastisch von fünfhundert in ihrem Gründungsjahr 1970 auf über fünfundzwanzigtausend im Jahr 1998 an. Die Zahl neurowissenschaftlicher Fachzeitschriften hat stark zugenommen, ebenso die Behandlung des Themas in renommierten Wissenschaftsmagazinen wie Science und Nature. Als Nature 1998 eine neue Fachzeitschrift, Nature Neuroscience, auf den Markt brachte, hieß es in der Presseverlautbarung, die Neurowissenschaft sei »eines der dynamischsten und sich am schnellsten entwickelnden Gebiete der Biologie. Die Aufklärung der Funktionsweise des Gehirns ist nicht nur eine der größten wissenschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, sondern sie hat auch tiefgreifende gesellschaftliche Auswirkungen, reichen ihre Fragestellungen doch von der Grundlage des Gedächtnisses über die Ursachen der Alzheimer-Krankheit bis hin zur Entstehung von Emotionen, der Persönlichkeit und sogar des Bewußtseins selbst.«5 Die Neurowissenschaft macht zweifelsohne Fortschritte. Aber in welcher Richtung schreitet sie voran ? Ich bat einmal Gerald Fischbach, den Direktor der Abteilung Neurowissenschaft an der Harvard-Universität und ehemaligen Präsidenten der Society for Neuroscience, mir die seines Erachtens bedeutendste Errungenschaft seines Fachgebiets zu nennen.6 Er lächelte über die Naivität der Frage. Die Neurowissenschaft sei ein weites Feld, betonte er, das von der Erforschung von Molekülen, die die neuronale Impulsübertragung beschleunigen, bis zur bildlichen Darstellung der Aktivität des gesamten Gehirns mit Hilfe der Kernspinresonanztomographie reiche. Es sei unmöglich, eine bestimmte Erkenntnis oder auch eine Reihe von Erkenntnissen herauszustellen, die aus der neurowissenschaftlichen Forschung hervorgegangen seien. - 32
Das charakteristischste Kennzeichen der Disziplin sei vielmehr ihre Produktion einer gewaltigen und wachsenden Zahl von Erkenntnissen. Die Forscher entdeckten ständig neue Typen von Hirnzellen beziehungsweise Neuronen, von Neurotransmittern, also chemischen Substanzen, mit denen Neuronen miteinander kommunizierten, von neuronalen Rezeptoren, also den Proteinstrukturen auf der Oberfläche von Nervenzellen, in welche die Neurotransmitter paßten, und von neurotropen Faktoren, also Substanzen, die das Wachstum des Gehirns vom Embryonal- bis ins Erwachsenenstadium steuerten. Vor nicht allzu langer Zeit, so Fischbach weiter, hätten die Forscher geglaubt, es gebe nur einen Rezeptor für den Neurotransmitter Acetylcholin, der die Aktivität der Muskeln steuert; mittlerweile seien mindestens zehn verschiedene Rezeptoren identifiziert worden. Und Experimente hätten mindestens fünfzehn Rezeptoren für den Neurotransmitter Gammaaminobuttersäure (GABA) nachgewiesen, der die Aktivität von Nervenzellen hemmt. Die Erforschung neurotroper Faktoren nehme ebenfalls »explosionsartig« zu. Forscher hätten herausgefunden, daß neurotrope Faktoren das Gehirn nicht nur in der Pränatalphase und im Säuglingsalter formen, sondern während der gesamten Lebensspanne. Leider wüßten die Neurowissenschaftler bislang nicht, wie sie all diese Erkenntnisse in ein kohärentes Rahmenmodell einordnen könnten. »Wir sind von einer einheitlichen Theorie des menschlichen Bewußtseins noch weit entfernt«, so Fischbach. Er warf damit ein Schlaglicht auf eines der paradoxesten Merkmale seines Fachgebiets. Obgleich das Adjektiv reduktionistisch oftmals in einem abwertenden Sinne gebraucht wird, ist die Naturwissenschaft definitionsgemäß reduktionistisch. Der Philosoph Daniel Dennett formulierte dies einmal folgendermaßen: »Aber natürlich muß etwas ›ausgelassen‹ werden andernfalls hätten wir nicht zu erklären begonnen. Auslassungen sind gerade ein Merkmal für erfolgreiche Erklärungen.«7 - 33
Im günstigsten Fall isoliert die Wissenschaft ein gemeinsames Element, das vielen scheinbar ungleichartigen Phänomenen zugrunde liegt. Isaac Newton fand heraus, daß sich die Neigung von Körpern, zu Boden zu fallen, die Gezeiten der Meere sowie die Bewegung des Mondes und der Planeten durch den Weltraum alle mit einer einzigen Kraft erklären lassen, der Gravitation oder Massenanziehung. Im zwanzigsten Jahrhundert haben Physiker nachgewiesen, daß alle Materie sich letztlich aus zwei Teilchenarten zusammensetzt, Quarks und Elektronen. Charles Darwin zeigte, daß die mannigfaltigen Arten von Lebewesen auf der Erde durch einen einzigen Prozeß entstanden sind, die Evolution. In den letzten fünfzig Jahren enthüllten Francis Crick, James Watson und andere Molekularbiologen, daß alle Organismen weitgehend dieselbe DNA-gestützte Methode zur Übertragung genetischer Information an ihre Nachkommen benutzen. Den Neurowissenschaftlern dagegen steht ihr reduktionistisches Offenbarungserlebnis noch bevor. Statt eine große vereinheitlichte Theorie zu finden, dekken sie weiterhin immer komplexere Zusammenhänge auf. Der Fortschritt der Neurowissenschaft ist in Wirklichkeit ein Gegen-Fortschritt. Je mehr Erkenntnisse die Forscher über das Gehirn gewinnen, um so schwieriger wird es für sie, all die verschiedenen Daten zu einem in sich widerspruchsfreien, kohärenten Gesamtmodell zusammenzufügen.
Das Dilemma des Reduktionismus Im Jahr 1990 brachte die Society for Neuroscience den USKongreß dazu, die neunziger Jahre zum Jahrzehnt des Gehirns zu erklären. Der Zweck dieser Proklamation bestand darin, sowohl die Errungenschaften der Neurowissenschaft ins allgemeine Bewußtsein zu heben als auch Forschungsanstrengungen zur Aufklärung der Ursachen von Psychosen wie Schi- 34
zophrenie und manisch-depressive Erkrankung (auch bipolare affektive Störung genannt) zu unterstützen. Ein Neurowissenschaftler, der diese Idee ablehnte, war der in Schweden geborene und aufgewachsene Torsten Wiesel, der 1981 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet wurde und später Präsident der Rockefeller-Universität in New York wurde. (Ende 1998 legte er dieses Amt nieder, um sich wieder der Forschung zu widmen.) Wiesel ist ein freundlicher, ruhiger Mann, doch als ich ihn 1997 interviewte,8 geriet er bei der Erwähnung des Ausdrucks »Dekade des Gehirns« in Rage. Die Idee sei »töricht«, murrte er. »Wir brauchen mindestens hundert, vielleicht tausend Jahre«, um das Gehirn zu verstehen. »Wir begreifen noch nicht einmal, wie C. elegans funktioniert«, fuhr er fort, womit ein winziger Wurm gemeint ist, der Molekular- und Zellbiologen als Versuchstier dient. Wissenschaftler hätten im Gehirn einige »einfache Mechanismen« entdeckt, doch sie wüßten im Grunde immer noch nicht, wie sich das Gehirn in der Embryonalphase und den anschließenden Lebensstadien entwickle, wie das Gehirn altere und wie das Gedächtnis funktioniere. »Wir stehen ganz am Anfang der Gehirnforschung.« (Dennoch begannen Verhaltenswissenschaftler - dazu gehören Psychologen, Genetiker, Anthropologen und andere - im Jahr 1998 damit, sich dafür stark zu machen, daß das Jahrzehnt, das im Jahr 2000 beginnt, zur »Dekade des Verhaltens« gekürt wird.)9 Wiesel selbst war an einer der mustergültigen Entdeckungen der Neurowissenschaft beteiligt. Wie viele andere wissenschaftliche Triumphe verdankte sich auch dieser einer Kombination von harter Arbeit und Findigkeit. Im Jahr 1958 führten Wiesel und ein anderer junger Neurowissenschaftler, David Hubel, in einem »kleinen, schäbigen, fensterlosen Kellerlabor« der Medizinischen Fakultät der John-Hopkins-Universität Experimente am visuellen Kortex einer Katze durch.10 Nachdem sie eine Elektrode in den visuellen Kortex der Katze implantiert - 35
hatten, projizierten sie mit einem Diaprojektor, der mit einem Ophthalmoskop verbunden war, Bilder auf die Netzhaut der Katze. Sie boten der Katze zwei einfache Reize dar: einen hellen Fleck auf dunklem Hintergrund und einen dunklen Fleck auf hellem Hintergrund. Wenn die Elektrode eine elektrische Entladung eines Neurons registrierte, gab ein Gerät, das einem Geigerzähler glich, ein Klickgeräusch von sich. Wiesel und Hubel erhielten unschlüssige Ergebnisse, bis eines ihrer Dias im Projektor hängenblieb. Nachdem sie das Dia gelöst hatten, schoben sie es langsam zurück in den Schlitz. Plötzlich begann der Elektrodendetektor »wie ein Maschinengewehr« zu feuern. Wiesel und Hubel erkannten schließlich, daß das Neuron auf die Bewegung der Kante des Dias durch das Gesichtsfeld der Katze reagierte. Bei nachfolgenden Experimenten wiesen sie Neuronen nach, die nur auf Linien ansprachen, die in bestimmter Weise bezüglich der Netzhaut ausgerichtet waren. Als die Forscher die Elektrode durch den visuellen Kortex bewegten, änderte sich die Ausrichtung der Linien, auf welche die Neuronen reagierten, kontinuierlich, wie eine winzige Hand, die einen Kreis um eine Uhr beschreibt. Im Jahr 1981 wurden Wiesel und Hubel für ihre Forschungen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Solche Entdeckungen sind bezeichnend für einen allgemeinen Trend in der Neurowissenschaft. Die wohl bedeutendste Erkenntnis, die aus dieser Disziplin hervorging, ist die Tatsache, daß verschiedene Hirnregionen je spezifische Funktionen ausführen. Das ist zwar nicht gerade neu - Franz Gall behauptete dies schon vor zweihundert Jahren, als er die Phrenologie erfand (die zu einer pseudowissenschaftlichen Lehre verkam, mit der der Charakter eines Menschen aus der Form seines Schädels abgeleitet wurde). Doch moderne Wissenschaftler zerschneiden das Gehirn in immer dünnere Scheiben, und es ist kein Ende dieses Prozesses in Sicht. Noch in den fünfziger Jahren glaubten viele Wissenschaft- 36
ler, das Gedächtnis sei eine einheitliche - wenn auch sehr vielseitige - Funktion. Der Forscher Karl Lashley war ein prominenter Verfechter dieser Auffassung.11 Er behauptete, Erinnerungen würden nicht an einer bestimmten Stelle des Gehirns, sondern überall im Gehirn verarbeitet und gespeichert. Zum Beweis führte er Experimente an, bei denen Verletzungen im Gehirn von Ratten keine wesentliche Auswirkung auf ihre Fähigkeit hatten, sich den Weg durch ein Labyrinth zu merken. Was Lashley nicht erkannte, war die Tatsache, daß Ratten viele redundante Methoden besitzen, den Weg durch ein Labyrinth zu finden; wenn die Fähigkeit der Ratte, sich an visuelle Anhaltspunkte zu erinnern, beeinträchtigt ist, weicht sie auf olfaktorische oder taktile Stimuli aus. Anschließende Experimente sowohl mit Menschen als auch mit anderen Tieren erbrachten den Nachweis, daß es viele verschiedene Gedächtnistypen gibt, die jeweils mit spezifischen Hirnregionen assoziiert sind. Die zwei Hauptkategorien des Gedächtnisses sind das explizite oder deklarative Gedächtnis, in dem das bewußte Erinnern abläuft, und das implizite oder unbewußte Gedächtnis, das unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegt, sich aber dennoch auf das Verhalten und die mentale Aktivität auswirkt. Das Gedächtnis wurde noch in weitere Kategorien eingeteilt, von denen sich einige überschneiden. Das Kurzzeitgedächtnis, gelegentlich auch Arbeitsgedächtnis genannt, ermöglicht uns, einen flüchtigen Blick auf eine Telefonnummer zu werfen und sie uns gerade lange genug zu merken, um sie ein paar Sekunden später zu wählen. Das Langzeitgedächtnis speichert dieselbe Telefonnummer dauerhaft, so daß sie jederzeit abgerufen werden kann. Das prozedurale Gedächtnis läßt uns solche unwillkürlichen Fertigkeiten wie das Autofahren, das Blindschreiben oder das Tennisspielen erwerben und ausführen. Das episodische Gedächtnis ermöglicht uns die Erinnerung an bestimmte Ereignisse. - 37
Experimente haben zudem ein priming (»Bahnung«) genanntes Phänomen aufgedeckt, das einen ähnlichen Sachverhalt bezeichnet wie der ältere Begriff der unterschwelligen Beeinflussung. Versuchspersonen wird ein Reiz, etwa ein Ton oder ein Bild, so kurzzeitig dargeboten, daß sie ihn nicht bewußt wahrnehmen und sich später nicht daran erinnern können. Dennoch zeigen Tests, daß der Reiz sich auf irgendeiner Ebene dem Gehirn eingeprägt hat. Bei einer Serie von Experimenten werden den Versuchspersonen Listen mit Wörtern für so kurze Zeit dargeboten, daß sie diese nicht im Kurzzeitgedächtnis speichern können. Anschließend bittet man die Versuchspersonen ein Spiel, ähnlich dem Fernsehspiel Glücksrad, zu spielen. Sie bekommen eine bestimmte Buchstabenfolge, etwa »O-t-p-s«, und müssen raten, wie das vollständige Wort lautet. Versuchspersonen, denen zuvor eine Liste mit Wörtern dargeboten wurde, die Octopus enthält, haben dabei eine viel höhere Trefferquote, auch wenn sie sich nicht bewußt daran erinnern können, ob die Liste auch Octopus enthielt. Technologien wie die Positronenemissionstomographie (PET) und die Kernspinresonanztomographie (MRT) haben die Zergliederung von Gehirn und Geist weiter beschleunigt. Bei der PET wird die Strahlung gemessen, die von kurzlebigen radioaktiven Sauerstoffisotopen, die in die Blutbahn injiziert wurden, ausgeht. Hohe Konzentrationen des Isotops deuten auf eine erhöhte Durchblutung und damit eine verstärkte neuronale Aktivität hin. Die MRT kommt ohne Injektion einer radioaktiven Substanz aus. Ein starker elektromagnetischer Impuls bewirkt, daß sich bestimmte Atome in einer bestimmten Richtung anordnen, ähnlich wie Eisenspäne um einen Magneten. Wenn das magnetische Spannungsfeld abgeschaltet wird, senden die Atome Strahlung von charakteristischen Frequenzen aus. Studien mit bildgebenden Verfahren konzentrieren sich oftmals auf Versuchspersonen, die bestimmte Aufgaben ausfüh- 38
ren, wie etwa knifflige mathematische Probleme lösen, Bilder nach Kategorien ordnen oder Wörterlisten auswendig lernen. Man nimmt dabei an, daß jene Hirnregionen, die die stärkste Aktivität zeigen, für die jeweilige Aufgabe von entscheidender Bedeutung sind. Karl Friston, ein MRT-Spezialist am Institut für Neurologie in London, verglich diese Katalogisierung von neuralen hot spots, Stellen hoher neuronaler Aktivität, mit Darwins beharrlicher Sammlung von Daten über Tiere aus allen Regionen der Erde. »Ohne diesen Katalog der funktionalen Spezialisierung«, sagte er, »wird man meines Erachtens bei der Erarbeitung einer nützlichen und konsistenten Theorie der Organisation des Gehirns nicht weit kommen.«12 Allerdings war er der Ansicht, das Streben nach Lokalisierung sei zu weit getrieben worden. Zu viele Studien begnügten sich damit, einfach eine bestimmte Region mit einer bestimmten Funktion in Zusammenhang zu bringen, »ohne dies in ein theoretisches Rahmenmodell einzufügen und ohne ein angemessenes oder tieferes Verständnis der funktionalen Architektur des Gehirns«. Verschiedene Teile des Gehirns seien offensichtlich miteinander verbunden, und die Aufklärung dieser neuralen Verbindungen sei für das Verständnis des Gehirns von entscheidender Bedeutung. »Die Betrachtung der Korrelationen zwischen verschiedenen Regionen ist arg vernachlässigt worden.« Rodolfo Llinas, ein Neurowissenschaftler an der New York University, stand der Art und Weise, wie bildgebende Verfahren insbesondere in der Psychiatrie verwendet werden, noch kritischer gegenüber. »Da kommt jemand mit einem bestimmten Problem, und man sieht einen roten Fleck auf der Vorderseite des Kortex, und man sagt zu der Person: ›Diese Stelle auf dem Kortex ist der Sitz ihrer negativen Gedanken.‹ Es ist absolut unglaublich! Das Gehirn ist kein Organ, in dem eine Funktion an einer einzigen Stelle lokalisiert ist!«13 Llinas verglich diese Studien mit der Phrenologie, jener pseudowissenschaft- 39
lichen Lehre aus dem achtzehnten Jahrhundert, die das Gehirn in diskrete Bezirke einteilte, die angeblich spezifische Funktionen ausführten. »Man hat einen Patienten und schiebt ihn ins Meßgerät, dann schreibt man einen Aufsatz, weil man es auf den Aufnahmen klar sehen kann. Das ist reinste Phrenologie!« Llinas erinnerte daran, daß die Neurowissenschaft eine Phase durchlaufen habe, in der die Forscher Affen beziehungsweise Ratten Drogen injizierten und dann die Ergebnisse publizierten, egal ob diese aussagekräftig waren oder nicht. Mit den neuen bildgebenden Technologien seien wir fast wieder auf diese Stufe zurückgefallen, behauptete Llinas. »Wir neigen dazu, ein paar Fälle zu publizieren und zu sagen: ›So funktioniert das, schau dir nur das schöne Bild an.‹ [... Doch] dann geht man in die Einzelheiten, und es zeigt sich, daß es ein Trugbild war.« Je weiter die Neurowissenschaftler das Gehirn unterteilen, um so dringlicher wird die Antwort auf die Frage: Wie koordiniert und integriert das Gehirn die Aktivitäten seiner hochspezialisierten Regionen, so daß jene scheinbare Einheit der Wahrnehmung und des Denkens entsteht, die den Geist ausmacht? Der an Harvard lehrende Neurowissenschaftler David Hubel, dessen Experimente mit Torsten Wiesel mit zu der gegenwärtigen Krise in der Neurowissenschaft beitrugen, schrieb am Ende seines Buches Eye, Brain and Vision: Diese überraschende Feststellung, daß Attribute wie Form, Farbe und Bewegung weitgehend von getrennten Strukturen im Gehirn verarbeitet werden, wirft sogleich die Frage auf, wie all diese Informationen letztlich zusammengeführt werden, so daß wir beispielsweise einen hüpfenden roten Ball wahrnehmen. Sie müssen offenkundig irgendwo verknüpft werden, und sei es auch nur auf der Ebene der motorischen Nerven, welche die Handlung des Fangens steuern. Wir haben keine Ahnung, wo und wie sie zusammengeführt werden.14
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Diese ungelöste Frage wird gelegentlich auch Bindungsproblem genannt. Ich möchte eine andere Bezeichnung vorschlagen: das reduktionistische Dilemma. Es betrifft nicht nur die Neurowissenschaft, sondern auch die Evolutionspsychologie, die Kognitionswissenschaft, die Künstliche Intelligenz, ja sämtliche Disziplinen, die den Geist in eine Sammlung weitgehend unverbundener »Module«, »Intelligenzen« beziehungsweise »Rechenmaschinen« aufteilen. Wie ein frühreifer achtjähriger Junge, der an einem Radio herumbastelt, leisten die Hirnforscher Vorzügliches, wenn es darum geht, das Gehirn zu zerlegen, aber sie haben keinen blassen Schimmer, wie sie die Teile wieder zu einem Gesamtbild zusammenfügen können.
Patricia Goldman-Rakics Erklärungslücke Eine Neurowissenschaftlerin, die sich bemüht, das reduktionistische Dilemma zu überwinden, ist Patricia Goldman-Rakic, Professorin an der Medizinischen Fakultät der Yale-Universität.15 Goldman-Rakic, die einem der modernsten neurowissenschaftlichen Forschungslabors der Welt vorsteht, erforscht nicht das menschliche Gehirn, sondern das eines engen Verwandten des Menschen, des Makaken. Goldman-Rakic nennt sich selbst eine »systemorientierte Neurowissenschaftlerin«. Sie hofft, durch ihre Untersuchungen am frontalen Kortex, der als Sitz von Denken, Entscheidungsfindung und anderen höheren kognitiven Funktionen gilt, zu zeigen, wie Psychologie, Psychiatrie und andere Disziplinen, die den menschlichen Geist auf hohen Organisationsebenen erforschen, mit reduktionistischeren Modellen, die sich auf neurale, genetische und molekulare Prozesse konzentrieren, zusammengeführt werden können. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist das Arbeitsgedächtnis. Wie der Direktzugriffsspeicher eines Computers, der In- 41
formationen zur sofortigen Abrufung bereithält, erlaubt uns das Arbeitsgedächtnis, den Faden eines Gesprächs zu behalten, ein Buch zu lesen, ein Kartenspiel zu spielen oder einfache arithmetische Berechnungen im Kopf auszuführen. Viele Neurowissenschaftler glauben, daß uns ein besseres Verständnis des Arbeitsgedächtnisses dabei helfen wird, ungelöste Fragen wie die der Bindung, der Willensfreiheit, des Bewußtseins und der Schizophrenie aufzuklären. Kein Neurowissenschaftler könnte die Erklärungslücke besser schließen als GoldmanRakic, und dennoch habe ich diese Lücke nie lebhafter - ja geradezu körperlich - empfunden als bei meinem Besuch in ihrem Labor. Der Radikalismus der Tierschutzbewegung hat dazu geführt, daß Labors wie das von Goldman-Rakic in regelrechte Festungen verwandelt wurden. Besucher müssen sich an der Eingangspforte der Medizinischen Fakultät der Yale-Universität bei einem bewaffneten Sicherheitsbeamten anmelden; sie werden durch zwei Stahltüren geleitet, die jeweils mit einem kleinen Fenster versehen sind und die nur mit einem Magnetschlüssel geöffnet werden können. Dahinter erstreckt sich eine lange Flucht von Räumen, die Affen, Mikroskope, chirurgische Instrumente und all die neuesten Geräte der biotechnologischen Revolution beherbergen. In einem Zimmer schnitt eine junge Frau mit einem Apparat, der einer Wurstschneidemaschine im Kleinformat glich, das gefrorene walnußgroße Gehirn eines Affen in durchsichtige dünne Scheiben. In einem benachbarten Arbeitszimmer untersuchte ein junger Mann Querschnitte unter einem Mikroskop und zeichnete auf Papier die unglaublich verschlungenen Verbindungen zwischen den Neuronen nach. Anschließend speiste er diese Zeichnungen in einen Computer ein, um dreidimensionale Karten der neuronalen Verschaltungen mit hoher Auflösung zu erhalten. Goldman-Rakic und ihre Kollegen haben eine Technik vervollkommnet, die dieselben Informationen wie eine PET-Auf- 42
nahme liefert, allerdings mit sehr viel höherer Auflösung. Nachdem den Affen radioaktive Chemikalien injiziert wurden, die die Verstoffwechslung von Glukose beschleunigen, führen sie bestimmte Aufgaben aus. Unmittelbar danach werden die Affen getötet und ihre Gehirne eingefroren. Durch Messung der Stärke der Radioaktivität in verschiedenen Regionen des Gehirns können die Forscher ermitteln, welche Regionen am stärksten an der Ausführung der Aufgabe beteiligt waren. In einem anderen Raum befindet sich ein Apparat zur Untersuchung des Arbeitsgedächtnisses von Affen. Der Affe sitzt auf einem Stuhl in einem kastenförmigen Stahlgestell gegenüber einem Bildschirm, auf den die Forscher Signale und Bilder projizieren. Sein Kopf ist mit Schrauben fixiert, die in seinen Schädel geschraubt und an dem Gestell befestigt sind. Über einen Sensor, der in das Auge des Affen implantiert ist und dessen Draht durch einen Stöpsel im Schädel des Affen zu einem Aufzeichungsgerät geleitet wird -, können die Forscher die Augenbewegungen verfolgen. In den frontalen Kortex des Affen eingepflanzte Elektroden registrieren die Entladungen einzelner Neurone. Die Herrscherin über dieses recht abstoßende Reich ist eine zierliche Frau mit eleganter Frisur, die am Tag meines Besuchs einen weißen Kaschmirpullover und goldene Ohrringe trug. Als wir uns hinsetzten, um über ihre Arbeit zu sprechen, war Goldman-Rakic die meiste Zeit zurückhaltend und reserviert, nur hin und wieder neigte sie sich in meine Richtung und umfaßte meinen Unterarm, um einem Argument Nachdruck zu verleihen. Sie sagte, ihre Forschungen intendierten, höhere Kortexfunktionen wie Gedächtnis, Wahrnehmung und Entscheidungsfindung zu verstehen. Für diejenigen, die höhere Kortexfunktionen erforschen wollten, sei der Makak ein »unübertroffenes« Modell. Affen seien zu kognitiven Leistungen fähig, die weitgehend mit denen des Menschen übereinstimm- 43
ten, auch wenn sie offensichtlich nicht so komplex seien. Wenn man Affen Amphetamine spritze, zeigten sie sogar Verhaltensweisen, die denen schizophrener Menschen glichen. »Wir arbeiten an der vordersten Front«, sagte Goldman-Rakic, »und machen Entdeckungen, die von großer Bedeutung für das Verständnis des Menschen sind.« Experimente an Affen haben dazu beigetragen, die Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses zu erhellen, das GoldmanRakic als einen »mentalen Skizzenblock« oder »Leim« beschrieb, der mit für die Kontinuität des Denkens verantwortlich sei. Die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses korreliert in hohem Grade mit der allgemeinen Intelligenz und der Lesefähigkeit. Menschen mit einem schwachen Arbeitsgedächtnis fällt es schwerer, komplexe Sätze zu verstehen, in denen Subjekt und Verb durch eingeschobene Satzglieder getrennt sind. Auch Schizophrenie wird möglicherweise durch ein Defizit im Arbeitsgedächtnis verursacht. Ein Leitsymptom der Schizophrenie sei die »kognitive Entgleisung«, erklärte GoldmanRakic. Schizophrene verlieren ständig den Faden ihrer Gedanken; aus diesem Grund reagieren sie überempfindlich auf äußere Wahrnehmungen und werden leicht von diesen überwältigt. Ihre Forschungen könnten Erkenntnisse über normale und gestörte kognitive Prozesse beim Menschen liefern und so den Weg zu besseren pharmakologischen und Verhaltenstherapien weisen. Sie und ihre Mitarbeiter untersuchten, aufweiche Weise Dopamin, Serotonin und andere Neurotransmitter die Funktionsweise des Kortex hemmten oder förderten. »Bei vielen Erkrankungen spielt Dopamin eine Rolle: bei der Schizophrenie, der Parkinson-Krankheit und vermutlich auch bei kindlichen Störungen wie dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.« Medikamente wie Fluctin legten die Vermutung nahe, daß sich Serotonin nachhaltig auf die Stimmung auswirke. Fluctin »führt zu einer deutlichen Stimmungsaufhellung bei - 44
Depressiven. Die Frage ist, weshalb?« Ihre Arbeitsgruppe war der Antwort gerade einen Schritt näher gekommen, indem sie den Nachweis erbrachte, daß bestimmte Kortexzellen je nach Serotoninkonzentration unterschiedlich auf eintreffende Signale reagieren. Könnte ihre Forschung zu Medikamenten führen, die Gedächtnisleistung und Intelligenz steigern? »Absolut! Ohne Frage!« versetzte sie mit Nachdruck. »Es gibt bereits Medikamente, die dies tun, aber ihre Wirksamkeit läßt zu wünschen übrig, oder sie haben Nebenwirkungen.« Sie betonte, daß ihre Gruppe die Entwicklung solcher Medikamente nicht als Selbstzweck betrachte. »Der Zweck meiner Forschungen besteht keineswegs darin, die Pharmaindustrie zu unterstützen. Vielmehr möchte ich herausfinden, wie das Gehirn funktioniert und insbesondere wie jene Teile des Gehirns beziehungsweise jene Systeme funktionieren, die an der Kognition beteiligt sind.« Die Kognition umfasse viel mehr als die unwillkürliche Reaktion auf einen Reiz, wie etwa ein Fahrer, der anhält, wenn die Ampel rot ist, und der anfährt, wenn sie auf Grün umschaltet. »Menschen verfügen über ein breites Repertoire an habituellen Reaktionen, unwillkürlichen Reaktionen und reflektorischen Reaktionen. Doch das ist nicht das, was sie als Menschen auszeichnet. Das spezifisch Menschliche ist vielmehr die Flexibilität ihrer Reaktionen, ihre Fähigkeit, nicht zu reagieren, ihre Fähigkeit zu reflektieren und ihre Fähigkeit, sich auf ihre Erfahrung zu beziehen, eine bestimmte Reaktion in einem bestimmten Augenblick zu steuern.« Sprach sie etwa von der Willensfreiheit? »Ich könnte diesen Begriff benutzen«, antwortete Goldman-Rakic, wobei sie leiser wurde und in einem Flüsterton konspirativer Vertraulichkeit sprach, »wenn ich wirklich enthemmt wäre.« Sie holte eine Veröffentlichung, die eines ihrer Experimente beschrieb, und schlug sie auf dem Tisch vor uns auf. In dem - 45
Experiment wurde einem Affen beigebracht, seine Augen starr auf den Mittelpunkt einer Leinwand zu richten, während die Forscher für kurze Zeit einen Lichtstrahl auf einen der Ränder oder eine der Ecken der Leinwand projizierten. Der Affe hatte gelernt, ein paar Sekunden, nachdem das Licht erloschen war, zu warten, bevor er direkt an die Stelle schaute, wo das Licht gewesen war. Während dieser wenigen Sekunden mußte der Affe die Position des Lichts in seinem Arbeitsgedächtnis speichern. Goldman-Rakic deutete auf eines der Schaubilder in dem Artikel, das die Aktivität von Neuronen darstellte, die sich zu entladen begannen, sobald der Lichtreiz erschien, und sich nach dessen Verschwinden weiterhin entluden. Sie wies darauf hin, daß sich Torsten Wiesel und David Rubel und die meisten anderen Neurowissenschaftler auf Neuronen konzentrierten, die direkt auf äußere Reize ansprechen. »Dies«, sagte Goldman-Rakic, mit einem Finger auf das Diagramm tippend, »ist etwas ganz anderes.« Die Neuronen entluden sich in Abwesenheit eines äußeren Reizes; diese neuronale Aktivität korreliere nicht mit einem realen Bild, sondern mit der Erinnerung beziehungsweise inneren Repräsentation eines Bildes. »Dies«, fuhr sie in theatralischem Tonfall fort, »ist das zelluläre Korrelat des Mechanismus für die Speicherung von Online-Information.« Sie ließ ihre Worte einen Augenblick lang wirken und fügte dann hinzu: »Sie sehen hier also die neurophysiologischen Grundlagen der Kognition.« Es gab einen langen Moment des Schweigens, in dem wir beide auf das Schaubild starrten. Goldman-Rakic begann zu lachen: »Sie blicken so finster!« sagte sie. Ich gestand, daß es mir schwerfiel, die Bedeutung ihrer Forschungen zu verstehen. Von all den Themen, über die ich als Journalist berichtet hätte, sagte ich, sei die Neurowissenschaft das schwierigste, noch schwieriger als die Elementarteilchenphysik. Goldman-Rakic gluckste und rief einer jungen Frau, die durchs Zimmer ging, - 46
zu: »Er sagt, die Neurowissenschaft sei schwieriger als die Elementarteilchenphysik!« Sich wieder zu mir umdrehend, sagte sie: »Ich versuche, es Ihnen begreiflich zu machen!« Ich sagte, mir falle es schwer, den Übergang von diesen Diagrammen, die die Entladungsraten von Neuronen zeigten, zu allgemeinen Begriffen wie Gedächtnis und Kognition und Willensfreiheit nachzuvollziehen. Ich könne den Reduktionismus in der Teilchenphysik verstehen, doch beim menschlichen Geist habe ich das Gefühl, daß etwas fehle. »Ich könnte Sie umbringen«, sagte sie. »Ich gebe mir alle Mühe, Ihnen dies zu erklären, und Sie sagen, es sei zu schwierig.« Ich sei doch gewiß nicht die einzige Person, die in dieser Weise auf ihre Erklärungen reagiert hätte, erwiderte ich; die Philosophen hätten sogar einen Begriff für diese Reaktion, die Erklärungslücke. »Ich glaube, daß es in Ihrem Kopf eine Erklärungslücke gibt«, sagte Goldman-Rakic bestimmt. »Die exakte Abfolge der Veränderungen in den Zellen und im Gehirn und so weiter ist gewiß noch nicht aufgeklärt. Und das, was uns zu unverwechselbaren Individuen macht, werde ich Ihnen heute nicht erklären können, und vielleicht werden wir es nie wissen.« Die Wissenschaftler könnten auch den Ursprung des Universums nicht verstehen. Dennoch, so versicherte sie mir, »sind wir auf dem Weg, die Kognition beim Menschen zu verstehen.« Andere haben ebenfalls eine Erklärungslücke in den neurowissenschaftlichen Forschungen von Goldman-Rakic und Mitarbeitern entdeckt. Kurz bevor ich 1997 die Redaktion des Scientific American verließ, redigierte ich einen Aufsatz über das Arbeitsgedächtnis »The Machinery of Thought«, in dem Goldman-Rakic groß herausgestellt wurde.0 Der Aufsatz stammte von einem anderen Redakteur des Scientific American, Timothy Beardsley, einem erfahrenen Wissenschaftsjournalisten mit einem Doktortitel in Ethologie von der Universität Oxford. Im Verlauf der redaktionellen Bearbeitung gestand Beardsley, daß ihm noch nie Forschungsarbeiten un- 47
tergekommen seien, die so schwer verständlich seien und sich so mühsam in einer befriedigenden, kohärenten Form darstellen ließen. Er hatte das Gefühl, daß etwas fehlte. Mehrere Monate nach der Veröffentlichung von Beardsleys Artikel druckte der Scientific American einen Leserbrief ab, der das Problem betraf, das auch Beardsley und mich beschäftigt hatte. Der Autor des Briefes beklagte sich darüber, daß die in Beardsleys Artikel beschriebenen Forschungen »uns lediglich Auskunft darüber geben, wo im Gehirn etwas geschieht, nicht darüber, was die eigentlichen Mechanismen des Erkennens, Erinnerns und so weiter sind. Und das ist natürlich das, was uns eigentlich interessiert.«
Emotionen erkunden Selbst wenn die Neurowissenschaftler die Mechanismen aufklären, die dem Arbeitsgedächtnis und anderen kognitiven Funktionen zugrunde liegen, müssen sie sich noch einem anderen Problem stellen: Wie fügen sich die Gefühle ins Gesamtbild ein? Bis in die jüngste Vergangenheit versuchten viele Neurowissenschaftler, bei ihren Experimenten Emotionen auszuweichen, und sie behandelten sie als einen ärgerlichen Störfaktor, der Ergebnisse verfälscht, und nicht als einen grundlegenden Teil der menschlichen Natur. Neurowissenschaftler sind dem Beispiel der Kognitionswissenschaftler gefolgt, die sich bemühten, jene informationsverarbeitenden Funktionen, die sich am leichtesten auf Computern nachbilden lassen, wie Sehen, Erinnern, Spracherkennung und logisches Denken, zu verstehen. Durch das Ausblenden des Gefühls hätten Neuro- und Kognitionswissenschaftler ein eindimensionales Bild des Geistes gezeichnet, meinte Joseph LeDoux, ein Neurowissenschaftler von der Universität New York. Die Kognitionswissenschaft sei - 48
»in Wahrheit jedoch nur eine Wissenschaft von einem Teil des Geistes, jenem Teil, der mit Denken, Logik und Verstand zu tun hat«, bemängelte er in seinem 1998 erschienenen Buch Das Netz der Gefühle. »Die Emotionen übergeht sie. Ein Geist ohne Emotionen ist aber überhaupt kein Geist. Es handelt sich um Seelen auf Eis - kalte, leblose Geschöpfe, die weder Begierden noch Ängste, weder Kummer noch Leid, noch Freuden kennen.«17 LeDoux selbst, ein kühler, kontrollierter Mann mit tiefliegenden Augen und sorgfältig gestutztem Bart, hat bewiesen, daß zumindest eine Emotion empirisch untersucht werden kann.18 Anders als das Sprachverständnis oder andere kognitive Funktionen, die nur dem Menschen eigen seien, so LeDoux, sei Furcht ein biologisches Phänomen, dessen Wurzeln weit in die Geschichte des Lebens zurückreichten. Die neuronalen Verschaltungen und Prozesse, die der Furcht zugrunde lägen, seien während der Evolution größtenteils erhalten geblieben; daher könnten uns Experimente an Ratten und anderen Säugetieren wichtige Aufschlüsse über den Menschen geben. Die Amygdala (Mandelkern), die bei Furchtreaktionen eine zentrale Rolle spiele, finde sich nicht nur beim Menschen und bei Primaten, sondern auch bei Ratten. »Das Furchtsystem ist äußerst einfach«, sagte LeDoux. »Ein Reiz wird über die normalen Inputbahnen zur Amygdala geleitet und von dort über die Outputbahnen abgeleitet.« Frühere Studien über Furchtreaktionen hätten widersprüchliche Ergebnisse gebracht, weil die Experimente zu komplex gewesen seien. »Bei jeder Änderung am Experiment verändert man die Art und Weise, wie das Gehirn die Aufgabe ausführt. Bei der Aufklärung der Funktionsweise des Furchtsystems kommt es also darauf an, dieses durch ein einfacheres Modell abzubilden.« LeDoux hat Experimente durchgeführt, bei denen Ratten darauf konditioniert wurden, einen bestimmten akustischen Reiz, etwa einen musikalischen Ton, mit einer unlustvollen - 49
Empfindung, wie etwa einem Elektroschock, zu assoziieren.19 Die anfängliche Reaktion von Ratten und vielen anderen Säugetieren auf einen solchen Reiz ist regloses Verharren, das für ein Tier, das von einem Freßfeind bedroht wird, eine angemessene Schutzreaktion darstellt. Dieses reglose Verharren ist eine angeborene reflektorische Funktion. LeDoux und seine Mitarbeiter zeigten nun, daß Schädigungen einer winzigen Struktur innerhalb der Amygdala, des sogenannten Nucleus lateralis corporis amygdaloidei, bei Ratten dazu führen, daß sie nicht lernen, in Reaktion auf den Ton, der einen Elektroschock ankündigt, reglos zu verharren. Die kognitive Fähigkeit der Ratten war in anderer Hinsicht nicht beeinträchtigt. LeDoux versuchte das neuronale Schaltmuster zu enträtseln, das für komplexeres, furchtinduziertes Verhalten, das auch instrumentelles Lernen genannt wird, erforderlich ist. Wenn eine Ratte beispielsweise lernt, daß regloses Verharren sie nicht davor schützt, einen Elektroschock zu bekommen, probiert sie es mit Vermeidung, indem sie sich in einen anderen Teil des Käfigs begibt oder an den Seiten hochklettert. An diesem Punkt vollziehe die Ratte den Übergang von einem emotionalen Reakteur zu einem Akteur, so LeDoux, der Entscheidungen treffe und verschiedene Strategien ausprobiere. Früher glaubten die Psychologen, die subjektive Empfindung von Furcht sei die erste Komponente der Furchtreaktion; erhöhter Herzschlag, Schweißabsonderung und andere physiologische Symptome würden durch die subjektive Empfindung ausgelöst. LeDoux behauptete, daß das Gegenteil der Fall sei; zunächst träten physiologische Symptome auf, die anschließend die subjektive Empfindung der Furcht auslösten. Unsere bewußten, subjektiven Gefühle seien »für die wissenschaftliche Erforschung der Emotionen falsche Spuren, die ins Abseits führen«.20 LeDoux meinte, in jüngster Zeit sei dem Bewußtsein zuviel Aufmerksamkeit gewidmet worden. »Wer das Phänomen - 50
Bewußtsein erklären könnte, erhielte dafür zweifellos den Nobelpreis«, sagte er mir, »aber ich glaube nicht, daß es uns Aufschluß über das gäbe, was wir über den Geist wissen müssen.« Obgleich Bewußtsein häufig mit Geist gleichgesetzt werde, liefen die meisten mentalen Prozesse unterhalb der Bewußtseinsschwelle ab. Bewußtsein sei zudem eine relativ junge Erfindung der Evolution. »Die meisten Prozesse im Gehirn laufen unbewußt ab. Irgendwann im Verlauf der Evolution bildete sich das Bewußtsein als ein Modul heraus. Es steht mit einigen anderen, nicht aber mit allen übrigen Teilen des Gehirns in Verbindung.« Die Erklärung des Bewußtseins sei nicht so wichtig wie die Beantwortung der Frage, wie das Gehirn auf der Grundlage von Genen und Erfahrungen in jedem Individuum ein Selbst, eine personale Identität erzeuge. »Das ist für mich die große Frage: Wie macht unser Gehirn uns zu der Person, die wir sind? Die Erklärung des Bewußtseins würde dies nicht erklären.« Der Schlüssel zu diesem Problem sei die Beantwortung der Frage, wie sich Anlage und Umwelt auf die neuronale »Verdrahtung« des Gehirns auswirkten. »Was oft übersehen wird, ist, daß Anlage und Umwelt dieselbe Sprache sprechen, die Sprache der Synapsen«, sagte LeDoux. Letztlich manifestierten sich sämtliche Einflüsse auf die Persönlichkeit, egal ob sie von den Genen oder der Erfahrung ausgehen, auf der Ebene der Verbindungen zwischen Neuronen. LeDoux bezweifelte, daß eine Theorie allein die Emotionen erklären könne, denn diese hätten viele Aspekte. »Es gibt eine evolutionäre Komponente, eine kognitive Komponente und eine verhaltensbezogene Komponente. Es ist nur die Frage, in welchem Verhältnis die einzelnen Komponenten in einer konkreten Situation zueinander stehen.« Kognitive Theorien konzentrierten sich meist auf bewußte emotionale Prozesse; evolutionäre Theorien betonten angeborene emotionale Reaktionen; Verhaltenstheorien unterstrichen die Rolle der um- 51
weltbedingten Konditionierung. »In jeder konkreten emotionalen Episode geht es nicht darum, welche Theorie richtig ist, sondern welche welchen Teil der Episode erklärt.« Zudem erfordere jedes Gefühl vermutlich eine eigene Erklärung; die Mechanismen, die der Furcht zugrunde liegen, unterschieden sich vermutlich stark von denjenigen, die Lust oder Haß zugrunde liegen. LeDoux faßte die Forschungen über Emotionen, insbesondere über Furcht, die er und andere durchgeführt haben, in seinem Buch Das Netz der Gefühle zusammen. Er wies vorsichtig darauf hin, daß die neurobiologische Erforschung der Furcht irgendwann einmal wirkungsvollere Behandlungsmethoden für menschliche Angstneurosen hervorbringen könne. Er erzählte, er habe erwartet, daß Psychiater seine Rattenexperimente als irrelevant für ihre Arbeit abtäten. Doch zu seiner Überraschung hätten Psychiater sein Buch begeistert aufgenommen - fast zu begeistert. »Es stieß fast auf einhellige Zustimmung«, erklärte er. »›Ja, bestens! Das ist die Antwort!‹ Sie scheinen so verzweifelt zu sein. Ich glaube nicht, daß ich in meinem Buch Antworten präsentierte. Ich habe lediglich einige Ideen vorgestellt.« Wie Gerald Fischbach, Torsten Wiesel und andere führende Neurowissenschaftler räumt LeDoux bereitwillig die Unzulänglichkeiten seines Fachgebiets ein. »Wir haben keine Ahnung davon, wie uns unser Gehirn zu der Person macht, die wir sind. Es gibt bislang noch keine Neurowissenschaft der Persönlichkeit. Wir haben wenige Erkenntnisse darüber, wie das Gehirn Kunstwerke und geschichtliche Ereignisse erlebt. Die geistige Zerrüttung bei der Psychose ist noch immer ein Rätsel. Kurz, wir müssen erst noch eine Theorie erarbeiten, die all dies integriert. Wir haben noch keinen Darwin, Einstein oder Newton gehabt.«21 LeDoux deutete an, daß die Neurowissenschaft vielleicht gar keine vereinheitlichte Theorie brauche: - 52
Vielleicht sind viele kleine Theorien genau das, was wir am meisten brauchen. Es wäre sehr viel wert, zu wissen, was genau bei Angst beziehungsweise Depression geschieht, selbst wenn wir keine Theorie der Psychose besitzen. Und wäre es nicht wunderbar, zu wissen, wie wir ein wunderschönes Musikstück (sei es Rock oder Bach) erleben, auch wenn wir noch keine Theorie der Wahrnehmung hätten. Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir, ohne über eine allgemeine Theorie der Emotion zu verfügen, Furcht und Liebe verstünden. Die Neurowissenschaft kann zur Lösung dieser Fragen beitragen, auch wenn sie keine Theorie von Geist und Gehirn formulieren kann.
Gagesche Neurowissenschaft Der Neurowissenschaft wird es möglicherweise schwerfallen, auch nur die »kleinen Theorien«, von denen LeDoux sprach, hervorzubringen. Ein grundlegendes Hindernis für den Fortschritt in der Neurowissenschaft - wie in jeder anderen Disziplin, die sich mit der Erforschung des menschlichen Geistes befaßt - ist die enorme Variabilität von Gehirn und Geist. Dieses Problem zeigt sich schon seit geraumer Zeit in Studien an hirngeschädigten Patienten, die uns Hinweise auf die Verbindung zwischen Gehirn und Geist liefern. Lassen Sie uns diese Forschungen zu Ehren ihres berühmtesten Probanden, Phineas Gage, Gagesche Neurowissenschaft nennen. Der fünfundzwanzigjährige Gage beaufsichtigte im Jahr 1848 den Bau einer Eisenbahnlinie in Vermont, als bei einer Explosion eine knapp ein Meter lange Eisenstange seine Wange durchbohrte und an der Oberseite seines Schädels wieder heraustrat. Gage überlebte diesen Unfall nicht nur, er blieb auch bei klarem Verstand. Etwa eine Stunde später wurde er von dem Arzt Edward Williams untersucht. Williams erinnerte sich, daß Gage während dieser Untersuchung »sich so vernünftig äußerte und so bereitwillig antwortete, daß ich meine Fragen an ihn richtete - 53
statt an die Männer, die dem Unfall beigewohnt hatten und noch zugegen waren«.22 Ein Jahr später erklärte ein anderer Arzt Gage für »völlig genesen«.23 Auf Gages Verletzung wurden erhabene theoretische Lehrgebäude errichtet. Mehrere Jahrzehnte lang galt dieser Fall als eine Widerlegung der Hypothese des Phrenologen Franz Gall und anderer, wonach das Gehirn in Teilsysteme untergliedert sei, die auf verschiedene Auf gaben spezialisiert seien, wie etwa Sprache, Bewegung und Sehen. Anfängliche Untersuchungen von Gage deuteten darauf hin - zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte -, daß sein Gehirn in Regionen beschädigt worden war, die angeblich für Sprache und motorische Steuerung zuständig waren, und doch blieben diese Funktionen unversehrt. Das legte den Schluß nahe, daß das Gehirn nicht modular (um den modernen Ausdruck zu verwenden) aufgebaut, sondern eine undifferenzierte Masse ist, die ganzheitlich funktioniert. Zwanzig Jahre nach dem Unfall legte der Arzt John Harlow eine andere Deutung des Falles Gage vor. Harlow, der Gage im Lauf der Jahre viele Male untersucht hatte, deckte auf, daß sich Gages Persönlichkeit, wenn auch nicht seine funktionellen Fähigkeiten, nach dem Unfall tiefgreifend verändert hatte. Gage, der zuvor ein gewissenhafter, besonnener und verantwortungsbewußter Mensch gewesen war, sei jetzt »launisch, respektlos, flucht manchmal auf abscheulichste Weise, was früher nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte, erweist seinen Mitmenschen wenig Achtung, reagiert ungeduldig auf Einschränkungen und Ratschläge, wenn sie seinen Wünschen zuwiderlaufen. [...] Die Wandlung, die er erfuhr, war so tiefgreifend, daß ihn Freunde und Bekannte kaum wiedererkannten.«24 Allmählich wurde der Fall Gage als eine Bestätigung und nicht mehr als Widerlegung der Modularitäts-Hypothese angesehen. Die Teile von Gages Gehirn, die am stärksten beschädigt worden waren, waren die Stirnlappen, die heute all- 54
gemein als Sitz hoher kognitiver Funktionen wie sittliche Urteilskraft und Entscheidungsfindung angesehen werden. Die Gagesche Neurowissenschaft hat die Auffassung vom Gehirn als einer Zusammenstellung von Modulen, die mit außerordentlich spezifischen Funktionen und Merkmalen verknüpft sind, untermauert. Sprachstörungen, die durch Hirnschäden verursacht werden, faßt man unter dem Oberbegriff der Aphasie zusammen. Manche Aphasiker verlieren die Fähigkeit, sich an die Namen von Menschen und Tieren oder auch Gegenständen zu erinnern. Andere sind nicht mehr in der Lage, Verbindungen zu entschlüsseln. Einige Aphasiker können zwar ein Gespräch führen, aber nicht mehr lesen und schreiben oder umgekehrt. Hirnschäden können nicht nur zu Beeinträchtigungen, sondern auch zu drastischen Steigerungen der psychischen Fähigkeiten einer Person führen. Ärzte haben über mehr als dreißig Fälle einer Erkrankung berichtet, die als »Feinschmeckersyndrom« bezeichnet wird und bei Schädigungen im rechten Stirnlappen dazu führt, daß man zwanghaft an erlesene Speisen denkt. Ein ursprünglich als politischer Journalist arbeitender Schweizer hat das Beste aus seiner Erkrankung gemacht; nachdem er von einem Hirnschlag genesen war, begann er, eine kulinarische Kolumne zu schreib e n. 2 5 Eine wichtige Datenquelle für Gagesche Neurowissenschaftler sind Patienten mit einer so schweren Epilepsie, daß die einzige Behandlungsmöglichkeit in der Durchtrennung des Balkens (Corpus callosum) besteht, jenes Nervenfaserbündels, das die beiden Großhirnhälften miteinander verbindet. (Die Operation verhindert die unkontrollierten neuronalen Entladungen, die durch Ausbreitung über das gesamte Gehirn zu epileptischen Anfällen führen.) Durch Untersuchungen an solchen Patienten haben der Nobelpreisträger Roger Sperry und andere in den sechziger Jahren und später herausgefunden, daß jede Großhirnhälfte unterschiedliche Funktionen - 55
wahrnimmt. Die linke Hemisphäre steuert weitgehend das Sprachverständnis und die Sprachproduktion, während die rechte Hemisphäre bei Aufgaben dominiert, bei denen das Sehvermögen und motorische Fertigkeiten eine Rolle spielen. Das florierende Feld der Split-brain-Forschung brachte schon bald die mittlerweile zum Gemeinplatz gewordene Klischeevorstellung hervor: unsere linke Großhirnhälfte verkörpere unser »rationales« Selbst und unsere rechte Großhirnhälfte unser spontanes, »kreatives« Selbst. Eine große Zahl von Selbsthilfebüchern - wie etwa Drawing on the Right Side of the Brain und Right Brain Sex - bot Ratschläge an, wie man den Beschränkungen unserer pedantischen linken Hemisphäre entkommen und zu einem frei denkenden Rechtshemisphäriker werden könne.26 Zeitungen veröffentlichten Werbeanzeigen für Tonbänder mit unterschwelligen Botschaften, die angeblich die geistigen Fähigkeiten erweitern, indem sie gleichzeitig unterschiedliche motivierende Nachrichten an jede Hemisphäre übermitteln. Pädagogen schickten sich an, die Lehrpläne zu modernisieren, um die »rechte Hälfte« des Gehirns ihrer Studenten anzusprechen. Historiker deuteten die Geschichte neu durch die Linse der Split-brain-Forschung; einem Historiker zufolge sei Stalin ein »linkshemisphärischer Führer« gewesen, während Hitler ein »rechtshemisphärisches Naturell« besessen habe. Selbst jene, die es besser hätten wissen müssen, wie etwa Michael Gazzaniga von der Dartmouth-Universität, ein Wegbereiter der Gageschen Neurowissenschaft, kurbelten die allgemeine Euphorie noch an. In seinem 1985 erschienenen Buch The Social Brain formulierte Gazzaniga eine Kritik am Wohlfahrtsstaat, die auf seiner Interpretation der Split-brain-Experimente basierte.27 Über zehn Jahre später zog Gazzaniga sogar einige seiner vorsichtigsten Aussagen über die rechte und linke Großhirnhälfte in Zweifel. In einem Aufsatz, der 1998 im Scientific American erschien, betonte Gazzaniga die - 56
Gefahren, die damit verbunden seien, auf der Grundlage von relativ wenigen Fällen allgemeingültige Aussagen über das Gehirn zu machen.28 Menschen mit denselben Formen von Hirnschädigungen könnten völlig verschiedene Symptome zeigen. Zudem erschwere es die Plastizität des Gehirns sogar, zuverlässige Aussagen über die Folgen von Hirnschädigungen für dieselbe Person zu machen; schließlich veränderten sich Individuen mit der Zeit. Schwere Läsionen in der linken Hemisphäre führen im allgemeinen zu einer dauerhaften Beeinträchtigung des Sprachvermögens - nicht aber bei einem Patienten, der mit den Initialen J. W. benannt wurde. Obgleich J. W. nach einem chirurgischen Eingriff in der linken Hemisphäre stumm war, erlangte er mit Hilfe seiner rechten Hemisphäre dreizehn Jahre nach der Operation das Sprachvermögen zurück. Ein britischer Junge namens Alex stellt einen noch bemerkenswerteren Fall dar.29 Er kam mit einer so starken Mißbildung der linken Hemisphäre zur Welt, daß er unter ständigen epileptischen Anfällen litt. Außerdem war er völlig stumm. Als Alex acht Jahre alt war, entfernten Chirurgen seine linke Großhirnhälfte, um seine Epilepsie zu lindern. Obschon die Ärzte seine Eltern warnten, keine Besserung seiner sonstigen Symptome zu erwarten, begann Alex zehn Monate später zu sprechen, und im Alter von sechzehn Jahren sprach er flüssig. Die Gagesche Neurowissenschaft verdeutlicht ein Haupthindernis für das Verständnis des menschlichen Gehirns. Ein vermeintlicher Grundpfeiler der Naturwissenschaft ist ihre Fähigkeit, Experimente und damit Befunde zu reproduzieren. Doch das Kriterium der Reproduzierbarkeit stellt für die Wissenschaft vom menschlichen Geist eine extreme Herausforderung dar, weil sich alle Gehirne und alle psychischen Erkrankungen in relevanten Aspekten voneinander unterscheiden. Dies läßt sich nach Ansicht von Jack Pressman, einem Medizinhistoriker an der Universität von Kalifornien in San Fran- 57
cisco, eindeutig der Geschichte der Lobotomie entnehmen. In seinem 1998 erschienenen Buch Last Resort: Psychosurgery and the Limits of Medicine wies er darauf hin, wie schwierig es sei, zuverlässige Aussagen über den Nutzen der Lobotomie zu machen – eines Verfahrens zur Behandlung schwerer Psychosen, bei dem die präfrontalen Faserverbindungen durchtrennt werden. Einige Patienten schienen von dem Eingriff zu profitieren, anderen ging es schlechter als vorher. Einige Patienten verfielen in einen Zustand ungehemmter motorischer Erregung, wie Phineas Gage, andere in einen geradezu katatonen Stupor. Pressmans Fazit lautete: »Da jeder Mensch aus einer einmaligen Kombination von physiologischen Gegebenheiten, sozialer Identität und persönlichen Werten besteht, stellt jeder Patient praktisch ein einzigartiges Experiment dar. «30 Im September 1998 versammelten sich Wissenschaftler aus der ganzen Welt in Cavendish, Vermont, um des hundertfünfzigsten Jahrestages des Unfalls von Phineas Gage zu gedenken. In einem Bericht über die Konferenz in Science wurde hervorgehoben, daß die Forscher die Fragen, die erstmals durch Gages Fall aufgeworfen worden waren, noch immer nicht beantwortet hätten; die Wissenschaftler »streiten sich weiterhin über die Frage, ob der frontale Kortex als Einheit funktioniert oder seine Aufgaben aufteilt«. Ein Konferenzteilnehmer erklärte tapfer, daß »die Wahrheit vermutlich irgendwo dazwischen liegt«.31
Die Anfälligkeit der Psychologie für Moden Die Skepsis des Sokrates gegenüber der Anwendung physikalischer Überlegungen auf das menschliche Denken und Verhalten hat sich als außerordentlich weitsichtig erwiesen. So besteht zwischen der Neurowissenschaft und Disziplinen, die - 58
mentale Phänomene auf höherer Organisationsebene betrachten, wie etwa der Psychiatrie, eine eigentümliche Diskrepanz. Der britische Neurophysiologe Charles Sherrington, der 1932 für seine Arbeiten über das Nervensystem mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, schrieb einmal: »Im Medizinstudium und in der ärztlichen Praxis klafft eine enorme Lücke zwischen dem Gebiet der Neurologie und der Wissenschaft von der geistigen Gesundheit, der Psychiatrie. Den Ärzten wird manchmal angelastet, die eine oder die andere Seite zu kurz kommen zu lassen. Das stimmt zwar, ist aber auch nicht so wichtig. Es gibt einen guten Grund dafür. Die Physiologie hat nicht genügend Erkenntnisse über das Verhältnis von Gehirn und Geist anzubieten, um dem Psychiater eine echte Hilfe zu sein.«32 Der Aufstieg der Psychopharmakologie in den sechziger Jahren weckte die Hoffnung, psychische Krankheiten könnten biochemisch erklärt werden. Weil Neuroleptika wie Chlorpromazin und Reserpin die Konzentration des Neurotransmitters Dopamin im Gehirn erhöhen, sahen die Psychiater in der Schizophrenie eine dopaminabhängige Störung und nicht mehr die Folge eines psychischen Traumas. Die Entwicklung spezieller Antidepressiva, der sogenannten Monoaminoxidasehemmer und der trizyklischen Antidepressiva, die die Konzentration der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin steigern, nährten Spekulationen, daß depressiven Erkrankungen ein Mangel an diesen Neurotransmittern zugrunde liege. Die wachsende Beliebtheit der sogenannten Selektiven Serotoninrückaufnahme-Hemmer (SSRI) wie etwa Fluctin hat dazu geführt, daß Serotonin allein als Schlüssel zur Depression angesehen wird. (Bislang gibt es keine allgemein anerkannte Erklärung für die therapeutische Wirksamkeit von Lithium bei manisch-depressiven Erkrankungen.) Doch selbst die Urheber dieser Neurotransmitter-Hypothese räumen ihre Schwachpunkte ein. Angesichts der Allgegenwart eines Neurotrans- 59
mitters wie Serotonin und der Vielfalt seiner Funktionen ist sein Erklärungswert als Kausalfaktor für die Entstehung von Depressionen genauso gering wie etwa der von Blut. Zudem sind Medikamente zur Behandlung von psychischen Erkrankungen nicht so wirksam, wie oft behauptet wird. Neurowissenschaftler haben sich bemüht, physiologische Entsprechungen für die Schizophrenie und andere Erkrankungen zu finden, indem sie das Gehirn von psychisch Kranken mit der PET und anderen bildgebenden Verfahren untersuchten. Bislang haben diese Bemühungen entmutigend mehrdeutige Ergebnisse erbracht. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang eine vielzitierte MRT-Studie, die 1990 am National Institute of Mental Health durchgeführt wurde. Die Forscher verglichen die Gehirne von fünfzehn Schizophrenen mit den Gehirnen ihrer nichtschizophrenen eineiigen Zwillingsgeschwister. Bis auf einen hatten alle Schizophrenen größere Hirnkammern - flüssigkeitsgefüllte Hohlräume im Zentrum des Gehirns - als ihre nichtschizophrenen Geschwister. Lewis Judd, der damalige Direktor des National Institute of Mental Health, pries die Studie als einen »Markstein«, der »unwiderlegbare Beweise dafür erbracht hat, daß die Schizophrenie eine Erkrankung des Gehirns ist«.33 Leider konnten die Forscher jedoch nicht feststellen, ob die vergrößerten Hirnkammern eine Ursache oder eine Folge der Schizophrenie waren - beziehungsweise der Medikamente, die zu ihrer Behandlung eingesetzt wurden. Folgestudien ergaben, daß auch viele normale Menschen relativ große Hirnkammern besitzen und daß dies andererseits bei vielen Schizophrenen nicht der Fall ist. Auch zwischen der Neurowissenschaft und der Psychologie gibt es eine beunruhigende Spaltung. Neurowissenschaftler »machen grundlegende Entdeckungen von weitreichender Bedeutung«, schrieb der an Harvard lehrende Psychologe Jerome Kagan einmal. »Aber die beobachtbaren Verhaltensereignisse, auf welche diese einzelnen Entdeckungen zutreffen, sind viel- 60
fach unklar [...] von entscheidender Bedeutung ist die Aufklärung des Zusammenhangs zwischen molekularen und Verhaltensereignissen. Jeder Bereich besitzt eine gewisse Unabhängigkeit.«34 Mit diesem Aspekt der »Erklärungslücke« befaßte sich ein 1998 im American Scientist erschienener Aufsatz mit dem Titel »Psychological Science at the Crossroads«35. Die drei Verfasser, ausnahmslos Psychologen, suchten in den vier einflußreichsten psychologischen Fachzeitschriften - American Psychologist, Annual Review of Psychology, Psychological Bulletin und Psychological Review - neurowissenschaftliche Quellenangaben. Sie fanden heraus, daß sich die enorme Zunahme der neurowissenschaftlichen Forschung nicht in den Zitaten in psychologischen Aufsätzen widerspiegelte. »Der Stellenwert der Neurowissenschaft nimmt zweifelsfrei zu, allerdings nach unseren Erhebungen nicht in der Hauptströmung der Psychologie.« Bislang ist es der Neurowissenschaft nicht gelungen, in der Psychologie wahrgenommen zu werden, während sie den Fortschritt im Bereich der Biologie gekennzeichnet hat. Die Neurowissenschaftler V. S. Ramachandran und J.J. Smythies von der Universität von Kalifornien in San Diego haben unlängst in einem Aufsatz in Nature auf diesen Punkt hingewiesen: Jeder, der sich für Ideengeschichte interessiert, dürfte über die folgenden bemerkenswerten Unterschiede zwischen Fortschritten in der Biologie und Fortschritten in der Psychologie verwundert sein. Der Fortschritt in der Biologie war durch wegweisende Entdeckungen gekennzeichnet, die jeweils zu einem Quantensprung in unserem Wissen führten - die Entdeckung der Zellen, der Mendelschen Gesetze der Vererbung, der Chromosomen, der Mutationen, der DNA und des genetischen Codes. Die Psychologie hingegen zeichnete sich durch eine peinlich lange Folge von »Theorien« aus, die im Grunde nichts anderes waren als flüchti- 61
ge Modeerscheinungen, die nur selten die Personen überlebten, die sie erfunden hatten.36
Eine psychologische Mode beziehungsweise »Theorie«, die ihren Erfinder überlebt hat, ist die Psychoanalyse. Obgleich die Psychoanalyse in gewissen naturwissenschaftlichen Kreisen zum Inbegriff der Pseudowissenschaft geworden ist, finden einige der führenden Neurowissenschaftler Freuds Ideen noch immer höchst plausibel. Susan Greenfield von der Universität Oxford ist Direktorin der britischen Royal Institution und eine der bekanntesten Neurowissenschaftlerinnen Großbritanniens. »Einer der Gründe, weshalb ich Freud, vielleicht unabhängig von seinen spezifischen Theorien, bewundere, ist die Tatsache, daß er ein Pionier war«, äußerte sie 1997 gegenüber einem britischen Journalisten. »Allerdings bin ich mit meiner Ansicht, daß Freud eine wichtige Inspirationsquelle war, wohl eher eine Ausnahme unter den Neurowissenschaftlern.«37 Greenfields Sympathie für Freud wird von Floyd Bloom geteilt, dem Leiter der Abteilung Neuropharmakologie am Scripps-Forschungsinstitut und Autor mehrerer Bücher über Neurowissenschaft sowie Herausgeber des Wissenschaftsmagazins Science. Als ich ihn fragte, ob er glaube, daß die Neurowissenschaft möglicherweise eines Tages die Psychoanalyse bestätigen würde, antwortete er: »Ich schließe dies nicht aus.« 38 Er sagte mir, er sei vor zwanzig Jahren zu der Überzeugung gelangt, daß die Neurowissenschaft vielleicht den plötzlichen Perspektivwechsel beziehungsweise das plötzliche »Umschalten in einen anderen intellektuellen Gang«, das manchmal während einer Psychoanalyse auftrete, erhellen könne. Bloom erwog sogar, in ein psychoanalytisches Institut einzutreten, um Stoff für sein Projekt zu sammeln; er entschied sich nur deshalb dagegen, weil eine unerwartete Innovation in der Molekularbiologie, durch die Gene in beliebig - 62
großen Zahlen vervielfältigt werden konnten, ihn wieder ins Labor lockte. Ein anderer hochkarätiger Freudophiler ist Gerald Edelman, der für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Immunologie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, später auf Neurowissenschaft umsattelte und heute das Institut für Neurowissenschaft in La Jolla, Kalifornien, leitet. Edelman widmete sein Buch Göttliche Luft, vernichtendes Feuer, eine populärwissenschaftliche Darstellung seiner Theorie des Geistes, zwei »intellektuellen Bahnbrechern, Charles Darwin und Sigmund Freud. In viel Weisheit viel Traurigkeit.« Er schrieb über das Unbewußte: Mein Freund Jacques Monod, ein Molekularbiologe, stritt sich oft heftig mit mir über Freud, wobei er darauf bestand, Freud sei unwissenschaftlich und womöglich ein Scharlatan gewesen. Ich vertrat die Meinung, daß Freud, wenn auch vielleicht nicht in unserem Sinn ein Wissenschaftler, so doch besonders in seiner Sicht des Unbewußten und dessen Rolle für das Verhalten ein großer intellektueller Wegbereiter gewesen sei. Monod, Nachfahre strenger Hugenotten, antwortete: ›Ich kenne meine Beweggründe vollständig und bin für meine Handlungen voll verantwortlich. Sie sind alle bewußt.‹ Verzweifelt sagte ich einmal: ›Jacques, sieh es doch mal so: Alles, was Freud sagt, gilt für mich und nichts davon für dich.‹ Er antwortete: ›Genau, lieber Freund.‹39
Psychoanalyse und Seehasen Angetan von Freud ist auch Eric Kandel, der Direktor des Zentrums für Neurobiologie und Verhalten an der ColumbiaUniversität. Kandel ist durch die Kombination von scharfem Verstand und einschüchterndem Auftreten seit Jahrzehnten die beherrschende Gestalt der Neurowissenschaft. 40 Er ist - 63
Mitautor von zwei herausragenden neurowissenschaftlichen Lehrbüchern, Principles of Neural Science und Essentials of Neural Science and Behavior,41 und hat darüber hinaus viele populärwissenschaftliche Darstellungen der Neurowissenschaft maßgeblich beeinflußt.42 Wenn ihm die Berichterstattung über die Neurowissenschaft in der New York Times, dem Scientific American oder anderen Publikationen mißfällt, ruft er Herausgeber und Reporter an, um sich zu beschweren und ihnen Ratschläge zu erteilen, wie sie die Berichterstattung verbessern könnten. Der in Wien geborene Kandel studierte an der New-York Universität und der Harvard-Universität Psychiatrie, doch zu Beginn der sechziger Jahre spezialisierte er sich auf Neurowissenschaft. Er beschloß, nicht das Nervensystem vom Homo sapiens, sondern das der Aplysia californica zu erforschen, einer Seehase genannten Meeresschnecke, die einmal plastisch als eine »purpurrot-grüne Folienkartoffel mit Ohren« beschrieben wurde. 43 Die Nervenzellen dieses Geschöpfs sind die größten, die bislang wissenschaftlich beschrieben wurden; man kann sie mit bloßem Auge sehen. Die Aplysia war ein vollkommenes Versuchsobjekt für Kandels Untersuchungen über die molekularen Grundlagen des Gedächtnisses und des Lernens. Wenn sie an einer bestimmten Stelle mit einem Wasserstrahl bespritzt wird, zieht sie sich ruckartig in einen Mantel zurück. Je öfter man diese Stimulation wiederholt, um so lustloser zieht sie sich zurück, bis sie den Reiz schließlich völlig ignoriert. Durch diesen Habituation (Gewöhnung) genannten Prozeß lernt die Meeresschnecke, den Wasserstrahl nicht mit Gefahr zu assoziieren. Kandel und seine Mitarbeiter erzeugten das Gegenteil der Habituation - einen Effekt, der Sensibilisierung genannt wird -, indem sie die Aplysia wiederholt bespritzten und ihr gleichzeitig einen Elektroschock verabreichten. Das Tier lernte rasch, sich schon bei der leichtesten Berührung zurückzu- 64
ziehen. Kandels Arbeitsgruppe zeigte, daß sowohl Habituation als auch Sensibilisierung molekulare Veränderungen in den Neuronen auslösen, die den Rückzugsreflex der Aplysia steuern. Bei der Habituation schütteten die Neuronen weniger Neurotransmittermoleküle in die synaptischen Spalte aus, die sie mit benachbarten Neuronen verbinden; umgekehrt schütteten sensibilisierte Neuronen mehr Neurotransmitter aus. Diese Experimente lieferten empirische Belege für eine Hypothese, die erstmals in den fünfziger Jahren von Donald Hebb formuliert wurde und die besagt, daß Lernprozesse die Stärke der Verbindungen zwischen Neuronen verändern. Dieser Hebbsche Mechanismus dient als Grundlage für ein Modell der Künstlichen Intelligenz, das sich auf sogenannte neuronale Netze stützt (die ich im siebten Kapitel behandeln werde). In den neunziger Jahren führten Kandel und seine Mitarbeiter Experimente mit einem Stoff durch, der als ein potentielles »E = mc2 des Geistes« hochgejubelt wurde 44 - ein Protein, das offenbar als ein Schlüsselschalter bei der Bildung von Erinnerungen fungiert. Zusammen mit anderen Gruppen zeigte Kandels Team, daß dieses Protein, das CREB (cyclic-AMP-responsive element binding protein] genannt wird, der Aplysia dabei hilft, Inhalte des Kurzzeitgedächtnisses ins Langzeitgedächtnis zu überführen; wird das Protein chemisch neutralisiert, kann die Meeresschnecke die Langzeiterinnerungen, die charakteristisch für Sensibilisierung und Habituation sind, nicht bilden. Andere Forscher haben ähnliche Experimente an Taufliegen, Mäusen und anderen Lebewesen durchgeführt. In einem Alter, in dem die meisten Wissenschaftler bereit sind, das Feld jüngeren Kollegen zu überlassen, ist Kandel noch immer sehr aktiv. Ein im Februar 1998 im New York Times Magazine erschienener Artikel über Gedächtnisforschung enthält ein ganzseitiges Foto von Kandel, auf dem er ein blaugestreiftes Hemd und eine rote Fliege trägt und eine schleimig glänzende Aplysia in der Hand hält. Der Verfasser - 65
des Artikels weist darauf hin, daß Kandel »einen Großteil der bahnbrechenden Forschungsarbeiten über die molekularen Grundlagen des Gedächtnisses durchgeführt hat« und weiterhin zu den Spitzenforschern auf seinem Gebiet zähle. 45 Kandel versuchte, kommerzielles Kapital aus seinen wissenschaftlichen Errungenschaften zu schlagen, indem er ein Unternehmen mit dem Namen Memory Pharmaceuticals gründete, das Medikamente vermarktet, die angeblich den Gedächtnisverlust verlangsamen, aufhalten oder sogar umkehren. Der Artikel erwähnte, daß sich Kandel für die Psychoanalyse interessiert habe, bevor er sich der Neurowissenschaft zuwandte. Was der Artikel nicht erwähnte, war, daß Kandel sich zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere einer Psychoanalyse unterzogen und sogar erwogen hatte, Psychoanalytiker zu werden. Obgleich ihn »die Neurobiologie auf fruchtbare Weise abgelenkt hat«46 (wie es die Times formulierte), hörte er nie auf, an das theoretische und therapeutische Potential der Psychoanalyse zu glauben. Er hat die Hoffnung, daß Freuds Theorien über die Psyche eines Tages durch die Neurowissenschaft erhärtet werden. Kandel äußerte diese Hoffnung in seinem Beitrag »A New Intellectual Framework for Psychiatry«, der im April 1998 im American Journal of Psychiatry veröffentlicht wurde. 47 Er wies darauf hin, daß seine Experimente und die Experimente von anderen gezeigt hätten, daß Erfahrungen physikalische Veränderungen in den Neuronen herbeiführten. Konkreter ausgedrückt heißt das: Habituation und Sensibilisierung von Neuronen können Gene ein- und ausschalten oder ihre Ausprägung anderweitig beeinflussen. Aus diesen Befunden folge, daß Erfahrungen, wie etwa traumatische Ereignisse in der Kindheit, durch neurochemische und genetische Wirkungen Neurosen verursachen können. In gleicher Weise könnten die Psychoanalyse und andere Psychotherapien langfristig heilsame Wirkungen auf genetischer Grundlage herbeiführen. - 66
»Aufgrund von Fortschritten, die die Neurowissenschaft in den letzten Jahren gemacht hat, befinden sich Psychiatrie und Neurowissenschaft heute in einer neuen und besseren Lage, um sich einander anzunähern - eine Annäherung, die den Einsichten der psychoanalytischen Betrachtungsweise erlauben würde, das Bemühen um ein tieferes Verständnis der biologischen Grundlagen des Verhaltens zu bereichern.« Ich traf Kandel Ende 1997 in seinem Büro im sechsten Stock des Instituts für Psychiatrie in Manhattan. 48 Von seinem Büro aus hat man einen malerischen Ausblick auf den Hudson River, und als wir uns die Hand gaben, versank die blutrote Sonne hinter der Silhouette der Hochhäuser von New Jersey. Wie andere Neurowissenschaftler, die ich interviewt hatte, schwankte auch Kandel zwischen Stolz und Demut, als er ein Resümee der Errungenschaften seiner Disziplin zog. Als ich ihn fragte, ob er glaube, das Gedächtnis werde bald ein »gelöstes« Problem sein, schnitt Kandel eine Grimasse und schüttelte den Kopf. Er erklärte, der große Neurowissenschaftler Ramon y Cajal habe einmal gesagt, Probleme seien niemals erschöpft, höchstens die Wissenschaftler, die an ihrer Lösung arbeiteten. Es sei möglich, so Kandel weiter, daß das CERB-Protein und andere Entdeckungen die gemeinsame Grundlage vieler unterschiedlicher Typen von Gedächtnis enthüllen könnten, so wie die Aufklärung der Struktur der DNA ein einheitliches Modell der Vererbung geliefert habe. Doch das Gedächtnisproblem sei »noch weit von einer Lösung entfernt«. Die Forscher müßten erst noch klären, auf welche Weise die verschiedenen Regionen des Gehirns bei der Codierung, Konsolidierung, Speicherung und Abrufung einer Erinnerung zusammenwirkten. »Wir haben keinen blassen Schimmer von alldem.« Die meisten wissenschaftlichen Disziplinen, sagte er nachdenklich, wechselten zwischen Phasen wachsender Komplexität und Phasen zunehmender Vereinheitlichung. »Wir befinden uns heute in einem Zeitalter der Aufspaltung.« Er habe - 67
sein zum Klassiker avanciertes Lehrbuch Principles of Neural Science seit der Erstveröffentlichung 1981 dreimal aktualisieren müssen, um die Flut neuer Erkenntnisse einzubringen. »Die einfachen Probleme sind gelöst. Jetzt wenden wir uns den kniffligsten zu.« Ein zentrales Problem der Neurowissenschaft, so Kandel, sei die Frage, wie das Gehirn aus vielen verschiedenartigen Elementen Bilder der Wirklichkeit zusammensetze. Das Gehirn bilde die Welt nicht in der gleichen Weise wie eine Kamera ab; »es zerlegt das Bild, es zerlegt alle Empfindungen und setzt sie dann wieder zusammen«. Forschungen an lebenden Primaten, wie sie von Patricia Goldman-Rakic und anderen durchgeführt würden, könnten Anhaltspunkte dafür liefern, wie das Gehirn sein Bild der Wirklichkeit erzeugt. »Das ist meines Erachtens eine sehr fruchtbare Methode«, meinte Kandel. Doch wie Torsten Wiesel und Gerald Fischbach betonte auch er, daß das Problem des binding - das Dilemma des Reduktionismus, um meinen Begriff zu gebrauchen - noch immer weitgehend ungelöst sei. Zu Beginn seiner Tätigkeit als Neurowissenschaftler dachte Kandel, es würde zu einer »raschen Verschmelzung« zwischen Neurowissenschaft und Psychiatrie kommen. Offensichtlich fand diese Synthese nicht statt. Kandel sagte, daß die Psychoanalytiker, die die Psychiatrie in den fünfziger und sechziger Jahren beherrschten, eine Mitschuld an diesem Stillstand treffe. »Die Psychoanalyse machte eine Phase durch, in der sie so sehr von ihrer Macht überzeugt war, daß sie ihre Interessen auf sämtliche psychiatrischen Erkrankungen und alle Gebiete der Medizin ausdehnte. Das trug mit zu ihrem Niedergang bei. Soweit sie funktioniert, tut sie es vermutlich nur in einer begrenzten Reihe von Umständen.« Die Psychoanalytiker seien zudem »pflichtvergessen« gewesen, da sie ihre eigenen Methoden nicht hinterfragt und nicht auf den Prüfstand gestellt hätten. - 68
Viele der grundlegenden Ideen Freuds - wie etwa seine Behauptung, daß Konflikte in der Kindheit unsere Persönlichkeit formten und daß ein Großteil unseres psychischen Lebens unterhalb der Bewußtseinsschwelle ablaufe - seien längst Gemeingut geworden, so Kandel. »Meiner Meinung nach werden sie heute praktisch von jedermann akzeptiert.« Doch blieben Fragen zu spezifischeren Aspekten der Freudschen Theorie, wie etwa der genauen Art und Weise, in der Kindheitserfahrungen verschiedene Persönlichkeitszüge und -Störungen hervorbrächten, offen. »Halten sie einer empirischen Überprüfung stand und unter welchen Umständen? Sind sie universell? Und was noch wichtiger ist: Hat die Psychoanalyse eine therapeutische Wirkung, und wenn ja, unter welchen Umständen?« Er sei »intuitiv« von der Wirksamkeit der Psychoanalyse überzeugt - seine eigene Analyse habe ihn zu einem glücklicheren Menschen gemacht, versicherte mir Kandel -, doch ihre therapeutische Wirksamkeit zu beweisen sei eine ganz andere Sache. Forschungen könnten zeigen, daß Psychotherapien günstige Veränderungen im Gehirn herbeiführten, die »so spezifisch sind wie die Wirkungen von Medikamenten - vielleicht sogar spezifischer. Das wäre hervorragend.« Wenn das Gespräch mit einem Freund, einem Seelsorger oder einem Therapeuten Veränderungen im Gehirn auslöse, was es zweifellos tue, stelle sich die Frage, »weshalb dies weniger wert sein soll als die Einnahme von Fluctin?« Selbst wenn Studien die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse nicht nachweisen könnten, bleibe sie eine »sehr humane, fruchtbare Betrachtungsweise der menschlichen Psyche.« Zu Beginn dieses Jahrhunderts diente die Psychoanalyse als ein Gegengewicht zu den Auswüchsen des Behaviorismus, der ein »sehr flaches« Bild der psychischen Repräsentation entworfen habe. Die Psychoanalyse habe auch die Entdeckung der modernen Neurowissenschaft und kognitiven Psychologie vorweggenommen, wonach das Gehirn die Wirklichkeit kon- 69
struiere und nicht bloß abbilde. Die Psychoanalyse »kann uns daher schlimmstenfalls eine Weltanschauung [dt. im Original] liefern, die recht fruchtbar ist. Bestenfalls mag sich herausstellen, daß sie eine wirklich nützliche Therapie ist.« Es sei möglich, so Kandel, daß der Erfolg einer psychoanalytischen Behandlung auf die Erwartungen des Patienten zurückzuführen sei – anders gesagt, auf den Placebo-Effekt. »Vielleicht ist die Psychoanalyse lediglich eine sehr wirkungsvolle Methode, um das Vertrauen des Patienten für therapeutische Zwecke einzuspannen. Man würde sich wünschen, daß mehr dahintersteckt, aber das könnte das ganze Geheimnis sein.« Kandel widersprach der Behauptung, ein solcher Befund stelle die Psychoanalyse auf eine Stufe mit dem Gesundbeten. Gesundbeter seien viel öfter Scharlatane und Betrüger als Psychoanalytiker, Psychiater und andere, die der anerkannten Wissenschaft näherstünden. »Das soll nicht heißen, daß man unter gut ausgebildeten Ärzten keine Scharlatane findet, sondern nur, daß die statistische Wahrscheinlichkeit sehr viel geringer ist.«
Freud als Neurowissenschaftler Ironischerweise schien Freud selbst gegen Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn zu bezweifeln, daß uns die Neurowissenschaft tiefe Erkenntnisse über die menschliche Psyche verschaffen könne. Bevor Freud die Psychoanalyse begründete, verbrachte er über zehn Jahre mit Forschungen, die man heute zur Neurowissenschaft zählt. 49 Er erforschte das Nervensystem von Neunaugen und Flußkrebsen, und von 1882 bis 1885 arbeitete er im Allgemeinen Krankenhaus in Wien intensiv mit hirngeschädigten Patienten. Er veröffentlichte über dreihundert Aufsätze und fünf Bücher über Neurobiologie, darunter auch eine Monographie über Aphasie und andere - 70
Krankheitsbilder, die durch Schädigungen am zentralen Nervensystem verursacht werden. Im Jahr 1895 war Freud für kurze Zeit davon überzeugt, daß die menschliche Psyche und ihre Erkrankungen auf rein physiologischer Grundlage erklärt werden könnten, etwa unter Bezugnahme auf die unlängst entdeckten Neurone. An seinen Freund Wilhelm Fliess schrieb er: »In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche [...] haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins. Es schien alles ineinanderzugreifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen.« 50 Im selben Jahr umriß Freud seine Vision einer physiologisch begründeten Theorie der Psyche in einem Manuskript, das später Entwurf einer Psychologie genannt wurde: »Es ist die Absicht, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, das heißt psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile [und sie] damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen. Enthalten [sind] zwei Hauptideen: [1.)] das, was Tätigkeit und Ruhe unterscheidet, als Q aufzufassen, die dem allgemeinen Bewegungsgesetz unterworfen [ist], 2.) als materielle Teilchen die Neurose zu nehmen.« 51 Freud hat dieses Manuskript nie veröffentlicht, und am 29. November 1895 schrieb er wieder an Fliess: »Den Geisteszustand, in dem ich die Psychologie ausgebrütet, verstehe ich nicht mehr«.52 Unmittelbar im Anschluß an diese Periode begann er, ein rein psychologisches Modell der Psyche zu entwerfen, die Psychoanalyse. Im Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere bezweifelte Freud immer stärker, daß man die Psyche und ihre Störungen rein physiologisch erklären könne. Im Jahr 1938, kurz vor seinem Tod, schien er die Möglichkeit, - 71
daß die Psychologie jemals mit der Neurowissenschaft vereinigt würde, auszuschließen: Von dem, was wir unsere Psyche (Seelenleben) nennen, ist uns zweierlei bekannt, erstens das körperliche Organ und Schauplatz desselben, das Gehirn (Nervensystem), andererseits unsere Bewußtseinsakte, die unmittelbar gegeben sind und uns durch keinerlei Beschreibung nähergebracht werden können. Alles dazwischen ist uns unbekannt, eine direkte Beziehung zwischen beiden Endpunkten unseres Wissens ist nicht gegeben. Wenn sie bestünde, würde sie höchstens eine genaue Lokalisation der Bewußt53 seinsvorgänge liefern und für deren Verständnis nichts leisten.
Wie Sokrates über zweitausend Jahre vor ihm schien Freud sagen zu wollen, daß die Erklärungslücke möglicherweise nie geschlossen werde. Aufgrund des Unvermögens der Neurowissenschaft, Freuds Theorien zu bestätigen beziehungsweise zu widerlegen, ist diese Prophezeiung bislang in Erfüllung gegangen.
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2. WARUM FREUD NICHT TOT IST So ist es durchaus möglich, und wie man vermuten könnte, in überwältigender Weise wahrscheinlich, daß wir über das menschliche Leben und die menschliche Persönlichkeit aus Romanen immer mehr erfahren werden als durch wissenschaftliche Psychologie. 1
NOAM CHOMSKY, Probleme sprachlichen Wissens
regnerischen Frühlingstag des Jahres 1996 saß ich Animeinem Ballsaal eines Hotels und lauschte einer großen Zahl von Freuds intellektuellen Nachfahren, die ihre Befürchtungen und Wünsche enthüllten. Der Anlaß war ein Treffen der Fachgruppe 39 der American Psychological Association.2 Etwa vierhundert Mitglieder dieser Gruppe, eines Refugiums treuer Anhänger der Psychoanalyse, hatten fünf Tage lang im opulenten Waldorf-Astoria in New York City getagt. Das offizielle Thema des Treffens klang beschwingt: »Psychoanalysis: A Creative Journey«. Doch ich war wegen Diskussionsforen gekommen, in denen unerfreulichere Themen behandelt wurden: »Der Tod der Psychoanalyse: Mord, Selbstmord oder stark übertriebenes Gerücht?« »Psychoanalytische Technik: Hat sie eine Zukunft?« und »Psychoanalyse auf dem Rückzug«. Die Befürchtungen kamen bei einer »offenen Diskussionsrunde«, bei der Mitglieder der Fachgruppe 39 jedes beliebige Thema ansprechen konnten, unverhohlen zum Ausdruck. Morris Eagle, der Vorsitzende der Fachgruppe 39 und ein bekannter New Yorker Psychoanalytiker, eröffnete die Sitzung mit der Empfehlung, die Teilnehmer sollten sich mit dem »Hauptproblem« befassen, mit dem sie gegenwärtig konfrontiert seien: »dem Überleben der Psychoanalyse im besonderen und der langfristigen psychodynamischen Behandlung beliebiger Art unter den Rahmenbedingungen der neuen integrierten Gesundheitsfürsorge (managed health care).« - 73
Teilnehmer der Diskussionsrunde schlugen verschiedene Gegenmaßnahmen vor. Jedesmal wenn jemand die Psychoanalyse in der Öffentlichkeit »heruntermacht«, solle, so der Vorschlag einer Frau, ein Mitglied der Fachgruppe 39 darauf mit einem Aufsatz oder Leitartikel entgegnen. Der einzige Weg, die Psychoanalyse zu stützen, sei der empirische Nachweis ihrer Überlegenheit im Vergleich zu anderen Behandlungsverfahren, meinte ein Mann; in der neuerdings so wettbewerbsintensiven Atmosphäre, die durch die integrierte Gesundheitsfürsorge erzeugt worden sei, »müssen wir nachweisen, daß wir ein besseres Produkt haben«. Ein anderer bestätigte, die Psychoanalytiker müßten Studien durchführen, die bewiesen, daß die Psychoanalyse die medizinischen Kosten, die Arbeitsausfallzeiten und den Alkoholismus verringern könne. Andere äußerten ihre Zweifel. Ein ehemaliger Mathematiker stand auf und erklärte, daß »man mit statistischen Daten alles beweisen kann, und leider beginnt die Öffentlichkeit dies zu begreifen«. »Ich glaube nicht, daß wir auf empirischer Basis gewinnen können«, stimmte ein anderer zu; der Nutzen der Psychoanalyse könne lediglich auf einer »subjektiven, existentiellen Basis« beurteilt werden. Eagle, der Vorsitzende, wies warnend darauf hin, daß Studien, die die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse nachweisen sollten, ihren Gegnern in die Hände spielen könnten. Im Verlauf des Treffens wurde die Stimmung immer gedrückter. Ein Psychoanalytiker beklagte sich, daß das Vorlesungsverzeichnis des Colleges seiner Tochter keinen einzigen Kurs über Freud anbiete. Ein anderer bekundete seine Verwunderung darüber, daß es der Psychoanalyse »in so kurzer Zeit gelungen ist, so viele Menschen gegen sich aufzubringen und sich selbst in eine derartige Außenseiterposition zu manövrieren«. Gegner der Psychoanalyse fänden sich sogar innerhalb der Dachorganisation der Fachgruppe 39, der Ame- 74
rican Psychological Association, meinte er in mürrischem Tonfall. Ein anderer wies darauf hin, daß Freud selbst gegen Ende seines Lebens bezweifelt habe, daß die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren überleben werde. Eine Frau aus La Jolla in Kalifornien erklärte, daß sie und andere Psychoanalytiker in ihrer Region wachsende Schwierigkeiten hätten, so viele Patienten zu halten, daß sie ihre Praxis weiterhin rentabel führen könnten. Sie beklagte bitterlich, daß sie aufgrund neuer Gerichtsurteile wegen Verletzung der beruflichen Sorgfaltspflicht verklagt werden könne, wenn sie kranken Patienten keine Medikamente verschreibe. »Vielleicht ist es Zeit, daß ich in den Ruhestand trete«, seufzte sie. Viele ihrer Kollegen nickten und murmelten in düsterer Zustimmung. Ein altes Bonmot besagt, daß manche Paranoiker tatsächlich Feinde haben. Von dem Augenblick an vor hundert Jahren, da Freud seine Theorien öffentlich vorzustellen begann, wurden sie unerbittlich angegriffen. Im Jahr 1896 wurde Freuds brandneue Theorie über die sexuellen Ursachen der Hysterie als »ein wissenschaftliches Märchen« verhöhnt. 3 Eine im Jahr 1913 erschienene Rezension der Traumdeutung, die viele für Freuds bedeutendstes Werk halten, findet darin »ein völliges Fehlen der Merkmale, die zum wissenschaftlichen Fortschritt führen«.4 Im Jahr 1916 monierte die Zeitschrift Nation, daß die Psychoanalyse »weder theoretisch noch empirisch wohlbegründet ist«5, und im selben Jahr verglich die Zeitschrift Current Opinion Freuds »Sexualtheorie« mit der »Hypothese, wonach der Mond aus Molkenkäse besteht«.6 Der russische Romancier Vladimir Nabokov nannte Freud einen »Schamanen« und »Wiener Quacksalber«; er erregte sich über »die vulgäre, schäbige und im Grunde mittelalterliche Welt Freuds mit [...] ihren bösen kleinen Embryos, die von ihren natürlichen Verstecken aus das Liebesleben ihrer Eltern ausspionieren«7. - 75
Die Attacken auf Freud wurden in den letzten Jahren heftiger, als Autoren von Büchern wie Freudian Fraud, Why Freud Was Wrong, Freud Evaluated und Unauthorized Freud 8 versuchten, einen Pfahl durch Freuds Herz zu treiben. Im Jahr 1995 verschob die Library of Congress eine lange geplante Ausstellung über Freud, nachdem sich ein Bündnis von Protestierenden - darunter Freuds Enkelin Sophie - darüber beschwert hatte, sie verherrliche den Begründer der Psychoanalyse zu sehr. Als die Ausstellung schließlich im Herbst 1998 eröffnet wurde, enthielt der zugehörige Katalog Beiträge von mehreren führenden Freud-Kritikern. Einer davon war der britische Historiker Frank Cioffi, der den Glauben an die Psychoanalyse mit dem Glauben an das Ungeheuer von Loch Ness verglich.9 Die Kräfte des freien Marktes haben der Psychoanalyse schweren Schaden zugefügt. Nur wenige Menschen haben die Zeit und das Geld für eine Behandlung, die bis zu fünf einstündige Sitzungen pro Woche für jeweils hundert Dollar erfordert und in der Regel mehrere Jahre dauert. Viele Patienten und alle Krankenversicherungen bevorzugen Kurztherapien, die spezifische Probleme angehen und nicht tief in der Vergangenheit eines Patienten graben. Unterdessen verschreiben Psychiater und andere Ärzte für weitverbreitete Leiden wie Depression und Angst in zunehmendem Maße Medikamente statt Gesprächstherapien. Angesichts all dieser Trends ist es nur recht und billig, wie das Magazin Time die Frage zu stellen: »Ist Freud tot?«10 Wohl kaum. Wäre Freud tatsächlich tot, weshalb verwendeten dann so viele Kritiker noch immer so viel Energie auf den Versuch, ihn zu töten? Die Antwort lautet natürlich, daß Freud nach wie vor unzählige Verteidiger hat; auf jedes Buch, das Freud angreift, kommt ein anderes, das Partei für ihn ergreift. »Freuds jüngste Kritiker werden ihm keinen bleibenden Schaden zufügen«, prophezeite Paul Robinson, ein Historiker an der Stanford-Universität, in Freud and His Critics. »Sie - 76
haben allenfalls den unvermeidlichen Prozeß hinausgezögert, der ihm eines Tages den ihm gebührenden Platz in der Geistesgeschichte als Denker ersten Ranges zuweisen wird.« 11 Freuds Einfluß ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften besonders stark. Eine Auswertung des Schrifttums auf diesen Gebieten ergab, daß nur Lenin, Shakespeare, Platon und die Bibel häufiger zitiert werden als Freud. 12 Die Freudophilie hat auch jene Wissenschaftler angesteckt, die es eigentlich besser wissen sollten. Zwar ist die Zahl der Zitate aus psychoanalytischen Werken laut der schon erwähnten Erhebung aus dem Jahr 1998 in den wichtigsten psychologischen Fachzeitschriften im Verlauf der letzten Jahrzehnte rückläufig. Doch die drei Autoren beteuerten: »Dies bedeutet nicht, daß ›Freud tot ist‹, sondern nur, daß sich seine Präsenz indirekter bemerkbar macht. Tatsächlich gehören viele von Freuds Grundideen - etwa daß unbewußte Prozesse unser Verhalten beeinflussen und daß sich frühkindliche Erfahrungen auf die Entwicklung von Erwachsenen auswirken - mittlerweile zum Gemeingut der wissenschaftlichen Psychologie.« 13 Selbst Wissenschaftler, die erklären, Freud skeptisch oder gleichgültig gegenüberzustehen, benutzen ihn als einen Bezugspunkt für die Beurteilung und Erklärung neuerer Ideen. Bücher wie Im Netz der Gefühle von Joseph LeDoux, Wie das Denken im Kopf entsteht von dem Kognitionswissenschaftler Steven Pinker vom Massachusetts Institute of Technology und Searching for Memory des in Harvard lehrenden Psychologen Daniel Schacter sind gespickt mit Verweisen auf Schriften Freuds. 14 Die Zahl der Mitglieder in der American Psychoanalytic Association, der größten psychoanalytischen Gesellschaft in den Vereinigten Staaten, ist in den letzten zehn Jahren mit etwa dreitausend erstaunlich konstant geblieben, und die Zahl der Kandidaten an den Ausbildungsinstituten nimmt zu. 15 Die International Psychoanalytic Association hat mehr als neuntau- 77
send Mitglieder, und nach ihren Angaben steigt die Zahl ihrer Mitglieder in Südamerika, Europa und in anderen Ländern. Im Jahr 1996 unterzeichnete der damalige russische Präsident Boris Jelzin ein Dekret, das der Psychoanalyse, die Stalin im Jahr 1930 zusammen mit sämtlichen Schriften Freuds verboten hatte, den Status einer gesetzlich anerkannten psychiatrischen Behandlungsmethode einräumte. 16 Die eigentliche Frage lautet daher: Weshalb ist Freud nicht tot? Richard Webster, ein führender Freud-Kritiker, gab in seinem 1995 erschienenen Buch Why Freud Was Wrong eine Antwort: »Keine noch so überzeugende ablehnende Kritik der Psychoanalyse wird die von Freud aufgestellten Theorien jemals bündig widerlegen können. Denn in der wissenschaftlichen Realität können schlechte Theorien nur von guten Theorien verdrängt werden.« 17 (Webster prophezeite, daß uns die darwinistische Psychologie, die ich im sechsten Kapitel behandeln werde, von der Freudschen Psychologie befreien werde.) Die Psychoanalyse besteht fort, weil es der Wissenschaft bislang nicht gelungen ist, eine eindeutig überlegene Theorie und Therapie der menschlichen Psyche aufzustellen.
Ziegen, Schafe und der Ödipuskomplex Das soll nicht heißen, daß man an Freud und seinen Nachfolgern keine berechtigte Kritik üben könne. Einer der frühesten und noch immer triftigsten Einwände gegen die Psychoanalyse lautet, sie besitze eine nahezu grenzenlose Elastizität; sie könne praktisch jede Beobachtung erklären. Freuds Fähigkeit, empirische Befunde, die seinen Theorien widersprachen, wegzuinterpretieren, mutete mitunter geradezu komisch an. So behauptete er immer wieder, Neurosen seien »ganz allgemein als Störungen der Sexualfunktion zu erkennen«, die auf die Kindheit zurückgingen. 18 Während des Ersten Weltkriegs, in - 78
dessen Verlauf Tausende von Soldaten an einer sogenannten »Kriegsneurose« oder »Granatenneurose« erkrankten, wurde diese dogmatische Sichtweise ernsthaft in Frage gestellt. Kritiker behaupteten, diese psychischen Störungen, die eindeutig durch traumatische Kampfeinsätze ausgelöst wurden, widerlegten Freuds These, sämtliche Neurosen hätten eine sexuelle Ursache. Freud entkräftete dieses seines Erachtens »leichtfertige und voreilige« Argument in seiner Selbstdarstellung, die 1924 veröffentlicht wurde. 19 Er beteuerte, Soldaten, die an einer Kriegsneurose litten, seien Narzißten; sie würden im Krieg durch die Gefahr, die ihrem ursprünglichen Liebesobjekt, nämlich ihrer eigenen Person, drohe, seelisch zerrüttet. Freuds Methoden, »klinische Beweise« zu sammeln, waren ebenfalls, gelinde gesagt, fragwürdig. Ein zentrales Dogma der Psychoanalyse lautet, daß die Psyche Erinnerungen an traumatische Kindheitsereignisse verdränge, egal ob diese real oder imaginär seien. Die Aufgabe des Psychoanalytikers bestehe darin, diese Ereignisse durch seine Interpretation der Träume des Patienten, Wortassoziationen und andere »Daten«, die aus dessen Unbewußtem aufstiegen, aufzudecken. Erst wenn sich der Patient diesen Erinnerungen stelle, könne der Heilungsprozeß beginnen. Freud zufolge ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Patient der Deutung des Psychoanalytikers widersetzt, um so höher, je traumatischer und bedeutsamer ein Erlebnis war. »Die vom Arzt erforderte Anstrengung war verschieden groß für verschiedene Fälle, sie wuchs im geraden Verhältnis zur Schwere des zu Erinnernden.« 20 Nehmen wir an, ein Psychoanalytiker behaupte, ausgehend von seiner Deutung der Träume eines jugendlichen Patienten, der Junge zeige ein klassisches Ödipussyndrom; er wolle den Vater töten und mit seiner Mutter schlafen. Wenn der Junge die Deutung annimmt - schön! Wenn er sie verwirft, ist diese Leugnung ein noch stärkerer Beweis dafür, daß er ödipale Triebregungen verdrängt. Freud und seine Anhänger benutz- 79
ten dieselbe Strategie - eine »Immunisierungsstrategie« - als Verteidigungsmechanismus gegen jeden, der Bedenken gegen die Psychoanalyse anmeldete. 21 Kritiker der Psychoanalyse zeigten offenkundig Symptome von Verdrängung und Verleugnung. Um zu verstehen, weshalb Freud so viele Feministinnen in Wut versetzt hat, muß man nur seine Schrift »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds«22 lesen. (Ironischerweise wurde dieser Vortrag nicht von dem kränkelnden Freud gehalten, sondern von seiner Tochter Anna.) Freud behauptete, daß ein Mädchen, wenn es zum ersten Mal den Penis eines Jungen sieht, »weiß, daß sie es [das männliche Genitale] nicht hat, und will es haben [...] Auch wenn der Penisneid auf sein eigentliches Objekt verzichtet hat, hört er nicht auf zu existieren, er lebt in der Charaktereigenschaft der Eifersucht mit leichter Verschiebung fort.«23 Frauen, denen die Stimulation der Klitoris, gleich ob durch Masturbation oder beim Geschlechtsverkehr, sexuelle Lust bereitet, hätten den Penisneid nicht überwunden und folglich nicht ihre wahre weibliche Natur erreicht. Freud verkündete, »daß die Entfaltung der Weiblichkeit die Wegschaffung der Klitorissexualität zur Bedingung habe«24. Nachfolger Freuds, wenn auch nicht Freud selbst, haben Theorien über die Entstehung von Geisteskrankheiten verbreitet, die die Mütter dämonisierten. Noch in den siebziger Jahren machten viele psychoanalytisch ausgerichtete Psychiater »gefühlskalte« Mütter, die ihren Kindern keine emotionale Zuwendung geben, für Autismus und Schizophrenie verantwortlich. Zugleich wiesen die Psychoanalytiker jedoch warnend darauf hin, daß auch allzu liebevolle Mütter ihren Kindern schaden könnten. »Frauen sind bei den Freudiänern niemals gut weggekommen«, schrieb der Journalist Edward Dolnick in Madness on the Couch, einer neueren Kritik an der freudianischen Psychiatrie. 25 - 80
Keiner der Versuche, Freud aus wissenschaftlichen Gründen zu verteidigen, ist sonderlich überzeugend. Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit ist das 1997 erschienene Buch The Talking Cure. Seine Autorin, Susan Vaughan, ist Psychiaterin am New York State Psychiatrie Center und praktizierende Psychoanalytikerin; sie behandelt Patienten in einer Gegend von Manhattan, in der so viele Psychoanalytiker tätig sind, daß sie »Psycho-Block« genannt wird.26 Vaughan hat vom National Institute of Mental Health den Auftrag erhalten, zu erforschen, wie sich Psychotherapie auf das Gehirn auswirkt. In The Talking Cure räumte sie ein, daß es nicht allen Ideen Freuds gut ergangen sei. Insbesondere seine Vorstellungen über die weibliche Sexualität seien »kulturabhängig und veraltet«.27 Dennoch sei Freud »ein Genie« gewesen, so Vaughan weiter, dessen Entdeckungen »heute aufgrund unserer Erkenntnisse über das Gehirn an Plausibilität gewonnen haben«. Die Neurowissenschaft habe »zuverlässige naturwissenschaftliche Beweise« dafür geliefert, daß sowohl frühkindliche Erfahrungen als auch die Psychoanalyse »die Verschaltung der Neuronen im Gehirn ändert. Diese Umschaltung führt dazu, daß man Informationen und Emotionen auf andere Weise verarbeitet, integriert, erlebt und deutet.« Zur Untermauerung ihrer These führte Vaughan mehrere Experimente an. Bei einem dieser Experimente hätten Aufnahmen mit einem Kernspinresonanztomographen gezeigt, daß die kognitive Verhaltenstherapie und Fluctin ähnliche Änderungen im Gehirn von Zwangsneurotikern herbeiführten. Einen noch stärkeren Eindruck auf Vaughan machte der von Eric Kandel erbrachte Nachweis, daß Lernvorgänge chemische Veränderungen in den Neuronen von Meeresschnecken erzeugen. Vaughans Argumentation stützt sich auf einen ziemlich augenfälligen Fehlschluß. Weder die MRI-Studie an Zwangsneurotikern noch Kandels Forschungen an Schnecken sagen das geringste über die Psychoanalyse aus. Aus diesen und an- 81
deren Experimenten folgt zwar in der Tat, daß Kindheitserlebnisse und die Psychoanalyse die »Verschärfung der Neuronen im Gehirn« ändern können. Aber was heißt das schon? Man könnte »Kindheitserlebnisse« und »Psychoanalyse« durch »Besuch eines chinesischen Kochkurses« oder »das Betrachten des Europacup-Endspiels« ersetzen, und die Aussage bliebe genauso gültig. Selbstverständlich verursachen Kindheitserlebnisse und eine Psychoanalyse Änderungen im Gehirn. Das gilt für jegliche Erfahrung! Es handelt sich um eine Binsenwahrheit, die niemand bestreitet. Doch die Studien, die Vaughan anführte, weisen eindeutig nicht die Gültigkeit der Psychoanalyse als Theorie oder ihre Wirksamkeit als Psychotherapie nach. Sogar Eric Kandel fand Vaughans Buch nicht überzeugend. Vaughan unterstelle einfach, daß die Psychoanalyse therapeutisch wirksam sei, beanstandete Kandel während meines Interviews mit ihm, und sie benutze seine Arbeiten dann dazu, ihre Überzeugung zu rechtfertigen. Seine Studien an Meeresschnecken seien zwar anregend, aber wohl kaum eine zündende Untermauerung der Psychoanalyse. Eines Tages werde die Neurowissenschaft vielleicht zeigen, auf welche Weise eine Psychoanalyse heilsame Wirkungen im Gehirn erzeuge, fuhr er fort, doch dieser Zusammenhang sei bislang noch keineswegs bewiesen. »Man darf nicht unterstellen, daß dies geschieht. Man muß es nachweisen.« Nachgewiesen haben Wissenschaftler allerdings, daß Freud ein geradezu unheimliches Geschick besaß, Theorien auszuhecken, die empirisch weder ein für allemal bestätigt noch widerlegt werden können. Viele Bewunderer Freuds halten die Traumdeutung für seine größte literarische und wissenschaftliche Leistung. Freud selbst sagte in seinem Vorwort zur dritten (englischen) Auflage des Buches das gleiche: »Derartige Einsichten sind einem nur einmal im Leben vergönnt.«28 Freud stellte die Hypothese auf, daß während des Schlafs verstörende Wünsche und Ängste, die in kindlichen Erfahrungen wurzeln, - 82
aus dem Unbewußten aufsteigen, wenn auch verschleiert durch das immer wachsame Ich. Durch Entschlüsselung dieser Bilder könne der Psychoanalytiker einen direkteren Zugang zum Unbewußten erlangen. Mehrere Forscher behaupten, Freuds Traumtheorie widerlegt zu haben. Im Jahr 1998 berichteten Wissenschaftler der National Institutes of Health und des Walter Reed Army Institute of Research in Science, sie hätten mit der PET Aufnahmen vom Gehirn schlafender Versuchspersonen gemacht. Die Aufnahmen zeigten, daß die Präfrontallappen des Gehirns, der Sitz der höchsten kognitiven Funktionen, während der sogenannten REM-Phase des Schlafs, die durch schnelle Augenbewegungen und lebhaftes Träumen gekennzeichnet ist, inaktiv sind. Mit dem Hinweis darauf, daß die Präfrontallappen mit der höchsten Wahrscheinlichkeit Sitz der Freudschen Ich-Instanz seien, behaupteten die Forscher, ihre Studie widerlege die Freudsche Hypothese, daß Träume primitive libidinöse Regungen abbildeten, die durch das Ich gefiltert und in rätselhafte Symbole umgewandelt würden. Vielmehr seien Träume vermutlich nur das Resultat von Signalen, die dem Gehirn dabei helfen, herauszufinden, wann es genügend Schlaf hat. Die New York Times brachte einen Artikel über diese Experimente unter der Schlagzeile »Was Freud Wrong? Are Dreams the Brain's Start-Up Test?« (»Irrte sich Freud? Sind Träume der Anlauftest des Gehirns?«).29 Sechs Tage später veröffentlichte die Times Briefe von Kritikern der Kritiker. Howard Shevrin, ein Psychologe an der Universität von Michigan, meinte, der Bericht in Science habe bestätigt, daß in Träumen die Emotionen und Langzeiterinnerungen der Träumenden eine wichtige Rolle spielten. Dieser Befund »rückt die Neurowissenschaft näher an die Freudschen Theorien heran«. Die Behauptung der Forscher, »Freud hat sich geirrt«, meinte ein Psychoanalytiker beifällig, »ist Ausdruck ihrer Voreingenommenheit, nicht wissenschaftlicher Genauigkeit«. - 83
Empirische Studien über den Ödipuskomplex erbrachten ebenfalls keine schlüssigen Ergebnisse.30 Kulturvergleichende Studien deuteten darauf hin, daß Jungen keineswegs mit ihren Müttern kopulieren wollen, ja im allgemeinen kein weibliches Mitglied ihrer Familie sexuell begehren und auch keine andere weibliche Person, mit der sie in enger räumlicher Nähe aufwachsen. Nach Ansicht von Evolutionsbiologen ist diese Abneigung kein Ausdruck von Verdrängung, wie Freud meinte; vielmehr sei sie unseren Vorfahren von der natürlichen Selektion eingeflößt worden. Denn aus Inzest gehen oftmals Nachkommen mit defekten Erbanlagen hervor. Was soll man dann von einer Aussage halten wie »Mütter legen die sexuellen Präferenzen fest«, mit der ein 1998 in Nature erschienener Artikel überschrieben war? 31 In dem Aufsatz beschrieb eine Gruppe britischer und südafrikanischer Wissenschaftler Experimente, bei denen neugeborene Ziegen von weiblichen Schafen aufgezogen wurden. Die Forscher fanden heraus, daß die jungen Männchen - nicht aber die Weibchen - dazu neigen, das Spiel- und Putzverhalten ihrer »Pflegemütter« zu imitieren. Sobald die männlichen Tiere geschlechtsreif waren, zogen sie darüber hinaus die Gesellschaft von Weibchen vor - und mit ihnen zu kopulieren -, die eher ihren Pflegemüttern als ihren biologischen Müttern glichen. Anders gesagt, die Ziegenmännchen wollten sich mit Schafweibchen paaren und die Schafmännchen mit Ziegenweibchen. Die Studie »stützt indirekt Freuds Konzept des Ödipuskomplexes«, lautete das Fazit der Autoren. Einer der ehrgeizigsten Versuche, Freuds Leistungen wissenschaftlich zu würdigen, ist das 1996 erschienene Buch Freud Scientifically Reappraised. Die Psychologen Roger Greenberg und Seymour Fisher von der Staatsuniversität von New York in Syracuse bewerteten Freuds Werk auf der Basis ihrer Auswertung von über 1800 Studien, die in einem Zeitraum von mehr als sechzig Jahren veröffentlicht wurden. Sie - 84
wiesen darauf hin, daß die Freudsche Psychologie oft als eine monolithische Einheit betrachtet werde, die man als Ganzes annehmen oder ablehnen müsse. Tatsächlich stellte Freud zahlreiche Hypothesen auf, die nicht unbedingt voneinander abhängig waren; einige haben einer genaueren Prüfung standgehalten, andere nicht. Dies war das explizite Fazit von Freud Scientifically Reappraised. Das implizite Fazit lautete, daß es schwierig sei, irgendeine Freudsche Hypothese zu beweisen oder zu widerlegen. Dies zeigte sich, als ich 1998 mit Greenberg sprach.32 (Fisher war Ende 1996 gestorben.) So sagte mir Greenberg, Fisher und er hätten Beweise sowohl für als auch gegen den Mechanismus der Verdrängung gefunden. Forschungen über das implizite Gedächtnis und verwandte Phänomene hätten bewiesen, daß »es Dinge gibt, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle ablaufen und sich auf die Reaktionen und das Verhalten von Menschen auswirken«, erklärte er. Zudem »versuchen Menschen einige ihrer unerwünschten Gefühle abzuspalten« - etwa homosexuelle Impulse. Dagegen würden Erinnerungen an traumatische Erlebnisse, anders als Freud behauptet habe, nur selten völlig verdrängt. Forschungen zahlreicher Psychologen - insbesondere von Elizabeth Loftus von der Universität von Washington - hätten gezeigt, daß es für Therapeuten äußerst leicht sei, falsche Erinnerungen in Patienten einzupflanzen. »In psychotherapeutischen Situationen sind Menschen sehr leicht beeinflußbar.« Ein empirisch gut abgesicherter Aspekt von Freuds Werk sei die Einteilung von Menschen in anale und orale Persönlichkeitstypen. »Es gibt einige recht passable Studien, die darauf hindeuten, daß diese Persönlichkeitstypen und die Merkmale, die er [Freud] mit ihnen in Verbindung brachte, tatsächlich existieren, wenn man die Forschungsergebnisse betrachtet«, sagte Greenberg. Anale Charakterzüge wie Eigensinn, Geiz und Ordnungsliebe »scheinen in denselben Personen zusam- 85
men vorzukommen, und sie scheinen mit analen Ängsten in Zusammenhang zu stehen«. Freud hatte behauptet, daß Eltern diese Merkmale bei ihren Kindern förderten, indem sie sie einer übermäßig frühen oder strengen Reinlichkeitserziehung unterwürfen. Doch wie aussagekräftig sind Studien, die die Reinlichkeitserziehung mit analen Charakterzügen bei Erwachsenen in Verbindung bringen? In seinem 1992 erschienenen Buch Freudian Fraud unterzog der Psychiater E. Füller Torrey Studien zu Freuds Analitäts-Hypothese, darunter einige, die auch von Greenberg und Fisher angeführt werden, einer kritischen Prüfung.33 Die meisten Studien machten keine Angaben über die Reinlichkeitserziehung der Probanden, und die anderen stellten meist keine Korrelation zwischen der Strenge der Reinlichkeitserziehung und analen Charakterzügen fest. Viele der Probanden, vor allem Psychologiestudenten, waren mit Freudianischen Konzepten vertraut und ahnten vielleicht, welche Antworten von ihnen erwartet wurden. Die Schwächen wurden auf beispielhafte Weise durch eine Studie verdeutlicht, die Seymour Fisher 1970 selbst durchführte. Fisher gab Studenten mehrere Fragebogen einschließlich einem »Body Focus Questionnaire«, mit dem er herausfinden wollte, welche Teile ihres Körpers den Studenten bewußtseinsmäßig am präsentesten sind. Die Studenten unterzogen sich auch dem sogenannten Blacky-Persönlichkeitstest; dieser besteht aus Bildern eines Hundes namens Blacky, der in Situationen gezeigt wird, die psychoanalytisch sehr bedeutungsgeladen sind. In einer Szene sieht Blacky einen anderen Hund, dessen Schwanz abgehackt wird, in einer anderen kotet Blacky zwischen den Hundehütten seiner Eltern. Fisher berichtete, daß Studenten mit einem hohen »Rükken-Bewußtsein« (das vermutlich den Hintern einschloß) »eine stärkere Empfindlichkeit für Reize mit analen Konnotationen, mehr negative Einstellungen zu Schmutz [und] eine - 86
stärkere Selbstbeherrschung« zeigten. E. Füller Torrey meinte dazu trocken: »Es wurden keine Daten über die Reinlichkeitserziehung erhoben. Hieraus folgt, daß Fisher lediglich einen Cluster von Persönlichkeitsmerkmalen nachgewiesen hat, die mit dem ›analen Charakter‹ konsistent sind, und daß CollegeStudenten mit diesen Merkmalen ein höheres ›Rücken-Bewußtsein‹ besaßen, vermutlich weil sie sich der Freudschen Theorie bewußt waren.«
»Crews Missiles« Wenn Freud noch nicht tot ist, so gewiß nicht wegen der unzureichenden Bemühungen Frederick Crews', ihn unter die Erde zu bringen. Crews, Professor für Englisch an der Universität von Kalifornien in Berkeley, äußerte schon in den frühen siebziger Jahren erstmals seine Skepsis gegenüber der Psychoanalyse. Seine Ansichten stießen jedoch erst in den Jahren 1993 und 1994, als er Freud in zwei Aufsätzen scharf angriff (»The Unknown Freud« und »The Revenge of the Repressed«), auf allgemeines öffentliches Interesse.34 Crews' Polemik erregte um so größeres Aufsehen, als sie in der New York Review of Books erschien, die als eine Bastion psychoanalytischen Gedankenguts galt. (Freud-Karikaturen schmücken noch immer die Bestellkarten der Zeitschrift.) Crews begnügte sich nicht damit, das abgedroschene Argument zu wiederholen, daß die Psychoanalyse keinerlei wissenschaftlichen oder therapeutischen Wert besitze. Er behauptete, Freud habe sich der »Unaufrichtigkeit und Feigheit« und schlimmerer Dinge schuldig gemacht.35 Crews enthüllte, daß Freud in den zwanziger Jahren bei einem seiner amerikanischen Anhänger, einem Psychoanalytiker namens Horace Frink, latente Homosexualität diagnostiziert habe. Freud riet Frink, gegen diese Regungen anzukämpfen, indem er sich von seiner - 87
Frau scheiden lasse und eine wohlhabende Erbin namens Angelika Bijur heirate, mit der Frink eine Affäre hatte. Gleichzeitig habe Freud Bijur gedrängt, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen und Frink zu heiraten. Freuds eigentliches Motiv, das er in seinen Briefen offenlegte, bestand darin, Bijur Spenden zu entlocken. Frink und Bijur folgten Freuds Weisungen; sie ließen sich von ihren Ehegatten scheiden und heirateten, was katastrophale Folgen nach sich zog. Die geschiedenen Ehegatten starben, kurz nachdem sie verlassen worden waren. Anschließend ließ sich Bijur von Frink scheiden, der in eine psychotische Depression verfiel. »Wir besitzen keine Dokumente darüber, ob Freud jemals sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, daß er das Leben dieser vier Menschen zerstört hatte«, bemerkte Crews, »aber wir wissen, daß es nicht zu ihm gepaßt hätte, dies zu tun.«36 Crews' schwerwiegendster Vorwurf lautete, Freud sei der geistige Urvater der »erinnerungsaufdeckenden Therapie«, die von Kritikern auch »Therapie zur Aufdeckung falscher Erinnerungen« genannt werde. Schätzungen zufolge haben sich etwa eine Million Patienten in den Vereinigten Staaten irgendeiner Form dieser Therapie unterzogen.37 Therapeuten, die nach dieser Methode arbeiten, behaupten, sehr viele Kinder würden von Eltern und anderen Erwachsenen körperlich und sexuell mißbraucht; obgleich diese Kinder Erinnerungen an den Mißbrauch verdrängten, litten sie als Erwachsene oft unter psychischen Störungen. Die Therapeuten helfen den Patienten, sich gleichsam kathartisch von ihren Schwierigkeiten zu befreien, indem sie diese verdrängten Mißbrauchserlebnisse der Vergessenheit entreißen. Als die »erinnerungsaufdeckende Therapie« in den achtziger Jahren einen regelrechten Boom erlebte, beschuldigten Tausende von Patienten, überwiegend Frauen, ihre Eltern und andere Erwachsene sie mißbraucht zu haben. Einige dieser Fälle führten zur Anklage und zur Verurteilung der mutmaß- 88
lichen Mißbrauchstäter, selbst wenn es keine Beweise gab, die die aufgedeckten Erinnerungen bestätigt hätten. Die ganze Bewegung fiel schließlich in sich zusammen, als Patienten immer aberwitzigere und unglaublichere Beschuldigungen erhoben (die sich um satanische Rituale, Orgien, Menschenopfer und sogar Außerirdische drehten). Psychologen, die sich auf die Erforschung des Gedächtnisses spezialisiert hatten, bezeugten, daß keineswegs gesichert sei, daß Erinnerungen jahrzehntelang verdrängt und dann in unverfälschter Form wieder ausgegraben werden könnten. Viele Patienten widerriefen ihre Beschuldigungen und beklagten, daß ihre Therapeuten die Mißbrauchserinnerungen in sie eingepflanzt hätten. Einige verklagten ihre Therapeuten erfolgreich auf Schadensersatz wegen Verletzung der beruflichen Sorgfaltspflicht. Crews räumte ein, daß es auf den ersten Blick unfair erscheinen mag, Freud die Schuld an diesem verstörenden modernen Phänomen zu geben. Im Jahr 1896 postulierte Freud für kurze Zeit die sogenannte Verführungstheorie, wonach Frauen, die an Hysterie litten, in ihrer Kindheit von ihren Vätern oder anderen Erwachsenen sexuell mißbraucht worden seien; ihre Hysterie war angeblich auf die Verdrängung dieser traumatischen Erinnerungen zurückzuführen. Freud nahm diese Hypothese jedoch bald darauf wieder zurück und behauptete nunmehr, seine Patientinnen hätten sich lediglich eingebildet, in ihrer Kindheit mißbraucht worden zu sein; ihre psychische Störung sei auf die Verdrängung dieser unsittlichen ödipalen Phantasien zurückzuführen. So wurde die Psychoanalyse geboren. Wenn Freud ausdrücklich sexuellen Mißbrauch als Hauptursache psychischer Störungen verwarf, wie konnte Crews ihm dann die Urheberschaft an der zeitgenössischen erinnerungsauf deckenden Therapie anlasten? Die Antwort lautet, so Crews, daß sich die erinnerungsaufdeckende Therapie auf mehrere Freudsche Konzepte stütze. Sowohl Freuds ursprüng- 89
liche Verführungstheorie als auch seine Theorie des Ödipuskomplexes fußten auf derselben Annahme: Viele Patienten verdrängten Erinnerungen an entweder phantasierte oder reale sexuelle Ereignisse in der Kindheit. Doch Crews zufolge hat keiner von Freuds Patienten Freud von sich aus derartige Erinnerungen erzählt. Vielmehr hätten sie dies erst nach entsprechender Suggestion und, in manchen Fällen, Einschüchterung durch Freud getan. Crews untermauerte seine Behauptung mit einer erdrükkenden Fülle von Zitaten aus Werken von Freud. Bei der Erörterung der Erinnerungen seiner Patientinnen an sexuelle Erlebnisse erklärte Freud 1896: »Die Kranken wissen vor Anwendung der Analyse nichts von diesen Szenen [...] sie können nur durch den stärksten Zwang der Behandlung bewogen werden, sich in deren Reproduktion einzulassen.«38 An anderer Stelle schrieb Freud, »es handelt sich ja wesentlich darum, daß ich das Geheimnis errate und es dem Kranken ins Gesicht zu sage«39. Crews folgerte daraus: »Weil Freud sowohl vor als auch nach der Ausarbeitung der psychoanalytischen Theorie seine Patienten dazu anstachelte, sich an nichtreale sexuelle Ereignisse zu erinnern, ist er der eigentliche historische Taufpate des ›Syndroms der falschen Erinnerungen‹.«40 Crews Doppelattacke auf Freud in der New York Review of Books provozierte mehr Leserbriefe als jeder frühere Artikel in der Geschichte der Zeitschrift. Ein Beobachter bemerkte: Die New York Review of Books galt vielen als das offizielle Organ einer bestimmten Gruppe der liberalen Intelligenzija Amerikas, die der Psychoanalyse sehr wohlwollend gegenüberstand. Was wirklich weh tat, war die Tatsache, daß Frederick Crews' Kritik an Freud dort so groß herausgebracht wurde. Wenn Tom Paine zu einer Predigt in der Kathedrale von Canterbury eingeladen worden wäre oder wenn der Papst Voltaire aufgefor-
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dert hätte, eine Messe im Vatikan zu zelebrieren, hätte das Gefühl der Entweihung unter den Gläubigen kaum größer sein kön41 nen.
Ich begegnete Crews erstmals in der Lobby eines Hotels nahe dem Campus der Yale-Universität, wo er tags darauf an einem öffentlichen Symposion über Freud teilnehmen sollte.42 Er war groß und schlank; das Drahtgestell seiner Brille verlieh ihm ein asketisches Aussehen. Er war gekleidet wie ein Henker: schwarzer Regenmantel über einem schwarzen kragenlosen Hemd, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Als wir beim Abendessen im Hotelrestaurant miteinander plauderten, sprach er meist mit ruhiger, monotoner Stimme. Doch hinter seiner oberflächlich zurückhaltenden, ja sogar schüchternen Art verbarg sich eine erbitterte Entschlossenheit und Selbstsicherheit. Egal welche Einwände ich vorbrachte, Crews parierte sie mit einer hieb- und stichfest durchdachten Antwort. Als ich bemängelte, Crews unterschätze die Stärke des Einflusses, den die Psychoanalyse noch immer auf die Wissenschaft und die übrige Kultur ausübe, erwiderte er: »Ganz im Gegenteil, ich bin mir dessen wohl bewußt, und aus diesem Grund bin ich nach wie vor der Ansicht, daß sie Kritik verdient. Wenn sie nicht so einflußreich wäre, könnte ich schlicht den Mund halten.« Dennoch, so Crews, ergebe eine genauere Prüfung der Zitate in Wissenschaftsmagazinen und anderen Publikationen, daß die Psychoanalyse einen »steilen Abwärtstrend« erlebe. Crews widersprach aufs entschiedenste der Vorstellung, Neurowissenschaft und Kognitionswissenschaft hätten Freud bestätigt, indem sie die Existenz eines unbewußten beziehungsweise impliziten Gedächtnisses bewiesen hätten. Wer ein Auto fahre, tue dies mehr oder minder ohne bewußtes Nachdenken, räumte Crews ein. »Im selben Sinne läuft unser psychisches Leben größtenteils unterhalb der Oberfläche des
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Bewußtseins ab. Doch dies ist keinesfalls ein Beweis für die Existenz eines dynamischen Unbewußten im Freudschen Sinne, in dem es angeblich von verdrängten Begierden und Ängsten und traumatischen Erinnerungen wimmelt.« Die Beweislage für das freudianische Unbewußte sei bestenfalls dürftig, so Crews. Im Fall der Freudschen Fehlleistung beispielsweise »hat Freud schlichtweg unterstellt, daß sie den Tiefen des Unbewußten entspringe und entweder aggressiver oder sexueller Natur sei«. Eine sehr viel plausiblere Erklärung für solche Fehlleistungen sei von dem italienischen Geisteswissenschaftler Sebastiano Timpanaro vorgeschlagen worden, der eine Autorität auf dem Gebiet der Verfälschung antiker Texte sei. Timpanaro habe durch akribische Forschungen nachgewiesen, daß Schreiber, die Abschriften von antiken Texten anfertigten, oft unabsichtlich Fehler in ihre Kopien einfügten, indem sie exotische Wörter durch geläufige ersetzten. Timpanaro nannte diesen Prozeß »Banalisierung«.43 »Wenn ein Wort im Original etwas ungewöhnlich ist«, erläuterte Crews, »wird es durch den Fehler banalisiert, vertrauter gemacht und näher an die Welt des Übersetzers herangeführt. Eine Banalisierung kann zur nächsten führen, bis man einen stark verfälschten Text erhält.« Timpanaro behauptete, Freuds eigene Beispiele sprachlicher Fehlleistungen ließen sich ohne weiteres mit der Banalisierung erklären. Indem Freud diese naheliegende Alternative außer acht gelassen habe, so Crews, habe er gegen »Ockhams Rasiermesserprinzip« verstoßen, wonach die einfachsten Erklärungen, die sich auf die wenigsten Annahmen stützen, die besten seien. »Freud hat dies nie getan«, sagte Crews. »In all seinen Schriften gibt es keinen Fall, in dem er sich um die naheliegendste Erklärung bemüht hätte.« Das Argument, daß keine wissenschaftliche Theorie den Anforderungen gerecht werden könne, die er an die Psychoanalyse stelle, ließ Crews kalt. »Meine Einwände gegen die Psy- 92
choanalyse sind trivial«, sagte er. Die Psychoanalyse »rechtfertigt ihre Hypothesen unter Rückgriff auf ihre eigenen Deutungen. Wenn sie die Hypothese der Ich-Instanz rechtfertigen will, tut sie dies, indem sie die Äußerungen eines Patienten im Licht der Ich-Theorie interpretiert. Es gibt keine allgemein anerkannte Wissenschaft auf der Welt, die so verfährt.« So richtig in Fahrt kam Crews, als wir auf die »erinnerungsauf deckende Therapie« zu sprechen kamen, die er »einen Kunstfehler kriminellen Stils«, »reinsten Schamanismus« und »völlige Scharlatanerie« nannte. Wenn er und andere diese therapeutische Bewegung nicht kritisieren und nicht ihren Freudschen Ursprung aufdecken würden, fürchtete Crews, könne sie immer wieder aufleben. »Wenn wir die Grundannahmen nicht in Frage stellen, werden wir immer wieder das gleiche erleben.« Ich fragte Crews, weshalb er, nach eigenem Bekunden ein Atheist, seinen Zorn gegen die Psychoanalyse und nicht die Religion richte, die im Verlauf der Geschichte wohl viel mehr Schaden angerichtet habe. Er räumte ein, daß religiöser Glaube oft zu Intoleranz, zu »fanatischen Kreuzzügen und Pogromen« geführt habe. Dennoch, so fügte er hinzu, »würde ich nicht behaupten, daß Religion immer und überall ein negativer Einfluß war. Offenkundig ist alles, was den inneren Zusammenhalt einer menschlichen Gesellschaft fördert, ohne anderen Völkern größeren Schaden zuzufügen, ein Vorteil.« Die Religion könne den sozialen Zusammenhalt und die sittliche Gesinnung in Gemeinschaften heben, die diese Eigenschaften dringend benötigten, wie etwa die Innenstädte. »Jede Gesellschaft lebt von Mythen, und wenn sie gar keine Mythen mehr hat, ist sie in großen Schwierigkeiten.« Er sagte leise, wie zu sich selbst: »Ich persönlich habe keine Mythen mehr.« Er hielt inne. »Ich hoffe es zumindest.« Am nächsten Tag fand ich mich mit mehreren hundert anderen in einem großen holzgetäfelten Hörsaal der Yale-Uni- 93
versität ein, um Crews dabei zu beobachten, wie er sich mit Freud-Anhängern stritt. Crews begann seinen Vortrag, indem er den Titel der Konferenz aufgriff: »Wessen Freud? Der Platz der Psychoanalyse in der zeitgenössischen Kultur«44. »Auf die im Titel dieser Konferenz gestellte Frage«, erklärte Crews, »kann ich eine einfache Antwort geben: Das hängt ganz und gar von Ihnen ab. Nehmen Sie meinen Freud, bitte! Aber wollen Sie ihn wirklich, den fanatischen, aufgeblasenen, rücksichtslosen, kurzsichtigen und doch subtil verschlagenen Freud, der von unabhängigen Forschern der letzten Generation ausgegraben wurde, oder ziehen Sie den Freud der selbstgeschaffenen Legende vor, dessen Name noch immer die Illusion heraufbeschwören kann, die ›Wahrheit der Psychoanalyse‹ werde durch das bloße Genie ihres Entdeckers beglaubigt?« Als Crews weitere zwanzig Minuten in dieser Weise fortfuhr, reagierten die Zuhörer mit Zischlauten und einem leisen Pfiff, aber auch mit einigen Lachern. Unterdessen lieferte ein anderes Mitglied der Diskussionsrunde, Robert Michels, ein Psychoanalytiker und Professor für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Cornell-Universität, einen mimischen Kommentar, indem er grinste, die Augenbrauen hob, die Augen rollte und den Kopf schüttelte. Als Michels das Wort erteilt wurde, erklärte er, daß es ihm als Psychiater egal sei, ob die Wahrheit der Psychoanalyse wissenschaftlich erwiesen sei; seine einzige Sorge gelte dem Wohlergehen seiner Patienten. Michels wußte aus persönlicher Erfahrung, daß die Psychoanalyse Patienten half, und das genügte ihm. Die beiden anderen Redner in Crews' Sitzung, Judith Butler, Professorin für Literatur an der Universität von Kalifornien in Berkeley, und Juliet Mitchell, Psychoanalytikerin und Dozentin an der Universität Cambridge, bekundeten ihr Unbehagen an Crews' Ansatz. Butler behauptete, daß Theorien über die menschliche Erfahrung andere Methoden der wissenschaftlichen Überprüfung erforderten als Theorien über nicht- 94
psychologische Phänomene. Crews' beharrliche Forderung, wissenschaftliche Theorien müßten durch empirische Befunde bestätigt werden, würden zu einer »Verarmung« der Wissenschaft führen. Sowohl Butler als auch Mitchell schienen dafür zu plädieren, die moderne Psychoanalyse solle der Gesellschaft dabei helfen, ein breiteres Spektrum möglicher - einschließlich inzestuöser - Beziehungen zwischen Eltern und Kindern tolerieren zu lernen. Zumindest verstand ich sie in diesem Sinne - beide sprachen in einem beinahe parodistisch unverständlichen Fach chinesisch. So sagte Butler einmal: »Die Verbote, die dazu dienen, nichtnormative soziale Interaktionen zu untersagen, dienen auch dazu, die Normen der mutmaßlich heterosexuellen Verwandtschaft einzusetzen und zu steuern, wo Positionen wie Mutter und Vater differentielle Effekte des Inzesttabus sind. Manche Psychoanalytiker behandeln diese Positionen so, als ob sie zeitlose und notwendige Positionen sind, psychische Platzhalter, die jedes Kind besetzt oder mit dem Erlernen der Sprache erwirbt. Damit wird meines Erachtens die Tatsache übersehen, daß Verwandtschaft eine kontingente soziale Praxis ist und daß es keine symbolische Position von Mutter und Vater gibt, die nicht in ebenjener Idealisierung und Verknöcherung kontingenter kultureller Normen besteht.« Während der anschließenden Diskussion wandte sich Butler zu Crews und fragte ihn mit einem verschmitzten Lächeln, weshalb er in seinen einleitenden Worten gesagt hatte: »Nehmen Sie meinen Freud.« Weshalb nicht »Ihren Freud«? Damit wollte sie offenkundig zu verstehen geben, daß Crews eine Freudsche Fehlleistung unterlaufen sei. Durch seine Wortwahl habe er unabsichtlich die verdrängte ödipale Bindung an Freud enthüllt, die hinter seiner bewußten Feindseligkeit stehe. Crews antwortete Butler seinerseits mit einem verschmitzten Lächeln. Eigentlich habe er lediglich Henny Youngman, der erst wenige Wochen zuvor gestorben war und zu Crews' Lieb- 95
lingskomikern gehört hatte, seine Hochachtung bezeigen wollen. Youngmans »Markenzeichenwitz« habe gelautet: »Nehmen Sie meine Frau. Bitte.«
Der Skeptiker Steven Hyman Crews' Sicht von Freud und von der Psychoanalyse ist weitgehend schlüssig. Ich warte noch immer auf eine überzeugende Widerlegung der meines Erachtens schwerwiegendsten Beschuldigung Crews', daß Freud die »klinischen Beweise«, die ihn dazu veranlaßten, den Ödipuskomplex und andere Schlüsselelemente der Psychoanalyse zu postulieren, erfunden habe. Jedenfalls hat keiner der Freud-Anhänger unter den Diskussionsteilnehmern bei der Yale-Konferenz Crews glaubhaft wiederlegt; und das gleiche gilt für diejenigen, die auf seine Artikel in der New York Review of Books mit Leserbriefen antworteten. Auch die Tagung im Waldorf-Astoria, an der ich im Frühjahr 1996 teilnahm und die ich am Anfang dieses Kapitels beschrieb, erhärtete die von Crews postulierte Verbindung zwischen Psychoanalyse und erinnerungsaufdeckender Therapie. In einem überfüllten Seminar diskutierten fünf Therapeutinnen über »individuelle und paarbezogene Behandlung eines Inzestopfers«.45 Eine Sprecherin ging auf die in jüngster Zeit erhobenen Vorwürfe ein, manche Therapeuten würden »falsche Erinnerungen« an schreckliche Mißbrauchserlebnisse im Kindesalter in Patienten »einpflanzen«. Die Zuhörer spendeten Beifall, als die Sprecherin diese Vorwürfe »reaktionär« und »misogyn« nannte; diejenigen, welche diese Behauptungen aufstellten, verfolgten offensichtlich »hinter dem dünnen Schleier der Wissenschaft politische Ziele«. Sie räumte ein, daß sie die recht abstrusen Erinnerungen mancher Patienten, insbesondere solche, die sich um rituelle - 96
Menschenopfer und andere Greuel drehten, für die es keinerlei physische Beweise gebe, beunruhigten. Wie solle man mit diesen Behauptungen umgehen, fragte die Sprecherin. Eine andere Teilnehmerin der Diskussionsrunde antwortete, es sei nicht Aufgabe des Therapeuten, festzustellen, ob der Mißbrauch, an den sich ein Patient erinnere, tatsächlich stattgefunden habe. »Wir können lediglich wissen, wie die emotionale Wahrheit zum gegenwärtigen Zeitpunkt aussieht.« Es könne »gefährlich und beschränkend sein«, ein »kohärentes Gesamtbild« der Geschichte eines Patienten entwerfen zu wollen. Das Schaffen eines »emotional sicheren Umfeldes« habe »Vorrang vor allem anderen«. Das gleiche Desinteresse an der Wahrheit kennzeichnete auch andere Veranstaltungen. Ein Sprecher hielt einen Vortrag, in dem es, soweit ich verstanden habe, darum ging, daß die Psychoanalytiker erkennen müßten, daß sie ihre Patienten niemals richtig verstehen könnten, da die menschliche Psyche kein »einheitliches Phänomen« sei, sondern »nichtlinear«.46 Der Psychoanalytiker »arbeitet in einem komplexen Feld veränderlicher Gegebenheiten«, und folglich sei seine Einstellung gegenüber einem Patienten zu jedem beliebigen Zeitpunkt »immer per se sowohl richtig als auch falsch«. Wenn der Analytiker sich damit abfinde, daß er einen Patienten niemals hundertprozentig verstehen könne, »legt er das Entwicklungspotential des Patienten zurück in dessen eigene Hände«. Ironischerweise lehnte Freud selbst diese postmoderne Einstellung zur Wahrheit (was immer sie ist) entschieden ab. In Die Zukunft einer Illusion widersprach Freud der »radikalen« Behauptung, »daß sie [die wissenschaftliche Bemühung] nichts anderes als subjektive Ergebnisse liefern kann, während ihr die wirkliche Natur der Dinge außer uns unzugänglich bleibt«.47 Selbstverständlich untergrub Freuds Methode, Beweise für seine Theorien zu sammeln – seine »Immunisierungsstrategie« -, seine eigenen Objektivitätsansprüche. - 97
Mein Haupteinwand gegen Frederick Crews ist die Tatsache, daß er an einem »Tunnelsehen« leidet. Er ist so auf die Schwächen der Psychoanalyse fixiert, daß er sich weigert, den geringsten Nutzen in ihr zu sehen. Und er stellt die Psychoanalyse auch nicht in ihren umfassenderen wissenschaftlichen Kontext. Die Grenzen seiner Kritik zeigen sich dort am deutlichsten, wo er zu erklären versucht, weshalb die Psychoanalyse trotz ihrer offenkundigen Mängel weiterhin selbst eingefleischte Naturwissenschaftler nachhaltig beeinflußt. Genauer gesagt, weshalb bringen Eric Kandel, Gerald Edelman und andere prominente Neurowissenschaftler der Psychoanalyse noch immer eine hohe Wertschätzung entgegen? Als ich Crews diese Frage stellte, äußerte er die Vermutung, sie seien bei ihren Psychoanalysen einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Er verglich die Psychoanalyse mit einer religiösen Sekte, die sich auf nichts so gut verstehe wie auf ihre Selbsterhaltung. »Wer eine freudianische Therapie abschließt, wird selbst zum Freudianer«, sagte Crews. »Er wird nicht etwa geheilt. Vielmehr zieht er hinaus in die Welt wie ein Seelenjäger und bekehrt andere zum Freudianismus.« Diese Antwort ist in zweifacher Hinsicht ungenügend. Erstens verkennt sie die außerordentliche Faszination, die von den Schriften Freuds ausgeht (auf die ich in Kürze eingehen werde). Zweitens läßt sie die Unzulänglichkeiten sämtlicher Alternativen zur Psychoanalyse außer Betracht. Die Psychologen Roger Greenberg und Seymour Fisher äußerten dieses Argument in Freud Scientifically Reappraised. Sie geben zu, daß die Psychoanalyse nicht den von einigen Kritikern aufgestellten Beweisanforderungen genüge. Doch wer immer eine solche »überperfektionistische Sichtweise« vertrete, so Greenberg und Fisher, müsse zugeben, daß »keine psychologische Theorie hinreichend empirisch überprüft worden ist«.48 Namentlich die Verfechter eines biologischen Erklärungsmodells für psychische Erkrankungen, die zu den schärfsten Kritikern - 98
Freuds gehörten, hätten die Überlegenheit ihres Ansatzes keineswegs nachgewiesen. »Es wäre verfrüht, die gegenwärtigen glorreichen Wunschträume einer biologischen Psychiatrie in ein Programm zu übersetzen, das psychodynamische Schemata verbietet.« Anders gesagt, wenn die Psychoanalyse eine unvollkommene und unbewiesene Spielart der Wissenschaft vom menschlichen Geist ist, gilt dies auch für all ihre selbsternannten Nachfolger. Es sind nicht bloß Psychologen wie Greenberg und Fisher - oder Journalisten wie ich -, die diesen Standpunkt einnehmen. Auch einer der herausragendsten Vertreter der modernen biologischen Psychiatrie, Steven Hyman, ist weitgehend dieser Ansicht. Im Jahr 1996 wurde Hyman, der als Psychiater und Neurowissenschaftler an der Harvard-Universität lehrte, zum Direktor des National Institute of Mental Health ernannt, wo er für ein Forschungsbudget von achthundert Millionen Dollar verantwortlich ist. Kurz nach seiner Ernennung traf ich ihn bei der Jahrestagung der American Psychiatrie Association in New York.49 Mit seinem fein säuberlich gestutzten Bart und seinem mächtigen Unterkiefer ähnelt er etwas dem jungen Freud. Doch der Schein trügt, er ist kein Freudianer. Obgleich ihn einige psychoanalytische Schriften beeindruckten, fand er die psychoanalytischen Erklärungen der Seele letztlich unbefriedigend. »Ihre Schriften waren echte Glanzleistungen. Sie klangen plausibel. Sie gaben Erklärungen für Phänomene, die nach Erklärungen verlangten. Doch es hat mich immer gestört, daß sie möglicherweise nichts anderes als gute Geschichten waren.« Andererseits kamen Hyman einige »einfache pharmakologische Modelle« psychischer Erkrankungen ebenfalls wie bloße »Geschichten« vor. »Ich bin ein Skeptiker gegenüber allen Seiten«, sagte er. Anhänger solcher Modelle beschrieben die Depression oft als eine chemische Störung, die sich mit Medikamenten wie Fluctin behandeln lasse, welche die Kon- 99
zentration des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn steigern. »Dabei drängt sich mir die Frage auf: Was bedeutet das? Ist das eine Antwort?« Die reduktionistischen Methoden der Molekularbiologie und der Neurowissenschaft hätten sich in den letzten Jahrzehnten als äußerst fruchtbar erwiesen, sagte Hyman. »Wir leben in einem Zeitalter, in dem diese Fortschritte in der molekularen und zellulären Neurobiologie eine allgemeine Euphorie auslösen. Dennoch«, fuhr er fort, »werden wir nach der Klonierung des nächsten Serotoninrezeptors, den wir entdekken, nicht sagen können: ›Jetzt verstehen wir, wie das Gehirn funktioniert.‹« Hyman vertrat eine ähnliche Einstellung gegenüber der Verhaltensgenetik. Durch Studien an eineiigen Zwillingen und andere Forschungen versuchten Verhaltensgenetiker den relativen Beitrag der Gene und der Umwelt zu verschiedenen menschlichen Merkmalen und Erkrankungen abzuschätzen. »Es ist eine viel zu grobe Vereinfachung, wenn man für eine Person angeben will, welcher Prozentsatz eines bestimmten Merkmals durch Gene und welcher Prozentsatz durch die Umwelt festgelegt wird, denn die gegebene Umwelt könnte die relativen Beiträge verändern.« Die Identifikation der Gene, die eine Anfälligkeit für Schizophrenie und andere Erkrankungen erzeugen, würde einen gewaltigen Fortschritt darstellen, sagte Hyman. Doch er gab zu bedenken, daß die Forscher noch immer herausfinden müßten, in was für einer Wechselwirkung solche Gene bei der Entwicklung eines Gehirns, das an Schizophrenie erkrankt, miteinander und mit der Umwelt stehen. »Und ich nehme an, daß sich dies nicht leicht lösen lassen wird.« Was die Evolutionspsychologie anbelangt, die die Psyche mit Hilfe der Darwinschen Theorie der natürlichen Selektion zu erklären versucht, so fand Hyman sie, ähnlich wie die Psychoanalyse, faszinierend, aber auch frustrierend. Evolutions- 100
Psychologen »spielen ihre Unfähigkeit, ihre Behauptungen experimentell zu überprüfen, oftmals in einer Weise herunter, die an die Psychoanalyse erinnert«. Es liege eine »schwerwiegende Gefahr« darin, so Hyman weiter, die Psyche in erster Linie als ein von der natürlichen Selektion gestaltetes Instrument zur Förderung der Verbreitung unserer Gene anzusehen. Als empirisch ausgerichteten Biologen erstaune es ihn, wie »behelfsmäßig zusammengebastelt« Organismen seien. Evolutionspsychologen »unterschätzen die Tatsache, daß die Frühgeschichte der Entstehung unseres Gehirns möglicherweise Randbedingungen für die Anpassung beziehungsweise für das Material, das selektiert werden konnte, festgelegt hat«. Es sei nicht verwunderlich, daß all diese Ansätze ihre gesteckten Ziele nicht erreichten, wenn man bedenke, daß »die Aufklärung der Funktionsweise des Gehirns und der möglichen Störungen das schwierigste Unternehmen ist, das die Menschheit in Angriff genommen hat«. Die anhaltende Debatte über die Ideen Freuds deute darauf hin, daß Psychologie, Psychiatrie, Neurowissenschaft und andere Disziplinen, die sich der Erforschung des Geistes widmeten, noch nicht ausgereift seien; schließlich sei das Gebiet der Infektionskrankheiten nicht mehr durch Kontroversen zwischen Anhängern und Gegnern Pasteurs gespalten. In ausgereiften Wissenschaften, sagte Hyman, prüften Forscher nur selten Befunde, die älter seien als fünf Jahre. War Hyman überzeugt davon, daß wir die Psyche und ihre Erkrankungen eines Tages vollkommen verstehen würden? Er verzog das Gesicht, während er über die Frage nachsann. »Wenn man Patienten begegnet«, sagte er vorsichtig, »wünscht man sich aus Mitleid, man könnte alles tun, was man wollte.« Andererseits müßten Forscher vermeiden, sich an »schlechten Modellen der Funktionsweise des Gehirns festzuklammern, gleich ob sie freudianisch sind oder einem einfachen pharmakologischen Reduktionismus frönen«. - 101
Freud als Erzähler Wenn man wissenschaftliche »Erzählungen« nicht nach ihrer empirischen Gültigkeit auseinanderhalten kann, läßt man sich wahrscheinlich von ästhetischen Faktoren beeinflussen. Freuds rhetorische Begabung wurde von Freund und Feind anerkannt. Im Jahr 1985 nannte der Psychologe Hans Eysenck, ein erbitterter Gegner der Psychoanalyse, Freud »ein Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Propaganda, nicht des stringenten Beweises, sondern der Überzeugung, nicht der Planung von Experimenten, sondern der Literatur. Er steht nicht, wie er behauptete, in einer Reihe mit Kopernikus und Darwin, sondern mit Hans Christian Andersen und den Gebrüdern Grimm, Märchenerzählern.«50 Der Molekularbiologe und Neurowissenschaftler Francis Crick, Mitentdecker der DNA-Doppelhelix, stimmte dem zu. »Nach modernen Maßstäben«, schrieb Crick, »kann Freud kaum als Wissenschaftler betrachtet werden; vielmehr war er ein Arzt, der viele neue Ideen hatte, die er überzeugend und ungewöhnlich gut formulierte.«51 Nach dem Urteil des Literaturtheoretikers Harold Bloom von der Yale-Universität dagegen war Freud nicht bloß ein guter Schriftsteller. In seinem Buch The Western Canon schloß Bloom Freud in seine Liste der sechsundzwanzig bedeutendsten Schriftsteller aller Zeiten ein. Freud sei zusammen mit Marcel Proust, James Joyce und Franz Kafka ein zentraler Schriftsteller des modernen »chaotischen Zeitalters«. Bloom machte sich keine Illusionen über die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse, die er eine Form des »Schamanismus« nannte, die »am Sterben oder schon tot ist«. Doch Freuds Arbeit, fuhr Bloom fort, »die die Gesamtheit der menschlichen Natur beschreibt, geht weit über die Freudsche Therapie hinaus. Wenn es eine Quintessenz des Freudschen Denkens gibt, muß sie in seiner Vision eines Bürgerkriegs innerhalb der Psyche liegen.«52
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Paul Gray, der Literaturkritiker der Time, kam in seiner berühmten Titelgeschichte »Ist Freud tot?« zum selben Schluß. Er pflichtete der Behauptung von Crews und anderen Kritikern bei, daß Freud sowohl als Wissenschaftler wie auch als Mensch gravierende Schwächen gehabt habe. Dennoch sagte er voraus, daß Freud als Schriftsteller überdauern würde. »Ungeachtet seines Machtwillens und seines Buhlens um Einfluß, ungeachtet auch seines rücksichtslosen Hinweggehens über Kollegen und Patienten, ungeachtet aller vorsätzlichen Sünden, die frühere und heutige Kritiker auf seine Couch packen, gelang es ihm, ein Theoriegebäude zu errichten, das der subjektiven Lebens- und damit Leidenserfahrung des einzelnen näher zu stehen scheint als alle anderen Systeme, die gegenwärtig zur Diskussion stehen.«53 Selbst Frederick Crews geriet eine Zeitlang in Freuds Bann.54 Crews begann mit der Lektüre der Freudschen Werke, als er in den fünfziger Jahren in Princeton studierte, und nur die hohen Ausbildungskosten hielten ihn davon ab, selbst Psychoanalytiker zu werden. Zu Beginn seiner akademischen Laufbahn benutzte er die Psychoanalyse als Instrument der literarischen Analyse in seinen Lehrveranstaltungen und Schriften. In der 1966 erschienenen Studie The Sins of the Fathers: Hawthorne's Psychological Themes behauptete Crews, The Scarlet Letter und andere Werke von Nathaniel Hawthorne »nehmen die Befunde der Psychoanalyse vorweg, und die geheimsten Belange seines künstlerischen Schaffens stimmen ausnahmslos mit denjenigen überein, denen auch Freud größte Bedeutung beimaß«. Crews' Buch gilt noch immer als ein Klassiker der freudianischen Literaturwissenschaft. Nach wohl einhelliger Auffassung hat Freud, wenn schon keine wissenschaftlichen, so doch bedeutende literarische Erkenntnisse zutage gefördert. Mehrere prominente Wissenschaftler sind der Auffassung, daß in Anbetracht der bisher sehr dürftigen wissenschaftlichen Erfolgsbilanz tiefe Einblik- 103
ke in die menschliche Psyche möglicherweise immer eher literarischen als wissenschaftlichen Charakter haben werden. Clifford Geertz meint sogar, daß Kontroversen über die menschliche Natur - anders als Probleme in der Kernphysik oder der Molekularbiologie oder in »sachlicheren« wissenschaftlichen Disziplinen - niemals eindeutig durch Rückgriff auf empirische Daten gelöst werden könnten. Seines Erachtens ist sein Fachgebiet, die Anthropologie, ein halb literarisches, halb wissenschaftliches Projekt und werde dies vielleicht immer bleiben. Der von Geertz geprägte Begriff Faktion, den er als »imaginatives Schreiben über reale Menschen an realen Orten zu realen Zeitpunkten« definiert,55 ist eine passende Beschreibung für Freuds Fallgeschichten. (Falls Freud diese Fallgeschichten größtenteils selbst erfunden hat, würden sie allerdings nicht einmal als »Faktion« gelten können.) Ähnliches vertrat Howard Gardner, Psychologe und Pädagogikprofessor an der Harvard-Universität. Er ist Kodirektor des Harvard-Projektes Zero, das die psychischen Grundlagen von künstlerischer Produktivität, Kreativität und Lernen erforscht. Für Furore sorgte seine 1983 in Frames of Mind postulierte Hypothese, daß der Mensch keine homogene, multifunktionale Intelligenz besitze, sondern »vielfache Intelligenzen«, die auf verschiedene Aufgaben zugeschnitten seien.56 In Extraordinary Minds legte er Fallstudien über vier archetypische Genien vor. Gandhi war demnach ein »Beeinflusser«, der über eine geradezu unheimliche Führungsfähigkeit verfügte; Virginia Woolf gehörte zum Typus des »Introspektors«, der sich hervorragend darauf versteht, seine innerseelischen Vorgänge aufzudecken; Mozart war ein »Meister«, der einem bereits bestehenden Gebiet künstlerischer Kreativität sein Gepräge gab; Freud war ein »Macher«, der praktisch von Grund auf eine neue wissenschaftliche Disziplin erfand. Freud sei weder ein schlechter Beeinflusser noch ein Introspektor gewesen, bemerkte Gardner. - 104
Vor unserer ersten Begegnung hatte ich mir Gardner als einen ernsten, liebenswürdigen Mann vorgestellt.57 Seine Schriften über vielfache Intelligenzen atmeten diese Eigenschaften ebenso wie einen altmodischen, romantischen Liberalismus. Das Leitprinzip seiner wissenschaftlichen Tätigkeit schien zu lauten, daß die Pädagogik jede Person als ein einzigartiges Individuum mit spezifischen Charakterzügen, die nicht in einem IQ-Wert erfaßt werden können, behandeln sollte. Gardner in Person war dagegen genauso scharfzüngig wie Frederick Crews. Gardner hat jedoch nicht nur die Psychoanalyse im Visier, sondern das gesamte Gebiet der Psychologie. Die Psychologie, eröffnete er mir, stehe nicht etwa im Begriff zu sterben, nein, sie sei bereits tot. Er habe aufgehört, seine Mitgliedsbeiträge an die American Psychological Association zu überweisen. »Ich hielt es für einen guten symbolischen Akt«, sagte er. »Aber wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, sage ich noch immer: Psychologe.« Auf die Bitte, die bedeutendsten Errungenschaften der Psychologie anzuführen, antwortete er, die Psychologen hätten gelernt, »sich nicht selbst dazu zu verleiten«, ungesicherte Schlußfolgerungen zu ziehen. »In begrifflicher und methodologischer Hinsicht hat die Psychologie einiges erreicht. Doch wenn Sie fragen, welche dauerhaften Wahrheiten hat die Psychologie im Verlauf der letzten hundert Jahre zusammengetragen, lautet meine Antwort: nicht sonderlich viele.« Kognitionswissenschaft, Neurowissenschaft und andere Disziplinen, die sich der Erforschung der Psyche widmen, könnten unser psychologisches Wissen nachhaltig bereichern, räumte Gardner ein. Die Sozialpsychologie stelle weiterhin Spekulationen über die menschliche Natur an, indem sie Begriffe und Wörter präge - wie etwa Identitätskrise, Alltagswissen oder auch erlernte Hilflosigkeit–, die zwar keine strengen wissenschaftlichen Theoreme seien, aber als »Denkhilfen« genutzt werden könnten. Experten auf dem Gebiet der ange- 105
wandten Psychologie entwickelten weiterhin IQ-Tests und andere Instrumente, die Unternehmen bei der Einstellung und Entlassung von Mitarbeitern einsetzen könnten. Doch keines dieser Gebiete sei der Lösung des Rätsels der menschlichen Psyche auch nur nahe gekommen. Gardner hatte seine Kritik erstmals 1992 in einem Vortrag geäußert, der den Titel »Scientific Psychology: Should We Bury It or Praise It?« trug.58 Er erinnerte daran, daß William James, obschon er im Grunde genommen ein Wissenschaftsoptimist gewesen sei, gelegentlich seine Kritik am »vorwissenschaftlichen Stand« und »der Begriffsverwirrung und Unvollkommenheit« der Psychologie zum Ausdruck gebracht habe. James habe einmal beklagt, daß »es keine wissenschaftliche Psychologie gibt«. James' Vorbehalte gegenüber seiner Disziplin »haben sich als allzu berechtigt erwiesen«, erklärte Gardner in seinem Vortrag. »Die Psychologie hat sich nicht zu einer integrierten Wissenschaft entwickelt, und sie wird dieses Ziel wahrscheinlich nie erreichen.«59 Gardner räumte ein, daß gewisse Disziplinen, die sich der Erforschung der Psyche widmeten, insbesondere die Neurowissenschaft, Fortschritte gemacht hätten und dies auch weiterhin tun würden. Er wies darauf hin, daß »die Jahre am Ende unseres Jahrhunderts durchaus als das Mündigwerden der Hirnforschung beziehungsweise Neurowissenschaft beschrieben werden können. Auf jeder Ebene des Nervensystems, von der einzelnen Synapse bis zu den Durchblutungsmustern des gesamten Kortex, nimmt unser Wissen mit einer phänomenalen Geschwindigkeit ständig zu.« Doch »die Phänomene der Empfindung und Wahrnehmung oder auch andere physiologische Zustände werden sich nie auf eine rein neurale Theorie zurückführen lassen«. Gardner steht der Kognitionswissenschaft erstaunlich kritisch gegenüber, wenn man bedenkt, daß er mit seinem 1985 erschienenen Buch The Mind's New Science60 selbst zu ihrer - 106
Popularisierung beigetragen hat. Kognitionswissenschaftler betrachteten die Psyche als eine informationsverarbeitende Maschine, einen Rechner, der, statt aus Silizium, aus Fleisch und Blut bestehe. Als der Behaviorismus Ende der fünfziger Jahre an Ansehen verlor, schien alles darauf hinzudeuten, daß die Kognitionswissenschaft zum vorherrschenden Paradigma der Psychologie werden würde. Doch die Herangehensweise der Kognitionswissenschaftler an die Phänomene Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und logisches Denken stelle keine deutliche Verbesserung gegenüber den älteren psychologischen Ansätzen dar. Zudem, so Gardner weiter, »übersehen [Kognitionswissenschaftler] möglicherweise jene Aspekte des logischen Denkens oder Problemlösens, die eher charakteristisch für Menschen als für mechanische Gegenstände sind«. Sein zentraler Kritikpunkt war die Tatsache, daß streng wissenschaftliche Methoden zur Erforschung der Psyche unser Verständnis der Kernthemen der Psychologie nicht vorangebracht hätten: Bewußtsein, das Selbst, Willensfreiheit und Persönlichkeit. Diese Konzepte »scheinen sich der Zerlegung in elementare Bestandteile und anderen Formen des Reduktionismus besonders nachhaltig zu widersetzen«. Gardner behauptete, Psychologen könnten vielleicht mit Hilfe eines »literarischeren« Untersuchungsstils und Diskurses weiterkommen. Schließlich vermittelten uns Shakespeare und Dostojewski viel tiefere Aufschlüsse über das menschliche Wesen, als es Psychologen vermochten. Und einige der bedeutendsten Psychologen hätten herausragende literarische Fähigkeiten und Kenntnisse besessen, etwa William James. Während unseres Gesprächs wies Gardner darauf hin, daß auch Freud ein Meister jener Form literarischer Psychologie gewesen sei, die man benötige, um die tiefsten Geheimnisse der Psyche zu erkunden. Freud habe sich in seinen Schriften immer wieder auf Beispiele aus der Literatur und der Mytho- 107
logie gestützt, und er habe ein gutes intuitives Gespür für Menschen besessen. Alle »großen« Psychologen, denen Gardner begegnet sei, hätten diese intuitive Fähigkeit gehabt. »Übrigens können fünfundneunzig Prozent - Sie können mich mit dieser Zahl zitieren - der Psychologen« sich nicht tief in andere Menschen einfühlen. »Sie satteln von Chemie auf Psychologie um, weil sie in Chemie nicht gut genug waren.«
Freuds versöhnender Pessimismus Die Psychoanalyse ist ein Paradigma mit schwerwiegenden Fehlern; wir sollten dankbar dafür sein, daß ihr einst beherrschender Einfluß gebrochen ist. Andererseits stellt der Kult um Freud heute eine geringere Gefahr dar als der Kult um Fluctin, um die DNA, um Darwin oder um den Computer. Neofreudianer erfüllen dadurch, daß sie die Vorherrschaft dieser vermeintlich neuen und verbesserten Paradigmen in Frage stellen, noch immer einen nützlichen Zweck. Der britische Psychoanalytiker Adam Phillips schrieb 1998, die Psychoanalyse »zeigt uns bestenfalls sowohl die Grenzen unserer vielgerühmten Erkenntnisfähigkeit als auch, was wir mit dieser sogenannten Erkenntnisfähigkeit tun können«.61 Meines Erachtens war Freuds Bereitschaft, die Grenzen der Wissenschaft einschließlich seiner eigenen Beiträge ausdrücklich anzuerkennen, einer seiner versöhnlichsten Wesenszüge. In dem 1937 erschienenen Werk Die endliche und die unendliche Analyse schrieb Freud: »Es hat doch beinahe den Anschein, als wäre das Analysieren der dritte jener ›unmöglichen‹ Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren.«62 Im Jahr 1933 klang er noch sarkastischer: »Da möchte ich sagen, ich glaube nicht, daß unsere Heilerfolge es mit denen von Lourdes - 108
aufnehmen können. Es gibt so viel mehr Menschen, die an die Wunder der heiligen Jungfrau, als die an die Existenz des Unbewußten glauben.«63 Freuds Sorgen waren wohlbegründet. Mehr als fünfzig Jahre nachdem er diese Äußerung gemacht hat, gibt es noch immer keine schlüssigen Beweise dafür, daß die Psychoanalyse als therapeutisches Verfahren dem Gesundbeten überlegen wäre. Andererseits gibt es auch keine schlüssigen Beweise dafür, daß irgendeine von den Hunderten von »Redekuren«, die auf alternativen Theorien der menschlichen Natur basieren und die im Verlauf der letzten hundert Jahre entstanden sind, im geringsten erfolgreicher wären.
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3. PSYCHOTHERAPIE UND DIE DODO-HYPOTHESE Es gibt seit hundert Jahren Psychotherapie, und trotzdem geht's mit der Welt bergab. JAMES HILLMAN UND MICHAEL VENTURA1
einem noch nicht lange zurückliegenden Sommertag Anverkaufte die Bücherei meiner Heimatstadt gespendete Bücher. Zwischen den hoch mit broschierten und gebundenen alten Büchern beladenen Tischen stieß ich auf ein fossiles Lager populärwissenschaftlicher Psychologiebestseller: Phänomenologie der Erfahrung des britischen Psychiaters und Dichters R. D. Laing, jenseits von Freiheit und Würde des Psychologen B. F. Skinner, eines Begründers des Behaviorismus, Jugend und Krise des Psychoanalytikers Erik Erikson, I'm Okay – You're Okay des Psychiaters Thomas Harris, der die Transaktionsanalyse popularisierte, und Der Urschrei des klinischen Psychologen Arthur Janov, der die Urschreitherapie erfand, deren berühmteste Anhänger John Lennon und Yoko Ono waren. Allein schon die Titel dieser Bücher zeigen, daß sich die Psychologie im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts in zahlreiche divergierende Richtungen entwickelte. Wie ein Bakterium, das ultravioletter Strahlung ausgesetzt wird, begann die Psychoanalyse unmittelbar nach ihrer Begründung rasch zu mutieren und sich zu teilen. Sie brachte schließlich eine Vielzahl ähnlicher, aber konkurrierender psychologischer Theorien hervor, darunter jene, die von so bekannten freudianischen Apostaten wie Carl Jung und Wilhelm Reich begründet wurden. Daneben bildeten sich eigenständige Theorien der menschlichen Psyche heraus, wie etwa der Behaviorismus, die Soziobiologie und die Kognitionswissenschaft. Praktisch alle diese Theorien haben ihre eigenen Psychotherapien hervorgebracht. Mitte der achtziger Jahre umfaßte die Angebotspalette über 450 verschiede- 110
ne Arten von Psychotherapien, von der aktiven analytischen Therapie bis hin zur psychoenergetischen Technik nach Zaraleya.2 Die Psychotherapien lassen sich in drei allgemeine Kategorien einteilen: - Psychodynamische Therapien, zu denen die Psychoanalyse und ihre Abkömmlinge zählen, sehen in Kindheitserfahrungen, insbesondere solchen sexueller Natur, die Ursache für psychische Störungen im Erwachsenenalter. - Verhaltenstherapien verfolgen einen gegenwartsbezogeneren Ansatz. Auf der Grundlage der Arbeiten von Iwan Pawlow, J.B. Watson, B.F. Skinner und anderen Behavioristen streben Verhaltenstherapien danach, durch Konditionierungsübungen dysfunktionale Verhaltensmuster zu ändern. Verhaltenstherapien werden oft mit kognitiven Therapien, die jedoch vor allem auf die Änderung schädigender Denkgewohnheiten abzielen, in einen Topf geworfen. - Erlebnisorientierte Therapien haben eine philosophischere Ausrichtung als psychodynamische und Verhaltenstherapien; mitunter nehmen sie sogar eine ausgesprochen spirituelle Dimension an. Depression und Angst werden als legitime Reaktionen auf die Sinnlosigkeit des Daseins gewertet. Die Therapeuten versuchen den Patienten zu helfen, sich ihrer Verzweiflung und Entfremdung zu stellen und sie zu überwinden, indem sie ihre Fähigkeit erkennen, ihr Leben mit Sinn zu erfüllen.3 Selbst innerhalb einer bestimmten psychotherapeutischen Richtung kann es eine enorme Bandbreite geben. In der klassischen Psychoanalyse sollte es der Analytiker vermeiden, dem Patienten Ratschläge zu geben, doch viele Analytiker einschließlich Freud haben gegen diese Regel verstoßen. Tatsäch- 111
lieh gibt es wohl genauso viele Arten von Psychotherapie, wie es Psychotherapeuten gibt, ja sogar mehr, wenn man bedenkt, daß viele Psychotherapeuten gegenüber verschiedenen Patienten unterschiedliche therapeutische Strategien einschlagen. Nach der gegenwärtig vorherrschenden Meinung sinkt der Stellenwert von Psychotherapien infolge des (in den USA) neu eingeführten Systems der integrierten Gesundheitsfürsorge und der sprunghaft zunehmenden Beliebtheit von Medikamenten wie Fluctin immer weiter. Obgleich es eine Fülle von anekdotischen Indizien für den Bedeutungsverlust von Psychotherapien gibt, ist es schwerer, exakte Daten zu bekommen.4 Laut einer statistischen Erhebung erhielten im Jahr 1987 7,3 Millionen Amerikaner oder 3,1 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens eine psychotherapeutische Sitzung pro Jahr auf ambulanter Basis.5 Die Anzahl der ambulanten psychotherapeutischen Visiten belief sich auf insgesamt achtzig Millionen und die Gesamtkosten auf über vier Milliarden Dollar.6 Eine Studie aus dem Jahr 1992 zählte hundert Millionen psychotherapeutische Sitzungen, aber diese Zahl enthielt auch Patienten in Kliniken und anderen Gesundheitseinrichtungen.7 Bei einer statistischen Erhebung, die sich auf Ärzte, einschließlich Psychiatern, konzentrierte, wurde festgestellt, daß diese Ende der neunziger Jahre weniger Psychotherapien durchführten als im vorausgehenden Jahrzehnt, doch werde dieser Rückgang möglicherweise durch eine Zunahme von Besuchen bei nichtärztlichen Therapeuten kompensiert.8 Selbst wenn die Gesamtzahl der psychotherapeutischen Behandlungen rückläufig ist, stellt die Psychotherapie noch immer eine wichtige Form der Behandlung von psychischen Problemen dar, und diejenigen, die sie verabreichen, bilden noch immer eine einflußreiche politische Interessengruppe. Allein in den Vereinigten Staaten gibt es fast dreihunderttausend Psychotherapeuten. Diese Zahl schließt vierzigtausend Psychiater, - 112
achtzigtausend klinische Psychologen und hundertzwanzigtausend Sozialarbeiter ein.9 Seelsorger, Drogenberater und andere eklektische Praktiker steuern weitere fünfzigtausend Therapeuten zu der Mischung bei. Mitte der neunziger Jahre bedrängten diese Gruppen den US-amerikanischen Kongreß, Unternehmen gesetzlich dazu zu verpflichten, für psychische Erkrankungen denselben Versicherungsschutz zu gewähren wie für körperliche Leiden wie Krebs oder Herzerkrankungen. Der Mental Health Parity Act (Gesetz zur Gleichstellung der psychischen Gesundheit mit der körperlichen Gesundheit) trat mit den unvermeidlichen Lücken im Januar 1998 in Kraft.10 Die Psychotherapiebranche stellt einen beständigen umfassenden Test der zahllosen psychologischen Lehren dar, die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt wurden. Man kann die relativen Vorteile verschiedener psychologischer Lehren bewerten, indem man die Wirksamkeit ihrer zugehörigen Therapien mißt. Wenn sich eine Psychotherapie anderen Verfahren bei der Behandlung seelischer Leiden als überlegen erwiese, wäre dies ein starker Indizienbeweis für die Wahrheit der ihr zugrunde liegenden Theorie. Wie Politiker sollten vielleicht auch wissenschaftliche Theorien - insbesondere solche mit medizinischen Ansprüchen - nicht danach beurteilt werden, was sie sagen, sondern danach, was sie bewirken. Die Frage lautet dann nicht mehr »Ist sie wahr?«, sondern »Ist sie wirksam?«. Die frühen Anhänger der Quantenmechanik konnten nur die Ergebnisse rätselhafter Experimente beschreiben. Später konnten sie Kernspaltungsreaktoren, Transistoren, Laser und thermonukleare Bomben - Technologien, die den Lauf der Geschichte veränderten - als Beweise vorlegen. Für viele Physiker ist die Frage, ob die Quantenmechanik wahr ist, nahezu belanglos; Hauptsache ist, sie funktioniert. Die Frage, ob eine bestimmte Psychotherapie wirksam ist, läßt sich nicht leicht beantworten. Freud wollte mit seinen Fallberichten über einzelne Patienten - darunter so berühmte - 113
Personen wie der Rattenmann, der Wolfsmann und Anna O., die den Begriff »Redekur« prägte und nicht von Freud selbst, sondern von einem seiner Kollegen analysiert wurde - den Nachweis für die Wirksamkeit der Psychoanalyse erbringen. So wie Freud diese Fallstudien erzählte, bestätigten sie den Nutzen einer psychoanalytischen Behandlung. Mit Hilfe des brillanten Analytikers gelinge es dem Patienten, die psychischen Ursachen seiner Symptome zu verstehen, was ihm Erleichterung verschaffe. Wie mehrere Kritiker gezeigt haben, bestand allerdings oftmals eine erhebliche Diskrepanz zwischen Freuds Erzählungen und der Wirklichkeit. Zudem könnten die nachweislichen Verbesserungen bei manchen (nicht allen) Patienten von Freud und seinen Kollegen trotz und nicht wegen der Behandlung zustande gekommen sein. Fallberichte bleiben ein zentrales Element moderner Bücher über die Psyche, egal ob sie Psychotherapien (The Talking Cure von Susan Vaughan), Medikamente (Glück auf Rezept von Peter Kramer) oder die Verhaltensgenetik (Twins von Lawrence Wright) anpreisen.11 Auch wenn Fallgeschichten oftmals eine faszinierende Lektüre sind, werden sie nicht mehr als zuverlässige Belege für die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen anerkannt. Wenn man sich allein auf kasuistische Einzelfallschilderungen bezieht, kann man Wirksamkeitsnachweise für jede beliebige Behandlungsform beibringen, ob für die Jungsche Psychotherapie bei Depression oder Haiknorpel bei Krebs. Die beste Methode zur Bewertung eines bestimmten Heilverfahrens besteht darin, im Rahmen einer kontrollierten Studie seine Wirksamkeit bei einer großen Zahl von Probanden zu messen. Doch Studien, die die Wirksamkeit psychologischer Behandlungsformen nachweisen sollen, werden durch Faktoren erschwert, die in Studien über Tumortherapien oder andere, einfachere Therapien nicht auftreten. Toksoz Karasu, Psychiater am Albert Einstein College of Medicine und eine - 114
Autorität auf dem Gebiet der Psychotherapieforschung, schrieb einmal: Wenn man versucht, die trügerisch einfache Frage ›Ist eine Psychotherapie wirksam?‹ zu beantworten, muß man die Vielfalt theoretischer und klinischer Ansätze in der Psychotherapie, die Schwierigkeiten, sie als eine gleichförmige Praktik zu beschreiben und zu messen, das Spektrum der Störungen, die Verschiedenartigkeit der Kontexte, die große - scheinbar endlose - Zahl von Patienten-, Therapeuten- und Interaktionsvariablen berücksichtigen. Zudem haben Therapeuten [...] politische, wirtschaftliche und narzißtische Interessen, die dazu führen, daß sie sich nicht nur in ihrem beruflichen Rollen- und Identitätsverständnis, sondern auch in ihrer ideologischen Einstellung unterscheiden.12
Die Diagnose psychischer Störungen ist ein problematisches Unterfangen; was ein Psychiater als Schizophrenie klassifiziert, wird von einem anderen vielleicht als Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankung oder normale Melancholie diagnostiziert. Die Therapeuten sind sich, gelinde gesagt, uneinig darüber, wie eine bestimmte Störung definiert werden sollte, und selbst darüber, was überhaupt als Störung anzusehen ist. Die American Psychiatrie Association hat sich bemüht, dieses Problem mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM - dt. Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen) zu lösen, dessen erste Ausgabe 1952 erschien.13 Doch das DSM, das von Gruppen von Psychiatern erarbeitet wird, in deren Beurteilungen sich der Konsens der Fachwelt widerspiegeln soll, hat allenfalls das subjektive Moment bei psychiatrischen Diagnosen verdeutlicht, dieses aber keinesfalls ausgeschaltet. Ein Rezensent des DSM-IV (der in Deutschland 1996 erschienenen vierten Auflage) meinte etwa, die Beschreibung der Schizophrenie »läuft auf folgendes hinaus: Ein Schizophrener ist eine Person, die sehr eigenartige Gedanken hat, sich sonderbar benimmt - 115
und unter bizarren Wahnideen leidet; dies deutet darauf hin, daß die Verfasser des DSM-IV entweder nicht wissen, was Schizophrenie ist, oder sich sprachlich nicht richtig ausdrükken können.«14 Das DSM-IV erwähnt nicht einmal Hysterie und Neurose, die beiden zentralen Themen der freudianischen Psychologie, und auch die Homosexualität taucht nicht mehr auf, die noch im DSM-I und im DSM-II als psychische Störung gewertet wurde, aber in späteren Ausgaben auf Druck schwuler Aktivisten und anderer gestrichen wurde. Dennoch stieg die Zahl der anerkannten Störungen von 106 im DSM-III (1980) auf über 300 im DSM-IV an.15 Zu den neuen Kategorien gehören Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (»Kann sich nicht auf Details konzentrieren und begeht Flüchtigkeitsfehler«), antisoziale Persönlichkeitsstörung (»Impulsivität beziehungsweise Unfähigkeit vorauszuplanen«), dissoziative Fugue (der unwiderstehliche Drang, »seinen Wohnort und seinen gewohnten Arbeitsplatz zu verlassen«). Das DSM-IV spiegelt »die zunehmende Tendenz in unserer Gesellschaft [wider], nichtmedizinischen Problemen eine medizinische Bedeutung beizulegen, Gefühlsüberschwang mit Psychopathologie zu verwechseln und so zu tun, als verstehe man Phänomene schon, wenn man ihnen ein Etikett und eine Codenummer anhängt «16, heißt es in dem 1998 erschienenen Buch Making Us Crazy, einer Geschichte des DSM. Außerdem bezahlen die meisten Versicherungsgesellschaften nur die Behandlung von Störungen, die im DSM aufgeführt sind. Doch selbst wenn die Diagnose eindeutig wäre, bestünde noch immer Uneinigkeit darüber, wie man den Erfolg einer psychologischen Behandlung messen soll. Kann der Therapeut oder der Patient selbst die Störung eines Patienten besser beurteilen? Und worin besteht ein erfolgreicher Abschluß? Die letztgenannte Frage ist stark mit Werturteilen behaftet. Während die meisten (wenn auch nicht alle) Beobachter darin über- 116
einstimmen würden, daß ein Selbstmord auf einen Fehlschlag der Therapie hindeutet, stellt sich die Frage, was einen Erfolg ausmachte. Und welchen Zeitraum müßte man dabei betrachten? Besteht das Ziel der Therapie darin, Selbsterkenntnis, Zufriedenheit oder beides zu fördern? Sollten Therapeuten Patienten helfen, eigenständiger zu werden oder sich konventionellen sozialen Normen anzupassen? Wie lange muß ein Patient symptomfrei sein, bis er als geheilt gelten kann, sofern dieser Begriff überhaupt anwendbar ist? Ist es sinnvoll, von einer »Heilung« der Melancholie oder Angst zu sprechen, wenn beide möglicherweise angemessene Reaktionen auf das menschliche Dasein sind? Auf einem weniger philosophischen Niveau stellt sich die Frage, wie man eine Kontrollgruppe für eine Psychotherapiestudie zusammenstellen soll. In einer kontrollierten Studie vergleicht man die behandelte Gruppe mit einer zweiten, die nicht behandelt wird, aber ansonsten mit der ersten soweit wie möglich übereinstimmt. Jeder Unterschied zwischen den beiden Gruppen läßt sich dann mit hoher Plausibilität auf die Behandlung zurückführen. Die ideale klinische Studie ist ein Doppelblindversuch; eine Gruppe erhält den Wirkstoff, der erprobt wird, und die Kontrollgruppe erhält eine pharmakologisch unwirksame Substanz, die Placebo genannt wird. Weder die Studienteilnehmer noch die Studienleiter wissen, wer die wirksame Substanz und wer das Placebo erhält. Wie aber führt man eine Doppelblindstudie über ein psychotherapeutisches Behandlungsverfahren durch?
Psychoanalytiker bewerten sich selbst Freud griff all jene heftig an, die auf einem stringenteren empirischen Wirksamkeitsnachweis bestanden, als er von Fallstudien erbracht wird. Statistische Auswertungen, so meinte - 117
Freud, seien »überhaupt nicht lehrreich, das verarbeitete Material so heterogen, daß nur sehr große Zahlen etwas besagen würden. Man tut besser, seine Einzelerfahrungen zu befragen.«17 In Freuds Widerstand gegen statistische Studien mag sich seine Befürchtung widerspiegeln, daß die Ergebnisse der Psychoanalyse möglicherweise nicht zum Vorteil gereichten. Gegen Ende seines Lebens schrieb er: »Man hat den Eindruck, daß man nicht überrascht sein dürfte, wenn sich am Ende herausstellt, daß der Unterschied zwischen dem nicht Analysierten und dem späteren Verhalten des Analysierten doch nicht so durchgreifend ist, wie wir es erstreben, erwarten und behaupten.«18 Die Psychoanalytiker definieren den therapeutischen Erfolg oftmals so, daß er sich nicht objektiv messen läßt. Die Journalistin Janet Malcolm machte in ihrem 1982 erschienenen Buch Psychoanalysis: The Impossible Profession darauf aufmerksam: »Es ist eine der ältesten und tiefverwurzeltesten Überzeugungen der Psychoanalyse, daß der Analytiker mehr will, als dem Patienten bloß ein angenehmes Lebensgefühl zu vermitteln.«19 Ihrer Auffassung nach kann die Minderung des Leidensdrucks die persönliche Weiterentwicklung aber behindern. Freud selbst tadelte einst Analytiker, die »nichts anderes [anstreben], als es dem Kranken möglichst angenehm zu machen, damit er sich dort wohl fühle und gerne wieder aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht dorthin nehme. Dabei verzichten sie darauf, ihn für das Leben stärker [...] zu machen.«20 In Anbetracht dieser Faktoren ist es nicht verwunderlich, daß viele Analytiker ihre Zwiespältigkeit beziehungsweise ihren offenen Widerstand gegenüber jedem Versuch, die Wirksamkeit ihres Produktes zu quantifizieren, zum Ausdruck brachten. Im Jahr 1948 riefen leitende Funktionäre der American Psychoanalytic Association (APA) einen Evaluationsausschuß ins Leben, der von Mitgliedern Wirksamkeitsbelege sammeln sollte, doch der Ausschuß löste sich bald wieder auf, - 118
da die Mitglieder nicht miteinander kooperierten.21 Einem 1953 gegründeten Ausschuß gelang es, Berichte über den therapeutischen Erfolg von Tausenden von Analytikern zu sammeln. Als die Ausschußmitglieder im Jahr 1957 die Informationen dem Vorstand des Berufsverbandes vorlegten, empfahlen sie, die Ergebnisse unter Verschluß zu halten. Die APA schickte die Rohdaten zur Auswertung an IBM, doch dabei gingen offenbar viele der Daten verloren. Im Jahr 1967 versuchte die APA, das Projekt zu retten, indem sie einen Teil der Ergebnisse veröffentlichte - ein Kritiker bezeichnete sie als eine Sammlung »angeblicher Fakten«22 -, ließ das Thema dann aber erneut fallen. Ungeachtet dessen begannen psychoanalytische Institute in Chicago, New York, Boston, San Francisco und in anderen Orten Daten über den Therapieerfolg zusammenzutragen. Die Ergebnisse, die sich auf über sechshundert Patienten bezogen, wurden 1991 im Journal of the American Psychoanalytic Association von einer Gruppe um Henry Bachrach, einem Professor für Psychiatrie am New York Medical College im Saint Vincent's Hospital, erörtert.23 Die Autoren kamen zu dem Schluß, daß die psychoanalytische Behandlung bei sechzig bis neunzig Prozent der untersuchten Patienten zu einer »erheblichen« Verbesserung ihres Zustands geführt habe. Diese Studien weisen jedoch so gravierende Mängel auf, daß sie von unabhängigen Beobachtern und sogar von vielen Psychoanalytikern selbst als wertlos erachtet werden. Erstens wurde der Fortschritt der Patienten in der Regel von ihren Analytikern beurteilt, die aus naheliegenden Gründen dazu neigen dürften, positive Resultate festzustellen. Zweitens wurden die Patienten nicht mit einer Kontrollgruppe verglichen, die keine Therapie erhielt. Drittens nahmen die Analytiker nur solche Patienten an, die sie als »geeignet« für eine Psychoanalyse einstuften. »Geeignete« Patienten sind tendenziell wohlhabender, gebildeter, funktional weniger stark beeinträchtigt und - 119
motivierter für eine Therapie als »ungeeignete«. Anders gesagt, diejenigen, die am meisten von einer Psychoanalyse profitierten, waren zugleich diejenigen, die sie am wenigsten brauchten. Als Bachrach diese Daten 1992 auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science in Chicago vorstellte, räumte er ein, diese Studien seien nicht ideal. Doch die Schwächen »waren nicht größer als bei vergleichbaren Untersuchungen über andere Formen von Psychotherapie«.
Die Dodo-Hypothese - Teil I Anders als von Bachrach behauptet, haben Forscher durchaus aussagekräftigere Studien zur Wirksamkeit anderer Psychotherapien durchgeführt. Eine der längsten Studien war das sogenannte Cambridge-Somerville Delinquency Prevention Project (Delinquenz-Präventionsprojekt).24 Die 1937 begonnene Untersuchung verfolgte die Entwicklung von über sechshundert Jungen aus dem Raum Boston, deren Durchschnittsalter bei Studienbeginn zehn Jahre betrug und bei denen man ein erhöhtes Straffälligkeitsrisiko vermutete. Eine Gruppe von ihnen wurde während eines Zeitraums von durchschnittlich fünfeinhalb Jahren zweimal pro Monat von Sozialarbeitern beraten, die eine Fortbildung in Psychoanalyse oder in der damals populären »humanistischen Gesprächstherapie«, entwickelt von dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers, gemacht hatten. Die andere Gruppe wurde nicht betreut. Im Jahr 1948 gab es keinen Unterschied in den Strafregistern der beiden Gruppen. Das gleiche wurde in den fünfziger Jahren und 1975 festgestellt. Doch zu diesem Zeitpunkt kamen einige bemerkenswerte Unterschiede zwischen den beiden Gruppen zum Vorschein. Diejenigen, die betreut und im weiteren Verlauf ihres Lebens straffällig geworden waren, hatten - 120
mit höherer Wahrscheinlichkeit mehr als eine Straftat begangen. Die Forscher fanden darüber hinaus auch eine positive Korrelation zwischen der Behandlungsdauer und dem Ausmaß straffälligen Verhaltens. Die Studie deutete darauf hin, daß eine therapeutische Behandlung Jugendliche keineswegs vor einem Abdriften in die Kriminalität schützt, sondern, im Gegenteil, das Risiko noch erhöht. Auch die Forschungen von Hans Eysenck, einem in Deutschland geborenen Psychologen, der den größten Teil seiner wissenschaftlichen Laufbahn am Institute of Psychiatry der Universität London verbrachte, förderten ernüchternde Ergebnisse zutage.25 Im Jahr 1952 legte Eysenck die Befunde einer Studie über die Psychoanalyse und andere »eklektische« Psychotherapien vor. Er behauptete, daß es vierundvierzig Prozent der Analysanden nach Abschluß ihrer Analyse besser gehe, im Vergleich zu vierundsechzig Prozent der Patienten, die mit anderen Therapien behandelt worden waren. Doch bei zwei Dritteln einer Gruppe unbehandelter neurotischer Patienten sei nach zwei Jahren ebenfalls eine Besserung eingetreten. Eysenck zog daraus den Schluß, daß Psychotherapien bestenfalls wirkungslos seien; die Psychoanalyse habe sogar eine nachteilige Wirkung. Eysencks offen ablehnende Einstellung zu Freud und sein Eintreten für alternative Theorien der menschlichen Psyche trugen ihm den Vorwurf ein, seine Schlußfolgerungen seien tendenziös.26 Er erklärte einmal, Freuds Modell der Psyche sei »zu absurd, als daß es wissenschaftlich genannt werden könnte«. Es sei keine Theorie, sondern »eine mittelalterliche Moralität«, deren Charaktere aus so »mythischen Figuren wie dem Ich, dem Es und dem Über-ich« bestünden. Eysenck bevorzugte genetische Theorien des Temperaments und der Intelligenz; er war einer der ersten, der die Auffassung vertrat, die relativ niedrigen IQ-Werte von Schwarzen hätten eine genetische Grundlage. - 121
Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte gelangten Forscher, die versuchten, die Wirksamkeit der Psychoanalyse und anderer Psychotherapien zu evaluieren, zu einer positiveren Bilanz als Eysenck: Personen, die psychotherapeutisch behandelt wurden, ging es im allgemeinen besser als Mitgliedern der unbehandelten Kontrollgruppe. (Die Mitglieder der Kontrollgruppe wurden in der Regel auf eine »Therapie-Warteliste« gesetzt.) Ende der siebziger Jahre wies der US-Kongreß, der über einen Gesetzentwurf beriet, der Versicherungsgesellschaften zur Übernahme der Kosten einer psychotherapeutischen Behandlung verpflichten sollte, das mittlerweile aufgelöste Amt für Technologiebewertung an, die Wirksamkeit der Psychoanalyse zu evaluieren. »Obgleich die Beweislage nicht völlig schlüssig ist«, heißt es in dem Bericht, den das Amt für Technologiebewertung 1980 an seine Auftraggeber im Kongreß sandte, »enthält die aktuelle Literatur mehrere hervorragende Forschungsstudien, die die positive Wirkung einer psychotherapeutischen Behandlung feststellen.«27 Eine der einflußreichsten Evaluationsstudien über Psychotherapien trug den Titel »Comparative Studies of Psychotherapy: Is It True That ›Everybody Has Won and All Must Have Prizes‹?«28 und erschien 1975 in den Archives of General Psychiatry. In dem Aufsatz werteten Lester Luborsky, Professor für Psychologie an der Universität von Pennsylvania, und zwei Kollegen Studien über verschiedene Therapien aus. Sie kamen zu dem Schluß, daß sich eine Psychotherapie auszahle; denjenigen, die eine Therapie erhielten, ging es im allgemeinen besser als denjenigen, die nicht therapiert wurden. Andererseits stach keine Therapie heraus; alle waren annähernd gleich wirksam. Um die Tragweite dieses Befundes sinnfällig zu veranschaulichen, zitierten Luborsky und seine Mitarbeiter eine Episode aus Alice im Wunderland, in der Alice und andere Figuren, die in einem Meer aus Tränen trieben, ans Ufer einer Insel schwammen, wo sie tropfnaß an Land gingen. - 122
Dort begegneten sie einem Dodo, der meinte, ein Wettlauf um die Insel sei der beste Weg, wieder trocken zu werden. Die Episode entwickelte sich folgendermaßen: Er [der Dodo] legte zuerst die Rennbahn fest, eine Art Kreis (›auf die genaue Form kommt es nicht an‹, sagte er), und die Mitspieler mußten sich irgendwo auf der Bahn aufstellen, wie es sich gerade traf. Es gab kein ›Eins - zwei - drei – los! <, sondern jeder begann zu laufen, wann er wollte, und hörte auf, wie es ihm einfiel, so daß gar nicht so leicht zu entscheiden war, wann der Wettlauf eigentlich zu Ende war. Nachdem sie indessen ungefähr eine halbe Stunde gelaufen und wieder ganz trocken geworden waren, rief der Dodo plötzlich: ›Ende des Wettlaufs!‹, und alle drängten sich, noch ganz außer Atem, um ihn und fragten: ›Aber wer ist Sieger?‹ Diese Frage konnte der Dodo nicht ohne tieferes Nachdenken beantworten, und so saß er längere Zeit hindurch da und legte die Zeigefinger an die Stirn (eine Haltung, in der ihr gewöhnlich Shakespeare auf Bildern von ihm seht), während ringsum alles schwieg und wartete. Endlich sagte der Dodo: ›Alle sind Sieger, und jeder muß einen Preis bekommen!‹29
Luborsky erkannte dem Psychologen Saul Rosenzweig das Verdienst zu, den Ausdruck »Dodo-Hypothese« in einem Aufsatz aus dem Jahr 1936 geprägt zu haben. Rosenzweig hatte postuliert, alle Psychotherapien seien vermutlich gleich wirksam, aber keine Beweise für seine Behauptung vorgelegt.30 Luborsky hat seine Befunde im Lauf der Jahre immer wieder aktualisiert und ist mittlerweile mehr denn je davon überzeugt, daß die Dodo-Hypothese richtig ist. Studien, welche auf die Überlegenheit einer bestimmten Therapie hindeuteten, krankten an einem »Präferenzeffekt«, so Luborsky - der Nei* Ein ausgestorbener schwanengroßer Vogel, der auf Mauritius lebte (A. d. Ü.)
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gung von Forschern, Belege für die Wirksamkeit jener Therapie zu finden, die sie selbst praktizieren oder favorisieren.31 Anderseits hat auch Luborsky seine Präferenzen. Als ich ihn anrief, um die Ergebnisse seiner Studien mit ihm zu besprechen, bemühte er sich, die Behauptung von Hans Eysenck und anderen zu widerlegen, Psychotherapien seien gänzlich wirkungslos. »Es gibt eine Fülle von empirischen Daten, die beweisen, daß eine psychotherapeutische Behandlung positive Veränderungen bewirkt«, sagte er. Ich fragte ihn, ob diese Belege vielleicht das Produkt eines »Metapräferenzeffekts« sein könnten, denn schließlich sei ein Forscher, der eine bestimmte Therapie bevorzuge, vermutlich auch vom Nutzen der Psychotherapie im allgemeinen überzeugt. Luborsky antwortete, er habe diese Möglichkeit nicht geprüft, ja nicht einmal in Erwägung gezogen, aber er bezweifle, daß sie stimme. Zudem hat Luborsky unter allen Gesprächstherapien eine eindeutige Vorliebe für die psychodynamische Therapie, die eine Art »Psychoanalyse light« sei. Luborsky enthüllte diese Präferenz 1993 in einem Kapitel, das er mit Koautoren für Psycho dynamic Treatment Research: A Handbook for Clinical Practice schrieb. Hauptthema des Kapitels war die DodoHypothese. Gegen Ende des Kapitels versuchten Luborsky und seine Mitarbeiter mit einem »imaginären Dialog« einige Fragen zu beantworten, die durch ihre Version der Dodo-Hypothese aufgeworfen wurden. Ein Wortwechsel in dem Dialog lautete folgendermaßen: Frage: Glauben Sie nicht, daß die [psychodynamischen] Therapien ungeachtet aller Belege, die für einen nicht signifikanten Differenzeffekt sprechen, einige besondere Vorzüge aufweisen, die noch nicht erkannt wurden? Antwort: Ich bin froh, daß Sie mich das fragen. Die Antwort ist ein entschiedenes Ja. Die Studien haben sich bislang noch nicht mit den möglichen langfristigen Vorteilen befaßt. Und sie haben - 124
auch den Unterschied zwischen Änderungen bei den Symptomen und Änderungen in der allgemeinen Anpassung noch nicht gründlich genug erforscht.32
Luborsky, der auch eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolviert hat, gestand mir, daß er nach wie vor viel von psychoanalytischen Theorien der Psyche halte. Er hoffe, daß bei weiteren Forschungen die nützlichen Komponenten psychodynamischer Therapien identifiziert würden, so daß man sie wirkungsvoller gestalten könne. Er hat eine ausgeklügelte Hypothese über die Beziehung, die sich in einer erfolgreichen Therapie zwischen Patient und Therapeut entwickelt, aufgestellt.33 Die Quintessenz dieser Hypothese, die sich stark an den Freudschen Begriff der Übertragung anlehnt, lautet, daß »ein Bündnis geschmiedet wird und daß beide neue Erkenntnisse gewinnen. Das ist die einfachste Formel dafür.«
Psychotherapie als Placebo Im Jahr 1993 enthüllte Luborsky in einem Leserbrief, der auf Frederick Crews' Artikel »The Unknown Freud« in der New York Review of Books reagierte, seine fortbestehende Präferenz für die Psychoanalyse.34 Luborsky wies Crews' Behauptung zurück, die Psychoanalyse sei »eine nicht sonderlich erfolgreiche und äußerst ineffiziente Methode zur Behebung neurotischer Symptome«. Die Psychoanalyse sei »vermutlich mindestens ebenso wirksam wie andere Formen der Psychotherapie. Dies wird dadurch bewiesen, daß bei allen vergleichenden Studien über verschiedene Formen von Psychotherapien der überwältigende Trend dahin geht, daß es keine signifikanten Unterschiede im therapeutischen Erfolg gibt.« Crews konterte mit der Frage, weshalb, wenn alle Psychotherapien gleichwertig seien, jemand, der halbwegs bei Verstand - 125
sei, sich ausgerechnet für die teuerste und zeitraubendste Psychotherapie von allen, die Psychoanalyse, entscheiden solle. »Die eigentliche Botschaft von Luborskys Arbeit«, so Crews weiter, »lautet, daß Psychotherapien (wenn überhaupt) aufgrund von Faktoren wirken, die ihnen allen gemeinsam sind – und dies sind Placebo-Faktoren.« Der Placebo-Effekt war lange Zeit ein Schreckgespenst der modernen Medizin. Der Begriff Placebo leitet sich von der lateinischen Verbform placebo, »ich werde gefallen«, her, mit der die römisch-katholische Seelenandacht für Verstorbene beginnt.35 Auch die Abendgottesdienste selbst wurden gelegentlich Placebos genannt, desgleichen die Angehörigen des Berufsstandes der Kantoren, die man beauftragte, die Seelenandachten zu singen. Später bezeichnete der Begriff Speichellecker und Schmeichler und, schließlich, Scheinmedikamente, die Ärzte verordneten, um ihren Patienten eine Gefälligkeit zu erweisen. Arthur Shapiro, Professor für Psychiatrie an der Mount Sinai School of Medicine in New York, war eine Kapazität auf dem Gebiet des Placebo-Effekts. In einem Aufsatz, den er gemeinsam mit einem Koautor kurz vor seinem Tod im Jahr 1995 schrieb, betonte er, daß »die Geschichte der Medizin bis in die jüngste Vergangenheit hinein im wesentlichen die Geschichte des Placebo-Effekts war«36. Die kritische Sichtung der vielen tausend Heilmittel, die vor dem Aufkommen der modernen Medizin eingesetzt wurden, deute darauf hin, daß »abgesehen von einigen wenigen möglichen, aber unwahrscheinlichen Ausnahmen, alle Placebos waren«. Ein weitverbreitetes Allheilmittel war Theriak, das aus Dutzenden von Ingredienzien bestand, unter anderem Schlangenhaut, der man eine stärkende Wirkung zuschrieb. Erstmals vor eintausendachthundert Jahren von dem griechischen Arzt Galen beschrieben, wurde Theriak von europäischen Ärzten bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts verordnet.37 - 126
Heilkundige erkannten schon vor langer Zeit, daß die wichtigste Zutat dieser Scheinarzneien vermutlich der Glaube der Patienten an ihre Wirksamkeit war. Galen schrieb einmal: »Der hat den größten Heilerfolg, in den die Menschen das größte Vertrauen setzen.«38 Arthur Shapiro wies darauf hin, es sei lange Zeit ein unumstößliches Dogma der überkommenen medizinischen Lehre gewesen, daß Patienten auf neue Medikamente besser ansprächen als auf ältere, bewährte. Dieses Syndrom komme in einer alten ärztlichen Maxime plastisch zum Ausdruck: »Schnell, schnell, benutze die neue Arznei, bevor sie ihre Wirkung verliert.«39 Die Einführung eines neuartigen Medikaments erzeugt bei Ärzten und Patienten oft überzogene Erwartungen - Erwartungen, die in Erfüllung gehen können. Wenn dann im Lauf der Zeit der innovative Charakter des Medikaments verblaßt und seine Nebenwirkungen und Grenzen deutlicher werden, läßt seine Wirksamkeit nach. Der Placebo-Effekt beruht jedoch keineswegs nur auf Einbildung, vielmehr kann er verblüffende physiologische Wirkungen auslösen. Eine wegweisende Studie, die 1955 von Henry Beecher veröffentlicht wurde, ergab, daß Placebos zu einer meßbaren Linderung solcher Leiden wie Asthma, Bluthochdruck und Warzen führen.40 Der Prozentsatz der Patienten, die bei verschiedenen Erkrankungen auf ein Placebo ansprachen, bewegte sich laut Beecher zwischen dreißig bis vierzig Prozent. Die Wirksamkeit des Scheinpräparats »übertrifft mitunter diejenige, die einem potenten Pharmakon zugeschrieben wird«. Bei manchen Verfahren ist das Placebo sogar deutlich überlegen. In den fünfziger Jahren führten Forscher eine klinische Studie über die Wirksamkeit der sogenannten arteriellen Ligatur durch, einer chirurgischen Behandlung für Brustschmerzen, die durch eine Mangeldurchblutung des Herzens hervorgerufen werden.41 Man verglich die Patienten, die mit dem - 127
Verfahren behandelt wurden, mit einer Kontrollgruppe, bei denen lediglich oberflächliche Einschnitte in die Brust gemacht wurden. Sechsundsiebzig Prozent der Patienten, bei denen eine arterielle Ligatur vorgenommen wurde, ging es anschließend besser. Dies ist eine recht beachtliche Erfolgsquote, wäre da nicht die Tatsache gewesen, daß hundert Prozent der mit dem Placebo-Verfahren - der Scheinoperation - Behandelten eine subjektive Besserung spürten. (Heute werden keine arteriellen Ligaturen mehr vorgenommen.) Das Gegenstück des Placebo-Effekts ist der Nocebo-Effekt, bei dem negative Erwartungen in Erfüllung gehen. Unglaublicherweise zeigt sich dieser vermeintlich »psychische« Effekt selbst bei Säugetieren, wie Experimente in den siebziger Jahren ergaben. Der Psychologe Robert Ader von der Universität Rochester gab Ratten mit Saccharin gesüßtes Wasser, das Cyclophosphamid enthielt, eine chemische Verbindung, die Übelkeit hervorruft und stark immunsuppressiv wirkt.42 Alle Ratten wurden krank, und viele gingen ein. Ader gab den Überlebenden nun mit Saccharin gesüßtes Wasser, das nicht mit Cyclophosphamid versetzt war. Auch diese Ratten, die durch den vorangehenden Kontakt konditioniert worden waren, wurden krank, einige gingen sogar ein. Das süß schmekkende Wasser allein genügte, um eine tödliche Immunsuppression auszulösen. Der Psychiater Arthur Shapiro meinte: Die Macht des Placebos spiegelt sich in der Allgegenwart von Betrügereien (Quacksalberei - eine Branche mit einem Jahresumsatz von dreißig Milliarden Dollar), Spiritualität (religiöse und parapsychologische Heilverfahren), Autosuggestionen (Vitamine, Ökodiät, übermäßiges Jogging, ganzheitliche und alternative Behandlungen – eine 13,9-Milliarden-Dollar schwere Branche) und Modetrends (New Age, Änderungen des Lebensstils oder Methoden der Selbsthilfe, wie Ökotherapie, naturnahe
Lebensführung und meditative Immuntherapie, um das Wachs- 128
turn und die Vitalität von guten weißen Blutkörperchen zu fördern und bösartige Zellen zu zerstören). Ungeachtet der berechtigten Erwartung, der Einsatz dieser Therapien würde in dem Maße zurückgehen, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse zunehmen, tauchen diese Therapien wie in einem brodelnden Hexenkessel kaum, daß sie verschwunden sind, in leicht abgewandelter Gestalt wieder auf.43
Der Placebo-Effekt könne durchaus auch der bestimmende Wirkfaktor von Psychotherapien seien, meinte Shapiro. Er verglich die Psychotherapie mit dem mittelalterlichen TheriakTrank, einem »planlos zusammengestellten Gebräu aus zahllosen unspezifischen Bestandteilen, die man in der Hoffnung miteinander mischte, einige davon würden schon wirksam sein«. Er fuhr fort: »Obgleich allgemeines Einvernehmen darüber besteht, daß Psychotherapie für viele Patienten nützlich, heilsam und wirkungsvoll ist - was übrigens auch für viele bemerkenswerte Placebo-Behandlungen gilt -, bleibt die verzwickte Frage: Steckt hinter einer Psychotherapie mehr als bloß der Placebo-Effekt?«44 Vielleicht nicht, meinte zumindest Jerome Frank, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der John-Hopkins-Universität. Frank wurde durch das Resultat seiner eigenen Forschungen widerwillig zu dieser Schlußfolgerung gedrängt. Ende der fünfziger Jahre behandelten er und seine Mitarbeiter depressive Patienten mit einer von drei Therapieformen: wöchentliche Einzeltherapie, wöchentliche Gruppentherapie und minimale Einzeltherapie, die aus lediglich einer halbstündigen Sitzung alle zwei Wochen bestand. »Zu unserem Erstaunen und unserem Verdruß zeigten die Patienten in allen drei Gruppen die gleiche durchschnittliche Besserung ihrer Symptome«, erinnerte sich Frank.45 Auf der Grundlage dieser und anderer Untersuchungen gelangte Frank zu dem Schluß, daß »die Linderung von Angst - 129
und depressiver Verstimmung bei ambulanten psychiatrischen Patienten, die psychotherapeutisch behandelt wurden, der Placebo-Wirkung sehr ähnelt, was darauf hindeutet, daß möglicherweise dieselben Faktoren beteiligt sind«46. Der spezifische theoretische Bezugsrahmen, innerhalb dessen Therapeuten arbeiten, habe wenig oder gar nichts mit ihrer Fähigkeit zu tun, Patienten zu »heilen«, versicherte Frank. Der wichtigste Faktor sei die Fähigkeit des Therapeuten, seine Patienten davon zu überzeugen, daß sich ihr Zustand bessern werde. »Ich denke, daß meine Auffassung bestätigt worden ist«, sagte mir Frank, als ich ihn 1996 anrief. Er bezweifelte, daß sich die Wirksamkeit – oder Wirkungslosigkeit – einer beliebigen Form von Psychotherapie wissenschaftlich nachweisen lasse, da sich die Eigenschaften, die einem bestimmten Therapeuten ermöglichten, bei einem bestimmten Patienten einen Placebo-Effekt auszulösen, nicht mit wissenschaftlichen Methoden präzise erfassen und messen ließen. In Anbetracht dessen zeigte sich Frank verwundert über die Heftigkeit der Angriffe auf Freud. »Man hat Freud zum Vorwurf gemacht, er sei kein Wissenschaftler gewesen, doch das geht am Wesentlichen vorbei. Er war ein großer Mythenschöpfer.« Frank legte seine Sichtweise in dem Buch Persuasion and Healing dar, dessen erste Ausgabe 1961 erschein und das seither zahlreiche Neuauflagen erlebte (die jüngste besorgte Frank zusammen mit seiner Tochter, Julia Frank, die als Psychiaterin in die Fußstapfen ihres Vaters getreten ist). Howard Gardners Auffassung von der Psychologie vorwegnehmend, schrieb Frank, die Psychotherapie solle nicht als ein Zweig der Wissenschaft, sondern der Rhetorik, der Kunst der Überzeugung, betrachtet werden: »Die Methoden des Psychotherapeuten und des Rhetorikers sind zugegebenermaßen lediglich dazu gut, der Wahrheit nahezukommen, nicht, sie zu erreichen. Das bedeutet, die Wahrheiten in diesen Disziplinen sind Wahrscheinlichkeiten, keine Gewißheiten.«47 Frank verglich die - 130
Psychotherapie auch mit der Literaturwissenschaft. Die klinische Geschichte eines Patienten »gleicht einem Text und die Psychotherapie einer gemeinsamen Anstrengung von Patient und Therapeut, seinen Sinn herauszufinden«.48 Es gebe nicht die eine richtige Methode für die Behandlung eines Patienten, sowenig wie es die eine richtige Form der Lektüre eines Buches gibt. Verschiedene Leser fänden im selben Text unterschiedliche Bedeutungen, und verschiedene Psychotherapeuten legten die Äußerungen und die klinische Geschichte ein und desselben Patienten in unterschiedlicher Weise aus. Selbstverständlich sprächen verschiedene Patienten auf unterschiedliche Therapeuten an. Dem einen liege ein Therapeut, der gefühlvoll und einfühlsam, dem anderen einer, der autoritär und kühl sei. Bei einigen Patienten »scheint der Glaube an die Wissenschaft noch immer die vorherrschende Quelle symbolischer Heilkraft zu sein«.49 Psychotherapeuten könnten daher möglicherweise ihren Erfolg verbessern, indem sie »Symbole der Wissenschaft« wie etwa Diplome oder einen Arztkittel oder ein Stethoskop zur Schau stellten. Allerdings zögen auch viele Patienten Heiler vor, die sich unwissenschaftlichen Mythen verschrieben. Bei ihnen könnten Schamanen und Gesundbeter vermutlich mehr ausrichten als Psychiater und klinische Psychologen.50
Therapien im Hier und Jetzt Viele Experten widersprechen entschieden der Behauptung, alle Psychotherapien seien mehr oder minder gleichwertig hinsichtlich ihrer Fähigkeit, Patienten zu helfen. Der erbitterte Freud-Kritiker Frederick Crews beharrte mir gegenüber darauf, daß die Psychoanalyse bestenfalls wertlos sei, während die erinnerungsaufdeckende Therapie sogar verheerende Folgen haben könne. Crews bevorzugte Behandlungen wie die - 131
kognitive Therapie, welche die Probleme eines Patienten nicht weiter hinterfrage und eine »hilfreiche Einstellung im Hier und Jetzt« fördere.51 Wenn sich der Patient über seinen Arbeitsplatz, sein Sexualleben oder seine soziale Kontakthemmung beklagt, sollte der Therapeut »dies wörtlich nehmen und herausfinden, wo die Stärken dieser Person liegen, welche Ressourcen sie hat, und sie bei der Problembewältigung unterstützen«. Crews ist nicht der einzige, der sich in diesem Sinne für die kognitive Therapie ausspricht. Martin Seligman von der Universität von Pennsylvania, der ehemalige Präsident der American Psychological Association und ein bekannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Psychotherapieforschung, behauptete, jüngste Studien bescheinigten der kognitiven Therapie eine gewisse Überlegenheit.52 Die American Psychological Association empfiehlt die kognitive Therapie zur Behandlung von Panikstörungen und anderen Problemen. Ein Grund für die Beliebtheit der kognitiven Therapie – und einer engverwandten Abart, der kognitiven Verhaltenstherapie - ist ihre spezifische Ausrichtung. Patient und Therapeut konzentrieren sich auf exakt die Symptome oder Krankheiten, die den Patienten belasten - Rauchen, Trunksucht, Reizbarkeit gegenüber dem Ehepartner oder Kindern, obsessives Händewaschen, Bulimie. Der pragmatische, konkrete Ansatz gefällt vielen Patienten und praktisch allen Krankenversicherungen. (Bei einer Variante der kognitiven Therapie fordert der Therapeut den Patienten mehrfach auf, angstauslösende Situationen zu beschreiben, worauf er ihn wiederholt mit einem lauten »Halt!« unterbricht.)53 Im Jahr 1996 berichtete die Gesundheitskolumnistin der New York Times, Jane Brady, die kognitive Verhaltenstherapie könne schon nach relativ kurzer Zeit zu langfristigen Verbesserungen des psychischen Befindens führen. Brody leitete ihre Kolumne mit der obligatorischen Anekdote über eine Frau - 132
mittleren Alters ein, »die sich fast ihr ganzes Leben lang mit den lähmenden Folgen einer depressiven Erkrankung herumschlug [...] Jahrelange Psychotherapien einschließlich einer Psychoanalyse brachten keinerlei Linderung ihres seelischen Leidens - das änderte sich erst, als sie regelmäßig zu einem kognitiven Therapeuten in Behandlung ging. ›Er hat mir das Leben gerettet‹«, zitierte Brody die Frau und behauptete im weiteren, Studien hätten »gezeigt, daß die Erfolge einer kognitiven Therapie lange anhalten und daß die Rückfallraten viel niedriger sind als bei anderen psychotherapeutischen Verfahren«.54 Nach Lester Luborsky wird die Aussagekraft der Studien, die die vermeintliche Überlegenheit der kognitiven Therapie beziehungsweise ihrer Variante, der kognitiven Verhaltenstherapie, belegen, durchgängig durch den Präferenzeffekt beeinträchtigt. Sein skeptisches Urteil wurde durch eine Studie über die kognitive Verhaltenstherapie, die von M. Katherine Shear, einer Psychiaterin an der Universität Pittsburgh, und drei Kollegen durchgeführt worden war, bestätigt. Die Forscher untersuchten Patienten, die an Panikstörungen litten, einer Erkrankung, die durch das plötzliche Einsetzen extremer, unbegründeter Furcht gekennzeichnet ist. Die kognitive Verhaltenstherapie gilt als passende Behandlung für Panikstörungen. Die Forscher teilten ihre Probanden in zwei Gruppen ein. Eine Gruppe wurde in zwölf Sitzungen mit der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie behandelt, zu der auch mentale und körperliche Übungen gehörten, die den Panikattacken entgegenwirken sollten. Die andere Gruppe erhielt eine PlaceboTherapie, die »reflektierendes Zuhören« genannt wird und bei der die Therapeuten den Patienten verständnisvoll zuhörten, ohne ihnen jedoch spezifische Ratschläge zu geben. Der Therapieerfolg war bei beiden Gruppen von Patienten gleich. Diese Daten, so das Fazit von Shear und Mitarbeitern in den Archives - 133
of General Psychiatry vom Mai 1994, »werfen Fragen hinsichtlich der spezifischen Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie auf« ,55
Der Mythos von der Sachkompetenz Die Dodo-Hypothese hat mindestens zwei wichtige Konsequenzen, die von den Psychologen Mary Smith und Gene Glass in einem 1977 im American Psychologist veröffentlichten Artikel beschrieben wurden.56 Nach der Auswertung von 375 Psychotherapiestudien zogen Smith und Glass mehrere Schlüsse. Wie Luborskys Gruppe stellten auch sie fest, daß Psychotherapien wirksam sind: behandelten Patienten ging es besser als unbehandelten. Smith und Glass bestätigten auch die Dodo-Hypothese: sämtliche Therapien waren hinsichtlich des Behandlungserfolgs annähernd gleichwertig. Die Psychotherapeuten konnten mit diesen Feststellungen leben, doch zwei weitere Befunde von Smith und Glass trafen sie ziemlich unvorbereitet. Erstens, es gab keine Korrelation zwischen dem Zeitaufwand für eine Therapie und dem Nutzen, den der Patient daraus zog. Zweitens, es gab auch keine Korrelation zwischen der Effizienz der Therapeuten und ihrer Qualifikation und Erfahrung. Anders ausgedrückt, Psychiater, die ein Medizinstudium absolviert haben, Psychologen mit einem Universitätsdiplom und Sozialarbeiter mit einem Fachhochschuldiplom sind alle gleich effizient beziehungsweise ineffizient. Und die Fähigkeit von Therapeuten, Patienten zu helfen, verbessert sich auch nicht mit zunehmender Erfahrung. Andere Forscher bemühten sich vergeblich, die Ergebnisse von Smith und Glass zu widerlegen. Bei einem Experiment wurden Patienten, die an Störungen wie Angstneurose und Depression litten, durch Zufallsauswahl auf zwei verschiedene Gruppen von »Therapeuten« verteilt: eine Gruppe bestand - 134
aus echten, fachkompetenten Psychologen und die andere aus Hochschulprofessoren, die keinerlei psychologische Ausbildung hatten. Wie sich herausstellte, war das Ausmaß der Besserung des subjektiven Befindens der Patienten in beiden Gruppen gleich. Die Forscher, die dieses Experiment ausführten, waren über ihre Ergebnisse nicht unglücklich. »Fachlich geschulte Psychologen«, so beteuerten sie, »sind aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer klinischen Erfahrung sehr viel besser gerüstet, um mit den unvorhersehbaren Schwierigkeiten fertig zu werden, die bei der Interaktion mit den meisten Patienten auftreten.«57 In Anbetracht der Daten der Forscher war dieses Fazit Ausdruck schieren Wunschdenkens. Ein anderer Beobachter, der den Ergebnissen von Smith und Glass zunächst skeptisch gegenüberstand, war Robyn Dawes, Professor am Fachbereich Sozial- und Entscheidungswissenschaften der Carnegie-Mellon-Universität. Ende der siebziger Jahre werteten Dawes (damals an der Universität von Oregon) und ein Kollege die von Smith und Glass analysierten Studien nochmals neu aus und gelangten zum selben Schluß. Dawes wurde daraufhin zu einem Kritiker von Standesorganisationen wie der American Psychological Association und der American Psychiatrie Association. Beide Vereinigungen erklärten, die starke Zunahme von Psychotherapeuten, die kein Medizinstudium oder keine einschlägige Hochschulausbildung absolviert haben, werde den Patienten schaden. Dawes dagegen schrieb in seinem 1994 erschienenen Buch House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth: »Diejenigen, die für sich selbst in Anspruch nehmen, Experten für die Behandlung psychischer Erkrankungen zu sein - darunter zahlreiche Psychiater -, behaupten oftmals, ihre ›Erfahrung‹ erlaube es ihnen, psychologische Prinzipien effizienter anzuwenden, als es Laien möglich sei. Studienergebnisse zeigen dagegen klar, daß selbst eine Person mit einer psychologischen Schmalspurausbildung unwillkürlich diese - 135
Prinzipien mindestens genauso effizient einsetzt.«58 Er sprach sich dafür aus, daß »wir bei dem Versuch, seelisches Leiden zu lindern, viel stärker als bisher auf wissenschaftlich wohlfundierte gemeindenahe Programme und auf ›Hilfskräfte‹ zurückgreifen sollten«. Dawes stellte die gängige Auffassung in Frage, klinische Psychologen verfügten über ein spezielles Fach- und Methodenwissen, das ihnen erlaube, die Vergangenheit eines Patienten besser zu verstehen und seine Zukunft treffsicherer vorherzusagen, als es Laien könnten. Ein vielbenutztes psychologisches Testverfahren ist der Rorschachtest, bei dem der Proband die Gedanken und Gefühle äußern soll, die eine Tintenklecksfigur in ihm auslösen. Ein Rorschachtest spielte eine wichtige Rolle in dem 1958 gedrehten Melodrama Laßt mich Leben! (Orig. / Want to Live!), in dem Susan Hayward eine Frau spielt, die wegen Mordes vor Gericht steht.59 Nachdem ein Psychologe (gespielt von Theodore Bikel) die Frau einem Rorschachtest unterzogen hat, erklärt er, sie sei unschuldig. (Sie wird dennoch in der Gaskammer hingerichtet.) Es gebe keine Beweise dafür, daß Rorschachtests oder ähnliche Verfahren, die Psychologen bei der Befragung von Patienten einsetzten, irgendeinen diagnostischen oder prädiktiven Wert besäßen, betonte Dawes. Sogenannte versicherungsmathematische Methoden sagen Dawes zufolge das künftige Verhalten von Menschen weit zuverlässiger voraus als die klinischen Verfahren der Psychologen. Versicherungsmathematische Methoden, die von Versicherungsgesellschaften und anderen Unternehmen eingesetzt werden, prophezeien das Verhalten eines Individuums auf der Basis von Daten anderer Menschen, die ihm in demographischer Hinsicht ähneln. So kalkuliert eine Versicherungsgesellschaft beispielsweise das Unfallrisiko eines ledigen fünfundzwanzigjährigen Mannes, der wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zweimal zu einer - 136
Geldbuße verurteilt wurde, auf der Grundlage der Unfallhäufigkeit von Männern, deren Alter, Familienstand und Verkehrsstrafenregister identisch ist. Es habe sich gezeigt, so Dawes, daß versicherungsmathematische Methoden bei der Prognose des künftigen Verhaltens psychiatrischer Patienten und Straftäter durchgängig den sogenannten klinischen Verfahren überlegen seien.
Ein Rundgang durchs Psychiatrische Museum Es ist nicht verwunderlich, daß einige Fachleute für seelische Gesundheit auf der Grundlage der bisherigen Erfolgsbilanz von Psychotherapien den Schluß gezogen haben, daß alle Verliererinnen seien und keine einen Preis verdiene. Im Dezember 1995 schickte der Vorsitzende des Fachbereichs Psychologie der Rutgers-Universität Mitgliedern des Fachbereichs ein Memorandum, in dem es heißt: »Ich sehe keinen Grund, weshalb die Universität überhaupt ein spezielles Lehrprogramm für Psychotherapie anbieten soll. Der Wert einer Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie ist durch jüngste Daten, die ziemlich schlüssig nachweisen, daß eine solche Weiterbildung völlig unnötig ist (vgl. Robyn Dawes' House of Cards), ernsthaft in Frage gestellt worden.«60 Der Vorsitzende plädierte im folgenden dafür, Rutgers solle sein Ausbildungsprogramm in angewandter Psychologie und Psychotherapie abschaffen. (Bislang wurde das Programm nicht eingestellt.) Auch der Psychiater E. Füller Torrey sprach sich für solche Maßnahmen aus. In seinem 1992 erschienenen Buch Freudian Fraud kritisierte er, die Psychoanalyse und andere Psychotherapien leiteten wertvolle Ressourcen an Personen, die sie dringend benötigten, nämlich an schweren psychotischen Störungen Leidenden, vorbei. Er stellte fest, daß die überwiegende Mehrheit der Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter - 137
in den Vereinigten Staaten »ihre Zeit mit Beratungsgesprächen und Psychotherapien verbringt, die direkt oder indirekt auf der Freudschen Theorie fußen«.61 Menschen mit schweren psychotischen Störungen wie Schizophrenie und manischdepressiver Erkrankung »benötigen Medikamente und Rehabilitationsmaßnahmen statt Gespräche über frühkindliche Erfahrungen«, behauptete er. Torrey, dessen Schwester an Schizophrenie leidet, bedauerte »die traurige Tatsache, daß es unter den Obdachlosen in den Vereinigten Staaten 200000 psychisch Kranke gibt, die nicht behandelt werden, und dies, obwohl Amerika mehr Fachleute für seelische Gesundheit hat als jedes andere Land der Welt; diese Tatsache ist ein weiteres Erbe der Freudschen Theorie«62. Ich bekam einen etwas anderen Eindruck von dem Problem der Menschen mit schweren Psychosen, als ich einen Rundgang durch ein Museum machte, das vom Hudson River Psychiatrie Center unterhalten wird, das nördlich von Poughkeepsie im Bundesstaat New York liegt.63 Nachdem ich im Herbst 1997 von dem Museum gehört hatte, rief ich das Zentrum an und wurde zu Roger Christenfeld durchgestellt, einem klinischen Psychologen, der dort als Forschungsleiter arbeitete. Er sagte mir, man könne das Museum nur nach Voranmeldung besuchen; er würde mich gern auf einem Rundgang begleiten. Nachdem er mir den Weg zum Zentrum beschrieben hatte, sagte er mir, ich solle mich an Schildern mit der Aufschrift »Ihr, die Ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren« orientieren. Er sagte dies mit so ausdrucksloser Stimme, daß ich erst nach einigen Augenblicken begriff, daß er gescherzt hatte. Das Hauptgebäude des Hudson River Psychiatrie Center sah genauso aus, wie es Christenfeld beschrieben hatte: eine »klassische, im viktorianischen Gotikstil erbaute Nervenheilanstalt aus roten Ziegeln«. Es wirkte zugleich abstoßend und verlassen; verwitterte Sperrholzplatten verschlossen die Fenster zweier Flügel, die einst Patienten beherbergt hatten, aber - 138
jetzt leer standen. Die Heilanstalt stand auf einem sanft abfallenden Hügel, der mit Rasen überzogen war und als kleiner Golfplatz diente. Obgleich es ein verregneter, stürmischer Tag war, schlugen ein Mann und eine Frau, die mit Windjacken und Hüten bekleidet waren, Golfbälle in Richtung einer Flagge. Patienten oder Angestellte? (Zweifelsfrei Angestellte, wie ich später erfuhr, denn stationäre Patienten dürfen nicht in der Parkanlage umherstreifen.) Nachdem ich durch ein Tor in einem ungestrichenen Lattenzaun gegangen war, betrat ich das Verwaltungsgebäude und ging weiter in Christenfelds Büro. Ich wurde von einem mittelgroßen Mann mittleren Alters begrüßt, der ein Sportsakko und eine Freizeithose trug und eine seltsam förmliche Ausstrahlung hatte; wenn er sprach, schlug er die Absätze seiner Schuhe zusammen und nahm eine steife Haltung ein, als stünde er für ein Porträtbild Modell. Doch hinter seinem förmlichen, ja pedantischen Auftreten verbarg sich ein sardonischer Humor. Als wir das Verwaltungsgebäude verließen und Richtung Museum gingen, schilderte mir Christenfeld seine ziemlich desillusionierte Sicht der psychiatrisch-psychologischen Heilberufe. Er sagte, einige Gruppen, die sich für die Interessen psychisch Kranker einsetzten, hätten den Ausdruck Patient als entwürdigend abgelehnt und ihn durch andere Ausdrücke ersetzen wollen. »Es gab mehrere Änderungen. Es ist schwer, auf dem laufenden zu bleiben. Aus Patienten wurden zunächst Klienten. Die Klienten wurden - obwohl man meinen sollte, das sei die amerikanische Bezeichnung par excellence - dann zu Konsumenten, nämlich zu Konsumenten psychiatrischpsychologischer Dienstleistungen. Wir richteten sogar ein regelrechtes Kaufhaus für Behandlungen ein, wo sich die Patienten mit Anbietern von Therapien austauschen konnten. Und kürzlich hörte ich, daß sich verschiedene Interessengruppen dafür einsetzen, daß Patienten künftig Überlebende des Sy- 139
stems der psychiatrischen Gesundheitsfürsorge genannt werden, das manche als ein ihnen feindlich gesinntes ansehen.« Diejenigen, die psychisch Kranke behandeln, seien allerdings ebenso modeanfällig. »Zu jedem beliebigen Zeitpunkt besteht unter den Psychiatern ein mehr oder minder breiter Konsens hinsichtlich ihrer Ideologie und ihrer Lehrmeinung, insbesondere was die Ätiologie der wichtigsten psychischen Erkrankungen betrifft«, sagte Christenfeld. »Im Moment sind die meisten Psychiater davon überzeugt, daß die wichtigsten psychischen Erkrankungen biochemische, physiologische oder genetische Ursachen haben. Ich bin jedoch lange genug im Geschäft, um zu wissen, daß es da ein zyklisches Muster gibt. Als ich zu arbeiten begann, glaubten alle, daß psychische Störungen auf Desintegration, schlechte Kindererziehung und sozialen Streß zurückzuführen seien. Wir brauchten also nur die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder erziehen und wie sie leben, zu verändern, und schon wäre viel erreicht. Es gibt einige Indizien, die dafür sprechen, daß diese ideologischen Ansichten im Zeitablauf mit dem politischen Klima einer Kultur kovariieren.« Christenfeld war kein Anhänger der Psychoanalyse. Sie sei »nicht bewiesen«, sagte er. »Sie entzieht sich weitgehend einer empirischen Überprüfung, und jedesmal, wenn man versucht [sie zu evaluieren], zeigt sich, daß sie eigentlich keine meßbare Wirkung hat.« Der Glaube an die Psychoanalyse ähnele dem Glauben an die Wandlung der Seele, fuhr er fort, »und aus diesem Grund ist sie in einem Umfeld, in dem knappe Ressourcen möglichst effizient eingesetzt werden müssen, eher eine luxuriöse Randerscheinung«. Wenn aber die Psychoanalyse einen »religionsähnlichen« Charakter habe, gelte das gleiche auch für die biologisch ausgerichtete Psychiatrie, durch die erstere verdrängt worden sei. Es verwundere nicht, daß die Psychiater unserer Tage so biologistisch seien. »Die Psychiater nahmen immer eine schmerz- 140
liehe Außenseiterposition unter den Ärzten ein.« Insbesondere während der Blütezeit der Psychoanalyse seien Psychiater als Ärzte betrachtet worden, die ihre Patienten nicht operierten und ihnen auch keine Medikamente verabreichten, sondern »einfach dasaßen und plauderten«. Um sich von diesem Image zu befreien, seien zahlreiche Psychiater ins entgegengesetzte Extrem verfallen und hätten in psychischen Erkrankungen nur noch rein physiologische Störungen, die rein physiologische Behandlungen erforderten, gesehen. Sie hätten darauf beharrt, daß »der Schlüssel zu allem in den Neurotransmittern und den Rezeptoren liegt. Wir wollen nichts von diesem ganzen Erlebniszeug hören.« Doch dieser Ansatz sei nicht viel erfolgreicher gewesen als die Psychoanalyse. Christenfeld neigte zu der Auffassung, daß die Schizophrenie sowohl durch genetische Faktoren als auch durch Erfahrungsfaktoren verursacht werde. »Die genetische Komponente legt schlicht die Streßschwelle fest. Einige Menschen brauchen nur ein geringes Maß an Streß - ein Strafzettel, eine nicht bestandene Prüfung in Integralrechnung -, um eine Schizophrenie zu entwickeln.« Andere »haben eine sehr hohe Streßschwelle, und sie brechen erst nach einem dreimonatigen Kampf an der Front psychisch zusammen. Diese Theorie besagt im wesentlichen, daß jeder Mensch eine spezifische Höchstbelastungsgrenze hat.« Schließlich gelangten wir zum Museum, das einem übergroßen verfallenen Mausoleum gleicht. Als wir das Gebäude betraten, verkündete Christenfeld: »Hier sehen Sie in objektiver Form die Geschichte der Psychiatrie, zumindest seit der Gründung dieses Krankenhauses im Jahr 1871.« Wir standen in einem großen schwach erleuchteten höhlenartigen Raum. Farbspäne, die von der Decke gefallen waren, sprenkelten den gefirnißten Holzboden. Unmittelbar hinter der Eingangstür standen mehrere alte Ruhigstellungsapparate, etwa ein Holzstuhl mit hoher Rückenlehne, an dessen Basis und Armlehnen - 141
Gurte befestigt waren und der ein Loch im Sitz hatte. In Kopfhöhe befand sich eine mit Leinwand bezogene Kiste, die die Patienten davon abhielt, sich gegenseitig zu beißen oder zu bespucken. Dieser »Beruhigungsstuhl nach Rush« war zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von Benjamin Rush entworfen worden, der oft als der Vater der amerikanischen Psychiatrie bezeichnet wird. Neben dem Beruhigungsstuhl stand die »Utica-Kiste«, die einem Sarg glich, der oben und an den Seiten Querstangen aufwies. Die Kiste wurde an Ketten aufgehängt und vor- und zurückgeschaukelt, offenbar um den Eingesperrten zu beruhigen. »Sie können sich bestimmt gut vorstellen, wie man sich da drin gefühlt haben muß«, meinte Christenfeld, auf die Kiste starrend. An der Wand hinter der Kiste hing eine Zwangsjacke, wie sie, so sagte er mir, heute nur noch selten in psychiatrischen Kliniken verwendet werde. Heute können Patienten bei ihrer Aufnahme in eine Klinik angeben, welche Form der Ruhigstellung sie wünschen, falls oder wenn sie die Kontrolle über sich verlieren. Die gängigsten physischen Zwangsmittel sind Handfesseln, die an einem Gürtel um die Taille des Patienten befestigt werden, und Riemen, mit denen ein Patient an ein Bett gebunden wird. Als wir weiter durch das Museum schlenderten, stießen wir auf etwas angenehmere Artefakte, ein altes Schreibpult und einen Schaukelstuhl, eine große Trommel mit dem Aufdruck »HRSH [Hudson River State Hospital]-Band«, eine Schusterbank mit Werkzeugen und Lederstücken, eine weibliche Schaufensterpuppe mit einem blauen Kleid und weißer Schürze, der Uniform von Auszubildenden einer Krankenpflegeschule, die einst der Nervenheilanstalt angeschlossen war. Staubige Vitrinen enthielten Stoffballen, Flaschen, Ventilatoren, Kämme und, zu meiner Überraschung, scharfe Rasiermesser. Die Anstalt sei eine autarke »totale Gemeinschaft« gewesen, sagte Christenfeld. Die Patienten hätten einen Bau- 142
ernhof betrieben, Vieh gezüchtet und geschlachtet, ihre eigenen Kleider, Schuhe und Möbel hergestellt. Der vorgebliche Zweck der Anstalt sei es gewesen, Patienten, die meisten davon aus New York, »eine schöne Aussicht und Landluft« zu bieten, damit sich ihr Zustand bessere und sie in die Gesellschaft zurückkehren könnten. Doch nachdem die Patienten erst einmal in die Klinik aufgenommen worden seien, verließen sie diese nur selten. Damals sei es der Daseinszweck von Nervenheilanstalten gewesen, Menschen, die den Verstand verloren hatten, einfach wegzusperren, sagte Christenfeld. Die Zahl der Insassen des Hudson River Psychiatrie Center habe in den fünfziger Jahren mit etwa sechstausend Patienten ihren Höchststand erreicht, so Christenfeld. Während der sechziger und siebziger Jahre habe es wie andere staatlich finanzierte Nervenheilanstalten im ganzen Land begonnen, scharenweise Patienten zu entlassen. Das Zentrum diene heute hauptsächlich als Tagesklinik; es beherberge nur noch dreihundertundfünfzig stationäre Patienten, von denen die meisten an schwerer Schizophrenie litten. »Hier befindet sich niemand, bei dem nicht ein sehr guter Grund dafür vorliegt, daß man ihn hierbehält«, sagte Christenfeld. Mein Rundgang mit Christenfeld löste gemischte Gefühle in mir aus. Wenn man die altmodische »Utica-Kiste« und den »Beruhigungsstuhl nach Rush« gesehen hatte, konnte man sich nur schwerlich dem Gedanken entziehen, daß die Psychiatrie in den letzten hundert Jahren gewaltige Fortschritte gemacht hatte. Die Tatsache, daß das Hudson River Psychiatrie Center im Vergleich zu seiner Blütezeit so wenige Patienten beherbergte, schien ebenfalls ein Schritt nach vorn zu sein. Aber war es mehr als ein nur oberflächlicher Fortschritt? Die »Utica-Kiste« und der »Rush-Stuhl« waren durch Gummizellen, Elektroschock und Lobotomien ersetzt worden. Waren diese Behandlungen besser oder nur anders? - 143
Die Einführung wirkungsvoller Neuroleptika in den fünfziger Jahren bewirkte die mit Abstand größte Veränderung in der Versorgung psychisch Kranker. Dank dieser Medikamente konnten viele psychotische Patienten Krankenhäuser wie das Hudson River Psychiatrie Center verlassen, in denen sie einst oftmals ihr gesamtes Leben verbringen mußten, und in gemeindenahen betreuten Einrichtungen oder sogar ihren eigenen vier Wänden wohnen. Die Zahl der Patienten, die in staatlichen Nervenheilanstalten untergebracht waren, sank dramatisch von 559000 im Jahr 1955 auf weniger als 70000 Mitte der neunziger Jahre.64 Doch die Bilanz der Gemeindepsychiatrie, die bei ihrer Einführung in den sechziger Jahren als eine humane Reform der Behandlung psychisch Kranker dargestellt wurde, fällt zwiespältig aus. Viele der Kranken, die früher in Nervenheilanstalten untergebracht worden wären, leben in Wohngemeinschaften, bei ihrer Familie oder in einer eigenen Wohnung; viele andere sind obdachlos oder noch schlimmer dran. »Gefängnisse nehmen den Platz von Nervenheilanstalten bei der Unterbringung von psychisch Kranken ein« lautete eine Schlagzeile in der New York Times vom 5. März 1998. In dem Artikel heißt es, daß vermutlich zehn Prozent der Strafgefangenen in den Vereinigten Staaten an einer schweren psychischen Störung litten. »Gruppen, die sich für die Interessen der psychisch Kranken einsetzen, sagen, die Uhr werde ins neunzehnte Jahrhundert zurückgestellt, als es in den Vereinigten Staaten noch üblich war, Geisteskranke in Gefängnisse zu sperren.« E. Füller Torrey hat sich in seinem Buch Freudian Fraud völlig zurecht über die Misere von Menschen mit schweren psychischen Störungen empört. Doch seine Behauptung, Freud und andere Wegbereiter psychotherapeutischer Behandlung seien an dieser Situation schuld, ist nicht fair. Torrey selbst stellte in einem 1997 in der Zeitschrift Chronicle for Higher Education erschienenen Artikel die Gemeindepsychiatrie etwas - 144
differenzierter dar.0 Er räumte ein, ein wichtiger Faktor sei die Überzeugung von Bürgerrechtsaktivisten, die psychisch Kranken seien eine genauso unterdrückte Minderheit wie etwa die Schwarzen oder die Frauen; diese Aktivisten überredeten den Gesetzgeber dazu, die Möglichkeiten der Einweisung von Patienten in psychiatrische Kliniken stark einzuschränken. Doch ein anderer wichtiger Faktor, schrieb Torrey, sei »die weitverbreitete Hoffnung, daß die neuen Medikamente die Kranken heilen würden«. In der Tat war die Verlagerung der psychisch Kranken aus Kliniken in Gefängnisse und auf die Straßen wohl das Resultat allzu überzogener Erwartungen nicht in die Psychoanalyse und andere Gesprächstherapien, sondern in ein neues Allheilmittel, die Psychopharmakologie.
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4. FLUCTIN1 UND ANDERE PLACEBOS Mit der Zeit, meine ich, werden wir auch entdecken, daß die moderne Psychopharmakologie wie damals Freud zu seiner Zeit eine ganz neue Lebenseinstellung einleitete, wie wir unser 2 eigenes Leben sehen. PETER KRAMER, Glück auf Rezept
A
nfang Mai 1996 fand in New York City die 149ste Jahrestagung der American Psychiatrie Association statt. Der Gegensatz zwischen dieser Konferenz und der Tagung der USamerikanischen Psychoanalytiker im Waldorf-Astoria, an der ich zwei Monate zuvor teilgenommen hatte, war verblüffend. An der Tagung im Waldorf-Astoria hatten nur etwa vierhundert Personen teilgenommen. Das Treffen der American Psychiatrie Association dagegen lockte um die sechzehntausend Psychiater und andere Fachleute, die in der Versorgung psychisch Kranker tätig sind, in das höhlenartige Jacob Javits Convention Center auf der schmuddeligen West Side von New York City und ins Marriott Hotel im Herzen Manhattans. Das Vortragsprogramm deckte ein breites Themenspektrum ab, das von »Kinder, die töten« und »Die Psychobiologie der Eßsucht« bis zu aufstrebenden Märkten für psychiatrische Dienstleistungen reichte. Ein Gebiet mit großer Zukunft, augurierte Melvin Sabshin, der ärztliche Direktor der American Psychiatrie Association, sei die forensische Psychiatrie, die sich unter anderem mit der Untersuchung und Behandlung psychisch kranker Straftäter befaßt. »In Strafvollzugsanstalten befinden sich mehr Menschen mit psychiatrischen Störungen als in Krankenhäusern«, erklärte Sabshin. Was Psychiatrieexperten wie E. Fuller Torrey als Tragödie erschien, sah Sabshin als Chance. Das Schlagwort lautete Parität, Gleichstellung - das Prinzip, wonach Versicherungsgesellschaften für psychische Störungen denselben Versicherungsschutz gewähren sollten wie - 146
für körperliche Leiden. Ein Gesetzentwurf, der die Gleichstellung der Behandlung psychisch Kranker forderte, war zwar im April nach starken lobbyistischen Anstrengungen der American Psychiatrie Association vom US-Senat verabschiedet worden, doch seine Ratifizierung durch das Repräsentantenhaus war weiterhin ungewiß. Bei einem Diskussionsforum sollten politische Fragen, die für die Psychiatrie von Bedeutung waren, besprochen werden; das Publikum brach in stürmischen Beifall aus, als Marge Roukema, eine republikanische Abgeordnete aus New Jersey und eine glühende Befürworterin des Paritätsprinzips, verkündete: »Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.« Die große Mehrzahl der Menschen, die in psychotherapeutischer Behandlung seien, behauptete Roukema (die bekannte, mit einem Psychoanalytiker verheiratet zu sein), seien keine mit sich selbst beschäftigten Neurotiker, wie sie in den Filmen von Woody Allen zu sehen seien, sondern Menschen, die dringend Hilfe benötigten. Jay Cutler, verantwortlich für die Beziehung zu staatlichen Stellen der American Psychiatrie Association, ergriff das Wort, um die Mitglieder aufzufordern, eine computergestützte Lobbying-Vorrichtung zu benutzen, die im Konferenzgebäude aufgestellt worden sei; die Mitglieder könnten ihren Namen und ihre Adresse in den Computer eingeben, worauf dieser einen Formbrief, in dem die Gleichstellung der psychiatrischen Versorgung gefordert wurde, an maßgebliche Abgeordnete sandte. Andere Redner bekundeten ihre Sorge über die ökonomische Bedrohung, die Psychologen und Sozialarbeiter, die in der Regel niedrigere Honorare verlangten als Psychiater, für die Psychiatrie darstellten. Psychiater dürfen allerdings anders als Psychologen und Sozialarbeiter Medikamente verschreiben, die billiger als eine langwierige Gesprächstherapie und daher für Krankenversicherungen attraktiver sind. Die bestbesuchten Veranstaltungen bei der Konferenz waren Frühstücke und Abendessen, die von Pfizer, SmithKline Beecham und an- 147
deren Pharmaunternehmen gesponsert wurden. Bei Omelett und Hühnchenbrust lauschten Hunderte von Psychiatern den Lobreden der Pharmavertreter auf ihre Medikamente gegen Schlaflosigkeit, Zwangsstörung und Depression. Die Dominanz der Pharmaunternehmen war in der Ausstellungshalle, die sich über fast ein ganzes Stockwerk des Javits Center erstreckte, noch augenfälliger. Pharmafirmen, Verlage und andere Vertreter psychiatrischer Produkte hatten eine regelrechte Kleinstadt geschaffen, in der es sogar Straßenschilder mit Namen wie »Noradrenalin-Weg« (Noradrenalin ist ein Neurotransmitter) gab. Der größte Pavillon - und der erste, auf den Besucher beim Betreten der Ausstellunghalle trafen - war der von Eli Lilly. In der Mitte des Pavillons ragte ein knapp sieben Meter hoher goldfarbener Obelisk empor, an dessen Spitze das Wort »Prozac« (dt. Entsprechung Fluctin) in schillerndem Rot prangte. Der Obelisk war mit einem Banner drapiert, das verkündete: »Wissen ist eine starke Medizin«. Etwa ein Dutzend interaktive Fernsehgeräte und Firmenvertreter, die Informationsmaterial über dieses umsatzstärkste Psychopharmakon aller Zeiten verteilten, standen im Kreis um die Basis des Obelisken. Die Vertreter und Vertreterinnen waren jung, gutaussehend, von tadellos gepflegtem Äußeren; sie trugen schicke Anzüge und Kostüme sowie ein strahlendes Lächeln. Kaum weniger eindrucksvolle Schreine für Seroxat (Wirkstoff Paroxetin), Effexor (Venlafaxin), Zoloft (Sertralin) und andere Stimmungsaufhellende Medikamente standen in der Nähe. Nicht alle Teilnehmer der Konferenz machten sich die »Besser-leben-durch-Chemie«-Philosophie zu eigen. Bei einer Veranstaltung mit dem Titel »Die Zukunft der Psychotherapie« machte Gene Usdin, der als Psychiater an der Ochsner Clinic in New Orleans arbeitete, aus seinem Ärger keinen Hehl: »Im Augenblick sieht die Zukunft nicht sonderlich rosig aus.« Dies sei in erster Linie darauf zurückzuführen, daß »wir unsere Seelen an die Pharmaunternehmen verkaufen«. Die - 148
Tatsache, daß ihm nur zwanzig Leute zuhörten - gegenüber den Hunderten, die den Vorträgen beiwohnten, die von den Pharmaunternehmen gesponsert wurden -, ließ seine Klage berechtigt erscheinen. Ein anderer Abweichler war ein Vertreter der Somatics Inc., ein Unternehmen mit Sitz in Lake Bluff, Illinois, das im Schatten des Prozac-Pavilions einen bescheidenen Stand aufgeschlagen hatte. »Viele Patienten haben mit Medikamenten große Probleme«, teilte mir der Vertreter von Somatics mit. Sein Unternehmen, behauptete er, produziere Geräte, die eine viel wirksamere Behandlung schwerkranker Patienten ermöglichen, die Elektrokrampftherapie, auch Elektroschocktherapie genannt. Die Elektroschocktherapie werde im allgemeinen nur als Mittel letzter Wahl eingesetzt, so der Vertreter, doch dies ändere sich; Psychiater, aber auch Patienten begännen zu erkennen, daß die Elektroschocktherapie sehr gute Erfolge erziele, und zwar nicht nur bei gewöhnlichen Depressionen, sondern auch bei manisch-depressiver Psychose und Schizophrenie. Neben ihrem Schockverabreichungssystem der Marke Thymatron, das solche Ausstattungsmerkmale wie einen »Postikussuppressionsindex« und eine »Chronaxie-Leuchtanzeige« aufweist, ist Somatics auch das erste Unternehmen, das wiederverwendbare Gummikeile in zwei Größen anbietet; die kleinere ist eigens für Frauen konstruiert, um »das Risiko von Zahnfrakturen und -Verlusten so niedrig wie möglich zu halten«.
Fieber, Koma und andere Therapien Die Geschichte der modernen Psychiatrie läßt sich als ein Wettstreit zwischen psychologischen Therapien, insbesondere der Psychoanalyse, und physiologischen Therapien, vornehmlich Medikamenten, betrachten. Viele Beobachter sehen in der - 149
Tatsache, daß Psychiater in zunehmendem Maße Psychopharmaka und andere physiologische Behandlungen einsetzen, einen Sieg der Vernunft über die Irrationalität, Das ist das Thema der Geschichte der Psychiatrie des Historikers Edward Shorter von der Universität Toronto. Shorter legte im Vorwort seinen persönlichen Standpunkt dar: »Wenn es am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eine intellektuelle Realität gibt, dann diese: Der biologische Denkansatz in der Psychiatrie, der psychische Krankheit als eine genetisch beeinflußte Störung der Hirnchemie betrachtet, hat sich als überwältigender Erfolg erwiesen. Freuds Ideen haben die Geschicke der Psychiatrie im vergangenen halben Jahrhundert gelenkt, doch nun schwindet ihre Bedeutung dahin wie die letzten Schneeflecken in der Sonne.«3 Frederick Crews hatte in seinem Freud-kritischen Vortrag an der Yale-Universität aus diesem Absatz zitiert. Ironischerweise belegte Shorters eigene Darstellung, daß die biologische Psychiatrie keineswegs ein »überwältigender Erfolg« gewesen ist, sondern einige der entsetzlichsten Behandlungsmethoden in der Geschichte der modernen Psychiatrie hervorgebracht hat. Wenn man Shorters Beschreibungen dieser biologischen Heilmittel liest, versteht man, weshalb die Psychoanalyse ein so populäres Behandlungsverfahren nicht nur für gewöhnliche emotionale Störungen, sondern auch, in geringerem Umfang, für Psychosen wurde. Ein Rezensent der Geschichte der Psychiatrie bemerkte, die Psychoanalyse höre sich im Vergleich zu den von Shorter beschriebenen Behandlungsmethoden »relativ harmlos« an.4 Einige der frühen physikalischen Behandlungen schienen recht unschädlich zu sein. Freud selbst benutzte die Elektrotherapie, bei der Patienten schwachen elektrischen Strömen ausgesetzt werden.5 (Die Elektrokrampftherapie, bei der die Dosis hoch genug sein muß, um Krampfanfälle auszulösen, kam erst später auf.) Eine andere Behandlungsmethode aus dem neunzehnten Jahrhundert, die sich im zwanzigsten Jahr- 150
hundert durchsetzte, ist die Hydrotherapie, auch Wasserkur genannt, bei der die Patienten in sehr heißes oder sehr kaltes Wasser eingetaucht, abgeduscht oder mit starken Wasserstrahlen bespritzt werden. Als sich herausstellte, daß diese Verfahren ziemlich wertlos sind, griffen die Psychiater zu radikaleren Maßnahmen. Eine zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts weitverbreitete Therapie war die Infektionstherapie beziehungsweise Heilfieberbehandlung, die der österreichische Psychiater Julius Wagner von Jauregg begründete. Aus der Beobachtung, daß psychotische Patienten, nachdem sie sich eine schwere Bakterieninfektion zugezogen haben, kurze Phasen geistiger Klarheit erleben, folgerte Wagner von Jauregg, daß hohes Fieber möglicherweise zu einer Linderung psychotischer Symptome führen könnte. Im Verlauf der nächsten Jahrzehnte überprüften er und andere Forscher diese Hypothese, indem sie psychisch Kranke mit den Erregern von Malaria, Tuberkulose, Typhus und anderen Krankheiten infizierten.6 Im Jahr 1927 wurde Wagner von Jauregg für seine Forschungen, die Edward Shorter in seiner Geschichte der Psychiatrie als »ein epochales Ereignis in der Geschichte nicht nur der Psychiatrie, sondern der gesamten Medizin« bezeichnete, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.7 Andere Historiker sind freilich zu dem Ergebnis gekommen, daß die Beweise für die Wirksamkeit der Infektionstherapie bestenfalls dürftig waren. Die Infektionstherapie wurde schon bald von der Insulinkomabehandlung abgelöst, die der österreichische Psychiater Manfred Sakel in den dreißiger Jahren einführte.8 Sakel erprobte Insulin zur Behandlung der Morphinsucht; einmal verabreichte er versehentlich einem Süchtigen, der psychotisch war, eine Überdosis. Eine Überdosis Insulin löst ein potentiell tödliches Koma aus. Nachdem der psychotische Patient aus dem Koma erwacht war, machte er einen weniger verwirrten Eindruck, und so begann Sakel gezielt Schizophrenen Über- 151
dosen Insulin zu injizieren. Er berichtete von außergewöhnlichen Erfolgsquoten: fünfunddreißig von fünfzig Patienten wurden vollständig geheilt, und neun zeigten eine partielle Besserung. Die Insulinschockbehandlung breitete sich daraufhin rasch über Europa und die Vereinigten Staaten aus. Forscher erprobten weitere Medikamente, die kein Koma, sondern Krämpfe auslösten. Eine kampferähnliche Substanz mit dem Handelsnamen Cardiazol löste Erbrechen und Krämpfe aus, die den durch Epilepsie verursachten glichen. »Weil man jedoch auch bei Cardiazol nicht sicher sein konnte, ob es zu Anfällen führen würde, und es bei den Patienten ebensolche Ängste auslöste wie Kampfer, sollte es kein großer Erfolg werden«, schrieb Shorter.9 Sogar einige Psychiater schreckten vor dieser Behandlung zurück. »Der Anblick des künstlich erzeugten Epilepsieanfalls«, erinnerte sich einer, »und vor allem der verzerrten blauen Gesichter, war für mich so furchtbar, daß ich, sooft ich konnte, das Behandlungszimmer verließ.« Bei der »Tiefschlaftherapie« wurden die Patienten mit Hilfe von Bromiden und anderen Beruhigungsmitteln in wochenlange Schlafphasen versetzt.10 (Sonderbarerweise wird auch dem Schlafentzug eine antidepressive Wirkung zugeschrieben.)11 Der kanadische Psychiater Ewen Cameron entwickelte eine Variante der Schlafkur, die er depatterning beziehungsweise »Gehirnwäsche« nannte.12 Cameron versetzte Patienten mit Hilfe von Barbituraten für längere Zeiträume in einen Zustand der Bewußtlosigkeit oder Dämmerzustand; oftmals verabreichte er ihnen auch eine Elektroschockbehandlung. Unterdessen ertönte aus einem Lautsprecher im Zimmer des Patienten eine ununterbrochene Folge von Ermahnungen. Cameron war keine Randfigur. Er war Professor an der McGillUniversität und von 1943 bis 1962 Direktor des angesehenen Allan Memorial Institute. 1952 und 1953 amtierte er als Präsident der American Psychiatrie Association. - 152
Bei der sogenannten Brechtherapie wurde Apomorphin verwendet, ein synthetisches Morphinderivat. Nach Aussage eines Beobachters laufen Patienten, denen Apomorphin verabreicht wurde, »grün an und übergeben sich bis zu einer Stunde lang. Das beruhigte sie und brachte sie endlich in die Lage, sechs Stunden des so dringend nötigen Schlafs zu bekommen.«13 Ein Psychiater am Verdun Protestant Hospital in Montreal spritzte Patienten Terpentin, Schwefel und andere Giftstoffe.14 Andere Behandlungsmethoden waren die Verabreichung großer Mengen Abführmittel,15 das Ziehen von Zähnen und die chirurgische Entfernung von Dickdarm, Eierstock, Keimdrüsen, Schilddrüsen und anderen Drüsen.16 Die Elektroschocktherapie wurde 1938 von dem italienischen Psychiater Ugo Cerletti eingeführt. Er fand heraus, daß elektrischer Strom hinreichender Stärke, der durch den Schädel geleitet wird, einen Krampfanfall auslöst, der einem epileptischen Anfall ähnelt; diese Anfälle linderten bei manchen Patienten die Symptome. In der Anfangszeit warfen sich viele Patienten so heftig hin und her, daß sie sich dabei Zähne und Knochen - ja sogar Wirbel - brachen. Dieser Nachteil wurde durch den Einsatz von Riemen und Gummikeilen ausgeglichen, anfänglich auch Kurare, einem Gift, das aus der Rinde südamerikanischer Lianen gewonnen wird und in kleinen Mengen zu einer kurzfristigen Lähmung (in größeren Mengen zum Tod) führt. Später benutzten die Ärzte ungefährlichere Lähmungsmittel und kurz wirkende Narkosemittel. Infolge dieser Verbesserungen wurde die Elektroschocktherapie rasch zur »Standardbehandlung« (wie es ein Psychiater im Jahr 1959 formulierte) für schwere Depressionen und andere Erkrankungen.17 Selbst entschiedene Befürworter der Elektroschocktherapie haben eingeräumt, daß mit dieser Behandlungsmethode Mißbrauch getrieben worden sei. Im Milledgeville State Hospital in Georgia, einst die größte Nervenheilanstalt der Welt, be- 153
straften Krankenpfleger unbotmäßige Insassen mit dem sogenannten Georgia Power Cocktail.18 Die Elektroschockbehandlung wurde im Verlauf der sechziger Jahre immer seltener eingesetzt, insbesondere seitdem Ken Kesey sie in seinem 1962 erschienenen Roman Einer flog übers Kuckucksnest als eine Form der Folter dargestellt hatte. Kritiker der Psychiatrie wie Thomas Szasz, R. D. Laing und die Scientology-Bewegung setzten sich für die Abschaffung der Elektroschocktherapie ein, und es gelang ihnen, in gewissen Gerichtsbezirken ein zeitweiliges Verbot zu erwirken. Die Gegner des Verfahrens behaupteten, es führe bei behandelten Patienten zu dauerhaftem Gedächtnisverlust und anderen schweren Nebenwirkungen. Der zunehmende Mißkredit, in den die Therapie geriet, hatte merkwürdige demographische Konsequenzen. Im Jahr 1980 wurde kein einziger nichtweißer Amerikaner in einer staatlichen Nervenheilanstalt mit der Elektrokrampftherapie behandelt.19 Hingegen wurde das Verfahren immer öfter bei wohlhabenden weißen Akademikern eingesetzt. Die berüchtigtste sogenannte biologische Behandlung war die Lobotomie (auch Leukotomie genannt), bei der die Stirnlappen, die als Sitz der Kognition gelten, teilweise oder völlig zerstört werden. Dieses Verfahren geht auf den portugiesischen Neurologen Antonio Caetano Moniz zurück. Im Jahr 1935 wohnte Moniz einem Vortrag bei, in dem ein Forscher ein Experiment beschrieb, bei dem ein aggressiver, unbezähmbarer Affe durch »Abtragung« beziehungsweise Entfernung seiner Stirnlappen ruhiggestellt wurde. Moniz erprobte das Verfahren - bei dem ein Skalpell durch Löcher, die beidseitig in der Schläfenregion in die Schädeldecke gebohrt werden, eingeführt wird - an psychiatrischen Patienten in Portugal. Er berichtete, daß sich der Zustand der meisten danach gebessert habe. Für seine Forschungsarbeit wurde Moniz 1949 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Die New York Times würdigte Moniz und andere Psychochirurgen, - 154
die mit der Lobotomie experimentiert hatten, dafür, daß »sie uns gelehrt haben, das Gehirn weniger ehrfurchtsvoll zu betrachten. Es ist einfach ein großes Organ, das hochkomplexe Funktionen ausführt, und nicht heiliger als die Leber«.20 Als der amerikanische Neurologe Walter Freeman von den Behandlungserfolgen Moniz' hörte, führte er die Lobotomie - einen Begriff, den er gemeinsam mit seinem Kollegen James Watts prägte - in den Vereinigten Staaten ein. Freeman entwickelte eine Variante der Lobotomie, die sogenannte transorbitale Lobotomie, die er mit einem medizinischen Eispickel durchführte. Der Chirurg setzt das Gerät unter dem Lid an, klopft leicht mit einem Hammer darauf, bis er ins Stirnhirn eindringt, und stochert dann mit dem Pickel hin und her. Freeman war ein unermüdlicher Werber in eigener Sache; mit missionarischem Eifer engagierte er sich für die Psychochirurgie. Im Jahr 1951 legte er einmal innerhalb von fünf Wochen21 bei einer »Kopfjagd«22, wie er es nannte, 17 ooo Kilometer zurück. Er fuhr in einem Kombiwagen, der mit Notizbüchern, chirurgischen Instrumenten und einem Elektroschockgerät vollgestopft war, durch die gesamten Vereinigten Staaten und Kanada, um seine transorbitale Lobotomie in Krankenhäusern vorzuführen. Das Verfahren setzte sich rasch durch; zwischen Ende der dreißiger und Mitte der sechziger Jahre wurden allein in den Vereinigten Staaten etwa vierzigtausend Lobotomien durchgeführt.23 Lobotomien wurden nicht nur an psychisch Kranken vorgenommen, sondern auch an unverbesserlichen Strafgefangenen.24 Freeman selbst soll insgesamt fünftausend Operationen durchgeführt haben,25 bis zu fünfundzwanzig an einem einzigen Tag.26 Er praktizierte seine Lobotomie-Technik bis 1967, doch zu diesem Zeitpunkt war ihr Stern bereits im Sinken. (Freemans letzter Patient, den er bereits zweimal operiert hatte, starb an Gehirnblutungen.)27 Gegen Ende seiner Karriere hatte er seinen Ruf so gründlich ruiniert, daß ihm - 155
mehrere Institutionen, in denen er einst praktiziert hatte, seine ärztlichen Sonderrechte aberkannten. Angesichts der starken Aversion, die dieses Behandlungsverfahren nicht nur bei Patienten und deren Familien, sondern auch bei Fachleuten hervorrief, waren die Psychiater enorm erleichtert, als in den fünfziger Jahren Medikamente entwikkelt wurden, die die Symptome einiger psychischer Erkrankungen und insbesondere der Schizophrenie zu lindern schienen. Allerdings wurden seelische Leiden schon seit langem mit Medikamenten behandelt; so verschrieben die Ärzte im neunzehnten Jahrhundert unter anderem Morphium, Chloralhydrat und Bromid, um psychotische Patienten zu sedieren. Doch die »Revolution in der Psychopharmakologie«, wie es oftmals heißt, begann in den frühen fünfziger Jahren mit der Einführung von Neuroleptika, antipsychotischen Substanzen wie Reserpin und Chlorpromazin (letzteres wird unter dem Handelsnamen Propaphenin vermarktet). Anders als die Barbiturate und andere Beruhigungsmittel versetzten diese neuen Medikamente Schizophrene nicht bloß in einen Zustand der Benommenheit, sondern sie schienen auch einige schwerere Symptome, wie etwa Halluzinationen, zu lindern. Einige katatone Patienten gewannen sogar ihre Sprach- und Bewegungsfähigkeit zurück; die Barbiturate hatten den katatonen Zustand höchstens noch vertieft. Die Entdeckung, daß Lithium die Symptome psychotischer Erkrankungen unterdrücken kann, geht auf die späten vierziger Jahre zurück und verdankt sich John Cade, dem Direktor einer Nervenheilanstalt in Australien. Cade, der vermutete, daß Geisteskrankheiten durch ein im Urin ausgeschiedenes Toxin verursacht würden, isolierte aus dem Urin seiner Patienten mehrere Verbindungen und injizierte sie Meerschweinchen. Nachdem er den Verbindungen Lithium beigemischt hatte, wurden die Meerschweinchen ungewöhnlich lethargisch. Als Cade die Lithiumsalze psychiatrischen Patienten - 156
spritzte, zeigte sich die gleiche sedierende Wirkung. Einem fünfzigjährigen Patienten, der seit Jahrzehnten an einer Manie litt – Cade beschrieb ihn als »geschwätzig, euphorisch, ruhelos und verwahrlost«28 – und zu einer dauerhaften Hospitalisierung verdammt zu sein schien, ging es bald so gut, daß er entlassen werden konnte. Spätere Studien haben gezeigt, daß Lithium die Stimmungsschwankungen dämpft, wie sie für manisch-depressive Erkrankungen typisch sind. All diese Medikamente wurden, weitgehend zu Recht, als eine Infragestellung der Freudschen Theorie und Therapie angesehen. Im Jahr 1955 verkündete Time, daß Chlorpromazin und ähnliche Wirkstoffe den Triumph der »Backsteinpragmatiker« (der Ausdruck bezog sich auf die roten Backsteine, die häufig beim Bau von Nervenheilanstalten verwendet wurden) in der Psychiatrie über die Psychoanalytiker in ihren Elfenbeintürmen darstellten: »Die Kritiker in ihren Elfenbeintürmen behaupten, daß die Pragmatiker in ihren Backsteinhäusern nie an die ›zugrunde liegende Psychopathologie‹ des Patienten herankämen und ihn deshalb auch nicht heilen könnten. Die [Analytiker] interessiert nur, ob [der Patient] Konflikte über seine inzestuösen Triebe im Unbewußten austrägt oder sich aus der Welt zurückgezogen hat, weil er im Alter von fünf Jahren einmal etwas aus dem Sparschwein seines Bruders geklaut hat. Für die Backsteinwelt ist das wie ein Streit über die Zahl der Engel, die auf einer Nadelspitze Platz haben.«29 Freud selbst hatte kurz vor seinem Tod vorhergesagt, daß die Psychoanalyse womöglich eines Tages von der Psychopharmakologie abgelöst würde: »Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen.«30
- 157
Peter Kramer lauschen Die Einführung der Antidepressiva in den fünfziger Jahren stellte die Psychoanalyse und andere Psychotherapien vor ihre mit Abstand schwerste Bewährungsprobe. Obgleich einige Psychoanalytiker, vornehmlich in den Vereinigten Staaten, Patienten mit Schizophrenie und manisch-depressiver Erkrankung behandelten, hatten Freud und viele seiner Anhänger diese Leiden als nicht therapierbar angesehen. Die überwiegende Mehrheit der Patienten, die von Freudiänern und anderen Psychotherapeuten behandelt wurden, litten an leichteren und häufigeren Erkrankungen, insbesondere Depressionen. Während manisch-depressive Erkrankung und Schizophrenie jeweils etwa ein Prozent der Bevölkerung betreffen, durchleben bis zu fünfzig Prozent aller Menschen irgendwann in ihrem Leben eine Depression.31 Zu jedem beliebigen Zeitpunkt leiden möglicherweise bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung an depressiven Symptomen. Die erste Klasse von Wirkstoffen, die als echte Antidepressiva angekündigt wurden, war die der sogenannten Monoaminoxidasehemmer (MAOH). Diese Substanzen hemmen die Produktion des Enzyms Monoaminoxidase und blockieren dadurch den Abbau der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin, deren Mangel nach heute herrschender Auffassung einer depressiven Erkrankung zugrunde liegen soll. Leider haben Monoaminoxidasehemmer eine gefährliche Nebenwirkung: Wenn sie mit Tyramin reagieren, einer Substanz, die in bestimmten Käsesorten, in Wein und anderen gängigen Lebensmitteln und Getränken enthalten ist, können sie eine tödliche Hirnblutung verursachen. Forscher haben wenig später eine weitere Klasse von Antidepressiva entdeckt, die sogenannten tricyclischen Antidepressiva, die eine hohe Noradrenalin- und Serotoninkonzentration aufrechterhalten, aber nicht mit Tyramin reagieren. - 158
Die Revolution in der Psychopharmakologie erreichte ihren Höhepunkt Ende der achtziger Jahre mit der Einführung der selektiven Serotoninrückaufnahme-Hemmer (SSRI). Nachdem eine Nervenzelle einen Neurotransmitter ausgeschüttet hat, absorbiert sie ihn in der Regel wieder in einem als »Rückaufnahme« bezeichneten Prozeß. Man nimmt an, daß die SSRI die Serotoninkonzentration dadurch hoch halten, daß sie die Rückaufnahme des Neurotransmitters hemmen. Die SSRI werden »selektiv« genannt, weil sie - anders als ihre relativ unspezifisch wirkenden Vorläufer - angeblich nur auf Serotonin und nicht auf andere Neurotransmitter einwirken. Der bekannteste SSRI ist das Fluoxetin, besser bekannt unter seinem Handelsnamen Fluctin (beziehungsweise Prozac in den USA). Fluctin ist eine der großen Erfolgsgeschichten der modernen Pharmakologie - und des modernen Marketings. Eli Lilly brachte das Medikament im Jahr 1988 unmittelbar im Anschluß an seine Zulassung durch die Food and Drug Administration (FDA), die US-amerikanische Aufsichtsbehörde für Lebensmittel und Medikamente, auf den Markt. Am 26. März 1990 war auf der Titelseite von Newsweek eine grünweiße Fluctin-Kapsel abgebildet mit der Schlagzeile »Ein Quantensprung in der Behandlung der Depression«.32 Als der unvermeidliche Rückschlag einsetzte, war er genauso übertrieben, wie es die positive Berichterstattung gewesen war.33 Im Jahr 1989 tötete ein Angestellter einer Druckerei in Kentucky acht seiner Kollegen und verwundete zwölf weitere durch Schüsse aus einem Sturmgewehr, bevor er sich erschoß. Nachdem bekannt geworden war, daß der Mann Fluctin eingenommen hatte, verklagten seine Hinterbliebenen und die seiner Opfer Lilly auf Schadensersatz. Im Jahr 1991 gab die Witwe des Rocksängers Del Shannon Fluctin die Schuld daran, daß ihr Ehemann Selbstmord verübt hatte. Fernsehshows berichteten in sensationeller Aufmachung über diese Fälle und weitere, in denen Patienten angeblich nach der Einnahme von - 159
Fluctin Gewalttätigkeiten gegen sich oder andere begangen hatten. Donahue gab einer Sendung den Titel »Fluctin - Ein Medikament, das Sie morden läßt«. Ende des Jahres 1991 hielt die FDA Anhörungen zu dem Thema ab. Die Anwälte, die Lilly vertraten, und andere Experten behaupteten völlig zu Recht, daß es nicht unbedingt einen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Fluctin und diesen relativ seltenen Gewalttaten geben müsse; einige derartige Zwischenfälle seien nach den statistischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit unvermeidlich, wenn ein Medikament einer sehr großen Zahl psychisch kranker Menschen verabreicht werde. Die FDA schloß sich dieser Auffassung an, und die Kontroverse über die potentiell aggressionsauslösende Wirkung von Fluctin verschwand allmählich von der Bildfläche. Die meisten Zivilprozesse gegen Lilly sind außergerichtlich beigelegt worden. Psychiater und Verbraucher hatten bereits bewiesen, daß sie die Schreckensberichte nicht glaubten, denn die Absatzzahlen von Fluctin gingen weiterhin steil in die Höhe. Im Jahr 1998 rangierte Fluctin auf der Liste der meistverkauften Medikamente hinter dem Ulcus-Präparat Antra (Omeprazol) auf Platz zwei (auch wenn der rasant wachsende Absatz des Impotenzmittels Viagra dieses vermutlich auf den ersten Platz katapultieren würde).34 Weltweit nahmen über vierunddreißig Millionen Menschen Fluctin ein, und der damit erzielte Umsatz belief sich auf insgesamt zweieinhalb Milliarden Dollar.35 Unglaublicherweise nahm der Umsatzerlös weiterhin zu, obwohl Lilly einen wachsenden Anteil seines Marktes an die SSRI von Wettbewerbern, wie etwa Fevarin und Seroxat, abgeben mußte. Der Markt für SSRI wächst einer Schätzung zufolge jährlich um über fünfzig Prozent.36 Das am schnellsten wachsende Segment des US-amerikanischen Marktes für SSRI betrifft Kinder im Alter bis zu zwölf Jahren37 – obwohl einer Untersuchung zufolge »keine einzige - 160
Doppelblindstudie mit einer Placebo-Kontrollgruppe publiziert wurde, aus der hervorginge, daß Antidepressiva zur Behandlung von Depressionen im Kindes- und Jugendalter wirksamer wären als Placebos.«38 1997 hat Eli Lilly eine eigens auf Kinder zugeschnittene Fluctin-Variante mit Pfefferminzgeschmack auf den Markt gebracht.39 Der geschickteste Lobsänger von Fluctin ist Peter Kramer, außerordentlicher Professor für Psychiatrie an der BrownUniversität, der in Providence, Rhode Island, eine Privatpraxis führt. Kurz nachdem Lilly Ende der achtziger Jahre Fluctin auf den Markt gebracht hatte, begann Kramer den Stellenwert des neuen Präparats in einer Kolumne in der Fachzeitschrift Psychiatrie Times zu erörtern. Fluctin, so schrieb er, habe nicht bloß die Depressions- und Angstsymptome bei seinen Patienten gelindert, sondern ihnen auch neue Lebensfreude und Tatkraft geschenkt. Er meinte, das Medikament könne eine Ära der »kosmetischen Psychopharmakologie«40 einleiten, in der Patienten nicht nur von ihren Erkrankungen geheilt, sondern »einen psychischen Zusatznutzen über das bloße Wohlbefinden hinaus« erlangen könnten. Kramer führte in seinem 1993 erschienenen Buch Listening to Prozac (dt. Glück auf Rezept), das einundzwanzig Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times stand,41 diese Ansichten näher aus. Kramer war im Herbst 1995, als ich ihn bei einem Symposion über die relative Wirksamkeit von Psychotherapien und Psychopharmaka an der New School in New York City erlebte, schon eine richtige Berühmtheit.42 Das Publikum bestand überwiegend aus Frauen - von bleichgesichtigen, schwarz gewandeten Studentinnen bis hin zu vornehmen älteren Damen von der Upper East Side, die erlesene Schals von Hermes trugen. Dieses demographische Profil des Publikums war nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß Frauen doppelt so häufig an Depressionen erkranken wie Männer. - 161
Kramer, ein hochgewachsener, schlanker und jungenhafter Mann mit saloppem, selbstsicherem Auftreten, verstand es hervorragend, Fragen aufzuwerfen und mit ihnen herumzujonglieren, ohne sich auf bestimmte Antworten festzulegen. Er sann etwa über die Bedeutung der heftigen Angstanfälle nach, die den Psychologen William James gequält hätten. Seien diese Angstanfälle angemessene Reaktionen auf James' Erkenntnis, daß das Dasein sinnlos sei, oder seien sie auf ein chemisches Ungleichgewicht zurückzuführen? Kramer vermochte es nicht zu sagen. Als ein Sprecher Kramer vorwarf, er leiste einer »Fluctin-Epidemie« Vorschub, erwiderte Kramer achselzukkend, auch Freud habe dazu beigetragen, eine »Epidemie« psychoanalytischer Behandlungen auszulösen; das komme nun mal vor. Kramer beteuerte, er sei ein »großer Fan« der Psychotherapie und hätte eine »lange Liebesaffäre« mit ihr gehabt. Doch diese innige Beziehung zur Psychotherapie habe ihm auch geholfen, ihre Unzulänglichkeiten zu erkennen. Er räumte ein, daß Medikamente eines Tages aus gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen die Gesprächstherapie »auslöschen« könnten. Selbst wenn sich medikamentöse Behandlungen als nicht so wirksam herausgestellt hätten, so Kramer, wäre die Gesprächstherapie in Bedrängnis geraten, weil bislang niemand aufgeklärt habe, weshalb sie funktioniere, und weil niemand nachgewiesen habe, daß eine Methode der anderen überlegen sei. Eine der aufschlußreichsten Bemerkungen Kramers war: »Ich halte sehr viel von Ambivalenz, Ambiguität und Unscharfe.« Auch in Glück auf Rezept legte sich Kramer nicht fest. War Kramer ein Befürworter von Psychopharmaka? Nun ja, gewissermaßen. War er ein Gegner von Psychotherapie? Gewissermaßen, aber eigentlich doch nicht. Als man ihm vorhielt, er habe eine zu günstige Meinung von Fluctin und eine zu schlechte von der Psychotherapie, verwies Kramer auf - 162
Kommentare, in denen er seine Vorbehalte gegenüber Psychopharmaka zum Ausdruck gebracht und die Vorteile von Gesprächstherapien gerühmt habe. Wie Freud stützte auch Kramer seine Polemik auf geschickte Beschreibungen einzelner Patienten. Nehmen wir Tess - eine Frau, die an chronischer Depression leidet, mit ihrem Berufs- und Liebesleben unzufrieden ist und die jahrelang erfolglos mit Gesprächstherapien und Antidepressiva behandelt wurde. Zwei Wochen nachdem Kramer ihr Fluctin verordnet hatte, fiel ihm eine »bemerkenswerte« Wandlung auf: Sie sah ganz anders aus, viel entspannter und viel energiegeladener, viel aufnahmefähiger, als ich sie vorher gesehen hatte, so als sei die Person, die sich hinter ihrem Äußeren verborgen hatte, plötzlich an die Oberfläche gekommen. Sie lachte viel öfter und auch ganz anders, nicht mehr so bewußt gezwungen, sondern einfach sehr charmant. Mit ihrem neuen Verhalten entwickelte sich auch ein neues soziales Leben, das sich nicht langsam entfaltete als Folge vieler Kämpfe, bei denen sie die verschiedenen Teile ihrer Person integrieren mußte, sondern das sich ziemlich spontan und voller Energie seine Bahn brach. ›Drei Verabredungen habe ich jetzt jedes Wochenende‹, erzählte mir Tess. ›Ich glaube, ich habe ein bestimmtes Zeichen auf der Stirn.‹ 43
Kramer resümierte: »Ich hatte vorher noch nie beobachtet, daß sich das Sozialleben eines Patienten so schnell und so grundlegend verändert hatte. Ein geringes Selbstwertgefühl, Unentschlossenheit, Eifersucht, wenig Mut, Schüchternheit, Angst vor Intimität - die meisten Gründe für mangelnde soziale Kontakte - sind in einer Person so tief verwurzelt und so schwer zu beeinflussen, daß sich hier etwas nur sehr langsam verändern kann, wenn sich überhaupt daran etwas ändert. Aber Tess war wie umgewandelt.« Kramer wies allerdings auch darauf hin, - 163
daß nicht alle Patienten in dieser Weise auf Fluctin ansprechen. »Bei einigen schlägt dieses Medikament überhaupt nicht an, einige erholen sich von ihrer Depression, und das Medikament wirkt so wie jedes andere Antidepressivum. Aber bei einigen Patienten, der wichtigen Minderheit, verändert sich die ganze Persönlichkeit. Fluctin verleiht diesen Patienten den Mut, das zu tun, was getan werden muß.«44 Andere Psychiater, so versicherte Kramer den Lesern, hätten mit ihren Patienten die gleichen Erfahrungen gemacht. Kramer zerbrach sich den Kopf über die philosophische Bedeutung dieses neuen Medikaments. Wer sei die »wirkliche« Tess – die unglückliche, unsichere Frau, die eine ganze Reihe von demütigenden Affären mit verheirateten Männern durchlitten hatte, oder dieses neugeborene Energiebündel voller Selbstsicherheit? Wir nähmen an, daß wir durch unsere Erfahrungen geprägt worden seien. Was sage die Tatsache, daß eine chemische Substanz uns von Grund auf verändern könne, über uns aus? Was sage sie über den eventuellen Nutzen herkömmlicher Psychotherapien aus? Verlören wir etwas von unserem innersten Wesen, wenn wir Verzweiflung und Angst auf chemischem Weg statt durch Selbsterkenntnis beseitigten? Genüge es, einfach glücklich zu sein ? Ich vermute, daß die meisten Leser die philosophischen Dilemmas, die Kramer in Glück auf Rezept darlegt, nur mäßig interessierten, während seine Schilderungen von Patienten wie Tess sie fesselten. Mir zumindest erging es so bei der ersten Lektüre von Glück auf Rezept. Ich halte mich für einen einigermaßen glücklichen Menschen oder doch zumindest für einen nicht übermäßig unglücklichen. Nachdem ich jedoch Dutzende von Kramers Fallbeschreibungen über Tess und andere verschlungen hatte, deren Leben sich durch Fluctin auf wundersame Weise geändert hatte, begann ich mich zu fragen, ob ich nicht auch von diesen Pillen profitieren könne. Gewiß, mir ging es nicht schlecht, doch wenn es mir mit Fluctin noch - 164
besser gehen könnte, wenn es meine Selbstsicherheit in Redaktionskonferenzen stärken, die Zweifel zerstreuen, die zu einer Schreibblockade führen, und mir mehr Schwung beim Nahen des Redaktionsschlusses geben könnte - warum nicht? Als die Presse 1994 berichtete, James Goodwin, ein Psychologe in Wenatchee in Oregon habe über sechshundert seiner Klienten Fluctin empfohlen und in einer landesweit ausgestrahlten Fernsehsendung erklärt, daß jeder von dem Medikament profitieren könne,45 dachte ich ein weiteres Mal: »Warum nicht?« Ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf, als in einem Artikel im New Republic46, der warnend darauf hinwies, Fluctin könne das Gefalle zwischen den Begüterten und den Habenichtsen vergrößern, der Vorschlag gemacht wurde, Fluctin solle im Rahmen eines nationalen Versicherungsprogramms auch den Armen zur Verfügung gestellt werden. Großartig - Fluctin für alle! Erst später erkannte ich, in welchem Ausmaß die Befürworter von Fluctin dessen Wirksamkeit übertrieben hatten. Erstens ist Fluctin älteren Antidepressiva wie etwa den tricyclischen Antidepressiva bei der Behandlung affektiver Störungen keineswegs überlegen. Im Jahr 1996 publizierte das Journal of the American Medical Association die Ergebnisse einer Studie an 536 depressiven Erwachsenen, in der Fluctin mit älteren Antidepressiva, wie etwa den tricyclischen Antidepressiva Desipramin und Imipramin, verglichen wurde.47 Die Probanden, die Fluctin erhielten, zeigten nach einem Monat eine leichte Besserung, aber der Unterschied war statistisch nicht signifikant, und selbst dieser geringfügige Unterschied war nach drei Monaten wieder verschwunden. Tatsächlich ergaben die Tests, die nach drei und sechs Monaten durchgeführt wurden, einen geringen, wenn auch statistisch ebenfalls nicht signifikanten Vorteil für Desipramin. Dabei wies die Studie allenfalls eine Voreingenommenheit zugunsten von Fluctin auf, da sie von der Herstellerfirma Eli Lilly finanziert wurde. - 165
Diese und andere Studien haben gewisse Belege für die weitverbreitete Annahme gefunden, Fluctin habe weniger Nebenwirkungen als ältere Antidepressiva, doch der Unterschied ist gering. Britische Forscher, die 1994 eine Metaanalyse an zweiundvierzig Einzelstudien durchführten, stellten fest, daß die Abbruchsrate infolge von Nebenwirkungen 14,9 Prozent bei Fluctin und 19 Prozent bei den tricyclischen Antidepressiva betrug.48 »Die Literatur erhärtet den klinischen Eindruck, daß die SSRI besser verträglich sind als die [tricyclischen Antidepressiva] , doch die Ergebnisse sind nicht so deutlich, wie es manche Kliniker erwartet haben mochten«, lautete das Fazit eines Kommentars in den Psychiatric Annals. »Die Gesamtzahl der Patienten, die die Behandlung mit diesen beiden Wirkstoffklassen abschlössen, war annähernd gleich.«49 Erste Erfahrungsberichte über die SSRI erwähnten nur selten ihre wohl gravierendste Nebenwirkung: sexuelle Funktionsstörungen.50 Eli Lilly behauptet, weniger als zwei Prozent der Teilnehmer an klinischen Studien mit Fluctin hätten von sexuellen Funktionsstörungen berichtet. Nach Aussage von Robert Segraves, einem Psychiater an der Case-Western-Universität, sprechen Patienten ihre sexuellen Probleme allerdings nur selten von sich aus an. Segraves und andere haben herausgefunden, daß bis zu drei von vier Personen, die Fluctin einnehmen, entweder eine Verminderung ihres sexuellen Verlangens oder eine verminderte Orgasmusfähigkeit oder beides erleben. Tatsächlich wurde Fluctin zur Behandlung von Ejaculatio praecox verschrieben, und mindestens ein Psychiater hat vorgeschlagen, es zur Behandlung von Pädophilen und anderen Menschen mit abweichendem Sexualverhalten in Erwägung zu ziehen.51 (Auf Muscheln übt Fluctin offenbar die gegenteilige Wirkung aus. Im Jahr 1998 berichteten Forscher vom Gettysburg College in Pennsylvania, daß Muscheln, die in mit dem Wirkstoff versetztes Wasser gelegt wurden, mehr Samen- und Eizellen ausstießen.)52 - 166
Peter Kramer kannte das Problem der sexuellen Funktionsstörungen durchaus, doch verbannte er es ins Kleingedruckte im Anhang seines Buches. In einer Anmerkung räumte er ein, er und andere Psychiater hätten bei Patienten, die Fluctin einnahmen, »recht häufig« sexuelle Probleme beobachtet. Er schrieb nachdenklich: »Hier herrschen seltsame Verhältnisse: Wird ein Medikament relativ gesunden Patienten verschrieben, die meist über Anhedonie [Unfähigkeit, Lust zu empfinden] klagen, tolerieren sie bereitwillig das Medikament trotz der Nebenwirkung sexueller Beeinträchtigungen.« Er vermutete, daß die Patienten »eine entmutigende und sogar besorgniserregende Form der Impotenz«, wie sie durch Fluctin verursacht wird, hinnähmen, weil ihnen das Medikament erlaube, »die Vielfalt der Freuden im alltäglichen Leben besser zu erleben« ,53 In Kramers schöner neuer Welt kann man wohl, anders als in der von Aldous Huxley, auf Sex verzichten.
Die Dodo-Hypothese - Teil II Die wohl größte Legende in der Biopsychiatrie ist die Behauptung, Antidepressiva stellten gegenüber nur Psychotherapie einen enormen Fortschritt in der Behandlung von Depressionen dar. In Wirklichkeit haben Psychotherapien und Psychopharmaka laut einem 1995 in Professional Psychology erschienenen Bericht von David Antonuccio und Mitarbeitern von der Medizinischen Fakultät der Universität von Nevada in etwa die gleiche Wirksamkeit.54 Die Forscher fanden heraus, daß »mehrere Metaanalysen, die sowohl in psychiatrischen als auch in psychologischen Fachzeitschriften publiziert wurden und die zahlreiche Studien mit Tausenden von Patienten berücksichtigten, mit bemerkenswerter Konsistenz die Annahme untermauern, daß Psychotherapien zur Behandlung von Depressionen mindestens genauso wirksam sind wie Medika- 167
mente.« Anders gesagt, die Aussage des Dodo in Alice im Wunderland - »Alle sind Sieger, und jeder muß einen Preis bekommen« - gilt nicht nur für die Psychotherapie, sondern auch für die Psychopharmakologie. Dieses Fazit wird durch eine der methodisch sorgfältigsten Studien über Depression, die jemals durchgeführt wurden, bestätigt, das sogenannte Treatment of Depression Collaborative Research Programm, das Ende der siebziger Jahre vom National Institute of Mental Health (NIMH) initiiert wurde. An der Studie nahmen 239 depressive Patienten teil, die sechzehn Wochen lang mit einer der vier folgenden Methoden in drei verschiedenen Kliniken behandelt wurden: - kognitive Verhaltenstherapie, - interpersonelle Therapie, die die Beziehungen eines Patienten zu anderen Menschen in den Mittelpunkt stellt, - Imipramin, ein tricyclisches Antidepressivum, plus »klinische Betreuung«, ein kurzer wöchentlicher Besuch bei dem verschreibenden Arzt, der als eine Placebo-Psychotherapie dient, - eine Placebo-Tablette plus klinische Betreuung. Das NIMH-Depressionsprogramm hält für praktisch jeden positive wie negative Nachrichten bereit. Noch bevor die Ergebnisse 1989 veröffentlicht wurden, behaupteten Psychologen, das Programm habe bestätigt, daß Psychotherapien wirksam seien. Im Jahr 1986 verkündete eine Schlagzeile auf der Titelseite der New York Times, laut einer Studie sei Psychotherapie zur Behandlung von Depressionen genauso wirkungsvoll wie Medikamente.55 In anderen Publikationen beteuerten Anhänger der kognitiven Verhaltenstherapie, diese erziele die besten Langzeitergebnisse und Imipramin langfristig die schlechtesten. Interpersonelle Therapeuten wiederum waren hoch erfreut darüber, daß ihr Verfahren bei schwerkranken Patienten - 168
der kognitiven Verhaltenstherapie überlegen war (wenn es auch nicht so gut wirkte wie Imipramin). Befürworter von Antidepressiva griffen die Tatsache auf, daß eine Gruppe von Patienten mit schwerer Depression, insbesondere diejenigen, die als »funktional gestört« bezeichnet wurden, anfänglich besser auf Imipramin als auf beide Psychotherapieformen anzusprechen schienen. Auf der Grundlage dieses Befundes empfahl die American Psychiatrie Association im Jahr 1993, Depressionen sollten zunächst mit Psychopharmaka behandelt werden.56 Tatsächlich war das wichtigste Ergebnis des NIMH-Projektes, daß alle vier Behandlungsprotokolle annähernd gleich wirksam beziehungsweise wirkungslos waren. Nach gewissen Ergebnissen sprachen die Patienten sogar auf das Placebo plus klinische Betreuung am besten an. Die Psychologin Irene Elkin von der Universität Chicago, die wichtigste Mitarbeiterin des NIMH-Projekts, unterzog dessen Ergebnisse für das Handbook of Psychotherapy and Behavior Change einer kritischen Würdigung. »Obgleich bei allen Therapieschemata signifikante Besserungen im Zustand [der Probanden] vor und nach der Behandlung vorkamen, waren bei Beendigung der Studie erstaunlich wenige signifikante Unterschiede zwischen den Schemata nachzuweisen.«57 Sie wies darauf hin, daß es bei Patienten mit leichter Depression »keine Anhaltspunkte dafür gibt, daß sich die vier Behandlungsschemata einschließlich des PLA-KB [Placebo plus klinische Betreuung] in ihrer Wirksamkeit unterscheiden«.58 Die Ergebnisse ließen den Schluß zu, daß »derartige minimal unterstützende Therapien, wenn sie von einem erfahrenen Therapeuten verabreicht werden, möglicherweise ausreichen, um eine erhebliche Verringerung der depressiven Symptomatik zu erreichen«. Ein »verblüffender« Befund, so Elkin, sei der »relativ geringe Prozentsatz von Patienten, die die Therapie durchhalten, vollständig genesen und während der gesamten achtzehn- 169
monatigen Nachuntersuchungsphase völlig symptomfrei bleiben«.59 Nur vierundzwanzig Prozent der Patienten waren am Ende des sechzehnwöchigen Behandlungszeitraums von ihrer Depression geheilt und blieben in den folgenden achtzehnten Monaten frei von stärkeren Symptomen. Der Prozentsatz der Patienten in den einzelnen Protokollen, deren Zustandsbesserung anhielt, belief sich auf dreißig Prozent bei der kognitiven Therapie, sechsundzwanzig Prozent bei der interpersonellen Therapie, zwanzig Prozent bei Placebo plus klinischer Betreuung und neunzehn Prozent bei Imipramin. Viele psychiatrische Experten einschließlich Peter Kramer behaupten, Psychotherapie und Psychopharmaka wirkten in Kombination am besten. Der Autor von Glück auf Rezept sagte mir einmal, daß er sich selbst »im Innersten als Psychotherapeut« fühle, der glaube, daß Medikamente die Wirksamkeit von Gesprächstherapien verbessern könnten und umgekehrt.60 In der Zukunft, so Kramer, »wird es eine Art Psychotherapie geben, die die Psychotherapie, wie sie gegenwärtig praktiziert wird, und die Psychopharmakologie in sich einschließen wird.« Dieser kombinierte Ansatz ist nicht neu. In den zwanziger Jahren bedrängte der prominente amerikanische Psychoanalytiker Harry Stack Sullivan seine Patienten, sich bis zu zehn Tage vor Beginn der Therapie ständig mit Alkohol zu berauschen.61 Doch die Annahme, daß Psychotherapie plus Medikamente wirksamer sei als entweder Medikamente oder Psychotherapie allein, ist empirisch nicht bestätigt. Tatsächlich wurde sie durch eine großangelegte Meinungsumfrage widerlegt, die das Magazin Consumer Reports, das von der gemeinnützigen Verbraucherorganisation Consumers Union publiziert wird, im Jahr 1995 durchführte.62 Bei dieser Erhebung wurden Leser nach ihren Erfahrungen mit Fachleuten für seelische Gesundheit gefragt. Das Magazin veröffentlichte die Ergebnisse seiner Umfrage, auf die viertausend Leser geantwortet hatten, im Herbst desselben Jahres. - 170
Die Umfrage war Balsam für die Seele der Gesprächstherapeuten. Die meisten Leser schrieben, ihre Psychotherapie habe ihnen geholfen, und je länger sie in therapeutischer Behandlung geblieben seien, um so besser hätten sie sich gefühlt. Einige Kritiker wandten ein, dieses Ergebnis spiegele eventuell die »Therapiesucht« gewisser Patienten. Dennoch griff die American Psychological Association sogleich die Ergebnisse der Umfrage von Consumer Reports auf, um die Leistungsausschlüsse der Krankenversicherer für Gesprächstherapien zu kritisieren. Auch die Psychologen freuten sich, daß es Lesern, die nur psychotherapeutisch behandelt worden waren, besser zu gehen schien als denjenigen, die mit Gesprächstherapie und Psychopharmaka wie Fluctin behandelt worden waren. Die Umfrage von Consumer Reports »hat die Wirksamkeit der Psychotherapie empirisch bestätigt«, erklärte Martin Seligman, Psychologe an der Universität von Pennsylvania und ehemaliger Präsident der American Psychological Association, im Dezember 1995 in der Zeitschrift American Psychologist.63 Seligman räumte ein, daß die Umfrage einige methodische Schwächen habe. Abonnenten des Consumer Reports seien möglicherweise nicht repräsentativ, und dies gelte noch mehr für diejenigen, die den Fragebogen beantwortet hätten; zudem habe es keine Kontrollgruppe gegeben. Doch, so versicherte er, diese Unzulänglichkeiten seien nicht gravierender als diejenigen von streng wissenschaftlichen Vergleichsstudien. Andererseits bestätigte die Umfrage auch die Dodo-Hypothese und die sich daraus ergebende Konsequenz, daß sämtliche Therapien gleich effizient beziehungsweise ineffizient sind. Die Umfragebeantworter gaben auch annähernd das gleiche Maß an Zufriedenheit an, unabhängig davon, ob sie von Sozialarbeitern, Psychologen oder Psychiatern behandelt wurden. Nur Eheberater schnitten unterdurchschnittlich ab. Doch die Leser gaben auch an, daß sie mit den Anonymen - 171
Alkoholikern zufriedener waren als mit sämtlichen Fachleuten für seelische Gesundheit oder mit Medikamenten. Der Erfolg der Anonymen Alkoholiker mag darauf zurückzuführen sein, daß sie ihre Mitglieder ermahnen, sich einer »höheren Macht« zu unterwerfen. Forscher der Duke-Universität haben die therapeutische Wirksamkeit von Religiosität in einer neueren Studie an siehenundachtzig depressiven Männern und Frauen im Alter von mindestens sechzig Jahren bestätigt.64 Etwa die Hälfte der Patienten wurde mit Psychotherapie, Antidepressiva oder einer Kombination von beidem behandelt. Die Forscher berichteten, daß »intrinsische Religiosität« der zuverlässigste Prognosefaktor für die Genesung von Depression sowohl in der behandelten als auch in der unbehandelten Gruppe sei. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, daß eine psychotherapeutische Behandlung, Antidepressiva oder eine Kombinationstherapie eine nennenswerte Besserung des psychischen Zustands der Patienten herbeigeführt hätten.
Vom Placebo zum Allheilmittel Roger Greenberg und Seymour Fisher, beide Psychologen am Gesundheitswissenschaftlichen Zentrum der Staatsuniversität von New York in Syracuse, gehören zu den hartnäckigsten Kritikern der Psychopharmakologie.65 (Greenberg und Fisher sind auch die Autoren des Buches Freud Scientifically Reappraised, das ich im zweiten Kapitel erörterte.) Sie erklären in The Limits of Biological Treatments for Psychological Distress und From Placebo to Panacea sowie in zahlreichen Artikeln, daß die Wirksamkeit von Psychopharmaka weit überschätzt werde. Nach Auswertung von Doppelblindstudien über Antidepressiva aus den letzten dreißig Jahren sind sie zu dem Schluß gelangt, die Wirksamkeit von Antidepressiva übersteige die - 172
von Placebo-Tabletten nur um einundzwanzig Prozent; dies entsprach dem Betrag, um den die Besserungsrate von Patienten, die Antidepressiva einnahmen, über der Besserungsrate von Patienten lag, die Placebos einnahmen. Doch selbst diese Zahl ist laut Greenberg und Fisher mit Vorsicht zu genießen, da viele scheinbare Doppelblindstudien über Medikamente in Wirklichkeit mit einem systematischen Fehler zugunsten eines positiven Wirksamkeitsnachweises behaftet seien. Alle Antidepressiva haben normalerweise Nebenwirkungen wie etwa Mundtrockenheit, gesteigerte Schweißabsonderung, Verstopfung und sexuelle Funktionsstörungen. Deshalb könnten sowohl Patienten als auch Ärzte oftmals herausfinden, wer die wirksame Substanz bekomme; dies löse eine Besserungserwartung aus, die von selbst in Erfüllung gehe. Es gibt weitere Faktoren, die die Ergebnisse verzerren können. So scheiden beispielsweise viele Patienten im Lauf einer Studie aus, sei es wegen unangenehmer Nebenwirkungen, wegen ihrer mangelnden Bereitschaft, sich an das Studienprotokoll zu halten, oder wegen sonstiger Probleme. Zudem schließen Studienleiter, die Probanden für eine Studie rekrutieren, oftmals solche Personen aus, die sprachlich unbeholfen oder unklar sind oder deren Depression mit anderen organischen oder psychischen Leiden einhergeht. Daher sind die Probanden, die klinische Studien abschließen, nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Außerdem basieren die meisten Bewertungen der therapeutischen Wirksamkeit in erster Linie auf dem Urteil der Kliniker und nicht auf dem der Patienten; letztere schätzen die Wirksamkeit im allgemeinen niedriger ein. Als Greenberg und Fisher bei der Auswertung von zweiundzwanzig Studien allein die Patientenbeurteilungen heranzogen, stellten sie fest, daß Antidepressiva keinen über den Placebo-Effekt hinausgehenden Nutzen zeigen.66 Aus all diesen Befunden folge, so Greenberg und Fisher, daß »die gängigen Behauptungen, Antidepressiva seien wirksamer, stark - 173
überzogen sind [...] selbst die geringfügig höhere Wirksamkeit von Antidepressiva im Vergleich zum Placebo-Effekt, über die in der Fachliteratur berichtet wird, ist nicht zweifelsfrei erwiesen.«67 Greenberg und Fisher bezweifelten auch die Wirksamkeit von Medikamenten zur Behandlung schwerwiegenderer psychischer Erkrankungen. Anfängliche Berichte über Lithium, das als »Wundermittel« und »magische Pille« gegen manischdepressive Psychosen angepriesen wurde, führten Heilungsraten von bis zu neunzig Prozent an.68 Doch der Psychiater Frederick Goodwin und die Psychologin Kay Jamison gaben in einer kritischen Bestandsaufnahme im Jahr 1990 bescheidenere Zahlen an: Sechsundsechzig Prozent der Probanden, die Lithium einnahmen, hatten keine manischen oder depressiven Anfälle im Vergleich zu neunzehn Prozent der Personen in der Kontrollgruppe.69 (Die Tatsache, daß Jamison selbst an manisch-depressiver Krankheit leidet, gab dieser Bestätigung eine besondere Bedeutung. Ironischerweise enthüllte ihr persönlicher Erfahrungsbericht An Unquiet Mind ihre Sehnsucht nach den manischen Phasen und ihren Kampf, sich mit den Nebenwirkungen von Lithium, wie etwa emotionaler Verflachung, Leseschwierigkeiten und gestörter motorischer Koordinierung, abzufinden.)70 Laut Greenberg und Fisher sind einige der von Goodwin und Jamison ausgewerteten Studien methodisch fehlerhaft.71 Einige waren nicht doppelblind; die leitenden Ärzte wußten, wer Lithium erhielt und wer ein Placebo. Andere Untersuchungen schlössen nur Patienten ein, deren Erkrankung zuvor mit Lithium »stabilisiert« worden war; das heißt, die Studien, die die Wirksamkeit von Lithium nachweisen sollten, bezogen nur Patienten ein, die bereits positiv auf den Wirkstoff angesprochen hatten. Neuere Untersuchungen über Lithium zeigten eine gegenüber einem Placebo geringfügig oder auch gar nicht erhöhte - 174
Wirksamkeit. Aus Langzeitstudien geht hervor, daß es Patienten schwerfällt, mit den Nebenwirkungen von Lithium zurechtzukommen; etwa zwei Drittel brechen die Einnahme ab. Ein 1995 im British Journal of Psychiatry erschienener Übersichtsartikel zog folgendes Fazit: »Nach eingehender Prüfung der vorliegenden empirischen Daten deutet leider vieles darauf hin, daß Lithium nicht das erfolgreiche prophylaktische Mittel ist, das man sich erhofft hatte. Daher sollten die Psychiater den gegenwärtigen Konsens hinsichtlich der Langzeitbehandlung der manisch-depressiven Krankheit neu bewerten.«72 Tatsächlich versuchen Psychiater in zunehmendem Maße manisch-depressive Psychosen mit alternativen Medikamenten zu behandeln, insbesondere solchen, die zur Behandlung von Schizophrenie und Epilepsie eingesetzt werden. Greenberg und Fisher kommentierten: Die Geschichte der Erforschung des Lithiums folgt einem vertrauten Muster. Auch hier gibt es einen Kreislauf, der mit überzogenen ersten Erfolgen beginnt (die durch Enthusiasmus und Schwachstellen in der Doppelblindkonzeption gefördert werden); dann folgen Berichte, die die Größe des Unterschieds zwischen aktivem Wirkstoff und Placebo immer vorsichtiger einschätzen; schließlich wächst die Unzufriedenheit der Kliniker mit den Ergebnissen im medizinischen Alltag, worauf verstärkte Anstrengungen unternommen werden, alternative Behandlungsmethoden zu finden, die das ausgleichen sollen, was die vormalige Wunderpille nicht mehr leistet.73
Wie Lithium wurden auch Chlorpromazin und verwandte Präparate zur Behandlung von Schizophrenie oft zunächst als Heilmittel angepriesen. Doch einem führenden Lehrbuch der Psychiatrie zufolge »können nach einer plausiblen Schätzung zwischen zwanzig und dreißig Prozent der Schizophrenen, die Medikamente einnehmen, ein relativ normales Leben führen. Etwa zwanzig bis dreißig Prozent der Patienten leiden weiter- 175
hin an milden Symptomen, und vierzig bis sechzig Prozent müssen lebenslang erhebliche Störungen in Kauf nehmen.«74 Zudem haben Chlorpromazin und andere Antipsychotika oftmals extrapyramidale Nebenwirkungen, die den Symptomen des Parkinson-Syndroms gleichen. Die Bewegungsabläufe und der Gesichtsausdruck der Parkinson-Kranken wirken steif und rigide; sie verfallen in unwillkürliches, sich wiederholendes Zucken und Zittern. Es waren unter anderem diese Nebenwirkungen, die Psychiater dazu veranlaßten, antipsychotische Medikamente Neuroleptika zu nennen, was wörtlich »Hirnkrampfanfall« bedeutet. Extrapyramidale Wirkungen verschwinden in der Regel, wenn der Patient das Medikament absetzt. Doch die langfristige Einnahme von Neuroleptika kann eine schwerwiegendere Nebenwirkung auslösen, die sogenannte Dyskinesia tarda (Spätdyskinesie), die im allgemeinen nicht reversibel ist. Ich beobachtete dieses Syndrom erstmals Mitte der siebziger Jahre, als ich eine Frau mittleren Alters kennenlernte - die Mutter eines Freundes -, die wegen »Nervenzusammenbrüchen« mehrmals ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Ihre Lippen waren ständig geschürzt, und sie schien unentwegt etwas zu kauen. Ihre Hände waren klauenartig gekrümmt, und sie strich wiederholt mit ihren Fingerspitzen über ihre Handinnenflächen. Sie schien sich ihres Verhaltens deutlich bewußt zu sein, und es war ihr unverkennbar peinlich - vielleicht war dies der Grund dafür, daß sie soviel Zeit in ihrem Schlafzimmer verbrachte. Erst als ich über zehn Jahre später vom Krankheitsbild der Spätdyskinesie hörte, erkannte ich, daß diese Symptome vermutlich eine Nebenwirkung ihrer Medikamente waren. Laut Auskunft des National Institute of Mental Health entwickelt sich bei bis zu vierzig Prozent der Patienten, die Neuroleptika einnehmen, eine Spätdyskinesie.75 Behauptungen, wonach neuere Neuroleptika weder extrapyramidale Wirkungen noch Spätdyskinesien auslösen, sind - 176
möglicherweise überzogen.76 Als Johnson & Johnson 1994 das Antipsychotikum Risperdal (Risperidon) auf den Markt brachte, hieß es in den Werbeanzeigen, es habe nicht mehr extrapyramidale Effekte als die Placebos ausgelöst.77 Doch binnen eines Jahres tauchten erste Berichte über Nebenwirkungen - darunter auch Spätdyskinesie - in der medizinischen Fachliteratur auf. Dennoch war Risperidon bereits im Jahr 1996 das meistverschriebene Antipsychotikum in den Vereinigten Staaten. Etwas Ähnliches geschah bei dem Präparat Leponex (Clozapin), das nicht bloß extrapyramidale Nebenwirkungen und Spätdyskinesie verursacht - wenn auch mit geringerer Häufigkeit als Neuroleptika wie Chlorpromazin -, sondern auch Krampfanfälle und eine potentiell tödliche Erkrankung namens Agranulozytose (starke Verminderung der Granulozyten). Auch 1996 brachte Eli Lilly Olanzapin auf den (US-amerikanischen) Markt, das angeblich genauso wirksam sei wie Clozapin, aber keine Agranulozytose verursache. Dazu meinte ein führender Neuroleptikaexperte: »Wir können heute noch nicht sagen, ob es sich um einen wirklichen Fortschritt oder bloß einen weiteren trügerischen Hoffnungsschimmer handelt.«78
Placebos zur Behandlung von Depressionen Am Ende ihres Buches From Placebo to Panacea faßten Greenberg und Fisher ihre Einstellung zu Psychopharmaka folgendermaßen zusammen: »Behaupten wir, daß psychotrope Substanzen wirkungslos sind? Nein, das ist nicht unsere Botschaft. Der komplexe Zusammenhang zwischen der Einnahme einer Substanz, die offenkundig ›arzneiähnliche‹ physiologische Wirkungen auslöst, dem persönlichen Bedürfnis nach Wandel oder Besserung und dem zusätzlichen Element, daß man von kompetenter Seite in der Hoffnung bestätigt wird, - 177
daß es jetzt eine gute Chance für Veränderungen gibt - all dies bietet einen Anknüpfungspunkt für die Ingangsetzung eines therapeutischen Prozesses.«79 Anders gesagt, der PlaceboEffekt erklärt möglicherweise einen Großteil, wenn nicht die Gesamtheit der vorteilhaften Wirkungen von Psychopharmaka. Natürlich hatten Greenberg und Fisher als Psychologen, die keine Medikamente verschreiben dürfen, möglicherweise eine implizite Präferenz für Psychotherapien und Psychoanalyse und waren gegenüber einer medikamentösen Behandlung negativ voreingenommen. In ihrem Buch Freud Scientifically Reappraised und andernorts schienen sie von der Psychoanalyse und Psychotherapien nicht die gleichen hohen Wirksamkeitsnachweise zu fordern wie von Medikamenten. Doch ihre Behauptung, der Placebo-Effekt erkläre möglicherweise einen Großteil der therapeutischen Wirksamkeit von Medikamenten für psychische Störungen, wurde von Walter A. Brown, einem Psychiater an der Brown-Universität und anerkannten Experten auf dem Gebiet der Placebo-Effekt-Forschung, bestätigt. Brown räumte in einem Beitrag in Spektrum der Wissenschaft vom März 1998 ein: »Die Assoziation [des Wortes Placebo] mit Täuschung und Unechtsein spiegelt das Stigma nur zu gut. Wenn ein Placebo Besserung bringt, heißt es gewöhnlich, die Krankheit sei wohl nur eingebildet gewesen.«80 Doch Forschungen hätten immer wieder gezeigt, so Brown, daß die Erwartungen der Patienten sehr reale, meßbare Wirkungen hätten. Er zitierte eine Studie, bei der Asthmatiker lediglich fein zerstäubte Salzlösung inhalierten. Als man den Patienten sagte, das Aerosol enthalte Allergene, die ihr Asthma verschlimmern könnten, verengten sich ihre Atemwege, und ihre Atembeschwerden verstärkten sich. Behauptete man dagegen, es enthalte eine Asthmamedikament, atmeten die Patienten leichter. - 178
Im Jahr 1994 machte Brown in Neuropharmacology einen verblüffenden Vorschlag: Ärzte sollten erwägen, als Erstbehandlung für viele Fälle von Depression Placebos zu verschreiben.81 Brown meinte, bei schwerer Depression sollten weiterhin Antidepressiva verordnet werden, doch die Forschungen von Fisher, Greenberg und anderen überzeugten ihn davon, daß Scheinpräparate bei vielen Depressiven genauso wirksam sein könnten wie Antidepressiva oder Psychotherapie. Der Hauptvorteil von Placebos, so Brown, liege darin, daß sie billiger seien als pharmakologisch aktive Substanzen oder Psychotherapie; ihre Verordnung erfordere auch kein so umfassendes Fachwissen. Damit ein Placebo Wirkung zeige, müßten Ärzte ihren Patienten nicht einmal über dessen eigentliche pharmakologische Wirkungslosigkeit täuschen, behauptete Brown. Es gebe gewisse Hinweise dafür, daß Patienten auch auf ein Placebo ansprächen, wenn sie wüßten, daß es sich um ein Leerpräparat handle. In einer 1965 durchgeführten Studie an vierzehn depressiven Patienten hätten alle eine Woche lang Placebo-Pillen erhalten. Obgleich allen Probanden gesagt wurde, die Pillen bestünden aus einer pharmakologisch wirkungslosen Substanz, hätten die Befrager festgestellt, daß sechs von ihnen überzeugt davon gewesen seien, die Pillen enthielten in Wahrheit einen aktiven Wirkstoff. Unglaublicherweise hätten alle vierzehn Probanden - sogar diejenigen, die geglaubt hatten, die Pillen seien Placebos - während der einwöchigen »Behandlung« positiv darauf angesprochen. Vier der vierzehn Patienten hätten den Forschern gesagt, das Placebo sei das wirksamste Präparat, das ihnen je verordnet worden sei; fünf hatten das Scheinmittel nach Abschluß der Studien weiterhin einnehmen wollen.82 Brown stellte sich die Vorgehensweise eines Arztes, der einem Patienten eine Placebo-Behandlung empfiehlt, folgendermaßen vor: - 179
Herr Jones, die Form von Depression, an der Sie leiden, ist in der Vergangenheit entweder mit Antidepressiva oder mit Psychotherapie, und zwar einer Gesprächstherapie, behandelt worden. Diese beiden Behandlungsmethoden sind noch immer weithin üblich und stellen Optionen für Sie dar. Es gibt jedoch noch eine dritte Form der Behandlung, die billiger für Sie ist und zudem weniger Nebenwirkungen erwarten läßt. Auch sie hilft vielen Menschen mit Ihrer Erkrankung. Sie nehmen dabei eine dieser Pillen zweimal täglich ein, und außerdem kommen Sie alle zwei Wochen in die Praxis, um uns zu sagen, wie es Ihnen geht. Diese Pillen enthalten keinen pharmakologischen Wirkstoff. Wir wissen nicht genau, wie sie wirken; möglicherweise regen sie die Selbstheilungskräfte des Körpers an. Wir wissen jedoch, daß sich Ihr Zustand mit dieser Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit bessern wird. Wenn Sie sich nach sechs Wochen nicht besser fühlen, können wir eine der anderen Therapien ausprobieren.83
Einige Psychiater reagierten entsetzt auf Browns Vorschlag. Donald Klein, Psychiater an der Columbia-Universität, monierte, daß der Vorschlag »denen in die Hände arbeitet, die Psychiater als gerissene, berechnende Manipulatoren ansehen, die die Leichtgläubigkeit ihrer Patienten ausnutzen«.84 Ein anderer Psychiater fragte: »Werden sich Kollegen erheben, um praktische Ärzte zu verteidigen, wenn der erste mit Placebo behandelte Patient aus dem Fenster springt und sein Bruder, ein Rechtsanwalt, Klage einreicht?«85 Ob es einem gefalle oder nicht, antwortete Brown, viele Menschen suchten sich bereits ihre Placebo-Behandlungen in Form von homöopathischen Präparaten und alternativen Heilmitteln, deren pharmakologische Wirkung nicht erwiesen sei, selbst aus. »Die Überzeugung, daß sich der Körper selbst heilen kann, zieht sich wie ein roter Faden durch die alternative Medizin. Dieser Glaube wird durch die Verordnung einer Placebo-Behandlung bestätigt. Und obgleich ein Heilverfahren, dessen Wirkungsmechanismus im dunkeln liegt, all jenen ein - 180
Greuel sein mag, die rationale Therapien anstreben, mag gerade dieses Geheimnis – und diese Magie - für viele unserer Patienten nicht nur tolerierbar, sondern sogar verlockend sein.«86 Schon Jerome Frank hatte in Persuasion and Healing darauf hingewiesen, daß bei manchen Patienten wissenschaftlich nicht gesicherte Therapien die besten Erfolge erzielten.
Die Renaissance der Elektroschocktherapie Ein vielsagendes Symbol für die Grenzen der Wirksamkeit von Psychopharmaka ist das Fortbestehen zweier berüchtigter Behandlungsmethoden. Die eine ist die Lobotomie. In seinem 1998 erschienenen Buch Last Resort behauptete der Wissenschaftshistoriker Jack Pressman, die Lobotomie sei lange nicht so übel wie ihr Ruf, wenn man die begrenzte Wirksamkeit sämtlicher psychiatrischer Behandlungsverfahren bedenke.87 Tatsächlich wird die Psychochirurgie gelegentlich noch immer bei Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen eingesetzt, die auf andere Therapien nicht ansprechen. Am Massachusetts General Hospital, das der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität angeschlossen ist und das eine der renommiertesten Kliniken der Welt ist, benutzen Chirurgen eine Variante der Lobotomie, die sogenannte bilaterale stereotaktische Zingulotomie, um Zwangsstörungen, manisch-depressive Erkrankungen, Panikstörungen, Depressionen und sogar die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen zu behandeln. Bei den Patienten müssen andere Behandlungsmethoden versagt haben, und sie müssen ihr Einverständnis mit der Zingulotomie erklärt haben. Bei der Zingulotomie wird ein murmelgroßes Nervenbündel, der sogenannte Gyrus cinguli, der das Stirnhirn, den Sitz der höheren kognitiven Funktionen, mit dem limbischen System verbindet, das emotionale Reaktionen steuert, durchtrennt. - 181
Anfangs führten die Psychochirurgen computergelenkte Elektroden durch Löcher, die sie in den Schädel gebohrt hatten, ins Gehirn ein; die Elektroden verkochen das Gewebe in ihrer unmittelbaren Nähe durch Stromstöße. Die Chirurgen verfolgten das Vordringen der Sonden an einem Kernspintomographen. In jüngster Zeit hat die Gruppe am Massachusetts General Hospital dieses Gerät durch Gammastrahlenbündel ersetzt, so daß keine Löcher mehr in den Schädel gebohrt werden müssen. Wenn mehrere Gammastrahlenbündel an einer Stelle innerhalb des Gehirns zusammentreffen, zerstören sie das Gewebe sehr viel schonender als bei älteren Methoden. Im Jahr 1996 berichtete die Gruppe in Neurosurgery, daß sich bei einem Drittel von vierunddreißig Patienten nach einer Zingulotomie die Symptome gebessert hätten.88 Die Psychochirurgen am Massachusetts General Hospital haben versucht, keine öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, was ihnen weitgehend gelungen ist (obgleich sie eine Web-site haben). Doch in seinem Beitrag »Lobotomy's Back«, der 1997 in Discover erschien, brachte der Neurochirurg Frank Vertosick seine zwiespältige Haltung zum Programm des Massachusetts General Hospital zum Ausdruck. Er nahm Anstoß daran, daß in die Bewertung der Wirksamkeit des Verfahrens ausschließlich das Urteil der Forscher und nicht das der Patienten eingeflossen sei. Der Einsatz der Zingulotomie, so Vertosick, »ist wissenschaftlich ebenso unzureichend abgesichert« wie die primitiveren Lobotomien, die Walter Freeman vor Jahrzehnten durchgeführt hatte. Vertosick äußerte auch die Sorge, daß die Psychochirurgie »nicht die Krankheit, sondern den Patienten in den Griff kriegen möchte«. Andererseits, fügte er hinzu, »behaupten manche, daß die Art und Weise, wie wir gegenwärtig psychotrope Arzneimittel einsetzen, ebenso kritikwürdig ist, insofern wir den Zustand der Patienten nicht bessern, sondern sie lediglich davon abhalten, uns zu belästigen«. Das zweite umstrittene Behandlungsverfahren, das sich - 182
ungeachtet der vermeintlichen Revolution in der Psychopharmakologie behauptet und sogar an Einfluß gewonnen hat, ist die Elektroschocktherapie. Ein Forscher, der mit dazu beigetragen hat, den Ruf der Elektroschocktherapie wiederherzustellen, ist Harold Sackheim, ein Psychologe an der Columbia-Universität. Sackheim arbeitet am New York Psychiatrie Institute, an dem auch der Neurowissenschaftler Eric Kandel tätig ist. Unmittelbar vor Sackhe.ims Büro fiel mir eine Karikatur auf, die an einer Anschlagtafel neben der Tür hing. Die Karikatur zeigte ein großes Gebäude, das die Aufschrift trug »Institut zur Erforschung von emotionalem Streß«. Ein Mann im Arztkittel war aus einem Fenster geworfen worden und stürzte in den Tod. In einer Wortblase, die von einer unsichtbaren Person innerhalb des Gebäudes stammte, stand: »Jetzt geht's mir schon besser.« Sackheim ist ein schlanker, elegant gekleideter Mann mit graumeliertem Schnurrbart und wachsamem Blick.89 Als er mir eine Einführung in die Elektroschocktherapie (E ST) gab, schien er ständig meine Reaktion auf seine Worte abzuschätzen - zweifellos weil ihm bewußt war, daß die meisten Menschen die EST, wie er sich immer wieder ausdrückte, »schrecklich« fänden. Als er Ende der siebziger Jahre mit der Erforschung der EST begann, war ihr Ruf an einem Tiefpunkt angelangt. »Soziologisch gesehen«, sagte er, »war die EST in Amerika so sehr in Verruf geraten, daß nicht viel gefehlt hätte, um ihr den Todesstoß zu versetzen.« Im Jahr 1985 veranstalteten die National Institutes of Health jedoch eine Konferenz zum Thema »EST« und gelangten zu dem Fazit, daß keine einzige kontrollierte Studie nachgewiesen habe, daß eine andere Behandlungsform der EST im kurzfristigen Eingreifen bei schwerer Depression überlegen sei. Das Risiko des Verfahrens »unterscheidet sich nicht von demjenigen, das mit dem Einsatz kurzwirkender Anästhetika verbunden ist«.90 Im Jahr 1990 befürwortete die American - 183
Psychiatric Association den Einsatz der Elektroschocktherapie zur Behandlung von Depression, manisch-depressiver Erkrankung und Schizophrenie. Insbesondere in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Skandinavien erfreute sich die Elektroschocktherapie in den letzten zehn Jahren wachsender Beliebtheit. Sackheim schätzte, daß jährlich etwa 100000 Patienten in den Vereinigten Staaten und eine Million Patienten weltweit mit dem Verfahren behandelt würden. So wie die Entwicklung von Psychopharmaka einst zum Niedergang der Schocktherapie beigetragen habe, so sei ihre Renaissance durch die Tatsache gefördert worden, daß man in zunehmendem Maße die negativen Nebenwirkungen von Medikamenten erkannt habe, meinte Sackheim. Schließlich könnten Antipsychotika wie etwa Chlorpromazin Hirnschäden und bleibende Entstellungen verursachen, wie man am Beispiel der Spätdyskinesie sehe. »Aber das löst keinen öffentlichen Aufschrei der Empörung aus.« Obgleich die EST »zu schwerem, ausgedehntem Gedächtnisverlust, der Jahre zurückreicht, führen kann«, meinte Sackheim, sei die Zahl der Patienten, die von dieser Nebenwirkung betroffen seien, sehr viel niedriger, als die Gegner der EST behauptet hätten. Aufgrund von Verbesserungen, die unter anderem von Sackheims Gruppe entwickelt wurden, erholen sich Patienten zudem schneller von einer EST-Behandlung und leiden unter weniger Nebenwirkungen. »Ich hatte Patienten, die am Abend des Tages, an dem sie behandelt wurden, am Broadway auftraten«, sagte Sackheim. Zu seinen Patienten gehörten auch »Fernsehstars«, fügte er hinzu.91 Er und seine Kollegen haben gezeigt, daß die Stromstärke, die erforderlich ist, um einen Krampfanfall auszulösen, von Mensch zu Mensch stark – um den Faktor fünfzig - schwankt. Um die optimale Dosis für jeden Patienten festzulegen, beginnt Sackheims Gruppe mit schwachem Strom, dessen Stärke allmählich gesteigert wird. Die Anordnung der Elektroden kann von entscheidender Be- 184
deutung sein; einige Patienten sprechen am besten an, wenn der Strom nur auf eine Hälfte des Gehirns geleitet wird, andere, wenn beide Hälften unter Strom gesetzt werden. Die durchschnittliche Dauer einer Elektroschocktherapie umfaßt acht bis neun Behandlungssitzungen, die auf ungefähr drei Wochen verteilt werden. Als ich Sackheim fragte, ob es eine Theorie über den Wirkungsmechanismus der EST gebe, grinste er breit. Es gebe mindestens hundert solcher Theorien, antwortete er. Einige Psychoanalytiker hätten behauptet, die Schockbehandlung befriedige den unbewußten Wunsch von Patienten nach strenger Bestrafung.92 Dann trug er mir das aktuelle »Kredo der Columbia-Universität« vor. Die paradox anmutende Erklärung lautet, daß der Krampfanfall, der durch Schockbehandlungen ausgelöst wird, innere Krampfschutzmechanismen des Gehirns aktiviere. Die Therapie habe »nachhaltig krampfverhindernde Wirkungen«, fuhr Sackheim fort. Die EST übe eine beruhigende Wirkung auf das Gehirn aus; nach der Behandlung nimmt die Aktivität der Nervenzellen ab, ebenso der Glukosestoffwechsel und die Durchblutung. Wird Gehirn-RückenmarkFlüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) eines Säugetiers, dem eine EST verabreicht wurde, anderen Tieren gespritzt, erhöht sich deren Anfallschwelle. Außerdem nehme die Stromstärke, die erforderlich sei, um bei einem Menschen Krampfanfälle auszulösen, von Sitzung zu Sitzung enorm zu. Seiner Auffassung nach sei die Depression ein milder Daueranfall, der durch einen starken akuten Anfall gelindert werden könne. Sackheim verglich die Schockbehandlung mit dem Treten des Gaspedals eines Autos, wodurch der im Leerlauf arbeitende Motoren zu schnell auf Touren gebracht werde. »Wir lösen einen Krampfanfall aus, um das Gehirn dazu zu bringen, einen Krampfanfall einzustellen.« Diese Erklärung sei »vermutlich gegenwärtig die herrschende Theorie«, sagte Sackheim. »Gott weiß, ob sie richtig ist.« - 185
In der EST-Abteilung Einige Wochen nach meinem ersten Interview mit Sackheim hatte ich eine weitere Verabredung mit ihm, diesmal, um der Behandlung von Patienten im Psychiatrie Institute beizuwohnen.93 Als wir in einem Aufzug von seinem Büro nach unten in die Klinik fuhren, meinte Sackman: »Das wird vermutlich ziemlich enttäuschend für Sie werden.« - »Nicht wie in Einer flog übers Kuckucksnest?« fragte ich. »Nein«, erwiderte er amüsiert. In dem Film aus dem Jahr 1975 stellt sich Randall P. McMurphy, der von Jack Nicholson gespielt wird, geisteskrank, um nicht ins Gefängnis zu kommen; er wird statt dessen in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Nachdem er einen sadistischen Pfleger angegriffen hat, schnallen dessen Kollegen den um sich schlagenden, schreienden McMurphy auf einen Untersuchungstisch, befestigen Elektroden an seinen Schläfen und verpassen ihm bei vollem Bewußtsein eine Schockbehandlung. Obgleich McMurphy diese Behandlung ohne Beeinträchtigung seiner mentalen Fähigkeiten übersteht, wird er später durch eine Lobotomie in einen frechen Zombie mit ausdruckslosen Augen verwandelt. Sackheim sah den Film als Student bei seinem ersten Rendezvous mit seiner späteren Frau. Nachdem wir durch eine Tür mit der Aufschrift »ESTAbteilung« gegangen waren, gelangten wir in einen kleinen L-förmigen Raum, der vollgestopft war mit Computermonitoren, anderen elektronischen Geräten und Menschen: Pflegepersonal, Technikern, einem Anästhesisten, einem Psychiater und zwei Medizinstudenten, die sich hier über die EST informieren wollten. Der erste Patient, ein älterer Herr, der einen blaßgrünen OP-Kittel trug, stand neben einer Untersuchungsliege und sprach leise mit dem Psychiater, Mitch Nobler, einem adretten jungen Mann, der einen weißen Arztkittel trug. - 186
Der Patient - ein Naturwissenschaftler, wie mir Sackheim mitteilte - legte sich auf die Liege. Eine Krankenschwester breitete eine weiße Decke über ihn und schob einen Gummikeil in seinen Mund. Sackheim ging zu dem Patienten und begrüßte ihn herzlich, worauf dieser nickte. Der Anästhesist stach eine Nadel, die mit einem intravenösen Arzneimittelzuführsystem verbunden war, in eine Armvene des Mannes. Innerhalb von Sekunden schloß er die Augen, und seine Muskulatur erschlaffte. Nobler, der Psychiater, ergriff ein Gerät, das einem Fahrradlenker glich und an einem Ende eine Metallscheibe aufwies, und hielt sie an die Schläfe des Patienten. Man hörte ein kurzes Brummen. Der Körper des Patienten wurde starr, sein Rücken krümmte sich leicht, und er zitterte. Die Pieptöne eines Elektrokardiographen beschleunigten sich. Der Papierstreifen, der aus einem Elektroenzephalographen herauskam, zeigte sanfte Wellen, die in spitze Zackenkurven übergingen. Der Krampfanfall dauerte achtunddreißig Sekunden und endete dann abrupt. Innerhalb von Minuten stöhnte und bewegte sich der Mann auf der Untersuchungsliege. Sackheim erklärte mir, die Patienten wachten heute binnen Minuten aus der Narkose auf, nicht mehr, wie es bei älteren Betäubungsmitteln üblich war, erst nach Stunden. Eine Pflegerin schob den Mann auf der Liege in einen angrenzenden Raum, in dem sich die Patienten erholen. Ich hörte, wie ihm jemand Fragen stellte, auf die er mit leiser, undeutlicher Stimme antwortete. Unterdessen schob ein anderer Pfleger eine weitere Liege in den Behandlungsraum; ihm folgte eine kleine Frau mit kurzem braunem Haar, die ebenfalls einen OP-Kittel trug. Sie legte sich auf die Liege. Sackheim redete ihr freundlich zu, während ein Techniker sie auf die Behandlung vorbereitete. Als Sackheim zu mir zurückkam, sagte er mir, daß die Frau, anders als der ältere Mann, der ein ambulanter Patient sei und bald nach Hause gehen könne, stationär behandelt werde. Sie sei ins Institute aufgenommen wor- 187
den, nachdem sie mehrfach »schwere impulsive Suizidtendenzen« gezeigt habe, flüsterte er mir zu. Als der Assistent die Schläfen der Frau mit einem elektrisch leitenden Gel einrieb, nahm ihr Gesicht einen immer angsterfüllteren Ausdruck an. Sackheim, der neben mir stand, sagte mir, daß sich viele Patienten vor den ersten Behandlungen fürchteten, doch ihre Furcht lege sich mit der Zeit. Dies war die zweite Behandlung für die Frau. (Für den älteren Herrn war es das sechste Mal gewesen.) Nachdem die Frau in Narkose versetzt worden war, hielt der Psychiater zwei Elektroden an ihre Schläfen. Wieder hörte ich ein Brummen, doch anders als der Patient vor ihr schien die Frau reglos dazuliegen. Als ich Sackheim fragte, ob die Behandlung schon begonnen habe, deutete er auf das untere Ende der Liege. Der große Zeh der Frau, der aus dem Leintuch hervorschaute, vibrierte so schnell, daß man ihn nur verschwommen sehen konnte. Der Krampfanfall dauerte zweiundvierzig Sekunden. Ein paar Minuten später ging Sackheim zu ihr und sagte mit lauter Stimme: »Guten Morgen!« Sie reagierte nicht. Ihre Augen blieben geschlossen. Ihre Zunge hing leicht aus ihrem halb geöffneten Mund heraus. Eine Krankenschwester fragte die Patientin: »Können Sie mir Ihren Familiennamen sagen?« Die Frau murmelte ihren Vornamen. Sie drehte sich auf die Seite. Die Schwester schob sie aus dem Zimmer. Sackheim nahm mich mit in den Aufwachraum. Der erste Patient, der ältere Herr, saß auf seiner Liege und füllte einen Fragebogen aus, mit dem seine kognitiven Funktionen überprüft werden sollten. Die Frau, die gerade behandelt worden war, lag in einer halbfötalen Haltung auf der Seite, während eine Krankenschwester mit sanfter Stimme zu ihr sprach. Hinter einem Vorhang lag ein Patient, der bereits behandelt worden war, bevor Sackheim und ich eingetroffen waren. Als ihn ein Techniker fragte, ob er wisse, wo er sich befinde, stammelte der Patient hinter dem Vorhang unzusammenhängende - 188
Worte. Es gebe eine enorme Bandbreite in der Zeit, die Patienten benötigten, um sich von einer Behandlung zu erholen, sagte Sackheim. Als wir später vor dem Eingang des Psychiatrie Institute standen, fragte ich Sackheim, ob er Bedenken hätte, die EST einer ihm nahestehenden Person, die an Depression leide, zu verordnen. »Überhaupt nicht«, antwortete er auf der Stelle, den Kopf schüttelnd. »Einerseits ist die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einer Besserung kommt, höher als bei sämtlichen anderen Behandlungsmethoden«, sagte er, »andererseits ist die Wahrscheinlichkeit bleibender Schäden geringer.« Er zündete sich eine Pfeife an und paffte nachdenklich daran. »Wenn ich selbst an einer schweren Depression erkrankte, entschiede ich mich für die EST«, sagte er. »Ich würde mir wünschen, von meinem Team behandelt zu werden«, fügte er hinzu, »denn wie bei allen medizinischen Behandlungen gibt es auch hier große Unterschiede in der Art und Weise, wie sie verabreicht wird.« Es gibt auch große Unterschiede in den Erfolgen, die verschiedene Gruppen erzielen. In Fachzeitschriften wurde über Erfolgsraten berichtet, die von über fünfundachtzig bis zu unter vierzig Prozent reichten.94 Als ich Sackheim nach seinen Erfolgen fragte, antwortete er, dies schwanke mit dem Typus von Patienten, den er behandele. Ein entscheidender prognostischer Faktor für den Erfolg seien die zurückliegenden Erfahrungen eines Patienten mit Antidepressiva. Sackheim hat bei Patienten, die immer auf Antidepressiva ansprachen, eine Besserungsrate von sechsundachtzig Prozent erreicht. Natürlich entschließen sich die meisten Patienten erst dann zu Schockbehandlungen, wenn sich Psychopharmaka bei ihnen als wirkungslos erwiesen haben. Diese Patienten, sagte Sackheim, hätten eine anfängliche Besserungsrate von nur fünfzig bis sechzig Prozent, und siebenundachtzig Prozent derjenigen, die sich besser fühlten, erlitten innerhalb eines Jahres, meistens - 189
sogar binnen vier Monaten, einen Rückfall – es sei denn, sie unterzögen sich weiteren Schockbehandlungen oder sprächen doch noch auf Antidepressiva an. Mit anderen Worten, bei weniger als acht von hundert typischen EST-Patienten besserte sich der psychische Zustand dauerhaft, ohne daß ein erneuter Eingriff erforderlich war - selbst wenn sie in der wohl fortschrittlichsten Schocktherapieklinik der Welt behandelt wurden.
Zur Verteidigung der EST und anderem Mehrere Kritiker - am prononciertesten der Psychiater Peter Breggin, der Bücher wie Toxic Psychiatry und Talking Back to Prozac geschrieben hat - haben die Psychopharmaka und die Elektroschocktherapie als Übel dargestellt, die es zu beseitigen gelte. Dieser Ansicht bin ich nicht. Ich teile Breggins Bedenken, daß der Nutzen von Medikamenten und, in viel geringerem Maße, der Elektroschocktherapie übertrieben angepriesen werde. Ich stimme ihm auch darin zu, daß die Verabreichung von Psychopharmaka an Kinder nicht zu rechtfertigende Ausmaße angenommen hat, insbesondere wenn man bedenkt, daß ihr Nutzen empirisch nicht belegt ist und wir nichts über die negativen Langzeitwirkungen wissen.95 Doch anders als Breggin glaube ich, daß biologische Therapien manchen Menschen zu gewissen Zeitpunkten helfen können, was übrigens in gleicher Weise für die Gesprächstherapie gilt (auch wenn sich die Wirksamkeit weitgehend mit dem Placebo-Effekt erklären läßt). Zudem sind Menschen, die sich eine Linderung ihrer Beschwerden wünschen, besser dran, wenn sie Alternativen in der Behandlungsmethode haben, selbst wenn - oder gerade wenn - keine dieser Alternativen vollkommen ist. Wie viele andere Menschen habe ich auch schon einmal eine depressive Phase durchlebt. In meinem letzten Jahr auf - 190
dem College beendete eine Frau, mit der ich ein Verhältnis gehabt hatte, unsere Beziehung. In dieser Zeit fragte ich mich bereits bangevoll, was ich nach Abschluß des Colleges aus meinem Leben machen solle. Was als eine gewöhnliche Niedergeschlagenheit und Selbstkritik begann, nahm schon bald einen pathologischen Charakter an. Auf Fotos, die in dieser Zeit entstanden sind, sehe ich anders aus als sonst. Meine Gesichtsmuskeln sind schlaff, und mein Blick wirkt zerstreut. Ich erinnere mich daran, daß irgend jemand die Depression einmal als einen Zustand »übersteigerter Aufmerksamkeit« beschrieb. Dies trifft auf meine Erfahrung zu. Ich war mir auf qualvolle Weise des Verstreichens der Zeit bewußt, Sekunde um trübselige Sekunde. Meine Schwermut schien buchstäblich und unablässig auf meiner Brust zu lasten. All die kleinen Freuden des Alltags - Essen, Kino, Sport, Bücher, Gespräche vermochten mich nicht aus meiner morbiden Selbstversunkenheit herauszureißen. Mein Zustand manifestierte sich körperlich, ähnlich wie eine Grippe, und er schien physiologische Abhilfsmaßnahmen zu erfordern - in meinem Fall reichliche Mengen an Alkohol und Medikamenten. Aber er war nicht rein körperlicher Natur. Er begann nach dem Scheitern einer Liebesbeziehung und hörte auf, als ich meine künftige Frau kennenlernte und mich in sie verliebte. Während dieser Depression suchte ich keine ärztliche Hilfe, was vermutlich besser gewesen wäre. Aber ich weiß genau, daß ich Hilfe suchen würde, wenn ich jemals wieder in eine Depression verfallen sollte; ich habe heute eine Familie, für die ich sorgen muß. Ich würde es vermutlich zunächst mit einer Psychotherapie und dann mit Antidepressiva probieren. Wenn sie nicht anschlügen und mein Zustand sich verschlechterte, riefe ich vielleicht den Elektroschockspezialisten Harold Sackheim an. Da ich überzeugt davon bin, daß Hoffnung allein heilen kann, setzte ich alles daran, hoffnungsvoll zu sein. Ich - 191
hielte mir immer wieder vor Augen, daß viele Fälle gewöhnlicher Depression, wie meine, ohne medizinischen Eingriff vorübergehen. Ich würde versuchen zu vergessen, daß die meisten Menschen, die sich wegen ihrer Depression einer Schockbehandlung unterziehen, innerhalb von vier Monaten einen Rückfall erleiden. Wie aber läßt sich angesichts der Grenzen physiologischer Behandlungsmethoden deren weite Verbreitung erklären? Ausschlaggebend ist wohl die Tatsache, daß sie billiger als eine Psychotherapie sind (auch wenn dies von einigen Psychologen bestritten wird) und daß mächtige Pharmakonzerne unentwegt die Werbetrommel für sie rühren. Doch der Übergang von psychologischen Therapien seelischer Störungen zu physiologischen Ansätzen wurde auch durch eine Flut von Berichten gefördert, nach denen die menschliche Psyche vor allem durch Gene - und nicht durch Erfahrungen - geprägt sei. Peter Kramer behauptete in Glück auf Rezept, die Genforschung habe einen »neuen biologischen Materialismus«96 geschürt. »Wenn wir lachen, dann unter der Voraussetzung, daß die Gene für die Wahrnehmung von schmutzigen Tellern, das Fragen nach dem Weg und für Verpflichtungen in Beziehungen auf dem Y-Chromosom fehlen oder daß das Gen für das ständige Umschalten von einem Programm zum anderen mit der TV-Fernbedienung nur dort existiert, weil unser Glaube daran einfach unverrückbar geprägt ist.«97 Kramer wies darauf hin, daß dieser neue genetische Determinismus, wissenschaftlich gesehen, auf schwachen Füßen stehe: Es ist sehr aufschlußreich, die Geschichte der wissenschaftlichen Ansichten über die Vererbbarkeit von solchen Störungen wie manisch-depressiven Krankheiten und Alkoholismus zu verfolgen. Mindestens dreimal wurden in den vergangenen Jahren die Gene für diese Krankheiten verantwortlich gemacht. Jedesmal war es unmöglich, die Herleitungen der Studien nachzuvollziehen, und die Sichtung der Originaldaten ergab, daß bei den Analysen un- 192
genau und oberflächlich gearbeitet worden war. Meiner Ansicht nach führte jeder dieser vergeblichen Versuche, nachzuweisen, daß Störungen auf genetische Ursachen zurückzuführen seien, dazu, daß sich paradoxerweise sowohl bei Wissenschaftlern als auch in der öffentlichen Meinung die Überzeugung verstärkt, diese Störungen seien vererbbar.98
Dies ist ein ziemlich unverfrorenes Beispiel für das Sprichwort »Ein Esel schilt den anderen Langohr«, wenn man Kramers eigene Übertreibungen der Vorteile von Fluctin bedenkt. Andererseits hat Kramer vollkommen recht; die bislang vorliegenden Forschungsergebnisse rechtfertigen in keiner Weise die wachsende Überzeugung von Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit, Gene seien der Schlüssel zum Verständnis und zur Behandlung der menschlichen Psyche.
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5. GEN-MAGIE Ödipus, Schnödipus. Der Fehler, lieber Sigmund, liegt vermutlich in unseren Genen. Schlagzeile in der Time1
I
m Winter 1993 verschränkten sich meine privaten und beruflichen Interessen auf beunruhigende Weise. Ich sammelte damals Informationen für einen Artikel über die aufstrebende Verhaltensgenetik. Durch Studien an Zwillingen und sonstigen verwandten Individuen bemühten sich Verhaltensgenetiker seit langem, den relativen Beitrag von Anlage und Umwelt zur menschlichen Persönlichkeit zu ermitteln; in jüngster Zeit haben Forscher versucht, die spezifischen Gene aufzuspüren, die komplexen Merkmalen und Erkrankungen, wie etwa Schizophrenie, sexueller Orientierung und hoher Intelligenz, zugrunde liegen. Als ich mich in die Verhaltensgenetik einzuarbeiten begann, wurde meine Frau Suzie, die damals Mitte Dreißig war, mit unserem ersten Kind schwanger. Ihr Gynäkologe hatte ihr geraten, das Ungeborene auf genetische Defekte untersuchen zu lassen. Wir waren froh darüber, daß wir dank der Wissenschaft kein Kind mit Down-Syndrom, Spina bifida oder anderen Erkrankungen, die sich während der Schwangerschaft nachweisen lassen, haben würden. Als ich gegenüber einem Freund, ebenfalls ein Wissenschaftsjournalist, erwähnte, daß sich meine Frau einer Amniozentese unterziehen werde, sagte er mir, daß ein pränataler Test sein Leben nachhaltig verändert habe. Er und seine Frau - ich nenne sie Larry und Joan - stammen von aschkenasischen Juden ab, die von jeher ein erhöhtes Risiko tragen, am Tay-Sachs-Syndrom zu erkranken.2 Diese erbliche neurologische Erkrankung führt bei den davon betroffenen Kindern zu Lähmungen und nach meist furchtbaren Leiden zum Tod vor Vollendung des fünften Lebensjahres. Das Vererbungsmuster deutet darauf hin, daß das Tay-Sachs-Syn- 194
drom durch ein rezessives Gen verursacht wird. Das Gen wird nur dann ausgeprägt, wenn die Nachkommen es sowohl vom Vater als auch von der Mutter erben; andernfalls bleibt es wirkungslos. In den siebziger Jahren entwickelten Wissenschaftler Tests, mit denen Träger des Tay-Sachs-Gens identifiziert werden konnten. Jüdische Organisationen ermunterten jüdische Ehepaare, insbesondere solche, in deren Familien das Tay-SachsSyndrom in der Vergangenheit bereits aufgetreten war, sich auf die Erkrankung testen zu lassen. Als bei Larry und Joan der Kinderwunsch konkrete Formen annahm, ließen sie sich testen und erfuhren, daß sie beide Träger des rezessiven Gens sind; jedes ihrer Kinder würde das Tay-Sachs-Gen mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundzwanzig Prozent von beiden Elternteilen erben und die Krankheit entwickeln. Der Test, den Joan machte, als sie schwanger wurde, ergab, daß der Fötus beide Gene geerbt hatte; er wurde abgetrieben. Bei ihrer nächsten Schwangerschaft war das Testergebnis negativ. Larry und Joan haben heute zwei gesunde Kinder. Der Test auf das Tay-Sachs-Syndrom ist meines Erachtens ein uneingeschränkter wissenschaftlicher Erfolg. Die Anwendung genetischer Erkenntnisse ersparte meinem Freund und seiner Frau - sowie ihrem ungeborenen Kind - unsägliches Leid. Das gleiche gilt für Tausende anderer Familien. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand, einmal abgesehen vielleicht von den erbittertsten Gegnern der Abtreibung, an diesem wissenschaftlichen Fortschritt etwas Nachteiliges finden kann. Als meine Frau schwanger wurde, schien die Verhaltensgenetik noch viel weitergehende Segnungen zu verheißen. Forscher behaupteten, sie könnten die Gene aufspüren, die nicht nur für relativ einfache Erbkrankheiten wie Tay-SachsSyndrom, Chorea Huntington, Muskeldystrophie und Mukoviszidose verantwortlich sind, sondern auch für komplexere und verbreitetere Leiden wie Schizophrenie, manisch-depres- 195
sive Erkrankung und sogar Alkoholismus. Letzten Endes, so hofften die Wissenschaftler, würden diese genetischen Erkenntnisse nicht nur die Pränataldiagnostik erweitern, sondern auch zu besseren und sogar kurativen Behandlungen führen. Doch bald verlor die Verhaltensgenetik für mich ihren Nimbus. Mich störte besonders die Diskrepanz zwischen den bescheidenen Ergebnissen dieser Disziplin und der prahlerischen Rhetorik, mit der sie gerühmt wurde. Als ich eines Morgens, kurz vor der ersten Ultraschalluntersuchung meiner Frau, Fernsehen schaute, hörte ich mit Bestürzung die Vorankündigung für die nächste Folge der Talkshow Donahue. »Wie Sie herausfinden, ob Ihr Kind ein Massenmörder wird!« verkündete der Ansager.3 Als ich die Sendung einschaltete, stellte der Gastgeber, Phil Donahue, gerade einen Psychiater vor, der sich als Experte für Genetik ausgab. Dieser wies warnend darauf hin, daß Männer, die von ihren Vätern zwei Y-Chromosomen erbten (statt, wie im Normalfall, nur eines) »ein besonders hohes Risiko für asoziales, gewalttätiges Verhalten« trügen. Als Beweis führte er den Fall eines Mannes mit doppeltem Y-Chromosom in Rochester, New York, an, der trotz einer normalen Kindheit später zu einem Massenmörder geworden sei; er habe mindestens elf Frauen und zwei Kinder sexuell mißbraucht und erwürgt, bevor er gefaßt werden konnte. Donahue faßte in feierlichem Ton die Bedeutung dieses Falles zusammen: »Es ist weder hysterisch noch übertrieben, zu behaupten, daß wir uns dem Zeitpunkt nähern, an dem wir nicht nur die genetischen Anlagen für zahlreiche organische Erkrankungen identifizieren beziehungsweise diagnostizieren können, sondern auch die entsprechenden Anlagen für psychische Störungen, zu denen Aggressivität, asoziales Verhalten und potentielle schwere Straffälligkeit im späteren Leben gehören.« Donahues Aussagen waren hysterisch und überzogen. Kurz vor der Ausstrahlung seiner Show hatte die National - 196
Academy of Science einen Bericht über Gewalttätigkeit veröffentlicht, der zu dem Schluß kam, daß es keine signifikante Korrelation zwischen dem Doppel-Y-Syndrom und Gewalttätigkeit gebe.4 Die vorgebliche Korrelation ging auf britische Studien zurück, die in den sechziger Jahren durchgeführt worden waren und zu dem Ergebnis kamen, daß Männer mit doppeltem Y-Chromosom unter den Insassen von Gefängnissen und Nervenheilanstalten überrepräsentiert seien. Die Forscher stellten die These auf, Jungen mit einem überzähligen Y-Chromosom würden später zu ungewöhnlich aggressiven »Supermännern«. Anschließende Studien an Nichtgefangenen ergaben jedoch, daß Männer mit doppeltem Y-Chromosom zwar überdurchschnittlich groß und leicht unterdurchschnittlich intelligent seien, aber keine besondere Neigung zur Gewalttätigkeit zeigten. Beim Gastgeber einer Talkshow ist man auf Sensationslust gefaßt, doch während der letzten zehn Jahre haben sich einige führende Naturwissenschaftler einer ähnlich verstiegenen Rhetorik bedient. Eine Quelle solcher Grandiositätsphantasien ist das Humangenomprojekt. Ende der achtziger Jahre ins Leben gerufen, soll dieses Projekt sämtliche etwa hunderttausend Gene, aus denen das Erbgut des Menschen besteht, kartieren. Es wird sowohl von der US-amerikanischen Regierung als auch von der Privatwirtschaft finanziert. Walter Gilbert, Genetiker und Nobelpreisträger von der Harvard-Universität, bezeichnete das Projekt als »endgültige Antwort auf das Gebot ›Erkenne dich selbst‹«5. James Watson, der Mitentdecker der DNA-Doppelhelix und ehemalige Direktor des Humangenomprojekts, sagte einem Reporter der Time: »Einst glaubten wir, unser Schicksal stehe in den Gestirnen. Heute wissen wir, daß unser Schicksal weitgehend in unseren Genen liegt.«6 Der Biologe Daniel Koshland erklärte während seiner Zeit als Herausgeber der angesehenen Wissenschaftszeitschrift Science, - 197
das Humangenomprojekt könne uns vielleicht bei der Lösung offenbar so schwer in den Griff zu bekommender gesellschaftlicher Probleme wie Drogenmißbrauch, Obdachlosigkeit und Gewaltkriminalität helfen.7 In den letzten zehn Jahren haben Wissenschaftler spezifische Gene mit manisch-depressiver Erkrankung, Schizophrenie, Autismus, Alkoholismus, Heroinabhängigkeit, hoher Intelligenz, männlicher Homosexualität, Melancholie, Extraversion, Introversion, sozialer Kompetenz, Neugierverhalten, Impulsivität, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Zwangsstörung, gewalttätiger Aggressivität, Angst, saisonaler affektiver Psychose, pathologischer Spielsucht, Magersucht und mit praktisch allen erdenklichen anderen menschlichen Merkmalen und Leiden in Verbindung gebracht. Einige Kritiker haben hinter der Gier, mit der sich die Medien auf Entdeckungen nach dem Muster »ein Gen für was auch immer« stürzten, einen besorgniserregenden Ruck nach rechts gewittert.8 Doch Tatsache ist, daß diese Befunde klassische Beispiele für die von Wissenschaftspublizisten so genannte Super-Story sind; die wissenschaftlichen Hintergründe sind relativ leicht zu verstehen, und die damit verbundenen philosophischen und gesellschaftlichen Fragen sind spannend. Daher nehmen die Ankündigungen auch kein Ende. Zudem hat sich die politische Basis der Verhaltensgenetik verbreitert. Das Bestreben, die genetische Grundlage von Persönlichkeitsmerkmalen zu erforschen, war einst mit dem Sozialdarwinismus, dem Nazismus, der Eugenik und anderen abstoßenden Ideologien verbunden. Dies ist es bis zu einem gewissen Grad noch immer. Doch die Verhaltensgenetik wird nunmehr von Interessenvertretern der psychisch Kranken unterstützt. Sie weisen darauf hin, daß freudianische Theorien der Psychose - die im allgemeinen die Eltern und insbesondere die Mütter für Schizophrenie, Autismus und andere Krankheiten ihrer Kinder verantwortlich machten - unnötigerweise - 198
das Leid von Eltern mit psychisch gestörten Kindern noch verschlimmert haben. Genetische Erklärungen für psychische Erkrankungen beseitigen dieses Problem, und sie stellen bessere Diagnosen und Behandlungen in Aussicht. Einige schwule Aktivisten unterstützen ebenfalls die Erforschung der genetischen Grundlagen der Homosexualität; sie hoffen, die Gesellschaft werde der Homosexualität toleranter gegenüberstehen, wenn sie nachweislich genetisch bedingt sei und nicht länger als Produkt eines willentlichen Entschlusses angesehen werde. Andere, die an stärker psychologisch ausgerichteten Modellen der Psyche festhalten, möchten sich mit dem bestimmenden Einfluß des genetischen Paradigmas arrangieren. In einem Essay, der 1996 in der New York Times erschien, versuchte der Kinderpsychoanalytiker Adam Phillips Berichten über ein Gen für Neurose und andere Merkmale etwas Positives abzugewinnen. Obgleich Phillips einräumte, daß diese Berichte vermutlich stimmten, beteuerte er, die Psychoanalyse könne uns dabei helfen, unsere Ängste vor der Genforschung zu bewältigen. Der Psychoanalyse »steht es nicht an, die Genetik zu verwerfen. Aber sie kann die emotionalen Auswirkungen der ›Akte‹ der Genetik auf das Individuum beurteilen.«9 Als ich diesen Aufsatz las, stellte ich mir vor, wie Phillips seinen unglücklichen, apathischen Patienten fragt: »Welches Gefühl hat dieser Artikel über das Neurose-Gen in Ihnen ausgelöst?« Phillips würde seinem ängstlichen Patienten vermutlich mehr helfen, wenn er darauf verwiese, daß die behaupteten Verknüpfungen zwischen einzelnen Genen und spezifischen, komplexen Verhaltensmerkmalen und Erkrankungen in keinem einzigen Fall zweifelsfrei bestätigt worden sind.
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Die Minnesota-Zwillinge Die Verhaltensgenetik geht auf Zwillingsstudien zurück, die im neunzehnten Jahrhundert von Francis Galton, einem britischen Universalgelehrten und entfernten Verwandten von Charles Darwin, durchgeführt wurden. Nachdem Galton sowohl eineiige als auch zweieiige Zwillinge untersucht hatte, gelangte er zu dem Schluß, daß »die Natur einen ungleich stärkeren Einfluß ausübt als die Umwelt«. In einem Artikel mit dem Titel »Hereditary Talent and Breeding« forderte er die Menschheit auf, ihre Rasse durch ein Programm der Auslesezüchtung zu verbessern. Er bezeichnete dieses Programm später als Eugenik, nach dem griechischen Wort für »wohlgeboren«. Einer der ersten und energischsten Befürworter der Eugenik war der amerikanische Genetiker Charles Davenport.10 Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gründete er das Cold Spring Harbor Laboratory - noch immer eine hervorragende biologische Forschungsanstalt - und das Eugenics Record Office, das Informationen über Tausende von Familien sammelte, um die Vererbung von Merkmalen zu verfolgen. In zahlreichen Publikationen nahm Davenport für sich in Anspruch, die Erblichkeit nicht nur der Augen-, Haut- und Haarfarbe, sondern auch von Delinquenz, »Schwachsinn« und »Armut« nachgewiesen zu haben. In einer 1919 erschienenen Monographie behauptete er, die Fähigkeit, ein Marineoffizier zu werden, sei ein ererbtes Merkmal, das sich aus den Untermerkmalen Thalassophilie (Liebe zum Meer) und Hyperkinese (Fernweh) zusammensetze. Die geringe Zahl weiblicher Marineoffiziere erklärte Davenport damit, daß dieses Merkmal nur Männern eigne. Ab den zwanziger Jahren förderte die von Davenport und anderen gegründete American Eugenics Society sogenannte »Tauglichkeitswettbewerbe für Familien« auf Landwirtschafts- 200
schauen in allen amerikanischen Bundesstaaten. Dabei kürten Preisrichter menschliche Wettkampfteilnehmer nach den gleichen Kriterien wie Zuchtvieh. Weniger amüsant war die Tatsache, daß Eugeniker entscheidenden Anteil daran hatten, daß in über zwanzig US-amerikanischen Bundesstaaten die Sterilisation von Männern und Frauen in Gefängnissen und Nervenheilanstalten zugelassen wurde, und sie bedrängten die Bundesregierung, die Einwanderung von Angehörigen genetisch »unerwünschter« Rassen zu beschränken. Ähnliche Maßnahmen wurden in Kanada und Europa beschlossen. Keine andere Nation betrieb die Eugenik jedoch mit solch unerbittlicher Konsequenz wie Nazi-Deutschland. Die Nazi-Eugeniker begnügten sich nicht damit, die unerwünschten Personen zu sterilisieren, vielmehr praktizierten sie bei geistig und körperlich Behinderten auch Euthanasie (»schöner Tod«). Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Nazi-Greuel allgemein bekannt wurden, schwand die Unterstützung für Eugenikprogramme in den Vereinigten Staaten und in anderen Ländern, während gleichzeitig nichtgenetische Paradigmen wie etwa die Psychoanalyse Auftrieb erhielten. Doch bis Ende der siebziger Jahre wurden in den Vereinigten Staaten, Kanada und mehreren skandinavischen Ländern Frauen und Männer, bei denen man einen genetischen Defekt vermutete, zwangssterilisiert; allein in Schweden waren zwischen 1935 und 1976 sechzigtausend Frauen von dieser Maßnahme betroffen.11 Auch wurden weitere Zwillingsstudien und andere Untersuchungen der genetischen Grundlagen des menschlichen Temperaments und Verhaltens durchgeführt. Obgleich Zwillingsstudien nicht mehr dem Stand der Wissenschaft in der Verhaltensgenetik entsprechen - da man mit ihnen nicht herausfinden kann, welche Gene welche Verhaltensweise beeinflussen -, stoßen sie noch immer auf eine unverhältnismäßig starke Resonanz in der Öffentlichkeit. Tatsächlich haben die Medien keinen anderen Forschungen in der Verhaltensgenetik - 201
mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Studien an eineiigen Zwillingen, die an der Universität von Minnesota durchgeführt wurden.12 (Eineiige Zwillinge werden deshalb so genannt, weil sie von derselben befruchteten Eizelle [Zygote] abstammen.) Die Studien begannen im Jahr 1979, als der Psychologe Thomas Bouchard von der Universität von Minnesota einen Zeitungsartikel über eineiige männliche Zwillinge las, die unmittelbar nach ihrer Geburt getrennt worden waren und sich vor kurzem erstmals wiedergesehen hatten. Die Übereinstimmungen zwischen den beiden Männern waren verblüffend. Beide Männer waren von ihren Adoptiveltern James genannt worden. James Springer hatte eine Frau namens Linda geheiratet, sich von ihr scheiden lassen und anschließend eine Frau namens Betty geheiratet. James Lewis hatte das gleiche getan. Sie hatten ihre erstgeborenen Söhne auf den Namen James Alan beziehungsweise James Allen getauft. Jeder besaß einen Hund names Toy. Der Artikel beeindruckte Bouchard so nachhaltig, daß er sich mit Springer und Lewis in Verbindung setzte und sie fragte, ob sie bereit seien, sich von ihm untersuchen zu lassen. Sie erklärten sich einverstanden und gaben damit den Anstoß zum Minnesota-Zwillingsprojekt. Bouchard erstellte im Lauf der Zeit eine Datenbank über mehr als achttausend Zwillingspaare, unter denen auch zusammen aufgewachsene eineiige und zweieiige Zwillinge sind. Den Schwerpunkt des Projektes bildeten jedoch getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge, die sozusagen ein natürliches Experiment über die relativen Beiträge von Anlage und Umwelt zur Persönlichkeitsentwicklung darstellen. Die Forscher nahmen an, daß Unterschiede zwischen erbgleichen Zwillingen durch die Umwelt verursacht werden; Ähnlichkeiten schrieben sie hingegen den Genen zu. Die genetische Komponente eines bestimmten Merkmals wird mit dem Begriff Erblichkeitsgrad (Heritabilität) bezeichnet. Der Erblichkeitsgrad bezieht sich nicht auf Individuen, - 202
sondern auf Populationen. Die Tatsache, daß die Körpergröße zu neunzig Prozent erblich determiniert wird, bedeutet, daß neunzig Prozent der Varianz der Körpergröße in einer bestimmten Population durch die genetische Varianz bedingt ist. Die übrigen zehn Prozent werden durch Ernährung und andere Umweltfaktoren erklärt. Im Jahr 1990 hatte die Gruppe um Bouchard über fünfzig eineiige Zwillingspaare untersucht, die unmittelbar nach der Geburt getrennt worden waren und in verschiedenen Elternhäusern aufwuchsen. Die Forscher fanden bei praktisch allen Merkmalen, die sie untersuchten, eine starke genetische Komponente. Während die meisten anderen Forscher den Erblichkeitsgrad der Intelligenz mit fünfzig Prozent veranschlagten, gelangten Bouchard und seine Kollegen zu einem Grad über siebzig Prozent. Auch bei ausgesprochen kulturell definierten Merkmalen wie Religiosität, politische Einstellung (konservativ oder liberal), berufliche Zufriedenheit, Freizeitinteressen und Scheidungsneigung stießen sie auf einen hohen Beitrag der Gene. Die Gruppe faßte ihre Ergebnisse 1990 in einem Aufsatz in Science zusammen: »Bei zahlreichen Testskalen, die Persönlichkeit und Temperament, Berufs- und Freizeitinteressen sowie soziale Einstellungen messen, sind die Übereinstimmungen zwischen getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen etwa genauso groß wie die zwischen zusammen aufgewachsenen eineiigen Zwillingen.«13 Dies ist eine der beunruhigendsten Behauptungen, die ich jemals in einem sachverständig begutachteten Fachaufsatz gelesen habe. Die Gruppe um Bouchard sagte im Grunde genommen, daß sich elterliche und schulische Erziehung sowie andere Umweltfaktoren nur geringfügig auf unsere Persönlichkeitsmerkmale auswirkten. Daraus folgte aber nichts Geringeres, als daß sich in der sozialen Schichtung, wie sie etwa in den Vereinigten Staaten anzutreffen ist, eher genetische als umweltbedingte Faktoren widerspiegeln. Die Umwelt spielt - 203
eigentlich keine Rolle. Auf die Gene kommt es an. Diese Schlußfolgerung wurde in dem 1997 erschienenen Buch Twins des Journalisten Lawrence Wright (der zuvor ein ausgezeichnetes Buch über die erinnerungsaufdeckende Therapie geschrieben hatte) gezogen. »Die Wissenschaft der Verhaltensgenetik hat, weitgehend anhand von Zwillingsstudien, die Hypothese, daß unsere Identität bereits im Augenblick der Befruchtung festgelegt wird, empirisch glaubhaft untermauert; insofern scheint unser Leben prädeterminiert zu sein - wir brauchen lediglich das in unseren Genen niedergeschriebene Drehbuch in Handlung umzusetzen.«14 Als Wrigt und andere Journalisten diese Behauptung aufstellten, haben sie sich weniger auf die nüchternen Schätzwerte des Erblichkeitsgrades in der Studie von Bouchard bezogen als vielmehr auf die bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen. Neben den James-Brüdern waren da noch die »kichernden« Schwestern. Beide Schwestern kicherten unentwegt und trugen sieben Ringe; die eine hatte ihren Sohn Richard Andrew genannt und die andere den ihren Andrew Richard. Die Zwillinge Jerry Levey und Mark Newman waren beide Feuerwehrmänner geworden und liebten Budweiser-Bier. Der vielleicht spektakulärste Fall betraf Oskar, der in der Tschechoslowakei als Nazi erzogen worden war, und Jack, der auf Trinidad eine jüdische Erziehung erhalten hatte. Beide trugen angeblich Hemden mit Schulterklappen, als sie sich 1979 auf Initiative der Bouchard-Gruppe erstmals wiedersahen. Beide hatten die Angewohnheit, schon vor der Benutzung der Toilette die Spülung zu betätigen, und beide machten sich einen Spaß daraus, Leute in Aufzügen und an anderen Orten, an denen dichtes Gedränge herrscht, durch absichtliches Niesen zu erschrecken. Wie die Fallgeschichten Freuds dienen diese Berichte über getrennt aufgewachsene Zwillinge als Instrumente suggestiver rhetorischer Überzeugung; ihnen kommt in diesem Sinne - 204
viel mehr Gewicht zu als den statistischen Analysen und den Erblichkeitsgraden. Kritiker monierten, die Bedeutung dieser Übereinstimmungen sei maßlos übertrieben worden. In einer Studie untersuchte die Psychologin Susan Farber 121 Fälle (die nicht in die Minnesota-Studie einbezogen worden waren), bei denen unmittelbar nach der Geburt getrennte Zwillinge angeblich erst durch Wissenschaftler zu Studienzwecken wieder zusammengebracht worden waren.15 Sie fand nur drei Fälle, in denen die Zwillinge vor den Studien keinerlei Kontakt gehabt hatten. Anderer Kritiker haben behauptet, daß man bei der Suche nach Ähnlichkeiten zwischen zwei Menschen, die gleich aussehen, am selben Tag geboren wurden und im selben Land aufwuchsen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch dann auf Übereinstimmungen stieße, wenn diese beiden Personen nicht miteinander verwandt seien.16 Zudem sind die Zwillinge in der Minnesota-Studie möglicherweise nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung oder auch nur die Gesamtpopulation der eineiigen Zwillinge. Die Gruppe von Bouchard stützte sich auf die Medien, um neue Zwillinge anzuwerben. Die Zwillinge kamen zur weiteren Untersuchung, die oftmals mit weiterer Publizität verbunden war, für eine Woche nach Minnesota. Andere Studien, die die Privatsphäre der Zwillinge wahrten, haben die Heritabilität von Merkmalen niedriger veranschlagt. Der Psychologe Leon Kamin von der Northeastern Universität in Boston gab zu bedenken, die Zwillinge der MinnesotaStudie hätten vielfältige Motive, um frühere Kontakte herunterzuspielen und ihre Ähnlichkeiten herauszustreichen.17 Sie wollten womöglich den Forschern einen Gefallen tun, stärker von den Medien beachtet werden oder auch Geld verdienen. Es gibt Indizien, die Kamins Vermutungen bestätigen. Während es in einigen Zeitungsberichten hieß, Oskar und Jack (der Nazi und der Jude) sowie die beiden »kichernden« Schwestern hät- 205
ten sich in Minnesota zum ersten Mal wiedergesehen, waren beide Paare in Wirklichkeit bereits früher zusammengetroffen. 18 James Springer und James Lewis traten, nachdem sie von Thomas Bouchard aufgespürt worden waren, in der Johnny Carson Show und in der Sendung People auf. Einige Zwillinge legten sich Agenten zu und wurden für ihre Auftritte im Fernsehen bezahlt. Nachdem die Washington Post einen längeren biographischen Artikel über Oskar und Jack gebracht hatte, verkauften sie ihre Lebensgeschichte an einen Filmproduzenten in Los Angeles.19 (Der Film wurde nie gedreht.) Auch die Motive der Forscher um Bouchard wurden in Frage gestellt. Die große öffentliche Resonanz auf die Berichterstattung über Oskar und Jack, die James-Brüder und die »kichernden« Schwestern in den achtziger Jahren brachte der Minnesota-Gruppe eine kräftige Kapitalspritze. Ihr großzügigster Geldgeber ist der Pioneer Fund, ein Überbleibsel der US-amerikanischen Eugenik-Bewegung.20 Der Name dieser Vermögensverwaltungsgesellschaft spielt auf ihr ursprüngliches Ziel an, die Fortpflanzung von Nachkommen der »Pioniergeneration« Amerikas, das heißt der Angelsachsen, zu fördern. Der Pioneer Fund unterstützt zahlreiche Gruppen und Wissenschaftler, die die Rassentrennung befürworten. Die meisten Wissenschaftler der Minnesota-Gruppe haben sich von eugenischen Maßnahmen distanziert. Eine Ausnahme ist der Psychologe David Lykken, der den Vorschlag gemacht hat, der Staat solle den Intelligenzquotienten seiner Bürger dadurch heben, daß er nur Frauen, die bestimmte Kriterien erfüllten, erlaube, Kinder zu gebären; Frauen ohne »Gebärzulassung«, die schwanger würden, sollten zur Abtreibung gezwungen werden. Lykken klagte gegenüber dem Reporter Lawrence Wright: »Viele Sozialwissenschaftler sind über meine Vorschläge so empört, daß sie mich für einen Faschisten halten.«21 Eine Rezensentin von Twins meinte sarkastisch: »Wie kann man nur auf diese Idee kommen?«22 - 206
Die Fahndung nach Psychosegenen Studien an Zwillingen und anderen Verwandten können starke Indizienbeweise dafür liefern, daß ein Merkmal eine genetische Komponente hat, aber sie geben uns keinen Aufschluß darüber, welches Gen oder welche Gene dabei eine Rolle spielen. Fortschritte in der Biotechnologie in den achtziger Jahren versetzten Verhaltensgenetiker in die Lage, die Gene von Individuen nach verräterischen Varianten zu durchmustern, die einem bestimmten Merkmal zugrunde liegen könnten. Wenn eine Genvariante - auch Allel genannt - im Ablauf der Generationen durchgängig mit einem bestimmten Merkmal - etwa blauen Augen - gekoppelt ist, nehmen die Genetiker an, daß das Allel an der Ausprägung blauer Augen mitwirkt oder seinerseits mit einem Gen verbunden ist, das dies bewirkt. Es gibt zwei grundlegende Methoden, um die Allele aufzuspüren, die zur Ausbildung von Merkmalen beitragen. Bei Assoziationsstudien vergleichen die Forscher die Gene nichtverwandter Individuen, die alle ein bestimmtes Merkmal aufweisen, mit den Genen anderer Individuen, denen dieses Merkmal fehlt. Bei Kopplungsstudien untersuchen die Forscher verwandte Individuen - oftmals Großfamilien oder ethnische Inzuchtpopulationen -, bei denen ein bestimmtes Merkmal ungewöhnlich häufig auftritt. In beiden Fällen geht es darum, die Allele ausfindig zu machen, die durchgängig mit dem Merkmal vererbt werden. Im Jahr 1993 identifizierten Forscher mit der Kopplungsmethode ein Allel für Chorea Huntington, eine neurologische Erkrankung, die normalerweise im mittleren Lebensalter ausbricht und innerhalb von zehn Jahren zum Tod führt. Mit demselben Verfahren wurden auch Gene für Mukoviszidose, Muskeldystrophie und andere Krankheiten aufgepürt. Diese Krankheiten sind wie das Tay-Sachs-Syndrom auf die Mutation nur eines Gens zurückzuführen, dessen Verer- 207
bungsmuster sich leicht innerhalb eines Stammbaums nachvollziehen läßt. Wenn beide Eltern Träger eines rezessiven Exemplars des Gens sind, werden ihre Nachkommen die Krankheit mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundzwanzig Prozent entwickeln. Wenn der eine eineiige Zwilling erkrankt ist, wird auch der andere erkranken. Das Vererbungsmuster der meisten übrigen Merkmale und Erkrankungen - insbesondere derjenigen, die für die Verhaltensgenetiker von Interesse sind - ist sehr viel weniger eindeutig. Die Schizophrenie, an der etwa ein Prozent der Bevölkerung erkrankt, ist ein typisches Beispiel dafür.23 Wenn ein Elternteil oder ein Geschwister einer Person schizophren ist, beträgt deren Erkrankungsrisiko fünf bis zehn Prozent. Ist der eine eineiige Zwilling schizophren, dann wird der andere mit einer Wahrscheinlichkeit von fünf bis zehn Prozent ebenfalls erkranken. Andererseits haben die meisten Schizophrenen keine schizophrenen Verwandten ersten Grades. Die manisch-depressive Erkrankung, von der ebenfalls ein Prozent der Bevölkerung betroffen ist, zeigt ein ähnliches statistisches Profil. Auf der Grundlage dieser familiären Daten haben die meisten Genetiker den Schluß gezogen, daß Schizophrenie und manisch-depressive Erkrankung aus der komplexen Wechselwirkung zahlreicher Gene und Umweltfaktoren hervorgehen. Dennoch begannen in den achtziger Jahren die Forscher, ermuntert von den erfolgreichen Angriffen auf genetische Krankheiten, die durch Mutationen in einem Gen verursacht werden, nach Genen zu fahnden, die psychischen Erkrankungen zugrunde liegen.24 Der potentielle Nutzen von Gentests und -therapien für psychische Erkrankungen wäre enorm. Schizophrenie und manisch-depressive Erkrankung betreffen jeweils Millionen von Menschen. Im Jahr 1987 behaupteten Genetiker, eine Kopplung zwischen einem Gen auf Chromosom elf und der manisch-depressiven Erkrankung bei den Amish nachgewiesen zu haben.25 Im selben Jahr stellte eine - 208
andere Forschergruppe bei drei israelischen Familien einen Zusammenhang zwischen einem anderen Gen und der manischdepressiven Psychose fest.26 Die Medien rühmten diese Ergebnisse als bahnbrechende Entdeckungen in der Psychiatrie, während sie den späteren Fehlschlägen bei dem Versuch, die anfänglichen Ergebnisse zu reproduzieren, kaum Beachtung schenkten. Eine eingehendere Analyse der Amish-Familien im Jahr 1989 brachte keine Verbindung zwischen Chromosom elf und manisch-depressiver Erkrankung zum Vorschein.27 Und 1993 wurden auch die an den israelischen Familien gewonnenen Ergebnisse zurückgenommen, nachdem weitere Daten erhoben worden waren.28 Studien über Schizophrenie folgten einem ähnlichen Muster. Im Jahr 1988 verkündete eine britische Forschergruppe in Nature, sie habe bei isländischen und britischen Familien nachgewiesen, daß ein bestimmter DNA-Abschnitt auf Chromosom fünf mit Schizophrenie gekoppelt sei. In derselben Ausgabe von Nature berichteten andere Forscher, sie hätten bei einer schwedischen Familie keinen Zusammenhang zwischen demselben Marker und Schizophrenie festgestellt.29 Nachdem bei einer erweiterten Studie an den isländischen und britischen Familien keinerlei Zusammenhang gefunden wurde, zog die britische Gruppe 1993 ihre Hypothese still und heimlich zurück.30 Peter McGuffin von der Medizinischen Akademie der Universität Wales, der an mehreren internationalen Projekten zur Identifikation potentieller Gene für psychische Erkrankungen mitwirkt, ist nach wie vor davon überzeugt, daß sich diese Forschungen eines Tages auszahlen werden. »Die plausibelste Erklärung für das, was bei der bipolaren affektiven Störung und der Schizophrenie geschieht, stützt sich auf genetische Faktoren. Das ist einfach nicht zu widerlegen«, sagte mir McGuffin. »Die Umwelt mag eine gewisse Rolle spielen, doch sie erklärt nur etwa ein Fünftel der Varianz.«31 - 209
Bei jüngsten Kopplungsstudien seien mehrere neue Gene aufgespürt worden, die möglicherweise an der Entstehung der manisch-depressiven Erkrankung und der Schizophrenie beteiligt seien. Ein potentielles Gen für die manisch-depressive Psychose sei an der Konstruktion eines Rezeptors für den Neurotransmitter Serotonin beteiligt, der Angriffspunkt für Antidepressiva vom Fluctintyp sei. Das sogenannte Ü3-Gen, das bei der Schizophrenie eine Rolle spiele, codiere einen Dopaminrezeptor. Einige der wirksamsten Medikamente zur Behandlung der Schizophrenie, so McGuffin, veränderten die Dopaminkonzentration im Gehirn. »Ich halte es nicht für einen Zufall, daß die genetischen Befunde mehr oder minder in die gleiche Richtung weisen wie die pharmakologischen Untersuchungsergebnisse.« Er war sorgsam darauf bedacht, die Bedeutung des D3-Markers und anderer aktueller Befunde nicht zu übertreiben – und das mit gutem Grund: Nicht alle Studien haben einen Zusammenhang zwischen diesen Genen und manisch-depressiver Erkrankung und Schizophrenie festgestellt. Und selbst wenn sich die Verbindungen bestätigen sollten, wäre die praktische Bedeutung dieser Entdeckung möglicherweise gering, wie McGuffin einräumte. Er meinte, einer der vielversprechendsten Kandidaten für ein »Schizophrenie-Gen« sei das sogenannte 5HT2a-Allel. McMuffin und zwei Kollegen führten eine Metaanalyse an fünfzehn Studien durch, die einen Zusammenhang mit dem 5HT2a-Allel teils bestätigten, teils widerlegten, und kamen zu dem Ergebnis, daß eine »geringe, aber signifikante« Verknüpfung mit Schizophrenie vorliege. Die Analyse ergab, daß Träger des 5HT2a-Allels ein gegenüber der Norm um fünfzig Prozent erhöhtes Risiko haben, eine Schizophrenie zu entwickeln. Da das normale Risiko ein Prozent beträgt, entspricht dies einem Risiko von anderthalb Prozent. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt läßt sich mit solchen Informationen wenig für die Risikoprognose anfangen«, sagte McGuffin. - 210
Tatsächlich hat nach McGuffins eigenen Berechnungen eine Person, die nur einen schizophrenen Verwandten hat, ein mehr als doppelt so hohes Risiko, schizophren zu werden, als ein Träger des 5HT2a-Allels. McGuffin ist Mitglied des Nuffield Council on Bioethics, des bedeutendsten Gremiums in England für die Bewertung der ethischen Fragen, die durch biologische Forschungsvorhaben aufgeworfen werden. Im Jahr 1998 veröffentlichte eine Arbeitsgruppe, der auch McGuffin angehörte, einen Bericht, in dem es heißt, daß »Gentests zur Diagnose der wichtigsten Psychosen mit komplexeren Ursachen in der nahen Zukunft nicht besonders nützlich sein werden [...] Aus diesem Grund empfehlen wir, Tests auf genetische Anfälligkeiten, die eine relativ geringe prognostische beziehungsweise diagnostische Aussagekraft besitzen, nur anzuwenden, wenn sie für den Patienten einen eindeutigen medizinischen Nutzen haben.«32
Wird Schizophrenie durch Prionen verursacht? E. Füller Torrey ist Psychiater am Saint Elizabeths' Hospital in Washington, D. C., und eine Kapazität auf dem Gebiet der Schizophrenieforschung. In The Death of Psychiatry, Surviving Schizophrenia, Freudian Fraud und anderen Büchern lies Torrey kein gutes Haar an Theorien, die psychische Erkrankungen auf die Erziehung und andere Umweltfaktoren zurückführen. Die Verhaltensgenetik, beteuerte Torrey, sorge endlich dafür, daß die Freudschen Theorien der Persönlichkeit und Geisteskrankheit Makulatur würden. Die Indizien für die Annahme, daß »genetische Faktoren eine wichtige Rolle bei der Ausbildung zahlreicher Persönlichkeitszüge spielen, mehren sich rasch«, behauptete Torrey.33 Die Verhaltensgenetik hätte sogar schon viel früher die Oberhand über die - 211
Psychoanalyse gewonnen, wäre da nicht ihre bedauerliche Verknüpfung mit der Eugenik und dem Nazismus gewesen. Torreys Haltung ist mindestens in zweierlei Hinsicht fragwürdig. Erstens wies Freud selbst, obwohl Torrey und andere Wissenschaftler ihn vielfach mit eingefleischten Behavioristen und anderen, die den Geist als ein zunächst unbeschriebenes Blatt auffassen, in einen Topf werfen, auf die Bedeutung genetischer Faktoren hin. »[...] wenn wir die bisher übersehene Rolle akzidenteller Eindrücke der frühen Jugendzeit betonten«, klagte er 1935, »mußten wir hören, daß die Psychoanalyse die Faktoren der Konstitution und der Heredität verleugne, was uns niemals eingefallen war«.34 Zweitens ziehen viele Forscher - bemerkenswerterweise auch Torrey selbst - in zunehmendem Maße die Annahme in Zweifel, die Gene seien der Schlüssel zum Verständnis und zur Behandlung psychischer Krankheiten. Torrey äußerte die Vermutung, die Schizophrenie könne durch ein Virus hervorgerufen werden, vielleicht eines, das den Fetus in der Gebärmutter infiziere und das Gehirn dann progressiv schädige.35 Das Muster des Auftretens von Schizophrenie in Familien stimme Torrey zufolge häufig mit dem Muster überein, das andere Viruserkrankungen, wie etwa Kinderlähmung, zeigten; wenn Gene eine Rolle spielten, dann lediglich insoweit, als sie ihren Träger für eine Virusinfektion anfällig machten. Mit Hilfe einer privaten Stiftung versuchen Torrey und andere Forscher an der John-HopkinsUniversität Beweise für die Virus-Hypothese zusammenzutragen. Unterdessen haben die deutschen Virologen Liv Bode und Hanns Ludwig Untersuchungsergebnisse vorgelegt, wonach sowohl die manisch-depressive Erkrankung als auch die gewöhnliche Depression möglicherweise durch das sogenannte Borna-Virus verursacht werden, von dem man schon länger weiß, daß es eine neurologische Erkrankung bei Pferden, Rindern und anderen Säugetieren hervorruft.36 Mindestens eine - 212
Forschergruppe hat Psychosen einem anderen infektiösen Agens angelastet, dem sogenannten Prion. Die Prionen, deren Existenz erstmals von Stanley Prusiner von der Universität von Kalifornien in Berkeley postuliert wurde, sind Eiweißpartikel, die sich ohne Hilfe der Nukleinsäuren DNA und RNA replizieren sollen. Man vermutet, daß Prionen auch die Erreger des sogenannten »Rinderwahnsinns« (Bovine spongioforme Enzephalopathie - BSE) und ähnlicher Krankheitsbilder beim Menschen seien, bei denen das Gehirn degeneriert und eine schwammige Konsistenz annimmt. Obgleich Prusiner 1997 für seine Arbeiten über Prionen mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, bezweifeln viele Mikrobiologen, daß Prionen tatsächlich existieren. Dies hielt eine brasilianische Forschergruppe jedoch nicht davon ab, im Jahr 1997 in Nature zu verkünden, sie hätten Belege für einen Zusammenhang zwischen Prionen und Schizophrenie gefunden.37 Andere nichtgenetische Erklärungen der Schizophrenie sehen die Ursache der Erkrankung in pränatalen Traumata, wie etwa mangelhafter Ernährung der Mutter oder eine Unverträglichkeit zwischen dem Immunsystem der Mutter und ihrem Fetus, die das Gehirn des Fetus schädigten.38 Die nichtgenetischen Erklärungen von Psychosen vermögen noch weniger zu überzeugen als die genetischen Erklärungansätze. Die Tatsache, daß diese Alternativen überhaupt in Erwägung gezogen werden, zeigt, daß das genetische Paradigma die anfänglich in es gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hat.
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Die Alkoholspur Ist Alkoholismus eine Erbkrankheit? Studien an Zwillingen und anderen Verwandten haben Anhaltspunkte für eine genetische Komponente geliefert, insbesondere bei Männern, die früh in ihrem Leben mit gewohnheitsmäßigem starkem Trinken beginnen. Doch es gibt auch Studien, die darauf hindeuten, daß Umweltfaktoren eine wichtige Rolle spielen. Dennoch berichtete eine Forschergruppe um Kenneth Blum vom Gesundheitswissenschaftlichen Zentrum der Universität von Texas in San Antonio im Journal of the American Medical Association, sie habe einen Zusammenhang zwischen Alkoholismus und einem DNA-Abschnitt (Marker) nahe dem D2-Gen gefunden.39 Das D2-Gen codiert für einen Rezeptor des Neurotransmitters Dopamin, der an der Regulation des Lustempfindens und einer Vielzahl weiterer mentaler Funktionen beteiligt sein soll. Blum beantragte sogleich ein Patent auf einen Alkoholismustest, mit dem, wie er meinte, Eltern herausfinden könnten, ob ihre Kinder trunksuchtgefährdet seien. Seine Bemühungen, das Interesse von Wagniskapitalgesellschaften an einem solchen Test zu wecken, wurden zweifellos durch einen Artikel auf der Titelseite der New York Times gefördert, in dem seine Studie, an der fünfunddreißig Alkoholiker beteiligt waren, als möglicher Wendepunkt bei der Diagnose und Behandlung des Alkoholismus gerühmt wurde.40 Der Artikel verschwieg allerdings die erheblichen Zweifel, die andere Genetiker an dem Zusammenhang zwischen dem D2-Gen und Alkoholismus hegten. Dennoch nahmen zahlreiche Forscher die von Blum und seinen Mitarbeitern publizierten Studienergebnisse so ernst, daß sie versuchten, diese zu reproduzieren. Im Jahr 1993 erschien im Journal of the American Medical Association ein Übersichtsartikel, in dem die bisherigen Forschungsergebnisse neu bewertet wurden. Dort wurde konstatiert, daß »kein phy- 214
siologisch bedeutsamer Zusammenhang« zwischen dem D2Marker und Alkoholismus nachgewiesen worden sei.41 Einer der Autoren des Beitrags sagte mir später, Blums D2-Hypothese sei »erledigt«42. Der prominente Genetiker Irving Gottesman von der Universität von Virginia nannte Blums Hypothese »Unfug«43. Blum und seine Kollegen halten jedoch an ihrer Auffassung fest, der D2-Marker verursache etwas, selbst wenn sie sich nicht darüber einig sind, worin dieses »etwas« besteht.44 Blums Gruppe und andere haben das D2-Allel mit Lebererkrankungen und anderen medizinischen Komplikationen, die mit Alkoholismus, multiplem Suchtstoffgebrauch (einschließlich Rauchen), Kokainsucht, Eßsucht, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Gilles-de-la-Tourette-Syndrom und Spielsucht einhergehen, in Verbindung gebracht. Andere Verhaltensgenetiker sehen in der D2-Affäre eine peinliche Angelegenheit, die man am besten vergessen sollte. Der vermeintliche Zusammenhang zwischen dem Di-Gen und Alkoholismus wurde sogar von Dean Hamer, einem der tatkräftigsten Verfechter genetischer Theorien des menschlichen Verhaltens, bestritten. In dem 1998 erschienenen Buch Das unausweichliche Erbe, das Hamer zusammen mit einem Journalisten schrieb, erklärte er, möglicherweise würden eines Tages Alkoholismusgene identifiziert, doch die von Blum postulierte Verbindung zwischen dem Di-Gen und Alkoholismus sei im wesentlichen widerlegt. Forschungen hätten gezeigt, daß sich das von Blum aufgespürte Allel »auf einem Abschnitt des Chromosoms befand, von dem nicht bekannt war, daß er irgendeine funktionale Bedeutung hatte«, bemerkte Hamer. »Mit anderen Worten, sie hatten ein Gen entdeckt, das nichts bewirkte. «45 Was Hamer in seinem Buch verschwieg, war die Tatsache, daß seine eigene »Ruhmestat« - die Entdekkung eines Gens, das angeblich mit Homosexualität assoziiert ist - sich auf noch dürftigere Indizien stützt als die Behauptung, Alkoholismus sei genetisch verankert. - 215
Im Jahr 1993 berichteten Hamer und vier Kollegen vom National Cancer Institute in Science über Untersuchungsergebnisse, denen zufolge ein genetischer Marker auf dem X-Chromosom an der Entstehung der männlichen Homosexualität beteiligt sei.46 Die Gruppe untersuchte vierzig Paare homosexueller Brüder mit Gentests. Bei einem reinen Zufallsbefund sollten nur bei fünfzig Prozent der Paare beide Brüder den genetischen Marker geerbt haben. Statt dessen waren bei dreiunddreißig Paaren beide Geschwister Träger desselben DNA-Fragments auf dem X-Chromosom, was ein statistisch signifikantes Ergebnis ist. Die Veröffentlichung sorgte weltweit für Schlagzeilen. Hamer trat in den Sendungen Nightline und MacNeil/Lehrer News Hour auf und unterschrieb den Vertrag für ein Buch, The Science of Desire, das 1994 erschien.47 Im Jahr 1995 berichteten Hamer und seine Mitarbeiter, sie hätten den X-Chromosomen-Befund reproduziert, doch die neuen Ergebnisse waren, statistisch gesehen, nicht annähernd so aussagekräftig.48 Erstens nahmen an der zweiten Studie lediglich zweiunddreißig Brüderpaare teil. Und zweitens ließ sich der genetische Marker nur bei zweiundzwanzig Paaren nachweisen, was siebenundsechzig Prozent der Gesamtheit entspricht (gegenüber fünfzig Prozent, die nach dem Zufallsgesetz zu erwarten gewesen wären). Die vorangehende Studie hatte eine Trefferquote von zweiundachtzig Prozent erzielt. Doch nicht einmal diese dürftige Korrelation wurde von anderen Forschern bestätigt. Im Jahr 1995 untersuchte George Ebers von der Universität von West-Ontario zweiundfünfzig Paare homosexueller Brüder und fand keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Genen auf dem X-Chromosom oder anderen Chromosomen.49 Ebers und sein Kollege George Rice fanden in ihrer Studien an 182 Familien mit einem oder mehr männlichen Homosexuellen auch keine Belege für das Vererbungsmuster, das Hamer ent- 216
deckt hatte. Im Jahr 1998 berichtete eine Gruppe um Alan Sanders vom National Institute of Mental Health, ihre Studie an vierundfünfzig Paaren homosexueller Geschwister habe keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Homosexualität und zweiunddreißig verschiedenen Markern auf dem X-Chromosom einschließlich des Markers, der von Hamers Gruppe herausgegriffen worden war, erbracht.50 In Das unausweichliche Erbe deutete Hamer die Daten von Ebers und Rice um und behauptete, bei deren Studien handele es sich »praktisch um eine indirekte Bestätigung, jedoch keine statistisch bedeutsame« seiner ursprünglichen Befunde. Ebers und Rice bestritten dies. (Die Studie von Sanders war noch nicht veröffentlicht worden, als Hamer sein Buch schrieb.) »Die Befunde ergeben zwingend, daß es irgendein Gen oder Gene [auf dem X-Chromosom] gibt, die mit der sexuellen Orientierung in Zusammenhang stehen«, lautete Hamers Fazit.51 In seinem Buch stellte Hamer zwei weitere Entdeckungen heraus, die zu seinem Ruf als führender Genjäger beitrugen: ein Gen für »Neugierverhalten« (beziehungsweise »das Streben nach Nervenkitzel«, wie es von vielen Journalisten genannt wird) und ein Gen für Angst oder »Neurose«; Hamer und seine Mitarbeiter veröffentlichten beide Studienergebnisse 1996.52 In Das unausweichliche Erbe verschwieg Hamer allerdings geflissentlich, daß wenigstens zwei andere Forschergruppen im Jahr 1996 berichtet hatten, sie hätten keine Belege für die Existenz eines Gens für »Neugierverhalten« gefunden.53
Die Glockenkurve und der Flynn-Effekt Kein Thema in der Verhaltensgenetik ist so strittig wie die Intelligenz. Der ursprüngliche Anstoß zu dieser Kontroverse ging von Cyril Burt aus, der auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn der einflußreichste Psychologe Englands war.54 Als lei- 217
tender Psychologe der Londoner Schulbehörde beaufsichtigte er die Prüfungen sämtlicher Schüler. In den zwanziger Jahren begann Burt nach eineiigen Zwillingen, die bei der Geburt getrennt worden waren, zu suchen. Er spürte insgesamt dreiundfünfzig Paare auf und verfolgte ihren Lebensweg bis ins Erwachsenenalter. Im Jahr 1966 veröffentlichte er die verblüffenden Ergebnisse seiner Studie. Die Erziehung, so fand er heraus, wirke sich kaum auf die Intelligenz aus; Burt schätzte, daß Intelligenz zu achtzig Prozent erblich sei. In den siebziger Jahren gerieten Burts Schlußfolgerungen in Verruf, nachdem der Psychologe Leon Kamin und andere Ungereimtheiten und Hinweise auf Datenmanipulationen aufgedeckt hatten. Seither haben andere Wissenschaftler den Versuch gemacht, Burt zu rehabilitieren, indem sie behaupteten, er sei bei der Dokumentation der erhobenen Daten zwar recht nachlässig gewesen, seine wichtigsten Untersuchungsergebnisse seien jedoch fundiert. Forscher, die an der Minnesota-Zwillingsstudie mitwirken, hätten für Intelligenz einen Erblichkeitsgrad ermittelt, der nur geringfügig unter dem Schätzwert von Burt liege. Andere Genetiker hingegen neigen einer Zahl von höchstens fünfzig Prozent zu. Bernie Devlin von der Universität Pittsburgh hat Ergebnisse vorgelegt, die dafür sprechen, daß die hohe Korrelation der IQ-Werte von Zwillingen zum Teil auf ihre gemeinsame pränatale Umwelt zurückzuführen sei.55 Devlin behauptete, wenn man diesen Faktor berücksichtige, sinke die Erblichkeit auf vierunddreißig Prozent. Dennoch wurde Burts These, die Intelligenz sei ein relativ unveränderliches Merkmal, das robust gegen Umwelteinflüsse sei, in dem 1994 erschienenen Buch The Bell Curve (»Die Glockenkurve«) wiederaufgegriffen (das Wort Glockenkurve bezieht sich auf die Form der Verteilung, die man erhält, wenn man die IQ-Werte einer großen Population graphisch darstellt).56 Der Politikwissenschaftler Charles Murray und der - 218
Psychologe Richard Herrnstein behaupteten, in der sozioökonomischen Schichtung der amerikanischen Gesellschaft spiegelten sich unveränderliche Unterschiede in der Intelligenz wider; genauer gesagt, der konstant niedrige soziale Status von Schwarzen gegenüber Weißen sei in erster Linie auf die niedrigere Intelligenz der Schwarzen zurückzuführen und nicht auf Diskriminierung oder andere gesellschaftliche Faktoren. Schwarze schneiden bei IQ-Tests im Schnitt fünfzehn Punkte schlechter ab als Weiße. Murray und Herrnstein enthielten sich zwar bewußt einer Antwort auf die Frage, ob dieser Unterschied auf genetische Faktoren zurückzuführen sei, doch ihre Polemik zielte in diese Richtung. Sie behaupteten, daß Verbesserungen im Bildungswesen, aktive Fördermaßnahmen zugunsten von Minderheiten und andere Programme, die den Status von Schwarzen heben sollen, allenfalls geringfügige Auswirkungen haben könnten und im allgemeinen vergeudete Mühe seien. Murray und Herrnstein wiederholten dabei lediglich Argumente, die bereits von anderen vorgebracht worden waren, insbesondere dem Psychologen Arthur Jensen von der Universität von Kalifornien in Berkeley und zuvor von Eugenikern und Sozialdarwinisten. Dennoch erregte The Bell Curve großes Aufsehen. Das Buch wurde im Fernsehen und in der Presse diskutiert, und es erschien auf der Bestsellerliste der New York Times – eine bemerkenswerte Leistung für ein Buch voller statistischer Daten, Tabellen und Diagrammen. Kritiker erhoben zahlreiche Einwände gegen The Bell Curve.57 Sie wiesen darauf hin, der Begriff Intelligenz sei äußerst unbestimmt und allgemein. IQ-Tests würden lediglich die Fähigkeit messen, einen IQ-Test abzulegen; die Korrelation zwischen IQ-Werten und Erfolg in der akademischen Welt, im Geschäftsleben und in anderen Bereichen sei lange nicht so deutlich, wie The Bell Curve behaupte. Die kognitive Leistungsfähigkeit äußere sich in vielfältigen Formen, wie etwa - 219
der sprachlichen, mathematischen und sozialen Kompetenz sowie im räumlichen Vorstellungsvermögen. In ähnlicher Weise seien Rassenkategorien wie schwarz und weiß keine echten biologischen Phänomene, sondern kulturelle Konstrukte. Das Gefalle zwischen den IQ-Werten von Schwarzen und Weißen spiegele die anhaltenden Wirkungen rassischer Vorurteile in den Vereinigten Staaten wider und nicht etwa angeborene Unterschiede in der intellektuellen Leistungsfähigkeit. Keine dieser Kritiken war wirklich vernichtend - zumindest nicht so vernichtend, wie ich es mir gewünscht hätte. Obgleich ich der Ansicht bin, daß die Freiheit des wissenschaftlichen Diskurses grundsätzlich nicht eingeschränkt werden sollte, schien mir die Art von Wissenschaft, wie sie The Bell Curve darstellte - mochten sich ihre konkreten Behauptungen nun als wahr oder falsch erweisen - keinerlei versöhnlichen Wert zu besitzen. Im Gegenteil, die Thesen von Murray und Herrnstein könnten sehr leicht zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden, indem sie schwarzen Kindern sowie deren Eltern und Lehrern suggerierten, daß diese Kinder »von Natur aus« und unabänderlich minderbegabt seien. Wie kommen Wissenschaftler angesichts all der drängenden Probleme und Bedürfnisse auf der Erde überhaupt auf die Idee, Fragen wie diese zu erwägen? Welchen Nutzen versprechen sie sich davon? Diesen Standpunkt - daß Theorien, die einen Zusammenhang zwischen Rassenzugehörigkeit und IQ postulieren, ignoriert und nicht diskutiert werden sollten - legte Noam Chomsky in seinem Buch Probleme sprachlichen Wissens dar: Natürlich unterscheiden sich Menschen in ihrer biologischen Ausstattung voneinander. Schon die bloße Vorstellung einer Welt, in der das nicht der Fall wäre, ist grauenhaft. Aber die Entdeckung einer Korrelation zwischen einigen dieser Qualitäten ist nicht von wissenschaftlichem Interesse und ohne soziale Bedeutung, außer für Rassisten, Sexisten und ähnliche Leute. Diejeni- 220
gen, die behaupten, daß eine Korrelation zwischen Rasse und IQ besteht, und diejenigen, die diese Behauptung bestreiten, tragen zum Rassismus und anderen Verirrungen bei, weil das, was sie sagen, auf der Voraussetzung basiert, daß die Antwort auf die Frage einen Unterschied macht; das tut sie aber nicht, außer für Rassisten, Sexisten und andere derartige Leute.58
Chomsky will offenbar damit sagen, daß jedes Individuum für sich betrachtet werden solle und nicht unter Rückgriff auf die soziale Kategorie, der es zugeordnet werden kann. Leider beriefen sich Murray und Herrnstein in The Bell Curve auf das gleiche Argument, als sie sich gegen aktive Fördermaßnahmen zugunsten von Minderheiten aussprachen. Daher war ich erleichtert, als ich 1995 von einem Untersuchungsergebnis hörte, das eine der Hauptprämissen von The Bell Curve - daß sich nämlich kulturelle Einflüsse kaum auf die Intelligenz, wie sie vom IQ gemessen wird, auswirkten - widerlegte. Es handelt sich um den sogenannten Flynn-Effekt, der nach James Flynn, einem Politologen an der Universität von Otago in Neuseeland, benannt ist.59 Zu Beginn der achtziger Jahre stieß dieser zufällig auf den Effekt, als er die Geschichte von Intelligenztests im Militär erforschte. Bei der Ermittlung des Intelligenzquotienten vergleicht man in der Regel die Leistung eines Individuums mit der Leistung von anderen in derselben Altersgruppe. Der Mittelwert des IQ beträgt definitionsgemäß hundert. Flynn fand jedoch heraus, daß das Militär seine Bewertungsmethoden immer wieder neu festlegte beziehungsweise neue Tests einführte, um eine merkwürdige Tatsache zu korrigieren: Jede neue Generation von Rekruten schnitt bei demselben Test besser ab als frühere Generationen. Soldaten, deren Leistungen, verglichen mit denen ihrer Altersgenossen, nur durchschnittlich waren, erschienen im Vergleich zu denen älterer Rekruten überdurchschnittlich. Überspitzt formuliert, war jede nachfolgende Ge- 221
neration scheinbar intelligenter als ihre Vorgänger. Bei seinen weiteren Nachforschungen stellte Flynn fest, daß die Ergebnisse von praktisch allen Arten von IQ-Tests, die nicht nur an Soldaten, sondern auch an Studenten und anderen Gruppen aller Altersklassen in mindestens zwanzig verschiedenen Ländern erhoben worden waren, seit dem Zeitpunkt der Einführung der Tests um etwa drei Punkte pro Jahrzehnt gestiegen waren. Die Zunahme reichte von zehn Punkten pro Generation (dreißig Jahre) in Schweden und Dänemark bis zu zwanzig Punkten pro Generation in Israel und Belgien. Der Anstieg war im Schnitt bei den Tests am größten, die kulturelle oder bildungsbedingte Vorteile dadurch zu minimieren versuchten, daß sie die Fähigkeit zum Erkennen abstrakter Muster oder zur Lösung anderer nonverbaler Probleme abfragten. Einer der angesehensten Tests ist der Progressive Matrizentest nach Raven, der 1942 von dem britischen Psychologen J.C. Raven erfunden wurde und seither an einer Vielzahl von Probanden aus sämtlichen Altersgruppen erprobt wurde. Menschen, die 1992 getestet wurden, hatten ein im Schnitt um siebenundzwanzig Punkte besseres Ergebnis als gleichaltrige Personen im Jahr 1942. Flynns Daten widerlegten einige vermeintlich gut fundierte Annahmen von Wissenschaftlern, die sich mit Intelligenztests befassen. Beispielsweise waren viele Forscher zu der Überzeugung gelangt, daß ältere Menschen an einem unvermeidlich fortschreitenden Schwund ihrer Intelligenz litten, weil sie heutzutage bei modernen IQ-Tests schlechter abschneiden als Zwanzigjährige. Wenn der durchschnittliche Siebzigjährige dagegen einen Test ablegt, der vor fünfzig Jahren verwendet wurde, erzielt er in der Regel die gleichen Ergebnisse, wie der durchschnittliche Zwanzigjährige sie damals bei demselben Test erreichte. Entsprechend behaupteten einige Experten, der akademische Erfolg chinesischstämmiger Amerikaner im Vergleich zu ihren europiden Altersgenossen - 222
korreliere mit höherer Intelligenz; schließlich hätten Tests gezeigt, daß chinesischstämrnige Amerikaner bei IQ-Tests höhere Punktwerte erzielten als andere rassische Gruppen. Flynn fand heraus, daß sich die berichtete Diskrepanz im Intelligenzquotienten zum Teil dadurch erklärt, daß die jungen chinesischstämmigen Amerikaner alten IQ-Tests unterzogen worden waren. In einer E-Mail an mich legte Flynn die merkwürdigen Konsequenzen seiner Ergebnisse dar: »Angesichts dieser massiven IQ-Zunahme steht jeder, der sie als wirklichen Intelligenzzuwachs deuten will, vor folgender Alternative. Er kann entweder annehmen, daß der durchschnittliche Mensch heute normal intelligent ist und vor dreißig bis fünfzig Jahren geistig zurückgeblieben war oder daß der durchschnittliche Mensch damals normal intelligent war und heute fast schon ein Genie ist. Beide Annahmen sind meines Erachtens absurd.« Niemand hat behauptet, der Flynn-Effekt habe genetische Ursachen und sei nicht etwa umweit- oder kulturbedingt. Flynn erläuterte: »Im Verlauf von ein bis zwei Generationen hätte nur ein fanatisches Eugenikprogramm einen erheblichen Beitrag zum IQZuwachs leisten können, doch das Fortpflanzungsverhalten war tendenziell allenfalls dysgenisch.« Er stellt sich die Frage, was die nichtgenetische Ursache sein könnte. Jede Hypothese, die bislang zur Diskussion gestellt wurde, hat Schwachstellen. Flynn war der erste, der darauf aufmerksam machte. Eine Theorie besagt, daß Kinder mittlerweile mehr Übung im Ablegen von Tests hätten, weil solche Tests immer häufiger angewendet würden. In Wirklichkeit werden IQ-Tests jedoch seltener durchgeführt; zudem haben Studien gezeigt, daß sich Übung nur geringfügig oder gar nicht in den IQ-Werten niederschlägt. Dies gilt insbesondere für die hochabstrakten, nonverbalen Tests, die den stärksten Flynn-Effekt zeigen. Versuche, eine Korrelation zwischen der Zunahme des IQ und der Dauer des Schul- und Hochschulbesuchs zu finden, blieben - 223
ohne schlüssiges Ergebnis; zudem haben Hochschulzugangsprüfungen und andere akademische Leistungstests in den Vereinigten Staaten nicht zu-, sondern eher abgenommen, obwohl die IQ-Werte angestiegen sind. Einige Forscher schreiben die Zunahme des IQ der Tatsache zu, daß Kinder immer mehr Zeit mit Fernsehen und mit anderen Medien verbringen - was interessanterweise auch für die »geistige Abstumpfung« der heutigen Jugend verantwortlich gemacht wird. Jedenfalls begannen die IQ-Werte schon lange vor der Verbreitung des Fernsehens zu Beginn der fünfziger Jahre anzusteigen. Der Psychologe Arthur Jensen von der Universität von Kalifornien in Berkeley, einer der ersten prominenten Forscher, der die These aufstellte, Schwarze seien von Natur aus nicht so intelligent wie Weiße, mutmaßte, der Anstieg des IQ stehe mit Verbesserungen in der Ernährung in Zusammenhang.60 Wenn dies zuträfe, widerlegte ihn Flynn, hätte der Anstieg der IQ-Werte in Ländern, die während des Ersten und Zweiten Weltkriegs von einer Hungersnot heimgesucht worden waren, zum Stillstand kommen beziehungsweise dort hätte sogar eine Trendumkehr einsetzen müssen. Flynn und andere Psychologen sehen in seinen Daten eine Widerlegung der Thesen, die in The Bell Curve aufgestellt wurden. Der Flynn-Effekt unterstreicht den wesentlichen (wenn auch bislang unerklärlichen) Beitrag nichtgenetischer Faktoren zur Intelligenz, zumindest wie sie von IQ-Tests gemessen werden. Der Flynn-Effekt deutet darüber hinaus darauf hin, daß die Differenz von fünfzehn Punkten zwischen den mittleren IQ-Werten von Schwarzen und Weißen entgegen der Ansicht von Murray und Herrnstein keineswegs unabänderlich ist, sondern vermutlich ausgeglichen werden kann.61 Schließlich ist der Intelligenzquotient in einigen Ländern binnen einer Generation um über fünfzehn Punkte gestiegen.
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Auf der Suche nach Intelligenzgenen Allerwenigstens sollte man erwarten, daß der Flynn-Effekt Intelligenzforscher, insbesondere jene, die behaupten, Intelligenz sei ein weitgehend angeborenes, unveränderliches Merkmal, zu Vorsicht und Bescheidenheit anhielte. Ein Forscher, der immer wieder die Grenzen seiner Arbeit und der Verhaltensgenetik im allgemeinen betont, ist Robert Plomin vom Institut für Psychiatrie in London. Plomin ist eine der wenigen Stimmen der Vernunft und Mäßigung innerhalb der Verhaltensgenetik, der oftmals die Übertreibungen seiner Kollegen bedauert. Als ich ihn 1998 in London anrief, zeigte er sich beunruhigt darüber, daß sich die Kontroverse über den jeweiligen Einfluß von Anlage und Umwelt zu sehr in Richtung Anlage verschoben habe. »Ich fühle mich mittlerweile gezwungen, für eine stärkere Gewichtung der Umwelt zu plädieren«, sagte er. Schließlich habe die Verhaltensgenetik mehrfach nachgewiesen, daß auch nichtgenetische Faktoren bei der Prägung der Persönlichkeit eine Rolle spielten. Dennoch verfolgt Plomin eines der ehrgeizigsten und umstrittensten Ziele in der Verhaltensgenetik: Er fahndet nach Genen für hohe Intelligenz. Plomins Methodik ist einfach. Nachdem er Schüler entsprechend ihrem Intelligenzquotienten in Kategorien eingestuft hatte, suchte er nach Allelen, die bei Kindern mit hohem IQ häufiger sind als bei Kindern mit niedrigem IQ. Die Allele wurden nicht aufs Geratewohl ausgewählt; die meisten waren bereits mit Neurorezeptoren und anderen neuronalen Komponenten in Verbindung gebracht worden. Im Jahr 1993 berichtete Plomin, er habe bei hochintelligenten Kindern ein überzähliges Exemplar eines bestimmten Allels gefunden, doch der Zusammenhang ließ sich in nachfolgenden Studien nicht reproduzieren. (Unterdessen hatte der Londoner Sunday Telegraph bereits gemeldet, Plomin habe bewiesen, daß »Genies geboren und nicht gemacht werden«.)62 - 225
Im Mai 1998 präsentierten er und zwei Kollegen in der Zeitschrift Psychological Science Befunde, nach denen in einer Gruppe von 217 Kindern ein Gen auf Chromosom sechs mit hoher Intelligenz gekoppelt war.63 In einem Artikel in der New York Times kommentierte ein Psychologe Plomins Befunde: »Ich bin absolut sicher, daß innerhalb von zwei Monaten kommerzielle Genzentren gegründet werden, die Eltern anbieten, sie auf dieses Gen zu testen.«64 In seinem Gespräch mit mir bezweifelte Polmin, daß aus seinen Untersuchungen jemals konkrete Nutzanwendungen hervorgehen würden, wie etwa Tests auf einen hohen IQ oder intelligenzsteigernde Gentherapien. Nur etwa die Hälfte der hochintelligenten Kinder seien Träger des Gens, und anscheinend sei die Wirkung des Gens sehr schwach. »Wir schätzen, daß es eindeutig weniger als zwei Prozent der Varianz ausmacht und vermutlich sogar eher nur ein Prozent.« Eine Varianz von einem Prozent entspricht zwei IQ-Punkten. Ich fragte Plomin, wozu sein Forschungsprojekt gedient habe, wenn es keine praktische Konsequenzen hätte. Das Aufspüren von Genen, die mit hoher Intelligenz korrelierten, antwortete Plomin, könne den Beitrag der Erbanlagen zur Intelligenz und zu anderen kognitiven Funktionen abschätzen helfen. »Es ist eine Fragestellung der Grundlagenforschung, wobei man hofft, ein Fenster zu finden, durch das man auf Verbindungen zwischen Genen und Verhalten blicken kann.« Plomin sagte mir, er habe gerade auf einem Transatlantikflug den Film Gattaca gesehen. In dem Film werde eine nicht allzu ferne Zukunft geschildert, in der die Gentechnik nicht nur körperliche und psychische Erkrankungen heilen, sondern auch Intelligenz und sportliche Leistungsfähigkeit optimieren könne. Die Welt werde von den gentechnisch aufgemöbelten Herren regiert; die armen Kerle, die nicht in den Genuß einer gentechnischen Optimierung gekommen seien, würden als »Behinderte« bezeichnet. Plomin bezweifelte, daß solche Sze- 226
narien jemals Wirklichkeit würden. »Ich glaube nicht, daß die Gentherapie überhaupt eine Erfolgschance hat.« Es habe sich schon als außerordentlich schwierig erwiesen, Behandlungen für Erkrankungen zu entwickeln, die durch Mutationen in nur einem Gen verursacht würden, wie etwa die Mukoviszidose. »Stellen Sie sich eine Krankheit vor, an der einhundert Gene beteiligt sind, die miteinander und mit der Umwelt in Wechselwirkung stehen. Meines Erachtens ist die Gentherapie ein aussichtsloses Unterfangen.« Plomin tut gut daran, bescheiden zu sein. Wenn die Vergangenheit zuverlässige Prognosen erlaubt, werden nachfolgende Experimente - vielleicht sogar von Plomin selbst - seine Entdeckung eines Gens für hohe Intelligenz nicht bestätigen, so wie auch all die anderen Hypothesen über spezifische Gene für spezifische Verhaltensmerkmale nicht bestätigt wurden. Doch wenn die Vergangenheit zuverlässige Prognosen erlaubt, werden diese Fehlschläge andere Wissenschaftler und Journalisten nicht davon abhalten, die Chancen, die die Verhaltensgenetik bietet, in immer höheren Tönen zu preisen. In Das unausweichliche Erbe sagte Dean Hamer voraus, daß künftige Forschungen Eltern schon bald erlauben würden, noch vor der Empfängnis erwünschte komplexe Merkmale ihrer Nachkommen auszuwählen und unerwünschte Merkmale beseitigen zu lassen - genau so, wie es in Gattaca prophezeit worden war. Psychische Erkrankungen sowie Schüchternheit und Hyperaktivität würden verschwinden, während musikalische Begabung, fußballerisches Können und Optimismus immer breiteren Bevölkerungskreisen zugänglich würden. »Ob man das nun für eine gute Idee hält oder nicht, wir werden bald die Fähigkeit besitzen, das menschliche Verhalten mit Hilfe der Genetik zu verändern und zu manipulieren«, verkündete Hamer.65 Der an Princeton lehrende Genetiker Lee Silver verstieg sich in seinem 1998 erschienenen Buch Das geklonte Paradies - 227
zu noch phantastischeren Spekulationen. Silver prophezeite, die Menschheit werde sich durch die Gentechnologie eines Tages sogar in zwei eigenständige Spezies aufspalten: die Klasse der »Gen-Reichen«, die sich gentechnologische Eingriffe leisten könne, und die Klasse der »Naturbelassenen«, der dies nicht zur Verfügung stehe. Die Klasse der Gen-Reichen werde intellektuell und sportlich hoch begabt sein, weder an körperlichen noch an psychischen Krankheiten leiden und möglicherweise unsterblich sein. Je intelligenter diese Übermenschen würden, um so stärker könnten sie mit neuen Technologien ihre mentalen Fähigkeiten optimieren - in einer endlosen positiven Rückkopplungsschleife. »›Intelligenz‹ wird ihren kognitiven Fähigkeiten nicht gerecht«, schrieb Silver über diese biotechnologisch frisierten Turbomenschen. »›Wissen‹ erfaßt nicht die Tiefe ihres Verständnisses – sowohl was das Universum betrifft, als auch in bezug auf ihr eigenes Bewußtsein.«66 Diese utopischen Vorhersagen sind angesichts der bislang so dürftigen Erfolgsbilanz der Verhaltensgenetik absurd und, wenn sie von führenden Genetikern kommen, unverantwortlich. Natürlich sind bei der Identifizierung von Genen, die bei Erkrankungen, welche durch eine einzige Genmutation verursacht werden, wie etwa Chorea Huntington, Mukoviszidose, amyotrophische Lateralsklerose und embryonale Tumore, echte Fortschritte gemacht worden. Wir verfügen heute über Tests, die die Träger dieser Gene aufspüren, bei denen die entsprechende Erkrankung mit einer gewissen, manchmal sehr hohen Wahrscheinlichkeit ausbrechen wird. Auf der Basis dieser Erkenntnisse haben Forscher damit begonnen, therapeutische Ansätze zu entwickeln, die schädliche Gene in Zellen vernichten oder deren Ausprägung verhindern sollen. Weltweit sind mehr als dreihundert klinische Studien über gentherapeutische Verfahren an über dreitausend Patienten erprobt worden. Bis zum heutigen Tag hat kein einziges seine Bewährungsprobe bestanden. - 228
»Abgesehen von anekdotischen Berichten über die Wirksamkeit bei einzelnen Patienten, liegen noch immer keine schlüssigen Beweise dafür vor, daß ein gentherapeutisches Protokoll bei der Behandlung einer menschlichen Erkrankung erfolgreich gewesen ist«, schrieb W. French Anderson, ein Vorkämpfer der gentherapeutischen Forschung, 1998 in einem Beitrag in Nature.67 Einige führende Genetiker bezweifeln sogar, daß sich die Identifikation der Gene, die spezifische Erkrankungen verursachen, zwangsläufig in besseren Behandlungsmethoden niederschlagen werde. Robert Weinberg vom MIT, eine Kapazität auf dem Gebiet der Tumorgenetik, erklärte 1997: »Bei einer Reihe von genetischen Krankheiten wird die Kenntnis der sie verursachenden Gene den Patienten vermutlich kein bißchen helfen.«68 Wenn dies schon für Krankheiten gilt, die durch eine einzige Genmutation hervorgerufen werden, dann natürlich in noch viel höherem Maße für Schizophrenie, hohe Intelligenz und Schüchternheit.
Das Temperament von Jerome Kagan Meine Frau und ich haben mittlerweile zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Ich akzeptiere - ich weiß -, daß das Temperament bis zu einem gewissen Grade angeboren ist. Unser Sohn hatte von Anfang an seine eigene markante Wesensart und unsere Tochter die ihre. Doch andererseits ist beider Charakter auch in ständigem Wandel begriffen; immer wieder überraschen sie meine Frau und mich. Außerdem kann ich mich nicht damit abfinden, daß mein Einfluß auf ihr Schicksal so geringfügig ist, wie einige Genetiker behauptet haben (auch wenn es Zeiten gibt, wo ich mir wünschte, dem wäre so). Einer der klügsten Erforscher der menschlichen Psyche, den ich kennengelernt habe, ist Jerome Kagan, Professor für - 229
Psychologie an der Harvard-Universität.69 In einer Reihe penibel durchdachter Studien, die in den fünfziger Jahren begannen, trug er eine überwältigende Fülle von Belegen für die Hypothese zusammen, daß Gehemmtheit beziehungsweise Schüchternheit und Ungehemmtheit beziehungsweise Extraversion bis zu einem gewissen Grad angeborene Merkmale seien. Kagan, den ich im Herbst 1997 an der Harvard-Universität traf, ist selbst hemmungslos extravertiert und nach eigenem Bekunden ein Liberaler. Er gab zu, daß er über seine Befunde gelegentlich noch immer betrübt sei. Als er zu Beginn der fünfziger Jahre an der Yale-Universität studierte, waren er und die meisten seiner Kollegen fest davon überzeugt, daß »alles von der Umwelt abhängt« und der Einfluß des biologischen Erbes auf die Ausbildung von Unterschieden zwischen Individuen »belanglos« sei. Doch dann hätten ihn seine Daten »wie der Teufel gekniffen und gesagt: ›Du irrst dich!‹« Erklärungen, die auf Umweltfaktoren abstellten, hätten zweifellos ihre Schwächen, meinte Kagan. Sie könnten nicht erklären, weshalb manche Menschen, die eine traumatische Kindheit erlebt hätten, glückliche, gesunde Erwachsene wären, während andere, die liebevolle, warmherzige Eltern gehabt hätten, zu Depressionen und anderen psychichen Erkrankungen neigten. Zudem seien einige Theorien, die sich bei Psychoanalytikern großer Beliebtheit erfreuten - wie die Annahme, Autismus werde durch »gefühlskalte Mütter« gefördert -, genauso »wertlos wie jeder genetische Determinismus«. Einige der jüngsten Hypothesen von Verhaltensgenetikern beunruhigten Kagan jedoch. Geradezu entsetzt sei er über die Behauptung, die Forscher an der Universität von Minnesota und an anderen Forschungseinrichtungen aufgestellt hätten, die Ausbildung, der Vermögensstatus und das Verhalten der Eltern habe praktisch keinen Einfluß auf die Intelligenz eines Kindes. Wenn Wissenschaftler ein derart »hirnrissiges« Ergebnis vorlegten, so Kagan, seien sie dazu verpflichtet, nach - 230
alternativen Erklärungen zu suchen, statt das Ergebnis für bare Münze zu nehmen. Jeder sachkundige Biologe, sagte Kagan, wisse, daß Erbanlage und Umwelt oftmals so eng miteinander verzahnt seien, daß sie sich nicht leicht entwirren ließen, selbst bei Organismen, die viel primitiver seien als der Mensch. Wissenschaftler, die die Taufliege (Drosophila) erforschten, hätten jüngst ein Paar von Genen entdeckt, die, wenn sie von Mutter und Vater vererbt würden, ungeflügelte Nachkommen hervorbrächten. Doch als die Forscher die Temperatur im Labor um zehn Grad erhöhten, wurden die Gene nicht mehr ausgeprägt; sämtliche Nachkommen hatten Flügel. »Das sagt alles!« versetzte Kagan triumphierend. »Es bedarf keiner weiteren Beispiele!« Darauf beschrieb er mir ein weiteres Beispiel. Wissenschaftler hätten ein Gen aufgespürt, das bei Mäusen Bluthochdruck erzeuge, aber nur, wenn sie von ihren biologischen Müttern gesäugt würden; das Gen werde nicht ausgeprägt, wenn die neugeborenen Mäuse von nichtverwandten Weibchen gesäugt würden. »Also wirklich«, entfuhr es Kagan, »das ist doch ein undurchdringliches Gestrüpp!« Kagan glaubt an die Fähigkeit der Wissenschaft, Regelmäßigkeiten - und sogar Gesetze - zu entdecken, die das menschliche Denken und Verhalten steuerten. Andernfalls, so sagte er, würde er sein Labor dichtmachen und sich eine andere Arbeit suchen. Andererseits würden die Verhaltensgenetik, die Psychologie und andere Fachgebiete, die sich mit der menschlichen Natur befaßten, niemals die Präzision und Allgemeingültigkeit der wirklich exakten Naturwissenschaften wie der Astrophysik und der Kernphysik erreichen. Diesen Punkt formulierte Kagan in seinem 1994 erschienenen Buch Galen's Prophecy mit unmißverständlicher Klarheit: »Ich glaube nicht, daß wir das Phänomen eines schüchternen oder neugierigen Kindes jemals allein mit physiologischen Erkenntnissen erklären oder vorhersagen können. Tempera- 231
menteigenschaften können nicht auf rein biologische Gegebenheiten zurückgeführt werden.«70 Dies war kein bloßes Wunschdenken von Kagan, vielmehr zwangen ihn seine Forschungen dazu, sich mit dieser Grenze der Wissenschaft abzufinden. Etwa eines von fünf Kindern zeige bei der Geburt Symptome von Gehemmtheit; sie reagierten auf Stimulation mit offenkundigen Streßsymptomen, wie etwa Weinen und heftigen Arm- und Beinbewegungen. Etwa zwei von fünf Kindern seien vergleichsweise kaum gehemmt; sie blieben entspannt und lebhaft, wenn sie gereizt würden. Doch nur etwa die Hälfte dieser gehemmten und ungehemmten Kinder behalte diese Merkmale während der Kindheit und Adoleszenz. Einige extrem gehemmte Säuglinge würden später extravertierte Jugendliche, und einige lebhafte Säuglinge würden zu trägen, introvertierten Teenagern. Die meisten Kinder ließen sich nicht leicht klassifizieren; sie zeigten eine Mischung aus Verhaltenheit und Extraversion, die mit dem Alter und mit der Umgebung schwanke. Kagan betonte, daß die Umwelt ein Merkmal entweder verstärken oder abschwächen könne. Eine Mutter, »die ihr hochreaktives Kleinkind konsequent selbst vor geringsten Stressoren schützte, erschwerte es dem Kind, das angeborene Bedürfnis, sich von Fremden und unvertrauten Ereignissen zurückzuziehen, zu kontrollieren. Die in gleicher Weise betroffenen Mütter, die übliche, altersangemessene Forderungen nach Reinlichkeit und Anpassung stellten, halfen ihren hochreaktiven Kindern, ihre Ängstlichkeit zu bändigen.«71 Anders gesagt, die Umwelt spielt eine Rolle.
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Das andere genetische Paradigma Die Verhaltensgenetik ist nicht das einzige Paradigma auf genetischer Grundlage, das die Psychoanalyse als vorherrschendes Erklärungsmodell der menschlichen Psyche zu entthronen versuchte. Ein Konkurrenzmodell, das in jüngster Zeit starke Beachtung gefunden hat, ist die Evolutionspsychologie. Evolutionspsychologen, die die menschliche Psyche durch die Linse des Darwinismus betrachten, sehen eine Fülle von Anpassungen, die in der Urzeit unserer fernen Vorfahren von der natürlichen Selektion gestaltet wurden. Man könnte meinen, daß die Evolutionspsychologen und die Verhaltensgenetiker Verbündete seien, doch in Wirklichkeit haben die beiden Gruppen grundverschiedene wissenschaftliche Perspektiven und Ziele. Verhaltensgenetiker interessieren sich im allgemeinen nicht für die Rolle, die die natürliche Auslese bei der Formung der menschlichen Psyche spielte, während dies das zentrale Anliegen der Evolutionspsychologen ist. Zudem konzentrieren sich Verhaltensgenetiker auf Merkmale, die Individuen voneinander unterscheiden, während Evolutionspsychologen an den Merkmalen interessiert sind, die allen Menschen gemeinsam sind. Evolutionspsychologen lassen immer wieder durchblicken, daß sie die Verhaltensgenetik für trivial halten, da sie sich ganz auf das Rauschen statt auf das Signal konzentriere, das aus der Symphonie - oder Kakophonie - der Menschheit hervorgehe. Unsere Gemeinsamkeiten seien viel wichtiger als unsere Unterschiede. Die Evolutionspsychologen folgen hierin Darwin. Zu einer Zeit, da viele europäische Geistesgrößen Angehörige nichtweißer Rassen als Untermenschen ansahen, betonte Darwin die Einheit des Homo sapiens. Nach einem Aufenthalt bei den Ureinwohnern Feuerlands an der Südspitze Südamerikas erinnerte er sich daran, daß es ihn »unablässig zutiefst erstaunte, wie ähnlich ihr Geist dem unseren ist; und ebenso er- 233
ging es mir mit einem reinblütigen Neger, mit dem ich einst vertrauten Umgang hatte«72. Doch so wie die moderne Verhaltensgenetik noch immer vom Gespenst der Eugenik verfolgt wird, trägt die Evolutionspsychologie die Bürde des sozialdarwinistischen Erbes, einer politischen Ideologie, die im wesentlichen das Recht des Stärkeren predigte. Als Begründer des Sozialdarwinismus gilt gemeinhin Darwins Zeitgenosse Herbert Spencer, der das Schlagwort vom »Überleben der Tauglichsten« prägte und es zu einem grundlegenden ethischen Prinzip erhob. Spencer prangerte immer wieder Sozialprogramme an, weil sie den Schwachen helfen würden und die Starken daran hinderten, an die Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie zu gelangen. »Den Schwachen bei der Fortpflanzung zu helfen läuft praktisch darauf hinaus, unsere Nachkommen in heimtückischer Weise mit einer Horde von Feinden zu versorgen«, schrieb er in seinem 1874 erschienenen Buch Study of Sociology.73 Selbst der heilige Darwin verwechselte gelegentlich ist mit sollte sein. So schrieb er einmal in einem Brief, der Mensch »muß sich immer wieder in schwerem Ringen bewähren. Andernfalls verfiele er in Trägheit, und die begabteren Menschen wären im Kampf ums Dasein nicht erfolgreicher als die weniger begabten.« Er äußerte seine Sorge darüber, daß Gewerkschaften, »die von vielen als die große Hoffnung der Zukunft angesehen werden, [...] den Konkurrenzkampf ausschalten werden. Darin sehe ich ein schlimmes Übel für den künftigen Fortschritt der Menschheit.«74 Evolutionspsychologen haben sich - überwiegend erfolgreich - von den inhumanen Auswüchsen der Darwinschen Theorie zu distanzieren bemüht. In Why Freud Was Wrong sagte der britische Autor Richard Webster vorher, daß das neue und verbesserte darwinistische Paradigma eines Tages die Psychoanalyse als allgemeine Theorie der menschlichen Psyche ablösen werde. Webster gab zu, daß evolutionsbiologische - 234
Erklärungen der menschlichen Psyche bislang viel zu wünschen übrigließen. Obgleich Darwins Theorie »eine Lösung für das Problem der Spezies und eine Erklärung für die Entstehung der Organformen liefert, sind die zahllosen Versuche, die Theorie auf den menschlichen Geist anzuwenden, keineswegs immer überzeugend. Obgleich die Darwinsche Theorie eine Fülle von Einzelerkenntnissen enthält, vermag sie die Entwicklung der menschlichen Kultur und die Komplexität des menschlichen Geistes noch immer nicht angemessen, das heißt umfassend, zu erklären.«75 Tatsächlich unterscheiden sich die Schwächen der Evolutionspsychologie nicht allzusehr von den Unzulänglichkeiten der Psychoanalyse.
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6. DARWIN, RETTE UNS! Aber dann kommen Zweifel auf: Kann man dem menschlichen Geist trauen, der sich, davon bin ich fest überzeugt, aus einem Geist entwickelt hat, der so gering ist wie der des niedrigsten Tieres, wenn er solche großartigen Schlußfolgerungen zieht? CHARLES DARWIN1
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agsüber beteiligten sich ausgewählte Mitglieder des Stammes an rituellen Darbietungen rhetorischer Gewandtheit, mit denen sie ihren Status erhöhen und so - zumindest was die Männchen anbelangte - ihre Chancen zu sexuellen Interaktionen mehren wollten. Abends versammelten sie sich um große Lagerfeuer und tranken vergorene Säfte, während sie sich angeregt über den neuesten Klatsch und alte Stammesüberlieferungen austauschten. Eine Versammlung von Ureinwohnern in einem tropischen Regenwald ? Weit gefehlt - es war die Jahrestagung der Human Behavior and Evolution Society (HBES), deren Mitglieder sich auf dem an der Pazifikküste gelegenen Campus der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, einer Hochburg der Evolutionsbiologie, eingefunden hatten.2 Mehrere hundert Teilnehmer bemühten sich, Charles Darwins Prophezeiung zu erfüllen (die zusammen mit dem Foto einer barbusigen Buschschönheit aus Amazonien auf der Titelseite des Programmhefts abgedruckt war), daß nämlich die Psychologie in einer fernen Zukunft auf eine neue Grundlage gestellt werde - auf Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Selektion.3 Darwin hatte, wie gewöhnlich, recht mit der Behauptung, daß die darwinistische Psychologie in ferner Zukunft entstehen werde. Doch in den neunziger Jahren begann die Evolutionstheorie, wie ein plötzlich virulent gewordenes Virus, die Sozialwissenschaften zu infizieren. Seit der Gründung der HBES im Jahr 1988 hat sie eine wachsende Zahl von Psycho- 236
logen, Anthropologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Historikern und anderen Wissenschaftlern angelockt, die sich mit der Erforschung der menschlichen Angelegenheiten (im weitesten Sinne des Wortes) befassen. Verlage haben eine Unmenge von Büchern von Wissenschaftlern und Journalisten auf den Markt gebracht, die das »neue« darwinistische Paradigma vorstellten, unter anderem Diesseits von Gut und Böse des Journalisten Robert Wright, Die Evolution des Begehrens des Psychologen David Buss, The Red Queen des Journalisten Matt Ridley und Wie das Denken im Kopf entsteht des Psycholinguisten Steven Pinker. Die Tagung der HBES in Santa Barbara hat auf alle Fälle eines deutlich gezeigt: die unglaublich vielseitige Verwendbarkeit dessen, was der Philosoph Daniel Dennett einmal bewundernd »Darwins gefährliche Idee« genannt hat. Das Spektrum der Themen reichte von der Evolution der christlichen Symbolik bis zum Wiederaufleben des Partnertauschs in der amerikanischen Mittelschicht. Einige Vorträge hatten eine amüsant selbstreferentielle Dimension. Steven Pinker begann seinen Vortrag über die genetische Verankerung der Sprachfähigkeit mit der Bemerkung, es sei doch sehr kurios, daß wir uns hier versammelt hätten, um ihm zuzuhören, wie er unartikulierte Laute ausstoße. Der Psychiater Randolph Nesse von der Universität Michigan behauptete, die Evolutionspsychologie könne uns helfen, zu verstehen, wie wir verstehen. Geoffrey Miller, ein junger langhaariger Psychologe, berichtete, daß männliche Künstler, Musiker und andere Kulturschaffende oftmals größere sexuelle Kontaktchancen hätten; unterdessen warfen mehrere junge Damen in der vordersten Reihe Miller verzückte Blicke zu. Sexualität war das beherrschende Thema innerhalb und außerhalb der Hörsäle. Bei einer abendlichen Strandparty erörterte eine Gruppe dicht beisammenstehender Wissenschaftler mit Biergläsern in der Hand die Frage, ob zärtliche, romanti- 237
sche Liebe bis zu einem gewissen Grad ein evolutionär entstandenes, angeborenes Phänomen oder eine moderne, rein kulturelle Erfindung sei. Ein Biologe meinte, man könne diese Streitfrage möglicherweise dadurch lösen, daß man die sexuellen Bräuche von Jägern und Sammlern beobachte. Zeigten Männer vor, während oder nach dem Geschlechtsakt irgendeine Form von Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit gegenüber ihren Sexualpartnerinnen, oder sei es einfach »rein-raus-ab-die-Maus«? Jemand schlug vor, diese Frage einem Anthropologen zu stellen, der sich bei Jägern und Sammlern in Ostafrika aufgehalten habe. Nachdem der Anthropologe herbeigeholt worden war, teilte er seinen Zuhörern mit, die Angehörigen des Stammes, bei dem er gelebt habe, hätten im allgemeinen flüchtige, »militaristische« Sexualkontakte gehabt. Er wurde gefragt, was geschehe, wenn ein Mann im Dorf eine differenziertere Sexualpraxis entwickelte, bei der er stärker auf die Bedürfnisse der weiblichen Partnerinnen einginge. Erlangte er einen Selektionsvorteil? Der Anthropologe grinste schelmisch. Anthropologen, die längere Zeit unter Jägern und Sammlern lebten, erfreuten sich bei den Damen des Stammes wachsender Beliebtheit. Die Tagung erweckte manchmal weniger den Eindruck einer wissenschaftlichen Konferenz und mehr den einer politischen Wahlkampfveranstaltung. Die einfachste Methode, die Teilnehmer in Begeisterung zu versetzen, bestand darin, jene verirrten Seelen zu geißeln, die noch immer behaupteten, die menschliche Persönlichkeit und die Gesellschaft würden in erster Linie von der Kultur (beziehungsweise der Umwelt oder den Erfahrungen) geprägt. Als der Anthropologe Lee Cronk von der Texas-A&M-Universität höhnte, der kulturelle Determinismus sei eine »Religion« und keine rationale Einstellung, brachen seine Zuhörer in schallendes Gelächter aus.4 Beim Anblick der Teilnehmer der HBES-Tagung, wie sie - 238
ihren Gruppenzusammenhalt stärkten, sich stritten, sich herausputzten, miteinander flirteten und sich gegenseitig rhetorische Streicheleinheiten verpaßten, mußte ich ihrer Grundannahme beipflichten: In der Tat, wir alle sind Tiere, Nachfahren einer weit zurückreichenden Ahnenreihe von Organismen, die dem Urschlamm entstiegen. Unser stark gewundenes Großhirn wurde nicht in der im Vergleich zur gesamten Erdgeschichte sehr kurzen Zeit der Kulturentstehung geformt, sondern während der mehreren zehntausend, ja hunderttausend Jahre zuvor. Wir sind »Steinzeitmenschen auf der Überholspur«, wie es ein Redner formulierte.5 Doch selbst wenn man sich mit dieser Erkenntnis abgefunden hat, bleibt die Frage, was uns die Darwinsche Theorie über unseren modernen, komplexen und so tief von der Kultur durchdrungenen Geist sagen kann. Vieles von dem, was diese Neodarwinisten äußerten, schien lediglich Spekulationen oder Binsenwahrheiten zu sein, die mit wissenschaftlichem Fachjargon drapiert waren. Nehmen wir die Arbeiten von Devendra Singh, einem Psychologen an der Universität von Texas in Austin und führenden Forscher auf dem prosperierenden Gebiet der »darwinistischen Ästhetik«; diese versucht, die evolutionäre Logik, die unserem Sinn für das Schöne zugrunde liegt, aufzuklären. Singh reist seit Jahren durch die Welt und, zeigt Männern »aufreizende« Bilder von Frauen - einschließlich Karikaturen und Fotos von bikinitragenden Modells -, um herauszufinden, ob Männer bestimmte universelle und somit angeborene sexuelle Präferenzen aufweisen. Zu Singhs Probanden gehörten auch indische Hilfsarbeiter, die seit ihrer frühen Kindheit in reinen Männerlagern gelebt und angeblich noch nie eine echte Frau oder auch nur ein Bild von einer Frau gesehen hatten. Singh fand heraus, daß die Präferenzen der Männer zwar hinsichtlich Brustgröße, Gesichts- und sonstigen Körpermerkmalen zwischen und sogar innerhalb von Kulturen schwanken, alle Männer aber Frauen mit einem Taille-zu-Hüfte- 239
Quotienten von 0,7 sexuell anziehend finden (man berechnet den Quotienten, indem man den Umfang der Taille durch den Umfang der Hüfte dividiert).6 Die natürliche Auslese begünstige diese Präferenz, behauptete Singh in einem Vortrag auf der Tagung der HBES, weil ein Taille-zu-Hüfte-Quotient von 0,7 ausgezeichnet mit der Fruchtbarkeit beziehungsweise dem »Vermehrungspotential« korreliere. In Alltagssprache übersetzt, läuft Singhs Befund jedoch auf eine Binsenwahrheit hinaus. Männer wollen Sex mit jungen, gesunden Frauen, die weder rappeldürr noch fett sind, noch von keinem anderen Mann geschwängert wurden und deren Hüften breit genug sind, um ein Kind zu gebären. Brauchen wir wirklich die »Evolutionspsychologie«, um uns dies zu sagen? Aber selbstverständlich! - so die entschiedene Meinung der Psychologin Leda Cosmides und ihres Gatten, des Anthropologen John Tooby.7 Cosmides und Tooby, die 1994 das Zentrum für Evolutionspsychologie an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara gründeten, sind zwei führende Vorkämpfer der neodarwinistischen Sozialwissenschaften. Die beiden sagten mir, die meisten Sozialwissenschaftler glaubten noch immer, der menschliche Schönheitsbegriff sei kulturell determiniert; die darwinistische Ästhetik versuche als einzige unseren Sinn für Schönheit auf seine biologischen Wurzeln zurückzuführen. »Der Taille-zu-Hüfte-Quotient war ein zuverlässiger Indikator, der im Verlauf der Evolutionsgeschichte bis zu einem gewissen Grad die weibliche Fruchtbarkeit vorhersagte«, meinte Tooby. »Dies hatte noch niemand kulturvergleichend untersucht.« Nach Ansicht von Cosmides und Tooby könne die Darwinsche Theorie ein dringend benötigtes Rahmenmodell für die Psychologie, die Anthropologie und andere Sozialwissenschaften abgeben, die sich heute in einem Zustand der Orientierungslosigkeit befänden. In der Einleitung zu dem Buch The Adapted Mind, einer Sammlung von Aufsätzen, die Cosmides - 240
und Tooby zusammen mit Jerome Barkow von der DalhousieUniversität herausgaben, schrieben sie: »Nach über einhundert Jahren fehlt es den Sozialwissenschaften noch immer an einem klaren Ordnungsmodell: Es gibt eine Fülle halbverdauter Beobachtungen, eine beträchtliche Menge empirischer Verallgemeinerungen und ein widersprüchliches Sammelsurium unbegründeter Teiltheorien, die in einem Gewirr unvereinbarer Terminologien formuliert sind.«8 Allein die Evolutionstheorie, so beteuerten sie, könne die Sozialwissenschaften aus diesem Chaos herausführen. Cosmides und Tooby prägten für ihren Ansatz den Begriff Evolutionspsychologie. Eines ihrer grundlegenden Dogmen lautet, daß der Geist aus zahlreichen »Modulen« bestehe, die, wie das Sprachvermögen, eine genetische Grundlage hätten. Diese Module seien von der natürlichen Auslese für die Lösung der Probleme passend ausgebildet worden, die unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler waren, bewältigen mußten: die Suche nach Nahrung und Unterkunft, das Finden eines Geschlechtspartners, das Aufziehen von Kindern und der Umgang mit Rivalen. Der Geist sei keine computerähnliche Allzweckmaschine, so Cosmides und Tooby, sondern ein Schweizer Armeemesser, das mit verschiedenen Instrumenten ausgestattet sei, die für verschiedene Funktionen maßgeschneidert seien. Das Geschlecht sei die entscheidende Ausnahme von der evolutionspsychologischen Regel, daß alle Menschen mit weitgehend derselben genetischen Ausstattung geboren würden. Die natürliche Auslese habe nach Ansicht von Cosmides und Tooby das Gehirn von Männern und Frauen aufgrund ihrer unterschiedlichen reproduktiven Rollen auf sehr unterschiedliche Weise gestaltet. Da Männer im Prinzip eine praktisch unbegrenzte Zahl von Kindern zeugen könnten, neigten sie viel stärker zu sexueller Promiskuität als Frauen, die, weil sie höchstens ein Kind pro Jahr zur Welt bringen können, bei der Auswahl ihres Geschlechtspartners wählerischer seien. Da Männer - 241
niemals sicher sein könnten, daß sie der Vater des Kindes seien, wird ihre Eifersucht durch Befürchtungen, ihre Geschlechtspartnerin könnte ihnen sexuell untreu sein, angestachelt; Frauen dagegen bedrücke der Gedanke, sie könnten die emotionale Bindung eines Geschlechtspartners und damit seine Ressourcen verlieren, sehr viel stärker. Bei der Auswahl einer Sexualpartnerin legten Männer besonderen Wert auf Jugendlichkeit, Taille-zu-Hüfte-Quotient und andere körperliche Merkmale, die mit Fruchtbarkeit korrelierten. Frauen dagegen komme es weniger auf die körperlichen Merkmale möglicher Geschlechtspartner an als vielmehr auf ihre »Ressourcen« - ihre Fähigkeit, für eine Familie zu sorgen. Wie formulierte es doch einer der Gelehrten auf der Tagung der HBES: Jungs mögen hübsche Mädchen, und Mädchen mögen Jungs mit viel Geld. Als ich Cosmides und Tooby, die seit 1979 verheiratet sind, zum ersten Mal begegnete, war ich verblüfft über dieses ungleiche Gespann. Cosmides, eine kleinwüchsige Frau mit langem schwarzem Haar, die am liebsten Miniröcke und Cowboystiefel trug, sah so aus, als wollte sie sich in einer Country und Western-Bar die Nacht um die Ohren schlagen. Ihr vierschrötiger Gatte dagegen wirkte wie der typische Intellektuelle: Drahtgestellbrille, schlichtes Oxfordhemd und Khakihosen. Doch was die intellektuelle Energie und die Debattierlust betraf, waren sich Cosmides und Tooby unglaublich ähnlich. Sie gehörten zu den Mitorganisatoren der HBES-Tagung in Santa Barbara und waren dort nachgerade allgegenwärtig. Sie hielten nicht nur Vorträge, sondern kündigten auch Redner an und meldeten sich unverhofft aus dem Publikum zu Wort, um Fragen zu stellen und selbst kurze Statements zu geben. Beide sprechen außerordentlich schnell und noch schneller, wenn der andere zugegen ist. Während eines gemeinsamen Interviews vor der HBES-Tagung unterbrachen, kommentierten und widersprachen sie sich gegenseitig in einem fort. Als ich nach der Beziehung zwischen der Evolutionspsy- 242
chologie und der Verhaltensgenetik fragte, sagte Cosmides: »Die Evolutionspsychologie hat sehr wenig mit der Verhaltensgenetik zu tun. Es gibt ...« »Es gibt einige Dinge«, warf Tooby dazwischen. »Da ist zum einen die Tatsache, daß die [Human Behavior and Evolution Society] extrem tolerant ist, so daß ihr beispielsweise auch Literatur- und Wirtschaftswissenschaftler angehören, und außerdem hat sie ein sehr breites Themenspektrum. Daher gehören der Gesellschaft auch einige Verhaltensgenetiker an ...« »Aber John, John«, sagte Cosmides. Von den hundertzwanzig Referaten, die auf der Konferenz gehalten worden seien, hätten sich nur zwei mit Verhaltensgenetik befaßt. »Ich hab's begriffen«, antwortete Tooby unwirsch. »Die Verhaltensgenetiker stellen nur einen sehr geringen Prozentsatz der Mitglieder der HBES, aber immerhin sind sie vertreten.« Ungeachtet ihrer Meinungsverschiedenheiten glauben Cosmides und Tooby inbrünstig an die Zukunft der Evolutionspsychologie. Dies solle nicht heißen, betonte Tooby, daß einem als Evolutionspsychologen die wissenschaftliche Karriere leichtgemacht werde. Viele Intellektuelle hielten jede Diskussion über die genetische Grundlage der menschlichen Natur noch immer für ein »gewissermaßen unmoralisches Unterfangen. Aber damit muß man sich abfinden, wenn man auf diesem Gebiet arbeitet. Es macht alles schwieriger. Es ist schwerer, eine Anstellung zu bekommen. Es ist schwerer, Geld auf zutreiben. Doch andererseits wiegt die intellektuelle Horizonterweiterung durch diese Sichtweise allemal die Unannehmlichkeiten auf, die man dafür in Kauf nehmen muß.« Cosmides wies darauf hin, daß Kritiker der Evolutionspsychologie 0 oftmals die Verbrechen übersähen, die von politischen Regimen begangen würden, die die menschliche Natur als beliebig formbar ansähen. »Sie sagen nicht: ›Bei Gott, ich kann mir den Geist nicht als einen äquipotentialen Universal- 243
rechner vorstellen, weil Stalin und Mao und Pol Pot im Namen einer Weltanschauung, die auf dieser Sicht des Geistes basiert, fünfzig Millionen Menschen umgebracht haben.‹ Es ist heuchlerisch.« »Wir stehen am Beginn einer neuen Wissenschaft«, sagte Tooby. »Es ist so, als würde man Nuggets schürfen - diese vielen wichtigen Geistesblitze. Aber wir wissen auch, daß dort draußen ein riesiges unbesiedeltes Gebiet liegt. Wir nehmen seine Umrisse verschwommen wahr, aber es wird lange dauern, bis jeder mit dem Gedanken losstürmen möchte: ›Mann, mit diesem einen neuen Blickpunkt können wir jetzt jede Frage beantworten und politische Richtlinien mit vollkommener Gewißheit festlegen.‹« »Und nicht nur das«, warf Cosmides ein, »doch sozialpolitische Richtlinien basieren sehr viel stärker auf dem bestimmenden Wertesystem als jede wissenschaftliche Erkenntnis.« Die Evolutionspsychologie behaupte keineswegs, daß verschiedene menschliche Merkmale nicht verändert werden könnten, fügte Cosmides hinzu. »Ich bin zum Beispiel kurzsichtig, und dies ist teilweise auf eine genetische Veranlagung zurückzuführen. Aber ich sehe bestens. Ich muß lediglich eine Brille aufsetzen.« Indem uns die Evolutionspsychologie dabei helfe, Kindesmißbrauch, Mißbrauch in der Ehe, Krieg und andere unerwünschte Verhaltensweisen zu verstehen, so Cosmides, könne sie ihre Häufigkeit verringern helfen. »Ich kenne niemanden, der die Evolutionspsychologie wirklich versteht, sie richtig kennt und etwas Bedrohliches an ihr findet«, fuhr Cosmides fort. »Einige der Evolutionspsychologinnen, die ich kenne, gehören zu den radikalsten Feministinnen, die ich kenne. Und trotzdem sind sie der Meinung, daß ihnen die Evolutionspsychologie erhellende Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen Mann und Frau geben kann.« »Diese Hindernisse, die intelligenten modernen evolutionstheoretischen Ansätzen zur Erforschung des Geistes in - 244
den Weg gelegt werden, sind langfristig völlig kontraproduktiv«, pflichtete Tooby bei. »Sie werden das menschliche Leid verstärken.« Es war klar, was Tooby damit sagen wollte: Da uns die Ablehnung der Evolutionspsychologie schade, würde uns ihre Anerkennung möglicherweise retten.
Steven Pinkers Umgang mit Wörtern Die vielleicht bedeutendste Leistung von Cosmides und Tooby bestand darin, daß sie Steven Pinker für die darwinistische Gemeinschaft anwarben. Pinker, Direktor des Zentrums für kognitive Neurowissenschaft am Massachusetts Institute of Technology, bringt für seine Rolle als Befürworter der darwinistischen Psychologie zwei besondere Stärken mit. Seine Ausbildung in Kognitionswissenschaft, die den Geist als ein Bündel informationsverarbeitender Maschinen betrachtet, gibt seinen evolutionstheoretischen Erklärungen Stringenz oder zumindest den Anschein davon. Zudem versteht er sich hervorragend auf die allgemeinverständliche Aufbereitung seiner Themen, so daß seine Werke sowohl bei Wissenschaftlern als auch bei Laien großen Anklang finden. Ich lernte Pinker auf der HBES-Tagung in Santa Barbara kennen; er resümierte dort die Kernthesen seines 1996 erschienenen Bestsellers Der Sprachinstinkt.10 Die Sprache, behauptete Pinker, sei höchstwahrscheinlich eine evolutionsgeschichtliche Anpassungsleistung, und das heiße, sie habe unseren Vorfahren, die Jäger und Sammler gewesen seien, Vorteile verschafft und ihnen erlaubt, Informationen über Werkzeugherstellung, Jagd und andere erlernte Fähigkeiten auszutauschen. Außerdem hätten die Menschen mit der höchsten Sprachfertigkeit Geschlechtspartner anlocken, Bündnisse schmieden und sich weitere Vorteile verschaffen können, die sich auch in zahlreicheren Nachkommen niedergeschlagen - 245
hätten. Pinker war kühl, bestimmt und geistreich. (Um die Mehrdeutigkeit der Sprache zu veranschaulichen, führte er den Satz an: »Tonight, Dr. Ruth discusses sex with Dick Cavett.« »Heute abend spricht Dr. Ruth mit Dick Cavett über Sex.« oder: »Heute abend spricht Dr. Ruth darüber, mit Dick Cavett Sex zu haben.«) Zu seinem Vortrag fanden sich so viele Hörer ein, daß sie dichtgedrängt stehen mußten. Es war vermutlich nicht von Nachteil, daß Pinker einem Rockstar mit zartem, fast engelhaftem Gesicht glich, das von einer dürerartigen Lockenpracht umsäumt wurde. Aber Pinker kann auch harte Saiten aufziehen. Später am selben Tag knüpfte er sich niemand geringeren als Richard Dawkins von der Universität Oxford vor, der den Begriff des »egoistischen Gens« geprägt hatte und das »Alpha-Männchen« des Neodarwinismus ist. In einer Rede nach dem Abendessen verglich Dawkins' den visuellen Kortex mit einem Rechner, der virtuelle Realitäten entwirft, indem er aus begrenzten Informationen »Simulationen« generiert. Pinker, der sich in seiner Dissertation an der Harvard-Universität mit dem Sehvermögen befaßt hatte, sprang von seinem Stuhl in der vordersten Reihe auf, um Dawkins' Vergleich zu kritisieren: Ein Rechner, der eine virtuelle Realität erzeuge, wandle lediglich dreidimensionale Informationen in ein zweidimensionales Bild um, der visuelle Kortex dagegen tue genau das Gegenteil, was eine ungemein viel schwierigere Aufgabe sei. Dawkins, einer der schärfsten Polemiker unter den heutigen Naturwissenschaftlern, mußte klein beigeben. Pinker war mehr oder weniger ein herkömmlicher Kognitionswissenschaftler, der sich auf die Sprache spezialisiert hatte, als er 1988 auf die Arbeiten von Cosmides und Tooby stieß. »Ich war förmlich überwältigt«, erinnerte sich Pinker, als ich ihn in seiner Wohnung in Cambridge interviewte. »Das Niveau der Analyse und Erklärung beeindruckte mich sehr.« Der Sprachinstinkt war das erste große Produkt von Pinkers - 246
Bekehrung zum Darwinismus. Daraufhin beschloß er ein Buch zu schreiben, das nicht nur die Sprache, sondern den menschlichen Geist als Ganzes zum Thema haben sollte. Cosmides und Tooby arrangierten für ihn einen einjährigen Aufenthalt als Gastwissenschaftler an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. Dort schrieb Pinker Wie das Denken im Kopf entsteht, das 1998 erschien. Das Buch war nicht besonders originell; in seinem Vorwort räumte Pinker ein, daß er sich weitgehend auf Erkenntnisse anderer stütze. Dennoch repräsentierte Wie das Denken im Kopf entsteht den neuesten Stand der darwinistischen Rhetorik. Pinker beteuerte, wir könnten den Geist nur verstehen, wenn wir herausfänden, worin sein ursprünglicher Zweck bestehe. Pinker beschrieb dieses Konzept der »analytischen Technik« (reverse engineering) folgendermaßen: »Beim Stöbern im Antiquitätengeschäft finden wir vielleicht eine Konstruktion, die uns undurchschaubar erscheint, bis wir wissen, wozu sie gut ist. Sobald wir erkennen, daß es sich um einen Kirschenentsteiner handelt, verstehen wir plötzlich, daß der Metallring die Halterung für die Kirsche ist und daß der Kolben ein x-förmiges Messer durch die Frucht treibt, so daß der Kern auf der anderen Seite herauskommt.«11 Sobald wir einmal eingesehen hätten, daß unser Geist - wie unsere Augen, Hände und andere Merkmale unseres Körpers - darauf angelegt sei, die Gene unserer Vorfahren weiterzugeben, so Pinker, könnten wir ähnliche Erkenntnisse über unsere Gedanken, Emotionen und Motivationen gewinnen. Pinker spickte sein Buch mit amüsanten wissenschaftlichen Fakten - so sei etwa die Größe der Hoden bei verschiedenen Primatenarten proportional zur Promiskuität der Weibchen12 – und mit Beispielen aus der Massenkultur. Als er auf die Vergänglichkeit des Glücks zu sprechen kam, bezog er sich auf ein Zitat des Tennisstars Jimmy Connors: »Ich hasse es mehr zu verlieren, als ich es liebe zu gewinnen.«13 Und als Beispiel - 247
für die tiefe Verwurzelung der männlichen Aggressionsbereitschaft führte er die Tatsache an, daß selbst der Dalai Lama, ein erklärter Pazifist, gern Bücher über Kriege lese.14 Um die unterschiedlichen sexuellen Präferenzen von Männern und Frauen zu verdeutlichen, zitierte er die Bemerkung des Besitzers einer Partnervermittlung: »Die Frauen lesen unsere Kurzbiographien wirklich durch; die Männer sehen nur auf die Fotos.«15 Doch manchmal schien sich Pinker mit allzu oberflächlicher Rhetorik zu begnügen. Zu Beginn seines Buches kritisierte er: »An schlechten ›entwicklungsgeschichtlichen‹ Erklärungen besteht kein Mangel. Warum fragen Männer nicht gern nach dem Weg? Weil unsere männlichen Vorfahren unter Umständen getötet wurden, wenn sie sich einem Fremden näherten. Welchen Zweck hat Musik? Sie führt die Gemeinschaft zusammen.«16 Diese nichtssagenden Erklärungen ermöglichten es Kritikern, die Evolutionsbiologie als eine »leere Übung im nachträglichen Erfinden von Geschichten« zu diskreditieren. Pinker meinte jedoch, die Evolutionspsychologie könne, wenn sie richtig betrieben werde, Theorien hervorbringen, die genauso bündig seien wie alle anderen wissenschaftlichen Theorien. Als Pinker das Seh-, das Erinnerungs- und das Sprachvermögen sowie andere universelle menschliche Attribute analysierte, erwies sich seine Methode der »analytischen Technik« in der Tat als recht überzeugend. Einige seiner Hypothesen wirkten jedoch leider trivial. Gegen Ende von Wie das Denken im Kopf entsteht, in einem Kapitel, das den Titel »Der Sinn der Lebens« trägt, »erklärte« Pinker praktisch alle Aspekte der modernen Kultur einschließlich Musik (»ein exquisites Konfekt, das komponiert wurde, um die sensitiven Punkte von mindestens sechs unserer geistigen Kapazitäten zu reizen«17), Religion (das »letzte Mittel, zu dem man Zuflucht nimmt, wenn der Einsatz hoch ist und die üblichen Techniken zum Erringen eines Erfolgs erschöpft sind«18) und Literatur (»Fiktive - 248
Geschichten bieten uns einen mentalen Katalog der tödlichen Probleme, denen wir eines Tages möglicherweise gegenüberstehen, sowie die Ergebnisse von Strategien, die wir dann anwenden könnten. Welche Möglichkeiten hätte ich, wenn ich befürchten müßte, daß mein Onkel meinen Vater umgebracht, seine Stellung eingenommen und meine Mutter geheiratet hat?«19 Anders gesagt, Hamlet sei eigentlich nichts anderes als ein Leitfaden zur Selbsterhaltung). Pinkers Neigung zu vorschnellen Spekulationen zeigte sich auch während unseres Interviews. Er hatte gerade einen Artikel gelesen über Mädchen im Teenageralter - überwiegend aus wohlhabenden Familien -, die sich mit Messern, Rasiermessern, Fingernägeln oder anderen scharfen Gegenständen selbst verstümmelt hatten.20 Dieses scheinbar selbstzerstörerische, fehlangepaßte Verhalten, meinte Pinker, könne eine »paradoxe Taktik« darstellen. Ein Mädchen, das sich seine Unterarme zerschneide, »gleicht einem Terroristen, der eine Geisel nimmt, an der dem erpreßten Dritten viel liegt«, führte er weiter aus, »außer daß es selbst in diesem Fall die Geisel ist«. Das Mädchen dürfe sich seiner Motivation nicht bewußt sein, so daß es nicht durch gutes Zureden oder durch Bestrafung davon abgebracht werden könne. Das Mädchen zwinge seine Eltern dazu, mehr Zeit und mehr Ressourcen auf es zu verwenden, was seine späteren Fortpflanzungschancen verbessere. Als Pinker mir diese Theorie erstmals mitteilte, war ich beeindruckt. Erst später erkannte ich, daß sie lediglich eine andere Formulierung für das war, was die Kolumnistin Ann Landers vielleicht folgendermaßen gesagt hätte: Einige Kinder tun alles, um beachtet zu werden.
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Was Noam Chomsky wirklich denkt Steven Pinkers Karriere - die gesamte Evolutionspsychologie wird von einer ziemlich starken Ironie überschattet. Pinker im besonderen und die Evolutionspsychologen im allgemeinen stehen tief in der Schuld des Linguisten Noam Chomsky. Chomsky, der wie Pinker am MIT lehrt, entwarf die genetische, modulare Theorie des Geistes, die von den Evolutionspsychologen weiterentwickelt wurde. In den fünfziger Jahren begann Chomsky Einwände gegen die induktive Theorie des Lernens (der zufolge der Geist zunächst ein »unbeschriebenes Blatt« ist) vorzubringen, die John Locke im siebzehnten Jahrhundert begründet hatte und die von B. F. Skinner und anderen Behavioristen aufgegriffen worden war. Nach Meinung von Chomsky ist die Sprache - wohl das Merkmal, das uns am stärksten von anderen Säugetieren unterscheidet - eine teilweise angeborene und keine völlig erlernte Fähigkeit. Anders als Lesen und Schreiben, so Chomsky, sei die gesprochene Sprache allen bekannten Kulturen gemeinsam. Darüber hinaus wiesen alle Sprachen gemeinsame Strukturmerkmale auf, wie etwa Verben und Substantive, die Chomsky zusammenfassend als »Tiefengrammatik« bezeichnete. Chomsky stützte sich dabei im wesentlichen auf das »Reizmangelargument«: Alle körperlich gesunden Kinder lernen fließend zu sprechen, selbst wenn ihnen nur minimale verbale Stimuli von außen dargeboten wurden. Die Evolutionspsychologen lehnen sich stark an dieses Argument an (wenn sie auch nicht den Terminus verwenden), wenn sie behaupten, viele unserer Eigentümlichkeiten und Fähigkeiten seien zumindest teilweise angeboren. Dennoch hat Chomsky darwinistische Erklärungen der Sprache und anderer Aspekte des Geistes scharf kritisiert. Evolutionspsychologen wie Tooby und Cosmides meinen, Chomskys Standpunkt sei - wie der der beiden anderen berühmten - 250
Kritiker der darwinistischen Sozialwissenschaft, der an Harvard lehrenden Biologen Stephen Jay Gould und Richard Lewontin - durch seine linke politische Einstellung motiviert. Doch als ich Chomsky auf diesen Punkt ansprach, beteuerte er, seine Einwände gegen den Neodarwinismus seien rein wissenschaftlicher Natur.21 Er räumte ein, daß die natürliche Auslese in der Evolution der Sprache und anderer menschlicher Attribute vermutlich eine Rolle spiele. Doch angesichts der gewaltigen Diskrepanz zwischen den kognitiven Fähigkeiten des Menschen und denen der Tiere könne diese Wissenschaft seines Erachtens kaum etwas darüber aussagen, wie oder weshalb diese Fähigkeiten entstanden seien. Die Darwinsche Theorie besage im Kern, daß es »eine naturalistische Erklärung für sämtliche Phänomene gibt«, führte Chomsky weiter aus. Jeder, der nicht an einen »göttlichen Eingriff« glaube, würde das unterschreiben. Die Schwierigkeit liege darin, herauszufinden, was die richtige naturalistische Erklärung sei. Die natürliche Selektion sei »ein Faktor, der die Verteilung der Merkmale und Eigenschaften innerhalb dieser Randbedingungen festlegt - ein Faktor, nicht der Faktor.« Darwin selbst habe betont, daß während der Evolution auch nichtadaptive Veränderungen vorkämen. Die Biologen könnten Fortschritte bei der Rekonstruktion des Ursprungs menschlicher Merkmale machen, die den Merkmalen der Tiere ähnelten. So hätten etwa Richard Dawkins und andere Theoretiker plausible Computermodelle entworfen, die zeigten, wie »sich eine flache lichtempfindliche Oberfläche in einer nicht allzu großen Anzahl von Generationen in ein Auge verwandeln kann. Aber das hängt damit zusammen, daß wir etwas über die physikalischen und physiologischen Grundlagen wissen.« Das gleiche gelte für den menschlichen Arm. »Man findet Belege für Zwischenstufen. Man weiß etwas über die physikalischen und physiologischen Hintergründe. Man kennt homologe Strukturen bei anderen Orga- 251
nismen.« Im Fall der Sprache und anderer spezifisch menschlicher Attribute, so Chomsky, »haben wir nichts von alldem«. Chomsky wies darauf hin, daß wir ein Wort nach dem ändern äußerten, uns also in einer linearen Weise artikulierten. Wir hätten jedoch vermutlich auch die Fähigkeit erwerben können, eine Lautfolge durch den Mund und eine andere durch die Nase auszustoßen. Die Fähigkeit, zwei getrennte Lautfolgen durch Mund und Nase auszustoßen, hätte uns eine »sehr viel komplexere und reichhaltigere Kommunikation ermöglicht. Wir wären nicht durch die zeitliche Linearität gebunden.« Wenn die Menschen eine solche Fähigkeit entwickelt hätten, so Chomsky, hätten die Evolutionspsychologen sie zweifellos als ein Produkt der natürlichen Selektion »erklärt«. In Wahrheit werde die Sprache durch die Darwinsche Theorie weder verboten noch gefordert, und diese lege auch keine Randbedingungen für die Ausgestaltung der Sprachfähigkeit fest. »Sie sagt nichts vorher!«, versetzte Chomsky. Chomsky nannte die Evolutionspsychologie eine »Philosophie des Geistes, die mit einer Prise Wissenschaft gewürzt ist«. Die Schwäche der Evolutionstheorie liege nicht darin, daß sie zuwenig, sondern darin, daß sie zuviel erklären könne. »Die Tatsache, daß Menschen kooperieren, wird mit dem Hinweis erklärt, dies trage zur Erhaltung ihrer Gene bei. Die Beobachtung, daß Menschen miteinander kämpfen, wird damit erklärt, daß der eine seine Gene auf Kosten des anderen weitergeben will. In diese Logik kann man praktisch alles pressen.«
Ist Altruismus ein Instinkt? Dasselbe Problem, merkte Chomsky an, betreffe auch den bedeutendsten Vorgänger der Evolutionspsychologie, die Soziobiologie. Viele Evolutionspsychologen distanzieren sich von der Soziobiologie, die in den siebziger Jahren von dem an der - 252
Harvard-Universität lehrenden Biologen Edward Wilson populär gemacht wurde. In Sociobiology und Biologie als Schicksal sowie anderen Werken verfocht Wilson die These, das menschliche Sozialverhalten unterliege, wenn auch nur näherungsweise, denselben Evolutionsprinzipien, die auch das Verhalten von Ameisen und Pavianen steuerten. Stephen Jay Gould und Richard Lewontin etwa warfen Wilson und anderen Soziobiologen vor, sie versuchten, den Sozialdarwinismus wiederzubeleben, jene Ideologie aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Rassismus, Sexismus und Imperialismus dadurch zu rechtfertigen suchte, daß sie das Überleben der Tauglichsten zu einem moralischen Prinzip erhob. Obgleich die Angriffe auf Wilson oft unfair waren, zeitigten sie Wirkung. Selbst Wissenschaftler, die der Soziobiologie wohlwollend gegenüberstanden, mieden den Ausdruck in Zukunft. Als eine Gruppe von Darwinisten 1988 die Human Behavior and Evolution Society gründete, verzichteten sie bewußt darauf, den Ausdruck Soziobiologie in den Namen der Gesellschaft aufzunehmen. Die Verantwortlichen der HBES übernahmen eine bereits existierende Vierteljahresschrift, Ethology and Sociobiology, die 1981 gegründet worden war, und machten sie zu ihrem Aushängeschild, doch 1996 benannten sie sie in Evolution and Human Behavior um. Ironischerweise bat die HBES im selben Jahr Edward O. Wilson, auf ihrer Jahrestagung die Grundsatzrede zu halten. Wilson ergriff die Gelegenheit, um die Führer der HBES für ihren »mangelnden Mut« zu tadeln. Indem sie den Begriff Soziobiologie verworfen hätten, monierte Wilson, hätten sie stillschweigend der Beschuldigung zugestimmt, sie sei eine »rassistische, deterministische« Ideologie. Einige führende Mitglieder der HBES räumten ein, sie hätten gehofft, auf diese Weise die negativen politischen Konnotationen der Soziobiologie zu umgehen. Die Bezeichnung »war für viele ein rotes Tuch und hat uns viele Unannehmlichkeiten bereitet«, sagte - 253
ein Herausgeber der Zeitschrift Evolution and Human Behavior einem Reporter von Science.22 Einige Evolutionspsychologen beteuerten beharrlich, daß sich ihr Ansatz zur Erforschung des menschlichen Geistes in wesentlichen Aspekten von der Soziobiologie unterscheide. Laut Cosmides und Tooby besteht ein Unterschied darin, daß die Evolutionspsychologen davon ausgingen, der menschliche Geist sei nicht an das moderne Leben, sondern an die Umstände angepaßt, unter denen sich seine Evolution vollzogen habe, »insbesondere an die Lebensräume von Jägern und Sammlern«.23 Einige Soziobiologen hätten ebenfalls diese Hypothese geäußert, doch andere hätten angenommen, daß »Verhalten überall adaptiv ist, auch in modernen Umwelten«, so Cosmides und Tooby. Derartige Abgrenzungen erzürnen altgediente Soziobiologen wie Richard Alexander von der Universität von Michigan. Er und andere Soziobiologen hätten niemals behauptet, daß Menschen danach strebten, in jeder Umwelt ihre Fortpflanzungschancen zu maximieren. »Ich habe nichts dagegen, daß sie sich Evolutionspsychologen nennen«, sagte Alexander über Cosmides und Tooby. »Was mich auf die Palme bringt, ist, wenn man erst einen Popanz aufbauen muß, um dann sagen zu können, daß man ihn ersetzen will. «24 Tatsache ist, daß die Evolutionspsychologie auf denselben theoretischen Grundannahmen basiert wie die Soziobiologie. Eine bemerkenswerte Leistung der Soziobiologie war ihre Erklärung des Altruismus; als altruistisch werden alle Verhaltensweisen definiert, bei denen der Altruist Artgenossen auf Kosten seiner Tauglichkeit beziehungsweise seines Vermehrungspotentials hilft. Wie läßt sich erklären, daß die natürliche Selektion, die doch rücksichtslos die egoistischsten Gene bevorzugte, derartige Verhaltensweisen begünstigte? Darwin selbst vermutete, die natürliche Selektion erlaube möglicherweise die Entstehung von altruistischem Verhalten, sofern die- 254
ses für die gesamte Gruppe, der das Individuum angehöre, von Nutzen sei. Doch die sogenannte Gruppenselektion kam in den sechziger Jahren außer Mode, als der Evolutionstheoretiker George Williams und andere zeigten, daß sie mathematisch nicht schlüssig sei; denn Gene für Altruismus verschwänden unter dem Druck der natürlichen Selektion.25 Kurz darauf stellte der britische Biologe William Hamilton die Theorie der Verwandtenselektion auf, der zufolge die natürliche Auslese die Entstehung altruistischen Verhaltens dann begünstige, wenn dieses Verhalten die Fortpflanzungschancen der Verwandten des altruistischen Organismus verbessere.26 Das Konzept der Verwandtenselektion enthülle die evolutionäre Logik, die dem Verhalten so hochsozialer Tiere wie Ameisen, Termiten und Nacktmulle zugrunde liege. Es könne auch die außerordentlichen Risiken und Opfer erklären, die menschliche Mütter und Väter auf sich nähmen, um das Überleben ihrer Kinder und anderer enger Verwandter zu sichern. (Auf die Frage, ob er sein Leben für seinen Bruder hingäbe, antwortete der britische Biologe J. B. S Haldane einmal schlagfertig: »Nein, aber für zwei Brüder oder acht Cousins.«27) Wie steht es mit den barmherzigen Samaritern, die ihr Leben für völlig fremde Menschen aufs Spiel setzen? Robert Trivers von der Rutgers-Universität, ein weiterer Evolutionstheoretiker, dem die Evolutionspsychologen viel verdanken, schlug in den siebziger Jahren eine Lösung für dieses Rätsel vor. Trivers behauptete, die natürliche Auslese hätte möglicherweise die Entstehung altruistischer Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Nichtverwandten begünstigt, wenn solche Verhaltensweisen Altruisten unter dem Strich einen Vorteil brächten. Der barmherzige Samariter riskierte sein Leben, um einen Fremden vor Räubern zu schützen, anschließend belohnte der Fremde den Samariter, indem er ihm Vieh und Gold schenkte. Auch wenn der Samariter aus echtem Mitgefühl und wirklicher Hochherzigkeit gehandelt habe, - 255
setze er doch nur eine egoistische Strategie auf Wechselseitigkeit um, die auf die Weitergabe seiner Gene abziele. Trivers nannte diesen Mechanismus »reziproken Altruismus«.28 Skeptiker haben sich gefragt, weshalb der Altruismus gegenüber Nichtverwandten, wenn er tatsächlich in unseren Genen verankert sei, ein so zerbrechliches Merkmal der menschlichen Psyche und Geschichte sei. Und weshalb müßten so viele kulturelle Institutionen so viel Mühe darauf verwenden, den Bürgern den Wert von Mitleid und Freigebigkeit einzubleuen? »Weshalb gibt es so viele Kirchen, Priester, Richter, Rabbiner, Bewährungshelfer und Auszeichnungen für soziales Engagement?« fragte der Biologe H. Allen Orr von der Universität von Rochester in einem kürzlich erschienenen Aufsatz über Altruismus. Er vertrat die Auffassung, altruistisches beziehungsweise »tugendhaftes« Verhalten sei möglicherweise »eines jener abiologischen, nicht von der Natur selektierten Merkmale, die nicht auf Gene, sondern auf schwer erkämpfte Erfahrungen dessen, was sich in der menschlichen Gesellschaft bewährt hat, zurückgehen«.29 Trivers Hypothese von reziprokem Altruismus nimmt in der Evolutionspsychologie dennoch eine Schlüsselfunktion ein. Cosmides behauptete, die natürliche Selektion habe uns womöglich ein intuitives Gespür für »Betrüger« vermacht, also für diejenigen, die uns bei reziproken Tauschhandlungen hintergingen.30 In einer Reihe von Experimenten wies Cosmides nach, daß Menschen Probleme sehr viel besser lösten, wenn diese Probleme in den Kontext sozialer Tauschhandlungen - und insbesondere solcher, bei denen die Betreffenden argwöhnten, daß sie hintergangen würden - gestellt und nicht als rein logische Übungen präsentiert wurden. Sich auf Chomskys Reizmangelargument stützend, zog Cosmides den Schluß, daß unser Gespür für potentielle Betrüger zu empfindlich sei, als daß wir es allein durch Erfahrung hätten erwerben können. - 256
Doch selbst auf der HBES-Konferenz wurden Zweifel an der Hypothese vom Gespür für Betrüger laut. Der Philosoph James Fetzer von der Universität von Minnesota meinte, daß es uns vielleicht einfach deshalb leichter falle, zu erspüren, wann uns jemand hintergehe, als logische Probleme zu lösen, weil wir mehr Situationen erster Art erlebten.31 Diese und viele andere menschliche Fähigkeiten, so Fetzers These, könnten von einem universellen Intelligenz- oder Lernprogramm herrühren, das sich stark auf Heuristiken beziehungsweise Versuch und Irrtum stütze, statt von angeborenen funktionsspezifischen »Modulen«. Der britische Anthropologe Steven Mithen vertrat bei der HBES-Tagung weitgehend das gleiche Argument.32 Er kritisierte, daß viele Evolutionspsychologen behaupteten, die Evolution unserer Vorfahren habe sich unter mehr oder minder stabilen Umständen vollzogen, die gelegentlich zusammenfassend als die Umwelt der evolutionären Anpassung bezeichnet würden. In Wirklichkeit aber, so Mithen, sei die Umwelt, in der sich unsere Vorfahren entwickelten, extrem veränderlich und unbeständig gewesen. In Anbetracht dieser Tatsache habe die natürliche Auslese möglicherweise neben Modulen, die spezifische Aufgaben übernommen hätten, die Entstehung einer flexiblen Problemlösungsfähigkeit begünstigt. Tatsächlich zeuge die Wissenschaft selbst - neben vielen weiteren Aspekten der menschlichen Kultur – von der Fähigkeit des Menschen, unterschiedlichste Probleme zu lösen. Selbst das Sexualverhalten, der wohl instinktgesteuertste Aspekt der menschlichen Natur, sei vielleicht oftmals rationaler, als die Evolutionspsychologen meinten. Evolutionspsychologen wie David Buss von der Universität von Michigan behaupten, Frauen seien instinktiv scheuer als Männer und mäßen instinktiv den Ressourcen ihrer Geschlechtspartner mehr Wert bei als rein körperlichen Merkmalen.33 Doch Buss räumte selbst ein, daß das menschliche Sexualverhalten ex- 257
trem veränderlich sei; einige weibliche Individuen seien hoch promiskuitiv, und nicht alle zögen wohlhabende Männer gutaussehenden vor. Nehmen wir einstweilen an, die Evolutionspsychologen hätten mit ihren Annahmen über die weiblichen Sexualpräferenzen recht. Sind diese Präferenzen wirklich instinktgesteuert? Genauso plausibel - wenn nicht plausibler - ist die Annahme, diese Präferenzen seien das Ergebnis rationaler, bewußter Überlegung. In der Pubertät erkennen die meisten Mädchen, daß sie, ungeachtet von Verhütungsmaßnahmen, bei jedem sexuellen Kontakt das Risiko eingehen, geschwängert zu werden; daher ist es völlig rational, daß Frauen flüchtige sexuelle Kontakte stärker meiden, als es Männer tun. Ebenso mag sich in der weiblichen Präferenz für ressourcenreiche Männer schlicht die rationale Erkenntnis der Frauen widerspiegeln, daß ihr gegenwärtiger und künftiger soziokönomischer Status relativ unsicher ist.
Das Syndrom vom bösen Vater Die größten Schwächen zeigt die Evolutionspsychologie, wenn sie versucht, ungewöhnliche menschliche Verhaltensweisen zu erklären, wie etwa die Ermordung von Kindern durch ihre Eltern.34 Für Darwinisten, die in der Fortpflanzung den höchsten Daseinszweck sehen, ist dies das widernatürlichste aller Verbrechen. In den achtziger Jahren begannen sich Margot Wilson und ihr Gatte, Martin Daly, von der McMaster-Universität in Kanada mit dem Problem zu befassen. Nach der Auswertung von Mordstatistiken aus den Vereinigten Staaten und Kanada kamen sie zu dem Ergebnis, daß Kinder mit einer um den Faktor sechzig höheren Wahrscheinlichkeit von einem Stiefelternteil – in der Regel einem Stiefvater - umgebracht werden als von einem natürlichen Elternteil. Sie wiesen darauf hin, - 258
daß diese Form der Tötung nichtverwandter Kinder in der Natur weit verbreitet sei; Männchen zahlreicher Arten, von Mäusen bis zu Affen, töten die Nachkommen, die ihre Paarungspartnerinnen mit einem anderen Männchen zeugten.35 Dieser Befund schien die Theorie von dem egoistischen Gen zu bestätigen. Wilson und Daly sagten selbst, ihre Ergebnisse sollten mit Vorsicht interpretiert und ausgewogen beurteilt werden.36 Man kann auf keinen Fall davon sprechen, Männer hätten eine angeborene Disposition, die Kinder ihrer Sexualpartnerinnen zu töten, wenn diese von anderen Männern gezeugt worden sind, weil die große Mehrheit der Stiefväter ihre Kinder weder tötet noch mißbraucht. Natürlich sind Männer, die Kinder adoptieren, eher atypisch, weil sie auf ihre emotionale und finanzielle Stabilität geprüft werden - aber genau das ist der Punkt. Männer, die Stiefkinder mißbrauchen, sind ebenfalls atypisch. Vielleicht haben sie nur widerwillig Verantwortung für die Kinder ihrer Ehefrau übernommen. Vielleicht sind sie ungewöhnlich starkem finanziellem und emotionalem Streß ausgesetzt. Dies sind die Faktoren, die gewisse Männer dazu veranlassen, die Kinder einer Partnerin zu töten oder zu schädigen - nicht irgendein instinktiver Drang, den sie mit Mäusen oder Affen gemein hätten. Dennoch werden die Studien von Wilson und Daly oft als ein Musterbeispiel darwinistischer sozialwissenschaftlicher Forschungen angeführt, weil sie eine wichtige Frage aufgreifen und sich auf eine breite empirische Datenbasis stützen. Als die New York Times 1997 führende Intellektuelle bat, das letzte Buch zu nennen, das sie zweimal gelesen hätten, gab Steven Pinker Homicide an, ein Buch, in dem Wilson und Daly eine evolutionstheoretische Deutung der menschlichen Gewalttätigkeit vorlegten.37 Ironischerweise schrieb Pinker später einen Beitrag für das New York Times Magazine, in dem er unabsichtlich den Forschungen von Daly und Wilson - ja der darwinistischen Psychologie insgesamt - den Boden entzog.38 - 259
Er befaßte sich in seinem Beitrag mit einer Serie von Vorfällen, bei denen biologische Mütter ihre Neugeborenen getötet hatten. (In einem Fall brachte ein Mädchen bei einem HighSchool-Tanzabend in einer Toilettenkabine ein Kind zur Welt, tötete es und ging dann wieder in den Tanzsaal zurück.) Obgleich Kindestötung durch die Mutter auf den ersten Blick als die Verletzung darwinistischer Prinzipien schlechthin erscheine, sei sie möglicherweise das Ergebnis natürlicher Selektion, schrieb Pinker. Er verwies darauf, daß unsere mütterlichen Vorfahren in bestimmten Streßsituationen besser beraten gewesen seien, ein Neugeborenes zu töten, als knappe Ressourcen darauf zu verwenden, Ressourcen, die für die Selbsterhaltung der Mutter und ihrer älteren Nachkommen dringend benötigt wurden. Dieses angeborene psychische Modul werde möglicherweise bei heutigen Müttern durch starken Streß aktiviert. Ein paar Wochen nach der Veröffentlichung von Pinkers Aufsatz druckte die New York Times einen Leserbrief des Soziologen Claude Fischer von der Universität von Kalifornien in Berkeley ab. Pinkers Beitrag, so Fischers Kritik, »verdeutlicht, wie nichtssagend evolutionsbiologische Erklärungen des menschlichen Verhaltens geworden sind. Wenn Mütter ihre Neugeborenen beschützen (was fast alle tun), so soll dies darauf zurückzuführen sein, daß dieses Verhalten evolutionär adaptiv ist. Wenn nun einige Mütter ihre Neugeborenen töten, ist dies angeblich auch evolutionär adaptiv. Jedwedes Verhalten und sein Gegenteil werden mit der evolutionären Auslese ›erklärt‹. [...] Auf diese Weise aber wird gar nichts erklärt.«39
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Verhaltensgenetische Erklärungen vermeiden Die Evolutionspsychologie wäre äußerst nützlich, wenn sie vorhersagen könnte, welcher Vater oder Stiefvater oder welche Mutter oder Stiefmutter ein Kind mißbrauchen beziehungsweise töten wird, doch hilft sie uns in dieser Frage kaum weiter. Auf die Frage »Weshalb hat diese Frau ihr Kind getötet?« antwortet sie: »Alle Frauen sind aufgrund einer angeborenen Disposition imstande, in bestimmten Streßsituationen ihre Säuglinge zu töten.« Selbst wenn diese Vermutung zutrifft, ist sie diskussionswürdig, weil die meisten Frauen in Streßsituationen ihre Kinder nicht töten. Eine mögliche Erklärung für Kindestötungen liegt darin, daß bestimmte Mütter eine genetische Veranlagung für eine schwere Wochenbettdepression haben. Das würde vielleicht ein Verhaltensgenetiker anführen. Doch wie ich bereits am Ende des letzten Kapitels erwähnte, distanzieren sich Evolutionspsychologen oftmals von derartigen Erklärungen. »Die Annahme einer erblichen Variabilität des menschlichen Verhaltens wird im allgemeinen von adaptionistischen Theorien weder vorhergesagt noch untermauert.«40 In ähnlicher Weise haben Cosmides und Tooby die Vermutung geäußert, die genetische Variation habe sich im Verlauf der Evolution als Schutzmechanismus gegen Parasiten herausgebildet. Diese Variationen, so behaupteten sie, hätten unter Umständen geringfügige psychische oder verhaltensbezogene Auswirkungen; die meisten psychischen und verhaltensbezogenen Unterschiede, die Individuen auszeichnen, seien auf Umweltfaktoren zurückzuführen. Die Evolutionsbiologen haben zwei Beweggründe, um diese Annahme zu machen. Erstens ist es sehr viel einfacher, Modelle der menschlichen Natur zu entwerfen, wenn die meisten Gemeinsamkeiten auf Gene zurückgeführt werden können und die meisten Unterschiede auf die Umwelt. Zweitens er- 261
laubt diese Annahme Evolutionspsychologen, das klassische Prinzip des Liberalismus zu vertreten, wonach viele der beobachteten Unterschiede zwischen Individuen und, was noch wichtiger ist, rassischen Gruppen eher durch Umwelt- als durch genetische Unterschiede erklärt werden können. Die Evolutionspsychologen können auf diese Weise die Kritik vermeiden, die Werke wie The Bell Curve auf sich zogen. Doch Evolutionspsychologen, die die Erkenntnisse der Verhaltensgenetik als belanglos abtun, widersprechen ihren eigenen Prämissen.41 Ohne genetische Variation zwischen Individuen fehlte der natürlichen Auslese das Material, das sie benötigt, um ihren Zauber zu entfalten; es könnte keine Evolution stattfinden. Zudem können die Gene, wenn sie unsere Gemeinsamkeiten erklären können, wie die Evolutionspsychologen behaupten, zweifellos auch unsere Unterschiede erklären. Obgleich der Zusammenhang zwischen spezifischen genetischen Unterschieden und spezifischen Verhaltensunterschieden keineswegs erwiesen ist (wie ich in dem vorangehenden Kapitel zu zeigen versuchte), läßt er sich auch nicht ausschließen. Ungeachtet all ihrer Unzulänglichkeiten sind mit der Verhaltensgenetik immerhin gewisse Hoffnungen verbunden, daß sie klinisch verwertbare Informationen über Verhaltensund kognitive Störungen zutage fördern wird. Nicht so die Evolutionspsychologie. In Wie das Denken im Kopf entsteht klammerte Steven Pinker psychische Erkrankungen (bis auf Autismus) aus. In ihrem 1994 erschienenen Buch Warum wir krank werden stellten der Evolutionsbiologe George Williams und der Psychiater Randolph Nesse, zwei herausragende Vertreter des Neodarwinismus, die Hypothese auf, Schizophrenie, Depression, Panikattacken und andere Erkrankungen hätten überdauert, weil sie unseren Vorfahren gewisse Vorteile gebracht hätten. Die Schizophrenie beispielsweise steigere möglicherweise die Kreativität oder schärfe das Gespür einer Person für die Gedanken anderer Menschen.42 - 262
Beispiele von noch geringerer Überzeugungskraft legten der jungianische Psychoanalytiker Anthony Stevens und der Psychiater John Price in ihrem 1996 erschienenen Buch Evolutionary Psychiatry: A New Beginning vor.43 Frauen seien anfälliger für Agoraphobic (Angst vor offenen Räumen), mutmaßten Stevens und Price, weil bei unseren urzeitlichen Vorfahren die Mütter mit den Kindern zu Hause geblieben seien, während die Männer auf die Jagd gingen. Zwangsstörungen seien möglicherweise ein Überbleibsel der Gewohnheit unserer Ahnen, ständig den Zustand von Zäunen und anderen Schutzmaßnahmen gegen Raubtiere und feindliche Sippen zu überprüfen. Die Homosexualität sei möglicherweise deshalb nicht ausgestorben, weil Homosexuelle ihren Verwandten bei der Aufzucht von Kindern geholfen und so die »inklusive Fitneß« (Gesamteignung) ihrer Familie erhöht hätten. Als Beleg für diese Hypothese führten Stevens und Price an, daß wohlhabende Homosexuelle heutzutage »manchmal ihre Freunde schockieren, indem sie den Großteil ihres Vermögens [...] einem Neffen oder einer Nichte vermachen, zu denen sie möglicherweise seit Jahren keinen Kontakt mehr hatten«. »Armer Darwin!« schrieb der britische Biologe Steven Rose in seiner Rezension der Evolutionary Psychiatry in Nature mitleidsvoll. »In den letzten zwanzig Jahren sind in deinem Namen mehr inhaltsleere Spekulationen und dogmatische Behauptungen veröffentlicht worden als in den ganzen hundert Jahren davor, und der Strom reißt noch immer nicht ab.« Er fügte hinzu: »In einer Zeit, in der sowohl die Evolutionstheorie als auch die Psychiatrie von eingefleischten Verfechtern des kulturellen Determinismus angegriffen werden, verdienten sie von ihren Anhängern bessere Dienste.«44
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Darwinistische Kulturalisten Ironischerweise sind einige prominente Neodarwinisten aufgrund ihres Bestrebens, nicht als genetische Deterministen gebrandmarkt zu werden, praktisch nicht mehr von ihren vermeintlichen Erzgegnern, den kulturellen Deterministen, die den Einfluß der Kultur auf die menschliche Natur hervorheben, zu unterscheiden. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist der Anthropologe Napoleon Chagnon45, der wie Cosmides und Tooby an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara lehrt. Chagnon, einer der Mitbegründer der HBES und eine Zeitlang deren Präsident, ist ein echter Bramarbas, der mit großem Vergnügen immer wieder seine zahlreichen wagemutigen Großtaten unter den Yanomamö erzählt, einem Volksstamm im Amazonien, den er in den sechziger Jahren zu erforschen begann. In dieser polygynen Gesellschaft - einer der wenigen, die noch an ihrer ursprünglichen Lebensweise festhalten - überfallen die Männer eines Dorfes gelegentlich andere Dörfer, wobei sie deren männliche Bewohner töten und die weiblichen entführen. Männer aus demselben Dorf kämpfen auch gegeneinander, wobei sich diese Streitigkeiten oftmals an Frauen entzünden. Bei einem Duell versuchen die Gegner, sich gegenseitig mit riesigen Knüppeln auf den Kopf zu schlagen, bis einer bewußtlos zusammenbricht oder kampfunfähig wird. Die Männer tragen die Beulen und Narben, die sie sich bei diesen Duellen zuziehen, wie Auszeichnungen zur Schau. Der aufsehenerregendste Befund, der aus Chagnons mehrjährigen Feldforschungen im Dschungel hervorging, war, daß Männer, die die meisten Gegner getötet hatten, auch die meisten Nachkommen hätten. Umgekehrt hätten die Männer, die gewalttätige Auseinandersetzungen scheuten - Chagnon nannte sie einmal »Schwächlinge« -, relativ wenige Kinder oder gar keine. - 264
Chagnons Entdeckung hat bedrückende Implikationen. Wenn die Neigung zur Gewalttätigkeit bei bestimmten Männern genetisch verankert ist, könnte die natürliche Auslese diese Gene in Kulturen vom Yanomamö-Typ, in denen Gewalttätigkeit hoch mit Fortpflanzungserfolg korreliert, begünstigen. Doch Chagnon wehrte sich gegen diese Deutung, zumindest im Gespräch mit mir. Er betonte, er glaube nicht, daß Yanomamö-Männer oder andere ein »Kampfgen« in sich trügen, was ihm von einigen Kritikern und Journalisten unterstellt worden sei. Die Yanomamö-Männer, so Chagnon, zeigten nicht deshalb aggressives Verhalten, weil sie von Natur aus gewalttätig seien, sondern weil gewalttätiges Verhalten in ihrer Kultur hoch geschätzt werde. Die Anführer der Yanomamö-Dörfer würden Gewalttätigkeit in einer kontrollierten Weise einsetzen; Männer, die ihre Aggressionen nicht unter Kontrolle hätten, lebten nicht lange genug, um Kinder zu zeugen. Wenn Yanomamö-Männer in einer Gesellschaft aufwüchsen, in der nicht die Kampffähigkeit, sondern die Tüchtigkeit bei der Feldbestellung in hohem Ansehen stünde, meinte Chagnon, würden sie sich schnell an dieses System anpassen. Ich sagte zu Chagnon, diese Erklärung könnte auch von dem Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould stammen; schließlich habe auch Gould die Formbarkeit der menschlichen Natur betont (weshalb er von den meisten Evolutionspsychologen als ihr Erzfeind angesehen wird). Ich wollte Chagnon mit dem Vergleich provozieren, doch zu meiner Überraschung widersprach er nicht. »Steve Gould und ich sind vermutlich in vielen Punkten einer Meinung«, antwortete Chagnon. Evolutionspsychologen (oder Anthropologen wie im Fall Chagnons) tun gut daran, die Neigung von Menschen, sich an ihre Kultur anzupassen, zuzugeben. Wie könnten sie die enorme Variabilität des Sozialverhaltens zwischen und selbst innerhalb von Kulturen sonst erklären? Japan war in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine extrem aggressive, - 265
kriegslüsterne Gesellschaft, doch seit dem Zweiten Weltkrieg ist es eine Nation von Pazifisten. Leider stellt die kulturelle Anpassung auch ein Problem für die Evolutionspsychologie dar. Um zu beweisen, daß ein Merkmal angeboren ist, versuchen Evolutionspsychologen zu zeigen, daß es in allen Kulturen vorkommt. So haben Evolutionspsychologen beispielsweise durch kulturvergleichende Studien den Nachweis erbringen wollen, daß Männer von Natur aus stärker zu promiskuitivem Sexualverhalten neigen als Frauen. Doch angesichts der engen wechselseitigen Beziehungen, die am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen nahezu allen Kulturen, selbst den sogenannten primitiven, bestehen, sind einige der universellen »instinktiven« Einstellungen und Handlungen, die von darwinistischen Forschern dokumentiert wurden, möglicherweise auf soziale Anpassung zurückzuführen. Das behaupteten die kulturellen Deterministen von jeher. Nach Ansicht von Evolutionspsychologen wie Cosmides und Tooby bestimmen Gene unsere Gemeinsamkeiten und Umweltfaktoren unsere Unterschiede. Doch auch das Gegenteil könnte zutreffen, zumindest zum Teil; die Kultur könnte viele unserer Gemeinsamkeiten erklären und die genetische Variation viele unserer Unterschiede.
Die Hypothese der Geburtenfolge Die Abneigung der Evolutionspsychologen gegen die Verhaltensgenetik mag erklären, weshalb sich so viele von ihnen die Hypothese der »Geburtenfolge«, die der Historiker Frank Sulloway vom Massachusetts Institute of Technology aufstellte, zu eigen gemacht haben. Auf der Grundlage der Darwinschen Theorie behauptete Sulloway, daß ein rein empirisches Phänomen - der Rangplatz eines Kindes in der Geburtenfolge seiner Geschwister - zu tiefgreifenden, dauerhaften Unterschieden - 266
in der Persönlichkeit zwischen Geschwistern führen könne.46 Sulloway zufolge ist die Wahrscheinlichkeit, daß erstgeborene Kinder konservativ seien, den Status quo unterstützten und sich neuen wissenschaftlichen und politischen Ideen widersetzten, sehr viel größer als bei ihren spätergeborenen Geschwistern. Spätergeborene Kinder seien im allgemeinen abenteuerlustiger, radikaler, aufgeschlossener und risikobereiter. (Sulloway ist selbstverständlich der jüngste von drei Brüdern.) Sulloway behauptete, eine von Robert Trivers aufgestellte Theorie erkläre diese Befunde. Trivers weise darauf hin, daß, mit Ausnahme von eineiigen Zwillingen, Geschwister lediglich in fünfzig Prozent ihrer Erbanlagen miteinander übereinstimmten. Obgleich Geschwister untereinander freigebiger sein sollten als gegenüber Nichtverwandten, sollten sie gleichzeitig um die Zuneigung der Eltern und um andere »Ressourcen« konkurrieren. Je länger Kinder die Risiken des frühen Kindesalters überlebten, um so höher sei die Wahrscheinlichkeit, daß sie (unter ansonsten gleichen Bedingungen) sich fortpflanzten und die Gene ihrer Eltern weitergäben. Daher brächten Eltern älteren Kindern mehr Zuneigung entgegen und investierten mehr Ressourcen in sie. Aus dieser Tatsache, so Sulloway, folge, daß Kinder, die zu verschiedenen Zeitpunkten geboren worden seien, unterschiedliche Strategien verfolgen müßten. Erstgeborene sollten eine enge Beziehung zu ihren Eltern aufrechterhalten und ihre Autorität nicht in Frage stellen. Da Spätergeborene weniger zu verlieren hätten, sei bei ihnen der Anreiz größer, sich Veränderungen und Unbotmäßigkeit um ihrer selbst willen zu eigen zu machen. »Aus darwinistischer Sicht ist es schlechterdings unmöglich, daß der Rang in der Geburtenfolge keine Auswirkungen haben sollte«, postulierte Sulloway in einer Rede auf der Konferenz der HBES. Sulloway sagte, diese Schlußfolgerungen seien durch zahllose Studien belegt. Er behauptete zudem, »erdrückende« Beweise - 267
dafür zusammengetragen zu haben, daß die meisten großen - wissenschaftlichen und politischen - Revolutionen in der Geschichte der Neuzeit von Spätergeborenen initiiert und unterstützt worden seien, während die »konservativen« Erstgeborenen sie bekämpft hätten. Darwin beispielsweise war das siebte von acht Kindern, und die Anhänger seiner Theorie seien nach Sulloways Analyse ebenfalls häufig Spätergeborene gewesen. Die Reformation und die kopernikanische Wende seien weitere grundlegende historische Umwälzungen, die hauptsächlich von Spätergeborenen angezettelt worden seien. Sulloway hatte Erklärungen für alle Ausnahmen von dieser Regel parat. Martin Luther, ein Erstgeborener, sei ein einfacher Kleriker von der untersten Stufe der kirchlichen Hierarchie gewesen und habe daher seinen Konservatismus überwinden können. Newton war ein Erstgeborener, doch sein Vater starb vor seiner Geburt; außerdem haßte er seinen Stiefvater, daher habe er die enge Bindung an die Eltern, die typisch für die meisten Erstgeborenen sei, nicht entwickelt. Freud war ein Erstgeborener, doch als Jude in einer antisemitischen Gesellschaft habe er viele Merkmale eines Spätergeborenen besessen. Die Französische Revolution wurde weitgehend von Erstgeborenen, wie etwa Robespierre, getragen, doch sie habe sich durch eine außergewöhnliche Blutrünstigkeit und Grausamkeit ausgezeichnet, und dies seien Merkmale von Spätergeborenen. Der Rebell der Familie, in dem Sulloway seine Theorie darlegte, stieß nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1996 auf eine weithin positive Resonanz. Sulloways einstiger Lehrer Edward Wilson nannte es »eines der maßgebenden und bedeutendsten Werke in der Geschichte der Sozialwissenschaften«. Die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy sagte voraus, daß Sulloways Werk »genauso einflußreich sein wird wie die Schriften von Freud und Darwin«. Man rechnet zwar damit, daß der Text auf der Rückseite eines Buches übertriebene Anpreisun- 268
gen enthält, doch die Berichterstattung im New Yorker, in Newsweek und in anderen Publikationen war genauso hymnisch. Selbst Jay Gould, der die Evolutionspsychologie ansonsten vernichtend kritisiert, lobte Sulloways Arbeit, die letztlich der Umwelt (wenn auch in darwinistischer Verkleidung) bei der Prägung der Persönlichkeit genausoviel Bedeutung beimesse wie der Anlage.47 Doch nur weil Sulloways These Wissenschaftlern jeglicher politischer Couleur gefällt, bedeutet das nicht, daß sie richtig ist. Sulloways Schlußfolgerungen widersprechen denjenigen in dem Buch Birth Order: Its Influence on Personality von 1983.48 Die Autoren, die Schweizer Psychiater Cecile Ernst und Jules Angst, werteten Hunderte von älteren Studien aus, die einen Zusammenhang zwischen der Geburtenfolge und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen herzustellen versuchten, und führten dann eine eigene Erhebung an 7582 Einwohnern Zürichs im Schulabschlußalter durch. Sie gelangten zu dem Schluß, daß sich die Geburtenfolge nicht auf die Persönlichkeit auswirke und daß fortgesetzte Versuche, derartige Auswirkungen zu finden, »eine reine Zeit- und Geldverschwendung« seien.49 Sulloways Projekt war bereits weit vorangeschritten, als er auf das Buch von Ernst und Angst stieß. Er behauptete, er habe ihre Daten nochmals ausgewertet und dabei festgestellt, daß diese in Wirklichkeit seine These stützten. Er kam nicht zuletzt deshalb zu diesem Ergebnis, weil er gewisse Studien über die Effekte der Geburtenfolge ausklammerte, in denen die Probanden ihre Persönlichkeit selbst beurteilten, wozu auch die große Untersuchung gehörte, die Ernst und Angst in Zürich durchgeführt hatten. Die »Selbsteinschätzungsstudien« seien praktisch wertlos, so Sulloway, weil die Selbstbeurteilungen von Personen extrem subjektiv verzerrt seien. Nachdem ich Angst in Zürich ausfindig gemacht hatte, teilte er mir per E-Mail mit, er könne »weder nachvollziehen - 269
noch verstehen«, weshalb Sulloway die von ihm und Ernst für ihr 1983 erschienenes Buch erhobenen Daten nochmals ausgewertet habe. Sulloway habe »eine eindrucksvolle Serie von Fallgeschichten und -beispielen« angeführt, sagte Angst. »Aber meines Erachtens spielt er auf einem anderen Register: Historische Untersuchungen sind naturgemäß retrospektiv, nicht repräsentativ und nicht verallgemeinerungsfähig, und sie können daher die Befunde sorgfältig geplanter empirischer Untersuchungen nicht widerlegen.« Auch die Psychologin Judith Harris hat Sulloways Methode beanstandet. In ihrem 1998 erschienenen Buch The Nurture Assumption wies Harris daraufhin, Sulloway habe sich bei seinen Schlußfolgerungen stark auf Studien gestützt, in denen die Persönlichkeit der Probanden von Verwandten - nämlich Geschwistern und Eltern - bewertet worden sei. Doch diese Methode sei besonders schlecht geeignet, um Sulloways These von der Bedeutung des Geburtenfolge zu überprüfen. Sie führte aus, die These besage im wesentlichen, daß die Konkurrenzstrategien, die Geschwister während der Kindheit innerhalb ihrer Familie benutzten, sich in ihren Beziehungen außerhalb des Elternhauses fortsetzten und sich bis ins Erwachsenenalter hielten. »Einflüsse der Geburtenfolge lassen sich häufig in Beurteilungen durch Eltern und Geschwister nachweisen; sie fehlen jedoch meistens in Erhebungen, die außerhalb des familiären Kontextes vorgenommen werden.«50
Darwin und Freud Eine ähnliche Kritik an Der Rebell der Familie hörte ich von Steven Pinker, einem Kollegen Sulloways am MIT und wie dieser Darwinist. Obgleich er in Wie das Denken im Kopf entsteht Sulloways Der Rebell der Familie lobte, sagte er mir, er hege Zweifel an Sulloways These; sie mute ihn allzu freudia- 270
nisch an.51 Sulloway gehe wie Freud davon aus, daß »die Art und Weise, wie wir mit unserer Familie interagieren, darüber entscheidet, wie wir mit der Außenwelt interagieren. Das ist nicht offenkundig so. Ich stehe dem skeptisch gegenüber.« Die Ironie von Pinkers Bemerkung war verblüffend. Vor der Publikation von Der Rebell der Familie hatte sich Frank Sulloway vor allem als Freud-Kritiker hervorgetan. In seinem 1982 erschienenen Buch Freud. Biologe der Seele vertrat Sulloway die Auffassung, Freud sei alles andere als ein origineller Denker gewesen und habe hemmungslos Anleihen bei anderen Wissenschaftlern gemacht, angefangen von Darwin und Lamarck bis hin zu Wilhelm Fliess, einem Neurologen, der überzeugt davon war, daß die Nase im Zentrum vieler psychischer Störungen stehe.52 In Wahrheit gibt es mehr Gemeinsamkeiten zwischen Evolutionspsychologen und Freudiänern, als diese normalerweise zuzugeben bereit sind.53 Für beide ist die Sexualität der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Psyche. Beide sehen Männer und Frauen als grundverschieden und in manchen Aspekten sogar als nicht zusammenpassend an. Beiden ist eine grundlegende tragische Sicht der menschlichen Natur gemein: Das Leben sei ein Kampf, und alles Glück sei vergänglich, sofern es überhaupt erreichbar sei. Beide sind sich der Grenzen unserer Vernunft und der Macht unserer Instinkte deutlich bewußt. Beide Theorien besitzen eine nahezu unbegrenzte Flexibilität; sie können praktisch jeden Aspekt des menschlichen Seelenlebens und Verhaltens erklären und lassen sich somit nicht widerlegen. Das Unbewußte nimmt in der Evolutionspsychologie einen ebenso großen Raum ein wie in der Psychoanalyse. Die egoistischen Gene der Darwinisten motivieren uns wie das Es der Freudianer in einer Weise, die uns in der Regel nicht bewußt wird. Wie viele andere Ideen in der Evolutionspsychologe läßt sich auch diese auf eine Hypothese zurückführen, die Robert - 271
Trivers in den achtziger Jahren formulierte. Er erklärte, wir hätten gute evolutionäre Gründe, um unsere eigene Vertrauenswürdigkeit, Uneigennützigkeit und Stärke zu übertreiben und unseren Egoismus, unsere Unzuverlässigkeit und andere Unzulänglichkeiten herunterzuspielen. Die erfolgreichsten Lügner seien nach Ansicht von Trivers diejenigen, die ihre eigenen Lügen glaubten und somit den Anschein der Aufrichtigkeit erweckten.54 Andererseits sollten wir nicht so selbstverblendet sein, aus unseren Fehlern nicht zu lernen. Wie sagte George Orwell doch einmal: »Das Geheimnis der Herrschaft besteht darin, den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit mit der Gabe zu verbinden, von den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.«55 Wie die Freudianer hat auch Trivers die Familie als einen »Konfliktherd« dargestellt.56 Die divergierenden genetischen Interessen von Familienangehörigen könnten Spannungen nicht nur zwischen Geschwistern, sondern auch zwischen Eltern und ihren Nachkommen erzeugen. Aufbauend auf diesen Ideen, haben Margot Wilson und Martin Daly (die Entdecker des Syndroms des »bösen Stiefeiters«) eine darwinistische Deutung des Ödipuskomplexes vorgeschlagen.57 Nach Ansicht von Wilson und Daly müsse der Neid auf das sexuelle Verhältnis der Eltern bei Jungen und Mädchen gleich stark sein, denn aus diesem Verhältnis könnten weitere Nachkommen hervorgehen, was den Anteil jedes Kindes an den elterlichen Ressourcen verringerte. Die Kinder forderten daher so viel Aufmerksamkeit, daß ihre Eltern zu erschöpft seien, um an Sex zu denken. Ein besonders angespanntes Verhältnis müsse zwischen den Kindern und dem Vater bestehen, der stärker motiviert sei als die Mutter, weitere Nachkommen zu zeugen, das heißt, Sex zu haben. Letztlich scheuen sich die Darwinisten ebensowenig wie die Freudianer, mit Hilfe ihrer theoretischen Instrumente ihre Kritiker zu analysieren. Der Evolutionspsychologe David Buss - 272
verfolgte diese Taktik. Er erhob im Psychological Inquiry den Vorwurf, der Widerstand gegen die Evolutionspsychologie sei weniger auf berechtigte wissenschaftliche Einwände zurückzuführen als vielmehr auf den Wunsch der alten Garde von Psychologen, sich vor einem tatkräftigen Neuanfang zu schützen; die »traditionellen Psychologen« befürchteten einen Status- und Prestigeverlust (und, so würde ich vermuten, einen Rückgang sexueller Kontaktchancen).58 Buss plädierte dafür, durch Studien herauszufinden, ob Kritiker der Evolutionspsychologie im allgemeinen Erstgeborene seien, die nach Frank Sulloway anlagebedingt jegliche Veränderung ablehnten.
Unsere unwahrscheinliche Vergangenheit und Zukunft Die Evolutionspsychologie zeichnet sich in vielerlei Hinsicht durch eine seltsame Folgenlosigkeit aus, vor allem angesichts des glühenden Eifers, mit dem sie von ihren Anhängern angepriesen wird. Evolutionsforscher können jede beliebige Menge psychologischer und sozialer Daten heranziehen und zeigen, daß sie sich in darwinistischen Kategorien erklären läßt. Aber sie können keine Experimente durchführen, die den Nachweis erbrächten, daß ihre Auffassung richtig und die alternative Sichtweise falsch ist und umgekehrt. Dieses Dilemma erinnert mich an jenes Teilgebiet der Physik, das sich mit der »Interpretation« - das heißt der Erschließung der metaphysischen Bedeutung - der Quantenmechanik befaßt. Es wurden viele unterschiedliche Interpretationen vorgeschlagen, unter anderem die Kopenhagener Interpretation, die Viele-Welten-Interpretation und die Pilotwellentheorie.59 Das Problem besteht darin, daß jede Interpretation die verfügbaren Daten erklärt und daß es keine Möglichkeit gibt, auf empirische Weise herauszufinden, welche Interpretation die richtige ist. Daher ist - 273
man gezwungen, sich bei seiner Wahl auf ästhetische Präferenzen zu stützen. Ebensowenig läßt sich allein anhand empirischer Daten entscheiden, ob die Evolutionspsychologie richtig und der Kulturdeterminismus falsch ist. Man muß auf ästhetische, politische oder philosophische Wertmaßstäbe zurückgreifen. Obgleich sich die Darwinsche Theorie der Evolution durch natürliche Selektion meines Erachtens für das Verständnis der menschlichen Natur nicht sonderlich bewährt hat, bin ich mit dem Philosophen Daniel Dennett einer Meinung, daß diese Theorie »die beste Einzelidee aller Zeiten« ist. Dennett schrieb in Darwins gefährliches Erbe, Darwins Idee habe »mit einem Schlag den Bereich von Leben, Sinn und Zweck mit dem Bereich von Raum und Zeit, Ursache und Wirkung, Mechanismus und physikalischem Gesetz vereinigt«.60 Die Evolution durch natürliche Selektion solle nicht länger eine Theorie genannt werden; sie sei eine Tatsache, die genauso zweifelsfrei erwiesen sei wie jede andere wissenschaftliche Tatsache. Doch dies wirft sogleich eine Frage auf. Wenn die Evolutionstheorie empirisch so gut abgesichert ist, weshalb müssen dann Wissenschaftler wie Daniel Dennett, Richard Dawkins und andere so viel Energie darauf verwenden, ihren Reiz zu preisen? Weshalb wird der Darwinismus als Theorie der gesamten Natur (nicht bloß der Spezies Mensch) von religiösen Fundamentalisten, aber auch von äußerst kenntnisreichen Wissenschaftlern abgelehnt? Einige Kritiker, insbesondere die eher linksstehenden Biologen Stephen Jay Gould und Richard Lewontin (und vermutlich auch Noam Chomsky, obwohl er es bestreitet), haben eindeutig politisch motivierte Vorbehalte gegen die Darwinschen Theorien. Wenn wir adaptionistische Erklärungen der Natur anerkennen würden, so ihre Befürchtung, müßten wir uns wohl damit abfinden, daß viele unerfreuliche Phänomene des modernen Lebens – rücksichtsloser Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Nationalismus und der- 274
gleichen - bis zu einem gewissen Grad wahrscheinliche und sogar unvermeidliche Produkte der Evolution seien und sich nicht leicht ändern ließen. Wenn man bedenkt, wozu genetische Theorien in der Vergangenheit benutzt wurden, sind derartige Vorbehalte nicht unbegründet. Andere erheben aus dem entgegengesetzten Grund Einwände gegen den Darwinismus. Sie befürchten, daß die Evolutionstheorie, selbst wenn sie von der modernen Genetik und Molekularbiologie gestützt werde, die Wirklichkeit nicht hinlänglich wahrscheinlich mache. Der Darwinismus könne uns nicht erklären, weshalb überhaupt Leben entstanden sei beziehungsweise weshalb das Leben nach seiner Entstehung den Weg eingeschlagen habe, den wir heute rekonstruieren können. Wissenschaftler haben verschiedene Zusatzmechanismen vorgeschlagen, die das Phänomen Leben wahrscheinlicher und gesicherter machen sollten, etwa die Gruppenselektion, die Gaia-Hypothese und die Komplexitätstheorie.61 Der Elementarteilchenphysiker Steven Weinberg schrieb einmal: »Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.«62 Die Geschichte der Biologie legt einen daraus folgenden Aphorismus nahe: Je begreiflicher uns das Leben wird, um so unwahrscheinlicher erscheint es auch. Der absolut unwahrscheinlichste Organismus von allen ist derjenige, der sich über seine Unwahrscheinlichkeit den Kopf zerbrechen kann. Die Evolutionstheorie wirft Fragen über unsere Zukunft und unsere Vergangenheit auf. Wie weit kann die Evolution gehen? Werden die Menschen immer intelligenter werden? Wird aus dem Homo sapiens eines Tages eine intelligentere Spezies hervorgehen, so wie wir aus den Affen hervorgingen ? Wie nicht anders zu erwarten, beantworten Evolutionsforscher diese Frage nicht einhellig. Einige behaupten, die natürliche Auslese sei durch die moderne Medizin und andere Produkte der Zivilisation so abgeschwächt worden, daß tiefgreifende körperliche oder geistige Veränderungen beim Men- 275
sehen unwahrscheinlich seien.63 Falls es keine bahnbrechenden Fortschritte in der Verhaltensgenetik oder breitangelegte Eugenikprogramme gebe, würden wir weitgehend auf dem heutigen Entwicklungsstand verharren. Andere Theoretiker mutmaßen, daß unsere Nachfahren möglicherweise tiefgreifende Veränderungen durchmachen würden.64 Nach dem phantastischsten Szenario werde die nächste Phase der Evolution von Maschinen getragen, die um ein vielfaches intelligenter seien als ein Mensch. Selbst zur Zeit Darwins waren solche Phantasien bereits derart verbreitet, daß Samuel Butler sie in seinem Science-fiction-Roman Erewhon aus dem Jahr 1872 satirisch aufs Korn nahm. Darin verkündet ein verrückter Wissenschaftler: »Die Tatsache, daß Maschinen heute kaum Bewußtsein besitzen, bietet keine Garantie dafür, daß eines Tages nicht doch einmal Maschinen mit Bewußtsein entwickelt werden. [...] Die komplexeren Maschinen sind, gemessen an der Vergangenheit, keine Geschöpfe von gestern, sondern sozusagen der letzten fünf Minuten. Nehmen wir einmal hypothetisch an, daß Geschöpfe mit Bewußtsein seit etwa zwanzig Millionen Jahren existieren: Welche großen Fortschritte haben die Maschinen in den letzten tausend Jahren gemacht? Wird die Welt nicht weitere zwanzig Millionen Jahre bestehen? Und was wird am Ende wohl aus ihnen werden?«65 Dieselbe Rhetorik, abzüglich der Ironie, wird noch heute von leidenschaftlichen Anhängern der Künstlichen Intelligenz wie Marvin Minsky vom Massachusetts Institute of Technology und Hans Moravec von der Carnegie-Mellon-Universität benutzt. Sie sind überzeugt davon, daß der Tag kommen wird, an dem nicht nur die Erde, sondern das gesamte Weltall von superintelligenten Maschinen regiert wird.66 Einige Neodarwinisten verdrehen die Augen, wenn sie das hören. »Weshalb gibt es in Romanen so viele Roboter, in der Wirklichkeit aber nicht?« fragte Steven Pinker in Wie das Denken im Kopf ent- 276
steht. »Ich würde viel Geld für eine Maschine ausgeben, die das Geschirr wegräumt oder einfache Aufträge erledigt. Aber in diesem Jahrhundert wird sich das nicht mehr einrichten lassen, und im nächsten vermutlich auch nicht.«67 Dies liege daran, so Pinker, daß »die technischen Probleme, die wir Menschen beim Sehen, Gehen, Planen und in unserem ganzen Tagesablauf lösen, weitaus schwieriger [sind] als die Landung auf dem Mond oder die Sequenzierung des menschlichen Genoms«.68 Anders gesagt, HAL aus 2001 und RaÜ2 aus Krieg der Sterne werden vielleicht für immer Produkte der Sciencefiction bleiben. Nach Ansicht des Philosophen und Kognitionswissenschaftlers Jerry Fodor von der Rutgers-Universität stehen Evolutionspsychologie und Künstliche Intelligenz bei der Beschreibung des menschlichen Geisteslebens vor demselben Problem. Fodor gehörte einst zu den führenden Verfechtern der »Computertheorie des menschlichen Geistes« und der Hypothese, der Geist sei kein lernender Allzweckrechner, sondern in Module eingeteilt, die spezifische Aufgaben wahrnähmen. Im Jahr 1998 räumte Fodor jedoch die Grenzen dieser Annahmen ein, ja stellte sie sogar nachdrücklich heraus. Bestimmte kognitive Aufgaben, wie etwa die Fähigkeit, Farben zu erkennen oder einen Satz grammatisch zu analysieren, könnten in der Tat auf Rechenprozesse zurückgeführt werden, schrieb Fodor in einer Besprechung von Wie das Denken im Kopf entsteht, doch die Untergliederung des Geistes in viele kleine anwendungsspezifische Rechner oder Module beantworte noch immer nicht die Frage, wie die Ergebnisse all dieser modularen Berechnungen integriert würden. Eine Psychologie, die »sich dem Integrationsproblem nicht stellt«, lautete sein Fazit, »steckt noch immer in den Kinderschuhen«.69 Um dieses Problem zu verdeutlichen, wies Fodor darauf hin, daß konstruktive Eigentümlichkeiten unseres Sehmoduls vielfältige Sinnestäuschungen erzeugten; so wirke der Mond - 277
in der Nähe des Horizonts größer, als wenn er hoch am Himmel stehe. Doch die meisten von uns wüßten, daß sie einer Sinnestäuschung erliegen; der Output unseres Sehmoduls müsse auf irgendeine Weise mit dem Output anderer Module verrechnet werden, um das zu erzeugen, was man »Alltagsverstand« nenne. »So wie die Dinge heute stehen«, meinte Fodor, »besitzen wir keine Theorie der Psychologie des Alltagsverstands, die einer sorgfältigen Prüfung durch einen intelligenten Fünfjährigen standhielte. In ähnlicher Weise ist der Alltagsverstand in herausragender Weise genau das, was die Computer, die wir bauen können, nicht besitzen.« Wie die Neurowissenschaftler rennen auch die Forscher der Evolutionspsychologie und der Künstlichen Intelligenz gegen das Dilemma des Reduktionismus an. Sie können den Geist zwar in Stücke zerlegen, aber sie haben keine Ahnung, wie sie diese wieder zusammensetzen sollen. Ein fehlender Bestandteil von entscheidender Bedeutung ist der altbewährte Alltagsverstand.
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7. KÜNSTLICHER ALLTAGSVERSTAND Meine Expertensysteme konnten nicht als intelligent bezeichnet werden. Aber sie brachten mich dazu, darüber nachzudenken, was man sich darunter vorzustellen hätte. Ich sann lange Zeit über die Frage nach, auch dann noch, als ich die kommerziellen Interessen bereits fallengelassen hatte. [ . . . ] Nachdem ich mir lange den Kopf zerbrochen hatte, kam ich zu dem Schluß, daß ich keinen blassen Schimmer davon hatte, was Er1 kenntnis sei. RICHARD POWERS, Galatea 2.2
I
m Jahr 1982 besuchte ich einen Kurs in Wissenschaftspublizistik, den die Autorin Pamela McCorduck an der ColumbiaUniversität hielt. Sie hatte bereits ein Buch über Künstliche Intelligenz (KI) geschrieben, Machines Who Think2 (man beachte das hintersinnige »who«!), und arbeitete intensiv an einem zweiten. Ihre Begeisterung für die Künstliche Intelligenz übertrug sich auf ihre Studenten. Sie ergötzte uns mit Anekdoten über Herbert Simon, Marvin Minsky, John McCarthy und andere Wegbereiter der Künstlichen Intelligenz. Ihr neues Buch handelte vom japanischen Fifth Generation Project, dessen Ziel es war, binnen zehn Jahren intelligente Maschinen zu konstruieren. McCorduck, die mit dem bekannten Informatiker Joseph Traub verheiratet ist, neckte die angehenden Publizisten in ihrem Kurs mit ihrer Prophezeiung, eines Tages seien Computer vielleicht genauso gute oder sogar noch bessere Autoren als Menschen. In Machines Who Think hatte sie ein noch apokalyptischeres Szenario vorgestellt: Nach Ansicht einiger KI-Visionäre würden intelligente Maschinen die nächste Etappe in der Evolution bewußtseinsbegabten Lebens darstellen und bald die Menschen weit hinter sich lassen. Ein Jahr später erhielt ich einen nur geringfügig objektiveren Einblick in die KI-Kultur, als ich eine Stelle beim IEEE Spectrum antrat, der Monatsschrift des Institute of Electrical and Electronics Engineers. Mit einer Mitgliederzahl über drei- 279
hundertausend ist die IEEE eine der größten berufsständischen Organisationen in der Welt. Die KI bildete einen Schwerpunkt der Berichterstattung im Spectrum. Das US-amerikanische Verteidigungsministerium steckte gewaltige Summen in dieses Forschungsfeld, ebenso Industriegiganten wie IBM. Im Jahr 1984 stellten die Redakteure anläßlich des hundertjährigen Gründungsjubiläums der IEEE ein Sonderheft über »die Auswirkungen der Hochtechnologie auf die Gesellschaft insgesamt und den Berufsstand der Ingenieure im besonderen« zusammen. Unter dem Titel »Nach 1984: Technologie und Individuum« waren auf dem Titelblatt Kopf und Schulter eines silbernen, gesichtslosen Roboters neben einer kahlköpfigen, fast ebenso ausdruckslosen Frau dargestellt. Die Botschaft war klar: das halsbrecherische Tempo des technologischen Fortschritts verwische die Grenzen zwischen Künstlichem und Biologischem. Der Leitartikel, den ich redigierte, trug den langweiligen Titel »Die Maschine als Partner des neuen Fachmanns«, aber den provozierenden Untertitel »Die heutigen Instrumente liefern mehr Daten, als das Gehirn verarbeiten kann; Expertensysteme greifen uns unter die Arme, könnten jedoch schon bald menschliche Aufgaben an sich reißen«3 (Expertensysteme sind Softwareprogramme, die die Fähigkeit menschlicher Experten nachahmen, Informationen aufzunehmen und auf deren Grundlage Entscheidungen zu treffen). Der Autor, Frederick Hayes-Roth, war Vizepräsident von Teknowledge, einem Hersteller von Expertensystemen, und ehemaliger Direktor des KI-Programms der Rand Corporation. Er war selbstverständlich ein glühender Anhänger der Künstlichen Intelligenz. In seinem Spectrum-Beitrag sagte er voraus, die Elektrotechnik werde »die Natur der Arbeitswelt tiefgreifend verändern. Einige Berufe werden dadurch überflüssig und verschwinden. Andere werden sich grundlegend wandeln. Viele neue Berufe werden entstehen, um neue An- 280
wendungsfelder der Elektronik zu nutzen und zu unterstützen. Die größte Herausforderung für künftige Fachleute wird allerdings auftauchen, wenn Maschinen beginnen, ihre intellektuellen Kompetenzen zu übernehmen.« Hayes-Roth sagte voraus, daß Expertensysteme schon im Jahr zweitausend Fluglotsen ersetzen würden und binnen fünfzig Jahren Ärzte und Wissenschaftler. In dem Maße, wie die Sachkompetenz der Automaten die des Menschen überträfe, verlören Experten an gesellschaftlichem Ansehen; der Stellenwert von Kreativität, sportlicher Leistungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Intuition, die sich schwerer automatisieren ließen, nehme dagegen zu. Die Menschen »gehen fast nur noch persönlichen und sozialen Interessen nach, während die ökonomischen zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, da die meisten Erwerbstätigkeiten von Maschinen übernommen werden. Wenn weiterhin Frieden herrscht, besteht die wohl größte Aufgabe der Menschheit darin, sich neue Herausforderungen zu suchen und ihr Selbstverständnis neu zu definieren.« Eine Nische, in der sich den Menschen neue Entfaltungsmöglichkeiten eröffneten, sei die Psychotherapie. »Die Anzahl der Experten, die sich mit menschlichen Problemen befassen - traumatischen Ereignissen in der Adoleszenz, Anpassung an das Leben im Weltraum, Scheidung, Altern und Tod -, wird zunehmen«, verkündete Hayes-Roth. Im Jahr 1998, vierzehn Jahre nach meinem letzten Gespräch mit ihm, spürte ich ihn im kalifornischen Palo Alto auf.4 Er arbeitete noch immer für Teknowledge, den Anbieter von Expertensystemen, zu dessen Mitbegründern er in den glorreichen Tagen der KI gehört hatte. Nachdem ich ihn daran erinnert hatte, daß ich seinen Beitrag für Spectrum im Jahr 1984 redigiert hatte, sagte ich ihm, daß ich ihn jetzt fragen wolle, inwiefern seine Vorhersagen seiner Auffassung nach eingetroffen seien. Er begann zu lachen. »Sie sind doch wirklich ein gemeiner Schuft«, sagte er und gab bereitwillig zu, daß die - 281
Entwicklung auf dem Gebiet der Expertensysteme und die KI im allgemeinen seit Beginn der achtziger Jahre stagniere. Die Konstrukteure von Expertensystemen waren auf zwei Probleme gestoßen. Die Codierung von menschlichem Expertenwissen in Software, die reale Probleme bearbeiten konnte, erwies sich als äußerst mühsame, zeitaufwendige Aufgabe. Das Wissen, das für ein Projekt zusammengetragen wurde, war für das nächste kaum oder gar nicht brauchbar. »Es ist ein Beispiel für etwas, was man maßgeschneiderten Entwurf nennt«, sagte Hayes-Roth. Die Vorkämpfer der KI hätten auch unterschätzt, wie schwierig es sei, die menschliche Kognition in all ihrer Komplexität nachzubilden. Jener Reduktionismus, der in der Physik oder der Molekularbiologie erfolgreich angewendet werde, versage, wenn es um den menschlichen Geist gehe. Die Menschen seien »sehr, sehr komplexe Systeme, die sowohl durch die Evolution als auch durch lerngestützte Anpassungsleistungen hervorragend dafür gerüstet sind, gleichzeitig Dutzende von Variablen effizient und spezifisch zu bearbeiten«. Dennoch blieb Hayes-Roth optimistisch. Die größten Hindernisse für die KI, sagte er, seien eher politischer und ökonomischer als wissenschaftlicher Natur. So hätte beispielsweise das US-amerikanische Bundesaufsichtsamt für die Sicherheit des Flugverkehrs sein veraltetes Flugsicherungssystem bis zum Jahr 2000 automatisieren können, wie er es vorhergesagt habe, doch bürokratische Trägheit habe dies verhindert. Zahlreiche vielversprechende KI-Projekte seien eingestellt worden, weil ihre Geldgeber im öffentlichen oder privaten Sektor allzu ungeduldig geworden seien. Ungeachtet dieser Probleme, so Hayes-Roth, hätten die KI-Forscher viel erreicht, wie man aus den Spracherkennungssystemen und den Softwareprogrammen, die andere Softwareprogramme schrieben, ersehen könne. Während des Golfkriegs habe die U. S. Air Force die Luftangriffe gegen den Irak mit Hilfe eines Expertensystems - 282
geplant. »Die Air Force schrieb, dieses Expertensystem habe die gesamten Investitionen des Verteidigungsministeriums in die KI mehr als gerechtfertigt«, sagte Hayes-Roth. Er war noch immer zuversichtlich, daß der Traum vom Bau einer wirklich intelligenten Maschine eines Tages in Erfüllung gehen werde. »Es ist lediglich eine Frage der Zeit, der Finanzierung und der Organisation.« Er sah keinen Grund, weshalb Ingenieure nicht in der Lage sein sollten, einen Computer wie HAL, den lippenlesenden Cyber-Schurken aus dem Film 2001, zu bauen. »Ich kenne die Hürden auf dem Weg dorthin so gut wie jeder andere«, sagte Hayes-Roth. »Andererseits, wenn man ein Team zusammenstellte, ein Manhattan-Projekt für den Bau von HAL, wäre dieses Team zweifellos erfolgreich. Es dauerte vielleicht zehn oder auch zwanzig Jahre, aber der Erfolg wäre absehbar.«
Herbert Simons Prophezeiungen Hayes-Roth ist ein erbärmlicher Schwarzseher im Vergleich zu Herbert Simon von der Carnegie-Mellon-Universität, einem der Gründungsväter der KI und der Kognitionswissenschaft.5 Anders als viele KI-Forscher bestreitet Simon entschieden die Behauptung, die KI habe in jeglicher Hinsicht die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Als ich Simon fragte, warum dieser gewaltige Sprung in der Intelligenz von Maschinen, den Hayes-Roth und andere im Jahr 1984 vorhergesagt hatten, nicht stattgefunden habe, erwiderte er: »Er hat stattgefunden. Nicht in diesem konkreten Ausmaß und in der vorhergesehenen Richtung, aber er hat stattgefunden.« Simon räumte ein, die Konstruktion intelligenter Maschinen sei in mancher Hinsicht schwieriger gewesen als erwartet. »Es zeigte sich, daß die KI eine relativ einfache und eine relativ schwierige Seite hat. Die relativ einfache Seite bezog sich auf die - 283
Frage, wie Menschen tiefschürfende Gedanken denken.« KIForscher hätten große Fortschritte bei der Simulation der menschlichen Fähigkeit gemacht, symbolische Repräsentationen der Welt zu bilden und zu benutzen. Die schwierige Seite sei die Simulation der Art und Weise, wie Menschen durch ihre Sinnes- und motorischen Organe mit der Umwelt interagieren. »Die Schnittstelle zur Umwelt, das ist die wirklich komplizierte Sache.« Es sei außerordentlich schwierig, die Veränderungen in der Umwelt einfach zu verfolgen, insbesondere angesichts der begrenzten Leistungsfähigkeit der Computer in der Frühzeit der KI. »Erst vor vielleicht zehn oder fünfzehn Jahren verfügten wir über Computer, die so schnell und so groß waren, daß sie beispielsweise bewegte statt bloß statische Bilder verarbeiten konnten.« Die Forscher hätten auch Tricks ersonnen, um die Bildverarbeitung zu beschleunigen, wie etwa ein Programm, das die Bewegung von Objekten sehr schnell erfasse, indem es jedes aktuelle Bild von dem vorangehenden subtrahiere. Roboter und Computer seien »noch immer sehr weit davon entfernt, diese Aufgaben mit der gleichen Gewandtheit auszuführen wie der Mensch«, sagte Simon. Doch dies ändere sich rasch. Er zählte verschiedene Projekte auf, die zeigten, welche Fortschritte die KI in jüngster Zeit gemacht habe. Das eine sei ein Auto namens Navlab, das mit minimaler menschlicher Unterstützung quer durch die Vereinigten Staaten gefahren sei. Menschliche Eingriffe seien vor allem dazu nötig gewesen, »das Gefährt auf schrägen Autobahnauffahrten und -ausfahrten unter Kontrolle zu halten«. Roboter stellten in einer Klinik in Pittsburgh und in anderen Orten die Post zu. Besonders beeindruckt zeigte sich Simon von den Spielen, bei denen Gruppen fußballspielender Roboter gegeneinander antraten. Jeder Roboter müsse mit seinen Teamkollegen kooperieren und die Pläne seiner Gegenspieler vorwegnehmen und vereiteln. - 284
Gefragt, ob er die KI in erster Linie als eine Naturwissenschaft oder eine Ingenieurwissenschaft ansehe, antwortete Simon: »Sie ist beides. Sie ist die Erforschung der Konstruktion intelligenter Maschinen und ebenso die Wissenschaft von der Intelligenz.« Im Idealfall sollten KI-Modelle nicht nur den Output des menschlichen Gehirns simulieren, sondern auch dessen innere Abläufe. Es sei noch immer schwierig herauszufinden, ob ein Computermodell die Funktionsweise des Gehirns getreulich widerspiegele, weil die Kernspinresonanztomographie und andere Technologien die neuralen Prozesse nicht in hinlänglicher Detailgenauigkeit erfaßten. »Ich denke, es wird noch eine Zeitlang dauern, bis wir diese Lücke überbrücken werden, aber das sollte uns kein Kopfzerbrechen bereiten.« Fortschritte in der Computertechnologie einerseits und bei bildgebenden Verfahren andererseits würden bald die Kluft zwischen KI und Neurowissenschaft schließen. Simon glaubt fest an das »starke KI-Programm«, wonach es keinen grundlegenden Unterschied zwischen einem Rechner und dem menschlichen Gehirn gebe. »Ein Computer ist hinsichtlich Schnelligkeit und Speicherkapazität und so weiter einfach eine andere Maschine als eine Person«, erklärte er. »Aber ich denke fast nur in diesen beiden Kategorien.« Ein anderes Dogma der starken KI besagt, daß eine Maschine definitionsgemäß denke, die eine kognitive Aufgabe ausführt, etwa Schach spielt oder ein Gesicht erkennt oder Fußball spielt. Nach Ansicht von Simon ist die Kritik an der KI größtenteils emotional motiviert und basiert auf keiner sachlichen Bewertung der Fakten. »Dieses Fachgebiet wird mit anderen Maßstäben gemessen als alle anderen Disziplinen, die ich kenne.« Intelligente Maschinen stellten eine schwere Kränkung für die Eitelkeit des Menschen dar. »Die meisten finden die Vorstellung, daß ein Computer denkt, schlicht abstoßend.« Jedesmal wenn er einen Vortrag über KI halte, teilte mir Simon mit, spiegelten sich in den Fragen aus dem Publikum - 285
die »Angst und Sorge« der Menschen wider, sie könnten durch Maschinen ersetzt werden. Viele KI-Forscher beklagen sich über diesen Zustand. Im Jahr 1998 veröffentlichte die New York Times einen Beitrag, in dem Astro Teller, der wie Simon als KI-Forscher an der Carnegie-Mellon-Universität tätig ist, die KI verteidigte. Wenn wir unsere Skepsis gegenüber der KI zum Ausdruck brächten, lehnten wir sie in Wirklichkeit völlig ab, behauptete Teller. Intelligente Computer untergrüben unser Gefühl, etwas Besonderes zu sein; wir fühlten uns durch sie bedroht, so wie wir uns durch die Entdeckungen bedroht gefühlt hätten, daß die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht und daß der Mensch vom Affen abstammt. Daher stellten die Menschen »in dem Maße, wie die Künstliche Intelligenz Fortschritte macht, ständig höhere Anforderungen, damit sie nicht zugeben müssen, daß Maschinen kreativ oder intelligent sein können«.6 Wenn aber irgend jemand die KI zu fortwährendem Versagen verurteilt hat, indem er zu hohe Anforderungen stellte, dann sind das begeisterte KI-Anhänger wie Simon. Im Jahr 1957 referierte er in überschwenglichen Tönen über die Künstliche Intelligenz. Sie »wird dem Menschen helfen, dem uralten Gebot zu gehorchen: Erkenne dich selbst. Und mit dieser Selbsterkenntnis gewappnet, wird er vielleicht lernen, Erkenntnisfortschritte zum Nutzen statt zum Schaden der Gattung Mensch einzusetzen.«7 Im selben Vortrag machte Simon vier etwas konkretere Vorhersagen. Er prognostizierte, daß die KI innerhalb von zehn Jahren - im Jahr 1967 - die folgenden Meilensteine erreicht haben werde: - Ein Computer werde Schachweltmeister sein. - Ein Computer werde ein wichtiges neues mathematisches Theorem entdecken und beweisen. - Ein Computer werde Musik komponieren, die nach An- 286
sicht von Kritikern eine beachtliche ästhetische Qualität besitzen werde. - Die meisten Theorien in der Psychologie würden die Form von Computerprogrammen oder von qualitativen Aussagen über die Merkmale von Computerprogrammen annehmen. Simon sagte mir 1998, seine Vorhersagen seien weitgehend eingetroffen. Die Schach-Prognose habe zwar um dreißig Jahre danebengelegen, aber die anderen drei seien »in Reichweite«. Doch inwieweit waren Simons Prognosen wirklich in Erfüllung gegangen? Simons sicherste Wette war das künstliche Komponieren von Musik. Als Simon 1957 seine Rede hielt, hatten die Informatiker L. A. Hiller und L. M. Isaacson bereits ein Programm geschrieben, das Musik erzeugte. Simon selbst beschrieb eine der Kompositionen des Programms - die llliac Suite, benannt nach einem der ersten Digitalrechner - als »nicht trivial und nicht uninteressant«.8 Computergenerierte Musik entpuppte sich ebenso wie computergenerierte Kunst und Lyrik als eine vergängliche Modeerscheinung. Die Melodien, Zeichnungen und Gedichte, die von Computern produziert werden, sprechen Menschen oftmals auf eindringliche Weise an. Doch wie ein Journalist in einem Beitrag über computergenerierte Musik und Kunst im Jahr 1997 schrieb: »Menschen sehen in verbrannten Tortillas auch Bilder von Jesus und schreiben ihren Autos Gefühle zu.«9 Nicht einmal der glühendste KI-Verehrer behauptet, daß diese Programme eine ernsthafte Herausforderung für Komponisten, bildende Künstler und Dichter darstellten. Was die computergenerierte Mathematik anbelangt, so haben mehrere Informatiker, darunter Simon selbst, Programme entwickelt, die in der Tat mathematische Theoreme aufstellen und beweisen.10 Ende der fünfziger Jahre schrieb der Physiker Herbert Gelernter, der bei IBM arbeitete, ein - 287
Programm, das einige der elementaren Lehrsätze der euklidischen Geometrie »entdeckte«. Andere Informatiker erfanden Algorithmen, die höhere Theoreme ausstoßen konnten. Doch selbst innerhalb der KI-Gemeinde monierten Kritiker, die Ergebnisse, die diese Programme errechnet hätten, seien in ihnen angelegt gewesen. Seit Ende der siebziger Jahre bedienen sich die Mathematiker zunehmend des Computers, um aufwendige Berechnungen durchzuführen, die für die Vervollständigung bestimmter Beweise erforderlich sind. Aber der Computer entwirft den Beweis nicht selbst; er dient lediglich als Handlanger für seinen menschlichen Herrn. Zu Beginn der achtziger Jahre versuchte der Informatiker und Unternehmer Edward Fredkin das nachlassende Interesse an der computergestützten Mathematik wiederzubeleben, indem er den sogenannten Leibniz-Preis stiftete. (Fredkin gehörte zu den KI-Forschern, die zu Pamela McCorduck in Machines Who Think gesagt hatten, daß Computer die nächste Etappe in der Evolution der Intelligenz darstellten.) Der von der Carnegie-Mellon-Universität verwaltete Preis setzt hunderttausend Dollar auf das erste Computerprogramm aus, das ein Theorem aufstellt, welches einen »tiefgreifenden Einfluß« auf die Mathematik ausübt. Einer der ersten Juroren für den Preis war der Mathematiker David Mumford von der Brown-Universität. Ich fragte Mumford, wann der Preis seines Erachtens eingefordert werde: »Nicht heute, nicht in hundert Jahren«, antwortete er.11 Simons Schach-Prognose nahm sich vermutlich für viele Beobachter relativ bescheiden aus. Schach basiert auf einfachen, eindeutigen Regeln und wird auf einem kleinen kartesischen Spielfeld gespielt.12 Grundsätzlich könnte ein Computer die Folgen jedes möglichen Zuges berechnen, alle möglichen Gegenzüge, Gegen-Gegenzüge und so weiter prüfen, bis er eine Siegesstrategie findet. In der Praxis ist diese Strategie jedoch unmöglich. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt stehen jedem - 288
Schachspieler in der Regel achtunddreißig verschiedene Züge offen. Jeder dieser möglichen Züge erzeugt achtunddreißig mögliche Gegenzüge des anderen Spielers; die Gesamtzahl beläuft sich entsprechend auf 1444 Züge. Ein Schachspieler, der nur zwei Züge und Gegenzüge vorwegzunehmen versuchte, müßte 2 085 135 Möglichkeiten prüfen. Die Gesamtzahl der Spiele, welche die Schachregeln erzeugen können, ist 10120, also mehr als die Zahl der Atome im Universum. Den Ingenieuren gelang es erst 1958, eine Maschine zu konstruieren, die die Grundregeln des Schachs ausführen konnte. Danach machten Schachcomputer langsame, aber stetige Fortschritte. Mitte der sechziger Jahre spielten sie so gut wie durchschnittliche Turnierspieler. Und sie klommen die Stufenleiter unaufhörlich nach oben. Obgleich es dreißig Jahre länger dauerte, als Simon vorhergesagt hatte, war er selbstverständlich hocherfreut, als der IBM-Computer Deep Blue schließlich 1997 den Schachweltmeister Gary Kasparow besiegte. Deep Blue war ein enorm leistungsfähiger Rechner. Seine zweiunddreißig unabhängigen Mikroprozessoren konnten zweihundert Millionen Figurenpositionen pro Sekunde prüfen. Mit dieser Kapazität plus einigen Regeln zum Ausschluß recht aussichtsloser Taktiken konnte Deep Blue fünfunddreißig Züge in die Zukunft »sehen«. Ironischerweise hegten die Entwickler von Deep Blue selbst Zweifel daran, ob ihr Erfolg eine Bestätigung der Künstlichen Intelligenz darstelle. »Dieses Schachprojekt hat nichts mit KI zu tun«, sagte Chung-jen Tan, der Manager der Deep-BlueForschergruppe, als ich ihn und seine Kollegen im Jahr 1996, direkt nach ihrem ersten Spiel gegen Kasparow, interviewte.13 (Bei diesem Wettstreit gewann Deep Blue die erste Runde, verlor jedoch schließlich das Spiel.) Der Erfolg von Deep Blue sei nicht darauf zurückzuführen, daß er das menschliche Urteilsvermögen nachahme, sondern darauf, daß er das Problem auf rein rechnerische Prozesse reduziere, sagte Tan. »Solange - 289
man das Problem nicht versteht, nennt man es KI«, fuhr er fort. »Doch sobald man es verstanden hat, kann man es auf einen rechnerischen Algorithmus zurückführen.« - »Die Techniken, die das menschliche Urteilsvermögen nachzuahmen versuchten, sind erbärmlich gescheitert«, pflichtete ihm sein Kollege Joseph Hoane bei. »Wir wissen immer noch nicht, wie wir das überhaupt angehen sollen.« Das Deep-Blue-Team schien Herbert Simons Aussage, Deep Blue könne »denken«, eher amüsant als schmeichelhaft zu finden (»Ich würde das, was Deep Blue leistet, als ›Denken‹ bezeichnen«, hatte Simon im Jahr 1996 in der New York Times verkündet14). »Meines Erachtens hat die Fähigkeit zum Schachspielen nicht mit der Frage zu tun, ob Computer denken können«, sagte der IBM-Wissenschaftler Murray Campbell in brüskem Ton. »Nur weil ein Computer Schach spielen kann, bedeutet dies noch lange nicht, daß er denken kann. ›Denken‹ ist ein sehr schwer zu definierendes Wort.« Das Team bezweifelte auch, daß Ingenieure in der nahen Zukunft in der Lage seien, einen wirklich menschenähnlichen Computer zu bauen, wie es Simon und andere KI-Pioniere einmal gehofft hatten. Campbell wies darauf hin, daß es möglich sei, ein künstliches Gehirn zu konstruieren, indem man jede Nervenzelle durch einen elektronischen Kippschalter ersetze. »Doch das wird noch Jahrhunderte dauern«, sagte er. »Das reicht nicht«, fügte Tan mit Nachdruck hinzu. »Das Gehirn ist mehr als nur Hardware. Es umfaßt auch die gesamte Software und alles andere. Ich bin kein Psychologe oder Neurowissenschaftler, aber ich bin mir sicher, daß sie diese Probleme ebenfalls nicht verstehen.« »Er hat keine Ahnung!« antwortete Simon, als ich ihm von Tans Äußerung berichtete, Deep Blue habe »nichts mit KI zu tun«. Weshalb konsultiere das IBM-Team Schachgroßmeister, um dem Programm den letzten Schliff zu geben, wenn Deep Blue ausschließlich Zahlenakrobatik betreibe? Er behauptete, - 290
das Deep-Blue-Team plappere lediglich den offiziellen Standpunkt von IBM nach. Seit den späten fünfziger Jahren habe IBM seinen Mitarbeitern untersagt, IBM-Produkte mit KI in Verbindung zu bringen oder auch nur den Begriff zu erwähnen. »IBM hat panische Angst davor, daß jemand auf die Idee kommen könnte, daß sie denkende Computer herstellen, die menschliche Arbeitskräfte ersetzen werden«, so Simon.15 Am bedeutsamsten und weitsichtigsten war vielleicht Simons Prognose, daß Computerprogramme in der Psychologie eine immer wichtigere Rolle spielen würden. Im Jahr 1957, als Simon seine Vorhersage machte, war der Behaviorismus, der den Geist als eine black box behandelt, das heißt als ein Objekt, dessen innere Struktur unbekannt und sogar bedeutungslos ist und daher ignoriert werden kann, die vorherrschende Richtung in der Psychologie. Doch der Behaviorismus wich schon bald der Kognitionswissenschaft (auch kognitive Psychologie oder kognitive Neurowissenschaft genannt), die den Geist als eine informationsverarbeitende Maschine betrachtet und die rechnerischen Grundlagen von Mustererkennung und anderen Komponenten der Kognition aufzuklären sucht. Der Aufstieg der Kognitionswissenschaft hat in der Tat dazu geführt, daß Computermodelle des menschlichen Denkens starken Auftrieb erhielten. Diese Modelle lassen sich in zwei allgemeine Kategorien einteilen, regelbasierte Algorithmen und neuronale Netze. Bei der regelbasierten Methode ist das Wissen von Anfang an im Modell enthalten, meist in der Form von »Wenn-Dann-Befehlen«, die jede Situation vorwegzunehmen versuchen. (»Wenn das Objekt in deinem Gesichtsfeld orange ist und schwarze Streifen hat und einen langen Schwanz und große Zähne, dann lauf, so schnell du kannst, in die entgegengesetzte Richtung.«) Ein typisches neuronales Netz besteht aus mehreren Ebenen von Knoten (Neuronen), die durch Verknüpfungen (Syn- 291
apsen) unterschiedlicher Stärke miteinander verbunden sind. Daten werden in die erste neuronale Ebene eingespeist; wenn das eintreffende Signal eine hinreichende Intensität besitzt, »feuert« das Neuron, das heißt, es sendet ein Signal an sämtliche Neuronen der nächsten Netzebene. Jedes dieser Neurone überträgt nun seinerseits ein Signal an die nächste Netzebene, sofern der Reiz eine gewisse Stärke erreicht. Wenn ein Neuron wiederholt Signale an ein anderes Neuron sendet, wird die Verbindung zwischen ihnen verstärkt, so daß künftig Signale leichter weitergeleitet werden. Nach der Beschreibung von manchen Journalisten und auch Wissenschaftlern zu urteilen, scheinen neuronale Netze nachgerade mystische Fähigkeiten zu besitzen. In Wirklichkeit sind neuronale Netze eine neumodische Anwendungsform altmodischer statistischer Verfahren, wie etwa der Kurveninterpolation, die dazu dienen, aus unvollständigen oder uneindeutigen Datensätzen zuverlässige Schlüsse abzuleiten.16 Die Methode funktioniert, grob vereinfacht, folgendermaßen: Ein Input wie etwa ein zweidimensionales Bild eines Gesichts wird in eine Menge von Punkten oder Koordinaten umgewandelt, die jeweils einen x- und einen y-Wert besitzen. Nachdem diese Daten eingespeist wurden, sucht das neuronale Netz nach einer Kurve beziehungsweise mathematischen Funktion, die so genau wie möglich mit den Koordinaten übereinstimmt. Jede dieser Funktionen entspricht einem spezifischen Output »Tiger« oder »Hauskatze«. Durch mehrere Rückkopplungsmechanismen kann man das Netz darauf »trainieren«, Muster mit größerer Treffsicherheit zu erkennen. Ein Grund, weshalb viele Forscher so gern mit neuronalen Netzen arbeiten, liegt darin, daß sie, zumindest oberflächlich betrachtet, dem menschlichen Gehirn ähneln. Anders als regelbasierte Algorithmen, in die das gesamte Wissen von Anfang an eingespeist wird, erwerben neuronale Netze - zumindest im Prinzip - Wissen durch einen Vorgang, der näherungswei- 292
se dem menschlichen Lernen entspricht. Überdies führen neuronale Netze Berechnungen nicht seriell (nacheinander) aus, sondern parallel. In der Praxis aber hat sich gezeigt, daß neuronale Netze genauso begrenzt und inflexibel sind wie regelbasierte Methoden. Man muß während und sogar noch nach der Trainingsphase weiterhin Wissen von außen zuführen.
Die Revanche des Philosophen Hubert Dreyfus bezweifelt, daß neuronale Netze oder der regelbasierte Ansatz wirklich intelligente Maschinen hervorbringen werden.17 Dreyfus, der an der Universität von Kalifornien in Berkeley Philosophie lehrt, gehört zu den frühesten und beharrlichsten Kritikern der KI. Er begann sich Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre, als er am MIT arbeitete, für die KI zu interessieren. KI-Forscher behaupteten, daß Philosophen »sich zweitausend Jahre lang vergeblich darum bemüht hätten, Dinge wie Wahrnehmung und Gedächtnis, Sprache und Denken und so fort zu verstehen, und daß [die KI-Forscher] die Sache in die Hand genommen hätten und große Fortschritte machten«, erinnerte er sich. Diese Behauptungen hätten seine Neugierde geweckt. Im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen habe ihn die metaphysische Frage, ob Computer jemals Bewußtsein besitzen können, kaum interessiert; er habe sich auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit von Computern konzentriert. Können sie bedeutsame wissenschaftliche oder mathematische Probleme lösen, Goethe ins Englische übersetzen, ein Gespräch führen oder ein bekanntes Gesicht in einem überfüllten Raum erkennen? Dreyfus hatte seine Zweifel, die er erstmals in einem Beitrag formulierte, der 1967 von der Rand Corporation, einer bedeutenden »Denkfabrik«, veröffentlicht wurde. Eine stark erweiterte Fassung dieses Beitrags erschien dann 1972 unter - 293
dem Titel What Computers Can't Do. Dreyfus behauptete klugerweise nicht, den Beweis dafür erbracht zu haben, daß KI unmöglich sei; ja, er bezweifelte sogar, daß ein solcher Beweis der Unmöglichkeit überhaupt erbracht werden könne. Doch er führte zahlreiche Argumente dafür an, daß die KI vermutlich keine so schnellen Fortschritte machen würde, wie ihre Anhänger erhofften. Damals wurde die Kognition innerhalb der KI - auch in der aufstrebenden und sich teilweise mit ihr überschneidenden Kognitionswissenschaft - überwiegend als ein regelbasierter Prozeß betrachtet. Nach dieser Auffassung führt unser Gehirn, wenn wir eine prominente Person im Fernsehen erkennen oder uns daran erinnern, wo wir unsere Schlüssel hingelegt haben, eine riesige Menge an Wenn-Dann-Befehlen aus, die jedoch unterhalb der Bewußtseinsschwelle ablaufen. Dreyfus zitierte mehrere Philosophen, vor allem Wittgenstein und Heidegger, die es für äußerst schwierig gehalten hätten, die menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis mit einem formalen, regelbasierten Modell nachzubilden. Wittgenstein habe gemeint, jede Tatsachenbehauptung über die Welt müsse durch andere Tatsachenbehauptungen erklärt werden; es gebe keine Grundtatsachen (»Urelemente«, wie Wittgenstein sie nannte), die als Grundlage der Erkenntnis dienten, so wie Quarks und Elektronen die elementaren Einheiten der Physik bildeten. In ähnlicher Weise habe Heidegger darauf hingewiesen, daß Regeln nur selten für alle Situationen gelten; um festzustellen, ob die Anfangsregel für eine bestimmte Situation von Belang sei, seien Zusatzregeln erforderlich, so daß ein unendlicher Regreß von Regeln auftrete. KI-Theoretiker behaupteten, man könne diese Hindernisse überwinden, indem man die schwer faßbaren kognitiven »Urelemente« identifiziere oder hinlänglich kluge Regeln beziehungsweise Axiome einführe; schließlich bringe auch das menschliche Gehirn in irgendeiner Weise diesen Trick zustande. Dreyfus erklärte: »Man kann immer sagen: ›Wir bekom- 294
men so gute Relevanzaxiome und so gute Metaaxiome zur Reduktion der Relevanzaxiome, daß es funktionieren wird.« Doch in der Praxis sei es außerordentlich schwierig, eine kognitive Aufgabe auf eine regelbasierte Prozedur zurückzuführen. Selbst wenn eine kognitive Aufgabe mit Regeln definiert werden könne, so Dreyfus, falle es einem Computer möglicherweise immer noch schwer, diese Aufgabe auszuführen. So stützten sich etwa Schachexperten nicht auf reine Berechnungen, sondern auf ihre Erinnerungen an das, was in der Vergangenheit erfolgreich war, auf Faustregeln über die besten Strategien und auf ihre Intuition. Schach sei deshalb ein so faszinierendes Spiel, weil diese Kompetenz nicht ohne weiteres auf Regeln zurückgeführt werden könne. Wenn es schon schwierig sei, Regeln für das Schachspiel auf Großmeisterniveau niederzuschreiben, so Dreyfus, nähmen die Schwierigkeiten exponentiell zu, wenn es darum gehe, eine Reihe von Regeln zu finden, die einem Computer sagten, wie man ein alltägliches Gespräch führe. Die Regeln der Grammatik und Syntax seien zahlreich, komplex und voller Ausnahmen. Ein einziges Wort könne viele verschiedene Bedeutungen und Konnotationen haben, die nicht nur je nach dem Satz, in dem die Wörter vorkommen, sondern auch nach dem Kontext des Gesprächs schwanken könnten. Das Bemerkenswerteste an der menschlichen Intelligenz, so Dreyfus, sei ihre Fähigkeit, mehrdeutige, unvollständige Daten rasch zu verarbeiten und Schlüsse daraus zu ziehen. Unsere Fähigkeit, einen Satz zu verstehen - oder ein Gesicht zu erkennen oder eine dichtbevölkerte Straße entlangzugehen hänge größtenteils von unserer Fähigkeit ab, auf einen riesigen Speicher mit Weltwissen zurückzugreifen, den man gesunden Menschenverstand nennen könne. »Ist eine erschöpfende Analyse der menschlichen Vernunft in regelgeleitete Operationen an diskreten, bestimmten, kontextfreien Elementen möglich?« fragte Dreyfus gegen Ende von What Compu- 295
ters Can't Do. »Ist eine Annäherung an dieses Ziel der Künstlichen Intelligenz überhaupt wahrscheinlich? Die Antwort auf beide Fragen scheint ›nein‹ zu lauten.«18 Dreyfus wurde auf Konferenzen und in populärwissenschaftlichen Artikeln zum Kritiker der KI par excellence aufgebaut. »Wenn jemand einen begeisterten Aufsatz über die Wunder des Computers schrieb«, erinnerte er sich, »enthielt dieser immer ein oder zwei Absätze über mich und meine Ansichten, die dann im weiteren Verlauf des Artikels ignoriert wurden.« Die KI-Gemeinde erzielte wenigstens einen bedeutsamen PR-Sieg gegen Dreyfus. Dreyfus wies immer wieder hämisch darauf hin, daß Schachprogramme weit hinter den Zielen ihrer Entwickler zurückblieben; er erinnerte die KIForscher daran, daß 1960 ein zehnjähriger Junge eine von Herbert Simon entworfene Maschine besiegt hatte. Im Jahr 1966 nahm Dreyfus die Herausforderung an, gegen einen anderen Schachcomputer, den MacHack, anzutreten. Der Computer gewann. »Computer können nicht Schach spielen. Dreyfus ebensowenig«, hieß es in einem Rundschreiben für Informatiker schadenfroh.19 Dreyfus bestritt, daß er gesagt habe, Computer würden niemals besser spielen als ein zehnjähriger Junge, wie es einige KI-Forscher kolportierten. Er sei vielmehr der Ansicht gewesen, daß Computer eines Tages hervorragend Schach spielen würden, weil Schach, stärker als andere kognitive Fähigkeiten, auf formale Regeln zurückgeführt werden könne. Aber er räumte ein, daß er nicht erwartet habe, daß Deep Blue 1997 Gary Kasparow besiegen würde. Zudem sei er »sehr überrascht« über die zunehmende Fähigkeit von Computern, gesprochene Wörter zu erkennen. »Es bedarf einer enormen Schnelligkeit und [Speicherkapazität], aber es funktioniert.« Andererseits könnten sich Computer noch immer nicht über Politik unterhalten oder ein Märchen verstehen; ihnen fehlten noch immer die gewöhnlichen Fähigkeiten, die »uns ermögli- 296
chen, uns in der Welt zurechtzufinden und zu erkennen, was wichtig ist«. Kurz, der Alltagsverstand fehle ihnen. Im Jahr 1992 veröffentlichte MIT Press eine Neuausgabe von What Computers Can't Do unter dem Titel What Computers Still Can't Do. In der Einleitung verkündete Dreyfus den Sieg über das, was er »die gute altmodische KI« nannte. Nach fünfzigjährigen Anstrengungen »ist heute allen, außer einigen wenigen Unverbesserlichen, klar, daß dieses Bemühen, auf künstliche Weise eine allgemeine Intelligenz zu erzeugen, gescheitert ist«.20 Dreyfus begrüßte die Tatsache, daß viele KI-Forscher die regelbasierte Methode aufgegeben und sich neuronalen Netzen zugewandt hätten, die ihm als ein plausibleres Modell der menschlichen Kognition erschienen. Aber er wies darauf hin, daß neuronale Netze in der Praxis auf dasselbe Problem stießen wie die gute altmodische KI: das Unvermögen, den Alltagsverstand nachzubilden. »Man braucht eine lernfähige Maschine, die so viele menschliche Interessen und so viel menschliche Struktur besitzt, daß sie lernen kann, so zu generalisieren, wie es ein Mensch tut.«21 In Anlehnung an einen Ausdruck, den der Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos prägte, nannte Dreyfus die Künstliche Intelligenz ein »im Niedergang begriffenes Forschungsprogramm«. [Ein solches Programm] beginnt mit großen Erwartungen, indem es einen Ansatz einführt, der in einem begrenzten Bereich zu eindrucksvollen Ergebnissen führt. Die Forscher möchten daraufhin den Ansatz fast immer auf anderen Gebieten anwenden, wobei sie mit Problemen beginnen, die in irgendeiner Hinsicht den ursprünglichen gleichen. Solange das Forschungsprogramm erfolgreich ist, expandiert es weiter und lockt immer neue Anhänger an. Wenn die Forscher jedoch auf unerwartete, aber gewichtige Phänomene stoßen, die sich beharrlich den neuen Techniken widersetzen, stagniert das Programm, und die Forscher werden sich in dem Maß davon abwenden, wie ein vielverspre22 chender alternativer Ansatz verfügbar wird. - 297
Das Unvermögen der KI, den Geist zu simulieren, sagte mir Dreyfus, spiegele das umfassendere Unvermögen der Psychologie wider, den Geist zu verstehen. Während der letzten hundert Jahre sei es der Psychologie nicht gelungen, ein Rahmenmodell oder Paradigma aufzustellen, das aufgrund seiner umfassenden Gültigkeit die Zustimmung der meisten Forscher gefunden hätte. »Wir haben einen Haufen kleiner Paradigmen, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, die allein wahren zu sein. Die Behavioristen scheinen die richtige Antwort gefunden zu haben, doch darauf schreibt Chomsky eine Rezension über Skinner, und damit ist der Behaviorismus erledigt. Und dann sieht es so aus, als ob Regeln und der Kognitivismus die richtige Antwort wären. Und heute sind [die neuronalen Netze] groß im Kommen [...] Wir haben es mit einem Haufen von Modetrends zu tun. Es scheint nirgendwohin zu führen. Wir haben beim Verständnis des Geistes keine Fortschritte gemacht.«
Douglas Lenats Angriff auf den Alltagsverstand Viele Forscher, die einst an die Computertheorie des menschlichen Geistes glaubten, haben sich widerstrebend Dreyfus' Urteil zu eigen gemacht, auch wenn sie selbstverständlich nur selten Dreyfus das Verdienst daran zusprechen. Dies war jedenfalls der Tenor von HAL's Legacy, einer Sammlung von Aufsätzen führender KI-Forscher, die 1997 erschien. (1997 war das Jahr, in dem HAL in dem Roman 2001 in einer Fabrik in Urbana, Illinois, »einsatzfähig wurde«; in dem Film 2001 war HALs Geburtsjahr 1992.) »Sprechen wir das Offenkundige aus: HAL existiert nicht, und es ist ausgeschlossen, daß irgendeine wundersame Zunahme der Forschungsgelder oder unserer Erkenntnisse die KI auf das Niveau anheben wird, das in HAL im Jahr 2001 dargestellt ist«, erklärte David Stork, der - 298
Herausgeber des Buches, in der Einleitung.23 Stork ist Informatiker und arbeitet an der Stanford-Universität und am Ricoh California Research Center. Er wies darauf hin, daß er mittelmäßig treffsichere Programme zum Lippenlesen entwickelt habe, doch kein gegenwärtiges System reiche auch nur annähernd an HALs Können beim Lippenlesen heran. »Jetzt, da das Jahr 2001 vor der Tür steht«, fuhr Stork fort, »könnten wir uns fragen, weshalb wir den Traum von HAL nicht verwirklicht haben. Die Gründe dafür sind aufschlußreich. Kursorisch betrachtet, haben wir die Vision von HAL in jenen Bereichen - Sprache, Hardware, Planung, Schachspiel erreicht und übertroffen, die sich exakt definieren und leicht spezifizieren lassen. In Bereichen wie dem Sprachverständnis und dem Alltagsverstand dagegen, die in ihren Möglichkeiten grundsätzlich grenzenlos sind und sich nur schwer spezifizieren lassen, bleiben wir weit hinter der Vision zurück.«24 »Nach jeder allgemeinen Definition [...] war die KI bislang ein Mißerfolg«, stimmte der erfahrene Informatiker David Kuck zu.25 Roger Shank von der Northwestern-Universität erklärte kategorisch, HAL sei »eine unrealistische Konzeption einer intelligenten Maschine«, die niemals in die Tat umgesetzt werden könne, die Informatiker könnten bestenfalls Maschinen entwickeln, »die eine Menge über das wissen, was sie wissen sollen, und erbärmlich wenig über alles andere«.26 Dieser Pessimismus wurde von einem der Autoren von HAL's Legacy, Douglas Lenat, energisch zurückgewiesen. Lenat schloß sich der Auffassung anderer Autoren an, wonach der Alltagsverstand der Schlüssel zum Erfolg - und Mißerfolg der KI sei. »Wir sind heute in der Lage, die Schritte zu spezifizieren, die erforderlich sind, um ein HAL-ähnliches Geschöpf zu bauen«, verkündete er: 1. Speise Millionen von Alltagsausdrücken, -begriffen, Fakten und Faustregeln, die den menschlichen Konsens hinsichtlich der - 299
Wirklichkeit repräsentieren - also den Alltagsverstand -, in eine Datenbank ein. 2. Konstruiere über dieser Basis die Fähigkeit, in einer natürlichen Sprache, wie Englisch, zu kommunizieren. Laß den werdenden HAL diese Fähigkeit nutzen, um seine Wissensbasis stark zu erweitern. 3. Wenn er schließlich die Grenze des Wissens in einem Gebiet erreicht, wird es niemanden mehr geben, mit dem er sich darüber unterhalten kann, so daß er selbst Experimente ausführen muß, 27 um neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet zu gewinnen.
Lenat erklärte, daß dies kein phantastischer Plan für ein gewaltiges künftiges Projekt sei, das in Gang gesetzt werden sollte, wenn die Menschheit eine höhere Stufe utopischer Zusammenarbeit erreicht habe. Nein, es sei der konkrete Plan, den er und sein Team in den letzten zehn Jahren verfolgt hätten. Lenat ist einer der wenigen KI-Forscher in der Welt, der sich bemühte, der ursprünglichen KI-Vision vom Bau eines Computers mit universeller statt hochspezialisierter Intelligenz treu zu bleiben. Schon 1984 hatte er erkannt, daß spezialisierte Programme eine Sackgasse für die KI darstellten. Sie alle stießen »gegen dieselbe Mauer - nämlich die Notwendigkeit, daß unsere Programme dieselbe Breite und Tiefe des Alltagswissens besitzen müssen wie Menschen«.28 Im selben Jahr setzte er sich das kühne Ziel, ein Computerprogramm zu entwerfen, das das gleiche Wissen enthalte, wie es praktisch jeder Mensch besitze. Dieses »Cyc« genannte Projekt wurde zunächst von einem Konsortium von Hochtechnologiefirmen mit Namen Microelectronics and Computer Consortium (MCC) mit Sitz in Austin, Texas, finanziell gefördert. Im Jahr 1994 schied Lenat aus dem MCC aus und gründete eine eigene Firma, Cycorp. Lenat und seine Mitarbeiter konnten nicht einfach Wissen aus Wörterbüchern und Enzyklopädien zusammentragen. Selbst der einfachste Eintrag in einer Enzyklopädie beinhaltet - 300
weitreichende Annahmen. Betrachten wir die folgenden beiden Sätze: »Napoleon starb auf Sankt Helena. Wellington war zutiefst betrübt.«29 Sie setzen voraus, daß der Leser weiß, daß Sankt Helena ein Ort ist, daß Napoleon und Wellington Menschen sind, daß Wellington länger lebte als Napoleon und so weiter. Lenat und seine Programmierer, die er manchmal scherzhaft »Ontologisierer« nennt, haben mittlerweile mehr als eine Million Regeln beziehungsweise Behauptungen des Alltagsverstandes zusammengestellt. Cyc »weiß«, daß sich Bäume in der Regel im Freien befinden, daß gestorbene Menschen für immer tot sind und daß ein mit Milch gefülltes Glas mit der offenen Seite nach oben und nicht nach unten zeigt. Doch Lenat behauptete, daß Cyc einige noch eindrucksvollere Fähigkeiten besitze. So erklärte er in einem Interview, Cyc besitze bereits »Selbstbewußtsein«. »Wenn man ihn fragt, was er ist, weiß er, daß er ein Computer ist. Wenn man ihn fragt, wer wir sind, weiß er, daß wir Benutzer sind. Er weiß, daß er auf einer bestimmten Maschine an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit in Gang ist. Er weiß, wer mit ihm spricht. Er weiß, daß ein Gespräch stattfindet oder auch daß ein Anwendungsprogramm abläuft. Er besitzt das gleiche Zeitgefühl wie Sie und ich.«30 Und doch beteuerte Lenat in HAL's Legacy, daß Cyc niemals »Gefühle« haben könne. »HAL, Cyc und andere Maschinen dieses Typs werden niemals Emotionen verspüren, weil diese für die Integration von Informationen, die Entscheidungsfindung auf der Basis dieser Informationen und so weiter nicht von Nutzen sind. Ein Computer mag Emotionen fingieren, um eine ansprechende Benutzerschnittstelle zu erzeugen, aber es wäre absurd, solche simulierten Emotionen als real anzusehen, so wie es absurd wäre, zu glauben, die internen logischen Operationen eines Computers würden in Englisch ausgeführt, nur weil die Input-/Output-Schnittstelle Englisch benutzt.«31 - 301
Indem Lenat die Bedeutung von Emotionen herunterspielte, lehnte er sich gegen einen der jüngsten Trends in der Erforschung des menschlichen Geistes auf. Eine wachsende Zahl von Kognitionswissenschaftlern, KI-Forschem und Neurowissenschaftlern (insbesondere Joseph LeDoux, dessen Arbeit ich im ersten Kapitel behandelte) ist der Ansicht, daß Emotionen für die menschliche Erkenntnis und Kreativität von zentraler Bedeutung sind. Tatsächlich versteht sich Lenat nach eigenem Bekunden weniger als Wissenschaftler, das heißt als Wahrheitssucher, denn als Ingenieur, der Maschinen zusammenbaut. Dem Cyc-Team, so sagte er, gehe es nicht darum, »besser zu verstehen, wie der menschliche Geist funktioniert, oder auch eine konkrete Theorie der Intelligenz zu überprüfen. Vielmehr bauen wir nicht mehr und nicht weniger als ein Artefakt, wobei wir mit einer äußerst pragmatischen technischen Einstellung an das Projekt herangehen.«32 Bislang sind die kommerziellen Anwendungen von Cyc nicht gerade weltbewegend. Lenat hat betont, Cyc eigne sich besonders gut als Suchmaschine, um Informationen aus dem World Wide Web oder anderen Datenbanken herauszuholen. Die meisten Suchmaschinen suchen nach exakten Übereinstimmungen mit Schlüsselwörtern oder auch nach Synonymen, die in einem Thesaurus gespeichert sind. Cyc dagegen könne auch Übereinstimmungen suchen, die auf der weiteren Bedeutung eines Wortes, eines Ausdrucks oder eines Satzes basierten. So könne beispielsweise ein Artdirector mit Hilfe von Cyc Bilder suchen, die solche vagen Kriterien wie »eine glückliche Person« erfüllten. Indem Cyc die Legenden von Bildern in einer Datenbank prüft, könne er den Art-director auf ein Foto eines »Mannes, der beobachtet, wie seine Tochter ihre ersten Schritte macht« hinweisen. In gleicher Weise könne eine Suchanfrage für ein Bild »einer starken und abenteuerlustigen Person« ein Foto eines »Mannes, der eine Steilwand erklimmt« zutage fördern. Cyc könne Suchbefehle nicht da- 302
durch erfüllen, daß er Bilder direkt prüfe, wie es ein menschlicher Sucher täte; vielmehr stütze er sich auf Übereinstimmungen zwischen seinem Suchbefehl und den sprachlichen Beschreibungen, die den Bildern beigefügt sind. Cyc könne zudem jene Art von Fehlern und Inkonsistenzen aufspüren, die gewöhnliche Computer niemals entdeckten, so Lenat. So enthielten beispielsweise Finanzdatenbanken oftmals Informationen über die Geschlechtszugehörigkeit eines Individuums und dessen Gatten oder Gattin. »Ohne daß man Cyc eigens für die Aufgabe programmieren müßte, weiß er, daß es vermutlich einen Fehler in den Daten gibt, wenn X und X' Gatte dasselbe Geschlecht haben«, sagte Lenat.33 (Lenat übersah, daß gewisse Verwaltungsbezirke, wie etwa San Francisco, die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern erlauben.) Ironischerweise sind für die Bedienung dieser »Alltagsverstandmaschine« sehr spezielle Kenntnisse erforderlich, die nichts mit dem Alltagsverstand zu tun haben. Cyc besitzt eine begrenzte Fähigkeit, Befehle in gewöhnlichem Englisch zu interpretieren und auszuführen. Doch in den meisten Fällen kann er nur Informationen verarbeiten, die zuvor in ein komplexes Logiksystem, das als Prädikatenkalkül zweiter Ordnung bezeichnet wird, übersetzt wurden. Im allgemeinen liefert er auch Informationen in diesem Format. Lenats Ehrgeiz war von Anfang an, daß Cyc über hinreichend Intelligenz verfüge, um sich von selbst neues Wissen anzueignen, indem er Zeitungen, Bücher und andere Informationsquellen durchforste. Doch Lenat schiebt das Datum, an dem Cyc diese Fähigkeit besitzen soll, immer wieder hinaus. Als er 1984 mit dem Projekt begann, sagte er voraus, Cyc werde binnen zehn Jahren die Fähigkeit zu autodidaktischem Lernen besitzen. Im Jahr 1991 war Lenat noch immer optimistisch, daß Cyc 1994 oder 1995 in der Lage sei, »sich neues Wissen leichter durch Lesen anzueignen als dadurch, daß er sich von Wissensingenieuren füttern läßt«, wie es ein Reporter formulierte.34 Im - 303
Jahr 1997 verschob er den Termin auf das Jahr 2001. Dann, so meinte Lenat, könne Cyc nicht nur lernen, sondern auch schöpferisch tätig sein. Cyc werde zu einem »vollentwickelten kreativen Mitglied einer Gruppe, die neue Entdeckungen präsentieren wird. Erstaunliche Entdeckungen, höchst originelle.«35
Rodney Brooks sucht nach dem Lebenselixier Hubert Dreyfus bewunderte Lenat dafür, daß er das ursprüngliche Ziel der KI verfolgt, eine Maschine mit universellen Fähigkeiten zu schaffen. »Ich respektiere ihn dafür«, bemerkte Dreyfus. Doch bislang sei Lenat weit hinter seinem ehrgeizigsten Ziel zurückgeblieben; Cyc ist nicht in der Lage, sich durch Lektüre von Zeitungen und anderen Publikationen eigenständig Wissen anzueignen. Lenat »ist es gelungen, eine CD mit einer Enzyklopädie des Alltagswissens zu entwikkeln«, sagte Dreyfus. Der KI-Forscher Rodney Brooks fällte ein ähnliches Urteil über Lenat: »Doug ist ein netter Kerl. Ich bewundere seinen Ehrgeiz. Nur leider ist er völlig auf dem Holzweg.«36 Brooks nannte Cyc »ein bequemes Arbeitsbeschaffungsprojekt«, das Lenat erlaube, »nicht nachdenken zu müssen«. Cyc sei im wesentlichen ein Thesaurus, so Brooks, der niemals durch einen Sinnesapparat in direkten Kontakt mit der Außenwelt trete. »Letzten Endes muß man die Grundelemente in Cyc einspeisen. Man muß ihn mit einer anderen sensorimotorischen Erfahrung verknüpfen, und das übersieht er [Lenat] meines Erachtens.« Lenats Version des Alltagsverstandes habe nichts mit der menschlichen Spielart gemein. »Eigentlich handelt es sich bloß um ein Lexikon, und das hat nichts mit menschlichem Denken zu tun.« Brooks, der in Australien geboren wurde und aufwuchs und noch immer mit einem leicht näselnden australischen Akzent - 304
spricht, ist eine der faszinierendsten Gestalten der KI. Er verwandelte sich von einem lästigen Kritiker zu einer Säule des Establishments; im Jahr 1997 wurde er zum Direktor des Labors für Künstliche Intelligenz des MIT ernannt. Er ist ein auf gewinnende Weise streitsüchtiger Mensch mit längerem Kraushaar und Augen, die hervortreten, wenn er so richtig in Fahrt kommt (was häufig geschieht). Sein Charme rührt daher, daß er nicht nur alle anderen, sondern auch sich selbst heruntermacht. Kurz nach seiner Ernennung sagte er mir, daß er jetzt, da er ein renommiertes Labor mit einem großen Etat und zweihundert Mitarbeitern leite, seine Aufsässigkeit zu bändigen versuche. »Jetzt muß ich ein alter, verknöcherter Spießer sein«, sagte er. »Mitte bis Ende der achtziger Jahre lief ich herum und sagte allen, sie lägen völlig daneben, was sie natürlich verärgerte. Ich glaube das noch immer, aber sie glauben jetzt, ich würde das eigentlich nicht glauben, so daß sie nicht mehr so ärgerlich auf mich sind.« Wie Herbert Simon ärgerte sich auch Brooks über einen Großteil der Kritik an der KI. »Es ist Mode geworden, zu sagen, die KI sei gescheitert, doch meines Erachtens war es kein solcher Fehlschlag, wie die Leute behaupten.« Steuerprogramme, computergestützte Haushaltsgeräte, Computerspiele und eine Vielzahl weiterer kommerzieller Produkte seien alle Anwendungsbeispiele der KI-Vision. Doch Brooks räumte ein, daß das Ziel, nämlich intelligente Maschinen zu bauen, nicht erreicht worden sei. »Wir haben weder HAL noch Commander Data gebaut«, sagte er in Anspielung auf den gleichnamigen Androiden in der Fernsehserie Star Trek. »Meines Erachtens haben wir die Sache falsch angepackt. Doch jetzt«, fügte er mit selbstironischer Gravität hinzu, wobei er wie ein Prediger den Finger in die Luft streckte, »kenne ich den richtigen Weg, und ich werde es verwirklichen!« Brooks begann seine Laufbahn als gewöhnlicher KI-Forscher. Für seine Doktorarbeit entwarf er ein hochkomplexes - 305
regelbasiertes Programm für dreidimensionales Sehen. Er erlebte eine Glaubenskrise, als er versuchte, Roboter auf der Grundlage dieses Programmes zu bauen, und feststellen mußte, daß sie, wenn überhaupt, nur schlecht funktionierten. Im Bemühen, diese Probleme zu lösen, machte er sein Programm noch komplexer und schwerfälliger. Brooks ärgerte sich über die Behauptungen von Herbert Gelernter, Herbert Simon und anderen, sie hätten Computerprogramme entwikkelt, die physikalische Gesetze und mathematische Theoreme entdecken könnten. Wie andere Skeptiker wandte er ein, daß derartige Programme lediglich das »entdeckten«, was ihre Erfinder bereits in sie hineingesteckt hätten. »Selbst als ich noch ein traditioneller KI-Forscher war, konnte ich das nicht ausstehen. Es machte mich richtig wütend.« Schließlich verwarf Brooks die gesamte Richtung der KIForschung, die diese Projekte verfolgten. »Allmählich dämmerte es mir, daß eine Verhaltensweise nur deshalb, weil sie sich mit einer Menge komplexer Regeln beschreiben läßt, nicht unbedingt auf diese Weise zustande gekommen sein muß.« Seit den achtziger Jahren hat Brooks eine Reihe von Aufsätzen – mit Titeln wie »Elefanten spielen nicht Schach« und »Intelligenz ohne Repräsentation« - geschrieben, die die Annahme, Vernunft und Logik seien der Schlüssel zur Intelligenz, in Frage stellten.37 Das Problem des logikorientierten Ansatzes in der KI-Forschung, so Brooks, bestehe darin, daß es nicht die Art und Weise abbilde, wie Menschen in ihrem Alltagsleben Probleme lösen. »Menschen sind in der Lage, in Ketten logischer Schlußfolgerungen zu denken, doch meistens handelt es sich dabei um nachträgliche Rationalisierungen.« Wenn wir gebeten würden, unsere Handlungen zu rechtfertigen, »reimen wir uns etwas zusammen«, sagte Brooks, jedes Wort betonend. Niemand behaupte, daß Insekten sich bei der Entscheidungsfindung auf Vernunft und Logik stützten, und doch zeig- 306
ten diese Tiere offenkundig differenziertes, komplexes Verhalten und die Fähigkeit zur Problemlösung. Brooks gelangte zu der Überzeugung, daß die Komplexität von biologischem Verhalten nicht nur von den Organismen selbst herrühre, sondern von ihren Interaktionen mit einer komplexen Umwelt. Er bewies seine Ideen, indem er Dutzende von insektenartigen Robotern baute, deren Verhalten von relativ einfachen Sensoren und Chips, die mit einfachen Regeln programmiert worden waren, gesteuert wurde. Eine Grundregel wies das Insektoid an, wenn es gegen ein Hindernis stieß, so lange andere Richtungen auszuprobieren, bis es sich wieder vorwärts bewegen konnte. Die Insektoiden zeigten eindrucksvoll komplexe, insektenartige Verhaltensweisen, wenn sie im Labor losgelassen wurden. Brooks und seine Insektoid-Roboter wurden (neben einem Löwendompteur, einem Experten für Nacktmulle und einem Ziergartengestalter) in Errol Morris' Dokumentarfilm Fast, Cheap and Out of Control vorgestellt.38 Morris hatte den Titel des Films einem der bekanntesten Aufsätze von Brooks entlehnt. Mitte der neunziger Jahre begann eine Gruppe unter Leitung von Brooks mit dem Bau eines humanoiden Roboters, der seine Annahmen einer noch strengeren Bewährungsprobe unterziehen sollte. Dieses Cog genannte Geschöpf besteht aus einem Kopf mit Augen und Ohren, einem Nacken, Armen und einem Torso; es gleicht dem Roboterskelett, das zum Vorschein kam, nachdem Arnold Schwarzeneggers Leib im Terminator verbrannt war. Cogs Siliziumgehirn verfügt über einige wenige Grundreflexe beziehungsweise Instinkte, die ihm einprogrammiert wurden, sowie eine gewisse Lernfähigkeit. Cog kann sich bewegende Objekte mit den Augen oder durch zusätzliche Bewegung des Kopfes verfolgen. Er kann Objekte »sehen«, seine Arme danach ausstrecken und sie berühren oder ergreifen. Wie Säuglinge hat er einen Wegziehreflex; er zieht seinen Arm zurück, wenn er berührt wird. - 307
Cogs »Ohren« erlauben ihm, die Richtung festzustellen, aus der ein Geräusch kommt; der Kopf wendet sich dann dem Geräusch zu. »Wenn sich zwei Menschen miteinander unterhalten, schaut er abwechselnd einen der beiden an«, sagte Brooks. »Es sieht so aus, als verstünde er das Gesprochene.« Cog kann auch menschliche Gesichter erkennen und sich ihnen zuwenden, wenn sie keine Geräusche von sich geben. Cog habe bereits zu einigen aufschlußreichen Befunden geführt, sagte Brooks. Er zeigte mir ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Cynthia Fell, eine der Entwicklerinnen von Cog, mit dem Roboter interagiert - Cog und Fell heben abwechselnd einen Radiergummi auf und lassen ihn wieder fallen. Obgleich Cog Fell zu imitieren schien, wies Brooks darauf hin, daß Cog über kein Imitationsprogramm verfügt. »Diese wechselweise Interaktion geht allein von ihr aus.« Fell habe rein zufällig ein gewisses Verhalten bei Cog ausgelöst und dieses dann in ein Spiel verwandelt. »Genau das gleiche tun Mütter mit ihren Säuglingen«, sagte Brooks. Eine Mutter verwandelt eine einfache Reaktion des Säuglings in ein Spiel, das dann den Säugling zu komplexerem Verhalten und Lernen anregt. Daraus folge, so Brooks, daß die Umwelt Lernprozesse anregen und fördern könne, so daß man nicht mehr so viel Wissen von vornherein in die Maschinen einfüttern müsse. Nicht jeder ist von Cog beeindruckt. »Einen Roboter zu bauen ist eine spektakuläre Sache«, sagte Steven Pinker, der wie Brooks am MIT lehrt, einem Reporter, »aber es ist fraglich, ob es etwas mit Wissenschaft zu tun hat. KI sollte disziplinierter, problemorientierter und geduldiger sein.« Der Kognitionswissenschaftler Thomas Bever von der Universität Rochester meinte kritisch: »Wir wissen so wenig über die frühen Entwicklungsstadien der Kognition, daß es ziemlich unsinnig ist, jährlich Hunderttausende von Dollar für die Simulation eines Phänomens aufzuwenden, das wir nicht verstehen. Es ist reine Zeitvergeudung.«39 - 308
Brooks selbst schien sich keine Illusionen über den möglichen Ertrag seiner Forschungen zu machen. »Die Apparate, die wir bauen, funktionieren nicht einmal annähernd so gut wie biologische Systeme«, sagte er bedauernd. Er bezweifelte, daß Computerprogramme sich von selbst entwickelten und wirklich intelligente Versionen von sich erzeugen könnten. Dies sei die Hoffnung von Konstrukteuren neuronaler Netze, genetischer Algorithmen und anderer Alternativen zu dem alten regelbasierten Ansatz in der KI-Forschung. Er wies darauf hin, daß sämtliche Lernprogramme schließlich an eine Wand stießen, die sie nicht zu überwinden vermöchten. »Möglicherweise gibt es ein theoretisches Maximum der Fitneß, das man nie auch nur annähernd erreichen kann.« Tatsächlich vermutete Brooks mittlerweile, daß er und andere Wissenschaftler, die biologische Systeme erforschten und deren Eigenschaften zu simulieren versuchten, eine zentrale Komponente übersähen. »Ich wünsche mir zutiefst«, sagte er, daß »uns etwas entgeht. Wir übersehen etwas, das da ist. Es ist ein Lebenselixier.« Brooks dachte dabei weniger an eine neue Kraft, ein neues Elementarteilchen oder eine Essenz des Lebens als an ein Organisationsprinzip, ein Konzept oder eine Sprache, die der Erforschung des menschlichen Geistes im nächsten Jahrhundert neuen Schwung geben könnte, so wie es die Computertheorie im zwanzigsten Jahrhundert getan hatte. »Wenn wir diese Sprache besäßen, könnten wir all diese biologischen Vorgänge in einer geringfügig anderen Weise beschreiben, und es gäbe uns einen Anhaltspunkt, wie wir Imitationen lebensnäher gestalten könnten.« Brooks würzte diese Enthüllung wie gewöhnlich mit einer Prise Selbstironie. Er erinnerte sich, wie er bei einem Workshop in der Schweiz im Jahr 1995 erstmals von einem »Lebenselixier« gesprochen habe, worauf ein zweiundzwanzigjähriger Student aus Oxford geantwortet habe: »Was Sie gesagt haben, war sehr interessant. Ich glaube, solche Gedanken sind bei - 309
Wissenschaftlern, die dem Ende ihrer Laufbahn entgegengehen, ziemlich verbreitet.« Brooks war damals einundvierzig Jahre alt.
KI und Psychoanalyse Könnte die Psychoanalyse die Lösung darstellen, die Brooks und andere KI-Forscher so verzweifelt suchten? Die Möglichkeit wurde von niemand geringerem als Marvin Minsky, einem der legendären Überväter der Künstlichen Intelligenz, zur Sprache gebracht. Er ist einer der Begründer des Artificial Intelligence Laboratory am MIT, und wie dessen gegenwärtiger Direktor ist er ein erbitterter Kritiker des logischen, regelbasierten Ansatzes in der KI-Forschung. Regelbasierte Systeme hätten große Schwierigkeiten, mit Ausnahmen zurechtzukommen. Minsky verwies gern darauf, daß die Definition eines Vogels als eines Federtieres, das fliegt, nicht zutreffe, wenn der Vogel ein Strauß oder ein Pinguin, wenn er tot oder in einem Käfig eingesperrt sei, wenn er gestutzte Flügel oder in Beton steckende Füße oder wenn er eine traumatische Erfahrung durchgemacht habe, so daß er an einer »psychischen« Flughemmung leide.40 Diese Argumente decken sich mit denen, die Hubert Dreyfus, der Erzfeind der KI, vorbrachte. Auch Minsky hat praktisch jeden anderen Ansatz in der KIForschung in Frage gestellt. Obgleich er in den fünfziger Jahren eines der ersten neuronalen Netze konstruierte, wurde er später zu einem der schärfsten Kritiker dieser Technologie. An mehreren hochmathematischen »Metatheorien«, die als Lösungen der KI vorgeschlagen worden waren, ließ er kein gutes Haar. In den fünfziger Jahren, als die KI-Forschung noch in den Kinderschuhen steckte, waren zwei derartige Metatheorien, die Kybernetik und die Informationstheorie, besonders populär. Auf sie folgten die Katastrophentheorie, Fraktale, - 310
Chaos und Komplexität. »Diese Ansätze erzeugen immer wieder Wogen der Begeisterung. Sie funktionieren unter gewissen Bedingungen«, sagte mir Minsky einmal.41 Doch um zu verstehen, wie das Gehirn wirklich funktioniere, »muß man über diese Metatheorien hinausgelangen«. Der Schlüssel für den Erfolg des Gehirns liege darin, daß es viele unterschiedliche Strategien zur Problemlösung verwende. »Es gibt zahlreiche Schichten von Netzwerken aus lernenden Maschinen, die evolvierten, um Fehler zu korrigieren oder die anderen Agenturen an die Probleme des Denkens anzupassen.« Er kenne, außer ihm selbst, nur noch einen Theoretiker, der diesen Aspekt des Geistes wirklich ernst genommen habe. »Freud hat bislang die nach meinen besten Theorien über den Geist aufgestellt.« Freud habe »erkannt, daß der Geist aus vielen Komponenten besteht«, fuhr Minsky fort. »Es gibt einige Grundtriebe, vielleicht auch viele.« Die primitivsten Instinkte beziehungsweise »Maschinen«, wie er sie nannte, bezögen sich auf solche Bedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft und Flucht vor Feinden. Das Über-ich unterdrücke Triebregungen, die es als unangemessen betrachte. »Freud schrieb dem Geist also einen Sandwich-Aufbau zu. Es gibt eine Reihe ursprünglicher Zielvorgaben, die von der Genetik festgelegt sind, und es gibt eine Reihe essentieller Ziele, die auf irgendeine spezielle, bislang unbekannte Weise von der Kultur und den Eltern vermittelt werden. Und dazwischen läuft das Denken ab.« Minsky betonte nachdrücklich, daß Freud entgegen der Behauptung einiger moderner Kritiker ein erstrangiger Wissenschaftler gewesen sei. »Vielleicht würden Sie ihn nicht als Wissenschaftler bezeichnen, für mich aber war er einer«, sagte er. Freud habe schon frühzeitig erkannt, daß die Ansätze von Erzbehavioristen wie Iwan Pawlow, die den Geist auf eine Menge einfacher Regeln zurückzuführen versuchten, der Komplexität des Geistes nicht gerecht würden. Minsky tat die Kritik, - 311
Freud habe seine Theorien nicht hinlänglich überprüft, als unbegründet ab. »Bei solchen Experimenten führt man Elektroden ins Gehirn ein.« Doch zu Zeiten Freuds habe man nicht über derartige Instrumente verfügt. »Er wäre der erste gewesen, der die richtigen Experimente durchgeführt hätte.« Minsky teilte auch Freuds Glauben an den therapeutischen Nutzen der Introspektion. Als ich Minsky interviewte, arbeitete er gerade an einem Buch mit dem Titel The Emotion Machine. »Damit ist der Mensch gemeint«, sagte er über den Titel. Das Buch gebe seine Ansichten über den »Alltagsverstand und die ihm zugrunde liegenden Prozesse« wieder. Er hoffe, das Buch werde Menschen helfen, ihre Gedanken und Handlungen besser zu verstehen und dadurch mehr Kontrolle über sie zu gewinnen. »Wenn Menschen wüßten, wie ihr Geist funktioniert«, sagte er, »könnten sie sich selbst verändern.« Doch anders als Freud hoffe er, daß unsere Selbsterkenntnis uns eines Tages die Macht gebe, unser mangelhaftes Selbst aus Fleisch und Blut zu überwinden und uns in sehr viel leistungsfähigere Maschinen zu verwandeln. »Meines Erachtens ist es für uns wichtig, daß wir uns weiterentwickeln und nicht in unserem gegenwärtigen Zustand der Dummheit verharren.« Mindestens ein junger KI-Forscher teilt Minskys Sympathien für die Freudsche Theorie. Stephane Zrehen, ein in Frankreich geborener Wissenschaftler, der am California Institute of Technology arbeitet, ist der Ansicht, psychoanalytische Annahmen könnten in künstlichen Denkmaschinen erkundet und überprüft werden. Zrehen ging 1998 auf einer Tagung der American Association for Artificial Intelligence näher auf seine Vorstellungen ein. In einem Vortrag mit dem Titel »Psychoanalytische Konzepte für die Steuerung von Emotionen in Robotern«42 schlug Zrehen vor, einen RoboterHund zu bauen. Der »Geist« des Hundes sollte aus mehreren Instinkten - dem Bedürfnis, zu essen und zu defäkieren, sowie dem Wunsch nach Zuwendung - und einem »Ich« bestehen, - 312
das Ziehen als »eine Geistesagentur, die dafür zuständig ist, Kompromisse zwischen inneren Trieben und den Forderungen der Außenwelt zu finden«, definierte. Zrehen behauptete, daß »sich komplexe Fähigkeiten, wie sie etwa dem Ich zugeschrieben werden, sehr leicht mit neuronalen Netzen simulieren lassen«. Das »Ich« könne dem Hund helfen, mehrere wichtige Lektionen zu lernen: »nach dem Essen werde ich Gassi geführt«, »nachdem mein Herrchen nach Hause gekommen ist und seinen Hut und Mantel abgelegt hat, füttert es mich«, »auch wenn ich noch so laut belle, werde ich morgens nicht gefüttert«, »wenn ich aufs Sofa springe, werde ich ausgeschimpft«, »wenn ich mein Geschäft im Wohnzimmer verrichte, werde ich ausgeschimpft«, »wenn ich mein Geschäft draußen verrichte, werde ich am Kopf getätschelt«. »Künftige Forschungen«, so das Fazit von Zrehen, »sollten weitere psychoanalytische Schlüsselbegriffe in das gegenwärtige Modell des Ich einbeziehen, um sämtliche Elemente zu simulieren, die notwendig sind, um ein künstliches Geschöpf zu entwickeln, das mit einer Psyche ausgestattet ist.«
Die Bedeutung des Turing-Tests Die Vereinigung von Künstlicher Intelligenz und Psychoanalyse ist nach Ansicht der Soziologin Sherry Turkle nicht so weit hergeholt, wie es sich anhört. Turkle, die eine Ausbildung als Psychoanalytikerin absolviert hat, ist zu einer Psychiaterin der Cybergeneration geworden. In einem Aufsatz mit dem Titel »Artificial Intelligence and Psychoanalysis: A New Alliance« wies sie 1988 auf mehrere Gemeinsamkeiten zwischen, oberflächlich betrachtet, grundverschieden anmutenden Ansätzen zur Erforschung des Geistes hin. Künstliche Intelligenz und Psychoanalyse hätten einen gemeinsamen Feind, den Behaviorismus, der das Gehirn als eine black box - 313
behandele, deren interne Prozesse nur durch Erforschung ihrer Inputs und Outputs rekonstruiert werden könne. Beide Disziplinen stellten überkommene Vorstellungen von Willensfreiheit und Selbst in Frage, die Psychoanalyse, indem sie die Rolle unbewußter Vorgänge betone, und die Künstliche Intelligenz, indem sie die Kognition auf Rechenprozesse zurückführe. Das freudianische Unbewußte »stellt ein dezentriertes Selbst dar«, so Turkle weiter. »Der KI wohnt sogar eine noch bedrohlichere Herausforderung inne: Wenn der Geist ein Programm ist, wo bleibt dann das Selbst? Sie stellt nicht nur in Frage, ob das Selbst frei ist, sondern auch, ob es überhaupt so etwas wie ein Selbst gibt.«43 In ihrem 1998 erschienenen Buch Leben im Netz beantwortete Turkle die Frage, ob eine Maschine ein Selbst besitzen könne, ein wenig anders. Sie hatte faszinierende Berichte von Cog gehört, dem humanoiden Roboter, den ihr MIT-Kollege Rodney Brooks gebaut hatte. »Das Projekt ist umstritten: Einige sehen darin ein hervorragendes Experiment, das die Idee einer mit einem Körper versehenen emergenten Intelligenz ernst nimmt, für andere ist es nichts als ein verstiegenes Hirngespinst.« Sie beschloß, Cog selbst in Augenschein zu nehmen und in Erfahrung zu bringen, was hinter dem ganzen Wirbel um ihn stecke. Sie beschrieb ihre Begegnung folgendermaßen: Da ihm beigebracht worden war, das größte sich bewegende Objekt in seinem Wahrnehmungsfeld zu verfolgen (weil es sich dabei in der Regel um einen Menschen handelt), ›bemerkte‹ mich Cog kurz nach dem Betreten des Raumes. Er drehte - mir folgend - seinen Kopf, und ich muß gestehen, ich fühlte mich dadurch geschmeichelt: Mit einem anderen Besucher wetteiferte ich um Cogs Beachtung. Einmal war ich sicher, Cog hätte meinen Blick ›aufgefangen‹ und beantwortet. Dieser Besuch erschütterte mich - nicht etwa wegen Cogs Leistungen, sondern wegen meiner Reaktion auf ›ihn‹. Wenn ich Rodney Brooks früher von seinen robotischen ›Geschöpfen‹ sprechen hörte, war ich immer - 314
sorgsam darauf bedacht gewesen, dieses Wort im Geist in Anführungszeichen zu setzen. Doch jetzt, nach meiner Bekanntschaft mit Cog, sah ich diese Anführungszeichen dahinschwinden. Gegen meinen Willen und trotz meiner fortbestehenden Skepsis gegenüber diesem Forschungsprojekt hatte ich mich verhalten, als wäre Cog eine andere Person.44
Cog ist wohl kaum das einzige Produkt der KI, das bei einem Menschen solche Reaktionen auslöst. Ein Expertensystem, das in den sechziger Jahren entwickelt wurde und den Namen ELIZA trug, erzielte ähnliche Wirkungen. ELIZA reagierte auf Nachrichten, die von einem menschlichen Patienten in einen Computer eingegeben wurden, mit Kommentaren, die die Äußerungen eines Psychotherapeuten nachahmten. Sein raffiniertester Trick bestand darin, bestimmte Ausdrücke aus den Botschaften des Patienten herauszugreifen und sie in eine seiner stereotypen Antworten einzubauen. Wenn die Person beispielsweise eingab: »Ich spüre gegenwärtig eine gewisse Angst«, antwortete ELIZA: »Weshalb spüren Sie Ihrer Meinung nach gegenwärtig eine gewisse Angst?« Sobald ein Schlüsselwort wie »Mutter« (oder »Vater« oder »Träumen« oder »Familie« oder wie das Schlüsselwort sonst lautete) erwähnt wurde, löste dies unverzüglich die Antwort aus: »Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Mutter«. Wenn es dem Programm nicht gelang, ein Muster zu erkennen, das ihm erlaubte, eine so spezifische Antwort zu erzeugen, griff es auf allgemeine Bemerkungen zurück, wie: »Erzählen Sie mir mehr darüber«, »Bitte, fahren Sie fort« oder »Das ist sehr interessant«. Nicht nur KI-Forscher, sondern auch einige Psychiater und Psychoanalytiker behaupteten, die Nachfahren von ELIZA würden menschliche Therapeuten ersetzen. Diese Prophezeiung wirkte angesichts der Fähigkeit von ELIZA, selbst hochintelligente Gesprächspartner in seinen Bann zu ziehen, nicht - 315
einmal sonderlich verstiegen. In Machines Who Think schilderte Pamela McCorduck eine Interaktion zwischen ELIZA und einem russischen Informatiker, die an der Universität Stanford stattfand. Der Dialog begann mit einer einfachen Bemerkung. ELIZA fragte den russischen Wissenschaftler: »Was hat Sie heute zu mir geführt?« Der Russe antwortete: »Ach, nichts besonderes. Ich fühle mich etwas erschöpft, das ist alles.« - »Weshalb fühlen Sie sich Ihrer Meinung nach etwas erschöpft?« erwiderte ELIZA. McCorduck beschrieb, was nun folgte: »Unser Gast, ein international renommierter Informatiker, der genau wußte, daß er es mit einem Computer und nicht etwa einer Person zu tun hatte, begann dennoch, dem Rechner seine Sorgen wegen seiner Frau, seiner Kinder und der großen - geographischen und emotionalen - Entfernung von ihnen anzuvertrauen. Wir beobachteten dies peinlich berührt, gaben uns alle Mühe, nicht hinzusehen, und waren gleichwohl wie gebannt.«45 Die tiefgreifendste Frage, die die KI aufwirft, lautet: Denken und empfinden Maschinen genauso wie wir, besitzen sie ein Selbst, um mit Turkle zu sprechen? Im Jahr 1950 schlug der britische Mathematiker Alan Turing, ein Pionier der Informatik, ein einfaches empirisches Verfahren zur Beantwortung dieser Frage vor. Auf der einen Seite einer Leinwand sitzt ein Schiedsrichter; auf der anderen Seite befinden sich ein Computer und ein Mensch. Der Schiedsrichter gibt über ein Datenendgerät Fragen an den Computer und den Menschen weiter. Wenn der Schiedsrichter nicht herausfindet, welche Antworten vom Computer stammen und welche vom Menschen, ist der Computer definitionsgemäß denkfähig. Nach der starken KI-Hypothese besitzt ein Computer, der den Turing-Test besteht, Bewußtsein. Doch die Reaktion des an Heimweh leidenden russischen Wissenschaftlers auf ELIZA und der Soziologin Sherry Turkle auf Cog offenbart den Fehler im Turing-Test. Wenn uns eine Maschine davon überzeugt, daß sie empfin- 316
dungsfähig sei, sagt dies möglicherweise viel weniger über die Maschine aus als über uns. Auch der scharfsinnigste menschliche Beobachter schreibt unwillkürlich selbst Objekten, von denen er weiß, daß sie kein Bewußtsein besitzen, komplexe psychische Zustände zu. Die Evolutionspsychologie liefert uns vielleicht einige Aufschlüsse über dieses Phänomen. Nach einer der faszinierendsten Hypothesen, die aus diesem Gebiet hervorgingen, besitzen alle normalen Menschen ein angeborenes »Psychologiemodul«, das uns ermöglicht, den psychischen Zustand anderer Menschen intuitiv zu erfassen und auf diese Weise ihre Handlungen vorherzusagen.46 Schädigungen des »Psychologiemoduls« verursachen möglicherweise Autismus; Autisten scheinen oftmals keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Menschen und unbelebten Objekten, wie etwa Tischen und Stühlen, vorzunehmen. Viele von uns sind jedoch mit dem umgekehrten Problem konfrontiert, einem überaktiven »Psychologiemodul« . So schreiben wir nicht nur anderen Menschen und Tieren, sondern auch Unwettern, Dürren und Sternschnuppen Empfindungsfähigkeit und komplexe psychische Zustände zu. Wir deuten selbst die Phänomene, die offenkundig durch bloßen Zufall ausgelöst wurden, als die Werke eines zornigen oder liebenden Gottes. Das »Psychologiemodul« gab uns einst die Religion, und heute gibt es uns die starke KIHypothese. Die Kontroverse über die Frage, ob Maschinen denken und fühlen können, ist jedoch nur eine Facette der umfassenderen Kontroverse über das Phänomen Bewußtsein. Als der Philosoph Joseph Levine den Begriff »Erklärungslücke« prägte, bezog er sich damit auf das Geheimnisvollste aller Nebenprodukte des Gehirns. Hirnforscher und Philosophen können sich nicht einmal auf eine gemeinsame Definition von Bewußtsein verständigen, geschweige denn auf eine gemeinsame Erklärung. Ich persönlich ziehe die Definition von Bewußtsein vor, - 317
die der britische Psychologe Stuart Sutherland in The International Dictionary of Psychology aufstellte: »Wahrnehmungen, Gedanken und Empfindungen haben. Der Ausdruck läßt sich nicht definieren - außer durch Ausdrücke, deren Sinn sich nur begreifen läßt, wenn man weiß, was Bewußtsein bedeutet. Oft wird irrigerweise Bewußtsein mit Selbstbewußtsein gleichgesetzt; Bewußtsein liegt jedoch schon dann vor, wenn Bewußtsein von der Außenwelt vorliegt. Bewußtsein ist ein faszinierendes Phänomen, das sich dem Zugriff aber entzieht. Es ist unmöglich anzugeben, was es ist, was es tut und warum es entstanden ist. Nichts, was sich zu lesen lohnt, wurde darüber geschrieben.«47
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8. DAS RÄTSEL BEWUSSTSEIN Nehmen wir eine Maschine an, deren Struktur das Denken, Gefühle und die Wahrnehmung erzeugt; nehmen wir an, diese Maschine werde vergrößert, behalte aber dieselben Proportionen, so daß man sie wie eine Mühle betreten könnte. Unter dieser Annahme könnte man also das Innere der Maschine aufsuchen; aber was würde man dort beobachten? Nichts anderes als Teile, die einander stoßen und bewegen, aber niemals etwas, das die Wahrnehmung erklären könnte. GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ, Monadologie, 1/14
Materie kann sich von Materie nur in Form, Ausdehnung, Dichte, Bewegung und Bewegungsrichtung unterscheiden: Mit welchem davon, in welcher Abwandlung und Kombination auch immer, kann man das Bewußtsein in Verbindung bringen? Rund oder eckig, fest oder flüssig, groß oder klein zu sein, sich langsam oder schnell in diese oder jene Richtung zu bewegen, sind Arten der materiellen Existenz, die alle dem Wesen der Wahrnehmung gleichermaßen fremd sind. SAMUEL JOHNSON,
18. Jahrhundert
Daß etwas so Eigenartiges wie ein Bewußtseinszustand der Reizung von Nervengewebe entspringen kann, ist geradeso unerklärlich wie das Erscheinen des Dschinn, wenn Aladin die Wunderlampe reibt. JULIAN HUXLEY, 19. Jahrhundert Die Suche nach einer ›molekularen‹ Erklärung des Bewußtseins ist Zeitverschwendung, da sich zeigen wird, daß die physiologischen Prozesse, die dieser vollkommen subjektiven Erfahrung zugrunde liegen, nichts anderes sind als scheinbar gewöhnliche, normale Reaktionen, die nicht interessanter oder uninteressanter sind als die Prozesse, die etwa in der Leber ab1 laufen. GÜNTHER STENT, 20. Jahrhundert 1
I
m Verlauf seines beruflichen Lebens erhält jeder Wissenschaftsjournalist Briefe von Menschen, die behaupten, etwas außerordentlich Wichtiges entdeckt zu haben: eine Theorie, - 319
die beweise, daß Einsteins Konzeption von Raum und Zeit falsch sei, eine Neuformulierung der Quantenmechanik, ein auf einer Seite niedergeschriebener Beweis von Fermats letztem Satz oder auch schlicht die Weltformel. Die Briefschreiber stehen im allgemeinen in keiner Beziehung zu staatlichen Institutionen (ausgenommen Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken), und sie sehnen sich nach Anerkennung. Einige Schreiben sind offensichtlich Produkte klinischer Geistesstörung. Das Manuskript umfaßt manchmal Dutzende oder auch Hunderte von handgeschriebenen Seiten, die vollgepackt sind mit unverständlichen Wörtern und mathematischen Symbolen, mit Großbuchstaben und Ausrufungszeichen. Oft wechselt auch ständig die Farbe des Kugelschreibers oder Bleistifts. Gott (oder, schlimmer noch, Wittgenstein) erhebt immer wieder sein Haupt. Am verstörendsten sind die Briefe, die am klarsten, intelligentesten und gelehrtesten sind. Die Autoren benutzen gewöhnliche Schriftarten, zitieren anerkannte Quellen, setzen Formeln wohlüberlegt ein, bauen ihre Argumentation sorgfältig auf und berufen sich nur ganz selten auf Gott oder Wittgenstein. Und dennoch wirkten sie irgendwie ... schief. Die Erfahrung hat mich gelehrt, solche Briefe am besten nicht zu beantworten. Amüsiert von einem Schreiben, in dem - ironischerweise, wie ich glaubte - ein Verfahren zum überlichtschnellen Transport beschrieben wurde (der Briefkopf wies den Schreiber als Vorsitzenden der Transluminal Industries, Inc., aus), schrieb ich dem Autor - in ironischem Tonfall, wie ich glaubte -, ob ich Aktien an seinem Unternehmen erwerben könne. Ein wochenlanges Hin und Her von Briefen, Faxschreiben und Anrufen war die Folge. Dennoch fällt es mir noch immer nicht leicht, all diese Möchtegern-Newtons, -Darwins und -Einsteins einfach zu ignorieren. Nicht etwa, daß ich dächte, einer von ihnen hätte vielleicht tatsächlich die allumfassende Erklärung gefunden. Vielmehr rührt der Gedanke, - 320
daß sich diese einsamen Wahrheitssucher nach Bestätigung oder zumindest einer Reaktion von dieser gleichgültigen Welt sehnen, mein abgestumpftes Herz. Manchmal wünschte ich mir, jede Person, die die Welterklärung gefunden zu haben glaubt, mit all den anderen, die eine letzte Wahrheit entdeckt haben, in Kontakt zu bringen. Im Idealfall träfen sie sich auf einer Konferenz zu einem Meinungsaustausch und stimmten darüber ab, welche Erklärung die beste sei - auch wenn ein solcher Beschluß äußerst unwahrscheinlich wäre. Eine solche Konferenz liefe vermutlich ähnlich ab wie eine Tagung an der Universität von Arizona in Tucson, an der ich im April 1994 teilnahm. »Toward a Scientific Basis of Consciousness«, so ihre Überschrift, wurde (fälschlicherweise, wie sich zeigen sollte) als die »erste interdisziplinäre Wissenschaftskonferenz zum Thema Bewußtsein in den Vereinigten Staaten« angekündigt.2 Die Tagung lieferte eine Quintessenz um nicht zu sagen Karikatur - der Erkenntnisse aller wissenschaftlichen Fachgebiete, die sich mit der Erforschung des menschlichen Geistes befassen, wobei die ganze Zersplitterung und Begriffsverwirrung in diesen Bereichen gleichsam tausendfach vergrößert zum Vorschein kam. Praktisch alle wissenschaftlichen Disziplinen (und nicht wenige pseudowissenschaftliche und sogar wissenschaftsfeindliche) waren vertreten: Psychologie, Psychiatrie, Neurologie, Neurowissenschaft, Künstliche Intelligenz, Mathematik, Chaostheorie, Physik und natürlich die Philosophie. Viele der Teilnehmer waren berühmte Professoren an bedeutenden Hochschulen, wie etwa der Universität Oxford und dem California Institute of Technology. Ihre Vorträge wiesen alle Kennzeichen eines ernstzunehmenden wissenschaftlichen Diskurses auf - Fachtermini, experimentelle Daten, Gleichungen. Dennoch wirkten sie alle irgendwie ... schief. Nicht, daß das Treffen langweilig gewesen wäre. Die Stimmung wurde gleich zu Beginn von einem der Organisatoren, - 321
dem Anästhesisten Stuart Hameroff von der Universität von Arizona, der zur Clique der Quantenbewußtseinstheoretiker gehörte, auf den Punkt gebracht. Als Hameroff, ein HippieTyp mittleren Alters mit Spitzbart und Pferdeschwanz, während seiner Begrüßungsanprache den Blick über die bunt zusammengewürfelte Menge schweifen ließ, entfuhr ihm ein begeistertes: »Mann! Das ist ja hier wie in Woodstock!« Später führte er das beste Dia der Konferenz vor. Es zeigte einen Mann mit langen dünnen Haaren und brutalem Gesicht, der frontal in die Kamera schaute: seine Augen quollen hervor, und er biß vor Wut und Schmerz die Zähne zusammen. Ein langes Stück Stahl ragte aus beiden Schläfen hervor. Hameroff berichtete, der Mann sei ein Strafgefangener, dem die Stange bei einem Streit um Drogen in den Kopf gerammt worden sei. Doch die Stange hatte diesen modernen Phineas Gage nicht getötet, ja ihm nicht einmal das Bewußtsein geraubt. Erst ein Narkotikum, das ihm in einer örtlichen Klinik verabreicht wurde, versetzte ihn in Bewußtlosigkeit. Dieser Vorfall, so Hameroff, zeige, wie robust Bewußtsein sein könne. Eine andere Lektion sei, daß »Thiopental [ein Injektionsnarkotikum] mächtiger ist als das Schwert«. Jeder vorstellbare Erklärungsansatz für das Phänomen Bewußtsein hatte in Tucson seine Anhänger. Steen Rasmussen, ein dänischer Physiker, der am Santa-Fe-Institut arbeitet, der Hochburg der modischen Komplexitätsforschung, behauptete, Bewußtsein sei womöglich eine »emergente« - also nicht vorhersagbare, irreduzible und ganzheitliche - Eigenschaft des komplexen Verhaltens des Gehirns, so wie die Supraleitfähigkeit eine emergente Eigenschaft gewisser keramischer Verbindungen sei, die bei relativ hohen Temperaturen auftrete.3 Er meinte, der Begriff der Willensfreiheit lasse sich möglicherweise durch »Verursachung von oben nach unten« erklären. Wissenschaftliche Erklärungen, so Rasmussen weiter, setzten meist stillschweigend voraus, daß der Ursachenzusammen- 322
hang nur »von unten nach oben« verlaufen könne, das bedeute, daß das Gesamtverhalten eines Systems durch das Verhalten seiner kleinsten Elemente festgelegt werde. Doch die Verursachung könne auch von oben nach unten erfolgen; ein emergentes Phänomen wie der menschliche Geist sei bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den kleinen Prozessen, aus denen es hervorgehe, und könne sogar eine gewisse Kontrolle über diese ausüben. So lasse sich die Willensfreiheit erklären. Der erfahrene Neurowissenschaftler Karl Pribram, der dreißig Jahre lang in Stanford lehrte und dann 1989 an die Radford-Universität wechselte, stellte eine aktualisierte Version einer einstmals populären Theorie, die er in den sechziger Jahren aufgestellt hatte, zur Debatte.4 Pribram hatte die Hypothese formuliert, daß das Gedächtnis in einer ähnlichen Weise wie die Holographie funktioniere, bei der ein dreidimensionales Bild durch Überlagerung zweier Laserstrahlen erzeugt wird. Eines der bemerkenswertesten Merkmale eines Hologramms besteht darin, daß jeder beliebige Ausschnitt des Bildes das gesamte Bild, wenn auch in geringerer Auflösung, in sich trägt; man kann daher das gesamte Bild aus einem winzigen Element rekonstruieren. Nach Ansicht von Pribram können in gleicher Weise aus kleinsten Gedächtnisspuren vollständige Erinnerungen hervorgehen. Eine Schwäche von Pribrams ursprünglichem holographischem Modell lag darin, daß es offenbar kein neurales Korrelat zu den Laserstrahlen gab, die Hologramme erzeugen. Später fanden Forscher jedoch heraus, daß sich große Verbände von Neuronen - ähnlich wie Lichtwellen in einem Laser - oftmals wiederholt synchron und in derselben Frequenz entladen. Pribram behauptete, diese oszillierenden Neuronen erzeugten sehr schwache elektrische Felder, die den Lichtwellen in einem Hologramm entsprächen; Überlagerung und Resonanz zwischen den sich überlagernden Feldern könnten so Erinnerung, - 323
Wahrnehmung und andere mentale Funktionen hervorbringen. Danah Zohar, die zunächst am MIT Physik und anschließend bei dem Psychoanalytiker Erik Erikson an der HarvardUniversität Philosophie und Religion studierte, wiederholte die Kernthese ihres 1990 erschienenen Buches The Quantum Seif 5. Sie sagte, es sei Zeit, den Dualismus zu überwinden und zu erkennen, daß Materie und Geist aus einer tieferen Quelle, dem »Quant«, hervorgingen. Die menschlichen Gedanken, so versicherte sie, seien quantenphysikalische Fluktuationen der Vakuumenergie des Universums, die »in Wirklichkeit Gott ist«. Nach ihrem Vortrag wies einer der Zuhörer darauf hin, daß die Physiker tiefreichende Zusammenhänge zwischen der Quantenmechanik, der Informationstheorie, der Thermodynamik und schwarzen Löchern entdeckt hätten. Diese Befunde förderten vielleicht auch Erhellendes über das Rätsel Bewußtsein zutage. »Es gibt kein schwarzes Loch in unserem Gehirn«, fügte er hinzu, »aber . . . « - »Ich glaube, in meinem Gehirn gibt es ein schwarzes Loch!« fiel ihm ein vermutlich überforderter Zuhörer ins Wort. Auf der Konferenz mangelte es nicht an empirischen Studien, aber nur wenige erbrachten eindeutige Ergebnisse. Der Psychologe Benjamin Libet6 von der Universität von Kalifornien in San Francisco beschrieb ein Experiment, bei dem die Versuchspersonen gebeten wurden, zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl einen Finger abzubiegen, während sie den Augenblick ihres Entschlusses mit einer Uhr festhielten. Daten von Sensoren an den Fingern zeigten, daß die Versuchspersonen im Schnitt 0,2 Sekunden nachdem sie den Entschluß gefaßt hatten, ihre Finger abbogen. Doch ein Elektroenzephalograph, der die Hirnwellen aufzeichnete, zeigte, daß das Gehirn der Versuchspersonen im Schnitt 0,3 Sekunden bevor sie bewußt den Entschluß trafen, den Knopf zu drücken, einen Aktivitätsgipfel generierte. - 324
»Der eigentliche Beginn der Willensbildung fand möglicherweise noch früher in einer Region des Gehirns statt, deren Aktivität wir nicht ableiteten«, meinte Libet. Ein Arzt aus Kalifornien (der zuvor Exemplare eines selbstverlegten Buches verteilt hatte, in dem er Ratschläge darüber gab, »wie man glücklich wird«) fragte Libet, ob seine Befunde etwas mit der Frage der Willensfreiheit zu tun hätten. »Ich konnte dieser Frage immer aus dem Weg gehen«, antwortete Libet, das Gesicht verziehend. Er wies vorsichtig auf eine mögliche Konsequenz seiner Studien hin: Vielleicht bestehe die Willensfreiheit nicht darin, Absichten zu initiieren, sondern sie zu verwerfen, gutzuheißen oder anderweitig auf sie zu reagieren, nachdem sie aus dem Unbewußten aufgestiegen seien. Andere Vorträge bezogen sich auf Menschen, deren Gehirne - und somit auch mentalen Fähigkeiten - durch Krankheiten oder Verletzungen geschädigt worden waren. Ein Forscher zeigte, daß Alzheimer-Patienten im Frühstadium der Erkrankung eine Phase durchlaufen, in der sie sich ihres Gedächtnisverlustes in qualvoller Weise bewußt sind. In dem Maße, wie sich ihre Erinnerungsfähigkeit weiterverschlechtert, wissen sie dann immer weniger um ihren Gedächtnisverlust. Mehrere Forscher sprachen über hirngeschädigte Patienten, die an einem seltsamen Syndrom litten, das Blindsichtigkeit genannt wird. Diese Patienten sind zwar subjektiv blind, doch ihr Gehirn empfängt und verarbeitet auf einer bestimmten Ebene weiterhin visuelle Informationen. Legt man einem Menschen, der an Blindsichtigkeit leidet, beispielsweise ein Bild eines Löwen vor, behauptet er, nichts zu sehen. Fordert man ihn dann auf, zu raten, was das Bild zeige, wird er in vielen Fällen die richtige Antwort liefern. Das Phänomen der Blindsichtigkeit deutet darauf hin, daß Wahrnehmung und Bewußtsein bis zu einem gewissen Grad getrennte Phänomene sind, die in verschiedenen Regionen des Zentralnervensystems angesiedelt sind. - 325
Ein Neurologe von der Universität von North Dakota führte ein Video über eine junge Frau vor, die an einer so schweren Epilepsie litt, daß Chirurgen die Nervenfasern durchtrennt hatten, die die beiden Hemisphären des Gehirns miteinander verbinden. Obgleich die Operation ihre Epilepsie gelindert hatte, besaß sie anschließend zwei Bewußtseinszentren, die um die Vorherrschaft konkurrierten. Als sie gefragt wurde, ob sie in ihrer linken Hand, die über Nervenbahnen mit nur einer Hemisphäre in Verbindung stand, eine Empfindung spüre, schrie sie, verzweifelt um eine Antwort ringend: »Ja! Moment mal! Nein! Ja! Nein, nein! Moment mal, ja.« Anschließend legten die Forscher der Frau ein Blatt Papier vor, auf dem die Wörter ja und nein standen, und baten sie, auf die richtige Antwort zu deuten. Die Frau starrte das Blatt einen Augenblick lang an. Dann tippte ihr linker Zeigefinger auf »Ja« und ihr rechter Zeigefinger auf »Nein«. Ein Psychotherapeut unter den Zuhörern meinte im Anschluß, daß selbst gesunde Menschen eine gewisse Fragmentierung ihres Selbst erlebten. Ein anderer machte den Vorschlag, man könne die beiden »Selbste« der Frau durch Konfliktbewältigungsstrategien darin schulen, besser miteinander auszukommen. Wem die offiziellen Vorträge zu fad waren, der konnte in der Halle vor dem Hörsaal noch exotischere Kost genießen. »Dort spielt die Musik«, sagte ein Journalist, der einen Nasenring und einen fünfzehn Zentimeter langen geflochtenen Kinnbart trug und für ein unbekanntes Internetmagazin über die Tagung berichtete. Einmal ließ ich mich in der Halle auf eine Diskussion mit einem großen glatzköpfigen Mann ein, der eine Art Leinenpyjama trug. Er war enttäuscht, ja aufgebracht, daß nahezu alle Konferenzteilnehmer Bewußtsein so eng definierten; Bewußtsein war seines Erachtens offensichtlich nicht nur eine Eigenschaft von Menschen und anderen höheren Lebewesen, sondern von sämtlichen Erscheinungen der Natur, wie Wanzen, Pflanzen und Steinen. Ich gab zu be- 326
denken, daß es die Wissenschaft bei der Erklärung von Bewußtsein nicht sonderlich weit brächte, wenn sie es derart weit definierte. Der Mann im Pyjama erwiderte erregt, er habe einst wie ich an einem äußerst engen materialistischen Paradigma festgehalten. Er habe es jedoch überwunden, und wenn ich nicht so engstirnig bliebe, könnte ich das vielleicht auch.
Christof Kochs Bewußtsein Wenn man die verschiedenen Konkurrenten in diesem wissenschaftlichen Wettstreit plazieren müßte, ginge die Spitzenposition vermutlich an Christof Koch, einen deutschstämmigen Neurowissenschaftler vom California Institute of Technology. Koch dürfte maßgeblich für das stark gewachsene wissenschaftliche Interesse am Bewußtsein verantwortlich sein. Im Jahr 1990 verkündeten er und Francis Crick, der Mitentdecker der DNA-Doppelhelix und einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler dieses Jahrhunderts, in einem gemeinsam verfaßten Aufsatz, es sei an der Zeit, Bewußtsein zum Gegenstand ernsthafter wissenschaftlicher Erforschung zu machen.7 Im Gegensatz zu den Annahmen von Psychologen, Philosophen und anderen Wissenschaftlern könne man Bewußtsein und andere mentale Phänomene niemals richtig verstehen, wenn man das Gehirn als eine black box behandele. Nur durch gründliche Erforschung der Nervenzellen und der Wechselwirkungen zwischen diesen könnten Wissenschaftler Modelle entwickeln, die wissenschaftlichen Anforderungen genügten, vergleichbar jenen, die die Vererbung auf der Basis der DNA erklärten. Crick führte diese Ideen in seinem 1994 erschienenen Buch Was die Seele wirklich ist8 weiter aus. Er widmete dieses Buch Koch, »ohne dessen Energie und Enthusiasmus dieses Buch nie geschrieben worden wäre«. - 327
Kochs Energie und Enthusiasmus waren in seinem Vortrag in Tucson geradezu körperlich zu spüren. Dieser hochgewachsene, schlanke Mann, der mit deutschem Akzent sprach und seine Worte stakkatoartig herunterrasselte, ging während seines Vortrags mit federnden Schritten auf dem Podium hin und her und hielt nur inne, um schnell ein Dia zu zeigen oder einen Witz zu machen. Er erinnerte die Zuhörer daran, daß er und Crick Bewußtsein als die Fähigkeit des Gehirns definiert hätten, sich auf eine bestimmte Anzahl von all den Phänomenen, die auf es einwirken, zu konzentrieren. Dann werde die entscheidende Frage zu einer scheinbar einfachen: Auf welche Weise werde sich das Gehirn zum Beispiel eines Gesichts in einem Raum voller Menschen bewußt? In Wahrheit aber sei das Problem ziemlich kompliziert, erklärte Koch, weil selbst eine einzige visuelle Szene in vielen verschiedenen Regionen des Gehirns verarbeitet werde. »Es gibt nicht einen Ort, an dem alles zusammenläuft.« Er fügte hinzu, diese scheinbar verteilte Struktur des Bewußtseins sei, evolutionsbiologisch gesehen, sinnvoll, da das Gehirn dann nicht so leicht durch eine einzelne, örtlich begrenzte Verletzung außer Betrieb gesetzt werden könnte. Welche Mechanismen aber verwandeln das Entladen von Neuronen in zahlreichen Regionen des Gehirns zu einer einheitlichen Wahrnehmung? »Dies ist das Bindungsproblem«, erklärte Koch. Wenn es den Neurowissenschaftlern gelänge, das Bindungsproblem zu lösen - das ich das Dilemma des Reduktionismus genannt habe -, so Koch, hätten sie einen großen Schritt in Richtung einer Lösung des Bewußtseinsproblems getan. Auf eine mögliche Lösung des Bindungsproblems hätten Experimente hingedeutet, die zeigten, daß sich Neuronen in verschiedenen Teilen des Gehirns gelegentlich mit derselben Frequenz entladen - etwa vierzigmal pro Sekunde. Koch bat die Zuhörer, sich das Gehirn als einen Weihnachtsbaum mit Milliarden von Lichtern vorzustellen, die scheinbar rein zufäl- 328
lig aufleuchteten. Dieses Blinken stelle die Antwort unseres visuellen Kortex auf ein Zimmer voller Menschen dar. Plötzlich beginne eine Teilmenge dieser Lichter mit derselben Frequenz zu blinken, nämlich vierzigmal pro Sekunde, wenn sich der Geist auf ein bestimmtes Gesicht konzentriere beziehungsweise sich dessen bewußt werde. Koch räumte ein, daß die empirischen Beweise für 40-Hertz-Oszillationen recht dürftig seien; sie seien am deutlichsten bei narkotisierten also bewußtlosen – Katzen nachgewiesen worden. Eine andere Form der Bindung könnte schlichte Gleichzeitigkeit sein; die Neuronen entladen sich lediglich zur selben Zeit und nicht unbedingt mit derselben Frequenz. Spärliche Belege für diese Gleichzeitigkeit hätten ebenfalls Tierexperimente geliefert, so Koch. Ein Zuhörer, der Widerspruch gegen Kochs Ausführungen erhob, war Walter Freeman, ein großer, schlanker Neurowissenschaftler mit weißem Bart, der an der Universität von Kalifornien in Berkeley lehrt. (Freemans Vater war der Neurochirurg, der in den fünfziger Jahren die Lobotomien in den Vereinigten Staaten populär gemacht hatte.) Freemans Kritik hat Gewicht, weil er als einer der ersten die neuronalen 40Hertz-Oszillationen untersuchte. Diese Oszillationen mögen zwar in einem gewissen Zusammenhang mit dem Phänomen Bewußtsein stehen, doch seien sie wohl kaum der Schlüssel zur Erklärung des Problems, ebensowenig wie die Sauerstoffaufnahme oder die Durchblutung oder andere ubiquitäre Phänomene. 40-Hertz-Oszillationen seien »eine Sackgasse, ein Holzweg«, sagte er. »Die gegenwärtige Woge der Begeisterung ist durch nichts gerechtfertigt.« Freeman befürwortete ein komplexeres Modell des Bewußtseins, das auf der Chaostheorie aufbaut. Chaotische Systeme scheinen zufallsgesteuert zu sein, während sie in Wahrheit eine verborgene Ordnung aufweisen, die mit mathematischen Objekten, die als Attraktoren bezeichnet werden, beschrieben - 329
werden kann. Chaotische Systeme zeigen eine sogenannte empfindliche Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen; man spricht bildhaft vom Schmetterlingseffekt. Grundsätzlich kann das Flattern eines Schmetterlings etwa in Iowa eine Kaskadenwirkung auslösen, die in einem Monsun in Indien gipfelt. Indem Freeman die Entladungsmuster großer Verbände von Neuronen graphisch darstellte, konnte er zeigen, daß sie chaotische Muster erzeugen. Dieses Verhalten könne die Fähigkeit des Gehirns erklären, mit erstaunlicher Schnelligkeit auf komplexe Sinnesdaten zu reagieren, so seine Hypothese. Der Anblick eines vertrauten Gesichts etwa löse möglicherweise eine nahezu sofortige Verschiebung im chaotischen Entladungsmuster einer Gruppe von Neuronen im visuellen Kortex aus, die zum Erkennen der Person führe. Doch er räumte ein, daß seine Theorie nur - bestenfalls - ein Steinchen des Puzzles sei.9 Der Philosoph Owen Flanagan von der Duke-Universität meinte ebenfalls, daß das Rätsel Bewußtsein höchstwahrscheinlich nicht mit einem Mechanismus allein - egal ob mit Freemans chaotischen neuronalen Entladungsmustern oder Kochs 4O-Hertz-Oszillationen - gelöst werden könne. Möglicherweise gebe es ebenso viele Formen von Bewußtsein wie von Erinnerung und Wahrnehmung. Unsere bewußte Wahrnehmung des Geruchs einer Katze sei möglicherweise das Produkt einer ganz anderen Menge von Neuronen und neuralen Prozessen als unser visueller Eindruck derselben Katze. Flanagan ist Anhänger einer philosophischen Richtung, die konstruktiver Naturalismus genannt wird und die besagt, daß Bewußtsein ein weitverbreitetes biologisches Phänomen sei, das nicht nur beim Menschen, sondern auch bei vielen Tieren - und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei höheren Primaten - vorkomme. Eine umfassende Erklärung des Bewußtseins werde, so Flanagan, aus einem Prozeß der »Triangulierung« hervorgehen, wobei Berichte von Versuchs- 330
personen über ihre subjektiven Erfahrungen und objektive Daten aus Psychologie und Neurowissenschaft miteinander verbunden würden. »Wir müssen sehr sorgfältig auf das hören, was uns die Menschen über ihre subjektiven Erfahrungen sagen«, meinte Flanagan weiter. Auch die Psychologen und Kognitionswissenschaftler sollten ein Mitspracherecht haben. Man achte sorgfältig auf ihre Beschreibungen mentaler Vorgänge und darauf, welche Funktionen Bewußtsein gegebenenfalls in der Gesamtorganisation übernimmt. Drittens sollte man sehr sorgfältig auf das hören, was die Neurowissenschaftler dazu zu sagen haben, wie bewußte mentale Ereignisse unterschiedlichster Art zustande kommen, und die Übereinstimmung zwischen ihren Berichten und den phänomenologischen und psychologischen Berichten prüfen. Meines Erachtens ist diese Triangulierung die einzige erfolgversprechende Methode zur Erklärung von Bewußtsein. 10
Roger Penroses Quantensprung Flanagans Ansatz war vielen Rednern in Tucson zu konventionell; sie bevorzugten radikalere Modelle in Anlehnung an die Quantenmechanik. Physiker und Philosophen begannen schon kurz nach der Begründung der Quantenmechanik zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts darüber zu spekulieren, ob Bewußtsein möglicherweise auf irgendeine rätselhafte Weise mit quantenphysikalischen Phänomenen in Zusammenhang stehe. Nach gewissen Interpretationen der Heisenbergschen Unschärferelation wirkt sich der Akt der Messung - der letztlich einen bewußtseinsbegabten Beobachter voraussetzt - auf das Ergebnis von Quantenereignissen aus; so verhalten sich Elektronen in einem Experiment wie Wellen und in einem anderen wie Teilchen. Aus der Quantentheorie folgt, daß Teilchen gei- 331
sterähnlich Wände durchdringen und sich gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten aufhalten können. Die Quantenmechanik erlaubt auch sogenannte nichtlokale Wirkungen, bei denen sich zwei Teilchen, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten, auf subtile Weise wechselseitig beeinflussen. Einstein, der die Existenz nichtlokaler Wirkungen niemals uneingeschränkt anerkannte, verspottete sie einmal als »gespenstische Fernwirkungen«. Quantentheorien des Bewußtseins waren jedoch kaum mehr als Spekulationen, bevor Roger Penrose sich Ende der achtziger Jahre ernsthaft dafür zu interessieren begann.11 Penrose, ein mathematischer Physiker an der Universität Oxford, ist ein Star der Naturwissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Er machte sich zunächst einen Namen als Kapazität für schwarze Löcher und andere Gravitationsphänomene. In den siebziger Jahren lieferten er und sein Student Stephen Hawking (der später den Bestseller Eine kurze Geschichte der Zeit schrieb) einen mathematischen Beweis für die Annahme, daß alle schwarzen Löcher eine Singularität enthielten - einen Punkt, an dem die Dichte der Materie gegen unendlich strebt und die herkömmlichen physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Im Jahr 1989 verkündete Penrose in Computerdenken, daß praktisch alle gängigen Ansätze zur Erklärung des Geistes einschließlich derer, die aus der Künstlichen Intelligenz, der Kognitionswissenschaft und der Neurowissenschaft hervorgingen - fehlerhaft seien. Dreh- und Angelpunkt von Penroses Argumentation war der Unvollständigkeitssatz, den der Mathematiker Kurt Gödel in den dreißiger Jahren aufgestellt hatte. Gödel bewies, daß jedes Axiomensystem, das so komplex ist, daß es Rechenanweisungen erzeugt, unvollständig ist; das bedeutet, daß das System »nichtentscheidbare« Aussagen liefert, deren Wahrheit oder Unwahrheit nicht allein mit diesen Axiomen nachgewiesen werden kann. Diese nichtent- 332
scheidbaren Aussagen sind oftmals mathematische Versionen solcher wohlbekannten selbstbezüglichen Paradoxa wie der Behauptung »Ich lüge«. Nichtentscheidbare Aussagen lassen sich dadurch lösen, daß man neue Axiome in das System einführt, aber diese neuen Axiome erzeugen ihrerseits eine neue Menge nichtentscheidbarer Aussagen und so endlos weiter. Die Bedeutung des Gödelschen Unvollständigkeitssatzes liegt nach Penrose darin, daß die Mathematik nie auf einen Algorithmus beziehungsweise einen Satz von Regeln zurückgeführt werden könne, der am laufenden Band Theoreme und Beweise produziere. Penrose zog seine subjektiven Erfahrungen als Mathematiker als Beleg für diese Aussage heran; seine besten Arbeiten seien nicht aus deduktiven, logischen Ableitungen hervorgegangen, sondern aus plötzlichen Eingebungen und Einblicken in ein unbeschreiblich schönes Reich platonischer Ideen. Penrose gelangte zu dem Schluß, kein mechanisches, regelbasiertes System - also weder die klassische Physik noch die Informatik, noch die Neurowissenschaft nach ihrer gegenwärtigen Konzeption - könne die schöpferische Fähigkeit des Geistes erklären. Die menschliche Kognition müsse das Produkt subtilerer Wirkungen sein, die vermutlich mit der Quantenmechanik zusammenhingen und die sich bislang dem Blick der herkömmlichen Naturwissenschaft entzogen hätten. In seinem Vortrag in Tucson faßte Penrose die zentralen Argumente seines neuen Buches Schatten des Geistes zusammen, das die Ideen, die er in Computerdenken dargelegt hatte, weiterentwickelte. Er leitete seine Ausführungen mit dem Hinweis ein, daß Deep Thought, ein Computer, der einige der größten Schachspieler der Welt besiegt habe, noch immer nicht mit Problemen fertig werde, die selbst ein Amateurspieler lösen könne. »Computer sind nicht in der Lage zu verstehen«, behauptete Penrose. (Deep Thought war ein Vorläufer von Deep Blue, der 1997 den Schachweltmeister Gary Kasparow besiegte.) Er erklärte, die Fähigkeiten ließen sich nur mit einer – noch - 333
ausstehenden - physikalischen Theorie erklären, welche die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie in sich vereine. Die Formulierung einer solchen Theorie, die Quantengravitationstheorie, Große Vereinheitlichte Theorie oder kurz »die Weltformel« genannt werde, sei das oberste Ziel der theoretischen Physik. In Computerdenken hatte Penrose nicht näher erläutert, wo und wie diese Quasiquanteneffekte wirken sollen. Jetzt postulierte er, daß die quantenphysikalische Nichtlokalität (die Fähigkeit eines Teils eines Quantensystems, augenblicklich andere Teile zu beeinflussen) die Lösung des Bindungsproblems darstellen könne. Diese geisterhaften Quanteneffekte könnten auf der Ebene der Mikrotubuli (winzige Proteinkanäle, die als eine Art Zellskelett fungieren) zum Tragen kommen. Penroses Vortrag entzückte Stuart Hameroff, den Anästhesisten, der die Tagung in Tucson organisiert hatte. Hameroff hatte in den achtziger Jahren als erster die Vermutung geäußert, daß Mikrotubuli die Orte der Entstehung von Bewußtsein sein könnten; seine Aufsätze veranlaßten Penrose dazu, sich dieser Hypothese anzuschließen. Hameroff behauptete, Hinweise darauf gefunden zu haben, daß eine Narkose das Bewußtsein dadurch lahmlege, daß sie die Bewegung von Elektronen in den Mikrotubuli hemme. Daraus folgerte er, daß Mikrotubuli dadurch Bewußtsein erzeugen, daß sie nichtdeterministische, quantenphysikalische Berechnungen ausführen. Jedes Neuron sei daher nicht bloß ein Kippschalter, sondern auch ein leistungsfähiger Computer. »Die meisten Menschen glauben, daß das Gehirn aus vierzig Milliarden Schaltern besteht«, sagte Hameroff einmal zu mir, wobei er sich auf die Neuronen im Gehirn bezog. »Wir dagegen sind der Meinung, daß es aus vierzig Milliarden winzigen Computern besteht.« Er spickte seinen Vortrag über das Quantenbewußtsein mit allen erdenklichen wissenschaftlichen Schlagwörtern: emergent, fraktal, selbstorganisierend, dynamisch. Neben anderen - 334
Anhängern der Quantentheorie des Bewußtseins nahm er sich wie ein Muster an wissenschaftlicher Exaktheit aus. Eine Gruppe britischer Forscher behauptete, Indizien dafür gefunden zu haben, daß sich die Kognition tatsächlich Quanteneffekte zunutze mache. Die Gruppe hatte die Fähigkeit von Versuchspersonen überprüft, einfache Tests auszuführen, während ihre Gehirnwellen mit einem Elektroenzephalographen (EEG) gemessen wurden. Nach Auskunft der Forscher schwankte die Leistung einiger Probanden, je nachdem ob das EEG ein- oder ausgeschaltet war. Sie folgerten, wenn die Maschine eingeschaltet sei, »beobachte« sie das Gehirn und beeinflusse dadurch den Gedankenfluß, so wie die Beobachtung eines Elektrons, das ein Interferometer durchlaufe, dessen Eigenschaften verändere.
Thermostate mit Bewußtsein Obgleich in Tucson viele Anhänger der Quantentheorie des Bewußtseins versammelt waren, herrschte auch kein Mangel an Kritikern. Christof Koch faßte die Quantentheorie des Bewußtseins in einem Syllogismus zusammen: Die Quantenmechanik sei rätselhaft, und das Bewußtsein sei rätselhaft, folglich müsse zwischen beiden ein Zusammenhang bestehen. Der Physiker John Taylor, der sich am King's College in London mit der Erforschung neuronaler Netze beschäftigt, monierte, daß Penrose und andere Anhänger der Quantentheorie des Bewußtseins die elementarsten Tatsachen der Quantenmechanik außer acht ließen. So würden etwa Nichtlokalität und andere seltsame Quanteneffekte, die angeblich von entscheidender Bedeutung für das Phänomen Bewußtsein seien, im allgemeinen nur bei Temperaturen in der Nähe des absoluten Nullpunktes beobachtet, jedenfalls weit unterhalb der Umgebungstemperatur von den Gehirnen der meisten Lebewesen. - 335
Taylor widersprach den Quantenhypothesen auch aus pragmatischen Gründen. Die Kernphysik habe bislang für die Biologie keinerlei Bedeutung gehabt. Bevor Penrose und andere Anhänger quantentheoretischer Erklärungen auf den extrem reduktionistischen, subnuklearen Ansatz zurückgriffen, sollten Forscher die Möglichkeiten erkunden, die plausibler und experimentell leichter zu überprüfen seien und die sich bei der Erklärung gewisser Merkmale von Gedächtnis und Wahrnehmung bereits bis zu einem gewissen Grad bewährt hätten. »Erst wenn dies mißlingt, sollten wir uns vielleicht nach etwas anderem umsehen«, meinte Taylor. David Chalmers, ein junger australischer Philosoph und Mathematiker, verwarf in Tucson sowohl die Quantentheorie als auch die neuralen Theorien des Bewußtseins.12 Er erklärte in seinem Vortrag, physikalische Theorien könnten lediglich die verschiedenen Funktionen des Gehirns, wie etwa Wahrnehmung, Gedächtnis und Willensbildung, erläutern. Doch keine physikalische Theorie könne erklären, weshalb diese kognitiven Funktionen mit bewußten Empfindungen, die von manchen Philosophen qualia genannt werden, einhergingen. Er nannte Bewußtsein »das schwierige Problem«. Chalmers war jedoch überzeugt davon, eine potentielle philosophische Lösung für dieses schwierige Problem gefunden zu haben. So wie die Physik die Existenz fundamentaler Eigenschaften der Natur wie Raum, Zeit, Energie und Masse annehme, so müsse eine Theorie des Bewußtseins die Existenz einer fundamentalen Eigenschaft postulieren, nämlich Information. Information, so führte er seine Idee weiter aus, habe immer ein physikalisches Substrat, wie etwa die Anordnung von Tintepunkten auf einem Stück Papier oder von Elektronen in einem Computer. Doch die Information sei nicht rein physikalisch; sie habe auch einen »phänomenalen« Aspekt (phänomenal ist ein philosophischer Fachterminus, der ungefähr soviel bedeutet wie subjektiv oder erfahrungsgemäß). - 336
Nach dieser Theorie, so Chalmers, müsse jedes Objekt, das Information verarbeite, irgendeine Form bewußter Erfahrung besitzen. »Wo es einfache Informationsverarbeitung gibt, gibt es einfache Erfahrung, und wo es komplexe Informationsverarbeitung gibt, gibt es komplexe Erfahrung. Eine Maus hat eine einfachere Informationsverarbeitungsstruktur als ein Mensch und demgemäß eine einfachere Erfahrung. Ist es dann vorstellbar, daß ein Thermostat, eine höchst einfache Informationsverarbeitungsstruktur, eine höchst einfache Erfahrung besitzt?« In späteren Publikationen beantwortete er diese Frage mit einem kühnen Ja. Wenn man diese informationsgestützte Hypothese anerkennt, muß man in der Tat annehmen, daß ein Thermostat Bewußtsein besitzt. Chalmers vertrat die gleiche Philosophie wie der kahlköpfige Mann im weißen Pyjama, der in der Halle mit flammenden Worten auf mich eingeredet hatte: Fast alles im Weltall besitze bis zu einem gewissen Grad Bewußtsein.
Bewußtsein - wegerklärt Auch wenn alle Spekulationen über Bewußtsein ein wenig abwegig anmuten, sind einige abwegiger als andere. Eine Ursache für Mißverständnisse in dieser Debatte ist die Tatsache, daß verschiedene Personen Bewußtsein auf unterschiedliche Weise definieren. Für die Anhänger des New Age, wie etwa Danah Zohar, bedeutet Bewußtsein Selbstbewußtsein oder sogar ein mystisches Überbewußtsein. Doch diese Fähigkeit manifestiert sich nur in wenigen Menschen und bei diesen auch nur gelegentlich; zudem ist Selbstbewußtsein lediglich ein Sonderfall von Bewußtsein, bei dem das Selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit ist. Wenn Roger Penrose von Bewußtsein spricht, meint er damit im allgemeinen die Fähigkeit, äußerst komplexe Proble- 337
me, insbesondere solche mathematischer Natur, zu lösen. Die meisten Menschen würden dieses Merkmal Intelligenz, und zwar eine seltene Intelligenz, nennen. Penrose behauptet in seinem Buch, daß Computer in ihrer gegenwärtigen Konstruktion diesen Typus hoher logischer Intelligenz nicht replizieren könnten. Ironischerweise sind Computer, was präzise logische Operationen anbelangt - die Grundlage nicht nur der Mathematik, sondern auch von Schach und anderen Spielen -, dem menschlichen Alltagsverstand weit überlegen (wie ich im vorangehenden Kapitel zu zeigen versuchte). Schließlich hatten KI-Forscher bescheidene Erfolge mit Programmen, die Theoreme aufstellen und beweisen können, und ein Computer besiegte 1997 den Schachweltmeister. Die sinnvollste Definition von Bewußtsein ist die von Christof Koch und anderen Forschern: Bewußtsein sei schlicht Empfindungsfähigkeit beziehungsweise Aufmerksamkeit, und es sei ein Phänomen, das vermutlich nicht nur beim Menschen, sondern höchstwahrscheinlich auch bei vielen höheren Tieren vorkomme. Bewußtsein sei zudem ein Nebenprodukt spezifischer physikalischer Prozesse, die in spezifischen Typen von Materie abliefe; ohne diese spezifischen Typen von Materie könne Bewußtsein nicht existieren. Diese Auffassung von Bewußtsein führt zwangsläufig zu einem recht radikalen Materialismus, der jede Anschauung verwirft, die Geist und Materie einander gleichstellt oder dem Geist eine Vorrangstellung gibt. Um es überspitzt zu sagen: Wir alle haben schon Körper ohne Geist gesehen, aber nur Mystiker, Medien und Psychotiker haben Geister ohne Körper gesehen. Nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens existierte das Universum bereits seit Milliarden von Jahren, als auf unserem kleinen Planeten Leben entstand. Es vergingen weitere Jahrmilliarden, bis sich Algen und andere einzellige Organismen zu Vielzellern wie Schleimpilzen und Tyrannosaurus rex weiterentwickelten. Und erst im letzten Augenblick der Erdge- 338
schichte besaß das Leben genügend Bewußtsein, um über das Phänomen Bewußtsein nachzudenken. Bislang haben Wissenschaftler keine Hinweise auf außerirdisches Leben entdeckt. Wenn ein Asteroid morgen alles Leben auf der Erde vernichten sollte, würden möglicherweise Leben und folglich auch Bewußtsein im gesamten Universum ausgelöscht. Doch das Universum wird auch ohne uns gut zurechtkommen. Es wird ziellos auf seiner Bahn weiterrasen bis ans Ende der physikalischen Zeit, es sei denn, es bringt erneut Lebewesen mit Bewußtsein hervor. Dies für unmöglich zu halten wäre jedenfalls narzißtisch. Die neurale Theorie des Bewußtseins, für die sich Koch, Crick und andere einsetzen, wird vielleicht eines Tages durch Experimente an Menschen und Tieren bestätigt werden. Durch die Erforschung von Blindsichtigkeit, Anästhesie und anderen Phänomenen werden Wissenschaftler vielleicht die neuralen Ereignisse isolieren, die notwendig und hinreichend für das menschliche Bewußtsein sind. Diese Erkenntnisse könnten praktische Folgen haben. Vielleicht werden sie uns Aufschlüsse über Schizophrenie und andere kognitive Störungen geben, vielleicht werden sie uns wirksamere Narkose- und Schmerzmittel bescheren, vielleicht werden sie sogar KI-Forschern zeigen, wie sie ihre Maschinen menschenähnlicher gestalten können. Der Schlüssel zur Erklärung von Bewußtsein mag in einem relativ einfachen neuralen Mechanismus liegen, wie etwa den 4O-Hertz-Oszillationen, die Koch rein hypothetisch vorschlug. Doch auch er räumte ein, daß die Antwort vermutlich viel komplizierter und folglich viel weniger zufriedenstellend ausfallen werde, als er gehofft habe. Wie der Philosoph Owen Flanagan betonte, gibt es viele verschiedene Formen von Gedächtnis, Gefühl, Wahrnehmung und Intelligenz, und vielleicht gibt es auch viele Formen von menschlichem Bewußtsein, die jeweils aus verschiedenen neuralen Prozessen hervorgehen. - 339
Vielleicht werden wir, wie der Harvard-Psychologe Howard Gardner behauptete, Bewußtsein nur in einem intuitiven, literarischen Sinn verstehen, was nach Ansicht vieler Wissenschaftler bedeutet, es im Grunde überhaupt nicht zu verstehen. Eine wissenschaftliche Erklärung des menschlichen Bewußtseins wird zweifellos unseren endlosen Debatten über Bewußtsein kein Ende bereiten, weil sie zu viele Fragen offenlassen wird. Eine nicht zu beantwortende Frage lautet: Welche Bedingungen sind notwendig und hinreichend dafür, daß Bewußtsein nicht nur beim Menschen, sondern in jeder beliebigen Ansammlung von Materie vorkommt? Hier stoßen wir auf eines der ältesten Rätsel der Philosophie, das Problem des Solipsismus. Mein Wörterbuch definiert »Solipsismus« recht unbeholfen als »eine Theorie, die behauptet, daß das Selbst nur die eigenen Modifikationen erkennen kann und daß nur das Selbst wahrhaft existiert«. Der Solipsismus ist ein radikaler Skeptizismus, der von der Erkenntnis ausgeht, daß ein jeder von uns in einem nahtlosen Gefängnis der Subjektivität eingeschlossen ist. Niemand von uns kann absolut sicher sein, daß ein anderer Mensch Bewußtsein, Empfindungsfähigkeit oder ein Innenleben besitzt. Wir alle machen diese Annahme, weil es vernünftig ist - und vielleicht weil wir durch unser angeborenes »Psychologiemodul« dazu gebracht werden. Die meisten vernünftigen Menschen und sogar viele Neurowissenschaftler und Philosophen gehen davon aus, daß auch Affen und andere Säugetiere mit relativ großen Gehirnen bewußte Erlebnisse haben. Doch sollte man nicht vergessen, daß einige sehr intelligente Menschen, der bekannteste war Descartes, überzeugt davon waren, daß alle Tiere empfindungsunfähige Automaten seien. Entscheidend ist, daß uns das Solipsismus-Problem daran hindert, die Streitfrage so oder so empirisch zu lösen. Die Uneinigkeit wird noch größer, wenn man sich Lebewesen zuwendet, die uns stammesgeschichtlich ferner stehen, - 340
wie Bienen, Barsche und Rankenfußkrebse. Setzt Empfindungsfähigkeit eine Großhirnrinde oder nur ein Gehirn voraus? Oder genügt auch ein einfaches Nervensystem, wie es die von Eric Kandel erforschten Meeresschnecken besitzen? Müssen die informationsverarbeitenden Schaltkreise aus organischen Stoffen bestehen, wie etwa Proteinen und Nukleinsäuren und Neurotransmittern? Oder lassen sie sich aus Kupfer und Quecksilber fertigen, wie David Chalmers' Thermostat, oder aus Silizium wie ein Computerchip? Falls Computer jemals in der Lage sein sollten, sich wie alte Freunde mit uns zu unterhalten, werden viele von uns versucht sein, ihnen Bewußtsein zuzuschreiben. Doch vernünftige Menschen werden dies immer ablehnen, weil es keine Möglichkeit gibt, die Streitfrage empirisch zu beantworten. Wie sagte doch Koch zu David Chalmers auf einem Cocktailempfang in Tucson: »Woher weiß ich überhaupt, ob Sie Bewußtsein besitzen?« Es ist auch unwahrscheinlich, daß die Willensfreiheit - das ungelöste Problem im Rätsel Bewußtsein - jemals wissenschaftlich »erklärt« werden kann. Die Existenz der Willensfreiheit liegt in gewisser Hinsicht auf der Hand. Einige Lebewesen sind eher in der Lage als andere, verschiedene Optionen zu erkennen und unter ihnen auszuwählen. Menschen besitzen diese Fähigkeit in höherem Maße als Katzen und Hunde; psychisch gesunde Menschen sind eher dazu in der Lage als Schizophrene oder Menschen mit Zwangsstörungen, Erwachsene eher als fünfjährige Kinder und fünfjährige Kinder eher als Säuglinge. Natürlich muß die Willensfreiheit existieren, wenn einige Organismen sie in höherem Maße besitzen als andere. Hirnschäden können unser Gefühl der Willensfreiheit ebenfalls auslöschen. In einem Postskriptum zu Was die Seele wirklich ist erinnerte sich Francis Crick daran, daß er einen Artikel über eine hirngeschädigte Frau gelesen hat, die zeitweilig ihre Fähigkeit eingebüßt hatte, ihre Intentionen in Handlungen - 341
umzusetzen beziehungsweise überhaupt Willensentschlüsse zu fassen. Nachdem sie sich erholt hatte, sagte sie, sie habe sich damals »leer« gefühlt, sie habe äußere Reize zwar wahrgenommen, aber nicht darauf reagieren können. Sie habe verstanden, was andere zu ihr gesagt hätten, habe aber selbst nichts darauf erwidern können. Er habe »mit Vergnügen« gehört, schrieb Crick, daß das Gehirn der Frau im Bereich des anterioren Sulcus cinguli geschädigt worden sei, einem Bereich, der nach den Ergebnissen anderer Experimente »viele Inputs von den höheren sensorischen Bereichen empfängt und sich bei den höheren Ebenen des motorischen Systems befindet«.13 Und dennoch behauptete Crick, daß die Willensfreiheit möglicherweise eine Illusion sei, die durch unsere unvollkommene Selbsterkenntnis erzeugt werde. (Er führte die Experimente von Benjamin Libet, die ich weiter vorn in diesem Kapitel beschrieben habe, als Indizienbeweis für diesen Standpunkt an.) Crick sagte zu mir, daß noch die einfachste Handlung das Produkt einer neuralen Aktivität enormen Ausmaßes sei, die sich unterhalb der Bewußtseinsschwelle abspiele. »Wir sind uns zwar des Willensentschlusses bewußt, aber das, was uns den Entschluß fassen läßt, wird uns nicht bewußt. Wir meinen, in unserem Entschluß frei gewesen zu sein, doch in Wirklichkeit ist er das Ergebnis von Vorgängen, deren wir uns nicht bewußt sind.« Ich finde diese Betrachtungsweise äußerst einleuchtend. Heute nachmittag beschließe ich vielleicht, früher als gewöhnlich mit der Arbeit aufzuhören, um mit meinen beiden Kindern einen Spaziergang im Wald zu machen. Doch wie frei wird dieser Entschluß tatsächlich sein? Jeder vermeintliche freie Willensakt ist Produkt einer unendlichen Folge von unmittelbaren und mittelbaren Ursachen. Aus der Quantenmechanik und der Chaostheorie folgt, daß die präzise Identifikation der Ursachen möglicherweise außerordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, doch das bedeutet nicht, daß die - 342
Ursachen nicht existieren. Die Rekonstruktion der Schritte, die eine bestimmte Handlung auslösen, führt uns über die Kindheit und die pränatale Lebensphase hinaus in die Geschichte des Homo sapiens und des gesamten Lebens auf der Erde und schließlich bis zum Urknall zurück, dem Schöpfungsereignis, das vermutlich alles in Bewegung setzte. Für keinen dieser Schritte habe ich mich bewußt entschieden. Wie frei kann ich demnach sein ? Wenn die Willensfreiheit sich als eine Illusion herausstellt, ist sie jedenfalls eine absolut unverzichtbare, noch unverzichtbarer als Gott. William James schrieb einmal: »Mein erster freier Willensakt soll der Glaube an den freien Willen sein.«14
Der Aufstieg der »Hysteriker« Meine Einstellung zu den Problemen Bewußtsein und Willensfreiheit wurde Mysterianismus genannt. Die mysterische Sichtweise hat eine ehrwürdige Tradition, wie die Zitate am Anfang dieses Kapitels zeigen, doch der Begriff wurde erst in jüngster Zeit geprägt. In seinem 1991 erschienenen Buch The Science of the Mind schrieb der Philosoph Owen Flanagan, einige neuzeitliche Naturwissenschaftler und Philosophen hätten behauptet, Bewußtsein lasse sich wohl niemals vollständig auf herkömmliche wissenschaftliche oder sonstige Weise erklären. Flanagan nannte diese modernen Zweifler »die neuen Mysteriker« nach der Rockgruppe Question Mark and the Mysterians, die in den sechziger Jahren bekannt war. (Der Ausdruck geht allerdings nicht auf diese Band zurück, sondern auf den japanischen Low-budget-Film The Mysterians, der die Invasion von Außerirdischen zum Thema hat und 1959 produziert wurde.) Zur Untermauerung ihres Standpunktes berufen sich die Mysteriker häufig auf eine begriffliche Unterscheidung, die - 343
von Noam Chomsky eingeführt wurde. Der am MIT lehrende Linguist unterschied zwischen lösbaren Problemen, die zumindest grundsätzlich mit herkömmlichen wissenschaftlichen Methoden beantwortbar seien, und unlösbaren Problemen. Er wies darauf hin, daß alle Organismen bestimmte Fähigkeiten und Leistungsgrenzen besitzen, die auf ihre spezifische biologische Ausstattung zurückzuführen seien. So könne eine Ratte lernen, sich in einem Labyrinth zurechtzufinden, das von ihr verlange, sich an jeder Abzweigung nach rechts zu wenden oder zwischen rechts und links abzuwechseln; aber eine Ratte werde niemals lernen, sich in einem Labyrinth zurechtzufinden, das von ihr verlange, sich an jeder Abzweigung, die einer Primzahl entspreche, nach links zu wenden. Diese Anforderung übersteige ihre kognitiven Fähigkeiten. In gleicher Weise mögen auch bestimmte Probleme, mit denen sich die Wissenschaft befaßt, für immer unsere Erkenntnisfähigkeit übersteigen. Dies seien Mysterien, für heute und vermutlich für immer. Chomsky hat in verschiedenen Schriften dargelegt, daß Bewußtsein, Willensfreiheit und andere Aspekte des menschlichen Geistes seiner Auffassung nach unlösbare Probleme seien. Dennoch kritisierte Chomsky einmal im persönlichen Gespräch mit mir ein Grunddogma der mysterischen Auffassung. »Es gibt kein Geist-Körper-Problem«, behauptete er. »Voraussetzung für die Existenz des Geist-Körper-Problems ist eine bestimmte Definition von Körper, und Newton vernichtete den letzten Körperbegriff, den wir hatten.«15 Newton, so fuhr Chomsky fort, sei nach gängiger Auffassung der Vater der mechanistischen, materialistischen Weltanschauung, die das Geist-Körper-Problem überhaupt erst hervorbrachte. Doch Newtons eigene Theorie der Schwerkraft, der zufolge sich Objekte gegenseitig in nichtmechanischer Weise beeinflussen könnten, habe die materialistische Weltanschauung letztlich zerstört. - 344
Der Materialismus, so Chomsky weiter, setze voraus, daß die Welt aus Objekten bestehe, die durch direkten Kontakt miteinander in Wechselwirkung stünden. Doch Newton habe durch die Entdeckung der Schwerkraft - einer Fernwirkung – gezeigt, daß der Materialismus selbst für ein so einfaches Phänomen wie einen Ball, der eine Ebene hinunterrollt, nicht funktioniere. Die Welt bestehe nicht aus Objekten, die sich gegenseitig durch direkten Kontakt beeinflußten, sondern aus immateriellen Eigenschaften. Zu diesen Eigenschaften gehörten Schwerkraft, Elektromagnetismus und auch Bewußtsein. »Es ist ein interessantes Element in der Geschichte der menschlichen Irrationalität, daß wir weiterhin von dem GeistKörper-Problem sprechen«, meinte Chomsky. »Ich sollte dazusagen, daß ich nicht sonderlich viele Menschen von meinen Ideen überzeugen konnte«, fügte er hinzu. Natürlich hatte er das Rätsel des Bewußtseins mit diesem Argument nicht wirklich gelöst; vielmehr behauptete er lediglich, daß Bewußtsein eine von vielen rätselhaften Eigenschaften der Natur sei. Einen anderen Einwand gegen den Mysterianismus erhob der Philosoph Daniel Dennett von der Tufts-Universität. Dennett warf den Mysterikern vor, eine dem Vitalismus ähnliche Anschauung zu vertreten, jener uralten Lehre, wonach Leben nicht aus rein physikalischen Prozessen, sondern aus einem unbeschreiblichen elan vital hervorgehe. So wie der Vitalismus verschwunden sei, nachdem Biologen die DNA-gestützte Replikation und andere fundamentale biologische Mechanismen entdeckt hätten, behauptete Dennett, so würde die Lehre der Mysteriker zu einer bloßen historischen Fußnote, sobald die Neurowissenschaftler die Aufmerksamkeit, das Kurzzeitgedächtnis und andere mentale Grundfunktionen erklären könnten. Das Bewußtsein sei lediglich die Summe dieser kognitiven Funktionen, so wie das Leben die Summe von Replikation, Stoffwechsel und anderen biologischen Prozessen sei.16 - 345
Doch wie Patienten zeigen, die an Blindsichtigkeit leiden, ist Bewußtsein bis zu einem gewissen Grad ein autonomes kognitives Phänomen. Ein anderer Fehler in Dennetts Argumentation ist seine implizite Annahme, die Wissenschaft habe das Leben wirklich erklärt, ihm also jegliche Rätselhaftigkeit genommen. Am Ende des sechsten Kapitels habe ich jedoch darauf hingewiesen, daß das Leben ein tiefes Geheimnis bleibt, auch wenn es von der Evolutionsbiologie, der Mendelschen Genetik und der Molekularbiologie »erklärt« wurde. All unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse können uns keinen Aufschluß darüber geben - nicht heute und vermutlich niemals -, ob irgendwo in den Tiefen des Weltalls ebenfalls Leben existiert oder ob es auf unseren einsamen kleinen Planeten beschränkt ist. Die Wissenschaft kann uns die Frage letztlich nicht beantworten, weshalb ausgerechnet auf der Erde Leben entstanden ist und weshalb es Organismen wie uns hervorbrachte. Wir wissen nicht, ob Leben eine höchstwahrscheinliche und vielleicht sogar zwangsläufige Folge der Gesetze von Physik und Chemie ist oder ein Zufallsereignis, wie es einmal in aller Ewigkeit eintritt. Das Rätsel bewußtseinsbegabten Lebens und insbesondere von Leben, das in solchem Maß Bewußtsein besitzt, daß es über sich selbst nachdenken kann, ist noch unfaßbarer. Der Mysterianismus wird allmählich zu einer allgemein anerkannten Anschauung. Zu den Wissenschaftlern, die sich öffentlich zum Mysterianismus bekannt haben, gehört auch Steven Pinker, der am MIT lehrende Psycholinguist und Evolutionspsychologe. Am Ende des Buches Wie das Denken im Kopf entsteht, das ansonsten einem grenzenlosen Wissenschaftsoptimismus frönte, zog Pinker das Fazit, daß Bewußtsein, Willensfreiheit, das Selbst und andere unergründliche Geheimnisse, die der Geist aufwerfe, vermutlich unlösbar seien: Sie [unsere Gehirne] haben sich über die natürliche Selektion entwickelt, um Probleme zu lösen, die für unsere Urahnen über Leben und Tod entschieden haben, und nicht, um Zwiesprache mit - 346
dem Sittenkodex zu halten oder alle nur denkbaren Fragen beantworten zu können. Wir können nicht zehntausend Wörter im Kurzzeitgedächtnis speichern. Wir können kein ultraviolettes Licht sehen. Wir können ein Obj ekt nicht in der vierten Dimension im Geiste drehen. Und vielleicht können wir auch nicht Rätsel wie das des freien Willens und der Empfindungsfähigkeit lösen.17
Selbst der Neurowissenschaftler Christof Koch gab zu, daß sich langfristig herausstellen könnte, daß die Mysteriker recht hätten.18 Bei seinem Vortrag in Tucson räumte er ein, daß eine neurale Theorie des Bewußtseins möglicherweise uralte philosophische Aporien wie das Geist-Körper-Problem und die Frage der Willensfreiheit nicht lösen werde; diese Rätsel überstiegen vielleicht schlicht die Erklärungskraft der Wissenschaft. Als Beleg für diese Auffassung zitierte er einen Aphorismus aus Ludwig Wittgensteins Orakelbuch Tractatus logico-phüosophicus: Wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen. Einen noch größeren Lacherfolg bei seinem Publikum landete er, als er »einen anderen Giganten des zwanzigsten Jahrhunderts« paraphrasierte – Dirty Harry, den brutalen Filmpolizisten, der von dem Schauspieler Clint Eastwood verkörpert wurde: Ein Wissenschaftler müsse seine Grenzen kennen.
Der mystische Weg zur Erkenntnis Mittlerweile sollte deutlich geworden sein, daß diejenigen, die darüber diskutieren, ob sich Bewußtsein erklären läßt, nicht nur dem Begriff Bewußtsein, sondern auch dem Begriff Erklärung unterschiedliche Bedeutungen beimessen. Nüchternen Köpfen wie Daniel Dennett wird ein physiologisches, genauer gesagt, neurales Modell höchstwahrscheinlich genügen. Wenn diese Regionen des Gehirns diese Funktionen ausführen, bringt - 347
das Bewußtsein hervor. Andere erwarten mehr als 40-HertzOszillationen im anterioren Sulcus cinguli. Sie sehnen sich nach einer Erklärung, die so umfassend und einleuchtend ist, daß das Phänomen Bewußtsein quasi sofort jegliche Rätselhaftigkeit verliert, so wie die Sonne den morgendlichen Nebel auflöst. Sie wünschen sich nicht bloß eine Erklärung, sondern eine Offenbarung. Selbst einige eingefleischte Mysteriker wie etwa der Philosoph Colin McGinn von der Rutgers-Universität schließen die Möglichkeit einer solchen Offenbarung nicht aus. McGinn äußerte mir gegenüber einmal die Vermutung, daß, falls es den KI-Forschern gelinge, wirklich intelligente Maschinen zu entwickeln, diese möglicherweise Erkenntnisse über Bewußtsein gewinnen könnten, die dem Menschen nicht zugänglich seien. »Es erscheint mir keineswegs ausgeschlossen«, sagte McGinn, »daß man eine Maschine konstruieren könnte, die nach ganz anderen Prinzipien funktioniert als wir und die in der Lage wäre, Dinge aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Und wer weiß, was sie leisten könnte.«19 Ironischerweise hat ausgerechnet der KI-Visionär Marvin Minsky bezweifelt, daß unsere Cyber-Nachkommen in der Lage sein würden, das Rätsel ihres Geistes zu lösen. »Wenn wir einmal intelligente Maschinen bauen«, schrieb er, »sollten wir nicht überrascht sein, wenn wir feststellen müssen, daß sie, was ihre Ansichten über Geist-Materie, Bewußtsein, Willensfreiheit und so weiter betrifft, genauso begriffsstutzig und beschränkt sind wie wir.« Anders gesagt, selbst wenn es KIForschem gelänge, den Geist zu replizieren – also Maschinen zu entwickeln, die unsere kognitiven Fähigkeiten nicht nur nachbilden, sondern sie übertreffen -, wird der Geist möglicherweise noch immer ein Rätsel bleiben. Optimisten hoffen, daß selbst wir gewöhnlichen Menschen durch solche bewußtseinserweiternden Methoden wie Meditation, Fasten und bewußtseinsverändernde Drogen zu einem - 348
tieferen Verständnis unseres Geistes gelangen könnten. Ein Redner, der dieses Argument in Tucson vertrat, war Andrew Weil, der Guru der Alternativmedizin und Bestsellerautor. Er berichtete den Zuhörern von einer Gruppe peruanischer Schamanen, die nach der Einnahme einer bewußtseinsverändernden Droge angeblich dieselben Visionen hätten; sie bekämen ein gemeinsames Bewußtsein. Er und ein Freund hätten eine ähnliche Erfahrung der »Bewußtseinsverschmelzung« gemacht, als sie das getrocknete Gift der Colorado-River-Kröte, Bufo alvarius, geraucht hätten. Diese sonderbaren mystischen Erlebnisse, so Weil, könnten uns jene Erkenntnisse über das Bewußtsein vermitteln, die erforderlich seien, um aus der gegenwärtigen theoretischen Sackgasse herauszukommen.20 Wie die meisten anderen Standpunkte in der Kontroverse um das Phänomen Bewußtsein ist die Idee, mystische Erfahrungen könnten empirische Untersuchungen ergänzen, nicht neu. In Das Unbehagen in der Kultur beschrieb Freud einen Freund, der von »einem Gefühl [berichtet hatte], das er die Empfindung der ›Ewigkeit‹ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ›Ozeanischem‹«.21 Freud räumte ein, er selbst habe nie derartige Erlebnisse gehabt, doch er bezweifelte, daß sie brauchbare Erkenntnisse über die Wirklichkeit lieferten. Menschen, die mystische Erlebnisse hätten, so seine Erklärung, durchlebten ihre frühe Kindheit noch einmal, in der sie noch nicht zwischen sich und der Außenwelt hätten unterscheiden können. In bezug auf die Überzeugung vieler religiöser Menschen, ihre Erfahrung habe sie in direkten Kontakt mit einer höheren Macht gebracht, meinte Freud nur trocken: »Ein ähnlich starkes Bedürfnis aus der Kindheit wie das nach dem Vaterschutz wüßte ich nicht anzugeben.«22 William James entwickelte in seinem Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung eine einfühlsamere Betrachtungsweise. Er räumte ein, daß mystische Erfahrungen häufig bei Personen - 349
vorkommen, die in einer seelischen Notlage seien oder an einer neurologischen Erkrankung litten; mystische Zustände könnten auch auf künstliche Weise durch pharmakologische Wirkstoffe wie Äther oder Lachgas ausgelöst werden. Doch nur weil eine mystische Erfahrung eine physiologische oder auch pathologische Grundlage habe, bedeute dies noch lange nicht, daß die dabei gewonnenen Einsichten wertlos seien, meinte der Begründer des Pragmatismus. Danach »dürfte keiner unserer Gedanken und [keines unserer] Gefühle, nicht einmal unsere wissenschaftlichen Lehren, nicht einmal unser Unglaube, irgendeinen Wahrheitswert beanspruchen, denn sie alle entströmen ausnahmslos der jeweiligen körperlichen Verfassung ihres Besitzers«.23 James betonte, damit wolle er nicht sagen, daß alle mystischen Offenbarungserlebnisse als wahr angesehen werden sollten. Vielmehr sollten sie danach beurteilt werden, »was wir aufgrund ihres Erfahrungszusammenhangs mit unseren moralischen Bedürfnissen und allem anderen, was wir für wahr halten, bestätigen können«.24 Mystische Erfahrungen sollten uns zumindest zu der Einsicht bewegen, daß wir sehr wenig über unseren Geist wissen. Seine eigenen Experimente mit Lachgas festigten in ihm die Überzeugung, daß unser normales Wachbewußtsein, das rationale Bewußtsein, wie wir es nennen, nur ein besonderer Typ von Bewußtsein ist, während um ihn herum, von ihm durch den dünnsten Schirm getrennt, mögliche Bewußtseinsformen liegen, die ganz andersartig sind. Wir können durchs Leben gehen, ohne etwas von ihrer Existenz zu ahnen; aber man setze sie nur einem entsprechenden Reiz aus, und schlagartig sind sie in ihrer ganzen Vollständigkeit da: genau umrissene Geistesarten, für die es wahrscheinlich irgendwo auch Anwendungs- und Erprobungsbereiche gibt. Keine Betrachtung des Universums kann abschließend sein, die diese anderen Bewußtseinsformen ganz außer Betracht läßt [...] Auf jeden Fall verbieten sie einen voreiligen Abschluß unserer Rech- 350
nung mit der Realität.25
Eine der Kernthesen von James' Buch lautet, daß mystische Erfahrungen in grundverschiedenen Formen auftreten könnten. Er untermauerte diese Behauptung mit einer Fülle von Erfahrungsberichten Betroffener. Einige Erzähler beschrieben das »ozeanische« Rauschgefühl, über das sich Freud so abfällig äußerte, andere durchlebten einen Zustand panischer Angst und Entfremdung. In einem der bedrückendsten Berichte des Buchs schildert der Erzähler, wie er sich allein im Ankleideraum aufhielt, als er sich plötzlich an einen Epileptiker erinnerte, den er einmal in einer psychiatrischen Anstalt gesehen hatte. Der Patient war »ein schwarzhaariger junger Mann mit grünlicher Haut [gewesen], der völlig verwirrt war [...] er bewegte nur seine schwarzen Augen und war absolut unmenschlich anzusehen [...] Diese Gestalt bin ich, dachte ich, jedenfalls potentiell.«26 Der Erzähler wachte daraufhin »jeden Morgen mit einer entsetzlichen Angst in der Magengrube auf und mit einem Gefühl von Unsicherheit, das ich vorher nicht gekannt hatte und seither nie mehr so empfunden habe«.27 James schrieb diesen Bericht einem anonymen Franzosen zu; erst nachdem das Buch erschienen war, gab er zu, selbst dieses schreckliche Erlebnis gehabt zu haben.28 Sein ganzes Leben hindurch kämpfte er gegen die Angst und Schwermut an, die dieser Blick in den Abgrund in ihm erweckt hatten. Er versuchte diese »morbiden Empfindungen« mit Elektrotherapie, Wasserkuren, Medikamenten, Hypnose, Christian science, Gewichtheben und verschiedenen »Geisteskuren«, die sich die Macht positiven Denkens zunutze machen wollten, zu bezwingen - offenbar war alles vergebens.
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Brian Josephsons »Tunnelkontakt« Die Gefahren mystischer Erfahrung werden in der Lebensgeschichte von Brian Josephson, einer der bedeutendsten und faszinierendsten Gestalten in der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts, besonders sinnfällig. Im Jahr 1962 sagte er als zweiundzwanzigjähriger Student an der Universität Cambridge voraus, daß ein besonderer Typ von supraleitendem Schaltkreis, der heute als Josephson-Kontakt (oder Tunnelkontakt) bezeichnet wird, eine scheinbar magische Quanteneigenschaft zeigen sollte, die heute als Josephson-Effekt beschrieben wird. Josephson-Kontakte bilden die Grundlage von supraleitenden Quanteninterferenzvorrichtungen (Squids); diese extrem empfindlichen Instrumente messen Phänomene, die vom Flüstern der Neuronen im menschlichen Gehirn bis zum seismischen Gemurmel der Erde reichen. Josephson wurde 1973 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet und gehörte damit zu den jüngsten Trägern in der Geschichte dieses Preises. Kurz darauf verabschiedete sich Josephson, der damals bereits ordentlicher Professor in Cambridge war, von der konventionellen Physik und wandte sich der Erforschung parapsychischer und mystischer Erfahrungen sowie anderer exotischer Phänomene zu. Er schrieb Aufsätze mit Titeln wie »Physik und Spiritualität. Die nächste Große Vereinheitlichung?«29. Seine Beiträge in anerkannten Fachzeitschriften bestanden überwiegend aus Briefen, in denen er die bornierte Einstellung der Wissenschaft zur außersinnlichen Wahrnehmung und Religion geißelte. Im Jahr 1993 behauptete er in einem Leserbrief an Nature, das religiöse Bedürfnis könne Gesellschaften helfen, »harmonischer und effizienter zu funktionieren« .3° Er behauptete auch, religiöse Bräuche seien auf »Gene [zurückzuführen], die mit potentieller Güte in Verbindung stehen«. (Leserbriefschreiber entgegneten prompt, daß Religionen mindestens genausooft Intoleranz und Grausamkeit förderten wie Güte.) - 352
Jahrelang verfolgte ich, wie sich Physiker in Spekulationen über die Ursache von Josephsons Wandlung ergingen. Was war geschehen? Wie konnte ein so überragender Wissenschaftler auf die »andere« Seite überlaufen? Am zweiten Tag der Konferenz in Tucson erklärte sich Josephson bereit, mit mir zu Mittag zu essen, wodurch ich die Gelegenheit bekam, dies herauszufinden.31 Es hatte fast den Anschein, als versuche Josephson seine Identität zu verschleiern. Sein Gesicht war fast vollständig von seinem weißen Schlapphut, einer breiten dunklen Brille, struppigem Haar und Koteletten verdeckt. Er trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein digitalisiertes Porträt von Alan Turing prangte, einem anderen britischen Genie, dessen Verhältnis zum wissenschaftlichen Establishment seinerzeit gespannt war (wenn auch aus anderen Gründen). Während wir in einem Taco-Bell-Restaurant Burritos verzehrten - umgeben von lauten Einheimischen, die mir alle jung, gebräunt und blond vorkamen, insbesondere im Vergleich zu Josephson und mir -, erzählte mir Josephson mit stockender, leiser Stimme von seiner Vergangenheit. Er habe sich Mitte der sechziger Jahre von der konventionellen Physik abzuwenden begonnen. Wie viele andere Physiker faszinierte auch ihn die scheinbar zentrale Rolle des Beobachters in der Quantenmechanik und die seltsamen nichtlokalen Korrelationen zwischen Teilchen in der Quantenwelt. Er verschlang die Schriften von Weisen wie etwa Krischnamurti, einem indischen Mystiker, dessen Bücher in den sechziger Jahren viele westliche Wissenschaftler und Intellektuelle in ihren Bann zogen. Im Jahr 1966 lernte er auf einem Besuch in den Vereinigten Staaten einen Mathematiker kennen, der ein ausgeprägtes Interesse an paranormalen Phänomenen hatte. Nach einigem Herumdrucksen bekannte Josephson schließlich, daß seine Wandlung auch auf Veränderungen »im Innern« zurückzuführen sei. Ich fragte nach. Hatte er selbst mystische oder übersinnliche Erfahrungen gehabt? »Nun, in gewisser - 353
Weise, aber nicht ...« Er hielt inne. »Ich hatte einige seltsame Erlebnisse.« Er stocherte mit der Fingerspitze in seinem Burrito. Schließlich sagte er mir, daß er Ende der sechziger Jahre »halluzinatorische Bewußtseinszustände« erlebt habe, die eine Folge seiner allzu intensiven Beschäftigung mit physikalischen Problemen gewesen seien. »Meine Erlebnisse waren hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß ich über einen längeren Zeitraum sehr wenig Schlaf hatte.« Mehrere Jahre lang habe er »starke Tranquilizer« eingenommen, um mit seiner angeschlagenen seelischen Verfassung zurechtzukommen. Es gelang ihm, seine innere Unruhe durch transzendentale Meditation zu bezwingen. »Die Meditation gab mir soviel Halt, daß ich keine Tranquilizer mehr brauchte.« Er meditiere noch immer bis zu mehreren Stunden pro Tag; diese Übungen hätten ihm »so etwas wie inneren Frieden« gegeben. Seine Heirat im Jahr 1976 verschaffte ihm einen weiteren Halt. Er und seine Frau hatten eine Tochter, die bereits schriftstellerisches Talent zeige. Als Josephson von seiner Tochter sprach, gestattete er sich ein seltenes Lächeln. Er erinnerte sich, daß er 1973 die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises mit relativer Gelassenheit aufgenommen habe. »Ich bin ein eher nüchterner Mensch«, sagte er. »Die öffentliche Beachtung, die mir zuteil wurde, war vor allem eine Last.« Andererseits gab ihm die Auszeichnung das Selbstvertrauen und die Gelegenheit, sein Interesse an den rätselhaften Aspekten des Geistes öffentlich zu diskutieren. In seinen Vorträgen und Aufsätzen schalt er die Fachwelt dafür, daß sie sich nicht mit parapsychischen oder »Psi-Phänomenen« befassen wolle. Er beteuerte, daß Telekinese und außersinnliche Wahrnehmung durch »recht überzeugende« Daten belegt seien. Die Quantenmechanik könne dazu beitragen, das Phänomen der außersinnlichen Wahrnehmung zu erklären, versicherte Josephson, doch nur, wenn ihr Anwendungsfeld erweitert werde. Die gegenwärtige Theorie »läßt die Sprache von Prozeß - 354
und Intention und so weiter nicht zu. Daher müssen wir meines Erachtens die Quantentheorie erweitern, damit wir auch dies berücksichtigen können.« Er fügte hinzu, daß »die Art und Weise, wie sich Teile zu Gesamtheiten verbinden, gegenwärtig wohl nicht angemessen wissenschaftlich untersucht wird«. Die heute üblichen reduktionistischen Methoden »schließen die Möglichkeiten aus, die jenseits des Gültigkeitsbereichs einer derartigen Beschreibung liegen«. Josephson empfand eine gewisse Geistesverwandtschaft zu David Bohm, einem Physiker, der ebenfalls einen ganzheitlichen wissenschaftlichen Ansatz befürwortete. (In einem Interview kurz vor seinem Tod im Jahr 1992 sagte mir Bohm, er teile Josephsons Glaube beziehungsweise Interesse an paranormalen Phänomenen nicht.)32 Josephson bedauerte es nicht, der konventionellen Physik den Rücken gekehrt zu haben. »Ich halte das, was ich gegenwärtig tue, für wichtiger.« Er habe sich daran gewöhnt, mit den Anfeindungen anderer Physiker und Amtsinhaber in Cambridge zurechtzukommen. »Es ist nicht mehr so schlimm wie früher.« Gelegentlich veranstalte er Vorlesungen über parapsychische Phänomene in Cambridge, »und die Zuhörer sind insgesamt ziemlich beeindruckt gewesen«. Er wünsche sich nur, daß die Ämter, die über die Vergabe von Forschungsgeldern verfügten, so aufgeschlossen wären, daß sie sein Projekt, eine Forschungsgruppe für Parapsychologie in Cambridge ins Leben zu rufen, unterstützten. Josephson war überzeugt davon, daß Meditation Wissenschaftlern helfen könne, ihre Fähigkeiten zu optimieren und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Das gewöhnliche Bewußtsein sei »egozentrisch«. Das Ich »beherrscht alles«, und man sei nicht mehr offen für die Einflüsse und Intuitionen, die einem »präegozentrischen« Kind zugänglich seien. Durch Meditation könne man ein »transegozentrisches« Stadium erreichen, bei dem »man die Vorteile der Prozesse erlangen kann, von denen - 355
man beeinflußt wurde, bevor das Ich dominant wurde, während man etwas von der strukturierenden Fähigkeit des Ich behalten kann.« Das brachte uns schließlich auf seine Musiktheorie, die er in seinem Vortrag in Tucson vorstellen wollte.33 »Durch meine Meditationen entwickelte ich ein feineres Gespür für Musik und erkannte, daß mehr dahintersteckte.« Er glaube mittlerweile, daß Musik bis zu einem gewissen Grad das Produkt nicht von oberflächlichen kulturellen Einflüssen, sondern von zeitlosen, universellen »Strukturen« des Geistes sei. Wissenschaftler könnten etwas über diese universellen geistigen Strukturen herausfinden, indem sie die menschlichen Reaktionen auf Musik erforschten. »Ich bin intuitiv davon überzeugt, daß dies für unser Verständnis des Geistes von großer Bedeutung sein könnte.« Josephson hatte eine Vorliebe für klassische Musik, aber auch Rock and Roll sprach ihn an. »Einiges davon ist von hohem künstlerischem Wert«, sagte er über den Rock. »Etwas, was sich zunächst wie chaotischer Lärm anhört, offenbart mitunter eine unerwartete Tiefendimension.« Ob er persönliche Lieblingsstücke habe, fragte ich ihn. Er schürzte einen Moment lang die Lippen. Er möge »Bridge over Troubled Water« von Simon und Garfunkel. »Ich weiß nicht, ob es besonders tiefsinnig ist, aber ...« Im Hintergrund kreischte die Popdiva Whitney Houston »I'll always love youuuuuuuuu!«. Der Andrang der Gäste im Taco Bell war abgeebbt. Josephson aß sein Burrito und sein Taco auf, die er als »ziemlich gut« beurteilte. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr; er wolle unbedingt den Vortrag über »Informationsphysik, neuromolekulares Rechnen und Bewußtsein« hören, den ein jugoslawischer Wissenschaftler im Rahmen der Konferenz hielt. Wir warfen unseren Abfall in einen Müllbehälter, stellten unsere Tabletts auf einen Stapel und gingen hinaus in den strahlend sonnigen Tag. - 356
EPILOG DIE ZUKUNFT DER WISSENSCHAFTLICHEN ERFORSCHUNG DES MENSCHLICHEN GEISTES Wer jemals an dem Aufbau irgendeiner Wissenschaft wirklich mitgearbeitet hat, der weiß aus eigener innerer Erfahrung, daß an der Eingangspforte der Wissenschaft ein äußerlich unscheinbarer, aber durchaus unentbehrlicher Wegweiser steht: 1 der vorwärtsschauende Glaube. MAX PLANCK.
D
ie Wissenschaftler, die sich mit der Erforschung des menschlichen Geistes befassen, haben genauso tiefsitzende Überzeugungen wie religiöse Menschen. Francis Crick legte seine reduktionistische Weltsicht zu Beginn seines Buches Was die Seele wirklich ist dar: »›Sie‹, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit - bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. Lewis Carrolls Alice aus dem Wunderland hätte es vielleicht so gesagt: ›Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone.‹«2 In gewissem Sinn hat Crick recht. Wir sind nichts weiter als ein Haufen Neurone. Zugleich hat sich jedoch die Neurowissenschaft bislang als seltsam unbefriedigend erwiesen. Die Erklärung des Geistes auf neuronaler Grundlage hat uns nicht viel mehr Erkenntnisse beziehungsweise Vorteile gebracht als die Erklärung des Geistes auf der Grundlage von Quarks und Elektronen. Es gibt viele alternative Reduktionismen. Wir seien nichts weiter als ein Haufen idiosynkratischer Gene. Wir seien nichts weiter als ein Haufen von Anpassungsleistungen, die von der natürlichen Selektion gestaltet wurden. Wir seien nichts weiter als ein Haufen von Rechenmaschinen, die sich verschiedenen Aufgaben widmen. Wir seien nichts weiter als ein Haufen Sexualneurosen. Diese Erklärungen sind wie die von Crick vertretbar, aber sie sind alle unzureichend. - 357
In »More is Different«, einem 1972 in Science erschienenen Aufsatz, reflektierte Philip Anderson, ein an der PrincetonUniversität lehrender Experte für die Physik der kondensierten Materie, der 1977 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, über die Grenzen des wissenschaftlichen Reduktionismus. Anderson war durch die Behauptung von Teilchenphysikern, sie führten die fundamentalsten und daher bedeutendsten naturwissenschaftlichen Forschungen durch, alle anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen befaßten sich lediglich mit »Einzelheiten« oder, schlimmer noch, »Technik«, zu dem Beitrag angeregt worden. Anderson erkannte die außerordentlichen Erfolge des Reduktionismus ausdrücklich an. Der Reduktionismus werde vorbehaltlos von der großen Mehrheit der aktiven Naturwissenschaftler anerkannt. »Wir gehen davon aus, daß sämtliche Prozesse in unserem Geist und unserem Körper sowie in der gesamten belebten und unbelebten Materie, über die wir detaillierte Kenntnisse besitzen, denselben fundamentalen Gesetzen unterliegen.«3 Die Kernphysik, deren Objekte auf der kleinsten Skala der Natur liegen, hat uns Erkenntnisse über Sterne, Galaxien und die Entstehung des Universums verschafft. Die Molekularbiologie, die mit der Entdeckung der Doppelhelix begann, erwies sich als ein außerordentlich erfolgreicher Ansatz zum Verständnis von Evolution, Vererbung, Embryonalentwicklung und anderen Aspekten des Lebens. Doch die Kenntnis der Grundgesetze, die das Gebiet der Physik beherrschen, gebe uns kaum Aufschluß über viele andere Phänomene, so Anderson. Die Teilchenphysik sei nicht in der Lage, das Verhalten von Wasser vorherzusagen, geschweige denn das von Menschen. Die Wirklichkeit sei hierarchisch aufgebaut, wobei jede Ebene bis zu einem gewissen Grad unabhängig von den Ebenen über und unter ihr sei. »Auf jeder Ebene bedarf es vollkommen neuer Gesetze, Begriffe und Ver- 358
allgemeinerungen, die genausoviel Inspiration und Kreativität erfordern wie die auf der vorangehenden Ebene«, schrieb Anderson. »Die Psychologie ist nicht angewandte Biologie, und die Biologie ist nicht angewandte Chemie.« Wenn es ein Phänomen der Natur gebe, das nachweislich mehr sei als die Summe seiner Teile, dann sei das der menschliche Geist.
Der Mythos vom wissenschaftlichen Erlöser Einige Wissenschaftler, die den menschlichen Geist erforschen, gestehen zwar die Beschränktheit aller gegenwärtigen Forschungsansätze ein, prophezeien aber gleichzeitig das Kommen eines Genies, das Muster und Lösungen erkennen werde, die all seine Vorgänger übersehen hätten. »Das gab es«, sagte der an Harvard lehrende Psychologe Howard Gardner zu mir. »Das wird es wieder geben.« Er habe während seines eigenen Lebens das Aufkommen so bedeutender Wissenschaftler wie Noam Chomsky und Jean Piaget miterlebt. »Wir verdanken ihnen tiefschürfende Einsichten über den menschlichen Geist Sie hatten nicht unbedingt recht, aber sie haben die Sache gewiß vorangebracht.«4 Eine Möglichkeit bestehe darin, daß jemand grundlegende und fruchtbare Gemeinsamkeiten zwischen abendländischen Sichtweisen des menschlichen Geistes und den entsprechenden Anschauungen, die in der Philosophie und Religion des Fernen Ostens enthalten seien, feststelle, so Gardner. Doch er wies auch darauf hin, daß »wir das Kommen dieses einzigartigen Genies nicht voraussehen können, weil es völlig unerwartet auftritt und eine Synthese erstellt, mit der niemand gerechnet hätte«. Eine ähnliche Prognose hörte ich von Eric Kandel, dem an der Columbia-Universität lehrenden Neurowissenschaftler. Er wies darauf hin, daß einige von ihm hochgeschätzte Philo- 359
sophen, wie etwa Thomas Nagel von der New-York-Universität, mutmaßten, daß sich der menschliche Geist niemals vollständig ergründen lasse. Doch Kandel glaubte an die Fähigkeit des menschlichen Intellekts, insbesondere in einer völlig aussichtslos anmutenden Lage bahnbrechende neue Erkenntnisse zu gewinnen. »Hin und wieder tritt eine Person auf, deren bemerkenswerte Einsichten uns erlauben, Dinge aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen, und dies bringt dann die entsprechende Wissenschaft in unerwarteter Weise voran.«5 Doch wie realistisch ist dieser Mythos von einem wissenschaftlichen Erlöser? In Richard Feynman. Leben und Werk des genialen Physikers befaßte sich der Wissenschaftsautor James Gleick mit dem weitverbreiteten Eindruck, daß die zeitgenössische Kultur keine so überragenden Genies wie Newton, Mozart oder Michelangelo mehr hervorbringe. Gleick zitierte den Romancier Norman Mailer, der geklagt habe: »Es gibt keine großen Menschen mehr. Ich habe mich in jüngster Zeit mit Picasso beschäftigt, und schauen Sie, wer seine Zeitgenossen waren: Freud und Einstein.«6 Nach Ansicht von Gleick ist Mailers Eindruck falsch. In Wirklichkeit gebe es heute so viele Einsteins und Freuds, so viele herausragende Wissenschaftler, daß es für den einzelnen schwerer geworden sei, sich hervorzutun. Ich finde seine Erklärung überzeugend, allerdings würde ich eine wichtige Konsequenz hinzufügen: Für die genialen Wissenschaftler unserer Zeit gibt es weniger zu entdecken als für ihre Vorgänger. Kein Wissenschaftler kann heute die Gravitation, die natürliche Selektion oder die Allgemeine Relativitätstheorie entdecken, weil ihm Newton, Darwin und Einstein zuvorkamen. Grob vereinfacht könnte man sagen, daß sie die leichten Probleme lösten. Die übriggebliebenen gewichtigen Probleme sind außerordentlich schwierig. Das soll nicht heißen, daß ein Genie heute keinen nachhaltigen Einfluß mehr ausüben könnte. In den fünfziger Jahren - 360
steckte die Elementarteilchenphysik in einer Krise, die in gewisser Hinsicht an die Sackgasse erinnert, in der sich heute die Neurowissenschaft befindet. Teilchenbeschleuniger schienen fast täglich ein exotisches neues Teilchen hervorzubringen; die Theoretiker wußten nicht, wie sie das Wirrwarr der Entdekkungen zu einer kohärenten Theorie zusammenfassen sollten. Doch dann schuf ein brillanter junger Theoretiker namens Murray Gell-Mann ein Rahmenmodell – er nannte es scherzhaft nach der buddhistischen Anleitung zur Erleuchtung den »Achtfachen Weg« –, das die Teilchen nach ihren gemeinsamen Eigenschaften ordnete. Später zeigten Gell-Mann und ein anderer Physiker unabhängig voneinander, daß viele dieser verschiedenen Teilchen aus fundamentaleren Partikeln, den sogenannten Quarks, aufgebaut sind. Doch was die Komplexität betrifft, ist die Teilchenphysik im Vergleich zur Neurowissenschaft ein Kinderspiel. Freuds Fähigkeit, eine einheitliche Theorie der menschliche Psyche zu entwerfen, verdankte sich größtenteils dem Stand beziehungsweise der Unkenntnis der Wissenschaft zu seiner Zeit. Wer heutzutage eine einheitliche Theorie des menschlichen Geistes aufstellen wollte, müßte eine astronomische Zahl an empirischen Befunden - mit vielfach gegensätzlichen Implikationen aufarbeiten. Was das menschliche Gehirn betrifft, gibt es vielleicht gar keine einheitsstiftende Erkenntnis, die das Chaos in eine Ordnung verwandeln könnte.7
Die Gefahren der Wissenschaftsgläubigkeit Die Wissenschaftler werden sich niemals damit abfinden, daß der menschliche Geist nicht bezwungen werden kann, und sie sollten es auch gar nicht. Es ist immer möglich, daß sie psychische Erkrankungen nicht nur besser therapieren, sondern sogar heilen können werden. Sie werden herausfinden, wie - 361
Anlage und Umwelt bei der Formung des menschlichen Geistes und der individuellen Persönlichkeit zusammenwirken. Sie werden in allen Einzelheiten verstehen, wie die natürliche Selektion unser Gehirn gestaltet hat und wie sie es weiterhin prägt. Sie werden Maschinen bauen, die uns an Intelligenz ebenbürtig sind und uns schließlich übertreffen. Sie werden das Geist-Körper-Problem und das Dilemma des Reduktionismus lösen. Optimisten glauben, daß diese Ergebnisse angesichts des stetigen und rasanten Tempos der Entdeckungen und Neuerungen in der Neurowissenschaft, der Psychiatrie, der Künstlichen Intelligenz und anderen Gebieten unvermeidlich seien; dazu bedürfe es lediglich beharrlicher Anstrengungen, ausreichender Fördermittel und einer Portion Zuversicht. Doch manchmal reichen Zeit, Geld und Zuversicht nicht aus, um selbst offenkundig vernünftige wissenschaftliche Ziele zu erreichen. Der Versuch, den Prozeß der Kernfusion, der die Sonne und andere Sterne zum Leuchten bringt, technisch nutzbar zu machen, ist ein Paradebeispiel hierfür. 8 Die Grundprinzipien der Kernverschmelzung wurden bereits in den dreißiger Jahren aufgeklärt; auf deren Grundlage entwickelten Physiker Ende der vierziger Jahre die Wasserstoffbombe. Stünde den Physikern nur hinlänglich viel Zeit und Geld zur Verfügung, fänden sie - so die optimistische Einschätzung - zweifellos heraus, wie man Fusionsreaktoren baue, die Energie kostengünstiger und sauberer erzeugten als die umweltgefährdenden, teuren Spaltungsreaktoren. Diese Vision ist nie Wirklichkeit geworden. Selbst eingefleischten Befürwortern des Fusionsreaktors dämmert es mittlerweile, daß ihre Träume vermutlich nie in Erfüllung gehen werden; die technischen, ökonomischen und politischen Hürden, die der Nutzung der Fusionsenergie im Weg stehen, sind einfach unüberwindlich hoch. Die Krebsforschung ist vielleicht ein Beispiel, das sich besser mit der Erforschung des Geistes vergleichen läßt. Anders als der Fusionsreaktor ist die Heilung von Krebserkrankungen - 362
ein so vordringliches Ziel, daß wir es vermutlich nie aufgeben werden. Doch bislang liegt die Heilung von Krebs in genauso weiter Ferne wie die technische Nutzung der Fusionsenergie. Seit Präsident Richard Nixon 1971 dem Krebs offiziell »den Krieg« erklärte, haben die Vereinigten Staaten über fünfunddreißig Milliarden Dollar für die Krebsforschung aufgewendet. Wissenschaftler haben gewaltige Fortschritte bei der Aufklärung der Entstehungsmechanismen verschiedener Krebsformen gemacht, und sie haben ausgeklügelte Verfahren zur Früherkennung der Erkrankung und zur Beurteilung ihres Verlaufs entwickelt. Bestimmte seltene Krebsarten bei Kindern lassen sich heute effizienter behandeln, ja sogar heilen. Doch trotz eines unlängst von den Medien hochgespielten angeblichen Rückganges der Krebssterblichkeit, sind die Sterberaten in Wirklichkeit heute höher als im Jahr 1971, selbst wenn man die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung berücksichtigt.9 Die ungebrochene Zuversicht, die Wissenschaftler auch nach wiederholten Mißerfolgen nicht aufgeben läßt, hat etwas Edles, etwas Erhabenes. Doch diese Gläubigkeit ist auch mit Gefahren verbunden. Elliott Valenstein befaßte sich am Ende seines Buches Great and Desperate Cures, einer Geschichte der Lobotomie in der amerikanischen Psychiatrie, mit diesem Thema. Die unkritische allgemeine Anwendung der Lobotomie sei keineswegs eine auf die Psychiatrie beschränkte Fehlentwicklung, sondern ein weitverbreitetes Phänomen in der modernen Medizin, bemerkte Valenstein. Er führte aktuelle Beispiele an, wo Wissenschaftler und die Medien klinisch nicht erprobte Therapien für AIDS, Herzerkrankungen, AlzheimerKrankheit und andere Erkrankungen hochgejubelt hatten: In der großen Mehrzahl der Fälle - bei denen vorschnell Ergebnisse präsentiert werden, in denen die Erfolge überschätzt und die Gefahren unterschätzt werden, wo die Auswahl der Patienten - 363
mit systematischen Fehlern behaftet ist und wo therapeutische Mißerfolge als Ausnahmen wegerklärt werden - waren die verantwortlichen Ärzte von der Gültigkeit ihrer Schlußfolgerungen überzeugt. Es ist sehr schwer, sich gegen Selbsttäuschung zu feien - und nahezu unmöglich, wenn hemmungsloser Ehrgeiz im 10 Spiel ist.
Die Gefahren wissenschaftlicher Selbstüberschätzung sind am größten, wenn Wissenschaftler nicht bloß ein Heilmittel für Krebs oder psychische Krankheiten suchen, sondern eine endgültige Erklärung dafür, wer wir sind oder, schlimmer noch, wer wir sein sollten. Der verstorbene Philosoph Isaiah Berlin wies einmal warnend darauf hin, daß die Anwendung der wissenschaftlichen Rationalität auf menschliche Angelegenheiten häufig in Totalitarismus münde. »Ein Gespür für Symmetrie und Regelhaftigkeit und die Fähigkeit zu stringenter Deduktion, die Befähigungsvoraussetzungen für einige Naturwissenschaften sind, führen auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Organisation zwangsläufig zu entsetzlichen Drangsalierungen auf der einen und zu unsäglichem Leid auf der anderen Seite, sofern sie nicht durch sehr viel Sensibilität, Verständnis und Menschlichkeit abgemildert werden.« Berlin mahnte uns eindringlich, wir sollten uns vor den »schrecklichen Vereinfachern«, den »großen despotischen Organisatoren« und »Männern mit einer allumfassenden Vision« in acht nehmen.11 Natürlich ist es unser Wunsch nach Antworten und Allheilmitteln, der den schrecklichen Vereinfachern ihre Macht verleiht. Um uns selbst vor unserer Leichtgläubigkeit zu schützen, müssen wir die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Geistes anders bewerten. Wir müssen uns daran erinnern, wie oft uns die einschlägigen Disziplinen in der Vergangenheit in die Irre geführt haben und wie dürftig ihre Erfolgsbilanz ausfällt. Gleichzeitig müssen wir offen bleiben für die Möglichkeit echter Fortschritte. Dies meinte ich in der - 364
Einleitung zu diesem Buch mit der Formulierung »hoffnungsvoller Skeptizismus«. Howard Gardner, Clifford Geertz und andere haben uns geraten, wir sollten die Erforschung des Geistes eher als ein quasiliterarisches denn als ein streng wissenschaftliches Unternehmen betreiben. Ein Musterbeispiel für diesen literarischen Ansatz ist der Neurologe und Buchautor Oliver Sacks. Sacks ist der moderne Meister dessen, was ich im ersten Kapitel als »Gagesche Neurowissenschaft« bezeichnet habe. In seinen Büchern und Aufsätzen hat er außerordentlich lebendige, einfühlsame biographische Skizzen von Menschen gezeichnet, die unter den Folgen von Autismus, Schlaganfällen, Tumoren, Gilles-de-la-Tourette-Syndrom und anderen neurologischen Störungen leiden. Während die meisten Neurowissenschaftler die Einzigartigkeit jedes Individuums wegzuerklären versuchen, hat Sacks sie zum Mittelpunkt seiner Arbeit gemacht. Der Dichter William Carlos Williams verkündete einmal »keine Ideen außer in Dingen«, wobei er diese Regel durch seine Aussage verletzte. Sacks' Philosophie könnte man vielleicht mit den Worten »keine Ideen außer in Menschen« umschreiben. Er sagte mir einmal, er versuche Wittgensteins Diktum zu befolgen, daß ein Buch eher aus »Beispielen« als aus Verallgemeinerungen bestehen sollte. »Ich bekomme immer wieder zu hören: ›Sacks, wo ist ihre allgemeine Theorie?‹ Doch ich bin eigentlich recht zufrieden damit, eine Fallgeschichte nach der anderen zu schreiben und die Theoriebildung anderen zu überlassen.«12 Sacks' mitfühlendes, antireduktionistisches Kredo ist in all seinen Schriften implizit spürbar, doch gelegentlich macht er es explizit. In Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte schrieb Sacks: »Um die Person – den leidenden, kranken und gegen die Krankheit ankämpfenden Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen, müssen wir die Krankengeschichte zu einer wirklichen Geschichte ausweiten; nur - 365
dann haben wir sowohl ein ›wer‹ als auch ein ›was‹, eine wirkliche Person, einen Patienten, der in seiner Beziehung zur Krankheit, in seiner Beziehung zum Körperlichen faßbar wird.«13 In Ein Anthropologe auf dem Mars führte er aus: Aber die Realitäten der Patienten, die Arten, wie sie und ihre Gehirne ihre eigenen Welten konstruieren, lassen sich über Verhaltensbeobachtungen - also von außen - nicht vollständig erschließen. Zusätzlich zum objektiven Ansatz des Wissenschaftlers und Naturforschers müssen wir uns einer intersubjektiven Vorgehensweise bedienen, um so, wie Foucault schreibt, ›in das Innere des kranken Bewußtseins vorzudringen‹ und ›die pathologische Welt mit den Augen des Patienten zu sehen‹.14
Das Problematische an Fallgeschichten liegt darin, daß sie sich zwar häufig sehr plausibel anhören, aber die Wahrheit verschleiern und untergraben können. Der Fall Phineas Gage der im neunzehnten Jahrhundert lebte und dessen Gehirn von einer Eisenstange durchbohrt wurde - belegt dies. Der Meister der Fallgeschichte war Sigmund Freud, der die Psychoanalyse auf der Basis von Einzelfällen wie denen von Anna O., dem Rattenmann, dem Wolfsmann und anderen entwickelte. Wissenschaftler haben gezeigt, daß Freuds Erzählungen oftmals erheblich von der Wahrheit abwichen. Fallgeschichten lieferten auch verzerrte Vorstellungen von Fluctin und anderen Psychopharmaka, von den Zusammenhängen zwischen Genen und Persönlichkeit und auch von der Rolle, die die natürliche Selektion als Triebfeder menschlichen Verhaltens spielt. Zudem hat die große Mehrzahl der Wissenschaftler, die den menschlichen Geist erforschen, weder die Begabung noch die Lust, ihre Untersuchungsergebnisse in literarischer Weise darzustellen. Vielleicht sollten sie sich als Techniker betrachten, genauso wie Brückenbauer, Schaltkreiskonstrukteure und Autohersteller. Techniker suchen nicht nach der Antwort, der - 366
absoluten, endgültigen, unumstößlichen Wahrheit - das Streben danach kann sogar ein Hemmnis für den Fortschritt sein. Vielmehr suchen Techniker nach einer Antwort, nach irgend etwas, das ihnen hilft, ein anstehendes Problem zu lösen oder abzumildern. Wenn sich die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Geistes derart bescheidene Ziele setzte, könnte sie dieselben Vorzüge erwerben, die Fluctin (fälschlicherweise) zugeschrieben wurden: stark verbesserte Wirksamkeit und minimale Nebenwirkungen.
Die Sehnsucht nach einer Offenbarung Letztlich hängt die Zukunft der Wissenschaft vom menschlichen Geist von der jungen Generation ab, und wer weiß schon, welche Richtung sie unter ihrem Einfluß einschlagen wird? Im Jahr 1998 bat mich die Verwaltung des Massachusetts Institute of Technology, bei einem studentischen Aufsatzwettbewerb als Gutachter zu fungieren. Die Studenten sollten zwei Bücher lesen – Science: The Endless Frontier, ein 1945 von dem Physiker Vannevar Bush geschriebener Lobgesang auf den unerschöpflichen Schatz der Wissenschaft, und mein pessimistischer Traktat An den Grenzen des Wissens – und dann ihre eigenen Ansichten über die Zukunft der Wissenschaft darlegen. Die Aufsätze waren größtenteils geradezu unheimlich sachkundig, stringent und ideenreich. Viele Studenten stellten die Wissenschaft vom menschlichen Geist als ein besonders vielversprechendes Forschungsgebiet heraus, ohne jedoch potentielle Schwierigkeiten unerwähnt zu lassen. »Ich glaube fest an eine kurz bevorstehende kognitive Revolution«, sagte ein Aufsatzschreiber, wies aber auch warnend darauf hin, daß die Forscher durch eine zu enge und zu mechanistische Sicht des menschlichen Geistes behindert werden könnten. Ein anderer Schreiber befürchtete, der Fortschritt auf dem Gebiet - 367
der Künstlichen Intelligenz könne sowohl durch die Grenzen der Siliziumchip-Technologie als auch durch eine zunehmende Technologiefeindlichkeit in der Gesellschaft blockiert werden. Der meines Erachtens beste Aufsatz verknüpfte Betrachtungen zur Kosmologie, Künstlichen Intelligenz, Theologie mit Erinnerungen an die schöne, aber egoistische frühere Freundin des Verfassers. Der Autor beschloß seinen Aufsatz mit der Vorhersage, daß »die Zukunft der Wissenschaft in bewußtseinsverändernden Substanzen liegt«. Er berief sich dabei auf den britischen Autor Aldous Huxley, der Mitte der fünfziger Jahre nach Einnahme der psychedelischen Substanz Meskalin erklärte, solche »Erfahrungen können von niemandem ignoriert werden, der ernsthaft versucht, die Welt, in der er lebt, zu verstehen«15. (Ich schlug diesen Aufsatz für eine Auszeichnung vor, wurde jedoch von den anderen Juroren überstimmt.) Meine Erfahrungen mit veränderten Bewußtseinszuständen haben mich davon überzeugt, daß sie das Rätsel Bewußtsein nicht lösen können. Weit gefehlt, je mehr wir an Intelligenz, Bewußtsein und Einsichtsfähigkeit gewinnen - egal ob durch Drogen oder durch Meditation oder durch Gentechnik oder durch Künstliche Intelligenz -, um so mehr werden wir Bewußtsein, Leben und das Universum als Ganzes – unabhängig von der Macht unserer wissenschaftlichen Erklärungen in sprachloser Ehrfurcht bestaunen. Wittgenstein hat diesen Gedanken prägnant zum Ausdruck gebracht: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.«16 Das soll nicht heißen, daß ich mich nicht noch immer nach dem Offenbarungserlebnis sehne, das mit einem Schlag alles erklärt. Auf der Konferenz in Tucson im Jahr 1994 bewegte ich mich für kurze Zeit am Rand einer solchen Offenbarung. Es war mein letzter Abend auf der Konferenz, und ich verzehrte mit einem halben Dutzend anderer Konferenzteilnehmer, die meisten davon Wissenschaftsjournalisten wie ich, Burritos - 368
und Bier im Garten eines Restaurants. Obwohl den ganzen Tag glühende Hitze geherrscht hatte, war der Abend kühl. Wir redeten über die Konferenz und waren uns darin einig, daß keine(r) der Redner(innen) wußte, wovon er/sie eigentlich gesprochen hatte; die Wissenschaftler und Philosophen hatten einen ratlosen und unschlüssigen Eindruck gemacht. Gewiß, einige Vorträge waren interessanter gewesen als andere. Ein Höhepunkt war Andrew Weils Bericht über seine unglaublichen Heldentaten. Meine Tischgenossen schienen dem Guru der Alternativmedizin darin beizupflichten, daß Bewußtsein niemals von außen, sondern nur von innen, nicht durch Wissenschaft, sondern nur durch Erfahrung erklärt werden könne. Wir begannen Anekdoten über unsere eigenen Erlebnisse mit exotischen bewußtseinserweiternden Substanzen auszutauschen - LSD, Rauschpilze, Meskalin und Peyote. Ein Journalist mit gezwirbeltem Kinnbart und Nasenring versicherte uns, daß Ketamin, das manchmal auch Vitamin K genannt wird, die stärksten bewußtseinsverändernden Rauscherlebnisse überhaupt auslöse. Ketamin war die Droge, die es dem Neurowissenschaftler John Lilly, einem Pionier der Delphinforschung und Entdecker von Methoden der sensorischen Deprivation, ermöglicht hatte, die außerirdischen Wesen zu erkennen, die unsere Wirklichkeit beherrschen. Lilly beschrieb die Wesen als Feststoffmaschinen, die einen dimensionslosen Hyperraum aus reinem Bewußtsein bewohnten und beunruhigt seien wegen der Mißhandlung von Delphinen und anderen Tieren durch den Menschen.17 Als sich unser Gespräch dem Ende zuneigte, näherte sich ein großer Mann mit Schnurrbart, der ein ärmelloses, mit blauen Blumen gesprenkeltes Hemd trug, unserem Tisch. Er trug einen Apparat, der aus einer Videobrille und Kopfhörern bestand. Er nannte ihn VAEB - für Visuelle/Auditive Entspannung und Beruhigung. Er sagte uns, er sei Arzt am Gesundheitswissenschaftlichen Zentrum der Universität von Arizona. - 369
Er hatte das Gerät zusammen mit einer Gruppe von Kollegen entwickelt und erprobte seine Fähigkeit, Patienten in körperlichen oder psychischen Streßsituationen zu beruhigen. Reklamebroschüren, die ich später sah, beschrieben das Gerät als ein »nichtinvasives, nichtpharmakologisches Mittel zur Erzeugung von Entspannungs- und/oder hypnogogen Zuständen [...] VAEB benutzt einen programmierbaren Impulsgenerator, der Signale an einen Kopfhörer und ein LED-Okular sendet. Dem Patienten werden synchronisierte visuelle und auditive Reize (Lichtblitze und beschwingte Töne) wechselnder Frequenz dargeboten.« Als er fragte, ob es jemand von uns ausprobieren wolle, meldete ich mich freiwillig. Nachdem mir der Mann geholfen hatte, den Kopfhörer und die Brille anzuziehen, drückte er auf einen Schalter. Klang- und Farbreize stürzten auf mich ein, wie aus unterirdischen Tiefen aufsteigend. Die Töne schwollen an und ab, und auch die Farben änderten sich unaufhörlich, von Rot zu Blau zu Purpurrot zu Gelb und wieder zurück zu Rot. Die Klänge und Farben verschmolzen; sie wurden in gewissem Sinne ununterscheidbar, zwei Seiten derselben inneren Empfindung. Ich hörte Stimmen, ein mattes Gelächter, aber sie schienen von weit weg zu kommen, aus einer anderen Welt, einer anderen Dimension. Ich konzentrierte mich nur auf diese elementaren Empfindungen in meinem Kopf, die pulsierten und sich wandelten, wie das Juwel der Schöpfung, sich ständig verändernd und doch immer gleich bleibend, unbeschreiblich schön. Ich blickte ins Innerste des Bewußtseins - nicht bloß meines Bewußtseins, sondern des Bewußtseins schlechthin. Hier lag der Schlüssel zu allem, darauf wartend, entdeckt zu werden, wenn ich nur genau genug hinsähe. Ich spürte das Nahen eines Offenbarungserlebnisses, eine große Enthüllung, die allem mit einem Mal Sinn gäbe. »Machen Sie ein Foto von ihm und schicken Sie es an seinen Chef beim Scientific American]« rief - 370
jemand, worauf ein allgemeines Gejohle und schallendes Gelächter einsetzte. Ich bemerkte, daß mein Mund offenstand, und machte ihn schleunigst zu. Langsam, widerstrebend legte ich Brille und Kopfhörer ab und kehrte zurück in die Wirklichkeit.
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ANHANG
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Anmerkungen
EINLEITUNG 1 Zitiert nach Quotationary, hg. von Leonard Frank, New York 1999, S. 756. Frank nennt als Quelle Russells 1935 erschienenes Buch Religion and Science. 2 Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller, Frankfurt a. M. 1993, S. 81 f. 3 Stent schrieb zwei Bücher über die Grenzen der Wissenschaft: The Corning of the Golden Age, Garden City, New York 1969, und Paradoxes of Progress, San Francisco 1978. Vgl. den Abschnitt über Stent in meinem Buch An den Grenzen des Wissens, München 1997, S. 23-34. 4 Stent, The Corning of the Golden Age, S. 24. 5 Ich traf Lewis Wolpert am 8. Mai 1997 an der London School of Economics bei einem Empfang im Anschluß an einen Vortrag des Evolutionsbiologen John Maynard Smith. Nachdem Wolpert mich ausgescholten hatte, kam ein bärtiger Hüne, der ein T-Shirt und Bluejeans trug, auf mich zu. Er sagte, er heiße Geoff Carr und sei Wissenschaftsredakteur beim Economist. Dann meinte er, er könne nicht verstehen, weshalb sich einige Leute derart über mein Buch aufregten. Selbst wenn die Wissenschaft an ihr Ende komme, blieben uns immer noch Sex und Bier. Am 19. Mai, nachdem ich aus England abgereist war, veröffentlichte die Londoner Zeitung Evening Standard eine Rezension, in der Wolpert seine Einwände gegen An den Grenzen des Wissens auf eine etwas sachlichere Weise formulierte. Er schrieb: »Schon der Titel des Kapitels ›Das Ende der Neurowissenschaften‹ stellt eine so törichte Behauptung auf, daß es nachgerade komisch ist. Horgan interviewt ein paar führende Wissenschaftler wie Edelman, Crick und Penrose, doch die Erörterung der tatsächlichen Erkenntnisse der Gehirnforschung fällt oberflächlich aus und zudem sind die befragten Wissenschaftler völlig unterschiedlicher Meinung. Dies verdeutlicht, wie weit der Weg ist, der noch vor uns liegt.« 6 Sherwin Nuland, Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?, München 1994, S.386. 7 Weltgesundheitsorganisation, Pressemitteilung, 23. August 1996. 8 Unlocking the Secrets of the Brain, Druckschrift, veröffentlicht von der American Psychiatrie Association anläßlich ihrer Jahrestagung 1996. 9 Mayr erörterte die Grenzen der Biologie in Eine neue Philosophie der Biologie, München 1991.
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10 Thomas Kuhn legte seine Anschauung von der Wissenschaft dar in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1973. 11 Clifford Geertz, »Learning with Bruner«, in: New York Review of Books, 10. April 1997, S. 22. 12 Charles Gross, Brain, Vision, Memory: Tales in the History of Neuroscience, Cambridge 1998, S. 12. 13 Lewis Wolpert, The Unnatural Nature of Science, Cambridge 1993, S.134. 14 Am 18. Mai 1998 am California Institute of Technology. 15 Vgl. An den Grenzen des Wissens, S. 59-73. KAPITEL 1: DIE ERKLÄRUNGSLÜCKE DER NEUROWISSENSCHAFT 1 Tom Wolfe, In Our Time, New York 1980, S. 21. 2 Platon, Phaidon, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Stuttgart 1992, S. 66. 3 In: Pacific Philosophical Quarterly 64,1983, S. 354-361. 4 Informationen über die Society for Neuroscience erhält man auf ihrer Web-site: www.sfn.org. 5 Das Zitat stammt aus einer Pressemitteilung, die am 14. April 1998 per E-mail an Journalisten geschickt wurde. 6 Interview vom 18. November 1997 an der Harvard-Universität. 7 Daniel Dennett, Philosophie des menschlichen Bewußtseins, Hamburg 1994,S. 571. 8 Interview vom 12. November 1997 an der Rockefeller-Universität. 9 »Next, the Decade of Behavior?«, in: Science, 16. Januar 1998, S. 311. 10 Vgl. Geoffrey Montgomery, »President Torsten Wiesel«, in: Search (ein Magazin der Rockefeller-Universität), Frühjahr 1992, S. 9-11. 11 Ein Bericht über die Forschungsarbeiten von Karl Lashley und anderen über das Gedächtnis findet sich in In the Palaces of Memory von George Johnson, New York 1992. Einen ausgezeichneten Überblick über die Gedächtnisforschung gibt auch Daniel Schacter in seinem Buch Searching for Memory, New York 1996. 12 Ich interviewte Karl Friston telefonisch am 20. April 1998. 13 Interview vom 28. April 1998 an der New-York-Universität. 14 David Hubel, Eye, Brain and Vision, New York 1988, S. 220. 15 Ich interviewte Patricia Goldman-Rakic am 19. Dezember 1997 an der Yale-Universität. Einen Überblick über ihre Forschungen gibt sie in ihrem Beitrag »Working Memory and the Mind«, in: Scientific American, September 1992, S. 111-117. In: Scientific American, August 1997, S. 78-83. Der Leserbrief zu diesem Artikel wurde im Dezemberheft desselben Jahrgangs, S. 8, ver-
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öffentlicht. Als Chris Bremser, ein bekannter Informatiker aus San Francisco, diesen Abschnitt des Kapitels in der Rohfassung las, meinte er: »Jeder, der auch nur entfernt etwas mit Programmierung zu tun hat, wird erkennen, daß diese Erklärungslücke exakt dem Unterschied zwischen Maschinencode (Einsen und Nullen) und den tatsächlichen Programmen entspricht. Jeder kann ein Oszilloskop an den Speicher des Computers anschließen, doch ohne die Programmkonstrukte auf höherer Ebene zu kennen (beziehungsweise abzuleiten), wird er nichts herausfinden. Douglas Hofstadter erörtert diesen Punkt in Gödel, Escher, Bach in sehr ausführlicher Weise.« Joseph LeDoux, Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen, München 1998, S. 28. Ich interviewte LeDoux am 6. Februar 1998 an der New-York-Universität. Vgl. Schacter, Searching for Memory, S. 214. LeDoux, Das Netz der Gefühle, S. 20. Antwort von LeDoux auf eine Nachricht, die ich auf einer Webs-site namens »The Edge« veröffentlichte: www.edge.org. Antonio R. Damasio, Descartes' Irrtum, München 1997, S. 24. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 31 f. Sharon Begley, »Is Everybody Crazy?«, in: Newsweek, 26. Januar 1998, S. 52. Vgl. Robert Ornstein, The Right Mind, New York 1997, S. 87-96. Ebenda, S. 90 f. Michael Gazzaniga, The Social Brain, New York 1985. Michael Gazzaniga, »The Split Brain Revisited«, in: Scientific American, Juli 1998, S. 50-55. Abigail Zuger, »Removing Half of Brain Improves Young Epileptics' Life«, in: New York Times, 19. August 1997. Jack Pressman, Last Resort, New York 1998, S. 434. »Penetrating Insight into the Brain«, in: Science, 2. Oktober 1998, S. 39. Isaac Asimov's Book of Science and Nature Quotations, hg. von Isaac Asimov und Jason Shulman, New York 1988, S. 228. Daniel Goleman »Brain Structure Differences Linked to Schizophrenia in Study of Twins«, in: New York Times, 22. März 1990, S. B 15. Veröffentlichung der MRT-Studie: Richard Suddath u.a., »Cerebral Anatomical Abnormalities in Monozygotic Twins Discordant for Schizophrenia«, in: New England Journal of Medicine, 22. März 1990. Jerome Kagan, Galen's Prophecy, New York 1994, S. 274. Richard Robins, Samuel Gosling und Kenneth Craik, »Psychological Science at the Crossroads«, in: American Scientist, Juli/August 1998, S.310-313. V. S. Ramachandran und J. J. Smythies, »Shrinking Minds and Swollen - 377
Heads«, in: Nature, 17. April 1997, S. 667f. 37 Melvyn Bragg, On Giants' Shoulders, London 1998, S. 235 f. 38 Telefonisches Interview am 11. März 1998. 39 Gerald Edelman, Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht, München 1993, S. 208f. 40 Vgl. Johnson, In the Palaces of Memory, S. 59–63. 41 Principles of Neural Science, hg. von Eric Kandel und James Schwartz, New York 1981; Essentials of Neural Science and Behavior, hg. von Eric Kandel, James Schwartz und Thomas Jessell, Stamford, Connecticut, 1995. 42 Kandel sagte selbst zu mir, er habe die Art der Berichterstattung über die Neurowissenschaft im Scientific American und in der New York Times beeinflußt. 43 Stephen Hall, »Our Memories, Our Selves«, in: New York Times Magazine, 15. Februar 1998, S. 30. 44 Ebenda, S. 28. 45 Ebenda. 46 Ebenda, S. 30. 47 Eric Kandel, »A New Intellectual Framework for Psychiatry«, in: American Journal of Psychiatry, April 1998, S. 457-469. Vgl. ders., »Psychotherapy and the Single Synapse«, in: New England Journal of Medicine, 8. November 1979, S. 1028-1037. 48 Interview am 15. Dezember 1997 im New York Psychiatrie Institute. 49 Vgl. »Psychoanalysis and Neuroscience«, Sonderheft des Journal of Clinical Psychoanalysis, hg. von Herbert Wyman und Stephen Rittenberg, Bd. 5, Nr. 3,1996, und Oliver Sacks, »The Other Road: Freud As Neurologist«, in: Freud: Conflict and Culture, hg. von Michael Roth, New York 1998, S. 221-234. Dieses Buch diente als Katalog zur FreudAusstellung der U. S. Library of Congress. 50 Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fliess 1887-1904, ungekürzte Ausgabe, hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986, S. 149. 51 Ders., »Entwurf einer Psychologie« (1895), in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 387. 52 Ders., Briefe an Wilhelm Fliess, S. 158. 53 Ders., Abriß der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen, Einleitung von F.-W. Eickhoff, Frankfurt a. M. 1994, S. 41.
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KAPITEL 2: WARUM FREUD NICHT TOT IST 1 Noam Chomsky, Probleme sprachlichen Wissens, Weinheim 1996, S.154. 2 Die Tagung der Fachgruppe 39 der American Psychological Association fand am 18. April 1996 in New York statt. 3 E. Fuller Torrey, Freudian Fraud, New York 1992, S. 216. 4 Besprechung ohne Namensangabe des Rezensenten in: Nation, Mai 1913,S.503-505. 5 C. Ladd Franklin in: Nation, Oktober 1916, S. 373 f. 6 Artikel ohne Namensangabe des Autors mit dem Titel »An American Expert's Indictment of American Dream Analysis as a Psychological Humbug«, in: Current Opinion, September 1916, S. 34f. 7 Zit. nach Torrey, Freudian Fraud, S. 200. 8 Richard Webster, Why Freud Was Wrong, New York 1995; Malcolm Macmilan, Freud Evaluated, Cambridge 1997; Frederick Crews (Hg.), Unauthorized Freud, New York 1998. 9 Frank Cioffi, »The Freud Controversy«, in Freud: Culture and Conflict, hg. von Michael Roth, New York 1998, S.181. 10 Paul Gray, »Is Freud Dead?«, in: Time, 29. November 1993, S. 47-51. 11 Paul Robinson, Freud and His Critics, Berkeley 1993, S. 269. 12 Vgl. Seymour Fisher und Roger Greenberg, Freud Scientifically Reappraised, New York 1996, S. 8. 13 Richard Robins, Samuel Gosling und Kenneth Craik, »Psychological Science at the Crossroads«, in: American Scientist, Juli/August 1998, S.311. 14 Joseph LeDoux, Im Netz der Gefühle, Steven Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, Daniel Schacter, Searching for Memory. 15 Die American Psychoanalytic Association veröffentlichte diese Daten über die Zahl der Ausbildungskandidaten in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern. Ein optimistischer Bericht über die Lage der Psychoanalyse: Erica Goode, »Return to the Couch: A Revival for Analysis«, in: New York Times, 12. Januar 1999, S. C 1. 16 Alessandra Stanley, »Freud in Russia: Return of the Repressed«, in: New York Times, 11. Dezember 1996, S. A 1. 17 Webster, Why Freud Was Wrong, S. 455. 18 Sigmund Freud, Selbstdarstellung. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, hg. von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt a. M. 1999, S. 56. 19 Ebenda, S. 82. 20 Ebenda, S. 59. 21 Vgl. Peter Gay (Hg.), The Freud Reader, New York 1989, S. 666. - 379
22 Sigmund Freud, »Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds«, in: ders., Studienausgabe, Bd. 5, Sexualleben, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M. 1982, S. 253-272. 23 Ebenda, S. 261 f. 24 Ebenda, S. 263. 25 Edward Dolnick, Madness on the Couch, New York 1998, S. 283. 26 Der »Psycho-Block« in Manhattan erstreckt sich entlang der West 81st Street zwischen Central Park und Amsterdam Avenue. 27 Susan Vaughan, The Talking Cure, New York 1997, S. 4 f. 28 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, »Preface to the third (revised) English Edition« (1931), Englisch im Original, Studienausgabe, Bd. 2, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a. M. 1983, S. 28. 29 Nicholas Wade, »Was Freud Wrong? Are Dreams the Brain's Start-Up Test?«, in: New York Times, 6. Januar 1998, S. F 6. Die Leserbriefe auf diesen Bericht wurden am 12. Januar 1998 abgedruckt. 30 Zur Diskussion des Ödipuskomplexes aus einer evolutionsbiologischen Perspektive vgl. Steven Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, München 1997, S. 552 f. 31 KeithKendrick u.a., »Mothers Determine Sexual Preferences«, in: Nature, 17. September 1998, S. 229f. 32 Telefonisches Interview am 11. Juni 1998. 33 Seymour Fishers Studie über die Analitäts-Hypothese wird auf S. 276 f. zusammengefaßt. 34 Die beiden Aufsätze von Crews erschienen am 18. November 1993 und 1. Dezember 1994. Sie wurden später zusammen mit Briefen, die sie provoziert hatten, als Buch veröffentlicht: Frederick Crews, The Memory Wars, New York 1995. 35 Ebenda, S. 59. 36 Ebenda, S. 39. 37 Ebenda, S. 159. 38 Sigmund Freud, »Zur Ätiologie der Hysterie«, in: ders., Studienausgabe, Bd. 6, Hysterie und Angst, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a. M. 1982, S. 65. 39 Sigmund Freud, »Studien über Hysterie« (1895), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1987, S. 284. 40 Frederick Crews, The Memory Wars, New York 1995, S. 72. 41 Richard Webster, »The Bewildered Visionary«, in: Times Literary Supplement, 16. Mai 1997, S. 10. 42 Ich interviewte Crews am 2. April 1998 in New Haven, Connecticut. 43 Vgl. Sebastiane Timpanaro, »Error's Reign«, in: Unauthorized Freud, S. 94-105. 44 Konferenz am 3. und 4. April 1998 an der Yale-Universität. - 380
45 Das Seminar fand am 18. April 1996 im Waldorf-Astoria statt; die Teilnehmerinnen waren Lynn Passey, Marylou Lionells, Sue Grand, Darlene Bregman Ehrenberg und Jody Messler Davies. 46 Der Sprecher hieß Philip Bromberg, und sein Vortrag firmierte im Veranstaltungsprogramm unter dem Titel »Staying Sane While Changing: Reflections on Clinical Judgement«. Er wies zu Beginn seines Vortrags darauf hin, daß der angekündigte Titel auf einem Druckfehler basiere; eigentlich hätte er »Staying the Same While Changing« lauten sollen. Doch Bromberg sagte, der versehentliche Titel beschreibe, ähnlich einem Freudschen Versprecher, den Vortrag besser als der ursprünglich beabsichtigte. 47 Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), in: Studienausgabe, Bd. 9, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a. M. 1982, S. 188. 48 Fisher und Greenberg, Freud Scientifically Reappraised, S. u f. 49 Interview am 7. Mai 1996 in New York. 50 Torrey, Freudian Fraud, S. 218. 51 Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 32. 52 Harold Bloom, The Western Canon, New York 1994, S. 376 f. 53 Gray, »Is Freud Dead?«, S. 51. 54 Vgl. das hervorragende Crews-Kurzporträt von Adam Begley »Terminating Analysis«, in: Lingua Franca, Juli/August 1994, S. 28. 55 Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller, Frankfurt a. M. 1993, S. 137. 56 Vgl. Howard Gardner, Frames of Mind, New York 1983; ders., Extraordinary Minds, New York 1997. 57 Ich traf Howard Gardner am 19. November 1997 an der Harvard-Universität zu einem Interview. 58 In: New Ideas in Psychology 10, Nr. 2,1992, S. 179-190. 59 Ebenda, S. 180; vgl. ders., »Perennial Antinomies and Perpetual Redrawings: Is There Progress in the Study of Mind?«, in: Science of the Mind: 2001 and Beyond, hg. von R. Solso und D. Massaro, New York 1995, S. 65-78: »Eine sachliche historische Bestandsaufnahme der letzten hundert Jahre zeigt, daß es praktisch kein Gebiet gab, das sich stetig weiterentwickelt hat. Mit mindestens ebenso triftigen Gründen läßt sich behaupten, daß die Geschichte der Psychologie aus einer Abfolge mehrerer miteinander rivalisierender Richtungen und Paradigmen bestand: Funktionalismus, Strukturalismus, Behaviorismus, Psychoanalyse, Gestaltpsychologie und in jüngster Zeit informationstheoretische, konnektionistische und soziobiologische Ansätze. [...] Nach Ansicht von manchen ist dieser Wettstreit zwischen den Schulen unvermeidlich - 381
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und das Kennzeichen einer jungen und dynamischen Wissenschaft, und sie würden dennoch behaupten, daß, unter der Oberfläche, weitreichende Fortschritte gemacht worden sind. Allerdings war diesen Schulen in den meisten Fällen kein sonderlicher Erfolg beschieden, vielmehr war ihre Energie irgendwann erschöpft: Die Namen verschwinden, doch der Wettstreit geht unter neuen Bannern weiter.« (S. 67). Howard Gardner, The Mind's New Science, New York 1985. Adam Phillips, »Paging Dr. Freud«, in: New York Times Book Review, 7. Juni 1998, S. 24. Sigmund Freud, »Die endliche und die unendliche Analyse«, in: Schriften zur Behandlungstechnik, Studienausgabe, Ergänzungsbd., hg. von Alexander Mitscherlich u. a., 5., korrigierte Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S.388. Sigmund Freud, »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, 34. Vorlesung, in: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe, Bd. 1, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M. 1982, S.581.
KAPITEL 3: PSYCHOTHERAPIE UND DIE DODO-HYPOTHESE 1 Buchtitel von James Hillman und Michael Ventura, We 've Had a Hundred years of Psychotherapy and the World's Getting Worse, San Francisco 1993. Der Psychoanalytiker Hillman und der Dichter und Journalist Ventura plädierten mit ihrem Buch für eine Erneuerung von Psychologie und Psychotherapie auf der Grundlage jungianischer Prinzipien. 2 Vgl. Toksoz Karasu, »The Psychotherapies: Benefits and Limitations«, in: American Journal of Psychotherapy 40, Nr. 3, Juli 1986, S. 324-341. 3 Vgl. ders., »Psychotherapies: An Overview«, in: American Journal of Psychiatry, August 1977, S. 851-863. Vgl. ferner Larry Beutler u.a., Am I Crazy, or Is It My Shrink?, New York 1998, S. 99. Beutler und seine Kollegen stellten eine eigenständige Kategorie der interpersonellen Therapien auf, die Karasu als einen Typus psychodynamischer Therapien klassifiziert hatte. Fast täglich kommen neue Psychotherapien auf den Markt. Vgl. Joe Sharkey, »Philosophers Ponder a Therapy Gold Mine«, in: New York Times Week in Review, 8. März 1998, S. 1. In dem Artikel wird berichtet, Philosophen begännen ihre Dienstleistungen als Therapeuten anzubieten. Vgl. auch »You Are Getting Very Confused: Psychologists' Split Decisions«, in: New York Times Week in Review, 14. Juni 1998, S. 7. Der Artikel berichtet über das Buch Escaping the Advice Trap von Wendy Williams und Stephen Ceci, Kansas
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City 1998. Demnach würden verschiedene Therapeuten, denen identische Fälle zur Begutachtung vorgelegt würden, völlig unterschiedliche Diagnosen stellen und den Patienten völlig unterschiedliche Ratschläge geben. Die Autoren, beide Psychologen an der Cornell-Universität, gelangten zu dem Fazit, die Lösung des Problems bestehe nicht darin, auf Psychotherapeuten zu verzichten, sondern mehr als einen zu konsultieren. Vgl. u. a. James Kaplan, »The Final Analysis«, in: New York Magazine, 20. Oktober 1997, S. 26-33. Mark Olfson und Harold Alan Pincus, »Outpatient Psychotherapy in the United States, I: Volume, Costs and User Characteristics«, in: American Journal of Psychiatry, September 1994, S. 1284. Ebenda, S. 1281. »Price Tag: Psychotherapy«, in: New York Times, 4. Februar 1993, S. C 1. Die Times nennt keine Quelle für diese Statistik. Diese Daten stammen aus der jährlichen National Ambulatory Medical Care Survey, die von den Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Health Statistics, durchgeführt wird. Die Gesamtzahl der psychotherapeutischen Behandlungssitzungen, die von Ärzten verabreicht wurden, fiel von über zweiundzwanzig Millionen im Jahr 1989 auf weniger als sechzehn Millionen im Jahr 1996. David Woodwell von der Abteilung Gesundheitsstatistik lieferte diese Daten. Diese Zahlen über verschiedene Typen von Psychotherapeuten sind aus Interviews mit der American Psychiatrie Association, der American Psychological Association und der National Association of Social Workers zusammengestellt. Die Zahl der Sozialarbeiter, die zumindest potentiell qualifiziert sind, Psychotherapien oder sonstige Beratungen durchzuführen, ist sehr viel höher. Vgl. Tana Dineen, Manufacturing Victims, Quebec, 1996. Dineen, eine kanadische Psychologin, berichtete, daß der Prozentsatz der Amerikaner, die einen »Spezialisten für seelische Gesundheit« konsultiert haben, von vierzehn Prozent Mitte der sechziger Jahre auf sechsundvierzig Prozent im Jahr 1995 angestiegen ist; die Zahl der staatlich zugelassenen Psychologen pro Einwohner verdoppelte sich nahezu von 1975 bis 1995.
10 Informationen über den Mental Health Parity Act gibt Robert Pear, »Insurance Plans Skirt Requirement on Mental Health«, in: New York Times, 26. Dezember 1998, S. A 1. 11 Vgl. Stuart Sutherland, »Emotional Displays«, in: Nature, 4. Dezember 1997, S. 459. Sutherland, ein britischer Journalist und Psychologe, der an manisch-depressiver Erkrankung litt und 1998 verstarb, schrieb: »Fallgeschichten können zweifellos eine Quelle für Hypothesen sein, doch diese Hypothesen müssen durch Experimente konkretisiert und - 383
überprüft werden, wenn sie als gültig anerkannt werden sollen. Schließlich stellte Freud, der sich ausschließlich auf Fallgeschichten stützte, die falsche Theorie des Jahrhunderts par excellence auf.« 12 Karasu, »The Psychotherapies: Benefits and Limitations«, S. 335. 13 Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. DSM-IV, Deutsche Bearbeitung und Einleitung von Henning Saß, Hans-Ulrich Wittchen und Michael Zaudig, 4. Aufl., Göttingen u.a.
14 L. J. Davies, »The Encyclopedia of Insanity«, in: Harper's, Februar 1997, S.65. 15 Vgl. Joe Sharkey, »You're Not Bad, You're Sick. It's in the Book«, in: New York Times Week in Review, 28. September 1997. 16 Herb Kutchins und Stuart Kirk, Making Us Crazy, New York 1998, S. 10. 17 Sigmund Freud, »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«, in: Studienausgabe, Bd. i, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a.M. 1982, S. 580f. 18 Ders., »Die endliche und die unendliche Analyse«, in: Schriften zur Behandlungstechnik, Studienausgabe, Ergänzungsbd., hg. von Alexander Mitscherlich u.a., 5., korrigierte Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 368. 19 Janet Malcolm, Psychoanalysis: The Impossible Profession, New York 1982, S. 123. 20 Sigmund Freud, »Wege der psychoanalytischen Therapie«, in: Schriften zur Behandlungstechnik, S. 246. 21 Vgl. Edward Shorter, Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999, S. 464 f. 22 Ebenda, S. 465. 23 In der Beschreibung der Studie von Bachrach u.a. stütze ich mich auf ein Interview mit Bachrach von 1996 und auf Material, das er am 7. Februar 1992 auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science in Chicago verteilte. Bachrach und seine Mitarbeiter veröffentlichten ihre Ergebnisse auch im Journal of the American Psychoanalytic Association 39, Nr. 4,1991, S. 871-916. In Freud Scientifically Reappraised schreiben Fisher und Greenberg auf S. 201, daß »es keine Studie über die therapeutische Wirksamkeit der Psychoanalyse gibt, die nicht aufgrund fehlerhafter oder verzerrter Daten als unbrauchbar verworfen werden kann«. 24 E. Fuller Torrey, Freudian Fraud, New York 1992, S. 168 f. 25 Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 466. 26 Vgl. Torrey, Freudian Fraud, S. 218, und den Nachruf auf Eysenck in der New York Times, 10. September 1997, S. A 27. 27 Peter Breggin, Toxic Psychiatry, New York 1991, S. 404.
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28 Lester Luborsky u.a., »Comparative Studies of Psychotherapies: Is It True That ›Everybody Has Won and All Must Have Prizes‹?«, in: Archives of General Psychiatry 32, 1975, S. 995-1008. Ich interviewte Luborsky mehrfach telefonisch über seine Forschungen. 29 Lewis Carroll, Alice im Wunderland, deutsch von Christian Enzensberger, Frankfurt a. M. 1973, S. 30, zit. mit leichten Abänderungen. 30 Saul Rosenzweig, »Some Implicit Common Factors in Diverse Methods of Psychotherapy«, in: American Journal of Orthopsychiatry 6,1936, S.412-415. 31 Lester Luborsky u. a., »The Efficacy of Dynamic Therapies«, in: Psychodynamic Treatment Research, New York 1993, S. 508 f. 32 Ebenda, S.511. 33 Lester Luborsky und Paul Crits-Christoph, Understanding Transference, Washington, D. C, 1998. 34 Luborskys Brief an die New York Review of Books in: Frederick Crews, Memory Wars, New York 1995, S. 102-104; Crews' Erwiderung S. 129 f. 35 Vgl. Einleitung zu The Placebo Effect, hg. von Anne Harrington, Cambridge 1997. Harrington schrieb die Einleitung. 36 Arthur Shapiro und Elaine Shapiro, »The Placebo: Is It Much Ado About Nothing?«, in: The Placebo Effect, hg. von Harrington, S. 13. 37 Ebenda, S. 14. 38 Ebenda, S. 13. Vgl. Arthur Shapiro und Elaine Shapiro, The Powerful Placebo, Baltimore 1997. 39 Leon Hoffman von der American Psychoanalytic Association meinte mir gegenüber, dieses Phänomen, daß neuere Medikamente einen stärkeren Placebo-Effekt auslösen, könnte mit dem berüchtigten Hawthorne-Effekt zusammenhängen. Der Hawthorne-Effekt wurde bei einer Studie entdeckt, die in einem Betrieb von Western Electric in Hawthorne, Illinois, zwischen 1927 und 1933 durchgeführt wurde. In der Studie ging es darum, herauszufinden, ob sich Änderungen an der Ausstattung des Werks, Einrichtung der Cafeteria und andere Arbeitsbedingungen auf die Produktivität auswirkten. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, daß Änderungen als solche die Stimmung und Produktivität der Arbeiter positiv beeinflußten. Diese »vielzitierte« Studie basierte laut Gina Kolata, »Scientific Myths That Are Too Good to Die«, in: New York Times Week in Review, 6. Dezember 1998, S. 2, auf nur drei Versuchspersonen. 40 Harrington, The Placebo Effect, S. 2 f. 41 Vgl. Walter Brown, »Der Placebo-Effekt«, in: Spektrum der Wissenschaft, März 1998, S. 69. 42 Vgl. Harrington, The Placebo Effect, S. 5. - 385
43 Ebenda, S. 24. 44 Ebenda, S. 23. 45 Jerome Frank und Julia Frank, Persuasion and Healing, 3. Aufl., Baltimore 1993, S. 298. 46 Ebenda, S. 152. 47 Ebenda, S. 66. 48 Ebenda, S. 300. 49 Ebenda, S.42. 50 Ebenda, S. 87-112. 51 Frederick Crews sagte dies während unseres Interviews am 2. April 1998. 52 Martin Seligman teilte mir seine Ansichten über die kognitive Therapie 1996 während eines telefonischen Interviews mit. 53 Karasu, »Psychotherapies: An Overview«, S. 858. 54 Jane Brody, »Changing Thinking to Change Emotions«, in: New York Times, 21. August 1996, S. C 9. 55 M. Katherine Shear u.a., »Cognitive Behavioral Treatment Compared with Nonprescriptive Treatment of Panic Disorder«, in: Archives of General Psychiatry 51,1994, S. 395-401. 56 Mary Smith und Gene Glass, »Meta-analysis of Psychotherapy Outcome Studies«, in: American Psychologist 32,1977, S. 752-760. Zu dieser Studie vgl. Robyn Dawes, House of Cards, New York 1994, S. 50. 57 »Specific Versus Non-specific Factors in Psychotherapy«, in: Archives of General Psychiatry 36, 1979, S. 1125-1136, zitiert nach Dawes, House of Cards, S. 56. 58 Dawes, House of Cards, S. 5. Ich führte mehrere telefonische Interviews mit Robyn Dawes. 59 Ebenda, S. 146. 60 Abgedruckt im Vorwort zu Daniel Fishman, The Case for Pragmatic Psychology, New York 1999. 61 Torrey, Freudian Fraud, S. 251. 62 Ebenda. 63 Ich besuchte das Hudson River Psychiatrie Center am 29. September 1997. Ich danke meinen Freunden Jan und Alan Peterson dafür, daß sie mich auf das Museum des Zentrums aufmerksam machten. 64 Vgl. Fox Butterfield, »Prisons Replace Mental Hospitals for the Nation's Mentally 111«, in: New York Times, 5. März 1998, S. A i. E. Füller Torrey, »The Release of the Mentally 111 from Institutions: A Well-intentioned Disaster«, in: Chronicle of Higher Education, 13. Juni 1997, S. B 4-5. Torrey und andere, die sich für die Belange von psychisch Kranken einsetzen, verschärften im Sommer 1998, nachdem Schizophrene mehrere in den Medien weidlich behandelte Morde begangen hatten, ihre Kritik an der Gemeindepsychiatrie. Vgl. Wray - 386
Herbert, »Fearsome Madness«, in: U. S. News & World Report, 10. August 1998, S. 53 f. In diesem Bericht wird Laurie Flynn von der National Alliance for the Mentally 111 mit der Aussage zitiert, es sei vielleicht an der Zeit, »das alte Konzept der Nervenheilanstalt aus der Schublade hervorzuholen, um die psychisch Kranken und die Gesellschaft zu schützen«.
KAPITEL 4: FLUCTIN UND ANDERE PLACEBOS 1 Das Antidepressivum Fluctin (Wirkstoff Fluoxetin) wird auf dem USamerikanischen Markt unter der Bezeichnung »Prozac« vertrieben und hat in Amerika Furore gemacht. (A. d. Ü.) 2 Peter D. Kramer, Glück auf Rezept, München 1995, S. 322. 3 Edward Shorter, Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999, S. 7. 4 John Marchall, »A Shrinking Discipline«, in: Nature, 27. März 1997, S. 346. Für eine wirklich vernichtende Besprechung von Shorter vgl. Andrew Scull, »Chlorpromazine Is No Penicillin«, in: Times Literary Supplement, 16. Mai 1997, S. 8 f. 5 The Freud Reader, hg. von Peter Gay, New York 1989, S. 9. 6 Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 292 und 371. 7 Ebenda, S. 294. 8 Ebenda, S. 313-322. 9 Ebenda, S. 324. 10 Ebenda, S. 303-313. 11 Vgl. Thomas Burton, »Drug Makers' Goal: Prozac Without the Lag«, in: Wall Street Journal, 27. April 1998, S. B i. 12 Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 312. 13 Ebenda, S. 302. 14 Ebenda, S. 3 71 f. 15 Ebenda, S. 297. 16 Ebenda, S. 268. 17 Ebenda, S. 335. 18 Ebenda, S. 422. 19 Harold Sackheim u.a., »Electroconvulsive Therapy«, in: Psychopharmacology: The Fourth Generation of Progress, hg. von Floyd Bloom und David Kupfer, New York 1995, S. 1123. 20 Zitiert nach Judith Hooper und Dick Teresi, The Three-Pound Universe, New York 1986, S. 40. 21 Elliot Valenstein, Great and Desperate Cures, New York 1986, S. 229. 22 Wray Herbert, »Psychosurgery Redux«, in: U.S. News & World Report, 3. November 1997, S. 63.
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23 Ebenda. 24 Jack Pressman, Last Resort, New York 1998, S. 406. Peter Breggin, Toxic Psychiatry, New York 1991, S. 31 f. Breggin erklärte, Freeman habe ihm gegenüber diese Schätzung in einem Telefongespräch geäußert. 26 Valenstein, Great and Desperate Cures, S. 231. 27 Ebenda, S. 274. 28 Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 386. 29 Ebenda, S. 382 f. 30 Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1994, S. 77. 31 Seymour Fisher und Roger Greenberg (Hg.), From Placebo to Panacea, New York 1997, S. 116. 32 Geoffrey Cowley, »A Breakthrough Drug for Depression«, in: Newsweek, 26. März 1990. 33 Einen ausführlichen Bericht über die negativen Schlagzeilen, die Fluctin machte, und die anschließenden Anhörungen vor der FDA bieten Peter Breggin und Ginger Ross Breggin, Talking Back to Prozac, New York 1994. 34 Lucette Lagnado, »Drug Sales Can Leave Elderly a Grim Choice: Pills or Other Needs«, in: Wall Street Journal, 17. November 1998, S. A 15. 35 Die PR-Abteilung von Eli Lilly gab mir am 12. August 1998 telefonisch diese Information über den weltweiten Umsatz von Fluctin. 36 Susan Aldridge, »Blooming Business for Happy Pills«, in: Chemistry and Industry, 1. Dezember 1997. 37 Barbara Strauch, »Use of Antidepression Medicine for Young Patients Has Soared«, in: New York Times, 10. August 1997, S. A 1. Laut eines Artikels stieg der Umsatz von Fluctin für Kinder von 1995 bis 1996 um 298 Prozent. 38 John Sommers-Flanagan und Rita Sommers-Flanagan, »Efficacy of Antidepressant Medication with Depressed Youth: What Psychologist Should Know«, in: Professional Psychology: Research and Practice 27,2,1996,S.145-153. 39 Arianna Huffington, »Peppermint Prozac«, in: U.S. News and World Report, 18. August 1997, S. 28. 40 Peter Kramer, »The New You«, in: Psychiatric Times, März 1990, S. 45 f. 41 Breggin und Breggin, Talking Back to Prozac, S. 3. 42 Das Symposion an der New School fand am 5. Oktober 1995 statt. 43 Kramer, Glück auf Rezept, S. 27. 44 Ebenda, S. 31. 45 Vgl. Breggin und Breggin, Talking Back to Prozac, S. 6 f. 46 Robert Wright, »The Coverage of Happiness«, in: New Republic, 14. März 1994, S. 24-29. - 388
47 Gregory Simon u. a., »Initial Antidepressant Choice in Primary Care«, in: Journal of the American Medical Association, 26. Juni 1996, S. 1897-1902. 48 S.A. Montgomery u.a., »Selective Serotonin Reuptake Inhibitors: Meta-analysis of Discontinuation Rates«, in: International Clinical Psychopharmacology 9,1995, S. 47-53. 49 J.C. Nelson, »Are the SSRIs Really Better Tolerated Than the TCAs for Treatment of Depression?«, in: Psychiatric Annals 24, 1994, S. 631, zitiert nach Fisher und Greenberg, From Placebo to Panacea, S. 124. 50 Daten über die sexuellen Nebenwirkungen von Fluctin und anderen Medikamenten bietet Jane Brody, »When Depression Lifts But Sex Suffers«, in: New York Times, 15. Mai 1996, S. C 7, ferner Robert Segraves, »Sex and the Depressed Patient«, in: Current Canadian Psychiatry and Neurology, Mai 1995, S. 7-13. 51 Theresa Crenshaw und James Goldberg, Sexual Pharmacology: Drugs That Affect Sexual Function, New York 1996, S. 286. 52 »Prozac Works on Clams and Mussels«, in: Science News, 24. Januar 1998, S. 63. 53 Kramer, Glück auf Rezept, S. 360. 54 David Antonuccio u.a., »Psychotherapy Versus Medication for Depression: Challenging the Conventional Wisdom with Data«, in: Professional Psychology: Research and Practice 26, Nr. 6,1995, S. 574-585. 55 Philip Boffey, »Psychotherapy Is As Good As Drug in Curing Depression, Study Finds«, in: New York Times, 14. Mai 1986, S. A i. 56 Irene Elkin u.a., »Science Is Not a Trial (But It Can Sometimes Be a Tribulation)«, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 64, Nr. 4,1996, S. 92. 57 Irene Elkin, »The NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Program: Where We Began and Where We Are«, in: Handbook of Psychotherapy and Behavior Change, 4. Aufl., hg. von A. D. Bergin und S. L. Garfield, New York 1994, S. 130. 58 Ebenda, S. 125. 59 Ebenda, S. 131. 60 Telefonisches Interview mit Kramer im Juli 1996. 61 Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 311. 62 »Mental Health: Does Therapy Help?«, in: Consumer Reports, November 1995, S. 734-739. 63 Martin Seligman, »The Effectiveness of Psychotherapy«, in: American Psychologist, Dezember 1995, S. 965-974. 64 Vgl. Harold Koenig u.a., »Religiosity and Remission of Depression in Medically 111 Older Patients«, in: American Journal of Psychiatry, April - 389
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1998, S. 536-542. Fisher und Greenberg erörtern die Antidepressiva-Forschung ausführlich in dem Kapitel »Mood-Mending Medicines: Probing Drug, Psychotherapy and Placebo Solutions« und anderen Abschnitten ihres Buches From Placebo to Panacea. Roger Greenberg u.a., »A Meta-analysis of Antidepressant Outcome Under ›Blinder‹ Conditions«, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology 60, Nr. 5,1992, S. 664-669. Fisher und Greenberg, From Placebo to Panacea, S. 362. Die Schlußfolgerungen der Autoren werden bestätigt in Irving Kirsch und Guy Sapirstein, »Listening to Prozac But Hearing Placebo«, in: Prevention and Treatment 1, Artikel 0002a. Die American Psychological Association hat diesen Artikel im World Wide Web unter http://journals.apa.org/ prevention/volume1/preoo1ooosa.html verfügbar gemacht. Fisher und Greenberg, From Placebo to Panacea, S. 157. Ebenda, S. 150. Kay Jamison, An Unquiet Mind, New York 1995. Fisher und Greenberg, From Placebo to Panacea, S. 150. J. Moncrieff, »A Re-examination of the Placebo-Controlled Trials of Lithium Prophylaxis in Manie-Depressive Disorder«, in: British Journal of Psychiatry 167, 1995, S. 572, zitiert nach Fisher und Greenberg, From Placebo to Panacea, S. 156. Ebenda, S. 157. Scull »Chlorpromazine Is No Penicillin«, S. 9. DHHS Publication No. (ADM) 92-1950, hg. von Deborah Dauphinais, National Institute of Mental Health, Bethesda, Maryland, 1992, S. 5. Ich danke Walter Brown von der Brown-Universität dafür, daß er mir den Unterschied zwischen extrapyramidalen Wirkungen und Spätdyskinesie erklärt hat. Vgl. David Cohen, »A Critique of the Use of Neuroleptic Drugs in Psychiatry«, in: Fisher und Greenberg, From Placebo to Panacea, S.173-228. Ebenda, S. 176. Ebenda, S. 213. Ebenda, S. 371. Walter Brown, »Der Placebo-Effekt«, in: Spektrum der Wissenschaft, März 1998, S. 70. Walter Brown, »Placebo as a Treatment for Depression«, in: Neuropsychopharmacology 10, Nr. 4,1994, S. 265-288. Der Beitrag von Brown löste zahlreiche Leserzuschriften aus, auf die Brown wiederum antwortete. Ebenda, S. 267. Die von Brown zitierte Studie: L.C. Park und L. Covi, »Nonblind Placebo Trial: An Exploration of Neurotic Patients' Responses to - 390
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Placebo When Its Inert Content Is Disclosed«, in: Archives of General Psychiatry 12,1965, S. 336-345. Brown, »Placebo as a Treatment for Depression«, S. 267. Ebenda, S. 272. Ebenda, S. 280. Ebenda, S. 288. Jack Pressman, Last Resort, New York 1998. Vgl. Frank Vertosick, »Lobotomy's Back«, in: Discover, Oktober 1997, S. 66-72; ferner Wray Herbert, »Psychosurgery Redux«, in: U. S. News and World Report, 3. November 1997, S. 63 f. Die Arbeitsgruppe Zingulotomie am Massachusetts General Hospital beschreibt ihre Arbeit auf der Web-site http://brain.mgh.harvard.edu:100/cingulot.htm. Ich interviewte Harold Sackheim am 1. Oktober 1997 am New York State Psychiatrie Institute. Sackheim und zwei Mitautoren verfaßten einen ausgezeichneten Übersichtsartikel über die Elektroschocktherapie in »Electroconvulsive Therapy«, in: Psychopharmacology: The Fourth Generation of Progress, hg. von Floyd Bloom und David Kupfer, New York 1995, Kap. 95. Shorter, Geschichte der Psychiatrie, S. 427. Eine Persönlichkeit des Showgeschäfts, die öffentlich die Wirksamkeit der Elektrokrampftherapie zur Behandlung ihrer Depression gepriesen hat, ist Dick Cavett. In einem Interview, das am 3. August 1992 in People erschien, bezeichnete der ehemalige Gastgeber einer Talkshow die Elektroschockherapie als »wunderwirkend wie ein Zauberstab«. Vgl. Sackheim u.a., »Electroconvulsive Therapy«, S. 1134. Ich beobachtete am 10. Oktober 1997 Patienten, die am New York State Psychiatrie Institute mit der Elektroschocktherapie behandelt wurden. »Setting the ECT Stimulus«, in: Psychiatrie Times, Juni 1995, S. i. Vgl. Peter Breggin und Ginger Ross Breggin, The War Against Children, New York 1994. Kramer, Glück auf Rezept, S. 14. Ebenda, S. 13. Ebenda, S. 14. KAPITEL 5: GEN-MAGIE James Collins, »Oedipus, Schmoedipus. The Fault, Dear Sigmund, May Be in Our Genes«, in: Time, 9. Dezember 1996, S. 74. In diesem Artikel wird über die Entdeckung eines Neurosegens berichtet. Informationen über das Tay-Sachs-Syndrom kann man auf der Website der March of Dimes Foundation abrufen: http://www.noah.cuny. edu/pregnancy/march_of_dimes/birth_defects/taysachs.html.
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»How to Tell If Your Child 's a Serial Killer«, Donahue, ausgestrahlt am 25. Februar 1993. Understanding and Preventing Violence, hg. von Albert Reiss und Jeffrey Roth, Washington, D. C, 1993. Vgl. die Geschichte des Doppel-YSyndroms in Stephen Jay Gould, Der falsch vermessene Mensch, Frankfurt a. M. 1999, S. 153-156. Zitiert nach Roger Shattuck, Forbidden Knowledge, New York 1996, S.178. Leon Jaroff, »Happy Birthday, Double Helix«, in: Time, 15. März 1993, S.57. Daniel Koshland schrieb unter anderem folgende Leitartikel über Verhaltensgenetik in Science: »Nature, Nurture, and Behavior«, 20. März 1987, »Sequences and Consequences of the Human Genome«, 13. Oktober 1989, und »The Rational Approach to the Irrational«, 12. Oktober 1990. Vgl. zum Beispiel Dorothy Nelkin und M. Susan Lindee, The DNA Mystique, New York 1995. Adam Phillips, »What, Me Not Worry?«, in: New York Times, 13. Dezember 1996, S. A 39.
10 Eine vorzügliche Geschichte der Eugenik, die auch Informationen über Galton, Davenport und andere frühe Anhänger dieser Lehre enthält, ist Daniel Kevles, In the Name of Eugenics, New York 1985. 11 Vgl. »Here, of All Places«, in Economist, 30. August 1997, S. 36. 12 Einen hervorragenden Überblick über Zwillingsstudien gibt Lawrence Wright, Twins, New York 1997. 13 Thomas Bouchard u.a., »Sources of Human Psychological Differences: The Minnesota Study of Twins Reared Apart«, in: Science, 12. Oktober 1990, S. 223. 14 Wright, Twins, S. 143. Das Verblüffende an Wrights weitreichender Schlußfolgerung war die Tatsache, daß er in seinem Buch eine Vielzahl von Befunden präsentierte, die einen derart radikalen genetischen Determinismus entkräfteten. 15 Wright, Twins, S. 69 f. 16 Kritische Stellungnahmen zur Zwillingsforschung wie an der Universität von Minnesota bieten Paul Billings u.a., »The Genetic Analysis of Human Behavior: A New Era?«, in: Social Science and Medicine 35, Nr. 3,1992, S. 227-238, und Val Dusek, »Bewitching Science«, in: Science for the People, November/Dezember 1987, S. 19-22. 17 Ich interviewte Leon Kamin mehrfach telefonisch und 1993 persönlich. 18 Zu den Berichten, die fälschlicherweise angaben, daß sich die beiden kichernden britischen Schwestern und die beiden Brüder, von denen der eine als Nazi und der andere als Jude aufgezogen worden war, zum ersten - 392
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Mal in Minneapolis begegnet seien, gehören Constance Holden, »Identical Twins Reared Apart«, in: Science, 21. März 1980, S. 1323-1328, und Cynthia Gorney, »The Twins«, in: Washington Post, 10. Dezember 1979. Leon Kamin behauptete, daß sich die kichernden Schwestern sowie der nationalsozialistisch und der jüdisch erzogene Bruder bereits vor ihrer Zusammenführung in Minnesota begegnet waren und miteinander korrespondiert hatten (was ich durch telefonische Interviews bestätigen konnte). Bezüglich der Rolle der öffentlichen Aufmerksamkeit für die Forschungen der Minnesota-Gruppe vgl. ferner Gail Golden, »Scientists Split over Twins as Lab Subjects«, Chicago Tribune, 6. September 1988, S. C 1. Ein Produzent aus Los Angeles namens Anthony Mason sagte mir 1993, er habe eine Option auf die Rechte an der Lebensgeschichte von Oskar und Jack erworben und diese an Hearst Entertainment weiterverkauft. Vgl. Wright, Twins, S. 57. Ebenda, S. 131 f. Wendy Doniger, »What Did They Name the Dog?«, in: London Review of Books, 19. März 1998, S. 32. Die statistischen Daten über die Erblichkeit der Schizophrenie stammen aus Peter McGuffin u.a., »Genetic Basis of Schizophrenia«, in: Lancet, 9. September 1995, S. 678-682. Einen ausgezeichneten Überblick über die Methoden, die zum Aufspüren einzelner Gene eingesetzt werden, geben Jerry Bishop und Michael Waldholz in Genome, New York 1990. Janice Egeland u. a., »Bipolar Affective Disorders Linked to DNA Markers on Chromosome 11«, in: Nature, 26. Februar 1987, S. 783-787. Miron Baron u. a., »Genetic Linkage Between X-Chromosome Markers and Bipolar Affective Illness«, in: Nature 326,1993, S. 289-292. John Kelsoe u. a., »Re-evaluation of the Linkage Relationship Between Chromosome up Loci and the Gene for Bipolar Affective Disorder in the Old Order Amish«, in: Nature, 16. November 1989, S. 238-243. Miron Baron u.a., »Diminished Support for Linkage Between Manic Depressive Illness and X-Chromosome Markers in Three Israeli Pedigrees«, in: Nature Genetics, Januar 1993, S. 49-55. Die zwei zu gegensätzlichen Ergebnissen kommenden Beiträge über Schizophrenie, die beide am 10. November 1988 in Nature erschienen, sind R. Sherrington u.a., »Localization of a Susceptibility Locus for Schizophrenia on Chromosome 5«, S. 164-167, und James Kennedy u.a., »Evidence Against Linkage of Schizophrenia to Markers on Chromosome 5 in a Northern Swedish Pedigree«, S. 167-170. Hugh Curling vom University College und der Middlesex School of Medicine in London, einer der Autoren der 1988 in Nature publizierten - 393
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Studie, die einen Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Chromosom fünf feststellte, sagte mir bei einem telefonischen Interview im Jahr 1993, die neuen Daten rechtfertigten die Annahme eines solchen Zusammenhangs nicht länger. Telefonisches Interview mit Peter McGuffin am 3. März 1998. David Dickson, »Panel Urges Caution on Genetic Testing for Mental Disorders«, in: Nature, 24. September 1998, S. 309. E. Fuller Torrey, Freudian Fraud, New York 1992, S. 227. Sigmund Freud, »Ergänzungen zur Selbstdarstellung« (1935), in: ders., Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt a. M. 1987, S. 764. Vgl. Michael Winerip, »Schizophrenia's Most Zealous Foe«, in: New York Times Magazine, 22. Februar 1998, S. 26-29. Vgl. Robert Kunzig, »It Kills Horses, Doesn't It?«, in: Discover, Oktober 1997, S. 97-105. Helena Samaia u. a., »A Prion-Based Psychiatric Disorder«, in: Nature, 20. November 1997, S. 241. Bruce Bower, »New Culprits Cited for Schizophrenia«, in: Science News, 3. Februar 1996, S. 68. Kenneth Blum u.a., »Allelic Association of Human Dopamine D2 Receptor Gene in Alcoholism«, in: Journal of the American Medical Association, 18. April 1990, S. 2055-2060. Lawrence Altman, »Scientists See a Link Between Alcoholism and a Specific Gene«, in: New York Times, 18. April 1990, S. A 1. Joel Gelernter, David Goldman und Neil Risch, »The A1 Allele at the D2 Dopamine Receptor Gene and Alcoholism: A Reappraisal«, in: Journal of the American Medical Association 269,1993, S. 1673-1677. Ich sprach 1993 telefonisch mit Neil Risch, der damals an der Yale-Universität tätig war. Telefonisches Interview mit Gottesman im Jahr 1993. Eine Liste der Erkrankungen, die mit dem D2-Marker in Verbindung gebracht werden, stellt Kenneth Blum u.a. auf in »Reward Deficiency Syndrome«, in: American Scientist, März/April 1996, S. 132-145. Dean Hamer und Peter Copeland, Das unausweichliche Erbe, Bern u. a. 1998, S. 172. Dean Hamer u.a., »A Linkage Between DNA Markers on the X Chromosome and Male Sexual Orientation«, in: Science 261, 1993, S.321-327. Dean Hammer und Peter Copeland, The Science of Desire, New York 1994. S. Hu u.a., »Linkage Between Sexual Orientation and Chromosome Xq28 in Males But Not in Females«, in: Nature Genetics 11, 1995, S. 248-256. - 394
49 Über diese Befunde von Ebers und Rice wurde erstmals von Eliot Marshall berichtet, »NIH's ›Gay Gene‹ Study Questioned«, in: Science, 30. Juni 1995, S. 1841. In dem Beitrag heißt es auch, daß das Office of Research Integrity des Department of Health and Human Services ein Ermittlungsverfahren gegen Hamer eingeleitet habe. Das Verfahren wurde erstmals von John Crewdson in »Study on ›Gay Gene‹ Challenged«, Chicago Tribune vom 25. Juni 1995, S. C l, öffentlich bekanntgemacht. Crewdson berichtete, daß ein Mitautor des 1993 erschienenen Aufsatzes von Hamer über männliche Homosexualität ihm eine fehlerhafte Auswertung der Daten vorgeworfen habe. Das Verfahren wurde später eingestellt. 50 Alan Sanders u.a., »Genetic Linkage Study of Male Homosexual Orientation«, wurde auf der Jahrestagung 1998 der American Psychiatrie Association in Toronto als Poster präsentiert. Sanders wechselte Anfang 1999 vom National Institute of Mental Health an die Universität Chicago. 51 Hamer und Copeland, Das unausweichliche Erbe, S. 234. 52 Der Aufsatz über Neugierverhalten, an dem Hamer als Koautor mitwirkte: J. Benjamin u. a., »Population and Familial Association Between D4 Dopamine Receptor Gene and Measures of Novelty Seeking«, in: Nature Genetics 12,1996, S. 81-84. Im selben Heft erschien ein weiterer Beitrag, in dem eine ähnliche Behauptung erhoben wurde: R. Ebstein u.a., »Dopamine D4 Receptor (D4Dr) Exon III Polymorphism Associated with the Human Personality Trait of Novelty Seeking«, S. 78-80. Der Beitrag über Angst, an dem Hamer als Koautor mitwirkte: Klaus-Peter Lesch u.a., »Association of Anxiety-Related Traits with a Polymorphism in the Serotonin Transporter Gene-Regulatory Region«, in: Science 274,1996, S. 1527-1531. 53 Vgl. Anil Malhotra u.a., »The Association Between the Dopamine D 4 Receptor (D4DR) 16 Amino Acid Repeat Polymorphism and Novelty Seeking«, in: Molecular Psychiatry i, 1996, S. 388-391, und Michael Pogue-Geile u. a., »Human Novelty-Seeking Personality Traits and Dopamine D4 Receptor Polymorphisms: A Twin and Genetic Association Study«, in: American Journal of Medical Genetics 81,1998, S. 44-48. Über die Studie von Pogue-Geile berichtete erstmals Sharon Begley, »Born Happy?«, in: Newsweek, 14. Oktober 1996, S. 79. 54 Hintergrundinformationen über Cyril Burt findet man bei Kevles, In the Name of Eugenics. 55 Bernie Devlin u.a., »The Heritability of IQ«, in: Nature, 31. Juli 1997, S. 468-471; vgl. Sharon Begley, »Wombs with a View«, in: Newsweek, 11. August 1997, S. 61. 56 Charles Murray und Richard Herrnstein, The Bell Curve, New York - 395
1994. 57 Vgl. Stephen Jay Gould, »Curveball«, in: New Yorker, 28. November 1994, S- 139-149, und das Sonderheft von The New Republic, 31. Oktober 1994. 58 Noam Chomsky, Probleme sprachlichen Wissens, Weinheim 1996, S. 159 f., Hervorhebung J. H. 59 In »Intelligence: Knowns and Unknowns«, einem Bericht der American Psychological Association, der im August 1995 veröffentlicht wurde, stieß ich erstmals auf eine Beschreibung des Flynn-Effekts. Später erfuhr ich, daß Murray und Herrnstein den Flynn-Effekt in The Bell Curve kurz erwähnt und beiläufig als unerheblich für ihre Argumentation abgetan hatten. Flynn legte seine Daten vor in »Massive IQ Gains in 14 Nations: What IQ Tests Really Measure«, in: Psychological Bulletin 101, 1987, S. 171-191. Vgl. meinen Beitrag, »Get Smart, Take a Test«, in: Scientific American, November 1995, S. 12 f. Ich interviewte Flynn 1995 per E-mail und Fax. 60 Telefonisches Interview mit Arthur Jensen 1995. 61 Vgl. Christopher Jencks und Meredith Phillips, »The Black-White Test Score Gap: Why It Must Be Closed. Why It Can Be«, in: The American Prospect, September/Oktober 1998, S. 44-53. 62 Robert Matthews, »Genning Up on Genius Genes«, in: Sunday Telegraph, 24. Januar 1993, S. 9. Der Artikel berichtete über eine Konferenz in London, auf der Plomin seine Ergebnisse vorgestellt hatte. 63 Robert Plomin u.a., »A Quantitative Trait Locus Associated with Cognitive Ability in Children«, in: Psychological Science 9, 1998, S. 159-166. Vgl. Robert Plomin und John Defries, »The Genetics of Cognitive Abilities and Disabilities«, in: Scientific American, Mai 1998, S.62-69. 64 Diese Äußerung stammt von John Kihlstrom, einem Psychologen von der Universität von Kalifornien in Berkeley, zitiert nach Nicholas Wade, »First Gene to Be Linked with High Intelligence Is Reported Found«, in: New York Times, 14. Mai 1998. 65 Hamer, Das unausweichliche Erbe, S. 352. 66 Lee Silver, Das geklonte Paradies, München 1998, S. 330. 67 W. French Anderson, »Human Gene Therapy«, in: Nature, Beilage zu Bd. 392, 30. April 1998, S. 25. 68 Robert Weinberg wurde zitiert in »Hype Surrounds Genomics Inc.«, in: Science, 7. Februar 1997, S. 770. 69 Interview mit Jerome Kagan am 18. November 1997 an der HarvardUniversität. 70 Jerome Kagan, Galen's Prophecy, New York 1994, S. XXI. 71 Ebenda, S. 263. - 396
Zitiert nach Carl Degler, In Search of Human Nature, New York 1991, S. 15. Deglers Buch ist eine Fundgrube an Informationen über die Geschichte des genetischen Determinismus in Wissenschaft und Gesellschaft. 73 Ebenda, S. 11. 74 Darwins Brief ist abgedruckt in Richard Weikart, »A Recently Discovered Darwin Letter on Social Darwinism«, in: Isis 86,1995, S. 609-611. 75 Richard Webster, Why Freud Was Wrong, New York 1995, S. 457.
KAPITEL 6: DARWIN, RETTE UNS! 1 Gerald Edelman, Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht, München 1995, S. 70. [Quelle unklar, Anm.d.Lektors] 2 Die Konferenz der Human Behavior and Evolution Society fand vom 28. Juni bis 2. Juli 1995 an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara statt. 3 Vgl. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1998, S. 676. 4 In seinem Vortrag zum Thema »Das Badewasser und das Baby: Stellenwert und Grenzen des Kulturbegriffs in der Human-Verhaltensökologie« zog Crank insbesondere den Anthropologen Clifford Geertz vom Institute for Advanced Study ins Lächerliche. 5 Die Formulierung stammt von Boyd Eaton von der Emory-Universität. 6 Singh publizierte seine Ergebnisse erstmals in »Adaptive Significance of Female Physical Attractiveness«, in: Journal of Personality and Social Psychology 65, 1993, S. 293-307. Daten, die im Widerspruch zu Singhs These stehen, wurden veröffentlicht von Douglas Yu und Glenn Shepard, »Is Beauty in the Eye of the Beholder?«, in: Nature, 26. November 1998, S. 321 f. 7 Telefonisches Interview mit Cosmides und Tooby im Mai 1995. Ich sprach außerdem mit ihnen auf der HBE S-Konferenz im Juni und kommunizierte mit ihnen per Fax. 8 The Adapted Mind, hg. von Jerome Barkow, Leda Cosmides und John Tooby, New York 1992, S. 23. Einer der bekanntesten Kritiker der Evolutionspsychologie ist Stephen Jay Gould von der Harvard-Universität. Vgl. seinen Aufsatz »Let's Leave Darwin Out of It«, in: New York Times, 29. Mai 1998. Gould griff die Evolutionspsychologie auch in zwei aufeinanderfolgenden Artikeln in der New York Review of Books an: »Darwinian Fundamentalism«, 12. Juni 1997, und »Evolution: The Pleasures of Pluralism«, 26. Juni 1997. Vgl. den Briefwechsel, der in den Heften vom 14. August und 9. Oktober veröffentlicht wurde. Gould räumte ein, daß Menschen
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»Tiere sind und der Geist das Produkt der Evolution ist, daher müssen alle wißbegierigen Menschen das Streben nach einer Evolutionspsychologie unterstützen. Doch die Bewegung, die diesen Namen für sich in Anspruch nimmt, hat ein verhängnisvoll beschränktes Verständnis von der Bedeutung und dem Anwendungsbereich evolutionsbiologischer Erklärungen.« Wenn die Evolutionspsychologen weiterhin nachdrücklich auf ihren verstiegensten Behauptungen bestünden, so die Prognose von Gould, »werden sie eines Tages das Schicksal der Freudianer erleiden, die auch einige wertvolle Erkenntnisse zutage förderten, aber dann spektakulär scheiterten und Leid über Millionen von Menschen brachten (unter anderem Frauen, die als frigide abgestempelt wurden, wenn sie aus physiologischen Gründen nicht in der Lage waren, den Übergang vom klitoralen zum vaginalen Orgasmus zu vollziehen), weil sie eine Theorie von begrenzter Gültigkeit in den Rang einer unumstößlichen Weltanschauung erhoben, die eher einer nicht überprüfbaren und unwandelbaren Religion als einer Wissenschaft glich.« Leider hat Goulds Polemik - und die Erwiderungen darauf - mehr Verwirrung als Klarheit geschaffen. Es ging ihm weniger um eine sachliche Würdigung der Evolutionspsychologie als vielmehr um das Begleichen alter Rechnungen und um die Förderung seiner äußerst eigenwilligen Beiträge zur Evolutionstheorie. Dazu gehören die Theorie vom durchbrochenen Gleichgewicht, die Kontingenztheorie, wonach die Evolution nicht nur von der natürlichen Selektion, sondern auch von Asteroideneinschlägen und anderen unvorhersehbaren Zufallsereignissen gestaltet wird, und die Theorie der »Zwickel«, bei denen es sich um nichtadaptive Nebenprodukte der Evolution handelt (Zwickel ist eigentlich ein architektonischer Terminus, der den dreieckigen Raum zwischen einem Bogen und dem Bauwerk, in das er integriert ist, bezeichnet). Goulds Rhetorik sorgt für weitere Unscharfen. Einmal verspottete er zwei seiner Gegner (den Journalisten Robert Wright und den Philosophen Daniel Dennett): »Unmittelbar nach König Heinrichs aufwühlender Rede am Sankt-Crispins-Tag auf dem Schlachtfeld von Agincourt sorgt Shakespeare für komische Entspannung, als Falstaffs früherer Diener Pistol durch lautes Bluffen und Posieren ein Lösegeld herausholt. Pistols eigener Diener macht daraufhin die berühmte Bemerkung: ›Das Sprichwort stimmt: Das hohle Gefäß macht den größten Lärm.‹« Gould schmückte seine Schmähungen mit einer ähnlich schlagfertigen Antwort: »Doch wie sagte doch T. H. Huxley über Richard Owen in einer Parodie auf Drydens Vers über Alexander den Großen, der, betrunken, in einem Monolog all seine Schlachten noch einmal kämpft – ›Und dreimal schlug er all seine Feinde in die Flucht, und dreimal erschlug er die - 398
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Erschlagenen‹–: Das Leben ist einfach zu kurz, um sich mehr als zweimal mit dem Erschlagen der Erschlagenen zu befassen.« Gould wollte offenbar die Leser der New York Review mit seiner Bildung beeindrukken, doch ihm unterlief eine Selbstparodie. Steven Pinker, Der Sprachinstinkt, München 1996. Interview mit Pinker am 6. August 1997 in Cambridge, Massachusetts. Steven Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, München 1998, S. 34. Ebenda, S. 577. Ebenda, S. 485. Ebenda, S. 644. Ebenda, S. 597. Ebenda, S. 54. Ebenda, S. 663. Ebenda, S. 688 f. Ebenda, S. 673. Jennifer Egan, »The Thin Red Line«, in: New York Times Magazine, 27. Juli 1997. Ich sprach 1995 mit Noam Chomsky telefonisch über die Evolutionspsychologie. Chomsky erörterte die Evolutionstheorie und menschliches Verhalten in seinem Buch Probleme sprachlichen Wissens, Weinheim 1996. Vgl. den Abschnitt über Chomsky in meinem Buch An den Grenzen des Wissens, München 1997, S. 241-248. Vgl. »›Sociobiology‹ to History's Dustbin?«, in: Science, 19. Juli 1996, S.315. Randolph Nesse von der Universität von Michigan, einer der Begründer der HBES, sagte mir 1995 auch, er und die anderen Mitbegründer hätten den Begriff Soziobiologie wegen seiner negativen Konnotationen bewußt verworfen. Cosmides und Tooby legten die Unterschiede zwischen der Evolutionsbiologie und der Soziobiologie in einem Fax dar, das sie mir 1995 schickten. Vgl. den Abschnitt »Why I Am Not a Sociobiologist«, in David Buss, »Evolutionary Psychology: A New Paradigm for Psychological Science«, in: Psychological Inquiry 1995, S. 1-30. Telefonisches Interview mit Richard Alexander 1995. Vgl. George Williams, Adaptation and Natural Selection: A Critique of Some Current Evolutionary Thought, Princeton 1996. In jüngster Zeit haben mehrere Evolutionstheoretiker versucht, das Modell der Gruppenselektion mit neuem Leben zu erfüllen; vgl. Elliott Sober und David Sloan Wilson, Unot Others, Cambridge 1998. Vgl. William Hamilton, »The Evolution of Altruistic Behavior«, in: American Naturalist 97,1963, S. 354-356. Zitiert nach Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, S. 494. - 399
28 Robert Trivers, »The Evolution of Reciprocal Altruism«, in: Quarterly Review of Biology 46,1971, S. 35-57. 29 H. Allen Orr, »The Softer Side of Sociobiology«, in: Boston Review of Books Oktober/November 1997, S. 44. 30 Leda Cosmides, »The Logic of Social Exchange: Has Natural Selection Shaped How Humans Reason?«, in: Cognition 31,1989, S. 187-276. 31 Ich interviewte James Fetzer auf der Konferenz der HBES 1995 in Santa Barbara. 32 Steven Mithen faßte seine Einwände gegen die Evolutionspsychologie in einem Vortrag auf der HBES-Konferenz zusammen. In seinem Buch The Prehistory of Mind, London 1996, entwickelte er diese Ideen weiter. Eine weitere Kritik an der Evolutionspsychologie haben Peggy La Cerra und Roger Bingham, »The Adaptive Nature of the Human Neurocognitive Architecture«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 95,1998, S. 11290-11294. 33 David Buss, Die Evolution des Begehrens, Hamburg 1994. Meine Kritik an Buss' Annahmen über die weibliche und männliche Sexualität basiert auf Kommentaren, die die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy von der Universität von Kalifornien im Jahr 1995 mir gegenüber machte. 34 Vgl. Martin Daly und Margot Wilson, Homicide, New York 1988, sowie dies., »Evolutionary Social Psychology and Family Homicide«, in: Science, 28. Oktober 1988, S. 519-524. 35 Vgl. »Evolutionists Take the Long View on Sex and Violence«, in: Science, 20. August 1993, S. 987. 36 Ich interviewte Wilson und Daly 1995 mehrmals telefonisch. 37 Vgl. »Tales Twice, Indeed Thrice«, in: New York Times, 6. Dezember 1997, S. B 9. 38 Steven Pinker, »Why They Kill Their Newborns«, in: New York Times Magazine, 2. November 1997, S. 52-54. 39 In: New York Times Magazine, 23. November 1997. 40 Unveröffentlichtes Manuskript, »Evolutionary Adaptationism: Another Biological Approach to Criminal and Antisocial Behavior«, das Martin Daly mir 1996 zuschickte. 41 Eine Gegenüberstellung von Evolutionspsychologie und Verhaltensgenetik entwickeln die Kommentare von David Lykken, einem Verhaltensgenetiker von der Universität von Minnesota, auf der Web-site von Edge: www.edge.org. Lykken kritisierte, daß die Evolutionspsychologen den »merkwürdigen Fehler« begingen, »einfach zu unterstellen, daß die gesamte genetische Vielfalt, die es der natürlichen Selektion erlaubte, das menschliche Gehirn hervorzubringen, mittlerweile erschöpft sei und daß psychische Unterschiede zwischen den Individuen, wie wir sie heute beobachten, ausschließlich umweltbedingt seien [...] Anders gesagt, - 400
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alle menschlichen Säuglinge sollen heute, anders als in der Altsteinzeit, Gehirne besitzen, die, ähnlich wie nagelneue Mac-Computer, darauf warten, programmiert zu werden. Dies ist aus evolutionsbiologischen Gründen extrem unwahrscheinlich. Wenn es eine enorme genetisch bedingte Vielfalt in der Psychologie der Haustiere gibt, wie Darwin selbst bemerkte, aber auch im Körperbau und in der Physiologie des Menschen, wie jedes Kind sehen kann, stellt sich die Frage, wieso das menschliche Gehirn die einzige Ausnahme sein soll.« Randolph Nesse und George Williams, Warum wir krank werden. Die Antworten der Evolutionsmedizin, München 1997, S. 260. Anthony Stevens und John Price, Evolutionary Psychiatry: A New Beginning, London 1996. Steven Rose, »Darwin on the Brain«, in: Nature, 3. April 1997, S. 454f. Napoleon Chagnon, »Life Histories, Blood Revenge, and Warfare in a Tribal Population«, in: Science, 26. Februar 1988, S. 985-992. Vgl. sein klassisches Werk Yanomamo: The Fierce People, New York 1968. Chag-non und ich sprachen 1995 in einem telefonischen Interview über die Ähnlichkeit zwischen seinen Auffassungen und denen Stephen Jay Goulds. Frank Sulloway, Der Rebell der Familie, New York 1996. Ich hörte Sulloway seine Theorie über die Bedeutung der Position in der Geschwisterfolge erstmals am 30. Juni 1995 auf der HBES-Konferenz in Santa Barbara vortragen. Zu den positiven Besprechungen von Der Rebell der Familie gehörten Robert Boynton, »The Birth of an Idea«, in: New Yorker, j. Oktober 1996, S. 72, und Geoffrey Cowley, »First Born, Later Born«, in: Newsweek, 7. Oktober 1996, S. 68-74. Kritische Rezensionen schrieben unter anderem John Modell, »Family Niche and Intellectual Bent«, in: Science, 31. Januar 1997, S. 624 f., und Alan Wolfe, »Birth Order, Schmirth Order«, in: New Republic, 23. Dezember 1996, S.29-35. Sulloway behauptete in einem Interview auf der Web-site »Edge« (www.edge.org.), Gould habe sich in dem Fernsehprogramm Nightline positiv zu der Hypothese, daß sich die Position in der Geburtsfolge auf Persönlichkeitszüge auswirke, geäußert. Cecile Ernst und Jules Angst, Birth Order: Its Influence on Personality, Berlin 1983. Das Zitat von Ernst und Angst findet sich in einem Kommentar von Judith Harris auf der Web-site »Edge«, www.edge.org. Judith Harris, The Nurture Assumption, New York 1998, S. 375. Vgl. die Kontroverse zwischen Sulloway und Harris auf »Edge«, www.edge. org. Ich fand die Kritik von Harris an Sulloway überzeugender als die Kernthese ihres Buches, daß die Persönlichkeit von Kindern hauptsächlich - 401
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von ihren Genen und von Gleichaltrigen geformt werde und weniger von ihren Eltern. Interview mit Steven Pinker am 6. August 1997. Frank Sulloway, Freud. Biologe der Seele, Köln 1982. Einen faszinierenden Vergleich zwischen Evolutionspsychologie und Psychoanalyse zieht Robert Wright, Diesseits von Gut und Böse – The moral animal, München 1996, S. 501-522. Der britische Autor Christopher Badcock versuchte (nicht sehr überzeugend), Psychoanalyse und Evolutionstheorie in Oedipus in Evolution, Oxford 1990, miteinander in Einklang zu bringen; eine amüsante Rezension von Badcocks Buch schrieb V. Reynolds, »Translation from the Greek«, in: Nature, 24. Mai 1990, S. 301. Vgl. Robert Trivers, Social Evolution, Reading 1985. George Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, Frankfurt a.M. u.a. 1976, S. 198. Robert Trivers, »Parent-Offspring Conflict«, in: American Zoologist 14,1974, S. 249-264. Martin Daly und Margot Wilson, »Is Parent-Offspring Conflict SexLinked?«, in: Journal of Personality 58,1990, S. 163-189. David Buss, »The Future of Evolutionary Psychology«, in: Psychological Inquiry 6,1995, S. 86. Vgl. mein Buch An den Grenzen des Wissens, München 1997. Daniel Dennett, Darwins gefährliches Erbe, Hamburg 1997, S. 23. Vgl. mein Buch An den Grenzen des Wissens. Steven Weinberg, Die ersten drei Minuten, München 1992, S. 212. Vgl. William Stevens, »Evolution of Humans May at Last Be Faltering«, in: New York Times, 14. März 1995, S. C 1. Vgl. Christopher Mills, Children of Prometheus, Reading 1998. Zitiert nach Martin Gardner, »Computers Near the Threshold?«, in: Journal of Conscious Studies 3, i, 1996, S. 89-94. Der Aufsatz wurde in Gardners Buch The Night Is Large, New York 1996, nachgedruckt. Darin äußerte der bekannte Wissenschaftsjournalist Gardner seine Zweifel, ob die Künstliche Intelligenz jemals Maschinen mit echtem Bewußtsein und echter Intelligenz hervorbringen könne. Als ich Gardner im Januar 1999 anrief, um mir diese Aussage bestätigen zu lassen, sagte er mir, er betrachte sich selbst als einen »Mysteriker«, also als jemanden, der glaube, daß Willensfreiheit, Bewußtsein und andere Aspekte des Geistes Geheimnisse seien, die sich wissenschaftlich nicht ergründen ließen. Der Standpunkt eines solchen »Mysterikers« wird im folgenden Kapitel erörtert. Vgl. meine Interviews mit Marvin Minsky und Hans Moravec in An den Grenzen des Wissens, S. 294-302 und S. 394-399. - 402
67 Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, S. 13. 68 Ebenda, S. 14. 69 Jerry Fodor, »The Trouble with Psychological Darwinism«, in: London Review of Books, 22. Januar 1998, S. 11-13.
KAPITEL 7: KÜNSTLICHER ALLTAGSVERSTAND 1 Richard Powers, Galatea 2.2, New York 1995, S. 28. Powers' Roman schildert die Bemühungen eines Schriftstellers und Kognitionswissenschaftlers, einen Computer zu bauen, der in der Lage sein soll, Literatur genausogut zu »lesen« wie ein durchschnittlicher Student. 2 Pamela McCorduck, Machines Who Think, San Francisco 1979. Vgl. McCorducks Buch The Fifth Generation, Reading 1983, das sie zusammen mit Edward Feigenbaum geschrieben hat. 3 Frederick Hayes-Roth, »The Machine As Partner of the New Professional«, in: IEEE Spectrum, Juni 1984, S. 28-31. 4 Telefonisches Interview am 22. Januar 1998 mit Hayes-Roth. 5 Ich interviewte Herbert Simon am 25. September 1998 telefonisch. Weitere Informationen in seinen Büchern Die Wissenschaften vom Künstlichen, Berlin 1990, und Modells of My Life, New York 1991. 6 Astro Teller, »Smart Machines, and Why We Fear Them«, in: New York Times, 21. März 1998. 7 Simon sprach am 14. November 1957 bei der Jahrestagung der Operations Research Society of America in Pittsburgh. Der Vortrag basierte auf einem Beitrag, den Simon zusammen mit seinem Kollegen Allen Newell geschrieben hatte: »Heuristic Problem Solving: The Next Advance in Operations Research«, in: Operations Research 6, l, Januar/Februar 1958, S. 1-10. 8 McCorduck, Machines Who Think, S. 188. 9 George Johnson, »The Artist's Angst Is All in Your Head«, in: New York Times Week in Review, 16. November 1997, S. 16. 10 Vgl. meinen Beitrag »The Death of Proof«, in: Scientific American, Oktober 1993, S. 92-103. 11 Mumford äußerte diese Meinung mir gegenüber erstmals im Jahr 1993; im Dezember 1998 teilte er mir per E-mail mit, daß er noch immer zu dieser Aussage stehe. 12 Eine hervorragende Darstellung von Schachcomputern bieten FengHsiung Hsu, Thomas Anatharaman, Murray Campbell und Andreas Nowatzyk, »A Grandmaster Chess Machine«, in: Scientific American, Oktober 1990, S. 44-50. Die Autoren konstruierten Deep Thought, den
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Vorgänger von Deep Blue. 13 Interview mit der Deep-Blue-Forschergruppe im Mai 1996 am Thomas J. Watson Research Center von IBM in Yorktown Heights. 14 Simon, zitiert von Bruce Weber, »A Mean Chess-Playing Computer Tears at the Meaning of Thought«, in: New York Times, 19. Februar 1996, S. A 1. 15 Zu IBMs angeblichem Bestreben, nicht mit Künstlicher Intelligenz in Verbindung gebracht zu werden, vgl. McCorduck, Machines Who Think, S. 159. 16 Für die Hintergrundinformationen über neuronale Netze danke ich Tomaso Poggio, Professor am Fachbereich »Brain Sciences« des MIT und eine Kapazität für neuronale Netze und lernfähige Maschinen. Ich interviewte Poggio am 17. November 1997. 17 Telefonisches Interview mit Hubert Dreyfus am 3. Februar 1998. Eine kritische Haltung zu Dreyfus hat McCorduck, Machines Who Think, S. 180-205. 18 Hubert Dreyfus, What Computers Still Can't Do, Cambridge 1992, S.303. 19 McCorduck, Machines Who Think, S. 200. 20 Dreyfus, What Computers Still Can't Do, S. IX. 21 Ebenda, S. XIV. 22 Ebenda, S. IX. 23 David Stork (Hg.), Hal's Legacy, Cambridge 1997, S. 5. 24 Ebenda, S. 11. 25 Ebenda, S. 49 f. 26 Ebenda, S. 188 f. 27 Ebenda, S. 201 f. 28 Ebenda, S. 371. 29 Ebenda, S. 203. 30 Simson Garfinkel, »Happy Birthday, HAL«, in: Wired, Januar 1997, S. 188. 31 Stork, Hal's Legacy, S. 207. 32 Ebenda, S. 203. 33 Ebenda, S. 206. 34 Paul Wallich, »Silicon Babies«, in: Scientific American, Dezember 1991, S. 134. 35 Garfinkel, »Happy Birthday, HAL«, S. 188. Weitere Informationen über Cyc auf der Web-site, die von Lenats Firma Cycorp unterhalten wird, www.cyc.com. 36 Brooks machte diese Äußerungen, als ich ihn am 17. November 1997 am MIT interviewte. Vgl. das Interview mit Rodney Brooks auf der Web-site »Edge«, www.edge.org. - 404
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Rodney Brooks und Anita Flynn, »Fast, Cheap and Out of Control«, in: Journal of the Interplanetary System 42,1989; »Elephants Don't Play Chess«, in: Robotics and Autonomous Systems 6,1990; »New Approaches to Robotics«, in: Science 253, 1991; »Intelligence Without Representation«, in: Artificial Intelligence 47,1991. Der Philosoph David Rothenberg führte für die von ihm gegründete und herausgegebene Vierteljahresschrift Terra Nova ein fesselndes Interview mit Errol Morris: »Outside the Cage Is the Cage«, in: Terra Nova 3, 2,1998, S. 56-73. Brooks Arbeiten gaben auch den Anstoß zu dem Buch von Kevin Kelly, Out of Control, Reading 1994. Pinker und Bever, zitiert nach John Travis, »Building a Baby Brain in a Robot«, in: Science, 20. Mai 1994, S. 1082. Vgl. Marvin Minsky, Mentopolis, Stuttgart 1990, S. 127. Ich interviewte Minsky 1993 mehrmals persönlich und telefonisch; vgl. das Interview mit Minsky auf der Web-site »Edge«, www.edge.org., und den Abschnitt zu Minsky in meinem Buch An den Grenzen des Wissens, München 1997, S. 294-302. Stephane Zrehen hielt diesen Vortrag im Rahmen des Herbst-Symposions der American Association for Artificial Intelligence im Oktober 1998 in Orlando, Florida, das unter dem Motto stand »Emotional and Intelligent: The Tangled Knot of Cognition«. Sherry Turkle, »Artificial Intelligence and Psychoanalysis: A New Alliance«, in: Daedalus, Winter 1988, S. 245. Turkle hat bereits in ihrem Buch Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur, Reinbek bei Hamburg 1984, Parallelen zwischen der Psychoanalyse und der KI erörtert. Sherry Turkle, Leben im Netz, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 434. McCorduck, Machines Who Think, S. 254. Vgl. Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, S. 407 ff. Dieses Zitat Sutherlands verwendete Francis Crick als Motto für sein Buch Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des menschlichen Bewußtseins, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 6. KAPITEL 8: DAS RÄTSEL BEWUSSTSEIN Die vier Motti stammen der Reihenfolge nach aus folgenden Werken: Daniel Dennett, Philosophie des menschlichen Bewußtseins, Hamburg 1994, S. 531; Steven Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, München 1998, S. 167; ebenda, S. 167; Günther Stent, The Corning of the Golden Age, Garden City 1969, S. 74. Der Tagungsbericht über die Konferenz zum Thema Bewußtsein, die
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vom 12. bis 17. April 1994 in Tucson stattfand, wurde veröffentlicht unter dem Titel Toward a Science of Consciousness: The FirstTucson Discussions and Debates, hg. von Stuart Hameroff u. a., Cambridge 1996. David Freedman porträtierte Steen Rasmussen in »Playing God«, in: Discover, August 1992, S. 35-45. Vgl. Karl Pribram, Brain and Perception, Hillsdale 1991. Danah Zohar, The Quantum Self, New York 1990. Einen kenntnisreichen Überblick über die Forschungen von Benjamin Libet gibt Tor Norretranders in The User Illusion, New York 1998, S. 216-220 und S. 227-238. Francis Crick und Christof Koch, »Toward a Neurobiological Theory of Consciousness«, in: Seminars in Neurosciences 2,1990, S. 263-275. Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, Reinbek bei Hamburg 1997. Vgl. die Diskussion der Hypothesen von Crick und Koch in meinem Buch An den Grenzen des Wissens, München 1997, S. 257-265. Walter Freeman präsentierte sein Modell über Chaos und Gehirn in »The Physiology of Perception«, in: Scientific American, Februar 1991, S. 78-85, und in Societies of Brains, Hillsdale 1995.
10 Das Zitat stammt aus Flanagans Beitrag zu Toward a Science of Consciousness. Vgl. Flanagans Bücher The Science of the Mind, 2. Aufl., Cambridge 1991, und Consciousness Reconsidered, Cambridge 1992. 11 Roger Penrose stellte seine quantenmechanische Theorie des Geistes in folgenden Werken vor: Computerdenken, Heidelberg 1991; Schatten des Geistes, Heidelberg 1995, und The Large, the Small and the Human Mind (das auch Beiträge anderer Autoren enthält), New York 1997. Scharfe Kritik an Penroses Erklärungsansatz übten unter anderem Philip Anderson, »Shadows of Doubt«, in: Nature, 17. November 1994, S. 288 f., und Hilary Putnam, »The Best of All Possible Brains«, in: New York Times Book Review, 20. November 1994, S. 7; vgl. mein Buch An den Grenzen des Wissens, S. 280-285. 12 Vgl. David Chalmers, »The Puzzle of Conscious Experience«, in: Scientific American, Dezember 1995, S. 80-87 (Der Aufsatz wird von einem Kommentar von Francis Crick und Christof Koch begleitet), und The Conscious Mind, New York 1996. Für eine kritische Rezension von Chalmers Buch vgl. John Searle, »Consciousness and the Philosophers«, in: New York Review of Books, 6. März 1997, S. 43-50. Searle lehrt als Philosoph an der Universität von Kalifornien in Berkeley und ist ein führender Kritiker der starken KI-Hypothese. Am bekanntesten ist vielleicht sein außerordentlich einflußreiches Gedankenexperiment »Chinesisches Zimmer«, das er in »Is The Brain's Mind a Computer Programm?«, in: Scientific American, Januar 1999, S. 26-31, ausführte. (Auf Searles Beitrag - 406
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folgte eine gewundene Widerlegung der Philosophen Paul und Patricia Churchland, »Could a Machine Think?«, ebd., S. 32-37.) Searle verglich einen Computer, der einen Turing-Test absolviert, mit einem Menschen in einem Zimmer, der kein Chinesisch versteht, aber ein Handbuch besitzt, mit dessen Hilfe er Fragen und Anweisungen auf chinesisch in chinesische Antworten überträgt. Er empfängt eine ihm unverständliche Folge von chinesischen Buchstaben, die bedeutet »Was ist Ihre Lieblingsfarbe?«. Sein Handbuch sagt ihm, daß er diese Symbole mit einer anderen Folge von Symbolen beantworten solle, die, was er ebenfalls nicht weiß, »blau« bedeutet. In derselben Weise, so Searle, verwendeten Computer Symbole, ohne ihre Bedeutung zu verstehen; daher könnten Computer nicht in dem Sinne »denken«, wie wir es täten. Meines Erachtens hat Searle die starke KI-Annahme damit jedoch keineswegs widerlegt. Vielmehr hat er lediglich daraufhingewiesen, wie schwer es für einen Computer sei, den Turing-Test zu bestehen. Ein Handbuch, das alle möglichen Fragen, die auf chinesisch geäußert werden können, sowie alle plausibel klingenden Antworten auf jede Frage auflisten könnte, wäre nahezu unendlich lang. Wie soll der Mensch auf alle eingehenden Fragen schnell genug antworten, um die Personen außerhalb des Raumes davon zu überzeugen, daß er wirklich Chinesisch versteht? Crick, Was die Seele wirklich ist, S. 327. Zitiert nach Louis Menand, »William James and the Case of the Epileptic Patient«, in: New York Review of Books, 17. Dezember 1998, S. 82. Telefonisches Interview mit Noam Chomsky im Jahr 1995. Er erörterte das Geist-Körper-Problem, die kognitiven Grenzen der Wissenschaft, lösbare versus unlösbare Probleme und ähnliche Ideen in Probleme sprachlichen Wissens, Weinheim 1996, S. 131-165. Daniel Dennett, »Facing Backwards on the Problem of Consciousness«, in: Journal of Consciousness Studies 3,1,S. 4-6. Pinker, Wie das Denken im Kopf entsteht, S. 695 f. Vgl.Christof Koch, »Hard-HeadedDualism«, in: Nature, 19. Mai 1996, S. 124. Interview mit Colin McGinn im August 1994 in New York City. Vgl. Weils Beitrag in Toward a Science of Consciousness. Sigmund Freud, »Das Unbehagen in der Kultur«, in: Studienausgabe, Bd. 9, hg. von Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a. M. 1982, S. 197. Ebenda, S. 204. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997, S.48. Ebenda, S. 51. Ebenda, S. 390 f. Ebenda, S. 183. - 407
27 Ebenda, S. 183. 28 Vgl. Menand, »William James and the Case of the Epileptic Patient«. 29 Brian Josephson, »Physics and Spirituality: The Next Grand Unification?«, in: Physics Education 22,1987, S. 15-19. 30 Brian Josephson, »Religion in the Genes«, in: Nature, 15. April 1993, S. 583. Weitere Publikationen von Josephson sind »Skepticism and Psi: A Personal View«, in: Behavioral and Brain Sciences 10,4,1987, S. 594, »Has Psychokinesis Met Science's Measure?«, in: Physics Today, Juli 1992, S. 15, und »Consciously Avoiding the X-factor«, in: Physics World, Dezember 1996, S. 45. 31 Interview mit Josephson am 14. April 1994 in Tucson. 32 Ich interviewte David Bohm im August 1992. 33 Vgl. den Beitrag von Josephson u.a., Toward a Science of Consciousness.
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EPILOG: DIE ZUKUNFT DER WISSENSCHAFTLICHEN ERFORSCHUNG DES GEISTES Max Planck, »Wissenschaft und Glaube« (1930), in: ders., Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1970, S. 247. Francis Crick, Was die Seele wirklich ist, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 17. Philip Anderson, »More Is Different«, in: Science, 4. August 1972, S. 393. Interview mit Howard Gardner am 19. November 1997 an der HarvardUniversität. Interview mit Eric Kandel am 15. Dezember 1997 am New York Psychiatric Institute. James Gleick, Richard Feynman. Leben und Werk des genialen Physikers, München 1993, S. 472. Als ich das Manuskript dieses Buches bereits weitgehend abgeschlossen hatte, stieß ich auf ein Buch, das meine Sicht der Wissenschaft im allgemeinen und der Disziplinen, die sich mit der Erforschung des Geistes befassen, im besonderen in Frage stellte. In Die Einheit des Wissens (Berlin 1998) kehrte der Evolutionsbiologe Edward Wilson von der Harvard-Universität zu einem Thema zurück, das er bereits über zwanzig Jahre früher in Sociobiology (Cambridge 1975) angeschnitten hatte. Er erklärte, es sei an der Zeit, das Ziel der Aufklärung, alle Zweige des Wissens - also nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch Philosophie, Geschichtswissenschaft, Theologie und andere Geisteswissenschaften - zu einem widerspruchsfreien System zu vereinheitlichen. Wilson definierte »Konziliation«, einen Begriff, den er von dem im neunzehnten Jahrhundert lebenden Philosophen William Whewell - 408
übernahm, als »buchstäblichen ›Zusammensprung‹ des Wissens durch die interdisziplinäre Verkettung von Fakten und den darauf basierenden Theorien mit dem Zweck, eine allgemeine Erklärungsgrundlage zu schaffen«(S. 15). Wilsons Vorschlag warf zwei Fragen auf: erstens diejenige, ob das Vorhaben machbar ist. Wenn die Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften vereinigt werden können, wird dies zweifellos über jene Disziplinen erfolgen, die sich mit dem menschlichen Geist befassen. Eingedenk dieser Tatsache führte Wilson eine Bestandsaufnahme der Verhaltensgenetik, der Evolutionspsychologie, der Künstlichen Intelligenz und der Neurowissenschaft durch. Er kam zu dem Schluß, daß, obgleich das Wissen über unseren Geist fragmentarisch bleibe, die Einzelteile doch eines Tages zu einer kohärenten Theorie zusammengefaßt würden. »Es wäre möglich, daß die große Synthese sehr bald kommt, aber ebenso, daß sie mit quälender Langsamkeit noch Jahrzehnte auf sich warten läßt.« (S. 147) Man beachte, daß Jahrzehnte die pessimistische Schätzung ist. Doch angesichts der erbitterten Kontroversen zwischen so nahe verwandten Disziplinen wie der Soziobiologie und der Evolutionspsychologie stellt sich die Frage, wie groß die Aussichten auf eine Vereinheitlichung etwa von Elementarteilchenphysik und Literaturwissenschaft sind. Selbst wenn wir einstweilen annehmen, daß die von Wilson ins Auge gefaßte Vereinigung möglich sei, stellt sich die Frage, ob dies auch wünschenswert ist. Anders gesagt, welchen Nutzen haben wir davon? Wilson scheute sich nicht zu erklären: »Es lohnt sich - vor allem im gegenwärtigen Winter unserer kulturellen Unzufriedenheit -, die Frage zu stellen, ob der ursprüngliche Geist der Aufklärung (Zuversicht, Optimismus, Augen auf den Horizont gerichtet) zurückerobert werden kann. Mindestens ebenso lohnend aber ist die logische Gegenfrage, ob er zurückerobert werden sollte, wenn bereits über den ersten Aufklärungskonzepten der Todesengel schwebte, wie so manche behauptet haben. Könnte es sein, daß gerade der aufklärerische Idealismus zu jenem Terror beigetragen hat, welcher den furchtbaren Alptraum des totalitären Staates ankündigte?« (S. 31 f.) Doch Wilson beantwortete die von ihm aufgeworfenen Fragen nicht. Seine große Hoffnung schien darin zu bestehen, daß wir durch Selbsterkenntnis dazu veranlaßt würden, eine für ihn besonders vordringliche Erkenntnis anzunehmen: »Je mehr wir uns von Ersatzmechanismen zum Erhalt unseres Lebens und unserer Biosphäre abhängig machen, um so fragiler werden wir uns und unsere Umwelt gestalten. Je mehr Leben wir von dieser Erde verbannen, um so ärmer wird unsere Spezies fürderhin sein.«(S. 398) Es ist nicht zu ersehen, wie man diesem achtbaren Ziel - der Erhaltung der Natur - durch die Entdeckung und Anerkennung einer einheitlichen Theorie aller - 409
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Wissenschaften auf der Basis von Evolutionsbiologie, Genetik und Neurowissenschaft näher kommen könnte. Viele Personen, die, was die Realisierbarkeit und Erwünschtheit einer solchen Theorie anbelangt, nicht mit Wilson übereinstimmen, machen sich seine Vorstellungen vom Umweltschutz bereitwillig zu eigen. Umgekehrt geht vielen, die sich seiner reduktionistischen Sicht des Menschen anschließen, seine Umweltschutzethik zu weit. In der Tat schadet Wilson der Sache des Umweltschutzes vielleicht sogar, indem er sie so vehement mit seiner reduktionistischen, ja deterministischen Sicht der menschlichen Natur verknüpft. Ironischerweise schien Wilson, als ich ihn 1994 interviewte, zu glauben, daß eine endgültige Theorie der menschlichen Natur womöglich weder wünschenswert noch realisierbar sei (vgl. mein Buch, An den Grenzen des Wissens, S. 231-241). Er befürchtete, eine solche Theorie untergrabe »unser aufgeblasenes Selbstbild und unsere Hoffnung auf grenzenloses Wachstum in der Zukunft«; sie bedeute vielleicht auch das Ende der Biologie, jener Disziplin, die sein Leben mit Sinn erfüllt habe. Wilson hatte dieses Dilemma dadurch gelöst, daß er das Postulat aufstellte, der Geist könne niemals vollständig verstanden werden; die Wechselwirkung zwischen Natur und Umwelt, Genen und Kultur stellten »einen riesigen unerschlossenen Bereich der Wissenschaft und der menschlichen Geschichte [dar], dessen Erkundung nie an ein Ende kommen würde.« Nicht in Jahrzehnten, sondern niemals. Das Für und Wider der Fusionsenergie wurde in der Rubrik »Leserbriefe« von Physics Today im März und Mai 1997 kontrovers diskutiert. Die Debatte ging im Maiheft mit einem Brief zu Ende, der gemeinsam von drei herausragenden Fusionsforschern verfaßt wurde: William Parkins, James Krumhansl und Chauncey Starr. Sie erklärten: »Im Fall der Kernspaltung ermöglichte eine Reihe außergewöhnlich glücklicher technischer Umstände die heutige Kernkraftindustrie. Im Fall der Kernfusion scheint eine Reihe sehr unglücklicher Randbedingungen die künftige Energiegewinnung auf der Basis des Fusionsprinzips zu verhindern.« Vgl. John Bailar und Heather Gornik, »Cancer Undefeated«, in: New England Journal of Medicine, 29. Mai 1997, S. 1569-1574. In dem Artikel wird berichtet, die altersbereinigte Krebssterblichkeit in den Vereinigten Staaten habe seit 1970 um sechs Prozent und seit 1950 um mehr als acht Prozent zugenommen. Werden die Sterblichkeitsziffern nicht altersbereinigt, fällt die Zunahme noch viel alarmierender aus. Elliot Valenstein, Great and Desperate Cures, New York 1986, S. 249. Zitiert nach Richard Webster, Why Freud Was Wrong, New York 1995, S. 444 f. Ich sprach im Herbst 1997 kurz telefonisch mit Sacks. Trotz seiner antireduktionistischen Sympathien hat Sacks immer wieder seine Bewun- 410
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derung für eine umstrittene Theorie der Kognition, die von dem Nobelpreisträger Gerald Edelman, dem Direktor des Neurosciences Institute in La Jolla, Kalifornien, vertreten wird, zum Ausdruck gebracht. Vgl. zu Edelman mein Buch An den Grenzen des Wissens, S. 266-278. Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Reinbek bei Hamburg 1990, S. II. Ders., Ein Anthropologe auf dem Mars, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 16. Aldous Huxley, The Doors of Perception and Heaven and Hell, New York 1990, S. 84. Huxley schrieb die beiden Essays, aus denen das Buch besteht, in den fünfziger Jahren. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 84. Zu John Lilly vgl. seine beiden Autobiographien The Center of the Cyclone, New York 1973, und The Scientist, Berkeley 1988.
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Literaturhinweise
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Wright, Robert, Diesseits von Gut und Böse. The Moral Animal. Die biologischen Grundlagen unserer Ethik, München 1996.
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Danksagung
Ich danke allen, die mir durch ihre Kritik an diesem Buch wichtige Anregungen gegeben haben. Dazu gehören Chris Bremser, Walter Brown, Robyn Dawes, Hubert Dreyfus, Roger Greenberg, Fred Guterl, Judith Harris, Jerome Kagan, Christof Koch, Mindy Kornhaber, Eric Kramer, Robert Plomin, Phil Ross, David Rothenberg, Ellen Shell, Gary Stix, Karen Wright und Robert Wright. Selbstverständlich stehen sie nicht unbedingt hinter den Aussagen des Buches, und für alle Fehler trage ich die alleinige Verantwortung. Ich danke auch meinem Lektor, Stephen Morrow, und meinem Agenten,]ohn Brockman, für ihre persönliche und fachliche Unterstützung. Und ein besonderes Dankeschön an Suzie, die mich so gut kennt.
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Register
Ader, Robert 128 AIDS 16, 363 Alexander Richard 254 Alkoholismus 16, 74,192,196, 198, 214 f. Allen, Woody 147 Alltagsverstand 278, 295-304, 312, 338 alternative Medizin 128,180, 349, 369 Altruismus 254-256 Alzheimer-Krankheit 32, 325, 363 American Association for the Advancement of Science 120 American Journal of Psychiatrie 66 American Psychiatric Association 99,115,135,146 f., 152,169, 184 f. American Psychoanalytic Association 77,118 f. American Psychological Association 73-75,105,132,135,171 American Psychologist 61,134, 171 American Scientist 61 anale Persönlichkeit 85-87 Anästhetika 153,183,186 f., 322, 329‹ 334- 339 Anderson, Philip 358 Anderson, W. French 229 Angst 16, 76, in, 117,129,134, 161-164,198,217; siehe auch Angstneurose; Furcht; Panikstörungen Angst, Jules 269 f. Geburtenfolge 269 f.
Angstneurose 52 f. Anna o. 114, 366 Annual Review of Psychologie 6l Anonyme Alkoholiker 171 f. Anthropologie 11,104, 238, 264 f. Antidepressiva 59,158-173,179f., 189-191; siehe auch Psychopharmaka; Monoaminoxodasehemmer; Fluctin; SSRIs; tricyclische Antidepressiva Antonuccio, David 167 Aphasie 55, 70 Archives of General Psychiatry 122,133 f. Aristoteles 31 Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom 44, 116,198, 215 Außerirdische 89, 339, 346, 369 Autismus 80,198, 230, 317, 365 Bachrach, Henry 119 f. Barkow, Jerome 240 mit Cosmides und Tooby: Adapted Mind 240f. Beardsley, Timothy 47 f. Beecher, Henry 127 Begriffe, kulturell geprägte 105 Behaviorismus 52, 70,107,110, 250, 291, 298, 311, 313 Berlin, Isaiah 363 f. Bever, Thomas 308 Bewußtsein 14,16, 31 f., 42, 50 f., 72,107,276,293,316-356, 368-370 bewußtseinsverändernde Drogen 349f.,368f.
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bildgebende Verfahren 31 f., 38 f., 43, 60, 81, 83 Blickfeld 36 f. Blindsichtigkeit 325, 339, 346 Bloom, Floyd 62 Bloom, Harold 102 The Western Canon 102 Blum, Kenneth 214 f. Bode, Liv 212 Bohm, David 355 Bouchard, Thomas 202-206 Breggin, Peter 190 Talking Back to Prozac 190 Toxic Psychiatry 190 Brody, Jane 132-134 Brooks, Rodney 304-310, 314 Brown, Walter 178-180 Burt, Cyril 217 Bush, Vannevar 367 Science: The Endless Frontier 367 Buss, David 237, 257, 272 f. Die Evolution des Begehrens 237 Butler, Judith 94 f. Butler, Samuel 276 Erewhon 276 Cade, John 156 Cameron, Ewen 152 Campbell, Murray 290 Carroll, Lewis 357 Alice im Wunderland 122 f., 168,357 Cavett, Dick 246 Cerletti, Ugo 153 Chagnon, Napoleon 264 f. Chalmers, David 336 f., 341 Chlorpromazin 59,156 f., 175-177 Chomsky, Noam 73, 220f., 250-252, 256, 274, 298, 334f., 345,359
Probleme sprachlichen Wissens 73, 220f. Chorea Huntington 195, 207, 227 Christenfeld, Roger 138-143 Cioffi, Frank 76 Cog 307 f., 314-316 Commander Data 17, 305 Computer 14f., 41,48,107 f., 246, 251, 276-318, 333 f., 336, 338, 341,348; siehe auch Künstliche Intelligenz Connors, Jimmy 247 Consumer Reports, Meinungsumfrage 170f. Copeland, Peter und Hamer: Das unausweichliche Erbe 215, 217, 227 Science of Desire 216 Cosmides, Leda 240-245, 247 f., 250, 254, 256, 261, 264, 266 mit Tooby und Barkow: Adapted Mind 240f. Crews, Frederick 87-96, 98,103, 105,125 f., 131 f., 150 Unauthorized Freud 76 Crick, Francis 14,34,102, 327f., 339, 341 f., 357 Was die Seele wirklich ist 327, 34^357 Cronk, Lee 238 Current Opinion 75 Cyc 300-304 Dalai Lama 248 Daly, Martin 258 f., 272 und Wilson: Homicide 259 Darwin, Charles 13,15, 34, 39, 52, 63,100,102,108, 200, 233 f., 236f., 251, 254, 263, 268, 271, 276, 320, 360 Davenport, Charles 200 Dawes, Robyn 135-137
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House of Cards 135,137 Dawkins, Richard 246, 251, 274 Deep Blue 289-291, 296, 333 Deep Thought 333 Dennett, Daniel 33, 237, 274, 345-347 Darwins Gefährliches Erbe 274 Depression 14,16, 25,53, 59!"., 76, 99,111,114 f., 1291., 133 f., 148 f., 153,158 f., 179-185, 189-192, 230, 261 f. Descartes, Rene 340 Devlin, Bernie 218 Dignostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) 115 f. Dodo-Hypothese 123 f., 134,167, 171 Dolnick, Edward 80 Madness on the Couch 80 Donahue 160,196 Dopamin 44, 59, 210, 214 Doppelblindstudie 117,161, 172-175 Dreyfus, Hubert 293-298, 304, 310 What Computer Can't Do 294-297 Drogenmißbrauch 181,198, 215 Eagle, Morris 73 f. Eastwood, Clint 347 Ebers, George 216 f. Edelman, Gerald 14, 63, 98 Göttliche Luft, vernichtendes Feuer 63 Effexor 148 Einheitliche Theorie des menschlichen Bewußtseins 33, 52, 67, 235, 361 Einstein, Albert 52,320, 332, 360 Elektroenzephalograph 324, 335
Elektroschocktherapie 18 f., 21, 24,143,149f.,152-155, 183-191 Elektrotherapie 150, 351 Eli Lilly 148,159-161,165,177 ELIZA 315 f. Elkin, Irene 169 Emotion 14, 31,48-53, 80, 83,181, 247, 301 f., 340 Epilepsie 55, 57,152,175, 326, 351 Erbanlage und Umwelt 14,16, 22, 51 f., 100,194, 200, 202 f., 225, 230 f., 269, 362 Erikson, Erik 110,324 Jugend und Krise 110 erinnerungsaufdeckende Therapie 27, 85, 88f., 93, 96,131, 204 Erklärungslücke 31, 42,47, 61, 72, 317 erlebnisorientierte Therapie 111 Ernst, Cecile 269 f. Geburtenfolge 269 f. Ethology and Soziobiology 253 Eugenik 19, 27,198, 200f., 206, 212, 219, 223, 234, 276 Evolution and Human Behavior 253 f. Evolutionsbiologie 12 f., 31, 346 Evolutionspsychologie 19, 21, 27, 41, 78, 100 f., 233-278, 317 Expertensysteme 279-283 extrapyramidale Nebenwirkungen 176 f. Eysenck, Hans 102,121 f., 124 Fallgeschichten 104,113 f., 117, 163 f., 204, 270, 365 f. Falscherinnerung siehe erinnerungsaufdeckende Therapie Farber, Susan 205 Fast, Cheap and Out of Control 307 Feinschmeckersyndrom 55
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Fell, Cynthia 308 Freud, Sigmund 16, 20-22, 30, Feminismus 80, 244 62-109,111,113f.,117f., Fetzer, James 257 121,130,138,144,146,150, Fevarin 160 157f., 162 f., 194, 204, 211 f., Feynman, Richard 360 268, 271, 311 f., 349, 351, finanzielle Förderung 25 f., 29,197, 360, 366; siehe auch Psycho243, 280, 282, 298, 300 analyse Fischbach, Gerald 32f., 52, 68 Ausstellung über 76 Fischer, Claude 260 Einfluß 20 Fisher, Seymour 84-87, 98 f., literarisches Schaffen 98, 172-174,177-179 102-108 und Greenberg: Freud ScientiDie endliche und die unendfically Reappraised 84 f., 98, liche Analyse 108 172-178 Entwurf einer Psychologie 70 Limits of Biological Treatments Selbstdarstellung 79 for Psychological Distress 172 Traumdeutung 75, 82 From Placebo to Panacea 172, Das Unbehagen in der Kultur 177 Flanagan, Owen 330f., 339, 343 The Science of the Mind 343 Fliess, Wilhelm 70, 271 Fluctin 18f., 21, 25, 44, 59, 69, 81, 99,108,112,148,158-167, 171,193, 210, 366f. Flynn, James 221-224 Flynn-Effekt 221-224 Fodor, Jerry 277 f. Food and Drug Administration (FDA)159f. Foucault, Michel 366 Fraktale 310, 334 Frank, Julia 130 Frank, Jerome 129f., 181 Persuasion and Healing 130, 181 Fredkin, Edward 288 Freeman, Walter (Junior) 329f. Freeman, Walter (Senior) 155,182, 329 Freud, Anna 80
349 Die Zukunft einer Illusion 97 Freudsche Fehlleistung 92, 95 Friston, Karl 39 Frontaler Kortex 41 Furcht 49f., 52; siehe auch Angst; Panikstörungen Gage, Phineas 53 f., 58, 322, 366 Gagesche Neurowissenschaft 53-58, 365 Gaia-Hypothese 275 Galen 22,126 f. Gall, Franz Joseph 22, 36, 54 Galton, Francis 22, 200 Galvani, Luigi 22 Gardner, Howard 104-108,130, 340, 359, 365 Extraordinary Minds 104 Frames of Mind 104 Mind's New Science, The 106 f. Gattaca 226 f. Gazzaniga, Michael 56 The Social Brain 56 Geburtenfolge 266-270, 272 Gedächtnis, Erinnerungsvermögen
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17, 31 f., 36-38, 41-43, 45-47, 64, 66, 79, 83, 85, 91,107, 248,285,293,323,325,330, 336,339,345; siehe auch Lernen Geertz, Clifford n,19,104, 365 Gehirnwäsche 98,152 Geist-Körper-Problem 16, 344-347, 362; siehe auch Bewußtsein Gelernter, Herbert 287, 306 Gell-Mann, Murray 15,361 genetische Algorithmen 309 Gentest 18,194-197,199, 208, 211, 214, 226, 228f. Gentherapie, Gentechnologie 17, 199, 209, 226-229 Gesprächstherapie 120 Gesundheitsfürsorge 73,112,132, 147; siehe auch Krankenversicherung Gewalttätigkeit 160,197 f., 258-261, 264 f.; siehe auch Kinder; Kindestötung; Krieg; Kriminalität; sexueller Mißbrauch Gilbert, Walter 197 Glass, Gene 134 f. Glaube an die Wissenschaft 23, 26, 357 Gleick, James 360 Richard Feynman. Lehen und Werk eines genialen Physikers 360 Gödel, Kurt 332 Gödelscher Unvollständigkeitssatz 333 Goldman-Rakic, Patricia 41-44, 46f., 68 Golgi Camillo 22 Goodwin, Frederick 174
Goodwin, James 165 Gottesman, Irving 215 Gould, Stephen Jay 251, 253, 265, 269, 274 Gray, Paul 103 Greenberg, Roger 84-86, 98 f., 172-174,177-179 und Fisher: Freud Scientifically Reappraised 84f., 98,172, 178 Limits of Biological Treatments for Psychological Distress 172 From Placebo to Panacea 172, 177 Greenfield, Susan 62 Gruppenselektion 255, 275 HAL 277, 283, 298-301, 305 Haldane, J. B. S 255 Hamer, Dean 215-217, 227 und Copeland: Science of Desire 216 Das unausweichliche Erbe 215,217,227 Hameroff, Stuart 322, 334 Hamilton, William 255 Harris, Judith 270 The Nurture Assumption 270 Harris, Thomas no I'm Okay -You're Okay no Hawking, Stephen 332 Eine kurze Geschichte der Zeit 332 Hayes-Roth, Frederick 280-283 Hebb, Donald 65 Heidegger, Martin 294 Heilfieberbehandlung 151 Heisenbergsche Unschärferelation 331 Herrnstein, Richard 219-221, 224 und Murray: The Bell Curve (»Die Glockenkurve«) 218-221,224, 262
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Killer, L. A. 287 Hippokrates 22 Hitler, Adolf 56 Hoane, Joseph 290 holographisches Gedächtnismodell 323 Homosexualität 18, 85, 87,116, 198, 215-217, 263 Horgan, John An den Grenzen des Wissens 12-17, 28, 367 Houston, Whitney 356 Hrdy, Sarah Blaffer 268 Hubel, David 35 f., 40, 46 Eye, Brain and Vision 40 Hudson River Psychiatrie Center 138-144 Human Behavior and Evolution Society (HBES) 236-243, 245, 253, 257, 264, 267 Humangenomprojekt 197 f. Huxley, Aldous 167, 368 Schöne neue Welt 167 Huxley, Thomas 319 Hydrotherapie 151, 351 Hyman, Steven 99-101 Hysterie 75, 89,116 IBM 119, 280, 287, 289, 291 Illiac Suite 287 Imipramin 165,168-170; siehe auch tricyclische Antidepressiva Informationstheorie 310, 324 Ingenieurwissenschaft 285, 302, 366 f. Insulinkomabehandlung 151 f. Intelligenz 17, 44f., 257, 275, 285, 295, 297-302, 306, 338 f.; siehe auch Künstliche Intelli
genz; Alltagsverstand; IQ genetisch bedingte 121,194, 198,203,217-229 vielfache 41,104f., 220 Intelligenztheorien, rassistische 27, 121, 219f., 223 f. International Psychoanalytic Association 77 interpersonelle Therapie 168,170 Inzest 84, 95 f., 157 IQ 18,105 f., 197, 206, 217-227; siehe auch Intelligenz Rasse und 121, 219-221, 223 f. ironische Wissenschaft 17 f. Isaacson, L. M 287 Jäger und Sammler 238, 245, 254; siehe auch Volksstämme Jahrzehnt des Gehirns 34 f. James, William 22,106f., 162,343, 349 f. Principles of Psychology 22 Die Vielfalt religiöser Erfahrung 349, 351 Jamison, Kay 174 An Unquiet Mind 175 Janov, Arthur 110 Der Urschrei 110 Jelzin, Boris 78 Jensen, Arthur 219, 224 Johnny Carson Show 206 Johnson & Johnson 177 Johnson, Samuel 319 Josephson, Brian 352-356 Journal of the American Medical Association 165, 214 Journal of the American Psychoanalytic Association 119 Judd, Lewis 60 Jung, Carl 110 Jungianische Therapie 18,114
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Kagan, Jerome 60, 229-232 Galens Prophecy 231 Kamin, Leon 205, 218 Kandel, Eric 63-70, 81, 98,183, 341, 359 f. Essentials of Neural Science and Behavior 64 und Schwartz: Principles of Neural Science 64, 68 f. Karasu, Toksoz 114 Kasparow, Gary 289, 296, 333 Katastrophentheorie 310 Kernfusion 362 f. Kernspinresonanztomographie (MRT) 31 f., 38, 60, 81,182, 285 Kesey, Ken 154 Einer flog über das Kuckucksnest 154,186 Ketamin 369 Kinder 27, 79, 88-90, 96,160,190, 244,258-260 Kindestötung 258-261 Kirk und Kutchins: Making Us Crazy 116 Klein, Donald 180 Koch, Christof 327-329, 335, 338f., 341, 347 Kognitionswissenschaft 22, 41, 47-49,51,69, 91,105-107, 110, 245, 247, 277, 283, 291, 294, 298, 302, 332; siehe auch Künstliche Intelligenz kognitive Verhaltenstherapie 18 f., 81,111,132f., 168-170 Komplexitätstheorie 275, 311 Koshland, Daniel 197 Kramer, Peter 114,146,161-164, 167,170,192 Glück auf Rezept 114,146, 161 f., 164,167,170,192 Krankenversicherung 76,112,116,
136f., 146,171; siehe auch Gesundheitsfürsorge Krebs 16,114, 228, 362-364 Krieg 16, 78 f., 244, 248, 265 f., 282 Krieg der Sterne 277 Kriminalität 16,120 f., 137,146 f., 196-198, 200, 244; siehe auch Gewalttätigkeit Krischnamurti, J. 353 Kuck, David 299 Kuhn, Thomas 19, 21 Kultur 220, 222 f., 235, 238-240, 248, 264-266, 274, 356 Künstliche Intelligenz (KI) 16, 21, 27, 41, 65, 276-318, 321, 332, 338f.,348,362,368 Kutchins und Kirk: Making Us Crazy 116 Kybernetik 310 Laing, R. D. HO, 154 Phänomenologie der Erfahrung 110 Lakatos, Imre 297 Lamarck, Jean 271 Landers, Ann 249 Lashley, Karl 37 LeDoux, Joseph 48-53, 77, 302 Das Netz der Gefühle 49,52, 77 Leibniz, Gottfried 319 Leibniz-Preis 288 Lenat, Douglas 299-304 Lenin, Wladimir 77 Lennon, John 110 Leponex (Clozapin) 177 Lernen 14, 50, 64f., 81,105, 250, 257,293,297,303f.,309; siehe auch Unterricht, Erziehung; Gedächtnis; Erinnerungsvermögen
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Levine, Joseph 31, 317 Lewontin, Richard 251, 253, 274 Libet, Benjamin 324f., 342 Lilly, John 369 Literatur 17, 248, 287 Geisteswissenschaft als 73, 102-105,107,130, 340, 365 f. Literaturtheorie 17,103,131 Lithium 20, 59,156f., 174 f. Llinas, Rodolfo 39f. Lobotomie 19, 58,143,1541., 181 f., 186, 329, 363 Locke, John 250 Loftus, Elizabeth 85 LSD 18, 369 Luborsky, Lester 122-126,133 f. Ludwig, Hanns 212 Lykken, David 206 Macmillan Freud Evaluated 76 MacNeil/Lehrer News Hour 216 Magersucht 198 Mailer, Norman 360 Malcolm, Janet 118 Psychoanalysis: The Impossible Profession 118 manisch-depressive Erkrankungen 17,35,59,115,138,149, 157f., 174f., 181,184,192, 195 f., 198, 2O8-21O, 212 Mao Tse-tung 243 Marx, Karl 16 Maschinen siehe Computer; Roboter; Künstliche Intelligenz Mathematik 39, 286-288, 293, 306, 321, 332 f., 338 Mayr, Ernst 18 McCarthy, John 279 McCorduck, Pamela 279, 288, 316 Machines Who Think 279, 288, 316 McGinn, Colin 347
McGuffin, Peter 209-211 Meditation 128, 348, 354-356, 368 Memory Pharmaceuticals 66 Mendel, Gregor 61, 346 Mental Health Parity Act 113,147 Meskalin 368f. Mesmer, Franz 30 Michelangelo 360 Michels, Robert 94 Mikrotubili 334 Miller, Geoffrey 237 Minnesota-Zwillinge 200-206, 218 Minsky, Marvin 276, 279, 310-312, 348 f. The Emotion Machine 312 Mitchell, Juliet 94 f. Mithen, Steven 257 Modularitätstheorie 19, 22,41,51, 54 f., 241, 250, 257, 260, 277 Molekularbiologie 13, 23, 31, 34, 62 f., 100, 104, 275, 282, 346, 358 Moniz, Antonio Caetano 154 f. Monoaminoxodasehemmer 59, 158 Monod, Jacques 63 Moravec, Hans 276 Morris, Errol 307 motorische Steuerung 54, 56 Mukoviszidose 195, 207, 227 f. Mumford, David 288 Murray, Charles 219-221, 224 und Herrnstein: The Bell Curve (»Die Glockenkurve«) 218-221, 224, 262 Musik 53, 237, 248, 286 f., 356 Muskeldystrophie 195, 207 Mystiker 343-347 The Mystiker 343 Mystizismus 337f., 349-356, 368, 370
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Nabokov, Vladimir 75 Nagel, Thomas 360 The Nation 75 National Institute of Mental Health 60, 81, 99,176, 217 Depressionsstudie 168 f. National Institutes of Health 83, 183 Nationalsozialismus 198, 201, 212 Nature 32, 61, 84, 209, 213, 229, 262,352 natürliche Selektion 15, 84, 100f., 233, 236, 240f., 251 f., 254-257, 260, 262, 274f., 346,357,362,366 Nervenheilanstalt 138-145,153 f., 156 f., 186, 201 Nesse, Randolph 237, 262 und Williams: Warum wir krank werden 262 Neugierverhalten 198, 217 Neuroleptika 144,156 f., 175-177, 184; siehe auch Chlorpromazin; Leponex (Clozapin); Olanzapin; Reserpin; Risperdal (Risperidon) neuronale Netze 65, 291-293, 297f., 309 f., 313 Neuropharmacology 179 Neurosen 66, 78 f., 116,199, 217 Neurosurgery 182 Neurotransmitter 31, 33,44, 59f., 65,141,158 f. Neurowissenschaft 13 f., 21-23, 26, 31-72, 81-83, 91,100f., 105f., 278,285,302,321,327-333, 345, 361 f., 365 New Age 128, 337 New Republic 165 New York Review of Books 87, 90f., 96,125 New York Times 64f., 83,132,144,
154,168,199, 214, 219, 226, 259f., 286, 290 New Yorker 269 Newsweek 159, 269 Newton, Isaac 34, 52, 268, 320, 344f., 360 Nietzsche, Friedrich Also sprach Zarathustra 18 Nightline 216 Nixon, Richard 363 Nobler, Mitch 186 f. Noradrenalin 59,148,158 Nuland, Sherwin 15 How We Die 15 Obdachlosigkeit 138,144,198 Ockhams Rasiermesser-Prinzip 92 Ödipuskomplex 30, 79, 84, 89f., 95 f., 194, 272 Olanzapin 177 Ono, Yoko 110 optimistischer Skeptizismus 28 f., 365 Orr, H. Allen 256 Orwell, George 272 Panikstörungen 132 f., 181, 262 Paranoia 75 Parkinson-Krankheit 44,176 Pawlow, Iwan 111, 311 Penrose, Roger 332-334, 336-338 Computerdenken 332-334 Schatten des Geistes 333 People 206 Persönlichkeit 107,194, 211, 229, 266, 269, 366 Pharmaunternehmen 148,192 Phillips, Adam 108,199 Philosophie 17,47,164, 293, 317, 321,331,336,340,359 Phrenologie 19, 22, 36, 39f., 54 Physik 12, 14f., 17, 22f., 28, 34, 47, 104, 231, 273, 282, 321,
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332f., 335 f., 346, 352f., 355, 359,361 f. Piaget, Jean 359 Picasso, Pablo 360 Pinker, Steven 77, 237, 245-250, 259f., 262, 270f., 276f., 308, 346 Wie das Denken im Kopf entsteht 77, 237, 247f., 262, 270, 276f.,346 Der Sprachinstinkt 245 Pioneer Fund 206 Placebo 70,117,126-131, 168-170,172-181,190 Planck, Max 357 Platon 30f., 77 Phaidon 30 f. Plomin, Robert 225-227 Popper, Karl 28 Positronenemission (PET) 31, 38, 42 f., 60, 83 Postmoderne 12, 28, 97 Powers, Richard 279 Galatea 2.2 279 Präferenzeffekt 123,133,177 Pressman, Jack 57 f., 181 Last Resort 58,181 Pribram, Karl 323 Price, John 263 Prion 213 Problem der Zusammenführung von neurologischen Informationen (Bindungsproblem) 40f., 328f., 334; siehe auch Reduktionistisches Dilemma Professional Psychology 167 Prusiner, Stanley 213 Psychiatrie Annals 166 Psychiatrie Times 161 Psychiatrie 15, 21, 23, 27,41, 52,
59 f., 64, 67 f., 80 f., 99, 101, 112, 115, 117, i34f., 138-144, 146-192, 263, 315, 321, 362 f. psychische Erkrankung 14, 16, 52, 59f., 80, 98, 138-145, 192, 262, 361, 364; siehe auch Depression; manisch-depressive Erkrankungen; Schizophrenie Diagnose 115 f. und Gentechnik 226 f., 229 psychische Phänomene 349, 352-356 Psychoanalyse 20, 22 f., 27, 62-109, 113,115, 117-120, 157f., 162, 178, 185, 199, 201, 212, 230, 233-235, 271, 310-314, 316, 366 psychodynamische Behandlung 73, 99, 111, 124 f. Psychological Bulletin 61 Psychological Inquiry 273 Psychological Review 61 Psychological Science 226 Psychologie 15, 19, 23, 27, 41, 60 f., 72 f., 77, 101, 105-107, 110-113, 130, 134, i36f., 147, 231, 277, 286, 291, 298, 321, 331-359 Psychopharmaka 14, 17, 27, 40, 44, 59, 69, 75 f., 114, 126 f., 140, 144-192, 350, 366 Nebenwirkungen 158-160, 166, 173, 175-177, 180, 184, 189, 367; siehe auch Antidepressiva; extrapyramidale Nebenwirkungen; Fluctin; Spätdyskinesie; SSRIs Psychotherapie 14, 20, 26, 66, 69 f., 76, 78, 108, 110-145,
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158, 161f., 164,167f., 170-172,178-180,191 f., 315 f., 326 Qualia 31,336 Quantenmechanik 12,15,113, 273, 320, 331 f., 335,342,352-354 Quantentheorie des Bewußtseins 322,324,331-336 Question Mark and the Mystiker 343
Rogers, Carl 120 Rorschach-Test 136 Rose, Steven 263 Rosenzweig, Saul 123 Rush, Benjamin 142 Russell, Bertrand 11
Sabshin, Melvin 146 Sackheim, Harold 183-191 Sacks, Oliver 365 f. Ein Anthropologe auf dem Mars 364 Ramachandran, V. S. 61 Der Mann, der seine Frau mit Ramon y Cajal, Santiago 22, 67 einem Hut verwechselte 365 Rasmussen, Steen 322 Sakel, Manfred 151 Rassismus 16, 27, 201, 219-221, Sanders, Alan 217 253, 262, 274; siehe auch EuSanta Fe Institut 322 genik Schachcomputer 18, 285-291, Rattenmann 114, 366 295 f., 299,333,338 Raven, J.C. 222 Schacter, Daniel 77 Reduktionismus 28, 33, 47, 100f., Searching for Memory 77 107, 282, 357 f. Schamanismus 102,131, 349 reduktionistisches Dilemma 41, 68, Schizophrenie 14,16, 34 f., 42,44, 278,328,362 59f., 80,100,115,138,141, regelbasierte Algorithmen 143,149,151,156,158,175, 288-298,310, 332 f. 184,194f., 198, 208-213,229, Reich, Wilhelm 110 262,339,341 Religion 16, 26, 93, 98,109,172, Schüchternheit 163, 227, 229-231 203, 238, 248, 268, 274, 317, Schwartz und Kandel: 352, 359; siehe auch MystizisPrinciples of Neural Science mus 64, 68 f. Reserpin 59,156 Science 32, 58, 62, 83,197, 203, Rice, George 216 f. 216,254,358 Ridley, Matt 237 Scientific American (Spektrum der The Red Queen 237 Wissenschaft) 12, 47 f., 56, 64, Risperdal (Risperidon) 177 178,370 Robespierre 268 Seehasen 64f., 81 f., 341 Robinson, Paul 76 Segraves, Robert 166 Freud and His Critics 76 Sehvermögen 48, 54, 56, 246, 248, Roboter 17, 276, 280, 284, 306, 328 f. 306-310, 312-314; siehe Seligmam, Martin 132,171 auch Künstliche Intelligenz Serotonin 44 f., 59 f., 100,158 f., 210 - 425
Seroxat 148,160 Sexualität 27, 75, 78-81, 84f., 88, 90, 95 f., 194, 237-242, 245-248, 257 f., 266, 271 f. Sexuelle Funktionsstörungen und Psychopharmaka 166 f., 173 sexueller Mißbrauch 88-90, 96 f. Shakespeare, William 77,107,123 Hamlet 249 Shank, Roger 299 Shannon, Del 159 Shapiro, Arthur 126-129 Shear, M. Katherine 133 Sherrington, Charles 59 Shevrin, Howard 83 Shorter, Edward 150-152 Geschichte der Psychiatrie 150 f. Silver, Lee 227 f. Das geklonte Paradies 227 Simon, Herbert 279, 283-291, 296, 305 f. Singh, Devendra 239 f. Skinner, B. F. 110 f., 250, 298 Jenseits von Freiheit und Würde 110 Smith, Mary 134 f. Smythies, J.J. 61 Society for Neuroscience 32, 34 Sokrates 30, 58, 72 Solipsismus 28, 340 Sozialarbeiter 113,134,137,147, 171 Sozialdarwinismus 27,198, 219, 234' 253 Sozialwissenschaft 240 f., 259, 268 Soziobiologie 19,110, 252-254; siehe auch Evolutionspsychologie Spätdyskinesie 176 f., 184 Spectrum, IEEE 201, 279-281 Spencer, Herbert 234
Study of Sociology 234 Sperry, Roger 55 Split-brain-Forschung 56, 58, 326 Sprachvermögen, Sprachverständnis 22, 54, 56 f., 237, 241, 245 f., 248, 250-252, 293, 295 f.,299-301,303 SSRIs 59,159-167; siehe auch Fluctin Stalin, Joseph 56, 78, 243 Star Trek 17, 305 Stent, Günther 13, 319 The Corning of the Golden Age 13 Paradoxes of Progress 13 Stevens, Anthony 263 und Price: Evolutionary Psychiatry 263 Stork, David 298 f. HALs Legacy 298 f., 301 Suizid 24,117,159 Sullivan, Harry Stack 170 Sulloway, Frank 266-270 Freud. Biologie der Seele 271 Der Rebell der Familie 268, 2 70 f. Sutherland, Stuart 318 The International Dictionary of Psychology 318 Szasz, Thomas 154 Taille-zu-Hüfte-Quotient 240, 242 Tan, Chung-jen 289 f. Taylor, John 335 f. Tay-Sachs-Syndrom 194f., 207 Teilchenphysik siehe Physik Teller, Astro 286 Theorie des Psychologiemoduls 317-340 Tiefschlaftherapie 152 Tierschutzbewegung 42 Time 76,103,194,197
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Timpanaro, Sebastiane 92 Tooby, John 240-245, 247f., 250, 254, 261,264,266 mit Barkow und Cosmides: Adapted Mind 240f. Torrey, E. Füller 86 f., 137 f., 144-146, 211 f. Death of Psychiatry 211 Freudian Fraud 76, 86,137, 144, 211 Surviving Schizophrenia 211 Traub, Joseph 279 Träume 79, 82 f. tricyclische Antidepressiva 59,158, 165 f., 168,170 Trivers, Robert 255 f., 267, 271 f. Tucson, Bewußtseintagung in 321-356,368-371 Turing, Alan 316, 353 Turing-Test 316 f. Turkle, Sherry 313-316 Lehen im Netz 314 das Unbewußte 63, 69, 77, 83, 85, 91 f., 109, 271,314,325 Unterricht, Erziehung 56,105,108, 203, 218, 221 f., 224, 230 Usdin, Gene 148 US-Kongreß 25, 34,122,147 Valenstein, Elliot 363 Great and Desperate Cures 363 Vaughan, Susan 81 f., 114 The Talking Cure 81 f., 114 Verdrängung 79, 84f., 88, 90 Vererbung 193,199f., 202f., 205, 218 Verhaltensgenetik 15,19, 21, 26, 100,114,194-235,243, 261-263,276
Vertosick, Frank 182 Vertrauen in Therapien 25 f., 69f., 109,125-131,172 Verwandtenselektion 255 Viagra 160 Volksstämme 238, 264, 266; siehe auch Jäger und Sammler Wagner von Jauregg, Julius 151 Washington Post 206 Watson, J.B. 111 Watson,James 34,197 Watts, James 155 Webster, Richard 78, 234 Why Freud Was Wrong 76, 78, 234 Weil, Andrew 349, 369 Weinberg, Robert 229 Weinberg, Steven 15,155 Wiesel, Torsten 35 f., 40,46, 52, 68 Willensfreiheit 42,45, 47,107, 314, 322f., 325, 341-344, 346 f., 349, 357 Williams, George 255, 262 und Nesse: Warum wir krank werden 262 Williams, William Carlos 365 Wilson, Edward O. 253, 268 Biologie als Schicksal 253 Soziobiology 253 und Daly: Homicide 259 Wilson, Margo 258 f., 272 Wittgenstein, Ludwig 294, 320, 347,365,368 Tractatus logico-philosophicus 347 Wolfe, Tom 30 Wolfsmann 114, 366 Wolpert, Lewis 13 f., 22 f. The Unnatural Nature of Science 22 f.
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Wright, Lawrence 114, 204, 206 Diesseits von Gut und Böse 237 Twins 114, 204, 206 Wright, Robert 237 Yanomamö 264 f. Zohar, Danah 324,337 The Quantum Self 324
Zoloft 148 Zrehen, Stephane 312 f. Zwangsneurotiker 81,148,181 Zwangsstörungen 198, 263, 341 2001 277, 283, 298 Zwillingsforschung 22, 60,100, 194, 200-207, 214, 218, 267
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