Glenn Kleier
Jesa Der letzte Tag
Inhaltsangabe In der israelischen Wüste wird ein geheimes Forschungslabor zerstört. ...
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Glenn Kleier
Jesa Der letzte Tag
Inhaltsangabe In der israelischen Wüste wird ein geheimes Forschungslabor zerstört. Den rauchenden Überresten entsteigt eine junge Frau. Sie spricht fließend alle Sprachen der Welt und beginnt zu predigen: denn sie ist Jesa, die Tochter Gottes! Der Vatikan streitet ihren Anspruch ab. Doch religiöse Hysterie und blanke Furcht breiten sich wie eine Feuersbrunst aus. Wird Jesa die Menschheit retten – oder ist sie die Vorbotin des Jüngsten Gerichts?
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel The Last Day bei Warner Bross, Inc., New York.
Dieser Titel erschien im Knaur Taschenbuch Verlag bereits unter der Bandnummer 61028.
Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de
Vollständige Taschenbuch-Neuausgabe Dezember 2004 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Copyright © 1997 by Glenn Kleier Copyright © 1998 der deutschsprachigen Ausgabe bei Lichtenberg Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: Zefa, Düsseldorf; Photonica Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 3-426-62866-X 453 Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Allen, die jemals unter der unbegreiflichen Gewalt von Dogmatismus, Frömmigkeit und Selbstgerechtigkeit zu leiden hatten
1 WNN-FERNSEHSTUDIOS, TIMES SQUARE, NEW YORK, 16 UHR 38, FREITAG, 24. DEZEMBER 1999 »Jesus Christus!« »Mehr oder weniger.« Die beiden gutangezogenen Männer saßen allein in einem Schnittraum des Fernsehsenders World News Network. Auf einem großen Monitor lief, noch ohne Ton, eine Serie bizarrer Szenen ab. Vom Bildschirm lächelte das riesengroße Gesicht eines Mannes im mittleren Alter, dessen Blick fiebrig glänzte. Er hatte einen ungepflegten Bart und trug ein zerschlissenes Gewand. Das lange strähnige Haar war mit Blut verklebt, das unter dem rostigen Stacheldrahtkranz auf seinem Kopf hervorquoll. Als die Kamera zurückfuhr, sah man ein schweres Holzkreuz, das er über der Schulter trug. Hinter ihm stand auf einem Straßenschild ›Via Dolorosa‹. Eine Schrifteinblendung am unteren Bildrand wies den Mann als ›Douglas Bandy aus San Jose, Kalifornien, früher Börsenmakler‹aus. Einer der beiden Männer nickte zufrieden. Als nächstes erschien eine junge, fünfköpfige Familie auf dem großen Monitor. Ebenfalls in zerschlissenen Kleidern saß sie auf dem abgetretenen Steinpflaster eines altertümlichen Marktplatzes. Die Familie streckte jedem Passanten und schließlich auch der Kamera bittend die Hände entgegen. Der Text dazu lautete: ›Familie Etiennne Dubois aus Orléans, Frank1
reich‹. Schnitt. Dann zeigte die Kamera im Weitwinkel eine breite Straße, die mit Autos, Bussen und von Tieren gezogenen Karren verstopft war. In der Ferne zeichnete sich die verschwommene Skyline von Jerusalem ab. »Und an dieser Stelle kommt dann das historische Material«, erklärte der eine Mann in gepflegtem britischem Akzent. Sogleich erschienen auf dem Monitor Passagen, in denen die Kamera über einen schönen, kunstvoll gestickten Wandteppich glitt. Als der Blick langsam über die ganze Länge des Wandbehangs wanderte, bot sich ihnen eine Geschichte in epischer Breite. ›Die großen Pilgerfahrten des zu Ende gehenden Jahrtausends, im Jahr 999 nach Christus‹, hieß es im Text am unteren Bildrand. Die Sequenz begann mit wohlhabenden mittelalterlichen Familien Europas, die ihre Güter an die Armen verschenkten und sich ins Heilige Land aufmachten. Auf der Pilgerfahrt erlitten die Reisenden bald schreckliche Nöte. Der Teppich schilderte in lebhaften Szenen, wie die Pilger zu Opfern räuberischer Überfälle, Ausplünderungen, Vergewaltigungen, Gefangennahme und Mord wurden. Hatten einige das Glück, die Fahrt zu überleben, sah man sie bei der Ankunft im verbotenen moslemischen Jerusalem bettelarm, hilflos, verzweifelt und dem Hunger überlassen wieder. »Nächste Woche machen wir den Ton dazu«, sagte der Engländer, »und dann ist es fertig.« »Ausgezeichnet«, sagte der andere anerkennend. »Ich glaube, daß dein Special zum Vorabend des Millenniums ein riesiger Erfolg wird. Die Sendung verkauft sich weltweit schon ziemlich gut.« »Hast du je daran gezweifelt?« fragte der Engländer mit geheuchelter Überraschung. Sein Kollege schnaubte und lachte kurz auf. »Ich sag' dir nur, Nigel, als du damals diese Idee vorgeschlagen hast, hielten dich viele von uns hier in den Staaten für verrückt. Also, ich meine, extra 2
Nachrichtenteams zusammenzustellen, sie zu horrenden Kosten überall in der Welt herumzuschicken, um einem Haufen religiöser Fanatiker nachzujagen! Ehrlich – ich hab' gedacht, die Firma würde damit baden gehen. Aber du hast wieder mal dein Geschick dafür bewiesen, wie man Nachrichten macht. Du hast es geschafft, aus dieser verrückten Hysterie um die Jahrtausendwende eine beachtliche internationale Story zu machen.« »Offen gestanden«, gab Nigel zu, »entspricht sie meinen Erwartungen nicht ganz.« »Was soll das heißen?« protestierte sein Kollege. »Die Voraussetzungen könnten doch gar nicht besser sein! Deine Berichte über die religiöse Bewegung zum Beginn des Jahrtausends im letzten halben Jahr, die zunehmende Fanatisierung im Heiligen Land, in Rom und in Salt Lake City. Die ganzen überspannten Spekulationen, was geschehen wird, wenn der Zeiger der Weltenuhr ins Jahr 2000 hinübertickt. Die Fernsehzuschauer können gar nicht genug davon bekommen! Du warst den anderen Nachrichtensendern um Lichtjahre voraus, Nigel. Du hast den nötigen Weitblick gehabt.« Der Engländer war nicht so überzeugt und wiegte langsam den Kopf. »Die Story hat einfach keine Substanz. Diese Eiferer sind ja vielleicht ganz unterhaltsam, aber nicht unbedingt überzeugend. Sie kommen beim Zuschauer wahrscheinlich eher als komische Spinner an. Ich hatte gehofft, daß wir doch noch auf etwas Zündenderes stoßen würden.« »Was zum Beispiel?« fragte sein Mitarbeiter. »Wenn es uns doch nur gelungen wäre, eine der großen Religionen zu gewinnen. Ein erstklassiges, besorgniserregendes Statement vom Papst wäre schön gewesen. Oder vielleicht die Entdeckung von neuen, unheilverkündenden Schriftrollen am Toten Meer. Unserem Bericht fehlt etwas Dramatisches, Schockierendes. Etwas, das dem Abend ein bißchen mehr … Wirkung verschafft.« 3
2 MOUNT RAMON OBSERVATORIUM, WÜSTE NEGEV, SÜDISRAEL, 23 UHR 57, FREITAG, 24. DEZEMBER 1999 Noch zu dieser späten Stunde arbeiteten vier japanische Astronomen an zahlreichen infraroten Monitoren, Spektroskopen und optischen Instrumenten und starrten von der offenen Plattform des einzigen Himmelsobservatoriums in Israel in den Nachthimmel. Die Männer von der Universität Kyoto hielten sich als Ehrengäste des israelischen Wissenschaftsministeriums hier auf. Sie waren alle wegen der Kälte dick vermummt. Hier in der südlichen Wüste Israels herrschten wegen des Breitengrads und der Trockenheit der Atmosphäre ideale Bedingungen für die Beobachtung des Asteroidengürtels der Gemini, den die Erde am Ende des Jahrtausends passierte. Die Astronomen hatten schon Hunderte von Meteoriten gesichtet. »Bei dieser großen Aktivität sollte man doch denken, daß der eine oder andere den Fall übersteht«, sagte ein Kollege auf japanisch in die Runde. »Ja«, antwortete ein anderer. »Es wäre schon aufregend, ein frisches Exemplar zu bekommen.« Tatsächlich existierten am Fuße des Berges Ramon mehrere alte Meteoritenkrater, die einzigen Zeugnisse dieser Art im Nahen Osten; wie überdimensionale Narben zogen sie sich meilenweit über den großen Grabenbruch des Negevtals hin. Aber hier unten auf der Erde gab es nichts, was die Wissenschaftler interessierte. Ihre Augen waren fest auf das Firmament geheftet. Ganz unerwartet bemerkte der Dienstälteste der Forschergruppe 4
auf seinem Instrument einen Meteor, der viel heller und größer als seine Vorgänger war. Mit zitternden Lippen erhob er sich langsam vom Stuhl, um sich mit bloßem Auge von der Erscheinung zu überzeugen. Als er sicher war, rief er voller Begeisterung: »Gentlemen, ich glaube, wir haben hier einen Einschlag!« Zusammen mit seinen Kollegen starrte er fasziniert auf den Lichtschein, der schnell an Größe und Intensität zunahm. Er stürzte von einem Punkt aus, der im Osten etwa dreißig Grad über dem Horizont lag, in einer niedrigen Flugbahn direkt auf sie zu. Die jüngeren Männer starrten ganz gebannt darauf, bis sie sich plötzlich der Gefahr bewußt wurden; dann verließen sie schleunigst ihre Plätze, um zweifelhafte Deckung unter einem Tisch zu suchen. Der Chefastronom jedoch blieb standhaft und beobachtete eifrig jede Einzelheit, als das Objekt direkt über sie hinwegraste. Bei seinem Flug über den Negev warf der Feuerball sein Licht auf eine Kette zerklüfteter Berge und weitläufiger Wüstentäler. Sein greller Schweif trieb die Herden verblüffter Nomaden auseinander, erschreckte ein älteres Beduinenpaar auf einem Eselskarren und weckte zahlreiche Pilger auf, die anläßlich der Jahrtausendwende zur Heiligen Stadt Jerusalem unterwegs waren, um dort den Beginn des Jahres 2000 zu feiern. Auch der israelischen Luftwaffe entging der Meteor nicht. Gleichzeitig mit der ersten Sichtung wurde sein Bild auf dem Radarschirm eines israelischen Militärflugplatzes an der Südseite des Berges eingefangen. »Verdammt noch mal!« rief ein verdutzter Wachsoldat beunruhigt, als er durch einen auffälligen Lichtpunkt auf seinem Bildschirm aufgeschreckt wurde. Die anderen Wachen waren sofort zur Stelle, besahen sich das Objekt mit angestrengt zusammengekniffenen Augen und konnten nicht glauben, daß es aus der Richtung des anscheinend friedlichen Staates Jordanien kam. »Code D, feindlich«, meldete ein Radarbeobachter. Aber da er 5
noch nie so etwas gesehen hatte, konnte er es nicht identifizieren. »Zu klein für ein Flugzeug«, beschloß er, »zu schnell für eine Cruise Missile, zu niedrig für eine Scud-Rakete.« Der Wachoffizier versuchte verzweifelt, die genaue Herkunft und Richtung des Eindringlings zu bestimmen, rief die höchste Alarmstufe aus, schickte Flugzeuge los und aktivierte Scharen von SuperPatriot-Raketen. Aber es war zu spät, das Objekt abzufangen. Es war schon über der Grenze und verlor schnell an Höhe.
3 NEGEV FORSCHUNGSINSTITUT, WÜSTE NEGEV, SÜDISRAEL, 23 UHR 59, FREITAG, 24. DEZEMBER 1999 Der eindrucksvolle Bau mit seinen scharfen Konturen aus Stahl und Glas erhob sich ungerührt aus dem verwitterten Felsen und dem roten Sand einer entlegenen Wüstenschlucht. Er lag direkt in der Flugbahn des Meteors. Wie um dem Besucher den Weg zu weisen, vereinigten sich die zwei Flügel des Komplexes zu einem großen V. Wo sie zusammentrafen, wölbte sich eine riesige geodätische Kuppel, deren undurchsichtige, braun getönte und nur nach außen reflektierende Glasflächen das Bild des heranfliegenden Feuerballs vielfach widerspiegelten. ›Israelisches Negev Forschungsinstitut‹ stand in großen Lettern auf hebräisch und englisch über der Anlage. Jahrelang hatten die Israelis behauptet, es sei ein Labor für Biotechnik, aber es war ein offe6
nes Geheimnis, daß das Zentrum dem israelischen Verteidigungsministerium angeschlossen war, und bei den Nachbarländern und dem amerikanischen Geheimdienst galt es als eine wichtige Einrichtung der militärischen Forschung und Entwicklung. Rundherum eingezäunt und von Motorradpatrouillen bewacht, brummte das Institut förmlich vor Aktivität. Unter der Kuppel lag ein mehrstöckiges Labor von einmaliger Komplexität. Es bestand aus sieben Ebenen, die alle an einem zentralen tragenden Schacht aufgehängt waren. Die einzelnen Etagen reichten nicht ganz bis an die Wände der Kuppel heran und gewährten einen freien Blick auf das Panorama des Nachthimmels. Dem Institut standen Scharen von Technikern zur Verfügung, die ein großes, übereinandergeschichtetes Netz von Cybersystemen instand hielten. Umfangreiche Anordnungen elektronischer Geräte im obersten Stockwerk waren mit Datenbanken des darunterliegenden verbunden, die ihrerseits durch endlos gewundene Leitungen mit den unteren Ebenen in Verbindung standen. Durch diese wiederum flossen klare Flüssigkeiten in einen immer weiter abfallenden Unterbau aus Prozessoren, Filtern, Hilfssystemen und komplizierten Bionetzwerken. Schließlich erreichte dieses verfeinerte alchemistische System das Erdgeschoß und traf dort auf seinen alleinigen Empfänger: einen regungslosen und nackten menschlichen Körper, der in einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in einem transparenten, aber verschlossenen Behälter schwamm. Die bewegungslose Gestalt lag auf der Seite, zusammengekauert wie ein Embryo, die Beine angezogen, und die Arme an die Brust gedrückt. Aber der Körper war wesentlich größer als ein Fötus. Es war ein erwachsenes weibliches Wesen von zierlichem Körperbau. Der Körper schwebte blaß und leicht unter sanften Strahlern, von verschiedenen Monitoren und Wissenschaftlern überwacht. Der Kopf war von einem Helm umschlossen, aus dem medusengleich 7
Elektroden und spiralenförmige Drähte austraten. Diese Verbindungen führten zu einer Durchlaßöffnung an der Rückseite des Tanks und weiter nach oben, wo sie sich verzweigten und an verschiedene Systeme angeschlossen waren. Eine dickere Röhre von der Stärke eines Gartenschlauchs lief vom Leib des Körpers nach oben, trat aus dem Gefäß aus und verschwand in einem Gewirr von Kabeln und Schläuchen an der Decke. Seitlich von dieser Gestalt befanden sich, abgesondert wie vergessene Prototypen, zwei gleich aussehende weibliche Gestalten in ähnlichen lebenspendenden Wannen. Auch ihre Köpfe steckten unter Helmen, die jedoch nur an einige der Leitungen nach oben angeschlossen waren. Beide hatten jedoch ebenfalls Nabelschläuche, die mit dem gesamten Ernährungsnetzwerk verbunden waren. Auf der anderen Seite des im Mittelpunkt stehenden Wesens richteten die Wissenschaftler ihr Augenmerk auf Monitore, die holographische, dreidimensionale Bilder eines menschlichen Gehirns zeigten. In dem Gehirn konnte man deutlich dreizehn nicht organische Implantate unterscheiden. Die dünnen, quadratischen Kristallplättchen, weniger als einen Millimeter groß, waren tief in beide Gehirnhälften eingelassen. Aus jedem dieser kleinen Plättchen ging ein winziges Büschel mikroskopisch feiner Fasern hervor, die zu feinen Fäden gebündelt waren. Die Fäden zogen sich durch das Gehirn bis unter die Kopfhaut, wo sie an einem zentralen Sammelpunkt in einem größeren, am Hinterkopf befestigten Plättchen zusammenliefen. Hier trat ein einzelner, gewundener Draht aus der Kopfhaut und dem Helm aus und führte zu verschiedenen Sensoren und Monitoren. Neben den Monitoren standen weitere Displays, unter anderem mit EEG-Messungen, die wild auf und ab zuckende Werte registrierten. »Mein Gott, seht euch das an!« Ein begeisterter Mann sammelte seine Untergebenen um sich, um den Fortschritt ihrer Arbeit zu bewundern. »Dies ist ein historischer Augenblick, Ladies und Gentle8
men«, krähte er und nutzte die allgemeine Euphorie dazu, eine attraktive Assistentin, die neben ihm stand, an sich zu drücken. »Wir sind dabei, eine Seite aus dem Buch Genesis zu stehlen!« Die schlummernde Gestalt im Hauptgefäß zuckte manchmal, was aussah wie die Schreckreflexe eines Kleinkindes. Ein gebrechlicher, weißhaariger Herr in einem Laborkittel stand darübergebeugt und beobachtete sie genau. Das Glas der Wanne spiegelte sein besorgtes Stirnrunzeln. »Was habe ich getan!« stieß er leise und vorwurfsvoll hervor. »Gott, vergib mir, was ich getan habe!« Unmittelbar bevor der Feuerball einschlug, gab es einen seltsamen Moment, in dem alle Anwesenden gleichermaßen die Gegenwart einer verhängnisvollen Macht fühlten; sie stellten ihre Tätigkeit ein, waren alle plötzlich wie gebannt und unfähig, das herannahende Schauspiel ihres Untergangs zu begreifen. Obwohl das Objekt sich im Fallen immer weiter auflöste und auf der Wüstenfläche heiße Brocken verstreute, hatte seine Kernmasse noch eine beträchtliche Größe, als es in die gewölbte Kuppel des Komplexes krachte. Es bohrte sich durch brummende Schichten von Cybersystemen und drang tief in die pulsierenden Leitungen und die elektronischen Nervenknoten ein. Für einen kurzen Augenblick schien der gesamte Komplex den Atem anzuhalten. Dann zerbarst der obere Teil der Kuppel wie in einer gewaltigen weißen Napalmwolke. Die vier oberen Ebenen und alle Personen, die sich dort aufhielten, verdampften sofort. Während verspätete FliegeralarmSirenen in der Ferne erklangen, begann dicker schwarzer Rauch von einer Reihe kleinerer Explosionen in den unteren Etagen aufzusteigen. Wie durch ein Wunder blieb der Teil des Baus, der die menschlichen Gestalten enthielt, für einen Augenblick noch unversehrt. Der weißhaarige Mann versuchte in den beißenden Dämpfen verzweifelt, die eingeschlossenen Wesen zu befreien, taumelte gegen eines 9
der Gefäße und brach zusammen. Auf den plötzlichen Ausfall der lebenserhaltenden Systeme reagierten die Wesen in ihren Behältern mit krampfartigen Zuckungen. Vor allem das Geschöpf im Zentrum wurde hektisch, kämpfte ungeschickt mit seinem Helm und trat gegen die Seitenwände der Wanne. Als Reaktion auf eine intensivere Zuführung von Strom kam es zu einer Art epileptischen Anfalls. Es krümmte den Rücken und sprengte die Seiten der Wanne mit einem kräftigen Stoß seiner Beine. Außerhalb dieser Hölle herrschte das Chaos. Die Sicherheitspatrouillen blieben in einiger Entfernung von der Umzäunung stehen und konnten nichts tun, als dem Ablauf des schrecklichen Schauspiels zuzusehen. Durch das klagende Tremolo der Sirenen hörte man von oben die ersten Abwehrjets, die jedoch zu spät kamen und nur noch große, sinnlose Kreise über der zerstörten Anlage fliegen konnten. Durch eine berstende Wand des Gebäudes wurde eine zuckende weibliche Gestalt hinausgeschleudert und landete auf der Erde. Mit dünnen weißen Armen fing sie den Stoß ab und schlang sie dann schnell wieder schützend um ihren nackten Körper. Das Wesen lag ausgestreckt im Staub. Allein und von den Dämpfen und der Hitze weitergetrieben, begann es verzweifelt, sich an die Erde zu klammern und ruckartig vorwärts zu bewegen. Kaum hatte die Gestalt den Gefahrenbereich hinter sich, gaben die Überreste der Anlage nach, und eine letzte Explosion riß den noch sichtbaren Teil des Komplexes in Stücke und schleuderte das tödlich erschrockene Wesen über den Wüstenboden. Die übel zugerichtete Gestalt erholte sich jedoch schnell und nahm sofort ihre ziellose Bewegung wieder auf. Offenbar ohne zu wissen, in welche Richtung sie fliehen sollte, wand sie sich unbemerkt durch das große Tor und weiter hinaus in die Nacht. 10
4 BEN-GURION-APPARTEMENTS, JERUSALEM, ISRAEL, 13 UHR 5, SAMSTAG, 25. DEZEMBER 1999 Das Klingeln des Telefons weckte Jonathan Feldman aus seinem letzten wirklich ruhigen Schlaf. Mit einer Hand fischte er nach dem Hörer, mit der anderen nach seiner Stahlrandbrille und stieß dabei versehentlich eine gestern nur halb aufgegessene Portion Frühstücksflocken vom unordentlichen Nachttisch. Er knipste das Licht an, kniff die kurzsichtigen Augen zusammen und sah auf Cornflakes und Milch hinunter, die nun in seinen Nikes schwappten. Unter lauten Flüchen klemmte Feldman das Telefon zwischen Ohr und Schulter und versuchte, die Brille aufzusetzen. »Was?« krächzte er und goß die Frühstücksflocken aus dem Schuh wieder in die Schüssel. »Jon, komm sofort hier rüber. Jordanien hat eine Militäranlage im Negev beschossen!« Es war die vertraute, wenn auch ungewöhnlich aufgeregte Stimme Breck Hunters, sein Kameramann. Mit ihm arbeitete Feldman als Korrespondent bei World News Network im Nahen Osten zusammen. »Was?« »Ungefähr vor einer Stunde. Ich sehe den Feuerschein am Himmel sogar von hier.« »Die Jordanier?« 11
»So hört man's jedenfalls im Militärfunk«, erklärte Hunter. »Los, da müssen wir hin.« Mit seinen dreißig Jahren relativ jung, hatte der knappe Stil von Feldmans Berichten und seine entwaffnende Geistesgegenwart vor der Kamera schon auf den oberen Etagen von World News Network Aufmerksamkeit erregt. Das hatte dazu beigetragen, daß ihn die Leitung des Senders mit dieser Aufgabe hier, seinem ersten Auslandsjob, betraut hatte. Feldman schob seine Brille zurecht, rieb sich die blaßgrauen Augen mit dem noch etwas verschwommenen Blick und begann sich aufzuraffen. »Okay. Sieh zu, daß du die Genehmigung bekommst. Ich hol' dich in fünf Minuten ab.« Als er auf die Uhr sah, war er wirklich froh, daß er die langweilige Weihnachtsparty bei WNN früher verlassen hatte. Aber den Empfang in der amerikanischen Botschaft heute abend, von dem er sich einiges mehr erhofft hatte, konnte er jetzt, so dachte er, vermutlich in den Wind schreiben. Sein journalistischer Instinkt erwachte. Warum Jordanien? fragte er sich. Warum sollte ein schlecht bewaffneter, gemäßigter arabischer Staat, Krieg mit einer Militärmacht wie Israel riskieren? Er schob die Papiere auf seinem Schreibtisch zur Seite, um nach seinem Schlüssel zu suchen. Wäre ein Überraschungsangriff auf die Wasserwerke von Ha'ayin nicht viel wirksamer? Mein Gott, schließlich ist das hier ein jüdischer Staat. Als er die Turnschuhe anzog, fluchte er nur kurz über das feuchte Gefühl, schnappte sich seine Lederjacke vom Stuhl und stürzte aus der Tür. Wieder einmal war er froh, daß er in seinen Kleidern geschlafen hatte. Obwohl er erst seit ein paar Monaten hier im Einsatz war, fand der Reporter sich in Jerusalem schon ganz gut zurecht. Er trat in seinem gemieteten Landrover kräftig aufs Gas und raste von seiner Stadtwohnung aus Richtung Süden. Staub wirbelte in dichten Wolken von den Straßen auf. Die Auswirkung einer schweren Dürre, die 12
schon lange vor seiner Ankunft eingesetzt hatte. Wie die Nacht diese merkwürdige Stadt verwandelte, faszinierte ihn immer wieder. Die hell glänzenden Lichter verfälschten Jerusalems uraltes Stadtbild und verdeckten seinen wahren Charakter. Dem flüchtigen Auge schien es, als werfe die künstliche Beleuchtung Schatten und verwandle die Heilige Stadt in eine ausgeglichene, blühende Metropole. Aber Feldman wußte, daß die Wirklichkeit leider anders aussah. Unter dem Dunstschleier von Jerusalem lag die Geburtsstätte dreier sehr stolzer Religionen mit ihrer endlos blutigen Geschichte. Juden, Christen und Moslems lebten nur widerwillig in abgesonderten Stadtteilen nebeneinander, erfüllt von ständigem Mißtrauen und Spannungen. In ewigen Streit verstrickt, dessen Anfänge in die Zeit vor den Kreuzzügen zurückreichte, wetteiferten sie in einem allseitigen ideologischen Machtkampf um die Herrschaft über die Heiligtümer der Stadt. Trotz politischer Differenzen und Animositäten waren die drei Religionen einander überraschend ähnlich. Schließlich waren sie alle von dem gleichen Gott ausgegangen, und alle bezogen sich auf einen gemeinsamen Vater: Abraham, den großen Patriarchen. Die drei Religionen waren im Staub der Jerusalemer Vergangenheit untrennbar miteinander verbunden, und doch schienen sie nicht miteinander leben zu können. Als Feldman seinen Wagen durch die schmalen Gassen des Stadtkerns manövrierte, mußte er sich vorsehen, um eine göttliche Begegnung ganz anderer Art zu vermeiden. Jetzt, da der Kalender sich langsam, aber unaufhaltsam dem Jahr 2000 näherte, war Jerusalem voll von Tausenden von Besuchern, die anläßlich der Jahrtausendwende gekommen waren und sich Millennarier nannten. Die Gruppe setzte sich aus Hunderten von seltsamen Sekten zusammen, und die Millennarier belasteten die unduldsame Stadt noch zusätzlich mit ihren eigenen, merkwürdigen Spielarten von religiösem Fanatismus. 13
Als Feldman sich Hunters Wohnblock am Stadtrand näherte, hatte er endlich einen freien Blick auf den Horizont. In südlicher Richtung konnte er einen roten Schein ausmachen und nahm an, daß er von der Katastrophe im Negev herrührte. Er schüttelte ein plötzliches Gefühl, dies schon einmal gesehen zu haben, ab und fuhr in den Hof, wo Hunter ihn mit Videokamera und Reisetasche erwartete. Hunter war überdurchschnittlich groß und kräftig gebaut und trug einen militärischen Overall, der noch aus jenen Tagen stammte, als er begeistert über den Golfkrieg berichtet hatte. Als angesehener, abgebrühter Fernsehjournalist sah er die Welt durch aufmerksame blaue Augen. Noch bevor der Rover zum Stehen kam, warf Hunter sein Gepäck auf den Rücksitz, glitt neben seinen Kollegen in den Wagen und schlug mit der flachen Hand zweimal laut auf das Armaturenbrett. Sie brausten dem glühenden Himmel entgegen. »Was hast du noch erfahren?« fragte Feldman. »Nicht mehr, als ich dir schon erzählt habe«, antwortete der Kameramann. »Sieht nach einer einmaligen Attacke aus. Bis jetzt kein weiterer Treffer mehr.« »Weißt du sicher, daß er von Jordanien ausging?« »Nein. Aber der Geheimdienst sieht es so.« Jonathan Feldman, der ›Wortschmied‹ des Zwei-Mann-Teams, war von schlaksiger Statur, hatte klare Gesichtszüge, eine lange, gerade Nase und leuchtend graue Augen, die unter seinem ungekämmten dunklen Haar jungenhaft hervorsahen. Hunter war etwas älter, ein eher rauher Typ mit sonnengebleichtem Haar und einer von Wind und Wetter gegerbten Haut. Ihr lockerer Umgang unterstrich die enge Freundschaft, die im vergangenen Jahr während ihrer Arbeit in der WNN-Crew vor Ort zwischen ihnen entstanden war. Sie hatten schon bei der Berichterstattung über einige der Jahrtausendwendebewegungen, die überall 14
in den Vereinigten Staaten im Kommen waren, eng zusammengearbeitet. Wie beiden Reportern bald klar wurde, hatten viele dieser Millennium-Sekten, die geduldig dem neuen Jahrtausend entgegensahen, schon seit Jahrzehnten in Amerika und überall auf der Welt existiert, aber die meisten waren erst in den letzten Jahren entstanden. Die Mehrzahl dieser Millenniumskulte waren religiös geprägt, von den erbaulichen, die das 21. Jahrhundert als den Anfang eines Heiligen Reiches Christi sahen, bis zu den Untergangspropheten, die ständig Armageddon und das Ende der Welt im Munde führten. Manche Gruppen waren weltlich, andere metaphysisch ausgerichtet. Wieder andere hatten nur soziale und politische Ziele. Viele hatten sich bis jetzt noch nicht erklärt, fanden aber, die Jahrtausendwende sei ein guter Anlaß, sich aus der Gesellschaft auszuklinken und das Leben vielleicht ein letztes Mal noch hemmungslos zu genießen. Aber alle hatten sie ihre jeweils eigene Millenniumsphilosophie, und mehr als 297 verschiedene Millenniumsorganisationen waren zur Zeit im Internet aufgelistet. Hunter und Feldman war schon bald klargeworden, wie diese Aktivitäten zur Jahrtausendwende enden würden. Aus diesem Grunde hatten sie darum gebeten, bei der Berichterstattung über Israel mitarbeiten zu dürfen, und sich so den Posten bei WNN in Jerusalem verschafft. Es war der richtige Schritt zur richtigen Zeit gewesen. Mit jedem weiteren Tag wuchs die Anzahl dieser Sekten in der ganzen Welt, und es war klar, daß sie schließlich im Heiligen Land aufeinandertreffen würden. Während sich die meisten Pilger um Jerusalem herum versammelten, hatten auch andere berühmte biblische Orte wie Nazareth, Bethlehem, der Berg Sinai und Megiddo ihre Endzeitbesucher.
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5 IN DER WÜSTE NEGEV, SÜDISRAEL, 1 UHR 20, SAMSTAG, 25. DEZEMBER 1999 Drei aufgeregte japanische Astronomen jagten durch die Wüste und verfolgten den gefallenen Stern. Ihren vierten Kollegen hatten sie zurückgelassen, damit er ihre Experimente zu Ende brachte. Aber an ihn verschwendeten sie jetzt keinen Gedanken mehr. Von ihrem Aussichtspunkt auf dem Berg hatten die Männer zu ihrem Schrecken deutlich den Einschlag des Meteoriten in das Forschungsinstitut gesehen. Sie machten sich sofort in ihrem Wagen auf den Weg und fuhren über den zerklüfteten Graben der Talsohle; das weithin sichtbare orangefarbene Glühen wies ihnen wie ein Leuchtfeuer die Richtung. Unterwegs bekamen sie eine regelrechte Lightshow zu sehen. Meteoritenschauer, Militärjets und Hubschrauber durchkreuzten den Nachthimmel. Aber kaum einen halben Kilometer vor ihrem Ziel trat völlig unvermutet ein dünner, bärtiger Beduine in einem Kapuzengewand in ihr Scheinwerferlicht und bedeutete ihnen verzweifelt, anzuhalten. Es gelang ihnen gerade noch, ihm auszuweichen, wobei der Wagen außer Kontrolle geriet, sich zweimal um seine eigene Achse drehte und schließlich in einer Staubwolke zum Stehen kam. Der Nomade, anscheinend unbeeindruckt davon, daß er gerade noch einmal davongekommen war, redete in aufgeregtem Arabisch auf sie ein und zeigte abwechselnd auf die Flammen der zerstörten Anlage in der Ferne und auf einen Graben in der Nähe. Die Astronomen nahmen an, der Beduine habe ein Stück des Meteoriten gefunden. Doch als sie ihm in die angegebene Richtung 16
folgten, hielten sie plötzlich schockiert inne. Im Licht ihrer kreisenden Taschenlampen sahen sie eine Nomadenfrau über eine regungslose menschliche Gestalt gebeugt, die nackt und wie ein Embryo zusammengekrümmt auf der Seite lag.
6 SÜDLICH VON JERUSALEM, ISRAEL, 1 UHR 42, SAMSTAG, 25. DEZEMBER 1999 Obwohl das Forschungsinstitut nur etwa fünfundsiebzig Kilometer südlich von Jerusalem lag, war die Fahrt dorthin aufgrund der schlechten Straßenverhältnisse ziemlich mühsam. Dank Feldmans aggressiver Fahrweise brachten sie den ersten Abschnitt der Strecke dennoch relativ schnell hinter sich. »Spielst du immer noch mit dem Gedanken, bei WNN aufzuhören, wenn das alles erst mal vorbei ist?« Hunter griff ein eigentlich schon lange abgehaktes Thema wieder auf. Feldman lächelte, schaute ihn an und zog eine Augenbraue hoch. »Von Aufhören kann hier und jetzt wohl kaum die Rede sein. Mein Vertrag endet, wenn die Millenniumsgeschichte vorbei ist.« Hunter schüttelte den Kopf, er wußte Bescheid. »Mist, Bollinger hat mir gesagt, er hätte dich gebeten, zu unserem Team für Sonderaufgaben an der Ostküste zu stoßen. Zeit zum Feiern, Mann! Da könnten wir in New York mal zusammen die Sau rauslassen!« »Verlockend«, sagte Feldman und lachte über die Begeisterung seines Freundes, »aber die Gelegenheit in Washington kann ich 17
nicht sausenlassen – eine einmalige Chance, über die Präsidentenwahl zu berichten! Ein Angebot, richtig ernsthafte Arbeit zu leisten! WNN ist mir einfach zu verrückt. Du weißt doch, daß ich im Grunde genommen viel zu konservativ für diese Art der Boulevard-Berichterstattung bin.« Hunter zuckte seine breiten Schultern. »Ich find's eben furchtbar schade, wenn unser gutes Team auseinandergeht. Es hat Spaß gemacht.« Feldman nickte zustimmend. »Ja, Breck, war schön mit dir zu arbeiten. Du und die ganze Bande werden mir fehlen. Eigentlich kann ich's kaum glauben, daß ich bald meinen letzten Tag habe.« Als sie auf den gewundenen Straßen in südlicher Richtung fuhren, wurde das Gelände immer rauher, die Vegetation immer spärlicher. In der frischen, klaren Nachtluft konnten die Reporter die ersten zerklüfteten Ausläufer des Negev erkennen, massive Sandsteinformationen aus der Urzeit, zu immer höheren Platten übereinandergeschoben. Bald mußten sie die Straße bei einer kleinen Kibbuzstadt verlassen, die auf der Karte ›Dehmoena‹, auf dem Straßenschild aber ›Dimona‹ hieß. So etwas war in diesem Land ohne einheitliche Rechtschreibregeln nicht unüblich. Hunter und Feldman waren an diese Ungereimtheiten gewöhnt, aber abgesehen davon zeigte ihnen das Fanal der lodernden Flammen, daß sie hier richtig waren. Da die Überreste der Anlage von drei Seiten vor Einblicken geschützt in einer Schlucht lagen, deren Rückseite geschlossen und etwas abgesunken war, konnte man sie praktisch unmöglich von einer anderen Seite als direkt von Osten her sehen. Und wenn man nicht auf einer Anhöhe stand, brachte auch dieser Blickwinkel kaum etwas. Besonders weil das allgegenwärtige israelische Militär sicherstellte, daß die Schaulustigen gehörigen Abstand hielten. Die zwei Journalisten waren nicht überrascht, daß die Katastrophe mehr als hundert pilgernde Millennarier angezogen hatte. 18
»Scheiße, von hier draußen kriegen wir nichts«, sagte Hunter wütend und beobachtete, wie die Israelis die Neugierigen weit vom vorderen Eingangstor fernhielten. »Nein«, bestätigte Feldman. »Und die Miliz, wird die Medien niemals durchlassen.« Hunter sprach aus Erfahrung. »Besonders wenn es sich hier um eine geheime militärische Einrichtung handelt«, fügte Feldman hinzu. »Aber probieren müssen wir es trotzdem.« Hunter nickte zustimmend. »Du kannst ja mal sehen, ob du von den Zuschauern hier was erfährst, und ich überprüfe inzwischen die Geräte. Dann fahren wir zum vorderen Tor und reden mit dem Kommandeur.« Eine Gruppe von ungefähr zwanzig Männern und Frauen erweckte den Anschein, als seien sie schon eine ganze Weile da. Neben ihrem alten, in verblaßtem Blau gestrichenen Schulbus kochten sie in einem rußigen Topf auf einem Campingkocher Kaffee. Feldman ging zu ihnen hin und stellte sich einem stoppelbärtigen Mann in abgetragenen Jeans und Sandalen vor, der mit einer alten Armeedecke um die Schultern auf dem Boden saß. Trotz seines ungepflegten Aussehens lächelte der Mann entgegenkommend und antwortete in ausgezeichnetem Englisch mit deutschem Akzent. »Friedrich Vilhausen aus Hamburg«, sagte er. »Tourist oder Pilger?« Feldman begann mit seiner Standardeinleitung, die er bei den Millennariern immer verwendete. »Wir sind Wachleute des Dominion«, erklärte Vilhausen, »einer der größten neuen Orden in Europa.« Feldman hatte nie von ihnen gehört. »Wir waren in Tanger und ziehen jetzt nach Jerusalem, um für die Zeit der Ankunft zu unserer Hauptgruppe zu stoßen. Wir sind alle aufgerufen, ihm den Weg zu bereiten und für sein Ziel …« »Sorry, Friedrich …«, Feldman hatte kein Interesse daran, schon 19
wieder von der Wiederkunft des Herrn zu hören, »im Moment möchte ich nur mehr über diesen Luftangriff hier erfahren. Habt ihr gesehen, wie es passiert ist?« »Luftangriff?« Der Deutsche war verblüfft. »Das war kein Luftangriff! Das war der Hammer Gottes, das erste Zeichen!« Feldman nickte nur und war schon dabei, sich zu entfernen. »Kein Luftangriff«, beteuerte der Millennarier. »Wir sehen es am Himmel, im Osten, heller feuriger Stern, macht die ganze Wüste hell. Und dann trifft er das Labor des Bösen. Wahrhaftig, Mann!« Eine Rakete, dachte Feldman bei sich. Wahrscheinlich eine Cruise Missile. Wie haben die Jordanier nur so etwas in die Hände bekommen? »Okay, danke. Und, äh, alles Gute für die Ankunft des Herrn und so weiter.« Feldman war kein besonders zynischer Mensch, zumindest nicht so zynisch wie Hunter. Aber die vergangenen drei Monate mit ihrem verkünderischen Getue hatten ihn etwas abgestumpft. Jetzt, da er einer ergiebigeren Story auf der Spur war, wollte er sie sich nicht durch diesen religiösen Quatsch vermasseln lassen. Mit einem letzten Blick auf die Wachleute des Dominion wandte er sich zum Gehen. Sie waren sich alle so ähnlich, diese Millennarier. Und doch jede Variante wieder anders. Diese Gruppe schien wenigstens etwas gesetzter zu sein als die meisten anderen. Von den über dreißig Sekten, über die er berichtet hatte, gefielen ihm die Prediger von Hölle und Verdammnis am wenigsten. Untergangspropheten, Eiferer, die Feldman nicht ganz normal und ziemlich schaurig fand. Obwohl sie gemeinhin zu den Millennariern gezählt wurden, war es Feldman klar, daß diese militanten Untergangsvisionäre keine Millennarier im eigentlichen Sinne waren. Genaugenommen, so hatte Feldman im Laufe seiner Recherchen herausgefunden, gehörten zu den echten Millennariern nur die zwei Sekten, die den Text der Offenbarung des Neuen Testaments, Kapitel zwanzig, wörtlich 20
nahmen. Jene Schrift, die besagt, daß Christus im Fleisch wiederkehren werde, um den Satan zu überwältigen und tausend Jahre lang in Frieden, Harmonie und Glück auf Erden zu herrschen. Diese echten Millennarier gliederten sich in Untergruppen: die postmillennarischen Idealisten, die glaubten, Christus werde durch seine Kirche am Jüngsten Tag Frieden auf Erden bringen, und die prämillennarischen Pessimisten, die glaubten, Frieden könne nur durch eine Entscheidungsschlacht zwischen den Mächten Christi und des Satans erreicht werden. Obwohl die Untergangspropheten oder ›Apokalyptiker‹, wie sie eigentlich hießen, sich auch an das Buch der Offenbarung hielten, sahen sie die Jahrtausendwende eher als ein Ende, weniger als einen Neuanfang an. Ihre Vision sah die Vernichtung der Erde voraus, bei der alle, die nicht wortwörtlich an ihre engstirnigen Auslegungen glaubten, elend im Höllenfeuer zugrunde gehen würden. Die Gläubigen andererseits würden im Fleisch auferstehen und von Christus selbst im Triumphzug in den Himmel geleitet werden. Natürlich waren das Verallgemeinerungen, denn tatsächlich existierte ein breites Spektrum an verschiedenen Ideologien. Feldman hatte herausgefunden, daß es viele feine Unterschiede bei all den eschatologischen Auslegungen gab, die sich mit dem Ende der Welt und der Wiederkunft des Herrn befaßten. Er überließ die Wachleute des Dominion ihren Vorbereitungen auf die Jahrtausendwende und ging zum Rover zurück, wo Hunter einen neuen Akku in die Videokamera einlegte. »Was sie da gesehen haben, als das Forschungszentrum getroffen wurde, hört sich entweder wie die gerechte Hand Gottes oder eine Tomahawk-Cruise-Rakete an«, berichtete Feldman. Hunter lächelte dünn und brummte vor sich hin. »Also«, schlug Feldman vor, »was meinst du, probieren wir's einfach mal ganz direkt, oder?« Und sie gingen los, um am Haupttor mit dem verantwortlichen Offizier zu reden. 21
»Sieht nicht so aus, als würden sie außer Militärpersonal irgend jemanden durchlassen«, sagte Feldman, als sie näher kamen und er die Schar von Schaulustigen im Eingangsbereich sah. Als die Reporter sich einen Weg zum vorderen Teil der Menge bahnten, bemerkten sie einen Wachsoldaten der Israeli Defense Force, kurz IDF, der einen Millennarier hinter der improvisierten Absperrung hervorzog. Der Unglückliche war unbemerkt an die Umzäunung herangekrochen und hatte heimlich durch den Maschendraht einen Schnappschuß von dem Inferno gemacht. Ein Foto vom Zaun aus brachte zwar wegen der hohen Böschungen, die das Institut umgaben, kaum etwas, trotzdem nahm der hartnäckige Wachsoldat dem Mann die Kamera ab und zertrümmerte sie mit dem Kolben seines Gewehrs, bevor er den Eindringling unsanft aus dem abgesperrten Bereich hinauswarf. Vorsichtig nahm Hunter die Videokamera von der Schulter, und die zwei Journalisten mischten sich wieder unauffällig unter die Menge. Sie beschlossen, sich auf einen Hügel zurückzuziehen und auszuprobieren, ob von dort aus eine Teleobjektiv-Aufnahme möglich war. Ohne Erfolg. Der Standort des Komplexes war sehr geschickt gewählt. Es gab einfach keinen Punkt in der ganzen Gegend, der ihnen einen Blick auf die Überreste des Gebäudes ermöglicht hätte. Die beiden wollten gerade aufgeben, als Hunter durch den Sucher seiner Videokamera einen kleinen Konvoi von Fahrzeugen bemerkte, der sich auf einer der Zubringerstraßen näherte. Als er noch näher heranzoomte, konnte er im orangefarbenen Lichtschein der Trümmer sechs breite, jeepähnliche Fahrzeuge und zwei Landrover unterscheiden, die noch mehr israelische Miliz und technisches Hilfspersonal herbeibrachten. »Jon, ich hab' 'ne Idee!« rief Hunter, ohne die Kolonne aus den Augen zu lassen, und schubste Feldman unwillkürlich auf ihren Wagen zu. 22
»W … was ist los?« ärgerte sich Feldman und stolperte, weil er mit diesem Richtungswechsel nicht gerechnet hatte. »Ich fahre, und du machst einfach genau, was ich dir sage …« Als sich die Soldaten des Sonderkommandos zwischen den herumstehenden Zuschauern durchkämpften, bemerkten sie in dem aufgewirbelten Staub den zusätzlichen Landrover nicht, der sich ihnen geschickt anschloß. Hunter schlüpfte während der Fahrt in seine Desert-Storm-Jacke und hätte dabei fast einen unvorsichtigen Millennarier angefahren. Fluchend zog der Kameramann eine GI-Mütze aus dem Beutel, setzte sie Feldman auf den Kopf und drückte ihm ein Klemmbrett mit ein paar Papieren in die Hand. »Also«, sagte er, »wenn wir zum Tor kommen, sieh zu, daß du total cool und offiziell aussiehst. Ich werd' an der Wache vorbeisausen, und wenn's Probleme gibt, wedelst du einfach mit dem Klemmbrett und rufst ihm auf hebräisch ›Rettungstrupp!‹ zu. Kapiert?« Feldman grinste und nickte. »Klar, bloß ich kann kein Hebräisch.« »Was soll das heißen, du kannst nicht Hebräisch?« rief Hunter. »Du bist doch Halbjude, oder? Ich hab's dich sogar schon sprechen hören!« »Ich kann nur 'n paar jiddische Schimpfwörter.« »Dann sag's eben auf englisch, um Himmels willen. Es gibt ja genug eingewanderte jüdische Berater hier. Dann sollen sie eben denken, wir sind ein jüdisch-amerikanisches Rettungsteam.« Die Wagen vor ihnen fuhren jetzt langsamer. Darauf bedacht, die neugierigen Zivilisten fernzuhalten, schauten die Wachen sich jedes Fahrzeug an, bevor sie es schnell durchwinkten. Feldman auf der Beifahrerseite war näher am Wachhäuschen. Er war nicht gerade optimistisch gestimmt und wollte hier draußen mitten in der Wüste auf keinen Fall aufgehalten oder festgenommen werden, noch dazu am Weihnachtstag, der eigentlich beschaulich sein sollte. 23
Hunter bremste, so daß Feldman direkt auf der Höhe des Wachpostens war. Feldman sah mit ernster Miene vor sich hin und hielt die Papiere hoch. Als der Wachposten mit zusammengekniffenen Augen die nichtssagenden Formulare ansah, gab Hunter Gas, der Wachsoldat öffnete den Mund, um zu protestieren, Feldman rief »Rettungstrupp!«, und sie brausten davon. »Sieh dich nicht um«, warnte Hunter und sah noch im Rückspiegel, wie der verstörte Wachsoldat ihnen nachblickte. Wenn Hunter genauso überrascht war wie Feldman, daß es so leicht geklappt hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Feldman grinste vor sich hin. Wenn er sich auch lieber an die Regeln hielt, schätzte er doch Hunters dreisten, aber wirksamen Stil. Jetzt konnten sie sich dem Ursprung der schwarzen Rauchschwaden nähern, die vor ihnen auftauchten. »Fahr den Weg da hoch, den Hügel rauf.« Feldman zeigte nach oben. »Wollen wir uns das doch mal ansehen.« Als er den Rover eine Anhöhe innerhalb des Geländes hochfuhr, konnten sie endlich einen genauen Blick auf das ganze Ausmaß der Katastrophe werfen. Es war eine Zerstörung von gewaltigen Dimensionen. Israelische Einrichtungen in der Wüste waren meistens einfach ausgestattet und beschränkten sich auf das Notwendigste. Aber diese Anlage hatte eine beeindruckende Größe besessen. Die in VForm zusammenlaufenden Flügel des Laboratoriums waren, abgesehen von den zerborstenen Fenstern, noch intakt. Von der riesigen Kuppel aber war nur ein nacktes Stahlgerippe übriggeblieben, das noch rauchte. Feldman wandte sich um und sah, wie Hunter schon mit der Videokamera über die Szene schwenkte. »Hier können wir schnell drehen«, schlug Hunter vor und zeigte auf die Stelle, wo Feldman sich vor den Trümmern aufstellen sollte, während er schon zu filmen anfing. »Ich will wenigstens ein paar Hintergrundaufnahmen gemacht haben, bevor uns jemand be24
merkt.« Als er fertig war, nahm er die Kassette aus der Kamera und schob sie unter den Vordersitz des Landrovers. Gerade als Hunter das zweite Band eingelegt hatte, wurden sie entdeckt. Ein Jeep mit Soldaten kam den Hügel hoch und stellte sie zur Rede. Die Reporter wurden eineinhalb Stunden lang mit vorgehaltener Pistole festgehalten und zwischen ratlosen Offizieren hin und her gereicht, während man immer wieder ihre Presseausweise überprüfte. Als die Israelis endlich überzeugt waren, daß sie nur lästige Reporter vor sich hatten, beschlagnahmten sie, was sie für das einzige Video hielten, schleusten die Reporter in ihrem Rover aus dem Gelände hinaus und wiesen ihnen einen Platz an, der ein ganzes Stück jenseits des Zaunes lag. »Kein Problem«, grinste Hunter, als sie außer Reichweite der Wachen waren. »Wir drehen unsere Sequenz einfach hier draußen mit dem Feuer im Hintergrund, und die Cutter können dann das Material dazwischenschneiden, das wir versteckt haben.« Vorsichtig schlichen sie wieder so nah wie möglich an die Umzäunung heran, Hunter schaltete Kamera und Lichter ein und filmte Feldman, der sich, von Rauch und Flammen eingerahmt, in Position stellte. »Jon Feldman für WNN, wir berichten vom Negev Forschungsinstitut in Südisrael, wo heute früh, am Weihnachtsmorgen, durch einen überraschenden Raketenangriff ein Gebäude zerstört wurde, das als geheime militärische Forschungseinrichtung galt.« Sie gaben ihr Band rechtzeitig zum Überspieltermin um zwölf Uhr mittags im Jerusalemer Büro von WNN ab. Und da es sonst nicht besonders viele Nachrichten gab, erschien Feldman zerzaust und unrasiert, aber dennoch gutaussehend mit seinem fast schüchtern vorgetragenen Bericht überall auf dem Erdball zum Weihnachtsdinner im Fernsehen.
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7 VATIKAN, ROM, ITALIEN, 4 UHR 37, SAMSTAG, 25. DEZEMBER 1999 Es war kein guter Tag für Papst Nikolaus VI. gewesen. Müde und allein mit seinen Gedanken, war der Heilige Vater schon eine Weile vor Mitternacht aufgestanden, aus dem Schlaf gerissen von einem erschreckenden Alptraum, in dem es um Feuer, Tod und Zerstörung gegangen war. Er wachte mit starkem Sodbrennen auf. Stirnrunzelnd zog der väterlich wirkende, grauhaarige Pontifex die Vorhänge vor seinem Balkonfenster zur Seite, um wieder auf die Massen hinunterzusehen, die sich auf dem riesigen Petersplatz versammelten. Er war sicher, daß die Schar der Gläubigen, die gekommen war, um seinen Weihnachtssegen zu empfangen, wegen des unablässigen Regens kleiner geworden war. Leider wurde auf diese Weise der Anteil der merkwürdigen millennarischen Sekten, die nun schon seit Wochen den Vatikan zu ihrem ganz besonderen Pilgerziel auserkoren hatten, unverhältnismäßig groß. Die rückläufige Anzahl von Gläubigen war eine besorgniserregende Entwicklung. Nikolaus hatte sich an diesem hohen Feiertag auf das zahlreiche Erscheinen seiner Anhänger verlassen, um die Aufmerksamkeit von den Millennariern abzulenken und ihre Provokation durch Fahnen und Gesänge vom Ende der Welt und der Wiederkunft des Herrn abzuschwächen. Tatsächlich hatten die Medien die sogenannten Millennarier von Rom noch zu dieser Belagerung des Vatikan ermutigt, denn sie gewährten ihnen, was sie sich vor allem wünschten: weltweite Beachtung. Eine Nachrichtensendung versuchte die andere zu übertref26
fen, indem sie die absonderlichsten und ketzerischsten Gestalten aufspürten. So wurden durch die Medien die befremdlichsten Elemente der millennarischen Randgruppen in Europa nach Rom gezogen. Obwohl Jerusalem ein größerer und wichtigerer Sammelpunkt der millennarischen Aktivitäten war, gefielen die Annehmlichkeiten Roms den meisten Reportern besser. Das hieß, daß die Millennarier von Rom vergleichsweise leicht Kontakt zu einer großen Zahl von Reportern hatten. Und da Nikolaus der prominenteste religiöse Führer der Welt war, hatten die Medien zu seinem Kummer dieses törichte und störende Chaos bis direkt vor seine Tür getragen. Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, hatte der Pontifex nur zögernd eine Reise in den Nahen Osten abgesagt, wo er eine aufsehenerregende Versammlung mit jüdischen und moslemischen Würdenträgern abhalten wollte. Was noch schlimmer war, er hatte die Bekanntmachung seines Dekrets zur Jahrtausendwende verschieben müssen, eine Verdammung des Materialismus, die er sich zum Ziel seines neuen Papsttums gesetzt hatte. Dieses mit aller Dringlichkeit vorbereitete kirchliche Dokument, mit dem Nikolaus eine heilige Pflicht erfüllen und ein vielversprechenderes neues Jahrtausend einleiten wollte, sollte am 1. Januar bekanntgegeben werden. Jetzt mußte er für seine Botschaft ein günstigeres Klima abwarten. Man konnte diese Situation überhaupt nur hinnehmen, weil der Papst und seine Kardinäle überzeugt waren, daß diese religiöse Hysterie nur von kurzer Dauer sein würde. Genau wie damals im Jahr 999. Am 1. Januar würde diese Millennarierpest, diese Heuschreckenplage der Jahrtausendwende, sich von allein auflösen. Der leidgeprüfte Pontifex konnte das neue Jahr kaum erwarten.
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8 BOTSCHAFT DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA, TEL AVIV, ISRAEL, 21 UHR 13, SAMSTAG, 25. DEZEMBER 1999 Die amerikanische Botschaft in Tel Aviv war ein eindrucksvolles Regierungsgebäude im klassischen Stil, getragen von sechs großen Säulen, zu denen breite Sandsteinstufen hinaufführten. Ein Mann in makelloser Uniform nahm mit leichtem Widerwillen Feldmans Rover in Empfang, der vor Schmutz und Sand nur so starrte, was Feldman überhaupt nicht aufzufallen schien. Als die beiden Reporter mit angemessener, aber in ihrem Fall ganz unabsichtlicher Verspätung eintraten, erwarteten sie bereits Lobeshymnen. Da sie die Abendnachrichten von WNN verschlafen hatten, wußten sie nicht, daß ihr Bericht über das Institut im Negev als Aufmacher gelaufen war. Ihr erster großer Knüller. Feldman und Hunter gingen durch das prachtvolle Treppenhaus in den großen Saal hinauf, herzlich begrüßt von vertrauten Kollegen, aber auch umgeben von unbekannten Gesichtern, die ihnen zu ihrem Erfolg gratulierten. Die Weihnachtsfeier in der amerikanischen Botschaft war ein Fest, das ursprünglich als Anerkennung für die christlichen Konsulatsmitglieder und Angestellten gedacht war, die die Festtage im jüdischen Staat verbringen mußten. Aber allmählich wurden auch israelische Politiker und Würdenträger dazu eingeladen, zusammen mit viel Prominenz aus den Medien und der Wirtschaft. Ein Treffen der Elite. Sogar für den findigen und hartnäckigen Hunter war es nicht leicht gewesen, zwei Einladungen zu ergattern. Feldman war nicht gekommen, um sein Heimweh zu vertreiben. 28
Auch nicht wegen der vorzüglichen Küche oder der neuen Kontakte. Nur die Aussicht, attraktive, alleinstehende junge Frauen zu treffen, die hier angeblich erwartet wurden, machte für Feldman und Hunter den Reiz der Veranstaltung aus. Und zur Genugtuung der Reporter erwies sich dieser Büroklatsch tatsächlich als zutreffend. Die elegantesten und schönsten Frauen, die sie seit ihrer Ankunft in diesem Land getroffen hatten, waren unter den Hunderten ausgewählter Gäste. Hunter und Feldman zwinkerten sich begeistert zu. »Ein wahres Junggesellenparadies«, witzelte Hunter und ließ erfreuten Auges seine Blicke schweifen. Als er eine verlockende Beute entdeckt hatte, steuerte er munter darauf zu und ließ Feldman einfach stehen. Feldman grinste und schüttelte den Kopf, ein bißchen neidisch, als er sah, wie schnell sich sein Freund in der Menge zurechtfand. Für Hunter war das alles viel einfacher. Feldmans Liebesleben im Nahen Osten war bis jetzt alles andere als befriedigend gewesen. Teilweise wegen des hektischen Lebensstils; denn ständig passierte etwas, das in die Nachrichten mußte, und der ständige Zeitdruck durch den Redaktionsschluß ließ kaum Platz für gesellige Kontakte oder Bekanntschaften mit etwas mehr Tiefgang. Aber hauptsächlich kam es einfach daher, daß er viel wählerischer als Hunter war. Als er aus Amerika abreiste, ließ er dort weder Frau noch Freundin zurück. Nicht weil es keine Kandidatinnen gegeben hätte; sein offenes, angenehmes Gesicht, sein umgängliches Wesen und sein liebenswerter Witz hatten ihm bei den Frauen immer genug Interesse gesichert. Aber er hatte eine störrische Scheu vor ernsten Bindungen, eine Einstellung, die darauf zurückging, daß er in noch ziemlich jungen Jahren hatte miterleben müssen, wie die stürmische Ehe seiner Eltern in die Brüche gegangen war. Folglich hatte er es, obwohl er die Gesellschaft intelligenter und attraktiver Frauen sehr genoß, immer vermieden, sich auf längere 29
Beziehungen einzulassen. Bevor er zulassen konnte, daß mehr aus einer Bekanntschaft wurde, war er schon wieder verschwunden. Nicht um böswillig oder absichtlich zu verletzen, sondern um sich selbst zu schützen. Heute abend war Feldman bereit, diesen sinnlosen Kreislauf von neuem zu beginnen. Eigentlich standen seine Chancen an diesem Abend gar nicht schlecht, jetzt, da er plötzlich berühmt geworden war, obwohl er sich in dieser Rolle nicht recht wohl fühlte. Der Angriff auf das Institut im Negev war natürlich das Thema Nummer eins, und der junge Reporter stand hoch im Kurs. Es gab jede Menge Spekulationen und Gerüchte, daß die Anlage ein geheimer Militärkomplex gewesen sei, der nichts Gutes ahnen ließ, und daß dort seltsame und ausgefallene Forschungen betrieben worden seien. Jedermann wollte mehr dazu wissen, und niemand wollte glauben, daß Feldman alles, was er wußte, auch berichtet hatte. Aber er war jetzt mehr an einer ganz besonderen Recherche in eigener Sache interessiert. Ein kurzer, prüfender Blick in die Runde gab keine Auskunft darüber, ob eine interessante junge Frau, die er einmal flüchtig in Israel kennengelernt hatte, anwesend war. Es bestand nur eine vage Möglichkeit. Er vermutete, daß sie Journalistik studierte. Die faszinierende Person war Feldman vor einem Monat während eines Gastvortrags an der Universität in Tel Aviv aufgefallen. Während der Fragerunde nach dem Vortrag hatte Feldman einen kurzen, aber lebhaften Schlagabtausch mit einer attraktiven Frau geführt, die dunkle Augen und einen leicht französisch gefärbten Akzent hatte. Es lief auf eine Meinungsverschiedenheit darüber hinaus, wie stark die persönliche Ansicht eines Reporters vernünftigerweise in einem Bericht erkennbar sein sollte. Ihrer Meinung nach war im Westen die ›von Männern dominierte Riege‹ der Journalisten so besessen von dem Willen zur Objektivität, daß sie jede subjektive Äußerung aus ihren Reportagen verbannten. Sie hatte sich dafür ausgesprochen, daß Journalisten sich 30
nicht scheuen sollten, bei Berichten über brisante Themen moralisch Stellung zu beziehen, und daß sie bei der Unterstützung von positiven politischen und sozialen Zielen eine aktivere Rolle spielen sollten. Feldman hatte mit dem Standardsatz geantwortet, daß Tatsachen für sich sprechen müßten und daß es die Aufgabe eines Reporters sei, zu berichten, nicht zu interpretieren. Ohne es zu wollen, ließ er dann der temperamentvollen jungen Frau das letzte Wort, als sie eine lässige Bemerkung darüber machte, daß ›die ganze Seilschaft der Journalisten zusammengenommen nicht genug Testosteron und Mumm‹ besäße, um sich zu irgendeinem beliebigen Thema ›eine wirklich klare und unerschütterliche Meinung zu bilden‹. Aber die Art und Weise, wie sie das vorbrachte, hatte nichts Giftiges an sich gehabt, eher eine gar nicht so versteckte Koketterie, die ihn völlig aus dem Konzept brachte und von seinem Gedankengang ablenkte. In der kurzen Pause, bevor er sich sammeln konnte, ging das Gelächter im Publikum in Beifall über; der Professor, der den Vorsitz hatte, dankte ihm kurz und bündig, und seine Gegenspielerin verlor sich in der auseinanderströmenden Menge. Feldman empfand nicht so sehr Verlegenheit wegen der Geringschätzung seiner Männlichkeit vor hundert Studenten und Professoren. Nein, es verwirrte ihn, auf welch nonchalante Weise diese freimütige junge Frau seine Journalistenehre angegriffen hatte. Für Feldman bedeutete das eine viel persönlichere Herausforderung. Während er jetzt mit einem Auge nach seiner geheimnisvollen Gegnerin Ausschau hielt, sonnte er sich im Rampenlicht der Öffentlichkeit, denn er wußte nur allzu gut, daß dies von kurzer Dauer sein würde. Erneute Gespräche über den Angriff. Weitere Gerüchte darüber, wozu die Anlage im Negev wirklich gedient hatte. Äußerungen dazu, wer den Raketenangriff zu verantworten hatte und wie die Israeli Defense Force, die nie eine Aggression unbeantwortet ließe, Vergeltung üben könnte. Und so weiter. 31
Es gab nur eine Person, die diesen außergewöhnlichen Tag noch hätte krönen können, und plötzlich tauchte sie auf. Bevor Feldman die Sicht verstellt wurde, erblickte er seine Traumfrau für einen ganz kurzen Moment. Im anschließenden Empfangsraum sah er sie reden und lachen. Noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte. Sie trug eine andere Frisur. Statt der Fülle lang herabfallender Locken hatte sie jetzt ein rabenschwarzes Gewirr von kurzen Löckchen. Aber die Augen und der wunderschöne Olivton ihrer Haut ließen keinen Irrtum zu. Bevor sie wieder in der Menge verschwand, nahm er anerkennend ihre schlanke und elegant gekleidete Figur wahr. Ungeduldig bahnte er sich einen Weg in ihre Richtung. Doch bis er den Raum erreicht hatte, war sie schon wieder verschwunden und ein ungewohntes Gefühl leichter Panik ergriff ihn. Nach kurzer Suche fand er sie im Flur in angeregter Unterhaltung mit einem affektierten, eingebildeten türkischen Geschäftsmann wieder. Der Reporter stellte sich so hin, daß sie ihn bemerken mußte, aber sie war ins Gespräch vertieft. Feldman wartete geduldig während einer belanglosen Unterhaltung mit anderen Reportern, und als er fühlte, daß der Moment gekommen war, löste er sich genau im richtigen Augenblick, um Blicke mit ›Miss Mystery‹ auszutauschen zu können. Er wußte genau, wie er die Sache anpacken würde. Mit gespieltem Zorn, die Hände in die Hüften gestemmt, die Lippen zusammengepreßt, kniff er ein Auge zu, während er die andere Augenbraue hochzog und dann anklagend auf sie deutete: »Sie schon wieder!« sagte er, sah sie mit strenger Miene und aufgerissenen Augen an, in denen sich das Wiedererkennen spiegelte, und hielt die Pose einen Augenblick – dann ließ er ein entwaffnendes Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen. Sie erwiderte strahlend und voller Selbstbewußtsein sein Lächeln, ging auf ihn zu und streckte ihm zum Gruß ihre schlanke Hand entgegen. Mit diesem Signal entließ sie den Türken, der sich enttäuscht 32
davonmachte. Feldman ergriff ihren Ellbogen und ihre glatten, kühlen Finger und zog sie zu sich heran; die Geste machte klar, daß er ihr etwas Persönliches zu sagen hatte. Sie sträubte sich nicht. Um gegen das Stimmengewirr um sie herum anzukommen, führte Feldman seine Lippen an ihr Ohr. Er flüsterte: »Ich habe gerade meinen Testosteronvorrat aufgetankt, Sie müssen also jetzt nett zu mir sein.« Sie lachte einvernehmlich, entschuldigte sich aber nicht, sondern stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Nach dem heutigen Tag nehme ich an, daß Ihr Ego auch aufgetankt ist!« Wieder war nichts Bissiges an ihrer Bemerkung. Ihr scherzhafter Ton mit dem Anflug eines französischen Akzents bezauberte ihn. Er glaubte, daß es wirklich nur eine scherzhafte Bemerkung war. Als er merkte, daß er ihren Arm immer noch mit beiden Händen festhielt, ließ er sie verlegen los. Aber sie schien nicht darauf zu achten und wich nicht zurück. »Wie heißen Sie?« fragte er. »Anke Heuriskein.« »Und Sie studieren an der Universität in Tel Aviv?« »Ich bin dabei, über internationales Recht zu promovieren.« »Jura? Ich dachte, Sie studieren Journalismus.« »Nein. Journalismus war in den ersten Semestern mein Hauptfach. Es hat Spaß gemacht, aber es hat keine rechte Zukunft.« Sie sagte das ganz nüchtern, und Feldman wußte nicht, ob sie es diesmal ernst meinte. Sie sah ihm das wohl an, denn sie lächelte ihm von der Seite zu und stieß ihn mit ihrem Zeigefinger in die Rippen. Sie hatte wirklich ein Talent dafür, ihn zu überrumpeln, und er nahm sich vor, in Zukunft besser auf der Hut zu sein. Auch beschloß er, den Spieß einmal umzudrehen, was ja nicht unfair wäre. »Also«, sagte sie neckend, »glauben Sie immer noch, daß Journa33
listen nur Berichte verfassen und ohne persönliche Anteilnahme die Ereignisse festhalten sollten?« »Sie meinen wohl, ob ich immer noch ein Verfechter der unparteiischen, unvoreingenommenen, fairen und freimütigen Berichterstattung bin?« Er hielt diese Antwort seit einem Monat bereit. »Nein. Aber denken Sie nicht, ein Journalist sollte ein soziales Gewissen haben? Sollte Verantwortung für die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Story übernehmen?« »Ich glaube nicht, daß es der Auftrag eines Reporters ist, Berichte zu beeinflussen, Ereignisse einseitig darzustellen oder Nachrichten zu machen, wenn das Ihre Frage war«, antwortete er beharrlich. »Die Aufgabe eines Berichterstatters ist das Berichten. Klar und einfach.« »Aber die Dinge liegen nicht immer so klar und einfach, oder?« sagte sie sanft und wandte mit einem vielsagenden Blick die Augen von ihm ab. Feldman war hingerissen. Er lockerte seine zerknitterte Krawatte, um es sich etwas bequemer zu machen. Seine Konzentration wurde durch Hunter gestört, der wieder auftauchte und sich von der anderen Seite des Raumes einen Weg zu ihm bahnte. Feldman sah Hunters ernste Miene und seufzte hörbar. Hunter beugte sich zu Anke hinüber und zeigte mit dem Daumen auf Feldman. »Sorry, daß ich störe, aber der berühmte junge Mann hier wird im Studio gebraucht.« Er drehte sich um und bekam Feldman am rechten Arm zu fassen. »Ich hab' gerade einen Anruf von der Zentrale bekommen. Die Geschichte fängt jetzt erst richtig an.« Feldman biß sich auf die Lippe, nickte, wandte sich Anke zu und sah den belustigten Blick auf ihrem schönen Gesicht. Feldman fragte zögernd: »Kann ich …« »Ich bin oft weg«, unterbrach sie ihn, »soll ich Sie anrufen?« Sie nahm ein kleines schwarzes Notizbuch aus ihrer Tasche, um Feldmans Telefonnummer zu notieren. 34
Widerwillig folgte Feldman seinem Kollegen und mußte tatenlos zusehen, wie alsbald ein anderer seinen Platz einnahm.
9 WNN-STUDIO JERUSALEM, ISRAEL, 23 UHR 56, SAMSTAG, 25. DEZEMBER 1999 Als Hunter und Feldman in die WNN-Zentrale zurückkamen, herrschte in den engen Büros überall nervöse Geschäftigkeit. Arnold Bollinger, der Regionalleiter der Nachrichtenabteilung, bemerkte die zwei Reporter sofort und nahm sie zur Seite. Bollinger, Mitte Fünfzig, war ein ernster Mann, ein Schwarzer mit einem hervorragenden Instinkt für Nachrichten; er war stämmig, kräftig gebaut und eher klein, sein Haar schon leicht ergraut. Sein Gesicht mit den großen grauen Augen war offen und ehrlich. Obwohl Feldman und Hunter für Bollingers Begriffe ein wenig zu unbekümmert und undiszipliniert sein mochten, schätzte er doch ihre Arbeitsweise, die überzeugende Ergebnisse brachte. Hunter hatte nicht ohne Grund den Ruf, waghalsig zu sein. Feldman hatte einen stabilisierenden Einfluß auf ihn, auch wenn er sich allzu leicht vom Weg abbringen ließ. Aber jetzt war Bollinger geradezu euphorisch wegen ihres Berichts über den Angriff auf die Anlage in der Wüste und nur allzu gewillt, sie mit einer großen Nachrichtenstory, die offenbar noch einiges versprach, vorpreschen zu lassen. »Wir haben ein paar interessante Reaktionen bekommen, Jungs«, 35
erklärte er und gab Feldman eine Auswahl von Meldungen. »Besonders diese hier.« Er nahm eine Seite heraus und zeigte auf zwei Namen. »Dr. Kiyu Ornato … und Dr. Isotu Hirasuma?« Feldman versuchte, die Notiz zu lesen. »Japaner?« »Zwei Astronomen aus Japan, die draußen in dem großen Observatorium im Negev irgendeine Studie machen«, sagte Bollinger. »Wir haben sie überprüft, sie sind sauber. Gute Referenzen. Sie haben eure Sendung gesehen und warten schon eine Weile, um euch zu treffen. Behaupten, sie seien Augenzeugen und wollen nur mit euch sprechen.« »Eigentlich würde ich gern jemanden finden, der im Innern des Forschungsinstituts war«, murmelte Feldman vor sich hin, »um herauszufinden, was es dort überhaupt so Wichtiges gab, daß die Jordanier dafür einen Krieg riskieren würden. Irgend etwas Neues dazu, Arnie?« Bollinger schüttelte den Kopf. »Nicht einmal die amerikanischen Geheimdienstkreise wissen Näheres. Zumindest behaupten sie das. Das einzige, was man bis jetzt weiß, ist, daß es ein biotechnisches Labor war. Und die Israelis behaupten zwar, es seien die Jordanier gewesen, aber das Außenministerium hat das nicht bestätigt.« Hunter schloß sich den Überlegungen an. »Na ja, die Jordanier, oder wer auch immer, waren bestimmt nicht darauf aus, 'ne neue Zuchtkarotte zu bombardieren. Muß doch 'ne militärische Einrichtung zur Entwicklung von chemischen oder biologischen Waffen gewesen sein.« Hinter ihnen mischte sich eine spöttische Stimme ein. »Ja, und ihr Jungs wart da draußen und seid in dem verseuchten Trümmerhaufen rumgestapft, ungeschützt und dem Gift ausgesetzt.« Es war Cissy McFarland, die Projektkoordinatorin von WNN, die die Unterhaltung zufällig mitbekommen hatte. Sie hatte immer einen kleinen überfälligen Vergeltungsschlag gegen die beiden Reporter parat. 36
›Sassy‹, was so viel wie ›frech‹ bedeutet, hatte Hunter sie oft gerufen. Cissy, sehr selbstbewußt für eine Dreiundzwanzigjährige, war eine von Bollingers Schützlingen. Sie war hochintelligent, was ihr ein ›summa cum laude‹ eingebracht hatte, und sah einer vielversprechenden Laufbahn bei WNN entgegen. Als Witz gemeint, lenkte ihre Bemerkung über die Verseuchung das Gespräch doch in eine unbehagliche Richtung. »Nicht ganz schutzlos ausgesetzt«, sagte Hunter, als sie vorbeifegte, ohne ihn zu beachten. »Na sicher, ihr seid doch zwei blöde Nachrichtenhengste«, warf sie ihnen über die Schulter zu, als sie mit wehendem rotblondem Haar und wiegenden Hüften um die Ecke bog und sie mit gespielter Verachtung stehenließ. Hunter grinste, Feldman schien nachdenklich. »Na gut, Arnie«, sagte Feldman, beendete die Besprechung und ging mit Hunter zu ihrem eigenen Büro. »Reden wir also mit den Augenzeugen, bevor wir nach diesem verrückten Tag Feierabend machen!« Feldman wollte nur eine kurze Pause einlegen, um sein Jackett auszuziehen, einmal tief durchzuatmen und sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Aber die zwei Japaner, die ihn schon erwarteten, gaben keine Ruhe. Sie kannten Feldman vom Sehen, drängten Hunter vor lauter Eile zur Seite und fingen unter Verbeugungen an, dem Fernsehreporter etwas vorzuschwatzen und ihn mit einem unverständlichen Wortschwall zu überschütten. Nur mit einigen Schwierigkeiten gelang es Feldman, ihre Identität herauszufinden: Es waren Kiyu Omato, ein etablierter Professor an der Universität Kyoto, und sein Assistent, Isotu Hirasuma. Der Professor konnte sich fast nicht mehr beherrschen. »Nicht Rakete!« erklärte er Feldman mit starkem Akzent. »Meteorit!« Feldman schloß für einen Moment die Augen und ließ das Kinn vor Enttäuschung auf die Brust sinken. Er hatte neue, aufklärende 37
Einblicke zu dem Angriff erwartet. Er blickte auf und sah zuerst Hunter und dann wieder die zwei Astronomen an, die beklommen seine Antwort abwarteten. »Vielen Dank, meine Herren, ich weiß Ihre Meinung als Fachleute zu schätzen, aber ich glaube, niemand, am wenigsten die Israelis, werden Ihnen die Meteoritentheorie abnehmen.« »Nicht Theorie.« Auf dem ernsten Gesicht zeichnete sich Besorgnis, wenn nicht sogar heftige Erregung ab. Der Professor zog ein weißes Taschentuch aus der Hosentasche und wickelte es auf, um einen geschwärzten, formlosen Steinbrocken herauszunehmen, der etwas größer als ein Tennisball war. »Meteorit!« sagte er wieder und schob Feldman den Gegenstand hin, während sein Assistent vehement zustimmend nickte und sein eigenes Taschentuch hochhielt. »Kein Angriff – Unfall! Jetzt kein Krieg!« Und dann zog der zweite Astronom ebenfalls eine Tasche hervor, die mit weiteren Bruchstücken gefüllt war, und erklärte, in viel klarerem Englisch: »Vier Leute, wir haben gesehen Meteorit von Observatorium. Wir selbst mit unsere Augen haben beobachtet Meteorit, der trifft Labor. Auf dem Weg dort, wo Aufprall war, wir haben gefunden Mensch, der überlebt in der Wüste.« Feldman riß die Augen auf. Hunter sah von einem der Steinbrocken auf, den er betrachtet hatte. »Ein Überlebender?« fragten sie wie aus einem Mund. »Ja. Junge Frau vom Labor in Wüste.« Hunter und Feldman hatten schon entschieden, daß sie den jüngeren Astronomen, der sein Oxfordenglisch besser beherrschte, als Kandidaten für ein Interview vorzogen. Feldman packte ein Mikrophon aus, und Hunter schaltete seine Kamera an. Hirasuma räusperte sich und fing noch einmal von vorne an. »Wir drei sind weggegangen von Observatorium, wir sind Meteor gefolgt. Aber außen vor Laborgelände, wir haben getroffen Leute aus Wüste …« 38
»Beduinen?« riet Hunter. »Älterer Mann und Frau … mit Überlebender, verletzt.« »Sie haben also tatsächlich gesehen, daß der Meteor das Zentrum getroffen hat?« Feldman ging ihren Bericht noch einmal durch, um ihre Aussagen zu überprüfen. »Ja.« »Wie weit waren Sie davon entfernt?« »Vielleicht fünfzehn Kilometer, aber sehr klare Nacht: Wir haben durch Fernglas gesehen große Explosion und fahren hin mit Auto.« »Erzählen Sie mir mehr über diese Überlebende«, bat Feldman. »Sie war junge Frau. Vielleicht zwanzig Jahre alt.« »Sie viel blutet und in Schock«, warf der ältere Mann ein. »Kleider weggerrissen. Sie riecht wie Rauch. Sie nicht spricht, nicht geht, macht nur schreckliche Ton. Augen sehen nicht richtig.« »Was haben Sie mit ihr gemacht?« wollte Feldman wissen. »Wir haben gegeben Erste Hilfe«, sagte Hirasuma. »Mann und Frau uns nicht lassen zu Klinik bringen. Wir haben geholfen auf Wagen legen und zudecken mit Decke. Wir haben Mann und Frau Erste-Hilfe-Kasten gegeben und Essen und Geld. Sie weggegangen und wir haben gesucht Stücke von Meteorit.« »Wir Sie sehen im Fernsehen«, fügte Ornato hinzu, »dann wir wissen, wir müssen sagen, was passiert.« »Dr. Ornato ist Spezialist«, versicherte der jüngere Astronom. »Er macht kein Fehler. Meteorit, nicht Rakete. Kein Krieg!« »Denken Sie, daß Sie die Stelle wiederfinden würden, an der Sie die Überlebende entdeckt haben?« fragte Feldman. »Ja«, antworteten beide Männer. Feldman und Hunter ließen sich Adressen und Telefonnummern geben, dankten den Wissenschaftlern und versprachen, sich am nächsten Tag mit ihnen in Verbindung zu setzen. Anscheinend nicht sicher, ob sie die Reporter überzeugt hatten, blieben die beiden Astronomen zögernd stehen. »Sie sagen ganze 39
Welt?« sah sich der Professor noch einmal veranlaßt zu fragen. »Wir werden sehen«, antwortete Feldman, ohne sich festzulegen, schüttelte ihnen die Hand und erwiderte ihre Verbeugungen, als sie sich entfernten. Er behielt seine Gedanken für sich, bis die Astronomen weg waren, dann wandte er sich mit skeptischer Miene seinem Kollegen zu. »Was meinst du?« Hunter, der mit leerem Blick in die Ferne gestarrt hatte und jetzt einen Gesteinsbrocken in die Luft warf, zuckte die breiten Schultern und antwortete lässig: »Ich meine, wir können daraus 'nen tollen Folgebericht machen. Zu gerne würd' ich ja mal ihre Überlebende ausfragen … irgend jemand, der weiß, was in der Anlage vor sich ging.«
10 IDF-KOMMANDOZENTRALE, SÜDLICHER NEGEV, 1 UHR 37, SONNTAG, 26. DEZEMBER 1999 In der Kommandozentrale der israelischen Streitkräfte, die ungefähr fünfundvierzig Kilometer südlich von dem zerstörten Laboratorium in der Wüste Negev lag, war das aufgeschreckte IDF-Oberkommando zusammengekommen, um sich über den Vorfall informieren zu lassen. Stabschef General Mosha Zerim, ein distinguierter Mann von vierundsechzig Jahren mit aufrechten Schultern, hatte nachdenklich und schweigend zugehört, bis der letzte Offizier seinen 40
Bericht beendet hatte. Der General ließ dann alle bis auf eine Handvoll seiner engsten Berater gehen, lehnte sich im Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander. »Gentlemen«, begann er, »ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie ernst die Lage ist. Verteidigungsminister Tamin ist sehr aufgebracht. Wenn der Premierminister oder die Knesset herausfinden, was passiert ist, wird uns das die Köpfe kosten. Uns allen!« Nach einer langen Pause fragte er einen Kollegen: »Ben, jetzt, nachdem du die Berichte gehört hast, was, glaubst du, hat die Explosion verursacht?« Brigadegeneral Benjamin Roth sah von seinem Notizblock auf und seufzte laut. »Es muß ein Angriff gewesen sein, Mosha.« »Aber es gibt doch keinen Beweis dafür, Ben«, argumentierte der Befehlshaber des Geheimdienstes, David Lazzlo, ein mittelgroßer, gepflegter Mann mittleren Alters, dessen kurzes, ordentlich gekämmtes Haar leicht ergraut war. »Es gibt keine Sprengstoffspuren. Keine Bruchstücke von Geschoßmänteln, weder von Raketen noch Bomben. Unsere Aufklärungssysteme und die amerikanischen Überwachungssatelliten können keinen Abschuß bestätigen, kein Flugzeug in der Umgebung. Nichts.« »Wir haben Radaraufzeichnungen nach dem Abschuß«, warf ein ranghöherer General, Alleza Goene, ein. »Die Rakete wurde wahrscheinlich von einem Bomber aus ferngezündet. Und jetzt kann man noch nicht wissen, ob es Spuren der Bombe gibt. Außerdem war die Zerstörung so total, daß vielleicht alle Spuren vernichtet sind. Mein Gott, fast die ganze Anlage hat sich praktisch in nichts aufgelöst!« Goene, ein Veteran und Held des SiebenundsechzigerKrieges, war ein großer, kraftvoller Mann von siebenundfünfzig Jahren, der einschüchternd wirkte. Die Ungeduld über die vorsichtigen Einschätzungen der anderen war seinem geröteten Gesicht abzulesen. Lazzlo schien unzufrieden mit dieser Beurteilung. »Wie können 41
wir uns dann aber die große Konzentration von natürlichen Eisenerzrückständen erklären?« fragte er. Nachdem er den größten Teil des Tages die Untersuchungen in den Trümmern überwacht hatte, sprach er sich unerschütterlich gegen einen Vergeltungsschlag aus. »Ich gebe zu, es klingt unglaublich, aber wir können die Möglichkeit, daß ein Meteorit eingeschlagen hat, nicht ausschließen. Es gibt Anhaltspunkte, die dafür sprechen. Wir haben eine Zeit lebhafter Meteoritenschauer.« »Es gibt einfach zu viele ›geschickt‹ zusammentreffende Zufälle!« erwiderte Goene. »Seit Monaten kommen von Syrien und dem Iran offizielle Anfragen zum Zweck der Anlage. Sogar die USA finden die Ziele, die wir dort verfolgen, verdächtig. Und die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Treffers, eines so perfekt geplanten und zielsicheren Einschlags, daß er zu hundert Prozent genau die Mitte der Einrichtung während der abschließenden Phase der Arbeiten trifft, ist kaum vorstellbar! Und dann die Flugbahn dieses ›Meteoriten‹, die viel zu flach war, und der Flug, der viel zu lange dauerte, um ohne Antrieb auszukommen, wie Sie behaupten.« »Goene hat recht, außer in einem Detail«, schloß Roth. »Wir sind nicht von einer Rakete angegriffen worden, sondern von einer Superkanone, an deren Entwicklung der Irak vor dem Golfkrieg arbeitete. Nehmen wir an, die Jordanier hätten entdeckt, was in dem Zentrum los war, und hätten die Meteoritenschauer als Tarnung benutzt und von einer versteckten Superkanone aus ein Eisenerzprojektil abgeschossen. Eine Kanone würde das Fehlen eines Selbstabschußsystems erklären. Und die Jordanier hätten das unwahrscheinliche, aber vertretbare Argument, ein Meteorit sei eingeschlagen.« »Alles sehr überzeugend, Gentlemen«, entgegnete David Lazzlo, »nur daß dieses Projektil beim Aufprall ein geschätztes Gewicht von mehr als einer Vierteltonne gehabt haben müßte. Welche technischen Möglichkeiten gibt es, einen Gegenstand dieser Größenordnung ohne eigenen Antrieb über dreißig Kilometer hinweg auf eine 42
solche Flugbahn zu katapultieren?« »Eine Technik, die nicht weniger unglaublich ist als das, was wir geschaffen und was wir in diesem Labor verloren haben!« schnauzte der wütende Goene mit überzeugender Logik zurück und brachte Lazzlo zum Schweigen. Nachdem er zur Beruhigung der erhitzten Gemüter einen Moment verstreichen ließ, gab der Vorsitzende, General Zerim, sein Urteil ab. »Ungern muß ich Ben und Alleza recht geben. Die Meteoritentheorie ist einfach nicht glaubhaft. Ob es uns gefällt oder nicht, wir werden die Position des Verteidigungsministers Tamin unterstützen müssen. Der offizielle Standpunkt der Streitkräfte und das vorläufige Ergebnis unserer Ermittlungen ist, daß es ein unprovozierter Angriff war. Wir werden die Untersuchungen fortsetzen, die Verursacher ermitteln und dann einen angemessenen Gegenschlag durchführen. Unsere Streitkräfte werden bis auf weiteres in voller Alarmbereitschaft stehen.«
11 IN DEN TRÜMMERN DES ISRAELISCHEN NEGEV FORSCHUNGSINSTITUTS, WÜSTE NEGEV, SÜDISRAEL, 9 UHR 46, 26. DEZEMBER 1999 Mit Bollingers Zustimmung waren Feldman und Hunter am nächsten Morgen in die Wüste zurückgekehrt, um die japanischen Augenzeugen zu treffen. Im Tageslicht gab es außerhalb der Umzäunung auch nur das zu sehen, was in der Nacht schon zu ahnen ge43
wesen war. Die meisten Millennarier waren verschwunden, aber das israelische Militär war so zugeknöpft und unnachgiebig wie zuvor. Andere Fernsehanstalten und Berichterstatter waren jetzt ebenfalls zur Stelle. Auch die Morgenzeitungen hatten dem, was Feldman und Hunter gemeldet hatten, nichts hinzuzufügen. Wie zuvor lautete der offizielle Kommentar der israelischen Streitkräfte, daß eine feindliche Rakete eingeschlagen und bis jetzt niemand die Verantwortung dafür übernommen habe. »Und dieser verflixte Verteidigungsminister Shaul Tamin wird, wenn es um israelische Sicherheitsinteressen geht, nie eine Pressekonferenz abhalten«, beklagte sich Hunter laut bei Feldman. Als sie die japanischen Wissenschaftler heranfahren sahen, warf der Kameramann seine Zeitung auf den Rücksitz und stieg aus dem Rover, um ihnen entgegenzugehen. »Für unseren Folgebericht brauchen wir mehr als einen zweiten Aufguß. Mal sehen, was unsere Freunde uns hier zeigen können.« Diesmal waren alle vier Astronomen gekommen. Sie bildeten schnell eine Wagenkolonne, bevor die anderen Nachrichtenteams ihnen auf die Spur kamen, und fuhren Richtung Osten in die Wüste hinein. Nach weniger als fünfzehn Minuten hatten die Japaner den Graben gefunden, wo sie behaupteten, die Überlebende entdeckt zu haben. Weggeworfene Verpackungen von Binden und Mull, zertrampeltes Gebüsch, Reifenspuren, Abdrücke von einem Karren und Fußspuren im kiesbedeckten Sand bestätigten ihre Schilderung. Aber kein Anzeichen von der Überlebenden oder den Beduinen. Eine einstündige, ausgiebige Suchaktion förderte nichts als ein paar Pilgergruppen und ungefähr zwanzig Kilo Meteoritenfragmente – jedenfalls betrachteten die Astronomen sie als solche – zutage. »Das Ehepaar, das die Überlebende mitgenommen hat, ist wahrscheinlich unterwegs zur großen Straße nach Jerusalem«, vermutete 44
Hunter und teilte den Japanern mit, daß sie die Suche abbrechen wollten. Unsicher, ob ihre Beweise Feldman und Hunter überzeugt hatten, blieben die Wissenschaftler immer noch mißtrauisch. »Jetzt Sie im Fernsehen sagen Wahrheit?« bat der Professor noch einmal. »Sie haben uns sehr geholfen«, sagte ihnen Feldman. »Wir werden es ernsthaft in Erwägung ziehen.« Die Astronomen dankten ihnen überschwenglich und machten sich auf, um noch mehr Bruchstücke zu suchen. Nachdem sie gegangen waren, schlug Hunter vor: »Wie wäre es, wenn wir zu den Trümmern zurückgingen und die Kamera für unseren Folgebericht am selben Ort aufstellen wie vorher?« »Gut«, sagte Feldman, »nur weiß ich nicht recht, wie wir das angehen sollen. Du glaubst doch die Geschichte von dem Meteor nicht, oder?« »Quatsch, natürlich nicht, aber ich finde, es fällt uns für die Folgesendung direkt wie vom Himmel in den Schoß. Die Jesusleute werden heute bei diesen Nachrichten ihren großen Tag haben.« Feldman überzeugte das nicht. »Ich hab' Probleme damit, Breck. Das ist doch National Inquirer-Niveau. Wenn wir den Schrott über den Meteoriten rausbringen, bestätigen wir damit doch die Weltuntergangssekten. Da können wir gleich Gideons Trompete blasen.« »Aber es ist ja nicht so, daß wir die Story erfinden, Jon«, argumentierte Hunter. »Diese Astrologen sind keine Millennarier, Mann, sie sind professionelle Wissenschaftler! Und Augenzeugen obendrein. Bollinger hat sie sich doch genau angesehen. Wir bringen nur ihre Expertenmeinung!« »Astronomen«, verbesserte ihn Feldman, fand aber den Versprecher interessant. »Ich weiß nicht, Breck, wir müssen hier wirklich mit Verantwortung handeln.« Hunter schüttelte den Kopf. »Okay, paß auf. Jetzt legen wir mal los und machen zwei Bänder, eins davon als Meteoritenversion. 45
Dann, wenn wir zurückkommen, lassen wir die Gesteinsproben des Meteors untersuchen. Wenn sie sich als frisch erweisen, nehmen wir die Story. Oder wenigstens lassen wir Bollinger entscheiden. Das ist doch fair, oder? Verdammt noch mal, und wenn sie echt sind? Wir könnten einen Krieg verhindern!« Feldman zuckte mit den Achseln. »Herrgott, ich find's eben furchtbar, wenn wir die einzige brisante Meldung, die wir seit drei Monaten haben, behandeln, als wären wir bei der Boulevardpresse.« Er stand im Sitz des Rovers auf, streckte sich und sah hinaus auf den Rauch, der aus den immer noch schwelenden Trümmern abzog. »Ich will wissen, was da drüben los ist. Ich will die Frau finden, die überlebt hat.«
12 IDF-MILITÄRSTÜTZPUNKT DAYAN, JERUSALEM, ISRAEL, 10 UHR, SONNTAG, 26. DEZEMBER 1999 General Goene saß allein in seinem Dienstzimmer. Ein Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen düsteren Gedanken. Ein Adjutant kam herein und meldete, WNN habe eine neue Entwicklung im Zusammenhang mit dem Negev Institut gemeldet. Fluchend entließ Goene den Assistenten mit einer gereizten Handbewegung und griff nach der Fernbedienung. Auf seinem Fernseher erschien ein dunkelhaariger, sauber rasierter junger Mann. Er stand vor dem Haupttor der zerstörten Anlage in der Wüste Negev und hatte einen großen 46
schwarzen Gesteinsbrocken in der Hand, während dicker schwarzer Rauch in dichten Schwaden hinter ihm in den Himmel stieg. »…Berichte, die durch zwei unabhängige Experten erhärtet werden«, sagte der Mann, während auf dem Bildschirm die Gesichter eines Geologen von der Universität Tel Aviv und eines fernöstlich aussehenden Wissenschaftlers eingeblendet wurden. »Was gestern noch aussah wie ein Angriff auf das israelische Forschungszentrum, ist vielleicht in Wirklichkeit das Ergebnis einer Naturkatastrophe, der Einschlag eines großen Meteoriten.« Als der Bericht zu den Interviews mit den beiden Fachleuten überging, die ihre Behauptungen mit großen Proben von geschwärztem Eisenerz untermauerten, machte der General ein finsteres Gesicht. »Bei ihrer Suche nach diesen Bruchstücken des Meteoriten«, fuhr der Reporter fort, »stieß das Astronomenteam möglicherweise auf die einzige Überlebende der Katastrophe. Eine dunkelhaarige junge Frau Anfang Zwanzig, eher klein und zierlich, die schwere Verletzungen hatte. Sie steht möglicherweise unter Schock. Sie wurde zuletzt gestern am frühen Morgen am Unfallort gesehen, wo ein Beduinenpaar sich ihrer annahm.« Laut fluchend knallte Goene die Fernbedienung auf seinen Schreibtisch und griff zum Telefonhörer. »Verbinden Sie mich mit Lazzlo!« schrie er ins Telefon und starrte auf die nächste Nachrichtenmeldung, ohne sie wahrzunehmen. Eine Minute später ertönte die Stimme des Kommandeurs des Geheimdienstes über den Lautsprecher des Telefons. Goene ignorierte Lazzlos Gruß. »Ich nehme an, Sie haben die Nachrichten gesehen?« schäumte der General. »Sie haben Ihren Mist mit dem Meteor mitbekommen, und jetzt reden sie von einer Überlebenden. Eine verstörte, neurotische Frau. Wer weiß, was sie alles ausplaudern wird! Wie weit sind wir mit der Identifizierung der Leichen? Wenn es jemanden gibt, der überlebt hat, will ich wissen, wer es ist, verdammt noch mal. Und zwar sofort.« 47
13 WNN-STUDIO JERUSALEM, ISRAEL, 9 UHR 17, MONTAG, 27. DEZEMBER 1999 »Da habt ihr einen Nerv getroffen, Jungs!« Bollinger gratulierte Hunter und Feldman bei der Redaktionssitzung. »Die israelischen Streitkräfte sind ganz aufgeregt wegen eures Meteoritenberichts! Und das Ding mit der Überlebenden? Es abzustreiten ist so schwer, daß es einfach wahr sein muß!« Sie hatten ihren Chef noch nie so begeistert erlebt. »Wir haben gerade ein offizielles Telegramm von Verteidigungsminister Shaul Tamin höchstpersönlich bekommen«, brüstete sich Bollinger. »Und er verlangt einen sofortigen Rückzieher. Tamin will der Regierung vorliegende Zahlen veröffentlichen, nach denen die Wahrscheinlichkeit, daß ein Objekt aus dem Weltraum ihre Anlage trifft, geringer als eins zu sechs Milliarden ist. Er droht mit Vergeltungsmaßnahmen gegen Jordanien. Und Jordanien wirft den Israelis Selbstsabotage vor, um die Friedensverhandlungen scheitern zu lassen.« »Hört man etwas vom amerikanischen Geheimdienst über die Ursache der Explosion?« fragte Cissy. »Nein, nichts«, antwortete Bollinger. »Bis jetzt haben sie keine bessere Erklärung gefunden als den Meteoriten. Niemand hat die Verantwortung dafür übernommen. Sogar die Hisbollah und Hamas erklären diesmal, nicht beteiligt zu sein.« »Ich dachte, vielleicht interessiert euch das«, bot Feldman ein weiteres Informationshäppchen an. »Ich habe ein Fax von Dr. Ornato 48
und seinen Kollegen bekommen. Sie beschweren sich darüber, daß der IDF versucht, ihnen ihre Visa zu entziehen.« »Ich werde unsere Kontakte zur Knesset nutzen und sehen, was ich tun kann«, schlug Bollinger vor und sah sorgenvoll drein. »Aber die gute Nachricht ist«, und hier strahlte der Studiochef wieder, »daß die Einschaltquoten von WNN rasant ansteigen. Unsere Zuschauerzahlen klettern, und wir bekommen zusätzliche Mittel und personelle Verstärkung für unsere Recherchen.« Obwohl die Entwicklung der Dinge ihn mit Genugtuung erfüllte, konnte Feldman doch die weltweiten Auswirkungen der Meteoritengeschichte nicht übersehen. Das Jahrtausendwendefieber nahm zu. Aber außerdem vollzog sich in der kollektiven Psyche der auf das neue Jahrtausend Wartenden auch eine andere, weniger offen zutage tretende Veränderung. Die Sorglosigkeit, mit der man vorher überall dem Neujahr entgegengesehen hatte, wich einer ernüchternden Erkenntnis. Plötzlich war das Versprechen, für manche der Fluch des neuen Jahrtausends, greifbar geworden. Und in Jerusalem gab es jetzt jeden Abend größere Versammlungen, die immer länger dauerten und bei denen die Stimmung von den lodernden Lagerfeuern ebenso wie von feurigen Reden angeheizt wurde. Schnell näherte sich der Letzte Tag für die Millennarier. Und die Welt sah zu.
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14 NATIONALE KIRCHE DES UNIVERSALEN KÖNIGREICHS, DALLAS, TEXAS, USA, 22 UHR 30, MITTWOCH, 29. DEZEMBER 1999 Right Reverend Solomon T. Brady war wütend auf WNN. Er hatte den Rang eines Bischofs und war Doktor der Theologie, ein kleiner, gedrungener, rotgesichtiger Mann mit einer perfekten Pompadourfrisur, die die weißen Haare sorgfältig über der Stirn auftürmte. Er verabscheute die sensationslüsterne Aufmerksamkeit, die die Medien den grotesken Millennariern so großzügig zuteil werden ließen, während seine rechtmäßige Kirche Tausende von Dollars pro Minute für die erforderliche Sendezeit bezahlen mußte. Genauer gesagt, er war verärgert über die wachsende Anziehungskraft, die das millennarische Gedankengut auf seine eigene Herde ausübte. Brady wußte sehr wohl, daß seine Anhänger für die Apokalypse anfällig waren. Obwohl seine eigene Botschaft sich ebenfalls die Ängste vor dem Jüngsten Gericht zunutze machte, war er nicht so opportunistisch oder plump, daß er das Thema nur ausschlachtete, weil die Jahrtausendwende bevorstand. Und auch nicht so kurzsichtig. Während die Millennarier jetzt ihre große Zeit haben mochten, würde das Ende doch sehr schnell für sie kommen. Reverend Bradys verlorene Schafe würden schon bald – spätestens am Neujahrstag – in den Schoß ihrer Gemeinde zurückkehren und treuer und großzügiger sein denn je. Schließlich würden sie akzeptieren, was er schon immer so beharrlich gepredigt hatte: daß die Umwälzung zu einer Zeit kommen würde, die kein Sterblicher voraussagen konnte. Genauso wie Christus es verkündet 50
hatte. Doch in der Zwischenzeit erlebte der Reverend die schwierigste Periode seiner Amtszeit. Seine Kirche, die einst knapp achthunderttausend Seelen umfaßt hatte, war in letzter Zeit beträchtlich geschrumpft. Und die heutige Nachricht machte es noch schlimmer. Reverend Brady ahnte es bereits, als er von seinem breiten Mahagonischreibtisch aufsah und den Leiter der Buchhaltung vor sich hatte, der auf irritierende Weise von einem Fuß auf den anderen trat. Der Buchhalter war so unauffällig wie ein Bestattungsunternehmer in Bradys Büro erschienen, um zögernd einen Bericht über die aktuellen Spendenzahlen des Universalen Königreichs vorzulegen. Reverend Brady blätterte ungeduldig die letzten Seiten durch und entdeckte, daß die Einnahmen im Vergleich zur vorigen Woche um weitere sieben Prozent gefallen waren. Ärgerlich schob er das Dokument beiseite und fegte dabei einen Aschenbecher vom Tisch, der die Aufschrift 1998 Universales Königreich trug und neunundzwanzig Dollar wert war. Der Aschenbecher knallte auf den Marmorboden, wo er zerschellte. Wortlos wandte sich Brady zum Fenster und sah mit finsterem Blick auf den weit unter ihm liegenden, geschäftigen Campus hinunter.
15 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 17 UHR 30, FREITAG, 31. DEZEMBER 1999 Der Ölberg war die höchste Erhebung in Jerusalem. Sein Gipfel er51
hob sich etwa vierhundert Meter über die Stadt, und an seinem Fuß lag der heilige Garten Gethsemane, wo Christus zum letzten Mal vor seiner Gefangennahme und Kreuzigung gebetet hatte. Zwischen Gethsemane und dem Goldenen Tor der Stadt zog sich ein tiefes, schmales Tal hin, das Kidrontal, ein großer jüdischer Friedhof. Die jüdische Tradition besagte, daß der Messias am Tag des Jüngsten Gerichts über den Ölberg nach Jerusalem käme, um die Toten, die im Kidrontal begraben liegen, um sich zu scharen und die Altstadt von Jerusalem durch das Goldene Tor zu betreten. Diesen Prophezeiungen zum Trotz hatten die Araber jedoch das Tor vor vielen Jahrhunderten mit Steinen zugemauert. Der Nachmittag des großen Tages war gekommen. Hunter, Feldman, Cissy und ein komplettes WNN-Team hatten ihre Geräte in einer Wohnung im zweiten Stock eines Hauses aufgebaut, das am oberen Teil des Berges lag. Glücklicherweise war es ihnen gelungen, diesen Standort als provisorische Zentrale zu bekommen, denn in der Gegend gab es nur wenige Wohnhäuser und gewerbliche Gebäude. Die meisten Bauten auf dem dünnbesiedelten Berg waren religiöse Stätten, die zwischen Pinien, Olivenbäumen und vereinzeltem Gestrüpp verstreut lagen. Es gab heilige Schreine, Gräber, Kirchen, Tempel und mehrere Ruinen, die aus verschiedenen Epochen von der Zeit König Davids bis zu den Kreuzzügen und den Templerorden stammten. WNN hatte für diese Nacht eine ganze Wohnung gemietet und eine exorbitante Summe gezahlt, um die Bewohner auszuquartieren. Vom Balkon der Wohnung aus hatte man eine gute Aussicht auf den höchsten Punkt des Berges, den imposanten Turm der Himmelfahrtskapelle, der nur fünfzig Meter entfernt lag. Genau an dieser Stelle, so glaubten die Christen, war Jesus triumphierend in den Himmel emporgestiegen. Daher meinten die meisten Millennarier, Christus müsse logischerweise hier auch wieder herabsteigen. Vom Vorplatz der Himmelfahrtskapelle strömten die versammel52
ten Menschenmassen den Abhang hinunter zum Vorgarten des Hauses, in dem sich die WNN-Zentrale befand, und von dort durch das Kidrontal bis ganz hinunter zu den alten Toren der Stadt. Unter der Menge war auch eine beträchtliche Anzahl von Moslems; nicht nur Christen und Juden glaubten an die endzeitliche Bedeutung des Berges. Auch der Islam sah voraus, daß das Jüngste Gericht sich an dieser Stelle vollziehen werde. »Nicht gerade Times Square, hm?« meinte Hunter scherzhaft, als er seine Videokamera auf die Menge richtete. »Nein«, antwortete Feldman, »eher Endstation Apokalypse.« Den Tag über hatten Feldman und seine Kollegen sich unter die Pilger gemischt und über Satellit freimütige Interviews mit den Millennariern für die begierigen Zuschauer in der ganzen Welt gesendet. Jetzt, da die Menge beängstigend dicht wurde, hatte Feldman beschlossen, sich zurückzuziehen und sich auf den ›absoluten Höhepunkt‹ des Abends vorzubereiten. Schon vor dem Geschenk des Himmels für WNN, dem Unglück in der Wüste Negev, hatte der Sender seine Zuschauer in aller Welt stetig mit Informationen versorgt, um geschickt die Spannung auf diesen Tag hin aufzubauen. Und für heute abend hatten die Direktoren von WNN ein Spezialprogramm zusammengestellt. Die Berichte sollten auf geschickte Weise mit dem Zeitverlauf in den verschiedenen Zeitzonen koordiniert werden. Sollte die Mitternacht in Jerusalem ohne weitere Ereignisse verlaufen, würde WNN eine Liveschaltung nach Rom bringen und dort über die Ereignisse am Vorabend des ausgehenden Jahrtausends berichten. Sollte auch Rom vom Jüngsten Gericht verschont bleiben, würde man nach New York schalten und weiter nach Salt Lake City. Die Zeitunterschiede würden WNN ein wechselndes, weltweites Fernsehpublikum zur besten Sendezeit sichern. All dies hatte dazu beigetragen, daß Feldman ein reichlich mulmiges Gefühl bei der Sache hatte. Die Aussicht, live das möglicher53
weise größte Publikum der Geschichte zu haben, hatte etwas Einschüchterndes. Diese überraschende Ehre war ihm plötzlich am Morgen zugefallen, als der Sprecher, der für die Sendung vorgesehen und gestern aus New York eingeflogen worden war, eine Grippe bekam. Ob es nun eine Ehre war oder nicht, Feldman war ziemlich sicher, daß sich heute nacht nichts Apokalyptisches ereignen würde, und er würde dann mit der Tatsache fertig werden müssen, der Verkünder der enttäuschendsten Vorstellung aller Zeiten zu sein. Was für ein Abschied an seinem letzten offiziellen Tag bei WNN! »Schlimmer als der Reinfall mit den Hitlertagebüchern!« bemerkte Hunter taktlos. Aber, so hatte man sich bei WNN ausgerechnet, auch das Ausmaß der unvermeidlichen Enttäuschung wäre schon eine Nachricht wert. Es würde jede Menge Rückzieher geben, Millennarier, die Ausreden suchen müßten. Und dessenungeachtet konnte Feldman sich damit trösten, daß er kurz darauf nach Washington gehen und ein ganz neues Leben in der wirklich bedeutenden Welt der Berichterstattung über amerikanische Politik beginnen würde. Draußen wurde es langsam Abend. Als er über den Balkon der provisorischen WNN-Zentrale auf den Berghang und das uralte Land der Israeliten blickte, ließ sich Feldman von dem Schauspiel hinreißen, wie schnell die Umrisse dieser kargen, von der Trockenheit geplagten Landschaft im rosa und violetten Zwielicht zart und weich wurden. Wenn es je eine Nacht gab, die sich für ein religiöses Erlebnis eignete, dann war es diese. Aber nicht für die Vernichtung der Welt, eher für einen stillen Besuch der göttlichen Macht auf Erden. Außer einigen Wolken, die sich in weiter Ferne im Südwesten zusammenballten, war der Himmel klar, sternenübersät und ruhig. Es war friedlich; nur die Millennarier sangen, beteten im Chor und predigten, um ihre Position bei Gott zu festigen. Feldman zog einen Pullover an und ging mit einer Tasse schwarzem Kaffee auf den 54
Balkon zurück. Drinnen neckten sich Hunter und Cissy, die mit den Vorbereitungen fertig waren, und Bollinger sprach mit der amerikanischen Zentrale, während der Rest des Teams hinunterging, um Pause zu machen. Als er gähnte und sich streckte, schien es ihm, als ob jemand seinen Namen rief. Schon wieder. Der Ruf kam von irgendwo da unten. Er lehnte sich über die Balkonbrüstung, suchte die Menge ab und sah endlich ein zweites Mal in das verführerische Gesicht von Anke Heuriskein. »Störe ich Sie bei der letzten Meditation?« rief sie herauf. »Warten Sie da, ich komme gleich runter!« rief er zurück. Und schon war er weg. Er hatte seine Kaffeetasse so hastig auf das Geländer gestellt, daß sie über den Rand auf einen mit einem Turban bedeckten Mann schwappte, der fast zahnlos war. Das bedauernswerte Opfer suchte mit schwarzen, zornigen Augen den plötzlich unerklärlich leeren Balkon über sich ab und fluchte kräftig in einer hart klingenden nahöstlichen Sprache. Feldman freute sich über sein Glück. Anke hatte sich zwar seine Telefonnummer bei der Party in der Botschaft aufgeschrieben, aber danach hatte er nichts mehr von ihr gehört. Ungeduldig hatte er ihre Nummer im Telefonbuch von Tel Aviv und in der Telefonliste der Universität gesucht, beides ohne Erfolg. Schließlich war es ihm mit Hilfe eines befreundeten Professors gelungen, die Nummer herauszufinden, um dann von der Ansage eines Anrufbeantworters begrüßt zu werden. Er hatte drei Nachrichten hinterlassen: Er bat sie, ihn anzurufen, lud sie zum Essen ein und wollte sich mit ihr an diesem Abend bei der Abschlußübertragung treffen, da der letzte Abend des Jahrtausends auch sein letzter Arbeitstag bei WNN war und er bald in die Staaten abfliegen würde. Seine letzte Einladung lag einige Tage zurück, und er hatte immer noch nichts gehört. Und er hatte wirklich geglaubt, er habe einen guten ersten Eindruck gemacht. Er hatte doch gefühlt, daß es zwischen ihnen gefunkt hatte. 55
Seine Füße hüpften nicht so unbeschwert wie sein Herz, denn er stolperte über zahlreiche Menschen, die auf den Treppenstufen saßen, und wäre fast böse gestürzt. Unerschrocken kämpfte er sich zum Platz vor dem Haus durch und befürchtete, er könne sie in der Menge verlieren. Aber sie war da, wartete auf ihn und lächelte ihm zu. Mit dem Arm um ihre Schultern bahnte er sich einen Weg zurück und schirmte sie von der wogenden Menschenmenge ab. Nachdem sie sich wieder durch das dichtbevölkerte Treppenhaus gezwängt hatten, erreichten sie endlich das improvisierte WNN-Studio, und er verbannte Krach und Tumult nach draußen, indem er die Tür schloß. Als er sich ihr zuwandte, glühten seine Augen vor Entzücken. »Ich dachte, Sie hätten meine Nachrichten nicht bekommen«, sagte er, von der Anstrengung immer noch außer Atem. »Hab' ich auch nicht, bis gestern«, erklärte Anke. »Ich lebe in Jerusalem, wissen Sie, ich war die ganze Woche hier.« Das war ein gutes Zeichen, fand Feldman. Sie hatte ihn nicht links liegengelassen. »Es ist so schön, Sie wiederzusehen, Anke. Sie sehen toll aus!« Und es stimmte. Ihr Haar war jetzt nach hinten gebunden und mit einer einfachen Spange hochgesteckt. Offensichtlich trug sie kein Make-up und hatte es auch nicht nötig. Es faszinierte Feldman, daß sie jedesmal, wenn er sie traf, so anders aussah und doch so hinreißend dieselbe war. Ihre Schönheit war so schillernd, daß sie sich mit den üblichen Kategorien gar nicht fassen ließ. Heute abend trug sie ein zwangloseres, mädchenhafteres Benehmen zur Schau. Als er ihr Gesicht betrachtete, sah er eine Frische, fast eine Unschuld, die ihm das Gefühl gab, sie schon länger zu kennen, als es tatsächlich der Fall war. »Sie leben also hier in Jerusalem?« hakte Feldman noch einmal nach. »Wo?« »Im nördlichen Teil, aber ich habe eine Wohnung in Tel Aviv 56
und bin dort, wenn ich Vorlesungen habe.« Ein ziemlich kostspieliges Unterfangen, vermutete Feldman. »Wie haben Sie mich hier in der Menge gefunden?« »Als ich Ihre Nachricht abhörte«, und sie lachte dabei – offensichtlich fand sie Feldmans etwas ungeschickte Einladungen amüsant –, »habe ich versucht, Sie in Ihrem Büro zu erreichen, und man hat mir dort gesagt, Sie seien den ganzen Tag weg. Ihre Kollegen waren so nett, mir zu sagen, wo Sie sich aufhalten.« Über Feldmans Schulter war die übermütige Stimme von Breck Hunter zu hören: »Aha, Anke, Sie haben also beschlossen, die letzten Stunden des Planeten mit uns zu verbringen?« Anke sah an Feldman vorbei und lächelte. »Klar. Bei euch gibt's die besten Plätze.« »Und mit Verpflegung«, fügte Cissy McFarland hinzu, die eine volle Papiertüte hielt und gleich vorgestellt wurde. Sie lud den neuen Gast ein, ihnen bei einem koscheren Sandwichdinner Gesellschaft zu leisten. Als sie ins Eßzimmer gingen, um sich dem Rest des Teams anzuschließen, stieß sie Feldman in die Seite und flüsterte ihm zu: »Sie ist ja zauberhaft. Wo bist du ihr nur begegnet?« Feldman zuckte nur lässig mit den Schultern und lächelte ganz maliziös. Bei Bagels und belegten Broten und dank Hunters und Cissys ungebremster Neugier konnte Feldman einige Lücken in seinem Wissen über seine neue Bekanntschaft füllen. »Erzählen Sie uns doch ein bißchen von sich«, schlug Cissy vor. »Ja«, mischte sich der grinsende Hunter ein, »die Standardinfos, Sie wissen ja: Alter, Gewicht, Maße.« Cissy knurrte den dreisten Kameramann an. »Die erste Frage kann ich euch beantworten«, lachte Anke und schien nicht beleidigt zu sein. »Siebenundzwanzig.« »Und sind Sie verheiratet, verlobt oder anderweitig vergeben?« fuhr Hunter unbeirrt fort. »Jetzt laß mal gut sein!« protestierte Feldman. 57
»Weder noch«, antwortete Anke mit einem gutmütigen Lachen. Cissy kam ihr zu Hilfe. »Woher sind Sie ursprünglich, Anke? Habe ich recht, daß Sie einen französischen Akzent haben?« »Ich bin aus Paris«, sagte sie. »Meine Mutter ist Französin, mein Vater Amerikaner.« »Und wie kamen Sie nach Israel?« Hunter ließ einfach nicht locker. »Ich habe 1997 eine Assistentenstelle an der Universität in Tel Aviv bekommen. Ich arbeite an meiner Doktorarbeit.« Hunter warf einen verstohlenen Seitenblick auf Feldman. »Also, Anke«, faßte er zusammen, »wir haben festgestellt, daß Sie gut aussehen, eine interessante Persönlichkeit und Intelligenz besitzen … wahrscheinlich auch Geld? Aber was ich nicht verstehe«, und er zeigte mit seinem Kaffeelöffel auf Feldman, »ist, was Sie an diesem unterernährten, schlechtbezahlten Nachrichtenclown finden!« Bollinger und die anderen im Team brachen in Gelächter aus. Anke nickte leicht, machte einen Schmollmund, um ein Lächeln zu verbergen, und sah den verlegenen Mann neben sich an. »Na ja«, scherzte sie, »ich denke, daß er ein vielversprechender Reporter sein könnte, wenn er nur ein wenig soziales Gewissen zeigen würde.« Sie hielt inne, als sie Feldmans widersprechende Miene bemerkte. »Aber andererseits«, und dabei schaute sie ihm tief in die Augen, »hat er diesen ausgezeichneten Bericht über den Meteoriten gemacht, der das Institut im Negev zerstört hat. Also das war lobenswerter Journalismus. Wer weiß, Mr. Feldman«, sie lächelte ihn bewundernd an, »vielleicht haben Sie einen Krieg verhindert.« Der Zeitpunkt und die Aufrichtigkeit ihres Kompliments kamen für ihn völlig überraschend. Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Okay«, mischte sich Cissy wieder ein, »ich glaube, unser Gast hat für einen Nachmittag genug von unseren cleveren Interviewtricks über sich ergehen lassen.« Sie wandte sich mit entschuldigender Miene an Anke: »Sie werden Hunters unterentwickelte Um58
gangsformen entschuldigen müssen. Er hat die entscheidenden Jahre seines Lebens in Einzelhaft in einem Heim für unverheiratete Väter verbracht, und er kennt es einfach nicht anders.« Anke lachte. »Jetzt verstehe ich, warum Mr. Hunter hinter der Kamera und nicht davor arbeitet.« Der Kommentar entfesselte einen zustimmenden Chor von Bemerkungen, die sich alle gegen Hunter richteten. Er steckte die Quittung mit einem breiten Grinsen weg. Als sie mit dem Essen fertig waren, hatte Bollinger eine letzte Frage an Anke. Er wollte wissen, ob sie sich große Sorgen darüber mache, daß die Welt in drei Stunden und fünfunddreißig Minuten enden könnte. Sie antwortete, daß sie nicht besorgt sei. Aber draußen auf dem Berg sah es ganz anders aus. Der immer lauter werdende Lärm lockte Feldman und seine Kollegen auf den Balkon, von wo aus sie beobachten konnten, wie sich immer seltsamere Dinge abspielten. Die wachsende Spannung und die Enge hatten anscheinend die Anhänger einiger gegnerischer Sekten in eine offene Konfrontation getrieben. Höfliche Meinungsverschiedenheiten über theologische Fragen eskalierten allmählich zu einem Wettstreit. Die Leute schrien sich an, und es kam sogar zu Handgreiflichkeiten. In einer Schlacht der Selbstgerechten traten Eiferer gegen Eiferer an. »Seht mal dort, ich glaube, dem lieben Gott würde dieser Kampfstil gefallen.« Feldman zeigte spöttisch auf einen Halbkreis von Streithälsen. Ein Verteidiger des Glaubens nahm gerade Anlauf, um einen zusammengelegten Klappstuhl auf dem Kopf eines anderen zu zertrümmern. »Ja, Schädel einschlagen für Christus«, schnaubte Hunter, und Anke sah beide Reporter mißbilligend an. »Oh, hier drüben!« schrie Hunter. »Wo ist das Fernglas?« Zu ihrer Rechten hatte eine kleine Gruppe von Männern und Frauen ihre Kleider ausgezogen, und sie tanzten zum jämmerlichen Spiel einer Panflöte um ein offenes Feuer. 59
»Ja«, begann Hunter in einer schlechten W.C. Fields-Imitation, »nackt vor dem Herrn!« Die israelische Polizei hatte alle Hände voll zu tun, die Unruhestifter diskret herauszuholen, ohne die Situation zu verschärfen. Mehr als ein Millennarier würde heute nacht die Verzückung hinter Gittern erleben. Als ein süßlicher Geruch von Marihuana zum Balkon heraufzog, klatschte Bollinger in die Hände und rief: »Okay, Leute, laßt uns das mal aufnehmen, ja?« Die Crew, die von dem Treiben ganz hingerissen war, kam plötzlich zu sich und beeilte sich, die Geräte aufzubauen, während Hunter ihnen schon weit voraus war und mit einem Teleobjektiv die Nackten heranzuzoomen begann. Als Feldman seinen Blick über die chaotische Versammlung schweifen ließ, hatte er ein besseres Gefühl, was das Ereignis dieses Abends betraf, und er fand, daß es vielleicht doch sensationell genug für die Nachrichten war. »Nun, Anke, das dürfte eine Silvesterparty geben, wie Sie noch keine erlebt haben!« Sie sah mit einem ironischen Lächeln auf die Menge hinunter und schüttelte ungläubig den Kopf.
16 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 22 UHR, FREITAG, 31. DEZEMBER 1999 Punkt 22 Uhr Jerusalemer Zeit begann bei WNN International live aus New York die Sondersendung Millennium III. Als Hunter sich und sein Kamerateam auf das unmittelbar bevorstehende Signal für 60
die Liveschaltung vorbereitete, gingen Anke und Feldman zu einem der Monitore, die im Zimmer neben dem Balkon standen. Das WNN International-Nachrichtenteam in New York fing mit einer kurzen Übersicht über den aktuellen Stand der Millennariersaga an und stellte mit ausgewählten Meldungen die weltweite Verbreitung des Phänomens dar. Als nächstes brachten sie einen Bericht über die historischen Wurzeln der Bewegung. Um halb elf Jerusalemer Zeit wandte sich die Sendung der Verbreitung der millennarischen Gruppen in den USA und im Ausland von den frühen neunziger Jahren bis zur Gegenwart zu. Feldman registrierte mit besonderem Interesse einen Beitrag über eine der älteren millennarischen Glaubensgemeinschaften, die Bibel- und Traktatgesellschaft ›Der Wachtturm‹. Sie nannten sich auch Zeugen Jehovas und waren bekannt für ihre leidenschaftliche Bekehrungsarbeit an der Haustür. Für diese besondere Untergruppe der Millennarier schien heute abend einiges auf dem Spiel zu stehen. Ihr wichtigstes Glaubensdogma beinhaltete die Voraussage der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft des Herrn. Diese Prophezeiung baute auf komplizierten Berechnungen biblischer Daten auf, die von ihrem Gründer Charles Taze Russell in den Jahren um 1870 angestellt worden waren. In Anlehnung an eine bestimmte Textstelle im Matthäusevangelium hatte er vorausgesagt und verkündet, daß die Generation der Zeugen Jehovas, die im Jahr 1914 oder vorher geboren worden waren, ›nicht dahingehen‹ würden vor Anbruch des Jüngsten Tages. Die Jüngsten dieser Generation waren jetzt Ende Achtzig, und die Jahrtausendwende war zu einer Nagelprobe für ihren Glauben und ihr Leben geworden. In der Tat war das geistliche Oberhaupt und der Leiter des amtierenden Rates, Joshua Milbourne, Jahrgang 1914, nicht bei guter Gesundheit und hatte ein ernstzunehmendes Herzleiden. So oder so stand für sechs Millionen Anhänger dieser religiösen Vereinigung das Ende bevor. 61
Der WNN-Bericht enthielt auch ein Interview am Bett des leidenden Joshua Milbourne, der die Fernsehsendung in seinem privaten Einzelzimmer einer Klinik verfolgte. Während des Interviews erwähnte Milbourne, daß er mehrere Zeugen als Abgesandte zum Ölberg geschickt habe. Sie hielten sich dort in seinem Namen auf, um sicherzustellen, daß Milbourne einer der ›durch die Bibel bestimmten 144.000‹ sein würde, einer der wenigen Auserwählten, die im Himmel als ›Könige und Priester‹ über die neue Nation Gottes auf Erden regieren würden. Bollinger schickte sofort zwei Leute seines Teams los, um nach Milbournes Delegierten zu suchen. Das Interview mit Joshua Milbourne war besonders beachtenswert, weil der alte Zeuge Jehovas einer der wenigen etablierten Kirchenführer war, die offiziell erklärten, der Jüngste Tag werde um zwölf Uhr in dieser Nacht in Jerusalem anbrechen. WNN wollte einen Reporter an seinem Bett stationieren und im weiteren Verlauf der Sendung zu einem ›Reue-und-Buße-Teil‹ noch einmal zu ihm zurückschalten. Die Zeit verging schnell, und Bollinger gab Feldman bald das Zeichen, seinen Platz auf dem Balkon einzunehmen und sich für die Livesendung bereitzuhalten. Ein rotes Licht fing an zu blinken, und es wurde um Ruhe gebeten. Feldman, der draußen in der Nachtluft der Heiligen Stadt den dunklen Himmel, die Feuer und die Kerzen der aufgewühlten, versammelten Menschenmenge überblickte, gab vor der Kamera eine eindrucksvolle Erscheinung ab. Sein schmales, jungenhaftes Gesicht war von der Erregung leicht gerötet, sein Äußeres wirkte durch ein offenes sportliches Hemd und eine dunkle Strickjacke lässig und männlich. Im ersten Teil der Sendung, als er die merkwürdige Szene unter dem Balkon vorstellte und die Kamera darüberschwenken ließ, um das Chaos und die Nervosität der wimmelnden Massen einzufangen, hielt er seinen Kommentar kurz. 62
Feldmans Sendezeit war schnell vorbei, und das Signal für die Liveschaltung wurde an WNN International zurückgegeben, um von dort einen vergleichenden Blick auf Rom, New York City und Salt Lake City zu werfen. Als das rote Licht ausging, entspannte sich das Team, und Feldman kam vom Balkon herein, wo ihn Applaus erwartete. Der Wind frischte etwas auf, und die Wolken, die Feldman vorher bemerkt hatte, brauten sich offenbar zu einem Gewitter zusammen. Das Unwetter war zu weit weg, um die Übertragung zu stören, aber vielleicht kam noch genug Wind auf, um dem Ganzen einen dramatischen Touch zu verleihen. Hunter sollte auf Feldmans Empfehlung hin den letzten Teil der Sendung mit einer Nahaufnahme des Gewitters beginnen. Blitze zuckten in der Ferne, die Feldman wirkungsvoll als Metaphern einsetzen konnte. Als die Uhr 23:45 zeigte, nahm Feldman wieder seinen Platz auf dem Balkon ein, Bollinger gab das Zeichen, die Kamera auf das Gewitter zu richten, und Feldman lächelte Anke kurz zu, die sein Lächeln erwiderte. »Ein Gewitter zieht heute abend auf über diesem alten Heiligen Land«, begann Feldman, während die Kamera von den drohenden Wolken auf den jungen Reporter schwenkte. »Wie Sie die letzten Monate über miterlebt haben, geht eine große spirituelle Bewegung in Erwartung des neuen Jahrtausends, von dem uns jetzt nur noch wenige Minuten trennen, um den ganzen Erdball. In dieser Gegend hier sind etwa zwei Millionen Menschen versammelt, die fest daran glauben, daß wir in weniger als fünfzehn Minuten das dramatische Ende oder aber einen neuen Anfang unserer jetzigen Welt erleben werden.« Die Kamera zoomte zurück, schwenkte nach rechts und brachte eine reizlose Frau mittleren Alters ins Bild. »Unter diesen Menschen«, fuhr Feldman fort, »ist Alissa Bateman aus Trenton, New Jersey. Mrs. Bateman ist Mitglied einer religiösen 63
Sekte, die glaubt, mit dem Erzengel Gabriel in Verbindung zu stehen. Sie sehen in ihm den spirituellen Vorboten, der das Jüngste Gericht um Mitternacht mit einem Stoß in seine goldene Trompete ankündigen wird.« Bollinger schnitt zu einer anderen Kameraperspektive, damit die kleinere Frau zusammen mit dem hochgewachsenen Feldman besser ins Bild kam. Das sich im Hintergrund zusammenballende Gewitter gab der Stimmung eine perfekte, dramatische Note. »Mrs. Bateman, Sie sind Tausende von Meilen gereist, um heute abend hier zu sein. Können Sie unserem Publikum sagen, was Sie bisher gemacht haben und warum Sie hier sind?« »Ja. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, verheiratet und habe zwei Kinder, Bill und Tommy, und mein Mann Frank mußte heute natürlich wegen der Kinder und seiner Arbeit zu Haus bleiben.« Mrs. Bateman schwatzte noch kurz über ihren eigenen Boten des Geistes, und Feldman brachte das Gespräch schnell zu Ende, um der Sendung nicht zu viel an Spannung zu nehmen. Zwischen den Gästen wechselte Bollinger zu anderen Kameras über, die die Massen beobachteten. Nun, da der letzte Moment nahte, benahmen sich die Menschen zunehmend irrational. Der aufkommende Wind übte eine beunruhigende Wirkung aus. Die meisten knieten nieder, beteten, weinten, sangen, einige wurden ohnmächtig. Der Streit und die Feindseligkeiten hatten ein Ende gefunden. Bollinger sah auf die Uhr. Noch zwölf Minuten. Er gab dem nächsten Gast das Signal. Es handelte sich um einen großen, hageren jungen Mann mit rasiertem Schädel, der in schwarze Gewänder gehüllt war. Er sah fast wie ein Mönch aus, nur hingen an seinen Ohrläppchen umgekehrte Kruzifixe, und seine Augenlider waren so tätowiert, daß sie wie offene Augen aussahen. Typisch Sodom und Gomorrha, dachte Feldman. Es fiel ihm schwer, diesem Kerl gegenüber ernst zu bleiben, aber das Publikum würde es goutieren. 64
»Und das ist Mr. Astarte. Ist das richtig ausgesprochen?« »Einfach ›Astarte‹«, antwortete der Mann salbungsvoll. »Ja, ich bin vom Zweiten Reich.« »Und was erwartet das Zweite Reich hier heute nacht, Mr. Astarte?« »Nur ›Astarte‹«, beharrte er. »Wir sind hier zur Ablösung des Reichs, zum Beginn der neuen Zeit, in welcher sich der natürliche Kreislauf vollziehen und Lord Luzifer auf seinen Thron steigen wird, um die nächsten zweitausend Jahre zu herrschen.« »Und wird dieser Wechsel friedlich vor sich gehen?« wollte Feldman wissen. »Oder werden wir hier Armageddon gegenüberstehen?« »Das wissen wir noch nicht«, teilte Astarte der Welt mit. »Wir müssen auf Widerstand vorbereitet sein, aber Luzifer kommt durch göttliches Recht in sein Reich, und nichts kann ihn aufhalten. Wenn wir kämpfen müssen, um ihn bei seiner Ankunft zu schützen, dann soll es eben so sein!« Da ertönte ein mächtiges Donnergrollen von dem fernen Gewitter, das Feldman sofort für seine Zwecke nutzte. »Wann wird denn dieser Wechsel stattfinden, Mr. Astarte?« Das ›Mr.‹ war absichtlich, und Astarte schien gereizt. Er antwortete jedoch geduldig. »Es wird natürlich um Mitternacht geschehen, und die Zeichen, wie Sie sehen«, er machte eine Kopfbewegung zum Gewitter hin, »künden uns schon davon. Wir kennen die Art und Weise der Ablösung noch nicht.« »Schön, wir danken Ihnen für Ihre kostbare Zeit und lassen Sie nun rechtzeitig zu diesem Wechsel zu Ihrer Gruppe zurückkehren.« Astarte hielt die geschlossenen Augen in die Kamera, machte eine gekünstelte Verbeugung und ging. Kein Zweifel, dachte Feldman bei sich, dieser letzte Gast würde die Christen allemal so lange fesseln, bis sie sicher sein konnten, daß das Gute über das Böse triumphierte. Wieder Aufnahmen von der Menge. »Nur noch fünf Minuten bis 65
zum Beginn des neuen Jahrtausends«, verkündete Feldman. Der Wind war ein wenig stärker geworden, und Feldman bemerkte, daß die Wolkenbank leider isoliert und noch viel zu weit weg schien, als daß sie ein Melodrama mit Feuer und Schwefel illuminieren konnte. In Feldmans Kopfhörer erklang Bollingers atemlose Stimme. »Jon, wir haben hier einen dieser Delegierten von den Zeugen Jehovas. Er hat unsere Sendung auf einem tragbaren Fernseher mitverfolgt und ist extra hergekommen. Wir bringen ihn dir, halte dich bereit.« Hinter den hellen Kamerascheinwerfern, die ihn blendeten, konnte Feldman die Gestalt eines kleinen Mannes mit ungekämmtem Haar ausmachen, der zu ihm geführt wurde. Ohne eine Pause entstehen zu lassen, erzählte Feldman den Zuschauern, daß es WNN gelungen sei, einen der bereits erwähnten Zeugen Jehovas zu finden, und der Delegierte wurde auf den Balkon geleitet. »Wie ist Ihr Name, Sir?« fragte Feldman. Der kleine bärtige, ernst dreinschauende Mann, der Feldman an eine Miniatur von Rasputin erinnerte, blinzelte zu dem Reporter empor und sagte mit überraschend tiefer Stimme: »Ich bin John Jacob Maloney vom amtierenden Rat der Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft und offizieller Delegierter bei der Wiederkunft des Herrn!« »Mr. Maloney, ich habe gehört, Sie sind hier im Namen von Joshua Milbourne und vertreten die Zeugen Jehovas. Können Sie unseren Zuschauern genau sagen, was wir Ihrem Glauben zufolge heute nacht erleben werden?« Maloney trat energisch auf die Kamera zu und sah mit dem fiebrigen Blick des überzeugten Fanatikers direkt in die Linse. »Die Stunde ist gekommen, o ihr Kleingläubigen! Das Gericht Gottes ist da, und es ist zu spät, euch zu retten. Ihr wolltet nicht hören, ihr wolltet nicht büßen, ihr wolltet nicht den Weg des Herrn bereiten. Und jetzt ist die Hand des Herrn über euch. Dies ist der Letzte 66
Tag!« Seine Augen traten hervor, und seine Hände fuchtelten wild über seinem Kopf herum. »In abgrundtiefer Verlassenheit werdet ihr geschlagen und gebrandmarkt und für immer in die Tiefen der Hölle verdammt werden! Lob sei dem Namen des Herrn! O Herr, in deinem glorreichen Namen …« Die letzten Worte stieß Maloney derart frenetisch hervor, daß er aus Versehen auf die Linse der Kamera spuckte, was das Produktionsteam zwang, zu einer Profilaufnahme überzugehen. Daß man ihn sah, wie er in eine leblose Maschine wetterte, nahm seinen Äußerungen ihre Schärfe und ließ den ganzen Auftritt ziemlich lächerlich erscheinen. Feldman bekam die Situation wieder unter Kontrolle und legte seine Hand beruhigend auf die Schulter des Untergangspropheten. Der kleine Mann schaute sich verwirrt um und suchte nach einer laufenden Kamera. »Danke, Mr. Maloney, es wäre schön, wenn Sie später zu einem weiteren Kommentar zu unserer Verfügung stehen könnten.« Maloney wurde, immer noch schimpfend und Drohungen ausstoßend, vom Balkon geführt. Das Produktionsteam konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen. Genau diese Überspanntheit war es, die die New Yorker Zentrale sehen wollte. Feldman nahm wieder seinen Platz in der Mitte des Balkons ein und begann den Countdown der letzten sechzig Sekunden bis zum Anbruch des neuen Jahrtausends. Als die Kamera und die Suchscheinwerfer über die beklemmende Szene schwenkten, überlegte Feldman, was für eine gefühlvolle Geste es gewesen wäre, ›Auld Lang Syne‹, das traditionelle Abschiedslied, über die Lautsprecher zu spielen. Alle hätten heute abend bestimmt ein bißchen Vergeben und Vergebung gut gebrauchen können. Aber ihm war klar, daß die düstere Gesellschaft, die hier versammelt war, Humor nicht zu schätzen wußte. Die Menge fing an mitzuzählen. Und plötzlich fiel Feldman ein, 67
daß er jetzt, weniger als fünfundzwanzig Sekunden vor Mitternacht, da sämtliche Kameras und das ganze Team mit der Menschenmenge beschäftigt waren, die perfekte Gelegenheit hätte, einen Kuß von Anke zu stehlen. Beim Glockenschlag zum Beginn des neuen Jahrtausends, eine unvergleichlich romantische Situation! Wenn die Uhren Mitternacht schlügen und die Kameras die Reaktionen der Menge beobachteten, würde Feldman die Gelegenheit haben, zur Abwechslung einmal sie zu überrumpeln. Er nahm sein Ansteckmikrophon vom Revers und ging langsam auf sie zu. Anke merkte es nicht, sie hatte die Augen neugierig auf die Welt da draußen gerichtet. Das war der heilige Augenblick. Wie auf ein Signal legte sich der Wind. Zum ersten Mal, seit sie zusammengekommen waren, hielt die Masse der unbezähmbaren Millennarier den Atem an. Die ganze Welt hielt den Atem an. Und über ganz Judäa lag ein tiefes, feierliches Schweigen, das Schlag Mitternacht in einem Donnerschlag in der Ferne gipfelte. Zugleich läuteten die Glocken der Himmelfahrtskapelle zusammen mit einem Dutzend anderer Kirchenglocken überall in der Heiligen Stadt das 21. Jahrhundert ein. Feldman war vermutlich der einzige Mensch, dessen Gedanken ganz woanders waren. Das war sein persönlicher, geheiligter Augenblick. Als er auf Anke zuging, wurde ihm bewußt, wie schön sie wirklich war. So frisch. So arglos. Es mußten wohl die Gefühle dieses Augenblicks sein, aber Feldman fühlte sich benommen im Kopf. Haltlos. Er verlor das Gleichgewicht. Anke und der gesamten Crew um ihn herum ging es ebenso. Die ganze Wohnung fing an zu zittern und heftig zu schwanken. Kameras und Scheinwerfer hüpften auf ihren Stativen, drehten sich und kippten um. Die Lichter erloschen, und die Menschenmengen auf den Bergen stießen panische Schreie aus. Feldman ergriff eine Angst, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte. 68
17 BROOKFOREST, RACINE, WISCONSIN, USA, 16 UHR, FREITAG, 31. DEZEMBER 1999 Auf der anderen Hälfte des Erdballs, in der ruhigen, verschlafenen Kleinstadt Brookforest, war es noch später Nachmittag. Es schneite leicht, und eine dünne, aber geschlossene Schneedecke hatte die malerische Gegend mit ihren amerikanischen Mittelklassehäuschen weiß überzogen. Die Straßenlaternen brannten schon, ebenso die Lichter der Krippen in den Vorgärten und die Weihnachtsbeleuchtung der hohen Tannenbäume. Plötzlich durchbrachen Schreie aus allen Häusern die winterliche Stille. Aus einem Haus stürzte eine Frau mittleren Alters, die voller Panik kreischte, gefolgt von ihrem erschrockenen, jaulenden Hund. Michelle Martin hatte den Fehler begangen, von ihrer nachmittäglichen Oprah-Winfrey-Talkshow auf die vielfach angekündigte Nachtwache zur Jahrtausendwende von WNN umzuschalten. Und jetzt war die siebenundvierzigjährige Mutter von zwei Kindern, statt die erwartete festliche Neujahrssendung genießen zu können, von der größten Angst ihres Lebens gepackt worden. Mrs. Martin waren ihre Hausschuhe und der Schnee völlig gleichgültig, als sie in die Sackgasse hinausfloh und auf ihre ebenso verzweifelten Nachbarn traf. »Gott helfe uns allen!« jammerte eine junge Mutter und preßte ihr kleines Kind an die Brust. »Das ist der Todesengel!« schrie Mr. Krazinski, ein älterer Rentner. »Das ist die ägyptische Plage!« Ein vor Angst fast hysterischer Bewohner stellte angsterfüllt fest: »Ja! Genau wie im Film Die Zehn Gebote! Der Todesengel kommt 69
über das Land und bringt um Mitternacht das Gericht mit sich! Wir haben noch acht Stunden, bis er uns erreicht!« Michelle Martin wurde weißer als der Schnee und fiel zu Boden. Weinend und zähneknirschend fanden sich etwa zwanzig Leute zusammen und bildeten mitten auf der Straße einen Gebetskreis. In Schneematsch, Salz und Asche kniend riefen sie Gott um Gnade an.
18 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 0 UHR 2, SAMSTAG, 1. JANUAR 2000 Feldman verlor jede Orientierung, hatte er doch seine ganze Konzentration gebraucht, um nach Anke zu greifen und sie aufzufangen, als sie beide in der Wohnung zu Boden gestürzt waren. Er hielt sie wie ein Kind fest in seinen Armen geborgen und preßte seine Wange an ihr Gesicht. Doch dann hörten die schrecklichen Erschütterungen ebenso plötzlich auf, wie sie begonnen hatten. Die Erde war wieder ruhig. In dem dunklen Raum, hoch über dem Geschrei der Menge, rührte sich niemand. Feldman fragte Anke immer wieder eindringlich und atemlos, ob alles in Ordnung sei. Sie antwortete ihm nicht, aber er spürte, wie sie stoßweise atmete und sich an seine Arme klammerte, mit denen er sie noch fest umschlossen hielt. Er wagte nicht, seinen Griff zu lockern, weil sie nicht merken sollte, daß er zitterte. 70
»Seid ihr alle okay?« ertönte Bollingers unsichere Stimme. Nach und nach meldeten sich alle vom Team. Am Stimmengeräusch merkte Feldman, daß noch einige Leute auf dem Balkon waren. »Kommt besser herein«, sagte er warnend. »Es könnte da draußen noch gefährlich sein.« Mit einem löblichen Versuch, sich zur Ruhe zu zwingen, setzte er sich auf, hielt dabei Anke immer noch auf dem Schoß und begann, ihr über das Haar zu streichen. »Was ist passiert?« hörte er sie endlich mit schwacher, ängstlicher Stimme fragen. »Ein Erdbeben«, erklärte Hunter. »Der Strom ist weg, aber sonst geht's jetzt wieder.« »Erdbeben, denkste!« erklang die Stimme eines Mannes vom Produktionsteam vom Balkonfenster her. »Jede Christenseele, die sich so nennen darf, sollte jetzt voller Gottesfurcht und Schrecken sein!« Andere stimmten zu, und jemand begann, das Vaterunser zu beten, in das sofort einige Stimmen einfielen. Ein anderer vom Produktionsteam knipste ein Feuerzeug an, aber als Hunter vor ausströmendem Gas warnte, machte er es sofort wieder aus. Etwas später trieb jemand eine Taschenlampe auf, mit deren Hilfe sie die große, batteriebetriebene Halogenlampe wiederfanden. Der staubige Raum war jetzt von einem unheimlichen blauen Licht erfüllt. Feldman konnte nun zwei Leute des Teams in der Nähe des Balkons erkennen, einen dritten neben dem Fenster und andere über den ganzen Raum verstreut. Bollinger saß unter einem Tisch, und Hunter und Cissy hockten eng aneinandergedrückt in einer Ecke. Von draußen hörte man neben Sirenen und Notfallfahrzeugen den anhaltenden Lärm einer tosenden Menschenmenge hereindringen. Verzweifelte Schreie, qualvolles Schluchzen und ängstliches Beten mischten sich mit dem Chor von Lobgesängen und Psalmen, der sich von dem neuerlich anhebenden Gejammer der Weltuntergangspropheten abhob. 71
»Was ist da draußen los?« fragte Bollinger die Leute am Balkonfenster. Einer von ihnen hörte auf zu beten und antwortete: »Ich kann kaum etwas sehen. Überall ist das Licht aus. Die Leute rennen scharenweise herum, es ist ein Riesentumult. Aber es brennt, soweit ich sehe, nur in wenigen Gebäuden.« Ankes Haar hatte sich aus der Spange gelöst, und Feldman strich ihr einige lange, weiche Strähnen aus dem Gesicht. Sie sah mit angsterfüllter Miene und zusammengepreßten Lippen zu ihm auf und hielt seinen Arm weiter fest umklammert. Nach und nach verstummten die Gebete im Raum, und einige meinten, man könne jetzt ohne Gefahr wieder aufstehen. Die Wohnung war in völliger Unordnung, aber Feldman bemerkte nur einige Risse an den Wänden und der Decke, die ihm nicht bedrohlich schienen. Er half Anke beim Aufstehen, hielt sie stützend an sich gepreßt, und zusammen kämpften sie sich zum Balkon durch, um hinauszusehen. Zumindest in der Dunkelheit schien sich der Schaden in Grenzen zu halten. »Vielleicht war es nur eine Warnung«, sagte hoffnungsvoll einer vom Team, der sich als wiedergeborener Christ fühlte, aber seine Stimme zitterte immer noch. »Vielleicht war das alles für den Moment.« »Es ist einfach nicht zu glauben«, stammelte Bollinger. »Das kann man wohl sagen«, bestätigte Cissy. Sie hielt den Kopf an Hunters Brust gelehnt und schloß die Augen. Sie hatte geweint. Feldman beobachtete sie, und als er die Augen hob, traf er auf Hunters nachdenklichen, festen Blick. Sie sahen sich gegenseitig fragend an, bis Hunter mit den Schultern zuckte, den Kopf schüttelte und wieder über den Balkon hinaussah. Einer vom Team verkündete, daß die Telefonleitungen tot seien. Aber Handys funktionierten noch, allerdings wohl nur in einer auf die unmittelbare Nachbarschaft begrenzten Reichweite. »Mein Gott, ich glaub', die ganze Welt dreht durch«, meinte Bol72
linger. In ihm kehrte allmählich der Journalist wieder zurück. »Ob wohl irgendeine der Sendeanstalten hier schon wieder funktioniert?« Zu einem Ingenieur sagte er: »Jimmy, sieh nach, ob wir mit Batterien etwas über Satellit reinkriegen, und laß uns versuchen, das Neueste von hier rauszusenden. Joe, wo bist du?« Joes stockende Stimme meldete sich aus dem Treppenhaus. »Joe, geh aufs Dach und prüfe die Schüssel. Und jemand soll feststellen, ob Radio Israel sendet und schon irgend etwas über diese Sache hat.« »Radio Israel ist tot«, rief sofort jemand zurück. »Die Schüssel ist in Ordnung«, meldete Joe nach ein paar Minuten vom Dach herunter. Bollingers dezidierte Anweisungen waren, ganz gleich, ob sie nun seinen brillanten Führungsqualitäten oder der reinen Routine zu verdanken waren, für seine Mannschaft sehr hilfreich. Jeder, auch Anke, packte mit an, um die Geräte wieder zum Laufen zu bringen. Als sie Batterien und Kabel behelfsmäßig zusammengeflickt hatten, war WNN wieder einmal der erste Sender, der die Meldung bringen konnte. Die Sendung war ohne Bild und die Tonqualität schlecht, aber erstaunlicherweise hatten sie um 0 Uhr 42 wieder direkte Verbindung zu WNN Europa. Um eine Welt in Aufruhr vorzufinden. Hunter hatte es geschafft, einen Monitor mit Satellitenempfang wieder zum Leben zu erwecken, und als die Mannschaft sich davor versammelt hatte, erfuhr sie, wenn auch mit unscharfem Bild und einem Rauschen und Knacken in der Tonleitung, was unterdessen andernorts geschah. Einundvierzig Minuten und achtundvierzig Sekunden lang wußte kein Mensch außerhalb Jerusalems mehr, als daß zur Stunde Null des neuen Jahrtausends eine übernatürliche Katastrophe über das Heilige Land hereingebrochen war. Genauso, wie es von vielen schon so lange vorhergesagt worden war. Einundvierzig Minuten und achtundvierzig Sekunden waren lang genug, um 73
weltweit Massenhysterien, Selbstmorde, Herzattacken und Anfälle von geistiger Verwirrung auszulösen. Überall wurden Kathedralen, Kirchen, Synagogen und Tempel von den Massen, die vor dem Zorn Gottes Zuflucht suchten, in Panik gestürmt. Viele Menschen wurden zertrampelt oder im Gedränge zu Tode gedrückt. In den Weltmetropolen kam es zu Unruhen, Plünderungen und Aktionen zielloser Gewalt. Auf dem Times Square in New York gerieten Scharen von Feiernden in Todesangst, als sie hoch oben auf dem riesigen Jumbotron-Bildschirm Jerusalem erbeben, aufschreien und im Dunkel versinken sahen. Danach wurden beim Ansturm auf die U-Bahnen Hunderte unglücklicher Passanten von überfüllten Bahnsteigen auf die Gleise und vor die Züge gestoßen. (Später in dieser Nacht gingen dann unerklärlicherweise die Lichter des erleuchteten Globus auf dem Dach des Gebäudes Number One Times Square aus, als weigerten sie sich, das neue Jahr zu begrüßen.) Mit diesen beunruhigenden Szenen vor Augen machte Feldman einen lobenswerten Versuch, die Welt wieder zur Vernunft zu bringen. Er unterdrückte seine angestauten Gefühle, und mit gefaßter, beschwichtigender Stimme schickte er – begleitet von knackenden Hintergrundgeräuschen – die verzweifelt erwartete Botschaft der Beruhigung in den dunklen Himmel. In rasender Eile wurde sein Tonbericht von Cuttern bei WNN Europa mit Archivmaterial über die Heilige Stadt versehen und in die aus den Fugen geratene Welt hinausgeschickt.
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19 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 2 UHR 27, SAMSTAG, 1. JANUAR 2000 Feldman und sein Team setzten ihre Berichte so lange fort, bis die Batterien um etwa 2 Uhr 30 Ortszeit leer waren. Zwei von Bollingers Leuten hatten, so gut es eben ging, Erkundungszüge in die Stadt machen können. Über Handy bestätigten sie, daß in manchen Stadtteilen erhebliche Schäden entstanden waren. Aber für die Stärke, die das Beben anscheinend gehabt hatte, gab es relativ wenige Todesfälle. All dies hatte man ordnungsgemäß an WNN Europa weitergegeben. Nachdem sie alles getan hatten, was in ihrer Macht stand, und das gesamte Gerät verpackt und in Wagen verstaut hatten, rief Bollinger das erschöpfte Team zusammen und bat um seine Aufmerksamkeit. Der Nachrichtenchef blickte in müde Gesichter und schüttelte nachdenklich und voller Zweifel den Kopf. »Leute, ich kann mich nicht hier hinstellen und behaupten, daß ich das, was heute nacht geschehen ist, besser verstehe als ihr. Vielleicht ergibt alles morgen bei Tageslicht eher einen Sinn. Nach sechsundzwanzig Jahren in diesem Geschäft habe ich geglaubt, kein besonders religiöser Mensch zu sein, aber ich muß gestehen, die ganze Sache hat auch mir höllisch zu schaffen gemacht. Eines weiß ich jedenfalls bestimmt: Ihr habt euch die ganze Zeit außerordentlich professionell und besonnen verhalten, und ich bin ungeheuer stolz auf euch alle.« Er sah zu Feldman hinüber, der erschöpft mit Anke zusammen mehr auf dem Couchende hing als saß. »Ich weiß nicht, Jon, wo du diese erstaunliche junge Dame getroffen hast, aber sie hat sich heute 75
nacht wie ein alter Hase bewährt, und wir danken Ihnen dafür sehr, Anke.« Das allgemeine Murmeln der Zustimmung beantwortete Anke mit einem schwachen Lächeln. »Und noch ein paar Dinge, bevor wir die Zelte abbrechen«, sagte Bollinger zum Schluß. »Ich glaube zuversichtlich, daß wenigstens einige unserer Übertragungen erfolgreich empfangen werden konnten. In jedem Fall ist die Zentrale sicher schon dabei, uns weitere Verstärkung aus Kairo zu schicken. Solange die Telefon- und Stromleitungen nicht intakt sind, sollten wir uns alle in der Nähe unserer Mobiltelefone aufhalten. Aber benutzt sie sparsam, um die Batterien zu schonen. Wenn es dem Reparaturdienst gelingt, die Kommunikationsleitungen nach draußen wieder herzustellen, gebe ich euch Nachricht über das, was in der Welt passiert. Wenn nicht, treffen wir uns zu einer Mitarbeiterversammlung pünktlich um acht Uhr morgens im Büro.« »Und Jon«, sagte Bollinger und nahm ihn für einen Augenblick beiseite, »da es so aussieht, als würde sich deine Rückkehr in die Staaten etwas verzögern, würdest du in Erwägung ziehen, noch ein paar Tage hierzubleiben und uns bei der Bewältigung dieser neuen Situation zu helfen?« »Klar«, stimmte Feldman zu. »Ich fange sowieso nicht vor nächsten Donnerstag an.« Im übrigen war er nicht undankbar für eine Ausrede, die es ihm ermöglichte, etwas mehr Zeit mit seiner neuen Bekanntschaft zu verbringen. Hunter war der nächste, der mit Feldman sprechen wollte. »So, dann wirst du dich noch etwas länger hier bei uns herumtreiben, ja? Prima. Wir werden dich brauchen, bis sich der ganze Wirbel wieder gelegt hat!« »Nur ein paar Tage«, bestätigte Feldman. Hunter nickte. »Gut, dann nimm doch den Rover und bring Anke nach Haus, ich fahre mit Cissy in ihrem Wagen. Und übrigens – bei mir kann's vielleicht morgen früh zu der Besprechung etwas 76
später werden.« Feldman glaubte zu verstehen und nickte. Schon seit einiger Zeit hatte er eine Annäherung zwischen Hunter und Cissy bemerkt. Und ihm gefiel die Art, wie sie sich gegenseitig schonungslos auf die Schippe nahmen, sich aber insgeheim doch Zuneigung entgegenbrachten. Doch es steckte noch etwas anderes hinter der gespannten, nach innen gerichteten Miene des Kameramanns, das nichts mit Cissy zu tun hatte. Feldman brauchte über eine Stunde, um Anke die zweieinhalb Kilometer zu ihrer Wohnung zu fahren. Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg den Berg hinunter, durch das Menschengedränge und an herabgefallenen Trümmern vorbei. Feldman war von dieser bemerkenswerten Frau immer mehr beeindruckt. Sie hatte sich schnell von dem ersten Schreck erholt und, wo immer man sie auch einsetzte, wie besessen mit dem übrigen Team gearbeitet, damit sie möglichst schnell wieder auf Sendung gehen konnten. Jetzt saß sie still neben ihm und unterbrach ihre Gedanken nur gelegentlich durch ein kurzes Lächeln und Angaben zum Weg. Glücklicherweise schien der Nordteil der Stadt nur wenig Schaden erlitten zu haben. Die moderne, weiße Villa, in der Anke zur Zeit wohnte, schien jedenfalls noch heil zu sein. Anke drehte sich im Sitz zu ihm hin und legte ihre Hand auf die seine. »Jon, bitte, verstehen Sie mich nicht falsch …« Jetzt kam es. Er fühlte, wie sein Magen sich verkrampfte, als er in ihr wunderschönes Gesicht blickte. Das klang ganz wie die Einleitung zu einem endgültigen Lebewohl. Nur passierte es nicht oft, daß er bei einer solchen Verabschiedung der Empfänger war. »Aber« – sie kam zur zweiten Hälfte – »außer mir wohnt niemand hier, und jetzt wäre ich lieber nicht allein.« Darauf war er nun so gar nicht gefaßt gewesen, und es dauerte einen Moment, bis der Sinn ihrer Worte überhaupt bei ihm ankam. 77
Er sagte nichts, und sie fühlte sich verpflichtet, noch etwas hinzuzufügen. »Was meinen Sie, oben gibt es ein Dachzimmer, und wenn es Sie nicht stört, auf einer Schlafcouch zu übernachten, kann ich Sie morgen früh genug für Ihre Besprechung wecken und ein schönes Frühstück machen, und Sie können fahren, wann immer …« Endlich hatte sich Feldman wieder gefaßt, und sein Pulsschlag normalisierte sich. »Oh, natürlich, ich würde Sie jetzt doch auf keinen Fall allein lassen«, betonte er, stieg schnell aus dem Wagen und warf sich die Tasche über die Schulter.
20 IN JERUSALEM, ISRAEL, 3 UHR41, SAMSTAG, 1. JANUAR 2000 Draußen in den zerstörten Straßen der Stadt dachte Hunter nicht an Schlaf. Als er Cissy bei ihrem Appartement abgesetzt hatte, widerstand er ihrem dringlichen und verführerischen Angebot, zu bleiben und zusammen zu der Besprechung um acht Uhr zu fahren. Er beschloß statt dessen, den unmöglichen Zustand der Straßen zur WNN-Zentrale noch einmal auf sich zu nehmen, und zwar allein. Cissy versprach er, mit einem Frühstück und ihrem Wagen rechtzeitig zurück zu sein, damit sie es zur Sitzung schaffen konnten. Nach mehreren Stunden kam Hunter beim WNN-Bürogebäude an und fand es, abgesehen vom Stromausfall, relativ unbeschädigt vor. Er schaltete den Notbetrieb mit Reservebatterien an einem Schnittplatz an, um das Videoband mit den letzten Augenblicken 78
vor dem Erdbeben noch einmal anzusehen, besonders die Stellen mit dem Interview des seltsamen Satanisten Astarte. Vor allem interessierte ihn dabei das Gewitter im Hintergrund, und er benutzte ein Spezialgerät, Advanced Definition Optics, um die Umgebung näher heranzuholen und die Bildqualität zu verbessern. Seiner Meinung nach handelte es sich dabei um ein Unwetter ganz besonderer Art. Es schien sehr heftig und auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert zu sein, über dem es für einen längeren Zeitraum stehenblieb. Da er jedoch zu dem Zeitpunkt nicht besonders darauf geachtet hatte, konnte er sich nicht erinnern, irgendeine Spur des Gewitters nach dem Beben bemerkt zu haben. Es war, als hätte es sich mit den Erschütterungen einfach aufgelöst. All diese widersprüchlichen Einzelheiten gingen ihm durch den Kopf, als er sich aufmerksam die Videoaufnahmen ansah. Endlich kam ihm mit dem ersten Morgenlicht der erlösende Einfall. Er schlug mit der Hand auf den Tisch, stoppte das Band und lief mit der Taschenlampe in der Hand hinüber zu einer großen Israelkarte an der gegenüberliegenden Wand. Er fand darauf den Ölberg und versuchte, den Sichtwinkel festzulegen, den er von dem Balkon der Villa aus gehabt hatte. Bevor ihm dies gelang, lenkte ihn ein ständig lauter werdendes Klopfen an der Tür des vorderen Büros ab. Hunter mochte Unterbrechungen ganz und gar nicht. Aber sein Ärger verflog, als er die Tür öffnete und davor eine umwerfende junge Frau zwischen zwei ihr offenbar nicht ebenbürtigen Begleitern stehen sah. Er erfuhr von ihnen, daß sie zu einem der eilig zur Unterstützung herbeigeholten WNN-Teams gehörten, die kommen sollten. Sie waren stilvoll – in einem komplett ausgerüsteten, mobilen, zwölf Meter langen Ü-Wagen mit eigener Energieversorgung – aus Kairo angereist.
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21 ROMEMA-ILIT-WOHNSIEDLUNG, JERUSALEM, ISRAEL, 5 UHR 50, SAMSTAG, 1. JANUAR 2000 Im Traum war Feldman wieder ein Kind. Er lernte zusammen mit seiner schönen, dunkelhaarigen Mutter den Katechismus. Aber sosehr er sich auch Mühe gab, er konnte keine der Lektionen behalten, und das enttäuschte sie sehr. Er seufzte und starrte wieder auf seinen Text, aber der hatte sich verändert. Es war nicht mehr der Katechismus, sondern der Talmud. Er sah wieder auf und diesmal in das Gesicht seines Vaters über ihm. Sein Vater blickte finster und sprach mit strengen Worten auf Jiddisch mit ihm, was Feldman nicht verstand. Er schloß die Augen, weinte und hörte dann die beruhigende und tröstende Stimme seiner Mutter: »Jon, Jon, es ist schon gut, scht.« Er öffnete die Augen, und diesmal sah er in das Gesicht von Anke. Ihr Haar fiel lang auf die bloßen Schultern herab, und das Nachthemd mit den schmalen Trägern verhüllte kaum ihre Brüste. Sie lächelte und flüsterte: »Sie haben einen schlechten Traum gehabt, Jon. Ich habe Sie bis unten gehört.« Der Halbmond stand jetzt hoch am Himmel und erfüllte das Zimmer mit mattweißem Licht. Feldman war verlegen. »Was habe ich gesagt?« Anke lachte leise. »Sie haben nach Ihren Eltern gerufen, erst ›Mama‹, dann ›Papa‹.« Feldman lächelte schuldbewußt, schüttelte den Kopf und versuchte die unbequemen, lange vergessenen Emotionen, die der 80
Traum wieder geweckt hatte, zu verdrängen. »Meine Mutter war katholisch und mein Vater Jude«, erklärte er. »Beide wollten mich in ihrem eigenen Glauben erziehen, und es kam zu vielen Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Ich glaube, ich habe eine Szene aus meiner Kindheit noch einmal durchlebt.« »Und wie haben Ihre Eltern ihren Konflikt gelöst?« fragte Anke, die sich neben ihn auf die Bettkante gesetzt hatte. »Überhaupt nicht«, antwortete Feldman. »Sie ließen sich scheiden, als ich neun Jahre alt war.« »Waren Sie ein Einzelkind?« »Ja.« »Das muß sehr schwer für Sie gewesen sein.« Er starrte aus dem Fenster auf die Mondsichel. »Jahrelang fühlte ich mich für alles verantwortlich. Es war mein Erbe, ein Abkömmling der beiden Religionen dieser Erde zu sein, die dem Menschen die meiste Schuld aufbürden.« »Und welchen Glauben haben Sie dann gewählt?« »Keinen von beiden. Schließlich gab ich beide Religionen auf und wurde unabhängig, eigentlich Agnostiker. Aber was nur hat diese Erinnerungen heute nacht ausgelöst? Zum ersten Mal seit zehn Jahren habe ich daran gedacht.« Und es war das erste Mal, so wurde ihm jetzt klar, daß er bei einer anderen Gelegenheit als damals in seiner schwierigen Jugend auf der Couch seines Psychiaters über diese Dinge gesprochen hatte. »Ich hatte auch wirre Träume«, flüsterte Anke und strich ihm genauso sanft über die Haare, wie er es Stunden zuvor bei ihr getan hatte. »Es ist sowieso ein Wunder, daß wir nach allem, was letzte Nacht passiert ist, überhaupt geschlafen haben.« Feldman setzte sich auf, etwas wacher, aber immer noch sehr müde. Ankes warme, schlanke Gestalt in dem leichten Nachthemd neben ihm verwirrte ihn. Er mühte sich ab, seine Gedanken durch eine unverfängliche Bemerkung zu überdecken. »Es … es tut mir so 81
leid, daß ich Sie geweckt habe.« »Das macht nichts«, sagte sie so überzeugend, daß er ihr glaubte. Sie stand auf. »Es ist sowieso Zeit aufzustehen. Gehen Sie doch unter die Dusche, wenn Sie möchten. Ich habe frische Handtücher für Sie hingelegt und mache jetzt das Frühstück.« Feldman war einverstanden, schlug die Bettdecke zurück und stand auf, nur um festzustellen, daß alle seine Kleider in einem Bündel auf dem Fußboden lagen. Er riß sofort das Laken wieder an sich, aufs neue von dieser verwirrenden Frau in Verlegenheit gebracht. Anke drehte sich um und ging hinaus, als wäre nichts gewesen. Aber er hörte ihr liebenswertes, leises Lachen, als sie die Treppe hinunterging. Er seufzte. Immer schien sie ihn in einem blamablen Moment zu erwischen. Draußen wurde es langsam heller, als er nach einer belebenden Dusche in seinen noch genauso zerknitterten Sachen vor einem wunderbaren Frühstück mit Schinken und Eiern Platz nahm. Sie saß ihm gegenüber mit Toast und Orangensaft und schenkte ihm noch einmal Kaffee ein. »Was meinen Sie, Jon, was ist gestern nacht wirklich passiert?« »Sagen Sie es mir.« Er umging eine Antwort, weil er dieses Thema im Augenblick vermeiden wollte. Schon seit damals, als er sich in seiner Jugend von der Religion gelöst hatte, weil er ihr die Schuld an der Scheidung seiner Eltern gab, fühlte er eine Leere in seinem Inneren. Ein Loch in seiner Seele. Vorausgesetzt er hatte eine. Deshalb fand er es schwierig, sich der tieferen Frage nach dem, was gestern nacht passiert oder vielleicht nicht passiert war, zu stellen. Anke lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und dachte einen Augenblick nach. »Na ja«, sagte sie, »ich weiß ehrlich nicht, was ich jetzt denken soll. Aber was ist, wenn Gott – das heißt, wenn man an einen Gott 82
glaubt – uns tatsächlich etwas mitteilen will?« »Wie meinen Sie das?« »Ich glaube, an allem, was letzte Nacht passiert ist, waren zu viele Zufälle beteiligt, als daß man es einfach mit einem Naturereignis erklären könnte, finden Sie nicht? Ob es mir nun gefällt oder nicht, ist das doch eine sehr reale Möglichkeit. Was wäre, wenn Gott nach so vielen Jahrhunderten des Schweigens doch endlich wieder zu uns spräche? Vielleicht liegt darin eine Botschaft. Oder Ansätze zu einer Botschaft. Vielleicht war letzte Nacht eine Mahnung aufzuwachen?« »So, als ob Gott sich mal kurz geräuspert hätte?« Feldman wollte dem Gespräch eine auflockernde Wendung geben; aber weil er noch nicht wußte, wie empfindlich Anke reagieren würde, fürchtete er, daß er wie ein Gotteslästerer auf sie wirken könnte. Aber sie war nicht gekränkt, sondern lächelte. »Das kann sein. Ich weiß nur, daß ich noch nie im Leben solche Angst hatte. Und ich kann nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen. Können Sie es?« Aus Feldman brachen jetzt seine wahren Gefühle heraus. »Zum Teufel, Anke, ich bin mir nicht sicher, was ich denken soll. Eine Weile hab' ich sogar gemeint, diese Millennarier, die ich immer für Idioten hielt, könnten schließlich doch recht behalten. Das würde heißen, daß ich verlorene, unwissende Seele zur ewigen Verdammnis verurteilt wäre, weil mir feste religiöse Bindungen fehlen.« Plötzlich verstand er die Ursachen seines nächtlichen Angsttraums, und diese Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht. Niemals zuvor hatte er seinen Träumen irgendwelche Bedeutung beigemessen. Jetzt darin einen Sinn zu entdecken war ein Aspekt, der ihn beunruhigte. Anke verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, die Lehren dieser Jahrtausendprediger zu akzeptieren«, sagte sie. »Aber man kann andererseits die Ereignisse von gestern nacht auch nicht einfach von der Hand weisen, oder?« »Vielleicht nicht«, sagte er bedächtig und immer noch von seiner 83
neuen Erkenntnis betroffen. »Aber ich finde es recht unglaubhaft, wenn eine vernunftbegabte Gottheit ihre Wiederkunft mit Terrorakten gegenüber ihren Gläubigen manifestiert. Ich glaube, ich werde Bollingers Vorschlag annehmen und einfach abwarten, wie sich das alles bei Tageslicht ausnimmt.« Er mußte nicht mehr lange warten, der Tag brach bereits an. Feldman sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, daß es für ihn bei dem schlechten Zustand der Straßen sehr knapp werden würde, wenn er noch bei seiner Wohnung vorbeifahren wollte, um sich umzuziehen. Anke war schon vom Tisch aufgestanden. »Wie ich höre, werden Sie Israel bald für längere Zeit verlassen?« Feldman zuckte die Schultern. »Ich fürchte, ja. Dies war ja nur ein befristeter Auftrag hier bei WNN. In den Staaten wartet eine neue Stelle auf mich.« Aber als er ihr in die Augen sah, verlor die neue Position einiges von ihrem Reiz. Sie nickte, und ein flüchtiger Ausdruck der Enttäuschung huschte über ihr Gesicht. »Nun, Mr. Feldman«, sie lächelte jetzt wieder, »das war bestimmt ein Silvesterabend, den wir nicht so schnell vergessen werden!« Feldman stand auf und ging auf sie zu. Diesmal wurden seine Absichten nicht durchkreuzt. Der Kuß war um so länger, als er schon so lange fällig war. Die Erde unter ihm schien wieder zu beben. Und als er wegging, fühlte er viel mehr neue Kraft in sich, als die anderthalb Stunden Schlaf ihm eigentlich hätten geben können. Die Autofahrt, behindert durch umgestürzte Mauern, Leitungsmasten und herabhängende Stromkabel, war mühsam. Er hielt kurz bei seiner Wohnung an, um die Kleider zu wechseln. Auf seiner Veranda fehlte die übliche Morgenzeitung. Er öffnete die Tür und sah mit Unmut seine verlotterte, unaufgeräumte Wohnung, die im Vergleich mit Ankes Stadtwohnung ziemlich miserabel abschnitt. Mit 84
einem Achselzucken nahm er sich fest vor, bei nächster Gelegenheit gründlich sauberzumachen und aufzuräumen. Er zog sein Hemd aus, warf es neben einen Wäschekorb in der Ecke und streifte ein frisches über. Als er nach seiner Schultertasche griff, piepste das Handy. Es war Hunter. Trotz der schlechten Verbindung war die Erregung in seiner Stimme zu hören. »Verdammt, seit einer Stunde versuch' ich schon, dich zu erreichen!« »Also, mein Anschluß war frei«, versicherte Feldman, »aber wahrscheinlich sind die Funkverbindungen in der Gegend hier überlastet.« »Hör gut zu, falls die Verbindung abreißt«, sagte Hunter und schnaufte aufgeregt. »Es ist unglaublich! Eines der WNN-Teams ist heute morgen aus Kairo angekommen, und wir sind alle zusammen nach Bethlehem gefahren. Du mußt sofort herkommen! Wir haben's verpaßt, Kumpel!« »Bethlehem? Was ist denn los in Bethlehem?« »Hier war das Epizentrum des Bebens. Derselbe Fleck, wo wir gestern nacht das Unwetter gesehen haben. Was hier unten abgeht, ist wirklich verrückt, ich erzähl' dir dann alles, aber halt dich ran und komm her, bevor uns der Knüller hier durch die Lappen geht.« »Okay, schon gut, aber was ist mit Bollinger und der Besprechung?« »Ich hab' ihn nicht erreichen können. Sag ihm, wir haben 'ne Riesenstory als Fortsetzung zu gestern abend. Schaff alle und alles hier runter, aber avanti! Eine zweite mobile Einheit ist von Kairo aus unterwegs, die dürfte bald in der Zentrale sein. Die brauchen wir auch. Wenn du hier ankommst, halt Ausschau nach einem WNNÜ-Wagen mit Satellitenschüssel. In der Nähe der Davidsmauer, auf dem offenen Platz zwischen Sderot König David und Sderot Manger an der Nordseite. Wenn wir Glück haben, sind wir die einzigen Berichterstatter hier. Tschüs.« Und Hunter war weg. 85
Mein Gott, schläft der Typ eigentlich nie? dachte Feldman, als er versuchte, Bollinger vom Auto aus anzurufen. Aber die Leitungen waren hoffnungslos überlastet. Auf seiner stockenden Fahrt durch Jerusalem war der Reporter überrascht, so viele Gebäude mit schweren Schäden zu sehen. Die Dunkelheit hatte das Ausmaß der Zerstörung gut getarnt. Als er die Altstadt passierte, bemerkte er breite Risse im zugemauerten Eingang des heiligen Goldenen Tores. Er schüttelte den Kopf über die Zerstörung, bog auf eine Ausfallstraße nach Süden ab und ließ die Stadt hinter sich. Nach Bethlehem war es normalerweise nur eine kurze Autofahrt. Von Jerusalem aus lag es praktisch wie ein Vorort nur zehn Kilometer weiter südlich. Aber als Folge des Bebens dauerte die Fahrt heute länger. Feldman blieb jede Menge Zeit, immer wieder auf den Knopf für Wiederwahl an seinem Handy zu drücken. Endlich kam er zu Cissy durch. »Wo bist du?« wollte sie wissen. »Wir haben den ganzen Morgen versucht, dich zu erreichen.« »Ich bin auf dem Weg nach Bethlehem«, sagte er ihr. »Wo? Hast du was von Hunter gehört?« »Ja, der ist schon in Bethlehem.« »Was zum Teufel macht er denn da? Jimmy hat mir erzählt, er wäre heute morgen ganz früh mit einem der neuen mobilen Teams aus Kairo losgefahren. Der Dreckskerl hat mein Auto und sollte mich zur Besprechung abholen!« Feldman hörte Cissy mit jemandem reden, und dann riß Bollinger den Hörer an sich. »Jon, was ist los?« »Arnie, Hunter hat mich vor einer Weile aus Bethlehem angerufen. Er ist mit einem der Teams aus Kairo dort unten. Er will die ganze Crew und die ganzen Geräte unten haben, jetzt. Er sagt, daß wir dort eine Bombensache finden, wenn wir uns beeilen.« »Was ist denn los?« »Er hatte keine Zeit für Einzelheiten, aber er hat versichert, Beth86
lehem sei gestern nacht das Zentrum des Erdbebens und des Gewitters gewesen. Er sagte, was da unten abgeht, sei der absolute Wahnsinn.« Das schien Bollingers Interesse zu wecken, aber er klang dennoch etwas gereizt. »Feldman, ich hoffe, daß es wirklich etwas Lohnendes ist«, sagte er warnend. »Ich hätte gern etwas mehr gewußt als nur, daß da unten etwas Verrücktes abgeht, bevor wir uns alle hier mitten in der Story ausklinken.« »Das ist alles, was ich weiß, Arnie. Aber er ließ nicht locker.« Bollinger schimpfte vor sich hin und beendete das Gespräch. Feldman schaltete das Autoradio an. Endlich war Radio Israel wieder auf Sendung. Feldman mußte auf die englische Fassung warten, um weitere schreckliche Meldungen über das Geschehen am Vorabend zu erfahren. Weltweit Panik, Gewalt, Zerstörung und Tod. Auch Radio Israel meldete, daß Bethlehem das Epizentrum eines großen Erdbebens der Stärke sieben auf der Richterskala gewesen war und bestätigte damit Hunters Behauptung. Bis auf ein schwaches Beben in Rom hatte anscheinend keine weitere Stadt, die als Stützpunkt der Millennarier galt, irgendwelche Schäden erlitten.
22 BETHLEHEM, ISRAEL, 9 UHR 33, SAMSTAG, 1. JANUAR 2000 Als sich Feldman von Norden Bethlehem näherte, sah er die malerische Hügelstadt vor sich liegen, deren etwa zwanzigtausend Ein87
wohner hauptsächlich christliche Araber waren. Ihre Familien hatten seit Jahrhunderten hier gelebt. Bethlehem hatte sich seit Christi Geburt außer in der ethnischen Zusammensetzung seiner Bevölkerung wenig verändert. Hirten trieben immer noch ihre Schaf- und Ziegenherden von den spärlich bewachsenen Weiden auf den Hügeln, die die Stadt umgaben, durch die engen gepflasterten Gassen bis zum Zentrum des Ortes, dem Marktplatz und Basar. Mitten zwischen alte, historische Gebäude hatte man jahrhundertelang wahllos neuere Bauten gezwängt. Aber da sie aus dem gleichen Stein errichtet waren, konnte man sie kaum von den älteren unterscheiden. Aus dem Labyrinth von eng beieinanderstehenden Wohnhäusern sah man die eleganten Türme von einem Dutzend Kirchen aus hellem Sandstein aufragen. Im Mittelpunkt stand die eintausendvierhundert Jahre alte Geburtskirche am Manger Square, die sich über der Geburtsgrotte, dem angeblichen Geburtsplatz Christi, erhob. Feldman war erstaunt, daß von dem starken Erdbeben am Abend zuvor hier keine Schäden zu sehen waren. Statt eines Notstandsgebiets fand er eine Stadt vor, die von Millennariern überquoll. In den Läden und Cafés wimmelte es von Menschen, und es gab keine Anzeichen dafür, daß die städtische Versorgung unterbrochen war. Keine Absperrungen wegen der Reparatur von Strom- oder Gasleitungen, keine Sondereinheiten, die sich durch Trümmerberge gruben. Die größte Menschenmenge hatte sich nicht am beliebten Manger Square in der Stadtmitte versammelt, wie Feldman erwartet hatte, sondern auf einem großen, parkähnlichen Wiesenstück weiter nördlich. Die Wiese lag wie eine Insel zwischen Sderot König David im Norden und Sderot Manger im Süden – ›Sderot‹ ist das hebräische Wort für Straße. In der Nähe der Stelle, wo die zwei Straßen wieder zusammentrafen, entdeckte Feldman den WNN-Übertragungswagen, der hinter einer Reihe von stuckverzierten Gebäu88
den geparkt war. Er klopfte an die Tür, ein Riegel wurde zurückgeschoben, und ein ihm unbekannter, etwas weltfremd aussehender Mann mittleren Alters mit Krawatte und Hornbrille, der ihn seinerseits sofort erkannte, begrüßte ihn. »Mr. Feldman, wir haben Sie erwartet.« Feldman war noch nicht an seine neu gewonnene Berühmtheit gewöhnt. »Na also, du hast's geschafft!« tönte Hunters Stimme aus dem Dunkel des Wagens. Bevor sich die Tür schloß und er vorübergehend wie blind war, erblickte er Hunter, der an einem kleinen Tisch neben einer sehr attraktiven Frau mit Brille saß. Sie trug ein Nadelstreifenkostüm mit ausgeschnittener Bluse. Ihr intelligentes Gesicht, von glattem, dunklem Haar eingerahmt, das sie mit Fransen über der Stirn und im Nacken kurz geschnitten trug, kam durch ihr perfektes Make-up noch mehr zur Geltung. Hinter ihr befand sich eine Wand mit flimmernden Monitoren. Seine Augen gewöhnten sich langsam an das blaue Licht. »Jon«, begann Hunter, »darf ich dich Erin Cross, der Expertin für nahöstliche Religions- und Altertumsgeschichte bei WNN, vorstellen? Und der, den du eben getroffen hast, ist Robert Filson, Chefredakteur der Nachrichten.« Feldman lächelte und gab ihnen die Hand. Roberts Händedruck war weich, feucht und schlaff, der von Erin kühl und fest. Als sie sich über den Tisch zu Feldman beugte, gab der tiefe Ausschnitt ihrer maßgeschneiderten Bluse einen unvermeidlich tiefen Blick auf ihr Dekolleté frei. »Es ist mir ein Vergnügen, den berühmten Mr. Feldman kennenzulernen«, sagte sie mit ihrer interessanten Stimme und lächelte. Ihr dunkler Lippenstift bildete einen starken Kontrast zu ihrer milchweißen Haut. Ein Telefon an der Wand blinkte, und Hunter bat 89
eindringlich darum, es nicht zu beachten. »Das ist nur wieder Bollinger«, schnaubte er ungeduldig. »Wir informieren ihn, wenn er hier ankommt, aber jetzt keine Unterbrechungen mehr.« Er zog den Stecker aus der Dose. Filson hob eine Augenbraue, aber Hunter bemerkte es gar nicht und begann sofort zu erzählen. »Gestern abend, nachdem ich Cissy abgesetzt hatte, ging ich in die Zentrale zurück. Wie alle anderen, denke ich, ließ mich die Spannung nach dem, was passiert war, nicht zur Ruhe kommen, und ich wollte das Material, das wir am Anfang des Erdbebens gedreht hatten, noch einmal ansehen. Ich versuchte, den genauen Herkunftsort des Gewitters zu bestimmen, als diese Kollegen«, er zeigte auf Erin und Filson, »kurz nach Tagesanbruch ankamen. Sie können Amateurfunk empfangen, und auf der Fahrt von Kairo hierher kam ein Bericht aus der Türkei herein, daß das Epizentrum des Bebens anscheinend hier in Bethlehem war, genau da, wo ich auf der Karte das Gewitter lokalisiert hatte.« Feldman unterbrach ihn. »Ja, aber ich habe auf dem Weg in die Stadt überhaupt keine Schäden bemerkt, und in Jerusalem ist doch einiges zerstört.« »Das ist nicht einmal das Merkwürdigste«, antwortete Hunter. »Als wir das Gewitter und das Beben mit Bethlehem in Verbindung gebracht hatten, beschlossen wir einstimmig, der Sache nachzugehen. Und es hat sich gelohnt. Wirklich gelohnt. Sieh dir das an.« Er zeigte auf einen Monitor. »Das ist eine Auswahl von den Aufnahmen, die wir heute morgen auf dem König-David-Platz geschossen haben«, erklärte Hunter. »Wir sind gerade dabei, sie zusammenzuschneiden.« Er nahm eine Fernbedienung vom Tisch und ließ einen Ausschnitt anlaufen. »So, jetzt sieh dir mal Monitor C an.« Auf der Bildfläche erschienen die Überreste eines Gevierts, eine alte Steinmauer, etwa ein Meter zwanzig hoch, fünfzig Meter lang und fünfundzwanzig Meter breit. »Das ist eine archäologische Aus90
grabungsstelle, die als Davidsmauer bekannt ist.« Hunter benutzte das hebräische Wort ›Tel‹, das er von Erin Cross gelernt hatte. Feldman verstand nicht ganz, aber er wollte ihn nicht unterbrechen. »Die Davidsmauer verläuft ungefähr einen Steinwurf von hier an der Westseite des Platzes«, fuhr Hunter fort. »Es gibt zur Zeit allerhand Ausgrabungen in dieser Gegend.« Die Kamera bog um eine Ecke und kam zu einer Öffnung in dem Geviert. In der Mitte eines Hofes befand sich eine wassergefüllte Zisterne aus massivem Stein. Sie hatte einen Durchmesser von zwei Metern, und die Menschen schöpften vorsichtig Wasser in Krüge, Flaschen und andere Behälter. »Also, jetzt sind wir innerhalb der Mauer«, führte Hunter weiter aus, »und wir haben den alten Brunnen Davids vor uns.« Feldman hatte etwas Aufregenderes erwartet und rutschte ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her. Aber Hunter ließ sich Zeit. »Erin«, sagte er zu der jungen Frau neben sich, »erzählen Sie Jon von dem Brunnen.« Erin drehte Feldman ihren Schwanenhals zu und lächelte kokett. »Aber gern. Die Mauer und der Brunnen sind die ältesten historischen Wahrzeichen von Bethlehem, die auf das Jahr 1000 vor Christus zurückgehen. Der Brunnen versorgt die Anwohner noch heute mit Trinkwasser. Nach der Legende soll vor dreitausend Jahren ein junger Hirte seine Ziegenhaut an diesem Brunnen mit Wasser gefüllt haben, und dann sah er den Israeliten beim Kampf gegen die Philister zu, die hier eindrangen. Dieser Hirtenjunge, der in Bethlehem geboren war, David hieß und später der größte König des alten Israel wurde, soll Wasser von diesem Brunnen getrunken haben, bevor er den Kampf gegen den Philisterriesen Goliath eröffnete und ihn erschlug.« Hunter unterbrach sie. »Keine schlechte Anekdote für den Anfang, oder?« Er strahlte förmlich vor Selbstzufriedenheit. »Jetzt sieh dir Monitor E an, Jon.« 91
Mit einem Knopfdruck erschien ein ausgedehnter Blick auf die Wiese. Die Kamera war nach Osten gerichtet. Ungefähr fünfunddreißig Meter gegenüber der Öffnung in der Davidsmauer lag ein großer, teilweise ausgegrabener Hügel, in dem eine Steintreppe freigelegt worden war. Die Stufen führten zur abgeflachten Kuppe des Hügels, auf dem Reste massiver Steinsäulen zu sehen waren. Feldman vermutete, daß dies die Überbleibsel eines ehemals prächtigen Bauwerks waren, wie so vieles in Israel, das seine ruhmvollen Tage längst hinter sich hatte. Er konnte sonst wenig erkennen, da Scharen von Millennariern umherwanderten. Erin setzte ihre Archäologielektion fort. »Das sind die Ruinen eines alten israelitischen Tempels«, sagte sie. »Er ist fast so alt wie der Davidsbrunnen. Von König David gebaut, so erzählt die Legende, um einen anderen großen Herrscher anzukündigen, der auch Wasser von diesem Brunnen trinken würde.« Hunter wandte sich zu Feldman. »Gestern abend, bei dem Gewitter und dem Erdbeben, hat sich hier etwas Unerhörtes ereignet, wie Hunderte von Augenzeugen berichten, und wir haben mit Dutzenden von ihnen Interviews gemacht. Zu dem Zeitpunkt waren nur ungefähr zweitausend Menschen in der Nähe dieser heiligen Stätten, hauptsächlich Leute, die auf dem überfüllten Manger Square keinen Platz mehr fanden. Die Gruppe hier gehört zum größten Teil zu einem millennarischen Orden, der unter der Bezeichnung Samariter bekannt ist. Sie haben für Kranke und Invalide aus aller Welt Reisen nach Bethlehem organisiert, mit dem Hintergedanken, daß die Ärmsten bei der Wiederkunft des Herrn geheilt werden könnten.« Hunter beugte sich zu Feldman hinüber und legte die Hände auf den Tisch. »Im Gefolge der Samariter war ein Beduinenjunge von vierzehn, fünfzehn Jahren. Angeblich wurden der Junge und seine Eltern von einer Gruppe Samariter, die aus dem Süden kamen, mitgenommen. Der Sohn wurde gestern auf einer Bahre zum Brunnen 92
gebracht. Er konnte weder gehen noch sehen, hören, sprechen oder allein essen. Darauf schwören jedenfalls alle.« Feldman hoffte, daß das Ganze nicht als irgendeine religiöse Wundergeschichte enden würde. »Nachdem sie ihn getauft hatten«, fuhr Hunter fort, »hielten er und seine Familie sich bis zu den Feierlichkeiten am Abend an der Davidsmauer auf, und der Junge lag einfach da auf seiner Bahre und schien zu schlafen. Später kam, wie du weißt, das Gewitter. Kurz vor Mitternacht blitzte es oft, und der Wind wurde stärker; zwar regnete es nicht, aber alle rannten zu den Gebäuden rings um den Platz, um sich unterzustellen. Da bemerkten einige Leute, daß jemand den Jungen vergessen hatte.« »Sie ließen ihn einfach da draußen im Gewitter liegen?« stieß Feldman ungläubig hervor. »Ja. Offenbar wurden alle durch das Unwetter und weil die heilige Stunde der Mitternacht nahte von Panik ergriffen. Als es immer stärker blitzte, sahen ihn einige da draußen hell angestrahlt liegen, aber bevor jemand den Mut hatte, hinzugehen und ihn zu holen, stand er plötzlich auf, nahm seine Binden ab, ging in das Geviert, schöpfte gelassen Wasser aus dem Brunnen und trank es. Dann, als alle schrien, er solle da weggehen, ging er langsam auf den alten Tempel zu. Inzwischen gab es den großen Countdown bis Mitternacht, bei dem ein großer Teil der Menge mitzählte und nicht bemerkte, was mit dem Jungen geschah. Der ging einfach weiter die Stufen hinauf, drehte sich oben um und erhob die Arme. Da brach der Jubel zur Feier des neuen Jahrtausends los, Schreie und Hurrarufe, und plötzlich gab es einen furchtbaren Blitz. Es muß ein Einschlag ganz in der Nähe gewesen sein. Alle behaupten, der Blitz habe den Jungen getroffen. Gleichzeitig begann die Erde, wie vom Blitz ausgelöst, zu beben, und ich kann euch zeigen, was dann geschah.« Hunter schaltete Monitor G an, der eine Nahaufnahme vom unteren Teil des Brunnens brachte. 93
Feldman sah die Anfänge einer Zickzackspalte im Boden. Die Kamera verfolgte sie vom Brunnen weg, und der Riß klaffte an manchen Stellen bis zu dreißig Zentimeter breit auseinander und lief in Schlangenlinien weiter. »Sie behaupten, der Boden habe sich einfach geöffnet, so wie man es hier sehen kann«, erklärte Hunter, »bis oben hin, geradewegs zwischen den Beinen des Jungen hindurch. Und siehst du, was da auf der obersten Stufe eingeritzt ist?« Hunter war außer sich vor Begeisterung. Die Kamera wanderte weiter an der Spalte entlang, um auf die letzte Stufe zuzufahren. Verwitterte hebräische Lettern, die in die Vorderseite der Stufe gehauen waren, wurden sichtbar. Die Spalte teilte die ersten zwei Buchstaben, aber sie waren lesbar, wenn auch für Feldman nicht zu entziffern. »Genau da, wo der Junge gestanden haben soll«, Hunter beugte sich vor und berührte die Bildfläche mit dem Zeigefinger, »da, da steht das alte hebräische Wort für ›Messias‹, korrekt, Erin?« »Das ist richtig«, bestätigte Erin. »Die Buchstaben laufen von rechts nach links. Die hebräische Aussprache lautet ›Moshiach‹.« »Und der Gipfel ist«, Hunter schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, »es sollen über zweihundertfünfzig Kranke und Behinderte dagewesen sein, die jetzt behaupten, daß sie von ihren Gebrechen geheilt wurden, als der Blitz einschlug. Ich sag' dir, es ist Voodoo, Jon, aber es ist genial! Wir haben den besten aller Fortsetzungsberichte! Der Höhepunkt, auf den alle gewartet haben!« Er lehnte sich zurück und genoß den Erfolg. »Wir haben eine echte Messiasfigur!« Erin Cross leistete ihm zusätzliche Schützenhilfe. »Ich kann Ihnen sagen, Mr. Feldman, es sieht nicht schlecht aus. Wir haben mit vielen Menschen hier gesprochen, die sagen, sie seien geheilt worden – von Krebs bis zur Blindheit. Und manche der Aussagen sind recht überzeugend. Es wird ein sensationelles Feature geben.« Feldman hatte den größten Teil dieser Reden schweigend angehört, die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn auf die Daumen ge94
stützt, die Finger gegen den Mund gepreßt. Aber seine Augen verrieten eine wachsende Faszination. »Das ist total unglaublich, Breck«, flüsterte er endlich. »Absolut unfaßbar. Dieser Junge, wo ist er? Habt ihr ihn gesehen? Habt ihr mit ihm gesprochen?« »Nein«, gab Hunter zu. »Die Samariter halten ihn versteckt, um ihn zu schützen, wie sie behaupten. Wir wissen nicht einmal, ob er noch in Bethlehem ist. Aber wir bleiben dran.« Filson, der bisher nichts zum Gespräch beigetragen hatte, sagte jetzt mit der nüchternen Stimme eines Menschen, der von Generationen von Buchhaltern abstammt: »Das gibt alldem natürlich ein schönes Element des Geheimnisvollen. Aber ohne den Jungen geht uns das Beste an der Geschichte verloren. Und wir sind unseren Knüller los, wenn ein anderer Fernsehsender ihn vor uns findet. Ich glaube, wir sollten unser Wissen für uns behalten und uns vor allem darauf konzentrieren, den Jungen zu finden. Sonst riskieren wir jede Menge anderer Schnüffelreporter auf seiner Spur.« Feldman und Hunter tauschten Blicke. Es war nicht klar, ob Filson den Versuch machte, sich durchzusetzen, oder ob er einfach seine Meinung zum besten gab. Aber obwohl sie noch nicht wußten, welche Rolle Filson bei dieser Aktion vielleicht zukam oder auch nicht, wollten Hunter und Feldman auf keinen Fall zulassen, daß sich einer von außen einmischte und der Sache den Schwung nahm. »Ich habe genug Vertrauen in unser Team, um gleich mit dieser Geschichte herauszukommen«, antwortete Feldman geradeheraus und bestimmt. »Besonders da wir jetzt auch Ihre zwei WNN-Spitzenteams haben.« Er behandelte Filson ein bißchen gönnerhaft, aber der merkte das anscheinend gar nicht. »Keine Sorge, Filson«, versicherte ihm Hunter, »wir haben die Leute, das Gespür und den Kontakt zu Insidern, um die Aufgabe lösen zu können.« 95
Sie warteten nicht auf seine Zustimmung, sondern erhoben sich, und Feldman klopfte Hunter kräftig auf den Rücken. »Gute Arbeit, Kumpel. Jetzt führ mich doch mal ein bißchen draußen herum und sag mir, wie du dir die Story vorstellst.« Erin stand mit ihnen auf, und Filson, der einen Einwand zu haben schien, machte endlich den Mund zu und sagte nichts. Hunter grinste Feldman an. »Da fängt die Präsidentenwahl jetzt doch an, 'n bißchen lahm auszusehen, oder?« Feldman lächelte nur. Als der wütende Bollinger und seine Leute endlich zusammen mit dem zweiten Kairoer Team ankamen, hatten Hunter und Feldman schon die Schnittfolge und den Verlauf ihres Berichts ausgearbeitet. Statt dem aufgebrachten Chef irgendeine Erklärung zu geben, setzten sie ihn einfach zusammen mit so vielen Teammitgliedern, wie sie in den Ü-Wagen quetschen konnten, vor den Monitor und spielten ihnen eine vorläufige Fassung ihrer Sendung vor. Feldman kommentierte live, und das Video enthüllte systematisch die ganze bizarre Geschichte. Die letzte Sequenz ihrer Story konzentrierte sich auf die Nutznießer der Wunder, die sich angeblich ereignet hatten, als der Blitz einschlug. Besonders ergreifend war die Sequenz eines jungen Mädchens aus dem Süden Alabamas, das einige Jahre zuvor einen Autounfall erlitten hatte. Die Fotos zeigten die Überreste des Unfallwagens sowie das Mädchen, von oben bis unten in Gips und dann in einem Rollstuhl sitzend. Jetzt, nach den Ereignissen der Jahrtausendwende, sah man sie mit strahlendem Gesicht, als sie unsicher auf zwei erbärmlich dünnen, aber offenbar beweglichen Beinen ging. Die Freude und religiöse Ergriffenheit ihrer Eltern waren äußerst bewegend. Vollkommen überzeugend. Damit dieses ›wunderbare‹ Ereignis nicht als Fehlinterpretation 96
zur Ankündigung des nahenden Weltuntergangs mißbraucht werden konnte, hatte Feldman der Geschichte ein profanes Ende gegeben: als positive Botschaft der Hoffnung und des Glaubens und der außerordentlichen Heilkräfte des Geistes. Ein erfrischender Optimismus, der die Behauptung der Samariter, es gehe um Wunder und um die Ankunft eines neuen Messias, zurückwies. Aber Hunter hatte darauf bestanden, daß der Bericht damit endete, daß die Kamera langsam auf das gemeißelte Wort ›Moshiach‹ zufuhr. Nach kurzem Schweigen in dem engen Ü-Wagen erhob sich ein Gemurmel, und alle, sogar Filson, brachen in stürmischen Beifall aus. Feldman verbeugte sich, streckte den Arm aus und wies auf Hunter, der das Lob mit einem erfreuten Grinsen entgegennahm. Bollingers Ärger war verflogen, und er sah ebenso erleichtert wie zufrieden aus. »Breck«, sagte er, atmete tief aus und lächelte breit. »WNN ist schon den ganzen Tag wegen der Einzelheiten für den nächsten Teil unserer Sendung hinter mir her, und ich konnte nichts tun, als ihnen ›eine tolle Story‹ zu versprechen. Gott sei Dank, daß du die gebracht hast, du Arschloch.« Offensichtlich hatte er gemerkt, daß Hunter seine Anrufe ignoriert hatte. »Also«, sagte Bollinger, wieder ganz der Studiochef, und rieb sich hoffnungsfroh die Hände, »wollen wir doch mal sehen, ob wir den Jungen finden können!«
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23 BETHLEHEM, ISRAEL, 7 UHR 17, SONNTAG, 2. JANUAR 2000 Als Hunter und Feldman am nächsten Morgen schon früh in einem Café saßen, rührten sie ihr Frühstück nicht einmal an. Sie waren vollkommen in verschiedene Artikel der Londoner Times von gestern und heute vertieft, die elektronisch über Satellit direkt zu einem Fax im Ü-Wagen von WNN übertragen worden waren. Die gestrige Ausgabe enthielt in einem Artikel auf der ersten Seite unten eine Meldung mit dem Titel: ›Falscher Alarm löst Panik vor Weltuntergang aus‹. Der Untertitel lautete: ›Erdbeben in Jerusalem kündigt neues Jahrtausend an‹. In der heutigen Ausgabe war die Story jedoch auf der Titelseite ganz nach oben vorgerückt: ›Berichte über neuen Messias erschüttern die Welt!‹ Der Artikel ging über mehrere Spalten und schilderte neben der allgemeinen religiösen Unruhe auch ausführlich die merkwürdigen Ereignisse in Israel und auf der übrigen Erde. Feldman war erleichtert, daß wenigstens keine größeren Unruhen oder Gewalttätigkeiten ausgebrochen waren. In sämtlichen religiösen Organisationen herrschte Verwirrung. Die offiziellen Reaktionen fielen ganz unterschiedlich aus und gingen von der unumwundenen Ablehnung durch das katholische Kardinalskollegium in Rom bis zur unbedingten Akzeptanz durch solche Religionsgemeinschaften wie die Siebenten-Tags-Adventisten und die Mormonen. Die meisten religiösen Führungsorgane wie der jüdische Rat der Rabbiner nahmen eine abwartende Haltung ein. Inte98
ressant war, fand Feldman, der Bericht über ein schwaches Beben in Rom mit kleinen Schäden an dem wertvollen Fresko von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle und einem Riß im großen Steinaltar in der Peterskirche. Aus Salt Lake City jedoch wurden keine ›übernatürlichen‹ Vorkommnisse gemeldet. Feldmans Blick fiel auf eine andere kleine Meldung, die er Hunter zeigte. Joshua Milbourne, geistliches Oberhaupt der Zeugen Jehovas, der das WNN-Programm zur Jahrtausendwende von seinem Bett im Krankenhaus aus verfolgt hatte, war noch in derselben Nacht an einem schweren Herzinfarkt gestorben. Der Tod trat eine Minute nach Mitternacht ein, hieß es da, als Milbourne den Beginn des dramatischen Erdbebens beobachtete. »Na ja«, meinte Hunter trocken, »er hat es sozusagen bis zur Wiederkunft geschafft und die alte Prophezeiung erfüllt. Die Zeugen Jehovas dürften also weiterhin im Geschäft bleiben!« Als Hunter und Feldman zur morgendlichen Teambesprechung vor dem Ü-Wagen von WNN erschienen, machten sie flüchtig Bekanntschaft mit einem irgendwie vertraut aussehenden, höheren Angestellten in einem teuren Anzug mit Krawatte, der bei Bollinger stand. Bollinger bemerkte gar nicht, daß sie gekommen waren, und redete weiter mit der Gruppe. Aber der Neuankömmling setzte sich ab und kam auf Feldman und Hunter zu. Feldman erkannte ihn endlich und drückte seine Hand. Es war Nigel Sullivan, der Chef von WNN Europa. Obwohl sie sich nie begegnet waren, kannte und respektierte Feldman den Mann sehr, der für die WNN-Berichte zur Jahrtausendwende und Feldmans jetzige Stellung verantwortlich war. »Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Sullivan.« Sullivan lächelte herzlich und schüttelte auch Hunter die Hand. Mit einer Geste bat er die müde aussehenden Reporter in die letz99
te Stuhlreihe. »Bitte, keine Förmlichkeiten. Ich bin Nigel – für Sie und alle anderen«, sagte er mit dem vornehmen Akzent des englischen Aristokraten. Aber es klang weder distanziert noch snobistisch. »Ich freue mich sehr, euch Jungs mal kennenzulernen. Ich habe Arnie und Ihren Kollegen gerade gesagt, welch vorzügliche Arbeit Sie geleistet haben. Einfach hervorragend.« »Danke, Sir«, antworteten beide und schafften es doch noch nicht, die Förmlichkeit abzustreifen. »Haben Sie schon von den Reaktionen auf Ihre Sendung von gestern abend gehört?« fragte Sullivan. »Nur was wir in den Morgenzeitungen gelesen haben«, antwortete Feldman. Sullivan setzte sich in seinem Stuhl zurecht und sah ihm direkt in die Augen. »Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß WNN mit Hilfe des ausgezeichneten Beitrags Ihres Teams gestern und vorgestern abend die weltweit höchsten Einschaltquoten für Nachrichtensendungen hatte, besser denn je. Ein Anteil von einundsiebzig Prozent! Nicht nur noch nie dagewesen, sondern einfach unfaßbar!« Feldman und Hunter sahen sich ungläubig an und grinsten breit. »Das ging so schnell und ist eine so große Sache geworden«, fuhr Sullivan fort, »daß es uns alle überrumpelt hat. Im Moment kommt keine andere Fernsehanstalt auch nur annähernd an uns heran. Aber glauben Sie mir, Gentlemen, nach diesen zwei Abenden werden sie alle große Anstrengungen unternehmen, um uns einzuholen.« Das war offensichtlich. Von ihrem Platz aus konnten sie zwölf Übertragungswagen konkurrierender Anstalten zählen, wo vor zehn Stunden noch kein einziger gestanden hatte. Eine Reihe von Nachrichtenhubschraubern, darunter auch der von Sullivan, waren auf der Wiese daneben abgestellt. »Jon«, wandte sich Sullivan an Feldman und legte dem Reporter eine Hand auf die Schulter, »ich höre, Sie haben eine Stelle in den Staaten angenommen. Und obwohl ich weiß, daß es vielleicht zu 100
spät ist, möchte ich Sie darum bitten, es sich noch einmal zu überlegen. Ich bin bereit, Ihnen einen neuen, unbefristeten Vertrag anzubieten und Ihnen das Vierfache von dem zu zahlen, was immer man Ihnen dort geboten hat.« Er wandte sich zu Hunter. »Und die gleichen Bedingungen gelten auch für Sie, Breck.« Die zwei Reporter blinzelten sich zu. »Wir wollen unsere Berichte über diese Entwicklung ausweiten«, erklärte Sullivan, »und dabei Ihre beispiellose Machart und Ihren Stil beibehalten. Wir stellen Ihnen mehrere zusätzliche Teams zur Verfügung, um die Story über den jungen Messias auszubauen. Wir machen unser Studio in Jerusalem zu einem regionalen Nachrichtenzentrum, dehnen unsere Aktivitäten aus und nehmen drei zusätzliche Flügel für Büro- und Besprechungsräume dazu. Ich bin hier, um sicherzustellen, daß Sie, meine Herren, bekommen, was Sie brauchen – wirklich alles, was Sie brauchen. Das ist eine verdammt gute Geschichte, Jungs. Wenn man es richtig angeht, könnte das die Story des Jahrhunderts werden. Des Jahrtausends!« Einige Meter von ihnen entfernt hatte Bollinger gerade Belobigungen an seine Truppe verteilt und bat nun Nigel Sullivan herüber, um ein Wort an alle zu richten. Sullivan erhob sich, und die zwei Journalisten folgten ihm. »Wir essen heute mittag zusammen, wenn Sie Zeit haben, Gentlemen, und werden unser Gespräch dann fortsetzen.« Sie nickten, dankten ihm, und er trat vor die versammelte Mannschaft, um den Rest des Teams zu beglückwünschen und sie zu ermutigen. Feldman und Hunter schauten sich voll unterdrückter Begeisterung an. »Ach du Scheiße, Feldman!« flüsterte Hunter. »Ach du Scheiße!« flüsterte Feldman zurück. Endlich dämmerte Feldman das Ausmaß seiner Möglichkeiten. Er war über eine Chance gestolpert, die Weltklasse hatte. Eine Situation, die Pulitzerpreise und Legenden hervorbringen konnte. Ein101
ladungen zu Vortragsreisen, Verleihungen der Doktorwürde erhabener, traditionsreicher Universitäten oder ganze Bücher. Das konnte einen schon begeistern. Es war einfach unmöglich, diese Gelegenheit nicht wahrzunehmen, obwohl es peinlich war, jene Stelle, für die er so hart gekämpft hatte, aufzugeben und sein Wort zu brechen. Und doch besaß Feldman in den paar Sekunden, die er brauchte, um all diese Überlegungen und Möglichkeiten durchzuspielen, irgendwie den nötigen Weitblick, auch den größeren Zusammenhang zu sehen. Wie gut der glückliche Zufall es auch mit ihm meinte, wußte er doch, daß er seinen Wunsch, zu verstehen, was hier im Heiligen Land geschah, nicht aus den Augen verlieren durfte. Jemand zog Feldman am Ärmel und riß ihn aus seinen Überlegungen. Cissy McFarland, in Hochstimmung und mit gerötetem Gesicht, hatte sich von hinten an die zwei Reporter herangeschlichen. »Ich bin froh, daß ich euch zwei Kerle erwischt habe, bevor ihr euch davonmachen könnt«, sagte sie trocken. »Ratet mal!« Sie zog einen rosa Zettel mit einer Telefonnotiz aus dem Ausschnitt ihrer Bluse und wedelte damit vor ihnen herum. »Haben deine Informanten eine Nachricht für uns?« riet Hunter. Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wandte sich an den grinsenden Feldman, dem einzig halbwegs Vernünftigen hier. »Ich habe eine Bestätigung von den Samaritern. Sie treffen euch in einer Stunde im Hotel Bethlehem Star. Hier die Zimmernummer und die Namen der Anführer. Vielleicht könnt ihr euch ein Exklusivinterview mit dem jungen Messias erschleichen, und wir haben noch einen Knüller!«
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24 BETHLEHEM, ISRAEL, 11 UHR 28, MONTAG, 3. JANUAR 2000 Drei hochtrabende Jünger der Samariter hatten sich fast eine Stunde lang mit Feldman und Hunter unterhalten. Es sah nicht gut aus für die beiden Reporter. Das größte Hindernis war der oberste Samariter, First Reverend Richard Fischer, selbst. Der Reverend, ein rechthaberischer, beleibter Mann mit graubraunem Haar, einer Knollennase und Aknenarben an Gesicht und Hals, hatte die meiste Zeit über das Wort geführt. Er war offensichtlich hoch erfreut über die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, und die Macht, die er nun als Hüter des weltweit begehrtesten Objekts des Medieninteresses besaß. »Jungs«, wandte er sich an die frustrierten Reporter, »ich gebe zwar zu, daß WNN bei dieser Geschichte die Anstalt mit den meisten Zuschauern sein mag. Aber wir, der Rat der Führer, dürfen als Leiter der Samariterbewegung keine Parteilichkeit zeigen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir Ihnen nur so viel sagen, daß der Messias in naher Zukunft tatsächlich öffentlich auftreten wird. Ich bin nicht gewillt zu sagen, wo und wann, aber wir werden Sie und alle Ihre Kollegen von den Medien zu gegebener Zeit davon in Kenntnis setzen.« Er stand auf und verabschiedete seine Gäste kurz und bündig mit einem feuchten Händedruck. Als die Reporter weg waren, wandte sich einer der Jünger an den Reverend und rief mit verdrießlicher Stimme: »Das verstehe ich nicht, Reverend Dick. Du hast vor einer Stunde Bruder Leroy unser Video vom Messias an WNN verkaufen lassen. Warum mußten wir 103
das geheimhalten? Und du hast es für lächerlich wenig verkauft! Wenn wir nur gewartet hätten, ich wette, Feldman hätte uns ein Vermögen gezahlt!« Fischer bedachte seinen Kollegen mit einem maliziösen Lächeln. »Du hast die Taktik überhaupt nicht verstanden, Bruder Gerald. Das Videoband WNN zuzuspielen war die beste Investition, die wir machen konnten. Niemand darf wissen, daß es vom Rat der Führer kam. Solange WNN glaubt, sie hätten es von einem unserer Brüder der unteren Ebenen erschlichen, bewahren wir die Glaubwürdigkeit des Videos. Du mußt den Zynismus der Medien verstehen, Bruder. Das ist ein skeptischer Haufen, und sie werden bestimmt so oder so die Echtheit der Aufnahmen in Frage stellen. Wenn es direkt von uns käme, würde sie das nur um so mißtrauischer machen.« Reverend Fischer gelang es, seinem weniger gewieften Kollegen klarzumachen, worum es ging. »Vergiß nicht die Tatsache, daß WNN jetzt das weltweit größte Publikum aller Fernsehsender hat«, fuhr er fort. »Wenn sie das Video senden, ist dem Messias eine Gemeinde auf der ganzen Erde sicher. Wir werden kein Problem haben, Sponsoren für unser geplantes Unternehmen zu gewinnen. Und wir werden von jetzt ab von allen Sendern Spitzenpreise bekommen. Sie werden alle gezwungen sein, uns für den Zugriff auf unser Material großzügige Spenden zu geben. Und genau so, Bruder Gerald, werden wir uns die Mittel verschaffen, um den Messias der Welt auf angemessene Weise zu präsentieren!« Als die beiden Reporter vom Parkplatz des Hotels fuhren, rief Cissy sie über Autotelefon an und zitierte sie zum Ü-Wagen zurück. Feldman erzählte ihr von der mißlungenen Mission, aber sie zeigte sich kein bißchen enttäuscht. »Vergiß es«, tröstete sie ihn. »Warte, bis du hörst, was wir gerade in die Finger bekommen haben!« Bollinger kam ihnen an der Tür entgegen und begleitete sie in 104
den Ü-Wagen, um ihnen ein Amateurvideo zu zeigen. »Das«, kündigte Bollinger mit ungebremster Begeisterung an und zeigte auf ein dunkles Bild, das auf dem größten Wandmonitor erschien, »ist unser nächster Exklusivbericht.« Hunter und Feldman erfuhren, daß dieses einzigartige Prachtstück heimlich von einem rangniedrigeren Mitglied der Samariter zur Verfügung gestellt worden war und daß man es sich zu einem minimalen Preis hatte sichern können. Das Video war bei Nacht mit Quecksilberlampen gemacht worden, und die Qualität war nicht sehr gut. Aber beide Reporter wußten sofort, was es war. Zunächst war das Bild verwackelt, dunkel und verschneit; dann, als es ab und zu blitzte, wurde es ganz hell. Es war eine Videoaufnahme des Geschehens auf der Wiese in Bethlehem am Abend der Jahrtausendwende. Die Gestalt, die auf dem Video sichtbar wurde, war zierlich gebaut, und ihr Gewand flatterte wild im Wind. Das Gesicht konnte man nicht erkennen. Jedesmal, wenn es blitzte, leuchtete das Bild weiß auf, und der Mann an der Kamera wurde vorübergehend geblendet, verlor sein Ziel im Sucher und fand es dann ungeschickt wackelnd wieder. Als die Gestalt die Steinstufen des Tempels erreichte und langsam hinaufstieg, zoomte die Kamera näher heran. Im Hintergrund konnte man die Menge hören, die gegen den heulenden Wind die Sekunden bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts zählte. Oben angekommen drehte sich die Gestalt zur Kamera und gegen den Wind und hob die dünnen Arme zum Himmel, genau gegenüber dem Davidsbrunnen auf der anderen Seite des Hofes. Zuletzt kam der kurze, entscheidende Augenblick, als das Gesicht von einem Blitzstrahl erleuchtet und endlich für die Kamera sichtbar wurde. In diesem Moment endete der Countdown der Menge zur Mitternacht, ein wilder Jubel brach aus, und dann verwandelte sich das Videobild, von einer plötzlichen, grellen Lichtquelle getroffen, in ei105
ne schneeweiße Bildfläche. Der Ton lief jedoch unverändert weiter, ein höllisches Gemisch aus heulendem Wind, schrecklichen Angstschreien und dröhnenden Donnerschlägen. Und dann ein tiefes Grollen, das nach Feldmans Meinung das Erdbeben war. »Spulen Sie ein bißchen zurück, und lassen Sie es über das ADO Plus laufen«, bat Hunter und zeigte auf verschiedene Geräte für Spezialeffekte am Schnittplatz. »Holen Sie mal die Aufnahme vom Gesicht heraus, legen Sie es auf das ADO und schauen Sie mal, ob Sie mehr Kontraste reinkriegen können.« Aber Hunter konnte es nicht erwarten, bis der Cutter seine Anweisungen ausführte, und drehte selbst nervös an den Knöpfen des Schaltpults. Feldman war genauso aufgeregt und sah konzentriert zu, wie Hunter geschickt das Einzelbild anhielt, das er suchte: jener Moment, als das Gesicht am besten zu sehen war, dreiviertel zur Kamera gedreht und genau in dem Augenblick, bevor es durch den Blitz unsichtbar wurde. Mit den Tricks der elektronischen Bildbearbeitung vergrößerte Hunter das Bild, und um ihn herum hob ein ehrfürchtiges Flüstern an. Obwohl die Vergrößerung das Gesicht zuerst verschwimmen ließ, konnte man die Züge doch noch erkennen. Sehr blaß und fremd sah es aus. Mit jeder korrigierenden Einstellung wurde es schärfer und klarer, bis zuletzt alle Einzelheiten einigermaßen deutlich zu sehen waren. Die kühnen Augen waren dunkel, die Nase wirkte römisch. Hohe Wangenknochen, ausgeprägte Kiefer. Das dunkle Haar war mittellang und flatterte wild im Wind. Die Eindringlichkeit dieses Gesichts ließ an den gerechten Zorn Gottes denken. Voll einschüchterndem, gequältem, kritischem Ernst. Doch trotz gefurchter Stirn lag beinahe Besorgnis in den Augen. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet. Es war ein jugendliches Gesicht, das aber zugleich uralte Weisheit verriet. Es war edel, klug, respekteinflößend. »Donnerwetter!« sagte Hunter beeindruckt. »Das ist allerdings eine Messiasfigur!« 106
Und auch Feldman mußte das zugeben.
25 BROOKFOREST, RACINE, WISCONSIN, USA, 18 UHR 17, MONTAG, 3. JANUAR 2000 Michelle hatte ihre Familie vor dem Fernseher im Wohnzimmer um sich versammelt. Schließlich wollte sie nicht noch einmal ein schauerliches WNN-Special. Neben ihr auf dem Sofa saß Tom, ihr großer, bedächtiger, kräftig gebauter Mann, mit dem sie seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war. Die dicke Brille mit Metallrand vergrößerte seine gelassenen blauen Augen um das Doppelte, ein Nebeneffekt seines lebenslangen Umgangs mit Zahlentabellen bei der Bank von Racine. Zu seinen Füßen hockte Tom junior, ein grobknochiger, siebzehnjähriger Junge, ein Abbild seines Vaters, dem nur dessen Körperfülle und die Brille fehlten. Auf der anderen Seite von Mrs. Martin saß ihre Tochter Shelley in einem weiten Sweatshirt, auf dem ›University of Wisconsin‹ stand. Sie war zwanzig, hatte ein gesundes, lebhaftes Gesicht und ähnelte ihrer Mutter sowohl im Aussehen als auch in ihrer nervösen Art. In der Ecke der Couch rekelte sich der Hund, eine mittelgroße, schlappohrige Promenadenmischung, der den Kopf auf den Schoß der Tochter gelegt hatte. Alle saßen regungslos da und starrten wie hypnotisiert auf die Mattscheibe. 107
»Mr. Krazinski sagt, dieser Junge ist der Verkünder der Wiederkunft!« flüsterte Mrs. Martin. »Er sagt, der Junge wird den Erzengel Gabriel herbeirufen, und der wird Christus der ganzen Welt ankündigen!« »Der alte Krazinski ist genauso unausgeglichen wie sein Konto«, spottete Tom senior. »Letzten Monat hat er es sechsmal überzogen.« »Ja«, kicherte der Sohn. »Er sagt, Außerirdische hätten ihm seine Rentenschecks geklaut!« »Pssst!« beklagte sich die Tochter. »Jetzt zeigen sie die Messiasaufnahmen.« Es wurde still im Zimmer, als das eindrucksvolle Video auf dem Bildschirm erschien und das Geschehen auf dem König-David-Platz in grobkörnigen, surrealen Schwarzweißbildern zeigte. Auf dem Höhepunkt des Berichts, als das verzerrte Bild des Messiasgesichts in Großaufnahme erschien, die Bildqualität besser wurde und es endlich den ganzen Bildschirm ausfüllte, wirkte das Bild derart unheimlich, ausdrucksvoll, übermächtig und ergreifend, daß Michelle und Shelley nicht länger an sich halten konnten. Während Vater und Sohn wie gebannt mit großen Augen die Erscheinung auf dem Fernseher anstarrten, sanken Mutter und Tochter fast in Ohnmacht und fielen verzückt vor dem Antlitz Gottes auf die Knie. Der Hund jaulte und rannte aus dem Zimmer.
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26 BEN-GURION-APPARTEMENTS, JERUSALEM, ISRAEL, 10 UHR 41, DIENSTAG, 4. JANUAR 2000 Feldman schlief eine ganze Weile länger als beabsichtigt. Er hatte wieder einen Traum. Diesmal befand er sich beim Eislaufen auf einer riesigen Wasserfläche. Ganz allein fegte er schwungvoll mit kräftigen, sicheren Bewegungen auf seinen langen Beinen dahin. Er fühlte sich an die Winter auf dem Campus von Ohio State erinnert, als er mit anderen Eislaufkameraden auf dem großen Teich in der Nähe seines Wohnheims gelaufen war. Aber in seinem Traum war es warm und mild, und der See war nicht zugefroren. Er glitt über die Oberfläche eines weiten Gewässers – es war der See Genezareth. Obwohl er vorher noch nie dort gewesen war, kannte er sich irgendwie aus. Er lief – auf bloßen Füßen – auf das Ufer zu. Den Wind im Gesicht und die glühende Sonne über ihm. Ein berauschendes Glücksgefühl ergriff ihn. Er glitt dahin, wirbelte herum, drehte Pirouetten, glitt weiter und schwebte mit übernatürlicher Kraft über die Wellen. Bis er eine Woge bemerkte, die sich dunkel und unheilvoll hinter ihm aufbäumte und grollend auf ihn zurollte. Er änderte seine Richtung und beschleunigte, dem Ufer entgegenfliegend, das Tempo. Aber die Woge hinter ihm schwoll weiter an, haushoch kam sie näher. Es war eine Flutwelle, eine gewaltige Tsunami! Feldman raste jetzt hektisch über die Wellen. Er wagte nicht, sich umzusehen. Er brauchte nicht zurückzublicken, denn er wurde be109
reits vom dunklen Schatten einer Wasserwand verschlungen und war von betäubendem Tosen umgeben. Nur ein paar Meter war er vom rettenden Ufer entfernt, als die Sturzflut auf ihn herabdonnerte, ihn herumwirbelte und in sein Bettzeug verwickelte. Er schrak zusammen und setzte sich auf, atemlos, verschwitzt, aber so erleichtert über seine Rettung, daß er lächeln mußte. Bis er die Uhr auf seinem Nachttisch sah. Er hatte kostbare Stunden des einzigen Tages verschwendet, den er mit Anke verbringen konnte.
27 VATIKAN, ROM, ITALIEN, 18 UHR 6, DIENSTAG, 4. JANUAR 2000 Seine Eminenz Alphonse Bongiorno Litti, einer der vertrauten Kardinäle und Berater des Papstes, drückte die massive Bronzeklinke einer riesigen Tür aus geschnitztem Mahagoni und betrat das prächtige Vorzimmer der päpstlichen Gemächer. Papst Nikolaus VI. und Antonio di Concerci, der Präfekt der Kongregation für die Doktrin des Glaubens der katholischen Kirche zu Rom, erwarteten ihn auf üppig gepolsterten französischen Sesseln aus dem 17. Jahrhundert. Litti war ein umgänglich wirkender, unscheinbarer Mann, etwas über einssiebzig groß, mit olivfarbener Haut, beleibt und Ende Sechzig. Seinen großen braunen Augen über der vorspringenden Nase verliehen ausgeprägte Tränensäcke eine gewisse Melancholie. Sein Haar war borstig und grau meliert. Das Klicken seiner Absätze 110
auf dem Marmorboden erregte die Aufmerksamkeit di Concercis, der aufsah, seinem näherkommenden Kollegen kurz zunickte und sich dann wieder den Papieren zuwandte, die der Papst mit ihm zusammen überprüfte. Di Concerci seinerseits war stattlich, aber wendig, elegant und gemessen in seinen Bewegungen. Mit seinen einundsiebzig Jahren wirkte er kräftig, sein Gesicht war lang und würdevoll, mit hohen Backenknochen und tiefliegenden, durchdringenden dunkelbraunen Augen. Sein weißes Haar quoll voll und wellig unter dem leuchtendroten Kardinalskäppchen hervor. Zu spät, als daß di Concerci es hätte bemerken können, erwiderte Litti das Nicken mit ähnlicher Zurückhaltung und grüßte seinen Pontifex mit einem respektvollen »Eure Heiligkeit«. »Buona sera, Alphonse«, erwiderte Nikolaus und wies ihm den leeren Stuhl zu seiner Rechten zu. »Sie sehen müde aus, Heiliger Vater.« Litti bemerkte mit Sorge, wie blaß und abgespannt Nikolaus wirkte. Der Pontifex brachte ein dünnes Lächeln zustande und tätschelte beruhigend den Arm seines Bruders. »Es sind anstrengende Zeiten, Alphonse.« Wie es Sitte war, ließen sie sich von einem Akolythen Cognac in langstieligen Gläsern servieren. Nikolaus nahm sein Glas, setzte es aber sofort auf dem kunstvoll geschnitzten kleinen Elfenbeintischchen ab, das vor ihm stand. Er legte die Arme auf die Lehnen, stützte dann das Kinn in die linke Hand und blickte starr auf eine der kunstvoll geformten kleinen Figuren, deren Köpfe als Stützen der Tischplatte dienten. »Haben wir eine vollständige Einschätzung der Schäden von dem Beben?« fragte er. »Ja, Eure Heiligkeit«, antwortete Monsignore Litti. »Nichts außer dem Fresko in der Kapelle und dem Hochaltar in der Basilika.« Litti sprach von Michelangelos jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle und dem Hauptaltar der Peterskirche. 111
»Haben Sie persönlich die Schäden besichtigt?« »Ja.« »Und?« »Der Riß im Fresko ist ungefähr zweieinhalb Meter lang und mißt an der breitesten Stelle etwa drei Zentimeter. Tief, aber überraschenderweise kein statisches Problem. Der Altar ist vollkommen in zwei Teile geborsten, aber nicht zusammengebrochen. Die zwei schweren Marmorblöcke haben sich durch gegenseitigen Druck aufrecht gehalten. Als Vorsichtsmaßnahme haben wir sie vorübergehend in der Mitte abgestützt.« »Das sind die gesamten Schäden?« »Das ist alles, was die Ingenieure und ich finden konnten.« Der Papst schwieg, lehnte sich in dem wuchtigen Sessel zurück und berührte seine Wange mit zwei Fingerspitzen der linken Hand. »Was halten Sie von alldem, Alphonse?« Der Kardinal wußte nicht recht, wie er antworten sollte. Er fühlte sich in di Concercis Gegenwart nicht wohl. Seit vielen Jahren schon schwelte ein heftiger persönlicher Konflikt zwischen ihnen. Er nippte an seinem Glas und zögerte mit der Antwort, da er sich nicht festlegen wollte. »Machen Sie keine Schwierigkeiten heute abend, Alphonse«, sagte Nikolaus mit sanftem Druck. »Ich möchte, daß Sie offen sprechen.« Litti schaute den Papst von der Seite an und sah den Ernst in seinem Gesicht, den er nicht enttäuschen konnte. »Ich finde dies alles sehr merkwürdig, Eure Heiligkeit«, mußte der Kardinal einräumen. »Und ich muß zugeben, daß ich bei den seltsamen Ereignissen im Heiligen Land und dem Beben hier in Rom das Gefühl hatte, als sei irgendeine übernatürliche Kraft am Werk.« Er wartete darauf, daß einer der beiden Männer reagierte, bevor er fortfuhr, aber di Concerci sah zum Fenster hinüber, und Nikolaus konzentrierte sich wieder auf die kleine Figur. Da er heute 112
abend keine Schwierigkeiten machen wollte, sprach er weiter. »Zeitpunkt und Ort des Unwetters und des Erdbebens in Bethlehem kann ich mir absolut nicht als bloßen Zufall vorstellen, Heiliger Vater. Ganz zu schweigen vom Erscheinen dieser Messiasfigur oder von all den angeblichen Wundern. Oder auch die merkwürdigen Vorkommnisse hier im Vatikan. Der auffällige Riß in der Kapelle, ausgerechnet mitten durch Michelangelos Jüngstes Gericht. Er verläuft von den Füßen des triumphierenden Retters im Himmel bis hinunter zur Erde, wo die Seelen der auferstandenen Toten gerichtet werden. Und sonst an der ganzen Wand keine weiteren sichtbaren Schäden. Dann der Hochaltar der Basilika. Dreißig Zentimeter dicker Marmor, genau in der Mitte glatt auseinandergebrochen. Und andere viel empfindlichere Gegenstände ganz in der Nähe blieben völlig unbeschädigt!« Während er weiter über die Serie dieser scheinbaren Wunder nachdachte, wurde Littis Stimme zu einem leisen, schwachen und ehrfürchtigen Flüstern. »Eure Heiligkeit, ich glaube, die Kirche sollte diese Umstände ernsthaft und mit viel Sorgfalt untersuchen. In der Annahme, daß die meisten oder vielleicht alle diese außerordentlichen Ereignisse wahrhaftig Zeichen Gottes sind!« Litti verstummte, und der Papst ließ eine ganze Weile verstreichen, ohne auf die Meinung des Kardinals zu reagieren, aber er dachte weiter konzentriert nach. Endlich, ohne seinen Blick von dem Figürchen zu lösen, fragte der Papst den Präfekten: »Und Ihre Analyse, Antonio?« Di Concerci erhob sich langsam von seinem Sessel, trat einige Schritte auf das große Bleiglasfenster zu und schaute auf die weite Fläche des Petersplatzes hinunter, wo sich ganze Scharen von Millennariern versammelt hatten. Er sprach, ohne sich umzudrehen. »Kardinal Littis spontane Reaktion kann ich zwar gut verstehen, und ich gebe zu, daß diese Ereignisse seltsam sind, aber ich muß doch eine pragmatischere Haltung einnehmen, Papa.« Litti fühlte, wie 113
ihm die Röte ins Gesicht stieg. Aus genau diesem Grund hätte er sich lieber geäußert, wenn der Präfekt nicht mehr zugegen gewesen wäre. Litti hatte die Rücksicht des Pontifex auf diesen Mann nie verstehen können. Di Concerci wandte sich um und ging zu Nikolaus hinüber, um Litti unauffällig aus dem Gespräch auszuschließen. »Ich sehe ebenfalls die Notwendigkeit, die Ereignisse zu untersuchen«, fuhr er fort, »aber ich gehe nicht von der Annahme aus, daß es sich um Zeichen Gottes handelt. Das ganze jetzt vergangene Jahrhundert über hat die Heilige Mutter Kirche solche angeblichen Wunder und Zeichen korrekterweise mit gebührender Skepsis betrachtet. Und diese Einstellung hat sich für uns bewährt. Für diesen besonderen Fall gibt es eine ganze Reihe anderer Erklärungen, ohne göttliches Eingreifen in Betracht zu ziehen.« Diese letzte Aussage erregte endlich wieder die Aufmerksamkeit des Papstes. Er betrachtete das eigensinnige Gesicht des Präfekten. Di Concerci fuhr in seiner Argumentation fort. »Daß ein Erdbeben hier zur gleichen Zeit wie in Bethlehem vorkommt, ist nicht so unerklärlich. Das ganze Mittelmeer ist schließlich ein riesiger tektonischer Graben. Vielleicht hat ein Beben das andere ausgelöst. Es ist eine immer wieder belegte wissenschaftliche Tatsache, daß Gewitter von solchen geologischen Störungen wie Vulkanausbrüchen und Erdbeben ausgelöst und oft begleitet werden. Daneben ist es auch denkbar, daß diese Erdbeben, sowohl dieses hier als auch das in Bethlehem, das Ergebnis eines beabsichtigten wohlorganisierten Plans waren. Ein raffiniertes Projekt unterirdischer Sprengungen durch gewisse Kreise der Millennarier, die verzweifelt ihre Sekten zu erhalten versuchen und sich davor schützen wollen, daß sie der Lächerlichkeit anheimfallen.« Litti konnte ein kurzes höhnisches Lachen nicht unterdrücken. Di Concerci warf ihm einen gönnerhaft vergebenden Blick zu und stellte ihm eine Frage: »Kardinal Litti, können Sie absolut schlüssig 114
beweisen, daß die Beschädigungen an der Kapelle und der Basilika nicht von Menschenhand stammen?« Der Kardinal hätte seinen Rivalen am liebsten einfach zum Schweigen gebracht, aber angesichts dieser Herausforderung sah er keine wirksame Möglichkeit, sich zu verteidigen. Statt dessen entgegnete Litti seinerseits mit einer gezielten Frage. »Wie erklären Sie dann die Verwandlung des kranken Jungen an Davids Brunnen, di Concerci? Die Spalte, die sich zu seinen Füßen auf dem Weg zum Tempel auftat? Die zahlreichen Wunderheilungen an vielen leidenden Zuschauern Schlag Mitternacht am Ende des Jahrtausends? Sie können diese Phänomene nicht so leicht abtun!« Di Concerci blieb gelassen. »Ich muß zugeben, Alphonse, ich fand die dramatische Fernsehsendung über den sogenannten Messias auch sehr eindrucksvoll. Aber dann mußte ich doch die Vernunft sprechen lassen. Vieles von dem, was berichtet wurde, muß man als Spekulationen und Gerüchte, aufgeblasen durch leichtgläubige Zeugen und opportunistische Medien, außer acht lassen. Was dann an Substanz übrigbleibt, kann einer gründlichen Überprüfung auch nicht standhalten. Zum Beispiel die Frage des jungen Messias: Ist es bei den starken Gefühlen und großen Erwartungen, die diese Millennarier in eine Wiederkunft investiert haben, nicht geradezu unvermeidlich, daß mindestens einer von ihnen der Illusion einer messianischen Erscheinung erliegt? Es handelt sich hier um eine verbreitete psychische Störung, die es sogar in den ruhigsten Zeiten gibt. Oder, noch wahrscheinlicher, könnte das Ganze nicht ein großartiger, ausgeklügelter Schwindel sein? Vielleicht war der Junge überhaupt nicht leidend. Ein gerissener Betrüger. Welches bessere Mittel gibt es, um einer religiösen Randgruppe, die andernfalls untergehen würde, das Überleben zu sichern?« Di Concercis absolute Selbstsicherheit bedrückte Litti, der die berechnenden Bemühungen des Präfekten, vor Nikolaus vernünftig und weise zu erscheinen, durchschaute. »Aber die Spalte?« warf 115
Litti ein. »Die vielen Menschen, deren Heilung erhärtet und erwiesen ist? Sie können nicht alles rational erklären, di Concerci!« »Ich bedaure, Kardinal Litti, aber haben Sie nicht bemerkt, daß die sogenannte Spalte am Brunnen auf dem bei Nacht aufgenommenen Video nicht zu sehen war? Sie war nur bei Tageslicht sichtbar – auf einem Video, das viele Stunden später gemacht wurde. Genügend Zeit also für die Samariter, eine künstliche Spalte anzulegen. Oder vielleicht wurde die Spalte schon vor der mutmaßlichen Verwandlung des Jungen gezogen, und es handelt sich hier einfach um einen geschickt durchgeführten Spezialeffekt. Und was die wundersamen Heilungen angeht, so ist es denkbar, daß auch sie zu einer clever ausgedachten Betrügerei gehören. Nehmen wir trotzdem einmal an, manche der Behauptungen seien stichhaltig. Daß einige dieser Leute wirklich krank waren und wirklich geheilt wurden. Abgesehen von psychosomatischen Problemen werden Sie feststellen, daß es bei vielen der angeblichen Heilungen um motorische und neurologische Beschwerden geht. Die Geschichte der Medizin ist voller Beispiele, bei denen Menschen durch Unfälle einer Hochspannung – auch durch Blitzschlag – ausgesetzt und sofort und unerklärlicherweise von ihren Leiden geheilt waren.« »Jedoch, ich gebe zu, Kardinal Litti«, räumte der Präfekt ein, »daß es einen Aspekt dabei gibt, für den sich mir jede logische Erklärung entzieht. Mein Dilemma sind Zeitpunkt und Ort des Erdbebens in Bethlehem. Obwohl ich die Möglichkeit eines Betrugs nicht ganz ausschließen würde, glaube ich ehrlich gesagt nicht, daß ein solches Ereignis von Menschenhand ausgelöst werden kann.« Littis Gesicht hellte sich etwas auf, und er fragte sich, ob di Concerci dieses eine Mal tatsächlich von seiner engstirnigen Geisteshaltung abrücken würde. Aber seine Hoffnungen wurden sofort zunichte gemacht. »Nichtsdestotrotz«, berichtigte sich di Concerci, »auch wenn Timing und Ort des Bebens ein erstaunlicher Zufall sind, so liegt er 116
trotzdem nicht außerhalb der natürlichen Möglichkeiten. In jedem beliebigen Jahr gibt es mehr als eine Million meßbare seismische Vorfälle, die sich irgendwo auf dem Planeten ereignen. Eine Million! Und das Heilige Land liegt genau in einer der aktivsten Verwerfungszonen der Welt.« »Ihre naturwissenschaftlichen Kenntnisse sind erstaunlich«, warf Litti sarkastisch ein. »Ich bekenne, Alphonse«, besänftigte ihn di Concerci in herablassendem Tonfall, »auch ich bin wegen der möglichen Folgen der gegenwärtigen Ereignisse besorgt. Und deshalb habe ich beträchtliche Zeit für die Untersuchung der Umstände aufgewendet. Wie ich zu Anfang feststellte, gibt es tatsächlich andere Betrachtungsweisen, die man zuerst verfolgen sollte, bevor wir Gefahr laufen, die Gläubigen weiter zu beunruhigen und noch mehr von unseren Anhängern in die Arme dieser irrationalen Millennarier zu treiben.« Dieses letzte Argument machte sichtbar Eindruck auf Nikolaus. Di Concerci wandte sich wieder direkt an den Papst. »Papa, wenn ein Zeichen hinter all diesen Dingen steckt, dann ist es jedenfalls kein klares Zeichen. Wir müssen uns ganz besonders umsichtig verhalten, sonst könnten wir uns zu einer übertriebenen Reaktion hinreißen lassen, und das auf eine der peinlichsten, wenn auch geschickt eingefädelten Täuschungen, die je gegen die Kirche in Szene gesetzt wurde. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir einen klaren Standpunkt vertreten müssen, und empfehle unbedingt, daß wir sofort beruhigende Erklärungen veröffentlichen, die die Wogen glätten, und darin die Punkte weiter ausarbeiten, die ich gerade angesprochen habe. Ein weiterer Aufschub ist äußerst gefährlich und bedroht die Solidarität unserer weltweiten Gemeinde.« Litti fühlte, welchen Eindruck di Concercis Argumente machten. Verzweifelt stand er auf und appellierte an den Papst: »Papa, sicher muß doch nach zweitausend Jahren der gespannten Erwartung und der Vorbereitungen für ein solches Ereignis die katholische Kirche 117
vor allen anderen die Zeichen Gottes erkennen! Dieser Junge könnte wohl ein Johannes der Täufer sein, der gekommen ist, um den Weg zu bereiten für …« Der Papst gebot ihm mit einer ausgestreckten Hand Einhalt, lehnte sich in seinem schweren Lehnstuhl zurück und schloß die Augen. Schließlich wandte er sich an di Concerci. »Sie haben recht, Antonio. Auch ich habe meinen Gefühlen erlaubt, meine Vernunft zu überwältigen. Bitte, werden Sie in dieser Sache schnell tätig. Ich möchte, daß Sie einen päpstlichen Brief vorbereiten, der mir bis morgen nachmittag zwecks Veröffentlichung vorgelegt werden soll. Alphonse, bitte leiten Sie sofort die Reparaturarbeiten an Fresko und Altar in die Wege. Überwachen Sie die Durchführung persönlich und sehen Sie zu, daß die Arbeiten so schnell wie möglich abgeschlossen werden.« Litti war entsetzt. »Aber Eure Heiligkeit, wenn der Schaden wirklich ein Zeichen von Gott wäre? Sollte er nicht erhalten werden, wenigstens vorübergehend …« »È finito, Alphonse!« So verärgert hatte Litti seinen Pontifex noch nie erlebt. Erschüttert und verlegen senkte der Kardinal das Haupt, nicht nur, um sich dem Papst zu fügen, sondern auch, um jenem Ausdruck des Triumphs auszuweichen, den er auf dem Gesicht seines Gegners erwartete. Der erschöpfte und sorgenvolle Papst Nikolaus entließ seine Berater und zog sich in seine Gemächer zurück. Vor dem Zubettgehen setzte er sich in seinem Studierzimmer an seinen großen, reichverzierten Schreibtisch. Derselbe Tisch, von dem aus seine Vorgänger die Geschicke der Nationen und Könige geleitet, die Kreuzzüge initiiert und die Welt von boshaften Glaubensabtrünnigen und Ketzern befreit hatten. Der Papst stützte das Kinn auf die Hand und verlor sich in Gedanken über die beruhigenden Aspekte von di Concercis Argumen118
ten. Weder di Concerci noch Litti hatten wissen können, wie nah der Pontifex daran gewesen war, ein sehr heiliges, lange gehütetes Geheimnis mit ihnen zu teilen. Eine ernste, vor vielen Jahrzehnten vertraulich an ihn weitergegebene Mitteilung. Wie sehnte er sich danach, die große Last, die er schon so lange trug, von seinen Schultern zu nehmen. Aber die hoffnungsvollen Worte des Präfekten hatten ihn veranlaßt, es noch einmal zu überdenken. Vielleicht hatte di Concerci recht. Vielleicht mußte Nikolaus dieses unangetastete Geheimnis doch nicht preisgeben. Noch nicht. Er nahm seine Brille aus der Tasche und setzte sie auf. An einer geflochtenen Kette, die er an seiner Seite trug, suchte Nikolaus einen großen, fein verzierten Schlüssel heraus. Vorsichtig steckte er ihn in ein Schloß an der Seitentür des Schreibtischs und spürte, wie sich im Innern die schweren Federn des Schließmechanismus leicht und glatt bewegten. Die Tür ging auf, und aus einem dunklen Tresor in der Tiefe des Tisches zog der Papst eine verblaßte Ledermappe, die mit Lederriemen verschlossen war. Er legte das Bündel auf den Schreibtisch vor sich hin. Als er die Riemen lockerte und die Mappe öffnete, kamen vier Stöße von vergilbten Dokumenten zum Vorschein. Nachdem er den vierten Stapel herausgenommen hatte und ehrerbietig mit den Fingerspitzen festhielt, lehnte er sich im Stuhl zurück und begann, sorgfältig zu lesen, die Stirn des erschreckenden Inhalts wegen in tiefen Falten.
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28 WNN-STUDIO, JERUSALEM, ISRAEL, 11 UHR 15, 5. JANUAR 2000 Schon seit dem frühen Morgen waren Spekulationen durchgesickert, und jetzt war Bollinger überzeugt, daß sie der Wahrheit entsprachen. Direkt aus der millennarischen Gerüchteküche hörte man, daß es endlich zum lange erwarteten öffentlichen Auftritt des Messias kommen sollte. Nachdem er vier Tage und Nächte in der Wüste nördlich von Jericho gefastet und meditiert hatte, sollte der Messias morgen früh bei Tagesanbruch eine Ansprache in der Nähe des Urlaubsorts Tiberias am Westufer des Sees Genezareth halten. Feldman, Hunter, Erin Cross und ein Produktionsteam wurden sofort mit einem Hubschrauber von WNN nach Tiberias losgeschickt, um Vorbereitungen zu treffen – was auch immer geschehen mochte. Sullivan, Bollinger, Cissy, Robert Filson und andere Teammitglieder sollten später in einem zweiten Hubschrauber nachkommen, um sie zu unterstützen.
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29 TIBERIAS, ISRAEL, 3 UHR 30, DONNERSTAG, 6. JANUAR 2000 Feldman stand früh auf und aß zum Frühstück frische Datteln, Feigen und Granatäpfel mit Orangensaft. Er befand sich in der Gesellschaft von Arnold Bollinger, Nigel Sullivan, Cissy McFarland und einer dunkelhäutigen, geselligen Frau, die dem WNN-Team glücklicherweise in ihrem Bauernhof ein Quartier angeboten hatte. Cissy hatte wohl auch bemerkt, daß Erin Cross und Hunter am Abend zu einem langen Spaziergang am Ufer des Sees verschwunden waren. Das schloß Feldman aus ihrer verdrießlichen Miene. Er beendete schnell sein Frühstück und entschuldigte sich, um noch einen Spaziergang draußen an der frischen Luft zu machen. Als er um das Haus herumging, fand er Hunter, der seine Videoausrüstung in einem der Hubschrauber verstaute, vergnügt pfeifend vor. Erin Cross war nirgends zu sehen, und Hunters Haar war vollkommen zerzaust. »Hey, Kumpel«, rief Hunter, als er Feldman erblickte, während er sich bückte, um eine Kiste hochzuhieven. »Hey, Alter«, rief Feldman zurück. »Sieht aus, als hättest du eine stürmische Nacht hinter dir.« Hunter warf ihm ein vielsagendes Lächeln zu und sicherte das letzte Gepäckstück seiner Ausrüstung. Feldman legte seinem Partner eine Hand auf die Schulter. »Hey, Mann, ich glaube, da gibt's ein Problem.« Der Kameramann sah ihn fragend an. »Cissy. Was da zwischen dir und Erin läuft, das hat sie mächtig 121
durcheinandergebracht.« Hunter seufzte, schlug die Tür des Laderaums zu und schaute Feldman ganz betrübt an. »Ach Gott, glaub mir, Jon, ich will das nicht.« »Ich weiß«, sagte Feldman mitfühlend. »Aber ich hab' gedacht, ihr zwei, du und Cissy, da wäre was bei euch beiden. Ihr paßt zusammen.« Hunter zuckte die Achseln. »Ich hab' sie ja gern, Mann. Sie ist 'ne tolle Frau. Aber das geht mir alles 'n bißchen zu nah, weißt du? Daß mir jemand so am Hals hängt, engt mich ein. Außerdem, Bollinger würd' mich umbringen. Cissy ist doch sein ganz besonderer Schützling!« Feldman war enttäuscht. Es ging ihn ja eigentlich nichts an, aber er hatte Cissy schon immer gemocht. Die Zuneigung eines großen Bruders. Und er wußte ihre Courage und Zuverlässigkeit zu schätzen. Gar nicht zu reden davon, wie ausdauernd, solidarisch und uneigennützig sie ihm und Hunter immer beigestanden hatte. »Und Erin hängt dir nicht am Hals?« fragte Feldman. »Na ja, am Arm vielleicht«, sagte Hunter ausweichend und grinste. Als seine Begründung keinen Beifall fand, fing er an, sich aufzuregen. »Herrgott noch mal, Feldman, das Ding mit Erin hat doch sowieso keine Zukunft! Wie lang, glaubst du, kann ein Kamerafritze wie ich 'ne Lady wie sie halten? Ich nehm's halt, wie's kommt, Mann!« Feldman schwieg und sah seinen Freund nachdenklich an. Hunter versuchte es noch einmal mit einer anderen Erklärung. »Warum würdest du mir überhaupt Cissy wünschen? Ich bin doch nichts für sie. Verflucht, Feldman, wenn irgend jemand das verstehen müßte, dann bist du das. Wir können beide nichts mit einer richtigen Beziehung anfangen. Ich langweile mich gleich, und du bekommst Angst. Jedenfalls sind wir zum Junggesellenleben geboren. Jetzt haben wir uns beide Spitzenmädels geangelt – also amüsieren wir uns 122
doch, solange es geht!« Feldman kam diese zynische Haltung zwar bekannt vor, aber überraschenderweise fand er sie auch deprimierend. Irgendwie hatte er immer angenommen, daß sie früher oder später beide die richtige Frau finden würden, die ihnen dabei helfen könnte, ihr Stromerdasein zu überwinden. Von seinen eigenen Ängsten einmal abgesehen wußte er jedenfalls, daß Hunter eigentlich anständiger war, als er sich nach außen gab. Aber der große Kameramann hatte wahrscheinlich recht. Er war noch nicht bereit für eine ernsthafte Beziehung. »Ja, ich glaube, ich verstehe schon, Breck«, lenkte Feldman ein. »Aber mach es wenigstens so schonend wie möglich für Cissy, ja?« Hunter nickte flüchtig und verschwand zum Kaffeetrinken im Bauernhof. Feldman steckte die Hände in die Taschen und ging allein mit seinen Gedanken den Fußpfad entlang, von dem aus man einen Blick auf den See Genezareth hatte. Aber dann hörte er, daß jemand seinen Namen rief, und lief den Weg zurück, an dessen Ende einer vom Team ihn herbeiwinkte. Die Hubschrauber liefen schon, bereit für die morgendliche Erkundungstour. Feldman rannte ins Haus, um seine Tasche zu holen, und stieß im ersten Hubschrauber zu Sullivan, Bollinger, Hunter und Erin. Der Motor wurde lauter, und sie stiegen langsam, gefolgt von dem zweiten Hubschrauber, in den noch dämmrig dunklen Himmel. Unter ihnen waren die Lichter von unzähligen am Seeufer festgemachten Booten zu sehen, und am ganzen See entlang erstreckten sich meilenweit Abertausende von Campingzelten. Aber kaum hatten sie ihren Erkundungsflug begonnen, breitete sich in der Menge unter ihnen Unruhe aus. Überall gingen Lichter an. Autohupen und Rufe waren sogar unter dem Stakkato der Hubschrauberrotoren zu hören. »Was ist da unten los?« fragte Bollinger. An den vielen sich be123
wegenden Autoscheinwerfern konnte man allmählich erkennen, daß die Massen anscheinend in Richtung Norden strömten. Viele Boote hatten die Anker gelichtet und fuhren hastig an der Küste entlang. »Nehmt Funkkontakt mit den mobilen Einheiten auf, ob sie etwas Genaueres wissen«, ordnete Sullivan an. Sie erfuhren, daß die Samariter über Radio Israel eine öffentliche Durchsage gemacht hätten, der Messias werde ungefähr dreizehn Kilometer weiter nördlich an einem Ort auftreten, der als Berg der Seligpreisungen bekannt war. Er lag direkt neben der Straße, die parallel zum Seeufer verlief. Als der Pilot den Hubschrauber in die gewünschte Richtung gewendet hatte, stand Hunter auf und öffnete den Reißverschluß seiner Ausrüstungstasche. Er nahm eine große, unhandliche Steadicam heraus, eine Kamera mit einer speziellen Aufhängung, die es ermöglichte, sogar an Bord eines rüttelnden Hubschraubers ruhige Aufnahmen zu machen. Er hob sie auf die Schulter, schaltete das Licht an und richtete es auf Feldman. »Ich bin soweit«, gab er ihm durch ein Zeichen zu verstehen. Feldman räusperte sich, rückte seine Krawatte zurecht und spulte einen kurzen Lagebericht herunter. Als er fertig war, signalisierte Hunter dem Piloten, tiefer zu gehen, und erweiterte dann den Bericht mit spektakulären Aufnahmen von den endlosen Autoschlangen unter ihnen: mehr als eine Million Millennarier, schätzten sie, auf einer Massenpilgerfahrt zu einem Rendezvous mit ihrem Messias.
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30 BERG DER SELIGPREISUNGEN, ISRAEL, 4 UHR 46, DONNERSTAG, 6. JANUAR 2000 Der Berg war aus einer Entfernung von mehr als fünf Kilometern zu erkennen. Es handelte sich eher um einen großen Hügel als um einen Berg, der leicht zu finden war, da er von riesigen Halogenlampen angestrahlt wurde. Als Feldman und das Team sich von oben näherten, entdeckten sie auf dem Gipfel eine riesige, erhöhte, altarähnliche Bühnenfläche, auf die sich die Scheinwerfer konzentrierten. Die Frage, woher die Samariter das Kapital hatten, eine derart gigantische Veranstaltung zu organisieren, war wenige Augenblicke später geklärt. Quer über der Bühnenfront und an anderen günstigen Stellen prangten die Markenzeichen der stolzen Sponsoren: IBM, Coca-Cola, Sony, Ford, Nike. Der Altar war durch einen hohen Elektrozaun geschützt und etwa zwölf Meter von der bereits riesigen Menschenmenge entfernt. »Landen wir oder bleiben wir in der Luft?« wollte der Pilot wissen. Andere Helikopter in der Nähe schienen in gebührender Entfernung zu bleiben. »Lassen wir doch den anderen Hubschrauber in der Luft für die Aufnahmen von der Menge und Weitwinkelaufnahmen von der Bühne«, schlug Sullivan vor. »Und wir versuchen, innerhalb des Zauns zu landen. Wir sehen zu, ob wir die Erlaubnis für Großaufnahmen und vielleicht sogar ein Interview bekommen.« 125
Aus Sorge, daß der Rotorwind des Hubschraubers Beleuchtungstürme und anderes Gerät auf der Bühne umwerfen könnte, suchten sie sich eine Stelle, die so weit wie möglich von der Bühnenmitte entfernt war. Aber das war noch ihr kleinstes Problem. Als die Samariter entdeckten, was sie vorhatten, kam ein Dutzend kräftiger Männer mit schweren Schlagstöcken herbeigerannt. Der Pilot ging wieder etwas höher und blickte fragend zu Sullivan. Sullivan schaute in die Runde, zuckte mit den Schultern und rief: »Sie können uns höchstens sagen, wir sollen verschwinden! Versuchen wir doch zu landen, ja?« Trotzig setzte der Pilot den Helikopter praktisch direkt über den Sicherheitskräften ab, die nach allen Seiten auseinanderstoben. Als der Hubschrauber gelandet war, wurde Feldman klar, daß die wütende Wachmannschaft nur so lange in Deckung bleiben würde, bis die Rotoren langsamer liefen. Aber er hatte eine Idee. »Nigel«, schrie er in Sullivans Ohr, »lassen Sie die Rotoren wieder schneller laufen. Ich steige unterdessen aus und rede mit ihnen, während Hunter filmt, nur für alle Fälle.« Sullivan hatte auch keine bessere Idee, also öffneten sie die Tür, und Feldman kämpfte sich über den unbewachten Streifen voran wie ein Mann in einem Orkan. Er hatte die Hoffnung, daß seine neuerliche Berühmtheit ihm Zugang verschaffen würde, und tatsächlich bemerkte er, daß mindestens einer der Wachmänner ihn wiedererkannte, als er näher kam. »Jon Feldman, WNN«, brüllte er in den Wind und zeigte seinen Presseausweis. »Ich bin hier, um Richard Fischer zu treffen.« Das war reiner Bluff. Fischer, der First Reverend der Samariter, war einer der Offiziellen, die Feldman und Hunter in Bethlehem bei ihrem vergeblichen Versuch, ein Interview mit dem Messias zu vereinbaren, getroffen hatten. Feldman wußte nicht einmal, ob Fischer überhaupt hier war. »Niemand darf hier rein«, entgegnete der große Mann in ausge126
prägtem Südstaatendialekt. »Niemand. Den anderen Hubschraubern ham wir alle abgewinkt, aber ihr seid ja trotzdem runtergekommen.« »Also, ich habe mit Mr. Fischer über Handy gesprochen, ist noch keine Viertelstunde her«, log Feldman, »und er sagte mir, er würde mit mir reden, wenn ich gleich herkommen könnte.« Er wandte sich zum Helikopter um und gab dem Piloten ein Zeichen, den Motor abzustellen, zeigte auf Hunter und winkte ihn zu sich. Der Wachmann blinzelte und schaute einen Kollegen an, der ihm auch nicht weiterhelfen konnte. »Ihr bleibt mal alle hier und ich geh' und frage Mr. Fischer«, beschloß er und ging los. Feldman packte Hunter schnell am Arm, richtete die Kamera auf den zweiten Wachmann und rief in seiner deutlichsten Aussprache: »Okay, wir melden uns hier live vom Berg der Seligpreisungen und strahlen weltweit ein Interview zur Situation beim offiziellen Samariter-Sicherheitsdienst aus. Ich gebe weiter an Breck Hunter!« Die Videokamera und die Aussicht, überall auf der Welt gesehen zu werden, ließ die Wachleute für einen Moment erstarren. Hunter nutzte die List und startete eine Serie von schmeichelhaften Fragen, während Feldman sich davonmachte und dem ersten Wachmann unter die riesige Bühne folgte. Unter der vier Meter über ihnen gelegenen Plattform befand sich ein Labyrinth aus Stützpfeilern und Gerüsten. Mitten in diesem Gewirr stand eine Reihe von Wohnwagen. In einem davon, so vermutete Feldman, war wohl der Messias untergebracht. Feldman holte den keuchenden Wachmann gerade ein, als dieser an einem Wohnwagen ankam und an die Tür klopfte. »First Reverend Fischer«, rief er, »ich glaube, wir haben hier ein Problem.« Die Tür ging auf, und Richard Fischers wohlbeleibte Gestalt füllte den Rahmen. »Was ist, Mr. Granger? Wir haben zu tun.« »Ich stelle mich selbst vor, danke, Mr. Granger«, sagte Feldman 127
bestimmt und trat vor, so daß man ihn sehen konnte. »Was machen Sie hier, Mr. Feldman?« fragte Fischer mit einem überraschten Stirnrunzeln. »Medien sind hinter dem Zaun nicht erlaubt!« »Ich muß mit Ihnen sprechen, Reverend, es ist wichtig!« Fischer nickte Granger zu, der zur Seite trat, aber er verließ seinen Platz in der Tür nicht und bat Feldman auch nicht hinein. »Beeilen Sie sich, Mr. Feldman, ich habe nur ein paar Minuten.« »Wir wollen den Auftritt auf Video aufzeichnen, Reverend Fischer. Es ist ein Ereignis von internationaler Bedeutung und hat eine bessere Dokumentation verdient als Bilder, die aus sechzehn Meter Entfernung durch einen Maschendraht aufgenommen sind!« »Wir haben schon Vereinbarungen für eine professionelle Aufzeichnung getroffen, Mr. Feldman. Wir haben ein eigenes Produktionsteam engagiert. Wenn Sie diesmal unseren Messias deutlich sehen wollen, werden Sie den Film von mir und nicht von irgendeinem Amateur erwerben müssen. Zu einem anständigen Preis, versteht sich.« »Wenn wir hier über die Vergütung reden, Sir, seien Sie versichert, daß wir nicht nur für die Aufnahmen zahlen, sondern Ihnen vollständige Kopien zur Verfügung stellen werden, die Sie nach Belieben verwenden können. Außerdem habe ich draußen kein Kamerateam gesehen. Was ist, wenn sie nicht kommen oder wenn bei ihrer Arbeit etwas schiefgeht? Wäre es nicht ratsam, dann professionelle Unterstützung zu haben?« Fischer hatte bei der Erwähnung von Vergütung die Ohren gespitzt. »Was für eine Summe könnten Sie uns bieten, Mr. Feldman? Was schlagen Sie vor?« »Ich müßte es absegnen lassen, aber ich denke, ich könnte, na ja … sagen wir, zehntausend bieten«, probierte Feldman es. »Wir reden hier über den Messias, Mr. Feldman!« schnauzte Fi128
scher beleidigt. »Nicht unter dreihunderttausend! Und ich will die vollen Rechte auf das Material nach der ersten Ausstrahlung. Ja oder nein?« Feldman kratzte sich am Kopf und traf eine verzweifelte Entscheidung. »Sagen wir, ich nehme Ihr Angebot für dreihunderttausend an. Aber mit den Videorechten müßten Sie uns entgegenkommen. Wenn wir die Aufnahmen nicht uneingeschränkt verwenden können, sind sie wertlos für uns.« Fischer sah auf die Uhr. »Okay«, beschloß er. »Aber ich will einen schriftlichen Vertrag dieses Inhalts, bevor Sie eine einzige Aufnahme machen. Händigen Sie ihn an Mr. Smead im Wagen Nummer sieben aus. Und sorgen Sie dafür, daß Ihre Leute nicht im Weg stehen. Sie dürfen nicht näher als fünf Meter an den Messias heran. Und absolut keine Fragen, kein Gespräch! Verstanden?« »Alles klar.« Feldman schüttelte Fischer die Hand. »Granger«, wies Fischer seinen Wachmann an, »begleiten Sie Mr. Feldman und passen Sie auf, daß er alles genauso macht wie abgesprochen. Falls irgendwas außer der Reihe passiert, nehmen Sie ihm die Kamera und die Bänder weg und werfen ihn und sein Team raus!« »Jawohl, Mr. Fischer.« Granger warf Feldman einen grimmigen Blick zu, und Feldman rannte schleunigst zurück zum Hubschrauber. Granger folgte ihm auf den Fersen, außer Atem und rot im Gesicht, um die Aufsicht über die WNN-Aktion zu übernehmen. Er ließ seine Männer auf ihre Posten zurückkehren und trug ihnen auf, wenn nötig ihre Handfeuerwaffen einzusetzen, um etwaige weitere Landungen zu verhindern. Feldman lief zu Sullivan und Bollinger, die ihn nervös erwarteten. »Ich hoffe, ich habe meine Grenzen nicht überschritten«, erklärte Feldman, »aber ich habe ihm für die Exklusivrechte an dieser Veranstaltung dreihunderttausend zugesagt.« 129
Bollinger verschlug es fast den Atem: »Du hast was?« Sullivan winkte ihn zurück. »Das ist in Ordnung, Jon. Es ist uns zehnmal so viel wert. Die Konkurrenz wird nur bis zum Zaun kommen!« Aber für die glücklosen anderen Teams, die heute erschienen waren, gab es nicht einmal Karten zweiter Klasse. Die ständig wachsende, Ellbogen an Ellbogen stehende Menge drückte sich eng gegen die gelben Warnabsperrungen bis kurz vor dem Elektrozaun, und alle wachten eifersüchtig über ihre Plätze. Die frustrierten Konkurrenten von WNN waren in kreisende Hubschrauber oder auf die Dächer weit entfernt stehender Autos verbannt. Feldman bemerkte, wie sich hinter ihm im Osten die rosig-blasse Morgenröte über den Rand der Gebirgskette schob. Die Dämmerung würde nur noch ein paar Minuten auf sich warten lassen. Er nahm seine Position auf der Bühne genau unterhalb des Altars ein. Direkt an der Rückseite der Bühne führte eine Treppe über die Hauptplattform bis zum erhöhten Altar. Jetzt kamen einige Dutzend Menschen die Stufen herauf zu den Sitzreihen auf Feldmans Ebene. Die Delegation bestand aus dem obersten Rat der Samariter und dem strahlenden Richard Fischer, der Feldman im Vorbeigehen blasiert zunickte. Der Messias war nicht unter ihnen. Aus Lautsprechern erklang Musik, zuerst ganz leise, dann immer lauter anschwellend. Eine himmlische Arie aus einer Oper, die Feldman schon einmal gehört hatte, an deren Namen er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Obwohl er sich darüber im klaren war, daß diese sorgfältige Inszenierung der künstliche Versuch war, Ehrfurcht und Staunen auszulösen, mußte er doch zugeben, daß sie ihre Wirkung nicht verfehlte. Die ganze Atmosphäre war von einer Aura des Übernatürlichen umgeben. Hunter stellte sich in seiner anfänglichen Kameraposition auf ebener Erde gegenüber der Bühne auf und filmte den Altar im Gegenlicht der heller werdenden Dämmerung. Bollinger gab Feldman ein 130
Zeichen, und der Reporter teilte dem Team über sein Mikro mit: »Also, gehen wir auf Livesendung und machen den Vorspann.« Er hatte seine Einleitung jedoch kaum begonnen, als die riesigen Halogenscheinwerfer, die den Berg bestrahlten, plötzlich ausgingen und die Lautstärke der Musik zunahm. Die Menge verstummte, als die Sonne plötzlich über dem Zacken einer fernen Bergspitze hinter der Bühne aufging und ein einziger goldener Strahl direkt auf den Altar traf. Als steige sie aus einem Tunnel aus Licht empor, erklomm eine kleine, schlanke Gestalt die mittlere Treppe bis ganz nach oben, wo sie regungslos hinter dem Altar stehenblieb. Feldman hielt den Atem an. Der Herr war gekommen!
31 BERG DER SELIGPREISUNGEN, ISRAEL, 6 UHR 21, DONNERSTAG, 6. JANUAR 2000 Die Masse des Publikums erstarrte angesichts der überirdischen Szene in Ehrfurcht und harrte eine ganze Minute regungslos aus, während die himmlische Musik ihr triumphales Ende fand. Der schlanke Messias war in ein bodenlanges weißes Gewand mit einer Kapuze gekleidet, das mit roter und purpurroter Kordel eingefaßt war. Den Kopf hielt er gesenkt, das Gesicht vor dem Sonnenlicht der Morgendämmerung ganz im Schatten der Kapuze verborgen. Feldman, das Fernsehteam und Millionen Zuschauer sahen ge131
bannt und in atemloser Spannung zu, wie die geheimnisvolle Gestalt sich allmählich zu entfalten schien. Der Kopf neigte sich nach hinten. Die schlanken Arme hoben sich langsam zum Himmel. Die Ärmel glitten anmutig herunter, und die dünnen, schimmernden Arme kamen zum Vorschein. Die kleinen, geballten Fäuste öffneten sich, und die schlanken Finger streckten sich gen Himmel. Endlich fiel die Kapuze herab und enthüllte ein Gesicht von der überirdischen, leuchtenden Schönheit eines Engels. Unschuldig und kindgleich, von schlichtem Ebenmaß. Und doch entschlossen und weise. Die Augen waren geschlossen, doch der Mund weit geöffnet. Feldman war völlig überrascht, dann wie verzaubert, als er realisierte, daß diese überaus fesselnde Vorstellung in Wirklichkeit nur ein besonders ausgiebiges morgendliches Sich-Strecken und -Gähnen war. Aber wegen des Kontrasts zwischen Sonnenlicht und Schatten und weil die Menge zu weit entfernt stand, bezweifelte er, daß das außer ihm sonst noch jemand bemerkt hatte. Obwohl es auf jeden Fall dasselbe markante Gesicht war, das Feldman in den unbeholfenen Videoaufnahmen vom Abend der Jahrtausendwende gesehen hatte, wirkte es jetzt völlig anders auf ihn. Es war nichts von dem Schmerz, der Wut oder der Angst zu sehen, die von dem Gesicht auf dem dunklen Fernsehmonitor ausgegangen waren. Vielleicht hing das mit den Eigenheiten der elektronischen Bildbearbeitung zusammen, aber dieses Gesicht hatte nichts mehr von seiner vormaligen Intensität. Es erschien sogar weniger kantig. Weicher und sanfter. Und doch hatte es nichts von dem überirdischen Charakter verloren, der ihm die Gottähnlichkeit zu verleihen schien. Ein erstaunliches Wesen. Die Haut so vollkommen glatt und makellos, daß ihr reines, leuchtendes Weiß buchstäblich zu pulsieren schien. Das Gesicht von vollkommener Symmetrie mit großen, weit auseinanderliegenden dunklen Augen, eingerahmt von langen schwarzen Wimpern. Das Kinn wie fein gemeißelt und fest, die Nase von römi132
schem Profil wie diejenige eines antiken Gottes. Sehr passend. Die einzige Unvollkommenheit an diesem makellosen Haupt waren seltsame rote Wülste, die an kleinen rasierten Stellen im widerspenstigen rabenschwarzen Haar des Messias zu sehen waren. Ganz schlecht geschnittenes Haar. Aber wenn das wirklich das Antlitz eines Messias war, hatte Gott seinem Auserwählten einen grausamen Streich gespielt. Diese seltsame, surreale Erscheinung war nicht die eines Jungen, sondern die einer jungen Frau. Und als Feldman sie sprechen hörte, gab es daran keinen Zweifel mehr. Der Messias sah über die Menge hinweg und sprach mit lauter, klarer, aber eindeutig weiblicher Stimme. »Vasheim aboteinu tovu lisanecba«, verkündete sie in perfektem Hebräisch, das Feldman jedoch nicht verstand. »Bism Elah atty laka«, kam dann in perfektem Arabisch, das dem Reporter ebenfalls nichts sagte. »In the name of the Father, I come to you«, sagte sie darauf in perfektem Englisch, und Feldman begriff, daß der Messias denselben Satz in einer Reihe verschiedener Sprachen wiederholte. »Au nom de Dieu notre père, je viens à vous«, fuhr sie auf französisch fort. Sie wiederholte ihre Begrüßung in Deutsch, Spanisch, Russisch, Chinesisch, Italienisch und Japanisch und erhöhte dabei das Tempo in einem rhythmischen Tonfall, der die Menge körperlich mitschwingen ließ. Wenn ein Durchgang beendet war, begann der Messias einen neuen Satz und ließ den rhythmischen Übersetzungsritus wieder von vorne anfangen. Sie unterstrich ihre Rede mit ausdrucksvollen Bewegungen der Arme und des Körpers. Die Welt empfing die erste Predigt von der neuen Prophetin. Eine kurze Rede, die als die Neuen Seligpreisungen bekannt wurde: Im Namen des Vaters komme ich zu euch. Im Namen der Wahrheit komme ich zu euch. 133
Im Namen der Offenbarung komme ich zu euch. Selig sind, die da hören, denn ihr werdet verstehen. Selig sind, die da sehen, denn das Neue Licht wird auf euch scheinen. Selig sind, die da widerstehen der Gewohnheit der Rechtschaffenheit zuliebe, denn ihr sollt gerechtfertigt werden. Selig sind, die die Antwort in sich selbst suchen, denn ihr werdet den Willen Gottes kennen. Selig sind, die den Mächtigen in meinem Namen entgegentreten, denn ihr werdet mutig genannt werden. Selig sind die Selbstlosen, denn euer Lohn soll unermeßlich sein. Selig sind die Duldsamen, denn ihr sollt Einigkeit erlangen. Selig sind, die die Schutzlosen verteidigen, denn ihr werdet das ewige Leben gewinnen. Selig sind, die fest sind in ihren Herzen, denn ihr werdet Trost hei euch selbst finden. Frohlockt und freut euch, denn euer Lohn im Himmel ist groß; so verfolgten sie die Propheten, die zuvor kamen. Am Ende ihrer Rede ließ die Verkünderin ihren Blick über die Menge schweifen – und sah dabei Feldman direkt in die Augen. Nur für einen Augenblick, nur en passant, aber sie hatte wohl tatsächlich ihn gemeint. Und in diesem einzigen Blick durchdrangen ihn ihre dunklen, gelassenen Augen auf eine Art und Weise, die ihn beunruhigte. Er fühlte Schwindel und war zugleich verwirrt und verstört. Aber er konnte jetzt nicht diesem Gefühl nachgeben. Die Hände des Messias hoben sich zum Himmel, als erteile sie der Menge einen Segen. Und dann wandte sich die schlanke Gestalt unvermittelt um, ging ruhig die Stufen hinunter und senkte die Arme, während die Menschenmenge in Jubel ausbrach. 134
Die gewaltige Zuhörerschar befand sich in Ekstase. Lachend, weinend, betend, erfüllt und hingerissen von der Verzückung dieses religiösen Augenblicks. Feldman befürchtete, daß der kopflose, freudetrunkene Mob sich weiter nach vorn schieben und den weniger begünstigten Gläubigen nahe am Elektrozaun ein Schock göttlicher Vernunft versetzt werden könnte, der Hunter ein paar zusätzliche Aufnahmen von anekdotischem Wert liefern würde. Aber die versammelten Menschen respektierten einander, und es bestand keine Gefahr. Feldman glaubte, daß die Mehrzahl der Zuschauer von Anfang an darauf vorbereitet war, diese Messiasfigur als ihren Retter anzunehmen, ohne Rücksicht auf ihr jetzt erst bekannt gewordenes Geschlecht. Aber daß es ihr so gut gelungen war, die Erwartungen noch zu übertreffen, das war es, was ihr Publikum in diesen lange anhaltenden Zustand der Euphorie versetzte. Aber nicht alle im Publikum. Es waren manche hier, die sich nicht dazu hinreißen ließen, eine neue religiöse Kultfigur willkommen zu heißen. Besonders eine weibliche. Und sie verließen diese Veranstaltung mit Skepsis, Verachtung und Mißfallen. Aber für alle, die diesen beispiellosen Vorfall miterlebt hatten, gab es keinen Zweifel, daß hier etwas ganz Außergewöhnliches geschehen war.
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32 WNN-STUDIO, JERUSALEM, ISRAEL, 8 UHR 6, DONNERSTAG, 6. JANUAR 2000 »Da bist du ja!« rief eine Assistentin erleichtert aus, als sie Feldman am Kaffeeautomaten sah. »Wir haben dich überall gesucht. Sullivan hat im Besprechungszimmer vier eine Sondersitzung wegen des weiteren Vorgehens einberufen.« Feldman, der erschöpft aussah, ließ seine Kaffeetasse stehen und eilte den Flur entlang, wurde aber gleich von einer weiteren Kollegin abgefangen, die ihren Kopf aus der Tür streckte und ihn zögernd ansprach. »Ich … ich weiß nicht, ob ich dich damit überhaupt behelligen soll«, sagte sie, als sie Feldman in Eile sah, »aber ich habe einen Anruf für dich aus Japan. Ein Typ, der behauptet, dich zu kennen, und sagt, er hätte wichtige Neuigkeiten. Ich konnte seinen Akzent kaum verstehen.« Sie sah auf die Notiz, die sie in der Hand hielt. »Ein Dr. Ornato?« »Ich gehe dran.« Feldman trat ins Zimmer, um den Hörer aus ihrer ausgestreckten Hand zu übernehmen. »Hallo, Dr. Ornato, wie geht es Ihnen? Sie sind jetzt wieder in Japan?« »Hallo, Mr. Feldman. Gut. Ja, IDF, israelische Militär uns deportiert, nach unser Interview im Fernsehen.« »Tut mir leid, das zu hören, Sir.« »Kein Problem. Unsere Arbeit fertig. Aber wir haben noch mehr wichtige Nachricht für Sie, jetzt. Über Messias!« Feldman hatte unterdessen auf seinem Notizblock herumgekrit136
zelt, aber jetzt hatte der Astronom seine ganze Aufmerksamkeit. »Sie haben etwas Neues über den Messias?« »Ja, Mr. Feldman! Messias ist Frau!« Feldman seufzte innerlich und konzentrierte sich wieder auf seine Kritzeleien. »Ja, das scheint man allgemein so zu sehen.« »Nein, Mr. Feldman, ich meine, Messias ist Frau von Unfall mit Meteorit. Sie ist Überlebende aus Wüste!« Feldman blieb mit der Spitze seines Kugelschreibers im Papier des Notizbuchs hängen und zerriß eine Seite. Mit einem Ruck setzte er sich auf. »Was?« »Ja, wir sie gesehen in Fernsehen. Sie ist Überlebende. Wir ihr helfen nach Einschlag.« »Sind Sie sicher, Dr. Ornato? Es war dunkel. Sie sagten, die Frau sei verletzt gewesen.« »Ja, ganz sicher. Dr. Hirasuma sagt auch. Und Dr. Somu. Wir ganz sicher.« »Gut, hervorragend. Das ist sehr hilfreich. Sie haben mir sehr geholfen. Kann ich jemanden von unserem Studio in Japan zu einem Interview mit Ihnen vorbeischicken?« »Ja, natürlich.« »Großartig, vielen Dank. Bleiben Sie bitte dran, meine Assistentin spricht gleich mit Ihnen.« Feldman gab den Hörer wieder an seine Kollegin zurück, erteilte Anweisungen und ging mit brummendem Kopf zur Planungsbesprechung. »Gut, Jon, daß Sie da sind«, wandte sich Sullivan an ihn, als er zur Sitzung kam, die bereits angefangen hatte. »Nur damit Sie auf dem laufenden sind: Wir versuchen noch einen Termin mit Richard Fischer zu arrangieren. Er ist vor einer Weile in einem Hubschrauber mit dem Messias in sein Hotel zurückgekehrt.« Feldman fand 137
einen Platz zwischen Cissy und einer anderen Kollegin. »Die Samariter haben jetzt das ganze Hotelgelände unter ihrer Kontrolle«, fuhr Sullivan fort. »Es ist eingezäunt und gut bewacht, und sie lassen niemanden rein. Wenn wir eine Botschaft hineinschmuggeln können, bieten wir eine schöne Summe für ein Interview mit dem Messias persönlich, und wir wollen natürlich, daß Sie das führen.« Feldman nickte. »Gut.« Sullivan wechselte das Thema. »Nun zurück zu unserer Alternative, eine Hintergrundstory für heute abend. Wenn alle sich für die Idee erwärmen können, eine Analyse der Messiaspredigt zu entwickeln, würde ich vorschlagen, daß Sie sich überlegen, ob Sie mit Erin Cross zusammen einen Bericht machen. Als unsere Expertin für religiöse Themen kann Erin ein paar interessante Ansätze vorlegen.« Erin und Hunter strahlten. »Sicher«, stimmte Feldman zu und sah, wie Cissy auf ihrem Stuhl herumrutschte. »Also, dann an die Arbeit.« Sullivan rieb sich die Hände. »Noch Fragen, bevor wir anfangen?« Feldman hob leicht eine Hand. »Vielleicht steht es jetzt nicht mehr zur Diskussion, Nigel, aber sind wir uns alle einig, daß der Messias eine SIE ist?« Sullivan zuckte die Achseln vor einer Reihe nickender Köpfe und allgemeiner Zustimmung. »Es scheint darüber nicht viele Meinungsverschiedenheiten zu geben.« Er lächelte. »Und recht attraktiv obendrein! Vielleicht ein bißchen exzentrisch, aber jedenfalls eindrucksvoll, finden Sie nicht?« »Aber wer ist sie und wo in aller Welt ist sie hergekommen?« stellte Bollinger die Kernfrage. »Ich glaube, ich weiß, wo sie hergekommen ist«, meinte Feldman, und alle Augen richteten sich sofort auf ihn. »Ich habe vor ein paar Minuten einen Anruf von Dr. Omato, dem japanischen Astrono138
men, bekommen, der uns schon einmal einen Hinweis gegeben hat. Er und seine Kollegen sind überzeugt, daß unser kleiner Messias die verschollene Überlebende der Katastrophe im Negev ist. Die verletzte Frau, die sie in der Wüste gefunden haben. Ich lasse ihre Aussagen von unserem Korrespondenten in Japan aufzeichnen.« »Verdammt!« Hunter brach das benommene Schweigen. »Ein verrückter Wissenschaftler, der bei der Explosion den Verstand verloren hat. Jetzt hat er auch noch einen Messiaskomplex!« »Oder –«, Bollinger hatte offenbar einen ähnlichen Gedankengang verfolgt, »– möglicherweise ein Opfer von Gedächtnisschwund, das in das millennarische Chaos verwickelt worden ist.« »Oder«, schloß Cissy, »ein Opfer von Gedächtnisschwund, das von den Samaritern manipuliert wird.« »Ich glaube, wir sind da einer heißen Sache auf der Spur«, bemerkte Sullivan. »Gut gemacht, Jon. Rollen wir also die Untersuchung des Negev Instituts wieder auf. Stellt Team drei und vier dafür ab. Und die Geschichte mit dem Messias, der identisch ist mit der überlebenden Frau, die behalten wir erst mal für uns, bis wir sehen, was wir dazu finden, nicht wahr?« »Versucht eine Liste der Leute zu bekommen, die an diesem Abend im Institut Dienst hatten«, schlug Bollinger vor. »Namen, Alter, Aussehen. Alles, was uns helfen könnte, sie zu identifizieren.« »Haltet die Ohren offen«, meinte Sullivan eindringlich. »Bestimmt hat irgend jemand, der sie kennt, inzwischen ihr Gesicht in den Nachrichten erkannt. Sie sieht schließlich nicht gerade durchschnittlich aus, oder?« Darüber waren sich alle einig. »Also, jetzt weiter zum Folgebericht der Predigt von gestern.« Sullivan wandte sich an Erin Cross. »Erin, würden Sie Jon Ihre wichtigsten Einsichten mitteilen?« »Gerne, Nigel.« Erin ergriff das Wort, lächelte Feldman freundlich zu und ging zu einer Leinwand an der hinter ihr liegenden Wand. 139
»Ich habe den größten Teil des gestrigen Abends damit zugebracht, einen ausführlichen Vergleich der Neuen Seligpreisungen mit denen der ursprünglichen Version anzustellen«, erklärte sie und rollte die Leinwand herunter, um eine Gegenüberstellung der beiden Predigten zu zeigen. »Vorerst möchte ich Ihnen die Ergebnisse der speziellen Auswertung ersparen, die ziemlich umfangreich sind …« »Gott sei Dank«, zischte Cissy leise, aber laut genug, daß es bei den meisten am Tisch ankam. »…und möchte nur das zusammenfassen, was ich für wesentlich und grundlegend halte. Es ist wichtig, festzuhalten, wie sich diese Neuen Seligpreisungen in ihren Zielen von den Originalen unterscheiden. Christus' Seligpreisungen sind so angelegt, daß sie den Unterdrückten Auftrieb geben und sie trösten. Im übrigen sprechen sie sich für Passivität und Demut aus. Die Neuen Seligpreisungen scheinen uns jedoch in eine ganz andere Richtung zu führen. Der neue Messias spornt an zu Toleranz, Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Selbstbewußtsein und Selbstlosigkeit. Eine eher aktive Einstellung, würde ich sagen. Wenn es einen Schlüssel dafür gibt, was der Messias mit alldem will, glaube ich, daß er in der dritten Zeile ihrer Einleitung zu finden ist.« Erin zeigte auf die Leinwand und las den Vers vor: »›Im Namen der Offenbarung komme ich zu euch.‹ Ich finde die Verwendung des Wortes ›Offenbarung‹ sehr interessant. Möglicherweise spielt der Messias auf das Buch der Offenbarung des Apostels Johannes an, das bekanntlich die apokalyptischen Botschaften enthält, in denen das Ende der Welt und die Wiederkunft Christi beschrieben wird. Andererseits könnte mit ›Offenbarung‹ auch einfach gemeint sein, daß sie vorhat, etwas von besonderer, spiritueller Bedeutung zu enthüllen. Wenn das so ist, bleibt aber unklar, was diese besondere ›Offenbarung‹ sein könnte. Trotz des Namens, den die Samariter ihr gegeben haben, ist es unmöglich, jetzt schon eine Aussage darüber zu machen, wofür diese Frau sich eigentlich hält. Glaubt sie wirklich, sie sei ein echter Messias, also 140
eine spirituelle Führerin, die persönlich von Gott eingesetzt ist? Oder glaubt sie, sie sei lediglich eine Prophetin, die aufgrund göttlicher Inspiration Ausblicke auf die Zukunft gibt? Es läßt sich jedenfalls nicht leugnen, daß diese Frau fest davon überzeugt ist, eine Art Abgesandte Gottes zu sein.« Eine Assistentin hob schüchtern die Hand: »Ich weiß, es klingt lächerlich, aber sollten wir wirklich die Möglichkeit ausschließen, daß sie vielleicht doch ein echter Messias ist – eine von Gott gesandte Heilige?« Hunter verschluckte sich fast an seinem Kaffee. Sullivan ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Nichts da! Wir werden alle Standpunkte am Tisch hier respektieren!« Der massige Kameramann entschuldigte sich, und Erin nahm sich der Frage an. »Wenn wir die Vermutung aufstellen, daß sie ein echter Messias ist, müssen wir uns fragen, warum. Welchen Zweck würde es für ein höheres Wesen erfüllen, seine Botschaft durch eine weibliche Abgesandte zu übermitteln? Und warum sollte Gott ihr erlauben, das Leben seines Sohnes nachzuahmen? Den Ursprüngen von Christus eine Geburt in Bethlehem und eine Bergpredigt an die Seite zu stellen? Es bringt Christus' Botschaft durcheinander; es ist theologisch nicht folgerichtig, meiner Meinung nach.« »Aber vielleicht hat Gott eine besondere Botschaft für Frauen?« meinte die Assistentin. »Mhm, oder vielleicht will Gott etwas in die Waagschale der Frauen werfen«, schlug jemand anders vor. »Bestimmt!« grinste Cissy. »Gott macht einen auf politisch korrekt!« Sullivan hob die Hand, um das Team zur Ordnung zu rufen. »Ich schlage vor, wir überlassen das Philosophieren den Philosophen und bleiben bei den Problemen, die uns hier vorliegen. Konzentrieren wir uns doch lieber auf eine überzeugende Sendung über diese um141
strittenen Neuen Seligpreisungen.«
33 VATIKAN, ROM, ITALIEN, 11 UHR, FREITAG, 7. JANUAR 2000 Nikolaus hatte so viel über die kontroverse Bergpredigt vom Vortag gehört, daß er dem Augenblick, wenn er sie zu Gesicht bekäme, gespannt entgegensah. Er verspürte dennoch eine Art Erleichterung. Die allgemein geteilte Ansicht, daß dieser angebliche neue Messias eine Frau war, hatte seine Ängste, die Welt gehe ihrem Ende entgegen, aufgehoben. Bestenfalls konnte sie nicht mehr als eine Prophetin sein. Trotzdem hatte der Papst den Werdegang von Reverend Fischer durchleuchten lassen. Es war zutage gekommen, daß es sich um einen ehemaligen Schausteller, Trinker, Vagabund und gelegentlichen Bibelverkäufer handelte, der als Prediger eine Marktnische gefunden hatte. Diese Fakten würden die konservative Haltung des Vatikan glaubwürdiger erscheinen lassen, der zufolge die Mediensensation der gestrigen Bergpredigt II nichts weiter als ein cleverer Marketingtrick war, den man sich ausgedacht hatte, um den momentanen Rummel um die Katastrophe am Ende des Jahrtausends auszuschlachten. Nikolaus hatte seinen geachteten Berater, den Präfekten Antonio di Concerci, der das Video schon gesehen hatte, gebeten, es noch einmal mit ihm zusammen anzuschauen. Sie trafen sich in der Vorhalle vor dem kleinen Kino des Palastes und gingen 142
zusammen hinein. Sie nahmen Seite an Seite in dem sonst leeren Saal Platz. »Wie steht es mit Eurem Dekret zur Jahrtausendwende, Eure Heiligkeit?« fragte di Concerci, um Konversation zu machen, während sie darauf warteten, daß das Band anlief. Der Kardinal sprach von Nikolaus' schon lange erwarteter Enzyklika wider den Materialismus. »Es ist fertig, Antonio. Ich habe nur den richtigen Zeitpunkt für die Veröffentlichung abgewartet. Ich dachte, unter den jetzigen Bedingungen würde ihm nicht die angemessene Aufmerksamkeit zuteil werden. Aber jetzt, da wir diese lästige Jahrtausendwende überstanden haben, glaube ich, ich werde sie nächste Woche herausbringen lassen.« Im Kinosaal wurde es dunkel, und das Video begann. Der Pontifex beugte sich auf seinem Stuhl unbewußt nach vorn, als der Film mit einem atemberaubenden Fernblick auf den Berg der Seligpreisungen begann, der von glühendem Licht gekrönt und von riesigen Menschenmassen bevölkert war. Nikolaus runzelte die Stirn. Nicht vor Unbehagen, sondern mit wachsender Verwunderung über die ersten Sonnenstrahlen des Morgens, die den Horizont durchbrachen und die Bühne von hinten anstrahlten. Fest faltete er die Hände, als die erregende Musik lauter wurde und der Messias sich zu seinem erhabenen Gang zum Altar anschickte. Das erste klare Bild von dem neuen Messias überraschte ihn völlig. »Sie ist ein Engel!« würdigte Nikolaus ihre Erscheinung mit einem Ausruf, und di Concerci warf ihm einen Blick zu und nickte ernst. Der Papst betrachtete den Rest des Videos in Schweigen versunken. Nach einer Weile ruhigen Nachdenkens ergriff schließlich di Concerci das Wort. »Würden Sie nicht auch sagen, Heiliger Vater, daß die Person hier eine Frau ist?« 143
Endlich richteten sich die Augen des Papstes auf seinen Gefährten, und er antwortete gedankenvoll: »O ja, durchaus. Das ist ganz sicher eine Frau. Und mit einer solch überwältigenden Ausstrahlung!« »Sie hat ein gewisses Talent zum wirkungsvollen Vortrag«, gab di Concerci zu. »Was ist Ihr Urteil über ihre mögliche Echtheit?« Nikolaus sah auf die leere Bildfläche zurück, als läge dort die Antwort. »Ich bin hierhergekommen, sie als Betrügerin zu verdammen, Antonio«, gab er zu. »Als Frau kann sie natürlich nicht der Messias sein. Aber vielleicht könnte sie eine Prophetin sein. Ich wüßte gerne mehr über ihre Verbindung zu diesen Samaritern, wer sie wirklich ist und woher sie kommt. Sie hat etwas Ätherisches. Wir müssen einfach mehr über sie in Erfahrung bringen.« »Was halten Sie von diesem ›Neuen Licht‹, von dem sie spricht, Eure Heiligkeit? Diese ›neue Offenbarung‹?« »Das sind zwei Aspekte ihrer Seligpreisungen, die mich beunruhigen«, gab der Papst zu. »Der Rest ihrer Botschaft ist gütig und erhebend, soviel ich bis jetzt verstanden habe. Es wird interessant sein zu verfolgen, wie weit sie das fortführt und was, wenn überhaupt, wir als nächstes von ihr hören. Wir müssen die Situation aufmerksam im Auge behalten, mein Freund.« »Dem kann ich nur beipflichten.« »Wenn diese Frau in irgendein Täuschungsmanöver verwickelt ist«, fügte Nikolaus hinzu, »müssen wir es schnellstens aufdecken. Je schneller wir das tun, desto schneller können wir die Gläubigen der Weltgemeinde zur Normalität zurückführen. Zur Zeit bin ich in großer Sorge über den Zustand der Heiligen Mutter Kirche, Antonio. Die Unterstützung läßt in der ganzen Welt beträchtlich nach, in spiritueller und finanzieller Hinsicht. Kein anderes Ereignis dieses Jahrhunderts hat die Kirche so in Mitleidenschaft gezogen wie diese beunruhigenden Phänomene um die Jahrtausendwende.« 144
34 WNN-STUDIO, JERUSALEM, ISRAEL, 8 UHR 49, MONTAG, 10. JANUAR 2000 Erin Cross' Publikumswirksamkeit und ihre mit viel Interesse aufgenommene Analyse der Seligpreisungen blieben in den oberen Etagen von WNN nicht unbemerkt. Während der folgenden Woche wurden ihr bald mehrere Folgesendungen angeboten, in denen sie ihre zusätzliche Erfahrung vor der Kamera einbringen konnte. Ein weiterer Schritt in ihrer Karriere beim Sender, der sie mehr in den Vordergrund bringen würde. Es war bei WNN International sogar im Gespräch, Feldman und Cross für längere Zeit als hochattraktives Medienpaar zusammenzuspannen. Die Neuigkeiten über das Forschungsinstitut im Negev waren jedoch nicht so positiv. Den Suchtrupps wurde bei ihren Anstrengungen, relevante Fakten zu entdecken, weiterhin ein Strich durch die Rechnung gemacht. Noch schlimmer war, daß es auch nichts Neues von der Messiasfront gab. Von den unkooperativen Samaritern war nichts zu erfahren, und von der engelgleichen jungen Frau war seit der mitreißenden Bergpredigt am Donnerstag nichts mehr zu sehen gewesen. Aus Mangel an Alternativen hatte man die Fernsehberichte über die Predigt und die beliebte Analyse der Seligpreisungen das ganze Wochenende über wiederholt. Jeder nur mögliche tiefere Sinn der messianischen Erscheinung war inzwischen von jeder Sendeanstalt und jedem nur erdenklichen Experten untersucht worden. In seiner Verzweiflung traf Sullivan am Ende der Redaktionssitzung die Entscheidung, endlich die Geschichte der japanischen 145
Astronomen über die Überlebende zu bringen. »Auch wenn sich die Meldung als falsch erweist«, so seine Rechtfertigung, »kann sie vielleicht wenigstens an den rechten Stellen Druck machen und aus all diesen verflixten Geheimnistuereien Tatsachen herauspressen.«
35 IDF-KOMMANDOZENTRALE, SÜDLICHER NEGEV, 21 UHR 16, MONTAG, 10. JANUAR 2000 Stabschef Generalmajor Mosha Zerim war erregt. »Dieser neue Messias soll jemand von unserem Institutspersonal sein!« rief er seinen Kollegen entgegen. »Ist das möglich?« In seinem Besprechungszimmer stießen General Alleza Goene, Kommandeur Roth und der Befehlshaber des Geheimdienstes David Lazzlo zu ihm. Alle drei waren sie infolge des jüngsten WNN-Berichts von verschiedenen Orten hergeflogen. »Nein, Mosha«, versicherte ihm Benjamin Roth, »wir sind so gut wie sicher, daß der Messias, wie sie genannt wird, nicht zu unserem Laborpersonal gehört.« »So ist es«, stimmte Alleza Goene zu. »Wir haben uns die Mühe gemacht, Computervergleiche der Frau mit den Fotos aller weiblichen Institutsangestellten zu machen, auch mit denen, die in der Nacht, als der Angriff kam, gar nicht im Dienst waren, und wir ha146
ben keine Übereinstimmung gefunden. Keine. Diese Messiasfigur scheint jünger zu sein als die meisten weiblichen Angestellten. Um die Zwanzig. Und keine der Frauen am Institut hatte auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit ihr, was Statur, Größe, Gewicht oder Hautfarbe angeht.« »Wer ist dann dieser mysteriöse Messias?« fragte Zerim. »Das wissen wir noch nicht«, gab Roth zu und zeigte auf David Lazzlo, der ihm gegenübersaß. »Wir haben auf eine Routineanfrage der Knesset hin den Geheimdienst darauf angesetzt, sogar schon, bevor die Behauptung, sie sei eine Überlebende aus dem Labor, überhaupt auftauchte. Bis jetzt ohne Ergebnis.« Lazzlo nickte, um dies zu bestätigen, und fügte hinzu: »Aber wenn sie aus Israel stammt, werden wir sie bald identifiziert haben.« »Die einzigen Zeugen, die behaupten, eine Überlebende gesehen zu haben, sind diese japanischen Astronomen«, rief ihnen Goene ins Gedächtnis zurück. »Dieselben, die das Meteoritengerücht in die Welt gesetzt haben, das unserem Geheimdienstchef hier so gut gefällt.« Goene warf Lazzlo einen kurzen Blick zu und fuhr fort: »Wir haben die Japaner gründlich verhört und glauben, daß das Opfer, dem sie begegnet sind, außerhalb des Institutsgeländes verletzt worden sein muß. Vielleicht war es eine Beduinenfrau. Jedenfalls haben wir die Visa der Japaner eingezogen und sie des Landes verwiesen. Sie werden kein Problem mehr für uns darstellen.« Zerim war einigermaßen beruhigt. »Verteidigungsminister Tamin wird erleichtert sein, das zu hören. Falsche Beschuldigungen durch die Medien werden wirkungslos bleiben, aber es wird beim Premierminister und der Knesset ein ernstes Nachspiel haben, wenn es uns nicht gelingt, diese verfluchte Negev-Operation mit all ihren Aspekten in den Griff zu bekommen.« »Da gibt es noch eine mögliche Variante, um die wir uns kümmern müssen«, sagte Lazzlo mit warnendem Unterton, und alle Au147
gen richteten sich auf ihn. »Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, so gering sie auch sein mag, daß eines der Testsubjekte die Explosion überlebt hat. Besonders eines der weiterentwickelten Subjekte.« Goene lachte verächtlich auf. »Ich muß daraufhinweisen«, erklärte Lazzlo, »daß das Alter des neuen Messias offenbar in etwa dem der Testsubjekte entspricht. Und natürlich stimmt das Geschlecht überein. Wenn wir beabsichtigen, ›jeden Aspekt dieser verfluchten Negev-Operation in den Griff zu bekommen‹«, zitierte Lazzlo seinen Kollegen Mosha Zerim, »dann müssen wir uns gegen das schlimmste Szenario absichern. Und wenn der Beweis, daß es ein weiterentwickeltes Testsubjekt gibt, draußen bekannt wird, wäre das sicherlich das schlimmste Szenario überhaupt.« Zerim schaute schnell und zunehmend besorgt zwischen Goene und Roth hin und her. Goene trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch und wandte sich mit unverhüllter Verachtung an Lazzlo. »Jetzt wird es lächerlich. Wenn Sie etwas von den physischen Grenzen der Testsubjekte verstehen würden, wäre Ihnen klar, daß sie völlig unfähig zur Flucht sind. Seit dem Moment, als ihr Wachstum begann, war keines, und vor allem keines der manipulierten Subjekte, außerhalb der Wannen oder von den Nabelschnüren getrennt! Das Hauptsubjekt, dem Wissen eingeflößt wurde, hat niemals einen Schritt getan oder war, um genau zu sein, nicht einmal in der Lage zu kriechen! Es hatte das letzte Stadium eines äußerst schwierigen Experiments erreicht, dessen Ausgang noch unsicher, ja dessen Scheitern zu erwarten war. Wir wissen nicht einmal, ob es hätte sehen, hören, sprechen oder halbwegs normal funktionieren können. Sogar wenn wir annehmen, daß eines der Testsubjekte die Explosion am Anfang überlebte, wie hätte es aus dem verschlossenen Tank entfliehen können? Wie hätte es einen Weg aus der Anlage heraus finden können? Und noch dazu 148
in den paar Sekunden, die blieben, bevor das ganze Labor in die Luft flog? Es waren keine Durchgänge zum unteren Geschoß in der Nähe. Und Zeit genug war auch nicht!« »Aber General«, entgegnete Lazzlo gelassen, »wir wissen von Augenzeugen, die draußen Wache standen, daß es nach dem ersten Aufprall eine zweite Explosion gab. Techniker im unteren Stockwerk, die nicht sofort von den giftigen Dämpfen getötet wurden, hatten vielleicht genug Zeit, eines der Testsubjekte freizusetzen. Wäre es nicht der normale Instinkt eines Wissenschaftlers gewesen, das Endprodukt seiner Entwicklungsarbeit zu retten, die fünf Jahre gedauert und Millionen Schekel verschlungen hat? Vielleicht hat ein Techniker das Subjekt durch ein Loch in der Wand gezogen, ist dann zurückgekommen, um anderen Beistand zu leisten, dann aber in der zweiten Explosion umgekommen. Später haben sich vielleicht Beduinen den Unfallort angesehen und die Überlebende gefunden, genauso wie die japanischen Astronomen behaupten.« Obwohl er es nicht glauben konnte, war Goene von diesem Szenario schockiert. »Sie wollen damit doch wohl nicht sagen, daß es sich bei dieser Messiasfigur um unser Testsubjekt handelt, dem die Wissensinfusionen verabreicht wurden?« »Nein«, antwortete Lazzlo, »aber es liegt im Bereich des Möglichen. Kein lebender Mensch weiß, wie diese Testsubjekte ausgesehen haben. Wie Ihnen wohl klar ist, war dieses gesamte Projekt höchst geheim. Sogar hier am Institut wußten nur wenige Forscher über den tatsächlichen Charakter des Unternehmens Bescheid. Und die, die es wußten, durften keine Unterlagen mit nach Hause nehmen. Was an Akten da war, wurde alles bei der Explosion zerstört.« Mosha Zerim, der absichtlich immer nur eine sehr lose Verbindung zu dem Projekt gehabt hatte, wurde immer nervöser. »Alleza, Sie und Ben waren doch mehrmals im Labor, um sich dort die Experimente anzusehen. Haben Sie nicht die Subjekte in Augenschein genommen?« 149
Goene zuckte mit den Schultern. »Jedesmal wenn ich mich im Labor aufhielt, waren ihre Köpfe wegen der Helme nicht zu sehen.« Zerim war entgeistert. »Sie meinen also, wir haben überhaupt keine Möglichkeit, das Subjekt zu identifizieren, wenn tatsächlich eines überlebt hätte?« »Doch, es gibt eine«, meldete sich Benjamin Roth endlich wieder zu Wort. »Zumindest gibt es eine Möglichkeit, die zwei weiterentwickelten Subjekte zu erkennen, und das Projekt könnte sowieso nur durch diese aufgedeckt werden. Sie erinnern sich ja wohl, daß es ursprünglich vier Testembryonen gab. Drei von ihnen wurde im fünften Monat ihrer Entwicklung der Levequesche Biochip in die Gehirne eingebaut. Der vierte Fötus wurde nicht verändert und diente als Kontrollsubjekt. Einer starb an den Folgen der Einpflanzung, die anderen überlebten, zumindest bis zum Angriff auf die Anlage. Um zu erkennen, ob ein Subjekt weiterentwickelt ist, braucht man nur eine Röntgenaufnahme oder eine Computertomographie des Schädels zu machen. Nur die weiterentwickelten Subjekte hatten Levequesche Biochips, die auf einer Röntgenaufnahme leicht zu erkennen wären. Das Kontrollsubjekt hatte keine solchen Implantate, würde also normal aussehen und keine Bedrohung für uns darstellen.« Lazzlo hatte die ganze Zeit nachdenklich den Tisch angestarrt und wandte sich jetzt an Goene und Roth. »Sie haben beide zumindest die Körper der Subjekte gesehen. Sie müssen doch eine ungefähre Vorstellung von ihrer Größe, ihrem Gewicht und ihrer Statur haben.« »Sie waren alle in Tanks mit dunkler Flüssigkeit eingeschlossen«, erklärte Goene. »Sie lagen mit angezogenen Gliedmaßen auf der Seite. Es ist unmöglich, sie genauer zu beschreiben.« »Dann beantworten Sie mir folgende Frage«, sagte Lazzlo. »Haben Sie in den Behältern irgend etwas gesehen, das ausschließen würde, daß dieser neue Messias möglicherweise ein Testsubjekt sein 150
könnte?« Goene war nicht bereit nachzugeben. »Lazzlo, Sie haben doch die Sendung gesehen. Die Frau auf der Bühne sprach ein Dutzend Fremdsprachen. Noch dazu fließend und mit perfekter Aussprache. Wie könnte jemand, der buchstäblich gestern erst geboren wurde, schon solche Fähigkeiten besitzen?« Lazzlo hob den Blick, sah Goene herausfordernd an und antwortete mit ruhiger Stimme: »Ganz einfach. Wenn die Infusion erfolgreich war.« Es herrschte Totenstille. Dann faltete Zerim die Hände, legte sie vor sich auf den Tisch und beugte den Kopf. »Alleza, Ben. Hat einer von Ihnen irgend etwas in diesen Wannen gesehen, das die Möglichkeit definitiv ausschließt, daß dieser Messias eines der Testsubjekte sein könnte?« Goene sah David Lazzlo lange und durchdringend an. »Nein«, sagte er leise. Und auch Benjamin Roth verneinte. »Dann bleibt uns keine Wahl«, erklärte Zerim. »So bald wie möglich muß dieser Messias gefunden, heimlich zum Hadassah Hospital in Jerusalem gebracht und dort sofort geröntgt werden. Alleza, übernehmen Sie das, und sorgen Sie dafür, daß es, verdammt noch mal, absolut geheim bleibt. Keine leichte Aufgabe bei dem Medienrummel um diese Frau, also lassen Sie sich etwas einfallen, um sie ohne Aufsehen aufzugreifen. Sollten Sie herausfinden, daß sie eines der manipulierten Subjekte ist, werden Sie sie bis auf weitere Anweisung von Verteidigungsminister Tamin festhalten.« Müde erhob sich Mosha Zerim, und die anderen standen mit ihm auf. »Sie können sich auf mich verlassen«, sagte Goene. Es half Zerim zu wissen, daß es keinen tüchtigeren und fähigeren Soldaten gab als ihn. »Noch eins, Mosha«, kam Benjamin auf ein letztes, schwieriges 151
Problem zu sprechen. »Wenn dieser Messias sich tatsächlich als eines unserer weiterentwickelten Subjekte herausstellt, dann trägt sie die einzigen noch existierenden Neurochips in sich. Diese technische Entwicklung ist, vorsichtig ausgedrückt, unbezahlbar. Wenn wir die Mikrochips wieder bekämen, könnten wir damit einen Teil des unglaublichen Verlusts wieder aufwiegen, den wir durch die Zerstörung des Instituts erlitten haben.« Zerim nahm dies zur Kenntnis, und sie verließen nacheinander den Raum. Lazzlo war der letzte und legte Benjamin Roth von hinten die Hand auf die Schulter. Der ältere Offizier wandte sich zu ihm um. »Sagen Sie mir, Benjamin«, fragte Lazzlo, »kann man diese Mikrochips entnehmen, ohne den Träger schwer zu verletzen oder zu töten?« Roth starrte in die ernsten Augen seines Untergebenen. »Ich weiß es nicht, David.« Sorge trat auf sein Gesicht. »Ich weiß es wirklich nicht.«
36 WNN-STUDIO, JERUSALEM, ISRAEL, 9 UHR 46, DIENSTAG, I 1. JANUAR 2000 Ein mürrischer ehemaliger Samariter der unteren Ränge, Thomas Brannan, suchte Feldmans Büro auf und bot ihm geheime Informationen an. Gutes Insiderwissen ging zur Zeit schnell an den Meist152
bietenden weg, und der Sender WNN war mittlerweile für seine großzügigen Informationshonorare und deren prompte Bezahlung bekannt. Aber in diesem Fall war der schlechtgelaunte Samariter, mit dem Feldman zu tun hatte, überraschenderweise nicht an Geld interessiert. Ihm ging es um ein moralisches Problem. »Es ist reine Heuchelei, Mr. Feldman«, rief der verzweifelte Mann. »Der Messias ist verschwunden.« Feldman war sprachlos. »Schon seit Freitag nach ihrer Predigt ist sie weg. Sie hatten sie in einen Raum gesperrt, völlig isoliert. Keine Fenster und immer bewacht. Und dann, am Freitag früh, wollen sie ihr das Frühstück bringen, und sie war verschwunden. Keine Spur von ihr. Sie wissen nicht, wie sie herausgekommen ist. Die Überwachungskamera zeigt, daß sie nicht durch die Tür ging. Ich glaube, all die Habgier und Bosheit haben ihr das Herz gebrochen, Mr. Feldman. Ich meine, sie hat die Hoffnung aufgegeben und ist in den Himmel zurückgekehrt.« »Mr. Brannan«, fragte Feldman, »waren Sie mit dem Messias zusammen? Haben Sie mit ihr gesprochen? Sie kennengelernt? Was ist sie für ein Mensch?« Der Mann sah auf, und seine Augen schienen in eine andere Welt einzutauchen. »Oh, Mr. Feldman, sie war großartig. Unglaublich. Kein Zweifel, sie war göttlich. Himmlisch! Aber nein, sprechen konnte ich nicht mit ihr, ich habe sie nicht einmal oft zu Gesicht bekommen – meistens nur im Vorbeigehen, wenn sie sie hierhin oder dorthin brachten. Aber sie war so wunderschön. Ihre Haut leuchtete. Vor allem aber war es die Art, wie sie einen anblickte! Besonders einmal, da war ich ihr wirklich nah. Vor ihrer Bergpredigt wurde sie durch den Flur zum Bus geführt. Ich sah sie kommen und kniete nieder. Sie sah herüber zu mir, und als sie vorbeiging, Mr. Feldman, sah sie in mich hinein. Ihre Augen drangen tief in mein Herz, und meine Seele lag offen vor ihr, nackt und wehrlos. Und in diesem kurzen 153
Augenblick, das schwöre ich bei Gott, erlöste sie mich von all meinen Sünden. Ich zitterte, fühlte mich schwach, war voller Angst und Seligkeit zugleich. Nachdem sie verschwand, versuchten sie es zu vertuschen. Wir sollten es geheimhalten. Wir sollten sagen, daß sie wiederkommen würde. Daß sie Reverend Fischer aufgetragen hätte, für sie weiterzumachen. Dann änderten sie die ganze Geschichte und behaupteten, sie sei noch da, aber unsichtbar, und nur der Reverend sei würdig genug, sie zu sehen. Ich habe einfach solche Angst, sie nie wiederzusehen. Ich würde dafür sterben, bei ihr zu sein, wenn sie in den Himmel zurückkehrt. Ich würde dafür sterben!« »Mr. Brannan, was können Sie mir über die Videoaufnahmen des Messias berichten, die beim Erdbeben gemacht wurden? Waren Sie dabei? Sind sie authentisch?« »Jawohl, ich war da. Aber ich habe nicht gesehen, wer das Video gemacht hat, ich habe nicht einmal den Messias gesehen. Wissen Sie, ich stand irgendwo hinten in der Menge unter einem Vordach und wollte nur das Unwetter überstehen. Aber ich habe das Video gesehen, und es zeigt genau, was da passiert ist. Und ich kann Ihnen sagen, ich stand mit meinen Freunden vorher auf den alten Stufen, die zum Tempel hinaufführen, und da war kein Riß im Boden. Ich spürte das Erdbeben und den Blitz. Am nächsten Tag komme ich wieder hin, und da ist der Riß: vom Brunnen bis zu den obersten Stufen. Es war wirklich so.« »Wo war Reverend Fischer, als das geschah?« »Reverend Fischer war zu der Zeit nicht einmal in Bethlehem, Mr. Feldman. Er wohnte in einem Hotel in Jerusalem und sah Ihre Sendung im Fernsehen. Weil die Telefonleitungen unterbrochen waren, mußten sie am nächsten Tag herkommen und ihn abholen und ihm sagen, was passiert war. Dann tauchte das Video auf, und Reverend Fischer zog ins Star Hotel um.« »Er wußte also über das Video Bescheid, bevor wir es ausstrahl154
ten?« »Jaja. Wir alle haben es gesehen, aber der Reverend gab es nicht aus der Hand.« »Wissen Sie irgend etwas darüber, woher die Kopie für WNN kam?« »Nein.« »Hat sich der Reverend nicht aufgeregt, als er unseren Mitschnitt sah?« »Das weiß ich wirklich nicht. Soviel ich mich erinnern kann, wurde nicht viel darüber gesprochen.« Feldman ließ seine Aussage auf Video aufzeichnen, und als Thomas Brannan das Studio verließ, schien er ziemlich erleichtert. Feldman war etwas aufgeregt. Wenn sie diese neuen Enthüllungen sendeten, würde sich Reverend Fischer vielleicht zu dem schon lange überfälligen Interview überreden lassen.
37 WNN-STUDIO, JERUSALEM, ISRAEL, 13 UHR 17, DONNERSTAG, 13. JANUAR 2000 Als Feldman seine Story über die Flucht des Messias aus dem Gewahrsam der Samariter gebracht hatte, wurde der Messias – unterschiedlichen Berichten zufolge – plötzlich überall in Israel gesichtet. In einer Synagoge in Nazareth. Bei einer Hochzeit in Kanaa. Auf dem See Genezareth, auf dem Wasser wandelnd, natürlich. 155
Manchmal erschien der Messias auch an mehreren Orten zugleich. Man erzählte sich, daß sie irgendwo auftauchte und zu einer kleinen Gruppe predigte, bis diese zu einer großen Menschenmenge anwuchs, und dann verschwand sie plötzlich wieder. Nur um irgendwo anders wieder unvermutet aufzutauchen. Und überall geschahen Wunder. Jede Menge Wunder. Sie machte Blinde wieder sehend, heilte Gelähmte und vergab Sünden. Feldman war davon nicht sonderlich beeindruckt. Die meisten Ereignisse, die er untersuchte, stellten sich als wenig glaubwürdig heraus. »Hey, Hunter, vielleicht könnte der Messias dir ein bißchen Intelligenz verleihen«, stichelte Cissy während der morgendlichen Redaktionssitzung. Zuerst dachte Feldman, Cissy fange an, wieder Witze wie früher zu machen, aber als er näher hinsah, wurde ihm klar, daß sie es ganz ernst meinte. Hunter führte das Geplänkel weiter. »Vielleicht will der Messias Feldmans Fanclub beitreten!« Das war ein heikles Thema für Feldman. Hunter fand es amüsant, daß Feldman inzwischen so viele Fans unter den Zuschauern hatte. Jeden Tag kamen ergebene Groupies, meist junge Mädchen, die sich am Tor der WNN-Zentrale herumdrückten und gespannt darauf warteten, einen Blick auf ihren unfreiwilligen Helden werfen zu können. Und immer wenn Feldman Interviews machte, bildete sich sofort eine Menschentraube um ihn. In letzter Zeit war er sogar dazu übergegangen, einen Hut und eine dunkle Sonnenbrille zu tragen. Wenn man von den üblichen Spinnern einmal absah, hatten viele dieser angeblichen Messiasauftritte jedoch eine Seite, die Feldmans Neugier erregte. Zusätzlich zu ein paar Amateurfotos vom Messias, die unscharf und zum großen Teil unseriös waren, gab es andere, aussagekräftigere Hinweise von sogenannten Zeugen, daß wohl doch etwas Außergewöhnliches im Gange war. In den Schilderungen ging 156
es immer um den intensiven Ausdruck der saphirblauen Augen des Messias. Oder, um genauer zu sein, um ihren ›Blick‹. Ein fesselnder, durchdringender, beunruhigender Blick, mit dem sie ihr Gegenüber fixierte. Feldman kannte ihn aus eigener Erfahrung, was den merkwürdigen Darstellungen zumindest in seinen Augen ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit verlieh.
38 NATIONALE KIRCHE DES UNIVERSALEN KÖNIGREICHS, DALLAS, TEXAS, USA, 9 UHR 30, FREITAG, 14. JANUAR 2000 Als die Sekretärin Right Reverend Solomon T. Brady die Morgenpost brachte, sah er aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. Sein rötliches Gesicht sah verquollen und noch geröteter aus als sonst. Nachdem er so stolz darauf gewesen war, zwölf Pfund abgenommen zu haben, hatte er allein in der letzten Woche wieder genau so viel zugenommen, und die Kameras seiner elektronischen Kirche ließen ihn noch massiger erscheinen. Der Reverend starrte eine Weile den Poststapel an und ließ geistesabwesend die Briefe durch die Hände gleiten. Die letzte Woche war niederschmetternd gewesen, nicht nur weil die Spenden nachließen und er seine Sendezeit von acht auf zwei Stunden im Monat reduzieren mußte. Sondern auch, weil er zum ersten Mal in den zweiundzwanzig Jahren seit dem Bestehen der Kirche des Universalen Königreichs die Orientierung verloren hatte. Er wußte einfach 157
überhaupt nicht, wie er dieser irritierenden millennarischen Seuche entgegentreten sollte. Einen Augenblick wurde der Reverend von seiner deprimierten Stimmung durch das Logo der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage auf einem Umschlag abgelenkt. Das Schreiben stammte vom Tempel der Mormonen in Salt Lake City und war an ihn persönlich gerichtet. Der Umschlag enthielt ein vorgedrucktes Schreiben: Geehrter Religionsführer, wir bitten Sie als rechtmäßigen offiziellen Vertreter einer auf nationaler Ebene anerkannten religiösen Organisation respektvoll um Ihre Anwesenheit bei der Ersten Versammlung der Interkonfessionellen Religionsgemeinschaften des dritten Jahrtausends, das in Salt Lake City, Utah, im Mormon Tabernacle Convention Center von Freitag bis Sonntag, dem 4. bis 6. Februar im Jahr 2000 des Herrn, stattfindet. Der bedeutsame Zweck dieser Zusammenkunft ist es, die religiösen Führer dieses Landes und der gesamten Welt zusammenzurufen und die umstrittenen Fragen anzusprechen, die sich aus den aktuellen Ereignissen im Heiligen Land ergeben haben. Ereignisse, die von überragender Bedeutung sind und jede religiöse Organisation betreffen. Zu den Themen, die behandelt werden, gehören: – Einschätzung der neuen messianischen Erscheinung in bezug auf ihre Echtheit; – Zusammenhänge mit biblischen Texten und Erfüllung von Prophezeiungen; – Auswirkungen des neuen religiösen Dogmas auf die Einheit der Weltgemeinde; – neue Möglichkeiten zur überkonfessionellen Zusammenarbeit und Bildung neuer Vereinigungen. Jeder Teilnehmer wird gebeten, auf dem beiliegenden Formblatt zusätz158
liche Diskussionsthemen vorzuschlagen, die in die Tagesordnung in der Reihenfolge ihres Eintreffens aufgenommen werden. Des weiteren informierte der Brief über Einzelheiten zu Anmeldung, Unterkunft und Teilnahmegebühren, die Reverend Brady mit zweitausend Dollar pro Person als ungerechtfertigt hoch empfand. Trotzdem war dies der erste Hoffnungsschimmer und vielleicht die letzte Gelegenheit, die sich ihm bieten würde, um dringend notwendige Antworten zu finden. Schon allein die Möglichkeit, sich mit anderen religiösen Organisationen in Verbindung zu setzen, die vielleicht mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten, lohnte die Gebühr. Der Reverend schickte seine Anmeldung per Eilpost. Er schlug nur ein Thema vor: ›Was eine nichtmillennarische Religionsgemeinschaft im gegenwärtigen instabilen Umfeld der Religionen tun kann, um sich Interesse und finanzielle Unterstützung ihrer Gemeinde zu sichern.‹
39 NORDAU TOWERS, TEL AVIV, ISRAEL, 17 UHR 50, SAMSTAG, 15. JANUAR 2000 Früher oder später mußte es passieren. Eine andere Fernsehanstalt war zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort. Feldman hatte einen Tag frei, lag mit Anke in den Armen auf der Couch und döste bei laufendem Fernseher vor sich hin, als er von der Nachrichtensen159
dung der Konkurrenz aufgerüttelt wurde. »Von einem UBN-Nachrichtenteam soeben gesichtet: Der zurückhaltende neue Messias ist tatsächlich wieder erschienen. Ein aktueller Bericht vom Sondernachrichtenzentrum für den Messias des United Broadcasting Network!« Feldman war sofort ganz wach. Dem UBN-Nachrichtenteam war es gelungen, die letzten Minuten eines scheinbar spontanen Besuchs auf einem Schulhof im arabischen Teil von Jerusalem aufzuzeichnen. Das Video zeigte zuerst den Messias auf einer niedrigen Steinmauer, wo sie neben einer älteren Schullehrerin saß, die einen Tschador trug. Diesmal gab es keine Zweifel an der Echtheit. Dies hier war auf jeden Fall der Messias, und sie sah im nachmittäglichen Sonnenlicht ganz und gar strahlend aus. Um sie herum hatte sich eine Gruppe von kleinen Kindern geschart. Sie krochen ihr auf den Schoß, und andere saßen herum, sangen und sprachen mit ihr. Eine Menschenmenge versammelte sich um sie, und die Reporter riefen ihr Fragen zu, die sie ignorierte. Die Kamera zoomte heran, und beim Versuch, Nahaufnahmen zu machen, wurde sie verschiedentlich von aufgeregten Zuschauern angestoßen. Offensichtlich gestört durch die Aufdringlichkeit, wandte sich der Messias schließlich an den Kameramann und sprach in einwandfreiem Englisch: »Warum verfolgst du mich?« Sie streckte eine anmutige Hand aus und zeigte auf die alte Frau neben sich. »Hier ist eine wichtigere Geschichte – die Geschichte von unseren wehrlosen Alten und unseren schutzlosen Kindern.« Und sie zeigte auf die Kleinen um sich herum. »Denn ich sage euch: Diejenigen, die die Unschuld der Kinder mißbrauchen, die die Schwäche der Alten ausnutzen, werden in den ewigen Abgrund geworfen. Geht und sendet dieses Wort hinaus!« Ihre dunklen Augen funkelten, und sie hob streng und warnend ihre Augenbrauen. Da zog ein Kind an einem Zipfel ihres Gewandes, um sie auf sich aufmerksam zu machen, und als sie hinunter160
sah, verwandelte sich der Ernst in ihrer Miene in ein gütiges Lächeln. Aus der Menge kam auf ihre Worte hin ein zustimmendes Gemurmel, aber der Messias ließ sich nicht aufhalten. Sie glitt auf der äußeren Seite der Mauer herab und befreite sich von den Kindern, die noch auf ihrem Schoß saßen und sich heftig an sie klammerten. Dabei wich die Menge hinter der Mauer vor ihr auseinander, wie das sich teilende Meer, und schloß sich dann wieder schützend hinter ihr, so daß sie darin verschwand. Feldman lächelte. Vielleicht würde sich nach einiger Zeit erweisen, daß dieses merkwürdige Vorkommnis nur die selbstgefällige Phantasterei eines geistesgestörten Eiferers war. Aber wieder einmal hatte die entschlossene kleine Prophetin ihrem Image zusätzlichen Glanz verliehen.
40 AUF DEN STRASSEN VON JERUSALEM, ISRAEL, DRITTE WOCHE, JANUAR 2000 Anscheinend war es ein französisches Filmteam, das den jungen, lebhaften Messias beim nächsten Mal aufspürte. Die Franzosen behaupteten, praktisch über sie gestolpert zu sein, als sie im Wadi El Joz in Jerusalem, einer alten Quelle, die kürzlich wegen der Dürre ausgetrocknet war, vor einer kleinen Gruppe von millennarischen Pilgern predigte. Leider waren ihre Filme katastrophal überbelichtet. Den einzigen wirklichen Beweis für die Begegnung, den die Franzosen vorlegen 161
konnten, war die gerettete Tonspur. Ein französischer Sender brachte den Bericht, nachdem er mit Zeichnungen versehen und mit dem Ton und der Stimme eines Sprechers unterlegt worden war. Das Filmteam berichtete, sie hätten, als sie den Messias entdeckten, die Gruppe unbemerkt eingekreist und sich von hinten an sie herangeschlichen. Ein beherzter Kameramann suchte sich den besten Blickwinkel aus, stieg auf das Becken der ausgetrockneten Quelle und ließ sich dort im Schneidersitz nieder, kaum zwei Meter hinter dem Rücken der nichtsahnenden Prophetin. Er schaltete die Kamera ein, grinste und rief ihr dreist auf Französisch zu: »Hey, hübsches, kleines Messiasgirl, tanz für die Kamera! Laß mal ein bißchen Bein sehen.« Seine Kollegen feixten, aber der Messias fand seine Witze offenbar nicht so lustig. Sie unterbrach ihre Unterweisung, drehte sich langsam um, verschränkte die Arme vor der Brust, und angesichts ihres durchdringenden Blicks erstarrte sein anzügliches Grinsen. »Ich bin das Gefäß, welches die verschmachtete Seele tränkt«, antwortete sie streng auf Französisch, »aber du würdest das Wasser um des Bechers willen verschütten!« Der Kameramann versuchte sich der Wirkung ihrer vorwurfsvollen Augen zu entziehen und sein Gesicht vor den Kollegen zu wahren. »Ich bin doch ein Mann aus Fleisch und Blut!« rief er aus. »Ich mag Frauen. Was soll daran falsch sein?« Er grinste wieder. Sie ging an ihm vorbei und sah ihn genau an. »Du bist wie der Schiffbrüchige, der seinen Durst mit Salzwasser stillt. Zunächst scheint sein Körper befriedigt zu sein, aber bald kehrt der Durst zurück. Und jedesmal, wenn er wiederkommt, ist er brennender und kommt schneller als vorher. Jeder Schluck läßt ihn nur nach dem nächsten dürsten und treibt ihn schließlich zum Wahnsinn!« Was weiterhin berichtet wurde, nahm man mit massiver, journalistischer Skepsis auf. In dem Bericht wurde behauptet, als sich die Prophe162
tin umdrehte, um wegzugehen, sei plötzlich wieder Wasser aus der Quelle gesprudelt und habe sich eisig über Schoß und amour des Kameramanns ergossen. Auch für diese Geschichte gab es keinen Beweis. Es stimmte jedoch, daß die Quelle wieder sauberes, gutes Wasser lieferte. Und nachdem das französische Team einschließlich des jetzt kleinlauten Kameramanns aus der Quelle getrunken hatte, bezeugten alle eine spektakuläre geistige und körperliche Verjüngung. Bei einer weiteren in einer ganzen Reihe von solchen flüchtigen Begegnungen gelang es der Mitarbeiterin eines Fernsehsenders aus Atlanta, Georgia, eine aufschlußreiche neue Entdeckung für die Öffentlichkeit aufzuzeichnen. Die Reporterin war in einem Hotelzimmer im zweiten Stockwerk eines Hotels in Jerusalem, das auf den Salah-Eddin-Platz hinausging, als sie den Messias mit schnellen Schritten eine Menge unten auf der Straße vorbeiführen sah. Sie lehnte sich mit ihrer Videokamera aus dem Fenster und rief aufgeregt hinunter: »Wer bist du? Wir kennen nicht einmal deinen Namen. Hast du einen Namen?« Der junge Messias, umgeben von einem großen Gefolge, das ständig wuchs und immer in Bewegung war, blieb stehen, wandte sich um und hielt gegen die helle Morgensonne schützend die Hand über die Augen. »Ja«, sagte sie fast zögernd und ließ die Hand sinken, nachdem sie die Journalistin entdeckt hatte. »Ich habe einen Namen. Der Name, den Gott für mich gewählt hat, ist Jesa. Ich heiße Jesa.« Sie drehte sich um und war schon verschwunden. Die nächste dokumentierte Erscheinung wurde von einem Reporter der Londoner Times festgehalten. Er kam zufällig an der Hurva-Synagoge im jüdischen Altstadtviertel von Jerusalem vorbei, als eine 163
kleine Menschenmenge sich am Tempeleingang versammelte. Einem Impuls folgend rannte er zum Hintereingang des Gebäudes und betrat die Synagoge durch die unverriegelte Hintertür. Er fand den Weg zum Versammlungsraum der Gemeinde. Dort entdeckte er den Messias mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzend, wo sie sich angeregt mit zehn älteren Rabbinern unterhielt. Inzwischen drängten sich Hunderte von Neugierigen draußen vor den Fenstern, um hineinzusehen. Bevor er ertappt und hinausgeworfen wurde, konnte der Journalist noch in Kurzschrift festhalten, was als Jesas erstes Neues Messianisches Gleichnis bekannt wurde. Die Times druckte in der nächsten Ausgabe den vollständigen Text ab. Spätere Fassungen erschienen dann in dieser Form: Das Gleichnis von den Söhnen der Erfinder Als Jesa in den Tempel kam, erkannten Sie die Oberrabbiner und hießen Sie mit diesen Worten willkommen: »Zu welchem Zweck beehrst du uns mit deinem Besuch?« Sie sprach mit ihnen über die Heilige Schrift, und alle waren ergriffen, wie groß und tief Ihr Wissen war. Dann fragten sie Sie: »Bist du wahrhaftig die Auserwählte, der neue Messias?« Und Sie antwortete und sagte: »Ich bin die Abgesandte. Ich bin die klare Stimme inmitten des Lärms.« »Dann belehre uns«, sagten sie, »und wir werden dir zuhören.« Also belehrte Sie sie und sprach: »Zwei Erfinder hatten jeder einen jungen Sohn. Beide schufen sie eine große, komplizierte Maschine, die ihre Aufgaben gut erfüllte und den Erfindern viel Geld einbrachte. Die Söhne wuchsen heran, und beide Erfinder zogen sich zurück und überließen die Maschinen ihren Söhnen. Sie sagten: ›Geh hin und nutze deine Maschine gut, und du wirst von ihren Einnahmen gut leben können.‹ Also nahmen die Söhne die Erfindungen ihrer Väter und ließen sie für 164
sich arbeiten. Und eine Zeitlang leisteten die Maschinen alles, was sie sollten, und brachten jedem Sohn genug zum Leben ein. Aber dann kam eine Zeit, da die Teile sich abnutzten und versagten, und die großen Maschinen funktionierten nicht mehr. So ging der erste Sohn zu seinem Vater und sagte: ›Weh, meine große Maschine ist schadhaft, und meine Kunden sind ärgerlich. Du mußt sie reparieren, oder ich werde alles verlieren.‹ Also nahm der Vater seine Werkzeuge und ging hinaus und richtete die Maschine wieder. Auch der zweite Sohn bat seinen Vater um Hilfe, aber sein Vater wies ihn zurück und sagte: ›Du bist jetzt ein Mann und selbst dafür verantwortlich.‹ Also ging der zweite Sohn mit großer Sorge daran, allein seine Maschine wieder herzurichten und verlor viele Aufträge, aber mit der Zeit gelang es ihm, sie wieder nutzbar zu machen. Der erste Sohn jedoch lernte nie, seine Maschine zu reparieren, und als die Zeit kam, daß der Vater starb, gab es wieder einen Schaden an der Maschine, und der erste Sohn verlor alles. Aber der zweite Sohn hatte sich selbst beigebracht, die Maschine in Ordnung zu halten, und nach einiger Zeit konnte er sie so verbessern, daß sie sogar mehr leistete als zu Zeiten seines Vaters. Nun frage ich euch, welcher war seinem Sohn der bessere Vater? Der, der großzügig Hilfe leistete? Oder der Vater, der seinen Sohn dazu brachte, die Geheimnisse der großen Maschine zu entdecken?« Und die Rabbiner antworteten Ihr: »Natürlich der zweite Vater, der seinen Sohn die Geheimnisse der großen Maschine entdecken ließ.« Und Jesa sagte zu ihnen: »So dürft auch ihr nicht länger auf den Vater sehen, sondern müßt weitergehen und das Innere Seiner Großen Maschine kennenlernen – und es noch verbessern.«
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41 PALAST DES SANCTUM OFFICIUM, BÜRO DER KONGREGATION FÜR GLAUBENSDOKTRIN DER HEILIGEN RÖMISCH-KATHOLISCHEN KIRCHE, VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 14 UHR, FREITAG, 21. JANUAR 2000 An dem prächtigen langen Tisch erhoben sich dreißig Kardinäle von ihren Plätzen, als Nikolaus VI. den Raum betrat. Der Pontifex legte ein Bündel Dokumente nieder, nahm seine Brille aus dem Etui, rückte sie auf der Nase zurecht und setzte sich an das Kopfende des Tisches. Sein Gruß »Gottes Segen mit euch« wurde von den Anwesenden entsprechend erwidert, und sie nahmen wieder Platz. Unmittelbar links neben dem Papst saß Antonio di Concerci, Präfekt der Kongregation. Kommentarlos legte er Nikolaus mehrere Schriftstücke vor und wandte sich dann wieder seinem Aktenstudium zu. Nikolaus ergriff die Dokumente und blätterte sie schnell durch. Weiter unten am Tisch, auf der gegenüberliegenden Seite des Kardinals di Concerci, saß Kardinal Alphonse Bongiorno Litti. Mit gerötetem Gesicht und ein wenig ängstlich wandte er sich zuerst dem älteren Mann rechts neben ihm zu, aber dieser war mit seinen eigenen Schriften beschäftigt. Dann wandte sich Litti nach links, aber auch dieser Tischnachbar war eifrig ins Lesen vertieft. Litti seufzte frustriert, verschränkte die Arme und betrachtete die Maserung der dunklen Mahagonitischplatte. Litti hatte das vor ihm liegende Dokument schon viele Male gelesen und jedesmal klar und ohne zu zögern darauf reagiert. Der Bericht war auf Ersuchen des Papstes von der Kongregation unter 166
der Leitung des derzeitigen Präfekten di Concerci in geheimer Sitzung und in großer Eile erstellt worden. Sein schwerfälliger Titel lautete: ›Eine vorläufige Einschätzung des vermeintlichen neuen Messias unter Berücksichtigung bereits laufender und potentieller Auswirkungen der Bewegung der Millennarier hinsichtlich der Stabilität und des Wohls der Heiligen Mutter Kirche und ihrer Weltgemeinde.‹ Der Bericht war typisch für di Concerci. Hoffnungslos dogmatisch und engstirnig verriet er deutlich dessen Handschrift. Besonders die Schlußzeilen zeigten Litti, wes Geistes Kind der Präfekt war. ›In Anbetracht der nur flüchtigen Prüfung, mit der dieses Forum beauftragt wurde, muß man gegenwärtig zu dem Schluß kommen, daß keine übernatürlichen Umstände mit der Erscheinung des vermeintlichen Messias in Israel in Zusammenhang zu bringen sind. Trotz einer Reihe erstaunlicher und verwirrender Vorkommnisse und Zufälligkeiten kann für diese in jedem Fall eine plausible Erklärung und Begründung durch natürliche oder auf menschlicher Einwirkung beruhende Ursachen gegeben werden. Trotzdem empfinden wir die dadurch in der weltweiten Gemeinde entstandene Beunruhigung als sehr real und dringlich, und wir empfehlen, eine sofortige, offizielle Untersuchung einzuberufen, in der diese Angelegenheit in allen Einzelheiten geprüft und per vocem veritatis den Gläubigen in angemessener Darstellung dieser Umstände vermittelt werden kann.‹ Nach der heutigen Diskussion mit der Kongregation sollte der Papst entscheiden, ob ein formelles Inquirendum, eine amtliche, geheime Nachforschung des Heiligen Stuhles, anberaumt werden sollte. Eine so gewichtige Untersuchung würde wahrscheinlich die Empfehlung 167
einer päpstlichen Enzyklika oder eines Dekretes nach sich ziehen, um die Stellungnahme der Kirche in dieser folgenschweren Angelegenheit zu klären. Als der eisernen Verfechterin der heiligen Orthodoxie in der katholischen Kirche oblag die Durchführung dieses Auftrags der Kongregation zur Festigung des Glaubens. Ihre Reputation sowie ihre nachgewiesenen Fähigkeiten bei der Aufdeckung von Fakten und Wahrheiten in Fragen der Moral konnte bis in die Zeit um 1500 zurückverfolgt werden, als diese Institution besser unter dem Namen Kongregation der Inquisition bekannt war. An dem großen Tisch gab es kaum Zweifel, daß ein Inquirendum tatsächlich erfolgen würde. Das eigentliche Problem aber war, wie schnell ein solches Inquirendum durchgeführt und eine Enzyklika herausgegeben werden konnte, um die Ordnung wiederherzustellen. Nicht gerade unbedeutend war auch die Frage, wer mit der Leitung dieser wichtigen Untersuchung betraut werden würde. Alphonse Litti hoffte inständig, daß Nikolaus ihm diese verantwortungsvolle Aufgabe übertragen würde. Der Kardinal hatte dem Papst zu diesem Zweck bereits ein langes, privates Schreiben mit mehr als achtzehn handfesten Gründen übersandt, warum er sich selbst als die geeignete Person für diese hehre Aufgabe erachtete. Aber Nikolaus war in dieser Hinsicht offensichtlich nicht zu einer langen Diskussion bereit. »Meine Brüder«, begann er, und in der Halle unter dem hohen Gewölbe trat aufmerksame Stille ein. »Die Streitfrage um die mögliche Wiedergeburt oder die Ankunft eines neuen Messias – sei es nun der wahre oder nicht – erfordert eine besonnene und begründete Antwort des Heiligen Stuhls als der in diesen Fragen höchsten Instanz. Wir alle wissen, daß sich die Existenz der Kirche auf der Wiederkehr unseres Erlösers gründet. Es ist ein Ereignis, auf das wir schon seit zwei Jahrtausenden warten, aber leider haben die jüngsten Vorkommnisse gezeigt, daß wir überrascht wurden und schlecht 168
darauf vorbereitet sind, dieses Ereignis authentisch beglaubigen zu können. Während die Kirche bei der Untersuchung so ernster theologischer Fragen wie dieser traditionell langsam und bedächtig vorzugehen pflegt, erfordern die jüngsten Ereignisse im Heiligen Land unglücklicherweise eine schnelle und entschiedene Reaktion von diesem Stuhl. Ich habe in den vergangenen Tagen inbrünstig um Führung und Weisheit bei unserem weiteren Vorgehen gebetet. Ich glaube, daß meine Gebete erhört wurden, und habe nun eine Entscheidung getroffen, wie wir verfahren werden.« Litti hielt gespannt den Atem an. »Mit sofortiger Wirkung«, verkündete Nikolaus, »ordne ich an, daß diese Kongregation ein Inquirendum unter der Leitung des Präfekten Kardinal Antonio di Concerci einberuft, der bei der Abfassung dieses vorläufigen Berichtes hervorragende Arbeit geleistet hat.« In der Halle erklangen Zurufe und Beifall von allen Kardinälen außer von Alphonse Litti, der still, niedergeschmettert und wie vernichtet auf seinem Platz saß. Der Papst fuhr fort: »Weiter ordne ich an, daß die ganze Kongregation dieser Untersuchung ihre vollkommene und ungeteilte Aufmerksamkeit widmet und daß der endgültige Entwurf bis zum 18. Februar, in vier Wochen, von heute an gerechnet, erstellt und mir vorgelegt wird.« Sofort wurde es in der Halle wieder still. Das war eine bisher noch nie dagewesene kurze Zeitspanne für eine Entscheidung im Bereich der Kirche, für die es typisch war, daß sich so wichtige Untersuchungen über Jahre hinzogen, bis sie zu einem gewissenhaften Abschluß kamen. »Ich weiß wohl, wie unvernünftig kurz bemessen dieser Zeitrahmen ist«, sprach der Papst in die Stille hinein, »aber wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß diese ganze Krise jeder Vernunft entbehrt.« Und leiser, beinahe wie zu sich selbst fuhr er fort: »Ich bete nur, daß vier Wochen nicht schon zu lang sind.« 169
»Alles wird geschehen, wie Eure Heiligkeit befehlen«, versicherte di Concerci. »Ich bitte um Erlaubnis, sofort Delegierte ins Heilige Land zu einer ersten Untersuchung der dortigen Umstände schicken zu dürfen.« »Natürlich, Antonio«, sagte Nikolaus, »ich bevollmächtige Sie, alles Erforderliche zu tun, um dieser Angelegenheit so schnell wie möglich auf den Grund zu gehen. Wenn diese Person Jesa tatsächlich ein Vorläufer der Wiederkunft des Herrn ist, wie es Johannes der Täufer bei der Ersten Erscheinung war, müssen wir das unverzüglich klarstellen.« »Verehrte Brüder«, wandte sich di Concerci, sich von seinem Platz erhebend, an die Versammelten, »ich bitte die ganze Kongregation, nach unserer Audienz beim Heiligen Vater zu einer Beratung hier zu bleiben. Ich möchte die Ernennungen für den Vorsitz der jeweiligen Unterkomitees vornehmen und den Plan zur Durchführung unserer Ziele festlegen.« Aschfahl im Gesicht und deprimiert wußte Alphonse Litti nur zu gut, daß seine opponierende Stimme kein Gewicht mehr haben und er nicht zu den Ernannten gehören würde. Er wußte auch, daß er mit seiner abweichenden Position kaum mehr eine Chance hatte. Schwerfällig stand er auf und hob die Hand, um die weiteren Verhandlungen noch etwas in der Schwebe zu halten. »Wenn ich darf«, begann er und erntete einen flüchtigen, verärgerten Blick des Papstes, »möchte ich – mit dem Ziel, den Fortschritt dieses wichtigen Inquirendums zu beschleunigen – die Kongregation auf die Tatsache hinweisen, daß vom 4. bis 6. Februar eine Konvokation der Weltkirchen in den Vereinigten Staaten stattfinden wird. Der ausdrückliche Zweck dieser Versammlung ist die Behandlung der gleichen Fragen, die wir hier verfolgen.« »Mit der Bitte um Vergebung, Heiliger Vater«, unterbrach di Concerci diese Rede ungeduldig, »aber Kardinal Litti hat die Frage dieser Konferenz bereits aufgeworfen, und ich habe sie geprüft. Sie wird 170
von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, den Mormonen, ausgerichtet, deren Glaube, wie Sie wissen, stark millennarisch geprägt ist. Die Konferenz wird vorwiegend von Millennariern und Fundamentalisten dominiert und dürfte daher kaum den Ansprüchen einer Konvention von Weltniveau genügen. Wir sollten sie durch unsere Anwesenheit nicht legitimieren.« »Eure Heiligkeit«, wandte sich Litti unter Umgehung di Concercis direkt an den Papst: »Eure Worte waren, daß wir so schnell und kompetent wie möglich die Wahrheit herausfinden sollten.« Mit einem scharfen, herausfordernden Blick auf di Concerci fuhr er fort: »Vom Präfekten wurde unabsichtlich die Tatsache übersehen, daß dort neben anderen die Religionsgemeinschaften der Presbyterianer, Lutheraner, Unitarier und der Juden vertreten sein werden. Selbst wenn von diesem geheimen Konklave nur wenig neue Informationen kommen, welcher Schaden könnte dadurch entstehen? Für das Inquirendum wäre es zumindest von Vorteil, etwas über die Absichten dieser anderen Glaubensgemeinschaften zu erfahren.« Der Papst zuckte mit den Schultern und sagte, verbindlich an di Concerci gewandt: »Ich finde nichts dabei, Antonio, wenn Alphonse diese Konferenz besucht.« Er stand auf und fügte väterlich hinzu: »Zumindest würdet ihr beide euch eine ganze Weile lang nicht in die Quere kommen.« Die Versammelten lachten verständnisvoll, der Papst zog sich zurück und überließ sie ihrer Arbeit.
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42 WNN-STUDIO, JERUSALEM, ISRAEL, 16 UHR 47, FREITAG, 21. JANUAR 2000 »Alle sahnen hier von unserer Arbeit ab«, beschwerte sich Bollinger polternd vor der Versammlung der gesamten Teams am Ende der Woche. »Wie kommt es bloß, daß jeder kleine Lokalreporter zufällig auf Jesa trifft und bei uns seit zwei Wochen Leerlauf herrscht? Wo zum Teufel bleibt ihr denn, Jungs?« rief er den Reportern zu, die trübsinnig und schlapp herumsaßen. »Und über das verdammte Labor im Negev wissen wir immer noch nicht mehr als vor drei Wochen. Wir haben sechs Teams mit einem unglaublichen Kostenaufwand hierher beordert, und es ist nichts dabei herausgekommen. Ich will intensivere Recherchen, mehr Beobachter sollen sich rühren, und ich brauche mehr Informationen über Handy. Und ich möchte, daß ihr alle bis Montagmorgen mit einer wirklich großen Story antanzt, oder einige von euch gehen dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Nach der entmutigenden Redaktionsversammlung empfand es Feldman als besonders angenehme Abwechslung, als Anke anrief, die ihn normalerweise im Büro nicht stören wollte. Vier lange Tage hatte er sie nicht gesehen, und Feldman war gar nicht darauf aus, ihr zu sagen, daß er dieses Wochenende arbeiten mußte. »Jon, es tut mir leid, dich bei der Arbeit zu stören.« »Das ist doch keine Störung. Es tut gut, eine liebe Stimme zu hören. Wie geht es dir?« »Ziemlich gut, was uns beide anbelangt. Ich habe einen Kontakt 172
zum Negev Forschungsinstitut für dich, einen guten Kontakt.« Feldman schoß wie elektrisiert in seinem Stuhl nach vorn. »Das kann ja nicht wahr sein. Ich kann es nicht glauben! Du ahnst nicht, wie dringend wir so etwas brauchen. Um wen geht es?« »Nicht am Telefon. Komm heute abend nach der Arbeit zu einem leckeren Essen zu mir, dann erzähle ich dir alles. Wir haben ein Treffen für morgen vormittag verabredet. Nur mit dir und mir, ohne Kameras. Und erzähl um Gottes willen niemandem davon. Offensichtlich ist an der Sache viel mehr dran, als wir uns vorstellen können.« Die Fahrt nach Tel Aviv dauerte nur fünfzig Minuten, und der übereifrige Feldman kam lange, bevor es dunkel wurde, an. Er platzte fast vor Neugierde. Trotz seines Drängens wollte Anke aber erst nach dem Essen mit ihm übers Geschäftliche reden. Sie aßen auf dem Balkon in der frischen Meeresluft und ließen sich gedämpfte Krabben und Hummer schmecken, die Anke vorzüglich zubereitet hatte. Später saßen sie aneinandergekuschelt auf der Couch und sahen im Abendlicht draußen auf See einen Luxusdampfer die Wellen kreuzen. Feldman nahm den Arm herunter, den er um sie gelegt hatte, und drehte sie an den weichen, braunen Schultern sanft zu sich herum. »Jetzt hast du mich lange genug zappeln lassen«, sagte er mit aufgesetzter Strenge. »Erzähl mir sofort von deiner Quelle oder ich lege dich übers Knie!« Sie lachte über seine Ungeduld. »Glaub mir, Jon, darauf lohnt es sich zu warten. Ich wollte nur, daß du dich vorher ein bißchen ausruhst.« Mit glühender Begeisterung in den Augen ergriff sie seine Hände. »Als ich letzte Woche zu den Vorlesungen auf den Campus zurückkam, nahm ich die Universitätszeitung mit, um zu sehen, was hier in den Winterferien passiert ist. Ich war über einen Artikel und eine Todesanzeige für Josef Leveque, Professor für Genbiologie an der Universität, erschrocken und bestürzt. Ich kannte ihn und seine 173
Frau Anne sehr gut. Beide stammen wie ich aus Frankreich, und wir hatten vieles gemeinsam. Der Artikel war eigenartig, weil er weder Todesursache noch Todestag oder sonst etwas an Einzelheiten enthielt. Na ja, ich habe zuerst nicht gleich geschaltet, aber später habe ich Anne Leveque angerufen, um ihr mein Beileid auszusprechen. Wir redeten eine Weile, und dann erzählte sie mir schließlich, daß ihr Mann bei der Explosion im Institut umgekommen sei. Die Arme war natürlich völlig am Ende. Ich versuchte, ein bißchen mehr aus Frau Leveque herauszubekommen, aber sie schien mir nervös, obwohl ich den Eindruck hatte, daß sie mit jemandem sprechen wollte. Als ich ihr von uns erzählte, wer du bist und alles andere, wurde sie furchtbar ängstlich und verlangte, ich solle schwören, daß ich dir nichts sagen würde. Sie entschuldigte sich und hängte dann auf. Ich dachte, ich würde nichts mehr von ihr hören, aber heute rief sie mich an und sagte, sie wolle sich morgen früh mit dir und mir treffen und daß es sehr wichtig sei. Aber nur du und ich und keine Kameras oder Tonbandgeräte. Sie rief aus einer Telefonzelle an, weil sie fürchtet, daß ihre Wohnung abgehört wird.« Feldman sah den Ozeandampfer in der Ferne verschwinden und seufzte anerkennend. »Du weißt gar nicht, wie gelegen uns das kommt!« sagte er und drückte sie kräftig an sich. »Wann treffen wir uns?« »Morgen früh um sieben.« Mit gespielter Besorgnis sagte er: »Dann sollten wir heute besser früh schlafen gehen, meinst du nicht auch?«
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43 NORDAU TOWERS, TEL AVIV, ISRAEL, 7 UHR, SAMSTAG, 22. JANUAR 2000 Anne Leveque erschien nervös, aber pünktlich zu der verabredeten Zeit. Anke bat sie herein und stellte ihr Feldman vor, den sie sofort erkannte. »Sie sind in natura genauso gutaussehend wie auf dem Bildschirm«, sagte sie in ausgezeichnetem Englisch, und Feldman lächelte verschämt über dieses Kompliment. Nach Feldmans Einschätzung war Mrs. Leveque Anfang Siebzig, eine vornehme, lebhafte Erscheinung, sehr gut gekleidet und mit dichtem weißem Haar, das sie im Nacken mit einer goldenen Spange zusammenhielt. Obwohl sie lächelte, strahlten ihre grauen Augen große Besorgnis aus. Feldman versicherte ihr, sie könne Anke und ihm voll vertrauen. Als hätte sie ihre inneren Konflikte endlich gelöst, sah sie ihnen einen Augenblick lang fest ins Gesicht, streckte die Arme aus, um ihnen die Hände zu drücken, und flüsterte leise: »Sie sind ein so wundervolles Paar, genau wie Josef und ich es vor Jahren waren.« Feldman schaute Anke an, die ganz feuchte Augen hatte. Mrs. Leveque versuchte wieder ein zaghaftes Lächeln. »Ja, ich weiß, daß ich Ihnen beiden trauen kann, und ich werde tun, was ich tun muß.« Sie wurde wieder ernst und sah Feldman fest in die Augen. »Jon, Sie müssen wissen, daß ich mein Land sehr liebe und nie etwas tun würde, was ihm schaden könnte. Was ich Ihnen erzählen will, ist kein Verrat an Israel. Es betrifft eine geheime Militäroperation des IDF, von der nicht einmal der Premierminister oder die Knesset etwas 175
wissen. Und meine Situation wird dadurch noch prekärer, daß es sich um eine Operation handelt, die gegen das Gesetz verstößt.« Sie konnte Feldman nicht mehr länger in die Augen sehen. »Ich schäme mich zuzugeben, daß mein Mann und ich bei alldem eine wichtige Rolle gespielt haben.« Feldman runzelte die Stirn und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wie Sie wissen«, fuhr sie fort, »steht der IDF unter dem Kommando des Verteidigungsministers Shaul Tamin, der in diese Operation persönlich verwickelt ist. Tamin ist ein grausamer Mann, und mit dem, was ich hier sage, gehe ich ein großes Risiko ein. Trotzdem muß ich es für die Sicherheit und vielleicht sogar das Leben eines für mich … sehr wichtigen Menschen tun. Ich muß etwas aufdecken, das – davon bin ich fest überzeugt – gegen alle Gesetze Gottes und der Natur verstößt. Aber Sie müssen mir feierlich geloben, einige Details dieser Geschichte, auf die ich Sie jeweils hinweisen werde, mit strengster Vertraulichkeit zu behandeln.« Beide schworen, dies zu tun. Dies schien Mrs. Leveque zufriedenzustellen. Zumindest entspannte sie sich etwas. »Es ist eine verzwickte Geschichte, und ich sollte beim Anfang beginnen.« »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mitschreibe?« fragte Feldman. »Nein, solange Sie keine Namen oder Einzelheiten festhalten, die ich vertraulich nenne.« Mrs. Leveque öffnete eine große Ledertasche und zog ein abgegriffenes, stoffgebundenes Album hervor. »Weil Sie nicht glauben werden, was ich Ihnen erzähle, werde ich Ihnen Einblick in das Tagebuch meines Mannes geben, wenn ich fertig bin. Das wird alles belegen. Sie werden jedoch verstehen, daß ich es Ihnen nicht ausleihen kann. Es ist das einzige, was ich aus diesen seltsamen letzten 176
Jahren mit Josef noch habe.« Feldman nickte. Mrs. Leveque hielt das Buch in beiden Händen, als könne es ihr Kraft geben. »Lassen Sie mich Ihnen zunächst erklären«, begann sie, »daß ich meinen Mann Josef 1952 an der Universität Köln kennenlernte, wo wir beide Biologie studierten. Wir verliebten uns ineinander, und nachdem wir promoviert hatten, erhielt Josef eine Professur an der Universität in Tel Aviv. Wir heirateten gegen den Willen meiner Eltern – ich bin gläubige Katholikin, und Josef ist Jude –, und im Sommer 1954 zogen wir hierher.« Feldman stellte mit Interesse fest, daß die Leveques – anders als seine Eltern – ihre unterschiedlichen religiösen Überzeugungen offenbar in Einklang hatten bringen können. »Josef wurde sehr bald eine Forschungsstelle an der Universität angeboten, und auch ich erhielt dort eine Professur. Wir wollten wegen unserer Karrieren auf Kinder verzichten. Unsere Tochter Marie, geboren 1968, war eher ein wunderbarer Unfall. Erst durch sie haben wir erkannt, wieviel wir in unserem bisherigen Leben verpaßt hatten. Marie war das liebenswerteste, intelligenteste und glücklichste Kind, das Eltern sich nur wünschen konnten. Sie war für Josef und mich die Vollendung unserer Liebe. Aber dann kam unser einziges Kind, unsere schöne, kluge, vierundzwanzigjährige Tochter Marie im Frühjahr 1992 durch einen sinnlosen, brutalen, terroristischen Anschlag der Hisbollah in der Nähe der Westmauer Jerusalems beinahe um. Meine Marie war niemals politisch interessiert. Sie war gütig, sanft, liebevoll. Sie war einfach bei einem harmlosen Ausflug – am falschen Ort und zur falschen Zeit. Eine Autobombe explodierte. Ein Granatsplitter traf Marie in den Hinterkopf …« Feldman wurde ganz seltsam zumute. Mit feuchten Augen gelang es Mrs. Leveque, ihre Haltung zu wahren. »Heute liegt meine liebe Marie, wie seit acht Jahren, immer noch in einem extra eingerichteten Krankenzimmer bei mir zu Haus 177
im Koma und wird künstlich ernährt.« Sie atmete tief durch, bevor sie fortfuhr. »Marie war für Josef die Freude seines Lebens. Er liebte sie über alles, und die sinnlose Tragödie hatte eine verheerende Wirkung auf ihn. Aber anstatt sich von ihr zerstören zu lassen oder sie als den Willen Gottes anzunehmen, faßte er sie als Herausforderung auf. Er beschloß, sie zu überwinden, wie es seiner Natur entsprach. Zuerst dachte Josef, er könnte Marie ins Leben zurückrufen. Und jetzt spreche ich über Dinge, die als vertraulich zu behandeln sind.« Feldman legte sofort Stift und Schreibblock beiseite. »Josefs Forschungsgebiet an der Universität waren bioelektronische Schaltkreise. Es ging dabei um den Versuch, menschliches Nervengewebe mit Mikrochipschaltkreisen zu verbinden. Sein Forschungsteam hatte einen speziellen Mikrochip entwickelt, auf dem Nervengewebe anwachsen und sich vernetzen konnte und so die Herstellung künstlicher Nervenbahnen ermöglichte. Josefs Forschungsziel war im Grunde genommen die Entwicklung künstlicher Ersatzteile für das Nervensystem. Diese Ersatzteile sollten bei Lähmungen oder etwa bei schweren Wirbelsäulentraumata helfen, die motorischen Funktionen wiederherzustellen. Der Gedanke war dabei, die Ersatzteile in beschädigte Nervenbahnen einzusetzen und durchtrennte oder verletzte Nerven wieder leitfähig zu machen. Die Theorie sah vor, daß man durch die Aktivierung einzelner, mikroskopisch kleiner Felder des Chips bestimmte, wahllos herausgegriffene Nervenbahnen jeweils sozusagen an- oder abschalten konnte. Durch das Trial-and-Error-Prinzip ließen sich so schließlich alle richtigen Verbindungen zwischen jedem vom Gehirn ausgehenden Impuls und dem zugehörigen Muskel herausfinden, so daß auf diese Weise die normale Funktion der betroffenen Gliedmaßen wiederhergestellt werden konnte. Es war ein außergewöhnliches und vielversprechendes Forschungsprojekt. Aber so fortgeschritten es auch war, bei Maries Verletzungen, die viel zu schwerwiegend waren, 178
konnte Josef diese Methode nicht anwenden. Es bestand keine Hoffnung, ihre Bewegungsfähigkeit wiederherzustellen, selbst wenn man sie aus dem Koma hätte erwecken können, was aber unwahrscheinlich war.« Jetzt erlaubte sie Feldman, wieder Notizen zu machen. »Vor Maries Unfall«, fuhr sie fort, »hatte ein Kollege und guter Freund von Josef, Dr. Giyam Karmi, ihm die Stelle als Forschungsleiter am Israelischen Negev Forschungsinstitut angeboten, um dort fortgeschrittene genetische Studien an Tieren vorzunehmen. Aus Gründen, die mir erst später klar wurden, meinte Josef, daß diese Position ihm Zugang zu Spezialausrüstung und besonderen Technologien bieten würde, die Marie helfen könnten. Also nahm Josef im Herbst 1994 neben seiner Professur an der Universität die Stelle am Institut an und begann eine enge Zusammenarbeit mit Dr. Karmi. Durch den Erfahrungsaustausch auf ihren verschiedenen Fachgebieten entwickelten Josef und Giyam zusammen mit anderen hervorragenden Wissenschaftlern am Institut eine Reihe genialer Verfahren zur Steigerung des Wachstums bei Rindern.« »Superschlachtvieh?« fragte Feldman. »Nein, kein Supervieh. Nicht unbedingt größer oder stärker. Nur schneller wachsend. Viel schneller. Das Optimum an Größe und Gewicht mit viel effizienteren und kostengünstigeren Methoden als bei der konventionellen Viehhaltung. Ihre Ergebnisse waren überwältigend. Allen anderen um Lichtjahre voraus. Die Kälber wurden allerdings nicht auf die übliche Weise aufgezogen. Keine Ställe. Keine Futterkrippen. Man ließ sie reifen.« »Reifen?« fragte Feldman. »So wie man Hühnereier ausbrütet?« »Nein, eigentlich nicht. Man ließ sie in einem künstlichen Mutterleib heranwachsen.« Feldman und Anke sahen sich fragend an. »Bei dem Prozeß wurden die Embryonen dem Muttertier durch einen chirurgischen Eingriff entnommen und einzeln in spezielle 179
Wannen mit Nährlösung gelegt; diese enthielten synthetisch erzeugte Flüssigkeiten und ein Plazentasystem. Die Wannen wurden durch ein komplexes Netzwerk per Computer mit Nährlösung versorgt, wobei die Entwicklung der Föten und die genaue Dosis an Nährstoffen, Vitaminen, Eiweißstoffen und Hormonen sowie die Dosierung spezieller Wachstumshormone für Rinderföten genau überwacht wurde. Dazu gehörten auch Stimulanzien für eine gesunde Entwicklung der Muskeln und andere Stoffe, die das Wachstum förderten. Unglaublich schnelles Wachstum. Die heranreifenden Kälberembryonen wurden die ganze Zeit über ruhiggestellt, so daß sie ihre optimale Größe in weniger als fünf Monaten erreichten.« »Fünf Monate!« rief Feldman aus. »Sie meinen zwei Monate im Mutterleib und fünf Monate im Inkubator?« »Nein«, antwortete sie, und ein gewisser Stolz schwang in ihrer Stimme mit. »Ich meine eine gesamte Reifezeit von fünf Monaten, einschließlich der Zeit im natürlichen und im künstlichen Mutterleib. Josef und seine Kollegen erforschten auf diese Weise das beschleunigte Wachstum, das alle Föten normalerweise in den letzten Monaten ihrer Entwicklung durchlaufen. Und sie erhöhten die Reifezeit auf das Sechsfache.« »Heilige Kuh!« entfuhr es Feldman. Zum ersten Mal erschien auf Anne Leveques Gesicht ein offenes und ungezwungenes Lächeln. »Ja, eine Kuh, die ihre volle Körpergröße in einem automatisierten, effizienten, ständig überwachten und kontrollierten Umfeld erreichte. Ohne Verletzungen und Infektionskrankheiten. Hätten Josef und Giyam etwas mehr Zeit gehabt, dann hätten sie ihr Verfahren optimieren und zu einem äußerst lohnenden Unternehmen ausbauen können. Eine ideale Methode, dieses Land, dem nur begrenzte Weideflächen zur Verfügung stehen, mit ausgezeichnetem, gesundem, magerem Rindfleisch zu erheblich geringeren Produktionskosten zu versorgen.« 180
»Was geschah?« fragte Anke. Mrs. Leveques Miene wurde wieder ängstlich und besorgt. »Ich hatte keine Ahnung, daß Josef bei seiner leidenschaftlichen Forschungsarbeit einen Hintergedanken hatte. Für ihn war diese große Errungenschaft nichts weiter als ein Mittel, um uns unsere geliebte Marie wiederzugeben.« »Das verstehe ich nicht«, warf Feldman ein. »Wenn Maries Zustand unumkehrbar war, ist mir nicht klar, welche Rolle dieses künstliche Reifungssystem, so wunderbar es auch klingt, in ihrem Fall spielen sollte.« »Jetzt kommen wir zum problematischen Teil der Angelegenheit«, sagte Mrs. Leveque mit finsterer, sorgenschwerer Miene. »Es war nicht Josefs Absicht, Marie zu heilen, sondern sie neu zu erschaffen!« Mrs. Leveque hielt einen Augenblick inne, sah auf ihre gefalteten Hände und fuhr dann fort. »Sie haben wahrscheinlich von den jüngsten Experimenten gehört, die zum erfolgreichen Klonen von höherentwickelten Säugetieren und Primaten geführt haben?« Das Paar nickte zustimmend. »Nun –«, ein kleiner Funken von Stolz erglomm in ihren Augen, »– Josef stellte alle diese bemerkenswerten Forschungsergebnisse in den Schatten und, so darf ich hinzufügen, war ihnen ein ganzes Jahr voraus. Er bediente sich jedoch ganz anderer Methoden. Er benutzte ein Verfahren, das er selbst entwickelt hatte und das er Polkörperbefruchtung nannte.« Feldman runzelte verwundert die Stirn. »Lassen Sie mich erklären. Vielleicht erinnern Sie sich noch aus dem Biologieunterricht, daß während der frühen Phase der Ausbildung einer Eizelle im weiblichen Körper die unreife Eizelle einen Wandel durchmacht, den man als diploide Teilung bezeichnet. Das heißt, die sechsundvierzig vorhandenen Chromosomen verdoppeln sich auf zweiundneunzig. Danach vollzieht sich die haploide Tei181
lung, das heißt, sie teilt sich in zwei Zellen mit je sechsundvierzig Chromosomen. Zuletzt teilt sie sich noch einmal in vier Zellen mit je dreiundzwanzig Chromosomen, die alle von einer gemeinsamen Membran umschlossen sind. Diese Teilung wird Meiose genannt. Zwei dieser vier Zellen sind größer; eine davon wird über die anderen Zellen siegen und schließlich zu einem reifen Ei werden. Die zwei kleineren Zellen nennt man Polkörper. Diese kleineren Zellen enthalten auch dreiundzwanzig Chromosomen, aber sehr wenig Zellplasma, jene Substanz, die den Kern umgibt und den größten Teil der Zelle ausmacht. Ohne das Zellplasma sind diese Polkörper in ihrer Zusammensetzung den Zellen des männlichen Spermas ziemlich ähnlich. Unter bestimmten Bedingungen ist es möglich, die Polkörper wieder mit der gereiften Eizelle zu vereinigen und so ein komplettes befruchtetes Ei zu bekommen. Diesen Prozeß nennt man Polkörperbefruchtung, und das daraus entstandene Leben wäre weiblich, wenn es ausgetragen würde. Es wäre immer identisch mit seiner Mutter. Das ist zu erwarten, weil das Baby natürlich alle Chromosomen – und zwar ganz genau die gleichen Chromosomen wie seine Mutter – besitzen würde. Es wäre eine genaue Kopie. Josef plante ohne mein Wissen eine Polkörperbefruchtung mit Maries Eizellen, denn er wußte, daß ich nie meine Zustimmung zu so etwas gegeben hätte. An bestimmten Tagen, wenn ich an der Universität Vorlesungen hielt, gab Josef Maries Pflegerin frei und führte dann seine Operationen durch. Er entnahm zahlreiche Eier aus Maries Körper, trennte die Polkörper im Labor heraus und führte ihre Befruchtung in vitro durch. Danach, im Dezember 1995, verpflanzte Josef einige Eier wieder zurück in Maries Gebärmutter. Vier davon entwickelten sich zu lebensfähigen Embryonen. Später entnahm er alle diese Föten per Kaiserschnitt und legte sie heimlich in spezielle Wannen zur Reifung im Negev Forschungsinstitut. Josef erklärte die Eingriffe an Maries Körper mit einer angeblichen Notoperation wegen Blinddarmentzündung. Aber ich durchschaute ihn, und end182
lich gestand er mir die ganze Geschichte. Ich werde mich immer dafür schämen, aber ich muß zugeben, daß ich mich nach dem ersten ungläubigen Schock auch in dieses verrückte Unternehmen hineinziehen ließ. Der Gedanke daran, Marie zurückzubekommen, ihr wieder in die Augen zu sehen, sie lachen zu hören, sie als ein normales, gesundes, glückliches Kind – als meinen Engel – an mich drücken zu können, diese Versuchung war zu groß für mich, ich konnte nicht widerstehen! Und so konnte ich nichts anderes tun, als Josef bei seinen Plänen zu unterstützen. Obwohl ich auch zugeben muß, daß ich in ständiger Furcht vor Gottes Vergeltung lebte, die, so glaube ich, sich jetzt vollzieht.« »Entschuldigung, Anne«, unterbrach Anke, »aber wie konnten dieselben Hormone und künstlichen Reifungsmethoden, die für Rinder entwickelt wurden, auch für menschliche Embryonen eingesetzt werden? Hat das Laborpersonal nicht den Unterschied zwischen den menschlichen und den Rinderföten entdeckt?« »Josef hatte vorgesorgt, Anke. Für seine speziellen Wannen hatte er die Endokrinologie verändert, paßte die Wachstumshormone, die Nährstoffe, die Eiweißstoffe und die medizinischen Zusatzstoffe entsprechend dem Wechsel vom Rind zum Menschen an. Außerdem wurden neue Computerprogramme für die menschlichen Embryonen verwendet. Da er als Direktor des Instituts das Sagen hatte, konnte er den Zugang zu den Wannen einschränken. Wir wußten, daß wir mit äußerster Vorsicht vorgehen mußten, wenn auch nur eine unserer Töchter oder Enkelinnen bis zur Erwachsenenreife unentdeckt bleiben sollte. Aber wir waren bereit, dieses Risiko einzugehen.« Feldman unterbrach sie wieder. »Habe ich Sie richtig verstanden, daß Ihr Mann die Wachstumshormone verwendete, weil er vorhatte, die Embryonen Ihrer Tochter bis ins Stadium eines erwachsenen Menschen wachsen zu lassen?« »Das ist richtig.« 183
»Aber warum? Warum entnahm er nicht einfach das gesündeste Baby nach der Zeit, die neun Monaten entsprochen hätte, und ließ Sie es normal aufziehen?« »Wir waren bereit, das zu tun, wenn es nötig gewesen wäre, aber wir hatten ein Problem, dem auch Josefs Erfindungsgeist nicht gewachsen war: die Zeit. Ich war siebenunddreißig und Josef ein Jahr älter, als wir Marie 1968 bekamen. Als sie verletzt wurde, war ich schon einundsechzig, und bis Josef Maries Embryonen zur Reifung in die Wannen einbrachte, war ich schon fünfundsechzig. Josef war nicht bei sehr guter Gesundheit. Wir waren einfach zu alt. Wir hatten nicht mehr genug Zeit, um ein Kind auf normale Art und Weise sicher großzuziehen.« »Aber ich denke doch«, ging Feldman der Sache weiter nach, »daß Sie mit dem Problem konfrontiert waren, ein Kind im Körper eines Erwachsenen zu haben.« »Das bringt uns zum nächsten, kompliziertesten Aspekt von Josefs Plan. Und hier sind wir wieder auf einem Gebiet geschützter Forschungsergebnisse, um deren vertrauliche Behandlung ich Sie bitten muß.« Feldman legte wieder Stift und Notizblock zur Seite. »An diesem Punkt setzte Josef sein größtes Wissen ein. Er wollte in den Embryonen nicht nur Maries körperliches Wachstum beschleunigen, sondern auch ihre geistige Entwicklung. Die Idee und die Methode dafür leitete Josef aus einer Serie von Experimenten ab, die er einige Jahre zuvor an der Universität gemacht hatte. Wie ich schon erwähnt habe, hatte Josef zusammen mit einem Forschungsteam Biochipschaltkreise entwickelt, eine Art künstliche Brücke, um Nervenimpulse über durchtrennte Bahnen des zentralen Nervensystems zu leiten und bei der Behandlung von Lähmungen die Bewegung von Gliedmaßen wiederherstellen zu können. Unabhängig davon hatte er auch andere Anwendungen seiner neuen Neurochiptechnik getestet. Statt sich nur auf neuromuskuläre Zellen zu 184
konzentrieren, arbeitete er ebenfalls mit Gehirngewebe, das auch eine Art Nervengewebe ist. Aber er wußte, daß die normalen Gehirnzellen – nicht wie andere Nervenzellen – auf der künstlichen Chipoberfläche nicht anwachsen würden, weil die Gehirnzellen nach der Geburt bald die Fähigkeit verlieren, sich zu vermehren. So begann Josef mit Föten zu experimentieren. Von Schafen. Und die Aufnahmefähigkeit der Gehirnmasse dieser Föten erwies sich im Vergleich zu der Aufnahmefähigkeit bei der neuromuskulären Anwendung sogar als besser. Als Josef den Chip in einem frühen Stadium der embryonalen Entwicklung einpflanzte, stellte er fest, daß die Gehirnzellen schnell auf der Oberfläche anwuchsen und sich in den Schaltkreis integrierten. Als noch interessanter erwies sich, daß die Gehirnzellen sich tatsächlich an die Schaltkreise anpaßten und auf sie zu reagieren lernten. Das Netz von Nervenzellen, das sich auf dem Chip bildete, fungierte wie eine die Information weitergebende Plazenta, die es erlaubte, den Input vom Chip zu den Nervenbahnen des Gehirns weiterzuleiten. Das Gehirn konnte diesen Input von den Chips aufnehmen, als wäre er ein natürliches, organisches Element der sinnlichen Wahrnehmung. Alle Schaltkreise der Neurochips waren verdrahtet. Mikroskopisch feine Drähte liefen vom Chip im Inneren des Gehirns zusammen und kamen gebündelt durch eine Stelle am Hinterkopf des Embryos und dann aus dem Bauch des Mutterschafs heraus. Indem er leichte Elektroimpulse durch ausgewählte Schaltkreise im Neurochip leitete, konnte Josef eine künstliche Stimulation auslösen und genau feststellen, welche Bereiche des Gehirns jeweils mit welchem Schaltkreis verbunden waren. Je nachdem wo der Chip eingepflanzt worden war, konnten die elektrischen Impulse zum Beispiel isolierte Muskelreaktionen im Schwanz oder dem rechten Vorderbein auslösen. Nach dem Trial-and-Error-Prinzip fand Josef schließlich heraus, welche Nerven welche Funktionen kontrollierten. Einmal führte mir Josef eine wunderliche Demonstration seiner Ergebnisse vor: Er spielte mir die 185
Aufnahme von einem John-Philip-Sousa-Marsch vor, den er sehr liebte, und ließ ein armes kleines Lämmchen eine Reihe von albernen Tanzschritten im Leib seiner Mutter vorführen.« Mrs. Leveque summte ein paar Takte der Melodie, die Feldman, wenn auch nicht dem Namen nach, gleich vertraut war. »Aber führt diese Art des Vorgehens«, fragte Feldman, »einen Fremdkörper in das Gehirn zu verpflanzen und elektrische Impulse hindurchzuleiten, nicht zu Schäden am Gehirn?« »Wir haben das nicht festgestellt. Das Gehirn ist in der embryonalen Phase sehr unempfindlich gegen Eingriffe. Außerdem funktioniert das Gehirn sowieso aufgrund von elektrochemischen Impulsen, verstehen Sie. Das ist die normale Übermittlungsmethode für Informationen. Schafembryonen, die nach der Implantation ausgetragen wurden, schienen nach ihrer Geburt vollkommen normal, gesund und aktiv.« »Was wurde aus den Experimenten?« fragte Anke. »Es war traurig; denn gerade zu dieser Zeit geschah Maries Unfall, und Josef brach seine Arbeit von heute auf morgen ab. Sie können sich ja vorstellen, wie sehr er hoffte, diese wundervollen wissenschaftlichen Ansätze zu nutzen, um Marie zu helfen. Aber selbst wenn es für vollentwickelte Gehirnzellen möglich wäre, sich in den Neurochip zu integrieren, so war bei ihr doch zu viel Gehirngewebe zerstört. Es war äußerst unwahrscheinlich, daß sie jemals wieder geistige Normalität erlangen konnte.« Erneut stiegen die Emotionen in Mrs. Leveque hoch, und Tränen traten ihr in die Augen. »Aber mein Mann war, Gott vergebe ihm, unglaublich eigensinnig und konnte einfach nicht glauben, daß Marie für uns verloren war. Er ließ nicht zu, daß ihre künstliche Ernährung eingestellt wurde. Und er war besessen von der Idee, mit seinem Einfallsreichtum und seiner wunderbaren Technik eines Tages einen Weg zu finden, die Tragödie ungeschehen zu machen. So verpflanzte er also die Neurochips in unsere Tochterembryonen. 186
Das war seine Antwort auf das Problem unserer beschränkten Zeit. Er beschloß, diese Neurochips zu benutzen, um Informationen von Computer-Cybersystemen direkt in ihre sich entwickelnden Gehirne zu leiten. ›Intelligenzinfusion‹ nannte er das. Josef plante, ihr Wissen aufzubauen, während sie reiften und wuchsen, und ihre geistige Entwicklung zu beschleunigen, damit sie mit dem Wachstum der Körper Schritt halten konnte. Dies war unsere einzige Hoffnung, unsere Mädchen rechtzeitig auf eine Welt vorzubereiten, deren Opfer sie, so könnte man sagen, zuvor schon einmal gewesen waren.« »Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie dieser künstliche Lernprozeß funktioniert«, gab Feldman zu. »Anders als bei den früheren Experimenten mit den Schafen«, erklärte Mrs. Leveque, »hatte Josef neue, sehr viel kompliziertere Neurochips entwickelt. Als die Embryonen unserer Töchter groß genug waren, wählte Josef drei von den vieren aus und implantierte in das Gehirn jedes dieser Kinder je ein Dutzend Neurochips für die Gehirnbereiche Hören, Sehen, Raumorientierung und die Verarbeitung von Gedanken. Und zusätzlich pflanzte er einem der Mädchen einen anderen Typ von Neurochip in einer separaten kognitiven Empfangsstation ein. Das war ein ganz neuer Chip, den er entwickelt hatte und der eine einzigartige Mikro-Sende-Empfangsfunktion enthielt. Sie befähigte den Chip, Kommunikationssignale zu empfangen und zu senden. Das Gerät war eigentlich nachträglich entstanden und noch gar nicht getestet worden. Josef beabsichtigte, dieses eine ganz besondere Kind auch nach der Geburt mit einer kontinuierlichen Kommunikationsgabe zu versorgen. Durch diesen Chip würden ihre intellektuellen Fähigkeiten unbegrenzt sein, gespeist durch die nie versiegende Quelle der natürlichen chemischen Prozesse ihres Gehirns. Bei den zwei Töchtern, die normale Neurochips hatten, sollten die Drähte bei der Geburt abgetrennt werden. Danach würden ihre Neurochips nicht mehr funktionieren. Wir be187
schlossen, den letzten noch verbleibenden Embryo völlig unverändert zu lassen, so daß wir, wenn bei dem äußerst schwierigen Verfahren etwas schiefgehen sollte, mit Gottes Hilfe noch mit einer gesunden erwachsenen Tochter gesegnet wären. Vielleicht in einem kindlichen Stadium ihrer geistigen Entwicklung, aber trotzdem gesund. Auf diese Weise konnte der unveränderte Embryo auch als Kontrolle für das Experiment dienen. Sie durchlief – außer der Intelligenzinfusion – denselben Prozeß wie ihre Schwestern. Sie trug genau wie sie den Überwachungshelm und die Elektroden an der Kopfhaut. Alles außer den Neurochips. Obwohl sie bei der Geburt auf einer kindlichen Intelligenzstufe gewesen wäre, wäre ihr Gehirn seiner physischen Entwicklung entsprechend doch nicht kindlich gewesen oder geblieben. Sie hätte ein voll ausgewachsenes, ausgereiftes Gehirn mit einer viel größeren Aufnahmefähigkeit als das Gehirn eines Kindes gehabt, und die Hilfe ihrer künstlich ausgebildeten Schwestern, wenn Josef und ich nicht mehr dagewesen wären. Aber da trat ein Problem auf. Bald nach der Implantation hatte einer unserer Embryonen eine Gehirnblutung. In jener Nacht verzeichneten die Monitore eine innere Blutung im Zentrum des Hinterkopfes, und bis zum Morgen hatten wir sie verloren. Glücklicherweise überstanden die anderen zwei Mädchen dieses Verfahren jedoch gut, und alle drei entwickelten sich mit einem enormen Wachstum weiter – ungefähr siebenmal so schnell wie unter normalen Umständen.« »Entschuldigen Sie, Anne«, unterbrach Anke, »aber wie stellte sich Josef den Lernprozeß vor, der sich normalerweise über Jahrzehnte hinzieht, jeden Tag aufs neue? Wie hielt er es für möglich, das alles über Computersignale zu vermitteln? Wissen ist nicht nur quantitativ. Es ist qualitativ. Und es wird modifiziert durch Gefühle und eine ganze Reihe von unterschiedlichen Erfahrungen. Das ist doch ein solch komplexer Vorgang, daß wir uns das kaum vorstellen können.« 188
»Das ist wahr, meine Liebe. Wir gingen nicht davon aus, daß der künstliche Erziehungsprozeß ihnen ein umfassendes Wissen über das Leben und die Welt vermitteln würde. Wir rechneten damit, nach ihrer Geburt viele Lücken schließen zu müssen. Josefs Tagebuch erklärt das alles besser, als ich es kann, aber leider enthält sein Tagebuch keine wissenschaftlichen Aufzeichnungen. Sie gingen alle bei der Explosion verloren. Auf jeden Fall gaben uns die multiplen Neurochips die Möglichkeit, den Input in vielen verschiedenen Bereichen des Gehirns wie Hören, Sehen, Denkprozesse et cetera zur gleichen Zeit ablaufen zu lassen. So konnten unsere Töchter die Dinge dreidimensional wahrnehmen und erfahren, wie etwa das Krabbeln oder das Laufen geht. Und dann bauten wir auf diesem Wissen auf, übten mit ihnen Stück für Stück das Verstehen von Sprache und unterrichteten sie im Sprechen. Wir brachten ihnen bei, Bilder zu unterscheiden und sich im Raum zu orientieren, Mathematik, Geometrie et cetera zu verstehen.« »Wie in einer virtuellen Realität?« meinte Feldman. »Nur daß in der virtuellen Realität reale physische Stimuli zusammen mit Signalen des Tastsinns, Sehens und Hörens funktionieren. Bei Josefs System läuft alles nur im Geist ab. Wahrscheinlich ist es wie in einem sehr lebhaften Traum. Alle diese vorher gelernten Fähigkeiten sollten den Mädchen dann nach der Geburt dabei helfen, sich viel leichter und schneller in der wirklichen Welt zu orientieren.« »Haben Sie Religionsunterricht in Ihre Intelligenzinfusion mit einbezogen?« fragte Feldman. »Ja«, antwortete die Witwe. »Die Bibel, den Talmud und das Neue Testament natürlich. Aber auch die Bücher anderer großer Religionen, den Koran, die Thora, das Awesta et cetera. Da Marie einem Terroranschlag religiöser Fanatiker zum Opfer gefallen war, fanden wir es wichtig, unserer neuen Marie ein Verständnis aller großen Glaubensrichtungen mitzugeben.« 189
Feldman wollte Mrs. Leveque gerade noch eine Frage stellen, als sie die Hand hob, um zu signalisieren, daß sie eine Pause brauchte. Die andere Hand legte sie aufs Herz und schloß die Augen. Besorgt sprangen Feldman und Anke auf. »Anne, fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Feldman. Sie fuhr mit der Hand durch die Luft. »Nur … ein wenig müde, glaube ich.« »Möchten Sie ein Glas Wasser?« fragte Feldman. »Vielleicht etwas zu essen«, schlug Anke vor. Die Witwe öffnete die Augen. »Dieser Tag heute war etwas anstrengend für mich«, gab sie zu. »Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Vielleicht könnte ich mich ein Weilchen hinlegen. Aber nur für einen Augenblick. Ich muß Ihnen das alles jetzt erzählen, damit die Welt die Wahrheit erfährt, bevor diese Tragödie sich weiter zuspitzt.«
44 NORDAU TOWERS, TEL AVIV, ISRAEL, 10 UHR, SAMSTAG, 22. JANUAR 2000 Übelgelaunt nahm Bollinger Feldmans Anruf entgegen. »Wo treibst du dich denn herum, verdammt noch mal?« schimpfte der Chefredakteur. »Wir haben überall nach dir gesucht. Warum warst du heute morgen nicht auf der Redaktionssitzung?« »Ich bin mit Anke in Tel Aviv«, versuchte Feldman eine Erklä190
rung, »ich bin …« »Verdammt, Feldman!« explodierte Bollinger. »Du machst dir's irgendwo gemütlich, während wir uns alle Beine ausreißen, um neue Spuren zu finden!« »Beruhige dich, Arnie«, beschwichtigte Feldman, »es ist nicht so, wie du denkst. Ich bin dabei, hier etwas wirklich Spektakuläres aufzudecken. Du wirst es kaum glauben. Etwas, was uns wieder ganz nach vorn bringen kann!« Sofort änderte Bollinger seinen Ton. Er wurde entgegenkommend und neugierig. »Oh, ja? Im Ernst? Was hast du denn, Jon?« »Ich hab' die sensationelle Story von 'nem Insider über das Negev Institut«, sagte Feldman. »Und die ist der reine Wahnsinn.« »Mensch! Echt? Ist ja toll! Laß mal hören!« »Ich hab' noch nicht die ganze Geschichte, Arnie. Ich bin noch dran. Aber ich melde mich sofort wieder bei dir.« »Aber …« »Glaub mir. Ich muß jetzt gehen!« »Aber …« Nachdem Feldman aufgelegt hatte, nahm er den Hörer wieder von der Gabel, damit Mrs. Leveque sich ungestört ausruhen konnte. Aber das war gar nicht nötig. Im selben Moment kam sie relativ gefaßt wieder ins Wohnzimmer zurück. »Sind Sie sicher, daß Sie sich stark genug fühlen?« fragte Feldman. »Wir können es auch auf ein anderes Mal verschieben.« »Nein, nein.« Mrs. Leveque lächelte und faßte seine Hand. »Ich fühle mich jetzt besser. Außerdem ist es sehr wichtig, daß Sie den Rest auch noch erfahren; Sie werden bald verstehen, warum.« Die Witwe nahm wieder Platz und erzählte weiter. »Etwas länger als ein Jahr konnte Josef den Reifungsprozeß unserer Töchter ungestört in einem Teil des Forschungsinstituts durchführen, der weitgehend unzugänglich war. Mit der Zeit hatte er jedoch angefangen, einen immer größeren Teil der enormen Compu191
terkapazitäten des Labors zu nutzen. Um den empfindlichen und immer komplizierter werdenden Infusionsprozeß angemessen weiterentwickeln und überwachen zu können, sah sich Josef gezwungen, immer längere Einsatzzeiten des zentralen Computersystems für seine Zwecke zu verwenden. Dann kam es irgendwann einmal zu einem Problem mit dem Versorgungsmechanismus, der schließlich auch noch das Programm für die heranwachsenden Rinder regulieren mußte. Die Folge war, daß Giyam Karmi neugierig wurde. Giyam wollte natürlich wissen, mit welchen weiteren Methoden Josef sich befaßte. Irgendwann fiel Josef keine plausible Erklärung mehr ein, und die Sache wurde unangenehm. Giyam erzwang sich buchstäblich den Zugang zu der Abteilung. Als er den wahren Charakter unserer Arbeit entdeckte, regte er sich furchtbar auf, entließ Josef sofort und machte sich daran, unsere Systeme stillzulegen. In seiner Verzweiflung wandte sich Josef an Verteidigungsminister Shaul Tamin. Er kannte Tamin von der Universität her, wo er bei verschiedenen Verteidigungsprojekten als Berater für ihn tätig gewesen war. Aber nach Maries Unfall hatten wir einen heiligen Eid geschworen, uns nicht mehr an militärischer Forschung zu beteiligen. Josef weigerte sich damals, weiterhin mit Tamin zusammenzuarbeiten, und wir hatten ihn jahrelang nicht mehr gesehen. Wir kannten jedoch sonst niemanden, an den wir uns wenden konnten. Tamin war der einzige, der in einer Position war, durch die er uns rechtzeitig helfen konnte. So erzählten wir dem Verteidigungsminister alles über Josefs Infusionsprozeß und den möglichen militärischen Nutzen und inwiefern Giyams Kurzsichtigkeit dieses Verfahren unmittelbar gefährdete.« »Verzeihen Sie, Anne«, unterbrach Feldman noch einmal. »Aber mir ist nicht klar, worin der militärische Nutzen von Josefs Experimenten bestehen sollte.« »So wie Josef es darstellte, gab es zwei wichtige Möglichkeiten. Ei192
nerseits konnte man per Infusion ganze Legionen zukünftiger israelischer Soldaten einem verbesserten, individuell abgestimmten Militärtraining unterziehen. Im Falle eines nationalen Notstands konnten sogar Zivilisten, die die Sende- und Empfangsimplantate trugen, automatisch einberufen, geschult, trainiert und sofort in Bewegung gesetzt werden. Die andere, wichtigere Möglichkeit bestand jedoch darin, daß jeder einzelne Soldat praktisch an jedem Ort, zu jeder Zeit und auf der Stelle in der Lage gewesen wäre, geräuschlos Informationen zu senden und zu empfangen.« Feldman begann zu verstehen und nickte. »Es erübrigt sich zu betonen, welche enormen Kommunikationsvorteile das gehabt hätte. Damit ließen sich Truppen mobilisieren, die außerdem in der Lage gewesen wären, auf ganz kurzfristige Befehle zu reagieren. Man hätte Positionskarten in das Gehirn eines jeden Soldaten eingeben können, durch die er immer über seine Stellung und Marschrichtung auf dem laufenden gewesen wäre. Jeder Soldat hätte sofort Freund und Feind unterscheiden können.« Sie hielt inne und schlug die Augen nieder. »Um unsere Töchter zu retten, brachen Josef und ich unseren heiligen Eid. Wir boten unsere Technologie dem IDF an.« Mrs. Leveque war den Tränen nah. »Josef und ich waren von diesem Traum so besessen, daß wir ihn nicht mehr aufgeben konnten. Wir hatten gesehen, wie unsere drei schönen Maries sich von Babys zu kleinen Mädchen entwickelten, und das alles in weniger als einem Jahr! Jeden Tag haben wir durch die Glasscheiben in diese dunklen Behälter gestarrt, unsere Töchter angesehen, die darin schliefen, und konnten sie nicht im Arm halten, zärtlich zu ihnen sein oder sie küssen. Um die Umgebung steril zu halten, wagten wir nur, sie zu berühren, wenn es unbedingt nötig war, etwa um kurze Wartungen durchzuführen. Zum Beispiel wenn ihre Schädelhelme ausgewechselt wurden oder wenn die Stellen für die Elektroden auf ihrer Kopfhaut rasiert werden mußten. Nur dann konnten wir ihre 193
lieben, kleinen Gesichter sehen. Kein Vergleich zu jenen liebevollen Momenten, die Eltern sonst so viel bedeuten, aber trotzdem waren uns diese Augenblicke kostbar. Wir hätten unsere Seele verkauft, um sie behalten zu können. Aber statt dessen taten wir etwas noch viel Schlimmeres. Und dafür hat Gott uns verflucht. Shaul Tamin machte Josef einen niederträchtigen Vorschlag. Er wollte ihm nur unter einer Bedingung erlauben, das Projekt fortzuführen: wenn Josef seine Zustimmung dazu geben würde, die Wissensinfusion unserer Töchter dahingehend zu verändern, daß sie tatsächlich militärisch nutzbar war. Dieser entsetzliche Gedanke war uns zuwider. Nach dem schrecklichen Gewaltakt, den unsere Marie erlitten hatte, war es für uns undenkbar, aus unseren unschuldigen Töchtern jetzt Soldaten zu machen. Wir mußten schnell eine rettende Idee finden, oder alles wäre verloren gewesen. In seiner Verzweiflung schloß Josef einen Kompromiß mit Tamin, einen Pakt mit dem Teufel. Josef wußte, daß der Verteidigungsminister größtes Interesse an jener Tochter hatte, die den besonderen Sende-Empfangs-Mikrochip in sich trug. Er meinte, um die anderen zu retten, habe er keine andere Wahl, als sie Tamin zu überlassen. Wir würden ihm dieses eine, besondere Kind für die geheime Infusion von militärischem Know-how übergeben. Und wir wollten die andere Tochter vom Infusionsprozeß abkoppeln und sie getrennt bei ihrer als Kontrollperson dienenden Schwester reifen lassen. Tamin gab dazu seine Zustimmung.« Anke und Feldman waren sprachlos. Niemand sagte ein Wort, bis Feldman endlich das Schweigen brach. »Die andere Tochter vom Intelligenztransfer abzukoppeln, hieß das nicht, ihre geistige Entwicklung zum Stillstand zu bringen?« »Ja«, bestätigte Mrs. Leveque. »Als Tamin damals die Kontrolle über unser Projekt an sich riß, war sie geistig vielleicht auf dem Stand einer Siebenjährigen. Wir hätten ihre Geburt und die ihrer unveränderten Schwester gleich in die Wege geleitet, aber Tamin 194
bestand darauf, daß beide den Reifungsprozeß weiter durchlaufen sollten. So konnte er Josef weiter an das Projekt binden. Natürlich bereitete es uns große Sorge, daß wir erwachsene Töchter haben würden, deren geistige Entwicklung unterbrochen worden war. Aber wir hofften, daß sie wenigstens gesunde Gehirne hätten, mit denen wir weiterarbeiten konnten. Gehirne, die nicht von Tamins geheimen Militärplänen und Verschwörungen verdorben waren! Und Shaul Tamin war von seinen Allmachtsphantasien mindestens ebenso besessen wie wir von unserem Projekt. Nach seiner Einschätzung gab dieses Programm Israel eine taktische Überlegenheit, an die keine andere Militärmacht so schnell heranreichen konnte. Nicht einmal die Vereinigten Staaten. Er war geradezu überwältigt von dem Infusionsprozeß und dessen unbegrenzten Anwendungsmöglichkeiten. Er ließ die ganzen Rechte an dem Projekt auf den IDF übertragen und verhängte die strengste Geheimhaltungs- und Sicherheitsstufe. Die Experimente mit den Rindern wurden auf unbestimmte Zeit eingestellt, und von diesem Zeitpunkt an diente das ganze Negev Forschungsinstitut nur zur Weiterverfolgung dieses Projekts.« »Was wurde aus Dr. Karmi?« fragte Feldman. »Weil Tamin ihm nicht traute, wurde Giyam als Leiter abgesetzt. Es war ein furchtbarer Schlag für ihn, und leider erlag er nicht viel später einem Herzinfarkt.« Feldman seufzte. »Wie weit waren Sie zum Zeitpunkt der Explosion noch von Ihrem Ziel entfernt?« »Eine Woche«, sagte die Witwe. »Die Militärcodierung für unsere besondere Tochter sollte Ende letzten Monats abgeschlossen werden. Ihre Geburt und die ihrer zwei Schwestern war auf den ersten Tag des neuen Jahrtausends angesetzt.« Mrs. Leveque schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Gott erlaubte uns, dem Ziel so nahe zu kommen, daß wir vollkommen von der Durchführbarkeit unserer Methoden überzeugt waren. Und dann nahm er uns ohne Vorwarnung in gerechtem Zorn alles wieder 195
weg!« Sie hielt inne und sah einen Augenblick in sich gekehrt in die Ferne. Dann blickte sie Feldman mit erneut aufsteigenden Tränen in den Augen wieder an. »Aber Gottes Wege sind unergründlich, und ich habe den Glauben an ihn nie verloren. Am Donnerstagmorgen, dem 6. Januar, hat mir Gott auf unerklärliche Weise etwas von dem wiedergegeben, was er mir genommen hatte. In Ihrer Sendung vom Berg der Seligpreisungen, Jon, habe ich das Gesicht des neuen Messias gesehen, das eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit meiner Marie hat. Jesa, die alleinige Überlebende der Katastrophe im Negev, ist meine Tochter.« Das war für Feldman keine Überraschung mehr. In dem Augenblick, als Mrs. Leveque die kleinen, kreisförmigen Stellen erwähnt hatte, die im Haar ihrer Tochter rasiert wurden, um die Elektroden anzulegen, war Feldman ein Licht aufgegangen. Er hatte sich an die kleinen, runden Wülste erinnert, die er beim Auftritt des Messias gesehen hatte. Aber daß die Witwe diesen Verdacht jetzt bestätigte, versetzte Feldman doch in Erregung. Schon wieder eine unglaubliche Sensation. Und diesmal hatten sie sie Anke zu verdanken. Er drückte ihr die Hand. »Sie sprachen von einer ›Ähnlichkeit‹ mit Ihrer Marie«, bemerkte Feldman. »Ist sie nicht mit Ihrer ersten Tochter identisch? Ich dachte, sie hätten die gleichen Chromosomen.« »Ja, das stimmt. Aber sogar bei eineiigen Zwillingen gibt es immer einige Unterschiede. Manchmal sichtbare. In diesem Fall waren die Unterschiede ziemlich deutlich. In den Augen, in der Stimme und in der ganzen Haltung.« »Verzeihen Sie, Anne, aber könnte diese Jesa nicht irgendeine junge Frau sein, die einfach große Ähnlichkeit mit Ihrer Tochter hat?« »Von dem Augenblick an, als ich sie zum ersten Mal sah, wußte ich, daß es meine Marie ist, wie nur eine Mutter so etwas wissen 196
kann«, antwortete sie ganz ruhig und mit fester Überzeugung. Dann legte die Witwe das Tagebuch, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Couchtisch und schlug die Seiten mit den Fotos von einer schönen, dunkelhaarigen jungen Frau auf. »Die Bilder sind vor dem Unfall aufgenommen worden, als Marie ungefähr einundzwanzig Jahre alt war. Dasselbe Alter, das ihre neuen Geschwister jetzt hätten.« Feldman und Anke konnten deutlich die Ähnlichkeit sehen. Marie war tatsächlich eine attraktive Frau mit Gesichtszügen, die Jesa sehr ähnelten. Aber die Übereinstimmung war eher allgemeiner Natur, wie sie bei Verwandten häufig vorkommt. Die zierliche junge Frau auf den Fotos sah mehr wie eine Schwester als wie ein eineiiger Zwilling Jesas aus. Feldman dachte bei sich, daß Maries Augen überhaupt nichts Durchdringendes und Respekteinflößendes hatten. Sie war ein bißchen molliger und ihr Teint viel dunkler. Ihm kam es vor, als wäre Jesa die Vollendung von Marie. Gesicht, Figur und Augen zur Perfektion weiterentwickelt. Und Jesas Haut – leuchtend, engelsgleich und schimmernd wie Perlen. »Anne«, meinte Feldman, nachdem er die Fotos genau angesehen hatte, »ich kann zwar eine starke Ähnlichkeit feststellen, aber ehrlich gesagt fällt es mir schwer, sie als eineiige Zwillinge anzusehen. Zum Beispiel die Augen und die Hautfarbe. Da gibt es doch Unterschiede, die das in Zweifel ziehen.« Mrs. Leveque nickte verständnisvoll. »Außer den manchmal recht deutlichen Unterschieden, die man bei eineiigen Zwillingen findet«, erklärte sie, »muß man auch die Wirkung des ungewöhnlichen Reifungsprozesses auf den Körper mitberücksichtigen. Bei allen unseren in den Wannen herangezogenen Töchtern wies die Haut einen ungewöhnlichen Mangel an Pigmentierung auf. Denken Sie daran, daß sie in ihrem ganzen Leben nie auch nur ein einziger Sonnenstrahl getroffen hat. Das hat zusammen mit der künstlichen, amnio197
tischen Flüssigkeit das Aussehen ihrer Haut und ihrer Augen beeinflußt. Sie müssen auch bedenken, daß jeder auf normale Weise heranwachsende Mensch der Schwerkraft und der ständigen Abnutzung ausgesetzt ist. Das hat eine ungleichmäßige Verteilung des Körperfetts zur Folge und führt zu einer Asymmetrie von Gesicht und Körper. Diese Faktoren sind der Grund für die deutlichen Unterschiede, die Sie bemerkt haben.« Aber Feldman ließ nicht locker. »Trotzdem, wie können Sie absolut sicher sein, daß diese Jesa eine Ihrer Töchter aus dem NegevLabor ist?« Die Witwe Leveque strahlte vor Stolz. »Weil ich ihr begegnet bin.« Feldman war vollkommen überrascht. »Sie haben den Messias getroffen? Wann? Wie?« »Vor einer Woche, am Freitag. Ich mußte Marie an diesem Morgen eine Weile allein zu Hause lassen, als ich zum Markt ging. Ich war nur eine halbe Stunde weg, und bei meiner Rückkehr sah ich unsere Haustür weit offenstehen. Ich war sicher, daß ich sie zugemacht hatte, bevor ich wegging. Ich hatte solche Angst, daß ich einfach hineinstürmte, ohne überhaupt daran zu denken, daß jemand ins Haus eingedrungen sein könnte. Aber als ich in Maries Zimmer kam, sah ich eine junge Frau in einem weißen Gewand am Fußende von Maries Bett stehen und sie anstarren. Ich wußte sofort, wer sie war. Mit einem sanften, freundlichen Lächeln – dem Lächeln meiner Marie – drehte sie sich zu mir um und sagte: ›Habe keine Angst, denn ich komme vom Vater.‹ Ich war derart geschockt, daß ich mich nicht beherrschen konnte, vor ihr auf die Knie fiel und die Arme um sie schlang. Ich weinte mir förmlich all die Angst und den Schmerz von der Seele, die ich so lange zurückgehalten hatte. Sie drückte mich an sich und streichelte mir die Haare.« Die alte Dame schloß die Augen und bog den Kopf nach hinten. 198
Sie schien diesen Augenblick noch einmal zu erleben und strahlte dabei vollkommene Gelassenheit aus. »Nach einer Weile hob sie mich auf, und ich sah so viel Weisheit, Frieden und Güte in ihren Augen, daß ich nicht mehr das Bedürfnis verspürte zu weinen. Mein einziger Gedanke war, sie bei mir zu behalten und einfach mit meiner neugefundenen Tochter glücklich zu sein. Aber sie sagte mir, sie müsse gehen. Ich bat sie inständig, doch wenigstens eine Nacht zu bleiben. Sie sagte einfach: ›Ich muß die Arbeit meines Vaters tun.‹ Dann berührte sie noch einmal mein Gesicht, wieder lag dieses kostbare Lächeln in ihren Augen, und dann ging sie. Ich bin sicher, daß ich kaum zwei Sekunden verstreichen ließ, bevor ich ihr folgte, aber als ich aus dem Haus eilte, um sie zu suchen, war sie schon weg. Verschwunden.« »Anne«, fragte Feldman, »haben Sie irgendeine Idee, wie Jesa wissen konnte, wo Sie wohnen?« »Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Vielleicht war das auch eines jener vielen außergewöhnlichen Dinge, die Josef ihr mit der Intelligenzinfusion eingab. Ich weiß nicht, was Josef ihr alles einflößte. Andererseits hätte es auch eine Art instinktives oder spirituelles Wiedererkennen sein können, das sie nach Hause führte. Ich weiß es einfach nicht. Sie trägt eine viel zu tiefe Weisheit in sich, als daß ich alles erklären könnte.« Die Witwe Leveque schloß wieder die Augen und schwieg; die emotionale Anstrengung, die das Erzählen der Geschichte ihr abverlangte, hatte offenbar ihre Kräfte aufgezehrt. Nach einiger Zeit sah sie auf und lächelte. »Als Sie mich letzte Woche anriefen, Anke«, sagte sie, »wußte ich natürlich anfangs nicht, daß Sie etwas mit Jon zu tun haben. Alle Personen, die zum Negev Forschungsinstitut Verbindung hatten, waren vom IDF gewarnt worden, daß die Aktivitäten dort streng geheim seien und daß die Weitergabe von Wissen sehr ernste Folgen haben würde. Als Sie zufällig Jon und WNN erwähnten, war mir klar, daß ich zuviel gesagt hatte, und ich geriet in Panik.« 199
»Aber nachdem Jesa Sie besuchte, änderten Sie Ihre Meinung?« vermutete Anke. »Nein. Erst als ich vom IDF Besuch bekommen hatte, wußte ich, daß ich keine andere Wahl hatte, als mit Ihnen zu sprechen.« »Der IDF kam zu Ihnen?« wunderte sich Feldman. »Wann?« »Frühmorgens am letzten Donnerstag. General Alleza Goene und einige von seinen Stabsoffizieren.« »Was wollte General Goene von Ihnen, Anne?« »Ich kannte ihn nicht, obwohl ich seinen Namen von Josef in Verbindung mit der Arbeit am Forschungsinstitut schon gehört hatte. General Goene war verantwortlich für die Sicherheit des Projekts und besuchte die Anlage gelegentlich. Josef achtete darauf, daß immer alles peinlich genau in Ordnung war. General Goene ist einer von Tamins Parteifreunden, ein ziemlich intoleranter Mensch, der die Sicherheitsvorschriften sehr ernst nahm. Als der General mich besuchte, wirkte er anfangs ganz freundlich. Er sprach mir sein Beileid aus, stellte mir verschiedene Fragen zu Josef und dem Projekt im Negev. Zuerst fragte er, ob es vielleicht irgendwelche Aufzeichnungen oder Notizen gebe, die Josef zu Hause aufbewahrt habe. Ich sagte ihm, daß alle Dokumente dieser Art geheim gewesen seien und Josef vom IDF die Auflage hatte, sie alle im Labor aufzubewahren. Das Tagebuch erwähnte ich nicht. Aber er war besonders an unseren Töchtern interessiert. Er wollte wissen, ob sie zum Zeitpunkt des Unglücks lebensfähig genug gewesen seien, auch außerhalb ihrer Wannen zu überleben, ob sie in der Lage gewesen seien zu gehen und welche negativen Auswirkungen die Explosion und der Kurzschluß im Infusionssystem auf ihren geistigen und körperlichen Zustand gehabt haben könnten et cetera. Natürlich war ich auf der Hut und tat so, als wisse ich nichts. Ich wußte, daß meine Tochter Jesa aufgrund ihrer fortgeschrittenen geistigen Entwicklung diejenige sein mußte, die für die Infusionen mit militärischem Know-how ausgewählt worden war. Ich wußte, daß Goene sie ha200
ben wollte. Und natürlich würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das zu vermeiden. Danach fragte mich Goene, ob ich den sogenannten ›Messias‹ im Fernsehen gesehen hätte und ob ich eine Ähnlichkeit mit den Testsubjekten im Negev Forschungsinstitut festgestellt hätte. Ich teilte ihm mit, daß ich keine Ähnlichkeit irgendwelcher Art festgestellt hätte, aber ich bin mir nicht sicher, ob er mir glaubte. Er wurde sehr einsilbig und bat mich um Fotos von Marie, was ich ihm aber abschlug. Dann fragte er mich, ob er in Maries Zimmer gehen dürfe, um sie zu sehen, und ob einer seiner Männer Aufnahmen von ihr machen könne. Als ich ihm das verweigerte, gingen sie trotzdem in ihr Zimmer. Ich versuchte, sie aufzuhalten, aber ein anderer Offizier hielt mich fest. Als er dann wegging, drohte mir Goene damit, daß ich des Hochverrats angeklagt, meine Pension verlieren und Marie die Krankenpflege verweigert werden könnte, wenn ich über das Geschehene spräche, und daß ich ihm jede Neuigkeit über den Messias sofort berichten müßte. Und da beschloß ich, Sie anzurufen, Anke. Da ich weiß, in welcher Gefahr sich Jesa befindet, muß ich irgendwie versuchen, sie zu schützen. Die beste Möglichkeit dazu sehe ich in Jon und seinen Berichten.« »Was glauben Sie, Anne, in welcher Art von Gefahr befindet sich Jesa konkret?« fragte Feldman. Mrs. Leveque sah Feldman durchdringend an. »Ich traue Shaul Tamin alles zu, Jon. Er ist ein sehr ehrgeiziger, kalter Mann. Weil Jesa der lebende Beweis für seine geheimen, verbotenen Experimente ist, glaube ich, daß sie in ernster Gefahr ist. Tamin will nicht, daß die Wahrheit durchsickert. Hinzu kommt noch, daß sie Tamins unbezahlbare Instrumente in ihrem Körper trägt, die er unbedingt zurückhaben will.« »Und dadurch, daß Sie uns die Geschichte preisgeben«, faßte Feldman zusammen, »glauben Sie, Tamin zuvorkommen zu können, so daß er ihr nichts tun wird?« 201
»Ja, ich glaube, wenn die Welt über die Verbindung zwischen Jesa und dem IDF informiert ist, werden weder Tamin noch Goene es wagen, weiter gegen sie vorzugehen.« »Wenn ich Sie also recht verstanden habe, Anne«, hakte Feldman nach, »haben Sie nichts dagegen, uns Ihre Geschichte zu erzählen, solange wir Ihre und die Identität Ihrer Familie vertraulich behandeln.« »Ja«, antwortete sie. »Außer uns, glaube ich, waren Shaul Tamin und der Oberbefehlshaber des IDF die einzigen, die die ganze Wahrheit über das kannten, was am Institut geschah. Und obwohl Tamin mich bestimmt im Verdacht haben wird, wenn Ihr Bericht herauskommt, wird er doch nichts beweisen können, wenn Sie meine Identität geheimhalten. Aber ich muß bestimmte Bedingungen stellen: Ich bestehe darauf, daß Sie die Neurochips und alles, was mit der Intelligenzinfusion zu tun hat, nicht zu erwähnen. Das könnte ernste rechtliche Folgen haben. Außerdem muß ich darauf dringen, daß Sie die militärische Seite und das Ziel des Experiments vertraulich behandeln. Wenn klar wird, daß der IDF als Sponsor von verbotenen Experimenten aufgetreten ist, sollte das genügen, um Jesa zu schützen. Und ich glaube, es würde auch nichts Gutes für sie bedeuten, wenn die Öffentlichkeit herausfände, daß sie vielleicht geheime militärische Weisungen in sich trägt. Aber darüber hinaus habe ich noch eine andere, größere Sorge. Jesa weiß nichts über das Netzwerk von Neurochips in ihrem Gehirn, die Grundlage ihrer einzigartigen Fähigkeiten. Mir graut davor, wenn ich mir vorstelle, welche Auswirkung diese Tatsache auf sie haben könnte. Würde sie mit der brutalen Realität, mit der Tatsache ihrer künstlichen Intelligenz und diesen Fremdkörpern, die sie in sich trägt, allein und unvorbereitet konfrontiert, könnte das äußerst zerstörerisch und gefährlich für sie sein.« »Ich kann das verstehen«, gab Feldman zu. »Aber ich glaube, es ist wichtig, daß wir doch irgendeine vernünftige Erklärung darüber 202
abgeben, wie Jesa ihre außerordentlichen geistigen Fähigkeiten entwickeln konnte. Millionen von Menschen da draußen glauben in ihrer Verwirrung, daß ihr Wissen göttlicher Natur ist. Sie müssen die Wahrheit erfahren. Hätten Sie Probleme damit, wenn wir von der Intelligenzinfusion nur ganz allgemein sprechen, ohne die Neurochips zu erwähnen? Wir könnten sie lediglich, sagen wir, als eine Art passiven, gedächtnisbildenden Prozeß beschreiben, etwa wie mittels Tonbändern, die über Kopfhörer abgespielt werden, oder ähnliches, und die Einzelheiten weglassen ?« »Ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete die Witwe und dachte nach, »aber ich muß sichergehen, daß dies wirklich nur in ganz allgemeiner Form erwähnt wird.« Feldman erklärte sich damit einverstanden. »Sie können sich auf mich verlassen«, sagte er und zögerte vor seiner nächsten Frage, deren Formulierung ihm sichtlich Probleme bereitete. »Anne, da ist noch eine Sache, die ich mit Ihnen klären möchte, bitte … Ist Ihnen, als Sie Jesa selbst getroffen haben, Ihrer Meinung nach irgend etwas aufgefallen, das Sie überzeugen könnte, daß sie tatsächlich ein wirklicher Messias, der im Alten Testament prophezeite Messias, sein könnte? Oder ist Jesas Glaube, ein messianisches Wesen zu sein, in Ihren Augen – nur eine Wahnvorstellung?« Anne Leveque sah Feldman fragend an, und er fürchtete, sie verletzt zu haben. »Sie fragen mich, ob ich Jesa für verrückt halte?« entgegnete sie ganz direkt. »Ich gebe zu, das ist eine Frage, die mich selbst ziemlich beschäftigt. Und ich glaube nicht, daß ich die Antwort darauf schon habe. Aber eines weiß ich ganz bestimmt: Die junge Frau, die ich letzten Freitag getroffen habe, ist nicht die Marie, die ich geboren und aufgezogen habe. Trotz aller Ähnlichkeit. Offenbar glaubt Jesa, eine Prophetin zu sein. Und sicherlich gibt es viele, die das als verrückt ansehen. Vielleicht ist es das auch. Wir wissen nicht, welche Auswirkung ihre unnatürliche Entwicklung auf sie hatte. Wie die psychologischen Folgen einer so langen Isolie203
rung in diesen schrecklichen Reifetanks aussehen. All diese Stunden ungefilterter Infusion, in denen ihr die schrecklichen militärischen Codierungen eingeflößt wurden. Welchen geistigen Schaden mag sie davongetragen haben, als ihre Neuroschaltkreise bei der Explosion vermutlich einer zu hohen Spannung ausgesetzt waren? Jede einzelne dieser traumatischen Situationen hätte, so meine ich, allein schon genügt, um ihre geistige Gesundheit schwer zu schädigen. Ich stelle mir vor, wie sich all dies auf sie auswirken muß. Sie wird unvermittelt in die Welt geworfen. Als Erwachsene geboren, mit eingebauten, aber nicht vollständig ausgeformten Erinnerungen. Mit unglaublichen, anscheinend göttlichen Gaben des Verstandes. Warum sollte sie, da sie keine bessere Erklärung dafür hat, nicht annehmen, daß ihre besonderen Gaben von Gott kommen? Vielleicht wurden durch den Samariterkult solche Gedanken in ihre für Eindrücke empfängliche Psyche eingepflanzt. Aber dann denke ich immer wieder über all diese erstaunlichen, übernatürlichen Ereignisse nach, die um sie herum geschehen. Als ich sie traf, verspürte ich selbst etwas unerklärlich Spirituelles und Ergreifendes. Wer kann also sagen, ob nicht Gott in dieses Labor hineingewirkt und inmitten seiner gerechten Zerstörung vielleicht dieses kostbare, unschuldige Wesen berührt hat, damit es seinem übergeordneten Zweck diene? Ob sie verrückt ist oder der Messias ist, Jon, ich weiß es einfach nicht. Ich bete zu Gott, daß sie weder das eine noch das andere ist. Ich bete, daß Jesa zu mir als normales Kind zurückkehren wird, das ich lieben und für das ich sorgen kann.« Und wieder liefen ihr ein paar Tränen über die Wangen.
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45 WNN-STUDIO, JERUSALEM, ISRAEL, 10 UHR 19, SAMSTAG, 29. JANUAR 2000 Nigel Sullivan hatte die mutige Entscheidung getroffen, die unglaubliche Enthüllung von Jesas wahrer Identität zunächst zurückzustellen, bis die Story in ihrer ganzen Tragweite gebracht werden konnte. Sogar Feldman hatte ihn deshalb zuerst für töricht gehalten, weil er befürchtete, daß die Tatsachen von Jesas Herkunft irgendwie durchsickern könnten. Aber jetzt, eine Woche später, zeigte sich, wie genial Sullivans Entscheidung gewesen war. Um das Projekt geheimhalten zu können, hatte er die Geschichte in vielen kleinen Portionen an die New Yorker Zentrale und an verschiedene andere WNN-Studios in Europa weitergegeben. Man gab den Produktionsteams keine weiteren Hinweise zur Anordnung der Teile oder zum Verlauf der Story. Während man viele Teilstücke der Geschichte unabhängig voneinander entwickelte, transportierten Kuriere die ganze Woche über Computerdateien, Anweisungen und Informationen über das Mittelmeer hin und her, um die Aufklärung des IDF zu umgehen. Der Bericht von WNN sollte keine neuen Aufnahmen vom Messias enthalten. Aber mit Hilfe der fast magischen Möglichkeiten der Elektronik hatten die Computergrafiker von WNN Videomaterial geschaffen, das fast wie echt aussah. Dazu wurden tatsächlich existierende Aufnahmen des Messias aus den schon vorhandenen Videos herausgenommen, verändert und zu ganz neuen Sequenzen zusammengestellt. Geplant war ein zweistündiges Feature mit dem 205
Titel ›Die wahre Herkunft des neuen Messias. Ein Exklusivbericht von Jonathan Feldman und WNN News‹. Die Teilstücke sollten in der WNN-Zentrale in Jerusalem zu ihrer endgültigen Form zusammengesetzt werden. Mitten in einer Telekonferenz mit der europäischen Zentrale über noch fehlende Sequenzen wurden der gereizte Feldman und Hunter von Cissy McFarland gestört, die sich nicht abwimmeln ließ. »Verdammt noch mal, Cissy, hoffentlich hast du einen verdammt guten Grund für deine Störmanöver«, schimpfte Hunter. »Wie zum Teufel glaubst du, daß wir das Ding hier bis morgen fertigkriegen sollen?« »Na ja, vielleicht brauchst du's ja gar nicht fertigzumachen, du Esel«, brüllte sie zurück, »wir haben da nämlich ein noch viel größeres Problem. Der IDF ist hier, und sie verlangen, daß wir ihnen zeigen, was wir senden wollen, oder sie werden den Sender schließen und unser Equipment beschlagnahmen!« Feldman und Hunter waren sprachlos. »Seit wann ist Israel ein Polizeistaat?« wollte Feldman wissen. »Das können sie doch nicht machen!« »Diese verdammten Vorankündigungen«, wütete Hunter weiter. »Jon hat Bollinger ja gewarnt, nicht so viel zu zeigen. Aber es geht ja immer nur um die Einschaltquoten«, maulte er, ohne sich an irgend jemand Bestimmten zu wenden. »Vergiß es, Breck.« Feldman war der Ernst der Lage klar. »Du und Cissy, ihr solltet besser intern Alarm schlagen und für alle Fälle problematische Bänder und Informationen aus dem Schneideraum holen und in Sicherheit bringen. Und zwar so schnell wie möglich!« Feldman lief schnell zum Besprechungsraum hinunter und fand Sullivan, Bollinger und Robert Filson vor, die sich mit vier Militärs und General Alleza Goene höchstpersönlich herumschlugen. Sullivan kochte vor Wut. »Das ist ein Skandal! Wo ist Ihr Durch206
suchungsbefehl? Sie verstoßen gegen das Gesetz!« Ein Messingschild mit seinem Namen und zahlreiche Orden glänzten auf der makellosen Uniformjacke des Generals. »Ich brauche keine Bevollmächtigung. In Sachen Staatssicherheit hat der IDF uneingeschränkte Befugnis«, behauptete er und wandte sich um, als Feldman den Raum betrat. »Entschuldigen Sie, Herr General, ich bin Jon Feldman, der Reporter, der die meisten Sendungen zu dieser …« »Ich weiß ganz genau, wer Sie sind«, schnitt ihm Goene das Wort ab. Feldman blinzelte verblüfft. »Sie sind doch derjenige, der für diesen ganzen millennarischen Wahnsinn verantwortlich ist. Sie sind doch der, der mit diesen Meldungen über den falschen Messias die Massen ohne Rücksicht auf die Konsequenzen aufpeitscht, nur um die Einschaltquoten Ihres Senders hochzutreiben. Aber ich bin verantwortlich dafür, daß die Ordnung wiederhergestellt wird. Und das werde ich mit allen Mitteln tun, die dazu nötig sind.« Er wandte sich wieder an Sullivan. »Also, zeigen Sie mir jetzt die Sendung.« Ratlos sah Feldman Sullivan an. Sullivan bezwang seine Erregung und sagte, den Blick weiterhin auf Goene gerichtet, zu Feldman: »Der General hier hat den Eindruck, daß unsere Sendung über den Messias Staatsgeheimnisse enthält. Aber wenn ich ihn frage, wie er zu diesem Vorwurf kommt, kann er mir dazu nichts sagen.« »Herr General«, fragte Feldman und versuchte, in die Offensive zu gehen, »wollen Sie damit sagen, daß der mutmaßliche Messias in irgendeiner Weise mit der israelischen Regierung oder der Armee in Verbindung steht?« Goenes Gesichtsausdruck verdüsterte sich, und die Venen an seinem dicken Hals schwollen an. »Sie haben genau eine Minute, mir diese Sendung zu zeigen!« »Arnie«, wies Sullivan Bollinger an, »bitte rufen Sie sofort Levi 207
Meir in der Knesset an und lassen Sie sie klarstellen, woher sich der General das Recht nimmt …« »Die Knesset hat in dieser Sache nichts zu sagen«, erwiderte Goene außer sich vor Wut. »Sie haben noch fünfundvierzig Sekunden.« Bollinger, Sullivan und Filson waren blaß geworden, aber sie ließen sich nicht einschüchtern. »Herr General«, versuchte Feldman es noch einmal, »Sie sollten wissen, daß der Bericht nicht in unserem Studio hier zusammengestellt wird. Es ist kein Livebericht, sondern eine Sondersendung, die in unserer Europazentrale und in New York produziert wird, um dann weltweit ausgestrahlt zu werden. Ich habe meine Sequenzen vor Tagen schon zusammengeschnitten und dieses Material nach Europa geschickt. Sie müssen sich in dieser Angelegenheit mit unserer Europazentrale in Verbindung setzen.« »Unsinn!« blaffte Goene zurück. »Unsere Aufklärung hat keine relevanten Sendungen über Satellit nach Europa abgefangen. Sie machen den Bericht hier!« »Wenn Sie möchten, kann ich Sie herumführen, und Sie können sich selbst überzeugen«, baute Feldman seine List weiter aus. »Unser Anteil an der Sendung war schon vor Tagen fertig und wurde per Kurier abgeschickt. Wir haben nichts, was wir Ihnen zeigen könnten.« Sullivan warf Feldman einen panischen Blick zu. Goene blieb hart. »Dann will ich wenigstens Ihre Teile der Sendung ansehen. Zeigen Sie sie mir jetzt!« »Ich werde Ihnen zeigen, daß wir nichts hier haben, aber den Inhalt der Geschichte werde ich nicht preisgeben«, antwortete Feldman ruhig und gelassen, »und ich bin der einzige, der die Quellen kennt. Außerdem«, fügte Feldman hinzu, bereit, bis zum Äußersten zu gehen, »wenn Sie irgendwelche Aktionen gegen unser Studio hier unternehmen, werden diese mit Sicherheit von unserer internationalen Zentrale dazu benutzt werden, unseren Bericht zu untermauern 208
– und das wird den IDF, Verteidigungsminister Tamin und Sie persönlich mit den Geschehnissen in Verbindung bringen!« Goene lief angesichts dieser unverschämten Drohung vor Wut dunkelrot an, und seine vierköpfige Leibgarde nahm instinktiv eine bedrohliche Haltung ein. Sullivan verzog schmerzlich das Gesicht angesichts dieses gefährlichen Schachzugs. Trotzdem schien Goene sich über diese unvorhergesehene Wendung Gedanken zu machen. Feldman sah die Gelegenheit zur Beendigung des Konflikts gekommen. »Herr General«, sagte er in versöhnlichem Ton, »wenn Sie und Ihre Leute einfach ohne weiteres Aufheben das Studio verlassen, sehe ich keinen Grund, auf diesen Vorfall aufmerksam zu machen. Und Sie haben unsere Zusicherung, daß wir weder Sie noch das Gespräch mit Ihnen in der Sendung erwähnen werden. Einverstanden, Nigel?« Der General sah Sullivan an, der zustimmend nickte. Goene wischte sich flüchtig mit der Hand über den Mund und sah sich im Raum um, als suche er nach einer besseren Alternative. Feldman spielte die Möglichkeit aus, daß der imagebewußte Tamin Goene in seinen Befugnissen vermutlich relativ kurzhielt. Wenn der General freie Hand gehabt hätte, Gewalt anzuwenden, und sich in bezug auf die Anschuldigungen vollkommen sicher gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich das Studio schon längst gestürmt, und zwar ohne Ankündigung. Schließlich sah Goene Feldman eindringlich, aber ruhig in die Augen. »Ich warne Sie. Wenn WNN irgend etwas an geheimen Informationen oder Dokumenten freigibt oder wenn Sie geheime Forschungsprojekte der Regierung in Ihrer Sendung enthüllen, werden Sie es mit einer höheren Autorität als mir zu tun bekommen. Daraus wird sich unmittelbar die Ausweisung aller WNN-Mitarbeiter aus Israel und die Beschlagnahmung allen WNN-Eigentums in diesem Staat ergeben. Ist das klar?« 209
Weder Feldman noch Sullivan sagten etwas, und endlich gab der General seinen Männern mit einem mürrischen, finsteren Blick ein Zeichen und schritt aus dem Zimmer. In den Schnitträumen kamen Cissy und die übrige Crew wie verhuschte Waldtiere nach einem Unwetter wieder aus ihren Ecken hervor und holten die Bänder und andere unfertige Arbeitsunterlagen aus den Verstecken, die sie sich vorher in panischer Eile gesucht hatten. Der erleichterte Hunter zwickte Bollinger in die rundliche Wange. »Das war ein Treffer! Da haben wir mal wieder einen Nerv getroffen, Arnie, oder?« freute er sich und war begeistert, daß sie den Militärs einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten. Aber leider, so erklärte Bollinger, hatte der Anruf bei dem Parlamentsmitglied, das WNN-freundlich gesinnt war, keine Entwarnung gebracht. Die Ausbreitung der immer unberechenbarer werdenden millennarischen Bewegung führte zunehmend zu einer Verlagerung der politischen Gewichte in Israel. Durch die vermeintliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit war ein Vakuum entstanden, in dem Shaul Tamin erfolgreich operieren konnte. Der Verteidigungsminister hatte sich in aller Stille mehr Unabhängigkeit verschafft und derart seine Machtbefugnisse erweitert, daß es ihm gelungen war, die Autorität der Ben-Miriam-Regierung auch im zivilen Bereich beinahe vollständig zu unterhöhlen. Das hieß, daß es für WNN durchaus brenzlig werden konnte, wenn der neue Bericht eine destabilisierende Wirkung ausübte. Sullivan versammelte seine Truppe zu einer kurzen Besprechung und informierte sie über die Umstände und die möglichen Konsequenzen, wenn sie die Sendung wie geplant ausstrahlen würden. Mit Ausnahme von Robert Filson waren alle einmütig dafür, die Sendung trotzdem zu bringen. »Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser ganzen Angelegenheit«, war Filsons Meinung. »Wenn das Wichtigste die Einschaltquoten 210
sind, dann überlegt doch mal, was passiert, wenn sie unseren Laden dichtmachen. Keine Berichte über den Messias heißt überhaupt keine Einschaltquoten. Gar nicht zu reden von den äußerst unangenehmen Folgen, wenn wir uns hier in einem fremden Land wegen Hochverrats vor Gericht verantworten müßten! Ich rate dringend, die Sendung zu verschieben, damit wir die Situation prüfen können.« Einen Augenblick lang war es totenstill im Raum, dann stand Hunter auf, hob den Arm und sagte: »Alle, die meinen, daß Filson ein verklemmter Feigling ist, sollen die Hand heben.« Filson war der einzige, der sich der Stimme enthielt. Die Teams gingen wieder an ihre Arbeit, machten die ganze Nacht durch und wurden endlich Sonntag früh fertig. Müde, aber zufrieden zogen sich Feldman, Hunter und Erin Cross in Feldmans Wohnung zurück, um sich ein wenig Schlaf zu gönnen und auf die Abendnachrichten zu warten. Anke, die von Tel Aviv aus zu ihnen stieß, sollte im Abspann nicht erwähnt werden, obwohl sie einen beträchtlichen Teil zu dieser Sendung beigetragen hatte. Feldman war ihr dankbar, wollte sie aber angesichts der jüngsten Aktionen des israelischen Militärs nicht in Gefahr bringen. Da Feldman und Hunter den Bericht während ihrer Arbeit bis zum Überdruß gesehen hatten, beurteilten sie ihn, als er dann endlich gesendet wurde, mehr unter technischen Gesichtspunkten und hatten etwas von dem Vertrauen, das sie in ihn gesetzt hatten, verloren. Vielleicht lag es daran, daß sie sowenig geschlafen hatten, aber sie fanden, daß er gestellt und absurd, ja unglaubhaft wirkte. Doch mit dieser Einschätzung sollten sie sich ganz gewaltig täuschen. Der Bericht brachte WNN wenig später einen Pulitzerpreis ein. Die vielfach angekündigte und mit großer Spannung erwartete Ausstrahlung wurde die am häufigsten gesehene, diskutierte und analy211
sierte Nachrichtensendung, die je im Fernsehen gezeigt worden war. Als die ausführliche Sendung zu Ende war, blieben sie erschöpft in Feldmans Wohnzimmer sitzen, zu ausgebrannt und zu benommen, um sich noch auf den Weg in die Schlafzimmer zu machen. Feldman schaltete das Gerät mit der Fernbedienung ab. Ein wenig später ließ sich Hunters flüsternde Stimme in dem dunklen Zimmer vernehmen: »Also wißt ihr, wenn jemand wirklich die Welt durcheinanderbringen wollte, hätte er dafür keinen besseren Zeitpunkt als die Jahrtausendwende und kein besseres Mittel als einen Pseudomessias wählen können. Irgendwie stimmt einen das schon nachdenklich, oder? Mit wem haben wir es hier zu tun – mit dem Messias oder mit Frankenstein?« Vermutlich schliefen die anderen schon, denn niemand antwortete ihm.
46 BROOKFOREST, RACINE, WISCONSIN, USA, 12 UHR, SONNTAG, 30. JANUAR 2000 »Ha! Was habe ich dir gesagt!« Tommy Martin wandte sich mit spöttischer Genugtuung von seiner Couchecke aus an seine Schwester, als die Sondersendung von WNN über die wahre Herkunft des neuen Messias zu ihrer beunruhigenden Schlußfolgerung kam. »Jesa ist nur eine Betrügerin! Ein Schwindel! Shelley, du glaubst aber auch alles!« »Und du bist der große Experte?« erwiderte seine Schwester höh212
nisch. »Wenn du vielleicht mal ab und zu in der Bibel lesen würdest, statt mit deinen blöden Freunden im Internet zu surfen, dann wüßtest du Bescheid. Der Bericht beweist überhaupt nichts. Es kam ja gar nichts vor, was den Prophezeiungen im Alten Testament über die Wiederkunft widerspricht. Es wurde ja gar nicht erklärt, wer Jesa ist. Es wurde nur gesagt, woher sie kommt.« »Tommy, hast du dich wieder heimlich in dem verdammten Internet rumgetrieben, statt deine Hausaufgaben zu machen?« wollte Tom senior wissen. Der Junge warf seiner Schwester einen vernichtenden Blick zu und sagte nichts. Michelle Martin schaltete den Fernseher aus und ergriff Partei für ihre Tochter. »Shelley hat recht, Tommy. Man kann der Frau doch nicht vorwerfen, woher sie kommt. Niemand kann etwas dafür, wie er auf die Welt gekommen ist.« Tommy prustete los. »Überleg doch mal, Mom! Dieses Forschungsinstitut war ja nicht gerade der Garten Eden oder so etwas. Die Frau kommt nicht von Gott. Sie ist ein Baukastenprodukt aus dem Labor.« Mrs. Martin runzelte die Stirn und wollte Tommys Argument nicht akzeptieren. »Ich weiß nicht, irgendwie hat sie etwas Besonderes. Wie sie aussieht. Wie sie spricht und sich bewegt und ihre ganze Haltung. Wie sie auf einen wirkt. Sie ist so … so überwältigend. Es ist, als wäre sie … aus einer anderen Welt oder so etwas!« »Mir ist es egal, selbst wenn sie vom Mars kommt«, erklärte Shelley. »Jesa hat jedenfalls eine Menge mehr zu bieten als alle Prediger, die ich bis jetzt erlebt habe!« »Ja«, sagte der Sohn bissig. »Ich würde sie glatt mit so verrückten Aposteln wie Jim Jones und David Koresh auf eine Liste setzen!« Mrs. Martin sah verwirrt zwischen ihren streitenden Kindern hin und her. Der Vater griff ungeduldig zur Fernbedienung und schaltete den 213
Fernseher wieder an.
47 BEN-GURION-APPARTEMENTS, JERUSALEM, ISRAEL, 2 UHR 12, MONTAG, 31. JANUAR 2000 Im vollen Lauf streckte er die braungebrannten Beine. Den Blick hatte er auf die schmale Bahn zur Sprunggrube gerichtet. Eine Menschenmenge säumte die Bahn auf beiden Seiten. Am Ende standen die Schiedsrichter mit ihren Maßbändern und erwarteten ihn. Er drückte die Spikes seiner Schuhe in den Boden, um einen sicheren Halt zu haben, und bereitete sich innerlich auf den Absprung vor. Feldman wußte, daß alles nur ein Traum war, konnte sich aber nicht davon lösen. Er war wieder am College, mitten in einem Sportwettbewerb, und versuchte, seine jugendliche Angst durch einen ungebremsten Sprint und einen befreienden Weitsprung loszuwerden. Die Menge wurde ungeduldig. Hinter sich hörte Feldman Hunters Stimme, der ihn anfeuerte: »Beeil dich, Feldman, beeil dich!« Feldman war merkwürdigerweise nervös, als er auf den Absprung zulief, aber seine Beine, die ihm ein vierjähriges Stipendium eingebracht hatten, waren so schnell und stark wie immer. Er stieß sich zu einem spektakulären Sprung ab. Über ihm hingen dunkle, drohende Wolken. Unter ihm hatte sich die Sprunggrube in einen tiefen, klaffenden Abgrund aus Flammen und gequälten Seelen ver214
wandelt, und er schlug mit den Armen in wilder Panik um sich. Feldman erwachte völlig verschwitzt. Anke lag zusammengekauert neben ihm auf der Couch und atmete langsam und gleichmäßig. Ihr langes, weiches Haar hing ihr wirr ins Gesicht. Feldman lächelte und küßte sie sanft. Er wand sich vorsichtig von der Couch und stand auf, um zur Toilette zu gehen. Aber als er am Telefon vorbeischlich, begann es laut zu klingeln und erschreckte ihn. Er griff sofort nach dem Hörer, um zu verhindern, daß die anderen geweckt würden. Am anderen Ende vernahm er die ernste, wohlüberlegte und nachdrückliche Stimme eines Mannes. »Jon Feldman?« »Äh, ja.« »Bitte hören Sie mir ganz aufmerksam zu. Sie haben ungefähr dreißig Minuten Zeit, um Ihr Appartement zu verlassen. Ein Sonderkommando des IDF ist unterwegs, um Sie und Ihre Kollegen zu verhaften.« »Was?« »Hören Sie mir zu. Sie müssen sich sofort absetzen und Israel jetzt verlassen. Gehen Sie nicht zum Flughafen und nehmen Sie keinen Zug. Fahren Sie auf Highway 1 östlich zur Route 30 und dann nach Jordanien. So kommen Sie am schnellsten aus Israel hinaus. Nach Amman sind es nur ungefähr hundert Kilometer. Mit etwas Glück könnten Sie es in zwei Stunden schaffen.« »Wer ist denn da? Woher haben Sie meine Nummer?« Inzwischen fingen die anderen an, sich zu rühren, und Hunter stand auf und suchte nach dem Lichtschalter. »Ich bin ein Freund, und ich versuche, Ihnen zu helfen. Bitte, hören Sie auf mich, Sie haben nicht viel Zeit.« »Was ist mit Nigel Sullivan und Arnold Bollinger und den anderen von meinem Team? Was ist mit ihnen passiert?« »Sie werden auch abgeholt. Rufen Sie sie nicht von Ihrer Woh215
nung aus an. Warten Sie, bis Sie unterwegs sind, und rufen Sie sie über Autotelefon an. Mehr als ich schon getan habe, kann ich nicht für Sie tun. Vertrauen Sie mir und gehen Sie. Viel Glück!« »Moment mal! Wer sind Sie und woher wissen Sie das alles?« Feldman hörte nur noch das Freizeichen. »Auf, Leute«, rief er den anderen zu. »Wir müssen sofort hier weg!« Sie packten hastig die wichtigsten Sachen zusammen, verließen blitzartig die Wohnung und brausten in Feldmans Rover durch die Nacht davon. Hunter saß vorne neben Feldman und begann, die Telefonnummern anzuwählen, um den Alarm weiterzugeben. »Anke«, Feldman sah ihr durch den Rückspiegel in die Augen, »du brauchst nicht mit uns wegzugehen, das weißt du. Du bist noch unverdächtig. Sie wissen nichts über unsere Verbindung.« Anke lehnte sich nach vorne und drückte ihm sanft die Schulter. »Ich bin jetzt schon zu sehr drin, um auszusteigen. Ich will dabeisein, um dir zu helfen, wenn ich kann. Wenn du mich läßt.« Hunter unterbrach sie. »Ich habe Sullivan dran. Er sagt, wir sollen alle ruhig bleiben und zum Ambassador Hotel in Amman fahren. Er trifft uns dort, um zu entscheiden, was wir als nächstes tun sollen. Wahrscheinlich wird er uns alle eine Weile nach Kairo schicken, bis sich die Lage hier beruhigt hat.« Danach versuchte er, Cissy zu erreichen, aber ihre Leitung war dauernd besetzt. »Da stimmt etwas nicht«, meinte Hunter. »Kehr um, Jon, wir müssen sie abholen!« Feldman trat auf die Bremse und wendete den Wagen. Zehn Minuten später rollte das Auto langsam und leise an Cissys Wohnung vorbei, in der kein Licht brannte. Aber sie kamen zu spät. Um die Ecke parkte ein israelischer Militärjeep. Feldman hielt den Rover in einer kleinen Straße hinter dem Haus an, um zu überlegen, was sie tun sollten. 216
»Scheiße«, stieß Hunter hervor, »sie haben sie schon!« »Im Jeep war niemand«, meinte Erin. »Sie müssen noch oben in ihrer Wohnung sein.« »Komm, Feldman«, drängte Hunter, »wir gehen mal nachsehen.« Er stieg aus und fischte ein Montiereisen aus dem Kofferraum. Feldman reichte Anke die Autoschlüssel und bat sie, sich inzwischen auf den Fahrersitz zu setzen. »Wenn wir Probleme kriegen, dann fahrt ihr so schnell ihr könnt nach Amman und nehmt Kontakt mit Sullivan auf. Er weiß schon, was zu tun ist.« Um den Wohnblock herum war alles still. Oben brannte kein Licht. »Das ist sehr seltsam, Jon«, fand Hunter. »Es könnte eine Falle sein.« »Ja, wenn ihre Leitung besetzt ist, warum sind dann die Lichter aus?« Obwohl es gefährlich werden konnte, fiel es ihnen gar nicht ein umzukehren. Sie gingen leise die Treppe hinauf zu dem kleinen Treppenabsatz vor Cissys Wohnungstür. »Ich kann überhaupt nichts sehen«, flüsterte Hunter und legte die Hand über die Augen, das Gesicht an das Glas neben der Tür gepreßt. »Ich klopfe jetzt.« »Was?« »Scheiße, Mann, wir machen's jetzt! Hier!« Hunter gab Feldman das Montiereisen, und Feldman drückte sich flach an die Wand neben dem Türrahmen. Hunter klopfte zuerst leise und wartete. Keine Antwort. Ein bißchen lauter. Immer noch keine Antwort. Endlich donnerte er mit der Faust gegen die Holztür und hörte einen klagenden Laut von drinnen. Das Flurlicht ging an, die Tür öffnete sich, und Cissy lugte mit zusammengekniffenen Augen über die Kette durch den Türspalt. 217
»Cissy!« wisperte Hunter. »Hunter, bist du das?« rief Cissy. »Was machst du denn hier mitten in der Nacht, verflixt noch mal? Bist du besoffen?« »Cissy«, zischelte Hunter, »sei ruhig! Hör zu, wir sitzen in der Scheiße. Das Militär ist hinter uns her. Sie haben Durchsuchungsbefehle für uns alle, wir müssen abhauen! Sofort!« Aus dem Innern der Wohnung hörten sie eine gedämpfte Männerstimme mit Akzent: »Hey, Cissy, was ist los? Ist alles in Ordnung?« Hunter war perplex, und Feldman trat vor und ließ seine Waffe sinken. »Feldman?« Cissy war immer noch geblendet vom Licht. »Bist du auch dabei?« »Cissy, hör mal«, flüsterte Feldman dringend. »Hunter hat recht. Wir glauben, der IDF ist hinter uns her wegen der Sendung. Wir müssen uns schnell absetzen. Nimm ein paar Sachen mit und laß uns gehen, bitte!« Hunter war immer noch ratlos, als ein großer, stoppelbärtiger junger Mann ohne Hemd die Tür entriegelte und einen Arm um Cissy schlang. »Was ist hier los?« fragte er wieder. »Was wollen diese Clowns hier?« »Geht dich nichts an, Kamerad«, schoß Hunter zurück. »Sie ist eine Kollegin, und die Sache ist vertraulich. Hau ab.« Der Mann wich nicht von der Stelle. »Hau selber ab, Arschloch.« Er trat zurück und versetzte Hunter einen aggressiven Stoß gegen die Brust. »Beantworte mir eine Frage, Cowboy.« Hunter ließ sich nicht einschüchtern, während Feldman sein Montiereisen festhielt. »Bist du vom IDF?« Der Mann wurde noch ein paar Zentimeter größer und verkündete stolz: »Sergeant first class, du Arschloch!« Blitzartig verpaßte ihm Hunter eine kurze verheerende Rechte. 218
Der Soldat taumelte und sackte bewußtlos zusammen. Cissy sah ungläubig hin und her und fing stotternd an zu schimpfen. Hunter packte sie an den Schultern, sah ihr direkt in die Augen und zischte energisch: »Ich sag' das nur einmal – Tamin ist hinter uns her, und wir hauen ab. Stopf ein paar Klamotten in eine Tasche und los!« Cissy verzog das Gesicht, sah Feldman fragend an, der nachdrücklich nickte, und gab dann wortlos nach. Zwei Minuten später nahm Hunter eine Tasche in die eine Hand und schob Cissy mit der anderen schnell durch die Tür. Beim Hinausgehen warf sie einen betrübten Blick auf ihren gefallenen Helden, seufzte und eilte mit ihren beiden Begleitern davon.
48 AMBASSADOR HOTEL, AMMAN, JORDANIEN, MONTAG VORMITTAG, 31. JANUAR 2000 Allen außer einem Mitglied des WNN-Teams gelang es, sich Tamins Zugriff zu entziehen. Arnie Bollinger war das Risiko eingegangen, in sein Büro zurückzukehren, um wichtige Unterlagen zu holen, aber die Soldaten des IDF erwarteten ihn schon und verhafteten ihn sofort. Feldman, Anke und die übrigen Mitarbeiter von WNN waren inzwischen sicher in Amman angekommen. Unterwegs war Feldman der Gedanke gekommen, vorsichtshalber Anne Leveque anzurufen. Aber seine Warnung kam zu spät. Zu seiner Empörung und Bestürzung erfuhr er, daß die Witwe einen weiteren 219
Besuch von Goene erhalten hatte. Der General war diesmal mit einem Durchsuchungsbefehl gekommen und hatte ihre Wohnung durchstöbern lassen, bis er das Tagebuch ihres Mannes gefunden hatte – und es beschlagnahmte. So müde er auch war, als er Amman erreichte, konnte Feldman doch nicht schlafen. Er hatte vernichtende Schuldgefühle wegen der verheerenden Folgen seines Berichts über die Herkunft des Messias. Aber die Serie schlechter Nachrichten, die weiter über Radio Israel hereinkam, sollte nicht abreißen. Tamin schien in Jerusalem unter zunehmenden politischen Druck zu geraten. In einer ungewöhnlichen Livesendung wies der Verteidigungsminister die Anschuldigungen von WNN hinsichtlich der Experimente im Negev Forschungsinstitut entschieden zurück. Außerdem verteidigte er seine repressive Polizeiaktion gegen WNN als eine unumgängliche Maßnahme, um ›Geheimnisse der Staatssicherheit‹ zu schützen, zu denen er keine weiteren Angaben machte. Als befremdlichste und schamloseste Aktion kündigte der Verteidigungsminister eine uneingeschränkte Menschenjagd des IDF an, durch die sie den schwer faßbaren Messias in ›Schutzhaft‹ nehmen wollten. Feldman war außer sich vor Wut. Dem Reporter war klar, daß jetzt, da Leveques Tagebuch in den Händen des IDF war, der einzige Beweis, mit dessen Hilfe Tamin und Goene unter Anklage gestellt werden konnten, buchstäblich in der Person der kleinen Prophetin selbst lag. Trotz des WNN-Berichts über ihre Herkunft blieben die meisten ihrer Anhänger ihr treu. Viele lehnten den Bericht in Bausch und Bogen ab, die meisten leugneten einfach seine Bedeutung und glaubten, das Geschehen am Davidsbrunnen habe jede nur mögliche spirituelle Verunreinigung durch die Laborexperimente abgewaschen, und der Blitzstrahl in den Tempelruinen sei der entscheidende Moment gewesen, in dem Gott Jesa salbte und ihre Seele mit 220
ihrer Mission durchdrang. Für Jesas Anhänger war die neue Bedrohung ihres Messias eine unerträgliche Missetat, die ein sofortiges und tatkräftiges Handeln erforderte. Aber endlich gab es eine gute Neuigkeit. Vielleicht um die Knesset zu beschwichtigen, ließ man später am Tag Bollinger endlich frei, ohne Anzeige zu erstatten. Der erschöpfte, ungewaschene Journalist kam bald danach am Flughafen in Amman an und wurde wie ein Held gefeiert. Bollinger hatte jedoch vom IDF keine erfreuliche Botschaft zu übermitteln. WNN war bis auf weiteres aus Israel verbannt. Das gesamte Equipment war auf Befehl von Shaul Tamin beschlagnahmt worden. Sullivan hatte keine andere Wahl, als sofort alle Aktivitäten und das Personal in das Regionalstudio nach Kairo zu verlegen und die weitere Entwicklung im Heiligen Land abzuwarten.
49 TAGUNGSZENTRUM DER MORMONEN, SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 8 UHR 42, SAMSTAG, 5. FEBRUAR 2000 Am zweiten Morgen der ersten Versammlung sollte es endlich um den strittigsten Punkt gehen. ›Eine Auswertung der Authentizität der neuen messianischen Erscheinung.‹ An einem erhöhten Pult in einem riesigen Versammlungsraum stand ein hagerer, älterer Mormone mit Brille und rief die Versammlung von über fünfhundert religiösen Führern zur Ordnung. 221
Die Einführung in das Thema, das im Brennpunkt des Interesses stand, oblag einem jungen, gelehrten Theologen der Mormonen, der als Bruder Elijah Petway vorgestellt wurde, seines Zeichens führender Experte für die Zusammenhänge zwischen Neuem und Altem Testament. Bruder Petway war ein kleiner, dünner Mann mit heller Haut und dünnem blondem Haar, einem verkniffenen Gesicht und hellblauen Augen, die hinter einer Nickelbrille in regelmäßigen Abständen blinzelten. Eifrig bestieg Bruder Petway das Podest und blickte sein aufmerksames Publikum strahlend an. »Meine jüdischen, christlichen, moslemischen und buddhistischen Brüder und Schwestern im Glauben«, begann er mit dünner, pedantischer Stimme. »Ich danke Ihnen allen für die Gelegenheit, Ihnen die Ergebnisse meiner ausführlichen Untersuchungen darzulegen.« Nach einer etwas ermüdenden Erklärung zur Methode und Gründlichkeit seiner Forschungen kam Petway endlich zum Hauptteil seiner Ergebnisse – einer Liste von zugleich offenkundigen und schwer nachvollziehbaren Parallelen zwischen den Schriften des Alten und des Neuen Testaments und den jüngsten Ereignissen im Heiligen Land, die er wie eine Litanei herunterbetete. Der größte Teil seiner Parallelen bestand aus solchen Dingen wie dem Vergleich des angeblichen Meteoriten mit dem biblischen Stern von Bethlehem, Ähnlichkeiten zwischen den japanischen Astronomen und den Heiligen Drei Königen aus dem Morgenland oder der Bedeutung des Datums, dem 25. Dezember, an dem das Institut zerstört worden war. Petways Vortrag gipfelte in einer äußerst kontroversen These. »Angesichts der Enthüllungen durch den Sender World News Network ist jetzt die einzigartige und biblisch bedeutsame Natur von Jesas Geburt für jedermann klar zutage getreten«, behauptete er. »Wie Sie sich erinnern werden, wurde Jesa durch einen Prozeß der Empfängnis geschaffen, der als polare Befruchtung bekannt ist. Die222
ser Prozeß wurde ohne die Einführung von Sperma in die Fortpflanzungsorgane der Leihmutter durchgeführt. In der Tat wurde bei diesem Verfahren die Notwendigkeit männlicher Gameten vollkommen umgangen. Wir haben es deshalb mit einer reinen, jungfräulichen Empfängnis und einer jungfräulichen Geburt im wahrsten Sinn des Wortes zu tun!« In großen Teilen des Publikums erhob sich ein Murren, aber Petway ließ sich davon nicht beeindrucken. Sehr mit sich zufrieden holte er tief Luft. »Ich meine, daß diese Versammlung hier aus den überwältigenden direkten oder indirekten Beweisen, die ich gerade vorgelegt habe, einen unvermeidlichen Schluß ziehen muß. Ich behaupte, daß es irrelevant ist, ob Jesa durch eine unbefleckte Empfängnis von Gott oder durch künstliche Befruchtung von Menschen geschaffen wurde. Gottes Wege sind seltsam. Wenn es seine Entscheidung ist, die Torheit des Menschen zu nutzen, um seine eigenen Ziele zu erreichen, wer sind wir, daß wir dies in Frage stellen können? Ich behaupte ebenso, daß es irrelevant ist, ob der neue Messias männlich oder weiblich ist. Jesas scheinbar abweichendes Geschlecht sollte ihre Botschaft nicht schmälern. Wir müssen nach der tieferen Bedeutung suchen, warum Gott dieses Mal eine Frau als seinen Vertreter gewählt hat. Und letztlich behaupte ich – sofern Sie mit mir auch nur zu einem Bruchteil übereinstimmen –, daß wir alle zu einem Ergebnis kommen können: Dieses besondere Wesen unter uns, diese heilige, göttliche Kreatur, die als Jesa bekannt ist, kann niemand anders sein als die einzige, eingeborene Tochter Gottes: Jesa Christ!« Die emphatische Rede löste in der Versammlung unterschiedliche Reaktionen aus, die von spöttischer Empörung über respektvollen Applaus bis zu wilden Beifallsstürmen und begeisterten Hallelujarufen reichten. Starker Beifall kam nicht nur vom millennarischen Teil des Publikums, sondern auch von der jüdischen Gruppe, die aus einigen aufgeregten Rabbinern einschließlich des angesehenen 223
Oberhauptes der ultraorthodoxen chassidischen Lubawitscher-Bewegung, Rabbi Mordachai Hirschberg, bestand, der eine Hand auf sein heftig klopfendes Herz gepreßt hielt. Petway verließ das Podest, von der Durchschlagskraft seiner Argumente überzeugt. Bei einem ruhigen, unauffälligen Herrn, der allein an einem ziemlich weit vom Podest entfernten Tisch saß, hatte Bruder Petway jedenfalls mehr Plus- als Minuspunkte zu verzeichnen. Er hatte sorgfältig jedes Wort mit einem Kassettenrecorder aufgenommen, sich genaue Notizen gemacht und fühlte sich nun vollkommen rehabilitiert. Es war der mit neuem Leben erfüllte Kardinal Alphonse Litti.
50 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 10 UHR 3, SONNTAG, 6. FEBRUAR 2000 Außer der Befreiung Arnie Bollingers aus den Händen Shaul Tamins gab es wenig, das dazu beitragen konnte, Feldmans wachsende Frustration über sein Exildasein zu mildern. Da sie nicht mehr am Schauplatz Israel waren, hatten Feldman und seine Kollegen die letzten paar Tage kaum mehr zu tun, als im Kairoer Studio herumzuhängen und darauf zu warten, daß es WNN gelingen würde, ihnen ihre Visa wiederzubeschaffen. Feldman und Anke versuchten, die aktuellen Ereignisse mitzuverfolgen, und saßen deshalb in einem freien Schnittraum vor einem Dutzend Monitoren an der Wand. Jeder Bildschirm war auf einen 224
anderen Kanal eingestellt, der Ton war überall abgedreht außer bei demjenigen, dem ihr momentanes Interesse galt. Plötzlich zeigte Anke auf einen bestimmten Bildschirm. Feldman schaltete den Ton auf das Programm, in dem ein ernst aussehender Mann über die weltweit anwachsende Bekanntheit der zwei opponierenden millennarischen Sekten berichtete. »Die überraschende Ankunft der weiblichen Jesa hatte eine polarisierende Wirkung auf Hunderte von millennarischen Glaubensgemeinschaften in der Welt«, erklärte der Sprecher. »Im Licht der jüngsten Ereignisse haben sich die meisten millennarischen Sekten in zwei deutlich getrennte Lager, eine Pro-Jesa- und eine Anti-JesaBewegung, geteilt. Unter den Millennariern im Anti-Jesa-Block hat sich eine Mehrheit unter dem Banner einer eher lautstarken Organisation, der Guardians of God oder der Wächter Gottes, zusammengefunden. In der Pro-Jesa-Gruppe hat eine fundamentalistische Sekte immer mehr Zulauf, deren Mitglieder sich Messianic Guardians of God nennen. Obwohl diese zwei Gruppen die entgegengesetzten Pole der millennarischen Bewegung darstellen, sind sie aus ein und derselben Sekte hervorgegangen.« »Ach«, rief Feldman, »mit diesen verrückten Guardians hatte ich auch schon zu tun. Ziemlich unheimliche Gesellschaft.« »Was weißt du über sie?« fragte Anke. »Hunter und ich, wir haben kurz vor der Jahrtausendwende einen Bericht über sie gemacht. Es handelt sich um eine Endzeitsekte, die behauptet, mit dem zweiten Chor der himmlischen Heerscharen, den Erzengeln, zu verkehren. Sie betrachten sich als Soldaten Christi, als selbsternannte Begleiter des Messias für den Fall seiner Wiederkunft. Sie führen ein paramilitärisches Training als Vorbereitung auf die Schlacht von Armageddon durch.« Auf dem Bildschirm war eine große Gruppe von Männern, Frauen und Kindern zu sehen, die vor einem großen Lagerfeuer eine Zusammenkunft abhielten. Viele der Erwachsenen trugen zeremo225
nielle Schwerter und Schlagstöcke und schwangen sie über dem Kopf, während sie sangen und beteten. Der Reporter kommentierte: »Diese Gruppe von Feiernden gehört zu einer der ältesten millennarischen Sekten der Welt; sie stammt aus einer Zeit, die mehr als tausend Jahre zurückliegt, aus dem Jahr 999, der ersten Jahrtausendwende.« Auf dem Bildschirm erschien ein altes Wandgemälde. Auf dem Gemälde waren in weiße Gewänder gekleidete Männer, Frauen und Kinder abgebildet, die sich in Europa zu einer Fahrt ins Heilige Land einschifften. »Bevor sie nach Jerusalem fuhren«, erklärte der Sprecher, »gaben diese früheren Guardians of God allen persönlichen Besitz auf, pflegten einen spartanisch einfachen Lebensstil und widmeten sich dem Gebet und der militärischen Schulung. Sie hatten sich dem Ziel verschworen, dem Messias bei seiner Rückkehr am Letzten Tag als Beschützer zu dienen. Daß diese Sekte ihre gefahrenreiche Pilgerfahrt ins Heilige Land lebend überstand, verdankte sie zum großen Teil ihrer grimmigen Wehrhaftigkeit.« Die Kamera zoomte einen Ausschnitt des Bildes heran und zeigte einen Wimpel, den der Anführer des Pilgerzuges hochhielt. Auf der Standarte prangte ein einfaches Wappen: Zwei menschliche Oberschenkelknochen, zu einem T zusammengefügt, flankiert von einem Schwert und einer Streitaxt. Darüber stand in goldenen Lettern ›Custodes Dei‹ – Guardians of God, Wächter Gottes. Der Beitrag blendete zu einem Guardian von heute zurück, der sein Schwert in einem gestellten Kampf gegen das Böse schwang. Als er vor der Kamera stand und das Schwert hoch über den Kopf erhob, rückte die Kamera seine Brust ins Blickfeld, wo das gleiche Wappen auf dem Gewand über dem Herzen des Mannes zu sehen war. »Diese heutigen Guardians of God«, fuhr der Sprecher fort, »haben genau wie ihre Vorgänger Christus die Treue für die Schlacht von Armageddon geschworen. Letzten Monat, als Jesa auf dem Berg 226
der Seligpreisungen erschien, entzweiten sich die Guardians jedoch heftig darüber, ob sie berechtigt sei, sich Messias zu nennen. Die Mehrzahl der Guardians brachte es nicht über sich, Jesas Geschlecht anzuerkennen, und sie erklärten sie zur Betrügerin. Sie begannen, im Sammelbecken der Anti-Jesa-Sekten eine führende Rolle zu übernehmen. Als Reaktion darauf spalteten sich die Pro-Jesa-Guardians ab, die ihre Unterstützung Jesas mit einem erweiterten Namen, Messianic Guardians of God, unterstrichen, dem sie ein neues Wappen hinzufügten.« Auf dem Bildschirm erschien eine Fahne, die das Abzeichen der Messianic Guardians trug – die Buchstaben MGG in Silber auf einem gelben Schild mit Bündeln aus Palmblättern. »Und nun scheinen die Messianic Guardians als die volkstümlichen Bannerträger der ganzen Pro-Jesa-Bewegung hervorzutreten.« Feldman und Anke sahen sich an, schüttelten ungläubig die Köpfe und schalteten zu einer anderen Nachrichtensendung um. Darin ging es um die Ben-Miriam-Regierung, deren Schwäche Tamin kürzlich so wirksam für sich ausgenutzt hatte und die noch tief von dem Fiasko gezeichnet war, das ihr eine verunglückte Öffentlichkeitsarbeit eingebracht hatte. In der ganzen Welt war es vor israelischen Botschaften zu Protestkundgebungen gekommen. Jesas Anhänger sahen in jedem Versuch, ihren Messias zu verhaften, ungute Vorzeichen einer Katastrophe, die an biblische Geschehnisse erinnerte. An vielen Orten hatte sich die Situation so zugespitzt, daß es tatsächlich zu Übergriffen auf die Botschaften und zu mehreren Terroranschlägen gekommen war, verübt von einer zunehmend militanten Gruppe der Messianic Guardians. »Ich verstehe nicht, wie sie Tamin als Verteidigungsminister behalten können«, sinnierte Feldman vor sich hin. »Eziah Ben-Miriam ist ein anständiger Mann – warum wirft er den Lump nicht hinaus und sieht zu, daß er diese Probleme los wird?« »Ben-Miriams Position ist nicht stark genug«, erklärte Anke. »Seine Koalitionsregierung ist zu schwach und Tamin zu mächtig. Au227
ßerdem hat Tamin die richtigen Freunde. Es wird einen Beschluß der Knesset erfordern, um ihn zu stürzen, und seine Freunde werden dagegen angehen. Ich fürchte, Israel stehen harte Zeiten bevor.« »Und mittlerweile«, ärgerte sich Feldman, »müssen wir hier mitten im Meisterschaftsspiel auf der Wartebank sitzen!« Er hob den Kopf und rief verzweifelt den Himmel an. »Hey, Coach! Wenn du da oben bist, dann wird es Zeit, daß du mich wieder mitspielen läßt!« Sein Wort wurde offensichtlich erhört. Genau in diesem Moment befanden sich auf der entgegengesetzten Seite der Stadt Mitglieder des WNN-Teams Nummer drei auf einem der größten Kairoer Märkte beim Einkaufen. Vom Lärm einer aufgeregten Menschenmenge in der Mitte des Platzes angezogen, drängten sie dorthin, um sich plötzlich keinem anderen als dem Messias selbst gegenüberzusehen. Jesa, von einer Schar von Anhängern in Hochstimmung umgeben, tröstete eine schwer atmende junge Mutter und ihr weinendes Baby. Das WNN-Team war fassungslos. Niemand war auf die Idee gekommen, daß Jesa in Ägypten sein könnte. Die Crew eilte zurück zu ihrem Wagen, um die Kameraausrüstung zu holen, und benachrichtigte die Zentrale. Bis Feldman und sein Team ankamen, war der Messias wieder wie vom Erdboden verschluckt. Feldman aber war jedoch dankbar dafür, daß er das unglaubliche Glück hatte, wieder mit von der Partie zu sein. Jesa war in Kairo. Und wieder einmal konnte WNN die sensationelle Meldung bringen. Obwohl das Team nur den letzten Teil der Episode mit der Kamera einfangen konnte, waren die Aufnahmen unbezahlbar. Jesa sprach in der Szene auf arabisch zu den Menschen, viele lagen vor ihr auf den Knien, in völliger Hingabe mit den Köpfen den Boden berührend. 228
Durch den Übersetzer von WNN erfuhr Feldman, daß Jesa hier wieder ein Wunder getan hatte. Eine vor Aufregung völlig kopflose Frau war schreiend mit ihrem toten Baby im Arm aus dem Haus auf den Marktplatz gelaufen. Es hieß, daß das Kind im Schlaf gestorben war. Plötzlicher Kindstod, nahm Feldman an. Ganz zufällig lief die verzweifelte Frau Jesa in die Arme, die sie mit ausgestreckter Hand anhielt und sagte: »Frau, warum weinst du?« Die unglückliche Mutter konnte nicht antworten und hielt ihr einfach das Kind entgegen, dessen Haut, so hieß es später, bereits blau verfärbt war und dessen Glieder schlaff herabhingen. Auf dem Marktplatz liefen die Menschen zusammen. Man erzählte, Jesa habe das Kind in die Arme genommen und mit geschlossenen Augen betend an die Brust gedrückt. Dann habe das Kind plötzlich krampfartige Bewegungen gemacht, gehustet und sei wieder zum Leben erwacht! Die Menge, die Jesa erkannte, fiel auf die Knie und erklärte sie zu einer Prophetin Allahs, Jesa hatte das Kind gerade in dem Augenblick seiner Mutter zurückgegeben, als das WNN-Team den Schauplatz erreichte. Den Rest konnte Feldman auf dem Marktplatz verfolgen, als man ihm das Videoband vorspielte. Er sah das jetzt schon vertraute, leuchtende Gesicht Jesas, die sich der Menschenmenge zuwandte. Die Übersetzung ihrer Worte aus dem Arabischen lautete: »Warum staunt ihr? Was nützt es dem Kind, wenn sein Körper erweckt wird, aber seine Seele schläft? Ich sage euch, das Wort lebt, aber es gibt Menschen, die es unterdrücken wollen. Öffnet euren Geist dem Wort. Denn in jedem von euch ist die Auferstehung, die Macht und der Glanz und das Verstehen!« Und dann verschwand sie in der Menge. Jesa in allerbester Form.
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51 NATIONALE KIRCHE DES UNIVERSALEN KÖNIGREICHS, DALLAS, TEXAS, USA, 6 UHR 30, SONNTAG, 6. FEBRUAR 2000 Reverend Solomon T. Brady kehrte von der Versammlung mit gemischten Gefühlen heim. Aber er war nicht unzufrieden. Er hatte eine faszinierende Idee, die ihm vielleicht helfen konnte, die nachlassende Spendenbereitschaft wieder anzukurbeln. Den Grundgedanken dazu hatte ihm ein Kollege geliefert, ein Prediger aus Raleigh, North Carolina, der ihn während eines Seminars mit dem Titel ›Die Auswirkung des neuen religiösen Dogmas auf die Einheit unserer Gemeinden‹ geäußert hatte. Dieser Pfarrer, der eine Talkshow im Radio hatte, war sehr erfolgreich mit seiner Methode, den gegenwärtigen, aufwühlenden Ereignissen zu begegnen. Statt die ständig wachsende Abwanderung seiner Gemeindemitglieder wegen des beliebten Messias zu bekämpfen, nutzte er die Lage für seine Zwecke aus. Er forderte seine Zuhörer auf, ihn während der Sendung anzurufen und ihre Meinungen zu der Prophetin und ihrer Botschaft zu äußern. Durch seinen Kommentar zu den unterschiedlichen Äußerungen gelang es ihm, mäßigend auf die Anrufer einzuwirken, ohne selbst eine klare Stellung zu beziehen. Der einfallsreiche Prediger hatte entdeckt, daß seine Anrufer auch bereit waren zu spenden, wenn sie nur die Gelegenheit bekamen, ihren spirituellen Marotten freien Lauf zu lassen, und jeder schien eine entschiedene Meinung über die Prophetin zu haben, die er loswerden wollte. Obwohl er damit ziemlich vom üblichen Rahmen der Predigersendungen ab230
wich, half es doch, seine Kassen zu füllen. Mit dieser Strategie wollte es Reverend Brady nun auch versuchen. Die Idee einer Messias-Hotline allein war schon die Kosten für die Konferenz wert gewesen. Die anderen Vorträge hatte Brady durchaus interessant, wenn auch besorgniserregend gefunden. Nachdem er so viel über diese Jesa erfahren hatte, verstärkte sich in ihm der Verdacht, daß sie vielleicht doch der wahre Messias sein könnte. Dazu waren einige überzeugende Gesichtspunkte dargelegt worden: Jesa erfüllte tatsächlich viele der alten Prophezeiungen, die sich auf den Messias und die Wiederkunft des Herrn bezogen. Sie entsprach auch vielen modernen Prophezeiungen weltlicher und religiöser Natur, die zu verschiedenen Zeiten für das neue Jahrtausend gemacht worden waren, von Autoren wie Nostradamus, Edgar Casey und Menachem Schneerson. Alle hatten das Erscheinen einer religiösen Führerfigur vorausgesehen, die an der Wende zum 21. Jahrhundert auftreten und das Ende der Welt ankündigen würde. Und Jesa war eindeutig die einzige Figur, die dafür in Frage kam. Am Ende der Konferenz konnte jedoch hinsichtlich des wahren Wesens dieser ungewöhnlichen jungen Frau kein Konsens gefunden werden. Brady stimmte gegen die von den Mormonen unterstützte Erklärung, daß Jesa eine wahre Abgesandte Gottes sei. Und das tat auch die Mehrzahl der Konferenzteilnehmer. Ihm war, als ob er dadurch, daß er gegen sie stimmte, irgendwie dazu beitragen könnte, daß sie verschwand oder wenigstens ihr Einfluß auf ihn und seine Kirche nachließ. Das einzige, worauf sich die Teilnehmer der Konferenz einigen konnten, war eine zweite Versammlung in vier Wochen am selben Ort, um die Beratungen fortzusetzen.
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52 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 9 UHR, MONTAG, 7. FEBRUAR 2000 Feldman hatte in seinem Büro einen dringenden Anruf bekommen und stürmte aus der Tür. Er nahm sich gerade noch genug Zeit, um Hunter von seinem Schreibtisch zu entführen. »Jesa!« rief er allen zu, die in der Nähe waren. »Sie ist ungefähr zehn Minuten von hier in der christlichen Mission auf der Ostseite und predigt. Kommt mit!« Feldman und Hunter waren in Rekordzeit vor Ort, und die verdienstvolle Mitarbeiterin, die angerufen hatte, winkte sie zu sich. »Sie ist seit ungefähr zwanzig Minuten da drin!« rief die Frau und deutete strahlend auf ein hohes schmiedeeisernes Tor. »Und, äh, wir schulden diesem Jungen hier eintausend Dollar dafür, daß er mir Bescheid gesagt hat.« Neben der Reporterin grinste ein etwa zehnjähriger Junge und streckte seine schmutzige Hand aus. »Okay«, willigte Feldman ein und blickte über die hohe Mauer und die Steingebäude, die das Missionsgelände säumten. »Behalten Sie ihn hier, und wir rechnen nachher ab. Wo ist sie?« »Im Innenhof vor der alten Kirche.« Die Frau zeigte in die ungefähre Richtung. »Gut«, sagte Feldman. »Aber dieses Mal stellen wir es schlauer an. Ich will sie nicht verschrecken. Nur Hunter und ich gehen rein. Der Rest der Crew verteilt sich und stellt sich an jedem Ausgang und an jeder Tür auf. Wenn sie sich absetzt, will ich wissen, wo sie hingeht und wie sie es schafft, so leicht zu entkommen.« Sie wählten eine leichte, unauffällige Kamera und ein schnurloses Mikrophon aus, 232
fuhren mit dem Rover direkt neben die Mauer und benutzten das Autodach als Plattform. Hunter lehnte sich mit der Kamera an die Mauer, und Feldman ließ sich sachte auf der Innenseite nach unten gleiten. Jesa sprach in dem kleinen Hof zu einer Gruppe von etwa fünfzig Menschen. Feldman drängte sich unauffällig durch die Menge, setzte seine Sonnenbrille auf und zog seine Baseballmütze tiefer ins Gesicht, um nicht so leicht erkannt zu werden. Endlich schob er sich vorsichtig an einen Platz zwischen einem stämmigen Mann und einer großen Frau in einer schmutzigen Schürze. Er war nur etwa eineinhalb Meter von der jungen Prophetin entfernt. Eine Nonne fragte den Messias: »Behauptest du, Gottes Tochter und die Schwester von Jesus zu sein?« Jesa antwortete: »Jesus ist mein Bruder, und Gott ist mein Vater.« »Hörst du Gott nur oder erblickst du ihn auch?« fragte eine andere Nonne. »Meistens spricht Gott zu mir. Aber wenn ich meditiere und wenn ich bete, sehe ich ihn.« »Wie sieht er aus?« wollte die Nonne wissen. »Er ist voll Schönheit und Güte und erfüllt meinen Geist mit Freude«, sagte der Messias. Feldman sah verstohlen zu Hunter hinüber und deutete auf sein Ohr. Hunter signalisierte mit erhobenem Daumen, daß der Ton gut zu hören war. »Bist du der Messias der Apokalypse?« fragte eine Frau nervös, die ein schlafendes Kind in den Armen hielt. »Und kommt das Ende der Welt bald?« »Ich bin der Messias des Neuen Lichts«, antwortete Jesa, »und ein Ende kommt!« »Armageddon oder die Verzückung?« wollte die erschrockene Frau wissen. 233
»Zuerst war das Alte Testament«, sprach Jesa zu ihr, »in dem die Menschen lernten, Auge um Auge zu fordern und in Furcht zu Gott aufzusehen. Dann kam das Neue Testament, in dem die Menschen lernten, die andere Wange hinzuhalten und in Liebe zu Gott aufzuschauen. Jetzt kommt das Neuere Testament. Ein Testament, in dem der Mensch sich erheben soll, Gott im Neuen Licht zu sehen.« Ein leises, unruhiges Murmeln ging durch die Menge. Feldman wußte, daß es riskant war, aber er konnte sich nicht mehr zurückhalten und räusperte sich. »Und wie sollen wir uns zu ihm erheben?« fragte er sie. Jesa wandte sich langsam um und sah den Reporter mit ihren durchdringenden, blauen Augen an. Obwohl er auf ihren Blick vorbereitet war, hatte er wieder das Gefühl, das Bewußtsein zu verlieren. Er hielt sich an der Schulter des stämmigen Mannes neben ihm fest, der darüber etwas ungehalten war, es sich aber doch gefallen ließ. Feldman fand wieder Halt, und der Schwindel legte sich. Die Sonnenbrille hatte nicht geholfen. Jesa hatte ihm noch nicht geantwortet. Sie runzelte die Stirn und sah Feldman genau an, als die Menge sich umdrehte, um zu sehen, wer die Unterbrechung verursacht hatte. Feldman hatte sich jetzt wieder gefangen und verfluchte sich insgeheim, weil er dachte, er hätte die Gelegenheit verpatzt. Aber Jesas Gesicht wurde wieder freundlich. »Beschreibe mir deinen Gott«, sagte sie. Feldman verschlug es völlig die Sprache, und er suchte in seinem Gedächtnis nach den Resten seines Katechismuswissens. »Gott ist… allwissend. Er ist… Er ist allmächtig, nur reine Güte. Richtig?« »Dann geh und ahme ihn nach«, wies sie ihn an. »Aber wie, Jesa? Wie kann ich Gott gleich werden?« »Natürlich dadurch«, antwortete sie, »daß du danach strebst, allwissend, allmächtig und voll Güte zu sein, dann kannst du kein 234
Gesetz Gottes verletzen.« Feldman merkte, daß sie dabei war, sich zurückzuziehen, und rechnete damit, daß sie wie üblich blitzschnell verschwinden würde. Er versuchte, sie aufzuhalten. »Ja, ich glaube, ich verstehe, aber kannst du nicht etwas genauer sein?« Sie verlangsamte ihren Schritt, hielt an, wandte sich ihm zu und richtete noch einmal ihren bohrenden Blick auf ihn. »Du untersuchst und erforschst, aber du lernst nichts. Du fragst, aber du hörst nichts. Du klopfst an, aber wenn die Tür offen ist, wendest du dich ab. Selig sind, die keine Antwort bekommen und doch verstehen.« Es lag keine Boshaftigkeit darin, aber trotzdem verletzten ihn ihre Worte. »Bitte«, beschwor er sie, »es gibt so vieles, das ich wissen will!« »Die Zeit ist noch nicht reif«, antwortete sie und ging weiter. Die Umstehenden folgten ihr. Feldman gab schnell über sein Mikrophon der Crew Bescheid. Er sah über die Köpfe der Leute hinweg einen Wächter, der das Tor öffnete, und die WNN-Crew, die sich hastig auf der anderen Seite des Tores aufstellte. Wenn der Messias überhaupt wahrnahm, was da draußen vor sich ging, schenkte sie dem jedenfalls keine Beachtung. Unter dem Surren von einem Dutzend Kameras schritt sie beharrlich voran, ging an ihnen vorbei, durch die kleine Straße hinter den Bauten eine Treppe hinunter und geradewegs hinaus in den fließenden Verkehr einer vielbefahrenen Durchgangsstraße. Feldman und die Crew rannten unkoordiniert hinterher und versuchten, sie nicht zu verlieren, aber die Masse von Autos, Bussen, Lkws und Fahrrädern war zu bedrohlich. Es wäre Selbstmord gewesen, ihr zu folgen. Sie war verschwunden.
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53 OVAL OFFICE, WASHINGTON. D.C., USA, 9 UHR, MITTWOCH, 9. FEBRUAR 2000 Der normalerweise unerschütterliche Allen Moore, der dreiundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten, war nervös. Die Vorwahlen in New Hampshire am Vortag hatten ihm eine völlig unerwartete Niederlage beschert. Als offizieller Grund für Moores späten Eintritt in den Wahlkampf war angegeben worden, daß er sich auf die wichtigen Aufgaben seines Amtes konzentrieren und jede Ablenkung durch den Wahlkampf vermeiden wolle. Dahinter steckte die Idee, Moore ein souveränes Präsidentenimage zu verleihen. New Hampshire war ein Staat, den er durch sein Programm bei der letzten Wahl ohne Schwierigkeiten für sich eingenommen hatte, und seine Berater waren einfach davon ausgegangen, daß Moore dort auch ohne persönliches Auftreten gut abschneiden würde. Zumal auch die Umfragen für ihn sprachen. Man hielt sich an die Theorie, daß ein müheloser Sieg ihm eine Position sichern würde, in der er selbstbewußt den Eindruck erwecken konnte, er sei auf seinem Weg zur Nominierung nicht aufzuhalten. Deshalb hatte sich Moore, dem Rat seines Wahlkampfmanagers folgend, bis Ende Januar vom Wahlkampf und vom Staat New Hampshire ferngehalten und dort keinen persönlichen Einsatz gezeigt. Diese Situation ermöglichte es einem jungen, noch völlig unbekannten demokratischen Senator namens Billy McGuire aus Maryland, in New Hampshire seine Zelte aufzuschlagen und so Stimmen für sich zu verbu236
chen. Es war allerdings nicht so, daß Senator McGuire wirklich gewonnen hätte. Er hatte nur achtunddreißig Prozent der Stimmen im Vergleich zu Moores dreiundvierzig bekommen, wobei der Rest an diverse andere Publikumslieblinge ging, die sich hatten aufstellen lassen. Aber an den klar favorisierten Moore so nah heranzukommen, bedeutete schon eine Art Sieg für den Neuling McGuire. Die Medien bezeichneten Moore nun als ›verletzlich‹. »Einfach ein blöder Zufall, daß er solches Glück hatte.« Damit rechtfertigte sich Wahlkampfmanager Ed Guenther und sprach seinem Präsidenten Trost zu. »Im März am Superdienstag werden wir McGuire in Stücke reißen und ihn los sein!« Präsident Moore nickte und hätte diesem Szenario liebend gern zugestimmt, war sich aber durchaus bewußt, daß die derzeit instabile Lage im Nahen Osten sich sehr wohl zu seinen Ungunsten auswirken könnte, wenn die Ereignisse dort weiterhin Einfluß auf die unsichere wirtschaftliche Situation in den Vereinigten Staaten ausübten. Auch Brian Newcomb, der Vorsitzende des Komitees für die Wiederwahl des Präsidenten, der diese Besprechung einberufen hatte, war nicht so optimistisch. Er wußte sehr wohl, daß die einflußreiche, neue Strömung in seiner Partei, der schnell wachsende Block der Millennarier, ein ziemlich unberechenbarer Faktor war. »Leider lassen sich die Dinge nicht ganz so schnell regeln, Ed. Die Millennarier werden sich durch dieses Ergebnis ermutigt fühlen. Und wir können keinen weiteren Rückschlag riskieren. Wir müssen unsere Stoßkraft wiedergewinnen, das heißt, wir werden nun einige unserer Mittel, die für die Kampagne im Herbst vorgesehen waren, für die Vorwahlen verwenden müssen. Das bedeutet eine störende und kostspielige Änderung unseres Fahrplans.« Newcomb rührte nicht an die offenkundige politische Maxime: Wenn die Aura des unbesiegbaren Kandidaten erst einmal verloren 237
ist, läßt sie sich nie wieder ganz zurückgewinnen. Diese unerwartete Entwicklung der Ereignisse verdroß Moore, der ein Mann der Mäßigung war. Schließlich war er recht beliebt, das Land erlebte unter seiner Führung eine Stabilisierung seiner Wirtschaftslage – jedenfalls bis zum Auftreten dieser Frau, dieser Jesa –, und der größte Teil seiner Partei fand ihn für die Wiederwahl äußerst geeignet. Andererseits hatten die Republikaner in diesem Wahljahr eine besonders einfallslose Riege von Kandidaten aufgestellt. Selbst wenn er den Rest der Vorwahlen erfolgreich bestehen würde, wußte Moore, daß seine ›Niederlage‹ in New Hampshire von den Medien bestimmt ständig hervorgeholt werden würde, um das Rennen spannender zu machen – eine dunkle Wolke, die bis in den November hinein über ihm hängen würde.
54 IN DEN KARDINALSGEMÄCHERN, VATIKAN, ROM, ITALIEN, 7 UHR, DONNERSTAG, 10. FEBRUAR 2000 Alphonse Litti schob den Stuhl vor seinem Schreibtisch mit dem Computer zurück und beobachtete in angstvoller Erwartung, wie die letzte Seite seines Berichts aus dem Drucker glitt. Er war die ganze Nacht aufgewesen und hatte seiner Müdigkeit mit dem Eigensinn eines Besessenen getrotzt. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so konzentriert ein Ziel verfolgt, und noch nie war er in seiner Hoffnungslosigkeit so allein gewesen. 238
Seit er von der Konferenz zurückgekehrt war, hatte Litti die Transkriptionen jedes einzelnen Wortes und Satzes studiert, die die kleine Prophetin je gesprochen hatte. Er hatte sich in seine Gemächer zurückgezogen und die Heilige Schrift mit den Aufzeichnungen von Jesas Äußerungen verglichen. Nach zwei Tagen hatten die Worte des jungen Messias für den Kardinal allmählich die Form einer verständlichen Botschaft angenommen, eine Botschaft, die Alphonse Bongiorno persönlich mit aller Macht getroffen hatte: Die Botschaft verkündete Rettung und Zerstörung zugleich. Der Kardinal hatte pausenlos gearbeitet, seine Erkenntnisse gesammelt und ein Dokument mit polemischen Prämissen und erschreckenden Schlußfolgerungen verfaßt. In weniger als einem Monat wollte er dieses Dokument höchstpersönlich vor den versammelten Vertretern der Kirchen bei der zweiten Konferenz der Mormonen in Salt Lake City vortragen. Aber heute würde er seinen Bericht dem Präfekten Antonio di Concerci vorlegen. Und er würde verlangen, daß er in den Entwurf des Inquirendum der Kongregation aufgenommen wurde, das in einer Woche dem Papst unterbreitet werden sollte. Da er sich der aufrührerischen Tendenzen seines Werks bewußt war, wußte Litti auch, welches Risiko er einging. Aber sein Gewissen verlangte, daß er diese Sache zu Ende brachte, wie das Ende auch immer aussehen mochte. Er konnte nur zu Gott beten, daß er ihm genügend Überzeugungskraft verleihen würde, um seine Argumente wirksam darzulegen. Nachdem Litti etwa zwanzig Minuten im Vorzimmer des Präfekten gewartet hatte, wurde er von di Concercis Sekretär gemeldet und in die private Suite geführt. Als er eintrat, kam ihm der Gedanke, daß er in all den Jahren seiner Zeit im Vatikan nie in di Concercis Büro gewesen war. 239
Geräumig, mit hoher, intarsienverzierter Bronzedecke, kunstvollen Buntglasfenstern, schweren Gobelinvorhängen, Kronleuchtern, Wänden mit dunkler Mahagonitäfelung, Bücherregalen vom Boden bis zur Decke mit schweren Bänden, einem auserlesenen Orientteppich und einem großen Mahagonischreibtisch mit einem passenden, beinahe thronartigen Stuhl – ein wahrlich imposanter Sitz einer Autorität. »Kardinal Litti«, begrüßte der Präfekt seinen Kollegen gelassen und ohne aufzustehen. »Ich habe nur ein paar Minuten, ich werde von Kardinal Thompson und Kardinal Santorini im Museo Sacro erwartet.« »Es tut mir leid, daß ich ohne Anmeldung komme und Sie störe«, entschuldigte sich Litti, »aber die Angelegenheit ist von einiger Wichtigkeit. Ich habe einen Bericht verfaßt, der meine Analyse der Versammlung bei den Mormonen mit den noch nicht abgeschlossenen Arbeiten der Kongregation und meinen eigenen Nachforschungen dazu enthält. Ich wage zu hoffen, daß die Ergebnisse Ihnen die Augen öffnen werden.« »Ja, Alphonse, da bin ich sicher«, antwortete di Concerci herablassend. »Geben Sie es meinem Sekretär, und ich werde mich gleich damit befassen.« Litti ließ nicht locker. »Ich habe drei aufgewühlte Tage und Nächte damit verbracht, di Concerci, und ich werde nicht zulassen, daß Sie es wie ein Häufchen Staub beiseite wischen!« Seine Stimme klang überraschend schroff. Di Concerci betrachtete seinen Kollegen intensiv und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, nicht gefaßt auf das, was er zu hören bekam. »Kardinal, Sie sehen nicht gut aus. Ich hoffe, es verletzt Sie nicht, wenn ich das sage. Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Nur im Herzen, Präfekt.« Litti starrte seinen Kollegen unverwandt an. »Nur im Herzen.« Di Concerci stand auf und streckte die Hand aus, um das dicke 240
Kuvert zu nehmen. »Ich versichere Ihnen, ich werde mich so bald wie möglich persönlich um die Sache kümmern. Jetzt muß ich zu meiner Besprechung …« Aber Litti ließ den Umschlag nicht los. »Sie und ich, Kardinal, waren nie einer Meinung«, sagte er und sah zu dem größeren Mann auf. »Leider gibt es keine Freundschaft zwischen uns. In den vielen Jahren, die wir uns schon kennen, habe ich Sie nie um etwas gebeten. Ich tue es jetzt. Verschieben Sie Ihre Besprechung, und lesen Sie dieses Dokument.« Littis unrasiertes Gesicht war vor Erregung gerötet, und seine Augen glänzten wie im Fieber. »Bitte!« Die Stirn des Präfekten legte sich in Falten. Er durchforschte nachdenklich Littis Gesicht, dachte einen Moment nach und seufzte dann. »Also gut. Nehmen Sie bitte draußen Platz, ich werde den Bericht lesen.« Litti reichte ihm das Kuvert und verließ das Büro. Als er die schwere Doppeltür schloß, hörte er, wie di Concerci seinen Sekretär anwies, die Besprechung zu streichen und Kardinal Litti ein großes Glas Wasser zu bringen. Nach einer guten halben Stunde öffneten sich die Türen von di Concercis Büro. Litti wandte sich um und sah, wie der Präfekt ihn mit düsterer Miene eindringlich ansah. »Kardinal Litti, würden Sie bitte eintreten?« Di Concerci schloß die Tür hinter ihnen und führte Litti wortlos zu einem stilvollen Polsterstuhl. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, faltete die Hände über Littis Bericht und starrte ihn an, ohne etwas zu sagen. Litti hatte noch einen Funken Hoffnung. Zumindest schien es so, als habe er den Präfekten zum Nachdenken gebracht. Di Concerci atmete tief ein und hob den Blick zu Litti. Mit sanfter, überraschend leiser Stimme sprach er zu seinem Kollegen. »Es ist wahr, Alphonse, Sie und ich haben einander nie als Freunde betrachtet. Aber wenn Sie einmal diese Tatsache außer acht lassen kön241
nen, möchte ich zu Ihnen jetzt wie zu meinem besten Freund sprechen.« Dies erschreckte Litti, aber er entspannte sich, lockerte seine ineinander verschlungenen Finger und lehnte sich im Stuhl zurück. »Was Sie hier geschrieben haben, Kardinal«, sagte di Concerci mild und breitete die Hände über den Bericht aus, »ist, offen gesagt, Ketzerei. Hemmungslose Ketzerei allererster Ordnung. Dieses Dokument stellt eine völlige Mißachtung Ihrer Kirche dar. Es verleugnet Ihr ganzes Leben, Ihre Berufung, die durch Ihr Gelübde bekräftigte Bindung an Gott.« Kardinal Alphonse Litti fühlte, wie ihn das Gewicht seiner schlimmsten Befürchtungen niederzog. Er preßte die Augen fest zusammen, versuchte die Tränen zurückzuhalten, die ihm der Kampf in seinem Innern in die Augen trieb, und legte den Kopf nach hinten gegen den Stuhl. Er tat einen tiefen Atemzug und antwortete mit tränenerstickter Stimme: »Ja, Kardinal, Sie haben recht. Es ist wirklich eine Ablehnung meiner Kirche und meines ganzen Lebens.« Mit geröteten Wangen setzte sich Litti plötzlich auf und starrte in di Concercis Gesicht. »Aber keine Ablehnung meiner Hingabe an Gott! Gerade wegen meiner großen Liebe zu Gott bin ich bereit, alles zu opfern, um meiner Kirche die Augen zu öffnen, Ihnen die Augen zu öffnen für die Wahrheit! Für den wahren Willen Gottes!« »Es ist noch nicht zu spät, Alphonse«, wandte sich di Concerci an ihn. »Ich werde Ihnen dieses Dokument zurückgeben und es aus meinem Gedächtnis streichen. Sie sind offensichtlich sehr müde und überreizt. Sie brauchen Zeit zum Ausruhen – an einem anderen Ort. Ein Urlaub würde Ihnen sehr guttun …« »Nein, Kardinal.« Litti schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Sie müssen dies der Kongregation und Nikolaus vorlegen, unverändert und ohne Kürzungen.« Di Concerci faltete nachdenklich seine Hände, wartete und such242
te nach einem wirksamen Gegenargument. »Litti, denken Sie doch nach. Wenn ich das vorlege, werden Sie Ihren Sitz in der Kongregation, vielleicht auch die Kardinalswürde verlieren. Und wenn Sie auf diesen Phantastereien bestehen, werden Sie ohne Zweifel exkommuniziert werden. Sie werfen Ihre ganze Karriere weg. Alles. Um Gottes willen, Litti, ist es das wert?« Littis Antwort war ruhig, direkt und bedächtig. »Ich tue dies um Gottes willen. Liefern Sie meinen Bericht Nikolaus und der Kongregation ab, und ich stehe gern zur Verfügung, wenn jemand ihn zu diskutieren wünscht. Ich bete nur, daß andere ihn mit mehr Offenheit lesen werden als Sie.« »Sie haben mir die Augen zumindest für eins geöffnet, Alphonse«, antwortete der Präfekt nüchtern. »Sie haben mir gezeigt, daß dieser selbsternannte Messias, diese Jesa, eine sehr gefährliche Frau ist.« Litti erhob sich langsam, um zu gehen, der Schmerz saß ihm in den Gliedern, und das Herz tat ihm weh. »Erinnern Sie sich an den Abend der Jahrtausendwende, Kardinal di Concerci?« fragte er traurig. »Als die Welt Jesa zum ersten Mal sah – im Gewitter? Ich zitiere Matthäus, Kapitel vierundzwanzig, Vers siebenundzwanzig: ›Denn gleichwie der Blitz ausgeht vom Aufgang und scheint bis zum Niedergang, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes.‹« Ohne ein Wort zu sagen, beugte sich di Concerci nach rechts hinüber und öffnete die Glastüren eines edlen, alten Schrankes. Er zog ein kleines, sehr altes Buch von verblaßter, weinroter Farbe hervor. »Und lassen Sie mich hieraus zitieren, Kardinal«, sagte er und öffnete ehrerbietig das Buch vor sich auf dem Schreibtisch. »Wissen Sie, was das ist, Alphonse?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Es ist ein lateinisches Originalmanuskript des Johannesevangeliums, abgeschrieben von den Mönchen von Domrémy in Lothringen als ein Geschenk an die heilige Jungfrau von Orléans. Seit Hunderten von 243
Jahren ist es in der Familie der di Concerci und ein Geschenk meines Vaters zu meiner Ernennung zum Kardinal.« Ganz vorsichtig suchte er in den Seiten nach einer bestimmten Stelle. »Hier, ich lese Christus' eigene Worte, Johannesevangelium, Kapitel zehn, Vers vierzehn bis sechzehn. Er übersetzte aus dem Lateinischen: ›Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen, wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; und dieselben muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden.‹« Er schloß das Buch sorgfältig. »Eine Herde, Alphonse. Und nur ein Hirte. Jesa kann nicht der Herr sein.« Resignierend wandte sich Litti ab und ging voll Kummer zur Tür. »Sie haben unrecht, di Concerci«, sagte er und sah traurig über die Schulter zurück. »Jesa ist der Messias. Ein zweiter Messias. Und sie ist gekommen, um die Prophezeiungen zu erfüllen. Ihr entgegenzutreten bedeutet, dem Willen Gottes entgegenzutreten. Am Ende werden die, die sich ihr widersetzen, vernichtet werden. Und das Ende ist näher, als Sie ahnen!«
55 DER HAFEN VON SAID, ÄGYPTEN, 18 UHR 32, FREITAG, 11. FEBRUAR 2000 Nachdem Jesa das Heilige Land verlassen hatte, beruhigte sich die 244
Situation in Israel so weit, daß Anke zu ihrem Studium nach Tel Aviv zurückkehren konnte. Obwohl es dorthin nicht so weit war und sie ihn gelegentlich besuchen konnte, war Feldman der Gedanke unangenehm, daß sie wegfuhr. Heute hatte er einen ganz besonderen Abend für sie geplant. Er hatte einen Tisch in einem romantischen kleinen Restaurant, Delta of the Nile, am malerischen Seehafen von Said an der Mittelmeerküste bestellt. Während des Essens bei Kerzenschein fand Feldman Anke ungewöhnlich still und fragte sie, woran sie gerade denke. Sie sah ihn unsicher an. »Erzähl doch!« drängte sie Feldman sanft. »Du bist doch sonst nicht so schüchtern!« Sie lachte. »Ich denke an ein Thema, über das du nicht gern sprichst.« »Heute abend ist alles erlaubt«, versprach er. Sie holte tief Luft. »Jon, ich möchte wissen, was du wirklich über diese Frau denkst, über Jesa. Trotz allem, was Anne Leveque uns erzählt hat, kann ich das Gefühl nicht loswerden, daß mehr hinter ihr steckt, als sich durch die Neurochips erklären läßt, so erstaunlich die wissenschaftliche Seite auch sein mag. Und ich weiß, daß du ähnlich empfindest. Bei jedem Bericht über sie sehe ich es deinem Gesicht an. Es treibt dich um, nicht wahr?« Das war nicht das romantische Thema, das Feldman sich erhofft hatte. Er seufzte und blickte auf seine Vorspeise, die plötzlich nicht mehr so appetitanregend aussah. »Na gut«, bekundete er zögernd seinen Willen, darüber zu reden. »Also gut.« Er hielt inne, um seine Gedanken zu sammeln. Endlich sah er ihr in die Augen. »Ich kann nicht behaupten, daß ich die Möglichkeit, sie könne – nun – ein wirklicher Messias sein, nie in Betracht gezogen hätte. Es beunruhigt mich … Ich meine, wenn man plant, eine Person in die Welt zu setzen, die aussehen und sprechen und sich 245
benehmen soll wie ein göttliches Wesen, dann glaube ich, könnte man kein eindrucksvolleres Wesen erschaffen als Jesa. Sie hat vielleicht das falsche Geschlecht und ist zu zierlich gebaut. Aber irgendwie scheint das bei ihr nicht ins Gewicht zu fallen. Eigentlich dient es im Gegenteil dazu, ihre göttliche Wirkung noch zu erhöhen! Daß sie alles überwindet, was als Hindernis gilt, läßt sie nur noch göttlicher erscheinen. Ja, sie besitzt eine Macht, da stimme ich dir zu, die aus anderen Sphären jenseits wissenschaftlicher Laboratorien zu stammen scheint. Und ich kann nicht behaupten, daß ich für jedes Wunder, über das ich berichtet habe, eine glaubhafte Erklärung habe – es gibt bestimmt manche, die ich anzweifeln würde«, fügte er hastig hinzu. »Aber ich muß dir sagen, ich finde all diese Erfahrungen mit Jesa ziemlich beunruhigend, manchmal sogar beängstigend. Ich weiß einfach nicht, was ich davon halten soll, Anke. Ich weiß es nicht.« Sie sah ihn mit einem Stirnrunzeln an. »Jon«, flüsterte sie, »was ist, wenn Jesa wirklich der Messias wäre? Was ist, wenn wir uns wirklich den letzten Tagen, dem Jüngsten Tag näherten?« Ihr Kinn zitterte. Feldman griff über den Tisch und nahm ihre Hände in die seinen. »Das ist ein Weg, den ich in Gedanken nicht allzu weit verfolgen möchte«, sagte er ihr. »Aber auch wenn wir genau wüßten, daß wir auf den Jüngsten Tag zugehen, gibt es etwas, an dem ich festhalten muß. Obwohl du und ich keine perfekten Menschen sind, Anke, und obwohl wir nicht so religiös leben, wie viele da draußen es tun, glaube ich trotzdem, daß unsere Moral sich mit den Besten von ihnen – Millennariern, Geistlichen oder mit wem auch immer – messen kann. Und ich glaube, ein gerechter Gott würde das nicht außer acht lassen, meinst du nicht?« Anke atmete erleichtert auf. »Aber, du glaubst doch nicht wirklich an sie?« »Ganz ehrlich?« Er war einen Moment still und schien ernst und 246
in sich gekehrt. »Nein, Anke, ich kann es nicht glauben. Vielleicht will ich es einfach nicht glauben, aber momentan kann ich es einfach nicht akzeptieren.« Anke schien das zu trösten, und sie schaute ihm beruhigt in die Augen. Nach dem Essen gingen Feldman und Anke an diesem warmen Abend auf dem belebten Marktplatz am Hafen spazieren, hielten sich an den Händen und schlenderten gemächlich an exotischen Läden voller Gewürze, Ballen mit farbenfreudigen Stoffen und Kuriositäten für Touristen vorbei. Dabei sah Feldman Anke aus dem Augenwinkel an und freute sich an ihrer natürlichen Fröhlichkeit, ihrer Herzlichkeit, ihrem Wohlbefinden und ihrer Schönheit. Er fing an, bei alldem ein so gutes Gefühl zu haben. Endlich, zum ersten Mal in seinem Leben, stellte Feldman fest, daß er sich an die Liebesbeziehung zu einer Frau gewöhnte. Nicht widerspenstig und abwehrend, nervös und skeptisch. Sondern bereitwillig. Nach langer Zeit hatte er sich vielleicht von jenen irrationalen, tiefsitzenden Hemmungen freigemacht, an denen sein Therapeut und er als Junge einst mit soviel Schmerz und Mühe gearbeitet hatten. An einer Ladentheke auf dem Gehweg kaufte Anke einen kleinen Gegenstand, der ihr aufgefallen war. Es war eines dieser Kinderbücher aus der Serie des ›Magischen Auges‹, mit geheimnisvollen, holografischen Bildern, die in den per Computergrafik hergestellten Mustern lauerten, ständig verschwanden und dann wieder erschienen. Zufällig enthielt dieses Büchlein versteckte, dreidimensionale Bilder der Prophetin Jesa. Anke schlug das Buch auf und hielt eine Seite lachend vor Feldmans Nase, zog sie dann langsam weg, bis die vielen kleinen Punkte vor seinem Gesicht wie durch einen Zauber die Form des markanten Messiasgesichts annahmen. Doch unvermittelt überkam den 247
Reporter ein seltsamer Schwindel. Ein unangenehmes, beunruhigendes Gefühl. Er hielt sich an Anke fest. Erschrocken ließ sie das Buch fallen und sah in sein blasses Gesicht. »Jon, was hast du?« Er taumelte ganz benommen, und Anke versuchte ängstlich, ihn zu stützen. Als er sich bemühte, seine Fassung wiederzugewinnen, überkam ihn plötzlich eine Gewißheit. Er ließ Anke los und wirbelte herum. Da stand, keine sechs Meter vor ihm in einer Menge von Passanten, mit jenen unergründlichen Augen, die in ihn hineinsahen, Jesa, der Messias. Kaum war sie Feldmans Sicht durch vorbeihastende Menschen entzogen, war sie auch schon verschwunden. Aber es konnte keinen Zweifel geben. Es war keine Illusion. Er hatte sie gesehen. Er hatte sie gespürt.
56 IN DEN GEMÄCHERN DES PAPSTES, VATIKAN, ROM, ITALIEN, 19 UHR 15, FREITAG, 11. FEBRUAR 2000 Nikolaus saß an seinem prächtigen Schreibtisch und unterschrieb verschiedene Dokumente. Er sah auf, als an den offenen Türen seiner Gemächer geklopft wurde. »Antonio, treten Sie ein.« Der Papst hatte seinen Besucher erwartet. Antonio di Concerci trat mit seinem ledernen Aktenkoffer über 248
die Schwelle und begrüßte den Papst, jedoch ohne sein gewohntes Lächeln. Nikolaus zeigte auf einen Stuhl, nahm seine Lesebrille ab und wandte sich dem Präfekten zu. »Sie sehen heute abend besonders nachdenklich aus, Antonio«, bemerkte der Pontifex gutgelaunt. »Und Ihnen scheint es gutzugehen, Papa.« »Wie steht es mit dem Inquirendum?« »Ganz nach Plan, Eure Heiligkeit. Und ich kann versichern, Ihr Termin wird eingehalten werden, ohne unsere Arbeit zu beeinträchtigen.« »Ausgezeichnet. Dann wünschen Sie mit mir über anderes zu sprechen, nehme ich an?« »Ja. Ich habe da tatsächlich ein Problem, Heiliger Vater. Es geht um Kardinal Litti.« Der Papst seufzte tief, senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Ich muß vertraulich mit Ihnen sprechen, Eure Heiligkeit«, schickte di Concerci voraus. Nikolaus sah auf. Seine Miene wechselte von Mißfallen zu Sorge. »Natürlich, Antonio.« »Wie Sie wissen, Papa, hat Kardinal Litti letztes Wochenende an der interkonfessionellen Konferenz der Mormonen teilgenommen.« Der Papst nickte. »Und Sie haben vielleicht bemerkt, daß sein Benehmen recht seltsam war, bevor er abreiste.« »Ja«, stimmte der Papst zu. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Er scheint in letzter Zeit nicht er selbst zu sein.« »Ich fürchte, es hat sich noch verschlimmert, seit Sie ihn gesehen haben. Er kam gestern am frühen Morgen unrasiert, ungekämmt und ohne Anmeldung in mein Büro und verlangte eine Audienz. Als ich ihm sagte, ich hätte eine Besprechung mit Kardinal Thompson und Kardinal Santorini, wurde er ungehalten und bestand darauf, daß ich meine Besprechung streichen und unverzüglich seine 249
Ergebnisse zur Mormonenkonferenz überprüfen sollte.« »Was haben Sie getan?« »Ehrlich gesagt, ich hatte den Eindruck, daß sein Geisteszustand sehr labil war, und, statt ihn zu provozieren, erklärte ich mich bereit zu tun, was er verlangte.« »Hat ihn das beruhigt?« »Er bestand darauf, vor meinem Büro zu warten, bis ich das ganze Dokument gelesen hatte.« Die Augen des Pontifex weiteten sich, und er kratzte sich am Kinn. »Und was war der Inhalt seines Berichts?« Di Concerci lehnte sich im Stuhl zurück, preßte die Lippen zusammen, als wisse er nicht, ob er fortfahren solle. »Sprechen Sie, Antonio.« Der Präfekt stellte seinen Aktenkoffer auf eine Ecke des Schreibtischs, öffnete die Schlösser und nahm ein Dokument von mehreren Seiten heraus. »Eure Heiligkeit, ich weiß nicht, mit welchen Worten ich dies beschreiben könnte.« Er legte die Papiere neben den Aktenkoffer. »Es sind die Phantasien eines Fanatikers mit Wahnvorstellungen. Litti ist verrückt geworden. Er hat der Kirche abgeschworen. Er erkennt diese Frau, diese Jesa, als neuen Messias an und erklärt, unser Untergang stehe unmittelbar bevor.« Nikolaus sank fassungslos in seinen Stuhl zurück. »Alphonse, ein Millennarier?« »Er verlangt, daß die Kirche Jesa als den neuen Messias anerkennt und daß wir ihre Botschaft und ihre Mission unterstützen – wenn wir davon ausgehen, daß irgend jemand genau bestimmen kann, was ihre Botschaft oder ihre Mission ist. Und Litti erhebt Anspruch darauf, daß dieser Bericht Teil des Inquirendums wird.« Der Papst saß zusammengesunken in seinem Stuhl, das Kinn in die Hand gestützt, den Blick weit in die Ferne gerichtet. Wie nur zu sich selbst sagte er mit einer Stimme, in der Erinnerungen mit250
schwangen: »Das ist nicht Alphonse. Ich erinnere mich noch gut, als ich vor vielen Jahren hierherkam, als junger, naiver Absolvent der theologischen Akademie. Alphonse war einer meiner ersten Freunde. Er war unbekümmert und gelassen. Ganz anders, als er jetzt ist. Ich sorge mich um ihn. Ich frage mich, ob es ein frühes Stadium von Senilität sein könnte.« Dann fügte er an di Concerci gewandt hinzu: »Ich möchte, daß Alphonse einen Arzt aufsucht, unverzüglich. Eine gründliche Untersuchung. Werden Sie sich darum kümmern, Antonio?« »Ja, Heiliger Vater, umgehend. Aber was ist mit dem Bericht?« Nikolaus atmete aus. »Lassen Sie ihn hier. Aber ich kann Ihnen sagen, er wird nicht im Inquirendum erscheinen.« Nachdem di Concerci gegangen war, ließ Nikolaus eine Weile seine sorgenvollen Gedanken wandern, bis sie endlich zu Alphonse Littis törichten Versuchen zurückkehrten, die mit ihren etwas mehr als vierzig Seiten am Rand seines antiken Schreibtischs lagen. Auf derselben Stelle, wo einmal das Gesuch Heinrichs VIII. um die Auflösung seiner Ehe und die Schrift mit Luthers fünfundneunzig Thesen gelegen hatten. Der Pontifex streckte die Hand aus, nahm die Papiere und schob sie in einen einfachen Umschlag mit der Aufschrift ›A. Litti‹. Von der Kette, die er an seiner Seite trug, nahm er einen großen goldenen Schlüssel und öffnete das Seitenteil seines Schreibtischs. Bevor der Papst den Umschlag hineinlegte, zögerte er, als er darin eine verblaßte Mappe aus braunem Leder erblickte. Dann schob er Littis Bericht schnell hinein und schloß die Tür.
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57 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 8 UHR 30, MONTAG, 14. FEBRUAR 2000 Am Wochenende wurde Jesa wieder gesehen. Ein Ereignis, das sich als besonders aufschlußreich erwies. Cissy stand mit der Kassette in der Hand an einem Schnittplatz und wartete auf Feldman und Hunter, um mit ihnen die Nachrichtenmeldungen zusammenzustellen. Hunter kam eine ganze Weile vor Feldman in den Schnittraum und erstarrte, als er Cissy sah, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einer Tischkante saß. Seit der Nacht des Erdbebens war dies das erste Mal, daß er Cissy ganz allein antraf. Doch es war zu spät, den Raum wieder zu verlassen, ohne als Feigling dazustehen. »Hey, Ciss«, fing er das Gespräch an. »Was ist los? Ich höre, wir haben wieder einen heißen Bericht reinbekommen …« »Ich hab' immer noch 'ne Wut auf dich, Hunter!« zischte sie und verschränkte die Arme. »Weswegen denn?« »Weswegen? Dafür, daß du meinem Freund das Licht ausgeblasen hast, deswegen!« »Deinem Freund! Na hör mal, das war doch kein Freund, der war doch vom IDF. Einer von den netten Jungs, die Arnie verhaftet haben.« »Schlomo hat mich nicht bedroht, er hat mich zum Essen eingeladen, Herrgott noch mal!« »Schlomo?« machte er sich lustig. »Ich verrate dir mal was. Wenn du nicht mit uns weggegangen wärst, hätten dich dein lieber Schlo252
mo und seine Kameraden ein paar Minuten später in den Bunker verfrachtet! Du solltest mir dankbar sein!« »Ist nicht nötig, daß du mich beschützt, vielen Dank.« »Hör mal Cissy, ich weiß, daß du wegen der Sache mit Erin noch sauer bist …« »Was!« explodierte sie, sprang vom Tisch und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. »Du großer, eingebildeter Esel!« Feldman war vor der Tür angekommen, blieb aber aufgrund der lauten Stimmen davor stehen. Er war daran gewöhnt, daß die beiden sich in den Haaren lagen, aber das überschritt jetzt doch eindeutig die Grenze. Es war ungünstig, aber Feldman mußte in den Raum, um die neuen Aufnahmen mit Jesa anzusehen, bevor er sich mit Sullivan und Bollinger traf. Er schaute auf die Uhr. Als die Auseinandersetzung noch heftiger wurde, ging er ungeduldig ein paar Schritte hin und her. Dann zog er sich ans andere Ende des Flurs zurück. »Na und«, versuchte Hunter sich zu verteidigen. »Nur weil ich mich nach dem Erdbeben ein bißchen um dich gekümmert habe. Ich meine, es ist ja nichts zwischen uns passiert!« »Nichts passiert!« Sie war fuchsteufelswild. »Du hältst mich fest, du küßt mich und sagst lauter liebe Dinge zu mir. Du redest davon, daß du die Nacht bei mir bleiben willst. Und das war die ganze Zeit nur 'ne gute Pfadfindertat, stimmt's? Du Scheißkerl! Und gerade mal 'ne Stunde oder zwei, nachdem du mich abgesetzt hast«, schimpfte sie weiter, »kommt das babylonische Weib daher, und du läufst hinter ihr her wie 'n brünstiger Bulle! Ich finde dich zum Kotzen!« Feldman fand solche Situationen immer sehr betrüblich. Sie erinnerten ihn schmerzlich an seine vergeblichen Versuche, die Streitigkeiten seiner Eltern zu schlichten. Trotzdem mußte irgend etwas geschehen, und wieder einmal fühlte sich Feldman als Schiedsrichter zwischen zwei Menschen, die er gern hatte. Er biß sich auf die Lip253
pe, nahm alle Entschlußkraft zusammen und zwang sich, den Flur wieder hinunterzugehen, zur Quelle des lauter werdenden Lärms. Ängstliche Gesichter spähten aus den Bürotüren und boten stillschweigend Unterstützung an, als Feldman vorbeiging. Er erwiderte die Blicke mit grimmigem Gesicht und ging weiter. Als er sich dem Schnittraum wieder näherte, hörte er die schwachen Proteste Hunters, aber Cissys wütende Stimme übertönte ihn. »Du meinst, sie ist sexy? Sexy? Was glaubst du denn, verdammt noch mal, was ich bin, etwa Mutter Teresa!« schrie sie. Feldman blieb der Mund offenstehen. Entgeistert rollte er die Augen und sagte vor sich hin: »Hunter, du Idiot!« Plötzlich war das Splittern von Glas zu hören und ein erschrockener Aufschrei von Hunter. Feldman befürchtete schon, zu lange gewartet zu haben. Er stürmte in den Raum und hoffte, Mord und Totschlag noch verhindern zu können. Hunter war in eine Ecke gekrochen und begrüßte Feldman mit einem verzweifelten Blick, während Kaffee aus einer zerschmetterten Kanne hinter ihm an der Wand herunterrann. Cissy stand über dem bedrohten Kameramann und hielt das neue Video von Jesa drohend über ihm in der Hand. »Du beschissener Dreckskerl!« kreischte Cissy. Feldman lief hinüber, nahm die Rasende in die Arme und rettete so Hunter und die kostbare Videokassette. Der beschämte Kameramann sah seine Chance und flitzte um Cissy herum wie der Superfußballer, der er ja einmal gewesen war, schoß aus dem Büro hinaus, den Flur hinunter und ward für den Rest des Tages nicht mehr gesehen. Feldman hielt die wütende, schluchzende Cissy in seinen Armen fest und tröstete sie, bis sie sich wieder gefaßt hatte. Sie weinte leise vor sich hin. »Ich weiß nicht, warum ich den Scheißkerl liebe, aber ich tu's, und ich kann nichts dafür. Ich könnt' mich ohrfeigen!« Feldman hatte Mitgefühl mit Cissy, die ihm in abenteuerlichen 254
Zeiten freundschaftlich zur Seite gestanden hatte, aber er wünschte sich, er wäre in diesem Augenblick tausend Meilen weit weg. Er sah in ihr das gequälte Gesicht seiner Mutter, diesen immer gleichen, verzerrten Gesichtsausdruck, den unglückliche Liebe heraufbeschwört. »Breck ist nicht absichtlich gefühllos, Cissy. Er ist einfach ein ungeschickter, grobschlächtiger Kerl, der's nicht anders gelernt hat. Eigentlich, tief drin, hält er große Stücke auf dich, das weiß ich. Das hat man schon daran gesehen, wie er dem Soldaten eine gescheuert hat. Aber vielleicht seid ihr zwei einfach nicht füreinander bestimmt, weißt du?« Sie verzog das Gesicht vor Schmerz und Verzweiflung, hatte einen letzten Wutanfall und faßte sich dann. »Ja, ich weiß, ich weiß. Es braucht nur ein bißchen Zeit, sonst nichts. Ich werd' schon fertig damit.« »Bestimmt, Cissy. Nimm dir den Rest des Tages frei, und morgen sieht schon alles besser aus. Du wirst sehen. Komm, ich fahr' dich nach Haus.« »Nein«, sagte sie. »Du hast doch eine Besprechung mit Sullivan. Es geht schon, wirklich. Ich mach' mich kurz frisch, und dann fahr' ich selbst nach Haus. Geh du nur. Ist schon gut. Wirklich.« Feldman ließ sich nicht so leicht überzeugen und wollte nicht gehen, bevor sie nicht wenigstens ein kleines Lächeln zustande brachte. Was ihr schließlich unter Tränen sogar gelang. »Geh jetzt endlich«, befahl er. »Ich ruf dich später an, um zu hören, wie es dir geht, ja?« »Danke, Jon«, sagte sie etwas ruhiger. »Du hast dich immer um mich gekümmert.« Sie nahm kurz seine Hände in ihre, stellte sich auf die Zehenspitzen, küßte ihn auf die Wange und ging. Nachdem er sich einen Augenblick gesammelt hatte, ging Feldman zur Kaffeemaschine und gab den betretenen Kollegen zu verstehen, daß alles in Ordnung sei. Als er durch die Halle ging, konnte er sehen, wie Cissy in ihren Wagen stieg. Sie fuhr schnell, aber 255
nicht leichtsinnig, bemerkte er mit Erleichterung. Er setzte sich mit seiner Tasse Kaffee an den Schnittplatz und rief Sullivan an. »Das war ein ganz schöner Krach, hm?« drückte Sullivan es milde aus. »Ich hoffe, sie wird darüber wegkommen.« »Ich denke schon, Nigel«, meinte Feldman. »Cissy ist ziemlich hart im Nehmen. Sie braucht nur Zeit, um sich zu sammeln. Ich erkundige mich nachher mal bei ihr, um sicherzugehen.« »Sagen Sie mal, ich hatte ja keine Ahnung, daß es da Schwierigkeiten gibt. Die beiden ziehen sich ja immer gegenseitig auf, aber ich hätt' nie gedacht, daß es da Feindseligkeiten gibt. Sie soll sich natürlich die Zeit nehmen, die sie braucht. Und was ist mit Breck?« Feldman lachte kurz und spöttisch. »Ach, der treibt sich wahrscheinlich irgendwo rum, vertreibt sich die Zeit mit Videospielen und hat das alles schon total vergessen. Breck hat nicht besonders viel Tiefgang in solchen Dingen, fürchte ich.« »Na gut. Und wie geht's Ihnen?« »Alles in Ordnung, Nigel. Wie wär's, fangen wir mit dem neuen Video an?« Als die anderen hereinkamen, beobachtete Feldman verstohlen Erin Cross, um zu sehen, wie sie auf den Krach reagierte, aber das Ganze schien sie überhaupt nicht zu berühren. Bevor sie anfingen, schilderte Bollinger Feldman, wie es zu den Aufnahmen gekommen war, die sie ansehen wollten. »Die Aufnahmen wurden Samstag früh im Stadtzentrum auf dem Gelände der Kairoer Universität gemacht, Jon. Etwa um neun Uhr dreißig bekamen wir einen Anruf, Jesa sei in der Nähe der Studentenvereinigung. Bis wir hinkamen, hatte ein Professor sie entdeckt und in einen Hörsaal eingeladen, wo sie zu einer Gruppe von Studenten sprach. Unser Team konnte sich hinten im Saal aufstellen, während sie ganz darauf konzentriert war, Fragen zu beantworten. Sie werden die Aufnahmen bestimmt interessant finden. Es ist eines der 256
längsten Gespräche mit ihr, das je aufgenommen wurde.« Am Anfang des Videos stand Jesa an einem erhöhten Pult am Ende eines großen, verdunkelten, muschelförmigen Hörsaals. Der Messias war mit einem langen, einfachen, weißen Baumwollgewand bekleidet, das an den Ärmeln und am Saum mit feuer- und purpurrotem Band eingefaßt war. Von oben mit sanftem Licht angestrahlt, sprach sie ruhig über ein Mikrophon zu einem atemlos lauschenden Publikum. Der Professor, ein dunkelhäutiger, lebhafter Mann mit Bart und einem Turban, stand als einziger neben dem Messias auf dem Podium. Er schien das spontane Symposium zu moderieren. Auf dem Video war ein großer, dünner Geistlicher mittleren Alters in dunkler Soutane zu sehen, der eine Frage stellte. »Jesa, verzeih«, sagte er höflich, »aber deine Lehren scheinen vielen Glaubenssätzen der Heiligen Schrift zu widersprechen. Stehst du über der Bibel?« »Ich stehe an der Seite Gottes und hinter seinem Willen. Ich bringe euch sein Wort als seine eingeborene Botschafterin«, antwortete sie mit ihrer gebieterischen und doch sanften Stimme. Nach jedem ihrer Sätze ging ein leises Raunen durch den Saal, das sofort respektvoll verstummte, wenn die nächste Frage gestellt wurde. Der Professor erteilte einem schwarzen Studenten in einem farbenfrohen, gestickten Gewand das Wort. »Jesa, deine Lehren scheinen dem christlichen Glauben insofern zu folgen, als du dich zur Schwester von Jesus Christus und Tochter Gottes erklärt hast. Bist du also Gott und sollten wir dich anbeten?« »Nur Gott den Vater sollt ihr anbeten«, antwortete sie. »Bist du Jesus überlegen?« fragte er. »Ist Eis dem Wasser überlegen?« antwortete sie sachlich. »Beide sind das gleiche Element in unterschiedlicher Form für verschiedene Jahreszeiten.« 257
Der Professor stellte jetzt selbst eine Frage: »Jesa, verkündest du eine neue Religion oder bist du Anhängerin einer schon existierenden theologischen Richtung?« »Ich bringe euch Einsicht in den Willen Gottes«, erwiderte sie. »Das Neue Licht ist Höhe- und Endpunkt aller Religionen. Es ist das natürliche Ziel, das alle Religionen anstreben müssen.« »Zu welcher Religion sollen wir uns denn bekennen?« fragte ein junger Mann mit einem leuchtendgelben Turban. »Der Herr wird euch nicht nach eurer Religion richten«, antwortete sie. »Und er begünstigt keine Religion vor der anderen noch einen Menschen vor dem nächsten. Ob Mann, Frau oder Kind, jeder einzelne wird nur danach beurteilt, wie weit er in seiner persönlichen Vervollkommnung im Neuen Licht fortgeschritten ist.« Ein zornig aussehender, arabisch gekleideter Mann mit sonnengegerbter Haut sprang auf, und seine Augen blitzten vor Erregung. »Aber wenn du die Schwester von Jesus bist, bist du Jüdin. Heißt das nicht, daß du befangen bist und für die Juden und gegen die Araber Partei ergreifst? Was hast du den Freiheitskämpfern zu sagen, die ihre Heimat an die Juden verloren haben?« »Ich sage euch dies«, antwortete sie feierlich, und ihre Miene verdüsterte sich. »Die bittere Entzweiung zwischen Arabern und Juden ist eine immerwährende Quelle großen Kummers für Gott! So wie ich die Tochter des Allmächtigen bin, bin ich auch die Schwester Mohammeds. Weißt du nicht, daß Araber und Juden von derselben Wurzel stammen? Daß von dem Patriarchen Abraham dasselbe Erbe auf euch gekommen ist? Daß ihr dieselbe Gottheit habt, deren Name Allah und Jahwe ist? Ihr seid in den Augen Gottes Brüder wie keine anderen zwei Völker auf der Erde, und doch haßt ihr euch und vergießt euer Blut als Todfeinde! Ihr, die ihr Gewalt anwendet, um euer Heimatland wieder zu bekommen, wisset dies: Euer Ziel ist würdig, ihr aber seid nicht würdig. Die Taten des Terrorismus, die ihr begeht, sind ein Greuel in den Augen Gottes. Ich sage euch, gebt die Verfolgung 258
der Juden und die der Palästinenser und aller Religionen und Menschen für immer auf. Bis ihr diesen Gewalttaten abschwört, wird Gott sein Antlitz von euch abwenden. Bis ihr und eure Brüder, die Juden, in Liebe zusammenkommen könnt und wirklich die Versöhnung und Einheit wollt, werdet weder ihr noch sie eine friedliche Heimat haben!« Im Saal herrschte Totenstille. Völlig aus der Fassung gebracht, setzte sich der Araber langsam wieder hin. Nach einer Zeit tiefer Stille hob eine Studentin zögernd die Hand. »Lady Messias, sind Sie hier, um eine neue Religion zu gründen?« »Das Neue Licht ist keine Religion, und es besteht auch nicht aus einer Reihe von Ritualen. Das Neue Licht ist das Verständnis, mit dem jeder Mensch der Absicht Gottes für die Menschheit näherkommen kann.« Dann fragte der Professor: »Was ist Gottes Wille für die Menschheit? Und was ist das Neue Licht?« »Alles wird sich zeigen nach Gottes Plan«, erwiderte sie. »Ihr müßt zusehen und ihr müßt zuhören.« Ein junger Schwarzer weiter hinten im Publikum erregte Aufsehen, als er eine Bitte vorbrachte. »Messias, meine Mutter ist sehr krank. Ich bitte dich, heile sie!« Der Professor eilte unversehens mitten auf das Podium und untersagte aufs schärfste, persönliche Bitten an den Messias zu richten und sein Eingreifen zu erflehen. Wer sich nicht daran halte, werde des Saales verwiesen. Dann ließ er schnell die nächste Frage stellen. Eine Kairoer Zeitung meldete jedoch ein paar Tage später – allerdings in einem Bericht, der durch keinerlei Beweise erhärtet war –, die Mutter des jungen Mannes sei sofort und auf unerklärliche Weise restlos von einer angeblich unheilbaren Krankheit genesen. Eine Studentin stellte eine Frage, die allgemeines Gelächter auslöste. »Messias, ist Gott männlich oder weiblich?« Jesa blieb jedoch ruhig und gelassen. »Gott ist männlich und 259
weiblich«, sagte sie einfach. »Und die Menschheit ist von Gott durch ihre Geschlechtlichkeit getrennt.« Dieselbe Studentin stellte eine weitere Frage: »Du redest von Gott als ›Er‹ und vom Menschen als ›der Mensch‹. Bevorzugst du damit nicht ein Geschlecht? Besonders da du selbst eine Frau bist?« Aus dem Publikum kamen ein paar Pfiffe und Buhrufe. Der Professor setzte eine strenge Miene auf, und die Zuhörer wurden sofort wieder ruhig. Jesa zögerte nicht mit der Antwort. »Es wäre vielleicht richtiger, Gott als ›Es‹ zu bezeichnen und den Menschen als ›Menschwesen‹. Aber es ist nun einmal nicht Sitte, und zu so später Stunde von der Tradition abzuweichen, wäre eine eher akademische als nützliche Änderung. Wenn ihr euch an diese Worte klammert, schafft ihr damit nur Uneinigkeit und kommt von eurem Ziel ab, welches die Einigkeit ist. Allerdings ist es weise, wenn ihr die Schrift so verstehen wollt, wie Gott sie gemeint hat, zum Ursprung zurückzugehen und die Ungleichheit aufzuheben. In künftigen Tagen werde ich euch dies besser erklären.« »Du sagst ›zu so später Stunde‹, Messias«, brachte der Professor mit stockender Stimme hervor. »Sagst du den Weltuntergang voraus?« Die Spannung im Raum war fast greifbar. Auch Jesa selbst wurde ernst und nachdenklich. »Eine große Veränderung steht bevor«, antwortete sie langsam. »Sie wird ein Ende und zugleich einen Anfang bedeuten. Ihr müßt wachsam sein, dann werdet ihr Gottes Plan verstehen.« Dies löste eine gewisse Erregung bei den Versammelten aus, und der Professor mußte nochmals um Ruhe bitten. »Nach welchen Regeln sollen wir leben?« fragte ein weiterer Student. »Nach den Zehn Geboten? Dem Talmud? Den weltlichen Gesetzen unserer Länder?« »Nach all diesen und nach keinem davon«, lautete ihre sibyllini260
sche Antwort. »Ich sage euch, daß Gottes Wort den Menschen über die Zeiten bei vielen Gelegenheiten dargelegt worden ist. Es ist dasselbe Wort in vielen Sprachen, von vielen Händen geschrieben. Für manche ist es die Bibel. Für andere der Koran. Wieder für andere ist es die Thora. Und es gibt noch viele andere Schriften. So wie die Ufer an eurem Nil sich jedes Frühjahr durch die wiederkehrenden Fluten ändern, so verändert sich auch die volle Bedeutung des Wortes mit jeder Wiederholung, mit jeder Übersetzung und Interpretation. Um den Weg zu Gott zu kennen, müßt ihr mehr tun als Worte hören.« »Aber Messias«, protestierte ein Geistlicher, der besorgt und verstört aussah, »ich habe mein ganzes Leben dem Studium der Schrift und der großen Theologen gewidmet. Willst du damit sagen, daß all meine Arbeit umsonst gewesen ist?« »Von der Schrift gibt es viel zu lernen«, antwortete der Messias, »selbst von einer schlechten Übersetzung davon. Aber von den Werken der Theologen kannst du wenig gewinnen, selbst wenn du sie vollkommen verstehst. Denn für das Wort Gottes gibt es so viele Interpretationen wie Religionen auf der Erde. Und keine kann dir die eine Wahrheit sagen, die allein in deiner Seele verborgen liegt.« Der Geistliche gab nicht auf. »Sicher haben doch die großen und gelehrten Kenner der Religionen mehr Einsicht und ein besseres Verständnis der komplexen Schriften als der einfache Mann auf der Straße!« Jesa schien die Hartnäckigkeit des Mannes nicht zu stören. Sie wandte sich an das ganze Publikum und erzählte ihnen mit leicht erhobener Stimme ein Gleichnis, späterhin bekannt als Das Gleichnis vom Koch und den Lehrlingen Siehe, da war ein Koch, der war Meister in seiner Küche. Eines Tages rief er seine Lehrlinge, versammelte sie um sich und sagte: »Für heute abend 261
werde ich ein Festessen zubereiten. Geht zum Brunnen und holt ein Maß Wasser.« Nun eilte der jüngste Lehrling zum Brunnen und kam bald mit einem Eimer sauberen, klaren Wassers zurück und stellte es vor den ältesten Lehrling hin. Einer der älteren Lehrlinge sagte, als er den Eimer Wasser sah: »Dieser Eimer ist nicht groß genug. Wir werden für ein solches Bankett mehr Wasser brauchen. Du mußt noch einmal zum Brunnen gehen!« Ein anderer sagte: »Das Wasser vom Bach ist frischer und wird den Geschmack der Speisen verbessern. Du solltest das Wasser vom Bach holen!« Wieder ein anderer sagte: »Du hast Wasser auf den Boden verschüttet und wir können das Essen nicht kochen, bis du es weggewischt hast.« Da kam der Meisterkoch in die Küche und hörte das. Er nahm den Eimer Wasser, schüttete ihn auf den Boden und sagte: »Bevor ein Festessen gekocht werden kann, muß zuvor die Küche geputzt werden.« Und zu dem jüngsten Lehrling sagte er: »Komm mit mir, während sie diese Arbeit tun, werde ich mit dir die Vorbereitungen für das Fest besprechen.« Amen, amen, sage ich zu euch: Gehet hin und füllt euren Eimer und wisset, daß der Herr nicht schaut auf die Menge noch den Inhalt, sondern er wird euch nach eurer Absicht richten. Und keiner darf richten außer dem Vater selbst. Als der Messias seine Rede zu Ende gebracht hatte, segnete er das Publikum und verließ das Podium, schüttelte die ausgestreckte Hand des Professors, während Applaus losbrach und ein Blitzlichtgewitter einsetzte. Die Zuhörer drängten zur Bühne, und Jesa wurde schnell durch einen Hinterausgang hinausgeleitet, wo sie verschwand.
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58 NA-JULI-APPARTEMENTS, KAIRO, ÄGYPTEN, 1 UHR 30, DIENSTAG, 15. FEBRUAR 2000 Feldman wurde aus dem Schlaf gerissen, als jemand mit der flachen Hand gegen seine Wohnungstür schlug. Ein Blick auf den Wecker sagte ihm, daß es noch sehr früh war. Er fischte seine Brille vom Nachttisch, zog sich seinen Morgenmantel über und stolperte den Flur entlang. Er schaute durch den Spion und entdeckte den zerzausten Hunter, der mit dem Kopf gegen einen Pfosten lehnte. Sein Gesicht war tief in seiner zerknitterten Jacke verborgen, und die Arme hatte er in die Hüften gestemmt. »Breck!« Feldman zog den Riegel zurück und öffnete die Tür. »Wo warst du den ganzen Tag? Ich habe versucht, dich zu erreichen!« »Ach, ich hab' 'ne Sauftour hinter mir, Kumpel«, murmelte er undeutlich und sah mit einem blöden Grinsen aus seiner Jacke heraus. »Störe ich?« Feldman kniff, geblendet vom Licht, das durch die Tür fiel, die Augen zusammen, kratzte sich ratlos an der Wange und trat zur Seite, um seinen Freund hereinzulassen. »Ich bin ein Döskopf, hm?« fragte Hunter. »Na ja, Breck, du hattest die Situation nicht gerade gut im Griff, oder?« »Das stimmt!« gab er zu, als er langsam hereinkam und sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Hast du Cissy gesehen? Wie geht's ihr?« »Nett, daß du fragst. Ich hab' sie heute abend angerufen, und es 263
geht jetzt wieder. Bist du in Ordnung?« »Äh…, ja, aber morgen komm' ich vielleicht 'ne Kleinigkeit zu spät.« Feldman seufzte. »Ich hab' wirklich 'n schlechtes Gewissen, Jon«, beichtete Hunter ganz zerknirscht. »Ich wollte Ciss nicht weh tun. Ehrlich.« »Ich weiß, Breck. Und eigentlich gebe ich dir keine Schuld an dem, was passiert ist.« Hunter zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?« »Na gut, du hast schon öfter mit Cissy geflirtet. Aber das hast du ja mit den meisten Frauen hier im Studio gemacht. Und du bist in der Regel nicht sehr viel weiter gegangen, wenigstens soviel ich weiß.« Hunter nickte zustimmend. »Aber dann habt ihr, du und Cissy, immer mehr Zeit zusammen verbracht, und natürlich fingen alle an, euch als Paar zu betrachten. Ich nehme an, Cissy tat das auch. Und dann war diese Erdbebennacht einfach ein so aufwühlendes Erlebnis, ich glaube, das hat Cissy einfach bestärkt. Du hast dich um sie gekümmert, hast sie beschützt. Weißt du …« »Jon, ich hab' nicht die Nacht mit ihr verbracht damals, oder überhaupt jemals! Herrgott noch mal, es ist einfach nie was passiert!« »Vielleicht nicht körperlich. Aber sie ist in dich verliebt, Breck.« »Scheiße, ich hab' sie ja auch gern, aber meine Libido ist eben vorübergehend besetzt, verstehst du? Verdammt noch mal, es ist ja nicht so, daß ich Cissy Zärtlichkeit schulde.« »Es ist nicht nur das.« Feldman überlegte, ob er die Sache jetzt ansprechen sollte. Aber bei Hunters Zustand war es vielleicht doch der richtige Moment. »Du weißt doch, daß Cissy und Erin nicht gut miteinander klarkommen. Es ist eine doppelte Kränkung für Cissy, wenn du mit einer Frau etwas anfängst, die sie nicht leiden kann. Und es läuft direkt vor ihrer Nase ab, jeden Tag.« 264
»Immer diese gehässigen Eifersüchteleien unter den Frauen«, meinte Hunter mit einem ironischen Grinsen. Aber Feldman ließ ihn nicht so leicht davonkommen. »Breck, Erin hat gewisse kleine, äh … Eigenheiten, die Cissy wirklich aufregen. Erin ist, na ja, weißt du, sonderbar.« Er rührte nur vorsichtig an dieses Thema. »Wie sie sich kleidet. Wie sie ihre Reize spielen läßt, sozusagen.« Hunter beschäftigte sich eine Weile mit dieser Beobachtung und wich Feldmans anklagendem Blick aus. »Das verstehst du nicht, Mann«, antwortete er endlich. Der Glanz wich aus seinen Augen, und er kaute auf seiner Unterlippe herum, unsicher, wie er fortfahren sollte. »Ich kenne nicht alle Einzelheiten, Jon, weil sie nicht gern darüber spricht, aber Erin hatte in ihrer Jugend viele Probleme. Vieles, das nicht ihre Schuld war, verstehst du?« Feldman runzelte die Stirn, weil er eigentlich nichts darüber hören wollte. »Sie war ein Einzelkind, das Ergebnis einer gescheiterten Ehe. Ihre Mutter hat wieder geheiratet, als Erin sechs war. Irgendeinen reichen Dreckskerl. Der hat Erin wirklich unglaublich mißbraucht, wenn ihre Mutter nicht da war. Um sich bei ihr einzuschmeicheln und damit sie den Mund hielt, kaufte er ihr lauter feine Kleider und Schmuck – Prinzessinnenkostüme, Ballerinaröckchen, glanzvolle Abendkleider, lauter so 'n Zeug. So konnte sie ihre Probleme dann vergessen. Sie zog diese schönen Kleider an und flüchtete sich in eine Phantasiewelt, in der alles besser war.« Feldman schluckte ganz betreten. »Seltsam, daß sie es dann nicht verabscheut, sich herauszuputzen, wenn sie es mit den schlimmen Erlebnissen, die sie damals hatte, in Zusammenhang bringt.« »Ganz im Gegenteil.« Hunter zuckte die Achseln. »Sie treibt einen Kult mit Kleidern. Und wirklich im großen Stil! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was sie alles hat. Zimmer voll davon. Sie bestellt Sachen aus Katalogen wie einer, der eine Freßtour macht und 265
sich am Buffet nicht beherrschen kann. Läßt sich Sachen von überall in der Welt schicken. Alle Rechnungen gehen an ihren Stiefvater, Carte Blanche. Du solltest mal einkaufen gehen mit ihr, Mann. Sie ist wie ein Kind in der Schokoladenfabrik. Als ob sie nicht wüßte, wer sie heute sein möchte. Deshalb zieht sie immer wieder was Neues an. Stell dir vor, sie hat sich sogar eins von diesen Jesagewändern gekauft, die die Straßenverkäufer jetzt überall anbieten, komplett mit Leuchtfarbe. Konnte einfach nicht widerstehen.« Feldman nickte. Jeder hat seine besonderen Mechanismen, um mit seinen Problemen fertig zu werden. Bei Feldman waren es die Wände, die er zwischen sich und anderen Menschen errichtete. Bei Erin war es offenbar so, daß sie permanent versuchte, vor sich selbst zu fliehen. Ein trauriges Wissen, das es Feldman jedoch leichter machen würde, ihre exzentrische Art zu akzeptieren. »Da wird es dich ja erleichtern zu hören, daß Cissy alles wieder unter Kontrolle hat«, brachte Feldman das Gespräch zum eigentlichen Thema zurück. »Sie hat versucht, dich anzurufen, um sich zu entschuldigen.« »Tatsächlich?« »Ich würde an deiner Stelle morgen mit ihr reden, vielleicht zuerst anrufen. Vielleicht kannst du ja einiges wieder ausbügeln.« »Ja, das werd' ich tun. Hey, es macht dir doch nichts aus, wenn ich heute nacht hier schlafe, oder?« Feldman seufzte lächelnd und fing an, die Schlafcouch herzurichten. In seinem eigenen Bett lag er dann noch wach, während Hunters Schnarchen ins Zimmer drang.
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59 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 9 UHR 30, MITTWOCH, 16. FEBRUAR 2000 Die Redaktionssitzung am Morgen verlief äußerst positiv. Der neueste Bericht über Jesas Auftreten in der Universität erwies sich als Sensation und erreichte Einschaltquoten in Rekordhöhe. Und dann, gerade als die Sitzung fast zu Ende war, kam ein aufgeregter Kameramann von einem der WNN-Teams vor Ort plötzlich in den Raum gestürmt. Atemlos berichtete er über ein weiteres Erscheinen Jesas. Während er das kostbare Video in der Luft schwenkte, erklärte er, es sei ihm vor weniger als einer Stunde zufällig gelungen, Jesa bei einem wichtigen Auftritt zu filmen. Diese neue Entwicklung der Dinge hörte sich an, als könnte dabei einer der erstaunlichsten Berichte herauskommen. Wenn die Behauptung des Kameramanns richtig war, hatte WNN anscheinend endlich ein Wunder Jesas eingefangen. Möglicherweise drei Wunder, behauptete der Kameramann, und sie eilten alle in einen Raum, um sich das Band anzusehen. Als Erläuterung zu seinem Video erklärte der Kameramann, daß er an einer Ampel in einem der armen Stadtteile mitten in Kairo anhalten mußte. Als er wartete, bemerkte er ein kleines Straßenkind, das mit einem Lappen an einer Kreuzung auf die Fahrbahn sprang. Der Junge rannte auf den Wagen des Kameramanns zu, offenbar in der Absicht, seine Windschutzscheibe zu waschen, um sich ein bißchen Geld zu verdienen. In seinem Bestreben, potentiellen Konkurrenten zuvorzukommen, lief er unglücklicherweise vor 267
den Lieferwagen einer Bäckerei und wurde angefahren. Zu allem Unglück prangte von dem Wagen der Name einer großen sunnitischen Firma, was in dem vorwiegend schiitischen Stadtteil sofort Empörung auslöste. Im nächsten Augenblick war das Fahrzeug bereits von einer Menschenmenge umringt, und der glücklose Fahrer wurde hinter seinem Steuerrad hervorgezerrt. Genau in diesem Augenblick hatte der Reporter seine Kamera zum Einsatz gebracht. Die erschreckende Szene erschien auf der Bildfläche, Scharen von Menschen schienen aus dem Nichts aufzutauchen und eilten zum Unfallort. Als Feldman sah, wie sich das Drama zuspitzte, glaubte er schon, der arme Fahrer des Lieferwagens würde totgeschlagen werden. Aber als sich der Mob über ihn hermachte, teilte sich die Menge plötzlich an einer weiter entfernten Stelle, und die zornigen Menschen wichen auseinander und traten zurück. Um eine bessere Sicht zu haben, war der Kameramann auf das Dach seines Wagens geklettert. Jetzt war mitten in der Menschenmenge eine Lücke entstanden, und die Kamera zoomte auf eine kleine Frau, die unerschrocken vor dem am Boden liegenden, blutenden Fahrer stand. Es war natürlich Jesa, aber bei dem Lärm war es schwierig zu hören, was sie sagte. Als die Menge sie erkannte, beruhigten sich die Menschen etwas. Es klang, als spreche Jesa Arabisch, und sie zeigte auf den bedauernswerten Mann zu ihren Füßen. Dann deutete sie auf die Stelle vor dem Auto und stieß einen schroffen Befehl aus. Die Menge teilte sich wieder und ließ einen ängstlichen Mann durch, der einen kleinen Jungen in den Armen trug. Es war anscheinend der Vater des verunglückten Kindes. Die Gliedmaßen des Jungen baumelten schlaff herunter, das Gesicht war in der Armbeuge des Vaters geborgen, und man konnte nicht sehen, wie schwer verletzt er war oder ob er überhaupt noch lebte. Jesa sprach den Vater des Jungen an, und er hockte sich vor ihr 268
nieder und schwenkte immer noch das schlaffe, bewegungslose Kind in den Armen laut wehklagend hin und her. Jesa hob die Arme zum Himmel, die Ärmel ihre Gewands rutschten auf die Schultern zurück und ließen das leuchtende Weiß ihrer Arme hervorscheinen. Laut rief sie etwas, vermutlich ein Gebet, das mit dem Wort »Allah« endete – das einzige, was Feldman verstehen konnte. Die Menschenmenge, einen Augenblick zuvor noch voller Wut, war jetzt totenstill, so daß nur die Geräusche der Stadt aus der Umgebung zu hören waren. Jesa schwieg ebenfalls, senkte die Arme und beobachtete aufmerksam das Kind. Auch alle anderen sahen den Jungen an. Sie mußten nicht lange warten. Die Beine bewegten sich, dann der Kopf. Der Mann, der den Jungen hielt, lockerte seinen Griff und ließ die erstaunte Menge das Kind sehen. Die Augen des Jungen waren geöffnet, er sah verwundert um sich. Große Erregung machte sich unter den Menschen breit. Sie riefen »Allah! Allah! Allah!«, und zahlreiche Hände versuchten, die Prophetin zu berühren. Aber sie gebot ihnen mit erhobenen Handflächen Einhalt, zeigte auf den Fahrer und bedeutete ihnen, zurückzuweichen. Sie bückte sich, nahm den angsterfüllten Mann am Handgelenk und half ihm aufzustehen. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, stützte ihn und sprach kurz mit ihm, dann wandte sie sich mit ihm zusammen seinem Fahrzeug zu. Als sie ihn am zitternden Arm führte, machten die Menschen ihnen Platz, und sie gingen zur Seite des Wagens. Jesa ergriff die Schiebetür des Lieferwagens und öffnete sie, zog den Fahrer vorsichtig aus dem Weg und sagte dann wieder etwas zu der Menge. Die Menschen waren einen Moment regungslos, alle schauten sich an und begannen dann, sich voller Eifer in einem Freudentaumel auf das Brot zu stürzen. Hunderte von Männern, Frauen und Kindern plünderten die Ware, in wildem Durcheinander rafften sie so viel an sich, wie sie tragen konnten. Ein Mann watschelte an der Kamera vorbei, der sich Brötchen in die Ärmel, den Ausschnitt seines Kittels und 269
in die Hose gestopft hatte, so daß seine Kleider beinahe aus den Nähten platzten. Plötzlich fiel Feldman auf, daß Jesa nicht mehr da war. Auch als sie das Band in Zeitlupe ablaufen ließen, war es unmöglich, den genauen Zeitpunkt ihres Verschwindens festzustellen. Der verlassene Fahrer stand nervös und unbeholfen herum, während die Menge gierig die Ware aus seinem Auto holte. Abgesehen von der Rettung des Fahrers und der Wiederbelebung des Jungen gab es jetzt noch ein weiteres Wunder zu sehen. Erstaunlicherweise riß die Kette der Beutegierigen mindestens zwanzig Minuten lang, bis der Film in der Kamera zu Ende war, nicht ab. Immer noch war die Ladung des kleinen Lieferwagens nicht erschöpft. Brötchen über Brötchen, Brotlaib um Brotlaib und Körbe voller Gebäck ergossen sich endlos aus dem kleinen Gefährt, bis auch die letzte Hosentasche, jeder Hemdausschnitt und sämtliche Eimer und Schürzen gefüllt waren. »Das einzige, was noch fehlt«, meinte Hunter, »sind die Fische.« Obwohl sich für keines dieser drei Ereignisse schlüssig beweisen ließ, daß es sich um Wunder handelte, waren diese Aufnahmen doch sehr eindrucksvoll und faszinierend. Die Versuchung, dieses außergewöhnliche Material als die Wunderserie anzukündigen, erwies sich unter Marketingaspekten als unwiderstehlich. Kaum erschien der erste Aufmacher vor den Mittagsnachrichten bei WNN, als die Öffentlichkeit in gespannter Erwartung fast außer sich geriet. Große Sponsoren fielen in einer ganz anderen Art von Beutegier über die Fernsehanstalt her. Nachdem sie bis spät in die Nacht gearbeitet hatten, um das ›Wundervideo‹ für eine Sondersendung am nächsten Tag abzuschließen, wurde ein Teammitglied nach dem anderen von Müdigkeit überwältigt, und alle gingen nach Hause. Bis auf Feldman, der begeistert, motiviert und hellwach bis nach Mitternacht weiterarbeitete. 270
Vor allem ein Aspekt des neuen Videos, dem er noch nicht hatte nachgehen können, hatte ihn schon den ganzen Tag fasziniert. Allein am Schnittplatz, spielte er an den Knöpfen herum und versuchte, den genauen Moment zu bestimmen, in dem die Messiasfigur plötzlich verschwand, obwohl sie doch noch ganz deutlich zu sehen gewesen war. Vielleicht handelte es sich um ein viertes Wunder. Feldman konzentrierte sich auf einen Ausschnitt, der kurz vor dem Verschwinden Jesas aufgenommen worden war, und untersuchte eine Weitwinkelaufnahme, in der die Gestalt des Messias fortwährend im Bild war, also die ganze Zeit über sichtbar. Sie fiel zwischen den anderen Zuschauern auf, stand an der Seite des Lieferwagens, drehte sich dann plötzlich um und schien sich einfach in Luft aufzulösen. Er spulte zum x-ten Mal das Band zurück, vergrößerte noch ein bißchen, zoomte das verwaschene Bild heran und arbeitete geduldig an den Reglern, um die Auflösung des makellosen Gesichts noch zu verbessern. Bild für Bild lief das Band weiter bis zu dem Augenblick, als Jesa direkt in die Kamera sah, kurz bevor sie sich umdrehte und einfach wegzuschmelzen schien. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, das Bild schärfer einzustellen. Jetzt konnte er ihre Gesichtszüge relativ groß und deutlich sehen. Diese unergründlichen Augen, die einem irgendwie alle Kraft nahmen. Sie zogen ihn an sich, und wieder kam plötzlich dieses beunruhigende, schwindelerregende, lähmende Gefühl über ihn, das er inzwischen so gut kannte. Wie zuvor gewann er sein Gleichgewicht schnell wieder und war erstaunt, daß ein Videobild solch eine starke Wirkung auf ihn haben konnte. Aber plötzlich lief es ihm kalt über den Rücken. Seine Hände zitterten. Er bekam keine Luft und sank langsam auf seinen Stuhl. In der Türöffnung stand als schweigende und reglose Silhouette die schlanke Gestalt mit der überwältigenden Persönlichkeit: Jesa. Feldman war starr vor Schreck. Sein Herz raste, seine Empfindun271
gen überschlugen sich. Im Gegenlicht sah sie aus wie eine Erscheinung. Feldman konnte die Energiewellen, die von ihr ausgingen, fast fühlen. »Komm mit mir«, sagte sie nur. Feldman stand auf und folgte der jungen Frau, die ruhig den Flur hinunterging. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie es geschafft hatte, das Alarmsystem und den Wachmann zu umgehen. Sie führte ihn aus dem Gebäude, die Stufen hinunter und auf die verlassenen Straßen hinaus. Er stellte keine Fragen, war zufrieden damit, daß sie die Situation vollkommen beherrschte, folgte ihr über eine Stunde lang aus der Stadt hinaus in Richtung Westen. Sie wanderten in die nahe Wüste, einen ansteigenden, gewundenen Pfad hinauf, der Feldman keuchen ließ, bis sie endlich an einem steilen Abgrund standen. Sie hielt an und blickte dem ersten Morgenlicht entgegen, das jetzt hinter Kairo heraufdämmerte. Jesa schien nicht einmal angestrengt zu atmen oder auch nur ein kleines bißchen zu schwitzen. Sie wandte sich zu Feldman um, und mit einem leisen, anerkennenden Lächeln winkte sie ihn zu einem großen, glatten Stein heran. Als er sich gesetzt hatte, ließ sie sich mit gekreuzten Beinen auf einem Stein neben ihm nieder und sah in friedlicher Besinnung auf die Stadt hinab. Feldman mußte diese außergewöhnliche Frau immerzu ansehen. Nie zuvor war er ihr so nah gewesen. Aus unmittelbarer Nähe, mit den ersten Sonnenstrahlen auf dem Gesicht, erschien sie ihm strahlender denn je. Wieder bewunderte er ihre körperliche Vollkommenheit. Makellos, ohne ein einziges Fältchen war ihre Haut. Ihre Züge waren fein wie von einem meisterhaften Bildhauer gemeißelt. Ihre Haut schimmerte milchweiß und leuchtend, ihre Augen schienen klar und tief wie der saphirblaue Nachthimmel. Als er Jesa in der kühlen Morgenstille ansah und sich an die Umstände ihrer unnatürlichen Entwicklung erinnerte, erfaßte ihn Mit272
gefühl mit dieser eigenartigen, einsamen Frau. Sie sagte immer noch nichts, und Feldman war fest entschlossen, abzuwarten und alles zu vermeiden, was ihre ungewöhnliche Beziehung stören könnte. Er sah ihre scharfsichtigen Augen über die ägyptische Landschaft schweifen, aus der die Extreme der menschlichen Architektur von den Pyramiden bis zu modernen Wolkenkratzern aufragten. Und er überlegte sich, was wohl in ihrem künstlich erschaffenen und zugleich uralten Verstand vor sich gehen mochte. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, wandte sie sich endlich mit einem herzlichen, tröstlichen Lächeln zu ihm um. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie schlicht, während ihre Augen in ihn drangen, diesmal ohne ein Gefühl des Schwindels hervorzurufen. Aber trotzdem war ihr Blick beunruhigend. Er wirkte auf ihn wie ein Wahrheitsserum. Als ob sie jeden seiner Gedanken sofort lesen konnte. Während er dieser irritierenden Idee nachhing, wurde ihm zugleich etwas anderes bewußt. Sie blinzelte nie! Jedenfalls soweit er es beobachten konnte. Ihr Blick war vollkommen gerade, fest und unverwandt. Er schüttelte diese Gedanken ab und versuchte, sich auf ihre unerwartete Bitte zu konzentrieren. »Meine Hilfe? Natürlich. Gerne. Wie kann ich dir helfen?« Sie wurde nachdenklich. »Es ist Zeit für mich, hier wegzugehen. Ich muß für eine kurze Weile an einen weit entfernten Ort reisen, um die Arbeit des Vaters in andere Länder weiterzutragen. Wirst du mich unterstützen?« Feldman war sich nicht sicher, was ihre Frage bedeutete. »Dich unterstützen? Wie denn?« »Indem du Unterkunft, Reisen und Auftritte beim Publikum mit denen, die ich besuchen muß, arrangierst.« »Wohin willst du gehen, wann mußt du reisen, und mit wem willst du dich treffen?« »Meine erste Reise geht nach Amerika. In zwei Wochen. Um zu 273
den versammelten Religionsführern der Welt am großen Salzsee zu sprechen.« Feldman konnte sich nicht denken, wovon sie sprach. »Sicher«, versprach er, »das kann ich tun, kein Problem!« Er konnte vor Begeisterung kaum noch an sich halten. Das war die Gelegenheit für WNN, einen direkten Draht zur berühmtesten und begehrtesten Persönlichkeit auf der Welt zu bekommen. Sie würden allen anderen Sendern wieder meilenweit voraus sein. »Ich möchte mit allen Repräsentanten der Weltreligionen sprechen, und zwar am letzten Tag ihrer Versammlung«, fügte sie hinzu. »Außerdem möchte ich dich als Zeugen dabeihaben, und du sollst die Ereignisse festhalten.« Feldman grinste breit. »Auf jeden Fall. Ich werde sofort alle Vorbereitungen treffen. Also, wie kann ich dich erreichen? Wo wohnst du?« Er versuchte, locker zu wirken, hielt aber die Luft an vor Spannung und hoffte, sie würde ihm ihr Versteck verraten. »Ich werde dich in einer Woche bei Sonnenaufgang hier treffen, um deine Pläne zu erfahren.« »Aber was ist, wenn ich dich in der Zwischenzeit erreichen muß?« versuchte Feldman es noch einmal. »Ich werde dich erst in einer Woche wiedersehen.« Das klang wie eine Tatsache, nicht wie ihre Entscheidung. »Jetzt muß ich gehen.« »Gut«, stimmte Feldman zu, und sie erhoben sich. Er gab ihr die Hand, und sie nahm sie. Ihre Hand war klein im Vergleich zu seiner. So warm und glatt. So stark. Feldman versuchte, ihr seine Hand zu entziehen, war aber überrascht von ihrer Kraft. Sie hielt ihn fest, nicht bedrohlich, sondern um das Gesprochene zu bekräftigen. »Du wirst allein wiederkommen?« fragte sie. »Natürlich.« Sie zeigte wieder ihr warmherziges Lächeln und ließ ihn los. Feldman begann den Abstieg an der Seite des Berges und erwar274
tete, daß sie verschwunden sein würde, wenn er sich ein letztes Mal nach ihr umsah. So war es auch.
60 IN DEN GÄRTEN DES VATIKAN, VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 14 UHR 15, FREITAG, 18. FEBRUAR 2000 Der nachdenkliche, einsame Kardinal Alphonse Litti saß auf einer behauenen Steinbank in den Gärten des Vatikan. In diesem Augenblick trat die Kongregation der Glaubensdoktrin mit Nikolaus VI. zusammen, um ihm das Inquirendum vorzulegen. Litti wußte, daß sein Bericht darin nicht enthalten war. Vor vier Tagen war ihm nach seiner beharrlichen Bitte um eine Audienz durch einen Kurier ein Brief von Nikolaus überbracht worden. In dem Brief hatte Nikolaus seine Sorge um Littis Gesundheit zum Ausdruck gebracht und eine gründliche Untersuchung durch die Ärzte des Vatikan befohlen, der ein längerer Urlaub folgen sollte. Aus dem Ton des Schreibens war herauszuhören, daß Nikolaus Littis Bericht kannte. Und er hatte ihn zurückgewiesen. Der Papst gewährte ihm weder eine Audienz, noch erlaubte er dem Kardinal, an der zweiten Versammlung bei den Mormonen teilzunehmen, die in zwei Wochen stattfinden sollte. Das offizielle Inquirendum enthielt ohnehin nichts, was Kardinal Litti hätte überraschen können. Wie in dem vorläufigen Bericht schon angedeutet, war die Kongregation endgültig zu der Entscheidung gelangt, Jesa als Prophetin keinen 275
Glauben zu schenken und erst recht nicht, sie als Messias anzuerkennen. Die Kongregation neigte sogar dazu, sie als Betrügerin zu bezeichnen; sie gab das feierliche Urteil der Heiligen Mutter Kirche ab und erklärte Jesa zu einer falschen Zeugin des göttlichen Willens, nannte sie im günstigsten Fall töricht, möglicherweise einem Wahn erlegen. Der Pontifex billigte das Dokument in allen seinen Teilen, erhob es in den Stand einer Enzyklika und ließ es, mit dem päpstlichen Siegel versehen, an alle apostolischen Kirchen zur unverzüglichen Verteilung in den Gemeinden verschicken. Von diesem Zeitpunkt an wurde den Gläubigen empfohlen, Jesas Lehren und Botschaften als unwahr abzulehnen und sich fortan jeder Aufmerksamkeit oder Anerkennung ihrer Worte und Taten zu enthalten.
61 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 10 UHR 12, SAMSTAG, 19. FEBRUAR 2000 Bei der Nachricht von Feldmans Kontakt mit Jesa ließen die hohen Tiere bei WNN International die Sektkorken knallen und feierten den sympathischen jungen Mann, der ihnen ganz allein für mindestens drei Wochen die Spitzenstellung unter den globalen Sendern sicherte. Alle großen Zampanos von WNN wurden herbeigeholt. Jetzt, da sie begriffen hatten, was Jesa mit den ›versammelten Religionsführern am großen Salzsee‹ meinte, scheute man keine Kosten, um für ihre Sicherheit bei der Reise zur Mormonenver276
sammlung zu sorgen. Teams von Rechtsanwälten befaßten sich mit den rechtlichen Problemen bei der Einreise des neuen Messias in mehrere Länder, da sie offiziell weder ein Herkunftsland noch einen Paß, eine Geburtsurkunde oder einen Impfausweis besaß. Die Rechtsanwälte würden sich auch mit der Flut von Prozessen konkurrierender Sender auseinandersetzen müssen, die bestimmt folgen würde, wenn WNN von den Mormonen einen Vertrag über die Exklusivrechte an dem ›Heiligen Pokal‹ bekäme, wie Hunter das Ereignis respektlos getauft hatte. Die Sicherheitsvorkehrungen waren ein Alptraum. Jesa sicher nach Salt Lake City und wieder aus der Stadt herauszubringen war bei den Millionen von Menschen, die zweifellos in die Stadt strömen würden, eine gewaltige Aufgabe. Und obwohl WNN hoffte, das Ereignis so lange wie möglich geheimhalten zu können, um Störungen der Vorbereitungen zu vermeiden, konnte man eine Story von diesem Kaliber nicht lange verheimlichen. Schnell sickerten einige Informationen durch, und WNN konnte sich kaum noch vor Anrufen, Telegrammen und Meldungen aus aller Welt retten. Eine Nachricht, die sich aus der Flut von Botschaften abhob, war ein Telegramm vom Weißen Haus. Der Wahlkampfleiter des Präsidenten, Edwin Guenther, bat Jon Feldman um Rückruf. Tausende von Meilen entfernt brachte Brian Newcomb, der Vorsitzende des Komitees zur Wiederwahl des demokratischen Präsidenten, seine Ablehnung des gerade diskutierten, kühnen Plans lautstark zum Ausdruck. Im Oval Office schnauzte er Guenther an: »Daß der Präsident diese Scharlatanin treffen soll, ist eine völlig unüberlegte Idee. Wir wissen nichts über sie. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob sie überhaupt eine Frau ist, verdammt noch mal!« Derart unter Beschuß geraten, gab sich Guenther cool wie immer und wandte sich geduldig an den Präsidenten: »Al, es gibt Mo277
mente in einem Wahlkampf, da sieht man auf eine verpaßte Gelegenheit zurück und könnte sich ohrfeigen. Wenn wir diese Chance nicht wahrnehmen, kann ich garantieren, daß wir uns die ganze Zeit bis November die Haare raufen werden vor Wut. Sehen Sie sich doch an, was im Moment los ist. Wir haben diesen Neuling McGuire, der in allen Umfragen vorne liegt …« »Ja«, unterbrach Newcomb, »nachdem Sie ihm die Gelegenheit gegeben haben, in New Hampshire den Einstieg zu schaffen, weil Sie uns so lange aus den Vorwahlen herausgehalten haben!« Guenther beachtete den Seitenhieb nicht. »Aber sehen Sie doch, wo er seinen Rückhalt hat – bei den religiösen Fundamentalisten. Den Millennariern! Sie machen jetzt siebenundzwanzig Prozent der Stimmen aus. Das sind Wechselwähler, Al, und sie sind McGuires tägliches Brot.« Präsident Allen Moore war, sehr zum Verdruß des Vorsitzenden des Komitees zur Wiederwahl, sichtlich beeindruckt. Guenther fuhr fort. »Wir brauchen etwas, womit wir diesen Wählerblock von McGuire trennen können. Gibt es einen besseren Weg, das zu erreichen, als mit diesem religiösen Idol, das noch dazu hinreißend und sexy ist? Ein kurzes Treffen, ein schicker Fototermin, Schlagzeilen in der Presse und jede Menge Fernsehberichte. Und wir richten es so ein, daß McGuire keine Chance hat, in ihre Nähe zu kommen.« »Und wie wollen Sie das bewerkstelligen?« forderte ihn Newcomb heraus. »Ganz einfach«, erwiderte Guenther mit einem selbstbewußten Lächeln. »WNN und die Mormonen müssen einige Klippen umschiffen, wenn sie die Dame ins Land bringen wollen. Wir können die Beschaffenheit der Klippen bestimmen, je nachdem wie sie mit uns zusammenarbeiten. Ich habe in der Sache schon eine Botschaft an Jon Feldman geschickt und könnte wetten, er wird es irgendwie ermöglichen, daß wir in ihren Terminkalender passen.« 278
»Aber das…«, versuchte Newcomb einzuwenden, doch der Präsident winkte ab. »Nein, Brian, das gefällt mir«, befand Moore. »Wir müssen die Millennarier irgendwie erreichen, und mir fällt keine andere Taktik ein. Aber wir sollten es geschickt anstellen. Ein halbprivates Treffen. Nichts, bei dem die Medien uns in eine Kontroverse hineinziehen können. Etwas Herzliches, das mehr oder weniger verschwommen bleibt. Vielleicht vor dem Kamin hier. Und wir müssen aufpassen, daß wir die Kontrolle behalten.« Guenther erkannte, daß sein Chef allmählich anfing, das Potential der Idee zu schätzen. »Wie wär's, wenn wir einen Behinderten ins Spiel brächten?« überlegte Guenther. »Dann warten wir ab, was sie mit ihm anstellt. Mensch, wäre das nicht unglaublich, wenn sie wirklich jemanden hier im Oval Office heilen könnte, und das alles live und landesweit im Fernsehen!«
62 IN DER NÄHE VON KAIRO, ÄGYPTEN, 5 UHR 30. DONNERSTAG, 24. FEBRUAR 2000 Feldman war eine Stunde lang im Auto herumgefahren, nur um ganz sicherzugehen, daß ihm niemand folgte. Er wollte Jesas Bitte, allein zu kommen, respektieren und diese einmalige Gelegenheit durch nichts gefährden. Er parkte seinen Rover ungefähr eine halbe Meile von dem Hügel entfernt, wo er die kleine Prophetin beim letzten Mal getroffen hatte, nahm eine Reisetasche vom Rücksitz 279
und ging rasch den Rest des Weges hinauf, während er die kärgliche Landschaft um sich herum aufmerksam betrachtete. Er sah auf die Uhr und stieg zur richtigen Zeit den Hang hinauf, wo er Jesa im Schneidersitz auf ihrem gewohnten Platz in tiefer Meditation versunken vorfand. Dankbar für jede Gelegenheit, diese faszinierende Frau beobachten zu können, blieb Feldman stehen und wartete höflich, bis sie ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandte. Immer noch in Gedanken versunken und ohne aufzusehen sagte sie mit ihrer kühlen, beruhigenden Stimme: »Komm, setz dich und bete mit mir.« Feldman plumpste ungeschickt auf den für ihn bestimmten Stein neben ihr, und sie hielt ihm ihre Hand entgegen. Er nahm sie in die seine und schloß die Augen. Nach etwa fünf Minuten wurde Feldman ungeduldig und riskierte einen kurzen, heimlichen Blick auf seine Gefährtin. Sie blieb unbeweglich und ruhig in ihre Betrachtung versunken, hielt die Augen immer noch geschlossen und schien friedlich und besonnen. Als spürte sie seinen Blick, sagte sie plötzlich: »Danke, daß du gekommen bist. Welche Nachricht bringst du mir?« Sie öffnete jetzt die Augen und wandte sich ihm mit einem Lächeln zu, das ihn willkommen zu heißen schien. Ihr Blick hatte in diesem Moment nicht die übliche, starke Wirkung auf ihn, vielleicht hatte er sich daran gewöhnt. »Gute Neuigkeiten, Jesa«, antwortete Feldman und schüttelte den Kopf, um sich von seiner leichten Benommenheit zu befreien. »Wie ist es dir inzwischen ergangen?« »Sehr gut. Und dir geht es auch gut«, stellte sie fest. »Ja, das stimmt«, bestätigte Feldman und erwiderte ihr Lächeln. »Ich habe alles für unsere Reise vorbereitet, willst du es hören?« »Ja.« »Wir fliegen von hier am vierten März um acht Uhr morgens in 280
einer speziell für uns bereitgestellten Chartermaschine, einer Boeing 747. Das Flugzeug ist mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet, und du wirst deine eigene Kabine haben. Es gibt Duschen, Betten, Zimmerservice rund um die Uhr und Essen aus einer kleinen Bordküche. Wir werden direkt nach Washington, D.C., fliegen und dort eine Nacht bleiben.« Hier unterbrach er sich. Er wußte nicht so recht, wie er diese eine Hürde nehmen sollte. Aber er folgte auch hier seinen eigenen Grundsätzen und hielt sich einfach an die Wahrheit. »Jesa, vielleicht ist es dir nicht klar, aber weil du keine offiziellen Ausweisdokumente hast, ist es sehr schwierig, die Erlaubnis für Reisen in andere Länder für dich zu bekommen. Um die Einreise in die Vereinigten Staaten zu ermöglichen, sah ich mich gezwungen, einen kleinen Kompromiß einzugehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen einzuwenden.« Sie schwieg und sah ihn lange an. »Der Präsident der Vereinigten Staaten würde dich gerne kennenlernen. Er möchte, daß du dich mit ihm unterhältst, daß ihr euch zusammen fotografieren laßt, daß du mit ihm und Mrs. Moore ein Dinner einnimmst und im Weißen Haus übernachtest. Hättest du etwas dagegen?« Feldman hielt die Luft an. »Wenn du möchtest, daß ich es tue«, sagte sie, ohne einen Augenblick nachzudenken. Feldman war auf dieses schnelle Zugeständnis nicht gefaßt und verlor einen Moment den Faden. »Wunderbar, wunderbar. Also, das macht alles viel einfacher. Danke. Dann reisen wir also am nächsten Morgen gleich weiter nach Salt Lake City und werden zeitig genug da sein, daß du um die Mittagszeit vor der Versammlung sprechen kannst. Es ist vielleicht ein wenig hektisch für dich, aber findest du es akzeptabel?« »Ja. Ich danke dir für deine Mühe.« »Es gibt noch ein paar andere Kleinigkeiten, die man von dir er281
wartet, Jesa. Zum Beispiel verschiedene Impfungen, die du haben solltest, um deine Gesundheit während der Reise zu schützen. Ich habe die Mittel mitgebracht, man kann sie alle einnehmen, du brauchst sie einfach nur zu schlucken.« Jesa nahm eine Handvoll Tabletten und Kapseln von ihm entgegen, ohne etwas zu sagen, und legte sie alle auf den Rand des Steinsitzes vor sich hin. Dann sammelte sie alle ein und schluckte sie auf einmal. Feldman war erschrocken, weil er dachte, daß ihr die Tabletten im Hals steckenbleiben würden. Er blinzelte vor Überraschung, als sie sich ihm ruhig wieder zuwandte und seine nächste Anweisung erwartete. Er lachte unwillkürlich laut auf, und Jesa lächelte ihn an. »Jetzt muß ich schnell ein Bild von dir machen.« Er zog eine Polaroidkamera heraus und machte ein paar Schnappschüsse. »Und du müßtest etwas lesen und unterschreiben.« Er öffnete seinen Schnellhefter, legte ihn vor sie hin und machte ein paar Kreuzchen, wo sie unterschreiben sollte. Sie machte keine Anstalten, die Dokumente zu lesen, sondern setzte sofort ihre ›Unterschrift‹ an die bezeichneten Stellen. Feldman bemerkte mit Interesse, daß es schön und gleichmäßig gezeichnete Davidssterne waren. Als sie Feldman die Papiere zurückgab, sah sie ihn fragend an. »Das ist alles«, informierte er sie. »Hast du irgendwelche Fragen?« »Nein.« »Ich habe Gebäck und Kaffee dabei, wenn du mir bei einem kleinen Frühstück Gesellschaft leisten willst«, sagte er und hoffte, ihr Treffen dadurch etwas in die Länge ziehen zu können. Er nahm eine Thermosflasche aus seiner Tasche und öffnete mit einer einladenden Geste die Pappschachtel mit dem Gebäck. Jesa schüttelte den Kopf und sprang federnd auf. »Ich danke dir, aber ich faste gerade und muß jetzt in die Wüste zurückkehren, um mein Morgengebet zu Ende zu bringen.« »Ja, dann nehme ich an, daß wir uns nächsten Samstag hier wie282
dersehen, zur selben Zeit? Oder …« Er versuchte noch einmal, mehr aus ihr herauszubekommen. »Vielleicht könnte ich dich an einem anderen Ort abholen?« »Ich werde in neun Tagen beim ersten Tageslicht hier auf dich warten.« »Jaja, natürlich«, antwortete er und versuchte ungeschickt aufzustehen, ohne seine Hände zu Hilfe zu nehmen, in denen er Kaffee und Gebäck hielt. »Danke, Jon«, sagte sie, und als sie sah, daß er keine Hand frei hatte, verzichtete sie auf den üblichen Händedruck. Feldman setzte sich wieder auf den Stein, um sein Frühstück zu genießen, und sah sie munter in das karge Land hinausschreiten. Ihr Gewand und ihr ungebändigtes Haar flatterten im Wind. Als sie in der Ferne verschwand, fragte er sich, wohin sie jetzt gehen und was sie tun würde. Die heiße Luft über der Wüste begann zu flimmern und erzeugte verzerrte Bilder, die, das hätte er schwören können, sie gleich in nichts auflösen würden.
63 IN DEN GEMÄCHERN DES PAPSTES, VATIKAN, ROM, ITALIEN, 11 UHR 12, FREITAG, 25. FEBRUAR 2000 Nikolaus VI. stand am Fenster seines Studierzimmers und blickte auf die Kolonnaden des Petersplatzes hinaus. Er hatte einen wunderbaren Blick auf Rom, der ihn jedoch an diesem Morgen nicht 283
trösten konnte. Als Antonio di Concerci die Räume betrat und den Pontifex gedankenverloren am Fenster stehen sah, hielt er auf der Türschwelle inne und kündigte von dort aus respektvoll sein Kommen an. Der Papst hatte seine Ankunft voll Sorge erwartet und fragte: »Antonio, bitte, was haben Sie von Alphonse gehört?« »Nichts Gutes, Eure Heiligkeit«, antwortete der Präfekt verdrossen, »wie Sie wissen, hat er seine Unterkunft ohne ein Wort verlassen. Alle seine persönlichen Sachen, und zwar nur seine persönlichen Sachen, sind verschwunden. Gestern hat er alles Geld von seinem Konto im Vatikan abgehoben, und einer von der Schweizergarde hat ihn heute morgen gegen halb acht auf der Piazza mit einem Taxi abfahren sehen. Er hatte drei große Koffer und eine Kiste bei sich. Jetzt sind wir dabei, alle Hotels in der Stadt zu überprüfen.« »Ich schlage vor, es auch am Flughafen zu versuchen«, sagte Nikolaus mit einem tiefen Seufzer. »Glauben Sie, daß er das Land verlassen hat?« fragte der Präfekt. »Ja, Antonio. Ich glaube, er ist besessen von der Idee, dieser falschen Prophetin zu folgen. Sie wissen ja, wie sehr er wünschte, an der bevorstehenden Konferenz der Mormonen teilzunehmen, als er hörte, daß seine Jesa dort erscheinen würde. Ich bin sicher, daß er dieser Versuchung nicht widerstehen kann, besonders in seiner augenblicklichen labilen Gemütsverfassung.« Der Pontifex blickte wieder zum Fenster hinaus, als suche er nach seinem abtrünnigen Kardinal. Di Concercis finsterer Blick folgte den Augen Nikolaus': »Ich fürchte, es wird nicht leicht sein, diese verführerische Betrügerin loszuwerden, Papa.« Nikolaus wandte sich langsam um und schaute seinen Präfekten besorgt an: »Ja, ich fürchte, unsere Enzyklika ist nicht mit der ihr gebührenden Beachtung aufgenommen worden. Für viele ist der Reiz dieser Frau einfach zu unwiderstehlich. Überall stoßen wir auf 284
Rebellion, und das nicht nur in den Vereinigten Staaten. Und es sind nicht nur unsere Gemeindemitglieder, Antonio«, führte der Papst aus. »Wir verlieren Priester, Nonnen und sogar eine Reihe von Bischöfen. Die Medien verkünden bereits, unsere letzte Stunde habe geschlagen. Ich wage nicht daran zu denken, wie sie die Sache mit Alphonse ausschlachten werden, wenn sie davon erfahren! Einen Kardinal zu verlieren, dazu noch einen Kardinal der Kurie!« »Ja, Heiliger Vater«, stimmte di Concerci bedauernd zu, »ich habe deswegen schon schlaflose Nächte.« »Auch ich habe Schwierigkeiten mit dem Einschlafen. Und wenn ich dann einnicke, habe ich diese unerklärlichen, quälenden und immer wiederkehrenden Träume. Ich begegne einem schwer faßbaren Wesen in verschiedenen Formen. Es ist mir ganz nah und ständig da, aber es verschwindet immer einen Schritt vor mir, gerade um die nächste Ecke. Ein vertrauter Schatten, nur gelingt es mir nie, einen Blick auf sein Gesicht tun, um ihn erkennen zu können. Ich glaube, Gott will mir ein Zeichen geben, Antonio, aber ich kann es nicht deuten.« »Gerade jetzt wäre ein Eingreifen Gottes sehr hilfreich«, stimmte der Kardinal zu, »wir alle beten um Führung auf den rechten Weg.« Der Papst hielt einen Augenblick inne und beobachtete seinen Berater sehr genau: »Antonio, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« »Was immer es sei, Heiliger Vater«, versicherte di Concerci. »Antonio, ich möchte, daß Sie diese interkonfessionelle Konferenz in Amerika besuchen.« Di Concercis Miene verdüsterte sich schlagartig. »In der Hoffnung, daß Sie Alphonse zur Rückkehr bewegen können. Vor allem aber möchte ich, daß Sie einen eigenen Eindruck gewinnen und sich selbst ein Urteil über diese mysteriöse Jesa bilden, über diese fesselnde Verführerin, die so viele, darunter sogar einen von unserem Heiligen Stuhl, für sich eingenommen hat. Ich 285
habe dafür gesorgt, daß Sie einen Sitz in der Präsidiumsrunde erhalten. Sie und ein anderer Kardinal Ihrer Wahl sollen die Kurie auf dieser Versammlung vertreten. Und ich hoffe, daß Sie dabei Alphonse finden und ihn wieder zur Vernunft bringen können.« Nikolaus legte di Concerci die Hände auf die Schultern. »Bringen Sie mir Alphonse zurück, aber noch wichtiger ist es, daß Sie eine Lösung für das Problem finden, das immer weitere Kreise zieht und mit jedem Tag ernster wird.«
64 TAGUNGSZENTRUM DER MORMONEN, SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 9 UHR, DONNERSTAG, 2. MÄRZ 2000 Wie zu erwarten hatten sich die Organisatoren der Mormonen den Angeboten von WNN gegenüber mehr als empfänglich gezeigt. Jesa konnte eingeplant werden, wann immer WNN es wünschte. Außerdem würde WNN die exklusiven Übertragungsrechte für die gesamte Konferenz erhalten, und zwar vollständig, mit festgelegten Werbezeiten für Sponsoren und Werbespots. Nur Jesas Rede sollte live und ohne Unterbrechung gesendet werden. Daher war die Atmosphäre bei dieser vielgerühmten zweiten Versammlung interkonfessioneller Religionsvertreter im dritten Jahrtausend ganz anders als bei der ersten. Einmal brachte man der Versammlung nach Ankündigung der neuen Überraschungsrednerin viel mehr Respekt und weltweites Interesse entgegen. Buchstäblich 286
über Nacht wurden die Mormonen mit Anmeldungswünschen geradezu überschwemmt. Allein in der ersten Stunde, nachdem das bloße Gerücht von Jesas geplanter Teilnahme über einen Radiosender in Washington durchgesickert war, hatten die Mormonen per Telefon, Fax, E-Mail und Telegramm über vierhunderttausend Anmeldungen aus der ganzen Welt erhalten, die zahllosen persönlichen Anfragen in der Tabernakelhalle selbst noch nicht mitgerechnet. Der ›Heilige Pokal‹ war zweifellos ein Ereignis von geradezu epischer Größenordnung. Bei den Religionsgemeinschaften der Welt herrschte gespannte Erwartung. Obwohl die Karten ausverkauft waren, kamen immer noch Millionen verzückter Pilger, um sich in der Stadt am Salt Lake zu versammeln. Es waren so viele Menschen, daß der Gouverneur von Utah die Nationalgarde zu Hilfe rufen mußte, um diesen nie dagewesenen Zustrom von Pilgern zu bewältigen. Zeltdörfer und Suppenküchen wurden eingerichtet, um die ständig anwachsenden Massen von Obdachlosen und Leidenden zu versorgen, die hierhergekommen waren, nur um in der Nähe ihres Erlösers zu sein. Autos, Wohnmobile, Wohnwagen und Kleinbusse führten auf sämtlichen Zufahrtsstraßen zu kilometerlangen, chaotischen Staus. Rund um das Tagungszentrum hatten sich alle möglichen Straßenverkäufer, religiöse Bauernfänger und sonstige Scharlatane eingefunden, die alles – von Jesa-T-Shirts, -Aschenbechern und -Armbanduhren bis zu vegetarischen Jesaburgern – an den Mann brachten. Selbst die Prostituierten, die in dieser heiligen Stadt normalerweise wenig Gelegenheit zur Ausübung ihres Gewerbes hatten, nutzten die Situation weidlich aus. Zur Empörung der religiösen Versammlung waren einige besonders marktorientierte Straßenmädchen in Anlehnung an die Prophetin sogar mit schwarzen Perücken, weiß geschminkt und mit dunkelblauen Kontaktlinsen in wallenden weißen Gewändern erschienen. 287
Schwarzhändler hatten, so hörte man, bis zu 250.000 Dollar für einen erstklassigen Platz in der Halle gefordert, die von reichen Leuten mit schweren Krankheiten tatsächlich gezahlt wurden, weil sie eine Heilung erhofften. Überall grassierte das ›Jesafieber‹, wie zahlreiche Aufkleber verkündeten. Kirchen, Tempel und Moscheen installierten Großbildschirme auf ihren Altären und wiesen auf das Ereignis in großen Lettern oder Leuchtschriften über dem Eingang hin. Mitten in diesem bizarren, zirkushaften Trubel landete am frühen Morgen nach einem langen Überseeflug ein übermüdeter und völlig erschöpfter Kardinal Alphonse Litti. Als privilegierter Teilnehmer an der ersten Konferenz und als Mitglied der angesehenen römisch-katholischen Kirche hatte Litti einen der begehrten Plätze in der ersten Reihe der Konferenzhalle bekommen, direkt vor der Bühne und unmittelbar hinter den Präsidiumssitzen. Allerdings waren dem Kardinal nach den Ausgaben für den Flug und die Teilnehmerkarte für die Konferenz nur noch wenige Mittel für seine Unterkunft geblieben. Sie reichten gerade noch für ein kleines Zimmer in einem drittklassigen Hotel, ziemlich weit vom Tagungszentrum entfernt. Nach der Taxifahrt vom Flughafen stand er – als Kardinal ohne Amt – einsam mit seinen drei Koffern und einer grünen Kiste vor seinem Hotel und zog Bilanz. Alles, was er in dieser Welt noch besaß, trug er bei sich. Vier schwarze Soutanen mit rotem Saum, zwei schwarzrote Mäntel (ein leichter und ein schwerer), zwei rote Scheitelkäppchen, sechs weiße Hemden, sechs Priesterkragen, ein schwarzer Pullover, ein Brustkreuz, ein rotes Band, eine purpurne Schärpe, vier Garnituren Unterwäsche und zwei Paar schwarze Schuhe, Größe siebeneinhalb. Außerdem einige seiner schönsten Bücher und Schriften, verschiedene persönliche Gegenstände und Andenken, Fotos von seinen Eltern und aus seiner Kindheit. 288
Litti war sich darüber im klaren, daß viele Kardinäle wertvollere Besitztümer hatten als er, aber er hatte sein Armutsgelöbnis immer ernst genommen. Als junger Priester hatte er im Krankenhaus neben seiner schwer an Tuberkulose erkrankten Mutter dem Heiligen des Unmöglichen, Judas Thaddäus, gelobt, daß er die Hälfte all dessen, was er je verdienen würde, für wohltätige Zwecke spenden würde, wenn der Heilige nur das Leben seiner Mutter rettete. Obwohl der heilige Judas Thaddäus ihn bei diesem Geschäft betrog, hielt Litti von da an stets sein Gelübde. Für den Kardinal war diese Reise nach Utah in mehr als einer Hinsicht eine Reise ohne Wiederkehr. Der Preis für die ganze Pauschalreise, die Teilnehmerkarte für die Konferenz und das Hotel hatten praktisch alles aufgezehrt, was er in seinem Leben gespart hatte: die kleine Erbschaft von seinem Vater, Gott hab ihn selig, die im Laufe von achtundvierzig Jahren treuer und schlechtbezahlter Dienste in seiner Kirche mühsam zusammengetragenen Groschen und den Erlös von seinem verpfändeten Kardinalsring. Litti wußte nicht, wohin er von hier aus gehen würde. Er hatte noch etwa vierhundert Dollar in seiner Brieftasche. In seinem Herzen aber trug er die feste Überzeugung, daß das, was er tat, richtig sei. Und damit fühlte sich Alphonse Litti reich genug. Heute war auch Right Reverend Solomon T. Brady in der Stadt. Er war etwas früher angekommen, wohnte in einem erheblich besseren Hotel und befand sich in bedeutend besserer Stimmung als auf der letzten Konferenz. Obwohl er noch kaum seiner neuen Art der Geldbeschaffung durch ›Telekommunion‹ nachgegangen war, konnte er bereits den Erfolg vorausahnen. Seine Servicenummern, die rund um die Uhr mit gut geschulten Beratern besetzt waren, um Anrufe entgegenzunehmen und um Geldspenden zu bitten, waren voll ausgelastet. Die Sache schien wieder zu laufen im Universalen Königreich. Und noch ein Fernsehprediger, der zum ersten Mal bei der Kon289
ferenz erschien, inszenierte seine stilgerechte Ankunft. In einer langgestreckten, roten Limousine rollte der elegant gekleidete First Reverend Fischer vom Führungsrat der Samariter mit einem protzigen Gefolge schicker junger Leute vor seinem Vier-Sterne-Hotel vor. Erst kürzlich hatte er seinen Vornamen von Richard zu Peter geändert, um seine gehobene Rolle als ›Menschenfischer‹ besser zur Geltung zu bringen. Obwohl er den Bericht von WNN noch immer als Verleumdung verurteilte und vorgab, weiter engen Kontakt mit dem Messias zu pflegen, gab es Gerüchte, Reverend Fischer habe eine Unsumme für zwei Plätze in der ersten Reihe für sich und ein attraktives, knabenhaftes, blondes Mädchen bezahlt, von dem er mitleidsvoll als von ›meiner armen kleinen Waise‹ sprach.
65 IN DER NÄHE VON KAIRO, ÄGYPTEN, 5 UHR 45, SAMSTAG, 4. MÄRZ 2000 Feldman war besonders früh in Richtung Wüste aufgebrochen, denn diesmal hatte er Angst, daß Jesa ihn nicht erwarten würde. Diese Befürchtung hing mit einem der bedrückenden, verwirrenden Träume zusammen, die ihn in letzter Zeit heimsuchten. Als er an dem schon vertrauten Berg ankam, parkte er seinen Rover unten am Fuß und lief schnell bis zum Gipfel, wobei sein Herz mehr vor innerer Unruhe als der körperlichen Anstrengung wegen 290
raste. Unglücklicherweise wurden seine schlimmsten Befürchtungen sofort bestätigt. Jesa war nicht da. Vor der aufgehenden Sonne zeichnete sich klar der flache Horizont der Wüste ab, aber er konnte sie nirgendwo in dem weiten Rund erblicken. Feldman begann, sich die Demütigung und den finanziellen Verlust auszumalen, die auf ihn und den Sender zukommen würden. Wartete doch die ganze Welt gebannt auf dieses große Ereignis, als dessen Regisseur Feldman ganz offenkundig galt. Weil er nicht tun wollte, was der Traum ihm vorschrieb, widerstand er der Versuchung, in der Einöde nach Jesa zu rufen. Er würde eben einfach warten und hoffen. Er sah auf die Uhr. Sechs Uhr morgens. Das erste Tageslicht. Sie hatte gesagt, sie würde beim ersten Tageslicht da sein. Ungeduldig verschränkte er die Arme. Da sagte eine sanfte Stimme hinter ihm »Guten Morgen«. Feldman fuhr erschrocken, aber erleichtert herum. Diesmal mußte sie hinter ihm denselben Hang heraufgestiegen sein. Er hatte einfach angenommen, daß sie von der Wüstenseite her kommen würde, weil sie auch in diese Richtung verschwunden war. Mit einem schüchternen Grinsen sagte er verlegen: »Hallo, du siehst heute morgen großartig aus.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Hast du dein Gepäck unten am Berg gelassen?« »Ich habe kein Gepäck«, sagte sie schlicht. Feldman runzelte die Stirn und fragte sich, wie sie nur mit den Kleidern, die sie am Leib trug, auskam. »Das macht nichts«, erwiderte er fröhlich. »Gott wird es schon richten. Oder WNN. Wir haben alles da, was du brauchst, von Kleidern bis zur Zahnbürste. Bist du fertig?« Sie nickte. »Also dann!« Er streckte die Hand aus, sie griff danach, und gemeinsam marschierten sie zu seinem Auto hinunter. »Bist du jemals Auto gefahren?« fragte er sie, während sie dem 291
Hubschrauber entgegenfuhren, der sie zum Kairoer Flughafen bringen sollte. »Nein.« »Oder im Hubschrauber oder Flugzeug geflogen?« »Nein.« »Es wird dir gefallen«, versicherte ihr Feldman, obwohl er sich insgeheim fragte, ob diese unerschütterliche Frau jemals echte Freude oder Vergnügen empfand. Er hatte sie nie lachen hören. Und wenn sie gelegentlich einmal lächelte, war es gewöhnlich nur flüchtig und nie überzeugend. Der Hubschrauber war eine Sicherheitsmaßnahme. Auf das bloße Gerücht hin, der Messias würde den Flughafen Kairo betreten, hatten Menschenmassen die Eingänge blockiert. Die einfachste Art, Komplikationen jeder Art zu vermeiden, bestand darin, die Prophetin einfach über die Menge hinwegzufliegen und direkt bei ihrem Flugzeug abzusetzen. Die geheimen Vorbereitungen, die WNN für Jesas Flug getroffen hatte, waren dank der Zusammenarbeit mit dem Weißen Haus gut organisiert. Die gecharterte Düsenmaschine stand einsam in einem abgelegenen Bereich des Flughafens. Aber Feldman wußte, daß eine Einheit von CIA-Sicherheitsbeamten überall in der Umgebung auf der Lauer lag. Feldman und WNN hatten außer den Besatzungsmitgliedern nur Hunter und Cissy McFarland als Passagiere an Bord erlaubt. Feldman war der Ansicht, daß wenigstens eine Frau aus dem WNN-Personal für Jesa da sein sollte, falls sie während des Fluges persönliche Betreuung brauchte. Unter normalen Bedingungen wäre die Wahl ohne Zögern auf Cissy gefallen. Aber wegen ihres Konflikts mit Hunter hatte Feldman außerordentliche Überredungskünste gebraucht, um die WNN-Führung zu überzeugen, daß sie dafür die Richtige war. Und das auch nur, nachdem ihm Cissy hoch und heilig geschworen hatte, keinen zweiten Eklat zu provozieren. 292
Feldman mußte auch Hunter mühsam das Versprechen abnehmen, nichts Dummes zu sagen oder zu tun, das Cissy während der Reise gegen ihn aufbringen könnte. Aber Feldman war sich klar darüber, daß dies eigentlich nicht in Hunters Macht stand. Das und einige andere Sorgen beschäftigten den Reporter, als die Tür des Jets geschlossen wurde und er mit der Prophetin in den luxuriösen Sitzen in der Mitte der Maschine Platz nahm. Eine Minute später rollten sie über die Startbahn und hoben in den wolkenlosen, blauen Himmel ab, um die lange Reise nach Amerika anzutreten.
66 IM WEISSEN HAUS, WASHINGTON, D.C., USA, 7 UHR 20, SAMSTAG, 4. MÄRZ 2000 Bei einem Arbeitsfrühstück im Wintergarten der Präsidentenfamilie hatten die Wahlkampfberater Brian Newcomb und Edwin Guenther eine Meinungsverschiedenheit, was den Tagesablauf des Präsidenten betraf. Sie waren schon darüber informiert worden, daß die Prophetin Jesa unterwegs sei, und so konnte ihr ehrgeiziger Plan beginnen. Der Präsident hatte mit ihnen frühstücken wollen, wurde aber durch einen Anruf aufgehalten und bestand darauf, daß sie ohne ihn anfangen sollten. »Ich kann nur hoffen, daß dieser Schachzug uns auch wirklich breite Unterstützung von den Millennariern bringt«, warnte Newcomb, als er einen Teller Rührei mit Speck in Angriff nahm. »Wir vergraulen jedenfalls den Rest der Medien dadurch, daß wir nur 293
WNN beim Dinner heute abend zulassen.« »Hier steht alles drin«, antwortete Guenther und tippte mit der Gabel auf ein großes, gebundenes Dokument. »Fünf verschiedene, unabhängige Meinungsumfragen. Diese Jesa ist bei den Millennariern so beliebt, daß Al nur neben ihr zu stehen braucht, und schon gehen seine Punkte um siebzehn bis zwanzig Prozent höher.« »Um so mehr hätten wir uns an den ursprünglichen Plan halten sollen«, betonte Newcomb. »Sie zum Lunch hier zu haben, wäre gut gewesen, aber ein feierliches Dinner mit Empfang? Mit Übernachtung? Da steht zu viel Zeit zur Verfügung. Zu viele Gelegenheiten, bei denen etwas schieflaufen kann. Wir wissen einfach nicht genug über sie. Mein Gott, ich habe Berichte über sie gehört, daß sie eine ausgewiesene Verrückte sei. Um Himmels willen, das Mädchen denkt, sie ist ein weiblicher Jesus Christus!« »Wenn sie spinnt, dann bestimmt nicht mehr als einige von den anderen religiösen Spinnern, die wir schon durch das Oval Office geführt haben.« Guenther genierte sich nicht, mit vollem Mund zu sprechen. »Und keiner von denen hat uns irgend etwas gebracht. Außerdem hatte so ein Blitzbesuch nicht die richtige Wirkung. Sie ist zu wichtig. Sie von so weit her zu einem kurzen Lunch kommen zu lassen und sie dann gleich wieder wegzuschicken, da würde Al doch als oberflächlicher Stimmenfänger dastehen. Mensch, die Öffentlichkeit hält sie für Gott, da müssen wir sie auch wie einen solchen behandeln!« »Irgendwie bekomme ich langsam kalte Füße«, gestand Newcomb und fuhr sich übers Gesicht. »Aber wir müssen auf jeden Fall diesen Jon Feldman immer in der Nähe haben. Er scheint ja wenigstens etwas Kontrolle über sie zu haben.« »Ja. Ein guter Mann. Hat uns alles gegeben, was wir verlangt haben.« »Er hatte auch kaum eine andere Wahl, oder?« fügte Newcomb lachend hinzu. 294
Guenther lachte ebenfalls. »Die Macht des Präsidentenamtes!« »Aber ich höre, er hatte eine Forderung«, erwähnte Newcomb. »Ach ja? Was war das?« »Er nahm uns das Versprechen ab, sie nicht in eine heikle Lage zu bringen oder sie dazu zu drängen, ein Wunder zu tun.« »Ach verdammt!« sagte Guenther mit gespielter Enttäuschung. »Und ich wollte sie bitten, mir zwanzig Pfund von der Taille wegzuzaubern und mein Dingsda um ein paar Zentimeter zu verlängern!« Sie lachten beide herzhaft.
67 ÜBER DEM ATLANTIK, 10 UHR 10, SAMSTAG, 4. MÄRZ 2000 Die große, viermotorige Maschine gehörte einem saudiarabischen Ölscheich. Sie besaß riesige Ledersitze, ein großes Privatabteil mit einem extragroßen Bett und einen eleganten Speiseraum, um den unermeßlich Reichen ihren gewohnten Komfort zu bieten. Feldman war gespannt, wie Jesa auf all diesen Luxus reagieren würde, und sah den Flug als eine besondere Gelegenheit an, wichtige Einsichten in ihr Wesen zu bekommen. Er wurde nicht enttäuscht. Aber was er herausfand, überraschte ihn. Vom ersten Augenblick ihrer Reise an beunruhigte Feldman Jesas unerklärliches Wissen über ihre Umgebung. Beispielsweise wollte er ihr mit dem Sicherheitsgurt helfen, als sie sich auf den Abflug vor295
bereiteten, aber er sah, daß sie keine Hilfe benötigte. Genauso war es mit der elektronischen Einstellung des Sitzes, der Regulierung der Klimaanlage oder als es darum ging, das Licht über dem Sitz anzuschalten und die Knöpfe auf der Lehne zu bedienen, um Musik über Kopfhörer zu hören. Sie hatte alles ganz selbstverständlich gemeistert und brauchte keine Hilfe. Relativ schnell hatte Feldman auch entdeckt, daß Jesa in Geographie ebenso bewandert war, denn während des Fluges hatte er versucht, sie auf interessante Gegenden und Städte hinzuweisen. Als er ihr enthusiastisch verschiedene Regionen des Mittelmeerraums erklärt hatte, machte er den Fehler, Sardinien als Sizilien zu bezeichnen. Sie hatte ihn beiläufig korrigiert, und zu seinem Kummer wurde ihm plötzlich bewußt, daß sie seine amateurhaften Erläuterungen als Fremdenführer die ganze Zeit nur aus Höflichkeit ertragen hatte. Wieder einmal hatte er diese unergründliche Frau schwer unterschätzt. Immer an seine Pflichten gegenüber WNN denkend und im Bewußtsein, daß die Welt unbedingt mehr über diesen geheimnisvollen Messias wissen wollte, strengte Feldman sich an, Jesa in aufschlußreiche Diskussionen zu verwickeln. Mit unterschiedlichem Erfolg. Zuerst beantwortete sie die meisten seiner Fragen mit einem einfachen »Ja« oder »Nein« und schien gedankenverloren und wenig gesprächig. Da er noch genug Zeit und Gelegenheiten für weitere Gespräche haben würde, insistierte er nicht und ließ sie in Frieden. Unterdessen hielten Hunter und Cissy in der vorderen Sitzreihe gewissenhaft den gehörigen Abstand und ließen Jesa ihren privaten Bereich. Gelegentlich und sehr diskret drehte Hunter sich um und nahm mit seiner Zoomlinse ein paar kurze Sequenzen von der Prophetin auf. Obwohl Jesa das bemerkt haben mußte, tolerierte sie es. Erst nach fünf Stunden Flugzeit kam es durch eine Ungeschicklichkeit, die sich aber als glücklicher Zufall erwies, endlich zu einer 296
persönlicheren Erfahrung mit dem Messias. Weit draußen über dem Atlantik dösten Jesa und Feldman nebeneinander in ihren Sitzen. Cissy hatte sich neben Hunter, der matt und gelangweilt aus dem Fenster starrte, in eine Decke gekuschelt. Hunter sah die Gelegenheit für ein paar ungezwungene Nahaufnahmen von der Prophetin gekommen. Er schlüpfte an Cissy vorbei und schlich sich im Mittelgang langsam nach hinten. So nah hatte er sich noch nie an den Messias herangewagt. Obwohl er sich absolut geräuschlos näherte, schien Jesa seine Gegenwart wie eine Katze zu spüren, setzte sich blitzschnell auf und ließ ihn mit ihren eisblauen Augen vor Schreck erstarren. Feldman wurde aus seinem kurzen Schlaf gerissen. Er wußte sofort, was passiert war, hatte aber keine Ahnung, wie der Messias auf diese unverschämte Störung reagieren würde. Bevor Feldman eingreifen konnte, hatte Hunter sich von ihrem Blick erholt und versuchte, die Situation aus dem Stegreif zu retten. Ungeschickt platzte er heraus: »Miss Jesa, ich dachte mir gerade, wenn es Ihnen nichts ausmacht – könnten Sie mir nicht mal zeigen, wie Sie mitten in einer Menge einfach verschwinden, so wie Sie das immer machen? Ich werd' es nicht weitererzählen, ich schwör's bei Gott.« Er zuckte bei seinen eigenen, respektlosen Worten zusammen. Hunter sah mit seinem erschrockenen Gesicht so bedauernswert aus, daß Feldman ganz unwillkürlich zwischen Verlegenheit und Schadenfreude hin und her schwankte. Auf ihrem Platz weiter vorn war Cissy McFarland sich ihrer Gefühle sicherer. Sie hatte mit nervöser Neugier all dies kommen sehen und verbarg nun beschämt ihr Gesicht im Kissen. Jesa saß die ganze Zeit still wie eine Statue. Sie runzelte leicht die Stirn und kräuselte die Lippen. Ihre Gefühle waren nicht auszumachen. Schließlich beugte sie sich vor und hob einen Arm absichtlich langsam hoch, bis der weite, herunterhängende Ärmel ihres Gewands ihr Gesicht vollkommen verdeckte, wie bei einem Zauberer, 297
der ein Tuch über einen Gegenstand wirft, der verschwinden soll. Hunter wich ängstlich zurück. Plötzlich ließ sie den Arm fallen, und ihr Kopf war in einen traditionellen, schwarzen Schleier gehüllt, wie moslemische Frauen ihn tragen. Ein kindisch einfacher, aber wirksamer Trick. Um in einer Menschenmenge zu verschwinden, brauchte der Messias sich nur zu bücken und den Schleier überzuwerfen, und schon sah sie aus wie Tausende ähnlich gekleideter Frauen um sich herum. Niemand bemerkte das. Und selbst wenn jemand Verdacht schöpfte: Keinem Bewohner des Nahen Ostens käme es jemals in den Sinn, den Schleier einer Frau zu lüften. Hunter nickte, dankte dem Messias überschwenglich und zog sich hastig in den hinteren Teil des Flugzeuges zurück. Als er sich davonmachte, ließ Jesa den Schleier heruntergleiten und lächelte. Feldman war erleichtert und erfreut zu sehen, daß der Messias tatsächlich Humor besaß. Er wandte sich ihr grinsend zu: »Weißt du, es ist nur natürlich, daß die Leute neugierig sind«, begann er das Gespräch. »Du bist eine wichtige Persönlichkeit, und man weiß so wenig über dich.« »Ich bin nicht wichtig«, sagte sie seufzend. »Das Wort ist wichtig.« »Aber du bist doch wichtig! Wenn die Menschen deine Botschaft glauben sollen, müssen sie an dich glauben. Und an dich glauben können sie nur, wenn sie dich kennenlernen.« »Das Wort steht für sich«, erwiderte Jesa kategorisch. »Über die Verfasser der vier Evangelien ist wenig bekannt, aber ihre Worte sind unsterblich.« Feldman sah ihr tief in die Augen. »Aber ich würde gern mehr über dich wissen, Jesa.« Ihr Blick drang wieder bis in sein Inneres, in seine Seele ein. Er fühlte sich, als schwebe er schwerelos wie ein Geist vor ihr. Sie 298
seufzte und schien enttäuscht zu sein. »Du hast mehr gesehen als sonst irgend jemand, und trotzdem mußt du noch mehr sehen. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.« Enttäuscht und verwirrt sank Feldman langsam in seinen Sitz zurück. Jesa schloß die Augen, um wieder zu schlafen, und murmelte leise etwas, das wie »in deinen Träumen« klang, obwohl er sich nicht sicher war, daß er sie richtig verstanden hatte. Eine halbe Stunde später kam eine Stewardeß, um das Dinner anzukündigen, und bot Jesa und Feldman an, sich vor dem Essen im Speisesaal noch frisch zu machen. Als Hunter aus seinem freiwilligen Exil zurückkehrte, kam ihm Jesa auf dem Weg zu ihrer Privatkabine entgegen. Er drückte sich in eine Ecke und hielt großen Abstand zu ihr. Als Jesa das bemerkte, ging sie zu ihm hin und bat ihn, mit Cissy und Feldman zusammen zum Abendessen zu kommen. Hunter fühlte sich wieder akzeptiert und stimmte sofort zu. Von den ersten zwei Mahlzeiten im Flugzeug wußte Feldman, daß Jesa nur sehr wenig aß und sich streng an ihre Regeln hielt. Als eine Stewardeß ihnen die Frühstückskarte brachte, hatte Jesa abgelehnt und nur Wasser getrunken. Zum Mittagessen hatte sie Fleisch- und Geflügelgerichte unbeachtet gelassen und sich mit einem Salat zufriedengegeben. Zum Abendessen aß sie ein wenig rohes Gemüse und ein trockenes Brötchen. Die anderen fühlten sich dadurch ein bißchen gehemmt. Zu verlockend waren all die Feinschmeckerhäppchen, Vorspeisen und Desserts, eine Versuchung, der sie schließlich dann auch erlagen. Auf die Frage, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie Wein trinken würden, antwortete sie leichthin: »Christus selbst hat gern Wein getrunken«, verzichtete aber selbst darauf. Cissy hatte vorher noch nie persönlich mit Jesa Kontakt gehabt 299
und versuchte mit einer langen Liste brennender Fragen nun ihrerseits vorsichtig ein kleines Verhör. »Verzeih, Jesa, ich hoffe, es stört dich nicht, daß ich das frage, aber es geht um ein Thema, das du mehrmals angesprochen hast und das vielen Menschen in der Welt immer noch große Angst und Sorge bereitet. Bedeutet dein Kommen wirklich, daß der Jüngste Tag bevorsteht?« Jesa führte gerade ein Glas Wasser zum Mund, hielt inne und setzte es wieder ab. Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete. »Ich behaupte, es ist gut, daß es endlich Sorge in der Welt gibt um den Willen des Vaters. Der Zweck meines Kommens ist es, das Wort Gottes zu bringen und der ganzen Menschheit Gottes Plan zu enthüllen. Ich sage euch, daß die Zerstörung der Welt viele Formen annehmen kann und daß die Menschen Gottes Urteil selbst auf sich gezogen haben. Eine große Prüfung wird kommen. Und alles wird bald offenbar werden, zur rechten Zeit, und nicht vorher.« Diese Aussage wirkte auf alle sehr ernüchternd. Ein langes Schweigen folgte, und für Cissy schienen die übrigen Fragen plötzlich ihre Bedeutung verloren zu haben. Schließlich machte Cissy einen Versuch, die gedrückte Stimmung zu heben und die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen. »Jesa, du führst ein so schweres Leben. Kein Zuhause, keinen Besitz, keine engen Freunde. Wie kommst du zurecht?« »Du sagst, ich habe keine Freunde?« fragte sie und schien ehrlich überrascht. »Aber überall, wo ich bin, öffnen mir die Menschen ihr Herz. Unterkunft, Nahrung, Kleidung werden mir großzügig angeboten, und wenn ich Abschied nehme, gehe ich in Freundschaft. Nichts fehlt mir«, sagte sie vollkommen aufrichtig. »Wieso ist mein Leben schwer?« »Aber fühlst du dich nie einsam?« fuhr Cissy unbeirrt fort. »Sehnst du dich nicht manchmal nach Freundschaft, einer Familie, einem normalen Leben fern von all dem Aufruhr und den Massen?« 300
»Ich finde Frieden in meiner Meditation«, antwortete sie. »Meine Mission ist es nicht, Befriedigung auf der Erde zu suchen. Jeder von uns ist zu einem bestimmten Zweck hier. Und wenn wir diesen Zweck erfüllen, erreichen wir unser persönliches Glück.« Feldman öffnete den Mund, um eine bewußt heikle Frage zu stellen, eine schwierige, gefährliche Frage, die er seinem Messias schließlich irgendwann einmal stellen mußte. Doch dann überlegte er es sich anders. Obwohl er stark in Versuchung war, wollte er es jetzt nicht riskieren. Vielleicht auf dem Rückflug, wenn alles geklärt wäre, was auf sie zukam. Nach dem Essen bot Cissy Jesa eine umfangreiche Auswahl an schönen Kleidern, Schuhen und Accessoires an, die extra für sie zusammengestellt worden war. Aber das interessierte Jesa nicht. »Ich werde heute abend mein Gewand waschen, und es wird bis morgen früh trocken sein«, meinte sie nur. Die übrigen Stunden vor ihrer Ankunft verbrachte Jesa allein in ihrer Kabine, wo sie meditierte.
68 SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 8 UHR, SAMSTAG, 4. MÄRZ 2000 In Erwartung eines weiteren vollgepackten Tages bei der zweiten Konferenz war Kardinal Litti an diesem Morgen früh aufgestanden. Er saß auf dem Sofa in seinem Hotelzimmer, trank seinen Tee und betete. Aber mitten in seinen Gedanken wurde der Kardinal durch 301
ein Klopfen unterbrochen. In der Annahme, es sei das Zimmermädchen, schob er den Riegel zurück und öffnete die Tür. Aber es war nicht das Zimmermädchen. »Guten Morgen, Alphonse«, hörte er eine bekannte, aber unwillkommene Stimme. »Dürfen wir hereinkommen?« Litti keuchte: »Di Concerci, Santorini! Was tun Sie hier?« Die beiden Kardinäle traten ohne Aufforderung ein. »Sie sehen gut aus, Kardinal Litti«, begrüßte Santorini seinen auf Abwege geratenen Kollegen. »Kardinal?« fragte Litti. »Bin ich denn noch einer?« »Natürlich«, beruhigte ihn di Concerci. Litti fragte das eigentlich Unmögliche: »Kann es sein, daß Sie hier sind, weil Nikolaus meinen Bericht jetzt anders bewertet?« »Nein, Kardinal«, sagte di Concerci, »wir sind zur Beobachtung der Versammlung hier und auch, um mit Ihnen über Ihre Rückkehr zur Kurie zu sprechen. Vielleicht haben wir Sie zu schroff behandelt. Vielleicht hätte man Ihnen Gelegenheit zur Diskussion Ihrer – interessanten Theorien geben sollen. Wenn Sie bereit sind, am Ende der Konferenz mit uns zurückzukommen, versichern wir Ihnen, daß Sie die Möglichkeit erhalten, Ihre Auffassung zu erläutern. Kommen Sie, wir wollen zusammen frühstücken und alles Weitere besprechen.« Litti stieß ein kurzes, verächtliches Lachen aus. »Ersparen Sie mir bitte diese gönnerhafte Behandlung. Die Enzyklika der Kongregation über den neuen Messias ist bereits geschrieben und verbreitet. Es ist zu spät, als daß meine Worte noch etwas ändern könnten.« »Es ist niemals zu spät, Alphonse«, lenkte Santorini ein. »Bitte, überdenken Sie es noch einmal.« »Wenn Sie meine Entscheidung für eine Kurzschlußhandlung halten, so täuschen Sie sich.« Littis Gesicht war rot vor Erregung. »Als ob ich so einfach fünfzig Jahre hingebungsvollen Dienst an meiner Kirche aufgeben, auf meine Sicherheit und die einzige Form 302
des Lebens verzichten würde, die ich kenne, um jemandem zu folgen …« Mühsam hielt Litti die Tränen zurück. Da er wußte, daß seine Mühe vergeblich war, versuchte Litti sich wieder zu beruhigen und wechselte das Thema. »Sind Sie für die ganze Dauer der Versammlung hier? Werden Sie bis zur Rede des Messias bleiben?« »Wir sind für die ganze Dauer hier, Alphonse«, versprach di Concerci. »Ich bin als Vertreter des Vatikan in der Runde der Würdenträger angemeldet.« »Was?« rief Litti ungläubig. »Sie versuchen, mein Kommen zu verhindern, und nehmen mir dann den Platz im Präsidium weg, den ich einnehmen wollte?« Um Abstand zu gewinnen, trat Litti ans Fenster. In der Ferne sah er die schneebedeckten Gipfel der Berge majestätisch in das Blau des Himmels aufragen. »Antonio hat Ihnen den Platz nicht weggenommen«, versuchte Santorini den widerspenstigen Kardinal zu beruhigen. »Die Konferenzleitung hat eine offizielle Anfrage an den Vatikan gerichtet, im Präsidium vertreten zu sein. Nikolaus zog Sie dafür in Betracht. Aber Sie waren ja plötzlich verschwunden. Wir wußten nicht einmal sicher, ob wir Sie hier antreffen würden.« »Das glaube ich Ihnen nicht«, forderte Litti ihn heraus. »Nikolaus lehnte meine Bitte, hierherkommen zu dürfen, ab. Warum sollte er es sich anders überlegt haben?« Di Concerci ging darauf nicht ein und sagte: »Alphonse, ganz unabhängig davon sind wir doch hier, um diesen angeblichen Messias sehen und beurteilen zu können, und genau das haben Sie sich doch die ganze Zeit gewünscht.« Litti wandte sich um und sah seinem alten Widersacher noch einmal ins Gesicht: »Kardinal di Concerci, ich warne Sie. Sie werden Jesas Botschaft unmöglich verstehen können, wenn Sie Ihre Einstellung nicht grundsätzlich ändern. Sie müssen mit jungfräulichen Ohren hören, mit reinem Herzen fühlen und mit unverfälschtem 303
Verstand denken. Da ich Sie kenne, Präfekt, muß ich leider sagen, daß ich in dieser Hinsicht wenig Hoffnung für Sie hege. Wenn Sie aber den Messias gehört haben und der eine oder der andere von Ihnen meiner Überzeugung auch nur ein Stück näher gekommen ist, dann suchen Sie mich wieder auf, und ich werde weiter mit Ihnen sprechen. Weiter habe ich Ihnen im Augenblick nichts zu sagen.« Nach diesen Worten verließen ihn die beiden Abgesandten, und Litti versuchte sein Gebet wiederaufzunehmen. Aber dazu war er viel zu aufgewühlt. Als sie im Fahrstuhl hinunterfuhren, verdrehte Santorini die Augen und sagte kopfschüttelnd zu seinem Kollegen: »Er ist genau so, wie Sie ihn beschrieben haben. Er ist nicht mehr er selbst. Das ist sehr traurig, und es könnte möglicherweise sehr peinlich für uns werden, wenn er seine Ansichten den Medien mitteilt. Vielleicht war es unter diesen Umständen nicht klug, Alphonse seine Kardinalswürde zu belassen. Sollte er sich in der Öffentlichkeit äußern, könnte der Eindruck entstehen, er vertrete die Meinung der Kurie. Oder bestenfalls, daß er auf eine Spaltung in unseren Reihen anspielt. Das ist gefährlich.« »Ich stimme Ihnen zu, mein Freund«, antwortete der Präfekt, »aber der Pontifex wollte nichts davon hören. Wenigstens noch nicht. Nikolaus und Alphonse standen sich einst sehr nahe. Nikolaus hat immer noch die Hoffnung, daß unser aufsässiger Freund wieder zur Vernunft kommt. Ich persönlich habe ihn nie für vernünftig gehalten.« Santorini nickte: »Haben Sie Ihre jungfräulichen Ohren mitgebracht?« »Bestimmt nicht, damit die Worte dieser falschen Prophetin darin Eingang finden, das kann ich Ihnen versichern«, erwiderte di Concerci den Scherz. Die beiden Männer lachten herzlich, als sie aus 304
dem Aufzug stiegen und in die frische Morgenluft hinaustraten.
69 DULLES INTERNATIONAL AIRPORT, WASHINGTON. D.C., USA, 14 UHR 15, SAMSTAG, 4. MÄRZ 2000 Es war ein heller und schöner Winternachmittag. Pünktlich auf die Minute landete die WNN-Chartermaschine am Rande der Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Der Anblick von den Stufen der Rolltreppe war überwältigend: Tausende von jubelnden, nahezu hysterischen Menschen mit Blumen, Plakaten und Fotoapparaten, die sich, so weit das Auge reichte, um die Absperrungen des riesigen Flughafens zusammendrängten. Es wäre unmöglich gewesen, mit einer Wagenkolonne in diesem Gedränge voranzukommen. Zum Glück hatte die Regierung Moore einen Hubschrauber des Präsidenten geschickt, der in der Nähe wartete und die vier direkt zum Weißen Haus bringen sollte. Die ganze Belohnung der geduldig wartenden Menschenmenge bestand in wenigen kurzen Blicken auf die zierliche Messiasgestalt, die von einem zahlreichen Aufgebot an Geheimdienstagenten eskortiert wurde. Der Empfang am Weißen Haus fiel noch überschwenglicher aus. Entlang der Pennsylvania Avenue und in den Straßen der umliegenden Häuserblocks standen Scharen von Anhängern, Kranken und Schaulustigen. Auch ein paar isolierte Protestgruppen waren da. Sie hatten jedoch keinerlei Macht über die Menge, die im großen und 305
ganzen voller Verehrung für Jesa war. Überall im jubelnden Getümmel waren farbenfrohe Plakate und Schilder zu sehen, die Jesa als Gott priesen, die Bibel zitierten und das Ende der Welt ankündigten. »Moore braucht ein Wunder!« stand auf einem Spruchband zu lesen. Es war in den Abendnachrichten sämtlicher großen Sendeanstalten zu sehen. Feldman stieg aus dem Hubschrauber, nahm Jesa am Arm und half ihr heraus. Sie schritten über einen langen, roten Teppich, der von mehreren Ehrenformationen gesäumt war: einer Wache in Galauniform, einer Doppelreihe strammstehender Marines mit gezogenem Schwert, einer Blaskapelle und einer Schar salutierender Pfadfinder. Die Kapelle spielte ein Stück, das Feldman bekannt vorkam. Er lächelte. Es war der Sousa-Marsch, den Anne Leveque ihm vorgesummt hatte, als sie ihm die Geschichte von dem tanzenden Lämmchen erzählt hatte. Hunter und Cissy blieb keine Zeit, die pompöse Zeremonie zu bewundern. Sie hatten die Aufgabe, die Kamerateams von WNN in den Räumen und in der Umgebung des Weißen Hauses zu koordinieren. Durch ihren Kontakt zu Feldman und der Prophetin hofften Hunter und Cissy, dieses historische Ereignis mit einer besonderen, persönlicheren Note versehen zu können. Am Ende der Ehrenformationen standen der Präsident und die First Lady, der Vizepräsident mit seiner Gattin sowie zahllose Senatoren, Kongreßabgeordnete, verschiedene VIPs, ausländische Würdenträger und andere hochgestellte Persönlichkeiten der Regierungsbürokratie. Alle lächelten herzlich. Feldman sah zu seiner kleinen Gefährtin hinüber, deren Selbstvertrauen und Gelassenheit ihn beeindruckten. Der ganze Pomp konnte ihr offensichtlich nichts anhaben. Er schien ihr weder Eindruck zu machen noch sie einzuschüchtern. Die einzige Regung, die sie zeigte, war Neugierde. Feldman schüttelte die ausgestreckte Hand des Präsidenten und 306
die von Mrs. Moore und dann die des Vizepräsidenten und seiner Frau. Dann stellte er sie alle der Frau der Stunde vor. Jesa hielt inne und schaute jeder einzelnen Persönlichkeit tief in die Augen. In diesem Moment hätte sich Feldman ohrfeigen können. Denn ihm wurde schlagartig klar, was gleich passieren würde. Aber jetzt war es zu spät, er konnte nicht mehr tun. Das Präsidentenehepaar und der Vizepräsident samt seiner Frau waren nahe daran, unter Jesas eindringlichem Blick in Ohnmacht zu fallen. Feldman eilte zur First Lady, die fast gestürzt wäre. Geheimagenten waren spontan aus dem Nichts zur Stelle, reagierten aber erschrocken und verwirrt. Das seltsame Ereignis wurde live von verschiedenen Kameras aus unterschiedlichen Blickwinkeln festgehalten. Glücklicherweise erholte sich die Gruppe um den Präsidenten schnell. Als sie nach der Begrüßung auf den Wohnsitz des Präsidenten zugingen, flüsterte Feldman dem Messias ins Ohr: »Jesa, vielleicht bist du dir dessen gar nicht bewußt, aber wenn du die Menschen so intensiv ansiehst, fühlen sie sich sehr unbehaglich. Hast du eine Kontrolle darüber?« Jesa sah ihn fragend an und ging schweigend weiter. Moore schüttelte immer noch den Kopf und sagte zu seiner Frau etwas über die Abgase des Hubschraubers. Sie traten durch das Hauptportal, und die Gruppe stellte sich in dem langen Korridor mit Feldman und Jesa in der Mitte auf. Eine lange Schlange bildete sich, und Feldman und Jesa waren die nächsten Stunden damit beschäftigt, Hände zu schütteln und mit einem endlosen Defilee der High-Society Belanglosigkeiten auszutauschen. Feldman bemerkte erleichtert, daß die Menschen, die Jesa begrüßte, zwar noch die Kraft ihres Blickes spürten, daß die Auswirkungen jetzt aber weniger drastisch zu sein schienen. Feldman war sich nicht sicher, wie der Messias die etwas langatmige Begrüßungszeremonie aufnehmen würde. Er hatte ihr nie die Einzelheiten seiner Vereinbarungen mit dem Weißen Haus erklärt, nur daß sie viele Leute 307
treffen, ein Abendessen einnehmen und dort übernachten würde. Während des Empfangs bemerkte Feldman, daß Jesa nur selten lächelte, obwohl sie andererseits nicht ernsthaft verärgert zu sein schien. Da die Prozession der vorbeiziehenden Gäste ununterbrochen weiterging, hatte Feldman keine Gelegenheit, Jesa nach ihrem Befinden zu fragen. Aber er konnte Fetzen ihrer Unterhaltung verstehen. Einmal fragte der Präsident Jesa nach ihrer Meinung zur Politik, und sie antwortete: »Gott und die Regierung sind sich in vielem ähnlich. Beide haben niemals Ruhe, weil die Gesellschaft stets die Gesetze verletzt, die für sie gemacht sind.« Feldman war beeindruckt, als er hörte, daß sie sich mit ausländischen Prominenten in deren jeweiliger Muttersprache unterhielt. Wenn sie nur ein oder zwei englische Wörter mit einem fremdländischen Akzent gehört hatte, erriet Jesa sofort die richtige Sprache und antwortete in dieser – zum großen Vergnügen ihrer Gesprächspartner. Dies alles wurde vom wachsamen Hunter und den Kamerateams von WNN auf Video aufgenommen. Eine Unterhaltung schien ihm besonders amüsant. Ein prominenter Washingtoner Strafverteidiger, den Feldman aus den Nachrichten kannte, trat im teuren Anzug und mit einer attraktiven, jungen Frau am Arm auf Jesa zu. »Miss Jesa«, begrüßte er den Messias, »ich glaube, wir haben etwas Wesentliches gemeinsam.« Jesa sah ihn an, ohne etwas zu sagen, und einen Augenblick lang war er verblüfft und sichtlich bemüht, seinen Gedanken zu Ende zu führen. »Wir sind nämlich«, sagte er nach einer Pause der Verwirrung, »äh, im gleichen Geschäft – Sie und ich. Wir retten Menschen.« Jesa sah ihn kurz und kritisch an und antwortete dann unverblümt: »Ja, aber meine Art der Rettung bringt die Leute nicht an den Bettelstab!« Gelächter erklang von den Umstehenden, und der verärgerte Rechtsanwalt schlich eilig davon. 308
Feldman wurde dann Zeuge einer weiteren Episode, für die er erst Wochen später eine mögliche Erklärung erhalten sollte. Eine der letzten Personen, die Jesa begrüßte, war eine hochbetagte, zerbrechlich aussehende Nonne, die sogar noch kleiner als Jesa war. Feldman erkannte das faltige und fromme Gesicht von Mutter Bernadette, der weltberühmten ›Schwester der schweigenden Dulderinnen‹, bekannt für ihr selbstloses Leben im Dienste der Kranken und Armen Afrikas. Die zitternde, kleine Nonne ergriff zögernd die ausgestreckte Hand des Messias, küßte sie und sah mit bittenden Augen zu Jesa auf. »Liebe Jesa«, sprach sie die Prophetin mit einer Stimme an, die so uralt klang, wie sie selbst es war. »Ich komme, weil ich um deine Gebete bitten will, nicht für mich selbst, sondern für meine armen, vergessenen Kinder in einem fernen Land, die krank und hungrig sind.« Feldman sah, wie Jesa Tränen in die Augen traten, als sie die kleine Frau betrachtete. Dann legte Jesa ihre Hände auf die schmächtigen Schultern von Mutter Bernadette, beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Augen der Nonne wurden groß, und ein Lächeln zog über die Falten ihres Gesichts wie der Wind, der die Wellen des Meeres zum Kräuseln bringt. Jesa trat zurück, und die Nonne fragte aufgeregt: »Heute?« Der Messias lächelte und nickte. Mutter Bernadette konnte sich kaum zurückhalten. »Jetzt?« Jesa lächelte noch freundlicher und nickte wieder. Die Nonne machte einen Kniefall und das Zeichen des Kreuzes. Sie verbeugte sich ein paarmal und dankte der Prophetin, lächelte immer wieder und sah dabei erregt und ungläubig staunend aus. Dann entfernte sie sich und schlurfte zur Tür. Feldman warf Jesa einen fragenden Blick zu, den sie mit einem leichten Lächeln und rollenden Augen abtat, bevor sie den nächsten Gast begrüßte. 309
Nach dem Empfang wurden Jesa und Feldman als Ehrengäste zum Speisesaal des Weißen Hauses geleitet, wo ein Dinner für zweihundert Personen stattfand. Bevor der Nachtisch serviert wurde, erhob sich der Präsident, sprach offizielle Begrüßungsworte, um den Messias in den Vereinigten Staaten willkommen zu heißen, und brachte einen Trinkspruch auf die ›berühmteste Frau der Welt‹ aus. Dann bat er Jesa mit seinem ganzen Charme um eine kleine Ansprache. Von den Gästen kam überwältigende Zustimmung. Die ganze Versammlung erhob sich und forderte Jesa mit langem Applaus und Beifallsrufen auf, der Bitte nachzukommen. Verständlicherweise hatte sich unter den Dinnergästen schon den ganzen Abend über eine erwartungsvolle Atmosphäre aufgebaut. Jesa ließ das allgemeine Interesse mit gesenktem Kopf über sich ergehen. Feldman konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen und fragte sich, was Moore damit erreichen wollte. Er hegte den starken Verdacht, daß der Präsident dem Messias auf diese Weise ein paar Aussagen entlocken wollte, die sich als Zitate im Wahlkampf verwenden ließen. Der langanhaltende Applaus wollte kein Ende nehmen, und erst als Jesa sich endlich erhob, beruhigten sich die Gäste und setzten sich wieder. Nachdem vollkommene Stille eingetreten war, hob Jesa den Kopf und erzählte mit selbstsicherer Stimme Das Gleichnis von der Farm und den Aufsehern Zu der Zeit kam Jesa in eine Stadt in Amerika, die am Potomac lag und Washington hieß, und sie wurde dort zu einem großen Bankett eingeladen. Nach dem Fassen sagte der Gastgeber, der das Oberhaupt des Landes war, zu ihr: »Jesa, sprichst du nun zu uns?« Und Jesa zögerte, denn sie hatte mit Politik nichts zu tun. Aber die Gäste beschworen sie, und da sie nicht unfreundlich erscheinen wollte, ließ sie ih310
nen ein Gleichnis zuteil werden: »Ein guter und ehrlicher Mann verließ eines Tages die Sicherheit seiner Heimatstadt und ging in die Wildnis hinaus, um sein Glück zu suchen. Durch viele Jahre harter Arbeit machte er aus dem kargen Land eine große, reiche Farm. Es gab unendliche Felder mit goldenem Weizen, Gerste und Mais und grüne Weiden mit schönen Viehherden und Schafen auf seiner Farm. Nun geschah es, daß der Mann alt wurde und starb, und da er keine direkten Erben hatte, vererbte er seine schöne Farm einem Neffen, der in einer weit entfernten Stadt lebte. Der Neffe war ein guter und rechtschaffener Mann wie sein Onkel, verstand aber nichts vom Ackerbau und beschloß, einen erfahrenen Aufseher anzustellen, damit die Farm weiterhin gedeihen würde. Bald darauf kamen zwei tüchtige Vorarbeiter zu ihm, die auf der Farm arbeiteten und ihre Stellung im Leben verbessern wollten. Der erste sagte zu dem Neffen: ›Laß mich deine Farm beaufsichtigen, dann werde ich dein Eigentum schützen und die Ernte deiner Getreidefelder verdoppeln.‹ Und der zweite sagte: ›Laß mich deine Besitztümer verwalten, dann werde ich dafür sorgen, daß deine Farm erblüht, und ich werde die Größe deiner Herden verdoppeln.‹ Der Neffe war davon sehr beeindruckt und sagte zu ihnen: ›Ihr habt beide Erfahrung auf verschiedenen Gebieten. Deshalb werde ich euch beiden die Sorge um meinen Besitz anvertrauen. Ihr werdet euch die Aufsicht über die Farm und die Gewinne teilen. Vier Jahre werdet ihr zusammenarbeiten und die Fruchtbarkeit des Landes nutzen; danach werde ich zurückkehren, um über euren Ertrag zu urteilen.‹ Der Neffe ging und überließ die Farm der Fürsorge der zwei Männer. Aber bald danach bekamen die zwei Aufseher Streit. Der erste sagte: ›Ich werde neue Maschinen kaufen und mehr Arbeiter anstellen, um die Getreidefelder besser zu bearbeiten.‹ Der zweite daraufhin: ›Ich werde mehr Vieh und Schafe kaufen und neue Weiden anlegen, um die Herden zu vergrößern.‹ Um sich gegenseitig zu übertrumpfen, liehen sie große Summen Geldes 311
auf die Farm und sagten beide voraus, daß ihre Ernte und ihr Bereich den größeren Gewinn bringen werde. Aber im ersten Jahr blieben die Regenfälle aus. Die Felder vertrockneten, und die Pflanzen welkten dahin. Die Weiden wurden trocken, und die Herden wurden kleiner. Die Farm erlitt große finanzielle Verluste. Im zweiten Jahr wollten beide Männer die Verluste des Vorjahres wieder ausgleichen und liehen noch mehr Geld, um große Bewässerungssysteme anzulegen. Aber im Sommer kamen die Heuschrecken und verschlangen die Ernte und das Weidegras, und wieder mißlangen Ernte und Ertrag. Die zwei Aufseher sprachen miteinander und sagten: ›Wir tragen große Verantwortung und stehen unter großem Druck. Wir sollten besser bezahlt werden für unsere Mühe.‹ Und sie beschlossen, ihre eigenen Gehälter zu erhöhen. Danach liehen die Männer jedes Jahr zusätzlich Geld, weil sie jedesmal die Verträge absichern und ihre Gehälter erhöhen wollten, aber jedes Jahr führte ihr Ehrgeiz nur dazu, daß ihre Ausbeute kleiner wurde. Am Ende des vierten Jahres kehrte der Neffe auf die Farm zurück und fand seine einst goldenen Getreidefelder dürr und brachliegen, und seine preisgekrönten Herden waren elend, angegriffen und sterbenskrank. Die große Farm brachte keinen Ertrag mehr, und die Gläubiger kamen und verlangten ihr Geld zurück. Der Neffe rief die zwei Aufseher voller Zorn zu sich und sagte: ›Ihr habt geschworen, das Land zu pflegen und den Ertrag zu verdoppeln. Seht nun, wie ihr mein Vertrauen belohnt. Die große Farm steht vor dem Zusammenbruch, und ihr habt allen Reichtum verschwendet.‹ Aber jeder Mann beschuldigte den anderen: ›Meine Einschätzung der Lage war vernünftig, und ich hätte mein Versprechen erfüllt, wären nicht die Dummheit und Verschwendungssucht dieses Mannes gewesen, die den Verlust verursacht haben.‹ Aber der Neffe jagte sie beide fort mit den Worten: ›Ihr seid töricht, doch ich selbst bin noch einfältiger, denn der Meister ist verantwortlich für den Diener. Fürwahr, ich bin dem Glauben meines Onkels an mich nicht gerecht 312
geworden, deshalb habe ich alles verloren.‹« Und die Gäste waren verwundert und fragten Jesa: »Was ist der Sinn dieses Gleichnisses?« Als Antwort gab sie ihnen: »Die große Farm ist euer Land. Der Neffe ist das Volk. Die zwei Aufseher sind euer Kongreß. Da ein Land von innen in Lager gespalten und verdorben wird, ist es die Verantwortung des Volkes, eifersüchtig über die Macht zu wachen und falsche Aufseher zu verjagen. Ich sage euch, große Schätze verlangen nach großer Wachsamkeit. Und wer es versäumt, seine Schätze zu schützen, der wird sie verlieren.«
70 SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 8 UHR, SONNTAG, 5. MÄRZ 2000 Kardinal Litti war schon lange vor Sonnenaufgang wach. Wie ungeduldig und ängstlich hatte er diesen Tag erwartet. Geduscht und sorgfältig rasiert, zog er seine beste Soutane und sein bestes weißes Hemd mit passendem Priesterkragen an. Er versuchte vor dem hohen Spiegel, seinen gewaltigen Bauch einzuziehen, der den Gürtel fast sprengte, stellte aber fest, daß es nichts nutzte, und gab lachend auf. Der Kardinal war trotz seiner leichten Nervosität glänzender Laune. Es wurde ihm bewußt, daß er heute seinen neuen Messias sehen und sehr wahrscheinlich auch den neuen Kurs für sein restliches Leben einschlagen würde. Er legte sich den rot-schwarzen Mantel um die Schultern und setzte das makellose, rote Käppchen peinlich ge313
nau auf den Scheitel. »Nun«, sagte er anerkennend zu sich selbst, »bin ich bereit, meinem Schöpfer zu begegnen.« Da er die ihm verbliebenen Dollar zusammenhalten wollte, beschloß Kardinal Litti, kein Taxi zu nehmen, sondern einen erfrischenden Fußmarsch zum Tagungszentrum zurückzulegen. Das war ein Fehler. Anders als an den beiden letzten Tagen war der Andrang heute so groß, daß die Menschenmenge fast unüberwindbar war. Bereits in der Halle von Littis Hotel drängten sich zahlreiche ungeduldige Gäste. Noch viel schlimmer ging es draußen vor dem Hotel zu, wo die Menschen auf den Gehwegen eng gedrängt standen und ein Fortkommen praktisch unmöglich war. Litti bedauerte, kein Taxi bestellt zu haben. Unter Aufbietung all seiner Kräfte stürzte sich der beleibte Kardinal in die Menge und begann, sich langsam in Richtung der weithin sichtbaren Tabernakelhalle vorzuarbeiten. Das war äußerst schwierig, weil die Stadtverwaltung von Salt Lake City sämtliche Straßen zum Zentrum für die Limousinen mit Polizeibegleitung gesperrt hatte. Aus Sicherheitsgründen waren die Absperrungen direkt auf den Bürgersteigen anstatt im Rinnstein errichtet worden, so daß für die Fußgänger kaum noch Platz war. Obwohl die Konferenz erst um zehn Uhr beginnen sollte, machte Litti sich große Sorgen, ob er überhaupt jemals dorthin kommen werde. Wenn die Menge schon hier, noch Häuserblocks von der Halle entfernt, so dicht gedrängt war, wie mochte es dann erst direkt vor dem Tagungszentrum zugehen? Schritt für Schritt hielt er sich möglichst dicht an die Absperrungen, in der vagen Hoffnung, doch noch ein Taxi zu ergattern. Doch keiner der Wagen, die wie gelbe Schatten vorbeiflitzten, schenkte ihm Beachtung. Verzweifelt schloß Litti die Augen und flehte Jesa mit einem inbrünstigen Gebet um Hilfe an. Als der Kardinal seine Augen wieder öffnete, starrte er in die Lin314
se einer Fernsehkamera. Es war das Nachrichtenteam eines amerikanischen Senders, unterwegs, um den berühmten ›Mann auf der Straße‹ zu interviewen. Da außer WNN kein anderes Medium zur Konferenz zugelassen war, mußten sich die anderen Sender mit Berichten vom Rande der Konferenz begnügen. Ständig auf der Lauer nach einem interessanten Motiv, wurde das Kamerateam von Littis rotem Kardinalskäppchen magisch angezogen. Ein echter katholischer Kardinal war in dieser Gegend eine Rarität, ja, ein wahrer Glücksfall. »Dürfen wir Sie um ein paar Worte über Jesa bitten, Euer Gnaden?« fragte der Reporter lächelnd. »Mein Sohn«, antwortete Litti mit italienischem Akzent, »ich fürchte, wenn Sie mich länger aufhalten, schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig zur Konferenz. Es ist ja kaum noch ein Durchkommen möglich.« Der Reporter war begeistert. Er war nicht nur auf einen echten Kardinal gestoßen, sondern dazu noch auf einen jener wenigen Privilegierten, die an der Versammlung teilnehmen durften. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Monsignore«, sagte er, »wenn Sie uns ein Interview geben und nichts dagegen haben, in unserem Funkwagen mitzufahren, bringen wir Sie hin, und ich garantiere Ihnen, daß Sie rechtzeitig dort sein werden.« Litti lächelte. O ja, der Glaube an seinen Messias hatte ein festes Fundament.
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71 FLUGHAFEN VON SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 10 UHR 17, SONNTAG, 5. MÄRZ 2000 Der Jet landete pünktlich auf dem Flughafen von Salt Lake City. Der Flug war ohne besondere Ereignisse verlaufen. Jesa hatte die ganze Zeit in ihrer eigenen Kabine verbracht. Feldman hoffte, daß sie sich von dem ermüdenden Empfang im Weißen Haus inzwischen erholt hatte. Seine Bedenken wurden jedoch schnell zerstreut, als sie kurz vor der Landung wieder frisch und gelassen ihren Platz einnahm. Sie lächelte Feldman sogar zu. Der Jet rollte zu einem Wartungsgebäude in einiger Entfernung vom Terminal. Von hier brachten Beamte des Geheimdienstes die vier Passagiere schnell und ohne Aufsehen für die letzte, kurze Strecke ihrer Reise zu einem wartenden Hubschrauber. Als sie sich der riesigen Tabernakelhalle der Mormonen näherten, konnte Hunter kaum fassen, was er dort unten sah. »Was für eine riesige Menge! Das müssen Millionen von Millennariern sein!« Jesa schien völlig uninteressiert. In der Tat hatte sie nach dem Empfang im Weißen Haus deutlich zu verstehen gegeben, daß sie einem derartigen Spektakel nicht mehr ausgesetzt werden wollte. In Salt Lake City wollte sie vor ihrer Rede absolut ungestört meditieren, und so brachte sie Feldman gleich nach ihrer Landung in ihre Suite im Obergeschoß des Tagungszentrums. Er selbst wollte sich erst einmal umsehen. Draußen vor ihrer Suite sprach Feldman mit dem dort postierten 316
Wachmann vom Geheimdienst. Er wollte sichergehen, daß Jesa tatsächlich nicht gestört würde. Dann winkte er einen Helfer der Mormonen heran und fragte, von wo aus er einen diskreten Blick auf den großen Versammlungssaal werfen könne. Der Helfer führte ihn in eine der privaten, mit Glas überdachten Wohnsuiten im Zwischengeschoß mit Blick auf die gewaltige Versammlung. Außer der freien Sicht bot diese Suite elegante Sessel, einen großen Fernseher und eine Bar mit alkoholfreien Getränken. Etwa dreißig von Fischers Schickeriafreunden ließen sich hier erlesene Häppchen schmecken und schienen sich prächtig zu amüsieren. Die große Halle hätte sich bestens für ein Rockkonzert geeignet. An einem Ende befand sich eine Bühne mit einem Rednerpult, eingerahmt von ellipsenförmig angeordneten, steil ansteigenden Sitzreihen wie in einem Stadion. In der Mitte des Ovals gab es ein Parkett für besonders prominente Besucher. Direkt vor dem Rednerpult stand eine Reihe von Tischen. An ihnen sollten jene religiösen Würdenträger sitzen, die für eine anschließende Frage-und-AntwortRunde ausgewählt worden waren. Feldman erfuhr, daß insgesamt 64.891 Teilnehmer erwartet wurden: Priester, Pastoren, Gelehrte des Islam, Rabbiner und andere Kirchenführer und Geistliche. Nicht erwähnt wurde die Tatsache, daß auch viele nichtgeistliche VIPs sowie Invaliden, unheilbar Kranke und andere teilnehmen würden, die sich den Zugang zu diesem feierlichen Ereignis teuer erkauft oder durch Schwindel oder Überredungskunst erschlichen hatten. Eine ganze Anzahl von Teilnehmern erschien in festlicher Garderobe und verschwenderischem Schmuck, herausgeputzt wie für die Oper, und die Atmosphäre knisterte förmlich vor Spannung. Nach seiner Besichtigung kehrte Feldman in Jesas Suite zurück, um sie auf ihre unmittelbar bevorstehende Rede vorzubereiten. Im Sitzungssaal gab es einigen Protest wegen der Art und Weise, wie die Prominententische besetzt worden waren. Viele Teilnehmer zeigten 317
sich nicht damit einverstanden, daß drei der entscheidenden zwölf Plätze von Mormonen besetzt waren. Einen Sturm der Entrüstung löste auch die Tatsache aus, daß ein katholischer Kardinal, Seine Eminenz Antonio di Concerci, der nicht einmal an der ersten Konferenz teilgenommen hatte, ebenfalls einen Platz in der Diskussionsrunde erhalten hatte. Zwei weitere Kardinäle der Kurie, Alphonse Litti und Silvio Santorini, hatten bevorzugte Plätze in der ersten Reihe des Parketts. Viele äußerten deshalb den Verdacht, es liege eine Intrige von seiten des Vatikan vor. In Wahrheit hatte dessen Einfluß sowohl eine direkte als auch eine indirekte Rolle bei der Sitzordnung gespielt. Eine direkte im Fall von di Concerci und Santorini, zu deren Gunsten der Vatikan erheblichen Einfluß durch Druck und Spenden geltend gemacht hatte. Eine indirekte im Fall von Litti, dem von Verwaltungsmitarbeitern der Mormonen irrtümlich ein Sitz unter den Privilegierten zugeordnet wurde, weil sie annahmen, er gehöre zur Delegation des Vatikan. Weder di Concerci noch Santorini war dieser Irrtum aufgefallen, bevor man Litti seinen Platz zugewiesen hatte. Die endgültige und umstrittene Sitzordnung umfaßte schließlich drei Mormonen, einen evangelischen Geistlichen, zwei Millennarier einschließlich eines Repräsentanten der Messianic Guardians of God, einen Hindu, einen jüdischen Rabbiner, einen Buddhisten, einen Moslem, einen Presbyterianer und Kardinal di Concerci. Kurz vor Beginn der Konferenz traten jedoch alle Differenzen in den Hintergrund, und die Aufmerksamkeit des Publikums konzentrierte sich ausschließlich auf die Bühne. Die Hauptbeleuchtung der großen Halle ging langsam aus, und zwei starke Scheinwerfer mit bläulich-weißem Licht strahlten von der Decke herab. Der eine beleuchtete das Podium, der andere war auf einen schmalen Eingang im hinteren Bereich der Bühne gerichtet. 318
Von den riesigen Glocken des Glockenturms über der Halle erklang das Mittagsläuten. Als die letzten Schläge verhallten, hielt die Menge gespannt den Atem an. Aus dem Eingang, der wie ein Tunnel wirkte, kamen zwei Gestalten, die eine groß, die andere zierlich, und stiegen zusammen die Rampe an der Rückseite der Bühne hinauf. Einer der Scheinwerfer folgte ihnen mit seinem Strahl, und das Publikum erhob sich. Auf der Bühne angekommen, blieben die beiden Gestalten stehen. Das Publikum verharrte einen Augenblick, und dann entlud sich donnernder Applaus mit lauten Jubel- und Hurrarufen. Feldman hielt sich im Dunkeln, während der Messias sich im Scheinwerferlicht den Weg in Richtung Publikum bahnte. Als Jesa ihren Platz am Pult erreichte, nahm der Beifall der Menge zu, die Lichtkegel der beiden Scheinwerfer vereinigten sich und umgaben sie mit einer Aura gleißenden Lichts. So stand sie allein und schweigend da. Sie hielt ihre alabasterweißen Hände entspannt zusammengelegt vor sich, das Gesicht hatte sie nach unten gerichtet. Fünf Minuten lang brandete ihr ununterbrochener Jubel entgegen. Aber nicht alle teilten diese Begeisterung. Während der gesamten Begrüßungszeremonie blieben zwei düster blickende Kardinäle schweigend sitzen. Der Jubel hielt an. Feldman nahm seinen Platz am Rande der Bühne im Dunkeln ein, wo ein Stuhl auf der rechten Seite für ihn hingestellt worden war. Während dieses begeisterten Empfangs verharrte Jesa regungslos und geduldig, bis endlich wieder tiefe Stille eingetreten war. Erst dann hob sie zufrieden den Kopf und nahm das Publikum wahr. Eine Weile betrachtete sie es ernst und genau, dann holte sie tief Atem, als sammle sie alle Entschlußkraft, und rief mit klarer, engelsgleicher Stimme über die Köpfe der Massen hinweg: »Ich komme zu euch im Namen des Vaters. Ich komme zu euch im Namen der Wahrheit. Ich komme zu euch im Namen der Offenbarung.« 319
Sie hielt inne, und die Menschen rutschten auf ihren Plätzen nach vorn. »Ich komme zu euch mit dem Neuesten Testament in Erfüllung des Willens Gottes. Ein Testament, das sich an jeden Mann, jede Frau und jedes Kind allein und getrennt von allen anderen richtet. Ein Testament, in dem ihr das Neue Licht empfangen werdet – ein Licht, das euch aus der Dunkelheit führen wird. Ich spreche zu den geistlichen Führern der Welt, zu denen, die anderen über die Wege des Herrn predigen wollen. Ich sage euch, seht die Worte Christi, wie sie in Matthäus sechs, Vers fünf bis acht, geschrieben sind: ›Und wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen und an den Ecken auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten gesehen werden. Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich. Und wenn ihr betet, tut dies nicht mit den Worten anderer; ihr sollt ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.‹« Nach diesen Worten senkte Jesa wieder den Kopf und verharrte einen Augenblick. Dann packte sie mit ihren kleinen weißen Händen fest die Seiten des Pultes und richtete, aufrecht stehend, ihren glänzenden Blick ein zweites Mal auf das Publikum, wobei ihre Stimme einen unheilverkündenden Ton annahm: »Amen, amen, ich sage euch: Wie wollt ihr andere führen, wenn ihr selbst verloren seid?« Ihre Worte hallten über ein Meer gespannt blickender Gesichter. 320
»Das Neue Licht ist über euch. Ihr, die Hirten, denen Gott Seine Schafe anvertraut hat, ihr habt sie bisher in die Irre geführt. Ihr, die ihr behauptet, für eure Herde zu sorgen, aber weniger um ihre Seelen als um den Ertrag ihrer Wolle besorgt seid. Ihr, die ihr laut über die Bibel predigt, aber euch nicht dem Wort Gottes zuwendet, sondern das Wort Gottes für euch verwendet. Ihr, die ihr die Gedanken des Herrn für eure eigenen Zwecke auslegt; um Geld und Vergünstigungen zu erbitten, um Hader, Konflikt und Krieg zu beginnen und den Bruder gegen den Bruder aufzubringen.« Mit Jesa war eine erstaunliche, körperliche Veränderung vor sich gegangen. Ihr Gesicht brannte vor Erregung, die Kinnmuskeln waren angespannt, die stolzen Brauen gefurcht, ihr Blick streng. Ihre Stimme klang wie ein durchdringender Schrei, erregt in ihrem selbstgerechten Zorn. Bei jedem Vorwärtsstoßen ihres anklagenden Fingers wich das Publikum zurück und duckte sich. »Ihr, die ihr nicht die Wahrheit sucht, sondern nur Rechtfertigung. Ihr, die ihr in einer Weise sprecht, aber in einer anderen lebt. Ihr, die ihr nicht ein Leben nach dem Tod anstrebt, sondern weltliche Belohnung. Die Zeit der Offenbarung ist gekommen. Zu jedem von euch, der meine Worte hört, sage ich, seht und befolgt dies, den wahren Willen Gottes: Geht fort von hier, zurück in eure Kirchen, in eure Synagogen und eure Tempel und sagt zu euren Gläubigen das, was ich euch jetzt sage. Laßt alle, die Gottes Wort achten, auseinandergehen und ihn nicht mehr zusammen verehren. Denn nur, wenn ihr frei von Falschheit seid und nur in der Verborgenheit eures eigenen Herzens wird Gott euch Seine wahren Gedanken und Seine persönliche Botschaft offenbaren. Laßt alle, die dem Neuen Weg des Herrn folgen wollen, sich vom geschriebenen Wort Gottes und nur von diesem raten und leiten. Traut der Meinung anderer nicht und ebensowenig den Lehren der Weltreligionen, denn sie sind verdorben und kennen Gottes Pläne für euch nicht. Es gibt für jedes neugeborene Kind einen eigenen Weg zum ewigen Leben. 321
Und für jedes Kind gibt es das heilige Wissen, wie es diesen Weg finden kann. Schaut nicht wegen einer Antwort auf euren Nachbarn. Blickt in euer eigenes Herz. Denn ihr allein müßt dafür kämpfen, die Hindernisse aus eurem Weg zu räumen. Ihr, die ihr euch geistliche Führer nennt, hört die Botschaft des Herrn, damit ihr Seinen Willen kennt und Seinem Befehl gehorcht: Vom heutigen Tage an sprecht nie mehr vom Weg Gottes, denn ihr kennt ihn nicht. Die Zungen der Priester sollen schweigen, und die Stimmen der Theologen sollen verstummen. Verzichtet auf eure hierarchische und bürokratische Ordnung. Ruft eure Missionare zurück und schließt eure Seminare. Predigt zu niemandem mehr, sondern kehrt statt dessen in Reue und Buße in die Welt zurück, nicht um die Rechtschaffenheit der anderen, sondern um die Lauterkeit eurer eigenen Seele zu suchen. Laßt keinen einzigen Tag verstreichen, bevor ihr dies alles tut. Denn ihr habt den Herrn mit eurer Überheblichkeit und Heuchelei zornig gemacht!« Als sie geendet hatte, blieb Jesa regungslos auf dem Podium stehen. Die Versammlung wirkte völlig betroffen, saß wie erstarrt und schweigend da – verletzt, gedemütigt und zutiefst verwirrt. Right Reverend Solomon T. Brady, der weit hinten oben auf der Tribüne saß, war sichtlich erschüttert. Die Beleuchtung ging plötzlich wieder an, und langsam begann die Menge zu reagieren. Die Frau rechts neben Brady, eine protestantische Diakonissin, flüsterte ihm etwas zu, aber der Reverend antwortete nicht. »Sagen Sie mir, daß sie nicht gemeint hat, wir sollten unsere Kirchen auflösen. Oder hat sie das wirklich gesagt?« Als sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich mit ihrer Frage an ihren anderen Nachbarn. Kardinal Litti sah von seinem Platz ganz dicht an der Bühne zu seinem Messias auf, und Tränen flossen reichlich über seine fleischigen Wangen. Auf der rechten Seite, einige Plätze vom Kardinal entfernt, saß Rabbi Mordachai Hirschberg, der alternde Führer der ultraorthodoxen jüdischen Sekte der chassidischen Lubawitscher. 322
Ergriffen holte er tief Atem, als wolle er Gott dafür danken, daß er ihn dies erleben ließ und er bei der Ankunft des wahren Messias dabeisein konnte. Dicht neben ihm saß der First Reverend RichardPeter Fischer, rot im Gesicht und schweißgebadet, und griff sich an den rechten Arm, in dem ein Gefühl der Taubheit aufkam. Jon Feldman war von seinem Stuhl aufgestanden und maß mit den Augen die Entfernung zwischen Jesa und dem Ausgang. Am Prominententisch direkt vor der Bühne hatten elf der zwölf Teilnehmer ihre Listen mit zusammengestellten Fragen zerrissen und suchten verzweifelt nach einer Lösung dieses unerwarteten Dilemmas. Inmitten dieser Verwirrung hatte nur Kardinal Antonio di Concerci die junge Prophetin ruhig und gesammelt einer harten, beharrlichen Prüfung unterzogen. Er für seinen Teil wollte diesen entsetzlichen Auftritt nicht unangefochten hinnehmen. Der Präfekt war sich bewußt, daß irgend jemand die aus den Fugen geratene Versammlung wieder unter Kontrolle bekommen mußte. Über sein Tischmikrophon stellte er eine Frage, die den zunehmenden Lärm verstummen ließ. »Und mit welcher Befugnis verkünden Sie uns den Willen Gottes?« fragte er laut mit ungestümer, aristokratischer Stimme. Um sicher zu sein, daß er von allen gehört wurde, wiederholte er, als der Lärm nachließ: »Mit welcher Berechtigung verkünden Sie uns den Willen Gottes? Welche Beweise können Sie dafür vorweisen?« Jesa, die bisher unbeweglich wie ein Götzenbild dagestanden hatte, blickte jetzt mit souveräner Gelassenheit auf ihren Herausforderer herab. »Meine Autorität kommt vom Vater, so wie sie selbstverständlich in Seinen Worten liegt, die ich verkünde. Dein Gewissen bestätigt meine Berechtigung.« Di Concerci antwortete ohne Zögern. »Dann muß ich mich sowohl über Ihre Autorität als auch Ihre Berechtigung wundern, Prophetin.« Der Kardinal ließ für das Publikum in seiner Ausdrucksweise deutlich seine Skepsis anklingen: »Ihre Worte wecken Zweifel, 323
und mein Gewissen empfindet wenig.« »Wie kannst du verstehen, wenn dein Herz verhärtet ist?« fragte sie. »Diejenigen geben am wenigsten, die am meisten zu verlieren haben.« Unbeeindruckt fuhr Jesas Inquisitor in seinem Angriff fort. »Sie wollen, daß die Kirche die Messe nicht mehr zelebriert? Sie wollen die Sakramente abschaffen? Den Untröstlichen, den Kranken und Sterbenden den geistlichen Trost versagen?« Jesa schien verärgert: »Der Herr befiehlt die Abschaffung von Liturgie und Zeremonie und Schmuck, die die Menschen von Seinem wahren Sinn ablenken. Schafft Riten und Rituale ab und verwendet die Zeit für den Dienst am Menschen im Namen des Herrn.« Einer der Mormonen in der Runde machte geltend: »Aber die heiligen Bräuche unserer Religion sind von großer Bedeutung und spenden Trost für unsere Gemeinden. Es würde viel Sorge und Verwirrung geben, wenn wir unsere spirituelle Gemeinschaft verlören.« »Ich sage euch«, erwiderte Jesa schnell, »die Sorge wird viel größer sein für die, deren Seelen nicht auf Gottes Urteil vorbereitet sind. Erhaltet die Gemeinschaft im helfenden Dienst an euren Mitmenschen aufrecht, aber greift nicht in die Gemeinschaft mit Gott ein.« Diese Erwähnung des Jüngsten Gerichts brachte die erregte Versammlung noch mehr durcheinander. Dessenungeachtet ließ sich di Concerci nicht im geringsten einschüchtern. »Sie behaupten, es sei Gottes Wille, daß die etablierten Weltreligionen sich auflösen sollen. Und Sie zitieren den Apostel Matthäus als Unterstützung für die Behauptung, daß Gott wünscht, die Menschen sollten in spirituellen Dingen ihren eigenen Weg gehen. Dies widerspricht jedoch Matthäus achtzehn, Vers zwanzig, in dem es heißt: ›Wenn zwei oder mehr Menschen sich in meinem Namen zusammenfinden, bin ich in ihrer Mitte.‹« »Du bestätigst mich mit deinen eigenen Worten«, antwortete der Messias. »Dieser Absatz lobt die Zusammenarbeit in der Vollbrin324
gung guter Werke in Christi Namen, aber nicht im gemeinsamen Gebet!« Zwischen jedem Schlagabtausch ging eine Welle der Angst durch die Menge. Der betagte Rabbiner mit der Brille nahm allen Mut zusammen und fragte: »Bist du eine Prophetin? Die eingeborene Tochter Gottes? Die Schwester von Jesus und Mohammed?« »Ich bin das, was du sagst«, antwortete sie. Mit zitternder Stimme fragte er weiter: »Bist du der wahre Messias der Juden?« »Ich bin der Messias der Juden und aller Menschen an jedem Ort.« Di Concerci setzte zu einem weiteren Angriff an: »Sie erklären also, der versprochene Messias zu sein. Wie kommt es dann, daß nirgendwo in der Bibel jemals eine Prophezeiung zu finden ist, die sich auf einen weiblichen Messias bezieht? Sie sind doch eine Frau, nehme ich an?« In ihrer Stimme lag Ärger: »Ich bin so, wie Gott mich geschaffen hat. Und die Wahrheit darüber, wer ich bin, findet sich tatsächlich in der Bibel. Wenn du die Wahrheit finden willst, mußt du mit dem Herzen suchen und nicht mit den Augen.« »Messias«, rief der evangelische Pastor am Tisch, »ich möchte Gott wirklich bei der Verbreitung seines Heiligen Wortes unterstützen. Gibt es eine Möglichkeit, meine Arbeit fortzusetzen?« »Du sollst Gottes Wort auf folgende Weise verbreiten«, sagte Jesa. »Gib allen, denen du begegnest, die Schriften des Koran, des Talmud, der Weden, des Awesta, des Alten und des Neuen Testaments der Bibel – alle großen geistlichen Texte der Welt. In ihnen allen steht Gottes Botschaft. Aber interpretiere Gottes Wort nicht für andere, denn so beginnt die Verfälschung.« »Messias?« Diesmal war es ein Repräsentant der presbyterianischen Abordnung. »Wenn es kein gemeinsames Studium der Schrif325
ten mehr geben soll, keine Theologen und keinen Dialog zwischen geistlichen Gelehrten, vermindern wir damit nicht des Menschen Fähigkeit, den Geist Gottes zu verstehen?« Jesas Antwort klang sanfter: »Es ist immer noch möglich, euch ohne die Schriften mit euren Mitmenschen über Gottes Geist zu verständigen. Laßt euch dabei die Erde als Katechismus dienen. Diese Welt ist euch gegeben, damit habt ihr alles, was ihr braucht. Einst seid ihr als unwissende Tiere über ihre Oberfläche gekrochen. Dann sprach Gott zu euch, und ihr fingt an zu wachsen. Von dem, was auf der Erde ist, machtet ihr euch Kleidung, um euch zu bedecken, Feuer, euch zu wärmen, Werkzeug, um eure Arbeit zu erleichtern und Waffen, um euch vor wilden Tieren zu schützen. Auf dieser Erde ist alles, was ihr braucht, um eure Reise zu vollenden. Alles zur Befriedigung eurer körperlichen Bedürfnisse, zur Heilung jeder Krankheit, zur Reise zu den Sternen. All diese Wunder enthalten auch alles Notwendige, um den Geist Gottes zu verstehen. Ihr habt eure Physik und Mathematik, eure Wissenschaften. Alle Geheimnisse des Himmels findet ihr überall in eurer Umgebung. Haltet auf diese Weise Zwiesprache und entdeckt!« Di Concerci blickte dieses erstaunliche Wesen mit zusammengekniffenen Augen an. Sie war jedenfalls nicht das, was er erwartet hatte. Er hatte sie zwar durchaus als einflußreiche Figur angesehen, die die Geltung der etablierten Religionen gefährden konnte. Aber der Präfekt hatte ihre Wirkung beträchtlich unterschätzt. Wie sie da in ihrer jugendlichen Kraft so gelassen und respekteinflößend stand, hatte sie doch insgesamt nicht weniger gefordert als die Auflösung von zwei Jahrtausenden des geheiligten christlichen Erbes. Dieses kleine unscheinbare Mädchen! Er wagte den Kampf gegen sie nicht aufzugeben, er mußte einen Weg finden, diese Abtrünnige aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie in eine Kontroverse hineinziehen. Irgendwie diese göttliche Ausstrahlung abschwächen, die von ihr ausging und von den verwünschten Fernsehkameras in alle Welt getra326
gen wurde. Er mußte nach Schwächen bei ihr suchen. »Jesa, Sie versuchen, den Anschein zu erwecken, daß Sie den Willen Gottes kennen«, nahm di Concerci einen neuen Anlauf. »Ich bin der Wille Gottes!« erklärte sie mit Bestimmtheit. »Dann erzählen Sie uns mehr vom Willen Gottes«, eröffnete der Kardinal seinen ersten Schachzug. »Sie sprechen vorwiegend in abstrakten Begriffen zu uns. Geben Sie uns klarere Antworten, die uns bei der Lösung der Probleme der Welt helfen können. Geben Sie uns Einzelheiten.« »Wenn Gott in allumfassenden Begriffen spricht«, antwortete Jesa aufgebracht, »hört der Mensch nur das Besondere. Wenn Gott über besondere Dinge spricht, ist der Mensch von Einzelheiten und Ritualen besessen. Gott hat euch bereits mit allem versorgt, was ihr braucht, um euren Weg zu finden. Schaut nicht auf Gott, damit er euch Einzelheiten gebe. Seht in euch selbst hinein. Für jeden einzelnen Menschen gibt es eigene Antworten.« »Aber viele Dinge sind nicht nur individueller Natur, wie Sie uns so einfach vorzuführen versuchen«, entgegnete di Concerci. »Sie sagen, die Weltkirchen sollten Moral nicht länger definieren und interpretieren? Wer sonst sollte denn die Verantwortung für die Diskussion über Dinge wie Menschenrechte, Todesstrafe und Euthanasie übernehmen? Sagen Sie uns das, Messias!« Und mit einem verächtlichen Unterton in der Stimme: »Teilen Sie uns den Willen Gottes zur Abtreibung mit!« Jesa neigte den Kopf zur Seite und sah dem Kardinal prüfend in die Augen. Aber di Concerci wich nicht aus. Als sie zögerte, frohlockte das Herz des Präfekten. Soweit er wußte, hatte sie sich niemals mit kontroversen, politisch anstößigen Problemen wie diesem befaßt. Er hatte sie von ihrem uralten, biblischen Kampfplatz auf einen mehr zeitgemäßen, trügerischen Boden herabgeholt. Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen. 327
Sie blickte mit einem schmerzlichen Ausdruck auf ihn hinab, und ihre erste Reaktion war ein bloßes Flüstern, wie zu sich selbst, das Feldman kaum verstehen konnte: »Mit Worten werden sie dich umgeben und ihre Fallen stellen«, hauchte sie. Dann beantwortete sie mit lauter Stimme die Frage in Form eines Gleichnisses, das bekannt wurde als Das Gleichnis vom unehelichen Kind Und die Führer der Opposition kamen zu Jesa, wollten ihr eine Falle stellen, dachten, sie schlechtzumachen und ihr Leid anzutun vor den Augen ihrer Anhänger, indem sie sprachen: »Sag uns, was ist der Wille Gottes, wenn eine Frau das Leben eines ungeborenen Kindes nähme?« Und Jesa sagte zu ihnen: »Seht, eine Mutter von drei kleinen Kindern ging allein fort von ihrem Haus und wurde von einem bösen Mann, den sie nicht kannte, angesprochen; und er nahm sie mit Gewalt und schlief mit ihr gegen ihren Willen. Dann wurde der Mann ergriffen und bestraft, aber die Frau hatte empfangen. Und ihr Mann sagte aus Wut und verletztem Stolz mahnend zu ihr: ›Frau, du mußt dieses ungeborene Kind abtreiben, denn es ist nicht vom Samen deines Mannes. Es ist vom Samen des Bösen und der Unreinheit.‹ Aber die Frau wollte das nicht, und ihr Mann verstieß sie und seine Kinder und verließ sie. Und als ihre Zeit gekommen war, brachte die Frau ein Mädchen zur Welt und zog ihre Tochter in Liebe und Güte auf, als wäre sie von rechtmäßiger Abstammung. Dann geschah es, daß die Frau in ihren späteren Jahren krank wurde. Und ihre drei legitimen Kinder stritten sich und sagten: ›Wer von uns muß für unsere Mutter sorgen? Wir haben jetzt selbst Familien, und auf uns lasten viele Verpflichtungen.‹ Aber die illegitime Tochter sagte zu ihnen: ›War unsere Mutter nicht für 328
uns da, als wir hilflos waren? Brachte sie keine Opfer für uns, damit wir ein erfülltes Leben haben sollten? So müssen wir uns um sie kümmern, wie sie sich einst um uns kümmerte.‹ Aber die Kinder wollten nicht und wie zuvor der Vater gingen sie fort und trugen nicht zur Sorge für ihre Mutter bei. Danach ging die Tochter, die die geringste unter ihnen war, zu der Mutter, nahm sie auf, ernährte sie, pflegte sie und wurde der Trost und die große Freude ihrer Mutter im Alter. Nun frage ich euch, wer war die wahre und gesegnete Tochter?« Aber sie wollten ihr nicht antworten und fragten statt dessen: »Du stimmst also zu, daß es falsch ist, einem ungeborenen Kind das Leben zu nehmen?« Und Jesa antwortete ihnen und sprach: »Es ist Sache der Frau zu entscheiden, und es kommt dem Mann nicht zu, über sie zu richten. Nur die Frau, und sie allein, kann in ihrem tiefsten Herzen den richtigen Weg wissen. Denn ich sage euch, Gutes kann vom Bösen, und Böses vom Guten kommen. Deshalb wählt euren Weg, als kennet ihr den Willen Gottes, denn tatsächlich ist der Wille Gottes in euch selbst.« Di Concerci war matt gesetzt. Durch die Verwendung von Sprichwörtern und einer archaischen Terminologie war Jesa in der Lage, sich ein überzeugendes messianisches Image zu geben. Ihr Verhalten und nicht ihre Logik war es, was dem Kardinal zu schaffen machte. Seine Eminenz war es in theologischen Dingen nicht einmal gewöhnt, einem Mann Zugeständnisse zu machen. Viel weniger einer Frau, die ein Drittel seines Alters an Jahren zählte. »Vielleicht wären wir weniger geneigt. Sie mißzuverstehen, Prophetin, wenn Sie in einer modernen Sprache und nicht in veralteten biblischen Konstruktionen sprächen.« In der Stimme des frustrierten Kardinals lag eine Schärfe, die selbst der disziplinierte di Concerci nicht länger verbergen konnte. »Wären Sie so freundlich, uns auch noch über eine andere verwirrende Angelegenheit Aufklärung zu geben?« forderte er sie erneut heraus und hob leicht die Brauen. »Die Bibel sagt uns, daß Homosexualität in den Augen des Herrn 329
verabscheuungswürdig ist. Verdammen auch Sie die Homosexualität?« Wieder betrachtete Jesa diesen strengen Jesuiten von ihrem hochgelegenen Platz aus. Wieder machte sie eine Pause, und wieder hob sich die Stimmung des Kardinals. »Es ist nicht wichtig, in welcher Art ich spreche«, sagte sie. »Wahrheit bleibt Wahrheit in jeder Form. Wenn das Herz mißverstehen soll, werden Sie ein Mittel finden.« Dann fuhr sie, an die allgemeine Versammlung gewendet, fort: »Ich verdamme nichts, was Gott in der Natur geschaffen hat.« Mit wiederkehrender Zuversicht erwiderte di Concerci: »Homosexualität ist aber unnatürlich. Sie ist gegen die Natur. Sie verspottet den natürlichen, heiligen Akt der Zeugung und den Erhalt der Arten, und sie wird in der Bibel klar und häufig verdammt.« Jesa schüttelte den Kopf über ihn wie ein frustrierter Lehrer über einen aufsässigen Schüler. »Verspottet euer Zölibat nicht den natürlichen Akt der Zeugung und den Erhalt der Arten?« Dann verkündete sie, an das allgemeine Publikum gewandt, in einfachen Worten: »Homosexuelle sind für ihre Veranlagung ebensowenig verantwortlich wie eine Person, die taub, blind oder lahm zur Welt kommt. Homosexualität ist durch ein moralisches Verbot ebensowenig zu beeinflussen wie der vorherrschende Gebrauch einer Hand. Homosexuelle müssen den Herrn auf ihre Art finden, im Gedanken an das Wort Gottes, ihrem Herzen treu bleibend, ohne andere zu verletzen und den Unschuldigen schützend. Statt Homosexuelle zu schmähen, sollte man sie in Ruhe ihren eigenen Weg zu Gott finden lassen, ohne die Einmischung der Selbstgerechten.« Di Concerci war entsetzt, ebenso wie eine wachsende Zahl anderer Zuhörer im Publikum. Zum ersten Mal wurden vereinzelte Pfiffe und Spottrufe laut. »Was ist mit Armageddon?« platzte der Imam am Prominententisch heraus. »Deutet dein Kommen wirklich auf die Erfüllung der 330
Apokalypse hin, wie viele sagen?« Jesas Gesicht verfinsterte sich, und sie schloß die Augen. In Totenstille und Angst erwartete man in der großen, feierlichen Halle die Antwort. Mit langsamen Worten und trostloser Stimme verkündete der Messias: »Israel, Israel, höre meine Worte! Bei dir erheben sich jetzt die falschen Führer, die Verräter der Propheten. Ich sage euch, diejenigen, die euch täuschen wollen, sind mitten unter euch, und die Zeit der Verzweiflung ist gekommen. Auf dem Schlachtfeld der Beschämten soll die Heuchelei sich selbst begegnen. Das zweischneidige Schwert, Unwissen und Überheblichkeit, wirst du führen, Bruder wird gegen Bruder aufstehen, Ehemann gegen Ehefrau, das Kind gegen die Eltern. Krieg wirst du führen auf jedem Kontinent und in jeder Stadt und in jedem Haus, und keine Familie wird davon verschont bleiben. Du wirst Blut vergießen in den Straßen bis hinauf zu den Tempeln des Herrn. Tod und Leid werden Licht in Finsternis verwandeln, und drei Tage lang wird Verdammnis und Verwirrung über das Land regieren. Schon jetzt sammeln sich die Armeen, und die Seiten sind abgesteckt; die dunkle Stunde der Zerstörung hängt über dir!« Bestürzung breitete sich in der Halle und in der ganzen Welt aus, wo Millionen die furchtbare Prophezeiung live miterlebten. Der Imam, der diese schreckliche Aussicht heraufbeschworen hatte, war starr vor Entsetzen und zitterte. »Große Frau«, schluchzte er verzweifelt, »gibt es für uns denn keine Hoffnung mehr? Haben wir alle vor Allah so vollkommen versagt?« Er keuchte: »Sollen wir denn alle vernichtet werden?« Jesa öffnete die Augen und sah den verzweifelten Mann prüfend an. »Nur diejenigen, die Gewalt ergreifen, sollen durch sie untergehen«, sagte sie. »Nicht durch Waffen, sondern nur durch euren Glauben sollt ihr überleben. Was sein soll, wird sein, und das Wort 331
der Prophezeiung wird erfüllt werden. Amen, amen, ich sage euch, so wie der Mensch seinen heiligen Bund mit dem Herrn gebrochen hat, wird der Felsen sich spalten, aber aus der Spalte wird der Same des neuen Weges hervorsprießen und neu erblühen.« Di Concerci hatte sich mit vor Entrüstung hochrotem Kopf erhoben: »Dies ist einfach zu unglaublich, um es akzeptieren zu können!« rief er. »Wenn du willst, daß wir dir glauben, mußt du uns ein Zeichen geben. Beweise, daß du die bist, für die du dich ausgibst.« Wieder wurde die Menge ganz still. Jesa sah müde aus. »Du fragst nach einem Zeichen, damit du glauben kannst«, sagte sie finster, »und doch verlangst du von deinen Gläubigen bedingungslosen Glauben. Ich sage dir, das einzige Zeichen, das du erhalten wirst, wird in der Erfüllung meiner Worte beschlossen sein!« Di Concerci machte Anstalten, sie noch einmal herauszufordern, aber sie unterbrach ihn. Mit blitzenden Augen streckte sie ihm nachdrücklich den rechten Arm entgegen, richtete einen strafenden Zeigefinger auf ihn und erschreckte die ganze Versammlung mit der Lautstärke ihrer Erklärung: »Dies sei der Wille Gottes!« rief sie. »Wehe denen, die nicht auf sein Wort hören. Geh jetzt fort von hier und versuche die Geduld des Herrn nicht länger!« Mit Erbitterung und Wut, die er jedoch meisterhaft verbarg, erkannte der Präfekt, daß jeder weitere Versuch, diese Demagogin herauszufordern, vergeblich sein würde. Es war ihm jetzt klar, daß er viel besser beraten gewesen wäre, sich nicht auf eine Debatte mit ihr einzulassen. Auch wenn sie kampflos gewann, würde sie Gott zur Verteidigung jedweden Arguments anrufen, das war eine vollendete Tatsache. Mit großer Bestürzung stellte di Concerci fest, daß er schließlich nur erreicht hatte, daß die Kirche nach diesem Wortgefecht schlechter dastand als zuvor. Ein paar Plätze von Kardinal di Concerci entfernt erhob sich 332
Bruder Elijah Petway, aschfahl im Gesicht, um seitens der mormonischen Veranstalter diese verheerende Versammlung für beendet zu erklären. Aber bevor er etwas sagen konnte, langte ein kräftiger Arm, schwarz und rot gewandet, von hinten an ihm vorbei und ergriff das Mikrophon. Di Concerci war entsetzt, als er das energiegeladene Gesicht Alphonse Littis sah. Atemlos und ehrerbietig meldete sich Litti zu Wort. »Allerheiligste Tochter Gottes«, begann er, und di Concerci biß die Zähne zusammen. »Ich bin Alphonse Bongiorno Litti, Kardinal der Kurie und des Magisteriums der Heiligen, römisch-katholischen Kirche. Und ich habe eine ergebene, aber dringende Frage an dich.« Jesa blickte von ihrem Pult herab, und langsam wich der Ärger von ihrem Gesicht. »Verehrte Frau«, fuhr Litti fort, »außer dir gibt es keinen anerkannteren geistlichen Führer in der Welt als den hohen Pontifex der katholischen Kirche, Seine Heiligkeit Papst Nikolaus VI. Als direkter Nachfolger Sankt Peters und Oberhaupt der ältesten und traditionsreichsten christlichen Glaubensgemeinschaft sollte der Pontifex dich unbedingt treffen und deine Worte anhören. Würdest du einer persönlichen Audienz bei Seiner Heiligkeit zustimmen?« Schnell beugte di Concerci sich vor, um über sein Mikrophon zu protestieren. »In meiner Eigenschaft als Mitglied der Kurie und da ich durch meine gute Beziehung zum Heiligen Vater auf dem laufenden bin, muß ich zu bedenken geben, daß der Terminkalender des Papstes sehr wenig Spielraum läßt, und ich bin nicht sicher …« Litti wollte nichts davon hören. »Der Papst wird und kann auf seine Verantwortung gegenüber den Gläubigen nicht verzichten«, unterbrach er ihn. »Nikolaus kann eine Begegnung mit einem erklärten Messias, der offenbar das Wort Gottes verkündet, nicht verweigern. Es ist die heilige Pflicht des Pontifex, diese besondere Frau anzuhören und persönlich ihre wichtige Botschaft zu prüfen.« 333
Di Concerci wagte nicht laut zu protestieren oder es zu riskieren, daß die Kirche schwach und furchtsam dastand. Und vielleicht sollte er überhaupt gar nicht so voreilig sein. Bei einem solchen Treffen könnte man, angenommen diese sprunghafte Frau stimmte zu, vielleicht doch Mittel und Wege finden, diese gefährliche Entwicklung zu entschärfen. Sicher würde eine geplante Konferenz mit dem Papst wenigstens das gegenwärtige Dilemma erst einmal im Keim ersticken. Und für die Heilige Mutter Kirche und die ihr verwandten Weltreligionen würde es einen Zeitgewinn bedeuten, wodurch sie sich neu gruppieren und Jesas selbstzerstörerischem Befehl, den viele Geistliche in der Versammlung offensichtlich ernst nahmen, entgegenwirken konnte. Ohne di Concerci zu beachten, antwortete der Messias Kardinal Litti: »Ja, ich werde kommen.«
72 FLUGHAFEN VON SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 18 UHR 19, SONNTAG, 5. MÄRZ 2000 Feldman brachte die nachdenkliche Prophetin sicher zu ihrer Kabine im Jet, wohin sie sich für den Rest des Tages zurückzog. Dann setzte er als Verkleidung die bewährte Sonnenbrille auf, zog die Baseballmütze tief ins Gesicht und ging mit Hunter und Cissy in eine Cocktailbar des Flughafens zurück, um sich zu beraten. Die Stimmung der dort anwesenden Gäste war düster. Bei einer Runde Bier verfolgte das WNN-Trio die Sendungen im Fernsehen, die ein 334
Bild weltweiten Elends vor ihnen ausbreiteten. Aus der ganzen Welt kamen Berichte, die sich alle auf unheimliche Weise ähnelten. Sie gaben Zeugnis von einer großen, religiösen Schizophrenie. Entgegen Jesas Forderung sammelten sich viele Leute in Kirchen, Synagogen und Tempeln auf der verzweifelten Suche nach Trost, Weisung und Hoffnung. Meistens begegneten ihnen erzürnte Geistliche, die den Messias kräftig in Mißkredit brachten und Jesas Forderungen und Prophezeiungen ablehnten. Dennoch unterwarf eine beachtliche Zahl von Priestern ihr Herz und ihre Seele Jesas Befehlen und ließ ihre Kirchen im Stich. Unter den abtrünnigen Geistlichen waren besonders viele von der katholischen Kirche. Viele Gemeinden und ehemalige Gemeinden waren sich in der Verzweiflung und der Annahme einig, daß das Ende der Welt bevorstand. Panikanfälle, Nervenzusammenbrüche, Selbstmorde und Massenhysterie waren besonders in der westlichen Welt an der Tagesordnung. Und das in beträchtlich größerem Ausmaß als in jener berüchtigten Schwarzen Nacht der Jahrtausendwende. Dagegen waren Ausbrüche von Gewalt relativ selten. Die Welt befand sich in einer Depression wie nie zuvor. In den Teilen der Erde, wo der Montagmorgen schon angebrochen war, erschienen in vielen Firmen und im öffentlichen Dienst zahlreiche Mitarbeiter einfach nicht am Arbeitsplatz, was wichtige Industriezweige und staatliche Versorgungsbetriebe praktisch lahmlegte und den Alltag durcheinanderbrachte. Obwohl WNN Jesa auf ihren Wunsch hin nach Kairo zurückbringen wollte, planten Tausende von Menschen Pilgerfahrten ins Heilige Land in der Erwartung, der Messias würde zum Tag des Jüngsten Gerichts nach Jerusalem zurückkehren, wie die Bibel es voraussagte. Ihre Reisevorbereitungen wurden jedoch erschwert, weil es viel zu wenig Reisebüros gab und das Personal zahlreicher Verkehrsbetriebe nicht zur Arbeit erschienen war. Überall bereitete die sich verschärfende Situation den Regierun335
gen große Sorge. Besonders unangenehm war die Lage für den amerikanischen Präsidenten Allen Moore, der nun verzweifelt versuchte, sich von Jesas Visite im Weißen Haus zu distanzieren. Gespannt verfolgten Feldman und seine Kollegen auf dem Bildschirm über der Bar, wie Moore im Presseraum des Weißen Hauses eine Erklärung abgab. »Die Regierung hatte keinerlei Vorwissen vom Inhalt der Botschaft, die diese sogenannte Prophetin an die Konferenz richtete«, las der Präsident von einer Karteikarte ab. Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen, und es schien ihm unmöglich, erhobenen Hauptes in die Kamera zu sehen. »Außerdem möchten wir unterstreichen, daß die außergewöhnlichen Kommentare, die heute geäußert wurden, wie das bei biblischen Gleichnissen üblich ist, gewiß sinnbildlich und nicht, ich wiederhole, nicht wörtlich zu verstehen sind …« »Nicht sehr überzeugend, was?« grinste Hunter. »Wie könnte er auch überzeugend sein?« sagte Cissy mitfühlend. »An Jesas Aussagen gibt es überhaupt nichts zu rütteln. Und wer an sie glaubt, dem zittern jetzt die Knie, denn der Countdown bis zur verheerenden Katastrophe läuft.« »Ich muß sagen«, sagte Feldman, »daß ich einige von Jesas Kommentaren ziemlich aufschlußreich fand. Zum Beispiel ihre Ansicht, daß die Menschheit von religiösen Trivialitäten und Ritualen besessen ist – den kleinen Stolpersteinen für Theologen.« Feldman erinnerte sich lebhaft daran, wie relativ unwichtige Unterschiede zwischen der jüdischen und der christlichen Tradition zum Scheitern der Ehe seiner Eltern beigetragen hatten. Wie oft hatte er als kleiner Junge, der nicht wußte, woran er sich halten sollte, vergeblich in einen bitteren Streit über solche Nebensächlichkeiten eingegriffen. Spielte es wirklich eine Rolle, ob Samstag oder Sonntag der richtige Tag für den Sabbat war? Ganz zu schweigen von dem klassischen Zankapfel, ob Jesus 336
Christus tatsächlich der versprochene Erlöser war. Was für eine sinnlose Streitfrage! Letzten Endes waren die Grundprinzipien sowohl im jüdischen als auch im katholischen Glauben die Zehn Gebote, und da auf beiden Seiten nicht einmal diese einfachen, klar umrissenen Lehrsätze eingehalten wurden, sah Feldman keinen Sinn darin, über eine noch viel abstraktere Doktrin zu debattieren. »Schaut euch doch an, wie die Weltreligionen untereinander streiten«, meinte Feldman. »Jede behauptet, den einzig wahren Glauben zu besitzen. Dabei hat ein aufrichtig gläubiger Mensch doch gar keine Möglichkeit zu entscheiden, welche Religion die richtige ist – wenn es überhaupt eine solche gibt.« »Der wahre Gott soll sich bitte melden und aufstehen«, schnaubte Hunter respektlos. »Wo ist er, der Allmächtige?« Feldman schüttelte den Kopf und ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. »Sieh mal, von uns allen hier wird erwartet, daß wir professionelle, unparteiische und hartgesottene Journalisten sind, aber wollt ihr mir wirklich erzählen, daß diese ganze Jesageschichte nicht anfängt, auch euch ein klein bißchen gespenstisch vorzukommen?« Keiner antwortete ihm. »Denkt darüber nach«, fuhr Feldman fort, »über all die erstaunlichen Fähigkeiten hinaus, die Jesa im Negev-Labor eingetrichtert wurden, passiert hier doch noch sehr viel mehr, das einfach nicht zu erklären ist. Seht euch doch nur die Hunderte von kranken Leuten in den letzten zwei Monaten an, die behaupten, von ihr geheilt worden zu sein. Manche von denen waren verdammt überzeugend. Das kann doch nicht alles psychosomatisch gewesen sein, oder? Dann all die seltsamen Kleinigkeiten, die sie vorauszuahnen schien. Auf dem Flug von Kairo hierher warnte sie mich früher als der Pilot vor einem aufkommenden Unwetter, Herrgott noch mal! Und habt ihr euch schon einmal gefragt, warum ausgerechnet WNN immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein scheint? Das kann doch nicht alles nur Zufall sein.« Hunter lachte kurz auf: »Zufall 337
klingt jedenfalls plausibler als ›Wunder‹.« »Na ja«, räumte Cissy ein. »Ich sage ja nicht, daß ich eine Erklärung für all diese Dinge habe, aber ich habe eine Theorie zu dieser Mission des Vaters, mit der sie alle erschreckt.« Sie sah sich um, weil sie sichergehen wollte, daß kein Außenstehender sie hörte. »Ich glaube, Jesa reagiert auf irgendeine Botschaft, die ihr Josef Leveque in das Unterbewußtsein eingegeben hat, um besser mit diesem militärischen Wissen fertig zu werden. So eine Art Sicherheitsventil oder ein bewußt geplantes, als Schutz eingebautes Aussetzen oder so etwas. Ich meine, würdet ihr nicht auch so etwas tun, um euer Kind vor dieser Art Gehirnwäsche zu schützen? Und später, als Jesa dann mit diesem Samariterkult in Berührung kam, brachte sie Leveques Botschaft einfach mit diesem Weltuntergangsquatsch, den sie ihr eingetrichtert haben, durcheinander. Und jetzt denkt sie, es sei ihre Mission, uns auf die Apokalypse vorzubereiten.« »Ach Gott, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, stöhnte Feldman. »Ich habe es bis jetzt geschafft, die Sache mit Gott irgendwo in eine Ecke zu verdrängen. Ich wurde daraus nicht schlau. Ich suchte Gott, aber ich konnte ihn nie sehen, ich hatte die ganzen widersprüchlichen theologischen Streitereien und das salbungsvolle Kauderwelsch satt. Und jetzt stehe ich da und bin wieder verwirrt wie als kleiner Junge.« Er nahm seine Baseballmütze ab und strich sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. »Ich weiß nicht, was hier läuft, Leute, aber ich sage euch, es geht etwas sehr Seltsames vor sich, und es fängt an, mich zu beunruhigen.« »Sag bloß, daß du etwas auf dieses Geschwätz von der Angst vor dem Jüngsten Tag gibst?« fragte Cissy ungläubig. »Nein«, versicherte Feldman, »wenigstens nicht auf den Jüngsten Tag der Bibel.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Aber wenn du dir ansiehst, wohin diese ganze millennarische Bewegung steuert, da fehlt nicht mehr viel für eine höllische Konfrontation. Wie man das 338
nennen soll, hängt, glaube ich, nur von der Perspektive ab.« »Gut, wenn du eine haben willst, gebe ich dir jetzt die Perspektive des Videoreporters«, bot Hunter ihm an. »Eine Umwälzung ist es bestimmt. Eine beschissene Umwälzung. Jesa ist im höchsten Grade verrückt. Da bin ich derselben Meinung wie Cissy. Jesas Gehirn ist völlig verdreht von den Versuchen, die der verrückte Wissenschaftler mit ihr gemacht hat. Sie glaubt wirklich, eine Art Messias zu sein. Und warum, zum Teufel, auch nicht? Was hat sie denn sonst? Keine Eltern. Keine Familie. Keine Kindheit. Kein Liebesleben. Nichts! Nichts als diesen blödsinnigen Größenwahn, der ihr von einem verdammten Computer in den Kopf gesetzt wurde. Aber ich sag' euch, wenn diese kleine Frau – ganz gleich, ob sie für das, was sie tut, verantwortlich ist oder nicht – mit dieser Besessenheit weitermacht, wird sie noch mehr in Teufels Küche kommen, als sie jetzt schon ist. Es mag noch angehen, wenn man es mit einem Haufen religiöser Fanatiker zu tun bekommt, die einen erledigen wollen. Aber es ist eine völlig andere und viel ernstere Angelegenheit, sich mit der internationalen Wirtschaft und der Politik anzulegen. Und, abgesehen vom Rest der Welt, gefährdet sie die Stabilität im Nahen Osten, Mann. Sie bedroht die Sicherheit des Erdölnachschubs. Und wer das tut, kommt dem CIA und der nationalen Sicherheitsbehörde in die Quere und noch Schlimmerem.« Feldman mußte sich eingestehen, daß Hunter recht hatte. Er seufzte. Trotz aller Bedenken gegenüber Jesa konnte er nicht leugnen, daß er eine seltsame Zuneigung zu dieser einsamen, kleinen Frau entwickelt hatte. Er bewunderte ihre felsenfeste Überzeugung, ihre unerschütterliche Gelassenheit und ihre mystische Ausstrahlung. Und er hatte Mitleid mit ihr. Er konnte nicht leugnen, daß Hunters Darstellung im Grunde richtig war. Obwohl ihr Gehirn an ein technologisches Wunder grenzte, war sie schließlich doch nur ein Mensch. Und früher oder später würde sie gezwungen sein, der un339
angenehmen Wahrheit über ihre wahre Natur ins Auge zu blicken.
73 TAGUNGSZENTRUM DER MORMONEN, SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 19 UHR 9, SONNTAG, 5. MÄRZ 2000 Kardinal Alphonse Litti war nicht ganz sicher, wie er all diese öffentliche Aufmerksamkeit verkraften sollte. Innerhalb von ein paar wenigen Stunden war aus dem unscheinbaren Geistlichen eine international beachtete Persönlichkeit geworden. Ja mehr noch, er galt nun als der offizielle, außerordentliche Exeget in Sachen Jesa. In der Vorhalle des Versammlungsaals war Litti von gleißenden Scheinwerfern, Kameras, Mikrophonen und begierigen Nachrichtenteams umgeben, die sich in Scharen um ihn drängten und förmlich an seinen Lippen hingen. In einem Interview, das er noch vor Jesas großer Rede gegeben hatte, hatte er durch gewisse Vorhersagen einen ziemlichen Aufruhr verursacht. Litti hatte Jesa zum Messias bona fide erklärt und prophezeit, daß sie zur Abschaffung aller etablierten Religionen aufrufen werde, da sie fehlerhafte Institutionen seien. Eine Prophezeiung, die sich im nachhinein als absolut korrekt erwies, was sämtliche Medien und die ganze Welt respektvoll zur Kenntnis nahmen. »Sagen Sie uns, wann und wo das Treffen zwischen Jesa und dem Papst stattfinden wird«, rief ein Reporter und hielt dem Kardinal ein Mikrophon vors Gesicht. 340
»Wir wissen es noch nicht genau«, antwortete Litti, der im Scheinwerferlicht schwitzte und sich etwas bedrängt fühlte. »Wir hoffen, heute in zwei Wochen, möglicherweise in Rom. Ich kann nur so viel sagen, daß bereits erste Verhandlungen mit dem Vatikan aufgenommen wurden.« »Was ist mit all diesem Gerede um Armageddon?« rief ein anderer Reporter laut. »Sie scheinen Jesas Gedanken besser zu kennen als jeder andere. Gehen wir dem Weltuntergang entgegen?« »Ich kann nicht behaupten, daß ich die Gedanken des Messias kenne«, lächelte Litti geschmeichelt. »Aber ich fühle eine Art von Verständnis, das sich aus der sorgfältigen Betrachtung ihrer Lehren ergibt. Ich glaube, daß uns bald ein Tag der Abrechnung bevorsteht, gerade so, wie sie es gesagt hat. Die Welt hat zweitausend Jahre Zeit gehabt, um Christi Botschaft aufzunehmen und richtig darauf zu reagieren. Aber darin haben wir leider jämmerlich versagt.« »Also prophezeien Sie Krieg, Kämpfe bis aufs Blut, Nachbar gegen Nachbar, so wie es die Prophetin voraussagte?« fragte ein anderer Reporter. »Ich sage gar nichts voraus, und ich weiß wirklich noch nicht genau, was diese ›dunkle Stunde der Zerstörung‹ bedeutet. Ich hoffe, daß wir während Jesas Audienz beim Papst Näheres dazu erfahren.«
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74 FLUGHAFEN VON SALT LAKE CITY, UTAH, USA, 6 UHR 7, MONTAG, 6. MÄRZ 2000 Jesa war früh aufgestanden, eher als alle anderen und lange vor dem geplanten Abflug um sieben Uhr morgens. Als Feldman gähnend aus seiner Kabine kam, fand er sie mit gekreuzten Beinen, Kopfhörern, geschlossenen Augen und gefalteten Händen auf ihrem Passagiersitz bei der Meditation. Obwohl Feldman sich ihr sehr leise näherte, sagte sie, mit noch geschlossenen Augen: »Guten Morgen, Jon.« »Guten Morgen, Jesa«, antwortete er. »Hast du gut geschlafen?« »Ja, und du?« »Offen gestanden, ich habe zur Zeit ziemlich ungewöhnliche Träume. Was meinem Schlaf nicht gerade förderlich ist.« Sie öffnete die Augen und sah ihn ernsthaft an. »Dies ist nicht die Zeit für friedliche Träume«, sagte sie und nahm die Kopfhörer ab. Jesa schien an diesem Morgen in der Stimmung für ein Gespräch zu sein, und Feldman fragte, ob er ihr Gesellschaft leisten dürfe. Sie nickte, und er setzte sich erwartungsvoll neben sie. »Na ja«, sagte er und wußte nicht so recht, wie er anfangen sollte. »Gestern war ein großer Tag für dich.« »Ja«, stimmte sie zu, »aber jetzt müssen wir uns noch auf einen anderen wichtigen Tag vorbereiten. Du arrangierst für mich ein Treffen mit dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche?« »Ich bin dabei«, antwortete Feldman. »Natürlich würde sich WNN 342
glücklich schätzen, auch Sponsor für diese Reise zu sein. Unsere Leute haben direkten Kontakt mit allen drei päpstlichen Repräsentanten, die bei der Konferenz anwesend waren. Wir hoffen, für den Sonntag in zwei Wochen, den 19. März, einen Termin zu bekommen, wenn es dir recht ist.« »Ja, ich danke dir«, sagte sie freundlich. Erneut unternahm Feldman den Versuch, über einige aktuelle Fragen etwas mehr von ihr zu erfahren. »Jesa, ist dir klar, daß deine gestrigen Erklärungen weltweit große Unruhen verursacht haben? Besonders deine Prophezeiungen zu Armageddon. Viele Menschen sind sehr verstört, manche haben sogar Selbstmord begangen.« »Du mußt wissen, daß die Zukunft ohne meine Warnungen noch viel mehr Tod und Leid bringen würde«, erwiderte sie in unerbittlichem Tonfall. »Kannst du denn diese Apokalypse nicht verhindern?« fragte Feldman und hoffte, eine versöhnlichere Aussage von ihr zu bekommen, die zur weltweiten Entspannung geführt hätte. »Einfach den Menschen verzeihen und ihnen eine neue Chance geben? Ist es nicht das, was das Christentum eigentlich ausmacht?« »Das hängt nicht von meinem Willen ab, noch von dem, was der Vater tut«, antwortete sie. »Es wird eine Verschwörung der Menschen geben. Das kommt daher, daß der Mensch nicht imstande ist, das Wort zu hören. Eigensinn und Überheblichkeit des Menschen verdrehen die Wahrheit, so daß das Gute böse und das Böse gut wird. Genauso wie eine Infektion im Körper aufbrechen muß, um ihn vom Gift zu reinigen, muß diese schwärende Wunde aufgeschnitten werden, damit sie gereinigt und geheilt werden kann.« Diese Metapher war Feldman auf nüchternen Magen nicht gerade angenehm. Einer plötzlichen Eingebung folgend und obwohl er erhebliche Vorbehalte hatte, hielt er die Zeit für gekommen, jenes heikle Thema anzuschneiden, das er schon während des langen Hin343
fluges ins Gespräch bringen wollte, dann aber doch davor zurückgeschreckt war. Angesichts der jetzigen, chaotischen Zustände überall auf der Welt wollte er es wagen. »Jesa«, fragte er behutsam, »welches sind die ersten Dinge, an die du dich erinnern kannst?« Sie schien nachzudenken. »Meine erste bewußte Erinnerung ist die Nacht des weißen Lichts und der bebenden Erde, als der Vater mir meine Seele einhauchte und mir Seine Botschaft übermittelte.« »Weißt du irgend etwas über deine Eltern?« fragte Feldman. »Woher du gekommen bist?« »Ich stamme von Gott und vom Menschen ab«, sagte sie. »Erinnerst du dich an eine Explosion, Jesa, oder vielleicht an ein großes Feuer vor der Nacht des weißen Lichts und der bebenden Erde?« »Nein«, sagte sie und sah gleichgültig aus dem Fenster. Feldman wurde aus ihr nicht klug. Ihre Antworten verrieten keine Emotion. »Erinnerst du dich, daß du verwundet von einem Beduinenpaar in der Wüste gefunden wurdest?« »Nein.« Feldman hielt inne, dachte nach und entschloß sich, es anders zu versuchen. »Jesa, du scheinst sehr viele Dinge zu wissen, mit denen du niemals in Berührung gekommen bist. Hast du eine Ahnung, wie du zu diesem Wissen gekommen bist?« Sie wandte sich um und sah ihn an. »Alles, was ich weiß, kommt vom Vater«, antwortete sie. Feldman überlegte den nächsten Schritt sehr sorgfältig. Er beabsichtigte, Jesa mit der Wahrheit über ihre Herkunft zu konfrontieren, und er war sich der Gefährlichkeit dieses Schachzugs voll bewußt. So geschmacklos dieses Experiment auch sein mochte, er mußte sie darüber aufklären. Als Journalist hatte er die Wahrheit zu ergründen. 344
Er blickte in ihr engelhaft kindliches und doch weises Gesicht. Ihrer furchtsamen Miene nach schien sie zu ahnen, was er ihr sagen wollte. Er öffnete den Mund, zögerte dann aber plötzlich. Aus irgendeinem Grund brachte er es einfach nicht fertig, ihr zu sagen, wer sie wirklich war. Er atmete tief ein, blinzelte und wandte sich voller Enttäuschung über seine plötzliche Feigheit ab. Erfolglos zermarterte er sich das Hirn, um eine Erklärung dafür zu finden. Vielleicht erinnerte er sich zu genau daran, wie seine eigene, private Welt damals in ähnlicher Weise zerstört wurde. Abrupt wechselte er das Thema. »Jesa, woher kommt es, daß deine Augen eine solche Macht über die Menschen haben? Du scheinst sie einfach durch bloßes Anschauen benommen und orientierungslos zu machen.« »Gott sieht die Menschen durch meine Augen an«, erklärte sie einfach, »und ich sehe in ihre Seelen, ich kenne ihre Herzen.« Um das zu beweisen, sah sie Feldman eindringlich an, und wieder überfiel ihn das bekannte entmutigende Gefühl des Ausgeliefertseins. Er war zutiefst verwirrt und fühlte sich verwundbar. Seine Seele lag nackt vor ihr. Seine Wangen wurden rot vor Verlegenheit. Ihre Augen wurden langsam immer größer und verengten sich dann wieder, als hätte sie eine plötzliche Eingebung. Sie murmelte traurig: »Sieh das Kind an, das seine Eltern ertragen hat.« Sie nahm seine Hände sanft in die ihren. »Du sollst wissen, daß die Eltern für das Kind verantwortlich sind, und nicht das Kind für die Eltern. Damit du die Fähigkeit zur reifen Liebe besitzt, muß dein Herz erst von allem Ballast der Unreife befreit werden.« Ein Gong ertönte, und jemand von der Besatzung kündigte den bevorstehenden Start der Maschine an. Erschüttert kehrte Feldman nach einer eiligen Entschuldigung in seine Kabine zurück. Drinnen schloß er die Tür und lehnte sich schwer atmend dagegen. 345
Er wußte einfach nicht, was er von dieser seltsamen Frau halten sollte. Eine große Wärme, ein starkes menschliches Gefühl ging von ihr aus und zog ihn unwiderstehlich in ihren Bann. Und doch beunruhigte ihn die messianische Macht, die sie ausstrahlte, der Zauber, den sie über die Menschen hatte, zutiefst. Er konnte die widersprüchlichen Gefühle von Anziehung und Angst, die ihre außerordentlichen Fähigkeiten in ihm erweckten, weder verstehen noch miteinander in Einklang bringen.
75 PALAST DES SANCTUM OFFICIUM IM VATIKAN, ROM, ITALIEN, 11 UHR 51, DIENSTAG, 7. MÄRZ 2000 In der Kongregation für Glaubensdoktrin unter der Leitung des Papstes herrschte schon den ganzen Vormittag Aufruhr. Die Teilnehmer schienen in dieser besonderen Angelegenheit, dem geplanten Besuch Jesas, unversöhnlich in zwei Parteien gespalten. Ein gelehrter, älterer Kardinal aus Lettland argumentierte leidenschaftlich: »Ein Treffen mit dieser fanatischen Mystikerin ist undenkbar! Unmöglich! Das bedeutet eine Konfrontation um den Anspruch auf die geistliche Oberhoheit. Der Heilige Vater soll in einem öffentlichen Meinungsstreit diesem Emporkömmling und Scharlatan gegenübergestellt werden, um darüber zu debattieren, wer die höhere geistliche Autorität hat. Das ist entwürdigend.« Ein entschlossener Franziskaner erhob sich, um ihm beizupflichten. »Man mache sich 346
die Folgen klar: Dieser Frau auch nur zu erlauben, hierherzukommen, dient dazu, sie zu legitimieren. Wir dürfen ihre Angstmacherei weder sanktionieren, noch dürfen wir die Peterskirche auf das Niveau eines mormonischen Tabernakels herabziehen.« Ein anderer Kardinal, ein Jesuit aus Malaysia, umfing mit ausgebreiteten Armen die ganze Versammlung: »Dieser törichte, selbsternannte Messias ist ein Greuel für unsere Heilige Mutter Kirche und für jede andere etablierte Religion. Seht das Unglück, das sie über uns gebracht hat. Weltweit sind unsere Diözesen in Verwirrung. Unterstützung und Zuwendungen schwinden dahin. Unsere Gemeinden lassen uns im Stich. Ich flehe Sie an, Heiliger Vater«, rief er in drängendem Ton, »setzen Sie sich nicht einer solchen Erniedrigung aus.« »Aber gerade wegen dieser Katastrophe, die wir erleben«, machte ein junger Kardinal der römischen Diözese geltend, »muß der Heilige Vater dieser Jesa eine Audienz gewähren. Genauso wie wir hier in der Kurie in dieser Angelegenheit verschiedener Meinung sind, geht es auch den verlorenen Schafen in unseren Gemeinden. Das ist eine Gelegenheit für uns, eine entschiedenere Rolle zu spielen. Wir müssen uns als unerschütterliche Bannerträger zu erkennen geben, die den übrigen Gläubigen Halt bieten können.« Ein zweiter junger Kardinal kam ihm zu Hilfe. »Ich stimme dem von ganzem Herzen zu. Mit einigen der Empfehlungen, die ich heute hier gehört habe, kann ich mich nicht abfinden. Ich kann nicht akzeptieren, daß untätiges Warten die beste Methode sein soll, auf diese Sache zu reagieren, im Vertrauen darauf, daß allein der Lauf der Zeit genügen wird, diese falsche Prophetin zu entlarven. Haben wir nicht aus früheren Erfahrungen gelernt, wie stark die Verführungskraft der Apokalypse auf viele Menschen wirkt? Die Siebenten-Tags-Adventisten sind ein perfektes Beispiel. Ihre gesamte Existenz gründet sich auf der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft. Und jedesmal, wenn ihr angekündigtes Datum vorübergeht, 347
erfinden ihre Führer eine Rechtfertigung dafür und setzen ein neues Datum fest. Wir dürfen den gegenwärtigen Notstand nicht weiter hinnehmen, ohne einzugreifen. Pontifex, Sie müssen diese Frau in ihre Schranken weisen. Persönlich und eindeutig, ohne auszuweichen, mit Vernunft und mit dem Mut unseres Glaubens.« Kardinal Antonio di Concerci hatte während dieser ganzen Debatte ruhig dagesessen. Er legte die Fingerspitzen aneinander und wartete darauf, daß der Papst in dieser hitzigen Debatte das Wort ergriff. Endlich wandte Nikolaus sich an den Präfekten. »Antonio, würden bitte auch Sie den Brüdern Ihre Ansicht darlegen? Sie haben bisher noch nichts dazu gesagt.« Nikolaus kannte di Concercis Meinung in dieser Angelegenheit aus ihren langen Gesprächen vom Vortag sehr genau. Diese Diskussion am runden Tisch hatte der Pontifex lediglich in der verfehlten Hoffnung angesetzt, doch noch eine Einigung zu erreichen. »Ja, Heiliger Vater. Darf ich dabei auch im Namen von Kardinal Santorini sprechen, der mit mir zusammen bei der Konferenz anwesend war?« Santorini nickte zustimmend. Di Concerci erhob sich und breitete die Arme vor der Versammlung aus. »Ich glaube nicht, daß irgend jemand hier an den Ernst der gegenwärtigen Situation erinnert werden muß«, sagte er in gelassenem Ton. »Kurz gesagt, die schroffen Verkündigungen dieser selbsternannten Tochter Gottes haben eine außerordentliche Feindschaft und Abneigung gegenüber allen etablierten Religionen hervorgerufen, nicht nur gegenüber unserer Kirche. Obwohl sich alle Religionen dieser gemeinsamen Bedrohung stellen müssen, ist Nikolaus in direkter Nachfolge Christi und mit der ihm verliehenen Machtbefugnis, den Willen Christi auf Erden zu vertreten, die alleinige religiöse Instanz mit dem Auftrag, dieses Problem zu lösen. Zuerst dachte auch ich, daß dieses vorgeschlagene Treffen ein Fehler sei. Aber jetzt bin ich fest davon überzeugt, daß diese Heraus348
forderung eine uns von Gott aufgegebene Prüfung darstellt – und eine uns vorherbestimmte Chance. Wenn wir diese Herausforderung bestehen, wenn wir dieser falschen Prophetin erfolgreich entgegentreten, wenn wir die Menschheit von der Unvernunft und den sträflich geschürten Emotionen dieser zerstörerischen, millennarischen Bewegung befreien, wenn die Geistlichkeit einer Welt, die von Panik und Verwirrung befallen ist, wieder Ordnung und Frieden geben kann – wenn wir all dies zustande bringen, dann werden wir kurz vor einem Ziel stehen, auf das die Kirche seit zweitausend Jahren unablässig hingearbeitet hat: Wir werden imstande sein, nicht nur die christlichen Glaubensgemeinschaften wieder zu vereinen, sondern alle Völker zu bekehren und alle Religionen unter dem Schutz der einen, der wahren Kirche zu vereinen. Geschätzte Brüder, als Verteidiger des Glaubens haben wir die heilige Pflicht, diesem größten Schisma aller Zeiten mutig zu begegnen. Seine Heiligkeit muß mit dieser Frau – dieser Jesa – zusammentreffen. Hier im Vatikan, vor den Augen Gottes und der Welt. Und zusammen mit euren Gebeten und Gottes unermeßlichem Segen wird die Heilige Mutter Kirche ein Mittel finden, der Abtrünnigkeit ein Ende zu bereiten, die so viel Pein über unseren Planeten gebracht hat.« Im Auditorium des Palastes kehrte ein Augenblick der Stille ein. Dann begann der Papst allein Beifall zu klatschen. Der junge Franziskaner fiel ein, dann der Monsignore aus Lettland. Ein anderer Kardinal stand auf, ein weiterer folgte, und der Applaus steigerte sich zu jubelndem Beifall, als sich alle, auch Nikolaus, von ihren Plätzen erhoben, um diese heilige Aufgabe gutzuheißen.
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76 BROOKFOREST, RACINE, WISCONSIN, USA, 7 UHR 50, MITTWOCH, 8. MÄRZ 2000 Michelle Martin nahm einen Stapel Pfannkuchen aus dem Backofen. Sie dachte, ein herzhaftes Frühstück würde die schlechte Laune ihres Mannes und ihres Sohnes vertreiben. »Es ist mir ganz egal, was all deine Freunde machen«, brummte Tom senior. »Ich lasse es nicht zu, daß du dich mit einer Sekte einläßt!« »Es ist keine Sekte, Pa«, protestierte der Sohn. »Es sind doch die Guardians of God, die Gefolgsleute Gottes. Du weißt doch, die Organisation, die all die Anhänger von Jesa davon abhalten will, sich in der ganzen Welt breitzumachen. Sogar der Papst unterstützt uns.« »Papst hin oder her, du sollst dich nicht mit diesen religiösen Spinnern abgeben. Die machen doch nur Scherereien. Halte deine Nase da raus, mein Sohn, und steck sie lieber in deine Bücher, wo sie hingehört. Nach dem Ansturm auf die Bank, der mich arbeitslos gemacht hat, fürchte ich, wirst du zusehen müssen, daß du ein Stipendium bekommst wie Shelley, wenn du nächsten Herbst auf dem College anfangen willst.« »Wieso erlaubst du dann Shelley, diesen blöden Messianischen Gefolgsleuten Gottes beizutreten?« beklagte sich der Sohn trotzig. »Wegen denen hat die Bank zugemacht – all diese Idioten, die behaupten, die Welt geht unter, und die allen eine Riesenpanik einjagen.« Michelle Martin legte ihrem Sohn einen frischen Pfannkuchen auf 350
den Teller. »Wenn du dann aufs College gehst, Tommy, kannst du selbst entscheiden. Aber dein Vater hat recht, diese Gefolgsleute Gottes machen mir auch angst. Sie sind abscheulich. Halte dich von ihnen fern.« »Es paßt mir auch nicht, daß Shelley mit der verdammten Jesabande zu tun hat«, hakte Tom senior nach. Sein grobes Gesicht lief rot an, und seine blauen Augen blitzten hinter der Brille auf. »Ich hätte euch beiden nicht erlauben dürfen, nach Salt Lake City zu fahren. Das war's doch, was Shelley den Kopf so verdreht hat. Und ich weiß, du hast sie noch ermutigt, diese verdammten Treffen der Messianic Guardians am College zu besuchen. Ich will, daß das aufhört, sofort, verstanden?« Er donnerte seine große Faust so heftig auf den Tisch, daß Toms Milch überschwappte und sich über das Hemd des Jungen ergoß. Michelle Martin war angesichts der ungewohnten Heftigkeit ihres Mannes völlig perplex. Sie machte ein besorgtes Gesicht und versuchte gleichzeitig ein versöhnliches Lächeln. Vorsichtig legte sie eine Hand auf die Schulter ihres Mannes. »Schatz, wenn du nur mit uns am Flughafen gewesen wärst. Sie selbst zu sehen war … wirklich ein religiöses Erlebnis.« Doch Tom senior ließ sich nicht besänftigen. »Du fährst die ganze Nacht Hunderte von Meilen, stehst den ganzen Tag in der Kälte herum, und das alles, um einen Blick von fünf Sekunden auf das Mädchen zu werfen! Und dann tust du, als hättest du Gott selbst oder sonstwas gesehen!« »Es war, als hätte man Gott gesehen!« rief Mrs. Martin aus. »Als Jesa an uns vorbeiging, als sie sich umgedreht und uns direkt angeschaut hat … Vielleicht war es nur für eine Sekunde, aber als ich in diese Augen sah, ich sage dir, Tom, es war … so etwas hab' ich noch nie erlebt.« »Ich hätte euch nie gehen lassen sollen«, meinte der Vater resigniert. »Diese Jesa bringt alles durcheinander. Wegen ihr hab' ich 351
meine Arbeit verloren, und jetzt verliere ich wegen ihr meine Familie.« Mrs. Martin fing an, die verschüttete Milch aufzuwischen, und wechselte, um die Situation zu entschärfen, unvermittelt das Thema. »Hast du gestern bei der Vorwahl deine Stimme abgegeben, Liebling?« Ihr Mann warf ihr aus großen Augen einen ungläubigen Blick zu, der durch die dicken Brillengläser noch verstärkt wurde. »Wahlen? Wahlen? Wer denkt denn jetzt an so was?« Der Junge machte sich die Unterbrechung zunutze, verließ unbemerkt die Küche und ging in sein Zimmer hinauf, um sein nasses Hemd zu wechseln. Vor dem Spiegel blieb er stehen und vergewisserte sich mit einem Blick zur Tür, daß er allein war. Er zog das Hemd aus und bewunderte die feine, noch frische Tätowierung über seinem Herzen. Es waren zwei Oberschenkelknochen in der Form eines T, von einem Schwert und einer Axt flankiert, mit der lateinischen Inschrift ›Custodes Dei‹.
77 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 7 UHR, DONNERSTAG, 9. MÄRZ 2000 Feldman hatte einen Alptraum und wachte von einem Jucken seiner Nase und einem leisen, melodischen Kichern auf. Anke lag auf seinem Bett, ließ ihr langes, dunkles Haar spielerisch über sein Ge352
sicht gleiten und lachte verschmitzt. »Willkommen auf der Erde, Traumtänzer«, neckte sie ihn und lachte wieder. Feldman freute sich sehr. »Anke! Wo kommst du her?« »Es ist so lang her, seit ich dich gesehen habe«, sagte sie, »ich hab' mir gedacht, ich schwänze heute mal!« »Tut mir leid«, antwortete er reuig, weil ihm plötzlich bewußt wurde, daß er seit der Abfahrt zur Konferenz nicht mehr mit ihr gesprochen hatte. »Ich vergebe dir«, antwortete sie wohlwollend, »wenn du mir alles über deine Reise zum Weißen Haus erzählst.« Feldman lachte und schloß sie in die Arme. Ohne daß es ihm bewußt geworden war, hatten doch die Spannungen und der Streß der letzten Woche ihm einiges abgefordert. Wie immer belebte die Zeit mit Anke ihn besser als alles andere. Sie verbrachten den Rest des Morgens zusammen, bis ein Anruf kam, der Feldman in die Wirklichkeit zurückholte. Er mußte Anke wieder verlassen und in sein Büro zurückkehren zu einem weiteren, sehr langen Arbeitstag. Die Katholiken erwiesen sich für WNN als nicht ganz so einfache Verhandlungspartner wie die Mormonen. Der Vatikan behielt sich die Kontrolle über die Organisation und den Ablauf von Jesas Audienz beim Papst vor und bestand darauf, daß Feldman sich bei dem Treffen zurückhielt. Auch wurden WNN keine exklusiven Senderechte an dem Ereignis eingeräumt. Es sollte allen Medien zugänglich sein. Aber WNN hegte doch noch Hoffnung auf eine Sonderstellung. Der Vatikan hatte zwar dem Termin am 19. März um zwölf Uhr mittags zugestimmt, aber darauf bestanden, daß die Prophetin ungefähr eine Stunde eher erschien, damit der Zeitplan des komplizierten Protokolls eingehalten werden konnte. Weiterhin hatte man darauf gedrungen, daß WNN Jesa mit dem jetzt weltberühmten Kardinal Alphonse Litti zusammenbrachte, der ihr im päpstlichen Palast als Begleiter dienen sollte. 353
78 IN DEN GEMÄCHERN DES PAPSTES, VATIKAN, ROM, ITALIEN, 14 UHR 9, MONTAG, 13. MÄRZ 2000 Als der Papst den Raum betrat, erhoben sich Kardinal Antonio di Concerci und Kardinal Silvio Santorini hinter einem Tisch, der mit Stößen von Nachschlagewerken, Notizblöcken und verschiedenen Dokumenten bedeckt war. Sie befanden sich in der geräumigen, eindrucksvoll ausgestatteten privaten Bibliothek des Papstes, wo Nikolaus oft in zwangloser Runde Berater und Gäste empfing. Für die heutige Präsentation waren der Tisch und verschiedene Staffeleien herbeigeschafft worden und vor dem erhöhten Empfangsthron des Pontifex aufgestellt worden. Die großen Doppeltüren der Bibliothek schlossen sich hinter Nikolaus, als er die zwei Kardinäle zu ihren Plätzen wies und schnell die Stufen zu seinem Stuhl emporschritt. Der Papst sah der heutigen Sitzung mit Sorge entgegen. Er war beklommen wegen seiner bevorstehenden Audienz mit der Prophetin Jesa. Auch hatte er wieder beunruhigende Träume gehabt und war über seinen Beschluß ins Wanken geraten. Als spüre er die Unsicherheit seines Pontifex, begann di Concerci sofort mit seiner Einleitung. »Eure Heiligkeit, ich bin erfreut, Ihnen mitteilen zu können, daß wir unsere Untersuchungen abgeschlossen haben. Das Ergebnis übertrifft bei weitem unsere Erwartungen. Wie Sie bald sehen werden, haben wir jetzt alles, was wir brauchen, um unseren Plan erfolgreich durchzuführen.« 354
Der Papst nickte zustimmend, und di Concerci gab Kardinal Santorini das Zeichen zu beginnen. Santorini stand auf, ging zur ersten Staffelei und enthüllte ein vergrößertes Farbfoto. »Dies ist die Familie Leveque, Pontifex«, erklärte di Concerci. »Josef Leveque, seine Frau Anne und ihre Tochter Marie. Dieses Foto wurde vor etwa zehn Jahren aufgenommen, als die junge Frau, die hier abgebildet ist, Anfang Zwanzig war.« Der Papst erhob sich und ging die Stufen hinunter, um sich das Foto genauer anzusehen. Er setzte sich die Brille auf die Nase und betrachtete es eingehend. Di Concerci fuhr fort: »Bald nachdem dieses Bild gemacht wurde, erlitt die Tochter Marie einen bedauerlichen Unfall. Unschuldig fiel sie einem terroristischen Bombenanschlag in Jerusalem zum Opfer und wurde schwer verletzt. Sie überlebte, liegt aber bis heute im Koma.« Der Papst runzelte die Stirn, als er das Bild der lächelnden jungen Frau ansah. »Entsetzlich«, klagte er. »Wird es im Heiligen Land niemals Frieden geben? Aber ich verstehe nicht, was diese Geschichte mit der heutigen Sitzung zu tun hat.« Als Nikolaus sich von dem strahlenden jungen Gesicht auf dem Foto abwandte, lenkte di Concerci die Aufmerksamkeit des Papstes erneut darauf. »Papa, schauen Sie das Foto noch einmal an. Fällt Ihnen an der jungen Frau nichts auf?« Nikolaus ging zu dem Bild zurück, beugte sich nach vorn und sah es ganz gründlich mit zusammengekniffenen Augen an. Plötzlich weiteten sich seine Augen, und er rief aus: »Ist das Jesas Schwester? Ich sehe eine Ähnlichkeit!« Der Präfekt lächelte. »Ihr Klon ist vielleicht die richtigere Erklärung. Das ist die Frau, deren Eizellen benutzt wurden, um das genetische Double zu erschaffen, das der Welt unter dem Namen Jesa bekannt ist. Genau wie es in dem Fernsehbericht über Jesas Herkunft gezeigt wurde.« »Erstaunlich!« flüsterte der Papst verwundert und starrte das Ge355
sicht an. »Aber es verwirrt mich. Obwohl diese Frau der Prophetin gleicht, sind die Ähnlichkeiten doch nicht ganz so groß. Mehr familiärer als identischer Natur.« »Das wurde, wie wir erfahren haben, durch die Prozesse und Umstände, unter denen Jesa heranwuchs, verursacht«, erklärte di Concerci. Der Papst nickte und kehrte langsam und nachdenklich zu seinem Thron zurück. »Wir haben alles, was wir brauchen, um die Wahrheit an den Tag zu bringen, Eure Heiligkeit«, versicherte di Concerci. »Ein geheimer Kontakt zum israelischen Militär hat uns dabei geholfen und uns alle nötigen Dokumente zur Verfügung gestellt. Auch haben wir von WNN erfahren, daß Kardinal Litti unser Angebot, Jesa bei unserer Willkommenszeremonie zu führen, angenommen hat.« »Ausgezeichnet.« Nikolaus bekam allmählich ein besseres Gefühl. »Beschreiben Sie mir den ganzen Plan, so wie Sie ihn entworfen haben, Antonio.« »Gern, Eure Heiligkeit.« Di Concerci nahm am Tisch Platz und legte sich seine Notizen zurecht, obwohl er sie nicht zu Hilfe nahm. »Kardinal Litti, Jon Feldman und diese Jesa werden am Sonntag, den 19. März, ungefähr gegen elf Uhr morgens per Hubschrauber hier eintreffen. Sie werden von Kardinal Santorini mit einer kleinen Gruppe der Schweizergarde und der päpstlichen Ehrengarde geleitet. Sie werden durch den Park gehen, die Sixtinische Kapelle betreten und durchqueren, mehrere Cortili und Galerien sehen und dann den großen Platz vor der Basilika überqueren. Sie werden dann die Basilika betreten und Eure Ankunft erwarten. All dies wird lückenlos von verschiedenen Fernsehanstalten, die vor Ort vertreten sind, verfolgt. Bei der Führung wird es Kardinal Santorinis Bestreben sein, der Frau etwas von der Schönheit und der erhabenen Größe des Vatikan zu zeigen und sie mit einem Gefühl für die historisch gewachsene, religiöse Bedeutung zu erfüllen, die in der Kultur unserer 356
Kirche zum Ausdruck kommt. Wir wollen, daß sie die Inspiration spürt, die von den großen Kunstwerken ausgeht, Kunstwerke, die im Auftrag der Kirche im Lauf der Jahrhunderte zur Ehre und zum Ruhm Gottes geschaffen wurden. Wenn Jesa, Jon Feldman und Alphonse von Kardinal Santorini durch die Eingangstür der Peterskirche geleitet werden, wird der Julianische Chor singen und die ganze Kirche mit allen Mitgliedern des päpstlichen Hofes und Vertretern all unserer religiösen Orden gefüllt sein. Diese Prachtentfaltung und die Majestät unserer Heiligen Mutter Kirche müssen Jesa doch ergreifen. Sie mag zwar eigensinnig sein, aber ihr Herz wird sicher nicht so verhärtet sein, daß diese große Demonstration von Schönheit und anbetender Verehrung sie ungerührt läßt. Nach einem Gebet vor den Reliquien der Heiligen Petrus und Paulus und exakt zu dem Zeitpunkt, an dem sie am Tabernakel ankommt, werden Sie, Heiliger Vater, erscheinen. Wir werden dem gewohnten Protokoll für eine offizielle Audienz folgen. Kardinal Santorini wird Ihnen zuerst angekündigt werden. Er wird die Stufen hinaufgehen, Sie werden ihm die Hand entgegenhalten, er wird vor Ihnen knien und den Ring des heiligen Petrus küssen. Danach wird Alphonse vor Sie treten, Sie werden ihm den Ring hinhalten, und Alphonse wird sich zweifellos ebenfalls hinknien und den Ring küssen. Und dann wird Ihnen zuletzt Jesa vorgestellt. Sie werden wieder die Hand ausstrecken und, so Gott will, wird sie sich anschließen, knien und auch den Ring küssen. Nur lassen Sie mich hier zur Vorsicht mahnen, Eure Heiligkeit.« Der Präfekt hielt eine abwehrende Hand hoch. »Wenn Sie Jesa ansehen, werden ihre Augen wahrscheinlich eine beunruhigende Wirkung haben. Sie sind von einer ganz unnatürlichen Farbe – ein lebhaftes Dunkelblau –, und sie können ein recht starkes Schwindelgefühl auslösen. Bleiben Sie einfach sitzen, und seien Sie auf einige unbehagliche Augenblicke gefaßt. Es wird schnell vorübergehen.« Der Papst hatte verstanden. Die ganze Inszenierung hatte nur den 357
einen Zweck, der ganzen Welt Jesas Unterordnung unter seine geistliche Autorität zu demonstrieren. »Und was ist, wenn sie sich weigert, meinen Ring zu küssen?« fragte Nikolaus. »Das wird uns nicht von unserem Ziel abbringen«, versicherte ihm di Concerci. »Wenn sie feindselig reagiert, werden wir uns einfach an die nächste Phase unseres Plans halten. Es ist unser Ziel, daß Jesa ihre Forderung bezüglich der Auflösung der etablierten Kirchen zurücknimmt, wenigstens soweit es unsere Heilige Mutter Kirche betrifft. Da es unwahrscheinlich ist, daß wir in dieser Hinsicht erfolgreich sein werden«, di Concerci hielt inne, um etwas vom Tisch zu nehmen, »werden wir dann dazu übergehen, sie – mit der ganzen Welt als Zuschauer – damit zu konfrontieren.« Der Papst beugte sich auf seinem Thron mit großem Interesse nach vorn. Einen harten, zuversichtlichen Glanz in den Augen, hielt Kardinal Antonio di Concerci ein braunes, ledergebundenes Buch hoch. »Eure Heiligkeit, das ist das Original des persönlichen Tagebuchs von Mr. Josef Leveque, dem Mann, der für die Existenz von Jesa verantwortlich ist.« Er machte eine Pause, damit diese Enthüllung ihre Wirkung entfalten konnte. »In diesem Tagebuch steht die ganze Geschichte dieser seltsamen Jesa und ihrer geheimnisvollen Kräfte. Eine tragische und in vieler Hinsicht bewegende Geschichte. Die Geschichte der verzehrenden Liebe und Besessenheit eines verzweifelten, genialen Mannes, getrieben von dem Wunsch, sich das zurückzuholen, was Gott ihm genommen hatte. Das Leben seiner einzigen Tochter. Aber am wichtigsten«, und di Concercis Gesicht war vor Eifer hochrot angelaufen, »dieses Tagebuch ist eine komplette Enthüllung der wahren Identität unseres angeblichen kleinen Messias. Dieses Tagebuch hier, Eure Heiligkeit, enthält unbekannte, schockierende Einzelheiten, die WNN, weil es zweckmäßig erschien, aus ihrer Fernsehdokumen358
tation ausgeklammert hat. Einzelheiten, die die Welt sicher überzeugen werden, daß Jesa weder eine Prophetin noch ein Messias oder die Schwester Jesu sein kann. Anders als in der WNN-Sendung dargestellt, sind Jesas Verstandeskräfte nicht durch einen passiven, gedächtnisbildenden Prozeß entstanden. Ihre bemerkenswerte Intelligenz und ihre Fähigkeiten beruhen auf einem künstlichen und gottlosen Verfahren, genauer gesagt auf Mikrochips aus Silikon, die mit einem chirurgischen Eingriff tief in ihre Gehirnhälften eingepflanzt wurden. Papa, diese Frau, die die Welt als Tochter Gottes rühmt, ist ohne Frage eine teuflische Betrügerin. Das ganze Phänomen ist eine wohldurchdachte, banale Lüge, von den Agenten des israelischen Militärs zu einem bis zur Stunde noch unbekannten Zweck erdacht.« Das Kinn des Papstes senkte sich vor Erstaunen. Die beiden Kardinäle konnten ihren Triumph kaum verbergen. »W… was sagen Sie da?« stammelte Nikolaus. »Pontifex, ich freue mich, berichten zu können, daß Jesa keine göttliche Mission erfüllt, die ihr angeblich bei jenen Tempelruinen am Abend der Jahrtausendwende übermittelt worden sein soll. Aber dennoch führt sie wie ein vorprogrammierter Roboter eine Art geheimer Mission durch. Die Beweise sind alle hier«, erklärte di Concerci und tippte energisch mit dem Zeigefinger auf den Ledereinband des erhobenen Tagebuchs. »Unbestreitbare Beweise, die wir für die Medien der Welt offenlegen und mit vergrößerten Schlüsselpassagen des Textes veröffentlichen werden. Alles ist hier in Josef Leveques Handschrift dokumentiert.« Der Papst war sprachlos. Er fiel mit einem Ausdruck tiefer Erleichterung in seinen Stuhl zurück. Nachdem er sich einen Augenblick erholt hatte, schüttelte er verwundert den Kopf und wandte sich an seine beiden Kardinäle, die seine Reaktion mit gespanntem Lächeln erwarteten. »Sie meinen, der Alptraum ist zu Ende?« seufzte er, während die 359
wunderbare Erkenntnis langsam in sein Bewußtsein vordrang. »Dieser schreckliche Alptraum ist endlich vorbei?« Er lehnte den Kopf leicht nach hinten in das weiche Samtpolster seines Throns und schloß die Augen. Die beiden Kardinäle sahen einander an, schwiegen und strahlten. Der Papst faßte sich etwas und rieb sich die Augen unter der Brille mit einem Taschentuch. »Sie müssen mir sagen, mein unvergleichlicher, geliebter Antonio, wie sind Sie nur an dieses Geschenk des Himmels gekommen?« »Mit ein wenig Hilfe vom Allmächtigen, Heiliger Vater«, antwortete di Concerci. »Und mit ein wenig Überzeugungskraft von der Kongregation für die Glaubensdoktrin. Zufällig ist die Frau von Josef Leveque eine praktizierende Katholikin, die in Tel Aviv lebt. Nach der Panik in unserer Weltdiözese wegen Jesas Rede in Salt Lake City bekamen wir einen Anruf von Mrs. Leveques Gemeindepfarrer. Er hat alles über das Tagebuch aus einer Beichte erfahren, die Anne Leveque einige Monate zuvor abgelegt hatte.« Nikolaus war entgeistert. »Das heißt, ihr Beichtvater hat das Beichtgeheimnis verraten!« »Unter diesen Umständen, Eure Heiligkeit«, betonte di Concerci, »betrachtete der Pfarrer mit gutem Gewissen die Verteidigung der Heiligen Mutter Kirche als eine mehr als würdige Rechtfertigung. Und dieser Ansicht waren auch wir Kardinäle der Kongregation. Schließlich haben wir die heilige Aufgabe, den Glauben zu verteidigen!« Nikolaus nickte, war allerdings nicht recht zufrieden mit dieser Erklärung. »Von dem Pfarrer«, fuhr di Concerci fort, »haben wir auch erfahren, daß Mrs. Leveque das Tagebuch ihres Mannes an das israelische Verteidigungsministerium abtreten mußte. Wir waren dann in der Lage, das Tagebuch über einen Freund der Kirche im Ministerium, der von unserem Interesse erfuhr und es für uns erwarb, si360
cherzustellen.« »Wer ist dieser geheimnisvolle Anhänger der Kirche?« unterbrach ihn Nikolaus. »Vielleicht werden wir das nie erfahren«, antwortete di Concerci. »Er weigert sich, seinen Namen preiszugeben.« »Das verstehe ich nicht.« Der Papst überlegte. »Diese Experimente haben negative Schlagzeilen gemacht, wieso sollte der israelische Verteidigungsminister zulassen, daß diese unvorteilhaften Einzelheiten bekanntwerden?« Di Concerci räusperte sich. »Verteidigungsminister Tamin weiß noch nicht, daß wir das Tagebuch haben. Die Person, die uns das Material zugespielt hat, ist weder ein Freund Shaul Tamins noch ein Fürsprecher der falschen Prophetin Jesa. Außerdem, angesichts des Elends, das der Verteidigungsminister mit seinen bösartigen Experimenten über die Erde gebracht hat, sollte wohl niemand von uns allzu besorgt sein, wenn Mr. Tamin den anstehenden Skandal nicht überlebt.« »Aber trotzdem«, klagte Nikolaus beklommen, »ich sehe es nicht gern, wenn die Heilige Mutter Kirche in solche politischen Intrigen verwickelt wird… Dennoch«, sagte er endlich nachgebend, und eine Welle der Erleichterung stieg tief aus seinem Inneren auf, »muß ich Sie beide wegen dieser wahrlich wunderbaren, von Gott gesandten Wende des Geschicks loben.« Die zwei Kardinäle nahmen den Dank des Pontifex mit einem breiten Lächeln entgegen. »Nun«, fragte der Papst, »darf ich Sie noch um einen letzten Dienst bitten, Antonio?« »Alles, was Sie wünschen, Heiliger Vater«, stimmte der Präfekt zu. »Wenn Jesa sich weigert, unseren Plänen bereitwillig entgegenzukommen, und es nötig wird, sie bloßzustellen – und ich fürchte, es wird so weit kommen –, würde ich es nicht gerne sehen, wenn das Papsttum direkt an den Anschuldigungen beteiligt wäre. Ich werde 361
Ihnen zwar zur Seite stehen, würde Sie aber bitten, die Anklageerhebung persönlich durchzuführen, da Sie die Einzelheiten kennen und Ihre bisherige Erfahrung mit dieser Frau einsetzen können.« »Gerne, Eure Heiligkeit«, erwiderte di Concerci mit einem erwartungsvollen Glanz in den Augen. Nikolaus lehnte sich im Stuhl zurück und atmete mit inbrünstiger Erleichterung aus. »Ist es vorbei, Antonio?« fragte er, und noch einmal: »Ist es endlich vorbei?« »Ja, Eure Heiligkeit«, lächelte di Concerci. »Es ist vorbei.«
79 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 10 UHR 14, MITTWOCH, 15. MÄRZ 2000 Feldman tippte mit dem Zeigefinger auf den Artikel in der Londoner Times, ließ die Zeitung auf seinen Schreibtisch sinken und starrte den Artikel gedankenverloren an. Mutter Bernadettes Gesicht vom Schwesternorden der schweigenden Dulderinnen lächelte ihn von einem Foto an. Dem Artikel zufolge hatte die alte kleine Nonne kürzlich den Jackpot der Virginia-State-Lotterie von etwa neun Millionen Dollar gewonnen. Sie wollte den ganzen Gewinn dazu verwenden, ihr gefährdetes afrikanisches Kinderhilfswerk zu retten. Ein ›Engel‹, so behauptete sie, hatte ihr die Gewinnzahlen ins Ohr geflüstert. Bevor er noch weiter über die Sache nachdenken konnte, klopfte 362
jemand an der Tür. Es war Cissy, die zu einer Besprechung kam und einen neuen Besucher mitbrachte, der auch vorübergehend als Hausgast bleiben sollte. Feldman wurde dem lächelnden Kardinal Alphonse Litti vorgestellt. Der Reporter faßte eine spontane Zuneigung zu dem umgänglichen Kardinal, fand ihn intelligent, warmherzig und kontaktfreudig. Außerdem nahm er ihn mit seinem Sinn für Humor und mit seiner Offenheit für sich ein. Im Laufe des Gesprächs war es dem Kardinal ein Vergnügen, Feldman, Hunter und Cissy in Protokoll und Ablauf des Vatikanbesuchs einzuweihen. Zu Cissys Verdruß hatte sie keine Einladung vom Vatikan erhalten. Der gute Kardinal versprach jedoch, er werde zusehen, was er für sie und Hunter, für den auch noch nichts geplant war, tun könne. »Natürlich müssen Sie verstehen«, sagte Litti mit überschwenglicher Begeisterung, »daß der Vatikan ein unabhängiger, in jeder Hinsicht souveräner Staat ist und der Papst als oberster und absoluter Monarch fungiert. Es ist der einzige Staat dieser Art in der westlichen Welt, in dem der regierende Herrscher uneingeschränkt die exekutive, jurisdiktive und legislative Macht innehat. Da die Audienz am Sonntag ein feierlicher Staatsempfang ist, wird die vollständige Zeremonie des päpstlichen Hofes stattfinden, inklusive Pontifikalprozession, Insignien und der ganzen dazugehörigen Etikette. Es ist ein wunderbares und eindrucksvolles Schauspiel, das Ihnen sicherlich gefallen wird.« »Ich nehme an, ich sollte meinen Frack wohl besser in die Reinigung geben«, spöttelte Feldman. »Ja«, sagte Litti, dem das Scherzhafte an Feldmans Bemerkung offenbar entgangen war, »Schwarz ist angebracht.« Cissy zog hinter dem Rücken des Kardinals die Augenbrauen hoch und machte Feldman gegenüber eine Geste übertriebener Vornehmheit. Feldman, der keinen Frack besaß, zog ein Gesicht, nahm 363
sich aber vor, morgen früh einen zu beschaffen. Litti erläuterte dann den allgemeinen Zeitplan für den dreistündigen Besuch samt dem eineinhalbstündigen Treffen zwischen Jesa und dem Papst. Der Plan war sehr genau und bestimmte jeden einzelnen Schritt von der Ankunft bis zur Abreise. Eigentlich schien es, als habe Feldman keine Rolle außer der des Beobachters zu spielen, was ein wenig enttäuschend, ihm zugleich aber willkommen war. Trotzdem war er aufgeregt, daß er ein so verheißungsvolles Ereignis aus nächster Nähe sehen durfte. Als die Besprechung zu Ende war, nahm sich Feldman die Freiheit, dem aufgeschlossenen Kardinal noch eine persönliche Frage zu stellen. »Eure Eminenz, ich kann nicht umhin, mich zu fragen, welches Ziel dieses Treffen zwischen Jesa und dem Papst verfolgt. Was hoffen Sie dadurch zu erreichen?« »Ich kenne Nikolaus seit über fünfundvierzig Jahren, mein Sohn«, sagte der Kardinal, »seit meinen ersten Tagen in Rom als junger Seminarist. Ich kann Ihnen versichern, der Pontifex ist ein guter und ehrlicher Mann. Er sucht die Wahrheit. Und ich glaube fest, daß er Jesa erkennen und annehmen wird, wenn er sie erst einmal getroffen und die Wahrheit vom Messias selbst gehört hat. Ich hoffe sehnlichst, daß noch Zeit für eine Versöhnung zwischen Gott und den Menschen bleibt. Das ist es, was wir brauchen. Eine Annäherung zwischen Gott und seiner Kirche. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich die Heilige Mutter Kirche von der Wahrheit entfernt. Die volle, wahre Bedeutung von Christus' Lehren ist ihr abhanden gekommen. Gott ist verstimmt und zu Recht zornig. Aber wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn glaube ich fest an Gottes ewige Gnade und Vergebung. Ich bete, daß Gott seine Kirche mit offenen Armen wieder aufnimmt, wenn Nikolaus nur wahrhaftig bereut und willens ist, das Neue Wort Jesas anzunehmen. Das ist meine Hoffnung.« 364
80 IN DER NÄHE VON KAIRO, ÄGYPTEN, 6 UHR 30, SONNTAG, 19. MÄRZ 2000 Diesmal erwartete Jesa Feldman bereits, als er ankam. Wieder hatte sie nichts dabei, keine persönlichen Sachen oder Kleinigkeiten, die sie mitnehmen wollte. Nur ihr bewährtes weißes, rot und purpurrot eingefaßtes Baumwollgewand. Auf der kurzen Fahrt zu der Stelle, wo der Hubschrauber wartete, rutschte Feldman in seinem Frack unbehaglich hin und her und erwähnte die Formalitäten des Empfangs im Vatikan, an dem sie teilnehmen würden. Er hatte sie vor dem Treffen nicht informieren können und schlug wieder einmal taktvoll vor, daß sie sich überlegen solle, ob sie nicht im Flugzeug andere Kleidung anlegen wolle. Jesa dankte Feldman dafür, daß er daran gedacht hatte, lehnte aber ab. Als der Hubschrauber abhob und über den Rand des Flughafens hinausschwebte, sah Feldman im frühen Morgenlicht, daß die Massen, die anläßlich von Jesas Abflug zusammengekommen waren, im Vergleich zum letzten Mal nicht kleiner geworden waren. Es war jedoch ein deutlicher Unterschied in der Zusammensetzung der Menge festzustellen. Vor ihrem Auftritt in Salt Lake City waren sich die herbeiströmenden Massen in ihrer Unterstützung des kleinen Messias weitgehend einig gewesen. Jetzt gab es eine beträchtliche Gruppe von wütenden Protestierenden, die Jesa heftig zurückwiesen. Die Kairoer Polizei mußte eingesetzt werden, um ein Aufeinandertreffen der zwei Gruppen zu verhindern. Und das war nicht nur in Kairo so. 365
Ähnliches geschah überall in der Welt. Einige dieser Auseinandersetzungen waren nur verbal gewesen, aber zunehmend machte sich wieder Gewalt breit. Draußen auf dem Rollfeld, weitab vom Tumult, wartete das Düsenflugzeug von WNN. Der ungeduldige, tadellos gekleidete Kardinal Litti stand zusammen mit Hunter und Cissy, für die er doch noch Einladungen ergattert hatte, daneben. Litti, gänzlich erfüllt von der Tatsache, nun seinem Messias zu begegnen, benahm sich wie ein Oberschüler beim ersten Rendezvous mit der Tanzstundenkönigin, sprach ohne Unterlaß, stammelte schwärmerische Komplimente und hielt sich ergeben immer in nächster Nähe von Jesa auf. Als sie ins Flugzeug stiegen, bat er Feldman leise um einen Platz neben dem Messias, und der Journalist stimmte großzügig zu. Littis Verhalten amüsierte Feldman, und er war froh, als er feststellte, daß der Messias den Verehrer duldete und sehr liebenswürdig zu ihm war. Außerdem lernte er Kardinal Litti schon bald als äußerst gelehrte und einnehmende Persönlichkeit schätzen. Seine Fragen zu Philosophie und Religion waren spannend und provokativ, was seiner unbändigen Begeisterung für Jesa keinen Abbruch tat. Feldman wandte sich lachend an Hunter: »Wenn man den Ton abdrehen würde, könnte man meinen, er wäre dreizehn Jahre alt!« Während des Flugs hörten Cissy, Hunter und Feldman fasziniert zu, wie Litti den Messias mit einer ganzen Reihe theologischer Fragen konfrontierte. Feldman fand eine Diskussion, die sich auf die komplizierte, seit langem gefährdete Beziehung Gottes zu den Menschen bezog, besonders interessant. Es begann damit, daß Litti Jesa fragte, wie die Menschen von der Erbsünde freigesprochen werden könnten, wenn die etablierten Religionen hinfällig wären und es keine Priester mehr gäbe, die die Zeremonie durchführen konnten. Feldman wußte aufgrund seiner katholischen Erziehung, daß die Erbsünde eine ererbte moralische Schmach war, die allen Menschen 366
bei der Geburt zuteil wurde. Sie ging auf den Ungehorsam von Adam und Eva zurück, die dem Verbot zuwiderhandelten, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Als sie aus dem Garten Eden vertrieben wurden, war damit Adam und Eva und allen ihren Nachkommen der Zugang zum Himmel verwehrt, wenn sie nicht durch das Sakrament der Taufe von der Erbsünde befreit wurden. Jesa lächelte und schüttelte bei alldem den Kopf. »Du bist zu sehr vom Katechismus deiner Religion durchdrungen«, schalt sie Litti. »Die Taufe, wie viele Rituale des Alten und Neuen Testaments, ist ein Symbol, sie soll als physische Manifestation des Spirituellen dienen. Sie steht für die heilige Reinigung, die sich bei der bewußten Entscheidung des Menschen vollzieht, die Sünde abzulehnen und die Existenz Gottes anzunehmen. Daß dieser symbolische Akt eine solche Bedeutung bekommen hat, zeigt deutlich, warum der Mensch seine Glaubensbindung an die Gemeinde auflösen muß. Im Laufe der Zeitalter haben die Weltreligionen die wahre Botschaft ganz falsch interpretiert. Sie haben auf Tat und Zeremonie zu viel Wert gelegt, statt auf den eigentlichen Sinn zu achten.« »Aber«, verfolgte Litti seinen Gedanken weiter, »wie wird das hilflose kleine Kind von der Erbsünde befreit? Was ist mit den Kindern, die sterben, bevor sie die Reife haben, Gott verstehen und annehmen zu können? Wird ihnen die Gnade Gottes für immer vorenthalten? Ist die Taufe nicht notwendig zu ihrer Rettung?« Jesa schüttelte wieder den Kopf. »Der Irrtum liegt im Dogma der Erbsünde. Meinst du, der Vater ist so gefühllos und ungerecht, daß er den Unschuldigen die Belohnung des Himmels wegen der Handlungen ihrer Vorfahren entzieht? Die Erlösung, die im Alten Testament versprochen wird, soll jeden Menschen von den Folgen seiner eigenen Übertretungen, nicht von denen seiner Vorfahren erlösen. Der Mensch, aus Staub gemacht und dann aufgestiegen, braucht auf seinem Weg, bei seinem Fortschreiten zur Göttlichkeit die Lehre und Hilfe des Vaters. Christus kam weniger, um die Menschen 367
von der Sünde zu erlösen, als vielmehr, um ihnen den Weg zu zeigen.« »Du willst damit sagen«, rief Litti bestürzt, »daß über all diese Jahrhunderte hinweg die vielen Glaubensrichtungen der Welt alle von falschen Voraussetzungen ausgegangen sind?« »Keineswegs sind alle Grundsätze der Weltreligionen falsch«, antwortete Jesa. »Diese Prinzipien, die sich auf die Zehn Gebote und die allgemeinen Lehren von Abraham, Christus, Mohammed und den vielen großen Messiasfiguren gründen, bleiben gültig. Nur wo die unumschränkte Macht der Religion versucht hat, diese Prinzipien zu komplizieren, ist man in die Irre gegangen. Das Bedürfnis der Religionen, Gottes Willen zu erklären, gründet sich immer wieder auf dem Wunsch nach Macht. Indem man den Weg zu Gott schwierig gestaltet, machen sich die Religionen unabkömmlich für die, die die Rettung suchen. Die Gläubigen sind dann unwiderruflich an ihre Religionen gebunden, werden den Vorschriften und Abgabeleistungen unterworfen.« »Meinst du, daß alle Religionen versagt haben?« fragte Litti. »Die Religion, die von den Mitgliedern nichts für sich selbst verlangt, darf sich würdig nennen«, antwortete die Prophetin kategorisch. Wie glaubwürdig ihre Theologie auch immer sein mochte, Feldman mußte zugeben, daß diese umstrittene junge Prophetin zumindest genau wußte, was sie wollte. Feldman war noch nie in Italien gewesen, auch den Vatikan kannte er nur vom Hörensagen. Obwohl er darauf hingewiesen worden war, erstaunte ihn doch, wie winzig der kleine Staat aus der Luft erschien. Und wie schwach, da er nun von schätzungsweise vier Millionen Menschen umgeben war. Aber als der Hubschrauber zur Landung ansetzte und einen ge368
naueren Blick ermöglichte, mußte Feldman seinen Eindruck von Schwäche korrigieren. Der Vatikan war eine regelrechte Festung, von massiven, dicken und hochaufstrebenden Mauern umgeben. Um den Vatikan herum sah Feldman die aufgeregten Gesichter der Menschen, die winkten, riefen und nach oben deuteten. Er bemerkte auch, daß manche Gesten nicht als Willkommensgruß gemeint waren. Als sie aufsetzten, rückte Cissy ein letztes Mal Hunters Fliege zurecht, und alle traten hinaus in den hellen römischen Morgen. Am Ende eines langen Teppichs, der sich von den Stufen des Hubschraubers bis zum Ende des Landeplatzes erstreckte, stand ein offizielles Begrüßungskomitee. Darunter befand sich eine zwölfköpfige Abordnung der Schweizergarde in farbenfrohen, gelb-blau-roten Uniformen mit glänzenden Metallhelmen, Brustharnisch und gestärkten weißen Halskrausen sowie langen Hellebarden mit Eisenspitzen. Ein bleichwangiger, ernst aussehender Mann in vorschriftsmäßiger schwarzer Soutane und rotem Scheitelkäppchen, begleitet von der päpstlichen Ehrengarde, wurde von Litti als Kardinal Silvio Santorini vorgestellt. Die Gardisten präsentierten die gelb-weiße Fahne des Papstes, drehten sich mit militärischer Präzision auf dem Absatz um, und die Gruppe begann ihren langen Weg zur Peterskirche am entgegengesetzten Ende der Vatikanstadt. Die Route war auf beiden Seiten mit Samtkordeln abgesperrt, hinter denen sich Hunderte von Reportern mit Kameras, Blitzlichtern und laufenden Videokameras drängten. Trotz der Versuchung wagte es niemand, die Absperrung zu durchbrechen, da sofortige Ausweisung die Folge gewesen wäre. Zum ständigen Ärger sämtlicher Medien kam WNN diesmal wieder in den Genuß eines unfairen Vorteils. WNN übertrug nicht nur hinter den Absperrungen live wie die anderen Medien, sondern Hunter und Cissy hatten zusätzlich die Erlaubnis, im Mittelpunkt 369
des Geschehens das ganze Ereignis aufzunehmen. Bald würde der Welt ein weiteres WNN-Special präsentiert werden, das Aufnahmen aus nächster Nähe zeigen und die Einschaltquoten auf neue Rekordmarken steigen lassen würde. Von Anfang an nahm Santorini den wichtigen Platz zur Rechten des Messias ein, Litti ging links von ihr. Obwohl Feldman direkt folgte, war er nicht in der Lage, die Einzelheiten des leisen Gesprächs mit Jesa zu verstehen. Ab und zu erhaschte er Bruchstücke einer historischen Abhandlung, die klang, als werde sie von einem erfahrenen Professor vorgetragen. Auf Schritt und Tritt boten sich ihren Augen erlesene antike Gegenstände, kostbare Skulpturen oder berühmte Kunstwerke dar, die von Santorini gebührend kommentiert wurden. Majestätisch erhob sich vor ihnen die Peterskirche und schien mit jedem Schritt noch höher in den Himmel zu ragen. Feldman wurde von tiefer Demut ergriffen und fühlte förmlich »die verehrungswürdige Gegenwart eines geistlichen Lebens, das ohne Unterbrechung bis zu den Anfängen des Christentums zurückreicht«, wie Silvio Santorini es so passend ausdrückte. Aber Feldman hatte kaum Zeit, über diese bewegende Betrachtung nachzudenken, denn Jesa und ihre Begleiter wurden durch einen unauffälligen Eingang in einen Seitenflügel geführt und ließen Schweizergarde, Ehrengarde und einen frustrierten Pulk von Medienleuten hinter sich. Als seine Augen sich langsam an die Dunkelheit im Inneren gewöhnt hatten, sah sich Feldman erstaunt Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle gegenüber. Er sah neugierig zu, wie Jesa sich von ihren Begleitern löste und hinter den Altar trat, um das Fresko vom Jüngsten Gericht zu betrachten, das durch einen großen Riß beschädigt gewesen und kürzlich offenbar sorgfältig ausgebessert worden war. Die Gruppe verließ die Kapelle und wurde durch eine Reihe kunstvoll verzierter Höfe geführt. Es folgten mehrere Museumshallen mit kostbaren Gemälden, Statuen und 370
Wandteppichen. Endlich traten sie auf den prachtvollen Petersplatz hinaus. Hier holten die Medien, die Schweizergarde und der Rest der höfischen Begleitgruppe sie wieder ein. Der riesige Platz, so groß wie ein halbes Dutzend Fußballfelder, war völlig leer. Nur jene enge Stelle, an der die prächtigen Kolonnaden Berninis zusammenliefen, war durch ein dichtes Polizeiaufgebot mit Plexiglasschilden und Gummiknüppeln abgeriegelt. Dahinter drängten sich Massen begeisterter Zuschauer bis weit zu den entfernten Ufern des Tiber hinunter. Die Stelle, an der die Gruppe mit Jesa auf den Platz hinaustrat, lag ungefähr in der Mitte zwischen den Kolonnaden und der majestätischen Peterskirche. Als sie den langen, kopfsteingepflasterten Platz überquerten, erfuhren sie, daß dieser riesige Platz einst ein spektakulärer römischer Zirkus gewesen war, wo Gladiatoren zur Belustigung der Zuschauer um ihr Leben kämpften und Christen von wilden Tieren zerrissen wurden. In der Tat wurde auf diesem Platz der heilige Petrus selbst als achtzigjähriger Mann umgekehrt ans Kreuz geschlagen und in der sengenden Sonne dem qualvollen Tod überlassen. Auf den Stufen der Kirche erwartete sie eine Militärformation und eine weitere Gruppe der Schweizergarde mit Federbüschen neben der päpstlichen Ehrengarde in großer Aufmachung. Als sie einzeln angekündigt wurden, stellten sich die Gardisten zu beiden Seiten der Steinstufen auf, die in die Kirche führten. Santorini führte die Gruppe immer noch an, und Jesa und die anderen schritten durch das Spalier, gingen zwischen riesigen weißen Portalen und kunstvollen schmiedeeisernen Toren hindurch in die heiligen Hallen der größten Kirche der Welt. Die Wachen schlossen sich der Gruppe an. Drinnen war es dunkel und kühl wie in einer Höhle. Ein Eintritt in eine andere Welt. Als sie durch das breite, offene Kirchenschiff schritten, stand Feldmans Mund vor Staunen offen. Niemals zuvor hatte er solche Pracht gesehen. Die Stimmen des Julianischen Kna371
benchors klangen von den verschwenderisch geschmückten Loggien herab. Wenn es die Absicht des Papstes gewesen war, seine Besucher zu beeindrucken, so war ihm dies zweifellos gelungen. Zumindest im Falle von Feldman und seinen WNN-Kollegen, die offensichtlich von Ehrfurcht ergriffen waren. Wie Jesa dies alles wahrnahm, ließ sich nicht feststellen, denn ihre Miene blieb gelassen, ihre Haltung höflich, aber sie schien nicht sonderlich beeindruckt. So riesig die Kirche auch war, sie war gefüllt bis auf den letzten Platz – mit Vertretern sämtlicher katholischen Orden und Glaubensgruppen. Im Gegensatz zu den Menschenmassen draußen vor den Toren des Vatikans war die Atmosphäre hier von einer untadeligen Feierlichkeit. Gleichwohl ging von den Versammelten eine entschieden feindliche Stimmung aus. Feldman bemerkte mißbilligende Blicke auf den bleichen Gesichtern der Nonnen und Geistlichen. Und dann, als er die Gardisten hinter sich bemerkte, nahm Feldmans Unbehagen spürbar zu, während er immer tiefer in diese Hochburg kirchlicher Macht hineingezogen wurde. Unmittelbar vor der Prozession erhob sich ein riesengroßer, goldbronzen glänzender Baldachin, der eine Höhe von fast zwanzig Metern besaß und von vier spiralig gedrehten, dicken Säulen gestützt wurde. Der Baldachin stand direkt in der Mitte unter der großen, einhundertdreißig Meter hohen Kuppel des Doms und überspannte die erhöhte Plattform des Hochaltars. Vor dem Altar befand sich ein leerer Thron. Ein Kardinal in Weiß und Scharlachrot stand unbeweglich neben dem Thron, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Es war der respektgebietende Antonio di Concerci. Er betrachtete die herannahende Gesellschaft mit dem kalten, emotionslosen Blick eines kriegserfahrenen Generals, der seinen Feind vor der Schlacht einer Musterung unterzieht. Als Feldman näher kam, war er überrascht zu sehen, daß das, was 372
er für eine durch ein Gitter abgetrennte Fläche vor dem Altar gehalten hatte, sich als ein Durchgang zu einem unterirdischen Raum erwies, der ihm ein unheimliches Gefühl verursachte. Plötzlich wurde ihm klar, daß dies ein Teil der Katakomben war, des uralten Altars, der als mystisches Gefäß die Knochen des ersten Papstes von Rom enthielt. Als er in die düstere Tiefe hinunterstarrte, fühlte er einen kalten Luftzug von dort unten heraufziehen. Santorini ging um das Gitter herum und führte seine Prozession vor die Stufen, die zur linken Seite des Hochaltars hinaufführten, wo er anhielt. Er wandte sich denen zu, die ihm folgten, und hob die Hand, als wolle er etwaige Fragen abwehren, beugte das Haupt, senkte den Blick und faltete schließlich die Hände zum Gebet, was Kardinal Litti dann ebenso tat. Feldman bemerkte, daß auch Jesa die Augen in schweigender Meditation geschlossen hatte. Da sie kaum eine Alternative hatten, blieben Feldman und der Rest der Begleiter stehen und warteten geduldig, was nun folgen würde. Einige Reihen hinter Feldman machte sich Hunter an seiner Kamera zu schaffen und drehte Details der Basilika, während Cissy auf ihrem tragbaren digitalen Tonbandgerät die Klänge des Julianischen Chores aussteuerte. Plötzlich verstummte der Chor, und mit einem lauten, metallischen Ton öffneten sich die hohen Bronzetüren an der Seite der Sakristei. Der Chor brach in eine jubelnde Hymne aus, und das Publikum erhob sich, während die Reporter an die Absperrungen herandrängten. Durch die Bronzetüren trat zuerst der päpstliche Zeremonienmeister in einem weiß-schwarzen Gewand, flankiert von zwei Bevollmächtigten der kirchlichen Kollegien und zwei Gardisten. Ihnen folgte, in Dunkelbraun gekleidet, der Kapuzinerprediger des Heiligen Stuhls. Dann der Beichtvater des Papstes, in tiefstem Schwarz; ihm folgte eine Reihe von Monsignori in kräftigem Rot, eine Gruppe von apostolischen Protonotaren in Weiß und ein Kaplan, der die Mitra des Papstes trug. Als nächstes kamen sechs Rich373
ter der Rota Romana und Vertreter des Gerichts, die Kerzen trugen, gefolgt von zwei Diakonen, einem der Westkirche und einem der Ostkirche; danach Äbte, Bischöfe, Erzbischöfe und Patriarchen, hinter denen zwei Geistliche mit blumengeschmückten Stäben schritten. Es schloß sich das ganze Kollegium der Kardinäle in leuchtendroten Gewändern an. Schließlich folgten die päpstlichen Kammerherren in ihrer Galauniform, die auf den Schultern die sedia gestatoria trugen – die königliche Sänfte mit Seiner Heiligkeit, dem Vikar von Rom, dem zweihundertundneunundsechzigsten Nachfolger von Sankt Peter, Papst Nikolaus VI. Der Pontifex war angetan mit einem weißen, wallenden Gewand aus feinster Seide und kurzem Schulterkragen aus rotem Samt. Auf seinem Haupt trug er die prächtige dreistufige Tiara, die einst im Besitz seines Vorgängers und Namensvetters Nikolaus V. gewesen war. Das polierte Gold glänzte, und tausend Rubine, Smaragde, Saphire, Diamanten und Perlen funkelten. Über der Tiara schwebte ein weißer, von drei Monsignori gehaltener Baldachin, flankiert von zwei Dienern mit großen Fächern aus weißen Straußenfedern. Hinter dem Aufzug folgte mit einem Satinkissen der Dekan der Rota, der die schwere Tiara trug, wenn sie nicht benutzt wurde. Am Ende kam der Haushofmeister des Papstes, dann eine Auswahl weiterer Würdenträger und endlich die Vorsteher aller edlen religiösen Orden. Der lange Zug bewegte sich langsam auf den Hochaltar zu, während der Papst gütig den Gläubigen den Segen erteilte und sie mit kleinen Handbewegungen begrüßte. Als sich der Baldachin zum Altar hinaufbewegte, eilte ein Bettelmönch, der aus dem Nichts zu kommen schien, mit einer kleinen Treppe heran, die mit einem goldenen Teppich bedeckt war, und stellte sie neben der Sänfte auf. Der Papst nahm die schwere Tiara ab, reichte sie dem Dekan der Rota und stieg etwas unbeholfen aus der Sänfte. Der Chor setzte 374
seine Gesänge fort, bis der Papst zum Altar hinaufgestiegen war und sich auf seinen Thron gesetzt hatte. Drei volle Minuten hielten der Beifall und die unterdrückten Jubelrufe an, bevor der Papst die linke Hand leicht von der Lehne hob und um Ruhe bat. Breck Hunter und Cissy postierten sich, ohne daß sie jemand daran gehindert hätte, direkt neben ihm an der Seite des Hochaltars, um alles aus der Sicht eines Meßdieners verfolgen zu können. Sobald in der großen Kirche Ruhe eingetreten war, schritt der Zeremonienmeister des Papstes die Stufen des Altars hinauf und beugte sich leicht zu Nikolaus hinüber. »Heiliger Vater, dürfen wir um Euren Segen für die hier Versammelten bitten?« Der Pontifex bekreuzigte sich und flüsterte etwas in Latein. »Heiliger Vater«, begann der Zeremonienmeister den nun folgenden Vorstellungsreigen, »Kardinal Silvio Santorini, Leiter der heutigen Delegation.« Santorini stieg die Stufen hinauf und ließ sich vor dem Thron auf ein Knie nieder, während Nikolaus ihm seine Hand entgegenhielt. Santorini küßte den Ring Petrus', erhob sich wieder und ging auf der rechten Seite zur untersten Stufe zurück, um sich dann genau gegenüber der Stelle zu befinden, an der er vorher gestanden hatte. Di Concercis Gesicht war unbewegt, als er neben dem Papst stand, aber er hielt die Hände hinter dem Rücken fest ineinander verkrampft. Die innere Verfassung des Papstes ließ sich an seiner besorgt gerunzelten Stirn ablesen. »Kardinal Alphonse Litti«, verkündete der Zeremonienmeister. Der beleibte Kardinal schritt energisch zum Thron hinauf. Genau wie di Concerci vorausgesagt hatte, beugte Litti die Knie und küßte den Ring seines Papstes. Nikolaus zwinkerte ihm leicht zu, Litti antwortete mit einem Lächeln und ging die Stufen wieder hinab, um sich zu Santorini zu gesellen. Im Gefolge des Papstes 375
stellte ein Kammerherr einen Stuhl zurecht, der vermutlich für Jesa vorgesehen war. Er wartete noch damit, den Stuhl beim Altar aufzustellen, bis die Prophetin angekündigt wurde. »Eure Heiligkeit«, sprach der Zeremonienmeister wieder, »mit der Bitte um Eure Audienz, Lady Jesa aus Israel.« Bis jetzt war die Prophetin der Zeremonie gegenüber gleichgültig geblieben; sie hielt den Kopf zur Seite geneigt, als beschäftige sie etwas. Di Concerci löste seine Hände hinter dem Rücken und ließ sie langsam seitlich heruntergleiten. Der Papst rutschte in seinem Stuhl nervös nach vorn, die Hand mit dem Ring war bereit. Feldman fragte sich, wie Jesa wohl auf die überwältigende Zurschaustellung von Pomp und Macht reagieren würde. Er mußte nicht lange warten. Als ihr Augenblick gekommen war, ging die Prophetin langsam die Stufen hinauf. Der Pontifex beugte sich erwartungsvoll nach vorn und streckte der auf ihn zukommenden Frau seinen Arm entgegen. Die Videokameras liefen, und die Blitzlichter klickten, um den historischen Augenblick einzufangen. Während die Erlöserin hinaufstieg, hob sie den Kopf und sah zum ersten Mal dem Papst direkt in die Augen. Ihr Blick traf ihn mit voller Macht. Trotz di Concercis Warnung war Nikolaus auf die vernichtende Wirkung nicht vorbereitet. Er erschrak, keuchte und zog mit einer schnellen Reflexbewegung den Arm zurück, wandte das Gesicht ab und hielt die gespreizten Hände schützend vor die Augen. Für die erstaunten Zuschauer sah es aus, als sei der Papst eingeschüchtert, und seine Bewegung wirkte wie eine Geste der Demut. Schnell, mit einer fast instinktiven Reaktion, trat di Concerci vor, um seinem Papst zu helfen, aber Nikolaus hatte sich bereits erholt. Der Papst warf durch die Finger einen verstohlenen Blick auf die Prophetin, die jetzt die Höhe des Hochaltars erreicht hatte und auf 376
den Thron zuging. Jesa stand nicht viel weiter als einen Meter von ihm entfernt und schaute mit seitlich geneigtem Kopf auf ihn nieder, als mustere sie ihn sorgfältig. In der riesigen Basilika war kein einziges Geräusch zu hören. »Ich bin nicht gekommen, um dem Ring Petrus' zu huldigen«, rief sie laut, die Hände herausfordernd in die Hüften gestemmt. »Ich bin gekommen, um ihn im Namen des lebendigen Gottes zurückzufordern!« Der Papst war fassungslos. Alphonse Litti, voller Angst und Verzweiflung, fiel am unteren Ende der Altarstufen auf die Knie. Mit einem empörten Blick versuchte di Concerci einzugreifen, aber es war offensichtlich, daß Jesa nicht zurückweichen würde. Ihre Augen blitzten leidenschaftlich, mit einer erhobenen Hand warnte sie den Präfekten, und die andere Hand richtete einen anklagenden Finger auf den verwirrten Papst. »Deine Kirche hat dem allmächtigen Gott die Treue gebrochen«, erklärte sie. »Sie hat den geheiligten Bund Peters verraten. Sie mißbraucht seit zwei Jahrtausenden das erhabene Vertrauen Christi. Seit Jahrhunderten hat sie in ihrer Gier nach Macht und Einfluß die Heilige Schrift für ihre eigennützigen Zwecke verfälscht. Heuchlerisch predigt sie ihren Anhängern Wasser und trinkt selbst den Wein. In ihrer Eifersucht und Engstirnigkeit hat sie die heiligen Männer und Frauen, die Gott geschickt hat, um sie zu erleuchten, zum Schweigen gebracht und vernichtet. In ihrer Überheblichkeit hat sie die Botschaften und Warnungen des Vaters unbeachtet gelassen. Und in ihrer Habgier und dem Streben nach weltlichen Gütern hat sie Reichtum angehäuft auf Kosten der Armen, die zu lieben und zu pflegen sie eingesetzt wurde.« Jesa senkte den anklagenden Finger ein wenig, um ihn auf die Hand des Papstes zu richten. »Wieviel ist dieser Goldring wert, den ich küssen soll?« Der Papst antwortete nicht, er starrte sie nur ausdruckslos an. »Und welchen Wert hat ein Leben?« fragte sie, ließ aber gleich die 377
Antwort folgen. »Wenn der Verkauf dieses Ringes auch nur die Existenz eines Menschen sichern würde, wenn er auch nur ein Leben retten könnte, wäre dann sein Wert nicht tausendmal so groß? Und wenn dieser Ring tausend Menschen ernähren könnte, würde sein Wert nicht auf tausend mal tausend anwachsen? Hat Christus nicht gesagt: ›Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.‹ Aber ihr, die ihr euch ›Gottes Auserwählte auf Erden‹ nennt und ›die eine heilige apostolische Kirche‹, habt große Güter und Landbesitz, habt euch mit der gewaltigsten Anhäufung von Schätzen auf der Erde umgeben!« Der Papst saß wie erstarrt auf seinem Thron. In seiner Miene spiegelten sich tiefer Schmerz und Bestürzung, während Jesa vor der ganzen Welt ihre Kritik verkündete. Da der Papst offensichtlich nicht in der Lage war, den Angriff abzuwehren, trat der erschrockene Kardinal di Concerci der Prophetin entgegen. »Die Kirche ist lediglich die Wächterin jener geheiligten Schätze«, bemerkte er verärgert und riß unter dem Blitzlichtgewitter der Fotoapparate die Kontrolle an sich. »Unsere wunderbaren Kunstwerke sind bedeutende religiöse Symbole, die Millionen von Gläubigen zur Frömmigkeit und zum Gebet inspiriert haben. Über Jahrhunderte hinweg haben sich die Gläubigen in ihrer Gegenwart der Kontemplation hingegeben. Die Erschaffung jedes dieser Meisterwerke geschah ausschließlich zur Ehre und zum Ruhm Gottes.« Von den vollbesetzten Galerien erschollen ermutigende »Amen« und »Hallelujas«. Aber Jesa blieb standhaft. »Werden auch die Hungernden, die Kranken und die Nackten dieser Welt durch eure Kunstwerke inspiriert?« fragte sie. »Sind die unschätzbaren Werke der heidnischen Antike, der Griechen, Römer und Ägypter, in eurem Museo Profano ebenfalls religiöse Werke, die zum Gebet anregen? Und wie rechtfertigt ihr den gewaltigen Reichtum all der päpstlichen Institu378
tionen, deren Schätze unter strengster Geheimhaltung gehortet werden? Den immensen Besitz an Immobilien, den ihr überall in der Welt anhäuft? Ich sage euch, der Vater schätzt nicht Güter, sondern Güte. Er braucht euren Tribut nicht, er will ihn nicht. Der Allmächtige ist weder bestechlich noch eitel. Ihr könnt ihm nicht schmeicheln mit all dieser vergänglichen Pracht. Hat Christus Reichtum oder Glanz gesucht? Ihr erwerbt diese ganzen Schätze, um euch selbst zu bereichern. Wie kommt es, daß eure prächtigen Kirchen mehr Ehrfurcht einflößen als die Wälder, Berge und Altäre der offenen Felder, die Gott selbst für euch geschaffen hat? Seht«, rief sie, breitete die Arme aus und zeigte auf das gewaltige Ausmaß der Basilika, »mein Haus ist das Haus der Gläubigen, ihr aber habt es zu einem Tempel für euch selbst gemacht!« Di Concerci, der immer wütender wurde, schlug nun zurück. »Dein Haus?« brach es voller Entrüstung aus ihm heraus, und er ließ die Frage einen Augenblick lang wirken. Dann sagte er, mit einem flehentlichen Blick in die Kameras: »Sind das nicht die Phantasien einer Größenwahnsinnigen? Diese junge Frau ist selbstgerecht, wenn nicht gar eine Betrügerin. Und obendrein so unwissend, daß sie nur die Oberfläche, nicht aber das Eigentliche sieht.« Der Präfekt wandte sich wieder an Jesa: »Du irrst dich, und für den wahren Zweck und die Güte der Heiligen Mutter Kirche bist du blind. Du kennst weder ihre zahlreichen Wohlfahrtseinrichtungen, in denen die Leidenden der Welt ernährt, gekleidet, gepflegt und geheilt werden, noch ihre wohltätigen Missionare, Hospitäler, Waisenhäuser und Schulen!« Jesa sah ihrem Gegner fest in die Augen. »Es ist nicht so, daß ich über die guten Taten deiner Kirche nicht Bescheid weiß«, sagte sie. »Aber sie beeindrucken mich nicht. Die wohltätigen Dienste, die ihr verrichtet, sind nur ein Bruchteil von dem, was Gott euch aufgetragen hat, und das wenige, das ihr von euren unermeßlichen Reichtümern den Armen gebt, ist kaum der Rede wert. Gottes Ge379
duld geht zu Ende!« Kardinal di Concerci, dessen Geduld ebenfalls erschöpft schien, nickte dem verzweifelten Kardinal Santorini zu, der sich daraufhin dezent vom Schlachtfeld entfernte. Endlich löste sich Nikolaus VI. aus seiner Erstarrung. »Jesa«, rief er mit stockender Stimme, und Jesa wandte sich ihm langsam zu. »Ich muß dir in aller Aufrichtigkeit sagen, daß unsere Bemühungen im Dienste des Herrn wahrhaftig und treu gewesen sind. Warum willst du die katholische Kirche dermaßen bloßstellen? Glaubst du wirklich, daß die ehrlichen Bemühungen so vieler engagierter Menschen Gott so sehr enttäuscht haben, wie du es darstellst?« Feldman meinte in Jesas bisher todernster Miene eine leichte Besänftigung zu erkennen. »Wenn meine Worte schroff ausfallen«, antwortete sie, »so nur deshalb, weil ihr nicht in der Lage zu sein scheint, etwas anderes zu verstehen. Ich behaupte nicht, daß eure Religion die größte Irrlehre ist. Es gibt viele andere, die ihre Anhänger noch weiter vom rechten Weg abgebracht haben. Aber die katholische Kirche ist nun einmal das ursprüngliche Gefäß des christlichen Gedankenguts und die erste Kirche, die von Christus dazu auserkoren wurde, sein Wort zu verbreiten. Deshalb trägt die katholische Kirche die größte Verantwortung für die Abwege, auf die die Christenheit geraten ist. Weil sie die Bitten der Boten des Herrn jahrhundertelang mißachtet hat und den Verlockungen der materiellen Welt nicht widerstand, deshalb ist die katholische Kirche für die großen Schismen verantwortlich, die die Christenheit in jene unzähligen Sekten geteilt haben, die nun weltweit ihr Unwesen treiben. Nach zwei Jahrtausenden und den vielen Warnungen durch Gottes heilige Boten ist eure Zeit jetzt abgelaufen. Der Allmächtige fordert von euch zurück, was er euch gegeben hat. Was euch bleibt, sind eure wohltätigen Organisationen, mit denen ihr die körperlichen Gebrechen der Menschheit lindern könnt. Eure geistliche Autorität aber exis380
tiert nicht mehr.« Sie hob mahnend den Zeigefinger und rief laut: »Im Namen des lebendigen Gottes befehle ich dir, alles, was dir im Laufe der Zeit gegeben wurde, an die Armen abzutreten. Gib Reichtum und Besitz auf. Verlasse deinen Thron, löse deine geistlichen Ämter auf und predige nicht länger deine falschen Lehren. Wandle nicht länger auf deinen Irrwegen. Ich warne dich zum letzten Mal: Gehorche dem Willen Gottes, oder du wirst vernichtet werden!« Der Papst saß kreidebleich auf seinem Stuhl. Obwohl Feldman das Ganze bedrückend fand, bewunderte er die Unerschrockenheit des Messias angesichts der Zahl ihrer Gegner. Sie stand allein, ihr einziger Beistand war Kardinal Litti, der jetzt jedoch selbst hilflos und verloren wirkte. Und dennoch hatte die Prophetin – wie schon in Salt Lake City – die Kontrolle über die Versammlung übernommen. Feldman ahnte jedoch nicht, daß di Concerci bereits einen weiteren Schachzug im Spiel um die Macht vorbereitet hatte. Kardinal Santorini war in Begleitung eines päpstlichen Kammerherrn zurückgekommen, der ein großes, flaches, schwarz eingewickeltes Paket trug. In Santorinis Händen lag unheilverkündend ein braunes, ledergebundenes Buch.
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81 PETERSKIRCHE, VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 13 UHR 17, SONNTAG, 19. MÄRZ 2000 Wie hatte Antonio di Concerci auf diesen Augenblick gewartet! Nun trat er, mit dem belastenden Beweisstück in seinen Händen, auf seine Gegnerin zu. »Jesa!« rief er so laut, daß die gesamte Versammlung aufschreckte. »Seine Heiligkeit hat dich als Gast hier willkommen geheißen, und du beleidigst ihn. Er erweist dir Ehrerbietung, und du klagst ihn an. Geduldig hat er deine Vorwürfe ertragen – Beschuldigungen, die jeder Grundlage entbehren. Du klagst ihn nur mit Worten an – mit Worten, die hohl, falsch und voller Bitterkeit sind! Du bestehst darauf, die eingeborene Tochter Gottes zu sein, ein neuer Messias mit dem göttlichen Auftrag, über die Weltreligionen zu richten. Du kommst nach Rom und wagst es, das Vermächtnis Christi zu bedrohen. Mit ein paar Worten und einer Handbewegung willst du eine geheiligte apostolische Autorität beenden, die sich seit zweitausend Jahren ohne Unterbrechung direkt von Christus selbst herleitet! Seit zwei Jahrtausenden hat die Kirche Unterdrückung und Verfolgung in vielerlei Form erlitten. Durch die Gnade Gottes haben wir immer gesiegt. Und heute werden wir wieder durch die Gnade Gottes siegen.« Er trat auf sie zu, und vor seiner hoch aufragenden Gestalt wirkte Jesa plötzlich sehr klein. »Jesa, so wie du uns angeklagt hast, sehen wir uns jetzt gezwungen, dich zu verdammen. Aber anders als du werden wir unsere Anklagen mit unwiderlegbaren Beweisen untermauern. Wir haben eine 382
unbestreitbare Bestätigung, daß du nicht bist, wer du zu sein behauptest. Daß du nicht der Messias bist und auch keine Prophetin. Daß du nicht von Gott kommst, sondern einem Wahn erliegst. Du bist Teil eines Betrugs von einer Größenordnung, wie ihn die Welt noch nie erlebt hat!« Mit einer theatralischen Geste wies di Concerci auf den verhüllten Gegenstand, den der Kammerherr in seinen Händen hielt. »Sieh diese Fotografie an, Jesa, und sage mir, wer diese Leute sind.« Der Kammerherr schlug das Tuch zurück. Jesa hatte ihre Augen bei dieser Aufforderung leicht zusammengekniffen und schaute sehr konzentriert. Ihr Blick wanderte langsam vom Kardinal zu der Vergrößerung einer Fotografie, die Santorinis Helfer für alle sichtbar hochhielt. Unter den Zuschauern kam Unruhe auf, da große Teile des Publikums das Bild nicht gut sehen konnten. Feldman stöhnte auf. »Sage uns, Jesa, wer diese Leute sind«, verlangte di Concerci wieder. Jesa schwieg. Außer einem konzentrierten Stirnrunzeln war ihr keine Gefühlsregung anzumerken. »Vielleicht sollte ich dich aufklären, Jesa«, bedrängte sie der Kardinal. »Wie die Welt jetzt erfahren wird, geht es bei der Geschichte deiner wahren Herkunft um sehr viel mehr als um das, was in jenem Sensationsbericht im Fernsehen zu sehen war. Beginnen wir damit, dir deine wirkliche Familie vorzustellen. Deine wahre Familie. Die Frau hier links auf dem Foto ist deine genetische Mutter, Anne Leveque. Die Frau hier rechts ist deine biologische Mutter und eineiige Zwillingsschwester, Marie Leveque. Und der Mann in der Mitte ist dein Schöpfer. Die Person, die dich mit Hilfe der Wissenschaft aus Reagenzgläsern und Inkubatoren erschaffen hat. Dein genetischer Vater, der verstorbene Josef Leveque, ein begnadeter Biologe im Dienste des israelischen Verteidigungsministers Shaul Tamin.« Jesas durchdringende Augen, die auf das Bild des großen weißhaarigen Mannes auf dem Foto geheftet waren, verdüsterten sich zu383
sehends. »Josef Leveque ist der Mann, der für deine hochgeschätzten Geistesgaben verantwortlich ist. Der Mann, der deinen Geist mit einem umfangreichen Schatz an Wissen – angeblich durch einen einzigartigen Prozeß passiver Gedächtnisbildung – angefüllt hat. Diese Erklärung stimmt jedoch nur zum Teil. Wie wir jetzt wissen, verbirgt sich hinter deiner wunderbaren Intelligenz ein viel folgenschwereres Geheimnis.« Di Concerci deutete mit einer dramatischen Geste auf Santorini. »Hier liegt die Wahrheit, Jesa«, erklärte er, »in Josef Leveques eigenen Worten, in diesen Aufzeichnungen, seinem persönlichen Tagebuch, das er bis kurz vor seinem Tod bei der Explosion im Negev Forschungsinstitut geführt hat.« Eifrig hielt Santorini das Tagebuch hoch und präsentierte es mit einer langsam kreisenden Bewegung nach allen Seiten. Er öffnete die Seiten und blätterte sie schnell durch, während die Journalisten und das Publikum es voller Erstaunen anstarrten. Hunter, der sich auf die zweite Altarstufe vorgedrängt hatte, zoomte das Tagebuch mit seiner Kamera heran. »Shaul Tamins Ehrgeiz ging über den Frevel, künstlich erzeugte Menschen heranzuziehen, weit hinaus, wie wir hieraus ersehen können.« Eindringlich sah di Concerci die bedrängte Prophetin an und begann sie wie ein Raubtier, das genüßlich den Todeskampf seiner Beute beobachtet, zu umkreisen. »Das hier ist der Bericht darüber, wie dein Vater dich geschaffen hat, Jesa. Nicht nach Gottes Bild und ihm ähnlich, sondern nach einem gotteslästerlichen Plan des Militärs. Aus diesen Aufzeichnungen erfahren wir endlich den wahren Zweck der niederträchtigen Experimente Tamins. Er hatte den ehrgeizigen Plan, menschliche Computer für militärische Zwecke zu entwickeln. Übermenschliche Soldaten, Roboterwesen, mehr Maschine als Mensch. Verbrecherische Experimente, deren einzige 384
Überlebende du bist, Jesa. In Wirklichkeit manipulierte dein Vater nicht nur deinen Geist, Jesa. Im Trotz gegen Gott selbst versuchte er sogar die Struktur deines Gehirns zu ändern! Tief in deine Gehirnhälften sind dreizehn gotteslästerliche, von Menschen konstruierte Vorrichtungen eingelassen. Dreizehn Mikrochips aus Silikon, durch die deine künstliche Intelligenz fließt.« Santorini öffnete jetzt das Tagebuch und zeigte eine Handzeichnung der dreidimensionalen Darstellung eines menschlichen Gehirns. Über das ganze Bild waren dreizehn briefmarkengroße Quadrate verteilt. Mit erhobenem Zeigefinger versuchte di Concerci Jesas Aufmerksamkeit auf die Zeichnung zu lenken, aber sie starrte weiter auf das Bild ihres verstorbenen Vaters. »Diese verwünschten Mikrochips«, rief der Präfekt, »sind die Quelle all jener Wahnvorstellungen, die du als Mission Gottes deutest. Aber im Gegensatz zu dem, Jesa, was dein gewaltsam veränderter Verstand dir sagt, bist du nicht die Empfängerin einer göttlichen Berufung. Und anders als deine Anhänger glauben mögen, wurdest du nicht durch einen von Gott gesandten Blitzschlag von der niederträchtigen Gabe gereinigt, die dir im Labor mitgegeben wurde. Leider wirkt dieses künstlich eingepflanzte Übel noch immer tief in deinem Innern.« Feldman hatte gewußt, daß es früher oder später dazu kommen mußte. Daß diese unschuldige, ahnungslose junge Frau, die er zu bewundern und respektieren gelernt hatte, eines Tages mit dieser trivialen, beunruhigenden Wahrheit über sich selbst konfrontiert werden würde. Aber Feldman hätte sich kein grausameres und vernichtenderes Ende ihrer Mission vorstellen können. Hier, im Zentrum ihrer Feinde, mitten auf der Bühne und vor den Augen der ganzen Welt. Sein Herz wurde schwer, und er hoffte, daß es bald zu Ende sein möge. Erleichtert stellte er fest, daß der Präfekt seine verheerende Suada gegen den scheinbar hilflosen Messias beendet hatte. Di Con385
cerci appellierte nun direkt an die auf ihn gerichteten Kameras wie an ein Schiedsgericht. »Menschen der Welt«, mahnte er, »es ist an der Zeit, Verwirrung, Angst und Streit zu beenden. Es ist Zeit, die falschen Auslegungen, die euch aufgetischt worden sind, als das zu sehen, was sie sind. Die Visionen, die diese verwirrte Frau im Geiste vor sich sieht und von denen sie glaubt, sie kämen von Gott, sind in Wirklichkeit künstliche Bilder. Sie wurden ihr zu einem finsteren Zweck eingeflößt, der sogar vor ihrem Vater geheimgehalten wurde. Machen wir alldem nun ein Ende. Alle Furcht, Qual und Angst soll aufhören. Dieser unselige Plan, wozu immer er ursprünglich dienen sollte, ist erledigt. Sabotiert, zerstört, bloßgestellt. Und von seiner Asche ist nichts übriggeblieben außer diesem armen, gestörten Testsubjekt. Das Experiment ist mißlungen. Diese einsame, bemitleidenswerte junge Frau mit ihren großartigen messianischen Vorstellungen ist von einem Wahn verfolgt.« Er machte eine wirkungsvolle Pause, damit das Publikum die Wucht seiner vernichtenden Enthüllung aufnehmen konnte. Dann holte der Kardinal tief Luft, sah zu seinem Opfer hinüber und schenkte ihm einen freundlichen, wohlwollenden Blick. »Mit der Preisgabe dieser Tatsachen wollte ich nicht über Gebühr grausam zu dir sein, Jesa. Wir sind uns alle darüber im klaren, daß du für deine Taten nicht verantwortlich bist. Trotzdem haben der Ernst der Lage in der Welt und Aufruhr und Gewalt, die durch deine törichte Botschaft ausgelöst wurden, es erforderlich gemacht, dieser Überspanntheit entschieden Einhalt zu gebieten.« Er ging auf Jesa zu und streckte ihr beide Hände entgegen. »Im Namen Gottes, Jesa, wirst du nun zusammen mit mir hier in Christi heiligster Kirche niederknien und mit uns allen um Gottes Segen und Befreiung von diesem langen Alptraum bitten?« Jesa schwieg und verharrte in völliger Regungslosigkeit. Nur ihre traurigen Augen blickten ständig zwischen den zur Schau gestellten Objekten hin und her. 386
Nach einer geraumen Weile richtete sie einen verächtlichen Blick auf ihren Widersacher, trat zur Mitte des Altars und wandte sich direkt an die versammelte Menge. Sie schloß die Augen, ballte die Fäuste vor der Brust und zitierte mit lauter Stimme aus dem Evangelium des Matthäus: »›Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine und alles Unflats! Also auch ihr: von außen scheinet ihr vor den Menschen fromm. Aber inwendig seid ihr voller Heuchelei und Untugend. Ihr Schlangen, ihr Otterngezüchte! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen? Darum siehe, ich sende zu euch Propheten und Weise und Schriftgelehrte; und ihr werdet sie nicht empfangen, sondern geißeln in euren Schulen und werdet sie verfolgen von einer Stadt zur andern.‹« Jesa öffnete die Augen, aber in ihrer Stimme lag wie zuvor Entrüstung und Nachdruck. »Ich sage euch, es ist nicht wichtig, woher die Wahrheit kommt, ob sie künstlich eingepflanzt oder ob sie von Gott selbst inspiriert ist. Daß es die Wahrheit ist, das allein ist wichtig.« »›Es ist nichts außerhalb des Menschen, das ihn könnte gemein machen, so es in ihn geht; sondern was von ihm ausgeht, das ist's, was den Menschen gemein macht. Hat jemand Ohren, zu hören, der höre!‹« Mit diesen Worten aus dem Markusevangelium wandte sich Jesa energisch dem Papst zu, der die ganze Zeit in seiner mißlichen Lage auf dem Thron gesessen hatte. Mit ausgestrecktem Arm und gen Himmel gerichtetem Zeigefinger rief sie: »So wie Gutes vom Bösen kommen kann und Böses vom Guten, so soll nun die Wahrheit verkündet werden: Seht, an diesem Tag, zu dieser Stunde, in diesem 387
Augenblick fordert Gott von dieser Kirche für immer seine Schlüssel zum Königreich des Himmels zurück. Euer Bund mit Christus besteht nicht mehr. Aufgelöst ist auch der Bund mit Petrus. Und nun soll der Felsen, auf dem diese Kirche steht, die Grundfeste des Hauses Gottes auf Erden, die unbeschadet zweitausend Jahre gestanden hat, zerschlagen werden!« Ihr erhobener Arm sauste herab, bis ihr vernichtender Finger direkt auf die Mitte des Hochaltars gerichtet war. Dabei ertönte ein tiefes, hallendes Grollen, das die Luft zu spalten schien. Mit einem fürchterlichen Donnerschlag brach die dicke, mittlere Steinplatte des Altars auseinander, stürzte krachend zu Boden, zersplitterte, und kleine Marmorstücke schlitterten über den polierten Fußboden der Basilika. Sofort war die ganze Kirche in Aufruhr, und Jesa tat nichts, um die Menschen zu beruhigen. »Kommt, ihr Augen der Welt«, wandte sie sich an die erstaunten Journalisten. »Kommt und werdet Zeugen der Enthüllung der Wahrheit durch Gott!« Sie sprang die Altarstufen hinunter zur nördlichen Sakristeitür, während der verstörte di Concerci und der schwer mitgenommene Papst verblüfft zurückblieben. Die Schweizergarde blickte nervös auf den Pontifex und den Kardinal und wartete auf deren Weisung. Die Journalisten nahmen die Verfolgung auf. Den Kamerateams, die live übertrugen, war es aufgrund ihrer Verkabelung unmöglich, dem dahineilenden Messias zu folgen. Nicht aber den Journalisten von der schreibenden Zunft, die schnell die Jagd aufnahmen. Auch Feldman, Hunter und Cissy mußten sich trotz ihrer mobilen Videoausrüstung mächtig anstrengen, sie einzuholen. Jon Feldman war vollkommen überwältigt von dem, was gerade geschehen war. Hunter keuchte neben ihm her, die Kamera auf der Schulter, und sah seinen Freund erstaunt an. »Mein Gott«, schnaufte er, »ist das zu fassen? Nach der bösen Attacke des Kardinals sagte ich gerade zu Cissy: ›Nur ein Wunder kann die Kleine diesmal ret388
ten!‹ Donnerwetter!« Und sie rannten Hals über Kopf hinter dieser unglaublichen Frau her. Das Blatt hatte sich wieder zu ihren Gunsten gewendet. Feldmans Herz raste in seiner Brust, aber nicht vor Erschöpfung, sondern vor Erregung, als er mitrannte, ohne zu wissen, wohin und warum. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Der Altar glich einem Trümmerfeld. Mit versteinertem Gesicht ergriff di Concerci den zitternden Arm des fassungslosen Papstes, um ihm vom Thron zu helfen. »Papa«, sagte er, »ich werde der Schweizergarde Anweisung geben, dieser Frau Einhalt zu gebieten.« »Nein«, antwortete der Pontifex mit erschütterter Stimme und starrte in die Richtung, in die Jesa verschwunden war. »Sagen Sie der Wache, sie soll sich zurückziehen. Wir wissen nicht, womit wir es hier zu tun haben, Antonio, und ich will diese Frau nicht weiter gegen uns aufbringen. Sollte sie tatsächlich der Bote Gottes sein, dann lassen wir sie doch ihre Wahrheit enthüllen, was immer das sein mag. Und dann möge sie uns so schnell wie möglich verlassen!« Nachdem sie die große Kirche verlassen hatte, bog Jesa rechts ab, lief an der Sixtinischen Kapelle vorbei weiter in nördlicher Richtung zu den Grotten, einem Bereich des Vatikan, den Feldman noch nicht gesehen hatte. Sie eilte an der Statue des böse dreinschauenden heiligen Andreas vorbei durch die langen Korridore der Vatikanischen Bibliothek, schritt durch die Torre dei Venti und durch das Museo Profano. Für ihre kleine Statur fegte Jesa mit erstaunlich großen Schritten durch die ehrwürdigen Hallen. Als sie und der atemlose Trupp, der ihr folgte, das Ende des Korridors erreichten, war ihnen der Durch389
gang durch eine massive bronzene Doppeltür versperrt, die von Säulen eingerahmt war. Der Eingang war auf beiden Seiten von Gardisten bewacht, die sofort ihre Hellebarden über der Schwelle kreuzten, als die Gruppe heraneilte. Aber nach kurzer Anfrage über ihre Funksprechgeräte tauschten sie ungläubige Blicke, öffneten Schloß und Riegel der riesigen Türen und traten in Habtachtstellung zurück, um danach wieder unbeteiligt vor sich hinzustarren. »O mein Gott!« hörte Feldman eine Frau auf englisch mit italienischem Akzent hinter sich ausrufen. »Dies hier ist die Biblioteca Secreta! Sie führt uns in die geheimen Archive des Vatikan!«
82 IN DEN GEHEIMARCHIVEN DES VATIKAN, VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 13 UHR 41, SONNTAG, 19. MÄRZ 2000 Jenseits der Türen lag Bramantes Korridor, das erste Stockwerk der größten, geheimsten und mysteriösesten Bibliothek der Welt, der berühmten Biblioteca Secreta, ein wohlgehütetes Geheimnis der Päpste, dessen Ursprung auf das erste Jahrhundert nach Christus, die Zeit der vier Evangelisten, zurückging. Ein aufgeregtes Murmeln umgab die Prophetin, als sie die beiden riesigen Türen mit beiden Händen aufstieß, so daß sie quietschend und krachend gegen die Türstopper schwangen. Vor ihnen lag die Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Das dämmerige Grau wurde in regelmäßigen Abständen von Sonnenstrahlen erhellt, die 390
schräg durch die hohen Fenster fielen. Am Ende des hohen, gewölbten Raumes grinsten boshafte Kobolde und Satyrfiguren mit Hörnern von den verblaßten Wandbildern herab. Vorbei an unzähligen, vier Meter hohen und handgeschnitzten Holzregalen drang Jesa weiter ins modrige Halbdunkel vor. Auf den Regalen lagen, mit mönchischer Sorgfalt gesammelt, zahllose Briefe, Originalmanuskripte, kunstvolle Abschriften, jahrhundertealte Dokumente und Gesetzessammlungen. Einem jungen Zeitungsreporter, der eine bessere Kondition besaß als seine Kollegen, gelang es, die rasende Prophetin zu überholen. »Jesa!« keuchte er. »Wo sind wir hier?« »Ihr seht hier vor euch die dunklen Geheimnisse vergangener Epochen«, sagte sie, und ohne hinzusehen zeigte sie auf einen Gang zwischen den Regalen zu ihrer Linken. »Hier liegen das Originalevangelium des Matthäus und die verlorenen apokryphen Schriften des Thomas, alle auf hebräisch.« Sie wies auf ein Regal zu ihrer Rechten. »Hier das verlorene Evangelium von Jakobus dem Jüngeren.« Mit dem rechten Zeigefinger wies sie in schneller Folge auf mehrere Schriften. »Das verschollene Buch der Dialoge des Erlösers, die letzte Abschrift der verbotenen Nekromanteia Echeiridion, dort Thomas von Aquins Buch der Verleugnung, der geheimgehaltene päpstliche Befehl zur Hinrichtung der Jungfrau von Orléans, hier die komplette Sammlung des Index Librorum Prohibitorum …« Hunter, Feldman und Cissy konnten im Vorbeilaufen nur einen flüchtigen Blick auf die zerfallenden Manuskripte werfen. Viele der gebundenen Bücher trugen die roten Wappen der Päpste, die im Amt waren, als die Bände erworben wurden; auf den Buchrücken der verblaßten und zerrissenen Einbände waren die Daten in römischen Ziffern eingestanzt. Immer wieder hielt Hunter mit seiner Kamera an, um die Szenerie aufzunehmen, bevor er der Gruppe nachsetzte. Jesa schien genau zu wissen, wohin sie lief. Sie eilte immer weiter 391
durch verwinkelte Gänge und durch Türbögen und führte ihre Gruppe immer tiefer ins Innere der Archive. Endlich kamen sie an eine bronzene Doppeltür, bewacht von einem mürrischen Mönch in einer braunen Kutte, der hinter einem Schreibtisch saß. Als er die seltsame Schar auf sich zukommen sah, weiteten sich seine Augen, er stand ängstlich auf und trat schützend vor die Tür. Jesa richtete ihren Blick auf ihn und verlangte eindringlich: »Öffne die Tür«, was er sogleich mit fahrigen Fingern, aber ohne Zögern tat. Hinter der Tür befand sich eine breite Steintreppe. Der große Raum am Ende der Treppe war offensichtlich erst kürzlich renoviert worden und wirkte hell und modern. Er nahm das Kellergewölbe tief unter dem Cortile della Pigna ein. Sie waren im innersten Bereich der Archive. Hier befand sich das sorgsam bewachte Archiv der heiligen römisch-katholischen Kirche. Das riesige Gewölbe enthielt endlose Reihen flacher Aktenschränke aus Metall, jede Schublade sorgfältig numeriert und beschriftet. In diesen Schubladen, deren Riegel mit einem intakten Wachsabdruck des päpstlichen Siegels geschützt waren, lagen Dokumente des Vatikan aus dreizehnhundert Jahren. Sie enthielten alle existierenden Unterlagen der Päpste, von den spärlichen Dokumenten des Jahres 692 bis zu den vollständigen Dossiers des letzten Kalenderjahres mit den frischen Stempeln vom 31. Dezember 1999. Zwischen den Aktenreihen standen Kabinen mit Computerterminals. Die Unterlagen und Informationen, die hier verwahrt wurden, beinhalteten alle Aktivitäten und Dokumente, die mit der Regierung der Kirche zu tun hatten – von den Privataudienzen bis zu den Kopien der päpstlichen Korrespondenz, von unveröffentlichten Notizen und Botschaften bis hin zu den Arbeitspapieren, die im Dienst für den Papst und seinen Hof verfaßt wurden. Jesa betrat das offene Vorzimmer, das gleich neben dem Eingang lag, und ging zu einer großen Wandtafel am Ende des Zimmers. Als 392
die noch übriggebliebenen Nachrichtenteams sich um sie versammelt hatten, erhob Jesa die Hand. »Um hierher zu kommen«, begann sie, »seid ihr durch die uralten Grabstätten der Christenheit gegangen. Vorbei an den Resten ferner Erinnerungen, einige noch aus den Tagen der zwölf Apostel selbst. Hier liegen die Schriften, die Rechenschaft ablegen über glänzende Errungenschaften, ehrenvolle Unternehmungen, große Gelehrsamkeit, tiefe Gedanken und wunderbare Erleuchtung. Die einflußreichsten Errungenschaften der Geschichte, die der ganzen Menschheit zur Ehre gereichen. Aber hier liegen auch schreckliche Geheimnisse. Antworten auf dunkle, beschämende Rätsel, die von der Zeit verhüllt wurden. In diesen vergessenen Büchern sind unheilige Taten verzeichnet, die von Christen im Namen Christi begangen wurden. Verfolgungen durch die Inquisition, die verschwiegen wurden. Erzwungene Übertritte zum katholischen Glauben. Die Taten der Missionare. Der Irrtum der Kreuzzüge mit ihren Folgen und die Ermordung von Ungläubigen. Die Verfolgung von Exzentrikern und Abweichlern. Die Hinrichtungen von Propheten und Lehrern, Männern und Frauen, die mit dem Segen Gottes kamen und als Ketzer zum Schweigen gebracht wurden. Grausamkeiten aus Aberglauben, Eifersucht und trügerischer Selbstsucht. Diese verabscheuungswürdigen Ereignisse liegen jedoch zu weit zurück, als daß sie jetzt noch Konsequenzen haben könnten. Wir werden diese alten Geschichten ruhenlassen. Statt dessen werde ich euch nun eine angemessene Darstellung der Heuchelei und Habgier derer geben, die sich vor euch als Verwalter von Gottes Willen auf Erden ausgeben. Man hat euch gesagt, meine Worte seien hohl und ich spräche nicht die Wahrheit. Man hat euch gesagt, daß meine Vorwürfe grundlos seien. Seht, jetzt werdet ihr Zeuge sein vom wahren Willen des Vaters.« Die Prophetin wandte sich der Wandtafel zu und begann schnell, Zahlen und Buchstaben aufzuschreiben. Zunächst entstand Verwir393
rung unter den Journalisten, weil niemand ihre Bedeutung verstand. Aber bald stellte jemand fest, daß Jesa die Signaturen von Akten und sonstigen Unterlagen aufgeschrieben hatte. Die Journalisten bildeten Gruppen, um die Schränke danach zu durchsuchen. »Diese Schubladen sind mit dem päpstlichen Siegel verschlossen«, rief ein Reporter, als er einen Schrank öffnen wollte. »Ist das nicht verboten?« »Wir führen eine Mission Gottes aus«, rief ein anderer ihm zu. »Brecht sie auf. Brecht sie alle auf, um Himmels willen!« Feldman, Hunter und Cissy liefen in dem Gewölbe umher, brachen die Siegel der Schränke auf, suchten die Dokumente heraus und nahmen sie eilig auf Video auf, ohne sich Zeit zum Lesen zu nehmen. Feldman war so in die Arbeit vertieft, daß er es fast nicht bemerkte, als Jesa ruhig den Raum verließ. Er stieß Hunter und Cissy an, und die drei folgten ihr. Ein halbes Dutzend Nachrichtenreporter begleiteten sie. Ein weiteres Dutzend, das völlig in das Stöbern in den Akten vertieft war, ließen sie hinter sich. Der Mönch, der das Gewölbe bewacht hatte, war verschwunden. Als sie den Ausgang der Archive erreichten, warteten zwei Gardisten auf Jesa. Sie waren erleichtert, als sie die Türen öffneten, um den Messias und sein Gefolge passieren zu lassen.
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83 IN DEN GEMÄCHERN DES PAPSTES, VATIKAN, ROM, ITALIEN, 14 UHR 25, SONNTAG, 19. MÄRZ 2000 Zuerst kam keine Antwort auf sein lautes, angstvolles Klopfen an der Tür. Dann vernahm Kardinal di Concerci ein gedämpftes Geräusch, das ihn aufzufordern schien, die päpstlichen Räume zu betreten. Er fand Nikolaus VI. allein vor. Er saß in seinem Sessel und starrte aus dem Fenster. Die Menge auf dem Petersplatz war in der kurzen Zeit seit Jesas schonungsloser Kritik noch lauter geworden. Die Polizeisperren stemmten sich gegen die geballte Hoffnung der Menge, Jesa noch einmal sehen zu können. Obwohl offiziell nichts darüber verlautet war, wo Jesa sich aufhielt, nahmen ihre Anhänger an, daß sie sich noch irgendwo im Vatikan befand, weil ihr Hubschrauber die Rampe noch nicht verlassen hatte. Und in der Tat war die Frage, wo sie eigentlich war, der Grund für di Concercis Besuch. Der Präfekt war dankbar, daß er überhaupt Zutritt bekam, denn eine Nonne, die dem Papst aufwartete, hatte ihm mit einer eindeutigen Geste zu verstehen gegeben, daß der Papst nicht gestört werden durfte. »Eure Heiligkeit«, begann der Kardinal vorsichtig, »ich bedaure die Störung, aber es geht um eine dringende Angelegenheit.« Di Concerci hatte gehofft, daß Nikolaus sich nach einer kurzen Zeit des Alleinseins wieder sammeln würde, sah aber, daß dem nicht so war. Der Papst befand sich noch immer in der niedergeschlagenen Stimmung, die ihn vor dem geborstenen Altar überfallen hatte. 395
»Papa«, versuchte di Concerci es noch einmal, und Nikolaus wandte seinem Berater endlich sein gequältes Gesicht zu. »Papa, ich weiß, Sie sind nicht in der Stimmung für betrübliche Neuigkeiten, aber ich muß Sie warnen. Die Schweizergarde teilt mir mit, daß Jesa sich Zutritt zur Biblioteca Secreta verschafft und eine ganze Schar von Reportern mit Kameras mitgenommen hat.« Nikolaus blickte wieder zu dem Fenster, schwieg, stützte den Ellbogen auf das Fenstersims und senkte den Kopf. »Eure Heiligkeit, wir müssen handeln!« »Sie hat uns zu ihren Schriftgelehrten und Pharisäern gemacht«, sagte Nikolaus zum Fenster hin und kümmerte sich nicht um die Dringlichkeit der Situation. »Wir sind jetzt die Heuchler. Der unfruchtbare Boden, auf den der Same gefallen und verdorrt ist. Gott hat uns verlassen, Antonio. Jesa hat alles auf den Kopf gestellt.« »Nein, Papa, Gott hat sich nicht gegen uns gewandt, wie Sie bald sehen werden. Aber jetzt müssen wir uns um die Situation in den Archiven kümmern. Wer weiß, was diese Frau noch alles vorhat? Sie müssen mir die Erlaubnis geben, die Wache zu schicken, um sie fortbringen zu lassen.« »Ich kann nicht die Hand gegen Gottes Willen rühren, Antonio. Sie haben gesehen, was heute passiert ist. Das bestätigt nur die beunruhigenden Träume, die ich über sie gehabt habe.« »Es ist nicht der Wille Gottes, Heiliger Vater«, rief di Concerci unerbittlich, »und ich werde es Ihnen beweisen. Aber jetzt, Eure Heiligkeit, können wir ihr doch nicht erlauben, einfach die ganze Stadt einzunehmen.« »Tun Sie, was Sie für das Beste halten, Antonio, aber ich kann mich jetzt nicht darum kümmern.« »Ja, Eure Heiligkeit«, sagte der Präfekt zufrieden. »Und bald bringe ich Ihnen neue Informationen. Ich glaube, sie werden helfen, Ihnen wieder Hoffnung zu geben.« Der Papst beachtete ihn nicht und sah wieder aus seinem Fenster. 396
Di Concerci verbeugte sich und ging schnell hinaus.
84 IN DEN GÄRTEN DES VATIKAN, VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 14 UHR 29, SONNTAG, 19. MÄRZ 2000 Statt die lange Strecke durch das Vatikanische Museum zurückzugehen, nahm Jesa die Abkürzung über einen Flur und trat ins Freie, hinaus in den hellen Nachmittag. Sie behielt ihr rasantes Tempo bei, und Feldman nahm an, daß sie zur Landestelle des Hubschraubers wollte. Als sie schließlich in die Gegend des Landeplatzes kam, bog sie ab und betrat die ruhige Umgebung der Vatikanischen Grotten. Hier erblickte Feldman den getreuen Kardinal Litti, der still auf einer Bank saß und allein auf seinen verschwundenen Messias wartete. Als er Jesa erblickte, weiteten sich seine Augen, und er ging ihr eifrig entgegen wie ein Hündchen, das seinen wiederkehrenden Herrn begrüßt. Jesa gab dem Kardinal die Hand. Er fiel auf die Knie und küßte ihr mit Tränen in den Augen die Hand. Die Prophetin lächelte ihm zu und hob ihn auf. Feldman, Cissy und Hunter ließen sich auf den Rasen fallen, um wieder zu Atem zu kommen. Aber ihre Ruhepause dauerte nicht lang. Innerhalb weniger Minuten kam eine Gruppe von zehn Schweizergardisten den Weg entlang, um sie zu stellen. 397
Der Hauptmann der Wache sprach zu Jesa: »Wir haben Anweisung, Sie zu Ihrem Hubschrauber zu begleiten und dafür zu sorgen, daß Sie unverzüglich den Vatikanstaat verlassen.« Der Messias widersprach nicht, sondern ließ sich willig von der Gruppe wegführen. Feldman und die anderen durften ihr noch nicht folgen. Mit vorgehaltenen Hellebarden verlangten die Wachen, daß die Journalisten sämtliche Bänder und Filme aus den Kameras, Notizen oder andere Aufzeichnungen, die sie nach dem ›unerlaubten, kriminellen Eindringen in die Biblioteca Secreta‹ gemacht hatten, aushändigten. Trotz seiner inneren Anspannung mußte Feldman grinsen, als Hunter sich die Ablenkung der Gardisten durch den lauten Protest der Reporter zunutze machte, hastig eine Kassette aus seinem Beutel zog, der nichtsahnenden Cissy die Bluse aus dem Rock zog und ihr geschickt die Kassette unterjubelte. Cissy entfuhr ein überraschter Aufschrei, aber sie erkannte sofort die Lage und unterdrückte den Reflex, ihren Kollegen zu ohrfeigen. Während sie den Schock der kalten Plastikkassette mit einem Achselzucken abtat, händigte Hunter einem mißtrauischen Gardisten zwei leere Bänder aus. Als die Wachleute ihre Durchsuchung beendet hatten, ließen sie die Reporter gehen. Feldman, Hunter und die entrüstete Cissy gesellten sich am Landeplatz zu Kardinal Litti und Jesa. Der Hubschrauber hatte bereits die Rotoren angeworfen. Die zurückbleibenden Nachrichtenteams filmten die Abschiebung, und Feldman und Hunter halfen ihren Mitreisenden in die Passagierkabine. Zuerst dem Messias, dann dem treuen Kardinal Litti und endlich Cissy, die deutlich eine unförmige Figur machte, als sie sich bückte, um durch die Luke zu klettern. Als der Hubschrauber abhob, konnte Feldman in der anwachsenden Menschenmenge vor den Mauern der Vatikanstadt eine sichtbar andere Grundstimmung ausmachen. Obwohl es noch vereinzelte Gruppen von Gegnern gab, schien der größte Teil der Menge 398
jetzt aus entschiedenen Anhängern der Prophetin zu bestehen. Als der Hubschrauber in den blauen Himmel über Rom aufstieg, winkten Jesas Getreue ihr unter wilden Hurrarufen zu und schwangen Spruchbänder, auf denen zu lesen stand: ›Jesa ist Gott‹, ›Jesa, die Herrscherin‹ und ›Hingerissen von Jesa!‹
85 IN DEN GÄRTEN DES VATIKAN, VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 14 UHR 29, SONNTAG, 19. MÄRZ 2000 Im Hubschrauber mußte Feldman diese ungewöhnliche junge Frau, die schon wieder ganz allein die Welt aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, die ganze Zeit über ansehen. Aber Jesa erwiderte keinen seiner Blicke. Feldmans Gedanken waren in Aufruhr; er versuchte immer wieder, seine Gedanken zu den Ereignissen dieses Tages zu ordnen. Es war nicht schwer sich vorzustellen, sie sei Gottes Tochter. Sie hatte ein solch einzigartige Ausstrahlung, innere Disziplin und Stärke, wie Feldman sie bis jetzt bei keinem anderen Menschen erlebt hatte. Und diese durchdringenden Augen – sie verliehen ihrem edlen Gesicht eine unendliche Weisheit. Und doch ließ ihn eine quälende Frage nicht los. Wie paßten zu alldem die merkwürdigen, künstlichen Mikrochips in ihrem Gehirn? Er konnte sein Unbehagen einfach nicht loswerden. Etwas zu Beunruhigendes war damit verbunden, das nicht recht in dieses 399
ganze Szenario des Göttlichen paßte. Auf dem Rückflug nach Kairo fand er keine Ruhe. Er saß allein im Passagierabteil des Jets, da Jesa sich unmittelbar nach dem Start in ihre Kabine zurückgezogen hatte. Zuvor hatte Feldman noch vergeblich versucht, sie in eine Unterhaltung zu verwickeln, aber sie wirkte müde und verschlossen. Einige Reihen weiter saß der stille Litti und las. Hunter hatte sich über drei Sitze ausgestreckt und schnarchte. Cissy war noch in Rom geblieben, um bei WNN Europa eilig einen Bericht über den Ausflug in die Geheimarchive zusammenzustellen. Als sich Cissy am Flughafen verabschiedete und sich mit dem herausgeschmuggelten Video in der Hand zum Gehen wandte, gab ihr Hunter einen Klaps auf den Po und riet ihr, seine kostbare Kassette sicher zu verwahren. Diesmal gab sie ihrem Reflex ungeniert nach und boxte ihn kräftig in den Magen. Wenn Feldman auch Hunters Stil nicht immer gefiel, mußte er ihm doch lassen, daß er gute Einfälle hatte. Er konnte nur hoffen, daß die anderen Journalisten ihre Schätze aus den Archiven ebenso einfallsreich gerettet hatten. Als der Pilot vor der Landung in Kairo die Passagiere bat, auf ihre Plätze zurückzukehren, hoffte Feldman auf eine weitere Gelegenheit, beim Messias zu sitzen. Aber als Jesa ihre Kabine verließ und sich auf einen Fensterplatz ziemlich weit hinten im Flugzeug setzte, sah Feldman, daß der gute Kardinal ihn ausgestochen hatte, denn er erwies sich als hartnäckiger Freier und hatte sich den begehrten Platz neben Jesa geschnappt. In Kairo wich Litti der stillen, nachdenklichen Frau keinen Schritt von der Seite und bestand sogar darauf, sie auf ihrem letzten Hubschrauberflug zu Feldmans Auto zu begleiten. Feldman befürchtete schon, der hartnäckige Kardinal werde sich auch nicht davon abbringen lassen, bis in die Wüste mitzukommen, wo Jesa aussteigen würde. Zu seiner Freude unterbrach der Messias jedoch sein langes Schweigen und ordnete an, daß niemand außer Feldman sie weiter 400
begleiten durfte. Litti trennte sich nur äußerst unwillig von seiner Erlöserin, und Jesa mußte ihm mehrmals versichern, daß er sie bald wiedersehen würde. Feldman besänftigte den besorgten Kardinal ebenfalls, indem er ihm zu einer Unterkunft in einem zentral gelegenen Hotel verhalf. Es war schon spät, als Feldman endlich allein in seinem Wagen mit Jesa war, um sie bei ihrem Wüstenversteck abzusetzen. Er wußte nicht recht, wie er das Thema, an das er dachte, anschneiden sollte, und fuhr eine Weile schweigend die trockene, staubige Straße entlang, wobei er seinen Gedanken nachhing. Sie näherten sich ihrem Ziel rascher, als er gedacht hatte, und Feldman fuhr langsamer, um noch etwas Zeit zu gewinnen. Er warf einen verstohlenen Seitenblick auf seine kleine Beifahrerin. Sie hatte das Gesicht von ihm abgewandt und betrachtete den aufgehenden Vollmond. Ihre elfenbeinweißen Hände ruhten in ihrem Schoß. »Jesa?« unterbrach Feldman endlich die Stille. »Jesa, warum hast du mich gewählt, um dich auf diesen Reisen zu begleiten?« Sie wandte sich weder zu ihm um, noch gab sie ihm Antwort. »Warum ich?« »Weil ich dein Herz kenne«, antwortete sie nach einer langen Pause. »Kennst du auch meine Gedanken?« Sie antwortete nicht. »Weißt du auch, daß ich mir nicht sicher bin, was ich von dir halten soll? Daß ich Probleme damit habe, dich als diejenige zu akzeptieren, die du zu sein versicherst?« Wieder eine lange Pause. »Das stört mich nicht«, meinte sie, immer noch von ihm abgewandt. »Gottes Plan ist dargelegt, und sein Wille wird geschehen.« »Was ist mit deinem Willen?« »Daß du Teil von Gottes Plan warst, war weder meine noch deine Absicht. Ich habe dich gewählt, weil ich dich erkannte.« 401
»Du erkanntest mich?« »Im ersten Moment, als ich dich am Berg der Seligpreisungen sah.« »Du meinst, du kanntest mich von den Fernsehsendungen her?« »Nein. Ich habe dich dort zum ersten Mal gesehen. Und ich erkannte dich.« Feldman war verwirrt. Sie waren an der Stelle angekommen, wo Jesa ausstieg. Sie stand da und sah ihn starr an, das Mondlicht glitzerte auf ihren Wangen, und sie sah aus wie ein verirrtes, einsames Kind. Oder wie ein Engel. Dann verschwand sie wie eine Erscheinung wortlos und geschwind in der Nacht.
86 NA-JULI-APPARTEMENTS, KAIRO, ÄGYPTEN, 10 UHR, MONTAG, 20. MÄRZ 2000 Vor seiner Reise nach Rom hatten Feldman und Anke vereinbart, sich nach seiner Rückkehr in seinem Appartement zu treffen. Feldman bedauerte diese Verabredung. Er brauchte unbedingt Zeit für sich allein, um sich auszuruhen, nachzudenken und seine angeschlagene Psyche zu pflegen. Obwohl er sich alle Mühe gab, war ihm in dem Augenblick, als Anke durch die Tür trat, klar, daß sie seinen inneren Abstand fühlte. Er konnte ihr nicht die sonst übliche Wärme und Herzlichkeit entgegenbringen. Er umarmte und küßte sie zwar mit einem Lä402
cheln, aber seine Gedanken waren weit weg. Anke schloß die Tür hinter sich, nahm sein Gesicht in ihre Hände und sah ihn fragend an. Er konnte ihren prüfenden Blick nicht ertragen und wandte sich ab. »Ich … ich bin heute einfach nicht ich selbst, Anke. Diese Reise, glaube ich …« »Natürlich«, tröstete sie ihn, »ich kann mir schon vorstellen, wie anstrengend es für dich gewesen sein muß. Mir war es schon beinahe zuviel, es nur im Fernsehen anzuschauen. Wir brauchen heute nichts Besonderes zu machen oder auszugehen. Komm, wir setzen uns hin, ruhen uns aus und reden eine Weile. Ich habe so viele Fragen!« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zur Couch. Zögernd und voller Gewissensbisse ließ er es geschehen. Anke war eine erstaunlich lebendige und beherzte Frau. Eine so positive Kraft in seinem Leben. So voller Optimismus und Heiterkeit. So ganz anders als Jesa. Aber seine herzlichen Gefühle für Anke waren auf unerklärliche Weise gestört. Er schloß die Augen und versuchte vergeblich, einen klaren Kopf zu bekommen. Anke war offensichtlich besorgt und versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. »Jon, was gestern geschehen ist, hat dich wirklich aufgewühlt, stimmt's?« Sie nahm seinen Kopf erneut in ihre Hände, um ihm in die Augen sehen zu können. »Erzählst du es mir? Ich würde dir gern helfen.« Er nahm ihre Hand und bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten. Dann schüttelte er wieder den Kopf. »Anke, es tut mir leid, ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Ich habe allerhand erlebt. Ich brauche einfach Zeit, um das alles zu verarbeiten.« »Klar, Jon«, meinte sie zögernd. »Ich … ich hatte nur gehofft, daß du mir ein bißchen von all den Dingen erzählen würdest, die mit Jesa passiert sind. So vieles verstehe ich nicht.« »Ich habe das Gefühl«, sagte er ausweichend, »daß im Moment 403
viele deiner Fragen angesprochen werden. Wollen wir uns die neuesten Nachrichten ansehen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten und neugierig, ob noch andere Sender Archivmaterial aus dem Vatikan gerettet hatten, griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. Anke schmiegte sich an ihn, als bemühe sie sich, die Distanz zu überwinden, aber er war weiter gedankenverloren, und der Abstand zwischen ihnen war immer noch da. Anke fand sich mit seinem seltsamen Benehmen ab, seufzte und lehnte sich allein ins Sofa zurück. In dem Fernsehbericht wurden die Reaktionen der Welt auf die Ereignisse des gestrigen Tages zusammengefaßt. Überall stießen immer größere Gruppen gottesfürchtiger Anhänger und Gegner von Jesa aufeinander. Zunehmend sammelten sich die Jesaanhänger um die siegreiche Fahne der Messianic Guardians of God. Und die Opposition war inzwischen von den standhaften Erzrivalen, den Guardians of God, beherrscht. Wie sich aus dem Bericht weiter ergab, beeinträchtigte die gegenwärtige Krise die gesamte Weltwirtschaft. Die Regierungen verloren zusehends die Kontrolle über die Menschen, die auf das Unbekannte warteten, das da kommen würde. Berichte über die Geheimarchive des Vatikan kamen auf allen Sendern. Wie Feldman bald herausfand, handelte es sich bei den meisten angeblichen Enthüllungen nur um aufgewärmte Skandale aus dem Vatikan, die Jahrhunderte zurücklagen und nun als neue Entdeckungen ausgegeben wurden: Intrigen der Päpste, uneheliche Kinder, heimliche Ehen, Homosexualität, Pädophilie, Morde, Mauscheleien und jede nur denkbare Art von Korruption. Feldman machte Anke gereizt darauf aufmerksam, und sie sah ihn fragend an, überrascht, wie ungewohnt heftig er mit seinen Gefühlen an diesen Dingen beteiligt zu sein schien. Schließlich fand er auf einem Sender den Bericht, den er eigentlich suchte. Die wahre Geschichte. Es war zwar keine WNN-Repor404
tage, aber der Bericht nannte WNN und andere Sender als Quellen, denen es gelungen war, ihr Material an der Schweizergarde vorbeizuschmuggeln. In einem einmaligen Akt der Kooperation hatten verschiedene Sender ihre Beute geteilt und daraus ein klareres, wenn auch immer noch unvollständiges Bild von Jesas Enthüllungen zusammengesetzt. Feldman und Anke folgten Hunters Kamera, wie sie durch die muffigen Räume des Vatikanischen Museums wanderte und hinter Jesa die massiven Bronzetüren von Bramantes Korridor passierte, während ein Sprecher Erläuterungen gab: »…den Schleier der geheimnisvollen, verschlossenen Geheimarchive der römisch-katholischen Kirche gelüftet. Aufzeichnungen, die bisher vor aller Augen verborgen waren – außer denen der diensthabenden Mönche, die einen lebenslangen Eid der Verschwiegenheit ablegen mußten –, sind jetzt zum allerersten Mal für die Welt sichtbar geworden. Diese Akten«, erklärte der Sprecher, »listen einen Teil des riesigen Finanzbesitzes des Vatikan auf.« Einige Seiten aus den Geschäftsbüchern wurden gezeigt, bestimmte Stellen dick markiert. Die englische Übersetzung des italienischen Textes lief über den Bildschirm. Die Zahlen umfaßten die Mittel zur Verwaltung des Patrimoniums des Heiligen Stuhls, und der Bericht addierte sie rasch zu einer Endsumme, die Billionen von Lire betrug. Als diese Zahl feststand, wurde die riesige Summe in Dollar umgerechnet. Dieser Betrag erschien als ›Vermögen des Vatikan‹ auf dem Bildschirm und erhöhte sich mit jeder weiteren Untersuchung. Als nächstes folgte eine Analyse des Wertpapierbestandes der internationalen Bank des Vatikan, des Instituto per le Opere di Religione. Der Wert der Aktien, Pfandbriefe, Wertpapiere und Barbeträge war ebenfalls beträchtlich. Aber noch erstaunlicher war die Vorlage einer Empfangsbestätigung, die belegte, daß große Bestände von Goldbarren des Vatikan im amerikanischen Fort Knox auf405
bewahrt wurden. Die spektakulären Summen wurden zu der vorher genannten Zahl addiert. »Wie eine Benefizveranstaltung, bei der immer mehr Geld zusammenkommt«, meinte Feldman. Als es um eine Untersuchung des Firmenbesitzes der Kirche ging, entschuldigte sich der Sprecher für die Unvollständigkeit der Daten. Sie warfen jedoch laut Jahresbilanz weitere Billionen zusätzlicher Lire ab. Die Summe in der oberen Ecke des Bildes wurde immer höher. Ferner präsentierte der Sprecher eine Sammlung von Unterlagen zu den Finanzen der zahlreichen katholischen Diözesen und Bistümer rund um den Globus sowie über den kirchlichen und nichtkirchlichen Immobilienbesitz des Vatikan überall in der Welt, den die Kirche systematisch und stillschweigend über Jahrhunderte durch Ankäufe über Dritte, private Stiftungen, vererbten Grundbesitz und wohltätige Gaben angehäuft hatte. Danach kam eine noch schockierendere Enthüllung. Eine faszinierende Darstellung der wechselvollen direkten und indirekten Beziehungen zur sizilianischen Mafia. Es wurden beträchtliche finanzielle Zuwendungen durch die Cosa Nostra nachgewiesen, die die Kirche über Jahre hinweg wissentlich angenommen hatte. Aber, so unterstrich der Sprecher, dies sei noch nicht alles. »Ein interner Bericht der Präfektur für Wirtschaft im Vatikan aus dem Jahre 1988 legt die Aufdeckung eines großen Finanzbetrugs vor, in den die Vatikanbank mit mehreren verhängnisvollen Investitionen verwickelt war. Aus dem Bericht geht hervor, daß in den achtziger Jahren ein Kardinal, der als Sekretär der Vatikanbank fungierte, persönlich im Vorstand verschiedener italienischer Firmen saß, an denen der Vatikan mehrheitlich beteiligt war. Eine von der Mafia dominierte juristische Person, die beträchtliche Aktienpakete an zweien dieser Firmen besaß und dem Vatikan damals bekannt war, nannte sich Finia C.C. Dem Bericht zufolge ließ es der Vatikan zu, daß Finia große 406
Aktienpakete internationaler Konzerne an sich brachte. Später manipulierten die Mafiafinanziers diesen Besitz über komplizierte Wechselkurstransaktionen und versuchten mit einer feindlichen Übernahme den angeschlagenen International Fidelity Trust in New York in Besitz zu nehmen. Die amerikanische Überwachungsbehörde US Securities and Exchange Commission (SEC) wurde darauf aufmerksam. Aber der Vatikan, der durch einen Sympathisanten in der SEC gewarnt worden war, warnte Finia rechtzeitig, so daß die Firma alle Anteile abstoßen konnte, bevor eine Untersuchung anlief. Die Käufer der Anteile aber erlitten hohe Verluste und wurden in Prozesse verwickelt, die bis heute noch nicht beigelegt sind.« Aus anderen Unterlagen ging hervor, daß der Vatikan gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von den Nazis in Deutschland viele Kunstwerke und andere Kriegsbeute angenommen hatte. Dazu gehörten mehr als hundertneununddreißig Meisterwerke sowie umfangreiche Sammlungen von kostbarem Schmuck und viele seltene Antiquitäten. Die Rechtmäßigkeit des Besitzes war von Seiten der Kurie nie in Frage gestellt worden. »Bis auf den heutigen Tag«, erläuterte der Sprecher, »galten diese Schätze als verschollen oder wurden in den Händen der Russen vermutet. Aus den Verzeichnissen in den Geheimarchiven geht jedoch eindeutig hervor, daß sie in den Privatmagazinen der Schatzkammer des Papstes liegen.« Zur Schatzkammer des Papstes gab es noch mehr Mitteilungen. Unter anderem wurde ein unvollständiger Katalog moderner Gemälde im Vatikan entdeckt: Ölbilder von Matisse, Chagall, Gauguin, Aquarelle und Zeichnungen von Klee, Moore, Dali und Modigliani. Insgesamt über achthundert signierte Werke von mehr als zweihundertfünfzig weltbekannten Künstlern. Und darüber hinaus ein sagenhafter Bestand an Statuen, Wandteppichen, seltenen Möbeln und sonstigen Kunstgegenständen von unschätzbarem Wert. Alles zusammen ergab schließlich eine astronomisch anmutende 407
Gesamtsumme, in US-Dollars berechnet, versteht sich. Feldman stieß einen leisen Pfiff aus. Er fragte sich jetzt nur noch, welche weiteren Überraschungen die Schweizergarde verhindert und dem Staub und den Spinnweben der unergründlichen Biblioteca Secreta für immer zurückgegeben hatte. Als der Bericht zu Ende war, sagten weder Anke noch Feldman etwas. Nach einer Weile sah Anke ihren Partner von der Seite an und schlug vor: »Vielleicht sollten wir einfach an etwas anderes als an diese unangenehmen Dinge denken.« Dabei ließ sie ihre Hand langsam unter sein T-Shirt gleiten und über seinen flachen Bauch zu der muskulösen, behaarten Brust hinaufwandern. Zärtlich und behutsam bewegten sich die Finger weiter bis zu seinen verkrampften Schultern. Aber keinerlei Gefühle regten sich in ihm. Er schaute in ihre Augen, und obwohl er die Verlockung spürte, konnte er nicht darauf eingehen. Anke küßte ihn, aber seine Reaktion wirkte gleichgültig, und sie zog sich zurück.
87 NATIONALE KIRCHE DES UNIVERSALEN KÖNIGREICHS, DALLAS, TEXAS, USA, 10 UHR, DONNERSTAG, 23. MÄRZ 2000 Als es an der Tür klopfte, rollte Right Reverend Solomon T. Brady in seinem Ziegenlederstuhl mit einem friedlichen und zufriedenen Gesichtsausdruck von seinem Mahagonischreibtisch weg. Er strich 408
sich sorgfältig über die weißen Haare, die zu einer perfekten Frisur mit Tolle arrangiert waren, und wartete. Die edlen Türen aus Wurzelholz am anderen Ende seines Büros öffneten sich weit, eine attraktive, elegant gekleidete junge Frau betrat den Raum und hauchte ihm durch den weiten, mit Marmor gefliesten Raum zu: »Dr. Brady, Ihr Zehn-Uhr-Termin.« »Danke, Ms. Conners«, antwortete der Reverend seiner neuen Sekretärin strahlend, und die junge Frau trat zurück, um einen hageren, grauhaarigen Herrn mit dicker Brille eintreten zu lassen, der einen schlechtsitzenden Anzug trug, aber in ausgezeichneter Laune war. »Wie geht es Ihnen, Walter?« begrüßte der Reverend seinen Buchhalter mit einem herzlichen Lächeln. Der Buchhalter strahlte zurück. »Sehr gut, muß ich sagen!« Er trat vor und legte einen dicken Bericht mit den neuesten Zahlen zu den Einnahmen des Universalen Königreichs auf den Tisch. Brady brauchte ihn sich gar nicht anzusehen. »Sagen Sie mir nur die abgerundeten Prozentwerte, Walter.« »Also, Sir, wir haben fast siebzehn Punkte zugelegt. Ihre Einrichtung der mexikanischen Jesa-Hotline hat sich als Renner erwiesen. Und ich kann sagen, daß ich demnächst eine Rekordsumme erwarte.« Solomon Bradys Augen leuchteten. »Ich danke Ihnen, Walter. Ich werde mir den Bericht während der Mittagszeit ansehen, und wenn ich Fragen habe, melde ich mich. Lassen Sie sich auf jeden Fall eine gerahmte Kopie des Plans für das neue Jesa-Bibelzentrum geben. Es ist einfach sagenhaft.« »Ja, Sir. Ich bin schon gespannt, es zu sehen. Das tue ich auf jeden Fall. Einen schönen Tag noch.« Als der Besucher das Büro verlassen hatte, schwenkte der Geistliche in seinem Drehstuhl zum Fenster herum und sah auf den recht leeren Campus hinunter. Obwohl die Zahl der Immatrikulierten 409
drastisch zurückgegangen war, waren die Einkünfte des Reverend noch nie so reichlich geflossen. Zufrieden seufzte er und sah im Geist die Zukunft voraus, über die Jesaperiode hinaus, bis zum nächsten Zeitabschnitt seiner Kirche, wenn er wieder über ein florierendes theologisches College und eine blühende, in ganz Amerika wirkende, vielleicht sogar international tätige Gemeinde gebieten würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Für Leute mit Weitblick.
88 PALAST DES SANCTUM OFFICIUM, ZENTRALE DER KONGREGATION FÜR GLAUBENSDOKTRIN, VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 9 UHR, FREITAG, 24. MÄRZ 2000 Kardinal Antonio di Concerci hatte den Vorsitz über die entmutigte, reduzierte Schar der Kongregation. Der Papst, blaß, müde und zerstreut, saß wie gewöhnlich neben dem Präfekten an der Stirnseite des Tisches in seinem samtenen Lehnstuhl. Auf der anderen Seite thronten vier weitere Kardinäle. Der Rest der Kurie verstreute sich um den langen Tisch herum. Die kleinen Gruppen unterhielten sich in offenbar finsterer Laune. Sieben Kardinäle fehlten heute, da sie nach den Enthüllungen der vergangenen Woche ihre Ämter niedergelegt hatten, manche, weil sie an den aufgedeckten Machenschaften beteiligt gewesen waren, manche aus purer Entrüstung. »Ich habe gehört, daß gegen die Kirche wegen Betrugs im internationalen Wertpapiergeschäft ermittelt wird«, sagte ein Kardinal er410
bittert zu einem anderen. »Ja«, erwiderte sein Kollege zerknirscht und fügte hinzu: »Auch ein Verfahren wegen schwerer Veruntreuung läuft gegen uns. Was für Probleme dem armen Nikolaus doch zugefallen sind.« Sie schüttelten niedergeschlagen die Köpfe. Di Concerci dagegen war erstaunlich entspannt und gefaßt, wenn man die Umstände bedachte. »Eure Heiligkeit«, er erhob sich, um seine Rede zu beginnen, »meine verehrten Brüder. Der Segen Gottes möge mit uns sein, damit wir das hohe Ziel erreichen, zu dem wir uns heute hier versammelt haben.« Die Versammlung antwortete mit einem feierlichen »Amen«. Der Präfekt sah seinen Kollegen nacheinander in die Augen. »Wie uns schmerzlich bewußt ist«, umschrieb er das Problem, »sieht sich unsere geliebte Kirche derzeit der bedrohlichsten Herausforderung seit der Verfolgung durch die Römer im ersten Jahrhundert gegenüber. Behauptungen sind aufgestellt worden, die die unerbittliche Kritik der Welt auf uns lenken und sogar die Fortsetzung unserer heiligen apostolischen Mission gefährden. Unglücklicherweise gibt es überall auf der Welt Mitglieder unserer Kirche, die einfach alles, was sie sehen und hören, für bare Münze nehmen: Sie sind nur allzu schnell bereit, in der Verzweiflung ihren Glauben aufzugeben. Ja, es gibt sogar Geistliche, die sich so verhalten. Manche, die früher hier an diesem Tisch in unserer Runde saßen, sind heute nicht bei uns. Ihnen rufe ich zu«, schleuderte er mit Donnerstimme den erschrockenen Zuhörern entgegen: »Oh, ihr Kleingläubigen! Gott hat uns diese Mühsal geschickt, um uns, um unseren Glauben auf die Probe zu stellen und uns die wahre Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus beweisen zu lassen! Genauso wie Gott Hiob und Isaak und die Apostel und die Märtyrer geprüft hat, die alle in ihrem Glauben unter den schrecklichsten körperlichen und geistigen Leiden standhaft waren gegenüber den Heimsuchungen des Satans. Hat unsere große Gemeinschaft all dies zwei Jahrtausende lang erlitten, nur um 411
plötzlich über Nacht wegen der böswilligen Worte eines unbekannten, unerfahrenen Mädchens alles aufzugeben? Wegen dieser Jesa? Diese selbsternannte Sprecherin Gottes, die Zerstörung predigt und über uns und alle Religionen herzieht? Ich stehe hier heute vor euch, um zu sagen, daß die katholische Kirche nur Bestand haben wird, wenn wir fest an die Macht und Größe unseres allmächtigen Gottes glauben. Ich fordere jeden von euch heraus. Habt ihr die Kraft und den Glauben durchzuhalten?« Dem Präfekten schlug nicht gerade begeisterte Zustimmung entgegen. »Habt ihr die Kraft und den Glauben durchzuhalten?« fragte er noch einmal, wartete aber diesmal die Antwort nicht ab. »Denn ich werde euch nun eine Enthüllung vorlegen, die beunruhigender ist als alles Bisherige. Eine Enthüllung, die euren Herzen Furcht einjagen und euch noch viel mehr Mut abverlangen wird, als bisher von euch gefordert wurde!« Er machte eine Pause und registrierte zufrieden, daß er nun die volle Aufmerksamkeit seiner Kollegen hatte. »Letzten Montag, nach den entwürdigenden Anschuldigungen dieser Jesa, betrat ich allein die Katakomben der Peterskirche. Ich nahm dies mit.« Er hielt ein kleines, sehr altes Buch mit einem verblaßten burgunderroten Einband hoch. »Es ist ein handgeschriebenes lateinisches Manuskript des Johannesevangeliums aus dem 15. Jahrhundert. Es war einst im Besitz der Johanna von Orléans, und es ist dasselbe Testament, das sie im Brustpanzer ihrer Rüstung trug, als sie in die Schlacht zog. Die Flecken auf den Seiten des Buches sind ihr eigenes Blut und stammen von der Verwundung in der Schlacht. Als Bauernmädchen und Analphabetin trug Johanna dieses Evangelium wie einen heiligen Talisman mit sich, der ihr trotz der Umstände, die gegen sie sprachen, Hoffnung auf den Sieg geben sollte. Vor dem Grab unseres ersten Papstes fiel ich auf die Knie und beschwor die geheiligte Macht dieser Bibel. Ich rief unseren geliebten großen Fischer um Befreiung 412
von unseren Feinden in dieser Stunde der Finsternis an; ich bat ihn um einen Weg, wie wir Petrus' Erbe, das zwei Jahrtausende überdauert hat, bewahren könnten. Ich betete um die Liebe Jesu Christi, um den Segen des Vaters und um Weisheit und Führung durch den Heiligen Geist. Ich betete um eine Antwort und habe eine Antwort bekommen.« Bei diesen Worten heiterte sich sogar die Miene des Papstes etwas auf. Aller Augen waren in verzweifelter Hoffnung auf den Präfekten gerichtet. »Am Ende meines Gebets«, berichtete ihnen di Concerci, »fiel plötzlich in die Katakomben ein blendendhelles Licht, und ein Donnerschlag hallte um mich von den Wänden wider, so daß ich einen Augenblick wie blind und taub war. In meiner Bestürzung entglitt mir das Testament. Und in meinem Innern hörte ich eine Stimme, die so tief und alt war wie das Grabmal selbst. Sie rief: ›Siehe, deine Antwort!‹ In dem Augenblick konnte ich wieder sehen, und das Testament lag vor mir auf dem Boden im heiligen Staub der Märtyrer, aufgeschlagen auf dieser Seite, mit diesem Kapitel.« Di Concerci hielt das Buch in der ausgestreckten Hand und zeigte es ehrerbietig zuerst Nikolaus und dann den anderen. Der Papst und diejenigen, die nah genug saßen, um die Überschrift der Seite entziffern zu können, hielten den Atem an. Diejenigen, die weiter hinten saßen, beugten sich neugierig nach vorn. »Dies ist die Antwort, die mir gegeben wurde, meine Brüder«, verkündete di Concerci der verstörten Versammlung im Saal. »In der Offenbarung des Johannes! Wie Sie sehen, weist diese Seite einen braunen Flecken vom Blut der heiligen Johanna, der Märtyrerin, auf. Es ist aufschlußreich, daß der Fleck alle Verse des siebzehnten Kapitels der Apokalypse sowie eine einzige Passage aus Kapitel zwei gekennzeichnet hat. Die anderen Kapitel und Verse sind absolut frei von Blutflecken!« Di Concerci ließ das Buch langsam sinken und legte es vor sich 413
hin. »Hier, mein Pontifex und meine Brüder, ist die Stelle, die uns angegeben wurde. Und an dieser Stelle finden wir die Antwort, eigens für uns.« Er übersetzte aus dem Lateinischen: Buch der Apokalypse des Johannes Kapitel 17, Vers 1-16 Das Weib auf dem scharlachfarbnen Tier 1. Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen hatten, redete mit mir und sprach zu mir: »Komm, ich will dir zeigen das Urteil der großen Hure, die da an vielen Hassern sitzt; 2. mit welcher gehurt haben die Könige auf Erden; und die da wohnen auf Erden, sind trunken geworden von dem Wein ihrer Hurerei.« 3. Und er brachte mich im Geist in die Wüste. Und ich sah ein Weib sitzen auf einem scharlachfarbnen Tier, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. 4. Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll Greuel und Unsauberkeit ihrer Hurerei, 5. und an ihrer Stirn geschrieben einen Namen, ein Geheimnis: Die große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden. 6. Und ich sah das Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu. Und ich verwunderte mich sehr, da ich sie sah. Die Erklärung des Engels 7. Und der Engel spricht zu mir: »Warum verwunderst du dich? Ich will dir sagen das Geheimnis von dem Weibe und von dem Tier, das sie trägt und hat sieben Häupter und zehn Hörner. 8. Das Tier, das du gesehen hast, ist gewesen und ist nicht und wird wie414
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derkommen aus dem Abgrund und wird fahren in die Verdammnis, und es werden sich verwundern, die auf Erden wohnen, deren Namen nicht geschrieben stehen in dem Buch des Lebens von Anfang der Welt, wenn sie sehen das Tier, daß es gewesen ist und nicht ist und dasein wird. Hier ist der Sinn, zu dem Weisheit gehört! Die sieben Häupter sind sieben Berge, auf welchen das Weib sitzt, und sind sieben Könige. Fünf sind gefallen, und einer ist, und der andere ist noch nicht gekommen; und wenn er kommt, muß er eine kleine Zeit bleiben. Und das Tier, das gewesen ist und nicht ist, das ist der achte und ist von den sieben und fährt in die Verdammnis. Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, das sind zehn Könige, die das Reich noch nicht empfangen haben; aber wie Könige werden sie eine Zeit Macht empfangen mit dem Tier. Die haben eine Meinung und werden ihre Kraft und Macht geben dem Tier. Diese werden streiten mit dem Lamm, und das Lamm wird sie überwinden (denn es ist der Herr aller Herren und der König aller Könige) und mit ihm die Berufenen und Auserwählten und Gläubigen.« Und er sprach zu mir: »Die Wasser, die du gesehen hast, da die Hure sitzt, sind Völker und Scharen und Heiden und Sprachen. Und die Völker werden die Hure hassen und werden sie einsam machen und bloß und werden ihr Fleisch essen und werden sie mit Feuer verbrennen.«
Ein leises Murmeln ging durch den Saal, doch die volle Bedeutung dieser recht abstrakten Passage hatte niemand erkannt. Di Concerci blickte seine Kollegen dennoch optimistisch an. »Und jetzt, Heiliger Vater und meine Brüder, werde ich euch die göttliche Auslegung dieser Stelle geben, die mir in den Katakomben dargelegt wurde. Wie euch jetzt bestimmt klargeworden ist, ist Jesa nicht die, die zu sein sie vorgibt. Statt dessen sehen Sie nun Vers für Vers, wer sie 415
wirklich ist: Vers eins bis sechs: Jesa, die Hure des Tieres, ist in ihr purpurund scharlachrot besetztes Gewand gekleidet, setzt sich über alle Religionen der Welt hinweg, verkehrt mit Präsidenten und Herrschern aller Nationen. Sie vergiftet die Massen mit ihren ketzerischen Forderungen und Ermahnungen, dabei ist sie trunken von ihrer Macht und Eitelkeit und der Beachtung, die die Welt ihr schenkt. Vers sieben bis elf: Die sieben Berge sind die sieben Hügel Roms. Die sieben Könige sind souveräne Päpste der römisch-katholischen Kirche. Die fünf, die gefallen sind, sind die Päpste Nikolaus I. bis hin zu Nikolaus V. ›Und einer ist‹ meint unseren Heiligen Vater, Nikolaus VI. Und ›der andere‹ ist der nächste Papst, der kommt. Ein Pontifex, der nur eine kurze Zeit regieren wird. Und der ›achte‹ ist das Tier, einer, der Papst sein will, ein Antipapst und einer, der ›in die Verdammnis‹ fahren wird.« Di Concerci war sich nur allzu bewußt, daß seine überraschende Deutung unterschwellige Ungläubigkeit, Erstaunen und Aufregung bei den Anwesenden auslöste. Er fuhr fort. »Vers zwölf bis vierzehn: Dies sind die Dinge, die noch kommen werden. Eine Vorhersage des Kampfes zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Für kurze Zeit wird der Böse einflußreiche Leute verführen, die eine schlechte Sache unterstützen. Diejenigen, die sich täuschen lassen, werden in Armageddon aufstehen, es wird zu einem bewaffneten Kampf gegen die Mächte des Guten kommen. Aber durch die Stärke des Allmächtigen und des Gotteslamms werden die Abtrünnigen schließlich zu Boden geworfen. Und schließlich Vers fünfzehn und sechzehn: Die Menschen, über welche die Hure regiert, werden sie endlich als die Böse erkennen, die sie ist. Sie werden sich gegen sie erheben und sie vernichten. Und letztendlich wird die Welt zum Frieden zurückkehren und zur Erfüllung der apokalyptischen Prophezeiung, nach der Christus 416
eintausend Jahre lang auf Erden in einem glorreichen neuen Jahrtausend regieren wird.« Alle am Tisch waren fassungslos und bestürzt angesichts der bedeutungsschweren Enthüllungen des Präfekten. Kardinal di Concerci mußte nur noch eine letzte Parallele hervorheben. »Die Welt hat den Namen, den diese Frau angenommen hat, als eine Ableitung des biblischen Namens Christi akzeptiert, als weibliche Form des heiligen Namens Jesus'. Ich sage euch aber, daß die Welt den Namen Jesa, obwohl er wirklich biblischer Herkunft ist, vollkommen falsch hergeleitet hat. Denn seht, der Name der falschen Prophetin ist nicht J-E-S-A oder J-E-Z-A, wie man ihn oft geschrieben sieht. In Wirklichkeit lautet er J-E-Z-E, eine verkürzte und versteckte Form ihrer wahren und jetzt enthüllten Identität – der Name der geschmähten Hure, Verführerin und Betrügerin des Alten Testaments, Jezabel oder Isebel! Isebel, die berüchtigte Götzendienerin des ersten und zweiten Buches der Könige. Das schöne Heidenmädchen, das für eine kurze, folgenschwere Zeit auch die Gläubigen zur Anbetung eines falschen Götzen, des Gottes Baal, in die Irre führte. Isebel, eine Betrügerin, die wie ihre moderne Nachfolgerin gleichen Namens die Welt in Aufruhr versetzte. Bis am Schluß ihre Bosheit erkannt und sie durch den gerechten Zorn der Menschen in Erfüllung der Prophezeiung vernichtet wurde. Diese neue Isebel, die nun vor uns steht und dreist von uns verlangt, die geheiligten Institutionen der Kirche und unserer Religion aufzugeben, diese Jesa ist keine Prophetin. Sie ist kein neuer Messias. Keine Botin Gottes. Wie mir in meiner heiligen Vision gezeigt wurde, ist diese Jesa die Erfüllung all dessen, was im Buch der Apokalypse vorausgesagt, am meisten gefürchtet und verachtet wird. Nicht die Tochter Gottes, sondern die Tochter des Satans. Die Fleischwerdung allen Übels. Der Antichrist!« Die Wirkung dieser Worte auf die Versammlung war überwältigend. 417
»Und zu guter Letzt«, verkündete di Concerci triumphierend, »möchte ich euch all das in einem letzten Zitat, das von dem Blut der heiligen Johanna im Buch der Offenbarung gekennzeichnet ist, aus Kapitel zwei, Vers zwanzig bis dreiundzwanzig, zusammenfassen. Diese Voraussagen zeigen deutlich, daß die neue Isebel vom Teufel geschickt wurde, um die moderne Welt vom rechten Weg abzubringen: ›Aber ich habe wider dich, daß du lassest das Weib Isebel, die da spricht, sie sei eine Prophetin, lehren und verführen meine Knechte, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen. Und ich habe ihr Zeit gegeben, daß sie sollte Buße tun für ihre Hurerei, und sie tut nicht Buße. Siehe, ich werfe sie in ein Bett, und die mit ihr die Ehe gebrochen haben, in große Trübsal, wo sie nicht Buße tun für ihre Werke, und ihre Kinder will ich zu Tode schlagen. Und alle Gemeinden sollen erkennen …‹« Der Präfekt schloß die Bibel und schaute ernst in die bleichen Gesichter seiner Kollegen. »Gott hat uns die gewaltigste Glaubensprüfung seit zweitausend Jahren auferlegt. Meine Brüder, das Jüngste Gericht steht uns bevor. Der schon lange gefürchtete Antichrist, diese Isebel, ist jetzt gekommen. Und wir dürfen es nicht wagen, unserer Verantwortung nur zögernd gerecht zu werden – einer Verantwortung, die uns verpflichtet, dieses Übel zu entlarven. Denn wenn wir scheitern, werden uns die Folgen der Apokalypse treffen, die zu schrecklich sind, um sie ausmalen zu können.« Der Präfekt wandte sich nun dem tieferschütterten Pontifex zu. »Nikolaus, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, im Namen der Kirche, im Namen der zweitausend Jahre päpstlicher Obhut zum Schutz des heiligen Bundes mit Christus flehe ich Sie an, eine sofortige formelle Anordnung zur Verteidigung des Glaubens in Gang zu setzen. Ich bitte Sie, ein Dekret ex cathedra herauszugeben, das Jesa zum wahren, entlarvten und bestätigten Antichristen erklärt 418
und als solchen verdammt.« Es herrschte völlige Stille im Saal. Di Concerci wartete stehend und mit verschränkten Armen auf die Antwort. Nikolaus hielt die Hände, die nun leicht zitterten, wie zum Gebet gefaltet. Seine Augen wanderten hektisch umher, die Stirn war in Falten gelegt, die Lippen fest zusammengepreßt. Endlich faßte er sich, blinzelte ein paarmal und holte tief Luft. Als er antwortete, sprach er leise und langsam wie zu sich selbst: »Das ist die bedrohlichste Überlegung, die ein Nachfolger von Petrus in geistlichen Dingen je anzustellen hatte. Seit Monaten lastet diese Angelegenheit schwer auf meiner Seele, und obwohl ich täglich bete, daß die große Bürde leichter werde, drückt sie mich doch nur immer schwerer. Ich habe alles, was Sie uns heute morgen dargelegt haben, mit Aufmerksamkeit verfolgt, und ich muß sagen, es scheint mir sehr überzeugend. Ich habe auch kaum Zweifel, daß der Rest unserer Versammlung mir zustimmen wird.« Rund um den Tisch erhob sich unter den religiösen Beratern ein zustimmendes Murmeln. »Jedoch«, fuhr der Papst fort, »ist dies eine Angelegenheit von äußerstem Ernst, und ich muß feststellen, daß ich noch nicht klar genug sehe, um unverzüglich eine Entscheidung ex cathedra zu fällen.« »Eure Heiligkeit«, warf di Concerci erregt ein, »nur wenn Sie ex cathedra sprechen, können Sie die absolute und zweifelsfreie Unfehlbarkeit in Anspruch nehmen, die die Gläubigen in einer so folgenschweren Sache verlangen werden. Sie müssen die Überzeugung fühlen, um mit Festigkeit sprechen zu können, sonst wird unsere heilige Mission nicht gelingen. Und wir haben einfach keine Zeit für einen Aufschub. Sonst, fürchte ich, wird alles verloren sein!« Der Pontifex gebot seinem Kardinal mit erhobener Hand Einhalt. »Ich verstehe Ihre Sorge, Präfekt. Trotzdem werde ich mich, bevor ich ein Edikt ex cathedra ausspreche – eine sehr schwerwiegende Ent419
scheidung, die sehr wohl ein vorzeitiges Armageddon heraufbeschwören könnte –, in meine Gemächer zu Gebet und Meditation zurückziehen. Wie Sie es getan haben, Antonio, werde auch ich Gott im Gebet um ein untrügliches Zeichen bitten. Und um sechs Uhr morgen früh werde ich wieder hier erscheinen und der Versammlung meine Entscheidung mitteilen.« Mit äußerster Beherrschung beugte di Concerci sich dem Urteil des Papstes. Nikolaus erhob sich mühsam, und die Versammlung stand aus Respekt sogleich auf und verharrte so, bis der Papst den Raum verlassen hatte. Nachdem Nikolaus gegangen war, folgten die übrigen Mitglieder der Kurie und gratulierten Kardinal di Concerci, als sie nacheinander an ihm vorbeigingen. Ihre Stimmung hatte sich durch die erstaunliche Darlegung des Präfekten erheblich verbessert. Silvio Santorini blieb zurück, um di Concerci auf dem kurzen Weg zu ihren Büros zu begleiten. »Würden Sie mir wohl erlauben, die Bibel der heiligen Johanna zu betrachten?« bat Santorini, und di Concerci schlug das alte Buch genau an der richtigen Stelle auf. Santorini nahm das Buch ehrerbietig entgegen und betrachtete die heilige Reliquie eingehend. »In all meinen Jahren bei der Kirche«, bemerkte er, »ist mir nie das Privileg einer persönlichen Offenbarung zuteil geworden. Eine große Ehre ist Ihnen widerfahren«, sagte er und führte die vergilbten Seiten nah an die Augen, um die geheiligten braunen Flecken, die die Textstellen markierten, zu betrachten. »Sie müssen große Furcht verspürt haben und tief erschüttert gewesen sein. Welch ein Segen für Ihren Glauben!« Di Concerci sagte nichts, sammelte weiter seine Unterlagen und schichtete sie ordentlich in seinen Aktenkoffer. Da er keine Antwort bekam, erkundigte sich Santorini noch einmal: »Wie hat diese Erfahrung auf Sie gewirkt, Antonio?« Er sah den Präfekten dabei fragend an. Di Concerci fühlte sich von den 420
neugierigen Blicken seines Freundes ein wenig bedrängt, gab dann aber seine Zurückhaltung auf und stellte sich dem Blick. »Ich sage Ihnen das ganz im Vertrauen, Silvio. Ich hatte das Gefühl, ich sollte meiner Erklärung heute ein gewisses dramatisches Element hinzufügen.« Santorinis Erstaunen war offenkundig. »Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ihn di Concerci, »die Blutflecken, die Sie hier sehen, sind echt. Und ich habe tatsächlich in den Katakomben meditiert, und es wurde mir tatsächlich eine Offenbarung zuteil: Ich habe das alles nur ein wenig mit Blitz und Donner ausgeschmückt, um die Botschaft zu unterstreichen.« Die wiedererweckte Hoffnung, die Santorini zuvor verspürt hatte, war erschüttert. »Und die Stimme, die Sie hörten, Antonio?« fragte er. »Petrus' Stimme?« Der Präfekt packte den kleineren Mann an der Schulter. »Das, Silvio, da kann ich Sie beruhigen, war Wirklichkeit. Ich habe die Stimme des Fischers gehört, und auch der Rest war genauso, wie ich es geschildert habe.« Santorinis Glaube war nur teilweise wiederhergestellt. Di Concerci lächelte zuversichtlich, klopfte seinem Kollegen auf den Rücken, drehte sich um, weil er seine Aktenmappe schließen wollte, und fügte hinzu: »Manchmal werden Gottes Wunder mehr geschätzt, wenn ein wenig Theaterdonner sie begleitet. Ich habe nur eine harmlose Ausschmückung hinzugefügt, weiter gar nichts.« Als er Santorinis Zögern bemerkte, wandte sich der Präfekt seinem Kollegen erneut zu, und ein strengerer Ton lag jetzt in seiner Stimme. »Der Herr hilft denen, die sich selbst helfen, Silvio. Und ich jedenfalls habe nicht vor, untätig dazusitzen und zuzusehen, wie meine geliebte Kirche wegen dieser unerträglichen Ausgeburt der Wissenschaft zugrunde geht. Wir müssen die Truppen für den Kampf sammeln, der uns bevorsteht. Wir müssen in unserer Sache einig sein und mit vernichtender Kraft angreifen.« 421
89 BAR SHADOW OF THE PYRAMIDS, KAIRO, ÄGYPTEN, 22 UHR 17, FREITAG, 24. MÄRZ 2000 »Also, jetzt reicht's«, ließ Hunter Feldman wissen und drehte sich auf seinem Barhocker herum, um seinem Freund direkt ins Gesicht sehen zu können. »Ich führe ja schon den ganzen Abend praktisch einen Monolog mit mir selbst. Alles was ich aus dir rauskriege, ist ›ja – mmhm‹ und ›vielleicht‹. Was ist denn los, Jon?« Die Ellbogen auf die Bar gestützt, ließ Feldman die Schultern nach vorn fallen und schaute seinen Gesprächspartner niedergeschlagen an. »Tut mir leid, Breck, ich bin nicht sehr gesprächig heute abend.« »Verdammt, Jon, nicht gesprächig? Du bist ja nicht mal da. Du bist die ganze Woche nicht dagewesen, Herrgott noch mal. Seit wir aus Rom zurück sind, hast du zu den Redaktionssitzungen nicht die Bohne beigetragen. Es ist, als hättest du jedes Interesse verloren, gerade jetzt, wo es spannend wird.« Feldman schwieg und starrte weiter in sein Glas. »Komm, Feldman, ich sag's zum letzten Mal, sprich dich doch endlich mal aus!« Feldman zuckte die Achseln und sah Hunter von der Seite an. Dann starrte er wieder in sein inzwischen warm gewordenes Bier. »Weißt du, diese Jesa …« Feldman schluckte und räusperte sich mehrere Male. »Sie beschäftigt mich doch mehr, als mir lieb ist.« »Ach du Scheiße, Feldman. Jesa?« Feldman nickte. 422
»Ach du Scheiße!« wiederholte Hunter. Er sagte ein paar Augenblicke gar nichts, als müsse er das eben Gehörte erst einmal verdauen. »Ich weiß nicht, Kumpel«, meinte er dann, wieder ganz der alte. »Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen – du und Jesa, wie ihr euch in 'nem Vorort von Cincinnati gemütlich einrichtet, um eine Familie zu gründen. Das haut nicht hin, Mann.« »Du verstehst das nicht«, versuchte Feldman kopfschüttelnd zu erklären. »Ich verstehe es eigentlich selbst nicht. Aber es ist nicht, wie du denkst …« Hunter verdrehte die Augen. »Sie hat dich verhext, Mann. Sie hat dich in ihre millennarische Falle gelockt, genauso wie die anderen verzückten Einfaltspinsel da draußen. Komm, ich will dich nicht runtermachen, aber du bist doch wirklich zu intelligent für so was!« Feldman nahm die Brille ab, legte sie auf die Bar und rieb sich die Augen mit den Fingerspitzen. »Ach Gott, Breck, ich weiß nicht. Vielleicht hat das auch damit zu tun. Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihr denken soll. Aber, ich meine, wie erklärst du dir denn zum Beispiel, was in der Basilika passiert ist?« »Willst du damit sagen, ob ich an eine Art göttlichen Eingriff glaube, bei dem, was da abging? Nee, überhaupt nicht!« »Ja, aber wie erklärst du dann die Sache mit der Altarsteinplatte? Wie, um Himmels willen, konnte Jesa sich so gut in den Archiven auskennen? Wie, zum Teufel, wußte sie so genau, wo all die Daten versteckt waren? Erklär mir das mal. Mein Gott, sie weiß ja sogar Dinge über mich, die ich nie jemandem erzählt habe, außer meinem Therapeuten.« »Das mit der Altarsteinplatte weiß ich nicht, Mann, aber daß sie sich mit ein paar staubigen alten Büchern auskennt, ist ja nicht gerade wie Auf-dem-Wasser-Wandeln. Wie können wir wissen, ob Leveque nicht die Kenntnisse über all die Archive in Jesas Kopf einprogrammiert hat?« 423
Feldman war unbeeindruckt, und Hunter versuchte es noch einmal anders. »Sieh mal, Jon, es gibt doch viele Dinge bei den Menschen, die wir nicht verstehen. Hellsehen, Telepathie. Und was den Altarstein betrifft, gibt es so etwas wie Psychokinese, Telekinese … man kann zum Beispiel durch den Geist Objekte bewegen. Zum Beispiel Poltergeistphänomene, wenn pubertierende Mädchen sich ganz komisch benehmen und durch geistige Kräfte Teller zerschmeißen und so 'n Zeug, und alle geben dann bösen Geistern die Schuld daran.« Feldman war immer noch nicht besonders beeindruckt. »Na und? Jesa hat also 'n paar David-Copperfield-Vorstellungen gegeben«, räumte Hunter ziemlich frustriert ein. »Das heißt doch noch nicht, daß wir uns alle wie die Jesusfreaks aufführen und sentimental werden müssen, auf die Knie fallen und das alles. Sieh mal, Jon, vor ein paar tausend Jahren haben die Leute die Sonne angebetet. Mein Gott, wir leben im 21. Jahrhundert. Wenn wir etwas nicht sofort erklären können, brauchen wir es nicht gleich in die Schublade Gott einzusortieren.« Hunter schlug auf die Bar. »Verflixt, es ist an der Zeit, daß die Leute sich 'n bißchen intelligenter aufführen. Die Gesellschaft ist doch schon immer Wunderheilern und Schwindlern auf den Leim gegangen. Religion ist doch nichts als eine Farce. Eine Methode, um den Leichtgläubigen Geld aus der Tasche zu ziehen. Du weißt es, und ich weiß es auch. Alles ein großer Betrug. Die Idee, daß es einen Gott gibt, ist psychologischer Balsam für die Seele der Unsicheren. Der Weihnachtsmann für Erwachsene.« Feldman schüttelte den Kopf. »Na hör mal, Breck. Nicht alle Religionen sind Heuchelei. Es gibt Millionen von Menschen da draußen, die in ihrem Glauben völlig aufrichtig sind und ehrlich versuchen, ihn zu leben.« Hunter seufzte ungeduldig, preßte entschlossen die Lippen zu424
sammen und sah Feldman finster an. »Sogar wenn es sie gibt, Jon, ist mir das alles scheißegal. Ich mag Religion nicht. Ich finde sie langweilig, sie hat mit Politik zu tun und manipuliert die Leute. Mir gefällt das frömmlerische Getue nicht. Und vor allem mag ich die verdammten Vorschriften nicht. Ich sündige gern! Ich tue alles gern, was man nicht tun soll. Ich mach' mir gern ein gutes Leben, und wenn das nicht hinhaut, kann mich Gott von mir aus in die Hölle verfrachten, wenn ich sterbe, ändern werd' ich mich nämlich bestimmt nicht. Diese verdammten Millennarier sind doch Idioten«, rief er und bezog dabei alle mit einer großen, umfassenden Geste ein. »Eine Schafherde, die sich zur Schlachtbank führen läßt.« Eine Zeitlang sagte keiner von beiden etwas. Feldman putzte seine Brille mit einer Serviette und setzte sie wieder auf. Schließlich legte Hunter seinem Freund einen Arm um die Schulter. »Was ist eigentlich mit dir und Anke, Jon?« »Na ja, es herrscht ziemliche Funkstille zwischen uns«, seufzte Feldman. »Ich bin einfach derart absorbiert von der ganzen Geschichte mit …« »Also, ich versteh' dich nicht. Da hast du eine phantastische Frau, für die fast jeder sterben würde, und läßt sie hängen wegen so einer platonischen Romanze mit einem Geschöpf, das sich für die Tochter Gottes hält? Mach dir doch klar, Mann, bei Jesa ist buchstäblich der Schaltplan durcheinander! Sie stammt aus der Retorte, und irgend etwas hat dabei nicht geklappt. Sie ist nicht ganz normal!« Feldman fuhr blitzartig auf seinem Barhocker herum, packte Hunters Arm und verschüttete dabei sein Bier. »Wenn du so was noch mal sagst, hau' ich dir eine runter, ich schwör's dir. Kapiert?« Es war eher unwahrscheinlich, daß sich Hunter davon einschüchtern ließ, aber er spürte, daß er zu weit gegangen war. »Du hast ganz recht, alter Freund«, meinte er versöhnlich. »Das war echt daneben. Tut mir leid.« Feldman ließ seinen Freund los, warf ihm einen bösen Blick zu 425
und zog die Brieftasche heraus. »Hör mal, es ist schon spät. Wir haben beide ein bißchen zuviel getrunken. Laß uns lieber gehen.« Hunter verzog das Gesicht. »Du bist doch nicht etwa sauer? Tut mir wirklich leid, daß ich so blöd rumgequatscht habe. Ich will nur nicht erleben, daß du die Sache mit Anke kaputtmachst. So eine findest du nie wieder.« »Nein, ich hab' mich nicht geärgert. Und wegen Anke hast du ja recht. So eine gibt's unter einer Million nur einmal. Ich will nicht, daß unsere Beziehung zu Ende geht wie all meine anderen. Ich glaube, ich muß mal sehr gründlich nachdenken.« Er warf ein paar Scheine auf die Theke, und sie fuhren getrennt weg, jeder in seinem Wagen. Aber Feldman fuhr nicht nach Haus, sondern hinaus in die Wüste. Er setzte sich auf einen Felsbrocken auf der Spitze jenes Hügels, wo er Jesa zuletzt gesehen hatte.
90 IN DEN GEMÄCHERN DES PAPSTES, VATIKAN, ROM, ITALIEN, 3 UHR 47, SAMSTAG, 25. MÄRZ 2000 In der Morgendämmerung kehrte Nikolaus, von seinem treuen Schweizergardisten begleitet, in seinen Palast zurück, betrat seine Privaträume und setzte sich müde an seinen großen Schreibtisch. Die letzten fünfzehn Stunden hatte er, ohne zu essen und zu trinken, in der Peterskirche zugebracht, die er zuvor hatte absperren 426
lassen, um sich vollkommen allein sammeln zu können. Er hatte vor dem Hochaltar ausgestreckt auf dem Boden gelegen. Stundenlang hatte er auf dem kalten Steinboden vor dem Petrusgrab gekniet und seinen Vorgänger angefleht, zu ihm zu sprechen, wie der große Apostel zu Antonio di Concerci gesprochen hatte. Acht Stunden hatte Nikolaus inbrünstig gebetet und den Herrn lange und leidenschaftlich um Inspiration und Führung in dieser Zeit der Verzweiflung gebeten. Er hatte alle prophetischen Textstellen aus der Offenbarung, die di Concerci zitiert hatte, immer wieder gelesen. Ja, er hatte selbst weitere Hinweise im Markusevangelium, im zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher und im Alten Testament im fünften Buch Moses gefunden. Trotzdem hatte Nikolaus, bevor er diese ernste und schreckliche Anklage erheben wollte, um ein Zeichen gebetet. Etwas, irgend etwas, das dieses größte Rätsel erhellen könnte. Aber da war nichts. Nicht einmal das Flüstern eines Geistes oder der kleinste Lichtstrahl einer Vision. Er war zögernd in seine Wohnräume zurückgekehrt, um seine Wache fortzusetzen. Es ging um die wichtigste Entscheidung in der Geschichte der Christenheit, und es fehlte ihm vollkommen an spiritueller Führung. Er würde die wichtigste Entscheidung überhaupt in dieser Entfremdung von seinem Gott fällen müssen. Diese Ahnung verschlug ihm die Sprache. Aber einen Versuch wollte er noch unternehmen. Obwohl er es schon ein dutzendmal gelesen hatte, mußte er nun zum letzten Mal die einzige neuere Quelle göttlicher Offenbarung befragen, die ihm zum Thema des Jüngsten Tages bekannt war. Er nahm den goldenen Schlüssel von der Kette an seinem Gürtel und steckte ihn vorsichtig in das Schloß des Tresorfaches an seinem Schreibtisch. Langsam drehte er den schweren Riegel, und die dicke Holztür sprang auf. Aus dem großen Fach nahm Nikolaus eine verblaßte, in braunes Leder gebundene Mappe und legte sie sorg427
fältig auf den Tisch. Langsam band er die Lederriemen auf, die sie zusammenhielten, und öffnete den schweren Einband. Nachdem er den geheiligten Inhalt herausgenommen hatte, breitete er behutsam einige vergilbte Blätter auf seinem Schreibtisch aus. Die Dokumente bestanden aus handschriftlichen Briefen in portugiesischer Sprache. Der erste trug das Datum des 17. November 1929. Der letzte war vom 23. November desselben Jahres. Und jeder war unterschrieben mit Marie Lucia de Jesus, R.S.D. Es waren die berühmten Originale der Fátima-Briefe, in denen die Prophezeiungen der Jungfrau Maria an drei Kinder eines Schäfers aufgezeichnet waren. Die Mutter Gottes war ihnen auf den Hügeln der ländlichen Gegend um Fátima in Portugal im Jahr 1917 erschienen. Die Briefe waren später, mehr als zehn Jahre nach diesen Ereignissen, von Lucia niedergeschrieben worden. Denn sie war die einzige Zeugin der Visionen, die damals noch am Leben war. In diesen Briefen zeichnete Lucia die berühmten vier Offenbarungen auf – die gewichtigen Worte der Jungfrau, Worte des Unheils und der Hoffnung, in denen je eine Prophezeiung pro Brief enthüllt wurde. Die ersten drei Offenbarungen waren der Welt wohlbekannt. Lucia hatte sie zu verschiedenen Gelegenheiten nach den Heimsuchungen wörtlich wiedergegeben. Über die vierte Offenbarung jedoch, das geheimnisvolle letzte Rätsel von Fátima, hatte die Welt seit Jahrzehnten spekuliert. Dieses letzte Geheimnis war in der Tat so verwirrend und ließ so viel Schlimmes vorausahnen, daß die Jungfrau damals der Lucia, eigentlich noch einem Kind von zwölf Jahren, gesagt hatte, sie brauche sich um die Bedeutung desselben oder die Erinnerung daran nicht zu kümmern. Sie, Maria, werde eines Tages zu ihr zurückkehren, um ihr das Geheimnis zu enthüllen. Und die Jungfrau tat dies am Morgen des 23. November 1929. Sie machte ihr Versprechen durch ihre letzte und beängstigendste Erscheinung vor Lucia wahr und teilte ihr noch einmal das schreck428
liche letzte Geheimnis von Fátima mit, das Lucia dann Wort für Wort aufschrieb. Was diese vier Offenbarungen so einzigartig und so wichtig machte, war die Tatsache, daß sie nicht wie die meisten biblischen Prophezeiungen in eine unklare Sprache voller Symbolik verpackt waren. Diese Voraussagen waren, trotz ihres mystischen Tonfalls, sprachlich viel genauer und für die unmittelbare Zukunft geschrieben. Wieder las Nikolaus alle Briefe, wobei er mit dem ersten begann, um mögliche Parallelen in den Prophezeiungen feststellen zu können. Im ersten Dokument hatte Lucia in allen Einzelheiten die berühmten Wunder der Heimsuchungen von Fátima beschrieben, wie zum Beispiel der Tag der ›tanzenden Sonne‹, an dem die Sonne am Himmel über den Hügeln von Fátima geschwankt und sich auf unerklärliche und merkwürdige Weise bewegt haben soll. Dies wurde von über einhunderttausend Anwesenden bezeugt, darunter Mitgliedern der antiklerikalen Presse, die zuvor voller Zweifel gewesen waren. Dann hatte Lucia die erste bekannte Prophezeiung niedergeschrieben. Sie sprach von der Trauer der Jungfrau angesichts des allgemeinen Leids dieser Zeit, von der fortdauernden Zerstörung durch den großen Krieg, von der russischen Revolution, die, wie prophezeit, noch im selben Jahr stattfand. Auch das Heraufziehen des gottlosen Kommunismus und seine lange Schreckensherrschaft sagte sie genau voraus. Im zweiten Brief prophezeite die Jungfrau den Aufstieg des Faschismus und den Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Sie beschrieb genau den Holocaust, Hungersnöte, Krankheiten und weitverbreitetes Elend. Im dritten Brief hatte die Jungfrau ein Versprechen gemacht, das an eine Bedingung geknüpft war. Sie hatte den Niedergang des Kommunismus in Rußland und danach eine relativ friedliche und 429
ruhige Zeit für die Welt vorausgesagt – wenn genug für die Bekehrung Rußlands gebetet würde. Und tatsächlich wurden die Bedingungen der Jungfrau erfüllt und die Versprechen des dritten Briefes voll und ganz verwirklicht. Der letzte Brief schließlich war es, der sich direkt und speziell auf Papst Nikolaus und die Ereignisse der Gegenwart bezog. Der geheime Brief. Der einzige, der von den Päpsten schon seit über siebzig Jahren streng geheimgehalten wurde. Nikolaus war unter den Lebenden der einzige, der ihn gelesen hatte. Pius XI. hatte als erster Papst den Brief im Jahr 1929 erhalten. Man erzählte sich, er habe sehr erregt reagiert, das Gesicht in den Händen vergraben, alle aus seinem Zimmer geschickt und verfügt, der Brief solle, solange er Macht darüber habe, versiegelt bleiben. Sein Nachfolger Pius XII., der unter Pius XI. als Staatssekretär diente, war zugegen gewesen, als der Brief seinem Vorgänger übergeben wurde. Da er Zeuge von Pius' XI. traumatischer Reaktion geworden war, weigerte sich Pius XII. zeit seines Lebens, den schrecklichen Inhalt zu lesen. Die Reaktion von Johannes XXIII. im Jahr 1958 wurde von denen, die um ihn waren, ebenfalls als traumatisch beschrieben. Man sagte, sein rotes Gesicht sei weiß geworden, und er habe sofort bestimmt, den Brief im päpstlichen Privatsafe zu verschließen. Nachdem Papst Paul VI. den Brief gelesen hatte, machte er eine umstrittene Pilgerfahrt nach Fátima. Sie war problematisch, weil Portugal damals noch unter dem faschistischen Regime des Diktators Antonio Salazar stand. Der Besuch des Papstes wurde so ausgelegt, als billige er dieses Regime, und obwohl Paul VI. wußte, daß diese Reise ihn überall in der Welt viel Ansehen kosten würde, war er nicht davon abzubringen gewesen. In Fátima, erzählte Paul VI. später, habe er eine Vision von Armageddon erlebt, als er sich über einer Million Menschen gegenübersah, der größten Menschenmenge, die er je erleben sollte. Als 430
hätten sich die Massen zum Jüngsten Gericht versammelt, drückte er es später, von ehrfürchtiger Scheu ergriffen, aus. Der Brief blieb weiterhin versiegelt. Papst Johannes Paul I. erlebte die vernichtendste Auswirkung des Briefes. Obwohl die Umstände offiziell geleugnet wurden, kannte Nikolaus die schreckliche Wahrheit nur allzu gut. Eines Morgens wurde der Papst, kaum einen Monat nach seiner Amtseinsetzung, tot vor dem offenen Safe des Schreibtischs aufgefunden, den berüchtigten Brief in der leblosen Hand. Die ängstlichen Nonnen, die ihn bedienten, nahmen ihm den Brief pflichtbewußt und mit zitternden Fingern ab und legten ihn wieder in die Ledermappe an den geheimen Platz im Safe. Aber Papst Johannes Paul II., dem unmittelbaren Vorgänger Nikolaus' VI., widerfuhr die ausgefallenste Geschichte. Am 13. Mai 1981, dem Jahrestag der ersten Erscheinung der Jungfrau in Fátima, wurde er Opfer eines Attentatsversuchs auf dem Petersplatz. Er schrieb es ausdrücklich der Jungfrau von Fátima zu, daß er den Anschlag überlebte. Am zehnten Jahrestag des Attentats auf Johannes Paul II., dem vierundsiebzigsten Jahrestag der ersten Erscheinung der Lieben Frau zu Fátima, tat der Papst etwas, was in der Geschichte des Katholizismus einmalig war. Er weihte seine ganze weltweite Gemeinde Unserer Jungfrau zu Fátima. Damit forderte er alle Katholiken auf, für die Erfüllung der geheimen Bedingungen des Briefes zu beten, und deutete an, daß sie, täten sie dies nicht, die Erfüllung einer äußerst grausamen Prophezeiung zulassen würden. Er erklärte – und löste damit fast eine allgemeine Panik auf der ganzen Erde aus –: »Bereut und bessert euer Leben, denn das Ende der Welt ist nah!« Während der Feier stand neben dem Papst eine sechsundachtzigjährige Karmeliternonne, Schwester Lucia de Jesus, R.S.D., die letzte noch Lebende der drei Visionäre von Fátima. Die beängstigende Voraussage des Pontifex diente nur dazu, die 431
unheilvolle Vision noch weiter zu verdunkeln. Johannes Paul hatte im Jahr 1995, vielleicht um die Gläubigen dadurch zu beruhigen, daß die Menschheit den gefürchteten Anfang des nächsten Jahrhunderts doch überleben werde, ein ›heiliges Jubiläumsjahr‹ gefordert, ›das am Anfang des neuen Jahrtausends, am 1. Januar 2000‹ beginnen sollte. Aber jetzt, da der von Johannes Paul festgesetzte Termin und der Anfang des neuen Jahrtausends hinter ihm lag, fand Papst Nikolaus, das Jubiläumsjahr sei alles andere als ein Jubeljahr. Die Verwahrung des unheilvollen Briefes war auf ihn übergegangen. Und wie beunruhigend der Inhalt des Briefes auch auf seine Vorgänger gewirkt haben mochte, hatte doch Nikolaus jetzt das Pech, daß er der Papst war, auf den die Offenbarungen letztlich zutrafen. Nun hing alles von ihm und von diesem Moment ab. Nikolaus VI. holte tief Luft und hob mit schnell klopfendem Herzen die vergilbten Blätter auf, um in ihrer seltsamen Botschaft noch einmal nach einer verborgenen Bedeutung zu suchen: 23. November 1929 Dies sind die Worte unserer gesegneten Mutter, der Jungfrau Maria, die ich, ihre ergebene Dienerin, getreulich aufschreibe: »Mein Kummer ist groß, und ich bin tief betrübt, daß wenig getan wird, um die Täuschung und Selbstsucht und das Elend in der Welt zu beenden. Überall ist das Wort meines Sohnes verdorben, und das Geistliche wird durch das Materielle ersetzt. Die Geduld des Allmächtigen geht zu Ende. Mein Sohn will zurückkehren, doch sogar jetzt wird sein Weg nicht bereitet. Aber bald werdet ihr verstehen, daß die Zeit naht, und auch ihr, Nachfolger des Petrus, werdet Gewalt und Verwundung und Tod durch die Erfüllung meiner Prophezeiung kennenlernen. Wenn die Dinge so geschehen, wie ich es sage, werdet ihr an meine Worte denken und wissen, daß die Zeit nah ist. 432
Aber sogar jetzt ist es nicht zu spät, zu bereuen und dem Weg des Herrn zu folgen. Wendet euch wieder an die Schriften, die euch gegeben sind vom Gottessohn. Haltet euch genau an das Wort. Ändert euch. Betet und tut Buße und erhebt eure Stimme gegen Hoffart und Ungerechtigkeit. Tut dies und ihr könnt dem Zorn Gottes entkommen. Ich bringe euch aber zuletzt zwei Prophezeiungen – nur eine davon wird eintreffen. Welche sich erfüllt, hängt von eurem Tun ab, da die Entscheidung noch in eurer Hand liegt.« Die erste Prophezeiung – Die Vernichtung Wenn ihr nicht wachsam seid und euren Glauben an den Herrn aufrechterhaltet, wird euch die erste Prophezeiung widerfahren: Der Allmächtige wird seinen Boten schicken mit dem Schwert der Wahrheit; und die, welche die Wahrheit kennen, werden in der Reinheit ihres Herzens den Boten auch erkennen. Aber wehe euch, die ihr verhärteten Herzens seid und nicht sehen und hören könnt. Ihr, die ihr den Kopf hoch tragt mit Hochmut, ihr werdet stolpern über das, was euch im Weg liegt. Ihr werdet euch gegeneinander wenden in Verwirrung, Anklage und Wut. Die Vernichtung wird beginnen, und das Schwert wird euch niederschlagen und euch vernichten. Tod und Gemeinheit werden regieren. Die Großen werden gefällt und die Mächtigen zugrunde gerichtet werden, und das, was ihr verherrlicht habt, soll nicht mehr sein. Mit dem Schwert der Wahrheit wird der, welcher gesandt wurde, wieder versuchen, den Weg des Herrn für ihn zu bereiten. Denn es wird sich zeigen, daß ihr nicht würdig seid. Und ihr, die ihr überlebt, werdet nicht teilhaben an dem Versprechen der Schrift und an der Wiederkunft Jesu Christi – noch eure Nachkommen, noch deren Nachkommen bis zum Ende der Zeit. In der elften Stunde wird dies geschehen, wie ich es prophezeit habe. Und nichts, das euch gezeigt wurde, kann dann noch geändert werden.
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Die zweite Prophezeiung – Die glanzvolle eintausendjährige Herrschaft Wenn ihr aber auf meine Ermahnungen hört und das Wort ehrt, werden die Versprechungen der Schrift doch noch erfüllt. Aber seid gewarnt: Ihr müßt eine große Prüfung bestehen. Mitten unter euch wird der Böse erscheinen, in schöner Gestalt, um vor euch die süßen Früchte des Verderbens auszubreiten. Ihr müßt wählen zwischen dem Hunger des Guten und der Völlerei des Bösen. Täuschung wird euch umfangen, wie die Schlange ihre Beute umfängt; und ihr werdet geschlagen werden, wo ihr ungeschützt liegt, und jedwede Verwirrung und Aufruhr wird euch befallen. Aber in der Dunkelheit der Nacht wird das Licht des Herrn zu euch kommen. Ihr werdet den Mut haben, dem Bösen entgegenzutreten und die Soldaten Gottes gegen die Legionen des Satans zu führen. Und in der dunkelsten Stunde wird der Retter in all seinem Glanz wiederkommen. Und mit seinem göttlichen Urteilsspruch wird er den Bösen niederschlagen und den Gläubigen vom Ungläubigen scheiden; er wird die Gerechten von den Ketzern trennen und die Treuen von den Abtrünnigen. Und die Ungläubigen werden von ihm auf alle Zeit mit dem Bösen in die Feuer der ewigen Verdammnis geworfen. Aber ihr, die ihr Soldaten der Armee Gottes seid, werdet erhoben werden. Und so ihr Generäle seid, werdet ihr an der Spitze der ganzen Hierarchie des Himmels stehen. Ihr werdet jubelnd an der rechten Seite des Herrn sitzen, um die Erde eintausend Jahre im Glanz des ewigen Lebens zu regieren. So bringe ich euch Hoffnung für das, was noch kommt. Wägt sorgfältig die Wahrheit ab mit der Autorität und Macht, die euch verliehen sind. Wisset, daß in den letzten Tagen das Gute als das Böse und das Böse als das Gute erscheinen wird. Aber wenn die erste Prophezeiung eintreffen soll, wird sie sich vor Vollendung der Jahrtausendwende erfüllen; und wenn die zweite Prophezeiung eintrifft, soll sie danach eintreten. Ich warne euch jedoch, von diesen Worten zu irgend jemandem zu spre434
chen. Dies sind die Ermahnungen und Versprechungen des Vaters für euch, seine eingesetzten Apostel, denen er sein Wort anvertraut hat. Höret die Wahrheit und handelt danach, und was kommen soll, liegt in eurer Hand. So wurde es mir am 23. Tag des Novembers dargelegt, im Jahr unseres Herrn 1929. Ergebene Dienerin Gottes Marie Lucia de Jesus, R.S.D. Und da war es. Das letzte, schwierigste Rätsel. Wenn diese seltsame Frau, diese Jesa, der neue Messias war, wie sie behauptete, dann erfüllte sich die erste Prophezeiung. Die Menschen hatten versagt, hatten Gott enttäuscht und die Bedingungen der Jungfrau nicht erfüllt. Auf unbestimmte Zeit, ›bis zum Ende der Zeit‹, würde dem Menschen die versprochene Vereinigung mit Christus verwehrt sein. Und diese zornige Jesa würde, was Gott verhüten möge, eine Zeit göttlicher Strafe und Vernichtung einläuten. Wenn andererseits die zweite Prophezeiung die richtige war, dann wäre Jesa tatsächlich Isebel, der Antichrist, und ihr Erscheinen deutete auf einen grausamen Kampf zwischen Gut und Böse hin: Armageddon. Und danach würde die Wiederkehr Christi folgen und die lange erwartete glanzvolle, eintausendjährige Herrschaft, die Erfüllung der Schrift. Was war sie also, Messias oder Antichrist? Würde die Vernichtung kommen oder tausend Jahre Segen? Seine letzte Betrachtung des Briefes hatte dem Papst die Wahl nicht leichter gemacht. Beide Prophezeiungen enthielten sicher Parallelen zu den aktuellen Ereignissen, die jede Entscheidung, die er treffen würde, fragwürdig erscheinen ließ. Doch Nikolaus wollte das Gefühl haben, daß jeder Papst, einschließlich seiner selbst, der diese gewichtige letzte Offenbarung kannte, alles getan hatte, was in seiner Macht stand, um die Forde435
rungen der Jungfrau zu erfüllen und sich den Segen der zweiten Prophezeiung zu verdienen. So war das Hauptwerk seiner Amtszeit, sein Dekret zur Jahrtausendwende, ganz diesem Zweck gewidmet. Bestimmt war es also ihm und seinen Vorgängern gelungen, die Bedingungen der Jungfrau zu erfüllen, genauso wie es der Kirche vorher gelungen war, das Ende des Kommunismus in Rußland einzuleiten. Natürlich hoffte Nikolaus von ganzem Herzen, daß di Concerci recht hatte. Und es gab ja auch feine Hinweise in dem geheimen Brief, die für die Argumente des Präfekten sprachen. Zum Beispiel erinnerte die Stelle im zweiten Absatz der zweiten Prophezeiung, die sich auf eine ›Schlange‹ bezog, stark an die Schöpfung und die Schlange im Paradies. Das würde Jesa als Eva erscheinen lassen, als die Verführerin Adams und die Verursacherin des Sündenfalls. Das war der einzige Teil des Briefes, in dem auf den Geschlechtergegensatz hingewiesen wurde. Aber das war für Nikolaus keine neue Einsicht. Er hatte über diesen Punkt schon vorher nachgedacht. Schließlich wandte er sich wieder eindeutigeren Passagen zu, nämlich den Textstellen, auf die er sich jedesmal verlassen hatte, wenn er sich mit diesem schwierigen Dokument beschäftigt und sich um Führung bemüht hatte. Er konzentrierte sich wieder auf die beiden Sätze, die den Schlüssel zu enthalten schienen – und seiner Einschätzung nach allein eine Grundlage für eine Entscheidung boten. Das war einmal die erste Prophezeiung, letzter Abschnitt, erste Zeile: In der elften Stunde wird dies geschehen, wie ich es prophezeit habe. Und versteckt in der zweiten Prophezeiung der zweitletzte Absatz des Briefes: Aber wenn die erste Prophezeiung eintreffen soll, wird sie sich vor Vollen436
dung der Jahrtausendwende erfüllen; und wenn die zweite Prophezeiung eintrifft, soll sie danach eintreten. Wenn man also annahm, daß ›erfüllen‹, wie man es aus dem Portugiesischen übersetzte, ›abschließen‹ oder ›vollenden‹ bedeutete, lag Jesas Kommen nach diesem Termin. Wenn Jesa nach dieser Interpretation der neue Messias wäre, hätte sie ihre Aufgabe vor dem Übergang ins nächste Jahrtausend vollbringen müssen. Das war der Grund, weshalb Nikolaus am Neujahrstag vorübergehend einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen konnte – trotz der Millennarier vor seiner Tür, der Risse im Fresko und im Altar und der beunruhigenden Ereignisse im Heiligen Land. Wenn diese Sicht der Dinge korrekt war, konnte Jesa nicht die Abgesandte Gottes sein. Sie mußte der Antichrist sein, und das bedeutete, daß die zweite Prophezeiung Wirklichkeit wurde und es Zeit war, die Truppen zum letzten Heiligen Krieg zu sammeln. Andererseits hatte Nikolaus in sorgfältiger Überlegung die Möglichkeit erwogen, daß ›erfüllen‹ auch als ›Wirklichkeit werden‹ verstanden werden konnte. Jesa war mit Sicherheit vor dem Jahr 2000 Wirklichkeit geworden. Sie war am Weihnachtstag in der elften Stunde des letzten Jahres ›in die Wirklichkeit versetzt‹ worden. Hielt man sich an diese Definition von ›erfüllen‹, stand die Vernichtung unmittelbar bevor, und Nikolaus wußte, daß er, wenn er Jesa verdammte, sich der Verurteilung des lebenden Gottesboten schuldig machen und dem Willen des Höchsten Wesens zuwiderhandeln würde! Es gab jedoch eine Tatsache, die die glanzvolle eintausendjährige Herrschaft zu begünstigen schien, nämlich daß der Begriff ›Jubel‹ in der letzten Zeile der zweiten Prophezeiung vorkam. Lag hier eine Verbindung zu dem ›Jubeljahr‹ vor, das Johannes Paul II. gefordert hatte? War damit ein versteckter Hinweis entdeckt, oder ließ er sich lediglich durch einen Zufall in die Irre führen? Die Unklarheit war unerträglich. Trotz seiner flehentlichen Ge437
bete vor der größten Ansammlung heiliger Attribute und Andachtsbilder in der Welt war dem Papst bis jetzt durch all diese Quellen, die er zu Hilfe genommen hatte, noch nicht das kleinste Zeichen zuteil geworden. »Genug!« rief er voll Zorn. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Wenn er diese schreckliche Entscheidung allein und ohne Beistand fällen mußte, dann sollte es eben so sein, folgerte er. Obwohl Jesas Ankunft in persona vor der Jahrtausendwende lag, war doch ohne Frage die Substanz der ersten Prophezeiung nicht vor diesem Zeitpunkt erfüllt. Sie wurde als Predigerin erst nach dem Jahresbeginn 2000 aktiv. Wichtiger noch war, daß sie als ›die Abgesandte‹ zu akzeptieren gleichbedeutend war mit Fatalismus und Mutlosigkeit; es hieß, daß man damit an die Vernichtung glaubte und der Hoffnung auf die Zukunft der Welt und der Menschheit abschwor. »Mein Gott!« Der Pontifex erhob sich und fiel auf die Knie. Zitternd beugte er sich über den Brief und las eine Passage noch einmal, auf die durch das Fenster gerade der erste Strahl der Morgendämmerung fiel: Welche sich erfüllt, hängt von eurem Tun ab, da die Entscheidung noch in eurer Hand liegt. Gott helfe ihm, der Brief meinte genau das, was da stand! Er, Papst Nikolaus VI., oberster Repräsentant Christi auf Erden – er allein mußte entscheiden! Es war sein Glaube, der hier geprüft wurde! Der Papst seufzte und bekreuzigte sich mehrmals. Endlich, mit dem ersten Tageslicht war ihm ein Zeichen gegeben worden. Große, lange zurückgehaltene Tränen strömten ihm über die Wangen, sein ganzer Körper zuckte und zitterte vor Erleichterung über seine neue Erkenntnis. Er hatte also, ohne es zu wissen, die Antwort zu diesem 438
Dilemma schon lange gehabt. Es war seine Entscheidung, welche Prophezeiung sich erfüllen sollte. Er dankte seinem Herrn, erhob sich wankend und verwahrte mit unsicheren Händen die heiligen Briefe wieder im Sicherheitsfach. Er brauchte noch ein Weilchen, um sich zu sammeln, dann machte er sich unverzüglich auf den Weg zum Palast des Sanctum Officium, wo die Kongregation beklommen seiner Entscheidung entgegensah.
91 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 16 UHR 30, DIENSTAG, 28. MÄRZ 2000 »Schon wieder eine verrückte Aktion, bei der nichts herausgekommen ist?« vermutete Bollinger, als Feldman und Hunter ins Besprechungszimmer kamen. »Ja«, antwortete Feldman enttäuscht. »Jesa war schon lange weg, als wir ankamen, aber wir haben zweiundsiebzig Leute gesprochen, die sie angeblich geheilt hat.« Die beiden Männer waren gerade von einem neuen Auftritt Jesas zurückgekehrt. Seit ihrem Auftritt im Vatikan war sie nur zweimal öffentlich gesehen worden, einmal in einem Waisenhaus und dann in einem Kairoer Krankenhaus, wo sie angeblich eine ganze Abteilung Aidskranker geheilt hatte. Eines aber machte Feldman stutzig: Der Messias hatte sich beide Male in Begleitung eines gewissen Kardinal Alphonse Litti befunden. Es sah so aus, als sei Feldman als Jesas bevorzugter Verbin439
dungsmann ersetzt worden. »Immer noch nichts von Litti?« fragte er. »Nein«, antwortete Bollinger. »Der Kardinal war seit Sonntag früh nicht mehr in seinem Hotelzimmer.« Feldman schüttelte düster den Kopf. »Und jetzt, Gentlemen«, wechselte Bollinger das Thema, »zur neuesten Entwicklung: Während ihr weg wart, hat WNN Europe uns davon unterrichtet, daß der Papst am Montag, den 3. April, abends um neun Uhr Ortszeit eine wichtige Ansprache halten wird. Der Vatikan lädt auch diesmal alle Nachrichtendienste der Welt in die Peterskirche ein, von dort live zu übertragen, und WNN soll Plätze in der ersten Reihe bekommen. Außerdem dürfen wir gleich nach der Ansprache ein Liveinterview mit Kardinal di Concerci führen. WNN exklusiv!« »Ziemlich nett von ihnen, meinst du nicht?« bemerkte Feldman mißtrauisch. »Sie sichern sich nur das größtmögliche Fernsehpublikum für ihre Botschaft«, erklärte Cissy. »Wir sind einfach der Sender mit der größten Reichweite.« »Worum geht es in der Ansprache?« erkundigte sich Feldman. »Um Zugeständnisse«, witzelte Hunter. »Wohl eher das Gegenteil«, meinte Bollinger. »Jesa hat sie letzte Woche derart attackiert, daß die Hälfte der katholischen Gemeinden in aller Welt offen rebelliert.« »Wir wissen nichts Näheres über den Inhalt der Rede«, erklärte Bollinger, »außer natürlich, daß es um Jesa geht. Der Vatikan hat lediglich mitgeteilt, daß es sich um eine wichtige päpstliche Bekanntmachung handelt«, fügte Bollinger hinzu, »ein Dekret ex capita, was immer das sein mag.« »Sie meinen ex cathedra«, korrigierte ihn Erin Cross. »Das ist tatsächlich eine päpstliche Mitteilung.« »Stimmt«, lachte Bollinger. »Erin, würden Sie als unsere Expertin 440
für religiöse Fragen Jon und Breck darüber aufklären?« »Natürlich, gern«, stimmte sie freundlich zu. »Ex cathedra bedeutet ›vom Stuhl aus‹. Es ist eine einzigartige Bezeichnung, auf die sich nur der Papst berufen kann. Das geschieht aber äußerst selten und wird nur bei Fragen des Glaubens und der Moral angewendet. Wenn der Papst ex cathedra spricht, so tut er das mit absoluter Unfehlbarkeit.« »Unfehlbarkeit?« Hunter zog die Augenbrauen hoch. »Ja«, sagte Erin und wiederholte: »Eine Aussage ex cathedra besitzt göttliche Autorität. Die Entscheidung des Papstes hat dieselbe bindende Wirkung für die Gläubigen, als spräche Christus selbst. Von allen Katholiken wird verlangt, allein aufgrund ihres Glaubens die Entscheidung voll zu respektieren und sich nach ihr zu richten, was immer sie beinhalten mag.« »Du meinst damit«, fragte Hunter mit ungläubiger Miene, »wenn der Papst sagt, daß …« Er suchte nach einem Beispiel und bekam schließlich Robert Filson ins Visier. »Wenn der Papst die Entscheidung trifft, daß unser Filson hier der liebe Gott ist, dann müßten sich sämtliche Katholiken vor ihm verbeugen?« Alle außer Filson fanden das lustig. »Na ja«, erklärte Erin, »der Papst wird kaum über etwas theologisch so Unbegründetes einen Entscheid ex cathedra treffen. Ex cathedra wird nur für sehr ernste religiöse Zwecke beschworen. Jedenfalls hat es in den letzten dreißig Jahren kein Dekret ex cathedra gegeben.« »Ausgezeichnet, Erin«, lobte Bollinger. »Diese Art Hintergrundmaterial ist genau das, was ich mir für das Feature am Montag als Einleitung zum Abendprogramm vorstelle. Jon, ich möchte, daß Sie und Erin zu WNN Europe gehen und von dort aus das Programm gemeinsam moderieren. Am Montag vormittag fliegen Sie nach Rom.« »Wie steht's mit Breck?« fragte Feldman. 441
»Tut mir leid, Breck.« Bollinger wandte sich an den sichtlich enttäuschten Kameramann. »WNN Europe wird seine eigene Crew einsetzen, weil es eine einfache Studioproduktion ist.« Hunter akzeptierte das mit einem Schulterzucken. »Also«, kam Bollinger zur Sache. »Wir sollten uns mal Gedanken darüber machen, wie wir an den Bericht herangehen wollen. Jon, was halten Sie davon, Erin die Informationen zum Thema ex cathedra zu überlassen, und Sie übernehmen zum Schluß das Interview mit dem Kardinal?« »Klar« stimmte Feldman zu, und Erin streckte die Hand über den Tisch und dankte Feldman mit einem Händedruck. Feldman quittierte das mit einem unbehaglichen Lächeln, während Bollinger mit der Gruppe das weitere Vorgehen besprach. Cissy hatte sich unterdessen beleidigt in ihrem Stuhl zusammengekauert. Man beriet sich kurz über ein passendes Format für Erins Ausflug in die Geschichte und ging dann zu Feldmans Interview über. Für letzteres mußte man jedoch Vermutungen zum Inhalt der Papstrede anstellen. »Also gut, ich habe meine eigene Theorie, aber was glaubt ihr, welchen Zweck der Papst verfolgt?« fragte Bollinger in die Runde. »Ist doch klar«, lachte Hunter. »Er findet es an der Zeit, Jesa einiges heimzuzahlen. Sie werden eine Nummer gegen sie abziehen und allen Katholiken befehlen, sie fallenzulassen, stimmt's?« Alle am Tisch nickten. Besonders Feldman, dessen Gedanken in dieselbe Richtung gegangen waren, stimmte zu. »Die katholische Kirche hat ja gar keine andere Wahl«, sagte er. »Ihr Überleben hängt davon ab, ob es ihnen gelingt, Jesa unglaubwürdig zu machen. Sie fahren ihr schwerstes Geschütz auf, und ich fürchte, es könnte zu noch mehr Aufruhr und Gewalt in der Welt führen.« »Wenn wir diese Position des Vatikan annehmen«, trieb Bollinger die Diskussion weiter voran, »schlage ich im Interesse einer ausgeglichenen Berichterstattung vor, der Rede des Papstes einen kriti442
schen Kommentar folgen zu lassen. Wenn wir ferner annehmen, daß die Kirche sich weitgehend auf biblische Texte stützen wird, um Jesas Wirkung zu untergraben, wäre dazu vielleicht ein weiterer Bericht erforderlich, für den wir Erins Fachkenntnisse benötigen.« Cissy rutschte auf ihrem Stuhl nach von um sich wieder im Kreis der Anwesenden zurückzumelden. »Mit diesen trockenen Vorträgen werden wir das Publikum verlieren«, protestierte sie. »Wir müssen den Schwerpunkt auf Jons Interview mit di Concerci legen. Der Kardinal ist die eigentliche Attraktion. Er steht im Mittelpunkt des Medieninteresses. Jeder will Neues über den Typ hören, der sich Jesa zweimal entgegengestellt hat und beide Male an die Wand gespielt wurde. Außerdem kann Jon doch mit seinen Fragen an di Concerci die Papstrede kritisieren.« Eine Fülle von Einwürfen folgte, und Feldman hielt abwehrend die Hände hoch, um einen Punkt zu klären. »Wie gern ich mich da auch engagieren würde, wir müssen doch realistisch bleiben und bedenken, welcher Macht wir da gegenüberstehen. Der einzige Zweck dieses Interviews, das uns angeboten wurde, ist doch zweifellos, die Wirkung der Papstrede noch positiv zu unterstreichen. Die pure Meinungsmache. Der Vatikan schickt seinen besten Spieler vor, um jegliche Kritik abzuschmettern. Und ich bin bestimmt kein angemessener Gegner für einen Mann des Heiligen Stuhls. Bei Bibelzitaten kann ich nicht mithalten. Und bei allem Respekt für dich«, sagte er zu Erin Cross, »bin ich mir nicht so sicher, ob du dir das antun sollst.« Erin runzelte die Stirn bei der unangenehmen Vorstellung, vor den Kameras der internationalen Medien einer demütigenden Situation ausgesetzt zu sein. »Dann laßt uns doch die Chancen der beiden Seiten ausgleichen und der Welt eine faire Auseinandersetzung präsentieren«, hielt Cissy dagegen. »Wir könnten doch einen Gegner ins Rennen schicken, der di Concerci ebenbürtig ist. Jon kann den Schiedsrichter spielen und eine spannende Debatte in Gang bringen.« Der neue Vorschlag verschaffte ihnen eine 443
Verschnaufpause. »Die Idee ist gar nicht so schlecht, Cissy«, überlegte Bollinger. »An wen hatten Sie dabei gedacht?« »Ich weiß noch nicht genau«, meinte Cissy zögernd, »aber es gibt genug gute Kandidaten da draußen. Ich bin sicher, daß wir jemanden finden, der dafür in Frage kommt. Wenn wir nur Kardinal Litti auftreiben könnten.« Bollinger war vorsichtig. »Wir haben nicht viel Zeit, Leute. Und irgendein beliebiger Pro-Jesa-Millennarier wird's nicht tun. Wir brauchen einen wirklich erstklassigen Gegner. Einen Gelehrten, der sich in der Schrift auskennt. Jemanden, der Ansehen genießt. Und angenommen, wir finden einen solchen Kandidaten, dann müssen wir genau überlegen, wie wir ihn oder sie in das Programm einbauen. Der Vatikan darf nicht mißtrauisch werden. Aber ganz davon abgesehen«, schloß Bollinger mit einem überheblichen Lächeln, »habe ich den Verdacht, daß der Montagabend im Vatikan einen weiteren Rekord für unsere Einschaltquote bringen wird.«
92 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 9 UHR 12, DONNERSTAG, 30. MÄRZ 2000 Feldman saß in seinem Büro und starrte auf eine Telefonnotiz von Anke, die das Datum vom Vortag trug. ›Bitte ruf mich so bald wie möglich an‹, stand da. Er wußte ganz genau, daß es längst an der 444
Zeit war, ihr irgendeine Erklärung zu geben. Nur – er hatte noch keine. Als eine willkommene Ablenkung kam Cissy mit einem selbstzufriedenen Grinsen in sein Büro spaziert und ließ sich triumphierend auf die Couch fallen, auf der alles mögliche verstreut lag. Feldman sah fragend von seiner Notiz auf. »Ich hab's geschafft!« rief sie aus. »Du hast was geschafft?« »Ich hab' ihn gefunden! Den perfekten Gegner für di Concerci.« »Du hast Kardinal Litti gefunden?« Feldmans Herz schlug höher. »Nein«, antwortete Cissy ärgerlich, »Rabbi Mordachai Hirschberg.« Feldman kramte in seinem Gedächtnis, jedoch ohne Erfolg. »Hirschberg ist das Oberhaupt der jüdischen Lubawitscher-Bewegung«, erklärte Cissy und ging die Zeitungsausschnitte durch, die sie mitgebracht hatte. »Er wohnt in New York City und gilt als einer der weltweit führenden Gelehrten auf dem Gebiet des Alten Testaments. Er hat an beiden Versammlungen der Mormonen teilgenommen – und er war einer der ersten Rabbiner, der Jesa als Messias anerkannte.« »Hört sich gut an«, pflichtete Feldman bei. »Wir könnten ihn heute auf der Redaktionssitzung vorschlagen und sehen, was die anderen dazu sagen. Ist er denn bereit dazu?« Cissys Begeisterung ließ etwas nach, und sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich weiß noch nicht. Ich habe gestern nur kurz mit ihm gesprochen, aber er war mit einer Telekonferenz mit mir heute nachmittag um drei einverstanden. Das ist sehr kurzfristig. Ich hatte gehofft, daß du dich mit reinsetzt und mir hilfst, ihn zu überzeugen.« »Sicher«, sagte Feldman ohne Zögern, und Cissy eilte davon, um sich auf die Redaktionssitzung vorzubereiten.
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Kurz vor drei Uhr nachmittags begleitete Feldman Cissy zum Telekonferenzraum von WNN, und sie setzten sich zusammen an einen Tisch vor einem großen Fernsehschirm und einer Videokamera. Feldman wußte nicht recht, was er von dem als sprunghaft bekannten und oft recht streitlustigen Rabbiner halten sollte. Gleich darauf waren Cissy und Feldman mit ihrem Gesprächspartner auf der anderen Seite der Welt in Brooklyn, New York, durch Bild und Ton verbunden. »Guten Morgen, Rabbi«, begann Cissy, als die ernste, weise Gestalt des Lubawitscher-Führers auf der flimmernden Bildfläche erschien. Der Rabbiner war ein großer, wachsamer Mann, siebenundsiebzig Jahre alt, mit vollem, weißem Bart und Haar, buschigen Augenbrauen und tiefliegenden Augen, die trotz, des ernsten Blicks glänzten. »Guten Morgen«, antwortete Hirschberg. »Ich danke Ihnen, daß Sie bereit waren, so früh in unser Studio in New York zu kommen, um mit uns zu sprechen«, sagte Cissy entschuldigend, da ihr klar war, daß in New York die Sonne noch nicht aufgegangen war. »Das ist nicht früh für mich, Miss McFarland«, antwortete Hirschberg sachlich. »Ich bin schon seit ein paar Stunden auf, ich bin es so gewöhnt.« »Ich freue mich, das zu hören, Rabbi«, erwiderte Cissy. »Darf ich Ihnen meinen Freund und Kollegen Jon Feldman vorstellen?« »Ja.« Hirschberg nickte Feldman höflich zu. »Mr. Feldman ist für uns hier und, ich bin sicher, überall eine bekannte Persönlichkeit.« »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Sir«, gab Feldman zurück und versuchte, sich ein näheres Bild von der Persönlichkeit des Rabbiners zu machen. »Wie geht es Ihnen?« »Mir geht es immer gut, Mr. Feldman«, sagte der Rabbiner unverbindlich. »Aber ich nehme an, Sie investieren nicht achtzig Dollar pro Minute, um mit mir Small talk zu machen. Lassen Sie uns 446
lieber über die Sendung am Montagabend reden.« Darauf waren Feldman und Cissy nicht gefaßt gewesen. »Sie wollen damit sagen, daß Sie unsere Einladung annehmen?« Cissy konnte ihre Überraschung und ihre Freude nicht verbergen. »Natürlich«, antwortete er, als hätte das nie in Frage gestanden. »Ich mußte es nur vorher mit meinem Arzt besprechen. Ich habe ein leichtes Gesundheitsproblem. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte.« »Wunderbar«, erwiderte Feldman schnell. »Wir begrüßen es sehr, daß Sie teilnehmen. Darf ich Sie fragen, Rabbi, worin Ihrer Meinung nach die Strategie des Vatikan bestehen wird?« »Ich habe keinen Zweifel, daß die Rede des Papstes darauf abzielen wird, den Messias herabzusetzen und die Katholiken in aller Welt aufzufordern, sie als Betrügerin und falsche Prophetin abzulehnen. Das Dekret ex cathedra wird zweifellos von den Gläubigen verlangen, daß sie sich unter Androhung von Todsünde und Exkommunikation von Jesa lossagen.« »Wie gedenken Sie dieser Erklärung entgegenzutreten, Rabbi Hirschberg?« fragte Cissy. »Mit einer Prophezeiung natürlich«, antwortete er. »Mit dem Wort Gottes! Man muß Feuer mit Feuer bekämpfen!« »Verzeihen Sie, Rabbi«, unterbrach ihn Feldman. »Darf ich ein wenig den Advocatus Diaboli spielen?« »Aber natürlich.« »Könnte man nicht behaupten, daß die Ursache der ganzen Kontroverse um Jesa darin liegt, daß man sich zu sehr auf die Schrift verläßt? Und auf die widersprüchlichen Interpretationen all dieser unklaren Prophezeiungen? Ist es nicht so, daß die Prophezeiungen einfach zu altertümlich und doppeldeutig sind, als daß man sie verstehen könnte?« Der Rabbi nickte und trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tisch, als habe er diese Frage schon erwartet. Dann 447
preßte er leicht die Lippen zusammen, wandte sich einem Stoß von Papieren zu, suchte darin und zog ein einzelnes Dokument hervor. »Können Sie das erkennen, Mr. Feldman?« fragte er. »Es sieht wie ein handgeschriebener Brief aus, Rabbi.« Feldman kniff die Augen zusammen und versuchte, das Papier zu entziffern. »Aber ich kann nicht lesen, was darauf steht.« »Hier handelt es sich nicht um eine altertümliche Prophezeiung«, erklärte Hirschberg. »Es ist eine Weissagung des großen chassidischen Heiligen Rabbi Haim Shvuli aus dem Jahre 1937. Sie sagt einen Krieg im Nahen Osten im Jahr 1990 mit einer arabischen Nation voraus. Nach Rabbi Shvuli würde dieser Krieg den Einsatz chemischer und biologischer Waffen und den Versuch, Jerusalem aus der Luft zu bombardieren, mit sich bringen. Aber er prophezeit, daß die Stadt vom Allmächtigen geschützt werden wird. Und beachten Sie diesen wichtigen Aspekt, Mr. Feldman: Rabbi Shvuli erklärt, dieser Krieg werde das Signal für den Anfang des messtanischen Zeitalters sein! Wie Sie zweifellos erkennen können, mein junger Freund«, fuhr Hirschberg fort, »hat Rabbi Shvuli eindeutig den Krieg mit dem Irak beschrieben, der als Golfkrieg bekannt ist, und er hat das Jahr genau vorausgesehen – und das mehr als fünfzig Jahre davor. Vergessen Sie nicht, Mr. Feldman, daß diese Voraussage elf Jahre vor der Entstehung des jüdischen Staates Israel gemacht wurde, als das Heilige Land noch ganz unter Kontrolle der Palästinenser war und noch bevor die ganze Tragweite der Prophezeiung irgendeine Bedeutung für die Juden zu haben schien. Sogar die Entstehung des jüdischen Staates 1948 deutete also auf die Ankunft des Messias Jesa hin. Das Alte Testament sah die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre siebzig nach Christus und das lange Exil der Juden voraus. Die Schrift versprach jedoch auch, daß es eines Tages eine große Versammlung der Juden im Exil geben würde. Und daß diese Versammlung den schon so lange vorhergesagten Beginn der messianischen Zeit kennzeichnen würde. Nach 448
zweitausend Jahren ging diese Prophezeiung mit der Gründung des modernen jüdischen Staates und der nachfolgenden Massenimmigration der überall in der Welt verstreuten und vertriebenen Juden nach Israel in Erfüllung. Aber ich möchte Sie mit einer weiteren Prophezeiung jüngeren Datums bekannt machen, Mr. Feldman. Zwei Jahre vor seinem Tod, im August 1990, hielt mein verehrter Rabbi Menachem Schneerson als Reaktion auf die Invasion Kuwaits durch die Iraker hier in unserer Synagoge in Brooklyn eine besondere Predigt. Bezüglich der damaligen Bedrohung Israels durch den Irak sagte er folgendes voraus!« Hirschberg zog ein weiteres Dokument aus dem Stapel und hielt es hoch, so daß Feldman es sehen konnte. »Lassen Sie mich Ihnen eine veröffentliche Kopie der Worte Rabbi Schneersons zeigen: ›Diese Ereignisse brauchen den spirituellen und weltlichen Frieden keines einzigen Juden zu stören, weil sie eine Vorbereitung und eine Vorankündigung der wirklichen Ankunft des Messias sind.‹« Hirschberg legte das Papier auf den Tisch zurück. »Rabbi Schneerson sagte weiter, es sei nicht nötig, daß die Israelis sich mit Gasmasken versorgten oder Lebensmittelvorräte anlegten oder sich auf einen Angriff vorbereiteten. Daß Israel nie wirklich bedroht werde durch diesen Krieg vor der Haustür. Und daß die Ankunft des Messias unmittelbar bevorstehe!« Cissy und Feldman nickten dem Rabbiner anerkennend zu. Diese erfrischend moderne, nichtchristliche Perspektive war genau das, was sie sich vorgestellt hatten. Cissy hatte ihre Sache gut gemacht. »Ausgezeichnet, Rabbi«, lobte Feldman. »Ich möchte Sie bitten, wenn Sie nichts dagegen haben, uns Kopien dieser Schreiben zuzufaxen, so daß wir Ausschnitte für unsere Sendung vorbereiten können. Wir werden solche überzeugenden Unterlagen brauchen, wenn wir der Haltung des Vatikan wirksam entgegentreten wollen.« 449
Der Rabbi lächelte zum ersten Mal. »Irgendwie, Mr. Feldman, habe ich das Gefühl, daß Sie Partei ergriffen haben.« Das machte Feldman betroffen, er blickte unruhig umher, und in seinen Augen spiegelte sich sein innerer Konflikt. Dann schaute er Hirschberg einen Moment lang nachdenklich an, bevor er antwortete: »Ich verfolge keine persönliche religiöse Überzeugung, Rabbi. Und es liegt mir fern, einer theologischen Meinung zuzustimmen und mich gegen eine andere auszusprechen. Offen gesagt, ich glaube, daß die Lösung des derzeitigen Konflikts in unserer konkreten Welt und nicht im Spirituellen liegt. Aber ich möchte auch nicht, daß Jesa Schaden erleidet. Und deshalb unterstütze ich alles, was ihrem Schutz dient.«
93 FLUGHAFEN KAIRO, ÄGYPTEN, 11 UHR 30, MONTAG, 3. APRIL 2000 Am späten Montagvormittag bestiegen Erin und Feldman eine Chartermaschine für den kurzen Flug über das Mittelmeer. Es war das erste Mal, daß Feldman mit Erin allein war, und er hatte dieser Zweisamkeit mit ziemlichem Unbehagen entgegengesehen. Erin blieb jedoch, abgesehen vom Austausch einiger Nettigkeiten, völlig in ihre bevorstehende Aufgabe vertieft. Den ganzen dreistündigen Flug über behielt sie ihre professionelle Distanz bei. Mitarbeiter von WNN Europe holten die beiden am Flughafen 450
ab und brachten sie zu ihrem Hotel im Stadtzentrum, wo sie sich frisch machen konnten. Dann wurden sie direkt zur Peterskirche gebracht, damit sie sich auf die Sendung vorbereiten konnten. Als Feldman den Petersplatz überquerte, verstärkte sich sein Gefühl von Übelkeit. Im Innern der alten Basilika wurden sie zu dem Bereich geleitet, wo die Aufzeichnung stattfinden sollte. Vor dem Hochaltar bemerkte Feldman, daß die massive Altarsteinplatte repariert oder ersetzt worden war. Das Set, das für WNN aufgebaut war, bestand aus einem riesigen Orientteppich, vier bequemen Polsterstühlen und einem kleinen Tisch. Ungefähr gegen halb sieben informierte man Feldman, daß Rabbi Hirschberg angekommen sei. Während der Rede des Papstes sollte sich Hirschberg in einem abgetrennten Raum aufhalten und erst während des Interviews mit di Concerci in Erscheinung treten. Daß er nicht wußte, wie der Kardinal auf diesen Trick reagieren würde, war eine weitere Sorge, die dem Reporter auf den Magen schlug. Feldman lehnte einen Imbiß ab, der ihm angeboten wurde, und setzte sich lieber mit seinen Notizen in einen der Polstersessel des Sets, um ein wenig Ruhe zu haben. Aber leider wurde er bald von einer wachsenden Schar von Nonnen und Geistlichen mit einem ganzen Bündel Fragen über den Messias bedrängt. Ein verärgerter WNN-Redakteur wollte gerade das Set räumen lassen, als die Gruppe um Feldman plötzlich seltsam ruhig wurde und beklommen auf eine beeindruckende Erscheinung hinter Feldmans Stuhl starrte. Als er sich umdrehte, sah er in das unversöhnliche Gesicht des Präfekten Kardinal Antonio di Concerci. In weißer Soutane, rotem Cape und dazu passendem Scheitelkäppchen strahlte der Kardinal eine majestätische Würde aus. Di Concerci sagte nichts, er stand nur erhobenen Hauptes da, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Seine Augen glitten gelassen über die ganze Versammlung, bevor er auf Feldman herabblickte. Für einen kurzen 451
Augenblick war dieser fassungslos, sammelte sich aber wieder, erhob sich schnell und hielt dem Kardinal seine Hand hin. Ohne seine Haltung zu ändern, ergriff der Kardinal langsam Feldmans Hand, während sich die Umstehenden diskret zurückzogen. Der kräftige Händedruck, die disziplinierte Haltung und die starke Wirkung seiner prüfenden Augen überraschten Feldman. Diese Augen waren ebenso kalt und leidenschaftslos wie die der Marmorstatuen, die in den muffigen Winkeln des vatikanischen Palastes zu Hause waren. »Es ist mir ein Vergnügen, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen«, brachte Feldman hervor. »Ja«, sagte der Kardinal. »Ich weiß, ich komme etwas früh. Aber ich hielt es für besser, wenn wir uns noch vor der Ansprache kennenlernen. Dann können wir beide ungestört die Rede des Pontifex verfolgen. Ich hoffe doch, ich störe Sie jetzt nicht«, fügte er in einem Tonfall hinzu, der nicht ganz ohne Ironie war. »Aber keineswegs«, sagte Feldman entgegenkommend, obwohl er die Vorstellung, die ganze Zeit den Präfekten neben sich zu haben, nicht gerade angenehm fand. Feldman hegte nun keinen Zweifel mehr daran, daß dem Kardinal so mancher Aspekt der geplanten Sendung ziemlich mißfallen würde. »Nehmen Sie doch Platz.« Feldman wies auf mehrere Sessel abseits vom Set. »Ich werde einen meiner Mitarbeiter bitten, Ihnen den Ablauf zu erklären und Ihnen mit dem Mikrophon behilflich zu sein. Nach der Ansprache des Papstes haben wir eine kurze Werbepause, und Sie können sich dann für das Interview zu mir herübersetzen.« Der Präfekt nickte. »Ich hoffe, Sie sind mit unserem Arrangement hier zufrieden?« »Ja, Eure Eminenz«, log Feldman, »es ist wirklich perfekt.« »Gut«, erwiderte der Kardinal, »dann werden Sie in Ihrer Sendung vielleicht auch ein wenig Nachsicht mit unserer Kirche üben?« Da452
bei sah er Feldman eindringlich in die Augen, verbeugte sich dann leicht und entschuldigte sich. Kurz vor der Sendung kehrte Erin Cross in Begleitung mehrerer italienischer Kollegen von WNN zurück, die nur allzu bereitwillig für sie sie Fremdenführer durch den Vatikan gespielt hatten. Charmant löste sich Erin von der Gruppe, setzte sich neben Feldman und begrüßte ihn mit einem fröhlichen »Hallo!« Aber auch das verbesserte seine Laune nicht. Ein paar Minuten später, als die roten Lichter blinkten und das vertraute WNN-Logo weltweit über die Bildschirme lief, war es soweit. Ein Sprecher kündigte an: »Live aus der Peterskirche im Vatikan meldet sich World News Network mit unseren Korrespondenten Jon Feldman und Erin Cross.« Die Kamera brachte eine Nahaufnahme von Feldmans nachdenklichem Gesicht. »Guten Abend, meine Damen und Herren«, begann er ohne sein gewohntes Lächeln. »Wir heißen Sie zu dieser Sondersendung von WNN, der ersten Liveübertragung des päpstlichen Edikts, willkommen. Vor der heutigen Ansprache von Papst Nikolaus VI. möchten wir Ihnen eine Dokumentation zeigen, die WNN anläßlich der ungewöhnlichen Erklärung der katholischen Kirche, dem sogenannten Dekret ex cathedra, zusammengestellt hat. Nach der Botschaft des Papstes laden wir Sie herzlich ein zu unserem Exklusivinterview mit Seiner Eminenz Kardinal Antonio di Concerci, Kardinal der vatikanischen Kurie und Präfekt der Kongregation für die Glaubensdoktrin. Bei mir im Studio ist Erin Cross, unsere Religionsexpertin, die uns etwas über die Hintergründe der heutigen Papstrede sagen kann.« »Danke, Jon«, sagte Erin und warf lässig ihr modisch geschnittenes Haar zurück. »Erin, hinter diesem Dekret ex cathedra verbirgt sich der Grundsatz der sogenannten ›Unfehlbarkeit‹. Ich nehme an, daß es dabei um ein Vorrecht geht, das dem ersten Papst Sankt Peter von Christus 453
verliehen und dann an die nachfolgenden Päpste weitergegeben wurde?« »Nein, Jon«, antwortete Erin. »Tatsächlich ist die Doktrin der Unfehlbarkeit erst etwas über hundert Jahre alt. Sie geht auf das Jahr 1870 zurück, als die italienische Regierung damit drohte, den Kirchenstaat zu besetzen.« »Der Papst besaß einen richtigen großen Staat?« fragte Feldman und gab Erin Cross damit die Möglichkeit, auf weitere Informationen aus dem Geheimarchiv zu sprechen zu kommen, die WNN bis jetzt noch zurückgehalten hatte. »Ja. Über tausend Jahre lang herrschten die Päpste über immense Ländereien«, erklärte sie. »Bis ins späte 19. Jahrhundert besaß die katholische Kirche riesige Provinzen in Mittelitalien, die von päpstlichen Armeen geschützt wurden.« Es folgten Einblendungen von alten Landkarten, Fotografien, Lithographien und Bildern von päpstlichen Streitkräften. »Land, von dem die katholische Kirche lange behauptet hatte, Kaiser Konstantin habe es ihr im vierten Jahrhundert nach Christus geschenkt. Die Kirche hatte einmal sogar einen alten Vertrag vorgelegt, der angeblich von Konstantin selbst unterzeichnet war, um die Rechtmäßigkeit dieses Anspruchs zu beweisen.« Eine alte, vergilbte Schriftrolle wurde eingeblendet. »Allerdings handelt es sich bei diesem Vertrag um eine Fälschung. Eine Fälschung, die erstmals im 15. Jahrhundert nachgewiesen wurde, die sich jetzt aber tatsächlich bestätigt findet, und zwar durch einen Vermerk aus dem Jahr 1998, der erst kürzlich in den Geheimarchiven des Vatikan entdeckt wurde.« Die Kamera präsentierte eine interne Mitteilung des Vatikan in italienischer Sprache, getippt auf einem offiziellen Briefbogen der Kurie. Erin übersetzte daraus: »›Neuerungen bei der wissenschaftlichen Datierungstechnik lassen es ratsam erscheinen, die Schriftrolle der Konstantinischen Schenkung von externen Prüfungen und Untersuchungen auszuschließen. Moderne Analysen des Dokuments könnten leicht ans Licht bringen, daß 454
das Pergament fünf Jahrhunderte nach dem Datum des königlichen Siegels, das es trägt, angefertigt wurde …‹« Jetzt erschien das Ölgemälde eines gebieterischen, bärtigen Mannes auf der Bildfläche. »Im Frühjahr 1869 wurde König Viktor Emanuel aufgrund des schon lange gehegten Verdachts bezüglich der Echtheit des Vertrags tätig. Bei dem Versuch, sein aufgeteiltes Land endlich zu vereinen, erhob er Anspruch auf die Staaten des Vatikan. Der damals regierende Papst Pius IX. lehnte die Forderung ab und erklärte die Konstantinische Schenkung ›aufgrund göttlicher Offenbarung‹ für echt.« Neben dem Gemälde von Viktor Emanuel erschien das Porträt eines Papstes. »Pius erklärte, daß alle Päpste die von Gott verliehene Gabe der Unfehlbarkeit besäßen, wenn sie wichtige Entscheidungen für die Kirche träfen. In einem verzweifelten Versuch, seine Position zu festigen, rief der Papst das ganze Weltkollegium der Kardinäle zu einer offiziellen Synode nach Rom, damit sie ihm diese neue Machtfülle bekräftigten. In einer offenen Abstimmung während eines tobenden Gewitters und unter den einschüchternden Blicken des Papstes stimmten alle bis auf zwei der fünfhundertfünfunddreißig Kardinäle zu.« Die Kamera fuhr auf die stechenden Augen des Papstporträts zu, bevor sie wieder die gutaussehende Erin Cross ins Bild rückte und Feldman seine nächste Frage stellte. »Konnte denn der Papst seine Ländereien auf diese Weise retten?« »Nein«, sagte Erin abschließend. »Italien überfiel sie trotzdem, und die Armee des Papstes war den Streitkräften Viktor Emanuels nicht gewachsen. Endlich ergab sich der standhafte Pius nach drei Wochen blutiger Kämpfe. Italien verlangte die Gebiete zurück und annektierte sie endgültig, wobei dem Papst der Vatikan und eine beträchtliche Anzahl anderer wertvoller Ländereien innerhalb Roms verblieben, die die Kirche heute noch besitzt.« »Und es ist ein prächtiges Reich«, kommentierte Feldman und wies auf die Kunstwerke der großen Kirche. Um die Zeit bis zum 455
Erscheinen von Papst Nikolaus VI. zu überbrücken, zeigte WNN weitere Bilder aus der Peterskirche, den Museen und Sälen des Vatikan. Dann erschien Feldman wieder im Bild. »Ich glaube, wir können nun auf den Thron Sankt Peters blicken und die erste Ansprache ex cathedra an die Welt erleben, die live übertragen wird. Meine Damen und Herren, Seine Heiligkeit, der Pontifex maximus der römisch-katholischen Kirche, Papst Nikolaus VI.« Jetzt, da Feldman nicht mehr auf Sendung war, spürte er plötzlich di Concercis bohrende Blicke im Rücken. Er vermied es, in die Richtung des Kardinals zu sehen, denn diese weitere unangenehme Enthüllung aus den Archiven des Vatikan war gewiß nicht das, was der Präfekt unter ›ein wenig Nachsicht‹ mit der Kirche verstand.
94 PETERSKIRCHE, VATIKAN STADT, ROM, ITALIEN, 21 UHR, MONTAG, 3. APRIL 2000 Die Kamera fuhr langsam auf das Gesicht des Pontifex zu. Nikolaus VI. saß ganz in Weiß gekleidet mit Soutane, Cape und Scheitelkappe entspannt auf seinem Thron. Er trug eine goldgeränderte Brille, ein großes Brustkreuz um den Hals und eine rote Schärpe über der Brust. Im Schoß hielt er die Bibel und einige mit Schreibmaschine beschriebene Blätter, die er ordnete. Es war nicht derselbe Papst, den Feldman von seinem letzten 456
Auftritt her kannte. Dieser Papst hier strahlte Entschlossenheit, Selbstvertrauen und Autorität aus. Er sprach Englisch, um möglichst viele Zuschauer in der Welt erreichen zu können, und seine Worte hallten machtvoll durch die Kirche, jede Silbe von einem Echo unterstrichen. »Brüder und Schwestern in Christus«, rief er mit fester Stimme, »möge in dieser Zeit der Beklommenheit der Segen des Allmächtigen mit euch und den Eurigen sein. Denn heute abend trete ich vor euch mit einer heiligen Erklärung, auf welche die gesamte Gemeinde der Christenheit seit fast zweitausend Jahren wartet. Eine göttliche Botschaft, die von äußerst ernster Bedeutung und schweren Folgen für die ganze Menschheit ist. Vor einer Woche hat Gott mir endlich die Ursache der beunruhigenden Ereignisse offenbart, denen wir uns zur Zeit ausgesetzt sehen. Allein in meinen Wohnräumen, nach einer dunklen Nacht angstvoller Gebete und langer Meditation, brach das Licht der Morgendämmerung über mich herein, und der Wille des Herrn erfüllte meine Seele. Was Gott mir an jenem Morgen mitteilte, werde ich jetzt an euch weitergeben.« Die Stimme des Papstes wurde leiser und nahm einen gedämpften, ehrfürchtigen Tonfall an. Seine Augen schienen weit in die Ferne zu blicken, als ob er auf seine wunderbare Vision zurückschauen würde. »Die bedrohliche Herausforderung, der wir gegenüberstehen, diese Zeit schmerzlichen geistlichen Konflikts, sind Tage tiefster Qual. Die große Prüfung des Jüngsten Gerichts. Armageddon!« Unbeschreibliche Erregung brach in der Kirche aus, aber der Pontifex maximus blieb unerbittlich. Er breitete alle zwingend aus der Schrift hervorgehenden Voraussetzungen aus, die zu der erschreckenden Schlußfolgerung seines Dekretes geführt hatten. Wie eine Uhr, die beim Aufziehen überdreht wird, löste die Logik der Anklagen in der nervösen Gemeinde eine unerträgliche Spannung aus. Und als Feldman, der aufgestanden war, um den Papst besser sehen zu können, die vernichtenden Argumente hörte, fühlte er alles Blut 457
aus seinem Gesicht weichen. Er ließ sich langsam auf seinen Stuhl nieder. Ein Stück vom Altar entfernt, in einem für die Presse reservierten Bereich, saß der verwirrte, zitternde und schwitzende Rabbi Hirschberg und griff sich schmerzverzerrt an die Brust. Er schwankte, erhob sich und ging mühsam zur Toilette, wo er vor den Waschbecken auf andere blasse Geistliche traf, denen der Angstschweiß auf der Stirn stand. Ungeschickt versuchte Hirschberg ein Medizinfläschchen zu öffnen, aber ein vorbeistürzender Priester, dem gerade übel geworden war, stieß ihn zur Seite. Das Fläschchen glitt ihm aus der Hand und fiel auf den Marmorboden, wo es für ihn unerreichbar unter eine Toilettentür rollte. Draußen in der Kirche war der Papst auf dem Höhepunkt seiner Rede angelangt. »Ich halte es nicht für nötig, dies noch weiter auszuführen«, stellte er fest. »Inzwischen dürfte die Wahrheit allen vollkommen klar sein, wie ich hoffe. Ihr könnt jetzt den Kämpfer erkennen, der sich dem Bösen entgegengestellt und den der Böse zu zerstören trachtet, und ihr werdet sicherlich auch erkennen, daß diese Kämpferin eure Heilige Mutter Kirche ist. Und natürlich wißt ihr auch, wer der Böse ist. Ihr erkennt die falsche Prophetin, die unter uns aufgestanden ist, die seltsame Wunder tut und euch befiehlt, euren Glauben aufzugeben, eure Kirchen zu verlassen, die geheiligten Traditionen der religiösen Gemeinschaft zu mißachten, die von der Menschheit seit Anbeginn der schriftlich festgehaltenen Geschichte mit so viel Ehrfurcht gepflegt werden. Ich brauche euch nicht zu sagen, daß der Name des Bösen Jesa oder Isebel ist, wie das Buch der Apokalypse sie nennt. Aber ich muß ihr noch einen anderen Namen geben. Einen schrecklichen Namen, der sicherlich auch euch jetzt offenbar geworden ist. Ich trete heute abend vor euch, um ein feierliches Dekret ex cathedra auszusprechen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt die katholische Kirche eine solche Erklärung ab. Ich spreche zu euch als der höchste Nachfolger des heiligen Petrus 458
und rufe die Unfehlbarkeit Christi für dieses Urteil über Glauben und Moral an, das alle Gläubigen binden soll. Ich erkläre somit ex cathedra, daß diese Frau, die der Welt als Jesa aus Israel bekannt ist, weder der neue Messias noch ein neuer Christus noch eine Prophetin Gottes ist. Sondern sie ist die Falsche, von der die Bibel in Prophezeiungen spricht. Sie ist die Feindin der Wahrheit und der größte Greuel, auf den die Gläubigen sich seit zwei Jahrtausenden vorbereiten. Sie ist die große Widersacherin, die weltliche Verführerin, die Hure von Babylon … Jesa aus Israel ist der Antichrist!« Die Verzweiflung und Hysterie, die seit der Jahrtausendwende zu einer immer unerträglicheren Spannung geführt hatte, schien sich plötzlich zu entladen. In der Kirche brach Panik aus. »Wir müssen die Armee Gottes sammeln!« ermahnte der Papst seine Truppen über das Chaos hinweg. »Wir müssen dieser Jesa in jeder erdenklichen Form entgegentreten, müssen dieses Übel bis auf den Tod bekämpfen, mit all unserer Kraft, bis der Herr Jesus Christus mit seinem Gericht kommt, um uns abzulösen!« Umgeben von Tumult verbarg Feldman sein Gesicht in den Händen. Er fragte sich, warum er diese Taktik, den Antichrist zu bemühen, nicht vorausgesehen hatte. Die Kirche hatte dem Messias einen vernichtenden Schlag versetzt. Feldman war wütend und entsetzt. Und besorgt. Jesas Leben war jetzt in Gefahr. Der Papst versuchte, die Ordnung in der Kirche wiederherzustellen. Es gelang ihm auf sehr geschickte Weise, indem er das Versprechen Christi vom tausendjährigen Reich beschwor und der Menge befahl, sich zu beruhigen, um einen besonderen ›Bußsegen‹ zu empfangen, und die Gläubigen waren verzweifelt genug, um ihm sofort zu gehorchen. Feldman registrierte nur ganz vage, daß jemand neben ihm saß. Ein Assistent hatte Kardinal di Concerci für das nun folgende In459
terview den freien Sessel neben Feldman zugewiesen. Hochrot im Gesicht vor Zorn und Erstaunen über diese Anmaßung der Kirche sah sich Feldman dem kalten, überlegenen Blick di Concercis gegenüber. »Ist Ihnen denn überhaupt klar, was Sie da angerichtet haben?« rief Feldman. »Ihre Kirche hat die Welt soeben in ein Blutbad gestürzt! Es wird Haß und Gewalt geben! Für Jesa ist dieses Dekret das Todesurteil!« Erin Cross, die auf der anderen Seite von Feldman saß, war noch ganz benommen von den Worten des Papstes, aber Feldmans spontane Reaktion holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Sie legte Feldman beruhigend die Hand auf den Arm. »Es erstaunt mich, das aus Ihrem Munde zu hören«, meinte der Präfekt trocken. »Wenn man bedenkt, daß es Ihre Berichte waren, die diese weltweite Krise ausgelöst haben.« Die Filmteams von WNN waren völlig überrascht von dem verfrühten Beginn des Interviews. Ihre Kameras waren immer noch auf den Papst gerichtet. Hektisch schwenkten sie sie herum und schauten völlig irritiert. Sie wußten nicht recht, was sie tun sollten. Aber aus Feldmans Miene ging klar hervor, daß es kein Zurück mehr gab. So wurden die Kameras schnell in Position gebracht, Scheinwerfer angeschaltet, Kabel zur Seite geschoben und die Angeln mit den Mikros heruntergelassen. Erin Cross bekam ein Zeichen, den Set zu verlassen und die beiden Kämpfer im Ring allein zu lassen. »Es spielt jetzt keine Rolle mehr, wer für die weltweite Krise verantwortlich ist«, sagte Feldman gerade schroff, als die Kameras sein angespanntes Gesicht heranholten. »Wesentlich ist nur, daß Sie in der Lage wären, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Statt dessen rufen Sie Armageddon aus! Stellen Sie sich nur einmal das unsägliche Leid vor, das dadurch entsteht.« »Wenn das menschliche Leid Gottes Wille ist, ist es wohl kaum die Aufgabe der Kirche einzugreifen«, erwiderte der Kardinal, ohne 460
zu zögern. Feldman war erstaunt. »Es kann doch nicht Gottes Wille sein, daß es noch mehr Gewalttätigkeit und sinnloses Morden gibt?« »Weder Sie noch ich können Gottes Absicht ergründen, geschweige denn verurteilen«, erklärte der Präfekt mit Bestimmtheit. »Meinen Sie, daß Lot im Alten Testament Gottes Vernichtung von Sodom und Gomorrha begriff? Oder daß Noah Gottes Zorn ganz verstehen konnte, als die steigende Flut die Menschheit heimsuchte? Wir Menschen haben nicht das Recht, die Taten des Allmächtigen in Frage zu stellen!« Feldman war di Concerci nicht gewachsen, und er wußte das. Er war wütend auf sich selbst, daß er sich so vorschnell und unüberlegt auf diese Debatte eingelassen hatte. Verzweifelt hielt er gegen das Licht der Scheinwerfer Ausschau nach seinem Mitstreiter, aber Mordachai Hirschberg war nirgends zu sehen. »Die Menschen gegeneinander aufzubringen ist gewiß kein Akt Gottes. Niemand hat den Freibrief, das zu tun«, hörte sich Feldman antworten. Di Concerci lehnte sich völlig beherrscht in seinen Sessel zurück. »Mr. Feldman, die Kirche ist ein Akt Gottes. Die Kirche mit all ihren menschlichen Fehlern, auf die Ihr Sender so gern aufmerksam macht, ist Gottes Instrument auf Erden, von Jesus Christus selbst ins Leben gerufen, um die Gläubigen zu führen und sie auf den Wegen des Herrn zu unterweisen. Wenn Sie das akzeptieren könnten, dann wäre Ihnen auch klar, daß das Dekret ex cathedra keine politische Manifestation darstellt. Es wurde nicht zur Verteidigung von Eigentum oder einer bestimmten Position ausgesprochen, wie manche zweifellos behaupten. Es ist das Ergebnis intensiver spiritueller Besinnung, eine göttliche Offenbarung.« Während der Kardinal sprach, griff Feldman nach einem Notizblock auf dem Tisch. »Wo ist der Rabbi? Holt ihn sofort!« schrieb er darauf und steckte den Zettel verstohlen einem Techniker zu. 461
»Gott hat zu dieser Kirche gesprochen, Mr. Feldman, direkt und klar«, fuhr di Concerci fort. »Und das Dekret, so beunruhigend es auch klingen mag, ist durchaus der Wille Gottes.« Feldmans Miene hatte sich stetig verdüstert, und seine Worte klangen jetzt scharf. »Auch wenn man annimmt, daß das Dekret tatsächlich Gottes Wille ist«, argumentierte er, »ist es denn nötig, daß die Menschen gottgewollte Vergeltung üben? Ich persönlich habe die Worte ›Mein ist die Rache, spricht der Herr‹ immer für einen recht vernünftigen Grundsatz gehalten. Was ist mit ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ und ›Du sollst nicht töten!‹? Dadurch, daß die Kirche Jesa als Antichrist gebrandmarkt hat, hat sie sie zum Tode verurteilt. Wie können Sie damit leben?« »Sie lassen sich blenden, junger Freund, und sehen die teuflische Wahrheit nicht«, antwortete der Kardinal. »Welch schlauere List könnte der Satan sich ausdenken, als seinen Boten in der Gestalt einer schönen jungen Frau zu senden? Ein scheinbar unschuldiges, wehrloses, zartes Wesen. Und doch eine Frau mit erstaunlichen Fähigkeiten, denkt man an ihre hypnotische Wirkung, ihre Redegewandtheit und ihr souveränes Auftreten. Eine Frau, die einem in die Seele blickt und alles über einen weiß – Fehler, Vorlieben und Schwächen.« Er schaute Feldman eindringlich in die Augen und fügte in wissendem Tonfall hinzu: »…eine Frau, die einen verführen und manipulieren kann!« Feldman erstarrte. Nur mit äußerster Mühe gelang es ihm, die beunruhigenden Bilder abzuschütteln, die der Präfekt so wirkungsvoll in ihm beschworen hatte. Er wußte, daß er am Ende seiner Kräfte war. Er sah sich nicht mehr in der Lage, das theologische Streitgespräch fortzuführen. Ohne den Rabbi blieb ihm nur noch eine Möglichkeit, die entgleiste Situation wieder in den Griff zu bekommen. Feldman holte tief Luft, bezwang seine Wut, straffte die Schultern und blickte unbeirrt in die Kamera. »In meiner ganzen Laufbahn als Reporter«, erklärte Feldman, 462
»habe ich kein einziges Mal versucht, meine eigene, persönliche Meinung mit meiner Arbeit zu vermengen. Unvoreingenommene Berichterstattung war stets meine Devise. Aber nach dem, was ich soeben erlebt habe, kann ich nicht mehr unbeteiligt bleiben. Ich kann nicht mehr hier sitzen und zulassen, daß das Schicksal Jesas, dieser unschuldigen Frau, und das ihrer Anhänger durch polemische, falsche und eigensüchtige Anklagen entschieden wird. Mag sein, daß ich nicht in der Lage bin, hier mit einem gelehrten Kardinal über die Schrift zu streiten. Dazu verstehe ich zuwenig davon. Aber eines weiß ich ganz gewiß: Als erfahrener Journalist bin ich durchaus in der Lage, der Wahrheit nachzugehen und sie als solche zu erkennen. Durch einen bemerkenswerten Glücksfall hatte ich Gelegenheit, Jesa näher kennenzulernen als irgend jemand sonst. Aus diesem Grund maße ich mir auch an, Sie weitaus besser beurteilen zu können als ihre Ankläger. Und ich muß Ihnen sagen, daß die Jesa, die ich erlebt habe, eine ganz andere ist als diejenige, die Ihnen heute abend hier beschrieben wurde. Die Jesa, die ich kennen- und schätzengelernt habe, ist nicht böse. Sie betrügt nicht, sie ist weder verschlagen noch voller Haß. Die Jesa, die ich kenne, lebt getreu dem Wort Gottes im christlichen Sinn. Sie hat uns oft genug durch Taten bewiesen, daß sie auf der Seite der Schwachen und Hilflosen steht. Und sie hat erkannt, daß endlich Schluß sein muß mit der Heuchelei und Selbstgefälligkeit der etablierten Religionen, die die Ungerechtigkeit auf der Welt nur untermauern statt …« Beherzt unterbrach ihn di Concerci und wandte sich direkt an das weltweite Fernsehpublikum. »Sie dürfen nicht vergessen, daß der Satan ein Meister der Täuschung ist! Er benutzt überzeugende Halbwahrheiten für seine höheren Zwecke. Es mag so scheinen, als ob Jesa einer höheren Bestimmung folgt, wenn sie die menschlichen Unvollkommenheiten unserer Weltreligionen entlarvt, aber mit welchem Endziel tut sie das? Nicht die wahre Reformation ist ihr Bestreben. Sie beabsichtigt nicht, den ›Tempel zu reinigen‹, wie 463
Christus das tat. Sie strebt danach, ihn zu zerstören. Die Religion, wie wir sie kennen, zu zerstören. Betrachten wir doch einmal die Ergebnisse ihres Tuns. Ist die Welt etwa besser geworden? Haben die Menschen eine höhere Moral? Sind sie glücklicher? Geht es ihnen besser als vor ihrem Kommen? Sicher nicht! Tatsache ist, daß uns Jesas Erscheinen in eine weltweite Krise gestürzt hat. Darin besteht das wahre Genie des Satans. Und ohne jeden Zweifel steht uns die Wiederkunft bevor. In dieser Situation kann nur noch einer die Menschheit retten. Und das ist mit Sicherheit nicht Jesa!« Feldman sah eindringlich und beschwörend in die Kamera. »Es wäre vermessen von mir zu entscheiden, ob Jesa tatsächlich von Gott gesandt wurde oder nicht. Nach all der Zeit, die ich mit ihr verbracht habe, kenne ich die Antwort auf diese Frage noch immer nicht. Aber ich möchte Ihnen dennoch sagen, was ich von ganzem Herzen glaube. Auf keinen Fall hat diese Frau all den Haß verdient, der ihr nun entgegenschlägt. Im allerschlimmsten Fall ist sie nicht mehr als ein wohlmeinendes, intelligentes, aber in einem tragischen Irrglauben befangenes menschliches Wesen. Nicht irgendeine finstere, teuflische Kreatur, sondern ein wahrhaft einzigartiger, außergewöhnlicher Mensch, ein unschuldiges Opfer, das seiner Kindheit beraubt und von seiner Familie getrennt wurde, dem ein Leben mit anderen Menschen und eine eigene Identität verwehrt wurden. Irregeleitet und in ein Rätsel verwickelt, das sie in eine ausweglose Rolle drängt. Eine tragische Rolle mit furchtbaren Konsequenzen für sie selbst und für die Menschheit«, rief Feldman zornig und zeigte anklagend auf den Kardinal, »wenn ihr auf diesen Mann hört!« Er unternahm eine bewußte Anstrengung, seine Haltung zurückzugewinnen, und wandte sich wieder direkt zur Kamera. »Ich habe nur eine einzige Bitte: Ich bitte Sie lediglich, abzuwarten. Das ist alles. Tun Sie nichts. Unternehmen Sie keine außergewöhnlichen Schritte, fällen Sie keine Entscheidungen, warten Sie einfach. Wenn Gott tatsächlich sein Gericht auf uns herabruft, wird alles von selbst 464
klar werden, auch ohne Gewalt und Blutvergießen.« »Es ist bereits klar!« rief di Concerci mit leidenschaftlich blitzenden Augen dazwischen. »Nichts ist klar!« behauptete eine atemlose Stimme aus dem Hintergrund. »Die Endzeichen sind noch nicht sichtbar.« Totenblaß, aber entschlossen schleppte sich Rabbi Hirschberg, gestützt von zwei Assistenten, langsam zu seinem Sessel. »Rabbi!« Feldman eilte dem Greis zu Hilfe. »Es geht schon wieder«, versicherte Hirschberg mit schmerzverzerrtem Gesicht, nahm Platz und bedeutete Feldman, sich ebenfalls wieder hinzusetzen. »Wir haben jetzt wichtigere Sorgen.« Feldman kam dem Wunsch des Rabbiners zögernd nach. »Meine Damen und Herren«, verkündete er den Zuschauern, »ich möchte Ihnen hier einen der international anerkanntesten Bibelexperten vorstellen, das geistliche Oberhaupt der Lubawitscher-Bewegung der chassidischen Juden, Rabbi Mordachai Hirschberg.« Der Kardinal ließ sich seine Überraschung angesichts dieses mächtigen Gegners nicht im geringsten anmerken. Er nickte dem Rabbiner nur kurz zu, der die Geste beklommen erwiderte. Trotz seiner offensichtlich schlechten Verfassung war klar, daß Hirschberg vor seiner Aufgabe nicht zurückschrecken würde. »Ich muß Ihnen ganz offen sagen«, brachte er mühsam atmend und voller Empörung vor, »obwohl ich Respekt vor Ihrem Pontifex und seinem Amt habe, bin ich doch entsetzt über das, was ich heute abend hier gehört habe. Ich muß den Beobachtungen dieses jungen Mannes zustimmen. Es besteht keine Notwendigkeit, den Konflikt eskalieren zu lassen. Warum tun Sie nicht, was Mr. Feldman vorgeschlagen hat? Warum können Sie nicht einfach warten, bis sich die vorausgesagten letzten Zeichen Ihrer Apokalypse gezeigt haben, bevor Sie diese verheerende Entwicklung der Dinge dulden?« Di Concerci ließ vor seiner Antwort eine dramatische Pause eintreten, bis in der Kirche vollkommene Stille herrschte. »Weil, mein 465
guter Rabbi«, konstatierte er mit fester Stimme, »die letzten Zeichen bereits sichtbar sind.« »Unsinn!« schnaubte Hirschberg verächtlich. »Es gibt viele entscheidende Zeichen, die noch nicht offenbar geworden sind. Wo ist das Zeichen des Teufels? Sie und Ihr Papst haben Jesa übereilt als den Antichristen, die Magd des Teufels gebrandmarkt! Doch ich fordere Sie auf, zeigen Sie mir das Zeichen des Teufels an ihr! Ihr Buch der Offenbarung verlangt, daß das Zeichen des Tiers beim Antichristen klar erkennbar ist. Wo verbirgt der Satan sein verfluchtes Siegel?« Di Concerci beugte sich nach vorn und sah seinem Gegner konzentriert in die Augen. »Das Zeichen des Tiers befindet sich genau da, wo die Prophezeiung es voraussagt. Auf dem Kopf des Antichristen. Wenn Sie sich die Videoaufnahmen von Jesa auf dem Berg der Seligpreisungen genau ansehen, werden Sie die Brandmale von den Fingerspitzen Satans, mit denen der Böse sie gezeichnet hat, gut sichtbar auf dem Schädel unter ihrem Haar bemerken. Sie ist der eingesetzte Antichrist!« »Das sind nicht die Anzeichen Satans!« keuchte der Rabbiner wütend. »Mein Gott, Mann, wovon Sie reden, das sind einfach die Abschürfungen von den Elektroden, die die arme Frau während ihrer grausamen Wachstumszeit tragen mußte! Sie biegen alles für Ihre Absichten zurecht.« »Ich verdrehe nichts«, behauptete der Kardinal. »Sie sind es, der Ausflüchte sucht.« »Es gibt andere letzte Zeichen von wesentlich größerer Bedeutung«, beharrte der Rabbiner unerbittlich. »Die Zeichen der Schlacht von Armageddon. Ihr Papst behauptet, daß wir am Vorabend des Jüngsten Gerichts stehen. Aber wo, frage ich Sie, sind die prophezeiten Armeen von Gog und Magog, die Armeen von Armageddon? Wo sind sie?« Di Concerci kräuselte die Lippen in nur mühsam zurückgehalte466
nem Triumphgefühl. Sich zur Kamera wendend, griff er nach einem weißen, unbeschriebenen Block Papier. »Darf ich meinen verehrten Kollegen auf etwas recht Auffälliges aufmerksam machen, das ihm anscheinend entgangen ist?« fragte er mit ironischer Stimme und schrieb ein zunächst nicht sichtbares Wort auf den Block. Der Rabbiner hob ratlos die Hände und zog fragend die Augenbrauen hoch. »Rabbi«, sagte di Concerci, »Sie haben gerade die apokalyptischen Armeen Gog und Magog erwähnt?« »Ja«, bestätigte der Rabbiner verächtlich. »Dies sind zwei wichtige Zeichen von Armageddon, die noch nicht eingetreten sind. In der Prophezeiung des Alten Testaments, Hesekiel achtunddreißig und neununddreißig: Gog ist der Herrscher des Landes Magog, der Israel in der Schlacht von Armageddon angreifen wird und dem Vernichtung zuteil wird. Die Namen Gog und Magog erscheinen ebenfalls in eurem Buch der Offenbarung, Kapitel zwanzig, Vers acht; dort stehen sie für zwei getrennte Einheiten des Satans, die bösen Armeen des Antichristen.« Di Concerci glühte förmlich vor Selbstsicherheit. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, Rabbi«, fragte er spitz, »daß die beiden Gruppen, die sich gegenwärtig wegen der Frage von Jesas Göttlichkeit bekämpfen, als Guardians of God und Messianic Guardians of God bekannt sind?« Hirschberg fiel wie vom Blitz getroffen in seinen Sessel zurück. »Wenn man die Akronyme bildet«, fuhr der Präfekt selbstzufrieden fort und zeigte die Wörter, die er geschrieben hatte, Hirschberg und der Kamera, »erweisen sich die Guardians of God und die Messianic Guardians of God als die apokalyptischen Armeen des Buches der Offenbarung: G-O-G und M-E-G-O-G, oder Magog, wenn Sie wollen. Das sind die Armeen, die nach der Prophezeiung Jerusalem vom Norden, von den Bergen der uralten Stadt Megiddo aus, überfallen werden.« Er schrieb wieder auf seinen Block. »›H-A-R‹ 467
lautet das hebräische Wort für ›Berg‹. Daher haben Sie ›Har Megiddo‹ oder ›h-A-R-M-E-G-I-D-D-O-n‹ das heißt ›Armageddon‹, als das wir alle es jetzt erkennen.« Hirschberg sank in seinem Stuhl zusammen. Feldman hielt die Lehnen so krampfhaft umklammert, daß die Knöchel an seinen Händen ganz weiß hervortraten. »Und nun«, sagte di Concerci und wandte sich Feldman zu, »darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Detail lenken, das einfach vergessen wurde, das Sie jedoch beachten sollten. Wie Sie wissen, trägt Ihre Jesa in ihrem Gehirn Neuromikrochips, denen sie einige bemerkenswerte Fähigkeiten verdankt. Ich darf Sie daran erinnern, daß es sich bei einem dieser Chips um eine sehr hochentwickelte Sende-Empfangseinheit handelt. Wie Josef Leveque in seinem Tagebuch festgehalten hat, wird dieser einzigartige Mikrochip durch die normalen elektrochemischen Ströme des Gehirns mit Energie versorgt und wurde so gebaut, daß er Botschaften sowohl senden als auch empfangen kann, wie durch Telepathie.« Der Kardinal wartete ab, bis sich diese Fakten beim Publikum gesetzt hatten. »Ich behaupte, daß Ihre Prophetin den Kopf lediglich in die richtige Richtung zu drehen braucht, um Botschaften auf jeder beliebigen Radio- oder Mikrowellenfrequenz schicken oder mithören zu können, um Botschaften über Satellit zu senden und zu empfangen oder um jederzeit in jede beliebige Computerdatenbank eindringen zu können. Mit ihrem Gehirn benutzt sie das gesamte Computernetz der Welt, Mr. Feldman. Jesa hat Zugang zu allen Informationen, zum Gesamtwissen der Menschheit, wann immer sie will, und das einfach, indem sie denkt. Das erklärt ihre scheinbare Allwissenheit. Auf diese Weise ist es ihr auch gelungen, in die Geheimarchive des Vatikan einzudringen. Sie wußte alles über die päpstlichen Aufzeichnungen in der Biblioteca Secreta, weil diese Aufzeichnungen sämtlich in den Computerdateien des Vatikan gespeichert sind.« 468
Das würde auch erklären, mußte sich der erstaunte und enttäuschte Feldman eingestehen, wieso Jesa über das Trauma seiner Kindheit Bescheid wissen konnte – nämlich über die Computerdateien seines Therapeuten. Di Concerci machte keine Pause, um den Eindruck auszukosten, den seine meisterlich präsentierte Vorstellung gemacht hatte. Er kam schnell zu seinem letzten Punkt. »Noch belastender, Gentlemen«, sagte er mit einem unheilverkündenden Klang in der Stimme, »ist die naheliegende Wahrscheinlichkeit, daß Ihr sogenannter Messias nicht die volle Kontrolle über seine Gedanken oder Taten hat. Ich gebe Ihnen vielmehr zu bedenken, daß sie auch noch Empfängerin besonderer Befehle sein könnte, die ihr über die Empfangsstation in ihrem Gehirn eingegeben werden. Ich behaupte, sie ist ein lebender Roboter. Ein Cybersklave, der dem Diktat der bösen Mächte gehorcht. Kein Bote Gottes, aber trotzdem ein Bote. Ein Bote, geschickt vom israelischen Verteidigungsministerium! Jesa und ihre geheimen Herren, wer immer sie sein mögen, sind Agenten des Teufels. Die Welt, meine wohlmeinenden Freude«, versicherte di Concerci in melodramatischem Überschwang, »steht hier der höchsten Perversion des deus ex machina gegenüber. Jesa ist nicht das unschuldige, gütige Wesen, das Ihnen in der täuschenden Gestalt eines reizenden jungen Mädchens erscheint. Sie ist der Antichrist. Der Falsche! Ob sie von Menschen gemacht oder von der Hölle gesandt wurde, die wichtigsten Zeichen der apokalyptischen Prophezeiung sind sichtbar.« Es blieb keine Zeit für eine Entgegnung, da die Sendezeit des Vatikan abgelaufen war. Feldman und Hirschberg hätten gegen diese niederschmetternden Argumente ohnehin nichts mehr vorzubringen gehabt. Beide waren in fassungsloser Verzweiflung in sich zusammengesunken, als Erin Cross hastig den Set wieder betrat, um das Ende der Sendung zu retten. 469
95 VATIKANSTADT, ROM, ITALIEN, 22 UHR 58, MONTAG, 3. APRIL 2000 Feldman stand auf dem nassen Kopfsteinpflaster des Petersplatzes, über dem ein dünner Nebelschleier hing. Er beobachtete den Krankenwagen, der sich mühsam einen Weg durch die Menschenmassen bahnte. Mordachai Hirschberg wurde mit einer akuten Angina pectoris ins nächste Krankenhaus gebracht. Feldman fühlte sich schuldig, weil er ihn nicht begleitete. Nach den Ereignissen dieses Abends war der Reporter von Schmerz und Angst erfüllt. Er lehnte die Einladungen seiner europäischen Kollegen zum Abendessen ab, stand gedankenverloren abseits bei dem kleinen Shuttlebus und wartete ungeduldig darauf, in sein Hotel zurückgebracht zu werden. Er wollte nur noch eine heiße Dusche und endlich schlafen. Feldman hörte das Geräusch klickender Absätze hinter sich und spürte einen tröstenden Arm auf seiner Schulter. »Du warst unheimlich tapfer heute abend, Jon«, sagte Erin Cross. »Ich bin wirklich stolz darauf, wie du dem Kardinal die Stirn geboten hast.« Feldman blickte sich um und stieß verächtlich die Luft durch die Nase. »Hat doch gar nichts gebracht«, sagte er bissig. »Jetzt ist Jesa wirklich vogelfrei. Weiß Gott, wie lange sie das überlebt.« »Du und der Rabbi habt alles getan, was möglich war«, versicherte ihm Erin und drückte ihn herzlich an sich. »Du konntest ja nicht wissen, daß der Vatikan noch so einen Trumpf in der Hinterhand 470
hatte.« »Sie haben uns überlistet«, gab Feldman zu. »Di Concerci hat uns mit diesem letzten Trumpf in eine perfekte Falle gelockt. Und wir sind darauf reingefallen, wir haben einfach …« Er verstummte und zuckte resigniert mit den Schultern. »Ach, Jon, wir müssen eben im Moment zurückstecken und uns erst mal wieder sammeln. Uns fällt schon etwas ein für eine neue Sondersendung. Aber im Moment mußt du an etwas anderes denken. Du bist so angespannt. Du hast den ganzen Tag nichts gegessen.« Ihre Stimme nahm einen mütterlichen Tonfall an. Sie schüttelte ihr Haar und drängte sich so dicht an ihn heran, daß er ihrem Blick nicht mehr ausweichen konnte. »Du brauchst ein schönes, warmes Essen und einen guten, starken Drink!« Er schüttelte den Kopf, wich zurück und wandte sich ab, aber Erin folgte seinen Bewegungen. »Laß uns in eine ruhige, kleine Trattoria gehen, wo du dich entspannen kannst«, versuchte sie ihn zu überreden. »Wir essen schön zu Abend …« Plötzlich realisierte Feldman, daß er mit dem Rücken gegen den Bus gepreßt stand. Das riß ihn aus seiner Benommenheit. Er packte Erin energisch an den Schultern und hielt sie eine Armlänge von sich entfernt. »Nein!« rief er brüsk und schaute sie wütend an. Verstimmt wandte sie sich ab und sah zu Boden. Als ihm einfiel, was Hunter ihm über ihre unglückliche Kindheit erzählt hatte, bereute er es sofort. Er klopfte ihr kurz und bedauernd auf den Rücken, und seine Stimme wurde weich. »Erin, verzeih. Das wollte ich nicht, ich bin im Moment einfach zu durcheinander.« Erin hielt den Blick abgewandt, nickte aber versöhnlich. »Hör zu«, schlug er vor und zeigte auf eine Gruppe von Journalisten, die sich wegen des Nieselregens unter dem Dach der Kirche untergestellt hatten. »Da sind mindestens ein Dutzend WNN-Bosse, die sich darum reißen würden, dir die Stadt zu zeigen. Wär' be471
stimmt gut für deine Karriere. Geh und mach dir einen schönen Abend.« Sie wandte sich ihm zu, und in den kleinen Regentröpfchen auf ihrem Haar spiegelten sich die Lichter des Petersdoms wie eine Perlenkette. »Du bist wirklich fasziniert von dieser kleinen Frau, stimmt's?« fragte sie und sah ihn prüfend an. »Sie hat dich wirklich in ihren Bann gezogen, wie der Kardinal gesagt hat …« Feldman wich ihrem Blick aus. »Ich mache mir Sorgen um dich, Jon«, seufzte sie. »Ich würde dir gern helfen.« Aber ihre Miene verriet eher Berechnung als Mitgefühl. Feldman kehrte in sein Hotelzimmer zurück. Er schlug die Tür hinter sich zu, zog sich aus, knüllte seine Kleider zu einem Bündel zusammen und warf sie in eine Ecke des Badezimmers, als wären sie verseucht. Dann stand er lange unter der heißen Dusche und versuchte sich vom düsteren Nachklang dieses Abends zu befreien. Als er fertig war, wickelte er sich ein Handtuch um die Hüften und warf ein anderes über den Kopf, um sich die Haare zu trocknen. Ohne etwas zu sehen, ging er in das Zimmer nebenan, wo er den Fernseher anschalten und sehen wollte, wie die Welt auf diese Sendung reagierte. Aber er stolperte über ein Hindernis und fiel der Länge nach hin. Er setzte sich auf den Boden, wippte vor Schmerz hin und her, fluchte und rieb sich die Zehen, mit denen er angestoßen war. Unter dem Handtuch hervor sah er den Teppichboden, der mit Eiswürfeln übersät war, daneben einen Schemel mit drei Füßen, einen umgefallenen versilberten Eimer und eine volle Magnumflasche Champagner, an der ein Kuvert hing. Er riß den Umschlag auf, faltete die Karte auseinander und las: Laß uns feiern! Erin. Sie hatte diese Vorbereitungen offensichtlich schon vor der Sendung getroffen. Er warf die Karte beiseite und packte die Flasche, 472
ließ den Korken herausspringen und duckte sich, als der Champagner überall herumspritzte. Als die Flasche nicht mehr überschäumte, machte er den Fernseher an, setzte sich mitten zwischen den Eiswürfeln wieder auf den Boden und trank mit kräftigen Zügen direkt aus der großen Flasche. Die neuesten Berichte waren nicht gerade ermutigend. Das Dekret ex cathedra war von einem beträchtlichen Teil der Zuschauer sehr ernst genommen worden. Es gab jedoch keine Neuigkeiten über Jesa oder ihren Aufenthaltsort. Die Guardians of God und ihre erbitterten Rivalen, die Messianic Guardians of God, erhoben heftige Anklagen gegeneinander. Ihr Ziel, sich gegenseitig zu bekämpfen, hatte einen neuen Impuls bekommen. Beide Gruppierungen waren fest davon überzeugt, daß die jeweils andere die prophezeite Armee des Teufels sei. Außerdem erfuhr Feldman, daß die millennarischen Führer beider Lager ihre Streitkräfte sammelten und ihre Anhänger aufforderten, sich auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkunft des Herrn und auf die Rückkehr ins Heilige Land vorzubereiten. Feldman beobachtete die Szenen mit erneuter Sorge. Niedergeschlagen dachte er: Das ist tatsächlich ein neuer Kreuzzug. Er wollte aufstehen, als ihm plötzlich schwindlig wurde. Als er sich mühsam auf das Bett gesetzt hatte, stellte er fest, daß die Flasche in seiner Hand halb leer war. Er hatte den Champagner während der Nachrichten wie Wasser in sich hineingeschüttet. Nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, richtete er den Schemel auf, stellte den Champagnerkübel in die Halterung und legte die Flasche hinein. Übelkeit stieg in ihm hoch. Daß er nichts gegessen hatte, tat jetzt seine Wirkung. Er legte seine Brille auf den Nachttisch, ließ das Handtuch zu Boden fallen und kroch nackt unter die kühlen Laken. Das Gesicht im Kopfkissen vergraben, tastete er am Kopfende des Bettes nach dem Lichtschalter. Die Dunkelheit im Zimmer tat ihm wohl. Er 473
schlief ein und glitt erneut in einen Traum. Diesmal fand er sich als wandernder Nomade allein in der Wüstennacht wieder. Verirrt, einsam und verwirrt. Und schrecklich müde. Er taumelte und fiel vor Erschöpfung mit dem Gesicht nach unten in den Staub. Plötzlich war helles Licht um ihn, und er blickte in das überirdische Gesicht von Jesa, die mit ausgebreiteten Armen als Silhouette vor einem Vollmond über dem Boden schwebte. Ihre Gewänder waren lang und wallend, und sie schien mit ihm zu sprechen, aber er konnte sie nicht verstehen. Plötzlich nahm Feldman einen roten Schimmer über dem Wüstensand wahr, als ob die Sonne hinter ihm aufginge. Er sah auf, und auch Jesa war in den rosigen Schein getaucht. Sie sah an ihm vorbei, dem Licht entgegen. Er folgte ihrem Blick. Aber es war nicht die Sonne, die hinter ihm aufblitzte, sondern ein Meteor – ein riesiges, wirbelndes Höllenfeuer, das direkt auf ihn zuraste. Der Meteor traf ihn, aber er spürte nichts. Ein lautes Klingeln wie von einem Telefon erklang, es bimmelte, eine Pause, dann bimmelte es wieder. Funkenregen und Helligkeit war überall um ihn herum, ein Gefühl der Verwirrung und Hilflosigkeit ergriff ihn. Instinktiv drehte er sich auf den Rücken, hielt schützend eine Hand über sich und verbarg das Gesicht in der Armbeuge. Jemand rief leise seinen Namen. Endlich merkte Feldman, daß alles wieder nur ein Traum gewesen war. Er entspannte sich, nahm seinen Arm vom Gesicht und öffnete die Augen. Er lag in seinem Hotelzimmer. Aber er war doch nicht wach. Dort im Dunkel schwebte am Fußende des Bettes die leuchtende Gestalt Jesas in der Luft. Größer als in Wirklichkeit. Glänzender als in Wirklichkeit. Sie streckte ihm die Arme entgegen, ihr Gewand stand offen und ließ ihn ihre göttliche, surreale, phosphoreszierende Nacktheit sehen. »Jon«, rief sie wieder. Er stützte sich auf die Ellbogen und versuchte, seinen vom Alkohol getrübten Blick auf die Erscheinung zu konzentrieren. Jesa glitt aus der Unwirklichkeit heraus auf 474
sein Bett, ließ sich auf die Knie nieder und war nun über ihm. Es war kein Traum! Er fühlte ihr Gewicht, als sie sich herabbeugte und ihre nackten Brüste über seine Brust gleiten ließ. Sie umschlang ihn und liebkoste sein Gesicht mit warmen Händen. Er fühlte, wie ihre feuchten Lippen sich auf die seinen legten. Er ließ sich auf den Rücken fallen und nahm ihr schimmerndes Gesicht in seine Hände. Es war doch Jesas zerzauste, schwarze Mähne. Es war Jesas schimmerndes Leuchten, wenn auch beträchtlich heller. Aber es war nicht Jesa! »Liebe mich«, flüsterte die Stimme ihm zu. Er zog seine Hände zurück, und seine Handflächen glühten in der Dunkelheit. »Erin?« keuchte er ungläubig. »Liebe mich, Jon«, lockte sie wieder. »Erin, was machst du denn hier? Wie bist du hereingekommen?« Sie schmiegte sich an ihn. »Pst. Nichts denken. Laß dich einfach fallen.« Er packte ihre Handgelenke und stieß sie mit aller Kraft von sich, so daß sie widerwillig und resigniert neben ihm zusammensank. Auf den Laken schimmerten fluoreszierende Flecken. »Verdammt, Erin! Wie, zum Teufel, bist du hier hereingekommen?« Er knipste das Licht an und nahm seine Brille. Erin lag auf der Seite, hatte den Kopf demütig auf den ausgestreckten Arm gelegt, das Haar hing ihr ins Gesicht, und nach einem Augenblick des Schweigens sagte sie mit einem kleinen Seufzer: »Ich hab' an der Rezeption gesagt, wir wären verheiratet.« Der Verzweiflung nah ergriff Feldman einen Zipfel ihres Morgenmantels und bedeckte ihr Blöße. »Mein Gott! Was ist denn in dich gefahren, so was Verrücktes zu tun?« Sie schnaubte und blies sich die Haare aus dem Gesicht. »Falls du das noch nicht gemerkt hast, Jon«, sagte sie und rollte die Augen, »›verrückt‹ ist die ganze Welt in diesen Tagen. Ein bißchen Verrücktheit ist genau das, was du brauchst, um mit alldem zurechtzu475
kommen.« »Aber ich brauche nicht noch mehr Komplikationen in meinem Leben«, schnauzte er ärgerlich. »Bitte, geh jetzt.« »Es muß doch keine Komplikationen geben«, versicherte sie und rückte näher. »Keiner braucht etwas zu erfahren.« Sie stützte sich auf die Ellbogen und beugte sich über ihn. »Ich kann dich weit wegführen aus all dem Chaos«, flüsterte sie leise. »Ich kann jede Frau für dich sein, die du willst. Ich kann dir einen klaren Kopf verschaffen und deiner Seele die Last abnehmen. Und du brauchst nichts zu tun als einfach nur loszulassen«, schmeichelte sie, als ihr Morgenmantel wieder zur Seite fiel und ihre leuchtenden Brüste ihm spitz entgegenglänzten. Nicht die sinnliche Verlockung, sondern der Gedanke, tatsächlich einfach loszulassen, reizte ihn. Seine Seele war erschöpft nach all den Wochen der Anstrengung und Frustration und verlangte nach Flucht, verlangte danach, schwerelos und ohne Ziel zu schweben. Er schwieg und überließ sich einfach dieser Vorstellung. »Ich verstehe, was dich quält«, erklärte sie, und ihr Selbstvertrauen wuchs mit seiner Unentschlossenheit. »Wie du dich heute abend diesem Kardinal gestellt hast, wie du sie gegen ihn verteidigt hast. Sie hat dich verführt, oder?« Erin setzte sich auf. Ihre Augen wurden schmal, so sicher war sie sich ihrer Rolle als verständnisvolle Anklägerin. »Du bist verrückt nach ihr. Sie hat dich verzaubert. Sie hat deine Beziehung zu Anke bedroht, und jetzt weißt du nicht, was du tun sollst!« Feldman schwieg. »Ich kann dir helfen, wenn du mich läßt.« Erin rückte näher und strich mit ihren Fingern über seine Brust. Was für eine Ironie, dachte Feldman. Bis jetzt war es ihm immer gelungen, problematischen Beziehungen zu entfliehen und schnellen Trost in den Armen einer anderen zu finden. Doch jetzt, da er wirklich an einem Tiefpunkt angelangt war, gelang ihm das nicht mehr. Entschieden wies er Erin von sich. »Nein. Nichts verstehst du. Nicht einmal ansatzweise. Also, Erin, 476
ich sage dir zum letzten Mal – geh!« Sie seufzte, erhob sich und wandte ihm nun den Rücken zu. Ohne sich noch einmal umzudrehen, klagte sie: »Wir hätten so toll sein können zusammen. Das perfekte Fernsehpaar …« Ihre Stimme wurde leiser, sie zog den Gürtel ihres Morgenmantels fest und verließ den Raum. Bevor er das Licht ausmachte, ließ Feldman den Blick durchs Zimmer schweifen und bemerkte den Stuhl am Fußende des Bettes, auf dem Erin gestanden hatte. Er schüttelte traurig den Kopf, schaltete das Licht aus und sah Flecken fluoreszierender Farbe an verschiedenen Stellen im Raum aufleuchten: in Form von gespenstischen Fußspuren auf dem Teppich vor dem Bett, als Handabdruck am Telefon auf dem Schreibtisch, überall auf den Laken und an sich selbst. Er schloß die Augen und fiel wie betäubt aufs Kissen zurück.
96 BROOKFOREST, RACINE, WISCONSIN, USA, 20 UHR 40, DIENSTAG. 4. APRIL 2000 »Dieses Bibelzeug ist doch langweilig«, sagte Tommy Martins Freund. »Laß uns lieber in die Waffenabteilung gehen.« Die beiden Jungen saßen im dunklen Zimmer vor dem Monitor und surften durch die Internetseiten der Guardians of God. »Da«, zeigte Tommys Freund auf die grafische Darstellung einer mittelalterlichen Burg, die auf dem Bildschirm erschien. »Das ist 477
es!« Er nahm Tommy ungeduldig die Maus ab und klickte die Zugbrücke an. Sie betraten einen großen virtuellen Raum, bogen in einen von Fackeln erleuchteten Gang und kamen zu einer Tür, an der ›Waffenverlies‹ stand. Tommys Augen wurden größer. »Sieh mal«, sagte der Junge und deutete auf den Bildschirm, »sie zeigen dir all diese Waffen, und du klickst einfach die an, die dir gefällt. Dann zeigen sie dir genau, wie man sie nachbaut.« Er lenkte Tommys Aufmerksamkeit auf eine breite, zugespitzte Keule mit einem geschnitzten Griff. »Siehst du, mit diesem Ding kann man zuschlagen und den Feind erstechen. Es ist aus Holz, genau wie die rituellen Pfähle, mit denen man Vampire umbringt. Bloß mit dem hier muß man sich an ein anderes Ritual halten. Man muß es bei speziellen Gebeten und mit heiligem Wasser und so weihen, damit es gegen den Antichrist funktioniert!« »Mensch, cool«, fand Tom. »Machen wir das doch!«
97 OVAL OFFICE, WASHINGTON, D.C., USA, 9 UHR 30, MITTWOCH, 5. APRIL 2000 Edwin Guenther, der Wahlkampfleiter des Präsidenten, und Brian Newcomb, Vorsitzender des Komitees zur Wiederwahl des Präsidenten, erhoben sich respektvoll und ernst, als der dreiundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten das Oval Office betrat. 478
Allen Moore lächelte verhalten, bedeutete ihnen, sich wieder zu setzen und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Der Präsident schien um Jahre gealtert. Der gestrige Tag war eine Katastrophe gewesen. Von den neun Staaten, die Vorwahlen abgehalten hatten, unterstützte nicht ein einziger ihn, den Amtsinhaber. Es war ein überwältigender Sieg für Billy McGuire, seinen Gegner, gewesen. »Eine schwierige Nacht, Jungs, was?« brach der Präsident das unangenehme Schweigen. »Ja, Sir«, antwortete Guenther bedrückt. »Wir können die Ergebnisse von gestern doch unmöglich ernst nehmen, es sind doch nur elf Prozent der Wähler an die Urnen gegangen«, äußerte Newcomb. »Das war das Endergebnis?« seufzte Moore. »Ja«, bestätigte Guenther, »und in Kalifornien haben nur sieben Prozent gewählt. Was für eine verdammte Vorwahl soll das sein?« »Die teuerste, die es je gegeben hat«, rechnete Newcomb vor. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, die ausgegebenen Mittel wegen ungenügender Wahlbeteiligung nicht mitzurechnen«, schlug Guenther vor. »Ich lasse die Sache bereits vom Rechtsanwalt prüfen. Angesichts dieser ungewöhnlichen nationalen Krise, denke ich, haben wir Grund, zu …« Moore hielt abwehrend eine Hand hoch. »Nein, das würde nichts ändern. Seht euch die Umfragen an. Wir haben seit Anfang März immer nur verloren.« »Seit dem Fiasko mit Jesa«, führte Newcomb den Gedanken zu Ende. »Was schlagen Sie also vor?« fragte Guenther giftig. »Soll Al als Wiedergeborener auftreten und sich bei den Anti-Jesa-Gruppen der extremen Rechten anbiedern wie dieser elende Opportunist McGuire?« »Dafür ist es ein bißchen zu spät«, gab Newcomb zurück. »Sie wissen doch, daß sich McGuire von den katholischen Bischöfen 479
den Segen geben ließ. Die Kirche hat ihren Schafen ja praktisch befohlen, ihm ihre Stimme zu geben.« »Sie tendierten sowieso schon in diese Richtung.« Guenthers dickliches Gesicht wurde feuerrot. »McGuires Ablehnung der Abtreibung hat ebenso dazu beigetragen wie das Dekret des Papstes.« Newcomb wollte antworten, bemerkte jedoch Moores niedergeschlagene Miene und überlegte es sich anders. »Al«, bemühte er sich, ermutigend zu klingen, »es ist noch eine ganze Weile bis zum Parteitag. Und jetzt, da das politische Klima so aufgewühlt ist, kann noch eine Menge passieren …« Moore zwang sich zu einem matten Lächeln. »Nein, meine Herren, bitte. Genug ist genug. Für uns hat die Stunde geschlagen. McGuire hat schon einen Vorsprung von zwei zu eins bei den Delegierten. Er führt in vierzehn der zwanzig noch übrigen Staaten. Ich habe gestern abend mit Susan darüber gesprochen. Es ist an der Zeit aufzuhören.« Guenther und Newcomb warfen ihrem Präsidenten enttäuschte Blicke zu. Obwohl Moores Entscheidung unvermeidlich schien, waren sie nicht bereit, diese unglaubliche Wende der Ereignisse zu akzeptieren – die klarste Niederlage im Wahlkampf eines amtierenden Präsidenten in der Geschichte ihres Landes. »Um zwei Uhr heute nachmittag werde ich den Rücktritt von meiner Kandidatur bekanntgeben.« »Al, bitte«, flehte Guenther, »alles mögliche kann bis zum Parteitag noch passieren – oder sogar während des Parteitags. Sie können Ihre Partei nicht solchen Kerlen wie McGuire überlassen!« »Tut mir leid, Ed.« Moore erhob sich, um die Endgültigkeit seiner Entscheidung zu bekräftigen. »Um ganz ehrlich zu sein, es fällt mir nicht so furchtbar schwer, dieses Amt aufzugeben. Nichts hat mehr Sinn. Ich habe das Gefühl, dieses Land nicht mehr regieren zu können. Und der arme Kerl, der den Alptraum da draußen von mir erbt, tut mir von ganzem Herzen leid. Manchmal denke ich, 480
vielleicht hat diese kleine Frau doch recht. Vielleicht kommt doch der Jüngste Tag.«
98 NA-JULI-APPARTEMENTS, KAIRO, ÄGYPTEN, 21 UHR 39, FREITAG, 7. APRIL 2000 Nach einem langen Tag kehrte Feldman in seine Wohnung zurück, und sein Anrufbeantworter war voller Nachrichten. Von Anke jedoch war nichts dabei. Eine Serie kurzer, beklommener Anrufe stammte von Kardinal Alphonse Litti. Er hatte keine Nummer hinterlassen, behauptete aber, er müsse Feldman dringend sprechen, gab die Zeit seines Anrufs an und fügte hinzu, daß er es stündlich, immer zur vollen Stunde, erneut versuchen werde. Punkt zehn klingelte das Telefon, und Feldman hörte die vertraute Stimme. »Jon, Gott sei Dank, daß ich Sie erreiche!« »Hallo, Kardinal. Wie ist es Ihnen ergangen? Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?« »Das spielt jetzt keine Rolle, Jon. Sagen wir einfach, ich habe viel meditiert, studiert und vom Messias gelernt.« »Wie geht es Jesa?« Feldman konnte die Sorge in seiner Stimme nicht verbergen. »Es geht ihr gut, Jon. Wir haben sie so gut wie möglich versteckt gehalten, weil die Lage so gefährlich ist. Natürlich läßt sich das nicht lange durchhalten. Sie hat die unheimliche Fähigkeit, plötz481
lich zu verschwinden, wenn ihr der Sinn danach steht.« »Ja.« Feldman lächelte amüsiert. »Ich habe das ein paarmal selbst erlebt. Wann kann ich sie wiedersehen?« »Bald, Jon, denke ich. Ich kenne ihre Pläne nicht genau, sie ist ja in dieser Hinsicht ziemlich zurückhaltend. Aber das ist der Grund, weswegen ich anrufe. Ich … sie braucht Ihre Hilfe.« Feldmans Herz machte einen Sprung. »Jon, ich muß mich darauf verlassen, daß Sie dies vollkommen vertraulich behandeln.« »Sie wissen, daß Sie das können, Alphonse.« »Jesa will Kairo verlassen und nach Jerusalem zurückkehren. Ich brauche Ihre Hilfe, um sie dahin zu bringen.« »Jerusalem? Warum? Das ist viel zu gefährlich. Alle ihre Feinde sind dort. Alle, die denken, daß die Welt kurz vor dem Untergang steht, strömen nach Jerusalem, um einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. In Kairo ist sie sicherer.« »Sie muß ›das Werk des Vaters tun‹, wie sie sagt. Was immer der Allmächtige von ihr verlangen mag, ich weiß es nicht, aber sie ist fest entschlossen, in jedem Fall zurückzukehren.« »Es ist Ihnen doch klar, Alphonse, daß WNN in Israel immer noch auf der schwarzen Liste steht. Alle unsere Büros und Studios sind versiegelt, und wir dürfen nicht in das Land einreisen.« »Bitte, Jon, ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll!« »Hat Jesa Sie gebeten, mit mir Kontakt aufzunehmen?« Er hielt die Luft an. »Sie weiß nicht, daß ich Sie angerufen habe.« Feldman seufzte. »Sie hat vor, innerhalb der nächsten ein oder zwei Wochen abzureisen, glaube ich«, fuhr der Kardinal fort. »Sie möchte nicht, daß ich mitkomme, sie sagt, es sei zu gefährlich. Aber ich bestehe darauf, daß Sie auch für mich Vorbereitungen treffen.« »Gut«, stimmte Feldman zu. »Ich sehe zu, was ich tun kann. Wo 482
kann ich Sie erreichen?« »Ich weiß nie, an welchen Ort sie mich als nächstes führt, Jon. Sagen Sie mir, wann und wo, und ich nehme dann Kontakt mit Ihnen auf.« Nach diesem Gespräch rief Feldman Sullivan an. Kurze Zeit später hatte er eine Konferenzschaltung mit Bollinger, Hunter und Cissy. Während er noch ein paar Details mit Cissy besprach, hörte er ein Klopfen an der Tür. Er entschuldigte sich bei ihr, legte den Hörer hin, eilte zur Tür, schob den Riegel zurück, rief: »Kommen Sie rein!« und kehrte schnell zum Telefon zurück. Als er über die Schulter schaute, sah er die schlanke Gestalt einer jungen Frau in einem knöchellangen Trenchcoat und einer weißen Baskenmütze mit passendem Schal, die den Kopf nach unten geneigt hielt. Er beendete das Gespräch und wandte sich seiner Besucherin zu. Als sie den Kopf hob, blieb ihm die Luft weg. Anke! Sie sah müde aus, ihre Augen waren gerötet, die geschwungene Linie ihres Kinns verriet Entschlossenheit und Zorn. Sie verschränkte die Arme und lehnte sich rückwärts gegen die Tür, die zufiel. »Anke«, flüsterte er, und Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Sie schwieg und starrte ihn eisig an. »Bitte. Komm rein. Gib mir deinen Mantel.« Er trat auf sie zu, während er hastig versuchte, mit seinen Fingern ein wenig Ordnung in seine Haare zu bringen. Sie blieb reglos stehen. »Anke, ich weiß, du bist böse auf mich und hast auch recht, so, wie ich dich vernachlässigt habe …« »Wie verständnisvoll von Ihnen, Mr. Feldman«, sagte sie knapp, und er hielt bei der ungewohnten Schärfe ihres Tons abrupt inne. Er versuchte es noch einmal und breitete die Arme aus: »Schatz, ich weiß nicht, was ich …« Sie hörte nicht zu und unterbrach ihn einfach. »Ich kann die Ge483
duld verlieren, Jon«, zischte sie grimmig. »Ich kann auch die Fassung verlieren. Den Verstand sogar. Aber eins, dachte ich, würde ich nie verlieren, meine Achtung vor dir! Wenn du mir auch sonst nichts schuldest, so könntest du wenigstens ehrlich zu mir sein, Jon Feldman. Ich hätte zu dir gehalten und wäre mit dir sogar durch die Hölle gegangen. Aber das! Das ist so … so …«, sie begann zu weinen, »so grausam von dir.« Feldman war völlig verstört. »Anke, ich wollte dich nicht verletzen.« Er ging wieder auf sie zu, aber sie hielt ihn mit einem wütenden Blick auf Distanz. »Da du anscheinend nicht in der Lage bist, die Wahrheit zu sagen, werde ich es tun und offen mir dir reden.« Sie schloß fest die Augen, als wolle sie eine Antwort herauspressen. »Ich weiß, was los ist, Jon. Ich … ich weiß, daß es eine andere gibt.« Er saß benommen und schwerfällig auf der Couch. »Aber mir ist nicht klar«, fuhr sie fort, »warum du nicht den Anstand hast, ehrlich zu mir zu sein. Nach allem, was wir zusammen erlebt haben, was wir einander bedeutet haben, warum hast du nicht wenigstens so viel Achtung vor mir, daß du mir die Wahrheit sagen kannst, anstatt mich einfach so fallenzulassen? Wie konnte ich mich nur so in dir täuschen?« Tränen rannen ihr übers Gesicht. »Anke«, flehte er, »ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich liebe dich wirklich. Ich will Klarheit schaffen. Für mich selbst, und was meine Gefühle und uns beide anbelangt.« »Du bist so egozentrisch«, giftete sie ihn an, »da gibt es nichts zu klären. Hältst du dich wirklich für so unwiderstehlich? Glaubst du wirklich, daß ich so wenig Selbstachtung habe, daß ich das einfach so hinnehme? Ich schätze Ehrlichkeit sehr, Mr. Feldman. Du kannst nicht einfach mein Vertrauen verspielen und es dann wieder ausbügeln!« Feldman war fassungslos. »Aber Anke, es ist eigentlich gar nichts 484
passiert. Ich weiß ehrlich nicht, wie ich es erklären soll.« »Jon, mach es nicht noch schlimmer und versuch nicht, mich für dumm zu verkaufen. Ich weiß, ihr habt zusammen die Nacht verbracht.« Feldman war verwirrter denn je. Er schüttelte den Kopf, stand auf und näherte sich ihr vorsichtig. »Anke, bitte, ich weiß nicht, wovon du überhaupt redest. Ich sage dir die Wahrheit.« »Du willst mir erzählen, daß sie nie in deinem Hotelzimmer war?« »Nein, Anke, das war sie nicht. Ehrlich.« Anke senkte den Kopf. »Jon, zu deiner Information, ich habe Montagnacht in deinem Hotel in Rom angerufen … oder vielleicht war es am frühen Dienstagmorgen.« Sie wandte sich von ihm ab und schaute zum Fenster. »Nachdem ich im Fernsehen gesehen hatte, wie du dich diesem Kardinal gestellt hast, konnte ich nicht einschlafen. Ich wollte dir sagen, wie stolz ich auf dich war.« Sie bekam vor Erregung kein Wort heraus. »Ich war so gerührt von dem, was du versucht hast. Du warst so … mutig. Ich versuchte stundenlang, dich zu erreichen. Die internationalen Verbindungen waren wegen der ganzen Ereignisse überlastet. Und dann, als ich endlich zu deinem Zimmer durchkam, da war Erin am Apparat! Sie flüsterte, aber ich habe ihre Stimme erkannt. Ich brachte nichts heraus, ich hängte einfach auf.« Feldman war völlig verwirrt. Er begriff immer weniger. »Ich rief die Rezeption an, um sicherzugehen, daß ich das richtige Zimmer angerufen hatte. Die Dame an der Rezeption sagte mir, Mr. und Mrs. Feldman seien beide da. Dann ließ ich mich mit dem Zimmer von Erin Cross verbinden. Keine Antwort.« »Sprichst du von Erin?« Endlich dämmerte es Feldman. Er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein, Anke, das ist ein großes Mißverständnis.« Er fiel langsam auf die Couch zurück. »Bitte, komm her und laß mich dir alles von Anfang an erklären.« 485
»Warum, Jon? Damit du mir noch mehr Lügengeschichten auftischen und mich noch mehr verletzen kannst?« »Nein, Anke«, sagte er traurig und sah ihr direkt in die Augen. »Damit du die ganze Wahrheit erfährst. Du hast schon recht, mir böse zu sein, aber aus anderen Gründen, als du meinst. Bitte. Bei allem, was wir einander bedeutet haben, hör mir bis zum Ende zu.« Sie zögerte einen Moment, dann setzte sie sich steif und möglichst weit von Feldman entfernt auf einen Stuhl. Sie verschränkte die Arme, schlug die Beine übereinander und starrte ihn mißtrauisch an. »Erstens«, Feldman beugte sich vor, die Hände bittend ausgestreckt, »laß mich dir die ganze Geschichte über Erin erzählen …« Er begann mit Erins anfänglichen kleinen Flirtversuchen, dann beschrieb er die Romreise. Wie er nach der Diskussion das Abendessen mit Erin ausgeschlagen hatte und statt dessen auf sein Zimmer gegangen war, um zu duschen und zu Bett zu gehen. Wie er seine Frustration nach der verunglückten Fernsehsendung zu lindern versucht und törichterweise den Champagner getrunken hatte, den Erin auf sein Zimmer hatte bringen lassen. Feldman fühlte sich bei der Schilderung der bizarren Verführungsszene äußerst verlegen und unbehaglich. Er sah, daß Anke auf dem Stuhl die Beine anzog und wie entsetzt sie war. Als er ihr erzählte, wie Erin an einen Schlüssel zu seinem Zimmer gelangt war, fing Anke an, sich etwas zu entspannen. »Ich kann es mir nur so denken«, erklärte Feldman, »daß du angerufen haben mußt, nachdem Erin in mein Zimmer gekommen war und bevor sie mich angemacht hat. Vielleicht habe ich nach all dem Sekt ein bißchen tiefer geschlafen als sonst und sie ist einfach am Telefon gewesen, bevor ich es überhaupt läuten hörte. Aber, Anke, ich schwöre dir, sobald ich sie erkannte, habe ich sie weggeschickt, so wahr mir Gott helfe! Nichts ist passiert, ehrlich.« Ankes Augen verengten sich plötzlich zu schmalen Schlitzen. 486
»Aber du hast mir doch gerade erzählt, Erin sei nie in deinem Zimmer gewesen«, sagte sie mißtrauisch. »Sie scheinen Ihre Geschichten nicht auseinanderhalten zu können, Mr. Feldman.« Feldman seufzte und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er niedergeschlagen. »Du verwechselst da etwas. Ich habe damit nicht Erin gemeint.« Anke, die langsam an die Kante ihres Stuhls vorgerückt war, hielt unvermittelt inne und rutschte verblüfft wieder zurück. »Das heißt, es gibt noch eine andere außer Erin?« Sie schien am Boden zerstört. Feldman ließ den Kopf hängen. Anke sah ihn einen Moment lang scharf an. Dann wurden ihre Augen immer größer. Leise und langsam rief sie aus: »Oh, mein Gott!« Sie stand auf und sah auf den gequälten Feldman hinunter. »Ich will es nicht wissen.« Sie drehte sich um und eilte aus der Tür. Feldman rannte ihr nach und rief sie, aber sie reagierte nicht darauf. Sie flüchtete die Treppe hinunter, sprang in ihren Wagen und fuhr davon.
99 IDF-KOMMANDOZENTRALE, SÜDLICHER NEGEV, 10 UHR 37, SAMSTAG, 8. APRIL 2000 Der Befehlshaber des Geheimdienstes, David Lazzlo, saß mit einem unbehaglichen Gefühl neben dem ernsten, ehemaligen Stabschef 487
Mosha Zerim. Die beiden Männer nahmen an einer Konferenz des israelischen Oberkommandos teil, das nun Stabschef General Alleza Goene unterstand. Die Atmosphäre war gespannt. Der General hatte es nicht eilig gehabt, zum unangenehmen Höhepunkt dieses Treffens zu kommen. Endlich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie Sie wissen, Gentlemen«, wandte sich Goene an seine Kollegen, »hat mich Verteidigungsminister Tamin noch vor seiner Beurlaubung zum Stabschef ernannt. Ich möchte noch einmal betonen, daß er damit nicht beabsichtigte, die Verdienste von General Zerim in irgendeiner Weise herabzusetzen.« Er wies lässig in die Richtung des Ex-Stabschef, der seine beherrschte Haltung beibehielt. »Doch angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse in Israel war der Verteidigungsminister ganz einfach der Meinung, daß meine langjährige Erfahrung während des Krieges sich als wertvoll erweisen könnte. Ebenfalls auf Weisung von Minister Tamin übernimmt General Zerim das Oberkommando über die nördlichen Divisionen.« Lazzlo warf einen heimlichen Seitenblick auf den unerschütterlichen Zerim. »Und es wird noch ein paar weitere Änderungen geben«, fuhr Goene fort und wandte sich an Lazzlo: »Kommandant, angesichts der gegenwärtigen Lücken in der Sicherheit werden Sie Ihre Verantwortung als Chef der Aufklärung abgeben. Das gilt ab sofort.« Ein überraschtes Murmeln erhob sich im Raum. Lazzlos Gesicht lief vor Ärger rot an. »Sie haben keine Befugnis, mir meine Befehlsgewalt zu entziehen!« schnauzte er. »Nur der Verteidigungsminister und die Knesset sind dazu berechtigt.« Ein verächtliches Lächeln trat auf Goenes Lippen. »Ich entziehe Ihnen nicht die Befehlsgewalt. Aber bei Abwesenheit eines Verteidigungsministers, der seines Amtes nicht enthoben ist, habe ich sehr wohl die Befugnis, Ihre Befehlsgewalt zu übertragen.« Lazzlo verstummte unvermittelt. Seine wütenden Einwände blie488
ben ihm förmlich im Halse stecken. »Von jetzt ab«, befahl Goene, »wird General Roth die Verantwortung für den Geheimdienst übernehmen. Und Sie, Kommandant Lazzlo, werden unsere Verteidigungskräfte in Jerusalem befehligen. Wie Sie ohne Zweifel selbst erkennen, wird Ihnen damit die größte Verantwortung des IDF anvertraut – die Heilige Stadt und die geweihten Orte vor den wachsenden Gruppen millennarischer Extremisten zu schützen.« Wie der Kommandant zweifellos erkannte, plazierte Goene ihn mitten in die explosivste Situation, der sich der IDF jemals hatte stellen müssen. Der General beugte sich vor, und seine Augen verengten sich. »Das dürfte nach den kürzlichen Enthüllungen aus dem Tagebuch Leveques eine um so größere Herausforderung sein, nicht wahr?« Er machte eine Pause, bis diese Anspielung angekommen war, und gab dann ein Zeichen, daß die Besprechung zu Ende sei. Lazzlo und Zerim verließen gemeinsam den Raum und gingen nebeneinander über das Rollfeld zu den Hubschraubern, die sie an den Ort ihres neuen Einsatzes bringen würden. »Ich bin sicher, daß sie uns auf der Spur sind, David«, meinte der General. »Nein«, versicherte ihm Lazzlo. »Wenn Tamin uns persönlich dafür verantwortlich hielte, daß das Tagebuch dem Vatikan zugespielt wurde, kämen wir jetzt vor das Kriegsgericht. Du kannst mir vertrauen, ich war wirklich gründlich, als ich die Spuren gelegt habe. Sie sind überzeugt, daß es ein unbekannter Pressemitarbeiter war, der durch eine Anti-Jesa-Sekte da hineingezogen wurde.« »Trotzdem.« Zerims Befürchtungen waren nicht zerstreut. »Unser Plan, Tamin und seinem verfluchten Negev-Experiment ein Ende zu machen, ist fehlgeschlagen. Israel ist in einer schlechteren Position als zuvor. Obwohl Tamin rein physisch weg vom Fenster ist, übt er, solange die Knesset seinen Fall untersucht, doch noch durch 489
Goene Kontrolle über den IDF aus. Und diesen Verrückten fürchte ich mehr als Tamin. David, wir haben versagt. Statt diese verdammte Bedrohung durch Jesa aufzuheben, ist sie nur noch größer geworden. Sie mit dem Leveque-Tagebuch in Mißkredit zu bringen, hat nur zu einer weltweiten Polarisierung der gegnerischen Gruppen geführt. Jetzt werden Millionen von Fanatikern über Jerusalem hereinbrechen und hier die Schlacht von Armageddon schlagen.« »Ja, mein Freund«, mußte Lazzlo zögernd zugeben. »Und ich habe die Aufgabe, sie aufzuhalten. Gott ist poetisch in seiner Gerechtigkeit, nicht wahr? Ich muß die Konsequenzen dafür tragen, daß ich bei all dem mitgemacht habe.«
100 WNN-REGIONALSTUDIO KAIRO, ÄGYPTEN, 8 UHR, MONTAG, 10. APRIL 2000 Die Telefonistin der Zentrale stellte einen Anruf in Feldmans Büro durch, den der Reporter erwartungsvoll annahm. »Guten Morgen, Kardinal Litti.« »Hallo, Jon, wie geht's?« »Gut.« Feldman ersparte ihm seine wirklichen Gefühle. »Ich glaube, wir haben jetzt alles für Sie vorbereitet.« »Hervorragend, Gott segne Sie!« Litti klang erleichtert und dankbar. »Was haben Sie geplant?« »Also, ich habe uns einen Wagen und einen zuverlässigen Fahrer 490
besorgt. Sie reisen als ägyptischer Diplomat und sind zu den palästinensischen Friedensverhandlungen in Hebron unterwegs. Jesa wird als Ihre Tochter auftreten. Sie tragen einen Turban, und Jesa muß immer ganz verschleiert gehen. Wir haben Ausweise und Referenzen und alles, was Sie benötigen, vorbereitet. Es müßte klappen, wenn Sie dem Fahrer das Reden überlassen und sich an ein paar arabische Ausdrücke halten, die wir Ihnen mitgeben werden. Wenn wir es geschafft haben, sicher die Grenze zu passieren, müßten wir eigentlich in der Lage sein, ohne Probleme nach Jerusalem zu kommen.« »Gut. Ausgezeichnet.« »Und noch eins …« »Ja?« »Breck und ich werden mit Ihnen zusammen reisen, als Ihre Attachés.« »Halten Sie das für klug bei den Schwierigkeiten, die Sie mit den Israelis hatten?« fragte Litti besorgt. Feldman bemühte sich, beruhigend zu klingen. »Wir werden auch verkleidet sein, Kardinal. Machen Sie sich keine Sorgen, niemand wird uns erkennen. Außerdem reisen ägyptische Persönlichkeiten nicht ohne ihre Attachés, und ich traue keinem anderen in dieser Sache. Nicht einmal unser Fahrer wird wissen, wer Sie und Jesa sind.« Litti zögerte, aber schließlich stimmte er zu. »Na ja, gut, wenn Sie meinen, daß das funktionieren wird …« »Wann fahren wir?« fragte Feldman und freute sich darauf, den Messias wiederzusehen. »Samstag früh, denke ich«, sagte Litti. »Ich rufe Sie an und sage Bescheid, sobald ich genau weiß, wann und wo.«
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101 ALI'IM-SIEDLUNG, KAIRO WEST, ÄGYPTEN, 6 UHR, SAMSTAG, 15. APRIL 2000 Zur verabredeten Zeit kamen die Reporter in einer langen Limousine mit getönten Scheiben an, die an der Seite das Abzeichen der ägyptischen Regierung trug und von einem entschlossen wirkenden Araber chauffiert wurde. Als sie vor einer Reihe weißgestrichener Lehmhäuser einbogen, trafen sie auf den Kardinal, der in banger Erwartung auf der ungeteerten Straße auf und ab ging. Feldman wollte ihn gerade tadeln, weil er unverkleidet herumlief, als er die Verzweiflung im geröteten Gesicht des Kardinals sah. »Sie ist weg!« rief Litti und eilte dem Wagen entgegen, noch bevor er zum Stehen kam. Feldman war entgeistert. »Weg? Wann? Wohin?« »Als ich aufwachte, sagten mir unsere Gastgeber, Jesa sei letzte Nacht verschwunden, nachdem ich mich zurückgezogen hatte. Sie gab Anweisung, mich nicht zu wecken, und ging einfach weg! Niemand sagte mir, wohin, aber ich bin sicher, daß sie auf dem Weg nach Jerusalem ist. Das ist so leichtsinnig von ihr!« »Verdammter Mist!« platzte Hunter enttäuscht heraus. »Aber ich meine, wir sollten trotzdem nach Jerusalem fahren. Wenn sie dorthin unterwegs ist, können wir sie vielleicht einholen. Versuchen können wir's auf jeden Fall, denn wenn sie Kairo verlassen hat, ist unsere Arbeit hier sowieso erledigt, verdammt noch mal.« Einen Augenblick lang dachte Feldman, daß es sich nicht gehör492
te, vor einem Kardinal des Heiligen Stuhls so zu reden, aber der Reporter war zu sehr mit seiner eigenen Enttäuschung beschäftigt, um Hunter darauf aufmerksam zu machen. »Du hast recht«, stimmte Feldman zu und ließ noch einmal den Blick über die stille Siedlung schweifen. »Wir sollten es tun.« Litti stieg ein, und die Limousine fuhr die Straße hinunter der israelischen Grenze entgegen. »Erzählen Sie mir, wie es Ihnen gelungen ist, Jesa zu finden, und wie es ihr geht, seitdem ich sie letztes Mal gesehen habe?« fragte Feldman, während sie in ihre Verkleidung schlüpften. Litti nickte. »Wissen Sie, als ich nach unserer Reise zum Vatikan in mein Hotelzimmer zurückkam, dachte ich, ich würde Jesa nie mehr wiedersehen. Drei Tage des Betens verstrichen, in denen ich nichts von ihr hörte. Dann, am vierten Morgen, saß ich in meinem Zimmer und meditierte und hatte plötzlich den überwältigenden Impuls, ans Fenster zu treten. Ich sah auf die Straße hinunter, und mit einem Mal erfaßte mich ein Schwindel. Als ich mein Gleichgewicht wieder gefunden hatte, stand da Jesa vier Stockwerke tiefer auf dem Gehweg und sah zu mir herauf. Ich lief sofort hinunter, und ohne ein Wort zu sagen, führte sie mich durch die Straßen an den Stadtrand von Kairo zu einem kleinen Beduinenlager. Sie lebt bei den Beduinen in der Wüste. Sie zieht mit ihnen und ihren Herden umher, lebt in Zelten und lehrt dort.« »Wissen die Beduinen überhaupt, wer sie ist?« fragte Feldman. »O ja«, bestätigte Litti. »Sie haben tragbare Fernseher und Radios, die sie überallhin mitnehmen. Sie sind ihr vollkommen ergeben. Sie hat mehrere von ihnen von schweren Krankheiten geheilt.« Feldman nickte. Beduinen hatten Jesa nach ihrer Flucht aus dem Negev Forschungsinstitut zuerst entdeckt. In gewisser Hinsicht waren sie ihre erste Familie. »Dann«, sprach Litti weiter, »lud Jesa mich ein, mit ihr und den Beduinen zu leben und zu reisen, und das tue ich seitdem. Wir zie493
hen überall in dieser Gegend umher, besuchen verschiedene Flecken, wo Jesa dann im Haus eines Einheimischen übernachtet, predigt, manchmal ein Wunder tut, und dann wandern wir weiter.« »Sind Sie immer noch davon überzeugt, daß Jesa der wahre Messias ist?« fragte Feldman. »Vollkommen überzeugt!« rief Litti ohne Zögern. »Ganz sicher ist sie ein Messias. Genauso wie Jesus einer war. Sie ist die eingeborene Tochter Gottes und mit einem besonderen Auftrag hier.« Feldman warf Litti einen zweifelnden Seitenblick zu, während er Hunters Turban zurechtrückte, damit sein blondes Haar nicht hervorschaute. »Worin genau besteht denn ihr Auftrag, abgesehen davon, die Weltreligionen zu zerstören und die Erde in die völlige Konfusion zu führen?« Der Kardinal war enttäuscht. »Jon, glauben Sie nach allem, was Sie gesehen haben, immer noch nicht?« »Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Kardinal«, gab Feldman zu. »Ich sehe viele seltsame Ereignisse, die messianischen Charakter haben, für die es aber auch andere Erklärungen geben könnte. Einschließlich satanischer, wenn man geneigt ist, die Schrift so zu interpretieren.« Littis Gesicht sah betrübt aus. »Jon, außer in den letzten paar Wochen, in denen ich den Segen erfuhr, bei ihr zu sein, haben Sie mehr Zeit mit Jesa verbracht und sie intensiver beobachten können als irgend jemand sonst. Was haben Sie gesehen? Was sagt Ihnen Ihr Herz?« Feldman schien bekümmert. »Es ist so verwirrend, Alphonse. Sie ist unglaublich. Ihre Güte, ihre feste Überzeugung, ihre Stärke, ihre Schönheit, ihr Mut. Es sind Zeichen des Göttlichen, die ich in ihr sehe. Aber dann sehe ich all die Zerstörung, den Schmerz und das Leid, die Folgen ihres Kommens sind.« Litti lehnte sich nachdenklich zurück. »Haben Sie jemals überlegt, Jon, daß Gottes Wege nicht immer nur Liebe und Güte sein kön494
nen? Gott benimmt sich, wie gute Eltern es tun, die ein geliebtes Kind erziehen. Er muß einen Ausgleich finden zwischen herzlicher Güte und Disziplin, muß beides angemessen walten lassen. In der Züchtigung ist so viel Liebe wie in der Umarmung. Schlechtes Benehmen ohne Bestrafung hinzunehmen heißt das Kind verderben.« »Eine recht herablassende Sicht der Dinge«, fand Feldman. »Verglichen mit der Vollkommenheit ist der Mensch ein Kind«, behauptete Litti. »Obwohl Jesa sagt, es sei der Wille Gottes, daß die Menschen wachsen, reifer werden und schließlich von Gott unabhängig werden. Aber die Richtung, die wir eingeschlagen haben, weicht von seinem Weg ab, und wir bewegen uns im Kreis. Sie sagt, wir wachsen nicht mehr, wir treten auf der Stelle.« »Gott will uns also mit dem Weltuntergang bestrafen? Das geht doch ein bißchen zu weit als erzieherische Maßnahme, finden Sie nicht?« »Es stimmt, daß sie uns gewarnt hat, Armageddon stehe bevor. Aber das heißt nicht, daß wir alle sterben müssen. Vielleicht werden manche von uns mit Leib und Seele in den Himmel und in das ewige Leben entrückt.« »Die Verzückung, hm?« Hunter erkannte die vertraute Doktrin. »Oder vielleicht wird Christus wiederkommen und zusammen mit Jesa die Guten von den Bösen trennen, und sie werden tausend Jahre lang Seite an Seite in gesegnetem Frieden auf Erden herrschen«, meinte Litti unbeirrt. »Aber wie steht es mit Kardinal di Concercis Anschuldigungen – den Zeichen?« fragte Feldman. »Wie erklären Sie die Zeichen? Und wenn Jesa nicht der Antichrist ist, wer ist es dann?« Litti lächelte selbstsicher. »Erinnern Sie sich an Jesas Ermahnungen zur Interpretation der Schrift? Diese Zeichen sind aus Kardinal di Concercis Perspektive gesehen. Sie beweisen nicht, daß Jesa eine Betrügerin ist. Wer kann ahnen, welche Gestalt der Antichrist annehmen wird? Oder gar, ob er als Person und nicht als eine ganze 495
Gruppe von Menschen in Erscheinung treten wird? Zugegeben, Jesa entspricht nicht den herkömmlichen Vorstellungen davon, wie ein Messias aussehen oder handeln sollte, aber wir werden, wenn überhaupt, Gottes Absicht erst verstehen, wenn sein Plan uns ganz offenbart worden ist.« »Sie haben Jesa sicher gefragt, was geschehen wird?« fragte Feldman. »Ja, ich habe sie gefragt. Sie sagt nur, daß die Auflösung nah ist und daß alles, was sie vorhergesagt hat, bald eintreffen wird. Wenn sie tatsächlich nach Jerusalem zurückkehrt, wird sie den Anstoß zur Erfüllung der letzten Prophezeiungen der Apokalypse geben. Ich habe ein ungutes Gefühl. Als sei die Endzeit schon angebrochen.«
102 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 21 UHR 17, SAMSTAG, 15. APRIL 2000 Es war schon dunkel, als Feldman, Hunter und Kardinal Litti zu der kleinen Villa am Hang hinauffuhren, die WNN auf der Westseite des Ölberges für sie gemietet hatte. Die Fahrt nach Jerusalem war schwieriger gewesen als die Überquerung der Grenze. Die Straßen im Norden waren von Pilgern, militanten Gruppen und Militärkolonnen blockiert, und man sah überall am Weg die Zeichen von Zerstörung und Gewalt. Einmal, als sie sich weigerten, wegen einer Gruppe umherziehender Gogs anzuhalten, wurden sogar 496
Schüsse auf den Wagen des Trios abgefeuert. Als sie in Jerusalem ankamen, fanden sie es äußerlich wenig verändert, aber trotzdem ganz anders vor. Zahlreiche Gebäude, die das Erdbeben vor mehr als drei Monaten beschädigt hatte, waren immer noch nicht instand gesetzt worden. Offenbar hatte es in der Stadt zu viel Unruhe gegeben, als daß man sich solchen Dingen hätte widmen können. Feldman bemerkte, daß auch das berühmte Goldene Tor der Altstadt immer noch von Gerüsten umstellt war; davor standen Paletten, die mit großen Steinen beladen waren. Die Hüttensiedlungen der Millennarier erstreckten sich inzwischen weit über die Stadtmauern hinaus und hatten bereits slumartige Dimensionen angenommen. Man hatte sie jetzt in Pro-Jesaund Anti-Jesa-Gebiete aufgeteilt, um den ständigen Auseinandersetzungen Einhalt zu gebieten – allerdings vergeblich. Überall war israelisches Militär zu sehen, und auf den hoffnungslos überfüllten Märkten kam es immer wieder zu Gewalttätigkeiten. Die Villa am Hang lag nicht allzu weit von der Stelle entfernt, wo Feldman und seine Kollegen die Jahrtausendwende erlebt hatten. Sie besaß einen Balkon, der eine wunderbare Aussicht auf die Altstadt bot. Feldman machte sich Sorgen um Ankes Sicherheit und versuchte, sie in ihrer Jerusalemer Stadtwohnung und in Tel Aviv zu erreichen, bekam aber jedesmal nur ihre Anrufbeantworter zu hören. Zerknirscht hinterließ er eine Nachricht und versprach, bald wieder anzurufen. Eine Nummer nannte er ihr nicht, weil er es nicht wagte, seinen Aufenthaltsort anzugeben.
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103 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 8 UHR 58, SONNTAG, 16. APRIL 2000 In diesem Traum war Feldman nackt und klammerte sich an ein freistehendes dürres Bäumchen auf der Spitze eines kahlen Hügels. In Todesfurcht hielt er sich fest, nur um Haaresbreite von einer zähnefletschenden Meute böser, gelber Köter getrennt. Es waren Höllenhunde. Schmutzig, mit verklebtem Fell, blutunterlaufenen Augen und Schnauzen, aus denen der Geifer tollwütiger Raserei troff. Feldman konnte sich kaum noch festhalten und geriet den wütend schnappenden Fängen zusehends näher. Er zog sich immer wieder an dem Bäumchen hoch, aber jeder Versuch erschöpfte ihn aufs neue, während sich seine Finger in immer kürzeren Abständen verkrampften. Aus der Ferne hörte er Hunters begeisterte Stimme: »Hey, seht euch das mal alle an! Wo ist meine Kamera?« Feldman kam keuchend zu sich. Seine Finger umklammerten immer noch verzweifelt die Querstäbe am Kopfende des Bettes. »Hey, das müßt ihr sehen – ihr werdet's nicht glauben! Beeilt euch!« hörte er Hunters Stimme erneut. Ganz benommen stand Feldman auf. Mit Brille und Hose kämpfend stolperte er aus dem Zimmer in das blendende Licht eines wunderbaren Frühlingsmorgens, kniff die Augen zusammen und entdeckte Hunter draußen auf dem Balkon. Neben ihm stand Kardinal Litti. »Jon!« Der Kardinal winkte Feldman ganz aufgeregt heran. »Sehen 498
Sie nur!« Feldman lehnte sich über die Brüstung des Balkons und spähte zum Fuß des Berges hinunter. Eine Beduinenkarawane auf Kamelen und Maultieren kam aus der Wüste. Auf einem gewundenen Feldweg bewegte sie sich um den Ölberg herum auf die Stadt zu. An den Toren der Altstadt hatten sich bereits eine große Menschenmenge zu ihrem Empfang versammelt. Aus den umliegenden Hüttensiedlungen kamen Leute zu Fuß herbeigeeilt, um die Ankömmlinge zu begrüßen. An der Spitze der Karawane saß eine kleine Gestalt ganz allein auf einem Maultier, das von einem Nomaden geführt wurde. Sogar aus der Ferne konnte man durch den scharfen Kontrast zwischen dunklem Haar und weißer Haut deutlich erkennen, wer da einherritt und gefeiert wurde. Feldman zog ein Fernglas aus seinem Beutel und sah sich das Schauspiel aus größerer Nähe an. »Ich bin ein Idiot!« erklärte Litti und schlug sich mehrmals mit der flachen Hand an die Stirn. »Ein Volltrottel!« Hunter war mit seiner Kamera beschäftigt und reagierte nicht. Feldman antwortete, ohne das Fernglas abzusetzen. »Was meinen Sie denn damit?« »Sie erfüllt wieder eine Prophezeiung!« rief Litti. »Sie folgt den Spuren Christi und erfüllt die Vorhersage des Alten Testaments. Wißt ihr, welcher Tag heute ist?« Feldman konnte seine Augen immer noch nicht abwenden, schüttelte den Kopf und lächelte, als sich die Prophetin unter dem Jubel der Massen auf die Stadt zubewegte. »Palmsonntag natürlich!« frohlockte Litti. Feldman war vollkommen überwältigt von Jesas triumphaler Rückkehr in die Heilige Stadt. Die ständig wachsende Menge der Zuschauer jubelte, tanzte, sang und rief ihr in befreiter Festlichkeit zu. Aber plötzlich bemerkte Feldman ein Stocken am Rand der Menge. Er richtete sein Fernglas darauf. »Hunter!« rief er seinem Freund mit besorgter Stimme zu. »Sieh nach links.« 499
Hunter schwenkte seine Kamera herum. Zweifellos bestand die erste Gruppe der versammelten Menschen aus den Anhängern von Jesa. Aber offenbar war die Kunde schnell zum Oppositionslager vorgedrungen, und eine ziemlich große Gruppe bewaffneter Gegner bewegte sich jetzt auf die Menge zu. Noch waren keine israelischen Soldaten oder Polizisten in Sicht, die der schutzlosen Karawane hätten beistehen können. Schon waren hier und da kleinere Scharmützel im Gang, als sich zwei Autos mit bewaffneten Guerillas durch die in Panik geratenden Massen drängten und auf den Messias zufuhren. Litti stieß einen Seufzer aus, und Feldmans Griff um das Fernglas wurde fester. Aus der Ferne konnten sie nichts tun. Die Angreifer waren nur noch wenige Meter von ihrem Ziel entfernt. Feldman, Hunter und Litti sahen verzweifelt zu, wie die Karawane sich zerstreute. Die ängstliche Menge preßte sich gegen Jesas Maultier und drängte es dadurch vom Weg ab, so daß es ungeschickt seitwärts auf die Mauern der Altstadt zustolperte. Jesa wandte sich um und bemerkte die herannahenden Autos, deren Insassen sie offenbar auch erkannt hatten. Ein Mann in einem der Wagen beugte sich aus einem offenen Fenster und legte ein Gewehr an. Feldmans Herz raste. Jesa war vor der Mauer wie in einer Falle gefangen, und die auseinanderweichende Menge gab den herankommenden Fahrzeugen freie Bahn. Gegen das Goldene Tor zurückgedrängt, führten die verzweifelten Beduinen Jesa hastig unter das Gerüst zu den Paletten mit den aufgeschichteten Steinen. Aber hinter diese Deckung hatten sich schon Dutzende anderer Menschen in ihrer Panik geflüchtet. Jesa sah keinen Ausweg. Sie glitt von ihrem Reittier und stand ihren Feinden direkt gegenüber. Das Auto war jetzt schon in Schußweite. Der Schütze lehnte sich vor und zielte. Ganz ruhig wandte Jesa sich in Feldmans Richtung. Durch das Fernglas sah es aus, als schaue sie ihm direkt in die Augen. Er konnte nicht hinsehen und bedeckte sein Gesicht mit dem Arm. 500
Gewehrschüsse erklangen wiederholt in der Ferne. »O mein Gott«, rief Hunter, und Feldman ballte in erbittertem Zorn die Fäuste. »Scheiße!« schrie Hunter, und Feldman ließ sich auf die Knie fallen. »Sie ist verschwunden!« brüllte Hunter jubelnd. »Sie ist entkommen!« Feldman und Litti begriffen ihn nicht. »Hey, Leute!« Hunter fuchtelte mit der Hand herum und schlug den Kardinal leicht auf den Kopf. »Es ist schon gut. Steht auf. Seht doch mal!« Ungläubig erhoben sich Feldmari und Litti langsam und blickten über den Rand des Balkons. Sie sahen, daß die Verfolger im Auto nah an die Paletten herangefahren waren und nun unter dem Gerüst nach Jesa suchten. »Was ist passiert?« schnaufte Feldman mit kaum hörbarer Stimme. »Die Mauer wird saniert, und sie hat sich durch einen Spalt gedrängt«, erklärte Hunter verwundert. »Sie ist so klein, daß sie einfach durch eine winzige Öffnung geschlüpft ist, und jetzt gucken sie ziemlich blöd aus der Wäsche.« »Donnerwetter«, rief Feldman erleichtert. »Eigentlich wieder ein Wunder«, fand Hunter.
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104 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 20 UHR 18, MONTAG, 17. APRIL 2000 Hunters Aufnahmen von Jesas Flucht durch das Goldene Tor wurden am Morgen per Spezialkurier aus Jerusalem hinausgeschafft. Am Abend hatte WNN im Kampf um die Einschaltquoten bereits wieder einen neuen Triumph erzielt. Die weltweite Wirkung des Berichts war vernichtend. Jesas Anhänger, zutiefst aufgebracht durch den brutalen Angriff auf ihren hilflosen Messias, lieferten sich eine Nacht lang gewalttätige Schlachten mit ihren Gegnern. In Jerusalem brachte der IDF die Situation jedoch bald durch ein massives Aufgebot von Sicherheitskräften um die Altstadt unter seine Kontrolle. Die Regierung Ben-Miriam hatte Jesa trotz heftiger Kritik von seiten des IDF innerhalb der Mauern Zuflucht geboten. Obwohl die Regierung es lieber gesehen hätte, wenn Jesa das Land überhaupt nicht wieder betreten hätte, war sie immerhin eine Bürgerin Israels. Und tatsächlich waren trotz der schockierenden Enthüllungen des Tagebuchs von Leveque viele israelische Juden, besonders die Lubawitscher und andere orthodoxe Sekten und sogar manche Mitglieder der Knesset, immer noch Anhänger von Jesa als einer heiligen Person, sofern sie sie nicht sogar als den verheißenen Messias verehrten. Der neue Oberbefehlshaber des Militärs in Jerusalem, David Lazzlo, hatte eine erfolgreiche Entspannungspolitik durchgesetzt. Er hatte angeordnet, in Jerusalem alle Personen, die Gewaltverbrechen be502
gingen, zu verhaften und in die etwa hundert Kilometer nördlich gelegene Stadt Afula zu bringen. Zwei große Stützpunkte der Vereinten Nationen waren dort als separate Internierungslager für die beiden feindlichen Gruppen eingerichtet worden. Eine Strategie, die sich als äußerst wirksam erwies. Feldman und Hunter hatten auch diesmal wieder Plätze in der vordersten Reihe. Plätze, die ohne ihre Visa allerdings nicht sicher waren. Noch am Palmsonntagmorgen hatte sich Litti aufgemacht, um seinen Messias in der Altstadt zu suchen, und wie versprochen kam er Montag nachmittag mit der willkommenen Nachricht vorbei, daß Jesa in Sicherheit sei, rund um die Uhr von Legionen getreuer Anhänger beschützt. Nachdem der Kardinal weggegangen war und es schon dämmerte, trat Feldman im frühlingshaften Zwielicht zu Hunter auf den Balkon hinaus. Die Nachwirkung ihres Videos vom Palmsonntag war an der nicht abreißenden Schar der zusammenströmenden Pilger zu erkennen, deren Zahl sich mindestens verdoppelt hatte. »Das müssen Millionen sein!« sagte Feldman staunend zu Hunter, der die Massen durch das Fernglas beobachtete. »Ich hatte gedacht, der IDF wäre in der Lage, die Grenzen besser abzuriegeln.« »Selbst mit der Hilfe der Vereinten Nationen«, konstatierte Hunter und ließ das Fernglas sinken, »haben die Israelis einfach nicht genug Leute, um mit so etwas fertig zu werden. Wenn man glaubt, bald seinem Schöpfer gegenüberzustehen, wie es all diese armen Kerle tun, dann sind wohl mehr als ein paar Straßenabsperrungen nötig, um einen zurückzuhalten.« Sie lehnten sich eine Weile zusammen gegen die Brüstung und beobachteten schweigend die vorbeiziehenden Massen. »Stell dir mal vor«, überlegte Hunter, »daß sich all dieser Fanatismus aus der ganzen Welt auf diesen armen kleinen Ort konzentriert. Wir müssen uns wohl auf eine größere Konfrontation gefaßt machen. Und wieder einmal haben wir die besten Logenplätze.« 503
Er wandte sich um und ging hinein. »Nur schade, daß wir kein Programmheft haben. Ich habe es satt, immer nur herumzusitzen und zu warten, bis etwas passiert.« »Vielleicht haben wir ein Programm«, wandte Feldman ein. Der Kameramann war zunächst still. »Wie meinst du das?« »Erinnerst du dich, was Kardinal Litti über Jesa gesagt hat – daß sie biblische Prophezeiungen erfüllt?« »Ja?« »Vielleicht kann man das auch anders betrachten. Vielleicht versucht sie, es Christus gleichzutun?« »Na ja, wollen wir nicht alle mehr oder weniger wie Christus sein?« antwortete Hunter sarkastisch. »Nein.« Feldman machte ein ernstes Gesicht. »Ich meine, was ist, wenn sie Christus kopiert? Ihr Leben parallel zu dem seinigen lebt. Wie ihr Einzug am Palmsonntag in Jerusalem. Wie ihre Bergpredigt. Ihre Wunder. Ihre Flucht nach Ägypten. Ihre Gleichnisse. Ich meine, genau identisch ist es nicht, aber es folgt doch im großen und ganzen dem gleichen Muster.« »Das einzige Muster, das ich erkennen kann«, meinte Hunter, »besteht darin: Sie legt ihre Auftritte so, daß sie sich an den ungünstigsten Orten zu den unmöglichsten Zeiten aufhält, um das größtmögliche Chaos zu verursachen!« »Hör mir mal kurz zu«, bat Feldman. »Nehmen wir an, die Samariter hätten Jesa überzeugt, daß sie ein neuer Christus ist, ja? Dementsprechend prägt sie sich also selbst. Und sie hat diese unglaubliche Kommunikationsmöglichkeit durch die Mikrochips in ihrem Gehirn, die ihr sofortigen Zugriff auf alle biblischen Schriften und Prophezeiungen erlaubt. Sie studiert also die Bibel, und wenn sie Weisung braucht, richtet sie sich einfach nach dem Leben Christi, wie nach einer Straßenkarte.« »Okay, und weiter?« »Die Sache ist doch die – wenn sie die Schrift als Leitfaden 504
nimmt, was wird ihr nächster Schritt sein?« »Ich weiß nicht, ich habe die Bibelstunden geschwänzt.« »Sieh auf den Kalender, Breck. Was ist der 21. April?« »Keine Ahnung.« »Karfreitag, Mann! Die Kreuzigung!« Hunter verstummte und starrte seinen Freund fragend an. »Sie nageln sie ans Kreuz?« Feldman schüttelte schnell den Kopf. »Nein, nein, sicherlich nicht buchstäblich.« Aber dann erschrak er plötzlich, und er stockte. »Gott, woher soll ich das wissen!« »Das ist es also, was Litti plagt«, meinte Hunter nachdenklich. »Er weiß, was sie vorhat. Sie wartet bis Freitag ab, um sich den Gogs auszuliefern, damit sie sie kreuzigen. Ein selbstinszenierter Märtyrertod, damit sie ihr Schicksal erfüllen kann. Das ist krank, Mann.« Feldmans Kopf war voll schrecklicher Bilder. »Die Gogs sind vielleicht fanatisch genug, Jesa hinzurichten, aber sie würden doch nicht wagen, sie zu …« Er konnte es nicht aussprechen. »Dazu sind sie zu clever!« behauptete er. »Damit würden sie sie doch nur bestätigen, in all ihren Parallelen zu Christus. Und das würde ihrem eigenen Ziel zuwiderlaufen.« »Außer«, hielt Hunter dagegen, »wenn sie wirklich davon überzeugt sind, daß sie der Antichrist ist. Dann hat eine Kreuzigung eine gewisse symbolische Gerechtigkeit. Die Abrechnung für die grausame Art und Weise, wie Christus hingerichtet wurde. Vergeltung. Also da draußen laufen jedenfalls genug Verrückte herum, denen ich alles zutrauen würde.« »O Gott«, flüsterte Feldman, der sich widerwillig eingestehen mußte, daß Hunters Folgerung ziemlich einleuchtend war. Er legte eine Hand an die Stirn und dachte nach. »Wir müssen in die Altstadt, Breck. Wir müssen Jesa da rausholen.« Hunter schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage, Mann, die 505
Israelis haben alles abgeriegelt. Zur Zeit kommt man nur mit einem Anliegerausweis durch. Und die werden nur für Leute wie Litti ausgestellt, die vor der Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen schon innerhalb der Mauern waren.« »Dann brauchen wir eben einen Hubschrauber«, schloß Feldman. »Geht nicht.« Hunter schüttelte den Kopf. »Einschränkung des Luftverkehrs. Die Israelis würden jedes Flugzeug abschießen, das ohne Erlaubnis fliegt. Sieh mal«, sagte er und reichte Feldman sein Fernglas, »sie haben jetzt überall Artillerie und Truppen stationiert. Sie sind auf Armageddon bestens vorbereitet.« Feldman stieß das Fernglas weg. »Verdammt, dann müssen wir eben die Israelis dazu bringen, mit uns zu kooperieren. Wir müssen unsere Visa zurückbekommen!« »Einverstanden.« »Ich rufe Sullivan an, um zu sehen, ob er damit weitergekommen ist. Und hoffentlich kommt Litti uns morgen besuchen. Wir werden ihn brauchen.« Hunter nickte, wollte aufstehen, doch dann kam ihm noch ein Gedanke. »Aber was ist, wenn Jesa sich weigert, wegzugehen?« Feldman biß sich bei dieser Möglichkeit, die sie übersehen hatten, auf die Lippe und sah seinen Freund nachdenklich an.
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105 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 10 UHR 11, DIENSTAG, 18. APRIL 2000 Kardinal Litti kam wie versprochen. Er sah sehr bekümmert aus. »Ich habe ein sehr ungutes Gefühl«, seufzte er besorgt. »Jesa hat mich mit einer speziellen Anfrage zu den Israelis geschickt. Sie will die Erlaubnis, am Freitag nachmittag eine öffentliche Rede vom Platz an der Klagemauer übertragen zu lassen.« Feldman und Hunter schauten einander an und sahen ihren Verdacht bestätigt. »Was haben die Israelis dazu gesagt?« wollte Feldman wissen. »Ich habe mich mit einem Kommandanten, David Lazzlo, getroffen«, erklärte Litti. »Er hat gesagt, er würde sich heute noch mit mir in Verbindung setzen, aber er deutete an, daß der IDF uns erlauben würde, eine Versammlung abzuhalten, wenn wir zu einem Entgegenkommen bereit wären. Jesa soll von ihren Anhängern verlangen, daß sie ihre Waffen niederlegen und jede weitere Auseinandersetzung unterlassen. Aber das ist überhaupt keine Frage, da sie sich ohnehin schon dafür einsetzt.« Feldman schien bestürzt. »Ich verstehe das nicht. Jesa mitten in diesem Pulverfaß eine öffentliche Ansprache halten zu lassen, ist Irrsinn. Es wird nur zu Blutvergießen führen. Warum wollen die Israelis das riskieren?« »Jesa ist in Sicherheit, solange sie hinter den Mauern der Altstadt bleibt«, betonte Litti. »Drinnen hat sie nur Anhänger. Von außen hat der IDF die Mauern vollkommen abgesichert. Und zum Glück 507
sind die meisten wirklich militanten Extremisten in die Internierungslager nach Afula geschafft worden.« »Was ist denn eigentlich der Zweck der Rede?« fragte Feldman. »Jesa will sich nicht dazu äußern«, seufzte Litti. »Nur daß sie wieder das Werk ihres Vaters zu Ende zu führen habe.« Feldman dachte einen Moment darüber nach. »Alphonse, ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, welcher Tag der Freitag ist.« Littis sorgenvoller Blick war Antwort genug. Feldman ergriff den Arm des Kardinals. »Auch wir machen uns Sorgen um ihre Sicherheit. Und wir haben eine Idee. Einen Plan zu ihrer Rettung.« Litti sah Feldman fragend an, aber Hunter kam ihm zuvor. »WNN diskutiert mit den Israelis gerade die Möglichkeit, Jesa und Sie hier herauszuholen. Den Israelis wäre nichts lieber, als diese Zeitbombe zu entschärfen. Und mit Ihrer Hilfe können wir sie vielleicht irgendwohin bringen, wo es ruhiger ist.« Der Kardinal wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Sie verstehen nicht. Man kann sich nicht vor dem verstecken, was kommt. Ich sorge mich nicht nur um Jesas Sicherheit.« Das dämpfte Feldmans und Hunters Begeisterung. Litti sah die beiden Journalisten an. »Erinnern Sie sich, wie Jesa ihren Verfolgern am Palmsonntag entkam?« Beide Männer nickten. »Sie floh durch das Goldene Tor. Und erinnern Sie sich an die Prophezeiung über das Goldene Tor? Es ist vorhergesagt«, fuhr der Kardinal nach einer kleinen Pause fort, »daß der Messias in den letzten Tagen die Altstadt durch das Goldene Tor betreten wird. Ein weiteres endgültiges Zeichen für das nahende Gericht.« Feldman erinnerte sich dunkel, daß er davon schon einmal gehört hatte, und sein Magen zog sich zusammen. »Bis zum Erdbeben«, führte Litti weiter aus, »war das große Goldene Tor jahrhundertelang verschlossen gewesen. Die Moslems hat508
ten als Absicherung gegen die Warnung in der Bibel eine Mauer davor gebaut. Aber Jesa hat sich ihnen allen widersetzt. Sie hat wieder eine Prophezeiung erfüllt.« »Und Sie glauben, Freitag sei der Tag X?« fragte Hunter. »Gibt es einen passenderen Tag für die Rückkehr Gottes als am Jahrestag seines Todes?« gab Litti zu bedenken. Sogar Hunter wurde blaß bei diesem Gedanken. »Gibt es noch andere Gründe für diese Schlußfolgerung, Kardinal?« fragte Feldman. »Nur die Art und Weise, wie ich die Stimmung des Messias beurteile«, fügte er hinzu. »Sie ist nachdenklicher geworden und so traurig in letzter Zeit. Sie ißt wenig und widmet einen unverhältnismäßig großen Teil ihrer Lehrtätigkeit eschatologischen Themen, Themen also, die sich mit dem Jüngsten Gericht befassen.« Feldmans Gesicht wurde ernst. Er streckte die Hand aus und berührte die Soutane des Kardinals am Ärmel. »Alphonse? Wird sie mit Ihnen weggehen, wenn Sie sie bitten?« »Nein, Jon, ich fürchte, das wird sie nicht«, antwortete er resigniert. »Sie ist fest entschlossen, am Freitag aufzutreten, und ich wage es nicht, mich in diese Sache einzumischen. Sie folgt dem Willen des Vaters.« Feldman ließ die Schultern hängen und runzelte die Stirn. Dann hellte sich seine Miene etwas auf. »Wäre sie denn bereit, nach dem Auftritt wegzugehen?« »Ich weiß es nicht.« »Ich schlage folgendes vor«, sagte Feldman. »Wir lassen uns vor Ort einen Hubschrauber von den Israelis zum Abflug bereitstellen. Sofort nach der Rede – oder beim ersten Anzeichen von Problemen – laden wir Sie und Jesa ein und machen uns so schnell wie möglich davon. Einverstanden?« Vielleicht ein ganz klein wenig getröstet, sah Litti seinen ernsten, jungen Freund an. »Es ist manchmal solch ein Segen, nicht zu glau509
ben«, sagte er und tätschelte Feldmans Arm. »Einverstanden. Und ich kann nur beten, daß Sie recht haben und ich unrecht. Aber wenn nicht, dann bete ich statt dessen, daß wir alle auserwählt werden, zusammen den Herrn im Paradies zu treffen.« Hunter lächelte wider Willen und streckte ihm die Hand entgegen. »Na ja, Padre, nur für den Fall, daß ich nicht auf der Liste stehe, es war schön, Sie kennengelernt zu haben. Sie sind echt der einzige religiöse Typ, den ich okay finde.« Litti nahm die Hand des großen Mannes und lächelte Hunter väterlich an. »Zur Reue ist es nie zu spät, mein Sohn. Ich glaube, Gott wäre stolz, Sie auf seiner Seite zu haben.«
106 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 8 UHR 44, DONNERSTAG, 20. APRIL 2000 Das Telefon klingelte. Es war Sullivan. »Gute Nachrichten, Jon. Sie haben uns die Visa zurückgegeben.« »Toll!« rief Feldman und legte das Neue Testament zur Seite, das er nach Hinweisen auf Jesas Pläne durchblätterte. »Sie erlauben einigen von uns, nach Jerusalem zurückzukehren. Aber unsere Zentrale wollen sie noch nicht freigeben. Ich habe die Visa für Sie und Hunter, und ich komme so bald wie möglich mit Arnie, Cissy und einem weiteren Team nach Jerusalem.« »Ausgezeichnet.« 510
»Die Israelis erlauben Jesa auch, ihre Rede zu halten«, fügte er hinzu. »Sie ist für halb drei am Freitagnachmittag geplant. Sie stellen jetzt eine große Plattform an der Nordseite der Mauer für sie auf, die von allen Seiten mit kugelsicherem Glas versehen ist.« »Gut. Was ist mit dem Hubschrauber?« »Das Verteidigungsministerium hat einen Hubschrauber der Armee zugesagt, der bereitstehen soll, um Jesa und den Kardinal nach der Rede wegzubringen. Sie werden ihn so nah wie möglich an der Bühne plazieren und die beiden, vorausgesetzt, daß Jesa gehen will, sofort nach Kairo ausfliegen. Wir haben alles so organisiert, daß jemand von den Vereinten Nationen sie in Kairo in ihre Obhut nimmt, und wir hoffen, daß sie dann in der Schweiz Asyl bekommt.« »Und Sie haben vereinbart, daß Hunter und ich während der Rede und des Flugs bei ihr bleiben können?« »Na ja, so ungefähr. Die Leute vom IDF wollen nicht, daß wir – besonders Sie – in die Operation verwickelt werden. Sie wollen die ganze Sache selbst in die Hand nehmen. Und die Israelis lassen keine Medien auf der Bühne oder im Hubschrauber zu. Eigentlich haben wir zur Zeit überhaupt nicht das Recht, die Altstadt zu betreten.« »Das klingt nicht gut, Nigel«, meinte Feldman. »Daß der IDF damit zu tun hat, macht mich nervös. Goene ist jetzt Stabschef, und er ist kaum besser als die Gogs. Ich habe kein gutes Gefühl dabei.« »Das ist alles, was wir im Moment erreichen konnten, Jon.« »Und warum lassen sie uns nicht rein, um die Rede aufzunehmen, verdammt? Alle anderen Sender werden dort sein.« »Sie behaupten, daß der Platz sehr knapp sei und alle abgesicherten Kameraplätze schon vergeben wären.« »Das ist Quatsch!« machte Feldman seinem Ärger Luft. »Goene versucht uns auszutricksen.« »Ich nehme an, Sie haben gehört, daß es in den Internierungsla511
gern in Afula beträchtliche Unruhen gegeben hat?« »Nein.« »Militante Guardians of God haben eine Revolte angezettelt und sind ausgebrochen. Sie haben ein Waffenlager in der Nähe von Megiddo angegriffen und zahlreiche Waffen in ihre Gewalt gebracht. Und jetzt rücken sie auf das Internierungslager der Messianic Guardians vor. Es handelt sich um rund einhunderttausend Bewaffnete. Die Vereinten Nationen und die Israelis haben Truppen in Marsch gesetzt, um sie aufzuhalten.« »Mein Gott, die Armeen der Gog und Magog!« keuchte Feldman. »Es sieht ganz so aus«, fand auch Sullivan. »Sie sehen, die Regierung hat im Moment andere Probleme, als uns für morgen Plätze zu sichern. Aber wir werden die Sache weiter verfolgen.« Feldman hatte an dieser Dosis bitterer Realität schwer zu schlucken und schaltete den Fernseher an, um den weiteren Verlauf der Revolte zu verfolgen. Um vier Uhr bekam Feldman endlich einen Anruf vom Kardinal. Im Hintergrund war einiges los. »Die Situation hier ist sehr angespannt, Jon«, rief der Geistliche laut, weil die Verbindung sehr schlecht war. »Ich hatte Probleme, eine Verbindung nach draußen zu kriegen. Die Gogs unterbrechen ständig die Leitungen. Ich nehme an, Sie haben gehört, daß die Rede stattfindet?« Feldman bestätigte das. »Also, der Messias hat sich zurückgezogen und meditiert, und alle sind davon überzeugt, daß morgen der Jüngste Tag anbricht. Viele haben schon einen Platz im Hof besetzt und stellen überall in der Altstadt Nachtwachen auf. Sie stehen Schulter an Schulter bis zur Plattform. Ach, und übrigens, sie haben eine Landefläche für Hubschrauber aufgestellt.« 512
»In Ordnung«, bestätigte Feldman. »Sie haben uns einen Hubschrauber versprochen. Er wird schon vor der Rede da sein, und wenn es für Sie und Jesa gefährlich wird, haben die Israelis Anweisung, Sie beide sofort wegzubringen. Auf jeden Fall werden Sie beide unmittelbar nach der Rede nach Kairo ausgeflogen und dann, so hoffen wir, in die Schweiz.« »Gut, Jon. Ich habe Jesa gefragt, ob sie eventuell nach der Versammlung die Stadt verlassen würde – ich habe nicht gesagt, was wir vorhaben –, und sie hat einfach gesagt, das würde nicht nötig sein. Das ist immerhin kein Nein, oder?« »Meiner Ansicht nach nicht«, stimmte Feldman zu. »Was ist mit Ihnen und Breck?« »Na ja, wir haben immerhin unsere Visa zurück, aber der IDF hat uns noch keine Erlaubnis gegeben, die Altstadt zu betreten. Wir hoffen immer noch, einen Standplatz irgendwo im Hof oder auf einem Dach zu bekommen, um die Rede aufzuzeichnen. Es steht noch nicht endgültig fest, aber es sieht nicht so aus, als könnten wir auf der Bühne zu Ihnen stoßen oder dabeisein, wenn Sie ausgeflogen werden.« »Treffen wir uns dann in Kairo?« fragte der Kardinal nervös. »Ich weiß nicht genau, Alphonse. Wenn wir schnell genug nachkommen können, ja. Kairo scheint uns allerdings nicht unbedingt ein sicherer Zufluchtsort zu sein. Aber auf jeden Fall werden wir uns so schnell wie möglich wieder treffen.« Feldman war angenehm überrascht zu hören, daß der Geistliche positiv über die Zukunft sprach. Vielleicht hatte Litti sich sogar von seiner Untergangsstimmung gelöst. »Versuchen Sie heute nach etwas zu schlafen, Alphonse«, riet er ihm dringend. »Sie sollten für morgen ausgeruht sein.« »Das wird bei dem Zeremoniell, das für heute nacht geplant ist, schwierig sein, aber ich werd's versuchen. Ich rufe morgen früh noch einmal an. Ansonsten, viel Glück. Und Gottes Segen für alles, was 513
Sie getan haben. Ich bin sicher, daß wir uns bald wiedersehen.« »Es war mir ein Vergnügen, Eminenz.« Feldman fühlte, wie sich seine Kehle zuschnürte. »Bitte, seien Sie morgen vorsichtig. Ich traue dem israelischen Militär bei dieser Rettungsaktion nicht so recht über den Weg, also seien Sie auf der Hut.« Vier Stunden später fuhr das WNN-Team in einem Kleinbus zur Villa am Hang hinauf. Ein Mitglied fehlte allerdings. Erin Cross, teilte Cissy Feldman erfreut mit, sei krank und würde nicht kommen. Kurze Zeit danach bekam Feldman einen seltsamen Anruf. Die Stimme am anderen Ende klang eindringlich und irgendwie vertraut. »Hallo, Mr. Feldman. Ich bin vom IDF.« »Woher haben Sie meine Nummer?« fragte Feldman ärgerlich. »Ach, ich weiß seit Ihrer Ankunft am Samstagabend, wo Sie sich aufhalten«, antwortete der Anrufer, jedoch ohne drohenden Unterton. »Aber machen Sie sich keine Gedanken, Sie sind nicht in Gefahr. Sie sind vollkommen sicher.« »Kennen wir uns?« fragte Feldman nach. »Ihre Stimme kommt mir bekannt vor.« »Na ja, es ist schon eine Weile her seit unserem letzten Gespräch, Mr. Feldman. Damals hatten Sie es recht eilig, Israel zu verlassen.« Jetzt fiel es Feldman wieder ein. Er wurde augenblicklich freundlicher. »Ich hatte nie Gelegenheit, mich bei Ihnen zu bedanken, Sir. Sie haben uns einen großen Dienst erwiesen. Wir danken Ihnen alle sehr.« »Keine Ursache«, versicherte die Stimme. »Und jetzt möchte ich Ihnen noch einen Gefallen tun. Ich habe dafür gesorgt, daß Sie zur Veranstaltung morgen in die Altstadt hineinkommen.« »Ausgezeichnet!« »Na ja, nicht so ganz. Der Platz, den ich für Sie reservieren konnte, ist nicht der allerbeste. Er ist ein Stück weg von der Bühne, aber 514
Sie werden ungehinderte Sicht haben. Mit dem Teleobjektiv dürfte es für Sie und Ihren Kameramann machbar sein. Leider kann ich das nur für Sie beide arrangieren. Sie werden morgen nachmittag um halb eins die Vertreter des IDF in der Nähe des Dungtors treffen müssen. Sehen Sie sich nach Korporal Illa Lyman um. Sie wird Sie und Mr. Hunter mit den notwendigen Papieren versorgen und Sie zu dem für Sie bestimmten Platz bringen. Wenn Sie dort sind, verlassen Sie bitte Ihren Bereich unter keinen Umständen, bis die Rede zu Ende ist.« Feldman kritzelte diese Information in sein Notizbuch. »Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Sir. Bitte, könne Sie mir Ihren Namen sagen und warum Sie dieses Risiko eingehen, uns zu helfen?« »Sie werden verzeihen, aber ich möchte lieber bei meiner Zurückhaltung bleiben.« Er hängte auf. »Wer war das?« wollte Hunter wissen und sah vom Fernseher auf. Feldman grinste. »Ach, nur wieder eine kleine göttliche Einmischung, würde ich sagen.«
107 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 6 UHR 30, FREITAG, 21. APRIL 2000 Feldman hatte unruhig geschlafen, und auch diesmal war ihm die übliche Serie merkwürdiger Träume nicht erspart geblieben. Vom letzten Traum war er wach geworden. 515
Gedämpftes Licht fiel auf den Boden des Wohnzimmers, wo er in seinem Schlafsack lag. Alle anderen schliefen noch. Er schlüpfte in seine Hose, stieg auf Zehenspitzen über die Schlafenden hinweg und trat auf den Balkon hinaus. Pilgerscharen, so weit das Auge reichte! So mußte es wohl ausgesehen haben, als die Israeliten sich dereinst versammelt hatten, um in das Gelobte Land zu ziehen. Feldman betete, die Geschichte möge sich nicht wiederholen. Der Platz an der Klagemauer war längst hoffnungslos überfüllt, deshalb hatte man an mehreren Stellen außerhalb der Altstadt riesige Bildschirme aufgebaut, auf denen die Menschenmengen Jesas Rede mitverfolgen konnten. Große Lautsprecher standen in regelmäßigen Abständen auf den hohen Mauern, so daß diejenigen, die Jesa nicht sehen konnten, ihre Ansprache an die Menschheit wenigstens hören konnten. Es war ihre erste öffentliche Rede seit ihrem Auftritt auf dem Berg der Seligpreisungen, wo alles begonnen hatte. Es schien kein schöner Tag zu werden. Obwohl die Sonne herausgekommen war, hatte es sich dann zunehmend bewölkt, und ein starker Ostwind wehte. Gut, dachte Feldman, während er die bedrohlichen Wolken beobachtete. Ein kleiner Dämpfer würde dem heutigen Ereignis bestimmt nicht schaden. Den Rest des Morgens verbrachte das WNN-Team mit Vorbereitungen für die geplante Sendung. Nach der letzten Kontrolle der Ausrüstung versammelten sich alle, um Feldman und Hunter zu verabschieden. Sie kamen sich vor wie Soldaten, die sich von ihren Familien verabschiedeten, um an die Front zu gehen. Sie fuhren gemeinsam mit Bollinger los und mußten sich mühsam einen Weg durch die dichtgedrängte Menge bahnen. Je mehr sie sich der Altstadt näherten, desto langsamer kamen sie voran. Schließlich erreichten sie das Dungtor, wo einst die Römer und die Byzantiner ihren Pferdemist gelagert hatten. Bollinger hielt am Straßenrand und sah sich suchend um. »Sieht 516
jemand hier irgendwo einen weiblichen Korporal?« »Ich sehe Soldaten, die das Tor da drüben besetzt haben. Sie scheinen niemanden hinein- oder herauszulassen«, antwortete Hunter. »Aber ich sehe keine Soldatin.« Feldman sah auf die Uhr. »Wir haben noch fünf Minuten, nur nicht nervös werden«, sagte er, auch zu seiner eigenen Beruhigung. »Ich hoffe, ihr habt eure Regenmäntel dabei«, meinte Bollinger, als er zum Himmel aufsah. »Sieht aus, als könnten wir schlechtes Wetter bekommen. Vielleicht geht endlich diese verdammte Dürre zu Ende.« »Ja, ein schöner Tag für den Weltuntergang, was?« meinte Hunter. Punkt halb eins fuhr eine neue Gruppe Soldaten zur Ablösung vor. Der befehlshabende Offizier war eine kompetent wirkende junge Frau mit dunklen Haaren und ebensolchen Augen. Sie grüßte die abtretenden Soldaten und postierte die Männer, die Gewehre im Anschlag, vor dem Tor. Feldman stieg aus, nahm seine Tasche mit der Ausrüstung und beugte sich durchs Rückfenster noch einmal in den Wagen. »Okay, Arnie, ich frag' mal nach. Wenn alles gutgeht, winke ich Breck zu. Wir bleiben über Handy in Kontakt, wenn wir erst mal drin sind.« »Verstanden.« Bollinger zeigte mit dem Daumen nach oben und wünschte Feldman Glück. »Paßt gut auf euch auf.« Feldman lächelte grimmig und ging los, um mit Korporal Lyman zu sprechen. Wenige Minuten später hatte er die nötigen Papiere und winkte Hunter herbei. Nachdem auch Hunter seinen Passierschein hatte, nahm die junge Soldatin eine leere Kaffeekanne und begleitete die beiden Reporter zusammen mit drei anderen Soldaten schweigend durch das riesige Tor. Von innen sahen die Journalisten, daß hoch über der dichten Menge am nordöstlichen Ende des Platzes, direkt an der Ostmauer, eine Plattform errichtet worden war. Allerdings wurden Feldman und Hunter in die entgegengesetzte Richtung geführt. 517
»Wahrscheinlich können wir nichts tun, um einen besseren Platz zu bekommen?« sagte Hunter vorsichtig und spielte vor den Augen der jungen Soldatin mit einem dicken Bündel Geldscheine. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, sah sie zuerst das Geld und dann Hunter an und ging schweigend weiter. »Vielleicht hätte ich mich selbst anbieten sollen«, flüsterte Hunter Feldman so laut zu, daß sie es hören konnte. Sie kamen in der Menge der singenden und betenden Millennarier nur langsam voran. Feldman mußte an die buntgemischte Menge denken, die er in der Nacht zur Jahrtausendwende erlebt hatte, nur daß die Stimmung hier wesentlich angespannter war. Sie überquerten mehrere enge Gassen, gingen eine Seitenstraße hinunter und blieben dann vor einem vierstöckigen Gebäude stehen, das wie ein altes Lagerhaus aussah. An der Tür klebte dasselbe gelbe Zeichen wie an den anderen Gebäuden in der Nähe. Darauf stand in mehreren Sprachen: »Zugang zum Dach verboten laut Verordnung des IDF vom 20.4.2000. Jede Zuwiderhandlung wird strafrechtlich verfolgt.« Korporal Lyman nahm einen Schlüssel aus ihrer Brusttasche und schloß die Tür auf. »Da oben«, sagte sie und zeigte mit dem Gewehrlauf auf ein dunkles, feuchtes Treppenhaus. Die Soldaten traten zur Seite und bewachten die Eingangstür, während ihr die beiden Journalisten die vier Holztreppen hinauf bis ganz oben auf das Dach folgten. Sie traten in den leichten Wind hinaus. »Das Dach ist da drüben beschädigt«, sagte sie und zeigte mit dem Gewehr nach links. »Bleiben Sie auf der rechten Seite, dann ist alles in Ordnung. Die Tür unten zur Straße läßt sich von innen verschließen, Sie dürften also nicht gestört werden. Wenn Sie fertig sind, verlassen Sie das Gebäude bitte auf demselben Weg, den Sie hereingekommen sind. Es gibt keine Toilette hier.« Sie stellte die Kaffeekanne auf das Dach. »Benutzen Sie das, wenn es nötig ist, und nehmen Sie Ihren Abfall mit. Noch Fragen?« 518
»Werden Sie wiederkommen, um uns nach Haus zu begleiten?« flirtete Hunter. Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und erwiderte kühl: »Da ziehe ich doch den Weltuntergang vor!« Hunter und Feldman brachen in Gelächter aus, dankbar für die kurze Erheiterung in dieser angespannten Situation. Korporal Lyman jedoch blieb ganz sachlich, verlor keine Zeit und stieg die dunkle Treppe wieder hinunter. Hunter zeigte grinsend mit dem Daumen in ihre Richtung. »Aus der charismatischen Goene-Schule«, witzelte er und fing an, seine Ausrüstung auszupacken. Feldman ging zum Rand des Daches, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er sah, daß das Gebäude ein Stockwerk tiefer direkt mit dem davorstehenden verbunden war, welches wiederum mit dem nächsten Gebäude davor zusammenhing. Es sah so aus, als wäre es möglich, bis zur vordersten Gebäudereihe vorzudringen, die direkt an den Platz vor der Klagemauer angrenzte. Vorausgesetzt, es bot sich eine Gelegenheit dazu. Jenseits der Dächer sah Feldman unmittelbar an der Bühne einen Militärhubschrauber auf einer Rampe stehen. Das beruhigte ihn. Wie die geheimnisvolle Stimme am Telefon versprochen hatte, war die Bühne von hier aus sichtbar, aber sie lag gut hundert Meter entfernt. Alle anderen Sender hatten viel bessere Standorte am Rand des Platzes, entweder auf den umgebenden Mauern oder auf den Gebäuden. »Von hier oben bekommen wir keinen guten Ton«, meinte Feldman. »Nein«, stimmte Hunter zu. »Die Zentrale wird sich eben auf den Ton von einer anderen Sendeanstalt verlassen müssen, wie wir schon befürchtet hatten. Aber hoffen wir, daß wir hier wenigstens die Rede hören können. Sie haben ein ganz gutes Soundsystem aufgebaut.« Er zeigte auf riesige Lautsprecherboxen am Bühnenrand. 519
»Was hältst du von den leeren Dächern da vorn?« fragte Feldman. Er schätzte, daß sie sechs Häuserreihen vom Rand des Platzes trennten, und war überrascht, keine Zuschauer auf den Dächern zu sehen. Hunter stellte seinen Kamerakoffer ab und ging zu Feldman hinüber. »Hm. Schadhafte Dächer vielleicht? Oder Sicherheitsgründe. Schau mal, welchen Blick man von hier oben auf die Bühne hat. Da könnte man leicht eine Granate über die Glasfront werfen. Die Fenster, die auf den Platz hinausgehen, sind wahrscheinlich alle von Militär besetzt. Aber ich weiß nicht, warum zum Teufel sie uns nicht ein bißchen näher herangelassen haben.« »Ich glaube, wir können von Glück sagen, daß wir überhaupt hier sind«, gab Feldman zu bedenken. Hunter stellte ein Stativ auf und montierte seine Kamera darauf. »Ja, nur gefällt mir der Winkel nicht. Ich bin zu weit unten. Ich krieg' dich nicht zusammen mit der Bühne ins Bild.« Feldman schaute durch die Linse. »Was schlägst du vor?« »Na ja, sollen wir nicht doch versuchen, ein bißchen näher ranzugehen?« Feldman ließ seinen Blick über die zahlreichen israelischen Soldaten schweifen, die rings um die eingezäunten Bereiche postiert waren. »Nein«, seufzte er. »Wenn sie uns hier rauswerfen, haben wir überhaupt nichts von diesem ganzen Ereignis. Wir gehen besser auf Nummer Sicher.« Hunter sah sich um, und sein Blick blieb an einem höheren Dach des Gebäudes links hinter ihnen hängen. »Da oben«, schlug er vor. »Laß mich mal nachsehen, wie es von da oben aussieht. Reich mir dann die Kamera hoch.« Bevor Feldman Einwände erheben konnte, war Hunter schon verschwunden. »Sei vorsichtig«, rief er ihm nach. Der neue Platz war ideal, fand Hunter. Er konnte Feldman voll ins Bild bekommen und Bühne und Sprecherin dann per Zoom 520
heranholen. »Die Wolken gefallen mir gar nicht«, bemerkte Feldman und schaute nach oben. »Du stehst sofort im Regen, wenn plötzlich ein Gewitter losbricht.« »Kein Problem. Ich kann hier runterzischen, glatter als 'n Aal, wenn ich muß«, versicherte ihm Hunter. »Los, hilf mir mal mit den übrigen Sachen.« Kurz vor Jesas Auftritt machte Feldman noch einmal einen Versuch, Anke über sein Handy zu erreichen. Diesmal kam er durch, aber er hatte nur ihren Anrufbeantworter dran. Er hinterließ seinen Aufenthaltsort, seine Telefonnummer und erklärte ihr, wie sie ihn später erreichen könnte. Er flehte Anke an, sich bald bei ihm zu melden, da er vielleicht noch am Abend in die Schweiz abfliegen würde. Frustriert ließ er das Handy zuschnappen und steckte es wieder ein. In der Menge weit unter ihnen brach plötzlich ein Sturm der Begeisterung los. Aus dem Nichts, so schien es, war die Prophetin auf der Bühne erschienen. Niemand hatte sie angekündigt. Sie nahm auf einem Podium hinter einer Reihe von Mikrophonen ihren Platz ein. Hunter kroch in panischer Eile zu seinem hochgelegenen Platz auf dem Dach. Feldman war erneut von ihrer atemberaubenden Erscheinung fasziniert und mußte sich zwingen, den Blick von ihr abzuwenden, um sich seiner Arbeit zu widmen. Er ging an seinen etwas tiefergelegenen Platz, der ein ganzes Stück von Hunter entfernt lag. »Wie ist der Ton?« rief Feldman in sein Mikrophon am Jackenaufschlag. »Gut«, kam die Antwort durch seinen Kopfhörer. »Warte einen Moment, bis ich unser Signal habe.« In Feldmans Kopfhörer herrschte einen Augenblick lang absolute Stille, dann kam unter Knacken und Rauschen Hunters Stimme wieder. »Okay, wir haben grünes Licht. Mach deine Einleitung und improvisiere so lange, bis sie mit ihrer Rede anfängt.« Das konnte 521
allerdings eine Weile dauern, da die Menge keine Anstalten machte, den begeisterten Empfang abklingen zu lassen. Feldman stellte sich mit dem Rücken zur Bühne, obwohl er Jesa lieber im Auge behalten hätte, strich sich kurz übers Jackett, räusperte sich und sah in die Kamera. Hunter gab ihm ein Zeichen, und er fing an. »Jon Feldman live für WNN von der Klagemauer in Jerusalem. Wie Sie an den Massen der feiernden Gläubigen hinter uns sehen können, ist das hier ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der jungen Visionärin, die sich Jesa nennt.« Aus der Menge stieg ein gewaltiger, vielstimmiger Ruf empor. Feldman wandte sich um und sah, daß Jesa hinter der transparenten Panzerglasfront die Hände erhoben hatte, entweder um die Menge zu begrüßen oder um sie um Ruhe zu bitten. Das ohrenbetäubende Tosen, das sich nun vom Platz erhob, griff wie ein Echo auf die umliegenden Hügel Jerusalems über, die schwarz waren von Millionen von Menschen. Jesa streckte den Massen die Arme entgegen, und endlich legte sich das Tosen, wurde zu einem Grollen wie der Nachhall einer Explosion, und dann trat absolute Stille ein. Endlich senkte sie die Arme und sprach mit lauter, fester Stimme, die durch die Lautsprecher über das Heilige Land hinaushallte. »Im Namen des Vaters komme ich zu euch!« Die Menge brach erneut in Jubel aus, doch Jesa ließ sich nicht mehr unterbrechen. Sie sprach diesmal nur Englisch, als hätte sie zu viel zu sagen, um ihre Rede durch die Übersetzung in verschiedene Sprachen unnötig zu verlängern. Die Menge kam sofort wieder zur Ruhe. »Ich habe zu euch von der Befreiung der Seele gesprochen«, rief sie mit gebieterischer Stimme. »Ich habe von der Notwendigkeit gesprochen, die geistliche Lehre abzuschaffen und selbst den Sinn der Schrift zu entdecken. Und ich habe euch geraten, eure Kirchen, Tempel, Synagogen und Moscheen zu verlassen und euch von euren religiösen Führern zu trennen, weil sie euch von Gottes Wahr522
heit entfernen. Heute bringe ich euch das Letzte Wort, das ihr verstehen mögt.« Sie hielt inne und holte tief Luft, die Menge schien dasselbe zu tun. »Am Anfang hat Gott euch großen Segen bereitet«, fuhr sie fort. »Die Einheit von Himmel und Erde und ewiges Leben. Es war Gottes Plan, allen Menschen die ewigen Freuden des Paradieses zu bringen. Aber die Menschheit war nicht reif für dieses große Geschenk. In ihrem Stolz erkannte sie diese göttliche Einheit nicht. Aus eigenem freiem Willen wies der Mensch Gott zurück. Und so kam der Fall aus der Gnade, als Gott das Leben vom Tod trennte und die Erde vom Himmel und die Menschheit von der Gottheit. Und die Menschen wurden verbannt und mußten allein und verlassen in der Wildnis umherziehen, Jedoch auch nach dem Fall hatte Gott einen Plan zur Erlösung, um euch erneut an seiner göttlichen Vollkommenheit teilhaben zu lassen. Diesen Plan hat Gott euch in den Visionen der Propheten offenbart. Und weiterhin hat Gott seine Absicht in den Botschaften des Messias enthüllt: Daß der Mensch lernen und im Sinne des Herrn wachsen und sich auf den Tag des Jüngsten Gerichts vorbereiten soll, an dem die Würdigen wieder die Einheit mit Gott im Leben erfahren. Gott gab den Menschen das Versprechen, am Tag des Gerichts wiederzukommen, um mit den Gerechten auf der Erde zu herrschen. Bis dahin jedoch kann der Mensch nur durch den Tod mit dem Allmächtigen vereint werden. Aber der Mensch war zögerlich, geriet im Laufe seiner Zeit auf Abwege, hat die Gottesboten immer wieder mißverstanden und mißachtet. Er ist gestrauchelt in seinem Bemühen, den Willen Gottes zu verstehen. So bin ich zu euch gekommen, um euch das Wort zu bringen, damit ihr endlich den Weg zurück zum Vater findet. Denn nur wenn ihr das Wort kennt, werdet ihr den Abgrund schließen, der euch immer noch von ihm trennt. In der Welt werdet ihr die fortwährende Uneinigkeit sehen, die euch von euch selbst trennt! Hört das Wort und versteht. Denn, wahrlich, ich bin die Abgesand523
te Gottes. Ich bin der Neue Sinn. Ich bin das letzte Kapitel des Neuen Testaments!« Ein gewaltiger Blitz durchzuckte bei diesen Worten die bedrohlichen Wolken über dem Haupt der Prophetin. Die Menschenmenge warf sich voller Schrecken demütig auf die Erde nieder, die von einem betäubenden Donnerschlag erbebte. Jesa aber blieb völlig ungerührt. »Ich spreche zu euch von den großen Missetaten, die euren Fall aus dem Stand der Gnade verlängern«, rief sie, als der Donner verklang und Angstschreie laut wurden. »Ich spreche von der gottlosen Trennung des Menschen von der Menschheit!« Die Menge beruhigte sich wieder, als der Messias fortfuhr. »Beim Fall aus der Gnade hat Gott die Trennung zwischen sich selbst und der Menschheit bestimmt. Aber nach dem Fall hat der Mensch von sich aus weitere Teilungen geschaffen, die in ihrem Ansatz unnatürlich und überheblich und in den Augen Gottes gotteslästerlich sind. Damit setzte sich zuerst der Mann über seine Gefährtin, trennte sich von der Frau, die Gott als gleichberechtigtes Gegenstück geschaffen hatte. Im Lauf der Jahrtausende hat der Mann versucht, diese unrechte Trennung zu bestätigen, indem er Gottes eigenes Wort verdorben hat. Im Buch Genesis, Kapitel zwei und drei, wird die Frau als ein zweitrangiges Wesen dargestellt, das Adam Untertan ist, als Verursacherin der Erbsünde und als Verführerin, die Adam dazu brachte, die verbotene Frucht zu kosten. Dadurch soll sie den Fall des Menschen herbeigeführt haben. Ich sage euch, das war die folgenschwerste Mißdeutung der Heiligen Schrift, die euch als heilige Botschaft von allgemeinem und symbolischem Wert dienen sollte. Die wahre Bedeutung habt ihr verkannt in eurer Blindheit und Beschränkung auf das Besondere. Es sei nun allen zu wissen, daß in der Entwicklung des Lebens auf dieser Erde die weibliche Form an erster Stelle stand. Am Anfang schuf Gott die primitiven Organismen, und nach seinem Plan schuf er sie alle weib524
lich. Zelle befruchtete Zelle, Weibliches befruchtete Weibliches. Erst in späterer Zeit ist die Männlichkeit entstanden, das Männliche aus dem Weiblichen hervorgegangen. Erst später hat der Mann als Jäger und Beschützer die Frau an Stärke und Tapferkeit übertroffen und geruhte, seine Macht auszuüben, um die Vorherrschaft über die Frau zu haben. Aber wenn die Frau versucht, ihre geringere Stärke durch größere Klugheit auszugleichen, wird sie für ihre Hinterlist verdammt. In den Büchern der Bibel und in allen alten Schriften leidet das Symbol der Frau unter der voreingenommenen Feder des Mannes. Im Lauf der Zeitalter wurden diese falschen Deutungen benutzt, um die Versklavung und Mißhandlung der Frau gutzuheißen. Im Lauf der Jahrtausende hat der Mann der Frau den Zugang zu ihrer wahren Spiritualität und religiösen Autorität verwehrt, hat sie aus Überheblichkeit, Eigensinn, Eifersucht und Unsicherheit in gefügiger Unterwürfigkeit gehalten. Schaut euch um und schaut mitten unter euch«, rief sie aus und zeigte vorwurfsvoll in die Menge. »Seht unter euch die vielen Frauen, die durch die Lehre verpflichtet sind, sich hinter langen Schleiern zu verstecken, was ihren Wert herabsetzt, ihre Anwesenheit in der Öffentlichkeit verhindert und ihren Einfluß verdrängt.« In der Menge breitete sich eine gereizte Unruhe aus. »Seht die Heuchelei der westlichen Religionen an«, fuhr sie fort. »Und richtet euer Augenmerk auf den Nachfolger des Apostels Petrus von der römischen Kirche, der der Frau die Kontrolle über ihren Körper bei der Fortpflanzung verwehrt, der ihre Stellung im Gotteshaus einschränkt und ihr die gesegnete Erfüllung in der Ausübung der Sakramente untersagt. Es sei allen kund und zu wissen durch mich, daß Gott die Frau aus ihren Fesseln befreien wird. Denn Gott bringt euch durch mich ein neues Gesetz. Ein besonderes, neues Gebot, nach dem alle Menschen leben sollen. Ich sage euch, Söhne Adams, hört und gehorcht dem Willen Gottes: 525
›Du sollst ehren die Frau als deine Gleichgestellte; und du sollst sie lieben in Einheit mit deinem Nächsten.‹ Dies sei das neue Gottesgebot für den Menschen in Übereinstimmung mit denen, durch die ihr schon gebunden seid. Deshalb sollt ihr zu den Schriften zurückkehren und die Ungerechtigkeiten wiedergutmachen. Wo ihr Texte mit abwertender Bedeutung findet, tut, wie ich euch sage: Wo ihr männlich findet, schreibt weiblich; wo ihr weiblich findet, schreibt männlich. Lest das Wort auf diese neue Art, und die Frau lerne Selbstbewußtsein und der Mann Selbstlosigkeit zu gleichen Teilen. Ich befehle dir, Frau, wirf deine Fesseln ab, die dich behindern. Nimm deine Schleier ab und deine falsche Scham und erhebe dich – nicht gegen den Mann, sondern so, daß du in Ausgewogenheit neben dem Manne stehst. Aber ich ermahne dich, Frau, hege weder Bitterkeit noch Groll gegen deinen Partner. Denn das sind leere Leidenschaften, die euch weiter spalten werden. Nimm deinen Partner an und verstehe die Kräfte der Tradition in ihm, so wie er dich zu verstehen strebt. Arbeitet zusammen auf die Lösung und Harmonie hin, durch die ihr und alle eure Kinder zu Gottesfürchtigkeit und Freude gelangen.« Als sei sie erschöpft, sank die Erlöserin leicht in sich zusammen. Sie blickte zu Boden, legte die rechte Faust auf das Herz und schwieg. Die Menge nahm diese Gelegenheit wahr, um ihrer Überraschung Ausdruck zu geben und Vermutungen anzustellen. Viele bemerkten, daß ein nahendes Gericht nicht erwähnt worden war, und zahlreiche Gläubige begannen Mut zu schöpfen aus dem, was sie gerade gehört hatten. Aber die Prophetin war noch lange nicht fertig. Sie richtete sich wieder auf, erhob das Gesicht, das nun noch blasser als vorher schien, holte tief Atem und begann von neuem. »Jetzt spreche ich zu euch von der tieferen Trennung zwischen 526
dem Menschen und Gott«, rief sie aus, und die Menge folgte ihr erneut mit angehaltenem Atem. »Ich spreche zu euch von der letzten und größten Trennung, die den Menschen von sich selbst entfremdet.« Ihre kleinen Hände packten den Rand des Pultes, und ihre Stirn legte sich in Falten. »Im Buch Genesis, Kapitel vier«, fuhr sie fort, »wird diese Trennung offenbart. Aber wieder habt ihr die bildliche Sprache verdorben, indem ihr nur das Besondere, nicht aber das Allgemeine gesehen habt. Es ist das Gleichnis von Kain und Abel, ein Gleichnis, in dem sich der tiefere Sinn der vernichtendsten Trennung des Menschen vom Menschen verbirgt. Es ist die Geschichte des Selbstbetrugs. Die Geschichte davon, wie der Mensch sich gegen seinen Nächsten wendet, seine eigene Menschlichkeit verletzt, seinem Bruder Unantastbarkeit und Leben durch einen Akt größter Untreue versagt. So schrecklich ist diese Sünde, daß Gott Kain und seine Nachkommen mit einem Zeichen versah, an dem sie alle erkennen und zurückweisen würden. Aber ihr habt auch dieses Gleichnis verfälscht. Ihr sucht das Zeichen Kains in den äußerlichen Merkmalen derer, die anders sind als ihr. Aber ihr habt unrecht. Das Zeichen, an dem ihr Kain erkennt, ist kein äußeres Zeichen. Es zeigt sich weder in der Hautfarbe noch in den Gesichtszügen, noch ist es ein Brandmal auf dem Körper. Das Zeichen besteht in seinen Taten. An den Worten und Taten sollt ihr sie erkennen. Feindschaft ist das Zeichen Kains. Haß des Nächsten. Ein Zeichen, das sich überall, bei allen Völkern findet. Es ist das immerwährende Zeichen des Übels, das euch am meisten von euch selbst entfernt. Solange ihr diesen Makel nicht beseitigt, werdet ihr nicht die Einheit mit Gott erkennen. Zweitausend Jahre habt ihr schon diese klare Botschaft von all den Propheten vernommen, die mir vorausgegangen sind. Und doch dienen euch eure Auseinandersetzungen noch immer als Rechtfertigung, um Kummer, Leid und Tod über euren Bruder zu bringen. 527
Immer noch unterteilt ihr euch nach Rassen oder nach eurem Glauben, eurer Hautfarbe, nach Alter, sozialer Stellung, Reichtum, Besitz oder jedem anderen Merkmal, nach dem ihr euch voneinander unterscheiden könnt.« Jesa blickte mit wachsendem Zorn in das Publikum und ließ ihrer Erbitterung freien Lauf. »Und jetzt wagt ihr es, Gottes Wort zu verspotten und seine Botin zu entwürdigen, indem ihr euch in meinem Namen gegenseitig anklagt und vernichtet!« Durch das Fernglas konnte Feldman erkennen, wie Tränen in ihre Augen traten. »Warum hört ihr nicht?« rief sie und schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Ich verkünde euch kein neues Gebot. Denn einer, der vor mir gekommen ist, hat es euch schon verkündet. Es ist das höchste Gesetz. Ich sage euch: ›Liebet euren Nächsten wie euch selbst, und an anderen handelt, wie ihr an euch handeln würdet!‹ In diesem Gebot sind alle Gesetze enthalten, die das Verhalten des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen lenken. In diesem Gebot liegt das Wort, das euch zur verlorenen Einheit zurückführen kann.« Aus der Entfernung glaubte Feldman plötzlich, einen Funken Hoffnung zu erkennen, der wieder etwas Glanz in ihr qualvoll verzerrtes Gesicht brachte. »Ich sehe in jede einzelne eurer Seelen«, sprach sie fast flüsternd, »und ich sehe die Reste der sanftmütigen Unschuld, die jedem von euch von Gott bei der Geburt mitgegeben wurde; ein wunderbarer und kostbarer Schatz, der nun verloren und vergessen unter dem Bodensatz von Kränkung und Mißtrauen verborgen liegt. Wo ihr einst mit Staunen und Freude in die Welt geblickt habt und eure Herzen sich mit Hoffnung und Hochstimmung füllten, zieht ihr euch nun zurück, baut Mauern um euch und macht euch zur Verteidigung bereit, entfernt euch von euren Nächsten, vermeidet den Kontakt, laßt es an Verständnis und Verpflichtung gegenüber euren Mitmenschen fehlen. Aber ich sage euch, ihr müßt die Sichtweise 528
eurer Jugend wiedergewinnen. Jeder von euch muß wieder durch die Augen eines Kindes sehen, so daß ihr im Antlitz eures Feindes das Kind wiedererkennt, das auch in seinen Zügen noch gegenwärtig ist. Ihr müßt lernen, alle Menschen zu sehen, wie Gott sie sieht. Ihr müßt sogar euren Feind lieben und schützen, als wäre er euer Fleisch und Blut, denn für den Vater ist er das gewiß. Tut dies auf eure eigene Art, aus eurem freien Willen heraus. Tut dies mit tiefstem Glauben und Vertrauen und mit unbedingter Liebe. Tut dies ohne Groll oder Rücksicht auf Kosten oder auf die Opfer, die es erfordert. Überlaßt eure Sorgen dem Vater und wisset, daß der Vater dafür eure Seelen schützen und euch die reichen Gaben des Himmels schenken wird, wie er es schon so lange versprochen hat. Das könnt und müßt ihr tun, denn so wie euer Körper wächst, müßt ihr auch an Geist und Seele wachsen, um die Ausgewogenheit, die die Einheit ist, zu erreichen. Ich sage euch noch einmal, die große Trennung des Menschen von Gott ist die tiefere Trennung des Menschen von sich selbst. Deshalb sollt ihr der Einheit mit Gott nicht würdig sein, bevor ihr die Einheit eures eigenen Geistes erlangt. Das ist der Weg, durch den ihr euch erheben könnt. Und nur auf diese Art und Weise werdet ihr Gott erkennen und seine Vollkommenheit erreichen.« Jesa machte eine Pause, und der stürmische Wind legte sich, als sie warnend einen Finger hob. »Hört auf meine Worte, Kinder Israels!« rief sie mit erhabener Miene. »Denn Gottes Mißfallen über euch ist groß und sein Zorn gerecht. Jetzt steht euch die Große Prüfung bevor, und nichts kann aufhalten, was sein soll: Das Leid kommt, und die dunkle Stunde eurer Vernichtung ist da!« »Verdammt!« hörte Feldman Hunter durch den Kopfhörer fluchen. Feldman ließ sein Fernglas sinken und wandte sich dem Kameramann zu. Hunter zeigte wütend in Richtung Bühne. »Da ist irgendein Esel, 529
der zu spät kommt und jetzt seine Videoausrüstung direkt vor mir aufbaut. Sieh dir das mal an!« Tatsächlich stellte ein Kameramann ungefähr vier Gebäude weiter vorn in ihrem Sichtfeld eilig ein Stativ mit einer Videokamera auf. Feldman richtete sein Fernglas auf ihn. »Verdammt noch mal!« rief er zu Hunter hinauf. »Das ist ja einer von unseren Leuten. Sieh dir seine Jacke an!« Auf dem Rücken des Störenfrieds prangte in dicken Lettern das Logo von WNN. »Kannst du nicht über ihn hinwegfilmen?« fragte Feldman. »Ganz knapp. Ich kann ein Bild bekommen, aber er ist immer im Vordergrund zu sehen. Ich rufe Bollinger an, ob sie ihn nicht abziehen können. Sullivan muß noch eine Erlaubnis für zusätzliche Leute bekommen haben, aber das bringt uns ja jetzt wohl nichts mehr.« Während Hunter erfolglos versuchte, Bollinger zu erreichen, richtete Feldman sein Fernglas auf die leidenschaftliche Rednerin. Es sah aus, als käme sie jetzt zum Ende. Das Publikum wurde zunehmend nervös und unruhig. Am Himmel zogen immer mehr grünlich-schwarze Sturmwolken auf. Feldman wunderte sich, daß es bis jetzt kaum geblitzt hatte, aber nun schien das Unwetter jeden Augenblick loszubrechen. Ein bedrohliches Schauspiel angesichts der verkündeten Apokalypse. Jesa hob eine Hand und bedeutete der Menge zu schweigen; dann segnete sie die ganze Versammlung mir einer großen Geste und rief laut: »Es ist zu Ende!« Der Messias stieg vom Podium, blieb dann plötzlich stehen, den Kopf andächtig gebeugt und die Arme mit geballten Fäusten an den Seiten, als nehme sie alle Entschlußkraft zusammen. Nach einer langen Pause hob sie den Kopf und trat mit einem trostlosen Blick hinter der Panzerglasfront hervor. Ganz langsam und mit Bedacht bewegte sie sich direkt auf den vorderen Rand der 530
Plattform zu. Als Jesa den Bühnenrand erreicht hatte, schwenkte Hunter seine Kamera in ihre Richtung. Doch alles, was er sah, war der verspätet angekommene Kameramann von WNN. Hunter fluchte leise vor sich hin und richtete die Kamera direkt auf den Störenfried, um zu sehen, wer es war. Plötzlich rief er ins Mikrophon: »Mein Gott! Feldman! Er hat ein Gewehr!« Feldman schmerzten die Ohren von Hunters Geschrei, und er begriff kein Wort, während er wie betäubt zusah, wie ihm Hunter vom oberen Teil des Daches aus verzweifelt zuwinkte. »Verdammt, Feldman, er hat ein Gewehr. Der Kameramann … sieh doch!« Feldman fuhr herum und sah zu dem angeblichen Mitarbeiter von WNN hinüber. »Feldman! Um Himmels willen, schnapp ihn dir!« Endlich hatte Feldman verstanden. Er stürmte über das Dach, setzte über Ventilatorschächte hinweg und sprang von Panik ergriffen von Ebene zu Ebene. Vergessen war alle Vorsicht wegen des schlechten Zustands der Dächer. »Beeil dich, Feldman, schneller!« spornte ihn Hunter über Kopfhörer an. Innerhalb von Sekunden hatte Feldman das letzte Dach erreicht – zumindest hielt er es dafür – und sah den Scharfschützen in unmittelbarer Nähe vor sich. Da wurde ihm plötzlich klar, daß der Schütze auf einem anderen Gebäude stand, jenseits einer gähnenden Straßenschlucht. Feldman zögerte dennoch keine Sekunde. Mit wütender Anstrengung, mit rudernden Armen und Beinen Halt in der Luft suchend, stürzte er sich über den Abgrund hinweg und landete mit schwerem Aufprall auf seinem Gegner. Er war wie benommen. Beide Männer lagen kurze Zeit bewegungslos da. Dann stützte sich Feldman auf einen Ellbogen, alles drehte sich um ihn, er schüttelte den Kopf 531
und versuchte verzweifelt, wieder klar zu sehen. Er nahm wahr, daß der Scharfschütze ebenfalls stöhnte und sich schwankend erhob, um zu entkommen. Immer noch nicht bei klarem Bewußtsein faßte Feldman nach den schemenhaften Beinen, die an ihm vorbeitappten. Es waren dicke, starke Beine, aber er brachte sie zu Fall. Ein gleißender Blitz fuhr vom Himmel. Weit unter den beiden Kämpfern schrak die versammelte Menge auf und duckte sich unter Schreien, die fast den nachfolgenden Donner übertönten. Als es in seinem Kopf etwas klarer wurde, sah Feldman in die kalten Augen seines Gegners. Er hatte eine Maske über die untere Hälfte des Gesichts gezogen, fluchte auf Italienisch und trat hart gegen Feldmans Schulter. Die Brille des Reporters flog weg, und er fiel auf den Rücken, kam jedoch gleich wieder auf die Beine. Sein Gegner ebenfalls. Feldman hatte, ohne es zu wissen, dem Schützen den Fluchtweg zur Feuerleiter abgeschnitten. Er kauerte sich zusammen und ballte die Fäuste, aber der Killer streifte ihn mit einem linken Haken am Kinn. Was dem Reporter an Kampferfahrung fehlte, wog er durch seinen Zorn und Mut wieder auf. Durch den Schwung seines Schlags kam der Killer nahe an Feldman heran, der seine beiden Fäuste auf dessen Nacken niederkrachen ließ. Der Mann stieß einen Schrei aus und warf sich mit aller Wucht auf Feldman, der so heftig auf das Dach prallte, daß ihm die Luft wegblieb. Bevor er wieder zu Atem kam, trat ihn der Mann kräftig in die Rippen und schleuderte ihn mit einem Tritt an den Rand des Daches. Ein weiterer Tritt, und Feldmans Füße rutschten über den Rand des Daches. Plötzlich hing er drei Stockwerke über der Straße in der Luft und konnte sich nur mit den Händen am Dach festhalten. Der Killer stand triumphierend über seinem hilflosen Opfer. Während die giftgrünen Wolken über ihn hinwegjagten und der Wind sein dunkles Haar aufwirbelte, hob er langsam sein Bein, um auf 532
Feldmans immer schwächer werdende Finger zu treten. Da traf ihn seitlich etwas am Kopf, und er begann mit glasigen Augen über das Dach zu taumeln. Eine starke Hand packte Feldman am Handgelenk und zog ihn nach oben. Es war Hunter. Sein breites Gesicht war gerötet, und sein Atem kam in kurzen Stößen. »Warum hat das so lange gedauert?« keuchte Feldman. Hunter warf seinem Freund einen wenig verständnisvollen Blick zu. »Ach, nur ungefähr acht Meter Distanz, drei Stockwerke über dem Erdboden! Wie hast du das geschafft, zum Teufel?« Feldman, erschöpft und erleichtert, legte einen Arm um seinen Freund. »Das weiß Gott, Hunter, das weiß nur Gott. Hab' ich es rechtzeitig geschafft?« »Ich weiß es nicht, ich mußte dir ja bei deinem Känguruhsprung nachjagen.« Sie sahen besorgt auf den Platz hinunter, wo es auf der Bühne von Millennariern, Polizisten und Soldaten wimmelte. Jesa und Litti waren nirgendwo auszumachen, und auch der Hubschrauber war weg. Blitz und Donner krachten nieder, und große Regentropfen begannen zu fallen. Die Menschen waren in Panik. Eine Gruppe israelischer Soldaten kam über das Dach eines benachbarten Gebäudes herangestürmt und schwang die Waffen. »Beruhigt euch, Leute«, rief ihnen Hunter zu. »Mein Mann hier hat eure Arbeit schon erledigt!« Der Scharfschütze war noch bewußtlos, an seiner Schläfe blutete eine klaffende Wunde. Neben ihm lag ein Kamerastativ. Als die Soldaten den Schützen festnahmen, wollte ein mißtrauischer Oberfeldwebel Hunter und Feldman in die Zange nehmen. Aber eine vertraute Stimme mischte sich ein. »Ist schon gut, Manny, die sind in Ordnung.« Feldman erkannte Korporal Lyman, ihre Begleiterin, die sie hergebracht hatte. 533
Hunter lächelte. »Hab' doch gewußt, daß Sie wiederkommen würden.« Sie beachtete ihn nicht und sagte zu Feldman, sie könnten gehen. »Was ist mit Jesa?« fragte Feldman. »Ist ihr etwas passiert?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Korporal Lyman. »Wir konnten es nicht sehen.« Es regnete jetzt heftig, und ein starker Blitz schlug ganz in der Nähe ein. Korporal Lyman, über deren Gesicht der Regen lief, gab den beiden Männern ein Zeichen. »Schnell vom Dach herunter. Es blitzt!« Sie brauchten keine zweite Warnung. Hunter bückte sich noch schnell und hob Feldmans verbogene Brille auf. Als sie über die Feuerleiter in die Gasse hinunterstiegen, sah Feldman voller Staunen, welchen gewaltigen Abstand zwischen den Gebäuden er übersprungen hatte. Es mußten an die acht Meter sein. Er schauderte, doch Hunter packte ihn an der Schulter und trieb ihn zur Eile an. Feldman zuckte vor Schmerz zusammen, aber Hunter bemerkte es nicht. »Komm, wir müssen meine Ausrüstung holen, bevor alles ruiniert ist«, rief Hunter in die heftigen Regenböen, die ihnen entgegenpeitschten. »Ich lasse dich in dem Gewitter nicht da raufgehen«, schrie Feldman zurück, während er hinter seinem Partner durch die Straßen humpelte. »Ich will das Videoband holen!« rief ihm Hunter zu. »Ich hab' die Kamera laufenlassen!« Feldman konnte, geschwächt von den Folgen des Sprungs und der Schläge, kaum mit Hunter Schritt halten. Als sie das Gebäude erreichten, trat Hunter ohne zu zögern die von innen verschlossene Tür ein. Oben angelangt drückte Hunter trotz Feldmans warnender Bitten die Tür auf und kämpfte sich zu dem erhöhten Dach durch, wo er 534
seine Kamera zurückgelassen hatte. Feldman blieb an der Tür stehen und betete, daß sein Freund es schaffen möge. Die Kamera war jedoch nirgends mehr zu sehen. Vermutlich war sie vom Blitz getroffen oder vom Wind weggeweht worden. Feldman begann, den Rest der Ausrüstung einzusammeln, und schleppte alles durch die Tür in den trockenen Korridor, als Hunter mit der nassen, beschädigten Kamera in der Hand zurückkehrte. »Der Wind hat sie umgeworfen!« rief er und schob Feldman durch die Tür. »Sie ist ganz naß. Verdammt, ich hoffe, daß das Band da drin noch brauchbar ist.« Sie schüttelten, so gut es ging, das Wasser ab, und Feldman versuchte über sein Handy Bollinger anzurufen. Er bekam nichts als Rauschen zu hören. Inzwischen hatte Hunter die Kamera an einen kleinen Monitor angeschlossen. Es war unglaublich, aber sie schien zu funktionieren, und Hunter spulte das Band zurück. »Was?« staunte Feldman. »Du willst das Band hier ansehen?« »Warum nicht?« sagte Hunter. »Wir müssen ja doch eine Weile hier bleiben, oder nicht?« Der Monitor flimmerte, ein verzerrtes Bild erschien, das immer wieder zusammenbrach, bis es sich schließlich stabilisierte. Es zeigte Jesa, die auf der Plattform stand und sprach. Hunter spulte das Band bis zu jenem Augenblick vor, als sie das Rednerpult verließ. Dann stellte er auf Zeitlupe um. Wieder ließ das makellose Bild Jesas die Reporter förmlich erstarren. Mit einer anmutigen, ausdrucksvollen Bewegung ging sie auf die rechte Seite der Bühne zu, die Kamera folgte ihr. Es war, als sehe sie die beiden die ganze Zeit mit entschlossener Miene an. Jetzt kam der Scharfschütze ins Bild, ein undeutlicher, verschwommener Fleck im Vordergrund. Einen Augenblick lang war Jesa völlig von dem Killer verdeckt, Hunters Kamera war auf den Rücken des Mannes gerichtet, und das Bild wurde langsam scharf. Die weißen Buchstaben ›WNN‹ auf seiner Jacke waren klar lesbar. Und dann begann 535
der Killer sich langsam von seiner Kamera zu entfernen, und Kolben und Zielfernrohr eines Gewehrs waren klar zu sehen. »Sieh mal!« bemerkte Hunter. »Er hat das Gewehr direkt in die Kamera eingebaut! Wahrscheinlich hat er das Fernrohr und den Schaft ernst dranmontiert, als er auf dem Dach war.« Das Bild wackelte ein paarmal und kam dann wieder zur Ruhe. »Ja«, erklärte Hunter, »hier habe ich dann die Kamera laufenlassen, um dir nachzurennen.« Sie rückten näher an den Monitor heran. »Sieh mal, jetzt kann man Jesa wieder sehen!« rief Hunter aus, als sich im Hintergrund eine verwaschene Gestalt in Weiß erhob. »Es sieht so aus, als würde sie irgendwie erhöht stehen.« Der Killer war hingegen vollkommen scharf. Langsam blickte er von seinem Visier auf, stellte etwas an seinem Gewehr ein, sah hoch und kauerte sich dann wieder hinter seine Waffe. »Was macht sie?« fragte Hunter, als die unscharfe Gestalt großflächiger zu werden schien. »Sie breitet die Arme aus«, erklärte Feldman. »Als ob sie die Menge umarmen oder segnen wollte.« Der Killer beugte sich über sein Zielfernrohr. »Mein Gott, beeil dich, schnell!« murmelte Hunter, und Feldman sagte dieselben Worte vor sich hin. Plötzlich erschien in der rechten oberen Ecke ein verschwommener Schuh auf dem Bildschirm, und in der nächsten Sequenz war Feldman zu sehen, wie er sich auf den Killer stürzte. Hunter begann zu jubeln, aber Feldman packte ihn hart an der Schulter. »Warte!« befahl er. »Spule ein bißchen zurück und halt dann an.« Hunter gehorchte, ließ das Band rückwärts ablaufen, bis Feldmans Beine wieder vom Bildschirm verschwunden waren. »Stop«, bestimmte Feldman. »Halt genau da an!« Er drückte Hunters Schulter, als wäre sie die Fernbedienung. »Jetzt zeig mir die Ein536
zelbilder.« Hunter sah, was sein Freund meinte, und auf seinem Gesicht machte sich Schrecken und Enttäuschung breit. Direkt vor der Kamera mit dem eingebauten Gewehr war ein kleines Rauchwölkchen zu sehen, nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Wind es wegblies. »Er hat geschossen«, bestätigte Hunter mit gedämpfter Stimme. Als sie das Band weiter abspielten, sahen sie das verwischte Bild von Jesa, immer noch mit ausgestreckten Armen, dann verschwand sie aus dem Blickfeld. »Jon, das muß nicht heißen, daß sie getroffen wurde«, sagte Hunter, als Feldman langsam in die Hocke ging, sich vom Monitor abwandte und ausdruckslos auf den Boden starrte. Während beide schweigend dasaßen, lief das Video weiter. Die Kamera hatte Ausschnitte von Feldmans Kampf eingefangen. Weder Hunter noch Feldman schenkten dem Beachtung, bis Hunter den dunklen Umriß eines aufsteigenden Hubschraubers auf dem Bildschirm bemerkte. »Hey, Jon! Es sieht so aus, als hätten sie sie da rausgeholt!« Diese Möglichkeit ließ Feldman Mut fassen. »Ich muß es wissen, Hunter«, sagte er endlich, versuchte aufzustehen und fiel wieder um. »Hey, Kumpel!« Hunter sah den Schmerz in Feldmans Gesicht. »Was ist denn los?« Feldman zog das Hosenbein hoch. Sein Knöchel war stark geschwollen. »Ach Gott! Tut's dir sonst noch irgendwo weh?« Er schaute Feldman zum ersten Mal genauer an und sah, daß seine Kinnlade geschwollen war und ein Auge langsam blau anlief. »Damit kommst du nicht weit. Und sieh dir an, was da draußen läuft. Da ist die Hölle los.« Sturmböen und sintflutartiger Regen rüttelten am Fenster des 537
Treppenhauses. Das ganze Gebäude bebte. Es blitzte fast ununterbrochen. »Also«, sagte Feldman, »ich bleibe nicht hier, um vom Blitz getroffen zu werden. Ich muß wissen, was mit ihr passiert ist.« Er stemmte sich gegen die Wand und schaffte es diesmal, auf die Beine zu kommen. Hunter zuckte mit den Schultern, nahm das Band aus der Kamera, steckte es in sein Hemd und kam Feldman zu Hilfe. Dann humpelten sie völlig durchnäßt Arm in Arm durch die regengepeitschten, verlassenen Straßen. Vor weniger als einer Stunde hatten sich hier Menschenmassen gedrängt. Jetzt wirkte die Stadt wie ausgestorben. »Na ja, wenn das wirklich das Ende der Welt ist«, schrie Hunter in Feldmans Ohr, »dann wird es als zweite Sintflut inszeniert!« Feldman gab keine Antwort, er mußte sich ganz auf das qualvolle Vorankommen konzentrieren. Sie kämpften sich langsam und stetig aus der Stadt, vorbei an den jämmerlichen Hütten der Millennarier, den Ölberg hinauf in Richtung Villa. »Mein Gott! Wir dachten schon, euch hätt's erwischt!« empfing der entgeisterte Robert Filson die beiden durchnäßten Reporter. Hunter ließ Feldman vorsichtig auf die erste Stufe der Treppe hinuntergleiten. Von oben kamen die Stimmen von Cissy, Bollinger und den anderen näher. »Du meine Güte, ihr seht ja furchtbar aus!« jammerte Cissy, und Bollinger und Hunter halfen Feldman die Treppe hinauf. Sie legten den verletzten Reporter auf eine Couch, und Cissy brachte Handtücher. Sie begann, Feldman trockenzutupfen, was ihm mehrere Schreie entlockte. »Sei vorsichtig«, warnte Hunter. »Er ist ziemlich übel zugerichtet.« »Jesa!« rief Feldman hinter einem Handtuch hervor, mit dem Cissy ihm das Gesicht abwischte. »Was ist mit Jesa?« Er zog das Handtuch weg und starrte sofort auf den laufenden Fernseher, der trotz 538
des Unwetters funktionierte. Obwohl es nicht die beste Bildqualität war, war die Nachrichtenmeldung über Jesa doch viel schärfer als das verwischte Bild, das Feldman auf Hunters Monitor in dem Treppenhaus gesehen hatte. Im Zimmer wurde es totenstill, als sich die beiden Reporter den vollständigen Bericht über die Szene ansahen, von der sie vorher nur einen flüchtigen Blick erhascht hatten. Das Geschehen war aus einem anderen Blickwinkel aufgenommen. Wie Hunter vermutet hatte, war Jesa auf etwas draufgestiegen, das wie eine Lautsprecherbox aussah, als sie den Rand der Bühne erreicht hatte. Sie stand ein paar Augenblicke erhöht vor der Menge, breitete weit die Arme aus und hielt sie leicht über Schulterhöhe. Sie starrte über die Menge, ohne im tosenden Wind auch nur mit der Wimper zu zucken. Ihre Miene war beherrscht, die geballten Wolken über ihr wirbelten im Kreis. Mehrmals formten ihre Lippen unverständliche Worte. Im letzten Augenblick lächelte sie. Liebevoll und unschuldig. Ihre Haut schimmerte, die glänzenden, tiefblauen Augen strahlten. So wie Feldman sie im Gedächtnis behalten würde. Und dann riß die Wucht der aufprallenden Kugel sie von ihrem erhöhten Platz nach hinten in die Arme des getreuen Kardinals Litti. Ihre Augen schlossen sich langsam, und ein leuchtendroter Fleck breitete sich über ihre Brust aus. Hunter stand auf und verließ den Raum. Feldman ließ den Kopf hängen und schluchzte.
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108 UNIVERSITÄT VON WISCONSIN, MADISON, USA, 8 UHR 38, FREITAG, 21 . APRIL 2000 Dunkle Wolken hingen tief über Madison, als hätte der schwarze Rauch, der von dem riesigen Camp-Randall-Stadion aufstieg, sie erzeugt. Ängstlich und nervös kämpften sich Michelle und Tom Martin durch den stehenden Verkehr in Richtung Universität. »Verdammt! Wir werden hier nie durchkommen!« fluchte Tom senior. »Vielleicht hat es Tom bei dem Verkehr ja auch nicht geschafft!« meinte Michelle optimistisch. »Wenn er mit seinen Freunden heute morgen um drei losgefahren ist, dann haben sie es schon geschafft. Fest steht jedenfalls, daß Shelley bei der verflixten Versammlung war! Dabei habe ich dem Mädchen ausdrücklich verboten hinzugehen!« Die Martins waren seit halb sechs auf den Beinen. Die Eltern von Toms bestem Freund hatten sie mit ihrem Anruf geweckt. Gegen Tom seniors ausdrückliches Verbot hatte sich Tom mitten in der Nacht mit ein paar Schulkameraden heimlich auf den Weg gemacht. Sie waren wie Zehntausende andere nach Madison gereist, um an einer Versammlung teilzunehmen, die um sieben Uhr morgens im riesigen Fußballstadion der Universität von Wisconsin beginnen sollte. Die Veranstaltung war von Jesas Anhängern, den Messianic Guardians, organisiert worden. Jesas Karfreitagsrede sollte ab halb acht live übertragen werden und auf den riesigen Bildflächen des Stadions zu sehen sein. 540
Unglücklicherweise waren, wie die Martins während ihrer Fahrt hierher im Radio gehört hatten, genauso viele Gegner von Jesa gekommen. Weil es eine freie Veranstaltung ohne Kartenverkauf war, gab es keine Möglichkeit, die Teilnehmer zu kontrollieren. Jesas Gegner konnten das Stadion genauso unbehelligt wie ihre Anhänger betreten. Beide Gruppen strebten den entgegengesetzten Seiten des riesigen Stadions zu und füllten es bis zum letzten Platz, so daß viele Teilnehmer draußen auf den Parkplätzen bleiben mußten. Dem kleinen Sondertrupp Polizisten, den man für dieses Ereignis abgestellt hatte, waren die Anzeichen einer bevorstehenden Katastrophe nicht entgangen. Schon lange vor Sonnenaufgang, als die Menschenmengen bereits pausenlos herbeiströmten, hatten sie sich nervös an die Stadtpolizei gewandt, die bald auch den Ernst der Situation erkannte. Es war klar, daß jeder Versuch, die Veranstaltung abzusagen, zu Krawallen geführt hätte, und so forderten sie eine wirksamere Verstärkung an. In Hubschraubern wurde die Nationalgarde eingeflogen. Die Soldaten postierten sich in der Mitte des Spielfeldes in einer Doppelreihe, Rücken an Rücken den beiden entgegengesetzten Seiten zugewandt. Bis an die Zähne bewaffnet verharrten sie dort regungslos. Einen Vorgeschmack auf das, was ihnen bevorstand, bekamen sie, als die Prophetin auf der Bildfläche erschien. Während Jesas Anhänger in frenetischen Beifall ausbrachen, begann die Gegenseite, Jesa auszubuhen und im Chor als Antichrist zu beschimpfen. Während ihrer Rede fingen die Gegner so laut zu brüllen an, daß Jesas Ansprache in dem Lärm völlig unterging. Eine Provokation, die die Messianic Guardians of God nicht hinnahmen. Nach dem Attentat auf die Prophetin jedoch brachen sämtliche Dämme. Die Nationalgarde mußte hilflos zusehen, wie von sämtlichen Seiten des Stadions wütende Menschenmassen über sie hereinbrachen. Als die gegnerischen Gruppen schließlich in der Mitte des Spiel541
felds aufeinanderprallten, hatten sich die Soldaten längst zu den Ausgängen zurückgezogen. Alles, was sie tun konnten, war, die Rettungsdienste zu unterstützen, die wenig später Tausende von Verletzten bergen mußten. Madison war nicht die einzige Stadt, in der das Attentat auf Jesa eine solche Reaktion ausgelöst hatte. Den Radioberichten zufolge lieferten sich die millennarischen Sekten seit dem Tod des Messias überall auf der Welt erbitterte Kämpfe. Tom Martin konnte es nicht länger ertragen. Frustriert schaltete er das Radio aus. Als wieder ein heulender Krankenwagen in Richtung Stadion an ihm vorbeiraste, folgte er ihm kurz entschlossen und allen Polizeikommandos zum Trotz durch die Eingangstore. »O mein Gott!« schluchzte Michelle Martin, als zwei Sanitäter eine junge Frau auf einer Bahre vorbeitrugen. »Es ist nicht Shelley«, versuchte ihr Mann sie zu beruhigen. »Gott steh uns bei, in diesem Chaos werden wir sie nie und nimmer finden!« weinte Mrs. Martin. Es grenzte fast an ein Wunder, daß Shelley ihre Eltern fand. Mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf und Tränen der Erleichterung in den Augen kam sie ihnen entgegengelaufen. »Gott sei Dank, daß ihr da seid!« schluchzte sie, während sie mit ihren Eltern in den Wagen stieg. »Shelley!« keuchte ihr Vater, als er das Blut sah. »Bist du schlimm verletzt?« Sie schüttelte weinend den Kopf. »Liebling«, stammelte Michelle Martin unter Tränen, »hast du Tommy gesehen? Er muß hier irgendwo sein. Er ist heute früh mit Freunden hergekommen und …« »Ja!« jammerte Shelley. »Er hatte eine Keule dabei und lief wie in Trance mit seinen Freunden hier herum. Sein Hemd stand offen, und er hatte die schreckliche Tätowierung der Guardians of God auf seiner Brust. Sein Freund hat mich angegriffen, da ist Tommy auf 542
ihn losgegangen. Sie sind dann in der Menge verschwunden, und ich habe Tommy seitdem nicht mehr gesehen.« Michelle Martin stöhnte und sank in ihren Sitz zurück. Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie starrte aus dem Fenster in die schwarzen Rauchwolken hinauf, die immer noch aus dem Inneren des Stadions aufstiegen. Irgendwie wußte sie, daß sie ihren Sohn nicht mehr lebend wiedersehen würde.
109 ÖLBERG, JERUSALEM, ISRAEL, 2 UHR 12, SAMSTAG, 22. APRIL 2000 Feldman saß allein auf dem Balkon der Villa und sah hinaus auf die stille Stadt. Der Regen hatte genau bis Mitternacht angehalten und dann schlagartig aufgehört. Die Wolken begannen sich zu zerstreuen, und die Sterne kamen zögernd hervor. Die Straßen waren menschenleer. Kein Lärm, keine Gewalt. Ausgerechnet jetzt herrschte Ruhe im Heiligen Land. Die Millennarier hatten sich angesichts der starken Regenfälle und der bedrückten Stimmungslage still in ihre Zelte und Hütten zurückgezogen. Auch Feldman war so deprimiert wie nie zuvor in seinem Leben. Zum Glück waren seine Kollegen so rücksichtsvoll, ihn für eine Weile allein zu lassen. Und ganz allmählich hatte er sich wieder so weit gefaßt, daß er sich ein klares Bild von den Ereignissen des ver543
gangenen Tages machen konnte. Jesa war tatsächlich unmittelbar nach dem Attentat im Hubschrauber des israelischen Militärs zum Hadassah Hospital gebracht worden, das nicht weit entfernt im nördlichen Teil von Jerusalem lag. Bei ihrer Ankunft konnte nur noch ihr Tod festgestellt werden. Ihr Leichnam wurde von einer ganzen Division des IDF streng bewacht. Der israelische Premierminister Eziah Ben-Miriam hatte einen Tag der Trauer ausgerufen und, sobald die Straßen wieder passierbar waren, eine Sondersitzung der Knesset einberufen. Es ging das Gerücht um, daß es wegen der unzulänglichen Sicherheitsmaßnahmen noch ein schlimmes Nachspiel geben würde. Feldman sah sich mit zunehmendem Widerwillen noch einige Berichte über die sinnlosen Krawalle an, die seit Jesas Tod überall auf der Welt im Gange waren. Dann überwältigte ihn endlich seine völlige Erschöpfung, und er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Stunden später erwachte Feldman. Der Morgen war sonnig und klar, die Luft reingewaschen vom gestrigen Unwetter. Als er sich unter Schmerzen auf die Seite drehte, fand er zu seiner Überraschung Hunter schlafend in einem Sessel neben sich vor. Allmählich regte sich Leben in der Villa, und gähnende, müde Krieger kamen aus ihren Winkeln, um sich nach dem Befinden der beiden Reporter zu erkundigen. Cissy brachte Kaffee und Brötchen und fühlte mit der Hand Feldmans Temperatur. »Wir müssen dich zum Arzt bringen, damit er dich untersucht«, sagte sie wie eine besorgte Mutter. »Vielleicht hast du dir ein paar Rippen gebrochen.« Feldman lächelte, nickte und ließ sich von ihr seine verbogene Brille aufsetzen. Das Telefon klingelte, und Filson rief aus dem Wohnzimmer: »Hey, Jon, kannst du mit jemandem vom IDF reden?« 544
Feldman versuchte, sich aufzurichten. »Au! Verflucht!« »War das ein Ja?« »Ja!« Filson brachte ihm das Telefon, und Feldman erkannte die Stimme seines geheimnisvollen Gesprächspartners. »Mr. Feldman, ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang nervös. »Nein. Ich hatte keine Gelegenheit, mich bei Ihnen für Ihre Hilfe gestern zu bedanken«, sagte Feldman. Die Stimme zögerte ein wenig und antwortete mit einem einfachen »Ja«. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« fragte Feldman. »Ich muß Sie treffen, Mr. Feldman. Heute vormittag, wenn es geht sofort.« »Wo sind Sie im Moment?« fragte Feldman, nicht sicher, ob er fit genug war, irgendwo hinzufahren. »Das ist absolut vertraulich«, sagte die Stimme eindringlich. »Die Sache ist äußerst gefährlich.« »Sie haben mein Wort«, versprach Feldman. »Ich bin im Hadassah Hospital. Ich werde Ihnen einen Hubschrauber schicken. Und ich möchte auch Ihren Kollegen, Mr. Hunter, einladen und ihn bitten, freundlicherweise seine Kamera mitzubringen.« »Können Sie mir sagen, worum es geht?« fragte Feldman. »Es tut mir leid, mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Ich kann Ihnen nur versichern, daß sich der Weg hierher lohnen wird.« Feldman setzte sich über sein Unbehagen hinweg und zögerte nicht länger. »Wir können kommen, wann immer Sie wünschen. Wir sind in der …« »Ja, ich weiß, wo Sie sind.« »Natürlich«, lächelte Feldman. »Wir halten uns bereit.« Hunter 545
sah ihn mit blutunterlaufenen Augen fragend an. »Es ist vertraulich«, erklärte Feldman, »aber wir machen einen kleinen Ausflug im Hubschrauber. Und du brauchst deine Ausrüstung.« Hunter erhob sich stöhnend aus seinem Sessel. Der Hubschrauber berührte kaum dreißig Sekunden lang den Boden. Ein Besatzungsmitglied unter einem grau-blauen Helm kam Feldman irgendwie bekannt vor. Es war Korporal Lyman, ihre Begleiterin vom Dungtor. Sie nickte den beiden Reportern kurz zu, und sie grüßten zurück. Beide Männer und ihre Ausrüstung wurden schnell an Bord gezogen, dann waren sie schon in der Luft. Das Krankenhaus war nicht weit entfernt. Feldman sah eine dichte Menge von Millennariern, die sich bereits vor der hohen, das Gebäude umgebenden Steinmauer versammelt hatte. Israelische Sicherheitsbeamte hielten sie unter Kontrolle. Hunter zeigte auf das Gelände innerhalb der Mauer, wo Patienten und Krankenhauspersonal auf Militärtransporter geladen wurden. »Sieht so aus, als würden sie das Krankenhaus evakuieren.« Er machte sofort ein paar Aufnahmen davon. Auf dem Landeplatz wurden die Reporter von vier bewaffneten Militärs empfangen, die Hunter seine Ausrüstung abnahmen, damit er dem angeschlagenen Feldman helfen konnte. Drinnen erwartete sie ein gepflegter Mann mittleren Alters in IDF-Uniform. Der Offizier wirkte müde und angestrengt. Er streckte Feldman die rechte Hand entgegen, die dieser mit der Linken ergreifen mußte. »Kommandant David Lazzlo«, stellte er sich vor. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Aber in seiner Stimme klang keine Freude mit. »Ganz meinerseits«, gab Feldman zurück. »Das ist mein Kollege, 546
Breck Hunter.« »Natürlich.« Lazzlo reichte Hunter ebenfalls die Hand. »Bitte, kommen Sie mit, meine Herren.« Lazzlo ging mit ihnen einen Flur entlang und nahm geduldig Rücksicht auf Feldman, der nur sehr langsam gehen konnte. Er führte sie in ein Büro und bat sie, Platz zu nehmen. »Können Sie mir sagen, Kommandant«, fragte Feldman, »ob Kardinal Litti hier ist und ob es ihm gutgeht?« »Ich kann beide Fragen mit Ja beantworten, Mr. Feldman. Und wenn Sie möchten, können Sie ihn kurz sehen. Ich fürchte jedoch, daß die Zeit knapp ist, denn ich muß mich wirklich beeilen, weil ich Ihnen einiges zu sagen habe.« »Aber natürlich«, versicherte ihm Feldman und setzte sich steif auf einen Stuhl. »Wir hören zu.« Lazzlos Miene verdüsterte sich. »Sehr gut. Gentlemen, lassen Sie mich gleich zu Anfang sagen, daß ich für das, was ich Ihnen mitteilen will, erschossen werden könnte. Und wenn Sie mit den Informationen, die ich Ihnen gebe, erwischt werden, könnte es auch Sie das Leben kosten.« »Erwischt von wem?« wollte Hunter wissen. »Lassen Sie mich die Angelegenheit von Anfang an erzählen«, antwortete Lazzlo. »Zunächst einmal: Ich war, bis vor kurzem, zwölf Jahre lang Angehöriger des IDF, die letzten vier Jahre davon habe ich die Aufklärung geleitet. Ich muß Ihnen auch sagen, daß das, was ich Ihnen mitzuteilen habe, Sie zweifellos erschüttern wird. Mich hat es sehr erschüttert, denn ich war persönlich an vielen Dingen beteiligt, die sich im nachhinein als ziemlich fatal erwiesen haben. Ich möchte Sie nur bitten, zunächst kein Urteil über mich zu fällen und mich zu Ende anzuhören.« Hunter und Feldman sahen einander an und nickten zustimmend. »Ich gebe ohne weiteres zu, daß ich über Verteidigungsminister 547
Tamins geheime Laborexperimente im Negev Bescheid wußte. Jedoch kannte niemand außer dem Oberbefehlshaber des IDF und den beteiligten Wissenschaftlern den wahren Charakter dieses Forschungsprojekts. Tamin mußte absolut sichergehen, daß weder die Regierung noch die Knesset jemals davon erfuhren. Derartige Experimente sind nach der israelischen Verfassung verboten, außer wenn sie vorher durch den israelischen Kontrollrat der Ärzteschaft abgesegnet sind. Was sie natürlich nicht waren.« »Stört es Sie, wenn ich mir Notizen mache, Kommandant?« fragte Feldman. Als der Offizier seine verbundene rechte Hand sah, lächelte er trocken. »Das dürfte Ihnen ein bißchen schwerfallen. Aber Sie können gerne mitschreiben, wenn Sie möchten. Ich mache mir wegen der Konsequenzen keine Gedanken mehr.« »Warum das, Kommandant?« fragte Feldman, während Hunter seine Kamera aufbaute. »Das werden Sie bald erfahren«, meinte Lazzlo ganz ruhig. »Es hat über die tatsächliche Ursache der Zerstörung des Negev-Instituts viele Spekulationen gegeben, allerdings ist es mir trotz aller Ermittlungen nicht gelungen, auf diese Frage eine endgültige Antwort zu finden. Ich kann Ihnen lediglich sagen, was es nicht war. Es war keine Sabotage, wie in den Medien behauptet wurde. Die Zerstörung wurde von einem Geschoß aus östlicher Richtung verursacht. Es war keine Rakete. Jedenfalls keine, die wir kennen. Wir haben weder ein Abschußsystem noch einen Sprengkopf entdeckt. Wir wissen, daß das Geschoß aus einer massiven, sehr heißen Masse bestand, einen Durchmesser von ungefähr siebzig Zentimetern hatte, daß es sich zu vierzig Prozent aus Eisen, zu sechs Prozent aus Nickel und zu vierundfünfzig Prozent aus Silikat zusammensetzte und ungefähr eine Vierteltonne wog. Die plausibelste Erklärung ist, daß das Geschoß von einer Superkanone abgeschossen wurde, wie sie der Irak noch vor dem Golfkrieg entwickelt hat.« »Was ist mit der Meteoritentherorie?« wollte Hunter wissen. 548
»Die können wir nicht ausschließen«, gab Lazzlo zu. »Im Verteidigungsministerium war man sich jedoch einig, daß das Geschoß absichtlich so konstruiert war, daß es in seiner Zusammensetzung einem Meteoriten ähnelte. Trotzdem haben wir keine Spuren von einer Kanone oder einem anderen Abschußsystem finden können. Wir kamen schließlich zu der Auffassung, daß es sich schlimmstenfalls um einen ungezielten Angriff handelte. Allerdings standen wir nun vor einem ganz anderen Problem: Shaul Tamin wollte mit aller Macht verhindern, daß etwas über die Experimente durchsickerte. Seine Devise hieß Schadensbegrenzung. Damals glaubten wir, alle greifbaren Beweise und kompromittierenden Unterlagen seien durch die Explosion zerstört worden. Alle Wissenschaftler, die damit zu tun gehabt hatten, waren tot – mit Ausnahme von Mrs. Leveque und einigen Laborassistentinnen, die nicht viel wußten und leicht einzuschüchtern waren. Alles schien unter Kontrolle, bis Sie mit Ihrer Geschichte von einer Überlebenden herauskamen. Zuerst wies Tamin den Gedanken weit von sich, daß eines der Testsubjekte die Explosion überlebt haben könnte. Aber später, als Ihre japanischen Zeugen Jesa eindeutig als die Überlebende identifizierten, hatte er keine andere Wahl als einzugreifen. Tamin sah Jesas Überleben als ein Problem, andererseits aber auch als eine Chance an. Als lebender Beweis seiner Experimente stellte sie eine Bedrohung dar, bot Tamin jedoch auch die Möglichkeit, die kostbaren Mikrochips wiederzubekommen, die sie in ihrem Gehirn trug, die einzigen Chips dieser Art, die noch existierten. Allein ihr Wert für die Anwendung in der Medizin ist astronomisch – vom Einsatz für militärische Zwecke ganz zu schweigen. Tamin hatte vor, sie sich um jeden Preis zurückzuholen. Und dann brachten Sie Ihren Bericht über ›die wahre Herkunft des neuen Messias‹. Tamin war außer sich! Nun ja, Ihr Sender hat schließlich immer noch mit den Folgen zu kämpfen, weil sie diese Story gesendet haben.« 549
»Wir hatten schon so einen gewissen Verdacht«, gab Hunter zu. Lazzlo nickte zerknirscht und fuhr fort: »Nach Ihrem Bericht spielten die Mikrochips nur noch eine geringe Rolle. Tamin war verzweifelt darum bemüht, politisch zu überleben. Er wollte Jesa einfach aus dem Weg schaffen. Aber inzwischen war sie natürlich schon eine viel zu wichtige, international verehrte Persönlichkeit geworden. Wie Sie ja wissen, führte Tamins Vorschlag, Jesa in ›Schutzhaft‹ zu nehmen, überall in Israel und in der ganzen Welt zu Protesten und Demonstrationen. Durch viele einflußreiche Juden, die Jesa für den Messias hielten, geriet die Regierung Ben-Miriam unter erheblichen Druck. Immer mehr Knessetmitglieder forderten Tamins Rücktritt, und sein politischer Rückhalt schwand. Doch dann sah es plötzlich so aus, als seien all unsere Probleme auf wunderbare Weise gelöst. Jesa verließ das Land, und die Lage schien sich zu beruhigen. Diese Hoffnung währte allerdings nur kurze Zeit. Nach ihrer brisanten Erklärung bei der zweiten Konferenz der Mormonen strömten ihre radikalen Anhänger und Gegner erneut nach Jerusalem, um auf die Rückkehr des Messias und auf den Jüngsten Tag zu warten. Israel blutete wieder. Ich und ein anderes ranghohes Mitglied des IDF beschlossen, mit drastischen Maßnahmen die Situation zu entschärfen, in die Tamin unser Land gestürzt hatte. Wir spielten das Leveque-Tagebuch dem Vatikan in die Hände und hofften, daß die Wahrheit über die gottlosen Mikrochips und die heimliche Verbindung zu militärischen Kreisen Jesa in Mißkredit bringen würden. Mit ihrem unglaublichen Auftritt im Vatikan hat sie uns allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und dann, als Israel ohnehin schon bis zum äußersten gefordert war, erschien Jesa plötzlich wieder in Jerusalem. Der IDF sah sich bereits einer unkontrollierbaren Situation gegenüber, obwohl Israel Hilfe von außen, unter anderem von den Vereinten Nationen, erhielt. Wir wußten, daß wir auf irgendeine Art und Weise eine entscheidende Wendung herbeiführen mußten. Unser Dilemma hieß ›Jesa oder Is550
rael‹. Beides zusammen war unmöglich.« »Ich verstehe das nicht«, wandte Feldman ein. »Warum haben Sie Jesa nach ihrer Rückkehr dann überhaupt beschützt? Bei der massiven Stimmung gegen sie hatten sich Tamin und Goene doch einfach nur zurückziehen und darauf warten können, daß die Gogs sie töteten. Statt dessen haben Sie die Altstadt durch Truppen gesichert und sie unter Schutz gestellt.« »Die Lage war viel komplizierter«, erklärte Lazzlo. »Erstens: Wenn wir nichts unternommen hätten, um die gegnerischen Gruppen in Schach zu halten, wäre es zu einem Bürgerkrieg gekommen. Das konnten wir unmöglich zulassen. Aber noch viel weniger konnten wir es uns leisten, daß ein Israeli in einen Gewaltakt gegen Jesa verwickelt wurde. Unser kleines Land hätte die weltweiten Reaktionen darauf niemals überlebt. Wir kamen daher überein, daß Jesas Liquidierung auf eine politisch akzeptable Weise erfolgen mußte.« Feldman mußte mehrmals schlucken. »Die Lösung, für die wir uns entschieden«, fuhr Lazzlo fort, »bestand darin, den IDF als Verfechter des Friedens herauszustellen. Er würde die Prophetin beschützen und die beiden feindlichen Lager sorgsam voneinander trennen. Der IDF sollte den Messias gegen alle Sekten verteidigen, die Israel politisch Probleme bereiten konnten, wenn Jesa durch sie zu Schaden käme. Gleichzeitig sollte der IDF, insbesondere meine frühere Aufklärungsabteilung, Sekten und Komplotte ausfindig machen, die für unsere Zwecke am besten geeignet waren, arabische Gruppen beispielsweise. Wenn wir erst einmal Verschwörungspläne ausfindig gemacht hätten, so unser Kalkül, würde es ein einfaches sein, einem dieser Pläne zum Erfolg zu verhelfen. Und in der Tat wurden wir bald fündig.« »Heißt das, daß Sie Jesas Karfreitagspredigt deshalb so problemlos genehmigten, um einen Mordanschlag zu ermöglichen?« »Genau«, gab Lazzlo zu. »Wir gingen sogar so weit, einen kugelsicheren Schutz und einen Hubschrauber zur Verfügung zu stellen, 551
um den Anschein zu erwecken, als hätten wir alles menschenmögliche getan, um den Messias zu schützen. Vertrauensbildende Maßnahmen, um eventuelle interne oder internationale Beschuldigungen auf ein Mindestmaß zu beschränken.« Feldman nahm sich zusammen, aber die hervortretenden Adern an seinem Hals verrieten seine Wut. »Sie wußten, daß ein professioneller Scharfschütze Jesa problemlos treffen konnte, wenn sie am Ende hinter dem Schutzschild hervortrat. Deshalb hielten Sie die Medien so sorgfältig von der Bühne fern und reservierten die umliegenden Dächer für den Mörder.« »Und Sie und Mr. Hunter haben wir als Zeugen benutzt«, fügte Lazzlo hinzu. Feldman war bestürzt. »Wir waren also Teil des Komplotts?« Die Scham darüber stand unübersehbar in Lazzlos Gesicht. »Wir machten uns noch die zusätzliche Mühe, den Mörder mit einer WNN-Jacke auszustatten, damit Sie ihn nicht übersehen würden. Wir wußten, wann und durch welches Tor er die Altstadt betreten würde. Als er seine gefälschten Papier vorzeigte, informierte man ihn, daß es vorgeschrieben sei, eine Jacke mit Senderkennung zu tragen, und man gab ihm eine WNN-Jacke. Er wurde sogar zu jener Stelle auf dem Dach begleitet, die genau in Ihrem Blickfeld lag.« »Der Schütze war also ein moslemischer Gog?« fragte Feldman. »Nein«, sagte Lazzlo. »Obwohl wir zuerst hauptsächlich arabische Extremistengruppen im Auge hatten, entschieden wir uns nach eingehender Analyse doch für eine Aktion, die die Mafia geplant hatte.« »Die Mafia?« fragte Feldman ungläubig. »Ja. Einer der Pläne, die wir aufdeckten, stammte von der Mafia. Wahrscheinlich eine Vergeltungsmaßnahme für Jesas Enthüllung jenes Skandals, in den der Vatikan und das Mafiaunternehmen Finia C.C. verwickelt waren. Jedenfalls erwies sich der Plan der Mafia als einfacher und klüger als die anderen. Die Idee mit dem Gewehr 552
in der Kamera war genial. Außerdem hatten wir in Erfahrung gebracht, daß der Killer ein Spezialist darin war, seine Opfer durch Schüsse in Herz und Lunge zu töten. Das war für unsere Zwecke ideal, weil Tamin und Goene natürlich nicht wollten, daß die Neurochips beschädigt wurden.« »Und wir sollten zusehen, oder besser noch, alles aufzeichnen, damit der Mörder verhaftet, identifiziert und verurteilt werden konnte«, schloß Feldman. »Und der IDF hätte vollkommen sauber dagestanden.« »Genau. Sicherheitsbeamte wurden in Position gebracht, um kurzen Prozeß zu machen und den Mörder zu verhaften. Wir hatten alle Fluchtwege abgeschnitten. Sie hätten jedoch beinahe unseren ganzen Plan vereitelt, Mr. Feldman. Keiner konnte Ihre übermenschlichen Sprungkünste voraussehen. Wenn der erste Schuß nicht getroffen hätte …« Lazzlo hielt inne, und sein Gesicht verdüsterte sich genauso wie die Mienen seiner Zuhörer. Feldman hatte genug gehört. Er gab sich keine Mühe, seinen Abscheu zu verbergen, und erhob sich steif. »Ich möchte Jesa ein letztes Mal sehen«, bat er Lazzlo kühl. »Sicher. Aber ich muß Sie warnen, wir haben nicht viel Zeit. Gleich danach haben wir noch ein paar weitere wichtige Dinge zu besprechen.« Feldman war einverstanden. »Würden Sie vielleicht gern den Kardinal sehen, während ich wegen Ihres Besuchs Bescheid gebe?« schlug Lazzlo vor. »Litti?« Feldmans Miene hellte sich ein wenig auf. »Ja, bitte.« Kardinal Alphonse Litti erwartete Feldman und Hunter in einem Zimmer des anderen Flügels. Feldman wurde ganz warm ums Herz, als er ihn wiedersah. 553
Der Kardinal sah müde aus, schien aber sehr gefaßt und umarmte Feldman wie einen Bruder. »Jon, Gott sei Dank! Es tut so gut, Sie zu sehen. Aber Sie sind verletzt.« »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht, Alphonse«, antwortete Feldman. »Ich freue mich auch, Sie wiederzusehen.« Litti umarmte auch Hunter, der dem Kardinal herzlich auf die Schulter klopfte. »Alles ist ganz anders gekommen, als wir erwartet hatten, nicht wahr, meine Freunde?«, sagte Litti und bot seinen Besuchern einen Platz an. »Offen gesagt habe ich einfach nie geglaubt, daß Gott das zulassen würde.« »Ich weiß, Alphonse«, erwiderte Feldman. »Es scheint einfach unmöglich, daß sie nicht mehr dasein soll.« Sie schwiegen alle drei einen Augenblick. »Natürlich wußte sie schon die ganze Zeit, daß es so kommen würde«, seufzte Litti. Feldman sah ihn an. »Sie hat es oft vorausgesagt«, fuhr er fort. »Nur habe ich es mißverstanden. Ich sah die Dinge aus einer völlig falschen Perspektive, so wie ich sie sehen wollte. Wie vermessen von mir. Wehe dem, der es wagt, die unergründlichen Wege des Herrn voraussehen zu wollen!« »Mir schien es, als hätte sie genau gewußt, wie alles kommen würde«, sagte Hunter. »Sie hat sich dem Gewehr förmlich preisgegeben, als sie direkt darauf zulief.« »Ja«, stimmte Litti zu. »Und im nachhinein ist natürlich alles sehr klar. Sie hat nie ein gutes Ende ihrer Reise vorausgesagt.« Feldman senkte den Kopf und fragte leise: »Alphonse, hat sie … ist es … schnell gegangen?« Der Kardinal ergriff Feldmans unverletzte Hand und drückte sie mit der tröstenden Zuversicht des Geistlichen. »Es ging sehr schnell. 554
Sie starb schon, als sie mir in die Arme fiel. Sie schloß einfach die Augen, und das Leben entwich aus ihr. Ich konnte es geradezu fühlen. Als ob eine große Bürde von ihr genommen würde. Ich glaubte, die Spur eines Lächelns auf ihren Lippen zu sehen, und da war sie auch schon nicht mehr unter uns.« Litti machte eine lange Pause. Tränen standen in seinen Augen. »Und dann kamen Ihnen die Israelis zu Hilfe?« fragte Feldman nach einer Weile. Litti nickte. »Die Israelis waren fabelhaft. Sie eilten sofort herbei, nahmen sie mir ab und brachten uns beide im Hubschrauber direkt hierher. Der Messias war innerhalb von Minuten auf der Unfallstation. Aber es war natürlich zu spät.« »Alphonse?« Es gab noch einen Punkt, den Feldman klären mußte. »Unmittelbar vor dem Ende, als sie da stand, flüsterte sie etwas. Erinnern Sie sich, was ihre letzten Worte waren?« Der Kardinal dachte nach. »Ich weiß nicht, Jon. Eigentlich erinnere ich mich nicht, daß sie überhaupt etwas sagte, nachdem sie das Rednerpult verlassen hatte.« Feldman nickte enttäuscht. »Wo ist sie jetzt, Alphonse?« »Sie ist noch hier, Jon. Sie haben sie im Leichenkeller in einen separaten Raum gelegt. Es geht jetzt um die Frage, ob die Leiche freigegeben werden kann und wer Anspruch auf sie hat. Sie versuchen anscheinend, Mrs. Leveque zu erreichen. Ich befürchtete schon, daß sie eine Autopsie vornehmen würden. Zum Glück ist das nach dem jüdischen Gesetz sehr schwierig, obwohl sie bei Untersuchungen von Mordfällen normalerweise die Erlaubnis von einem Rabbinergericht erhalten. Aber ich werde eine solche Entweihung nicht zulassen. Ich habe darauf bestanden, bis morgen früh die Totenwache zu halten.« Feldman zog die Stirn in Falten. »Warum bis morgen früh?« Litti starrte Feldman an, als sei der Reporter von einem anderen Stern. »Jon!« rief er. »Morgen früh wird Jesa uns wiedergegeben. Es 555
ist Ostersonntag. Die Auferstehung! Sie müssen daran glauben!« Feldman sah den Geistlichen an und nickte. Lazzlo erschien an der Tür. Feldman stand auf und ergriff den Arm des Kardinals. »Alphonse, ich würde jetzt gerne Jesa die letzte Ehre erweisen. Würden Sie uns für eine Weile entschuldigen?« Litti blickte seinem Freund prüfend in die Augen. »Wenn Sie sie sehen, werden Sie sicher sein. Sie müssen daran glauben, Jon. Sie müssen glauben!« Kommandant Lazzlo führte Feldman und Hunter zu einem Lastenaufzug, vor dem ein bewaffneter Soldat stand. Lazzlo drückte den Knopf zum untersten Stockwerk der Klinik. Während sie hinunterfuhren, sah Feldman den Offizier mit wachsender Besorgnis an. »Ich nehme an, daß man versucht, die Neurochips unter dem Vorwand einer Autopsie wiederzubekommen?« »Ja.« Feldman schluckte und fragte: »Ist sie schon durchgeführt worden?« »Nein«, antwortete Lazzlo. »Ich habe mich Tamin und Goene widersetzt und die Autopsie aufgeschoben, deshalb haben wir nur noch sehr wenig Zeit. Sie betrachten mich als Befehlsverweigerer. Eine bewaffnete Einheit ist bereits hierher unterwegs.« Sie traten aus dem Aufzug, gingen an einer Reihe Soldaten vorbei, passierten mehrere Korridore, in denen weitere Soldaten postiert waren, und kamen schließlich zu einem großen Leichenkeller, in dem sich auf zwei gegenüberliegenden Seiten übereinander angeordnete kleine Metalltüren befanden. Feldman fühlte sich nicht wohl, und seine Handflächen wurden feucht. Sie durchquerten den Raum und erreichten einen weiteren Korridor. Er endete vor einer einzelnen großen Tür aus Metall, die aussah wie ein Banktresor. Lazzlo hielt davor an. »Möchten Sie gern ein paar Minuten mit ihr allein sein, Mr. Feldman?« bot er freundlich an. 556
Feldman sah Hunter an, der feierlich nickte und den Blick seines Freundes kaum ertragen konnte. Lazzlo öffnete die große Tür, und Feldman zögerte kurz, bevor er eintrat. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Die Tür schloß sich hinter ihm, und Feldman brauchte einen Augenblick, bis sich seine Augen an die dämmrige Beleuchtung gewöhnt hatten. Der Raum war bis auf eine Bahre in der Mitte und Überwachungskameras in allen vier Ecken völlig leer. Die Bahre war mit einem weißen Tuch bedeckt, unter dem sich die Umrisse einer kleinen, weiblichen Gestalt abzeichneten. Ein unauffälliger, dunkler Fleck war auf ihrer Brust zu sehen. Feldman näherte sich langsam und mit schwerem Herzen. Er blieb neben der Bahre stehen und senkte den Kopf zum Gebet. Nach einer Minute nahm er all seinen Mut zusammen und zog vorsichtig das Tuch zurück. Das war mehr, als er ertragen konnte. Er ließ seinen Tränen freien Lauf. Sie erschien ihm ebenso edel wie zu Lebzeiten. Aber die Aura war verschwunden. Ihre feine Haut leuchtete nicht mehr, sondern hatte die ewige Würde weißen Marmors angenommen. Er sah sie lange an. Bilder und Erinnerungen kamen ihm in den Sinn. Es fiel ihm schwer, sich loszureißen, denn er wußte, er sah sie nun zum letzten Mal. Er strich ihr über das Haar und breitete dann das Tuch über sie. Lazzlo und Hunter hatten geduldig auf ihn gewartet. An den Mienen der beiden konnte er ablesen, daß ihm seine Erschütterung anzusehen war. Aber er schämte sich nicht. Lazzlo deutete auf Hunter und sagte: »Ich habe Mr. Hunter schon gefragt, ob er sie sehen möchte; er hat abgelehnt. Vielleicht dürfte ich noch ein paar Augenblicke Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, Mr. Feldman?« »Ich habe auch noch einige Fragen an Sie«, erwiderte Feldman ernst. 557
»Natürlich.« »Zuerst würde ich gern wissen, warum Sie sich im Januar die Mühe gemacht haben, uns vor der Verhaftung zu warnen, die Goene geplant hatte.« Lazzlo senkte den Blick und starrte auf den Boden. »Es mag Ihnen schwerfallen, das zu verstehen, Mr. Feldman, aber mir lag wirklich daran, Sie in Ihrer Arbeit zu unterstützen. Ich und der besagte andere Offizier des IDF, wir machten uns zunehmend Sorgen über die verheerenden Auswirkungen, die Tamins Experimente auf unser Land und auf die ganze Welt haben konnten. Wir waren jedoch nicht in der Lage, uns Tamin direkt zu widersetzen. Er ist ein mächtiger Mann mit vielen einflußreichen Freunden. Wir mußten im geheimen gegen ihn tätig werden. Sein Befehl, Sie zu verhaften, war nichts anderes als ein persönlicher Racheakt. Uns lag allerdings wenig daran, Sie hinter Gitter zu sehen. Dazu leisteten Sie einfach eine zu wertvolle Aufklärungsarbeit, die uns einiges abnahm.« »Das begreife ich nicht«, sagte Feldman. »Sie widersetzen sich einerseits Tamin und Goene und versuchen, uns zu helfen, aber dann beteiligen Sie sich willentlich an einem feigen Mord.« Lazzlo schien plötzlich in sich zusammenzufallen. »Bitte, verstehen Sie, Mr. Feldman, daß ich erst jetzt die volle Tragweite meines Handelns begreife. Und obwohl mir bewußt ist, daß ich niemals wiedergutmachen kann, was ich getan habe, will ich doch das wenige tun, was jetzt noch möglich ist.« Feldman war nahe daran, Mitleid mit dem Kommandanten zu bekommen. »Bitte, verstehen Sie auch«, versuchte Lazzlo zu erklären, »daß ich damals wirklich glaubte, im Interesse Israels zu handeln. Ich hatte nichts gegen Jesa persönlich, sondern hielt sie lediglich für einen jener zahllosen, geistesgestörten Fanatiker, die seit vier Jahrtausenden Unruhe in diese Stadt bringen. Mit dem Unterschied, daß diese Fanatikerin eine Anhängerschaft in der ganzen Welt hatte, die unser 558
Land und vielleicht sogar die ganze Menschheit bedrohte.« Feldman mußte sich eingestehen, daß ihm diese Ängste nicht fremd waren. Versöhnlich legte er dem Offizier die unverletzte Hand auf die Schulter. »Kommandant, wenn Ihnen das ein Trost ist, ich bin sicher, daß Jesa Ihnen vergeben würde. Ich glaube, ich kannte sie gut genug, um das sagen zu können.« Lazzlo sah Feldman prüfend ins Gesicht. »Das bedeutet mir mehr, als Sie ahnen können.« Er gewann wieder an Haltung und zeigte auf die Tür. »Aber kommen Sie, ich muß Ihnen noch etwas zeigen. Mr. Hunter, Sie werden Ihre Kamera brauchen.« Als sie den Raum verließen und den Korridor zu einem kleineren Labor entlanggingen, mußte Feldman eine letzte Frage stellen. »Wie steht es mit den Behauptungen, Jesa sei über die Neurochips gesteuert worden? Stand jemand mit ihr in Verbindung oder wurde auf andere Weise Einfluß auf sie ausgeübt?« »Das wüßte ich auch gerne«, schaltete sich Hunter ein. »Wie sie sich gestern diesem Scharfschützen geopfert hat … Sie ließ sich einfach umbringen, als stehe sie unter Hypnose.« »Ich werde Ihnen diese Frage gleich beantworten«, erwiderte Lazzlo. Sie traten durch eine Tür mit Glasscheiben, und ein älterer Herr in weißem Labormantel erhob sich und begrüßte sie. »Gentlemen«, stellte Lazzlo vor, »daß ist der Leiter der gerichtsmedizinischen Abteilung hier am Hadassah Hospital, Dr. Goldberg. Können wir anfangen, bitte?« Als sei er dieser Pflicht schon mehrmals nachgekommen, ging der Arzt zu einem großen Monitor an der Wand, machte das Licht aus und betätigte einen Schalter. Hunter schaltete seine Kamera ein, um die Vorführung aufzuzeichnen. Auf dem Monitor erschien die dreidimensionale Aufnahme eines menschlichen Körpers, der auf der Seite lag. »Dr. Goldberg«, bat Lazzlo, »erklären Sie doch bitte, was wir hier sehen.« 559
»Natürlich, Kommandant«, antwortete Goldberg und zeigte auf den Monitor. »Gentlemen, das ist die Positronenemissionstomographie eines menschlichen Körpers. Wie Sie sehen können, sind alle inneren Organe vollständig sichtbar.« »Wir werden uns da auf Sie verlassen müssen«, meinte Feldman, der keinerlei medizinische Kenntnisse besaß. Der Arzt begann, an diversen Knöpfen zu drehen. »Nun gehen wir weiter zum Schädelbereich. Ich vergrößere das Bild und lasse es sich drehen, so daß Sie das Kleinhirn aus jeder Perspektive sehen. Können Sie es erkennen?« Feldman und Hunter nickten. »Sagen Sie mir nun«, forderte der Arzt sie auf, »was Sie bemerken.« Die beiden Reporter betrachteten angestrengt das Bild. »Ich weiß nicht«, gab Feldman endlich zu. »Ist daran denn irgend etwas außergewöhnlich?« »Nein«, antwortete der Arzt. »In der Tat handelt es sich hier um ein in jeder Hinsicht völlig normales Gehirn.« Der Arzt drehte an einem weiteren Knopf und trat einen Schritt zurück. Der sich drehende Schädel füllte sich, bekam Gesichtszüge und verwandelte sich in einen kompletten menschlichen Kopf mit einem Gesicht. Ein dreidimensionales Farbbild einer schönen, jungen Frau mit zerzaustem Haar und makelloser Alabasterhaut. Feldman hielt den Atem an. Er schwieg und ließ seinen Blick über das friedlich schlafende Gesicht schweifen. Endlich fragte er ganz leise: »Ist das hier Jesa?« »Ja«, sagte Lazzlo. »Diese Aufnahmen wurden gestern abend für die bevorstehende Autopsie gemacht.« Der Arzt ließ die Bilderfolge rückwärts laufen, um noch einmal das Innere des Schädels zu zeigen. »Wie Sie sehen, sind hier keine Mikrochips, keine Drähte und keine Elektroden zu sehen. Nichts Künstliches. Ein natürliches, normales, gesundes menschliches Ge560
hirn.« »Nein«, korrigierte ihn Lazzlo. »Menschlich gewiß nicht.« Hunter und Feldman starrten wie gebannt auf das faszinierende Bild, während der Arzt zu den inneren Organen der Brusthöhle überging. »Sie können hier eine einzelne Verletzung des Herzmuskels durch ein eingedrungenes Objekt sehen …« Feldman konnte ihm nicht mehr folgen. Er begann zu zittern, während er versuchte, sich über die Konsequenzen dessen, was er soeben erfahren hatte, klarzuwerden. Jesa konnte überhaupt nicht das berühmte Testsubjekt des Negev-Labors gewesen sein, sondern nur die unveränderte Kontrollperson, die unangetastete Tochter. Das bedeutete, daß alle Argumente di Concercis falsch waren. Das hieß, daß Jesas Wissen und ihre Fähigkeiten weder auf einem Infusionsprozeß noch auf einer Telekommunikation mit Computern beruhten. Das hieß … Feldman wurde schwindelig. Er erholte sich erst, als Lazzlo ihm einen verschlossenen Umschlag reichte. »Hier ist alles, was Sie brauchen, um gegen die gesamte Oberbefehlsebene des IDF – gegen Tamin, Goene und auch gegen mich – Anklage zu erheben. Es sind geheime Dokumente und interne Mitteilungen, aus denen die Korruptionsaffäre und die Verschwörung hervorgehen. Ich habe auch eine CD-ROM mit den Tomographieaufnahmen des Messias beigefügt, die das, was Sie gerade gesehen haben, vollständig belegen. Jetzt, fürchte ich, ist es für Sie beide Zeit zu gehen. Goene wird mit seinen Truppen jeden Augenblick dieses Krankenhaus stürmen, um Israel von einem Verräter zu befreien. Eine Hubschrauberflotte ist bereits auf dem Weg, und ich kann Ihnen versichern, sie werden vor nichts zurückschrecken, um Jesas Leiche in ihre Gewalt zu bekommen. Ich muß Sie allerdings warnen«, fügte Lazzlo noch hinzu. »Im Norden von Jerusalem stehen bereits riesige Kampfverbände von Jesas Gegnern. Ich glaube nicht, daß General Zerim sie lange aufhalten kann, und gewiß wird die Kli561
nik ihr nächstes Ziel sein.« »Was werden Sie jetzt tun, Kommandant?« fragte Feldman ganz benommen. Lazzlo zögerte und sah den Reporter ruhig an. »Ich werde hierbleiben, Mr. Feldman«, sagte er gelassen, »und den Messias verteidigen.« Hunter legte dem Offizier eine Hand auf die Schulter. »Aber was hat das für einen Sinn? Das klingt wie Selbstmord. Warum flüchten Sie nicht und nehmen Jesas Leichnam im Hubschrauber mit? Ich bin sicher, daß man Ihnen irgendwo Asyl gewähren wird.« »Sie verstehen das nicht«, antwortete Lazzlo. »Sehen Sie, ich persönlich habe einen großen Teil dessen, was gestern geschehen ist, zu verantworten. Ich habe dem schrecklichsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zugestimmt. Ich war an der Verschwörung gegen den Messias beteiligt. Die größte Sünde gegen Gott. Die Sünde aller Sünden. Mir bleibt nur noch die Gewißheit, daß Jesa morgen auferstehen wird, hier in Jerusalem, wie die Schrift es vorhersagt. Mir bleibt nur noch, sie um Vergebung zu bitten. Mir bleibt nur noch die Aufgabe, ihren geheiligten Leichnam zu beschützen. Ich kann nicht gehen!« Feldman reichte Lazzlo die Hand. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Kommandant. Und seien Sie unbesorgt, wir werden diese Nachricht so schnell wie möglich verbreiten.« »Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet«, sagte Lazzlo und verabschiedete sich von den beiden Reportern mit einem herzlichen Händedruck. Auf dem Weg zur Tür zögerte Feldman. »Kommandant, wir müssen Kardinal Litti mitnehmen.« »Aber natürlich, tun Sie das«, bestärkte sie Lazzlo. »Die Evakuierung des Krankenhauses ist fast abgeschlossen, aber der Kardinal hat sich bisher geweigert zu gehen. Nehmen Sie ihn mit, aber beeilen Sie sich. Sie müssen dafür sorgen, daß die Informationen, die 562
Sie bei sich haben, besonders die Tomographieaufnahmen, sofort veröffentlicht werden. Vielleicht kann die Wahrheit dem Wahnsinn noch Einhalt gebieten.« Feldman schob das Beweismaterial in sein Hemd, und eine Wache begleitete sie zu Kardinal Litti. Sie fanden in kniend ins Gebet vertieft. »Alphonse«, rief ihm Feldman zu. »Wir müssen gehen.« Der Kardinal erhob sich langsam. »Werden Sie bei Sonnenaufgang bei mir sein – zur Auferstehung?« fragte er mit einem versonnenen Lächeln. »Nein, Alphonse, Sie verstehen nicht.« Feldman packte ihn an der Schulter. »Wir müssen gehen. Wir alle. Sie, ich und Hunter. In wenigen Augenblicken wird hier die Hölle los sein. Lassen Sie uns gehen, solange wir noch können!« Litti schüttelte standhaft den Kopf. »Nein, Jon. Sie sind es, der nichts versteht. Es gibt keinen sichereren Ort als diesen hier. Glauben Sie wirklich, Gott ließe sich ins Handwerk pfuschen?« Von draußen waren Schüsse zu hören. »Alphonse«, flehte Feldman. »Ich weiß nicht, was Gottes Absichten sind, aber wir können nicht länger warten. Sie müssen mit uns kommen. Sofort!« Verklärten Blickes schüttelte der Kardinal den Kopf. »Gentlemen!« rief der Wachsoldat vor der Tür. »Wir müssen weg von hier!« Hunter packte Feldman am Arm. »Komm, Mann, du verschwendest deine Zeit. Wir haben schließlich noch eine wichtige Mission zu erfüllen«, sagte er und klopfte auf das Beweismaterial unter Feldmans Hemd. Feldman nahm Litti in die Arme. »Gott schütze Sie«, sagte er. »Gott schütze Sie, mein lieber Freund«, antwortete der Kardinal. Als sie endlich das Dach erreichten, schlug ihnen beißender Rauch entgegen. Überall waren Gewehrschüsse zu hören. Der Hubschrau563
ber erwartete sie bereits mit laufendem Motor, und Korporal Lyman winkte sie aufgeregt heran. Blitzschnell warfen sie sich durch die Einstiegstür, der Hubschrauber hob ab, neigte sich leicht nach vorn, drehte um neunzig Grad und schwebte schnell davon. Der Pilot flog so tief wie möglich, um dem Gegner im Gegenlicht kein Ziel zu bieten, aber es nützte nichts. Die Maschine bebte unter den Einschlägen und schlingerte hin und her. Schwarzer Rauch drang in die Kabine. Der Pilot schrie etwas auf hebräisch, und Korporal Lyman rief Feldman und Hunter zu, die Sicherheitsgurte anzulegen, was ihnen in dem dicken Qualm jedoch nicht gelang. Der Hubschrauber vibrierte heftig und legte sich bedrohlich auf die Seite. Feldman wurde gegen die Wand gedrückt und spürte, wie Hunter ihn am Arm packte. Ihm war klar, daß sie abstürzten.
110 EIN VERLASSENES FELD, NORDISRAEL, 9 UHR 22, SAMSTAG, 22. APRIL 2000 Feldman konnte sich nicht an den Absturz erinnern. Als er spuckend und hustend zu sich kam, fühlte er etwas Kaltes auf seinem Gesicht, das ihn teilweise am Atmen hinderte. Als er wieder sehen konnte, merkte er, daß er in einem Schlammloch lag. Wenige Meter vor ihm ragten die rauchenden Trümmer des Hubschraubers in die Luft, dessen Rotoren sich noch drehten. Nirgends brannte es. 564
Der auslaufende Treibstoff, den er roch, hatte sich noch nicht entzündet. Er war aus der Maschine herausgeschleudert worden. Feldman kroch durch den Schlamm auf den Hubschrauber zu und rief nach Überlebenden. Aus dem zerschmetterten Rumpf der Maschine drang ein leises Stöhnen, und Feldman sah ein Bein daraus hervorragen. Er richtete sich auf, stemmte die Füße gegen den Rahmen, klemmte sich das heraushängende Bein unter den linken Arm und zog. Nach mehreren Versuchen kam die blutverschmierte Gestalt Hunters zum Vorschein. Feldman wischte sich den Schlamm von einem Finger und zog Hunters Augenlid hoch. Das Auge darunter bewegte sich. »Breck!« rief er. »Kannst du mich hören?« Hunter begann erneut zu stöhnen. »Komm, Breck, wach auf. Ich muß dich von dem Ding hier wegkriegen, bevor es in die Luft fliegt. Hilf mir!« Feldman war durch seine alten und vielleicht neuen Verletzungen so geschwächt, daß er nicht genug Kraft hatte, den großen Kerl weiter wegzuziehen. Endlich öffneten sich Hunters Augen einen Spalt. Er sah Feldman an, zog eine Grimasse und sagte: »Scheiße!« »Bist du schwer verletzt? Kannst du dich bewegen?« »Meine rechte Seite tut höllisch weh, aber wenn du mich auf die linke rollst, geht's vielleicht«, antwortete er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Was ist mit den anderen?« Feldman zog sich am Rumpf des Wracks hoch, so daß er stehen konnte, und sah sich um. Die Maschine war in einer dünnbesiedelten Gegend ein oder zwei Kilometer nördlich von der Klinik abgestürzt. Er konnte in der Ferne mehrere Leute ausmachen, die sich mühsam durch den Schlamm auf sie zubewegten. Offenbar hatte der Pilot hier eine Notlandung versucht, aber dabei die Kontrolle verloren. Der vordere Teil des Hubschraubers war vollkommen zerstört und hatte sich tief in den Schlamm gebohrt. Feldman war klar, 565
daß der Pilot nicht überlebt haben konnte. Mühsam schleppte er sich um den fast senkrecht in die Luft ragenden hinteren Teil der Maschine herum und spähte durch die offene Einstiegstür des Wracks. Alles, was er durch den noch in der Luft hängenden Rauch erkennen konnte, war ein blaugrauer Flughelm, unter dem dunkles Haar hervorquoll. Er kletterte in der Maschine hinein und kroch auf allen vieren zu Korporal Lyman hin. Vorsichtig versuchte er, seinen unverletzten Arm unter sie zu schieben, als er einen Schwall von warmem Blut fühlte. Er beugte sich über sie, um besser sehen zu können, und fuhr entsetzt zurück, als er sah, daß der Helm auf einer Seite wie eine Eierschale zerdrückt war. Schockiert wich er zurück und ließ den schlaffen Körper langsam aus seinen Händen gleiten. Von draußen hörte er Stimmen. Unter Qualen kroch er zur Einstiegstür zurück und sah hinaus. Vor ihm stand ein Mann mit einem stoppelbärtigen Gesicht, der eine Pistole auf ihn richtete. Feldman erschrak. »Was ist das?« fragte der Mann auf deutsch. Einigermaßen erleichtert darüber, daß der Mann kein israelischer Soldat sein konnte, preßte er seine verletzte Hand gegen den Magen. Das Beweismaterial war Gott sei Dank noch da und hoffentlich unversehrt. »Bitte, ich bin unbewaffnet«, sagte er. »Gogodermagog?« fragte der Stoppelbärtige. »Was?« »Sind Sie Gog oder Magog?« wiederholte er seine Frage. »Sind Sie für oder gegen Jesa?« Feldman begriff. Aber da er nicht wußte, in wessen Hände er gefallen war, wich er der Frage aus. »Ich bin Reporter. Jon Feldman, WNN News«, sagte er und zog seinen Ausweis aus der Westentasche. Der Stoppelbärtige bekam plötzlich große Augen und rief erfreut: 566
»Jon Feldman! Mein guter Freund Jon Feldman! Ich habe Sie gar nicht erkannt.« Der Deutsche half dem Reporter aus dem Wrack und rief seinen Begleitern zu: »Seht mal, das hier ist mein guter Freund Jon Feldman von World News Network!« »Mein Kollege ist verletzt«, unterbrach ihn Feldman. »Bitte, helfen Sie uns!« »Ja! Jon! Kennst du mich nicht mehr? Friedrich Vilhausen aus Hamburg! Wir sind uns beim Negev-Labor schon mal begegnet, in der Nacht von Gottes Hammer!« Feldman war sich nicht sicher, wer der Mann war, wollte aber den Glücksfall, daß er ausgerechnet ihm in die Hände gefallen war, nicht gleich wieder aufs Spiel setzen. »Natürlich. Ich bin so froh, dich zu sehen! Wir sind gerade von den Israelis abgeschossen worden. Ihr müßt uns helfen!« »Ja! Wir helfen. Komm.« Feldman war froh, als er sah, daß Hunter zu einem Platz in sicherer Entfernung gekrochen war, sich jetzt aufgesetzt hatte und mit den Männern von Vilhausen sprach. »Was seid ihr also, Gog oder Magog?« fragte Feldman bang, während der Deutsche ihn stützte. »Magog, natürlich!« kam die willkommene Antwort. »Wir sind zur Schlacht von Armageddon gekommen! Die Gogs kommen, um uns anzugreifen und Jesas Leiche zu rauben. Sie nehmen an, daß wir Jesa stehlen und die Auferstehung vortäuschen wollen. Aber wir werden sie schlagen, so wie es in der Bibel steht.« Hunter hatte sich beim Absturz stark blutende Verletzungen am rechten Oberschenkel und an der Schläfe zugezogen. Nachdem die Magogs ihn notdürftig verarztet hatten, sah er jedoch schon wieder viel besser aus. »Könnt ihr uns helfen, zu unserer Zentrale zurückzukommen?« wandte sich Feldman erneut an die Magogs. »Wir haben äußerst 567
wichtige Neuigkeiten über den Messias, die wir weitergeben müssen.« »Gerne, aber ich glaube, wir haben da ein Problem«, sagte Vilhausen und deutete mit dem Finger nach oben. Ein israelischer Militärhubschrauber näherte sich ihnen und steuerte direkt auf die Absturzstelle zu. Hunter bemerkte ihn ebenfalls. »Verdammt, Feldman, mach, daß du hier wegkommst!« Feldman ließ seinen Blick zwischen Hunter und dem Hubschrauber hin und her schweifen. »Nein, ich lass' dich hier nicht allein. Ich würde es sowieso nicht schaffen – in meinem Zustand.« Hunter protestierte, aber Feldman knöpfte sein Hemd auf, zog den Umschlag hervor und wandte sich an Vilhausen. »Friedrich, hör mir zu«, sagte er in beschwörendem Tonfall und sah den Deutschen eindringlich an. »In diesem Umschlag ist eine Botschaft über Jesa an die Welt. Eine außerordentlich wichtige Botschaft! Du mußt dich darum kümmern, daß sie an Nigel Sullivan von WNN, Ölberg 419 A, ausgeliefert wird, jetzt, sofort! Verstehst du! Alles hängt davon ab! Hast du verstanden?« Sprachlos vor Staunen nahm Vilhausen den Umschlag entgegen und nickte. Mühsam hielt Hunter eine Videokassette hoch und reichte sie dann ebenfalls dem überraschten Deutschen. »Hier, das habe ich auch noch aufgehoben. Das können Sie gleich mitnehmen.« »Beeilt euch, schnell«, rief Feldman. »Vier-neunzehn-A, Ölberg, Nigel Sullivan. Laßt uns nicht im Stich. Verratet Jesa nicht! Macht schnell!« Vilhausen und seine Männer machten sich auf den beschwerlichen Weg durch den Schlamm, während der Hubschrauber einmal über ihnen kreiste und dann näher kam. »Verdammt, Jon!« schrie Hunter seinem Freund zu. »Du kannst ihnen diese Informationen nicht anvertrauen. Du mußt mitgehen!« 568
Feldman humpelte langsam und qualvoll zu seinem Partner hinüber. »Tut mir leid, Mann, aber ich kann im günstigsten Fall mühsam gehen. In dem Dreck würde ich es einfach nicht schaffen.« Er hielt die Hand vor die Augen und schaute in die Sonne und zu dem Helikopter hoch, der auf sie zukam. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob Vilhausen es schaffen wird.« Unentschlossen schwebte der Hubschrauber zwischen der abgestürzten Maschine und den fliehenden Männern. Offenbar konnte sich die Besatzung nicht entscheiden, ob sie das Wrack untersuchen oder die Flüchtenden verfolgen sollte. Plötzlich steuerte der Helikopter auf Vilhausens Gruppe zu. Eine Gewehrsalve ertönte, Schlamm spritzte hoch, und einer von Vilhausens Männern fiel. Verzweifelt schwenkte Feldman die Arme in Richtung des Hubschraubers und zeigte auf das Wrack. »Die Scheißkerle!« schrie Hunter. »Haben sie unseren Boten erwischt?« »Nein, noch nicht!« brüllte Feldman zurück. Endlich ließ der Helikopter von der Verfolgung ab und drehte eine Schleife, um bei den Reportern aufzusetzen. Feldman ließ sich neben Hunter auf den Boden fallen. »Wie sieht's aus, Breck?« fragte er. »Ich weiß nicht. Ich sehe alles dreifach, in meinen Ohren klingelt es, und in meinem Bein ist ein Loch so groß wie ein Krater. Nicht so schlimm, würd' ich sagen.« Drei israelische Soldaten waren jetzt bei ihnen angekommen und hielten ihnen ihre Gewehre vors Gesicht. »Sie kommen mit uns«, sagte einer von ihnen. Zu viert mußten sie sich abmühen, bis sie den schwerfälligen Hunter in den Laderaum des Hubschraubers geschleppt hatten. Zwei weitere Israelis untersuchten vorsichtig das Wrack und eilten dann, ohne etwas gefunden zu haben, zu ihrer Maschine zurück. Der Hubschrauber hob ab. Feldman und Hunter mußten ihre Ausweise abgeben und durften 569
während des Flugs zur Kommandozentrale des IDF nicht sprechen. Nach der Landung wurden sie unsanft in einen großen Kasernenblock verfrachtet und vor die Tür eines Büros gezerrt, wo man sie trotz, ihres Zustandes warten ließ, während sie sich gegenseitig zu stützen versuchten. Endlich öffnete sich die Bürotür. Ihr alter Erzfeind Generaloberst Alleza Goene saß vor ihnen, neben ihm in einem roten, lederbezogenen Sessel ein anderer Mann. Ein kleinwüchsiger, leicht untersetzter Typ, etwa sechzig Jahre alt, mit sorgfältig gekämmtem grauem Haar und gekleidet in einen teuren Straßenanzug. Obwohl sie sich nie begegnet waren, erkannte ihn Feldman sofort. Die Wachen hielten die beiden Reporter fest an den Armen. »Na!« unterbrach Goene seine Unterhaltung, nicht unangenehm überrascht von dem mitgenommenen Zustand seiner Besucher. »Heute sitzen wir nicht auf dem hohen Roß, was?« spöttelte er. Feldman und Hunter hielten seinem Blick schweigend stand. Goene wies auf den Mann neben sich. »Gentlemen, erlauben Sie mir, Ihnen den Verteidigungsminister Israels, Shaul Tamin, vorzustellen.« Tamin blieb einfach sitzen. Mit kalten Augen musterte er die Journalisten. »Ihr Ehrgeiz erlaubt es Ihnen wohl nicht, ein Gewissen zu haben, meine Herren?« bemerkte Tamin mit klangvoller Stimme. Die Reporter betrachteten ihn argwöhnisch. »Dank Ihrer berühmten Berichte«, fuhr Tamin fort, »steht Israel kurz vor der Schlacht von Armageddon. Ich nehme an, Sie sind stolz auf diese Tat?« »Wir sind nur Journalisten, die versuchen, ihre Arbeit zu machen«, erwiderte Feldman trocken. »Journalisten?« Der Minister rümpfte die Nase. »Aha, so nennen Sie sich also. Sie gefährden Israels Sicherheit, zetteln Krawalle und Aufstände an, sorgen weltweit für ein Klima von Angst und Ver570
zweiflung – und das alles im Namen eines guten Journalismus! Verstehe. Was für Profis Sie doch sind.« Hunter befreite sich aus dem Griff des Wachmanns. »Und ich nehme an, Sie sind nur zwei ergebene Patrioten, was? Sie haben den feigen Mord einer schutzlosen, schwachen Frau geplant – alles im Namen der Politik. Was für Scheißkerle Sie doch sind!« Feldman griff warnend nach dem Arm seines Freundes. Goenes selbstzufriedenes Grinsen verschwand, aber Tamin zeigte keine Reaktion. »Also«, sagte der Minister nach einer kurzen Pause, »sehen wir doch einmal, wie gut Ihnen heute Ihr Talent zum Aufspüren der Wahrheit gedient hat.« Er stand auf, glättete sein Jackett, trat vor den Schreibtisch und stützte sich leicht auf dessen Kante, während er den schlammbedeckten Reportern gegenüberstand. »Ich habe nur ein paar Fragen an Sie, die die Sicherheit des Staates Israel betreffen«, stellte er nüchtern fest. »Wenn Sie sich zu diesen Themen lückenlos und aufrichtig äußern, werde ich Ihre Verletzungen behandeln lassen und Sie sofort auf freien Fuß setzen. Man sieht Ihnen an, daß Sie Schmerzen haben.« Er klang aufrichtig besorgt. Hunter richtete sich ein wenig auf und verschränkte die Arme. »Zuerst möchte ich wissen, was Sie beide im Hadassah Hospital zu schaffen hatten«, begann Tamin. »Ein Krankenbesuch«, antwortete Hunter. Goene schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück. »Sie sind hier nicht bei einem Kaffeekränzchen, Sie Klugscheißer!« knurrte er, aber Tamin hob beschwichtigend die Hand, und Goene hielt sich zurück. »Ich frage Sie noch einmal«, sagte der Minister ruhig. »Warum waren Sie im Hadassah Hospital?« »Also sehen Sie«, begann Hunter erneut und ignorierte Feldmans diskrete Versuche, ihn zu stoppen, »ich hab' mir gedacht, ich könn571
te mich beschneiden lassen, damit ich ein Andenken an Goene habe …« Goenes Gesicht lief rot an, und er gab dem Wachsoldaten ein Zeichen. Hunter spürte den Schlag eines Gewehrkolbens am Ansatz der Wirbelsäule und brach augenblicklich zusammen. Als Feldman versuchte, ihm zu helfen, wurde er an seinem verletzten Arm gepackt und dazu gezwungen, gerade zu stehen. »Du feiger Scheißkerl!« schrie Feldman Goene haßerfüllt an. »Sie sind dran.« Goene zeigte auf Feldman, und Feldmans Wache hob drohend das Gewehr hoch. In diesem Moment sagte Hunter durch seine zusammengepreßten Zähne: »Wir waren dort, um Jesas Leiche zu sehen.« »Hunter, nein!« zischte Feldman. »Wir haben doch nichts dadurch zu gewinnen, daß wir die Wahrheit verschweigen«, stöhnte Hunter. »Sag's ihnen doch einfach!« Goene entspannte sich etwas in seinem Stuhl, und Tamin nickte zufrieden. »Hat Kommandant Lazzlo Sie dorthin gebeten?« fragte der Minister. »Ja«, antwortete Feldman und übernahm zögernd die Gesprächsführung. »Und er hat sie heute morgen mit dem Hubschrauber dorthin bringen lassen?« fragte der Minister. »Ja.« »Haben Sie die sterblichen Überreste gesehen?« »Ja.« »War die Autopsie zu diesem Zeitpunkt schon durchgeführt worden?« »Nein.« »Woher wissen Sie das?« »Weil ich, wie ich schon sagte, den Leichnam gesehen habe.« »Das will noch lange nichts heißen«, erklärte Tamin. 572
»Und ich habe Computertomographieaufnahmen von ihr gesehen.« Das schien Tamin sehr zu interessieren. »Die werden normalerweise vor einer Autopsie gemacht. Also wurde doch eine Autopsie durchgeführt!« »Nein. Sie stellten jedes weitere Vorgehen nach der Computertomographie ein.« Tamin sah den Reporter durchdringend an. »Sie haben nichts mehr unternommen? Warum?« »Weil sie auf den Aufnahmen sahen, daß in ihrem Gehirn keine Mikrochips waren.« Goene sprang wutentbrannt auf. »Sie lügen!« Er gab dem Wachsoldaten wieder ein Zeichen, und Feldman brach unter dem Schlag gegen das Steißbein zusammen. Sein ganzer Körper schmerzte, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Irgendwo am Rande seines gepeinigten Bewußtseins hörte er Hunter einen Schwall von Flüchen ausstoßen. Tamin rügte Goene. »Das reicht, ich nehme das selbst in die Hand.« Als die Schmerzen nachließen, nahm Feldman wahr, daß sich jemand ganz dicht neben ihm befand. Es war Tamin, der sich hingekniet hatte und ihm direkt ins Gesicht sah. »Mr. Feldman, es tut mir leid. Ich denke, der General meint, daß Sie nicht ganz aufrichtig waren.« »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich auf den Aufnahmen nichts Außergewöhnliches gesehen habe. Aber ich bin kein Arzt!« erwiderte Feldman. »Natürlich. Sie sagen also, Sie haben Aufnahmen vom Inneren ihres Gehirns gesehen, und es gab keine Anzeichen für irgendwelche Mikroschaltkreise oder Drähte?« »Das ist korrekt.« Feldman atmete tief durch und prüfte vorsichtig seine Glieder, die sich völlig taub anfühlten. »Wie können Sie sicher sein, daß die Mikrochips nicht schon ent573
nommen waren oder daß das, was Sie sahen, nicht das Gehirn einer anderen Person war?« »Weil die Aufnahmen zusammenhängend waren und an einem Stück abliefen. Sie erfaßten den Körper von allen Seiten und in dreidimensionaler Darstellung. Und sie zeigten jedes innere Organ, führten in den Körper hinein, Schicht um Schicht, so daß man alles in jeder gewünschten Vergrößerung sehen konnte. Es war fraglos Jesas Körper.« »Aber woher nehmen Sie die Sicherheit, daß die Chips nicht schon vorher entfernt worden waren?« »Ich sah eine Großaufnahme von ihrem Kopf und ihrem Schädel. Zumindest hätte ich die Einschnitte gesehen. Sie war völlig normal. Keine Einschnitte, keine Chips. Nichts!« Tamin erhob sich, kehrte hinter den Schreibtisch zurück und dachte nach. »Er lügt!« schrie Goene. »Sie stecken mit Lazzlo unter einer Decke. Ich bin sicher, daß Lazzlo sie vor der Durchsuchung im Januar gewarnt hat. Und bestimmt war es Lazzlo, der dem Vatikan das Tagebuch zugespielt hat. Er hat die ganze Zeit gegen uns gearbeitet und auf beiden Seiten mitgespielt. Und jetzt hat der Verräter die Chips, und diese Dreckskerle machen gemeinsame Sache mit ihm!« Als wäre ihm etwas eingefallen, kehrte Tamin wieder zu den am Boden liegenden Männern zurück. »Hat Kommandant Lazzlo Ihnen etwas gegeben, das Sie aus dem Krankenhaus mitgenommen haben?« »Nein«, log Feldman. Tamin beugte sich über Feldman. »Denken Sie gut nach«, warnte er ihn. »Hat irgend jemand Ihnen ein Päckchen gegeben? Einen Umschlag? Eine Kassette? Irgend etwas?« »Nichts!« versicherte Feldman. »Wissen Sie, wo die Mikrochips geblieben sind?« »Ich sage Ihnen doch«, widersprach Feldman, »es gibt keine 574
Mikrochips!« Tamin richtete sich wieder auf und wandte sich zur Tür. »Ja. Und ich nehme an, Jesas Fähigkeit, zahlreiche verschiedene Sprachen zu sprechen und ihr immenses Wissen waren Manifestationen ihrer Göttlichkeit? Ist es so?« Feldman schwieg. Goene ging zu Tamin hinüber. »Wir sind dabei, die anderen Verunglückten sowie den Hubschrauber selbst zu untersuchen.« Der Minister nickte. »Sehr gut, General Goene. Die Gefangenen gehören Ihnen. Wenn sie die Chips versteckt halten, möchte ich, daß sie gefunden werden. Veranlassen Sie das Notwendige.« Tamin verließ den Raum, und Goene wandte sich mit einem überlegenen Grinsen an seine Gefangenen. »Bringt sie hinunter«, wies er die Wachen an. »Zieht sie aus, nehmt jeden Quadratzentimeter ihrer Kleider auseinander, ebenso ihre Schuhe, ihre Uhren. Alles. Untersucht ihre Körper. Jede Falte, jede Öffnung. Ich will, daß sie ununterbrochen bewacht werden. Verabreicht ihnen Brechmittel, und passiert das Erbrochene durch ein Sieb. Gebt ihnen Abführmittel und untersucht den Stuhlgang der nächsten zwölf Stunden bis aufs letzte Detail. Egal, ob ihr die Chips bis morgen früh gefunden habt oder nicht, bringt sie in den Hof hinunter und erschießt sie als Spione. Dann verbrennt die Leichen. Und ich erwarte strenge Geheimhaltung!« Goene trat noch einmal zu ihnen, ging in die Hocke und beugte sich tief über die zwei gebrochenen Männer. »Letzten Endes, Gentlemen, glaube ich, daß das Schwert doch stärker ist als die Feder. Meinen Sie nicht auch?«
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111 IDF-MILITÄRSTÜTZPUNKT DAYAN, JERUSALEM, ISRAEL, 4 UHR 13, SONNTAG, 23. APRIL 2000 Feldman und Hunter saßen nackt und frierend auf dem nassen Boden ihrer Zelle und hielten ihre Knie fest umklammert. Sie hatten eine lange, erniedrigende Nacht hinter sich. Die beiden Männer litten unter den unbehandelten Wunden, und zusätzlich waren ihre Körper durch die verschiedenen Mittel, die man ihnen gegeben hatte, völlig dehydriert. Sogar in diesem tiefgelegenen, fensterlosen Verlies hörten sie die Kampfgeräusche, die von draußen hereindrangen. Die ganze Nacht hindurch hatte das Knallen von Gewehrschüssen angehalten. »Hältst du's durch, Breck?« fragte Feldman mit dem Kopf zwischen den Knien. Keine Antwort. »Komm, alter Freund«, versuchte er ihn zu ermutigen, »du mußt dich zusammenreißen. Warum verschwendest du deine Energie mit sinnloser Wut, anstatt mit mir nach einem Weg zu suchen, wie wir hier rauskommen?« »Weil wir hier nicht rauskommen werden, Mann«, knurrte Hunter. »Jedenfalls nicht lebend.« »So ist's recht!« schimpfte Feldman. »Verdammte Scheiße! Ich schwöre bei Gott, für fünf Minuten mit dem Saukerl Goene würde ich meine unsterbliche Seele opfern!« Feldman seufzte. »Na komm, Mann, das lohnt sich doch nicht …« »Verfluchter Scheißkerl!« brüllte Hunter wieder und hämmerte mit 576
der Faust auf den Boden der Zelle. »Ich schwör's bei Gott, Jon, wenn wir hier rauskommen, jag' ich den Schuft, und wenn ich ihn bis in die Hölle verfolgen muß. Und so wahr mir Gott helfe, ich schlag' ihn tot!« Hunter sah zur Decke hoch. »Gib mir nur die eine Chance, sonst verlange ich nichts, und dann kannst du meine verdammte Seele haben. Nur eine Chance!« Hunters Geschrei hatte die Aufmerksamkeit eines Wachsoldaten geweckt. »Halt's Maul da drin, sonst kühle ich dich mit dem Schlauch ab!« schnauzte er. »Bitte«, fragte Feldman flehend, »kann uns jemand sagen, wieviel Uhr es ist?« »Viertel vor fünf«, rief die Wache zurück. Der Sonnenaufgang – und das Erschießungskommando – kamen näher. Noch einmal versuchte Feldman, den Wachsoldaten zu erweichen. »Könnten wir vielleicht jetzt heißen Kaffee und eine Decke haben? Ihr wißt doch, daß wir nichts bei uns versteckt haben. Und todsicher ist auch nichts mehr in uns drin!« Die zwei Wachen, die vor der Zelle an einem Tisch saßen, tauschten Blicke. Nach einer kurzen Unterredung wurden zwei alte, schmutzige Leintücher in ihre Zelle geworfen. Ein paar Augenblicke später wurden zwei Tassen mit einem dampfenden Gebräu durch die Gitterstäbe geschoben. In ihre Tücher eingewickelt stürzten die beiden Gefangenen den Kaffee hinunter, bedankten sich nachdrücklich bei ihren Wächtern und baten um mehr. Ihre Bitten wurden erfüllt, und sie bekamen auch zwei Brötchen. Man erfüllte ihnen ihren letzten Wunsch, nahm Feldman an. Seine Vermutung wurde bald bestätigt. Als sie fertig gegessen hatten, kam der Augenblick, den sie so sehr gefürchtet hatten: Sie hörten Stiefel die Steinstufen heruntereilen und Schlüssel klirren. Geräusche, die ihre bevorstehende Exekution ankündigten.
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112 HADASSAH HOSPITAL, JERUSALEM, ISRAEL, 4 UHR 47, SONNTAG, 23. APRIL 2000 Kardinal Litti kniete auf dem harten, kalten Betonboden vor dem Kellerraum, in dem die Verstorbene aufgebahrt lag. Unbeweglich standen auf beiden Seiten der geschlossenen Tür zwei Wachposten. Kommandant Lazzlo hatte Littis unaufhörlichem Bitten endlich nachgegeben und dem Kardinal Zutritt zu dem abgesperrten Bereich gewährt. Litti war seit Einbruch der Dunkelheit hier und erwartete betend die vorausgesagte Auferstehung. Die lange Wache hatte dem alten Mann erheblich zugesetzt. Die Glieder des Geistlichen waren verkrampft, und er war völlig übermüdet. Aber er war nur allzu bereit, diese Unbequemlichkeiten zu ertragen, um den höchsten Triumph über den Tod und das Böse mitzuerleben, denn das war die größte Ehre, die Gott einem Menschen gewähren konnte. Als die Stunde der Morgendämmerung näher kam, wurde Litti dennoch zunehmend nervös. Die ganze Nacht hatte er beim gedämpften Geräusch der Schüsse und Kämpfe, die um ihn herum tobten, standhaft an seinem Glauben an den Messias festgehalten. Und das trotz der nagenden Zweifel, die ein listiger Teufel in die fernsten Winkel seiner Seele gesät hatte. Littis einzige Ablenkung war Kommandant Lazzlo, der in den Kampfpausen gelegentlich vorbeikam, da er Littis inbrünstige Hoffnung auf die Auferstehung teilte. Diesmal allerdings kam Lazzlo, begleitet von mehreren Soldaten, 578
aus einem anderen Grund. »Eure Eminenz, es tut mir leid«, keuchte er besorgt. »Die Gogs sind in den Westflügel eingedrungen. Sie müssen jetzt den Korridor verlassen, bis wir ihn abgesichert haben.« Der Kardinal erbleichte. »Jetzt weggehen? Undenkbar! Es ist fast Morgen!« »Ich weiß, Kardinal, und ich fühle mit Ihnen, aber wenn wir diesen Korridor nicht absichern, gibt es vielleicht keine Auferstehung. Die Gogs sind nicht wie Goenes Truppen. Sie wollen Jesas Körper vernichten. Sie werden Sprengstoff benutzen. Sie müssen gehen, bis wir den Bereich abgesichert haben. Wir haben noch eine Stunde bis Sonnenaufgang.« Lazzlo gab den Wachen an der Tür ein Zeichen, und sie ergriffen den verzweifelten Litti unter den Achseln und halfen ihm auf die Beine. »Ich flehe Sie an, Kommandant!« rief der Kardinal, aber vergeblich. Lazzlo war schon fort, unterwegs zum Westflügel. Tatsächlich hatten Litti und seine Begleiter kaum das Treppenhaus erreicht, als eine Explosion die Korridore erschütterte. Der Kardinal sprach ein Gebet, als die Stützwände des Fundaments bedrohlich bebten.
113 IDF-MILITÄRSTÜTZPUNKT DAYAN, JERUSALEM, ISRAEL, 5 UHR 15, SONNTAG, 23. APRIL 2000 Vor ihrer Zelle vernahmen Feldman und Hunter einen aufgeregten hebräischen Wortwechsel zwischen den Wachen und den vier soe579
ben angekommenen Soldaten. Die lebhafte Diskussion dauerte mehrere Minuten. Von draußen drang das Geräusch heranmarschierender Truppen herein, der Kampflärm jedoch hatte aufgehört. Dann schloß plötzlich einer der Wachsoldaten die Tür auf und verkündete mit tonloser Stimme: »Sie können gehen.« Während die vier Soldaten wieder abzogen, packten die Wachen hastig ihre Sachen zusammen. »Bitte«, drängte Feldman, »was ist los?« »Wir stehen unter Kriegsrecht«, erklärte einer der Wachsoldaten. »Die Knesset hat heute früh in einer Sondersitzung den IDF aufgelöst. Gegen Verteidigungsminister Tamin und General Goene sind Haftbefehle erlassen worden.« Hunter und Feldman brachen in Jubel aus. »Was legt man ihnen zur Last?« fragte Feldman. »Verrat, Verschwörung und Beihilfe zum Mord, so habe ich gehört. Wir haben den Befehl für Ihre Freilassung direkt von der Knesset bekommen. Goene und Tamin sind geflohen. Wir wurden angewiesen, den Stützpunkt aufzugeben und uns einer Inspektion zu unterziehen.« Völlig überwältigt von der Wende ihres Schicksals stolperten Feldman und Hunter nach oben und humpelten zum nächsten Ausgang. Mit Blut und Schmutz bedeckt und nur in ihre schmutzigen Leintücher gehüllt, traten sie aus der Kaserne in das helle Licht des Sonnenaufgangs. Draußen auf dem Übungsplatz waren die Soldaten aus der Kaserne angetreten und hörten die Befehle ihrer neuen Vorgesetzten. »Ich kann nicht glauben, daß es tatsächlich vorbei ist«, flüsterte Hunter. »Irgend etwas sagt mir, daß es noch nicht vorbei ist«, antwortete Feldman. Ein Offizier in einem Jeep fuhr vorbei. Als er Feldman sah, rief er seinem Fahrer etwas zu. Dieser bremste und stieß zurück, bis er vor 580
dem Eingang zu stehen kam. Dann erteilte der Offizier einer Einheit einen Befehl auf Hebräisch, woraufhin die zwei Reporter sofort von Soldaten umzingelt waren. »O Gott!« stöhnte Hunter. »Nicht schon wieder!« Aber dieses Mal wurden die beiden Männer statt in eine Zelle zur Krankenstation des Stützpunkts gebracht, wo sie ein ordentliches Frühstück bekamen und heiß duschen konnten. Nachdem ihre Wunden versorgt waren, brachte man sie ins Dienstzimmer jenes Offiziers, dem sie all die Annehmlichkeiten zu verdanken hatten. Der Mann sagte etwas in die Sprechanlage, erhob sich und streckte den beiden Männern die Hand entgegen. Weder Hunter noch Feldman ergriffen sie. »Was, zum Teufel, ist hier eigentlich los?« verlangte Hunter zu wissen. »Sie haben kein Recht, uns hier festzuhalten.« »Wir sind amerikanische Staatsbürger«, fügte Feldman hinzu. Der Offizier nickte verständnisvoll und bot ihnen mit einer Handbewegung Platz an. »Sie sind nicht verhaftet«, teilte der Kommandant ihnen mit und setzte sich wieder. »Sie sind nur vorübergehend in Schutzhaft, bis ich etwas geklärt habe. Ich erwarte jeden Moment Bescheid.« Feldman beruhigte sich etwas. »Wollen Sie uns nicht endlich sagen, was los ist?« »Ich bin noch nicht ganz auf dem laufenden«, informierte sie der Offizier, »im Augenblick ist einiges unklar. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß.« Die beiden Reporter setzen sich, und der Offizier fuhr fort: »Wie Sie vielleicht schon erfahren haben, befindet sich die Stadt seit vierundzwanzig Stunden im Kriegszustand. Wir haben bereits mehrere tausend Tote. Die heftigsten Kämpfe fanden rund um das Hadassah Hospital statt, das General Goenes Truppen gestern vormittag zu stürmen versuchten. Kommandant Lazzlos Männer konnten sie mit Hilfe von Jesas Anhängern den ganzen Tag lang abwehren. Dann, 581
etwa um halb neun gestern abend, durchbrachen Jesas Gegner, die für das Massaker bei Megiddo verantwortlich sind, unsere Stellungen im Norden Jerusalems und rückten auf das Krankenhaus vor. Sie hatten nur ein einziges Ziel: das Hospital in Schutt und Asche zu legen. Dementsprechend gingen sie auch vor. Goene kam zwar mit Verstärkung, lehnte es aber ab, die Klinik mit Granaten zu beschießen oder zu bombardieren. Jetzt wissen wir, daß er hinter den Neurochips von Leveque her war und nicht riskieren wollte, daß sie vernichtet wurden. Lazzlos Männer wurden unterdessen immer weiter zurückgedrängt. Etwa um vier Uhr morgens brachte WNN dann einen Sonderbericht mit jenen Informationen, die Sie aus dem Hadassah Hospital herausgeschmuggelt hatten.« Feldman und Hunter bekamen leuchtende Augen. »Aber offenbar«, nahm der Offizier seine Erklärung wieder auf, »war die Regierung Ben-Miriam von Ihrem Sender schon viel früher direkt unterrichtet worden und hatte mitten in der Nacht eine Dringlichkeitssitzung der Knesset einberufen. Auf der Grundlage des Beweismaterials wurde der IDF direkt der Befehlsgewalt der Knesset unterstellt und Haftbefehle für das gesamte Oberkommando des IDF erlassen. Daraufhin ließ Goene seine Truppen im Stich und flüchtete. Seine Einheiten wurden von der Klinik abgezogen. Es gelang Jesas Gegnern, einen Flügel des Krankenhauses zu stürmen. Kurz darauf traten sie allerdings plötzlich den Rückzug an, wahrscheinlich als Reaktion auf den Fernsehbericht. Lazzlo und sein Regiment haben sich immer noch in der Klinik verbarrikadiert, und Premierminister Ben-Miriam versucht in diesen Minuten, mit ihm zu verhandeln.« »Wo sind Tamin und Goene?« wollte Hunter wissen. »Wir wissen es nicht genau. Tamin verließ sein Anwesen schon, bevor der Haftbefehl erlassen wurde, zweifellos war er gewarnt worden. Goene soll ihn in einem IDF-Hubschrauber abgeholt haben. Ihr Ziel kennen wir nicht, und bis jetzt haben wir nichts weiter von 582
ihnen gehört.« Hunter nickte. »Deshalb also sind wir in Schutzhaft. Sie gehen davon aus, daß Tamin und Goene immer noch hinter uns her sind.« »Zum Teil«, gab der Offizier zu. »Premierminister Ben-Miriam hat meine Einheiten hierher geschickt, um diesen Stützpunkt zu sichern. Meine Aufgabe ist es, für Ihre Sicherheit zu sorgen und die Regierung so bald wie möglich zu unterrichten, wenn Sie in der Lage sind …« Eine Stimme aus der Sprechanlage unterbrach ihn. Der Kommandant sah auf und verkündete: »Gentlemen, das ist der Anruf, auf den ich gewartet habe. Es ist für Sie, Mr. Feldman. Premierminister Eziah Ben-Miriam wünscht Sie persönlich zu sprechen.« Der Offizier reichte Feldman den Hörer. »Hallo?« »Hallo, Mr. Feldman«, begrüßte ihn der Premierminister. »Ich bin sehr erleichtert, zu erfahren, daß Sie und Ihr Kollege Mr. Hunter in Sicherheit und gesund sind. Wir haben uns große Sorgen gemacht.« »Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen, die Sie unsertwegen unternommen haben. Sie haben uns zweifellos das Leben gerettet.« »Leider«, bemerkte Ben-Miriam nüchtern, »konnten wir viele Menschen nicht mehr retten, die in diesem sinnlosen Kampf umgekommen sind. Und das ist der Grund meines Anrufs. Der Staat Israel braucht ein letztes Mal Ihre Hilfe, um dem unsinnigen Blutvergießen ein Ende zu setzen.« Feldman tat einen tiefen, bangen Atemzug und beantwortete Hunters fragenden Blick mit einem Stirnrunzeln. »Was können wir für Sie tun, Herr Premierminister?« »Mr. Feldman, wir bemühen uns in diesem Augenblick um eine friedliche Beilegung der verfahrenen Situation im Hadassah Hospital. Kommandant Lazzlo ergibt sich unseren Truppen nicht, und wir befürchten das Schlimmste. Der Kommandant weigert sich, mit irgend jemandem von uns zu verhandeln, außer mit Ihnen und Mr. 583
Hunter. Er vertraut nur Ihnen beiden. Ich weiß, was Sie hinter sich haben, aber ich glaube, wir haben keine andere Wahl.«
114 AM HIMMEL ÜBER JERUSALEM, ISRAEL, 9 UHR 55, SONNTAG, 23. APRIL 2000 »Was glaubst du, was Lazzlo will?« fragte Hunter während ihres Fluges zum Hadassah Hospital. Nervös hantierte er an der Kamera, die das Militär ihm zur Verfügung gestellt hatte. »Eine aufgezeichnete Aussage, bevor er sich in sein Schwert stürzt?« »Vielleicht sollen wir nur die Kapitulation überwachen, um seinen Soldaten Sicherheit zu gewährleisten«, antwortete Feldman zögernd und sah zu den Truppen hinab, die das Hadassah Hospital umstellt hatten. Nach ihrer Landung wurden sie zu Lazzlos Bunker gebracht, der aus strategischen Gründen neben dem Leichenkeller lag. Lazzlo erwartete sie bereits vor der Tür. Er sah genauso erschöpft aus wie seine Besucher. Er entließ seine Wachen, um mit den Reportern allein zu reden. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie gekommen sind, Gentlemen«, begrüßte sie Lazzlo niedergeschlagen. »Besonders nach dem, was Sie seit Ihrem letzten Besuch hier durchgemacht haben.« »Ist Kardinal Litti in Sicherheit?« fragte Feldman besorgt. »Ja. Er ruht sich ein wenig aus. Die Nacht war auch für ihn sehr 584
anstrengend, fürchte ich.« »Es tut mir leid, daß Ihre Hubschrauberbesatzung umgekommen ist«, erklärte Feldman. »Sie waren beide sehr tapfer.« »Ja«, sagte Lazzlo mit traurigen Augen. »Sie konnten das natürlich nicht wissen, aber Korporal Illa Lyman war meine Tochter. Mein einziges Kind.« Feldman sah zu Hunter hinüber, der betroffen ins Leere starrte. »Unser tiefstes Mitgefühl, Sir«, brachte er mit zugeschnürter Kehle hervor. »Sie hat uns das Leben gerettet. Ohne sie und Ihren Piloten wären die entscheidenden Informationen nie zur Knesset gelangt.« »Leider, haben auf allen Seiten gute Leute ihr Leben verloren«, meinte Lazzlo wieder etwas gefaßt. »Das ist wahr, Kommandant«, erwiderte Feldman und ergriff die Gelegenheit, um auf ihre eigentliche Mission zu sprechen zu kommen. »Finden Sie nicht, daß es an der Zeit ist, diese sinnlose Tragödie zu beenden?« »Ja«, stimmte Lazzlo zu. »Das ist der Grund, weshalb ich Sie noch einmal hergebeten habe. Es gibt da noch etwas, das Sie dokumentieren müssen. Danach bin ich bereit, mich zu ergeben.« Der Kommandant machte inzwischen einen völlig kraftlosen Eindruck, und Feldman beschlich ein ungutes Gefühl. »Bitte, kommen Sie mit«, sagte Lazzlo und führte sie zu jenem Raum, in dem Jesas Leichnam aufgebahrt worden war. Er befahl den Wachtposten, zur Seite zu treten, und winkte Feldman und Hunter zu der Metalltür heran, die einen Spalt offenstand. Als Feldman mit klopfendem Herzen in das Halbdunkel des Raumes hineinsah, war er nicht allzusehr überrascht, daß er leer war. Jesas Leichnam war verschwunden. Auf der Bahre lagen nur noch die Leintücher, die sie bedeckt hatten. Feldman rang nach Luft, trat zurück und sah den Kommandanten prüfend an. »Wo ist sie?« fragte er mit unsicherer Stimme. »Ich weiß es nicht«, antwortete Lazzlo leise. »Wir haben das Kran585
kenhaus gründlich durchsucht. Sie ist nicht hier.« »War irgend jemand bei der Auferstehung dabei?« fragte Hunter. »Oder hat sie tatsächlich jemand lebend gesehen?« »Nein«, erwiderte Lazzlo. »Niemand war hier, als es geschah, und niemand hat sie gesehen. Diesmal habe ich leider keine überzeugenden Beweise. Aber ich habe doch etwas Interessantes, das ich Ihnen zeigen wollte.« Er deutete auf die Überwachungskameras an der Decke. Sie gingen zu Lazzlos Büro zurück, wo zwei Monitore aufgestellt waren. »Ich habe Aufnahmen aus den verschiedenen Perspektiven der Überwachungskameras«, erklärte Lazzlo und fing an, die Bänder abzuspielen. Auf den beiden Monitoren erschien das Bild von einer verhüllten, weiblichen Gestalt, aufgenommen aus zwei sich gegenüberliegenden Perspektiven. »Wie Sie sehen«, erklärte Lazzlo und zeigte auf die linke untere Ecke der Bildschirme, »hat jedes Band Datum und Uhrzeit aufgezeichnet, so daß man genau sagen kann, wann was passiert ist.« Die Bänder zeigten das Datum und die Uhrzeit: 23.4./3:17:24. Lazzlo spulte beide Bänder im Schnellauf vor, bis die Ziffern 5:14:30 erschienen. Dann ließ er die Bänder in normaler Geschwindigkeit weiterlaufen. »Jetzt, passen Sie genau auf.« Um 5:14:54 wurde der Raum von einem gleißenden Blitz erhellt, der sich in die Kameras einbrannte, so daß für längere Zeit der Bildschirm weiß war. Um 5:15:46 lieferten die Kameras wieder ein normales Bild. Aber es hatte sich verändert. Die Tücher auf dem Tisch waren zurückgeschlagen, die Tür war angelehnt, und Jesa war weg. »Gibt es auch Ton dazu?« fragte Feldman. »Nein«, antwortete Lazzlo. »Wir haben hier nur normale Überwachungskameras.« Lazzlo ließ die Bänder noch einmal in Zeitlupe laufen, um das letzte Bild vor dem Blitz noch einmal genauer anzuschauen. »Von 586
diesem Blickwinkel aus kann man die Tür sehen. Wie Sie sehen, ist die Tür geschlossen. Der Blitz kommt, während die Tür noch zu ist!« Als das Band noch einmal durchlief, warf Feldman Hunter einen fragenden Blick zu. Hunter runzelte die Stirn und schüttelte fassungslos den Kopf. »Na ja, es kann kein Stromstoß gewesen sein; denn die Uhren haben die ganze Zeit über normal funktioniert. Die Störung, was immer es war, muß wohl irgendeine Art von hellem Licht gewesen sein.« Feldman und Hunter verstummten beide. Endlich brach Feldman das Schweigen. »Wann haben Sie bemerkt, daß sie verschwunden ist, Kommandant?« »Erst etwa zwanzig Minuten nach fünf«, sagte Lazzlo. »Jesas Gegner waren in einen Flügel des Krankenhauses eingedrungen, und wir schickten alle Männer, die wir erübrigen konnten, dorthin, um sie zurückzudrängen. Auch unsere Wachen vor dem Leichenkeller und in den benachbarten Korridoren mußte ich abziehen und Kardinal Litti in den Ostflügel bringen lassen. Als meine Soldaten zurückkamen, war Jesas Leichnam verschwunden, und der Raum war genauso, wie Sie ihn jetzt gesehen haben. Wir haben nichts angerührt, und die Wachen wurden sofort wieder vor der Tür postiert.« »Moment mal!« unterbrach Hunter. »Wenn gegnerische Truppen in das Krankenhaus eingedrungen sind, ist es dann nicht möglich, daß jemand hier hereinkam und die Leiche gestohlen hat?« »Ich kann nicht sagen, daß das unmöglich ist«, gab Lazzlo zu. »Aber soweit ich weiß, ist niemand durch unsere Verteidigungslinie durchgekommen. Auch wenn wir annehmen, daß jemand eingedrungen ist, hätten sie unsere Kampflinie auf dem Rückweg wieder passieren müssen. Das wäre schon ohne die Last eines Toten schwierig genug gewesen. Und dann ist da ja auch noch dieser seltsame Blitz auf den Überwachungsvideos.« 587
»Wenn jemand es geschafft hat hineinzukommen«, gab Feldman zu bedenken, »hätte er vielleicht die Tür zu Jesas Zimmer einen kaum wahrnehmbaren Spalt öffnen und mit einer hellen Lichtquelle hineinleuchten können …« »Ja, es gibt schon andere Erklärungsmöglichkeiten«, unterbrach ihn Lazzlo. Allerdings war ihm anzusehen, daß er selbst nicht daran glaubte. »Doch davon abgesehen, möchte ich Sie und Ihren Kollegen bitten, alle Beweise und Hinweise, die Sie hier finden, aufzuzeichnen, bevor andere, die nach mir kommen werden, die Wahrheit mit Absicht oder auch unabsichtlich vernichten oder verfälschen. Sie haben das Vertrauen der Öffentlichkeit. Die Fakten, die Sie sammeln, wird niemand anzweifeln. Ich möchte Ihnen auch die beiden Überwachungsvideos mitgeben.« »Natürlich«, stimmte Feldman zu. Während Lazzlo die Bänder bereitlegte und Hunter Videoaufnahmen von dem Raum machte, in dem die Leiche gelegen hatte, ließ Feldman die Ereignisse der letzten Tage noch einmal Revue passieren. Es war ihm jedoch unmöglich, zu einer befriedigenden Erklärung zu gelangen. Er nahm die Bänder von Lazzlo entgegen und sagte: »Kommandant, was können wir tun, um Ihnen bei den Verhandlungen mit der Regierung den Rücken zu stärken?« Lazzlo sah Feldman mit einem resignierten Lächeln an. »Für mich müssen Sie nichts mehr tun, mein Freund. Mein Schicksal ist schon entschieden. Ich muß die Konsequenzen meiner Taten tragen.« Er seufzte schwer. »Es macht keinen Unterschied mehr. Ich bin zu spät gekommen, um den Messias um Vergebung zu bitten. Die Behörden mögen mit meinen sterblichen Überresten tun, was sie wollen, über mich bestimmt jetzt eine höhere Macht.« »Ich nehme an, Sie wissen, daß Tamin und Goene verschwunden sind?« fragte Feldman in die andächtige Stille hinein, die nach Lazzlos letzten Worten entstanden war. »Sie sind nicht verschwunden«, stellte Lazzlo sachlich fest. »Die 588
Regierung weiß nur nicht, wo sie sie suchen soll.« »Aber Sie wissen es?« Hunter ließ schlagartig seine Kamera sinken und kam zu Lazzlo herüber. »Ich kann es mir ungefähr denken. Tamin und Goene sind sehr wahrscheinlich im Süden der Wüste Negev unterwegs. Goene kennt sich in diesem Gebiet sehr gut aus und kann dort auf geheime Militärlager zurückgreifen, die mit Fahrzeugen und allen nötigen Vorräten ausgerüstet sind. Sie werden ihren Hubschrauber dort stehenlassen und versuchen, sich heute abend auf dem Landweg nach Ägypten abzusetzen. Danach wird es für sie nicht sehr schwierig sein, nach Frankreich oder Spanien durchzukommen.« »Verdammt noch mal«, brüllte Hunter und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Die Schweinehunde kommen mir nicht ungeschoren davon! Zeigen Sie mir auf der Landkarte, wo sie sind, Kommandant.« »Kommt überhaupt nicht in Frage!« warf Feldman ein. »Das müssen die Israelis regeln.« »Für dich ist es vielleicht vorbei, Kumpel, aber für mich ganz sicher nicht!« Entschlossen starrte er Feldman an. »Ich tausche die Information des Kommandanten für einen Platz im Bus ein. Ich will dabeisein, wenn sie die Scheißkerle zur Strecke bringen!« Feldman schaute den Kameramann stirnrunzelnd an. Noch nie hatte er Hunter so unerbittlich und haßerfüllt erlebt. Nach einer langen Pause seufzte Feldman und wandte sich an Lazzlo. »Kommandant, soll ich Ihnen immer noch bei den Verhandlungen zur Übergabe beistehen?« fragte er unter Vermeidung des Begriffes Kapitulation. »Ich habe zu niemand anderem Vertrauen.« Wieder sah Feldman den eigensinnigen Kameramann an und schüttelte den Kopf. »Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache, Breck.« Er seufzte noch einmal. »Okay, pack deine Kamera, wir gehen in die Wüste.« 589
115 IN DEN GEMÄCHERN DES PAPSTES, VATIKAN, ROM, ITALIEN, 16 UHR 51, SONNTAG, 23. APRIL 2000 Nikolaus VI. hatte den größten Teil des Wochenendes in völliger Abgeschiedenheit verbracht. Nur zweimal war er öffentlich erschienen. Das erste Mal, um den Karfreitagsgottesdienst zu halten. Das zweite Mal, um die wichtigste Feier der Christenheit, die Ostermesse auf dem Petersplatz, zu zelebrieren. Es hatte während des ganzen Gottesdienstes geregnet, und es regnete immer noch. In den drei Wochen seit seinem Dekret ex cathedra war Nikolaus wegen des zunehmenden Blutvergießens in der Welt immer bedrückter geworden. Zur Kurie und insbesondere zu Antonio di Concerci hielt er Distanz. Angstvoll saß er stundenlang allein in seinem Studierzimmer vor dem Fernseher, wie besessen vom stetigen Strom belastender Nachrichten, die aus dem Heiligen Land kamen. Vor einer Woche waren seine Ängste durch die unerwartete Rückkehr Jesas nach Jerusalem noch größer geworden. Auf das Geschehen am Palmsonntag war der Pontifex in keiner Weise vorbereitet gewesen. Auch die wundersame Flucht der Prophetin durch das Goldene Tor, deren messianische Bedeutung ihm sehr wohl bewußt war, hatte ihn vollkommen überrascht. Er hatte sich dennoch standhaft geweigert, Jesas unheilvolle Predigt am Karfreitag zu verfolgen, da er selbst die Gläubigen mit Strenge dazu angehalten hatte, ihre Botschaft als ›betrügerische Worte des Satans‹ zu meiden. Die Nachricht von ihrem Tod hatte Nikolaus erreicht, als er sich zum Gebet zurückgezogen hatte. Eine Nonne hatte ihn informiert. 590
Nikolaus hatte sich sofort die oft wiederholte Szene ihrer schockierenden Ermordung im Fernsehen angesehen. Trotz seiner Überzeugung hatte ihn dieser erbärmliche Mord aus der Fassung gebracht und zutiefst beunruhigt. Fast instinktiv hatte er ein Gebet für Jesas Seelenfrieden zu sprechen begonnen, als ihm einfiel, wie unpassend das war. Statt dessen hatte er dann für die Seelen der zahllosen Opfer des weltweiten Krieges von Armageddon gebetet, der auf dem ganzen Erdball wütete. Nikolaus hatte an diesem Morgen zusätzlich das Jüngste Gericht erwartet. Als er jedoch enttäuscht vom Ostergottesdienst zurückgekehrt war, hatten ihn die Tomographieaufnahmen zutiefst verstört. Jesas Gehirn war keiner künstlichen Veränderung unterzogen worden! Er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß diese Nachricht zwar di Concercis Argument widerlegte, Jesa werde von militärischen Funkbefehlen gelenkt, aber nicht seinen eigenen Glaubenssatz entkräftete, Jesa sei das Produkt einer noch dunkleren, übernatürlichen Macht. Aber es sollte an diesem Tag noch mehr Neuigkeiten geben. Später am Vormittag wurde der Pontifex durch die Auferstehungsvideos von seinen Gedanken abgelenkt. Wieder saß er wie gebannt vor dem Fernseher, die Hände ineinander verkrampft, als er Jesas angebliche Auferstehung von den Toten sah. Er atmete schneller und begann zu schwitzen. Wie konnte Gott von ihm verlangen, all diesen Angriffen auf seine Überzeugung standzuhalten? »Nein!« warnte er sich selbst, laut vor sich hin sprechend. »Mein Glaube wird auf die Probe gestellt!« Er würde sich nicht geschlagen geben. Er erhob sich und ging entschlossen zum Fenster. Draußen brach endlich die Sonne durch die Wolken. Lange und sorgfältig suchte der Papst am Himmel nach Zeichen, daß der Sohn Gottes jetzt erscheinen werde. Nichts deutete darauf hin, aber es erschien doch ein weiterer Sonnenstrahl am Horizont. Der Aufruhr in der Welt, so erfuhr er aus den Fernsehnachrichten, begann sich zu legen. Die Mehrheit der Millennarier schien ihre 591
Kämpfe eingestellt zu haben, wenigstens lange genug, um ihre Lage im Licht dieser neuesten, zweideutigen Informationen über Jesa zu überdenken. Sosehr Nikolaus der Wiederkunft des Herrn in den letzten Wochen entgegengesehen und sich darauf vorbereitet hatte, so willkommen war ihm doch eine Verlängerung der Frist. Der Papst seufzte und fühlte die Bürde seiner selbstauferlegten Gefangenschaft. Er sehnte sich danach, wieder einmal in seinen Gärten zu wandeln, die Blumen und die frische Luft nach dem reinigenden Frühlingsregen zu riechen. Seinem Schweizergardisten untersagte er, ihn zu begleiten. Es war das erste Mal, daß er ungehindert und frei in seinem Reich spazierenging. Es war eine Befreiung. Sein Rundgang führte ihn an all den großartigen Schätzen der religiösen Kunst vorbei, die er so sehr liebte, und erst als die Dämmerung begann, machte er sich langsam auf den Rückweg. Der Himmel war jetzt klar, und der Pontifex beschloß, die seltene Gelegenheit zu ergreifen, noch eben einmal einen seiner Lieblingsplätze zu genießen. Es gab keine schönere Aussicht auf Rom als die vom alten, päpstlichen Observatorium ganz oben auf der Torre dei Venti. Er betrat das Museumsgebäude und wurde von mehreren blassen Geistlichen begrüßt, die von ihrer Lektüre aufsahen und überrascht waren, ihren obersten Herrn ganz ohne Begleitung anzutreffen. Trotzdem waren sie erfreut, den Pontifex wieder unterwegs zu sehen. Die Wendeltreppe hatte Nikolaus ermüdet, und so war er völlig außer Atem, als er oben ankam. Da sah er sich plötzlich einem jungen Mönch gegenüber, der bei seinem Anblick erschrocken aufsprang und sich tief verbeugte. Der Mönch hatte auf dem Boden gesessen und auf einem Skizzenblock die Inschriften und Zeichnungen von den Wänden des alten Observatoriums abgezeichnet. »Heiliger Vater, verzeihen Sie, ich wußte nicht, daß Sie heute abend 592
hierherkommen würden.« Nikolaus legte dem nervösen Geistlichen die Hände auf die Wangen und hob ihn sanft auf. »Aber nein, mein Sohn, keine Ursache, dich zu sorgen. Mein Besuch war nicht vorgesehen. Ich kam hier vorbei und beschloß einen Blick auf meine Ewige Stadt zu werfen. Als junger Priester im Dienst Papst Johannes' XXIII. war ich oft hier. Bitte, laß dich nicht von mir stören.« »Nein, Eure Heiligkeit«, wandte der Mönch ein. »Was ich tue, ist nicht wichtig. Ich werde gehen und Ihnen Ihren Frieden lassen.« Nikolaus war gerührt und lächelte. »Sag, mein Sohn, wie heißt du?« »Ich bin Pietri Dominici, Eure Heiligkeit. Ich arbeite als Archivar im Museum und bin hier, um alles aufzuzeichnen, was auf diesen Wänden vor Jahrhunderten hinterlassen wurde, als sich in diesem Turm noch das Observatorium des Vatikan befand.« Nikolaus empfand die Gesellschaft dieses bescheidenen jungen Mönchs als erfrischende Abwechslung von seiner gewohnten Umgebung. »Bitte, bleib und leiste mir für eine Weile Gesellschaft, Pietri. Ich werde dich nicht lange von deiner Arbeit abhalten. Erzähle mir doch, was hast du bei deinen Forschungen hier erfahren?« »Nun«, begann Dominici und deutete auf eine Inschrift, »was Sie an dieser Wand hier sehen können, sind Berechnungen zu den Bahnen der Sterne und Planeten, die vermutlich auf das späte 16. Jahrhundert zurückgehen. Und hier«, erläuterte er eine komplizierte Zeichnung der Sonne und der sieben Planeten mit ihren Umlaufbahnen, »haben wir eine Darstellung des Sonnensystems, gesehen durch die einfachen Teleskope jener Zeit.« »Und was bedeuten diese Ziffern hier?« fragte der Papst mit zunehmendem Interesse für die geheimnisvolle Symbolik, die die Wände ausstrahlten. »Die, Eure Heiligkeit, stammen ungefähr von 1580. Es sind frühe Berechnungen, Vorläufer des berühmten Gregorianischen Kalen593
ders, die hier in diesem Observatorium entstanden sind.« »Erstaunlich!« rief Nikolaus aus. »Wer hätte wohl damals gedacht, daß vierhundert Jahre später dieser Turm noch immer stehen und der Nachfolger Papst Gregors XIII. hierherkommen würde, um auf das dritte Jahrtausend zu sehen!« »Um das tun zu können«, erwiderte der Mönch bescheiden, »werden Sie mich allerdings nächstes Jahr noch einmal besuchen müssen.« Nikolaus war verwirrt. »Wie meinst du das, mein Sohn?« »Nun«, lächelte Dominici, »obwohl die Welt es nicht so feiert, die eigentliche Jahrtausendwende findet erst am 1. Januar des nächsten Jahres statt.« Der Pontifex erbleichte. »Was hast du da gesagt?« Erschrocken wich der Mönch zurück. »Eure Heiligkeit, bitte, ich wollte Sie doch nicht beleidigen. Ich …« »Erkläre mir, was du meinst!« rief der Papst und ergriff den unglücklichen Mönch an seiner braunen Kutte. »H… heiliger Vater, vergeben Sie mir, ich meine doch nur, daß wir nach dem Kalender jetzt erst das eintausendste Jahr des vorigen Jahrtausends abschließen. Das erste Jahr des dritten Jahrtausends beginnt erst im Jahr 2001.« Der Papst starrte an dem Mönch vorbei hinaus auf die Ziegeldächer seiner Ewigen Stadt. »Natürlich!« flüsterte Nikolaus. »Ich habe das gewußt! Wie konnte ich meine Augen vor etwas verschließen, das so offensichtlich ist!« Als wolle er einen Fehler wiedergutmachen, fuhr der Mönch in seiner Erklärung fort. »Genauso wie die Zahl zwölf ein Dutzend vollmacht und die Zahl dreizehn der Anfang des zweiten Dutzends wäre und …« Aber Nikolaus hörte nicht mehr zu. Als ihm die Bedeutsamkeit dieser Entdeckung vollends zu Bewußtsein kam, ließ er den erschrockenen Mönch endlich los, brach langsam gegen die Wand 594
gelehnt zusammen und sank mit glasigen Augen zu Boden. Der Mönch eilte mit einem Aufschrei des Entsetzens die Wendeltreppe hinab, um Hilfe zu rufen. Unterdessen gelang es Nikolaus, sich so weit zu erholen, daß er taumelnden Schrittes den Abstieg vom Turm beginnen konnte. Wenig später traf er auf zahlreiche Helfer, die von unten heraufgeeilt kamen und ihm gern geholfen hätten, aber bei seinem Anblick erstarrten sie und traten verblüfft zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Am Fuß der Treppe sah sich Nikolaus einer Schar aufgeregter, wohlmeinender Nonnen und Priester gegenüber, die sich in heilloser Verwirrung dort versammelt hatten. Er sah sie nicht an, sondern bedeutete ihnen, ihm aus dem Weg zu gehen, und lief schwankend, aber beharrlich den Flur entlang. Nikolaus stieß heftig die Türen des Museums auf und trat in die Nachtluft hinaus. Er schleppte sich unaufhaltsam weiter in Richtung Basilika, während eine aufgeregte Gruppe von Bediensteten ihm zögernd folgte. An den Toren der Kirche drängte Nikolaus sich an den erstaunten Wachen vorbei und betrat den stillen, heiligen Ort. Die Peterskirche war an diesem Ostersonntagabend noch voller Betender, und alle waren von der Ehre überwältigt, die ihnen da zuteil wurde. Aber bei denen, an denen der verzweifelte Papst vorbeilief, setzte der angstvolle, wilde Blick des Pontifex dem Hochgefühl schnell ein Ende. Die verblüfften Gläubigen wichen zurück, und ohne das Durcheinander wahrzunehmen, das um ihn herum entstand, ging Nikolaus dem Eingang der Gruft entgegen, die zum Grab des Petrus hinunterführte. Schwankend hielt er vor dem Geländer an. Anstrengung und Erregung ließen ihn taumeln. Seine Arme zitterten, er rang nach Atem, starrte hinunter in die schweigende Tiefe und rief mit dröhnender Stimme, die in der ganzen Basilika widerhallte: »Warum? Warum? Warum?« Nikolaus wartete vergebens auf eine Antwort. Er ergriff mit bei595
den Händen das Geländer, atmete ruhiger, ließ den Blick zum Hochaltar hinaufgleiten und klagte mit gedämpfter Stimme: »Es hat schlechtere Päpste gegeben! Es hat Päpste gegeben, die weniger aufrichtig, weniger gewissenhaft und weniger gläubig waren! Warum? Wodurch habe ich deine Ungnade verdient?« Immer noch keine Antwort. Enttäuscht rief er noch einmal laut in die Katakomben hinunter: »Simon Petrus!« Die Worte hallten in endlosem Echo wider. »Höre mich an, Petrus! Ich will nicht mehr!« Und dann, mit leidenschaftlicher Stimme, aus der die verzweifelte Resignation herausklang: »Ich will nicht mehr!« Bei diesen Worten riß sich Nikolaus den päpstlichen Ring vom Finger und hielt ihn hoch, so daß ihn das Licht der Altarkerzen traf und golden aufleuchten ließ. »Ich gebe dir alles zurück, Petrus«, brüllte er. »Die Last, die Qual und das Geheimnis, ich gebe dir alles zurück!« Er hielt einen Augenblick inne, warf dann den Ring in die schwarze Dunkelheit der Gruft und lauschte dem Klirren, als er in der Tiefe aufschlug. Die verwirrten Gläubigen hatten sich sprachlos genähert, um diese unerhörte Szene zu verfolgen. Nikolaus war schweißbedeckt und fuhr plötzlich zu den Umstehenden herum, die erschrocken auseinanderstoben. Der Papst beachtete sie nicht und stolperte davon, das Mittelschiff hinunter, durch die Türen des Doms und hinaus auf den Petersplatz. Die Krise des Papstes hatte sich bereits im Vatikan herumgesprochen, und so war die letzte, beschwerliche Wegstrecke Nikolaus' über den Platz zu seinen Gemächern gesäumt von erschrockenen, verlegenen, aber auch von Neugier getriebenen Zuschauern. Der verzweifelte Schweizergardist konnte nicht mehr tun, als ihm den Weg zu bahnen. Während die Sirenen der Krankenwagen näher kamen, betrat Nikolaus mit schweißbedeckter Stirn endlich seine Gemächer. Er ging 596
direkt in seine Bibliothek, schloß die Tür hinter sich und näherte sich zögernd seinem Schreibtisch. Er sank auf den Stuhl, ließ den Kopf zwischen Büchern und Papieren fallen und schloß, das beharrliche Klopfen an der Tür ignorierend, die Augen. Es dauerte zehn Minuten, bis die bekümmerten Nonnen einen Schlüssel zu den Räumen des Papstes gefunden hatten. Mehrere Kardinäle und der päpstliche Leibarzt öffneten vorsichtig die großen Holztüren. »Papa?« Nikolaus hob nicht einmal den Kopf. »Laßt mich allein und schließt die Tür! Ich befehle es!« Die Kardinäle starrten einander an und wandten sich dann an den Arzt, der ihnen einen verlegenen Blick zuwarf und sich räusperte. »Heiliger Vater«, krächzte er, »wir machen uns Sorgen um Sie. Sie scheinen nicht Sie selbst zu sein.« Nikolaus fuhr in seinem Stuhl hoch. »Ich bin nicht ich selbst!« rief er aus und schlug immer wieder mit den Fäusten auf den Tisch. Dann ließ er tief erschüttert den Kopf hängen und stöhnte qualvoll: »Ich bin nur noch eine Metapher, ein … ein Kaiphas!« Dann brüllte er voller Zorn: »Laßt mich in Frieden!« Nachdem alle eilig das Zimmer verlassen hatten, schloß sich knarrend die Tür. Nikolaus verbarg das Gesicht in seinen Händen. »Mein Gott, mein Gott!« klagte er mehrmals. Sein Telefon klingelte, und er fegte es wütend vom Tisch, so daß es krachend zu Boden fiel. Ein paar Blätter Papier flatterten hinterher. Seine Augen glänzten fiebrig, und sein Gesicht war schweißbedeckt. Seine Hände zitterten so stark, daß er Mühe hatte, den großen goldenen Schlüssel an der langen Kette aus seiner Tasche zu ziehen und das Tresorfach zu öffnen. Als die Tür endlich aufsprang, griff Nikolaus nach der verblaßten Ledermappe und zog sie aus dem Dunkeln hervor. Er riß die Lederriemen ab, mit denen die Mappe zugebunden war, und schlug den schweren Deckel auf, so 597
daß die vergilbten Blätter zum Vorschein kamen. Mit ungeschickten Bewegungen wischte er die oberen Blätter weg, bis er zu der Seite kam, die er gesucht hatte. Er betete um ein Wunder, das ihn erlösen könnte, und fuhr mit zitterndem Zeigefinger über die handschriftlichen Zeilen. »…die, welche die Wahrheit kennen, werden in der Reinheit ihres Herzens den Boten auch erkennen. Aber wehe euch, die ihr verhärteten Herzens seid und nicht sehen und hören könnt. Ihr, die ihr den Kopf hoch tragt mit Hochmut, ihr werdet stolpern über das, was euch im Weg liegt. …wenn die erste Prophezeiung eintreffen soll, wird sie sich vor Vollendung der Jahrtausendwende erfüllen; und wenn die zweite Prophezeiung eintrifft, soll sie danach eintreten.« Es war entsetzlich. Nikolaus hatte den Ruf Papst Johannes Pauls II. nach einem ›heiligen Jubiläumsjahr, das am Anfang des neuen Jahrtausends, am 1. Januar 2000 beginnen soll‹, für bare Münze genommen. Er hatte die Tatsache übersehen, daß das Jahr 2000 in Wirklichkeit das letzte Jahr des alten Jahrtausends war. Die geheimen Briefe bestätigten, was er so gefürchtet hatte: daß die erste Prophezeiung in Erfüllung gegangen war. Jesa war der Messias! Nikolaus' Lippen verzogen sich zu einem grotesken Grinsen, in dem sich die Unfähigkeit, das alles zu glauben, mit dem Schmerz darüber mischte, betrogen worden zu sein. Er brach in Gelächter aus, und zugleich flossen ihm Tränen aus den Augen. Er ließ die vergilbte Seite liegen, erhob sich schwerfällig und taumelte von seinem Schreibtisch weg. Die lange Kette des Schlüssels zum Tresorfach, der noch im Schloß steckte, riß sich von der Tasche des Pontifex los, aber das war Nikolaus gleichgültig. »Mein Gott, mein Gott!« sprach der Papst weiter vor sich hin, als er die Schwelle zu seinem Schlafgemach überschritt, und diejenigen, die draußen an der Tür gelauscht hatten, wichen entsetzt zurück. 598
Als er sich auf sein Bett sinken ließ, fühlte Nikolaus das Blut in seinen Ohren rauschen. Er versuchte, sich zu beruhigen, aber ein Geräusch an seiner Tür machte ihn auf einen Eindringling aufmerksam. »Sie?« keuchte der Papst, als di Concerci lautlos auf ihn zutrat. Nikolaus stützte sich auf einen Ellbogen, und Anstrengung und Wut verzerrten sein Gesicht. »Welchen Vorschlag haben Sie diesmal, treuer Freund?« rief er. »Sind Sie gekommen, um mir erneut Ihre hinterhältigen Ideen einzugeben?« Di Concerci blieb mitten im Zimmer stehen und schwieg. Nikolaus wies mit zitterndem Zeigefinger auf den Schreibtisch. »Dort liegt die Wahrheit! Aber ich wollte sie nicht sehen. Ich ließ mich blenden von Machtgier und Stolz, Eigensinn und Furcht.« Die Augen des Präfekten folgten dem Finger des Pontifex zu jener Stelle, wo die vergilbten Blätter lagen. »Was soll ich jetzt tun?« rief der Papst voller Angst. »Was wird aus meiner Seele? Werden Sie an meiner Seite stehen vor dem Thron des Herrn? Werden Sie mich verteidigen vor dem Allmächtigen, mich, den Mörder des Messias?« Ein quälender Schmerz durchfuhr ihn. Sein Körper erstarrte, er fiel zurück auf das Bett, seine Hände zuckten, und seine Augen verdrehten sich nach oben. Allein in seiner ganzen Qual tat er seinen letzten Atemzug. Di Concerci hatte die ganze Zeit unbewegt dabeigestanden. Nun verließ er langsam das Schlafgemach des Papstes und ging lautlos zum Schreibtisch. Sorgfältig las er den Brief und hielt nur einmal kurz inne, um zu der stillen Gestalt auf dem Bett hinüberzusehen. Als er zu Ende gelesen hatte, sammelte er alle Blätter zusammen, ließ sie in seine Soutane gleiten und ging zum Papst hinüber, um dessen Puls zu fühlen. Da er keinen Pulsschlag fand, trat er zurück, wartete einen Augenblick und verließ den Raum, um endlich den Arzt herbeizurufen. 599
116 IM SÜDEN DER WÜSTE NEGEV, ISRAEL, 18 UHR 34, SONNTAG, 23. APRIL 2000 In einer Höhe von zweitausend Metern flogen Feldman und Hunter an Bord einer Militärmaschine auf das Vorratslager zu, das Kommandant Lazzlo ihnen genannt hatte. Feldman hatte erreicht, was er wollte. Es war ihm gelungen, der israelischen Regierung bei der Lösung von zwei heiklen Problemen behilflich zu sein. Zum einen hatte er eine schnelle und friedliche Kapitulation der Truppen von Kommandant Lazzlo herbeigeführt, zum anderen hatte er Ben-Miriam einen Hinweis darauf gegeben, wo sich die beiden meistgesuchten Männer Israels, Tamin und Goene, vermutlich aufhielten. Als Gegenleistung für seine Dienste hatte Feldman lediglich darum gebeten, Kommandant Lazzlo und seinen Soldaten gegenüber Milde walten zu lassen. Denn letztlich hatten sie Israel einen großen Dienst erwiesen. Durch ihre Weigerung, den Befehlen Goenes zu gehorchen, hatten sie den Leichnam des Messias verteidigt, der Welt die heilige Wahrheit überliefert und dadurch die Schlacht von Armageddon beendet. Außerdem, so hatte Feldman argumentiert, konnte die Regierung, wenn sie die Auferstehung Jesas von den Toten anerkannte, auch die Mordanklage gegen Lazzlo fallenlassen. Auf Hunters Drängen hatte Feldman außerdem um die Erlaubnis gebeten, den israelischen Suchtrupp zu begleiten und die Festnahme von Goene und Tamin zu filmen – wenn es dafür nicht schon zu spät war. Die endlos dauernden Verhandlungen hatten Feldman 600
kostbare Stunden gekostet. Als die Militärmaschine ein kleines Gebirgsmassiv überflog, signalisierte ihnen der Pilot, daß das gesuchte Depot bald auftauchen würde. In der zunehmenden Dämmerung war jedoch nicht viel zu sehen. Nur das Nachtsichtgerät an Bord lieferte ihnen ein detailliertes Bild der Umgebung. Es sah so aus, als hätte Lazzlo recht gehabt. Feldman konnte ohne Mühe die Umrisse eines Armeehubschraubers ausmachen, der vor einer großen Felswand stand, in die eine Tür eingelassen war. Doch sie waren zu spät gekommen. Das Depot lag verlassen da. Alles, was sie entdeckten, waren die Spuren eines Lkw, die zur ägyptischen Grenze führten. Genau wie Lazzlo angenommen hatte. »Keine Sorge, wir dürften ihnen schon bald den Weg abschneiden«, beruhigte sie der Pilot und nahm ihre Verfolgung wieder auf. Die Infrarotsensoren führten sie jedoch lediglich zu einigen versprengten Millennariern, die noch im Auto unterwegs waren. »Es ist ganz ausgeschlossen, daß sie es schon zur Grenze geschafft haben«, insistierte der Pilot. »Wir kehren um und suchen sie in dem Beduinenlager, an dem wir vor kurzem vorbeigekommen sind.« Wenige Minuten später näherten sie sich dem weit ausgedehnten Lager, das aus mehreren riesigen Zelten bestand, die Zirkuszelten ähnelten. »Hier leben mindestens hundertfünfzig Beduinen«, schätzte der Pilot. »Wir werden weit abseits landen, um ihre Herden nicht zu verjagen.« Als sie auf einem flachen Felsvorsprung niedergingen, wirbelte der Rotor so viel Staub auf, daß ihnen jede Sicht genommen wurde. Nachdem die Staubwolken sich gesetzt hatten, sahen sie sich einer Gruppe von etwa vierzig verwegen aussehenden Männern mit Gewehren gegenüber, die langsam aus der Dunkelheit auf sie zukam. Einer der Soldaten des Suchtrupps glitt aus dem Hubschrauber, ging mit erhobenen Armen auf die Nomaden zu, redete ein paar Augenblicke mit ihnen und kehrte dann schnell wieder zurück. 601
»Sir«, rief er, »sie sind beide hier! Die Beduinen haben sie ungefähr vor einer Stunde erwischt. Sie haben sie aus den Fernsehberichten erkannt. Außerdem behaupten sie, Jesa hätte sich einmal eine Zeitlang bei ihnen im Lager aufgehalten. Über das, was dem Messias geschehen ist, sind sie sehr traurig, und sie behaupten, sie würden Tamin und Goene bei lebendigem Leibe die Haut abziehen.« Der Sergeant knirschte mit den Zähnen. »Verdammt, das dürfen wir nicht zulassen! Ruft die anderen Hubschrauber. Ich brauche zwei Staffeln zum Angriff auf das Lager hinter der Düne da drüben«, befahl er. Feldman jedoch hatte eine andere Idee. »Sergeant, wenn die Beduinen Fernseher besitzen, erkennen sie vielleicht auch mich. Sie werden wissen, daß ich ein Freund von Jesa war. Vielleicht kann ich mit ihnen reden.« Hunter stieß Feldman in die Seite und flüsterte: »Nein, laß sie doch die Scheißkerle zerreißen!« Er meinte es ernst, Feldman aber ignorierte ihn, und der Sergeant willigte ein. Tatsächlich wurde Feldman von den Beduinen mit großer Ehrerbietung begrüßt. Die Nomaden knieten vor ihm nieder, berührten den Saum seiner Hose und nannten ihn ›Apostel‹, wie er von dem Militärdolmetscher erfuhr. Feldman war dies äußerst peinlich, besonders weil Hunter die Szene aufnahm. Er erfuhr, daß die Beduinen auch ›Apostel‹ Litti gut kannten, der oft und lobend von Feldman gesprochen hatte. Der Stammesführer zollte dem berühmten Reporter großen Respekt, bot ihm mehrere schöne Ziegen und Kamele zum Geschenk und ließ sich bereitwillig auf Verhandlungen ein. Am Ende wurden ihnen Goene und Tamin an Händen und Füßen gefesselt ausgeliefert. Feldman hatte dabei ein wachsames Auge auf Hunter. Als er sah, wie der Hüne sich den Gefangenen bedrohlich näherte, stellte er sich ihm in den Weg und packte den Kameramann an der Schulter. »Nein, Breck!« warnte er. »Du weißt, daß ich das nicht zulassen kann.« Hunter starrte Feldman an, als sehe er ihn zum allerersten Mal. 602
Feldman ahnte den Kampf, den sein Freund mit sich selbst ausfocht. Schließlich blinzelte Hunter. Feldman sah ihm fest in die Augen. »Du sollst deine Rache mit der Kamera nehmen, Breck, nicht mit der Faust. Schwörst du mir das?« Hunter zögerte und blickte mißmutig zu Boden. Endlich nickte er. Dann erst trat Feldman zur Seite. Hunter kam mit seiner Kamera näher, um jedes demütigende Detail einzufangen, als der frühere Minister und sein General, beide jetzt in Zivilkleidung, im Schmutz vor seinen Füßen abgeladen wurden. Hunter ging nah an Goenes rotes, wutschnaubendes Gesicht heran und filmte die Übergabe sorgfältig. »Es ist schön, wieder einmal meine Kamera mit Ihrem Schwert zu kreuzen, Herr General«, stieß er sarkastisch hervor. »Ihr elenden Dreckskerle werdet morgen in den Nachrichten einen tollen Eindruck machen, wenn ihr im Kamelmist herumrollt!« Mit einem einzigen Ruck richtete sich Goene auf und wandte sich verzweifelt an die umstehenden Soldaten. »Sie haben die Mikrochips! Das ist eine Verschwörung! Laßt uns frei, es ist nicht zu spät, die Mikrochips zurückzubekommen! Sie sind Eigentum des Staates Israel!« Hunter richtete sich auf und schüttelte den Kopf. »Wann kriegst du es endlich in deinen Dickschädel, daß es keine Chips gibt. Du hast sie für nichts erschießen lassen, du Schuft! Und was würden dir die Mikrochips jetzt nützen? Ihr Arschlöcher könnt den Rest eures elenden Lebens mit Steineklopfen verbringen!« Tamin, so bleich wie der Wüstenmond am klaren Himmel über ihnen, wußte nichts zu erwidern. Den beiden Gefangenen wurden statt der Fesseln Handschellen angelegt, dann führte man sie zum Hubschrauber. Feldman richtete erleichtert seine müden Augen auf seinen Freund. »Geht es dir jetzt ein bißchen besser?« fragte er und gönnte 603
sich ein selbstzufriedenes Lächeln. Hunter erwiderte es nicht. »Laß mich ein paar Minuten mit den Schweinen allein, dann würde ich mich besser fühlen.« Feldman und Hunter durften im Hubschrauber zusammen mit den Gefangenen, die an eine Trennwand gebunden wurden, zurückfliegen. Zwei israelische Milizsoldaten bewachten sie. Die Beduinen schrien und hoben zum Zeichen des Sieges ihre Gewehre über die Köpfe, als der Hubschrauber sich in die Wüstennacht erhob. Feldman sah zu, wie die Nomadenzelte unter ihnen immer kleiner wurden, als ihn der Schrei des Milizsoldaten neben ihm hochfahren ließ. Ein Schuß dröhnte, der Soldat sackte zu Boden, und ein roter Fleck breitete sich neben seinem leeren Schulterhalfter aus. Fast im selben Augenblick wurde der zweite Milizsoldat durch einen Schuß in die Brust gegen die Kabinenwand geschleudert und rutschte leblos neben seinem Kameraden zu Boden. Goene, den rauchenden Revolver in der einen, die Handschellen in der anderen Hand, stand vor den beiden unbewaffneten Reportern. »Normale israelische Standardausführung«, grinste Goene und ließ die Handschellen zu Boden fallen. Als der Kopilot versuchte, nach seiner Waffe zu greifen, feuerte Goene kaltblütig einen weiteren Schuß ab. Der Kopilot sank nach vorn gegen das Cockpit. Der Pilot schrie einen Notruf in sein Mikrophon und machte eine Kehrtwendung. »Halt die Maschine ruhig, oder ich erschieß' dich, wo du sitzt!« brüllte Goene den Piloten an. Tamin war noch an die Trennwand gefesselt und konnte nur mit großen Augen und wiedererwachender Hoffnung dem Geschehen folgen. Selbstzufrieden wandte sich Goene nun an Feldman und bedeutete ihm mit dem Revolver, aufzustehen. Hunter wollte hochfahren, aber Goene hielt ihn davon ab, indem er Feldman packte und ihm den Revolver ins Genick drückte. Er 604
besaß Kriegserfahrung, war gestählt und kräftig und hielt den verletzten Arm des Reporters fest umklammert. Goene zerrte Feldman zur Tür im hinteren Teil der Kabine. »Um Gottes willen, Goene«, bat Hunter, »er hat doch gerade dein Leben gerettet da unten. Die Nomaden hätten dich in Stücke gerissen.« Als Antwort spannte Goene den Hahn des Revolvers. Er trat etwas von Feldman zurück und richtete mit einem triumphierenden Blick den Lauf auf ihn. »Du hast mich einmal zu oft geärgert«, zischte er. »Aber jetzt wirst du dein großes Maul für immer schließen. Kein Abschiedsgebet für dich, jetzt habe ich das letzte Wort!« Der General stieß die Tür auf, und Feldman, verblüfft von dem gewaltigen Sog, klammerte sich mit seiner unverletzten Hand an eine Strebe des Rumpfs. Er starrte auf die Wüste dreihundert Meter unter sich. »Jetzt«, erklärte Goene mit der Endgültigkeit des Siegers, »schicke ich dich zu deinem falschen Messias – zur Hölle mit dir!« Unvermittelt versetzte der General Feldman mit dem Revolver einen schweren Schlag auf die Schläfe. Hunter stürzte sich auf Goene, aber es war zu spät. Der General trat Feldman mit dem Fuß in den Magen und stieß den halb Bewußtlosen aus der Tür.
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117 ÜBER DER SÜDLICHEN WÜSTE NEGEV, ISRAEL, 21 UHR 44, SONNTAG, 23. APRIL 2000 Hunter stieß einen wilden Schrei aus und ließ seiner rasenden Wut freien Lauf. Er rammte den dicken General mit voller Wucht gegen die Wand, wobei der seinen Revolver verlor. Doch erneut erwies sich der General als kampferprobter Soldat. Er kam schnell wieder hoch und versetzte Hunter eine Serie gezielter Schläge. Mit aller Macht wehrte Hunter sie ab, tunlichst darauf bedacht, der offenen Tür nicht zu nahe zu kommen. Shaul Tamin, mit einer Hand immer noch an die Wand gefesselt, versuchte unterdessen den Revolver zu fassen, der durch die Kabine schlitterte, während der Pilot den Hubschrauber verzweifelt absacken ließ. In seiner Abwehrhaltung war es Hunter gelungen, all seine Kräfte zu mobilisieren. Jetzt konzentrierte er sie in einem einzigen Aufwärtshaken, der den General zu Boden schickte. Blitzschnell griff Hunter nach dem Revolver, als der Hubschrauber plötzlich mit einem Schlag aufsetzte, so daß ihm die Waffe wieder entglitt und direkt dem schnaubenden Goene in die Hände fiel. Hunter zuckte zusammen, als mehrere Schüsse fielen, und er brauchte einen Moment, um zu merken, daß er nicht getroffen war. Als er die Augen wieder öffnete, sah er Goene mit dem Gesicht nach oben am Boden liegen, während aus den Einschußlöchern in seiner Brust das Blut hervorquoll. Der Pilot im vorderen Teil des Hubschraubers hielt, gespenstisch blaß, eine rauchende Pistole um606
klammert. Tamin stieß ein verzweifeltes Ächzen aus. Vorsichtig näherte sich Hunter dem reglosen Körper. Er setzte seinen Fuß auf den schlaff daliegenden Arm des Generals, beugte sich hinunter und nahm den Revolver an sich. Goene, hartnäckig bis zum letzten Augenblick, klammerte sich immer noch ans Leben. Sein Mund stand offen, und er atmete flach und röchelnd, als er seinen Blick auf den großen Kameramann über sich richtete. Hunter keuchte vor Erschöpfung und starrte finster auf seinen Gegner. Er suchte nach Anzeichen von Reue in dem verhärteten Gesicht. Aber er fand keine. Statt dessen kräuselten sich Goenes Lippen zu einem abschätzigen Grinsen. Der Schmerz und der Verlust, den Hunter durch diesen Mann erfahren hatte, kamen wieder in ihm hoch. Er hob die Waffe, und sein Finger umspannte den Abzug. Aber als er in die hämisch grinsenden Augen seines Feindes sah, hielt er plötzlich inne, von einer außergewöhnlichen Vision überrascht. Im Gesicht dieses Mannes stand plötzlich das Bild eines einsamen, verängstigten, mißbrauchten kleinen Jungen. Hunter hielt den Atem an, die Pistole glitt ihm aus der Hand. Während der Pilot und Tamin ungläubig zusahen, ließ sich der hünenhafte Mann langsam auf die Knie nieder. Er verharrte einen Moment ganz still und nahm dann mit zitternden Händen Goene vorsichtig und liebevoll in die Arme, hielt sanft seinen Kopf und streichelte ihm über die Schläfe. Er beruhigte und tröstete den sterbenden Soldaten in seiner letzten Schlacht.
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118 IM SÜDEN DER WÜSTE NEGEV, ISRAEL, 21 UHR 44, SONNTAG, 23. APRIL 2000 Feldman fiel. Es war ihm, als schwebte er auf dem Rücken in der kühlen Nachtluft über der Wüste. Er hielt die Augen geschlossen und hörte nur das Rauschen der Luft und einen weit entfernten Engelschor. Unter großer Anstrengung öffnete er die Augen und sah hinauf zum violetten Himmel über sich. Der blasse Vollmond blickte ihn majestätisch an. Von seinem schimmernden Antlitz löste sich der größer werdende Schatten einer Gestalt, die ebenfalls herabschwebte, in einem weißen Tunnel aus Licht. Es war Jesa. Jesa, die anders aussah. Anders, als er sie je gesehen hatte. Vielleicht noch göttlicher als vorher. Verwandelt und verklärt. Ihre Haut leuchtete wie glänzendes Gold. Ihre Gewänder flatterten wie flammende Zungen. Ihr Haar war so dunkel wie pechschwarzer Rauch und wehte anmutig um ihr Haupt. Jetzt schwebte sie über ihm, glitt näher heran und verweilte ganz nah an seinem Gesicht. Sie blickte ihm mitten in seine Seele. Ganz langsam erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Feldman sah mit verzückter Faszination zu ihr auf und ließ sich wieder von der strahlenden Klarheit ihres Blicks durchdringen. Sie nahm ihn mit an den Ursprungsort aller Geheimnisse. An einen Ort, wo seine Konflikte und seine Verwirrung sich ins Nichts auflösten. Er erkannte jetzt die tiefen, beunruhigenden, aufrüttelnden Gefühle, die er diesem außerordentlichen Wesen entgegenge608
bracht hatte, die einzigartigen Empfindungen, die sie in ihm geweckt hatte. Sie kamen aus der Seele. Die transzendentale Liebe des Menschen zum Göttlichen. Die ewige Sehnsucht, sich mit dem höchsten, schutzgebenden Wesen zu verbinden. Ein verzückter Wunsch nach spirituellem Einswerden. Und er sah jetzt auch ganz klar, daß die große Zuneigung, die er für Anke verspürte, aus dem Herzen kam. Es war die natürliche Liebe des Menschen zu seiner Art. Ein Bedürfnis nach emotionaler und körperlicher Vereinigung mit einem anderen Menschen. Zwei Hälften einer Gleichung. Seine leidenschaftlichen Gefühle waren nicht mehr chaotisch und verworren. Endlich war er mit sich selbst im Einklang. Leise flüsterte der Messias: »Mors vita est.« Der Tod ist das Leben. Und er verstand, daß sie ihre letzten Worte wiederholte. Und auch seine letzten Worte. Er hatte keine Angst mehr. Er hatte jetzt die tiefere Bedeutung ihrer Worte erfaßt: Um leben zu können, mußte man die Furcht vor dem Tod überwinden. Ein Neues Licht, das seinen Weg erleuchtete. Obwohl er sein Schicksal annehmen konnte, fühlte er doch ein großes Bedauern, daß er seine Erkenntnis mit sich nehmen würde. Hätte er doch nur Anke noch einmal sehen dürfen, um ihr zu bekunden, was er jetzt wußte. Um sie ein letztes Mal in den Armen zu halten, bevor er sie für immer zurücklassen mußte. Feldman spürte, wie er auf die Erde zuraste. Er schloß die Augen und wartete, aber es gab keinen Aufprall. Nur das Rauschen der Luft hielt an. Vorsichtig wagte er einen kurzen Blick. Er lag in einem Krankenhausbett. In einem Zimmer, allein, und überall standen Blumen. Am Fußende des Bettes saß Hunter in einem Sessel und schlief: die Quelle des Rauschens. Draußen ging die Sonne entweder gerade auf oder unter. In ei609
nem Fernseher an der Decke lief gerade eine Nachrichtensendung von WNN. Der Ton war leise gestellt. Feldman fand sich nicht zurecht und fühlte sich zugleich erstaunlich klar im Kopf. Als er versuchte, sich aufzusetzen, merkte er, daß ein Arm in Gips und seine Brust und ein Fußgelenk fest verbunden waren. Aber er hatte zu seiner Überraschung keine großen Schmerzen. Er blinzelte und fragte sich, wieso er hier war, oder besser, wieso er noch lebte. Es ist ein Wunder, dachte er. Jesa hat mich gerettet. Weil er Durst hatte, flüsterte er mit schwacher, krächzender Stimme und ein wenig zögernd, ob er seinen Freund aufwecken sollte: »Hey, Breck? Kannst du mir Wasser geben, bitte?« Hunter schnaubte und sah verschlafen auf. »Was? Ja, klar Mann, warte.« Plötzlich riß er Mund und Augen auf und strahlte. »Jon, mein Gott, du bist wieder da!« Feldman lächelte, und der Kameramann legte seinen Arm um ihn. Es tat weh. Hunter schien es zu bemerken und nahm sich zusammen. »Gott sei Dank!« rief er. »Wir wußten nicht, ob du überhaupt noch einmal aufwachst! Das ist ja unglaublich! Ich muß die anderen rufen!« »Warte, Breck«, hielt Feldman ihn zurück. »Vorher mußt du mir erzählen, was passiert ist!« Hunter reichte Feldman zitternd und mit feuchten Augen ein Glas Wasser. »Ja, klar. Natürlich. Also – erinnerst du dich an irgend etwas?« »Das letzte, was ich noch weiß, ist, daß Goene mir ins Gesicht geschlagen und mich aus dem Hubschrauber gestoßen hat. Dann hatte ich eine Art Vision. Jesa kam auf mich zu, um Abschied zu nehmen.« »Etwas voreilig«, grinste Hunter. »Aber wieso bin ich nicht tot?« Hunter schüttelte den Kopf. »Du bist genau auf eines dieser Be610
duinenzelte gefallen, Jon. Es hat dich aufgefangen wie ein riesiger Airbag. Hat den Aufprall abgefedert und dein Leben gerettet. Du hast dir ein paar Knochen gebrochen und eine Gehirnerschütterung geholt, entweder von Goenes gemeinem Schlag oder vom Fall oder von beidem zusammen. Jedenfalls bist du die ganze Zeit bewußtlos gewesen. Niemand konnte sagen, ob du jemals wieder aufwachen würdest. Aber die halbe Welt steht hier draußen vor deinem Fenster und betet für dich!« Hunter ging zum Fenster hinüber und zog kurz die Gardinen beiseite. Die Sonne stand ein wenig höher am Horizont als vorher, es war also Morgen. Trotz der frühen Stunde war die ganze Umgebung voller Menschen. Viele lagen auf Decken. Aber die meisten schliefen nicht, sondern hielten schweigend in der Dämmerung mit brennenden Kerzen Wache. Als sie Hunter am Fenster sahen, winkten sie ihm zu. Im Fernseher an der Decke waren Tausende von Millennariern zu sehen, die ihre Sachen zusammenpackten und Jerusalem verließen. In langen Karawanen bewegten sie sich auf gewundenen Wegen durch die Heilige Stadt. Israelische Soldaten lächelten in die Kameras, während sie den Verkehr regelten. Daneben feierten Gruppen arabischer Frauen und lachten, schwangen ihre Schleier als Geste der Befreiung durch die Luft. Die Textzeile am unteren Bildschirmrand verkündete: ›Heiliges Land kehrt zur Normalität zurück.‹ »Wie lange war ich weg?« fragte Feldman. »Fünf Tage«, antwortete Hunter. Im Fernsehen war der Times Square zu sehen, auf dem gefeiert wurde, als hätten die Yankees gerade die Weltmeisterschaft gewonnen. Mitten auf dem Platz loderte ein riesiges Feuer, um das sich eine große Menschenmenge versammelt hatte. Unter einem Schild mit den Initialen ›NRA‹ reichten die Leute einen nicht abreißenden Strom von Gewehren, Pistolen, Messern und anderen Waffen von 611
Hand zu Hand und warfen sie in die Flammen. Die Textzeile lautete: ›National Rifle Association heißt jetzt National Resistance to Arms‹. Die hartgesottensten Anhänger von Feuerwaffen schienen einen mächtigen Sinneswandel durchgemacht zu haben. »Fünf Tage?« Feldman war fassungslos. »Ja, wir haben immer abwechselnd hier bei dir gewacht.« »Wir?« »Ich, Cissy, Alphonse und Anke natürlich. Ich habe heute die Frühschicht.« »Anke? Anke war hier?« »Sie ist immer noch hier«, erklärte Hunter, »schon seit Montag früh. Sie kam unmittelbar nachdem sie dich hier eingeliefert hatten. Drei Tage und Nächte lang hat sie ununterbrochen an deinem Bett gesessen und dir die Hand gehalten. Im Augenblick schläft sie in einem freien Zimmer nebenan. Sie ist total erschöpft.« Feldman fing an zu zittern und brach in heftiges Schluchzen aus. Tränen der Erleichterung strömten ihm über die Wangen. Er ließ ihnen hemmungslos ihren Lauf. »Jon, soll ich den Arzt rufen?« fragte Hunter völlig irritiert. Noch nie hatte er seinen Freund so aufgelöst erlebt. »Nein, nein!« hielt ihn Feldman zurück und atmete einige Male tief durch, bis er sich wieder beruhigt hatte. »Erzähl mir lieber, was mit Goene und Tamin passiert ist.« Hunter seufzte und setzte sich wieder, schüttelte ernüchtert den Kopf und schien in die Ferne zu sehen. »Tamin sitzt in einem israelischen Gefängnis und wartet auf seinen Prozeß. Goene ist tot.« Als Feldman seinen ungewöhnlich ernsten Gesichtsausdruck sah, nickte er langsam, seine Kehle schnürte sich zusammen. Zögernd fragte er: »Und wie ist er gestorben?« »Der Pilot hat ihn erschossen. Hat mein Leben gerettet …« Erleichtert wollte Feldman dazu noch einige Fragen stellen, bemerkte aber Hunters seltsam verstörtes Gesicht und beschloß, es zu 612
lassen. Inzwischen kam im Fernsehen ein Interview mit einem Priester, der vor einem Möbelwagen stand. Die Textzeile dazu lautete: ›Weitere Kirchenschließungen‹. Dann waren Menschen in einer Sakristei zu sehen, die alles in Umzugskartons packten und Möbelstücke hinaustrugen. Der Bericht endete damit, daß der Pfarrer die große Kirchentür verschloß. In diesem Augenblick betrat Litti das Zimmer, um Hunter abzulösen. Überrascht hielt er inne. Außer sich vor Freude umarmte er Feldman und drückte ihn herzlich an sich. »Gott sei Dank, Jon! Sie sind uns wiedergegeben, genau wie Jesa es versprochen hat!« »Jesa? Sie haben sie gesehen?« »Ja«, strahlte Litti. »Sie sagte mir gestern in der Frühe …« Feldman hielt die Luft an. »…in meinen Träumen!« fügte Litti hinzu. Feldman atmete enttäuscht wieder aus. Zu seiner Überraschung waren im Fernsehen Hunter und Litti zu sehen, denen Premierminister Eziah Ben-Miriam die Hände schüttelte. In ihrer Gesellschaft befanden sich Rabbi Mordachai Hirschberg, Kommandant David Lazzlo in Zivil und die etwas schüchtern wirkende Cissy. Der Text lautete: ›Israel sagt Mittel für internationales Jesa-Studienzentrum zu‹. Mit großen Augen zeigte Feldman auf die Bilder. »Was hat das denn zu bedeuten, Leute?« Litti und Hunter reagierten mit einem stolzen Lächeln. »Jon«, antwortete Litti, »Breck, Rabbi Hirschberg, der frühere Kommandant David Lazzlo, Miss Cissy, wir alle haben beschlossen, gemeinsam die Botschaft des Neuen Weges zu verbreiten. Um Jesas Worte zu erklären und ihre Wahrheit kundzutun.« Erstaunt starrte Feldman den Kameramann an. »Breck, du als Missionar?« »Kein Missionar«, verbesserte ihn Litti. »Wir werden hier in Jeru613
salem ein Zentrum einrichten, das sich Jesa widmen wird. Ein Institut für ihre Werke und ihre Lehre. Ein Archiv mit ihren Botschaften.« Feldman sah immer noch in das befangene Gesicht seines alten Freundes. »Ich kann es nicht glauben, Breck, du als Verbreiter ihrer Lehren! Aber hat Jesa nicht befohlen, es solle keine Kirchen und keine Predigten mehr geben?« Hunter schüttelte den Kopf. »Wir bilden ja keine Kirche. Wir werden Jesas Schriften auch nicht interpretieren. Wir wollen nur ihr Evangelium weitergeben. Und wir werden auch die anderen religiösen Schriften weiterverbreiten. Die Bibel, den Koran, den Talmud, alle. Aber wir werden alle verfälschten Stellen verbessern, genau wie sie es gesagt hat. Und wir werden aus all meinen Videoaufnahmen eine vollständige Reihe machen, für alle, die Interesse daran haben – gratis, versteht sich! Obwohl«, fuhr Hunter fort und wandte sich nachdenklich an Litti, »vielleicht könnten wir ja doch einige Spenden von Unternehmen in Betracht ziehen, um die Kosten zu tragen …« Als Hunter Feldmans und Littis vorwurfsvolle Blicke sah, lächelte er entschuldigend. »Also gut, dann also ohne Sponsoren. Jedenfalls gehen Cissy und ich mit allem ins Internet, wo wir ein Kommunikationssystem einrichten wollen. Das wird bestimmt gut!« Feldman war noch immer fassungslos über die Wandlung seines Freundes. »Habt ihr Schluß gemacht, du und Erin?« wollte er wissen. »Ja«, sagte Hunter und zuckte ungerührt mit den Schultern. »Und sie hat jetzt einen neuen Job.« Er griff zur Fernbedienung und schaltete zwischen den Kanälen hin und her. Da war sie auch schon im Bild. Elegant und sich ihrer Wirkung voll bewußt warf sie mit einer Kopfbewegung ihr Haar zurück: »Erin Cross, UBN, Chefsprecherin der Nachrichten.« Feldman lächelte und nickte. »Und wie steht's mit dir und Cissy?« Hunter grinste verlegen. »Eigentlich traut sie mir noch nicht so 614
recht, aber sie will's mal mit mir versuchen – ›auf Probe‹, wie sie sagt. Wir werden sehen. Aber wir haben große Pläne für das Zentrum. Wir rechnen natürlich auch mit dir.« Litti stand strahlend neben Hunter und nickte ermutigend. »Mit mir? Was wollt ihr denn mit einem Reporter?« wandte Feldman ein. »Du könntest unsere Videos kommentieren«, schlug Hunter vor. »Du könntest Kommentare über Jesa verfassen. All die Fragen beantworten, die die Menschen über sie stellen werden, was für ein Wesen sie ist, deine persönliche Erfahrung mit ihr, solche Dinge. Jon, du bist einer der Auserwählten!« Während er noch zweifelnd den Kopf schüttelte, erregte ein weiterer Bericht im Fernsehen seine Aufmerksamkeit. ›Ende der Feindseligkeiten in der ganzen Welt‹, lautete die Schlagzeile. Es folgte ein Zusammenschnitt von Bildern, der das zu belegen schien. ›Hutu und Tutsi in Ruanda erklären Waffenstillstand‹, ›Serben, Kroaten und Moslems bilden Allianz‹ und ›Castro spricht vor dem US-Kongreß‹, konnte Feldman am unteren Bildschirmrand lesen. »Das ist unglaublich!« rief er fassungslos. »Ja«, meinte Hunter freudestrahlend. »Solche Dinge passieren jetzt überall. Feindschaften, die schon ein ganzes Leben andauern, werden zu Freundschaften. Wildfremde Leute engagieren sich plötzlich füreinander, und überall sind die Spenden für wohltätige Zwecke rasant nach oben gegangen. Es ist wirklich unglaublich!« Litti konnte sich kaum noch zurückhalten. »Ja, Jon, es ist fast nicht zu begreifen. In den letzten fünf Tagen hat es weltweit keine kriegerischen Auseinandersetzungen mehr gegeben! Stellen Sie sich das vor! Kein einziger Zwischenfall! Vollkommener Friede! Das hat es noch nie gegeben! Sie müssen bei uns mitmachen, Jon!« »Leute, ihr braucht mich nicht«, sagte Feldman. »Die Welt bekennt sich sowieso zu Jesa.« Litti schüttelte den Kopf. »Nein, Jon. Leider herrschen zu Jesa 615
noch recht unterschiedliche Auffassungen. Es gibt große Gruppierungen, die sie nach wie vor als Größenwahnsinnige betrachten, als eine der falschen Propheten, die die Heilige Stadt im Laufe der Jahrhunderte heimgesucht haben. Warten Sie nur ab, obwohl die Kirche geschädigt sein mag, ist sie doch noch lange nicht am Ende. Nachdem Antonio di Concerci als Papst Nikolaus VII. die Macht übernommen hat, kann man sicher sein, daß die Intrigen weitergehen. Aber unsere neue Bewegung wird von vielen christlichen Gemeinden in der Welt unterstützt. Außerdem können wir die große Mehrheit derer, die jüdischen Glaubens sind, zu uns zählen, einschließlich des Staates Israel, der Jesa nun offiziell als den verheißenen Messias anerkennt. Mehrere arabische Länder achten Jesa als eine neue Prophetin, wenn nicht sogar als die Tochter Allahs selbst. Damit ist endlich die Grundlage für einen dauerhaften Frieden hier im Nahen Osten geschaffen. Ein gutes Fundament, auf dem wir unser Zentrum für den Neuen Weg errichten können.« Feldman lehnte sich nachdenklich zurück. Endlich schien die Menschheit bereit, sich zu ändern. Bereit, den richtigen Augenblick zu nutzen, die Möglichkeiten für eine geistige und soziale Veränderung zu nutzen, eine Gelegenheit, die es nur einmal in zweitausend Jahren gab. Nach zwei Jahrtausenden voller Kriege und Haß hatte Gott einen Messias geschickt, um die Menschheit noch einmal an die große Liebe und Opferbereitschaft zu erinnern, zu der sie fähig sein sollte. Um den Menschen an Gottes Liebe zu erinnern. Feldman hatte sich früher oft gefragt, wo Gott war. Warum er ihn nicht finden, warum er ihn nicht sehen konnte, ganz gleich wie sehr er sich bemühte. Und jetzt hatte er die Antwort. Es hing alles davon ab, wie man ihn betrachtete. Gott zu sehen war einfach. Es war genauso, wie Jesa gesagt hatte. Man mußte ihn mit den Augen eines Kindes sehen. Unverkrampft und ungezwungen, mit der Unschuld des Gefühls und der Fähig616
keit zum Staunen und Glauben mußte man sich ihm nähern. Wie einem dreidimensionalen Bilderbuch, das Kindern durch richtiges Sehen das magische Auge verleiht. Gott war leicht zu finden, weil er überall war. Aber hauptsächlich war Gott in einem selbst, das hatte Feldman jetzt erkannt. Und es war am besten, ihn dort zu finden. Im Tempel des eigenen Ichs. Feldman lächelte. Vielleicht würde Gottes Botschaft dieses Mal Bestand haben. Und vielleicht konnte der Mensch zu einem fernen Zeitpunkt in der Zukunft schließlich doch noch einen würdigen Bericht über sich ablegen, wenn er zum Jüngsten Gericht gerufen wurde. Feldman kehrte aus seinen Gedanken zurück und sah seine Freunde aufmerksam an. »Euer Zentrum für den Neuen Weg wird dazu beitragen, daß keiner von uns jemals Jesas Botschaft vergessen wird«, sagte er mit ernster Stimme. »Aber ich fürchte, ich kann nicht mitmachen. Es ist einfach nicht der richtige Weg für mich.« Hunter seufzte, und Litti nickte verständnisvoll. »Sicher ist es nicht richtig, Jon, daß wir Sie bei der Wahl Ihres Weges beeinflussen wollen«, gab Litti zu. Ein Arzt kam herein, um Feldman zu untersuchen, und alle mußten das Zimmer verlassen. »Vergeßt nicht, wenn Anke aufwacht, muß ich sie gleich sehen!« rief Feldman ihnen nach.
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