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Der
programmierte
Zusammenbruch
aller Computer zur Jahrtausendwende die Welt droht im Chaos zu versinken. Der Spe...
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Der
programmierte
Zusammenbruch
aller Computer zur Jahrtausendwende die Welt droht im Chaos zu versinken. Der Spekulant Copeland will daran ein Vermögen verdienen. Der ComputerFreak Doc soll ihm ein Programm entwickeln, das alle Rechner fit macht für den letzten Tag. Bekommen wird es natürlich nur der, der auch dafür zu zahlen bereit ist. Aber Doc will zusammen mit seinen Computer-Samurai die retten, die nicht gerüstet sind: vor allem seine Heimatstadt New York. Sein geheimes Projekt erhält den Decknamen Y2K New York. Als der D-Day Zeitzone für Zeitzone näher rückt, überschwemmen Horrormeldungen aus aller Welt die amerikanische
Metropole.
Die
Bevölkerung
beginnt zu ahnen, was auf sie zukommt: Man hortet, flieht, wird gläubig ... Weder Copelands System noch Docs Pläne funktionieren einwandfrei. Silvester in New York rückt näher und näher. 2
Mit seinem Roman Jagt die Potemkin hat sich Mark Joseph in die erste Reihe der Thrillerautoren geschrieben. Er ist 1946 in Indianapolis geboren und
hat
England
Politologie und
in
den
Frankreich
USA,
studiert.
Heute lebt er mit seiner Familie in San Francisco.
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Mark Joseph
Der letzte Tag Roman Deutsch von Sabine Maier-Längsfeld
Schneekluth 5
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Joseph, Mark: Y2K. Der letzte Tag Roman / Mark Joseph Deutsch von Sabine Längsfeld München: Schneekluth, 1998 ISBN 3-7951-1722-4 Die amerikanische Originalausgabe erscheint unter dem Titel DEADLINE Y2K bei St. Martin's Press, New York ISBN 3-7951-1722-4 ©1998 by Mark Joseph © 1999 für die deutsche Ausgabe by Schneekluth Verlag GmbH, München Gesetzt aus der 10/13 Punkt Stempel Garamond von FIBO Lichtsatz München Druck und Bindung: Wiener Verlag, Himberg Printed in Austria 1999 g
S & C by Mik 6
Für Nick Ellison, meinen Freund.
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Bei diesem Buch handelt es sich um einen Roman. Obwohl einige Institutionen und Personen in dieser Geschichte Vorbildern aus der Wirklichkeit nachempfunden sind, entstammen sie ausschließlich der Feder des Autors. Die reale Safeway-Kette unterhält keine Filiale auf Guam. Das reale Consolidated Edison-Kraftwerk an der 59. Straße in New York produziert Dampf, und keinen elektrischen Strom, für die Verkehrsbetriebe. Die reale Chase Manhattan Bank unterhält keinerlei Geschäftsbeziehungen zu einem Unternehmen namens Copeland Solutions. Wo alles Fiktion ist, kann es keine falschen Tatsachen geben.
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Steht still, ihr nimmermüden Himmelssphären, und stille steh die Zeit, eh Mitternacht es schlägt. Christoper Marlowe, Dr. Faustus, 1588
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Der Spekulant Donald Copeland besaß einen unerschütterlichen Glauben an die Macht des Geldes. Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre hatte er mit seinem Unternehmen in High-Tech-Firmen investiert, sie aufgebaut und wieder verkauft, als betreibe er Viehhandel. Der Handel war sein tägliches Brot, und die Weltwirtschaft war seine Dauerkost. Der Zusammenbruch der Sowjetunion im August 1991 bedeutete das Ende des kalten Krieges. Fortan regierte der Kapitalismus ungehemmt, zum Segen für Copelands Heimatstadt New York. New York war das unangefochtene Zentrum der Weltwirtschaft. Hier war alles Ware, die Menschen eingeschlossen, und jeder, der eine Vision und die nötige mentale Härte hatte, ihr nachzujagen, war von besonderem Wert. Copeland war genauso hart wie der Granit, auf dem New York gebaut war. Diese Stadt war die Bastion, die ihn vor der unsicheren Welt jenseits der Flüsse beschützte; diese Stadt war seine Vision - Copeland hatte keine Ahnung, woher seine Vision kam, doch er stellte sie niemals in Frage. Er brauchte bloß die Augen aufzumachen, und schon sah er unzählige Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Von Zeit zu Zeit fuhr er nach Brooklyn, um Manhattan über den East River hinweg zu bewundern. Der Anblick New Yorks war für ihn eine Inspiration. Jedesmal offenbarten sich ihm dabei neue Möglichkeiten, zu Wohlstand und Macht zu gelangen. New York befand sich immer in
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Bewegung, und der Anblick war nie derselbe. Die Veränderungen zu registrieren und dem Wandel immer einen Schritt voraus zu sein, das war der Weg zu wahrem Reichtum. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts trug der Wandel den Namen Mikrotechnologie. Wenn Copeland auf New York blickte, sah er ein riesiges Netzwerk von Drähten und Mikroprozessoren, die ein unsichtbares Gespinst um die Wolkenkratzer woben. Im Verlauf seines Lebens hatte sich die Infrastruktur dieser Stadt vollkommen verändert, sie war automatisiert und computerisiert worden. 1991 wurde alles, von den U-Bahnen bis zu den Positionsleuchten auf den Wolkenkratzern, von Computern gesteuert. Manhattan war von zwei Millionen Menschen und mindestens genauso vielen Computern bevölkert, und das Garn, das Menschen und Maschinen veknüpfte, war aus purem Gold gesponnen. New York schien ein Meer aus Geld zu sein, das die Menschen in Computer investieren wollten, und Copeland übertraf sich selbst dabei, diese Flut in seine Richtung zu lenken. Seine Firma Copeland Investments hatte die Finanzierung von Unternehmen übernommen, die mit Datenbanken, Datenverarbeitungsprogrammen, Geschäftssoftware, CD-Spielern, LED-Anzeigen, Codewandlern, elektronischen Spielen, Netzwerkknoten und Schaltern für Telekommunikationsanlagen und mit programmierbaren Logikprozessoren für automatisierte Kontrollsysteme Millionen verdienten. Die Technologie an sich bedeutete Donald Copeland gar nichts. Ihn lockte allein der Nervenkitzel, der mit dem Geschäft verbunden war. Seine Unterschrift auf einen Vertrag zu setzen, in dem es um Millionen ging, war für ihn, wie den Finger in eine Steckdose zu stecken. Es brachte ihn zum Glühen.
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Eines Nachmittags, im Sommer 1991, war er wieder einmal auf dem Rückweg nach Manhattan. Er befand sich auf der Brooklyn Bridge, inmitten des Verkehrs Stroms, der zurück in die Stadt floß. Aus dem Radio plätscherten Verkehrs- und Börsennachrichten. Der Moderator kündigte den nächsten Beitrag an: »Und nun ein Bericht von der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften, in dem es heißt, daß in exakt achteinhalb Jahren, am ersten Januar 2000, alle unsere Computer tot sein werden. Ihr habt richtig gehört, Leute. An diesem Datum werden die Computer versagen, und Schuld hat eine gemeine kleine Programmierstörung, der die Akademie den Namen Millennium Bug gegeben hat. Das bedeutet soviel wie Jahr2000-Fehler.« Copeland wandte den Blick von dem Verkehrsgewühl und starrte sein Radio an. Die zwölf Lautsprecher in dem Mercedes verstärkten alles, was gesprochen wurde, und wie ein gefangenes Insekt hing der Ausdruck »Millennium Bug« in dem computergesteuerten Inneren des Wagens. »Der Millennium Bug ist unglaublich einfach«, fuhr der Moderator fort. »Die meisten Computerprogramme speichern lediglich die letzten zwei Ziffern des Datums zur Jahresangabe und nicht alle vier. Alle Computer, die mit diesen Programmen laufen, werden im Jahr 2000 ›00‹ als ›1900‹ lesen, und das war's dann auch schon, Leute. Error! Error! Error! Aus! In den sechziger Jahren haben die Programmierer damit begonnen, das Datum zweistellig darzustellen, um Speicherkapazität zu sparen, und es wurde zur Regel. Alle Programmierer haben so gearbeitet, und sie tun es bis heute. Keiner von ihnen hat je geglaubt, daß sein Programm zur Jahrhundertwende noch laufen würde. Die Jungs lagen falsch, Leute. Diese alten Programme
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sind überall, und noch immer verbreiten Programmierer den Millennium Bug wie ein Buschfeuer. Dieser tödliche Computerfehler hat sich in unseren Alltag geschlichen und verharrt nun geduldig im Innern von Telefonanlagen, in den Kontrollmechanismen von Elektrizitätswerken, in Flugsicherungssystemen, in Zugverkehrskontrollanlagen, in Buchhaltungs- und Rechnungsprogrammen, im elektronischen Geldverkehrssystem, in Satellitensteuerungsanlagen. Und weil das noch nicht reicht, wurde dieser Fehler in Hunderte Millionen Computerchips eingebrannt, die in Autos, Flugzeuge, Aufzüge, elektronische Geräte, Maschinen und PCs integriert sind. Wenn Neujahr 2000 die Uhr umspringt, sind diese Computer irritiert und reagieren mit Fehlfunktionen. Wir blicken der Stunde Null entgegen, Leute, dem Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen. Was haltet ihr davon? Werden unsere Computer alle drauf gehen? Und wenn dem so ist, was passiert dann? Werden die Flugzeuge vom Himmel fallen? Glaubt ihr daran, oder ist das alles Quatsch?« Der Moderator rief seine Hörer auf, Stellung zu nehmen: »Ruft mich an und sagt mir eure Meinung!« Nur ein paar Technikfreaks riefen an, und die Hälfte von ihnen war der Meinung, der Millennium Bug sei keine große Sache und leicht zu beheben. Außerdem war das Jahr 2000 noch in weiter Ferne, und in Amerika hieß langfristige Planung, sich über die kommende Woche Gedanken zu machen. In der ganzen Radiolandschaft schien sich niemand ernsthaft um diesen Millennium Bug Gedanken zu machen - niemand außer Donald Copeland. Er hatte eine unglaubliche Vision. Wie eine riesige mathematische Gleichung war sie mit Feuer über die Skyline von Manhattan geschrieben.
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Er konnte in die Zukunft sehen. Er wußte genau, was geschehen würde, wann es geschehen würde und, am alierwichtigsten, wie er aus seiner Weitsicht Profit schlagen konnte. Die Vorstellung, daß ein einfacher Programmierfehler die ganze Welt in die Knie zwingen sollte, war so verheerend, daß sie ihn erschütterte wie ein Erdbeben. Mit Lichtgeschwindigkeit durchmaß sein Hirn alle logischen Schritte, einen nach dem anderen, bis sich der ganze Plan vor ihm entfaltete wie eine Blüte bei Sonnenaufgang. Am 1. Januar 2000 würde eine Katastrophe das Land überrollen, und nur diejenigen Organisationen, die ihre Schwachstellen erkannt und sie vor dem Stichtag ausgemerzt hatten, würden überleben. Zu wissen, wer überlebte, womöglich gar selbst zu entscheiden, wer überleben und wer scheitern würde, wäre ein geschäftlicher Vorteil von unermeßlichem Wert. Copeland besaß die Mittel und den Willen, seinen visionären Plan umzusetzen. Zu den Mitteln zählte unter anderem Dr. Michael »Doc« Downs, Doktor der Philosophie, ein junger Computerspezialist aus Kalifornien. Er leitete bei Copeland Investments die Abteilung für Forschung und Entwicklung. Copeland raste in sein Büro. Die Firma hatte ihren Sitz in einem alten, dreistöckigen, roten Ziegelbau in der Nassau Street in Lower Manhattan, nur einen Katzensprung von der Wall Street entfernt. Getrieben von seiner Vision, ließ er den Aufzug links liegen und sprintete zu Fuß hinauf in den zweiten Stock, wo Doc sein Büro hatte. Copeland klopfte an die Tür. Eigenartige Geräusche drangen nach außen. »Doc!« rief er. »Doc, ich muß sofort mit dir sprechen!«
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Klopfen, Klingen, dann die Antwort: »Komm rein!« Aufgeregt schob sich Copeland in Docs Arbeitszimmer. Der Raum glich einem Computerschrottplatz, war vollgestopft mit spinnenartigen integrierten Schaltkreisen, Zentraleinheiten und Bildschirmen. Die Gerätschaften lagen herum wie Müll. Doc bearbeitete gerade unsanft einen störrischen Bildschirm mit dem Griff eines großen Schraubenziehers, als Copeland das Zimmer betrat. Der Bildschirm leuchtete auf, und Doc grinste. »Wenn alles schiefgeht«, erklärte er, »dann beziehe ich mich immer auf die Hau-Drauf-Theorie über Komponenteninstandsetzung. Zieh dem Drecksstück eins über die Rübe und wart ab, was passiert.« Doc war 23 Jahre alt, ein riesiger, bärtiger Holzfällertyp in Flanellhemd, Jeans und Arbeiterstiefeln und einer Jagdmütze mit Ohrenklappen auf dem Kopf. Er rauchte täglich zwei Päckchen Camel und drei Joints mit erstklassigem Marihuana und ernährte sich ansonsten von Pizza und Kaffee. Mit einem bemerkenswerten IQ gesegnet, der permanent auf Hochtouren lief, wurde Doc mit acht Jahren zum Hacker, als er das Paßwort seines Vaters klaute und damit in Daddys elektronischer Pornosammlung surfte. Seinen Spitznamen »Doc« hatte er schon lange, bevor er mit einundzwanzig an der Standford University seinen Doktortitel verliehen bekam. Er war ein Geek, ein absoluter Computer-Superfreak. In den letzten zwei Jahren war er zu Copelands persönlichem Hexenmeister geworden. Er war derjenige, der Copelands Ideen in durchführbare, gewinnbringende Produkte verwandelte. »Der Millennium Bug«, sagte Copeland. »Ich habe gerade davon erfahren.« »Ach, bist du auch schon dabei, Boß?« sagte Doc und warf den Schraubenzieher beiseite. »Wir Hacker nennen ihn
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Y2K, für das Jahr 2000, von Year-Two-Kilo, also Tausend.« Wie ein Mantra wiederholte Copeland das Akronym. »Y2K,Y2K.« Doc musterte seinen Boß von oben bis unten. Spöttisch Heß er seinen Blick über den perfekten Haarschnitt, die einwandfreie Erscheinung, den Maßanzug bis hinunter zu den Budapester Schuhen gleiten. »Donald, du hast diesen besonderen Ausdruck im Gesicht. Du riechst Geld.« »Der beste Geruch der Welt«, sagte Copeland. »Was weißt du über diesen Fehler? Kennst du dich aus?« »Klar.« »Erklär's mir.« »Es wird ein Desaster geben«, sagte Doc. Er setzte sich, lehnte sich zurück und legte die Stiefel auf seinen Arbeitstisch. »Die Leute werden nicht begreifen, was passieren wird. Und sie werden es nicht glauben wollen.« »Das hat der Typ im Radio auch gesagt. Er hat mich zu Tode erschreckt.« »Also, das ist gut«, sagte Doc gedehnt und zündete sich eine Zigarette an. »Rußland zum Beispiel, nur so als Appetithäppchen: Ein paar russische Atomreaktoren werden wohl schmelzen. Dabei verursachen sie natürlich riesige Stromausfälle, und Millionen von Menschen werden mitten im Winter ohne Heizung dahocken mit nichts zu fressen außer radioaktiver Strahlung. Und dann wird's richtig spannend.« Er zwinkerte und fügte grinsend hinzu: »Dieser Fehler wird genau die Sorte Unheil anrichten, bei der das Herz eines Hackers vor Freude hüpft.« »Und was können wir tun?« »Für die Russen? Gar nichts. Was den Rest betrifft«, er machte eine Pause, »da kommt's drauf an.« Geduldig erklärte Doc, daß der Millennium Bug für einen
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Programmierer nur einen trivialen Fehler darstellte, der behoben werden konnte, wenn man den betreffenden Programmcode erst lokalisiert hatte. Doch der Fehler wurde in datumsabhängigen Programmen unzählige Male reproduziert. In Systemen mit Millionen von Codierzeilen jede Instanz zu durchforsten stellte ein Problem von ungeahntem Ausmaß dar. Dazu kam, daß alte Codes oft unsachgemäß dokumentiert und in antiquierten Programmiersprachen wie COBOL und FORTRAN geschrieben waren. Das machte es noch schwieriger, die Fehler zu lokalisieren. Viele der jüngeren Programmierer hatten diese Sprachen nie gelernt. »Könntest du eine Lösung ausarbeiten?« fragte Copeland. »Klar, aber ich müßte mich diesbezüglich spezialisieren. Jede Anwendung ist anders.« »Wer arbeitet mit den meisten alten Anwendungen?« »Banken«, kam es ohne Zögern. »Im Ernst?« sagte Copeland, sichtlich zufrieden mit dieser Antwort. »Wissen die Banken das auch?« »Sollten sie, aber wahrscheinlich tun sie's nicht. Ich meine, die Programmierer, die für Banken arbeiten, wissen es. Die wissen es schon lange, aber wer hört schon auf Programmierer? Die Direktoren sitzen nie vor 'nem Computer, und ganz sicher haben die keinen blassen Schimmer von ihren Großrechnern oder den antiken COBOL-Programmen.« »Was würde eine Lösung des Problems einbringen?« fragte Copeland. Doc grinste. »Darum geht's hier, stimmt's?« »Wieviel, Doc?« »Ein Vermögen. Hunderte Milliarden, vielleicht mehr. Unvorstellbare Summen.«
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»Was hältst du von der Idee?« fragte Copeland. »Meinst du, ob mir die Idee gefällt, Programme zu schreiben, die den Bug vernichten?« »Genau.« »Es hat was«, sagte Doc und strich sich über den Bart. »Andererseits könnten wir diese ganzen wahnsinnigen Unternehmen den Bach runtergehen lassen, wenn ihre Computer versagen. Das hat auch was.« »Ernsthaft, Doc. Was hältst du davon, als Geschäftsidee? Können wir Geld damit machen?« »Das bestimmt, Donald. Es ist eine Lizenz zum Gelddrucken.« »Was brauchst du dafür?« fragte Copeland. »Du mußt es nur sagen.« »Also. Wie wär's mit einem alten Großrechner, mit dem ich rumprobieren kann, dazu ein paar hundert Anwendungen und zwei oder drei Spezialisten?« »Ist das alles?« »Ich nehme an, du könntest mir 'ne ganze Bank kaufen, Donnie, aber man soll ja nichts unnötig verkomplizieren.« Am nächsten Tag kauften sie in einem Lagerhaus in Queens einen fünfzehn Jahre alten Großrechner der IBM 370-Serie. Doc gab ihm den Namen Old Blue. Er ließ im obersten Stockwerk des Gebäudes in der Nassau Street eine Wand niederreißen und den Boden verstärken. Er mietete einen Kran und installierte Old Blue in seinem Computerlabor. Einen Monat lang testete er die zugehörige Software, dann bat er Copeland zu einer Demonstration. »So also wird die Welt am 1. Januar 2000 aussehen«, verkündete Doc seinem Ein-Mann-Publikum. »Ich zeige dir jetzt, was geschehen wird, wenn man den Dingen ihren Lauf läßt.«
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Old Blue hatte sein Leben damit verbracht, die Buchhaltung einer Versicherungsgesellschaft zu verwalten und auszuführen. Der Computer war zwar noch nicht sehr alt, aber wie viele Firmen hatte auch die Versicherungsgesellschaft in neue Hardware investiert, sie aber mit der alten fehlerhaften Software weiterbetrieben. Doc lud ein Buchhaltungsprogramm, das auf versicherungsstatistischen Tabellen basierte. Er verstellte die Zeit auf 23.59 Uhr, 31.12.1999, und gab dem Programm eine leichte Aufgabe. Er bat um den Terminplan für die Prämienzahlungen der nächsten zwanzig Jahre. Sechzig Sekunden lang liefen Zeilen mit wohlgeordneten grünen Ziffern über den Bildschirm. Dann sprang die Uhr auf Mitternacht. Der Rechner stotterte, und es schien, als hätte er Schluckauf. Old Blue las das Datum »00« wie 1900, anstatt 2000, und folgerte, daß die Ziffern, die für ein Datum in naher Zukunft standen, eines repräsentierten, das weit zurücklag. Einfache arithmetische Berechnungen wurden unlösbar. Der Rechner versuchte, durch negative Zahlen zu dividieren oder mit ihnen zu multiplizieren. Old Blue versuchte, binnen Sekunden eine unendliche Regression zu berechnen, und die Ziffern auf dem Bildschirm spielten verrückt. Der Arbeitsspeicher war schnell überlastet, und das Buchhaltungsprogramm stürzte ab. Der Computer war tot. »Voilà«, sagte Doc und zündete sich eine Camel an. Jeden Morgen um halb sieben traf sich Copeland an der Bar von Bernie's Delicatessen in der Upper West Side mit drei alten Freunden zum Frühstück, einem Polizisten, dem Filialleiter eines Supermarktes und einem Kardiologen. Sie waren gemeinsam aufgewachsen. Copeland war
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begeistert von seinem Projekt. Er sprudelte über vor Enthusiasmus für Y2K. Binnen einer Woche hatten sich seine Freunde das Thema für ihre Frühstücksunterhaltung verbeten. »Die Telefonleitungen werden zusammenbrechen, das Internet wird tot sein, das Militär wird gelähmt sein, niemand wird seinen Sozialhilfescheck bekommen, das Finanzamt wird total durchdrehen, eure Mikrowelle wird nicht mehr funktionieren, aber das ist egal, weil es keinen Strom mehr geben wird.« »Es reicht!« rief Jonathan Spillman, der Filialleiter. »Um Gottes willen!« »Du leidest unter Wahnvorstellungen, Donnie«, sagte Bill Packard, der Arzt. »Du solltest zum Psychiater gehen.« »Leck mich, Bill. Die Sache wird mich reich machen.« »Du bist doch schon reich«, sagte Ed Garcia, der Polizist. »Vielleicht kannst du dich nicht daran erinnern, aber du bist damit reich geworden, Computerfirmen zu finanzieren, die dieses Problem in die Welt gesetzt haben. Wenn es wirklich so schlimm ist, wie du sagst, dann solltest du die Lösung umsonst anbieten!« »Ich habe den Millennium Bug nicht geschaffen, ich habe ihn entdeckt!« protestierte Copeland. »Wie 'ne Goldmine«, sagte Spillman. »Ich finde, du hörst dich an wie ein Minenräuber. Was meint ihr, Jungs? Sollen wir ihn hängen oder nur aus der Stadt jagen?« Wie unter Freunden üblich, die sich von Kindesbeinen an kennen, zogen sie Copeland gnadenlos auf, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihm seinen Erfolg gönnten. Als intelligente Männer nahmen sie seine düsteren Prophezeiungen von Verderben und Zerstörung mit einer gewissen Skepsis hin. Doch jeder von ihnen speicherte das Wissen um den Millennium Bug und fragte sich, wie dieses Problem
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sein Leben in ein paar Jahren, wenn die Jahrhundertwende gekommen war, beeinflussen würde. Copeland ahnte, daß Y2K ihm von all seinen Ideen den größten Gewinn bescheren würde. Deshalb sah er davon ab, mit den üblichen Finanzpartnern eine neue Firma zu gründen. Statt dessen gründete er eine 100%ige Tochterfirma, gab ihr den Namen Copeland Solutions und finanzierte die Entwicklung der Software aus eigener Tasche. Er hatte Geduld. Er kannte die Gesetzmäßigkeiten der Softwareentwicklung, jene endlosen Forschungen, basierend auf Versuch und Irrtum, die ewigen Tests und Experimente ins Blaue hinein, die schlußendlich irgendwann zum Erfolg führten. Ab und zu sperrte Doc sich im Computerlabor ein und flippte aus. Dann killte er ein paar Millionen Hirnzellen mit Amphetaminen und arbeitete wie besessen auf sein Ziel hin. Copeland ließ ihn in Ruhe und beschäftigte sich mit seinen anderen Firmen. Sie warfen genug ab, um das Y2K-Projekt mitzutragen. Manchmal bekam er Doc wochenlang nicht zu Gesicht. Die neunziger Jahre schritten voran. Morgen für Morgen frühstückte Copeland mit seinen Freunden. Er führte seine Frau Marie zum Abendessen ins Four Seasons aus und ging mit seinem kleinen Sohn Eddie ins Yankee Stadion. Doch all dies waren oberflächliche Beschäftigungen verglichen mit seiner krankhaften Leidenschaft, Geld zu scheffeln. Er entfremdete sich von seiner Frau und merkte kaum, wie sie von ihm forttrieb. Eddie wurde von Kindermädchen großgezogen. Copeland tauschte den Mercedes gegen einen Cadillac und den Cadillac gegen einen Porsche. Das Leben wurde schneller. Er konnte über den Fluß rasen, einen flüchtigen Blick auf die Skyline werfen
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und Minuten später wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Ein kostspieliger Nervenkitzel. Die billigen Nervenkitzel holte er sich in den Massagesalons in Chinatown und an den Wochenenden im Herbst bei einem Buchmacher im Fischmarkt auf dem Broadway, Ecke 83. Straße, bei dem er einen Hunderter auf die Jets setzte. Und endlich, zwei Jahre nach Copelands Erleuchtung auf der Brücke, kreierte Doc ein Softwarepaket namens »Copeland 2000«, das auf den Millennium Bug in überholten Systemen abzielte, die hauptsächlich von Banken verwendet wurden. Banken, ja Institutionen des Finanzwesens ganz allgemein, mit ihren Millionen von Zeilen datumsabhängiger Computercodes waren auf Großrechner wie Old Blue angewiesen, die mit alten Anwendungen liefen. Und somit waren diese Unternehmen extrem anfällig für den Millennium Bug. Copeland 2000 kam im Herbst 1993 auf den Markt. Zu Beginn gab es nur wenige Abnehmer: Kreditinstitute und kleinere Spar- und Bausparkassen. Im Laufe der nächsten zwei Jahre schlugen auch andere Hersteller Alarm und boten ebenfalls Y2KSoftware an. Immer mehr große Unternehmen erkannten, daß der Millennium Bug ein reales, ernstzunehmendes Problem darstellte. Nach und nach klopften auch die großen Fische an die Tür. 1995 landete Copeland Solutions den größten Coup: die Chase Manhattan Bank. Chase Manhattan gehörte zu den ersten Großbanken, die sich ernsthaft mit dem Y2K-Problem befaßten und zum richtigen Schluß gelangten. Bei Chase Manhattan waren zweihundert Millionen Zeilen mit dem infizierten Code auf 1500 verschiedene Computersysteme verteilt, die mit Tausenden von Anwendungen liefen. Chase Manhattan mußte den Millennium Bug aus den Systemen eliminieren, oder die Bank wäre aus dem Geschäft. So simpel war
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das. Das Ergebnis war ein 160-Millionen-Dollar-Vertrag mit Copeland Solutions. Banken aus aller Welt folgten Chase Manhattan in Copelands Kundenkartei. Ein wahrer Geldstrom ergoß sich in die Firma. Doch Copeland merkte bald, daß der Erfolg ihn nicht befriedigte. Das Hoch, in dem er sich befand, flaute schon nach ein paar Wochen ab, und er fühlte sich abgestumpft und gelangweilt. Copeland spürte das Verlangen nach einer neuen, anspruchsvolleren Herausforderung. Ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre, wartete er auf die Gelegenheit für ein Verbrechen. Seinem Ruf als kalter, rücksichtsloser Geschäftsmann zum Trotz glaubten selbst seine alten Frühstückskumpel, daß Donald ein ehrlicher Mensch sei. Doch in Wahrheit betrachtete Copeland ungesetzliche Machenschaften als logische Schritte, wenn es ums Geschäft ging. Denn die Grenze zwischen spekulativem Risikokapitalismus und Wirtschaftskriminalität war nur hauchdünn, wenn es sie überhaupt gab. Für ihn war es nur eine Frage der Gelegenheit. Und die sollte sich schon bald ergeben. Der Vertrag mit Chase Manhattan verschaffte den Programmierern von Copeland Solutions Zugang zu den empfindlichsten Daten der Bank. Jedes Konto, jede Akte und jedes Programm mußten auf den Millennium Bug hin geprüft und korrigiert werden. Als diese Arbeit begann, war es daher nur eine Frage von Tagen, bis Doc Unstimmigkeiten entdeckte. Die Bank war so riesig, daß sie nicht wußte, wieviel Geld sie besaß und wo es sich befand. Das erste interessante Konto, auf das Doc stieß, war 1985 eingerichtet worden. In diesem Jahr war einem Programmierer, der für die Bank arbeitete, genau das gelungen, was später zu der
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geläufigsten Form von Computerbetrug im Bankwesen werden sollte. Jedesmal, wenn der Computer der Bank eine Transaktion in fremder Währung durchführte, rechnete er die betreffende Währung in Dollar um und rundete dabei den Betrag auf das nächste Tausendstel ab. Dieser unbekannte Programmierer hatte ein kleines Programm geschrieben, das jeden noch so winzigen Bruchteil eines Tausendstels auf ein Konto überwies, das in den regulären Aufzeichnungen nicht auftauchte. Wie es so kommt, der Programmierer wurde ein Jahr später von einem Lastwagen überfahren und starb. Sein Programm jedoch funktionierte weiterhin tadellos, ohne je die Aufmerksamkeit eines Sachbearbeiters zu erregen. Bis 1995, als Doc das Konto entdeckte, hatten sich über vier Millionen Dollar angesammelt, von deren Existenz die Bank keine Ahnung hatte. Doc verpackte die Geschichte des verwaisten Kontos als Hackerstory und erzählte Copeland davon. »Wenn wir dieses Konto in Ruhe lassen würden«, grübelte Copeland, »wie hoch wäre der Stand bis Ende 1999?« »Sieben oder acht Millionen, und ich bin sicher, daß ich noch mehrere solcher Konten finden werde.« »Was schätzt du, Doc, wie hoch wäre die Summe?« »Kann ich nicht sagen, vielleicht um die hundert Millionen.« »Das könnte ein Haufen Geld sein, ganz umsonst«, stellte Copeland fest. »Damit könnte man der Bank teuflisch eins auswischen«, sagte Doc. »Ich finde die Vorstellung sehr interessant, soviel Geld zu bekommen, wenn die Welt im Januar 2000 zur Hölle fährt und alle bankrott gehen.« »Donald, was willst du damit sagen?«
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»Diebstahl im großen Stil.« »Mein Gott, bist du verdorben!« stellte Doc fest. »Ist nur eine Idee«, sagte Copeland. »Denk mal darüber nach.« »Die Bank hat Revisoren, die unsere Arbeit überprüfen«, gab Doc zu bedenken. »Das sind keine Idioten. Chase Manhattan erwartet von uns, daß wir diese Konten aufspüren und ihnen Bericht erstatten.« »Du bist aber schlauer als die, Doc.« »Wir sind doch jetzt schon stinkereich, Donnie. Chase Manhattan und diese ganzen anderen Banken werden uns noch reicher machen, warum also?« »Na und? Seit Jahren prophezeist du schon, was der Millennium Bug anrichten wird. Ein Desaster, ein völliges Desaster. Die Welt wird auseinanderbrechen, und diese Gelegenheit verschafft uns einen hübschen Notgroschen für eine Zeit, wo die anderen gar nichts mehr haben werden.« »Hundert Millionen Dollar nennst du einen hübschen Notgroschen? Herrgott noch mal!« »Und?« fragte Copeland. »Doc, du hast ein Hackerherz. Du wirst es tun, weil du dazu in der Lage bist.« »Genau da liegt das Problem, Donald. Ich muß es tun, nicht du.« »Das wird der größte Bankraub in der Geschichte werden«, verkündete Copeland. »Und die Bank wird niemals dahinterkommen, daß sie beraubt worden ist. Wer wird sich schon um so was kümmern, wenn zur Jahrtausendwende diese ganzen Katastrophen über uns hereinbrechen?« »Chase Manhattan zum Beispiel.« »Die werden es doch nie erfahren, Doc.« »Du bist ein habgieriger Geier, Donald.«
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»Stimmt genau. Wie man so schön sagt, Habgier ist gesund.« »Meinst du das wirklich ernst?« fragte Doc. »Ja, es ist mein Ernst. Noch nie habe ich etwas so ernst gemeint. Verdammt noch mal, die Bank weiß doch nicht mal, daß sie dieses Geld besitzt. Es wartet nur darauf, daß jemand es nimmt.« »Du bist ein Dreckskerl«, sagte Doc mit kaum verhüllter Verachtung. »Unsere Software verkauft sich wie verrückt. Diese Firma ist Hunderte Millionen Dollar schwer. Und du willst...« »Es nicht zu tun, obwohl wir dazu in der Lage sind, das wäre kriminell«, sagte Copeland mit einem breiten Grinsen. »Das ist die Chance unseres Lebens.«
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Docs erste Reaktion war, auf der Stelle zu kündigen. Doch er liebte seinen Job, und er hatte keine Lust, sein Leben auf den Kopf zu stellen. Um Copeland glücklich zu machen, willigte er ein, mitzuspielen, obwohl er nicht vorhatte, die Bank jemals auszurauben. Der Traum vom Reichtum hatte Copeland so das Hirn verdreht, daß er glaubte, allein die Möglichkeit, das Geld zu stehlen, würde ihm das Recht geben, es zu tun. Das war in Docs Augen genau die Geisteshaltung, die die Weltwirtschaft am Laufen hielt. Die moralischen Grundsätze liefen Amok. Nimm, was du kriegen kannst, warum nicht? Das machen schließlich alle so. Theoretisch war der Diebstahl möglich, weil kein Computersicherheitssystem wirklich hundertprozentig sicher war, aber in der Praxis war es bei weitem nicht das perfekte Verbrechen. Im Rechenzentrum der Bank in Brooklyn schufteten zweihundert Y2KKulis rund um die Uhr. Viele von ihnen waren durchaus in der Lage, einen Diebstahl dieser Größenordnung aufzudecken. Und wer würde dann den Kopf hinhalten müssen? Der Chefprogrammierer. Doch Angst war nicht der Grund, wieso Doc bei Copelands Plan nicht mitspielen wollte. Auf seine Art war Doc ein bescheidener, ehrlicher Mensch. Er gehörte einer Spezies an, die Donald Copeland unbekannt war, der davon ausging, daß jeder intelligente Mensch seinen persönlichen ethischen Grundsatz von eiskalter Selbstsucht teilte. Doc mochte Geld, da unterschied er sich nicht von jedem anderen. Doch er
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vertrat die altmodischen Vorstellung, daß man Kapital für Zwecke nutzen konnte, die über Selbstbereicherung hinausgingen. Nachdem Doc sich dazu entschlossen hatte, zum Schein mitzuspielen, überzeugte er Copeland davon, daß es sicherer war, das Geld während der Krise zum Jahrtausendwechsel auf einen Schlag zu rauben, als die betreffenden Konten hie und da ein wenig zu schröpfen. Um seinen Boß zu beschwichtigen, schrieb Doc ein Schwindelprogramm, das eine aktuelle Aufstellung über fiktive Gelder bot, die er angeblich entdeckte. Mit diesem Programm konnte Copeland jeden Tag den Kontostand kontrollieren, wenn er wollte, mehrmals täglich. Die Summe stieg, und die legitimen Erträge des Unternehmens schossen noch schneller in die Höhe. Copeland Solutions expandierte mit rasanter Geschwindigkeit. Geschäftsbanken auf den Philippinen, in Japan, Lettland, Schweden, Deutschland und Spanien kauften die Y2KSoftwarepakete. 1996 betrugen allein Docs Prämien sechs Millionen Dollar - am Niveau der Wall Street gemessen nicht gerade viel, doch für Doc war die Summe groß genug, um etwas Sinnvolles damit anzufangen. Doc hatte die Y2K-Herausforderung angenommen, weil er darin die Möglichkeit sah, wenigstens einen kleinen Teil der Welt vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Doc konnte Primärcodes im Schlaf schreiben und liebte Computer über alle Maßen. Doch tief in seinem Herzen wußte er, daß der unbeschränkte Einsatz von Computern in allen Bereichen des täglichen Lebens fahrlässig und oftmals zudem unsinnig war. Die Computertechnik hatte den Globus einem radikalen Wandel unterzogen. Die Weltbevölkerung war in zwei Lager gespalten: auf der einen Seite standen diejenigen
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mit technologischem Sachverstand, auf der anderen Seite alle anderen. Jeder technologische Fortschritt trieb die Lager weiter auseinander. Y2K würde ein absolut einschneidendes Ereignis sein, das die Trennungslinie in eine gefährlich tiefe Schlucht verwandeln würde. Kleine Firmen und Selbständige, die finanziell nicht in der Lage waren, ihr Computersystem umzustellen, würden draufgehen. Die Großen dagegen, die Copeland 20C0 oder vergleichbare Programme anschafften, würden wieder auftauchen, mächtiger als je zuvor. Ein Zermürbungskrieg stand bevor, und die Millionen normaler Menschen, die Tag für Tag zur Arbeit gingen und sich auf die Systeme verließen, die ihren Alltag möglich machten - sei es Elektrizität, das Telefon, die U-Bahn oder die Wasserversorgung -, diese Menschen würden mitten ins Kreuzfeuer geraten. Mitfühlend und moralisch wie er war, fand Doc, daß diese Menschen eine Chance verdient hatten. Mit den Programmen, die er zur Rettung der Chase Manhattan und anderer Banken entwickelt hatte, hatte er seinen Teil dazu beigetragen, die großen Tiere zu retten. Aber Copeland 2000-Software im Wert von 160 Millionen Dollar würde Chase Manhattan gar nichts nützen, wenn die Grundversorgung zusammenbrach und New York kollabierte. Doc dachte, das Mindeste, was er tun könne, sei, New York vor sich selbst zu retten. Er beschloß, sein Geld in ein Projekt zu stecken, von dem Copeland keine Ahnung hatte. Und wenn er versagte, dann wäre es wenigstens eine amüsante Alternative zu Copelands wildem Hollywood-Szenario, die Bank auszurauben. Das Problem war leicht zu umschreiben: wie schafft man es, daß in New York City der Strom fließt, die Telefone
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funktionieren, das Wasser läuft und die U-Bahnen fahren, wenn die Computer, die diese Systeme kontrollieren, ausfallen? Antwort: Man errichte für jedes einzelne System eine zweite Leitzentrale, verbinde jede einzelne mit den Originalzentralen, und um Mitternacht an Silvester 1999 ermächtige man sich all der Systeme und lasse sie über einen Computer laufen, der nicht mit dem Millennium Bug infiziert ist. Wesentliche Kontrollsysteme verfügten stets über zusätzliche Ausweichsysteme, die einsprangen, wenn die Primärsysteme ausfielen. Das Problem bestand jedoch darin, daß die Ausweichsysteme dieselben Y2K-Schwachstellen hatten wie ihre Primärsysteme. Doch genau dieses Ausweichkonzept machte Docs Projekt möglich. In den ersten Sekunden des 21. Jahrhunderts mußten alle Schlüsselcomputer in den wesentlichen Systemen der Stadt überlistet werden, um anstatt ihrer eigenen fehlerhaften Sicherungssysteme geheime Ausweichsysteme zu aktivieren. War das überhaupt möglich? Es war ein riesiges und kostspieliges Unterfangen. Für Doc hieß das, er mußte die entsprechende Hardware anschaffen, die Software stehlen und eine Handvoll Leute finden, denen er blind vertrauen konnte. »Ich baue für ein Spezialprojekt ein neues Computerlabor, auf meine Kosten«, sagte er zu Copeland. »Es ist mein Geld, mach dir keine Gedanken. Ich will keine internen Betriebsprüfungen oder irgendwas in der Richtung, und ich will, daß du draußen bleibst.« »Was willst du da drinnen machen?« »Nach der Jahrtausendwende wird die Welt ein riesiger Scherbenhaufen sein. Vielleicht gelingt es mir, Software zu entwickeln, die beim Kitten hilft.«
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Copeland schürzte die Lippen, und in seinem Kopf machte es klick. »Telekommunikation, Betriebssysteme aller Art, so was in der Richtung?« »Ich will nur ein paar Sachen ausprobieren.« »Ich bestehe aber auf einem Stück von dem Kuchen«, sagte Copeland. »Da reden wir im Januar 2000 noch mal drüber. Aber im Moment, vergiß es, Donnie.« Copeland stimmte widerwillig zu und verschwand auf eine lange Geschäftsreise rund um die Welt. Er machte Kundenbesuche und kurbelte das Geschäft an. Als er zurückkam, schaute er nur einmal herein, stellte keine Fragen und nahm ab da auf Docs Wunsch Rücksicht, sich fernzuhalten. Zuerst schottete Doc die rückwärtigen 20 Meter des obersten Stockwerks in der Nassau Street ab. Er kaufte einen nagelneuen IBM 390er Großrechner. Er teilte 3000 Quadratmeter ab und schuf so Platz für den Rechner, eine riesige Klimaanlage, ein halbes Dutzend große Workstations mit Dutzenden von Terminals und Monitoren, eine Telefonvermittlung, ein Schlafzimmer, ein Bad, eine Küche und einen Aufenthaltsraum mit Fernsehern, einer Spitzenstereoanlage und alten Ledersofas. Als alles bereit war, machte Doc sich auf die Suche nach den richtigen Leuten. Seinen ersten Rekruten mußte er nicht lange suchen. Doc arbeitete oft bis spät in die Nacht und ganz allein an einem Chase Manhattan Terminal im Rechenzentrum der Bank. Eines Nachts war er damit beschäftigt, die Programme für den elektronischen Geldtransfer nach beschädigten Codes abzutasten. Ein Fenster auf seinem Bildschirm gab ihm darüber Auskunft, wie viele autori-
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sierte Anwender zu diesem Zeitpunkt mit dem System arbeiteten. Außer ihm selbst niemand. Gegen drei Uhr morgens meldete sich jemand an. Doch anstatt Gelder zwischen Konten zu transferieren, versuchte der Anwender, die Protokolldateien zu entsperren, an denen Doc gerade arbeitete. Es war ein unheimlicher Augenblick in einer virtuellen Welt. Doc verfolgte den Ruf sofort zurück und landete bei einer Niederlassung der Chase Manhattan in Boston. Am folgenden Nachmittag nahm er einen Flug nach Boston, zeigte dem Filialleiter seine Berechtigung, die ihn als Y2K-Hauptberater der Bank auswies, und bat darum, den Mitarbeitern in den Verwaltungsbüros vorgestellt zu werden. Einer dieser Leute war ein ungezwungener Schwarzer namens Bo Daniels. Er war 24 Jahre alt und arbeitete als Programmierer. Bo, in geschniegeltem Banker-Outfit, erhob sich hinter seinem Terminal, um Doc die Hand zu geben. Doc sagte: »Innumber 437 hop 22 halt bang path.« Bo erstarrte. Doc hatte die UNIX-Befehle wiederholt, die Bo auf seiner verbotenen Mission zu den Geldtransferprotokollen geführt hatten. »Also, da muß ich passen«, sagte der Filialleiter. Er entschuldigte sich und ging hinaus. »Darf ich?« fragte Doc und deutete auf einen Stuhl. Sie setzten sich und schwiegen. Bo starrte auf seine Fingernägel. Er fragte sich, ob er in sein Terminal kriechen und verschwinden könne. Doc schenkte dem jungen Mann ein seliges Lächeln, strich sich über den Bart und wartete. Schließlich sagte er: »Das waren Sie, stimmt's?« Der Programmierer lächelte schlau und fragte: »Werden Sie mich hinhängen?«
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»Weiß ich noch nicht«, antwortete Doc. »Wenn ich mit meinem Computer einen Diebstahl verüben wollte, dann würde ich direkt über Innumber 437 gehen, genau so, wie Sie das gemacht haben.« »Ich wollte nur ausprobieren, ob ich es kann«, sagte Bo. »Wenn ich es kann, dann können andere es auch. Die Bank hat Schwachstellen.« »Haben Sie über diesen Sicherheitsmangel einen Bericht verfaßt ?« »Nein.« »Wieso nicht?« Bo zuckte die Achseln und schwieg. »Erzählen Sie mir, was Sie sonst noch können«, verlangte Doc. »Wollen Sie meinen Lebenslauf sehen?« »Ich glaube nicht, daß Sie das, was ich wissen möchte, in einem Lebenslauf festhalten würden«, sagte Doc. »Wie fit sind Sie? Beherrschen Sie COBOL?« Zwanzig Minuten unterhielten sich die beiden in absolutem Fachchinesisch. Bo war überaus qualifiziert. Hinter dem gestärkten Hemd und den Hosenträgern verbarg sich ein unglaublich intelligenter, aber frustrierter Künstler. Schließlich war Doc zufrieden. Er wußte, daß Bo Daniels über immenses Fachwissen verfügte und leicht lernen konnte, was ihm noch fehlte. Doc bot ihm einen Job an. »Um was geht es hier? Y2K?« »So was in der Art.« Doc lehnte sich vor und fügte leise hinzu: »Hör mal, ich mach dir ein Angebot: viermal soviel Gehalt, wie du jetzt kriegst, am Ende einen hübschen Bonus, Überstunden ohne Ende, kein Schlaf, keine Kleiderordnung und dazu alles, was du brauchst, um am Ball zu bleiben. Sex, Drogen, Rock 'n' Roll, das ist mir alles
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egal. Hier sind 1000 Dollar und ein Ticket nach New York. Komm zu mir oder laß es bleiben. Es liegt bei dir.« Eine Woche später kreuzte Bo. gekleidet wie Jimmi Hendrix, in der Nassau Street auf. Doc erkannte schnell, daß er auf einem Computer spielen konnte, wie Jimmy Hendrix auf seiner Gitarre, und daß Bo bereit war, für Doc zu spielen. Bo war ein Virtuose. Er beherrschte zwölf verschiedene Computersprachen von COBOL bis JAVA, und er war in der Lage, ein Datenbanksystem schneller zu analysieren als ein Cray-Superrechner. Doch Bos unangefochtenes Spezialgebiet war das komplexe Zusammenspiel verschiedener Systeme. »Was weißt du über die Erzeugung und Verteilung von elektrischem Strom?« fragte Doc. »Gar nichts.« »Das ist kein schlechter Anfang, dann mußt du wenigstens nichts aus deinem Hirn löschen. Was glaubst du, wie lange brauchst du, um ein Kraftwerk zu begreifen?« »Hm, weiß ich nicht. Mindestens ein paar Jahre.« »Wie wär's mit sechs Wochen?« »Unmöglich!« »Nichts ist unmöglich, wenn man nur will. Das stammt von Disraeli. Setz dich und schau zu«, sagte Doc und schubste Bo auf einen Stuhl. Er schaltete ein Terminal an. Der Bildschirm leuchtete blau auf und folgender Text erschien:
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»An diesem Simulator üben die leitenden Techniker, mit System- und Stromausfällen umzugehen«, erklärte Doc. »Erste Lektion: Das Netz nach einem Stromausfall wieder hochzufahren nennt man ›Wiederaufbau‹.« »Wie bist du da drangekommen?« fragte Bo ungläubig. »Es gibt nur einen Weg«, antwortete Doc. »Ich bin in die Leitzentrale von ConEd eingedrungen und habe es runtergeladen. Der Simulator ist nicht annähernd so gut gesichert, wie das System selbst. Aber er enthält ein ausgezeichnetes Modell des gesamten Nordoststromnetzes, das wöchentlich aktualisiert wird. Sobald du dich mit dem Simulator und dem Modell vertraut gemacht hast, können wir in das richtige System einsteigen, weil das Modell uns verrät, wo sich was befindet.« Bo blinzelte nervös, seine Gedanken schwirrten durcheinander. »Du meinst, du willst bei ConEd einsteigen und das komplette Betriebssystem klauen?« »Mehr oder weniger. Vielleicht ein paar hundert Anwendungen. Nur die Teile, die wir brauchen.« »Wozu brauchen?« »Um die Stromversorgung für Manhattan zu gewährleisten«, erklärte Doc mit einem breiten Grinsen. »Von hier aus.« »Du spinnst.« »Exactamente. Ich bin verrückt, das steht fest. Die Frage ist, bist du verrückt genug, um Con Edison zu werden, Bo? Du hast zweieinhalb Jahre, jedes System, jede Anwendung zu knacken, die Lage jedes einzelnen integrierten Chips rauszukriegen. Du wirst lernen, das System zu rekonfigurieren, alle Y2K-Korrekturen vorzunehmen, und, ja, genau! Du lernst, dafür zu sorgen, daß zum Jahrtausendwechsel in Manhattan die Lichter anbleiben. So
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sieht der Plan aus. Wenn ConEd nicht dazu in der Lage ist, du wirst es schaffen!« »Mama mia, ich weiß nicht.« Bo pfiff und spielte ein bißchen auf seiner imaginären Luftgitarre. »Plus alle Daten, nehme ich an.« »Genau. Plus Daten, die wir auf Y2K überprüfen und reparieren. Vor uns liegt ein steiler, steiniger Weg. Zuerst kriegen wir raus, wie man ConEd aus dem Stromnetz isoliert, und dann, wie man Manhattan und die vier Kraftwerke auf der Insel plus das eine drüben in Queens von ConEd isoliert. Wir brauchen die Betriebssysteme von allen fünf Elektrizitätswerken, dazu den Befehl, der sie verbindet.« »Und wir müssen das ganz alleine schaffen, nur wir beide, stimmt's?« »Nein. Wir brauchen Telefone. Ich bin auf der Suche nach einem Telefonfreak, der dafür sorgt, daß die Leitungen offenbleiben, und ich suche einen Zugfreak, der sich um die U-Bahn kümmert. Vielleicht noch ein paar mehr. Wenn ihr es bis zum 1.1.2000 schafft, bekommt jeder von euch einen Bonus von einer Million Dollar.« Darüber mußte Bo nicht lange nachdenken. »Hast du soviel Kohle?« »Das Geld ist hier, es ist bereits hinterlegt.« »Was hast du davon?« fragte Bo. »Ein reines Gewissen.« Doc beugte sich über Bo und tippte etwas auf der Tastatur des Simulators. Er ging zu dem Menüpunkt »Wähle Störfalltyp« und wählte »Totaler Systemausfall«. Der Bildschirm begann zu blitzen, und lauter Alarm ertönte. Doc setzte Bo eine Nike-Kappe auf und sagte: »Just do it!«
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Im Laufe des folgenden Monats führte Doc Gespräche mit vier weiteren Hackern, die seinen Ansprüchen nicht genügten. Entweder waren sie nicht qualifiziert, schluckten zu viele Horrordrogen oder waren völlig anarchisch und so kriminell, daß es ihm niemals gelungen wäre, sie unter Kontrolle zu halten. Dann stieß er auf Carolyn Harvey. Carolyns Leidenschaft bestand darin, die Systeme von Telefongesellschaften zu knacken, die Telefondaten von Prominenten zu klauen und sie ins Internet einzuspeisen. Doc prüfte ihre Webseite »FoneFreek.com« und verfolgte ihre elektronische Fährte bis zu einem Häuschen in Nashville, Tennessee. Vor der Tür war eine schwere Harley geparkt. Doc hinterließ an der Maschine eine Nachricht und die Telefonnummer seines Hotels: »FoneFreek. In der Stadt, suche talentierten Mitstreiter.« Sie rief an. »Was für einen Mitstreiter?« wollte sie wissen. »Hast du schon mal den maschineninternen Code für den programmierbaren logischen Prozessor in einem DESS-5 gesehen?« »Klar! Und?« Doc stellte ihr noch ein paar andere technische Fragen, und Carolyn gab die richtigen Antworten. Also fragte er sie: »Was hältst du davon: eine Telefongesellschaft nur für dich allein?« »Oh«, sagte sie. »Wäre sicher lustig. Was kann ich damit anfangen?« »Was du willst, solange du nur dafür sorgst, daß sie funktioniert.« »Wer bist du?« wollte sie wissen. »Der einsame Wolf«, sagte Doc. »Captain Amerika, Yojimbo der Samurai, der Mann ohne Namen. Kannst Doc zu mir sagen. Können wir uns treffen?«
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»Ich hab mit Männern nichts am Hut«, sagte sie. »Betrachte mich als Geek-Kumpel, und weiter nichts«, erklärte Doc. »Ich hab einen Haufen Geld, eine saubere Firma und einen Job für die richtige Person. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der auf die Computersysteme von Telefongesellschaften spezialisiert ist.« »Klingt wie Industriespionage.« »Ist aber viel besser.« Sie trafen sich in einer abenteuerlichen Westernbar namens The Connection, die in einer ehemaligen Lagerhalle untergebracht war. Carolyn entpuppte sich als MotorradLesbe, von Kopf bis Fuß in Leder, mit Bürstenhaarschnitt und einer festen Zahnspange. »Bist du Doc?« »Jawoll!« »Worum geht's?« »Y2K.« »Ah, das gefällt mir. Darfst mir einen ausgeben.« »Am großen Tag wird die Telekommunikation von immenser Bedeutung sein«, erklärte Doc. Sie hatten sich in eine Ecke verzogen, wo die Musik nicht so laut war. »Wir werden funktionierende Telefonleitungen brauchen und Direktleitungen zur Leitzentrale der Stromversorgungsgesellschaft, zu den Kraftwerken und zur Schaltzentrale der New Yorker U-Bahn. Außerdem brauchen wir einen hausinternen Netzwerkknoten, eine Vermittlungszentrale und gegenseitige Kopplung. Glaubst du, daß du das hinkriegst?« »Bist du reich?« fragte sie. »Das Projekt ist finanziert. Du mußt die Leitungen verfolgen und jeden einzelnen Verteilerknoten überprüfen.« »Dazu brauch' ich aber den Wagen von 'ner Telefongesellschaft.«
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»Okay.« »Logikanalysatoren, 'n Haufen Zeug.« »Alles, was du brauchst.« »Das könnte der größte Telefonstreich aller Zeiten werden. Wow!« »Ja, aber du darfst mit keinem deiner Leute drüber reden. Prahl bloß nicht damit rum!« »Was soll das denn?« fragte sie. »Das ist in dem Paket enthalten. Die nächsten zweieinhalb Jahre wird dieser Job dein Leben sein, und der Rest der Welt wird für dich aufhören, zu existieren.« Doc bot ihr genausoviel Geld und den gleichen Bonus wie Bo. Es überstieg ihr Gehalt als Programmiererin bei der Bell South Telefongesellschaft bei weitem. Am nächsten Tag nahm Doc Carolyn mit nach New York und stellte sie Bo vor. »Gestatten, Con Edison«, sagte Bo. »Und wer bist du?« »Ich glaube, ich bin Bell Atlantic«, antwortete Carolyn. Ronnie Fong war eine junge, unglaublich niedliche Chinesin aus San Franciso. Sie trug vier Nasenringe. Jeder stand für einen triumphalen Einbruch in das System des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Das Ministerium konnte ihr den Einbruch zwar nie hundertprozentig nachweisen, doch man hatte ihr einen Job angeboten. Sie sollte die Computer des chinesischen Verteidigungsministeriums anzapfen. Ronnie hatte sie ausgelacht. Als Doc sie anrief, glaubte sie natürlich, er sei ein Abgesandter ihres größten Feindes im Pentagon. Er verabredete sich mit ihr in Mario's Bohemian Cigar Store, einem Cafe in North Beach. »Ich bin nur gekommen, weil ihr Typen vom Verteidigungsministerium mich sonst niemals in Ruhe laßt!« sagte sie, sobald sie das Cafe betreten hatte.
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»Ich bin keiner von denen«, wehrte sich Doc. »Wie haben Sie mich dann gefunden? Wieso wissen Sie überhaupt über mich Bescheid?« Ronnie war wütend und lehnte trotzig die Speisekarte ab. Mit verschränkten Armen forderte sie ihn auf, zu sagen, was er wolle. »Wissen Sie über Y2K Bescheid?« »Was soll damit sein?« »Wie werden Sie das neue Jahrtausend willkommen heißen?« »Bei einem Freund. Er hat seine eigenen Generatoren und Solarzellen auf dem Dach.« »Dann sind Sie im Bilde.« Ronnie zuckte mit den Achseln. »Wie wär's? Wollen Sie Neujahr 2000 in New York verbringen?« »Sind Sie verrückt? Das wäre der allerletzte Ort auf der Welt, an dem ich sein wollte!« »Wie würde es Ihnen gefallen, in New York dafür zu sorgen, daß das Computersystem der städtischen Umweltschutzbehörde nicht zusammenbricht? Das ist deren Phantasiebezeichnung für die Wasserwerke.« Ronnie sah ihn an, als wäre er nicht mehr ganz bei Trost. »Dann könnten Sie Ihrer Sammlung einen neuen Ring hinzufügen.« »Sie wollen mich linken«, sagte sie. »Sie sind doch vom Verteidigungsministerium.« »Wie soll ich denn beweisen, daß das nicht stimmt? Wenn ich von denen käme, würde ich kaum hier sitzen und mit Ihnen plaudern. Ich würde Sie in Handschellen abführen.« Doc gab ihr das Flugticket und die 1000 Dollar. »Kommen Sie nach New York und entscheiden Sie sich dort. Sie verwandeln sich in die Wasserwerke, und, nur um Ihr Interesse aufrechtzuerhalten, wir brauchen ständi-
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gen Kontakt zum Satellitenkontrollzentrum in Colorado Springs. Ihre Kenntnisse bezüglich militärischer Computersysteme kämen uns sehr gelegen.« »Kein Mist?« »Nein, Kohle.« »Wieviel Kohle?« Doc kritzelte eine Zahl auf eine Papierserviette. Ronnie zählte die Nullen. »Reicht das?« Ronnie kam, mißtrauisch und voller Zweifel. Das änderte sich, als sie mit Docs Hilfe in eine Datenbank eindrang, die zu einem der vierzehn New Yorker Klärwerke gehörte. Sie gelangten bis tief ins Innere des Computersystems der Wasserwerke, und Doc demonstrierte ihr die Maschinensprache, auf der die Daten beruhten. Er hatte einen winzigen Teil davon in den Primärcode zurückübersetzt. Er bestand aus einem Mischmasch von siebzehn verschiedenen Computersprachen. Sie standen vor einem Y2K Problem übelster Art. Es wimmelte von versteckten Datumsfeldern, Programmierfehlern, improvisierten Lösungen und bereits vorhandenen, schlechten Korrekturen. »Wenn das nicht in Ordnung gebracht wird, dann wird New York in menschlichen Fäkalien ertrinken«, sagte Doc. »Das Problem besteht nicht darin, die Stadt mit Wasser zu versorgen. New York hat eine vorzügliche Wasserversorgung, die beinahe völlig auf dem Prinzip der Schwerkraft basiert. Das Problem wird sein, das Abwasser rauszukriegen.« »Was wollen die dagegen tun?« fragte Ronnie. »Die?« sagte Doc höhnisch. »›Die‹ existieren nicht. ›Die‹ sind ein Mythos. In diesem Fall bist du ›die‹. Selbst wenn
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du es hinkriegst, diese ganze Software zu kopieren und zum Laufen zu bringen, dann bleiben immer noch Tausende von eingebetteten Chips, die überall in den Pumpen, Ventilen und Rohren stecken.« Doc grinste und entrollte eine riesige Karte. »Das ist ein detailliertes Diagramm aller Rohre, Kanäle und Klärwerke, das gesamte Abwassersystem von Manhattan. Ich habe die kritischen Pfade verfolgt und die Pumpen markiert. Du kannst jede einzelne besichtigen.« »Liebe Güte. Das ist ein Scheißjob!« »Wenn du deine Million haben willst, mußt du dir die Hände schmutzig machen, Ronnie.« »Und wenn ich nicht gerade in der Kloake rumwühle, spiele ich mit dem Kontrollzentrum, richtig?« »Genau. Wir müssen Verbindung zu den Kommunikations- und Funknavigationssatelliten bekommen. Hier müssen wir nicht an den Codes arbeiten, wir müssen sie nur überwachen. Wenn die große Nacht da ist, müssen wir wissen, was funktioniert und was nicht.« »Du verlangst 'ne ganze Menge«, sagte Ronnie. »Ja. Ich verlange das Unmögliche. Machst du mit?« »Chinatown ist ganz in der Nähe, stimmt's?« »Ja. Nur ein paar Häuserblocks entfernt.« »Wo ist der Haken?« »Also«, sagte Doc. »Die nächsten zweieinhalb Jahre wirst du kein anderes Leben führen.« »Bei dem Gedanken bekomme ich Durst«, sagte Ronnie. »Kann ich mir einen Tee kochen?« Als Ronnie wieder aus der Küche kam, war Doc weg. Nur Bo und Carolyn saßen im Aufenthaltsraum. »Auf welche Musik stehst du?« fragte Carolyn. »Ich mag alles, was laut ist.« »Das ist lässig«, sagte Ronnie. »Weißt du, was ich jetzt
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wirklich gerne hätte? Etwas, um diese Kanne Tee ein bißchen aufzupeppen.« Adrian Hoffman war ein kleiner, fetter Computerfreak aus Florida, dem es einigen Nervenkitzel verschaffte, Eisenbahnkontrollsysteme mit kreischenden Rädern zum Stillstand zu bringen. Sein Lieblingstrick bestand darin, in das Signalsystem einer Eisenbahngesellschaft einzudringen, alle Signale auf Rot zu setzen und so Dutzende Züge auf einmal anzuhalten. Doc schickte ihm eine E-Mail: »Du machst dir wohl nicht viel aus Zügen!« »Ich liebe Züge. Ich habe die größte Modeleisenbahn der Welt: Amtrak.« »Setzt du die Signale jemals auf Grün?« »Ich will doch keinen umbringen«, schrieb Adrian zurück. »Wie alt bist du?« fragte Doc. »Achtzehn.« »Was hältst du von städtischen Transportsystemen?« »Find' ich cool.« »Glaubst du, du könntest das New Yorker U-Bahn-System betreiben?« »Viele Züge, viele Signale. Ja, klar.« »Es geht aber darum, die Züge fahren zu lassen, nicht, sie zu stoppen.« »Ein Spurwechsel ist 'ne faire Sache«, schrieb Adrian. »Ich schicke dir ein Flugticket und 1000 Dollar.« »Nein, lieber ein Zugticket. Das wäre echt cool. Ich war noch nie in New York.« Vier Tage später saß Doc in der Penn Station neben Adrian und dachte: Problemkind, Krüppel, Kindskopf, an der
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Grenze zum Schizzo, aber Himmel, kennt der sich aus! Mit seiner dicken Brille und den ungepflegten langen Haaren wirkte Adrian wie ein Irrer. Er sagte fast nie ein Wort und brachte eine detaillierte Aufstellung aller Computersysteme mit, die bei Amtrak und den anderen fünf größten amerikanischen Eisenbahngesellschaften zum Einsatz kamen. »Willst du New York sehen?« fragte Doc. Doc zeigte ihm weder das Empire State Building noch den Central Park. Statt dessen fuhren sie zwölf Stunden lang U-Bahn. Adrian stand im vorderen Wagen, mit Blick auf die Gleise. Auf diese Weise fuhren sie kreuz und quer durch die Stadt, von Far Rockaway bis nach Riverdale, unterirdisch, oberirdisch, über Brücken und durch Tunnels. Die Züge rasten die Gleise entlang, und die Signale erhellten, grün und rot, die Dunkelheit, ein nie versiegender Lichterstrom. Zweimal machten sie halt, an der Grand Central Station und an einem Zugdepot in Queens. Vom Bahnsteig aus hatte man Blick auf eine ganze Flotte von Zügen. Adrian sog alles in sich auf und sagte kaum ein Wort. Schon nach ein paar Stunden übernahm er die Führung der Tour. »Hier hast du deine neue Modelleisenbahn, Adrian. Cool genug für dich?« »Alles klar«, sagte Adrian. »Okay.« Um das Team komplett zu machen, brauchte Doc einen Hardwarespezialisten, der ihre Computer und die Kommunikationstechnik tipptopp wartete. Bo hatte von einem Hacker aus San Jose gehört, der Intel die Konstruktionspläne von hochentwickelten Mikroprozessoren gestohlen und versucht hatte, sie an ein indonesisches Kartell zu verkaufen. Judd Fernandez war leicht zu finden.
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Doc wartete vor dem Tor, als er aus dem San Quentin Gefängnis kam. Er trug einen dreiteiligen Anzug, der seinen kahlrasierten Schädel und das akkurat getrimmte Ziegenbärtchen unterstrich. »Brauchst du 'nen Job?« fragte Doc ihn direkt vor dem Gefängnistor. »Ich brauch' was zu trinken. Wer zum Teufel bist du?« »Jemand, der einen Job für dich hat. Einen richtigen Job, nichts, was dich gleich wieder hinter Gitter bringt.« »Geh'n wir in die No Name Bar in Sausalito, und da spendierst du mir erst mal 'n Bier.« Während seines dreijährigen Gefängnisaufenthaltes hatte Judd das Computersystem von San Quentin auf Vordermann gebracht und sich im Internet den Ruf eines Hardwaregurus erworben. »Wieviel haben die Junes aus Indonesien dir geboten?« fragte Doc ihn bei einem Bier. »Nicht genug.« »Wieviel ist genug?« »Geld interessiert mich nicht.« »Was dann?« »Zeit«, antwortete Judd. »Ich will Zeit. Ich habe gerade drei Jahre verschenkt, die ich nie zurückbekommen werde.« »Okay«, sagte Doc. »Du gibst mir zwei Jahre, und dafür kriegst du den Rest deines Lebens.« »Ich habe andere Angebote«, sage Judd. »Weiß ich. Du bist berühmt.« »Was für'n Job soll'n das sein?« Doc erläuterte sein Projekt. Als er fertig war, blickte Judd sich in der Bar um und sagte: »Ich könnte wirklich ein bißchen New York vertragen, aber du mußt das mit meinem Bewährungshelfer klären!«
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Ein paar Tage später umrundete Judd mit langsamen Schritten den IBM s/390. Es handelte sich um einen senkrechten Kasten aus poliertem Metall von zwei Metern Höhe, einem Meter fünfzig Breite und einer Tiefe von einem Meter zwanzig. Der Großrechner. Der große, schreckliche Computer, der ganz New York mit Saft versorgen würde. Der Kasten enthielt 120 Zentraleinheiten, sieben Betriebssysteme und mehr Speicherkapazität als das Gedächtnis aller afrikanischen Elefanten zusammen. Neben dem Rechner wartete ein beeindruckender Stapel Papier, beinahe einen Meter hoch: das Bedienungshandbuch. Erste Anweisung: Stecker rein. Anweisung Nr. 2: Hier ist der »Ein«-Schalter. Herr im Himmel, dachte Judd. Er packte sich die obersten zehn Zentimeter Papier und begann zu lesen.
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3 »Ihr seid jetzt Soldaten und müßt euch militärischer Disziplin unterwerfen«, sagte Doc, als das Team versammelt war. »Vielleicht erscheint es euch übertrieben oder melodramatisch, aber es ist die einzige Möglichkeit, dieses Projekt rechtzeitig durchzuziehen.« »Müssen wir salutieren?« fragte Bo sarkastisch. »Nein.« »Uniform tragen?« »Nein.« »Ich mag Uniformen«, erklärte Ronnie. »Wir sollten Uniform tragen.« »Uniformen würden Aufmerksamkeit erregen, und das ist verboten. Es wird nur eine einzige Regel geben«, sagte Doc. »Ihr dürft nicht über eure Arbeit hier sprechen. Niemand, der nicht mit dem Projekt zu tun hat, darf jemals auch nur das geringste Lüftchen davon mitbekommen, was wir hier tun. Niemand.« Doc beobachtete ihre Gesichter, als sie die Bedeutung dieser Regel erfaßten. »Ihr habt Freunde, Familie, Partner, sogar Feinde«, fuhr er fort, »und ihr dürft ihnen nicht sagen, was ihr tut. Es ist, als wärt ihr bei der CIA. Eure Arbeit ist streng geheim, und das ist wörtlich gemeint! Ohne Ausnahme!« »Was sollen wir den Leuten denn erzählen?« fragte Bo. »Ich telefoniere fast jeden Tag mit meiner Mutter. Wenn ich sie nicht anrufe, dann sucht sie mich und steht hier auf der Matte.« »Erzähl ihr, daß du bei einer Softwarefirma in New York
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beschäftigt bist und für ein Y2K-Projekt arbeitest. Sagt ihnen nichts, was ihr nicht sagen müßt. Hat jemand ein Problem damit?« »Was passiert, wenn wir gegen die Regel verstoßen?« fragte Adrian. »Ich verlasse mich auf euer Ehrenwort«, sagte Doc. »Ich werde euch nicht nachspionieren oder euer Telefon anzapfen.« »Und wenn wir es trotzdem erzählen?« »Dann seid ihr draußen, ciao und auf Wiedersehen. Kein Geld, kein Spaß, keine Spiele, keine Million Dollar Bonus.« »Und wie willst du das rauskriegen?« Doc starrte Adrian an. Ich habe einen Fehler gemacht, dachte er. Er hätte dieses Kind nie über die Penn Station hinaus lassen sollen. Er hätte ihm eine Rückfahrkarte kaufen und ihn zurück nach Florida schicken sollen. Aber nein, er war hier, in der Nassau Street, mit seinen verträumten Augen, seiner »Greatful Dead«-Frisur und seinem »für mich gibt es keine Regeln bla bla bla«. Zum Teufel noch mal! »Willst du uns auf die Nerven gehen, Adrian?« herrschte Doc ihn an. »Ich hab einfach keinen Bock auf Regeln, egal von wem.« »Es gibt genug Dinge, über die wir diskutieren können und sicherlich werden, aber über diese Regel wird nicht diskutiert. Wenn du das nicht packst, Adrian, dann tut es mir leid. Ende. Du kannst sofort nach Hause fahren.« Doc ging zum nächsten Telefon, rief die Auskunft an und sagte: »Die Nummer von Amtrak, bitte.« »Warte doch mal«, sagte Judd. »Laß mich mit ihm reden.«
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»Aber gerne.« Judd legte Adrian einen Arm um die Schultern und ging mit ihm in eine Ecke. »Was hast du für ein Problem?« fragte er ihn leise. »Ich hasse Regeln.« »Es wird nur eine einzige geben. Als Hacker solltest du doch kapieren, daß man dich schnappt, wenn du redest, und dir deine Spielsachen wegnimmt. Unten in Florida, da hattest du einen alten PC. Hier hast du einen verdammt riesigen Großrechner und dazu alles, was dein Herz begehrt. Das willst du doch nicht wirklich aufgeben, oder?« Adrian verschränkte wütend die Arme vor der Brust. »Wir sind hier nicht in der Schule«, sagte Judd. »Ich weiß, was für ein Typ du bist, Adrian. Du gehörst zu den Kids, die keiner leiden kann, über die man sich lustig macht, weil sie so verdammt schlau sind. Du richtest deinen Intellekt als Waffe gegen die anderen und zerreißt sie in der Luft, stimmt's? Wenn sie in der Schule was falsch machen, lachst du sie aus. Sie hassen dich, und du haßt sie. Hab' ich recht? Es steht dir ins Gesicht geschrieben. Du spielst mit den Zügen rum, weil dir das ein Gefühl von Macht gibt, und jedesmal, wenn du es wieder tust und wieder nicht geschnappt wirst, fühlst du dich noch ein bißchen mächtiger. Jetzt hör mir mal zu, du Hosenscheißer. Doc hat dich gefunden, und das heißt, daß du früher oder später aufgeflogen wärst. Und wenn du ein Zugunglück verursachen würdest, dann würdest du in den Knast wandern, genau wie ich. Doc hat deinen kleinen Arsch gerettet, bevor du richtig in Schwierigkeiten gekommen bist, und dafür schuldest du ihm was. Wir schulden ihm alle was. Wir haben alle das gleiche durchgemacht wie du. Alle, Bo, Carolyn, Ronnie und ich. Wir
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sind alle schlau, und wir sind alle ausgelacht und verarscht worden, und wir haben alle an Rache gedacht. Meine Rache hat mich ins Gefängnis gebracht. Doc will, daß wir was wirklich Bedeutendes tun, und wenn du damit nicht klarkommst, wenn du deinen Scheiß und deine kleinlichen Rachegelüste nicht wegpacken kannst und mit dir nicht ins Reine kommst, dann kannst du es vergessen! Bist du zu egoistisch, um das zu kapieren? Bist du wirklich nichts weiter als ein mieses kleines Arschloch? Wir haben keine Zeit, hier rumzuspinnen. Entweder du machst dich jetzt sofort an die Arbeit, oder du gehst zurück nach Orlando.« In Adrians Hirn kam ein kleines Rädchen in Bewegung, und er merkte, daß er zum ersten Mal in seinem Leben behandelt wurde wie ein Erwachsener. Oder zum letzten Mal. »Kein Gequatsche, keine Angeberei«, sagte er. »Ich hab's kapiert.« »Ich habe keine Lust, deinen Babysitter zu spielen. Also, bist du dabei oder nicht?« »Ich will nicht nach Florida zurück.« »Doc!« »Ja?« »Er ist in Ordnung.« Sie alle waren von ihrer Herkunft her tief mit der Seele Amerikas verbunden. Sie stammten aus der schwarzen Mittelschicht, dem Latino-Viertel, aus Chinatown, aus der mittellosen Arbeiterschicht. Und sie alle hatten ihr Hirn dazu benutzt, die Welt der Technologie zu erobern. Jeder von ihnen hatte einen unorthodoxen Weg zu Computern und Kybernetik eingeschlagen, und gerade deswegen hatte Doc sie ausgesucht. Er wußte, daß Einzel-
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gänger oft mit scharfem Verstand und großer Kreativität gesegnet waren. Ronnie Fong war die Tochter von Immigranten aus Hong Kong, die ihre Tochter ablehnten, weil sie die Einschränkungen ihrer alten Traditionen ablehnte. Gleichzeitig hing Ronnie sehr an ihrer eigenen Kultur. In New York ging sie in Chinatown einkaufen und essen, und sie war begeistert, weil sie mit dem Fischhändler KantonChinesisch sprechen konnte. Sie glaubte fest daran, daß eine Million Dollar ihr ein großes Stück des Weges zur Versöhnung mit ihrer Familie in San Francisco ebnen würden. Carolyn Harvey war von ihrer Familie regelrecht verstoßen worden, weil sie mit Haut und Haaren lesbisch war. Für sie bedeutete die Technologie Erlösung aus einer Welt, die aus Vorurteilen und Angst bestand. Sie hatte sich eine Identität aus Trotz und Paranoia geschaffen. Nach New York zu gehen war für sie ein Akt der Befreiung. In diesem unglaublichen Schmelztiegel von Menschen jeder nur möglichen Art bestand für sie keine Notwendigkeit, etwas zu erklären oder sich zu verteidigen. Sie konnte sie selbst sein, und sie wandte Nashville ohne Bedauern den Rücken zu. Bo Daniels Vater war Buchhalter, und seine Mutter hatte eine Boutique. Er sprach Mittelklasseenglisch, mit Bostoner Akzent. Er hatte die richtigen Schulen besucht und schon früh gemerkt, daß es Computern egal war, welche Hautfarbe er hatte. Chase Manhattan hatte ihn direkt vom Bostoner College weg eingestellt. Dann hatten sie ihn ins Hinterzimmer der Bostoner Niederlassung gesteckt und ihn sich selbst überlassen. Als er merkte, wie die Mitarbeiter der Bank von höherer Stelle gelenkt und hin- und hergeschoben wurden wie Figuren auf einem
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Schachbrett, war für ihn klar, daß er bei Chase Manhattan nicht Karriere machen wollte. Er interessierte sich nicht für Unternehmenskultur, wenn er sie nicht selber erschaffen konnte, und das würde weder bei Chase Manhattan noch bei einer anderen Bank je der Fall sein. Er wollte sofort hinauf an die Spitze stürmen und der Boß sein. Er war nicht in dem Maße Außenseiter wie die anderen im Team. Er hatte Unternehmergeist und betrachtete seinen neuen Job als Sprungbrett in die Selbständigkeit. Er vermutete, daß Stromversorgungsunternehmen in den Monaten, die dem Schlag durch den Millennium Bug folgen würden, neue Software benötigten, um wieder auf die Beine zu kommen und zu funktionieren. Bo und Doc waren übereingekommen, daß die Software, die sie für ConEd entwickelten, nach dem 1.1.2000 neu verpackt und verkauft werden durfte. Judd Fernandez war von seiner mexikanischen Mutter in den Barrios von San Jose großgezogen worden, inmitten von Armut und umgeben von Banden. Ein Vater hatte nie existiert. Judd hatte genug Verstand besessen, seinen Blick über das armselige Leben hinaus zu richten, auf die fein säuberlich getrimmten Gewerbegebiete, die gleich nebenan in Silicon Valley wie Pilze aus dem Boden Schossen. Er wollte unbedingt einen Tob als Programmierer, und dort gab es Jobs zur Genüge, aber leider nicht für ihn. Er war ein Stück Dreck aus dem Latino-Viertel, der sich das, was er konnte, selbst beigebracht hatte, dem es an anerkannten Verdienstmerkmalen mangelte und der keine Übung darin hatte, seinen Lebenslauf zu frisieren. Seine Begabung blieb unerkannt. Er bewarb sich bei Intel um eine Stelle als Programmierer und wurde abgelehnt. Er beschloß, sich zu rächen. Er drang in die bestgesicherten Systeme von Intel ein und klaute die Konstruktions-
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plane von einem Dutzend neuer Chips. Vollkommen von sich überzeugt, trug er seine Beute nach Los Angeles und ging dort sofort der Polizei ins Netz. Er wurde in höherer Instanz zu drei Jahren Staatsgefängnis verurteilt. Daß er geschnappt worden war, als er versuchte, die Ware an den Mann zu bringen, verminderte seine Leistung keineswegs. Im Hackerland galt es als extreme Leistung, bei Intel einzubrechen und sich deren wertvollste Dateien herunterzuladen. Es war beinahe unglaublich, und keiner hätte es ihm je abgenommen, wenn es vor Gericht nicht bewiesen worden wäre. Und dann war da schließlich noch Adrian, dessen Leben eine Episode aus Natural Born Killers hätte sein können. Er wuchs in sieben verschiedenen Wohnwagenparks im Herzen Floridas auf. Seine Mutter verkaufte bei Disney World Eintrittskarten, und sein Vater soff sich zu Tode, als Adrian gerade mal zwölf war. Adrian war ein völlig gestörter Mensch aus dem Kaufhaus Amerika, mit einer einzigen Begabung, die ihn rettete: Er begriff die Beziehung von Zügen und Computern besser, als irgend jemand sonst auf diesem Planeten. Einen Tag, nachdem Judd ihm den Kopf gewaschen hatte, verschwand er und blieb drei Tage weg. Doc hatte sich gerade entschlossen, ihn zu ersetzen, da merkte er, daß der Junge U-Bahn fuhr und die private Eisenbahn der Stadt erforschte. »Himmel noch mal, Adrian!« flehte Doc ihn an, als der verlorene Sohn zurückkehrte. »Sag in Zukunft irgend jemandem, wohin du gehst und was du tust!« Um Adrian in der Nassau Street zu halten, kaufte Doc ihm maßstabsgetreue Modelle der U-Bahn-Züge und ließ Adrian im Computerlabor eine Anlage aufbauen. Mit sanftem Druck brachte er ihn dazu, das Signalsystem der
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U-Bahn nachzubauen und seine Softwarereparaturen an den Spielzeugzügen zu testen. Doc erwarb in der Battery Parkstadt, ein paar Häuserblocks von der Nassau Street entfernt, ein riesiges Apartment für das Team. Sie hatten keine Wahl. Sie mußten lernen, miteinander zu leben und zu arbeiten. Das permanente Zusammenleben auf engstem Raum hatte zwei Beziehungen und eine Trennung hervorgebracht und gab Anlaß zu unzähligen Streitereien. Mit behutsamer Überzeugungsarbeit, einem einfühlsamen Führungsstil und der Disziplin, die eine unverrückbare Deadline ihnen aufzwang, schmiedete Doc das Team schließlich zu einer Einheit zusammen, die eine Mission zu erfüllen hatte. Gegen Ende des Jahres 1997 hatte diese Mission sich ihrer Psychen bemächtigt, und allmählich begannen sie, sich von der Welt zurückzuziehen. Beziehungen nach außen wurden immer schwieriger, denn der Zwang zu Geheimhaltung und Schweigen machte alles unmöglich, was über oberflächliches Geplauder hinausging. Judd half ihnen, indem er berichtete, wie er gelernt hatte, im Gefängnis zu leben: »Ihr müßt euch auf euch selbst konzentrieren und in euren Köpfen leben.« Ihre Köpfe schmolzen zu einem Gemeinschaftskopf zusammen, als ihre ethnischen und persönlichen Identifikationen langsam verblaßten. Es dauerte nicht lange, bis die Dringlichkeit ihrer Aufgabe sie völlig aufgesogen hatte. Zweieinhalb Jahre schienen ewig lang zu sein, doch die Zeit wurde Tag für Tag knapper. Nichts durfte aufgeschoben werden, nichts unerledigt bleiben. Ronnie entwickelte sich schnell zur Expertin für die städtischen Wasserversorgung, die sich von den Catskill-Bergen über Hunderte Meilen von Kanälen, Aquädukten
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und Reservoirs erstreckte. Adrian spielte mit seinen Modelleisenbahnen und unternahm Erkundungsstreifzüge durch die U-Bahn-Tunnel und in die Depots. Carolyn spazierte durch die Straßen von Manhattan. Sie verfolgte die Telefonleitungen von der Verteilerbox zum Gebäude und weiter zum Bell Atlantic-Netzwerkknoten. Doc besorgte ihr einen Lkw, einen Helm und einen original Bell Atlantic-Ausweis. Sie begab sich in die Tunnel unter den Straßen, inspizierte Schritt für Schritt die Leitungen und prüfte jede einzelne mit einem Logikanalysator. Im Laufe eines Jahres hatte sie sich von der Nassau Street hundert Häuserblocks zur Leitzentrale der ConEd Systeme an der 65. Straße, Ecke West End Avenue vorgearbeitet und von dort aus weiter zu den vier Kraftwerken der Insel und dem riesigen Ravenswood-Kraftwerk am East River in Queens. Als sie die Leitungen zu den Kraftwerken fest verdrahtet hatte, machte sie sich an den Telefonleitungen zu schaffen, die von der Nassau Street zu den Büros der städtischen Umweltschutzbehörde in der Bronx führten, und an denjenigen, die zur U-Bahn-Leitzentrale in Brooklyn gingen. Bo streifte durch die Buchhandlungen bei der Columbia University und erstand dort für mehrere hundert Dollar Schulungsunterlagen für das Fach Elektrotechnik. Ein ganz normaler Computergeek wäre bei ConEd eingestiegen und hätte die Anwendungen geklaut, ohne über die physikalischen Systeme Bescheid zu wissen, die sie kontrollierten, und ohne Interesse dafür zu entwickeln. Doch das genügte ihm nicht. Bo mußte wissen, wie und warum und wo und, schlußendlich auch, wer. Sechs Monate, nachdem er angefangen hatte, wußte Bo mehr über Con Edison als der geschäftsführende Direktor, Mr. Peter Wilcox. Er hatte sogar zu dessen E-Mail
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Zugang, obwohl ihm die Zeit fehlte, sie zu lesen. Er wußte, an welchen Stellen die verschiedenen Teilsysteme wirksam zusammenarbeiteten und wo sie ineffizient waren. Er wußte, welche Nebenstellen zwischen Manhattan und den Kraftwerken wahrscheinlich brechen würden wie die schwachen Glieder einer Kette. Er kam dahinter, wie man die Y2K-Probleme ausmerzen und ein System aufbauen konnte, das die Stromversorgung in Manhattan gewährleisten würde. Doch er fand einfach keinen Weg, wie er die Stromgesellschaft dazu bringen konnte, auf die Computersysteme in der Nassau Street umzuschalten. Was er brauchte, um sein Wissen umzusetzen, waren geheime Master-Paßwörter. »Also«, fragte Doc ihn irgendwann 1998, »können wir New York retten?« »Nicht ohne Hilfe«, antwortete Bo. »Ich brauche einen Insider, der mir die Paßwörter besorgen kann. Ohne diese Mastercodes bin ich rettungslos verloren, wenn der Zeiger auf das Jahr 2000 umspringt. Du mußt einen Spion für mich finden.« »Kein Problem«, gab Doc zurück. »Die sind überall im Internet.« Einen Insider zu finden, der in der Leitzentrale der Stromversorgungsgesellschaft eine Schlüsselposition besetzte, war einfacher, als qualifizierte Hacker zu finden. Niemand wußte besser über die Y2K-Problematik Bescheid als die absoluten Profis an der Systemsteuerung. Und genau diese Leute kommunizierten ausgiebig über das Internet, wobei sie ihre wahre Identität oft hinter einem Pseudonym versteckten. Kraftwerksingenieure, Telefonsystemprogrammierer, Kapazitäten auf dem Gebiet der Verkehrssysteme und Dutzende mehr nutzten den Cyberspace zum Meinungsaustausch und als Ideenbörse.
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Doc klinkte sich in das Sprachforum ein. In weniger als einem Monat stieß er auf eine Spezialistin, die unter dem Namen »Deep Volt« agierte. Deep Volt war leitende Technikerin in der Leitzentrale der Systembedienung von ConEd und überzeugt, daß das Stromnetz zusammenbrechen würde. Doc fing an, der anonymen Spezialistin die Lage von Y2K-Bugs zu schicken, die Bo lokalisiert hatte, und die den hauseigenen Y2K-Programmierern durch die Maschen gerutscht waren. Im Austausch lieferte Deep Volt vertrauliche Unterlagen, Anwendungen, Codes, Paßwörter und Systemschemata. Endlich hatten sie ihren Insider. Von diesem Moment an ging ihre Arbeit sehr viel schneller voran. Immer tiefer drangen sie in die Materie ein. Sie nannten sich jetzt Mitternachts-Club. Ronnie ließ T-Shirts mit der Skyline bei Nacht drucken. Sie schufteten wie die Tiere. Ende 1998 hatten sie sich einen Überblick über den wirklichen Stand der Alarmbereitschaft der Stadt für den kommenden Angriff verschafft. Die Aussichten waren düster. Con Edison hatte mehrere hundert Millionen Dollar in Y2K-Software investiert und stand im weltweiten Vergleich der Stromversorger noch am besten da. Doch der riesige Versorgungsbetrieb war den Fehlfunktionen ausgeliefert, die überall im Nordoststromnetz auftreten konnten. Die dem Netz angeschlossenen Systeme waren so komplex, daß die Chancen für die einzelnen Versorgungsunternehmen, jeden Fehler richtig zu korrigieren, gleich null waren. Wahrscheinlichkeitsrechnungen sagten den Mißerfolg voraus. Wenn die Stromversorgung zusammenbrach, wäre alles andere egal. Die beste Chance, den Jahrtausendwechsel zu überste-
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hen, bestand für das Telefonsystem. Bell Atlantic hatte im gesamten Unternehmen alles menschenmögliche dafür getan, die Y2K-Probleme der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Die integrierten Chips in Netzwerk- und Verteilerknoten wurden ausgetauscht und jede einzelne Anwendung wurde auf Fehler untersucht. Auf der lokalen Ebene hingegen lauerten unzählige Fehlerquellen. Wie alle anderen Systeme war auch Bell Atlantic Teil eines größeren Netzwerkes gekoppelter Systeme, und die Querverbindungen waren äußerst anfällig für Fehler. Die Umweltschutzbehörde hatte eines der ältesten, ausgelaugtesten Computersysteme, das die Mitglieder des Mitternachts-Clubs je zu Gesicht bekommen hatten. Wie viele städtische Behörden war auch das Wasserwerk der private Tummelplatz der leitenden Direktoren, die es sich in ihrem hermetisch abgeriegelten Universum bequem gemacht hatten. Ihr System hatte Jahrzehnte lang gute Arbeit geleistet, und sie sahen keinen Grund, etwas daran zu ändern. »Das ist jetzt unsere Aufgabe«, sagte Doc. Die städtischen Verkehrsbetriebe hatten das Y2K-Problem schon frühzeitig erkannt. Der allgemeine Zustand war bemerkenswert, doch das Kontrollsystem für die UBahnen war veraltet, es war seit den 50er Jahren kaum verändert worden. Der Vorteil, ein antikes System zu betreiben, lag darin, daß die elektrischen Relais allesamt mechanisch waren und keine integrierten Chips enthielten. Die Züge würden sicher sein. Das Problem lag in den automatisierten Zugkontrolltischen in der Leitzentrale der Verkehrsbetriebe in der Jay Street in Brooklyn. Adrian stieß auf verborgene Millennium Bug-Schwachstellen, die die Bildschirme zum Absturz bringen wür-
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den. Infolgedessen würden die Sachbearbeiter in der Leitzentrale nicht mehr sehen, wo die Züge sich befanden. Sie wären auf das Funksystem der Verkehrsbetriebe angewiesen. Dies wiederum war jedoch abhängig von schadhaften Chips in den Funkgeräten. Wenn Bildschirme und Funkverkehr ausfielen, würde das System unverzüglich stoppen. Wenn die Hacker nichts unternahmen, würde der Großteil von New Yorks wesentlichen Computersystemen zusammenbrechen. Mitten im tiefsten Winter würde der technische Überbau, der die Stadt am Leben hielt, abbröckeln wie alter Putz, und New York wäre mittelalterlichen Zuständen ausgesetzt. Sich auszumalen, was danach kommen würde, hing von der Sichtweise des Betrachters ab, je nachdem, wie er die menschliche Natur einschätzte. Wenn die Menschheit verdorben und böse war, so wären Raub und Plünderung an der Tagesordnung. Wenn die Bewohner von New York aber besorgt waren um ihr gegenseitiges Wohlergehen und Überleben, dann würden sie sich den Umständen anpassen und sich gegenseitig helfen. Doc war der Überzeugung, daß er beide Szenarien zur Genüge zu Gesicht bekommen würde. In zwei Jahren waren die Mitglieder des MitternachtsClubs zu gehorsamen, militanten Cyberspace-Soldaten mutiert. Sie waren bereit, die umfangreiche Infrastruktur der Insel Manhattan zu übernehmen und aufrechtzuerhalten. Für die endgültige Umschaltung brauchten sie jedoch die unentbehrlichen Con Edison Master-Paßwörter. Mit Hilfe dieser Codes hatten sie die Chance, den ConEd Computern die Kontrolle zu entreißen und die Insel vor einem massiven Stromausfall zu bewahren. Ohne diese Paßwörter wäre New York Schrott.
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Ihnen blieben noch sechs Monate, und sie hatten beinahe alles, was sie brauchten. Aber nur beinahe. Deep Volt war nicht in der Lage, den unentbehrlichen Satz ConEdPaßwörter zu besorgen, mit deren Hilfe man die Kontrollen entriegelte, die das Hauptsystem auf das Ausweichsystem umschalteten. Ohne sie wäre Bos gesamte Arbeit vergebens. Anstatt auf den Großrechner in der Nassau Street umzuschalten, würden die ConEd Computer ihre internen Sicherungssysteme aktivieren, die ebenso mit fehlerhaften Codes infiziert waren wie das Hauptsystem selbst. Der Strom wäre weg. Die Paßwörter befanden sich auf einem gesicherten PC, der nicht mit der Außenwelt vernetzt war. Es gab keine Möglichkeit, einzudringen und sie zu bekommen. »Deine Spionin ist 'n Scheiß wert«, beschwerte sich Bo. »Sie tut, was sie kann«, sagte Doc zu ihrer Verteidigung. »Sie riskiert ihren Job. Wenn sie den PC knackt und die Paßwörter klaut, dann wird man sie schnappen und die Paßwörter ändern.« »Es muß eine Möglichkeit geben«, beharrte Bo. »Du mußt einen Dieb finden.« »Diebe inserieren leider nicht im Netz!« Der Mitternachts-Club war zwar vom Rest der Stadt isoliert, doch die Mitglieder lebten nicht in einem völligen Vakuum. Im März 1999 begann die breite Öffentlichkeit, von der drohenden Gefahr, die von dem Millennium Bug ausging, Notiz zu nehmen. Firmen, deren Steuerjahr im März begann, stießen auf unerwartete Probleme. Niemand ist eine Insel, und das trifft auch auf Firmen zu. Die Welt erkannte, daß nahezu alle Computer auf der Erde Teil eines gigantischen Netzwerkes waren, das so verwundbar
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war, wie sein schwächstes Glied. Unternehmen, die glaubten, gegen Y2K gerüstet zu sein, mußten plötzlich erkennen, daß ihre teure neue Software von Dateien zugrunde gerichtet wurde, die sie von Zulieferern oder Kunden importiert hatten, deren Systeme nicht gerüstet waren. Die technischen Schwierigkeiten wurden offensichtlich: schadhafte Codes in einem Labyrinth von Programmiersprachen zu finden, verlorene Aufzeichnungen und schluderige Programmierungen. Die Konkurse häuften sich, und in der Finanzwelt begann sich Panik breitzumachen. Firmen, die die Freigabe von Geldern für Y2K verzögert hatten, weil sie der Meinung gewesen waren, die Investition würde keine Rendite bringen, erkannten, daß sie sich geirrt hatten. Mit Entsetzen mußten sie feststellen, daß keine Programmierer mehr zur Verfügung standen, die sich ihrer Probleme annahmen. Es war zu spät. Monat für Monat, wenn neue Unternehmen in das nächste Steuerjahr gingen, verschärfte sich die Lage. Rechnungs- und Buchhaltungsprogramme spielten verrückt, genau wie Doc es einst an Old Blue demonstriert hatte. Die Menschen warteten vergeblich, daß die Regierung ihre Führungsrolle wahrnahm. Senat und Kongreß hielten Anhörungen ab, und die Experten, die zu Wort kamen, wiederholten, was sie schon seit Jahren sagten. Das Resultat waren neue Gremien von Sachverständigen und ganze Beamtenapparate, die sich über Definitionsfragen stritten. Die unausweichlichste Deadline aller Zeiten rückte näher, und tagtäglich stritten die Verantwortlichen. Sie debattierten, diskutierten und disputierten, und wieder war ein Tag verloren. Die Regierung scheiterte an ihrer Konzeptlosigkeit. Dienststellen, die sich, wie zum Beispiel die Sozialversicherungsverwaltung, seit 1989 mit
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Y2K beschäftigten, mußten feststellen, daß die mangelhaften Maßnahmen in anderen Dienststellen ihre Ziele zunichte machten. Die Sozialversicherung wäre zum Jahrtausendwechsel zwar in der Lage, Gelder auszubezahlen, doch das Schatzamt war nicht darauf vorbereitet, im neuen Jahrtausend Schecks auszustellen. Angesichts der drohenden Lähmung ihrer eigenen Systeme offenbarte sich die Regierung als nichts weiter als ein machtloser Hemmschuh und ein öffentliches Ärgernis. Jahrtausende, Jahre, Tage und auch Nanosekunden sind adäquate Mittel, die Zeit zu messen. Die exakte Messung der Zeit wiederum ist für Computer von immenser Bedeutung. Zeiteinheiten sind begrenzte Objekte, die ein Computer erkennen und zählen kann. Und nur das Zählen gestattet es einem Computer, zu rechnen und somit zu funktionieren. Mit der Hilfe von Uhren bringen Computer Prozesse in die richtige Reihenfolge. Schaltet man einen Computer ein, sind Datum und Uhrzeit die ersten Informationen, derer er sich vergewissert. Der Millennium Bug war nicht das einzige datumsbezogene Problem, dem die Computertechnologie 1999 ausgesetzt war. Viele Systeme basierten ausschließlich auf Datum und Uhrzeit, darunter auch das GPS, das Globale Funkpeilsystem, ein satellitengesteuertes System zur Funknavigation. Dieses System wurde weltweit von amerikanischen und alliierten Streitkräften, aber auch von der zivilen Schiffahrt, Luftfahrt, von computernavigierten Fahrzeugen und geophysischen Forschern genutzt. Jede amerikanische Telefongesellschaft nutzte das GPS zur Einstellung der Uhren, mit denen die Vermittlungsstellen betrieben wurden und mit deren Hilfe die Rechnungsstellung und die gesamte Wartungsorganisation funktionierten.
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Das GPS war vom Satellitenkontrollzentrum der US Air Force entwickelt worden. Es kontrollierte eine Flotte von 24 Satelliten. Die Funkpeilung von drei Satelliten genügte, um überall auf dem Globus eine Position zu bestimmen. Jeder konnte einen GPS-Empfänger kaufen, die Satelliten anpeilen und sich das System zunutze machen. Schon lange vor der Nacht vom 21. auf den 22. August 1999 machte die Air Force überall publik, daß sich die Beschaffenheit der Daten, die von den Satelliten gesendet wurden, ändern würde. Altere Modelle der GPS-Empfänger mußten mit einem neuen Chip ausgestattet werden, um die Daten richtig interpretieren und die genaue Position bestimmen zu können. So viele Millionen Schiffe, Flugzeuge und Fahrzeuge waren auf das GPS angewiesen, daß eine Fehlerquote von nur einem Prozent Tausende von Empfängern bedeutete, die nicht aufgerüstet worden waren. Trotz aller Warnungen wurde die Welt am 22. August von einer Welle katastrophaler Unfälle überrascht, verursacht von Computerfehlfunktionen, die zeitgleich auf dem gesamten Erdball passierten. In der Bucht von San Francisco kollidierten in dichtem Nebel zwei Öltanker und verseuchten die Bucht mit Millionen Litern Rohöl. In Rotterdam rammte ein Schiff, das Flüssiggas geladen hatte, einen Pier. Die anschließende Explosion zerstörte den Pier und ein Eisenbahndepot. 327 Menschen starben. Besonders gefährdet waren kleine Boote. Dutzende unerfahrener Segler, die von dem GPS abhängig waren und niemals die Grundlagen der Navigation gelernt hatten, wurden auf hoher See vermißt gemeldet. Diese GPS-Zeitumstellung war an und für sich kein Problem, das der Millennium Bug verursacht hatte. Doch es glich ihm und geschah zudem zu einem Zeitpunkt, als
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Y2K in den Medien allgegenwärtig war. Die uralten Ängste aus den Anfangszeiten der Computertechnologie erwachten zu neuem Leben. Die Menschen fingen an, in ihren Computern trojanische Pferde zu sehen. In den 50er und 60er Jahren hatten die riesigen, schwerfälligen Maschinen jener Zeit die Menschen das Fürchten gelehrt. Arbeiter hatten geglaubt, sie würden durch Automaten ersetzt werden, und so war es auch. Studenten hatten dagegen rebelliert, zu Computerlochkarten degradiert zu werden, und Filme wie 2001 - Odyssee im Weltraum verbreiteten die Vorstellung, die Welt würde von Maschinen bedroht, die Krieg gegen die Menschheit führten. Cartoons stiefelten über die Seiten vom The New Yorker und hielten Schilder, auf denen stand: »Das Ende ist nah, die Computer sind da.« Computer waren fremd und bedrohlich, und sie wurden mißverstanden. Im Laufe der Zeit wurden sie akzeptiert, umarmt und schließlich ignoriert, doch zu keinem Zeitpunkt hatte man sie wirklich begriffen. Als Y2K sich drohend auftürmte, kehrten die Cartoons zurück. Sie schilderten einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Mensch und Maschine. Ende 1999 warfen die Experten die Frage auf: »Was haben wir geschaffen?« Niemand konnte mit sinnvollen Antworten aufwarten. Neewsweek und das Time Magazine berichteten über kybernetisch isolierte Kolonien, die in Arizona und New Mexico aus dem Boden gewachsen waren und von Computerwissenschaftlern besiedelt wurden. Diese Insider, Männer wie Frauen, waren der Überzeugung, daß ein Desaster bevorstand. Sie hatten ihre Versicherungspolicen verkauft, ihre Ersparnisse abgehoben und Festungen gebaut, um sich und ihre Familien zu schützen. Die Experten fuhren fort, sich zu widersprechen, und wüste Verkündungen einer bevorstehenden Apoka-
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lypse bevölkerten die Schlagzeilen. Die Menschen fühlten sich verwirrt und verängstigt. Für jede Fehlbuchung auf dem Kontoauszug mußte der Millennium Bug herhalten. Am 1. Oktober sorgte eine Reihe von wahren Computerschmelzen für einen weiteren Schlag unter die Gürtellinie der Wirtschaft. An diesem Tag begann das bundesstaatliche Steuerjahr. Es wurde offensichtlich, daß sich Dutzende Bundesämter nur unzureichend um Abhilfemaßnahmen bemüht hatten. Hochrechnungen versagten. Planung wurde unmöglich. Beschaffungsämter waren nicht mehr in der Lage, etwas zu beschaffen, weil Bestellformulare und Rechnungen verschwunden waren. Militärische Logistiksysteme verloren die Kontrolle über ganze Nachschubketten, und der Dominoeffekt sandte eine Schockwelle durch die gesamte Wirtschaft. Unternehmen, die von Regierungsaufträgen abhängig waren, sahen ihre Aktien ins Bodenlose stürzen. Technologieaktien kamen ins Trudeln. Und Gerichtsklagen, schon seit geraumer Zeit als kostspieligster Aspekt des Y2K-Problems vorhergesagt, drohten, die Gerichte mit einer wahren Prozeßlawine zu überrollen, als die Debatte darüber begann, wer für den Millennium Bug zur Verantwortung zu ziehen war und wer für die Verluste aufkommen sollte. Die Antwort lautete: jeder. Trotz der enormen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit kamen Meinungsforscher Ende Dezember 1999 zu dem Ergebnis, daß weniger als die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung jemals von Y2K oder dem Millennium Bug gehört hatte. Die Menschen wußten, daß viele Computersysteme der Regierung nicht richtig funktionierten, doch sie wußten nicht, warum. Millionen New Yorker lebten ihr Leben normal weiter. Nicht, daß sie
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sich dessen, was bevorstand, gänzlich unbewußt gewesen wären. Doch sie waren unsicher, was seine genaue Natur betraf und was es zu bedeuten hatte. Diejenigen, die wußten, worum es bei Y2K ging, versuchten es denjenigen zu erklären, die keine Ahnung hatten. Entweder sie kapierten es, oder sie kapierten es nicht. Abwenden ließ es sich in keinem Fall. Diejenigen, die es kapiert hatten, nahmen die Sache sehr ernst. Ein New Yorker brauchte keinen Abschluß in Computerwissenschaften, um zu verstehen, daß ein technologischer Zusammenbruch, der mit einem Stromausfall begann, ernste soziale Konsequenzen nach sich zog. Schon früher hatten überraschende Stromausfälle in den Ghettos spontan zu Plünderungen geführt. Doch diesmal waren die Menschen vorgewarnt. Für Stahltüren, Fenstergitter und Wachpersonal wurden Spitzenpreise bezahlt. Weil ihnen die Wachmänner zu teuer wurden, kauften die Inhaber kleinerer Geschäfte sich Schrotflinten, mit denen sie sich persönlich in ihre Läden setzen wollten. In jedem Bezirk bildeten sich Bürgerwehren, die für die Silvesternacht Pläne zum gegenseitigen Schutz ausarbeiteten. Die Polizei hatte keine Einwände. Schon ohne Y2K wäre die New Yorker Polizei in dieser Nacht bis zur äußersten Grenze belastet. Die Anführer der Bürgerwehren in den verkommensten Ghettos in der South Bronx, im kolumbianischen Viertel von Queens, in Bedford-Stuyvesant in Brooklyn und in Spanish Harlem in Manhattan gaben die dringende Parole aus: Zündet nicht euer eigenes Haus an! Eine Woche vor dem großen Tag hatte der MitternachtsClub ein Software-Paket, bestehend aus 112 Anwendungen, auf Judds Großrechner installiert, das eine funkti-
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onstüchtige Kopie des Systems von Con Edison zur Stromversorgung in Manhattan darstellte. Um die Telekommunikation zu gewährleisten, hatten sie eine Telefonvermittlungszentrale eingerichtet, die auf dem neuesten Stand der Technik war, und sie hatten Zugriff auf ein die Insel überspannendes Netzwerk von Leitungen und Mikrowellenverbindungen. Carolyn hatte jeden Zentimeter überprüft und auf Vordermann gebracht. Um die U-Bahn zu betreiben, hatten sie eine komplette Zugleitzentrale für sieben U-Bahn-Linien errichtet, die die Insel und zusätzlich Teile von Brooklyn, der Bronx und Queens durchzogen. Sie hatten vollstes Vertrauen in ihre gesamte Arbeit, nur das Abwassersystem befand sich in einem hoffnungslosen Zustand. Es war schlicht zu alt, zu komplex und besaß zu viele eingebettete Chips an Stellen, die Ronnie unmöglich erreichen konnte. In der letzten Woche schliefen sie kaum noch. Der große Tag rückte näher, und ihnen fehlten noch immer die entscheidenden Paßwörter von ConEd. Doc rief Deep Volt jeden Tag an, doch vergebens. Die Spionin konnte zwar die Y2K-Verbesserungen liefern, die die Firma entwickelt hatte, doch noch immer keine Master-Paßwörter. Am 30. Dezember verließ niemand mehr den obersten Stock des Gebäudes in der Nassau Street. Das Haus war ein alter roter Ziegelbau mit schwarzen Eisengeländern und eisernen Feuerleitern. Es repräsentierte ein Stückchen altes New York, direkt vor jener Mauer, die der Wall Street ihren Namen gegeben hatte. Die Holländer hatten diese Mauer einst gebaut, um die Briten aus New Amsterdam fernzuhalten. Doch diesmal konnte nichts die Stadt gegen die fremde, feindselige Bedrohung vertei-
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digen, nichts außer einer winzigen Bande Outlaws. Der Countdown hatte begonnen. Der Krieg zwischen dem Millennium Bug und den Y2K-Gegenmitteln stand unmittelbar bevor.
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Kalt und klar zog der letzte Tag des 20. Jahrhunderts über New York herauf, über einer Metropole, die zuletzt 1832 mit dem Verhängnis in Berührung gekommen war: damals in Form einer Choleraepidemie. Die Geschichte hatte diese Stadt immer mit Samthandschuhen angefaßt. Das 20. Jahrhundert hatte viele Metropolen mit Krieg und Revolution heimgesucht, doch Big Apple hatte nicht einen Kratzer abbekommen. Unversehrt und, im Hinblick auf Zusammenbrüche, geradezu jungfräulich sah New York dem Ende des Jahrhunderts entgegen. Wäre New York ein fühlendes Wesen, so würde diese Stadt sich als unverwundbar betrachten. Natürlich gab es Behörden, die sich mit der Ausarbeitung von Notfallplänen zur zivilen Verteidigung befaßten. Während des kalten Krieges war das vorherrschende Szenario ein nuklearer Angriff gewesen. Die Stadt war im Besitz umfassender Pläne in riesiger Auflage, die bei einem Raketenangriff der Russen hervorgeholt und verteilt werden sollten. Dieser nukleare Notfallplan befand sich auf einem Rechner, der auch 1999 noch nicht für Y2K gerüstet war. Außerdem existierten weitere Pläne für zivile Störfälle aller Art, von Streiks bis hin zu Rassenunruhen. Diese Pläne kamen regelmäßig zur Anwendung und waren einigermaßen sinnvoll. Im Laufe der Jahre hatten die Stadtplaner reichlich Gelegenheit, die Abläufe zur Kontrolle von Ausschreitungen und Demonstrationen zu verbessern. Perfektion hatte die Stadt ebenso bei der Erstellung 73
von Plänen für ein anderes Horrorszenario erlangt, dem Umgang mit Terroristen. Hierbei wurde sie von verschiedenen Bundesbehörden unterstützt. Terrorismus mit chemischen und biologischen Waffen wurde als größte anzunehmende Bedrohung eingeschätzt, und ihm galt die größte Aufmerksamkeit. Als das Jahrhundert sich seinem Ende näherte, gehörte New York City zu den ersten Kommunen, die die akute Bedrohung durch den Millennium Bug realisierten. 1996 richtete Bürgermeister Giuliani ein Referat ein, das sich mit dem Problem befassen sollte. Eine erste Einschätzung des Zustandes der kommunalen Computersysteme deckte 687 kritische Systeme auf, die mit Y2K-Störungen infiziert waren. Nach zwei Jahren und einer Investition von 300 Millionen Dollar hatten 453 Systeme noch immer Probleme. Im Sommer 1999 begann die Stadt zu realisieren, daß der gesamte Inhalt des Stadtsäckels nicht ausreichen würde, die Störung zu beheben. Viele Systeme wurden verschrottet und durch neue ersetzt, doch teure und komplexe Systeme neu zu installieren war grundsätzlich eine langwierige Angelegenheit und brachte immer neue Probleme mit sich. Alte Daten mußten modifiziert und Y2K-fähig gemacht werden, ein Prozeß, der voller Fallstricke war. New York war, weltweit gesehen, die Stadt, die sich die größte Mühe gab, das Problem in den Griff zu bekommen, doch es genügte nicht, die unzähligen Systeme zu »reparieren«. Es war schlichtweg unmöglich, jede infizierte Codierzeile aufzuspüren. Und wie immer, wenn Softwarefehler beseitigt wurden, entstand für jeden vierten Defekt, den ein Programmierer aufspürte und korrigierte, ein neuer Fehler, der in den Code injiziert wurde. Unter Millionen Zeilen binären Maschinencodes genügte das Vorkommen eines einzigen fehlerhaften Codes, um
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das ganze System lahmzulegen. Die Testläufe bewiesen es. Die Wasserwerke ließen selbstzufrieden verlauten, sie hätten keine Probleme, doch ein Testlauf, der 1999 angesetzt wurde, sperrte in nur dreißig Sekunden das gesamte Wassersystem, weil integrierte Chips in den Servosteuerungen die Ventile im Hauptwasserreservoir blockierten. Die Pumpen wurden ersetzt, doch das System versagte erneut. Zwölf der vierzehn städtischen Kläranlagen fielen bei den Testläufen durch. Die Systeme in den Rechnungsämtern, die angeblich gerüstet waren, vielen ebenfalls ständig aus. Keiner wußte, was am 31.12.1999 um Mitternacht geschehen würde. Selbst wenn alle städtischen Systeme wie durch ein Wunder überlebten, so würden sie trotzdem allein davon abhängig sein, ob Con Edison in der Lage wäre, die Stromversorgung aufrechtzuerhalten. New York hatte bereits 1965 und 1977 große Stromausfälle erlebt, doch diesmal war der riesige Stromerzeuger in der Lage, vorzubauen. Pressemitteilungen voller Beschwichtigungen wurden herausgegeben. Am Morgen des 31.12.1999 begannen Einzelhändler und Bürgerwehren, die nur wenig Vertrauen in die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit von Con Edison besaßen, mit den letzten Vorbereitungen, um ihre Geschäfte und Stadtviertel zu beschützen. Flugblätter wurden verteilt. Tragbare Radios wurden überprüft und auf ihren Einsatz vorbereitet. Waffen wurden gereinigt und geladen. Als Reaktion auf eine Flut von Y2K-Meldungen und auf das GPS-Debakel vom 22. August hatte die Stadt zähneknirschend einen Notfallplan für den totalen Zusammenbruch ausgearbeitet, ein Flickwerk aus älteren Plänen für Stromausfälle und zivile Unruhen. Dem Plan wurde eine Wichtigkeit eingeräumt, die weit hinter den Vorkehrun-
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gen für das Silvesterfeuerwerk und die traditionelle Feier auf dem Times Square rangierte. Er wurde niemals fertiggestellt, freigegeben oder gar durchgespielt. Doch die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit durfte die Existenz eines Plans bestätigen. Gerüchte kursierten, der Bürgermeister habe im World Trade Center einen geheimen Bunker einrichten lassen, der als Kommandozentrale dienen sollte, wenn die Stadt zum Schlachtfeld würde. Einzelheiten waren nicht in Erfahrung zu bringen. Die Stadtväter wollten keine Panik auslösen. Die werden ihre Massenpanik so oder so bekommen, dachte Captain Ed Garcia. Auf dem Weg zu seinem allmorgendlichen Frühstück mit Donald Copeland und seinen anderen Freunden ging er den Broadway hinunter. Er wünschte sich, die Stadtplaner und offiziellen Beauftragten würden nur eine einzige Stunde in seinem Bezirk verbringen. Er würde ihnen den Mangel an Nahrungsvorräten, Wasser und Treibstoff vor Augen halten und sie fragen, an welchen Stellen die Stadt denn ihre Notunterkünfte geplant hätte. Wenn die U-Bahn zusammenbrach, würde die Stadt mit gestrandeten Einwohnern überschwemmt werden, und wenn Con Edison zusammenbrach ... ach, zum Teufel noch mal! Rein gar nichts war vorbereitet, weil niemand ernsthaft daran glaubte, daß etwas passieren würde. Garcia kannte sich aus, und er hatte keine Lust, sich das Maul zu verbrennen, indem er sich als Panikmacher hervortat. Es führte zu nichts. Gestern hatte er seinen Vorgesetzten mit dem Ausdruck »Y2K« konfrontiert, und der hatte geantwortet: »Was für zwei?« Um halb sieben betrat Garcia Bernie's Delicatessen an der Ecke 85. Straße und Broadway, bestellte Rührei mit Toast und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Garcia war 45
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Jahre alt, gute eins fünfundachtzig groß und beileibe kein Fliegengewicht. Seine Uniform mit den zweireihigen Messingknöpfen stand ihm gut zu Gesicht. Wie immer legte Garcia seine Dienstmütze und die Brieftasche auf einen Tisch im hinteren Bereich des Ladens. Es war Freitag, und ein langes Neujahrswochenende stand ins Haus. Die braven New Yorker Bürger trafen ernsthafte Vorbereitungen, alberne Hütchen aufzusetzen und sich vollaufen zu lassen, als stünde ein ganz normaler Jahreswechsel bevor. Garcia hatte in seinem Leben als Polizist schon fünfundzwanzig New Yorker Silvesternächte mitgemacht. Doch in diesem Jahr mußte er sich neben den üblichen Betrunkenen, die in seine Streifenwagen kotzten, auch mit Jahrtausendverrückten rumschlagen, mit Weltraumspinnern und mit religiösen Fanatikern, die das Ende der Welt prophezeiten. Und das alles schon weit vor Mitternacht, wenn die elektronische Jahrtausendkacke endgültig überkochen würde. Garcia liebte seinen Beruf. Schon vor langer Zeit hatte er erkannt, daß es viel besser war, ein Verbrechen zu verhindern, als Kriminelle zu jagen und zu bestrafen. In diesem Fall aber war die Stadt selbst, dieses anonyme Miststück, dabei, eine Unterlassungssünde zu begehen, ein nahezu verbrecherisches Versäumnis, das er nicht verhindern konnte. Garcias alter Freund Bill Packard brachte ihm seine Frühstückseier an den Tisch. »Frohes neues Jahr, Commandante«, sagte Packard. Er war Kardiologe am Bellevue Krankenhaus. »Du mich auch, Bill.« »Du siehst aber gar nicht glücklich aus.« »Ich will nur, daß dieser Scheiß bald vorbei ist«, sagte Garcia. »Auf dem Weg hierher bin ich an drei Schnapslä-
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den vorbeigekommen, alle brechend voll. Und das um sechs Uhr morgens!« »Tja«, grinste Packard breit und setzte sich. »Heute ist der Tag der Tage. Bist du bereit?« »Komm schon, Bill. Keiner ist bereit.« »Copeland schon.« »Sagt er!« gab Garcia zurück. »Da ist ein Unterschied.« »Wir werden es früh genug herausfinden«, meinte Packard und schaute auf die Uhr. »In siebzehn Stunden und fünfzehn Minuten. He, Bernie!« rief er. »Machst du bitte den Fernseher an, ja?« »Warum?« »In ein paar Minuten beginnt mitten im Pazifik das neue Jahrtausend.« »Na und?« »Mach schon an, Bernie.« »Bestellst du Frühstück oder nicht, Doc?« »Ja, ja, ja.« Widerwillig machte der Besitzer des Delikatessenladens den Fernseher an und schaltete auf CNN. Finster starrte er auf die Budweiser-Reklame. Budweiser war das offizielle Bier des Jahrtausendirrsinns. »Erwartest du eine heiße Nacht?« fragte der Polizist den Arzt. »Machst du Witze?« gab Packard zurück. »Ich bin nur froh, daß ich nicht in der Notaufnahme arbeite. Ich habe Probleme, auf die du im Traum nicht kommen würdest. Weißt du, wie viele Computer wir im Bellevue haben? Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie viele Computer jedes gottverdammte Scheißgerät auf der Intensivstation am Laufen halten? Und weißt du, wie viele davon überprüft worden sind? Keiner. K-E-I-N-E-R, jetzt weißt du's.«
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»Du sollst dich ja auch um die Menschen kümmern, nicht um die Computer, Bill.« Packard zog eine Grimasse und schüttelte frustriert den Kopf. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und starrte auf den Bildschirm. Jonathan Spillman kam herein und setzte sich. Der Geschäftsführer der nagelneuen SafewaySupermarktfiliale Ecke 96. Straße und Broadway war das dritte Mitglied in dem Quartett alter Freunde. »Sag besser nichts«, warnte Garcia ihn. »Was soll ich nicht sagen?« Packard zwinkerte ihm zu und formte mit den Lippen die Worte: »Frohes neues Jahr!« »Ich bin Jude, falls ihr das vergessen habt«, erinnerte Spillman seine Freunde. »Wir feiern den Jahreswechsel im September. Außerdem schreiben wir gerade das Jahr 5760, nur zu eurer Information. Wo steckt Copeland?« »Ist noch nicht da«, antwortete der Arzt. »Heute nacht wird er erfahren, ob seine ganze Supersoftware überhaupt funktioniert. Wird unser guter Donnie die Chase Manhattan Bank vor dem Untergang bewahren? Als wenn mir das nicht scheißegal wäre!« »Copeland wird niemanden retten, aber Doc Downs wird es tun«, warf Spillman ein. »Doc weiß, was er tut. Ich stehe übrigens über all diesen Dingen, Jungs. Safeway hat Millionen in diese Sache gesteckt, und Doc ist der Meinung, daß wir alles richtig gemacht haben.« »Erste Sahne!« sagte Garcia. »Das ist toll! Die Bank und der Lebensmittelladen werden überleben, und der Rest der Welt fährt zur Hölle.« »Kernkraftwerke«, sinnierte Packard. »Wie viele sind weltweit betroffen? Vierhundert? Fünfhundert?« »Mehr«, meinte Spillman. »Keiner weiß es genau. Es gibt überall geheime Reaktoren.«
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»Willst du was essen?« schnauzte Bernie Spillman an. »Ach, gib mir 'n Sesambagel mit...« »Mit nix, ich weiß schon.« Einen kurzen Augenblick herrschte vertrautes Schweigen. Sie waren letztendlich nichts weiter als drei Jungs aus der Nachbarschaft, die es zu etwas gebracht hatten, denen es gut ging. Intelligente Männer mit erfolgreichen Karrieren, und doch waren sie ganz einfache Kleinstädter geblieben. Die Gemeinschaft nahm ihnen etwas von ihrer Angst. »Hast du was von deiner Frau gehört?« fragte Spillman Packard. Aus Angst vor Gewalt und Plünderungen im Falle eines Stromausfalls hatte der Arzt seine Frau und die Kinder vorsorglich aufs Land verfrachtet, an die Küste von Maine. »Ja. Sie ist bei ihrer Schwester. Sie und die Kinder haben gestern den ganzen Tag lang Feuerholz gestapelt. Ist Shirley weggefahren?« »Nein. Das würde sie niemals tun!« »Schick sie weg«, sagte Packard, und Garcia fügte hinzu: »Du mußt dafür sorgen.« »Ach komm, Ed«, sagte Spillman. »Du kennst doch meine Frau. Für sie ist die Jahrtausendwende das größte Ereignis seit der Hochzeit von Prinzessin Diana. Außerdem bist du gerade der richtige, mir zu raten. Du bist schließlich nie verheiratet gewesen.« Eine Fanfare ertönte aus dem Fernseher, und sie drehten die Köpfe zum Bildschirm. In Atlanta lächelte ein Moderator in die Kamera und sagte: »Nur noch wenige Minuten, meine Damen und Herren, dann werden die ersten Menschen auf der Erde das neue Jahrtausend begrüßen. Wir schalten jetzt live auf die Marshallinseln zu Joanna Springer. Joanna ?«
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Old Blue hatte sein Domizil mittlerweile in dem klimatisierten Untergeschoß von Copelands vornehmen Sandsteinhaus auf der Westside der 85. Straße. Er war das perfekte Beispiel für einen absurden kybernetischen Overkill. Der Großrechner steuerte den gesamten Haushalt inklusive eines ausgefeilten Alarm- und Sicherheitssystems. Old Blues Pflichten begannen exakt um 6.30 Uhr morgens. Er schaltete die Heizung ein, kochte Kaffee, überprüfte den Eingang der E-Mails und fütterte Micro, Copelands Welshterrier. Der Computer aktivierte ein Programm, das exakt eineinhalb Tassen Lamm mit Reis in Micros Futterschüssel füllte. In perfekter pawlowscher Manier verschlang der Hund sein Frühstück binnen vierzig Sekunden. Inzwischen brühte die Espressomaschine eine Tasse schwarzgerösteten Espresso, und präzise um sieben Uhr schaltete der Rechner den Fernseher im Schlafzimmer seines Herrn ein. Copeland verschaffte sich den ersten Kick des Tages gerne mit ein paar Schreckensmeldungen, und an diesem Tag aller Tage war er schon lange wach, bevor der Fernseher anging. CNN berichtete live aus Majuro, der Hauptstadt der Republik der Marshallinseln, mitten im pazifischen Ozean an der internationalen Datumsgrenze, 15.000 Kilometer und siebzehn Zeitzonen nach Osten. »Das neue Jahrtausend ist da, meine Damen und Herren!« sprudelte eine atemlose Frau ins Mikrofon. Sie stand neben der Startbahn eines Flugplatzes, hinter ihr waren die Lichter des Flughafengebäudes und einer kleinen Stadt zu sehen. Über der Stadt entzündeten die Pyrotechniker das allererste Feuerwerk, das das neue Jahrtausend willkommen heißen sollte. »Wir sind hier nur wenige Kilometer von der internationalen Datumsgrenze entfernt. Es ist unbeschreiblich aufregend. Wir schreiben das
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Jahr 2000, meine Damen und Herren, das einundzwanzigste ...« Eine Übertragungsstörung schaltete ihre Stimme aus, und die Lichter der Stadt im Hintergrund begannen zu flackern. Dann war der Ton wieder da: »... in Mikronesien, westlich des 180. Längengrades ... die internationale ...grenze. Es sieht ... als hätten wir ...ierigkeiten ... ein Flugzeug ...zt... Land... an.« Die Lichter der Stadt und des Flughafengebäudes hinter ihr erloschen. Sekunden später waren auch die blauen Landefeuer auf der Rollbahn verschwunden. Verblüfft drehte sich die Reporterin um. Dann blickte sie wieder in die Kamera. Ihre Lippen bewegten sich, doch der Ton fehlte. Die explodierenden Raketen und Sternwerfer des Feuerwerks schufen eine unheimliche Beleuchtung über ihr. »Es ... etw... passier...« Über die verstümmelte Stimme der Journalistin hinweg konnte Copeland das Brummen von Flugzeugmotoren hören, die sich der Landebahn näherten. »... um Touristen, die ... erste Landung ...s Jahrhund... aber die ...feuer ...alte DC3.« Copeland hörte einen furchtbaren Aufprall. Eine Feuerwand kam ins Bild. Dann wurde der Schirm dunkel. Der Regisseur der Sendung schaltete sofort in das Aufnahmestudio in Atlanta und blendete den Nachrichtensprecher ein. »Es scheint, als hätten wir den Kontakt zu Joanna Springer verloren, meine Damen und Herren. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was geschehen ist. Einen Augenblick, bitte. Haben wir Ton? Ja, ich glaube, wir haben wieder Ton. Joanna, können Sie mich hören?« Die körperlose Stimme der Frau hallte um die Welt. Mil-
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lionen Menschen in allen Ländern hörten, was sie sagte: »O Gott. Ein Flugzeug ist abgestürzt. Die Landungsfeuer sind ausgegangen, genau wie alle anderen Lichter, nur unser Übertragungswagen hat noch Licht, weil wir mit einem Generat...« Stille. Der Bildschirm wurde dunkel, dann wieder das Studio. »Dies ist ein schwarzer Augenblick, meine Damen und Herren. Wir versuchen, Ihnen live von den Marshallinseln zu berichten, so wie wir in den kommenden 24 Stunden live von der Ankunft des neuen Jahrtausends überall auf der Welt berichten wollen. Doch es sieht so aus, als stünde eine Tragödie am Beginn dieser Berichterstattung. Einen Augenblick, bitte. Können wir wenigstens den Ton wieder herstellen? Nein? Ich erfahre gerade, daß die Satellitenleitung gestört ist. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, meine Damen und Herren. Es scheint, daß soeben eingetroffen ist, was wir alle am meisten gefürchtet hatten, von dem wir hofften, es möge niemals eintreten. Die Vorhersagen über Computerfehlfunktionen scheinen sich zu bewahrheiten. Wenigstens, was die Marshallinseln betrifft. Wir bringen ihnen jetzt ein paar Informationen unserer Sponsoren. Bitte bleiben Sie dran.« Ein kurioser Aspekt des Momentes, als die Welt einzustürzen begann, war die Tatsache, daß der ganze Planet die Nachricht gleichzeitig vernahm. In jener ersten Stunde des neuen Jahrtausends berichtete CNN über vier weitere Flugzeugkatastrophen in der Nähe der Datumslinie. Es handelte sich ausnahmslos um Charterflüge, voll besetzt mit Touristen, die dem Irrglauben aufgesessen waren, sie hätten ein exotisches Erlebnis erstanden, weil sie zu den ersten Menschen gehörten, die das 21. Jahrhundert willkommen hießen. Stromausfälle schnitten Dut-
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zende Inseln im Pazifik von der Außenwelt ab. Die technischen Einzelheiten waren kompliziert zu erfassen und variierten von Insel zu Insel - in einigen Kraftwerken hatten alte Computersysteme entschieden, daß das Jahr 1900 gekommen sei und alle Wartungsarbeiten längst überfällig waren; auf anderen Inseln versagten die integrierten Chips in automatisierten Übertragungs- und Verteilersystemen - doch das Ergebnis war überall das gleiche. Der pazifische Ozean versank in Dunkelheit. Die einzige Ausnahme bildeten Inseln wie die beiden Midways, deren Stromversorgung gänzlich ohne Computerbestandteile auskam, oder diejenigen, die nagelneue Systeme hatten. Dazu gehörte auch Guam. Die örtliche Stromgesellschaft hatte Software installiert, die für das Jahr 2000 gerüstet war. Copeland schrie den Fernseher an: »Hab' ich es euch doch gesagt, ihr Idioten! Alle haben es euch seit Jahren gesagt, aber nein! Verdammte Scheiße!« Dann zog ein Lächeln über sein Gesicht. Copeland war weder schockiert noch überrascht. Er wußte, daß dies nur der Auftakt war zu einem Tag, der höchst interessant zu werden versprach. Heute erfüllte sich die Vision, die er vor neun Jahren auf der Brücke gehabt hatte. Doch Copeland brauchte keine Rechtfertigung. Wer recht hatte, der hatte recht. Was er brauchte, war eine Nonstopkatastrophe, die von dem wirklich wichtigen Y2K-Ereignis ablenkte, das in genau siebzehn Stunden, um Mitternacht, New Yorker Zeit, stattfinden würde. Soweit Copeland informiert war, würde die allmächtige Chase Manhattan Bank um Mitternacht an vorübergehendem kybernetischen Gedächtnisschwund leiden. Schlag zwölf Uhr Mitternacht, wenn die letzten Bits der Copeland 2000 Software in das elektronische Geldtrans-
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fersystem der Bank eingespielt wurden, würde ein verstecktes Programm, das Doc Downs in ein größeres Diagnoseprogrammpaket eingebaut hatte, unverzüglich 72 Millionen Dollar auf Konten überweisen, die Copeland in der Schweiz, in Liechtenstein und Panama eröffnet hatte. Sekunden später würde dieses Programm die Fähigkeit der Bank, elektronische Geldtransfers durchzuführen, vorübergehend außer Kraft setzen. Es würde die Datensätze Tausender Konten wild durcheinanderwürfeln und sich anschließend selbst zerstören. Keinerlei registrierte Gelder würden fehlen; die Bank würde den Fehler innerhalb von ein bis zwei Tagen behoben haben und gesund und rentabel ins nächste Jahrhundert starten. Für Chase Manhattan würde das Schlamassel aussehen wie eine Millennium Bug-Schwachstelle, die man übersehen hatte. Wir sind untröstlich, da ist uns wohl ein Fehler unterlaufen! 72 Millionen Dollar, und die Hälfte davon seins! Normalerweise saß Copeland zu dieser Uhrzeit schon bei Bernie und frühstückte. Doch ihm stand ein langer Tag bevor, und er hatte es nicht eilig. Duschen, rasieren, Eau de Cologne, blauer Nadelstreifenanzug, Budapester Schuhe, ein kurzer Blick in den Spiegel, um das Image des gutaussehenden Yuppies zu überprüfen, einen Schluck Kaffee und exakt zwei Minuten geplanter Aufmerksamkeit für den Hund, während er in der Küche seine E-Mails überflog. Old Blue hatte die Morgenzeitungen gescannt und aufbereitet. Er hatte Copelands Namen und den seiner Firma aus sieben Artikeln gesiebt. Alle befaßten sich mit einem neuen Software-Abkommen zwischen Copeland Solutions und der Bank, das im Laufe des Tages offiziell bekanntgegeben werden sollte. Old Blue überspielte diese Nachrichten auf das Küchenterminal des hausinternen Netzes. Copeland war froh, daß die Bank heute vormit85
tag eine Pressekonferenz anberaumt hatte, etwas, auf das er sich konzentrieren konnte. Schnell überflog er die Schlagzeilen der Artikel. »Copeland Solutions verkündet heute neue SoftwarePartnerschaft mit Chase Manhattan«, schrieb das Wall Street Journal. »Spekulant Donald Copeland und Chase Manhattan enthüllen Software-Revolution für TelefonBanking«, titelte die Times. In allen Artikeln ging es um Variationen des gleichen Themas. Copeland nahm sich vor, seiner PR-Chefin Jody Maxwell zu ihrer hervorragenden Arbeit zu gratulieren. Alles nur Scharade. Morgen früh würde die Welt so tief im Schlamassel stecken, daß weder die Times noch die Bank sich einen Dreck um neue Software für irgendwelche Telefonkunden scheren würden. Copelands Problem bestand darin, diesen Tag zu überstehen, ohne daß der Freudentaumel offenbar wurde, der ihn erfaßte, sobald er an den Bankraub dachte. Gerade rechtzeitig zu einem Bericht aus Wellington, Neuseeland, stellte er den Fernseher in der Küche an. Wellington war die erste Hauptstadt, die vom Millennium Bug getroffen wurde. »... und, um es noch einmal zu wiederholen, es hat den Anschein, als würde eine Explosion in einer Ölraffinerie in den Außenbezirken von Wellington, die sich zwanzig Minuten nach Mitternacht ereignet hat, mit den Feuerwerken zur Jahrtausendwende darum wetteifern, diese charmante Stadt zu erhellen. Bis jetzt ist die örtliche Stromversorgung hier und in Auckland stabil geblieben, doch uns erreichen Berichte von Stromausfällen in abgelegeneren Gegenden. Die ländlichen Bezirke scheinen am härtesten betroffen zu sein. Die lokalen Behörden verbreiten über den Rundfunk Anweisungen zur Handha-
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bung des Notstroms, doch man kann im Moment noch nicht sagen, wie viele Menschen in den betroffenen Gebieten in der Lage sind, diese Anweisungen überhaupt zu empfangen.« »John«, fragte der Studiosprecher. »Ist es bei euch in Wellington kalt?« »Also, wir befinden uns ja auf der südlichen Halbkugel, William, und hier herrscht Hochsommer. Die Antwort ist also: nein, es ist nicht kalt. Aber viele Menschen hier haben riesengroße Angst. Die anderen sind, sagen wir mal, ziemlich angeheitert. Es ist schließlich immer noch Silvester. « Copeland stellte den Ton ab und sah die Werbung über den Bildschirm flimmern. Die Welt begann sich aufzulösen, doch das würde niemanden von dem Versuch abhalten, sein Produkt zu verkaufen. Er wandte sich wieder dem Computerterminal zu und wollte gerade seine persönlichen Nachrichten abrufen, als das Telefon sein morgendliches Ritual störte. Er griff zum Hörer. »Copeland.« »Läuft dein Fernseher?« fragte Bill Packard. »Ja«, sagte Copeland. »Ganz schön aufregend.« »Du hast es vorhergesehen«, sagte Packard. »Du hattest recht.« »Ich wünschte, ich hätte mich geirrt«, log Copeland. »Bist du bei Bernie?« »Wir sind alle hier.« Bill Packard lebte mit seiner Frau und den zwei Kindern auf der anderen Straßenseite. Teils zufällig und teils beabsichtigt lebten Copeland, Packard, Garcia und Spillman noch immer im gleichen Viertel auf der Upper West Side, wo sie aufgewachsen waren. Im Laufe der Jahre war es Copeland immer schwerer gefallen, sich nicht mit seinen
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Plänen in Bezug auf die Chase Manhattan aufzuplustern, wenn er mit seinen Freunden zusammen war. Es hätte ihm ungeheuren Spaß gemacht, seinen alten Kumpels beim Kartenspiel ganz beiläufig zu sagen: »Freunde, jetzt ratet mal, was ich tun werde.« Packard und Spillman würden den Plan wahrscheinlich raffiniert finden und darüber lachen. Doch Copeland hegte keinen Zweifel daran, daß Ed Garcia ihn einsperren würde. Es war ziemlich hart, Typen zu hintergehen, die er seit seinem dritten Geburtstag kannte, doch er hatte es jetzt bereits fünf Jahre lang geschafft. Zum Teufel, morgen früh wäre alles vorbei. »In fünfundvierzig Minuten ist Sibirien dran«, fuhr der Arzt fort, »und zwei Stunden später Japan.« »Scheiß auf die Russen und die Japaner«, sagte Copeland. »Die haben es nicht besser verdient. Wie lauft's im Krankenhaus?« »Ich mach mir ziemlich große Sorgen. Jedes verdammte Stück der gesamten medizinischen Ausstattung hat integrierte Chips, und kein einziger ist überprüft worden.« »Das ist doch verrückt«, sagte Copeland. »Weiß ich selbst. Ich hab' einen Termin mit dem Leiter unserer wunderbaren Desinformationsabteilung. Diese verdammten Bürokraten merken einfach nicht, daß die Sache ernst ist.« »Brauchst du Hilfe?« »Verdammt noch mal, klar, aber die maßgeblichen Stellen sagen, wir hätten kein Budget dafür, also kann ich nicht mal selbst Hilfe organisieren. Das nervt!« »Hast du deine Aktien verkauft?« »Ja.« »Hol dein Geld von der Bank.« »Ja.«
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»Organisier dir einen Vorrat an Lebensmitteln und Wasser.« »Ja, und Batterien. Was ist das? Eine Inspektion?« »Vergiß die Kerzen nicht«, sagte Copeland. »Das Krankenhaus kannst du nicht retten, aber dich selbst.« »Ja, ich glaube, das kann ich«, sagte der Arzt. »Seh'n wir uns heute abend?« »Ich denke nicht«, fuhr Copeland fort. »Ich werde bis weit nach Mitternacht im Büro sein.« »Also, schau rein, wenn du Zeit hast. Bis dann.« Copeland legte auf, und das Telefon klingelte sofort wieder. »Copeland.« »Ich bin's, Doc. Hast du die Nachrichten gesehen?« »Natürlich.« »Ganz Neuseeland geht den Bach runter. Die Raffinerie, Ampeln, die Überlandleitungen. In Auckland haben sämtliche Hauptwasserleitungen dichtgemacht. Kommst du heute rein?« »So wie immer, Doc. Um halb zehn sind Jody und ich bei der Bank zu einer Pressekonferenz.« »Ich glaube, die Medienfritzen werden heute morgen ganz schön was zu tun haben«, sagte Doc. »Du darfst dich nicht wundern, wenn die Konferenz platzt.« »Heute wundere ich mich über gar nichts«, antwortete Copeland. »Da wäre ich mir nicht so verdammt sicher, Donald. Heute wird jeder von uns sein blaues Wunder erleben, du auch.« »Du hast sicher recht«, sagte Copeland und trank einen Schluck Kaffee. »Hör mal, diese Flugzeugabstürze und Stromausfälle haben ein paar von unseren Leuten sicherlich ganz schön Angst eingejagt, aber das ist mir egal.
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Heute kommt jeder rein, wie an einem ganz normalen Tag, und es wird bis Mitternacht gearbeitet. Heute werden wir soviel zu tun haben wie noch nie.« »Boß, so kenne ich dich! Donnie, der Sklaventreiber. Mach dir keine Sorgen. Unsere Leute sind alle instruiert worden.« Copeland wandte sich wieder seinen E-Mails zu. Die erste Nachricht stammte von Marie, seiner Exfrau. Sie gehörte der Sekte der Wiederkunft Christi an und schickte wieder eine ihrer regelmäßigen Nachrichten, die ihn ermahnte, Jesus zu suchen und das Buch der Offenbarung zu lesen. Copeland zögerte, die Nachricht zu öffnen. Die alte Melodie von den Chambers Brothers, »Time Has Come Today«, ging ihm wie so oft durch den Kopf. Tick tack, tick tack. Copeland war sich der Zeit stets unentrinnbar bewußt. Er trug eine 12.000-Dollar-Rolex, die die drei Digitaluhren in der Küche ergänzte. Tempus fugit, tja Junge, da hast du recht. Copeland hatte immer das Gefühl, als liefe ihm die Zeit davon, als liefe sein Leben auf einer höllischen astronomischen Uhr. Er hatte sich immer angetrieben, jedes Unternehmen, das er in Angriff nahm, erfolgreich abzuschließen, niemals Zeit zu vergeuden. Dir steht nur eine bestimmte Anzahl Stunden zur Verfügung, sagte er sich immer wieder. Und wenn nicht jede einzelne davon in geregelter Ordnung und mit äußerster Disziplin abläuft, dann wirst du im Chaos versinken. Zwei Jahrzehnte unter diesem strengen Regiment hatten ihn, mit nun dreiundvierzig Jahren, zu einem Mann gemacht, der absolut unter Hochspannung stand. Copeland war so besessen von der Vorstellung, sich die Millionen der Chase Manhattan unter den Nagel zu reißen, daß alles, was sich ihm dabei in den Weg stellte, aus seinem Leben verschwand. Im Laufe der Zeit standen
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auf dieser Liste auch seine Frau und sein Sohn. Beide hatten gelernt, die Hingebung, die er seinen Geschäften, seinen Computern und all seinen Firmen entgegenbrachte, zutiefst zu verachten. Drei Jahre war es her, seit Marie ihre Koffer gepackt hatte und einer christlichen Sekte in Arizona beigetreten war. Letztes Jahr hatte sich sein achtzehnjähriger Sohn Eddie zum Ludditen erklärt, der alle Maschinen, Computer und die gesamte Wirtschaft rigoros ablehnte. Er hatte die Gelder aus seinem Treuhandfonds genommen und war nach Los Angeles abgehauen. Vor vollendete Tatsachen gestellt, entdeckte Copeland, daß es ihm lieber war, allein mit Micro und Old Blue zu leben, zwei Kreaturen, die zu bedingungsloser Liebe fähig waren. Er seufzte, öffnete die E-Mail seiner Exfrau und machte sich auf den Angriff gefaßt. »Das Jüngste Gericht steht uns bevor«, so fing die Nachricht an. »Heute nacht kommt das neue Jahrtausend und mit ihm der Beginn der tausendjährigen Herrschaft unseres Herrn Jesus Christus. Nur die Gerechten werden gerettet sein. Die Welt, wie du sie kennst, wird morgen enden. Die, die falschen Göttern huldigen, werden am Tag des Jüngsten Gerichts vor dem Herrn erbeben. Donald, gib auf. Wende dich Jesus zu.« Heute morgen konnte er wirklich keinen verrückten Scheiß gebrauchen. Himmel noch mal, die religiöse Rechte hatte seit Monaten Hochkonjunktur, sie schlug Kapital aus der Jahrtausendwende und prophezeite Zerstörung und das Jüngste Gericht. Es war pure Ironie, daß diese Leute nicht im entferntesten ahnten, wie recht sie hatten. Der Jahrtausendwechsel war wirklich eine unglaublich große Sache, aber nicht so, wie diese Vollidioten sich das vorstellten. Danke sehr, Marie, vielen Dank und auf Wiedersehen. 91
Ach, dachte Copeland, wie einfach das Leben wäre, wenn man nur diese ganzen Irren los wäre, die sich in fixe Ideen verrannt hatten und in den absurdesten Aberglauben und die dachten, sie wüßten auf alles eine Antwort. Da waren Computer doch viel besser: Sie führten nur Befehle aus und hielten keine Moralpredigten. Copeland war ein wahrhaft moderner Mann. Er hatte die Aufteilung seines Gedächtnisses zur Kunst erhoben. Schuldgefühle waren fein säuberlich in einer Ecke ganz hinten in seinem Gehirn verstaut, wo sie seine Geschäfte nicht behindern konnten. Die Liebe, die er in seinem Leben einst empfunden hatte, lag gleich in der Nähe begraben. Er hatte keine Ahnung, warum sein Sohn Luddit und seine Exfrau eine religiöse Spinnerin geworden war. Er wußte nur, daß sie ihn zutiefst enttäuscht hatten, daß sie seine Werte - nicht aber sein Geld - abgelehnt und ihn mit seiner eiskalten Leidenschaft alleingelassen hatten. Für ihn waren sie dasselbe wie ein Flugzeugabsturz auf den Marshallinseln: ein Störfall in weiter Ferne, der einen nicht weiter berührte. Ehe Copeland ging, hinterließ er der Haushälterin noch den elektronischen Auftrag, Hundefutter zu bestellen. Er startete das Prüfprogramm des Sicherheitssystems, um zu kontrollieren, ob alle Fenster und Türen geschlossen waren. Dann sagte er Old Blue auf Wiedersehen. Die Familienangelegenheiten waren erledigt. Copeland ging hinunter in die Garage und machte sich auf den Weg. Ruhig glitt der Porsche die 85. Straße Richtung Broadway hinunter. Copeland parkte direkt vor Bernie's Delicatessen im absoluten Halteverbot. »Wenn das nicht der Yuppie-König höchstpersönlich ist«, sagte Packard, als Copeland sich setzte.
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»Seit zehn Jahren redest du den gleichen Mist, Bill«, konterte Copeland. »Willst du was essen?« schnauzte Bernie ihn an. »Nein danke, heute nicht, Bernie.« »Und wie kommst du dann darauf, daß du in meinem Halteverbot parken kannst? Ed, schreib ihm 'nen Strafzettel.« »Sollte ich wirklich«, sagte der Polizist. »Wirst du heute nacht die Welt retten, Donnie?« »No, Sir, aber ich werde 'nen Haufen Banken retten.« »Hoffst du.« »Geld regiert, aber ein Restrisiko bleibt immer, stimmt's? Übrigens, Marie hat mir geschrieben. Heute nacht kommt das Ende der Welt. Seid euch dessen bewußt!« »Sie hat recht«, sagte Garcia. »Das predigst du doch schon seit Jahren. Bill hat seine Familie nach Maine geschickt.« »Sind sie hingefahren?« »Klar.« Copeland drehte sich zu Spillman um und fragte: »Ist Shirley weggefahren?« »Machst du Witze?« Spillman schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich muß meinen Laden aufsperren. Bis dann, Jungs.« »Ich komme mit«, sagte Packard. »Komm, wir schnappen uns ein Taxi.« Copeland und Garcia blieben sitzen. Copeland musterte seinen alten Freund, der sich unverzüglich zum Feind wandeln würde, wenn er die Wahrheit erführe. »Wir drücken uns«, sagte er grinsend. »Ist das strafbar?« »Donnie, wenn ich dich nicht seit vierzig Jahren kennen würde, dann würde ich dich für ein richtiges Arschloch halten. So weiß ich zwar, daß du eins bist, aber es ist mir
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egal. Du bist berühmt. Die Times schreibt über dich. Du gehst mit dem Bürgermeister zum Mittagessen. Du bist schlau, und du bist reich, aber wenn heute nacht die Lichter ausgehen, dann sitzt du genauso im Dunkeln, wie alle anderen.« »Glaubst du?« »Ja, verdammt noch mal!« »Ich wette mit dir um eine Million, daß du falsch liegst.« »Ich habe keine Million.« »Okay, dann wette ich um zehn Dollar.« »Leck mich. Was wird denn nun wirklich passieren?« »Das weiß keiner, Ed. Es weiß wirklich keiner.« Garcia erhob sich und setzte seine elegante Dienstmütze auf. Er zahlte und gab Bernie ein großzügiges Trinkgeld, das Copeland unverzüglich überbot. »Du hast gar nichts gegessen!« protestierte Bernie. »Frohes neues Jahr«, sagte Copeland und trat hinter Garcia hinaus auf den Bürgersteig. Finster musterte der Polizist den Verkehr, der so floß wie immer, und die Leute, die eilig hin und her liefen. Tauben flatterten herum, eine milde Brise trieb Abfall über die Straße. »Die Ruhe vor dem Sturm«, sagte er. »Was wird nur mit unserer Stadt passieren, Donnie?« »Heute nachmittag wird ein Run auf die Banken einsetzen«, sagte Copeland. »Es zeichnet sich schon seit Tagen ab, heute wird es so sein wie 1929.« »Was noch?« »Wenn Con Edison alles im Griff hat und der Strom nicht ausfällt, dann sind wir auf der sicheren Seite, aber das UBahn-System wird zusammenbrechen. Die Züge werden stehenbleiben, weil ihre Kontrollprogramme abstürzen, aber das ist bekannt. Die Wasserzufuhr ist gewährleistet, glaube ich.«
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»Hör auf. Ich kann's mir vorstellen.« »Wo anders wird es viel schlimmer aussehen. New York wird überleben«, sagte Copeland und öffnete die Fahrertür. »Viel Glück.« »Sehen wir uns morgen früh?« »Genau wie immer.« Garcia winkte. Ein Streifenwagen tauchte auf, fuhr an den Randstein und nahm ihn mit. Copeland ließ seinen Wagen an, schaltete den Radarscanner ein und gab Gas. Als wäre ihm jemand auf den Fersen, jagte er mit heulendem Motor den Broadway hinunter. Er fuhr über gelbe Ampeln und schlängelte sich bis zur 57. Straße halsbrecherisch durch den Verkehr. Dort wurde es so eng, daß er vom Gas gehen mußte. Ansonsten waren die Straßen trügerisch leer, Tausende waren Über das lange Wochenende weggefahren. Copeland fuhr weiter downtown, Richtung Wall Street. Sein Rekord für die Strecke zwischen der Westside und der Parkgarage neben seinem Büro lag bei dreiundzwanzig Minuten siebenundvierzig. Jeden Morgen trieb ihn das Rennen gegen die Uhr bis an seine Grenzen und drückte dem Tag den Stempel auf. Keine Kompromisse, kein Rabatt, keine Überraschungen. Copelands Fahrstil entsprach seiner Art, Geschäfte zu machen: rücksichtslos, mit quietschenden Reifen und glühenden Bremsen, über das dröhnende Geräusch des Auspuffs triumphierend, das von den steinernen Banken und Maklerbüros widerhallte. Die Wall Street war verstopft. Normalerweise nahmen sich viele Menschen am 31. Dezember frei, besonders, wenn er auf einen Freitag viel, und der Rest machte schon am frühen Nachmittag Schluß. Aber nicht heute. Wie ein Fallbeil hing Y2K über der Straße. Unzählige Milliarden
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Dollar waren auf die Gnade von unzähligen Computersystemen angewiesen, die vor dem heiklen Stichtag nie richtig getestet werden konnten. Copeland wußte, daß es schlimm werden würde. Die ersten Berichte aus dem Pazifik deuteten das an, und schon jetzt war die Straße in Aufruhr. Ihm war es egal. Bald würden die Millionen der Chase Manhattan ihm gehören, und wenn Docs Software hielt, was sie versprach, dann hätte er schon nächste Woche mehr Riesenaufträge, ausgefallene Computersysteme wieder instand zu setzen, als er je ausführen konnte. Er raste durch die letzten Häuserblocks zur Nassau Street und warf einen Blick auf seine Rolex; genau achtundzwanzig Minuten, guter Durchschnitt. Er bog in die Garage und parkte seinen Wagen neben Docs Jeep. Doc hatte ein Dieselaggregat in die Garage gestellt und auf dem Dach eine Satellitenschüssel und Solarzellen montiert, angeblich, um die Verbindung seiner offiziellen Y2KKundendienstleute mit den Klienten der Firma aufrechtzuerhalten. Doch in Wirklichkeit wäre Doc in der Lage, das Gebäude in eine Festung zu verwandeln, die von Stacheldraht und Automatikwaffen beschützt würde; genug Hardware, um der Verwüstung durch irgendeinen Millennium Bug an der Grundstücksgrenze Einhalt zu gebieten, sollte es wirklich zum Äußersten kommen. Copeland nahm den Lift in den zweiten Stock, hinauf in Docs Allerheiligstes. Er ging einen Flur entlang, als die Tür zu Docs Büro plötzlich aufschwang. »Komm hier rein!« befahl sein Angestellter. Doc war in den letzten neun Jahren keinen Tag gealtert. Das einzige, was sich geändert hatte, war der Verhau in seinem Büro. Es sah noch schlimmer aus. »Schau dir das an«, sagte Doc und deutete auf den Fern-
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seher. »Der Innenminister verliest die erste Regierungserklärung des Tages.« Copeland ignorierte den Fernseher und fragte: »Wer ist heute morgen da?« »Alle Kundendienstleute, die heute Dienst haben. Sie haben einen Wettopf eingerichtet. Es geht darum, wie viele Flugzeuge vom Himmel fallen werden.« »Wirklich?« fragte Copeland. »Was für ein Haufen Kranker. Bist du auch dabei?« »Klar. Habe hundert Dollar auf die 12 gesetzt.« »Hast du nichts Besseres zu tun, Doc?« Doc hatte mehr zu tun, als Copeland sich jemals hätte träumen lassen. Doch er schüttelte den Kopf und sagte: »Nö. Ich werde mich zudröhnen und den ganzen Tag glotzen. Ich habe in den letzten fünf Jahren keinen einzigen Tag freigenommen.« Er streckte sich, grinste und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Er hatte heute seine eigene Scharade aufzuführen, wenn er verhindern wollte, daß Donald dem Mitternachts-Club während der kritischen Stunden auf die Spur kam. Wollte der Club auch nur ein Fünkchen Zivilisation in der Stadt bewahren, war das letzte, was sie gebrauchen konnten, Donald Copeland, der inmitten einer Krise einen Tobsuchtsanfall bekam. »Wie hat dir die Ölraffinerie in Wellington gefallen?« fragte Copeland. »Das war doch was! Wie viele Raffinerien haben wir im Stadtgebiet von New York? Vier oder fünf?« »Achtzehn«, sagte Doc, »und die sollten spätestens jetzt runtergefahren werden, aber niemand tut etwas.« Der Minister sagte gerade: »Wir warnen die Bevölkerung vor Panikreaktionen. Was in Neuseeland und Mikronesien geschehen ist, wird bei uns nicht geschehen. Das In-
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nenministerium sowie das Energieministerium sind im Besitz von Garantiebekundungen aller großen Stromversorger des Landes ...« Der Regisseur schaltete vom Innenminister auf den Nachrichtensprecher. »Wir werden in einem Moment wieder zu der Pressekonferenz des Innenministers zurückschalten, meine Damen und Herren, aber es gibt weitere Neuigkeiten. Wir schalten nach ... wohin? Ja, zum Flughafen La Guardia in New York City und damit zu Ellen Rothstein. Ellen?« »Ja, William, wie Sie hinter mir sehen können, ist es hier am La Guardia Flughafen zu einer spontanen Demonstration gekommen.« Die Kamera schwenkte auf eine Gruppe Demonstranten, die marschierten und dabei riefen: »Gefahr! Hebt nicht ab, ihr fliegt ins Grab!« »Himmel!«, sagte Doc, »Das ist wirklich komisch und ein guter Rat dazu.« »Panik macht sich breit. Die Passagiere weigern sich, an Bord der Maschinen zu gehen«, berichtete die Reporterin. »Zum Teufel damit«, sagte Copeland. »Wie steht's um die Bank?« Doc war ein unverbesserlicher Schlaumeier. Er zündete sich eine Camel an und fragte: »Welche Bank?« »Komm schon!« »Ach, die Bank! Sie warten auf Nachricht von der Notenbank. Die will alle elektronischen Geldtransfers für 24 Stunden einstellen, aber die großen Banken sind dagegen. Als die Banken vor zwei Jahren genau den gleichen Vorschlag gemacht haben, hat die Notenbank nein gesagt. Und nun haben sie die Seiten gewechselt. Typisch Regierungsärsche.« »Wenn sie das tun, sind wir geliefert!« sagte Copeland.
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»Stimmt genau, Boß, außer ...« Doc grinste. Er zog das S genüßlich in die Länge und ließ langsam den Rauch aus seinem Mund entweichen. »Außer was?« »Außer, ich aktiviere unser kleines Geheimnis von hieraus.« »Bist du dazu in der Lage?« »Klar, aber es würde unweigerlich das Risiko erhöhen.« » Würdest du es auch tun, Dr. Downs?« »Herr, befiehl, ich folge dir. Paß auf.« Doc schaltete ein gewöhnliches Computerterminal an, das Windows NT geladen hatte. Er tippte ein paar Befehle ein, und auf dem Bildschirm erschien ein großer roter Kreis auf blauem Hintergrund und dazu eine Kopfzeile: »Der große rote Knopf.« »Du mußt nichts weiter tun, als diesen Bildschirm zu berühren, Donnie, und die Millionen der Chase Manhattan Bank schwirren runter nach Panama. »Du nimmst mich auf den Arm.« »Versuch's ruhig, aber vergewissere dich, daß du es wirklich tun willst.« »Ist das alles?« »Ja, Sir.« »Und der Risikofaktor?« »Was soll damit sein?« fragte Doc. »Zwischen diesem Terminal und einem Modem im Rechenzentrum der Bank sitzen fünf Sicherungsautomatismen. Jeder einzelne ist programmiert, sich selbst zu zerstören. Aber wenn es um empfindliche Mechanismen und knifflige kleine Programme geht, kann man sich nie ganz sicher sein. Wenn du den roten Knopf nicht drücken willst, dann mußt du bis Mitternacht warten. Dann geht alles automatisch.« Copeland knirschte mit den Zähnen. Er starrte auf den
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roten Knopf, der ihm entgegenleuchtete wie ein virtuelles Mandala. Er hätte sich am liebsten auf den Bildschirm gestürzt, doch statt dessen sagte er: »Du bist ein verteufelter Bastard, Doc. Weißt du das? Also, warten wir ab, was die Notenbank sagt.« »Du bist der Boß, Donald«, sagte Doc mit einem Grinsen. »Du kannst diese Entscheidung treffen, wann immer du möchtest. Das Paßwort ist ›Rot‹, geh in die Datei DOCCM.EXE, gib ›SCREEN‹ ein und du hast den Knopf auf deinem Monitor.« Doc starrte wieder auf den Fernseher. Die Demonstranten in La Guardia riefen immer noch. Die Polizei traf am Flughafen ein, und hysterische Menschen stürmten Taxis und Busse. »Donald«, sagte Doc, »findest du es nicht ein bißchen seltsam, daß du nur an dich selbst denken kannst, während die Welt sich in ihre Bestandteile auflöst wie ein billiger Pullover? Du mußt eine Firma leiten. Jeder einzelne unserer Kunden wird auf der Matte stehen und nach der Zusage schreien, daß die Software, die du ihnen verkauft hast, auch funktioniert.« »Die können mich alle mal. Ich bin heute für niemanden zu sprechen. Du nimmst die Anrufe entgegen.« »Gehst du zu der Pressekonferenz?« »Ja, um den Schein zu wahren.« »Herrgott, jetzt kann mich nichts mehr umwerfen!« »Du bist ein Klugscheißer«, sagte Copeland und ging zum Lift. Er begab sich zu seinem eigenen Büro im Erdgeschoß. Unten kamen die Angestellten herein. Sie hatten sich auf einen langen Tag vorbereitet. Die Nachrichten aus dem Westpazifik lagen in der Luft, aber die Leute nahmen es leicht, es waren nur wenige Anzeichen von Nervosität auszumachen. Copeland sah mehrere Flaschen
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Champagner und Tische, die mit Geschenkkörben voll erlesener Köstlichkeiten beladen waren. Jemand pustete in eine Tröte und warf eine Handvoll Konfetti in den Flur. »Frohes neues Jahr, Mr. Copeland.« In New York war es beinahe acht Uhr morgens. In Sibirien war es kurz vor Mitternacht.
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Copelands Besessenheit für die Chase-Millionen hatten ihn für das Treiben des Mitternachts-Clubs blind gemacht, obwohl es sich direkt vor seiner Nase abspielte. Doc hoffte, sein Boß würde den ganzen Tag damit verbringen, den roten Knopf anzustarren. Zusätzlich hatte er noch ein paar gemeine Tricks auf Lager, um sich Copeland vom Leib zu halten. Doc sah sich selbst als Idealist in einer Welt, in der man von jedem über acht für seine Ideale ausgelacht wurde. Das Amerika des ausgehenden 20. Jahrhunderts war eine zynischen Nation geworden, doch das war Doc egal. Er war sich treu geblieben. Wenn der Millennium Bug eine fürchterliche Dunkelheit nach sich zog, dann wollte er ein Leuchtfeuer auf einer Insel der Hoffnung entfachen. Und die am nächsten gelegene Insel war nun mal Manhattan. Doc wußte nicht genau, wieso er diese überfüllte, wuselnde Stadt so liebte. An New York etwas auszusetzen war nicht schwer, man konnte diesen Ort sogar hassen. Doch verglichen mit New York waren alle anderen Städte nur zweite Wahl. New York besaß mehr Geld, mehr Macht, mehr Einfluß und war zudem reich an außergewöhnlichen Menschen, die aus der ganzen Welt kamen, um an diesem Überfluß teilzuhaben. Ungeachtet der überwältigenden Architektur und der riesigen Ausmaße dieser Stadt verstanden es die New Yorker, sie auf ein verständliches Niveau zu reduzieren. Der Big Apple war die
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menschlichste aller Städte. Die Menschen redeten miteinander, auch wenn, was sie sagten, durchaus nicht immer nett gemeint war. Die Einheimischen drückten ihrem Stadtviertel den Charakter einer Kleinstadt auf, wo sich Nachbarn um einander kümmerten. Doc hatte sich angepaßt. Er liebte die New Yorker U-Bahn und die Schachspiele am Washington Square. Das Gedränge midtown und die quirlige Atmosphäre in SoHo ließen ihn aufblühen. Er hatte sich angewöhnt, seinen Kaffee »schwarz« zu bestellen, weil »normal« mit Milch bedeutete. Das Wetter konnte er nicht ausstehen, aber New York war eine Stadt der Innenräume. Unzählige elegante Fluchtpunkte boten Schutz vor der Hitze des Sommers und der grimmigen Kälte des Winters. Oft kamen Doc die letzten Minuten des Films Angriffsziel Moskau in den Sinn, einem nuklearen Horrorszenario über den kalten Krieg: Eine einsame B-52 der US-Luftwaffe kreist über der Freiheitsstatue, nimmt das Empire State Building ins Visier und löscht die Stadt mit einer Atombombe aus. Wenn Amerika sich selbst an die Kehle wollte, dann wäre New York die Halsschlagader. Doc konnte sich noch genau an einen bestimmten Moment erinnern, als er noch nicht lange in New York gewesen war. Er war durch die Innenstadt gestreift und hatte die neuen Eindrücke in sich aufgenommen. Eine Frau war in sein Blickfeld getreten. Mit kräftigen, langbeinigen Schritten hatte sie sich ihren Weg gebahnt. Eine umwerfende Frau von 1,80 m in einem kurzen Chanel-Rock, Charles Jourdan-Schuhen, mit einem Gucci-Täschchen, filmreifer Frisur und Top-Make-up. Sie hatte diese unbeschreibliche, typisch New Yorker Haltung, und aus ihren Mir-gehört-die-Welt-Augen hatte sie unzählige Blitze geschleudert. Sie hatte die kleinen, dunkelhäutigen Männer,
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die die Sixth Avenue bevölkerten, bei weitem überragt und die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zog, vollkommen ignoriert. Im Gegenlicht war sie vom Bürgersteig auf die Straße getreten, direkt vor ein Taxi, und hatte den turbantragenden Fahrer so gezwungen, scharf zu bremsen und wild zu hupen. Sie hatte sich nicht dazu herabgelassen, ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Nur ein perfekt manikürter Finger war in Richtung seiner Scheibe aufgeblitzt. Dann war sie über die 43. Straße gefegt, der Blick bereit, das nächste Hindernis auf ihrem Weg auszulöschen. Aufrührende Momente wie dieser gehörten für Doc zum Alltag in Manhattan. Vielleicht liebte er diese Stadt deshalb so sehr und war deshalb der Überzeugung, daß sie die Rettung verdient hatte. New York war das Mekka für Menschen, die ganz oben standen. Wenn diese Menschen verloren wären, dann hätte die Welt verloren. Schon richtete der Millennium Bug auf der anderen Seite des Erdballs verheerende Verwüstungen an. Wenn New York aber überlebte, dann könnte diese Stadt der Welt den Weg zur Genesung weisen. Den neuesten Berechnungen des Mitternachts-Clubs zufolge würde ein kleiner Versorgungsbetrieb in Vermont namens Northern Lights Electrics ausfallen und damit den netzweiten Zusammenbruch der Stromversorgung verursachen. Davor bliebe auch ConEd nicht verschont. Alle Zeit und alles Geld, das Doc in den MitternachtsClub investiert hatte, würde den Bach hinuntergehen, wenn Bo die Master-Paßwörter nicht bekäme, um New York vom Nordoststromnetz zu isolieren. Eine Million Dollar hatte Doc in Gehälter gesteckt, fünf Millionen in Bonusse, sechs Millionen in den IBM und sonstige Hardware und eine halbe Million in Schmiergelder, um diese
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vorletzte Stufe überhaupt zu erreichen. Und nun drohte er an dem Fehlen sieben simpler Paßwörter zu scheitern! Deep Volt führte die Tagesschicht der Techniker in der Leitzentrale und hatte ihren Dienst wohl schon begonnen. Wie an all den anderen Tagen rief Doc sie völlig unnötigerweise an. Denn hätte seine Spionin die Paßwörter wirklich herausgefunden, so wäre er der erste, der es erfahren würde. »Wie läuft's?« fragte er. »Die heiße Phase läuft langsam an«, gab Deep Volt zur Antwort. »Wir lassen gerade Katastrophensimulationen ablaufen.« »Und die Codes?« »Der Abteilungsleiter wird sie im Laufe des Tages ändern.« »O.K. Wir telefonieren.« Doc warf einen kurzen Blick auf ein Pult mit Überwachungsmonitoren. Sie boten Einblick in verschiedene Bereiche des dreistöckigen Gebäudes in der Nassau Street. Im Erdgeschoß verteilten sich Donalds Buchhalter, Analytiker und Verkäufer auf ihre Arbeitsbereiche in den Großraumbüros, um die Telefone zu bedienen oder Informationen von einem Rechner zum nächsten zu verschicken. Im ersten Stock wurde in 24-Stunden-Schichten gearbeitet. Dreißig Y2K-Kundenbetreuer standen in Kontakt mit Chase Manhattan und siebenundzwanzig anderen Banken in acht Ländern. Im obersten Stockwerk traten gerade zwölf Computerfreaks ihren Dienst im offiziellen Computerlabor an. Dort wurde neue Software für Copeland Solutions und die anderen Firmen des Konzerns entwickelt. Doc tippte ein Paßwort ein. Eine Kamera in dem gesicherten Computerraum überspielte ihm das ruhige Bild
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der fünf Mitglieder des Mitternachts-Clubs, die ihre Bildschirme beobachteten. Bo schritt in seinem großräumigen Bereich auf und ab. Mit verzweifelter Miene betrachtete er eine Reihe Monitore, die ihm die aktuellen Bildschirme von Technikern in den fünf Kraftwerken von Con Edison zeigten. Neben ihm tanzte Carolyn zu ihrer allgegenwärtigen Musik. Dabei beobachtete sie eine Bell Atlantic-Anzeige, die den Umfang der Anrufe bei einem Dutzend Vermittlungszentralen anzeigte. Im Hintergrund, den Lautsprechern abgewandt, beobachtete Ronnie Flußdiagramme aus dem Wasserwerk. Sie stand auf und ging hinüber zu Adrian, der auf seine Tastatur einhämmerte. Doc schaltete den Ton an, um zu hören, was sie sagte. »Auf der F-Linie hat gerade jemand einen Waggon Passagiere ausgeraubt. An der 23. Straße haben sie ihn geschnappt.« »Woher weißt du das?« »Ich höre den Notruf ab. Jemand ist angeschossen worden.« Adrian zuckte die Schultern und sagte: »Ist mir doch egal.« »Ich dachte nur, es interessiert dich vielleicht. Die Züge müssen rückwärts fahren.« »Ronnie«, sagte Adrian. »Es ist mir scheißegal, was vor Mitternacht mit der U-Bahn los ist.« Doc holte sich Adrians Monitor auf seinen eigenen Bildschirm. Adrian hatte sich bei einer Y2K-Nachrichtengruppe eingeloggt, einem Chatroom für Y2K-Freaks, die sich die wildesten Nachrichten zukommen ließen. Sie versuchten, sich gegenseitig mit den Vorhersagen über das, was passieren würde, zu übertrumpfen. Alle Programmierer waren davon überzeugt, daß sie mit den Auf-
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räumarbeiten ein Vermögen machen würden, und Adrian bildete keine Ausnahme. Er schrieb:
Doc las noch ein paar Nachrichten und seufzte. Am kommenden Montag würde der Status der Techniker, die in der Lage waren, die Dinge wieder zum Laufen zu bringen, bis in den Olymp emporklettern, und sie konnten es kaum erwarten, Kohle zu machen. Doc ekelte diese Einstellung geradezu. Diese offen zur Schau gestellte Schadenfreude war für ihn beinahe unerträglich. Er schickte Adrian eine EMail: »Geh mit deinen Zügen spielen!« Gekränkt hob Adrian den Kopf zur Kamera und runzelte die Nase.
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Fünf Minuten vor acht rief Deep Volt an. »Doc? Ich werde gegen Mittag noch mal versuchen, an die Dinger zu kommen, werd nicht nervös. Ich ruf dich nachher wieder an.« Doc legte auf. Er konnte sich nicht leisten, den Mut zu verlieren. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als zu warten. Darum schaltete er den Fernseher ein, um mitzuerleben, wie der Millennium Bug in die erste der elf russischen Zeitzonen eindrang. Neun Jahre war Doc alten IBM Großrechnern auf der Spur gewesen. Er wußte, daß die Behörden in der ostsibirischen Stadt Magadan ihr lokales, mit Kernkraft betriebenes Stromnetz mit zwei alten IBM Rechnern der 370Serie steuerten. Die Computer liefen mit antiquierter Software, die absolut nicht Y2K-gerüstet war. Das bedeutete, daß die 500.000 Einwohner von Magadan in einer eiskalten Winternacht unter einem riesigen Stromausfall leiden würden, wenn es nicht sogar zu einer Atomkatastrophe ersten Ranges käme. Der Reaktor in Magadan war der erste von Hunderten, die auf der Bahn des Millennium Bug lagen. Was dort geschah, war der Präzedenzfall für den Rest des Tages. In der Gewißheit, daß das Unheil sich unwiderruflich seinen Weg zu einer unschuldigen Stadt bahnte, aber ebenso in der Gewißheit, daß sich auch die Russen der Gefahr bewußt waren, hoffte Doc, daß die Ingenieure des Kernkraftwerkes rechtzeitig die Notabschaltung des Reaktors vornahmen. Atomingenieure waren überaus vorsichtige Menschen mit großer Erfahrung. Mit Kernspaltung treibt man keine Späße. Doc wurde nervös. Er zündete sich eine Camel an, sah auf die Uhr und schickte Judd eine E-Mail: »Geh mit den Russen online.« Auf der Suche nach Infos aus Sibirien zappte Doc durch
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die Nachrichtenkanäle. CBS berichtete noch immer aus Neuseeland, ABC und CNN waren in Moskau, Fox sendete ein Interview mit der Raumstation und NBC hatte einen Mann in Wladiwostok, einer Stadt, zwei Stunden und 1600 Kilometer westlich von Magadan gelegen. Mit einer Pelzmütze und einem langen Mantel stand der NBC Reporter in fünfzehn Zentimeter hohem Schnee, hinter sich das Kernkraftwerk von Wladiwostok. »Wie Sie an den typischen Betontürmen im Hintergrund erkennen können, vertraut diese Stadt, wie die meisten russischen Städte, bei der Stromerzeugung auf Kernenergie. Weltweit beziehen zwei Milliarden Menschen ihre Elektrizität aus Kernkraftwerken. Jedes einzelne dieser Kraftwerke ist mit einem eigenen, einzigartigen Computersystem ausgestattet. Die Betreiber dieses Kraftwerkes müssen absolut sicher sein, daß jede einzelne Codierzeile in jeder Anwendung frei von Y2K-Problemen ist, oder sie müssen den Atomreaktor unverzüglich abschalten. Die Temperatur im Inneren des Reaktordruckbehälters beträgt etwa 320° C. Deshalb muß der Behälter langsam heruntergekühlt werden, ein Prozeß, der drei Tage in Anspruch nehmen kann.« Die Kamera schwenkte und zeigte eine kleine, langsam wachsende Gruppe von Einwohnern, die sich vor dem mit Ketten abgeriegelten Eingang zu dem Kraftwerk versammelten. »Diese Menschen sind über den Millennium Bug informiert. Sie wissen, was in Mikronesien und Neuseeland geschehen ist, doch wir haben noch niemanden gefunden, der Englisch spricht. Einen Augenblick, bitte ...« Der Reporter sprach in schnellem Russisch mit einer stämmigen jungen Frau, die einen sperrigen Empfänger dabei hatte.
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»Ja«, sagte sie. »wenig Englisch. Diesen Empfänger, sagen Sie das? CB? Ja, CB-Funk und Kurzwelle.« »Mit wem sprechen Sie?« »Mein Freund in Magadan. Dort ist es«, sie unterbrach sich und sah auf die Uhr, »Jahre zweitausend.« Sie drehte den Empfänger lauter, und die Menschen in der Nähe scharten sich um sie, um zuzuhören. Der Reporter lieferte eine Simultanübersetzung des russischen Berichts. »Ich höre hier die private Kurzwellenübertragung eines Einwohners aus Magadan, Sibirien, meine Damen und Herren, und er sagt, soeben sei der Strom ausgefallen. Ja, ja, das stimmt, die Behörden haben soeben das Atomkraftwerk abgeschaltet, bei Temperaturen von minus 26° C.« Ein Schrei der Verzweiflung erschallte aus der Menge. Bewegungslos starrte Doc auf den Bildschirm. Die Betreiber in Magadan hatten keine Wahl gehabt. Die Ingenieure hatten den Dampffluß vom Reaktor abgeschnitten und die Turbinen gestoppt. Magadan versank in Dunkelheit und mit ihm auch Petropawlowsk und die gesamte Kamchatka-Halbinsel. Ostsibirien, einst das Kernland der sowjetischen Militärpräsenz an der Pazifikküste, begrüßte das neue Jahrtausend in Angst und Finsternis. Die NBC-Kamera hielt die ersten Sekunden eines Aufstands in Wladiwostok auf dem Bildschirm fest. Ungeachtet der Gefahr einer Computerfehlfunktion, die eine unkontrollierbare Kettenreaktion verursachen könnte, verlangten aufgebrachte Einwohner, daß die Stromzufuhr aufrechterhalten werde. Sie stürmten die Tore des Kraftwerks. Aus dem Nichts tauchten plötzlich weißbehelmte Mitglieder einer Miliz auf und griffen die Demonstranten mit Tränengas und Schlagstöcken an. Blut färbte den Schnee. Der Ton übertrug gellende Rufe und Schreie, eis-
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kalten, pfeifenden Wind, russische Verzweiflung. Das Bild der Kamera verzerrte sich, dann wurde der Bildschirm schwarz. Der Bug hatte das eurasische Festland erreicht, und die Menschheit hatte mit Unterdrückung und Ignoranz reagiert. Doc zappte durch die Kanäle. Inzwischen hauen alle Nachrichtensender die Geschichte aufgenommen. Fox sendete eine Aufnahme aus der Raumstation, die zeigte, wie Sibirien in einer riesigen Welle in Dunkelheit versank. Die russischen Besatzungsmitglieder an Bord der Raumfähre reagierten bedrückt. In aller Offenheit stellten sie sich die Frage, was da weit unten in ihrem Land vor sich ging und ob ihre Bodenkontrolle diese Nacht überstehen würde. Doc erinnerte sich an einen Vorfall, der sich im Zuge des Desasters um den Tschernobyl-Reaktor ereignet hatte. Als es zu der Reaktorschmelze gekommen war, hatte das Atomkraftwerk die Verbindung zu Kiew verloren. Die Russen waren gezwungen, von Hand eine Telefonleitung über eine Karawane von Lastwägen von dem brennenden Reaktor zu allen zuständigen Behörden zu legen, die, als sie schließlich verbunden waren, nichts zu sagen hatten. Die Welt hatte den Riesenfehler begangen, sich auf hochentwickelte Technologien einzulassen, ohne sich jemals der gesamten Tragweite bewußt zu sein. Der Millennium Bug war nichts weiter als ein Mittel, jedem einzelnen die Augen zu öffnen. Was Doc momentan am meisten interessierte, war die Tatsache, daß NBC die Magadan Story aus einem russischen Kurzwellenempfänger aufgegabelt hatte. Kurzwellen, alte Vakuumröhrenempfänger und elektrische Schreibmaschinen würden am nächsten Morgen weiter funktionieren, während die gesamten moderneren Gerätschaften versagten. Wenn die Dinge sich so
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entwickelten, wie er es erwartete, dann würde die Dritte Welt aufblühen, während die Industrienationen über Nacht zur Hölle fahren würden. Wenn das der Fall war, wäre ein 57er Chevy der Wagen seiner Wahl, ein Oldtimer ohne Computer. Doc rief im Mitternachts-Club an, und Judd schrie ins Telefon: »Yo, Doc!« »Online mit den Russen?« fragte Doc. »Habe Serge aus Wladiwostok in der Leitung«, antwortete Judd. »Er sagt, Ostsibirien hat's schwer erwischt. Aus ganz Rußland kommen schlechte Nachrichten, aber Serge ist kein Trottel. Er hat einen Generator und eine Schüssel. Er ist bereit, wenn es ihn in ein paar Stunden erwischt.« »Was weiß er über den Reaktor in Magadan?« »Sie haben ihn runtergefahren. Sie wußten, daß sie keine Wahl hatten.« «Gott sei Dank«, sagte Doc. »Wie hat Con Edison auf die Neuigkeiten reagiert?« »Sie rasen«, sagte Judd. »Sie sehen diesen Aufstand in Wladiwostok im Fernsehen und verfluchen die Medien dafür, daß sie darüber berichten. Im Moment streiten sie darüber, ob sie den Reaktor in Indian Rock runterfahren sollen.« Indian Rock war das Kernkraftwerk von Con Edison im Norden des Staates New York, und es war das wahrscheinlich am gründlichsten auf Y2K getestete Kernstromsystem der Welt. »Indian Rock ist kein Problem«, sagte Doc. »Das Problem liegt in den gesamten Anlagen zwischen dort und hier.« »Wir werden ja sehen«, sagte Judd. »Hast du Bos Mastercodes schon?«
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»Noch nicht«, sagte Doc. »Ich rufe gerade an.« Er tippte die Nummer seiner Spionin bei Con Edison und sie antwortete. »Betriebsleitung.« »Doc am Apparat.« »Hab' nichts für dich. Kann' nicht sprechen. Ruf dich an.« Verdammt! Zweieinhalb Jahre Arbeit, zwölf Millionen Dollar, und alles, was blieb, waren Hoffnung und Glück. Docs Magen zog sich zusammensetzt mußte er es aussitzen. Wie jeder gute Spezialist hatte auch er einen Ersatzplan, aber er hoffte immer noch, daß er ihn nicht brauchen würde. Doc wandte sich wieder dem Fernseher zu. Er fragte sich, wieviel Zeit den Nachrichtensendern noch bliebe. Wie viele Mikroprozessoren zwischen Sibirien und New York mußten perfekt funktionieren, um ein Signal rund um den Globus zu senden? Tausende. Wie viele waren getestet worden? Wie viele integrierte Chips waren übersehen, niemals lokalisiert oder ungenügend repariert worden? Ein kaputter Chip, und die ganze Sache geht über den Jordan. Auf Docs Telefon blinkte die Leitung, die die Angestellten der Firma benutzten, und veranlaßte ihn, über die Telefone nachzudenken. Wie viele ...? Was, wenn ...? Zum Verrücktwerden! Doc nahm den Hörer und sagte: »Copeland Solutions, Doc am Apparat.« »Dr. Downs? Hier spricht George Kirosawa aus der Chase Manhattan Abteilung. Ich hatte gehofft, daß Sie heute schon früh angefangen haben.« »Guten Morgen, George. Alles in Ordnung?« »Eigentlich nicht. Ich habe die Nachrichten gesehen, und, um ehrlich zu sein, ich möchte heute morgen lieber nicht mit der U-Bahn fahren. Ich hoffe auf Ihr Verständnis.«
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»Mit der U-Bahn ist alles in Ordnung, George. Sie werden keine Probleme haben. Wenn überhaupt, dann setzen die Probleme erst heute nacht ein.« »Das weiß ich, aber meine Frau ist sehr erschrocken, und meine Kinder sind durcheinander. Sie zittern beim Gedanken an die Berichte aus Neuseeland und Rußland. Ich muß bei ihnen zu Hause bleiben.« »Ich versteh' Sie schon«, sagte Doc. »Ist schon in Ordnung. Frohes neues Jahr.« »Ihnen auch, Dr. Downs. Danke.« Es ging los. Am anderen Ende der Welt waren die Zeiger auf Mitternacht gerückt, und die ersten weit entfernten Desaster schickten ihr Echo um den Globus. Bei Copeland war sich jeder Mitarbeiter des Millennium Bugs absolut bewußt, doch Doc konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie die Reaktion jedes einzelnen aussehen würde. Es konnte passieren, daß Angst und Spannung für sachkundige, rational denkende Menschen bis zum Mittag unerträglich würden, von Mitternacht ganz zu schweigen. Für alle, die eine Familie hatten, war es wirklich das beste, zu Hause zu bleiben. Auf dem Flur war Lärm zu hören, und Doc spähte hinaus. Er sah, wie die Leiterin der PR-Abteilung, Jody Maxwell, zusammengesunken an der Wand lehnte. Sie seufzte und gab ein irritiertes Knurren von sich. Für die Pressekonferenz mit dem Finanzvorstand der Bank hatte Jody ihren molligen, kräftigen Körper in ein blaßgrünes Armanikostüm gehüllt. Sie war Ende Zwanzig und eine der wenigen Geeks, die die Grenze zur konventionellen Geschäftswelt überquert hatten. Sie kannte das Geheimnis erfolgreicher PR-Arbeit in- und auswendig, und genauso kannte sie sich mit Computern aus. Was
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Doc an ihr besonders mochte, war ihre für Geeks ganz und gar untypische Bodenständigkeit. »Was ist denn mit dir passiert?« fragte er, beunruhigt, sie so verwirrt zu sehen. »Ich kann's nicht fassen!« sagte sie. »Zuerst ist mein Nachbar auf seinen Balkon gegangen und hat seinen Laptop aus dem zweiten Stock auf die Straße geworfen. Ich hörte den Lärm und einen Schrei, also bin ich raus auf meinen Balkon gegangen. Und da stand er vor mir und sah aus, wie Jack Nicholson in Shining und schaute mit irrem Blick auf den Gehsteig hinunter. Um ein Haar hätte er eine Frau getroffen, die mit ihrem Hund spazierenging.« »Wow«, sagte Doc. »Was hat er gesagt?« »Das war ja das Verrückte. Er hat überhaupt nichts gesagt. Und dann sind mir in der U-Bahn diese Typen begegnet. Ungefähr zwanzig Geisteskranke haben sich in den Waggon gequetscht und angefangen, Flugblätter zu verteilen. Und wenn irgend jemand ihre kleinen Scheißheftchen abgelehnt hat, hat er sie ins Gesicht bekommen. Ich sage dir, es war total irrsinnig. ›Saget Euch los von Euren Sünden‹, stand da, 'Der Jüngste Tag ist gekommen«. Es waren alles Asiaten, ich glaube Koreaner, und die Menschen in der U-Bahn waren fürchterlich genervt. Ein Typ hat eine dieser Frauen geschlagen und ihre Brille zerbrochen. Ich bin eine Station früher ausgestiegen und zu Fuß hierher gelaufen. Es ist vollkommen irrsinnig da draußen. Die Leute haben Papierhütchen auf dem Kopf und blasen in Trompeten. Ich habe eine nackte Frau gesehen, die sich ›2000‹ quer über ihre Titten geschrieben hat. Ich schwöre bei Gott.« »Willst du eine Tasse Kaffee?« »Wie wäre es mit einem Scotch?« »Wodka.«
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»Noch besser. Ist Donald schon da?« »Seine Donaldheit wartet unten auf dich.« »Wir werden eigentlich heute morgen bei der Bank zu einer Pressekonferenz erwartet, aber ich weiß nicht ...«, sagte sie. Ihre Stimme wurde immer leiser. Im Fernsehen berichtete CNN aus Moskau. Ein zitternder russischer Informationsminister rief für Sibirien das Kriegsrecht aus. »Was ist denn los?« fragte Jody. »Die Russen haben gerade für einen bösen Fehler bezahlt«, sagte Doc. »In Sibirien existieren nicht gerade viele Computer. Nur Öl- und Gaspipelines und die Reaktoren sind computergesteuert, aber die russische Infrastruktur ist ein einziges Mischmasch. Das Telefonsystem ist antiquiert und arbeitet mit altmodischen mechanischen Relais, deshalb sollte es da eigentlich keine Probleme geben. Moskau und St. Petersburg werden wohl schwer was abbekommen, doch der größte Teil Rußlands lebt noch immer im 19. Jahrhundert. Der Millennium Bug kann kein Pferd daran hindern, den Pflug zu ziehen.« »Faszinierend«, sagte Jody. Sie setzte sich und machte es sich bequem. »Entsetzlich und trotzdem faszinierend.« Doc schenkte ihr einen doppelten Wodka ein. Eine lärmende Horde Angestellter betrat das Gebäude. Sie lachten und zupften sich Konfetti aus den Haaren und von ihren Mänteln. »Ein frohes neues Jahr« schallte es den Gang herunter, und jemand blies auf einer Trompete. »Willst du nicht mitfeiern?« fragte Doc. »Gönn mir 'ne Pause«, sagte sie. »Freßt und sauft und seid glücklich, denn morgen werden wir sterben.« »Heil Dir, Cäsar«, fügte Doc hinzu. »Mach dir keine Sorgen, die Dinge stehen nicht so schlecht, wie es scheint.« Im Fernsehen berichtete CNN von drei spontanen Anti-
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Atomkraft-Demonstrationen vor Kernkraftwerken in Oregon, Kalifornien und Pennsylvania. »Atomkraft nein danke, Atomkraft nein danke, Atomkraft nein danke«, skandierten die Menschen. Im Unterschied zu den Russen machten die amerikanischen Polizisten ausnahmsweise den Eindruck, als glaubten sie, die Demonstranten wären im Recht. Es war 8.45 Uhr. Copeland saß in seinem Büro und hatte zwei Bildschirme vor sich. Der eine zeigte den roten Knopf, auf dem anderen war eine Grafik von Y2K-Aktien mit Symbolen und Daten zu sehen. VIAS, TPRO, ZITL und DDIM waren alles Firmen wie seine, die Y2KSoftware und Dienstleistungen verkauften, doch anders als seine Aktien wurden sie öffentlich gehandelt. Diese Aktien waren während der letzten drei Jahre stetig im Wert gestiegen, doch im Monat Dezember waren sie wieder gesunken. Die Y2K-Anbieter wurden mit weitaus mehr Geschäft konfrontiert, als sie handhaben konnten. Sie waren nicht in der Lage, neue Kunden anzunehmen, weil weltweit keine Programmierer mehr zu bekommen waren. Copeland kümmerte das wenig. Um sie zu halten, hatte er im vergangenen Jahr die Gehälter seiner Programmierer verdoppelt. Die Kosten hatte er an seine Kunden weitergegeben. Heute war er nur gespannt auf das, was kam. Copeland hatte in der vergangenen Woche all seine Aktien und Bonds liquidiert, alles eingelöst und sein Aktienportfolio auf null gebracht. Wenn seine Rechnung so aufging, wie er sich das vorstellte, dann würde er morgen keine Wertpapierbestände mehr brauchen. Copeland versuchte sich abzulenken, indem er die Börsenplätze dabei beobachtete, wie sie sich für den Schlag der Eröffnungsglocke bereitmachten. Bereits seit Juni waren alle großen amerikanischen Unternehmen im Zug-
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zwang gewesen. Sie mußten erklären, ob sie für das Jahr 2000 gerüstet waren oder nicht. Diejenigen Unternehmen, die nicht in der Lage waren, zu beweisen, daß ihre Computersysteme für den Wechsel in das 21. Jahrhundert bereit waren, sahen ihre Aktien auf den absoluten Tiefstand sinken. Zahlreiche Unternehmen sahen sich mit Y2K-Haftungsklagen konfrontiert, warfen das Handtuch und meldeten Konkurs an. Die Neuordnung der unternehmerischen Landschaft hielt so manche Überraschung bereit. IBM war stärker als je zuvor, General Motors war am Boden, ein Schiff ohne Ruder. Wie bei vielen Großkonzernen existierten bei GM in den verschiedenen Abteilungen viele Computersysteme, und in der Verwaltung herrschte das reinste Chaos. Das Unternehmen hatte schlichtweg keine Ahnung, wie viele verschiedene Systeme im Einsatz waren. GM Electronics, eine der Tochtergesellschaften von GM, die Computerchips für die Fahrzeuge des Mutterkonzerns herstellte, hatte Millionen Chips, die mit dem Millennium Bug infiziert waren, auf den Markt geworfen. Doch anstatt sich mit Hilfe von Ingenieuren und Technikern des Problems anzunehmen, hatte GM das Fiasko in die Hände von Anwälten und PRStrategen gelegt. Die computergesteuerten Roboter in den GM-Montagebetrieben waren währenddessen dazu verdammt, Punkt Mitternacht die Arbeit einzustellen. Selbst, wenn sie einwandfrei funktionieren würden, hätten sie nicht viel zu tun, denn nur ein Bruchteil der 1300 Zulieferer von GM war für das Jahr 2000 gerüstet. In den vergangenen Wochen hatte sich GM verzweifelt bemüht, neue Systeme zu installieren, doch das Unternehmen war gegen eine der harten Gesetzmäßigkeiten der kybernetischen Welt geprallt: Jedes neue System wird hundertprozentig über dem Budget liegen, und die Installation wird
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stets doppelt so viel Zeit in Anspruch nehmen, wie veranschlagt wurde. Die gesamte Versorgungskette sowie die hochkomplizierten Lieferterminsysteme würden zusammenbrechen. Na und? dachte Copeland. Ich fahre einen Porsche. GM hat den Tod verdient. Um 8.46 Uhr, exakt vierzehn Minuten vor Börsenbeginn, rutschten Amerikas Börsenhändler, Tages Spekulanten und Millionen normaler Kleinanleger nervös auf ihren Stühlen hin und her. Die Computer summten, und Telefonhörer vibrierten in dem seltsamen Jargon, der den weltgrößten Haufen an Geld und Papier bewegt. Im Internet und auf dem Parkett der amerikanischen und der New Yorker Börse kursierte die übliche Mischung von Fakten und Gerüchten. Doch heute hatten die Fakten mehr Einfluß, und die Gerüchte waren intensiver als jemals zuvor. Die wichtigste Tatsache war selbstverständlich die Realität des Millennium Bug, ein Thema, das seit Jahren diskutiert worden war. Auf dem Finanzmarkt gab es niemanden, der den Fortschritt des Millennium Bug nicht verfolgte und der nicht versuchen würde, den Einfluß des Bugs auf die Aktienportfolios vorherzusagen, die er betreute. Mit angehaltenem Atem warteten die Spieler darauf, was als nächstes geschehen würde. Sie mußten nicht lange warten. Um 8.47 Uhr unterbrachen alle europäischen Börsenplätze gleichzeitig den Handel und schlossen. Um 8.49 Uhr rief die deutsche Bundesregierung einen Bankfeiertag aus und schloß alle deutschen Geldinstitute. Wie im Dominoeffekt folgte der Rest Europas auf dem Fuße. Ein großer Teil Europas, und allen voran Deutschland, hatte den Millennium Bug im vergangenen Jahr zu einem Auswuchs hysterischer Bangemacher heruntergespielt. Die Europäer hatten ihn schlichtweg
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ignoriert, und Tausende ihrer essentiellen Computersysteme waren nicht für das Jahr 2000 gerüstet. Sie waren schließlich Europäer, älter und weiser als der Rest der Welt, und sie wußten es besser. Ein paar Computer würden abstürzen, sonst nichts. Computer fielen doch ständig aus, oder nicht? Als die Kettenreaktion von Vorkommnissen durch Sibirien stürmte, traf die Europäer die Erkenntnis ihrer Verblendung wie ein Komet. Der Millennium Bug war Realität. Als der Kernreaktor in Magadan heruntergefahren wurde, wachten die Europäer schlagartig auf. Außer sich vor Sorge blickten sie auf Hunderte von Kernreaktoren zwischen Moskau und Lissabon. Börsen und Banken zu schließen war weder schwer noch lebensbedrohlich. Doch mitten im Winter reihenweise Kraftwerke abzuschalten, das war eine völlig andere Sache. Copelands Telefon blinkte ununterbrochen, doch er achtete nicht darauf. Jemand klopfte an seine Tür, doch er ignorierte auch das. Wahrscheinlich forderten die europäischen Kunden seine erlauchte telefonische Präsenz, aber ihr Schicksal interessierte ihn nicht länger. Der Kabelsender New York 1 übertrug die Erklärung eines UN-Repräsentanten der Europäischen Union. Er sagte, die Vorbereitung auf den Euro habe massive Softwareprobleme verursacht. Länder und Unternehmen hatten vor der Entscheidung gestanden, ob sie sich darauf oder auf ihre Y2K-Probleme konzentrieren wollten. Sie hatten sich für die Währung entschieden, weil es um Geld ging, etwas, von dem sie Ahnung hatten. Zu schade für sie, dachte Copeland und nickte weise. Nun hatte ihre Engstirnigkeit sie eingeholt, und er fragte sich nur, warum diese vertrottelten Europäer so lange gebraucht hatten, um ihre Märkte zu schließen. Auf alle
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Fälle waren sie nun geschlossen, und die logische Folge war die vollkommene Schließung der gesamten Weltwirtschaft, bis die Krise vorüber war. Wie lange das dauern würde, hing zu einem großen Teil davon ab, was heute mit den europäischen Kernreaktoren geschehen würde. Die Folge für New York war, daß die Börse heute nicht eröffnen würde. Das war offensichtlich und auch keinesfalls ohne Beispiel. An Tagen, an denen extreme Besorgnis die Märkte durchdrang, blieben die Börsen geschlossen. Die russische Erklärung des Kriegsrechts für Sibirien war das erste Anzeichen dafür gewesen, daß die Märkte heute nicht öffnen würden. Um die Dinge spannend zu machen, schlossen die Händler Wetten ab, ob das Kriegsrecht auf das ganze Land ausgedehnt werden würde oder nicht. Die Flugzeugabstürze in Mikronesien zogen ebenfalls beträchtliches Interesse auf sich, weil Unglücke den Markt grundsätzlich tangierten; wie dem auch sei, ein paar Flugzeuge, die vom Himmel fielen, würden keinen Langzeiteffekt auf die Weltwirtschaft haben, und genauso stand es um Vorkommnisse in Rußland, das zu einem ökonomischen Schachbrett degradiert worden war. Japan hingegen war ein Stützpfeiler der ökonomischen Weltordnung. Um 8.52 Uhr ging blitzartig ein Gerücht über Millionen von Bildschirme, das besagte, die Kerncomputer der japanischen Zentralbank liefen Gefahr, abzustürzen, wenn der Millennium Bug um zehn Uhr, New Yorker Zeit, auf Tokio treffe. Wenn Japan kollabierte, dann wäre das ökonomische Chaos entfesselt. Nun, da die europäischen Märkte bereits geschlossen waren, bestand keine Chance, daß die amerikanischen Märkte öffnen würden. Chaos, Zusammenbruch und keinerlei elektronischer
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Geldverkehr, der Schlüssel zum Tresor! Schäumend vor Wut tippte Copeland Docs Paßwort ein und holte sich den großen roten Knopf zurück auf den Schirm. Sollte er sich bis Mitternacht gedulden und abwarten, was geschah, oder sollte er den Bildschirm berühren? Unruhig ging er in seinem Büro auf und ab, dann schaltete er den Fernseher und sämtliche Rechner ab. Er hatte genug davon, auf Monitore zu starren und schlechte Nachrichten zu hören, doch er ertrug die Spannung nicht. Also schaltete er den Fernseher wieder ein, gerade rechtzeitig, um die Bekanntmachung zu hören, daß kein einziger der USBörsenplätze, weder die NYSE, die AMEX noch die NASDAQ, der elektronische Handel, heute öffnen würde. Was die amerikanischen Aktienmärkte betraf, hatte das Jahr 1999 mit einer gigantischen Pleite geendet. Es war vorbei. Die Wall Street war gelähmt. Die Mitglieder der Finanzgemeinde in Lower New York fühlten sich gewöhnlich immun gegen weit entfernte Ereignisse. Doch diesmal war alles anders. Von der mächtigsten Wirtschaft der Welt in Watte gepackt und in ihrem Privatleben völlig abgeschnitten von dem alltäglichen Von-der-Hand-in-denMund-Kampf Normalsterblicher, hatten sie eine eigentümliche, beschränkte Mentalität, die von einem Jahrzehnt ununterbrochenen Wohlstands genährt worden war. Viele junge Broker hatten noch nie eine Baisse erlebt. Als die Börsen geschlossen blieben, klappten sie ihre Laptops zu, wünschten sich gegenseitig ein »Frohes neues Jahr« und hofften inständig, daß am Dienstagmorgen alles wieder seinen gewohnten Gang nehmen würde. Doch irgendwie wußten sie, daß dem nicht so war. Wie die meisten Amerikaner begegneten auch Broker und Banker Wissenschaft und Technologie mit abgrundtiefer Igno-
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ranz, und sie hatten eigentlich keine Ahnung von dem Millennium Bug oder den Computern, die er nun angriff. Trotzdem dämmerten ihnen die Auswirkungen. Die globale Wirtschaft, die absolut von Computern abhängig war, verschwand vor ihren Augen. Jody und Doc rauchten schweigend und sahen der fortschreitenden Katastrophe zu, die inzwischen auf Japan zurollte. Doc schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Schuld lag nicht bei den bösen Computern - Ignoranz war der wahre Übeltäter, die Ignoranz, die ihm tagtäglich in den Verkäufern begegnete, die keine Ahnung von den Produkten hatten, die sie verkauften, und ohne Taschenrechner nicht einmal in der Lage waren, das Wechselgeld herauszugeben. Diese Verkäufer waren nichts weiter als Sinnbilder für eine leere, entfremdete, neurotische Existenz. Die Talkshows, die die Gesellschaft anderer ersetzten, die Telefonseelsorger, die endlosen Stunden marktschreierischer Werbung für Produkte, die keiner brauchte, die schlechten, kassenfüllenden Kinofilme voller dummer Spezialeffekte und die idiotischen Wie-ich-reichwerde-abnehme-und-mich-selbst-finde-T-Shirts, die sich als Bücher verkleideten. Von Lügen und Propaganda zugeschüttet, vermochten nur noch wenige Menschen, die Wahrheit von Scheißdreck zu unterscheiden. Die Verantwortung lag bei Unternehmen, die geistige Krüppel zu minimalen Gehältern einstellten und sie zu ihrem eigenen Profit ausbeuteten. Die herrschende Klasse hatte die Seele der Nation an einen binären Teufel verhökert. Die amerikanische Computerindustrie beschäftigte dreieinhalb Millionen Menschen, und sie standen beinahe an der Spitze der Nahrungskette. Die restlichen zweihundertfünfundsiebzig Millionen Zombies waren nichts weiter als
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Futter, und sie hatten nicht verdient, was auf sie zukam: ungezügelte Angst und Hysterie, verursacht von Ignoranz. Doc hoffte, der Millennium Bug würde ihnen die Augen öffnen, doch er befürchtete, daß dem nicht so sein würde. Seit Wochen waren die Zeitungen und das Fernsehen voll mit Meldungen über den Fehler, und Idioten, die ROM nicht von RAM unterscheiden konnten, liefen herum und erzählten jedem, daß um Mitternacht alle Computer abstürzen würden. Sie hätten ihre Kräfte darauf verwenden sollen, die Scheißdinger zu reparieren! Monate ununterbrochenen Geschreis und Vorhersagen von schrecklichem Verhängnis und Zerstörung hatten den gesamten Erdball in den Zustand einhelliger Raserei versetzt. Jedes Magazin in Amerika hatte das kommende Jahrtausenddesaster auf dem Titelblatt. Konkurse wurden vorhergesagt. Milliarden Dollar-Klagen gegen Softwarefirmen und Chiphersteller waren bereits anhängig und hatten HighTech- und Finanzaktien auf eine Achterbahnfahrt geschickt. Tagtäglich veröffentlichten Dutzende Behörden, von der Sozialversicherung über das Verteidigungsministeriuni bis hin zur städtischen Wohlfahrt, beruhigende Erklärungen. Niemand, der bei Verstand war, glaubte ernsthaft, daß diese Behörden mit kompetenten Leuten besetzt waren. Während die Regierung sich in Gemeinplätzen erging, die das Vertrauen auch nicht zu erwecken vermochten, liefen die Anhänger der verschiedensten Jahrtausendkulte Amok. Doc hatte keine Ahnung, woran sie glaubten, und es war ihm auch egal, doch mit ihrem ständigen Geschrei über das Ende der Welt jagten sie den Menschen Todesangst ein. In Roswell, New Mexico, hatte sich eine riesige Ansammlung von Irren eingefunden, die an Außerirdische glaubten. Vierzigtausend Menschen
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erwarteten eine bevorstehende Massenentführung. Eine weitaus größere Versammlung von zwei Millionen leidenschaftlichen Christen bereitete sich in Hermosillo, einem Ort in Mexiko, auf die Wiederkunft Christi vor. Überall auf dem Erdball warteten die Menschen auf Wunder, als wüßte oder kümmere sich der Kosmos um unsere unzulängliche und willkürliche Art der Zeitmessung! In Sibirien froren eine halbe Million Menschen, und diese Nachricht jagte Angst und Schrecken um die Welt und verkündete die Ankunft des Millennium Bug. Die Einwohner New Yorks waren angewiesen worden, sich auf die Jahrtausendwende vorzubereiten, wie man sich auf einen riesigen Stromausfall vorbereitet: Füllen Sie ihre Vorräte an Kerzen, Batterien, Konserven und abgefülltem Wasser auf, und vergewissern Sie sich, daß Sie wissen, wo sich Ihr Gashahn befindet. Gleichzeitig, als hätte die rechte Hand keine Ahnung vom Treiben der linken, traf die Stadt Vorbereitungen für die größte, bombastischste Silvesterparty seit Menschengedenken. Die Polizei hatte Pläne veröffentlicht, die Fahrzeuge aus bestimmten Stadtvierteln aussperren sollten, um die Straßenzüge für die feiernde Masse freizumachen. Hotels waren seit Monaten ausgebucht. Feuerwerkskörper, die von Kähnen auf den beiden Flüssen abgeschossen werden sollten, würden den Nachthimmel erleuchten. Und wenn es dazu käme, daß Flugzeuge vom Himmel fielen, dann wollte jeder möglichst weit oben auf dem Wolkenkratzer stehen, um einen guten Blick auf das Spektakel zu haben. Am Times Square waren zwölf gigantische Videoleinwände installiert, die bereits jetzt live übertrugen. Es hatte zeitweilig den Anschein, als wünschte sich die Hälfte der Menschen in New York, daß der Millennium Bug die Computer lahmlegte. Sie hielten es für unterhaltsam, wenn alles zusammen-
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brach. Allmächtiger! New York war immer schon verrückt gewesen, aber wenn diese Stadt wirklich durchdrehte - Doc schauderte bei dem Gedanken an das, was geschehen würde, wenn die große rote Silvesterkugel am Times Square ihren Abstieg begänne und auf halbem Wege innehalten würde. »Doc?« »Was denn?« »Du redest mit dir selbst«, sagte Jody. »Du hast gemurmelt.« »Tut mir leid. Ich denke nach.« »Kann ich noch einen Wodka haben?« »Klar. Geht's dir gut, Jody?« »Also, die Aktienmärkte bleiben heute geschlossen. Ich nehme an, in der Wall Street fangen die Leute schon jetzt an zu feiern.« »Sollten sie«, sagte Doc. »Es könnte für lange Zeit die letzte Gelegenheit sein. Von Peking bis Washington sind Riesenparties geplant, um das 21. Jahrhundert willkommen zu heißen. Ist doch toll, oder? Wird dir bei dem Gedanken nicht warm und wohl ums Herz? Die Astronauten in der Raumstation hoffen, sie können die Feuerwerke von ihrem Thron im Himmel aus beobachten, und sie haben uns versprochen, auch nach den Raumschiffen von Außerirdischen Ausschau zu halten. Die Welt ist gefaßt auf das Seltsame, das Bizarre, das Wundervolle und das vollkommen Verrückte. Wir sind in New York City, meine Liebe, wir können sicher sein, all das zu erleben! Schließlich sind wir hier nicht in Wladiwostok, oder?«
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Copeland stürmte aus dem Aufzug in Docs Büro. »Da sind Sie ja!« schnauzte er Jody an. »Kommen Sie, wir gehen jetzt der ehrenwerten Chase Manhattan Bank den Hintern küssen. Sind Sie bereit, Miss Maxwell? Sie haben gerade angerufen. Es ist soweit. Gehen wir. Was machen Sie denn da? Trinken Sie etwa?« »Ja, Boß«, antwortete Jody. »Ich genehmige mir einen.« »Himmel noch mal, es ist neun Uhr morgens!« »Frohes neues Jahr«, sagte sie und kippte ihren zweiten Wodka in einem Satz hinunter. »Stets zu Diensten.« »Ich hasse Feiertage«, sagte Copeland. »Niemand kriegt seine Arbeit geregelt.« »In New York arbeitet heute kein Mensch, Donald«, sagte Doc. »Selbst die Finanzmärkte bleiben heute geschlossen.« »Habe ich gesehen. Jetzt wird kräftig gesiebt. Die starken werden's überstehen und zukünftig das Sagen haben.« »Wie Chase Manhattan«, sagte Doc. »Das stimmt, wie Chase Manhattan, dank uns.« »Ha, ha. Dank wem?« »Natürlich dank Ihnen, Dr. Downs.« »Danke sehr, Donald. Und wenn Chase Manhattan doch durchfällt, dann können wir's auf dich schieben.« »Scheißkerl!« »Ich habe eine Frage, Donald«, sagte Doc und strich sich über den Bart. »Mit den Hauptsystemen der Bank wird alles glatt gehen, aber hat irgend jemand daran gedacht, die Zeitschlösser der Tresorräume zu überprüfen?«
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Copeland fing an zu stammeln. Seine Miene verzerrte sich. Schließlich brachte er heraus: »Du leitest dieses Projekt. Sag du es mir!« »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Doc prustend. »Mann o Mann!« »Kommen Sie, Donald«, sagte Jody. Sie erhob sich und stellte ihr Glas ab. »Wir sollten diese Pressekonferenz hinter uns bringen.« »Eines Tages«, sagte Donald zu Doc, »gehst du zu weit, und dann drehe ich wirklich durch!« Jody packte ihn am Arm und zog ihn aus Docs Büro. Auf den Straßen hatte der Ernst eines traditionellen Silvestertages begonnen. Da die Aktienmärkte geschlossen blieben, strömten die Menschen aus den Maklerbüros und mischten sich unter die Feiernden auf den Bürgersteigen. Es war kalt, nur ein paar Grad über Null, doch das konnte niemanden abhalten. Copeland und Jody liefen zu Fuß in Richtung Wall Street. Sie erzählte ihm von ihren Erlebnissen dieses Morgens. Copeland merkte, daß sie kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Normalerweise hatte Jody ein äußerst selbstbewußtes Auftreten, doch jetzt war sie blaß, zittrig und unglücklich. Sie bestand darauf, ein Taxi anzuhalten. »Wo soll's hingehen, Leute?« fragte der Fahrer. »Chase Plaza«, sagte Copeland. »Das ist nur zwölf Straßen weiter, da sind Sie zu Fuß schneller.« »Wir fahren lieber, danke sehr.« »Wissen Sie«, sagte der Fahrer, als er in die Wall Street einbog, »die Irren sind los, Mann. Da draußen ist es ganz seltsam. Ich habe mehr ...« »Da sind sie!« kreischte Jody. »Die Verrückten aus der UBahn!«
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Einem Wirbelwind gleich bewegten sich Asiaten mit ernsten Gesichtern auf dem Bürgersteig vorwärts. Sie drückten Passanten ihre Flugblätter in die Hand. Hörner tuteten. Menschen riefen »Frohes neues Jahr!« und »Jesus liebt dich, auch wenn ich's nicht tue!«. Auf der anderen Straßenseite, in einen Berg zerfetztes Papier gehüllt, trug ein bärtiger, schielender, bibelschwenkender Straßenprediger sein Teil zu dieser Kakophonie bei. Er bot apokalyptische Visionen aus dem Buch der Offenbarung dar, der ultimativen Quelle aller Jahrtausendtheologien, Legenden und des ganzen restlichen Unsinns. »Sterben werdet ihr, Brüder und Schwestern, sterben inner Welt voller Höllenqual und Schmerz, wenn ihr nich bereit seid für die Wiederkunft unseres Herrn Jesus Christus. Euch bleim keine fünfzehn Stunden mehr, euch fürn Jüngsten Tag bereit zu machen. Die Welt wird untergehn. Die Welt, wie ihr se kennt, wird nich mehr hier sein. Der Ozean wird bis rauf auf diese Straße schwappen und euch alle ersäufen, die ihr nich an unsren Herrn Jesus Christus glaubt!« Der Fahrer drehte sich zu seinen Fahrgästen um und hob hilflos die Hände. In diesem Moment hatten die Missionare den Wagen erreicht. Sie versuchten, Flugblätter durch das Fahrerfenster zu schieben. Der Fahrer kurbelte es hoch und klemmte dabei einen Arm ein. Wie schaurige Tentakel zappelten die Finger im Wageninneren, ehe der Arm loskam. »Die Jahrtausendwende, igitt!« sagte der Fahrer heftig. »Ich kann diesen Scheiß nicht ab!« »Morgen wird alles vorüber sein«, sagte Copeland. »Ein einziger Riesenkater!« »Glaube ich nicht«, sagte Jody. »Schauen Sie sich Rußland an. Sie haben das Kriegsrecht verhängt.«
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»Bei uns wird es nicht dazu kommen«, sagte Copeland. »Um Himmels willen, Donald! Was glauben Sie denn, was hier gerade vor sich geht? Sehen Sie sich diese Leute an. Wenn ich der Gouverneur wäre, würde ich sofort die Nationalgarde rufen.« Sie deutete mit heftigen Gesten auf die wilde Mischung aus Missionaren und Horntutern auf der Straße. »Das sind doch nur Irre, Jody. Uns wird nichts geschehen.« »Und was ist mit den ganzen Kernreaktoren? Glauben Sie, daß wirklich jeder einzelne gerüstet ist? In Rußland? Three Mile Island? Herrgott! Lassen Sie uns diese Pressekonferenz hinter uns bringen. Wir sind da. Geh'n wir.« Jody kletterte aus dem Taxi. Copeland bezahlte den Fahrer, der ihn fragte: »Was hat sie über Kernreaktoren gesagt?« »Vergessen Sie's«, sagte Copeland schnell. »Frohes neues Jahr.« Als sie das Gebäude betraten, fielen Copeland die langen Schlangen ins Auge, die sich vor den Kassenschaltern in der Halle gebildet hatten. Noch war es kein Run auf die Bank. Es glich eher einem Spaziergang, doch Dutzende nervöse Menschen hoben bereits ihr Bargeld ab. Sie meldeten sich am Empfangs Schalter, um die Sicherheitsformalitäten zu erledigen. Die Empfangsdame entschuldigte sich. »Ich muß oben anrufen und Ihren Termin bestätigen lassen. Der Computer ist abgestürzt.« »Du liebe Güte!« rief Jody aus. »Genau das, was ich heute morgen hören wollte!« »Geht es Ihnen gut?« fragte Copeland sie. »Hören Sie auf, mich zu fragen, dann geht's mir auch gut.« Im fünfzigsten Stockwerk herrschte eine ruhige, friedliche Atmosphäre. Dicke Teppiche und die schallgedämpf-
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te Decke machten alles, was gesprochen wurde, zu einem Flüstern. Der Sekretär vor dem Büro des Finanzvorstandes hatte einen kegelförmigen Hut auf dem Kopf und trug einen Anstecker, auf dem zu lesen war: »Jahr 2000. Wir sind bereit!«, der neue Slogan der Bank. »Mr. Edwards wird in einem Moment bei Ihnen sein«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Die Pressekonferenz ist abgesagt. Sämtliche Journalisten haben angerufen und gesagt, sie hätten heute morgen zu viel zu tun. Das Team von ABC, das für die Konferenz vorgesehen war, ist draußen in La Guardia, und Channel 2 hat gerade angerufen, der Präsident des nationalen Computerhandels habe gerade eine Pressekonferenz einberufen, und sie könnten nicht kommen. »Stimmt mit dem Vertrag etwas nicht?« platzte Jody heraus. »Soweit ich informiert bin, ist alles in Ordnung«, sagte der Sekretär höflich, »womöglich sollten Sie Ihre Fragen jedoch besser an Mr. Edwards richten.« Fünf Minuten später wurden Copeland und Jody in ein holz getäfeltes Büro geführt. David Edwards, der Finanzvorstand, ein kräftiger, sympathischer Mann von sechzig Jahren, begrüßte sie herzlich. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte er. Er gab ihnen die Hand und nannte sie vertraulich bei ihren Vornamen. »Das mit der Presse tut mir leid«, fügte er hinzu und bot ihnen bequeme Ledersessel an. »Aber was sollen wir tun? Soweit ich das verstehe, geht es draußen etwas merkwürdig zu. Doch ich denke, das ist genau der Grund, warum wir einhundertsechzig Millionen Dollar ausgegeben haben. Um genau die Probleme zu vermeiden, mit denen andere jetzt konfrontiert sind. Was im Moment geschieht, ist einfach furchtbar.«
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»Sie werden sehr froh sein, das Geld investiert zu haben, David«, sagte Donald. »Oh, ich bin jetzt schon froh, Donald. Ich nehme an, daß Sie informiert sind. Ihre Leute haben dafür gesorgt, daß sich die Ausgaben rentiert haben.« »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich weiß, auf was Sie anspielen«, sagte Copeland vorsichtig. »Wieso? Ich meine natürlich die geheimen Konten, die Sie für uns entdeckt haben. Erst gestern hat Ihr Mann, Dr. Downs, meinen Leuten eine endgültige Aufstellung geschickt. Seine Programme haben zweiundsiebzig Millionen Dollar lokalisiert, die wir ohne seine Hilfe niemals gefunden hätten. Das ist ein hübsches Taschengeld, wie man so sagt. Und es ist mehr als genug, um damit das neue Abkommen zu finanzieren, das wir heute verkünden wollten. Und da es sowieso schon in allen Zeitungen steht, verpassen wir jetzt lediglich Kameras und Scheinwerfer. Tut mir leid, Jody. Sie wären der Star des Tages gewesen.« »Das macht gar nichts«, sagte sie. Es war von Herzen aufrichtig gemeint. »Ich glaube, die Menschen haben heute ganz andere Sorgen. Vielleicht können wir es auf Dienstag verschieben.« »Also, Donald«, sagte der Finanzvorstand, »Sie haben allen Grund, auf sich und Ihr Unternehmen stolz zu sein. Die Bank ist Ihnen für alles, was Sie für uns getan haben, auf immer und ewig zu Dank verpflichtet.« Er legte einen einzelnen Bogen Papier vor Donald auf den Tisch. Copeland sah kaum darauf. Am unteren Rand konnte er gerade Docs Unterschrift ausmachen. Er schob das Blatt in seine Tasche. »Zweiundsiebzig Millionen? Wirklich?« Copeland war auf einmal außer Atem. Er mußte hart um seine Fassung
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kämpfen. »Ich hatte keine Ahnung, daß es so viel ist. Ich hatte so viel zu tun, es war noch keine Gelegenheit, mit Dr. Downs zu sprechen.« »Er ist ein wahrer Held«, sagte Edwards. »Ich nehme nicht an, daß Sie gewillt sind, ihn gehen zu lassen. Wenn er einverstanden wäre, dann würde ich ihm die Leitung des Rechenzentrums übertragen.« »Selbstverständlich würde ich weder Sie noch ihn davon abhalten, wenn das wirklich Ihr Wunsch ist. Nur zu, fragen Sie ihn.« »Sie sind wirklich überaus gütig, Donald. Doch ich bin mir sicher, daß Sie ihn nicht kampflos ziehen lassen würden. Wie auch immer, er macht auf mich nicht gerade den Eindruck eines Menschen, der gerne für eine Bank arbeiten wollte.« »Er ist sein eigener Herr«, sagte Copeland und erhob sich. »Wirklich und wahrhaftig!« »Nun, wie seine Entscheidung auch lauten mag, ich bin mir sicher, daß wir noch viel von ihm hören werden. Nun müssen Sie mich aber entschuldigen, doch in dem ganzen Gebäude bin ich wahrscheinlich der einzige Mensch, der einen langen Arbeitstag vor sich hat. Für heute nachmittag ist eine Telefonkonferenz mit der Notenbank anberaumt.« »Faßt die Notenbank immer noch ins Auge, alle Geldtransfers auszusetzen?« fragte Copeland. »Ich denke, wir können es ihnen ausreden. Wir sind hier schließlich nicht in Rußland, stimmt's? Wir sind mit dem Problem fertiggeworden. Ich bin sicher, daß die Notenbank das genauso sieht.« Der Sekretär kam herein, um sie hinauszubegleiten. Im Aufzug konnte Jody beobachten, wie Copelands Oberlippe unwillkürlich zu zucken begann. Sein Gesicht lief
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knallrot an, dann wurde er bleich wie die Wand. Er sagte kein Wort. Als sie wieder zurück in der Schalterhalle waren, wo es von konfettibedeckten Menschen wimmelte, schien es, als habe er die Orientierung verloren. Er schien zu zögern, unsicher, wohin er gehen oder was er tun sollte. Jody spürte, daß in dem Gespräch etwas vorgefallen war, was sie nicht begriff. »Donald?« fragte sie. »Ist alles in Ordnung?« »Mir geht's gut«, sagte er. »Ich fange nur langsam an zu denken, daß das hier vielleicht schlimmer wird, als ich geahnt habe, das ist alles.« »Ein Problem mit der Software? Sie machen wohl Witze. Die Bank testet sie seit einem Jahr.« »Aber sicher kann man sich erst sein, wenn es soweit ist, stimmt's?« Sie traten hinaus auf die Straße. Die Schlange der Kunden, die ihr Geld abheben wollten, erstreckte sich bereits nach draußen und führte um die riesige Plastik auf dem Vorplatz herum. Bettler arbeiteten sich flink durch die Reihen. Sie hielten sich an diejenigen, die, die Taschen voller Bargeld, aus der Bank herauskamen. Ein paar Schritte weiter verfrachtete ein Trupp uniformierter Polizisten schreiende Koreaner in Polizeibusse, sehr zum Vergnügen der Menge, die aus Fahrradkurieren, Sekretärinnen und Nadelstreifenklonen bestand. Jody hatte das Gefühl, sie sei eingeschlafen und in einem makaberen Zirkus wieder aufgewacht. Vollkommen mit sich selbst beschäftigt, ignorierte Copeland das seltsame Treiben und steuerte zielstrebig auf die Nassau Street zu. Vor jeder Bank und jedem Geldautomaten sah Jody lange Schlangen. Alle paar Meter verkündete ein Börsenticker oder das Radio an einem Zeitungsstand einen endlosen Strom neuester Nachrichten.
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An den europäischen Börsenplätzen hatten Transportaktien vor Schließung eine Talfahrt erlebt. In Birmingham hatte ein Angestellter der Wasserwerke während eines Y2K-Testlaufs versehentlich die Wasserzufuhr der Stadt abgesperrt. Die Aufstände, die in Wladiwostok ihren Anfang genommen hatten, breiteten sich westwärts über Mütterchen Rußland aus. Die Menschen machten sämtlichen Frustrationen Luft, die sich in über einem Jahrzehnt postsowjetischer Regierung angestaut hatten. In Reaktion auf die Nachrichten taumelten die Menschen in New York wie betäubt auf den Straßen umher. Sie stießen und rempelten sich gegenseitig an. Copeland fegte an einem Mann vorbei, der mitten auf dem Bürgersteig stand und telefonierte. Auf einmal packte der Mann sein Telefon, schleuderte es auf den Beton und zertrampelte es. »Donald ...«, sagte Jody, doch er stürmte weiter. Sie gab auf, ließ sich gegen eine Granitwand sinken und zündete sich eine Zigarette an. Die Menge wirbelte um sie herum, rasend und verstört. Sie rauchte ihre Zigarette und ging dann langsam weiter, genauso verwirrt wie alle anderen. Copeland kämpfte mit der wachsenden Gewißheit, daß er reingelegt worden war. Heute war der Tag, an dem er ein Vermögen rauben wollte. Eigentlich sollte er vor froher Erwartung platzen, statt dessen fühlte er sich wie ein Haufen Dreck. Dieser Diebstahl hatte seine befestigte Grenze zum Millennium Bug dargestellt. Sie auf einmal bedroht zu sehen verursachte ihm heftige Magenschmerzen. Seine Lippe zuckte. Es schien ihm, als wäre das Engagement im Computerdiebstahl mit der Hilfe eines anarchistischen Hackers doch nicht seine Kragenweite gewesen. Himmel noch mal, er hatte diesen Typen zum Millionär gemacht, obwohl Doc das sicher andersher-
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um sehen würde. Sie waren ein Team. Sie brauchten einander ... zum Teufel damit. Das stimmte nicht. Doc brauchte ihn nicht, nicht, wenn er Angebote wie das von der Bank in der Tasche hatte. Bei Copeland Investments hatte Doc seine Arbeitsbedingungen von jeher selbst diktiert. Er hatte darauf geachtet, daß seinen überspannten Spleens Rechnung getragen und seine Gelüste befriedigt wurden. Doch das und noch viel mehr konnte er auch anderswo bekommen. Darum blieb die Frage: Warum hatte Doc der Bank die ganzen versteckten Gelder zurückgegeben? Ohne zu klopfen betrat Copeland Docs Büro. Es roch nach Marihuana. Doc grinste. »War das Meeting bei der Bank erfreulich?« Copeland knallte das Blatt Papier auf den Tisch. »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?« fauchte er. Doc beugte sich über die Seite und studierte sie. »Hab' ich dir das nicht erzählt? Hab' ich wohl aus Verseh'n vergessen!« »Aus Versehen! Du kannst mich mal!« »Komm schon, Donald. Das war nur als kleine Überraschung für dich gedacht. Ja, ich habe ihnen zweiundsiebzig Millionen gegeben, weil ich noch viel mehr gefunden habe. Denkst du, ich bin wahnsinnig?« »Ja, genau das denke ich. Wieviel mehr?« »Genug.« »Spiel keine Spielchen mit mir, Doc. Ich glaube, du hast Angst bekommen und den Schwanz eingezogen.« »Warum sollte ich das tun? Es ist idiotensicher.« »Du hast Angst, im Gefängnis zu landen. Darum. Du hast kalte Füße bekommen.« »Entspann dich, Donnie. Es wird ein langer Tag werden. Gönn dir was zu trinken, und sei zur Abwechslung mal ein bißchen locker. Die Welt wird heute ein höllisches
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Spektakel abziehen, und wir haben Logenplätze. Schau«, er deutete auf den Fernseher. »Gerade wird der Flughafen La Guardia geschlossen.« Der Sprecher der Flughafenleitung verlas eine hastig entworfene Erklärung. »Im Interesse der öffentlichen Sicherheit stellt der Flughafen La Guardia mit sofortiger Wirkung den gesamten ausgehenden Flugverkehr ein. Um fünf Uhr heute nachmittag wird der Flughafen auch für die einkommenden Flüge geschlossen. Alle Fluggesellschaften werden informiert. Flüge, die sich schon in der Luft befinden, werden planmäßig landen. Wir ersuchen alle Angestellten des Flughafens, der Fluggesellschaften und die Öffentlichkeit dringend, Ruhe zu bewahren.« Der Begriff »Ruhe zu bewahren« ging auf der Stelle in einer Salve aufgeregter Fragen der Journalisten unter. »Werden die Flüge nach John F. Kennedy umgeleitet?« »Wird der Flughafen Newark auch geschlossen?« »Wollen Sie damit sagen, daß Flugzeuge nicht sicher sind?« »Hat die Flugaufsichtsbehörde die Anweisung gegeben, den Flughafen zu schließen?« »Werden die Passagiere ihr Geld zurückbekommen? Wo wollen Sie die gestrandeten Menschen unterbringen? Alle Hotels in der Stadt sind ausgebucht.« Der Flughafensprecher, der stellvertretende Bürgermeister und der Chief der Flughafenpolizei erhoben sich gleichzeitig von ihren Stühlen und verließen den Konferenzraum, ohne auf die Fragen einzugehen. »Meine Damen und Herren«, sagte der Reporter, der für New York 1 vor Ort war, »der Flughafen La Guardia wird geschlossen. Leider sind wir nicht in der Lage, Ihnen weitere Einzelheiten mitzuteilen. Wenn Sie vorhatten,
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heute von hier aus wegzufliegen, dann vergessen Sie's. Einen Augenblick ... Ich höre gerade, daß auch die Flughäfen JFK und Newark geschlossen werden.« Doc schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. »Diese Typen lügen, wenn sie den Mund aufmachen. Sie haben schon vor sechs Monaten erfahren, daß die Systeme der Flugsicherung ausfallen werden, aber sie haben kein Wort darüber verloren. Mit den Flugzeugen ist alles in Ordnung; es scheitert am staatlichen Radarsystem.« »Die verdammten Flughäfen sind mir scheißegal, Doc!« sagte Copeland. »Was ist mit der Bank?« »Was soll damit sein?« »Wieviel?« »Genug, Donald. Mehr, als du jemals ausgeben kannst.« Der Fernsehmoderator fuhr fort. »Wir schalten jetzt von La Guardia direkt nach Japan. Knapp 13.000 Kilometer von New York entfernt erreicht der Millennium Bug in Kürze die japanischen Inseln. Den globalen Aktienmärkten schlottern die virtuellen Knie ...« »Das solltest du dir ansehen«, sagte Doc. »Die Japaner hätten es wirklich besser wissen sollen. Aber sie waren zu sehr damit beschäftigt, wegen ihrer fortwährenden Skandale und unzähliger Fehlinvestitionen das Gesicht zu wahren, als sich ums Geschäft zu kümmern. Die werden mit dem Bauch nach oben schwimmen, und der Widerhall wird umwerfend sein. Ich habe mir ein paar Szenarien ausgedacht. Mit Japan wird der größte Teil Asiens untergehen. Der große asiatische Wachstumsmarkt, soeben erst zum Wohlstand aufgestiegen, wird völlig zusammenbrechen.« »Zum Teufel mit Japan. Was ist mit dem Geld?« »Donald, du hast in den letzten drei Jahren Software im Wert von hundertfünfundachtzig Millionen Dollar an ja-
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panische Banken verkauft. Wie willst du jemals deine Forderungen eintreiben?« »Doc, bitte.« »Willst du es wirklich wissen, Donnie? Willst du es ganz, ganz dringend wissen?« »Ja.« »So sehr, daß du es kaum noch ertragen kannst?« »Himmel noch mal, wir sind Partner!« Doc lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete eingehend die schmutzige Decke. »Okay«, sagte er. »Ich habe der Bank das Geld gegeben, weil ihr Angebot besser war als deins. Sie haben mir ein Viertel der Summe gegeben, die ich entdeckt habe - achtzehn Millionen -, und einen neuen Job dazu. Weil wir gerade dabei sind, ich kündige.« Das war gelogen, doch das wußte Copeland nicht. Er reagierte nicht sofort, doch seine Hände begannen zu zittern. Schließlich sagte er: »Du machst Witze.« »Wieso sollte ich über so was Witze machen? Es stimmt. Wieso sollte ich jemanden beklauen, wenn er mir das Geld freiwillig gibt?« »Weil du gerne Spielchen spielst und es liebst, mich zu verarschen, darum!« »Ruf Edwards an und frag ihn. Hat er dich nicht gefragt, ob er mir einen Job anbieten darf? Ich weiß, daß er's getan hat, weil ich bereits zugesagt habe. Ich werde das Rechenzentrum leiten. Dienstag fange ich an.« Sie starrten sich an. Dann zog ein breites Grinsen über Docs Gesicht. »Hab' ich dich, du Penner. Du bist drauf reingefallen.« »Du Arsch!« »Aber ich habe wirklich darüber nachgedacht.« »Da bin ich mir sicher. Allerdings verstehe ich immer
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noch nicht, warum du der Bank 72 Millionen gegeben hast, von denen sie keine Ahnung hatten.« »Du bist so verdammt gierig, Donald. Ich war derjenige, der Tag für Tag dort war und neue Codes für deren verlorene Gelder geschrieben hat, nicht du. Es lag bei mir, die Entscheidungen zu treffen, und es stand nie zur Debatte, jede einzelne mit dir abzusprechen. Ich sage dir, es ist soviel übrig, daß es dir schwerfallen wird, das Geld zu verstecken. Von solchen Problemen kann man doch nur träumen, oder?« »Du lügst.« »Klar, ich bin ein krankhafter Lügner. Ich lüge immer und überall. Aber ich bin so clever, daß keiner den Unterschied bemerkt.« Aufs äußerste gereizt und auf ein Stadium von infantilem Frust reduziert, murmelte Donald: »Du haßt mich!« Doc schüttelte den großen, zotteligen Kopf und zog an seinem Joint. Das war nicht richtig. Er verachtete Donald, doch er haßte ihn nicht. Copelands Riesenhirn war immer voll von kreativen Ideen, wie er zu Geld kommen konnte, doch das war alles, was er hatte. Er war eine Registrierkasse ohne erkennbare menschliche Gefühle, und Doc konnte niemanden hassen, der nichts weiter war als eine leere Hülle. Er wollte Copeland lediglich in seinem eigenen Saft schmoren sehen. »Es ist kein Wunder, daß deine Frau dich verlassen hat, Donald«, sagte er. »Du bist ein Kind. Natürlich hasse ich dich. Ich hasse alle Yuppie-Ärsche. Ich hasse Kapitalisten, und Spekulanten ganz besonders. Habe ich dir das noch nie gesagt? Erst eintausend Mal, oder? Du bist der Abschaum der Erde, Donald Copeland, aber du bist mein Abschaum. Ich betrachte dich als bekannte Größe. Allein deine unlauteren Gedanken lassen deine Jammergestalt
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wenigstens ein bißchen interessant erscheinen. Ansonsten bist du nichts weiter als ein herzloser Arsch, aber das macht mir überhaupt nichts aus. Ich bin auch ein herzloser Arsch, noch schlimmer als du.« »Du weißt genau, wieviel Geld da noch versteckt ist, auf Heller und Pfennig, stimmt doch, oder? Du führst laufend Buch. Eine genaue Aufstellung.« »Sei still, Donald. Du störst. Ich will fernsehen. Geh und bring dein eigenes Büro durcheinander, oder geh und kümmer dich um deine Kundendienstleute. Das sind schließlich diejenigen, die das ganze Geld für dich verdienen. Du solltest ein paar Anrufe entgegennehmen.« »Hat die Bank...« Copeland hielt mitten im Satz inne und gab auf. Er ging hinunter in sein Büro. Ob er schrie oder einen Koller bekam, Doc würde nichts sagen, was er nicht sagen wollte. Der Mann würde an seinem Totenbett noch Rätselraten spielen. Er holte sich den roten Knopf wieder auf den Bildschirm, doch er hielt es keine Sekunde länger in seinem Büro aus. Copeland entschloß sich zu einem Spaziergang. Er griff nach seinem Mantel. In Momenten großer Anspannung gönnte er sich den Besuch eines Massagesalons in Chinatown, ganz in der Nähe. Er warf dem roten Knopf einen letzten Blick zu. Wie das blutunterlaufene Auge eines Zyklopen starrte der Knopf zurück. Copeland schaltete den Bildschirm aus. Mit hängenden Schultern und ohne den üblichen Schwung in den Schritten schlich er zur Türe hinaus und machte sich auf den Weg in die Mott Street, zu Madame Wos parfümierter Lasterhöhle. Im Fernsehen gab ein Reporter bekannt, daß der Direktor der Notenbank für voraussichtlich vierzehn Uhr eine
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Pressekonferenz einberufen habe. Doc wippte auf den Absätzen und schaltete im Stehen durch die Kanäle. Auf PBS diskutierten zwei Wissenschaftler leidenschaftlich die Frage, ob das 21. Jahrhundert im Jahr 2000 oder 2001 begänne. »Es existiert keine Geburtsurkunde für Jesus von Nazareth«, erklärte ein bärtiger Gelehrter, »doch höchstwahrscheinlich hat dieses gesegnete Ereignis im 23. Jahr der Herrschaft Augustus' stattgefunden und gegen Ende der Herrschaft von König Herodes, der im Jahre 4 vor Christus gestorben ist. Die Kreuzigung hingegen ist auf das 16. Jahr der Regentschaft von Tiberius zu datieren, doch alle römischen Aufzeichnungen sind ohne Beweiskraft, und welche jüdischen Aufzeichnungen auch existiert haben mögen, sie wurden alle im Jahre 70 nach Christus zerstört. Auf alle Fälle aber zerfiel das Römische Reich im sechsten Jahrhundert, und die Christen wollten eine neue Zeitrechnung. Im Jahr 525 befahl Papst Johannes I. dem päpstlichen Archivar Dionysius Exigiuus, den Kalender vom Geburtsjahr Christi an neu zu berechnen, doch Dionysius irrte sich. Nun, fünfzehn Jahrhunderte lang mußte die Welt mit seinen schlechten Rechenkünsten leben. Eigentlich hat das dritte Jahrtausend am ersten Weihnachtsfeiertag 1996 begonnen, und keinen Tag später.« »Ach, Blödsinn!« sagte sein Kontrahent. »Bei allem nötigen Respekt«, sagte Doc zu seinem Fernseher, »wen kümmert's?« Er schaltete ab. Das Telefon klingelte. »Doc? Hier spricht Bill Packard. Ich bin auf der Suche nach Donald.« »Bill Packard? Dr. Packard?« »Ja, genau.« »Worum geht es denn, Bill?«
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»Ich brauche Hilfe. Wir haben auf der Intensivstation Probleme mit einigen unserer Apparate, und ich dachte, Donnie konnte uns eventuell aus der Patsche helfen.« Chips, dachte Doc, integrierte Chips. Jedes einzelne Krankenhaus in ganz Amerika war ein Hort für Computerchips, die mit dem Millennium Bug infiziert waren. Jedes Gerät, vom Dialyseapparat bis hin zum digitalen Fieberthermometer, hatte einen kleinen, tödlichen Computer eingebaut. »Bill, ich will Ihnen mal was sagen. Donnie wäre nicht einmal in der Lage, Ihnen zu helfen, wenn sein Leben davon abhinge, aber ich.« »Glauben Sie wirklich, Sie können uns helfen?« »Sie sind doch im Bellevue Krankenhaus, oder? Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen. Ich rufe Sie an, sobald ich in der Einfahrt stehe.« Doc stopfte eilig Logikanalysatoren und einen Laptop in irgendeine Tasche. Die Telefone klingelten pausenlos, doch er ignorierte sie. Er ging zurück durch das Labor, passierte zwei Reihen verschlossener Sicherheitstüren und betrat das Nervenzentrum des Mitternachts-Clubs. Spaßeshalber nannten sie ihr völlig versifftes Refugium »Hochreinheitsraum«. An Stelle von Mikrofiltern und Raumanzügen hing Nikotin an den Wänden, und Fastfood-Verpackungen bedeckten den Boden. Als Doc die Tür öffnete, schlug ihm die donnernde Rockmusik wie eine Hitzewelle entgegen. Die fünf Clubmitglieder saßen in durchgeschwitzten TShirts über ihre Terminals gebeugt. Sie schrien sich gegenseitig etwas zu, während sie die Anstrengungen ihrer Spiegelbilder überwachten, die überall in der Stadt in den Leitzentralen saßen. »Bell Atlantic hat ein Diagnoseprogramm gestartet«, rief Carolyn. »Sie könnten's schaffen.«
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»Ja, aber GTE wird ins Gras beißen«, schrie Jodd von der anderen Seite des Raumes zurück. »Die kannst du schon mal anzählen. Und AT&T zittern die Knie.« »Heilige Scheiße«, schrie Ronnie. »Mein Mann bei den Wasserwerken hat soeben seinen Bildschirm zertrümmert! Seht euch das an!« »Was!?« »Ja, wirklich, ohne Scheiß. Ist das zu glauben?« Doc ging zur Stereoanlage. Er konnte den Schalter nicht finden, also zog er den Stecker raus. Die plötzliche Stille tat ihre Wirkung. Die fünf starrten Doc an, als hätte er ihnen die Luftzufuhr abgesperrt. »Ich brauche Freiwillige«, sagte er. »Wer kann weg?« »Niemand kann weg, Mann, nicht jetzt, nicht heute. Wir werden die ganze Nacht hierbleiben«, kam es wie aus einem Munde. »Keiner von euch kann in den nächsten paar Stunden irgendwas tun, vor allem, weil alles davon abhängt, ob Bo seine Codes bekommt«, erklärte Doc. »Wenn ihr jetzt noch nicht alles auf der Reihe habt, dann ist es sowieso zu spät. Hört mal, Leute, wir haben eine Gnadenmission zu erfüllen, die vielen Menschen helfen kann, die wirklich drauf angewiesen sind.« Doc umriß mit knappen Sätzen das Problem im Krankenhaus. Er wies seine Leute an, ihre Terminals auszuschalten und sich jeden Chip und jedes Stückchen Testausrüstung zu schnappen, das sie in dem Chaos finden konnten. »Wenn das Krankenhaus zusammenbricht und ihr heute nacht von einem Betrunkenen über den Haufen gefahren werdet, wie werdet ihr euch dann wohl fühlen? Ihr werdet gar nichts fühlen, weil ihr nämlich tot sein werdet. Kommt mit, ich mache wahre Helden aus euch. Eure Mütter werden stolz auf euch sein.«
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Adrian weigerte sich. Er erklärte, er habe Todesangst vor Krankenhäusern, und Bo mußte den Kontakt zu ConEd aufrechterhalten, aber Ronnie, Judd und Carolyn waren einverstanden. »Sobald Deep Volt anruft, komme ich zurück«, sagte Doc im Hinausgehen zu Bo. »Besorg mir meine Paßwörter, Doc«, sagte Bo. »Sonst sind wir geliefert.« Meter für Meter schob sich Docs Jeep auf der First Avenue in Richtung Krankenhaus durch die Stadt. Tausende verstopften die Straßen, weil sie über das lange Wochenende wegfuhren, und noch mehr strömten zur Silvesterfeier in die Stadt. Es war noch nicht einmal zehn Uhr vormittags, und Manhattan verwandelte sich bereits in eine 60 Quadratkilometer große Partyzone, in ein einziges Irrenhaus. Auf der Straße sprangen ihnen sofort die zwanzig Zentimeter großen Schlagzeilen der Post ins Gesicht: AKTIENMÄRKTE GESCHLOSSEN. MILLENNIUM BUG STEUERT AUF JAPAN ZU! Die Nachrichten hatten die Finanzleute auf der Wall Street buchstäblich umgehauen. Teuer gekleidete Männer und Frauen irrten ziellos durch die Gegend. Sie sahen aus, als hätten sie das Stadium von Benommenheit und Verwirrung bereits überschritten. Ihr Leben war ruiniert. Die Weltwirtschaft hatte vor ihren Augen aufgehört zu existieren, und dabei war ihr elektronisches Vermögen in den sich auflösenden Pixels verschwunden. Ausrangierte Mobiltelefone und Laptops verwüsteten die Gehwege. Die Menschen ließen ihr Equipment fallen, wo sie gerade
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standen, und machten sich auf in die nächste Bar. Die Bars waren überfüllt. Überall kam es zu Raufereien. Die Leute rissen sich reihenweise die Kleider vom Leib und liefen zur Belustigung derer, die sowieso nichts zu verlieren hatten, nackt durch die Straßen. Auf die Begegnung mit der realen Welt reagierten die Geeks aufgeregt, nervös und begeistert. »Boah, Junge, schau dir das an! Die Typen hocken auf der Straße und heulen wie die Babys!« Überall wurde gehupt. Aus den Stereoanlagen der Autos schallte ein ohrenbetäubender Mischmasch aller nur denkbaren Musikstile, die in dem Stoßverkehr mißtönend aufeinanderprallten. Reaggae, Hip Hop, Techno, Garth Brooks und Beethoven hatten auf der 14. Straße Ost gleichzeitig Sendezeit. Ganze Wagenladungen von jungen Männern mit entblößten Oberkörpern lehnten sich aus den Autofenstern und schrien: »Frohes neues Jahr!« und »Leck mich!« mit gleichermaßen wollüstiger Begeisterung. Aus dem Radio erklang folgende Meldung: »Die Ankunft des Millennium Bugs in Australien hatte verheerende Auswirkungen. Melbourne ist ohne Strom. Sydney hatte vorübergehend ebenfalls mit einem Stromausfall zu kämpfen, aber die Stromversorgung kehrte binnen einer Stunde zurück. Die Feierlichkeiten zur Jahrtausendwende wurden ohne Unterbrechung fortgesetzt. Und nun eine Information der Chase Manhattan Bank. Sind Sie bereit für das Jahr 2000? Die Chase Manhattan Bank garantiert, daß Ihr Geld auch im 21. Jahrhundert sicher und geborgen ist. Wir sind bereit!« Doc stellte das Radio ab. Ronnie und Carolyn amüsierten sich über den Werbespot und bedrängten Doc, das Radio wieder einzuschalten, doch er weigerte sich standhaft. Langsam näherten sie sich dem Krankenhaus. Auf der
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First Avenue verstärkte Sirenengeheul den Lärm auf der Straße. Der Jeep folgte einem Zug Krankenwagen auf das Krankenhausgelände. Doc rief Bill Packard an. Der Arzt kam mit einer Parklizenz vor die Tür. »Ich will nicht, daß Ihr Jeep abgeschleppt wird, während Sie drinnen sind.« Packard begleitete sie in die Abteilung für Informationsdienste und führte sie in ein Büro. Es war vollgestopft mit Angestellten des Krankenhauses, die kurz davorstanden, in Panik zu verfallen. Gemessen an Geek-Standards waren die Programmierer der EDV-Abteilung des Krankenhauses Stümper, doch sie waren sich der Gefahr bewußt, die von dem Millennium Bug ausging. Sie waren frustriert und aufgebracht über die hoffnungslos ungenügenden Maßnahmen, die die Verwaltung ergriffen hatte. Der mickrige Betrag aus dem Budget der Stadt, der für Y2K genehmigt worden war, war in Rechnungs- und Buchhaltungssysteme gesteckt worden, nicht in die Apparatemedizin oder in die PCs der Angestellten. Die Geeks sahen in die Runde. Leise fragte Judd einen der Programmierer: »Laufen eure Rechner denn nicht auf Windows NT, Leute?« »Schön wär's! Dies sind antike Maschinen, alles 486Rechner.« »Sie wollen mich auf den Arm nehmen!« »Wäre uns auch lieber.« Packard machte Mrs. McCarthy, die Leiterin der Informationsabteilung, ausfindig, eine strenge, verklemmte Person. Sie musterte die Geeks von Kopf bis Fuß und sagte: »Wer soll das denn sein? Die Band?« »Diese Leute sind Programmierer, die versuchen werden, die Computer in der Intensivstation instandzusetzen«, erklärte Packard.
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»Zeigen Sie mir die Reparaturaufträge.« »Es gibt keine Reparaturaufträge«, knurrte Packard. Er war kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Es handelt sich hier um einen Notfall. Diese Leute sind bereit, uns zu helfen, weil sie sehr großherzig sind!« »Keine Reparaturanweisung, keine Reparatur!« bellte sie. »Sie haben den Verstand verloren!« sagte der Arzt. »Wir handeln hier streng nach Vorschrift, Dr. ...« sie hielt inne, um sein Namensschild zu entziffern, »Packard, wer zum Teufel Sie auch sind. Und jetzt verschwinden Sie aus meinem Büro und bringen Sie diese Leute zurück zu dem Rattenloch, aus dem sie gekrochen sind.« Er schlug zu. Mit einem gezielten Hieb streckte er sie zu Boden. Die Köpfe der Anwesenden fuhren herum. Beim Anblick der ohnmächtigen Mrs. McCarthy erklang spontan Beifall. »Jawoll!« »Geh'n wir«, sagte Packard zu Doc. »Keine Ahnung, warum ich Sie überhaupt zuerst hierher gebracht habe.« Er führte sie über einen Innenhof zu einem anderen Gebäude. Keine zehn Minuten später zerlegten sie bereits Beatmungsgeräte und EKG-Maschinen. »Bei den meisten wird es das einfachste sein, sie vier Jahre zurückzudatieren, wenn wir das schaffen«, erklärte Doc Packard. »Wir werden zuerst nach BIOS-Chips suchen. Wenn es sich um einen beschreibbaren BIOS-Chip handelt, können wir ihn eventuell neu programmieren. Wenn nicht, dann müssen wir beten, daß wir ihn ersetzten können« »Tun Sie einfach, was Sie können«, sagte Packard. »Und ich versuche inzwischen, uns die Typen von der Verwaltung vom Hals zu halten. Ich sorge dafür, daß die Schwestern kooperieren. Viel Glück. Brauchen Sie etwas?«
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»Kaffee, Leute?« fragte Doc. »Weiß, null Prozent Fett, ohne Koffein«, sagte Carolyn. Doc brach in Lachen aus. Er schüttelte den Kopf und entfernte die Rückenplatte eines Defibrillators. »Kaffee«, wiederholte er. »Ganz ordinären, guten, alten amerikanischen Kaffee, schwarz.«
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Einige Minuten nach zehn Uhr vormittags, vierzehn Stunden vor seiner erwarteten Ankunft, wich der Millennium Bug in einer weiten Schleife von seiner Route ab. Vollkommen überraschend streckte er USA-weit die gesamte Supermarktkette der Safeway Corporation nieder. 450 Filialen in siebenunddreißig Staaten waren von der plötzlichen Infektion betroffen, darunter auch der neue Safeway Ecke Broadway und 96. Straße, Stolz und Freude des Geschäftsführers Jonathan Spillman. Safeway hatte die Strategie verfolgt, mit dem Einzug in Manhattan großes Aufsehen zu erregen. Spillmans funkelnagelneue Filiale war ein Vorzeigeladen für fortschrittlichste Technologie. Angefangen bei der Bestandsverwaltung bis hin zu der automatischen Sprinkleranlage in der Obst- und Gemüseabteilung war jeder einzelne Vorgang computergesteuert. Spillman hatte bereits als Junge in einem Lebensmittelladen als Verpacker angefangen. Während er seine Abschlüsse in Computerwissenschaften und kaufmännischer Verwaltung machte, hatte er als Kassierer gearbeitet. Großes Einfühlungsvermögen in die Sorgen ganz normaler Menschen und eine ausgeprägte Leidenschaft für Computer waren die perfekten Voraussetzungen für seinen Job. Diese Eigenschaften waren überaus wertvoll für einen Mann, der die Hälfte seines Zwölf-Stunden-Arbeitstages auf eine Tastatur einhämmerte und sich den Rest der Zeit damit befaßte, jener kleinen und großen
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Krisen Herr zu werden, die in einem Supermarkt an der Tagesordnung waren. Spillman war schon seit halb acht in seinem Büro und rang mit dem neuen Inventurprogramm. Seinen Einwänden zum Trotz war dieses Programm ohne gründliche Erprobung installiert worden, und es war noch immer voller Schwachstellen. Eine dieser Störungen verdroß ihn gerade jetzt. Er brauchte einhundert Kisten Ruffles Kartoffelchips. Das System sagte ihm jedoch fortwährend, das Lager in New Jersey habe keine Ruffles vorrätig. Aber Spillman war schlauer als der Computer. Er wußte, daß in New Jersey Ruffles Kartoffelchips auf Lager waren, weil er gerade mit dem Lagerleiter telefonierte, der vor einem ganzen Berg Kartoffelchips stand. »Egal, Maurice, laß sie bitte auf alle Fälle verladen und schick sie her, tust du mir den Gefallen?« »Klar, Jon, mach' ich. Ist viel los heute?« »Machst du Witze? Es ist überfallartig«, sagte Spillman. »Ich weiß nicht, wie es bei euch aussieht, aber hier arbeiten alle Rechner extrem langsam. Bestimmt sind die Leitungen überlastet. Ich glaube, heute morgen braucht einfach jeder alles. Silvester und so.« »Das ist Y2K, Jonathan«, sagte der Lagerleiter. »Heute ist der große Tag.« »Sag das bloß nicht«, entgegnete Spillman. In seiner Stimme lag ein warnender Unterton. »Sonst beschwörst du es am Ende herauf.« »Du bist doch wohl nicht abergläubisch, Jonathan?« »Eigentlich sollte diese Y2K-Sache bei uns doch ausgestanden sein«, erklärte Spillman. »Safeway hat fünfzig Millionen Dollar in die neuen Systeme gesteckt. Wir stehen über den Dingen.« »Frommer Wunsch«, sagte der Lagerleiter. Er konnte den
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Sarkasmus in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Erzähl das doch bitte mal meinen siebenhundert Zulieferern. Die Hälfte aller Rechnungen, die bei uns eingehen, sind verschlüsselt. Mag ja sein, daß unsere Systeme in Ordnung sind, aber der Erzeuger m Maryland hat mich nur ausgelacht, als ich ihm gesagt habe, er solle sich bitte für fünfundzwanzigtausend Dollar neue Rechner kaufen. Und jetzt stimmt seine fünf-Tonnen-Lieferung Gewächshaustomaten hinten und vorne nicht mit seinen Rechnungen überein. Wenn es nach ihm ginge, wäre der Versand seiner Lieferung 1980 erfolgt. Das ist doch lächerlich. Die Dinge sind total durcheinandergeraten, und das ist sicher erst der Anfang. Verfolgst du die Nachrichten?« »Wer hat denn Zeit für so was?« »Du denkst, daß wir unsere Probleme im Griff haben, gut und schön, aber für der Rest der Welt trifft das nicht zu. Gerade sind alle drei Flughäfen geschlossen worden.« »Junge, Junge«, sagte Spillman. »Mach dir keine Sorgen. Ich muß weitermachen. Denk an meine Kartoffelchips.« Spillman ging in das Büro von Amanda, seiner rechten Hand. Sie saß vor dem Fernseher. »Amanda?« Erschrocken hob sie den Kopf und sah ihn durch ihre Brille an. »Halb Japan hat keinen Strom mehr«, sagte sie. »Es ist wirklich erschütternd.« »Wie bitte?« »Ihr zentrales Banksystem ist abgestürzt.« »Was? Das kann doch nicht sein!« »In ganz Tokio stehen die Menschen vor den Banken Schlange, um an ihr Geld zu kommen. Dort ist es aber mitten in der Nacht, und es heißt, die Banken werden die nächsten drei oder vier Tage geschlossen bleiben. Die Leute stellen sich trotzdem an.«
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»So weit wird es bei uns bestimmt nicht kommen.« »Die Menschen haben Angst, Jon. Waren Sie heute morgen schon im Laden unten?« »Nein, ich habe versucht, mich um den Bestand zu kümmern.« »Ich glaube, es ist besser, wenn Sie Ihren Kopf wieder aus dem Bildschirm herausnehmen und mal einen Blick hinunterwerfen«, sagte sie. »Ich mußte schon die Polizei rufen. Es war nur ein Ladendieb, aber der war völlig verrückt.« »Warum haben Sie mich nicht informiert?« »Sie waren beschäftigt.« Amanda zog die Jalousien hoch. Unter ihnen lagen 7500 Quadratmeter Verkaufsfläche. Der Supermarkt war überfüllt mit Menschen, die sich für den Silvesterabend eindeckten. Spillman sah die langen Schlangen ängstlicher Kunden mit überfüllten Einkaufswagen, die sich vor den 24 Kassen gebildet hatten. Der Supermarkt lag mitten im Zentrum eines Viertels unterschiedlichster ethnischer Prägung. Hier vereinten sich Schwarze, Latinos und Weiße, Schwule, Reich, Arm und die Mittelschicht. An normalen Tagen kauften sie alle mehr oder weniger friedfertig nebeneinander ein. Wenn in dem Laden aber viel Betrieb herrschte, traten die Spannungen zutage, die direkt unter der Oberfläche lauerten. An manchen Tagen nannte Spillman seinen Laden den Psychodrama-Safeway. Vier Leute vom Wachpersonal waren ständig im Dienst. Da schulfrei war, war der Supermarkt an diesem Morgen voll von trötenden, konfettiwerfenden Jugendlichen, die durch das Viertel streiften. Die Wachleute hatten alle Hände voll zu tun. Spillman verstand, warum Amanda wegen eines jungen Ladendiebs und einem Sechserpack Bier die Polizei gerufen hatte.
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Doch die Ladendiebe waren nicht das einzige Problem. Die Kassen arbeiteten langsam. Die Überprüfung der Kredit- und Scheckkarten ging nur schleppend voran. Landesweit versuchten Tausende von Safewaykunden gleichzeitig, ihre Einkäufe mit einer Kreditkarte zu bezahlen. Die Rechner, die die Eingaben bearbeiteten, waren überlastet. Dazu kam, daß in den letzten zwei Wochen überdurchschnittlich viele Karten abgelehnt worden waren, weil einige Banken und Geldinstitute Karten ausgestellt hatten, die nicht Y2K-gerüstet waren. Mehrmals täglich mußte Spillman zu einer der Kassen hinuntergehen und irgendeinem armen Menschen erklären, warum seine Kreditkarte abgelehnt worden war. Anstatt ihnen in Fachchinesisch etwas von Computerinkompatibilität zu erzählen, machte er den Kunden aus der Nachbarschaft das Angebot, sich keine Gedanken zu machen, ihre Einkäufe mitzunehmen und am nächsten Tag mit einem Scheck vorbeizukommen. Das verschaffte ihm das gute Gefühl, sein Supermarkt sei der Tante-Emma-Laden an der Ecke, der von Menschen geführt wurde, und nicht die computergesteuerte Filiale eines gigantischen Konzerns. Was er aber an diesem Morgen in seinem Geschäft erblickte, schickte ihm kalte Schauer über den Rücken. Obwohl die Büros im Zwischengeschoß schallgedämpft waren, konnte er das Dröhnen der Einkaufswägen auf dem Linoleumboden und die tobenden Jugendlichen spüren. Der Fernseher in seinem Rücken verkündete eine unendliche Litanei von Horrormeldungen aus Japan. Spillman rief sich die langen Unterhaltungen wieder ins Gedächtnis, die er im Laufe des letzten Jahres mit Donald Copeland und Doc Downs geführt hatte. »Selbst wenn die Computer nicht zusammenbrechen«, hatte Doc vorausgesagt, »werden die Menschen trotzdem mit Panik rea-
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eieren, allein der hysterischen Stimmung wegen. Die Wahrheit ist irrelevant. Wichtig ist allein die Wahrnehmung.« Spillman ging gerade in sein Büro zurück, als es an einer der Expresskassen zu einem Zwischenfall kam. Eine Frau mittleren Alters wollte, offensichtlich in Eile, den Laden mit einem Obstkorb wieder verlassen. Sie zeigte der Kassiererin ihre elektronische Geldkarte und zog sie durch das Lesegerät. »Entschuldigen Sie, diese Karte kann ich nicht akzeptieren«, sagte die Kassiererin, so freundlich sie konnte. »Was soll das heißen, Sie können meine Karte nicht akzeptieren?« Die Kassiererin trug einen Anstecker mit einem lächelnden Gesicht, unter dem zu lesen war: »Hallo! Ich bin Denise.« Sie war an ihrem freien Tag hereingekommen, weil sie wußte, daß heute viel los sein würde. Denise war Hauptkassiererin und gehörte zu Spillmans motiviertesten Angestellten. Doch in diesem Moment wünschte sie, sie wäre zu Hause geblieben. »Es liegt nicht an Ihrer Karte«, sagte sie. »Es liegt an Ihrer Bank. Der Rechner akzeptiert keine einzige Karte Ihrer Bank.« »Lassen Sie mich doch meine Geheimnummer eintippen«, sagte die Kundin giftig und haute wild auf die Tastatur ein. Denise starrte auf die Anzeige ihre Registrierkasse, die Kundin starrte auf das digitale Display des Lesegerätes, und die Menge in der Schlange scharrte gemeinschaftlich mit den Füßen. Die Zeit dehnte sich ins Endlose. Endlich tauschten die beiden Frauen einen verlegenen Blick aus. Die Kassiererin hatte recht gehabt. Die Karte wurde abgelehnt. »Sie können bar oder mit Scheck bezahlen«, sagte De-
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nise. Die erniedrigte Kundin ließ wortlos ihre Einkäufe stehen und rauschte wütend hinaus. Achselzuckend tippte Denise den Code ein, der die Kasse für den nächsten Vorgang bereit machte, doch das Register reagierte nicht auf ihre Eingaben. Der Rechner stand. Auf der Anzeige leuchtete die Warnung auf: »Systemfehler. Systemfehler.« Denise Charlotte Mathews war Kassiererin, keine Computerexpertin, obwohl sie den ganzen Tag mit einem Computer zu tun hatte, der den Handelsfluß an ihrer Kasse beschleunigte. Auf der Prioritätenliste der Dinge, die ihre Leben bestimmten, rangierten Computer hinter der Hochzeit ihrer Tochter und vor der U-Bahn. Sie hatte keine Ahnung, wie Computer funktionierten, und es interessierte sie ebensowenig, wie sie wissen wollte, wie ihr Fernseher arbeitete. Der Computer war ein fester Bestandteil des Lebens, und das nahm Denise als gegeben hin. Zuhause in Queens hatte sie einen PC, und sie verbrachte viel Zeit damit, das Internet nach Pflanzen für ihren Garten zu durchforsten. Denise züchtete Rosen. Das Geld, das sie für ihre American Beauties benötigte, verdiente sie sich in der Tagesschicht im Supermarkt. Dort aber hing ihre Existenz allein von der einwandfreien Funktion eines Computers ab. Um 10.13 Uhr stürzte dieser Computer ab. Denise sah hinauf zum Zwischengeschoß am anderen Ende des Geschäftes und nahm das Mikrofon zur Hand. Ihre Stimme hallte durch die Lautsprecheranlage: »Computer steht. Den Geschäftsführer, bitte.« Als Spillman die Ansage hörte, rutschte ihm das Herz in die Hose. Über seine Tastatur rief er umgehend ein Programm auf, das ihm eine Kopie von Denises Register auf den Bildschirm holte, und dann ein Programm, das ihr Kassenterminal vom System trennte und es anschließend
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fehlerlos wieder anschloß. Es funktionierte nicht. Er konnte sie nicht trennen. »Systemfehler. Systemfehler.« »Ich kann bar bezahlen«, sagte der nächste Kunde zu Denise. »Ich mochte nur meine Bananen und die Cornflakes zum Frühstück mit nach Hause nehmen.« »Tut mir leid. Ich kann nicht rausgeben. Ich kann nicht mal die Schublade öffnen.« »Ich hab's passend, wenigstens einigermaßen.« Fest entschlossen, freundlich zu bleiben, sagte Denise lächelnd: »Natürlich, gerne.« Sie legte die Bananen auf die Waage. Der Computer war nicht in der Lage, das Gewicht zu ermitteln, und der Laser konnte den Strichcode auf der Cornflakespackung nicht abtasten. »Es funktioniert überhaupt nichts mehr«, sagte Denise. »Das ist noch nie passiert. Die Waage geht immer.« »Drei fünfundsiebzig für die Cornflakes und, sagen wir, einen Dollar fünfundzwanzig für die Bananen? Ist das in Ordnung?« fragte der Kunde. Vom Ende der Schlange ertönte eine barsche Stimme: »Nehmen Sie sein Geld und lassen Sie ihn geh'n. Herrje! Ich muß zur Arbeit.« Immer mehr Leute strömten in das Geschäft. Die Schlangen wurden länger, und ein kleines Mädchen fing an zu weinen. »Mama! Ich muß mal!« »Ist ja gut, Liebchen. Ich muß fragen, wo die Toiletten sind.« Die junge Mutter trat mit ihrer Tochter aus der Schlange und kam zur Kasse vor. Im gleichen Augenblick drehte sich die Kassiererin nebenan um und sagte: »He, Denise, jetzt ist meine Kasse auch abgestürzt.« Der Reihe nach drückten ausnahmslos alle Angestellten an den vierundzwanzig Kassen irgendwelche Tasten,
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klopften heftig auf ihre Rechner, murmelten Beschwörungsformeln und rollten mit den Augen. Alle Kassen standen still, und gleichzeitig griffen alle Kassierer und Kassiererinnen zu ihren Mikrofonen. »Entschuldigen Sie bitte, wo ist die Damentoilette?« Aus der Brotabteilung im hinteren Bereich des Supermarktes drang das unheilverkündende Geräusch rennender Füße, dann Rufe auf Spanisch und Englisch. Zwei Wachmänner stürmten an den Kassen vorbei, auf die Störung zu. »Die Damentoilette befindet sich rechts, beim Kundendienst«, sagte Denise zu der Frau, während sie zum Hörer griff. »Aber ich an Ihrer Stelle würde meine Tochter nehmen und machen, daß ich hier rauskomme.« Spillman konnte von oben beobachten, wie die zwei Wachmänner durch den Laden rannten. Sein Telefon klingelte. »Ja?« »Mr. Spillman, hier spricht Denise. Ich sitze heute morgen an Kasse eins. Alle Kassen stehen, und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Sogar die Waagen sind ausgefallen.« Noch ehe er antworten konnte, platzte Amanda in sein Büro und verkündete, in ihrer Abteilung seien alle drei Computerterminals abgestürzt. Der Safe ließ sich nicht mehr Öffnen. »Was soll das heißen, alle drei?« »Bestand, Lohnabrechnung und Umsatz und der laufende Betrieb, alle schwarz, Jon. Sie sind hinüber.« »Heiliger Moses!« Seine Assistentin lächelte. »Draußen steht ein Typ mit einem Plakat, auf dem steht HEUTE NACHT WIRD JESUS ERSCHEINEN. Sollen wir abwarten und um göttliche Hilfe bitten?«
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»Ich dachte, die hätten den Typen gestern mitgenommen.« »Er ist wieder da. Heute sind alle Irren dieser Stadt unterwegs. Von Minute zu Minute werden die Nachrichten schrecklicher. Sie haben die Flughäfen geschlossen. Und die Börse hat heute gar nicht erst eröffnet.« »Das ist alles egal«, sagte Spillman. »Wir müssen uns um unsere eigenen Probleme kümmern. Die verdammten Lesegeräte spielen verrückt, und ein paar Kinder machen Ärger«, und er fügte hinzu: »Das ist 'ne regelrechte Implosion!« »Können Sie sich die Steuerung der Lesegeräte denn nicht auf Ihren Bildschirm holen?« »Nein«, antwortete Spillman. »Das habe ich schon versucht.« »Was sollen wir nur tun?« Amandas hilflose Frage klang wie ein Stoßgebet. Spillman schüttelte den Kopf und biß sich auf die Lippe. Wie der Kapitän auf dem sinkenden Schiff brüllte er entschieden: »Rufen Sie Jersey an. Rufen Sie die Zentrale in Pleasanton an. Wenn die nicht wissen, was los ist, dann werden wir den Laden schließen müssen. Maurice aus dem Lager in Jersey glaubt, daß Y2K dran schuld ist. Rufen Sie ihn an.« »Mr. Spillman?« kam es aus dem Hörer an seinem Ohr. »Sind Sie noch dran?« »Ja, Denise. Sagen Sie den Kunden, unser System sei abgestürzt. In fünfzehn Minuten sollte alles wieder in Ordnung sein.« »Oh Gott! Fünfzehn Minuten sind in dieser Situation eine Ewigkeit. Die Leute sind absolut genervt.« »Ich weiß. Der Pöbel benimmt sich wie die Tiere. Sagen Sie's den anderen weiter. Sie sollen höflich, aber bestimmt bleiben. Sagen Sie den Kunden, sie sollen ihre Einkaufs-
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wägen stehenlassen und das Geschäft verlassen. Sagen Sie dem Wachpersonal, sie sollen niemanden mehr hereinlassen.« Ein paar Tage später würde der Geschäftsführer zu dem Schluß kommen, daß er genau in diesem Augenblick Zeit und Raum angehalten hätte, wenn er die göttliche Macht dazu besessen hätte. Von oben beobachteten Spillman und seine Assistentin, was unten im Verkaufsraum geschah, noch bevor seine Anweisungen hätten ausgeführt werden können. Während Denise das Kassenpersonal um sich versammelte, boxten sich zwei jugendliche Mädchen, die Arme vollgeladen mit Bier und Chips, durch die Schlange an der Expresskasse und stürzten auf die nördlichen Ausgänge zu. Ein Wachmann war ihnen dicht auf den Fersen. Im Zickzack ging die wilde Jagd durch erschreckte Kunden, Einkaufswägen und die Ständer mit Verkaufsschlagern. An der Tür ließen die Mädchen ihre Beute fallen und rannten hinaus. Der Wachmann blieb japsend zurück. Ein Mann in sportlichem Mantel und Krawatte nutzte die Aufregung am Nordende und die Tatsache, daß die Kassen verlassen waren. Er schob seinen übervollen Einkaufswagen an der Kasse vorbei und zum Südausgang hinaus. Die nächste Kundin in der Schlange folgte seinem Beispiel. Sie besaß die Geistesgegenwart, sich dreist über die Kasse zu lehnen und noch eine Handvoll Plastiktüten zu greifen, ehe sie hinaus auf den Gehweg verschwand. Hinter ihr erkannten zwei farbige Gangstas, Typen aus der Dominikanischen Republik, daß die Überwachung augenscheinlich zusammengebrochen war. Sie schlenderten zu einem aufwendigen Verkaufs Ständer mit Sekt und Champagner, füllten ihren Einkaufswagen voll mit Champagnerflaschen und schoben ihn auf die Ausgänge zu.
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»He!« rief eine stämmige Wächterin, als sie die Schlange mit den Gelegenheitsdieben entdeckte. »He!« Einer der Gangstas blieb stehen und ließ eine Champagnerflasche mit einem perfekten Wurf, der einem Paß des Footballstars Joe Narmath zur Ehre gereicht hätte, durch die Luft segeln. Die Flasche traf die Wächterin direkt vor der Brust. Mit einem Schrei ging die Frau zu Boden. Die Flasche explodierte. Der gewaltige Knall war Auslöser einer ersten Panikwelle, die sich augenblicklich durch den vorderen Teil des Supermarktes wälzte. Menschen trampelten nach vorne, auf beide Ausgänge zu. Dort stießen sie mit denen zusammen, die hineinwollten. Das Ergebnis war noch größere Panik, Gedränge, Geschiebe, Schreie und Fausthiebe. Binnen Sekunden hatte sich der friedliche Supermarkt in einen Hexenkessel verwandelt. Am Ende der Schlange an der Expresskasse stellte ein Mann mit zwölf Ohrringen und unzähligen Tätowierungen seinen Einkaufswagen auf den Kopf und leerte den Inhalt systematisch auf den Boden. Der Mann vor ihm quietschte entzückt auf und schoß eine Dose Nudelsuppe mit Hühnchen in die Glasfront eines Kühlschrankes. Die Türen splitterten. Die Kassierer und Kassiererinnen stürzten ausnahmslos in den hinteren Teil des Geschäftes und brachten sich auf den Personaltoiletten in Sicherheit. Die Wachleute formierten sich wieder, schoben sich durch die Menge und stürmten die Südtüren. Sie versuchten, die Kunden im Inneren vom Stehlen und alle anderen vom Betreten des Supermarktes abzuhalten. Inmitten des Gemenges zog einer der Wachmänner aus einem Schulterhalfter eine Pistole, die er gar nicht haben sollte. Ein Kunde schlug sie ihm aus der Hand und hob sie auf. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerriß ein Schuß 40 Quadratmeter gefärbtes Schaufensterglas. Sonnenlicht ergoß
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sich in den vorderen Teil des Geschäftes. Es war ein schöner Tag, hell und klar. Der Blick führte hinaus auf die Straße und den übervollen Gehsteig. Dort herrschte das offene Chaos. Supermarktkunden stürzten panisch aus dem Geschäft ins Freie. Sie verstopften die Gehsteige und ergossen sich auf die belebte Kreuzung. Direkt vor dem Geschäft blickte der zerlumpte Unheilverkünder mit seinem HEUTE NACHT WIRD JESUS ERSCHEINEN-Schild durch die zerfetzte Scheibe und erlebte seinen ganz persönlichen transzendenten Jahrtausendmoment. Die Kugel war durch das Schaufenster und durch sein Schild gefahren und hatte seinen Kopf nur um Zentimeter verfehlt. Er sank auf die Knie und begann zu beten, während verzweifelte Kunden um ihn herumwirbelten. Zwei ältere dominikanische Damen ließen sich neben ihm nieder und stimmten in seine Gebete ein. Im Supermarkt rasten Menschen durch die Gänge und griffen sich die Lebensmittel aus den Regalen, als wäre heute alles umsonst. Schreie, wildes Gelächter, Panik, Zusammenbrüche. Spillman beobachtete das gesamte Inferno auf seinen Überwachungsmonitoren. Unsicher, wen er zuerst anrufen sollte, griff er zum Telefon. Die Polizei, den Vertriebsleiter in Jersey oder das fünftausend Kilometer entfernte Rechenzentrum von Safeway in Pleasanton, Kalifornien? Unter ihm brach in einer neuen Schlange eine Prügelei aus. Schnell wählte er die Nummer der Polizei. »Notruf 911, bitte bleiben Sie am Apparat.« Während er ungeduldig wartete, rief Spillman auf der anderen Leitung das Rechenzentrum in Pleasanton an. Die Techniker dort versuchten verzweifelt dahinterzukommen, was geschehen war. Alle Systeme waren abgestürzt, und in allen vierhundertfünfzig Filialen der Kette bot sich
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das gleiche Bild. Der Unterschied war lediglich, daß nur in Spillmans Laden ein Aufruhr im Gange war. Pleasanton war ratlos, und es sollte einige Tage dauern, ehe Spillman erfuhr, was mit den Computern geschehen war. Um eine Minute nach zehn Uhr morgens, New Yorker Zeit, war es auf der Insel Guam, vierzehn Zeitzonen weiter östlich, eine Minute nach Mitternacht. Safeway hatte Millionen Dollar investiert, um die Y2K-Probleme in den Griff zu bekommen. Der größte Teil war jedoch in inländische Bereiche gesteckt worden. Kleine Filialen im Ausland, wie die auf Guam, waren schlichtweg übersehen worden. Während in Dededo, der Hauptstadt der Insel, ein Feuerwerk das 21. Jahrhundert willkommen hieß, hatte das Inventurprogramm des örtlichen Safeway Supermarktes beschlossen, der 1. Januar 1900 sei gekommen. Als der Computer auf Guam das nächtliche Routineinventurprogramm startete, das den Wareneingang des Tages kontrollierte und Frischware orderte, entdeckte er, daß jeder einzelne Artikel sein Verfallsdatum weit überschritten hatte. Vollkommen frische verderbliche Ware erschien im Computer als lange verfault. Frisches Brot wurde für altbacken erklärt. Der Computer war schlauer, als es ihm guttat. Er begann, stichprobenartig die Lagerbestände zu prüfen, und kam zu dem Ergebnis, daß der gesamte Bestand ersetzt werden mußte. Daraufhin erstellte das Programm eine Bestellung, die den gesamten Warenbestand der Filiale umfaßte. Diese riesige Order wurde in einer einzigen Datei untergebracht, und ein unaufmerksamer Angestellter versuchte, diese Datei per Satellitenleitung an den zentralen Inventurcomputer in Pleasanton zu senden. Die Y2K-Software und auch die neue Hardware in Pleasanton verfügten nicht über ein angemessenes Firewall-Programm, um das System vor be163
schädigten Codes zu schützen, die von außen eindrangen. Niemand hatte an einen einfachen Testlauf gedacht. Als der beschädigte Code die Zentraleinheit in Pleasanton erreichte, zerstörte er das Kernbetriebssystem. Hightech im Wert von 50 Millionen Dollar verwandelte sich in Müll. Safeway war aus dem Geschäft. Am 31.12. um zehn Uhr morgens waren Jonathan Spillman die technischen Ursachen jedoch völlig egal. Ihn interessierten alleine die Auswirkungen. Computer hatten das Problem zwar hervorgerufen, doch jetzt zerstörten amoklaufende Menschen seinen Laden. Die Spannungen, denen sich von Zeit zu Zeit jeder ausgesetzt sah, der in einer überfüllten Großstadt lebte, wurde nun zusätzlich von Jahrtausendhysterie gespeist und von zig unzivilisierten jugendlichen Rowdies vervielfacht. Sie entluden sich in einer gewaltigen Explosion von Frust und Gewalt. Die Dominikaner griffen die Schwulen an, und die Schwulen schlugen zurück. Dann stürzte sich auf einmal eine Bande weißer Jugendlicher, die aus dem Nichts gekommen war, auf die Dominikaner. Binnen Sekunden waren auch jugendliche Asiaten und Schwarze in den Aufruhr verstrickt. Die Waren aus den Regalen wurden zu Waffen. Unschuldige Bürger fanden sich inmitten des Kreuzfeuers wieder. Tomaten konnten nicht gerade großen Schaden anrichten, Blechdosen dafür aber um so mehr. In den Gängen floß Blut. »Notrufzentrale. Wie ist ihre Adresse?« »In meinem Supermarkt ist ein Aufruhr im Gange. Wir brauchen sofort Polizei und Notärzte!« Die Silvesternacht gehörte zu den Ereignissen, die alle Polizeibeamten fürchteten. Die Folgen von zuviel Alkohol und einem Höchstmaß an Verantwortungslosigkeit wa-
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ren eine Heerschar Betrunkener und schwere Autounfälle. Doch normalerweise ging der Ärger frühestens am späten Nachmittag los. Nicht an diesem Tag, und schon gar nicht im 24. Polizeirevier, geführt von Captain Ed Garcia. Bereits am frühen Morgen war das Revier auf der 100. Straße überfüllt mit aufgebrachten, verängstigten Menschen, die in einem Wirrwarr verschiedenster Sprachen Auskunft verlangten. Würde in ganz New York der Strom ausfallen? Was sollten sie tun, wenn Außerirdische im Central Park landeten? Wen sollten sie zur Verantwortung ziehen, wenn ihre Computer abstürzten? Von Garcias 25 Beamten im Schichtdienst und den fünfzehn Reservisten hatten gerade mal vier eine vage Ahnung von der Bedeutung des Millennium Bugs. Er hatte sie zu einem Vortrag über Y2K geschickt, doch sie hatten alle die gesamte Veranstaltung durch geschlafen. Nun waren die verblüfften Polizisten nicht in der Lage, auch nur eine der überdrehten Fragen zu beantworten, die auf sie einstürmten. Als praktisch denkender Vorgesetzter war Garcia kurz davor, hinunterzugehen und die Ordnung selbst wieder herzustellen, als aus dem Lautsprecher auf seinem Schreibtisch ein Rundspruch für alle Einheiten ertönte. Im neuen Safeway Supermarkt Ecke Broadway und 96. Straße seien Ausschreitungen im Gange. Wie der Blitz war Garcia in der Garage. Er sprang in den ersten Streifenwagen, der sich auf den Weg machte. »Los, los, los!« schrie er den jungen uniformierten Polizisten am Steuer an. »Geben Sie Gas. Wie heißen Sie?« »Richards«, sagte der Fahrer. »Frohes neues Jahr, Captain.« »Ja, Ihnen auch, Officer Richards. Halten Sie die Klappe und drücken Sie drauf!« »Ja, Sir!«
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Mit knackendem Funk, jaulender Sirene, heulendem Motor und quietschenden Reifen flog der blauweiße Ford die 100. Straße hinunter, auf den Broadway zu. Fußgänger und Tauben stoben auseinander, Lieferwagen mußten ausweichen. Hinter ihnen versuchten zwei weitere Streifenwagen, mitzuhalten. Garcia schnappte sich das Mikrofon und drückte die Sprechtaste. »Hier spricht Captain Garcia in Wagen 1331. Bin auf dem Weg zur 96. Straße, Ecke Broadway. Was zum Teufel ist da los? Weiß irgend jemand Bescheid?« In dem Versuch, sich einen Weg durch den dichten Verkehr zu bahnen, jagte der schwitzende Fahrer mit heulender Sirene über rote Ampeln. Verschiedene private Radiosender, die in der Lage waren, den Polizeifunk abzuhören, berichteten live von den Ausschreitungen. Einige Menschen änderten daraufhin ihre Route und folgten dem Zug der Polizeifahrzeuge. »Verdammte Scheiße!« schrie Richards. »Diese Idioten sind direkt hinter uns.« »Was würzt den Tag besser als eine kleine Verfolgungsjagd auf dem Weg zur Arbeit?« sagte der Captain. Er drückte noch einmal die Sprechtaste seines Funkgerätes. »Hier spricht Garcia«, rief er. »Redet jetzt endlich jemand da draußen mit mir!« »Hier ist Einheit 1346, Sergeant O'Donahue. Hier sind lauter Ladendiebe, Captain, und der Broadway ist verstopft. Wir müssen zu Fuß weitergehen. Himmel, sieh dir den Kerl da an! Er hat eine ganze Kiste Champagner dabei. He, Freundchen, haben Sie eine Quittung dafür? Jesus, da ist noch einer. Die sind überall! Halt den Wagen an, Joe. He, Kumpel, steh'ngeblieben!« »O'Donahue, vergessen Sie die Ladendiebe«, rief Garcia in sein Mikrofon. »Im Geschäft ist ein riesiger Rassen-
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aufruhr ausgebrochen. Gehen Sie da rein und bringen Sie die Sache unter Kontrolle.« »Ja, Sir!« Rassenunruhen kamen selten aus heiterem Himmel, und schon gar nicht um zehn Uhr vormittags. Die Mitglieder der Einheit für Unruhen der New Yorker Polizei hatten Anweisung, um vier Uhr nachmittags auf den Dienststellen ihrer Abteilung den Silvesterdienst anzutreten. Die meisten lagen noch in den Betten und schliefen. Die Personaldisponentin in der zentralen Einsatzleitung der Polizei trommelte den wohlbekannten Rhythmus der Stadt. In dem Bewußtsein, daß sie riesige Gebiete urbanen Terrains unbeschützt zurückließ, zog sie aus allen möglichen Ecken Beamte ab. Garcia konnte ein wahres Sirenenorchester hören, das sich aus allen Richtungen der Kreuzung 96. Straße und Broadway näherte. Doch die Straßen waren alle dicht. Die Polizisten ließen ihre Streifenwagen mitten auf der 96. Straße zurück, vor einer Filiale von Blockbuster Video, gegenüber von Safeway. Auf dem Gehweg vor dem Supermarkt war eine Silvesterparty in vollem Gange. Die Cops wurden von einem lärmenden Chor mit der traditionellen New Yorker Neujahrshymne »Auld Lang Syne« begrüßt. Dem jungen Polizisten entschlüpfte ein Lächeln, doch Garcia ging in die Luft. »Machen Sie umgehend den Gehsteig frei!« rief er. »Sagen Sie ihnen, sie sollen die Flaschen fallen lassen. Wer irgendwelchen Scheiß versucht, bekommt eins auf die Mütze. Richards, Sie kommen mit!« Der Gehsteig hinter den Sängern sah aus, als wäre ein Wirbelsturm darüber hinweggefegt. Lebensmittel waren aus übervollen Einkaufswagen gefallen, die dort parkenden Autos waren demoliert. Überall stolperten benommene Menschen herum, und eine Gruppe kniete, ins
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Gebet vertieft, mitten auf dem Bürgersteig. Vier Menschen waren niedergetrampelt worden, und ein Kunde des Supermarktes hatte einen Herzinfarkt erlitten. Der Großteil der Ladendiebe war geflohen. Sanitäter waren am Werk. Von Gaffern umringt, versuchten sie, das Opfer mit dem Herzinfarkt zu reanimieren. Garcia sammelte seine Mannschaft um sich. Ihm standen zwölf uniformierte Beamte zur Verfügung. Er wies seine Leute an, die Ordnung wieder herzustellen und sich um die Verletzten zu kümmern. Der Supermarkt glich einem Schlachtfeld. Die Spirituosenabteilung war ein einziger See aus schäumender Flüssigkeit, in der Glasscherben schwammen. Im Gang für die Zahnpflegeprodukte hatten die Wachleute fünf Ladendiebe zusammengetrieben. Garcia rief zwei Uniformierte zu Hilfe, befahl den Wachleuten, ihre illegalen Waffen wegzupacken, und machte sich auf die Suche nach Spillman. Im Zwischengeschoß wurde er fündig. Amanda und Denise waren bei ihm. Sie spendeten sich gegenseitig mit vollen Champagnergläsern Trost. »Jon, was ist passiert?« frage Garcia. »Was zum Teufel ist passiert?« Spillmans Gesicht glänzte schweißnaß, sein Mund war zu einem irren Grinsen verzogen. Einen Augenblick lang dachte Garcia, sein Freund hätte den Verstand verloren, was unter diesen Umständen durchaus verständlich gewesen wäre. »Jon? Alles in Ordnung?« »Du willst wissen, was passiert ist, Ed? Das Unfaßbare. Es ist geschehen, was niemals hätte geschehen dürfen. Hier, nimm ein Glas Champagner. Frohes neues Jahr!« Ruhig wiederholte Captain Garcia seine Frage: »Was ist passiert?«
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Spillman deutete auf einen schwarzen Bildschirm. »Y2K ist passiert«, sagte er. »Der Millennium Bug.« »Jesus«, sagte Garcia und zog die Nase kraus. »Du und Donald, ihr habt mir ein Ohr abgekaut! Du hast immer gesagt, daß dir auf keinen Fall was passieren wird.« »Wir haben uns geirrt«, sagte Spillman. »Wenn es hier geschehen kann, dann ist es überall möglich.« »Der Jüngste Tag ist da!« sagte Amanda. »Sämtliche Computersysteme sind abgestürzt.« »Aber warum der Aufruhr? Oh Gott, ich weiß, warum. Die ganze Hysterie, deswegen. Ich will die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras haben.« »Nimm dir, was immer du willst«, sagte Spillman. »Das haben alle so gemacht.« Er trank ein Glas Champagner und sagte leise: »Scheiße! Die sind einfach ausgerastet. Stinknormale Menschen haben sich in Verrückte verwandelt.« »Die Jugendlichen sind schuld«, sagte Denise. Sie spie die Worte förmlich aus. »Wilde!« Garcia war an Gewalt und ihre Auswirkungen gewöhnt, er bekam sie Tag für Tag zu Gesicht. Aufmerksam betrachtete er seinen Freund und die beiden Angestellten. Jonathan Spillman war ein intelligenter Jude mit großer Klappe, so zynisch und abgeklärt wie alle New Yorker. Normalerweise war er durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Doch jetzt war er schlichtweg erschüttert. Amanda war bleich und kämpfte mit den Tränen. Denise sah so aus, als wolle sie einfach nur nach Hause. »Ist hier oben irgend jemand verletzt?« fragte der Captain. »Nein, aber einer meiner Kassierer hat sich das Bein gebrochen. Und ein Kunde hat einen Herzinfarkt erlitten.« »Die Sanitäter sind draußen und kümmern sich darum.
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Ich glaube, ihr solltet hier zuschließen und alle nach Hause gehen.« »Ich kann nicht«, sagte Spillman. »Ich muß hier Ordnung machen und Kontakt zu den Technikern in Pleasanton halten.« Garcias Funkgerät rauschte, und er hielt es ans Ohr. »Garcia.« »Hier die zentrale Einsatzleitung, Captain. Uns liegt eine weitere Störungsmeldung vor. Eine großer Menschenauflauf Ecke Amsterdam Avenue und 99. Straße. Die Leute knien mitten auf der Straße und beten. Sie blockieren die ganze Kreuzung.« »Heilige Mutter Gottes! Okay, ich komme, so schnell ich kann.« »Noch mehr Ärger?« fragte Spillman. »Ich glaube, an diesem Tag werden wir ...«, er sprach den Gedanken nicht zu Ende aus. »Was werden wir?« fragte Amanda. »Was wollten Sie sagen, Captain?« »Der Tag des Jüngsten Gerichts«, sagte Garcia. Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Heute werden wir rausfinden, wer wir wirklich sind.« Draußen heulte eine Sirene auf. Ein weiteres Opfer wurde abtransportiert. Amanda brach in Tränen aus. »Mach dir keine Sorgen«, versuchte Denise sie zu trösten. »Das Schlimmste ist überstanden. Es ist vorbei.« »Oh nein!« schluchzte Amanda. »Verstehst du das nicht? Es hat gerade erst angefangen.« »Ihr geht beide nach Hause«, sagte Spillman. »Für euch gibt es hier nichts mehr zu tun.« Amanda schüttelte den Kopf. »Wie denn? Ich werde auf gar keinen Fall mit diesen entsetzlichen Leuten in eine UBahn steigen.«
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»Also«, sagte Spillman. »Gehen Sie zu mir nach Hause. Denise, rufen Sie ein Taxi. Ich rufe Shirley an und sage ihr, daß Sie auf dem Weg sind. Sie ist heute zu Hause. In Ordnung?« »Ich nehme Amanda mit zu mir«, sagte Denise. »Ich will heim zu meinen Kindern. Gehen wir, Amanda. Alles wird gut werden.« »Nein«, sagte Amanda. Ihre Stimme wurde laut. »Nichts wird jemals wieder, wie es war.« Amanda ließ ihr Glas fallen, rannte die Treppe hinunter, stolperte, fing sich wieder und stürmte zum Ausgang. Denise und Spillman sprinteten hinter ihr her und versuchten, sie aufzuhalten. »Amanda, halt!« Es war sinnlos. Amanda rannte hinaus, kämpfte sich durch die Menschenmenge auf dem Gehweg und war verschwunden. Spillman sah, daß sich Übertragungswagen vor dem Supermarkt postierten. Kurz vor den Türen machte er halt. »Lassen Sie sie gehen, Denise«, sagte er. »Bleiben Sie hier drinnen. An dem Tag, an dem die Welt auseinanderbricht, müssen wir nicht auch noch im Fernsehen auftauchen.« Im hinteren Teil des Geschäftes, in der Obst- und Gemüseabteilung, setzte die Sprinkleranlage ein. Der Endiviensalat glänzte frisch und appetitlich. Doch er war im Cyberspace verloren und würde im Regal verfaulen. Spillman krempelte die Hemdsärmel hoch und machte sich auf die Suche nach dem Handventil, um das Wasser abzustellen. Auf der anderen Seite des Globus erreichte der Millennium Bug die am dichtesten besiedelten Regionen Asiens. Anders als in Rußland bestand ganz China aus nur einer ein-
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zigen Zeitzone. An der Chinesischen Mauer waren gigantische Feierlichkeiten vorgesehen. Die über eine Länge von 2000 km beleuchtete Mauer war sogar aus dem Weltall zu erkennen. Im Norden Pekings war eine riesige Digitaluhr in der Mauer installiert worden, die die Minuten bis zum Jahrtausendwechsel zählte. Genau wie die hölzerne Barrikade, die einst die Wall Street gesäumt hatte, war auch die Chinesische Mauer einst zum Schutz gegen fremde Eindringlinge errichtet worden. Sie sollten daran gehindert werden, den Verbotenen Palast zu erreichen. Das war schon im 14. Jahrhundert zwecklos gewesen, und es würde auch im 21. Jahrhundert nichts nützen.
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Garcia nahm die Menschenmenge vor dem Safeway in Augenschein. Ihm fiel auf, daß die typische New Yorker Hab-ich-alles-schon-mal-gesehen-also-was-soll's-Haltung fehlte. Die Leute hatten glasige Augen. Der Schock war ihnen in die Glieder gefahren, für Manhattan wahrlich kein alltäglicher Anblick. Er hielt die Nase in die Luft und schnupperte. Wie jede Stadt besaß auch New York ein ganz einzigartigen Geruch. In Manhattan roch es nach Ozon, Salz und Schweiß. Doch jetzt drang noch ein weiteres Merkmal in Garcias Nase. Er roch Angst. Ein unsichtbarer Feind näherte sich New York. Schon wütete die Fünfte Kolonne des Terrors in seiner Stadt und griff sie von innen heraus an. Er hatte das schon einmal erlebt. Als achtzehnjähriger Soldat war er Zeuge gewesen, wie Saigon gefallen war. In jenen letzten, schrecklichen Tagen hatte er gesehen, wie die riesige Stadt von Panik ergriffen worden war und sich die individuellen Traumata einer Million Menschen zu einer einzigen, unfaßbaren Feuersbrunst verdichteten. Die Angst treibt die Menschen an, wegzulaufen, obwohl Flucht sinnlos ist, und manchmal zertrampeln sie dabei ihre eigenen Kinder. Die Verzweiflung gebiert Helden des Augenblicks genauso wie zufällige Bösewichte, sie zerfetzt das soziale Gefüge und macht den Job eines Polizisten unmöglich. Garcia war fest entschlossen, zu den Vorfällen bei Safeway keinen Kommentar abzugeben. Doch noch ehe er seinen Fahrer ausfindig machen konnte, war er schon von
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Kameras umringt, und ihm wurden Mikrofone unter die Nase gehalten. Die Kameras liefen, und ihm war bewußt, daß einige der Aufnahmen live gesendet wurden. Garcia vermied den grimmigen Gesichtsausdruck, den die Öffentlichkeit von Polizeibeamten im allgemeinen erwartete. Er lächelte freundlich und winkte einigen Reportern zu, die er erkannte. Gleichzeitig versuchte er, sich vorwärts zu seinem Wagen zu schieben. »Wo ist der Geschäftsleiter?« Garcia lächelte weiter und sagte: »Er hat leider keine Zeit für euch, liebe Leute. Er ist damit beschäftigt, seinen Laden wieder aufzuräumen.« »Was ist hier geschehen, Captain?« brüllte einer. »Sie müssen mich entschuldigen«, sagte er, »ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten.« »Wie viele Verletzte hat es gegeben?« »Ich glaube, es waren vier. Aber ich bin mir nicht sicher.« »Wurden diese Vorfälle von Computern verursacht?« »Wie viele Menschen wurden verhaftet?« Garcia ergab sich und beantwortete geduldig ihre Fragen. Hundert Häuserblocks weiter südlich, auf der Mott Street in Chinatown, hatte Donald Copeland soeben das parfümgeschwängerte Foyer seines bevorzugten Massagesalons betreten. Copeland ging mit Sex um wie mit allen anderen Dingen. Für ihn war es nichts weiter als ein Geschäft. In Momenten allergrößter Anspannung, wenn sein Hirn in seine Genitalien hinabglitt, widmete er sich effizient und in großer Hast seinem Geschlechtstrieb. »Wünsen Sie Massaage?« fragte ihn die chinesische Madam. Copeland gehörte zu ihren Stammkunden. Hinter ihr sahen drei junge chinesische Massagemädchen fern. Ohne Vorwarnung sah Donald sich mit den Nach-
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Wirkungen des Aufruhrs bei Safeway konfrontiert. Heilige Scheiße, dachte er, Jonathan Spillmans Supermarkt! »Verrückte hau'n Supermaakt kaputt«, sagte Madam Wo. »New Yook verrückte Stadt.« Auf dem Bildschirm war ein Polizist zu sehen, der einer Horde Reporter Rede und Antwort stand. Copeland wurde gewahr, daß es kein anderer war als Ed Garcia, noch einer seiner Freunde aus der Frühstücksrunde. »Ich weiß nur, daß die Computer abgestürzt sind und die Kassierer nicht in der Lage waren, die langen Schlangen abzufertigen«, sagte Garcia gerade. »Die Leute sind ausgerastet.« »Captain Garcia, unseren Informationen zufolge sind die Computer der gesamten Safeway-Supermarktkette abgestürzt. Können Sie dazu etwas sagen?« »Nein, davon ist mir nichts bekannt. Tut mir leid. Sie müssen mich jetzt wirklich entschuldigen. Ich muß weiter.« Copeland traute seinen Ohren nicht. Es mußte an Y2K liegen, aber es machte keinen Sinn. Spillman gehörte dem Y2K-Überwachungsausschuß von Safeway an. Das Unternehmen hatte klug gehandelt. Safeway hatte ein Vermögen investiert, um gerüstet zu sein, und sie hatten alles richtig gemacht. »Woll'n Sie Massaage oder woll'n Sie feanseehn? Feanseehn sagt, neue Krankheit, heißt Millennium Bug. Wissen Sie, was ist? Ist wie Grippe?« »Nur einen Augenblick«, sagte er zu Madam Wo und zerrte sein Telefon aus der Tasche. Er wählte Spillmans Mobilfunknummer. Der Geschäftsführer war sofort am Apparat. »Jon, was ist passiert?« »Ich hab's satt, diese Frage zu beantworten, Donald. Ich weiß es nicht. Safeway ist tot, alle 450 Filialen.«
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»Das ist nicht möglich!« »Ja, stimmt, nicht möglich. Dachte ich auch. Ed ist hier gewesen, aber jetzt ist er wieder weg. Irgendwo in Harlem gibt es noch einen Aufruhr.« »Er ist gerade im Fernsehen. Er gibt ein Interview, direkt vor deinem Laden.« »Scheiße!« sagte Spillman. »Das Fernsehen regt die Leute nur auf. Ich glaube, die Typen, die meinen Laden kurz und klein geschlagen haben, haben vorher den ganzen Mist im Fernsehen gesehen. Das hat sie aufgestachelt. Ich denke ernsthaft darüber nach, ob ich nach Hause gehen und mich mit einer Schrotflinte bewaffnen soll, weißt du, was ich meine?« »Was ist los, Jonathan? Du klingst sehr beunruhigt.« »Himmel noch mal, Donnie! Mein Laden ist hinüber, meine Firma ist hinüber, aber Blockbuster Video, gleich gegenüber, denen geht's gut. Sie haben jeden einzelnen Katastrophenfilm im Fenster, der je gedreht wurde. In New York werden die Leute das neue Jahr feiern, indem sie sinkenden Schiffen zusehen und beobachten, wie Kometen die Erde zerstören. Nicht mit mir. Dazu muß ich mir keinen Film ansehen. Ich bin gerade von einem Güterzug überrollt worden.« »Komm runter, downtown. Wir können zusammen zu Mittag essen.« »Ist das dein Ernst? Mittagessen? Du verdammter Yuppie-Arsch! Ich kann hier nicht weg. Ich muß Kontakt zu Pleasanton halten. Sie versuchen rauszufinden, was passiert ist. Sie haben von irgendwoher einen fehlerhaften Code importiert. Aber ganz ehrlich, mein Lieber, es ist mir scheißegal. Ich habe gerade vier Leute ins Krankenhaus geschickt. Ein Kassierer ist niedergetrampelt worden. Die Verrückten haben ihm ein Bein gebrochen. Ein
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Kunde hat einen Herzinfarkt erlitten, und Gott weiß, was sonst noch. Hast du schon mal einen Aufruhr erlebt?« »Nur nach den Superbowl-Spielen, aber das waren nur Betrunkene.« »Man könnte Eintritt dafür nehmen«, sagte Spillman. »Die Leute würden viel Geld dafür bezahlen, um zu sehen, was ich heute gesehen habe.« »Heb die Bänder aus den Überwachungskameras auf«, sagte Copeland. »Vielleicht kannst du sie verkaufen.« »So kenn' ich meinen Donnie. Immer auf der Suche nach 'ner Marktlücke. Nur zu deiner Information, Ed will die Bänder haben. Mir ist es egal.« »Hör mal, Jonathan«, sagte Copeland. »Ich bin wirklich sehr daran interessiert, herauszufinden, was mit euren Systemen geschehen ist. Was dagegen, wenn ich mit deinen Leuten in Pleasanton rede? Vielleicht kann ich Safeway als Kunden gewinnen. Hübsches Budget. Momentan sind unsere Y2K-Leute alle mit der Bank beschäftigt, aber nächste Woche werden sie nicht mehr viel zu tun haben.« »Ich schwöre bei Gott, Donnie, dein Hirn zählt zu den Weltwundern, aber bitte, wenn du meinst. Ach, und wenn du zu Mittag essen willst, komm vorbei, hier gibt es alles, was du willst. Das Mittagessen ist über den ganzen Laden verstreut. Ich bin jedenfalls hier.« Copeland schaltete sein Telefon aus, nahm die drei Mädchen in Augenschein, wählte die mollige und gab Madam Wo achtzig Dollar. »Woll'n Sie spezial, wie imma?« Copeland brummte und folgte seiner Errungenschaft den rotsamtenen Gang hinunter. Die belebte Kreuzung Ecke 99. Straße und Amsterdam Avenue lag in einer Gegend, in der vorwiegend Spanisch
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gesprochen wurde. Als Captain Garcia die Kreuzung erreichte, knieten dort hundertfünfzig Leute mitten auf der Straße und beteten auf Spanisch. Garcias 24. Bezirk erstreckte sich auf der West Side von der 86. Straße bis hinauf zum Cathedral Parkway. Hier waren einige der wohlhabendsten Wohngegenden Amerikas zu finden, aber auch die ärmsten Latino-Viertel der Stadt, wo weniger als die Hälfte der Bewohner der englischen Sprache mächtig war. Dank seiner Freunde war Garcia über den Millennium Bug ausreichend im Bilde. Doch er wußte nur zu gut, daß viele der armutsgebeutelten Immigranten von den karibischen Inseln oder aus Mittelamerika, die in seinem Bezirk lebten, nicht den blassesten Schimmer hatten. Sie wußten nur, daß der Millennium Bug mit voller Wucht auf sie zukam und daß er die Früchte trug, die zweitausend Jahre mystische Numerologie und durcheinandergeratene christliche Theologie gesät hatten. Aus der Kirche an der Ecke strömten die Leute auf die Straße. Dort fielen sie auf die Knie, behinderten den Verkehr und sorgten für jede Menge Schaulustige auf den Bürgersteigen. Garcia war sich nicht im klaren darüber, auf wessen Seite die Gaffer sich schlagen würden, sollten die Dinge hier außer Kontrolle geraten. Er spürte das Heraufziehen eines neuen Aufruhrs. Der Bürgermeister befand sich in Washington, zu einem Fototermin mit dem Präsidenten anläßlich des Jahrtausendwechsels. Seiner Ehren hatte die Absicht, zu einem weiteren Fototermin um Mitternacht am Times Square zurückzukehren. Für die Zeit seiner Abwesenheit hatte er die Sicherheit der Stadt in die unvorbereiteten Hände von fünf Stadtbezirkspräsidenten, vier stellvertretenden Bürgermeistern und einem Polizeichef gelegt. Garcia war sich
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sicher, daß diese Politiker ihn lediglich mit unnützen Anweisungen und Vorschriften bombardieren würden. Was auch geschah, von oben konnte Garcia keinerlei Hilfe erwarten, denn was gerade im 24. Bezirk passierte, würde sich über kurz oder lang in der ganzen Stadt wiederholen. Garcia erging es wie jedem Captain der New Yorker Polizei, der einen Bezirk unter sich hatte: er war auf sich allein gestellt. Die Feuerwehr war vor Ort, und der Einsatzleiter war bereit, den Schlauch auf die Menge zu richten. Garcia kannte den Mann nur zu gut. Graviano war ein eiskalter Rassist. Er betrachtete die städtische Feuerwehr als Waffe in seinem persönlichen Krieg gegen die Einwohner von New York. Graviano ließ schon mal eine Mietskaserne abbrennen und bezeichnete das dann als städteplanerische Erneuerung. »Wir können sie jederzeit wegspritzen«, sagte Graviano. »Wir warten nur auf Ihren Befehl.« »Ich will erst mit ihnen reden«, sagte der Captain. »Mit ihnen reden?« schnaubte Graviano. »Verdammt noch mal, Captain. Diese Typen sprechen nicht mal unsre Sprache.« Auf der Suche nach dem Geistlichen schob Garcia sich durch die kniende Menge. Er fand einen jungen Mann in fließenden roten und weißen Gewändern, der sich gerade mitten in einem ekstatischen Zwiegespräch mit dem Herrn befand. »Verzeihen Sie bitte, wenn ich störe«, sagte Garcia auf Spanisch. Er hatte absichtlich die höflichste und formalste Form der Ansprache gewählt. »Aber warum sind Sie mit Ihrer Gemeinde hier auf der Straße und nicht in Ihrer Kirche? Sie ist doch ganz sicher eine Kirche, die der Bewunderung würdig ist.«
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»Wir wollen uns Gott zeigen. Wir wollen uns als Märtyrer beweisen. Wir warten auf Sie, mein Captain, damit Sie uns helfen, uns Jesus zu offenbaren.« Die anderen Gläubigen hatten aufgehört zu beten und beobachteten die beiden. »Wir müssen leiden, um uns würdig zu erweisen«, sagte der Prediger. »Werden Sie uns aufnehmen, Captain?« Gütiger Himmel, dachte Garcia, und ich war der Meinung, ich hätte alles gesehen! »Sie wollen, daß ich Sie alle ins Gefängnis stecke?« »Ja.« »Also gut, aber Sie werden laufen müssen.« »Oh, nein, Captain, Sie müssen uns verhaften, in Ketten legen und uns in Ihren Kerker werfen.« »Ich fürchte, das ist nicht möglich, Padre. Ich habe nicht genügend Leute«, sagte Garcia. Er deutete auf den Einsatzleiter der Feuerwehr. »Wenn Sie sich nicht bewegen, werden die bomberos ihre Spritzschläuche auf Sie richten, und dann wird es Verletzte geben.« »Um so besser, Captain.« »Unter Ihnen befinden sich Frauen und Kinder.« »Im Angesicht des Herrn sind wir alle Märtyrer.« »Glaub' ich nicht«, sagte Garcia. Er wechselte in einen jovialeren Tonfall, um den Priester aus dem Konzept zu bringen. »Wenn Sie morgen früh aufwachen, werden Sie sich wie ein Idiot vorkommen. Sie betrügen diese Menschen. Sie sind verhaftet. Nur Sie, sonst niemand.« »Ich kann meine Gemeinde nicht im Stich lassen.« »Sie können und Sie werden.« Garcia winkte zwei Beamte zu sich. Sie packten den Geistlichen unter den Armen und zerrten ihn zu einem Streifenwagen. Sich heftig zur Wehr setzend, rief der Prediger: »Es beginnt, Brüder und Schwestern, unsere Reise
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zur Begegnung mit unserem Herrn am Tag des Jüngsten Gerichts hat begonnen. Betet, Brüder und Schwestern, Jesus ist unser Zeuge. Jesus sieht, was uns heute angetan wird.« Die gesamte Kirchengemeinde begann, sich auf dem Asphalt zu winden, als die Polizisten den schreienden Geistlichen in einen Streifenwagen verfrachteten. »Sollen wir ihn ins Gefängnis bringen, Captain?« fragte einer der beiden Beamten. »Nein. Bringen Sie ihn zurück in die Kirche. Vielleicht kommen die anderen dann hinterher.« »Ich kann nicht den ganzen verdammten Tag hier rumsteh'n und warten«, sagte Graviano. »Sobald ich einen anderen Notruf bekomme, bin ich hier weg.« »Wenn wir ihn hier rausholen können«, erklärte Garcia geduldig, »und sie keinen mehr haben, der ihnen sagt, was sie tun sollen, dann können wir die Menge vielleicht friedlich auflösen.« »Dazu wird es aber nicht kommen, Captain«, sagte der Feuerwehrmann. Er deutete auf die Menschenansammlungen, die sich zwischenzeitlich an allen vier Ecken der Kreuzung gebildet hatten. »Und was ist mit denen?« Wie hypnotisiert starrte die Menge auf die 150 Personen, die sich in religiöser Ekstase stöhnend auf der Straße wanden. Was fehlte, waren die üblichen Zwischenrufe, das Gejohle und Geklatsche. Garcia hörte nur ein paar vereinzelte Rufe, und die galten Polizei und Feuerwehr. Auf dem Gebiet der Kontrolle von Menschenmengen war Garcia Experte. Außerdem besaß er eine tiefe Zuneigung für die Bewohner von New York. Er betrachtete sich als Diener der Öffentlichkeit und als Garant für die öffentliche Sicherheit. Beamte wie Graviano waren ihm zutiefst zuwider. Sie mißbrauchten ihre Autorität, um ihre eige-
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nen kleinlichen Belange voranzutreiben. Wenn die Feuerwehr die Schläuche auf die Menge richtete, dann würden die Menschen mit Steinen und Flaschen zurückschlagen und das Viertel in einen Trümmerhaufen verwandeln. Es gab noch eine andere Möglichkeit. Garcia versammelte alle Polizisten und Feuerwehrleute um sich und gab seine Entscheidung bekannt. »Okay«, sagte er. »Errichten Sie an der 100. und der 98. Straße, der Amsterdam Avenue und am Central Park West feste Barrikaden. Hiermit erkläre ich dieses Gebiet zur offiziellen Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk. Das ist alles. An die Arbeit!« »Was?« schrie Graviano. »Dazu fehlt Ihnen jegliche Befugnis!« »Ich habe es einfach getan, Sie dämlicher Kerl, und ich werde es umgehend der Presse mitteilen. Richards, holen Sie die Reporter hierher. Ich habe heute schon einen Aufruhr erlebt, und ich werde keinen zweiten zulassen. Hören Sie, Herr Einsatzleiter, bei den Marines habe ich gelernt, daß es viel einfacher ist, sich hinterher zu entschuldigen, als vorher um Erlaubnis zu bitten. Dies ist mein Bezirk, und wenn diese Leute auf der Suche nach Gott sind, dann bin ich, Captain Ed Garcia, das Beste, was sie hier finden werden. Wir sollten ein wenig religiöse Toleranz üben. Diese Leute wollen nur beten, sonst nichts. Sie glauben. Da kann ich mich kaum einmischen. Kapieren Sie das nicht? Jeder religiöse Spinner in New York wird sich hierher begeben, und dann haben wir sie alle an einem Ort versammelt. Auf diese Art werden sich Dinge wie hier nicht in der ganzen Stadt abspielen. Nur einmal alle tausend Jahre hegen die Menschen den Wunsch, auf den Straßen New Yorks zu beten. Und deshalb, sage ich, laßt sie beten. Richards, lassen Sie den
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Geistlichen wieder aussteigen. Ach zum Teufel, das mache ich selbst. Gehen Sie zurück in ihr Spritzenhaus«, sagte er zu Graviano. »Wir brauchen Sie nicht mehr. Vielen Dank.« »Das wird Sie ihren Job kosten, Garcia.« »Kann schon sein, aber mein Nachfolger wird den Bezirk wenigstens in einem Stück übernehmen«, sagte Garcia und wandte sich ab. »Da ist ja die Presse.« Garcia winkte die Reporter zu sich heran. Die meisten waren ihm von der 96. Straße gefolgt. »Meine Damen und Herren«, sagte er in seiner allerbesten, wohltönenden PR-Stimme, »ich habe eine Erklärung abzugeben. Wie Sie wissen, ist geplant, mehrere ausgewiesene Bereiche der Stadt für die Feierlichkeiten zum Jahrtausendwechsel abzuriegeln. Nun, ich habe gerade einen weiteren Bereich hinzugefügt. Bestimmt sind Sie sich der Tatsache bewußt, daß der Jahrtausendwechsel für viele Menschen in unserer Stadt von großer religiöser Bedeutung ist. Wenn wir auch vielleicht mit ihrem Glauben und Streben nicht übereinstimmen, so müssen wir sie doch respektieren. Im Namen der Glaubensfreiheit, dem Ersten Zusatz zu der Verfassung der Vereinigten Staaten, sowie im Namen der Bürger New Yorks erkläre ich deshalb die Amsterdam Avenue von der 98. bis zur 100. Straße mit sofortiger Wirkung als für den Verkehr gesperrt. Willkommen zur offiziellen Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk.« Die Presse war fassungslos. Das war unerhört, beispiellos, noch nie dagewesen, beinahe undenkbar. Als jedoch die Verfügung von Captain Garcia bei den Menschen auf der Straße die Runde machte, erklang aus den Kehlen der Gläubigen frenetischer Jubel. Garcia strahlte. »Möge Gott sein Angesicht heute über
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New York City leuchten lassen«, sagte er. »Wir werden alle Hilfe brauchen, die wir kriegen können.« Copeland kam gerade rechtzeitig in den Empfangsraum des Massagesalons zurück, um den letzten Rest von Ed Garcias zweitem Statement des Tages zu sehen. Die offizielle Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk. Wunderbar. Warum auch nicht? Copeland bedankte sich gerade bei Madam Wo, als die Fernsehsendung aus Spanish Harlem zurück zum Tisch des ABCModerators in Washington schaltete. »Wir haben weitere Neuigkeiten für Sie, diesmal von Julie Carpenter aus Hongkong. Hallo, Julie.« »Hallo Bob. Hier in Hongkong, der ehemaligen britischen Kronkolonie an der Südküste Chinas, ist es bereits fünfundvierzig Minuten nach Mitternacht. Sicher können Sie hinter mir das Feuerwerk erkennen, das noch immer den Himmel über dem Hafen erleuchtet. Uns wurde eine herrliche Bootsparade präsentiert, und die Stimmung war unglaublich aufregend. Aber, Bob, es bleibt zu berichten, daß der Millennium Bug China hinwegrafft. Von den Astronauten in der Raumstation erreicht uns die Nachricht von einem Stromausfall, der über dieses ganze riesige Land hinwegrollt. Nur Shanghai und Hongkong sind verschont geblieben. Die chinesische Führung hat eine Nachrichtensperre verhängt, doch wir bekommen Informationen aus dem Internet und von Funkern!« Madam Wo und ihre Mädchen brachen aufgeregt in ein Durcheinander auf Kanton-Chinesisch aus und deuteten bestürzt auf den Fernseher. »Sie geh'n, Sie geh'n«, drängte Madam Wo und schob Copeland zur Tür. »Wir schließen jetz'!« Copeland trat hinaus auf die Mott Street. Er wurde von
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fürchterlichem Radau empfangen, der aus jedem Gebäude auf die Straße drang. Als die Nachrichten aus der alten Heimat das Herz der chinesischen Gemeinschaft New Yorks erreichten, schien es, als würden eine Million Feuerwerkskörper auf einmal entzündet werden. Copelands Brust schnürte sich zusammen. Vor einem Elektrohandel hatte sich eine lärmende Menschenmenge versammelt, um im Schaufenster die Fernsehmeldungen zu verfolgen. Der Millennium Bug legte die Weltwirtschaft still, eine virtuelle Einheit, die vollständig von Computern und blitzschneller Kommunikation abhängig war. Die Notenbank mußte den elektronischen Geldverkehr unverzüglich einstellen! Das hätte er voraussehen und in seinem Büro bleiben müssen. Copeland verfluchte sich, weil er statt mit dem Hirn mit seinem Schwanz gedacht hatte. Nun konnte es bereits zu spät sein! Er fing an zu rennen. Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen, die sich aus den Häusern auf die Straße ergossen und babylonisch tosenden Lärm in allen Sprachen dieser Erde fabrizierten. Von Chinatown bis Battery Park war Lower Manhattan zum Mikrokosmos eines bedrängten Planeten geworden, der sich unter dem Schock des ersten weltweiten Finanzkollapses wand, der durch die Technologie verursacht worden war. Wenn man von einem geistigen Zentrum der Weltwirtschaft sprechen konnte, dann war es zweifelsohne die Wall Street. Um 11.45 Uhr am Vormittag, während Asien im Kielwasser des Millennium Bugs versank, war die kurze, gebogene Straße mit den prachtvollen Wolkenkratzern zu psychischem Ödland verkommen, bevölkert mit Gespenstern, kreidebleichen Männern und Frauen, zu bloßen Schatten ihrer selbst zerfallen. Der Eindruck wur-
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de durch die Tatsache verstärkt, daß mindestens die Hälfte dieser Gespenster betrunken war, egal, ob vom Whiskey oder vom Schock. Heute bekam die Chaostheorie ihre Quittung. Copeland hatte keinerlei Ambitionen, zum Gespenst zu mutieren. Er versuchte, sich aufzurichten und sein Selbstvertrauen wieder herzustellen, indem er sich sagte, daß er inmitten der Ruinen gedeihen würde. Unbeschadet würde er den größten Bankraub der Geschichte begehen. So, wie er das kommende Gemetzel einschätzte, würde er als Sieger daraus hervorgehen. Das einzige, was noch zwischen ihm und seinem größten Triumph stand, war der große rote Knopf. Während er vorwärts hastete, begann eine Vision des Knopfes ihn zu verspotten. Unweigerlich zog sie ihn in ihre tiefrote Umlaufbahn. Copeland begann zu halluzinieren. Doc erschien im Inneren des roten Kreises, dann der Schriftzug der Bank, dann seine Frau und sein Sohn. Es war, als brause sein ganzes Leben über den Schirm, um ihn zu verhöhnen. Copeland hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn er die Programme, die sich hinter dem Knopf verbargen, aktivierte. Doc hätte den Knopf mit allem möglichen verbinden können. Die Schaltung sollte fünf Sicherungsautomatismen passieren, doch wo saßen die? Er hätte ihn fragen sollen. Er war nicht mehr er selbst, war nicht mehr scharfsinnig, hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Er verlor den Überblick. Er war der einzige Mensch in ganz New York, der gegen den Millennium Bug immun sein sollte. Doch als er sich nun durch die verstopften Straßen kämpfte, bohrte sich der Millennium Bug geradewegs in sein Herz. Andererseits, wenn er den Knopf nun nicht berührte und die Notenbank das Ban-
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kensystem sperrte, dann würde das Diebstahlprogramm inaktiv bleiben, bis die Systeme wieder hochgefahren wurden. Er hatte schon so lange gewartet, konnte er da nicht noch bis kommenden Dienstag oder Mittwoch warten? Doch dann hätten die Programmierer der Bank im Rechenzentrum wieder ein paar Tage mehr Zeit, die Codes nachzuprüfen. Das wiederum erhöhte ihre Chance, wie winzig sie auch immer sein mochte, über das versteckte Programm zu stolpern. Wie Doc immer sagte: »Die absolute Sicherheit gibt es nicht. Ein 100%ig sicheres System existiert nicht. Es gibt lediglich Wahrscheinlichkeiten.« Vielleicht war die Überraschung, die in Docs Computer lauerte, die, daß überhaupt nichts geschah, weil Doc vorhergesehen hatte, daß die Notenbank das System herunterfahren würde. Vielleicht war der große rote Knopf nichts weiter als ein übler Streich, um den Boß zu schikanieren. Wenn überhaupt ein echter Auslöser existierte, dann war er in Docs Laptop gesichert. Diese Vielzahl von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten war ausreichend, um einen klar denkenden Unternehmer zum Wahnsinn zu treiben. Er mußte einen kühlen Kopf bewahren, Geduld haben und alle Spielchen mitmachen, die Doc sich ausgedacht hatte. Am Ende würden sie die Bank schröpfen und sich kaputtlachen. Brennend vor Verlangen, dem Knopf gegenüberzutreten, stürmte Copeland durch die Eingangstür seines Gebäudes. An der Rezeption stieß er auf Jody Maxwell. Sie saß vor einem Minifernseher, der die letzten Neuigkeiten zur Jahrtausendwende verkündete. »Ich dachte, Sie wären nach Hause gegangen«, sagte Copeland. »Ich bin nicht einmal bis in die U-Bahn Station vorgedrungen«, sagte sie, »und es war kein einziges Taxi aufzu-
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treiben. Also bin ich wieder zurückgekommen, um hier auszuharren.« »Wo ist die Empfangsdame?« »Sie ist gegangen. Sie hatte Todesangst, Donald. Vielen Leuten geht es so.« Er hatte nicht erwartet, sie hier anzutreffen. Jody musterte ihn mit unverhohlener Neugierde. Das beunruhigte ihn. Sie begutachtete ihn, wie Röntgenstrahlen fuhren ihre Augen an ihm auf und ab. Doch Copeland konnte sich nicht erklären, wieso. »Was?« verlangte er zu wissen. »Was ist denn?« »Sie sollten sich mal sehen«, sagte sie. »Sie sehen aus wie ein Wilder.« Jody reichte ihm ihren Taschenspiegel. Er erblickte hervorquellende Augen, einen naßgeschwitzten Kragen und seinen völlig zerknitterten Anzug. Einen Augenblick lang überfiel ihn der schreckliche Verdacht, er sei doch zum Gespenst geworden. »Ist alles in Ordnung?« fragte sie. »Ein einziges Irrenhaus da draußen!« antwortete er. Er strich sich über die Haare und blinzelte heftig mit den Augen, in der Hoffnung, sie mit purer Willenskraft auf ihre natürliche Größe zurückschrumpfen zu können. »Ich weiß«, sagte sie, »aber Sie sind schon seit dem Meeting in Edwards Büro heute morgen nicht mehr Sie selbst. Was ist da vorgefallen?« »Sie waren doch dabei. Es ist überhaupt nichts passiert.« »Doch, da war etwas. Edward hat Ihnen Docs Aufstellung über die versteckten Konten gegeben. Sie sahen aus wie vom Donner gerührt.« »Selbstverständlich. Es ist eine Riesensumme.« »Herrgott, Donald, Sie riechen wie ein chinesisches Freudenhaus!«
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Ohne rot zu werden, sagte er: »Ich war gerade in Chinatown, als die Nachricht verkündet wurde, daß China den Millennium-Bach hinuntergeht. Dort hängt ein Fernseher in jedem Geschäft.« »Wen kümmert schon China?« sagte Jody. »Es reicht, was in New York passiert. Zwei Menschen haben sich von der Staten Island Fähre gestürzt und drei weitere vom World Trade Center. Das reicht doch völlig, um sich den Kopf zu zerbrechen.« »Das wundert mich nicht«, sagte Copeland. »Die werden nicht die einzigen bleiben.« »Sind Sie irgendwie in Schwierigkeiten?« wollte Jody wissen. »Nein, selbstverständlich nicht!« »Also, Sie hätten mich genausogut täuschen können«, sagte sie. »Heute heißt es für unsere Kunden und für uns hopp oder topp. Heute ist schlichtweg der wichtigste Tag in der Geschichte unseres Unternehmens. Was ist hier los, Donald? Wird Copeland 2000 versagen? Werden wir abstürzen und in Flammen aufgehen?« »Unseren Kunden wird nichts passieren«, sagte Copeland. »Die Banken werden es überstehen und wir auch. Die Software ist gründlich getestet worden, und es gibt nichts, was wir jetzt noch tun könnten.« Er wandte ihr den Rücken zu und machte sich auf den Weg, den Gang hinunter. Über seine Schulter rief er ihr zu: »Ich bin in meinem Büro und für niemanden zu sprechen.« Jody kam um den Empfangstresen herum und ging ihm nach. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie zu seinem Rücken. »Was ist heute morgen in der Bank geschehen?« »Sie stellen Fragen über Dinge, die Sie nichts angehen!«
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»Um Himmels willen, Donald. Ich mache mir Sorgen um Sie. Sein Sie doch nur einmal im Leben, ein einziges Mal, kein dermaßener Blödmann!« »Sie halten mich für einen Blödmann?« »Einen Augenblick mal. Sie sind aufgeregt, und das liegt nicht daran, daß die Welt einstürzt, denn Sie wußten, daß das passieren würde. Das haben Sie uns allen oft genug in unsere Schädel gehämmert.« »Damals war es aber nichts als Theorie«, sagte er. »Jetzt ist es Realität geworden.« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie zur Abwechslung etwas wirklich berührt hat, Donald? Ich bin erstaunt.« »Hören Sie, Jody. Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen, aber ich muß jetzt wirklich hier rein und an meinen Computer. Das System der Notenbank wird in Kürze heruntergefahren, und ich muß unbedingt den Überblick bewahren.« Copeland fühlte, wie die Wände näher kamen und ihn zu zerquetschen drohten. Er schob sich durch die Tür und schloß sie vor Jodys Nase. Sein Bildschirm blinkte. Wie ein Herzschlag pulsierte der rote Knopf. Copeland wußte nicht, was er tun sollte, ob er den Knopf berühren sollte oder nicht. Er zwang sich, ruhig zu werden und rational zu bleiben. Er kam zu dem Schluß, daß er sich vergewissern mußte, wie der Stand der Dinge bei der Notenbank war. Schnell startete er einen zweiten Computer und rief die Website der Notenbank auf. Einige Sekunden später wußte er, daß die Zentralbank Punkt zwölf Uhr mittags alle Geldtransfers einstellen würde. In exakt drei Minuten. Copeland fühlte sich elend. Seine Lippen zuckten. Er stöhnte. Jody klopfte an die Tür. »Donald«, rief sie, »geht es Ihnen gut?«
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Donald streckte den Arm aus, um den Bildschirm zu berühren. Wenige Millimeter vor der Oberfläche erstarrte seine Hand. Er konnte die elektromagnetischen Vibrationen der Kathodenstrahlröhre spüren und durch sie hindurch die unsichtbare Hand von Doc. Ach was, zum Teufel! Er beugte sich vor. Bebend vor Angst preßte er seine Finger auf den Bildschirm. Im selben Augenblick schwang die Tür auf. Der Bildschirm zischte und knallte und stieß eine gelbe Wolke stechenden Rauches aus. Die Deckenbeleuchtung des Zimmers blinkte, und aus versteckten Lautsprechern ertönte brüllend die Ouvertüre zu Beethovens 5. Symphonie. Jody stieß einen Schrei aus. Sie starrte auf den Computer und auf ihren Boß, der aussah, als würde er jeden Moment explodieren. Die Musik wurde abrupt unterbrochen. Hinter dem Monitor stieg kräuselnd Rauch auf, das Resultat einer Rauchbombe. Mit hoher Geschwindigkeit liefen Zahlen und Symbole über den Bildschirm. Copeland und Jody erkannten beide darin den Primärcode von Copeland 2000. Nach einigen Sekunden hielt der rollende Code an. Statt dessen erschien nun eine Liste von achtzehn Copeland 2000-Programmen, die exakt um Mitternacht an verschiedenen Punkten des riesigen Computersystems der Bank aktiv werden würden. Die Auflistung jedes Programmes beinhaltete die Anzahl der Zeilen Maschinencode, jene Binärbefehle, die dem Computer sagen, was zu tun ist. Darauf folgte die Anzahl der Codierzeilen jedes Programms, die von Programmierern der Bank überprüft worden waren. In den ersten siebzehn Programmen stimmte die Anzahl überein. Im letzten Programm jedoch gab es eine Diskrepanz.
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»Was zum Teufel ist das?« schrie Jody. Copeland rutschte das Herz in die Hose. Doc eröffnete ihm, daß das Diebstahlsprogramm in 83 Zeilen verstecktem Code verborgen war. Er eröffnete ihm außerdem, daß er zum Rechenzentrum mußte, ohne zu wissen, wieso, ehe er dort angekommen war. Es war eine programmierte Schnitzeljagd! »Das ist ein klassischer Doc Downs Trick«, sagte Copeland. »Wenn die Bank diesen Code aufspürt, dann werden sie den neuen Vertrag annullieren und diese Firma bei lebendigem Leibe rösten. Jeder einzelne Angestellte wird seinen Job los sein. Es hat mich erwischt. Ich muß sofort rüber ins Rechenzentrum.« »Nehmen Sie mich mit«, sagte Jody. »Ich kenne mich mit Codes ebensogut aus wie Sie. Wahrscheinlich sogar besser.« Copeland hatte nichts dagegen. Er fragte sich nur, was an diesem verhunzten, verdrehten Tag noch alles schiefgehen mochte. Warum tat Doc ihm das an? Als die Uhr zwölf Uhr mittags schlug, erreichte der Millennium Bug Indien und Südostasien. Buddha blinzelte. Zeit war nicht existent.
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Die Medien reagierten auf die Flut von Schreckensmeldungen aus aller Welt wie auf den Ausbruch eines Krieges. Bis zum Mittag war die Nachricht des herannahenden Millennium Bugs auch bis in den entlegensten Winkel der Stadt vorgedrungen. New York war selbst zu normalen Zeiten alles andere als ein ruhiger Ort. In New York war es normal, lautstark seinen Standpunkt zu vertreten. Es herrschte stets reger Meinungsaustausch. Millionen ganz normaler Bürger saßen beim Mittagessen und ereiferten sich über die elektronische Plage, die über Asien heraufzog. Der Computerzusammenbruch im Fernen Osten hatte Lower Manhattan wie ein Wirbelsturm getroffen. Ein Stückchen stadtauswärts hatte die Nachricht bereits zuversichtlicheren Charakter. Der Mangel an jeglichem Verständnis für die technische Natur der Infektion hielt niemanden davon ab, jeden noch so kleinen Fetzen zu wiederholen, den er aus den Medien aufschnappte. Nachrichten waren Nachrichten. Es war doch nur Fernsehen. Es lag in weiter Ferne. Im Laufe des Vormittages stiegen die Temperaturen auf 7° C, für die Jahreszeit sehr ungewöhnlich. Dies war seit Menschengedenken der wärmste Silvestertag in New York. Manche machten El Niňo für das ungewöhnliche Wetter verantwortlich; andere beschuldigten die globale Erderwärmung, beschleunigt durch den überhöhten Methanausstoß aus Rinderdung und den Verbrauch fossiler Brennstoffe; wieder andere erklärten, Jesus habe die Stadt
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aufgeheizt, um sie auf seine bevorstehende Wiederkunft vorzubereiten; jene wiederum, die den Wissenschaften wohlgesonnen waren - also alle, die den Entdeckerkanal empfangen konnten -, schoben die Schuld auf den Millennium Bug. Auch in Bernie's Delicatessen auf gab es für die Mittagskunden nur ein einziges Thema: den Millennium Bug. »He, Bernie«, sagte Vince, ein Metzger, der Tag für Tag zum Mittagessen kam. »Haste von diesem Ding gehört? Dieses Millibilli - wie heißt's noch gleich?« »Von dem Bug? Klar! Jeden Morgen kommen diese Typen hier rein und reden von nix anderem.« »Was glaubste?« »Ich glaub', ich werd' heute abend heimgehen und mir das Feuerwerk von meinem Dach aus anschauen. Das glaub' ich.« »Die Leute hol'n ihre Kohle von der Bank.« »Dann werden se halt beklaut.« Für viele Menschen war die heraufziehende Bedrohung ungefähr von gleichem Interesse wie der neueste Modetrend oder die Chancen der Jets in den Playoff-Runden der Nationalen Football-Liga. Für die Menschen auf Staten Island und in Queens waren die Vorgänge in Manhattan ebensoweit entfernt, wie die Geschehnisse in China. Die Leute hörten zwar von einem Aufruhr in irgendeinem Supermarkt, doch im Laden an der Ecke war nichts passiert; die Börse hatte heute nicht geöffnet, doch sie besaßen keine Aktien; die Flughäfen wurden geschlossen, doch sie würden sowieso nicht verreisen; irgend so ein bekloppter Bulle sperrte für einen Haufen religiöser Spinner eine Straße auf der Upper East Side ab, aber diese Leute waren ja sowieso alle bekloppt.
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»Bernie, hast du irgendwelche Aktien?« fragte Vince. »Nee! Warte mal, ich hab' so 'nen Rentenvorsorgeplan, und ich glaub', die Typen kaufen Aktien.« »Nein, das stimmt nicht. Die stecken die Kohle in diese anderen Dinger, diese Invest- irgendwas.« »Investmentfonds.« »Genau, und das sind keine Aktien, das ist was anderes.« »Stimmt.« »Glaubst du, daß die Lichter ausgehen werden? Ich hab gehört, in China oder sonst irgendwo sind sie ausgegangen.« »Nie!« In Wirklichkeit beinhaltete Bernies Rentenvorsorgeplan Tausende von Anteilen einer Vielzahl von Unternehmen aus dem High-Tech-Bereich. Die Rentabilität dieser Unternehmen hing von den lukrativen asiatischen Absatzmärkten ab. Die Erholung der amerikanischen Wirtschaft in den späten neunziger Jahren war von Software-Firmen eingeleitet worden, die neunzig Prozent des weltweiten Softwarehandels betrieben. In den vergangenen Stunden waren ihre asiatischen Märkte in Rauch aufgegangen. Der Vorsorgeplan beinhaltete außerdem Anteile an Blue Chip-Unternehmen, die gänzlich auf die automatisierten internationalen Kommunikationssysteme angewiesen waren. Ein amerikanischer Bekleidungshersteller mit Werken in Indonesien, Malaysia, Taiwan und Hongkong war nicht mehr in der Lage, mit seinen asiatischen Fabriken zu kommunizieren. Ölkonzerne, die in Yokohama Rohöl verkauften, konnten ihre Außenstände nicht eintreiben. Genauso erging es IBM, Virgin Records oder wem auch immer. Bernies Rentenvorsorgeplan befand sich auf einer rasenden Talfahrt, doch das sollte ihm erst in einigen Wochen bewußt werden.
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Bis zu diesem Tag hatten viele Amerikaner die »Weltwirtschaft« für ein Modewort gehalten, einen Ausdruck, der nichts weiter war, als eine Redewendung. Doch ihre Autos liefen mit Benzin aus dem Persischen Golf; ihr Champagner kam aus Frankreich; sie aßen israelische Orangen und Mangos aus Peru; sie schrieben auf Computern, die in Mexiko aus Teilen zusammengeschraubt worden waren, die aus Korea und China stammten; sie trugen Kleidung aus Baumwolle, die in Indien gewebt und von illegalen Einwanderern in New Yorker Nähereien zusammengenäht worden war. Und trotzdem verschwendeten sie kaum einen Gedanken an das elektronische Netz, das all diese Bereiche miteinander verknüpfte. Die planetarische Riesenfabrik, die jeden mit jedem verband, wurde gerade in Stücke geschlagen. New York konnte den Siegeszug des Millennium Bugs über Asien im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen und im Internet verfolgen. Er griff Computer an und verwüstete Systeme, die von der Rezession geschwächt waren. Der wirtschaftliche Niedergang im Fernen Osten, der 1998 begonnen hatte, hatte die Budgets für Y2K zusammenschmelzen lassen. Viele Unternehmen und Regierungen, die sich des Problems durchaus bewußt waren, waren finanziell nicht in der Lage gewesen, an einer Lösung zu arbeiten. Sie hatten zwar richtige Prioritäten gesetzt, doch es mangelte schlichtweg an Geld. Die Probleme in Asien konzentrierten sich auf die Städte, die vom Ausfall der Infrastruktur betroffen waren. Große ländliche Regionen blieben weitgehend verschont. Auf den Reisterrassen gab es kaum Computer, und deshalb funktionierten die uralten Agrarwirtschaftsräume unverändert weiter, wie sie es schon seit Jahrhunderten taten. Die technologieabhängigen Unternehmen aber, die sich in den aufstrebenden asia-
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tischen Wirtschaftsmärkten breitgemacht hatten, verwandelten sich in manövrierunfähige Kolosse. Als es in New York Mittag war, war das neue Jahr in Japan bereits zwei Stunden alt. Die fünfzehn Millionen Einwohner von Tokio wanden sich in Höllenqualen. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt waren die westlichen zwei Drittel von Tokio ohne Strom, und die ganze Stadt war betrunken. Die japanische Regierung hatte eine gigantische Feier zum Jahrtausendwechsel geplant, um die Zuversicht einer Nation zu fördern, die von ökonomischen Unsicherheiten gebeutelt war. Zutiefst dankbar hatten sich die Menschen auf die Straßen ergossen, um an der Zurschaustellung des Nationalstolzes teilzuhaben. Der Rezession zum Trotz und ohne der nächtlichen Kälte Beachtung zu schenken, feierten drei Millionen Menschen eine ausgelassene Party. Um Mitternacht wurde das Lichtermeer, das sich über siebzig Kilometer von der Bucht von Tokio bis in die Kantoebene erstreckte, zu völliger Dunkelheit. Die japanischen Kernkraftwerke waren ausnahmslos Y2K-gerüstet, doch Fehlfunktionen der Rechner im Verteilernetz selbst verursachten westlich des kaiserlichen Palastes einen riesigen Stromausfall. Die Stadt war wie betäubt. Die Menschen hatten zwar von Magadan und Wladiwostok gehört, aber hier war man schließlich in Japan! Dies war Tokio, die technologisch fortschrittlichste Stadt der Welt. Was geschah, war schlicht und ergreifend nicht möglich! Als die Lichter ausgingen, stürzten sich Millionen Einwohner in ihre Autos. Wie die Motten schwirrten sie auf den hell erleuchteten Ostteil der Stadt zu, Sitz des kaiserlichen Palastes und das Herz der modernen Kapitale. Bin-
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nen einer halben Stunde war die gesamte Großstadt ein einziges Verkehrschaos. Die Japaner saßen in ihren Autos fest und hörten aus ihren Autoradios die neuesten Meldungen. Die nationale Eisenbahngesellschaft hatte den gesamten Bahnverkehr eingestellt. Plötzlich herrschte Wasserknappheit. Die Flughäfen wurden geschlossen. Die Zentralbank rief einen »Nationalen Bankfeiertag unbestimmter Länge« aus. Diese Erklärung rief ein Heulen von Millionen blecherner, hochtönender Hupen hervor, das den Neujahrsfeierlichkeiten eine mißtönende, trauervolle Note gab. Kreditkarten und Geldautomaten waren nutzlos geworden. Schecks konnten nicht eingelöst werden. Der Stromausfall machte Mikrowellensendern den Garaus, und die Telefondienste versagten. Mobiltelefone reagierten nicht mehr. In den Postfilialen stempelten die Frankiermaschinen landesweit alle Briefe mit dem Datum »6. Januar 1980«. Benzinpumpen schalteten auf das falsche Datum um und verriegelten sich. In einem Honda-Werk begannen die Roboter in der Lackiererei, alle Fahrzeuge blau zu spritzen. Zwei der vier städtischen Wasserversorgungswerke stellten den Betrieb ein. In einer Reihe entscheidender Pumpen hatten integrierte Chips gefolgert, daß die Wartung der Pumpen seit hundert Jahren überfällig war, und hatten sie abgestellt. Die Ersatzpumpen waren mit dem gleichen Chip ausgestattet, und der Hersteller existierte nicht mehr. Der Leiter der städtischen Wasserwerke nahm sich umgehend das Leben. Um ein Uhr morgens erklärten sich drei der fünf Zaihatsu, jener riesigen Industriekonglomerate, die weltweit als Japan, Inc. bekannt waren, inoffiziell für bankrott. Die leitenden Direktoren verübten Selbstmord. Nur, wem gebührte der Schwarze Peter? Viele fremden-
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feindliche Japaner weigerten sich zuzugeben, daß diese Probleme hausgemacht waren. Die komplexen Zusammenhänge von Y2K spielten bei ihren Schlußfolgerungen keine Rolle. Auch die Unfähigkeit der Regierung und unternehmerische Habgier spielten keine Rolle. Da ein Großteil der fehlerhaften Software amerikanischen Ursprungs war, machte in der Stadt schnell das Gerücht die Runde, die Y2K-Krise sei eine amerikanische Verschwörung, um die japanische Wirtschaft zu zerstören. Um zwei Uhr morgens versammelte sich eine Gruppe wütender Demonstranten vor der amerikanischen Botschaft. Sie warfen mit Steinen und riefen anti-amerikanische Parolen. In Ginza wurden sechzig leitende IBM-Angestellte aus einer Bar geworfen, die sie für ihre Neujahrsfeier gemietet hatten. Der wütende Besitzer hatte den Gerüchten Glauben geschenkt und sie für die Krise verantwortlich gemacht. Für ihn spielte es keine Rolle, daß IBM keine Schuld traf. Die Leute waren Amerikaner und arbeiteten für die bekannteste Computerfirma der Welt. Das allein genügte. Auf der Straße wurden die IBMMitarbeiter von tobenden, antiamerikanischen YakuzaSchlägern attackiert. Was folgte, war eine Straßenschlacht, bei der vier Amerikaner und zwei Japaner starben. Um 2.30 Uhr wurde in der Hauptstadt Tokio das Kriegsrecht ausgerufen. Um drei Uhr morgens ließ der Tenno die Anlage des kaiserlichen Palastes für die Allgemeinheit Öffnen. Er wies die Armee an, Zelte für alle zur Verfügung zu stellen, die in der Stadt gestrandet waren, auch für Fremde. Nur die Hälfte der Nation vernahm seine Botschaft. Auch wenn viele schreckliche Konsequenzen der Computerausfälle umgehend offensichtlich wurden, traten, wie überall, auch in Japan die meisten Auswirkungen der
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Katastrophe nicht sofort zutage. Gestörte Rechner mußten nicht zwingend abstürzen, wie es bei Old Blue der Fall gewesen war; sie erzeugten falsche Daten, die die Systeme, die sie steuerten, zu unvorhersehbarem Verhalten provozierten. Ein Dominoeffekt. Der Stromausfall in Tokio hatte sich ereignet, weil ein Rechner in einem Hauptumspannungswerk dem Netz den Befehl gegeben hatte, die Stromzufuhr zu erhöhen. Zur gleichen Zeit hatte ein übergeordnetes Kontrollsystem den Befehl gegeben, die Stromzufuhr zu drosseln. Das System konnte den Widerspruch nicht verarbeiten. Also wurde die Stromzufuhr für den größten Teil der Stadt abgestellt und für den restlichen Teil erhöht. Eine völlig anders gelagerte Fehlfunktion hatte den Verkehr auf den japanischen Eisenbahnstrecken zum Erliegen gebracht. Der elektrische Strom für die Oberleitungen der Eisenbahn stammte aus Y2K-gerüsteten Kernkraftwerken. Doch die Betriebstechniker an den Kontrolltischen der Eisenbahn verfolgten die Züge mit Hilfe von Fernmeßtechnik. Die Daten wurden von den Lokomotiven an eine zentrale Kontrollstelle gefunkt. Die Fernmeßcomputer verloren die Aufzeichnungen von Zeit und Datum, und die Lokomotivführer wurden aufgefordert, ihre Züge umgehend anzuhalten. Das gesamte System kam zum Erliegen. Elf Züge wurden in Tunnels zum Stillstand gebracht. Die Passagiere mußten sich zu Fuß heraustasten. An vielen Stellen, an denen die elektrische Stromversorgung flatterte, sprangen die zusätzlichen Ausweichsysteme erfolgreich ein. Der Telefonverkehr wurde umgeleitet. Doch die offenen Leitungen waren überlastet. Zuerst wurde die militärische und die diplomatische Kommunikation lahmgelegt, dann traf es auch Ortsgespräche und
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die gewerbliche Kommunikation. Das wiederum schürte die Angst bei den Menschen, die verzweifelt auf immer neue Informationen hofften. Der Datenstrom, das Lebenselixier der Weltwirtschaft, versiegte auf der östlichen Hemisphäre zu einem kümmerlichen Datentröpfeln. Da Japan die meisten Computer besaß, hatte Japan am meisten zu leiden. Aber auch der restliche Teil Asiens blieb von Verwüstungen riesigen Ausmaßes nicht verschont. Von Unfrieden und politischen Tumulten gebeutelt, wurde Indonesien hinweggefegt wie von einem Taifun. Indonesien war der Staat mit der viertgrößten Einwohnerzahl der Welt und somit in der Weltwirtschaft ein großer Fisch, der auf einen Schlag nicht mehr in der Lage war, Güter zu produzieren oder zu kaufen. Im Gegensatz dazu blieb das winzige Singapur verschont, hell erleuchtet und in allen Bereichen gleichermaßen gerüstet. Die Y2KAufrüstung war hier per Abstimmung verfügt worden. Doch als die Kommunikation ringsherum zusammenbrach, wurde der wohlhabende, fingerhutgroße Staat vom Rest Asiens abgeschnitten. Auf den Philippinen hatte die Zentralbank in Manila den Jahrtausendwechsel mit Hilfe der Software von Copeland Solutions heil überstanden, doch die Bank hatte mit dem Zusammenbruch des örtlichen Telefonnetzes den Kontakt zu allen anderen Banken im Land verloren. In New York brach der frühe Nachmittag an. Über Korea, Vietnam, Laos, Thailand, Kambodscha, Malaysia sowie über drei weitere russische Zeitzonen fiel der dunkle Schatten der sich zuspitzenden Krise. Im Norden Chinas versagte ein Eisenbahnsignalsystem. Es kam zu drei schweren Zugunglücken. Der Ausfall der Flugsicherung in Bangkok führte mit sechs Abstürzen zu der größten Flugzeugkatastrophe aller Zeiten. Unter normalen Umständen hätte dieses Ereignis
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tagelang die Schlagzeilen beherrscht; doch wie die Dinge standen, würde diese Katastrophe lediglich als Einspalter im Vermischten landen. Um halb eins schloß Jonathan Spillman die Pforten des Supermarktes hinter sich. Er schickte die wenigen Angestellten, die noch da waren, nach Hause und schleppte sich mühsam den Broadway hinunter. Seine Wohnung lag nur ein paar Häuserblocks weit entfernt. Er war benommen und nicht in der Lage, weitere Katastrophenmeldungen aufzunehmen. Alles, woran er denken konnte, war die Sammlung offizieller Millenniumdevotionalien seiner Frau Shirley. Für sie war dieser Jahrtausendwechsel das größte Ereignis ihres Lebens. Es übertraf die amerikanischen 200-Jahr-Feierlichkeiten von 1976 und auch die Hochzeit von Prinzessin Diana. Als Spillman ihr vorgeschlagen hatte, vorsichtshalber die Stadt zu verlassen, um eventuellen Ausschreitungen zu entgehen, da hatte sie kreischend gesagt: »Hast du den Verstand verloren? Glaubst du vielleicht, ich lasse mir das entgehen?« An der Ecke zur 86. Straße kam Spillman an einer Menschenansammlung vorbei, die sich um einen Straßenhändler scharte. Er verkaufte batteriebetriebene blonde Jesuspuppen, die laufen und sprechen konnten. »Schnell, greifen Se zu! Holn Se sich Ihren Jahrtausendjesus, die gehn weg wie nix. Er geht. Er spricht. Er sagt ›Ich bin ein zweitausend Jahre alter Mann. Ich bin ein zweitausend Jahre alter Mann.‹ Ich lüg nich! Achtzehn Dollar. Hörn Se, meine Damen, nur achtzehn lausige Dollar fürn Riesenjahrtausendspaß! Er läuft und läuft und läuft, von hier in alle Eh-wich-keit!« Der Puppenjesus war aus gepreßtem Hartplastik, mit aufgedruckten blauen Augen, goldenem Heiligenschein,
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starrem Nylonhaar und einem weißen Gewand mit blauer Schärpe. Sein Gang war staksig und unsicher. Auf der Brust trug er einen riesigen Anstecker, auf dem stand: »2000 Jahre gute Neuigkeiten.« Vom Band im Inneren der Puppe ertönte eine quietschende, verzerrte Stimme. Der richtige Wortlaut war: »Ich bin Jesus. Ich liebe dich.« Zwei ältere schwarze Frauen zeigten sich hellauf begeistert. »Mein Enkelkind wird hingerissen sein!« sagte Mrs. Gordon zu Mrs. Henderson. »Mit UPS kommt er noch vor ihrem Geburtstag an, und dann schickt sie mir bestimmt wieder eine zuckersüße E-Mail.« Mit einem entwaffnenden Lächeln wandte sie sich dem Händler zu und fragte: »Wieviel wollen Sie dafür haben?« »Achtzehn Dollar, Madam!« »Kommen Sie schon, ich geb' Ihnen zehn.« »Madam, das hier ist eine Jesuspuppe. Sie würden mich doch wohl nicht bestehlen wollen, nur um dem Herren näherzukommen? Die Puppe geht und spricht! Bei ToysR-Us zahln Se fünfundzwanzig Dollar dafür, und bei mir bekommen Se den Anstecker umsonst mit dazu! Das ist eine ganz besondere, einmalige Millemiumpuppe!« »Hmmm«, sagte Mrs. Gordon, »Das heißt ›Millennium‹. Ich wette, Sie wissen nicht mal, was das ist!« »Das möcht ich glauben, daß der nich' weiß, was das ist!« stimmte Mrs. Henderson zu und nickte bedächtig mit dem Kopf. »Das ist Silvester, ganz genau«, erklärte der Händler. »Nurn Modename für Silvester, sonst garnix.« Mrs. Gordon deutete energisch mit dem Zeigefinger auf den Verkäufer: »Was Sie nicht sagen. Ha! Sie wissen ja nicht mal, daß Jesus keine blauen Augen und keine blonden Haare hatte! Jesus war ein Semit jüdischen Glaubens.
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Er sah eher aus wie ein Araber als wie eine Barbiepuppe. Die Jahrtausendwende ist der zweitausendste Geburtstag Unseres Herrn.« »Woll'n Sie damit sagen, jetzt ist Weihnachten?« kreischte der Verkäufer verwirrt. »Nein, es ist nicht Weihnachten. Es ist... es ist... Ich kann auch nichts dafür, wenn Sie das nicht kapieren!« »Ich weiß garnix von überhaupt keim Jahrtausendkram, und es is mir auch total schnuppe. Ich hab hier heute diese netten Puppen anzubieten, und für mich sehn sie aus wie Jesus. Sie sin niedlich. Sie machn kleine Mädchen glücklich. Das is mir wichtig.« »Ihr Geld wollen Sie haben, das ist Ihnen wichtig.« »Klar, auch. Was issn verkehrt daran?« »Wann sind Sie denn das letzte Mal beim Gottesdienst gewesen, junger Mann?« »Jeden gottverdammten Augenblick hab ich meinen Gottesdienst, hier auf dieser Straße! Ich brauch in keine Kirche gehn! Kaufen Sie jetzt eine Puppe, oder wolln Sie mich mit dem Gemecker nur in mein Hintern treten?« Lachend einigten sich Mrs. Gordon und der Händler auf fünfzehn Dollar inklusive Batterien. Währenddessen war der Zeiger der offiziellen Jahrtausenduhr wieder ein paar Minuten vorgerückt. Die Geschäfte nahmen ihren Lauf, und wieder ging ein Kauf auf das Konto von Y2K. Spillman kaufte auch eine Jesuspuppe. Er nahm sie mit nach Hause und gab ihr einen Ehrenplatz in der offiziellen Jahrtausendvitrine im Wohnzimmer. Der Plastikjesus beaufsichtigte nun das offizielle Jahrtausendmonopolyspiel. Ihm gegenüber stand die offizielle Jahrtausendbarbie, die Hand in eine Schüssel offizieller JahrtausendM&Ms versenkt. Barbie bot Jesus ein offizielles Jahrtausend-Budweiser an.
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Die nächsten drei Stunden verbrachte Spillman vor dem Fernseher, eine geladene Schrotflinte auf den Knien. Sämtliche Tatsachen verdrängend, werkelte Shirley in der Wohnung herum und quengelte. Der offizielle Jahrtausendjesus war ihr ziemlich egal, ihrer Meinung nach sollte die offizielle Jahrtausendvitrine einfach keine religiösen Aspekte enthalten. Und die Nachrichten aus Japan waren ihr auch egal. Sie wollte Feuerwerk, keine Tragödien! Die Welt hatte schließlich schon genug gelitten. Prinzessin Diana war tot, und was konnte schlimmer sein als das? Im Bellevue Krankenhaus lag Doc gerade auf dem Rücken unter einem Blutwertanalyseapparat, als sein Piepser anging. Doc drehte und wendete sich, um ihn aus der Hosentasche zu befreien. Dann studierte er mit Hilfe seines Kugelschreiberlichts die Anzeige. KNOPF AKTIVIERT. Doc kicherte. Jetzt rastete Copeland mit Sicherheit aus, und in ein paar Minuten würde er mitten im dicksten Verkehrsgewühl stecken und verzweifelt versuchen, irgendwie nach Brooklyn zu kommen. Ausgezeichnet! Hauptsache, der Junge war beschäftigt. Nun würde er für seine Sünden büßen. Dies war der Tag des Jüngsten Gerichts, der Tag der Erlösung und Errettung. Auch Copeland mußte büßen. Die Nachrichten, die New York attackierten, hatten reihenweise Herzinfarkte ausgelöst. Die Kardiologie war voll. Bill Packard ging den Kollegen in der Notaufnahme zur Hand. Schon im Normalfall war in der Notaufnahme viel los, doch an Silvester stieß die Station an ihre Grenzen. Das war jedes Jahr so, aber noch nie zuvor schon so früh am Tag. Um halb zwei schickte Doc Judd, Ronnie und Carolyn in seinem Jeep zurück in die Nassau Street.
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Der Zustand der Apparaturen auf der Station war, was Y2K anbelangte, so schlecht, daß die Programmierer wenig mehr hatten tun können, als Chips zu testen, die fehleranfälligsten Geräte zu lokalisieren und den Schwestern zu sagen, welche Apparate lebensbedrohliche Probleme verursachen würden. Die Kardiologie füllte sich weiter. Unter den Krankheiten, die von ökonomischen Krisen am meisten beeinflußt wurden, nahm der Herzinfarkt eine herausragende Position ein. Doc war gerade dabei, den programmierbaren Chip des Blutwertanalyseapparates zu rekonfigurieren, als Mrs. McCarthy hereinplatzte. Ihre Nase war dick verbunden. Sie kam in Begleitung von zwei Polizisten. Doc achtete nicht auf sie. »Was tun Sie hier?« blaffte sie. »Wo ist der Dreckskerl, der mich niedergeschlagen hat?« Doc wandte die Augen nicht von seinem Laptop. Er hielt einem der Polizisten eine Platine mit integriertem Schaltkreis entgegen. »Würden Sie so nett sein und das einen Moment lang halten?« »Oh, klar«, sagte der Polizist und nahm das empfindliche Gerät. »Dieser Chip ist Schuld daran, daß der Apparat nach Mitternacht Blutgruppe null positiv mit null negativ verwechseln wird«, sagte Doc leichthin. »Welche Blutgruppe haben Sie?« »Hm, null positiv.« »Sie würden doch auch nicht wollen, daß der Apparat einen Fehler macht, oder? Stellen Sie sich vor, Sie brauchten sofort eine Transfusion, und Ihr Blut wäre hier drinnen.« »Oh Gott. Nein, bitte nicht.« »Gut«, sagte Doc. »Sie sind auf der Suche nach Dr. Pack-
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ard? Er ist irgendwo unterwegs und rettet ein paar Menschen das Leben.« »Diese Dame hat Anzeige erstattet.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Doc. »Dr. Packard hat mich gebeten, herzukommen und diese Geräte zu reparieren. Diese Dame hat das abgelehnt. Da hat er sie niedergeschlagen. Haben Sie heute schon Nachrichten gehört? Wissen Sie, was heute auf der ganzen Welt los ist? Das ist alles andere als ein gewöhnliches Silvester.« »Ja, sicher, Sie haben recht.« »Von dem Krankenhaus in Shanghai gehört? Da haben heute Apparate, die mit diesem identisch sind, neun Menschen umgebracht.« »Nein. Davon habe ich nichts gehört.« »Also, meiner Meinung nach wäre es ziemlich sinnvoll, wenn wir das bei uns vermeiden würden. Ich versuche gerade, dieses Ding hier zu reparieren. Wenn es mir nicht gelingt, werde ich es Dr. Packards Anweisung gemäß außer Betrieb nehmen. Sie können mich davon abhalten, wenn Sie wollen. Sie haben Polizeimarken. Sie tragen Waffen. Aber Sie haben doch auch Hirn im Kopf. Es liegt bei Ihnen.« »Verhaften Sie diesen Kerl«, verlangte Mrs. McCarthy. »Schaffen Sie ihn raus aus meiner Klinik!« Die zwei Beamten schauten sich an, nickten und verließen den Raum. Mrs. McCarthy blieb schäumend vor Wut zurück. »Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte Doc und kroch zurück unter die Maschine. »Ich habe zu tun.« In der Polizeistation auf der 100. Straße saß Captain Garcia am Telefon und debattierte mit seinen Vorgesetzten im Zentrum. Er hatte die obersten Knöpfe seiner Uniform-
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jacke geöffnet und trank einen Kaffee. Nein, er werde die Straßensperren auf der Amsterdam Avenue nicht wieder aufheben. Inzwischen hatten sich dort viertausend überglückliche Menschen versammelt, die auf der Straße zu den Klängen einer lateinamerikanischen Combo tanzten. Die Band spielte auf der Ladefläche eines offenen Lastwagens. Es gab dort mehr Seifenkisten, als im Hyde Park zu finden waren, und auf jeder einzelnen stand ein Prediger, der seine persönliche Version des Buchs der Offenbarung präsentierte. Es war ganz offensichtlich eine Offenbarung, und die anliegenden Händler beklagten sich keineswegs. Es tat ihm wirklich leid, daß der Verkehr hinüber zur Central Park West umgeleitet werden mußte, nein, wirklich, wie leid ihm das tat! Der Oberbezirksleiter hatte genug mit der Schließung der Flughäfen und den daraus resultierenden Problemen zu tun. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Verwaltung seiner Stadtbezirke den Bezirksleitern selbst zu überlassen. Als die Flughäfen schlossen, kehrten fünfzehntausend Menschen in die Innenstadt zurück, um festzustellen, daß es kein Fleckchen mehr gab, wo noch Platz für sie gewesen wäre. Es war Silvester, und in der ganzen Stadt gab es kein einziges Hotelzimmer mehr. New York sah sich auf einmal mit einer Armee obdachloser Besucher konfrontiert. Horden ergossen sich in Bahnhöfe und Busstationen und verlangten den unverzüglichen Transport nach Irgendwo in USA, doch auch sämtliche Züge und Busse waren ausgebucht. Allein, verlassen und absolut unorganisiert, waren diese Gestrandeten fünfzehntausend unerwartete Probleme mehr, derer die Stadt sich annehmen mußte. Weitere dreißigtausend unschuldige Menschen hielten Flugtickets für Maschinen in Händen, die nicht abheben würden. Sie waren gezwungen gewe-
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sen, ihre Hotelzimmer zu räumen, um Platz für die Gäste zu machen, die bereits vor Monaten gebucht hatten. Für Zimmer in New York wurden astronomische Preise gefordert. Das große Feilschen und Bieten begann und eskalierte schnell in Zwangsräumungen, Kämpfen, fürchterlichen Streits und Polizeieinsätzen. In der Lobby des Plaza kam es zu einem unschicklichen Zwischenfall, als der stellvertretende Senator des Staates Virginia darüber in Kenntnis gesetzt wurde, er habe seine Suite zu räumen. Er holte zum Schlag gegen den Manager aus, verfehlte ihn und wurde von einem Wachmann umgehend in die Mangel genommen. Im Chelsea Hotel auf der 23. Straße wurde ein Gast aus New Orleans gebeten, sein Zimmer zu verlassen, was er auch tat, ohne jedoch seine Sachen mitzunehmen. Eine Stunde später kehrte er noch einmal zurück, um seine Kleidung zu holen. Er ertappte die neuen Zimmerbewohner inflagranti. Der Herr, der mit einer Dame im Bett lag, die nicht seine Frau war, dachte, der Eindringling sei aus einem völlig anderen Grund gekommen, zog eine Pistole und erschoß den Mann aus New Orleans. Dem Oberbezirksleiter bereitete er damit heftige Kopfschmerzen. Zur gleichen Zeit ergoß sich ein nicht enden wollender Strom aufgekratzter, hauptsächlich junger Leute über die Brücken und durch die Tunnels zur großen Party nach Manhattan. Die offizielle Jahrtausendwende war noch immer zwölf Stunden entfernt, doch schon jetzt floß ein wahrer Alkoholstrom über den Broadway auf den Times Square zu. New York ließ sich vollaufen. Es war Silvester, und es waren keine zwölf Stunden mehr bis Mitternacht. Auf dem Weg zum Rechenzentrum in Brooklyn schlossen sich Copeland und Jody den Massen an, die in die UBahn-Station Wall Street drängten. Der stickige Bahnsteig
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war vollgestopft. Der Gestank von angsterfüllten Menschen, die voller Panik aus dem Finanzviertel flohen, stand in der Luft. Von der Decke hingen dreißig Fernsehschirme, die die zappelnde Menge mit den neuesten Nachrichten aus Asien bombardierten. Doch die Dinge entwickelten sich in derart rasendem Tempo, daß die meisten nicht begreifen konnten, was vor sich ging. Die Reporter von New York 1 bildeten keine Ausnahme, auch sie waren sichtlich mitgenommen von dem Ausmaß der Ereignisse. »In der Volksrepublik China verwandelte sich vor den Toren Pekings eine gigantische Feier zum Jahrtausendwechsel an der Chinesischen Mauer in eine Tragödie. Zwei Hubschrauber der Regierung stießen in der Luft zusammen und stürzten in die Menge von über einer Million Menschen. Noch ist nichts über die Ursache dieses Zusammenstoßes bekannt. Es wird von mehreren Hundert Verletzten berichtet. New York: Wenn Sie vorhaben, Geld für das lange Wochenende abzuheben, müssen Sie lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Vor einigen Minuten hat uns ein Sprecher der Citibank bestätigt, daß alle Filialen mit großzügigen Bargeldreserven ausgestattet wurden, um die Wünsche der Kunden befriedigen zu können. Wie dem auch sei, uns liegen Meldungen vor, die besagen, daß die Kunden vor den 3500 Bankfilialen New Yorks wie auch vor 12000 Geldautomaten Schlange stehen. Die Geldransporter, die mit Nachschub zu den Filialen unterwegs sind, stecken unglücklicherweise überall im Stau fest. Weiter mit nationalen Meldungen: In Charlotte, North Carolina, kam es in einer Filiale der NationsBank zu einer tödlichen Schießerei. Ein Kunde, der gerade an der Reihe war, als der Bank das Bargeld ausging, erschoß den Kas-
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sierer und zwei Männer des Wachpersonals, ehe er selbst von Polizeibeamten erschossen wurde.« Die Sprecherin hielt inne. Sie las stumm den Text auf dem Teleprompter, wandte den Blick ab und sah dann wieder in die Kamera. »Ich denke, wir sollten unterbrechen«, sagte sie. Als die Kamera auf den Komoderator schwenkte, war aus dem Off ihre Stimme zu hören: »Das will ich nicht verlesen.« Der Regisseur blendete Werbung ein. »Skifahren in Utah!« plärrte es von allen Bildschirmen. »Verbringen Sie Ihren Urlaub in einem Winterparadies ...« Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig stimmte eine Horde betrunkener Collegeschüler »Auld Lang Syne« an. »Oh Gott!« sagte Jody zu Copeland. »Was sie da wohl...« »Es bleibt ihnen keine andere Wahl, sie müssen die Banken schließen«, fiel Copeland ihr ins Wort. »Das ist die einzig vernünftige Konsequenz.« »Das macht die Dinge nur schlimmer«, sagte Jody. »Denken Sie an die Sache in Charlotte, und wer weiß, wie die nächste Meldung gelautet hat. Ich habe noch niemals erlebt, daß ein Moderator so reagiert.« Die Gleise erbebten, und Lichter kamen in Sicht. Die UBahn näherte sich. Dem neuen, garantiert Graffiti-freien New York zum Trotz hatte ein Künstler die Front der Lok mit einer knalligen »2000« besprüht. Ratternd und dröhnend fuhr der schwere Zug in den Bahnhof ein und schluckte alle anderen Geräusche. Copeland und Jody quetschten sich in den dritten Wagen. Die Fahrgäste waren gesprächiger als sonst. Beunruhigt und gleichzeitig mitteilungsbedürftig tauschten sie ihre Gedanken aus. Eine spanische Frau mittleren Alters versuchte, eine junge Mutter zu trösten, die ihr Baby auf dem Schoß hielt.
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»So schlimm kann es doch nicht sein«, sagte die ältere Frau zu der Fremden, die unentwegt schluchzte. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Schlangen bei der Bank waren so lang, und ich muß nach Hause und meinen Kindern was zu Essen machen, und mein Chef hat gesagt, er weiß nicht, ob er uns nächste Woche überhaupt unseren Lohn zahlen kann.« »Vertrauen Sie auf Gott, mein Kind.« Im hinteren Teil des Wagens schrie auf einmal ein Mann in sein Telefon: »Verdammt noch mal, Ira! Ich hab dir doch heute morgen gesagt, du sollst alle Japsen-Aktien verkaufen. Was soll das heißen, du kommst nicht durch! Was glaubst du eigentlich? Wofür, zum Teufel, bezahle ich dich denn?« »He!« war eine andere Stimme zu hören. »Hüten Sie ihre Zunge, Mann!« »Halten Sie Ihr blödes Maul und fassen Sie mich gefälligst nicht an! He! He!« »Das nächste Mal schaltest Du vorher dein Hirn ein, ehe du jemanden einen Japsen nennst!« Die Menge wich vor der Auseinandersetzung zurück. Die Fahrgäste drängten sich im vorderen Teil des Wagens zusammen, als der Zug in den nächsten Bahnhof einfuhr. Die Türen öffneten sich. Jody sah flüchtig einen Mann am Boden liegen. Seine Brille war zersplittert, die Nase gebrochen. Er stöhnte, doch die Stimmung im Abteil hatte sich sofort verändert. Keiner rührte sich, um ihm zu helfen. Sein Angreifer war verschwunden. Neue Fahrgäste stiegen zu, der Wagen füllte sich wieder. Sie starrten den Mann am Boden angeekelt an, als sei er ein Stück Dreck. Copeland blickte aus dem Fenster auf eine riesige Anzeige der Chase Manhattan Bank. »Das Jahr 2000. Wir sind bereit!« Der Zug setzte sich wieder in Bewegung Die An-
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zeige löste sich auf und verwandelte sich in einen Bildschirm, den roten Knopf, das Gesicht von Edwards, dem Finanzvorstand der Bank. Dann wurden die Bilder auf einmal von der schmutzigen weißen Kachelwand der Haltestelle ersetzt. Der dunkle Tunnel verschluckte den Zug. Copelands Hirn wurde leer, geriet gefährlich nahe an den Rand zum völligen Absturz. Das Rechenzentrum befand sich auf der Myrtle Avenue in Brooklyn, mit der U-Bahn etwa zwanzig Minuten von der Wall Street entfernt. An jeder Haltestelle stiegen mehr Menschen aus als ein. Allmählich leerte sich der Wagen, und ein paar Sitzplätze blieben frei. Irgendwo stiegen auch der verprügelte Mann, die verzweifelte Mutter und die herzliche Spanierin aus, und Jody setzte sich. Copeland blieb stehen. Er umklammerte mit beiden Händen die Hutablage und versuchte sich vorzustellen, was ihn in den Computern des Rechenzentrums erwarten würde. Während er so unter der Stadt entlangraste, vermeinte er, ihr Gewicht auf seinen Schultern zu spüren, als sei er Atlas im Untergrund, und er wünschte, die Fahrt möge niemals mehr enden. Er wollte weiterfahren, bis ans Ende von Long Island, unter dem Atlantik hindurch, bis nach Europa, und weiter und weiter, immer in entgegengesetzter Richtung zum Millennium Bug. Dabei die Zeit zurückdrehen, all die beschädigten Codes umkehren, all den Schaden ungeschehen machen und die Dinge wieder so zusammenfügen, wie sie sein sollten! Doch tief in seinem räuberischen Herzen wußte er, daß nichts je wieder sein würde, wie es gewesen war. Sein Glaube war zerbröckelt, so zerstückelt wie die Daten, die ein infizierter Rechner ausspuckte. Er hatte an Geld geglaubt und an Technologie, und sie hatten ihn betrogen. Er hatte sich stets für unantastbar gehalten,
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doch die Erde drehte sich unerbittlich weiter, und das bedeutete, wenn die Fahrt des Zuges zu Ende war, dann würde der Millennium Bug noch immer auf New York zurasen. Zeitzone um Zeitzone würde er passieren und auf seinem Weg Wirtschaftssysteme zerstören, ohne Rücksicht auf Rasse, Glauben, Religion, Geschichte oder sonst irgend etwas. Der Millennium Bug war der große Gleichmacher, er behandelte Reich und Arm mit der gleichen Verachtung. Selbst ihn! In einem Moment absoluter Klarheit wurde Copeland bewußt, daß er ebenso verantwortlich für den Millennium Bug war wie jedermann sonst, womöglich sogar mehr, auch wenn er andererseits sicherlich seinen Teil dazu beigetragen hatte, ihn zu bekämpfen. Zu seinem eigenen Nutzen, versteht sich, zu einem unglaublich riesigen Nutzen, zu gigantischem Nutzen, doch was gab es daran auszusetzen? Er war reich, doch Doc hatte recht. Er war habgierig. Er wollte zu viel, und nun würde ihn die Polizei im Rechenzentrum erwarten, sonst gar nichts! Diese Zugfahrt würde im Gefängnis enden. Er war überzeugt davon, daß Doc ihm eine Falle gestellt hatte, um ihn dem Untergang zu weihen. »Donald?« Jody rüttelte ihn. »Donald? An der nächsten Haltestelle müssen wir raus.« Vor den Fenstern schoß blitzend die helle Haltestelle vorbei und riß ihn aus seinen Träumen. Jody führte ihn aus dem Zug, durch den Bahnhof und hinaus in das helle Licht Brooklyns. An der Oberfläche schien das Leben seinen normalen Gang zu gehen. Der Verkehr floß rege, Geschäfte und Kaufhäuser waren mit Silvesterdekoration geschmückt, über den Köpfen der Menschen flatterten Tauben herum.
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Zwischen den Laternen waren quer über die Myrtle Avenue Spruchbänder gespannt, auf denen zu lesen war: »Brooklyn heißt das Jahr 2000 willkommen.« Auf der anderen Straßenseite standen vier unauffällige Bürogebäude, harmlose Bauten ohne Namenszug: das Rechenzentrum. Copeland war schon unzählige Male dort gewesen, und er besaß einen Sicherheitsausweis, doch er zögerte auf seinem Weg zum Eingang. Jody führte ihn zu einem Cafe und bestellte zwei doppelte Espressos. Lustlos sammelte ein Kellner die Zeitungen von den leeren Tischen. An einem Tisch in der Ecke saß eine junge Frau mit schwarzem Rollkragenpullover, schwarzer Jeans und Silberschmuck. Sie studierte die Kleinanzeigen. Dann stützte sie das Kinn in die Hände und nahm die drei jungen Männer mit Laptops unter die Lupe, die am Nachbartisch saßen. »Code«, sagte Copeland und rührte in seinem Kaffee. »Welcher Code?« frage Jody verwirrt. »Die 83 Zeilen in Docs Memo?« »Ich hätte mich mehr mit Codes beschäftigen sollen«, sagte er mit gedehnter Stimme. »Es ist überhaupt nicht gut, wenn die eigenen Angestellten zu Dingen in der Lage sind, die man nicht kontrollieren kann.« »Donald, wovon sprechen Sie?« »Von Doc«, antwortete er. »Stundenlang sperrt er sich mit diesen seltsamen Typen in sein geheimes Computerlabor ein. Da drin sitzen sie und schreiben Codes, um weiß ich was damit zu tun. Wissen Sie, daß ich noch nie einen Fuß da hineingesetzt habe? Das war womöglich ein Fehler.« »Trinken Sie Ihren Kaffee, Donald, der wird Ihnen guttun«, sagte Jody fürsorglich. »Außer ein paar von seinen Freaks läßt Doc da keinen rein.« »Ich habe keine Ahnung, was die da drin treiben.«
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»Donald, wie hoch sind die Umsätze von Copeland Solutions 2000? Alles zusammen genommen.« »Ungefähr 400 Millionen.« »Und? Ist das nicht Antwort genug auf Ihre Frage? Docs Leute haben die Software geschrieben, die Sie zu einem der weltweit größten Anbieter von Y2K-Software gemacht hat. Wo liegt da Ihr Problem?« »Sie hören sich an, wie 'ne PR-Beraterin.« »Ich bin eine PR-Beraterin, aber im Augenblick fühle ich mich eher wie eine Psychiatrieschwester.« »Woher wollen Sie denn wissen, wie man sich da fühlt?« »Meine Mutter ist eine«, gab Jody zurück. Sie war froh, in Copelands Stimme ein schwaches Echo seines normalen, ätzenden Tonfalls zu erkennen. »Wollen Sie mir jetzt vielleicht endlich etwas über diese 83 Zeilen Code erzählen, ehe wir da rübergehen, oder was ist los?« Copeland nippte an seinem Kaffee. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und fragte: »Wie sehe ich aus?« »Katastrophal«, gab Jody zurück, »genau wie ich. Was soll's?« »Ich bin seit Jahren nicht mehr U-Bahn gefahren. Seit wann gibt es da Fernseher?« »Zur Sache, Donald. 83 Zeilen versteckter Code. Wonach suchen wir hier?« Copeland starrte auf eine Sonderausgabe der Post, die auf dem Nachbartisch lag. JAPAN INC. GEHT UNTER verkündete eine Schlagzeile auf der Titelseite, und gleich darunter: JETS AM SONNTAG 12 PUNKTE ZURÜCK. Er brach in schallendes Gelächter aus. Seine ganze Spannung entlud sich in einer Explosion überdrehter Ausgelassenheit. Die anderen Gäste starrten ihn an. Jody wurde vor
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Verlegenheit rot. Sie hatte heute schon genug Wahnsinn erlebt. Sie fand es alles andere als lustig, zu beobachten, wie Donald Copeland den Verstand verlor. »Sie haben das alles vorausgesehen, hab' ich recht?« »Ja.« »Deshalb haben sie allen Leuten in der Firma dazu geraten, ihr Vermögen in Bargeld und Gold zu tauschen und es unter der Matratze zu verstecken.« »Ja.« »Sie sind ein schlauer Fuchs, Donald. Es muß einen Vorteil für Sie geben. Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, aus diesem Desaster Geld zu machen, dann haben Sie sie entdeckt.« »Niemand konnte vorhersehen, was wirklich geschehen würde«, gab er achselzuckend zurück. »Und, haben Sie Ihr Geld unter der Matratze versteckt?« fragte Jody. »Klar, nur daß meine Matratze ein Schließfach in irgendeiner Bank ist.« »Verstehe. Zurück zu den 83 Codezeilen.« Kalt und gleichmütig sah Copeland sie an. Welche psychotische Wolke sein Hirn auch umnebelt haben mochte, sie hatte sich wieder verzogen. Jody sah in Donalds Augen genau den verschlagenen Ausdruck, den er bekam, wenn er jemanden anlog oder manipulieren wollte, und das behagte ihr kein bißchen. »Ich nehme an, daß es sich bei Docs Code um eine Art Erinnerung für einen der Technikfuzzis in der Bank handelt, um eine ellenlange Liste von Programmen zu überprüfen«, erklärte Donald. »Ich glaube, Doc wollte mich unbedingt aus der Nassau Street fort haben, damit ich nicht durchdrehe. Wenn schon, dann soll ich wohl lieber in ... Brooklyn durchdrehen.«
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»Sie sind wirklich das Letzte«, sagte Jody und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich weiß genau, wann Sie die Wahrheit sagen und wann Sie lügen.« »Dann sollte ich Sie wohl entweder rauswerfen oder Sie sofort zur Partnerin machen«, schoß Copeland zurück. »Wenn ich schon die Wahl habe«, sagte Jody und erhob sich, »dann kündige ich. Ich glaube, Sie kennen den Unterschied zwischen Lüge und Wahrheit überhaupt nicht, Donald. Ich habe soviel Mist für Sie zurechtgebogen und schöngeredet, habe dafür gesorgt, daß Sie gut dastehen, habe Sie beschützt. Außer mich vor Ihnen auf die Knie zu werfen und Ihnen in den Arsch zu kriechen, habe ich wirklich alles für Sie getan. Ich weiß nicht, warum ich heute nachmittag mit Ihnen hier rausgefahren bin. Zwischen Doc und Ihnen läuft irgendein mieses Spielchen, und es ist mir vollkommen egal, worum es dabei geht. Schieben Sie sich ihre 83 Zeilen Code sonstwohin. Ich gehe jetzt nach Hause. Frohes neues Jahr, Exboß!« Sie ging zur Tür. Verzweifelt rief Donald ihr nach: »Warten Sie einen Augenblick. Bitte!« »Wieso? Sie haben gesagt, die Bank würde Sie mit einer Klage vernichten. Vielleicht haben Sie's verdient.« »Vielleicht habe ich das wirklich«, sagte er. Er war nur noch um Haaresbreite von dem gefährlichen Geständnis entfernt. Doch er hatte so an seiner Schuld zu kauen, daß er die belastenden Worte nicht über die Lippen brachte. »Wofür?« bohrte Jody. »Wofür verdient? Was haben Sie getan?« Donald holte tief Luft. Er trank einen Schluck Kaffee und fragte dann: »Standen Sie jemals ganz plötzlich vor der Erkenntnis, daß nichts von dem, woran Sie glauben, wahr ist?« Jody dachte darüber nach. »Nein, noch nie«, sagte sie.
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»Und in diesem Moment weiß ich gar nicht, was ich glauben soll, außer, daß ich mir ziemlich sicher bin, daß Sie durchgedreht sind.« »Ich glaube, Doc plant einen Bankraub«, platzte Donald heraus. Jodys Kinnlade fiel herunter. Sie setzte sich und starrte ihn an. Dabei mußte sie eine paarmal schnell blinzeln. »Warum, zum Teufel, glauben Sie, fahre ich wohl mit dieser verdammten U-Bahn bis nach Brooklyn, an den Arsch der Welt?« »Scheiße!« sagte sie. »Ich glaube, das ist der Hintergrund seines geheimen Projekts.« »Ich glaube nicht, daß Doc der Typ für so etwas ist«, widersprach Jody. »Er ist absolut gradlinig.« »Das perfekte Verbrechen«, sagte Copeland. »Jemand, dem es niemand zutraut, begeht einen Raub. Er hat Zugang zu den sensibelsten Finanzdaten und ist dazu in der Lage, noch den hellsten Computercrack von Chase Manhattan auszutricksen.« Langsam gewann Copelands normales, kämpferisches Gemüt wieder die Oberhand. Er begann, sich für seine Idee zu erwärmen. Wenn Doc ihn hochgehen lassen wollte, dann konnte er ebensogut den Spieß herumdrehen und mit dem Finger auf Doc zeigen. »Sie waren heute morgen dabei, als Edwards uns von den 72 Millionen Dollar erzählte, die Doc in versteckten Konten gefunden hat.« »Ja, und Sie sind weiß wie die Wand geworden.« »Weil es in Wirklichkeit um mehr als einhundert Millionen geht.« »Himmel! Scheiße! O Gott!« »Ja«, sagte er. »Wo ist der Rest?« fragte sie.
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»Das weiß ich nicht. Vermutlich in Panama.« »Weiß Doc, daß Sie Bescheid wissen?« »Ja.« »Und Sie haben ihn nicht bloßgestellt.« »Erpressung. Wenn ich nicht mitmache und tue, was er verlangt, dann wird er dafür sorgen, daß die Bank um Mitternacht zusammenbricht. Er wird es wie einen Y2KKollaps aussehen lassen . Deshalb muß ich sofort in das Rechenzentrum. Ich muß mich vergewissern, daß die Leute von Chase Manhattan seine Manipulationen nicht entdeckt haben. Wenn sie dahintergekommen sind, dann werden sie mich verhaften lassen, sobald ich einen Fuß in das Gebäude setze, und Doc wird sich aus dem Staub machen.« »Das hat Doc getan?« »Er ist überaus intelligent, Jody. Das wissen Sie doch.« »Genau wie Sie«, sagte Jody. »Das haben Sie sich jetzt gerade ganz schnell für mich aus den Fingern gesogen.« »Glauben Sie mir nicht?« »Ich habe gesagt, ich weiß nicht, was ich glauben soll, und daran hat sich nichts geändert.« »Dann glauben Sie mir wenigstens, daß ich jetzt rübergehe. Kommen Sie mit?« Copeland verließ das Cafe. Er trat auf den Bürgersteig und blickte auf das Rechenzentrum. Es war ein anonymer grauer Steinklotz mit einem Gewirr von Mikrowellen- und Satellitenschüsseln auf dem Dach. Im Inneren befand sich das elektronische Hirn der Chase Manhattan Bank. Es bestand aus zwanzig IBM-Großrechnern, sechzehnhundert Terminals, dreitausendzweihundert Telefonanschlüssen, vierhundert PCs, zwei Satellitenanlagen, Mikrowellensendern auf Hochgeschwindigkeitsfrequenz und einer nagelneuen, Y2K-gerüsteten Telefonvermitt-
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lungsanlage. Im Keller befanden sich eine Reihe Notstromgeneratoren samt Batterien. Der größte Teil der 160 Millionen Dollar, die Chase Manhattan an Copeland Solutions gezahlt hatte, war in Anwendungen für die IBMs investiert worden, die in klimatisierten Räumen im ersten, zweiten und dritten Stock des Gebäudes installiert waren. Die Y2K-Datenkonvertierung und die SoftwareLösungen waren ein Jahr lang sorgfältig getestet worden. Chase Manhattan war ebenso Y2K-gerüstet wie jedes andere Unternehmen dieser Größenordnung. Docs Programmierer hatten gemeinsam mit zweihundert Angestellten der Bank 250 Millionen Kodierzeilen durchforstet. Sie hatten sich der genauesten Methoden bedient und auf höchstem Standard gearbeitet. Achthundert Hauptanwendungen waren komplett umgeschrieben oder ersetzt worden. Die riesigen Ausmaße des Projektes machten Fehler unumgänglich, dessen war Chase Manhattan sich bewußt ebenso wie die Lloyds in London, wo die Bank sich gegen Haftungsklagen versichert hatte. Alle waren davon überzeugt, daß die Bank den Jahrtausendwechsel ohne großen Schaden überstehen würde. Die Bank von Manila und drei japanische Geschäftsbanken, die Copeland Software benutzten, hatten überlebt, nur die japanische Zentralbank war zusammengebrochen. Das Management hatte abgelehnt, obwohl Copeland der Zentralbank Copeland Solutions 2000 mit einem großen Rabatt angeboten hatte. Pech gehabt, wirklich schade! Copeland ging auf die Kreuzung zu und wartete auf grünes Licht. Ein Lieferwagen mit Zeitungen steuerte den Kiosk an der Ecke an. Der Fahrer warf ein Bündel der neuesten Post heraus. NOTENBANK SCHLIESST ALLE BANKEN verkün-
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dete die Schlagzeile in fünfzehn Zentimeter großen Lettern. Tick tack. Es war beinahe zwei Uhr nachmittags. Nur noch zehn Stunden. »Okay«, Jody stand neben ihm. »Ich komme mit.«
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Die Welle von Herzinfarkten in der Bellvue-Notaufnahme ebbte am Nachmittag ab, doch nur, um für eine neue Flut von Patienten Platz zu machen. Viele Menschen hatte der Millennium Bug derart in Panik versetzt, daß sie sich selbst oder andere verletzt hatten. Die andauernden Schreckensmeldungen hatten bei Dutzenden labilen Persönlichkeiten Psychosen ausgelöst. Sie fügten sich Schnitte zu, sprangen vor Busse, stürzten sich aus dem Fenster oder schlugen auf jeden ein, der in ihrer Nähe war - Frauen, Kinder, Fremde. Das Wartezimmer war überfüllt mit jammernden Verletzten und deren verstörten Freunden und Angehörigen. Ein Teenager, der neben dem Empfang stand, stellte in seinem Radio einen Nachrichtensender ein. Die Patienten und alle anderen beunruhigten Menschen im Warteraum mußten eine wahre Sintflut nervenaufreibender Meldungen aus der ganzen Welt über sich ergehen lassen. In Bangladesch war es zu Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems gekommen, die sich gegenseitig die Schuld an einen Stromausfall gaben. In Jerusalem lieferten sich gläubige Christen, die zur Jahrtausendwende in die Heilige Stadt gepilgert waren, um die Wiederkunft Christi zu erleben, heftige Kämpfe mit Palestinensern und der israelischen Polizei. In ganz Sibirien herrschte nach Aufständen der Ausnahmezustand. Die Berichte wurden unbearbeitet und unreflektiert gesendet, die Hintergründe der Störungen blieben unklar. Angst. Eisige Kälte. Reli-
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giöser Wahn. Sechshundert Jahre russische Furcht und brutale Unterdrückung. In Hermosillo in Mexiko brach unter den zwei Millionen, die Zeuge der Wiederkunft werden wollten, die Cholera aus. In Chicago hatte ein Mann in einer Kindertagesstätte dreißig Kinder in seine Gewalt gebracht. Er drohte, sie umzubringen, ehe die Welt um Mitternacht, mittelamerikanischer Zeit, endete. Die Meldungen häuften sich. Es war mehr, als die Menschen ertragen konnten. Schließlich ging ein Mann hinüber zu dem Jungen und verlangte, er solle das Radio ausmachen. Zur Antwort bekam er nur einen mürrischen Blick. Der Mann packte das Radio, beide zerrten an dem Gerät. Schläge, Rufe, das Wachpersonal griff ein. Wieder war der Bug ein Stückchen näher gekrochen. Um 14.45 Uhr drosselten die Staus in Manhattan den Ambulanzverkehr zum Krankenhaus, und das hektische Tempo in der Notaufnahme nahm ab. »Wenn das die Ruhe vor dem Sturm ist«, dachte Bill Packard, der sich nach einem zermürbenden Pensum Herznotoperationen die Hände schrubbte, »dann ist es Zeit, die Luken dichtzumachen.« Er streifte den grünen Kittel ab und rannte hinüber zur kardiologischen Abteilung, um sich zu erkundigen, wie weit Doc gekommen war. Doc hatte getan, was er konnte. Es war drei Uhr nachmittags. Er sammelte gerade seine Ausrüstung ein, als der Piepser einen Anruf von Deep Volt meldete. Sofort rief er sie in der Leitzentrale zurück. »Betriebsleitung«, meldete sie sich. »Hier ist Doc. Hast du was für mich?« Ihre Stimme sank zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Mastercodes«, wisperte sie. »Alle?«
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»Nein, aber du solltest nehmen, was ich habe.« »Welches Format?« »Auf Zip-Disketten. Wir treffen uns Ecke First Avenue und 14. Straße, Nordostseite. In einer halben Stunde. Ich bin auf dem Weg zum East Side-Kraftwerk.« Doc steckte sein Telefon wieder weg. Packard kam herein und fragte: »Wie läuft's?« Doc schüttelte resigniert den Kopf. »Dies ist nur eine Station von Hunderten«, beklagte er sich. »Holen Sie die Schwestern, dann kann ich ihnen erklären, was sie tun müssen. Hat Mrs. McCarthy Sie eigentlich gefunden?« »Mrs. McCarthy steht unter Beruhigungsmitteln«, antwortete Packard und grinste hämisch. »Auf der Suche nach mir ist sie mitten in eine Operation geplatzt. Und, um es medizinisch präzise auszudrücken, sie ist vollkommen durchgedreht.« Ehe er ging, erklärte Doc den Mitarbeitern der diensthabenden Schicht, welche Apparate notdürftig repariert worden waren und einwandfrei funktionieren sollten. Er sagte ihnen, welche Geräte abgeschaltet worden waren, weil sie gefährliche Risiken bargen. »Nach Mitternacht«, bleute er den Schwestern ein, »bedürfen alle automatischen Geräte der ständigen Überwachung. Wenn ein Infusionsapparat darauf programmiert ist, zu bestimmten Zeiten Medikamente zu dosieren, dann müssen Sie sicherstellen, daß das geschieht. Verlassen Sie sich heute nacht auf kein elektronisches Gerät, dann sollte eigentlich alles in Ordnung sein.« Händeschütteln, Umarmungen, Dank, dann war Doc draußen. Mit schnellen Schritten ging er die First Avenue hinunter, Elektrizität schwirrte in seinem Kopf herum. Der Saft! Volt! Kraftwerke! Millionen Kilometer Kabel und Drähte, Netzwerkknoten, Verteilerknoten, Gleich-
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richter, Trafos, Unterbrecher, Dampfturbinen, dazu hundert Güterzüge mit Kohle aus West Virginia, um die Öfen zu befeuern, die Hitze in lebenswichtige Energie verwandelten. Die Erzeugung und Verteilung von elektrischem Strom war von überwältigender Komplexität. Alles, angefangen bei den Sicherheitsvorkehrungen in den Kraftwerken bis hin zu den Leitungswegen in den örtlichen Umspannstationen war computergesteuert. Vom Kernkraftwerk Indian Rock im Norden des Staates New York bis zu einer x-beliebigen Steckdose in Manhattan passierte der Strom etwa siebentausend Systeme, die direkt von Computern gesteuert wurden. Und gerade weil es sich um Computer handelte, kam es regelmäßig zu Ausfällen. Die Kraftwerksfahrer hatten große Erfahrung mit Zusammenbrüchen und Stromausfällen. Dennoch waren sie noch niemals mit dem gleichzeitigen Ausfall vieler einzelner Komponenten des Systems konfrontiert worden. Im Jahr 1900 hatte Elektrizität geradezu als erotisch gegolten. Stromspannung war etwas Heißes gewesen. Jeder Junge, dessen Gesicht auf die Saturday Evening Post gehört hätte, wollte Thomas Edison sein. Der große Meister selbst hatte New York zur ersten elektrifizierten Stadt der Welt gemacht. Wer zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Edisons Drähte angeschlossen war, der konnte sicher sein, daß die Menschen zu seinem Haus pilgerten und in Ehrfurcht die Lichter bestaunten. Elektrizität bedeutete Überlegenheit, man war Gott ein Stückchen näher, dem Fortschritt auf der Spur. Im Laufe der nächsten hundert Jahre brachte die Elektrizität unzählige neue Technologien hervor, von der Beleuchtung bis zum Computer. Der erprobte, inzwischen verläßliche Elektronenfluß verlor
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seine erotische Ausstrahlung. Elektrischer Strom galt nunmehr als grundlegend und profan. Er wurde schlichtweg vorausgesetzt. Am anderen Ende jeder Steckdose in New York befand sich eine Ölblase unter dem Golf von Mexiko. In sämtlichen New Yorker Kraftwerken wurde Öl verbrannt, minimal raffiniertes Leichtpetroleum, mit Hilfe automatischer Pumpen aus dem Boden gefördert, deren Maschinerie Hunderte integrierter Chips barg. Die Sicherheit der Bohrinseln hing von äußerst empfindlichen Überwachungsinstrumenten ab, deren Daten von datumsabhängigen Anwendungen verarbeitet wurden. Bei der Verladung des Öls auf Schiffe und in Pipelines war jeder einzelne Schritt computergesteuert. Bei der Menge des gepumpten Öls angefangen bis hin zu den Überstunden der Arbeiter auf der Bohrinsel wurde alles von Computern verwaltet. Neben dem East River-Kraftwerk an der 14. Straße lagerten fünfzehn Millionen Barrel Heizöl. Über Pipelines wurde das Öl von diesen Tanks zu den anderen Kraftwerken der Stadt gepumpt. Die zuverlässige Versorgung mit Heizöl stellte das erste Glied des automatisierten Vorganges dar, der aus Öl Strom machte. Der Fluß des Öls durch die Pipelines wurde natürlich von datumsabhängigen Rechnern gesteuert. Auch im Kraftwerk selbst waren Computer in alle weiteren Vorgänge involviert. Das Öl wurde gewogen, einer Qualitätsprüfung unterzogen, mit Additiven versetzt, zu den Öfen befördert und schließlich verbrannt. In Heizkesseln wurde Wasser zu Wasserdampf, der unter hohem Druck stand. Dieser Dampf trieb Turbinen an, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit drehten, Generatoren in Bewegung setzten und schließlich Strom erzeugten. Ein durchschnittliches
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Kraftwerk zur Verbrennung fossiler Heizstoffe verfügte über sechshundert Computeranwendungen, die auf vierzig verschiedenen Systemen liefen. Fünftausend integrierte Chips steuerten Ventile, Pumpen und Regelgeräte. Der elektrische Strom, der so gewonnen wurde, wurde übertragen, verteilt und im Netz mit dem Strom anderer Kraftwerke vermischt. Hierzu war eine komplexe Struktur von Systemen, Umspannwerken, Trafos, Gleichrichtern, Relais und Schaltern vonnöten, allesamt computergesteuert. Das Stromnetz verband alle Kraftwerke zu einem einheitlichen System, das den effektivsten Nutzen aus der dem Bedarf stets angemessenen Kapazität des Netzes als Ganzem gewährleistete. Doch die computergesteuerten Verbindungen zwischen den einzelnen Komponenten des Netzes waren die am wenigsten getesteten und deswegen die für den Millennium Bug anfälligsten Glieder dieser Kette. Es bestand die Gefahr, daß große Versorgungsunternehmen, die Hunderte Millionen für die Ausmerzung von Y2K ausgegeben hatten, von kleinen Betrieben lahmgelegt wurden, die nicht die Mittel besaßen, sich vollständig für den Wechsel zu rüsten. Doc und Deep Volt hatten sich ein Jahr lang E-Mails geschickt, ehe sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie hatten Spion & Spion gespielt, sich an den sonderbarsten Orten getroffen, Informationen hin- und hergeschoben und langsam gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Hinter Deep Volt verbarg sich eine freimütige, aber äußerst verantwortungsvolle Systemtechnikerin namens Sarah McFadden. Sie war eine notorisch überarbeitete, humorvolle Schwarze mittleren Alters und Mutter von vier Kindern. An der 14. Straße angelangt, lehnte Doc sich gegen eine
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Hauswand und beobachtete die Menge. Der Verkehr blockierte die Kreuzung. Auf den knapp vier Meter breiten Bürgersteigen hasteten die Leute geschäftig hin und her. Menschen strömten zu Hamsterkäufen in die kleinen Lebensmittelläden und nahmen mit, was sie tragen konnten. Doc vermutete, daß sich die eine Hälfte lediglich für den Silvesterabend eindeckte, während der Rest sich auf eine bevorstehende Belagerung vorbereitete. Endzeitstimmung lag in der Luft, und die Stimmen der Menschen hatten einen schrillen Unterton. Wenn hier der Strom ausfiele, dann wäre alles anders als in Tokio. In New York existierten Hunderttausende Schußwaffen. Bei dem großen Stromausfall 1977 war es bereits Sekunden, nachdem die Lichter ausgegangen waren, zu den ersten Plünderungen gekommen. Das neue, bessere, schönere, freundliche New York von Bürgermeister Giuliani war lediglich von einem hauchdünnen Schleier der Zivilisiertheit bedeckt. Ein einziger Augenblick genügte, um ihn zu zerreißen. Doch noch war der erste Schuß nicht gefallen. Statt dessen lag Musik in der Luft. Aus einem Autoradio schallte ein schauderhaft einfallsloser Countrysong, die Geschichte eines hartgesottenen Truckers, dessen Frau ihn immer lieben würde, so sehr er sie auch bescheißen mochte. »Oh, Amerika«, sang der Cowboy, »du weißt, was Vergeben heißt. Du bist so riesig und weit, bei dir hat jeder seinen Platz, sogar ein Sünder wie ich.« Doc wippte mit dem Fuß zu dem simplen Rhythmus und hielt im Strom der Gesichter nach Sarah Ausschau. Zu Docs Linken ragten die roten Ziegelschornsteine des East Side-Kraftwerks auf. Dieses Kraftwerk war ein wesentlicher Bestandteil seines Plans, die Stromversorgung für Manhattan aufrechtzuerhalten. Sich selbst überlassen, würde es unweigerlich ausfallen. Bo war in jedes System
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des Kraftwerks eingedrungen, hatte jede einzelne Anwendung und jeden Datensatz kopiert und war dabei auf fatale Fehler gestoßen. Fehler, von denen er wußte, daß sie nicht korrigiert wurden. Um eine Minute nach Mitternacht bestand der erste Tagesordnungspunkt des Mitternachts-Clubs darin, die Kontrolle eines Programmes zu übernehmen, das Con Edison Hauptbetriebssicherungssystem nannte. Dieses Programm übertrug die Betriebssteuerung vom Haupt- auf das erste Ausweichsystem. Der Zugang zu dieser Hauptbetriebssicherungsdatei verlangte Paßwörter, die zu den bestgehüteten Geheimnissen des Unternehmens gehörten. Weit unterhalb des Bürgersteiges beschleunigte eine UBahn. Der Beton vibrierte, und ein Menschenstrom ergoß sich aus dem Eingang zur Station. Sarah war dabei. Sie bewegte sie sich mit der für New York so typischen Selbstsicherheit. Doc fühlte sich an jene große Frau erinnert, die er einst in der Stadt gesehen hatte. Dabei machte es keinen Unterschied, daß Sarah nur eins fünfundsechzig maß und neunzig Kilo wog. Intelligenz sprühte aus ihren Augen, und sie trug ein ewiges Lächeln auf den Lippen. »Es gibt ein paar Paßwörter, an die ich einfach nicht herankomme«, sagte sie. »Dazu gehören auch die Kontrollcodes der Hauptbetriebssicherung.« »Das kriegen wir schon hin«, sagte Doc enttäuscht. »Ich weiß nur nicht, wie.« Sarahs Augenbrauen verzogen sich und bildeten eine winzige Furche, was bei ihr soviel wie ein Stirnrunzeln bedeutete. »Vielleicht sollte ich mit einer Maschinenpistole in die Leitzentrale einbrechen und sagen: ›Hände hoch! Dies ist ein Überfall! Gebt mir die Paßwörter oder ich knall' euch ab!‹ So wie im Film.« »Ich laß dich sofort rein, wenn du das tust«, sagte Sarah
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und kicherte. »Wir könnten wirklich 'n bißchen Action gebrauchen, damit die Typen endlich den Hintern hochkriegen. Sonst blüht uns Bombay.« »Indien? Was ist damit?« »Hast du's noch nicht gehört? Bombay brennt.« »Herr im Himmel!« »Sie haben buchstäblich alles verloren. Strom, Telefon, Wasser. Überall sind Brände ausgebrochen, und keiner ist in der Lage, sie zu löschen.« Doc sah das Bild genau vor sich: Bombay und der Rest von Indien mit einer Milliarde Menschen, die eine einzigartige Interpretation für das Chaos parat hatten, das sie verschlang. Der Zorn Shivas, der Zorn Allahs, der Zorn aller Götter, die die Welt jemals gekannt hatte. Ihn schauderte. »Sarah, was glaubst du?« fragte Doc. »Ist das die Apokalypse?« »Doc«, antwortete sie, »Vielleicht stimmt es sogar wirklich, daß morgen die ganze Welt lichterloh brennt. Wenn dem so sein sollte, dann müssen wir nur einen Weg finden, wie wir löschen können. Und das werden wir auch. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.« Ihre Augen blitzten schon wieder. »Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich weiß, was du vorhast.« »Und das wäre?« »Du hast irgendwo einen Großrechner stehen, und du glaubst, daß du in der Lage bist, ein ConEd Ausweichsystem zu simulieren, wenn unser Hauptsystem abstürzt.« »So ungefähr, ja genau.« »Es ist mir egal, wer du bist. Ich frage mich nur, warum du das tust. Wirst du von jemandem dafür bezahlt?« »Nein, im Gegenteil. Ich bezahle andere dafür, daß sie's tun. Ich kann dir deine Informationen auch bezahlen, wenn du willst.«
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»Ich tu' das nicht für Geld.« »Das habe ich auch nicht erwartet«, sagte Doc. »Ich bin nur froh, daß es bei dir genauso ist. Ich wünschte, ich könnte mehr für euch tun. Ich bleibe weiter an den Codes dran.« »Sarah«, sagte er. »es ist durchaus möglich, daß ich deine Hilfe noch brauche. Wenn die Dinge schlecht laufen, kann es sein, daß es noch viel mehr gibt, was du tun kannst. Ich habe dir doch von Vermont erzählt, oder?« »Ja. Ich habe mit ihnen gesprochen. Sie haben niemanden, der in der Lage ist, sich um die Kondensatoren oder Spannungsregler zu kümmern. Sie sagen, sie hätten sie überprüft.« »Bist du darauf vorbereitet, ConEd aus dem Netz zu isolieren und zum Inselbetrieb überzugehen?« »Ich schon, aber die Firma nicht. Wir haben den ganzen Tag darüber diskutiert. Ich muß gehen. Gottes Segen für dich Doc, was immer du auch vorhast.« Sie gab ihm die drei Zip-Disketten und verschwand in der Menge. Doc überquerte den Washington Square. Mit seinen Bäumen, den Schachspielern und dem Kinderspielplatz bildete der Platz eine Oase mitten in der Stadt. Doc setzte sich auf eine Bank und beobachtete einen Vater, der seinen zweijährigen Sohn auf einer Schaukel anschubste. Vor und zurück. Vor und zurück. Der Kleine quietschte vor Freude. In der Nähe bellte ein Hund. Auf der Jagd nach einer Parklücke kreisten Autos um den Platz. Die Anlage neben dem Triumphbogen am Fuße der Fifth Avenue war still und ruhig und schenkte dem heraufziehenden Sturm keinerlei Beachtung. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder, die Dinge wa-
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ren todernst oder so trivial, daß sie lächerlich erschienen. Dazwischen gab es nichts. Bombay und vermutlich halb Indien waren ein Flammenmeer. Doc hatte die Wahl: Er konnte zu dem Zeitungsstand an der Ecke hinüberschlendern, um es nachzulesen, er konnte auch in die Nassau Street zurückkehren, um fernzusehen. Doch genausogut konnte er hier auf einer Bank sitzen und einem Typen dabei zusehen, wie er sein Kind schaukelte. Doc kam in den Sinn, daß dies der perfekte Augenblick für einen Angriff war. Indiens Computer funktionierten nicht mehr richtig, die Kommunikation war zusammengebrochen, die Bevölkerung befand sich in einem Zustand äußerster Unordnung. Das Land war schwach und verwundbar. Pakistan, der feindliche Nachbar, war im Besitz eines kostbaren Zeitvorsprungs von zwei Stunden, in dem all seine Systeme funktionieren würden, während Indien schon am Boden lag. Dies war für die muslimische Nation ein unschätzbarer Vorteil gegenüber ihrem hinduistischen Nachbarn. Pakistan wäre in der Lage, Indien mit einem präventiven Atomschlag anzugreifen, ohne den sofortigen Vergeltungsschlag befürchten zu müssen. Doc war davon überzeugt, daß sich jede einzelne Nation, die USA eingeschlossen, in Alarmbereitschaft befand und auf das Schlimmste gefaßt war. Doch das Schlimmste konnte gar nicht eintreffen. Wer an diesem Tag einen Krieg anzetteln wollte, der müßte auf kleine Waffen, auf Schwerter und auf die blanken Hände zurückgreifen. Die Angriffs- und Verteidigungsbereitschaft einer modernen Nation hing vollständig von Computern ab. Die Computertechnologie des Militärs aber hinkte mehrere Generationen hinter der zivilen Entwicklung her. Das hatte einen einfachen Grund, Die militärischen Computersysteme mußten absolut verläßlich sein. Was funktionierte, wurde
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niemals ersetzt. Doch die Konsequenz dieses an und für sich zweckmäßigen Konservatismus war die extreme Anfälligkeit jener Militärsysteme für den Millennium Bug. Ein F-16-Jagdbomber war ein einziges kybernetisches Labyrinth. Ein Panzer beherbergte zig Computer und hunderte integrierte Chips, ein Kriegsschiff mehrere tausend. Gewehre, Raketen, Marschflugkörper, Hubschrauber, Torpedos, Radar- und Sonaranlagen, Minen, Bomben und Kommunikationseinrichtungen waren alle von Computern abhängig. Sicher, einiges davon würde funktionieren, doch der Anteil der mit dem Millennium Bug infizierten Waffen und Apparaturen war groß genug, um das militärische Weltpotential auf das niedrigste Level seit hundert Jahren zu reduzieren. Und das, dachte Doc, wird in den Tagen, die vor uns liegen, für die Menschheit die Rettung sein. Das große Computersterben des 21. Jahrhunderts stand erst am Anfang, verursacht von einem winzigen Bug. Und folgte man der Definition der Computersprache, dann handelte es sich strenggenommen nicht einmal um einen richtigen Bug. Ein echter Bug war ein versehentlich entstandener Programmierfehler. Der Millennium Bug hingegen war eine aus finanziellen Überlegungen heraus vorsätzlich getroffene Programmierentscheidung. 1960 kostete ein Megabyte Speicherkapazität drei Millionen Dollar, und die Darstellung des Datums fraß Speicherplatz. Die »Eins« und die »Neun« streichen und Geld sparen, hieß die Devise. Das war alles. Reine Kostenrechnung. Beim Millennium Bug ging es von Anfang an nur ums Geld, und auch am Ende regierte allein das Geld. Der Bug verbrannte Bombay. Er hatte Tokio hinweggefegt. Er hatte eine halbe Milliarde Menschen in einer eisigen Nacht der Wärme beraubt. Und dies alles nur, weil
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die Welt den amerikanischen Weg eingeschlagen hatte: heute Kosten einsparen und keinen Gedanken an morgen verschwenden. Doch in weniger als neun Stunden würde dieses »morgen« wie ein Feuersturm herantoben. Tick tack. Es war schon nach halb vier, und die Uhr tickte weiter. Bo wartete dringend auf die Disketten mit den Dateien. Widerstrebend verließ Doc den Park und ging in südlicher Richtung auf die Nassau Street zu. Wenn er die Master-Paßwörter nicht bekam, mußte Plan B herhalten. Für das Leben gab es nun mal keine Gebrauchsanweisung, und wenn doch, dann hatte er sie wohl weggeworfen. Copeland und Jody betraten das Rechenzentrum der Chase Manhattan Bank. Sie wandten sich an ein Empfangspult aus Granit, das mit zwei Frauen besetzt war. Sie trugen die blauen Uniformen des Wachpersonals. Auf dem Tresen hinter ihnen erspähte Jody ein etwa zwölf Zentimeter großes Plüschkneuel, einen Spielzeugeisbären, der ein winziges T-Shirt trug. »Das Jahr 2000. Wir sind bereit!« stand darauf zu lesen. »Donald Copeland und Jody Maxwell, wir möchten zu Dr. Schwarz.« »Willkommen im Rechenzentrum, Mr. Copeland. Ich habe Ihre Tagesausweise schon fertig.« »Werden wir erwartet?« »Aber natürlich, das will ich meinen!« Ein Klemmbrett wurde hervorgeholt. Sie trugen sich ein. Eine der beiden Frauen klemmte ihnen die Besucherausweise aus Plastik ans Revers. Am Aufzug überprüfte ein anderer Wächter die Ausweise noch einmal. Einen Augenblick später waren sie im dritten Stock angelangt, und wieder wurden die Ausweise kontrolliert. Copeland führ-
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te Jody einen Gang hinunter, der mit schweren Sicherheitstüren gesäumt war. Die Türen waren mit unverständlichen Abkürzungen markiert. Auf einmal wurde eine der Doppeltüren von innen geöffnet. Jody erblickte endlose Reihen von Computerterminals, eine Menge Menschen, die Silvesterhütchen trugen, dazu Luftballons, Konfetti und ein blauweißes Spruchband, das quer durch den Raum gespannt war: »Das Jahr 2000! Wir sind bereit!« Fünfundsechzig Y2K-Programmierer, die gesamte Tagesschicht, erhoben sich gleichzeitig von ihren Terminals und fingen an zu klatschen. »Cope-land! Cope-land«, riefen sie. Sie erinnerten an eine Horde Collegeschüler. »Haben Sie davon was gewußt?« fragte Donald Jody. »Nein. Ich hatte keine Ahnung.« Zwei ältere Damen in Kostümen lösten sich aus der Menge und kamen auf sie zu. Es handelte sich um Dr. Schwarz, Leiterin des Rechenzentrums, und Dr. Neiman, Leiterin der Y2K-Mannschaft. »Donald! Herzlich Willkommen!« sagte Dr. Schwarz überschwenglich. »Wir haben Sie erwartet! Dr. Downs hat uns gesagt, daß Sie heute vorbeikommen würden. Und diese reizende Dame in Ihrer Begleitung muß Jody Maxwell sein. Hallo, meine Liebe, herzlich Willkommen im Rechenzentrum.« Zuerst war Copeland wie betäubt und ratlos, dann belustigt und schließlich begeistert. Wie ein Filmstar strahlte er in die Runde und hob die Hände, um den Applaus entgegenzunehmen. Nach der Vorstellung wurde Champagner gereicht und »For he's a jolly good fellow« erklang. Dr. Schwarz heftete den Ehrengästen Anstecker mit »Das Jahr 2000. Wir sind bereit!« an. Copeland hatte das Ge-
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fühl, vor Angst sterben zu müssen. Er wollte endlich wissen, was ihn in Docs verstecktem Programm erwartete. Statt dessen mußte er einen improvisierten Empfang über sich ergehen lassen, Glückwünsche entgegennehmen, Hände schütteln. Jemand nahm ihm seinen Mantel ab und reichte ihm ein Glas Champagner. »Sie haben wunderbare Arbeit geleistet, Mr. Copeland.« »Vielen Dank.« »Ich habe gehört, die Bank von Manila hat den Wechsel mit Pauken und Trompeten gemeistert!« »Danke.« Doc zwang sich dazu, freundlich zu bleiben und reihenweise technische Fragen zu beantworten. Endlich konnte er Jody zuflüstern: »Verschaffen Sie sich Zugang zu einem Terminal. Gehen Sie zum Diagnoseprogramm 18B und überprüfen Sie die Datei 437 im EFT SUBSET. Schaffen Sie das?« »Geben Sie mir Ihr Paßwort.« »Benutzen Sie Ihres.« »Nein.« Copeland zögerte, dann zischte er: »Micro.« »So heißt Ihr Hund.« »Los, Jody. Machen Sie schon.« Er winkte sie hinüber zu den Terminals im Arbeitsbereich. Mit einem Glas Champagner in der Hand schlenderte Jody so unauffällig wie möglich durch die Reihen mit den Monitoren. Der Raum besaß keine Fenster. Jody blickte sich neugierig um. Sie konnte weder Fernsehgeräte noch Radios entdecken. Ihr wurde bewußt, daß das Rechenzentrum von dem Hexenkessel isoliert war, der auf New York zurollte. Nicht völlig isoliert, sie erspähte eine Ausgabe der Daily News, die jemand vom Mittagessen mitgebracht hatte, doch zumindest gut gepuffert. Die
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Leute, die sich jetzt um Copeland scharten, waren den ganzen Tag hier eingepfercht gewesen. Wenn nachher um sechzehn Uhr die Mitarbeiter der Spätschicht zur Ablöse kämen, würden sich die Dinge ändern. Sie hatten mit Sicherheit den Tag vor dem Fernseher verbracht. In der letzten Reihe fand Jody eine junge Frau, die noch an ihrem Terminal arbeitete. Sie sah aus wie eine Streberin. »Zu viel zu tun, um mitzufeiern?« fragte Jody. »Es gibt Dinge, die nicht warten können. Ich sitze gerade an den Tagesabschlüssen.« »Und, wie kommen Sie voran«, sagte Jody und lugte auf den Mitarbeiterausweis, »Martha?« »Langsam«, antwortete Martha. »Die Notenbank hat alle Banken geschlossen, und jetzt geben sämtliche Filialleiter gleichzeitig ihre Abschlüsse ein. Deshalb arbeitet das System sehr langsam. Das ist immer das gleiche, wenn die Abschlüsse dran sind, auch wenn der Tag früher endet. Arbeiten Sie hier?« »Nein, ich bin von Copeland.« »Oh, wirklich? Ihre Firma hat wirklich tolle Arbeit geleistet!« »Danke«, sagte Jody. »Ich muß ein Diagnoseprogramm ablaufen lassen. Kann ich das an Ihrem Terminal machen, wenn Sie fertig sind? Wir müssen in dieser Abteilung eins testen.« »Ich glaube schon. Klar. Ich bin sowieso fertig.« Jody warf einen Blick auf den Monitor. Der Bildschirmschoner zeigte ein Feuerwerk und die Worte: »Hallo, Martha. Frohes neues Jahr!« »Darf ich?« sagte Jody und schob Martha sanft von ihrem Terminal fort. Sie tippte etwas ein und lud das Diagnoseprogramm 18B. Der Rechner bat um das Paßwort. Jody tippte »Micro« ein. Der Bildschirm wurde dunkel. Das
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Feuerwerk leuchtete auf, und es erschien: »Hallo, Donald. Frohes neues Jahr.« Jody dachte: Oh Scheiße, und was kommt jetzt? Martha kicherte. »Das macht er schon den ganzen Tag so, mit allen. Heißen Sie etwa Donald?« »Donald ist mein Boß«, sagte Jody. »Donald Copeland.« »Der Donald Copeland?« »Höchstpersönlich.« »Sind Sie sicher, daß Sie sein Paßwort benutzen dürfen?« »Er ist hier«, sagte Jody. »Gehen wir rüber und fragen ihn.« Jody ging zurück zu den anderen und kam mit Copeland im Schlepptau zurück. Er starrte auf den Bildschirm und blinzelte ein paar Mal. Sein Mund war zu einem breiten, irren Grinsen verzogen. »Und?« fragte Jody. »Soll ich es starten?« Die gesamte Leitung des Rechenzentrums war Donald interessiert gefolgt. Sie hatten sich fröhlich und beschwingt um das Terminal geschart und nippten an ihren Gläsern. Donald sah in die Runde. Ihre Nähe verschaffte ihm ein eigenartiges, irrationales Gefühl, als wäre er auf dem Weg zu seiner Hinrichtung. Soweit er es beurteilen konnte, vermochte Docs Programm, der Bank hier und jetzt den Garaus zu machen. »Was wird denn das, Donald? Eine kleine Präsentation?« fragte Dr. Schwarz lächelnd. »Nur eine kleine Diagnose«, sagte Jody. »Wir wollen schließlich keine bösen Überraschungen erleben.« Copeland war bleich vor Entsetzen. Trotzdem sagte er: »Starten Sie es.« Jody Öffnete die Datei 437 und drückte auf »Start«. Die Diagnosedatei war als einfache Grafik aufgebaut. Sie stellte die Anzahl der zu prüfenden Kodierzeilen dar und
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stellte ihr den Prozentsatz tatsächlich geprüfter Zeilen gegenüber. Die Ziffer sprang von 1 schnell auf 12, auf 35 und dann direkt auf 100%. Eine Nachricht erschien:
Copeland brach zusammen. Er fiel zu Boden, als sei er vom Blitz getroffen worden. Die Leute schrien auf. Blicke schnellten zwischen dem Bildschirm und dem Mann am Boden hin und her. Nach ein paar Sekunden war Donald wieder bei Bewußtsein. Er öffnete die Augen. Jody beugte sich über ihn. »Donald?« sagte sie. Panik schwang in ihrer Stimme. »Donald? Ist alles in Ordnung?« Die Nachricht dröhnte in seinem Hirn. »Old Blue, Old Blue.« Das Ganze war ein jämmerlicher Witz! Erst jagte Doc ihn nach Brooklyn und jetzt zu sich nach Hause, zu seinem Lieblingsrechner. Und er war völlig machtlos dagegen. Vielleicht hatte er es sogar verdient, in Docs Moralstück das Opfer zu spielen, dachte Copeland. Er blinzelte. Jodys Gesicht war nur ein paar Zentimeter von seinem entfernt. Er sah den Ausdruck in ihren Augen. »Warum liege ich auf dem Boden?« »Sie sind in Ohnmacht gefallen.« »Wie bitte?« »Sie haben einfach abgeschaltet, wie ... wie ein russisches Kraftwerk.« »Starren die Leute etwa mich an? Um Gottes willen!« stöhnte er. »Es stimmt! Ich habe mich wahrhaftig zum Narren gemacht!«
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»Heute ist die perfekte Gelegenheit dazu«, sagte Jody. »Es ist absolut verständlich.« »Er hat mich verarscht!« murmelte Copeland. »Dieser Scheißkerl hat mich verarscht!« »Halten Sie den Mund, Donald«, zischte Jody ihn an. »Seien Sie still.« »Ist alles in Ordnung mit ihm?« fragten mehrere Leute auf einmal. »Ja«, sagte Jody und wandte ihnen den Kopf zu. »Alles in Ordnung.« »Der versteckte Code befindet sich nicht hier«, sagte Copeland zu ihr. »Er ist in Old Blue verborgen.« »Halten Sie jetzt endlich den Mund?« flüsterte Jody mit Nachdruck. »Können wir uns bitte nachher darüber unterhalten?« »Sie werden es erfahren. Sie werden alles herausfinden.« »Ruhe, Donald, um Himmels willen!« »Was ist passiert, Miss Maxwell?« fragte Dr. Schwarz. Sie beugte sich hinunter und half Copeland, sich aufzusetzen. »Ich weiß es nicht genau«, sagte Jody. Mein Gott, dachte sie, ich habe ihn schon wieder gedeckt! »Heute war ein sehr anstrengender Tag. Ich glaube, der Champagner hat ihm nicht gutgetan.« »Was hat das zu bedeuten, gehe zu Old Blue für Rückbestätigung?« »Das kann ich Ihnen sagen«, kam es von Copeland. »Old Blue ist ein systemgebundenes internes Kontrollprogramm, das wir verwenden, um die Diagnoseprogramme selbst noch einmal zu überprüfen. Jody hat wohl versehentlich ein Copeland Paßwort anstelle eines Chase Manhattan Paßwortes benutzt. Es genügt, mit ›J‹ zu bestätigen, und das Programm läuft ab. Es erscheint hier lediglich unter anderem Namen, das ist alles.«
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Martha gab ›J‹ ein. Der Rechner startete ein gewöhnliches Prüfprogramm, das keinerlei Überraschungen barg, genauso, wie Copeland es vorausgesehen hatte. Er kam auf die Füße und versuchte, seine Würde wiederherzustellen, doch die blieb auf dem Fußboden des Rechenzentrums zurück. Unsicher ging er zu einem Stuhl. Er setzte sich, bat um ein Telefon und wählte Docs Mobilfunknummer. »Doc am Apparat.« »Ich bin im Rechenzentrum«, sagte Copeland. »Was für ein netter Ort, um den heutigen Tag zu verbringen. Amüsierst du dich auch?« »Was soll das alles, Doc?« »Geh nach Hause zu Old Blue und finde es selbst heraus.« »Und wenn ich nicht gehe?« »Dann wirst du etwas anderes herausfinden«, sagte Doc. »Hast du mir überhaupt nichts zu sagen?« fragte Copeland mit weinerlicher Stimme. »Nein, gar nichts. Ich habe zu tun.« »Wo bist du?« »Jedenfalls nicht in Brooklyn. Ruf mich an, wenn du zu Hause bist. Ich bin mir ganz sicher, daß du hinfährst. Ciao, Donnie.« Klick. Freizeichen. Copeland starrte den Hörer an und legte geschlagen auf. Jody zwang ihn, eine Tasse Kaffee zu trinken, höflich zu bleiben, Danke zu sagen und sich zu verabschieden. Dann rannten sie auf den Fahrstuhl zu, am Empfang vorbei, warfen ihre Ausweise über den Tresen und verließen fluchtartig das Gebäude. »Ich bringe ihn um«, schrie Copeland, als sie wieder auf der Myrtle Avenue standen. »Ich bringe diesen Scheißtypen um!«
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Copeland war derart außer sich und Jody dermaßen beunruhigt, daß sie nicht bemerkten, daß auf der Myrtle Avenue kein Verkehr mehr floß. Eigenartige Stille lag in der Luft. In der Nähe heulte eine Polizeisirene. Dann zerrissen explodierende Feuerwerkskörper die Ruhe. Zu Tode erschreckt blickten die beiden sich um. Sie sahen eine Kette Polizisten in blauen Kampfanzügen und Gasmasken. Sie sperrten die vierspurige Straße und bewegten sich unaufhaltsam auf den Cadman Platz vor dem Gerichtsgebäude zu, der einen Häuserblock entfernt lag. Der Platz war mit Rauch und Gas verhangen. Man konnte entfernte Schreie hören. Wieder explodierten Feuerwerkskörper. Mit zehn Metern Abstand folgte der Polizeikette ein weißer Lastwagen mit dem Schriftzug des Fernsehsenders New York 1. Copeland rannte auf die Straße und rief dem Fahrer zu: »Was ist hier los?« »Besoffene. Collegeschüler. Und was noch, Marty?« fragte er den Beifahrer. »Ach ja, Russen. Russen oder Juden, keine Ahnung. Also, jedenfalls ist vor einer Weile in Moskau das Licht ausgegangen, und da haben sich diese ganzen Russen vor dem Rathaus versammelt. Irgend'ne Demonstration, und gleichzeitig haben sich - wie viele, Marty? Na, so dreihundert Collegetypen aus den ganzen Schulen in der Gegend zu 'ner Riesensilvesterparty auf dem Platz getroffen. Mit kistenweise Bier und wahrscheinlich auch Ecstasy, Sie wissen schon. Dann sind die Nachrichten aus Bombay, durchgesickert. Irgend so'n Hohlkopf hat erst 'ne Mülltonne und dann ein Auto angezündet. Dann haben sich die Demonstranten mit den Besoffenen angelegt, und jemand hat die Bereitschaft gerufen. Noch Fragen?«
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Ein schriller Pfiff ertönte. Die Kette verfiel in Laufschritt, am Rechenzentrum vorbei. Die Polizisten stürzten sich in das Getümmel auf dem Platz. Der Übertragungswagen gab Gas. Copeland versuchte, rennend Schritt zu halten, dann fiel er zurück. »Frohes neues Jahr«, murmelte er, als er allein auf der Straße stand. »Was ist mit Bombay?« fragte er sich und zuckte die Achseln. Er drehte sich um. Jody war weg. Copeland ging zurück zum Eingang des Rechenzentrums. Vielleicht hatte sie dort Schutz gesucht. Doch sie war verschwunden. Noch ein Deserteur, dachte er. Genau wie seine Frau, wie sein Sohn. Wie Doc. Donald, der Geldesel, war wie ein loderndes Feuer. Man rückt ganz nah heran, um sich zu wärmen. Kommt man ihm jedoch zu nahe, verbrennt man. Am Ende ergriffen sie alle die Flucht. Donald fühlte sich elend. Die U-Bahn-Station war gesperrt. Der Fahrkartenverkäufer erklärte ihm, die Züge würden wegen der Ausschreitungen auf dem Platz nicht anhalten. Copeland wollte sowieso nicht mit der U-Bahn fahren. Zu Hause erwartete ihn Old Blue und mit ihm neue Quälereien von Doc. Er mußte dorthin. Aber es bestand kein Grund, sich zu beeilen. Er knöpfte seinen Mantel zu und begann den langen Fußmarsch über die Brooklyn Bridge, hinüber auf die verzauberte Insel Manhattan. In der Nassau Street saßen die Mitglieder des Mitternachts-Clubs im Kreis auf dem Boden und hielten sich an den Händen. »Hat Doc die Paßwörter bekommen?« fragte Ronnie. »Glaube nicht«, sagte Bo. »Sonst hätte er angerufen.« »Können wir die Stromgeneratoren der U-Bahn auf das Stadtnetz umschalten?«
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Adrian schüttelte den Kopf. »Selbst wenn wir könnten, der Strom reicht nicht. Nein.« Von Bos Monitor ertönte piepsender Alarm. Bo verließ den Kreis und überprüfte seinen Bildschirm, eine Kopie des Terminals des leitenden Kraftwerksfahrers bei ConEd. Der Techniker erhielt eine Nachricht der nationalen Nuklearaufsichtsbehörde. »Jetzt geht's los«, verkündete Bo. »Spaß und Spiel für jedermann!« An ConEd und alle anderen amerikanischen Stromversorgungsunternehmen war soeben der Befehl der Aufsichtsbehörde ergangen, umgehend alle 108 Kernkraftwerke in den Vereinigten Staaten herunterzufahren.
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STROMRATIONIERUNG IN CHICAGO NACH SCHLIESSUNG ALLER KERNREAKTOREN DURCH NUKLEARAUFSICHTSBEHÖRDE MOSKAU FRIERT BEI MINUS 30 GRAD MARINE RUFT ALLE SCHIFFE AUF SEE IN DIE HÄFEN LICHT, ABER KEIN WASSER IM HEILIGEN LAND ANSPRACHE DES PRÄSIDENTEN FÜR NEUN UHR ABENDS ERWARTET Doc hielt an einem Zeitungsstand und las die Schlagzeilen der Spätausgaben. Es reicht, dachte er. Die Menschen standen Schlange und rissen dem Verkäufer die Zeitungen aus den Händen, kaum waren sie ausgeliefert. Doc fragte sich, wie die Lieferanten es schafften, durch diesen Höllenverkehr zu kommen. Das würde auf ewig eines der Geheimnisse dieses Tages bleiben. Zum Spaß kaufte er sich eine Ausgabe der Yacht, eine Zeitschrift, die ebensoviel brachte wie die Daily News. Vielleicht würde er sich zurückziehen, wenn das alles vorüber war, ein ganz normales Leben führen, mit Freundin, Hund und einem hübschen alten Motorboot. »Viel zu tun?« fragte er den Verkäufer. »Das Geschäft meines Lebens.« »Was halten Sie von der ganzen Geschichte?« fragte Doc und zeigte auf die unheilverkündenden Schlagzeilen. »Fördert den Umsatz, mein Freund. Der nächste.«
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Langsam schlenderte Doc in Richtung Nassau Street. Es war ihm zuwider, seinen Leuten die schlechten Neuigkeiten überbringen zu müssen. Keine Paßwörter, keine Systemübernahme, kein Saft. Zum Teufel, wenn Manhattan den Bach runterging! Er hatte es zumindest versucht. Überall auf der Welt hatten Programmierer versucht, den Millennium Bug zu bekämpfen. In langwierigen Prozeduren hatten sie Computercodes unter die Lupe genommen, hatten im Hinblick auf eine unverrückbare Deadline Blut und Wasser geschwitzt und würden dafür weder Ruhm noch Anerkennung ernten. Für die heldenhaften Computerfreaks würde es nirgends eine Konfettiparade geben, auch wenn die Ausmaße der ganzen Katastrophe ohne sie noch viel fürchterlicher wären. Murphys Gesetz! Vielleicht war der ganze verdammte Millennium Bug nichts weiter als Murphys Gesetz. Nachmittags um Viertel nach vier schlug der Millennium Bug eine Schneise in den industrialisierten Teil des Planeten. Von Murmansk, nördlich des Polarkreises, durch St. Petersburg und Moskau hinunter zum Schwarzen Meer, über die Türkei und die Ruinen von Troja, das östliche Mittelmeer und den Hexenkessel des Mittleren Ostens, über die Sphinx und die Pyramiden hinweg, die Ostküste Afrikas hinunter zu den stürmischen Winden des südlichen Polarmeeres und den ewigen Eisfeldern der Antarktis. Das Heilige Land, Wiege der westlichen Zivilisation, war dem Angriff eines winzigkleinen Monsters ausgesetzt, einer Handvoll fehlender Binärcodes. Israel war so Y2K-gerüstet, wie eine kleine Nation mit vielen Computersystemen es nur sein konnte. Die nukleargetriebene Stromversorgung überstand den Wechsel ohne Fehlfunktionen, doch die Hauptversorgungsrohre nach Jerusalem und Tel Aviv sperrten die Wasserzufuhr. Die religiöse Be-
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deutung des Jahrtausendwechsels hatte dem Land und seinen zwei Millionen Einwohnern eine Million Pilger beschert. Die Kontrolle der Menschenmassen hatte schon eine Woche lang für erhebliche Probleme gesorgt. Silvester fiel auf den Freitagabend, den Beginn des jüdischen Sabbats, und am Sabbat ruhte alle Arbeit. Keine Busse, keine Taxis, keinerlei Service in den Hotels und Restaurants. Amerikanische Fundamentalisten stellten den größten Teil der christlichen Pilger. Einige von ihnen traten versehentlich die örtlichen Traditionen mit Füßen und provozierten so jüdische und islamische Fundamentalisten zu einem Dreiecksaustausch über die Heilige Schrift und mittelalterliche Theologie. Radikale Sekten nutzten die Menschenmassen und das herrschende Durcheinander für andauernde Provokationen. Als das Wasser versiegte, brach Panik aus. Die Zustände in Israel verschlimmerten sich, als in den Nachbarländern Syrien, Jordanien und im Libanon die Infrastruktur zusammenbrach. Israels Grenzen wurden von Flüchtlingen belagert, für die es weder Raum noch Wasser gab. Um den östlichen Mittelmeerraum vor dem absoluten Chaos zu bewahren, brauchte es in der Tat eine Wiederkunft Christi. Doch Doc glaubte nicht, daß göttliche Einmischung das Problem lindern konnte. Das hatte schon beim ersten Mal nicht funktioniert. Computer wußten nichts von Gott. Computer verstanden ausschließlich binären Maschinencode und waren lediglich so schlau wie jene, die ihre Programme geschrieben hatten. Unvollkommene Menschen schrieben unvollkommenen Code, und die gravierendsten Fehler kamen erst zum Vorschein, wenn man es auf einen Versuch ankommen ließ. Dieser Versuch war der Jahrtausendwechsel. Um fünf Uhr würde Osteuropa sich verdunkeln. Um
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sechs Uhr würden Berlin, Rom, Paris und Madrid den Millennium-Bach hinuntergehen. Die funkelnden Sterne des Westens würden dem kollektiven Wahnsinn ins Auge blicken, und das nicht zum ersten Mal. Immer wieder hatte sich Europa Eindringlingen aus dem Osten gegenübergesehen, Vandalen und Mauren, Westgoten und Persern. Europa war Leib und Seele des technologischen Zeitalters. Aus Europa kam die Erfindung des Kompasses, der Aufbruch der Entdecker zu neuen Ufern; die Erfindung der Aktiengesellschaften in Londoner Kaffeehäusern; die Industrielle Revolution; Madame Curie, Signor Marconi, und jener Mann, der dem 20. Jahrhundert sein Gesicht gegeben hatte, Albert Einstein. Europa wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts gleich mehrfach Schauplatz radikaler Veränderungen, die Millionen Menschen überrumpelten: die Massenvernichtung im Ersten Weltkrieg, die Russische Revolution, der Blitzkrieg der Nazis, der Holocaust und der Fall der Sowjetunion. Die nächste Überraschung war nur noch eine Zeitzone entfernt. 1999 markierte den Beginn der Europäischen Währungsunion. Gelder, die womöglich auf die Lösung des Y2K-Problems verwendet worden wären, flossen statt dessen in die Vorbereitung auf den Euro. Das Ergebnis war, daß keines der Probleme in Hunderttausenden von Computerprogrammen angemessen in Angriff genommen worden war. Was den Jahrtausendwechsel betraf, so lag das Hauptaugenmerk Europas auf Greenwich. Dieser Vorort von London saß exakt auf dem Anfangsmeridian, dem Nulllängengrad. Seit der Gründung der königlichen Sternwarte 1757 war die Ortszeit von Greenwich Standard für die ganze Welt. Die Atomuhren des Observatoriums begründeten die GMT, Greenwich Mean Time, die auch als
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UTC, Universal Time Coordinates, also universelle Zeitkoordinaten, bekannt war und von Funkern und beim Militär Zulu-Zeit genannt wurde. Weltweit arbeitete jeder Satellit und jede Satellitenkontrollstation mit Zulu-Zeit. Wenn der Millennium Bug den Nullmeridian erreichte, würde im Himmel und auf Erden die Hölle los sein. In New York färbte die Sonne den Himmel über New Jersey langsam rot. Die Temperaturen sanken. Der Tag ging zu Ende und mit ihm das 20. Jahrhundert, von einer Technoseuche erledigt, die sich, einem bösartigen Bakterienstamm gleich, daranmachte, über alle Maschinen herzufallen. Doc zweifelte keinen Augenblick, daß die Maschinen den Kampf gewinnen würden. Der Millennium Bug würde die morsche Software und die untauglichen Chips vernichten. Er würde die technologischen Industriezweige gehörig durchforsten und von totem Holz befreien. Veraltete, unrentable Firmen würden nicht überleben, jüngere und gewieftere Unternehmer würden dagegen profitieren. Die, die überlebten, wären stärker, schlanker, gewitzter als zuvor, vielleicht sogar zu mächtig. Unfähige Regierungen würden von wendigeren politischen Konstruktionen abgelöst werden. Am Ende würde die Welt von einer Handvoll Megaunternehmen regiert werden. Willkommen im 21. Jahrhundert! Doc ging weiter. Die Gebäude leerten sich. Er beobachtete die Menschen, die aus den Häusern kamen. Von Harlem bis zum Battery Park drängten sich alle, die nach Hause wollten, in die U-Bahnen, ließen das Gewimmel für heute ein letztes Mal über sich ergehen. Dumpfbacken, grübelte Doc, während er den Broadway entlangging. So nannten die Geeks alle, die mit Computern arbeiteten, aber keine Ahnung von ihnen hatten. Dumpfbacken. Hirnlose. In diesem Augenblick befanden sich
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eine halbe Million davon unter seinen Füßen, den unterirdischen Heimwehblues auf den Lippen. Ein höllischer Tag, ein höllisches Jahrhundert. Darüber würden die Menschen noch lange Zeit reden. Wo warst du an Silvester? Was ist bei dir passiert? Ich sage dir, das war das Schlimmste ... Als er so vor sich hin spazierte und die Gespräche der Leute um ihn belauschte, die sich die irrsinnigsten Geschichten erzählten, kam Doc zu Bewußtsein, daß jeder einzelne von ihnen eine ganz persönliche Geschichte zu erzählen hatte und daß all diese Geschichten zusammen das Bild dieser Stadt ergaben, als der Tag sich dem Ende zuneigte. Nachdem die Schließung aller Banken verfügt worden war, weigerten sich die Geschäfte, Schecks anzunehmen, weil niemand wußte, ob sie je eingelöst werden konnten. Eine Stunde später akzeptierten die Händler auch keine Kreditkarten mehr. Macy's und Saks schlossen die Pforten früher als geplant, und am Nachmittag waren nur noch diejenigen Geschäfte geöffnet, in denen normalerweise bar bezahlt wurde. Die Schlangen vor den Geldautomaten erstreckten sich über mehrere Häuserblocks. Diejenigen, die dort noch standen, als den Maschinen das Geld ausging, hatten schlicht und ergreifend Pech gehabt. In der Grand Central Station baute ein altmodisches Tanzorchester für den Silvesterball auf. Die Haupthalle war überfüllt mit hektischen Pendlern, die versuchten, aus der Stadt herauszukommen. In dem Moment, als das Orchester die ersten Töne eines Duke Ellington Stücks anstimmte, brach der Metro North-Reservierungscomputer zusammen. Jemand hatte versucht, Sitzplatzreservierungen nach Mitternacht vorzunehmen. Das daraus resultierende Durcheinander kam einem Aufruhr so nahe, wie es bei fünfundzwanzigtausend wohlerzogenen, höflichen,
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gutsituierten Amerikanern nur möglich war. Zum swingenden Rhythmus von »Tuxedo Junction« stürmten die Pendler die Bahnsteige und zwängten sich wie Vieh in die Züge. Zehn Minuten später kam es in der Penn Station zur gleichen Situation, nur ohne Musik. In einem beispiellos großzügigen Akt der Menschlichkeit setzte die Eisenbahngesellschaft Sonderzüge ein und verzichtete fortan auf die Fahrkartenkontrolle. Die Telefonleitungen waren bereits seit dem frühen Morgen gestört. Jedesmal, wenn der Millennium Bug ein neues Land traf, versuchten die betroffenen Immigranten und Touristen, zu Hause anzurufen. Da in New York Menschen aus aller Herren Länder zu Hause waren, waren die Fernverbindungen den ganzen Tag überlastet. Als Bombay in Flammen aufging, erhob sich ein langgezogener Klagelaut aus der indischen Gemeinschaft in der Lower Eastside von Manhattan, weil zwanzigtausend Inder gleichzeitig versuchten, ihre Angehörigen zu erreichen. Während Malaysier, Laoten, Koreaner und Pakistani um ihre Heimat zitterten und darauf warteten, nach Hause durchzukommen, bildeten sie Gruppen zur Selbstverteidigung, um ihre Familien und Geschäfte zu beschützen, wenn New York verwüstet wurde. Bereits am Vormittag hatten die großen russischen Enklaven in Brooklyn kollektiv den Verstand verloren, als der Millennium Bug Mutter Rußland getroffen hatte. Tausende hatten das Konsulat in Manhattan belagert und die orthodoxen Kirchen gestürmt, um für die Errettung ihrer Heimat zu beten. Als das Kriegsrecht auf ganz Rußland ausgeweitet wurde, veranstalteten unzählige Russen, russische Juden und Angehörige anderer ehemaliger Sowjetrepubliken wilde Feiern auf den Straßen. Auf Coney Island ließen tausend wodkaseelige, verrücktgewordene Russen ihrem
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Irrsinn freien Lauf und lieferten sich wüste Straßenschlachten mit der Polizei. Die Realität des Millennium Bug hatte Tausende von kleinen Unternehmen in gestrecktem Galopp in Panik gestürzt. Das allgegenwärtige Gerede über Y2K in den vergangenen Monaten war bei vielen Menschen auf taube Ohren gestoßen. Und dann, peng! Plötzlich, am letzten Tag, als das Fernsehen von Computerfehlfunktionen von der Bronx bis nach Kathmandu berichtete, kamen die Dumpfbacken mit einem Mal auf den Trichter, daß sie ein Problem mit ihren Rechnern hatten. Y2K-Testprogramme für den PC waren im Internet abrufbar, und mehrere Fernsehstationen gaben die Adressen bekannt. Unerfahrene Anwender befolgten die Instruktionen, luden die Programme auf ihre Rechner und starteten sie. Klick, klack, peng. Tausende Computer versagten bei den BIOS-Testläufen. Oft waren Bedienerfehler die Ursache. Das wiederum hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Panikniveau. Im Großraumbüro eines Immobilienmaklers an der 37. Straße ging ein Makler von Tisch zu Tisch und zertrümmerte die Monitore in der Annahme, es handle sich dabei um die Rechner selbst. Manche schossen auf ihre Computer, andere fackelten sie ab oder schmissen sie zum Fenster hinaus, um sie dann mit ihrem Geländewagen zu planieren. In guter New Yorker Manier entledigten sich Hunderte von verärgerten Computerbesitzern ihrer Rechner, indem sie sie auf den Bürgersteigen abluden. Damit bereiteten sie umgehend einer neuen Branche den Weg. Findige Geister machten sich sofort daran, die ausrangierte Hardware einzusammeln, die an sich in gutem Zustand war, waren doch alle Probleme in der Software, den BIOS-Chips oder den integrierten Uhren zu suchen.
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Minicomputern, Großrechnern und Supercomputern erging es nicht anders. In der Fakultät für Physik an der Columbia University förderte der in letzter Minute anberaumte Test eines Acht-Millionen-Dollar-Cray, der zur Nuklearforschung diente, einen Fehler auf dem integrierten Chip zutage, der die eingebauten Klimaanlagen betrieb. Der Testlauf killte die Wärmeaustauscher und grillte die Prozessoren. Andere Computer ließen auf konventionellerem Wege ihr Leben: Jemand zog den Stecker, drehte sich um und goß sich einen hinter die Binde. Tunnels und Brücken waren von einer tobenden Meute Pendler belagert. Doch noch immer überstieg die Zahl derer, die aus dem Umland nach New York strömten, um Silvester zu feiern, die derer, die versuchten, irgendwie aus der Stadt herauszukommen. Die Party war in vollem Gange. In einer Stadt mit einem Einzugsgebiet von fünfundzwanzig Millionen Menschen konnte man mitten in einer Feuersbrunst eine Silvesterparty schmeißen, und noch immer würden fünfhunderttausend Leute kommen. Um Mitternacht wurden auf den Straßen von Manhattan vier Millionen Menschen erwartet, und die Stadt tat nichts, um die Leute dazu zu bewegen, zu Hause zu bleiben. Im Battery Park, einem grünen Uferflecken unweit des World Trade Centers und der Nassau Street, hatte die Stadt in Vorbereitung auf das offizielle Feuerwerk riesige Tribünen und VIP-Zelte errichten lassen. Schon bei Sonnenuntergang waren sämtliche Sitzplätze von Zechern belagert. In einem der Zelte stellte ein Angestellter des Partyservices einen großen 35-Zoll Sony Fernseher an, der sofort mit den neuesten Nachrichten um sich warf. Ein sichtlich verwirrter Reporter meldete sich, in eine Tropenjacke gekleidet, aus Afrika.
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»Just in diesem Moment hat der Millennium Bug - und ich bin mir sicher, daß keiner dieses Wort mehr hören kann und möchte - die Arabische Halbinsel und das Horn von Afrika überquert und ist hier in Khartoum im Sudan eingetroffen, in dem Ort, wo sich der Blaue und der Weiße Nil vereinigen. Wie Sie sehen, sind die Lichter noch an. Wie seit Anbeginn der Zeiten fließt der Nil ruhig in seinem Bett, den Katastrophen in anderen Teilen der Welt keinerlei Beachtung schenkend. Doch Bagdad im Norden hat einen Stromausfall erlitten und aus Saudi Arabien erreichen uns Berichte, die besagen, daß die Militärkommunikation im gesamten König...« »Es reicht mit dieser Scheiße!«
Abrupt wurden die Nachrichten von einer Gruppe Betrunkener unterbrochen. Sie hoben den Fernseher hoch, schleppten ihn aus dem Zelt und warfen ihn in den Fluß. Tausende spendeten Beifall. Der Applaus wurde von der Detonation einer riesigen Feuerwerksrakete unterstrichen, die - bumm! - mit heiserer Unbekümmertheit hochging. Auf der gesamten Insel war kein einziger freier Barhocker zu finden. Jeder einzelne Tisch in den unzähligen Restaurants war von Gasten belagert. Für jede Reservierung, die nicht in Anspruch genommen wurde, warteten ein Dutzend Lückenbüßer auf den Bürgersteigen. Von der Ecke Broadway und 42. Straße aus gesehen, standen fünf Häuserblocks in jede Richtung siebenhundertfünfzigtausend Menschen, dicht an dicht gedrängt, rund um den neuen, schöneren, besseren Times Square und fragten sich, was sie die nächsten siebeneinhalb Stunden mit sich anfangen sollten. Hoch über der Menge hingen vierundzwanzig gigantische Leinwände, die ursprünglich die Feierlichkeiten zum Jahrtausendwechsel aus allen Zeitzonen hätten über-
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tragen sollen. Statt dessen wurden nur die Einspielungen aus der westlichen Halbkugel und vom Times Square selbst gesendet. Die schlechten Nachrichten sollten die Stimmung nicht verderben, und so waren die Übertragungen aus all den Ländern, die der Millennium Bug bereits getroffen hatte, ausgeblendet worden. Nur die Einspielung aus Sydney lief, denn dort waren die Lichter an und die Menschen tanzten auf den Straßen. Es wurde langsam kalt. Überall waren Polizisten unterwegs. Sie versahen ihren Dienst hoch zu Roß, zu Fuß, auf Motorrädern und Fahrrädern. Am meisten hatten sie damit zu tun, Fahrspuren für die Ambulanzen freizuhalten. Sirenen heulten, die meist jungen Leute bliesen in Hörner und Pfeifen, sie sangen und sie soffen. Zwei Rockbands droschen auf ihre Instrumente ein, doch die Musik ging in dem unglaublichen Lärmpegel beinahe unter. Im Bellevue bestand die aktuelle Welle der Verletzten aus gewöhnlichen Unfallopfern, Betrunkenen und Patienten mit Schußwunden. Bill Packard überredete den Chefarzt, eine Notversammlung der medizinischen Belegschaft einzuberufen. Er bleute ihnen ein, die Finger selbst von den einfachsten automatisierten Geräten zu lassen. Erschöpft beendete Packard seinen Vortrag. Er rief in Maine bei seiner Frau und den Kindern an. Dann legte er sich in einem der Aufenthaltsräume auf ein Klappbett und versuchte, zu schlafen. Es war unmöglich. Also stand er wieder auf und ging auf der Suche nach den Technikern in den Keller hinunter. Er veranlaßte sie, die Notgeneratoren auf ihre Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Auf der Upper West Side spazierte Captain Ed Garcia um die von ihm geschaffene offizielle Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk. Im Central Park las der Erzbischof von New York eine Messe, und auf der 99.
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Straße hielt ein ganzer Hexensabbat eine Seance. Mindestens zwei Dutzend Prediger schwangen ihre Reden. Es hatte sich ein wahrhaftiger Marktplatz für alle Arten von religiösem Fanatismus gebildet. Mit Klemmtafeln bewaffnet war eine fröhliches Kuratorium aus Bewohnern der Upper West Side zwischen den Evangelisten unterwegs. Die Mitglieder vergaben Punkte für Rhetorik, Leidenschaft und Bibelfestigkeit. Auf der Amsterdam Avenue gab ein Gospelchor ein Konzert, und auf der Central Park West verströmte eine Schar buddhistischer Mönche Wohlwollen und heitere Gelassenheit. Der Chaospegel in den Hotels der Innenstadt stieg langsam, aber stetig. Die Manager realisierten, daß viele der Gäste mit teuren Silvesterreservierungen niemals erscheinen würden. Daraufhin wurden den Gestrandeten ihre alten Zimmer zu exorbitanten Preisen angeboten. Das erschien vielen als Rettung, bis sie merkten, daß ihre Kreditkarten nicht mehr akzeptiert wurden. Da die meisten asiatischen Banken die elektronische Datenverarbeitung eingestellt hatten, steckten ihre Kreditkartenkunden genau dort fest, wo sie gerade waren. Auf den Bürgersteigen drängelten sich die vollkommen überdrehten Partygänger Schulter an Schulter im surrealen Licht der Dämmerung. Auf dem Times Square trat die Schizophrenie des Augenblicks besonders deutlich zutage. Zwei Gruppen singender und grölender Jugendlicher standen sich quer über den Broadway gegenüber. Die Menge auf der Westseite brüllte stupide: »Zwei-tau-send! Zwei-tau-send!« Die Rivalen auf der anderen Seite konterten mit: »Licht aus, gut' Nacht und Ruh! Der Bug, der beißt heut' zu!« Mitten auf der Straße stand eine Betrunkene, die zwischen die Fronten geraten war. Sie schwankte vor und zurück, hörte erst der einen, dann der anderen Seite zu. Feierlich
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stemmte sie eine Flasche Jim Beam hoch über ihren Kopf und zielte. Sie verfehlte ihren Mund und begoß sich über und über mit Whiskey. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, kippte sie rücklings auf den Asphalt. Stolz und reserviert blickte Mickey Mouse, der heimliche Regent des Times Square, mit einem zeitlosen, dümmlichen Lächeln von oben herab. Auf seiner Digitaluhr war es 04:32 p.m. In einer Kettenreaktion flammten nacheinander die Straßenlaternen unter dem grau verhangenen, dunklen Himmel auf, von Computersteuerungen mit Strom versorgt. Häuserblock für Häuserblock, Abschnitt für Abschnitt ergossen sich Kaskaden aus Licht die breiten Avenues hinunter. Der Kunstfertigkeit der Elektrizität war es zu verdanken, daß sich im Dämmerlicht ein intimeres Bild von Manhattan offenbarte. Wie die anmutigen Blüten eines Nachtgartens blinkten Neonlichter unter den ersten Sternen, ein prächtig geschmücktes Kunstwerk des 20. Jahrhunderts, ein Fest aus Cocktailgläsern und riesigen Zeltdächern, den Wahrzeichen modernen Lebens. Die Wolkenkratzer in der Innenstadt erstrahlten in erhabenem Glanz, als wären sie sich ihrer würdevollen Majestät bewußt. In den Wohngegenden schickte aus jedem Apartment ein Fernseher seinen blauen Schein in die Abenddämmerung. Die einzigen Möglichkeiten, den Nachrichten zu entkommen, waren der Sportkanal oder alte Filme auf TNT. Und sogar diese Sender spielten am unteren Bildschirmrand Textbänder mit den Schlagzeilen ein. Es war kein Ende in Sicht. Auf der Canal Street machte Doc in einem Geschäft halt, um sich ein Sandwich zu kaufen. Im Fernseher hinter dem Tresen lief die Übertragung der Sunkist Lemon-Footballmeisterschaften aus Tampa. Doch die Zuschauertribünen waren halb leer und das Spiel völlig
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planlos. Die Kommentatoren unterhielten sich über die Stromrationierung in Chicago. Um Viertel vor fünf war es bereits dunkel. Die Stadt wandelte sich in subtiler Weise, sie wurde mysteriöser, eigensinniger. Trieb und Verlangen gewannen die Oberhand. Doc spürte die Veränderung, als er mit dem verpackten Sandwich in der Hand aus dem Laden auf die Straße trat. Zwielichtige Gestalten bevölkerten die Straßen, um den feierwütigen Massen Waren exotischer Natur anzupreisen. Als die Nacht sich hinabsenkte, hing der Geruch von Sex und Drogen in der Luft und lud die Atmosphäre mit dem Nervenkitzel des Verbotenen. Die Stimmung heizte sich auf. Die Angsterfüllten verschlossen Augen und Ohren vor dem herannahenden Sturm. Sie soffen und rauchten und schluckten Pillen, um sich zu betäuben. Die Unerschrockenen hingegen konsumierten alles, was sie bekommen konnten, weil es nun mal dazugehörte. Es war schon immer so gewesen, daß die allgemeinen Regeln in der Silvesternacht keine Gültigkeit besaßen. In dieser Silvesternacht aber wurden sie mit aller Macht beiseite gestoßen und zertrampelt wie zerbrochenes Geschirr. Als Doc in die Wall Street einbog, drängte sich gerade eine Busladung japanischer Touristen zum Gruppenfoto unter den eisernen Löwen. Sie versuchten zu lächeln, aber die Nachrichten aus Japan hatten ihnen den Spaß an ihrem Urlaub in New York gründlich verdorben. Der Fotograf untersuchte das Objektiv, wich zurück, schaute noch mal und sagte dann etwas Japanisches. Doc kam näher. Als er sah, daß es sich um eine neue Digitalkamera handelte, war ihm augenblicklich klar, was geschehen war. In dem Objektiv befand sich ein Chip, der mit japanischer Zeit lief. Er hatte den Jahrtausendwechsel bereits
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hinter sich. Die Fehlfunktion des Chips hatte die Kamera geschrottet. Der Millennium Bug war unsichtbar, er war allgegenwärtig, und er war willkürlich. Die nächste Kamera war vielleicht mit einem anderen Chip ausgestattet, oder die Konfiguration der in den Chip eingebrannten Software war anders, oder der Chip selbst bestand aus anderen Komponenten, trojanische Pferde im Inneren anderer trojanischer Pferde. Doc lachte lauthals und erschreckte damit die Touristen. Sie konnten nicht ergründen, was ein bärtiger Brillenträger in Arbeiterstiefeln und mit einer Jagdmütze mit Ohrenklappen zu bedeuten hatte, der sich ganz offensichtlich johlend und kichernd über sie lustig machte. »Die Welt ist verrückt geworden«, brüllte er. »Ich bin verrückt. Ihr seid verrückt. Wir sind alle verrückt, das ist einfach toll! Ha ha ha ha ha ha.« Das Erdgeschoß von Copeland Investments in der Nassau Street war beinahe ausgestorben. Die Mitarbeiter der Vertriebsabteilung und aus der Buchhaltung waren schon lange gegangen. Doc stieß auf Champagnerflaschen und Pappbecher, die Überreste einer Party. Nur eine einzige Verkäuferin saß noch in ihrer Kabine. Wie durch ein Wunder funktionierte ihr Telefon. Sie redete auf Deutsch in das Mikrofon ihres Kopfhörers, wechselte zu Englisch und verfiel dann wieder ins Deutsche. »Richtig, Herr Jäger, das Basispaket für eine Bank Ihrer Größenordnung kostet fünf Dollar pro Kodierzeile, und in einer Bank Ihrer Größenordnung sind ungefähr vierzig Millionen Kodierzeilen zu bewältigen. Ja. Wir sind in der Lage, Ihnen nächste Woche ein Team rüberzuschicken. Selbstverständlich. Entweder wir chartern eine Maschine,
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oder Sie schicken uns Ihr Flugzeug. Ja, richtig. Bitte sehr, Herr Jäger.« Doc machte eine Geste, die Halsabschneider bedeutete, und flüsterte: »Maria, gehen Sie nach Hause. Sie müssen wirklich nicht noch länger hierbleiben.« Sie winkte ihm zu, deutete auf ihre Kopfhörer und nickte enthusiastisch. »Ja. Ja. Nein. Ja. Bitte. Auf Wiederhören, Herr Jäger. Ja, danke, auf Wiederhören.« Sie trennte die Verbindung und strahlte Doc an. »Und, was sagen Sie dazu? Bingo! Hamburg. Wow!« Doc lehnte sich an die Wand ihrer Kabine und fragte: »Wann hat Copeland den Preis auf fünf Dollar pro Zeile angehoben?« »Heute morgen. Herrn Jäger interessiert das nicht. Er ist verzweifelt.« »Ein ganzes Jahr lang lag der Preis bei drei Dollar«, bemerkte Doc. »Aber Sie haben natürlich recht. Die Kunden werden zahlen.« Die Stille im Büro wurde von dem Geräusch explodierender Feuerwerkskörper unterbrochen, das aus dem Battery Park herüberdrang. Von weit entfernt schwebte fröhlicher Lärm durch die Nachtluft wie ein Echo vergangener Silvesternächte mit ganz normalen Parties und rauhen Spaßen. Die Dunkelheit, die draußen herrschte, wurde von sanftem Lichtschein gemildert, der aus Eingängen drang und sich um die Straßenlaternen schmiegte. Auf den Bürgersteigen eilten dunkle Schatten den Festivitäten mit ihrem Versprechen von Wärme entgegen. »Sie sind super Maria, machen Sie Feierabend.« »Jawoll!« Sie grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Hamburg!« »Ich gratuliere«, sagte Doc herzlich. »Ich wünsche Ihnen, daß das Geschäft klappt.«
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Maria runzelte die Augenbrauen und dachte nach. »Ich frage mich, ob Donald mir morgen seine Maschine geben würde. Wenn ich hinfliege, kann ich den Abschluß auf der Stelle bekommen.« »Maria«, sagte Doc sanft. »Die Flughäfen sind geschlossen.« »Wie bitte?« »Die nächsten paar Tage wird es keinen Flugverkehr geben.« »Sie wollen mich auf den Arm nehmen.« »Ich fürchte, nein.« Sie blinzelte, beugte sich vor und sah sich in dem leeren Großraumbüro um. »Wo sind die alle?« »Es ist Silvester. Haben Sie nichts vor?« »Um Gottes willen! Wie spät ist es?« »Fast fünf.« »O Gottogottogott! Ich habe zwei Stunden telefoniert. Ich bin zu spät, viel, viel, viel zu spät!« Sie grapschte nach ihrer Handtasche, holte ein Döschen Kompaktpuder heraus und kontrollierte ihr Make-up. »Was ist mit den Flughäfen? Was ist da draußen eigentlich los, Doc?« Er strich sich über den Bart. Es gab Millionen möglicher Antworten, eine für jedes Desaster, das die Welt erschüttert hatte. Fünfzehn Millionen der achtzehn Millionen Computer in China waren Schrott. Südamerika war von einem Run auf die Banken überrollt worden. Der Aufruhr der Russen in Brooklyn hielt noch immer an. Noch fünf Minuten, dann würde der Millennium Bug den östlichen Teil Europas rammen. Und so weiter. Und so weiter. Aber das würde Maria allzubald selbst herausfinden. Er winkte ab und rezitierte einen Song: »The pump don't work 'cause the vandal took the handle. Die Wasser-
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pumpe ist kaputt, weil der Vandale den Schwengel geklaut hat. Das ist von Bob Dylan. Frohes neues Jahr, Maria.« Sie zog die Nase kraus: »Hä?« Copelands Büro war leer. Es roch wie nach der Explosion einer Rauchbombe. Armes Schwein, dachte Doc. Leute wie Maria arbeiteten für ihn. Er konnte mehr Kohle machen, als er sich je erträumt hätte. Kunden aus aller Welt würden gleichzeitig Schlange stehen und nach Y2K-Software schreien, um ihre kaputten Rechner zu reparieren. Doch die Leitungen würden zusammenbrechen, und die meisten Anrufe von anderen Kontinenten würden sie niemals erreichen. Irgendwann würden die Telefone wieder funktionieren. Es konnte Stunden, Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, aber sie würden wieder gehen. Das Desaster der Jahrtausendwende würde in der Geschichte verhallen, und Donald Copeland wäre einer der großen Sieger. Im ersten Stock versuchten die Kundendienstleute, mit Bankkunden in aller Welt zu kommunizieren. Die Standleitungen zur Chase Manhattan und anderen lokalen Banken waren offen, doch die Betreuer der internationalen Kunden waren für heute mit der Arbeit fertig. Überlastete Telefonleitungen hatten ihnen frei gegeben. Zwanzig oder dreißig Mitarbeiter waren noch in ihren Kabinen beschäftigt, der Rest hatte sich zu einem Silvesterumtrunk im hinteren Teil des Raums versammelt. Ein Blick auf die Einteilung sagte Doc, daß die Hälfte der Spätschicht heute nicht zum Dienst erscheinen würde. Annie, die Abteilungsleiterin, hob wortlos die Hände über den Kopf. Doc verstand sie auch so. Es gab nichts zu sagen. »Was von Donald gehört?« fragte er sie. »Seit Stunden hat ihn niemand mehr gesehen. Ich könnte
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mir vorstellen, daß er rüber ins Rechenzentrum gefahren ist.« »Ich glaube, da ist er auch nicht mehr«, sagte Doc. »Was haben Sie heute abend noch vor?« »Die Stellung halten. Was sonst? Meine Ablösung kommt heute sowieso nicht rein. Marty ist besoffen. Das hat er am Telefon zugegeben. Ich hab ihm gesagt, er soll zu Hause bleiben.« »Sie sind unser rettender Engel, Annie.« »Ha! Quatsch! Was soll ich denn zu Hause? Fernsehen? Das tu' ich sowieso schon.« »Worum geht's gerade?« »Berlin.« Ein CNN-Reporter stand in der Mitte einer breiten Allee. Über seinem Kopf explodierte ein Feuerwerk. Er war von Halbnackten umgeben, die in Karnevalskostümen um ihn herumtanzten. Außerhalb des Kamerablickwinkels, aber ganz in der Nähe, spielte eine Band »When The Saints Go Marching In«. Der Reporter mußte in sein Mikrophon schreien. Die Kamera schwenkte auf einen breiten gelben Streifen, der quer über die Straße von einer Seite zur anderen verlief. »Ich befinde mich hier auf der Friedrichstraße. Dieser Streifen, auf dem ich stehe, markiert die ehemalige Grenze zwischen Ost- und Westberlin«, erklärte der Reporter. »Und genau an dieser Stelle, wo im Moment diese wunderbare Silvesterfeier stattfindet, genau hier befand sich Checkpoint Charlie, der Ort, an dem sich Ost und West während des kalten Krieges gegenüber standen. Fünfzehn Meter weiter westlich existiert noch heute der Wachturm, der einst mit amerikanischen Soldaten besetzt war. Mit Maschinenpistolen bewaffnet starrten sie direkt hinüber zu ihren russischen Gegenstücken auf der anderen Seite,
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die in einem identischen Turm saßen. Wenn man damals diesen Grenzübergang passierte, zwischen den Baracken hindurch und an Stacheldrahtzäunen vorbei, dann waren von beiden Seiten, von vorn und von hinten, Waffen und Ferngläser auf einen gerichtet. Es war unheimlich und sehr beängstigend, doch das ist nun alles Vergangenheit. Nur dieser alte Wachturm und etwas gelbe Farbe auf dem Asphalt zeugen heute noch von der Existenz des ehemaligen Checkpoint Charlie. Der kalte Krieg ist vorüber, der heiße Krieg zwischen Ost und West hat niemals stattgefunden. Die große Angst hat sich in nichts aufgelöst, und genauso denken die Menschen hier heute nacht auch über den Millennium Bug.« »Wie sind die Reaktionen auf all die Geschehnisse im Osten?« fragte die Stimme der Moderatorin. »Japan hat sehr gelitten. China, Indien und Rußland ...« »Die Menschen in Berlin sind fest davon überzeugt, daß so etwas hier nicht geschehen kann.« »Haben die Banken, die Aktien- und Finanzmärkte in Deutschland heute nicht auch früher als gewöhnlich geschlossen?« »Ja. Eine Vorsichtsmaßnahme.« »Nun, George, euch bleiben fünfzehn Minuten, dann werdet ihr wissen, wer recht hatte.« Der Reporter hielt eine Taschenlampe und eine Flasche Wasser in die Kamera. »Ich bin auf alles vorbereitet. Das war Alexis Kosigian für CNN News in Berlin.« Der Regisseur schaltete auf die Moderatorin um, zurück in das Studio in Atlanta. »Wohin schalten wir als nächstes?« fragte sie. »Aha. Auf dem Roten Platz in Moskau steht für uns Paul Delaney.« Die Großaufnahme eines Reporters im Schneegestöber kam ins Bild. Über einem Trupp Soldaten ragte unberührt
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und unbefleckt die Basilius-Kathedrale auf. In Winteruniformen patrouillierten die Männer über den Platz. Ihre Fußspuren zeichneten ein Muster aus frostiger Verzweiflung in den Schnee. »Ich stehe hier auf dem leergefegten Roten Platz. Der größte öffentliche Platz der Welt liegt verlassen da. Im Hintergrund sehen Sie die leuchtenden Zwiebeltürme des Kremls. Sie werden von eigenen Strahlern erhellt, doch rundherum ist alles dunkel. In Moskau sind die Lichter ausgegangen. In der langen Geschichte der Stadt hat Moskau einiges ertragen müssen. Von Ivan dem Schrecklichen zerstört, von Peter dem Großen im Stich gelassen, von Napoleon besetzt. Und in den letzten zehn Jahren hatte die Stadt in den Wucherungen der freien Marktwirtschaft ums Überleben gekämpft. Und nun? Bedeuten die heutigen Ereignisse den endgültigen K.o.-Schlag für diese Stadt? Aus vielen Stadtvierteln erreichen uns Berichte über Plünderungen. Unbestätigten Augenzeugenberichten zufolge sollen sich unter den Plünderern viele Polizisten befinden. Die Armee ist auf den Plan gerufen worden, um die Polizei unter Kontrolle zu bekommen, und niemand kann sagen, was als nächstes geschieht. Allerorten ist die Kommunikation zusammengebrochen, und wir gehen davon aus, daß überhaupt nichts mehr funktioniert. Wir wissen, daß die Armee Schwierigkeiten hat, die Panzer zu betanken. Offensichtlich sind kurz nach Mitternacht in den Stützpunkten die Dieselpumpen ausgefallen.« »Funktionieren die Mobiltelefone?« fragte die Moderatorin. »Nein.« »Können Sie sagen, ob der heiße Draht zwischen dem Kreml und dem Weißen Haus noch funktionstüchtig ist?« »Das weiß ich nicht, aber im Kreml selbst sind die Lichter
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an. Der Kreml verfügt über Generatoren und eine eigene Stromversorgung. Ich nehme an, daß der heiße Draht noch steht, aber, wie gesagt, ich möchte nicht unterstellen, daß irgend etwas funktioniert. Ich glaube, ich habe mir selbst widersprochen, aber die ganze Situation hier ist sehr widersprüchlich. Informationen sind sehr wertvoll geworden, denn es sind kaum welche zu bekommen. Uns Hegt ein Bericht aus Murmansk vor, einer Stadt hoch im Norden. Nach unseren Informationen haben Mitglieder der Speznaz, einer Spezialeinheit der Russischen Marine, angeblich die Techniker des örtlichen Kernkraftwerkes in ihrer Gewalt. Sie sollen sie mit Waffen zwingen, das Kraftwerk weiter laufen zu lassen. Es ist uns aber nicht möglich, diesen Bericht auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, weil wir zu niemandem in Murmansk Kontakt herstellen können. Einen Augenblick, bitte? Was? Wann? Jetzt? Okay, June, uns ist gerade gesagt worden, daß wir jetzt endlich in den Kreml hineindürfen. Darauf haben wir die ganze Zeit schon gewartet. Soweit also fürs erste unsere Informationen. Das war Paul Delaney für CNN in Moskau.« Doc wandte sich ab, ohne auf die Kommentare der Sprecherin zu achten. Wie alle anderen würden auch die Russen die bittere Erfahrung machen müssen, daß der Millennium Bug ältere, tiefgreifende Probleme lediglich verschärfte und sie ans Tageslicht zerrte. Er fungierte als Katalysator, als einschneidender Moment, der im technologischen Erbmaterial die schwachen Gene aussortierte. Doc ging weiter, hinauf in den zweiten Stock. Er passierte die Sicherheitstüren und bestätigte den Mitgliedern des Mitternachts-Clubs, was sie bereits befürchtet hatten. »Die Paßwörter befinden sich auf einem PC, der nicht vernetzt ist. Sarah hat keinen Zugang. Das war's.«
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»Du hast uns gerade ihren Namen verraten«, stellte Bo fest. »Ja, also, sie heißt Sarah McFadden. Ich habe ihr gesagt, ich könnte gut bei denen reinspazieren, ihrem Arsch von einem Vorgesetzten eine Pistole an den Kopf halten und ihn dazu zwingen, den Rechner anzuschmeißen. Das wär's doch, oder?« »Also, wenn das Hauptsystem ausfällt, dann tippt er das Paßwort ein, das Hauptbetriebssicherungssystem schaltet um auf das Ausweichsystem, was dann ebenfalls ausfällt. Hokus pokus fidibus, wir sitzen im Dunkeln!« »So sieht's aus«, sagte Doc. »Ich habe bei Northern Lights in Vermont angerufen«, berichtete Bo, »und ihnen gesagt, sie sollen bei ihren Unterwerken die Chips prüfen, und dieser Typ am Telefon, irgend so ein Abteilungsleiter, sagt: ›Wer sind Sie eigentlich, verdammt noch mal? Was soll das heißen, die Chips prüfen? Wir haben ein paar Idioten in Burlington viel Geld dafür gegeben, die Chips zu prüfen.‹ ›Haben Sie die Arbeit dieser Leute kontrolliert?‹ frage ich. ›Wer zum Teufel sind Sie?‹ Toll der Typ, wirklich! Genau solche Typen sind schuld daran, daß die ganze Chose den Bach runtergeht. Typen wie der werden mich unendlich reich machen.« »Du wirst noch viel reicher werden, wenn du eine Idee hast, wie wir an diese Codes kommen und dafür sorgen können, daß in New York die Lichter anbleiben.« »Was ist mit Plan B?« »Auf Bürgermeister Rudy können wir uns nicht verlassen«, sagte Doc. »Es könnte uns passieren, daß er uns auffordert, uns ins Knie zu ficken.« Bo wandte sich wieder den Bildschirmen zu. Doc blickte auf, um die Uhrzeit zu kontrollieren. Wenn man diejeni-
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gen in den Computern mitzählte, gab es in dem Raum mindestens einhundert Uhren. Wenn sie aber wissen wollten, wie spät es war, benutzten sie alle eine bestimmte Uhr, eine große Bahnhofsuhr der Southern Pacific Railroad. Adrian hatte sie bei einem Antiquitätenhändler aufgestöbert. Das große Zifferblatt trug Zahlen, die leicht zu lesen waren. Die langen, eleganten Zeiger wischten anmutig Sekunden, Minuten und Stunden hinfort. Es war jetzt zehn Minuten nach fünf. »Was wirst du danach tun?« fragte Carolyn Ronnie ungefähr zum fünfhundertsten Mal in dieser Woche. »Carolyn, bitte. Das Danach interessiert mich nicht. Wichtig ist nur das Jetzt.« »Ich bin so nervös. Diese Telefonleitungen sind extrem strapaziert. Kurz vor der Überlastung.« Eine Anordnung von Diagrammen auf Carolyns Bildschirmen zeigte die Auslastung der Telefonfernleitungen. Die Kurven vermittelten den Eindruck, ganz New York hinge an der Strippe. Neben den regulären Gesprächsverbindungen wurden die Leitungen mit einer ungeheuren Datenmenge belastet, weil Millionen versuchten, sich ins Internet einzuwählen. Die Glasfaserkabel glühten. Überall in New York wurden Daten verzweifelt von Rechenzentren zu anderen Standorten übertragen, in der Hoffnung, sie zu retten. Die Datenmenge, die in die Stadt hineinfloß, war nicht geringer. Die Kapazitäten unzähliger Systeme stießen an ihre äußersten Belastungsgrenzen. Adrian sah zu Tode genervt aus. Das überraschte Doc nicht im geringsten. Der Junge hatte irgendwann begonnen, in der Uniform eines Lokführers herumzulaufen. Seine Identifikation mit der städtischen U-Bahn hatte extreme Formen angenommen. Er betrachtete sie als seine eigene, private Eisenbahn, und er konnte die Leute, die
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sie betrieben, nicht ausstehen. Im Augenblick waren alle Züge verspätet, die Bahnsteige waren überfüllt, das System eine einzige Katastrophe, und Adrian war sauer. »Was ist nun schon wieder los?« »Diese Idioten!« sagte Adrian. »Setzen lauter Sonderzüge ein und greifen auf uralte Geräte zurück, die andauernd ausfallen. Im Augenblick stecken fünf Züge fest!« »Wie lange sitzt du schon hier?« fragte Doc. »Wann hast du das letzte Mal geschlafen?« »Kann mich nicht erinnern.« »Warum machst du keine Pause, Adrian? Ruh dich aus.« »Niemals! Vergiß es! Laß mich in Ruhe.« Doc klopfte ihm auf den Rücken und setzte sich neben Judd vor den riesigen Fernseher im Aufenthaltsraum. »Wer ist gerade an der Reihe?« fragte Doc. »Deutschland«, antwortete Judd. »Deutschland ist eingeseift worden. Im Osten ist alles zusammengebrochen, inklusive Berlin. Im Westen gibt es in manchen Regionen noch Strom, aber sie haben alle Kernkraftwerke runtergefahren.« »Polen?« »Futsch.« »Rumänien, Ungarn, Bulgarien?« »Futsch. In Budapest waren sieben Flugzeuge in der Luft, als bei der Flugsicherung der Radar zusammengebrochen ist. Sechs haben die Landung geschafft, aber der Pilot der letzten Maschine hat die Landebahn verfehlt und ist in zwei von den anderen gerast. Wie läuft's draußen?« »Völlig bizarr, wie erwartet. Wie läuft's hier?« Doc zeigte auf die Kabinen. »Die Spannung steigt, wie erwartet.« »Und du? Wie geht es dir?« fragte Doc. »Es ist schließlich nicht das Ende der Welt, oder?« sagte
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Judd. »Nur das Ende einer Riesenmenge Software, die schon vorher tot war, ohne es zu wissen.« »Du hast's erfaßt, Kumpel.« Im Fernseher war wieder der Reporter aus Berlin zu sehen. Er stand immer noch auf der Friedrichstraße, in einen Lichtkegel getaucht, der vom Übertragungswagen stammte. Atemlos versuchte er, den Hexenkessel um ihn zu beschreiben. Die Explosionen von Feuerwerkskörpern übertönten seinen Kommentar. »Die Menschen hier sind fassungslos. In Berlin ist die Stimmung zu Silvester auch unter normalen Bedingungen sehr aufgeheizt. Die Feuerwerkskörper und illegale Waffen haben ihren Anteil daran. Im Moment macht es den Eindruck, als wäre alle Feuerwerksmunition, die für diesen Abend gehortet wurde, auf einmal entzündet worden. Es herrscht ein ohrenbetäubender Lärm. Menschen rennen kopflos durch die Gegend - ich weiß nicht, wohin -, ich habe keine Ahnung, wie die Situation außerhalb meines Gesichtsfeldes aussieht. Wenn ich es richtig verstanden habe, funktionieren die Telefone in einigen Stadtteilen, in anderen nicht. Allem Anschein nach sind die alten Kraftwerke im ehemaligen Ostteil der Stadt für den Stromausfall verantwortlich. Sie sind kurz nach Mitternacht zusammengebrochen. Unbestätigten Informationen zufolge soll es sich bei der Software dieser Kraftwerke um Raubkopien amerikanischer Software handeln. Es ist uns nicht möglich, diese Angaben zu bestätigen. Die Kommunikation hier ist äußerst schlecht. Das war Alexis Kosigian für CNN in Berlin.« Es folgte ein Werbespot von United Airlines, den Doc als pure Ironie empfand, da sich im Augenblick keine einzige United-Maschine in der Luft befand. Judd schaltete zu CBS. Der gewaltige Petersplatz vor dem Petersdom in
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Rom kam ins Bild. Hunderttausende Gläubige waren versammelt. Sie hielten Kerzen und waren in einen stillen Moment des Gebets vertieft. Leichter Nieselregen fiel auf die Vatikanstadt. Zum Schutz gegen die Kälte hatten die Menschen sich fest eingehüllt. Selbst über den Fernseher war ein unbeschreibliches Gefühl tiefster Spiritualität zu spüren, und der Moderator enthielt sich jeden Kommentars. Nach dem lärmenden Chaos von Berlin war die Stille ernüchternd. Langsam schwenkte die Kamera die Fassade des Petersdoms entlang, hinauf zum Balkon. In seine weiße Soutane gehüllt und von Kardinalen in Rot umgeben, trat der Papst hinaus an das Mikrofon. Mitglieder der Schweizer Garde standen mit erhobenen Lanzen an seiner Seite, bereit, Seine Heiligkeit vor Schaden zu bewahren. Der Regisseur schnitt auf Großaufnahme. Der Papst hob die Arme zum italienisch gesprochenen Segen. Eine Stimme aus dem Off übersetzte die Ansprache. »Nun, da wir in das dritte Jahrtausend des christlichen Zeitalters eintreten ...« Unvermittelt ließ Johannes Paul II. die Arme sinken. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Hinter ihm griff sich ein Kardinal an die Gurgel und ging zu Boden. Auf dem Balkon waren Rufe zu hören. Die Stimme des Kommentators brüllte durch die Lautsprecher. »Auf dem Balkon des Petersdoms ist ein Tumult ausgebrochen, meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nicht genau sagen, was geschehen ist. Einen Augenblick, bitte, der Journalist, der direkt vom Balkon berichtet, meldet uns, daß auf Kardinal De Ligniere aus Frankreich geschossen worden ist. Er stand leicht nach rechts versetzt unmittelbar hinter Johannes Paul II. Ich nehme an, daß jemand ein Attentat auf den Papst verüben wollte und ihn
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verfehlt hat. Ich habe keinen Schuß gehört. Ich glaube nicht, daß irgend jemand einen Schuß gehört hat. Was hier gerade in Rom geschehen ist, ist einfach entsetzlich. Jetzt beugen sich Sanitäter über den Kardinal. Seine Heiligkeit vollzieht die Sterbesakramente. Dies alles ist binnen weniger Sekunden geschehen. Der Journalist sagt uns gerade, daß der Kardinal tot ist. Kardinal De Ligniere aus Lyon ist tot. Die Front des Balkons ist von der Schweizer Garde inzwischen hermetisch abgeriegelt...« »Heilige Scheiße!« stieß Judd aus. »Ich kann's nicht fassen!« Carolyn und Ronnie kamen angerannt. »Was ist passiert? Was ist passiert?« »Jemand hat auf den Papst geschossen«, sagte Judd. »Mein Gott!« sagte Carolyn und schüttelte ungläubig den Kopf. »Er wurde verfehlt. Ein anderer ist getroffen worden.« »Schalt mal um«, schlug Doc vor. »Vielleicht haben die anderen nähere Informationen.« Judd zappte durch die Kanäle. Beinahe alle hatten sofort nach Rom geschaltet. »Mehr als eine Milliarde Zuschauer vor den Bildschirmen wurden Zeuge ...« »Es sieht aus, als sei es gelungen, eines der besten Sicherheitssysteme der Welt zu überwinden ...« »Von all den unerwarteten Dingen, die an diesem folgenschweren Tag...« »Der Papst kämpft mit der Schweizer Garde ...« »Mit Blicken suchen die Menschen die Dächer der Gebäude ab, die den Petersplatz säumen ...« Bo kam in den Aufenthaltsraum. Er starrte einige Sekunden auf den Fernseher, schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zurück zu seinen Monitoren.
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Docs Mobiltelefon klingelte. Er ging ran. »Doc? Hier spricht Jody Maxwell. Wo bist du? Ich muß sofort mit dir sprechen.« »Wo bist du, Jody?« »Ich stehe direkt vor deinem Büro.« »Schon unterwegs.«
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Wie ein Häufchen Elend saß Jody auf dem Gang, inhalierte und blies herausfordernd eine Mentholwolke in Richtung Rauchdetektor. »Da ist sie ja«, stichelte Doc. »Fräulein Unerschütterlich.« »Hallo, Doc.« Ihre Stimme war dünn und zittrig, und Jody hatte sie beinahe nicht unter Kontrolle. Von weit her, kaum hörbar, tönte ein Klarinettensolo durch die Nacht. Es kam vom Battery Park herüber und war wie das Echo des Klageliedes dieser Stadt. Doc ging neben Jody in die Hocke und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du siehst aus, als könntest du was zu trinken vertragen.« »Weißt du«, sagte sie und verfiel dabei in den näselnden Long Island-Akzent ihrer Kindheit, »ich mag meinen Beruf. Ich wollte diesen Job unbedingt haben. Diese Firma ist zwar total durchgeknallt, aber ich mag sie. Donald ist ein Arschloch, aber er ist unser Arschloch. Weißt du, was ich meine? Ich kann ihm täglich ins Gesicht sagen, daß er nur Scheiße im Kopf hat. Jeder andere Chef in dieser Stadt hatte mich dafür sofort rausgeworfen. Und du, jemanden wie dich habe ich noch nie getroffen, du bist anders. Du bist - keine Ahnung, aber du gibst dieser Firma ein menschliches Gesicht.« Sie drückte ihre Zigarette auf dem Teppich aus, zündete sich sofort die nächste an und fragte: »Habe ich nächsten Dienstag noch einen Job?«
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»Klar? Warum fragst du?« »Wird diese Firma überhaupt noch existieren? In Warschau frieren die Menschen. Mein Großvater war aus Warschau. Ich will damit sagen, daß die Welt vielleicht nicht mehr existieren wird.« »He«, sagte Doc, »ein guter Freund hat mir gerade gesagt, das ist nicht das Ende der Welt, es sieht nur so aus. Du mußt das Ganze positiv sehen. Es ist 'ne einmalige Angelegenheit, genau wie die Beulenpest. Entweder du stirbst daran, oder du bist immun dagegen.« »Du bist so ein Komiker. Immer 'ne schlaue Antwort parat.« »Stört's dich?« »Nein, glaube nicht.« »Da bin ich aber froh«, sagte er. »Die Menschheit wird Humor morgen dringend nötig haben. Eine Krise weckt in manchen Menschen ungeheure Kreativität. Genau so sind die Computer erfunden worden, damals im Zweiten Weltkrieg. Und was heute auf der Welt passiert, ist nichts anderes, als ein Krieg. Kriege enden. Sogar der Hundertjährige Krieg war irgendwann vorbei. Frankreich hat gewonnen. England hat verloren.« Doc grinste und wackelte mit den Augenbrauen. »Ich habe mich aber nirgends zum Kriegsdienst verpflichtet!« »Das hat doch keiner, trotzdem stecken wir jetzt mittendrin. Hast du schon das Neueste gehört?« fragte Doc. »Jemand hat versucht, den Papst zu töten.« Sie keuchte. »Nein. Wo? In Rom?« »Auf dem Petersplatz. Eine Million Gläubige waren zur Neujahrsmesse versammelt, und die halbe Welt hat vor dem Fernseher zugesehen.« »Ist der Papst verletzt worden?«
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»Nein. Die Kugel hat einen Kardinal getroffen. Er ist tot.« »Mein Gott, das hat uns heute noch gefehlt. Warum nur?« »Das werden wir wohl nie erfahren. Komm mit.« Doc half Jody auf die Beine. Er schloß sein Büro auf, ging zielstrebig auf den Barschrank zu und schenkte ihr ein Glas Wodka ein. »Danke.« »Setz dich.« »Danke.« »Du hast gesagt, du mußt mit mir reden, Jody, also, worum geht's? Ist es der Weltuntergang oder was anderes?« »Was anderes.« »Aha?« »Es ist wegen Donald. Und dir.« Doc zog die Augenbrauen hoch und wartete. Sie seufzte und rutschte nervös hin und her, biß sich auf die Lippen und schwenkte ihren Wodka. Eine perfekte Vorstellung all der Anzeichen, die verrieten, daß jemand kurz davor war, etwas Unangenehmes zur Sprache zu bringen. »Versuchst du, die Chase Manhattan Bank zu bestehlen?« platzte es aus ihr heraus. Doc prustete los. Es war ein wahrer Heiterkeitsausbruch. Laut lachend genoß er diesen unverhofften Moment der Entspannung. »Wie kommst du denn darauf?« fragte er. Jody erzählte, was sie mit Copeland in Brooklyn erlebt hatte, und Doc hörte ihr mit leuchtenden Augen zu. Als sie fertig war, fragte er sie: »Glaubst du tatsächlich, ich würde die Bank ausrauben?« »Nein. Aber du bist mir ein Rätsel, Doc. Dein geheimer Raum und diese seltsamen Typen, die da ein und aus ge-
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hen - jeder weiß darüber Bescheid, aber niemand weiß, was du dort tust. Donald glaubt, daß du die Bank ausrauben wirst. Heute morgen dachte ich, er hätte einen Herzinfarkt. Kein Witz.« Er mochte sie. Wenn er genauer darüber nachdachte, mochte er sie sogar sehr, aber er hatte keine Zeit für Lust und Begierde, von romantischeren Gefühlen ganz zu schweigen. Sie nippte an ihrem Wodka. Doc zögerte, dann entschloß er sich, seinerseits auf einen Schluck Alkohol zu verzichten. »Um auf deine Frage zurückzukommen, es gibt keinen Bankraub«, sagte er. »Das Ganze ist nichts weiter als ein Spiel, das ich mit Donnie gespielt habe, nur daß er es ernstgenommen hat. Ich habe ihn reingelegt, und das schon jahrelang.« Doc erzählte Jody, wie die Idee zu dem Bankraub sich entwickelt hatte und wie er Copeland vorgegaukelt hatte, der Raub würde wahrhaftig zustande kommen. »Also wirklich alles nur ein Spiel«, sagte Jody. Sie wollte ihm so gerne glauben. »Reine Verarschung?« »Correctamente. Nichts weiter als der gerechte Preis für Donalds Gier. Es gibt keinen Bankraub und hat auch nie einen gegeben.« »Du willst also damit sagen, du hast die ganze Geschichte nur inszeniert, um seiner Donaldheit die gerechte Strafe zu verpassen?« »Jawoll! Nur Spaß und vollkommen harmlos, ein Streich.« »Du Mistkerl.« »Jawoll!« »Wunderbar!« »Danke sehr«, sagte er. »Ich find's auch nicht schlecht. Ich habe ihn heute auf eine wilde Hetzjagd geschickt, nur
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um ihn mir von der Pelle zu halten. Er müßte eigentlich jeden Augenblick nach Hause kommen.« »Bist du sicher, daß er wirklich nach Hause geht?« »Oh, ja. Ganz bestimmt.« »Und wohin willst du ihn danach schicken?« »Das ist ein Geheimnis«, sagte Doc und kicherte wieder. Jody fiel in sein Gelächter ein. Er holte tief Luft und entschied sich doch für einen Wodka. Er schenkte sich einen Schuß auf Eis ein und sah sie an. Ihr edles Kostüm war schmutzig und verknittert. In ihrem rundlichen, hübschen Gesicht mit der für teures Geld korrigierten Nase machte sich überall der Streß eines mißglückten Tages bemerkbar. Die großen Augen waren ein wenig gerötet. Sie war erschöpft und wurde nur von Adrenalin aufrecht gehalten. »Bist du heute abend irgendwo eingeladen? Zu einer Party?« fragte er. »Ich gehe nicht hin. Meine Schwester gibt eine Party, aber ich bin nicht in der richtigen Stimmung.« »Wo denn?« »Long Island. Garden City.« »Wäre sowieso ziemlich schwierig, da hinzukommen.« »Ich bin nicht mal telefonisch zu ihr durchgekommen.« Er beugte sich zu ihr und fragte leise: »Hast du Angst?« »Ja.« »Wovor?« »Weiß ich nicht. Die halbe Welt ist ein Scherbenhaufen, und bald sind wir dran.« »Wenn du hierbleibst, wird dir nichts passieren. Wir haben einen Stromgenerator im Keller.« »Weiß ich. Deshalb bin ich zurückgekommen. Glaubst du, wir werden ihn brauchen?« Doc zuckte die Achseln. »Das weiß niemand. Gute Tech-
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niker sind immer für eventuelle Störfälle gerüstet, weißt du. Keiner kennt sich besser mit elektrischem Strom aus als die Leute, die ihn erzeugen. Sie tun, was sie können.« »Komm wieder runter Doc. Ich weiß doch, wenn einer Scheiße redet.« »Es ist aber kein Scheiß, es stimmt. Sie versuchen's wirklich - überall auf der Welt versuchen sie es, aber niemand hat so was jemals zuvor erlebt. Dies ist ein einzigartiges Ereignis.« »Donald sagt, daß er wußte, was kommen würde.« »Wußte er auch, und du auch, denn du arbeitest hier und bist nicht auf den Kopf gefallen. Du wolltest es nur nicht wahrhaben. Die ganze Welt hat es verdrängt.« »Es gibt einfach nichts, was irgendwer dagegen tun könnte. Ich fühle mich so hilflos. Ich hasse dieses Gefühl!« Hilflos. Das konnte Doc nachvollziehen. Viele Leute fühlten sich hilflos, wenn es um Computer ging, weil die Komplexität der Materie über ihre Hutschnur ging. Die einzelnen Rechner waren komplex, und ihre Verbindung zueinander war noch viel komplexer, und das verlieh den Menschen das Gefühl von Impotenz und Schutzlosigkeit. Mit dem Mitternachts-Club wollte Doc der Welt beweisen, daß man niemals wirklich hilflos war, daß es sich selbst dann zu kämpfen lohnte, wenn man auf verlorenem Posten stand, weil es die Stimmung hob und die Hoffnung zu einer realistischen Alternative zur Kapitulation machte. Früher oder später mußte die Welt von dem Versuch erfahren, egal, ob sie Erfolg hatten oder scheiterten. Jemand mußte die Wahrheit erfahren. Wenigstens eine Person, die nichts mit dem Mitternachts-Club zu tun hatte, mußte sehen und glauben, daß nicht alle nur hilflos waren. In diesem Augenblick fiel Docs Wahl ganz spontan auf Jody.
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»Also«, sagte er, »es gibt vielleicht doch eine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun.« »Was? Willst du vielleicht mit einem Zauberstab wedeln? Ich wünschte, es wäre so einfach.« »Stell dir vor«, sagte er, »stell dir vor, ich würde dir eröffnen, daß in New York ein paar Minuten nach Mitternacht gemeinsam mit dem gesamten Nordoststromnetz der Strom ausfallen würde. Von Virginia über Maine und weiter östlich bis Ohio würde überall der Strom ausfallen, ohne jeden Zweifel.« »Nach allem, was heute schon passiert ist, würde ich dir glauben.« »Es könnte passieren, vielleicht auch nicht, keiner weiß es genau. Ein paar Dinge werden ganz sicher passieren. Und jetzt stell dir vor, es gäbe eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß die Lichter in Manhattan anbleiben, egal, was sonst irgendwo geschieht.« »Das wäre ein Wunder.« »Kein Wunder. Es ist nur so, daß Menschen manchmal versuchen, das Unmögliche wahrzumachen, nur um der Sache selbst willen. Was hältst du davon? Hättest du Lust, dem geheimen Raum einen Besuch abzustatten?« »Nein!« sagte sie. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen und war mehr Reflex als Meinungsäußerung. »Im Ernst?« »Komm.« Er ging ihr voran zum rückwärtigen Teil des Gebäudes. Der Weg führte durch das normale Computerlabor. Zwischen den zwei Sicherheitsschleusen machte Doc halt, um über die Gegensprechanlage mit Bo zu sprechen. »Ich bringe Besuch mit.« »Was tust du? Bist du verrückt geworden?« »Reg dich nicht auf. Wir brauchen einen Zeugen.«
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»Wozu?« »Für die Nachwelt, Bo. Nur für die Nachwelt.« »Der ganze Raum ist vollgestopft mit Kameras und Rekordern. Wen hast du dabei?« »Eine Angestellte von Copeland, Jody Maxwell. Beruhige dich. Wir kommen jetzt rein.« Doc entriegelte die letzte Tür und schob Jody in den Aufenthaltsraum. Jody hatte nicht den leisesten Schimmer, was sie erwarten würde. Sie stand in der Eingangstür und starrte mit offenem Mund und aufgerissenen Augen auf einen Fernseher mit einem riesigen Bildschirm. Darum gruppiert standen bequeme Sessel und Sofas auf persischen Teppichen. Auf der einen Seite des Raumes ging es zu einem Badezimmer, einer Küche und einem Schlafzimmer. Halbhohe Zwischenwände trennten den Aufenthaltsraum vom Arbeitsbereich. Überall gab es Uhren. Alte Uhren, neue Uhren, digitale und analoge, große und kleine Uhren. Es war halb sieben. Hoch oben an einer Wand hingen 24 Digitaluhren, die jede einzelne Zeitzone anzeigten. Direkt darunter stand der IBM, eine Klimaanlage und die Telefonanlage. Diese Geräte waren über bunt markierte Stromkabel und Leitungen an der Decke mit den einzelnen Arbeitsstationen verbunden. Die Mitglieder des Mitternachts-Clubs kamen in den Aufenthaltsraum und scharten sich nervös um Doc und Jody. Noch niemals zuvor war ein Fremder bis in ihre Mitte vorgedrungen. Ablehnend verschränkte Bo die Arme vor der Brust. Die anderen schienen eher überrascht als verstimmt zu sein. Doc stellte sie einander vor. »Das ist Bo, das ist Carolyn, das Mädchen mit dem Schutzhelm ist Ronnie, und der Typ mit dem T-Shirt vom Mitternachts-Club ist Judd. Der Junge da drüben in der Lokführeruniform ist Adrian.
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Meine Damen und Herren, das ist Jody Maxwell. Ich glaube, ihr seid ihr alle schon mal begegnet. Jody wird die Videodokumentation unseres Experimentes übernehmen. Sie wird alles, was heute nacht hier geschieht, mitfilmen. Wir werden viel zu beschäftigt sein, und ich dachte, wir könnten ein bißchen Hilfe gebrauchen.« »Hallo«, brachte Jody quäkend heraus. Sie rang schwer mit ihrer Fassung. »Mein Gott, ich hatte überhaupt keine Ahnung!« »Das war auch so beabsichtigt«, sagte Doc. »Wir arbeiten schon seit sehr langer Zeit unter striktester Geheimhaltung.« Betretenes Schweigen machte sich breit, bis Ronnie endlich sagte: »Uns hat noch nie jemand besucht. Es ist sehr seltsam.« Carolyn hatte den Schock über das Eindringen einer Fremden überwunden und streckte Jody die Hand entgegen. »Hallo, Jody. Ich glaube, wir sind mindestens so überrascht wie du. Du siehst aus, als hättest du einen harten Tag hinter dir.« Benommen gab Jody Carolyn die Hand. Ihr Kopf schwirrte, als sie versuchte, sich über die Bedeutung Dutzender Bildschirme, des Großrechners und den Wust an High-Tech, den sie als Telefonanlage identifizierte, klar zu werden. »Sie sind doch die Leiterin der PR-Abteilung, oder?« fragte Bo. »Ja, das stimmt.« »Ach, das ist ja wirklich toll! Gütiger Himmel, Doc. Wie soll die denn jemals kapieren, was wir hier machen werden?« »Ich kann immerhin COBOL schreiben«, blaffte Jody ihn an. »Ich bin ein Exfreak.«
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»Sie wollen mich wohl verarschen«, spöttelte Bo. »Soll ich es etwa beweisen?« Doc beobachtete den Stimmungsumschwung. Er applaudierte insgeheim, als Jody sich zur Wehr setzte, und klatschte vernehmlich in die Hände, als Bo die Achseln zuckte und den Widerstand aufgab. »Du bist der Obergeek, Doc«, sagte Bo und reichte Jody die Hand. »Willkommen im Mitternachts-Club.« »Danke.« »Ich habe ihr noch gar nichts erklärt«, sagte Doc. »Also Jody, wir versuchen hier, die lebenswichtigen Funktionen in Manhattan aufrechtzuerhalten, falls die Stadt vor dem totalen Zusammenbruch steht.« »Mein Gott!« murmelte Jody. Mehr brachte sie nicht heraus. »Die Betonung liegt auf versuchen«, fuhr Doc fort. »Wir haben keine Ahnung, ob unser System funktionieren wird. Wir haben lediglich Hardware und Software durch andere Hard- und Software ersetzt. Aber wir sind nicht in der Lage, integrierte Chips zu ersetzen. Im günstigsten Fall haben wir ein notdürftiges System, um eine Minimalversorgung mit Strom, Wasser, Telefonleitungen und Transport zu gewährleisten. Es gibt jedoch viele Schwachstellen und wunde Punkte, die sich unserer Kontrolle entziehen. In manchen Fällen haben wir die verantwortlichen Behörden auf die anfälligen Systeme aufmerksam gemacht, und sie haben die entsprechenden Korrekturen ausgeführt, ohne die Quelle ihrer Informationen zu kennen. Ein paarmal haben wir die Gelegenheit genutzt und sind in die Anlagen eingebrochen, um die Reparaturen selbst auszuführen, aber das war nicht häufig der Fall. Wir wollten uns nicht erwischen lassen, was du sicher nachvollziehen kannst.«
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Jody starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Das ist unglaublich«, stammelte sie. »Ich bin sprachlos.« »Carolyn, mach doch bitte eine kleine Führung mit Jody, und sorg dafür, daß sie sich hier wohlfühlt.« Jody gab auch Ronnie und Judd die Hand. Dann ging sie ehrfürchtig von Arbeitskabine zu Kabine und lauschte Carolyns Ausführungen. Adrian brummte nur, als sie ihm vorgestellt wurde, und wandte den Blick nicht von den Bildschirmen. »Adrians Workstation ist ein genaues Ebenbild eines Kontrollsystems in der Leitzentrale der Verkehrsbetriebe in der Jay Street in Brooklyn«, erklärte Carolyn. »Die Leitzentrale wird zwar für Y2K-gerüstet erklärt, doch Adrian hat da seine Zweifel. Stimmt doch, Adrian?« Wieder kam ein Brummen zur Antwort. Adrian war Jody in den letzten paar Jahren hin und wieder aufgefallen, doch sie hatte ihn immer für einen Fahrradkurrier gehalten. Seine Lokführermütze bedeckte seine Haarpracht, die diese Woche knallrot leuchtete. »Adrian lieben wir hier alle sehr«, sagte Carolyn. Sie rollte mit den Augen und fuhr mit ihren Erklärungen fort. »Wenn die städtischen Verkehrsbetriebe es nicht schaffen, wird Adrian die U-Bahn am Laufen halten. Es ist äußerst schwierig, diese Situation abzuschätzen, weißt du. Die Eisenbahngesellschaften sind aus gutem Grund sehr argwöhnisch, was Computer anbelangt. Doch die Ereignisse in Asien und Europa haben bewiesen, daß sie dennoch sehr verwundbar sind. Andererseits haben sich die New Yorker Verkehrsbetriebe schon sehr früh mit Y2K auseinandergesetzt. Wenn es irgendwo ein Verkehrssystem gibt, das die Chance hat, den Wechsel zu überstehen, dann ist es mit Sicherheit die New Yorker U-Bahn.«
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Sie gingen weiter, zu Judds Arbeitsbereich. Auf einer riesigen, übersichtlichen Werkbank stapelten sich Werkzeuge, Geräte zum Testen und Überwachen von Hardware, Kurzwellenradios, Empfänger und Sender, Funkgeräte verschiedenster Machart, darunter solche, wie sie von der Polizei benutzt wurden, und eine ganze Batterie Fernseher und Computermonitore. Auf Dutzenden von Bildschirmen leuchteten Oszilloskope und diverse Anzeigen. »Judd sorgt dafür, daß unsere gesamte Ausstattung tipptopp in Schuß ist. Außerdem ist er gewissermaßen unser Webmaster«, sagte Carolyn. »Er hält sich schon den ganzen Tag per Internet über die Situation auf dem Laufenden, wenn er nicht gerade vor dem Fernseher sitzt.« Carolyn deutete auf einen Tisch mit acht PCs. Jeder war mit einem bestimmten Gesprächsforum im Netz verbunden, wo verzweifelte Spezialisten so schnell wie möglich Informationen austauschten. »Momentan ist der Informationsfluß etwas ins Stocken geraten, weil viele Telefonleitungen nicht mehr funktionieren«, erklärte Carolyn. »Manche gehen, manche nicht. Richtig schlimm wird's erst, wenn die Zulu-Zeit umspringt.« »Zulu-Zeit? Was ist das?« fragte Jody. »Mitternacht in Greenwich, Greenwich-Zeit. In ungefähr siebzehn Minuten. Wir erwarten, daß zu diesem Zeitpunkt das europäische Internet zusammenbricht. Im Moment funktionieren zumindest noch Teilbereiche.« Judd deutete auf einen der Bildschirme. »Das ist ein Infoforum für Fachleute aus dem Eisenbahnbereich. Das Forum ist total merkwürdig, weil diese Typen alle in ihrer Muttersprache oder in entsetzlichem Englisch kommunizieren. Es sieht so aus, daß in Italien alle Züge stehenge-
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blieben sind, weil Computer alle Vorgänge, die von den Technikern an den Kontrolltischen eingegeben wurden, mit Datum und Uhrzeit registriert haben. Als diese Registrieranwendung ausfiel, sind sämtliche Leitzentralen zusammengebrochen. In Deutschland und Frankreich war der Strom weg. In Holland sind die Computeranlagen in den Lokomotiven ausgefallen und haben den Antrieb lahmgelegt. In Österreich wurde die Funkverbindung zu den Technikern in den Leitzentralen unterbrochen, weil die Sender ausgefallen sind. Das alles hatte eigentlich nicht geschehen dürfen. Trotzdem, es ist überall einigermaßen glimpflich abgelaufen, nur in China haben sich ein paar schwere Unfälle ereignet. Ansonsten sind die Züge lediglich stehengeblieben, was an sich schon schlimm genug ist. Keine Züge, keine Kohle, keine Fracht, keine Teile für Montagewerke. Es wird ein Riesendurcheinander geben.« Er zeigte auf die Bildschirme und klopfte der Reihe nach darauf: »Wasserversorgung, Kernkraft, Telekommunikation, Flugsicherung, NATO - Ronnie ist in ihr Netz eingedrungen, das war ein Spaß! Mal sehen, also, hier sind wir in der Satellitenzentrale des Kontrollzentrums, noch eine von Ronnies Glanzleistungen. Und dieser letzte hier ist unserem Nordoststromnetz gewidmet. Willkommen im Herzen von Y2K.« »Das ist unglaublich«, sagte Jody. »Und die ganze Zeit hat niemand auch nur den leisesten Schimmer gehabt, was in diesem Raum hier vor sich geht.« »Bis jetzt war Doc geradezu besessen, was die Sicherheit anbelangt.« »Ach du Scheiße!« stöhnte Judd. »Was ist passiert?« »Schau dir das an«, sagte Judd. Er tippte auf den Monitor,
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der in das Forum der Kernkraftwerksingenieure eingeklinkt war. »Ein Nachrichtensender hat gemeldet, russisches Militär sei in ein Kernkraftwerk eingedrungen und habe die Techniker dazu gezwungen, es am Netz zu lassen. Diese Information verschweigt aber die Hälfte. Ein Trupp russischer Marineinfanterie ist in das Kernkraftwerk Kola 2 in Murmansk eingedrungen. Die Soldaten haben die Wachen getötet. Einer der Techniker hat sich in einen Überwachungsraum eingesperrt. Jetzt verfolgt er über die Kameras, was vor sich geht. Er hat einen Internetzugang und schreibt in gebrochenem Englisch. Er verfügt über eine Satellitendirektverbindung, ist also nicht auf das örtliche Telefonnetz angewiesen. Das ist nämlich zusammengebrochen. Er weiß nicht genau, was eigentlich geschieht. Nur, daß die Soldaten alle Techniker im Kontrollraum erschossen haben und sich die ersten Fehlfunktionen im Kraftwerk bemerkbar machen. Es gibt Sensoren, die die Hitze in den Wärmetauschern, den Pumpen und Leitungen messen. Die Computerprogramme vergleichen die Temperaturen mit Vergleichswerten von bestimmten Daten und Uhrzeiten, zum Beispiel mit dem Wert vor fünf Minuten. Doch das Programm ist nicht mehr in der Lage, das Datum zu lesen, und hat keine Vergleichsmöglichkeiten. Die Schlußfolgerung lautet Fehlfunktion, und das Programm versucht, das Kraftwerk runterzufahren. Der Reaktor versucht, die Notabschaltung zu aktivieren. Das bedeutet, Kontrollstäbe werden in den Reaktordruckbehälter eingeführt, um die Kettenreaktion in den Brennstäben zu unterbrechen. Keine Kettenreaktion, keine Hitze, kein Dampf, keine Turbinen, kein Strom. Das Problem ist nur, die Kontrollstäbe haben auf halbem Weg angehalten, weil der Rechner, der ihre Bewegung steuert, widersprüchliche Befehle erhält und
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verwirrt reagiert. In den Rohren bildet sich radioaktiver Dampf, der unter immensem Druck steht. Der Reaktor wird hochgehen. Das ist genau der Grund, warum praktisch jeder Reaktor auf diesem Planeten unter kontrollierten Bedingungen runtergefahren wurde. Zumindest hoffe ich das. Es existieren unzählige militärische Reaktoren.« Jody zog die Nase kraus. »Ich glaube, ich habe nicht ein Wort von dem verstanden, was du mir da gerade erzählt hast, aber es klingt trotzdem fürchterlich.« »Viel schlimmer als Tschernobyl«, sagte Judd. Jody beugte sich vor und las ein paar Zeilen.
Jody realisierte, daß der Mann in Murmansk die Maschine beschrieb, die ihn töten würde. Hilflos spielte sie mit den Knöpfen ihrer Bluse. »Mein Gott!« »Rund auf unseren geschundenen Planeten existieren eine Milliarde solcher Geschichten«, sagte Judd. »Das ist nur ein einziges Beispiel.« »Was passiert, passiert nun mal«, sagte Carolyn. »Wir können es uns nicht leisten, sentimental zu werden, wenn wir uns weiter um unsere Sache kümmern wollen.« Sie setzten ihren Rundgang fort. Die Bildschirme an Ronnies Arbeitsplatz zeigten den Wasserzufluß in die Stadt. Für einen Freitagabend war die Nachfrage völlig normal. Die Menschen duschten und machten sich fertig für die große Nacht. Die Reservoirs waren randvoll und funktionierten so gut, wie es dem ältesten sanitären Wasserversorgungssystem der Welt möglich war. In der Leitzentrale
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in Queens herrschte hektisches Treiben. Die Techniker wußten, daß sie vor einem ernsthaften Problem standen. Sie hatten zugesehen, wie die Wasserversorgungen weltweit zusammengebrochen waren. Ronnie schüttelte den Kopf und deutete auf einen Vorrat Wasserflaschen, der sich in einer Ecke stapelte. »Wir haben einen Tank mit 22.500 Litern Wasser auf dem Dach, und im Keller stehen noch mal 1000 Flaschen. Wir werden sie brauchen. Wir haben es hier mit einem hoffnungslosen Fall zu tun.« »Kann man nie wissen«, gab Carolyn zu bedenken. »Kann man doch«, schoß Ronnie zurück. »Ich kann. Die Frischwasserversorgung stellt kein Problem dar. Das System basiert auf Schwerkraft. Das Problem liegt darin, das Abwasser wieder rauszuschaffen.« »Wie du siehst, Ronnie ist 'ne echte Optimistin«, sagte Carolyn und führte Jody weiter zu Bos ConEd-Station. »Tut mir leid, daß ich vorhin so unhöflich war«, meinte Bo. »Bo ist nervös, weil sein Bereich die Hauptsache ist«, sagte Carolyn gedehnt. »Die Consolidated Edison Elektrizitätswerke des Großraumes New York, gegründet von Thomas Edison höchstpersönlich, dem ruhmreichen Erfinder des elektrischen Stuhls. Dies hier ist der heiße Stuhl, und Bo ist der Typ, der darauf Platz nehmen wird, um New York zu retten. Was sagst du dazu? Wenn er versagt, werden wir ihn grillen. Stimmt's, Bo?« »Ich werde überhaupt garnix je retten, wenn wir nicht bald was von Deep Volt hören.« »Stimmt. Es gibt da ein winziges Problem.« Donald Copeland hatte versucht, über den Times Square nach Hause zu gelangen, aber es war unmöglich gewesen,
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sich durch die Massen zu kämpfen. Benommen war er kreuz und quer durch die Stadt gelaufen und hatte irgendwann jegliches Zeitgefühl verloren. Tempus fugit, klar, mein Freund. Seine 12.000 Dollar Rolex war weg. Er erinnerte sich, daß er mitten auf der Brooklyn Bridge angehalten hatte. Er hatte die Uhr abgenommen und ausgeholt. Doch dann hatte er die Uhr in die Tasche gestopft und war weitergegangen. Danach waren die Dinge ein wenig durcheinandergeraten. Vor Metzgereien und Lebensmittelgeschäften hatten sich lange Schlangen gebildet, und in jedem Schaufenster prangten Schilder, die verkündeten: »Nur Bargeld.« Irgendwo auf der Fifth Avenue, ungefähr auf der Höhe der 20. bis 30. Straße, war er an einem Jungen vorbeigekommen, der Bier verkaufte, die Dose für zehn Dollar. Er hatte seine Uhr gegen eine Dose Miller eingetauscht. Er wollte gar nicht mehr wissen, wie spät es war. Es war dunkel. New York war durchgedreht. Das Kind war glücklich. Jeder Block in Manhattan war mit unglaublichen Menschenmassen vollgestopft. Schlägereien. Betrunkene. Bullen. Die Menschen trieben es in ihren Autos. Es war, wie das Rom Neros, dem Irrsinn verfallen. In einem Schaufenster lief ein Fernseher. Donald sah, daß auch das Rom Johannes Paul des II. dem Irrsinn verfallen war. Irgendein Verrückter, dem der Jahrtausendwechsel den Verstand geraubt hatte, hatte einen Schuß auf den Papst abgegeben. Copeland beobachtete, wie italienische Polizisten den Attentäter einkreisten. Er erschoß drei Beamte und nahm sich dann selbst das Leben. Danach sah Donald einen Bericht über einen schweren Nuklearunfall in Rußland, doch er war sich nicht ganz sicher. Der Zeitdruck, die Nachrichten zu senden, war so groß geworden, daß viele Berichte roh und ungeschnitten gesendet wurden. Es wurde über
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Desaster berichtet, die sich nie ereignet hatten, oder aber die Informationen waren so ungenau, daß die Dinge sich oft schlimmer darstellten, als sie wirklich waren. Kein einziger Reporter verstand die technischen Einzelheiten oder besaß gar genug Fachverstand, um sie zu erklären, und es bestand keinerlei Möglichkeit, Fakten und Fiktion zu trennen. Ohne recht zu wissen, wie er dort hingelangt war, fand Donald sich an der Ecke der 38. Straße zur Ninth Avenue wieder. Er stand vor einer Bar, die sich Mad Hatter's Sports Bar and Grill nannte. Über der Tür hing ein selbstgemaltes Spruchband, »Heute nacht Weltuntergangsparty«. Zwei junge Mädchen in Jeans und mit auffälligem Schmuck stießen die Tür auf und erlaubten Doc einen kurzen Blick in das überfüllte Lokal. Fernseher, Gelächter, der Klang eines Tamburins. Er lockerte seine Krawatte, öffnete den obersten Hemdknopf und fand wie durch ein Wunder einen leeren Platz an der Bar. Drei Barkeeper arbeiteten in rasender Geschwindigkeit. Sie füllten Schnaps in Gläser, preßten Zitronen, zerstießen Eiswürfel. Schwitzende Kellnerinnen beluden ihre Tabletts und kassierten, ohne je den Blick von einem der acht überdimensionalen Bildschirme zu nehmen, die über den großen Raum verteilt waren. »Scotch auf Eis«, rief Donald über den Tresen. »Einen doppelten.« Jedesmal, wenn im Fernsehen über ein neues Desaster irgendwo auf der Welt berichtet wurde, erklang heftiger Applaus von den Jugendlichen, die die Bar bevölkerten. Paris, die Stadt der Lichter, lag im Dunkeln. Von Generatoren betriebene Scheinwerfer schickten einzelne Lichter in den Himmel über die Champs Elysees. Der einsame blauen Schein des Grabmales des Unbekannten Soldaten
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beleuchtete den Arc de Triomphe. Der große Boulevard war ein Lichterband aus Autoscheinwerfern, doch die Gebäude am Straßenrand waren alle dunkel, die Straßenlaternen nichts als Masten auf dem Bürgersteig. Die Kamera fing den angsterfüllten Blick eines Polizisten ein, der versuchte, den Verkehr zu regeln. Unvermittelt gab er auf, rannte davon und verlor dabei seine Mütze. Hysterische Menschen liefen wild durcheinander. Die Aufnahmen aus der Innenstadt wurden von einer Reihe Nachrichtensprecher abgelöst, dann folgte eine Aufnahme aus dem Stade de France im Pariser Vorort St. Denis. Das Stadion, eigens für die Fußballweltmeisterschaft von 1998 errichtet, stand in Flammen und war von wild schwankenden Autoscheinwerfern umgeben. Die rasende Menge in der Bar brach in Begeisterungsstürme aus. Johlender Gesang ertönte: »Franzosen, geht zur Hölle! Franzosen, geht zur Hölle!« Die Situation war unheimlich und vollkommen pervers, und Copeland war der Meinung, daß sie genau ins Bild paßte. Dann schaltete der Regisseur weiter zu einer Ansprache des französischen Präsidenten. Das improvisierte Licht unterstrich den verwirrten Eindruck, den er machte. Er sah aus, als sei ihm übel mitgespielt worden. Die Meute buhte ihn aus. Jemand rief: »Keine Politiker! Keine Politiker!« Ein Barkeeper schaltete durch die Kanäle. Autowracks, brennende Chemiewerke, ein Fluß mit sinkenden Lastkähnen, Familien, die sich in eisigem Schnee zusammenkauerten. Der Zugverkehr auf dem ganzen Kontinent war auf absolutes Schneckentempo verlangsamt, und der gesamte militärische Flugverkehr in Westeuropa war eingestellt worden, nachdem in den bayerischen Alpen sechs Mitglieder einer Schwadron der deutschen Luftwaffe mit ihren F16-Jagdbombern gegen einen Berg geprallt waren. Im
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Mittelmeer und der Ostsee trieben Hunderte von Schiffen hilflos auf hoher See. Die Bohrinseln in der Nordsee stellten die Förderung ein. Eine von ihnen ging in Flammen auf. Im hinteren Teil des Lokals kam es zu einem Tumult. Alle drehten sich um, um zu sehen, was vor sich ging. Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper spritzte Feuerzeuggas auf einen Laptop und zündete ihn an. »Scheiße!« rief der Chefbarkeeper. »Das geht zu weit! Sofort ausmachen!« Und fünfzig Häuserblocks weiter wartete Old Blue mit der nächsten Nachricht aus der Hölle auf ihn. Copeland mußte nach Hause. Als er sich wieder seinem Scotch zuwandte, sah er sich auf einmal einem paar lasziver brauner Augen gegenüber, vollen Lippen und prallen Brüsten, die sich an ihn drückten. »Frohes neues Jahr!« sagte sie. »Ist das nicht wunderbar? Ich bin Helen? Wer bist du?« »Väterchen Zeit«, sagte er. Seine Augen versanken in ihrem Ausschnitt. »Bist du verdorben?«, fragte sie. »Bist du ein böser Bube?« »Ich muß nach Hause«, sagte er. »Zu Frauchen und den süßen Kleinen? Es ist Silvester. Gib der Versuchung nach. Sei einfach verdorben.« Sie küßte ihn, schob ihre Zunge tief in seinen Mund und griff ihm zwischen die Beine, was Donald veranlaßte, ihr seinen Scotch über den Rücken zu gießen. »Herrgott noch mal!« schrie sie und fuhr zurück. »Tut mir leid.« »Du Arschloch!«
Er stolperte hinaus, holte tief Luft und machte sich wieder auf den Weg. Menschenmassen wirbelten um ihn her-
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um. Bist du verdorben? Was war das für eine Frage? Was für ein Mensch stellte solche Fragen? Er warf einen Blick in die Auslage einer Buchhandlung. Das ganze Fenster war dem Thema Wölfe gewidmet. Zoologische Bücher, ökologische Bücher, russische Volksmärchen, Der mit dem Wolf tanzt, Ruf der Wildnis., Peter und der Wolf. Donald verspürte das dringende Bedürfnis, zu heulen wie ein Wolf. Er schaute hinauf und sah, wie der Halbmond über Manhattan aufging. Er öffnete den Mund und jaulte so laut und so lang, wie er konnte. Niemand nahm Notiz von ihm, denn die ganze Welt jaulte mit ihm. In der Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk sah sich Captain Ed Garcia im Augenblick mit etwas mehr konfrontiert, als er es sich ursprünglich gewünscht hatte. Als er dem Feuerwehrhauptmann erklärt hatte, daß er sämtliche religiösen Irren in New York anlocken wollte, um sie alle an einem Ort zu haben, hatte er das eher sprichwörtlich gemeint. Im Eifer des Gefechtes hatte er nicht bedacht, daß einen in New York immer genügend Leute beim Wort nahmen, um ein ganzes Football-Stadion zu füllen, egal, was man sagte. Nach Einbruch der Dunkelheit änderte sich das Wesen der Menschenmenge. Die Bands packten ihre Instrumente ein, und die Familien gingen wieder nach Hause, um der Kälte zu entkommen. Aus Midtown Manhattan kamen Hunderte Betrunkene herüber getorkelt. Sie mischten sich unter die hartgesottenen religiösen Fanatiker jeglicher Couleur. Die Hälfte aller großmäuligen Straßenprediger New Yorks kreuzten auf, um ihre ganz privaten Ansichten unters Volk zu bringen Die Rhetorik verschärfte sich zusehends, weil die Eiferer die Idee von der Religionszufluchtstätte als Freibrief ansahen, jeden anzuprangern, der
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ihren Glauben nicht teilte. Von den Fernsehberichten und vom Schnaps angestachelt, waren die nächtlichen Massen nicht geneigt, irgend etwas zu teilen. »Das habt ihr angerichtet, ihr Sünder. Dies ist Gottes Vergeltung für eure üblen Taten.« »Ich habe garnix angerichtet, Hohlkopf.« »Du wirst in der Hölle schmoren.« »Ist das etwa noch nicht die Hölle? Scheiße, Mann, du bist doch mittendrin! Schlimmer kann's wohl kaum noch kommen.« Anstelle des ökumenischen Supermarktes, der Garcia vorgeschwebt war, sah er sich mit Schwarzen und Weißen konfrontiert, die die Bibel als Waffe in ihrem endlosen Zwist benutzten; mit Antisemiten, die in ihrer unbarmherzigen Judenverfolgung Gospels in bösartiges Gift verwandelten; und Katholiken und Protestanten ließen ihre uralten Fehden an der Upper West Side neu aufleben. New York war die Stadt mit den vielseitigsten Kulturen der ganzen Welt. Jede Attacke zog eine prompte Erwiderung der angegriffenen Gruppe nach sich, und es dauerte nicht lange, da hatte jeder sein Fett weg. Spott, Hohn und Pfiffe verwandelten sich in Knuffe und Schläge. Garcia war sich bewußt, daß jeden Moment automatische Waffen auftauchten konnten. Schließlich befanden sie sich in New York City, und man schrieb das Ende des 20. Jahrhunderts. Auf Garcias Anweisung hin tauschten seine Leute die Uniformen gegen kugelsichere Westen und Kampfausrüstung. Sie ließen den Intoleranten gegenüber keinerlei Toleranz walten. Oben in den Arrestzellen seines Reviers tummelte sich allerlei Volk. Zwei Herren in weißen Roben, die beide behaupteten, sie seien Jesus, sieben Mitglieder der Arischen Nation, denen versuchter Mord vorge-
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worfen wurde, sechs Mitglieder einer üblen Gang aus der 129. Straße, die wegen unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen worden waren, dazu mehr aggressive Betrunkene, als irgend jemand zählen wollte. Unten war das Revier überfüllt mit Menschen, die Anzeige erstatten wollten oder nach vermißten Freunden und Verwandten suchten. Es gab sogar einige, die ins Gefängnis wollten, weil sie Angst vor dem Stromausfall hatten und gehört hatten, daß das Revier einen Generator besaß. Das mißglückte Attentat auf den Papst schürte die religiöse Hysterie. Glücklicherweise war der Erzbischof bereits in die St. Patricks Kathedrale zurückgekehrt, ehe sich ein antikatholischer protestantischer Geistlicher mitten auf der Avenue auf einen Stuhl stellte und verkündete, der Papst sei der Antichrist. Schäbig gekleidet, mit loderndem Haß in den Augen schrie er in sein Megaphon: »Was heute nacht in Rom geschehen ist, ist ein Zeichen Gottes, das uns sagt, die päpstlichen Kirchen niederzubrennen.« Noch ehe er ein weiteres Wort herausspeien konnte, stürzte sich jemand aus der Menge auf ihn. Beide Männer fielen hart auf den Asphalt. »In Irland würde ich dich umbringen«, schrie der Angreifer. Das wiederum provozierte eine Meute irisch-protestantischer Rowdies, die dem Priester zu Hilfe eilten. Aus heiterem Himmel wurde die Amsterdam Avenue zur High Road in Belfast. Acht Polizisten wagten sich in die Schlägerei, verhafteten vier betrunkene Männer, beschlagnahmten drei Handfeuerwaffen und verfrachteten einen durchgedrehten Prediger in einen Krankenwagen. Garcia kochte, als er sah, wie seine wunderbare Idee in den Dreck gestoßen wurde. Er erließ Anordnung, alle Verstärkeranlagen abzuschalten und Waffen rigoros zu konfiszieren. Er stellte eine Mannschaft aus dreißig Beam-
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ten zusammen. Um kurz vor sieben setzte sich eine Kolonne mit Captain Garcia an der Spitze in Bewegung und schritt langsam die Amsterdam Avenue hinauf. Aus der Menge kam eine Flasche geflogen. Sie landete direkt vor Garcias Füßen. Garcia musterte die wütenden Gesichter. Sie waren ihm fremd, er erkannte keinen einzigen aus seinem Bezirk. Er kannte all seine Pappenheimer, die guten, die bösen und die ganz schlimmen. Aber jetzt war seine Straße voll mit Fremden, beinahe ausschließlich Weiße. Er fragte sich, was aus dem Priester geworden war, mit dem das alles angefangen hatte. Er fragte sich, warum Religion sich so schnell zu Vorurteilen und Verurteilung wandelte. Philosophische Fragen, die schon aus Zeitmangel unbeantwortet bleiben mußten. Die Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk war jedenfalls zu einer Oase für randalierende Säufer geworden. Garcia schickte eine Losung durch die Kolonne: »Gasmasken.« Die Polizisten bewegten sich vorwärts. Die Menge leistete Widerstand. »Zeigt es ihnen!« befahl er. Eine Wolke Tränengas ging über der Menge nieder.
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Doc hatte überall im Raum Videokameras installiert, um das einmalige Experiment des Mitternachts-Clubs zu dokumentieren. Jody brauchte eine sinnvolle Aufgabe, und so kam er auf die Idee, Aufnahmen mit der Handkamera könnten dem Bericht das gewisse Etwas verleihen. Auf der Suche nach einer vernünftigen Sony Auto-Focus durchstöberte er die Kabinen. »Schon mal mit so etwas gearbeitet?« fragte er Jody. »Vor Ewigkeiten.« Doc erklärte ihr kurz die wichtigsten Funktionen. »Bitte konzentriere dich ganz auf das Video, fragen kannst du hinterher.« »Klaro.« Jody schaute durch den Sucher und schwenkte mit der Kamera durch den Raum. »Läuft sie schon?« fragte sie. »Kannst du die Anzeige sehen?« »Mhm.« »Dann läuft sie.« »Wirklich?« »Du mußt nur auf den Hebel drücken und aufnehmen.« Doc schaltete eine sanfte Beleuchtung ein, setzte sich in einen bequemen Clubsessel und blickte direkt in die Kamera. Jody hielt ihr Auge wieder an den Sucher und stellte Doc scharf. Er hatte sich extra ein frisches Tweedjacket und eine Krawatte angezogen und sah wunderbar professionell aus. »Sobald ich anfange zu sprechen, hältst du auf mich.
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Wenn ich aufstehe und herumgehe, dann kommst du mit und filmst alles, was von Interesse ist. Hinterher können wir es immer noch schneiden. Alles klar? »Okay.« »Was wir jetzt gleich tun, konnte einigermaßen gut vorbereitet werden. Gewissermaßen eine Übung für das, was heute nacht geschehen wird. Jody, bist du bereit?« »Ja!« »Musik bereit?« »Bereit.« Doc sah direkt in die Kamera. »Wir schreiben den 31. Dezember 1999, es ist drei Minuten vor Mitternacht, Greenwich-Zeit. Noch einhundertachtzig Sekunden, dann wird das Mitternachtsläuten des Big Ben über der Themse erklingen, und dann wird auch in Großbritannien das 20. Jahrhundert zu Ende sein. Im Londoner Vorort Greenwich, ehemaliger Sitz der königlichen Sternwarte und deswegen Heimat des Anfangsmeridians, des nullten Längengrades, begeht die Regierung Ihrer Majestät den Festakt zur unmittelbar bevorstehenden Ankunft des neuen Jahrtausends im eigens errichteten Millennium-Jubiläumsdom, dem Mittelpunkt der größten europäischen Festivität zum Jahrtausendwechsel. Gleichzeitig, genau in diesem Augenblick, befinden sich im Himmel über uns 8954 Objekte auf der Erdumlaufbahn. Der Mond ist eines davon, beinahe achttausend Teile sind Weltraumschrott, kaputte Satelliten und ausgebrannte Raketenstufen. Bei den restlichen Objekten handelt es sich um unbemannte, künstliche Satelliten. Diese Satelliten sind wesentliche Bestandteile unserer weltumspannenden Kommunikationssysteme. Satelliten sind für die Verteidigung vieler Nationen grundlegende Voraussetzung, außerdem für Fernsehübertragungen, die Da-
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tenübertragung vieler Unternehmen und für internationale Geldtransfers im Bankwesen. Satelliten versorgen uns mit der Wettervorhersage und mit Nachrichten. Sie liefern weltweit die Richtwerte für Datum und Uhrzeit. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, daß Telefongesellschaften miteinander kommunizieren können. All diese Satelliten, die um unseren Planeten kreisen, werden von Funksendern gesteuert, die sich in den etwa fünfundsiebzig Bodenkontrollstationen befinden, die auf der ganzen Erde verteilt sind. Die Funksignale, Uplinks und Downlinks genannt, werden von Computern verarbeitet. Wie wir alle wissen, sind Computer keine einheitliche Materie. Noch wichtiger, auch die gesamte Software ist nicht einheitlich. Einige Satellitenbetreiber verwenden Schneidetechnologie und fortschrittliche, gründlich auf Y2K getestete Software. Trotzdem wird in den meisten Satellitensystemen, besonders in jenen, die schon seit einigen Jahrzehnten im Einsatz sind, veraltete Software benutzt, um die Datenströme von und zu den Satelliten zu verarbeiten. Aus sehr gutem Grund benutzen viele militärische und ältere kommerzielle Bodenstationen alte Computerprogramme. Sie funktionieren. Sie haben schon immer funktioniert. Der äußerst sensible Bereich der Satellitenkontrolle ist sehr risikoscheu. Deshalb wird, was funktioniert, beibehalten. In den frühen Tagen der Orbitflüge, als die Satellitenkontrollprogramme entwikkelt wurden, wurden sie oft einfach auf Papierfetzen gekritzelt und manuell in Maschinencode übertragen. In der Aufregung über die Entdeckung einer Software, die funktionierte, wurde die »Dokumentation« oft achtlos weggeworfen. Wenn ein Programm die Feuerprobe erst erfolgreich bestanden hatte, wanderte der komplette Quellcode von Programm zu Programm, von Anwendung zu An-
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wendung. In allen Ländern, die im All präsent sind, ist auch heute noch ein Großteil jenes ursprünglichen Codes in Gebrauch. Ohne Dokumentation aber wird auch die sorgfältigste, gewissenhafteste Y2K-Abhilfemaßnahme niemals die Millionen von Millennium Bug-Fehlern aufspüren können, die in den alten Codes versteckt lauern. Lösungsversuche, Korrekturen, Improvisationslösungen und neue Software haben viele Probleme in den Satellitenkontrollstationen ausmerzen können. Doch da es nicht möglich ist, Satelliten für einen Tag außer Betrieb zu nehmen, war es diesen Stationen auch nicht möglich, ihre Systeme einen Tag lang herunterzufahren, um die Software sorgfältigen Tests zu unterziehen. In allen Anlagen dieser Erde, in denen Techniker und Ingenieure den Flug von Satelliten steuern, ist man sich dessen bewußt, was kommen wird. Und man weiß, daß es um Mitternacht, Zulu-Zeit, geschehen wird.« Doc unterbrach seinen Vortrag, um Judd, der direkt neben der Musikanlage stand, eine Anweisung zu geben: »Hau rein!« Die gewaltigen Klänge des Kanonenchors der »1812 Ouvertüre« schallten über die Lautsprecher. Der Mitternachts-Club begab sich in die Startlöcher für das erste große Ereignis, das ihn unmittelbar tangieren würde. Judd zählte ein: »Vier, drei, zwei, eins ... Zulu-Zeit!« »Zulu-Zeit!« brüllte Doc. »Zulu-Zeit!« schrien die anderen im Chor. Der explosionsartige Lärm hatte Jody zu Tode erschreckt. Sie blickte auf, schaute wieder durch den Sucher und ging dann aber gleich durch den Raum und filmte. Selbst Adrian ließ sich anstecken. Er ging zu Judds Bildschirmen hinüber. Einer von ihnen war mit dem internen Netz der Luftwaffe der Vereinigten Staaten verbunden,
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mit dem Satellitenkontrollzentrum auf dem Air ForceStützpunkt Falcon in Colorado Springs. »Das wird niemand je im Fernsehen zu sehen kriegen!« erklärte Adrian. Judd lieferte einen Kommentar zu den laufenden Ereignissen: »Das 50. Raumflottengeschwader in Falcon hat die Mission, die Satelliten des Verteidigungsministeriums zu betreiben. In seiner Kontrolle befinden sich etwa neunzig Flugkörper. Über neun Bodenstationen, zum Beispiel in Thule, Grönland, Hawaii und auf Diego Garcia im Indischen Ozean, sind sie mit den Satelliten verbunden. Zumindest bis gerade eben. Systemchecks laufen. DSP, allgemein bekannt als Luftverteidigungsradarfrühwarnsystem, wird gehalten. Örtliche Flugsicherung in Colorado Springs geht, geht, geht hinüber. Radarsysteme ausgefallen. DMSP, das meteorologische Verteidigungssatellitenprogramm - hinüber. Überprüfung der Verbindungen zu den Bodenstationen, Überprüfung der verdrahteten Bodenverbindungen, okay, Satellitenverbindungen okay Sekunde mal - der DCSC-Satellit verläßt seine Umlaufbahn - Sekunde - Sekunde - reagiert nicht auf zuständige Bodenstation - jetzt driften weitere Satelliten ab, driften, das Verteidigungskommunikationssystem ist abgestürzt. Radarfrühwarnsysteme auch abgestürzt, alle Satellitentelekommunikationsverbindungen ausgefallen. Fernmeßverbindungen ausgefallen. Verbindung zur Marine-Sternwarte ausgefallen, GPS-Satelliten antworten nicht, Uplink ausgefallen. GPS erloschen. Keinerlei Signale mehr, alle Bildschirme sind leer. Die Satellitenkontrolle ist tot. Scheiße, soweit ich das beurteilen kann, ist die Air Force hinüber.« Die Musik verstummte. Bleierne Stille hatte sich auf den Raum gesenkt.
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»Verdammte Scheiße!« sagte Adrian aus tiefstem Herzen. »Nicht in meinen kühnsten Träumen!« erklärte Ronnie. »Also gut«, sagte Doc, »allem Anschein nach ist heute niemand in der Lage, einen Krieg anzuzetteln. Carolyn, wie steht's mit der zivilen Telekommunikation?« Carolyn kontrollierte die Bildschirme, die die gesamte nichtmilitärische Kommunikation nach und von New York überwachten. »Alle kommerziellen Telefongesellschaften haben ihre Uhren über das GPS laufen lassen, um untereinander kompatibel zu sein. Als die GPS-Satelliten ausgefallen sind, waren sie nicht mehr in der Lage, synchron zu arbeiten. Sie haben ausnahmslos auf ihre Ausweichsysteme umgeschaltet und besitzen alle eigene Uhrwerke, aber die Zeiten sind jetzt nicht mehr identisch. Abweichungen in der Größenordnung von Nanosekunden schleichen sich in die Aufzeichnungen, auf denen die Kommunikation zwischen den Systemen basiert. Die Rechner werden uneinheitlich reagieren. Einige Systeme werden die Zeitabweichungen angleichen, weil die Programmierer so clever waren, eine so geartete Problematik mit einzukalkulieren. Doch die meisten Programmierer waren leider nicht so clever. Deswegen werden die meisten Systeme die Verbindung zu allen Rechnern einstellen, die in Datum und Uhrzeit von ihren Einstellungen abweichen. GPS besitzt ebenfalls ein Ausweichsystem, das die Zeit per Funk überträgt. Dieses System funktioniert in New York aber nicht. Ich habe keine Ahnung, wieso, und ich kann nicht sagen, wie es anderenorts aussieht. Noch kennen wir die Auswirkungen nicht, aber das haben wir gleich. Nach dem Ausfall von GPS haben Bell Atlantic und AT&T ihre Uhrwerke synchronisiert. Okay, es geht weiter. Probleme im mittleren Westen. MCI hat soeben die Hälfte der Satel-
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liten verloren, sie leiten alles auf den Boden um. Bei GTE ist alles tot, ihr Gesprächsaufkommen liegt bei Null. AT&T geht es gut. MCI schwankt noch. Alle leiten, was sie haben, auf den Boden um, es kommt zu Netzüberlastungen. Augenblick, Augenblick, das GPS hat sich wieder reaktiviert! Kannst du das bestätigen, Judd?« »Sie haben ein Signal stabilisiert, und - und - Scheiße, jetzt ist es wieder weg.« Die Anzeige des Empfängers war leer. Judd sagte: »Das russische System ist auch zusammengebrochen.« »Carolyn, überprüf deine Leitungen«, befahl Doc. »Schon erledigt. Leitungen stehen.« »Bo. Die Telefone bei ConEd?« »Sind in Ordnung.« »Carolyn, Bestätigung.« »Bestätigt. Leitungen offen.« »Okay. Wie sieht's in London aus?« »In der Stadtmitte kein Licht. Licht in Greenwich, hat sich aus dem Netz ausgeklinkt. Kein Licht in Birmingham, Manchester, Liverpool. Licht in Devon und Cornwall. Kein Licht in Edinburgh, Glasgow. Licht in York.« »Kann bitte jemand die Fernsehsender überprüfen?« Auf sämtlichen Stationen waren nur die Köpfe irgendwelcher Moderatoren oder Studioaufnahmen zu sehen. Die Sprecher hatten aschfahle Gesichter. Vor Schock zitterten ihnen sichtlich die Unterkiefer. »Wir haben soeben unsere gesamten Satellitenverbindungen verloren«, meldete ABC. »Es scheint ein Problem mit unserer Leitung nach London zu geben«, meldete CBS. »... Fernsehen, Telefone, Datenübertragung, Internetverbindungen zum Rest der Welt...«
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»... der Millennium-Dom ist noch immer hell erleuchtet, doch alles andere ...« »... und bei uns in New York ist es erneut zu Ausschreitungen gekommen, als die Polizei versuchte, die Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende auf der Upper West Side zu schließen. Wir schalten jetzt nach Washington, zu einer Erklärung des Verteidigungsministers.« Der Bildschirm wurde schwarz. Einen Augenblick später kam erneut das New Yorker Studio ins Bild. »Wir haben die Verbindung zu Washington verloren«, sagte der Sprecher. »Wir versuchen, eine Telefonleitung zu schalten. Offen gesagt, es interessiert mich kein bißchen mehr. Ich gehe jetzt nach Hause und kümmere mich um meine Familie.« Mit diesen Worten erhob sich der Sprecher und eilte aus dem Studio. Die Kamera hielt auf seinen leeren Stuhl. »Judd!« »Acht Schirme ausgefallen, vier gehen.« »Carolyn.« »Meine Leitungen sind immer noch okay.« »DeEDeWeWeWeEsKa«, rief Adrian. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Jody. »Das Ende Der Welt, Wie Wir Sie Kennen«, wiederholte Doc. »Adrian ist ein Pessimist. Die Welt ist mehr als ein Haufen Rechner, Adrian. Merk dir das. Kann mal jemand etwas Musik machen? Wir haben noch viel zu tun. Es würde mich brennend interessieren, was aus dem Reaktor in Murmansk geworden ist. Judd?« »Seine Satellitenverbindung ist futsch. Ich habe ihn verloren. Ich habe zwar Kurzwelle, aber ich kann kein Russisch.« »Probier mal, ob du Norwegen in die Leitung kriegst. Die haben ein brandneues Satellitenkommunikationssystem.
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Es ist möglich, daß sie's geschafft haben. Wenn ihr Strahlungswarnsystem noch funktioniert, dann wissen sie sofort Bescheid, wenn dieser Reaktor in die Luft fliegt. Murmansk ist im Arsch. Die ganze Kola Halbinsel ist im Arsch. Das Nördliche Eismeer ist im Arsch. Manchmal frage ich mich, wozu Gott die Russen gemacht hat.« »Wie war's mit Musik?« schrie Ronnie. »Wir haben keine Zeit für Depressionen.« David Bowie kam durch die Lautsprecher. Der wehmütige, quälende Text von »This Is Major Tom To Ground Control« erklang. Jonathan Spillman konnte die Augen nicht von dem Alptraum abwenden, der sich aus dem Fernseher in sein Wohnzimmer ergoß. Wie Godzilla war der Millennium Bug durch Europa getrampelt und hatte alles zermalmt, was ihm in die Quere gekommen war. Für die Europäer war das 20. Jahrhundert gelaufen. Es hatte genauso geendet, wie es begonnen hatte: in Dunkelheit und Furcht. Hat jemals irgendwer etwas aus der Vergangenheit gelernt? Offensichtlich nicht. Das beweist uns der heutige Tag, dachte Jonathan Spillman, als er so in seiner Wohnung im zweiten Stock saß, ein geladenes Gewehr auf den Knien. Der Aufruhr in seinem Laden heute vormittag schien sich vor einer Ewigkeit ereignet zu haben. Seitdem hatte der Millennium Bug den halben Erdball umrundet und war in den Atlantik gesprungen. Als nächstes war Brasilien dran, und kurz danach ging es New York an den Kragen. Eine himmelhohe, unsichtbare Flutwelle rollte lautlos auf Amerika zu. In Cincinnati herrschte Panik; und Chaos in L.A. Die Überlebenskünstler in Montana und New Mexico hatten sich in ihre Bunker verkrochen. Spillman wußte
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alles über diese bescheuerten Idioten. Auch darüber hatte er eine Reportage gesehen. Doch nun war das Angebot in seinem Fernseher von fünfundsechzig auf zwölf Kanäle geschrumpft, und das waren alles lokale Fernsehsender. Alle Satelliten abgestürzt. Uplink oder Downlink oder sonst irgendein Ding. Er fühlte sich wie betäubt. Shirley war im Schlafzimmer und schluchzte. Alle fünf Minuten gebot sie den Tränenbächen Einhalt und versuchte, ihre Mutter in Queens anzurufen, aber sie kam nie weiter als bis zum Besetztzeichen. »Nimm die Pfoten vom Telefon!« schrie Jonathan. »Es ist nur für Notfälle!« Mit roten, verquollenen Augen tauchte sie aus dem Schlafzimmer auf. »Wenn das kein Notfall ist, dann weiß ich nicht, was du darunter verstehst«, blaffte sie ihn beinahe hysterisch an. »Uns ist nichts passiert, also beruhige dich, um Himmels willen.« »Was soll'n das heißen, nichts! Was ist mit deinem Laden?« »Mir geht's gut, dir geht's gut, bitte beruhige dich.« »Beruhigen? Beruhigen? Alles ist beim Teufel und dir fällt nichts anderes ein, als »Beruhige dich‹?« »Also, was hat es denn für einen Sinn, sich die Augen aus dem Kopf zu heulen? Das bringt uns überhaupt nicht weiter.« Sie rannte zurück ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. »Huhuhu«, sagte Jonathan zu sich selbst. »Scheiße.« Es klingelte an der Tür. Spillman packte sein Gewehr, vergewisserte sich, daß es auch geladen war. Dann ging er in den Flur und drückte die Gegensprechanlage.
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»Wer ist da?« »Copeland.« »Donnie, was machst du denn hier?« »Willst du dumme Fragen stellen oder mich reinlassen?« »Bist du allein?« »Ja, verdammt noch mal, ich bin allein, aber das wird sich schnell ändern, wenn du nicht endlich diese Scheißtüre aufmachst.« Spillman drückte den Türöffner, wartete auf den Lift und spähte durch den Spion in der Tür, ehe er Copeland in seine Wohnung ließ. »Wozu brauchst du denn das?« fragte Copeland und deutete auf das Gewehr. »Man kann nie wissen.« »Herrje, Jon. Tu das Ding weg, ehe du dich versehentlich selbst erschießt. Ist Shirley da?« »Ja.« »Ist sie in Ordnung?« »Nein. Sie ist völlig durchgedreht. Was tust du hier?« »Ich habe meinen Hausschlüssel verloren. Ich brauche meine Ersatzschlüssel, damit ich zu Hause reinkomme.« »Klar«, sagte Spillman. Er ging zurück in Richtung Küche. »Wie hast du deinen Schlüssel denn verloren?« »Keine Ahnung.« »Wie sieht's draußen aus?« »Es ist ein absolutes Tollhaus. Überall Verrückte. Ich bin gerade den ganzen Weg von Brooklyn bis hierher zu Fuß gelaufen.« »Machst du Witze?« »Nein.« »Was wolltest du denn in Brooklyn?« »Hatte was im Rechenzentrum der Bank zu erledigen.«
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Spillman kramte in einer Schublade, bis er Copelands Notschlüssel gefunden hatte. »Gerade sind alle Satelliten zusammengebrochen«, erzählte er. »Du kannst dich vom Rest der Welt verabschieden.« »Alle Satelliten?« »Keine Ahnung. Kann keiner sagen.« »Das habe ich erwartet«, sagte Copeland. »Aber einige der neueren Systeme müßten eigentlich noch funktionieren.« »Was wird bei uns passieren, Donnie? Sag die Wahrheit.« »Du willst die Wahrheit wissen? Die nackte Wahrheit?« »Ja.« »Das weiß keiner.« »Leck mich. Das ist keine Antwort.« »Hör mal«, sagte Copeland mit Blick auf das Gewehr. »Kannst du mit mir rüber auf die andere Straßenseite kommen? Nur zur Sicherheit.« »Du meinst, ich soll rausgehen?« »Ja.« »Weiß nicht. Ich habe gerade im Fernsehen gesehen, daß Ed auf der Amsterdam Avenue alle Hände voll zu tun hat. Hast du davon was mitbekommen, als du hergelaufen bist?« »Nein. Ich bin nicht dort vorbeigekommen. Egal, da gehen wir sowieso nicht hin. Nur über die Straße.« »Okay. Ich sage Shirley Bescheid.« Die Schlafzimmertür war zugesperrt. »Shirley?« rief Jonathan und klopfte sanft an die Tür. »Copeland ist hier. Ich gehe für ein paar Minuten mit zu ihm, rüber auf die andere Straßenseite. Ich bin gleich wieder da.« »Neiiin. Nein, nein, nein!« Die Tür öffnete sich einen Spalt. »Du kannst mich nicht hier alleinlassen.«
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»Ich begleite ihn doch nur kurz rüber. Ich bin gleich wieder da.« »Alles in Ordnung, Shirley«, sagte Copeland. Sie knallte die Tür wieder zu und japste. »Du kannst mich unmöglich in diesem Zustand sehen!« »Grundgütiger«, sagte Spillman. »Also, geh'n wir.« Unten angekommen, benahmen sie sich wie die Mitglieder eines Stoßtrupps. Das Spiel hatten sie als kleine Jungen unzählige Male gespielt. »Siehst du was?« fragte Spillman. »Die Luft ist rein.« »Los! Du zuerst. Ich geb' dir Deckung.« »Halt. Da kommt ein Typ die Straße lang.« Auf dem Bürgersteig schwankte ein Betrunkener und grölte: »No me puedo amar sin ti.« Er hielt an, um eine Schnur mit Knallfröschen anzuzünden, und ließ sie von seiner Hand herunterbaumeln. Die Girlande zischte wie eine wütende Schlange. Endlich warf er sie auf die Straße. Spillman erschauerte. »Ich hasse das!« knurrte er. »Verdammt noch mal, wirklich!« »Halt's Maul«, fuhr Copeland ihn an. Der Betrunkene verschnaufte vor dem Haus und sah die beiden. »Frohes neues Jahr«, grüßte er sie. Dann entdeckte er das Gewehr und lachte. »Frohes neues Jahr. Mach sie fertig, Cowboy!« Lachend torkelte er weiter. »Na also«, sagte Copeland. »Werd mal nicht paranoid.« »In Ordnung.« »Ich werde jetzt rübergehen.« »Okay. Los!« Copeland sprintete über die Straße. Er rannte die Stufen zu seiner Haustür hinauf und winkte Spillman zu sich herüber. Das Gewehr in beiden Händen, kauerte Spillman sich zusammen und schoß dann zwischen den ge-
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parkten Autos hervor und über die Straße. Der Betrunkene war inzwischen am anderen Ende des Häuserblocks angelangt. Beim Geräusch ihrer Schritte drehte er sich noch einmal um. Er konnte gerade noch sehen, wie Spillman Copelands Stufen hinaufflog. Kopfschüttelnd setzte der Mann seine Reise zum Riverside Park und zum trägen, dunklen Hudson River fort, »Busqué la verdad en la tequila«, vor sich hin singend. »Willst du mit reinkommen?« fragte Copeland. »Wir könnten jetzt beide was zu trinken vertragen.« »Warum nicht? Ich hab's nicht gerade eilig, wieder nach Hause zu gehen.« »So schlimm?« »Mann, sie ist total übergeschnappt. Sie liegt mit ihrer Offiziellen Jahrtausendbarbie im Bett.« Copeland Öffnete mit einem seiner Schlüssel eine elektronische Tastatur, tippte eine Kombination ein, verschloß die Tastatur wieder, entriegelte ein weiteres Schloß und öffnete die Tür. Micro kam ihnen entgegengerannt und sprang aufgeregt im Kreis. Copeland verschwand in einem Wandschrank und stellte die Alarmanlage ab. Der Hund war ihm dabei dicht auf den Fersen. Noch ehe Donald wieder zum Vorschein kam, fingen alle Lichter im Haus wie wild an zu blinken. »Was zum Teufel?« knurrte er. Er betätigte mehrmals einen Lichtschalter, doch ohne Erfolg. »Was ist denn hier los?« fragte Spillman. »Keine Ahnung.« Spillman drehte sich um. Er wollte zurück auf die Straße, doch die Tür war verschlossen. »Verdammt! Was soll das?« Er trat gegen die Tür und rüttelte an der Klinke, vergebens. Copeland versuchte, den Schlüssel herumzudrehen,
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doch das Schloß sperrte. Dann schaltete sich die Stereoanlage ein. Aus den Lautsprechern im ganzen Haus ertönte die Stimme von Doc. »Hallo, Donald. Du bist gefangen. Gewöhne dich lieber gleich dran. Ich habe mich mit Old Blue in Verbindung gesetzt, und er war der Auffassung, es sei ein Leichtes, dich einzusperren. Während er hier in der Nassau Street war, sind Old Blue und ich ziemlich gute Freunde geworden. Wir sind immer in Kontakt geblieben. Du weißt, wie das mit alten Freunden so ist. Deine Fenster sind alle vergittert, aber du bist ja ein einfallsreicher Bursche und wirst zweifellos einen Weg finden, wie du wieder rauskommst. Aber wenn ich du wäre, dann würde ich mich erst mal entspannen und mir was zu trinken genehmigen. Du kannst leider nicht raustelefonieren, also kannst du ebensogut versuchen, es hinter dich zu bringen.« Copeland rannte in die Küche. Im Fernseher war Docs Gesicht zu sehen. »Dies hier ist ein Videoband«, sagte Doc. »Dreißig Sekunden, nachdem du die Tür aufgesperrt hast, hat sich der Rekorder in der Küche eingeschaltet, wo du mich in diesem Moment wahrscheinlich ansiehst. Ich hoffe, du bist allein. Wenn nicht, dann wird dein Gast bei dir bleiben müssen. Ich rufe dich in ein paar Minuten an. Viel Spaß bei der Vorstellung.« »Was ist das?« fragte Spillman. »Was geht hier vor? Ist das nicht Doc Downs?« »Gib mir das Gewehr!« »Wozu? Was willst du denn tun?« »Ich werde ihn allemachen. Gib schon her!« Copeland nahm das Gewehr. Er zielte auf den Bildschirm und drückte ab. Peng! Mit einem lauten Knall implodierte die Kathodenstrahlröhre. Funkensprühen. Tohuwabohu.
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Hundejaulen. Die Küche war in eine Wolke ätzenden Staubes gehüllt, der Fernseher ein verschmurgeltes Wrack. Copelands Augen blitzen wild. Spillman erholte sich von seinem Schrecken und brach in Gelächter aus. »Verdammte Scheiße, Donnie! Das wollte ich schon immer tun. Wow!« Copeland rieb sich die Schulter, wo der Rückstoß ihn erwischt hatte. »Ich bin geliefert«, murmelte er. Wieder erklang Docs Stimme aus den Lautsprechern. »Du kannst natürlich alle Fernseher im Haus kaputtschießen, Donnie, vorausgesetzt, du hast genug Munition. Aber dann wird dir leider die Vorstellung entgehen.« »Kannst du mich vielleicht hören, du Wichser?« »Aber natürlich. Im ganzen Haus sind Wanzen und Kameras plaziert. Willst du wissen, wo? Also, im Bad sind keine.« »Donnie, was zum Teufel ist hier los?« schrie Spillman. »Was soll das?« »Willst du es ihm erklären, oder soll ich es tun?« fragte Doc. »Vielleicht findet Mr. Spillman die Geschichte von Butch Cassidy und Sundance Kid in der Chase Manhattan Bank ja amüsant.« »Donnie! Wovon redet der eigentlich, verdammt noch mal?« »Jonathan«, sagte Copeland. »Du bist ein feiner Kerl, ein Ehrenmann. Wir sind seit langem gute Freunde. Kann ich dein Gewehr benutzen, um mich umzubringen?« »Nein, zum Teufel! Gib es sofort zurück!« Copeland machte einen Schritt zurück. Spillman zögerte keine Sekunde. Er packte die Waffe und schlug sie beiseite. »Wo bist du da nur reingeraten, Donnie? Wovon redet dieser Typ?«
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Copeland schoß zurück: »Machst du dir keine Sorgen um Shirley? Sie wird total durchdrehen, wenn du dich nicht meldest und nicht wiederkommst.« »Na und? Sie ist doch sowieso schon durchgedreht. Ich will jetzt endlich wissen, warum wir in deinem Haus eingesperrt sind.« »Glaubst du, es macht Sinn, alle Fenster und Türen zu überprüfen?« »Später, Donald. Sag mir jetzt, was hier los ist.« »Sag's ihm!« verlangte Doc. Der Ton seiner Stimme schwang zwischen Big Brother und Gott. Copeland wand sich. Sein Blick fuhr zwischen dem zertrümmerten Fernseher und seinem Freund hin und her. Dann brach es aus ihm heraus: »Wir haben die verdammte Bank ausgeraubt.« »Ihr habt was?« »Hast schon richtig verstanden.« Spillman zwinkerte nervös. »Moment mal. Na klar. Ihr hattet Zugang zu allen Codes, selbst zu den empfindlichsten Konten und Daten, zu allem. Das habt ihr nicht getan! Komm schon, Mann! Das hast du nicht getan. Du Fuchs. Du Mistkerl!« Er schlug Copeland auf die Schulter. »Jawoll! Die verdammte Bank ausgeraubt. Warum auch nicht!« »Donald!« sagte Doc schroff. »Ja?« »Niemand hat die Bank ausgeraubt.« »Was sagst du da?« »Donnie, du kannst es ebensogut gleich erfahren, das Ganze war nichts weiter als ein Joke. Es gibt keinen Bankraub und hat auch nie einen gegeben. Ich habe dir Jahre lang einen Bären aufgebunden. Mehr war's nie.« »Nein.«
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»Ja.« Copeland sah aus, als würde er einen Anfall bekommen. Seine Augen quollen aus den Höhlen. Er lief knallrot an. Er holte mehrmals tief Luft. Dann wurden seine Züge schlaff, und er sank über den Küchentresen. Spillman suchte die Decke nach einer Kamera ab. Er vermutete sie hinter der Klimaanlagenabdeckung, die oben in einer Ecke hing, und deutete hinauf. Copeland sah hinauf und sagte zu Doc: »Ein Joke? Du hast mir einen Bären aufgebunden?« »Jawoll!« »Ein Witz, reine Verarschung?« »Jawoll!« »Was ist mit Chase Manhattan? Hast du einen Virus in ihre Systeme geschleust?« »Natürlich nicht.« »Du hast das alles nur gemacht, um mich zu verarschen?« »Jawoll!« »Du Wichser.« »Bitte, wenn du willst, dann sieh es so. Aber wir wären niemals damit durchgekommen. Sie hätten uns erwischt. Ganz einfach. Außerdem haben wir das Geld nie gebraucht. Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muß. Du kannst leider nicht der größte Bankräuber aller Zeiten sein, so sieht's nun mal aus. Schluß, vorbei. Kein Frohlocken, aber auch keine Schuldgefühle. Du bist sauber, Donnie. Du magst ja ein gieriger Schwanz sein, aber du bist wenigstens immer noch auf der richtigen Seite. Du solltest mir dankbar sein. Mach dir keine Sorgen. Die Geschäfte laufen super. Maria Maranello hat am frühen Abend ein Paket für ich weiß nicht wie viele Millionen nach Hamburg verkauft. Leider sind die meisten Satelliten zusammengebrochen, und in Hamburg gibt es kei-
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nen Strom. Ich weiß also nicht, wie du den Vertrag abschließen willst, aber ich bin mir sicher, daß du einen Weg finden wirst.« Resigniert und geschlagen sank Copeland auf einen Barhocker. Spillman goß zwei Gläser Scotch ein. Wortlos schütteten sie den Whiskey hinunter. »So ist's recht«, sagte Doc. »Trink aus. Die Dinge sind nicht so schlimm, wie du denkst.« »Hamburg?« »Fünf Dollar pro Kodierzeile. Dein neuer Tarif. Glaub mir, Donald, du brauchst das Geld von der Chase Manhattan überhaupt nicht. Im Wohnzimmer befindet sich eine Kassette im Rekorder. Ich bin mir sicher, ihr werdet sie sehr interessant finden und ihr gerne eure Zeit widmen. Meine Herren, Ihnen werden die Köpfe rauchen. Wir sprechen uns wieder, wenn ihr euch das Band angesehen habt. Viel Vergnügen. Es heißt: Der Mitternachts-Club.«
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Die großartige Stadt fing an, sich vor Schmerzen zu winden. Als das Telefonnetz zusammenbrach, das Internet kollabierte und sich das Sendernetz der Fernsehstationen auflöste, schwappten Wellen von Angst und Verzweiflung kreuz und quer über die Insel. Der Verlust des GPS und der Kommunikationssatelliten war nichts weiter als ein Vorbote dessen, was auf New York zukam. Nur wenige Menschen verstanden, wie groß der Einfluß dieser empfindlichen Geräte im All auf das tägliche Leben war. Was hingegen jeder spüren konnte, war die Tatsache, daß die Telefone nicht mehr richtig funktionierten. Die lokalen Fernsehstationen sendeten zwar via Antenne, aber Millionen von Fernsehern besaßen schon lange keinen Antennenanschluß mehr. Die Lokalsender hielten an ihren angekündigten Silvesterprogrammen fest. New York 1 übertrug ein Barbara Streisand Konzert live aus dem Madison Square Garden. WABC sendete aus dem Giants Stadion, wo Nebraska und Alabama um den offiziellen M&M Jahrtausendpokal kämpften. Aber Konzerte und Football hatten ihre Anziehungskraft verloren. Die Menschen lechzten nach Neuigkeiten. Doch gerade in dem Augenblick, als die Fernsehbilder der Zerstörung aus Europa ihren Höhepunkt erreichten, wurden sie abrupt unterbrochen. Millionen saßen fassungslos in ihren Fernsehsesseln und fragten sich, was als nächstes passieren würde. Lautlos raste der Millennium Bug über den Atlantik. Das machte seinen Anflug noch furchterregender.
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Alles, was zählte, war Zeit. Das 20. Jahrhundert hatte nur noch wenige Stunden zu leben. Ganz New York starrte auf die Uhr. Die Sekunden verstrichen; Minuten trudelten dahin und verschwanden in der Vergangenheit; Stunden währten ewig. Die Zeit war dick und zähflüssig wie Öl. Man konnte sie zwischen den Fingern zerreiben, sie schmecken und riechen. Die prachtvollen Wolkenkratzer funkelten wie immer. Inmitten der sich auftürmenden Wände aus Stahl und Glas standen Doc und Jody auf dem Dach des Gebäudes in der Nassau Street. Voller Begeisterung erzählte er ihr die Geschichte von Christoper Mariowcs Dr. Faustus, der seine Seele dem Teufel verkauft hatte für Wissen, Weib und Gesang. Um Mitternacht, als Mephistopheles kam, um seine Schuld einzufordern, da hatte Faustus geschrien: Steht still, ihr nimmermüden Himmelssphären, und stille steh die Zeit, eh Mitternacht es schlägt. »Ich mag Mephistopheles«, sagte Doc. »Er ist viel schlauer als Aschenputtel.« »Ich bin für Aschenputtel«, sagte Jody. »Sei still und küß mich.« Doc war wie vor den Kopf geschlagen. Er fühlte sich linkisch und unbeholfen. »Küssen? Hier? Jetzt? Was sollte das denn sein, ein Realitätstest?« Doch dann überließ er sich dem Augenblick, nahm sie behutsam in seine Arme und küßte sie. Über dem East River ging wieder ein Feuerwerk in die Luft. Die Musik spielte weiter Die Stadt schauderte kurz und genehmigte sich noch einen Drink. »Komm mit, Doc«, hauchte Jody. Sie führte ihn hinunter, zurück ins Gebäude, an den verdutzten Mitgliedern des
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Mitternachts-Clubs vorbei und direkt hinein in das Schlafzimmer. Kurz nach acht Uhr abends tauchte eine kleine Gruppe Demonstranten vor Gracie Mansion auf, dem Wohnsitz des Bürgermeisters auf der East End Avenue, Ecke 88. Straße Ost. Sie hatten Tafeln und Spruchbänder bei sich. Doch ohne die Aufmerksamkeit der Medien waren ihre Rufe nur halbherzig und hatten keine Chance, bis an das Ohr des Bürgermeisters vorzudringen. »Was wollen Sie denn? Was sollen wir tun?« fragte die Sprecherin des Bürgermeisters die Leute. Die Demonstranten waren verwirrt und verängstigt und konnten nicht mit konkreten Forderungen aufwarten. Sie waren kaum von der Silvestermeute zu unterscheiden, die durch die Straßen pilgerte. Ihre Sprechchöre und Gesänge drangen nicht durch den allgemeinen Lärm. Die Sinnlosigkeit dieses Protestes war offensichtlich. Die gequälte Sprecherin des Bürgermeisters hatte mehr Enthusiasmus für die Demonstration, als die Demonstranten selbst. Es machte ihr überhaupt nichts aus, mit einem Haufen Spinner hin und her zu diskutieren, denn alles war besser, als mit dem Bürgermeister eingesperrt zu sein. Rudy Giuliani war seit seiner Rückkehr aus Washington am späten Nachmittag völlig außer sich. Im Inneren der Villa schrie der frustrierte Bürgermeister auf seine Berater und Referenten ein. Der Verkehr war kollabiert. Giuliani saß zu Hause fest. Die Kommunikation mit der Außenwelt beschränkte sich auf Motorradkuriere und Funk. Selbst für ihn waren die Straßen unpassierbar geworden, und es war ihm verboten, seinen Hubschrauber zu benutzen - der gesamte Flugverkehr war eingestellt worden. Obwohl Giuliani sich fragte, wer zum
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Teufel ihn aufhalten würde, wenn er nur den Landeplatz erreichen könnte. Wenn er aus dem Fenster seines Arbeitszimmers schaute, fiel sein Blick direkt auf das riesige Con Edison Ravenswood-Kraftwerk in Queens, auf der anderen Seite des Flusses. Big Allis, die Königin des Stromnetzes. Rudy kannte die Wahrheit. Er hatte versprochen, es würde keine Probleme mit dem Licht geben. Er hatte seinen Bürgern geschworen, daß alles in Ordnung sein würde. Er hatte garantiert, daß die größte Silvesterparty, die die Welt je gesehen hatte, ohne Unterbrechungen über die Bühne gehen würde. Dabei steckten sie jetzt schon bis über beide Ohren in der Scheiße. Er bestand auf einem Treffen mit dem Direktor von Con Edison, Peter Wilcox, doch der Kerl war nirgends aufzutreiben. Der Bürgermeister war leichenblaß. Scheiße. Er fühlte sich miserabel. Die Stadt vor seiner Haustür war sauer auf ihn. Verdammte Scheiße, diese Sache war größer als New York, sogar größer als er selbst, und das konnte er auf den Tod nicht ausstehen! Es nervte ihn unglaublich. Seine Leute nervten ihn unglaublich. Es lag in ihrer Verantwortung, sich um diese Sache zu kümmern! Eine halbe Milliarde hatte die Stadt investiert, und sie täten verdammt gut daran, bereit zu sein! »Wenn diese Scheißtelefone jetzt schon nicht funktionieren, was wird dann erst um Mitternacht sein? Ich will Antworten!« schrie er einen Referenten an. Der zuckte nur die Schultern und blickte auf seine Schuhe. »Beruhigen Sie sich doch, Herr Bürgermeister. Denken Sie an Ihren Blutdruck.« »Haben sie eine Liste aller Chemiewerke und von dem restlichen Scheiß, so wie ich es angeordnet habe?« »Ja, Euer Ehren.«
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»Haben die alle den Befehl erhalten, abzuschalten?« »Das weiß ich nicht, Euer Ehren. Es sind 167 Werke, und wir haben nur zwanzig Kuriere.« »Mein Gott!« tobte der Bürgermeister. »Ich fasse es nicht. Ich kann es einfach nicht fassen. Keine Scheißtelefone! Au!« »Herr Bürgermeister?« »Verdammt. Mit meinem Arm stimmt was nicht.« »Herr Bürgermeister? Rudy? Mein Gott!« Um viertel vor neun Uhr abends war Bill Packard endlich fertig. Er wollte das Krankenhaus verlassen und sich volllaufen lassen. Er hatte seinen Teil beigetragen. In der ganzen Klinik gab es vernünftige Menschen, die seinen Wunsch verstanden, alles richtig zu machen. Sie brauchten seine Hilfe nicht mehr. Die Schwestern bestückten die gefährlichen Apparate auf allen Stationen mit gelben Aufklebern. Packard war ausgelaugt und hoffte, ein paar Drinks würden ihm den Rest geben. Andererseits, überlegte er, könnte er sich genausogut auf den Weg machen zum Revier vom 24. Bezirk, seinem Freund Ed einen Überraschungsbesuch abstatten und einen Blick auf das Tollhaus werfen, das sich dort inzwischen sicher ausgebreitet hatte. Wenn man seine Stimmung heben will, geht schließlich nichts über ein bißchen Bullenaction an einem Silvesterabend. In seinem weißen Kittel, das Stethoskop um den Hals, stand Packard vor dem Eingang zur Notaufnahme und rauchte eine Zigarette - die erste seit Jahren. Ein paar Schritte weiter rauchten zwei Krankenschwestern und ein Sanitäter. Zu seiner Rechten bog die Auffahrt in die First Avenue ab, aber seit mindestens einer Stunde waren keine Krankenwagen mehr angekommen. Nicht mal
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mehr mit Blaulicht und Sirene gab es ein Durchkommen. Die Straßen waren dicht. Zu seiner Linken glitzerte der East River und reflektierte die Lichter der Stadt. Über dem gleichmäßig rumorenden Nachtlärm hörte er, wie sich ein Motorboot näherte. Einen Augenblick später eilten zwei Sanitäter mit einer Rollbahre aus dem Eingang der Notaufnahme und liefen zum Ufer. Am Fluß gab es einen kleinen Anlegesteg für Polizeiboote, der auch dem Krankenhaus als Zugang diente. Die Sanitäter kamen zurück. Auf der Bahre lag ein Mann, begleitet von vier Sicherheitsleuten, die Kopfhörer mit Mikrofonen trugen. Packard sah zu, wie die Bahre an ihm vorbeigeschoben wurde. Auf der Trage lag ohnmächtig, das Gesicht zur Hälfte unter einer Sauerstoffmaske verborgen, Bürgermeister Rudy Giuliani höchstpersönlich. Dann verschwand die Bahre durch die Tür. Weniger als einen halben Meter von Dr. Packard entfernt stand ein Typ in einem geschmacklosen Anzug, mit Sonnenbrille und Kopfhörern. Er musterte den Arzt abfällig, als sei er eine Kakerlake. »Wer sind Sie?« fragte der Typ barsch. »Sieht so aus, als hätte Ihr Mann da drin Probleme, zu atmen«, erwiderte Packard freundlich. »Das geht Sie nichts an.« »Ich bin Kardiologe. Soll ich ihn untersuchen?« »Auf keinen Fall.« Packard war nicht der Stimmung, sich einschüchtern zu lassen. Er blies dem Mann eine Rauchwolke ins Gesicht. Der Bodyguard zögerte, dann trat er einen Schritt zurück und sagte: »Tut mir leid, Doktor. Wir müssen Aufmerksamkeit um jeden Preis vermeiden. Verstehen Sie das? Er hat seinen eigenen Arzt. Er kommt wieder auf die Beine. Kann ich Ihren Namen haben?«
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Noch ehe Packard »Nein« sagen konnte, wurde der Mann von einer Stimme in seinem Kopfhörer unterbrochen. »Was?« rief er in sein winziges Mikrofon. »Wollen Sie mich verarschen?« Die anderen Bodyguards verhörten inzwischen die Krankenschwestern und den Sanitäter. Drei Polizeimotorräder kamen die Auffahrt herauf. Die Beamten sammelten sich auf einer Seite. Die Funkgeräte knackten. Als sie sprachen, kondensierten große Wolken in der Nachtluft. Mit Nachdruck sprach der Mann neben Packard in sein Mikrofon: »Keine Ahnung, wo dieser verdammte Arzt steckt. Er sollte sich mit uns vor der Notaufnahme treffen. Nein, Sekunde, direkt neben mir steht einer.« Er tippte Packard auf die Schulter und sagte: »Sie sind Kardiologe, haben Sie gesagt? Kommen Sie mit.« Packard war gerade auf dem Sprung, und er war nicht gewillt, sich gegen seinen Willen mitzerren zu lassen. »Wenn Sie mich ganz höflich darum bitten, dann werde ich es mir überlegen«, sagte er, um die Verhandlungen zu eröffnen. »Also, Freundchen. Was wollen Sie?« »Was ich will«, sagte Packard, »ist, daß Sie verdammt noch mal Ihre Pfoten von mir lassen und mir nicht in meine Arbeit pfuschen. Das will ich. Sonst könnte es passieren, daß ich den Kerl verrecken lasse.« Doc und Jody lagen im Bett. Es war neun Uhr abends. Aneinandergeschmiegt hörten sie sich die Ansprache des Präsidenten im Radio an. Niemand in New York war in der Lage, die Ansprache im Fernsehen zu verfolgen. Der Präsident begann mit einer unendlich langen Erklärung über den Millennium Bug und über datumsabhängige
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Computer. Danach bestätigte er seinen Zuhörern, daß einige Nachbarn auf diesem Planeten bereits mit Problemen konfrontiert worden waren. »Wir sind weitaus besser auf diese Krise vorbereitet als jede andere Nation«, beteuerte der Präsident in seinem überzeugendsten Tonfall. »Wir haben Hunderte Milliarden Dollar investiert. Die hellsten Köpfe unseres Landes haben sich mit dem Problem befaßt, und wir haben vollstes Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Sicher wird das eine oder andere schiefgehen, aber wir werden alles menschenmögliche daransetzen, die Dinge, so schnell es geht, wieder in Ordnung zu bringen.« Er bat seine Bürger höflich, nach Hause zu gehen und Ruhe zu bewahren. »Unterstützen Sie Ihre Nachbarn. Plündern Sie nicht«, sagte er, das sei nicht nachbarschaftlich. Er rief die Gouverneure der fünfzig Staaten und den von Puerto Rico auf, die Verantwortung auf sich zu nehmen und notfalls mit Hilfe der Nationalgarde die Ordnung aufrechtzuerhalten. »Die kommunalen Behörden sind viel besser über Ihre Situation im Bilde als wir hier in Washington«, sagte der Präsident. »Vertrauen Sie Ihrer kommunalen Regierung.« »Wozu haben wir dann einen Präsidenten?« fragte Jody. Doc überlegte einen Augenblick, dann antwortete er: »Daran kann sich niemand so genau erinnern.« Um halb zehn hatte der Verkehr von und nach Manhattan äußerst kritische Ausmaße angenommen. Auf den Brücken und in den Tunnels ging nichts mehr. Hunderten, die seit Stunden im Stau steckten, war das Benzin ausgegangen. Sie ließen ihre Fahrzeuge einfach stehen und machten damit jedes weitere Vorankommen unmöglich. Alle Spuren waren versperrt, die Insel isoliert. Der
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Kollaps packte Midtown, die Brücke und die Tunnelzugänge. An anderen Stellen auf der Insel krochen die Autos im Schrittempo vorwärts. Die Fahrer machten ausgiebigen Gebrauch von ihren Hupen, Champagnerflaschen wanderten zwischen den Fahrzeugen hin und her. Getreu der Tradition am Broadway, daß die Show weitergehen muß, nahmen die Feierlichkeiten um den Times Square wie geplant ihren Verlauf. Kapellen spielten, Chöre erklangen, die vierundzwanzig gigantischen Videoleinwände zeigten ausschweifende Partyszenen aus der ganzen Stadt. Feiernde wurden von den Straßen zu Galaveranstaltungen im World Trade Center, dem Plaza und dem Metropolitan Museum of Art geladen. Juwelen glitzerten im hellen Lichtschein. Senatoren und Richter im Smoking lächelten in die Kameras und spiegelten die Illusion von Macht und Sicherheit vor. Die geplante nächtliche Regatta großer Schiffe auf dem Hudson ging, von Feuerwerk begleitet, pünktlich in die erste Runde. Die Segelschiffe waren alle mit modernstem Navigationsgerät ausgerüstet, das natürlich von den GPSSatelliten abhängig war, die nicht mehr funktionierten. Doch das stellte für erfahrene Segler kein Problem dar. Dennoch kam es prompt zu einem Zwischenfall. Eines der Schiffe in der ersten Reihe, die mexikanische Schulschaluppe Emiliano Zapata, unter Befehl eines jungen Leutnants, der seinen Posten eher politischen Beziehungen als seefahrerischem Talent zu verdanken hatte, rammte die griechische Marathon. Der Unfall ereignete sich genau vor dem Sportgelände an der 23. Straße. Unter den explodierenden Raketen am Nachthimmel, inmitten pyrotechnischen Zaubers, versuchten die nachfolgenden Schiffe verzweifelt zu manövrieren, um eine Massenkarambolage auf dem Wasser zu vermeiden. Die stattliche
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Prozession nautischer Tradition befand sich umgehend in vollständiger Unordnung. Der Fluß wurde weiß vom Schaum, den die Schiffsschrauben aufwühlten, als die Schiffe volle Fahrt zurückgesetzt wurden. Die kleinen Boote, die den Seglern zur Eskorte dienten, wurden plötzlich in einen Strudel von Verstößen gegen die Vorfahrt und weiteren abrupten Manövern geschleudert. Inmitten dieses Chaos auf dem Fluß mußte die Küstenwache feststellen, daß das GPS-betriebene Radarsystem, das den Verkehr im Hafen steuerte, nicht mehr richtig funktionierte. Der Vergleich mit einfachen Handradargeräten zeigte, daß die Radars der Küstenwache falsche Positionen angaben. Doppelbilder und Reflexionen erschienen als reelle Objekte auf dem Schirm. Die Techniker an den Radarschirmen nahmen Kontakt zu den Kapitänen und Seelotsen auf den siebenunddreißig Schiffen auf, die sich irgendwo zwischen dem Atlantik und dem New Yorker Hafen befanden. Zu ihrem Entsetzten stellten die Techniker fest, daß dreißig dieser Schiffe ihren Radar ebenfalls verloren hatten. Ein Schiff moderner Bauart enthielt im Durchschnitt etwa dreihundert integrierte Chips und mindestens zwei Dutzend datumsabhängiger Chipsteuerungen. Beinahe jeder Vorgang an Bord, vom Antrieb bis zur Emissionskontrolle, war automatisiert und computergesteuert. Die Uhrwerke der meisten Schiffe waren auf GMT ausgerichtet. Mitternacht in London bedeutete auch für die Bordcomputer den Wechsel ins neue Jahrtausend. Zehn Schiffe verloren auf der Stelle ihre Antriebskraft. Die Motoren stoppten. Vier dieser zehn erlitten heftige Funktionsstörungen aller computergesteuerten Systeme an Bord. Sie trieben ohne Radar, Kommunikation oder Steuerung hilflos auf See. Nur das Feuerwerk nahm kein Ende. Die explodierenden
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Kugeln und Sternwerfer besaßen keine störrischen Silikontransistoren, die sie in ihrem Glanz behindern konnten. Deswegen konnten alle, die sich in hohen Gebäuden befanden, von oben die Brownsche Molekularbewegung von Schiffen beobachten, während das Durcheinander im Hafen sich in Zeitlupe ausbreitete. Bei Liberty Island lief ein riesiger Frachter auf Grund, ein weiterer rammte am Fuße der Broad Street, direkt unter der Brooklyn Bridge, ein Pier. Ein Frachter aus Europa, vollbeladen mit nagelneuen Mercedessen, krachte in den westlichen Stützpfeiler der Verrazano Bridge. Die Brücke hielt. Der Bug des Schiffes lief langsam voll. Doch die Stahlkontainer waren von gewissenhaften Arbeitern in der alten Welt vorbildlich verschweißt worden. Die Fahrzeuge blieben trocken. Fasziniert saßen Copeland und Spillman vor Docs Videoband. Als der Film zu Ende war, spulte Copeland die Kassette zurück und ließ sie noch einmal laufen. Bereits bei den ersten Einstellungen, die die Con Edison Kraftwerke in Manhattan zeigten, war ihm klar, daß ihm hier die Gelegenheit zum größten Geschäft aller Zeiten präsentiert wurde. Doc hatte die Arbeit des MitternachtsClubs aufgenommen und das Material zu einer fünfundvierzigminütige Dokumentation über den Plan, New York zu retten, zusammengeschnitten. Die Mitglieder des Mitternachts-Clubs hatten die Prinzipien verfeinert, die Doc während seiner Arbeit an den Copeland 2000-Software-Paketen für die Banken entwickelt hatte, und hatten sie den Bedürfnissen elektrischer Einrichtungen angepaßt. Nach Mitternacht, sobald Docs Geeks wußten, welche Teile ihrer Software liefen und welche nicht, wären sie in der Lage, die Programme auf Fehler zu testen
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und in kürzester Zeit ein funktionstüchtiges, außerordentlich gut verkäufliches Produkt anzubieten. Diese Software war unbezahlbar! »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet?« fragte Copeland Spillman. »Nein«, antwortete Jonathan. »Keinen Schimmer. Eine raffinierte Möglichkeit, die Lichter am Ausgehen zu hindern?« »Herr im Himmel, Jonathan. Das heißt, während dieser Typ mich heute den ganzen Tag verarscht hat, hat er mich nur hierher manövriert, um mir dieses Band zu zeigen. Diese Freaks werden mir mehr Geld bringen, als Chase Manhattan es je getan hat.« »Hilft uns das auch aus dem Haus raus?« fragte Spillman. »Was soll's? Was willst du denn da draußen? Zieht's dich etwa zu Shirley zurück?« In der Nassau Street brüllte » The Future's so brigbt, I gotta wear shades« durch die Lautsprecher. Um halb elf Uhr abends lag Doc auf einem Sofa im Aufenthaltsraum. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, im Fernseher lief das Football-Spiel, doch er hatte den Ton abgestellt. Er stellte sich vor, wie die Erde aussah, wenn man sie aus dem Weltall betrachtete. Das majestätische Blau der Meere, die weißen Wolken, die Polarkappen. Die Menschen waren unsichtbar, zu klein, um von Bedeutung zu sein. Sie waren nicht lang genug hier gewesen, um bedeutende Spuren zu hinterlassen, und sie waren nicht annähernd so wichtig, wie sie zu sein glaubten. Die Menschheit war nicht in der Lage, den Planeten zu zerstören, wenn sie es auch noch so sehr versuchte; sie konnte nur sich selbst zerstören und womöglich noch ein paar andere Spezies, was sie sowieso Tag für Tag unter Beweis stellte.
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Mit einem Gefühl heiterer Unbeschwertheit bemühte sich Doc um Ausgeglichenheit inmitten der turbulenten Ereignisse dieses Tages. Wenn alles vorüber war, dann wäre der Millennium Bug nichts weiter als ein großer, unangenehmer Schluckauf in der langen, harten Auseinandersetzung des Menschen mit dem kollektiven Bewußtsein. Die Menschen waren Erfinder und Entdecker. Das Rad, der Kompaß, die Dampfmaschine, das Telefon, die Kernspaltung, der Computer. Andere Menschen wiederum fanden ständig neue Möglichkeiten, diese Dinge zu nutzen, Möglichkeiten, die den Erfindern im Traum nicht eingefallen wären. Es geschah einfach. Alles, was ein Mensch zu tun in der Lage war, konnte ein anderer verstehen und nachahmen. Technologie war wunderbar und logisch zugleich, doch die Nutzung technologischer Mittel war niemals so fortgeschritten, wie die Gerätschaften selbst. Im Laufe der Zeit würde die Mikrotechnologie das Tor zum Himmel öffnen, die Tiefen der Erde plündern, die chemischen Geheimnisse des Lebens lüften, neue Energiequellen erschließen, doch noch war es nicht soweit. High-Tech stand noch immer auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe. Das Computerwesen steckte noch immer in den Kinderschuhen, es hatte gerade erst Laufen gelernt und zahnte noch. Es lag in der Natur der Sache, daß neue Technologie gleichzeitig auch Neuland erschloß, immer experimentell war, was bedeutete, daß sie manchmal auch versagte. Ab und zu gingen die Experimente daneben, doch die Menschen lernten daraus. In diesem Fall war es eine wirklich schwere Lektion, aber auch das war normal. Die Welt, die aus diesem Ereignis auftauchte, wäre reduzierter, stärker, effizienter, wenn nicht gerechter und fairer. Morgen früh würde die Welt sich verändert haben. Auch
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Docs persönliches Universum würde ein anderes sein, denn jetzt war Jody ein Teil davon. Er konnte sich kaum an seine letzte Beziehung erinnern, oder wann er das letzte Mal mit einer Frau geschlafen hatte. Es hatte ihm zweifellos gutgetan. Er war entspannter, fühlte sich viel wohler als vorher. Sie hatte sich angefühlt wie flüssige Seide, als sie neben ihm lag, und als er den Schweiß zwischen ihren Brüsten aufgeleckt hatte, da hatte sie den Kopf zurückgeworfen und vor Entzücken gelacht. Jody war errettet worden. Als alles schiefging, was schiefgehen konnte, hatte sie Doc gefunden. Die Welt brach auseinander, und er zitierte Gedichte und genoß mit ihr einen wunderbaren Augenblick. »Warum gerade ich, Doc?« fragte sie. »Du hast dieses Geheimnis so lange bewahrt.« »Weil du damit umgehen kannst«, sagte er. »Außerdem bist du so süß. Magst du alte Boote?« Als sie wieder aus dem Schlafzimmer auftauchten, zerzaust und etwas verlegen, überreichte Ronnie Jody feierlich ein T-Shirt des Mitternachts-Clubs, während die anderen pfiffen und klatschten. »Jetzt bist du eine von uns«, sagte Ronnie. »Du hast bewiesen, daß Doc ein menschliches Wesen ist.« »Hattet ihr Zweifel daran?« »Ja.« »He, Doc«, sagte Judd. »Rudy hatte einen Herzinfarkt.« »Willst du mich auf den Arm nehmen?« »Sie haben ihn mit einem Boot ins Bellvue gebracht. Dort liegt er jetzt. Seine Jungs bellen es schon die ganze Zeit in ihre Quatschboxen. Willst du mal hören?« »Nein, danke. Ich schau mir lieber das Footballspiel an.« Jody nahm die Videokamera wieder zur Hand und filmte weiter, als wäre nichts geschehen. Judd blickte in das Ob-
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jektiv und fing an, die aktuelle Situation der Satelliten zu erläutern. »Soweit wir es beurteilen können«, sagte er in die Kamera, »steuern weltweit momentan zwölf Bodenstationen 87 von 864 Satelliten. Drei weitere Bodenstationen haben wenigstens teilweise die Kontrolle über 40 weitere Satelliten. Die AT&T-Anlage in Basking Ridge, etwa dreißig Kilometer von hier in New Jersey gelegen, ist voll funktionstüchtig. Diese Nachricht ist sehr erfreulich. Im ganzen haben wir also 127 Satelliten, darunter 53 Kommunikationssatelliten mit einsatzfähigen Transpondern. Das bedeutet, die Kommunikation ist nicht vollständig zusammengebrochen. Auf diesem Gebiet sind wir also noch nicht völlig geliefert, es sieht nur so aus.« Jody ging weiter zu Carolyn. Sie behielt unablässig ihre Telefonmonitore im Auge und schlürfte dabei einen Pfefferminz-Julep. »Als ich noch ein kleines Mädchen war, gab es nur eine einzige Telefongesellschaft namens Ma Bell. Eine einzige monolithische Struktur sorgte dafür, daß alle auf der selben Speicherseite zu finden waren. Heute haben wir es mit unzähligen Telefongesellschaften zu tun, und auch in den besten Zeiten kommt es häufig zu Störungen. Bell Atlantic und AT&T funktionieren störungsfrei und können miteinander kommunizieren, aber ihre Telefon- und Datenleitungen sind mit mehr Verkehr konfrontiert, als die Systeme verkraften. Weil alle anderen Telefongesellschaften genauso überlastet und die Verbindungen untereinander gestört sind, müssen die funktionstüchtigen Unternehmen zu drastischen Maßnahmen greifen, um ihre Leistungsfähigkeit und ihr Überleben zu sichern. Für eine Telefongesellschaft gibt es nur eine einzige Möglichkeit, sich gegen Netzüberlastung zu schützen. Sie müssen ein-
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zelne Vermittlungsstellen abschalten, und genau das tut Bell Atlantic gerade.« »Wärst du dazu auch in der Lage?« »Ja, aber ich will nicht entscheiden, wer vom Netz geht und wer dranbleiben darf. Wem, glaubst du, drehen die Gesellschaften zuerst den Saft ab? Harlem? BedfordStuyvesant? Dreimal darfst du raten. Die schalten den Russen in Brooklyn die Telefone ab.« »Was ist mit den Russen in Rußland?« fragte Jody. »Wer könnte das wissen?« »Frag Ronnie.« Jody schwenkte die Kamera. »Rußland ist Hackfleisch«, sagte Ronnie. »Der Norden und der Ferne Osten sind vom Rest abgeschnitten. Im Korridor Moskau und St. Petersburg gibt es wenigstens noch vereinzelt funktionierende Telefonleitungen. Sie haben teilweise sehr alte Telefonanlagen, die nicht so viele Computersysteme beinhalten, und die sind in Ordnung. Via Überlandleitungen existiert eine Verbindung zu AT&T in Helsinki, und die Up- und Downlinks der AT&T-Satelliten stehen auch noch. Es besteht Telefonverkehr von Rußland nach New York, wobei es sich hier vermutlich um diplomatischen und anderen vorrangigen Kontakt handeln dürfte.« »Also über Finnland.« »Richtig, aber das Ganze läuft über Notgeneratoren, weil auch in Helsinki der Strom ausgefallen ist.« »Was ist mit dem Kernreaktor in Murmansk geschehen?« Ronnie drehte sich von ihren Bildschirmen weg und sah Jody an. Sie sprach direkt in die Kamera: »Weißt du das nicht? Es muß passiert sein, während ihr im Schlafzimmer wart. Kurz bevor wir den Kontakt nach Murmansk verloren haben, hat die Station zur Überwachung radio-
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aktiver Strahlung des norwegischen Verteidigungsministeriums auf der Kola-Halbinsel ein Uran-Isotop in der Atmosphäre aufgespürt, das nur von einer Kettenreaktion stammen kann, die der Luft ausgesetzt war. Die, allerdings unbestätigte, Schlußfolgerung lautet, daß das Kernkraftwerk Kola 3 nahe der Stadt Murmansk in der Arktis einen Supergau erlitten haben muß, weitaus schlimmer als seinerzeit Tschernobyl. Es kann genausogut sein, daß es in einem oder mehreren russischen Atomschiffen, die in Murmansk stationiert sind, zur Reaktorschmelze gekommen ist. Über die möglichen Folgen nachzudenken ist höchst unerfreulich.« »Tue es bitte trotzdem«, bat Jody. »Erzähl uns etwas darüber.« Ronnie hob an zu einer Dissertation über die Auswirkungen radioaktiver Kontaminierung auf den Arktischen Ozean. Weit entfernt, auf der anderen Seite des Planeten, gelang es unterdessen der Tokio-Stromgesellschaft, die Stromversorgung wieder vollkommen herzustellen. Die Japaner bekamen so Gelegenheit, festzustellen, daß sechzig Prozent ihrer Großrechner Schrott waren. Das zentrale Bankensystem war hinüber, nur ein paar Privatbanken hatten den Wechsel überlebt. Nur ein einziger, erst ein Jahr alter Kommunikationssatellit des japanischen Militärs war noch funktionstüchtig. Er gestattete den Verteidigungskräften wenigstens lokalen Telefonverkehr. Die Uhren tickten. Docs Telefon klingelte. »Scheinbar das einzige Telefon in New York, das noch funktioniert«, sagte Packard. »Nicht ganz«, sagte Doc. »Was gibt's?« »Sie werden nicht glauben, wer gerade bei uns aufgekreuzt ist.« »Der Bürgermeister«, sagte Doc.
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»Woher wissen Sie das?« »Ich habe einen vorzüglichen Draht zum Polizeifunk. Wie geht es ihm?« »Er hat einen leichten Herzinfarkt erlitten. Wir werden einen Bypass legen.« »Heute nacht?« »Ja.« »Wird er auch ohne den Bypass noch 'ne Stunde überleben?« »Klar.« »Kann er sprechen?« »Rudy spricht nicht. Rudy brüllt! Nur, daß er momentan Todesängste aussteht.« »Weiß er, daß Ihr Telefon funktioniert?« »Nein.« »Gut«, sagte Doc. »Ich muß Sie um einen Gefallen bitten, und ich kann ihn auch wieder gutmachen. Also Bill, mein Vorschlag sieht so aus: Copeland wird anrufen. Er kennt den Bürgermeister, zumindest behauptet er das, sie haben wohl ein paar Mal zusammen zu Mittag gegessen. Ich rufe Donnie sofort an, und Sie bleiben bei Ihrem Telefon und warten auf seinen Anruf. Übrigens, ich kann die Telefone zum Laufen bringen. Das ist mein Geschenk an Sie für den Draht zum Bürgermeister. Ciao.« Klick. Freizeichen. Nebraska 34 - Alabama 21. China nahm wieder Zuflucht zum Abakus. In Indonesien brach eine spontane Revolution aus. Doc wählte. Copeland war sofort am Apparat. »Hallo, Donald. Genießt du die Vorführung?« »Doc, also, ich muß schon sagen«, stieß Copeland atemlos hervor. »Das ist riesig, verdammt noch mal! Phantastisch! Die unglaublichste Software, die ich je zu sehen bekommen habe. Ein Kunstwerk!«
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»Danke, Donald. Freut mich, daß es dir gefällt.« »Wenn ihr es schafft, daß in New York die Lichter anbleiben - Himmel! Ist dir eigentlich klar, was wir da in Händen halten, wenn es funktioniert? Ach, selbst, wenn es nicht funktioniert! Das ist eigentlich völlig egal.« »Ja, ich glaube schon.« »Es ist ein Vermögen wert. Es ist praktisch eine Revolution.« »War mir klar, daß du es von der Seite betrachten würdest, Donnie. Du hast einen Riecher fürs Geld.« »Ich will mitmachen.« »Aha. Interessant. Und wie sieht's mit Ihnen aus, Mr. Spillman? Wollen Sie auch dabeisein?« »Hä? Klar. Sofort. Was soll ich tun?« »Siehst du, Donnie, es geht schon los, der erste Interessent. Das Paket ist für elektrische Einrichtungen maßgeschneidert. Da wird dein neuer Markt liegen. Die Banksoftware arbeitet wunderbar, aber das hier ist viel besser. Es ist systematischer. Es trägt all den unterschiedlichen Wegen Rechnung, auf denen multiple Systeme verbunden sein können. Ein Mitglied meiner Mannschaft hat es geschrieben. Er heißt Bo Daniels. Er hat einen Orden verdient, und außerdem einen Riesenhaufen von deiner Kohle.« »Ich will mitmachen«, wiederholte Copeland. »Wo liegt der Preis?« »Willst du nicht ein Angebot machen, Donnie? Du hast mir doch immer gesagt, der Gegner soll die erste Zahl nennen. Du bist der Gegner. Schieß los, Baby.« »Dir macht das Ganze einen Riesenspaß, stimmt's?« »Ungeheuer!« »Du hast mich den ganzen Tag verarscht. Verdammt noch mal, du hast mich fünf Jahre lang verarscht, und jetzt knallst du mir das um die Ohren!«
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»Du hast eine bemerkenswert klare Einsicht. Wieviel, Donnie?« »Zwanzig Millionen.« »Nie!« »Dreißig.« »Hmmm.« »Fünfunddreißig.« »Ich muß hier für einen Haufen Leute sorgen, Donald. Eine ganze Mannschaft.« »Fünfzig. Fünfzig Millionen Dollar und alle Rechte.« »Okay. Das dürfte so ungefähr hinkommen. Ach, übrigens, du kennst doch den Bürgermeister, oder?« »Klar. Ich kenne Rudy. Und? Jetzt geht's ums Geschäft.« »Wußtest du, daß er heute nacht einen Herzinfarkt hatte?« »Wie bitte?« »Er liegt im Bellevue. Bill Packard wird ihn gleich aufschneiden und ihm einen Bypass legen. Wie gefällt dir das? Also, ich hab' da ein Problem. Wir haben ein hübsches kleines Softwarepaket, das Con Edison heute nacht den Arsch retten könnte. Leider sind wir dazu nur in der Lage, wenn wir von ConEd umgehend ein paar wichtige Informationen bekommen. Ich brauche Master-Paßwörter. Also, Donnie. Das ist deine Fahrkarte zu Ruhm und Reichtum, der Eintrittspreis, dideldei, dideldum. Du kennst den Bürgermeister und du kennst auch den Direktor von ConEd, oder?« »Peter Wilcox? Nur ein entfernter Bekannter.« »Weißt du, wo er heute nacht sein wollte?« »Auf einer Party im World Trade Center.« »Also, gib dem Bürgermeister seine Mobilfunknummer. Tu, was du tun mußt, Donnie. Besorg mir die Mastercodes.«
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»Herrje! Kannst du mir 'ne Telefonleitung freischalten?« »Schon passiert. Ruf Bill im Krankenhaus an, auf seiner Büronummer. Er wartet auf deinen Anruf.« »Erkläre mir noch mal genau, was das ist, diese MasterPaßwörter, damit ich genau weiß, wovon ich zum Teufel eigentlich rede.« Doc erklärte es ihm und legte auf. Er drehte sich zum Mitternachts-Club um und fragte: »Also, Kinder, was haltet ihr von fünfzig Millionen Dollar?« Adrian schwang herum und starrte Doc an. Die Zahl war interessant genug, um sogar ihn von seinen Bildschirmen loszureißen. »Dein Anteil wird ungefähr viereinhalb Millionen betragen, Adrian«, sagte Doc. »Zusätzlich zu deinem Bonus, aber vor Steuern.« Zum ersten Mal seit zwei Jahren kam ein Lächeln über Adrians Lippen. »Wird doch sowieso nie 'ne Steuerprüfung geben«, sagte er. »Doch, die wird es geben«, gab Doc zurück. »Täusch dich da nicht. Vielleicht haben sie keine Rechner mehr, aber die werden immer einen Weg finden, um auch ohne an dein Geld zu kommen.« Oben, in der 85. Straße, starrte Copeland auf das Funktelefon in seiner Hand und dachte nach. Das könnte Docs größter Trick sein. Was hatte er denn wirklich in Händen? Eine hübsche Videokassette, einen Blick durch die Überwachungskamera auf einen Haufen Freaks, die in einem Raum voller High-Tech-Hardware saßen. Einen IBM 390er Großrechner, Workstations und Computer, wohin man auch sah, mehr Bildschirme, als einer zählen konnte, quäkende Polizeifunkempfänger und Kurzwellenübertragungen auf Russisch und Chinesisch. Das sollte
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sich wirklich alles bei ihm in der Nassau Street befinden? Herr im Himmel! Wer hätte das geahnt! Könnte ebenso alles nur gestellt sein. »Was glaubst du, Jonathan. Ist das alles nur Kacke?« »Keine Ahnung, Mann, aber weißt du was? Es ist mir egal. Ich sehe einen Typen, der gegen einen bösen Feind kämpft, während alle anderen hysterisch durcheinanderrennen wie kopflose Hühner. Wenn das nur Kacke ist, dann ist es die großartigste Kacke, die mir je zu Gesicht gekommen ist. Gib ihm, was er will. Tu, was er sagt. Die Welt ist sowieso total im Arsch, und es gibt nichts mehr zu verlieren. Ruf den Bürgermeister an.« Copeland wählte. Packard war am Apparat. »Hier ist Copeland.« »Hast du mit Doc gesprochen?« »Ja.« »Er hat gesagt, daß du anrufst, aber er hat mir nicht verraten, worum es geht.« »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe das Gefühl, daß es stimmt. Es nennt sich Mitternachts-Club.« Copeland erklärte, Packard hörte zu. Zuerst war er skeptisch, doch nach und nach realisierte er, daß der Rechner in der Nassau Street für Manhattan schlicht und ergreifend den Unterschied zwischen hell und dunkel bedeuten könnte. »Also, gib mir den Bürgermeister«, bat Donald. »Du mußt dafür sorgen, daß er wirklich mit mir spricht.« Packard nahm sein Funktelefon und ging über den Flur zum Privatzimmer des Bürgermeisters. Rudy lag im Bett. Er trug ein Klinikhemd und hatte eine Infusionsnadel im Arm. »Herr Bürgermeister, hier ist ein Anruf für Sie.« »Was? Sie haben ein Telefon, das funktioniert? Wer ist es?«
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»Donald Copeland.« »Der Wall-Street-Heini? Der hat doch für die Chase Manhattan das Y2K-Problem gelöst, oder?« »Genau der.« »Kennen Sie ihn?« fragte der Bürgermeister den Arzt. »Von Kindesbeinen an.« »Woher weiß er, daß ich hier bin?« »Ihre Sicherheitsleute verbreiten es lauthals über ihre Funkgeräte. Jeder, der einen guten Empfänger hat, kann mithören.« »Warum sollte ich von allen Menschen, mit denen ich sprechen könnte, weil endlich ein Telefon funktioniert, gerade mit Donald Copeland reden? Weil er einen tollen Empfänger hat?« »Er behauptet, er hätte die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß in Manhattan die Lichter anbleiben.« »Die Lichter?« »Sie wissen schon, Glühbirnen, Leuchtstoffröhren, Niedervoltlampen.« »Sie sind ein richtiger Schlaumeier, Dr. Packard.« »Das fasse ich als Kompliment auf, Herr Bürgermeister, aber ich behandle alle meinen Patienten gleich. Sie bilden keine Ausnahme. Hören Sie, Sie kennen mich nicht. Es gibt keinen Grund für Sie, mir zuzuhören. Ich bin nur hier, um mich um Ihr Herz zu kümmern, nicht, um Sie in Regierungsfragen zu beraten, aber Sie sollten diesen Anruf wirklich entgegennehmen.« »Geben Sie schon her«, schnappte der Bürgermeister und griff nach dem Telefon. »Copeland?« »Euer Ehren, es tut mir unendlich leid ...« »Hören Sie auf mit dem Gesülze. Was wollen Sie?« »Herr Bürgermeister, Sie wissen ganz sicher, daß Con Edison mit dem Nordoststromnetz verknüpft ist, dem
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viele verschiedene Stromerzeuger angehören. Wenigstens zwei dieser Unternehmen, eines in Vermont und eines oben im Norden des Staates New York, sind absolut nicht Y2K-gerüstet. Sie werden für den Zusammenbruch des gesamten Netzes verantwortlich sein. Con Edison ist in keinster Weise darauf vorbereitet, den Stromausfall in den Griff zu bekommen, der ein paar Sekunden nach Mitternacht auf uns zurollen wird. Aber mein Unternehmen ist darauf vorbereitet. Wir sind bereit, der Stadt diesen Service unentgeltlich zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, daß in Manhattan die Lichter anbleiben. Bei Con Edison gibt es noch mehr Probleme, die wir lösen können. Die Telekommunikation zum Beispiel, um nur eines zu nennen. Wir haben bereits einen Haufen Arbeit in deren Telefonleitungen gesteckt. Con Edison hat keine Ahnung, was wir getan haben, und auch Bell Atlantic weiß nichts davon. Wir haben jedenfalls an Problemlösungen gearbeitet. Im Gegensatz zu Ihnen sind die Leute von ConEd in diesem Moment in der Lage, miteinander zu kommunizieren.« »Wollen Sie mich verarschen?« »Nein, Sir. Wir können das gleiche für Sie tun. Hören Sie, wir haben ConEd bereits mit unzähligen Informationen versorgt, um sie in ihren Anstrengungen gegen Y2K zu unterstützen. Sie könnten sich davon überzeugen, aber dazu fehlt Ihnen jetzt die Zeit. Sie müssen begreifen, Herr Bürgermeister, daß wir nur eine einzige Chance haben, Manhattan vor einem Stromausfall zu bewahren, und dazu benötigen wir Ihre Hilfe.« »In meinen Ohren klingt das wie ein Haufen Scheiße, Copeland.« »Wir haben zwölf Millionen Dollar ausgegeben, aus Pflichtgefühl, gewissermaßen. Wir wissen, daß die Com-
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putersysteme von Con Edison versagen werden. Wir wissen auch, daß unsere Systeme nicht versagen werden. Wir sind nicht nur in der Lage, Con Edison zu retten, sondern auch New York.« »Also, noch mal zum Mitschreiben«, sagte der Bürgermeister. »Erklären Sie mir, was Sie Ihrer Meinung nach tun können und was passiert, wenn Sie's nicht tun. Spucken Sie's schon aus.« Als Copeland seine Ausführungen beendet hatte, war der Bürgermeister davon überzeugt, daß, wenn auch nur die Hälfte von dem, was Copeland behauptete, realisierbar war, und er Copelands Leuten die Genehmigung dazu erteilte, er die Lorbeeren einheimsen könnte. Wenn es schiefging, wäre die Welt dermaßen im Arsch, daß niemand sich je an den Mitternachts-Club erinnern würde, wenn er überhaupt je davon gehört hatte. »Ich habe schon den ganzen Abend versucht, den Chef von ConEd, diesen Peter Wilcox, aufzutreiben«, gestand Rudy ein. »Ich habe keine Ahnung, wo er steckt. Sein Telefon geht nicht.« »Ich weiß, wie Wilcox zu erreichen ist« sagte Copeland. »Wenn Sie ihn ans Telefon kriegen, dann sagen Sie ihm, er soll zu der Schichtleiterin in der Leitzentrale auf der West End Avenue Kontakt aufnehmen. Sie heißt Sarah McFadden. Wir brauchen eine Diskette mit sämtlichen MasterPaßwörtern. Wir werden einen altgedienten, sehr zuverlässigen Polizeibeamten als Kurier zu ihr schicken. Er wird sich direkt bei Ihnen melden. Sein Name ist Ed Garcia. Er ist der Leiter des 24. Reviers in Manhattan. Das sind unsere Bedingungen.« Rudy hörte ihm zu und wog die Risiken ab. Er dachte daran, daß ihm eine Herzoperation bevorstand, aus der er womöglich nie wieder erwachte. Wollte er eine Stadt
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zurücklassen, die im Chaos versank? Oder wollte er eine Stadt zurücklassen, die in dieser Nacht in gleißendem Licht hell erstrahlte, stolz und einsam? Ihm bot sich hier eine unglaubliche Gelegenheit, deren Ergebnis er vielleicht nie zu Gesicht bekommen würde. »Also gut«, sagte er. »Ich mache es. Und danach wird mir Ihr Freund, dieses Aztekenarschloch, das Herz rausschneiden.«
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Die vierundzwanzigste Stunde begann. Der Countdown lief. Noch sechzig Minuten. Um zehn Uhr Abends war der Millennium Bug in Brasilien und Venezuela eingeschlagen. Ölquellen, Pipelines und Raffinerien wurden niedergemäht wie Weizen von einer Stahlsense. Die Versorgungsketten wurden schon an der Quelle unterbrochen. Minen, Eisenbahnen, Chemiewerke, all die Industriezweige, auf denen die Wirtschaft eines Landes basierte, schwankten, auf den Ebenen und Bergen Südamerikas gefährlich nahe am Rande des Abgrunds. In Minen und Fabriken waren oft die Filteranlagen die ersten Systeme, die zusammenbrachen. Der Ausfall der datumsabhängigen Sensoren hatte den Austritt von Gasen und giftigen Flüssigkeiten zur Folge, die sich entweder in Luft und Wasser verteilten oder den Betrieb lahmlegten, noch bevor die anderen Systeme durcheinandergeraten konnten. In Südamerika hatte der Millennium Bug die gleichen Auswirkungen wie in allen Ländern der Dritten Welt. Was in den Küstenstädten und Industriezonen zu Verwüstungen führte, hatte auf die ländlichen Regionen nur minimalen, wenn nicht gar positiven Einfluß. Die Regenwälder würden ohne Zweifel davon profitieren, daß Abholzung und industrielle Expansion stoppten, weil den Lastern das Benzin ausging. Nun, zur letzten Stunde, erreichte der Millennium Bug die äußersten nordöstlichen Provinzen Kanadas. Der unsichtbare Feind hatte Amerika erreicht. Mit tausendfünf-
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hundert Stundenkilometern glitt er lautlos über die gefrorene Steppe. Ein stummer Pfeil, der seine Spitze auf die industrialisierteste aller Städte richtete, dorthin, wo sich die größte Dichte an computerisierter, automatisierter Maschinerie befand, auf New York City, Die Bewohner der Außenbezirke hatten den ganzen Tag lang die Stromausfälle von Wladiwostok bis Dublin im Fernsehen verfolgt. Im allerletzten Moment beschlossen Tausende, daß ihre Wohngegend ganz und gar nicht der Ort war, an dem sie sein wollten, wenn der Millennium Bug New York erwischte. Mit voller Wucht rammten sie gegen die Tore der Stadt. Aus Angst vor ihrem eigenen Zuhause flüchteten sich die Anwohner von Brooklyn und Queens ostwärts nach Long Island. Doch dort gab es niemanden, der sie mit offenen Armen willkommen hieß. Der Vorort war diesem Ansturm nicht gewachsen. Die Bewohner der Bronx bewegten sich nach Norden, in die Bereiche Westchester County und Connecticut hinein. Sie überschwemmten die Vororte, fraßen die Fastfoodläden leer und zapften auch den letzten Tropfen Benzin aus den Vorratstanks sämtlicher Tankstellen im Umkreis von achtzig Kilometern. Die meisten dieser Wanderheuschrecken, die über die Vororte herfielen, hatten weder ein Ziel, noch waren sie dazu ausgerüstet, eine kalte Nacht im Freien zu verbringen. Um neun Uhr abends versuchten verzweifelte Beamte in den Städten um New York, den Gouverneur und die Staatspolizei zur Hilfe zu rufen, doch die völlig überlasteten Telefonleitungen waren zu nichts zu gebrauchen. In Manhattan nutzten viele diese letzte Stunde, um zu beten. Von Harlem bis Bowery Park öffneten Kirchen, Moscheen und Tempel ihre Pforten und nahmen unzählige angsterfüllte Gläubige auf. Es war Sabbat, und die Frei-
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tagabend-Andachten in den vielen jüdischen Synagogen waren beendet. Die Synagogen waren voll gewesen wie selten zuvor. Viele dieser mit einem Mal so Frommen blieben noch stundenlang in den Tempeln, um ihre Gebete fortzusetzen und zu diskutieren, wie sie mit der Mühsal fertig werden sollten, die vor ihnen lag. Der Jahrtausendwechsel und das Ereignis, das den Wechsel markierte, ging über die Christenheit und den zweitausendsten Jahrestag der Geburt Christi weit hinaus. Die Katastrophe berührte jeden einzelnen, arm wie reich, gläubig wie ungläubig. Der Bug hatte keine Ahnung von heiligen Schriften, von Weissagung, von der Erbsünde, von Reinkarnation oder dem Messias. Doch überall in der Stadt suchten Männer und Frauen jeglichen Glaubens die Weisheit ihrer Heiligen Schrift. Sie lasen die Torah, die Gospels, den Koran, das Tibetanische Buch der Toten, und diese alten Texte gaben ihnen den Mut und die Kraft, die sie brauchten, um diese lange, dunkle Nacht zu überstehen. In der Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk geschah unterdessen ein Wunder. Der Strom der Menschen, die in ihre Gotteshäuser pilgerten, ergoß sich auch in diesen inzwischen berühmten Hafen. Auf der Suche nach Trost in der Gemeinschaft ihrer Brüder fanden Abertausende religiöser Wahrheitssucher den Weg hierher. Ganze Kirchengemeinden kamen unter der Führung ihrer Priester. In Windeseile wurde ein öffentliches Massengebet organisiert, das exakt eine Minute vor Mitternacht beginnen sollte. Sie waren kilometerweit hierhergelaufen, aus so entfernten Stadtteilen wie Rye und Yonkers. Sie hatten den ganzen Tag und die halbe Nacht darum gekämpft, Teil dieser Zufluchtstätte zu werden. Diese Menschen wollten nicht zulassen, daß betrun-
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kene Rowdies ihnen das bedeutendste religiöse Erlebnis ihres Lebens zunichte machten. Zahlenmäßig weit überlegen, drängten die Rechtschaffenen die Rabauken stadteinwärts auf den Times Square zu. Ed Garcia hatte keinen blassen Schimmer, aus welcher Richtung der Wind als nächstes wehen würde. In der einen Minute entwickelte sich vor seinen Augen ein irischer Bürgerkrieg, dann ein Aufruhr und danach eine mystische Massenversammlung. Wie war das doch gleich? Sei vorsichtig bei dem, was du dir wünscht; es könnte in Erfüllung gehen. Ed ging in seinem Büro auf und ab. Er trank einen Kaffee und wurde beinahe verrückt über der Frage, was er tun sollte, wenn die Lichter ausgingen. Was würde mit all den Menschen passieren? Was würde mit den Massen am Times Square passieren? Drei bis vier Millionen Silvesternarren waren in der Stadt. Allein in seinem Bezirk waren es fünfzigtausend, wenn nicht mehr. Er konnte keine genauen Zählungen bekommen. Garcia hatte schon eine ganze Menge Verrücktes gesehen, aber in einem solchen Zustand des Wahnsinns hatte er diese Stadt noch nie zuvor erlebt. Was in New York als normal galt, würde woanders als vollkommen irre gelten. Er hatte buchstäblich alles schon einmal erlebt: politische Tumulte, Rassenunruhen, Superbowlspiele, gewalttätige Streiks, prügelnde Polizisten, aber noch nie alles auf einmal. Die Gefangenen in seinen überfüllten Zellen hatten Angst. Der Verkehr hatte die Stadt im Würgegriff; das Fernsehen war im Arsch; die Telefone waren im Arsch, und dabei war es noch nicht einmal Mitternacht. Er zog eine Schreibtischschublade auf, tätschelte eine Flasche guten Single Malt Scotch, seufzte und stellte sie wieder zurück an ihren Platz.
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Das Telefon klingelte. Garcia sprang auf und starrte es an, als wäre es plötzlich lebendig geworden. Sachte nahm er ab. »Bezirk zwo vier«, sagte er. »Captain Garcia.« »Hallo Ed. Hier ist Copeland.« »Donald! Gott im Himmel! Ich bin so überrascht, daß das Telefon geklingelt hat. Normalerweise steht es keine Sekunde still, aber heute nacht, naja, du weißt schon.« »Was? Glaubst du etwa, du hättest Probleme? Ich bin in meinem Scheißhaus eingesperrt!« »Was?« »Ja. Der Scheißcomputer läßt mich nicht mehr raus.« »Dieses Monstrum in deinem Keller? Das ist wirklich komisch, Donnie, wenn man es mal genauer betrachtet. Kannst eigentlich von Glück reden, daß es so ist. Draußen ist sowieso die Hölle los.« »Hör mal, Ed, kannst du mir einen Gefallen tun? Ich brauche einen Polizisten, dem ich vertrauen kann. Ich will, daß du eine bestimmte Nummer anrufst, die ich dir gleich geben werde. Du wirst sofort merken, wer am anderen Ende ist.« »Ach ja? Klingt mir alles ein bißchen sehr geheimnisvoll, Donnie, und ich habe wirklich viel zu tun. Jeder religiöse Spinner aus New York ist in meinem Revier. Meine Arrestzellen sind voll. Meine Männer haben halb den Verstand verloren. Komm zur Sache, Junge.« »Ed, du wirst jetzt den Bürgermeister anrufen. Er wird dich beauftragen, zur Leitzentrale von Con Edison, Ecke 65. Straße und West End Avenue, zu fahren und eine Computerdiskette zu holen. Diese Diskette wirst du in meine Firma in der Nassau Street bringen.« »Den Bürgermeister?« »Ja, Giuliani höchstpersönlich.«
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»Du willst mich auf den Arm nehmen.« »Nein, Sir. Schreib dir die Nummer auf.« »Sekunde. Also, angenommen, du sagst die Wahrheit. Wie soll ich da hinkommen? Die ganze Stadt ist ein einziger Parkplatz.« »Der Bürgermeister schickt dir ein Motorrad rüber, der Fahrer wird dich mitnehmen.« »Und wie soll ich ihn anrufen, wenn das Scheißtelefon nicht geht?« »Es wird gehen.« »Woher willst du wissen, daß es geht?« »Es wird gehen. Verdammt noch mal!« »Hast du vielleicht 'nen Telefonzauberstab?« »Ich ruf dich schließlich gerade an, stimmt's?« »Stimmt.« »Okay. Es wird funktionieren.« »Gib mir die Nummer.« »Es ist Bill Packards Nummer im Bellevue. Hast du die?« »Ja. Warum sollte ich den Bürgermeister gerade dort erreichen?« »Weil er dort liegt, Ed. Er hatte einen Herzinfarkt.« »Rudy?« »Einen anderen Bürgermeister haben wir nicht.« »Ist er tot?« »Wie soll er denn mit dir telefonieren, wenn er tot ist? Überleg doch mal!« »Er will, daß ich für ihn den Kurier spiele? Ich weiß schon, warum ich diesen Wichser hasse wie die Pest.« »Vergiß mal die Politik, Ed. Die Sache ist viel wichtiger.« »Worum geht es überhaupt?« »Das kann Rudy dir erzählen, wenn er will. Ruf ihn einfach an. Vielleicht kannst du ja später bei mir vorbeischauen und mich aus meinem Haus rausholen.«
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Garcia mußte lachen. »Ach nee«, sagte er. »Ich lass' dich lieber, wo du bist. Dann kommst du wenigstens nicht in Schwierigkeiten.« »Jonathan ist bei mir. Wir sind beide hier eingesperrt. Shirley ist gegenüber und hat keine Ahnung, daß er hier ist. Sie ist wahrscheinlich längst komplett durchgeknallt.« »Warum kann er sie denn nicht anrufen, wenn dein Telefon geht?« »Gott im Himmel, Ed. Ich kann dich anrufen, ich kann Packard anrufen, aber ich kann nicht einfach irgendwen anrufen.« »Warum denn nicht?« »Hör endlich mit der Fragerei auf und ruf Bill an, alles klar?« »Gib mir 'nen Tip. Gib mir einen Grund, warum ich mich überhaupt daran erinnern soll, daß du angerufen hast.« »Glaubst du, das Ganze ist ein Silvesterspaß?« »Ja, genau das ist mir gerade in den Sinn gekommen.« »Ed, wir versuchen zu verhindern, daß in New York die Lichter ausgehen. Um Gottes willen. Die Uhr tickt!« Nach vierzig Jahren Freundschaft vermochte Ed zu sagen, ob er verarscht wurde oder nicht, und er wußte, daß Copeland auf seine unnachahmliche, überdrehte, melodramatische Art die Wahrheit sagte. »Die Lichter«, sagte Garcia. »Du hast's kapiert. Wir sehen einem riesigen Stromausfall entgegen, und es gibt nur eine Möglichkeit, ihn zu verhindern.« »Wie zum Teufel...« »Keine Fragen. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit für Erklärungen. Ruf den Bürgermeister an. Jetzt.« »Okay. Ich rufe ihn an.«
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Klick. Freizeichen. Niemals hatte das Tuten freundlicher geklungen. Garcia suchte sich Packards Nummer raus und rief ihn an. »Packard.« »Bill? Hier spricht Ed. Copeland sagt, daß der Bürgermeister bei dir ist.« »Moment. Hieeer koooomt Ruuudy!« »Du hast wirklich was Teuflisches an dir, weißt du?« sagte Jody zu Doc. »Ich habe dir doch gesagt, ich mag Mephistopheles.« »Du hattest aber Riesenglück, daß der Bürgermeister ausgerechnet im Bellevue festsitzt.« Doc zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber mir war klar, daß er irgendwo festsitzen würde, entweder in Gracie Manison, im Rathaus oder in seinem Auto. Seine Abschirmung ist keinen Pfifferling wert, also wäre er immer leicht zu orten gewesen. Politiker sind im allgemeinen nicht sehr helle. Sie sind genau wie alle anderen.« »Also hast du immer geplant, ihn in die Sache zu involvieren, egal wie?« »Das ist Plan B. Es wäre natürlich viel glatter gelaufen, wenn Sarah uns die Master-Paßwörter besorgt hätte. Aber wie es jetzt aussieht, wird ConEd vielleicht noch besser kooperieren. Vielleicht. Vielleicht. Vielleicht. Ich hoffe es.« »Und wolltest du Copeland von Anfang an so damit überfallen?« Er zwinkerte, kicherte und setzte seine Jagdmütze mit den Ohrenklappen auf. »Jaha!« prustete er. »Das war immer schon Plan A. Habgier ist ein verläßlicher Antrieb. Funktioniert so gut wie ein Zauberspruch. Ich habe ihn zu Hause eingesperrt, da-
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mit ich sicher wußte, wo er ist, falls ich ihn brauchen sollte. Ich wollte nicht, daß er verlorengeht.« Nach elf Uhr abends begannen die Menschen auf dem Times Square, die Minuten zu zählen. Das Stimmengewirr und der Tumult verdichteten sich zusehends. Das Geschrei Tausender Stimmen schwoll an zu wahrem Kriegsgeheul. Die Autos hupten pausenlos. Auf den Avenues, die von Norden nach Süden verliefen, ging gar nichts mehr, nur in den Nebenstraßen bewegte sich der Verkehr noch, jedoch in unglaublichem Schneckentempo. Von einem Ende der Insel zum anderen gingen ununterbrochen Feuerwerkskörper hoch. Selbstgebastelte Raketen und Leuchtkugeln vom Schwarzmarkt erleuchteten den Himmel mit Flammenbahnen und pyrotechnischen Regenbögen, die in allen Farben explodierten. In der ganzen Stadt machten sich Ladenbesitzer und Händler darauf gefaßt, ihr Hab und Gut gegen Plünderer zu verteidigen, sollten wirklich die Lichter ausgehen. In stark ethnisch geprägten Wohngegenden, bei den Griechen, den chassidischen Juden und den Immigranten von den Westindischen Inseln in Brooklyn, bei den Koreanern, Indern und Italienern in Queens, bei den Schwarzen der Mittelklasse in der Bronx und in Harlem, standen engagierte Mitglieder der Bürgerwehren Gewehr bei Fuß, um ihre Enklaven vor Anarchie zu beschützen. Die Präsenz von Polizeibeamten war gefährlich mager. Sie hatten alle Hände voll zu tun mit betrunkenen Randalierern, dem Verkehrschaos und dem Mangel an Kommunikation. Die Einsatzleitung konzentrierte so viele Beamte wie möglich in die Geschäftsviertel, wo sie geflissentlich zur Seite blickten, wenn sie mit bewaffneten Ladenbesitzern konfrontiert wurden.
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Die ganze Stadt zitterte vor Angst und gespannter Erwartung. Um 23.12 Uhr legte Doc Johnny Cashs The Midnight Special auf und wurde dann umgehend von Carolyn seiner musikalischen Pflichten entbunden, die die Smashing Pumpkins hören wollte. Die Minuten tickten auf einer Million Uhren, Minute für Minute ronn dahin. Um 23.14 Uhr stieg Ed Garcia auf eine Polizeikawasaki und nahm seinen Platz hinter einem altgedienten Motorradpolizisten ein, der zu den Elitekurieren des Bürgermeisters gehörte. »Wissen Sie, wo's hingeht?« »Festhalten, Captain«, warnte der Fahrer. Er gab vorsichtig Gas, schlängelte sich durch blockierte Fahrzeuge und die Menschenmenge vor dem Revier und fuhr dann mit Vollgas und Vollbremsungen, dabei immer das empfindliche Gleichgewicht wahrend, westwärts, auf den Hudson zu. In Richtung Süden war die West End Avenue verstopft, soweit das Auge reichte, deshalb fuhr der Sergeant weiter geradeaus bis zum Riverside Park und bog dort in eine Motorradspur ein. Erschreckte Fußgänger stoben zur Seite. Mit heulender Sirene und Blaulicht jagten sie fünfunddreißig Häuserblocks den Park hinunter bis zur 65. Straße. Der Park erschien Garcia wie undeutliche Nebelschwaden. Der Ritt kam ihm vor wie eine Psychoachterbahnfahrt, die Nacht überschwemmte seine Sinne. Wie magische Halluzinationen erleuchte das immerwährende Feuerwerk den Himmel, die Explosionen selbst verloren sich im Höllenlärm der Stadt und dem Röhren der Maschine. Zu seiner Rechten funkelten die Lichter zahlreicher Ausflugsdampfer heiter und wie verzaubert auf dem Fluß. Vor ihm erstreckte sich
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der offene Asphalt im Licht des Scheinwerfers, und das Motorrad beschleunigte wie ein Katapult. Mit einer Hand umklammerte Garcia die Taille des Fahrers. Im Abstand von Sekunden sah er auf seine Armbanduhr, die vor seinen Augen auf und ab hüpfte. Er fühlte sich wie in Trance. Sein Hirn hörte auf, die Informationsströme zu verarbeiten, und beschränkte sich darauf, alle Sinneseindrücke aufzunehmen. Die Stadt, den Lärm, den Wind und die Kälte, den Geruch der Lederjacke des Fahrers, das Vibrieren der Maschine zwischen seinen Schenkeln, das sich anfühlte wie eine kontrollierte Kettenreaktion. Der Fahrer lenkte das Motorrad auf die 65. Straße, zurück in den Verkehr. Gekonnt schlängelte er sich an Autos und Lastwagen vorbei. Knallkörper, Hupen, Männer im Smoking, der komplette Silvesteraufzug von Menschen, die außergewöhnliche Dinge taten. Auf Autodächern stehen, in Gullys pissen, Champagner aus Frauenschuhen schlürfen. Mit einem weißen Schutzhelm auf dem Kopf, der sie als Schichtleiterin auswies, wartete Sarah McFadden inmitten einer Horde Feiernder auf dem Bürgersteig. »Sind Sie Mrs. McFadden?« fragte Garcia. »Ja, Sir.« »Zeigen Sie mir irgendeinen Ausweis.« Sarah zog einen Bildausweis heraus, den sie an einer Kette um den Hals trug, und beugte sich vor. »Sie geben das Doc Downs und sonst niemandem. Ein Anruf vom Bürgermeister war nötig, aber hier ist es endlich. Ich hoffe ...« »Können Sie sich sparen«, schnauzte Garcia. »Her mit der Diskette. Doc ruft Sie an, sobald er sie hat.« Sie brausten davon, zurück in das Gewühl. Zuerst versuchte der Fahrer es mit dem West Side Highway, dann mit der 12. und der 11. Avenue, aber auch hier waren alle
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Spuren total blockiert. Die Leute waren aus ihren Autos ausgestiegen, sie sangen und tanzten auf der Straße. Mit aufgeblendetem Scheinwerfer und Sirene, teilweise auf dem Bürgersteig fahrend, kämpften sie sich Zentimeter für Zentimeter downtown, Richtung Wall-Street-Viertel. An der 42. Straße erhaschten sie einen Blick auf die Videoleinwände und die gigantischen Schirmdächer über dem Times Square. Unter seinem Helm konnte Garcia nichts hören außer dem Röhren des Motors und dem Heulen der Sirene, doch er konnte spüren, wie die Stadt unter den Rädern bebte. Um 23.30 Uhr hatten sie es bis zur 34. Straße geschafft. Um 23.32 Uhr wurde Bürgermeister Giuliani von einem Anästhesisten in Narkose versetzt. Um 23.39 Uhr kam der Präsident der Vereinigten Staaten mit jenen Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates zusammen, die den Weg ins Weiße Haus bewältigt hatten. Um 23.42 Uhr, Ostküstenzeit, an der Westküste war es 20.42 Uhr, beschlossen die zum Nordweststromnetz zusammengeschlossenen Erzeugergesellschaften, sich voneinander zu trennen und das Netz zu demontieren. Die restlichen Stromnetze der Nation, auch das Nordostnetz, waren dazu bestimmt, auf Gedeih und Verderb verknüpft zu bleiben. Um 23.44 Uhr verschwanden Ronnie und Judd im Schlafzimmer und schlossen die Tür. Doc zündete sich einen Joint an. Carolyn tanzte. Adrian spielte mit seiner Eisenbahn. Bo ging zappelig auf und ab, und Jody, inzwischen mit ihrer Kamera verschmolzen, filmte alles, was sich abspielte. Um 23.45 Uhr sahen Copeland und Spillman im Fernsehen, wie Barbara Streisand ein Liebeslied an New York City heraus schmetterte, live und direkt aus dem Madison
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Square Garden, hinein ins Wohnzimmer in der 85. Straße. Zu beiden Seiten der Insel, jenseits der Flüsse, verharrte Amerika und starrte auf die Uhr. Unterhalb des Village nahm der Stau etwas ab. Auf dem Lower Broadway konnte der Fahrer wieder Gas geben. Um 23.46 Uhr erreichte Garcia die Nassau Street. Sie hatten noch vierzehn Minuten. Doc und Bo standen auf der Straße. Bo riß die Diskette an sich und stürmte sofort hinauf. Doc blieb unten und bat den Polizisten, mit hinaufzukommen. »Ich kann wirklich nicht. Ich muß zurück und mich um meinen Bezirk kümmern«, sagte Garcia. »Ich glaube, daß sie das von hier aus besser könnten«, erklärte Doc. »Kommen Sie mit rein.« Der Fahrer drehte den Gashebel und sagte: »Was ist jetzt, Captain?« »Ich muß zurück, Doc. Ich muß Copeland aus seinem Haus befreien. Wußten Sie, daß er eingesperrt ist?« Doc lachte, winkte und ging zurück in das Gebäude. Oben schob Bo die Diskette in das Laufwerk und prüfte den Inhalt. Er lud sieben Dateien in sieben Systeme, die auf dem IBM simultan laufen würden, eines für jedes der fünf Kraftwerke, eines für die Leitzentrale in der 65. Straße und eines für den Stromlastverteiler im East River Kraftwerk, der die Verbindung zum Netz darstellte. Dann verknüpfte er den IBM mit den sieben Stationen. Als Doc wieder hereinkam, war Bo gerade fertiggeworden. Endlich war er bereit, das gesamte System mit einem einzigen Knopfdruck zu übernehmen. In Bos Konsole gab es einen kleinen Bildschirm, der an das Überwachungs- und Kontrollsystem von ConEd angeschlossen war. Doc konnte fünfzig Leute erkennen, alle
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am Rande der Panik, die in einem riesigen Raum versammelt waren, der an das NASA-Komtrollzentrum in Houston erinnerte. Im Vordergrund, am Tisch des leitenden Ingenieurs, saß Sarah. Sie trug Kopfhörer und schaute ängstlich auf einen großen Bildschirm, der sich direkt über der Überwachungskamera befand. Doc setzte sich ebenfalls Kopfhörer auf und rief sie an. »Hier spricht Doc.« »Hast du die Diskette?« »Ja, Madam. Die Sicherheitscodes sind installiert worden. Wir sind soweit.« »Du hast ja richtig einflußreiche Freunde, Doc. Ich hätte im Leben nicht mehr damit gerechnet.« »Sarah, du bist der einzige Freund, den ich jetzt brauche. Ich nehme an, daß eine Menge Leute bei dir sind, die Riesenangst haben«, sagte er, ohne direkt zuzugeben, daß er sie sehen konnte. »Könnte man so sagen«, gab Sarah zurück. »Sie haben meine Gespräche mit dem Bürgermeister und Peter Wilcox mitgehört, weil ich auf die Lautsprecheranlage geschaltet habe. Sie wissen, daß ich auf Anweisung von Peter Wilcox einem Polizeicaptain namens Ed Garcia unsere Master-Paßwörter anvertraut habe.« »Haben sie begriffen, daß euer System lichterloh in Flammen aufgehen wird, wenn wir nichts unternehmen?« wollte Doc wissen. »Manche ja, manche nein. Die meisten denken, ich habe den Verstand verloren, vielleicht haben sie ja recht. Ich habe den Verstand verloren, aber hier muß ich jetzt wohl sowieso durch.« »Ich für meinen Teil bin dir überaus dankbar«, sagte Doc. »Ich übergebe dich jetzt an einen jungen Mann namens Bo Daniels. Er hat die Y2K-Lösungen für eure Ausla-
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stungs- und Kapazitätsanwendungen entwickelt. Er hat die kaputten Chips in den Zuleitungsventilen in Waterside entdeckt, von denen ich dir erzählt habe. Ein Großteil der Daten, die ich dir in den vergangenen zwei Jahren habe zukommen lassen, stammen von Bo. Alles klar?« »Was immer du sagst, Doc.« Doc stöpselte seinen Kopfhörer aus, setzte ihn ab und nickte Bo zu. »Dein Baby. Fahr vorsichtig.« »Sarah?« sagte Bo. »Hallo.« »Hallo, Bo. Bist du nervös?« »Ja.« »Ich auch.« »Also gut«, sagte Bo. »Wir sind beide nervös, aber das Kennenlernen müssen wir bitte auf später verschieben. Ich habe die Mastercodes für die fünf Kraftwerke installiert, für die Leitzentrale und den Lastverteiler im East River, und ich muß sie jetzt umgehend aktivieren. Sarah tippte auf ein paar Tasten ihres Keyboards und sagte: »Du hast das Kommando.« »Ravenswood«, sagte Bo knapp. »Prüfe. Gehört dir.« »Waterside.« »Bestätigt.« »East River.« »Bestätigt.« »Kraftwerk 59. Straße.« »Bestätigt.« »Kraftwerk 74. Straße.« »Bestätigt.« »WestEnd.« »Bestätigt.« »Lastverteiler.« »Bestätigt.«
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»Gehe jetzt zu den Lastzentralen. Wir werden ConEd auf Inselbetrieb umstellen, also vom Netz isolieren.« »Gott sei Dank«, stieß Sarah aus. »Genau das hätte meiner Meinung nach schon vor zwei Stunden geschehen müssen. Mein Chef dachte, ich wäre völlig durchgeknallt.« »Sind wir auf der gleichen Seite?« fragte Bo. »Gleiche Seite, gleicher Abschnitt, los«, sagte Sarah. »Zeig mir, was du hast, Bo. Jeder einzelne Stromversorger im Netz wird Zeter und Mordio schreien, wirklich sehr bedauerlich. Los, wir schlagen sie k.o.« »Fertig?« »Fertig.« »Pleasant Valley.« »Verknüpfung unterbrechen. Bestätigt.« »Ramapo-Landentown.« »Verknüpfung unterbrechen. Bestätigt.« »Farragut.« »Verknüpfung unterbrechen. Bestätigt.« »Goethals.« »Verknüpfung unterbrechen. Bestätigt.« »Jamaica.« »Verknüpfung unterbrechen. Bestätigt,« Bo holte tief Luft und atmete langsam aus. »Das war's. Ich kann kein Leck entdecken, du?« »Nein, Sir. Wir sind jetzt auf uns gestellt. Wir haben soeben alle Regeln gebrochen, die die Gesellschaft der Stromversorger je vereinbart hat. Ich lege jetzt überall die Hebel um und trenne die Schaltanlagen«, verkündete Sarah. »Warte. Leite jetzt alle Höchstspannungsleitungen um. In Ordnung. Isolierung beendet. Wir sind jetzt auf Inselbetrieb. Bei mir klingeln die Telefone. Ich glaube, 'ne Menge fürchterlich genervter Leute versuchen jetzt schon, mich zu erreichen.«
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»Geh nicht ran«, gab Bo zurück. Er streckte beide Daumen in die Luft und winkte Doc zu. »Sekunde. Versuche die Höchstspannungsleitungen umzuleiten - und - und - ist schon passiert!« »Stimmt«, sagte Bo. »Ich traue euren Verteilerkontrollen nicht.« »Ich glaube, du weißt, was du tust.« »Danke«, sagte Bo. »Ich werde trotzdem 'ne Menge Hilfe benötigen, ehe diese Nacht vorüber ist.« Bo fing an, Sarah mit technischen Fragen zu bombardieren. Doc ging zurück in den Aufenthaltsraum und lenkte sich mit Barbara Streisand ab. Es war 23.55 Uhr. Wenn dieser Tag jetzt zu Ende wäre, dann würde er ihn schlichtweg als perfekt betrachten. Er hatte eine neue Freundin, die er wirklich sehr mochte. Er hatte für seine kleine Bande Geächteter fünfzig Millionen Dollar herausgeschlagen. Er hatte einen Weg gefunden, diese verdammten Mastercodes zu bekommen. Bo hatte die Kontrolle über Con Edison und würde gleich herausfinden, ob sein System in der Lage war, die Kraftwerke zu steuern und genug Strom zu produzieren, um die Lichter leuchten zu lassen. Die Mitglieder des Mitternachts-Clubs klebten an ihren Bildschirmen. Jody ging von einem zum anderen und filmte die letzten Minuten. Sie ging neben Ronnie in die Hocke und machte eine Großaufnahme schweißgetränkter Schläfen, dann stand sie wieder auf, schwenkte durch den ganzen Raum, nahm die unzähligen Uhren mit aufs Bild. Doc zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten. Schon den ganzen Tag und den Abend hindurch war die Raserei der Stadt zu einem wahren Crescendo angeschwollen. Während der letzten fünf Minuten steigerte sie
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sich ins Unermeßliche. Die Bands spielten noch lauter, die Menschen tanzten wilder, die Gläubigen beteten inbrünstiger. Ein ungeheuerliches Dröhnen hing über Manhattan, wie ein dem Höhepunkt zustrebendes Schlagzeugsolo. Trotz der Kälte schwitzten die Menschen, weil keiner stillstehen konnte. Die Bewegung, zu der die unerträgliche Anspannung jedermann zwang, äußerte sich in Akten sexueller Leidenschaft, zügelloser Zerstörung oder lautstarker Bekennung aller Sünden. Leute zertrümmerten ihre Uhren und drehten ihre Stereoanlagen auf bis zum Anschlag. Tausende Pistolenschüsse gellten durch die Nacht und markierten das Ende des 20. Jahrhunderts. In der konzentrierten Ruhe eines OPs öffnete Bill Packard Rudy Giulianis Herz und rettete sein Leben. Um 23.58 Uhr kam sämtliche Raserei mit einem Mal zum Stillstand. Die Stadt erstarrte in gespenstischem Schweigen, als begriffen alle die Bedeutung des Augenblicks. Der Moment war gekommen. Um 23.59 Uhr versenkte sich das ökumenische Konzil der Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk mit seiner riesigen Schar ins Gebet. »Vater, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich ...« Die große Silvesterkugel auf dem Times Square begann ihren Abstieg. Die Menge schaute gebannt und schweigend zu. In der Nassau Street war alles bereit. Bo hatte die Mastercodes installiert. Con Edison war vom Stromnetz isoliert und arbeitete als Insel. Die anderen Stromversorger schrien Zeter und Mordio. Auf Bos Bildschirmen liefen die Originaleinspielungen der Leitzentrale. Bo und Sarah rekonfigurierten in Windeseile ihre fünf Kraftwerke, die nun die gesamte Belastung schultern mußten.
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»Ich halt' die Luft an«, schrie Ronnie. Wilson Picket ließ die letzten Töne von »The Midnight Hour« verhallen. Doc riß ein Fenster auf und schaute hinauf zum World Trade Center. Die beiden Türme umrahmten den Mond. Er küßte Jody, diesmal ohne zu zögern. Die letzten Sekunden des zwanzigsten Jahrhunderts wurden heruntergezählt wie ein Raketenstart. Fünf - vier drei - zwei - eins. Mitternacht.
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Am Times Square senkte sich die große Silvesterkugel langsam herab. Auf halben Wege hielt sie inne, als hinge die Zeit selbst in der Schwebe. 1200 Kristalle und 180 Halogenstrahler funkelten und glitzerten, doch die Kugel war gelähmt. Ein Keuchen ging durch die Menge. Die vierundzwanzig riesigen Videoleinwände wurden schwarz. Wieder keuchte die Menge. Dann war, völlig ohne Vorwarnung, auf einmal ein Film zu sehen. Ein riesiger Zug raste auf die Kamera zu. Er kam näher und näher. Blaue Funken stoben auf. Der donnernde Lärm stählerner Räder auf stählernen Schienen dröhnte durch die Lautsprecheranlage. Der unerwartete Schrekken dieses Films krachte wie Kanonenhagel in die Menge. Eine halbe Million Menschen schrien aus vollem Halse, als der rasende Zug plötzlich in einem verschwommenen Standbild zum Stehen kam. Knallrot, in riesigen Lettern, war auf der Front der Lok zu lesen: »Adrian 2000.« Dann wurden die Leinwände wieder schwarz. Im Hauptübertragungswagen droschen ein paar vor den Kopf gestoßene Techniker auf ihre Konsolen ein und schimpften ungläubig. Genau nach Plan erschienen die Bilder von den Livekameras rund um die 42. Straße wieder auf den Leinwänden. Die Feierlichkeiten nahmen strikt nach Plan ihren Lauf. Die Kapellen spielten »Old Lang Syne«. Im Central Park und vom Hudson River gingen Feuerwerke in die Luft.
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Das Ende der Welt war nicht gekommen. Christus erschien weder im 24. Bezirk noch sonst irgendwo. Die Silvesterkugel setzte ihren Abstieg fort, als wäre nichts geschehen. Der Menge entwich ein riesiger Seufzer der Erleichterung. Die Menschen waren im Glauben, der Moment sei an ihnen vorübergezogen, und bis auf eine kleine Hackereinlage sei nichts weiter geschehen. Wenn sich die große Bedrohung durch den Millennium Bug in nichts anderem äußerte, dann wollten sie feiern bis zum Abwinken! Das 21. Jahrhundert hielt in der östlichsten Zeitzone der USA Einzug. In Manhattan lösten sich Angst und Anspannung in Tanz und Gelächter. Für die Menschen hier war Y2K nichts weiter als eine Ente, eine Falschmeldung. Nichts weiter als ein riesiger Reinfall. Am Rande der Menge saß ein Fünfjähriger, dick vermummt, auf den Schultern seines Vaters. Er zeigte hinauf zu der riesigen Digitaluhr von Mickey Mouse. »Schau mal, Daddy!« Auf der Anzeige stand: »08:01h 05. Januar 1980« Doc hatte vor dem Fernseher gesessen und sich das große Finale der Streisand-Show angesehen. Barbara hatte Kußhände verteilt und »Ein frohes neues Jahr! Euch allen ein frohes neues Jahr!« gerufen. Dann hatte New York 1 zu einer Liveübertragung vom Times Square geschaltet, und so war Doc Zeuge von Adrians Schandtat geworden. Er fiel vor Lachen vom Stuhl. Doc lag auf dem Boden und hielt sich den Bauch. »Adrian, du bist wunderbar!« rief er quer durch den Raum. Dieser Junge war einfach nicht zu bändigen! Gott sei
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Dank. Doc faßte sich wieder, ging zu Adrian hinüber und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Nicht schlecht, Adrian. Hübsches Hackstück!« Adrian hob nur die Schultern und wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Monitor vor ihm zu. Er war eine Kopie des großen Bildschirms in der U-Bahn-Leitzentrale der New Yorker Verkehrsbetriebe. Rote und grüne Lichter sprangen blinkend von einem Block zum nächsten. Sie zeigten die Zugbewegungen in dem 385 km langen Tunnelnetz der Stadt. Doc schaute auf die Uhren. 00.02 Uhr. Sie hatte es zwar noch nicht registriert, aber die östliche Zeitzone war hinüber. Er ging von Station zu Station und versuchte, seine Leute zu ermutigen. Er hatte weiß Gott seinen Teil beigetragen. Er hatte die Mitglieder des MitternachtsClubs auf den großen Moment vorbereitet, aber es war wie in einem Atomkrieg. Es gab keine Möglichkeit, vorher zu üben. »Ronnie? Was macht die Wasserversorgung?« »Zufluß in Ordnung. Abfluß nicht so toll. Von vierzehn Abwasserwerken sind sechs ausgefallen, drei weitere stehen auf der Kippe.« »Carolyn? Die Telefone?« »MCI und GTE sind ausgefallen. Bell und AT&T stehen. Die verdrahteten Überlandleitungen des Militärs stehen. Die Standleitungen der Staatspolizei sind zusammengebrochen. Unsere Leitungen stehen alle.« »Judd? Das Netz?« »Das Internet ist tot. Das Netz existiert nicht mehr. DARPA steht noch, ist aber stark gestört.« »Bo?« »Werde zwei Kraftwerke in Queens und eins in Brooklyn verlieren.«
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Bos Finger flogen über seine Tastatur. Er war schweißgebadet. »Wie geht's Sarah?« fragte Doc. »Schrecklich.« Doc zündete sich eine Camel an. Eine flackernde Grafik auf Bos Hauptschirm zeigte den Stromfluß in jenem Stromnetz an, von dem Con Edison sich gerade isoliert hatte. Seit dem Moment, als die Kernkraftwerke vom Netz genommen wurden, litt das Stromnetz permanent unter Überlastung. Sämtliche Kraftwerke arbeiteten an den Belastungsgrenzen, um die riesige Nachfrage der Städte zu befriedigen, die für die Jahrtausendfeierlichkeiten in hellstem Glanz erstrahlten. Eine Reihe kleinerer Bildschirme dokumentierte den Ausstoß jedes einzelnen der zehn verbliebenen ConEdKraftwerke. Drei von ihnen schwankten bedenklich. »Konstant, läuft weiter«, sagte Bo in sein Mikrofon. »Konstant, konstant, oh, Scheiße!« Auf einigen der kleineren Bildschirme erschienen Spannungsspitzen. Die Spitze auf dem großen Monitor zeigte steil nach unten. »Es kommt! Es kommt! Achtung Sarah, halt dich fest!« »Mein Gott!« »Du verlierst jetzt gleich das Astoria, das in der Hudson Avenue und das Narrows«, zählte Bo schnell die drei Con Edison Kraftwerke auf, die dabeiwaren, zusammenzubrechen. »Initialisiere jetzt die Isolierung von Manhattan. Wir haben keine Zeit mehr. Astoria hat die Kontrolle über sämtliche Kesselsteuerungen in der Drei verloren und wird gleich in die Luft gehen.« »Sehe ich selbst.« »Dann fahr das Scheißteil runter!« befahl Bo. »Mach schon!«
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»Versuch' ich ja«, sagte Sarah. Ihre enorme Anspannung strömte förmlich aus Bos Kopfhörern. »Ich verliere die Telefonleitungen zu den sechs Kraftwerken in den Außenbezirken.« »Scheiße«, brüllte Bo. »Carolyn, ihre Leitungen brechen zusammen.« »Was ihre verdammten Standleitungen betrifft, bin ich absolut machtlos, Bo. Seit Monaten habe ich ihnen gesagt, sie sollen ihre Telekomschaltungen überprüfen, aber sie haben's nie getan. Sie sind hinüber.« »Wir sind alle hinüber«, sagte Sarah deprimiert. »Noch nicht«, sagte Bo. Er startete ein Programm, das die Übertragung und Verteilung des Stroms von den fünf hoffentlich gerüsteten Kraftwerken auf 53 Unterwerke in Manhattan und in den schmalen Streifen von Brooklyn und Queens, die am Ufer des East River lagen, rekonfigurierte. Manhattan war isoliert. Der Rest von New York war jetzt auf sich allein gestellt. Zehn Sekunden später explodierte im Generator Drei des Astoria Kraftwerkes ein Hochdruckkessel. Vier Arbeiter waren sofort tot, fünf wurden teils schwer verletzt. Astoria strauchelte und brach zusammen. Im Kraftwerk auf der Hudson Avenue hatte der Programmierer, der die Spannungsregulatoren angeblich gegen Y2K gerüstet hatte, bei einem Übersetzungsprogramm geschlafen. Er hatte Tausende Datumsfelder übersehen, weil der ursprüngliche Programmierer ihnen den Namen »Zorro« gegeben hatte. Als Zorro dann dem 21. Jahrhundert gegenüberstand, verfälschte der teuflische Degenheld den Code und sandte den Bildschirmen der Techniker verkehrte Meßwerte. Auf falsche Meßwerte, die außerhalb der Parameter lagen, war der Kraftwerksfahrer bestens trainiert und vorbereitet worden. Also trennte er die be-
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troffenen Regler und verlagerte die Spannungsregulierung auf ein Ausweichsystem. Das letzte, was er auf seinem Bildschirm sehen konnte, war, wie das infizierte Ausweichsystem das gesamte Kraftwerk, inklusive seinem Monitor, lahmlegte. Im Narrows-Kraftwerk waren es die bizarren Meßwerte der Abgaskontrolle, die das Kraftwerk lahmlegten. Die Generatoren schalteten unverzüglich ab, das Werk ging vom Netz. Staten Island und die südliche Hälfte Brooklyns litten unter heftigen Stromschwankungen. Zwanzig Sekunden später schwappte der erste Stoß Spannungsschwankungen durch das Netz. Das Nordoststromnetz sah sich Tag für Tag mit Ausfällen und Anomalien konfrontiert, doch hatte es noch niemals Hunderte Fehlfunktionen gleichzeitig durchgemacht. Nördlich und westlich der Stadt brachen schlagartig siebenundzwanzig Kraftwerke zusammen, jedes aus einem anderen Grund. Es kam zu einem netzweiten Spannungsabfall, der weitgefächerte Stromschwankungen zur Folge hatte, die ein paar Sekunden anhielten. Die restlichen Kraftwerke kämpften verzweifelt darum, den Leistungsabfall aufzufangen. Doch der Ausfall von defekten Hochspannungsregulatoren 320 km nördlich in Vermont belastete die Übertragungsleitungen mit einem unkontrollierbaren Spannungsstoß, der wie ein Orkan über das Stromnetz hinwegfegte. Um die Hardware vor diesem Spannungsstoß zu schützen, schalteten Unterbrecher selbsttätig Kraftwerke, Übertragungsleitungen und Lastzentralen ab. Binnen einer Minute und dreiundvierzig Sekunden versanken von Maine bis Columbia und östlich bis Ohio 1300 Quadratkilometer in Dunkelheit. Das Nordoststromnetz war zusammengebrochen.
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Drei Minuten später verglühte auch das Südostnetz und mit ihm Ostkanada, die Halbinsel von Yucatan und die karibischen Inseln. Das Rennen gegen die unausweichlichste aller Deadlines war verloren. Es war, als wäre der Atlantik über seine Ufer getreten und hätte Nordamerika verschluckt. In Washington hatten sich 750.000 Menschen im Mallpark versammelt. Die Stadt wurde so dunkel wie die Granitfassade des Vietnam-Mahnmals. Im Weißen Haus sprangen die Notstromaggregate an, doch der Millennium Bug hatte die Nation enthauptet. Tief unter der Erde saß der Präsident in einem Kommunikationsbunker und sprach mit dem Militär und der CIA. Leider war er nicht in der Lage, mit Philadelphia, Atlanta, Charlotte oder Mobile zu sprechen. Er war nicht in der Lage, hinauszutelefonieren. Das Sirenengeheul auf der Pennsylvania Avenue eröffnete für Amerika die lange Nacht der Finsternis. Von Maine bis hinunter nach Florida trat die führungslose, desorganisierte Nation in einem Zustand völliger Unordnung in das 21. Jahrhundert ein. Der Millennium Bug war Wirklichkeit. New York erstrahlte in gleißendem Licht, einzigartig und blendend. Die Party auf dem Times Square ging weiter. Die rasende Menge war gleichgültig gegen alles, was sich anderswo ereignete. Man feierte die glorreiche Ankunft des neuen Jahrtausends. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, daß die ganze Welt jenseits des Hudson in Finsternis versunken war. Viele hielten das für ein Gerücht. »Und wenn schon«, grölte ein Betrunkener einem anderen ins Ohr, »wen interessiert's?« Im 24. Bezirk wurde das neue Jahrtausend von jenem
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Gebet, das das 20. Jahrhundert verabschiedet hatte, mit einem tosenden »Halleluja!« begrüßt. Im Bellevue vernähte Packard den Brustkasten des Bürgermeisters und führte bei seinen Schwestern eine Umfrage durch. »Also«, fragte er. »Werdet ihr diesen Typen wiederwählen?« Auf der 85. Straße vernahm Copeland ein Klopfen an seiner Haustüre. Er drehte den Knauf. Zu seiner Überraschung ließ sich die Tür ohne weiteres öffnen. Ed Garcia stand auf dem Treppenabsatz. »Ich dachte, ihr wärt eingesperrt«, sagte er. Copeland war sprachlos, also fügte der Captain hinzu: »Wir haben Licht. Was sagt ihr dazu?« Copeland blinzelte. In seinen Ohren klingelten die Kassen, Dollarzeichen erschienen in seinen Augen. Er war äußerst verwirrt. Er mußte noch ein paarmal blinzeln, dann sagte er zu Ed: »Komm rein. Wir müssen anstoßen. Frohes neues Jahr.« In der Nassau Street rannte der coole, unerschütterliche Bo ins Bad und übergab sich. Seine Kommandobrücke war verwaist, der Kopfhörer baumelte an seinem Kabel. Drei Meilen weiter nördlich saß Sarah McFadden mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl. Sie hatte die Hände gefaltet und betete. Dabei lauschte sie vergeblich auf das Geräusch der anspringenden Notstromaggregate. Alles, was sie hören konnte, war das aufgeregte Stimmengewirr der Leute um sie herum. Sie machte die Augen auf. Die Lichter waren an. »Bo?« fragte sie ängstlich. Doc drehte ein Mikrofon auf und sagte: »Hier ist Doc. Bo ist gleich wieder da.«
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»Mein Gott«, murmelte sie. »Was immer dieser junge Kerl auch getan hat, es hat funktioniert.« »Mit diesem Urteil halte ich mich besser noch etwas zurück«, sagte Doc mit einem Blick auf Bos Bildschirme. »Ihr habt Probleme mit Ravenswood. Big Allis sieht nicht gerade glücklich aus.« »Da bin ich schon dran. Gönn mir 'ne kurze Pause, ich muß Luft holen.« Schüchtern kam Bo aus dem Bad und wischte sich den Mund. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. Doc umarmte ihn stürmisch. Auch Ronny, Carolyn und Jody umarmten und küßten den verlegenen jungen Mann. Nur Adrian kam natürlich nicht aus seiner Ecke hervor. Judd umarmte Bo, gab ihm die Hand und sagte: »Im Umkreis von 1500 Kilometern sind wir der einzige Ort, der Licht hat. Du hast's geschafft, Mann! Super!« Bo befreite sich und setzte die Kopfhörer wieder auf. »Sarah?« »Wir haben Probleme mit Ravenswood.« »Mal sehen. Ich habe jedes der fünf Kraftwerke mit einem Diagnoseprogramm konfiguriert. Wenn die nicht funktionieren, probieren wir was anderes.« Die Mitglieder des Mitternachts-Club machten sich wieder an die Arbeit. Sie konnten Bos Erfolg noch immer nicht fassen. Ohne die Möglichkeit, das System jemals unter reellen Bedingungen zu testen, hatten die Chancen für Docs Plan und Bos Codes, tatsächlich zu funktionieren, eins zu einer Million gestanden. Selbst wenn die Codes perfekt waren, hätte der Plan wegen der unzähligen integrierten Chips in dem unüberschaubaren Gewirr von Systemen noch immer scheitern können. Aber so, wie es aussah, sorgten Bos Anwendungen wirklich dafür,
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daß in Manhattan die Lichter anblieben. Auch Brooklyn, auf der anderen Seite des East River, war hell erleuchtet. Für den U-Bahn-Betrieb war es unerläßlich, daß die Jay Street mit Strom versorgt blieb. In Queens hatte dank der Nähe zu Big Allis ein schmaler Streifen rund um das Ravenswood Kraftwerk an der Queensboro Brücke Licht. Der Rest von New York war so finster wie Moskau. Es werde Licht, dachte Doc, als er die Treppen hinunterrannte. In der Kundendienstabteilung saßen Annie und die anderen Kundenbetreuer und arbeiteten an ihren Banken. »Hat Chase Manhattan es geschafft?« wollte er wissen. »Das Rechenzentrum müßte mit Strom versorgt sein.« »Sind sie auch«, sagte Annie. »Dort ist alles in Ordnung.« »Die Kreditinstitute?« »Alle in Ordnung, Doc. Entspannen Sie sich.« Annie zog ihn zu einem der Arbeitsplätze hinüber. Ein Techniker mit Kopfhörern stand zum Y2K-Team im Rechenzentrum in Multimediaverbindung. Doc sah, daß sämtliche Hauptrechner der Bank den Jahrtausendwechsel überlebt hatten. Sie funktionierten, so gut sie es immer taten, wenn auch nicht völlig fehlerfrei. »Steht die Mikrowellenschaltung zur Chase Manhattan?« fragte Doc. »Ja, die Verbindung ist super, die 2000-Software ist absolut cool«, sagte der Techniker, ein Junge mit PrincetonSweatshirt. »Aber sieht so aus, als war' das ganze Rechenzentrum völlig verwanzt. Die Abendschicht ist eingesperrt, dafür ist die Nachtschicht ausgesperrt.« Doc grinste amüsiert. »Haben Sie das etwa mit Absicht gemacht?« fragte Annie und boxte Doc freundschaftlich in die Schulter.
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Doc boxte zurück und sagte: »Das sag' ich nicht.« »Ich hab' gehört, in Boston sind die Lichter ausgegangen«, meinte der Techniker. »Jawoll!« »Und in Philadelphia.« »Jawoll!« »Überall, nur hier nicht. Ist das nicht 'n bißchen merkwürdig?« »Nö. Wie steht's mit euren Telefonen?« »Total seltsam. Unsere Leitungen sind okay, aber jeder, den wir anrufen, ist total von den Socken, weil keiner von denen rausrufen oder Gespräche empfangen kann. Es ist, als würde der Telefongott gnädig auf uns herunterlächeln. Wir können bestimmte Stellen erreichen und andere nicht. In Washington oder Toronto scheint es gar keine Leitungen mehr zu geben. Mir war schon klar, daß das hier seltsam werden würde, aber es ist wirklich sehr seltsam geworden.« Doc steckte zwei Finger in den Mund und pfiff, um die Leute von ihren Bildschirmen loszueisen. Wie Kohlköpfe sprossen dreißig Köpfe hinter den Monitoren hervor. »Annie hat mir gerade gesagt, daß Chase Manhattan und all unsere anderen Kunden den Jahrtausendsprung geschafft haben«, verkündete er. »Ihr seid Helden, wahre Veteranen, und heute nacht habt ihr einen großen Sieg errungen. Ich werde jetzt keine lächerliche Rede halten. Ich möchte euch nur sagen, daß jeder einzelne in diesem Raum eine Prämie von 20.000 Dollar erhält. Vielen Dank.« Einen Moment erfüllten Pfiffe und Rufe die Luft, dann machten sich alle wieder an die Arbeit. Als sie zur Tür gingen, sagte Doc zu Annie: »Ihre Leute
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leisten hervorragende Arbeit, Annie. Die gesamte Mannschaft ist spitze.« »Jetzt, wo der große Augenblick vorüber ist«, sagte sie, »machen die Leute sich Sorgen um ihre Jobs. Die Prämien sind ja sehr schön, aber sie wollen wissen, ob sie nächste Woche noch einen Job haben.« »Annie, bitte sagen Sie Ihrem Team, daß wir noch lange nicht am Ende stehen. Im Gegenteil, das ist erst der Anfang. Für unsere Leute besteht überhaupt kein Grund zur Sorge. Es sieht eher so aus, als müßten wir uns Sorgen machen, ob wir ihnen genug bezahlen können, um sie zu halten.« »Wie schlimm ist es, Doc?« »Das kommt auf den Blickwinkel an. Wenn man der Auffassung ist, daß sich die Zivilisation auf dem falschen Weg befindet, dann ist ihr Zusammenbruch wohl kaum etwas Negatives.« »Klugscheißer.« »Okay, also«, sagte er, »mal sehen, wie es in unserer Stadt aussieht. Die Gaswerke in Brooklyn haben die Kontrolle über die Druckregulatoren in den Gasleitungen verloren und sind heruntergefahren worden. Sämtliche Fernsehstationen, die mit Übertragungen arbeiten, schwimmen mit dem Bauch nach oben. Uns sind nur zwei Kabelsender geblieben. Ich glaube, ganze drei Radiostationen sind noch auf Sendung. Nur ein paar Bell Atlantic und AT&T-Leitungen sind noch nicht zusammengebrochen, dazu gehören auch eure. Der Notruf 911 ist total überlastet und arbeitet mit endlosen Verzögerungen. Der Polizeifunk funktioniert. In den Außenbezirken werden ein paar Gebäude und Krankenhäuser über Notstromaggregate versorgt. Die U-Bahn fährt.« »Gibt es Plünderungen?«
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»Weiß ich nicht. Es ist noch zu früh.« »Woher weißt du das überhaupt?« »Ich habe einen guten Polizeifunkempfänger«, antwortete er mit einem Achselzucken. »Ich mag Spielzeug.« Obwohl es augenblicklich zu Computerfehlfunktionen kam, brauchten die Auswirkungen einige Nanosekunden, um sich zu manifestieren. Der Elekronenfluß im Inneren von Milliarden Siliziumscheiben sprach auf die Binärbefehle auf die einzig mögliche Art und Weise an: er nahm den Weg des geringsten Widerstandes. In diesen ersten Sekundenbruchteilen verarbeiteten die Rechner Billionen von Rechenschritten. Sie folgten lediglich den Instruktionen, die Menschen für sie geschrieben hatten. Bei vielen dieser Menschen handelte es sich leider um schadhafte Einheiten. Wegen menschlicher Irrtümer, Selbstgefälligkeit, schlechtem Management, ungenügenden Reparaturen und ungenügenden Testläufen reagierten allein in New York drei Millionen Rechner mit Fehlfunktionen, noch ehe das neue Jahrtausend eine Sekunde alt war. Nicht alle dieser Fehlfunktionen waren verhängnisvoll, und viele wurden korrigiert, sobald sie offensichtlich wurden. Eine zu vernachlässigende Anzahl von Rechnern überstand den Wechsel völlig ohne Fehlfunktionen. Große Netzwerkbereiche Y2K-gerüsteter Computer waren allein deshalb funktionsuntüchtig, weil die Telefonsysteme abgestürzt waren. Das Verhältnis vom Aufwand, der für Y2K betrieben worden war, zum Überleben der Systeme war direkt und gnadenlos. Die sorgfältige, akribische, zermürbende Inspektion von Anwendungen, Funktion für Funktion, sowie die peinlich genaue Umsetzung auf vierstellige Datumsfelder machte sich be-
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zahlt. Schlampige, eilig hingeworfene Korrekturen und Flickschusterei hingegen hatten unweigerlich den Systemausfall zur Folge. Merkwürdigerweise hatten die kleinen Dinge, die den Menschen Kopfzerbrechen bereitet hatten - Haushaltsgeräte, Autos und Aufzüge -, lediglich mit geringfügigen Problemen zu kämpfen. Man war so sehr um die Aufzüge besorgt gewesen, daß sie wirklich repariert worden waren. Videorecorder, die das Datum nur zweistellig anzeigten, funktionierten trotzdem. In einigen Fahrzeugen spielten zwar die digitalen Armaturen verrückt, doch die Motoren liefen weiter und auch das ABS versagte keineswegs. Nicht die kleinen, persönlichen Systeme fielen aus, es waren eher die großen, komplexen, beinahe unsichtbaren und als selbstverständlich geltenden Systeme, die nicht nur die Infrastruktur der Stadt oder des Landes, sondern die gesamte Weltwirtschaft tangierten. Es war das Gesamtbild, das sich vor den Augen aller aufzulösen begann. Zwar hatten sämtliche Großbanken in New York den Wechsel überstanden, doch waren sie nicht in der Lage, miteinander zu kommunizieren. Versorgungsketten wurden an jedem einzelnen Glied unterbrochen. Die Inventurprogramme sämtlicher Warenlager waren durcheinandergeraten. Schiffsund Bahnverkehr waren lahmgelegt. Jede einzelne Fabrik, jede Raffinerie, jedes Chemiewerk und jede automatisierte Montageanlage hatten irgendwo irgendein Problem. An der Ostküste bestand lediglich in New York und einigen Orten mit Notstromaggregaten überhaupt die Möglichkeit, festzustellen, ob die Systeme versagt hatten. Drei Zeitzonen weiter westlich hatten die schrecklichen Ereignisse, unter denen die Ostküste zu leiden hatte, die Menschen aus ihrem dreißig Jahre währenden Dornrös-
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chenschlaf gerissen. Sie unternahmen verzweifelte Anstrengungen, sich in letzter Sekunde für das kommende Desaster zu rüsten. Sämtliche verbleibenden Stromnetze und Elektrizitätsverbände verfügten die Trennung, die Stromversorger isolierten sich von ihrem Netz und bildeten Inseln. Jeder Arbeiter, der aufgestöbert werden konnte, wurde in die Firma zitiert und in einem Crashkurs darauf vorbereitet, das Kraftwerk manuell zu betreiben, sollte die Anlage ausfallen. In achtzehn Staaten riefen die Gouverneure die Nationalgarde auf den Plan. Tausende eifriger junger Männer und Frauen, die meisten stammten aus ländlichen Gegenden, wurden in die Städte geschickt, um dort Streife zu laufen und Unruhen und Plünderungen zu verhindern. In Milwaukee und Little Rock war die plötzliche Militärpräsenz selbst der Auslöser für die Unruhen, die sie eigentlich hätte verhindern sollen. Im gesamten Westen verschanzten sich panische Überlebenskünstler in ihren Atomschutzkellern und führten so die Vorstellung von Individualismus ins Extreme. Zum größten Teil aber reagierten die Menschen angesichts der vorhergesehenen Krise besonnen. Wie es sich für intelligente, vernünftige Mitglieder einer Gemeinschaft gehörte, suchten sie nach Möglichkeiten, sich gegenseitig unter die Arme zu greifen. Die Bewohner kleiner Städte taten sich zusammen, um den Katastrophenschutz zu organisieren. Turnhallen wurden zu Massenunterkünften umfunktioniert und Lebensmittelläden mit Stromgeneratoren ausgestattet. Westlich von Chicago verfügten die Behörden die unverzügliche Einstellung sämtlicher Silvesterfeierlichkeiten. Die Polizei vertrieb die Menschen von den Straßen. Die Kraftwerksleiter rasten zu ihren Werken und stellten alles ab. Verzweifelte
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Käufer fielen wie die Termiten über die städtischen Lebensmittelläden her und leerten sie vollkommen. Als der Millennium Bug seine Reise quer über Nordamerika antrat, war es in London bereits fünf Uhr morgens, acht Uhr in Moskau und kurz nach Mittag in Peking. Nachdem die Welt fünfhundert Jahre lang kontinuierlich geschrumpft, näher zusammengerückt war, war sie auf einmal wieder schlagartig gewachsen. Das empfindliche Telekommunikationsnetz, das die Erde einst vereinte, war zusammengebrochen. Chinesische Fabriken, die halb Amerika mit Spielzeug versorgt hatten, hatten sämtliche Computerdaten verloren. Die chinesischen Banken, die die Transaktionen abgewickelt hatten, waren über den Jordan. Das Schiff, das die Teddybären in die Staaten gebracht hatte, war auf hoher See verschollen. Die Ölraffinerie, die den Dieselkraftstoff für den Lkw produzierte, der die Teddybären zu Toys-R-Us transportierte, stand still. Den Teddys selbst ging es gut. Weder sie noch die Arbeiter, die sie nähten, hatten irgendwelche Chips. Die Erde litt unter einem bösen Kater, doch in New York waren die Lichter an. In der Jay Street in Brooklyn, in der Leitzentrale des am gründlichsten Y2K-gerüsteten Transportsystems der Welt, dort, wo jeder Rechner, jede Anwendung peinlich genau überprüft, korrigiert und getestet worden war, wo jeder einzelne integrierte Chip identifiziert, lokalisiert, geprüft, getestet und ersetzt worden war, wo jedem Disponenten, Techniker, Manager, Depotleiter, Zugführer und Gleisarbeiter das Wort Y2K ins Hirn gehämmert worden war, bis er es nicht mehr hören konnte, genau dort fiel um 00.02 Uhr der sechs Meter lange, zwei Meter fünfzig hohe Hauptbildschirm aus. Zwei Sekunden spä-
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ter blieben 187 U-Bahnen stehen, wo sie gerade waren. Als die Monitore ausfielen, schaltete jedes einzelne Signal im System auf Rot und hielt so alle Züge an. Starr vor Schreck glotzten die Disponenten an ihren Terminals auf den großen Bildschirm. Die Terminals waren mit neuen, programmierbaren Logikprozessoren ausgestattet, die jeden einzelnen Tastendruck zeitstempelten und festhielten. Die Daten wurden an zwanzig nagelneue Chips gesendet, die in den großen Bildschirm integriert waren. Diese Chips waren angeblich nicht datumsabhängig. Aus Kostengründen hatten die Verkehrsbetriebe auswählbare Chips gekauft. Diese Chips besaßen eine Unterbaugruppe. In diesen Chips-im-Chip wiederum waren auf einem Schaltkreis zweistellige Datumscodes eingebrannt. Der Chipvertreiber hatte keine Ahnung von der Existenz dieser Unterbaugruppe. Die Bildschirme hatten einen wirklichkeitsgetreuen, simulierten Testwechsel völlig unbeschadet überstanden. Nach dem Testlauf wurde die Stromzufuhr unterbrochen und wiederhergestellt, etwas, das unter normalen Umständen niemals geschehen wäre. Dadurch wurden sämtliche Schaltkreise in den Unterbaugruppen dieser billig produzierten Chips aktiviert. Ein zweiter Test hätte die Fehlfunktion sicherlich zutage gebracht. Da der erste Test jedoch erfolgreich verlaufen war, war es niemals zu einem weiteren Probelauf gekommen. Die Funkgeräte, über die die Disponenten und Lotsen Kontakt zu den Zugführern hatten, waren noch intakt, und natürlich meldeten sich alle auf einmal. Der Blutdruck des gesamten U-Bahn-Systems stieg gefährlich. Die Lichter in den Tunnels und in der Leitzentrale begannen zu flackern. Wieder hatte der Millennium Bug eine Salve auf New York abgefeuert, diesmal tief im unterirdischen Gedärm der Stadt.
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»Wo steckt Adrian?« fragte Doc, als er wieder nach oben kam. Er suchte ihn im Bad und in der Küche und kratzte sich am Kopf. »Wo steckt Adrian?« fragte er noch einmal. »Was?« wollte Judd wissen. »Wo steckt Adrian? Er ist weg.« Von ihren Bildschirmen völlig in Bann geschlagen und viel zu beschäftigt, um auf irgend jemanden zu achten, hatten die anderen nicht gemerkt, daß Adrian verschwunden war. Jody war die ganze Zeit mit ihrer Kamera im Raum unterwegs gewesen, und Doc bat sie, die letzten drei Minuten ihrer Aufzeichnungen abzuspielen. »Da!« sagte er. »Du hältst auf Ronnie, und im Hintergrund ist Adrian zu sehen, wie er eine Schublade aufmacht und einen Haufen Platinen herauszieht.« »Chips?« fragte Jody. »Genau.« Doc besaß sich kurz das U-Bahn-Schema auf Adrians Monitor und erkannte auf einen Blick, daß kein einziger Zug in Bewegung war. »Bo«, rief er. »Wie ist der Status der 59. Straße.« Das Con Edison Kraftwerk auf der 59. Straße versorgte das gesamte U-Bahn-System mit Strom. »Das 59. ist am Netz«, meldete Bo. »Was ist dann verdammt noch mal mit der U-Bahn los?« Carolyn erhob sich von ihrem Platz und begann, auf Adrians Armaturen einzutippen. »Himmel, Doc, hast du je gelernt, mit Adrians Terminal umzugehen?« »Glaube nicht.« Carolyn gelang es, das Livebild einer Überwachungskamera aus dem Kontrollraum der Leitzentrale der Städtischen Verkehrsbetriebe auf Adrians Monitor zu holen.
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Der Hauptschirm war dunkel. Weil sie nicht sehen konnten, wo die Züge sich befanden und wie die Signale geschaltet waren, begannen die Disponenten, die U-Bahnen einzeln per Funk zu lotsen. Da Adrians Bildschirme aber die Positionen der Züge angaben, mußte in seinem Doppelsystem ein Betriebsschaltkreis existieren, der im Originalsystem der Leitzentrale fehlte. Offensichtlich hatte er sich einen Stapel Platinen geschnappt und war auf dem Weg nach Brooklyn, um das System eigenhändig zu reparieren. »Um Gottes willen«, sagte Doc. »Herrgott noch mal! Armer, kleiner Adrian.« »Was kann er denn jetzt machen?« »Wahrscheinlich ist er in der Lage, deren System zu reparieren und die Züge wieder zum Laufen zu bringen, aber denen das klar zu machen, wird ihm höllische Schwierigkeiten bereiten. Stell dir doch mal diese starrköpfigen, humorlosen Typen von den Verkehrsbetrieben vor. Wenn die mit Adrian konfrontiert werden, wie er mit seinen Mandala-Augen vor ihnen steht und mit seinen Platinen winkt! Sie werden ihn für völlig irre halten. Ich muß sofort hinter ihm her.« Judd kam hinter seinem Tisch hervor und zog sich einen Anorak an. »Doc«, sagte er, »du kriegst ihn doch nie im Leben. Ich hole ihn zurück.« Doc hob die Augenbrauen. »Ich bin aber für ihn verantwortlich«, sagte er bestimmt. »Himmel! Er wird durch den Tunnel der Linie A laufen, von der Alton Street unter dem Fluß durch und dann direkt zur Gay Street. Das ist gleich die erste Haltestelle drüben in Brooklyn.« »Glaubst du, daß er wirklich durch einen U-Bahn-Tunnel geht?« stieß Jody erschreckt aus.
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»Das macht er immer so«, erklärte Judd. »Ich finde ihn und ziehe ihn an den Ohren hierher zurück«, erklärte Judd und stürmte zur Tür hinaus, ohne sich auf weitere Diskussionen einzulassen. »Es menschelt«, schnaubte Carolyn und setzte sich wieder an ihren Platz. »Der Humanitätsfaktor.« »Scheiße«, sagte Doc. »Das ist doch verrückt.« Er stürmte zur Tür, hastete die Treppen hinunter und rannte in Richtung U-Bahn-Station Fulton Street, die drei Häuserblocks entfernt war. Judd, der als Marathonläufer durchgehen konnte, war ihm zwei Häuserblocks voraus. Doc war nicht in der Verfassung, einen heldenhaften Sprint bis nach Brooklyn hinzulegen. Nach einem Block verlangsamte er sein Tempo und lief in gleichmäßigem Laufschritt weiter. Zu seiner Überraschung waren viele Geschäftsleute in das Finanzviertel zurückgekehrt. Mit ängstlichen Minen, in Winterjacken und Daunenanoraks, eilten sie in ihre Büros zurück, um nachzusehen, was der Bug ihren Computern angetan hatte. Aus einigen Büros drangen Freudenrufe und Schreie auf die Straße, aus anderen wiederum verzweifeltes, resigniertes Stöhnen. Im technologischen Genpool hatte die große Auslese begonnen. Doc tauchte hinunter in die U-Bahn-Station. Bewegungslos, mit offenen Türen, saß ein Zug nach Brooklyn auf den Schienen fest. Überall lungerten Menschen herum und starrten auf die Fernsehschirme, die die wahnsinnige Szenerie vom Times Square übertrugen. Vor der Führerkabine stand der Lokführer und unterhielt sich mit einem Wachmann der Verkehrsbetriebe. Der Mann beugte sich über die Gleise und deutete in den dunklen Tunnel hinein. Doc rannte an den beiden vorbei und sprang auf die Gleise hinunter. »Nicht noch einer!«
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schrie der Wachmann. »Was ist nur in diese Typen gefahren?« »Wollen Sie denen denn nicht nachlaufen?« fragte der Zugführer. »Bestimmt nicht! Ich bin doch nicht verrückt geworden!« »Was sagen die oben dazu?« »Sie arbeiten an ihrem Hauptschirm. Scheiß Computer!« Verbissen kämpfte Doc sich vorwärts. Immer wieder blieb er stehen und schnappte, die Hände auf den Knien, nach Luft. Es entsprach beileibe nicht seiner Vorstellung einer idealen Silvesternacht, sich durch einen U-BahnTunnel zu quälen, der zudem mit unter Spannung stehenden Stromabnehmern ausgestattet war. Schritte hallten durch den trübe beleuchteten Tunnel. Rote Signallichter flammten entlang der Strecke auf. Ein paar hundert Meter vor ihm sah er Judd, der langsam an Boden gewann. Als Adrian beinahe schon in Brooklyn war, sah er sich um. Er hörte, wie Judd immer näher kam, und legte noch einen Zahn zu. Als die Bildschirme der Verkehrsbetriebe abstürzten, war bei Adrian eine Sicherung durchgebrannt. Plötzlich hatte er eine Mission! Er war überzeugt davon, der einzige Mensch auf Erden zu sein, der wußte, was mit dem UBahn-System geschehen war und wie man es reparieren konnte. Er hatte sich heimlich davongestohlen, weil sein verdrehtes Hirn kurz vor der Schmelze stand und er felsenfest davon überzeugt war, daß der Mitternachts-Club mit allen Mitteln versuchen würde, ihn aufzuhalten. Sie hatten ihn zwar toleriert, aber niemals wirklich respektiert. Daß sie ihn jetzt jagten, war der beste Beweis dafür. Der Tunnel führte unter dem Fluß hindurch, bohrte sich in die Hügel von Brooklyn und machte dann eine Bie-
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gung südwärts, auf die Haltestelle High Street zu. Als Adrian um die Kurve bog, kam bereits die Haltestelle in Sicht. In Richtung Manhattan stand ein Zug mit hell erleuchteten Scheinwerfern regungslos auf den Gleisen. Adrian war fett und langsam, doch er kannte das verschlungene Gewirr der Tunnels in- und auswendig. Viele Male hatte er sich die Linie A entlang auf Erkundungsstreifzüge begeben. Sobald er um die Kurve gelaufen war, schlüpfte er in einen seitlichen Versorgungsdurchgang, und als Judd ebenfalls um die Biegung kam, war Adrian verschwunden. »Adrian!« rief er. Doc hörte Judds Rufe und blieb stehen. »Adrian, komm raus!« brüllte Judd. »Wir bringen die Platinen gemeinsam zu den Disponenten in die Leitzentrale.« Vorsichtig kam Doc um die Kurve. Erst sah er Judd und dann, im Schatten, auch Adrian, der sich vor Judd versteckte. Er machte einen sehr erregten Eindruck. Plötzlich schloß der Zug an der Haltestelle die Türen und setzte sich in Bewegung. Das Geräusch erschreckte Doc beinahe zu Tode. Die Gleise vibrierten, der Antrieb toste, die Räder kreischten und die Bremsen zischten. Doc stürmte vorwärts. Er packte Judd und zog ihn in den Versorgungsgang. Im gleichen Augenblick schoß aus der entgegengesetzten Richtung der erste Zug nach Brooklyn an ihnen vorbei. »Du Hohlkopf!« schrie Doc Adrian an, doch der konnte ihn nicht hören. Die Züge fuhren weiter. Den dreien gelang es, unbeobachtet auf den Bahnsteig zu klettern. Adrian sagte keinen Ton. Er verschränkte die Arme vor der Brust, fläzte sich auf eine Bank und starrte an die Decke, als wäre er in der Lage, mit Röntgenaugen durch
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den Beton zu schauen, bis hinauf in die Leitzentrale über ihnen. Seit dem Tag, als er in New York angekommen war, hatte er keinen Hehl aus seiner Verachtung für die Disponenten und Lotsen der Verkehrsbetriebe gemacht. Er hatte sie stets als Idioten bezeichnet, die nicht in der Lage waren, Eisenbahnen zu lenken. Und nun hatten ausgerechnet diese Idioten ihren Hauptschirm repariert und das System wieder zum Laufen gebracht. Judd erriet Adrians Gedanken. Er deutete zur Decke hinauf und sage: »Die hatten nur Glück, das ist alles.« »Du wolltest genau das Richtige tun«, fügte Doc hinzu. »Es ist alles in Ordnung.« Richtung Manhattan fuhr der nächste Zug ein. Er war vollgestopft mit Fahrgästen. Die ausgebüxten Mitglieder des Mitternachts-Clubs quetschten sich durch die Türen und fuhren zurück nach Manhattan. An der Haltestelle Fulton Street eilten typische Finanzleute auf die Ausgänge zu. Sie hatten es eilig, herauszufinden, ob sie in der Computerlotterie zu den Gewinnern oder den Verlierern gehörten. Als der Zug sich in Richtung Times Square wieder in Bewegung setzte, war Judd zwar auf dem Bahnsteig, doch Adrian war noch immer in der U-Bahn. Als er aus dem Blickfeld rollte, ging ein Grinsen über sein Gesicht, und er winkte zum Abschied. Doc und Judd kamen an die Oberfläche. Auf den Gehwegen türmten sich PCs, die den Wechsel nicht überstanden hatten. Auf der Wall Street sammelten drei Männer mit einem Lieferwagen abgelegte Zentraleinheiten und Bildschirme ein. »Moderne Lumpensammler«, kommentierte Doc das Geschehen. »Das wird in den kommenden Wochen wohl ziemlich beliebt werden.«
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Sie bogen in die Nassau Street ein. Der Himmel hatte sich bezogen, die Sterne waren verschwunden. Es fing an zu schneien.
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Das Unfaßbare war Wirklichkeit geworden. Von den Wolkenkratzern Manhattans aus konnte man die Silhouette der Freiheitsstatue erkennen. Sie war von Dunkelheit umgeben. Das lichtlose Ufer von Jersey, auf der anderen Seite des Hudson, glich einer Ziegelwand, bedeckt mit Schnee; ließ man den Blick nach Süden wandern, dann erschien Staten Island wie ein schwarzes Loch in der Bucht; nach Osten hin, jenseits von Brooklyn und Queens, erstreckte sich Long Island wie eine urzeitliche Steppe. Hie und da flackerten in der Dunkelheit Autoscheinwerfer auf wie verlorene Sterne, und ganz vereinzelt sprenkelten die Lichter von ein paar Schiffen den Hafen. Auf Govenor's Island beleuchtete ein Stromgenerator die Station der Küstenwache. Techniker arbeiteten wie besessen an den Radarcomputern. Über die Welt jenseits der schmalen, hell erleuchteten Insel Manhattan senkte sich Stille. In dem Augenblick, als der Strom ausfiel, verstummte das Summen der elektrischen Leitungen. Fernseher, Radios, Stereoanlagen, Maschinen aller Art verbreiteten keinerlei Lärm mehr. Autofahrer blieben stehen und bestaunten die Verwandlung. Das Leben wurde auf seine grundlegenden Bestandteile reduziert. Den Bug. Wind. Schnee. Der Blick nach vorn war verstellt. Den Menschen blieb keine andere Wahl, als in sich selbst nach Mitteln zu suchen, um zu überleben. Es war alles andere als ein sanftes Erwachen, doch es war ein Erwachen. Die natürliche
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Auslese trat unmittelbar auf den Plan. Die Starken und Intelligenten überlebten; die Schwachen und Einfältigen krepierten. Ungeachtet der Millionen Stunden, der Milliarden Dollar, die in Vorbereitung auf Y2K investiert worden waren, hatte sich herausgestellt, daß die USA in Bezug auf den Millennium Bug ebenso verwundbar waren, wie der Rest der Welt. Alle Flughäfen waren geschlossen. Der Eisenbahnverkehr kroch im Schneckentempo dahin. Die Lebensmittelversorgung war unterbrochen. Menschen verfielen in Panik und fuhren in die Wälder. Dort ging ihnen das Benzin aus, und sie erfroren. In manchen Städten verwandelten sich Silvesterparties und Festakte zum Jahrtausendwechsel in offenes Chaos. In Washington und Tampa kam es zu Ausschreitungen, doch in Boston und Philadelphia blieb alles ruhig. Selbst im Distrikt Columbia, der zweifellos am härtesten getroffen worden war, verliefen die ziellosen Gewalttätigkeiten nach einigen Stunden im Sande. Überall gab es verwirrte Geister, die im Schutze der Dunkelheit stahlen, plünderten oder privaten Rachegelüsten nachgingen. Die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung war jedoch weder kriminell noch anarchistisch veranlagt. Die Menschen verfielen weder in Panik, noch sperrten sie sich zu Hause ein. Sie reagierten genauso, wie sie auf Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen oder den Angriff von Feinden reagierten. Der typisch amerikanischen Art entsprechend, leugneten sie die Katastrophe, bis es zu spät war, oder sie verließen sich darauf, daß sich schon irgend jemand darum kümmern würde. Als das Desaster erst eingetroffen war, paßten sie sich jedoch umgehend den Gegebenheiten an und setzten sich zur Wehr. Wenn man den Morgen des 31. Dezember 1999 mit dem
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Schwarzen Donnerstag am 24. Oktober 1929 vergleichen konnte, an dem der Zusammenbruch der Aktienbörsen die Weltwirtschaftskrise einläutete, dann glichen die ersten Stunden des 1. Januar 2000 dem 7. Dezember 1941, als der Angriff auf Pearl Harbor stattfand. Die USA waren 1941 nicht auf einen Krieg vorbereitet gewesen. Als sie sich aber mit dem Krieg konfrontiert sahen, da legten die Amerikaner ihre Streitereien und Differenzen beiseite und bündelten ihre enorme Energie in eine einzige, gemeinsame Kraftanstrengung. Millionen meldeten sich sofort freiwillig zum Dienst an den Waffen und setzten ihr Leben für das Wohl ihres Landes aufs Spiel. Im Januar 2000 war Amerika in Dutzende politische, soziale und religiöse Lager gespalten. Die einzelnen Gruppen, alle historisch begründbar, lieferten sich erbitterte Grabenkämpfe. Es war beinahe unmöglich, eine Republik aufrechtzuerhalten, die auf dem Glauben fußte, daß alle Menschen die gleichen Rechte besaßen, wenn doch das Gegenteil der Fall war. Die Menschen stritten sich, oftmals in gewalttätigen Auseinandersetzungen, über Rassen, Abtreibung, Drogen, Sex, Religion, Wahlkampfunterstützungen und den Abbau von Regulierungen für Wirtschaft und Industrie. Der politische Prozeß wie auch die Verfassung selbst sahen sich unter fortwährender Attacke der Linken, der Rechten, ja, selbst der politischen Mitte. Seit Vietnam und die Watergate Affäre jegliche Glaubwürdigkeit zerstört hatten, glaubten Millionen Amerikaner ihrer Regierung kein einziges Wort mehr. Amerika war weit davon entfernt, perfekt zu sein, und würde auch niemals perfekt, fair oder gerecht werden; dennoch war das Streben nach dem Ideal, und mochte es auch noch so unerreichbar sein, besser, als zu kapitulieren und Tyrannei und Chaos die Oberhand zu überlassen.
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Als die Lichter ausgingen, gelangten die Prioritäten mit einemmal in die richtige Reihenfolge. Ideologische oder religiöse Dogmen halfen bei der Lösung unmittelbarer Probleme herzlich wenig. Politische Programme erwiesen sich als wertlos. Was hingegen half, war direkte Hilfe von Nachbar zu Nachbar. Die Tatsache, daß die Y2K-Arbeit bereits erledigt war, gab der Nation zwar einen gehörigen Vorsprung zum Rest der Welt, doch wenn die Amerikaner eine Lösung für diese Krise wollten, dann gab es nur eine einzige Möglichkeit. Sie mußten die Ärmel hochkrempeln und loslegen. Es wurde nicht gezögert. Die Vernichtung durch den Millennium Bug bedeutete zugleich die Möglichkeit, sich wie Phönix aus der Asche zu erheben und zurückzuschlagen. Als die Telefone zusammenbrachen, fanden sich sofort eine halbe Million Telefontechniker ein, die nur auf ihren Einsatz warteten. Überall in Minen und Fabriken, in Eisenbahn- und Brennstoffdepots und in Labors fanden sich mitten in der Nacht unzählige Menschen ein, um die Dinge wieder zum Laufen zu bringen. Am Anfang hatten sie so gut wie keinen Erfolg, doch sie gaben nicht auf. Jedes einzelne Kraftwerk wurde von Ingenieuren überschwemmt, die sich auf die Suche nach den Fehlerquellen machten, provisorische Reparaturen durchführten und an Lösungsvorschlägen arbeiteten. Die Probleme waren unermeßlich, der Schaden augenscheinlich unschätzbar. Doch Stückchen für Stückchen, Chip für Chip begann der Prozeß der Erneuerung. New York hatte in den Jahren 1965 und 1977 große Stromausfälle erlitten. Nach dem Ereignis 1965 machten geradezu fabelhafte Geschichten über die Anzahl der Kin-
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der die Runde, die neun Monate später zur Welt gekommen waren. Damals hatten die Menschen zwar Angst gehabt, aber sie waren nicht in Panik verfallen. Gutgelaunt und mit einer gehörigen Prise Humor ausgestattet, hatte die Stadt diese Krise überwunden. Bis zum zweiten großen Ausfall 1977 hatte sich New York jedoch einem radikalen Wandel unterzogen. In nur zwölf Jahren war die Stadt finster und gefährlich geworden, sie strömte den Dunst von Armut und Verbrechen aus. Wut und Frust brodelten unablässig. Diesmal brachte der Stromausfall Geschichten über Gewalt und Chaos hervor. Hartnäckigen Gerüchten zufolge kam es bereits binnen zehn Minuten zu den ersten Plünderungen. Das Ereignis von 1977 war auf einen heißen Sommertag gefallen, als man sowieso schon kurz vor dem Ausbruch von Rassenunruhen stand. Beim größten Teil der Plünderungen handelte es sich schlichtweg um Gelegenheitsverbrechen. Elend, Armut und Rassenunterdrückung hatten sich bei hitzköpfigen Teenagern zu gewaltiger Wut summiert, und in einem gewaltigen Zornesanfall begannen sie zu plündern. Jetzt, im Jahr 2000, hatte die Stadt sich erneut einer Wandlung unterzogen. Massenimmigration hatte die Demographie New Yorks noch einmal verändert. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts waren derart viele neue Gesichter dazugekommen, daß keine ethnische Gruppe mehr die Mehrheit stellte - es gab nur noch Minderheiten. Bis auf die Obdachlosen und die verzweifeltsten Einwanderer sah man den Armen New Yorks ihre Armut nicht mehr an. Sie ernährten sich bei Mc Donald's und trugen Markenkleidung, sie besaßen Fernseher und Autos und hatten Mindestlohnjobs, mit deren Hilfe sie sich genau einen Zentimeter über Wasser halten konnten. Die Armen der Stadt waren das Vermächtnis einer Wirtschaft,
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die sich von arbeitsintensiver Herstellung zur Dienstleistungs- und High-Techgesellschaft gewandelt hatte. Ein großer Teil der Bevölkerung blieb dabei auf der Strecke, weil diese Menschen nicht die Fähigkeiten besaßen, es in einer Techno-Welt zu etwas zu bringen. Der Wohlstand, der aus Hochtechnologie und Welthandel entstand, konzentrierte sich zusehends in den Händen weniger. Das Ergebnis war das ungerechteste Wohlstands gefalle seit dem Zweiten Weltkrieg. Die wirtschaftlichen Zustände und drei Jahrhunderte bösartigster Rassismus hatten den Boden für Rassenunruhen und Plünderungen von dramatischem Ausmaß bereitet. Amerika ging davon aus, daß die Ghettos explodierten, sobald die Lichter ausgingen. Doch im Gegensatz zu den vorhergehenden Stromausfällen kam der große amerikanische Stromausfall vom 1. Januar 2000 nicht aus heiterem Himmel. Zwar wurden Millionen Menschen, die auf den Straßen feierten, gänzlich überrascht, und Hunderttausende hatten in Panik die Städte verlassen. Viele Millionen andere hatten sich jedoch mit der Möglichkeit eines Stromausfalls auseinandergesetzt und grundlegende Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um sich gegen Chaos und Anarchie zu wehren. Die von führenden Köpfen der Gemeinschaften frühzeitig initiierten Kampagnen zum Schutz der am meisten gefährdeten Ghettos hatte die Öffentlichkeit davon überzeugt, daß es keine sinnvolle Stadtsanierung darstellte, sich das eigene Dach über dem Kopf anzuzünden. Auch das Zerstören von Fensterscheiben und das Zertrümmern von Fernsehgeräten half im Kampf gegen die wahren Unterdrücker herzlich wenig. Die modernen Verbrecher waren zur Jahrtausendwende mit Funktelefonen und Computern ausgerüstet, und sie wußten, daß Y2K auf sie zukam. Sie waren sich auch darüber im klaren, daß Plün-
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dereien zu Aggressionen führen würden, die sie nicht brauchen konnten. In den Ghettos und Armenvierteln hatte eine Parole die Runde gemacht: Laß den Fernseher, wo er ist. Wenn der Strom ausfällt, ist er sowieso zu nichts zu gebrauchen. Die Mafia war die womöglich am besten auf Y2K vorbereitete Organisation in ganz New York. Sie starrte auf Y2K wie ein Kaninchen auf die Python. Niemals verlor sie den Blick für die Vorteile, die es bot, eine solche Krise zu überstehen. Jedes Unternehmen, das auch nur entfernt mit dem Wohlergehen der cosa nostra in Verbindung stand, war in Besitz eines wohlorganisierten, Y2K-gerüsteten Programmes und genoß in der Silvesternacht den Schutz von bewaffneten Wachleuten. Sämtlichen Vorbereitungen und Warnungen zum Trotz hatten dennoch nicht alle kapiert, worum es ging. Nachdem sie den ganzen Tag über im Fernsehen verfolgt hatten, wie rund um den Globus der Strom ausfiel, hatten opportunistische Plünderer in Queens, Brooklyn und der Bronx die Objekte ihrer Begierde ins Auge gefaßt. Die Hitliste wurde von Elektronik angeführt, dicht gefolgt von Schmuck und Kleidung. Als die Lichter ausgingen, schlossen sich Horden betrunkener Zecher den Kriminellen an und warfen schon fünfzehn Sekunden später die ersten Schaufensterscheiben von Elekronikhandlungen ein. Die aufgebrachten, unorganisierten Plünderer wurden auf frischer Tat von der Polizei geschnappt, von bewaffneten Händlern abgeschreckt oder sahen sich mit wütenden, resoluten Bürgerwehren konfrontiert. Angst und nervöse Finger an den Abzügen sorgten zwangsläufig dafür, daß Dutzende Plünderer schlichtweg über den Haufen geschossen wurden. Der brutale Rhythmus dieser Zwischenfälle verlor sich im lauten Getöse explodie-
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render Feuerwerkskörper und dem traditionellen Neujahrsgeballer aus unzähligen Schußwaffen. Die Plünderungen in den einzelnen Stadtteilen wurden binnen einer Stunde brutal im Keim erstickt. Den ganzen Tag lang waren Armeen verängstigter Menschen aus New York geflohen. Um ein Uhr morgens waren beinahe dreihunderttausend Menschen in alle Windrichtungen verstreut und irrten durch die Dunkelheit. Als die Flüchtenden merkten, daß die Lichter in Manhattan angeblieben waren, kehrte sich der Exodus ins Gegenteil um. Genau wie in Tokio strömten die Menschen dem Licht entgegen. Die überfüllte Insel wurde aufs Neue von allen Seiten überschwemmt. Wieder waren die UBahnen überfüllt. Menschenströme ergossen sich über die Brücken in die Stadt. Von Jersey und Staten Island aus steuerten ganze Flotten von Booten die Insel an. In dieser Situation straften die Einwohner Manhattans alle Klischees von New York als kalter, herzloser Stadt Lügen. New York riß Tür und Tor auf. Die Hotels in der Innenstadt öffneten als erste großzügig ihre Empfangshallen und Bankettsäle für die Gestrandeten. Als Macy's die Türen aufsperrte und fünftausend frierende Besucher aus der Kälte hereinbat, folgten Saks und Bloomingdale's diesem Beispiel auf dem Fuße. Zahllose Kirchen, Bürogebäude, die Kasernen der Nationalgarde, U-Bahn-Stationen, Theater und Schulen verwandelten sich in improvisierte Massenunterkünfte. In der Religionszufluchtstätte der Jahrtausendwende im 24. Bezirk nahm eine weitere Entwicklung ihren Anfang. Einwohner aus der Gegend nahmen völlig Fremde mit zu sich nach Hause. Sie kochten Kaffee, saßen in überfüllten Wohnzimmern zusammen und tauschten Erlebnisse
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über diesen ungewöhnlichen Tag aus. Von Morningside Heights bis hinunter zum Battery Park waren die Menschen selbst mindestens ebenso erstaunt wie ihre Gäste, zu welcher Großzügigkeit und Gastfreundschaft sie fähig waren. Für viele von ihnen war es nicht leicht, sich zu diesem Akt der Nächstenliebe durchzuringen, und er war mit viel Nervosität verbunden. Doch die Einwohner von New York Öffneten ihre Herzen und überstanden auf wundersame Weise diese dunkle Nacht. Um ein Uhr morgens erreichte der weltumspannende Stromausfall die mittelamerikanische Zeitzone. In Chicago, Dallas, und Mexico City unterlag der amerikanische Lebensnerv dem Millennium Bug. Doch die Folgen waren inzwischen wenigstens vorhersehbar. Zum Glück hatte die Demontage der Stromnetze zur Folge, daß in Biloxi, Wichita Falls, Green Bay, Duluth und dem gesamten Staat Nebraska der Strom nicht ausfiel. Über die gesamte Länge des Mississippi sowie auf dem Ohio und dem Missouri hatten nur die Raddampfer Licht. In New Orleans stampften die antiken Dampfer sorglos den Fluß entlang, die ausgelassenen Silvesterparties an Bord nahmen schwungvoll ihren Lauf. Um zwei Uhr morgens erreichte der Bug die nächste amerikanische Zeitzone. In Hermosillo, Mexiko, wartete man vergebens auf die Wiederkunft Christi. Der elektrische Strom viel trotzdem aus. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich gingen in Denver die Lichter aus, in Colorado Springs aber blieben sie an. Das Satellitenkontrollzentrum war die ganze Nacht hindurch hell erleuchtet. Informationstechniker versuchten, die Steuerung der GPS-Satelliten wieder herzustellen. Gegen sieben Uhr morgens, Zulu-Zeit, war das GPS-Ausweichsystem, das die Zeitsignale über eine Rei-
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he von Bodensendestationen übertrug, wieder funktionstüchtig. Die wenigen Telefongesellschaften, deren Anlagen vollständig Y2K-gerüstet waren, konnten ihre Verbindungen wieder aktivieren und mit dem langsamen Wiederaufbau ihrer riesigen Netze beginnen. Um halb drei hatte Sarah für die drei ausgefallenen Kraftwerke Katastrophenteams organisiert, die für den Wiederaufbau zuständig waren. Leitungsingenieure hatten jedes einzelne Umspannwerk inspiziert, die Hardware getestet und Reparaturen ausgeführt. Um drei Uhr morgens hatten Queens und Brooklyn wieder Strom. Der Flüchtlingsstrom nach Manhattan ließ nach, und die in neuem Glanz erstrahlenden Bezirke fingen den Zustrom von Long Island auf. Die erschöpften Mitglieder des Mitternachts-Clubs waren völlig aufgekratzt. Judd bastelte an seinen Funkgeräten rum, schaltete auf Mikrowellen- und Hochfrequenzübertragungen und nahm alles auf, was er kriegen konnte. Die Nationalgarde funkte auf den Militärfrequenzen heftig hin und her, weil sich die Militärs auf alle Eventualitäten vorzubereiten versuchten. Zwar hatten sich die zivilen Unruhen auf einem sehr viel niedrigeren Level eingependelt, als erwartet, doch im Laufe der nächsten Tage konnte alles mögliche passieren. Auf der anderen Seite des Raumes saß Bo an seinen Bildschirmen. Mittels eines Diagnoseprogramms versuchte er, Big Allis, den Generator Nr. 3 in Ravenswood und gleichzeitig den leistungsfähigsten Generator des gesamten Systems, wieder zum Laufen zu bringen. Ronnie telefonierte mit der Behörde für Umweltschutz. Sie erklärte, wo in den Abwasserwerken nach fehlerhaften Chips gesucht werden mußte. Jody hatte ihre Kamera beiseite gelegt. Sie
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saß mit Doc auf dem Sofa. Händchenhaltend tranken sie Champagner und sahen sich die letzten Minuten von Atemlos auf Video an. Als der Film zu Ende war, zappte Doc durch die Kanäle. Dabei entdeckte er, daß ABC die lokale Übertragung wieder aufgenommen hatte. Die Sendung kam aus dem Studio auf der 65. Straße West. »Bei Fahrten durch Queens ist äußerste Vorsicht geboten«, sagte der Sprecher. »Die Ampeln schalten höchst unzuverlässig.« »Wirklich zu schade, daß sie keine Satellitenverbindung mehr haben«, sagte Judd. »Sonst könnten sie der Welt berichten, was die Typen von der Nationalgarde an Fort Dix gemeldet haben, obwohl mit diesen Meldungen niemand etwas anzufangen weiß.« »Ich könnte ihnen einen Satelliten geben«, sagte Carolyn. »Zufällig habe ich gerade einen parat.« »Hm«, sagte Doc. »Jody, nimm die Kamera.« »Ich bin die Göttin der Telefone«, sagte Carolyn. »Jetzt paßt mal gut auf.« Sie rief bei ABC an, ließ sich den Nachrichtenproduzenten geben, beeindruckte ihn mit der Tatsache, daß seine Telefone funktionierten, erklärte ihm, daß sie zu der Firma gehörte, die Con Edison und die Chase Manhattan Bank gerettet hatte. Dann fragte sie: »Was halten Sie von einer Verbindung zu einem funktionstüchtigen Satelliten? Ich bin in der Lage, Ihnen Verbindungen zu Ihren Übertragungswagen in der Stadt zur Verfügung stellen und als Prämie eine Leitung nach Europa obendrein.« Der ABC Produzent hätte sich beinahe an seinem Bagel verschluckt. »Mein Gott! Klar! Ja, ja, ja. Wieviel?« »Zehn Millionen für die Rechte, dazu zweihundert Riesen pro Tag, Mindestabnahme zehn Tage.«
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»Himmel, das ist ein Haufen Kohle. Das muß ich erst abklären.« »Ich habe Telefonleitungen. Ich habe einen Satelliten. Ihr habt Geld. Willkommen im neuen Jahrtausend.« »Okay. Gemacht.« »Mit welcher Bank arbeiten Sie?« »Chase Manhattan.« »Wie angenehm«, sagte Carolyn. »Ich werde Ihnen jetzt eine wunderschöne Telefonleitung und dazu die richtige Nummer bei Chase Manhattan geben. Wenn Sie die zehn Millionen haben, dann können Sie sie direkt auf das Konto überweisen, das ich Ihnen gleich durchgebe. Sobald ich höre, daß das Geld eingetroffen ist, melde ich mich wieder bei Ihnen.« Danach rief Carolyn bei AT&T an und fragte die Systemmanagerin, ob sie in der Lage wäre, Transponder an ABC zu vermieten, selbstverständlich zu einem hübschen Bonus, wie wär's mit fünf Millionen im voraus plus hunderttausend pro Tag, bei einem Minimum von zehn Tagen? Verhandlungen. Rückrufe. Schließlich willigte ABC ein. Die Bank rief an und bestätigte den Eingang des Geldes. Carolyn winkte Doc triumphierend zu, Doc winkte zurück. »Das hast du doch geplant«, stellte Jody fest. »Zugegeben, ich habe im Vorfeld ein paar Szenarien durchgespielt, nur für den Fall. Die Sendezentrale von ABC liegt direkt gegenüber der Leitzentrale von ConEd. Für unsere Arbeit bei ConEd haben wir sowieso offene Leitungen benötigt, und weil Carolyn deswegen schon in der Gegend zu tun hatte, hat sie gleich noch ein bißchen an der ABC-Telefonanlage herumgebastelt. Sie war besser als Bell Atlantic selbst. Sie hat bessere Arbeit geleistet als deren eigene Leute.«
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»Was für kleine Überraschungen hältst du eigentlich noch bereit?« »Wenn ich dir das verraten würde, wären es schließlich keine Überraschungen mehr, oder?« Einige Minuten später hatte ABC Verbindung zu dem Übertragungswagen vor dem Bellevue Krankenhaus. Das Team hatte den Bürgermeister mit Hilfe des Polizeifunks dort aufgespürt. Bill Packard stand hinter den Türen zur Notaufnahme und beobachtete den Übertragungswagen. Eine ganze Zeit lang stand das Team nur gelangweilt herum und starrte hinauf in den Himmel, doch dann machte sich plötzlich Aufregung breit. Die Fernsehleute drängten sich in den Wagen, starteten ihren Generator, und die Schüssel auf dem Dach begann zu rotieren. Scheinwerfer leuchteten auf. Kamera und Ton wurden eingeschaltet. Direkt vor den Türen zur Notaufnahme begann ein Reporter mit einem Bericht über Bürgermeister Rudy Giuliani. Rudy lag in seinem Privatzimmer und schlief, umsorgt von einer emsigen Schar von Ärzten und Schwestern, und Männer mit Kopfhörern sorgten für seine Sicherheit. Dem Verkehr zum Trotz war ABC am Ball, und Packard verspürte nicht den geringsten Wunsch, Teil ihrer Show zu werden. Er durchquerte das Krankenhaus, verließ es durch den Vordereingang, der auf die First Avenue führte, ging schnell durch die Straßen und verschwand in der UBahn-Station. In der Penn Station stieg er um. Die Verbindungsgänge zwischen den einzelnen Bahnsteigen waren vollgestopft mit lagernden Menschen. Irgendwo in dem Tunnelgewirr brachte der hinreißende Klang einer Flamenco-Gitarre die Luft zum Schäumen. In den Ecken türmte sich Silve-
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sterabfall, Lametta und Glitter, Silbersterne, zerknüllte Papphütchen. Die Parties gingen weiter. Dichte Trauben gestrandeter Vorstädter hatten sich hier unten den Betonund Fliesenboden zu ihrem Revier erkoren. Um drei Uhr morgens herrschte an den Imbißbuden noch immer Hochbetrieb. Nur die Zeitungsstände hatten nichts zu verkaufen. Packard fragte einen Verkäufer, was los sei. »Keine Ahnung. Hab keine neuen Zeitungen bekommen. Mehr weiß ich nich'.« »Danke.« Packard wollte gerade weitergehen, als ihm ein blinder Gitarrist nachrief: »Hallo, Mister!« »Ja?« »Die Druckpressen sämtlicher Zeitungen sind wegen Y2K zusammengebrochen, außerdem hab' ich gehört, daß die Lieferwagen in den Garagen stecken, weil die Verteilercomputer nur noch Kauderwelsch ausspucken.« Lächelnd spielte er ein paar spanische Akkorde. »Sie sind ja 'n wahrer Informationsquell«, sagte Packard und gab ihm fünf Dollar. »Spielen Sie weiter.« Während Bill Packard in der U-Bahn saß und die West Side hinauffuhr, erreichte der Millennium Bug die Westküste der Vereinigten Staaten. Seattle, Portland, San Francisco, Las Vegas, San Diego, San Jose und Los Angeles bissen ins Millennium-Gras. Nur Oakland blieb auf wundersame Weise hell erleuchtet. Die seit Jahren lauernde Gefahr eines Erdbebens hatte den Menschen in Kalifornien geholfen, mit diesem Ereignis umzugehen. Städte, Gemeinden und Regierungsbehörden wurden jedoch von Computerfehlfunktionen gnadenlos vernichtet. Silicon Valley implodierte. Das Herz der amerikanischen Technologie mußte ernten, was es einst gesät hatte.
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Dreißig Minuten nachdem Packard das Krankenhaus verlassen hatte, betrat er das Polizeirevier des 24. Bezirkes auf der 100. Straße, West. Die Polizeistation kam ihm vor wie die Kulisse einer verrückten Klamaukserie. Sie war überfüllt mit Jahrtausendirren und aufgebrachten Polizisten. Den Kopf auf die Arme gebettet, schlief Ed Garcia an seinem Schreibtisch. »Ed!« »Was...? Mein Gott, Bill.« »Wachposten, die im Dienst schlafen, werden standrechtlich erschossen.« Der Captain kicherte. »Erschießen Sie mich. Du hast also den Bürgermeister bearbeitet?« »Klar.« »Lebt er noch?« »Klar.« »Wirst du bei den nächsten Wahlen für ihn stimmen?« »Genau diese Frage habe ich den Schwestern auch gestellt«, sagte Packard und hielt den Daumen nach unten. »Wie viele sind eigentlich noch drüben im Park?« »Keine Ahnung. Ein paar Tausend. Die Betrunkenen werden erfrieren. Der größte Teil wurde rüber in die Kaserne an der East Side verfrachtet, aber ein paar von ihnen weigern sich standhaft, zu gehen.« »Bleibst du die ganze Nacht über hier?« Garcia nickte, gähnte und rieb sich die Augen. »Jesus wartet unten. Er hat sich den Arm gebrochen. Willst du ihn dir mal ansehen?« »Du Blödmann!« »Ach so? Wozu bist du denn hergekommen? Um Champagner zu schlürfen? Ich habe Champagner für dich. Ich habe hier drei Kisten Cordon Rouge, die heute aus Spill-
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mans Laden geklaut worden sind; ich habe sie konfisziert. Wie findest du das? Ich nehm' sie mit nach Hause. Ganz genau! Ha ha ha ha ha.« »Wie hat Jesus sich den Arm gebrochen?« »Hat sich selbst ans Kreuz genagelt. Hat leider danebengehauen. He, Mann, ich habe Jesus in dreifacher Ausführung, ich habe Maria, ich glaube, auch Pontius Pilatus ist dabei. Keine Ahnung, wer sich sonst noch hier rumtreibt. Mohammed, genau. Auf alle Fälle Buddha. Dazu noch ein Haufen Krishnas, aber ich glaube, die lassen wir laufen. Ich habe die IRA, die Jüdische Defense League und Free Puerto Rico. Unser Revier ist momentan richtig ökumenisch. Trotzdem, die meisten hier sind stinknormale Besoffene. Wir würden sie ja gerne wieder rausschmeißen, aber dann erfrieren sie.« »Klingt wie 'ne ganz normale Freitagnacht im Big Apple. Frohes neues Jahr!« »Wirst du dir jetzt meinen gebrochenen Jesus ansehen?« »In Ordnung. Hast du hier irgendwo 'ne Tetanusspritze rumliegen?« Schließlich machte Jonathan Spillman sich doch auf den Rückweg, um zu sehen, ob mit Shirley alles in Ordnung war. Als er die Wohnungstür aufsperrte, hörte er Stimmen. Er schaute ins Wohnzimmer und erblickte zwei Zeugen Jehovas, die in Sesseln schliefen, und drei weitere, die ins Gebet vertieft waren. Shirley war in der Küche. Sie kochte Kaffee. Spillman traute seinen Augen nicht und war sich zuerst nicht ganz sicher, ob sie es wirklich war. Als er ging, hatte er eine hysterische, heulende Frau zurückgelassen, die sich in ihrem Schlafzimmer eingesperrt hatte. Jetzt aber war seine
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Küche von einer selig lächelnden Jahrtausendgastgeberin in Beschlag genommen. »Hallo«, sagte er und nahm eine Kopie des Wachturms zur Hand. »Wer sind diese Menschen?« »Die Züge fahren nicht.« »Die Züge?« »Nach Philadelphia. Zum Laufen ist es zu weit, also habe ich sie hereingebeten. Mrs. Finkelstein hat Baptisten bei sich drüben.« »Willst du wissen, wo ich war?« »Nein. Ja. Wo warst du?« »Drüben.« »Oh. Wie nett.« »Shirley, hast du etwa Tabletten ...?« »Mhm. Hör mal, Jon, du hast einen ganzen Laden voller Waren, die du sowieso nicht verkaufen kannst. Hast du schon mal darüber nachgedacht, sie zu verschenken?« Spillman traute seinen Ohren kaum. Shirleys Vorstellung von Wohltätigkeit entsprach es gewöhnlich, fünf Dollar nach Israel zu schicken, damit ein Baum gepflanzt werden konnte. Niemals in ihrem Leben hatte sie für einen obdachlosen Bettler auch nur einen Blick übrig gehabt, von einem Vierteldollar ganz zu schweigen. »Ist das dein Ernst?« »Willst du das Zeug etwa verfaulen lassen?« Eine seltsame Nacht. Aus Ehepartnern wurden Fremde, und Fremde wurden zu Freunden. Wenn die Welt schon auf dem Kopf stand, dachte Spillman, dann mußte man eben selbst auch einen Kopfstand machen. »Dazu brauche ich aber Hilfe«, sagte er. »Ich bin sicher, daß die Zeugen Jehovas begeistert wären. Und natürlich Mrs. Finklesteins Baptisten.« Während Shirley sämtliche Millenniumgläubigen aus dem
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ganzen Haus zusammentrommelte und ihnen das Tudische Prinzip der mizwe, der guten Tat, erläuterte, rannte Spillman zu Copeland zurück und überredete ihn, mit zum Supermarkt zu kommen. »Jetzt komm schon. Du willst doch nicht die ganze Nacht hier rumsitzen.« »Doch, genau das will ich. Ich bin sehr glücklich dabei, hier mit meinem Hund vor dem Fernseher zu sitzen. Bei ABC stehen die Leitungen wieder.« »Komm schon, Donnie. Wir wollen den ganzen Supermarkt verschenken.« »Du bist total plemplem, weißt du das?« Die Zeugen Jehovas, die Baptisten, ein paar Methodisten aus Newark, sechs Juden aus der Upper West Side und einige Buddhisten marschierten in Richtung Safeway den Broadway hinunter. Spillman verteilte Schürzen. In den Gängen lagen noch immer Schachteln und Dosen, Überreste des Aufruhrs. Die Baptisten begannen unverzüglich, alles zu sortieren. »Also, wir werden folgendermaßen vorgehen«, erklärte Spillman. »In jeden Einkaufswagen kommen zwei offene Tüten. Die Leute dürfen diese Tüten vollmachen und mitnehmen. Es dürfen nicht zu viele auf einmal herein. Sorgt dafür, daß niemand einschläft und die Gänge blockiert.« »Was ist dein Bestand wert?« fragte Copeland. »Ein paar Millionen? Das kann Safeway sich leisten.« Sofort bildeten sich die ersten Schlangen. Um. vier Uhr morgens wanden sie sich um den ganzen Häuserblock. Im zweiten Stock in der Nassau Straße war Ruhe eingekehrt. Keine Musik, kein Polizeifunk, kein brüllender Fernseher.
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Ronnie hatte sich auf einem Sofa zusammengerollt und schlief. Carolyn stand auf und fuhr systematisch Adrians Terminal herunter. Leise sang Sie:« I... bin workin ... on the raaailroad ... all... the livelong ... day.« - Ich hab' den
ganzen Tag bei der Eisenbahn geschuftet. Bo stand auf und reckte sich. »Hat jemand Hunger?« fragte er. »Ich bin viel zu müde, um zu essen«, sagte Judd und ging in die Küche. »Außerdem sind nur noch ein paar Puffmaiscracker übrig.« »Ich könnte uns 'ne Pizza holen«, schlug Doc vor. »He!« rief Judd aus der Küche rüber. »Schaut euch das an!« Er kam mit einer Schüssel Kaviar in der einen und einer Flasche Cordon Rouge in der anderen Hand wieder heraus. »Wo kommt das denn her? Von Doc?« »Ich glaube, die sind wieder im Schlafzimmer verschwunden«, sagte Carolyn. Judd klopfte an die Tür und stieß sie auf. Das Zimmer war leer. Auf dem Bett standen fünf beschriftete Aktenkoffer, für »Bo«, »Ronnie«, »Adrian«, »Carolyn« und »Judd«. Judd ging zum Bett, nahm den für ihn bestimmten Koffer und öffnete ihn. »Verdammte Scheiße!« sagte er beschwörend. Er ging hinaus, um den anderen seinen Fund zu zeigen. »Du solltest Ronnie aufwecken«, sagte er. »Sie will sicher wissen, wie eine Million Dollar in bar aussieht.« Langsam schlenderten sie durch den Schneefall. Leise hallten ihre Schritte von den Hauswänden wider. Doc erzählte Jody von seinem Plan, ein altes Rennboot abzu-
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schleifen und neu zu lackieren, vielleicht den alten Caddy V8-Motor nachzubauen oder sogar einen ganz neuen Motor zu kaufen. Er erzählte ihr von einem wunderschönen See in Wisconsin, mit einer Halbinsel, auf der ein Haus aus Stein stand, von Pinien umgeben. Den lieben langen Tag würde er herumbasteln und Barsche und Hechte angeln gehen, und die Nächte würde er sich beim Kartenspiel und mit viel Herumgeblödel vertreiben. Wie hörte sich das in ihren Ohren an? »Gibt es dort Mücken?« fragte sie. »Völlig bösartige Mücken. Du wirst in Insektenspray baden.« »Wäre auf dem Abstellplatz wohl noch ein Plätzchen für einen kleinen V8~Chevy?« fragte sie. Doc fiel die Kinnlade herunter. »Oh Mann«, sagte er. »Das muß ein Traum sein.« Sie betraten die prachtvolle, altmodische Bar des Delmonico's an der Ecke Beaver und Williams Street. Während die Welt mit Vollgas mit dem 21. Jahrhundert kollidiert war, fühlte Doc sich in das 19. Jahrhundert zurückversetzt, in das alte New York mit seinen holzgetäfelten Wänden und den Bleiglasfenstern. Der Barkeeper begrüßte ihn mit einem Lächeln. »Abend, Doc.« »Hallo, Nick. Zwei doppelte Macallan's, den fünfzigjährigen, ohne Eis.« »Hast du Bargeld?« Doc legte einen Hunderter auf die Theke. »Ja, Sir. Was ist mit deiner Kasse passiert?« »Zugesperrt. Läßt sich seit Mitternacht nicht mehr öffnen«, sagte der Barkeeper. »Ich habe versucht, sie mit einer Brechstange zu öffnen, aber ich wollte sie dann doch nicht kaputtmachen.«
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»Wie ist die Stimmung bei euch?« fragte Doc. »Ist nicht gerade ein frohes neues Jahr.« In ernsthafte Gespräche vertieft, drängten sich Geschäftsleute um die winzigen Tische. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern ließ darauf schließen, daß Y2K ihnen allen beträchtlich zugesetzt hatte. Ihre asiatischen und europäischen Märkte waren hinüber, und keiner konnte sagen, für wie lange. Die Transportsysteme lagen im argen. Die Benzinversorgung war in höchstem Maße ungewiß. Die dürftigen Nachrichten, die von außerhalb in die Stadt tröpfelten, waren beinahe ausnahmslos schlecht. »Hast du gewußt, daß nur ein paar Kilometer von hier entfernt, drüben in Brooklyn, George Washingtons allererste Schlacht der Revolution stattgefunden hat?« fragte Doc. Jody antwortete zwar ja, auch sie habe in der achten Klasse aufgepaßt, aber Doc redete trotzdem weiter. »Hast du gewußt, daß er von den Briten übel geschlagen wurde und sich genau hier wieder davon erholt hat? Genau, wo heute diese Bar steht, hat er damals sein Lager aufgeschlagen, und dann sind die Briten rübergekommen und haben ihn wieder in den Arsch getreten. Die Rotjacken haben New York bis zum Ende des Krieges gehalten, aber den New Yorkern war das egal. Diese treulosen Hunde waren allein am Geschäft interessiert. Washington war in schlechter Verfassung. Seine Armee ging in Lumpen, die Soldaten desertierten, weil sie es leid waren, von den Briten eins auf die Mütze zu bekommen, aber der gute alte George hat nie aufgegeben. Was ich sagen will, ist, diese Typen jammern sich gegenseitig die Ohren voll, weil sie noch nie Prügel bezogen haben. Also, werden sie morgen aufstehen und weiterkämpfen, oder werden sie aufgeben?« »Das weiß ich nicht«, sagte Jody.
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»Ich auch nicht«, sagte Doc. »Und deshalb werde ich an meinen See fahren, sobald die Dinge sich etwas beruhigt haben und ich Benzin kriege.« »Hat er wirklich genau an dieser Stelle gelagert?« »Nein«, sagte Doc mit unbewegter Mine. »Den Teil hab' ich mir ausgedacht.«
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Die Zeit beschleunigte nicht, sie verstrich auch nicht langsamer. Sie tickte dahin, wie sie es immer schon getan hatte, komplex und womöglich selbst für Steven Hawkins undurchschaubar. Tiefrot ging über Brooklyn die Sonne auf. Fünfzehn Zentimeter Neuschnee hatten sich über New York gebreitet. Bernie's Delicatessen war, wie immer, geöffnet. »Glaubt ihr, daß die Superbowl-Spiele stattfinden?« fragte Spillman. »Keine Ahnung«, sagte Packard. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieses Wochenende irgend jemand spielt.« »Wer ahnt den so was!« schnaubte Copeland entrüstet. »Seit zwanzig Jahren kommen die Jets das erste Mal wieder in die Endrunde, und dann so was!« Ed Garcia kam herein. Er legte seine Mütze und die Brieftasche auf den Tisch und ließ sich schwer auf die Bank fallen. »Hat einer von euch letzte Nacht geschlafen?« fragte er und knöpfte seine Uniformjacke auf. »Sagt nichts. Ich will's gar nicht wissen.« Bernie fuhr den Captain an: »Willste was essen?« »Ja, Sekunde bitte!« »Herrje! Immer mit der Ruhe. He, hat einer von euch letzte Nacht das Feuerwerk gesehen?« »Drüben in Jersey City, da haben sie ein richtiges Feuerwerk«, erzählte Garcia. »Irgendeine Chemiefabrik steht in Flammen.«
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»Nur eins?« »Soviel ich weiß, schon.« »Habt ihr gehört, was in San Francisco passiert ist?« fragte Spillman. »Nö. Was denn?« »Irgendwelche Typen haben die Bank of America ausgeraubt. Sechzig Millionen Dollar.« Copeland wurde blaß. »Woher weißt du das?« wollte er wissen. »Wer weiß denn, was in Kalifornien vor sich geht?« »Ich hab's halt irgendwo gehört. Ein Typ hat's mir erzählt.« »Ein Typ, irgendein Typ. Na toll! So was nennt man ein Gerücht. »Ach, leck mich!« Spillman wandte Copeland den Rükken zu. »He, Bernie, bring mir Würstchen mit Rührei und 'ne Scheibe weißen Toast dazu.« »Würstchen und Rührei. Den Toast trocken?« »Ja. Und schalt den Fernseher ein.« »Immer dieses Scheißfernsehen. Wie wär's denn zur Abwechslung mal mit 'n bißchen echtem Leben?« »Was macht dein Jesus?« fragte Packard Garcia. »Hat den Verstand verloren, wenn er überhaupt jemals einen hatte. Hast du was aus Maine von deiner Angetrauten gehört?« »Nein. Es gibt keine Telefonleitungen. Ich will heute rauffahren, wenn ich's irgendwie schaffe.« »Hast du Benzin?« »Der Tank ist voll.« Bernie schaltete den Fernseher ein. Er zappte durch ein paar bild- und tonlose Kanäle, dann landete er bei ABC. »He, Donnie, schau mal! Das ist doch deine Firma.« Im trüben Licht der Morgendämmerung hatte sich ein
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Übertragungswagen von ABC vor Copeland Investments in der Nassau Street aufgebaut. Die Kamera schwenkte langsam über die dunkelrote Ziegelfassade. Aus dem Off gab ein Reporter eine kurze Einleitung. »An diesem Morgen macht die Geschichte über eine kleine Gruppe von Computerexperten die Runde. Von diesem Gebäude aus haben sie dafür gesorgt, daß hier in Manhattan die Lichter angeblieben sind. Consolidated Edison hat bestätigt, daß ein Team Programmierer von Copeland 2000, unter der Leitung von Donald Copeland und in Zusammenarbeit mit ConEd und Bürgermeister Rudolph Giuliani...« Bernie machte Rührei. Copeland strahlte. Die Stimme im Fernsehen nannte ihn »Den Mann, der New York gerettet hat.« Der Reporter interviewte Bo und Carolyn. Sie trugen T-Shirts mit der Aufschrift Mitternachts-Club. Werbeunterbrechung. Chase Manhattan. Jahr 2000. Wir sind bereit.
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Der Autor möchte folgenden Menschen für ihre unbezahlbaren Beiträge zu diesem Werk danken: Mike Phillips aus San Francisco, der mich als erster darauf aufmerksam machte, daß Y2K ein lohnendes Thema ist; meinem Agenten Nick Ellison dafür, daß er die Jahrtausendwende als Thema von größtem Interesse vorgeschlagen hat; Daniel Starer von Research for Writers in New York City für seine außergewöhnliche Begabung, auf Kommando mit einem kompletten Kernkraftwerk aufzuwarten; Rundfunkguru Peter Gerba für seine geduldigen Ausführungen über die Telekommunikation; dem New Yorker Architekten William Rosenblum für seine Beschreibungen vieler New Yorker Gebäude; dem risikofreudigen, abenteuerlichen Geschäftsmann Peter Winslow für seine detaillierte Analyse des Lebens in Manhattan; dem Aktienhändler Barry Shapiro und dem Unternehmer Mark Ledirad dafür, daß sie Y2K, die Aktienmärkte und Finanzinstitutionen in sinnvollen Zusammenhang gebracht haben. Am tiefsten zu Dank verpflichtet bin ich jedoch meinem Lektor, Jim Fitzgerald, dafür, daß er tausend Fehler lokalisiert, mit der Hauptreparatur aufgewartet und dafür gesorgt hat, daß dieses Buch Y2K-gerüstet ist.
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