Mac Kinsey � Band 12 �
Jake Ross �
Der Kreuzweg der � Skelette �
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Mac Kinsey � Band 12 �
Jake Ross �
Der Kreuzweg der � Skelette �
Laglen hatte den Unheimlichen von Balmoral gespielt. Aber er war ein Stümper geblieben und hatte das Erbe der Hexe Laurina vertan. Dafür war er in Rauch und Feuer vergangen. Für alle Zeit. Aber Laurinas treuer Begleiter, der Feuerdämon, betrieb eifrig die Rückkehr der Hexe aus dem Schattenreich. Was Laglen nicht gelang, wollte er vollbringen. Er setzte die Menschen mit den toten Augen eiskalt für seine Zwecke ein. Er brauchte sie für die Wallfahrt. Nicht in ihrer menschlichen Form. Nur als Gerippe waren sie ihm nützlich. Denn um Laurina aus dem Schattenreich herüberzuholen, mußten sie den Kreuzweg der Skelette gehen! Ein unheimliches Knistern schreckte den Oberpfleger Gains im Siechenheim ›Zum Guten Hirten‹ auf. Das hörte sich doch wie nach einem Feuer an! Zu dem Knistern gesellte sich jetzt noch ein unheilvolles Knacken und Prasseln. So krachten Balken, die im Feuer zersprangen! Gains schnellte hoch und stieß den Stuhl zurück, daß das Sitzmöbel quer durch das Wachzimmer flog und gegen die Heizung prallte. Die Angst peitschte den Oberpfleger. Vor zehn Jahren hatten sie schon einmal einen Brand im Haus gehabt. Es war fürchterlich gewesen. Blitzartig stand die schreckliche Erinnerung auf. Einige Heiminsassen, die schon gerettet waren, hatten in völliger Verwirrung zurück ins Haus gedrängt und waren in das Feuer gelaufen. Anderen war jeder Fluchtweg aus dem alten Gebäude abgeschnitten. Ihre grauenhaften Schreie hatten aus der Flammenhölle gegellt, bis das orgelnde Fauchen und Brausen des Feuersturmes die Schreie gnädig übertönte. Wie das Feuer damals hatte ausbrechen können, war nie ganz geklärt worden. Die Brandexperten hatten sich schließlich darauf ge3
einigt, daß einer der verwirrten Heiminsassen gezündet hatte. Das war die bequemste Lösung gewesen. Beim Wiederaufbau hatte dann alles anders gemacht werden sollen. Mehr Brandschutz, bessere Räume für die Insassen und das Personal, eine zusätzliche Feuertreppe, eine Sprinkleranlage. Mangels Geld war das Haus dann doch in der alten Manier aufgebaut worden. Im Grunde war es immer noch eine Mausefalle für die Insassen, falls ein Feuer ausbrach. Mit der Brandkatastrophe vor zehn Jahren und den grauenhaften Folgen vor Augen hastete Gains auf den Flur hinaus. Im Haus herrschte nächtliche Ruhe. Bis auf das unheimliche Knacken und Prasseln. Es kam von dieser Etage. Gains warf sich herum, er hatte die falsche Richtung eingeschlagen. Geistesgegenwärtig riß er einen Feuerlöscher aus dem Halter an der Wand. Feuerlöscher! Diese lächerlichen Schaumbehälter waren von der großzügig und teuer geplanten Sprinkleranlage übrig geblieben! Ein Hohn. Letztendlich aber immer noch besser als gar nichts. Früher, vor der Feuerkatastrophe, hatte es hier nicht einmal Feuerlöscher gegeben. Wassereimer – ja. Aber ohne Wasser. Weil die Heiminsassen mit dem Wasser dauernd Unfug anstellten. Und ein paar Tüten mit Sand. Die waren irgendwie noch vom Weltkrieg übrig geblieben. Gains schnupperte. So, wie es krachte und prasselte, mußte eines der Zimmer in hellen Flammen stehen. Zwangsläufig gab's dabei eine starke Rauchentwicklung. Er roch jedoch nichts. Das Fenster! zuckte es ihm durch den Kopf. Das Fenster ist in der Hitze geplatzt, der Rauch zieht hinaus, und das Feuer bekommt noch mehr Sauerstoff! Hier oben im letzten Stockwerk waren die Fenster nicht zu öffnen und zusätzlich noch vergittert. Aus gutem Grund. Schon mancher 4
Insasse hatte versucht, durchs Fenster hinauszukommen. Die Mitbewohner des Zimmers hatten ihm oft genug dabei geholfen. Es kam aber auch vor, daß sie völlig apathisch das Treiben verfolgten. Oder daß sie ein schwer motivierbares Gelächter anstimmten. Weil das Siechenheim mehr Pflegefälle aufnehmen mußte, als eigentlich Plätze zur Verfügung standen, war es wieder üblich geworden wie schon vor der damaligen Brandkatastrophe, bis zu vier Pfleglinge auf ein Zimmer zu legen. Das brachte zusätzliche Probleme mit sich und verlangte dem Personal den letzten Geduldsfaden ab. Hier oben waren alle Zimmer voll besetzt – mit einer Ausnahme. Einen Raum gab es, der nur einen Insassen hatte. Weil der Pflegling nämlich besonders schwierig war. Gefährlich auch noch. Für sich und andere. Vor einem halben Jahr war er durch Vermittlung eines Doktor Vilion aus Balmoral eingeliefert worden. Eine unheimliche Geschichte rankte sich um den jungen Mann. Angeblich war er durch Hexenkraft erblindet. Der Postmeister Laglen aus Balmoral sollte ihm die toten Augen angehext haben. Ihm und vier anderen Bewohnern des Ortes. Gains und sein Personal hatten natürlich gegrinst und ein paar ziemlich derbe Bemerkungen dazu gemacht. Daß es heutzutage noch Hexen und Hexer gab, war ja der reine Blödsinn. Der krumme knorrige Vilion hatte selber ein wenig seltsam ausgesehen. Möglich, daß es in seinem Kopf genauso wirr zuging wie in dem der Pfleglinge. Eine Pflegerin aus dem Frauenhaus hatte sogar gesagt, den Doktor sollten sie besser gleich dabehalten, es wäre sicher kein Fehler. Das war natürlich nicht gegangen. Was den Pflegling mit Namen Ian Burgess betraf, hatte er wahrhaftig tote Augen. Große weiße Kugeln, die mitunter schrecklich rollten. Gains konnte sich nicht entsinnen, je etwas Ähnliches gesehen zu 5
haben. Die Augen der übrigen Opfer des Postmeisters sollten einen ähnlich schrecklichen Anblick bieten. Daß Hexerei im Spiele war, hielt Gains rundweg für ausgeschlossen. Eine Erklärung war ihm in den sechs Monaten aber auch nicht eingefallen, die sich vernünftiger anhörte. Gefährlich war Ian Burgess deshalb, weil er unberechenbar war. Der Bursche war ein Hüne von Gestalt und kräftig wie ein Bär. Tagelang saß er nur da und war nicht ansprechbar, reagierte überhaupt nicht, rührte nicht einmal die Mahlzeiten an. Dann wieder konnte es passieren, daß er hinter der Tür lauerte und sich auf jeden stürzte, der seinen Fuß nur ins Zimmer setzte. Kürzlich hatten vier Mann ihn nur mit Mühe bändigen können. Und zweimal hatte er schon das fest verankerte Bett aus der Wand gerissen und obendrein Schrank, Tisch und Stuhl kurz und klein geschlagen. Für einen ganzen Tag hatten sie ihn in die Jacke stecken müssen. Nur langsam hatte er sich wieder beruhigt. Daheim hatte er solche Zerstörungsanfälle fast jeden Tag bekommen. In dem Bericht, den Vilion mitgebracht hatte, war auch festgehalten, daß Ian Burgess fünf Selbstmordversuche unternommen hatte. Und daß er gegen seine Familie und jeden Besucher tätlich geworden war. Darum wurde er hier allein und abgesondert verwahrt. In der ersten Woche seines Aufenthaltes hatte dreimal eine neue und jedesmal stärkere Tür eingesetzt werden müssen, weil er sie jedesmal zerschmettert hatte. Selbst an der Metalltür hatte er sich versucht. Die hatte ihm aber endlich standgehalten. Hinter dieser Metalltür hörte Gains das schreckliche Prasseln. Er stoppte und betrachtete die Tür. Er konnte aber nicht entdecken, daß die Farbe von der Hitze Blasen warf oder daß sie sich irgendwo verfärbte. Er schnupperte an der Ritze. Kein Rauch! 6
Im Handumdrehen hatte er den Universalschlüssel in der linken Hand und stocherte nach dem Schlüsselloch. In diesem Moment hörte er ein irres Gelächter hinter der Tür. Gains erstarrte fast zur Salzsäule. Das war nicht Burgess! Der lachte selten, und wenn, dann hörte es sich anders an. Böse und gereizt und ziemlich tief. Dieses Gelächter jedoch war schrill und hoch. Jemand war bei Burgess drinnen! Das war aber gar nicht möglich, denn ohne Schlüssel kriegte niemand die Tür auf. Und Gains war sicher, seit dem Abendessen den Schlüssel nicht herausgegeben zu haben. Nicht mehr seit dem Abtragen des Geschirrs. Hatten die Pfleger vielleicht geschlafen? War ein Insasse aus einem Nachbarzimmer unbemerkt zu Burgess hineingeschlüpft und hatte sich einschließen lassen? Gains knurrte. Die Pfleglinge waren erfinderisch. Auf eine höchst unliebsame Art. Es gab eigentlich nichts, was sie sich nicht einfallen ließen und was sie auch in die Tat umsetzten. Es war schon ein Kreuz mit den armen Teufeln! Jetzt brach dieses irrsinnige Gelächter ab. Die Hand von Gains verharrte vor dem Schlüsselloch, denn drinnen sagte eine Männerstimme, die wie aus einer verrosteten Gießkanne klang: »Ich rufe euch alle zusammen zur großen Prozession, Ian! Wir machen die Wallfahrt zu Ehren von Laurina. Wir werden sie zurückholen. Es wird ein Tag sein, wie es noch keinen im Hexenreich gegeben hat! In tausend Jahren wird man noch voller Entsetzen davon sprechen.« Laurina? Hexenreich? Gains ließ um ein Haar den Schaumlöscher aus der rechten Hand fallen, so sehr erschrak er. »Wo bist du?« Das war Burgess, seine Stimme klang gereizt. Wie immer unmittelbar vor einem Wutausbruch, der mit einem Angriff endete. »Du kannst mich nicht sehen, nicht wahr?« Die fremde Männer7
stimme kicherte. »Laglen, dieser Stümper, hat Laurinas alte Hexenbücher gefunden, aber er hat nichts verstanden und alles falsch gemacht. Hier bin ich, Ian, hier! Komm nur, ich geleite dich hinaus!« Laglen? Gains begannen die Knie zu zittern. Sollte dieser ganze Quatsch aus Balmoral am Ende doch stimmen? Hatte der krummknorrige Vilion doch keinen Vogel? »Laß mich in Ruhe!« sagte Ian Burgess heftig und wild. Ein Stuhl krachte neben der Tür drinnen gegen die Wand. Ein gehässiges Lachen war die Reaktion. »So nicht, mein Freund!« sagte die Männerstimme. »Ich werde Laurina zurückholen, ich werde ihr den Weg bereiten. Dazu brauche ich euch und viele andere. Ihr werdet mir helfen, ich zwinge euch dazu, ich habe die Macht.« Jetzt flog der Tisch und krachte gegen die Wand zum Nachbarzimmer. Ian Burgess ließ sich zu nichts zwingen, wie es sich anhörte. Im nächsten Augenblick brüllte er grauenhaft auf. »Siehst du, mein Freund, ich habe dich gewarnt! Ich sagte doch, ich habe die Macht! Ich werfe den Fluch über dich!« Ein unverständliches Gemurmel folgte. Im Zimmer gingen unglaubliche Dinge vor! Gains drehte den Schlüssel und zog ihn sofort ab, wie es die Vorschrift verlangte. Außerdem brauchte er ihn drinnen, sonst kam er nicht wieder heraus. Alle diese Türen hatten auch innen ein Schlüsselloch, aber keinen Drücker und keine Klinke. Greller Feuerschein zuckte ihm entgegen. Also doch! Wer immer sich bei Burgess hatte einschließen lassen, er war an Streichhölzer oder an ein Feuerzeug gekommen, und er hatte einen Zimmerbrand entfacht! Gains öffnete die Tür nur soweit, daß er in den Raum schlüpfen konnte. Damit die Flammen nicht auf den Flur schlugen und das Haus nicht im Nu voller Qualm war! Und damit es keinen Durchzug gab und das Feuer noch mehr angefacht wurde. 8
Das Entsetzen traf den Oberpfleger bis ins Mark! Aus hervorquellenden Augen stierte er auf eine flammenumlohte Gestalt. So sah es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Dann begriff Gains, daß es eigentlich umgekehrt war. Eine unerklärliche Flammensäule ahmte eine menschenähnliche Gestalt nach! Feuer formte die Haare, den Kopf, den Körper und die Gliedmaßen. Das Bild war grauenhaft. Am schlimmsten war das Gesicht. Es war eine lohende Fratze mit einem Maul, so groß wie ein Kellerloch. Flammenbündel schossen daraus hervor, schlugen ins Zimmer und griffen fest nach Burgess. Ein Spuk! Ein Geist! Ein Dämon! Ein Feuerteufel! Gains drehte fast durch. Eine Einbildung war der Feuerdämon nicht, denn er spürte deutlich die Hitze. Er verstand nur nicht, weshalb der Boden nicht brannte, die Tapete, das Bett und die Trümmer von Tisch und Stuhl. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Ein grauenhafter Schrei brach aus seinem Mund, als er sah, was mit der Hand von Ian Burgess war, die der junge Mann gegen den Feuerteufel erhoben hatte. Gerade, als wollte er zuschlagen und als hätte ihn eine unsichtbare Kraft gestoppt. Diese Hand war verbrannt. Haut und Fleisch waren weggebrannt. Nur noch die Knochen waren da. Gains kniff fest die Augen zu und riß sie wieder auf. Ich bin zu lange schon in diesem Haus, dachte er, mich hat es auch schon erwischt! Das Bild hatte sich nicht verändert. An der Wand stand der entsetzliche Feuerteufel und riß grinsend das schreckliche Maul auf bis hinter die Flammenohren. Und Ian Burgess hatte immer noch die abgebrannte Knochenhand wie zum nächsten Schlag erhoben. 9
Jetzt wandte der Feuerdämon den Kopf. Lohende Augen blickten Gains an. Augen, in denen das ewige Höllenfeuer brannte. »Sieh an, ein neugieriger Menschenteufel! Du kommst mir gerade recht, Freund! Ich lade dich ein zur Wallfahrt auf dem Kreuzweg. Wir werden viele Teufelsgebete für Laurina sprechen müssen, aber sie wird zurückkehren, ich weiß es. Und ich will es. Tritt näher, Freund, fürchte dich nicht.« Gains schüttelte die Erstarrung ab. Wahnsinn, dachte er. Das gibt es alles nicht! Aber er fürchtete, daß er doch richtig sah. Deshalb riß er den Feuerlöscher vor sich, richtete die Düse auf den Feuerteufel und hieb mit der linken Hand auf den Knopf. Zischend sprühte ein dicker Schaumstrahl auf den Feuerteufel. Aber wie durch Hexerei löste sich der Schaum schon unterwegs auf. Der flammende Dämon wurde überhaupt nicht getroffen. Nur etwas Dampf quoll hoch und verteilte sich unter der Zimmerdecke. »Teufelswerk!« keuchte Gains. Das grauenvolle Wesen aus Feuer lachte wie alle Höllengeister zusammen und streckte die flammenden Arme gegen den Oberpfleger aus. »Ich bin unbezwingbar!« rief es mit dröhnender Stimme. »Über dein läppisches Menschenwerk lache ich nur! Der Fluch Laurinas komme über dich!« Gains holte aus, um den Feuerlöscher gegen das gräßliche Ding aus Feuer und Flammen zu schleudern. Mitten in der Bewegung spürte er qualvolle Stiche in den Augen. Dann begann alles zu verschwimmen, wurde milchig und trüb. Und dann war da nur noch abgrundtiefe Schwärze wie im allerhintersten Winkel der Hölle. Der Oberpfleger stieß einen grauenhaften Schrei aus. Zwar schleuderte er den Löscher noch ins Zimmer, aber es kümmerte ihn nicht, ob er traf. Seine gekrümmten Finger zuckten hoch und griffen nach den Augen, in denen unbeschreibliche Schmerzen tobten. Er spürte die Augen. Nur sehen konnte er mit ihnen nicht. Das flammende Dämonengesicht der Erscheinung verzog sich zu10
frieden. »Ein guter Anfang, fürwahr! Laurina, ich werde dir einen grandiosen Empfang bereiten, wie er noch keiner Hexe zuteil wurde. Wir werden unsere schwarzen-Gebete unaufhörlich hinabsenden in die Düsternis, die Mächtigen des Schattenreiches werden sie erhören müssen und dir die Rückkehr gestatten. Komm heim, Laurina! Komm bald!« Gains krümmte sich brüllend und taumelte gegen die Wand neben der Tür. Diese Schmerzen! Er hielt es nicht mehr aus! Seine Augen waren verbrannt! Er war blind! Wie Ian Burgess! »Du Höllenbrut!« kreischte er und richtete sich auf. »Du Mißgeburt des Teufels, ich werde dich…« Der Feuerdämon wandte ihm nur das flammende Antlitz zu und streckte gebieterisch die Rechte aus. Der böse Fluch Laurinas, den er über Gains geworfen hatte, wirkte auf der Stelle. Der Oberpfleger wurde zurückgeschleudert, daß er gegen die Wand krachte. Wimmernd und stöhnend sackte der Mann dort zusammen und krallte die Finger in die toten Augäpfel. Der Flammendämon machte eine weitere Bewegung. Diesmal gegen Ian Burgess. »Hole ihn!« befahl er. »Bringe ihn vor mich. Und dann wollen wir gehen, mein Freund!« Auch bei Ian Burgess wirkte der Fluch bereits. Gehorsam trottete der junge bärenstarke Mann los. Zielsicher, als hätte er gesunde Augen, schritt er dahin, wo Gains vor der Wand am Boden lag. Mit einem harten Griff packte er ihn im Genick und stellte ihn mit spielerischer Leichtigkeit auf die Füße. Dann stieß er ihn vor sich her. Genau in die ausgebreiteten Arme des Feuerdämons hinein. Gains stieß noch einmal einen entsetzlichen Schrei aus, der das ganze Haus widerhallen ließ. Er spürte noch, wie sein ganzer Körper von schauderhafter Hitze eingehüllt wurde. Dann war alles vorbei. Er spürte nichts mehr. Nie mehr. Ein rauchendes Skelett stand da. 11
Der Feuerdämon gab es mit einem durchdringenden Lachen frei. Gains war alles Fleisch von den Knochen gebrannt. Aufgelöst hatte sich auch seine Kleidung. Nur der immer noch zischende und sprühende Feuerlöscher lag in einer Ecke. Und genau zwischen den knöchernen Füßen von Gains Skelett glänzte der Universalschlüssel im Schein des lohenden Dämons. »Jetzt zu dir, mein Freund!« sprach das Feuergesicht. »Komm her, beeile dich, es wird allerhöchste Zeit für uns!« Aus dem Haus war das Schlagen von Türen zu hören. Hastende Schritte näherten sich aus dem Treppenhaus. Ian Burgess trat bereitwillig zwischen die Arme des Dämons, die sich blitzschnell um ihn schlangen. Sein Körper flammte hell auf, ein Prasseln klang aus den Ecken des Zimmers. Ian Burgess flammte auf wie ein Büschel Stroh. Nach wenigen Augenblicken sank die Feuersäule zusammen. Übrig blieb ein feuergeschwärztes Skelett, dessen Totenkopf sich zu einem Grinsen anschickte. »Ich bin bereit!« klang es hohl aus dem Knochenschädel. Der prasselnde knackende Feuerdämon sackte in sich zusammen, die hellen Flammen schrumpften, bis nur noch ein geisterhaftes Flämmchen in der Luft zuckte. Diese kleine Feuerzunge, nicht größer als die Flamme einer Kerze, schwebte durch den Raum auf die Tür zu. Das Skelett, das gerade noch Ian Burgess gewesen war, tappte willenlos hinterdrein. Gains Gerippe bückte sich, einem stillen Befehl gehorchend, nach dem Schlüssel und nahm ihn zwischen die Knochenfinger. Eine schaurige Prozession verließ das Zimmer und bewegte sich durch den oberen Gang des Gebäudes – vorneweg ein Geisterflämmchen, dahinter zwei feuergeschwärzte Gerippe. * 12
Die grauenhaften Schreie hatten das Nachtpersonal alarmiert. Sogar im Frauenhaus hatte man sie gehört, obwohl die Verbindungstür immer abgeschlossen war. Zwar war man an Schreie gewöhnt, aber diese hatten Wände und Decken durchdrungen. So etwas hatte man noch nie gehört. Schwester Irmin eilte aus dem Frauenhaus herüber, vergaß aber nicht, die Tür gewissenhaft hinter sich zu verschließen. Sie hatte heute die Oberaufsicht über das weibliche Nachtpersonal. Im Männerhaus war jedem Stockwerk ein Pfleger zugeteilt. Das war keine leichte Aufgabe, denn die Pfleglinge konnten eine Arbeitskraft in Trab halten, wenn sie ihre schlimmen fünf Minuten hatten. Aus dem Erdgeschoß hastete schreckensbleich Wolver herbei. Er hatte unten die Aufsicht, bewachte gleichzeitig noch die Eingangstür und den Abgang zum Keller, bediente die Heizung und nahm Anrufe entgegen. Manchmal erkundigte sich mitten in der Nacht ein Arzt, ob sie nicht noch einen Platz frei hätten und einen Pflegling aufnehmen könnten. Am liebsten sofort. Solche Blitzeinweisungen waren nicht beliebt. Meist erledigte sich eine solche Anfrage auch sofort, weil nämlich kein Pflegeplatz zur Verfügung stand. Oder ein Pflegling verletzte sich während eines Tobsuchtsanfalles, dann mußte der Doktor ins Siechenhaus gerufen werden. Er war der einzige Arzt in Ballater, und er wetterte jedesmal und war recht ungehobelt, wenn ihn ein Anruf aus dem Heim erreichte. Aber er kam. Wolver war im Laufe der Jahre abgestumpft. Gegen die Flüche des Doktors, gegen die manchmal schaurigen Schreie aus dem Haus, und er schwor sich nach jedem Nachtdienst, einen Antrag einzureichen, daß er künftig nur noch für den Tagbetrieb eingesetzt werden sollte. Alle seine Anträge waren ungeschrieben geblieben. Sobald die Nacht um war, vergaß Wolver auch die Schwüre. Jetzt aber packte ihn doch das Grausen, als er die gellenden 13
Schreie von ganz oben aus dem Gebäude hörte. Ein Rascheln und hastige Schritte ließen ihn den Kopf herumreißen. Schwester Irmin eilte mit flatternden Gewändern heran, einen völlig verstörten Ausdruck im Gesicht. Wolver wandelte es eigenartig an, er vergaß sogar zu grinsen, was er in solchen Situationen sonst gerne tat. Eine Gänsehaut kroch ihm über den Leib, als ein noch viel gräßlicherer Schrei von oben gellte und gar nicht enden wollte. Keuchend verharrte Schwester Irmin neben ihm. »O Gott, es klingt ja unheimlich! Warum sieht denn niemand nach? Wolver, gehen Sie rauf!« »Ich? Gains ist doch oben!« Wolver fand es nicht menschenfreundlich von der Schwester, daß sie ihn die fünf Stockwerke hinaufhetzen wollte. »Trotzdem! Vielleicht braucht er Hilfe! Mir war, als hätte ich vom Durchgang aus Feuerschein gesehen. Ganz hinten!« »Feuer –?« Der Rest blieb Wolver in der Kehle stecken. Sie litten alle noch an der entsetzlichen Erinnerung, standen immer noch unter dem Eindruck des Brandes von damals. Die älteren Pfleger jedenfalls, die ihn erlebt hatten. Viele neue waren nicht gerade dazugekommen. Eine Pflegerstelle im Siechenheim war nicht das, worum sich die Leute rissen. Wolver schaute zu seiner Loge und zum Telefon. Sollte er gleich die Feuerwehr anrufen? Oder half er Gains besser, den Brand zu bekämpfen und unter Kontrolle zu bringen? Vielleicht schafften sie es, wenn sie alle Hand anlegten. Bis die Feuerwehr eintraf, verging mindestens eine halbe Stunde. Ballater besaß keine Berufsfeuerwehr. Die Freiwilligen mußten erst aus dem Bett geklingelt werden. Bis dahin konnte das Siechenheim bereits in hellen Flammen stehen. Wie schon einmal. Wolver bedeutete der Schwester, sie solle zurückbleiben. Für Frauenzimmer, auch wenn sie in einen Orden eingetreten waren und ein gottgefälliges Leben führten, war so etwas nichts. 14
Aber Schwester Irmin dachte nicht daran, seinen Wink zu beherzigen. Mit sittsam gerafften Röcken hastete sie hinter Wolver her. Weit kamen sie nicht. Von oben hörten sie Schreie des Entsetzens. Wolver konnte genau die Stimmen der Nachtpfleger unterscheiden. Ein eigenartiges Klappern drang das Treppenhaus herab. Es kam näher, und es hörte sich immer unheilvoller an. Wolver und Schwester Irmin beugten sich übers Geländer und spähten nach oben. Die Hauptbeleuchtung im Treppenschacht brannte stets die ganze Nacht. Türen knallten. Und dann sahen Wolver und die Schwester ein Bild, das sie an ihrem Verstand zweifeln ließ. Ein geisterhaftes Flämmchen schwebte die Treppen herab, und ihm folgten zwei Skelette! Jetzt begriff Wolver, was das Türenknallen zu bedeuten hatte. Die Nachtpfleger auf den Stockwerken retteten sich hinter die Tür und schlugen sie entsetzt zu! Sie hatten Angst vor dem, was sie sahen. Das war Spuk! Er hatte plötzlich ebenfalls Angst. Grauenhafte Angst! Zwei Skelette, die die Treppen herabkamen, das gab es doch gar nicht! Aber er sah sie. Und er hörte ihre knöchernen Füße auf den Holzstufen tacken. »Weg hier!« keuchte er, einer guten Eingebung folgend. Er faßte Schwester Irmin nicht sehr zart und riß sie mit sich treppabwärts. Die Schwester hatte den Rosenkranz gefaßt und bewegte die fast blutleeren Lippen. Sie betet, dachte Wolver, aber es hilft nicht! Der Spuk verschwindet nicht! Instinktiv hastete er zu der verschlossenen Durchgangstür zum Frauenhaus. »Den Schlüssel, um Gottes willen, machen Sie doch!« drängte er. Und als er sah, womit die verwirrte Schwester aufschließen wollte, fügte er heiser hinzu: »Mit dem Rosenkranz kriegen Sie die Tür 15
kaum auf!« Schwester Irmin bekam endlich den Schlüssel zu fassen, der irgendwo an einer Kette in den Falten ihres Ordensgewandes baumelte. Im selben Augenblick fuhr sie herum. Wolver folgte ihrem Beispiel. Aus den Augenwinkeln sahen sie, daß das Geisterflämmchen und die beiden Skelette schon im Erdgeschoß angelangt waren und sich dem Haupteingang zuwandten. Die wollen gar nichts von uns, zuckte es Wolver durch den Kopf. Die lassen uns in Ruhe! Die wollen nur abhauen! Mit seinen Nerven war es nicht mehr weit her. Die von Schwester Irmin waren auch nicht besser beschaffen. Die Schwester murmelte Worte, die keinen Sinn ergaben. Wolver hörte Getöse aus dem Gebäude. Die Pfleglinge waren von den unheimlichen Schreien wach geworden. Jetzt äußerten sie sich auf ihre Art. Unbekümmert schritten die beiden Skelette auf den Haupteingang zu. Das hüpfende Flämmchen verharrte dort. Eines der Gerippe steckte einen Schlüssel ins Loch, drehte ihn zweimal um, und wie durch Zauberei bewegt schwang die Tür weit auf. Das Flämmchen schwebte hinaus in die Nacht. Augenblicklich schritten die Skelette hinterher. Das Tacken der knöchernen Füße verlor sich. Wolver schüttelte den Kopf und zwickte sich in den Arm. War er ebenfalls schon wunderlich in diesem Haus geworden? Er hörte Gestammel und riß den Kopf herum. Schwester Irmin betete noch immer kreuz und quer. »Es hat geholfen!« sagte er reichlich unhöflich. »Der Spuk ist fort, Sie können aufhören!« Spuk? Das war es bei Gott nicht gewesen! Seit wann brauchte eine Spukgestalt einen Schlüssel, um eine Tür zu öffnen? Zum Teufel, wieso hatte das eine Gerippe einen Schlüssel gehabt? Nur die Nachtpfleger besaßen einen. 16
Wolver hastete zum Haupteingang und lauschte mit neu aufsteigendem Grausen hinaus. Der Wind trug ihm aus der Ferne das Klappern der Knochenfüße zu. Die Gerippe schlugen den Weg nach Balmoral ein. Es gab nur eine geteerte Straße, auf der Schritte derart laut klapperten. Er warf sich herum, riß die Tür zu und griff nach dem Schlüssel, der zurückgeblieben war. Im letzten Augenblick zuckte seine Hand zurück, weil ihm all die grausigen Geschichten einfielen, die man sich hierzulande erzählte. Wer berührte, was zuvor ein Geist angefaßt hatte, wurde selber zum Gespenst. Oder er wurde mit einer anderen schrecklichen Strafe gezeichnet. Mit einem Klumpfuß. Oder einem Buckel. Oder er wurde krumm und schief. Über Nacht. Wolver sagte sich zwar, daß das finsterer Aberglaube war. Andererseits hieß es aber auch, es gäbe keine Geister und Gespenster. Keine teuflischen Mächte und keinen Spuk. Was waren denn dann die zwei grauenhaften Gerippe und das tanzende Geisterflämmchen gewesen? Die waren so wirklich gewesen, wie er zwei Hände hatte und einen Kopf! Also, schloß Wolver, ist an den unheimlichen Geschichten doch etwas dran! Er hatte nicht den Mut, den Schlüssel anzufassen und abzuziehen. Er lauschte sekundenlang dem Lärm im Haus und spurtete dann los. Schwester Irmin hatte etwas von einem Feuerschein gesagt! Als er die Stockwerke hinauf hastete, sah er zwei, drei verstörte Gesichter. Die Nachtpfleger spähten ängstlich aus dem Türspalt. Erst als sie seiner richtig ansichtig wurden, kamen sie heraus. Sehr unentschlossen. »Haben Sie die entsetzlichen Skelette auch gesehen?« rief einer Wolver nach. Idiot, der! dachte Wolver. Warum sonst renne ich mir hier fast die Seele aus dem Leib? 17
Im nächsten Stockwerk stand einer, blinzelte immer noch verwirrt und zeigte die letzte Treppe hinauf. »Sie sind von oben gekommen, Wolver!« »Na los, worauf wartest du dann noch?« Wolver blieb keuchend stehen. »Mehr werden ja wohl nicht kommen.« Der Kollege verstand diese Art der Einladung wohl, er schloß sich Wolver aber nur halbherzig an und blieb auf jeder dritten Stufe lauschend stehen. »Die Polizei muß verständigt werden!« riet er und begann zu schwitzen, als sei es Hochsommer und nicht schon fast mitten im Winter. »Und stell dir nur vor, was passiert, wenn du denen sagst, daß du aus der Klapsmühle anrufst und eben zwei Gerippe aus dem Haus hast spazieren sehen?« knurrte Wolver ergrimmt. »Sind die wirklich fort?« staunte der Pfleger. Entweder ist der Bursche so naiv, oder er hat eine weiche Birne gekriegt! Aber wer kriegt die hier nicht? Es ist nur eine Frage der Zeit! Statt Antwort zu geben, hastete Wolver weiter hinauf. Er spürte Stiche in den Lungen und lehnte sich keuchend an die Wand, als er das letzte Stockwerk erreichte. Von Feuerschein keine Spur! Schwester Irmin hatte sich vertan. Teufel, wieso stand aber die Tür zur Station sperrangelweit auf? Er tastete sich vorsichtig hinein und knipste das Licht an. Hinter einigen Türen machten Pfleglinge Lärm. Irgendwo hämmerten Fäuste gegen Holz. »Gains?« Wolvers Stimme klang zaghaft. Der Oberpfleger meldete sich nicht. Wolver eilte von Tür zu Tür und lauschte. Er hoffte, irgendwo dahinter die Stimme von Gains zu hören, wie er die Pfleglinge beruhigte. Endlich kam er an das Zimmer des schwierigsten Falles im Heim. Mit diesem Burgess hatte er auch schon gerungen und eine Menge blauer Flecken heimgetragen. 18
Wo steckte Gains? Bei dem Kerl drinnen? Hatte er die zwei grausigen Skelette gar nicht gesehen? Wolver blieb fast das Herz stehen, als er die Tür offen fand und das Zimmer dunkel. Er lauschte. Er hörte nichts. Nicht einmal einen Atemzug. Nach einer Weile riskierte er es, die Hand um die Ecke zu schieben und das Licht anzuschalten. Seine aufgestaute Spannung entlud sich in einem pfeifenden Atemzug. Das Zimmer sah vielleicht aus. Burgess hatte wieder getobt und alles kurz und klein geschlagen. Und er war verschwunden. Auch von Gains war keine Spur zu entdecken. Seltsam – wie kam der Feuerlöscher ins Zimmer? Der Fußboden, ein Teil der Seitenwand und das Fenster waren eingeschäumt. Zögernd betrat Wolver den Raum und hob den Löscher auf. Das Gerät war in Betrieb gesetzt worden. Doch nirgendwo im Zimmer deutete etwas darauf hin, daß es auch gebrannt hatte. Die Umgebung jagte Wolver Angst ein. Er eilte auf den Flur. Zwei Pflegerkollegen waren ihm in sicherem Abstand gefolgt. Er sah aber noch etwas – der Löscherhalter an der Wand war leer! Gains mußte den Löscher herausgerissen und im Zimmer von Burgess in Betrieb gesetzt haben. Sah so aus, als sei auch er auf einen ominösen Feuerschein hereingefallen wie Schwester Irmin. Wo war Gains? Und was viel wichtiger war – wo steckte der bärenstarke Ian Burgess? Wolver kurbelte eine intensive Suche an. Er spannte alle Nachtpfleger ein. Sie durchkämmten erst alle Räume im oberen Stockwerk und arbeiteten sich Zimmer für Zimmer nach unten. Im Erdgeschoß angelangt, überfiel Wolver das Zittern. Zwei Menschen waren spurlos verschwunden. Und zwei Skelette hatten das Heim verlassen! Er weigerte sich, einen Zusammenhang zu sehen, aber immer deutlicher drängte sich ihm die Erkenntnis auf, daß sich im Heim 19
›Zum Guten Hirten‹ etwas Grauenvolles abgespielt hatte. Er rief den Pfarrer an, dessen Gemeinde Besitzer und Betreiber des Heimes war. Der Pfarrer war zugleich der Seelsorger der Pfleglinge. Wolver mußte sich ein paar unwirsche Bemerkungen anhören und bekam den Ratschlag, sich an die Polizei zu wenden. Das tat er. Aber die Polizei kam erst am Morgen, als es längst hell war. * Doktor Vilion schaute grimmig, wie es seine Art war, auf die Frau, die sich mit vier Kindern vor seiner Tür drängte. Ein unablässiges Hämmern und Klopfen hatte ihn aus dem Bett gerissen. Er war es nicht gewohnt, daß man ihn weckte, wenn anständige Leute noch halbwegs schliefen. Deshalb wollte er ein Donnerwetter über die Frau niedergehen lassen. Doch die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er Mrs. McKnee erkannte. Es waren ihre Kinder, die sich furchtsam um sie drängten, und der Frau stand das blanke Entsetzen im Gesicht. Ohne daß sie etwas sagte, wußte der krummknorrige alte Arzt, daß es wieder was mit ihrem Mann gegeben hatte. McKnee war eines jener bedauernswerten Opfer des Unheimlichen, hinter dem sich der Postmeister Laglen verborgen hatte. Irgendein schrecklicher Zauber hatte es Laglen ermöglicht, sich in den knöchernen Unheimlichen zu verwandeln. Wochenlang hatte Laglen Balmoral und die Umgebung des Ortes und des Schlosses und sogar das Schloß selber unsicher gemacht. Er hatte einen magischen Nebel wallen lassen, und wer mit diesem Nebel in Berührung kam, mußte sein Augenlicht verlieren. McKnee hatte es verloren. Er war dem Unheimlichen begegnet. Wie andere. Ian Burgess zum Beispiel. Oder die alte Chadwick. Oder Mindy, der Gärtnergehilfe vom Schloß. 20
Vilion zog fröstelnd die mageren krummen Achseln noch. Da war nicht nur der schauderhafte Nebel gewesen, sondern auch ein Feuergeist. Dem war im Schloß drüben der Diener Richard zum Opfer gefallen. Auch Richard hatte nach der Begegnung tote Augen wie die anderen Opfer. Leere, weiße Augen. Schrecklich rollende Kugeln, die aus medizinischer Sicht nicht mehr als Augen zu bezeichnen waren. Vilion hatte sich dafür stark gemacht, daß die Opfer gute Pflegeplätze bekamen, weil es für ihre Familien immer schwieriger wurde, mit ihnen fertig zu werden. Die alte Chadwick hatte gar überhaupt keine Angehörigen gehabt. Bis auf McKnee hatte der Doktor sie alle untergebracht. Besonders hatte ihm dabei Ian Burgess am Herzen gelegen, weil der Junge viermal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Jedenfalls war Vilion viermal gerufen worden. Er war überzeugt, daß es weit mehr Versuche gegeben hatte, daß die Familie bloß schwieg und die Zwischenfälle vertuschte, um nicht noch mehr ins Gerede zu kommen. Einzig McKnee war im Dorf geblieben. Seine Frau hatte versprochen, für ihn zu sorgen. Daran dachte Vilion, als er sie verschreckt und verstört vor seiner Tür in der beißenden Morgenkälte stehen sah. Machte McKnee jetzt auch Schwierigkeiten? Zertrümmerte er auch das Haus wie Burgess? »Sie werden nicht mehr mit ihm fertig, ist es das?« sagte er unfroh. »Ihr Gesicht verrät es, Sie können nicht schwindeln.« Er rang sich ein Lächeln ab. Diese Frau hatte ein schweres Schicksal zu schleppen. Hatte daheim den blinden Mann und mußte obendrein die Mäuler der Kinder satt kriegen. »Doktor, ich weiß mir keinen Rat!« sagte Mrs. McKnee und wischte sich die Augen ab. Sofort rannen wieder Tränen nach. »Er ist fort.« 21
»Was?« Vilion fiel fast aus der Tür. Er spürte nicht mehr, daß ihm die Kälte unter den alten abgeschabten Hausmantel griff und in seine alten Knochen zog. »Wie ist er fort? Haben Sie denn nichts gemerkt? Haben Sie ihn gesucht?« »Es – es war jemand bei ihm, Doktor. Gegen Morgen. Ein Mann.« »Wer denn? Reden Sie doch!« »Ich weiß es nicht, ich habe ihn nicht hereingelassen, und von den Kindern war es auch keines. Ich bin wach geworden, weil ich Stimmen hörte. Er schläft ja unten – seitdem, Sie wissen es.« »Jaja. Hat Ihr Mann den Besucher selber eingelassen?« »Das kann ich mir überhaupt nicht erklären, weil doch die Tür vorhin noch verschlossen war. Ich habe nur meinen Mann und noch jemand reden hören. Lauter seltsame Sachen, Doktor.« »Ja?« Ungeduldig trat Vilion aufs andere Bein. »Ich glaube, es ging um eine Wallfahrt. Und um eine Frau oder eine Heilige. Kennen Sie eine, die Laurina heißt?« Vilion wurde es heiß. Trotz des verdammt kalten Wintermorgens. Und ob er eine Laurina kannte! Das war doch die Hexe, deren Vermächtnis sich Laglen unter den Nagel gerissen hatte! Der mit ihren alten Künsten auf Teufel komm raus gezaubert hatte und eine Menge Leute mit toten Augen auf der Strecke ließ! Er hütete sich, der Frau von McKnee gegenüber auch nur ein Wort zu erwähnen, das Laurina betraf. Eine Heilige – ha! Das fehlte noch! Die Hexe war alles andere als das gewesen. Eine Wallfahrt? Es hörte sich nicht gut an. Vor allem ergab es keinen Sinn. McKnee war nicht in dem Zustand, in dem er eine Wallfahrt unternehmen konnte. Der seltsame Besucher schien einen beachtlichen Dachschaden zu haben. »Na, vielleicht hat Ihr Mann den Besucher zum Fenster hereingelassen«, zeigte Vilion eine Möglichkeit auf. Die Frau schaute ihn aus ganz großen Augen an. Wie ein Verstehen leuchtete es darin auf. »Dann müssen sie auch so hinaus sein.« Ihre verarbeiteten Hände 22
knüllten das durchnäßte Taschentuch zusammen. »Sie? Wollen Sie sagen, Ihr Mann und der seltsame Besucher, der nachts in fremden Häusern für Wallfahrten wirbt, sind durchs Fenster hinaus?« »Ja. Er ist spurlos verschwunden. Und der fremde Mann ist auch weg.« »Haben Sie den wenigstens gesehen? Sind Sie denn nicht aufgestanden, als Sie die Stimmen unten hörten?« Vilion merkte, daß er in Fahrt kam, daß er sich aufregte. Diese Leute hatten vielleicht ein goldiges Gemüt! »Schon«, räumte Mrs. McKnee ein, »und unten war ich auch. Aber er hatte die Tür versperrt und ließ mich nicht ins Zimmer. Ich sollte schlafen gehen, es sei alles in Ordnung, sagte er.« »Hat er eine Andeutung gemacht, wer sein Besucher war?« Vilion war nicht mehr weit davon entfernt, aus der Haut zu fahren. »Das habe ich ihn doch gefragt, Doktor, aber er sagte, es ginge mich nichts an. Ich bin dann wieder hinauf und habe mich hingelegt. Eine Weile hörte ich sie unten noch reden. Darüber bin ich eingeschlafen und erst vorhin wach geworden. Doktor, ich muß jeden Tag schwer arbeiten, und jünger werde ich auch nicht – ich schaffe es nicht mehr, eine ganze Nacht lang die Augen offen zu halten und wach zu liegen.« Mit ihrer Verteidigung versuchte sie die Selbstvorwürfe zu überdecken, die sie sich machte. Vilion kannte seine Leute. Ihm brauchten sie nichts vorzuspielen. »Niemand macht Ihnen doch einen Vorwurf, na, na!« sagte er in gutmütig-polternder Art. »Ich komme gleich rüber, ich sehe mich lieber mal selber um.« Er trat ins Haus zurück und wollte die Tür schließen, um die Kälte draußen zu halten. »Um wieviel Uhr ist das denn gewesen? Ungefähr zumindest?« »Drei Uhr vielleicht, Doktor. Kann auch ein wenig später gewesen sein.« »So, auch ein wenig später!« wiederholte er knurrig. »Wie haben Sie denn festgestellt, daß er nicht da ist?« 23
Die Kinder schauten mit großen furchtsamen Augen auf Vilion. Er verwünschte die Situation. Gut war es nicht, daß vor den Kindern die ganze mysteriöse Sache breitgetreten wurde. »Seine Zimmertür war auf. Gleich gemerkt habe ich es nicht. Erst habe ich geklopft wie immer. Sie wissen doch, daß er meist niemanden um sich haben will. Er schließt fast jede Nacht ab. Ich war sehr in Sorge, weil er gar nicht geantwortet hat. Und gehört habe ich auch nichts. Dann habe ich gemerkt, daß die Tür unverschlossen war.« »Und was war mit dem Fenster? Stand es auf?« Die Frau dachte nach. »Ich glaube nicht. Nein, bestimmt nicht, sonst wäre es ja eiskalt im Zimmer gewesen. Er wird sich den Tod holen, er hat nicht mal was Warmes angezogen. Bei der Kälte draußen – o Gott!« Manche Leute nannten den krummknorrigen alten Vilion einen herzlosen Menschen. In Wahrheit hatte er mehr Herz und Mitgefühl, als die Leute sich alle zusammen träumen ließen. Aber Vilion hatte auch eine gewisse Weitsicht und den Blick für das Notwendige. Das Beste wäre schon, wenn er erfriert, dachte er. Für ihn, denn das ist ja kein Leben, und für seine Familie, denn die reibt sich noch auf! Seine Frau macht das höchstens drei, vier Jahre, dann ist sie restlos verbraucht, dann bricht sie zusammen! Und die Kinder sind noch nicht soweit, daß sie für sich selber sorgen können! »Ich bin gleich da!« versprach Vilion noch einmal und schloß die Tür. Er schlurfte in seine Schlafkammer und kleidete sich an. Eine Kälte war das! Wenn endlich Schnee käme, würde es mit Sicherheit etwas wärmer werden. Aber der Himmel war klar. Nach Schnee sah es nicht aus. Da war es auch schwer, Spuren zu finden. Vilion dachte an alles. Würde Schnee liegen, könnte man McKnees Spur aufnehmen und ihn einholen und heimbringen. So aber irrte er irgendwo herum. Oder sein geheimnisvoller Besucher schleppte ihn in der Gegend herum. 24
Überhaupt war das eine eigenartige Sache mit dem Besucher, fand Vilion. Noch eigenartiger war die Erwähnung der unseligen Laurina, dieser mittelalterlichen Hexe aus Balmoral, deren Erbe durch Laglen soviel Unheil über das Dorf gebracht hatte. Und was sollte der Hinweis auf eine Wallfahrt bedeuten? Vilion machte kein Hehl daraus, daß er dem christlichen Glauben nicht anhing. Er war getauft, aber das war geschehen, als er noch zu winzig war, um sich dagegen zu wehren. Er liebte es, hin und wieder die Leute damit zu erschrecken, daß er sich als Heide bezeichnete. Dem Geschäft tat das keinen Abbruch. Er war der einzige Arzt im Ort und im weiten Umkreis. Also kamen die Menschen zu ihm, ob er Heide war oder nicht. In vielen Dingen des Lebens war Vilion aber ein Vorbild und lebte christlicher als so mancher Zeitgenosse, der sich überheblich an die Brust klopfte und dreist behauptete, ein christlicher Mensch zu sein. Und obschon Vilion von Religion nichts oder nicht viel hielt, war er mit dem katholischen Ortsgeistlichen befreundet. Seit vielen Jahren schon. Pater Ryan war ein Mann in seinem Alter und mindestens so eigenwillig wie er. Der alte Spruch von den Gegensätzen, die sich anziehen, fand auf die beiden alten Herren treffend Anwendung. Vilions Abneigung gegen eine persönliche religiöse Betätigung schloß indes nicht aus, daß er über Feiertage und kirchliche Feste bestens informiert war. An solchen Tagen hielt er keine Sprechstunde, sondern ging zum Fischen oder bewegte die morschen Knochen an der frischen Luft, wie er seine ausgedehnten Spaziergänge bezeichnete. Er hatte auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Familie besaß er nicht. Erst hatte es nicht dazu gereicht, eine Frau zu ernähren, dann war ihm keine Zeit geblieben, und schließlich hatte er nicht mehr gewollt angesichts der kleinen und großen Tragödien, deren Zeuge er als Arzt zwangsläufig wurde. 25
Wallfahrt? Während er in seine kalten Sachen stieg, dachte er nach. Außer Weihnachten stand kein kirchliches Fest vor der Tür und schon gar nicht eine Wallfahrt. Er hätte davon gehört. Aber er konnte Pater Ryan fragen, das schadete nicht. Er knöpfte die Weste zu und langte den Schafspelz vom Haken. Eines Tages erfror er bestimmt noch in seinem Haus. Schlief ganz friedlich ein. Wachte nicht mehr auf. Wenn es eines Tages soweit war, dann sollte es so friedlich zugehen, das war sein Wunsch. Im Hinausgehen sah er, daß das Feuer im großen Kamin restlos heruntergebrannt war. Darum die lausige Kälte! Er hatte wieder vergessen, ein paar Eichenscheite aufzulegen. Mit seinem Kopf wurde es allmählich bedenklich. Er knurrte und blies eine dampfende Atemwolke gegen den Kamin. Mußte er eben nachher ein prasselndes Feuer anzünden. Der Kamin heizte ihm das ganze Haus, das Holz lieferten ihm die Bauern, die die Rechnung nicht bezahlen konnten. Auf diese Weise hatte jeder etwas und war zufrieden. Vilion stapfte aus dem Haus und schaute erbittert in den klaren Frosttag. Über den dunklen Bergen segelten ein paar weiße Wolken. Die brachten keinen Schnee, im Gegenteil. Die waren Boten des weiterhin tags sonnigen und nachts bitter kalten Wetters. Mrs. McKnee empfing ihn in der Haustür, sie hatte sein Kommen beobachtet. Vilion fischte vier Zuckerstangen aus seiner uralten Arzttasche und steckte die süße Nascherei den Kindern zu. Seit langem war bei der Familie schon kein Geld mehr für solche Sachen da. Mit bärbeißigem Knurren stapfte Vilion in das Zimmer, in dem McKnee seit dem Tag seines Erblindens lebte. Die Frau hatte ihm alles so eingerichtet, wie er's hatte haben wollen. Nach oben war McKnee nicht mehr gekommen. Die steile Treppe war zu gefährlich. Vilion schaute sich prüfend um. 26
McKnees Kamin war auch kalt wie seiner daheim. Dennoch legte der Arzt die Hand in die Asche. Ganz unten war noch etwas Wärme. Das Fenster war heruntergezogen, aber nicht eingehakt. McKnee und sein geheimnisvoller nächtlicher Besucher konnten durchaus hier hinausgeschlüpft sein, während oben die Frau ermattet und übermüdet eingeschlafen war, trotz aller Sorgen. Vilion nahm die Kleidungsstücke in die Hand, die McKnee auf den Stuhl neben dem Bett gelegt hatte. Demnach war er schon im Bett gewesen, als der heimliche Besucher gekommen war. »Fehlt etwas?« Vilion wandte sich der Frau zu, die von der Tür aus sein Treiben verfolgte. »Er wird ja nicht gerade im Unterzeug fort sein!« »Das Nachthemd und seine Cordhose.« Mrs. McKnee knetete die Finger. »Doktor, ich halt's nicht mehr aus, ich muß ihn suchen. Er stirbt mir bei der Kälte!« Vilion entdeckte etwas am Boden. Dicht beim Fenster. Er hob es auf und drehte es vor den Augen. »Hat die Hose einen Gürtel mit einer Eisenschnalle?« fragte er und verspürte eine eigenartige Beklemmung. »Ja, Doktor. Warum?« »So eine?« Vilion hielt der Frau die Schnalle hin. Mrs. McKnee prüfte den Fund und schaute den Doktor ängstlich an. »Es könnte seine sein. – Doktor, was hat das alles zu bedeuten? Wo ist er?« »Wenn ich das wüßte, wäre mir wohler, Mistress McKnee. Ich sehe mich draußen im Ort um.« Vilion nahm die Schnalle zurück und versenkte sie in eine Manteltasche. »Ich werde ihn schon finden, beruhigen Sie sich nur erst mal. Und denken Sie vor allem an die Kinder.« Diesen Hinweis verkniff er sich nicht. Das Leben mußte weitergehen. Wenn McKnee zwischen drei und vier Uhr oder auch ein wenig 27
später sein Haus verlassen hatte und nicht irgendwo untergekrochen war, dann war er inzwischen derart ausgekühlt, daß alle Hilfe zu spät kam. Nur mit Nachthemd und einer Cordhose bekleidet – das hielt niemand aus. Genau das wollte Vilion mit seinem Hinweis auf die Kinder ausdrücken. * Vilion atmete auf, als er das Haus verließ. Die seltsame Beklemmung fiel von ihm ab. Er suchte ums Haus herum und fand nicht einen Hinweis auf den Verbleib von McKnee. Der hartgefrorene Boden hatte keine Spuren aufgenommen. Seine Gedanken kreisten um die Gürtelschnalle in der Manteltasche. Hatte McKnee sie abgerissen? Da gehörte schon einiges dazu. Aber bekanntlich konnte man mit Gewalt auch einer Ziege den Schwanz ausreißen. Vilion hatte immer befürchtet, daß dem Ende des Unheimlichen, hinter dem sich Laglen verbarg, noch etwas folgen würde. Dieser Kinsey hatte im Frühsommer ein paar Tage vor Ferienbeginn den Fall ganz elegant gelöst, auch wenn er dabei um ein Haar selber in die Hölle gefahren war, wie Laglen und Binnie Barnes und der Chauffeur drüben vom Schloß. Der Mann aus London hatte bei der Sache einiges abbekommen. Einen tiefen Messerstich. Und er war mit dem ansehnlichen Loch in der Schulter vom Schloß herübermarschiert und hatte sich in der Praxis ohne örtliche Betäubung Stich und Schnitt zusammenflicken lassen. Vilion hatte nicht geglaubt, daß der Bursche das aushielt. Aber dieser Kinsey hatte nicht im Traum daran gedacht, vom Stuhl zu fallen oder mehr als nötig die Augen zu verdrehen. Ein harter Bro28
cken, bei allem Respekt. Und einer, der sich auf die magischen Dinge, auf Zauberei und Hexenhandwerk verstand. Der zumindest wußte, wie andere es machten. Ich sollte ihn anrufen, überlegte Vilion. Den trifft der Schlag! Ich hab's ihm gleich gesagt, daß das dicke Ende erst noch kommt! In Jahren vielleicht erst. Er hat's nicht glauben wollen! Und jetzt ist gerade erst ein halbes Jahr vergangen! Meine Nase, was? Auf die ist immer noch Verlaß! Unlustig trottete der Doktor hinter den Häusern her und schaute auf die Felder hinaus. Niemand war heute draußen, keine Gestalt bewegte sich. Wäre auch ein zu grandioser Zufall, daß mir McKnee vor die Augen kommt, dachte Vilion. Er stutzte plötzlich, als er einen Arm in einer dunklen Türöffnung sah. Aus dem Nebenhaus der McKnees winkte ihm jemand zu. Vilion fand es einigermaßen seltsam, aber seit Laglen sich als Zauberer und Hexenkünstler versucht hatte, wunderte er sich über gar nichts mehr. Und selbst davor hatte ihn kaum etwas erschüttern können. Dennoch war Vilion vorsichtig. Seit McKnees rätselhaftem Verschwinden erst recht. Er ging nur bis auf zehn Schritte heran. Kurzsichtig wie ein Eichhörnchen blinzelte er gegen das dunkle Loch der Tür. »Ja?« »Seht, Doktor!« zischte es aus der Dunkelheit. Dann trat ein Mann ins Türviereck. Vilion atmete auf. Das war Dragnochty. Der Bursche hatte keinen guten Leumund, soff viel und bezahlte keine Rechnung, aber wenn irgendwo ein Floh hustete, konnte man sicher sein, daß Dragnochty das hörte und sofort im Bilde war. Vilion schnupperte in Richtung des Burschen. Dragnochty roch ungewaschen wie stets und trotz der Kälte, weil er noch nie etwas von der Erfindung des Wassers gehört hatte. Aber eine Fahne ver29
mochte der Doktor nicht wahrzunehmen. Das war ein Tag, der im Kalender angekreuzt werden mußte. Dragnochty einmal nicht besoffen! Was nicht war, konnte ja noch werden. Der Tag war jung. »Was willst du?« Vilions Stimme klang nicht eben freundlich. »Sehe Sie schon die ganze Zeit hier rumkriechen, Doktor!« Dragnochty grinste etwas verzerrt. »Da dachte ich, ich erzähle es Ihnen gleich, bevor ich mir einen auf die Lampe kippe und Sie dann denken müssen, ich würde nur Blödsinn an Sie hinreden.« »Fang an, ich sage dir dann, was ich davon halte.« Vilion ging ganz auf Abwehr. Dieser versoffene Kerl hatte ihn wiederholt um Geld angeschnorrt. Nicht mit fadenscheinigen Ausreden, nein, unverblümt hatte er gesagt, daß er Kies haben müßte, um sich einen Rausch zu kaufen. Er hatte ihm nie was gegeben. Dragnochty war ihm darum aber nie gram. Auf seine Art war der Kerl eine Frohnatur. »Unsereins muß ja auch mal raus nachts«, sagte der Mann und schielte dabei auf das McKnee-Haus. »Es ging schon auf den Morgen, als es wieder soweit war. Und da dachte ich, jetzt ist's bei mir passiert, jetzt ist mein Verstand hin, wie Sie mir es immer prophezeit haben, Doktor. Ich sehe nämlich ein Licht hinter McKnees Haus hervorkommen.« »Was für ein Licht?« Vilion war sofort alarmiert, verbarg jedoch seine Wißbegierde hinter seiner ruppigen Art. »Als ob da einer 'ne Kerze rumträgt. So eins. Bloß halt ohne Kerze und ohne jemand, der sie in der Hand hält.« »Jetzt mach aber einen Punkt!« schimpfte Vilion. Dragnochty legte beteuernd die Hand auf sein Säuferherz. »Ich will tot umfallen, wenn's gelogen ist, Doktor! Da schwebt einfach ein Licht vorbei. Ich habe zu allen Heiligen gebetet und bin ganz still geblieben. Und was soll ich Ihnen sagen? Kommt doch wahrhaftig auch noch ein Gerippe hinter dem Haus hervor und wackelt dem Licht hinterdrein. Da ist mir alles vergangen, ich bin lieber wieder ins Haus hinein.« 30
Vilion verspürte den unbändigen Wunsch, dem Säufer ein paar gepfefferte Grobheiten an den Kopf zu werfen. Ein Gerippe! Der Kerl war nicht mehr zurechnungsfähig! Jetzt machten sich die ungezählten Vollrausche bemerkbar. Dragnochty schien Gedanken lesen zu können. Oder er verstand sich wie Vilion darauf, in den Augen der Leute zu studieren. »Ich glaubte, auch, ich spinne, Doktor. Aber dann dachte ich, daß der Unheimliche vielleicht zurückgekehrt ist und daß der gar nicht vernichtet wurde. Auch wenn das immer wieder behauptet wird. Waren Sie dabei? Ich auch nicht, na, sehen Sie! Man kann viel reden, bis der Tag herum ist.« Vilion sträubten sich die Haare. Ein Gerippe? Er wollte es nicht ausschließen, auch nicht, daß und weil ausgerechnet der größte Säufer nach Laglen ihm das erzählte! Dragnochty schien seinen lichten Moment zu haben, und da die Whiskyfahne fehlte, schien der lichte Moment schon einige Stunden zu dauern. »Wohin ging denn das Gerippe?« fragte Vilion unwillig. »Kam mir vor, als sei der Friedhof sein Ziel, aber beschwören will ich das nicht.« Dragnochty zögerte, er hatte offensichtlich noch etwas auf dem Herzen und getraute sich nicht, damit herauszurücken. »Und was noch?« Vilion kannte seine Kundschaft. »Mir ist es eiskalt in die Knochen gefahren, Doktor, das dürfen Sie mir schon glauben! Deshalb sagte ich es auch nur Ihnen. Wenn ich von dem Gerippe erzähle, läßt mich der Bürgermeister in die Entziehungsanstalt sperren, er hat's versprochen. Aber es war da.« »Ich rede nicht darüber«, versprach Vilion. »Und du solltest einen großen Bogen um den Whisky machen. Im Suff hat mancher schon Dinge gesagt, die ihn nachher mächtig gereut haben.« »Es wird das Beste sein.« Dragnochty nickte dankbar. Dabei schielte er so auffällig an Vilion vorbei, daß der sich genötigt sah, einen Blick über die Achsel zu werfen. Von hier aus war der Friedhof auf dem sanften Hügel zu sehen. 31
Das Gerippe konnte wirklich diese Richtung eingeschlagen haben. Vilion kam der sanfte Verdacht, daß der Säufer noch mehr gesehen hatte und nur aus Furcht vor der Entziehungsanstalt nicht weiter auspackte. »Mach reinen Tisch!« verlangte der Doktor. »Da ist doch noch was, das du mir sagen möchtest!« Dragnochty schnappte nach Luft. »Sie merken aber auch alles! Vielleicht stehen Sie mit dem Teufel im Bund, wie manche Leute sagen, na?« Vilion machte eine wegwerfende Handbewegung. Es war ihm bekannt, was gewisse dumme Leute hinter seinem Rücken über ihn flüsterten. Es kratzte ihn»nicht sonderlich. Dragnochty schnaufte hart. »Weil Sie's sind, Doktor – das Knochengestell ist wirklich zum Friedhof gegangen. Und weiß der Himmel, ich glaube, dort droben haben noch zwei oder drei Gerippe gewartet. Vilion faßte den Säufer scharf ins Auge. »Glaubst du's, oder hast du es mit eigenen Augen gesehen?« Seine Stimme grollte drohend. »Gesehen, Doktor! Aber wer würde mir das glauben? Ich konnte mich vor Schreck gar nicht rühren. Ich redete mir dauernd ein, ich hätte wieder zuviel gesoffen, dabei habe ich nicht einen Tropfen im Haus. Das Licht ist weitergeschwebt, durch das Tor, und bevor ich zweimal hingucken konnte, sind die Gerippe hinterdrein. Das letzte hat sogar noch das Tor zugemacht, ich hab’s kreischen hören.« Vilion erschauerte etwas. Das hörte sich nicht trostreich an. Dragnochty war zwar ein Tunichtgut, wo ihn die Haut anrührte, aber was er erzählte, klang glaubwürdig. Während seiner Beichte hatte er typische Reaktionen gezeigt. Typisch dafür, daß er gesehen hatte, worüber er sprach. Er hatte hastiger geatmet, hatte Furcht in den Augen erkennen lassen, und er schwitzte noch immer. Das brachte nicht mal ein hartgesottener Lügenbold zustande. Nicht auf Kommando. »Ich denke darüber nach«, sagte Vilion endlich. »Und du gehst 32
besser der Flasche aus dem Weg.« Dragnochty nickte und tauchte ins Haus zurück. Vilion hörte, wie er den hölzernen Riegel vorlegte. Der Doktor schob trotzig das Kinn vor. Dann stapfte er zum Friedhof hinauf. Er öffnete das Tor und schloß es wieder. Es kreischte zum Gotterbarmen. In diesem Punkt hatte Dragnochty also die Wahrheit gesagt. Vilion betrat den Totenacker. Die bitter kalte Nacht hatte den letzten Blumen den Garaus gemacht. Glasig und reifbedeckt ließen sie die Köpfe hängen. Gerippe, dachte Vilion, gleich ein paar! Ich kann mir nicht helfen, ich glaube dem Saufschädel! Was hat das zu bedeuten? Hat das mit McKnees Verschwinden zu tun? Aufmerksam schaute er sich um. Von einem oder mehreren Skeletten entdeckte er keine Spur. Er kehrte dem Friedhof den Rücken und überlegte, ob er diesen Kinsey in London anrufen sollte. Er brauchte nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, er konnte sich ja erst mal erkundigen, ob das Zauberelixier gewirkt hatte, das er ihm im Frühsommer zusammengebraut hatte. Als Vilion alle Bedenken beiseite fegte und im Geiste schon die Telefonnummer herauskramte, die ihm Kinsey für alle Fälle dagelassen hatte, sah er die ersten Patienten vor dem Haus stehen. Er ächzte. In erster Linie war er doch der einzige Arzt des Ortes. Die Patienten gingen vor. Und darüber vergaß Vilion den Anruf in London. * Am Nachmittag fuhr eine schwarze Limousine vor seinem Haus vor. Zwei Polizisten kamen ihn besuchen. Er brachte sie mit McKnee in Verbindung und fragte nach einer knurrigen Begrüßung: »Haben Sie ihn also gefunden?« 33
Die Verblüffung war auf Seiten der Polizisten. »Wen gefunden, Doktor Vilion?« »McKnee doch!« Vilion merkte, daß er voll danebengetroffen hatte. »Ich dachte, man hätte Sie verständigt, daß er verschwunden ist.« Einer der Polizisten zupfte an seiner Uniformjacke herum. »Von einem McKnee wissen wir nichts, und seinetwegen sind wir auch nicht da. Doktor, Sie haben sich vor einigen Monaten dafür verwendet, daß ein gewisser Ian Burgess nach Ballater ins dortige Siechenheim kam. Es ist hier im Ort ja zu einigen Vorkommnissen gekommen.« Der Mann hüstelte diskret. »Brechen Sie sich vor lauter Vornehmheit nur keine Verzierung ab!« polterte Vilion. »Drüben im Schloß haben sich auch diese Vorkommnisse abgespielt, wie Sie sich auszudrücken belieben. Ja, ich kenne Burgess, ich kenne überhaupt die ganze Familie. Was ist mit ihm?« Der Doktor bekam Magendrücken. Erst verschwand McKnee mit einem heimlichen Besucher bei Nacht und mörderischer Kälte im Nachthemd! Und jetzt kreuzten zwei Polizisten auf, guckten so merkwürdig und machten noch viel merkwürdigere Bemerkungen wegen Ian Burgess. Er wollte Pater Ryans sämtliche Whiskyvorräte vertilgen, wenn das was Gutes zu bedeuten hatte! »Er ist verschwunden«, sagte der Polizist, der die Unterhaltung führte. »Unter sehr seltsamen Umständen.« »Verschwunden?« Vor Vilions Augen begann sich der Raum ein wenig zu drehen. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte der andere Polizist besorgt. »Es geht schon wieder«, brummte Vilion und zählte sich aus einem Fläschchen ein paar Tropfen auf die Zunge. »Solche kleinen Zwischenfälle führen einem vor Augen, daß der Zahn der Zeit erfolgreich an einem nagt. Man wird eben nicht jünger, schade.« Die Polizisten warteten, bis sie den Eindruck hatten, daß der Doktor wieder beisammen war. 34
»Also, wir wurden hergeschickt, um Sie zu informieren«, fuhr der Wortführer fort. »Vielleicht können Sie uns auch einen Fingerzeig geben.« Vilion schielte auf das Telefon und sprach seine Gedanken aus. »Sie hätten mich auch telefonisch verständigen können. Daß Sie es nicht taten, deute ich so, daß Sie mir weitere Eröffnungen zu machen haben, die ungefähr so gehaltvoll sind wie eine Sprengladung in einer Pulverfabrik. Ich bin auf alles gefaßt, lassen Sie die Ladung hochgehen.« Beide Polizisten guckten irritiert. »Sie sollten die Sache nicht lustig sehen, Doktor, denn das ist sie bei Gott nicht! Burgess ist spurlos aus dem Heim verschwunden, ebenso der Oberpfleger Gains«, fuhr der Wortführer fort, und jetzt hob er die Stimme und dazu den Zeigefinger. »Aber fünf Zeugen haben wenig nach Mitternacht eine bestürzende Wahrnehmung gemacht. Ein Geisterflämmchen, wie sie übereinstimmend aussagen, schwebte aus dem Heim, und ihm folgten zwei Skelette.« »Ske –!« Vilion machte den Mund wieder zu, weil ihm siedendheiß einfiel, was Dragnochty ihm erzählt hatte. »Richtig, Doktor, Skelette. Und eines hatte den Schlüssel des Oberpflegers Gains im Besitz und öffnete damit den Haupteingang. Davor haben die Zeugen gellende Schreie aus dem oberen Stockwerk gehört. Eine Schwester will Feuerschein gesehen haben. Es fanden sich keine Anzeichen für einen Brand oder eine versuchte Brandstiftung, auch wenn im Zimmer von Burgess ein leergesprühter Feuerlöscher liegt. Die Sache ist mehr als geheimnisvoll. Der Schlüssel konnte übrigens einwandfrei als der des Oberpflegers identifiziert werden.« »Die Sache ist nicht geheimnisvoll, sondern grauenhaft!« sagte Vilion ächzend. »Es ist gut, daß Sie damit zu mir gekommen sind.« Beide Polizisten atmeten auf. »Es ist ja möglich, daß sich Burgess bei Ihnen meldet, Doktor. Sie sollen ein besonders gutes Verhältnis zu ihm gehabt haben.« Vilion schaute die zwei bedrückt an. »Daß er als Burgess mit den 35
toten Augen zu meiner Tür hereinkommt, oder daß er als Skelett anklopft – was erwarten Sie denn? Was wollen Sie hören?« Den Polizisten wurde es unheimlich. »Man hat uns lediglich beauftragt, Sie zu unterrichten, Doktor. Sie hätten die damaligen Vorgänge hautnah verfolgt, wurde uns gesagt, Sie wüßten schon, was zu tun sei. – Hat das mit Spuk zu tun?« »Rechnen Sie es sich selber aus!« sagte Vilion unhöflich. »Wenn zwei Menschen spurlos verschwinden und dafür zwei Gerippe das Haus verlassen, wie würden Sie das nennen?« Die Polizisten blieben die Antwort schuldig. Sie hatten es überhaupt plötzlich sehr eilig, aus dem Haus fortzukommen. Vilion schaute ihnen düster nach, wie sie in den Wagen stiegen und mit dem Fahrzeug verschwanden. Dann wandte er sich ab und humpelte zum Telefon. Er kramte eine Londoner Telefonnummer aus seiner Sammlung. Dieser Kinsey mußte her, auf der Stelle! Und wenn der Teufel auf Krücken kam! * Ich lag in heftiger Fehde mit meinem Erzfeind Dracula und seinem getreuen Anhänger Woods. Das heißt, im Moment hatte es sich ausgefehdet. Die zwei waren mir wieder einmal durch die Lappen gegangen. Auf dem alten Friedhof hinter dem Haus des Scotland-Yard-Inspektors Basil Gallinger hätte ich sie um ein Haar gehabt. Oder sie mich, es kam auf den Standpunkt an. Der Krif, das Drei-Klingen-Beil aus grauer Vorzeit, hatte mir gerade noch einmal den Skalp gerettet. Aber wenigstens hatte ich Woods noch einen Eichenpflock hineinjagen können. Ich hatte ihn auf sein untotes Herz gezielt, aber der Teufel selber mußte ihm eingegeben haben, im entscheidenden Moment eine Bewegung zur Seite zu machen. Statt in die Brust hatte ich ihm den Pflock in den Oberarm ge36
spießt. Und Dracula hatte nichts Eiligeres zu tun gehabt, als sich in einen riesenhaften Vogel zu verwandeln und seinen Diener Woods zu packen und durch die Lüfte zu entführen, bevor ich ihm endgültig den Garaus machte. Die zwei waren untergetaucht. Irgendwo in London. Ich war überzeugt, daß sie längst eine neue Zuflucht gefunden hatten. Die hätte ich gerne aufgestöbert. Aber selbst solche bescheidenen Wünsche erfüllt einem das Schicksal nicht. Inzwischen hatte Dracula sicher nichts Wichtigeres zu tun, als Woods zusammenzuflicken. Ich hoffte; daß ihm das gründlich mißlang. Aber ich machte mir nichts vor. Woods hatte eigentlich recht munter ausgesehen, als er auf die Luftreise mitgenommen wurde. Gar nicht wie ein Untoter, der nun endlich tot war. Vielleicht tauchte er als Vampirinvalide wieder auf. Ich war auch darauf gefaßt. Seit ich mich dem Kampf gegen die finsteren Mächte verschrieben hatte, hatte ich mir das Wundern abgewöhnt. Was mich immer noch wurmte, war die Tatsache, daß Dracula und Woods mir eine heimtückische Falle gestellt hatten, um mich endlich aus dem Weg räumen zu können. Ich war ihnen zu oft in die Quere gekommen. Und besonders bedrückend war, daß die zwei dämonischen Halunken rücksichtslos Menschenleben vernichtet hatten, um entsprechende Köder für mich auszulegen. Natürlich hatte ich angebissen. Na ja, es war mit Beulen und blauen Flecken und Mordsschrecken noch einmal glimpflich für mich abgegangen. Was mich jetzt genauso brennend interessierte wie die Zuflucht der beiden war, was sie mit den letzten drei steinernen Monsterköpfen anstellen würden. Als Zombie-Saat wieder auslegen! Das war die eine Möglichkeit. Aber ich hatte diese Saat des Entsetzens weitgehend geerntet und unschädlich gemacht, so daß ich davon ausgehen konnte, daß sich Dracula und Woods eine andere Verwendungsmöglichkeit einfallen ließen. 37
Eine, wo ich nicht gleich wieder dazwischengriff und ihnen einen Strich durch die Rechnung machte. Aus diesem Grunde lagen mir die restlichen Monsterköpfe schwer im Magen. Ich wünschte wirklich, sie lägen dort, dann hätte ich nämlich die Gewißheit gehabt, das sie an einem sehr sicheren Ort ruhten. Leider war es nicht an dem, und die Ungewißheit nagte eifrig an meinen Nerven. Hinzu kam, daß mir Sir Horatio dauernd in den Ohren lag. Er hatte sich von seinen Magengeschwüren gut erholt und hatte auch die Diätkur, die Barbara Hicks, seine eiserne Sekretärin, ihm aufgeschwatzt hatte, ohne erkennbare Beeinträchtigung seiner Gesundheit überstanden. Für meinen Geschmack war er, mit einem Wort gesagt, viel zu mobil. Er wollte nämlich meine Einwilligung bekommen. Der Krif hatte es ihm angetan. Er wollte die uralte Waffe in unseren Labors nach allen Regeln der Wissenschaft untersuchen lassen. Er wollte den magischen Kräften auf die Spur kommen, die dem Drei-Klingen-Beil innewohnten. Ich hatte es ihm vergeblich auszureden versucht, und das will schon etwas heißen, weil nämlich behauptet wird, niemand könnte einen besser von etwas überzeugen als ich. Wahrscheinlich hatte ich die falsche Welle erwischt. Magische Kräfte kann man nicht im Labor messen. Man kann sie wirksam werden lassen. Das Ergebnis ist meßbar, nicht der Vorgang selber. Aber vielleicht hatte Sir Horatio den Ehrgeiz, eine neue Disziplin zu begründen – magische Physik oder etwas in der Art. Ich mußte ihm noch mal ins Gewissen reden. Jedenfalls hatte ich ihm den Krif noch nicht ausgehändigt. Wie die Dinge aber standen, kam ich nicht um diesen Schritt herum. Ich hoffte nur, ich konnte den Tag recht lange hinausschieben. Denn wenn sich unsere Laborexperten über etwas hermachen, 38
bleibt kein Auge trocken. Das fehlte noch, daß sie den Krif verdarben. Oder daß er seine magische Kraft verlor! Dann sah ich geküßt aus, wirklich. Ich blickte böse aufs Telefon, als es losrasselte. Das Geräusch klang aufdringlich. Vielleicht war wieder der Chef dran und wollte meine Zusage haben. Ich überlegte, ob ich das Rasseln einfach ignorieren sollte. Andererseits konnte auch ein Alarm eingehen. Wegen der Monsterköpfe war noch immer eine Menge Leute für mich unterwegs, die die Augen aufsperrten und die Ohren ausfuhren. Zögernd hob ich den Hörer ab und meldete mich. Eine krachende Knurrstimme meldete sich: »Kinsey? Mann – endlich! Was hängt denn da für ein komischer Kerl auf Ihrer Leitung herum? Der sagt so seltsame Sachen. Britischer Geheimdienst oder so. Der Kerl muß besoffen sein. Schmeißen Sie ihn raus!« Den Wunsch konnte ich dem Anrufer nicht erfüllen. Seine Stimme kam mir bekannt vor. Ich hatte sie schon gehört. Aber Ich brachte sie nicht unter. »Wer spricht denn dort?« Ich schlug die zarte Saite an. Der Anrufer kannte mich, hatte aber keine Ahnung, daß ich beim Service arbeite! Da gab's eigentlich nicht viele Möglichkeiten. »Vilion. Aus Balmoral.« »Doktor? Welche Überraschung! Wie geht es Ihnen?« An Doktor Vilion hatte ich kürzlich erst heftig gedacht, vielleicht hatten ihm davon die Ohren geklungen. Ich hatte nämlich nicht einen Tropfen mehr von seinem fabelhaften Zauberelixier, und ich hatte schon erwogen, übers Wochenende mal nach Schottland raufzufahren und ihn zu besuchen. Mit dem Hintergedanken natürlich, ihm etwas von seinem Zaubergebräu abzuschwatzen. Wie ich ihn kannte, gab er mir gerne etwas ab. »Mir geht's schlecht, Kinsey!« knurrte er mir ins Ohr. »Wir brauchen Sie hier.« Seine Stimme hatte den Beiklang einer heraufziehenden Katastrophe. 39
»Was ist passiert?« »Schlimmes. Burgess und McKnee sind verschwunden, und ich habe Grund zu der Annahme, daß sie sich in Skelette verwandelt haben und daß Laurina dabei eine Rolle spielt. – He, sind Sie noch dran?« Mir war der Hörer aus der Hand geglitten und auf die Tischplatte geschlagen. Es war ein Glück, daß ich gut saß. Laurina! Laglen! Blitzartig kam die Erinnerung. Und es war wahrhaftig keine gute. »Entschuldigung, Doktor, ich habe Sie runterfallen lassen! Geben Sie mir Einzelheiten!« Vilion schnaufte wie ein schottisches Ungeheuer. »Burgess ist aus dem Siechenheim in Ballater spurlos verschwunden, zusammen mit dem Oberpfleger Gains. Ich habe Burgess selber in das Heim gebracht, es ging mit ihm daheim nicht mehr. Mit keinem von ihnen. Nur McKnee blieb bei seiner Familie.« Ich unterbrach den Doktor nicht mit Zwischenfragen. Er redete anfangs zwar etwas konfus, brachte dann aber Ordnung in seinen Bericht. Ich konnte mir ein genaues Bild machen. Aus dem Heim in Ballater waren also zwei Skelette entwichen, denen ein Geisterflämmchen geleuchtet hatte, und seitdem wurden Gains und Burgess vermißt! Das war schlimm und bestürzend. Es lag auf der Hand, daß dunkle Mächte ihre Hand im Spiel hatten. Nur mit seinem Verdacht gegen Laglen befand sich der Doktor auf dem Holzweg. Ich hatte den Unheimlichen, der zugleich Laglen war, vernichtet. Unwiderruflich und endgültig. Wer immer Burgess und Gains und McKnee in Skelette verwandelt hatte, mußte ein anderer sein, nicht Laglen, der verbrecherische Postmeister, der es auf unsere Queen abgesehen hatte. Deshalb spitze ich nochmals die Ohren und ließ Vilion wiederholen, was er von der Frau von McKnee gehört hatte. Der unheimliche nächtliche Besucher, von dem es keine Spur gab, interessierte mich sehr. 40
»Ist die Frau glaubwürdig?« erkundigte ich mich, und als ich den Doktor aufgebracht prusten hörte, fügte ich mit Nachdruck hinzu: »Ich will ihr nichts ans Zeug flicken, Doktor, aber hier steht soviel auf dem Spiel, daß wir es uns nicht leisten können, einer falschen Information aufzusitzen.« »Für die lege ich meine Hand ins Feuer, Kinsey!« bullerte Vilion. Kunststück, er wohnt am Ort und kannte seine Leute. Ich nicht. Und dann fiel mir etwas ein. So heiß wie ein Kübel kochendes Wasser. Ian Burgess und McKnee waren ja nicht die einzigen – Opfer mit toten Augen gewesen. Der Unheimliche hatte weiteren Menschen das Augenlicht geraubt! »Um Gottes willen, Doktor, was ist mit den anderen?« Vilion sagte gar nichts. Ich hörte nur sein hartes Atmen. Endlich meldete er sich. Ziemlich kleinlaut: »An die habe ich noch gar nicht gedacht, Kinsey. Sie denken doch nicht, daß die auch…?« »Wissen Sie, wo die Leute untergebracht sind?« »Sicher, ich habe doch alles in die Wege geleitet!« »Dann rufen Sie dort an und verständigen Sie mich. In einer halben Stunde. Solange bleibe ich vor dem Telefon. Und wegen der seltsamen Sachen brauchen Sie sich nicht zu wundern, Doktor. Ich erkläre Ihnen das unter vier Augen!« Der alte Knabe schaltete mächtig schnell. »Sagen Sie, dann stimmt es doch, was der seltsame Vogel gesagt hat? Dann hängen Sie wirklich beim Geheimdienst rum?« »Vergessen Sie es! Kann ich mich darauf verlassen?« »Ich schweige wie ein Grab«, versprach er. »Gut, ich rufe Sie wieder an.« Er legte auf, er hatte es eilig. Vielleicht war ihm auch ein Gespräch über eine so große Entfernung etwas unheimlich. Der Kosten wegen nämlich. Ich klopfte mir eine Zigarette aus der Packung und rauchte hastig. Hundert bestürzende Gedanken kreisten in meinem Kopf. Laglen konnte niemals zurückgekehrt sein. Ich hatte ihn verbrennen sehen. 41
Nur Asche war von ihm geblieben. Der Hinweis auf eine Wallfahrt und Laurina ließ mir keine Ruhe. Was hatte der unbekannte Besucher von McKnee damit zum Ausdruck bringen wollen? Eine Warnung? Eine Drohung? Und wer war er? Ein Mensch oder ein dämonisches Wesen? Beides kam in Betracht. Ich kannte mich mittlerweile im Geschäft aus. Die dunklen Mächte verstanden sich an die Erfordernisse der heutigen Welt anzupassen. Das hatte mir Dracula drastisch vor Augen geführt. Die Vampire des alten Schlages zerbröselten noch zu Asche und Staub, wenn sie mit dem Tageslicht in Berührung kamen. Die neue Generation der Blutsauger bewegte sich ungeniert und zwanglos im grellsten Sonnenlicht. Selbst Dracula, der ja der Vertreter der alten Sorte war, hatte sich gewandelt und diese neue Fähigkeit erworben. Ich wollte nur hoffen, daß er das einzige Exemplar blieb. Und aus diesem Grunde schloß ich nicht aus, daß sich hinter dem heimlichen Besucher von McKnee ein Dämon verbarg. Ein wichtiges Indiz war das Geisterflämmchen! In beiden Fällen war es gesehen worden, wenn ich mich nicht verhört hatte. Sowohl im Siechenheim in Ballater als auch hinter dem Haus von McKnee in Balmoral. Zwischen den beiden Orten lagen vierzig Meilen, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich ließ. Und der Flämmchendämon hatte es geschafft, in einer Nacht an zwei so weit voneinander entfernten Orten aufzutreten und Unheil zu bringen. Freilich, die Geschöpfe der Finsternis verfügten über solche und noch ganz andere Fähigkeiten. Das Überwinden von großen Distanzen war für sie ein Klacks. Mir war, als würde ich bei meinen angestrengten Überlegungen etwas übersehen. Ich rief mir die Ereignisse damals in Balmoral ins Gedächtnis zurück, so gut es eben ging. 42
Teufel, richtig, im Schloß hatte doch ein Flammendämon herumgespukt! Ein Diener namens Richard war dabei auf grauenhafte Weise erblindet. Auch ihm waren die toten Augen angehext worden! Feuerdämon – Flämmchendämon! Der Gedankenschritt war nicht schwer. Ich hoffte nur, daß ich nicht in die falsche Richtung spekulierte. Hatte Laglen nicht nur das Erbe dieser unseligen Laurina angetreten, sondern auch noch einen Flammendämon mobilisiert? Es sah so aus, und das Indiz waren die toten Augen des Dieners. Wenn es sich so verhielt, dann hatte ich nicht ganze Arbeit geleistet. Dann trieb der Flammendämon immer noch sein Unwesen. Denn ich hatte nicht mit ihm gekämpft, das wußte ich genau. Ich steckte die zweite Zigarette an. Was trieb denn Vilion im hohen Schottland? Warum rief er nicht zurück? Ich wurde kribbelig. Beschwörend starrte ich das Telefon an. Es rasselte aber erst, als ich die vierte Zigarette fast auf hatte. »Kinsey?« Es war Doktor Vilion. Seine Stimme hörte sieh heiser an. Ich schob es nicht auf den Winter und auf eine aufziehende Erkältung. »Die alte Chadwick auch«, stieß er endlich hervor. »Sie ist spurlos verschwunden. Samt einer Frau, die sie zur Pflege aufgenommen hatte. Jemand hat in der letzten Nacht Feuerschein aus der Wohnung leuchten sehen und die Feuerwehr alarmiert. Die Tür mußte gewaltsam geöffnet werden, und in der Wohnung gab's nicht die Spur von einem Brand. Kinsey, was jetzt?« »Wo ist das passiert?« »In Aberdeen. Ist das wichtig?« »Alles kann wichtig sein. Da gab es doch auch einen Gärtnergehilfen und den Diener, was ist mit denen?« »Die habe ich in einem Heim zusammen untergebracht. Hier in der Nähe. In Braemar. Vor ein paar Minuten habe ich mit der 43
Heimleitung gesprochen. Alles in Ordnung.« »Hoffentlich, Doktor, hoffentlich! Ich komme rauf. Ich werde notfalls die ganze Nacht durch fahren. Besorgen Sie mir ein Quartier. Vielleicht in dem Gasthof des unseligen Laglen, Sie wissen doch!« »Mut haben Sie aber, das muß ich schon sagen! Die Leute im Ort sagen, seitdem Laglen verschwunden ist, spuke es da.« »Und? Spukt es wirklich?« Auf dem Ohr hörte ich besonders gut. Ein Spuk war möglicherweise die Hinterlassenschaft von Laglen. In einem Punkt irrte der Doktor gewaltig. Laglen war nicht verschwunden, wie etwa Leute verschwinden, die von etwas die Nase gestrichen voll haben. Aussteiger zum Beispiel, die es satt haben, ein Leben lang hinter einem Schalter zu sitzen und der Kundschaft das Geld vorzuzählen. Oder von Tür zu Tür zu ziehen und den Hausfrauen solange Honig um den Mund zu schmieren, bis sie einen Staubsauger bestellen. Laglen war nicht verschwunden, er war tot. Ich hatte ihn verbrennen sehen. Er hatte die höllischen Mächte um Beistand angefleht, und im Schloß Balmoral waren rote Flammen aus dem Boden geschossen. Statt Laglen zu schützen, ihm Kraft zu spenden oder unüberwindlich zu machen, hatten sie ihn in einem unheimlichen Schauspiel verzehrt. Denn eigentlich hatte mir ja ein Skelett in einer schäbigen Kutte gegenüber gestanden. Ich hatte die Automatic zur Hand genommen und in der Panik ein paar Kugeln losgelassen. Die Kutte hatte unter den Einschlägen tüchtig gestaubt, das Gerippe aber war nicht zusammengebrochen, wie ich gehofft hatte. Die roten Höllenflammen hatten die Knochen umspielt, und durch unglaubliche Zauberei war plötzlich Fleisch um diese Knochen gewachsen. Fleisch mit allem, was dazugehörte. Am Ende hatte ein brennender Mensch vor mir gestanden. Eben Laglen. Seine Kutte hatte gelodert wie Satans eigenes Kaminfeuer. So unbegreiflich und gespenstisch der Prozess schon war, der aus einem Gerippe einen Menschen machte, so bestürzend war auch 44
das Ende von Laglen verlaufen. Er hatte sich in Rauch, Qualm, Gestank und etwas Asche aufgelöst. Nicht einmal Knochen blieben zurück. Nur eine Handvoll Asche auf dem Boden. Ich hätte sie in einer leeren Zigarettenschachtel wegtragen können. Ich bin zwar kein großer Experte in solchen Dingen, aber soviel wußte ich, daß keine weltliche und keine überirdische Macht wieder etwas zusammenfügen und beleben konnte, was Höllenfeuer zerstört hat. »Die Leute reden halt seit damals«, knurrte Vilion über den langen Draht. »Es ist mehr ein allgemeines Geschwätz. Ohne Hand und Fuß. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Sie dort ein Quartier bekommen, Kinsey. Laglens Frau hat den Gasthof und die Postmeisterei aufgegeben und ist weggezogen. Niemand weiß, wohin. Eine Verwandte der Köchin, die unter den Laglens abends für die Gäste gekocht hat, führt seit dem Herbst das Haus. Ich könnte ja mal anfragen. – Warum wohnen Sie nicht bei mir? In meiner bescheidenen Junggesellenhütte ist genug Platz.« »Klingt auch nicht schlecht, Doktor. Vielen Dank für Ihr großzügiges Angebot.« Und da sollte noch einer kommen und sagen, die Schotten seien das geizigste Volk auf Erden! Vilion brummte verlegen, und wie um den guten Eindruck sofort wieder zu zerstören, den ich vielleicht gewinnen konnte, bellte er: »Packen Sie Ihre Knochen warm ein, Kinsey! Wir haben hier einen gediegenen Hochlandwinter ohne Schnee, wenn Ihnen das was sagt.« »Es sagt mir nichts. Was muß ich beachten?« »Sie erfrieren sich den Hintern im Stehen, bevor Sie das begriffen haben. Frostklare Tage, frostklirrende Nächte, verstehen Sie? Kürzlich war ein Bauer in der Sprechstunde, er gilt hier in der Gegend als der Wetterprophet. Er erzählte mir, er hätte mit der Kreuzhacke den gefrorenen Boden sprengen müssen, und erst in zwei Fuß Tiefe sei er auf Würmer gestoßen.« 45
Vilion machte eine erwartungsvolle Pause. »Ist der Mann Angler oder so?« fragte ich mehr aus Höflichkeit. »Wozu braucht er mitten im Winter sonst Würmer.« Der Doktor schnaubte. Ich hörte die Ungeduld über einen verbildeten Großstädter wie mich heraus. »Mann, Würmer sagen Ihnen, wie kalt und lang ein Winter wird! Sitzen sie oben in der Erde, wird es ein milder und kurzer Winter. Kriechen sie in die Tiefe, dann bestellt man sich am besten noch zwei Fuhren Kaminholz und kauft gefütterte Stiefel.« Für die Belehrung war ich ihm ja außerordentlich dankbar, aber ich fürchtete, er kam etwas vom Thema ab. Da oben verschwanden Menschen, und statt ihrer geisterten Gerippe herum! »Doktor, lassen Sie uns zur Sache kommen! Ich sorge mich um die zwei Männer in Braemar. Auch wenn die Heimleitung Ihnen sagte, es sei alles in Ordnung. Die beiden müssen da weg. Heute noch.« »Ich dachte auch schon so etwas. Wohin mit ihnen?« Vilion besaß kein Auto, das wußte ich. Und ich nahm nicht an, daß er sich seit dem Frühsommer noch einen motorisierten Untersatz zugelegt hatte. Soweit ich damals mitbekommen hatte, handhabte er seine Landarztpraxis dergestalt, daß die Patienten zu ihm kamen, schlimmstenfalls mit dem eigenen Kopf unter dem Arm. Er ging nie zu ihnen. Zum Teufel, jemand in Balmoral mußte doch ein Auto haben! »Treiben Sie jemanden auf, der rüberfährt und die Männer abholt!« sagte ich mit Nachdruck. »Bringen Sie sie beim Pfarrer unter, bis ich da bin.« Der Einfall kam mir spontan. Denn dämonische Kräfte meiden ganz gern die Nähe von Kirchen und christlichen Symbolen. Sofern es sich nicht um Kräfte aus der Urzeit handelt. Denen ist es gleichgültig, welche Symbole vorhanden sind und ob sie von einer anderen Macht künden. Die scheren sich nicht darum. Aber ich hatte die düstere Ahnung, daß es eine enge Beziehung zwischen diesem schrecklichen menschenmordenden Flammendä46
mon und der Hexe Laurina gab. Und Laurina war eine mittelalterliche Hexe gewesen. Zu der Zeit war das Christentum schon allgemein verbreitet in unserem Land. Meine etwas spitzfindige Schlußfolgerung war, daß der Flammendämon kaum älter als Laurina war. Vielleicht hatte sie ihn sogar erschaffen. Befragen konnte ich sie nicht. Sie war vor langer Zeit auf dem Scheiterhaufen gestorben. In meinem Kopf klickte es. Symbolisch natürlich. Laurina war durch Menschenhand gestorben. Im Feuer. Falls ihre Zauberkräfte stark genug gewesen waren, und wenn sie starke Verbündete in der Schattenwelt besessen hatte, dann war sie von ihren bösen Freunden vielleicht in jene düstere Welt hinübergeholt worden. Und von dort konnte sie jederzeit wiederkommen. Oder war sie schon zurück? Hatte sie sich mit dem Flammendämon zusammengetan? Diese Aussicht gefiel mir überhaupt nicht. Vilion brummte in diesem Moment, als wollte er größere Bedenken anmelden. »Mit Pater Ryan käme ich schon klar«, meinte er zögernd, »aber seine Haushälterin wird Schwierigkeiten machen. Die hat Haare auf den Zähnen. Vielleicht erschlägt sie uns alle mit dem Kochlöffel.« »Es ist für einen guten Zweck, Doktor.« »Daß das Weib uns erschlägt? Sparen Sie sich Ihren schwarzen Humor, Kinsey!« »Unsinn! Ich meine, Sie sollen sich etwas einfallen lassen, um die streitbare Dame zu gewinnen. Appellieren Sie an ihr gutes Herz. Jeder Mensch hat eine empfindliche Stelle.« »Die muß bei der Erschaffung der Haushälterin vergessen worden sein. Haben Sie schon mal versucht, einen Stein weichzukriegen? Also gut, ich werde es wagen. Falls ich es nicht überlebe, bewahren Sie mir ein ehrendes Angedenken.« Bevor ich ihm noch ein paar aufmunternde Worte sagen konnte, 47
legte er auf. Die Frau schien ja ein schlimmer Drachen zu sein, daß sogar der ungenießbare Vilion einen Heidenrespekt vor ihr hatte! Die Bekanntschaft von Pater Ryan hatte ich im Frühsommer gemacht. Ein flüchtiges Kennenlernen, mehr nicht. Er war mir aber nicht wie ein Mann vorgekommen, der im eigenen Haus nichts zu sagen hat. Da kannte ich andere, die wirklich nichts zu maunzen hatten. Sogar Kollegen. Die hatten nur ein großes Mundwerk, solange die bessere Hälfte nicht in Sichtweite war. Abgesehen davon war Pater Ryans Hausdrachen ja nicht mal seine Frau. Bei dieser Überlegung dachte ich an das Vorzimmer meines Chefs und ganz besonders an Barbara Hicks. Bei der mußte ich mich abmelden. Auch beim Secret Service hat alles seine Ordnung. Zuvor jedoch rief ich noch meine Freundin Kathleen an, um ihr ein paar Ermahnungen zu erteilen. Vor ein paar Tagen nämlich war ihre Verkäuferin Joan Masters wieder attackiert worden. Diesmal von einer Untoten. Joan Masters war noch immer Dracula als Braut versprochen, und der Fürst der Vampire hatte diesmal eine Untote vorgeschickt, statt selber in Erscheinung zu treten. Um weiteren Zwischenfällen dieser Art vorzubeugen, hatte ich Kathleen und Joan kurzerhand in meine Wohnung verfrachtet. Da nächtigten die zwei schnuckeligen Puppen unbehelligt und unter meinem Schutz – in allen Ehren natürlich. Denn ich pennte auf dem Sofa und war jeden Morgen krumm und kreuzlahm. Meine Hausnachbarn jedoch guckten jeden Morgen giftiger, wenn wir zu dritt das Haus verließen. Ihre Blicke sprachen Bände. In ihren Augen war ich ein verkommenes und durch und durch unmoralisches Subjekt. »Kathleen? Hör zu, ich bin ab sofort für einige Zeit von London abwesend«, sagte ich. »Schwer zu sagen, wann ich wieder einfalle. 48
Es geht rauf nach Schottland.« »Nach der langen Einleitung wird es wohl eine größere Tournee, habe ich recht?« fragte meine Freundin. »Das kann ich nicht aus dem Handgelenk beurteilen, Mädchen. Ich werde aber wollenes Unterzeug einpacken, damit die edlen Teile keinen Frostschaden nehmen.« Frivol warf Kathleen ein: »Es wäre mir auch gar nicht recht.« »Dachte ich es mir doch.« Ich feixte, und sie schien es an meiner veränderten Stimme mitzukriegen, denn sie fauchte wild. »Da oben soll es lausig kalt sein, man hat mir eine Warnung zukommen lassen. Spaß beiseite – ihr wohnt nach wie vor bei mir, ist das klar? Du weißt, wo du die Dinge findest, die die Wohnung halbwegs sicher machen. Lege sie jeden Abend aus, laß dich durch nichts beirren.« »Du machst mir Angst, Mac!« »Das will ich nicht. Wenn du beherzigst, worin ich dich eingeweiht habe, kann eigentlich nichts schiefgehen. Nicht für euch. Für Dracula und Woods schon. Vorausgesetzt, der Letztere ist überhaupt einsatzfähig. Aber möglich war's schon. Du hast die Verantwortung für Joan und dich, denke dran.« »Das tue ich die ganze Zeit.« »Du bist ein braves Mädchen, ich küsse dich hingebungsvoll.« »Per Telefon! Dafür kann ich mir aber was kaufen!« maulte Kathleen. Ich beendete das Gespräch. Vilion in Balmoral saß bestimmt wie auf glühenden Kohlen, ich konnte ihn nicht unbegrenzt schmoren lassen. Der härteste Gang stand mir jetzt ohnehin bevor. Besser ich brachte die unangenehmen Dinge gleich hinter mich! * Sir Horatio war besetzt. »Leute vom Außenministerium«, ließ mich Sheila Green wissen, sie war die zweite Kraft im Vorzimmer des Chefs. »Es kann dau49
ern.« »Das fürchte ich eben. Sagen Sie ihm, ich bin nach Schottland hinauf, ich rufe ihn von da an.« Ich bin beim Service meine eigene Spezialabteilung und kann unabhängig und frei operieren. Es sah indes besser aus, wenn Sir Horatio wußte, wo ich mich herumtrieb. »Kommen Sie auch zum Loch Ness?« fragte Barbara Hicks hoffnungsvoll. »Ich habe gehört, da werden manchmal Leute gefressen.« Ich verstand ihre Anspielung schon. Im Loch Ness sollte ja ein Ungeheuer wohnen, dem man den zärtlichen Namen Nessie verpaßt hatte. Angeblich erschreckte es harmlose Spaziergänger am Ufer. Ich schätzte aber, daß die Leute bloß schwache Nerven hatten. Und gefressen hatte Nessie bestimmt noch niemanden. Wer das Gegenteil behauptete, gab nur finstere Märchen weiter. Vorsorglich sagte ich aber: »Ich würde dem netten Monster nur schwer im Magen liegen, ich bin unverdaulich wie der selige Jonas. Den hat der Walfisch auch wieder an die frische Luft gespuckt.« Barbaras Miene drückte allergrößtes Bedauern aus. »Auf nichts ist mehr Verlaß«, sagte sie und seufzte abgrundtief. Ich strebte der Tür zu und machte eine übertriebene Verbeugung. »Dann laßt euch die Zeit nicht lang werden, meine Herzblättchen!« Sheila errötete wie der junge Morgen im Mai. Barbara machte ein finsteres Dezembergesicht, dem Wetter vor der Tür genau angepaßt. Wenn ich mir's richtig überlegte, hatte ich sie noch nie lachen sehen. Vielleicht wußte sie gar nicht, wie das geht. Aus meinem Büro holte ich meine Utensilientasche. Bevor man in unserem Hauptquartier eine Etage verläßt, muß man eine Kontrollstelle passieren. Die Burschen dort drehen einem sogar den Mantel um. Und haargenau dieselbe Prozedur spielt sich unten noch einmal ab. Damit soll verhindert werden, daß Akten oder Unterlagen aus 50
dem Haus wandern und in unrechte Kanäle gelangen. Es gab mal eine Epoche beim Service – vor meiner Zeit –, da wurde so ziemlich alles fortgeschleppt, was nicht niet- und nagelfest war. Und der hinterlistige Knilch, der das alles inszenierte, war kein anderer als der damalige Geheimdienstchef selber gewesen, Kim Philby mit Namen. Unter diesem Trauma litt der Service noch heute. Deshalb wurde jeder Mitarbeiter erbarmungslos gefilzt. Auch Sir Horatio. Für den Chef wurden keine Extrabrötchen gebacken. Zwei Kollegen vom inneren Sicherheitsdienst kramten in meiner Tasche herum. »Haben sie wieder eine Verabredung mit einem Geist?« fragte einer grinsend. Der andere zog den Reißverschluß der Tasche zu. Ich führte kein unerlaubtes Material mit mir, das heißt, keine Unterlagen, die dem Haus gehörten. »Das wird sich noch zeigen«, erwiderte ich ausweichend. Die Burschen machten manchmal blöde Anspielungen auf meinen Job. Ich merkte jedesmal, daß sie dahinter ihre Unsicherheit verbargen. Denn einerseits sagte ihnen ihr Verstand, daß es keine Geister und Gespenster gab, andererseits aber genug Phänomene, für die einem keine brauchbare Erklärung einfiel. Und da Sir Horatio mich offiziell mit der Aufklärung gewisser Vorkommnisse und mit der Geisterjagd betraut hatte, mußte an der Sache schon etwas dran sein. Man gibt einem Mann ja nicht seine eigene Spezialabteilung, damit er Hirngespinsten nachjagt. »Viel Glück!« wünschten mir die zwei Burschen. »Danke, ich kann's gebrauchen.« Mit dem Aufzug ließ ich mich in die Tiefe sinken. Die Kontrolle in der Halle gegenüber dem Haupteingang machte es besonders gründlich. Entweder war heute der Tag des eisernen Besens, oder es war etwas passiert und entsprechend dick die Luft. Mich ging das nichts an. Ich hatte mit dem üblichen Abwehrgeschäft und der Gegenspio51
nage nichts mehr zu schaffen. Ich war lange genug dabei gewesen und hatte reichlich Lehrgeld bezahlt. Mir fiel der Besuch beim Chef ein. Vielleicht wurden die Sicherheitskontrollen heute deshalb so scharf durchgeführt! Da schien eine große Nummer mitgekommen zu sein. Oder dem Außenministerium war wieder einmal irgendwo die Suppe angebrannt, und Sir Horatio sollte jetzt wenigstens den Rührlöffel flott machen und den qualmenden Topf vom Feuer ziehen. Wenn irgendwo etwas gründlich verbockt wurde, besann man sich auf den Service. Wir sollten dann die Situation bereinigen. Ich konnte endlich loszittern. Draußen atmete ich auf. Die Unterredung wegen des Krifs hatte ich erst einmal vermieden. Der Chef hatte jetzt bestimmt andere Sorgen, als an meine Waffe und ihre Fähigkeiten und deren wissenschaftliche Erforschung zu denken. Ich holte meinen MG vom Parkplatz, tankte ihn auf Service-Kosten auf und fuhr heimwärts. Ich hatte Glück, ich hatte ungefähr zehn Minuten Vorsprung vor der Rush Hour und dem allabendlichen Verkehrschaos. In Rekordzeit packte ich meinen Koffer mit überwiegend warmen Sachen. Ich fuhr ja nicht nach Schottland, um fürs Königreich zu erfrieren. Für die innere Anwärmung nahm ich nichts mit. Schottland ist berühmt für seinen gediegenen und garantiert alten Whisky. Und den zu erschwinglichen Preisen, was ich von London nicht unbedingt behaupten kann. Hier drehen sie einem den schottischen Saft zu Phantasiepreisen an. Aber wahrscheinlich denken die Händler und Geschäftsinhaber, sie müßten es von den Lebenden nehmen, weil sie von den Toten nichts mehr bekommen. Eine rühmliche Ausnahme kenne ich ja. Das ist eine Brennerei in Finsbury. Die Leute stellen unter dem Namen ihres Stadtteils einen 52
respektablen Whisky nach schottischem Rezept her und obendrein einen gepflegten Gin, alles was recht ist. Weil ich nur kleidungsmäßig gewappnet nach Balmoral aufbrach, baute ich auf Vilion. Ich hoffte, er hatte einen erfreulichen Vorrat an Trinkbarem im Schrank. Gegen die Kälte natürlich. Zehn Minuten später lenkte ich meinen altehrwürdigen Flitzer auf die Ausfallstraße nach Norden. Wenn ich auf die Tube drückte, konnte ich am vormittag in Balmoral sein. * Vilion ging in Gedanken die Kartei seiner Kundschaft durch. Etliche von den Leuten hatten ein Auto. Andererseits kannte er die geizigen Seelen. Für eine Gefälligkeit, die nichts kostete, waren die Leute immer zu haben. Eine Fahrt nach Braemar jedoch kostete Benzin und demzufolge Geld. Und Zeit obendrein. Auch wenn die nicht besonders viel wert war. Er dachte an Mrs. Biggins, die seit zwei Jahren keine seiner Rechnungen bezahlt hatte. Die Dame war etwas exzentrisch und bewohnte mit ihren elf Hunden das große Haus am Ostausgang des Ortes. Ob er die einspannen sollte? Er rief an. Mrs. Biggins machte hundert Ausflüchte. Nach Braemar? Jetzt, wo es gleich dunkel wurde? Ihr Wagen könnte Schaden nehmen. Außerdem müßte sie ihre vierbeinigen Lieblinge füttern, was eine gewisse Zeit in Anspruch nehme, und die Tiere seien ja so sensibel, die würden von fremder Hand kein Futter annehmen. Vilion legte einfach auf. Er dachte weiter nach. Wenn das überspannte Weib schon nicht wollte, dann vielleicht die Heimleitung direkt? Er mußte den Leuten die Gründe nur plausibel machen. Was Kinsey bezweckte, war ihm schon klar. Wer oder was auch immer sein unheilvolles Wesen trieb und die 53
bedauernswerten Opfer des Unheimlichen aufspürte und in Skelette verwandelte, es schien verdammt genau zu wissen, wo es seine Leute zu finden wußte. Sogar bis Aberdeen war es gekommen. In einer einzigen Nacht hatte es McKnee, Burgess und die alte Chadwick geholt. Die neue Nacht war nicht mehr fern. Vielleicht wollte es in dieser Nacht auch noch den Gärtnergehilfen Mindy und den Schloßdiener Richard holen. Aus dem Heim in Braemar. Wenn aber die zwei nicht mehr dort waren, würde das Wesen ganz schön dumm dreinschauen. Vilion kramte den Zettel hervor, auf dem er die Nummer des Heimes notiert hatte. Soviel wie heute hatte er in einem ganzen Jahr zusammen nicht telefoniert. Während er wählte, blickte er aus dem Fenster. Die Sonne sank schon, bald würde die Dunkelheit aus den Bergschatten hervorkriechen. »Vilion noch einmal«, meldete er sich, als in Braemar abgehoben wurde. »Ich rufe noch mal wegen der beiden Pfleglinge an, Sie wissen schon. Ich möchte sie hier haben, bekomme aber kein Fahrzeug, um sie abzuholen. Können Sie mir die beiden rüberbringen? Jetzt gleich?« Seine Bitte wurde mit einem bedrohlichen Schweigen beantwortet. Vilion fürchtete schon, die Verbindung sei unterbrochen. Aber dann sprach der Heimleiter wieder. »Geschenkt können Sie die zwei haben, Doktor! Und je eher Sie sie uns abnehmen, desto besser!« Verdutzt guckte Vilion den Hörer an und rückte ihn dann wieder ans Ohr. »Ich fürchte, ich habe Sie nicht richtig verstanden. Ist etwas passiert?« »Genug, Vilion!« Der Heimleiter war die Entrüstung in Person. »Als Sie vor 'ner Weile anriefen, war bei uns die Welt noch in Ordnung. Aber als ob der Teufel selber seine Hand im Spiel hätte, ein paar Minuten später begann Mindy zu randalieren. Besonders 54
friedfertig war er nie, aber so wie heute hat er noch nie getobt. Die ganze Einrichtung im Gemeinschaftszimmer hat er zertrümmert und zwei Pfleglinge, die mit ihm zusammen wohnen, nicht unerheblich verletzt. Wir konnten ihn kaum bändigen. Ich habe ihn in den Heizungsraum sperren lassen, der hat wenigstens eiserne Türen, die dem Burschen gewachsen sind. Und vor einer halben Stunde kriegte auch Richard seine Tour. Meine Pfleger sind jetzt noch nicht Herr über ihn geworden. Wollen Sie mal hören?« Vilion vernahm das Geräusch einer sich öffnenden Tür und dann verschwommenes Getöse, untermischt mit wütenden Schreien. »Ist das Richard?« fragte er beklommen, als der Heimleiter wieder in den Apparat schnaufte. »Da können Sie sicher sein, Vilion. Er führt sich auf, als hätte er den Teufel im Leib! Einem meiner Pfleger hat er den Arm gebrochen und einem anderen die Rippen eingeschlagen. Sie kriegen die zwei, aber verschnürt wie ein Paket. Ich kann kein Risiko eingehen. Sind Sie sich darüber klar, welche Verantwortung sie übernehmen?« Der Doktor sah einen Berg von Schwierigkeiten heranrollen. Diese Entwicklung hatte er nicht vorausgesehen. Und Kinsey auch nicht. »Lassen Sie sich das tiefste Verließ im Schloß reservieren!« empfahl der Heimleiter grob. »Ich denke, das ist der einzig sichere Ort für die zwei. Haben Sie eine Erklärung für dieses gewalttätige Verhalten? Ich meine, wir sind nicht gerade verwöhnt, aber so etwas haben wir noch nie erlebt.« Vilion hatte einen Verdacht. Er hütete sich, den zu äußern. Er hatte einen Ruf zu verlieren. Und abgesehen davon würde ihm der Mann in Braemar ohnehin nicht glauben. Es konnte durchaus sein, daß das Wesen, das als schwebende Geisterflamme auftrat, schon in der Nähe von Mindy und Richard weilte. Daß die beiden etwas spürten und sich gegen das Unheimliche wehrten. Dann mußten sie erst recht aus Braemar weg. 55
»Schaffen Sie sie her, egal wie!« verlangte Vilion. Er beging einen verhängnisvollen Denkfehler. Denn Mindy und Richard spürten tatsächlich, daß da etwas in ihrer Nähe war. Etwas Unheimliches, unsagbar Fremdes. Es erschreckte sie aber nicht, im Gegenteil. Es zog sie an. Es hatte sie schon in seinen verhängnisvollen Bann gezogen. Darum schlugen sie auf alles ein, was sie daran hinderte, trotz der toten Augen aus dem Heim fortzulaufen. * Am Ende waren sechs stämmige Pfleger nötig, um Richard zu Boden zu bringen. Seine schrecklichen weißen Augenkugeln rollten, er flog am ganzen Körper, sein Atem ging stoßweise und hechelnd. Zu viert hockten sie auf ihm, zwei Mann hielten die Zwangsjacke bereit. Nach einem neuerlichen wütenden Handgemenge steckte Richard endlich in der Jacke und wurde verschnürt. Er knirschte mit den Zähnen und stieß unverständliche Worte aus. Die Pfleger stiegen in den Keller hinab, um Mindy aus dem Heizungsraum zu holen. Er lauerte hinter der Tür auf sie und schlug mit einem abgerissenen Eisenrohr den ersten Mann blitzschnell zu Boden. Über den hinweg stürmte er mit grauenhaftem Gebrüll in den Keller. Zu fünft setzten sie ihm nach. Mindy erreichte eine Eisentreppe, die zu einer selten benützten Tür hinaufführte. Die Tür führte direkt ins Freie. Natürlich war sie abgeschlossen. Aber für Mindy stellte sie kein ernsthaftes Hindernis dar. Er warf sich ein paarmal dagegen, bis sie sich samt dem Rahmen verbog und die Anker aus dem Mauerwerk platzten. Bevor die Pfleger über ihn herfallen konnten, riß er die Eisentür beiseite und entwich in der hereinbrechenden Dämmerung. 56
Eine sofortige Suche im Park verlief ergebnislos. Mindy war wie vom Erdboden verschwunden. Der Heimleiter war einer Nervenkrise nahe. Er brauchte jede Hand im Heim, denn jetzt mußte das Abendessen ausgeteilt werden. Er riskierte einen Aufstand der Heiminsassen und schickte seine besten Leute durch die Straßen des Städtchens. Auch diese Aktion verlief im Sande. Die Pfleger kehrten nach einer halben Stunde sauer und mürrisch und ohne Mindy zurück. Mit Verspätung teilten sie das Abendessen aus. Derweil verständigte der Heimleiter Doktor Vilion. Und dann die Polizei. Mindy war in seinem jetzigen Zustand eine Gefahr für die ganze Gegend. Er mußte gefunden und eingefangen werden, bevor er weitere Menschen krankenhausreif schlug oder gar noch Schlimmeres verübte. Die Polizeistation in Ballater versprach, zwei Polizisten herzuschicken. »Zwei? Sind Sie noch bei Trost, Sergeant? Schicken Sie zwanzig!« regte sich der Heimleiter auf. »Die müßten wir erst mal haben«, meinte der Sergeant in Ballater behäbig. »Geben Sie mir mal die Beschreibung durch.« Das tat der Heimleiter. Als er als besonderes und auffälliges Kennzeichen Mindys tote Augen nannte, wurde der Sergeant unruhig. »Sagen Sie, handelt es sich bei dem Verschwundenen um eines der Opfer der eigenartigen Vorgänge in Balmoral im Sommer?« fragte er besorgt. »Sicher, Sergeant.« »Das ist aber wirklich eigenartig.« Weiter ließ sich der Sergeant nicht aus. Er nahm die Beschreibung von Mindy vollends auf und versprach, in einer Stunde seien seine versprochenen Leute da. Der Heimleiter war der Meinung, alles getan zu haben, was in einem solchen Fall zu tun war. Er bestimmte Dolby als Fahrer und 57
Fennicott als Begleiter für den Pflegling Richard und atmete erst auf, als er den kleinen Transporter vom Gelände der Anstalt herunterfahren und die roten Schlußlichter in der frostigen Nacht verschwinden sah. Sollte Vilion sehen, wie er mit dem Patienten zurecht kam! Vielleicht fand sich auch Mindy. Bei der mörderischen Kälte konnte er es draußen nicht lange aushalten. Oder er erfror. * Dolby zündete sich eine Zigarette an und schaute über die Achsel. Ganz wohl war ihm nicht, denn der in der Zwangsjacke steckende Richard rollte sich keuchend und knurrend in dem geschlossenen Kleintransporter herum. Fennicott saß auf dem Beifahrersitz und befühlte immer wieder eine Beule, die er sich im Heim zugezogen hatte. »Lange schaue ich mir das nicht mehr an«, knurrte er, »dann kriegt er eine Beruhigungsspritze!« »Der Alte hat's aber verboten!« erinnerte Dolby. »Möchte bloß wissen, wie Vilion so mit dem Burschen fertig werden will! Der nimmt ihn doch in der Luft auseinander! Und den halben Ort dazu.« »Das ist nicht unser Problem.« Fennicott murmelte einen Fluch hinterher. »Stimmt auch wieder.« Dolby machte einen Zug an der Zigarette. Mit dem Glimmstengel deutete er hinter sich. »Möchte aber schon gern wissen, warum der plötzlich den Teufel im Leib hat!« »War doch damit zu rechnen, daß er irgendwann voll durchdreht. Wie Mindy auch. Sperr mal die Augen auf, vielleicht ist der über die Felder und torkelt vor uns über die Straße! Manchmal gibt's ja irre Zufälle.« Dolby lenkte den Transporter die Straße am Fluß Dee entlang auf Balmoral zu. Er schaltete das Fernlicht ein. Es konnte durchaus geschehen, daß Mindy hier durch die Gegend 58
irrte. Und was, wenn wir ihn sichten? Überlegte Dolby. Zu zweit fangen wir ihn nicht ein, er schlägt uns ungespitzt in den gefrorenen Boden! Wir sind zu wenig! Unter dem Aspekt war es ihm schon lieber, wenn Mindy nicht im Scheinwerferlicht auftauchte. . Die halbe Strecke nach Balmoral hatten sie bewältigt, als Fennicott einen unterdrückten Ruf ausstieß. Aber Dolby hatte es auch entdeckt und ging vom Gaspedal. Voraus brannte ein Feuer. Das war ungewöhnlich, denn hier gab es keine Häuser und keine Höfe. »Fahr mal langsamer!« empfahl Fennicott »Vielleicht ist einer mit dem Auto in den Graben gesaust.« »Dann macht er auch gerade ein Feuer an!« erwiderte Dolby zweifelnd. »Wenn jemand von der Straße fährt, sieht er doch zu, daß er das nächste Haus erreicht und Hilfe holt. – Sieht überhaupt seltsam aus, das Feuer!« Das fand jetzt auch Fennicott. Sie waren schon ein ganzes Stück näher dran. Es sah aus, als würde ein mannsgroßer Pfahl brennen. Einfach so. Ohne daß drum herum am Boden ein Feuerring gelegt oder Holz und Reisig angehäuft war. Argwöhnisch blickten Dolby und Fennicott auf das eigenartige Schauspiel. Der feurige Pfahl wirkte wie eine brennende Säule. Sie erwarteten, im Schein der Flammen eine Gestalt auf die Straße treten oder irgendwo aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen. Der Pechvogel, der mit seinem Wagen verunglückt war, mußte doch ihren Transporter hören und das Scheinwerferlicht sehen! Wo blieb er denn? Dolby wurde es mulmig. »Siehst du was von einem Auto im Graben?« »Überhaupt nichts«, bekannte Fennicott. »Ist auch niemand da.« Die eigenartige brennende Säule befand sich links der Straße, zwi59
schen Fahrbahnrand und Fluß. Die Helligkeit warf einen zuckenden Schein über die knorrigen Bäume in der Nähe und sogar auf die Straße. Dolby war unentschlossen. Anhalten oder durchbrausen, das war hier die Frage. Die ganze Sache schmeckte ihm nicht. Gerade als er wieder das Gaspedal unter die Fußsohle nehmen wollte, bewegte sich die merkwürdige Flammensäule. Ohne erkennbare Ursache wanderte sie zum Fahrbahnrand und dann auf die Straße, dem Transporter genau in den Weg. Hinter Dolby und Fennicott gebärdete sich Richard wie toll. Er gurgelte und brüllte und rollte sich von einer Wagenseite zur anderen. Dolby riß das Steuer nach rechts auf die Gegenfahrbahn, um der unheimlichen Flammensäule auszuweichen. Aber das Feuerphänomen war schneller. Es machte das Manöver mit. Dolby konnte nicht mehr bremsen und fuhr genau darauf los. Er wußte nicht, was das Ding war. Er empfand es aber als unheimlich und bedrohlich, und er hoffte, daß er es mit dem Wagen überrollte. Statt dessen gab es einen Krach und einen harten Stopp, als sei der Kleintransporter gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Glas barst, Blech dröhnte, Richard wurde von hinten gegen die Sitze geschleudert wie von einem Katapult abgefeuert. Und Fennicott riß es aus dem Beifahrersitz. Er prallte mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Genau mit der Stelle, an der schon die Beule glänzte. Er schrie auf. Vor Schmerz und vor Grauen. Denn draußen, nur durch die dünne Frontscheibe getrennt, lohte die rote Flammensäule! Und mitten in diesem geisterhaften Feuer formte sich ein Kopf! Mit einem richtigen Gesicht! Mit Haaren und Ohren und allem, was dazugehört. Nur war alles aus Feuer. Fennicott stieß sich ab und fiel rückwärts in den Sitz. Instinktiv hob er beide Arme. Dolby hatte den Anprall mit gestreckten Armen am Lenkrad ab60
gefangen. Er stierte gegen die Scheibe. Das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Spuk! dachte er. Vielleicht spinne ich auch! Das gibt's doch nicht! Im selben Augenblick sah er aus den Augenwinkeln Fennicott neben sich zurückzucken, als hätte der Kollege reines Höllenfeuer berührt. Und er hörte Fennicott schreien wie am Spieß. Das schreckliche Feuergesicht draußen verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Bringt ihr mir den anderen?« dröhnte es klar und deutlich in den Wagen. Bei jedem Wort schossen Flammenstöße aus dem grauenhaften Feuermund der Erscheinung. »Das nenne ich eine gute Nacht! Und zwei Wallfahrer obendrein!« Ein schauriges Lachen folgte den Worten. Dolby verstand überhaupt nichts. Welchen anderen brachten sie? Meinte das sprechende Feuerding Richard, der schon wieder gegen die Zwangsjacke ankämpfte? Bedeuteten die Worte, daß der schreckliche Feuerteufel Mindy bereits hatte? Und wieso Wallfahrer? Dolby hatte noch nie gehört, daß ein Feuer, wie immer es aussah, sprechen konnte. Also, schloß er, als er seinen Verstand wieder beisammen hatte, ist das kein Feuer. Das ist ein Dämon! Oder vielleicht der Teufel selber! Mit dem Teufel war nicht gut Kirschen essen! Raus! war Dolbys nächster Gedanke. Fort und abhauen! Er stieß die Tür auf und sprang hinaus. Wie aus dem Boden gewachsen stand ein Gerippe vor ihm! Es breitete die Knochenarme weit auseinander, als wollte es Dolby herzlich an seine blanken Rippen drücken. Der Mann zuckte zurück und krachte mit dem Rücken gegen die Wagenseite. Es preßte ihm die Luft aus den Lungen. Der Totenschädel des Gerippes wackelte von einer Seite zur anderen, der Unterkiefer klappte herab. Und dann stimmte das Skelett ein schauriges Gelächter an, daß Dolby fast die Sinne vergingen. Ein Skelett, das herumging und auch noch lachte? Das war doch 61
unmöglich! Wenn jemand Dolby vor einer Stunde noch erzählt hätte, daß es den Teufel wirklich gab, hätte er den Betreffenden für schwachsinnig erklärt. Aber der Teufel stand vor dem Wagen, in Flammen gehüllt, deren roter Schein zuckend über das grausige Gerippe fiel. Dolby drehte durch. Er stieß einen Schrei aus, der weithin durch die eiskalte Nacht schallte. Dann riß er die Arme vor, streckte sie und machte einen Satz. Er rammte das schreckliche Skelett, aus dessen Schädel immer noch das nervenzerfetzende Lachen drang. Dolby hatte das Gefühl, einen Amboß getroffen zu haben. Heulend und wimmernd krümmte er sich und preßte die schmerzenden Fäuste an den Leib. Wie Feuer kroch es ihm in den Adern die Arme entlang in den Körper. Das Gerippe breitete wieder die Arme aus und bewegte sich näher. Noch zwei Schritte, noch einen! Blitzschnell fuhren die Arme zusammen und schlossen Dolby ein. Mit einem wahnsinnigen Schrei schnellte der Mann in die Höhe. Jetzt begriff er, daß ihn das Skelett gepackt hatte und daß es kein Entrinnen gab. Er stieß mit dem Kopf nach dem schauderhaften Totenschädel. Der Anprall ließ Sterne und Funken vor seinen Augen fliegen. Er hoffte, daß der mörderische Druck um seinen Oberkörper nachließ. Doch weit gefehlt. Das Gerippe drückte die Knochenarme immer mehr zusammen. Und dann hob es Dolby einfach vom Boden hoch und schleppte ihn vor den Transporter, wo der grinsende und zuckende Feuerteufel stand und verzückt den grauenhaften Schreien von Fennicott aus dem Wagen lauschte. Der Flammendämon wandte sich halb herum. Von seinem Körper lösten sich Arme und reckten sich Dolby und dem Gerippe entgegen. »Du bist ein zuverlässiger Diener, mein Freund!« sagte er lobend. 62
»Reiche mir diesen Wallfahrer!« »Neiiin!« kreischte Dolby und trat um sich, als er die entsetzliche Hitze spürte, die der Feuerteufel verströmte. Er begriff, daß er im Nu zu Asche verbrannte, wenn er mit dieser höllischen Erscheinung in Berührung kam. An der Schwelle zum sicheren Tod entwickelte er gewaltige Kräfte. Er traf die Knochenbeine des Gerippes und merkte, wie das schaurige Klappergestell wankte. Sofort verstärkte er seine Bemühungen. Wenn das Skelett hinfiel, ging vielleicht etwas daran kaputt! Dann war das seine Chance. Seine einzige. Nicht einmal die bekam er. Das Gerippe preßte ihm noch mehr den Brustkorb zusammen. Dolby spürte rasende Stiche, als würde ihm ein Messer in die Seite gestoßen. Rippen brachen unter dem mörderischen Druck. Sein qualvoller Schrei endete abrupt, als das Gerippe ihn in die fordernd vorgereckten Arme des Feuerteufels drückte und dieser ihn blitzschnell an sich riß. Dolby starb im Bruchteil eines Augenblicks. Er verging jedoch nicht zu Asche. Sein Gerippe blieb übrig. Rauchgeschwärzt stand es vor dem Feuerdämon, mit einer Kopfhaltung, als müßte es gründlich nachdenken. Dann richtete es sich auf und schritt, einem unhörbaren Befehl des Dämons gehorchend, zur Beifahrertür. Das andere Skelett folgte ihm auf dem Fuße. Im Führerhaus waren die Schreie von Fennicott verstummt. Aus starren Augen, mit völlig verzerrtem Gesicht, hing der Mann im Beifahrersitz. Was er in den vergangenen Sekunden mitangesehen hatte, war zuviel für seinen Verstand gewesen. Als die beiden grauenhaften Skelette die Tür öffneten und ihn aus dem Wagen zogen, lallte er nur wirres Zeug. Die Gerippe stießen ihn dem Feuerdämon in die Arme. In einer gewaltigen Feuerlohe verging Fennicott. Seine irdische Existenz war beendet. Dafür war er in ein dämonisches Dasein hin63
übergewechselt. In dieser neuen Zustandsform als Gerippe und Gefolgsmann des Feuerdämons gehorchte er bedingungslos den Befehlen, die dieser ihm erteilte. Fennicotts Gerippe bestieg den Transporter und hob mühelos den immer noch kreischenden und schäumenden Richard heraus. Augenblicke später drückte der Feuerdämon auch den unglücklichen Diener von Schloß Balmoral an seine flammende Brust. * Vilion schaute immer häufiger auf die altmodische Uhr. Zum Henker, wo blieben denn die Burschen? Was hielt sie auf? Der Heimleiter hatte doch versprochen, sie mit Mindy und Richard unverzüglich in Marsch zu setzen! Verließ! Vilion lachte grimmig auf. Der Mann tickte ja nicht richtig im Kopf! Wo sollte er ein Verließ hernehmen? Überhaupt schien der Heimleiter eine seltsame Einstellung zu seinen Pfleglingen zu haben. Es war wohl nicht unangemessen, das Heim mal unangemeldet zu inspizieren. Vielleicht herrschten dort üble Zustände. Vilion blickte aus dem Fenster. Undeutlich sah er die Kirche vor dem Nachthimmel. Das brachte ihn auf eine Idee. Mindy und Richard gehörten sicher in einen festen Raum, aus dem sie nicht ausbrechen konnten und in dem es nichts zu zerschlagen gab. Unter der Kirche gab es ein uraltes Gewölbe. Selber hatte er es nie gesehen, er hatte nur von Pater Ryan davon gehört. Es sollte ein dunkler und etwas unheimlicher Ort sein, über dessen Bedeutung niemand mehr etwas wußte. Pater Ryan wollte nicht ausschließen, daß er einstmals als Krypta gedient hatte. Im Kirchenbuch war nichts vermerkt, da wurde nicht mal das Gewölbe erwähnt. Wenn je einmal Sarkophage dort gestanden hatten, waren sie 64
längst an einen anderen Platz gebracht worden. Vielleicht in eine Kirche, die bekannter war als die von Balmoral und die vor allem einen namhaften und bewährten Schutzpatron hatte. Die Reichen und Noblen der Vergangenheit und der Gegenwart legten auf so etwas großen Wert. Abgesehen davon konnten es sich zu allen Zeiten nur die Reichen leisten, in einem Sarkophag bis zur Auferstehung zu ruhen und einen Platz in einer Krypta zu bekommen. Für die Armen dieser Welt tat es gerade der Totenacker. Vilions Überlegung nahm greifbare Gestalt an. Mindy und Richard konnten bis zum Eintreffen von Kinsey im Gewölbe verwahrt werden. Oder wenn Pater Ryan Bedenken hatte, dann kamen sie eben in die Sakristei. Dort war auch nicht viel zu zertrümmern. Vilion hatte wegen Pater Ryans Haushälterin noch nicht im Pfarrhaus vorgefühlt. Es erschien ihm besser und überzeugender, mit Mindy und Richard dort vor der Tür aufzutauchen und das zanksüchtige Weib und den Pfarrer vor halbwegs vollendete Tatsachen zu stellen. Hätte er vorher angepocht, hätte die Haushälterin ein Donnerwetter, auf sein Haupt niedergehen lassen und dann ein Drama in vielen Akten aufgeführt. Sie zeterte ja schon, wenn er jeden Donnerstagabend zum Nairack-Spiel zu Ryan kam. Teufelsspiel nannte sie es und entwich jedesmal aus dem Pfarrhaus, als könnte das Klappern der beinernen Würfel ihre Seele verderben. Seit vierzig Jahren inszenierte sie jeden Donnerstag, den Gott hatte wachsen lassen, dieses Theater, und sie führte es mit dem gleichen Getöse auf wie am ersten Tag. Keine Spur von Abgeklärtheit. Je älter das Weib wurde, desto spitzer wurde seine Zunge und desto giftiger seine Reden. Pater Ryan getraute sich schon lange nichts mehr zu sagen. Solange die zanksüchtige Laurie jedenfalls in der Nähe war. Wußte er sie außer Haus, zog er über sie her und ließ keinen guten Faden an ihr. Dann getraute er sich auch, ein paar einzuschütten. Vilion mußte 65
ihm dabei helfen und als Alibi herhalten. Was das betraf, half der Doktor gern. Pater Ryan bekam seinen erstklassigen Stoff von einem Bauern, dessen heimliche Brennerei immer nur nachts Rauch- und Dampfwolken ausstieß. Gegen den Whisky hatte die streitbare Laurie seltsamerweise nichts einzuwenden. Pater Ryan hatte nur immer wieder Gelegenheit, sich darüber zu wundern, wie rasch der gute Stoff aus seinen Flaschen verdunstete. Vilion hatte ihm mal den arglistigen Ratschlag erteilt, eine Flasche mit Rizinusöl zu versetzen. Er hatte sich sogar erboten, das Werk heimlich zu vollbringen. Aber Ryan waren denn doch starke Bedenken erwachsen, er hatte seine Einwilligung versagt. Er könnte die Flasche verwechseln, hatte er angemerkt, und es sähe nicht gut aus, wenn er wegen des Rizinusöls die Messe ausfallen lassen müßte. Vilion hatte danach in dieser Richtung keine neuen Vorschläge unterbreitet. Und so gesehen hatte die bissige Laurie eigentlich keine Ursache, ihm zu grollen. Aber sie tat's. Sie ging mit jedem Mannsbild im Ort und von außerhalb ruppig um, den Pater eingeschlossen. Wenn ich mit den zwei armen Teufeln vor der Tür stehe, kann sie uns ja nicht abweisen, überlegte der Doktor und schaute wieder auf die Uhr. Die Leute hätten längst da sein müssen. Für die zehn Meilen konnten sie sich ja nicht die ganze Nacht Zeit lassen. Als die Minuten weiter zäh dahintropften und kein Auto vor dem Haus stoppte, kam Vilion der finstere Verdacht, die Männer aus dem Heim hätten vor einem Gasthof angehalten und würden etwas gegen den Nachtfrost tun. Er knurrte, er gab ihnen noch eine halbe Stunde. Doch auch die verstrich, und kein Auto hielt draußen. Da hielt es Vilion nicht länger, er griff erneut zum Telefon und rief den Heimleiter an. Als er die Nachricht von Mindys Flucht vernahm, zog es ihm die 66
Kopfhaut zusammen. Mit den armen Teufeln ging etwas vor, das ließ er sich nicht länger ausreden. Etwas Grauenvolles, das kein menschlicher Verstand fassen konnte. Böse Dinge geschahen. Er spürte es in den morschen Knochen. Die einen blinden Opfer des Unheimlichen verwandelten sich offensichtlich in Skelette, die anderen wurden tobsüchtig, brachen fast das Pflegeheim an allen vier Ecken ab und tauchten dann spurlos in der grimmig kalten Nacht unter. »Ich habe die Polizei verständigt«, sagte der Heimleiter ächzend. »Sie wird bald da sein. Bei der Kälte kann der Mann nicht weit kommen. Ich denke, sein Instinkt leitet ihn und läßt ihn eine warme Stube finden.« Davon war der Doktor nicht überzeugt. Aber die Zweifel behielt er für sich. Der Heimleiter schien mit den Nerven schon ziemlich weit herunter zu sein. »Und wann schicken Sie mir Richard?« erkundigte sich Vilion. »Ich warte voller Ungeduld.« Erst einmal schwieg der Heimleiter. Dann gurgelte er recht seltsam. Und dann fragte er mit fast hysterischem Tonfall: »Sind meine Leute denn noch immer nicht bei Ihnen eingetroffen?« »Weshalb frage ich sonst?« erwiderte Vilion erbost. Die Stimme des Heimleiters zitterte verdächtig. »Ich habe Dolby und Fennicott mit dem Wagen losgeschickt, sie sind sehr zuverlässig.« »Sieht nicht so aus. Wann sind sie bei Ihnen weg?« »Vor fast zwei Stunden.« Eine unheilschwangere Pause trat ein. Vilion ergriff zuerst wieder das Wort. »Sollten sie noch kommen, rufe ich Sie selbstverständlich an.« Er legte auf und stand lange überlegend. Eiskalt kroch es ihm dabei den Rücken herauf. Trotz des prasselnden Kaminfeuers, das seine Wärme ins Haus sandte. Dolby und Fennicott war etwas zugestoßen. Die hockten in keinem Gasthof und wärmten sich von innen heraus. Er glaubte das 67
Unheil mit Händen greifen zu können, das sich über dem Ort zusammenbraute. Mit verkniffenem Gesicht und sorgenvollem Blick ging er in sein bescheidenes Landarztlabor und kramte aus dem Regal einen sorgsam verstöpselten kleinen Glaskolben. Seit Monaten hatte er ihn hinter Reagenzien und Indikationslösungen verborgen gehalten. Die wasserhelle Mischung im Glaskolben hatte er im Frühsommer in langwierigen Prozeduren zusammengebracht, nachdem er eine ganze Nacht lang alte Schriften studiert und die nächste Nacht darauf verwandt hatte, die Bestandteile der Mixtur aus seltenen und zumeist verrufenen Pflanzen zu gewinnen. In einem seiner uralten Bücher wurde das Gebräu als Lebenselixier gepriesen, in einer fast unlesbar gewordenen Handschrift als Hexensaft und wieder in einem anderen Buch als ,vortrefflich Wasser wider Satanas und allerlei Zauberwerk. Von diesem Elixier hatte er ein geringes Quantum in ein Fläschchen gefüllt und Kinsey mit der Bemerkung gegeben, möglicherweise schütze es. vor dem Zauber des Unheimlichen, der den Leuten die toten Augen anhexte. Und weil Vilion zeit seines Lebens dem Risiko nie aus dem Weg ging, hatte er zunächst selber einen Schluck von seinem geheimnisvollen Elixier gekostet und danach Kinsey empfohlen, im Bedarfsfalle auch ein paar Tropfen zur Brust zu nehmen. Das hatte der junge Mann aus London getan, der sich beherzt dem Unheimlichen gestellt hatte. Und nachdem der Unheimliche drüben im Schloß von Kinsey als Laglen entlarvt und vernichtet worden war, hatte ihm der junge Mann hier auf dem Stuhl beim Zusammenflicken einer bösen Messerstichwunde gebeichtet, er hätte von diesem Elixier einen tüchtigen Schluck dem Unheimlichen in den Mund geschüttet, wahrscheinlich hätte ihm die Zauberkraft des Elixiers den Rest gegeben. Dabei war der Ausdruck Zauberelixier gefallen, und seitdem benützte Vilion dieses Wort, wenn er an seinen geheimnisvollen flüssigen Schatz im Regal dachte. 68
Behutsam entkorkte er den Glaskolben und füllte ein handliches Fläschchen ab. Nicht minder bedächtig räumte er den Glaskolben wieder in sein Versteck. Das Fläschchen versenkte er in die Hosentasche. Mitten in dieser Beschäftigung hatte er den Eindruck, beobachtet zu werden. Er kannte dieses Gefühl, das einem signalisiert: Jetzt wirst du angestarrt! Langsam wandte Vilion den Kopf. Wenn jemand das Haus betreten hätte, wäre ihm das nicht entgangen. Die Haustür ging schwer, und jetzt in der Kälte hatte sie sich auch noch verzogen und knarrte abscheulich, wenn man den Trick nicht kannte, sie etwas anzuheben. Nur das Prasseln des Kaminfeuers erfüllte das Haus, sonst herrschte Stille. Gespenstische Stille. Vilion zuckte zusammen. Gespenstisch! Das war es – dieses Gefühl, von einem Unbekannten angeblickt zu werden! Er zwang sich zur Ruhe. Das Fläschchen in der Hosentasche gab ihm Sicherheit. Und sein Alter verlieh ihm einen gewissen Fatalismus, mit dem er den Dingen entgegenblickte. Er hatte sein Leben gelebt. Um einen knorrigen alten Kerl wie ihn war es nicht schade, wenn es dem Schicksal einfiel, plötzlich seinen Namen aufzurufen. Andererseits bot auch das Alter noch ein paar angenehme Aspekte. Großzügig bezog Vilion darin die Nairack-Abend mit Pater Ryan und den illegalen Whisky ein. Die wollte er nicht gerne missen. Und Neugierde erachtete er obendrein als einen nützlichen Charakterzug – nicht nur bei der schottischen Damenwelt. Neugierig war er sein ganzes Leben lang. Wenn niemand das Haus betreten hatte, war dann etwa jemand vor dem Fenster? Waren Dolby und Fennicott mit Richard eingetroffen? Er hatte zwar kein Auto vorfahren hören, aber es konnte ihm entgangen sein. Wie beiläufig schaute er zum Fenster – und zuckte zusammen. 69
Der Schreck fuhr ihm in die Knochen. Draußen war etwas. Nicht einer der Pfleger aus dem Heim in Braemar, der neugierig durchs Fenster peilte. Nein, draußen schwebte ein Licht! Das Geisterflämmchen! Vilion behauptete von sich, abgebrüht zu sein. Aber jetzt griff das Grauen nach ihm. Und es nahm ihn erbarmungslos in die Klauen. Er spürte, wie sein Herzschlag aussetzte. Der Angstschweiß brach ihm aus. Seine Glieder schienen von einer Sekunde zur anderen mit Blei gefüllt zu sein. Unregelmäßig setzte sein Herzschlag wieder ein. Vilion riß sich zusammen und ließ den Blick weiterwandern. Verrate dich nicht, alter Junge, sagte er sich, laß dir bloß nichts anmerken! Weiß der liebe Himmel, was sich hinter dem verdammten Flämmchen verbirgt, aber mit rechten Dingen geht es nicht zu! Ein Geist, ein böses Gespenst schaut dir durchs Fenster! Das Ding interessiert sich für dich! Es will herausfinden, was du treibst! Es kostete ihn eine ganze Menge Überwindung, sich unbefangen zu geben. Er räumte in seinem Labor herum. Aus den Augenwinkeln schielte er immer wieder zum Fenster hin. Das unheimliche Flämmchen war immer noch da. Es kam ihm so vor, als schwebte es noch näher am Glas. Siedendheiß fiel ihm ein, was Dragnochty erzählt hatte. Und was die Zeugen im Siechenheim in Ballater beobachtet hatten. Ein Geisterflämmchen war herumgeschwebt und hatte den schrecklichen Skeletten den Weg gewiesen. Und jetzt war es hier! Vor seinem Fenster! Hieß das, jetzt war er an der Reihe? Sollte er nun zum Gerippe gemacht werden? Instinktiv griff er in die Hosentasche und umklammerte mit seiner knotigen Hand das Fläschchen mit dem Zauberelixier. Ein gräßliches Fauchen drang herein und erschreckte ihn bis ins 70
Mark. In höchster Aufregung oder Wut tanzte das Licht am Fenster auf und ab. Vilion ging das fast über den Verstand. Andererseits hatte er schon von Dingen gehört, die noch viel gruseliger geklungen hatten. Und die er doch für wahr hielt. Weil er die Leute kannte, denen sie wiederfahren waren. Im schottischen Hochland passierten immer irgendwo unheimliche Sachen. Bedeutete die heftige Reaktion des Flämmchens, daß der Geist, der sich dahinter verbarg, von dem Fläschchen in seiner Hand wußte und auch, was es enthielt? Klar, sagte sich Vilion, es hat mir zugesehen, ich weiß nicht, wie lange! Das Gespenst scheint eine Ahnung davon zu haben, was ich mit dem Elixier anstellen kann! Es reizte ihn, die Probe zu machen. Er brachte Hand und Fläschchen zum Vorschein, fuhr trotz seines Alters mächtig behend herum und holte aus, als wollte er das Fläschchen durchs Fenster schleudern. Mit einem schrillen Pfeifen zischte der Spuk davon! Dem Gespenst schien vom Inhalt des Fläschchens eine große Gefahr zu drohen. »Das muß man alles wissen!« sagte Vilion ächzend. Er löschte das Licht und starrte in die Dunkelheit hinaus. Von dem unheimlichen kleinen Licht sah er nichts. Es war fort, verschwunden in der Frostnacht. Eine Weile stand er am Fenster und drückte die heiße Stirn gegen das kalte Glas. Das Gespenst hatte ihn beobachtet, keine Frage. Es verfügte über teuflische Eigenschaften, es konnte Inhalte von Gefäßen und ihre Bedeutung erkennen. In der Dunkelheit tappte Vilion zum Regal und langte den Glaskolben heraus. Es war so eine Eingebung. Aus der Schublade seines wurmstichigen Arbeitstisches nahm er die uralten Bücher und Handschriften, denen er die Rezeptur des Elixiers entnommen hatte. 71
Mißtrauisch blickte er zum Fenster. Das Lichtgespenst war nicht zurückgekommen. Vilion trug die Bücher und den Glaskolben ins Wohnzimmer und versteckte die Dinge dort in einer alten hohen Bodenvase und in einem unscheinbaren Schrank, in dem er besondere Medizin aufbewahrte, weil niemand sie dort vermuten würde. Dann schlüpfte er in seinen gefütterten Mantel, ergriff den Knotenstock und verließ das Haus. Sein Ziel war der Friedhof, er wollte Klarheit haben. * »Halt an!« sagte der Polizist Carrock zu seinem Kollegen Seymour. Sie waren auf dem Weg nach Braemar, um einen entsprungenen Pflegling des Heimes einzufangen. Vor ein paar Minuten hatten sie Balmoral passiert und emsig Ausschau nach einem leichtbekleideten Mann gehalten. Es war ja möglich, daß der Entsprungene sich schön weit von Braemar entfernt hatte. Wegen der beißenden Kälte suchte er bestimmt Unterschlupf in einem Haus. Ein Mann nur in Hemd und Hose war ihnen aber nicht unter die Augen und ins Scheinwerferlicht gekommen. Dafür sahen sie jetzt auf halber Strecke zwischen Balmoral und Braemar ein Auto schräg auf der Straße stehen. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Seymour lenkte den Polizeiwagen langsam heran und stoppte. Dann kurbelte er das Fenster herunter. Bei dem Fahrzeug mitten auf der Straße handelte es sich um einen Kleintransporter. Ohne jegliche Aufschrift. Das Fahrzeug war verlassen, die Türen der Fahrerkabine standen auf, und der Motor lief. Und unter der Windschutzscheibe war das Karosserieblech eingedrückt. In einer ganz typischen Weise. Seymour und Carrock hatten schon eine Menge Unfälle aufgenommen und besaßen Erfahrung. 72
Dieses Fahrzeug hatte nicht irgendwo einen Baum gestreift oder einen Zaun umgelegt, in diesem Falle hätte es anders ausgesehen, nein, es war zweifelsfrei mit einem Menschen zusammengeprallt. Mit anderen Worten hatte der unbekannte Fahrer des Transporters jemanden angefahren oder überfahren und war getürmt, wie es aussah. Carrock schnappte sich die Taschenlampe und leuchtete die Umgebung ab. Das Opfer konnte im Bogen durch die Luft gewirbelt worden sein. Nach den Anzeichen war es ein heftiger Aufprall gewesen, und es sprach eigentlich recht wenig dafür, daß das Opfer nur mit einem gehörigen Schrecken davongekommen sein sollte. Seymour beteiligte sich an der Suche. Nach zehn Minuten waren sie ziemlich ratlos. Es gab kein Opfer, und vom Fahrer war auch nichts zu sehen und zu hören. »Ob der Bursche in seiner Panik sein Opfer in den Fluß geworfen hat?« äußerte Carrock einen bösen Verdacht. Sie stiegen zum See hinunter. Der Boden war gefroren und hatte keine Spuren aufgenommen. Carrock leuchtete das Flußufer und dann auch die dunkle dampfende Wasserfläche ab. Nirgendwo trieb ein Körper. »Den Kerl kriegen wir, so oder so!« knurrte Seymour und hauchte in die klammen Hände. Über das Funktelefon gaben sie die Wagennummer nach Ballater an ihr Hauptquartier durch. Es dauerte eine Weile, bis der Sergeant die Kartei gesichtet hatte. »Der Wagen ist auf das Pflegeheim in Braemar zugelassen«, teilte er ihnen mit. »Da müßt ihr sowieso hin. Ihr bearbeitet also auch gleich die Unfallflucht.« Als die Verbindung unterbrochen war, stöhnte Carrock: »Ich wußte ja gleich, daß es eine endlos lange Nacht wird. Aus dieser Gegend hier ist noch nie was Gutes gekommen.« Seymour fuhr den Transporter auf eine Ausweichstelle, auf der Splitthaufen aufgeschüttet waren. Der Straßendienst hatte Vorsorge für den Schneeeinbruch getroffen. 73
Er sicherte den Wagen, verschloß die Türen und steckte den Schlüssel ein. Dann stieg er zu Carrock in den Wagen und hielt die kalten Hände gegen den Luftkanal, aus dem es warm und freundlich blies. »Eine Mistkälte ist das, da jagt man keinen Hund vor die Tür!« beschwerte er sich. »Uns schon!« Carrock steckte sich eine Zigarette an. »Fahr zu!« Ich muß jetzt mal nachdenken. »Worüber?« Carrock wies mit der Zigarette hinter sich. »An der Sache kommt mir eine Menge ungereimt vor. Was hat ein Wagen vom Pflegeheim hier zu suchen?« »Die suchen doch auch nach diesem entsprungenen Pflegling. Der Bursche gilt als gewalttätig.« »Du meinst, sie könnten ihn gefunden und angefahren haben? Wohin sind sie dann mit ihm? Nein, an der Sache stimmt was nicht.« Seymour fuhr los. Fünfzehn Minuten später langten sie am Ziel an. Der Anstaltsleiter war das reinste Nervenbündel, und seine erste Frage war: »Haben Sie unterwegs unseren Kleintransporter gesehen? Zwei meiner Pfleger sind mit einem unserer Schützlinge nach Balmoral rüber, aber dort bisher nicht angekommen. Sie sind seit zwei Stunden überfällig.« Carrock hob unbehaglich die Achseln und schaute seinen Kollegen Seymour an. »Was habe ich gesagt? An der Geschichte ist etwas faul!« »Das glaube ich jetzt auch«, pflichtete Seymour düster bei. * Doktor Vilion konnte sich angenehmere Plätze vorstellen als einen � Friedhof in einer grausigen Frostnacht. Aber er hatte sich nun mal � in seinen schottischen Dickschädel gesetzt, den seltsamen Vorgän74
gen auf den Grund zu gehen, soweit er das vermochte. Darum harrte er aus, wenn ihm auch die Kälte allmählich in die Knochen kroch. Er saß auf der Bank unter der kahlen Linde beim Friedhof und hatte einen guten Ausblick auf den Ort, den Fluß, das königliche Schloß drüben und die dunklen Wälder im Hintergrund. Und natürlich auf den Friedhof. Der interessierte ihn am meisten. Aus dem Dorf hörte er die Kirchturmuhr schlagen. Zehn! Im Pfarrhaus ging das Licht aus. Vom Ostrand des Dorfes hörte er Hunde bellen. Jetzt führte Mrs. Biggin noch einmal ihre Vierbeiner in den Garten. Sie sollte besser meine Rechnungen bezahlen, dachte Vilion ergrimmt, ich bin nicht ihr Wohltäter! Für ihre gefräßigen Ungeheuer kauft, sie das teuerste Futter und die beste Medizin, und mich läßt sie auf lumpigen dreißig Pfund sitzen, alles in allem! Nach einer Weile kehrte bei Mrs. Biggin Ruhe ein. Unten im Dorf knarrte die Tür. Dragnochty schaute aus seiner Hintertür wie ein kurzsichtiger Maulwurf. Sicher plagte ihn der Durst, aber er getraute sich nicht, den Fuß aus dem Haus zu setzen. Man sollte es nicht für möglich halten, dachte Vilion, aber Gespenster haben auch ihre guten Seiten! Wenn bei dem Kerl, dem versoffenen, der Schreck noch eine Weile anhält, kommt er glattweg von der Flasche los! Dragnochty schien Ausschau nach dem schwebenden Licht und nach einem Gerippe zu halten, denn er beugte sich weit vor, so daß er fast aus der Tür fiel. Das Licht hatte er nicht ausgeknipst, darum konnte der Doktor alles genau verfolgen. Dragnochty schaute starr und stur zum Haus der McKnees hinüber. Bis ihn die Kälte derart zwickte, daß er lieber wieder ins Haus ging und die Tür schloß. 75
Nach einiger Zeit wurde es dunkel im Haus. Bei den McKnees war es schon lange finster. Die Frau wird es schwer haben, die hungrigen Mäuler satt zu machen, dachte Vilion. Es ist ungerecht, daß die einen alles haben wie Mrs. Biggin und die anderen nichts! Aus der Ortsmitte klang Stimmengewirr zu ihm herauf. Ein paar Autotüren klappten. Jetzt verließen Gäste das Wirtshaus, in dem Laglen damals seinen bösen Racheplan gegen die Queen geschmiedet hatte. Um ein Haar wäre ihm der auch geglückt, dachte Vilion beklommen. Zum Henker überhaupt, woher konnte der Kerl hexen? Wo hat er das gelernt? Der Frage ist noch niemand nachgegangen, nicht mal dieser Kinsey! Aber es wäre schon interessant, herauszufinden, bei wem Laglen in die Lehre ging! Ich muß mich mit dem Burschen aus London unbedingt darüber unterhalten! Es schlug elf vom Kirchturm. Drüben auf Schloß Balmoral wurden die letzten Fenster dunkel. Vilion stand auf und bewegte sich, weil er das Gefühl hatte, auf der Bank festzufrieren. Er stampfte auf. Es half nicht viel, die Kälte biß ins Fleisch und kühlte ihn immer mehr aus. Ein Auto fuhr aus dem Ort heraus in Richtung Ballater. Nach einer Weile kurvte ein anderes durch Balmoral, und ein drittes kroch über einen Feldweg davon in die dunklen Berge. Dann war wieder Ruhe drunten im Ort. Einmal schlug ein Hund an. Vilion rechnete damit, daß sich zur Geisterstunde etwas tat. Dieser Spuk mit dem Flämmchen schien eine Vorliebe für Balmoral zu haben. Vilion setzte sich wieder. Den Knotenstock lehnte er neben sich an die Bank. Und dann stutzte er. Es war noch längst nicht Mitternacht, und dennoch glaubte er einen schaurigen geisterhaften Gesang zu hören. Hinter seinem Rücken. Er erschauerte. Das kam einwandfrei vom Friedhof! Er erhob sich, packte den Knotenstock mit der linken Hand und 76
umfaßte mit der rechten das Fläschchen, das er in die Manteltasche umdeponiert hatte. Vorsorglich suchte er hinter dem dicken Stamm der Linde Deckung. Von dort spähte er hervor und musterte den Friedhof. Der eigenartige Gesang hörte sich schaurig an. Gruselig irgendwie. Jemand hatte ihm mal erzählt, er hätte Totenstimmen gehört. Der Mann hatte ihm das sehr eindrucksvoll geschildert. Und er hatte den Vergleich mit greinenden Kinderstimmen wie aus einer Gruft verwendet. Genau so hörte sich das jetzt an! Vilion reckte den Hals, um über die Mauer blicken zu können. Er zuckte hinter dem Stamm zurück, als er ein kleines Licht durch die Nacht schweben sah! Der Flämmchenspuk war wieder unterwegs. Natürlich, und deshalb war er ja auch heraufgestiegen und hatte sich bald den Hintern auf der Bank erfroren. Das Sternenlicht war nicht besonders günstig, es reichte jedoch aus, um Vilion ein paar Atemzüge später eine grauenhafte Prozession erkennen zu lassen. Neun Kapuzengestalten mit Stöcken schwankten mitten über den Friedhof! Das Flämmchen leuchtete ihnen voran! Wallfahrt! zuckte es Vilion durch den Schädel. Laurina! Das will Mrs. McKnee doch aus dem Zimmer ihres Mannes gehört haben. Der Teufel soll mich holen, wenn daran nicht was Wahres ist! Diese seltsamen Pilger machen wahrhaftig eine Wallfahrt! Der unheimliche Gesang kam von den Kapuzengestalten. Vilion spitzte die Ohren, verstand indes kein Wort. Die Sprache war ihm fremd. Und sie war obendrein seltsam klanglos und blaß. Es hörte sich wirklich an, als kämen die greinenden Stimmen aus einer Gruft. Er widerstand der Versuchung, die Flucht zu ergreifen. Dann würden die unheimlichen Wallfahrer am Ende erst auf ihn auf77
merksam und drehten ihm den Kragen um oder was sie sonst für Methoden hatten. Oder der Flämmchenspuk holte ihn ein und verwandelte ihn in ein Gerippe! Vorsorglich holte Vilion das Fläschchen hervor. Er ging in dieser Situation kein Risiko ein, wenn er auch sonst gerne die Nase ganz vorne dran hatte und bisweilen was draufkriegte. Jetzt verharrte die Gruppe und drängte sich zusammen. Vilion konnte die seltsamen Pilgerstöcke besser erkennen. Es waren sehr sonderbare Pilgerstöcke. Einige ließen ihn an Sensen denken, andere an uralte Symbole, wie man sie manchmal auf Steinen in den verfallenen Heiligtümern der Ureinwohner dieser Gegend eingeritzt fand. Oben an den Stöcken waren Querhölzer befestigt. Das erweckte in der Nacht bei dem ungewissen Licht den Eindruck, die Kapuzengestalten hätten Sensen. Sie benützten diese Stöcke wie Wanderstäbe. Die Gruppe wich etwas auseinander und bildete einen Ring. Der nervenaufreibende Schauergesang wurde lauter und eindringlicher, fast beschwörend. Das Flämmchen glitt in den Kreis. Und dann quollen Vilion fast die Augen aus dem Kopf. Er stieß einen japsenden Laut aus und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Aus dem Flämmchen wurde schlagartig eine mannshohe Flammensäule! Roter Feuerschein lohte über den Friedhof und die Leichensteine hin. Vilions Entsetzen wurde noch viel größer, als er an dieser lohenden Flammensäule ein Gesicht erkannte. Eine böse dämonische Fratze! Mit einem gräßlichen Feuermaul, aus dem nur so die Flammenbündel hervorschossen! Der Teufel! dachte er. Das ist der leibhaftige Teufel! Dann vermißte er den Pferdefuß und den langen Schwanz und die Eselsohren. Jedenfalls hatte ihm jemand, der angab, davon et78
was zu verstehen, den Teufel so geschildert. Und was hätte der Teufel auch ausgerechnet in Balmoral zu suchen gehabt? Es gab interessantere und einträglichere Orte. Nein, der Teufel war das wohl nicht dort drüben. Aber ein böser Geist mit Sicherheit. Vielleicht ein Dämon, den Satan stellvertretend geschickt hatte! Aus der Flammensäule wuchsen feurige Arme. Die Kapuzengestalten wichen respektvoll zurück. Gebannt verfolgte Vilion das unheimliche Geschehen. Der Flammenteufel breitete die Arme weit auseinander, bis er wie eine brennende Vogelscheuche aussah. Dann beugte er sich nieder und streckte die Arme gegen den Boden aus. Er macht eine Verbeugung, dachte Vilion beklommen. Vor wem? Aus den Fingerspitzen der Feuergestalt schossen ganze Flammenbündel in den Boden hinein. Ein schreckliches Stöhnen drang durch die frostklirrende Nacht. Gerade, als würden sich die Seelen aller hier Begrabenen äußern! Der Feuerteufel richtete sich wieder auf. Er machte es irgendwie würdevoll. Und langsam wandte er sich um und breitete wieder die Arme aus. Der entsetzliche Gesang der vermummten Gestalten wurde durchdringender und endete jäh. Vilion erwartete irgend etwas Sensationelles. Eine Absprache oder so. Er wurde enttäuscht. Er hörte jetzt nur Gemurmel, das ihn an eine Gebetslitanei denken ließ. Jedenfalls hatte er so was Ähnliches schon gehört. In eine Kirche war er nie aus eigenem Antrieb gegangen. Eine lange Feuerlohe schoß aus dem Mund des Flammenteufels. Und da machte Vilion noch eine Entdeckung. Die ließ aber fast sein Blut erstarren. Der Flammenstoß schleuderte eine ungeheuere Lichtfülle in die Nacht und riß die Gestalten aus dem ungewissen Licht. Unter den Kapuzen grinsten Totenschädel! 79
Unter den weiten schwarzen Umhängen schauten knöcherne Füße hervor. Und die Hände, die die seltsamen Pilgerstöcke umklammert hielten, waren fleischlos. Knochenhände! Vilion wischte sich verstört über die Augen. Skelette! Grausige Gerippe hatten sich auf dem Friedhof versammelt! Der Feuerteufel hatte sie gerufen, wie es ihm vorkam, und sie waren dem Ruf gefolgt und unternahmen eine Wallfahrt oder was immer die Prozession darstellen sollte. Der Feuerteufel schrumpfte zu einem harmlosen Flämmchen zusammen und schwebte wieder lautlos durch die Nacht. Die Gerippe unter den Kutten stimmten wieder ihren entnervenden Gesang an und folgten dem Licht. Die Prozession kam zum Tor heraus. Vilion hörte den eisernen Flügel knarren. Genau wie Dragnochty es beschrieben hatte. Der Doktor machte sich hinter dem Lindenstamm so klein wie möglich. Die knöchernen Füße klopften im Takt auf den gefrorenen Boden. Die Stöcke klapperten gegeneinander, und die Kutten raschelten im eisigen Nachtwind wie Leichentücher. Keine zwanzig Schritte entfernt zog die grausige Prozession vorbei. Ein Stück von der Friedhofsecke entfernt wiederholte sich jetzt, was Vilion schon über die Mauer hinweg auf dem Friedhof gesehen hatte. Aus dem Geisterflämmchen entwickelte sich wieder ganz plötzlich der schreckliche Feuerteufel. Je länger Vilion zusah, um so überzeugter war er, daß der Feuergeist eine Art Anrufung oder eine dämonische Anbetung vornahm. Und auch jetzt wieder schickte der Flammenteufel helle Feuerbündel in die Erde. Vielleicht erwartete er, daß sich die Erde auftat und ein unirdisches Wesen an die Oberfläche kam. 80
Mitten in das unverständliche Gebet hinein klangen die Schläge von der Kirchturmuhr. Mitternacht! Vilion verfolgte begierig, was geschah. Oder seiner Meinung nach geschehen mußte. Entweder stob die Gruppe auseinander, oder sie löste sich auf wie Rauch im Wind. Überhaupt nichts passierte. Die Glockenschläge beeindruckten die Skelette so wenig wie den Flammenteufel. Ein paar Minuten später zog die Gruppe weiter. Vilion blieb, wo er war. Daß sie ihn nicht entdeckt hatten, nicht mal seine Nähe registrierten, machte ihn zwar froh, aber nicht leichtsinnig. Er konnte beobachten, wie die Gruppe an allen vier Ecken des Friedhofes, aber außerhalb auf ungeweihtem Boden, Station machte. Jedesmal vollzog sich das gleiche Ritual. Der Verdacht kam ihm, daß es sich nicht nur um eine gruselige Wallfahrt handelte, sondern daß sich hier ein dämonischer Kreuzweg befand, den die Skelette und der Feuerteufel abschritten. Wozu? Wem zu Ehren? Es schlug eins, der Glockenschlag zitterte dünn und fast verloren vom Dorf herauf. Die Skelette und der flammende Dämon zeigten sich auch jetzt nicht beeindruckt. An die Geisterstunde waren sie demnach nicht gebunden. Vilion registrierte das im Gedächtnis. Um normale Gespenster schien es sich also nicht zu handeln. Nach einer halben Stunde versammelte sich die entsetzliche Gesellschaft noch einmal unweit vom Friedhofstor. Erneut schickte der Feuerteufel seine Flammen in die gefrorene Erde. Ganz deutlich sah Vilion Dampf aufsteigen. Sonst geschah nichts. Die Feuerfratze verzog sich zu einem Ausdruck maßloser Enttäuschung. Da ist was schiefgegangen, schloß Vilion haarscharf! Der Kerl will irgend etwas aus der Erde zaubern, und er kann es nicht! Es klappt nicht! 81
Die flammenden Arme schnellten zur Seite und machten eine Geste in Richtung des Dorfes. Sofort formierten sich die Skelette und zogen zusammen den Berg hinab. Der Feuerteufel schwebte ihnen als Flämmchen voran. Jetzt hörte Vilion keinen unheimlichen Totenstimmenchor mehr. Die knöchernen Füße schlugen nicht mehr den Takt auf den gefrorenen Boden, sondern glitten lautlos dahin wie Katzenpfoten. Und die seltsamen Pilgerstöcke klapperten nicht mehr gegeneinander. Selbst das Rauschen der Kutten war verstummt. In gespenstischer Lautlosigkeit zog die Prozession zum Dorf hinunter. Vilion juckte das Fell gehörig, nachdem die Sache so gut für ihn ausgegangen war. Er meinte, etwas riskieren zu können. In einigem Abstand folgte er den Skeletten, und er war den schottischen Göttern dankbar dafür, daß gerade Neumond war. Zu seiner nicht geringen Verblüffung bewegte sich der lautlose Zug hinter den Häusern her, als würden die Gerippe den Weg im Traum kennen. Als seien sie ihn schon immer gegangen! Irgendwo ergriff ein Hund mit schaurigem Heulen die Flucht. Das Tier spürte die Nähe der Unheimlichen. Für Vilion war das Hundegeheul der letzte Beweis dafür, daß er nicht Opfer einer Halluzination geworden war. Die Kapuzengestalten umrundeten dreimal das Gasthaus, in dem früher Laglen mit seiner Frau gewohnt hatte. Das heißt, seine Frau hatte darin die Arbeit gemacht, und er hatte sich durch die Gegend und das Leben gesoffen. Aber das war es nicht allein, was er getrieben hatte. Obendrein hatte er sich dem Bösen verschrieben. Dafür war er tot. Warum wackeln sie dreimal um das Haus herum? fragte sich Vilion. Soll das am Ende dem unseligen Laglen gelten? Das ist doch fast gar nicht möglich! Bevor er sich versah, wanderte die Prozession zurück. In der Nähe der Kirche verschwanden die Gerippe, als hätte sich der Boden aufgetan und sie verschlungen. 82
Auch das schwebende Geisterlicht war fort. Vilion suchte fast eine Stunde lang die Gegend ab. Die Kapuzengestalten kamen nicht wieder zum Vorschein. Sehr, sehr nachdenklich kehrte er in sein Haus zurück. Er vermied es, Licht zu machen. Er legte nur ein paar dicke Scheite in den Kamin und schlief auf dem abgewetzten Sofa in seiner Junggesellenküche. Das Fläschchen mit seinem Zauberelixier hielt er fest in der Hand wie einen unersetzlichen Schatz. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, daß die Leute aus Braemar nun doch nicht gekommen waren. Er hatte vom Berg aus kein Auto vor seinem Haus anhalten sehen, und es hatte auch keine Nachricht an der Tür gehangen. Er hatte getan, was er konnte. Für Wunder war er nicht zuständig, die fielen in Pater Ryans Zuständigkeitsbereich. Er hoffte, daß Mindy und Richard von dem Geisterflämmchen, das in Wahrheit ein schrecklicher Feuerteufel war, verschont geblieben waren. * In meinem MG zog es wie in einem undichten Faß auf der Kaimauer. Ich war froh, daß ich mich mit warmen Sachen ausstaffiert hatte. In der ersten Tankstelle zog ich mir zwei Pullover übereinander an. Der Tankwart guckte zwar etwas verwundert, meinte dann aber nur: »Zum Nordpol rauf sind Sie auf der Straße richtig, Mister!« Soweit wollte ich gar nicht. Als ich die schottische Grenze überschritt, hatte ich aber fast den Eindruck, schon am Nordpol angekommen zu sein. Die Kälte ließ meine Zähne klappernd aufeinanderschlagen. Ich hatte die Heizung auf volle Leistung gestellt, aber sie gab nur ein Minimum an Wärme her. Der MG ist in erster Linie ein sportlicher und in letzter ein für Nordpolfahrten gedachter Wagen. Das mit der schottischen Grenze meinte ich natürlich symbolisch. 83
Heute steht da kein staatlich lizenzierter Straßenräuber mehr und hebt einen Wegezoll oder etwas in der Art ein. Es gibt auch keine Grenzschranken oder irgendwelche Kontrollen. Nur ein paar Markierungssteine erinnern daran, daß hier einst die Grenze der beiden Königreiche Schottland und England verlief. Vor ein paar Monaten war ich dieselbe Straße gefahren. Nach dem Kalender und auch sonst war es Frühsommer gewesen. In den schottischen Bergen hatte aber ein Lüftchen geblasen, daß ich dachte, ich würde unversehens vor Kälte erstarren. Jetzt war's wirklich Winter. Das bekam ich schmerzhaft zu spüren. Hinter Kinross zog ich mir den dritten Pullover über und überlegte ernsthaft, ob ich nicht doch in einem Motel für den Rest der Nacht unterkriechen sollte. Aber Vilion, der alte knorrige Kauz, hatte seinen Anruf so dringend gemacht, da wollte ich ihn nicht enttäuschen. Und außerdem ging da etwas vor, das in meine Zuständigkeit fiel. Junge, beiß die Zähne zusammen, auch wenn's deine letzten sind, und halte durch! sagte ich mir. In Perth tankte ich den Wagen noch einmal voll bis zum Einfüllstutzen, und für mich gewann ich am Getränkeautomat einen Becher Tee. Gut war er nicht, aber das Wasser war schön heiß. Was kann man auch schließlich für fünfzig Pence erwarten? Es ging schon auf den Morgen, als ich den Paß am Devils Ellbow erreichte. Diesmal stieg ich nicht aus. Ich konnte auch im Wagen spüren, wie kalt es war. Wie das Wetter sonst beschaffen war, spürte ich an den heftigen Windböen, die am Wagen rüttelten. Als ich hinunter ins Tal des Dee kam und Braemar erreichte, war es bereits hell. Leute waren auf der Straße, und die Geschäfte hatten geöffnet… Ich kaufte mir in einer Bäckerei ein Frühstück, vertilgte es im Stehen und sah zu, daß ich zu Doktor Vilion in Balmoral kam. Die beiden verbliebenen Opfer des Unheimlichen hatte er ja inzwischen 84
unter seine Fittiche genommen. Dachte ich. Auf der Straße am Fluß entlang kamen mir sehr unangenehme Erinnerungen. Hier war mir der Unheimliche erstmals begegnet. Hier hatte er sich mir auf der Straße in den Weg gestellt und hatte seinen unheilvollen Nebel losgelassen, der den Leuten die Augen tötete und auf grausame Art in rollende weiße Kugeln verwandelte. Mir hatte er ebenfalls dieses entsetzliche Schicksal zugedacht gehabt. Doch ich hatte ihm was gepfiffen. Ich hatte dem MG die Sporen gegeben, war auf den Unheimlichen losgezischt – und hatte ihn überfahren. Aber nicht gründlich genug, denn ich hätte ihn dabei beobachten können, wie er seine Knochen auf der Straße zusammenlas. Meine Augen verengten sich, als ich voraus Polizeifahrzeuge ausmachte. Ich dachte an eine Kontrolle. Etwas ungewöhnlich zwar für diese Tageszeit und insbesondere für Schottland, aber die Jungens hatten bestimmt ihre guten Gründe. Vielleicht betankten die hiesigen Autofahrer wegen der Kälte nicht nur ihre Autos. Die Polizisten hatten es gar nicht auf mich abgesehen. Sie winkten mich vorbei. Mir war es auch lieber so, denn die Uferstraße hatte ich in unguter Erinnerung. Im Vorbeifahren sah ich, daß zwei Polizeiwagen zur Stelle waren und daß zwei Zivilisten in einem Kleintransporter herumkrochen. Ein dritter Mann hielt das unerläßliche Köfferchen mit dem Fingerabdruckbesteck. Der Transporter war vorne ganz lieblich eingedellt. Da schien irgendein Unglücksrabe einen Unfall gebastelt zu haben. Oder es lag ein Raubdelikt vor. Das war wahrscheinlicher, denn es hätte mich sehr gewundert, wenn sie wegen eines Unfalles die Kriminalpolizei und die Fingerabdruckexperten bemüht hätten. Zehn Minuten später langte ich in Balmoral an. Ich fuhr gleich zum Haus von Vilion. Ein Stück weiter sah ich meinen alten Bekannten Leod aus seinem Hof treten. Er hatte mir damals Nachtquartier in einer Kammer ge85
geben. Er stutzte, dann winkte er. Er erkannte den Wagen und mich. Ich winkte zurück. Und dabei blieb meine Hand fast in der Luft hängen. Vor Schreck. Denn Leod trug wahrhaftig auch jetzt in der beißenden Kälte seinen Kilt. Und der ging nicht weiter hinunter als bis zu den Knien. Teufel noch eins, war der Mann ein robuster Geselle! Schon der Anblick ließ mich schnattern. Hinter meinem Rücken knarrte abscheulich eine Tür. Ich wandte mich um. Doktor Vilion spähte aus seiner Haustür wie drei Wochen Regen. Ich dachte, er würde sich freuen, mich zu sehen, statt dessen machte er ein Gesicht, als hätte ich ihn auf meine eigene Beerdigung geladen. Sein Gesicht hatte ein paar Runzeln mehr bekommen, und obendrein sah er krank aus. Grau und verbraucht. Ein gutes Omen war das nicht. Ich belud mich mit Koffer und Tasche und folgte Vilions einladendem Wink. Im Haus war's anheimelnd warm. Vilion streckte mir die Hand entgegen. »Wird höchste Zeit, daß Sie kommen, Kinsey!« knurrte er mich an. Ich hatte eine freundlichere Begrüßung erwartet, schließlich war ich die ganze Nacht gefahren. Ich hatte jetzt noch das Gefühl, auf einem schwankenden Schiff zu stehen statt in seinem Wohnzimmer. »Hexen kann ich noch nicht!« versetzte ich eine Spur gereizt. In seinen alten Augen blitzte es kampflustig auf. »Versuchen Sie's immerhin mal, Kinsey! Beim einen klappt's, beim andern nie. Legen Sie ab! He, Sie haben zugenommen! Freut mich!« Ich pellte mich aus den Pullovern. Vilion grinste belustigt. »Ihr verweichlichten Südländer seid eben nichts gewöhnt!« spottete er. Es ist ein beliebter Scherz der Schotten, alles als Südländer zu bezeichnen, das südlich ihrer Grenze wohnt. Insbesondere meinen sie 86
damit die Londoner. »Ich wollte ja lebend ankommen«, verteidigte ich meine Pullover. »Haben sie was zum Anwärmen im Haus?« Er goß mir einen Dreistöckigen und sich einen Fünfstöckigen ein. »Zum Zähneputzen«, erläuterte er. Er lebte sichtlich auf, die graue ungesunde Gesichtsfarbe verschwand ganz überraschend. Sein Whisky wärmte mir angenehm Magen, Gemüt und Knochen. Ich fühlte mich allmählich wieder als Mensch. »Mit Schinken oder ohne?« fragte er mich plötzlich. »Bitte?« »Das Frühstück. Sie leisten mir doch Gesellschaft.« »Ich habe mir in Braemar schon eins gekauft.« Vilion verzog das Gesicht. »Hätten Sie die Güte, den Namen bis auf weiteres nicht zu erwähnen? Danke, Kinsey. Also mit Schinken!« Er schlurfte in die Küche. Ich hörte ihn hantieren. Der Whisky tat seine Wirkung. Ich setzte mich vor den Kamin, in dem das Holz knackte und die Flammen prasselten, streckte die Füße gegen das Gitter und schloß die Augen. Eine angenehme Müdigkeit befiel mich. Vilion rüttelte mich wach. »Ihr Jungen haltet nicht mehr viel aus«, knurrte er. »In Ihrem Alter habe ich eine Woche lang meine Patienten gezwiebelt, sieben Kinder auf die Welt geholt und jede Nacht durchgesoffen. Das waren noch Zeiten! Setzen Sie sich her, bevor das Zeug kalt wird. Ich hoffe, meine Kochkünste sagen Ihnen zu. Beschwerden sind zwecklos.« Ich haute rein. Er hatte mir einen kleinen Berg Speck gebraten, etwas Schinken und mindestens fünf Eier. Dieselbe Menge verfutterte er. Ich staunte nur noch, was in ihn hineinging. Wegen Braemar hatte er mich einigermaßen neugierig gemacht. Ich hoffte, daß er bald berichtete. Sonst mußte ich damit beginnen, ihm Löcher in den Bauch zu fragen. 87
Ich sondierte ein wenig in seinen Gedanken. Und erschrak tüchtig. Ich spürte grauenvolle Dinge. Vilion hatte ein entsetzliches Erlebnis gehabt. Genau fassen konnte ich es nicht, denn seine Gedanken purzelten förmlich durcheinander. Da konnte ich nicht folgen. So ausgeprägt und fein war meine ›Gabe‹ nun doch nicht. »Ich habe mir fast die ganze Nacht um die Ohren geschlagen«, begann er und legte die Gabel in den Teller. »Ich dachte schon, Sie wären krank«, bemerkte ich. »Es läßt sich nicht leugnen, daß ich klapprig werde, der Zahn der Zeit nagt mit Erfolg auch an mir. Hören Sie zu, Kinsey! Er berichtete, ziemlich emotionslos. Ich lauschte gebannt und unterbrach ihn mit keinem Wort. Aber mir richtete es die Haare einzeln auf. Ich hatte also richtig gelegen mit meiner Vermutung, wir hätten es mit dem Feuerdämon zu tun, der drüben im Schloß schon einmal zugeschlagen hatte. In irgendeiner Verbindung hatte er zu Laglen gestanden, das war mir jetzt absolut klar. Aus der Wallfahrt der Skelette auf einem unheiligen Kreuzweg rings um den Friedhof konnte ich mir keinen Reim machen. Aber daß der Feuerdämon offensichtlich eine Beschwörung vorgenommen hatte, darin pflichtete ich Vilion bei. Sein Bericht hörte sich gar nicht gut an. Aber es kam noch viel schlimmer. Er sprach von McKnees Frau und was die in der Nacht aus dem Zimmer ihres Mannes gehört hatte. Er erwähnte einen Dragnochty, den ich nicht kannte, und was der Mann beobachtet hatte. Und dann kam der Tiefschlag. Vilion saß da wie ein Häufchen Elend. Mindy und der Diener Richard waren seit dem vergangenen Abend spurlos verschwunden. Mit ihnen zwei Pfleger aus dem Heim in Braemar. Ihr Auto hätte man in der Nacht schon unten am Dee auf der Straße aufgefunden, aber verlassen. 88
Bei mir klingelte es. Darum die Polizisten. Es ging nicht um ein Raubdelikt. Ich war sicher, das Auto gesehen zu haben, aus dem die Pfleger Dolby und Fennicott und der in einer Zwangsjacke steckende Richard verschwunden waren. Und noch einmal klingelte es bei mir. »Wie viele Skelette in Kapuzenumhängen haben Sie gezählt, Doktor?« Er schaute mich irritiert an. »Neun, warum?« »Dann lassen Sie uns einmal anders herum zählen«, sagte ich rauh. »Der verdammte Feuerdämon benötigt Helfer. Wie es aussieht, sind sie ihm nur als Skelette von größtem Nutzen. Sie könnten schon richtig liegen mit Ihrer Vermutung, daß er eine Beschwörung versucht hat und sie wahrscheinlich wiederholt. Frage – wen will er beschwören? Über das Warum will ich lieber gar nicht erst nachdenken. Üble dunkle Machenschaften der finsteren Mächte – das ist das Ziel. Also fangen wir an. Die alte Chadwick und die Frau, bei der sie lebte – macht zwei. Burgess und der Oberpfleger Gains – sind schon vier, Mac Knee – fünf. Mindy und Richard – wir haben bereits sieben. Dazu die beiden verschwundenen Pfleger Dolby und Fennicott aus dem Heim in Braemar – wir haben die neun Skelette beisammen.« »Es ist eine grauenvolle Rechnung, Kinsey!« »Ich weiß, aber es hilft uns nicht, wenn wir vor Entsetzen erstarren. Wir müssen uns auf das einrichten, was uns die dunklen Mächte entgegenstellen. Es hört sich herzlos an, doch mit Gefühlen kommen wir nicht weiter.« Er dachte nach. Seine Stirn umwölkte sich, in seinem Gesicht sah ich Betroffenheit. Vilion litt, wie ich selten einen Menschen leiden sah. »Ich mache mir Vorwürfe«, sagte er bedrückt. »Wenn ich den Heimleiter in Braemar nicht wild gemacht hätte, wäre vielleicht gar nichts passiert. Es ist meine Schuld.« »Und meine Idee, dort überhaupt anzurufen«, sagte ich. »Es trifft Sie keinerlei Schuld, Sie haben sich nichts vorzuwerfen, Sie haben 89
Ihr Bestes getan, Doktor. Wenn ich die besonderen Umstände richtig würdige, ist Mindy aus freien Stücken aus dem Heim ausgerissen Scheinbar aus freien Stücken. Ich fürchte allerdings, daß der Dämon ihn gerufen hat und daß Mindy diesem Bann erlag. Richard wäre auch ausgebrochen, wenn ihn die Pfleger nicht daran gehindert hätten. Tragisch für Dolby und Fennicott, daß das Schicksal sie unterwegs ereilt hat. Aber es hätte sie oder andere auch im Pflegeheim selber treffen können. Denken Sie nur an Burgess und Gains im Siechenheim in Ballater.« »Ja, schon.« Er schaute mich dankbar an. Er verstand, daß ich mit ihm fühlte. Aber so einfach mit einer Handbewegung konnte und wollte er sich nicht von jeder Mitschuld freisprechen. Ich mich auch nicht. Vielleicht wäre alles gutgegangen, wenn wir die Dinge in Braemar hätten ruhen lassen. Oder es wäre alles genau so abgelaufen, wie es gekommen ist. Ich kannte die richtige Antwort nicht. Vilion goß mir Tee aus. Seine Hand zitterte stark. In diesem Augenblick schwor ich, daß ich es dem Feuerdämon heimzahlte. Ich hatte eine wunderbare und furchtbare Waffe zugleich mitgebracht, meinen Krif. »Daß der Flammenkerl die Skelettprozession auch noch um das Laglen-Haus geführt hat, und das gleich dreimal, hat doch etwas zu bedeuten«, nahm ich behutsam den Faden auf. »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Sie haben sich doch sicher auch Gedanken darüber gemacht. Erst gehen die schrecklichen Wallfahrer droben am Friedhof einen dämonischen Kreuzweg ab, singen und beten irgend etwas an, und dann kommen sie unhörbar wie Schemen herunter, umschreiten zielsicher Laglens Haus und verschwinden. Da steckt doch ein Sinn dahinter, und keiner, der mir gefällt.« Ich blickte ihn erwartungsvoll an. »Genau über diesen Punkt wollte ich mit Ihnen sprechen, Kinsey. Vielleicht gibt es da Zusammenhänge, von denen wir nicht mal zu träumen wagen.« 90
»Ganz sicher gibt es die. Laglen war ein normaler Mensch, einer mit ein paar Fehlern mehr vielleicht als andere, aber plötzlich wandte er sich dem Bösen zu, wurde der Unheimliche, wann immer er wollte, und wurde von den höllischen Mächten unterstützt. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen. – Hm, Laurina, der Name geht mir nicht aus dem Sinn. Warum hat ihn McKnees unbekannter Besucher genannt? Sie war eine Hexe und starb den Feuertod.« »Sie hat hier im Ort gelebt«, flocht Vilion ein. »Ich weiß, die ganze Gegend kam durch sie in Verruf. Sie hatte den bösen Blick, darum wurde sie auch sofort geblendet, als man sie gefangen nahm. Laglen übte für diese grausame Tat irgendwie Rache, als er seinen Opfern die Augen nahm. Vielleicht war er der verlängerte Arm der Hexe, die sich aus der Schattenwelt bemerkbar machte.« »War er der verlängerte Arm, oder ist er das noch, Kinsey?« Der Doktor schaute mich zwingend an. In dem Punkt konnte ich ihn beruhigen. »Er war es, er ist tot. Da bin ich absolut sicher. Aber wie ich die Dinge jetzt sehe, hatte er einen Helfer, eben den Feuerdämon. Und der hat zumindest Richard die Augen geblendet. Dieses höllische Wesen versucht jetzt etwas auf eigene Faust, alles deutet darauf hin. Laglen kann es nicht mehr erreichen, der ist vergangen. Aber Laurina – klar, darum fiel bei McKnee der Name!« Jetzt sah ich eine brauchbare Spur. Das konnte bedeuten, daß der Feuerdämon die Skelette darum den Bittgang auf dem dämonischen Kreuzweg hatte machen lassen, um die Hexe zu beschwören! Vilions Augen weiteten sich plötzlich. »Vielleicht hat's doch etwas zu bedeuten. Laglens Haus meine ich. Früher hat dort Laurinas Haus gestanden. Eine Wand davon kann man heute noch sehen.« »Machen Sie keine Witze, Doktor!« Mich riß es fast vom Stuhl hoch. »Doch. Der Henker mußte das Haus abbrechen, aber gleichzeitig bekam er das Privileg, hier am Ort eine Posthalterei zu errichten. Er 91
ließ eine Mauer des Hexenhauses stehen und baute daran die damalige Posthalterei. Später ist das Gebäude mehrmals umgebaut worden, aber die Mauer blieb erhalten. Durch zwei Jahrhunderte hindurch hieß im Volksmund der jeweilige Betreiber des Gasthofes samt Posthalterei nur der Hexenwirt.« Hexenwirt! Die Besitzer hatten das sicher nicht gerne gehört. Aber beim Volk haftet so etwas lange. Und ich erlebe immer wieder, daß in den alten Geschichten ein Korn Wahrheit steckt, mal mehr, mal weniger. »Das ist ein Anfang«, sagte ich zu Vilion. »Da machen wir weiter.« »Wir?« Er wirkte nicht entzückt. »Sie als Ortsautorität haben Gewicht, mit Ihnen reden die Leute eher als mit mir, ich bin ihnen fremd. Diese zwei Tage Aufenthalt hier im Frühsommer zählen nicht, und wenn es um so heikle Dinge wie Spuk und Hexenfluch geht, verhalten sich die Leute besonders zugeknöpft.« Das sah er ein. Er nickte widerstrebend. Da war noch ein Punkt, den ich klären mußte. »Wohin könnte der Feuerdämon die Skelette geführt haben, als sie so plötzlich von der Bildfläche verschwanden, Doktor?« Er hob die Achseln. »Sie überfordern mich. Ich habe dort lange gesucht. Ich hörte keine Tür gehen, nichts. Sie waren einfach fort.« »Gibt es dort unbewohnte Gebäude?« »Nein, das weiß ich genau. Ich könnte mir denken, er hat die Skelette unsichtbar gemacht.« »Mir kam es auch so vor.« »Auf die Gegend werde ich in der kommenden Nacht ein ganz besonderes Auge haben«, versprach ich. »Sie müssen mir nur den ungefähren Platz zeigen. »Sie riskieren wieder Kopf und Kragen!« »Einer muß es tun, Doktor. Und ich habe mir nun mal die Bekämpfung der finsteren Mächte zum Ziel gesetzt.« Er schaute mich an, als sei ich morgen schon tot. 92
Eine Ermunterung war das nicht. * Vilion weckte mich am frühen Nachmittag. Er hatte mich in ein Zimmer verbannt und mit strenger Miene und noch strengerer Stimme zu einigen Stunden Schlaf verdonnert. Lange gesträubt hatte ich mich nicht. Die lange Fahrt und sein Whisky hatten mich rechtschaffen müde gemacht. Und abgesehen davon braucht man für die Dämonenjagd einen klaren Kopf und eine ruhige Hand. Denn in dem Geschäft macht man einen Fehler nur einmal. Zur Wiederholung hat man keine Gelegenheit mehr. Vilion tischte mir ein Mittagessen auf, das einen schottischen Holzfäller für drei Tage satt gemacht hätte. Er schien mich für unterernährt zu halten oder London für eine Stadt, in der es nichts zu beißen und zu nagen gibt. Ich verdrückte, was ich konnte. Dann zwängte sich Vilion in einen dicken Mantel. Für die Kälte draußen war das genau das richtige Kleidungsstück. Ich hatte bloß einen gefütterten Mantel eingepackt. Kathleen hatte mir in den Ohren gelegen, und so hatte ich wieder mal zu Fortnum and Mason pilgern müssen. Für den Wintermantel hatten mir die tüchtigen Geschäftsleute mehr als vierhundert Pfund abgenommen. Kathleen hatte sich entzückt gezeigt. Nicht über den Preis, sondern über den Mantel. Und etwas anzüglich hatte sie durchblicken lassen, mit dem Ding sähe ich wenigstens nicht wie der Bettler vom Trafalgar Square aus. Ich schlüpfte in das teuere Stück und folgte Vilion. Er schleppte mich zum Friedhof über dem Ort hinauf. Der alte knorrige Bursche mußte fabelhafte Augen haben und ein sagenhaftes Erinnerungsvermögen. Er wies mir die Plätze, an denen der Feuerdämon seine Beschwörungen vorgenommen hatte, unterstützt von den Skeletten. 93
Ich schaute mir den gefrorenen Boden an. Spuren gab es nicht. Auch keine Brandflecken, wo das dämonische Feuer ins Erdreich gefahren war. Die dämonischen Kreuzwegstationen bildeten ein gewaltiges Fünfeck. Der Platz auf dem Friedhof, an dem Vilion die erste Anbetung beobachtet hatte, lag inmitten dieses Fünfecks. Ich ritzte diese Figur in stark verkleinertem Maßstab mit dem Fuß in den gefrorenen Boden und verband die Punkte mit Linien. Ich hatte mir schon so etwas gedacht. »Der Hexenstern«, sagte ich erklärend, weil mir Vilion ziemlich verständnislos zuschaute. »Ein unheilvolles Symbol. Es spielt bei gewissen Ritualen eine Rolle.« »Auch bei Beschwörungen?« »Dabei auch«, sagte ich. Mehr wollte ich nicht verraten. Mir war jetzt klar, daß der Feuerdämon Pläne hinsichtlich Laurina hatte. Die magische Zahl neun in Gestalt seiner Skeletthelfer und der Hexenstern waren eindeutige Beweise. Wenn der Dämon schon bedenkenlos harmlose Menschen in ihrer irdischen Existenzform vernichtete, wie würde da erst die Hexe Laurina wüten. Ich wagte mir das gar nicht vorzustellen. Sie würde Rache nehmen. Grausame Räche. Dagegen war das entsetzliche Treiben von Laglen direkt harmlos gewesen. Wir kehrten dem Friedhof den Rücken. Vilion zeigte mir den Platz, an dem sich die Skelette und der Dämon jeder Beobachtung entzogen hatten. Ich witterte wie ein Jagdhund und setzte meine ›Gabe‹ ein. Ich sondierte gründlich. Aber ich empfing keine andersartige Strömung. Keine Ausstrahlung des Bösen. Nur ein paar Gedanken von Vilion, der sich sanft über mich wunderte, weil ich mit geschlossenen Augen dastand und mich langsam im Kreis drehte. Hier war nichts. Ich sah, daß die Häuser in der Umgebung bewohnt waren. Zur 94
Straße hin begrenzten die Kirche und das Pfarrhaus den Platz. An einem Fenster des Pfarrhauses sah ich eine Gardine niederfallen. Jemand hatte uns beobachtet und sich vom Fenster entfernt, als er sich entdeckt glaubte! Vilion hatte es auch bemerkt. Er grinste düster. »Pater Ryans Hausdrachen«, brummte er. »Das Weib kriegt alles mit, was sich draußen abspielt.« Ich fragte ihn ein wenig über die Frau aus, weil ich auf eine Spur hoffte. Warum sollte die Haushälterin eines Pfarrers nicht in Verbindung zu den dunklen Mächten stehen, warum immer nur andere? Wie ich Vilions vorsichtigen Worten entnahm, hatte er keine hohe Meinung von der Haushälterin. Aber Umgang mit den dunklen Mächten? Niemals. Dazu war diese Laurie zu fromm. Ihre einzige dämonische Eigenschaft, ganz böse ausgedrückt, war ihre Herrschsucht und daß sie Pater Ryan nach ihrer Pfeife tanzen ließ. »Was Sie denken, Kinsey«, sagte Vilion abschließend, »ist die Frau nicht. Jemand aus der Gemeinde hat kürzlich mal gesagt, die sei sogar dem Teufel zu zänkisch, sonst hätte er sie längst geholt.« Das war grob. Aber zartbesaitete Leute sind die Schotten nie gewesen. Ich hoffte, daß sich Gelegenheit ergab, die streitbare Haushälterin kennenzulernen. Der Doktor schien meine geheimen Wünsche exakt zu erraten. »Heute abend machen wir dem Pater unsere Aufwartung. Ohne Voranmeldung. Was halten Sie davon?« »Könnte uns der Besuch weiterhelfen?« »Kaum, aber ich möchte Ryans Gesicht sehen, wenn ich ihm von der Skelettprozession erzähle.« Ich gewann den Eindruck, daß Vilion nicht nur ein guter Landarzt, sondern auch ein bemerkenswertes Schlitzohr war. Unsere Anwesenheit erregte nicht nur das Interesse der Pfarrersköchin, andere Leute guckten auch erstaunt her. 95
Ich schritt mit Vilion gewissenhaft noch einmal den Platz ab. Eine Idee, wohin der Dämon die Gerippe geführt hatte, kam mir auch dabei nicht. Aber eine Frage tat sich auf. »Doktor, woher sind die Kapuzengespenster gekommen, bevor sie auf dem Friedhof auftauchten?« Vilion schaute mich bekümmert an. »Das ist es ja, was ich nicht verstehe, Kinsey. Ich saß auf der Bank unter der Linde, und zum Einnicken war's verdammt zu kalt. Ich habe die Gruselbande aus keiner Richtung zum Friedhof kommen sehen. Sie wäre mir aber aufgefallen, das dürfen Sie mir glauben. Zuerst habe ich einen Totenstimmenchor gehört, dabei ist mir ganz anders geworden. Und dann war die Kapuzengesellschaft auch schon da – mitten auf dem Friedhof. Samt dem Geisterflämmchen. Kennen Sie Totenstimmen?« Ich kenne die, und ich wußte, was Vilion meinte. Man denkt, den Verstand zu verlieren, wenn sie ertönen. Die Vermutung, der Feuerdämon könnte seine knochigen Helfer unsichtbar machen, wurde durch Vilions Beobachtung erhärtet. Er konnte sie erscheinen und auch verschwinden lassen, wann immer er wollte oder wann er es für nützlich hielt. Ein Trost war wenigstens, daß der Feuerteufel genug Opfer und zugleich Helfer beisammen zu haben schien, denn bisher hatte er die Bewohner von Balmoral nicht behelligt. Einzige Ausnahme war der unglückliche McKnee. Falls der Dämon sich anders besann, hielt er hier mühelos reiche Ernte. Die Leute hatten keine Ahnung davon, in welch gräßlicher Gefahr sie schwebten. Bei meinem ersten Besuch hatte ich keine Zeit gehabt, mir Balmoral in Ruhe zu Gemüt zu führen. Und als ich abfuhr, hatte ich genug mit der Wunde in meiner Schulter zu tun. Zwar hatte der Doktor sie mir zusammengenäht, aber sie brannte wie Höllenfeuer. Mir war wirklich nicht danach gewesen, noch großartige Besichtigungen in Balmoral vorzunehmen. 96
Der Ort hatte seine Reize, wie ich jetzt feststellte. Und eine Menge alter Mauern. Früher schien der Totenacker gleich bei der Kirche gewesen zu sein. Das war üblich so. Jetzt war nur noch die Umfassungsmauer in Teilstücken erhalten, und die schönsten Leichensteine vom Kirchfriedhof hatte man mit Eisenklammern an der Außenseite des Gotteshauses befestigt. Hier oben in Schottland hielt sich der Industriedreck in der Luft in Grenzen, die Steine zeigten kaum Verwitterungsspuren. Ein paar Schritte vom stillgelegten Totenacker entfernt waren Bänke gemauert. In der warmen Jahreszeit luden sie zum Verweilen ein. Eine Schwarzeiche reckte ihre kahlen Äste über den Platz. An der anderen Seite befand sich ein Brunnen. Jetzt war er abgestellt, und erst hielt ich ihn auch für eine Grotte mit einer Madonnenstatue. Erst bei näherem Zusehen entdeckte ich das aus der dunklen Nische ragende Eisenrohr. Mir gefiel das Bild. Vilion hatte keine Verwendung dafür. Er stieß energisch seinen Knotenstock auf und wandte sich in eine andere Richtung. Ich folgte ihm. Unterwegs fing er von seiner magischen Mixtur zu reden an. Genau auf diese hatte ich ihn ohnehin ansprechen wollen. Sobald die Gelegenheit günstig war. Keinesfalls wollte ich mit der Tür ins Haus fallen und vielleicht den falschen Eindruck entstehen lassen, ich sei so nebenbei auch zum Schnorren gekommen. Denn das Zauberelixier, das mir Vilion vor Monaten mitgegeben hatte, war restlos aufgebraucht. Ich hörte mit Freude, daß er davon noch einen kleinen Vorrat besaß. Das machte es mir einfacher, mit ihm übers Geschäft zu reden. Ich erzählte ihm, welche guten Erfahrungen und schönen Erfolge ich mit seiner magischen Mixtur gemacht und errungen hatte. Mein Lob nahm er wie eine Huldigung entgegen. Aber dann hob er ablehnend die Hand. »Magische Mixtur höre ich nicht gerne, Kinsey. Bleiben wir beim Elixier.« 97
»Ich richte mich nach Ihren Wünschen«, sagte ich, denn ich wollte ihn mir geneigt halten. »Könnten Sie von Ihrem erwähnten Vorrat vielleicht noch mal etwas für mich abzweigen?« Er knurrte, und ich machte mich schon auf eine Ablehnung gefaßt. »Sagen Sie das doch gleich, Kinsey. Ich zapfe Ihnen nachher ein Fläschchen voll ab. Übrigens, habe ich erwähnt, daß der Flämmchengeist letzte Nacht durchs Fenster geschaut hat?« »Haben Sie nicht!« stieß ich hervor. Mir wurde es ganz anders. Wenn dem alten knorrigen Kauz etwas passiert wäre! Er ging auf meinen Vorwurf gar nicht ein. »Das war ja seltsam«, sagte er wie im Selbstgespräch, »ich habe deutlich gespürt, daß mich jemand anstarrte. Und dann sah ich das Ding vor dem Fenster schweben. Geheuer war mir das nicht, das dürfen Sie mir glauben. Ich hatte kurz zuvor für mich ein Fläschchen von dem Elixier abgefüllt und trug es in der Hosentasche. Als ich die Hand darum schloß, geriet der Flammengeist in Wut, er sauste aufgeregt am Fenster herauf und herunter und hat Geräusche von sich gegeben. Als ich dann die Hand rausnahm und so tat, als wollte ich das Fläschchen gegen das Fenster schleudern, ist das Ding mit einem hohlen Pfeifen davongezischt.« Vilion war vielleicht ein Spaßvogel! Diese Beobachtung konnte Gold wert sein. Und er redete so beiläufig darüber und rein zufällig auch noch! Das Verhalten des Flammendämons konnte bedeuten, daß ihm die magische Mixtur gefährlich war. Dann schwebte aber auch Vilion in Gefahr! Das schien der Doktor bloß noch nicht begriffen zu haben. Himmel, in der vergangenen Nacht hätten eine Menge Dinge passieren können, die mir einen Trümmerhaufen hinterlassen hätten. Auf Vilion mußte ich ein besonderes Auge haben. Er blieb vor einem Gebäude stehen, dem wir uns von der Rückseite genähert hatten. Sein Stock wies darauf. »Der Gasthof«, sagte er. »Und das ist die besagte Mauer.« 98
Ich war damals in diesem Gasthof gewesen. Von der Rückfront her kannte ich ihn nicht. Ich ging näher heran und betrachtete die Mauer. Sie war aus Feldsteinen errichtet. Die Fugen waren zum Teil wiederholt ausgemörtelt worden. Hierher also hatte der Feuerdämon die gruselige Prozession geführt. Das ergab einen eindeutigen Zusammenhang mit Laurina, der Hexe. »Heute nacht bin ich auf dem Posten!« sagte ich an Vilion gewandt. »Ich komme dem Feuerkerl schon noch auf die Schliche.« »Hoffentlich, Kinsey, bevor noch mehr passiert.« Der Doktor gab selber das Stichwort. »Ist Ihnen schon der Gedanke gekommen, daß der Dämon Sie aus dem Weg zu räumen versuchen könnte?« fragte ich. »Sie haben ein Mittel, das er offensichtlich fürchtet.« Vilion grinste düster. »Er soll nur kommen!« Dabei holte er ein braunes Fläschchen aus der Manteltasche und hielt es mir unter die Nase. »Ich bin bereit. Wann immer er will.« Mut hatte der alte knorrige Kauz ja! Ich wanderte mit ihm nach vorne auf die Dorfstraße. Gemächlich kehrten wir zum Doktorhaus zurück. »Haben Sie mal wieder von dem Müller gehört?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Es heißt, er sei in die Gegend von Glasgow gezogen, er soll da noch entfernte Verwandte haben. Nehmen wir den Tee zusammen?« »Die Einladung ist schon angenommen. Ich will eben nur noch die Leods begrüßen, Doktor.« Vilion betrat sein Haus, und ich machte einen kurzen Besuch bei meinem damaligen Gastgeber Leod. Ich brauchte ihm nichts vorzumachen, die Vorgänge in Ballater und Braemar waren ihm bekannt. Und er wußte wohl auch, daß McKnee verschwunden war. »Ich dachte mir schon, daß man Sie kommen läßt«, meinte Leod. »Und soll ich Ihnen was sagen? Ich denke, Sie sind der richtige 99
Mann dafür.« Von Vorschußlorbeeren hielt ich gar nichts, darum wehrte ich ab. »Ich sehe mich nur erst mal um«, erklärte ich ausweichend. »Seltsam sind die Vorgänge ja schon.« Wir redeten dann von weniger verfänglichen Dingen, und schließlich kehrte ich zu Vilion zurück. Er hatte den Tee fertig. »Wollen Sie sich noch etwas hinlegen?« bot er mir an. »Die Nacht kann verdammt lang und kalt werden.« »Die Absicht habe ich nicht. Ich wollte noch nach Ballater rüber ins Siechenheim. Fahren Sie mit?« »In Ihrem bereiften Schuhkarton? Danke, Kinsey, ich habe einmal drin gesessen. War zu eng, hat mich ständig an einen Sarg erinnert. Fahren Sie nur allein los.« Er stellte mir ein braunes Fläschchen neben die Teetasse. »Danke, Doktor!« Ich steckte die magische Mixtur sofort in die Tasche. Was ich hatte, hatte ich. »Und nach Braemar reicht es vielleicht auch noch«, fuhr ich fort. »Ich will mit den Augenzeugen sprechen, ich will nichts übersehen, das vielleicht wichtig werden kann.« Vilion goß mir noch einen Tee ein. Zehn Minuten später holte ich meine Tasche mit meinen bescheidenen magischen Utensilien und fuhr nach Ballater rüber. * Ich sprach mit einem Pfleger namens Wolver. Er hatte das schwebende Flämmchen und die zwei Gerippe mehr oder weniger aus der Nähe gesehen. Daß ich mich für die Sache interessierte und er darin die Hauptrolle spielte, ließ ihn zur Hochform auflaufen. Ich merkte sehr schnell, daß er seine Geschichte recht eigenwillig ausschmückte. Ein paar Stichfragen zu Dingen, die er nur gestreift hatte, bestätigten meine Annahme. Er flunkerte. 100
Von glühenden Augen, die er den Gerippen andichten wollte, keine Spur. Ich verabschiedete mich schon bald. Der Besuch hatte sich nicht gelohnt. Ich wollte aber auf Braemar keineswegs verzichten. Vielleicht ergab sich da ein Anhaltspunkt. Auf dem Weg dahin mußte ich Balmoral passieren. Es war noch ein gutes Stück bis zum Abend hin. Dennoch fiel mir sofort Wolvers Flunkergeschichte von den glühenden Augen ein, als ich hinter Balmoral zwei grüne Lichter aus einem verfilzten Gestrüpp neben der Straße funkeln sah. Ich war sofort alarmiert. Aus der Nähe sah ich dann, daß ein Tier dort im Gestrüpp kauerte. Ich dachte an einen Hund. Weil es so groß war. Bis mir dann einfiel, daß Hundeaugen nicht grün schimmern. Die eben hatten das aber getan. Das war typisch für Wolfsaugen. Ich war schon ein ganz hübsches Stück vorbeigebraust, als mir einfiel, daß es auch in Schottland längst keine wildlebenden Wölfe mehr gab. Das fand ich nun wirklich seltsam. Ich bremste, hebelte gefühlvoll den Rückwärtsgang ein und ließ den MG zurückschnurren. Die Sache wurde noch rätselhafter, als ich an der Stelle weder einen Wolf noch einen Hund oder sonst ein Tier vorfand und auch keinen verfilzten Dornbusch. Sicherheitshalber fuhr ich noch einige hundert Wagenlängen zurück. Nichts! Und das war auch nicht die Umgebung, in der ich die zwei grünen Lichter hatte schimmern sehen. Die Sache wurde immer geheimnisvoller. Schön, ich war in Gedanken gewesen, aber ich hatte mir doch nicht etwas eingebildet, das es überhaupt nicht gab! Langsam fuhr ich die Strecke ab. 101
Und da fand ich den Platz. Hinter dem Dorngestrüpp hatte ich einen Baum registriert, dessen Stamm sich in Kopfhöhe teilte. Und davor hatte ein Begrenzungspfahl mit Reflektionsplatte gesteckt. Der Baum war da. Auch der Begrenzungspfahl. Bloß der verdammte Busch nicht. Ich war vorsichtig, ich traute der Geschichte nicht. Aber ich stieg dennoch aus. Und das war das Dümmste, was ich tun konnte. Das merkte ich gleich. Ich war noch keine zehn Schritte vom MG weg, als ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ich schnellte herum – und da kauerte er! Der größte Wolf, den ich je gesehen hatte! Bei mir klickte es. Das war ein Geisterwolf. Dieses mächtige Tier hätte ich niemals übersehen. Es war erst sichtbar geworden, als ich den Wagen verlassen hatte. Trotz der beißenden Kälte wurde mir heiß. Ich hatte meine Tasche im Wagen gelassen! Der Wolf schien Bescheid zu wissen, denn er schob sich zwischen MG und mich. Er schnitt mir den Rückweg ab. Ich möchte schwören, daß er mich höhnisch anstarrte. Er hatte mich überlistet – mit dem ältesten Trick, mit dem Eva im Paradies schon Adam geleimt hatte. Er hatte mich neugierig gemacht, und ich hatte konsequent reagiert. Ohne daß ich ein Angriffssignal erkennen konnte, sprang er mit einem gewaltigen Satz auf mich los. Ich schnellte mich beiseite. Der gefrorene Boden war nicht günstig. Meine Schuhe rutschten weg, ich flog der Länge nach hin. In einer instinktiven Reaktion begann ich auf allen vieren zu krabbeln. Das rettete mich. An der Stelle, an der ich gestürzt war, landete der Wolf mit einem scharfen Fauchen. Sofort warf er sich herum. Er griff schon wieder an. 102
Jetzt war ich überzeugt, es mit keinem echten Wolf zu schaffen zu haben. Der hätte sich niemals so verhalten. Wölfe sind von Natur aus scheu und meiden auch die Nähe von Ortschaften. Ich schnellte auf die Füße und sah ihn schon wieder durch die Luft heranfliegen. Mit einem Handkantenschlag traf ich ihn hinter den Ohren. Ich hoffte, daß ihn das vertrieb. Er flog haarscharf an mir vorbei, prallte auf die Böschung und starrte mich aus seinen grünlichen Lichtern abschätzend und irgendwie nachdenklich an.. Dann knurrte er, schob sich näher und setzte zum nächsten Sprung an. Ich erkannte die Finte. Statt zu springen schoß er mit aufgerissenem Fang gegen meine Beine vor. Ich empfing ihn mit einem Fußtritt auf die Schnauze. Auch jetzt verhielt er sich untypisch. Er jaulte nicht, er duckte sich nicht an den Boden, er schnellte beiseite und versuchte von dort her, seine mörderischen Zähne in eines meiner Beine zu schlagen. Von einem Geisterwolf gebissen zu werden war nicht das, was ich mir an diesem Tag wünschte. Ich holte drohend mit dem Fuß aus, sprang dann aber aus dem Stand zurück und kam dem MG näher. Der Wolf durchschaute meine Absicht sofort, drückte sich um mich herum und schnitt mir wieder den Weg ab. Ich schwitzte bereits. Die Sache konnte für mich nicht gut ausgehen. Zum Teufel überhaupt, wer hatte mir den Wolf auf den Hals gehetzt? Hieß das, die dunklen Mächte, die hinter dem Feuerdämon und den Skeletten steckten, hatten mich ausgemacht, hatten erkannt, daß ich ihnen gefährlich werden konnte? Es sah ganz danach aus. Ich ging im Bruchteil einer Sekunde das durch, was ich je im Zusammenhang mit den jetzigen Vorgängen und mit den Ereignissen 103
im Frühsommer gehört hatte. Von einem Wolf war nie die Rede gewesen. Ein Gefühl sagte mir indes, daß diese Bestie eine Aufmerksamkeit der finsteren Mächte war, gegen die ich kämpfte. Es war keine Warnung. Man wollte mich aus dem Weg haben. Ohne Augenzeugen. Meine Automatic steckte ebenfalls in der Tasche im Wagen. Ich hätte mit den Kugeln gegen den Geisterwolf zwar nichts ausrichten können, aber ich hätte Lärm gemacht, und der hätte bestimmt jemanden angelockt. Der Wolf schob sich rückwärts gegen den MG, als wollte er Besitz von meinem Wagen ergreifen und mich für alle Zeit aussperren. Kaum machte ich zwei Schritte zur Straße hin, sprang die Bestie mit ungeheuerem Schwung auf mich los. Ich traf mit dem Handkantenschlag nicht richtig, spürte einen mörderischen Anprall gegen die Brust und flog rücklings die Straßenböschung hinab. Mit einem triumphierenden Fauchen kam der Wolf hinterdrein. Er stürzte sich auf mich, bevor ich auch nur auf den Knien war. Sein Mordgebiß schnappte nach meiner Kehle. Und da roch ich es! Der typische stinkende Höllenodem quoll aus seinem Rachen und fuhr mir ins Gesicht. Ich riß instinktiv die Arme hoch und schützte Gesicht und Hals. Zu meinem Glück bekam das Höllenvieh nur den Stoffärmel meines Mantels zu packen. Und da fiel mir Vilions magische Mixtur ein. Die hatte ich doch in der Hosentasche. Bloß wie drankommen? Ich riß die Beine an den Körper und stieß mit Macht in den Leib der Teufelsbestie. Das Vieh jaulte auf, ließ aber nicht los. In den grünlich schimmernden Augen sah ich den festen Vorsatz zum Töten. Ich mußte ausgeschaltet werden, klar. Das hatte ich auch begriffen. Ich versuchte noch einmal, den Geisterwolf von mir herunterzu104
schleudern. Und dabei schaffte ich es, die rechte Hand unter den Mantel und in die Hosentasche zu bringen. Es war ein höllisch gefährlicher Moment. Meine Kehle lag ungeschützt. Aber das Höllenvieh nützte seine Chance nicht. Ich riß die Hand hoch. Allein der Anblick des Fläschchens reichte aus, um den Wolf erschaudern zu lassen. Glaubte ich jedenfalls. Ich spürte sein Zittern. Aber dann ließ er meinen Mantelärmel los und schnappte nach meiner Hand, die das Fläschchen hielt. Ich riß die Hand weg. Mir wurde es zur Abwechslung kalt bis ins Knochenmark. Die magische Mixtur erschreckte das Höllenvieh nicht! Ich hing am Leben und handelte aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Ich bekam noch einmal die Füße unter den Leib der Bestie. Und diesmal konnte ich sie im hohen Bogen von mir wegschleudern. Ich war aufgedreht wie eine Uhr. Ich schnellte hoch, während der Wolf noch durch die Luft sauste, und spurtete mit verzweifelter Anstrengung die Böschung hinauf. Wenn ich jetzt auf dem gefrorenen Boden ausglitt, dann war alles zu spät. Dann konnte mich mein Chef von der Gehaltsliste streichen. Wie durch ein Wunder rutschte ich nicht aus. Ich erreichte den MG und warf mich hinein. Der Geisterwolf tauchte wie von einem Katapult geschossen am Rand der Böschung auf. Ich hatte etwas mehr Glück gehabt als er. Er starrte mich an. Überlegend, als sei er unentschlossen, ob er auf mein Auto springen sollte. Dann verschwand er. Er löste sich einfach auf. Ich sah nicht mal ein Flimmern in der eiskalten Luft. Das war der letzte Beweis, daß ich es mit übersinnlichen und keineswegs guten Mächten zu schaffen hatte. Aber der Plan, mich auszuschalten, war mißglückt. Ich sicherte die Tür und steckte mir erst mal eine Zigarette an. 105
Dann betrachtete ich das Fläschchen, das die magische Mixtur enthielt. Himmel, sollte sie wirklich nicht gegen diese Kräfte helfen, die hier am Werk waren? Ich geriet darüber nicht in Panik, ich hatte ja noch den Krif. Ein Glück, daß ich ihn nicht Sir Horatio überlassen hatte. Nach ein paar Minuten hatte ich mich soweit beruhigt, daß ich weiterfahren konnte. Mein Mantel war schmutzig geworden. Außer ein paar Zahnlöchern im Ärmelstoff hatte er sonst aber nichts abbekommen. Als ich nach Braemar hineinfuhr, war ich wieder ganz in Ordnung. Zwischenfälle wie der eben brachte mein Geschäft mit sich. * Die Unterredung mit dem Heimleiter war unergiebig. Der Mann zeigte mir die Eisentür, die Mindy verbogen und aus der Wand gerissen hatte. Sie stand in der Heimwerkstatt. Inzwischen war eine neue eingesetzt. Von Dolby und Fennicott hatte er noch nichts gehört, und auch die Polizei hatte noch keine Spur der Verschwundenen entdeckt. Ich hätte ihm sagen können, was aus ihnen geworden war, aber ich hielt den Mund. Erst als ich mich verabschiedete, ging ihm auf, daß ich eigentlich gar nicht befugt war, ihm solche Fragen zu stellen. Meinte er jedenfalls. Ich sagte ihm lediglich, ich sei wegen der Vorfälle aus London hergebeten worden. »Kann jeder sagen!« Er musterte mich wie einen Hochstapler. »Doktor Vilion kennen Sie doch?« Er zuckte zusammen. »Ja, und ich wünschte, ich hätte ihn nie kennengelernt.« »Bei dem wohne ich.« Damit ließ ich ihn stehen und verließ das Heim, bevor er seine Pfleger zusammentrommelte und mir daraus noch Ungelegenheiten erwuchsen. 106
Auf der Herfahrt hatte ich keine Polizeiwagen und auch den Kleintransporter nicht mehr gesehen. Klar, damit konnten sich die Ordnungshüter ja nicht einen ganzen Tag lang aufhalten. Ich passierte wieder die Stelle, wo mich der Geisterwolf zu meiner Dummheit verleitet hatte. Ich paßte haarscharf auf, ob sich die dunklen Mächte einen neuen Trick einfallen ließen. Es passierte nichts. Ich kam ungeschoren nach Balmoral. Vilion hatte in der Küche schon ein Abendessen vorbereitet. Mir war der Appetit vergangen. Ich sprach mit ihm über meine Begegnung mit dem Höllenvieh. Insgeheim hatte ich damit gerechnet, daß er aus der Fassung geraten könnte. Seine Reaktion erstaunte mich. Er brummte nur, und ich will mich hängen lassen, wenn es nicht auch noch zustimmend klang. »Zum Teufel, Doktor, ist dieser Wolf etwa in der hiesigen Gegend bekannt?« platzte ich heraus. »Nicht so laut«, dämpfte er meinen Unmut. »Sagen wir mal so, er ist nicht allgemein bekannt. Als sie Wolf sagten, ist mir was eingefallen. Laurina hatte einen Wolf als Begleiter. Als man sie gefangennahm, war das Tief nicht aufzufinden. Man nahm an, es sei im allgemeinen Tumult in die Wälder entlaufen.« Ich guckte ihn an und wurde leicht nervös. Vilion wußte ja verdammt genau Bescheid. »Waren Sie dabei?« fragte ich nicht gerade sanftmütig. Er winkte ab. »Es, gab mal eine Zeit, da habe ich mich für diese Dinge interessiert. Und bevor ich meine Niederlassung hier aufschlug, habe ich mich erst mal mit Balmoral und seiner Geschichte befaßt. Der Hexenprozeß gegen ihn. Ich bin nach Edinburgh gefahren und habe mir die Prozeßakten angesehen. Die sind nämlich noch erhalten und fast komplett vorhanden. In den Beschuldigungen gegen die Hexe kam immer wieder der Wolf vor. Die Beschuldigungen haben Leute erhoben, die den Wolf selber gesehen haben. Die Hexe hat nichts zugegeben. Sogar unter der Folter hat sie geschwiegen. Es wurde ihr als besondere Verstocktheit ausgelegt. Ihr 107
Prozeß dauerte nur fünf Tage. Das Ende ist Ihnen ja bekannt.« Das waren ja schöne Neuigkeiten, die er mir zum Abendbrot servierte! Den Wolf hatte es damals also wirklich gegeben. Und jetzt war er in höllischer Gestalt zurückgekehrt! Ich hatte das beklemmende Gefühl, daß Laurina auch nicht mehr weit sein konnte. Der verdammte Feuerdämon schien doch sein Handwerk zu verstehen. Ich glaubte nichts anderes, als daß es ihm mit seinen schwarzmagischen Anbetungen bereits gelungen war, den Wolf bei der Schattenwelt auszulösen und in unsere Welt herüberzuschaffen. Sein nächster Schritt war vorgezeichnet. Jetzt wollte er Laurina auslösen! Wenn mir nichts einfiel, vollendete er diese Absicht. Vilion saß mir gegenüber und schmauste behaglich. Er sah zufrieden aus. Ich war es nicht. Aus vielerlei Gründen. »Auf das Zauberelixier sollten wir uns nicht verlassen«, sagte ich, nachdem ich mir die Worte zurechtgelegt hatte. Ich wollte Vilion nicht weh tun und die Wirkung seiner magischen Mixtur in Zweifel ziehen, aber ich mußte ihm reinen Wein einschenken. Nicht, daß es ihm so erging wie mir. »Auf einmal?« Er verlor die Ruhe nicht. Ich berichtete, was ich ihm vorhin verschwiegen hatte. Gern hörte er es nicht. Ich klebte ihm ein Trostpflaster auf die Wunde. »Mit dem Elixier habe ich bisher die besten Erfahrungen gemacht, das sagte ich schon. Aber bei den Mächten und Erscheinungen, die hier am Werk sind, wirkt es offenbar nicht, zumindest nicht bei dem Geisterwolf.« »So?« gellte er mich an. »Und warum ist der Flämmchenteufel dann so unruhig an meinem Fenster herumgesaust?« Das war der unlogische Punkt. »Ich verstehe es nicht, Doktor«, bekannte ich. »Vielleicht trifft meine Befürchtung nur auf den Wolf zu.« 108
Ich wollte mich aber besser nicht darauf verlassen. Vilion war irgendwie verstimmt wie ein Klavier im Regen. Er brütete vor sich hin. Draußen sank der Abend nieder. Der Doktor erhob sich plötzlich. Ich trug das Geschirr in die Küche und setzte Wasser auf. Einer mußte ja den Abwasch machen. Vilion ging hinaus und kam mit einem Arm voll Kaminholz zurück. »Wird wieder eine lausig kalte Nacht, und es riecht überhaupt nicht nach Schnee! Soll ich Ihnen eine Kanne Tee mitgeben?« »Jetzt schon? Ich dachte, wir besuchen noch den Pater.« Er sagte nichts, er trocknete nur ab. Als wir gemeinsam das Geschirr einräumten, faßte er mich ins Auge. »Gehen Sie nicht zu sehr in die Einzelheiten, Ryan glaubt nicht an Dämonenspuk und all das Zeug. Nur daß es den leibhaftigen Teufel gibt, davon ist er von Amts wegen überzeugt.« Ich nahm mir vor, diese Warnung zu beherzigen. Auf dem kurzen Weg hinüber zum Pfarrhaus biß uns die Kälte tüchtig in die Nase. Das führte gleich zu einem Mißverständnis. Denn die Nasen waren beachtlich gerötet, als wir von der Haushälterin eingelassen wurden. Die Frau maß Vilion mit einem kriegerischen Blick, und dann legte sie alle Verachtung hinein, die sie aufbringen konnte. Mich sah sie nicht freundlicher an. Immerhin hatte sie ein paar Worte für mich übrig. »Hat er Sie zum Saufen mitgebracht?« Mit diesen Worten griff sie ein dickes Wolltuch vom Haken, schlang es sich um die Schulter und verließ das Haus. Vilion grinste hinter ihr her. »Ich bin ein Sünder, und es könnte sie die Seligkeit kosten, wenn sie länger als nötig mit mir unter einem Dach weilt! Geben Sie nichts drum, jeder spinnt auf seine Art.« Pater Ryan hörte die Stimme und kam in den Flur. Er schüttelte Vilion und mir die Hand und schaute zum Wandhaken, wo seine 109
Haushälterin das Wolltuch abgenommen hatte. Er seufzte, und es klang mächtig erleichtert. »Ich habe Sie kommen sehen, junger Mann«, wandte er sich an mich. »Man hat Sie wieder bemüht, nicht wahr?« »Diese – diese Vorgänge kann man ja nicht auf sich beruhen lassen«, sagte ich mehr allgemein eingedenk Vilions Warnung. »Eine schreckliche Strafe des Himmels.« Der Gottesmann sah die Dinge etwas anders. Aber das war auch eine Möglichkeit. Er bat uns in seine Wohnstube. Die Einrichtung war schlicht und verriet irgendwie die Hand seiner streitbaren Haushälterin. Pater Ryan schloß eine Truhe auf und nahm eine Flasche heraus. »Sie nehmen doch auch einen?« fragte er mich. »Bestimmt.« Ich dachte nämlich an die kalte Nacht. Das Zeug war gut und alt. Ich klopfte mir eine Zigarette aus der Packung und schaute mich nach einem Aschenbecher um. Pater Ryan bekam einen entsetzten Blick. »Besser, Sie verzichten auf Ihren gewohnten Genuß! Meine Haushälterin ist gerade im Punkt Rauchen sehr eigen.« Ich schob die Zigaretten in die Packung zurück. Die Dame schien in vielen Punkten eigen zu sein. Ungelegenheiten bereiten wollte ich ihm natürlich nicht. Er mußte mit seinem Drachen auskommen, nicht ich. Er wollte wissen, in welche Richtung meine Vermutungen gingen. Ich hielt mich mit der Auskunft zurück. Soweit ich verstand, hatte Vilion ihm nichts von der unheimlichen Prozession der Skelette erzählt. »Ich war erst mal in Ballater und Braemar.« »Ist es nicht schrecklich, daß alle Erblindeten spurlos verschwunden sind?« Ich hätte ihm die korrekte Antwort geben können. Vilion blickte mich zwingend an, und ich hielt den Mund. Pater Ryan nahm einen Schluck. Langsam wischte er sich den Mund ab. 110
»Ob die Polizei schon eine Spur von den Pflegern gefunden hat?« »Hat sie nicht«, sagte ich. »Der Heimleiter teilte es mir mit. Er ist in großer Sorge.« »Unsere Polizei ist sehr tüchtig«, meinte Ryan, aber es hörte sich an, als wollte er sich selber beruhigen. »Sie werden mit ihr zusammenarbeiten?« Er hatte mich im Frühsommer irgendwo bei der Kriminalpolizei eingestuft. Ich wollte ihm diesen Glauben nicht nehmen. »Es wird sich ergeben«, sagte ich ausweichend. »Vielleicht komme ich auch alleine weiter.« »Es sind Gerüchte im Umlauf. Die Leute reden von Spuk. Das ist lästerlich.« Er sah die Dinge zu eng. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas anderes dachte, als er sagte. Vilion hielt sich heraus. Es bereitete ihm Vergnügen, zuzusehen, wie Pater Ryan versuchte, etwas aus mir herauszuquetschen, und wie ich Klimmzüge machte, um an einer klaren Aussage vorbeizukommen. Der Gottesmann goß mir den zweiten Whisky ein. Das Glas lief über. Ich war irritiert und wollte ihn auf sein Versehen aufmerksam machen. Da kriegte ich mit, daß er gar nicht auf Flasche und Glas schaute, sondern aus dem Fenster starrte. Und dann begann er zu zittern. »Vilion!« klang es krächzend aus seinem Mund. Der Doktor hatte keine Eile und schraubte sich gemächlich aus dem abgewetzten Ledersessel hoch. Er blickte aus dem Fenster – und stieß einen wüsten Fluch aus. Ich schnellte hoch. Ich mußte sehen, was die zwei alten Herren derart aus der Fassung brachte. Hinter den Fenstern von Vilions Haus zuckte roter Feuerschein! * � 111
Mein erster Gedanke galt meiner Tasche mit allen meinen Hilfsmitteln. Sie war drüben im Haus! Ich sauste schon zur Tür. Verdammt, hatte Vilion nicht aufgepaßt, als er Holz in den Kamin gelegt hatte? Oder hatte ich in der Küche die Heizplatte eingeschaltet gelassen? Das sah nach Feuer aus. Und gar nicht wenig. Ich ließ meinen Mantel im Pfarrhaus und sprintete los. Nach einer ganzen Weile erst hörte ich die aufgeregten Rufe von Doktor Vilion und Pater Ryan. Und auch andere. Die Nachbarn wurden aufmerksam. Ich stieß die verzogene Haustür auf – und prallte zurück. Mir hätte dicker Qualm entgegenquellen müssen. Es roch aber nur etwas brenzlig. Und wo ich eine Feuerwand zu sehen erwartete, gähnte nur Schwärze. Die Sache gefiel mir nicht. Im selben Augenblick hörte ich ein böses dämonisches Lachen. Dann klirrte Glas und prasselte außerhalb des Hauses auf gefrorenen Boden. Ich warf mich förmlich aus der Haustür und sprintete zur Hausecke. Gerade noch sah ich eine schauderhafte Lichterscheinung zusammenschnurren wie einen Luftballon, dem die Puste ausgeht. Der Feuerdämon! Ich hatte mir nach Vilions Schilderung ein ungefähres Bild gemacht, aber selbst das wurde von der Wirklichkeit in den Schatten gestellt. Der Dämon war eine Ausgeburt an Scheußlichkeit. Flammende Haare standen um seinen Schädel, die Augen sprühten Blitze, aus dem Feuermaul schossen Flammenbündel. Der Feuerdämon war ungefähr so groß wie ein Mensch. Sein Rumpf war nicht besonders ausgebildet, ich fand ihn eigentlich formlos. Aber Arme hatte das höllische Wesen. Sie fuchtelten her112
um. Dieses Bild nahm ich im Bruchteil eines Augenblicks auf. Dann war der Dämon schon verschwunden, und an seiner Stelle schwebte ein leises harmloses Flämmchen durch die Frostnacht davon. Ein trügerisches Bild. Ich registrierte zwei Dinge gleichzeitig – der Dämon war aus einem zerbrochenen Fenster gekommen, und er war geschwebt. Er hatte den Boden gar nicht berührt. Ich merkte mir die Richtung, die das Flämmchen eingeschlagen hatte. Der Friedhof! Da wollte ich heute ohnehin noch hinauf. Ich hörte Vilion und Pater Ryan eintreffen. Sie eilten ins Haus. Der Doktor schaltete das Licht ein. Es brannte einwandfrei. Kein Kurzschluß, wie er unweigerlich die Folge eines Brandes gewesen wäre. Ich lief hinter den beiden drein. Vilion stieß sämtliche Türen auf. Aus keinem Raum drang roter Feuerschein heraus. Nirgendwo lohten Flammen bis zur Decke hinauf. Dabei hatten wir alle drei den Feuerschein gesehen! Nur aus dem Raum, in dem Vilion sein kleines Labor unterhielt, stank es nach Rauch. Aber mehr noch nach Lösungsmitteln und anderer Chemie. Vilion knipste das Licht an und knurrte ergrimmt. Der Raum sah aus, als sei eine Bombe explodiert. Regale waren umgestürzt, zerbrochene Flaschen lagen in dunklen Lachen am Boden, der Schreibtisch war zertrümmert und brannte noch. Von ihm rührte der Rauch. Ich sah, daß das Fenster zerbrochen war. Es lagen Scherben im Raum. Hier war der Dämon eingedrungen, und er war auch wieder zum Fenster hinausgefahren und hatte den Rest des Glases mit hinausgerissen. Ich griff mir die brennenden Schreibtischteile und schleppte sie 113
ins Wohnzimmer. Im Kamin waren sie gut aufgehoben und gaben wenigstens noch an der richtigen Stelle Hitze ab. Vilion erkannte die Gefahr ebenfalls. Die ausgelaufenen Lösungsmittel entwickelten Dämpfe, und die konnten sich am offenen Feuer im Haus entzünden. Wenn wir Glück hatten, blies es uns nur zur Haustür hinaus. Wenn nicht, klebte uns der Explosionsdruck an die nächste Wand, oder das zusammenbrechende Haus fiel uns auf die Birne. Von der Haustür her hörte ich aufgeregte Stimmen. »Schnell, Pater Ryan, halten Sie uns die Leute vom Hals!« sagte ich keuchend. »Erzählen Sie irgend etwas.« Mit blassem Gesicht eilte der Gottesmann an mir vorbei. Vilion zog mich in sein zerstörtes Labor und drückte die Tür zu. So blieben wir unter uns – die Dämpfe eingeschlossen. »Neutralisieren!« knurrte der Doktor. Er holte einen Sack aus einem Schrank und stäubte Pulver über die Lachen. »So eine Schweinerei!« wetterte er. Das Pulver band eine Menge der Flüssigkeit. Die Konzentration der Dämpfe ließ nach. Wir schafften Platz und fegten Scherben und Trümmer und vollgesaugtes Pulver zusammen und trugen es in Eimern hinter das Haus. Auf der Straße redeten immer noch Leute. Wie es klang, war auch noch Pater Ryan da. Ich baute auf die grimmige Kälte. Nichts ist nützlicher, um Neugierige zu vertreiben, als eine eiskalte Winternacht. Allmählich bekamen wir Ordnung in den Raum. Vilion hatte ein rotes Gesicht bekommen. Er legte den Kopf schief. »Ihre schöne Theorie taugt nichts«, sagte er schließlich. »Wegen der Unwirksamkeit meines Elixiers.« Er deutete auf ein umgestürztes Regal. »Hier hatte ich meinen Vorrat verwahrt. Und im Schreibtisch die alten Bücher und Schriften.« Es regte ihn überhaupt nicht auf. 114
»Dann ist es vernichtet!« sagte ich. Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich hatte gleich so was in der Nase, Kinsey. Der Feuerteufel hat mich beobachtet, also wußte er, wo das Zeug steckt. Als er aber weg war, habe ich alles an einen anderen Ort gebracht. Mich legt auch ein Feuergeist nicht herein, wetten? Jetzt frage ich Sie, warum zerstört der Kerl das Elixier und die Bücher, wenn ihm meine Mischung nichts anhaben kann?« Darauf wußte ich keine Antwort. Ich verstand es nämlich nicht. »Wird schön kalt werden«, meinte Vilion mit einem Blick auf das zerstörte Fenster. »Haben Sie ihn noch gesehen?« »In beiden Zustandsformen. Als flammender Unhold und als Flämmchen. Kam mir vor, als sei er zum Friedhof rauf. Ich schätze, ich muß ihn fragen, ob er sich vor dem Elixier fürchtet oder ob er die Zerstörung nur zum Vergnügen angerichtet hat.« Vilions scharfer Blick ruhte auf mir. »Sie wollen also wirklich rauf?« »Jetzt erst recht.« * Ich stellte meine Tasche geöffnet auf die Bank und hielt mißtrauisch Ausschau. Mein Abenteuer mit dem Höllenwolf steckte mir doch mehr in den Knochen, als ich mir eingestehen wollte. Aber das Biest war nicht in der Nähe. Drunten im Ort waren immer noch Leute auf der Straße. Trotz der Kälte. Diese Schotten hielten eine Menge aus. Ich sah die Gestalten vor Vilions Haus ganz deutlich. Um keine Neugierigen hinter mir herzulocken, hatte ich den rückwärtigen Ausgang genommen und war unbemerkt zum Friedhof heraufgestiegen. Ich bereute, die Kanne Tee abgelehnt zu haben, die Vilion mir hatte mitgeben wollen. Denn nach kurzer Zeit schon kroch mir die Kälte in den Körper. 115
Ich hörte die Uhr vom Turm der Kirche schlagen. Bis Mitternacht waren es noch zwei Stunden. Vilion hatte mir gesagt, darauf sei aber kein Verlaß. Es hatte unzufrieden geklungen, irgendwie, als sei nicht nur die Natur weltweit in einem beklagenswerten Zustand, sondern als seien auch die Sitten der Geister und Gespenster im Zuge der modernen Zeit recht locker geworden. So gesehen hatte Vilion schon recht. Gespenster, die noch etwas auf sich hielten, spukten in der dafür vorgesehenen Zeit – nämlich von Mitternacht bis ein Uhr früh. Dann war Schluß und Ruhe. Aber Gespenster wären harmlose Erscheinungen im Vergleich zu den Geschöpfen des Schattenreiches, der dunklen Welten und was es da noch gab. Und hier trieb ein Dämon sein Unwesen. Unterstützt von neun Skeletten. Und von einem Höllenwolf. Ich wollte mir gerade die Füße warm treten, als ich Gesang hörte. Ich war darauf vorbereitet, und dennoch zog es mir die Haut zwischen den Schulterblättern zusammen. Der Totenstimmenchor erhob sich! Ich langte den Krif aus der Tasche und wartete. Über den Ablauf der schwarzmagischen Anbetung auf dem dämonischen Kreuzweg war ich durch Vilion bestens unterrichtet. Und da tauchte die schaurige Prozession auch schon auf. Sie wanderte mitten über den Friedhof. Das Flämmchen schwebte vorneweg. Die Pilgerstöcke erregten sofort mein Interesse. Ein Schauder kam mich an. Diese Querhölzer, die im ungewissen Sternenlicht wie Sensenblätter aussahen, waren nichts anderes als schlimme Symbole zur Beschwörung Satans! Wollte der Feuerdämon den Teufel selber aus der Hölle locken? Dazu bedurfte es mehr. Ihm ging es ja um Laurina, wenn ich nicht gewaltig auf dem Holzweg war. Diese Symbole, der dämonische Kreuzweg, die Art der Anbetung – das waren Indizien dafür, daß die Hexe damals zur Hölle gefahren war. Oder in eine jenseitige Welt, die auf einer Stufe 116
mit der Hölle stand. Da hatte ich mich ja wieder auf etwas eingelassen! Ich beobachtete erst mal. Das Flämmchen verwandelte sich in den Feuerdämon, die Kapuzengerippe bildeten den Kreis, und dann erfolgte mit beschwörenden Lauten die schwarzmagische Anbetung. Die Worte verstand ich so wenig, wie Vilion sie verstanden hatte. Ich merkte mir genau den Platz. Ein paar Grabmale dienten mir als Orientierungshilfe. Der Ort der ersten Anbetung war zugleich auch der Mittelpunkt des Hexensternes. Er war das Herz der bösen Mächteballung. Vielleicht konnte ich die unsichtbaren Kräfte sprengen oder sonstwie zerstören. Jetzt setzte sich die Prozession wieder in Bewegung, die greinenden Totenstimmen drangen unter den Kapuzen hervor. Aber da wandelten keine Untoten, wie ich sie kannte, sondern Gerippe, die in der Lage waren, durch schwärzesten Zauber die Sprache der Untoten zu gebrauchen. Das eiserne Friedhofstor knarrte durchdringend, die Wallfahrer kamen im klappernden Takt heraus. In der Verlängerung der rechten Friedhofsecke mußte sich die zweite Kreuzwegstation befinden. Ich machte mich bereit. Das Flämmchen wandelte sich wieder zum Feuerdämon. Diesmal sah ich ihn von vorne. Es war der Unhold, den ich aus dem Fenster von Vilions Haus hatte schweben sehen und der so schaurig gelacht hatte. Ich setzte mich in Bewegung. Ich hatte Sorge, meine Schritte auf dem gefrorenen Boden könnten zu hören sein. Aber der klagende Chor übertönte das Krachen unter meinen Schuhsohlen. Ich hatte den richtigen Zeitpunkt erwischt. Der Dämon war wieder ganz in die Anbetung versunken und schickte grelle Flammenbündel aus seinen Händen ins Erdreich. Ich lauschte mit einiger Beklemmung. Rumorte es nicht schon in der Tiefe? Klang da nicht ein verhaltenes Grollen auf? 117
Ich bildete es mir nur ein. Die Erde schwieg. Die Flammenstöße aus den Feuerhänden des Dämons wurden gewaltiger. Er gab sich ganz seinem Geschäft hin. Ich setzte meine ›Gabe‹ ein, um ein Muster der bösen Kräfte und Strömungen aufzunehmen und im Gedächtnis zu speichern. Dann konnte ich solche medialen Ausstrahlungen später um so leichter einordnen. Ich empfing gar nichts. Der Dämon lag nicht auf meiner Wellenlänge. Ich beschleunigte meine Schritte, weil ich fürchtete, er könnte mit der Anbetung eher fertig sein, als ich in eine günstige Position kam. In diesem Augenblick krachte eine Erdscholle unter meinem rechten Schuh. Nicht besonders laut, aber die Skelette, die keine Sinnesorgane in unserem Sinn hatten, hörten es. Drei, vier wandten den Schädel. Ich ahnte die Totenköpfe im Schatten der Kapuzen mehr, als ich sie sah. Aber was die Schreckensgestalten trieben, das kriegte ich sofort mit. Sie hoben die teuflischen Pilgerstöcke zum Schlag. Ich war schon zu dicht an der Gruppe dran, sie trafen mich, egal, was ich auch unternahm. Ich kriegte etwas ab, das stand fest. Aber ich ließ mich dadurch nicht vom meinem Vorhaben ablenken. Ich schwang den rechten Arm mit dem Krif weit zurück, holte aus und schleuderte das Drei-Klingen-Beil aus der Hand. Mit mörderischer Wucht. Der Feuerdämon schnellte aus seiner devoten Haltung hoch, als hätte ihn Weihwasser oder sonst was getroffen. Mir sank das Herz tiefer. Ich hatte gezielt geworfen. Wenn der Flammenteufel wegschwebte, ging der Wurf fehl. Ich begleitete den flirrenden Flug der Waffe mit allen guten Wünschen. Der Dämon stand wie erstarrt. Entweder hatte er nicht mit der Möglichkeit gerechnet, daß sich ungebeten ein Zuschauer einfand, 118
auch noch ein lebender Mensch. Oder er war noch zu sehr darauf konzentriert, Verbindung mit den höllischen Mächten aufzunehmen. Jedenfalls blieb er, wo er war. Und dort erwischte ihn der Krif. Ich sah, wie die Flammenarme in die Höhe fuhren, wie die lohenden Haare vom seinem Kopf wegstanden wie die Stacheln eines Igels, wenn der Fuchs kommt, und wie sich sein Feuermaul zu einem Schrei öffnete. Aus dem klaffenden Loch schoß ein Feuerschwall. Jetzt! Er mußte doch vergehen, er mußte doch umfallen oder explodieren oder sonstwas zeigen! Er begann schaurig zu lachen. Mir war nicht danach, denn ich sah, was passiert war! Der Krif hatte seine flammende Gestalt einfach durchschlagen! Ohne daß die guten Kräfte der Waffe die bösen, mit denen sie kollidierten, in einem Lichtblitz oder was auch immer vernichteten! Der Krif war unwirksam gegen den Feuerdämon! Nur das begriff ich. Und dann bekam ich einen Schlag auf die Schulter, daß es mich in die Knie drückte und ich dachte, daß jetzt mein Schlüsselbein hin war. Eines der Skelette hatte mich mit dem teuflischen Pilgerstock getroffen. Ich riß mich zusammen und kämpfte gegen die roten Nebel an, die sich vor meinen Augen drehten. Es war schwierig, aber ich blieb bei Besinnung und schnellte mich instinktiv zur Seite. Haarscharf zischte ein anderer Stock an meinem Kopf vorbei und krachte auf den harten Boden. Jetzt wandten sich die übrigen Gerippe auch noch mir zu. Ich wollte weg. Aber das war leichter beschlossen als ausgeführt. Sie hatten mich nämlich schon umzingelt. Während ich in die Knie gesunken war, hatten es zwei geschafft, in meinen Rücken zu kommen. Als ich mich nach hinten warf, um 119
einen Schlag auszuweichen, umschlangen mich knöcherne Arme. Mit einer Kraft, als wollten sie mir sofort die Seele aus dem Leib quetschen. Ich versuchte, einen Arm wegzudrücken. Ebenso hätte ich versuchen können, den Hügel, auf dem der Friedhof lag, auf dem Buckel wegzutragen. Ich ließ mich einfach fallen und zog die Beine an. Das Gerippe gab mich nicht frei! Aus den Knochenarmen drang eine tödliche Kälte in meinen Körper. In wenigen Sekunden war ich erstarrt, oder zumindest so abgekühlt, daß ich keine Gegenwehr mehr leisten konnte. Der Feuerdämon rief etwas. Ich verstand es wieder nicht, aber es hörte sich ungemütlich an. Und dann lachte er und brüllte in meiner Sprache: »Du hast es gewagt, die Hand gegen Laurinas treuen Diener zu erheben! Du hast die Wallfahrt gestört, die wir zu Ehren der unvergänglichen Laurina halten! Bringt ihn her zu mir – sofort!« Alles was recht war, die Hexe Laurina hatte in ihm einen tollen Fan! Der Bursche röstete mich, wenn ich den Skeletten nicht entkam. Jetzt hielten mich schon drei gepackt, und die anderen rückten näher, daß mir der Blick auf den Feuerdämon verstellt war. Den Krif war ich los! Das brannte sich in meinem Gehirn fest. Ich hatte auf meine beste Waffe gesetzt und verloren. Wütend und verzweifelt teilte ich Tritte nach allen Seiten aus. Ich traf auch, ich hörte es klappern. Aber keines der Gerippe verlor die Balance und kippte um. Es war ein Fehler gewesen, den Krif zu schleudern! Ich hätte ihn in der Hand behalten sollen und so dicht rangehen müssen, daß ich dem Dämon eine der drei Klingen in den Flammenschädel hätte hauen können. Aber gebracht hätte das sicher auch nichts. Ich hatte nicht damit rechnen müssen, daß die Waffe einfach 120
durch die höllische Erscheinung hindurch ging. Im Bruchteil einer Sekunde fiel mir eine Erklärung für dieses unglaubliche Phänomen ein. Der Krif und seine Kräfte waren auf das Böse gerichtet, als es noch urweltliche Dimensionen besessen hatte. Dieser Dämon stammte vermutlich erst aus dem Mittelalter, denn da hatte Laurina gelebt und gehext. Ich hätte wohl mehr Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn ich ihn mit einer Waffe attackiert hätte, die christlichen Ursprungs war. Aber das Versehen konnte ich nicht revidieren. Ich hatte meinen Fehler gemacht. Ich fühlte mich hochgehoben und vorwärtsgestoßen. Himmel, an meine Tasche brauchte ich auch nicht mehr zu denken! Die stand auf der Bank unter der Linde. Sie hätte auch in London sein können. Zu weit weg, ich konnte sie niemals erreichen. Die Kapuzengestalten wichen zurück und öffneten eine Gasse. An ihrem Ende stand der Feuerdämon und breitete die grauenhaften Flammenarme aus. Mein Ende war gekommen, denn die Gerippe stießen mich auf den Höllendämon zu. * Weiß der Himmel, wo ich meine Gedanken hatte! Ich war in Panik. Ich wollte nicht von diesem Ungeheuer verbrannt werden. Mein ganzes Denken war auf einen Ausweg und Flucht ausgerichtet. Das änderte sich, als eines der Gerippe gegen mich stieß. Ich spürte einen schmerzhaften Druck in der Leistengegend. Das Fläschchen mit Vilions magischer Mixtur! Daran hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Kunststück, wenn man seiner eigenen Feuerbestattung entgegenblicken muß! Die Hände hatte ich frei. Die Knochenarme umschlangen nur 121
meinen Brustkorb und meine Taille. Ich griff unter den Mantel und in die Hosentasche und zerrte das Fläschen hervor. Es war ein Versuch, aber ich war bereit, ihn zu wagen. Wenn man auf der Schwelle zur Hölle steht, ist man nicht mehr wählerisch. Da ist man auch zu einer Verzweiflungstat bereit. Und das war es, nichts anderes. Der Höllenwolf hatte keine Furcht vor der Mixtur erkennen lassen. Auch der Dämon schien gegen sie gefeit zu sein, denn wie sonst hätte er es wagen können, in Vilions Haus einzudringen, das Regal umzustürzen und den vermeintlichen Elixierbehälter zu zerstören? Wie aber verhielt es sich mit den Skeletten? Ich entkorkte das Fläschchen und spritzte die magische Mixtur einfach um mich. Ich ging verschwenderisch damit um. Vorsorglich schüttete ich auch ein paar Spritzer über meinen Kopf hinter mich. Ich flehte zum Himmel, daß meine Theorie doch irgendwo stimmte! Nur ein ganz klein wenig! Mit einem schauderhaften Klappern krachte rechts neben mir ein Gerippe zusammen. Der Umhang wölbte sich darüber wie ein zusammenfallendes Zelt. Bevor ich zweimal hinschaute, waren Umhang und Skelett schon verschwunden. Ohne Feuer, ohne Rauch und Knall. Ein weiteres Gerippe stürzte hin. Der mörderische Druck um meinen Brustkorb wich, ich atmete keuchend und tief ein und hörte ein Klappern hinter mir. Ein freundlicheres Geräusch hatte ich selten vernommen. Ich hatte hoch gesetzt und alles auf eine Karte. Auf Vilions magische Mixtur nämlich. Und die Karte stach. Bei den Skeletten jedenfalls. Nur hatte ich sie nicht alle getroffen, und das Fläschchen war leer. Ich war zu großzügig umgegangen. Drei blieben stehen. Sie vergingen nicht. Sie hatten offensichtlich nicht einmal Spritzer auf die Kutte abbekommen. 122
Einer der Gerippe bückte sich nach einem Pilgerstock. Das kannte ich schon, und ich wollte nicht noch einen Treffer kassieren. Ich schleuderte das Fläschchen gegen den Feuerdämon, der noch immer mit weit ausgebreiteten Flammenarmen dastand und mich erwartete. Das Fläschchen zerplatzte mit einem Knall. Das war alles. Ich tauchte unter dem niedersausenden Pilgerstock weg, stürzte über ein blitzschnell vorgestelltes knöchernes Bein und überschlug mich am Boden mehrmals. Mir tat alles weh, nicht nur von dem Sturz. Dennoch kugelte ich absichtlich weiter, bis ich meinte, weit genug weggekommen zu sein. Erst da schnellte ich auf die Füße und begann um mein Leben zu rennen. Vielleicht war der Krif verloren, vielleicht fand ich ihn wieder. Ich habe ja dicke Nerven. Oder überhaupt keine, wenn ich Sir Horatio glauben darf. Aber den Nerv, jetzt auf Suche nach dem Krif zu gehen, hatte ich nicht. Ich brauchte dazu Licht. Ich sprintete auf die Linde zu. Im Vorbeilaufen riß ich meine Tasche von der Bank hoch und klemmte sie unter den Arm. Ein unangenehmes Klappern ließ mich den Kopf wenden. Die drei Gerippe sausten mit wehender Kutte hinter mir her. Ohne die höllischen Pilgerstöcke. Klar, die hätten sie behindert. Die entwickelten eine beängstigende Geschwindigkeit. Mir ging sofort auf, daß ich das Dorf nicht vor ihnen erreichte. Sie holten mich spätestens dort ein. Wahrscheinlich aber schon viel eher. Sie machten Sätze, als gäbe es keine Schwerkraft. Und als sei der Boden nicht gefroren. Als ich nur halb so weite Sprünge wagte, kam ich sofort ins Trudeln und hatte mehr Glück als Verstand, daß ich nicht hinschlug. Mein Schuhwerk mit den glatten Sohlen war für solchen Boden 123
nicht gemacht. Ich probierte es mit kleinen Schritten. Das klappte entschieden besser. Aber ein Blick zurück zeigte mir, daß sie unheimlich rasch näherkamen. Und noch etwas sah ich – der Feuerdämon war verschwunden. Nicht einmal das Geisterflämmchen schwebte in der Gegend herum. Oder es war zu weit weg. In der Nacht hätte ich es jedoch sehen müssen. Ich hatte kein gutes Gefühl. Diese höllische Mißgeburt brütete etwas aus, das nicht mein Entzücken fand, da war ich sicher. In der Ortsstraße standen immer noch Menschen. Nicht mehr viele, aber diese bewiesen eine erstaunliche Ausdauer. Aus Vilions Haus fielen Lichtbalken, außerdem brannte die Straßenbeleuchtung. Zwischen den Häusern hatte ich ja Chancen, falls ich es bis dorthin schaffte. Aber dann brachte ich die Menschen in Gefahr. Denn ich lockte die Gerippe hinter mir her. Und sicher war es nicht, daß sie mir auf den Fersen blieben. Vielleicht griffen sie sich ein paar von den ahnungslosen Leuten. Die teuflische Kraft, die hinter ihnen steckte, schreckte ja nicht davor zurück, Menschen verschwinden zu lassen und als Skelette in den eigenen Dienst an der bösen Sache zu stellen. Ich brüllte, so laut ich konnte, um die Menschen zu warnen. Ich hoffte, daß Pater Ryan noch bei ihnen war. Vielleicht hörten sie mich, verstanden mich und sahen auch, was hinter mir los war. Jetzt kam das abschüssige Wegstück. Ich drehte auf. In meinen Lungen stach es, als hätte ich Millionen feinster Nadeln eingeatmet. Ich war dicht davor, wieder in Panik zu geraten. Das fehlte noch, daß ich kurz vor dem Ort schlapp machte. Beim Service müssen wir uns einem Konditionstraining unterwerfen. Ich mache darin keine Ausnahme, auch ich werde geschunden und gezwiebelt. 124
Aber so einen Lauf hatte noch kein Ausbilder von mir verlangt. Ich mobilisierte alle Energien und redete mir ein, die Skelette abhängen zu können. Es half tatsächlich. Ich gewann wieder etwas Vorsprung. Keuchend und pumpend kam ich unten an und sauste auf die Häuser zu. Ich schnappte nach Luft und brüllte wieder meine Warnung hinaus. Die Leute verstanden mich überhaupt nicht. Sie wandten sich um und schauten mir entgegen. Ich hatte den Eindruck, sie genossen das Schauspiel. »Vilion!« brüllte ich, daß mir fast die Lungen hinausflogen.« Die Mixtur!« Das wiederholte ich. Jetzt kamen wohl die Kapuzengestalten ins Blickfeld der Leute, und jetzt schalteten sie. Sie stoben auseinander wie Hühner, über denen der Habicht aufgetaucht ist. Ich jagte keuchend die Straße entlang. Vilions Haus kam immer näher. Ich habe selten einen Anblick so genossen wie den das alten krummknorrigen Doktors. Er schwenkte etwas in der Hand und brüllte mir entgegen: »Haben Sie sich in den letzten Minuten mal umgesehen, Sie Teufelsbraten? Hierher, Mensch!« Mir ging fast kein Wort mehr über die Zunge. Ich krächzte mit letzter Kraft: »Spritzen Sie's auf die Gerippe!« Noch ein paar Sprünge, und ich langte neben Vilion an und sank total verausgabt gegen die Hauswand. Von Kälte spürte ich gar nichts mehr. Ich dampfte wie ein Vulkan. Und so ähnlich sah es wohl auch in mir aus. Vilion hantierte und knurrte: »Sie müssen was auf den Augen haben, Kinsey! Ich sehe keine Gerippe!« Zum Teufel, ich hörte doch das Klappern der knochigen Füße! So schnell ich konnte, warf ich den Kopf herum. Natürlich kamen sie in vollem Lauf daher. Die Kutten blähten sich. Aber was darunter war, lag im Schatten. 125
»Kippen Sie das Zeug drauf, Doktor!« schrie ich. Er entschloß sich endlich, meinen Ratschlag zu befolgen. Er spritzte seine magische Mixtur den Kapuzenwesen entgegen. Im nächsten Augenblick hörte ich ihn keuchen. Entsetzt wankte er rückwärts. Die vordere Gestalt stürzte und fiel Vilion fast vor die Haustür. Dabei glitt die Kapuze vom Totenschädel, und die Kutte gab die knöchernen Beine bis über die Knie frei. Unter der Kutte steckte ein Gerippe, nichts anderes. Aber nicht mehr lange. Ich sah, wie sich die Gebeine und die Kutte auflösten. Sie waren schon verschwunden, bevor die beiden anderen Skelette auf die Straße krachten. Aus hervorquellenden Augen stierte Vilion auf das unglaubliche Bild. Ein paar Sekunden später zwinkerte er aufgeregt. Weil nämlich nichts mehr auf der Straße lag. Es gab keinerlei Rückstand. Das Wissen, daß die unmittelbarste Gefahr beseitigt war, wirkte auf mich belebender als eine Stärkungsspritze. Ich richtete mich an der Hauswand auf. »Ich danke Ihnen, Vilion!« keuchte ich. »Um ein Haar hätten sie mich doch noch gehabt!« »Nette Gesellschaft schleppen Sie da an!« meinte er ergrimmt und halbwegs wieder ansprechbar. »Ich habe bei der dämonischen Wallfahrt mitgemacht, aber da hatten die ganz entschieden was dagegen. Ich hoffe, die sind wir für alle Zeiten los. Sechs habe ich oben mit dem Elixier begossen, die hier blieben übrig«, keuchte ich. Vilion betrachtete sein Fläschchen, dessen Inhalt mir das Leben gerettet hatte, und dann mich. »Und wo ist der feurige Oberteufel, Kinsey?« »Verschwunden. »Ich setzte meine Tasche ab, die ich nicht losgelassen hatte. Es klirrte dezent. Oh, was war ich doch für eine vergeßliche Nummer! Ich hatte nur noch an Flucht gedacht und daran, meine Haut heil nach Balmoral zu bringen. Das eiserne Henkel126
kreuz war mir nicht eingefallen. Ich hätte damit bestimmt die drei Gerippe stoppen oder vertreiben können. Ausprobieren, ob es auch geklappt hätte, ließ sich das nicht mehr, Aber mein Vorhaben blieb jedenfalls eine schöne Theorie. Meine andere sah ich indes bestätigt, und ich zögerte nicht, das auch Vilion unter die Nase zu reiben. »Sagte ich doch, daß das Elixier den Skeletten gefährlich war, Doktor, Deshalb war der Flammenteufel so wütend und aufgeregt, darum ist er durchs Fenster gefahren und hat Ihr Labor zerstört. Er dachte, er hätte die Mixtur vernichtet. Dieser Irrtum hat ihn seine dämonischen Wallfahrer gekostet.« Vilion zog unbehaglich den Kopf ein. »Davon verstehen Sie mehr als ich, Kinsey. Immerhin, Sie können mit einiger Berechtigung von sich behaupten, mit jedem Spuk Krach gehabt zu haben, der hier sein Unwesen trieb. »Treibt, Doktor«, korrigierte er ihn, »Der Feuerteufel ist untergetaucht, verschwunden ist er nicht.« »Heißt das, er beschafft sich neue Skelette?« fragte Vilion vom Grauen gepackt. Jetzt zeigte sogar er Wirkung. »Anzunehmen, und das möchte ich eben verhindern. Laglens Opfer sind nicht mehr verfügbar. Ergo wird der Dämon sich an Menschen halten, die ihm gerade über den Weg laufen. Menschen von hier. Ich habe seine Anbetung unterbrochen, habe ihm seine Wallfahrer weggenommen. Er wird bald mit dem Ritual fortfahren, vielleicht morgen schon.« »Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!« »Ich tat's gerne, wenn ich damit den Feuerdämon dingfest machen könnte. Haben Sie eine Laterne?« »Habe ich. Wozu brauchen Sie die?« »Zum Leuchten, wozu braucht man schon eine Laterne? Ich habe droben was verloren, das hätte ich gerne wieder.« »In der Nacht?« staunte Vilion. »Sie wollen da noch mal rauf?« »Ich suche einen verlorenen Hausschlüssel ja nicht unter einer 127
Straßenlampe, bloß weil's da schön hell ist, wenn er mir in einem dunklen Winkel aus der Tasche gefallen ist«, gab ich zurück und wollte noch etwas sagen. Aber darauf verzichtete ich. Ein ganzes Stück entfernt sah ich einen mächtigen Schatten geschmeidig durch den Kreis der ersten Straßenlampe gleiten. Der Höllenwolf! Seine Lichter glühten für den Bruchteil einer Sekunde grün und wild. Dann war er schon im Nachtschatten untergetaucht und kam nicht wieder zum Vorschein. Zum Henker, war das Biest hinter mir her? Oder was hatte es sonst im Ort zu suchen? Ich fürchtete fast, der Feuerdämon hatte es mir nachgeschickt. Aber auf den Gedanken war er für meinen Geschmack reichlich spät gekommen. Ich war eben erst mit knapper Not dem sicheren Tod entronnen, doch schon juckte mich das Fell wieder. Denn ich klammerte mich an meiner Überlegung fest, daß der Teufelswolf mich schneller gehabt hätte als die Skelette. Und die hatten es nicht geschafft. Dieses Biest war irgendwie der Mittler zwischen dem Dämon und Laurina, der Hexe, die noch drüben in einem unbekannten düsteren Reich weilte. Vielleicht –! Es war nur eine meiner Ideen, die Sir Horatio immer so seltsam zusammenzucken lassen, wenn ich sie ihm vortrage. Gottlob war er nicht da, ich brauchte mir mein Vorhaben nicht absegnen zu lassen. Hatte Vilion nicht gesagt, daß der Flämmchenteufel die Prozession der Gerippe auch noch an das alte Gasthaus geführt hatte, an die Mauer von Laurinas Haus? Wollte der Höllenwolf dorthin? Das ließ sich ja nachprüfen. Aber ohne den Krif kam ich mir ziemlich nackt vor. Andererseits hatte die Druidenwaffe nicht gewirkt. Vielleicht war es besser, wenn ich mich auf bewährte Mittel beschränkte, statt Ex128
perimente anzustellen, die leicht ins Auge gingen. »Keine Laterne«, sagte ich zu Vilion. »Eine Flasche.« »Die leuchtet aber nicht«, gab er trocken zu bedenken. »Weiß ich, aber ich kann Weihwasser einfüllen. Halten Sie mir Pater Ryan vom Hals, ich will ihn nicht erst fragen und ihm breite Aufklärung geben müssen.« Während Vilion nach einer leeren Flasche lief, langte ich die Taschenlampe aus dem Auto. Der Doktor brachte eine Whiskyflasche. Mir war jetzt jede recht. Ich hastete zur Kirche. Vilion folgte mir, bog dann aber zum Pfarrhaus ab. Die Kirchentür war nicht verschlossen. Es kostete mich keine drei Minuten, aus dem Becken hinter der Tür eine halbe Flasche voll Weihwasser zu schöpfen. Damit hastete ich los. Ich nahm den Weg zwischen den Häusern hindurch, nicht vorn über die Straße. Ich lauschte. Irgendwo scharrte es, als würden Krallen über harten Boden gleiten. Ich blieb dennoch vorsichtig, denn in eine Falle wollte ich nicht noch tappen. So leise, wie es eben ging, pirschte ich mich an die Rückseite des Gasthofes heran. Vor der Feldsteinmauer kauerte ein dunkler Schatten. Der Höllenwolf! Ich hatte doch eine gute Nase, nicht Vilion allein. Aber dann war mir, als hörte ich ein Murmeln. Das kam mir so unwahrscheinlich vor, daß ich an Einbildung glaubte. Oder redete jemand mit dem Höllenwolf? Behutsam schlich ich mich noch näher, nur noch schrittweise und geduckt. Angestrengt lauschte ich zur Mauer hin. Das Gemurmel wurde deutlicher. Bloß sah ich außer dem Höllenbiest nichts und niemand. Redete der Wolf etwa? Ich war soweit, alles zu glauben. Auch das. Und nachdem ich den Skeletten in die Arme gefallen war, huldigte ich der Meinung, mich könnte kein Schreck mehr aus den Schu129
hen stoßen. Ich merkte einmal mehr, daß man die Nacht nicht vor dem Morgen loben darf. Jedenfalls kippte ich fast aus den Schuhen, als ich den Wolf plötzlich in die Höhe wachsen sah. Er begann zu flammen und zu brennen und nahm immer mehr die Gestalt des Feuerdämons an. Mir lief es noch kälter als kalt den Rücken rauf! Darum! Mir wurde einiges klar. Der Wolf war der Lebensbegleiter von Laurina gewesen. Ich schätzte, daß er diese Gestalt liebte, weil sie mit Erinnerungen verbunden war. Zugleich aber war er auch der Feuerdämon, der sich als flammender Unhold und als kleines Flämmchen darstellen konnte. Laurina war viel schlimmer gewesen, als ich anfangs angenommen hatte. Zu Lebzeiten hatte sie schon einen Begleiter direkt aus der Hölle gehabt. Darum war ihr Ruf so schrecklich gewesen. Darum hatte sie die Menschen mit dem bösen Blick in Angst und Schrecken und Todesfurcht versetzt. Ihr höllischer Gefährte hatte ihr all diese Macht gegeben. Wie ich die Sitten und Gebräuche beurteilte, hatte sie dafür ihre Seele beizeiten verpfänden müssen. Der Feuerdämon erstand in all seiner höllischen Pracht vor mir. Er bemerkte mich nicht, denn er fingerte mit den Flammenarmen an der Mauer herum. Ich war gespannt, was das werden sollte. Plötzlich hörte ich ein Schlurfen und Scharren, als würde Stein auf Stein bewegt. Der Kerl zog wahrhaftig einen dicken Feldstein aus der Mauer, ziemlich weit oben. Ein Versteck! Früher waren das beliebte geheime Plätze gewesen. Ein ungutes Gefühl sagte mir, daß er sich etwas besorgte, das seine Pläne in bezug auf Laurina vorantrieb, nachdem ich ihm auf dem dämonischen Kreuzweg in seine Wallfahrt gefunkt hatte. Ein Loch gähnte. Der Flammenschein leuchtete in die geheime Öffnung hinein. Und was sah ich dort? 130
Bücher. Dicke, alte Bücher! Hexenbücher! Ich hatte so die böse Ahnung, daß Laglen dieses Versteck auch gefunden und sich als Zauberlehrling versucht hatte. Mit einigem Erfolg, leider. Daß der Feuerdämon diese Bücher an sich brachte und damit noch mehr grauenvolles Unheil über die Menschen brachte als er es schon getan hatte, daß er mit schlimmen Formeln vielleicht doch noch die Hexe herüberholte, ging mir wider die Borsten. Ich nahm meinen Mut zusammen, hob die Flasche und trat hinter den Feuerteufel. Er spürte etwas und schnellte mit einem wüsten Gebrüll herum. Seine Flammenarme zuckten sofort nach mir. Ich sagte einen schlimmen Bannspruch auf und überschüttete die feurige Gestalt mit dem Weihwasser. Erst zischte es nur. Aber dann sah ich die Wirkung. Ich mußte blitzschnell zurückspringen. Aus dem Feuermal nämlich schossen lange Flammen, heiß wie die Hölle selber. Während ich fast noch Feuer fing, verblaßte schon der flammende Haarkranz. Dann bildeten sich die Arme zurück. Das grauenhafte Dämonengesicht schrumpfte, aber aus dem Maul gellten immer noch Schreie, wie ich sie nie zuvor gehört habe. Der Dämon war stark. Aber das Gute überwand ihn schließlich doch. Er wurde immer weniger, die rote Farbe verblaßte, die Schreie wurden dünner, die Hitze ließ nach, und schließlich zuckten nur noch ein paar kümmerliche Flammen. Auch die erstarben. Von dem Dämon blieb rein gar nichts übrig. Nur ein feuchter Fleck vom verschütteten Weihwasser markierte die Stelle, an der er seine Existenz eingebüßt hatte. Für immer, wie ich annahm. Das unirdische Gebrüll war in der Nachbarschaft und auch im Gasthaus gehört worden. Lichter gingen an, ich vernahm Stimmen. 131
Ohne lange zu überlegen, griff ich die Hexenbücher aus dem Geheimversteck in der Mauer, drückte sie an mich und hastete unerkannt davon. Wenigstens hineinschauen wollte ich mal in die Bücher. Ein wenig lesen. Sicher konnte ich eine Menge lernen. Vor dem Doktorhaus stieß ich auf Vilion. Er atmete mächtig erleichtert auf. »Ich dachte schon, jetzt hätten Sie doch noch ins Gras beißen müssen, Kinsey«, meinte er derb, aber herzlich. »Was war das für ein Gebrüll?« »Der Feuerdämon«, sagte ich. »Das Weihwasser hat ihn bezwungen, Doktor. Falls Sie die Spendierhosen anhaben, lasse ich mich jetzt von Ihrem Feuerwasser bezwingen. Mir ist danach, einen auf die Lampe zu kippen.« »Mir auch, Kinsey, mir auch.« Er schüttelte den Kopf, guckte mich an und grinste. »Und ich dachte immer, ihr Jungens aus London habt nichts drauf und seid fad wie eine salzlose Suppe. Auf die Idee, nachts mit dem Saufen anzufangen, bin ich in sechzig Jahren nicht gekommen.« Er hakte mich unter und schleppte mich ins Haus. * Am anderen Tag hielt ich mich sehr lange droben am Friedhof auf. Den Krif hatte ich schnell wieder. Er lag innerhalb des Friedhofes hinten an der Mauer. Unbeschädigt, nicht angerostet, nicht einmal mit angesengtem Holzgriff. Ich war glücklich, ihn wieder zu besitzen. Weniger froh war ich über meinen dicken Kopf. Darum blieb ich über Gebühr lange fort. Ich mußte meinen Schädel erst mal auslüften. Vilion ging's auch nicht besonders, aber er hatte länger durchgehalten als ich. Ich war so ungefähr beim fünfzehnten Whisky weg132
gedämmert. Da war noch eine Menge in der zweiten Flasche gewesen. Heute morgen war auch die leer und Vilion steif wie ein Brett. Ich hatte ihn nur mühsam ins Bett hieven können. Aber er war sechzig und ich dreißig. Diese schottischen Landärzte waren einfach nicht umzubringen. Das wußte ich ab diesem Morgen genau. Ich atmete tief ein, als ich nach Balmoral hinunterging. Ich hatte den Feuerdämon und die Skelette überstanden. Aber so gerade eben. In dem Geschäft braucht man wirklich unverschämt viel Glück und Einfälle wie ein altes Haus. ENDE
In vierzehn Tagen erhalten Sie den packenden Mac KinseyGruselthriller Nr. 13 Bryan Danger hat ihn geschrieben. Er heißt:
Im Kerker der Zombies � Hier eine kleine Kostprobe: Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gebunden, als er die knarrenden Stufen zum Podest hinaufwankte. Malcolm Davies spürte die scheuernden Stricke kaum. Unentwegt murmelte er Worte und übersah, daß der Geistliche ihn wohlwollend betrachtete. Ein frommer Mann, dachte der Pfarrer. Sooft ich ihn sah, hat er gebetet. Unfaßbar, daß ein Mensch wie er zum Mörder werden konnte. Der Herr wird seine reuige Seele gnädig aufnehmen. Was er nicht wußte, war, daß der zum Tode Verurteilte keinen 133
Gedanken an die himmlischen Mächte verschwendete. Sein Sinnen galt dem Satan. Ihn rief er an in der Hoffnung, daß der Höllenfürst ein Einsehen mit ihm habe und den Henkersstrick reißen ließ. Malcolm Davies war voller Verachtung und Abscheu für die, die das Urteil über ihn gesprochen hatten und es jetzt in die Tat umsetzten. Tod durch Erhängen! Ein grausames Ende. »Hilf mir, Rache zu nehmen«, murmelte er. »Gib mir ein Zeichen, an dem ich dein Einverständnis erkenne.« Daß er keine Antwort des Finsteren erhielt, beunruhigte ihn zwar, aber er wußte, daß Satan oft in allerletzter Sekunde wirkte. In winzigen Zeitspannen vermochte er Dinge zu tun, deren die Menschen in Jahrhunderten nicht fähig waren. Malcolm Davies hatte die oberste Stufe erreicht. Ein grobschlächtiger Kerl nahm ihn im Empfang. Es war der Henker. Sein Gesicht zeigte an den Delinquenten soviel Interesse wie an ein paar abgelegten Beinkleidern. Davies wurde zum Strick geführt, der in einer großen Schlinge vom Balken baumelte. Der Balken hielt die Last eines Elefanten aus. Und auch der Strick war stark und neu. Ohne die Hilfe des Satans war mit keiner Rettung zu rechnen. Es gab nicht viele Zuschauer. Außer dem Henker und dem Pfarrer war nur noch ein Regierungsbeamter anwesend, der sich von der ordnungsgemäßen Erfüllung des Gerichtsurteils zu überzeugen hatte. Und natürlich der Direktor des Zuchthauses. Für sie alle war das Ereignis nichts Ungewöhnliches. Sie hatten es schon oft erlebt. Für Malcolm Davies war es das erstemal. Natürlich! Wer wurde schon zweimal gehenkt? Er spürte die Schlinge an seinem Hals. Er bemühte sich, nicht an sie zu denken. Gleich mußte das Zeichen kommen. Dann triumphierte er und war wieder frei. Hinter den dicken, grauen Mauern, dort, wo sich die Reihen winziger Öffnungen mit den starken Eisenstäben befanden, hielten jetzt ein paar hundert Häftlinge den Atem an. So war es jeden dritten Freitag im Monat. Dann war Henkerstag. Das wußten sie alle. 134
Auch die, die die Chance besaßen, hier jemals wieder lebend herauszukommen. Malcolm Davies richtete sich am Bewußtsein dieses Mitgefühls auf. Aber er wußte, daß ihm keiner seiner ehemaligen Freunde helfen konnte. Das vermochte nur einer, und der hüllte sich noch immer in Schweigen. Der Henker trat drei Schritte zurück. Mit seinen behaarten Fäusten packte er einen Hebel und wartete auf sein Zeichen. Der Geistliche näherte sich dem Todgeweihten. Er richtete den Blick zum Himmel und öffnete die Lippen für ein paar letzte tröstende Worte. Da spie ihm Malcolm Davies mitten ins Gesicht. »Ich brauche dich nicht, Pfaffe«, schrie er. »Verschwinde und paß auf deinen eigenen Hals auf.« Der Pfarrer zuckte zurück. Beleidigt schlich er davon und beschwerte sich bei dem Gefängnisdirektor. Der wechselte mit dem Regierungsbeamten einen raschen Blick. Dessen Kopfnicken löste ein Handzeichen bei ihm aus. Der Henker riß den Hebel herunter. Unter Malcolm Davies sackte der Boden weg. Der Strick straffte sich mit einem Ruck. Zur gleichen Zeit zuckte ein greller Blitz über den düsteren Platz. Eine undurchdringliche, bestialisch stinkende Rauchwolke fegte zur Richtstätte und hüllte sie ein. Eine gräßliche Fratze löste sich daraus und lachte wild auf, als die vier Anwesenden entsetzt zurückwichen oder sich gar zu Boden warfen. »Ich lasse meine Getreuen nicht im Stich«, brüllte die Fratze. Gelbleuchtende Augen brannten wie zwei Scheiterhaufen in dem Phantom. Ein verzerrter Mund drohte den Henker zu verschlingen, der schreiend vom Podest sprang und so unglücklich auftrat, daß er sich das Genick brach. Ein Sturm peitschte durch das Geviert. Der Regierungsbeamte klammerte sich an den Gefängnisdirektor, einen schwergewichtigen Mann, den so leicht nichts umwerfen konnte. Diesem Orkan war aber auch er nicht gewachsen. Er wirbelte 135
über den staubigen Platz und zerrte den Beamten, der wie der Schweif eines Papierdrachens an ihm hing, hinter sich her. Er prallte gegen die Mauer und rutschte daran entlang zu Boden. Aus seinem gespaltenen Schädel sickerte es breiig. Der Beamte riß die Augen auf und kreischte. Wie von Sinnen klammerte er sich an den Toten und wimmerte kläglich vor sich hin. Mit irren Blicken stierte er um sich, Er entdeckte die Steinschloßpistole im Gürtel des Direktors. Aufjammernd zerrte er sie heraus. Er riß den Hahn in die Spannrast und richtete fast verzückt den Lauf auf seine Brust. Soweit die Leseprobe aus dem neuen Mac Kinsey-Gruselthriller, den Sie in vierzehn Tagen erhalten. Dann ist wieder Kinsey-Time!
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