MYTHOR Am Kreuzweg der Lichtwelt von W. K. Giesa
Band 15
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MYTHOR Am Kreuzweg der Lichtwelt von W. K. Giesa
Band 15
2
Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, es ist ein Reich, an dem Robert E. Howard, der legendäre Schöpfer Conans, seine Freude gehabt hätte: das Shallalad. Seine Männer sind stolz und kriegerisch, seine Frauen hinreißend, und Magie – Weiße wie Schwarze – bestimmt seinen Alltag. Pferde sind in diesem schillernden Land des Südens so gut wie unbekannt, statt dessen bedienen sich seine Karawanen und Armeen riesiger, straußenähnlicher Vögel. Seine Städte sind Handelsmetropolen, in denen sich die Händler zahlloser Nationen treffen, um ihre exotischen Güter auszutauschen. Und seine See – das ist der Salzspiegel. Ein gewaltiger ausgetrockneter Salzsee, über dessen steinharter Oberfläche Handelsschiffe und Piratenboote auf stählernen Kufen dahinschießen. Doch Mythor und seinen Gefährten bedeutet die Exotik des Shallalad wenig. Die Verzweiflung hat sie hierher in den Süden getrieben, denn das Shallalad grenzt an die Düsterzone, deren dunkle Herrscher ihre gierigen Finger nach der Welt der Menschen ausstrecken. Mythor, der Sohn des Kometen, kann die Welt vielleicht retten. Doch dazu muß er Logghard, die Stadt des Ewigen Lichts, erreichen – und der Weg dorthin ist noch weit… Neben »Am Kreuzweg der Lichtwelt« enthält dieser Band die Romane »Piraten der Wüste«, ebenfalls von W. K. Giesa, und »Die Eiskrieger« von Hubert Haensel. Ich wünsche Ihnen eine aufregende Reise! Frank Borsch
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Der Schatten des gleißenden Ringes aus kosmischen Trümmern, der die Welt in zwei Hälften teilt, beherbergt die Mächte der Finsternis. Aus dieser Dunkelzone greifen die gierigen Finger des Bösen nach der Welt der Menschen. Unter dem Befehl von Dämonenpriestern machen sich ihre Handlanger, die Caer, daran, den Norden der Welt zu erobern. Und das in einer Zeit, in der die Menschen auf den »Sohn des Kometen« hoffen, der dem Bösen standhalten kann. Die Nomadenstadt Churkuuhl, die auf den Rük-ken gewaltiger Tiere über die nördliche Welt getragen wird, geht an der Küste des Meeres der Spinnen unter. Aus ihren Trümmern rettet sich ein junger Mann namens Mythor, dessen Herkunft unbekannt ist. Nyala, die Tochter des Herzogs von Elvinon, bewahrt Mythors Leben, denn sie glaubt daran, daß er jener Sohn des Kometen sei, dessen Kommen vorausgesagt wurde. In einem unterirdischen Tempel erfährt er, daß er sich diesen Titel erst erkämpfen muß. Nachdem Mythor vor einer Invasion der Caer fliehen konnte, erfüllt er verschiedene Aufgaben, die ihm gestellt wurden: In Xanadas Lichtburg kann er das Gläserne Schwert Alton für sich gewinnen, in Althars Wolkenhort erringt er nach harten Kämpfen den Helm der Gerechten. So gerüstet macht sich der Sohn des Kometen auf die Suche nach weiteren Verbündeten, die er im Bereich der Zaubertiere zu finden hofft: einem Einhorn, einem Schneefalken und dem Bitterwolf, der angeblich bei seiner Geburt geheult haben soll. Gemeinsam mit den Tieren erreicht Mythor das Land Ugalien, das ebenfalls von den Caer bedroht wird. Mythor lernt die aufgeputzten, selbstgefälligen Adligen mit ihren Ränkespielen kennen, und er erlebt den Beginn des Kriegszugs gegen die Caer. Rasch wird ihm jedoch klar, daß der Krieg durch Schwarze Magie entschieden wird. Seine Warnungen verhallen ungehört, und am läge der Schlacht geschieht genau das, 4
was Mythor befürchtet hatte: Die Kämpfer des Lichts erleiden eine furchtbare Niederlage. Die Länder des Nordens können keinen Widerstand mehr leisten, und Mythor muß wie Tausende anderer Menschen nach Süden fliehen. Überall trifft Mythor auf die Sendboten des Bösen. Vier Todesreiter setzen sich auf seine Spur, um ihn endgültig aus dem Weg zu schaffen. Und zu allem Überfluß trifft Mythor einen alten Bekannten wieder – Luxon, der ihn schon einmal betrogen hat und der nun behauptet, selbst der Sohn des Kometen zu sein! Die beiden Rivalen wollen das Orakel von Theran in dieser Frage entscheiden lassen. Aber als Mythor zu dem legendären Orakel vordringt und seine Fragen stellt, erhält er keine brauchbaren Antworten. Also sucht er jenen Ort auf, an dem man ihn einst als fünfjähriges Kind aufgefunden und mitgenommen hat. Aus den Trümmern eines gewaltigen Meteorsteins soll er gestiegen sein. Doch dieser Stein stellt sich als tödliche Gefahr für den Sohn des Kometen heraus: Nach einer Berührung des Steins fällt Mythor in eine Todesstarre. Zwar gelingt es den Weisen Großen, ihn zu erwecken, doch das schattengleiche dämonische Wesen, von dem er vorübergehend besessen war, fordert einen hohen Tribut von seinen Helfern. Mit dieser Bedrohung im Nacken zieht der Kometensohn weiter zum Koloß von Tillorn, dem nächsten Fixpunkt des Lichtboten, an dem er sich mit seinen Freunden Nottr und Sadagar verabredet hat. Verfolgt von dem furchtbaren Schatten, von Drudins Sendboten und von feindlichen Vogelreitern, schließt sich Mythor einer Räuberbande an, um mit ihrer Hilfe den Koloß zu erreichen. In einem Höhlenlabyrinth unter den Splittern des Lichts, einer kleinen Inselgruppe in der Strudelsee, trifft er schließlich alte und neue Freunde, und dort erwirbt er den Sonnenschild, den nächsten Ausrüstungsgegens5
tand, den der Lichtbote hinterlassen hat. Nun ist die Auseinandersetzung mit Luxon unabdinglich. Gemeinsam begeben sich die Gefährten in Luxons Heimatstadt Sarphand, um sich dem Richtspruch der Weisen Großen zu stellen. Dabei stellt sich heraus, daß Mythor tatsächlich der echte Sohn des Kometen ist, während Luxon der Titel des Shal-lad zusteht, eines weltlichen Herrschers, der sich selbst als den Nachfolger des Lichtboten betrachtet. Luxon ist zwar für den Moment geschlagen, reagiert aber schnell: Er entwendet erneut Mythors magische Waffen. Als Galeerensklave gelingt Mythor mit einigen Gefährten die Flucht. Mythor, der Steinmann Sadagar und No-Ango, der Letzte des Volkes der Rafher, machen sich auf den beschwerlichen Weg nach Logghard, in die Ewige Stadt des Lichts – verfolgt von den geheimnisvollen Todesreitern…
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W. K. Giesa
AM KREUZWEG DER LICHTWELT Larashi erstarrte. Sein Körper verhärtete sich förmlich, und eine steile Falte erschien auf der Stirn des alten Mannes. Stimmen? Aber Daumenlos war doch stumm, war niemals in der Lage zu sprechen! Jemand mußte bei ihm sein. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Larashi breit. Lautlos ließ er sich aus dem Sattel des altersschwachen Orhakos gleiten, das ihm für Besorgungen zur Verfügung stand. Sekunden später wußte er bereits, daß er einen vielleicht tödlichen Fehler begangen hatte. Er hätte im Sattel des großen, schnellen Laufvogels bleiben sollen. Denn im gleichen Moment, als er seine Last nicht mehr spürte, setzte der Vogel sich wieder in Bewegung und trabte gemütlich auf seinen Pferch zu. Ahnte das Tier nicht die Gefahr? Etwas stimmte hier nicht, Larashi konnte es fast körperlich spüren. Wer sprach mit dem Stummen Großen? Er preßte die Lippen zusammen. Was sollte er tun? Wo waren Gorano und Shieyo, die Gefährten? Deckungslos stand er mitten auf dem Hof. Seine Augen erfaßten jede Einzelheit in der Umgebung der Klause. So alt er auch war, und er hatte immerhin schon fünfzig Sommer kommen und wieder gehen sehen, seine Augen waren scharf geblieben. Der Diener des Stummen Großen fühlte, wie die Angst in ihm hochkroch und mit kalten Fingern nach seinem Herzen griff. Die Stimmen verstummten. Sie waren aus der Klause gekommen, teilweise laut und erregt. Doch keine Antwort war 7
ihnen zuteil geworden, soviel begriff der alte Diener, der mit seinen beiden Gefährten die Klause des Stummen Großen Daumenlos betreute. Sie alle waren schon alt, waren längst keine Kämpfer mehr, und ihre Muskeln konnten auch keine schwere Arbeit mehr leisten. Es war mehr ein Gnadenbrot, das sie von Daumenlos erhielten. Lautlos bewegte sich Larashi, versuchte in den Büschen und Sträuchern Deckung zu gewinnen, die ein kleines Gärtchen umgaben. Wieder nannte er sich einen Narren, daß er abgestiegen war. Mit dem Orhako hätte er davonjagen und Hilfe holen können. Denn daß die Fremden nur einen Freundschaftsbesuch machten, wollte er nicht glauben. Etwas lag über der Klause. Es roch nach Gefahr und Tod. Plötzlich sah er eine Bewegung. Genau in dem Gärtchen, in dem er sich verbergen wollte, sah er etwas. Pferde! Drei Tiere waren es, und die Angst in Larashi wurde immer größer. Die drei Reiter, die ihre Tiere hier abgestellt hatten, mußten aus einem fremden Land kommen. Denn Pferde waren hier unüblich, man bewegte sich per Vogel. Die Tiere waren versteckt worden. Jemand, der zufällig des Weges kam, sollte sie nicht erkennen. Es mußte eine Falle sein, und er war hineingetappt. Sofort wich Larashi zurück, suchte nach einem anderen Versteck und duckte sich schließlich in einen der trockenen Bewässerungsgräben. Gorano und Larashi hatten ihn in den letzten Tagen geschaufelt, um mehr Wasser zu dem Gärtchen führen zu können, aber noch war er nicht in Betrieb. Es war eine mehr schlechte als rechte Deckung, und er konnte nur hoffen, nicht entdeckt zu werden. Er sah wieder zur Klause hinüber, in der Daumenlos wohnte. Genau in diesem Moment flog krachend die Tür auf. Ein Mann taumelte heraus. Es war Shieyo. Er griff sich mit beiden 8
Händen an den Kopf und brach lautlos zusammen. Aus seinem Rücken rann ein feiner Blutfaden hervor. Und hinter ihm tauchte eine riesige Gestalt auf, schwarz wie der Tod und das mordende Schwert in der Faust. Da wußte Larashi, daß Shieyo tot war.
Längst lag Lo-Nunga, die verbotene Stadt, hinter ihnen. Die drei Männer bewegten sich rasch genug durch die schroffe, zerklüftete Gebirgslandschaft von Rafhers Rücken südwärts. Die Landschaft machte einen toten, tristen Eindruck auf Mythor. Es gab kaum Pflanzen, nur hin und wieder eigenartig geformte Gräser und Moose, die zwischen den Felsen und auf dem harten Boden jenes Bergzugs, der Rafhers Rücken genannt wurde, ein kärgliches Dasein fristeten. Mythor trieb es nach Süden, nach Logghard, und die beiden anderen Männer folgten ihm, um ihm zu helfen. Steinmann Sadagar, der Mann der schnellen Messer, und No-Ango, der Letzte vom Volk der Rafher. Er war es, dem Mythor hin und wieder nachdenkliche Blicke zuwarf. Sadagar kannte er seit langem, den Rafher erst seit ein paar Tagen. Jenes Volk hatte seinen Namen erhalten, weil es zurückgezogen in dem Gebirge »Rafhers Rücken« lebte. Doch die Rafher gab es nicht mehr. Sie, die sich als Diener des Lichtboten bezeichnet hatten, hatten sich durch Entleibung vergeistigt. Ihre toten Körper waren in Lo-Nunga zurückgeblieben; die angreifenden Vogelreiter waren zu spät gekommen. Kein Rafher lebte mehr; ihre Seelen waren miteinander verschmolzen zu einem Geistwesen, einem Deddeth. Diesem Deddeth verdankte Mythor es, daß er noch er selbst war. Jener im Hochmoor von Dhuannin entstandene bösartige Deddeth, durch die Kraft der Schwarzen Magie entartet, hatte seit langem nach Mythor getastet und ihn endlich erreicht. 9
Doch noch ehe er Mythors Geist überwältigen konnte, hatte der neuentstandene Deddeth eingegriffen. Es war zu einem Zweikampf gekommen, und der Dhuannin-Deddeth, entstanden aus den Seelen der im Kampf gegen die finstere Zauberei der Caer-Priester gefallenen Krieger Tainnias und ihrer Verbündeten, hatte weichen müssen. Der Dhuannin-Deddeth, besiegt von der Kraft des RafherDeddeths, mußte erloschen sein, vernichtet, überlegte Mythor. Er machte sich um diese Gefahr keine Gedanken mehr. No-Ango, der Letzte der Rafher, der nicht in dem Geistwesen hatte aufgehen können, weil er sich um Mythor gekümmert hatte, wußte es besser. Doch der junge Mann schwieg. Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Das Wissen, daß alle anderen seines Volkes vergeistigt waren und er der einzige, der noch körperlich existierte, mußte an ihm nagen. Mythor hätte es erkennen müssen, glaubte No-Ango zu wissen, der sich so nannte, weil er gegenwärtig kein gespaltenes Gesicht trug. Die Tätowierung auf der Brust des Kometensohns, die endgültig erloschen war und nur eine langsam verheilende, große Brandwunde hinterlassen hatte, hätte ihn wachsam werden lassen müssen. Doch Mythor schenkte dem Verschwinden der Tätowierung nicht die Bedeutung, die es wirklich besaß. Das Bildnis Fronjas, das er nur im Spiegel sehen konnte, weil die Tätowierung auf seiner Brust für normale Augen unsichtbar geworden war! Das Verschwinden hatte Mythor zutiefst getroffen. Nie wieder konnte er ihr Bildnis betrachten, nie wieder würde der Anblick dieses bezaubernden Mädchenantlitzes ihm neue Kraft geben. Denn auch das Pergament, nach dem die Tätowierung angefertigt worden war, war spurlos verschollen. Vielleicht für immer… Weiter dachte Mythor nicht. Die Liebe zu Fronja, der Tochter des Kometen, machte ihn blind. Nur No-Ango ahnte, daß es 10
mit dem Verschwinden etwas Furchtbares auf sich haben mußte. Es mußte ein Werk des Dhuannin-Deddeths sein. NoAngo ahnte, daß dieses mörderische, hungrige Geistwesen nicht restlos vernichtet worden war, daß es sich nur irgendwohin zurückgezogen hatte – und jederzeit wieder zurückkehren und erneut angreifen konnte… Auch Sadagar machte sich während ihres Marsches durch Rafhers Rücken seine Gedanken, aber sie reichten nicht so weit wie die Mythors oder No-Angos. Denn ihm fehlte das Wissen, über das die Rafher verfügt hatten. Plötzlich verharrte No-Ango. Sie standen am Beginn eines leichten, in die Tiefe führenden Hanges. No-Ango wies nach unten. »Ein kleines Haus«, sagte er. »Vielleicht«, sagte Mythor, »können wir dort ein wenig rasten, essen und trinken. Wir haben eine Stärkung nötig. Laßt uns hinabsteigen. Bis Logghard haben wir noch eine weite Strecke vor uns.« Sie befanden sich bereits auf der Südseite von Rafhers Rücken, und weit vor ihnen schimmerte die endlos scheinende Ebene des Salzspiegels. Nicht weit von dessen Rand lag am Fuß des Abhangs die Hütte, umgeben von für diese Gegend ungewöhnlich vielen und grünen Pflanzen, Büschen und Bäumen. Eine Insel der Hoffnung in dieser felsigen Einöde? »Hinunter«, sagte Mythor und setzte sich in Bewegung. Der Sohn des Kometen, der sich bisher No-Angos Führung anvertraut hatte, ging nun voran. Er ahnte nicht, was ihn und seine beiden Gefährten erwartete…
Larashi duckte sich noch tiefer in den kleinen Graben. Aus der 11
Hütte kamen ein erstickter Aufschrei und ein dumpfer Fall. Das mußte Gorano gewesen sein, denn Daumenlos, der zwar keinen Namen trug, aber von Larashi so genannt wurde, weil er irgendwann einmal beide Daumen verloren hatte, war stumm. Deshalb war der Stumme Große auch auf die Hilfe der drei alten Männer angewiesen, denn seine Hände waren durch das Fehlen der Daumen zum Greifen ungeeignet geworden. Seine Hände konnten auch keine Klinge mehr führen. Die Fremden, die Mörder, die mit den drei Pferden gekommen waren, mußten Gegner des Großen sein. Demzufolge, ahnte Larashi, waren sie gleichzeitig Gegner der Lichtwelt. Daumenlos hatte keine Chance mehr. Aus seiner Deckung heraus beobachtete Larashi den Unheimlichen, der sich mit überraschender Schnelligkeit bewegte. Ein zweiter folgte ihm. Dann kam der dritte, und da wußte Larashi, daß auch der Stumme Große tot war. Der Alte konnte jetzt nur noch hoffen, daß er nicht entdeckt wurde. Denn sonst würde er das Schicksal der anderen teilen. Die drei Schwarzgekleideten durchstöberten jetzt die nähere Umgebung der Klause. Larashi fürchtete, daß sie nach ihm suchten. Einer der beiden anderen Alten mußte ihnen verraten haben, daß Daumenlos noch einen dritten Mann in seinen Diensten hatte. Das Orhako! An ihm würden sie erkennen, daß er in der Nähe war! Zwei der drei Schwarzgekleideten erreichten den Pferch, in dem sich die Tiere befanden und in den auch das alte Orhako Larashis zurückgekehrt war. Larashi schloß entsetzt die Augen. Erbarmungslos machten die Schwarzen sämtliche Tiere nieder. Es war, als wollten sie ein Zeichen setzen. Ein Zeichen des Todes. Nichts Lebendes sollte zurückbleiben. Der dritte Mann blieb vor der Eingangstür stehen. Larashi erhaschte den Anblick eines gläsernen Gesichts. Kalt lief es ihm über den Rücken. 12
Dämonisierte! Feinde der Lichtwelt und des Sohnes des Kometen! Und der Sohn des Kometen war unterwegs, kam vielleicht sogar hier vorüber auf seinem langen Weg. Vergeblich hatte Larashi nach ihm Ausschau gehalten, aber das besagte nichts. Er mochte dennoch in der Nähe sein. Daumenlos hatte ihm mit Hilfe seiner Pfeif- und Zeichensprache mitgeteilt, daß der Sohn des Kometen in den Süden unterwegs sei. Larashi verstand die Pfeifsprache der Stummen Großen, die niemals sprachen, weil ihre Münder vernäht waren und nur eine winzige Öffnung zur Aufnahme flüssiger Nahrung besaßen. Aber er verstand nicht, wie sich die Stummen über weite Entfernungen hinweg verständigen konnten. Wenn sie sich mit ihren Pfeifen einrauchten und meditierten, waren sie in der Lage, über weite Strecken miteinander in Verbindung zu kommen. Dutzende von Tagesritten waren kein Hindernis. Auf diese Weise mußte Daumenlos von seinen Ordensbrüdern erfahren haben, daß der Sohn des Kometen kam. Daumenlos hatte ihn Larashi sogar beschreiben können. Ein Mal hinter dem Ohr und eine Brusttätowierung, die ein unbeschreiblich zauberhaftes Mädchenantlitz zeigte. Larashi hatte sich auf sein Orhako gesetzt und war ausgeritten, um nach dem Sohn des Kometen Ausschau zu halten. Doch er hatte ihn nicht entdecken können, und irgend etwas hatte ihn zum Rückzug bewogen. Vielleicht war es die Ahnung der Gefahr gewesen, die den Stummen Großen inzwischen bedrohte. Noch tiefer duckte sich Larashi, bis er nichts mehr sehen konnte. Er hörte nur noch die Schritte der Schwarzgekleideten, hörte, wie sie sich miteinander unterhielten. Nur kurze Zurufe, die für Larashi keinen Sinn ergaben, weil er die Zusammenhänge nicht kannte. Plötzlich kamen die Schritte näher, direkt auf den Graben zu. 13
Larashi hielt den Atem an. Hatten die Mörder ihn entdeckt?
»Diese riesige Ebene«, sagte Mythor und deutete mit ausgestrecktem Arm hinaus auf die sich endlos erstreckende Fläche. »Was ist das?« Je tiefer sie stiegen, desto weniger erkannten sie. Aber selbst von den Gipfeln von Rafhers Rücken herab war ein Ende dieser hellen Fläche nicht erkennbar gewesen. »Es ist der Salzspiegel«, sagte No-Ango. »Ein ausgetrockneter Salzsee von gewaltiger Ausdehnung. Wie groß mag er sein? Größer als das Land Moro-Basako bestimmt. Dort, wo der Salzspiegel endet, ist etwa die Hälfte der Entfernung zwischen uns und Logghard.« Mythor schluckte. Er bekam eine ungefähre Ahnung von der Größe dieser Fläche. Der Beschreibung nach mußte sie etwa so groß sein wie Tainnia und Ugalos zusammen. Tainnia… die Caer… nicht einmal hatte er sie aus der Erinnerung verloren. Von den Caer kam die Gefahr für die gesamte Lichtwelt. Sie waren die Werkzeuge des Bösen, das von der Dunkelzone her nach der Macht griff. Dabei wußte Mythor sehr wohl, daß nicht die einzelnen Caer-Krieger das Böse an sich waren. Die Priester waren die treibende Kraft. Sie und ihr Oberpriester Drudin. Unter den Kriegern selbst gab es so manchen, dem die Priester unheimlich waren und der sie fürchtete. Mythor entsann sich an seine Erlebnisse während des Drudin-Turniers in der Ebene der Krieger. Einer der Caer war sogar so etwas wie sein väterlicher Freund geworden. Padrig YeCairn, den sie Gevatter Tod nannten. Aber es war schon einige Monde her, und die Ebene der Krieger war so unendlich fern… Mythor zwang seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück. So fern das Herzogtum Caer auch war, die Auswirkun14
gen seiner Macht waren bis hierher zu spüren. Drudins Todesreiter hingen ihm im Nacken, versuchten ihn auszuschalten, und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sich die Heere der Caer auch über die Länder des Südens ergießen würden. Und aus dem Süden kam ihnen die sich langsam, aber stetig ausdehnende Düsterzone entgegen. Es war wie eine tödliche Zange, die die Menschen der Lichtwelt langsam, aber sicher zwischen sich zu erdrücken versuchte. »Der Salzspiegel ist eine gefährliche Fläche«, murmelte NoAngo. Der Letzte der Rafher verzog das Gesicht. »Es gibt dort Wanderdünen, die einen überraschen und verschlingen können, und Piraten machen die Gegend unsicher.« Mythor zuckte mit den Schultern. Er hatte nicht vor, den ausgetrockneten Salzsee zu betreten. Es war wahrscheinlich einfacher und geradliniger, an seinem Ufer entlang in Richtung Logghard weiterzugehen. No-Ango warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Der junge Rafher war schlank und sehnig gebaut. Sein Kopf war gewissermaßen in zwei Hälften geteilt; vom Nacken zog sich über seinen ausladenden Schädel ein etwa zwei Finger breiter kahlgeschorener Streifen bis nach vorn. Der Streifen war weiß bemalt, und in dieser Färbung zog er sich durch das gesamte Gesicht bis über das Kinn hinaus. Die rechte Gesichtshälfte war sonnengebräunt, die linke bleich. Eine Folge der häufigen Gesichtshälftenfärbung, der die Rafher Schutz vor den bösen Mächten zusprachen. Zur Zeit war No-Angos linke Gesichtshälfte nicht bemalt; wenn er sie einfärbte, geschah dies mit roter Farbe und mit verschiedenen Mustern, die jeweils seinem Gemütszustand entsprachen. In gefärbtem Zustand, also mit gespaltenem Gesicht, wie er es bezeichnete, nannte er sich NoNo-Ango. Eine bemerkenswerte Eigenheit, fand Mythor. Auch in seiner sonstigen Erscheinung bildete der mit einem 15
Lendentuch bekleidete Rafher den völligen Gegensatz zu Mythors anderem Begleiter, Steinmann Sadagar. Hier der junge, kräftige Krieger, dort der alte, schmächtige Messerwerfer. Das kleine Anwesen, zwischen dem Fuß des Hanges und dem Ufer des Salzspiegels gelegen, wurde deutlicher und schon langsam in Einzelheiten erkennbar. An die Hütte grenzte ein Pferch. Ob sich Tiere darin befanden, konnte Mythor nicht erkennen, weil die ausladenden Baumkronen fast alles überdeckten. Der grüne Fleck war eine Erholung nach den schroffen grauen und braunen Felsen und den kümmerlichen Pflänzchen. Vielleicht handelte es sich um eine Einsiedlerklause, denn auch aus größerer Höhe hatten sie kein Dorf oder gar eine Stadt sehen können. Dort unten, dachte Mythor, wartet das Leben. Er irrte sich.
Die Schritte entfernten sich wieder. Doch immer noch wagte Larashi kaum zu atmen und rührte sich nicht in dem Graben. Es kam ihm wie ein Wunder vor, daß die Unheimlichen ihn nicht entdeckt hatten. Hufschlag klang auf. Doch Larashi konnte nicht unterscheiden, ob es zwei oder drei Pferde waren. Er wagte nicht, seine Deckung zu verlassen. Wenn einer der Schwarzgekleideten zurückgeblieben war und er sich erhob, war es aus mit ihm. Der alte Diener kauerte sich weiter nieder und wartete ab. Kein Geräusch erklang mehr, und er schöpfte wieder Hoffnung. Vielleicht hatten die Mörder die Klause tatsächlich zu dritt verlassen. Erst wenn die Dunkelheit einbrach, wollte der Alte seine Deckung verlassen. Aber dann klangen wieder Schritte auf. Diesmal konnte er sie deutlicher auseinanderhalten. Es waren die Schritte dreier Männer. 16
Sie kehren zu Fuß zurück! durchfuhr es ihn. Sie wollen dem Sohn des Kometen auflauern und haben ihre Pferde irgendwo versteckt, damit sie nicht sofort entdeckt werden! Die Angst war wieder da, die furchtbare Angst – und die Fliegen. Sie umschwärmten ihn in dem trockenen Graben, setzten sich auf seinen Körper, krochen über sein Gesicht. Er wagte nicht, sich zu bewegen, um sie fortzuwischen. Jede Bewegung konnte ihn verraten. Eines der Insekten setzte sich auf seine Nase. Nein! dachte er. Nur das nicht! Der Niesreiz wurde immer größer…
Die drei Männer hatten die Hütte erreicht. Sie war ziemlich einfach gehalten und aus roh gehauenen Baumstämmen zusammengefügt. Mythor schätzte, daß es nicht viel mehr als vier Zimmer im Innern geben konnte. Nichts rührte sich. Mythor sah, daß No-Ango unruhig wurde. Einmal fuhr der junge Rafher mit der Hand zu seiner linken Gesichtshälfte. Bedauerte er, daß er sie nicht bemalt hatte? Spürte er etwas? Aber Mythor fragte ihn nicht. Möglicherweise würde er ohnehin keine Antwort erhalten. Die Stille, die über dem Anwesen lag, war geradezu unheimlich. Doch niemand fiel über sie her. Niemand griff sie an. Plötzlich stockte Mythors Schritt. Er war vorangegangen, bog weiträumig um die Hausecke. Und da sah er einen Mann liegen, dessen Rücken blutig war. Unwillkürlich glitt Mythors Hand zum Schwertgriff. Aber auch jetzt rührte sich nichts. Die anderen standen jetzt neben ihm. Schweigend starrten sie auf die Leiche. Da ging Mythor zu dem auf dem Bauch liegenden Toten. Der 17
Sohn des Kometen kniete neben ihm nieder. Seine Finger berührten die Wunde. Das Blut war bereits verhärtet. Der Mord konnte schon eine Stunde alt sein. Und es war ein Mord gewesen. Ein Schwertstoß mußte den Mann getroffen haben. Als Mythor ihn auf den Rücken drehte, sah er in das Gesicht eines Alten, das von Entsetzen und Todesangst verzerrt war. Der Alte mußte seinen Mörder gesehen haben und vor ihm geflohen sein. Dennoch hatte ihn sein Schicksal ereilt. Die Eingangstür stand offen. Plötzlich huschte Sadagar an Mythor vorbei. In der Hand hielt er eines seiner zwölf geschliffenen Messer. Blitzschnell und vorsichtig glitt er in die Hütte. Doch nichts geschah. Es gab keinen Angriff eines Fallenstellers. Mythor folgte ihm. »Hier liegt noch einer«, sagte Sadagar. Es war ein ebenfalls alter Mann. Ihn hatte der Schwertstoß in die Brust getötet. Aus dem kleinen Raum gingen Türen in vier andere Zimmer, die ebenfalls nicht allzu groß sein konnten. Die Türen waren nicht verschlossen, sondern bestanden aus bodenlangen Fellvorhängen. Der Rafher war jetzt auch eingetreten. Nacheinander riß er die Vorhänge auf und sah in die Zimmer. Drei waren leer. Aus ihrer Einrichtung ging hervor, daß sie Schlafräume waren. Im vierten Raum befand sich jemand. »Ein Stummer Großer!« schrie No-Ango auf. Mit einem Satz war Mythor bei ihm und sah ihm über die Schulter. Er erstarrte. Es gab keinen Zweifel, daß der Stumme Große tot war. »Das ist Wahnsinn!« flüsterte Sadagar. Seine Hand umklammerte Mythors Oberarm. Mit einer müden Geste streifte Mythor Sadagars Hand ab und ging auf das Lager zu, auf dem der Stumme Große lag. Er war fast nackt, und das wenige, was er trug, umschlotterte ihn lose. Sein Gesichtsschutz lag irgendwo, und seine Augen waren weit aufgerissen. 18
Das war noch nicht alles. Er war geschrumpft. Er war nur noch ein faltiges, kleines Etwas, vertrocknet und mumifiziert. Als Mythor ihn anhob, war er federleicht. Mythor legte den Toten auf das Lager zurück. Langsam drehte er sich zu seinen Gefährten um. »Die Todesreiter«, sagte er dumpf. »Drudins Todesreiter müssen hiergewesen sein.« »Bist du sicher?« fragte Sadagar schrill. »Ich nehme es an«, sagte Mythor. »Denn auch sie hinterlassen zuweilen… so etwas.« Er preßte es förmlich hervor. Wieder wandte er sich dem Geschrumpften zu, dessen Händen die Daumen fehlten. Der Stumme Große mußte einen entsetzlichen Tod erlitten haben. Mythor rann es eiskalt über den Rücken, als er an Drudins Todesreiter dachte. Fast hätten sie ihn ermordet. Sie hatten ihn schon in ihren Klauen, doch der Stumme Große Vierfaust hatte es verhindern können, daß sie ihn zurück nach Caer brachten. Mythor und seine Begleiter waren auf eine Lichtfähre geschafft worden und damit noch einmal davongekommen. Oburus, Coerl O’Marn und Krade, die drei Todesreiter, setzten alles daran, diese Scharte auszuwetzen. Krude, den Mythor einmal verraten hatte, O’Marn, der ihn in der Ebene der Krieger vor Drudins Dämonenkuß bewahrt hatte, und Oburus, der den Splitter vom Meteorstein besaß, der Mythor zu lähmen vermochte. Sie waren nach wie vor auf seiner Spur, und sie würden ihn jagen, bis sie ihn hatten – oder sie selbst vom Tod ereilt wurden. »Wenn sie hier waren, bedeutet das, daß sie uns voraus sind und daß sie genau wissen, welchen Weg wir nehmen«, sagte Sadagar. »Aber warum sind sie dann nicht hier? Warum haben sie uns keine Falle gestellt? Die Gelegenheit wäre günstig, jetzt blitzschnell von außen Türen und Fenster zu verrammeln 19
und uns die Bude über dem Kopf anzuzünden…« Unwillkürlich sah No-Ango zur Tür. Mythor lächelte bitter. »Wer weiß, was sie hier wollten«, sagte er. »Vielleicht haben sie dem Stummen Großen nur ein paar Fragen gestellt. Und wie solche Fragestunden ausufern, wissen wir ja. Laßt uns hinausgehen.« »Es muß eine Falle sein«, stieß Sadagar hervor. »Sie können einfach nicht so dumm sein, diese Gelegenheit verstreichen zu lassen.« »Vielleicht gibt es eine bessere Gelegenheit«, sagte No-Ango plötzlich. »Bis Logghard ist es noch ein weiter Weg.« Sie traten ins Freie – und dann ertönte das laute Geräusch! »Achtung!« schrie Sadagar. »Da sind sie!« Mythor fuhr herum. Er sah, wie eine Gestalt sich halb aus einem flachen Graben erhob. Sie war gut getarnt gewesen; obwohl er sich beim Erreichen des Geländes sorgfältig umgesehen hatte, hatte er die Gestalt nicht entdecken können. Doch jetzt hatte der Versteckte sich unfreiwillig verraten. Er hatte niesen müssen. Unwillkürlich war Mythors Hand zum Schwertgriff geflogen. Er riß die blitzende Klinge hoch. Noch schneller war No-Ango. Seine Hand zuckte unter den knielangen Umhang und riß einen Obsidiansplitter hervor, von denen etliche in dem links getragenen Knoten seines Lendentuchs steckten wie die Nadeln eines Schneiders im Nadelkissen. Die andere Hand riß die Pfeilschleuder empor, den ellenlangen Stock mit der Knorpelverdickung am Ende, die ausgehöhlt war. Die Schnelligkeit seiner Bewegungen war unglaublich; blitzartig legte er den zweifingerlangen Obsidiansplitter ein und schleuderte ihn. Mit seiner Pfeilschleuder traf No-Ango immer. Er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Fehlwurf getan. Doch diesmal traf er nicht. 20
Gerade noch rechtzeitig konnte Mythor eingreifen. In den wenigen Augenblicken, die No-Ango für seinen Angriff benötigte, hatte er erkannt, daß der Mann, der sich dort aus dem Graben erhob, keiner der Todesreiter war. Es war ein alter Mann. Und blitzartig fuhr Mythors Schwert herum und schmetterte mit der Breitseite leicht gegen die Verdickung der Pfeilschleuder. Der Obsidiansplitter jagte mit fürchterlicher Wucht einen halben Meter an dem Alten vorbei in einen Baumstamm. Entgeistert fuhr der Rafher herum. »Was tust du?« schrie er, während seine Hand nach dem nächsten Splitter tastete. »Laß es«, sagte Mythor leise. »Er ist ungefährlich.« »Sie sind tot«, murmelte der Alte. »Sie alle sind tot. Wer seid ihr?« Er war auf einen Wink Mythors aus dem Graben gekommen. No-Ango hatte seine Waffe wieder weggesteckt, und auch Mythor schob das Schwert wieder in die Scheide und nannte seinen Namen und die seiner Begleiter. »Ich bin Larashi, der Diener von Daumenlos«, sagte der Alte. Er zitterte. »Sei unbesorgt«, versuchte Mythor ihn zu beruhigen. »Wir wollen von dir nichts als eine Antwort. Was ist hier geschehen? Wer hat den Stummen Großen und die beiden anderen Männer getötet?« Larashi schluckte heftig. Er mußte mehrmals neu ansetzen, bis die ersten verständlichen Worte über seine Lippen kamen. Daumenlos, das mußte der Stumme Große sein, überlegte Mythor, der jetzt zu einem Stummen Kleinen geworden war, und das wortwörtlich. Immer noch zitternd und hin und wieder stockend, berichtete Larashi, was er gesehen hatte. »Ich glaubte, die drei Schwarzen kehrten zu Fuß zurück, um auf die Ankunft des Sohns des Kometen zu warten«, schloß er. 21
Mythor ging darauf nicht ein. »Es müssen Drudins Todesreiter sein«, sagte er zu Sadagar und No-Ango. »Lara-shis Erzählung ist der letzte Beweis. Sie sind immer noch hinter mir her.« »Wie zu erwarten war«, knurrte Sadagar. Larashis Augen weiteten sich leicht. »Sie sind hinter dir her, Fremder?« fragte er. Mythor nickte. »Hinter wem sonst?« »Daumenlos erwähnte, daß Drudins Todesreiter den Sohn des Kometen jagen«, stieß Larashi hervor. »Du nennst die drei Mörder die Todesreiter und sagst, daß sie dich verfolgen. Bist du der Sohn des Kometen?« »Er ist es«, sagte Sadagar trocken. Der Alte sog pfeifend die Luft ein. »Dann bist du der Mann, auf den Daumenlos wartete? Laß sehen, ob du wirklich der Sohn des Kometen bist.« »Wie willst du ihn erkennen?« fragte Mythor mit verstecktem Lächeln. »Das Mal hinter dem Ohr und die Tätowierung auf der Brust«, sagte Larashi hastig. Mythors Lächeln verstärkte sich. Er drehte den Kopf und streifte das lange dunkle Haar zurück, so daß Larashi die Narbe sehen konnte, dann öffnete er sein Wams und präsentierte dem Alten seine Brust. In diesem Augenblick dachte er nicht mehr daran, daß es die Tätowierung nicht mehr gab, aber im nächsten Moment wurde er von Larashi schmerzhaft daran erinnert. »Ich sehe keine Tätowierung«, sagte Larashi. »Nur Brandwunden.« Mythor preßte die Lippen zusammen. »Ein Deddeth wollte mich bezwingen«, preßte er hervor. »Als er besiegt wurde, verging auch das Bildnis.« Larashis Gesicht verfinsterte sich. »Daumenlos teilte mir mit, 22
daß der Sohn des Kometen an Narbe und Tätowierung zu erkennen sei«, sagte er stur. »Ich sehe nur die Narbe hinter dem Ohr. Wie soll ich dir glauben?« Sadagar schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, daß es laut klatschte. »Wie kann man nur so verbohrt sein!« schrie er. »Alter, Mythor ist der Sohn des Kometen. Die Stummen Großen in Sarphand haben es bestätigt!« »Laß ihn«, sagte Mythor überraschend ruhig. »Es ist sein gutes Recht, Mißtrauen zu zeigen. Mir fehlt die Hälfte des Beweises. Mein Pech.« »Du hast schon bessere Witze gemacht«, brummte Sadagar. »Ich weiß, wo ein anderer Stummer Großer lebt«, sagte Larashi plötzlich. »Ich kann euch zu ihm führen. Er mag sagen, ob du der Sohn des Kometen bist, Mythor.« »Und wo«, fragte Mythor, »finden wir diesen Stummen?« »In Horai«, antwortete Larashi. »Das ist eine Stadt, zwei Tagesmärsche von hier. Richtung Süden.« Mythor nickte erleichtert; für einen Moment hatte er befürchtet, der genannte Stumme lebe in einer anderen Richtung. Aber Horai mußte auf seinem Weg liegen und ihn näher nach Logghard bringen. »Einverstanden«, sagte er. »Führe uns dorthin.« Zu viert setzten sie eine halbe Stunde später ihren Weg fort. In aller Eile hatten sie die Toten bestattet. Mythor hatte Larashi dabei fortgeschickt; er fürchtete, daß der Anblick des Geschrumpften Larashi, der diesem viele Sommer ein treuer Diener gewesen war, den Verstand rauben würde. Doch jetzt hatten sowohl die beiden Alten wie auch der Geschrumpfte ihre letzte Ruhestätte gefunden, und die vier Männer verließen Daumenlos’ Klause, die zu einem Ort des Grauens geworden war. Ihr Ziel lag im Süden, am Ufer des Salzspiegels. Horai. 23
Markalf verzog ungnädig das Gesicht und wich drei betrunkenen Legionären aus. Es war sein Glück, daß sie seinen Gesichtsausdruck nicht erkannten, ansonsten hätte es wohl Prügel gesetzt. Diese drei Männer gehörten zu einer Kompanie, die wegen ihrer besonderen Brutalität gefürchtet war und nur dort eingesetzt wurde, wo besonders hartes Durchgreifen erforderlich schien – zumindest aus der Warte des Shallad. Die Truppe war von einer »Strafexpedition« zurück auf dem Weg nach Logghard und machte in Horai Station. Als die drei Betrunkenen vorbei waren, spie Markalf grimmig in den Sand. »Ich freue mich schon auf den Moment, da dieser Haufen weiterzieht«, sagte er. Olrosh schüttelte sich. »Das sollte man nicht zu laut sagen.« Sie bewegten sich durch die wenigen, aber breiten Straßen der Stadt, die eigentlich keine Stadt war. Horai wurde auch »Kreuzweg der Lichtwelt« genannt; hier trafen sich mehrere Handelsstraßen, hier fanden sich Händler, Wanderer, Reisende und sonstige Menschengruppierungen ein. Horai besaß einen »Hafen« für die Wüstensegler, die mit hohen Geschwindigkeiten über den Salzspiegel fegten. Wenige feste, steinerne Häuser gab es und viele Zelte, die die Reisenden aufschlugen für die Zeit. Überall gab es Märkte. Das Geschrei der Händler tönte zu Olrosh und Markalf herüber. Und es gab die Festung. In ihr war ständig eine Abteilung Krieger stationiert, die in Horai und Umgebung für Sicherheit und Ordnung sorgen sollten. Vornehmlich galt ihr Augenmerk dem Salzspiegel, der von den Piraten mehr als nur unsicher gemacht wurde. Doch das schien jetzt zu Ende zu sein. Der Anführer der Piraten war gefangengenommen worden, und jeder wußte, daß er das Herz des Aufruhrs war, daß mit ihm alles stand und 24
fiel. Starb er, würde das Piratenunwesen ebenfalls zusammenbrechen. Und Tashan war zum Tode verurteilt worden. Seine Gefangennahme und der Prozeß waren eines der beiden Gesprächsthemen in Horai, das andere Thema war die Anwesenheit der Prinzessin, die allerdings bald Weiterreisen würde. Sie wollte nur noch der Hinrichtung des Piraten beiwohnen und Horai dann wieder verlassen. »Tja«, murmelte Markalf. Ihre Schritte hatten die beiden Männer zu einem der Märkte gebracht. Der Markt der Krieger… hier wurden nicht etwa Kämpfer feilgeboten und an kriegswillige hohe Herren verkauft. Es war vielmehr ein Ort, an dem Krieger oder andere kampfwillige Männer ihre Ausrüstung vervollständigen konnten; Waffenschmiede boten Schwerter und Rüstungen, Schilde und Speere feil, Bögen und Armbrüste, Pfeile, Hellebarden, Äxte… alles, was der Söldner brauchte, um den Feind niederzuschmettern. Nicht einmal das Fett, das die Lederrüstungen auf Hochglanz brachte, fehlte im Angebot, und die einzelnen Anbieter versuchten sich zu überschreien. Horai war ein durchaus guter Ort für diese Art Handel, denn die Krieger, die nach Logghard zurückkehrten oder von dort kamen, waren gute Kunden. Rüstungen, die im Kampf beschädigt wurden, Schwerter, die im Kampf zerbrachen, Pfeile, die verschossen wurden… ein Großteil des Geldes, das die Händler einstrichen, stammte aus den Schatzkammern des Shallad, der für seine Soldaten einkaufen ließ oder jenen von seinen Zahlmeistern später den Geldwert zum Sold zulegte. Shallad achtete darauf, daß es seinen Legionen an nichts mangelte. »Sag an, was willst du hier?« fragte Olrosh. »Ein Messer erstehen, damit deine Frau den Käse teilen kann?« »Idiot«, knurrte Markalf. »Einen Dolch brauche ich. Meine Schwiegermutter wird in letzter Zeit recht lästig. Es wird Zeit, daß sie von der Lebensbühne abtritt. Sie ist ohnehin schon fast 25
achtzig Sommer alt; es wird Zeit, daß wir sie beerben.« Olrosh tippte sich an die Stirn. Natürlich hatte Markalf Blödsinn geredet. Seine Schwiegermutter war längst tot. Bei einem der Schmiede blieb Markalf stehen. Der Mann hatte ein nicht gerade kleines Zelt aufgeschlagen. Markalf sah durch den Eingang; im Innern brannte das Feuer, dessen Rauch durch die Öffnung im Zeltdach abzog. Der Schmied hatte seinen Amboß aufgebaut und bearbeitete das Eisen an Ort und Stelle. Er war der einzige Mann auf dem Markt der Krieger, der Waffen nach Wunsch arbeitete, aber er hatte auch einige vorgefertigte Waffen auf Lager. Einige dieser Waffen nahm Markalf in die Hand und führte kurze Scheingefechte gegen unsichtbare Gegner durch. Er prüfte die Schwerter sorgfältig. Der Schmied, schweißüberströmt von der Hitze an Feuer und Amboß, kam aus dem Zelt, als er den neuen Kunden gewahrte. Es zeigte sich, daß er nicht nur ein guter Waffenschmied, sondern auch ein hervorragender Redner war. Doch Markalf blieb standhaft. Er kannte die Größe seines Geldbeutels nur zu gut und wußte, daß ein nach Maß und Wunsch gefertigtes Schwert seine Zahlungskraft weit übersteigen würde. Der Schmied versuchte ihm den Mund wässerig zu machen und legte ihm eine Reihe von Zeichnungen vor, die verschiedene Ziermuster für das Griffstück und auch für die Klinge zeigten. Es waren herrliche Muster, aber Markalf gedachte seines schmalen Geldbeutels. »Dieses Schwert hier nehme ich«, sagte er fest und entschlossen und griff nach einer der Waffen, die er auf Griffigkeit und Schwerpunkt hin probiert hatte. »Aber diese Waffe ist viel zu leicht für Euch, Herr«, protestierte der Schmied. »Eure Muskeln…« »Sag an, was kostet das Schwert?« unterbrach Markalf den Redestrom. Vergrämt nannte der Schmied einen hohen Preis, 26
und Markalf handelte ihn um die Hälfte herunter, dennoch glaubte er, daß der Schmied immer noch das Doppelte des eigentlichen Wertes erhalten hatte. »Was willst du eigentlich mit dem Schwert?« fragte Olrosh neugierig. »Tashan«, sagte Markalf. »Der Bursche ist so gerissen… Ich glaube nicht, daß er wirklich hingerichtet wird. Er wird vorher entfleuchen und seinen alten Terror fortsetzen. Und ich muß demnächst über den Salzspiegel reisen; mich dünkt, es sei nicht schlecht, sich ein wenig zu bewaffnen.« »Und du meinst, mit diesem Stück geschärften Metalls könntest du die Piraten verscheuchen?« fragte Olrosh kritisch. »Ich weiß es nicht«, gestand Markalf, während sie weitergingen. Sie näherten sich dem Palast des Shallad, den dieser niemals besucht hatte. Jetzt allerdings war seine Tochter darin einquartiert worden. Markalf runzelte die Stirn. Dafür, daß eine der unzähligen Töchter Hadamurs im Palast wohnte, dem zweitgrößten Gebäude von Horai, nach der Festung, gab es erschreckend wenige Wachtposten. Dafür bemerkte Markalf eine andere Merkwürdigkeit. In der unmittelbaren Nähe des Palasts waren drei Pferde angebunden, die Sättel trugen. Pferde waren ein ungewohntes Bild in diesen Ländern. Hier waren die Laufvögel das bevorzugte Beförderungsmittel. Wer ein Pferd ritt, mußte aus einem nördlichen Land stammen. »Was wollen denn Nordländer hier?« fragte Markalf erstaunt. Das konnte auch Olrosh ihm nicht beantworten.
Larashi, der alte Diener, erwies sich als zäher und rascher Wanderer. Das Tempo, das Mythor und No-Ango vorlegten, hielt er ohne Protest mit. Der einzige, der hin und wieder me27
ckerte, war Steinmann Sadagar. Aber Mythor dachte nicht daran, langsamer zu gehen. Es zog ihn nach Logghard, und Horai war nur eine Station auf dem Weg. Horai, wo ein Stummer Großer leben sollte… Mythor war an der Bekanntschaft mit dem Stummen nicht nur deshalb interessiert, um Larashi den Gefallen zu tun, als Sohn des Kometen erkannt und bestätigt zu werden, sondern vor allem, weil er auf Informationen hoffte. Je eher er Bescheid wüßte, was in Logghard vorging, desto besser war es. Vielleicht konnte- der Stumme ihm Hinweise geben. Der Sohn des Kometen wußte, daß er vorsichtig sein mußte. Denn der Shallad Hadamur galt in seinem Land als Fleischwerdung des Lichtboten, und jeder andere, der sich als solcher zu bezeichnen wagte, wurde wie ein Gotteslästerer behandelt. Mythor hatte einmal den Fehler gemacht, sich einem Vogelreiter der Heymalländer als Sohn des Kometen zu erkennen zu geben. Seit dieser Zeit verfolgte ihn Hrobon mit fürchterlichem Haß, weil Mythor es gewagt hatte, sich mit dem Shallad auf eine Stufe zu stellen. Zu tief verwurzelt war in den Heymals der Glaube an Shallads Status. Und der Shallad selbst begrüßte und förderte dies. Mythor konnte sich denken, was ihn erwartete, wenn der Shallad erfuhr, daß ihm ein unerwünschter Konkurrent erwachsen war. Dabei saß Hadamur selbst, wenn Luxons Erzählung Glauben zu schenken war, unrechtmäßig auf dem Thron. Der eigentliche Shallad war Luxon, der sich mit Mythors Waffen seinen Herrschaftsanspruch zu erkämpfen trachtete… Mythor konnte nicht sagen, wer von den beiden ihm als Shallad lieber war: Hadamur oder Luxon. Hadamur kannte er nur vom Hörensagen, mit Luxon hingegen hatte er schon etliche trübe Erfahrungen gemacht. Luxon wurde ausschließlich von dem Verlangen nach Macht beherrscht. Stellte ihn das besser als den derzeitigen Shallad? Mythor wagte sich nicht an 28
die Beantwortung dieser Frage. »Dort«, sagte Larashi plötzlich. Mythor blieb stehen. Larashi streckte den Arm aus und wies »landeinwärts«. Sie bewegten sich ein paar hundert Schritte vom Ufer des ausgetrockneten Salzsees entlang, und God und Erain mochten wissen, aus welchem Grund sich der Alte halb umgedreht und nach schräg hinten gesehen hatte. Mythor fiel erst jetzt auf, daß der ehemalige Diener sich häufig umgewandt hatte, solange die jetzt leerstehende Hütte noch in Sichtweite war. Er schien sich nicht leicht von jener Stätte trennen zu können, die viele Sommer und Winter sein Zuhause gewesen war. Aber es stand ihm ja jederzeit die Möglichkeit offen, zurückzukehren und das Anwesen weiterzuführen. Doch Mythor bezweifelte, daß Larashi das tun würde. Es war wohl ein Abschied für immer. Denn die Erinnerung an die Bluttat der Todesreiter überwog augenblicklich die schönen Erinnerungen, und später würde Larashi sich an eine neue Umgebung gewöhnen. Der Sohn des Kometen spähte in die angegebene Richtung. Er stellte fest, daß die Sehkraft des Alten nicht gelitten hatte. Selbst Mythor hatte Schwierigkeiten, die Staubwolke zu erkennen. »Reiter«, sagte Larashi. »Sie kommen auf uns zu.« Mythor sah Sadagar und No-Ango an. No-Ango zuckte mit den Schultern, der Steinmann schob das hagere Kinn vor. »Laß uns weitergehen«, sagte er. »Wenn sie etwas von uns wollen, ist es für sie ein leichtes, uns einzuholen, aber wenn wir stehenbleiben, vergeuden wir vielleicht wertvolle Zeit.« Er deutete zum Himmel. »Einen halben Tag noch, und es ist Dunkelheit.« Bei diesem Wort zuckte No-Ango unwillkürlich zusammen. Nur Mythor gewahrte es. Er sah nach Süden. Der Himmel war dunkel. Es war, als ballten sich dort Gewitterwolken zusam29
men, aber Mythor ahnte, daß es keine Gewitterwolken waren. Denn sie bewegten sich nicht, wichen nicht im Wind, verharrten an Ort und Stelle. Vielleicht die ersten Ausläufer der Düsterzone…? »Einverstanden«, sagte er. »Laßt uns weitergehen. Wer etwas von uns will, mag zu uns kommen.« Hin und wieder warf auch er jetzt einen Blick zurück. Obwohl sie sich mit nicht geringer Marschgeschwindigkeit vorwärts bewegten, hielten die unbekannten Reiter weiter auf sie zu. Einen Augenblick lang hatte Mythor die Befürchtung, daß es sich um die Todesreiter handeln könne. Aber dann schalt er sich einen Narren. Sie würden sich ihm niemals so offen nähern. Mit einiger Spannung sah er der Begegnung entgegen. Wer waren die fremden Reiter?
»Ich bin Jassam«, sagte Jassam. Mythor mißfiel auf Anhieb der stechende Blick des Vogelreiters. »Und wer seid ihr?« Mythor stellte sich und seine Gefährten vor. Er maß die Fremden mit abschätzendem Blick; und was er sah, gefiel ihm herzlich wenig. Die Männer sahen abgerissen und heruntergekommen, nichtsdestoweniger verwegen aus. Mythor konnte sich vorstellen, daß sie ordentlich hinlangen konnten, wenn es sein mußte, und mit Sicherheit mußte es ziemlich oft sein – nach ihrem Ermessen. Er hätte sie eher für eine Bande Räuber gehalten denn für ehrbare Bürger dieses Landes. Aber sie waren bestens bewaffnet. Mythor hätte sich, im Besitz von Alton, zugetraut, ihnen die Stirn zu bieten. Aber auch dann nur, wenn sie von ihren Laufvögeln absaßen. Die Orhaken waren gefährliche Tiere, die nicht nur schnell waren, sondern auch mörderische Schnabelhiebe austeilen konnten. Es war nicht ratsam, sich zu Fuß ei30
nem Vogelreiter entgegenzustellen. Jassam, der offenbar ihr Sprecher und Anführer war, verzichtete im Gegensatz zu Mythor darauf, seine Gefährten namentlich vorzustellen. Sie alle sahen aus, als hätten sie seit ein paar Mondwechseln kein Bad mehr genommen, und stanken dementsprechend. Jassam unterschied sich lediglich durch seinen hochgezwirbelten Schnurrbart von den anderen. Der Bart war das einzig Gepflegte an seiner Erscheinung. Sie waren ein gutes Dutzend wohlbewaffneter Männer, und Mythor nahm an, daß sie mehr als ein einzelnes Anwesen überfallen hatten. Wenn nicht Larashis Erzählung von den drei schwarzen Reitern gewesen wäre, hätte er nicht gezögert, diese Gruppe für den Überfall verantwortlich zu machen. Aber es wäre Selbstmord gewesen, ihnen das ins Gesicht zu sagen. »Wohin des Wegs?« fragte Jassam mit einem Unterton, der Mythor Unwohlsein bereitete. »Wohin der Wind uns weht«, sagte Sadagar. Ein zorniger Blick Jassams ließ ihn in sich zusammenkriechen. »Ich schätze es nicht, mit vorlauten Schwätzern zu reden«, sagte der Vogelreiter scharf. »Nach Horai«, sagte Mythor nach einem schnellen Blickwechsel mit Larashi. »Nach Horai«, wiederholte Jassam. »Soso.« Er lehnte sich etwas zurück in seinem Sattel. »Eigenartig, denn auch wir wollen nach Horai.« Er sprach es langsam und so aus, als wolle er sich seine Worte noch während des Sprechens sorgfältig überlegen. Aber Mythor schätzte, daß es keine Dummheit war, sondern Gerissenheit. »Was wollt ihr da?« fragte er. Jassam ließ sich jetzt aus dem Sattel gleiten, ein Zeichen, daß er sich völlig sicher fühlte. Die Laufvögel verhielten sich ruhig. Es war dem Anführer des Trupps nicht anzusehen, ob ihm Mythors Frage paßte oder nicht. Doch er zögerte mit der Ant31
wort. »Es gibt in Horai eine Festung des Shallad Hadamur«, sagte er schließlich. »Dort wollen wir uns als Krieger anwerben lassen, um in Logghard gegen die Dunklen Mächte zu kämpfen, die seit fast zehn mal fünfundzwanzig Sommern gegen die Stadt anrennen. Es muß ein Ende haben.« »Das ist äußerst lobenswert«, sagte Mythor, der Jassam keine Silbe glaubte. Aber er wollte keine Schwierigkeiten; nicht jetzt. Sie hatten schon so Probleme genug. Wenn es zum Streit kam, kam es auch zum Kampf, und den wollte Mythor vermeiden. Also war es besser, auf diesen Burschen einzugehen, so finster er auch sein mochte. Wieder einmal wünschte sich Mythor, er hätte seine Tiere und seine Ausrüstung noch bei sich. Jassam lachte rauh. »Du sprichst wahr, Mythor«, sagte er. »Wie wäre es, wenn wir den Weg gemeinsam zurücklegen würden? Bis Horai ist es noch weit, und ihr seid zu Fuß.« Vorsicht! schrie es in Mythor. »Wir könnten euch mit auf unsere Orhaken nehmen«, bot Jassam mit öligem Grinsen an. Mythor schluckte. Er traute diesem Jassam nicht über den Weg. Nach Horai reiten und sich als Soldaten anwerben lassen – gut und schön, aber war es nicht viel gewinnträchtiger, vier Männer, die niemand kannte und die man unterwegs eingefangen hatte, an des Shallad Armee zu verkaufen? Mythor wechselte einen raschen Blick mit Sadagar und erkannte, daß auch der Steinmann ähnliche Befürchtungen hegte. Wenn sie erst einmal auf den Orhaken saßen, war es vielleicht zu spät. Denn mit Sicherheit würden sie vor den Reitern sitzen müssen. Mythor selbst hätte es nicht anders bestimmt, wenn er einen Fremden mit auf sein Reittier genommen hätte. Es konnte sein, daß Jassams Vorschlag wirklich uneigennützig war, aber Mythor glaubte nicht daran. Jassam war nicht von jenem Menschenschlag, der vorbehaltlos Hilfe anbot. Etwas war faul. Aber wenigstens Mythor und Sadagar wuß32
ten, was sie von dem Angebot zu halten hatten, und auch der Rafher schien zu spüren, was vor sich ging. Die Vogelreiter bildeten einen enger werdenden Kreis um die Wanderer. Mythor wußte, daß es nicht zum Kampf kommen durfte. Und er wußte auch, daß Jassam es ihm sehr übelnehmen würde, wenn er das Angebot ausschlug. Er las es in seinem Blick. Wenn die vier Wanderer ablehnten, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit der Angriff erfolgen. Er fuhr mit der Zungenspitze über die trocken werdenden Lippen. Bis Horai war es noch ein weiter Marsch, und vielleicht waren seine Befürchtungen auch grundlos. Und im übrigen… es mochte eine Gelegenheit geben, sich wieder von diesem Trupp zu lösen. In Horai mochte es Menschen geben, die helfen würden, oder man stahl sich während der Nachtruhe davon… »Ay«, sagte er. »Du hast recht, Jassam. Wir nehmen dein Angebot an. Es ist angenehmer, zu reiten, denn zu laufen.« Er grinste in einer Art, die Jassam plötzlich wachsam werden ließ, eine Art Warnung und die Mitteilung, daß man die versteckte Falle in dem Angebot sehr wohl bemerkt hatte. Sadagar öffnete den Mund, wohl um zu widersprechen, aber Mythor schnitt ihm mit einer knappen Geste das Wort ab. »Wir steigen auf«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. No-Ango verzog leicht das Gesicht, und Larashi schwieg ohnehin. Er hatte sein Leben lang Befehlen gehorcht, im Dienst häufig wechselnder Herren, bis er in Daumenlos’ Klause einen Ruhepunkt gefunden hatte. Also gehorchte er auch jetzt. Er hatte versprochen, Mythor zu jenem anderen Großen zu bringen, und das war gewissermaßen jetzt Auftragsarbeit. Er war also Diener wie zuvor. »Du«, sagte Jassam und zeigte mit gestrecktem Arm auf Mythor, »steigst auf mein Orhako.« Er warf einen kurzen Blick in die Runde und teilte dann auch die drei anderen ein. Mythor erkannte, daß es die kräftigsten seiner Männer waren, denen 33
seine Gefährten zugeteilt wurden. Ihn selbst hatte Jassam sich persönlich vorbehalten, er schien Mythor als den gefährlichsten der vier Wanderer einzuschätzen. Wenn du von Sadagars Messern wüßtest, dachte Mythor. Schon viele hatten den Steinmann unterschätzt. Er erklomm den Sattel und ließ sich weisungsgemäß vor Jassam nieder. Der Anführer der Reitergruppe schwieg und trieb dann sein Tier an. Auch die anderen Laufvögel setzten sich in Bewegung, und bald schon ging es in einem schaukelnden, rasenden Tempo in südwestlicher Richtung, Horai entgegen.
Markalf war ein von Natur aus äußerst neugieriger Mensch, und die Pferde hatten sein Interesse geweckt. Kurz vor Abend begab er sich noch einmal in Palastnähe. Es interessierte ihn, wer die Fremden waren. Diesmal war er allein; Olrosh war bei der Karawane zurückgeblieben, zu der sie beide gehörten und die in Horai Station machte. Die Fremden konnten sich nirgendwo anders als im Palast aufhalten. Denn sonst wären ihre Pferde längst entfernt worden. Zwar hatte der Shallad seinem Palast niemals einen Besuch abgestattet, was aber die Wächter nicht davon abhielt, alles, was sich unbefugt in unmittelbare Nähe begab, mit mehr oder weniger sanftem Druck wieder auf Abstand zu bringen. Um so mehr würden sie es tun, jetzt, da Prinzessin Shezad, eine der vielen Tochter des Shallad, sich hier im Palast aufhielt. Also mußten die Fremden Besucher sein. Markalf machte sich seine Gedanken. Er fühlte sich gewissermaßen als Bewohner der Stadt. Seit vielen Sommern reiste er mit dieser Karawane, und stets bewegten sie sich auf dieser und keiner anderen Straße, die sie auch jetzt benutzten. Und jedesmal machten sie in Horai für längere Zeit Station, um mit 34
anderen Karawanen oder einzeln reisenden Händlern oder auch mit durchziehenden Wandervölkern auf den Märkten Geschäfte zu machen. Mehr und mehr wurden es wandernde Stämme, mit denen man handelte, es schien, als setze eine Massenflucht aus dem Süden ein. Markalf sah zum düsteren Himmel empor. Es war schon fast dunkel; die Abende kamen früh in diesen Regionen, und die Nächte waren lang. Im Norden blieb es dabei stets etwas heller. Die Düsterzone beherrschte den Südhimmel. Markalf näherte sich den Pferden. Sie standen noch immer dort, unbeachtet von den Palastwächtern. Markalf trat näher herein. Es war im Grunde Unsinn gewesen, noch einmal herzukommen. Die Fremden würden nicht unbedingt in diesem Augenblick den Palast verlassen, um ihre Pferde zu besteigen und Markalf Gelegenheit zu einem kleinen Plausch mit ihnen zu geben. Achselzuckend wandte er sich wieder um. Da erreichte ihn der Klang einer befehlsgewohnten Stimme. »Halt!« Als der Abend hereinbrach, hatten sie Horai noch nicht erreicht. »Wir rasten hier«, bestimmte Jassam und ließ sich von seinem Orhako gleiten. Seine Männer folgten seinem Beispiel und ließen auch die vier »Gäste« absitzen. »Warum reiten wir nicht weiter?« fragte Larashi. »Es ist doch nicht mehr weit bis Horai.« »Ich habe meine Gründe«, versetzte Jassam kurz angebunden. In Mythor schlug eine Alarmglocke an. Was hatte Jassam vor? Mythor an seiner Stelle wäre weitergeritten. Ob sie eine Stunde früher oder später ankamen, spielte doch keine Rolle, und selbst wenn es eine Stadtmauer gab und das Tor zu einer bestimmten Stunde geschlossen wurde – Mythor kannte Horai nicht –, war ein Nachtlager im Schutz der nahe liegenden Stadt sicherer als in freiem Gelände. Im Süden hing ein Streifen düsterer Farben am Abendhimmel. 35
Jassams Männer sammelten in erstaunlicher Geschwindigkeit Holz und schichteten es auf, um es zu einem kleinen, rauchlosen Feuer zu entzünden. Die Proviantfrage wurde rasch geklärt; Mythor und seine Gefährten hatten Vorräte von Salzfleisch und Salaten aus dem von Larashi betreuten Garten des Stummen Großen mitgenommen, und Jassam und seine Männer hatten offenbar tagsüber gejagt; jedenfalls packten sie jetzt Beutetiere aus. Nicht viel später drehten sie sich über dem Lagerfeuer, und ein verheißungsvoller Duft zog sich durch die Lüfte. Sadagar knurrte vernehmlich. »Salzfleisch«, brummte er ungnädig. »Wir essen Salzfleisch, gut getrocknet, und die da haben saftigen Braten.« »Vielleicht überlassen sie uns ein wenig Wein aus ihren Schläuchen«, hoffte Mythor und fragte Jassam danach. Der Anführer lachte breit. »Ihr seid unsere Gäste«, behauptete er. »Bedient euch. Wein und auch Braten stehen euch zur Verfügung.« »Ich danke dir«, sagte Mythor. Er fragte sich, warum Jassam so großzügig war. Die vier Männer bedienten sich von den Vorräten der Vogelreiter. »Wann brechen wir auf?« fragte er plötzlich. Jassam grinste wieder. »Wenn es Tag wird«, sagte er. »Sorgst du dich, daß du zu spät ankämest? Bedenke, daß du durch uns mehr als einen Tag gewonnen hast.« »Nur eine Frage«, wehrte Mythor ab. »Wir sind viele Männer, wie sollen wir die Nachtwache einteilen?« »Oh, wolltet ihr euch beteiligen?« fragte Jassam und lachte wieder. »Oh, ihr braucht es nicht. Wir sind Männer genug. Wir machen das schon unter uns aus.« Mythor nickte und schwieg. Was Jassam damit sagen wollte, war mehr als deutlich. Wir passen schon auf, daß ihr nicht verschwindet. 36
Und just dieses hatte Mythor beabsichtigt. Aber er dachte nicht daran, seinen Plan aufzugeben. Wenn nur ein Wachtposten aufgestellt wurde, konnte man den wohl überlisten und vorübergehend außer Gefecht setzen. Es kam lediglich darauf an, wie weit Horai noch entfernt war; ob die Vögel die Läufer einholen konnten. Denn ein Vogelraub kam für Mythor nicht in Frage, nicht nur, weil Diebstahl seiner unwürdig war, sondern weil sich die Orhakos wohl kaum von Fremden reiten lassen würden. Er mußte sich mit Larashi besprechen. Der Alte kannte den Weg genau, er würde wissen, wie weit es noch war. Am nördlichen Teil des Himmels begannen die Sterne kalt zu funkeln, im Süden glomm düster ein seltsames Farbenspiel. Welche Phänomene der Düsterzone mochten es hervorrufen? Mythor wußte es nicht, und es reizte ihn auch nicht, darüber zu grübeln. Wichtiger war, Logghard zu erreichen und davor Horai. »Halt!« rief die harte Stimme nochmals. Markalf erstarrte; seine Gedanken überschlugen sich. Langsam sah er zu dem Wachtposten hinüber, der gerufen hatte. Der Mann näherte sich gemessenen Schrittes, die Hand am Schwertgriff. Durchdringend sah er Markalf an. Markalf fragte sich, was der Posten von ihm wollte. Hatte er sich den Pferden zu sehr genähert? Waren die Reiter so hochgestellte Persönlichkeiten, daß selbst die Annäherung an ihre Reittiere fast ein Verbrechen war? Markalfs Hand tastete nach dem Knauf seines auf dem Markt der Krieger gekauften Schwertes. Er war bereit, sich notfalls mit der Waffe zu wehren. Aus einer Laune heraus hatte er sie für seinen Spaziergang angelegt, ohne zu ahnen, wie sich die Dinge entwickeln würden. »Wer bist du?« fragte der Posten scharf und blieb vor Markalf stehen. Der nannte seinen Namen und erklärte, zu welcher 37
Karawane er gehörte und daß diese für eine lange Reihe von Tagen in Horai blieb. Der Posten hob schwach die Brauen. »Ich sah dich bereits am Nachmittag«, sagte er. »Du spähtest sehr interessiert zu den Pferden. Mir scheint, daß du sehr an ihren Reitern interessiert bist. Kennst du sie?« Er muß eine scharfe Beobachtungsgabe und einen hervorragenden Verstand besitzen! durchfuhr es Markalf. Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich kenne sie nicht. Wer sind sie?« Der Posten stieß pfeifend die Luft aus. Mit der flachen Hand klatschte er auf den Oberschenkel. »Du sprichst die Wahrheit«, sagte er. »Ich sehe es in deinen Augen, Markalf. Schade.« Markalfs Erstaunen wurde noch größer. »Warum schade?« »Weil selbst wir nicht wissen, wem sie gehören«, sagte er. »Sie waren plötzlich da. Drei Männer, die irgendwie unheimlich wirkten. Sie schritten an uns vorbei, und wir vermochten sie nicht aufzuhalten. Ich hatte gehofft, du würdest sie kennen und ihnen nachstellen. Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt haben sollte.« Unwillkürlich löste Markalf seinen Griff um den Schwertknauf. »Schon gut«, murmelte er betroffen. Die Worte des Postens machten ihn nachdenklich, und er sah nach Süden. Dort funkelten die düsteren Farben der bösen Zone. »Sollten es Schattenreiter sein?« fragte er leise. Der Posten wurde blaß. »Bei den Göttern«, hauchte er. »Alles, nur das nicht… die Prinzessin!« Er fuhr herum. Seine Augen weiteten sich. Markalf stieß einen erstickten Laut aus. Wie auf ein unhörbares Kommando hatten sich die drei Pferde in Bewegung versetzt. Sie trabten davon, auf den Palast zu, um irgendwo in den Gärten zu verschwinden. Niemand vermochte sie aufzuhalten. Es war, als habe jemand ihnen den Befehl erteilt, sich zu verbergen, weil sich plötzlich Menschen 38
für sie zu interessieren begannen. Das konnte nur bedeuten, daß die drei Reiter unerkannt bleiben wollten und sich der Öffentlichkeit entziehen wollten. Ein Blick in das Gesicht des Wachtpostens verriet Markalf, daß dieser dieselben Gedanken hegte. Die Ahnung einer unermeßlichen Gefahr sprang Markalf an. Daß die wirkliche Gefahr von einer völlig anderen Seite kommen würde, ahnten beide nicht.
»Wir könnten es schaffen«, flüsterte Larashi. »Aber nur, wenn wir sehr schnell sind und wenn unsere Flucht nicht entdeckt wird, ehe die Hälfte der Nacht vorüber ist. Dann könnten wir in den frühen Morgenstunden, kurz bevor es hell wird, Horai erreichen.« Mythor schüttelte bedächtig den Kopf. »Wie schnell, meinst du, müßten wir laufen?« Ihr Gespräch wurde im Flüsterton abgehalten. »Sehr schnell«, murmelte der alte Diener. »Etwa zweimal so schnell, wie wir den ersten Teil unseres Weges gegangen sind.« »Hältst du das durch?« »Ich denke, ja«, sagte der Alte, aber Mythor traute diesem Versprechen nicht. Zwar hatte Larashi nicht einmal geklagt, als sie marschierten, aber er war kein junger Bursche mehr. Mythor befürchtete, daß sich das auf einer raschen Flucht bemerkbar machen würde. Offenbar waren sie weiter von Horai entfernt, als er gedacht hatte. Er huschte zu Sadagar und besprach sich mit ihm, dann schlich er zu No-Ango. Er hielt es für zu auffällig, wenn sie alle vier die Köpfe zusammensteckten. Sadagar hegte Zweifel; No-Ango behauptete, man solle jede sich bietende Chance ausnutzen. Damit war Mythor so klug wie zuvor. Es war und 39
blieb seine Entscheidung, und vor allem hatte er dabei Larashis Ausdauer zu bedenken. Der Alte war das schwächste Glied in ihrer Kette. Allmählich verstummten die Unterhaltungen. Das Feuer brannte niedriger; kaum mehr als die Glut existierte noch. Die Männer sanken in Schlaf. Mythor und seine Gefährten schliefen nicht. Mythor hatte sich entschieden, die Flucht zu versuchen. Der Wächter wandte ihm den Rücken zu, als der Sohn des Kometen sich lautlos erhob. Aber im gleichen Augenblick, als er ihm die betäubende Faust an den Kopf schlagen wollte, schob sich die Spitze eines Schwertes in seine Seite. Mythor erstarrte. Langsam wandte er den Kopf und sah in die seltsam funkelnden Augen Jassams. »Vergiß es«, flüsterte Jassam. Ruhig steckte er das Schwert wieder ein und ließ sich zurücksinken. Jassam wußte ebenso wie Mythor, daß Mythor es nicht auf einen Kampf ankommen lassen würde angesichts der Überzahl. Ein Laut würde genügen, die Männer zu wecken. Und Mythor begriff noch mehr. Jassam war schlau genug gewesen und hatte den Fluchtversuch erahnt. Mythor war sicher, daß außer dem Wächter, der am Feuer saß, ständig ein weiterer Mann wach sein würde, der sein Wachsein nicht verriet, sich aber zum Eingreifen bereit hielt. Immerhin waren Jas-sams Männer zahlreich genug, um Doppelposten einrichten zu können. Mythor und seine Gefährten waren Gefangene.
Markalf eilte zur Karawane zurück. Der Posten hatte ihn verabschiedet. Es lag kein Grund mehr vor, sich länger zu unterhalten. Krieger und Händler waren stets verschiedene Sorten Mensch gewesen, und der eine verstand das Handwerk des 40
anderen nicht. Die gemeinsame Einstellung fehlte, obgleich Markalf sich sicher unter dem Schutz der Krieger fühlte und die Krieger sich freuten, wenn sie von den Händlern kaufen konnten. Markalf überlegte, wer die Fremden sein mochten. Sie mußten über gewaltige Macht verfügen, wenn sie ungehindert die Posten durchschreiten und den Palast betreten konnten, obgleich niemand sie kannte. Wer waren sie? Abgesandte der Schattenzone, der bösen Mächte? Markalf wußte es nicht. Und er war auch nicht begierig, es zu erfahren, trotz seiner sprichwörtlichen Neugier. Der Hauch des Bösen hatte ihn gestreift und ließ ihn erschauern. Er war froh, wieder bei den Gefährten im Schutz der Karawane zu sein. Gegen Morgen brachen sie wieder auf. Mythor entging nicht das spöttische Grinsen Jassams, und er lächelte resigniert. Es mußte eben eine andere Möglichkeit geben, sich zu entfernen, denn daß Jassam keine guten Absichten hegte, war den vieren nach dieser Nacht nun endgültig klar. Aber Jassam hüllte sich in Schweigen. Mit keinem Wort verriet er, was er wirklich beabsichtigte. Auf den Orhaken kamen sie rasch voran. Als weit vor ihnen die Stadt auftauchte, bereitete Mythor sich innerlich auf einen kurzen, aber heftigen Kampf vor. Doch Jassam ließ ihm kaum eine Chance. Er saß hinter Mythor und war dadurch im Vorteil. Mythor beschloß zu warten, bis sie in der Stadt waren. Je näher sie kamen, um so phantastischer wurde das Bild, das vor ihnen emporwuchs. Horai lag direkt am Rand des Salzspiegels, jener sich endlos erstreckenden, weißbraunen Fläche, wo sich nur hin und wieder eine wandernde Salzdüne oder andere dunkle Punkte erhoben. Horai war ausgedehnt und wimmelte von Menschen. Schon am frühen Morgen herrschte in den Straßen reges Treiben. 41
Erstaunt stellte der Sohn des Kometen fest, daß sich etwa fünf oder sechs Karawanen hier getroffen hatten. Aber sie hielten sich nicht in einer Karawanserei auf, wie man das normalerweise erwartet hätte, sondern sie bildeten einen Teil der Stadt! Zelte beherrschten das Stadtbild. Große, kleine, flache, hohe und bunte. Sie waren in schreienden Farben oftmals kunstvoll bemalt, Frauen und Kinder eilten über die Straße, ohne sich um Laufvögel oder Karren zu kümmern. Stimmengewirr schmetterte in seine Ohren; so bunt Zelte und Kleidung der Südländer waren, so laut waren sie auch. Als sie den Stadtrand erreichten – eine Befestigungsmauer gab es nicht –, kamen sie an einer Streife von fünf schwerbewaffneten Fußsoldaten vorbei, die ihre Runde um die Stadt zogen wie etliche andere Trupps auch; sie befanden sich in Rufweite voneinander entfernt. Jassam gab barsch Auskunft über den Zweck seiner Ankunft, und der Streifenführer lachte rauh auf. »Das ist gut, Mann«, brüllte er. »Wir können nicht genug Krieger haben, um gegen die Düsternis anzustehen.« Mythor glaubte Jassam nicht mehr, daß dieser sich mit seinen Männern tatsächlich anwerben lassen wollte. Dieser Bursche hatte etwas anderes im Sinn, und es wurde Zeit, sich von ihm zu trennen. Es fehlte nur noch die passende Gelegenheit. Dichtgedrängte Menschenmassen, zwischen denen man blitzschnell untertauchen konnte, verwinkelte Zeltstraßen… Mythor ließ seine Blicke wandern. Palast und Festung lagen dicht beieinander, beide in ihrer Form deutlich zu unterscheiden. Die Festung mit ihren protzigen Bollwerken und Wehrtürmen, der Palast mit weit ausladenden Freitreppen und Balkonen und verspielten Türmchen… Unwillkürlich stellte Mythor sich Arruf, den Meisterdieb, vor, wie er sich als Fassadenkletterer betätigen mochte. Der Palast bot sich förmlich für abenteuerliche Verfolgungsjagden an. Mythor ahnte nicht, wie bald er sich schon wieder an dieses 42
Gedankenspiel erinnern sollte… Eine Reihe fester Steinhäuser gab es auch unter den Zelten und Jurten. Mythor fragte sich, wer wohl darin wohnen mochte. Vielleicht auch der Stumme Große, zu dem Larashi ihn führen wollte? Sie kamen an mehreren ausgedehnten Märkten vorbei, auf denen die Händler sich zu überschreien versuchten. Direkt an der Straße warf eine lautstark keifende Marktfrau einem in weiten Sprüngen davonhetzenden Sklaven ganze Salven von leicht platzenden Früchten nach; ihrem Geschrei war zu entnehmen, daß der Sklave eine eben dieser Früchte hatte stibitzen wollen und dabei von der Marktfrau ertappt worden war. Unwillkürlich lächelte Mythor. Wieder Zelte, Menschen, Tiere. Auffällig waren die groß angelegten Gehege mit Laufvögeln: Diatren und Orhaken, vornehmlich aber die kräftigen Diromen, die neben ihren Reitern auch noch Lasten tragen konnten. Mythor entdeckte auch einige Yarls, und Erinnerungen an Churkuuhl wurden in ihm wach, das »entlaufene« Wanderfort, auf dem er seine Jugend zugebracht hatte und das an der tainnianischen Steilküste ins Meer der Spinnen stürzte… Aber diese Yarls, auf deren gepanzerten Rücken sich Häuschen erhoben, waren nicht besessen und waren fest in der Hand ihrer Yarl-Führer. Wieder tauchte ein Markt vor der Reitergruppe auf. »Der Markt der Bräute«, schnappte Mythor aus der lautstarken Unterhaltung einiger Männer auf. Er konnte sich nicht allzuviel darunter vorstellen, aber er sah dichtgedrängte Menschenmassen und hoffte, daß die anderen ebenso rasch reagieren würden wie er. Jäh stieß er beide Ellbogen nach hinten. Jassam, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit einem Angriff gerechnet hatte, flog fast aus dem Sattel und mußte mit beiden Händen zugreifen, um nicht tief zu stürzen. Unglücklicherweise hielt er sich 43
dabei mit einer Hand an Mythors Oberarm fest, und da dieser sich im gleichen Moment nach vorn vom Orhako fallen ließ, stürzten beide. »Achtung!« schrie Jassam und prallte schwer auf den hartgetretenen Sand der Straße. Menschen sprangen überrascht zur Seite. Irgendwo ertönte ein schriller Schrei, und einer von Jassams Männern flog in hohem Bogen von seinem Laufvogel. No-Ango hatte ihn aus dem Sattel befördert und machte jetzt einen Sprung zum Nachbartier, auf dem sich der Vogelreiter gerade näher mit Larashi befassen wollte, der zu langsam reagiert hatte. Die Vögel wurden unruhig und tänzelten. Mythor begriff, daß sie sich plötzlich einmal in höchster Gefahr befanden, angegriffen zu werden, zum anderen aber die Reiter genug zu tun hatten, ihre Tiere unter Kontrolle zu halten. Denn wenn diese durchgingen und die Menschenmengen niederrannten, konnte es für ihre Besitzer übel ausgehen. Die Soldaten des Shallad waren überall, und sie würden mit den Unruhestiftern kurzen Prozeß machen. Jassam kam fast so schnell wieder hoch wie Mythor, zog dabei aber blank. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er das Schwert schwang. Da war ein Schatten hinter ihm, holte einmal kurz aus und rieb sich dann die schmerzende Faust, während Jassam mit törichtem Gesichtsausdruck besinnungslos auf die Straße stürzte. »Beim Kleinen Nadomir, hat der Bursche einen Eisenschädel«, murmelte Sadagar. Mythor faßte ihn am Arm und zog ihn mit sich. No-Ango hatte seinen zweiten Gegner inzwischen ausgeschaltet und zerrte Larashi mit sich. Er hatte erkannt, was Mythor beabsichtigte: im Gewühl auf dem Markt der Bräute zu verschwinden. Flüche und Beschimpfungen wurden hinter ihnen laut, wäh44
rend die vier Männer sich durch die Menge arbeiteten. Jassams Männer folgten ihnen, aber schon sehr bald zeigte sich noch ein weiteres Phänomen. Mythor und seine Begleiter hatten ihre Waffen steckenlassen, die anderen aber schwangen wild ihre Schwerter und Dolche. Und wunderbarerweise war die Menschenmauer, die sich hinter Mythor und den Gefährten schloß, ungleich dichter und schwerer zu durchdringen als vor den Flüchtenden. Sie schlugen Haken, achteten darauf, sich nicht gegenseitig aus den Augen zu verlieren, und wurden langsamer. Aber Jassams Leute waren ihnen nach wie vor auf den Fersen, als sie den Rand des Marktes auf der gegenüberliegenden Seite erreichten. Hier schlossen ein großes Laufvogelgehege und eine Unmenge von Zelten an. Mythor hob die Hand und deutete auf das erste Zelt. »Frechheit siegt«, sagte er. »Hinein. Niemand wird annehmen, daß wir ausgerechnet in ein Zelt eindringen.« Er schlug den Eingang des großen Zeltes zurück und verschwand im Innern, gefolgt von den anderen.
Ein spitzer Schrei war das erste, was Mythor vernahm. Er sah eine junge Frau, die diesen Schrei von sich gegeben hatte. Immerhin eine verständliche Reaktion, wenn man vier Männer ungestüm und ungebeten hereinkommen sieht, aber in diesem Moment war die Reaktion mehr als unerwünscht, Mythor hielt ihr den Mund zu und hatte Augenblicke später genug zu tun, ihre kratzenden Fingernägel und Tritte gegen die Schienbeine abzuwehren. Als sie damit nicht durchkam, biß sie ihn in die Hand. »Bei Quyl«, stieß Mythor hervor. »Hör auf, zu schreien und zu strampeln, wir wollen doch gar nichts von dir!« Er ließ sie los und gab Sadagar einen Wink. Der Steinmann huschte zum 45
Zelteingang zurück und lugte durch den schmalen Spalt. »Was… was wollt ihr, und wer seid ihr?« stieß die Frau mit großen Augen hervor. Sie war jung und hübsch, und ihre Schönheit wurde lediglich von einem schmalen Tuch verdeckt, das sie sich um die Hüften schlang und hastig verknotete. Mit raschem Blick erkannte Mythor einen kleinen Spiegel und diverse Tiegelchen und Töpfchen mit Schminksalben und Duftwässerchen. Offenbar war sie damit beschäftigt gewesen, sich äußerlich noch weiter zu verschönern; ein Unterfangen, wie Mythor fand, das mehr als überflüssig war. Sie wich bis in den hintersten Winkel des Zeltes zurück und verschränkte die Arme. Mythor setzte sich auf einen Schemel. »Verzeih unser Eindringen«, sagte er. »Wir wollen nichts von dir und werden gleich wieder verschwinden, ohne etwas zu rauben oder dir Gewalt anzutun. Aber wenn jene, die uns verfolgen, uns hier entdecken, kann es sein, daß so etwas geschieht.« Die Frau schluckte heftig. No-Ango musterte sie und lächelte freundlich; der weiße Streifen, der sich durch sein Gesicht und über seinen Schädel zog, verlieh diesem Lächeln einen verfälschenden Ausdruck. Larashi keuchte kurzatmig und sah auf seine Schuhspitzen. Sadagar stand lauernd am Zelteingang und hielt nach den Verfolgern Ausschau. Offenbar war noch keiner von Jassams Männern in Sicht. Aber das konnte sich rasch ändern. Das Zelt war in der Mitte durchgeteilt. Mythor machte eine deutende Kopfbewegung auf die andere Hälfte. »Du bist allein?« fragte er. »Nein… ja!« sagte die Frau. »Aber mein Vater kann jederzeit zurückkehren. Er ist auf den Markt der Bräute gegangen, um zu schauen, wie das Angebot heute ist.« Mythor hob die Brauen. »Dreht euch einen Augenblick um«, verlangte die Frau, all46
mählich sicherer werdend, weil ihr niemand etwas tat, außerdem strahlte Mythor irgendwie Beruhigung und Vertrauen aus. Sie glaubte nicht, daß er log. Schmunzelnd wandte der Krieger sich um und faßte auch No-Ango und Larashi an den Schultern, um sie kehrtmachen zu lassen. Er hörte dünne Stoffe rascheln, und als die Frau ihnen erlaubte, sie wieder anzusehen, trug sie eine helle Seidenbluse und einen kurzen Rock, der sehr viel von ihren schlanken Beinen zeigte. »Einer taucht auf«, sagte Sadagar leise. Sie schwiegen und warteten ab. No-Angos Hand verschwand unter seinem Umhang, um nach der Pfeilschleuder zu greifen. »Er geht vorbei. Er hat wohl nichts bemerkt«, sagte der Steinmann nach einer Weile. Die Männer entspannten sich; irgendwie mußte die Spannung auch auf die junge Frau mit dem geflochtenen schwarzen Haar übergegriffen haben, denn jetzt ließ sie ihre Schultern leicht sinken. Sadagar wandte sich vom Zelteingang ab und ließ sich neben Mythor nieder. »Ich denke, wir warten noch ein wenig und verschwinden dann wieder, wenn die Luft endgültig rein ist. Sie werden sich geteilt haben und kämmen jetzt den Markt nach uns ab.« In diesem Augenblick wurde der Eingang geöffnet. Ein hünenhafter Mann, fast zwei Köpfe größer als Mythor, trat ein. Und augenblicklich fuhr seine Hand zum Schwert, als er die vier Männer erblickte. Mythor sprang auf, wich ein paar Schritte zurück und streckte seine leeren Handflächen gegen den Eintretenden aus. Er hätte es sich wohl zugetraut, es mit dem größeren und vielleicht stärkeren Mann aufzunehmen, aber warum sollte er sich einen weiteren Feind machen? Der Feinde hatte er genug unter den Kämpfern der Schattenzone, außerdem flößte ihm der 47
Mut des Mannes, gegen vier Fremde zugleich die Klinge zu ziehen, einigen Respekt ein. »Warte, guter Mann«, sagte er hastig. »Vater!« schrie die Frau im gleichen Augenblick auf. »Oha«, grollte der Hüne. »Warum sollte ich warten? Ihr habt auch nicht gewartet, bis ich zurückkehre! Die Schatten sollen euch fressen, aber vorher bekommt ihr meine Klinge zu schmecken!« Er hieb nach Sadagar, der blitzschnell auswich. Larashi begann zu zittern, und der Rafher hob die Faust. »Wieviel hat er euch gezahlt, dieser Schuft?« brüllte der Hüne und führte einen Rundschlag durch. »Sprich, oder ich durchbohre dich!« Mythor schielte zum Ausgang, während er den wilden Schwerthieben auswich. Entweder war der Hüne nicht der geübte Kämpfer, als der er im ersten Ansehen wirkte, oder er spielte mit den vier ungebetenen Gästen. »Wer soll wieviel wofür gezahlt haben?« fragte Mythor zurück, griff blitzschnell nach einem Tonkrug, in dem sich ein paar farbige Blumen tummelten, und hielt ihn dem Hünen entgegen. Klirrend zerbrach der Blumentopf unter dem nächsten Schlag des breiten Schwertes. »Ceha Ricard, der elende Schurke!« schrie der Mann. »Nicht!« schrie seine Tochter wieder aus ihrer Ecke hervor. »Du irrst, sie sind nicht Ricards Männer!« Abrupt erstarrte er. Die Hand mit dem Breitschwert fiel herab, die Kinnlade ebenfalls. Augenblicke lang sah er sprachlos von einem zum anderen. Mythor grinste jungenhaft, Sadagar verzog mürrisch das Gesicht, und Larashi sagte überhaupt nichts. No-Angos Haltung entspannte sich; der junge Mann stand mittlerweile hinter dem Hünen und ließ die Faust sinken, mit der er den skurrilen Kampf beenden wollte. Mythor stellte sich und die anderen vor. »Deine Tochter, Mann des heißen Blutes, hatte die Güte, uns vor dem Zugriff 48
böser Menschen zu verbergen, die uns als Sklaven verkaufen wollten, wie ich annehme. Wir sind ihr also zu Dank verpflichtet.« Der Hüne sah seine Tochter an. Seine Augen wurden schmal. »Hatte ich dir nicht aufgetragen, niemanden in meiner Abwesenheit hereinzulassen und laut um Hilfe zu schreien, falls es doch jemand täte? Nichtsnutziges Gör! Und was trägst du da für Kleidung, als befändest du dich bereits auf dem Markt? Zieh dir sofort einen langen Rock an!« Die junge Frau sah an sich hinunter, Mythor ebenfalls. »Laß es gut sein, Mann«, sagte er. »Um sich umzukleiden, müßte sie den kurzen Rock erst einmal ausziehen… Sag an, für wen hast du uns denn gehalten, daß du so ungestüm angriffst?« Der Mann schob das Schwert in die Scheide zurück und ließ sich auf eben jenen Schemel plumpsen, den zuvor Mythor benutzt hatte; das Möbelstück ächzte verdächtig, hielt aber stand. »Für Ceha Ricards Handlanger«, sagte er und glaubte damit, alles gesagt zu haben. Mythor zuckte mit den Schultern. »Wer ist das?« fragte er. Der Hüne grollte. »Der Vater der zahlreichsten und häßlichsten Tochter nach Shallad Hadamur«, stieß er hervor. »Er weiß, daß er keine Chancen hat, sie zu einem guten Preis loszuwerden, wenn meine Lya, Tochter Hayads des Starken, auf dem Markt erscheint. Und deshalb versucht er sie zu rauben, ehe ich sie anbieten kann.« Mythor wechselte rasche Blicke mit seinen Gefährten; entweder war Hayad der Starke nicht der Hellste, oder es herrschten hier eigenartige Gebräuche. »Wir sind fremd hier«, sagte er. »Es mag von Vorteil sein, wenn du uns ein wenig von dem erzählst, was hier geschieht. Ich zahle dir auch dafür gern ein Bier oder zwei.« »Das ist ein Wort!« brüllte Hayad der Starke und streckte 49
Mythor die Pranke hin. Mythor schlug ein und bemerkte alsbald, daß Hayad es auf eine Kraftprobe ankommen lassen wollte; sie zerdrückten sich gegenseitig zäh die Hände, bis es Sadagar zu bunt wurde. »Habt ihr bis morgen früh Zeit?« fragte er mürrisch. »Dann könnt ihr euch ja weiter zerquetschen. Wir sehen uns inzwischen in der Stadt um!« »Warte«, knurrte Hayad und ließ Mythors Hand los. »Nicht ohne mir ein Bier ausgegeben zu haben! Laßt uns zur Schenke gehen.« Mythor stimmte zu. Sie verließen das Zelt, nicht ohne daß Mythor einen bedauernden Blick auf die aufregend langen Beine der jungen Frau geworfen hatte. Auch No-Ango schien interessiert zu sein; er blinzelte ihr kurz zu. Hayad bemerkte es. »Möchtest du sie haben?« fragte er. »Langsam, nur nichts überstürzen«, antwortete der Letzte der Rafher, der eine böse Falle hinter dem Angebot witterte. »Laß uns erst einmal das Bier trinken. Und dann erzählst du uns mehr über die Stadt.«
Inzwischen hatte sich die Szene auf der anderen Seite des Marktes der Bräute wieder beruhigt. Die beiden Männer Jassams, die zurückgeblieben waren, um die Tiere zu halten, hatten ihre liebe Not damit gehabt. Zweimal hatten Diebe versucht, ihnen einige Orhaken gewissermaßen unter ihren Augen zu entwenden, und beide Male waren diese Diebe zwar unverrichteter Dinge, aber auch unbeschadet entkommen. Zwischenzeitlich erwachte auch Jassam selbst wieder von dem harten Schlag, mit dem Sadagar ihn niedergestreckt hatte. Zu aller Überraschung schäumte Jassam nicht, sondern schickte einen der beiden Männer los, um die anderen zurückzuholen. 50
»Schade«, sagte er nur. »Die vier Burschen wären eine große Hilfe gewesen. Aber vielleicht klappt es dennoch, daß sie für uns arbeiten, ohne es zu wissen.« Er flüsterte es. Keiner der vielen Menschen, die sich auf der Straße und auf dem Markt drängten – in der Nähe des Marktes der Bräute waren es bezeichnenderweise bis auf wenige Ausnahmen nur Männer –, hörte es. Und das war auch ganz in Jassams Sinn. Mythors Vorsicht erwies sich als unbegründet; keiner von Jassams Galgenvögeln war zu sehen. Sie hatten wohl die Verfolgung aufgegeben oder suchten längst in anderen Teilen der Stadt. Die Schenke war eines der gemauerten Häuser. »In den Steinhäusern«, hatte Larashi erklärt, »leben nur diejenigen, die wirklich auf Dauer hier wohnen. Horai als Kreuzweg der Lichtwelt, als Treffpunkt mehrerer Karawanenstraßen, ist im Grunde nicht mehr als eine riesige Karawanserei, ein riesiger Markt und ein Hafen am Salzspiegel. Hier laufen auch die Wüstensegler ein, und ihre Besitzer handeln mit den Karawanen und den Wandervölkern. Nur wer für immer hierbleibt, baut sich ein Steinhaus. Das sind vor allem die Beamten des Shallad, vornehmlich die Steuereintreiber, die ständig unterwegs sind, um von den Händlern den zehnten Teil ihres Gewinnes in die Kassen des Shallad zu raffen.« »Die Schatten mögen sie fressen«, knurrte Hayad der Starke. »Auch an mir werden sie verdienen.« »Ansonsten wohnen Richter hier, falls Streitigkeiten zu schlichten sind, was sehr häufig vorkommt«, fuhr Larashi fort, der im Auftrag seines Stummen Großen oftmals in Horai gewesen war und sich etwas auskannte. »Vor allem zwischen Steuereintreibern und Händlern«, knurrte Hayad und trat die Tür der Schenke auf. »Dann gibt es noch Zöllner und Begutachter für Laufvögel«, 51
fuhr Larashi unbeirrt fort, »die…« Mythor konzentrierte sich mehr auf die Einzelheiten. Alles Obrigkeiten im Dienst des Shallad, dachte er, und die waren für ihn nicht sonderlich von Interesse. Es reichte zu wissen, daß es sie gab. Auf das, was wichtig war, würden Larashi oder Hayad früher oder später von selbst zu sprechen kommen. Mythor ließ Larashis Ausführungen und Hayads bissige Zwischenbemerkungen an sich vorbeiplätschern und sah sich in der Schenke um. Sie sah aus wie tausend andere auch und war mäßig besetzt; ein feister Wirt und eine schlanke, sparsam bekleidete Frau bedienten die wenigen Gäste, die sich zu dieser frühen Vormittagsstunde eingefunden hatten. Die fünf Männer ließen sich an einem Rundtisch nieder. »He, Wirt!« brüllte Hayad der Starke. »Rolle ein Faß schäumenden Bieres heran, der ehrenwerte Herr hier«, er deutete auf Mythor, »zahlt!« »Von einem Krug oder zweien war die Rede«, schränkte Mythor ein. Nicht, daß ihn die Unverfrorenheit des Hünen verdrossen hätte, aber mit Zahlungsmitteln war er wie auch die anderen ein wenig knapp. Die Frau brachte das Bier. Hayad grinste sie an, erfolglos. Mit Sicherheit hatte sie täglich hundert Verehrer an jedem Finger, von denen neunundneunzig besser aussahen als der Vater Lyas. Hayads Bemerkungen fielen Mythor wieder ein, gleichzeitig der eigenartige Begriff »Markt der Bräute«. Auf seiner Flucht hatte er zwar keine Gelegenheit gehabt, auf das zu achten, was feilgeboten wurde, aber nur zu deutlich war ihm das Wort »Sklavenmarkt« ein Begriff. Er fragte Hayad danach. »Ceha Ricard«, grollte Hayad prompt. »Dieser Schuft! Vielleicht läßt er Lya in diesem Moment entführen…« Er sprang auf, sah aber dann wieder das Bier vor sich und setzte sich wieder. »Er will seine eigenen Chimären verkaufen«, stieß er 52
hervor, »obwohl er weiß, daß er sie nicht los wird. Aber er braucht Geld, wie jeder hier. Und deshalb glaubt er, mit meiner Lya einen stolzen Preis erzielen zu können, der ihn über seine verschmähten Tochter hinwegtröstet.« Mythor beugte sich leicht vor. Gewaltsam unterdrückte er das Entsetzen, das in seiner Frage mitschwingen wollte: »Soll das heißen, daß Väter ihre Töchter verkaufen wie Sklavinnen?« »Wie Bräute!« korrigierte Hayad stolz. »Heiratswillige Männer zahlen für schöne Mädchen stolze Preise.« Mythor entsann sich, außerordentlich viele alte Männer gesehen zu haben, die den Markt bevölkerten. Wahrscheinlich waren es jene, die zu alt oder zu häßlich waren, um auf anderem Weg an eine Frau zu kommen. »Lya ist die Schönste von allen, und sie wird einen Spitzenpreis erzielen«, prahlte Hayad, und Mythor konnte ihm in diesem Fall nicht einmal widersprechen. Kein Wunder, daß Konkurrenten hinter ihr her waren… »Und was sagt Lya dazu?« fragte No-Ango plötzlich. Auch ihm war diese Art von Menschenhandel wohl nicht geheuer. »Sie gehorcht ihrem Vater«, knurrte Hayad der Starke und sah den Grund seines leeren Bierkrugs. »Sprachst du nicht von vier bis zehn Bieren, Mythor?« Er winkte der Frau mit dem langen Haar. »Ich finde zuviel Luft in meinem Krug!« Mythor starrte den Hünen angewidert an. Bedauern keimte in ihm auf, ihn nicht doch gehörig verprügelt zu haben. Diese Gebräuche gefielen ihm ganz und gar nicht. »Ein Krug, scheint mir«, sagte er und erhob sich, »ist genug.« No-Angos Gesicht war ausdruckslos, als er sagte: »Was verlangst du für deine Tochter?« Mythor furchte die Stirn. Was wollte No-Ango? Hayad nannte seinen Preis. Er war hoch. No-Ango zog eine Geldkatze hervor und zählte die Münzen 53
ab. »Ich zahle dir den Preis«, sagte er verachtungsvoll. »Und mein Wille ist, daß deine Tochter sofort dein Zelt verläßt. Ist sie heute abend noch bei dir, werde ich dich töten.« Er warf die Münzen vor Hayad auf den Boden und wandte sich um. Mythor, Sadagar und Larashi folgten ihm. No-Ango warf dem Wirt noch eine Münze zu. »Das reicht für das Bier, denke ich«, sagte er. Finster starrte Hayad der Starke ihnen nach, als sie die Schenke verließen.
»Ein hoher Preis für eine Auskunft, die euch wohl kaum etwas nützt«, sagte Larashi, als sie schon über hundert Schritte von der Schenke entfernt waren. Abrupt blieb No-Ango stehen. Seine Augen schienen Blitze zu verschießen. »Ich mag es nicht, wenn Väter ihre Töchter verkaufen«, sagte er scharf, »und ich denke, Mythor und Sadagar ergeht es ebenso. Ich hätte den Alten töten sollen. Aber das würde die hiesigen Gebräuche auch nicht ändern. Wir sind zu wenige dazu.« »Was willst du machen, wenn er das Geld einstreicht und sie dennoch auf dem Markt der Bräute feilbietet?« fragte Sadagar. »Denn er wird begriffen haben, daß du Lya nicht für dich wolltest, sondern sie freikaufen willst.« »Ich werde es überprüfen«, sagte No-Ango. »Und wenn er es wagt, werde ich ihn erschlagen.« Nachdenklich gingen sie weiter. Mythor legte No-Ango kurz die Hand auf die Schulter und nickte ihm anerkennend zu; er billigte No-Angos Verhalten in der Schenke. Hätte er selbst über genügend Geld verfügt, hätte er nicht anders gehandelt. Er entsann sich zu gut jenes Augenblicks auf der Goldenen Galeere, als er Herzog Krude von Elvinon dem Prinzen Nigomir im Tausch gegen seine eigene Freiheit anbot, besessen von 54
dem Gedanken, das singende Schwert Alton zu erlangen. Und war es Zufall, daß ebendieser Herzog Krude jetzt zu den drei Todesreitern Drudins gehörte, die ihm unerbittlich nachstellten? Alles, dachte er, hat seinen Preis. Seinen damaligen Verrat an Krude konnte er heute nicht mehr verstehen. Vielleicht war er in den vergangenen Monden nicht nur älter, sondern auch reifer geworden – gereift für die Verantwortung, die er als Sohn des Kometen auf sich zu nehmen hatte. Sie bewegten sich durch die Straßen, stets wachsam um sich spähend. Jassams Männer mochten noch immer auf der Suche sein, vermutete Mythor, der längst nicht ahnen konnte, was Jassam wirklich beabsichtigte. Der Markt der Bräute tauchte wieder vor ihnen auf. Jetzt, da sie wußten, worum es sich dabei handelte – Larashi selbst hatte darauf verzichtet, ihnen die Auskunft von sich aus zu erteilen, weil er in seiner Weisheit des Alters erkannte, daß sie sie verstört hätte –, erschien ihnen dieser Markt widerwärtig. Jetzt begriff Mythor, warum sich so viele alte und häßliche Männer hier bewegten; Männer, die auf andere Weise nicht mehr hoffen konnten, eine Frau zu finden. Hier und dort bot ein Rabenvater seine Töchter an. Mythor sah No-Angos Finger zucken. »Du kannst sie nicht alle freikaufen«, mahnte er den jungen Rafher. »Und du kannst auch nicht einen Privatkrieg gegen ganz Horai beginnen. Dieser Markt ist eigentlich nicht das, was ich mir als schön und gut vorstelle. Vielleicht liegt es an der Nähe der Düsterzone, daß hier die Geschmäcker entarten und die Sitten verfallen.« »Ich könnte sie niederschlagen, diese Hunde, für das, was sie ihren eigenen Töchtern antun«, keuchte No-Ango, »Bedenke aber auch etwas anderes«, sagte Larashi plötzlich. »Die meisten Männer, die hier verkaufen, gehören zu den Wandervöl55
kern. Ganze Dörfer und Stämme fliehen den Süden, fliehen vor der Düsterzone, die sich ausdehnt und immer weiter um sich greift. Immer mehr werden es, die ihre Heimat verlassen müssen, um nicht dem Bösen anheimzufallen, und meist verlassen sie ihre Dörfer und Städte erst, wenn es fast schon zu spät ist, also in größter Hast. Sie müssen alles zurücklassen, um wenigstens ihr Leben zu retten. Sie sind arm wie die Tempelmäuse, aber im Norden regiert das Geld. Sie brauchen Geld, wenn sie weiterhin leben wollen, wenn sie Nahrung und Kleidung kaufen wollen. Oft genug fallen sie unter die Räuber, und weil sie durch ihre Armut keine guten Waffen besitzen, können sie sich nicht zur Wehr setzen. Ihr einziges Kapital sind die schönen Mädchen, denn die Greise und Dickwänste in Horai zahlen gut.« »Sie könnten Sklavinnen kaufen«, stieß No-Ango hervor. »Aber wenn ich mir vorstelle, daß sie ihr eigen Fleisch und Blut…« »Oder sie könnten auch ihre Söhne verkaufen«, sagte Sadagar in bitterem Hohn. »Vielleicht gibt es auch einen Markt der Bräutigame.« Larashi überhörte den Spott. »Nein«, sagte er. »Jene lassen sich meist als Krieger anwerben und verlassen ihre Familien.« Mythor schwieg. Auch er machte sich seine Gedanken über dieses Problem, aber er wußte auch, daß er es nicht lösen konnte. Zumindest nicht sofort. Es mochten viele Sommer und Winter vergehen, um diese Zustände zu ändern… und auch nur, wenn das Böse gebannt wurde. Konnte er darauf hoffen? Und noch eine zweite Gefahr stieg vor seinem Bewußtsein auf: zwei Völkerwanderungen! Sadagar und er wußten darum. Aus dem Norden wichen die Menschen vor dem Ansturm der Caer, die die Länder überfielen und verwüsteten, angeführt von ihren dämonischen Priestern, die für die Schattenzone und die Ausdehnung ihrer 56
Macht arbeiteten. Und aus dem Süden kamen jene, die vor der Düsterzone direkt flohen. Wo sollten sie hin? Irgendwo in der Mitte würden sie aufeinandertreffen und nicht mehr weiterwissen, bedroht von allen Seiten, gefangen wie zwischen den Backen einer mörderischen, alles zermalmenden Zange. Und wo Menschen dicht an dicht leben, gibt es Streit, gibt es Krieg. Der Bruderkrieg würde sie zerfleischen… Mythor erschauerte. Es war keine schöne Zeit, in der er lebte. Und es wurde mit jedem Tag schlimmer. Das Böse breitete sich aus. »Woran denkst du?« fragte Sadagar; Mythors Gesichtsausdruck mußte ihm aufgefallen sein. Doch Mythor winkte nur ab und verdrängte die bösen Gedanken. Es mußte eine Möglichkeit geben, das alles zu verhindern. Wenige auserwählte Männer konnten es vielleicht tun; große Kriegerheere versagten. Die verlorene Schlacht von Dhuannin hatte es, gezeigt, Verrat lauerte überall. Das Böse arbeitete mit Intrigen und Heimtücke, nur List, Kühnheit und Lauterkeit konnten dagegen bestehen. Plötzlich blieb der Sohn des Kometen stehen. Sein dunkles Haar wirkte fast schwarz; der Himmel war trübe und verhangen. Die Nähe der Düsterzone… »Mein lieber Freund Larashi«, sagte Mythor. »Du bist doch oft in Horai gewesen, entsinne ich mich. Wie wäre es, wenn du endlich den Mund auftun und uns einiges über die Stadt erzählen würdest, was wir wissen müssen? Und vor allem: Wo ist der Stumme Große, zu dem du uns führen wolltest?« »Der Stumme Große wohnt im Palast des Shallad«, sagte Larashi trocken. Mythor hob überrascht die Brauen. Er entsann sich, daß die Großen nicht gerade hoch angesehen waren, wenngleich sie für das Licht arbeiteten. Aber die Bevölkerung sah in ihnen, 57
die niemals sprachen, da ihre Münder vernäht waren, unheimliche Gestalten. »Eine geradezu bewundernswerte Dreistigkeit«, bemerkte er. »Was, bei Quyl, sagt der Shallad dazu?« Der alte Diener grinste. »Shallad Hadamur geruht in Unwissenheit zu leben«, entgegnete er. »Da er diesen Palast niemals aufgesucht hat, kann er also kaum wissen, wer sich darin eingenistet hat.« »Bemerkenswert«, meinte Mythor. »Erzähl weiter. Was gibt es an Dingen in der Stadt, auf die wir als Fremde besonders achten müssen? Irgendwelche Gebräuche, die uns fremd sind? Bedenke, daß wir von weit her kommen. Vielleicht gibt es außer dem Markt der Bräute auch noch einen Markt der Weitgereisten?« Larashi schüttelte den Kopf. Er erzählte fast wie ein Fremdenführer, während sie in der Nähe des Zeltes von Hayad dem Starken vorbeikamen. »Ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte der Rafher plötzlich. »Wartet einen Moment, Freunde.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in Richtung jenes Zeltes und kam nach einer Weile wieder zurück. Fragend sahen ihn Sadagar und Larashi an; Mythor ahnte, was der Rafher besorgt hatte. »Was war?« fragte Larashi. »Lya«, antwortete er knapp. »Ich habe ihr gesagt, daß die Kaufsumme für sie bezahlt sei, doch niemand Anspruch auf sie erhöbe. Sie könne und solle gehen, wohin sie wolle.« Mythor preßte die Lippen zusammen. No-Ango hatte wohlgetan und dennoch nicht. Denn eine alleinstehende Frau, die niemanden besaß, der ihr Schutz bot, war Freiwild für Sklavenjäger oder – weitaus schlimmer – jene Sorte von Männern, die gewohnt waren, sich mit Gewalt zu holen, was ihnen freiwillig nicht gegeben wurde. »Ist sie noch da?« fragte er. 58
No-Ango schüttelte den Kopf. »Sie ging sofort, raffte nur wenige Dinge zusammen. Sie sah sehr erleichtert aus, wahrscheinlich hatte sie vor ihrem Vater und dem, was er mit ihr beabsichtigte, doch mehr Furcht, als sie sich anmerken lassen wollte. Ich fragte sie, ob sie nicht mit uns kommen wolle, doch sie lehnte ab. ›Ich werde mich schon durchschlagen‹ sagte sie. ›Schlimmer, als einem greisen Fettwanst in die Klauen gegeben zu werden, kann es kaum kommen.‹ Und sie sprach so energisch, daß ich sie nicht halten konnte.« Mythor sah ihn für Augenblicke prüfend an. Aber er wußte, daß der Rafher nicht log. Es war nicht seine Art, sich irgendwie aus der Affäre zu winden. Es war wohl gewesen, wie er es geschildert hatte. »Ich will hoffen, daß sie keinem Sklavenjäger in die Hände fällt«, brummte Mythor besorgt. »Sie ist jung und schön, und sie…« Er verstummte. Einzelschicksale, die zu Herzen gehen mochten. Doch konnte er sich um jeden einzelnen Menschen kümmern? Vielleicht erging es anderen, ohne daß er es wußte, viel schlimmer, und er konnte ihnen nicht helfen. Sein Verstand hämmerte seine Gefühle gewaltsam nieder, und er wußte, daß Wichtigeres zu tun war. Aber wohl war ihm nicht dabei. Und immer noch wußte er nicht, was ihn erwartete.
»Es ist an der Zeit«, sagte sie, »daß es endlich geschieht. In dieser seltsamen Stadt aus Zelten und Händlern hält mich, ehrlich gestanden, nichts. Ich mag Horai nicht.« Der Mann, der den Rang eines Hauptmanns bekleidete und Offizier der Heerscharen des Shallad war, abgestellt als Begleiter der Prinzessin, neigte ergeben sein greises Haupt. Er war über sechzig Sommer alt, und die Zeit seiner Kämpfe war vorbei. Doch er hatte sie alle überlebt, und nun, da er in der 59
Schlacht zu müde war, war sein Talent gewachsen, zu denken und zu planen. Und der Shallad hatte nicht gezögert, ihm jene seiner vielen Töchter anzuvertrauen, die Shezad hieß. »Bevor die Sonne sinkt, wird es geschehen«, sagte er gelassen. Das, was geschehen sollte, war im Grunde nichts anderes als eine Hinrichtung. Tashan, der berüchtigte Piratenführer, sollte um die Länge seines Kopfes kürzer gemacht werden. Das Urteil war gesprochen, und niemand dachte auch nur im Traum daran, daß es rückgängig gemacht werden könnte. Die Krieger des Shallad hatten ihm am Rand des Salzspiegels eine Falle gestellt, und trotz seiner zehn Wüstensegler hatten sie ihn bezwungen. Viele seiner räuberischen Männer waren unter den Klingen der tapferen Krieger von Logghard gestorben, und die Macht des Piraten schien gebrochen. Doch es hieß, daß jener, der nach ihm die Macht besaß, entkommen sei. Tashan, der Pirat, saß im Kerker der Festung, und nur das zählte. Und wenn es nach dem Willen der sieben Richter von Horai und nach der Stimme des Volkes von Horai ging, dann verließ Tashan diesen Kerker nur noch einmal, um seiner Hinrichtung entgegenzugehen. »Du möchtest lieber heute denn morgen abreisen, nicht wahr?« fragte Hauptmann Hrolf leise. Er stand in der Mitte des großen und prunkvoll ausgestatteten Zimmers, in dessen Ecke ein Kaminfeuer knisterte und mit seiner Wärme darüber hinwegtäuschte, daß es in diesem Land erheblich kälter war als vor fünfzig Sommern um diese Jahreszeit. Die Düsterzone breitete sich aus und streckte ihre kalten Finger auch nach Horai aus. Prinzessin Shezad, eine der vielen Tochter des Shallad Hadamur, wandte sich um. Sie stand an dem Spitzbogenfenster, das weit geöffnet war. Ihr Körper hob sich dunkel gegen das eindringende Licht ab, schimmerte bronzen in dem schleierar60
tigen Kleid, das nur um die Brüste und Lenden undurchsichtig war. Sie war nicht gerade schlank, aber für ihre Größe auch nicht zu üppig. Aus der großen Masse der Frauen dieses Landes ragte sie immerhin noch an Schönheit hervor. »Ich bin unruhig«, sagte sie. »Ich fühle Gefahr, aber ich kann nicht sagen, wie sie beschaffen ist und aus welcher Richtung sie kommt.« »Mit Verlaub, Prinzessin, auch Hrobon äußerte sein Unbehagen«, sagte Hrolf. »Vielleicht…« Sie winkte ab. »Sorge dafür, daß alle Vorbereitungen getroffen werden«, verlangte sie. »Ich will keine Zeit verlieren. Wenn Tashans Kopf rollt, will ich abreisen. Nicht länger bleibe ich hier.« Hrolf nickte und ging langsam rückwärts zur lür. »Ich werde Sorge tragen, daß alles nach deinen Wünschen geschieht, Prinzessin«, sagte er. »Gleich werde ich die Anordnungen geben…« »Tu es!« schnitt sie ihm das Wort ab. Er schloß die Tür leise hinter sich. Prinzessin Shezad sah ihm überlegend nach. Hatte sie ihn beleidigt, den alten Mann? Es spielte keine Rolle. Von irgendwoher lauerte Gefahr, und sie fühlte sich beobachtet. Mit einer hastigen Bewegung raffte sie das durchscheinende Gewand enger um den Körper und trat vom Fenster zurück. In ihren schmalen Augen funkelte es. Es wurde Zeit, daß sie Horai verließ. Aber sie hatte den Auftrag ihres Vaters zu erfüllen. Mit halblautem Seufzen ließ sie sich in einen der bequem gearbeiteten Lehnstühle fallen. »Wäre es doch schon vorbei«, murmelte sie leise.
Eine Gestalt huschte davon, verbarg sich in den Schatten zwi61
schen den Baikonen und Freitreppen des Palasts und eilte weiter, sobald niemand hinsah. Der Lauscher hatte gehört, was wichtig war, und es war nichts anderes gewesen als zuvor. Es blieb genug Zeit, den Plan zu vollführen. Zur gleichen Zeit folgte ein anderer Mann vier Personen, von denen drei nie in Horai gewesen waren und der vierte ihnen Dinge erklärte, die an der Tagesordnung waren. Der Beobachter verbarg sich hinter anderen Menschen und zwischen Zelten oder den Ecken von wenigen Steinhäusern und ließ die, die er beobachtete, keinen Lidschlag lang aus den Augen. Die Beobachteten bemerkten ihren Verfolger nicht.
»Wenn nicht die Prinzessin hier wäre«, sagte die schrille Stimme der Marktfrau, »würden kaum so viele Soldaten hier herumlaufen. Sie suchen nach Attentätern, aber wahrscheinlich greifen sie nur ein paar harmlose Landstreicher auf und präsentieren sie ihrem Kommandanten, um behaupten zu können: Hier, wir haben unsere Pflicht erfüllt, da sind die üblen Kerle. Und dann werden sie befördert.« »Ich glaube eher, werte Dame, daß Tashan daran schuld ist«, sagte ihr Gegenüber. Er war hochgewachsen und spindeldürr; der Schatten eines Skeletts hätte ihn mühelos verbergen können. Seine Spinnenfinger wanderten rastlos knapp über den Früchten hin und her, die die Marktfrau zu einem unverschämten Preis feilbot. »Das da und das dort«, sagte er. »Ich nehme jeweils ein Pfund, aber nur zur Hälfte des Preises, den du verlangst.« Der Dürre räusperte sich. »Du bist also mit meinem Preisvorschlag einverstanden, werte Frau?« fragte er vorsichtig an und raffte die Früchte, auf die er gedeutet hatte, in seinen Korb, wobei er sorgfältig darauf achtete, etwas mehr als ein Pfund zu nehmen. 62
»Heda!« schrie sie schrill auf. »Davon war nicht die Rede, guter Mann! Bedenke, daß ich von den kargen Einnahmen des Marktes nicht nur die Gier der Steuereintreiber zu befriedigen habe, sondern auch noch sieben Söhne und Töchter und einen ständig betrunkenen Mann ernähren muß! Sagen wir, sieben Achtel! Bei weniger mache ich Verlust.« »Ich auch«, knurrte der Dürre und begann die Früchte wieder auszupacken. »Gehe ich also ein paar Schritte weiter, dort bekomme ich die Früchte für weniger als die Hälfte deines Preises!« »Das glaube ich kaum«, schrie sie, »denn du wärest dumm, nicht sofort dorthin gegangen zu sein. Mein Herz wird jubeln, wenn der Pirat tot ist. Dann wird endlich wieder Ruhe einkehren und man wieder ohne Gefahr über den Salzspiegel segeln können. Es nahm ja überhand, nicht einmal im Hafen von Horai war noch Sicherheit. Diese Piraten waren doch überall zu finden…« »Ich hatte eben Mitleid mit dir und deinen sieben Söhnen und Töchtern und dem ständig betrunkenen Mann«, erklärte der Dürre. »Sagen wir: Drei Viertel, und wir werden handelseinig.« »Ich bin ruiniert«, jammerte sie, »aber ich sehe, daß du hartherzig bist und nicht mehr zahlen wirst.« Hastig strich sie die kleinen Münzen ein und packte jetzt ihrerseits die Ware in den Korb des Kunden, darauf achtend, daß er ein wenig weniger als ein Pfund von jedem bekam. »Wohin man guckt und spuckt, überall Soldaten«, knurrte der Dürre und kam damit zum Anfang ihres Gesprächs zurück. »Man findet fast kaum noch andere Leute. Es wird Zeit, daß sie wieder abziehen.« »Sie ziehen ab, wenn die Prinzessin weiterreist«, flüsterte die Marktfrau, als gelte es, ein Geheimnis zu verraten. »Und die Prinzessin bleibt nur noch, bis Tashans Kopf im Staub liegt. 63
Dann wird alles wieder etwas ruhiger.« »Shallad zum Gruß«, verabschiedete sich der Dürre, um weiterzueilen. Als er sich abgewandt hatte, schmunzelte die Marktfrau zufrieden. Wenn sie die Abgaben abzog, blieb ihr immer noch mehr als das Doppelte an Gewinn; der Mann verstand nicht genug vom Feilschen. Und daß die Früchte teilweise innen schon leicht angefault waren, das ging ja nun wirklich niemanden etwas an, nicht wahr? Händereibend wandte sie sich dem nächsten Käufer zu, der an ihren Stand trat.
»Eine Auskunft ist es, die ich begehre«, sagte der alte Mann unbehaglich. »Ich hörte deine Unterhaltung mit dem Dürren, Frau, und ich bin verwirrt. Eine Prinzessin ist im Palast?« »Wenn ich dir eine Auskunft gebe, verdiene ich nichts daran, außerdem weiß jeder in Horai, daß Shezad, eine der vielen Töchter des Shallad, im Palast abgestiegen ist. Du solltest lieber eine dieser herrlichen Melonen kaufen. Denke an meine sieben Söhne und Töchter und meinen ständig betrunkenen Mann. Ich…« »Gib die Wassermelone deinen sieben Kindern und deinem Mann zu essen, und sie werden bereits teilweise gesättigt«, brummte Larashi. »Ich danke für die Auskunft, so schlecht die Mitteilung auch ist. Prinzessin Shezad… das darf nicht wahr sein!« Er kehrte zu den drei anderen zurück, die auf ihn warteten, ein paar Schritte seitwärts. Mythor lächelte. »Was hast du? Du siehst ein wenig blaß um die Nase aus.« »Prinzessin Shezad ist im Palast«, stieß der Alte hervor. »Das«, brummte No-Ango trocken, »hörten wir nun bereits in jener bemerkenswerten Unterhaltung und nun auch in der Antwort noch einmal. Was ist so Besonderes daran?« 64
Larashi nagte an der Unterlippe. »Es ist so«, begann er weitschweifig, »daß Shallad Hadamur hier in Horai zwar einen kleinen Palast besitzt, ein Lustschloß gewissermaßen, er hingegen wenig Lust besitzt, dieses Schloß zu bewohnen.« No-Ango grinste. »Wir sehen das Schloß, den Palast«, sagte er. »Ich denke, es ist durchaus verständlich, daß er nicht hier in diesen kleinen Palast einzieht, wenn er sich eine ganze Stadt an der Küste hat errichten lassen. Zumal Hadam nicht weniger weit von Logghard und der Düsterzone entfernt ist als das kleine Horai.« »So ist es«, sagte Larashi. »Es heißt, der Shallad fürchte um sein Leben. Er sollte eigentlich in Logghard residieren, aber dort muß es ihm wohl zu unsicher sein, oder er hätte nicht Hadam, seine Stadt, erbauen lassen, weit genug von Logghard entfernt, um noch ein paar hundert Sommer in Sicherheit zu sein.« »Nicht sicher vor Luxon«, murmelte Mythor zusammenhanglos. »Und nun wohnt also Shezad, eine der vielen Töchter des Shallad, in diesem Palast«, knurrte Sadagar. »Wohlan, so steht er wenigstens nicht nutzlos in der Gegend herum.« Larashi stöhnte. »Lichtfinger wohnt im Palast«, sagte er. »Der Stumme Große«, murmelte Mythor. »Ja, du sprachst davon. Und du glaubst…?« »Lichtfinger hat natürlich nicht die Erlaubnis des Shallad, in seinem Palast zu wohnen«, sagte Larashi. »Das ist einleuchtend, denn wer die Stummen kennt… Nun ja, lassen wir das. Einige der Wachen waren auf seiner Seite und schützten ihn gar in bescheidenem Umfang, aber wer weiß, wie es jetzt ist, da die Prinzessin hier ist. Möglicherweise haben sie Lichtfinger mehr oder weniger sanft aus dem Palast hinauskomplimentiert.« Verrückt, dachte Mythor. Er erinnerte sich daran, welche Stel65
lung die Großen in den Speicherburgen innehatten. Dort wurden sie mehr geehrt. »Das mit der Prinzessin hat uns gerade noch gefehlt«, murmelte Larashi bitter. »Wer weiß, wo er jetzt steckt.« Mythor zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben sich die beiden auch geeinigt. Genaueres werden wir wohl nur im Palast selbst erfahren. Shezad… was treibt sie ausgerechnet jetzt nach Horai? Wir sollten Näheres in Erfahrung bringen.« Sadagar grinste. »Interessierst du dich für sie?« fragte er anzüglich. Wieder hob Mythor die Schultern. »Mich interessiert, was sie hier will, nachdem der Palast lange Zeit leer gestanden hat. Man kann nie genug wissen, mein Lieber.« »Fahrna, die Runenkundige, war auch immer sehr wissensdurstig«, knurrte Sadagar. »Und nun ist sie tot.« »Erstens bin ich nicht der Runen kundig, zweitens heiße ich nicht Fahrna, und drittens soll man sich, bevor man in die Bärenhöhle geht, erst nach mindestens drei sicheren Fluchtwegen umsehen. So sagen zumindest die Jäger in Tainnia.« Sadagar schien die Zusammenhänge nicht zu begreifen. »Fluchtwege?« »Im übertragenen Sinn«, sagte Mythor. »Wissen ist Macht, mein Lieber.« Er legte Sadagar die Hand auf die Schulter. »Komm, Steinmann, wir suchen nach einem, der uns bereitwilliger Auskunft gibt als diese Mutter der faulenden Früchte.«
Männer tuschelten miteinander und schmiedeten einen Plan. Andere Männer beobachteten Mythor und seine Begleiter und berichteten. Der Anführer begann Ungeduld zu zeigen. Wann endlich handelte der dunkelhaarige Nordländer? Augen, im Dunkel verborgen, beobachteten. Fäden wurden gesponnen für ein Netz, in dem sich jemand fangen sollte. 66
Dieser Jemand war nicht Mythor. Er war nur ein Köder, ohne es zu wissen. Unsichtbar und unbemerkt folgten ihm die Beobachter.
Diebe sind überall. Sie kennen verborgene Wege, die sonst niemand kennt, und sie wissen vieles, was nicht einmal dem Bartscherer des Königs bekannt ist. Sie müssen auch über alles und jeden und jede Veränderung Bescheid wissen, wenn sie nicht von den Bütteln erkannt und festgenommen werden wollen, um Nase und Ohren zu verlieren oder Schlimmeres. Und Mythor wußte das, nicht zuletzt aus den Erzählungen Luxon-Arrufs, der in Sarphand der König der Diebe geworden war. Aus Arrufs Erzählungen kannte er auch die Art und Weise, in der mehrere Diebe zusammenarbeiten, und so wurde er mehr als nur mißtrauisch, als er einen hinkenden alten Mann mit einem Bettelstab sah, der sich durch die dichtgedrängten Menschenreihen des Marktes schob und dabei herzzerreißend jammerte, bestohlen worden zu sein. Viele kümmerten sich um ihn und gaben ihm von ihrem Geld, um ihn über den Verlust seines vorher eingesammelten Geldes hinwegzutrösten, doch nur Mythors scharfes Auge sah die flinken Hände jener Gestalten, die mal hier und mal dort blitzschnell Zugriffen, sobald sie erkannt hatten, wohin die edlen Spender ihre Geldkatzen zurücksteckten, und im dichten Gedränge fielen sie dabei kaum auf. Der alte, angeblich bestohlene Bettler war nur Köder und lenkte die Menschen ab von dem, was hinter ihren Rücken geschah. Direkt vor Mythor schob sich eine schmale Hand blitzartig in den weiten Überwurf eines feisten Mannes. Noch schneller war Mythor und umklammerte diese Hand, ehe sie ihr Ziel erreichen konnte. Wie ein Panther fuhr der junge Mann her67
um, als er seine Hand umklammert fühlte, und griff mit der Linken zum Dolch, Mythor grinste ihn an, machte blitzartig seine Faust nicht rund, sondern lang und schmetterte die spitzen Fingergelenke gegen die Waffenhand des Burschen. Der Dolch fiel zu Boden. »Ganz ruhig«, murmelte Mythor freundlich, »oder ich überantworte dich den Schergen. Du bist ein Dieb, wir beide wissen es.« Der Junge versuchte sich aus Mythors Griff zu befreien, doch dessen Finger umspannten sein Handgelenk wie eiserne Spangen. »Bei Quyl«, murmelte der Sohn des Kometen. »Du wirst uns Neuigkeiten erzählen, dann lasse ich dich ziehen. Wenn nicht… du weißt schon.« Er zog den jungen Mann, der nicht viel älter als No-Ango sein mochte, mit sich. »Eine Schenke«, überlegte er. »Dort kann man in Ruhe an einem Tisch sitzen und sprechen.« »Was willst du mit diesem Dieb?« fragte Larashi zornig. »Er gehört aufgehängt! Er bestiehlt andere Leute und…« »Bedachtsam, Diener des Daumenlos«, sagte Mythor und lachte Larashi freudlos an. »Er weiß viele Dinge, die nützlich sind, und er wird sprechen, weil er weiß, daß seine Gefährten ihm nicht so rasch aus der Klemme helfen können. Denn wir sind zu viert und wir sind bewaffnet.« Er zerrte den Burschen weiter mit sich, der dessenungeachtet versuchte, ganz nebenbei No-Ango um dessen Geldbörse zu erleichtern. Der Rafher bemerkte es rechtzeitig und hieb ihm die knorpelartige Verdickung seiner Pfeilschleuder auf die Finger. Der Dieb stöhnte auf. Mythor übersah und überhörte es. Er wußte nur, daß dieser Mann ihm alle nötigen Auskünfte geben würde. Einer aus der Diebesgilde wußte immer Bescheid!
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»Was tut die Prinzessin hier in Horai?« fragte Mythor. Er saß an einem runden Tisch, gefertigt aus roh bearbeiteten Hölzern, dem Dieb gegenüber; links und rechts von Shyr, wie der sich nannte, hatten sich Sadagar und No-Ango niedergelassen. Larashi hockte etwas unglücklich zwischen Mythor und Sadagar. »Was interessiert dich die Prinzessin, Hoher Herr?« fragte Shyr etwas trotzig. »Was willst du überhaupt von mir?« »Wir wollen eines klarstellen«, erklärte Mythor langsam. »Du bist ein Dieb und hast keine Schonung verdient. Wir sollten dich sofort den Bütteln ausliefern. Aber wenn du uns die Antworten gibst, die wir erwarten, bleibst du frei. Was wir dabei bezwecken, geht dich nichts an.« »Ihr seid Spione«, sagte Shyr. »Spione aus der Düsterzone.« »Du armer Irrer«, murmelte Sadagar. »Egal, wer wir sind«, sagte No-Ango plötzlich. »Du wirst reden. Ich bin ein Rafher, und du weißt, daß Rafher niemals den Finsteren gedient haben.« »Das ist wahr«, murmelte der Dieb betroffen. »Also sprich dich aus«, verlangte Mythor. »Der Shallad entsandte Shezad, eine seiner vielen Töchter, zu einer Rundreise durch das Shalladad, und von hier aus soll sie Weiterreisen nach Logghard, um dort den Kriegern Mut zu machen, die der Düsterzone und ihren Angriffen widerstehen. Ihre Anwesenheit soll die Männer zu neuen Heldentaten beflügeln.« Mythor grinste. »Und warum zieht der Shallad nicht selbst nach Logghard, um an der Spitze seiner Männer zu kämpfen, wie es einem Herrscher geziemt?« Larashi hob die Hand. »Shallad Hadamur hat zeitlebens noch keinen Fuß nach Logghard gesetzt«, sagte er, »und solange Mond und Sterne des Nachts und die Sonne am Tage scheinen, wird das nicht anders werden. Und das, obwohl Logghard bis zu Hadamurs Machtantritt stets die Residenz 69
des jeweiligen Shallad war. Warum sonst sollte man sie auch die ewige Stadt nennen? Doch Hadamur hat sich fünf Tagesreisen nördlich von Logghard seine eigene Stadt erbauen lassen.« »Hadam«, erkannte Sadagar. »Dort fühlt er sich sicherer vor den Angriffen der Düsterzone«, fuhr Larashi abfällig fort. »Er, der den Anspruch erhebt, die Fleischwerdung des Lichtboten zu sein.« »Er ist die Fleischwerdung des Lichtboten!« sagte der Dieb überzeugt. Mythor, Sadagar und No-Ango wußten es besser. »Es gehen Gerüchte«, sagte Larashi ungerührt, »daß Hadamur seine Residenz noch weiter nördlich in sichere Gefilde verlegen will. Vielleicht gar nach irgendwo in den Heymalländern.« »Der Shallad ist ein gerechter Herrscher und verdient nicht, daß man so über ihn spricht«, sagte Shyr. »Nun, es ist für uns unwesentlich«, griff Mythor ein. »Deshalb also ist die Prinzessin hier. Bleibt sie für länger?« »Schwerlich«, antwortete der Dieb. »Denn sie wird nur noch der Hinrichtung Tashans beiwohnen und dann gen Logghard reisen.« Er begann zu erzählen, wer Tashan war, denn an Mythors Gesichtsausdruck erkannte er, daß dieser nicht viel mit dem Namen anzufangen wußte. Seit vielen Gezeiten hatte Tashan mit seinen Kaperseglern den Salzspiegel unsicher gemacht und einen Salzsegler nach dem anderen überfallen, geplündert oder meistens sogar gekapert und seiner eigenen Flotte einverleibt. So war sie gewachsen, und es gab kaum noch Handelssegler, sondern fast nur noch Fahrzeuge der Piraten. Seine Macht war immer mehr gewachsen, und in letzter Zeit wagten sich die Segler nur noch zu mehreren hinaus und auch dann nur, wenn sie schwer bewaffnet waren. Doch auch das half wenig gegen die Übermacht der Piraten, die überraschend zwischen Salzdünen auftauchten und die Opfer von 70
allen Seiten zugleich angriffen. Jetzt aber hatten sie den Anführer Tashan endlich dingfest gemacht und zum Tode verurteilt, und am späten Nachmittag dieses Tages sollte die Hinrichtung stattfinden; Mythor sah auf das Stundenglas des Schankwirts. Es war kurz vor Mittag. Larashi wollte etwas sagen, als der Dieb verstummte, aber Mythor gebot Larashi mit einer raschen Geste Schweigen. Shyr, der Dieb, brauchte nicht unbedingt alles zu wissen. Im gleichen Moment sprang Shyr überraschend auf. Polternd fiel der Stuhl, und ehe Sadagar sein Messer schleudern oder No-Angos eisenharte Faust zugreifen konnte, war er auf und davon. »Die Schatten sollen ihn fressen!« stieß Sadagar hervor und sprang auf. »Was fällt dem Kerl ein, einfach zu entwischen?« »Laß ihn laufen«, besänftigte Mythor. »Was ich wissen wollte, weiß ich jetzt. Larashi?« Der Angesprochene entsann sich, daß er etwas hatte sagen wollen. »Ich hoffe, daß Lichtfinger doch noch im Palast anzutreffen ist«, sagte er. »Wenn die Prinzessin nur kurze Zeit bleibt, mag es sein, daß Lichtfinger sich für diese Zeit zurückgezogen hat und irgendwo in einem verborgenen Winkel abwartet.« »Vielleicht hast du recht, Larashi«, gestand Mythor zu. »Genaues werden wir wohl nur erfahren, wenn wir an Ort und Stelle nachfragen. Wir sollten uns allmählich daranmachen, den Palast aufzusuchen.« »Wie – ganz offen?« staunte Larashi. »Dummkopf«, knurrte Sadagar. »Still und heimlich. Ich denke, du kannst uns den Weg weisen. Du kennst Lichtfinger.« Larashi nickte. »Gut, ich führe euch weiter. Ich kenne Männer, die uns in den Palast einlassen werden, wenn wir nach Lichtfinger fragen und er noch da ist.« Langsam gingen sie. Der Wirt hatte wenig an ihnen verdient. 71
Der Beobachter und stumme Lauscher zog sich zurück. Er wußte jetzt, was er seinem Anführer zu berichten hatte, und er eilte durch die Zeltstraßen und zwischen den Steinhäusern hindurch zu den anderen der Gruppe. »Es ist soweit«, stieß er hervor. »Sie machen sich auf zum Palast.« »Es wird genug Aufruhr geben«, sagte Jassam mit spöttischem Lächeln. »Wir können handeln.« Er reckte den Arm hoch. »Es geht los«, sagte er. Seine Männer folgten ihm. Sie kannten ihr Ziel, und sie wußten, daß sie es erreichen würden. Mythor war ungewollt und ohne sein Wissen zu ihrem Helfer geworden.
»Laßt Spinnenglanz vorbereiten«, sagte Hauptmann Hrolf ruhig. »Die Prinzessin wird der Hinrichtung zu Vogel beiwohnen.« Die Diener, denen die Aufsicht und die Pflege der königlichen Laufvögel oblagen, verneigten sich devot; sie wußten, daß der Hauptmann das Sprachrohr und der verlängerte Arm der Prinzessin war. Spinnenglanz war der Name eines Diromos; es war das Reisetier der Prinzessin, stark und schnell und von außergewöhnlichem Aussehen. Durch zahlreiche Kreuzungen war erreicht worden, daß sein Gefieder die Farbe von glitzernden und schillernden Spinnweben erhielt. Das ungewöhnlich schöne Tier gehorchte der Prinzessin unbedingt, selbst dann, wenn sie sich nicht auf seinem Rücken in der Sänfte befand. Hrolf sah einige Augenblicke zu, wie die Diener begannen, das Diromo sattelten. Das kleine Haus, eine Art Zelt auf dem Rücken des Laufvogels, war schnell errichtet und befestigt, 72
und dann begannen die Diener mit der Bestückung verschiedener äußerst luxuriöser Dinge, die der reitenden und reisenden Prinzessin das Leben so bequem wie möglich machen sollten. »Direkt nach der Hinrichtung«, sagte Hauptmann Hrolf, »wird die Prinzessin Horai verlassen. Vergeßt also nicht, alle Dinge in das kleine Haus zu bringen, die sie auf ihrer langen Reise nach Logghard benötigt.« Die Diener und Sklaven nickten zum Zeichen, daß sie verstanden hatten, und fuhren in ihrer Arbeit fort. Hrolf wandte sich ab und stieg wieder die Treppen empor, zurück zu den Gemächern der Prinzessin. Nicht mehr viel Zeit blieb, und je früher das Reittier bereitstand, um so besser war es. Auch galt es noch, diverse andere Dinge zu regeln. Hauptmann Hrolf verließ die ausladende Freitreppe und trat durch eine große Tür in den geschützten Teil des Gebäudes. Ein großes Zimmer nahm ihn auf, und der dahinter liegende Korridor führte ihn zu den Gemächern der Prinzessin. Als er den Korridor betrat, vernahm er ein verdächtiges Geräusch. Als er erstaunt den Kopf wenden wollte, um nach dem Verursacher des Geräusches zu sehen, fuhr kalter Stahl in seinen Rücken.
Seitwärts der Palastmauern blieben sie stehen. Mythor hatte es für unklug gehalten, sich direkt dem Haupteingang zu nähern. Wenn die Prinzessin im Palast wohnte, dann würden die Kontrollen sicher besonders scharf durchgeführt, und wenn sie vorgaben, den Stummen Großen aufsuchen zu wollen, würde man sie mit Fußtritten davonjagen. Immer mehr drängte es Mythor, dem Stummen zu begegnen. Er wollte nach Logghard. Er brannte förmlich darauf, jene Stadt zu erreichen, die sie die »ewige« nannten. Und nur zu 73
deutlich erinnerte er sich an das Angebot, das ihm der Stumme Große Vierfaust schon in Sarphand gemacht hatte. Unter den Schwingen des Rauches sollte Mythor vermittels des Hohen Rufes nach Logghard gebracht werden – weniger Zeit, als für einen Atemzug nötig war, wäre darüber vergangen. Wie auch immer es vor sich gehen sollte – Mythor hatte zu jenem Zeitpunkt Besseres vorgehabt und war förmlich aus dem Tempel der Großen geflohen. Aber der Weg nach Logghard hatte sich als beschwerlich und langwierig herausgestellt, und überall lauerte Gefahr. Es bestand die Möglichkeit, daß dieser Lichtfinger in der Lage war, Mythor mit dem Hohen Ruf ohne weiteren Aufenthalt und Zeitverlust nun doch noch nach Logghard zu bringen. Sadagar sah wie in Gedanken versunken auf seine Fingernägel, sie hatten durchaus eine Reinigung verdient, die er sofort unter Zuhilfenahme eines seiner spitzen Messer vornahm. »Und wie kommen wir an denen vorbei?« fragte er und deutete mit dem Messergriff kaum merklich in Richtung der Palastvorderseite, wo die Wachtposten besonders massiert standen. »Freiwillig werden sie uns wohl kaum hineinlassen, und eine Prügelei möchte ich mir in meinem Alter nur noch leisten, wenn es unabdingbar ist.« Larashi atmete tief durch. »Laßt mich sehen«, sagte er. »Vielleicht ist unter den Wächtern einer, der zu Lichtfinger hielt oder hält. Ich könnte versuchen, ihn zu überreden.« »Tu das«, sagte Mythor und nickte dem Alten aufmunternd zu. Larashi entfernte sich von ihnen. »Beim Kleinen Nadomir«, murmelte Sadagar und kratzte sich unbehaglich im Genick. »Ich habe das dumpfe Gefühl, daß etwas schiefgehen wird, und zwar mit äußerster Gründlichkeit.«
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Ein rascher Wink. Jemand huschte in einen dunklen Winkel. Stimmen tuschelten miteinander, Anweisungen wurden gegeben. Dann verstummte das kaum hörbare Gespräch, und ein Verräter setzte seinen Weg fort. Ein Plan ging auf. Männer führten Laufvögel dorthin, wo sie erwartet wurden. Andere hielten Ausschau nach den Tieren der Krieger, um im entscheidenden Moment eingreifen zu können. Irgendwo in der Nähe rieb sich Jassam die Hände. Alles lief nach Plan. Es mußte gelingen.
»Hauptmann Hrolf!« stieß der Diener überrascht hervor. Mit Entsetzen in den Augen kniete er neben dem Krieger nieder, in dessen Rücken ein Dolch steckte. Hrolf war tot, und er war sicher auf dem Weg zur Prinzessin gewesen. Was ging hier vor? Kalte Furcht packte nach dem Herzen des Dieners. »Hrobon«, flüsterte er. »Hrobon muß es erfahren. Er soll die Befehle erteilen. Ein Mord ist geschehen, vielleicht ein Attentat auf die Prinzessin, und niemand hat es bemerkt!« Er warf sich herum, eilte davon, um Krieger zu finden. Doch dieser Teil des Palastes war mit einemmal merkwürdig leer. »Hrobon!« schrie der Diener. »Wo ist Hrobon? Überfall! Ein Mord!« Endlich flog eine Tür auf, und ein Offizier stürmte aus dem dahinter liegenden Raum. Seine Fäuste schossen vor und hielten den Diener fest. »Was redest du da?« Ein paar Herzschläge später gab er stillen Alarm. Aber es war längst zu spät. Fremde befanden sich im Palast, und sie hatten böse Absichten.
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Es dauerte einige Zeit, bis Larashi zurückkehrte. Mythor hatte nicht damit gerechnet, daß der Alte auf Anhieb jemanden fand, den er überreden konnte, die Besucher des Stummen Großen einzulassen – wenn der sich überhaupt noch im Palast befand. Jenes ungute Gefühl, das Sadagar hatte, übertrug sich langsam auch auf Mythor. Nur No-Ango blieb scheinbar ruhig, aber er zeigte ohnehin selten, wie es in ihm aussah. Endlich schlurfte Larashi heran. »Ich habe einen gefunden, der der Zeichensprache mächtig ist«, sagte er leise. »Er hat öfters mit Lichtfinger zusammengesteckt und will uns einlassen und zu ihm führen.« Mythor nickte dem Alten dankend zu und sah dann Sadagar an. Aber der Steinmann hob nur die Schultern. »Es geht zu glatt«, sagte er. »Ich fühle mich äußerst unwohl.« Larashi führte die anderen fast um den halben Palast herum und blieb an einer unscheinbaren Stelle der äußeren Mauer stehen, zwischen der und dem eigentlichen Palast sich ein schmaler Parkstreifen erstreckte. Plötzlich öffnete sich eine verborgene Tür in der Mauer. Sie war so hervorragend und nahezu fugenlos eingepaßt, daß man sie erst auf den zweiten oder dritten Blick entdeckte. Ein Krieger des Shallad stand dort. Mit finsterem Blick sah er die Ankömmlinge an. Er war einen Kopf kleiner als Mythor, verfügte aber über ordentliche Muskelpakete. Ein kurzes, breites Schwert hing an seiner Seite. »Ich bin Hakha«, sagte er. Leicht legte er den Kopf schräg und sah Mythor an. »Du bist der, der mit Lichtfinger reden will?« »Wir alle wollen mit Lichtfinger reden«, sagte Mythor. Der Wachtposten schüttelte energisch den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Es ist nicht so einfach, so viele Leute heimlich durch den Palast zu führen. Du kommst mit«, er deutete auf Mythor und dann auf Larashi, »und du, weil du Lichtfinger 76
kennst und wir gute Bekannte sind. Die beiden anderen bleiben hier.« »Was soll das?« fragte No-Ango mißtrauisch. Doch der Wachtposten ließ die Geheimtür bereits wieder zugleiten. Mythor, der schon in der Öffnung gestanden hatte, machte einen Sprung vorwärts und zerrte Larashi mit sich, der fast einen heftigen Schlag von der Steintür erhalten hätte. Hakha hatte an einer starken Schnur gezogen, um die Tür zu schließen, offenbar wurde das massive Ding über Rollen und Gegengewichte bedient. Mythor sah sich um. In dem schmalen Streifen, zwischen Gras, niedrigen Büschen und Sträuchern, waren sie mit Hakha allein. »Ich bin ein Vertrauter Lichtfingers«, verriet er geheimnisvoll. »Ich werde euch eilends hinführen.« Mythor blieb auf der Hut. Es gefiel ihm nicht, daß man sie getrennt hatte.
»Wo ist Hrobon?« fragte der Offizier, der den stillen Alarm gegeben hatte. »Er muß es wissen.« Die Fremden brauchten noch nicht sofort zu erfahren, daß ihre Anwesenheit kein Geheimnis mehr war. »Hrobon ist draußen«, sagte der andere Krieger. »Soll ich ihn holen lassen?« Shandor schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Wer weiß, wo genau er ist. Wir müssen auch ohne ihn entscheiden. Warum mögen sie Hrolf ermordet haben?« »Vielleicht hatte er sie gesehen«, murmelte der andere. Ein Mann stürmte in den Raum. »Wir haben sie entdeckt«, sagte er. »Zwei Männer im unteren Teil des Pa-lasts. Der Wächter Hakha führt sie.« Shandor hob fragend die Brauen. 77
»Er gab mir unbemerkt ein Zeichen; die beiden Fremden sahen es nicht«, fuhr der Krieger fort. Shandor nickte. »So beobachtet weiter. Verfolgt sie und schlagt im geeigneten Moment zu. Vielleicht planen sie ein Attentat auf die Prinzessin.« »Shallad behüte!« stieß der Beobachter hervor und sputete sich, wieder an seinen Platz zu kommen. »Ich gehe zur Prinzessin und informiere sie«, sagte Shandor entschlossen. Der hochgewachsene Offizier gab sich einen Ruck und verließ das Zimmer, von dem aus sonst Hauptmann Hrolf seine Anordnungen gegeben hatte. Mit langen Schritten stürmte er über den Gang zu den Gemächern Prinzessin Shezads.
»Es gefällt mir ganz und gar nicht, daß man uns getrennt hat«, sprach Sadagar die Gedanken aus, die auch Mythor hegte. »Und was willst du dagegen tun?« gab der Rafher zurück. Er trat einmal mit der Spitze seiner Riemensandale gegen die Mauer. »Wir werden hier auf Mythors Rückkehr warten.« Sadagar grinste. »Das kann lange dauern«, kicherte er. »Wenn er nämlich zufällig der Prinzessin begegnet und sie Gefallen aneinander finden…« »Du sprichst im Wahn«, stellte No-Ango trocken fest und lehnte sich an die Mauer. »Du kannst dich ruhig setzen, wenn dir das Stehen zu mühsam wird.« »Auf die Idee«, gab Sadagar bissig zurück, »wäre ich allein niemals gekommen.« »Sieh mal«, sagte der Rafher plötzlich. »Wir bekommen Besuch.« Sie mußten gegen das Licht der Sonne blicken, aber es war deutlich zu erkennen, daß die vier Männer direkt auf sie zukamen. 78
»Tatsächlich.« Sadagar erhob sich wieder. Stirnrunzelnd schob er das Kinn vor. »Das gefällt mir noch weniger als die Trennung von Mythor.« Zwei Herzschläge später erkannte er drei der vier Männer. Jene zogen in diesem Moment ihre Schwerter und hoben sie drohend gegen No-Ango und Sadagar. »Wiedersehen macht Freude«, murmelte Sadagar dumpf, »oder auch nicht.« Jassams Männer hatten sie wiederentdeckt, und sie schienen Verstärkung bekommen zu haben; den vierten Mann jedenfalls hatte Sadagar unterwegs nicht gesehen. Die dumpfe Ahnung, daß weitaus größere Dinge hinter dem Geschehen standen, sprang ihn an. »Mitkommen!« befahl man den beiden. »Keine Gegenwehr, oder ihr seid tot. Laß deine verdammte Pfeilschleuder stecken, Rafher!« No-Angos Hand kam wieder zum Vorschein. Der junge Krieger starrte die Schwertspitzen an, die sich ihm und Sadagar entgegenstreckten, und wußte, daß er nicht schnell genug sein konnte. Auch Sadagars Messer waren zu langsam. »Na schön«, sagte er achselzuckend. »Und wohin jetzt?« »Das werdet ihr schon sehen«, wurde ihm beschieden. Die seltsame Gruppe setzte sich in Bewegung.
Mythor fühlte ein eigenartiges Kribbeln im Nacken. Er kannte das Gefühl; es stellte sich immer dann ein, wenn er sich beobachtet fühlte. Er warf Hakha einen prüfenden Blick zu, doch der Wachtposten zeigte keine Unruhe. Blitzartig fuhr Mythor herum. Hinter der Gangbiegung war ein Schatten, der sofort zurückwich. »Wir werden verfolgt«, sagte Mythor leise. Abermals wirbelte er herum. Er sah die Hand des Wächters zum Griff des 79
Schwertes fliegen, aber Mythor war schneller. Ein rascher, kräftiger Schlag lähmte die Armmuskeln des Mannes. Dann schmetterte Mythor ihm die Faust vor die Brust. Der stämmige Krieger flog gegen die Wand. Mythor blieb dicht vor ihm stehen und preßte ihn gegen die Mauer. »Und du hast es gewußt!« zischte er. »Du hast uns in eine Falle gelockt, Sohn eines Hundes!« Larashi wurde seltsam blaß. »Aber…«, stammelte er. »Er ist doch ein Vertrauter Lichtfingers!« Hakha versuchte Mythors eisernen Griff mit aller Kraft zu sprengen. Es gelang ihm, den Dunkelhaarigen zurückzustoßen. Sofort wandte er sich zur Seite, um zu fliehen. Doch abermals war Mythor schneller, erwischte ihn noch und gab ihm einen heftigen Stoß. Der Krieger stürzte, und im nächsten Moment saß ihm die Spitze von Mythors Schwert am Hals. »Wenn du aufspringst, erdolchst du dich selbst«, warnte Mythor drohend. Larashi schlurfte entsetzt heran. Nur Mythor allein wußte, daß er nicht kaltblütig zustoßen würde, es einfach nicht fertigbrachte. Aber Hakha ließ sich von der Drohung einschüchtern. »Welche Rolle spielst du?« fragte Mythor gefährlich leise. »Und wo ist Lichtfinger? Sprich schnell, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Gleich werden deine Freunde kommen.« »Lichtfinger ist tot!« stieß Hakha hervor. »Schon seit ein paar Tagen, und niemand wußte es. Und da er nicht mehr lebt, fühle ich mich ihm nicht mehr verpflichtet. Ich diene Prinzessin Shezad.« »Wer hat das getan?« fragte Mythor kalt. »Wer hat den Stummen Großen getötet?« »Ich weiß es nicht«, keuchte der Verräter. »Es war eine unheimliche Macht. Schwarze Magie!« Er schrie es fast. »Lichtfinger begann zu schrumpfen, fiel förmlich in sich zu80
sammen zu einem Etwas, das ich nicht mehr ansehen mochte… und er starb!«
Die Bewaffneten führten ihre beiden Gefangenen zu einer anderen Stelle der umfassenden Mauer. Es war ein richtiges Tor, und es stand halb offen. Kein Wachtposten war zu sehen. »Weitergehen!« kam der barsche Befehl. Sie passierten das Tor. An dieser Stelle dehnte sich das Gelände ein wenig weiter aus, und in einem Gehege standen zum Teil gesattelte Laufvögel. Bei ihnen standen weitere Männer. Auch Jassam war da. Er schien sich auf dem Gelände des Palasts vollkommen sicher zu fühlen und grinste. »So trifft man sich wieder, Steinmann Sadagar«, sagte er. »Die Welt ist doch klein, nicht wahr?« »Ich kann nicht sagen, daß es mir besondere Freude macht, dein Gesicht zu sehen«, knurrte Sadagar. »Mir macht es umgekehrt aber sehr viel Freude«, versetzte Jassam und kam langsam auf den Steinmann zu. »Was soll das alles hier bedeuten?« fragte No-Ango. »Du wirst schon sehen«, sagte Jassam. Vor Sadagar blieb er stehen und starrte ihn an. »Ich möchte dir etwas zurückgeben, was du mir gegeben hast«, sagte er. Sadagar spie ihm vor die Füße. »Was könnte ich dir gegeben haben außer einem Schlag aufs Haupt?« »Genau das«, höhnte Jassam und schlug zu. Ungerührt sah er zu, wie Sadagar stürzte. Zwei Männer hielten den Rafher fest, der sich auf Jassam stürzen wollte. Der Anführer wandte sich um. »Fesseln und auf ein Diromo!« befahl er. Sein Befehl wurde ausgeführt. Die beiden Gefangenen wurden unsanft in Tragekörbe geworfen, die am Diromosattel angebracht waren. Die Tiere waren unruhig, und No-Ango erkannte, daß das Gehege geöffnet war. Nur zwei Männer hiel81
ten Wache, daß die Tiere sich nicht vorzeitig entfernen konnten. Er ahnte Böses. Jassam schritt davon. Die Hand am Schwertgriff, verschwand er in einem verborgenen Eingang des Palasts.
Geschrumpft! durchfuhr es Mythor. Schon wieder die Todesreiter! Sie trugen ihre Bezeichnung wohl zu Recht. Sie mußten es gewesen sein, die Lichtfinger gemordet hatten wie Daumenlos. Aber warum das alles? Wußten die beiden Großen etwas, das Mythor nicht erfahren sollte? Beide Großen hatte er aufsuchen wollen, und beide waren vorher ermordet worden! Die Lage wurde kritisch. Schritte dröhnten aus der Ferne. Krieger kamen, um einzugreifen. Der Beobachter hatte wohl bemerkt, entdeckt worden zu sein, und er mußte auch noch mitbekommen haben, daß Mythor das Doppelspiel Hakhas durchschaute. Larashi beugte sich zu Mythor. Die Lippen des alten Mannes flüsterten Worte, die nur Mythor wahrnahm. Für Hakha waren sie zu leise. »Geh nach Süden, Mythor! Ich glaube jetzt, daß du der Sohn des Kometen bist. Geh zu den Stummen. Geh nach Süden. Dort, am Ende des Salzspiegels bei den Ruinen von Erham, wohnt einer von ihnen. Er mag dir weiterhelfen. Ich lenke die Häscher ab. Alles Glück der Welt dir, Mythor!« Ehe Mythor es verhindern konnte, stieß Larashi einen gellenden Schrei aus und eilte davon. Ein gutes Dutzend Schritte weiter vor ihnen teilte sich der Gang; der Alte eilte nach rechts. »Los!« zischte Mythor den Verräter drohend an. »Du führst mich in die andere Richtung. Schnell, oder du schmeckst meine Klinge!« Eine leere Drohung, doch Hakha wußte es nicht. Als Mythor 82
das Schwert zurücknahm, sprang er wie eine Katze auf und eilte voraus, über den anderen Gang. Es gefiel Mythor nicht, daß Larashi allein loszog. Noch immer war der Lärm zu vernehmen, den er machte. Doch nun galt es, das Beste aus der Sache zu machen. Vor ihnen führte eine Treppe nach oben. Ohne Zögern eilte Hakha empor. Er schien zu spüren, daß es sein Tod sein mochte, wenn Mythor gefunden wurde. Oben verhielten sie. Ihre Verfolger hatten die Abzweigung erreicht. »Von rechts«, rief einer. »Da schreit er! Drauf!« Es waren etwa zwei Handvoll Krieger, die jetzt Larashi nachsetzten. Nach einer Weile verstummten seine Rufe, und Mythor sah ihn niemals wieder. »Weiter, alter Freund«, trieb er in der Zwischenzeit den Verräter an. Weiter ging es nach oben. Mythor ahnte nicht einmal, auf welchen Pfaden er wandelte. Aber er achtete sorgfältig darauf, daß Hakha ihm nicht entwich. Im nächsten Augenblick flog wie von Zauberhand aufgestoßen eine breite Tür dicht neben einem Treppenabsatz auf, und etwas jagte durch die Luft direkt auf Mythor zu. Instinktiv ließ er sich fallen.
Prinzessin Shezad selbst beanspruchte für sich ein halbes Dutzend durch Türen miteinander verbundene Zimmer. Auf der anderen Seite des Korridors wohnte ihr Gefolge, Zofen und Diener. Mit ihnen hielt Shandor sich erst gar nicht auf. Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür, die sich für gewöhnlich öffnete, wenn Shezad ihre Zimmer verließ oder Besucher empfing. Doch niemand öffnete. Kurz entschlossen riß der Offizier die Tür auf und stürmte in den Salon. Er roch die Gefahr förmlich. Ein ungutes Gefühl 83
beschlich ihn, vielleicht waren Feinde bereits bis in die Gemächer der Prinzessin vorgestoßen. Er hätte besser ein paar Krieger mitgebracht… Aber jetzt war es zu spät. Der Salon war menschenleer. Shandor wandte sich nach rechts und riß die Tür auf, ohne anzuklopfen. Es konnte ihn seinen Rang oder gar den Kopf kosten, aber er hielt es für seine Pflicht. Im gleichen Moment wurde die nächste Verbindungstür aufgestoßen. Aus dem wiederum angrenzenden Zimmer kam ein Fremder, der im Palast, ganz besonders aber in den Räumen der Prinzessin, absolut nichts verloren hatte. Und Shandor kannte ihn. »Jassam!« stieß er hervor und griff zum Schwert. Jassam lachte höhnisch und warf etwas. Der Offizier konnte nicht mehr ausweichen und brach zusammen. Immer noch lachend, schritt Jassam über ihn hinweg, und die drei Männer hinter ihm trugen die Beute.
Das geschleuderte Etwas prallte hinter Mythor dumpf auf den Boden. »Der Große!« heulte Hakha entsetzt und stürmte davon, als sitze Drudin persönlich ihm im Nacken. Mythor könnte es nicht verhindern. Er warf sich herum, das Schwert gegen das Ding gerichtet. Als er sich aufrichtete, erkannte er es. Es war der mumifizierte Geschrumpfte. Kaltes Entsetzen stieg in Mythor auf, als er jetzt zum zweiten Mal innerhalb zweier Tage einem so fürchterlich zugerichteten Toten gegenüberstand. Dies mußte Lichtfinger sein. Mythor warf sich herum, das Schwert in der Faust, und er wünschte sich Alton herbei. Doch Alton lag jetzt sicher in Luxons Hand. Der Sohn des Kometen stürmte in das Zimmer, aus dem der Geschrumpfte geflogen gekommen war. Es war 84
leer. Es gab nur kärgliche Ausstattung. Die Großen schienen nicht viel von unnützem Prunk zu halten, auch wenn Lichtfinger sich erdreistet hatte, in einen Palast zu ziehen. Von Drudins Todesreitern war nichts zu sehen. Mythor ging zum Fenster. Doch es war von innen fest verschlossen. Die Todesreiter konnten das Zimmer auf diese Weise nicht verlassen haben. Sie waren gar nicht mehr hiergewesen! Düsteres Zauberwerk hatte den Geschrumpften gegen Mythor geschleudert. Vielleicht hatte sein Nahen etwas ausgelöst, was diese Zauberei erst in Gang setzte. Hier gab es nichts mehr zu holen. Mythor ging wieder zur Tür und trat auf den Gang hinaus, in den der Treppenabsatz mündete. Unwillkürlich erstarrte er, und er hob das Schwert. Männer kamen von der anderen Seite des Ganges, und sie schienen in Eile. Den vordersten kannte Mythor nur zu gut. Es war Jassam. Drei Schritte vor Mythor blieb Jassam stehen. Selbst in Reichweite von dessen Schwert schien er sich vollkommen sicher zu fühlen. Spöttisch grinste er Mythor an. »Ich muß dir aufs herzlichste danken, Mythor«, sagte er. »Du hast mir sehr geholfen.« »Bei einem Schurkenstreich«, knurrte Mythor. »Aber sicher doch!« lachte Jassam. »Und niemand konnte mich daran hindern.« Seine Männer eilten an ihm und Mythor vorbei nach unten. Sie trugen eine gefesselte und geknebelte Frau, die sich in ihrem Griff wand. Die Prinzessin! durchfuhr es Mythor. Er hob das Schwert, doch Jassam streckte nur die Hand aus. »Du weißt, daß es dein Tod wäre, Mythor«, sagte er. »Ich habe an alles gedacht.« Etwas Spitzes bohrte sich in Mythors Rücken. Er brauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, daß einer von Jassams Männern hinter ihm stand und ihn mit dem Schwert bedrohte. 85
Er mußte sich sehr gut verborgen gehalten haben. Mythor schien es, als gäbe es im Palast mehr von Jassams Leuten als Krieger des Shallad. »Was soll das alles?« fragte er scharf. Jassam lachte noch immer. »Du hast bestimmt erraten, daß es die Prinzessin, eine der vielen Tochter des Shallad, ist, die meine Männer dort wegtragen. Und du hast dankenswerterweise durch dein forsches Eindringen die Krieger von uns abgelenkt, mir sogar einen wunderbaren kurzen Fluchtweg gewiesen. Den Weg, auf dem du hereingekommen bist. Denn nicht nur die Krieger haben dich beobachtet.« »Verfluchter Hund«, murmelte Mythor tonlos. Er ließ die Hand mit dem Schwert sinken. Jassam streckte die Rechte aus. »Gib es mir«, verlangte er. »Ein Gefangener benötigt kein Schwert.« Mythor hielt es ihm mit der Klinge entgegen, doch Jassam griff äußerst vorsichtig zu. »Du wirst mit uns kommen«, verlangte er. Mythor zuckte mit den Schultern. Was sollte er tun? Er war in der Gewalt dieses Schurken. Sie folgten den Entführern. »Was bezweckst du damit?« wollte Mythor wissen. Jassam, der vor ihm ging, wandte den Kopf. »Ahnst du es nicht? Sie ist ein guter Fang, und jeder Mann im ganzen Shalladad wird den höchsten Preis für sie bezahlen, weil sie eine der vielen Töchter Hadamurs ist. Und unser Preis sind das Leben und die Freiheit unseres Anführers.« Da fiel es Mythor wie Schuppen von den Augen. »Ihr seid Piraten«, stieß er hervor. In Jassams Augen funkelte es vergnügt. »Genau ins Schwarze getroffen, mein nordländischer Freund«, sagte er heiter. »Und ich bin Tashans rechte Hand.« Tashan, der Pirat! Der Schrecken des Salzspiegels! 86
Mythor begann zu begreifen. Jassam, Tashans Stellvertreter, wollte die Prinzessin gegen Tashan eintauschen. Und es gab keinen Zweifel, daß ihm das gelingen würde, wenn nicht die Krieger des Shallad vorher zuschlugen und die Prinzessin befreiten. Aber nach allem, was Mythor erlebt hatte, erschien ihm das fraglich. Jassam hatte einen verwickelten Plan erdacht und von langer Hand vorbereitet. Wie viele Soldaten mochten bestochen worden sein? Und Mythor und seine Absicht, unbedingt in den Palast zu kommen und den Stummen Großen zu treffen, hatten Jassam nur entgegenkommen können. Wider Willen war Mythor zu seinem Helfer geworden. Jassam gab sich völlig sicher. Er schien keine Verfolger zu fürchten. Schlimmer noch: Es schien keine Verfolger zu geben. Waren sie immer noch mit Larashi beschäftigt? »Wenn du glaubst, daß du uns entfliehen, kannst, um die Krieger auf uns zu hetzen«, warnte Jassam plötzlich, »so laß dir sagen, daß deine beiden Gefährten, der Messermann und der Rafher, in unserer Gewalt sind. Und in sehr gutem Gewahrsam. Solltest du nicht tun, was ich will, werden sie dafür leiden müssen.« Mythor spie aus. »Ich wußte vom ersten Moment unserer Begegnung an, daß du ein Schuft bist, Jassam«, sagte er. »Und ich glaube nicht, daß meine Meinung über dich sich zum Guten ändern wird.« Jassam lachte wieder. »Meinst du, daß es meinem Schlaf schadet?« Sie benutzten den Weg, den Mythor und Larashi genommen hatten, als der Verräter sie ins Innere des Palasts führte. Und der Sohn des Kometen glaubte Jassams Behauptung über NoAngo und Sadagar unbesehen. Denn die beiden waren an der Geheimtür in der Mauer zurückgeblieben. Es mußte wahrlich ein von langer Hand vorbereiteter Befreiungsplan sein. Vielleicht hatte Tashan selbst ihn ausgetüftelt, 87
und der Zufall, daß ausgerechnet eine der vielen Tochter des Shallad in Horai weilte, war ihm zu Hilfe gekommen. Sonst wäre vielleicht ein hochgestellter Beamter das Opfer der Entführung geworden… Mythor konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ein Mann nur durch Glück und Zufall eine Machtstellung erreichte wie der Pirat Tashan. Er mußte hoch intelligent sein, und er mußte darum auch mit seiner eigenen Gefangennahme gerechnet haben. Denn warum sonst sollten Piraten, die normalerweise die Salzwüste mit ihren Kaperseglern unsicher machten, plötzlich auf schnellen Orhaken im Landesinnern auftauchen? »Was hättest du gemacht«, fragte Mythor, »wenn wir nicht zufällig deinen Weg gekreuzt oder gar völlig andere Absichten gehabt hätten als die, nach Horai und zum Stummen Großen zu kommen?« »Ich hätte dich unter einem Vorwand in den Palast geschickt«, entgegnete Jassam trocken. »Und ich bin sicher, du hättest eine Audienz bei der Prinzessin erhalten.« Mythor konnte sich nicht vorstellen, wie Jassam mit seinen Leuten selbst unter diesen Umständen eingedrungen wäre. Aber immerhin: Er war im Palast gewesen, als Mythor kam! Und Mythors geheimes Eindringen hatte bestimmt für einige Aufregung und Ablenkung gesorgt. Mythor schalt sich einen Narren, nicht an diese Möglichkeit gedacht zu haben. Aber wie hätte er ahnen können, zu welchem Menschenschlag Jassam gehörte? An einen Piraten hatte er angesichts der Laufvögel einfach nicht denken können, und er war sicher, daß es den anderen nicht anders ergangen war. Jetzt erhielten sie die Rechnung präsentiert. Sie alle gefangen, Larashi in den Händen der Häscher und vielleicht tot… Ein lauter Schrei riß ihn aus seinen Überlegungen. »Da sind sie! Zum Angriff!« Männer tauchten hinter ihnen auf, schwerbewaffnete Solda88
ten des Shallad, die die Aufgabe hatten, die Prinzessin zu schützen. Sie schwangen ihre Schwerter. Jassam wurde nicht einmal blaß. »Lauf, Mythor«, sagte er gelassen. »Lauf um dein Leben.« Er selbst begann zu rennen, den Männern nach, die die Prinzessin mit sich schleppten. Notgedrungen folgte Mythor ihm. Auf diesem Weg gab es keine Möglichkeit, sich zu verbergen, und er machte sich keine Illusionen. Die Verfolger hatten ihn an der Seite Jassams gesehen, und sie würden mit ihm kein Erbarmen kennen, falls sie ihn fingen. Sie erreichten den Ausgang, vor den Soldaten. Aber Jassam nahm nicht den direkten Weg quer über den schmalen Grünstreifen und durch die Mauer, sondern wandte sich zur Seite. Mythor hatte keine Mühe, ihm zu folgen, und nach ein paar Augenblicken hatten sie die Männer eingeholt, die die Prinzessin mit sich zerrten. Jassam stieß einen wilden und durchdringenden Schrei aus. Ein Zeichen. Als die Krieger näher kamen, jagten zwei Vogelreiter ihnen entgegen. In wenigen Augenblicken war der ungleiche Kampf vorbei. Die Piraten machten hohnlachend kehrt. »Schnell!« befahl Jassam. »Es ist nicht weit, aber kommt uns entgegen. Es mag sein, daß uns jetzt noch mehr auf den Fersen sind. Das Warten ist vorbei.« Einer der beiden Piraten trieb sein Orhako an. Er preschte davon. Wenig später kam ein ganzer Trupp zurück. Sie hatten zwei Diromen bei sich. Die Lastbehälter des einen waren gefüllt, in die des anderen wurden die Entführte und Mythor geworfen. Die Lastenkörbe hingen zu beiden Seiten des Diromos herab. Die Piraten saßen jetzt alle auf. Mythor beugte sich halb aus dem Lastenkorb hervor. Nicht wenige der Laufvögel gehörten den Kriegern, aber für Tashans und Jassams Leute war das natürlich unbedeutend. Mit wilden Schreien trieben 89
sie die Tiere an. Aber nicht nur die Orhaken und Diromen der Piraten setzten sich in Bewegung, sondern auch die reiterlosen Tiere. Ein paar Männer machten sich einen Spaß daraus, sie noch weiter anzutreiben. Scheu und verwirrt, hin und wieder mit den Schnäbeln um sich hackend, brachen die Laufvögel aus. Mit wütenden Schreien kamen jetzt weitere Krieger heran. Die ersten Pfeile schwirrten, aber sie kamen zu spät. Jassams Männer jagten mit ihrer Beute bereits durch das kleine unbewachte Tor nach draußen.
»Jassam!« flüsterte Shandor. »Die Schatten sollen ihn fressen. Der verdammte Pirat hat die Prinzessin entführt!« Er erhob sich stöhnend. Sein Kopf schmerzte dort, wo ihn die tönerne Kugel getroffen hatte, die Jassam nach ihm warf. Wie war es dem Piraten und seinem Gesindel nur gelungen, unbemerkt einzudringen? »Die beiden Männer, die Hakha führte!« keuchte Shandor. »Sie waren nur ein Ablenkungsmanöver.« Er taumelte aus den Zimmern der Prinzessin hinaus auf den Gang. Jetzt erst rannten Krieger herbei, die er vorhin benötigt hätte. »Die Prinzessin ist entführt. Es war Jassam, Tashans rechte Hand. Hetzt ihn! Und holt Hrobon.« Die Männer eilten davon. Shandor beeilte sich trotz der rasenden Schmerzen, nach unten zu kommen. Er wollte bei der Verfolgung dabeisein. Es brannte in ihm, diesen Jassam seine Klinge schmecken zu lassen. Was würde Hrobon sagen? »Er wird mir den Kopf abreißen«, murmelte Shandor. »Hrolf tot und die Prinzessin geraubt…« Er hetzte nach unten, durch den Palast, dorthin, wo die Laufvögel standen. Doch von dort kamen ihm bereits Männer wieder entgegen. Sie berichteten, daß die im Palastgehege un90
tergebrachten Tiere fort seien, von den Piraten aufgescheucht und vertrieben. Shandor ballte die Hände. »Es ist nicht zu fassen«, keuchte er. »Hier müssen Verrat und Bestechung mit im Spiel sein, wir werden es sehr gründlich klären, wenn die Angelegenheit vorbei ist.« Er reckte beide Arme den Männern entgegen. »Nach draußen! Nehmt euch Tiere von der Bevölkerung. Wo bleibt Hrobon?« Hrobon tauchte auf, als Shandor mit einer Schar von über dreißig Männern den Palast verließ und durch das Tor stürmte. Hinter dem Heymal ritt dessen gesamte Staffel. »Shandor, du bist ein Narr!« schrie Hrobon wütend. »Ein paar von meinen Männern organisieren Laufvögel, wir sahen die Stampede von weitem. Es wird wohl kein Tier mehr am Palast sein!« Er machte eine weit ausholende Geste. »Zum Hafen!« brüllte er. »Sie werden zum Hafen wollen!« Zwei Männer auf schnellen Diatren preschten mit ihren Tieren los. Sie hatten eine Menge Arbeit vor sich, denn zu dieser Stunde herrschte in Horai lebhaftes Treiben. Sie würden sich durch eine Unmenge von Menschen arbeiten müssen, und daß die Piraten den gleichen Weg vor sich hatten, machte das Problem auch nicht geringer. Hrobon teilte seine Leute ein. Einige schwärmten aus, um Piraten abzufangen, die sich vielleicht auf einem anderen Weg davonmachen wollten. Endlich brachten Männer eingefangene oder beschlagnahmte Tiere. Shandor und seine Männer saßen auf. »Wenn wir sie nicht wieder erwischen«, knurrte Hrobon wütend, »werde ich mich einmal eingehend mit dir unterhalten, Shandor. Immerhin ist es mein Kopf, der rollt, wenn der Prinzessin ein Leid geschieht!« Mit einem schrillen Schrei trieb er sein Orhako an, mitten hinein in die Gruppe neugieriger Männer, die sich gebildet 91
hatte und in ihrem Unverstand genau den Weg versperrte, den die Vogelreiter einzuschlagen hatten. Wild fluchend spritzten die Schaulustigen auseinander.
»Was geht dort vor?« fragte Markalf. »Ein Spektakel um den Palast herum… Habe ich nicht Hrobons Staffel dort gesehen?« Olrosh verzog das Gesicht. Er war näher am Geschehen gewesen und jetzt zurückgekehrt. »Die Prinzessin ist entführt worden, heißt es!« rief er. »Von Piraten, und die gesamten Laufvögel des Palasts seien gestohlen worden!« Markalfs Hand tastete nach dem Griff seines neuen Schwertes. »Und ich hatte gehofft, mit Tashans Gefangennahme sei dieser Höllenspuk vorbei«, flüsterte er bestürzt. »Und jetzt strecken sie ihre Klauen schon bis in die Stadt hinein aus! Welch Schurkenstreich!« Olrosh schüttelte den Kopf. »Sie werden es wohl kein zweites Mal wagen, denn hier ist die Festung in der Nähe, und außerdem dürften sie der Diebesgilde in die Quere kommen, und das gibt Ärger.« Er hielt inne. »Wo wir gerade von Dieben sprechen«, murmelte er mit leicht überraschtem Gesichtsausdruck. »Mir scheint, mein Gürtel ist plötzlich erstaunlich leicht…« Er sah nach und stieß einen wütenden Fluch aus. »Nirgends ist man mehr sicher!« brüllte er. »Jetzt bestehlen sie einen schon, wenn man nur harmlos dasteht und zusieht, was beim Palast geschieht!« »Hoffentlich«, murmelte Markalf, »können sie die Prinzessin befreien. Sonst wird es für Horai sehr böse…« Und er dachte an die drei Pferde aus dem Norden, die er vor dem Palast gesehen hatte. Das Böse war längst in der Stadt!
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Wilder Zorn erfaßte Hrobon. Er war zum Schutz der Prinzessin abkommandiert worden, und kaum drehte er dem Palast für ein paar Stunden den Rücken, um mit seiner Staffel Übungen außerhalb der Stadt abzuhalten, damit den Kerlen nicht die Knochen einrosteten, da ließ dieser Narr Shandor die Prinzessin von Piraten entführen. Nicht genug: Hauptmann Hrolf war tot, der persönliche Adjutant Shezads. Aber da Hrobon die Verantwortung hatte, würde der Zorn Hadamurs auch nur ihn treffen. Die Entführung hätte nicht geschehen dürfen. Wenn diese Scharte nicht wieder ausgewetzt werden konnte, war sein Wunschtraum, als Befehlshaber nach Logghard abkommandiert zu werden, wieder so weit entfernt wie nie zuvor. Dabei hatte es so ausgesehen, als sollte dieser Traum in Erfüllung gehen. Der Beauftragte des Shallad, der Hrobon und seine Vogelreiter zum Schutz für Prinzessin Shezad abkommandierte, hatte gewisse Andeutungen gemacht. Und Hrobon hatte sich schon in Logghard gesehen. Vielleicht war dieser Auftrag die Bewährungsprobe. Hrobon war ein glühender Verehrer des Shallad und ein ausgezeichneter Krieger. Immerhin hatte er seit einiger Zeit das Kommando über eine Staffel von vierzig Vogelreitern, die sich aus fünf Diatren, fünfundzwanzig Orhaken und zehn Diromen zusammensetzte. Sein eigenes Orhako gehörte zu den schnellsten seiner Art. Rücksichtslos trieben die Vogelreiter ihre Tiere durch die Menge, und wütende Rufe, die Hrobon hörte, besagten, daß er mit seiner Vermutung genau richtiglag. Die Piraten hatten sich mit den teilweise geraubten Laufvögeln ebenso rücksichtslos durch die Straße bewegt, und zwar in Richtung des Hafens. Dann hatte Hrobon tatsächlich noch eine Chance, sie zu erwischen. Der Überfall auf einen ankernden Salzsegler würde Zeit kosten. Denn der Heymal glaubte nicht, daß Jassam so unverschämt gewesen war, ein Piratenschiff bis in den Hafen kom93
men zu lassen. Das konnten die Burschen nicht riskieren! Aber Hrobon, der zum erstenmal am Salzspiegel war, kannte eben Tashans Männer nicht! Er unterschätzte sie einfach. Die Piraten besaßen Macht, und ihre Macht wuchs ständig. Demzufolge auch ihre Dreistigkeit. Der Rand der Stadt kam näher.
Jassams Vögel erreichten eine nicht unbeträchtliche Geschwindigkeit, als sie erst den Rand von Horai erreicht hatten und niemand mehr ihr Fortkommen behinderte. Der Hafen lag südlich von Horai, in einiger Entfernung von der Stadt. Das hatte durchaus triftige Gründe; die Übergänge von Salzsee und Festland waren fließend, und hin und wieder schwappte der feuchte Salzbrei einer Wanderdüne an den »Strand«. Dies geschah zwar äußerst selten, aber in Regenzeiten und bei Sturm lag es durchaus im Bereich des Möglichen. Zudem blieben auf diese Weise sowohl Stadt als auch Hafen noch ausbaufähig. Wer konnte wissen, wie sich die Dinge entwickeln würden… Auf halber Strecke zwischen Stadt und Hafen tauchten am Stadtrand die ersten Verfolger auf. Jassam grinste und schrie Befehle. Mythor sah sich in seinem Lastenkorb um. Ein paar Männer des Piraten preschten den Verfolgern entgegen. Sie zogen aus den Falten ihrer Umhänge seltsame Flöten hervor; Mythor war es nicht entgangen, daß die Ohrlöcher ihrer eigenen Laufvögel verstopft waren. Plötzlich erschollen durchdringende, eigenartige Pfeiflaute. Die Laufvögel der Krieger wurden unruhig und ließen sich nicht mehr lenken. Einige warfen ihre Reiter sogar ab. Ein paar Yarls, die Häuser auf ihren mächtigen Rücken trugen und in der Nähe geruht hatten, begannen ebenfalls unruhig zu werden. Mythor preßte die Lippen zusammen. Lange 94
genug hatte er in einer Yarl-Stadt gewohnt, um zu wissen, was geschah, wenn diese großen Tiere sich ihren Lenkern entzogen und losmarschierten. Es gab nichts, was diese stampfenden Kolosse aufhalten konnte. Aber Jassams Männer kehrten um, und die Flöten verschwanden wieder. Die erste Welle der Verfolger war zurückgeworfen worden. Sie erreichten den Hafen, ohne aufgehalten zu werden. Ein paar Wetterhäuser aus Holz waren hier errichtet worden, auch Lagerschuppen für Waren, die nicht sofort weiterbefördert werden konnten. Und natürlich das kleine Steinhaus, in dem die Zöllner des Shallad Unterkunft hatten. Drei Salzsegler mittlerer Größe lagen dicht beieinander am »Ufer«. Es gab hier keine Kais, sondern die Segler fuhren einfach so weit, bis es nicht mehr weiterging, und blieben dort liegen. Dort, wo sie waren, wurde dann aus-und eingeladen. Mythor erkannte noch ein paar andere, weitaus kleinere Segler. Doch es sah nicht so aus, als würden sie in absehbarer Zeit auslaufen. Die Angst vor den Piraten hemmte offenbar den Handel nicht unbeträchtlich. Mythor starrte die Laufvögel Jassams an. Wenn es keinen Handel auf dem Salzsee mehr gab, würden die Piraten wohl buchstäblich umsatteln, und daß sie mit den Tieren umgehen konnten, hatten sie mit der Entführungsaktion mehr als deutlich unter Beweis gestellt. Jassam hielt genau auf die drei großen Segler zu, die breit ausladend auf ihren Kufen standen. Weitere Männer waren an Deck zu sehen. Es ist nicht zu fassen! durchfuhr es Mythor. Piratenschiffe seelenruhig und unbehelligt mitten im Hafen! Außer den Piraten war keine Menschenseele zu sehen. Der Hafen schien ausgestorben. Wahrscheinlich waren Arbeiter und Sklaven beim Einlaufen der Piratensegler so schnell wie möglich geflohen; es war das Beste, was sie hatten tun können. 95
Vor den Seglern hielten die Piraten kurz an. Laufstege wurden ausgeschwenkt, über die Jassams Männer ihre Vögel an Bord brachten, gut verteilt auf alle Segler. In diesem Moment preschte die nächste Gruppe Verfolger heran. Es sah ganz so aus, als würden sie die drei Salzsegler erreichen, ehe diese in der Lage waren, den Hafen zu verlassen. Aber Mythor gab sich dennoch keinen falschen Hoffnungen hin. Die Piraten waren jetzt an Bord und dadurch in einer weitaus besseren Position als zuvor. Die Gefangenen waren samt und sonders auf ein einziges Schiff gebracht worden. Ja, es war ein Schiff, auch wenn es nicht im Wasser schwamm, sondern auf breiten Kufen über eine einigermaßen feste Fläche glitt. Alles an seinem Aufbau glich dem eines normalen Schiffes. Sadagar und No-Ango wurden unsanft aus den Lastkörben ihres Diromos gezerrt. No-Ango leistete leichten Widerstand, mußte sich aber der Übermacht der Piraten beugen. Er wurde unter Deck gebracht. Sadagar, der aus seiner Bewußtlosigkeit inzwischen wieder erwacht war, hatte oben zu bleiben, wurde aber sofort zum Achterkastell getrieben. Jassam gab laute Befehle, und die Piraten verfielen in Hektik. Mythor wartete nicht, bis man ihn aus seinem Lastkorb herauszerrte. Er kletterte selbst. Aber das, worauf man bisher verzichtet hatte, holte man nun nach: Mit einem raschen Griff entwaffnete einer der Piraten ihn. Mythor preßte die Lippen zusammen. Er starrte die Männer finster an. Auf der anderen Seite des Diromos wurde die Entführte aus dem Korb gehoben. Sie war immer noch gefesselt, Mythor erhaschte einen kurzen Anblick der Shallad-Tochter, als man sie nach unten trug. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, als erwartete sie von ihm Hilfe. Aber sie konnte ihn nicht kennen, und da er ungefesselt war, mußte sie ihn für einen Verbündeten Jassams halten. 96
Jassam ging rasch zum Achterkastell und sprach mit Sadagar. Mythor konnte nicht verstehen, worum es ging. Er sah wieder zur Stadt. Eines der großen Yarls hatte sich träge erhoben und wechselte jetzt bedächtig, wohl unter der Kontrolle seines Lenkers, den Standort. Und die Vogelreiter, die Krieger, preschten heran. Sie waren schon so nahe, daß Mythor sie deutlich erkennen konnte. Sie schwangen Schwerter und Lanzen und stießen wütende Schreie aus. Und wieder hoben einige der Piraten ihre eigenartigen Flöten. Erneut erklangen die seltsamen Tone. Andere Männer schwangen sich rasch über Bord, kräftige, muskulöse Gestalten, die jetzt wohl Segler hinaus auf das Salz schoben. Unordnung kam in die Angreifer. Von Bord eines der Piratenschiffe rasten ihnen bereits Pfeile entgegen, verfehlten aber ihre Ziele. Plötzlich wurden Mythors helle Augen schmal. Er fixierte einen der Vogelreiter. Kannte er den nicht, jenen etwa dreißig Sommer alten, schwarz- und kurzhaarigen Mann im sandfarbenen Burnus? Ein Orhako-Reiter… mit dem dunklen Teint der Heymals! »Hrobon!« stieß er hervor, und eine unangenehme Erinnerung stieg in ihm auf. Hrobon war genau der Mann, der ihm jetzt gerade noch fehlte!
Während er krampfhaft bemüht war, Kußwind unter Kontrolle zu behalten, sah Hrobon, wie Männer von den Salzseglern sprangen und Hand anlegten. Andere zogen die Segel an den Masten hoch. Dieser schrille Flötenton, der von den Schiffen herüberwehte, machte die Laufvögel verrückt, einige schleuderten ihre Reiter in den Sand und jagten wie toll umher. Gegen ihre Kapriolen blieb Kußwind, Hrobons Orhako, noch erstaunlich ruhig. Es trug diesen Namen ob seiner erstaunlichen Schnelligkeit und der Kraft, mit der es Schnabel97
hiebe gegen Feinde austeilte. Die Unterwelt sollte diese Piraten verschlingen! Auf unruhigen Orhaken gab es keine Möglichkeit, einen gezielten Pfeilschuß anzubringen und den oder die Flötenspieler abzuschießen. Und ein Mann zu Fuß lief in diesem Chaos Gefahr, innerhalb weniger Augenblicke niedergetrampelt und zerstampft zu werden. Immerhin rasten fast vierzig große Laufvögel wie irr hin und her und waren nicht dazu zu bewegen, näher an die verdammten Piratenschiffe zu kommen. Das erste bewegte sich, geschoben von kräftigen Armen. Es glitt auf seinen Kufen auf den Salzspiegel hinaus, berührte das seltsame trockene Material. Und auch die Segel füllten sich langsam. Hrobon stieß eine Verwünschung aus. Er riß zwei schmale Streifen von seinem Umhang, während er Mühe hatte, im Sattel zu bleiben. Je länger das Flötenspiel andauerte, um so unruhiger wurde Kußwind. Endlich war es Hrobon gelungen, die Streifen zusammenzurollen. Er beugte sich vor und stopfte sie in die Ohrlöcher seines Tieres. Fast augenblicklich wurde Kußwind ruhiger. »Stopft ihnen die Ohren zu!« schrie Hrobon. »Versucht es, im Namen des Shallad! Oder diese verfluchten Piraten entwischen uns doch noch!« Das erste der Piratenschiffe erhielt jetzt Wind. Die Männer, die es angeschoben hatten, klammerten sich an kurzen Vorsprüngen an der Bordwand fest und klommen empor. Es wäre ein leichtes gewesen, sie in diesem Moment mit Pfeilen vom Rumpf zu pflücken, doch noch immer erklangen die unheilvollen Flötentöne. Hrobon trieb sein Orhako an. Ein anderer Krieger war mit seinem Diatro Hrobons Beispiel gefolgt. Das große Tier, sehr schnell, aber nicht in der Lage, mehr als einen Mann zu tragen, fegte hinter Kußwind her. 98
Der zweite Salzsegler nahm langsam Fahrt auf, und auch seine Segel begannen sich allmählich zu füllen. »Sie entkommen uns!« schrie Hrobon wütend. »Verdammt, sie schaffen es!« Die Männer auf dem dritten und größten Salzsegler waren von dem Nahen zweier Vogelreiter wenig beeindruckt. Ein paar Pfeile schwirrten um Hrobons und des Diatro-Reiters Kopf. Plötzlich glaubte Hrobon, einen der Männer auf dem Deck des Wüstenseglers zu erkennen. Diese Gestalt, das dunkle Haar, die Kleidung… Noch größer, noch wilder wurde seine Wut. Diesen Mann kannte er. »Mythor!« gellte sein wilder Schrei. Hrobon zügelte sein Orhako. Nur zu gut erinnerte er sich an Mythor, diesen unverschämten Nordländer oder wo auch immer er herkommen mochte. Der erste Eindruck war gut gewesen, bis dieser Mythor sich plötzlich anmaßte, sich den Sohn des Kometen zu nennen. In Hrobons Augen grenzte das an Gotteslästerung. Nur der Shallad war der Erbe des Lichtboten, der Sohn des Kometen, und niemand sonst. Es war immer so gewesen und würde immer so bleiben, und jeder, der etwas anderes behauptete, war ein Ketzer und gehörte gezüchtigt. Hrobon würde es Mythor nie vergessen, daß dieser seine Freundschaft ausgenützt und ihn so schmählich betrogen hatte. Sohn des Kometen, ha! Hrobon nahm den Langbogen von der Schulter, griff in den Köcher und legte einen Pfeil ein. Er wollte Mythors Tod. Der Lästerer mußte sterben! Hrobon hatte es ihm versprochen, ihn zu töten, und ein Mann aus den Heymalländern pflegte seine Versprechungen zu halten. Er zog die Sehne bis hinter das Ohr aus. Dann zielte er sorgfältig und schoß. Der Pfeil jagte davon, direkt auf Mythor zu.
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Der wütende Aufschrei bestätigte Mythors Vermutung. Das war Hrobon, der Shallad-Anhänger, für den es keine andere Wahrheit gab als die, die man ihm von Kindesbeinen an eingetrichtert hatte. Hrobon stoppte sein Orhako, mit dem Mythor schon unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte, und nahm den Bogen. Ruhig sah Mythor dem Schuß entgegen. Der Wüstensegler nahm Fahrt auf. Die Männer, die ihn angeschoben hatten, kletterten an der niedrigen Bordwand empor und schwangen sich auf die Decksplanken. Mythor sah den Pfeil heranrasen und nahm den Oberkörper ein wenig zur Seite. Zwei Handbreit neben ihm zischte das Geschoß vorbei und schmetterte mit dumpfem Knall in die Tür eines Aufbaus. Dann wurde der Salzsegler schneller. Die Vogelreiter des Shallad hatten keine Chance mehr, ihn einzuholen. In diesem Moment sah Mythor, wie zwei Piraten blitzschnell zupackten. Sadagar schrie auf. Mythor wollte zum Achterkastell stürmen, aber eine eisenharte Faust stoppte ihn und hielt ihn zurück. Mythor sah, wie der Steinmann von den beiden Piraten über Bord geworfen wurde, sich wie eine Katze zusammenkugelte und auf der graubraunen Salzfläche aufschlug.
Wütend erkannte Hrobon, daß er Mythor verfehlt hatte. Aber nur knapp war der Frevler dem Pfeil entgangen. Finster starrte der Heymal hinter den drei Salzseglern her. Für Augenblicke zögerte er. Der Wind stand für die Piraten günstig, und sie würden sehr schnell auf hohe Geschwindigkeiten kommen. Eine Verfolgung würde wahrscheinlich nichts mehr einbringen. Dennoch gab Hrobon den Befehl. Zwei widersprüchliche Gedanken fraßen in ihm. Einerseits hätte er sich bis zu seinem 100
Lebensende Vorwürfe gemacht, nicht auf den Frevler geschossen zu haben, obwohl sich eine hervorragende Gelegenheit bot, zum anderen aber hatte er durch sein Anhalten wertvolle Zeit verloren. Denn auch die anderen, die jetzt herankamen, weil der verhängnisvolle Flötenton verstummt war, hatten wie er gehalten. Plötzlich sah er, wie ein Mann über Bord geworfen wurde. »Vorwärts!« schrie er. »Den Burschen schnappen wir uns! Er wird uns einige Dinge verraten können!« Die Vogelreiter jagten vorwärts, auf die Stelle zu, wo der Unbekannte, der ein in Ungnade gefallener Pirat sein mochte, sich langsam aufraffte. »Was soll das?« schrie Mythor und fuhr herum. Er sah direkt in das höhnisch lachende Gesicht Jassams, der ihn festgehalten hatte. Mythor beherrschte sich nur mühsam. Am liebsten hätte er den Piraten niedergeschlagen, aber sein Verstand sagte ihm, daß eine Gewaltaktion in diesem Moment nichts einbringen würde. »Ahnst du es nicht?« fragte Jassam. Mythor sah wieder gen Horai. Die ersten Vogelreiter unter Hrobons Führung hatten den Steinmann erreicht und rissen ihn unsanft vom Boden hoch. Es gab keinen Zweifel, daß er ihr Gefangener war. »Er wird«, sagte Jassam höhnisch, »ihnen einen bestimmten Ort nennen, an dem der Tauschhandel vorgenommen werden wird: Die Prinzessin gegen Tashan. Ich habe es ihm befohlen. Er ist mein unfreiwilliger Bote.« »Schurke«, murmelte Mythor. Die Segel des Wüstenschiffs waren voll gebläht, der Wind stand gut und war stark. Mit immer höherer Geschwindigkeit jagten die drei Segler davon. »Der Ort«, sagte Jassam grinsend, »ist die Warze des Haghalon.«
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W. K. Giesa
PIRATEN DER WÜSTE Die Wolkendecke riß auf. Schlagartig wurde das leuchtende Farbband am Südhimmel blasser. Hinter den aufbrechenden Wolkenbänken stieg die Sonne auf und brachte die Morgendämmerung. Das eigenartig dunkle Farbband wurde zu einem verwaschenen Etwas, düster und drohend. Ein aufblitzender Funke, der langsam versank, verschwand im Dunkel. Langsam wurde es hell. Die Nächte waren nicht mehr so lang, und in diesen südlichen Gefilden währte die Dämmerung nicht so lang wie im Norden. Es dauerte nicht lange, bis es taghell war, aber im Süden blieb das düstere Grau hoch am Himmel heller und tief am Boden fast schwarz. Die Düsterzone! Sie war schon deutlich zu sehen, darüber die eigenartige, hinter ihr liegende und allem Anschein nach höher aufragende Schattenzone. Der Brennpunkt des Bösen, das seine Klauen nach der übrigen Welt ausstreckte und sie zu verschlingen trachtete wie ein nimmersatter Moloch. Wie Nebel, hinter dem ein Regenbogen schimmerte, der nach oben hin heller wurde, wallte und drohte die Schattenzone. Das Leuchten, das die Nacht beherrschte, war jetzt vergangen. Ein eigenartiges Phänomen, fand Mythor. Er schloß wieder die Augen und reckte seinen sehnigen, großen Körper auf dem Fell, das ihm als Unterlage diente. Dann kam sein Oberkörper mit einem jähen Ruck hoch, und er öffnete die Augen. Es war Morgen geworden. Er sah sich um. Ringsum gab es, von drei Ausnahmen abge102
sehen, nur Piraten. Die meisten waren bereits beschäftigt; ein paar Feuer knisterten, und irgendwelche Tiere drehten sich an den Bratspießen. Mythor kam auf die Knie. Eine Hand tastete über das Fell hinaus und traf auf eine kristallische Substanz, die bemerkenswert hart und ausgetrocknet war. Salz. Überall war Salz. Sie befanden sich weit draußen auf einem riesigen ausgetrockneten Salzsee. Salz und Piraten! Mythor war sicher, für ein paar Wochen lang Salz nicht einmal riechen zu können, ohne daß er Jassams häßliche Visage vor seinem geistigen Auge sah. Aber da war auch eine hübsche Erinnerung. Prinzessin Shezad, eine der vielen Tochter des Shallad Hadamur. Sie war kompakt gebaut, besaß aber dennoch ihre Reize. Aber nicht wegen ihrer Schönheit hatten Jassams Piraten sie aus dem Palast in Horai entführt… Der andere Nicht-Pirat außer Mythor war der Rafher NoAngo. Sie alle befanden sich in der Hand der Piraten. Eine Flucht hier draußen auf dem Salzspiegel war illusorisch. Auch wenn sie keine Fesseln trugen, waren sie Gefangene. Sie mochten vielleicht aus dem Lager entkommen, aber obgleich es wegen der nahen Düsterzone kühl und das Jahr noch jung war, brannte die Sonne mittags heiß vom Himmel und dörrte die Kehle aus. Und ringsum gab es nur Salz. Von Wasser konnte man nur träumen, wenn man sich nicht gerade im Lager der Piraten aufhielt. Hier gab es riesige Behälter, aus Holz gezimmert und mit Pech sorgsam abgedichtet, daß nicht ein einziger Tropfen entweichen konnte. Mythor ahnte, daß das Wasser die schwache Stelle der Piraten war, aber spätestens seit sich die Gefangenen im Lager befanden, wurden die Behälter bewacht. Und selbst wenn man sie zerstörte, hatten die Piraten Gelegenheit genug, Ersatz zu beschaffen. Sie besaßen eine Flotte von etwa fünfzig Wüstenseglern, in deren flachen Rümpfen sich Frischwasservorräte 103
befanden, und mit ihnen konnte man innerhalb kurzer Zeit den Salzspiegel verlassen und Frischwasserreserven aus den Flüssen des Festlands heranschaffen. Das war im Grunde das kleinste Problem. Das größte Problem für die Piraten war, daß ihr Anführer Tashan sich im Kerker der Festung von Horai befand, zum Tode verurteilt worden war und seiner Hinrichtung harrte. Das größte Problem für die Soldaten des Shallad war, daß die Piraten ihrerseits Prinzessin Shezad entführt hatten, um sie gegen Tashan auszutauschen. Das größte Problem Mythors war, daß er mitten in diese Auseinandersetzung geraten war. Und der Sohn des Kometen befürchtete, daß sich die Dinge noch weiterentwickeln würden. Er sollte recht behalten.
»Dieses Biest bringt mich um den Verstand«, murmelte Jassam. »Warum muß der Shallad ausgerechnet eine dermaßen eigenwillige unter seinen vielen Töchtern haben?« Entsagungsvoll sah er hinüber zu jener Salzwucherung, hinter der sich im Moment die Prinzessin aufhielt – in Gesellschaft zweier Frauen, die ihr dabei halfen, nach der wahrscheinlich schlaflosen Nacht wieder Mensch zu werden. »Zofen«, knurrte Jassam. »Zofen verlangt dieses eingebildete Stück Weib!« Ashorro, ein untersetzter, finsterer Mann, der zu Jas-sams Beratern gehörte, rieb sich nachdenklich das glatte Kinn. »Laß sie die Peitsche spüren«, schlug er vor. In seinen dunklen Augen glitzerte es boshaft. »Das wird ihre Ansprüche herunterschrauben.« Jassam sprang auf und ballte die Hände. »Wenn es nicht die Prinzessin wäre«, stieß er hervor, »ich würde es befehlen. Aber wenn wir sie mit Striemen zurückgeben, wird man uns wahr104
scheinlich direkt nach der Übergabe zu hetzen beginnen. Die Schatten sollen alle Prinzessinnen holen!« »Aber erst nach dem Austausch«, grinste Ashorro. Er war bei der Entführungsaktion nicht dabeigewesen, sondern hatte das Lager befehligt. Es lag fast in der Mitte des Salzspiegels und war vom Rand aus auch mit den schnellsten Seglern nicht in einem Tag zu erreichen. Hier erhob sich aus der brettharten und endlosen Ebene des Salzspiegels, wie der ausgetrocknete See genannt wurde, ein gigantisches, bizarres Gebirge. Niemand wußte genau zu sagen, wie es entstanden war, aber es war ein idealer Unterschlupf und bemerkenswert leicht zu verteidigen. Vielleicht hatte der ständige starke Wind dafür gesorgt, daß sich ausgerechnet an dieser Stelle das Salz auftürmte; immerhin gab es auch breiige Wanderdünen, meistens dann, wenn starker Regen gefallen war, der die Oberfläche aufweichte, und diese Dünen konnten enorme Geschwindigkeiten erreichen und ohne weiteres einem Segler zum Verhängnis werden. Das Gebilde, das den Piraten als Unterschlupf diente, war eine ausgedehnte, zum Teil hohle Wucherung von Salzablagerungen, und in den Grotten wohnten die Piraten. Dort, wo keine Grotten waren, gab es große Buchten, in denen sich die Segler verbargen. Jassam sah wieder zu der Stelle hinüber, hinter der die Prinzessin gerade etliche Liter Wasser verplanschte. Sie ließ dabei keinen Mann in ihre Nähe und verlangte, daß einige der Frauen sie bedienten. Um einem Riesenspektakel zu entgehen, hatte Jassam ihrem Verlangen nachgegeben. Er wußte nur zu gut, daß er die Prinzessin nicht zu hart anfassen durfte. Aber mehr und mehr wurde Shezad zum Problem. Der einzige, der einigermaßen mit ihr zurechtzukommen schien, war der andere Gefangene, der im Palast unfreiwilliger Lockvogel gewesen war – Mythor. Aber das wiederum nützte den Piraten herzlich 105
wenig. Jassam hatte Mythor und seine Begleiter vorsichtshalber mit sich genommen. Es konnte sein, daß man sie als zusätzliche Geiseln verwenden konnte. Für einen von ihnen hatte sich sofort ein Verwendungszweck gefunden: Steinmann Sadagar. Sie hatten ihn kurz hinter dem Hafen über Bord geworfen, um ihren Verfolgern den Ort des erwünschten Austauschs zu nennen. Möglicherweise gab es für Mythor und No-Ango ähnliche Aufgaben, die sie unfreiwillig zu übernehmen hatten. Vielleicht konnte man noch einiges herausholen. Es war dem scharfäugigen Jassam nicht entgangen, daß der Kommandant der verfolgenden Vogelreiter Mythor erkannt hatte und von einem entsetzlichen Haß erfüllt sein mußte. Sein Haß war so groß gewesen, daß er sein Orhako anhielt, um einen sicheren Schuß anzubringen – der trotzdem danebengegangen war. Und durch den kurzen Aufenthalt hatte er den drei Wüstenseglern den nötigen Vorsprung gegeben. Der Tod Mythors mußte für die Vogelreiter demnach äußerst wichtig sein. Vielleicht ließen sich noch einige Zugeständnisse erringen, wenn Jassam Mythor auslieferte… Der Pirat, rechte Hand des gefangenen Anführers Tashan und kaum weniger verschlagen und brutal, wußte nur nicht, daß Mythor diese Gedanken selbst schon in Erwägung gezogen hatte, aber nicht das geringste Interesse daran besaß, ausgeliefert zu werden. »Da kommt sie«, bemerkte Ashorro. Prinzessin Shezad tauchte hinter der salzenen Mauer auf und schritt auf ihre Grotte zu. Die drei Frauen, die Jassam ihr als Zofen zugeteilt hatten, begleiteten sie nicht weiter, sondern eilten direkt zu Jassam. Der zeitweilige Anführer ahnte Schwierigkeiten. Aieta, die Glutäugige mit den fast hüftlangen schwarzen Haaren, funkelte ihn wild an. »Jassam, noch einmal wirst du 106
uns nicht befehlen, dieses Weib zu bedienen! Sie soll sehen, wie sie selbst mit sich fertig wird. Dieses Biest!« Jassam grinste. »Seid ihr daran gestorben?« fragte er. Die schwarzhaarige Schöne fauchte ihn an. »Wir haben es nicht nötig, eine Gefangene zu bedienen«, stieß sie hervor. »Es ist nicht unsere Aufgabe!« »Ich weiß«, nickte Jassam bedächtig. »Aber in diesem Fall werdet ihr eine Ausnahme machen. Ihr braucht dafür auch keine Wildkaninchen auszuweiden.« »Du Mann«, zischte Aieta und wandte sich um. Sie winkte den beiden anderen herrisch. »Kommt. Er weiß nicht, was er sagt.« Ashorro grinste. »Sie werden dreist«, behauptete er. Jassam winkte ab. »Ich glaube kaum, daß sie diese freie Rede riskieren würden, wenn sie in Horai, Logghard oder sonstwo leben würden und nicht bei uns. Dort geht es nämlich ein wenig anders zu, dort hat die Frau auf ein Fingerschnipsen des Mannes zu gehorchen. Und immerhin haben sie sich uns freiwillig angeschlossen und müssen sich damit abfinden, daß der Anführer zuweilen auch weniger angenehme Befehle gibt.« »Der Anführer…«, murmelte Ashorro. »Du sprichst, als ob…« Jassam unterbrach ihn barsch. »Der Anführer ist immer noch Tashan, und ich bin sein Stellvertreter. Aber Tashan würde keine anderen Befehle erteilt haben. Was glaubst du, warum er mich zu seiner rechten Hand gemacht hat und nicht dich?« »Geschenkt«, brummte Ashorro. »Ich neide dir deine Stellung nicht, das weißt du.« Jassam sagte nichts. Er war mit seinen Gedanken schon wieder woanders. Wie würde der Gefangenenaustausch ablaufen? Jassam machte sich bereits seine Gedanken, um auch die schlechtesten der Möglichkeiten nicht auszuschließen und für Gegenmaßnahmen zu sorgen. 107
Auch Mythor hatte den Abgang der Prinzessin lächelnd verfolgt, inklusive des Protests von Aieta. Er wunderte sich ein wenig, daß Jassam den Launen Shezads nachgab, aber der Pirat schien den Shallad und dessen Macht doch ein wenig zu fürchten. Mythor organisierte eine große Schüssel mit Wasser. Es gelang ihm nicht, einen ganzen Bottich voll zu beanspruchen wie die Prinzessin, die darin ein ausgiebiges Bad genommen hatte, aber immerhin reichte es für No-Ango und ihn, um sich ein wenig zu erfrischen und den Wüstenstaub loszuwerden. Er begann zu begreifen, warum die Piraten sich trotz der gegen Mittag durchaus hohen Temperaturen stets dicht einhüllten. Zwar waren die Burnusse dünn, aber dennoch mochte es einem darin ziemlich warm werden. Schlimmer aber war der Salzstaub, der vom Wind herangeweht wurde. Shezad selbst hatte das weniger gestört. Sie hatte keinen schützenden Burnus verlangt, sondern zeigte sich nach wie vor in jener Kleidung, mit der man sie aus dem Palast entführt hatte. Ein hauchdünnes Schleiergewand, lediglich um Brüste und Lenden etwas weniger durchsichtig. Sie bot damit zweifelsohne einen reizvollen Anblick, ein Schutz gegen das Salz war diese Art Kleidung indessen kaum. Aber sie hielt sich auch die meiste Zeit in der Grotte auf, die man ihr zugewiesen hatte. Mythor sah wieder nach Süden. Die graue Wand türmte sich dort auf wie Nebelwolken und verbarg alles, was sich dahinter befinden mochte. Er fragte sich, was diese Wand nachts zum Leuchten brachte. Er hielt einen vorübereilenden Piraten an. Unwillig wand der Mann sich aus Mythors Griff. »Was willst du?« knurrte er. Mythor spielte nicht zu riskant. Man hatte ihn lediglich ent108
waffnet. Eine Fesselung erübrigte sich angesichts der Tatsache, daß er ohnehin den Salzspiegel nicht lebend verlassen konnte. Und inzwischen hatte er festgestellt, daß er um so mehr akzeptiert wurde, je dreister er sich aufführte. »Eine Auskunft«, sagte Mythor forsch. »Dann frag«, knurrte der Pirat. »Du hältst mich auf.« Der Dunkelhaarige nickte. »Ich weiß. Deshalb wirst du mir rasch und eingehend antworten. Du weißt, daß ich aus dem Norden komme und dieses Land und seine Erscheinungen nicht kenne. Die Düsterzone dort, was ist sie, und warum leuchtet es darüber nachts wie ein dunkler Regenbogen?« »Frag mich etwas Leichteres«, sagte der Pirat. »Niemand weiß es.« »Irgend etwas muß doch dort sein«, beharrte Mythor. »Ist niemals jemand dorthin vorgestoßen?« »Man flieht nur von dort, wenn man noch kann«, murmelte der Pirat düster. »Dort endet die Welt. Dort beginnt das Böse und dehnt sich aus. Das ist alles, was man weiß. Frage die anderen, sie werden dir keine andere Antwort geben können als ich.« Mythor wandte sich grußlos ab. Er zuckte mit den Schultern und machte seinen Morgenspaziergang durch das Lager. Sie befanden sich jetzt seit einigen Tagen hier, und Mythor hatte sich einen gewissen Rhythmus des Tagesablaufs zu eigen gemächt, der sich zum Teil dem der Piraten anpaßte, zum Teil jedoch aus Erkundung und dem Schmieden von Plänen bestand. Offenbar ließ man sich in Horai Zeit, auf die Botschaft zu reagieren, die Sadagar hatte übergeben müssen. Vielleicht stellte man eine größere Armee zusammen, um die Prinzessin zu befreien – was ein grober Fehler war. Denn das Versteck der Piraten war so gut wie uneinnehmbar, vor allem, wenn sie mit einem Angriff rechneten. Abgesehen davon würden die Krieger des Shallad es nicht finden – der Treffpunkt, den Sa109
dagar hatte nennen müssen, war mit Sicherheit weit entfernt; die Piraten hätten strohdumm sein müssen, wenn sie ihn in unmittelbarer Nähe angesetzt hätten. Und die Kufen der Wüstensegler hinterließen auf der steinharten Salzfläche kaum Spuren. Mythor schritt die Salzerhebung ab, die so fest war, daß man über sie hinwegmarschieren konnte, ohne die darunter befindlichen Grotten zum Einsturz zu bringen. In den weiten Lagunen, teilweise von vorspringenden Salzerhebungen wie von Deichen verdeckt, lag die Flotte der Piraten, die vornehmlich aus gekaperten Salzseglern irgendwelcher Händler bestand und im Lauf der Zeit auf die stattliche Zahl von über fünfzig angewachsen war. Kein Wunder, daß Tashan und seine Piraten zu Herrschern des Salzspiegels geworden waren. Selbst wenn der Shallad persönlich beschließen würde, eine Flotte von Kampfseglern zu bauen und gegen Tashan zu Felde ziehen zu lassen, war der Ausgang einer solchen Schlacht ungewiß. Es gab einfach nicht die Möglichkeit, in einem kurzen Zeitraum dermaßen viele Segler zu bauen, um die Piraten in einer offenen Schlacht niederzuzwingen, und ein stückweises Aufbauen der Flotte hätten Tashans Leute mit Sicherheit zu verhindern gewußt. Die Entführung der Prinzessin schrieb Bände und bewies, daß die Piraten auf dem festen Land nicht weniger gut zu handeln verstanden als auf dem Salzsee, ihrem Element. Immer wieder spielte Mythor mit dem Gedanken, einen der kleineren und daher wendigeren und schnelleren Segler zu stehlen, um mit No-Ango – und der Prinzessin! – zu verschwinden. Aber das Vorhaben würde mit Sicherheit daran scheitern, daß es mehr als zwei Männer brauchte, um auch den kleinsten Segler zu lenken. Denn auch wenn der Salzspiegel eine ebene, feste Fläche war und die Segler auf Kufen dahinglitten, so waren sie doch nicht viel anders gebaut als die 110
Schiffe, die auf der See fuhren. Mythor verzog das Gesicht. Er würde eine andere Möglichkeit finden können. Vielleicht die Laufvögel. Jassam und seine Handvoll Männer hatten sich auf dem Land ihrer Orhaken bedient und diese bei der Flucht auch ins Versteck mitgenommen. Aber die Laufvögel gehorchten nur dem, der sie zugeritten hatte. Ein Fremder würde nicht unerhebliche Schwierigkeiten bekommen. Ein einfacher Abwurf war noch das Harmloseste, was ihm widerfahren mochte. Zu Fuß war die Flucht ohnehin illusorisch. Sie würden verdursten, bevor sie auch nur die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten – wenn die Piraten sie nicht vorher wieder einfingen. Dabei brauchte die Flucht nicht einmal sofort erkannt zu werden. Der Salzspiegel war groß, und die Segler waren schnell und vermochten in kurzer Zeit große Flächen abzusuchen, gleich, wohin die Flucht führen würde. Es war aussichtslos. Mythor ahnte, daß sich eine entscheidende Wende nur im Moment des Austausches abspielen konnte. Und dann war es vielleicht doch zu spät. Er mußte an Hrobon denken. Offenbar war der Vogelreiter, den er erstmals in Salamos kennengelernt hatte, jetzt der Anführer von Shezads Garde. Und wenn Mythor ihm in die Hände fiel… es gab Schöneres, was man sich vorstellen konnte. Der Heymal war von einem unbezähmbaren Haß gegen Mythor erfüllt und würde ihn töten, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. »Man wird sehen«, murmelte Mythor, als sein Spaziergang rein zufällig vor der Grotte der Prinzessin endete.
»Heda, Pirat!« schrie Shezad und winkte heftig. Der dunkelhaarige und hochgewachsene Mann wandte sich ihr zu. Er sah verteufelt gut aus, wirkte irgendwie anziehend. Wie ein großer Junge, und so lachte er sie jetzt auch wieder an. 111
»Wie oft, Schwester der Schleier, muß ich noch erwähnen, kein Pirat zu sein?« rief er zurück und machte ein paar Schritte auf den Grotteneingang zu. Die Prinzessin reckte ihren siebzehn Sommer reifen Körper und erwartete den Mann, den man Mythor nannte. Ein seltsamer Name, der voller Rätsel und Geheimnisse war. Er war etwas älter als der in ihrem Alter befindliche No-Ango, aber No-Ango interessierte die Prinzessin weniger. Dieser Mythor sah besser aus und gefiel ihr durch die Frechheit und Unbekümmertheit seines Auftretens. »Ich weiß, daß du nicht zu diesen Banditen gehörst«, sagte sie herablassend und reichte ihm die zierliche Hand, auf daß er sie küsse. Mythor grinste dreist und umschloß die Prinzessinnenhand mit seiner sehnigen Pranke. »Einen guten Morgen auch«, sagte er trocken. Sie entzog ihm die Hand sofort wieder. »Du bist ein Narr, Mythor«, sagte sie. »Und solange du dich so benimmst, werde ich dich weiterhin Pirat nennen.« Mythor schmunzelte und sank vor ihr auf die Knie. »Oh, edle Prinzessin, ich bin zutiefst betrübt. Doch ist es manchmal unumgänglich, sich den Gebräuchen seiner Gastgeber anzupassen, und die kennen den Handkuß nicht, Verehrteste.« Er erhob sich wieder; Shezad mußte zu ihm aufsehen. Bei jedem anderen hätte sie dies nicht geduldet, aber irgendwie hatte Mythor etwas Gewinnendes… So etwa, überlegte sie sekundenlang, konnte sie sich einen Bruder vorstellen. Doch den gab es nicht. Sie griff mit der Linken nach oben zu ihrer aufgetürmten Frisur, die von perlenbesetzten Haarnadeln gehalten wurde. Diese Haarnadeln waren neben einem kostbaren Diadem mit grünen Edelsteinen der einzige Schmuck, den sie trug. »Du könntest mir einen Spiegel besorgen«, verlangte sie, »damit ich sehe, ob diese Piratenweiber meine Frisur nicht vermurkst ha112
ben.« Als sie seinen verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte, fuhr sie fort: »Du wirst schon irgendwie daran kommen. Du schaffst doch sonst alles. Geh und handle!« Sie klatschte leicht in die Hände, als wolle sie ihre Sklavinnen rufen. Bloß gab es die hier im Piratenlager nicht. Mythor grinste und verneigte sich eine Spur zu tief. »Stets zu Diensten, Gebieterin meiner Stiefelsohlen«, murmelte er. Als er sich entfernen wollte, rief sie ihn noch einmal an. »Mythor!« Er wandte den Kopf und lächelte wieder. »Ja, Shezad?« »Du könntest etwas respektvoller sein. Immerhin hast du es mit einer der Töchter des Shallad zu tun.« Er lächelte immer noch. »Und du hast es mit dem einzigen Mann zu tun, der in der Lage ist, dir einen Spiegel zu beschaffen«, sagte er und ging weiter. Shezad sah ihm nach. Sie fragte sich, ob er ihr auch so respektlos gegenübertreten würde, wenn sie sich unter anderen Umständen kennengelernt hätten. Zum Beispiel im Palast ihres Vaters in Hadam. Sie würde ihn bei Gelegenheit danach fragen. Sich selbst fragte sie, warum sie ihm diese Frechheiten durchgehen ließ. Selbst die höchsten Würdenträger des Shallad hätten es nicht gewagt, so mit ihr zu reden, wie es dieser Mythor tat. Ich glaube, er wickelt mich um den Finger, dachte sie und war nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Im Gegenteil: Es gefiel ihr. Vielleicht, weil er im Gegensatz zu der sonstigen Herde katzbuckelnder Höflinge und Bürger der einzige war, der es wagte, in diesem Ton mit ihr zu reden.
»Was hat sie von dir gewollt?« fragte No-Ango, dem nicht entgangen war, daß die Prinzessin ihn in die Grotte gerufen hatte. Auch einige der Piraten hatten es bemerkt, gingen aber 113
nicht weiter darauf ein. Es herrschte in dieser Hinsicht eine lockere Großzügigkeit; da es keine Fluchtmöglichkeit gab, konnten die Gefangenen sich im Lager frei bewegen. Daß sie nichts Unerlaubtes taten, dafür sorgten alle durch ihre Beobachtungsgabe, und das waren nicht gerade wenige Männer. Fünfzig Segler wollten bemannt werden, und wenn Mythor sich vorstellte, daß es mindestens zehn Männer brauchte, um auch das kleinste der Schiffe schlagkräftig zu bemannen, so ließ sich leicht ausrechnen, wie viele Piraten es hier gab. Die Folge war, daß es praktisch keinen Ort gab, an dem sich nicht irgend jemand von den Piraten befand. Jassam schien die gesamte »Streitmacht« im Versteck zusammengezogen haben, nachdem der oberste Anführer Tashan gefangengenommen worden war. »Nichts von Bedeutung«, brummte Mythor. »Wenn du glaubst, sie hätte mich abgeknutscht, kann ich dich beruhigen. In der Beziehung hat sie wohl mit uns beiden wenig im Sinn. Hast du vorhin zufällig beobachten können, wohin diese Aieta verschwunden ist?« »Die Schwarzhaarige?« fragte No-Ango verblüfft. »Was willst du denn von ihr? Dir Prügel von ihren Verehren einhandeln?« »Mitnichten«, murmelte Mythor und ließ sich von No-Ango die ungefähre Richtung zeigen. Der Letzte der Rafher schüttelte den Kopf, als Mythor schnurstracks dorthin stiefelte. Nach einer Weile entdeckte er Aieta zwischen drei anderen jungen Frauen, die damit beschäftigt waren, irgendwelche Tiere schmackhaft zuzubereiten. Ob sie für das gesamte Lager als Mittagsmahl ausreichten, wagte Mythor zu bezweifeln, wahrscheinlich waren diese Braten nur für die Unterführer der Piraten gedacht. Aieta erkannte ihn sofort. »Was willst du?« fragte sie. Mythor öffnete sein Wams. »Du siehst, daß ich eine Brand114
verletzung auskuriere«, sagte er. »Und ich möchte sehen, wie weit sie verheilt ist. Kannst du mir einen Spiegel borgen, Tochter der Schönheit? Ich bringe ihn dir auch unversehrt zurück.« Die Glutäugige tippte sich respektlos an die Stirn. »Hau ab«, sagte sie. »Sieh an dir hinunter, und du weißt Bescheid.« »Das ist nicht so, als wenn ich mich richtig in einem Spiegel sehen könnte«, beharrte Mythor mit entwaffnendem Lächeln. »Du würdest mir eine große Freude bereiten.« Achselzuckend erhob sie sich, verschwand irgendwo hinter einer Bretterwand und kam kurz darauf mit einem kostbaren Rundspiegel zurück, der gut zwei Ellen durchmaß und irgendwann einmal in der Kapitänskajüte eines gekaperten Salzseglers gehangen haben mochte. Mythor nahm ihn ihr aus der Hand. »Heißen Dank!« rief er und eilte hastig davon. »He!« schrie Aieta ihm mit in die Hüften gestemmten Fäusten nach. »Was soll das?« »Ich möchte mich in aller Ruhe von meinem Gesundheitszustand überzeugen«, rief Mythor über die Schulter zurück. Augenblicke später sah Shezad ihn fassungslos an. »Wahrhaftig, er hat einen Spiegel besorgt«, flüsterte sie staunend. Mythor hielt ihn ihr lächelnd entgegen. »Nun, sitzt die Frisur richtig?« fragte er mit spöttischem Lächeln. Shezad ging nicht darauf ein. Sie kam näher und betrachtete sich eingehend in dem schimmernden Ding. »Wahrhaftig, nicht schlecht«, stellte sie fest. Kurz korrigierte sie den Sitz zweier Haarnadeln. »Es ist gut«, beschied sie Mythor dann herablassend, »Du kannst ihn zurückbringen.« »Nichts anderes«, entgegnete Mythor, »hatte ich vor. Du kannst mir öfters solche Aufträge erteilen. Man lernt interessante Leute dabei kennen.« »Verschwinde!« fauchte Shezad. Mythor klemmte sich den Spiegel unter den Arm und sputete sich. Auf halbem Weg trat 115
ihm Ashorro entgegen. »Mach dich bereit«, sagte er. »Jassam hat entschieden, daß wir aufbrechen, wenn die Sonne eine Handspanne weitergewandert ist. Wir werden noch heute an der Warze des Haghalon sein.« Mythor nickte. »Meinetwegen«, sagte er gleichmütig und ging weiter. Es war also soweit, die Entscheidung würde fallen. Die Piraten brachen auf, um den Austausch vorzunehmen. Der Aufenthalt im Versteck war also zumindest für Shezad zu Ende. Ob Mythor und No-Ango ebenfalls die Freiheit wieder erblicken würden, stand auf einem anderen Pergament. Die Warze des Haghalon! Sie war der Treffpunkt. Mythor konnte sich nicht vorstellen, was damit gemeint war. Es konnte alles mögliche bedeuten. Aber er würde es ja bald erfahren. Die Aufforderung, sich bereit zu machen, bedeutete, daß er mitkommen mußte. Mehr und mehr liebäugelte er mit dem Gedanken, einen der Wüstensegler zu kapern. Wenn der erst einmal richtig in Fahrt war… Er brachte zunächst den Spiegel zurück. Aieta schüttelte verständnislos den Kopf. »Was macht deine entsetzliche Verwundung?« fragte sie spöttisch. »Sie hat sich entscheidend gebessert«, erklärte Mythor. »Sie wird in ein paar Tagen gänzlich geheilt sein und wohl nicht einmal eine Narbe hinterlassen.« Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger gegen die Brust; die verheilende Brandwunde, die die Zerstörung der Tätowierung hinterlassen hatte, jagte ein kurzes Zucken durch seinen Körper. »Das«, sagte die Piratin, »hätte ich dir auch so verraten können.« »Das wäre nicht dasselbe gewesen, als hätte ich mir so Auge in Auge gegenübergestanden.« »Verrückter Kerl«, murmelte Aieta und brachte ihren Spiegel in Sicherheit. »Aber ihr Männer seid ja alle verrückt.« 116
Mythor grinste und machte sich davon.
Mehr und mehr steigerte sich die Geschäftigkeit der Piraten. Sie schoben die Segler aus den Buchten und beluden sie mit Wasser und Salzfleisch. Auch Waffen wurden an Bord gebracht. Offenbar rechnete Jassam damit, daß nicht alles so glattgehen würde, wie es geplant war, und Mythor hatte ihn inzwischen als einen Mann kennengelernt, der grundsätzlich nichts dem Zufall überließ. Der Überfall auf den Palast in Horai hatte es gezeigt, er mußte von langer Hand vorbereitet gewesen sein, obgleich der Piratenführer Tashan sich noch gar nicht so sonderlich lange in Gefangenschaft befand. Offenbar hatten Tashan und sein Stellvertreter schon vor einiger Zeit mit einer Gefangennahme gerechnet und entsprechende Vorbereitungen getroffen. No-Ango war ebenfalls informiert worden, daß der Aufbruch bevorstünde. Man war außerordentlich großzügig mit den Informationen, wenn man bedachte, daß Mythor und NoAngo Gefangene waren. No-Ango schielte zu den Seglern. »Was hältst du davon, einen der kleineren Segler…« Mythor zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich wird es nicht klappen. Wir sollten dafür sorgen, daß wir auf das gleiche Schiff kommen, auf dem sich die Prinzessin befindet.« »Du hast doch etwas vor«, vermutete der Rafher. Mythor starrte das Gesicht an, das von einem weißen Farbstreifen in zwei Hälften geteilt wurde, der sich in Form eines kahlgeschorenen Streifens bis zum Hinterkopf fortsetzte. Die früher rotbemalte linke Gesichtshälfte begann unter der Sonne zu bräunen und würde bald ebenso aussehen wie die rechte. »Stimmt«, sagte Mythor. »Ich will die Prinzessin befreien, ehe es zum Austausch kommt.« 117
»Du bist verrückt«, entgegnete No-Ango trocken. Vielleicht, dachte Mythor, hat er recht. Aber dennoch will ich es versuchen.
Hrobon ballte die Hände und gab einen knurrenden Laut von sich, der, wie Sadagar fand, eher zu Hark, dem Bitterwolf, gepaßt hätte. Aber Hrobon sah ein bißchen zuwenig nach Wolf aus, um diesem Vergleich standzuhalten. Etwa dreißig Sommer alt, mit dunklem Teint und dunklen Augen unter schwarzen Brauen, war er kräftig gebaut und sehnig. Das schwarze Haar trug er kurz wie ein Igel seine Stacheln. »Die Warze des Haghalon«, knurrte Hrobon einmal mehr. »Einen böseren Ort hätte Jassam sich wahrlich nicht ausdenken können.« Steinmann Sadagar schüttelte den Kopf. »Was hat es mit diesem Ort auf sich?« fragte er. Hrobon sah ihn aus seinen dunklen Augen abschätzend an. »Man sagt, daß dort ein böser Geist umgeht«, murmelte er. »Mehr weiß auch ich nicht. Vergiß nicht, daß ich kein Einheimischer, sondern ein Heymal bin, aber die Männer aus diesem Land fürchten sich vor der Warze des Haghalon.« »Sie werden ihre Gründe dafür haben«, murmelte Sadagar. Er fühlte sich unbehaglich, was vor allem daran lag, daß zwei bewaffnete Krieger hinter ihm standen. Er war ein Gefangener, auch wenn er nicht in einer Gefängniszelle steckte. Hrobon hatte ihm deutlich genug erklärt, warum er ihn nicht in die Verliese der Festung hatte bringen lassen. »Vielleicht bist du ein Pirat, auch wenn du das Gegenteil behauptest«, hatte er gesagt. »Und nirgendwo werden Nachrichten, Informationen und Befehle schneller ausgetauscht als unter den Insassen eines Kerkers, die der gleichen Gruppierung angehören. Solltest du also doch ein Pirat sein, wäre es das 118
Dümmste, was ich tun könnte, dich in den gleichen Kerker zu sperren wie Tashan.« »Du bist ein weiser Mann«, hatte Sadagar ihm geschmeichelt. In der Tat. lag ihm selbst auch nicht das geringste daran, mit Banditen und Räubern zusammengesperrt zu werden. So, wie die Lage jetzt war, fühlte er sich beträchtlich wohler; am wohlsten würde er sich fühlen, wenn er die Freiheit zurückerlangt hatte. Er hatte Hrobon lediglich erzählt, daß er unter die Räuber gefallen war. Die Piraten hätten ihn gewissermaßen im Vorbeireiten gefangengenommen und mitgeschleppt, um ihn anschließend als Boten den Verfolgern vor die Klauen ihrer Laufvögel zu werfen. Es entsprach der Wahrheit. Was Sadagar verschwieg, war, daß er zu Mythors Freunden gehörte. Er hatte Hrobon bisher nicht persönlich kennengelernt, aber Mythor hatte ihm von dem Mann aus den Heymalländern erzählt. Die beiden waren zusammengetroffen, und Mythor hatte den Fehler begangen, sich als Sohn des Kometen zu bezeichnen. Seit diesem Augenblick verfolgte Hrobon Mythor mit aller Kraft, die seinem grenzenlosen Haß entsprang. Denn für Hrobon gab es nur einen rechtmäßigen Vertreter des Lichtboten: den Shallad. Hrobons Glaube an Shallad Hadamur grenzte bereits an Fanatismus, und so war es kein Wunder, daß er dem »Frevler« Mythor geschworen hatte, ihn zu töten. Aus diesem Grunde hielt Sadagar den Mund. Der Zorn Hrobons mochte nicht vor Mythors Begleitern haltmachen. Sadagar war inzwischen immerhin so weit, daß ihm Hrobon fast glaubte, kein Pirat zu sein. Aber da war immer noch der Hintergedanke des Heymals: Warum sollten die Piraten freiwillig eine Geisel opfern, nur um eine Nachricht zu hinterlassen? Wenn es ihnen möglich war, die Prinzessin zu entführen, um wieviel leichter mußte es ihnen sein, einen einfachen Pira119
ten zu befreien. Hrobon selbst stand unter Druck. Er war der Befehlshaber der Leibgarde auf dieser Reise der Prinzessin, und er hatte dafür zu sorgen, daß sie unversehrt nach Logghard kam. So lautete der Befehl des Shallad. Er mußte sie befreien, um welchen Preis auch immer. Und Hrobon war bereit, den gefährlichen Piratenanführer Tashan, der eigentlich vor Tagen schon hätte hingerichtet werden sollen, gegen die Prinzessin auszutauschen. Und das, obgleich etliche Offiziere des Palasts und der Festung dagegen rieten. Sie lebten in Horai, der Stadt am Rand des Salzspiegels, und sie hatten die Macht Tashans wachsen sehen und seine Gefährlichkeit und Frechheit erlebt. Sie waren froh, ihn endlich gefaßt und zum Tode verurteilt zu haben, in der Hoffnung, daß die Organisation des Piraten mit seinem Tod in sich zusammenbrechen würde. Daß dem nicht so war, zeigte die Entführung durch Jassam, Tashans Stellvertreter. Bisher hatte Hrobon vergeblich versucht, das den Kriegern von Horai klarzumachen, aber irgendwie waren sie in ihrer Ansicht verbohrt. Lediglich die Autorität Hrobons als Befehlshaber der Leibwache hatte sie zum Nachgeben gezwungen, und mehrfach hatten sie ihm zu verstehen gegeben, daß er nur ein Mann aus den Heymalländern war und kein Mann aus dem Kern des Shalladad. Hätte er nicht eine so hohe Stellung besessen, hätten sie ihn nicht einmal angehört. »Wir werden sie auslösen, was immer auch geschieht«, sagte Hrobon grimmig. »Geh, Sadagar. Ich werde dich rufen, wenn wir aufbrechen.« »Ich soll mitkommen?« fragte der Steinmann mißtrauisch. Er traute dem Vogelreiter nicht über den Weg. »Du hast richtig gehört«, sagte Hrobon schroff. »Wenn die Piraten Verrat planen, wirst du an Ort und Stelle mit ihnen sterben. Ich werde Vorkehrungen treffen, daß wir nicht von 120
ihnen überrumpelt werden können, verlaß dich darauf.« Sadagar nickte nur. Er dachte an Mythor. Wie würde die Begegnung zwischen Hrobon und Mythor ablaufen? Der Steinmann zweifelte keine Sekunde daran, daß auch Mythor bei dem Austausch zugegen sein würde. Dafür kannte er den Sohn des Kometen zu gut.
Der Kommandant der Festung und damit der militärische Oberbefehlshaber von Horai, selbst dem Palastkommandanten Shandor übergeordnet, hatte die geballten Hände auf der Platte des breiten Tisches liegen, an dem er saß. Leicht vorgebeugt musterte er Hrobon; seine Brauen senkten sich leicht. Sadhy war ein kräftig gebauter Mann, der es wohl mit drei Gegnern zugleich aufnehmen mochte, und er war ein Mann, der das, was er von seinen Untergebenen verlangte, auch selbst konnte. Nicht umsonst war er Kommandant der Festung geworden. »Ich höre nicht richtig«, sagte er grimmig. »Ich habe soeben vernommen, daß du das Kommando über die Truppe übernehmen willst, die zur Warze des Haghalon reitet.« Hrobon stützte sich auf die Tischplatte. Er stand vor Sadhy in dessen Arbeitsraum. Hinter Sadhy hing eine aus vielen kleinen Pergamenten zusammengefügte Karte an der Wand, die das umliegende Land und den gesamten Salzspiegel zeigte; einige markante Punkte auf dem ausgetrockneten Salzsee waren eingezeichnet. Es waren die Warzen. »Du hast richtig vernommen«, sagte Hrobon düster. »Immerhin bin ich für die Sicherheit der Prinzessin verantwortlich, und mein Kopf ist es, der rollt, wenn sie nicht befreit wird.« Kommandant Sadhy verzog das hart wirkende Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. »Es ist vor allem dein Kopf, der rollen wird, wenn du die Sache vermurkst, weil du die Ge121
gend nicht kennst. Wenn du über meinen Kopf hinwegschaust, siehst du eine Karte des Salzspiegels. Erkennst du daraus seine Größe?« »Ich denke schon«, sagte Hrobon bissig. »Du siehst auch die Warzen«, fuhr Sadhy fort. »Die ebene Fläche des Salzspiegels täuscht jenen, der sich auf ihm befindet. Ich selbst habe den gesamten Salzsee auf dem Rücken meines Diatros abgeritten. Ich weiß um seine Gefahren, und ich unterschätze sie nicht. Die Karte dort kannst du getrost vergessen. Wenn du dich auf dem Salzspiegel befindest, gibt es keine Möglichkeit, sich zu orientieren, außer, man kennt ihn. Ich lebe seit dreißig Sommern in Horai, und ich bin oft auf dem Spiegel gewesen. Ich kenne ihn. Du kommst von irgendwo aus dem Norden und kennst ihn nicht.« »Ich komme aus den Heymalländern«, sagte Hrobon schroff. Sadhy winkte ab. »Du wirst das Kommando jedenfalls nicht übernehmen. Ich werde es führen, denn ich kenne den Salzspiegel und weiß, wo Gefahren lauern und wo nicht.« Die Köpfe der beiden Männer befanden sich dicht voreinander. »Wenn du die Sache verdirbst, Sadhy«, sagte Hrobon drohend, »werde ich dich persönlich zur Rechenschaft ziehen, ehe der Zorn des Shallad mich treffen kann.« Sadhy machte eine Handbewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen. Hrobon zuckte unwillkürlich zurück, wie von einer Giftschlange gebissen. »Geh und mach deine Staffel fertig«, sagte Sadhy ungerührt. »Ich habe noch einige Befehle zu geben. Du könntest außerdem schon das Kommando zusammenstellen. Ich denke, zweihundert Vogelreiter dürften genügen.« »Da denkst du«, entgegnete Hrobon bissig, »ausnahmsweise richtig, wie mir scheint.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und verließ das Zimmer, von dem aus der Komman122
dant der Festung seine Befehle erteilte. Sadhy erhob sich, als Hrobon ihn verlassen hatte. »Ein Heymal«, murmelte er. »Ausgerechnet ein Heymal, ein Mann aus dem Norden, will hier das Kommando an sich reißen. Demnächst verlangt er noch, die Leibgarde des Shallad zu befehligen!« Sadhy hieb mit der Faust verächtlich in die Luft. Er würde die Sache schon zu aller Zufriedenheit regeln. Hrobon selbst führte seine aus vierzig Vogelreitern bestehende Nordländerstaffel und dazu sechzig andere Shallad-Krieger. Wenn Sadhy noch einmal hundert Männer der Festung dazutat, mußte es reichen, mit den Piraten fertig zu werden. Sie würden ihr blaues Wunder erleben. Wenn es nötig war, würde er sie bis in die Düsterzone treiben. Kommandant Sadhy war ausgesprochen siegessicher.
Aus jenem Zimmer des Palasts, das man Sadagar vorübergehend zugewiesen hatte, konnte er die Vorbereitungen ziemlich gut beobachten. Schnelle Laufvögel wurden gesattelt; eine geradezu unübersehbare Zahl. Jene Tiere, die die Piraten bei ihrem dreisten Überfall aufgepeitscht und vertrieben hatten, so daß sie wie irr durch ganz Horai rasten, waren inzwischen wieder eingefangen worden. Die Tiere wurden jetzt gesattelt, die Sättel mit Kampfausrüstung bestückt. Offenbar rechnete Hrobon mit Verrat und war bereit, mit aller Härte zuzuschlagen, wenn es sein mußte. Sadagar an seiner Stelle hätte kaum anders gehandelt. Die Gefährlichkeit der Piraten stand außer Frage; Sadagar hatte Jassams Hinterhältigkeit am eigenen Leib erfahren müssen. Offenbar rechnete Hrobon mit einer heftigen Auseinandersetzung. Die Anzahl der Laufvögel ließ darauf schließen. Es mochte vielleicht zu einer Schlacht ausarten. Der Steinmann 123
fühlte, wie ein kalter Schauer über seinen Rücken lief; er mochte diese blutigen Kämpfe nicht. Aber er konnte nichts an den Dingen ändern. Sie würden geschehen, wie das Schicksal sie vorbestimmt hatte. Mit viel Glück würde die Auseinandersetzung halbwegs friedlich ablaufen, aber daran glaubte Sadagar kaum noch. Er hatte inzwischen Hrobon kennengelernt und wußte, daß der Heymal ein Mann der Tat, nicht der Worte war. Sobald ihm etwas zuwiderlief, würde er zuschlagen lassen. Hrobon bot eine Unmenge von Kriegern auf. Fast die gesamte Besatzung der Festung würde ausrücken. Wenn die Piraten es ahnten, war das für sie die Gelegenheit, ihrerseits Horai anzugreifen. Hrobon mußte ein Narr sein. Sadagar ahnte nicht, daß ein anderer als Hrobon diesen Befehl erteilt hatte. Er hatte nur Hrobon kennengelernt, von Sadhys Existenz wußte er nichts. Der Steinmann beobachtete, wie zwei kräftige Diromen mit besonderen Tragekäfigen ausgerüstet wurden. Sie bestanden aus einer Art Zwischending aus Sänfte und Lastenkorb. Wahrscheinlich sollten sie dazu dienen, den Gefangenen wie auch Sadagar aufzunehmen. Denn Sadagar bezweifelte, daß man ihn allein auf den Rücken eines der Vögel setzen würde. Abgesehen davon, daß er erhebliche Schwierigkeiten haben würde, das ungewohnte Tier zu lenken… Eine eigentümliche Spannung machte sich in Sadagar breit. Er fieberte fast dem Moment entgegen in dem er den Piraten sah. Was mochte das für ein Mann sein, der es geschafft hatte, die Piraten zu einer solchen Machtfülle zu führen? Aber gleichzeitig beschlich ihn auch ein ungutes Gefühl. Man erzählte sich, daß vor ein paar Tagen drei schwarze Pferde in der Nähe des Palasts gewesen seien. Und man erzählte auch von dem eigenartigen Ende des Stummen Großen Lichtfinger, der still und verborgen im Palast gewohnt hatte und dort auch 124
ermordet worden war. Geschrumpft! Drudins Todesreiter waren also hiergewesen. Und Sadagar kannte ihre Gefährlichkeit gut genug, um zu wissen, daß sie es mit ziemlicher Sicherheit nicht bei dieser einen Aktion hatten bewenden lassen.
»Aaayeeeh!« gellte der wilde Schrei. Männer stemmten sich gegen den großen Salzsegler, schoben ihn an. Mythor sah, wie sich ihre Muskeln spannten, sah den Schweiß auf den Stirnen der Männer. Es gehörte einiges dazu, das wuchtige Wüstenschiff in Bewegung zu bringen. Denn hier, noch nahe der Bucht, war der Wind nicht stark genug. Erst wenn sie aus dem Windschatten herauskamen, würden sich die Segel füllen und das Schiff vorantreiben. Es war das größte der Kufenschiffe, auf dem sie sich jetzt befanden. Es mußte das Flaggschiff des Piratenführers sein, und Jassam übernahm jetzt den Befehl. Seltsamerweise hatte Mythor auch Ashorro an Bord gehen sehen. Immerhin war das eingetreten, was er gehofft hatte. Sowohl die Prinzessin als auch No-Ango und er waren auf ein und dasselbe Schiff gebracht worden, auf dieses nämlich. Der Segler trug den klangvollen wie hohntriefenden Namen Tashans Ehre. No-Ango hatte kopfschüttelnd gegrinst, als er die verschnörkelten Schriftzeichen am Bug entdeckt hatte. »Wenn das Schiff so schlecht ist wie das, was sein Name ausdrückt, erreichen wir das Ziel nie«, hatte er gemurmelt. Die Tashans Ehre war in etwa nach dem gleichen Prinzip gebaut wie auch die kleineren Schiffe, aber an verschiedenen Kleinigkeiten merkte man deutlich, daß es sich nicht um ein erbeutetes Schiff handelte, sondern ausschließlich für Angriff und Kampf konstruiert worden war. Trotz seiner Größe – es 125
durchmaß längs über dreißig Mannslängen und in der Rumpfbreite deren acht – war es äußerst leicht gebaut und daher ziemlich schnell. Der Ausleger, der mit seinem Kufenunterbau dafür zu sorgen hatte, daß das Schiff auf seiner für die Segelhöhe dennoch recht schmalen Bodenfläche nicht umkippte, war ziemlich kurz gehalten, aber dafür bedeutend schwerer gebaut und befand sich an Steuerbord. Die linke Seite war frei, der bei den Handelsseglern übliche zweite Ausleger fehlte. Dafür gab es an dieser Seite leichte, ausschwenkbare Stege, über die die Piraten ungeheuer rasch an Bord des angegriffenen Schiffes gelangen konnten. Dadurch, daß es nur einen und dazu dicht am Hauptrumpf liegenden Ausleger gab, wuchs außerdem die Wendigkeit des Seglers, aber auch seine Kippneigung. Doch Mythor konnte sich denken, daß die Piraten dafür einen Ausgleich im Schiffsinnern gestaltet hatten, etwa die hauptsächliche Gewichtsverlagerung nach Steuerbord. Es gab nur wenige Decksaufbauten. Die Kajüten der Mannschaft befanden sich unter Deck und waren ziemlich niedrig. Man mußte schon den Kopf ein wenig einziehen, wollte man sich nicht an Trägerbalken stoßen. Die Kabinen des Kapitäns und der wenigen Piratenoffiziere befanden sich in den Aufbauten und waren erheblich geräumiger gestaltet; dort hatte man auch die Gefangenen einquartiert. Bei der Prinzessin war dies selbstverständlich, doch Mythor wunderte sich nicht wenig darüber, daß man No-Ango und ihn nicht einfach unter Deck verfrachtet hatte. »Aaaayeeeh!« Die Tashans Ehre bewegte sich, gewann an Schwung. Auch andere Segler liefen jetzt aus. Die Streitmacht der Piraten rückte aus. Nach etwa hundert Schritten begann sich das große Hauptsegel zu füllen und blähte sich; ruckartig stieg die Geschwindigkeit des Seglers. Die bisher keuchenden und schie126
benden Männer beeilten sich, an den Haltegriffen der Außenwand emporzuhangeln und auf das Deck zu kommen. Mythor preßte die Lippen zusammen. Sie kamen der Entscheidung immer näher, und er hatte noch immer keinen genauen Plan gefaßt, wie er die Prinzessin und sich aus der Gewalt der Piraten befreien konnte. Daß er noch immer Bewegungsfreiheit besaß, spielte dabei kaum eine Rolle. Ständig beobachtete ihn irgendjemand. Schneller und schneller wurden die Segler. Mehr und mehr dieser Kufenschiffe verließen die Salzaufwerfung, die den Piraten als Versteck diente, um Haghalons Warze zu erreichen. Woraus mochte sie bestehen? Irgendwo weit voraus, an Steuerbord, erkannte er eine schwarze Erhebung inmitten der weißlichbraunen endlosen Ebene des Salzsees.
Es war eine imposante Erscheinung. Eine Flotte von rund fünfzig dieser eigenartigen Segler glitt mit einer Geschwindigkeit über den Salzspiegel, die der eines Orhakos gleichkam. Hin und wieder warf Mythor einen Blick zurück. Die Tashans Ehre lag an der Spitze der Piratenflotte. Die anderen Segler folgten in keilförmiger Formation. Es sah so aus, als wollten sie alles, was sich ihnen in den Weg stellte, niederrammen. Mythor lehnte an der halbgeöffneten Tür von Shezads Kajüte. Sämtliche Türen führten direkt ins Freie; man hatte darauf verzichtet, großzügige Überdachungen zu bauen, wie sie auf manchen Schiffen üblich waren, die durch die Meere kreuzten. Die Salzsegler waren allesamt äußerst leicht gebaut, um den Männern, die sie aus den Häfen oder der Piratenbucht anschieben mußten, die Arbeit nicht zu schwer zu machen. Überall knallten die großen Segel im Wind. Die Tashans Ehre war ein Dreimaster; die Masten ragten mehr als acht Mannslängen 127
in die Höhe. »Was willst du, Pirat?« fragte die Prinzessin. Sie hatte sich auf einem Ruhelager ausgestreckt und die Arme unter dem Kopf verschränkt. Leicht gelangweilt sah sie zur lür, an der Mythor lehnte. Mythor sah sich um, ob irgendwelche fragwürdigen Gestalten in Hörweite waren, dann streckte er seinen Kopf durch die lür und sagte leise: »Was hältst du von einer Befreiungsaktion, Tochter des großmächtigen Shallad?« »Viel«, gab sie ebenso leise zurück. »Nur hege ich die Befürchtung, daß es jetzt ein wenig zu spät dafür ist. Die Aktion hätte eher erfolgen müssen.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, gab er zurück. »Ich werde jedenfalls noch einiges unternehmen, um dich nach Logghard zu bringen – ohne daß es zu solchen Aktionen kommen muß wie dem Austausch gegen einen Piraten.« »Und wie willst du das verhindern?« fragte sie leicht spöttisch. »Keine Sorge, Teuerste«, brummte er. »Mir fällt schon etwas ein. Ich sehe jedenfalls nicht ein, warum du gegen einen dreckigen Freibeuter eingetauscht werden sollst.« »Da hast du ausnahmsweise recht, Pirat«, gab sie zurück. »Ich sagte dir schon mehrmals, daß ich alles andere als ein Pirat bin«, sagte er schroff. Sie lachte hell auf. »Das weiß ich, aber solange du so respektlos redest, behalte ich diese Anrede bei. Wer bist du wirklich, Mythor?« »Ich bin ein Mann aus dem Norden«, sagte er vorsichtig. Es stimmte nicht ganz; er war kein Nordländer. Aber dort, an der Küste Tainnias, hatten die Abenteuer begonnen, die ihn nach dem Untergang der Nomadenstadt Churkuuhl schließlich bis hierher gebracht hatten. Allerdings hütete er sich, Näheres darüber zu erzählen. Wenn er erwähnte, daß er der Sohn des 128
Kometen sei, war alles aus. Denn immerhin galt der Shallad als die Fleischwerdung des Lichtboten, und schon die Begegnung mit Hrobon hatte Mythor klargemacht, daß es besser war, den Mund zu halten, solange er sich im Shalladad befand. Es reichte, wenn Hrobon ihn für einen Frevler hielt; die Tochter des Shallad, die jenem Glauben noch mehr verwurzelt war, brauchte er sich nicht auch noch zur Feindin zu machen. Immerhin mußte er dem Shallad und dessen Vorgängern zugestehen, daß es ein geschickter Schachzug war, sich als Nachkommen des Lichtboten auszugeben. Er sicherte sich damit die Vergötterung seines Volkes, und Götter oder Halbgötter sind im allgemeinen etwas sicherer vor Mordanschlägen und Attentaten. Mythor war auf der Tashans Ehre der einzige, der wußte, daß Hadamur nicht der rechtmäßige Shallad war. Er hatte sich den Thron ergaunert. Der eigentliche Erbe des Throns war Luxon. Hadamur hatte ihn als Knaben töten zu lassen versucht, doch das hatte nicht ganz geklappt. An Luxons Stelle war Mythor ausgesetzt worden, der jedoch nicht von den Yarls der Nomadenstadt zerstampft worden war, sondern den die Marn bei sich aufgenommen hatten. Luxon selbst war verborgen gehalten worden und schließlich in Sarphand zum König der Diebe aufgestiegen; ein etwas zweifelhafter Ruhm, wie Mythor fand. Die Krone hatte Luxon-Arruf-Croesus seinen Taten aufgesetzt, als er Mythor das singende Schwert, den Helm der Gerechten, Sternbogen, Mondköcher und Sonnenschild stahl, um damit seinen Herrschaftsanspruch gegen Hadamur durchzukämpfen. Ob ihm das gelang, war für Mythor mehr als fraglich. Denn Hadamur achtete sehr auf seine Sicherheit. Obwohl Logghard seit alters her die Residenz des jeweiligen Shallad war, hatte sich Hadamur noch nicht ein einziges Mal dort sehen lassen; Logghard lag zu nahe an der Düsterzone, die seit fast zwei129
hundertfünfzig Sommern versuchte, die Stadt zu besiegen. Statt dessen hatte er sich an der Küste weit im Norden eine eigene Stadt erbauen lassen, die er Hadam nannte, und selbst die schien ihm nicht mehr sicher genug. Gerüchte besagten, daß der Shallad plane, seine Residenz noch weiter nach Norden zu verlegen. Mythor grinste; auch dort würde er nicht lange froh werden, denn von Norden kamen die Caer, die sich immer weiter ausbreiteten. Auch von Söhnen des Shallad hatte man noch nie gehört. Tochter hatte er viele, aber einen Sohn, der den Thron beanspruchen und sich vielleicht anheischig machen mochte, den Alten ein wenig früher als vorgesehen abtreten zu lassen, schien es nicht zu geben. Hadamur hing sehr an seiner Macht. Mythor hütete sich, seine Gedanken in der Gegenwart der Prinzessin auszusprechen; immerhin handelte es sich um ihren Vater, über den er in Gedanken lästerte. Shezad setzte sich auf dem Lager auf, zog die Knie an und schlang die Arme um sie. »Sag an, Mann der tausend Ideen«, verlangte sie. »Wie sehen deine Pläne aus, die hinter deiner Denkerstirn reifen?« »Was flüstert und tuschelt ihr da?« fragte eine barsche Stimme aus geringer Entfernung. Einer der Piraten war näher gekommen. Ihm war wohl aufgefallen, daß Mythor sich leise mit der Prinzessin unterhielt. Mythor wandte sich um. Er streckte die Hand aus und streckte zwei Finger gegen die Brust des Piraten. »Wir machen uns Gedanken über unser Ziel. Die Warze des Haghalon, hat Jassam den Ort genannt. Was ist das für ein garstiges Untier?« Der Pirat grinste. »Hast du nie von den Warzen gehört, die sich auf dem Salzspiegel erheben?« fragte er. Mythor hob die Schultern. »Von wem?« fragte er zurück. »Es gab niemanden, der es mir erzählte.« »Sieh nach Norden«, brummte der Pirat, »und du wirst eine 130
Warze sehen.« Shezad sprang auf und kam ebenfalls nach draußen. Ihre Schulter berührte leicht Mythors Oberarm. Sie sahen in die angegebene Richtung. Es war die schwarze Erhebung, die Mythor schon früher entdeckt hatte und an der sie bereits vorbei waren. Sie lag in der Verlängerung des rechten Flottenflügels. »Was ist das?« fragte Shezad. »Eine Warze«, knurrte der Pirat. »Das sehen wir selbst, Mann der schlechten Scherze«, knurrte Mythor. »Aber vielleicht reicht dein Wortschatz dazu aus, uns näher zu beschreiben, woraus diese Warze besteht. Das einzige, was man von hier aus sieht, ist, daß sie schwarz ist.« »Das ist schon eine ganze Menge«, knurrte der Pirat. »Meist sieht man die Warzen nämlich nicht oder erst, wenn man in voller Fahrt dagegen knallt. Und dann ist es zu spät, um die Güte des Shallad ein letztes Mal zu preisen.« »Du könntest etwas großzügiger mit deinen Erklärungen sein«, verlangte Mythor, der sah, daß der Pirat wieder in Schweigen verfallen wollte. »Es gibt Erhebungen in der Wüste«, sagte er jetzt unwillig. »Es gibt wandernde Dünen, und es gibt solche Erhebungen wie jene, in der sich unser Versteck befindet«, bequemte er sich zu näheren Erläuterungen. »Und es gibt die Warzen, die aus der glatten und brettebenen Fläche aufragen. Sie sind kein Salz, aber sie wandern auch nicht wie die Dünen. Sie sind haushoch und von runder Form. Weißt du, wie ein Seeigel aussieht?« Mythor nickte. »So etwa sehen die schwarzen Warzen aus. Warum man sie Warzen nennt, weiß keiner, aber der Name ist so alt wie die Welt. Sie haben mehr Stacheln als ein Mensch Haare auf dem Kopf. Die Stacheln sind nadelspitz und sondern ein gefährliches Gift ab, das sehr rasch, aber auch sehr schmerzhaft wirkt. 131
Wer gestochen wird, stirbt unweigerlich. Keiner weiß, ob es Tiere oder Pflanzen sind. Keiner sah jemals Wurzeln, und keiner sah jemals Beine. Aber sie sind gefährlich. Manchmal bilden sie ganze Kolonien von mehreren Dutzend Stück.« Mythor grinste. »Da sie schwarz sind und der Salzspiegel hell, sollte man sie eigentlich deutlich genug erkennen können. Warum behauptetest du vorhin, daß man sie manchmal erst zu spät sähe?« »Weil es so ist«, sagte der Pirat. »Die Salzkristalle glitzern häufig im Sonnenlicht, und besonders häufig in der Nähe der Warzen. Es gibt furchtbare und heimtückische Luftspiegelungen, die einem eine freie Fläche vorgaukeln. Und unversehens rast man in eine solche Kolonie hinein. Schon so mancher Salzsegler oder auch Vogelreiter ist ihnen zum Opfer gefallen und zwischen den giftigen Stacheln zerschmettert worden. Wenn wir an jener Warze dort hinten nahe genug vorbeigekommen wären, hättet ihr das Wrack eines ziemlich großen Seglers und zwei Diromen-Skelette sehen können.« Mythor sah die Gänsehaut, die sich auf den Oberarmen der Prinzessin unter dem Schleiergewand bildete. Er wollte beruhigend den Arm um ihre Schultern legen, aber sie entzog sich ihm rasch und mit hoheitsvoll-anmutiger Bewegung. »Ich selbst habe schon eine Warze bestiegen«, sagte der Pirat. »Wenn man aufpaßt, ist es ungefährlich. Aber man muß schnell sein, um den Stacheln zu entgehen. Sie sind beweglich.« Shezad war etwas blasser geworden. Mythor grinste. »Und du warst schnell genug?« fragte er. »Nein«, sagte der Pirat trocken. Shezad stieß einen leisen Schrei aus. »Und – du lebst noch?« fragte sie mit geweiteten Augen. »Ein Kamerad half mir«, sagte der Pirat. Er zerrte an seinem weit geschnittenen Beinkleid und zog es hoch. Dort, wo sich 132
bei anderen Menschen Fuß und Unterschenkel befinden, steckte in dem schweren Stiefel Holz. Shezad schluckte heftig. »Ganz gut gemacht, nicht wahr?« fragte der Pirat. »Baudi heiße ich übrigens, falls ihr mich anzusprechen wünscht.« Er schlug Mythor auf die Schulter. »Du gefällst mir, Mann, auch wenn du kein Pirat, sondern nur ein Gefangener bist. Du bist der erste, der nicht entsetzt die Augen gerollt hat, als du das Holzbein sahst.« »Der Stachel hat dich am Bein erwischt?« fragte Mythor heiser. Für Augenblicke stellte er sich vor, wie es sein mußte, mit einem solchen Ersatz herumzuhumpeln. »Am Knöchel«, sagte Baudi. »Ich war einen Herzschlag lang unvorsichtig, und prompt erwischte mich dieser verfluchte Stachel. Krümmte sich zusammen wie ein Wasserschlauch und stieß zu. Ich dachte schon, ich müßte sterben. Aber dann kam Osso. Ich weiß nicht mehr, was dann geschah, aber als ich Tage später erwachte, hatte ich unterhalb des Knies nichts mehr. Osso hatte mir das Leben gerettet. Das Gift war schon unterwegs, ihm blieb nichts als diese Lösung. Er war der beste Freund, den ich jemals hatte.« »Und wo ist er jetzt?« fragte Mythor rauh. »Ein Krieger aus der Festung hat ihn mit einem Pfeil erwischt«, murmelte Baudi düster. »Was wolltest du eigentlich bei der Warze?« fragte She-zad stockend. Sie konnte sich nicht vorstellen, was einen Mann dazu trieb, sich dieser Gefahr zu nähern. »Was wohl?« Er lachte rauh. »Beute. Reiche Beute. Der Segler, der dort zerschellt war, barg eine wertvolle Fracht. Wir sahen, wie er der Luftspiegelung zum Opfer fiel und an der Warze zerschellte. Als wir uns einen Tag später herantrauten, fanden wir in dem Wrack nur noch Skelette, die sich merkwürdig weich anfühlten. Wir hatten dem Segler auflauern 133
wollen, aber er knallte vorher gegen das Stachelding. Nun, wir wollten uns seine Ladung trotzdem holen, und wir haben es auch getan. Und dabei hat mich eben der Stachel erwischt. Seitdem trage ich dieses Ding hier. Es ist kein Ersatz für mein richtiges Bein, aber besser als gar nichts. Ich kann mich immerhin halbwegs schnell bewegen.« Mythor schüttelte den Kopf. »Auch Vogelreiter rasen manchmal in die Warzen«, fuhr Baudi fort. »Und wir finden sie immer, aber nicht jeder wagt sich heran, um sie der Dinge zu entledigen, die Tote nie mehr brauchen. Denn dort, wo sie liegen, gibt es auch die beweglichen Stacheln. Und nicht jeder hat soviel Glück wie ich. Viele werden erwischt und leisten denen, die sie berauben wollten, Gesellschaft.« »Wie viele von diesen Warzen gibt es eigentlich?« wollte Mythor wissen. Baudi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Der Salzspiegel ist groß, und Warzen und Warzenkolonien gibt es an vielen Stellen. Ich weiß es nicht. Du müßtest Tashan fragen. Er hat Karten angefertigt, die die Warzen zeigen.« »Ich werde wohl kaum die zweifelhafte Ehre haben, mich mit eurem Anführer darüber zu unterhalten«, entgegnete der Sohn des Kometen. »Ich denke, daß ich ihn höchstens im Vorbeimarsch zu Gesicht bekommen werde. Warum bin ich überhaupt hier? Es geht doch um die Prinzessin, nicht um mich oder meinen Begleiter.« »Frage Ashorro«, sagte Baudi mit abermaligem Schulterzucken. »Er hat die Idee ausgebrütet, euch beide mitzunehmen. Vielleicht hofft er, noch einige Sonderbedingungen herauszuschlagen, wenn er euch freigibt.« Mythor dachte an Hrobon. Ashorro konnte vielleicht recht haben. Vielleicht würde Hrobon tatsächlich Zugeständnisse machen, nur um seinen Todfeind in die Hände zu bekommen. 134
»Um wieder zu unserem Thema zurückzukommen«, sagte Mythor schließlich. »Warum heißt unser Zielpunkt ausgerechnet Warze des Haghalon?« Baudi verzog das Gesicht und zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. »Weil dort ein unheilvoller Geist umgeht«, sagte er flüsternd, als könne ihn jemand hören, der seine Worte nicht wahrnehmen sollte. »Der Geist des Haghalon.«
Steinmann Sadagar fühlte sich in dem Transportkorb des Diromos nicht sonderlich wohl. Die Situation erinnerte ihn zu sehr an die Entführung durch die Piraten. Allerdings war dieser Behälter für menschliche Insassen geeignet; es gab eine bequeme Sitzfläche, fast wie in einer Sänfte. Lediglich die Überdachung fehlte. Wie Sadagar bereits vermutet hatte, war der Korb des zweiten Diromos für den Piraten gedacht. Hrobon saß hoch zu Vogel und erteilte seine Anweisungen. Im Hintergrund erkannte der Steinmann noch einen Mann, der ebenfalls Offizier sein mußte und auf einem Diatro ritt. Er war prunkvoll gekleidet und von einer Schar Orhakoreiter umgeben, offenbar seine Adjutanten. Der Kommandant der Festung? Es mußte so sein. Auf Hrobons Anweisung hin formierten sich Vogelreiter und Fußsoldaten neu. Gut eine Handvoll der Männer waren Bogenschützen, und plötzlich lagen Pfeile auf. Andere Männer, vorwiegend Reiter, hielten das Fußvolk auf Abstand. Nichts ist schneller als ein Gerücht, und das Gerücht, die Prinzessin sei entführt worden und ihr Garden-Anführer wolle den Piraten gegen sie austauschen, hatte ziemlich rasch in Horai die Runde gemacht – ganz abgesehen davon, daß der Kern nur zu wahr war. Aber talentierte Erzähler phantasierten immer weitere Einzelheiten hinzu, so daß es jetzt bereits zu einem furchtbaren Spektakel ausartete. Eine Unzahl neugieriger 135
Männer und Frauen scharte sich um den großen Vorplatz der Festung am Rand der Stadt, um den Abmarsch mitzuerleben. Die Krieger hatten Mühe, die Zuschauer zurückzudrängen; von hinten kam der Druck derer, die auch etwas sehen wollten und dabei die vorderen immer weiter voranschoben. Der Tumult wurde größer, das Stimmengewirr lauter. Horai war ein Kreuzweg der Lichtwelt, an dem sich mehrere Karawanenstraßen trafen, dazu kam der Salzhafen. Und ganze Völkerstämme befanden sich auf der Flucht vor der Düsterzone und kamen dabei durch Horai. Sadagar unterschied bereits zwei Dutzend leicht unterschiedliche Dialekte des Gorgan, und manch einer in Horai verstand trotz der gemeinsamen Grundsprache den anderen nicht. Aller Augen richteten sich auf die Festung. Dort schwang langsam das große Portal auf. Gitterstäbe wurden rasselnd in die Höhe gezogen, und aus dem Dunkel traten Männer hervor. Schwerbewaffnete Krieger marschierten. Und zwischen ihnen auf einem Henkerskarren, von kleinen, aber kräftigen Tieren gezogen, stand ein muskulöser, hünenhafter Mann, dessen Kopf von einer schwarzen Kapuze verhüllt war. Tashan kam! Tashan, der Pirat, der zum Tode verurteilt worden war und jetzt doch wieder leben sollte! Kußwind, Hrobons schnelles und starkes Orhako, tauchte dicht neben Sadagars Diromo auf. Die Köpfe der beiden Männer befanden sich auf gleicher Höhe, weil der Tragekorb, in dem Sadagar sich befand, nicht hoch auf dem Vogelrücken stand, sondern seitlich hing. »Warum hat man sein Gesicht verhüllt?« wollte Sadagar wissen. »Ich habe es so angeordnet«, sagte Hrobon grollend. »Denn das von den Richtern von Horai gefällte Todesurteil ist trotz des Austausches noch nicht widerrufen worden, und es ist hier Sitte, daß dem Todeskandidaten das Gesicht verhüllt 136
wird. Es ist der Bevölkerung nicht zuzumuten, in eine Mörderfratze sehen zu müssen.« Die Krieger und der Henkerskarren kamen näher. Tashans Hände waren auf den Rücken gefesselt. Sadagar beobachtete ihn. Der Pirat war hochgewachsen und kräftig. Der Oberkörper des Piraten war nackt, seine Füße steckten in hohen Stiefeln, und er trug einen knielangen Fellrock. Für einen Mann, der sich auf den Salzspiegel hinauswagte, eigentlich eine dürftige Kleidung. Die schwarze Kapuze fiel ausgezackt bis auf die Schultern und lief oben spitz zu. Wie ein Priesterhelm der Caer! durchfuhr es Sadagar unwillkürlich. Nur die Knochenverzierungen fehlten. Vorn gab es schmale, dreieckige Augenschlitze, aber vergeblich versuchte Sadagar die Augen des Piratenführers dahinter zu erkennen. Vor dem zweiten Diromo hielt die kleine Kolonne an. Wüste Beschimpfungen aus der Volksmenge erklangen, man drängte nach vorn. Einige besonders haßerfüllte Männer durchbrachen plötzlich die Sperre und stürmten auf Tashan zu, um dem Piraten eigenhändig den Hals umzudrehen. Aber die Wachtruppe reagierte rasch. Schwerter blitzten auf, Schilde wurden demonstrativ hochgerissen, Bögen gespannt. Das brachte die Wütenden zur Vernunft, aber nun waren es die Krieger, die sich Beschimpfungen gefallen lassen mußten, weil sie sich dazu hergaben, einen Verbrecher zu schützen. »Setzt ihn in den Korb!« befahl Hrobon laut. Der massige Pirat wehrte sich nicht gegen die zupackenden Männer, die ihn schließlich hochwuchteten und in den Transportkorb setzten. Auf ein Handzeichen Hrobons eilten die Bogenschützen zu ihren Orhaken, saßen auf, hielten die Bögen aber nach wie vor schußbereit. Tashan hatte keine Chance. Selbst wenn er seine Fesseln zerriß und den Diromo-Lenker angriff, um mit dem Laufvogel zu fliehen, wäre er noch im gleichen Moment mit Pfeilen gespickt worden. 137
In seinem Korb war er jetzt auch von den letzten Zuschauern gut zu sehen. Sein Körper straffte sich, und plötzlich sprach er. Augenblicklich wurde es still. Sadagar erschauerte. Die Stimme, mit der Tashan sprach, klang eigenartig verzerrt, als wäre da noch mehr als nur die Kapuze. Und sie dröhnte über den ganzen Platz. »Elendes Gesindel!« brüllte Tashan. »Hattet ihr wirklich geglaubt, mich halten zu können? Seht, schon bald werde ich wieder frei sein, und dann mögen die Götter euch gnädig sein! Denn ich bin der Träger der Macht!« »Halte den Mund!« fuhr Hrobon ihn an. Tashan lachte dröhnend. »Du, Hrobon, wagst es, große Töne zu spucken?« grollte er. »Auch du wirst dich noch wundern…« »Woher kennst du meinen Namen?« fragte Hrobon schnell. »Wer hat ihn dir genannt?« »Ich sagte doch, daß ich der Träger der Macht bin, Mann aus den Heymalländern«, schrie Tashan. »Ich weiß viel! Weit mehr, als du ahnst…« Er wandte sich wieder der Menge zu. »Meine Macht wird euch erdrücken! Horai wird unter meiner Herrschaft zittern! Schon bald, elendes Gesindel. Flieht, solange ihr noch könnt!« »Schluß jetzt!« schrie Hrobon ihn an. »Noch ein Wort, und dein Kopf rollt, auch wenn dadurch das Leben der Prinzessin gefährdet wird.« Tashan kicherte höhnisch, aber er sagte für eine Weile nichts mehr. Er schien bemerkt zu haben, daß Hrobon es bitterernst meinte. Und Hrobon hatte tatsächlich nicht geblufft. Sadagar preßte die Lippen zusammen. Dafür, daß Tashan sich inmitten erbittertster Feinde befand und der Austausch noch gar nicht stattgefunden hatte, riskierte er tatsächlich eine recht vorlaute Sprache. Mit seinen Worten konnte er den Haß der Menschen gegen ihn nur noch weiter schüren. 138
Jener Offizier im Hintergrund hob jetzt beide Arme empor und stieß dann die geballten Hände nach vorn. »Aufbruch!« gellte der Befehl. Ein Ruck ging durch Vogelreiter. Die Tiere setzten sich in Bewegung. »Wer ist dieser Mann?« fragte Sadagar den immer noch neben ihm reitenden Hrobon. »Sadhy, der Kommandant der Festung«, preßte der Heymal hervor. »Er hat hier den Befehl.« Sadagar grinste. »Er hält sich ja recht gut zurück. Offenbar hat er das Kommando, aber du darfst die Verantwortung tragen, Hrobon. Merkst du was?« »Ach, halte das Maul, alter Narr«, knurrte Hrobon verärgert und trieb sein Tier an. Die beiden Diromen mit Tashan und Sadagar befanden sich jetzt nebeneinander, und wie der Zufall spielt, hingen die beiden Körbe einander zugewandt, so daß Sadagar Muße hatte, Tashan zu betrachten. Der Pirat murmelte etwas vor sich hin, was Sadagar nicht verstehen konnte. Aber wahrscheinlich waren es höhnische Beschimpfungen. Irgend etwas stimmt mit dem Burschen nicht, durchfuhr es Sadagar. Er beschloß, auf der Hut zu sein und diesen Piraten nicht aus den Augen zu lassen. Sadagar wurde das Gefühl nicht los, daß sich eine schwarze Wolke über ihnen zusammenbraute. Aber worin die Gefahr bestand, konnte ihm wohl nicht einmal der Kleine Nadomir zuflüstern.
Horai blieb hinter ihnen zurück. Hrobon lenkte den Zug durch die gesamte Stadt, vorbei an den unzähligen Zelten jener, die nur vorübergehend hier lebten und bald weiterreisten, vorbei an den Karawanen, die ganze Stadtviertel bildeten, und zwischen den großen Märkten hindurch. Draußen vor der Stadt ruhten die mächtigen Yarls der wandernden Nomadenstädte, 139
die hier haltmachten. Sadagar entsann sich, daß Mythor in einer solchen Wanderstadt aufgewachsen war. In Churkuuhl, der Stadt der Marn, deren Yarls von Dämonen besessen das Böse in den Norden trugen und schließlich an der Küste Tainnias in das Meer der Spinnen stürzten. Doch diese Yarls waren nicht besessen. Sie nahmen auch kaum von dem großen Zug aus rund zweihundert Vogelreitern Kenntnis. Eher schon die Bewohner der Häuser, die sich auf den Yarlrücken erhoben. Auch sie hatten von den Ereignissen gehört und verließen jetzt ihre Häuser, um Zeugen dieses einmaligen Schauspiels zu werden. Doch sie blieben auf ihren Yarls. Die Bewohner der Nomadenstädte verließen ihre Tragtiere nur im Notfall oder wenn es galt, Vorräte einzuholen. Irgendwie gab es in ihnen die Scheu vor dem festen Boden, während andere Menschen wiederum sich davor scheuten, ein Leben auf den Panzerrücken dieser riesigen Tiere zu verbringen. Als die Kolonne die Stadt verließ, wurden die Vögel schneller. Ihre Reiter trieben sie mit schrillen Schreien an. Die Vögel hasteten am Hafen vorbei auf den Salzspiegel hinaus. Dennoch wurde es für Sadagar und Tashan nicht unkomfortabel. Die Tragekörbe hingen ruhig und schaukelten kaum, die großen Diromen liefen ruhig und gleichmäßig. Immer wieder sah Sadagar zu dem Piraten hinüber, dessen Gesicht immer noch von der Kapuze verborgen war. Aber Tashan schien Sadagars Interesse zu bemerken, denn er gab hin und wieder einige an den Steinmann gerichtete Schimpfwörter von sich. Daran störte der Steinmann sich weniger. Was ihn störte, war das Verhalten des Piraten. Von Zeit zu Zeit hob er seine Stimme und jagte Flüche über die Köpfe der Krieger hinweg. Einige Male tauchte Hrobon auf. Aber hier draußen auf dem Salzsee konnte er den Piraten nicht mehr einschüchtern. 140
Man hatte Tashan einen Mantel übergeworfen, um ihn vor dem salzigen Wind zu schützen, der stellenweise stark blies. Hin und wieder tauchten in der Ferne schwarze, stachelbewehrte Erhebungen auf, und Sadagar erfuhr, daß es sich um die Warzen handelte. Auf diese Weise bekam auch er einen Begriff davon, was die Warze des Haghalon sein mochte. Aber warum sie diesen Namen trug, verriet ihm niemand. »Ich könnte es dir sagen«, sagte Tashan plötzlich dumpf unter seiner Kapuze hervor. »Du bist der letzte, von dem ich es hören möchte«, wehrte Sadagar ab. Es reizte ihn nicht, die Stimme des Piraten zu hören. Unheil schwang in ihr mit. Irgendwann gegen Abend hielt die Kolonne an, und in Windeseile wurden Zelte aufgeschlagen. Aus einem Lastkorb eines weiteren Diromos wurden Holzscheite geladen und zusammengeschichtet, und bald entstand ein weithin loderndes Feuer. Den Proviant führte jeder Vogelreiter bei sich. Für Tashan und Sadagar wurde auch gesorgt. Während der Steinmann sich unter ständiger Beobachtung halbwegs frei bewegen durfte, war der Pirat streng gefesselt worden und konnte sich kaum rühren. Immer wenn Sadagar sich dem Piraten etwas mehr als bis auf zehn Schritte näherte, wurden die Krieger besonders wachsam. Die Dämmerung kam in diesen Gegenden schneller als im Norden, und sie währte auch nicht so lange. Bald schon standen die ersten Sterne am finsteren Himmel, und im Süden stieg das dunkle, farbige Glosen der Schattenzone am Himmel auf. Ein eigenartiges, bedrückendes Farbband, das die Gefahr verdeutlichte, die dort ständig lauerte und bestrebt war, sich auszudehnen. Aber Sadagar ahnte, daß eine vorläufig noch größere Gefahr sich inmitten des Lagers befand. Und diese Gefahr hieß Tashan.
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»Der Geist des Haghalon?« fragte Mythor rasch. »Was ist das? Ein Dämon?« »Er war ein Magier«, antwortete Baudi, der Holzbeinige. »Er hatte einen großartigen Plan. Die giftigen Stacheln, überlegte er, wären eine hervorragende Waffe für die Krieger des Shallad. Kaum ein Feind vermochte einer solchen Armee zu widerstehen, denn diese Stacheln suchen sich ihr Opfer selbst und finden mit einer geradezu unheimlichen Sicherheit genau die schwächste Stelle.« Er sah an sich hinunter zu dem im Stiefel steckenden Holzbein. Wenn er sein Beinkleid heruntergelassen hatte, verdeckte es das Holz zusammen mit dem Stiefel völlig; wer ihn so sah, mußte ihn für einen normal humpelnden Mann halten. Shezad wollte sich abwenden, ihr begannen die Erzählungen des Piraten aufs Gemüt zu schlagen. Doch Mythors Hand umschloß blitzschnell ihr Handgelenk. Als sie ihn verblüfft ob seiner Frechheit anfahren wollte, blinzelte er ihr rasch zu. »Erzähl weiter, Baudi«, verlangte er. »Wir möchten gern mehr über die Warze des Haghalon wissen. Vielleicht können wir dieses Wissen einmal gut gebrauchen.« Während des letzten Satzes verstärkte er den Druck um Shezads Handgelenk. Seufzend entspannte sich die Prinzessin; sie hatte begriffen. Mythor wollte erfahren, wie weit sich der Zielpunkt der Piratenflotte für einen Fluchtversuch eignete. Sie akzeptierte es, wenngleich ihr die Worte des Piraten einen Schauer über den Rücken laufen ließen. Ihr zartes Gemüt war dafür nicht geschaffen. Wohl hatte ihr Vater sie wie einige ihrer Schwestern auf eine Reise durch das Shalladad gesandt, um allein durch ihre zeitweilige Anwesenheit die Moral der Truppen zu stärken, aber von Kampf und Gewalt war sie nicht sonderlich zu begeistern. »Haghalon zog also aus«, fuhr Baudi fort, »um weit drinnen 142
auf dem Salzspiegel zu ernten. Er hatte sich ausgerechnet die größte Ansammlung von Warzen ausgesucht, die es auf dem See gibt. Dort hatten sich etwa dreißig von ihnen versammelt und warteten auf ihre Opfer. Einige standen dicht beieinander, zwischen anderen gab es Abstände bis. zu einer Pfeilschußweite. Aber es war deutlich zu erkennen, daß sie alle zu einer Kolonie gehörten. Nun, der Magier Haghalon begann mit seiner Ernte. Zuvor entfesselte er ein gewaltiges Spektakel mit geheimnisvollen Beschwörungen. Und es gelang ihm mit Hilfe seiner Magie, die Stacheln gewissermaßen einzuschläfern. So konnte er ungefährdet beginnen, sie abzuschneiden und einzusammeln; er brauchte nur noch aufzupassen, daß er die Spitzen nicht berührte, aus denen das Gift austritt. Nun, er begann die Stacheln vorsichtig an der Wurzel anzuschneiden, dicht am Warzenkörper. Er schnitt die erste, schnitt die zweite und dritte…« »Mach es nicht zu spannend«, unterbrach Mythor Baudis Redefluß. »Was geschah dann?« »Haghalon hatte wohl seine Magie überschätzt, vielleicht verspüren die Warzen auch Schmerz, wenn man an ihnen herumschnitzt. Wer weiß es? Immerhin ist es nicht sicher, ob es Pflanzen oder Tiere oder etwas ganz Fremdartiges sind. Man weiß nur, daß die Warzen erheblich rascher wieder erwachten, als Haghalon es geplant hatte.« »Alle?« unterbrach die Prinzessin. »Man sagt es«, nickte Baudi. »Der Magier bemerkte es zu spät. Als er die erste Bewegung erkannte, war es schon zu spät, und ein paar tausend Stacheln bohrten sich in seinen Körper. Da half ihm all seine Magie nicht mehr. Er versuchte noch eine Beschwörung, doch ehe er sie vollenden konnte, war er bereits tot.« Mythor schluckte. »Ehe er sie vollenden konnte?« wie143
derholte er erschrocken. »Ich sehe, du kennst dich aus«, sagte der Pirat. »Ja, und deshalb ist sein Geist jetzt dazu verdammt, für ewig zwischen den Warzen zu spuken. Manchmal, wenn die Schattenzone besonders intensiv glüht, kann man des Nachts eine dunkle Gestalt zwischen den Warzen der Kolonie umherirren sehen, ein riesiges Messer in der Hand. Es ist Haghalon, der nie mehr Ruhe findet, und nach ihm wurde diese Kolonie die Warze des Haghalon genannt.« »Hast du diesen Geist schon gesehen?« fragte Mythor, der fühlte, wie sich eine Gänsehaut wohl nicht nur auf Shezads Arm bildete. Baudi, der Holzbeinige, schüttelte heftig den Kopf. »Nein, bei Erain! Denn dann lebte ich vielleicht nicht mehr. Ich hörte nur die Erzählungen.« »Das macht uns richtig Mut«, spottete Mythor. »Und dort soll also der Austausch stattfinden?« »Jassam hat es so bestimmt«, sagte Baudi. »Und was wird aus No-Ango und mir?« fragte er. »Es heißt ja immer nur, daß die Prinzessin gegen Tashan ausgetauscht werden soll.« »Ich weiß es nicht«, sagte der Pirat. »Da mußt du schon Jassam oder vielleicht auch Ashorro fragen. Sie pflegen ebenso wie Tashan nicht über ihre geheimen Pläne zu reden. Du kennst doch den alten Spruch: Man schüttet eine Quelle am einfachsten zu, indem man ihren Standort verrät.« Mythor nickte. »Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Ich werde also Jassam fragen.« »Da wirst du Pech haben«, grinste Baudi. »Jassam ist für niemanden zu sprechen. Er befehligt die Tashans Ehre und kümmert sich in dieser Zeit um nichts anderes. Du wirst dich schon an Ashorro halten müssen.« »Tja«, brummte Mythor. »Dann werde ich das wohl tun.« 144
»Sag an, Mann der düsteren Gedanken«, sagte No-Ango. »Was habt ihr mit uns beiden vor – mit Mythor und mir?« Seine Hand umklammerte den Oberarm Ashorros. Der finstere Pirat schlug No-Angos Hand beiseite. »Mach das nicht noch einmal«, drohte er. »Du kannst froh sein, daß du dich frei an Bord bewegen kannst. Erlaube dir nicht zu viele Frechheiten, es könnte sonst sein, daß du in Ketten gelegt wirst.« Der Letzte der Rafher, dessen Volk sich zu einem Deddeth vergeistigt hatte, um auf diese Weise den Kräften des Lichts zu dienen, musterte Ashorro mißmutig. Der Pirat stand Jassam in seiner Verschlagenheit und Brutalität kaum nach, und wenn es nach seinem Aussehen ging – wenn No-Ango sich einen Dämon in der Gestalt eines Menschen vorstellen konnte, so hatte Ashorro genau dieses Aussehen. Aber er war nicht dämonisiert. Lediglich seine Bösartigkeit und sein finsteres Aussehen waren geradezu dämonisch. »Warum habt ihr uns mitgenommen?« fragte No-Ango erneut. Ashorro musterte den jungen Rafher überlegend. »Es kommt darauf an, wie die Verhandlungen verlaufen. Ihr könntet ein gutes Druckmittel oder auch gute Sklaven werden.« »Bestie!« fauchte No-Ango. Ashorro lachte meckernd. »Was hattest du denn erwartet, Knabe?« No-Ango lief dunkel an. Er zählte stattliche siebzehn Sommer, und bei seinem Volk hatte er seit einiger Zeit das Amt eines Kundschafters eingenommen. Doch das war nun längst vorbei. Die Rafher gab es nur noch in Form eines Deddeths, und No-Ango hatte sich nur deshalb nicht der Gemeinschaftsintelligenz anschließen können, weil er ein waches Auge auf Mythor zu halten hatte. Sein Pech oder Glück? Er wußte es 145
nicht zu sagen. Aber zuweilen empfand er Bedauern darüber, daß er nicht der geistigen Einheit angehörte, zu der sein Volk zusammengeschmolzen war. »Nenn mich nicht Knabe, elender Pirat, oder du wirst es irgendwann bereuen«, zischte er. Im ersten Moment wollte Ashorro auflachen. Doch dann gefroren seine Gesichtszüge förmlich. Er sah in No-Angos Augen und erkannte die Drohung darin. Hastig entfernte er sich. Dieser No-Ango war gefährlich! Es war vielleicht doch besser, ihn fesseln zu lassen… No-Ango starrte dem davoneilenden Piraten mit verengten Augen nach. »Die Schatten sollen dich fressen…«, murmelte er. Dann ging ein jäher Ruck durch seinen Körper. Er verließ das Achterkastell des Salzseglers und lenkte seine Schritte zu den im Mittelteil befindlichen Decksaufbauten hinüber. Er wollte sich ein wenig mit Mythor unterhalten.
»So also sieht es aus«, murmelte der Sohn des Kometen nachdenklich. »Druckmittel oder Sklaven.« Sie hatten sich von der Kajüte der Prinzessin entfernt. Shezad hatte sich zurückgezogen und versuchte, die Erinnerung an die Erzählung Baudis zu verdrängen. Baudi selbst war irgendwo unter Deck verschwunden. »Ja, so sieht es aus«, wiederholte No-Ango. Der Rafher hatte sich im Schneidersitz auf den Decksplanken niedergelassen. »Ich nehme deshalb an, daß sie uns einigermaßen in Ruhe lassen werden, auch wenn wir die Warze des Haghalon erreicht haben. Nur werden wir dort nicht mehr über die Bewegungsfreiheit verfügen, die wir jetzt haben.« Mythor nickte. »Wann etwa, schätzt du, werden wir ankommen?« fragte 146
No-Ango. »Baudi, ein Pirat, hat es mir gesagt«, verriet der Sohn des Kometen. »Morgen gegen Mittag. Wir werden zwischendurch ein Nachtlager aufschlagen. Ich weiß zwar nicht, warum Jassam nicht während der Nacht fahren lassen will, aber er wird wohl seine guten Gründe dafür haben. Wenn es dunkel wird, halten die Segler an.« Er machte eine kurze Pause. »Vielleicht will Jassam auch nicht zu früh ankommen. Vielleicht fürchtet er sich vor dem Geist des Haghalon.« Er berichtete No-Ango in knappen Worten, was er von Baudi erfahren hatte. »Du könntest recht haben«, gestand No-Ango. »Piraten sind meistens sehr abergläubisch, und vielleicht geht dieser Geist dort tatsächlich um. Wer kann es mit Sicherheit sagen? Hast du schon einen Plan?« Mythor zuckte mit den Schultern. »Nichts Genaues. Vielleicht ergibt sich während des Nachtlagers eine Gelegenheit.« »Ich glaube nicht daran«, gab No-Ango zurück. Er sollte recht behalten.
Nicht viel später trat Jassam aus einer der Decksaufbauten heraus. In ihr mußte sich die Kapitänskajüte und vielleicht auch der Steuerraum des Salzseglers befinden. Jassam streckte die Arme aus und erteilte lautstark Befehle. Die großen Segel fielen. Fast im gleichen Augenblick wurde die Tashans Ehre merklich langsamer und schlitterte auf ihren Kufen auf ihren Ruhepunkt zu. Auch die anderen Segler refften die Segel und glitten mit dem Rest ihrer Geschwindigkeit weiter, bis die Reibung der Kufen auf der Salzfläche sie zum Stehen brachte. Sie lagen jetzt auf einer freien, weithin einsehbaren und ungeschützten Fläche. Das hatte den Vorteil, daß am kommenden Morgen die Männer die Segler nicht erst an147
zuschieben brauchten. Hier konnte der Wind ungehindert zupacken; die Segel brauchten lediglich aufgezogen zu werden, der Wind würde dann das Seine tun. Mythor nagte an seiner Unterlippe. Sie waren mit vollem Wind gefahren. Als sie von Horai kommend das Versteck aufsuchten, hatten sie kreuzen müssen, die Rückreise würde sich für die Piraten ähnlich umständlich gestalten, falls der Wind nicht überraschend drehte. Denn die Segler hatten einen Nachteil: Richtungsänderungen konnten ausschließlich über die Segel geschehen. Ein Steuerruder wie bei Wasserschiffen gab es nicht. Es hätte eine drehbare Kufe erfordert, doch die Salzfläche war nicht so nachgiebig wie Wasser. Zwei bis drei kräftige Männer hätte man gebraucht, um das Ruder herumzuwirbeln. Darauf hatte man verzichtet und lenkte mit den Segeln und Ballasthebeln. Die Tashans Ehre war dadurch wendig, daß sie nur einen Ausleger und damit zwei Kufen besaß; bei den normalen Handelsseglern mit zwei Auslegern und somit drei Kufen, manchmal vier – zwei unter dem Hauptrumpf –, befanden die Ausleger sich nicht auf gleicher Höhe. Einer schwebte meist ein wenig in der Luft. Die über Segelschwenks gesteuerten Richtungsänderungen wurden dadurch unterstützt, daß eine Art Quermast, mit Ballast beschwert, in jene Richtung ausgeschwenkt wurde, in die der Segler sich neigen sollte. Es war ein haarsträubendes Balancierspiel, und geschickten Steuermännern gelang es, bei schneller Geradeausfahrt beide Ausleger in der Luft zu halten und auf einer einzigen Kufe dahinzugleiten. Daß die Kufe unter dem Schiffsrumpf dadurch ein wenig tiefer gepreßt wurde, wurde durch die fehlende Bremswirkung der Auslegerkufe mehr als ausgeglichen, und die Segler konnten erheblich schneller fahren. Jetzt kamen sie nacheinander zum Stillstand. »Wir bleiben an Bord der Schiffe!« schrie Jassam so laut, daß es auf den benachbarten Seglern vernommen wurde. Der Be148
fehl wurde weitergegeben. Es gab keinen Grund, die Schiffe zu verlassen; Proviant war an Bord, und auf dem Salzspiegel gab es nichts, was einen Mann veranlassen konnte, von Bord zu gehen. Draußen gab es nur eins: den Dursttod. Bald brach die Nacht herein, doch die Gefangenen erhielten keine Chance, zu entfliehen. Es gab genug Piraten, die Wache hielten. Mythor hatte also auf eine Gelegenheit bei der Warze des Haghalon zu warten; es blieb nichts anderes übrig. Und noch in der morgendlichen Dunkelheit gab Jassam das Signal zum Aufbruch. Offensichtlich wollte er das Ziel weit früher erreichen, als es bisher den Anschein hatte.
Das große Feuer war nahezu niedergebrannt. Nur noch ein schwaches Flackern erhellte die Szene. Die Krieger des Shallad hatten sich zum Teil bereits in ihre Decken gerollt und waren in den rasch aufgeschlagenen Zelten verschwunden. Vor einem der Zelte waren Lanzen in den Boden gerammt worden; sie trugen die Wimpel des Festungskommandanten. Sadagar nagte die letzten Fleischfasern von einem Knochen und warf ihn dann ins Feuer. Kurz zuckten die Flammen auf und tanzten über den Knochen hinweg. Das Fleisch war gut durchgebraten gewesen, und der Steinmann erlaubte sich, sich aus einem Weinschlauch zu bedienen und nachzuspülen. Es wunderte ihn, daß es auf diesem Heerzug Wein für die Krieger gab. In nördlichen Gegenden wurden die Krieger mit Wasser versorgt, Wein oder Bier gab es nur bei Siegesfeiern. Aber vielleicht wollte der Kommandant seine Männer bei guter Laune halten. Zu seinem Erstaunen mußte Sadagar immerhin feststellen, daß keiner der Männer sich betrank; die Disziplin war hervorragend. Offenbar rechneten sie alle damit, daß am kommenden Tag ein harter Kampf auf sie wartete. Der Steinmann erhob sich bedächtig und sah in die Runde. 149
Es war ein deutlich ausgedehntes Lager, allein die etwa zweihundert Laufvögel beanspruchten viel Platz. Eine Reihe Wächter umrundete ununterbrochen das Areal, und eine weitere Reihe Wächter sorgte dafür, daß Tashan nicht auf den Gedanken kommen konnte, einen Ausbruchsversuch zu starten. Sadagar näherte sich Tashan. Eine fixe Idee hatte sich in ihm festgesetzt, genährt von einem bösen Verdacht. Als er die kritische Distanz unterschritt, glitten die Hände der Wächter zu den Schwertern. Aber noch zogen sie nicht blank. Sadagar warf ihnen mißtrauische und vorsichtige Blicke zu. Er wollte jetzt wissen, wie Tashans Gesicht aussah! Es hatte ihn mehr als bedenklich gestimmt, daß er hinter den Augenschlitzen in der Kapuze nur Schwärze gesehen hatte. Auch die Stimme des Piratenführers war so merkwürdig gewesen. Tashan schien zu schlafen. »Was hast du vor, Steinmann?« fragte einer der Wächter leise und mit gefährlichem Unterton. Er machte einige Schritte auf Sadagar zu. Immerhin waren sich die Männer Hrobons und des Festungskommandanten nicht ganz einig, ob Sadagar nicht doch zu den Piraten gehörte. »Es ist verboten, mit Tashan zu sprechen«, sagte der Krieger. Sadagar schüttelte resignierend den Kopf. »Ich will nur sein Gesicht sehen«, flüsterte er. »Und was hast du davon?« fragte der Krieger. »Das«, sagte Sadagar, machte blitzschnell einen letzten Schritt vorwärts, kniete neben dem gefesselten Piraten nieder und riß ihm die schwarze Kapuze vom Kopf. »Beim Kleinen Nadomir!« schrie er auf, als er das Gesicht Tashans sah. Die Augen der Wächters weiteten sich und spiegelten den Schrecken wider, der sie erfüllte. Sie starrten Tashan entsetzt an. Tashans Oberkörper ruckte hoch. Das ruckartige Abziehen der Kapuze hatte ihn geweckt. Sadagar sprang auf und tau150
melte rückwärts, stolperte dabei und stürzte. »Nein!« schrie er. »Nicht! Hilfe!« Tashan lachte brüllend. Jäh erhob er sich, und das düstere Leuchten der Schattenzone am Nachthimmel gab ihm ein gespenstisches Aussehen. Die Krieger hatten ihre Schwerter gezückt, wagten sich aber nicht mehr zu rühren, obgleich der Pirat gefesselt war. Aber das Gebrüll brachte andere auf die Beine, und plötzlich war Hrobon da. Er war fahl wie Schnee, als er erkannte, was mit Tashan geschehen war. Hatte es niemand geahnt? Nicht einmal jener, der ihm die Kapuze aufsetzte? Oder hatte der Pirat sie alle in seinen Bann gezwungen? Tashan besaß kein Gesicht im eigentlichen Sinne mehr. Es war von einer glasartigen Schicht überzogen. Nur zu gut kannte Sadagar diese Erscheinung, und auch die Krieger schienen Bescheid zu wissen. Tashan war von einem Dämon besessen! »Hütet euch«, sagte der Pirat dumpf. Er sah in die Runde. In der Dunkelheit schienen seine Augen hinter der gläsernen Schicht unheilvoll zu glühen. »Hütet euch vor dem Zorn Cherzoons! Niemand wird ihm entgehen, denn bald schon wird er erscheinen. Denn er ist der Meister Drudins und der Caer, und ihm wird die Welt gehören!« »Wer ist Cherzoon?« stieß Hrobon hervor. Seine Lippen waren ein schmaler Strich, die Augen leicht geweitet. Sadagar sah, daß sich seine Faust um den Griff einer Waffe spannte. Auch der Steinmann war nicht frei von Furcht. Lange genug hatten die Mächte des Bösen Mythor und auch ihn gehetzt. »Cherzoon ist Drudins Dämon«, stieß er hervor. »Der gefährlichste Dämon, den die Welt kennt, und darum ist auch Drudin selbst so gefährlich…« »Ha!« brüllte Tashan. »Ihr werdet ihm nicht entgehen! Bald, bald ist es soweit… nicht mehr lange…« Er verstummte 151
und ließ sich wieder nieder. Niemand wagte sich ihm zu nähern, um ihm die Kapuze wieder überzustülpen. Eine dumpfe Furcht hatte die Männer erfaßt. Das Böse befand sich mitten unter ihnen. Sadagar sah Kommandant Sadhy in der Nähe. Auch der Befehlshaber der Festung war unnatürlich bleich. Jeder wußte, was das gläserne Gesicht zu bedeuten hatte. Doch kaum jemand konnte sich erklären, wie Tashan dämonisiert worden war. Nur wenige wußten, daß jene drei schwarzen Reiter aus dem Norden in Horai gewesen waren, und nur Sadagar und vielleicht auch Hrobon wußten, daß es sich bei ihnen um die drei Todesreiter des obersten Caer-Priesters handelte. Sie hatten den Stummen Großen Lichtfinger gemordet, und ganz nebenbei mußten sie die Gelegenheit ausgenutzt haben, den Dämon auch noch in den Piratenführer fahren zu lassen. Niemand eignete sich besser, das Böse zu verbreiten, als ein Mensch, der ohnehin schon böse war. Die Dämonisierung verstärkte seine Veranlagung weiter. »Man sollte ihn töten«, murmelte einer der Krieger. »Das werdet ihr Narren lassen!« schrie Kommandant Sadhy. »Wir wollen ihn gegen die Prinzessin eintauschen!« Hrobon, der Führer der Leibgarde, hob die Schultern und wandte sich ab. Er trat zu Sadhy. »Wir sollten uns auf einen mörderischen Kampf vorbereiten, Sadhy«, sagte er. »Denn ich glaube kaum, daß die Piraten unter diesen Umständen noch auf den Tausch eingehen werden.« »Ich glaube es für dich mit«, knurrte Sadhy eisig. »Denn man wird ihm die Kapuze wieder überstreifen, so daß sie erst sehen, was sie sich da eingehandelt haben, wenn es zu spät ist.« Hrobon grinste freudlos. »Und wer soll das tun?« fragte er. »Ich kann meine Männer nicht dazu zwingen. Wer garantiert uns, daß Tashan nicht seinerseits weitere Männer dämonisiert?« 152
Sadhy sah sich suchend um, bis er den Mann erspäht hatte, den er suchte. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Sadagar. »Er«, sagte er laut, »wird es tun.« Ein kalter Schauer überlief den Steinmann. Entsetzt sah er von Sadhy zu Tashan. Unwillkürlich glitten seine Finger zu den drei Halsringen. »Nein, beim Kleinen Nadomir«, flüsterte er. »Ich… ich kann es nicht!« »Du kannst es«, sagte der Kommandant hart. »Oder du stirbst auf der Stelle. Vielleicht tun wir damit ein gutes Werk, weil du doch ein Pirat bist.« Drohend glitt seine Hand zum Schwertgriff. Sadagar wandte sich mit verzerrtem Gesicht ab und suchte nach der Kapuze, die er fallen lassen hatte. Langsam umschlossen seine Finger den grob gewebten Stoff. Erst als er sah, daß der Pirat ruhig dalag und die Augen geschlossen hatte, wagte der Steinmann sich näher heran. Dann überwand er sich und zerrte dem Dämonisierten die Kapuze mit einem schnellen Ruck über den Kopf. »Ich warne euch«, grollte die dumpfe Stimme in diesem Moment auf. »Hütet euch vor meinem Zorn, denn ich komme bald… selbst…« Mit einem entsetzten Schrei wich Sadagar zurück. »Das war Cherzoon selbst«, keuchte er. »Der Dämon hat aus Tashan gesprochen! Er ist hier…« »Sei ruhig, alter Narr«, herrschte Hrobon ihn an, dem selbst nicht ganz geheuer war. »Mache die Krieger nicht noch unruhiger, als sie es ohnehin schon sind!« Er reckte die Arme empor. »Zurück an eure Plätze«, rief er. »Das Schauspiel ist vorbei, Männer! Ruhe ist die erste Soldatenpflicht!« »Gut gesprochen, Heymal«, knurrte Sadhy spöttisch, als die Soldaten sich zu ihren Zelten zurückbegaben. Hrobon warf einen Blick zu den am Nordhimmel kalt und feindlich glitzernden Sternen. »Ich möchte wissen, ob du dei153
nen Spott noch immer versprühst, wenn die Nacht vorbei ist und wir auf die Piraten treffen. Wir sind nicht mehr weit von der Warze des Haghalon entfernt, und die Nacht wird kurz sein.« »Du hast recht, sie wird sehr kurz sein«, knurrte der Festungskommandant. »Wir werden bei der Warze sein, wenn die Sonne eben aufgeht.« »Das ist gut«, sagte Hrobon ruhig. »Die Piraten werden nicht früher dasein. Wir können ihnen eine Falle stellen.« »Erst der Austausch«, verlangte Sadhy. »Meinst du, ich sei dumm im Kopf?« fragte Hrobon schroff. »Immerhin rollt meiner eher als deiner, wenn der Prinzessin etwas geschieht.« Sadagar behielt die beiden im Auge. Was er von Anfang an vermutet hatte, stimmte offenbar. Sadhy hatte den Oberbefehl, aber im Grunde würde Hrobon die Kohlen aus dem Feuer holen müssen. Und wenn man den Fanatismus des Heymals in Sachen Lichtbotenglaube und Shalladverehrung aus dem Spiel ließ, schien er ein recht vernünftiger Mann zu sein. Sadagar wußte zwar, daß Hrobon Mythors Todfeind war, aber er gefiel ihm eher als der Kommandant. Sadagar ging zu seinem Platz und kauerte sich dort, einigermaßen unbeobachtet, nieder. Er wollte die Zeit bis zum bevorstehenden Aufbruch nutzen und schlafen, vorher aber noch etwas anderes tun. Möglicherweise konnte der Kleine Nadomir ihm helfen…
Auch die anderen Männer hielten Schlaf wohl für das Nützlichste, was ihnen widerfahren konnte. Sadagar wartete eine Weile, bis nur noch die Wachtposten auf den Beinen waren. Dort, wo er sich seinen Platz für sein Nachtlager gewählt hatte, war er vor neugierigen Blicken weitgehend geschützt, nur 154
hin und wieder warf einer der Wächter einen Blick herüber. Aber den interessierte nur, ob Sadagar, der mutmaßliche Pirat, noch an Ort und Stelle war und nicht etwa die Fesseln Tashans löste. Langsam nahm Sadagar die drei goldenen Halsringe ab, die der Kleine Nadomir ihm überlassen hatte, als sie ihre magische Bruderschaft eingingen. Der Königstroll verfügte über einige Fähigkeiten, die in diesem Fall vielleicht Hilfe bringen konnten. Vielleicht würde er aber auch gar nichts tun. Schon mehrfach hatte Sadagar die Hilfe seines »Bruders« erbeten, und anfänglich hatte der Kleine Nadomir oder, wie er sich selbst nannte, der Schöne Nadomir, was eine maßlose Übertreibung war, ihm diese Hilfe gewährt, war dabei aber recht ärgerlich geworden, weil Sadagar ihn zumeist wegen irgendwelcher Bagatellen um Hilfe bat. Einmal hatte Nadomir bereits darauf verzichtet, sich auf den Ruf hin überhaupt zu melden. Sadagar rieb die drei Halsringe gegeneinander. »Nexa-pottl«, rief er so leise, daß die Wächter es nicht hören konnten. Gleichzeitig dachte er eindringlich an den Königstroll und wiederholte den leisen Ruf: »Nexapottl, hilf deinem Bruder!« Nexapottl war der Wahre Name des Kleinen Nadomir. Er wurde Fremden gegenüber streng geheimgehalten, und nur Brüder kannten ihn, Sadagar wußte nicht, ob es außer ihm noch jemanden gab, der Nadomirs Wahren Namen kannte, aber bei der Geheimniskrämerei, die Nexapottl anstellte, war es äußerst zweifelhaft. Ungeduldig wartete Sadagar darauf, daß der Königstroll ihm erschien. Wenn Nadomir kam, kam er nicht körperlich, sondern als Geisterscheinung. Doch diesmal war alles anders: Nadomir kam nicht. Aber er meldete sich! Es war wie ein Ruf aus unendlichen Fernen, und Nadomir rief Sadagar bei dessen Wahrem Namen! 155
Feged, mir droht Gefahr! Die Dämonenpriester der Caer bedrängen mich! Nicht viel länger kann ich mich ihrer erwehren, nun mußt du mir beistehen. Feged, komm und hilf mir in meiner Bedrängnis! Und dann, nach einer Pause von ein paar Herzschlägen, ein letztes Mal: Feged, du mußt mir helfen… Dann war es vorbei. Nexapottl schwieg sich aus. War es das Schweigen des Todes? Bestürzt legte Sadagar die Halsringe wieder an. Nadomir hatte den Spieß umgedreht und selbst um Hilfe gerufen! Der Steinmann brauchte einige Zeit, um diese Erkenntnis zu verarbeiten. Mit mechanischen Bewegungen rollte er sich in die Decke ein und streckte sich aus. Er sah zu dem düsteren Leuchten der Schattenzone hinüber. Was sollte er tun? Einerseits spitzte sich hier die Lage immer mehr zu, und andererseits brauchte Nexapottl Hilfe. Sadagar war sicher, daß der Kleine Nadomir nicht nach ihm gerufen hätte, wenn er nicht wirklich in Not wäre. Denn oft genug hatte er dem Steinmann zu verstehen gegeben, daß er nichts von überflüssigen Anrufungen hielt. Aber wie sollte Feged ihm helfen? Wo konnte er Nexapottl finden? Und selbst wenn er ihn gefunden hatte, wußte er immer noch nicht, was er tun konnte. Denn der Königstroll verfügte über magische Fähigkeiten, die ihn zwar nicht allen anderen überlegen machten, die aber immerhin Sadagars bei weitem überragten, denn sonst hätte Sadagar ihn nicht des öfteren angerufen. Wenn aber schon die Magie des Trolls versagte, wie sollte Sadagar ihm dann helfen können? Aber er war dazu verpflichtet. Damals, als sie die Bruderschaft eingingen, hatten sie sich geschworen, sich gegenseitig stets in Stunden der Gefahr zu helfen. Und dieser Schwur mußte erfüllt werden. Sadagar mußte es tun. Er wußte nur noch nicht, wie er das bewerkstelligen sollte. Vorläufig war er nichts anderes als ein Gefangener. Und dann war da auch noch Mythor… Der Steinmann schloß verzweifelt die 156
Augen. Er konnte es drehen, wie er wollte: Er steckte in der Zwickmühle. Wenn er Nadomir nicht half, brach er den Schwur. Irgendwann schlief er ein, aber er wurde von Alpträumen gepeinigt. In seinen Träumen fiel Tashan über Mythor her und verglaste dessen Gesicht, und Nexapottl stand daneben und konnte nicht helfen. Aber als der Steinmann eingreifen wollte, wandte der Troll sich gegen ihn und schrie: Du hast mir nicht geholfen… Ein schriller, durchdringender Ton zerriß den Traum. Es war das Signalhorn, dessen Klang noch vor Sonnenaufgang zum Aufbruch rief. Unwillig schälte sich Sadagar aus seiner Decke. In den ersten Augenblicken konnte er noch nicht völlig zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden; seine Hand tastete nach dem Gurt mit den Messern. Doch das Fehlen dieser Waffen rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Messergurt befand sich irgendwo bei den Piraten, die ihn bei seiner Gefangennahme vorsorglich entwaffnet hatten. Er rollte die Decke hastig zusammen und verstaute sie dort, wo er sie gefunden hatte. Einige der Vogelreiter saßen bereits auf ihren Tieren. Wasser zum Waschen gab es nicht, solange sie sich auf dem Salzspiegel befanden. Das mitgeführte Wasser wurde nur zum Trinken und für die Vögel gebraucht. Eine vernünftige Entscheidung, dennoch hätte Sadagar sich wesentlich besser gefühlt, wenn er sich den Schweiß der Alptraumnacht vom Körper hätte waschen können. Ein paar Männer trieben Tashan mit Lanzen auf das Diromo zu; sie trauten sich nicht näher an den Dämonisierten heran als unbedingt erforderlich. Tashan murmelte etwas von Cherzoons Rache, der die Männer zum Opfer fallen würden, und kletterte in seinen geräumigen Transportkorb. Sadagar tat es ihm bei seinem Tragetier nach und war damit bereits einer der letzten, die die Tiere bestiegen. 157
Hrobon ritt wieder dicht bei Tashan. Seit er wußte, daß der Pirat von einem Dämon besessen war, traute er ihm noch weniger über den Weg als zuvor. Sadhy übernahm die Spitze der kleinen Armee. Noch im Schutz der Dunkelheit setzten sich die zweihundert Vogelreiter in Bewegung. Der Warze des Haghalon entgegen.
Als das düstere Farbenspiel der Schattenzone langsam verblaßte und zu dem für die Tagesstunden üblichen verwaschenen Grau wurde, tauchten die schwarzen, warzenartigen Erhebungen vor den Vogelreitern auf. Es ließ sich nicht mit Sicherheit sagen, wie viele dieser Stachelgebilde es waren, Sadagar konnte sie nur schätzen. Aber es waren erheblich mehr, als sie bisher auf ihrem Weg gesehen hatten. Eine riesige Kolonie, die sich weithin erstreckte. Schmale und auch größere Zwischenräume gab es; an den Rändern der Warzenkolonie vermochten mehrere Salzsegler nebeneinander zwischen den Warzen hindurchzufahren. Aber je weiter man vordrang, desto enger wurden die Zwischenräume, bis die seltsamen Gebilde fast direkt nebeneinander lagen. Sie machten einen gefährlichen Eindruck. Sadagar entsann sich, was man ihm über die Warze des Haghalon erzählt hatte – dasselbe, das auch Mythor erfahren hatte. Der Geist des unseligen Magiers Haghalon sollte hier umgehen. Als sie sich bis auf Steinwurfweite der vordersten Warze genähert hatten, glaubte Sadagar zwischen den Gebilden einen Schatten zu sehen, der sich bewegte, aber als er näher hinsah, gab es dort nichts mehr. Er war wohl einer Sinnestäuschung erlegen. Vielleicht war es eine Luftspiegelung gewesen, wie es sie auf dem Salzspiegel häufig gab. Der Steinmann warf einen Blick auf das Diromo des Piratenanführers. Tashan stand aufrecht im Korb, und wenn die Kapuze nicht täuschte, sah auch 158
er dorthin, wo Sadagar den Schatten gesehen zu haben glaubte. Der Steinmann wurde nachdenklich. Vielleicht war dort wirklich etwas, und der Dämon in Tashan nahm es wahr? Sadhy gab seine Befehle. Einzelne Gruppen von Vogelreitern verschwanden hinter den vordersten Warzen. Von den Piraten war noch nichts zu sehen. Sadhy bereitete einen Hinterhalt vor. Nur eine Schar von fünfzig Vogelreitern behielt er bei sich, bei ihnen Tashan und Sadagar. Auch ein prächtig schimmernder Vogel, der Sadagar bislang kaum aufgefallen war, befand sich dabei, auf dem Rücken eine prunkvolle Sänfte. Das mußte Spinnenglanz sein, das Diromo der Prinzessin. Es war kräftig gebaut und nicht braungrau gefiedert wie seine Artgenossen, sondern glänzte wie Spinnweben. Das kleine Haus, wie die Sänfte auf seinem Rücken genannt wurde, war rund und mit einem kleinen Spitzdach versehen. Die dunkelblauen Tücher bildeten einen reizvollen Farbkontrast zu dem schillernden Gefieder des in den Schultern gute zweieinhalb Mannslängen hohen Tieres. Sadagar sah sich nach den hundertfünfzig Reitern um, die mit ihren Orhaken und Diromen zwischen den Warzen verschwunden waren. Hrobon ritt das einzige Orhako, das bei der kleinen Gruppe zurückgeblieben war, die anderen Tiere waren schnelle Diatren. Kaum waren die Krieger in ihren Deckungen verschwunden, als der Pirat ein meckerndes Lachen von sich gab. Sadagar zuckte unwillkürlich zusammen. Plötzlich sah er den Schatten wieder. Er stand auf der Spitze einer der Warzen inmitten der Stacheln und war im nächsten Moment wieder verschwunden. Es war der Augenblick, da im Osten die Spitzen der ersten Segler auftauchten.
»Dort!« schrie einer der Piraten. »Vogelreiter!« 159
Mythor fuhr hoch. Er sah nach vorn. Wer gute Augen hatte, konnte tatsächlich winzige Punkte in der Ferne erkennen, die Vogelreiter sein mochten. Eine Hand legte sich auf Mythors Schulter. Er drehte leicht den Kopf und. sah die helle Gesichtshälfte No-Angos, die unter der Sonnenstrahlung langsam zu bräunen begann, da der Rafher sie nicht wieder bemalt hatte. »Jetzt gilt es«, flüsterte No-Ango. »Hast du endlich einen Plan?« Mythor schwieg. Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Aber ich«, sagte No-Ango. »Ich habe meine Pfeilschleuder wieder.« Mythor hob überrascht die Brauen. »Es war reines Glück, daß mich niemand erwischt hat«, sagte No-Ango. »Für dich habe ich ein Schwert mitgehen lassen. Ich habe es unter dem Umhang.« Mythor nickte. »In Ordnung, No-Ango«, flüsterte er zurück. »Dann brauchen wir nur noch abzuwarten, bis die beiden Parteien miteinander verhandeln. Dann schlagen wir zu.« Der Rafher sagte nichts. Mythor sah wieder nach vorn. Die Segler wurden langsamer, und auf den Decks marschierten die Piraten auf. Die mächtige Flotte formierte sich zu einer langgezogenen Reihe. Mythor erkannte die Strategie Jassams sofort. Wenn sie langsam auf die Vogelreiter zuglitten und dann herumschwenkten, um dem Feind die Breitseite zuzuwenden, sahen sich die Krieger des Shallad plötzlich einer endlosen Reihe entgegen, die mit Bogenschützen besetzt war. Die Piraten, die sich jetzt plötzlich auf den Decks drängten, waren in der Tat mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Sie selbst mochten hinter der hüfthohen Bordwand rasch Deckung finden. Die beiden Flügelspitzen der ausschwärmenden Flotte bewegten sich jetzt rascher. Jassam vollführte ein riesiges Umfas160
sungsmanöver. »Der alte Fuchs geht kein Risiko ein«, murmelte No-Ango bitter. »Wenn er sie umschließt, haben sie keine Chance. Dann bekommt er Tashan zurück und braucht die Prinzessin nicht freizugeben, sondern kann mit ihr weitere Erpressungen durchführen.« Mythor nickte langsam. »Vielleicht können wir es verhindern.« Er konnte die Vogelreiter bereits zählen. Es mochten fünfzig sein. Hrobon war unter ihnen. Mythor erkannte den Heymal auch auf diese große Entfernung. Seine Augen wurden schmal. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Hrobon nur mit fünfzig Reitern kam. Der Heymal mußte noch einen Trumpf im Ärmel haben. Unwillkürlich wanderten Mythors Blicke zu den Warzen hinüber, die sich schwarz und unheimlich backbord voraus erhoben. »Was ist das?« fragte er. No-Ango wandte den Kopf. »Was?« »Ach, schon wieder vorbei«, winkte Mythor ab. »Ich glaubte jemanden oben auf einer der Warzen zu sehen. Aber es war wohl eine Täuschung.« »Vielleicht gibt es den spukenden Magier wirklich«, meinte No-Ango. Jassam trat jetzt aus der Steuerkabine, von der aus er seine Befehle gegeben hatte. Die Piratenschiffe verständigten sich über Spiegelsignale miteinander. Eine bemerkenswerte Erfindung, die allerdings nur bei hellem Sonnenlicht funktionierte. Noch langsamer wurden sie. Und dann, als Vogelreiter und Segler noch hundert Schritte voneinander entfernt waren, stoppten die Schiffe ab. Die Tashans Ehre machte eine jähe Schwenkung, auch die anderen stellten sich leicht schräg. Es war in der Tat ein weites Umfassungsmanöver. Wie eine Zange umgaben die Piratenschiffe jetzt die fünfzig Vogelreiter. 161
Die Segel fielen bis auf wenige. Nur noch kriechend glitten die Segler weiter, blieben aber in Bewegung. Jassam und Ashorro standen an der Reling und warteten schweigend auf die Reaktion der Vogelreiter.
Hrobon wechselte einen schnellen Blick mit Kommandant Sadhy. Der nickte dem Mann aus den Heymalländern zu. Hrobon gab einigen Kriegern einen Wink. Mythor verfolgte, wie sie Lanzen auf ein Diromo richteten und Befehle erteilten. Augenblicke danach kletterte ein Mann mit einer den gesamten Kopf verhüllenden Kapuze aus einem Tragekorb. Etwas unbeholfen kam er unten an. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt. Mythor sah sich um. Von der Prinzessin war nichts zu sehen, aber drei Piraten standen vor dem Eingang ihrer Kajüte. Mythor und der Rafher schoben sich näher an Jassam heran. Ganz langsam bewegte sich die Tashans Ehre, nur noch von einem halb herabgelassenen Segel angetrieben. Ein gutes Dutzend Vogelreiter löste sich von dem Trupp, an der Spitze Hrobon. Der Vermummte bewegte sich zu Fuß neben dem Orhako des Heymals. Langsam kamen sie auf den querliegenden Segler zu. Mythor trat einen Schritt zurück; Hrobon wußte zwar, daß sein Todfeind sich unter den Piraten befand, aber er brauchte den Frevler nicht unbedingt sofort wiederzusehen. Sein Haß würde bei Mythors Anblick wieder neu ausbrechen und ihn vielleicht zu unvorsichtigen Reaktionen verleiten. Es war besser, wenn er annahm, daß Mythor vielleicht im langgesuchten Versteck zurückgeblieben war. »Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, murmelte Mythor und ging hinter No-Ango und Ashorro in Sichtdeckung. Auf halber Strecke zwischen den Schiffen und den Reitern blieb die kleine Gruppe stehen. Auch der vermummte Tashan 162
hielt an. »He, Jassam!« schrie Hrobon vom Rücken seines Orhakos. »Hier sind wir, hier ist Tashan. Ich sehe die Prinzessin nicht!« Jassam grinste und hob einen Arm »Sei unbesorgt, du wirst sie sehen!« schrie er zurück und befahl: »Holt sie her!« Die drei Posten vor der Kajütentür hatten den Befehl vernommen und drangen nun ein. Augenblicke später erschienen sie mit Shezad wieder. Sie blieben dicht bei ihr. Nach wie vor war die Prinzessin ungefesselt, aber sie würde in keinem Fall schnell genug sein, um die Flucht ergreifen zu können. Außerdem war der Sprung über die Reling des Kampfschiffes wenig ratsam; körperliche Anstrengungen und Sprünge aus diesen für kampferprobte und gewandte Männer nicht zu großen Höhen waren für sie ungewohnt und würden dafür sorgen, daß sie sich zumindest die Knöchel verstauchte. »Hier ist sie!« schrie Jassam. »Laß sie von Bord. Wir treffen uns hier in der Mitte«, verlangte der Anführer der Leibgarde. Ashorro begann zu lachen. »Er macht es sich ein wenig einfach, nicht wahr, Jassam?« fragte er. Der Stellvertreter des Piratenanführers nickte. »Nehmt ihm die Kapuze ab!« rief er. »Ich will sehen, ob es wirklich Tashan ist. Vielleicht habt ihr nur einen Mann mit, der die gleiche Figur hat wie unser Anführer!« Tashan schwieg. Das machte Mythor stutzig. Es paßte nicht zu dem, was er über Tashan gehört hatte. Es wäre normal gewesen, wenn Tashan jetzt das große Wort geführt, seine Häscher verhöhnt und seine Männer ermuntert hätte. Aber er tat es nicht. Er bewegte sich nicht und sprach kein Wort. Etwas stimmte nicht. Und die Kapuze… Mythor hatte von dem in Horai üblichen Brauch gehört, aber hier war die Kapuze überflüssig. Hier gab es keinen Hinrichtungsplatz mehr. 163
Hrobon zischte einen Befehl. Einer der Vogelreiter näherte sich von hinten dem Piraten, beugte sich tief hinab und erwischte die Kapuze mit den Fingerspitzen. Mit einem raschen Ruck riß er sie Tashan vom Kopf und trieb seinen Vogel sofort wieder zurück. Tashan selbst rührte sich immer noch nicht. Unbewegt sah er zu seinem Flaggschiff hinüber. Jassam sah das Unheil ebenso schnell wie Mythor. »Hißt die Segel!« gellte sein Befehl über Deck. »Alles zurück!« Und die bereitstehenden Männer zogen mit aller Kraft an den Seilen. Die Segel flogen förmlich empor. Zwei Männer packten die Prinzessin und zerrten sie auf einen Wink Ashorros von der Reling weg. Das war der Moment, in dem NoAngo Mythor das gestohlene Schwert zuwarf und Mythor die Waffe sofort emporschwang.
Auch Jassam und seine Begleiter wußten sofort, was die glasartige Schicht über Tashans Gesicht zu bedeuten hatte. Und Jassam witterte Verrat. Er glaubte an eine teuflische Falle Hrobons, ihm den dämonisierten Tashan an Bord zu schicken. Aber unter dem Kommando eines Dämons wollten selbst die abgebrühtesten Piraten nicht stehen. Ein allgemeiner Entsetzensschrei war über die Decks gegangen, als das gläserne Gesicht zum Vorschein kam. Jassam reagierte sofort. Sein Befehl wurde weitergegeben. Die Segel kamen wieder empor und füllten sich mit Wind. Die Schiffe wurden schneller. Abermals schwang die Tashans Ehre herum, nahm Fahrt auf. Jassam verzichtete darauf, die kleine Gruppe niedermachen zu lassen. Er fühlte sich verraten, und er trachtete danach, mit den Schiffen und Männern so rasch wie möglich davonzukommen. Ein Dämonisierter war so gefährlich wie die Pest, und Jassam wollte nicht selbst ebenfalls mit gläsernem Gesicht herumlaufen. 164
Für ihn war Tashan tot. Er ahnte nicht, daß selbst die Krieger des Shallad bis vor Stunden nicht geahnt hatten, was für eine Kreatur sie auf den Salzspiegel hinausbrachten. Da hörte er den Luftzug und duckte sich, sah die flache Seite der Klinge auf sich zurasen, dicht über ihn hinweg. Mythor bewaffnet? Der Schreck lähmte ihn fast. Doch Ashorro war schneller. Blitzartig zog er sein Schwert, und die Klingen klirrten gegeneinander. »Verrat!« schrie Jassam, während die Tashans Ehre seitwärts davonzog. »Packt sie!« Weitere Piraten stürzten auf Mythor zu. Der hatte keine Gelegenheit, sich umzusehen. Wo war No-Ango, und was geschah mit der Prinzessin?
Tashan sprengte seine Fesseln im selben Moment, in dem die Segler Fahrt aufnahmen. »Feiges Gesindel!« brüllte er und sprang. Sadagar zuckte zusammen. Der Pirat mußte unglaubliche Kräfte besitzen. Schon hing er am Sattel Hrobons. Der Vogelreiter zog das Krummschwert und holte aus, aber Tashan drehte sich etwas, so daß er nur die breite Seite der Klinge mitbekam und benommen auf den harten Boden zurückstürzte. Die Piraten flohen! Die Tashans Ehre rauschte heran. Um den Wind zum Anfahren voll auszunutzen, konnte sie nicht in Gegenrichtung entkommen, sie hätte gegen den Wind kreuzen müssen und wäre zu langsam in Fahrt gekommen. Der Kufensegler rauschte also nahe an der Reitergruppe seitwärts vorbei. Sadagar sah seine Chance. Er hatte Mythor erkannt -Mythor, der ein Schwert in der Faust hielt und kämpfte! In diesem Moment setzte der Steinmann alles auf eine Karte. Er sprang 165
elastisch wie ein Junger aus dem Tragekorb des Diromos und rannte los. Die Vögel wurden unruhig, ein paar Männer zogen Pfeile aus den Köchern. Hrobon sah sich wie gehetzt um, auch er erkannte jetzt Mythor auf dem Deck des Piratenschiffs. Auch er griff nach dem Bogen, wenngleich er jetzt sehen mußte, daß Mythor kein Pirat war, sondern gegen eine Übermacht kämpfte. Sadagar hetzte auf das Schiff zu. Zusehends wurde er kurzatmiger, stolperte mehrmals und konnte sich gerade noch rechtzeitig fangen. Nur ein Gedanke beseelte ihn: Er mußte an Bord kommen, mußte zu Mythor! Da bohrten sich die ersten Pfeile neben ihm in den Boden. Er rannte noch einmal schneller, machte seine ganzen Kraftreserven frei. Und da war die Tashans Ehre neben ihm! Glitt mit rauschenden und knallenden Segeln auf den Kufen heran, im gleichen Tempo, in dem auch Sadagar rannte. Das Heck! Hier waren die Haltegriffe, an denen die Männer, die das Schiff gewöhnlich anzuschieben hatten, sich emporhangeln konnten. Sadagar streckte seine Hände aus. Nur nicht danebengreifen! Der Segler wurde bereits schneller als der Steinmann. Wenn er es nicht schaffte, war er verloren. Die Vogelreiter würden jetzt keine Gnade mehr kennen. Sie mußten seinen Fluchtversuch mißdeuten. Der Beweis waren die Pfeile, die neben und hinter ihm einschlugen. Seine Hände packten zu, schlossen sich um einen der Haltegriffe. Mit einer übermenschlichen Anstrengung schleuderte Sadagar sich empor – und hing am Schiff! Das hatte jetzt die Reitergruppe passiert und gewann langsam an Geschwindigkeit. Aber noch war die Gefahr nicht vorüber. Sadagar hangelte sich nach oben. Hrobon hatte seinen Langbogen erhoben, einen seiner über166
langen und daher weittragenden Pfeile eingelegt und zog die Sehne mit aller Kraft aus. Er zielte sorgfältig und schoß. Der lange Pfeil schwirrte davon, drehte sich durch die Befiederung einige Male um seine Längsachse, und Sadagar, der sich gerade über die Bordwand hangelte, sah, daß er direkt auf Mythor zujagte. Im letzten Moment machte Mythor eine Drehbewegung, um einem Schwerthieb zu entgehen, und der Pfeil nagelte den Piraten an den Mast. Sadagar schwang sich über die Reling und ließ sich erst einmal fallen. Noch schneller wurde das Schiff. Kommandant Sadhy war überrascht, als die Salzsegler nicht zum Angriff übergingen, sondern ihre Zangenformation auflösten, obwohl sie der fünfzigköpfigen Gruppe weit überlegen waren. Aber dann rauschten die Wüstensegler an den Vogelreitern vorbei, und erst als die letzten in weitem Bogen herumschwenkten, kam der Überfall, mit dem Sadhy in diesem Augenblick nicht mehr rechnete. Von den drei letzten Schiffen wurden sie mit einem Pfeilhagel eingedeckt. Doch die Schiffe waren bereits zu weit entfernt; die Pfeile flogen zu kurz und schlugen auf das harte Salz. »Sie flüchten«, stieß Sadhy hervor. Hrobon nickte grimmig und steckte den Langbogen in den Sattelschuh seines Orhakos zurück. »Mit der Prinzessin«, stieß er hervor. »Und dieser verdammte Sadagar ist uns auch entkommen.« Er stieß beide Arme empor. »Hinterher! Bläser – das Signal!« Die nervenzerfetzenden Töne des Signalhorns erklangen. Im gleichen Augenblick preschten die hundertfünfzig Vogelreiter aus ihrem Versteck zwischen den Warzen hervor. Sie jagten auf die fliehenden Segler. Die Flotte hatte eine weite Schleife ziehen müssen, und um den Wind am günstigsten zu nutzen, mußten sie die Innenkurve fahren -dicht an der Stachelkolonie vorbei. Und dort tauchten jetzt die Vogelreiter auf und gingen 167
zum Angriff über. Sie hatten die Zeit gut genutzt. Ein Teil der Diromen war mit Gestellen versehen worden, in denen lange Rammlanzen hingen. Damit wurden sie zu einer gefährlichen Waffe für die Segler. »Zum Angriff!« schrie Hrobon und trieb Kußwind an. Kommandant Sadhy hielt mit ihm Schritt. »Auf wen hast du eigentlich geschossen?« »Auf Jassam«, log Hrobon eiskalt. »Schade, daß ich ihn verfehlt habe.« »Ich dachte, du hättest auf einen Mann neben Jassam gezielt«, murmelte der Kommandant nachdenklich, dann preschte sein Diatro an Hrobon vorbei. Der Wüstenkampf nahm seinen Anfang.
Mythor mußte sich nach mehreren Seiten gleichzeitig verteidigen. Er bedauerte es, nicht Alton, das Gläserne Schwert, in der Hand und den Helm der Gerechten auf dem Kopf zu tragen. Mit diesen beiden Ausrüstungsstücken hätte er leichteres Spiel gehabt. So mußte er sich auf seine eigene Schnelligkeit verlassen. Einer der Männer, die ihn am härtesten bedrängt hatten, war tot. Mythor kannte diese Art von überlangen Pfeilen nur zu gut. Hrobon hatte mit Sicherheit nicht auf den Piraten, sondern auf ihn selbst gezielt. Mythor sah sich nach der Prinzessin um. Drei Männer zerrten sie davon, aber nicht zurück in ihre Kajüte, sondern unter Deck. Wahrscheinlich rechneten sie mit einem größeren Gefecht und wollten ihre Geisel nicht in Gefahr bringen, zufällig getroffen zu werden. Mythor wich einem Schwerthieb aus, parierte einen zweiten und konnte sich vor dem dritten nur durch einen raschen Sprung zur Seite retten. Es wurde Zeit, 168
daß er eine Wand in den Rücken bekam. Plötzlich sank einer der Männer, die ihm so hart zusetzten, zu Boden. Der zweite brach zusammen, und den dritten trieb Mythor jetzt mit einer Serie schneller Hiebe vor sich her zur Reling. Oben auf dem Decksaufbau stand No-Ango, der Rafher, und setzte seine Pfeilschleuder ein. Einer der Obsidiansplitter nach dem anderen zischte durch die Luft und traf zielsicher. Mythor wischte seinen letzten Gegner mit einem letzten kräftigen Streich über Bord; mit einem lauten Schrei stürzte der Mann auf die Salzfläche. Mythor fuhr herum. Im gleichen Moment sah er No-Ango zusammenbrechen. Das Balancierpendel war herumgewirbelt worden und fegte den Rafher einfach nieder. Gleichzeitig schwang die Tashans Ehre kurz herum. Jetzt erkannte Mythor auch den Grund. Drei Orhakoreiter waren dem Schiff nahe gekommen und wollten zum Angriff übergehen. Mit dem raschen Manöver des überaus wendigen Piratenschiffs hatten sie nicht gerechnet. Der Ausleger des Seglers kam herum und mähte die Laufvögel förmlich zu Boden. Aufstiebende Federn, kreischende Orhaken, die sich bald wieder aufrichteten, und aus dem Sattel geschleuderte Krieger blieben zurück. Mythor sah in die Runde. Mit No-Angos Hilfe konnte er im Moment nicht rechnen. Wo waren Jassam und Ashorro? Sie hatten sich während des kurzen Kampfes rasch abgesetzt. Da sah er Sadagar am kleinen Achterkastell. »Steinmann!« schrie er. »Wie kommst denn du hierher?« »Geklettert!« rief Sadagar zurück. »Dem Kleinen Nadomir sei Dank, daß dir nichts passiert ist… Duck dich!« Instinktiv ließ Mythor sich nach vorn fallen. Ein wuchtig geschwungener Belegnagel fuhr über ihn hinweg und riß durch den Schwung den Piraten vorwärts. Er stürzte über Mythor, der ihn mit einem kräftigen Faustschlag betäubte, ehe der Pirat, wußte, wie ihm geschah. Mythor schnellte sich wieder 169
empor. Sadagar hastete jetzt über das Deck. Die restlichen Piraten waren nun damit beschäftigt, das Schiff zu lenken. Jetzt sah Mythor auch Jassam. Der Pirat stand zwischen den Aufbauten und gab seine Befehle. Mythor griff ihn, ohne zu zögern, an. »Kümmere dich um No-Ango!« schrie er Sadagar zu. »Er liegt oben!« Dann klirrten die Schwerter erneut gegeneinander. Diesmal war niemand mehr zur Hand, der dem Piraten zu Hilfe eilen konnte. Doch er erwies sich als zäher Gegner, der Mythor bald in Bedrängnis brachte. Während das Piratenschiff mit wachsendem Tempo über den Salzspiegel raste, drängte Jassam den Sohn des Kometen immer weiter zurück. Allmählich geriet Mythor ins Schwitzen. Jassam ließ ihm kaum noch eine Möglichkeit zum Angriff. Er konnte nur noch abwehren und merkte, daß die Reling ihm immer näher kam. Er konnte sich fast schon ausrechnen, wann er über Bord gehen würde…
Hrobon wurde langsamer. Sadhy stürmte wie ein Rasender auf seinem Diatro zwischen die davonjagenden Piratenschiffe, die auf ihrem Fluchtkurs ziemlich nahe an der Warzenkolonie vorbeimußten. Und dort fegten die bisher versteckten Vogelreiter heran. Die erste Feindberührung fand statt. Zwei kräftige Diromen erfaßten einen kleineren Segler in der Flanke. Die Rammgestelle bohrten sich in den leichten Rumpf, dann prallten die Laufvögel mit ihrer ganzen Kraft dagegen. Der Ausleger hatte ihnen keine Schwierigkeiten gemacht. Jetzt knallten die wuchtigen Schnäbel gegen die leichten Wandungen, zertrümmerten sie. Der Segler brach auseinander, während die Vogelreiter aus kurzen Bögen ihre Pfeile verschickten oder einfach zusahen, wie die Diromo-Schnäbel nicht nur gegen das Schiff hackten, 170
sondern auch gegen jene, die die Reste des Wracks zu verteidigen suchten. Ein Diromo beugte sich weit vor, hieb zu, und der Mast fiel, stürzte gegen einen zweiten, zu dicht vorbeifegenden Segler, der sofort auseinanderbrach. Wütende Schreie von Männern vermischten sich mit den schrillen Lauten der Vögel, dem Kreischen der Kufen über die Salzebene und dem Klirren von Waffen. Ein paar Segler schleuderten eine Gruppe Orhaken durcheinander. Und dazwischen befand sich Kommandant Sadhy und versuchte Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Wieder griffen Diromen an, fegten in geschlossener Phalanx einen größeren Segler vor sich her und drängten ihn gegen zwei andere Schiffe. Ein anderer Segler ging aus unklaren Gründen in Flammen auf. Männer stürmten wild durcheinander und kämpften wie die Berserker. Innerhalb kurzer Zeit wurde die ganze Szenerie zu einem unübersichtlichen Durcheinander. Hrobon hielt sich zurück. Er versuchte die Lage zu überblicken. Aber gerade das war ein fast unmögliches Unterfangen. Das Chaos war undurchschaubar. Überall kollidierten flüchtende Segler. Eine kleine Gruppe hatte sich bereits abgesetzt und wurde jetzt von einem Trupp Diatro-Reiter verfolgt. Von Bord der Schiffe erging ein wahrer Pfeilhagel, konnte die Verfolger aber nicht sonderlich hemmen. Das Schlachtfeld weitete sich aus. Schon nach kurzer Zeit war der Vorteil des Hinterhalts dahin. Hrobon suchte nach dem Flaggschiff der Piraten. Wo befand sich die Tashans Ehre? Auf ihr befand sich auch Mythor. Und in dem Durcheinander würde es nicht einmal auffallen, wenn Hrobon sich um seinen Feind kümmerte. Der galt ja auch als Pirat. Aber Hrobon konnte das große Kampfschiff nicht ausfindig machen. Vielleicht befanden sich bereits zu viele kämpfende Gruppen dazwischen. 171
Er trieb Kußwind an. Ein Stellungswechsel konnte einiges einbringen. Wo war Mythor? Er ritt an einem am Boden kauernden Mann vorbei, der vielleicht von einem Schiff geschleudert worden war. Denn je mehr der Piratensegler zu Bruch gingen, desto mehr Männer eilten zu Fuß zwischen den einzelnen Kampfplätzen hin und her. Erst als er an ihm vorbei war, glaubte er sich daran zu erinnern, um wen es sich handelte. Doch da war es schon zu spät. Der Mann schnellte sich hoch, sprang förmlich an dem langsam trabenden Orhako empor. Kußwind machte noch eine reflexartige Drehung, aber da hing Tashan bereits am Sattel!
Steinmann Sadagar turnte am Decksaufbau empor. Dort lag No-Ango reglos auf der leichten Dachbespannung. Sadagar rollte ihn herum. Er stellte fest, daß der Rafher nur bewußtlos war und eine Platzwunde am Kopf davongetragen hatte. Er würde die Sache überstehen, vielleicht schon bald wieder zu Bewußtsein kommen. Sadagar selbst blieb geduckt. Das Balancierpendel schwenkte hin und her. Der Steinmann griff in Ermangelung einer anderen Waffe nach der Pfeil Schleuder No-Angos, die dieser ebenso schnell und treffsicher einzusetzen vermochte wie Sadagar seine Messer. Doch Sadagar verließ sich nicht darauf, mit der Pfeilschleuder ebenso gekonnt umgehen zu können. Er nahm sie als Schlagwaffe. Die knorpelartige Verdickung am Ende, in deren Aushöhlung No-Ango seine Obsidiansplitter einzulegen pflegte, eignete sich hervorragend, engen Kontakt mit harten Piratenschädeln zu schließen. Sadagar kroch zum Rand des Decksaufbaus und ließ sich hinabgleiten. Bestürzt erkannte er, daß Jassam Mythor bereits zur Bordwand gedrängt hatte. Mythor konnte sich nur mit Mühe der Angriffe des Piraten erwehren, der die leichten 172
Schwankungen des ständig den Kurs wechselnden Seglers auf den Fußballen wippend ausglich. Sadagar glitt hinter ihn, holte mit der Pfeilschleuder aus und schlug zu. Blitzartig brach Jassam zusammen. »Auf einem Bein kann man schlecht stehen«, sagte Sa-dagar, der Jassam bereits in Horai einmal niedergeschlagen hatte. »Danke dir«, brummte Mythor. »Aber wir sind noch nicht fertig!« Eine Gruppe Diatro-Reiter hetzte an ihnen vorbei, sie jagten ein anderes Wüstenschiff, was sie nicht daran hinderte, ein paar Pfeile abzuschießen. Die drei Piraten, die mit der Lenkung des Balancemastes und dem Drehen des Segels mehr als beschäftigt waren, sanken fast gleichzeitig auf die Planken. Die Tashans Ehre war steuerlos. Mit einem Fluch kam Ashorro aus einer der Kabinen hervor. Er schwang sein Schwert. Mythor war diesmal schneller und schlug ihn nieder. Besinnungslos brach Ashorro zusammen. Mythor hatte ihm die Breitseite des Schwertes gegen die Stirn geschlagen. Sadagar war noch vor ihm in der Kabine. Auf einem großen Tisch war eine Karte ausgebreitet. Sie zeigte den Salzspiegel, wie Mythor auf den ersten Blick erkannte. Offenbar hatte Ashorro nach einer günstigen Fluchtrichtung gesucht. Daraus würde nun nichts werden. »He!« stieß Sadagar plötzlich staunend hervor. Mythors Kopf flog herum, und dann grinste er. An der Kajütenwand hing Sadagars Gurt mit den Messern. Die Götter mochten wissen, warum Jassam oder Ashorro die Waffen mit an Bord genommen hatten, jedenfalls waren sie da, und Sadagar bewaffnete sich sofort wieder. »Jetzt fühle ich mich nicht mehr ganz so nackt«, strahlte er. Mythor nickte. »Dann komm. Es gibt unter Deck noch zu tun. Mindestens zwei Piraten sind da noch aktiv, und sie haben die Prinzessin.« 173
Sadagar folgte ihm ins Freie. Er sah sich auf dem Deck um. »Es wäre vielleicht besser, erst einmal die Bewußtlosen zu fesseln.« Mythor winkte ab. »Später«, sagte er. »Erst die Prinzessin. Ich ahne Böses.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, eilte er auf den Niedergang zu, das Schwert in der Hand. Sadagar folgte ihm. In einer Hand hielt der Steinmann einen Dolch. Während sie nach unten hasteten, jagte die Tashans Ehre steuerlos auf die Warzenkolonie zu…
Für Augenblicke war Hrobon wie gelähmt. An Tashan und daran, daß er ihn niedergeschlagen hatte, hatte er nicht mehr gedacht. Er mußte mit Kußwind wieder an die gleiche Stelle zurückgekommen sein, und Tashan hatte sich inzwischen von dem Schlag erholt. Jetzt griff er Hrobon an. Nicht der Mann als solcher entsetzte Hrobon maßlos. Vor einem Kampf Mann gegen Mann hatte er sich nie gescheut. Aber das hier war kein gewöhnlicher Pirat mehr. Tashan war dämonisiert! Mit einem Blick hatte Tashan das Krummschwert Hrobons entdeckt und es auch schon in der Hand. Da erst löste sich Hrobons Lähmung. Er schrie Kußwind einen raschen Befehl zu, während der Pirat bereits zum Schlag ausholte. Das Orhako kippte zur Seite ab und stürzte auf Kommando zu Boden. Tashan, der darauf nicht vorbereitet war, flog wie von einem Katapult geschleudert durch die Luft. Hrobon selbst konnte sich mit einem eleganten Sprung abfedern und stand schon auf beiden Beinen, als der Pirat sich abrollte und auf die Knie kam. Dabei hatte er Hrobons Schwert nicht losgelassen. Hrobons Blick ging in die Runde. Die Gefahr bestand nicht nur darin, von Tashan ebenfalls dämonisiert zu werden, sondern auch darin, von einem der wie irr rasenden Wüstensegler niedergefahren zu werden. Die Schiffe, die noch kreuzten – 174
und es waren etwas mehr als die Hälfte der Flotte, die jetzt nicht mehr an Flucht, sondern nur noch an Kampf und Bergung eigener Leute dachte –, waren in ständiger Bewegung und längst nicht so wendig wie die Laufvögel der ShalladKrieger. Hrobon maß seinen Gegner. Tashan war stark und muskelbepackt, und er war schnell. Dazu besaß er das Schwert. Hrobons Hand zuckte zum Dolch. Aber damit war gegen das Krummschwert nicht viel anzufangen. Aber Hrobon besaß eine bessere Waffe. Kußwind, sein Orhako, das sich jetzt wieder aufgerichtet hatte und unruhig tänzelte. Der Schnabel des großen Tieres war eine gefährliche Waffe. Daran schien Tashan nicht zu denken. Er kam jetzt leicht vorgebeugt heran und begann Hrobon zu verhöhnen. Doch der Heymal blieb ruhig. Er verließ sich darauf, daß Kußwind hinter ihm stand. Dann schleuderte er blitzschnell den Dolch. Fast noch schneller war Tashans Reaktion; nicht umsonst hatte er sich bis zum Anführer der Piraten hinaufgearbeitet. Das Krummschwert fuhr durch die Luft, traf das Messer im Flug und schleuderte es zur Seite. Im nächsten Moment brüllte Tashan triumphierend auf und rannte auf Hrobon zu. Als er knapp vor dem Heymal war, holte er mit aller Kraft zum Rundschlag aus, um Hrobon den Kopf vor die Füße zu legen. Hrobon ließ sich nach hinten fallen und schrie einen Befehl. Er lag jetzt genau zwischen den kräftigen Beinen seines Vogels. Tashan hatte damit nicht gerechnet, sondern eher damit, daß Hrobon sich in eine ungefährlichere Richtung würde fallen lassen. Der Schlag ging ins Leere. Und Hrobon wußte genau, was er tat. Ihn würde der Vogel unter keinen Umständen jemals verletzen. Aber den Gegner! Mit furchtbarer Wucht kam Kuß- winds Schnabel herunter. Das Unterdeck des Wüstenseglers war in zwei Hälften ge175
teilt. Der rückwärtige Teil diente mit Hilfe niedriger Verschläge der Beuteaufnahme, und in der Vorderpartie waren die Mannschaftsquartiere. Das bedeutete, daß es keine Trennwände gab, sondern nur abstützende Balken, um die Decksplanken nicht durchbrechen zu lassen, und das Mannschaftsquartier bestand aus einem durchgehenden Raum im Bugteil des Seglers, in dem jeweils zwei Hängematten übereinander aufgehängt waren. Dank des niedrigen Raumes wurde es dabei natürlich ziemlich eng. Mythor mußte den Kopf einziehen, als er das Unterdeck betrat. Direkt hinter ihm kam Sadagar, der etwas weniger Schwierigkeiten hatte. Die insgesamt drei Piraten, die mit der Prinzessin unter Deck verschwunden waren, hatten wohl am Kampflärm erkannt, daß ihre Karten immer schlechter wurden. Einer hatte die Prinzessin gepackt, hielt sie wie einen Schild vor sich und hatte ihr ein Messer an den Hals gesetzt. »Bleib stehen«, warnte er. »Oder sie stirbt.« Mythor gehorchte verbissen. Seine Schwerthand senkte sich. In den Augen des Piraten erkannte er, daß dieser nicht bluffte. Die Prinzessin befand sich tatsächlich in Todesgefahr. Die beiden anderen Piraten hielten Krummschwerter in den Händen und schoben sich jetzt näher heran. »Wirf das Ding weg«, forderte einer von ihnen Mythor auf. »Du weißt, daß du keine Chance hast!« Langsam schüttelte der Sohn des Kometen den Kopf. Es mußte eine Möglichkeit geben… Sekunden später war die Möglichkeit da. Die Tashans Ehre rumpelte über etwas hinweg. Vielleicht hatte der Ausleger ein Wrack berührt, vielleicht eine kleine Bodenunebenheit oder… was immer es auch war, das Piratenschiff ruckte heftig und legte sich für Augenblicke schräg. Die Männer taumelten. Der Pirat, der die Prinzessin festhielt, stolperte 176
sogar. Mit Shezad ging er zu Boden und fiel halb über sie. Mythor konnte den Ruck mit den Knien abfedern. Hinter ihm stand Sadagar, hielt sich mit der Linken an einem Stützbalken fest und schleuderte zielsicher sein Messer. Der Pirat, der Shezad bedroht hatte, kam nie mehr wieder auf die Beine. Als die Tashans Ehre in ihre Normallage zurückschaukelte, schnellte Mythor sich vorwärts. Sein Schwert wirbelte die Klinge eines der überraschten Piraten zur Seite, dann befand Mythor sich bereits hinter den beiden Männern. Und Sadagar hielt das nächste Messer wurfbereit. »Noch jemand?« fragte er. »Fallen lassen, Freunde. Bis ihr bei mir seid, hat jeder ein Messer im Leib!« Die Entfernung war zu groß. Die beiden Piraten konnten sie nicht mehr schnell genug überwinden. Außerdem befand Mythor sich jetzt hinter ihnen… Einer der beiden ließ sein Schwert fallen. Der andere zögerte noch etwas, bis Mythor ihn sanft mit der Schwertspitze antippte. Dann öffnete auch er die Hand. »Wie ist das?« fragte Mythor. »Könnt ihr das Balancegewicht und die Segel bedienen?« Die beiden Männer nickten stumm. »Dann auf, nach oben!« befahl der Sohn des Kometen. »Aber laßt euch nichts Dummes einfallen.« Er selbst schob sein Schwert hinter den Gürtel, wie er es früher mit Alton getan hatte, und half der Prinzessin beim Aufstehen. Ihre Augen sahen ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck an. »Ich danke dir, Pirat«, sagte sie. Mythor sah resignierend zu den Deckenbalken und verdrehte die Augen. »Du lernst es auch nie, Herrscherstochter. Laß uns nach oben gehen, da ist die Luft besser.« »Und wohl auch pfeilhaltiger«, bemerkte Shezad trocken. Mythor schob sie mit sanftem Druck vor sich her. Oben ange177
kommen, stellte er erfreut fest, daß auch No-Ango wieder auf den Beinen war. Sadagar war gerade dabei, einen der beiden Piraten den Rafher verbinden zu lassen. »Wenn ihr damit fertig seid, an die Segel!« befahl Mythor. »Sadagar und No-Ango, ihr könnt die anderen Piraten fesseln.« Shezad schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Es sind Piraten«, sagte sie. »Ihr solltet sie töten!« Niemand achtete darauf, welchen Kurs die Tashans Ehre in diesem Augenblick hatte…
Hrobon bückte sich vorsichtig und nahm Tashan das kostbar verzierte Krummschwert wieder aus der Hand, dann reckte er sich hoch und schob es in den Sattelschuh zurück. Kurz ging sein suchender Blick in die Runde, dann sah er, wo sein Dolch lag, und holte sich auch ihn zurück. So etwas wie Erleichterung begann sich in ihm auszubreiten. Tashan war tot. Er lag mit dem gläsernen Gesicht auf der harten Salzfläche. Hrobon konnte nicht sehen, ob sich jetzt dort etwas veränderte; er legte auch keinen gesteigerten Wert darauf, es zu erfahren. Ihm reichte es, daß er selbst nicht dem Unheimlichen zum Opfer gefallen war. Wer auch immer Drudins Dämon Cherzoon sein mochte und welche Macht er besaß – er hatte einen neugewonnenen Diener wieder verloren. Hrobon kletterte wieder in den Sattel und streichelte Kußwinds Halsgefieder. Der Vogel gab zufriedene Laute von sich. In der Zwischenzeit hatte das Getümmel sich nicht nennenswert verändert. Die Anzahl der noch kämpfenden Schiffe war weiter zusammengeschrumpft, aber auch die Vogelreiter hatten Verluste hinnehmen müssen. Denn je schneller die Segler mit dem Wind fahren konnten, um so leichter fiel es ihnen, 178
Vogelreiter zu rammen. Einem in voller Fahrt heranrasenden Segler konnte auch ein Di-romo nichts mehr entgegensetzen. Die Laufvögel hatten nur noch dann eine Chance, wenn der Segler wendete oder gegen den Wind zu kreuzen hatte. Dann aber griffen sie gleich zu einem Dutzend an, und wehe der Mannschaft eines Piratenschiffs, das so erwischt wurde. Hrobon sah sich nach der Tashans Ehre um. Nicht allein, weil sein Feind Mythor sich darauf befand, sondern auch der Prinzessin wegen. Das Piratenschiff durfte auf keinen Fall verschwinden. Plötzlich sah er den Wüstensegler. Es war unverkennbar das Flaggschiff der Piraten. Es war erstens das größte und besaß zum anderen nur einen Ausleger. Zwei der großen Segel waren gehißt, das dritte fiel soeben. Aber das allein hätte Hrobon kaum entsetzen können. Die Tashans Ehre raste mit kaum verminderter Fahrt zwischen die schwarzen Stachelgebilde…
»Wir sind keine Mörder!« sagte Mythor fest, während Sadagar und No-Ango die noch besinnungslosen Piraten fesselten und die beiden ungefesselten Gefangenen an die Lenkung des Salzseglers gingen. »Wenn diese Männer den Tod verdient haben, werden die Richter in Horai dies in ihrer unerfindlichen Weisheit sicherlich bestimmen. Wir werden sie jedenfalls nicht töten, zumindest nicht, solange sie nicht selbst die Waffe gegen uns erheben.« Prinzessin Shezad schluckte. Sie sah zu den beiden anderen Männern hinüber und fand in ihren Gesichtern bestätigt, was Mythor gesprochen hatte. Achselzuckend lehnte sie sich an eine Aufbauwand. Plötzlich schrie einer der beiden Piraten am Balancierarm auf. »Die Warzen!« kreischte er voller Entsetzen. Mythor fuhr herum. Jetzt erst erkannte er, welchen Kurs das 179
Piratenschiff verfolgte. Er führte genau zwischen zwei Warzen hindurch in die Schwarzstachlerkolonie hinein. Hier am Rand standen die Warzen noch weit auseinander, aber je tiefer das Schiff eindringen würde, desto gefährlicher wurde es, bis sie schließlich so dicht beieinanderstanden, daß es kein Zurück mehr gab. »Segel runter!« schrie Mythor und sprang selbst zum Hauptmast. »Bist du verrückt?« schrie die Prinzessin. Doch Mythor wußte, was er tat. Sie konnten nicht mehr ausweichen. Bei der vorherrschenden Geschwindigkeit war der Wendekreis des Piratenschiffs zu groß. Der Wüstensegler würde entweder backbord oder steuerbord in eine Warze knallen und zerplatzen wie eine Eierschale. Abbremsen ging auch nicht. Ein Schiff wie die Tashans Ehre war zum Fahren gebaut worden, nicht zum Bremsen. Die einzige Möglichkeit, es schnell zum Stehen zu bringen, war, sämtliche Segel so gegeneinanderzustellen, daß sie sich gegenseitig den Wind nahmen und das Schiff zum Stehen brachten. Aber dazu waren viermal so viele Männer nötig, als sich noch beweglich an Deck befanden, außerdem ein Mann, der etwas von der Sache verstand und die Aktion überwachte. Es gab nur die Möglichkeit, die großen Segel fallen zu lassen und dann mit einem kleinen oder halbgehißten Segel vorsichtig und langsam zwischen den äußeren Warzen zu manövrieren. Der Anhalteweg würde auch nicht sonderlich länger sein als mit bremsenden Segeln, wenn man es geschickt anstellte. Mythor wußte auch, daß der Segler nicht völlig zum Stillstand kommen durfte. Sie mußten wieder hinaus auf den Salzspiegel. Sadagar und No-Ango ließen von ihrer Arbeit ab und halfen Mythor, das größte Segel zu reffen. »Auf Kurs bleiben!« schrie Mythor den beiden Piraten zu. 180
Er schlug sich vor die Stirn. In der Kajüte Jassams befand sich eine Karte. Er entsann sich, daß sie groß genug gewesen war, auch die Warzenkolonien in ihren Einzelheiten zu zeigen. Eine jahrelange Kleinarbeit mußte in diesem Werk stecken. Vielleicht konnte man mit Hilfe dieser Karte zwischen den Warzen manövrieren… Er zerrte an den Tauen. »Prinzessin, du könntest die Karte herholen!« schrie er Shezad zu. Sie rümpfte die Nase. »Wer bin ich denn?« rief sie zurück. »Ich habe es nicht nötig, Dienstbotengänge zu…« »Du tust es, oder wir alle sind verloren!« donnerte Mythor. Shezad zog unwillkürlich den Kopf ein und machte sich dann wirklich daran, die Karte zu holen. Mythor rief ihr zu, wo sie sie finden konnte. Das Großsegel war unten. »Jetzt das nächste!« schrie Mythor. Er warf einen Blick nach vorn. Vor ihnen, nur unwesentlich backbord versetzt, erhob sich eine weitere Warze, während der Segler die beiden anderen gerade genau in der Mitte passierte. »Leicht steuerbord halten«, wies Mythor die beiden Piraten an, die das Schiff auszubalancieren hatten. Er selbst sprang zu dem Mast, mit dessen Segel er schließlich weiter lenken wollte, und begann es zu richten. Die Ta-shans Ehre legte sich in eine sanfte Kurve. Sadagar und No-Ango übten ihre Kräfte und Geschicklichkeit am dritten Segel. Noch war keine Verlangsamung der Geschwindigkeit zu bemerken, dafür begann sich Ashorro wieder zu regen. Mythor bemerkte es mit unwilligem Stirnrunzeln. Der Bursche lag direkt vor Jassams Kajüte, aus der Shezad jetzt mit der zusammengerollten Karte wieder hervorkam. Doch Ashorro war noch zu benommen, irgendwelche Dinge bewußt wahrzunehmen. Mythor mußte sich um dieses Problem kümmern, sobald er eine Hand frei hatte. Denn As181
horro würde sich nicht einschüchtern lassen wie die beiden anderen Piraten. Immerhin hatte er es geschafft, in die Führungsspitze unter Tashan vorzudringen. Shezad zog die große Karte auseinander und hielt sie so, daß die Warze des Haghalon und der Rest der Warzenkolonie deutlich zu sehen waren. Mythor brauchte nicht lange, um sich zu orientieren. Er erschrak. Der Kurs, den sie eingeschlagen hatten, war eine Todesfalle. Er wurde von drei dicht beieinanderliegenden Warzen versperrt, an denen auch das langsamer werdende Schiff nicht mehr vorbeikommen würde. Er hätte in die andere Richtung ausweichen müssen. Die Tashans Ehre war jetzt weit genug, daß er die Warzen in der Ferne erkennen konnte. Die Karte stimmte. Es gab nur noch eine Chance. Sie mußten hart backbord lenken und versuchen, noch vor der Warze, der sie hatten ausweichen wollen, durchzukommen. Aber es würde sehr, sehr hart werden. Mythor schrie seine Befehle. Das Balancegewicht wurde zur anderen Seite geschwenkt, die Tashans Ehre kippte über, aber sie kippte nicht um. Mythor preßte die Lippen zusammen. Das zweite Segel war jetzt auch unten, aber die Tashans Ehre wurde nicht langsamer. Der Wind hatte zugenommen und kam genau in das dritte Segel, das sich bis zum Zerreißen blähte. »Wir müssen es schaffen«, murmelte Mythor mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen. In seinem bronzenen Gesicht schienen sie zu leuchten. Sadagar und No-Ango kamen heran. No-Ango gab ein bellendes Lachen von sich. So ähnlich, dachte Mythor, würde wohl auch Nottr in dieser Lage lachen. Der Rafher deutete auf das Balancegewicht. »Wenn wir es nicht schaffen«, sagte er, »müssen wir den Kahn umschmeißen. Dann steht er auf jeden Fall.« »Und wir kommen nicht mehr heraus«, murmelte Sadagar. 182
Ihm fiel plötzlich der Schatten wieder auf, und als könne er die Gedanken des Steinmanns lesen, dachte auch Mythor daran. Haghalon, dessen Geist hier umgehen sollte… »Wir schaffen es«, sagte der Sohn des Kometen. Aber es sah nicht so aus. Rasend schnell kam die Warze näher, und die Tashans Ehre schien trotz des Kurswechselversuchs direkt darauf zuzurasen. Sie war zu schnell für eine enge Kurve. In die Stacheln des schwarzen Gebildes kam Bewegung. Es war, als reckten sie sich dem Kampfsegler gierig entgegen…
Unwillkürlich trieb Hrobon sein Orhako an, stoppte es aber nach ein paar Dutzend Mannslängen wieder. Er konnte ja doch nicht mehr verhindern, daß die Tashans Ehre zwischen den Warzen verschwand. Und wenn er es als einzelner verfolgte, hatte er dort in der Kolonie keine Chance. Das mächtige Schiff konnte ihn spielend in eine Warze drängen, und Hrobon hatte inzwischen genug über die Stachelgebilde gehört, um sich einen schöneren Tod zu wünschen. Es war sicherer, mit einer Handvoll Vogelreitern die Warzenkolonie zu umreiten. Irgendwo würde der Wüstensegler wieder herauskommen müssen, die Piraten konnten sich nicht für immer zwischen den Schwarzstachlern verborgen halten. Und so hart der Salzspiegel auch war -die Kufen des großen und damit einigermaßen schweren Kriegsschiffs würden deutliche Spuren hinterlassen, denen man folgen konnte. Und für den Fall, daß die Piraten ihn an einer Warze zu Bruch fuhren, war es ratsam, ein gutes Dutzend Reiter vorsichtig hinterherzuschicken. Hrobon nickte unwillkürlich. Genau so würde er die Angelegenheit durchführen. Es war das Sicherste, was er tun konnte. 183
Er sah sich wieder um. Ein Dutzend Wüstensegler ergriff jetzt doch endlich die Flucht, und eine Schar Reiter auf schnellen Diatren setzte ihnen nach, dabei hin und wieder anhaltend und Brandpfeile verschießend. Plötzlich stand einer der schon weit entfernten Segler in hellen Flammen. Aber er raste mit brennenden Segeln dennoch weiter… Die Vogelreiter machten die wenigen Piraten nieder, die zwischen den zertrümmerten Salzseglern umherirrten und sich verzweifelt gegen die Männer auf den großen, bis zu drei Mannshöhen aufragenden Vögel wehrten. Sie wußten, daß sie nichts mehr zu verlieren hatten außer ihrem Leben, und sie verloren es. Die Wracks wurden in Brand gesetzt und nur jene Segler verschont, bei denen es noch eine Möglichkeit gab, sie wieder flottzumachen und ihren früheren Eigentümern zurückzugeben. Um das Flottmachen würden sich jene freilich selbst kümmern müssen. Hrobon ritt zu Sadhy hinüber und berichtete von seiner Beobachtung. Gleichzeitig unterbreitete er seinen Plan. Sadhy nagte an der Unterlippe. »Nicht schlecht für einen Mann, der niemals auf dem Salzspiegel war«, nickte er. Hrobon tippte sich an die Stirn. »Um auf diese Idee zu kommen, brauche ich nicht auf dem Salzspiegel gewesen zu sein. Auch in den Heymalländern gibt es gefährliche und unübersichtliche Gegenden, in denen Verfolgte ihre Jäger abzuschütteln versuchen.« »Gut«, sagte Sadhy. »Nimm so viele Männer, wie du brauchst, und führe deinen Plan aus.« Hrobon grinste. »Ich danke dir, Sadhy. In diesem Fall nehme ich alle Männer. Die letzten Piraten, die noch leben, werden uns auf diesem Gelände nicht davonlaufen.« Ehe Sadhy sein großzügiges Angebot einschränken konnte, ertönte Hrobons Stimme bereits und gab die nötigen Befehle, die über die weite Fläche des Schlachtfelds weitergegeben 184
wurden. Kurz darauf setzten die Vogelreiter sich in Bewegung und teilten sich in drei Gruppen auf. Zwei, die in gegenläufiger Richtung ständig die Warzenkolonie umkreisen und nach Kufenspuren Ausschau halten würden, und eine, die vorsichtig der Spur des Piratenschiffs in die Kolonie folgen würde, um im Fall eines Schiffbruchs noch retten zu können, was zu retten war. Wobei lediglich von Prinzessin Shezad die Rede war.
Immer näher kamen die Stacheln des schwarzen Gebildes. Mythor konnte die Spitzen bereits deutlich erkennen, die den Erzählungen nach ein fürchterliches Gift absondern sollten. Und immer noch war der Bogen, den die Tashans Ehre zog, zu weit. Zusammen mit den beiden Piraten hing Mythor an dem Quermast mit dem Balanciergewicht. Weiter durfte er das Piratenschiff nicht neigen, weil es sonst der Masthöhe wegen umstürzen würde, und die Segelstellung ließ sich auch nicht mehr verbessern. Wenn wir es nicht schaffen, müssen wir den Kahn umschmeißen, hatte der Rafher gesagt. Es war die einzige Möglichkeit, die sie noch besaßen, der drohenden Kollision zu entgehen, aber auch die letzte. Erst wenn es wirklich nicht mehr anders ging, wollte Mythor zu dieser »Notbremse« greifen, die das Schiff gleichzeitig zerstören würde. Denn er wollte nach Möglichkeit mit dem Segler wieder hinaus. »Bei Quyl, warum wird die Kiste denn nicht langsamer?« Wenn sie es schafften, dann um Haaresbreite. Aus schmalen Augen starrte Mythor der immer näher kommenden, drohenden Gefahr entgegen. Unten hatte sich jetzt Ashorro erhoben. Er starrte über das Deck und sah die teils besinnungslosen und teils gefesselten Piraten. Dann blickte er nach oben, wo Mythor und die beiden 185
Piraten am Balanciermast hingen. Es wäre für die beiden Männer die beste Gelegenheit gewesen, Mythor zu überwältigen, aber dafür hingen sie zu sehr am Leben. Wenn auch nur einer den Mast losließ, gegen den sie sich zu dritt mit ihrem Gewicht stemmten, schwang er zurück, und der Kufensegler verließ trotz schräggestellten Segels die Kurve, um mit voller Wucht in die Stacheln zu krachen, die immer näher kamen. Sadagar und No-Ango wurden oben nicht gebraucht, hatten aber unten in diesen Augenblicken auch nichts zu tun und warteten auf die fast unvermeidliche Katastrophe oder das Umkippen des Schiffes. Die Prinzessin kauerte auf den Planken und sah mit weit aufgerissenen Augen den Stacheln entgegen. Niemand achtete auf Ashorro. Der Pirat bückte sich und nahm ein Krummschwert auf, das der Hand eines Toten entfallen war, dann setzte er sich an der Bordwand entlang in Bewegung. Er versuchte eine möglichst gute Ausgangsposition zu bekommen für den Moment, in dem die Gefahr gebannt war – auf die eine oder andere Weise. Ashorro gab sich längst noch nicht verloren. Er traute sich durchaus zu, das Heft wieder in die Hand zu bekommen, und im entscheidenden Augenblick würden ihm die beiden Männer oben auf dem Aufbau wieder zur Seite stehen. Eine von zwei Personen mußte er in seine Gewalt bringen, um der lachende Sieger zu sein – Mythor oder die Prinzessin. Langsam pirschte er sich um die Decksaufbauten herum, das Krummschwert in der Hand, während die Tashans Ehre die Warze erreicht hatte. Zu nah…? Gierig bewegten sich die Stacheln. Die Menschen an Bord, mit Ausnahme Ashorros, hielten den Atem an. Die ersten Stachelspitzen berührten den Ausleger und konnten ihn nicht stoppen. Knirschend brachen sie ab. Mythor schrie überrascht auf. »Wir schaffen es…!« 186
Weitere Stachelspitzen brachen, und der Ausleger zeigte erste Beschädigungen, aber er wurde nicht herumgerissen, um das Schiff dann mit dem Bug voran in die Warze rasen zu lassen! Fasziniert starrten Sadagar und No-Ango auf das furchterregende Bild. Ein paar Mannslängen weiter hing das Skelett eines Laufvogels in den Stacheln – und war auch schon vorbei. »Vorbei!« Einer der Piraten hatte es geschrien. Noch einer schrie: Ashorro! Nur Sadagar hatte den riesigen Schatten gesehen, der sich jäh zeigte und nach Ashorro griff, um dann so schnell wieder zu vergehen wie jeder andere Schatten, den das Sonnenlicht trifft und auslöscht. Aber Ashorro schwebte noch sichtbar in der Luft! Und er schrie um Hilfe, während sein Körper durchscheinend wurde und gegen den grauen Südhimmel verblaßte. Es dauerte kaum zehn Herzschläge, bis der Pirat nicht mehr zu sehen war. Nur noch sein Schwert fiel aus der Luft herab und landete irgendwo zwischen den Stacheln. Dann war die Tashans Ehre vorbei und glitt, immer langsamer werdend, einer größeren freien Fläche entgegen. Sie hatten es geschafft. Erleichtert konnten sie aufatmen, aber keiner tat es…
»Was… was war das?« stammelte die Prinzessin, als Mythor vom Aufbau herabkletterte. Wie die anderen hatte auch sie Ashorros furchtbares Ende mitverfolgt. »Haghalon«, murmelte Sadagar blaß, der als einziger den grauen Schatten für einige Lidschläge gesehen hatte. Jenen Schatten, den er schon einmal beobachtet hatte, aber da hatte er es für eine Sinnestäuschung gehalten. »Der Geist des Hag187
halon hat sich ein Opfer geholt«, flüsterte er rauh. »Und es hätte jeden von uns treffen können. Wir hatten Glück, daß es der Pirat war!« Shezad schluckte. Mythor trat neben sie. »Ganz ruhig«, brummte er besänftigend. »Selbst wenn es dieser Geist war – er hatte nur deshalb die Gelegenheit, sich ein Opfer zu holen, weil wir so nahe an der Warze waren. Hier sind wir in Sicherheit.« Langsamer werdend, setzte die Tashans Ehre ihre Kurve fort, die durch die geringere Geschwindigkeit jetzt enger wurde. No-Ango bemerkte es und winkte Sadagar, das Segel ein wenig anders zu stellen. Schließlich begradigte sich die Bahn des Kufenseglers wieder. »Wenn wir auf diesem Kurs bleiben«, sagte Mythor und verglich die Position des Piratenschiffs mit der Karte, in der die einzelnen Schwarzstachler der Haghalon-Kolonie mit großer Genauigkeit eingezeichnet waren, »kommen wir einigermaßen gefahrlos wieder aus der Kolonie hinaus.« Sadagar war ebenso wie die Prinzessin immer noch bleich. No-Ango zeigte nicht, welche Gefühle er in diesem Augenblick hegte, aber hin und wieder warf er einen Blick zur Warze zurück, an der sie nur mit viel Glück gerade noch vorbeigekommen waren. Plötzlich zuckte er zusammen. »Da!« rief er. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf etwas, das sich über der Warze befand. Auch die anderen sahen es jetzt. Unwillkürlich verkrampften sich Mythors Fäuste. Für kurze Zeit sahen sie alle zwei Schatten, weit übermannsgroß, über der Warze schweben, und einer schien hinter dem flüchtenden Piratenschiff herzudrohen. »Der Geist des Magiers hat Gesellschaft bekommen«, flüsterte Steinmann Sadagar tonlos.
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Hrobon selbst hatte sich der auf der linken Seite der Warzenkolonie herumreitenden Gruppe angeschlossen. Kommandant Sadhy gehörte zu den Reitern, die dem Kufensegler in die Gefahr folgten. Hrobon hoffte, daß er zuerst auf die Tashans Ehre stoßen würde oder zumindest als erster ihre Spur auf der Salzfläche finden würde. Es brannte ihm in den Fingern, diesem Frevler und Lästerer Mythor persönlich den Hals umzudrehen. Daß er es gewesen war, der dem gefürchteten Piratenführer den Garaus gemacht und damit zum Vollstrecker des in Horai gefällten Urteils geworden war, berührte ihn weniger. Es war ein Kampf wie jeder andere gewesen und hauptsächlich Verdienst seines Vogels. Wenn er Mythor tötete, würde seine Befriedigung größer sein. Dieser Bursche sollte nicht noch einmal behaupten, der Sohn des Kometen zu sein. Hrobon ritt an der Spitze des Trupps. Und plötzlich sah er zwischen den Warzen etwas Großes. Er riß beide Arme hoch. Die Vogelreiter verhielten. Was dort aus der Kolonie auf sie zuglitt, mit halbgerefftem Segel und ziemlich langsam, war nichts anderes als das Flaggschiff der Piraten. »Ausschwärmen!« befahl Hrobon. Die Laufvögel zogen sich zu einem weiten Halbkreis auseinander, in den das Piratenschiff wie zwischen die Backen einer Zange geraten mußte. Ein Zurück gab es für die Piraten nicht; auf jener schmalen Straße zwischen den Warzen konnten sie das Kufenschiff nicht wenden, und ein Rückwärtsfahren war nicht nur unmöglich, weil die Kufen achteraus nicht abgerundet waren, sondern weil Sadhy mit seinen Reitern dem Piratenschiff folgte. Hrobon zeigte seinen Triumph unverhohlen. Mythor konnte ihm jetzt nicht mehr entgehen, und außerdem bekam er die 189
Prinzessin auch noch frei Haus geliefert. Erwartungsvoll sah Hrobon dem Salzsegler entgegen.
Sie brauchten noch einige Augenblicke, um über das erschreckende Erlebnis halbwegs hinwegzukommen. Schließlich räusperte sich der Steinmann, während die Tashans Ehre bedächtig dem freien Salzspiegel entgegenglitt. »Du weißt, daß Hrobon in maßgeblicher Stellung unter den Kriegern ist, nicht wahr?« wandte er sich an Mythor. Der Sohn des Kometen nickte nur. Sadagar grinste und zeigte auf den Balancemast und die beiden Piraten, die im Moment arbeitslos waren, aber dennoch nicht einen Angriff versuchten, weil sie in der Minderzahl und nicht übermäßig tapfer waren. »Wir haben jetzt ein äußerst schnelles und wendiges Schiff«, sagte der Steinmann. »Wie wäre es, wenn wir es behielten und für eine schnelle Flucht benutzen würden?« »Flucht?« mischte sich Shezad überrascht ein. »Wieso Flucht? Wir fahren den Befreiern entgegen! Ich bin sicher, daß Hrobon und seine Männer die Piraten inzwischen aufgerieben haben.« »Dessen bin ich auch sicher«, schmunzelte Sadagar. »Gerade deshalb meine ich, daß eine schnelle Flucht vonnöten sei.« »Du redest irr«, behauptete die Prinzessin. »Schweig fortan! Warum sollten wir fliehen müssen?« »Weil Hrobon in mir seinen Todfeind sieht und mich töten will«, sagte Mythor langsam. Shezad sah ihn überrascht an. »Hrobon? Dieser kühle Denker? Warum sollte er das tun? Ich kenne ihn, er verfolgt nur Verbrecher mit seinem Haß – und Feinde.« »Eben«, nickte Mythor. Er überlegte, ob er Shezad. reinen Wein einschenken sollte, bei der Begegnung mit Hrobon würde es ohnehin geschehen müssen. Aber aus irgendeinem 190
Grund, den er nicht näher benennen konnte, entschied er sich dagegen. »Es ist eine private Angelegenheit zwischen ihm und mir.« Sadagar wollte etwas sagen, aber Mythors Blick brachte ihn zum Schweigen. No-Ango kam heran. Er hatte den letzten der bewußtlosen Piraten gefesselt. »Wir sollten ein paar Segel mehr hissen, damit wir auf gehörige Geschwindigkeit kommen«, verlangte er. Mythor runzelte die Stirn. Er sah zwischen No-Ango und Sadagar hin und her. »Denke an Hrobon«, sagte der Rafher. »Und sieh nach vorn.« Mythor folgte der Aufforderung. Er erkannte am Horizont, weit von den letzten Warzen entfernt, dunkle Punkte. »Sie warten schon«, sagte der ehemalige Kundschafter, dessen Volk sich zu einem Deddeth vergeistigt hatte. »Laßt sie warten«, sagte Mythor mit sicherer Stimme. »Immerhin kommen wir als Sieger.« Er warf einen Blick auf die Prinzessin. »Er wird auf seine Rache verzichten, wenn ich ihm nicht nur das Flaggschiff der Piraten und Gefangene, sondern auch die Prinzessin unversehrt zurückbringe.« »Das ist richtig«, stimmte Shezad zu. »Ich bin ungeheuer wichtig. Und er wird von Dankbarkeit erfüllt sein, daß Mythor mich gerettet hat.« »Seine Dankbarkeit wird so groß sein, daß er es bei einem schmerzlosen Köpfen bewenden läßt«, brummte Sadagar wenig überzeugt. Mythor grinste. »Denke daran, daß auch du mit Geschenken überhäuft werden wirst für deinen Messerwurf zur richtigen Zeit.« »Die Freiheit ist mir Geschenk genug«, winkte Sadagar ab. »Und was neben der Prinzessin die Gefangenen betrifft, so dürfte allenfalls unser gemeinsamer Freund Jassam von Wert sein. Vergiß es, Mythor. Hrobon wird dich töten. Laß uns mit 191
voller Geschwindigkeit durchbrechen. Ich halte diesen Riesenkahn für schnell genug, den komischen Riesenpapageien abzulaufen.« »Und was machen wir dann mit der Tochter des Shallad?« fragte Mythor sarkastisch. »Sie in voller Fahrt über Bord werfen, vielleicht Hrobon direkt an den Kopf?« »Du dürftest etwas respektvoller und zurückhaltender reden, Pirat!« fauchte Shezad ihn an. »Immerhin sprichst du von mir!« Mythor grinste. »Eben«, sagte er. »Wenn du mich noch einmal Pirat nennst, werde ich dich tatsächlich in voller Fahrt Hrobon an den Kopf werfen.« Shezad grollte und schmollte. Sie wußte selbst nicht genau, was für einen Narren sie an diesem Mann gefressen hatte, daß sie ihm diese Unverschämtheiten durchgehen ließ. Ein anderer wäre dafür längst ausgepeitscht worden… »Wir sind uns also alle einig«, behauptete Mythor. »Wir halten vor den Reitern an.« Und so geschah es.
Vogelreiter, die ihre Tiere verlassen hatten, warfen die gefesselten Piraten recht unsanft über Bord. Auch die beiden Männer, die das Flaggschiff des toten Piratenanführers an der Warze vorbeigelenkt hatten, wurden in Fesseln gelegt und von Bord geschafft. Mit grimmiger Befriedigung starrte Hrobon den immer noch besinnungslosen Jassam an, dann wandte er sich um und deutete auf Mythor. »Packt ihn!« befahl er. Drei Krieger zogen ihre Schwerter und kamen drohend auf Mythor zu. Sadagar brach der Schweiß aus. »Ich habe es dir doch gesagt!« flüsterte er. 192
In diesem Moment trat die Prinzessin vor. »Halt!« erklang ihre Stimme. »Bleibt stehen!« Jeder der Männer wußte, wer sie war. Der Befehl der Tochter des Shallad stand vielleicht noch über dem ihres Anführers. Shezad wandte sich an Hrobon. »Was willst du von diesem Mann?« fragte sie schroff. »Er hat mich gerettet, aus der Hand der Piraten befreit und zusammen mit seinen beiden Gefährten vor dem Ende in einem Schwarzstach-ler bewahrt!« Hrobons Gesicht verfinsterte sich. War denn das zu fassen? »Dieser Mann«, sagte er laut und grimmig, »muß sterben! Er hat den Tod hundertfach verdient!« Shezad sah Hrobon nur weiterhin an. Sie brauchte ihre Frage nicht zu wiederholen. »Jetzt kommt’s«, flüsterte Sadagar. In Hrobons Gesicht arbeitete es. Seine Züge verzerrten sich leicht. »Dieser Mann«, stieß er wild hervor, »hat sich angemaßt, sich als den Sohn des Kometen zu bezeichnen! Er hat gefrevelt wie nie ein anderer zuvor. Im Namen des Shallad, Eures Vaters, verlange ich von ihm Genugtuung. Er muß sterben, um diese Freveltat zu sühnen!« Shezad wandte sich nicht zu Mythor um, um in seinen Augen die Wahrheit zu erforschen. Für sie zählte, daß Mythor bedingungslos auf ihrer Seite gestanden hatte. »Du wirst Mythor nicht töten, nicht einmal verletzen«, befahl sie. »Ich bin eine der Töchter des Shallad, und ich befehle es dir! Er und seine beiden Gefährten haben mich gerettet. Das zählt.« Hrobon wurde totenbleich. »Dann gebe ich Amt und Waffen ab!« schrie er. Mythor hob die Brauen, weil er glaubte, sich verhört zu haben. Hrobon, dessen ehrgeiziges Ziel war, Kommandant in Logghard zu werden, der seine ganze Energie und sein ganzes Streben darauf verwendet hatte, wollte den Dienst in der Ar193
mee des Shallad kündigen? Und das nur, um – frei vom Befehl der Prinzessin – Mythor töten zu können? Auch Shezad erkannte die Absicht des Heymals. Nachdrücklich schüttelte sie den Kopf. »Auch das, Hrobon«, sagte sie leise, aber eindringlich, »erlaube ich dir nicht. Von meinem Vater, dem Shallad, erhieltest du den Befehl, mich sicher nach Logghard zu bringen. Willst du zum Verräter werden, Hrobon, zu einem Mann, auf den niemand mehr sich verlassen kann?« Hrobon zitterte vor Wut, aber vor der Prinzessin neigte er den Kopf! Die drehte sich jetzt langsam Mythor zu und sah ihn mit einem prüfenden Blick an. »Was hast du dazu zu sagen, Mythor?« Diesmal nannten sie ihn nicht Pirat, untrügliches Zeichen, daß sie es todernst meinte. Mythor fühlte sich ein wenig unbehaglich. »Nichts«, murmelte er. Shezad sah wieder zu Hrobon. Dann wiederum zu Mythor. »Du wirst dich dem Shallad Hadamur unterwerfen und seinen Befehlen gehorchen wie jeder im Shalladad«, verlangte sie. Doch Mythor schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht daran, mich Hadamur zu unterwerfen«, entgegnete er etwas zu schroff. Ungläubig staunend starrte die Prinzessin ihn an. Aber Mythor wußte genau, warum er abgelehnt hatte. Denn aus Luxons Bericht wußte er, daß Hadamur zu Unrecht auf dem Thron saß. Er hatte die Macht an sich gerissen und den eigentlichen Thronerben, Luxon, mit Mord und Intrigen verfolgen lassen. Luxon war der eigentliche Shallad, Hadamur ein feiger Betrüger. Und Mythor war nicht gewillt, sich vor einem Thronräuber und Meuchelmörder zu verneigen. Aber er schwieg. Der Prinzessin und allen anderen gegenüber. Nur Sadagar wußte um die Hintergründe. »Ich verstehe dich nicht, Pirat«, sagte Shezad leise. 194
Mythor erdreistete sich, ihr sanft die Hand auf die Schulter zu legen, und unter dem Schleiergewand fühlte er sie zusammenzucken. »Irgendwann, Prinzessin, wirst du mich verstehen«, entgegnete er ebenso leise. Er sah wieder zu Hrobon. Das Gesicht des Heymals war immer noch haßverzerrt. »Ich habe dem Befehl der Prinzessin zu gehorchen, weil es der Wille des Shallad ist«, schleuderte er Mythor entgegen. »Aber wenn sie sicher in Logghard ist und mein Auftrag erfüllt, werde ich dich töten, Frevler!« Die große Kolonne ritt nach Süden. Mythor, Sadagar und No-Ango hatten zusammen ein Diromo erhalten und wurden diesmal nicht in Lastkörben transportiert, sondern hatten es auf dem mächtigen Vogelrücken erheblich bequemer als zuvor. Shezad war in ihrem kleinen Haus verschwunden, das von ihrem Diromo Spinnenglanz getragen wurden. Ständig schwärmten Vogelreiter aus, um die nähere Umgebung zu erkunden und die Kolonne vor jedem Überfall rechtzeitig zu warnen. Die Düsterzone war nahe. An der Spitze des großen Zuges ritt Hrobon. Er führte die Hundertschaft der Vogelreiter an, beraten von ortskundigen Führern, die Kommandant Sadhy ihm mitgegeben hatte. Sadhy selbst war zurückgeblieben und hatte dafür gesorgt, daß von den auf dem Schlachtfeld zurückgebliebenen Piraten niemand überlebte. Die Überreste Tashans waren vorsichtshalber verbrannt worden, und Jassam wurde im Triumphzug nach Horai gebracht, um dort zum Tode verurteilt zu werden. Mythor hielt das Gemeinschaftsdiromo möglichst weit von Hrobon entfernt, dafür aber in der Nähe von Spinnenglanz. Er wußte, daß der Haß des Heymals sich noch weiter verstärkt hatte. Seltsamerweise schien Shezad Mythor immer noch Vertrauen zu schenken, obwohl sie jetzt wußte, daß er sich gewissermaßen über den Shallad gestellt hatte. Doch sie schwieg 195
dazu. Hin und wieder dachte Mythor noch an die Zustände in Horai. Dort mußte in absehbarer Zeit etwas getan werden. Es reichte nicht, daß Kommandant Sadhy jetzt erbarmungslos mit den letzten noch lebenden Piraten aufräumen würde, deren Versteck er durch Mythor nunmehr kannte. Auch in der Stadt selbst waren gewisse Veränderungen vonnöten. Aber jetzt waren sie zunächst auf dem Weg nach Süden. Noch etwa zehn Tagesritte trennten sie von Logghard, das sie jedoch nicht auf direktem Weg erreichen würden. Hrobons Befehle, die er vom Shallad erhalten hatte, besagten, daß er vorher noch irgendwo Station machen und weitere Verstärkung erhalten sollte. Sadagar zeigte nicht geringe Unruhe. Irgend etwas bewegte ihn, doch Mythor konnte nicht einmal ahnen, daß der Kleine Nadomir die Ursache dafür war. Aber Sadagar schlief in diesen Nächten sehr schlecht, in denen die Schattenzone immer höher vor ihnen aufwuchs, je näher sie ihr kamen, und immer finsterer und bedrohlicher glühte. Und hin und wieder blitzte etwas darin grell auf und zog einen feurigen Schweif hinter sich her, wenn Sterne vom Himmel fielen.
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Hubert Haensel
DIE EISKRIEGER Es war eine gespenstische Nacht; der Mond verbarg sein Antlitz hinter düsteren, dräuenden Wolkenfetzen, und nur hin und wieder fielen seine Strahlen auf die Welt und tauchten sie in ein eisiges Licht, das nach den Herzen der Menschen griff und sie frösteln ließ. Ein kalter Wind wehte von Norden her, brachte Schnee und winzige Eiskristalle mit sich. Schaurig brach sich sein Heulen an den Langsteinen, zwischen denen vermummte Gestalten verharrten, den Blick andächtig nach Süden gerichtet, wo in weiter Ferne die Schattenzone wartete. Stong-nil-lumen… Steine, so alt wie die Welt, Sinnbild für das Unvergängliche, das ewig Bestehende – weder Wind noch Wasser oder Feuer konnte ihnen etwas anhaben. Magie hatte sie geformt; Magie wohnte ihnen inne. Schwarze Magie! Sie hatte die Mächte des Lichtes ins Gegenteil verkehrt, sogar Töte zu neuem Leben erweckt und die Heerscharen des Nordens vernichtend geschlagen. Der Tag der Wintersonnenwende hatte Geschichte geschrieben. Das Böse schickte sich an, wieder nach der Herrschaft zu greifen. In stong-nil-lumen war es Cherzoon, der die Macht darstellte. Der Dämon manifestierte sich in dem Opferstein im Mittelpunkt der hufeisenförmig angeordneten Megalithe. Eine Stimme hallte über das Land, lautlos, doch für jeden der anwesenden Priester hörbar. Drudin! rief sie, war fordernd und unerbittlich zugleich. 197
Auf der von Poren durchsetzten Fläche des schwarzen Steines entstand ein Gesicht. Es war eines von unzähligen, die der Dämon an sich gerissen hatte. Drudin kam und breitete mit einer unterwürfigen Geste die Arme aus. Wie er so dastand, regungslos, schweigend, wirkte er wie aus Stein gemeißelt. Nur die Maske, die er trug, schien in einem irrlichternden Feuer zu glühen. »Du zweifelst an meiner Allmacht«, flüsterte Cherzoon. Der Priester ließ die Arme sinken, während ein lautes Gelächter durch seinen Schädel tobte. »Es dauert dir zu lange, bis erneut Ereignisse von umfassender Bedeutung geschehen. Dabei liegt die Schlacht von Dhuannin erst wenige Tage in der Vergangenheit.« »Das Hochmoor kann nur ein erster Schritt gewesen sein, um die Kraft der Schwarzen Magie über die ganze Welt auszudehnen…« »Sollen wir ungeduldig werden, nur weil ein paar Monde ins Land ziehen? Du bist sterblich, Drudin – und kein Sterblicher wird die Vorbereitungen verstehen, die getroffen werden müssen.« Der Priester zitterte unter der Schärfe, die in diesen Worten lag. »Aber du hast recht«, fuhr Cherzoon fort und wechselte dabei die Gesichter in rascher Folge. »Wir werden nicht länger in stong-nil-lumen verweilen.« »Wir…?« machte Drudin verständnislos. Das letzte Antlitz verschwand, der Opferstein überzog sich wieder mit einer Schwärze, die nur mit jener der Schattenzone zu vergleichen war. Ich, klang es wie Donnerhall auf, zwischen den Megalithen zum ohrenbetäubenden Tosen eines Orkans verstärkt und schließlich in vielfachem Echo verstummend, werde selbst in den Kampf ziehen. Am Tag blieb die Sonne hinter schwarzen Nebeln verborgen, 198
bei Nacht grinste der bleiche Vollmond gleich einer Dämonenfratze durch die langsam dahintreibenden Wolkenschleier. Manchmal zeigte sich ein fernes Aufblitzen am Horizont – die glühende Spur eines fallenden Himmelssteins. Die Tage waren lang, es wurde nur selten gerastet. Dennoch blieb das Gefühl, kaum vorwärts zu kommen. Auf Dauer wirkte das Trompeten der Mammuts, das gleichmäßige Stampfen ihrer Beine zermürbend. Keiner von uns wußte, wohin wir den Transport begleiten sollten. Es gab so viele Meinungen wie Krieger – und das waren Hunderte. Die Städte Caer und Fordmore erschienen mir noch am vielversprechendsten. »Hörst du das?« Ich hatte Tramin nicht kommen sehen. Er ritt plötzlich neben mir, und seine Haltung drückte Unbehagen aus. Unstet wanderte sein Blick, suchte die Düsternis vor uns zu durchdringen. »Bei Caer, ich weiß nicht, was du meinst«, antwortete ich. Der Krieger sah mich nachdenklich an. Wir kannten uns seit vielen Sommern, waren miteinander aufgewachsen – in Weirdale, das unweit der Elvenbrücke lag – und wußten daher recht gut zu deuten, was der andere fühlte. Tramin griff nach dem Langschwert, das er am Sattel seines Pferdes befestigt hatte. Wir gehörten beide zum inneren Wachgürtel und ritten fast auf Tuchfühlung neben den Mammuts. Immer wieder mußte ich mich fragen, weshalb Drudin den Transport mit so vielen Kriegern umgab. Wir hatten nichts zu fürchten. Und wenn – die Magie der ihn begleitenden sechs Priester aus dem zwölfköpfigen Rat würde stärker sein als unser aller Waffen zusammen. Ob es mit dem Stein zusammenhing, der von einem schwarzen, silberbestickten Tuch verhüllt wurde? Der Wagen, auf dem er lag, ächzte und knarrte, und seine Räder sanken 199
tief in den Boden ein. »Da ist es wieder!« Tramin lauschte angestrengt in den Nebel vor uns. Ich zügelte meinen Rappen. Jetzt hörte ich es auch. Es klang wie fernes Hufgetrappel. Der Wind trug mir das Geräusch zu, und er nahm es wieder mit sich fort, bevor ich wußte, von wo es erklungen war. Ob auch die anderen es vernommen hatten? Ich sah mich um. »Reiter!« murmelte Tramin neben mir. »Sie kommen näher.« Der Wind gewann an Heftigkeit, peitschte winzige Kristalle vor sich her und ließ mich frösteln. Nun war es ganz deutlich. Es mußten Dutzende Reiter sein, die in schnellem Galopp durch den Dunst sprengten. Eine seltsame Unruhe bemächtigte sich der Krieger. Ich ertappte mich dabei, daß ich ebenfalls zum Schwert griff. Die schwere Klinge vermittelte zwar ein Gefühl der Sicherheit, vermochte aber das Unbehagen nicht zu verdrängen, das mir seit unserem Aufbruch von stong-nil-lu-men im Nacken saß. Etwas Unheimliches begleitete uns. Nicht nur ich fühlte so – auch Tramin und viele andere. Sie hatten sich darüber unterhalten, wenn sie die Priester nicht in ihrer Nähe wußten. Viel lieber hätten sie in Tainnia, in Ugalien oder Dandamar das Schwert geschwungen, als tatenlos einem unbekannten Ziel entgegenzureiten, umgeben von Magie, die einen schaudern machte und jeden Gedanken lähmte. Unser Leben war der Kampf. Nichts gab es, was einer gut geführten Klinge widerstehen konnte – außer den unfaßbaren Mächten der Dämonen. Nur wenige von uns weilten gerne in der Nähe Drudins. Eine wilde Jagd donnerte heran. Jeden Moment mußten die Nebel aufreißen… »Ho!« Die Mammuts kamen zum Stehen. Ihre Schreie klangen schaurig wie der Schall von Kriegshörnern. Die Reiter waren nun unmittelbar vor uns. Ich hörte den 200
Hufschlag ihrer Pferde, glaubte deren Schnauben zu vernehmen und das Klirren von Waffen – aber ich sah nichts. Mein Rappe scheute. Nur mit Mühe konnte ich ihn zügeln. Spürte er die Gefahr, die auf uns zukam? Eine eisige Faust schien nach meiner Kehle zu greifen. Ich würgte, riß mein Schwert hoch und stieß es blindlings nach vorn. Einer der unsichtbaren Angreifer mußte unmittelbar neben mir sein. Ich wirbelte herum. Aber meine Klinge schnitt nur singend durch die Luft, ohne auf einen Widerstand zu treffen. Dann war der Spuk so schnell vorüber, wie er gekommen war. Als ich mich umwandte, sah ich Drudin und seine sechs Priester vor dem Wagen mit dem Schwarzstein stehen. Sie hatten ihre Gesichter mit Masken verhüllt und trugen Helme aus Tierknochen. Ein düsteres Wallen umspielte sie. Für die Dauer einiger Herzschläge schien es mir, als wollten sie vergehen, sich auflösen, aber schließlich nahmen ihre Körper wieder feste Formen an. Ein bedrückendes Schweigen breitete sich aus. Keiner von uns wagte es, die Priester mit Fragen zu belästigen. Endlich klang Drudins Stimme auf: »Die Reiter, die den Spiegeltod starben, werden wiederkommen. Kämpft und besiegt sie – haltet sie fern von dem, was unter diesem Tuch verborgen liegt.« Ich verstand den Sinn seiner Worte nicht. Wie sollte man einen Geist mit dem Schwert durchbohren, wie ihn mit einem Pfeil treffen? »Zeigt, daß ihr einer großen Aufgabe gewachsen seid«, fuhr der Priester fort. »Es sind Krieger der Lichtwelt, die uns nach dem Leben trachten. Wir werden sie für euch sichtbar machen.« Jubel brandete auf. Nach langen Tagen zermürbender Eintönigkeit gab es endlich etwas, für das es sich lohnte, ein Pferd zu besteigen. 201
Drudin reckte die Arme zum Himmel empor, als wolle er nach der Sonne greifen und sie zu sich herabziehen. Im selben Moment schien ein greller Blitz das Firmament zu spalten, während erneut schnell näher kommender Hufschlag erklang. Instinktiv ahnte ich, daß der Priester zu spät gehandelt hatte. Die Geisterreiter waren zwischen uns, bevor wir Zeit fanden, zu begreifen. Unverhofft wurde ich zum Mittelpunkt eines rasch um sich greifenden Chaos. Pferde gingen durch und schlugen aus, Recken stürzten, kamen torkelnd wieder auf die Beine und fochten gegen einen Feind, von dem sie weder wußten, wie er aussah noch wo er sich befand. Ich selbst konnte mich mehr recht als schlecht im Sattel halten, blickte in verzerrte, schwitzende Gesichter, hörte die Flüche der Krieger. Irgend etwas streifte mich. Ich fühlte das Grauen mit eisiger Hand nach meinem Herzen greifen, glaubte ersticken zu müssen, als mir mit einemmal der Atem stockte. Wie aus weiter Ferne drang das monotone Murmeln der Priester an mein Ohr. Cherzoon, verstand ich und wußte gleichzeitig, daß sie ihren Dämon anriefen. Würde er uns helfen? Wir Caer lebten seit jeher für den Kampf, suchten in Turnieren Mut und Geschicklichkeit zu beweisen. Wir fürchteten keinen Gegner – solange er real war, aus Fleisch und Blut und mit Waffen verwundbar. Aber gegen Magie zu kämpfen, gegen etwas, das man nicht sehen, nur ahnen konnte… Ich schauderte. Ein gellender Schrei ließ mich herumfahren. Die Klinge hochreißen und zuschlagen war eins. Doch ich konnte dem Kameraden nicht helfen, mein Hieb ging ins Leere. Der Caer taumelte. Seine Hände krampften sich um das Schwert in seiner Brust, während seine Augen glasig wurden. Aus dem Nichts heraus hatte die Waffe zugestoßen, und sie verschwand im Nichts, bevor ich das Heft packen konnte. 202
Mein Pferd bäumte sich auf. Ich verlor den Halt und stürzte. Nur das Schwert nicht fahrenlassen! schoß es mir durch den Sinn. Irgendwie schaffte ich es, auf die Beine zu kommen. Die Luft hallte wider vom Kampflärm. Ich taumelte. Ohne daß ich mir dessen bewußt wurde, lenkte ich meine Schritte zum Wagen, vor dem die Priester kauerten wie Götzenstatuen. Immer häufiger jagten Reiter als Schatten vorüber und verschwanden innerhalb weniger Augenblicke wieder aus dieser Welt. Der Boden erzitterte vom Trommeln der Pferdehufe. »Drudin«, murmelte ich, »gib, daß sie vollends sichtbar werden, damit wir ihre Reihen niedermähen wie der Schnitter das Korn, wenn es reif ist.« Unmittelbar vor meinen Füßen bohrte sich ein gefiederter Pfeil in den Boden. Ich zuckte zurück und entging um Haaresbreite einer blitzenden Klinge. Noch während ich den Schlag parierte, wurde eine Hand sichtbar; ein Arm folgte, dann, zu schnell, um mit den Augen dem Geschehen folgen zu können, der Körper eines Kriegers, dessen Wams das Zeichen der Lilie zierte. Ein Salamiter. In seinen Zügen zeichneten sich Überraschung und ungläubiges Erstaunen zugleich ab. Daß er zögerte, war sein Fehler. Er kam nicht mehr dazu, auszuweichen. Überall schienen die Nebel in Bewegung geraten zu sein. Sie ballten sich zusammen, formten die Umrisse der angreifenden Reiter nach und nahmen diesen den Schutz der Unsichtbarkeit. Endlich hatten wir einen Gegner, den wir sehen, dem wir entgegentreten konnten. Die Ebene dröhnte vom Klang der aufeinanderprallenden Waffen. Ich sah Männer, die zweifellos vom tainnianischen Festland stammten, erkannte Ugaliener und sogar einige Karsh. Mir war unbegreiflich, wie sie über die Straße der Nebel gelangt waren, auf der unsere Schiffe kreuzten. Durch die Luft konnten sie nicht gekommen sein. Abermals mußte ich mich eines Reiters erwehren. Mit dem 203
Mut der Verzweiflung drang er auf mich ein. Sein Schwert beschrieb blitzende Kreise. Er führte es mit ungestümer Kraft und Wildheit. Nur mit Mühe konnte ich den Angriff parieren. Der Krieger, als er erkannte, daß er mich derart nicht besiegen konnte, trachtete danach, mich unter die Hufe seines Pferdes zu stürzen. Nie werde ich das Wiehern des Tieres vergessen, als es auf der Hinterhand hochstieg. Es klang wie ein Todesschrei aus unzähligen Kehlen, lähmte meine Muskeln und drängte sich unwiderstehlich in meine Gedanken. In diesem Moment verstand ich zum erstenmal die Beweggründe der Priester, weshalb diese gegen die Länder des Nordens ins Feld zogen. Die Heere, die unter dem Banner des Lichtes kämpften, rekrutierten sich aus armen, verblendeten Kreaturen, die kaum noch Herren ihres eigenen Willens waren. Ein harter Stoß schleuderte mich zur Seite. Unmittelbar hinter mir schlugen die herabsausenden Pferdehufe Funken aus den Steinen. Tramin hatte mich vor ihnen bewahrt. Sein Schwert war schnell und gnadenlos, holte den Reiter aus dem Sattel. Die Schlacht war geschlagen, aber sie hatte etliche von uns das Leben gekostet. Totenstille breitete sich aus. Ich erstarrte, als mein Blick zufällig auf den Wagen fiel. Einer der Angreifer hatte offensichtlich versucht, das schwarze Tuch zu entfernen. Es war ihm halb gelungen, doch mußte er sein Vorhaben mit dem Leben bezahlen. Sollten die Krieger es gar auf den Schwarzstein abgesehen haben? »Denkst du dasselbe wie ich, Malver?« flüsterte jemand neben mir. Ich erschrak. Indes war es nur Tramin, der lautlos neben mich trat und gleich mir den Blick nicht mehr abzuwenden vermochte. Ich begann mich zu fragen, was der Opferstein aus dem Her204
zen von stong-nil-lumen wirklich darstellte. Welch kostbare Last begleiteten wir, ohne um ihre wahre Bedeutung zu wissen? »Cherzoon… zoon… zoon…« Drudins Stimme schien tausend verschiedene Echos zu haben. Seine Hände verkrampften sich um die Maske, die er trug. Dann, mit einer blitzschnellen Bewegung, riß er sie sich vom Gesicht. Was immer ich zu sehen erwartet hatte, ich wurde enttäuscht. Aus gütigen Augen blickte der Priester in die Runde. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln – er besaß die vollen Lippen eines heißblütigen Mädchens. Es bedurfte nur einer einzigen Handbewegung, um die Leichen der Angreifer so schnell verschwinden zu lassen, wie die Krieger zwischen uns erschienen waren. Sie lösten sich auf, als habe es sie nie gegeben. Drudin schritt auf den Schwarzstein zu, rückte das Tuch zurecht und zog es sich selbst bis über die Schultern. Niemand konnte sehen, was er auf dem Wagen tat. »Haltet euch nicht länger auf!« wurde eine Stimme laut. »Euer harrt eine große Aufgabe.«
Cherzoon zeigte sich ihm mit dem Gesicht des Alptraumritters Coerl O’Marn. »Ich verstehe das nicht«, sagte Drudin. »Vergiß es«, entgegnete der Stein. »Das Erscheinen der Geisterreiter ist bedeutungslos.« »Aber was geschehen ist, kann sich jederzeit wiederholen.« Der Dämon wechselte die Erscheinungsform. Aus den Augen des Kämpen, der Drudin auf dem Weg nach stong-nillumen begegnet war, musterte er den Priester. »Ein ähnliches Zusammentreffen wird es nicht mehr geben.« »Und wenn doch?« beharrte Drudin. »Du weißt, daß es uns schwerfiel, die Spiegeltoten in ihre Welten zurückzudrängen.« 205
»Soll ich dich für unfähig halten?« zischte der Dämon. »Vielleicht möchte einer aus dem Priesterrat deine Stellung einnehmen. Parthan möglicherweise – oder Calphor; Ghamel eventuell…« Drudin zuckte merklich zusammen. »Ich werde alles tun, um deinen Zorn nicht zu erregen«, versprach er. Es war ein Fehler gewesen, Cherzoon wegen dieses Emporkömmlings Mythor, der sich anmaßte, das Erbe des Lichtboten anzutreten, Vorwürfe zu machen. Die Reaktion des Dämons zeigte deutlich, daß er nachtragend war. »Hurtig eilet, Wind und Wellen, tragt gen Norden uns, Gesellen. Unser Ziel liegt weit von hier, südlich, möcht’ ich sagen Logghard zu erreichen, trachten wir, auch Mythor will es wagen.« Der Klang der Laute verhallte im Plätschern des Wassers und dem leisen Säuseln der Lüfte, die von Süden her wehten und Wärme brachten. »Ausgezeichnet, Lamir von der Lerchenkehle, großer Meister der Dichtkunst und des Gesanges. Von Mal zu Mal werden deine Verse besser.« Der derart Angesprochene warf der neben ihm sitzenden Frau einen forschenden Blick zu. Die dunkelhäutige Schönheit lächelte verhalten. »Es ist nicht nett von dir, Buruna, meiner zu spotten«, kam es stockend über des Barden Lippen. Sie tat erschrocken, hob abwehrend beide Arme. »Möge Quyl mich vor solcher Torheit bewahren…« »Offensichtlich tut er dies nicht.« Lamir erhob sich um206
ständlich und starrte auf die Wellen hinab, die sich in schäumender Gischt am Rumpf des Schiffes brachen. In schneller Fahrt eilte die Drache von Leone den Sarro hinunter. Eine Hand strich zärtlich über seinen Nacken. Er konnte nicht widerstehen, zog Buruna, die ehemalige Liebessklavin auf Burg Anbur, eng an sich. »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Niemals würde es mir einfallen, dich zu kränken.« »Niemals?« fragte Lamir zögernd. »Nein«, antwortete sie. »Immerhin begleitest du mich, um Mythor zu suchen.« »Fürwahr.« Der Barde nickte. »Deine Dankbarkeit könntest du mir auch in anderer Form beweisen.« »Schurke!« rief Buruna in gespielter Entrüstung. Aber sie hauchte Lamir einen flüchtigen Kuß auf die Wange, woraufhin er wieder die Saiten seines Instruments schlug. »Oh Göttertrank, oh süßer Seim, du güld’ne Fee im Mondschein…« »Meinst du mich?« wollte sie wissen. »Wen sonst?« flüsterte der Barde. »Gar einen der leonitischen Krieger, die unser Schiff zur Spirischen Bucht lenken?« Buruna konnte nicht anders, sie platzte lauthals heraus. Seit ihrem Aufbruch hatte Lamir sich verändert. War es das ständige Auf und Ab, das ihn trunken machte, oder litt er noch immer an den Folgen des überreichlich genossenen Weines? Der Aufenthalt in Leone, der »Insel des Löwen«, hatte lange gedauert – zu lange für einen rastlosen Barden, dem die Wanderlust im Blut steckte. Burunas Gedanken schweiften ab; sie suchte sich zu erinnern, was in den letzten Wochen vorgefallen war.
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Innerhalb weniger Tage war Mythor entlang der Straße des Bösen weit nach Süden geritten. Die Landschaft, durch die er kam, wurde immer fremdartiger. Des Tags glühte der Himmel in einem unwirklichen Rot, gleich dem Schein einer fernen Feuersbrunst; während der Nacht lockte ein Silberstreif am Horizont. Der Helm der Gerechten wies ihm den Weg, führte ihn sicher durch einen Urwald, himmelan wachsender Pflanzen. Aber allmählich kam Finsternis auf und überzog das Land mit dem Hauch des Bösen. Seine Tiere warnten Mythor davor, weiter ins Unbekannte vorzudringen. Er achtete nicht auf sie, sondern folgte Luxons Spur, der ihm am Baum des Lebens zuvorgekommen war. Und dann schossen Lianen aus dem dichten Laubwerk herab. Wie Schlangen wickelten sie sich um seinen Körper, rissen ihn aus dem Sattel. Pandor wieherte erschreckt auf und stob davon. Unfähig, sich zu bewegen, mußte Mythor es geschehen lassen, daß mannsgroße, grell gefärbte Blütenkelche sich ihm entgegenstülpten. Ein flüchtiger Blick in ihr Inneres zeigte ihm die bleichen Skelette unzähliger kleiner Tiere. Eine fleischfressende Pflanze… Der Sohn des Kometen bäumte sich auf, suchte verzweifelt, der tödlichen Umschlingung zu entkommen. Aber die Lianen zogen sich nur noch fester und preßten ihm die Luft aus den Lungen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, tasteten schleimige Blütenblätter über seinen Körper. Von irgendwo jenseits des dichten Laubdaches erklangen Flügelschlag und der heisere Schrei des Schneefalken. Doch Horus konnte nicht helfen. Ein höllisches Brennen zog sich durch Mythors Beine, strahlte bis in seinen Brustkorb aus und in die Arme. Fast völlige Dunkelheit umfing den Kämpfer des Lichts. Beizender Gestank, der ihm entgegenschlug, nahm ihm den Atem und ließ seine Augen tränen. Eine zähe, klebrige Flüssigkeit tropfte auf ihn herab. Mythor bäumte sich auf, schlug um sich. Aber seine Fäuste trafen nur zähes, schwammiges Gewebe, das ihnen auszuweichen 208
schien. Endlich gelang es ihm, Alton aus dem Gürtel zu ziehen. Kaum in der Lage, das Schwert zu halten, führte er einen Streich gegen die Wandung seines Gefängnisses. Zischend drang die Klinge durch die Blütenblätter… Ein dröhnendes Pochen wurde laut. War es sein Herzschlag, der ihm die Schläfen zu zersprengen drohte? Mythors Arm fiel kraftlos zurück. Da war es wieder. Drängender diesmal – ungeduldig. Jemand schlug mit der Faust gegen eine Tür. Abrupt verschwand alles, was eben noch bedeutend gewesen. Buruna blinzelte, sah über sich eine weiß getünchte Decke, nicht den undurchdringlichen Wald, und verstand. Mit einem erschreckten, heiseren Ausruf schwang sie sich von ihrem Lager. Der Alptraum wich nur zögernd von ihr. »Wer ist da?« rief sie mit zitternder Stimme. »Ich bin es, Lamir. Mach auf, Buruna, schnell!« »Mitten in der Nacht? Viliala wird mir die Augen auskratzen, wenn sie davon erfährt.« »Ich flehe dich an, öffne! Es geht um Leben und Tod.« »Mythor?« platzte sie heraus. »Sag, ist ihm etwas zugestoßen?« Zögern. Dann, um vieles hastiger: »Ich weiß es nicht; ich habe keine Kunde vom Kometensohn. Aber ich weiß sehr wohl, was geschehen wird, wenn du mich nicht sofort einläßt. Viliala wird nicht dir die Augen auskratzen, sondern mir, und das mit einer Gründlichkeit, die mich schaudern macht.« »Es sei denn.« Laut seufzend erhob sich Buruna und schob den schweren hölzernen Riegel zur Seite. Lamir stieß die lür mit einer solchen Hast auf, daß die Liebessklavin zurückgeschleudert wurde und auf ihr Lager fiel. Kopfschüttelnd sah sie ihm zu, wie er den Riegel wieder vorlegte. »Du Narr«, murmelte sie. 209
»Ja«, der Barde wandte sich zu ihr um, »du magst recht haben, ein Narr, das bin ich. Aber dich allein trifft die Schuld an meinem Verderben.« Seine Augen weiteten sich, als er Buruna anblickte. Erst jetzt wurde sie sich ihrer völligen Nacktheit bewußt. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff sie nach einem Tuch, mit dem sie notdürftig ihre Blößen bedeckte. »Ist es gar zu Ende zwischen dir und der Königstochter? Eine Romanze, die so glücklich begann…« »Pah!« machte Lamir. »Du hast mich in diese Sache hineingeritten, nun sieh zu, wie du mich da wieder herausholst!« Buruna ließ sich auf das Lager zurücksinken. Aus ihrem Antlitz sprach der Schelm. Selten hatte sie den Barden derart aufgeregt gesehen. »Der Liebeszauber sollte längst abgeklungen sein«, stellte sie fest. »Das ist es ja«, trumpfte Lamir auf. »Ich kann Viliala nicht mehr ausstehen, aber sie stellt mir nach. Wo immer ich hingehe, sie ist schon vor mir dort; was ich auch tue, sie zwängt sich neben mich und beißt mich ins Ohr.« »Tragisch!« Buruna nickte und mußte die Arme auf ihren Leib pressen, um nicht lauthals herauszuplatzen. Genau das hatte sie nämlich vorausgesehen, und seit mindestens zehn Tagen fiel ihr auf, daß die Königstochter mit aller weiblichen Raffinesse dem Barden nachstellte. »Fürwahr«, sagte er. »Mir deucht, Viliala hat sich in mich verliebt.« »… und sie beißt. Noch dazu ins Ohr. Bald wirst du deinen Gesang nicht mehr hören können.« Lamir stutzte, winkte jedoch gleich darauf ab. Es war ihm bitterernst. »Gewähre mir Obdach!« verlangte er. »Zumindest das bist du mir schuldig.« »Du willst also mit mir in dieser engen Kammer bleiben, womöglich gar das Bett teilen?« 210
»Hm«, machte der Barde. »Das wird wohl nicht gehen.« »Mitnichten«, pflichtete Buruna bei. »Wie würdest du singen: Im Rausch der Sinne war ich gefangen, drum mitgegangen, mitgehangen.« Lamir ließ sich neben ihr auf das Lager sinken. Er sah aus, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Die Liebessklavin schwieg ebenfalls. Sie ahnte, daß schon ein Wort mehr zuviel gewesen wäre. Nach einer Weile erklang von draußen lautes Rufen. Es waren mehrere Stimmen, die sich gegenseitig zu übertreffen suchten. Der Barde zuckte zusammen. »Das ist sie«, stammelte er. »Sie wird mich finden und mit Liebkosungen überhäufen!« Schritte kamen näher. Lamir stimmte eine Ballade an, deren trauriger Inhalt bereits nach den ersten Sätzen offenbar wurde. »Still!« mahnte Buruna. Aber er achtete nicht auf sie. »Nun ist alles aus, oh Jammer, oh Graus…« Die Frau huschte zur Tür, preßte ein Ohr gegen das Holz. »Hörst du, was sie rufen? Es ist ein Name.« »Meiner sicherlich.« »Nein.« Buruna zögerte. »Lerreigen – König Lerreigen ist zurückgekehrt.« Vor Erregung stammelte sie. »Das… das kann bedeuten, daß auch Mythor wieder in Leone weilt. Das muß ganz einfach so sein, er… Mythor!« »Bleib!« schrie Lamir, doch sie hörte nicht auf ihn, riß den Riegel zurück und verließ die Kammer, bevor der Barde bei ihr war und sie daran hindern konnte. 211
Im selben Augenblick bemerkte er das Mädchen, das soeben im Begriff gewesen war, anzuklopfen. Ihre Augen weiteten sich in jähem Erstaunen, als sie gleichfalls seiner ansichtig wurde. »Lamir, Liebster«, hauchte sie. Aber dann schoß ihr die Zornesröte ins Gesicht, als sie der noch immer nur dürftig bekleideten Buruna hinterherblickte. »Du Schuft«, kreischte sie. »Du hinterhältiger Schwindler. Meine Liebe, meine Zärtlichkeit fliehst du, und bei ihr, diesem Weib, dieser Dirne… Ich werde dir zeigen, daß auch ich feurig zu küssen verstehe.« Es war für Lamir zu spät, die lür zuzuschlagen. Mit wehenden Haaren eilte Viliala auf ihn zu. Da half es ihm auch nicht, daß er ein altes Kampflied anstimmte. Das Mädchen ließ sich selbst dadurch nicht abschrecken. Ihre heißen Lippen erstickten seinen Gesang.
Der Totgeglaubte war zurückgekehrt. Er, von dem es hieß, er sei im Hochmoor von Dhuannin den Spiegeltod gestorben, ritt in Leone ein, als kehre er lediglich von einem Jagdausflug zurück. Der Rote Löwe hatte es verstanden, den Dämonenpriestern zu trotzen. Das Tier, das ihn über die Stadtgrenze trug, war kein anderes als Mythors Einhorn Pandor. Und Bitterwolf und Schneefalke begleiteten ihn. Selbst das äußere Zeichen von Lerreigens Würde, der Königssattel, fehlte nicht. Buruna erstarrte. Ein großer, muskelbepackter Mann ritt durch die Menge, dessen Haupt eine wahre Löwenmähne zierte und dessen Gesicht fast zur Gänze hinter einem dichten roten Vollbart verschwand. Sie glaubte, das Herz müsse ihr stehenbleiben, als sie Mythors Tiere diesem ihr völlig Fremden willig folgen sah. »Hark!« rief sie. »Komm her!« Der Bitterwolf verharrte, zog die Lefzen hoch und ließ ein 212
drohendes Knurren vernehmen. Aber schließlich hetzte er auf die Frau zu und kauerte sich mit zitternden Flanken vor ihre Füße. »Brav«, murmelte Buruna, während sie dem Wolf das Fell kraulte. Sie hätte schreien können voll böser Vorahnung – nur ein letzter Rest von Selbstbeherrschung hinderte sie daran. »Wo ist dein Herr? Was ist geschehen?« Hark hechelte und blickte sie aus seinen klugen Augen unverwandt an. Dann sprang er auf, lief Lerreigen entgegen, ließ ein langgezogenes Heulen vernehmen und kam wieder zu ihr zurück. Mittlerweile hatten sich mehrere hundert Leoniter eingefunden, die ihrem König begeistert zujubelten. Doch er stieg ab und schritt auf die ehemalige Sklavin zu. »Deine Schönheit wäre wirklich einer Prinzessin würdig«, sagte er. »Man hat mir nicht zuviel versprochen. Diese edlen Züge, dazu die dünnen Zöpfe, die dir bis weit über die Schultern fallen. Auch wenn Hark dich nicht so stürmisch begrüßt hätte, müßte ich wissen, daß du Buruna bist.« Ein Schimmer der Hoffnung huschte über ihr Antlitz. So sprach niemand, der den Sohn des Kometen besiegt, ob im Kampf oder hinterrücks niedergestochen, war dabei egal. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, daß Mythor sich freiwillig von seinen Tieren trennte. »Wo ist er?« platzte sie heraus. »Du meinst den Kämpfer der Lichtwelt«, stellte Lerreigen ungerührt fest. Buruna konnte nur hastig nicken. »Ich weiß es nicht. Allein sein Ziel ist mir bekannt. Möglich, daß er ihm inzwischen nahe ist.« »Wohin wollte er? Sprich, schnell, und spanne mich nicht unnütz auf die Folter.« »Nach Logghard, der ewigen Stadt tief in der Düsterzone. Er 213
sucht den siebten Stützpunkt des Lichtboten.« »Und Pandor, Hark und Horus, weshalb bringst du sie zurück?« »Mythor bat mich darum. Er meinte, die Tiere gehörten ins verwunschene Tal und er wisse sie zu finden, wenn er ihrer bedürfe.« »Also lebt er noch, und ich weiß, wohin ich ihm folgen kann.« »Du willst nach Logghard?« machte Lerreigen überrascht. »Dann frage ich mich, ob ich deinen Mut bewundern soll oder deinen Leichtsinn. Die ewige Stadt ist die am weitesten südlich gelegene Bastion der Lichtwelt; sie wird seit Jahrhunderten von den Mächten der Finsternis berannt. Schlage dir das aus dem Kopf. Du würdest in den Wirren der Kämpfe untergehen.« »Ich weiß mich sehr wohl zu behaupten.« »Das will ich nicht abstreiten. Aber Logghard ist ein Schmelztiegel aller Völker, man findet lichtscheues Gesindel dort ebenso wie mutige, das Abenteuer suchende Krieger. Bleibe hier in Leone und warte auf die Rückkehr des Kometensohnes. Mein Angebot gilt selbstverständlich auch für den Barden Lamir.« »Nein«, stieß Buruna hastig hervor. »Das mag ein Jahr dauern oder länger. Nun, da ich weiß, wo er ist, kann nichts und niemand mich zurückhalten. Mein Entschluß steht fest. Ich sagte Mythor, daß ich ihm bei der erstbesten Gelegenheit folgen würde.«
Immer schneller glitt das Schiff auf den Fluten des Sarro dahin, der durch mehrere Zuflüsse inzwischen zu einem beachtlichen Strom angeschwollen war. Aus der Ferne ertönte ein allmählich lauter werdendes Rau214
schen. »Was ist das?« wollte Buruna von Morkem wissen, dem Anführer der zwölf leonitischen Krieger, die König Lerreigen zu ihrer und Lamirs Begleitung abgestellt hatte. »Wir nähern uns den Stromschnellen, die den Unterlauf des Flusses vom Golf von Aspira abgrenzen«, lautete die Antwort. »Manchmal, wenn die Flut besonders hochsteigt, dringt sie bis an jene Felsen vor und überschwemmt das Land zu beiden Seiten.« »Dann werden wir unser Ziel bald erreichen?« »Es ist nicht einfach, während der Nacht entlang der Küste zu segeln. Aber wenn der Wind günstig steht, erreichen wir den Hafen von Parcon am frühen Morgen oder Salmacae gen Abend.« Die Sonne schickte sich an, im Westen im Meer unterzutauchen. Blutrot färbten ihre Strahlen den Himmel, während über den fernen Bergen des Karsh-Landes bereits die Dämmerung heraufzog. Wie die drohend erhobenen Fäuste eines Riesen tauchten die ersten Felsen aus dem Wasser. Das Schiff glitt mit gerefftem Segel dahin, lautlos, als flöge es über den Wellen. Die Strömung trug es weiter in die Flußmitte. Irgendwo knarrten Riemen, scheuerten Decksplanken gegeneinander. Eine merkwürdig bedrückte Stimmung breitete sich aus. Immer mehr Riffe konnte Buruna erkennen, an denen sich die Fluten hoch aufschäumend brachen. Obwohl der Rudergänger genau zu wissen schien, wo die Fahrrinne verlief, und trotz des auffrischenden Windes begann die Liebessklavin zu schwitzen. Selbst Lamir verstummte. Beide spürten sie die Gefahr, die vor ihnen lauerte.
Der Rote Löwe hatte es nicht vermocht, Buruna von ihrem 215
einmal gefaßten Vorhaben abzubringen. In dieser Hinsicht erwies sie sich als mindestens ebenso störrisch wie ein Maulesel. Und Lamir pflichtete ihr mit einem Nachdruck bei, der seinesgleichen suchte. In den vergangenen Tagen hatte Viliala sich zwar überraschend oft in Lerreigens Nähe aufgehalten und den Barden seltener mit ihrer Liebe bedrängt, er war aber dennoch am Ende seiner Beherrschungskraft angelangt. »Sie ist zu jung«, klagte er Buruna sein Leid. »Auch wenn sie bald sechzehn Lenze zählt, kann und will ich mich nicht auf Dauer binden.« »Sie ist die Tochter eines Königs.« Lamir stockte. »Was nutzen mir Reichtum und Ländereien, wenn die Caer und ihre dämonisierten Priester den Norden mit Finsternis überziehen? Selbst Leone wird nicht auf Jahre hinaus frei bleiben können.« In gewisser Hinsicht mochte er recht haben. Fast stündlich trafen neue Flüchtlinge ein – überwiegend Tainnianer und Ugaliener, um sich in dem verhältnismäßig sicheren Gebiet des nördlichen Salamos niederzulassen. Schon jetzt kam es immer häufiger zu Problemen. Es gab erste Versorgungsschwierigkeiten, die aber durch den großen Fischreichtum des Sarro behoben werden konnten. Allerdings war Lerreigen nicht der Mann, der lediglich von der Hand in den Mund lebte und sich damit zufriedengegeben hätte. Er wußte sehr wohl, welche Völkerwanderung bevorstand, trotzdem nahm er jeden in Leone auf, der darum bat und nicht weiterziehen wollte. Lerreigen kleidete die Neuankömmlinge und speiste sie, er teilte ihnen Arbeit zu und hieß sie, sich am Wiederaufbau der von den dämonischen Pflanzen zerstörten Stadtteile zu beteiligen. Es gab keinen, der nicht mit Freude und Eifer am Werk gewesen wäre. Der König hatte erkannt, wessen die Leute bedurften: eine starke Hand, die sie führte, die ihnen zeigte, daß ihr Leben nicht jeglichen Sinn verloren hatte, daß es für sie 216
noch immer eine Zukunft geben konnte, wenn sie nur Hoffnung hatten und ein Ziel vor Augen, für das Mühen und Entbehrungen sich lohnten. Jagdtrupps verließen den Stadtstaat und kehrten mit reicher Beute zurück. Selbst die Tiere aus den weiten Wäldern Tainnias schienen vor den Mächten des Bösen zu fliehen. Der Tag kam, an dem Buruna und Lamir Abschied nahmen. Lerreigen hatte ihnen von seinen Erlebnissen berichtet und erzählt, was auf den Splittern des Lichts geschehen war, daß Mythor es geschafft hatte, vor seinem Widersacher ins Innerste des Kolosses von Tillorn vorzudringen und den Sonnenschild für sich zu erobern. Auch, daß Luxon dem Sohn des Kometen die Hand reichte und fürderhin an dessen Seite bleiben wollte. Ein Fest wurde gefeiert, das für die Dauer einer Nacht alle Schrecken vergessen ließ. Es war wie ein Aufbäumen, eine Erinnerung an vergangene Zeiten, die so schnell nicht wiederkehren würden. Wein und Bier gab es reichlich, und mancher, der seit mehr als einem halben Mond nur Wasser getrunken hatte, schlief seinen Rausch im Rinnstein aus. Die Leoniter besaßen allen Grund zur Freude. Die Rückkehr ihres Königs zu Beginn des Lenzes und damit dem Anbruch des neuen Jahres war für jeden überraschend und gänzlich unerwartet gewesen. »Ich verdanke Mythor sehr viel«, gestand Lerreigen, als er endlich mit Buruna, Viliala und Lamir ungestört reden konnte. »Wenn ihr ihn findet, sagt ihm, daß er in mir einen Freund gewonnen hat, auf den er jederzeit zählen kann.« »Er wird es wissen«, sagte Buruna. »Pandor, Hark und Horus bleiben vorerst in unserem Lebensgärtchen, das nun wieder erblüht. Später, wenn alles sich beruhigt hat, werde ich sie in das verwunschene Tal zurückführen, wie ich versprochen habe.« »Aber Lamir muß nicht mit nach Süden ziehen.« Vilialas 217
Augen waren sichtbar gerötet. Sie warf dem Barden einen Blick zu, der mehr sagte, als selbst tausend Worte je vermocht hätten. »Weshalb willst du dich unnötig in Gefahr begeben?« »Ich muß. Mythor würde es mir nie verzeihen, wenn ich Buruna allein reisen lasse.« »Ein Dutzend Krieger begleiten sie.« Viliala schluchzte leise. »Der Kämpfer der Lichtwelt ist mein Freund«, sagte Lamir. Eine erste Träne ließ ihn zusammenzucken. Und er tat etwas, das ihn große Überwindung kostete, er strich Viliala sanft übers Haar, ließ seine Finger über ihre samtenen Wangen gleiten. »Ich kann ihn verstehen, mein Kind«, begann Lerreigen plötzlich. »In einer Zeit wie der unseren gibt es für Verliebte nur sehr wenig Platz. Du siehst all das Elend um uns herum. Heute gilt es deshalb, Abschied zu nehmen und zu kämpfen, aber morgen gibt es vielleicht ein Wiedersehen, so die Götter wollen.« Viliala schlang beide Arme um Lamirs Nacken und zog ihn zu sich heran. Ihre Lippen berührten die seinen in einem leidenschaftlichen Kuß. »Liebling«, hauchte sie, »versprich mir, daß du zurückkehrst, sobald du die Möglichkeit dazu hast.« Lamir löste sich sanft, doch nachdrücklich aus ihrer Umschlingung. Er sah den Schalk in Burunas Zügen und stimmte ein Lied an, das von den unsterblichen Täten längst vergangener Helden kündete. »Hier, nimm dies!« Viliala legte ihm ein goldenes Kettchen um den Hals. »Das Amulett soll dich schützen und stets an mich erinnern.« Lamir sah sie lange an, dann griff er nach einem vollen Becher Wein und leerte diesen in einem Zug. Daraufhin wurde ihm leichter zumute. Ein Krug machte die Runde. Bereits nach dem nächsten tiefen und hastigen Schluck glaubte der Barde zu fliegen, höher 218
und höher den Wolken entgegenzuschweben. »Vi… Viliala«, murmelte er und schlug dazu die Saiten seiner Laute, als gelte es, einen Wettstreit zu gewinnen. Daß Buruna ihm heimlich den Becher wegziehen wollte, bemerkte er wohl. »Nein«, krächzte er. »Der bleibt hier!« Sein Blick bekam etwas Unstetes, Flatterhaftes. Vielleicht, weil die Königstochter sich anschmiegte. Lerreigen lachte. »Ihr sollt nicht mit leeren Händen ziehen«, verkündete er. »Die Drache von Leone, die euch zu einem der nächsten Häfen bringen wird, trägt kostbare Fracht. Geschmeide für dich, Buruna, und wertvolle Waffen, meisterhaft geschliffene Klingen.« Die dunkelhäutige Schönheit schüttelte den Kopf. »Das sind Dinge, die du dringender benötigst. Niemand weiß, ob am Ende unserer Reise Schmuck noch irgendeinen Wert besitzt.« »Nimm ihn«, beharrte der König, »und sieh es als Versuch an, einen kleinen Teil meiner Schuld abzutragen.« Bis der Schein des Mondes verblaßte, tranken sie miteinander. Dann wankten sie zu dem wartenden Schiff. Lamir konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und nahm es hin, daß Buruna und Viliala ihn stützten. Erst viel später erinnerte er sich, daß die Königstochter seinetwegen Tränen vergoß.
Drudin trieb uns unbarmherzig vorwärts. Wir schliefen selten, und wenn, dann auf den Rücken unserer Pferde. Zum wiederholten Male fragte ich mich, woher die zotteligen Mammuts die ungeheuren Kräfte nahmen, den offensichtlich überaus schweren Wagen Tag und Nacht mit niemals erlahmenden Bewegungen zu ziehen. Wahrscheinlich war es Magie. Das Gelände wurde morastiger. Aus winzigen Erdspalten quollen schweflige Dämpfe, die das Atmen zur Qual machten. 219
Meine Augen begannen zu tränen. Bald sah ich nur noch verschwommen, wohin ich ritt. Und wie mir erging es auch den Hunderten anderer Krieger. Ich hörte ihr Rufen, vernahm das Schnauben ihrer Pferde. Weiter, unaufhaltsam, einem unbekannten Ziel entgegen. Die Landschaft war mir fremd. Wo auf der Insel öffnete sich die Erde bis an die Pforten der Unterwelt? Aber vielleicht hatte ein fallender Himmelsstein alles verändert. Wir kamen an Bäumen vorbei, die ein mächtiger Sturm geknickt zu haben schien. Sie wiesen alle in dieselbe Richtung, und ihre Nadeln waren noch grün und zeigten keine Anzeichen beginnender Dürre. Bis an die Achsen versank der Wagen im aufgeweichten Boden. »Faßt mit an! Vorwärts, bewegt euch!« Ich erkannte Rhongor und Donahm in den beiden Priestern, die neben mich traten. Ich mußte absitzen und bekam einen Platz am Ende des Wagens zugewiesen. Während der Schlamm sich schmatzend bis über meine Knie hochzog, stemmte ich mich mit aller Kraft gegen das Holz. Wie jeder andere auch gab ich mein Letztes. Unendlich langsam mahlten die Räder. Obwohl sie sich nur wenige Handbreit vorwärts bewegten, floß mir der Schweiß in Strömen über den Körper. Aber ich wagte nicht, in meinen Anstrengungen nachzulassen. Ein einziger Wink Drudins hätte genügt, mich zu töten. Jemand fluchte erbärmlich. An der Stimme erkannte ich Tramin. »Warum nutzen sie nicht ihre Magie, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen?« »Still!« zischte ich erschrocken. »Willst du dich um Kopf und Kragen bringen?« Die Priester mochten ihre Gründe haben, wenn sie uns die Arbeit tun ließen. Wir kamen kaum voran. Weit vor uns war ein waberndes Glühen wie Wetterleuchten. Drudin lenkte die Mammuts dar220
auf zu. Endlich wurde der Boden wieder fester. Ich zitterte, aber ich war erleichtert. Unmittelbar vor meinem Gesicht hing ein Zipfel des schwarzen Tuches. Und keiner der Priester befand sich in meiner Nähe. Ein wahnwitziger Gedanke schlug mich in seinen Bann. Im Lauf vieler Tage waren immer neue Gerüchte entstanden, was es mit dem verhüllten Stein für eine Bewandtnis habe. An mir lag es, das herauszufinden. Zögernd streckte ich eine Hand aus… Was konnte schon geschehen? Keiner von uns hatte den Stein jemals unverhüllt gesehen, wir hatten nur gehört, daß er schwarz sei wie die Nacht, wenn Wolken die Sterne verhüllten und der Mond nicht über den Rand der Welt heraufstieg. Barg er gar unermeßlichen Reichtum, unvorstellbare Schätze? Mit einemmal fror ich, mein Arm wurde schwer. Die Welt um mich herum versank in Bedeutungslosigkeit; nur schattenhafte Umrisse drangen noch an meine Augen. Ich starrte das Tuch an, es bewegte sich leicht. Meine Finger wurden taub und gefühllos. Ich spürte meinen Arm bis hinauf zum Ellbogen nicht mehr. In jäh aufwallendem Entsetzen blickte ich auf den blutigen Stumpf, der von meiner Schulter herabbaumelte. Ich begriff nicht, was ich sah, hatte keine Schmerzen. Und doch fehlte meine rechte Hand. Schlagartig wurde mir klar, was ich getan hatte. Welch unermeßlicher Frevel. Nie wieder würde ich ein Schwert führen können. Meine Beine versagten ihren Dienst, ich stürzte, schlug der Länge nach hin. Feuchtes, vom Tau benetztes Gras kühlte mein Gesicht. Ich schrie, bäumte mich auf gegen das Schicksal, das mich für immer zum Krüppel gemacht hatte. Was war das Leben nun wert für mich? Der Tod auf dem Schlachtfeld wäre wenigstens ehrenvoll gewesen. »Steh auf!« Vor mir stand einer der Priester. Ein fahles Leuchten schien 221
ihn zu umspielen. »Töte mich, mein Leben ist verwirkt.« Ohne daß ich etwas daran ändern konnte, kamen diese Worte aus meinem Mund. »Du wirst nicht sterben, keiner von euch. Jedenfalls nicht in Tainnia. Und nun folge den anderen und fordere nicht Cherzoons Zorn heraus.« Der Priester deutete zum Horizont, wo der Lichtschein greller geworden war. »Dir ist nichts geschehen«, sagte er. »Aber hüte dich in Zukunft davor, dem Schwarzstein zu nahe zu kommen.«
Donnernd brachen sich die Fluten an den Stromschnellen, hoch spritzte das Wasser zwischen den Felsen auf. Das kleine Schiff gehorchte dem Ruder kaum noch. Ein hohles Klagen hallte über den Sarro. »Mögen die Götter uns beistehen!« rief einer der Krieger aus, und in seinem Gesicht zeichnete sich blankes Entsetzen ab. »Wer den Ruf der Flußgeister vernimmt, wird sterben.« Eine Mauer schien vor ihnen aufzuwachsen, scharfkantige Kliffe, die mühelos den Rumpf eines Schiffes aufschlitzen konnten. Die Drache von Leone schoß pfeilschnell darauf zu. Buruna schrie. Im allerletzten Moment erkannte sie die schmale Durchfahrt, die sich vor ihnen auftat. Weit holte das Schiff über; die Decksplanken ragten plötzlich schräg in den Himmel. Unmittelbar vor den Felsen hatte sich ein Strudel gebildet, dessen Gewalten die Drache herumwarfen. Holz schrammte mit gräßlich kreischendem Geräusch über Stein. Buruna hatte das Gefühl, ihr Magen wolle sich umstülpen. Jeden Moment wartete sie auf den vernichtenden Aufprall und darauf, daß sie hilflos in den tosenden Fluten versinken würde. Ihre Gedanken weilten bei Mythor. Nie würde sie ihn wiedersehen, seine zärtlichen Hände auf ihrer Haut spüren… Eine riesige Welle schlug über ihr zusammen, nahm ihr den 222
Atem und drohte sie mit sich zu reißen. Buruna streckte die Arme aus, um sich festzuklammern. Sie kämpfte dagegen an, daß all ihre Träume und Hoffnungen mit einem Schlag zunichte wurden. Dann war alles vorüber. Sie hörte wieder die Stimmen ihrer Begleiter; hinter ihr wurde das Tosen der Stromschnellen leiser. Die Drache von Leone trieb in ruhigerem Wasser dahin. Sie lag quer vor der Strömung, gehorchte dem Ruder nicht mehr. Schlingpflanzen hielten die Taue in festem Griff. Buruna wandte sich um und – erschrak. Ein düsteres Glimmen lag über dem Fluß. Zwischen den Klippen ragten schwarze Felsen auf, von denen eine deutlich spürbare Gefahr ausstrahlte. »Wir sollten den Göttern danken, daß wir noch leben«, hörte die Frau jemanden sagen. »Was immer es ist, es hat die alte Fahrrinne fast völlig verschlossen. Ein größeres Schiff als das unsere muß unweigerlich zerschellen.« »Hast du gesehen?« fragte ein anderer. »Die Felsen sind wie erstarrte Schlacke, rauh und scharfkantig. Ich glaubte, zwischen zwei gigantischen Mühlsteinen zerquetscht zu werden.« »Das Böse wohnt ihnen inne.« »Ein Versuch der Caer, dem nördlichen Salamos den Zugang zum Meer abzuschneiden?« »Möge Quyl sie auf ewig verdammen, diese Bestien in Menschengestalt.« »Hätte er das nicht längst getan, besäße er wirklich die Macht dazu? Ich sage dir, Bratford, die Dämonen der Caer sind stärker als unsere Götter.« »Lästere nicht, Yonker!« Erschrecken und Furcht schwangen in der Stimme des Kriegers mit. »Du beschwörst sonst großes Unheil herauf.« »Ach was. Das einzige Unheil ist das verklemmte Ruder. Je223
mand muß ins Wasser und die Pflanzen lösen. – ich werde das tun.« Yonker zog sein Schwert aus der Scheide, griff nach einem der am Mast befestigten Taue und schwang sich über Bord. Die Strömung drückte ihn gegen den Rumpf des Schiffes. Er verschwand aus Burunas Sichtfeld, kam aber kurz darauf auf der anderen Seite prustend und spuckend wieder hoch. Die Klinge in seiner Rechten behinderte ihn merklich, dennoch näherte er sich mit raschen, weit ausholenden Schwimmstößen dem Heck. Yonker erreichte das Ruderblatt, tauchte erneut unter. Verzerrt ließ die Wasseroberfläche seinen Schatten erkennen. Erste Pflanzenstrünke lösten sich und wurden davon-gespült, dann begann der Sarro an dieser Stelle zu brodeln. Als der Leoniter an die Oberfläche kam, um Luft zu holen, ringelten sich schenkelstarke Äste auf ihn zu. Doch die schwungvoll geführte Klinge durchtrennte sie in rascher Folge. Da schien sich das Wasser aufzuwölben; ein mächtiger, nachtschwarzer Körper tauchte aus den Fluten empor. Dürre, lange Beine tasteten nach dem Schiff. Jemand an Deck schrie, als er die Gefahr erkannte. Yonker wirbelte herum, sein Gesicht verzerrte sich zur Grimasse. Kaum zwei Mannslängen von ihm entfernt lauerte eine riesige Spinne. Er riß das Schwert hoch. Ein Speer verfehlte das Ungeheuer, das sofort zum Angriff überging. Blitzende Kieferzangen schlugen krachend aufeinander. Der Krieger kämpfte tapfer. Während er sich mit der Linken an den Tauen festhielt, die zum Ruder führten, stieß er mit der Waffe immer wieder zu. Es gelang ihm, zwei Beine unmittelbar über dem unteren Gelenk abzutrennen, aber die Spinne schien den Verlust nicht einmal wahrzunehmen. Schabend glitten ihre gepanzerten Gliedmaßen über die Bordwand. Das Schiff schaukelte wie bei heftigem Seegang. Teile der Aufbauten splitterten. 224
Lamir war bleich geworden. Abwehrend hielt er die Laute von sich, während er in der Kiste mit Lerreigens Geschenken nach einer Waffe suchte. »Das… das ist eine der Bestien, die das Meer der Spinnen unsicher machen. Aber ich verstehe nicht, wie sie in diese wärmeren Gefilde gelangte.« »Was ist noch so, wie wir es gewohnt sind?« rief Buruna ihm zu. Geschickt wich sie einem auf sie zuschnellenden Bein aus. Morkem ließ sein Schwert herabsausen und trennte die scharfen Klauen ab. Ein Schwall rötlichen Blutes ergoß sich aus der Wunde. »Auf das Ufer zuhalten! Wir müssen in flacheres Wasser kommen.« Tief drückte das Gewicht der Riesenspinne die Drache von Leone in die Wellen, während das Untier sich gleichzeitig immer weiter an Deck zog. Ein gellender Schrei hallte über den Sarro und brach sich in schaurig verzerrtem Echo an den aufragenden Ufern. Die Spinne hatte sich ihr erstes Opfer geholt, das nun hilflos in ihren Fängen zappelte. Die Taue, die das Ruderblatt hielten, zerfetzten unter ihrem Biß. »Quyl…« Buruna schlug die Hände vors Gesicht, als die Beißzangen sich malmend schlossen. »Er hat die Götter verdammt«, stammelte sie. »Mögen sie ihm dennoch gnädig sein.« »Hier!« Lamir warf ihr ein Schwert mit schmaler Klinge zu, das sie geschickt auffing. Die Sonne, die fast schon im Meer versunken war, verschwand zur Gänze hinter treibenden Wolkenschleiern. Die Schatten verschmolzen miteinander zu einem diffusen Dunkel, das es schwermachte, den schnellen Bewegungen der Spinne zu folgen. Die Luft war erfüllt vom Rufen und dem Keuchen der Krieger, vom Bersten einzelner Planken und dem Klingen der Waffen, wenn diese auf den Panzer des Tieres trafen. 225
Das Schiff drehte sich steuerlos und trieb dem rechten Ufer entgegen. Dann – mit einem heftigen Ruck – lief es auf. Weit hob sich die hölzerne Galionsfigur aus dem Wasser. Buruna verlor den Halt. Während sie über das plötzlich schräg stehende Deck rutschte, hielt sie das Schwert fest und konnte deshalb nicht verhindern, daß sie mit dem Kopf hart gegen die Heckaufbauten schlug. Die Leoniter, die sich am Mast oder an den Tauen festgeklammert hatten, standen unverhofft einer Riesenspinne gegenüber, die sich vollends an Bord zog und deren Gliedmaßen das aufgerollte Segel zerfetzten. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne färbten den Himmel gülden. In den Fluten des Sarro spiegelte sich das grausige Geschehen. Wieder wurde ein Krieger das Opfer der gierig ausgestreckten Klauen. Mit dem Schwert in der Hand versuchte Buruna, sich der Bestie zu nähern. Aber sie glitt auf den verschmierten Planken aus. Ein dichtbehaartes Beinpaar beendete ihren erneuten Sturz. Ehe die Frau es sich versah, hatte sie die Klinge verloren. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte weder schreien noch sich gegen das, was unweigerlich folgen mußte, zur Wehr setzen. Lamir versuchte, ihr zu Hilfe zu kommen, aber eine einzige Bewegung des Ungeheuers schleuderte ihn kopfüber in den Fluß. Tückisch glotzende Augen starrten Buruna an. Langsam näherten sich ihr die Beißzangen. Mythor! – Würde er je erfahren, welch unrühmliches Ende sie gefunden hatte, als sie versuchte, ihn wiederzusehen?
Das Glühen vor uns wurde stärker. Wir ritten unmittelbar darauf zu. Je näher wir kamen, desto deutlicher fühlte ich, daß etwas 226
unsagbar Böses auf uns wartete. Selbst die zotteligen Mammuts schienen davor zurückzuschrecken. Aber die Priester trieben sie unnachgiebig weiter. Mein Rappe scheute; es fiel mir schwer, ihn zu zügeln. Die Spuren der Verwüstung um uns her wurden schlimmer. Das Erdreich war wie mit einer riesigen Pflugschar aufgewühlt, und sämtliche Bäume im Umkreis waren entwurzelt und verkohlt. Der Schnitter mußte mit einer feurigen Sense über sie hinweggefegt sein. Das irrlichternde Wabern schien von einem riesigen Felsblock auszugehen, der tief im Boden steckte. Ringsum war die Erde kraterförmig aufgeworfen, und im Innern der so entstandenen Senke brodelte und zischte es. Fontänen heißen Wassers stiegen senkrecht in die Höhe und fielen als feiner Schleier zurück. Bald waren wir alle bis auf die Haut durchnäßt. »Ein Himmelsstein«, murmelte jemand neben mir. Ich konnte nur nicken, sagte nichts dazu. Nie hatte ich am Himmel über dem Inselteil Tainnias die glühende Spur eines fallenden Steines gesehen, wohl aber über dem Festland, wo es oft vorkam, daß die Dämonen in ihrem Zorn Felsen von der Größe eines ganzen Hauses auf die Menschen herabschmetterten. Drudin ritt auf dem Rand des Kraterwalles, das Gesicht hinter der Maske unablässig dem Mittelpunkt der Senke zugewandt. Plötzlich hielt er inne. Sein Rufen verhallte im Brausen eines erneuten Wasserausbruchs. »Cherzoon«, verstand ich, »nimm die Kräfte…« Eine Feuersäule wuchs vor uns auf, mindestens fünf Mannslängen messend. Wie erstarrt saß Drudin auf seinem Pferd. Etwas unbeschreiblich Düsteres schien ihn zu umfangen. Dann endete die Eruption. Aber noch während die letzten Funken erloschen, begann eine undurchdringliche Schwärze 227
den Krater auszufüllen, die sich zusammenballte und wie ein Blitz vor dem Priester einschlug. Gebannt blickte ich auf das Schauspiel, das sich mir bot. Drudin verschwand vor meinen Augen, als hätte er nie existiert. An seiner Stelle gähnte ein Nichts, das mit menschlichen Sinnen keinesfalls zu erfassen war. Ein Heulen hob an, gleich dem Klagen verdammter Seelen. Der Sturm, der mit einemmal über das Land fegte, wirbelte Staub und Asche auf. Die Sonne verdunkelte ihr Angesicht. Quälende Schmerzen ließen mich zusammenzucken; mein Schädel schien bersten zu wollen unter dem Anprall entfesselter Gewalten. So schnell, wie die Schwärze gekommen war, so schnell schwand sie auch wieder. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß Drudin sie in sich aufsog. Gleichzeitig mit diesem Vorgang erlosch das Glühen im Krater. Hatte der Himmelsstein Kräfte geborgen, die auf den Priester übergegangen waren? Schwarze Magie? Ich wußte es nicht. Nur ein Gedanke beschäftigte mich unablässig: In welcher Beziehung stand der Schwarzstein zu Drudin, der nun wieder auf uns zuritt und sein Pferd erst unmittelbar neben dem Wagen zügelte?
So nahe wie nie zuvor sah Buruna ihr Ende vor sich. Doch eine unerklärliche Ruhe und Gelassenheit kam über sie. Der Anblick des weit aufgerissenen Rachens, der Kieferzangen und der Geruch stinkenden Atems riefen nur Übelkeit in ihr hervor. Vielleicht war es besser, schnell zu sterben, als die Qualen und Fährnisse einer immerwährenden Flucht vor den heranrückenden Caer und ihren Dämonen auf sich zu nehmen. Da drang für den Bruchteil eines Herzschlags ein Schwirren an Burunas Ohr. Nur eine Elle trennte sie von den plötzlich 228
zuschnappenden Beißzangen. Da war das seltsame Geräusch wieder. Das Untier bäumte sich auf, ein Zittern durchlief seinen mächtigen Leib. Im Schein einer hochgeworfenen Fackel erkannte Buruna, daß von den tückisch funkelnden, riesigen Augen des Monstrums eines gebrochen war. Aus der Wunde, die ein langschäftiger Pfeil geschlagen hatte, ergoß sich weißliche Flüssigkeit auf das Deck des Schiffes. Unweit der Bordwand fiel die Fackel ins Wasser und trieb noch eine Weile brennend auf den Wellen, bevor sie erlosch. Eine zweite flog in hohem Bogen auf die Drache von Leone zu. Sie verbreitete gespenstisch flackernde Heiligkeit. Wo die Mehrzahl der leonitischen Krieger geblieben war, konnte Buruna nur vermuten. Allein drei von ihnen hielten sich noch immer auf den Beinen und kämpften auf verlorenem Posten gegen die heftig um sich schlagende Spinne. Kurz hintereinander trafen etliche Pfeile ihr Ziel. Einer war mit ölgetränkten, brennenden Lumpen umwickelt, und die aufzuckenden Flammen fanden ausreichend Nahrung in der dichten Behaarung des Spinnenschädels. Das Untier bäumte sich auf; aus seinem Rachen drang ein urweltlicher Schrei. Das Feuer schien ihm offensichtlich Schmerzen zu bereiten, seine Bewegungen wurden unkontrollierter, schwächer. Die Leoniter wußten dies sofort zu nutzen, ihre Schwerter rissen tief klaffende Wunden in die nur von dünnen Schuppenplatten geschützte Bauchseite des Monstrums. Bevor die zweite Fackel erlosch, flammte eine dritte auf. Diesmal hatte Buruna erkennen können, woher sie kam. Auf der Uferböschung, kaum mehr als fünfzig Schritte vom Schiff entfernt, standen Menschen. Einer von ihnen spannte gerade seinen Langbogen, dessen Durchschlagskraft beachtlich war. Immer wieder zuckten die Zangen der Seespinne ins Leere. Dann bohrte sich ein Pfeil in ihren weit aufgerissenen Schlund. 229
Ein letztes Aufbäumen, ein Röcheln… Mit zuckenden Beinstümpfen kippte das Tier zur Seite, versuchte vergeblich, sich auf Deck zu halten. Der Fluß trug den langsam versinkenden Kadaver mit sich fort, hinaus in die Dunkelheit. Morkem kam auf Buruna zu. »Ist dir etwas geschehen?« fragte er, und seine Miene drückte deutlich die Besorgnis aus, die er empfand. »Nein«, antwortete sie. »Aber wo sind der Barde und die anderen?« »Lamir ist hier.« Zögernd schob sich ein blonder, vor Nässe triefender Haarschopf in die Höhe. »Und die Krieger?« »Tummeln sich noch unten im Wasser. Ich denke, sie haben alles ohne nennenswerte Verletzungen überstanden. Nur meine Laute – ich hoffe, ihre Saiten sind nicht gerissen.« Buruna hatte schon eine entsprechende heftige Erwiderung auf den Lippen, da erscholl ein Ruf vom Ufer her: »Ho, ihr auf dem Schiff, hat es euch die Sprache verschlagen? Oder wollt ihr euch nicht bei uns bedanken?« Ohne weiter auf Lamir zu achten, legte Buruna die Hände trichterförmig vor den Mund. »Doch, das wollen wir. Aber sagt uns erst, wer ihr seid. Die Zeiten sind unsicher geworden, und nicht jeder erweist sich als Freund, der dies zu sein vorgibt.« Eine Weile war Stille, dann erklang leises Lachen. »Wahrhaft, du hast recht. Wir sind Flüchtlinge aus Darain und führen bestimmt nichts Böses im Schilde. Wenn wir gewollt hätten, würde keiner von euch mehr leben – unser Bogenschütze versteht es ausgezeichnet, zu treffen.« »Das habe ich bemerkt«, rief Buruna. »Sein Auge beweist auch in der Dämmerung Schärfe.« »Aber woher kommt ihr? Und gibt es bei euch nur Frauen an 230
Bord?« Einer der Krieger übernahm es, darauf zu antworten. »Wir sind Leoniter. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit uns reisen. Beherzte Männer wie ihr sind bei uns immer gern gesehen. Leone soll eine Festung werden gegen die Caer.« »Unser Weg führt weiter gen Süden«, kam die Antwort. »Nichts kann uns in diesem unwirtlichen Land halten. Ihr habt eben selbst erlebt, daß das Grauen auch hier schon Fuß faßt. Die Spinnenmonster haben sich früher nie weiter als bis in die Straße der Nebel vorgewagt, dabei erlegten wir heute schon das zweite Tier.« »Zwei?« »Ja. Aber ich glaube, es ist unnötig, daß wir uns schreiend miteinander unterhalten. Laßt uns an Bord kommen.« Der Leoniter sah Buruna fragend an. Sie nickte. »Einverstanden.« Auf dem Schiff wurden etliche Öllampen angesteckt. Es dauerte nicht lange, da kamen fünf verwegen dreinblickende Männer an Bord. Sie trugen nur ihr Unterzeug, die dicke Fellkleidung hielten sie zu Bündeln verschnürt in Händen. »Wir frieren nicht gern in nassen Kleidern«, erklärte einer von ihnen, augenscheinlich der Anführer der kleinen Gruppe. »Die Nacht verspricht kalt zu werden.« Während sie sich dann anzogen, musterte er Buruna, die nach alter Manier das Hemd über ihrer Brust geöffnet hatte. »Du bist zu schön«, sagte er, »um einem tölpelhaften Caer in die Hände zu fallen. Ein solches Schicksal hättest du wahrlich nicht verdient. Ziehe mit uns, wir werden dich zu beschützen wissen.« »Wer ist dieser namenlose Krieger?« wandte Buruna sich an einen der Leoniter. »Verzeih, Lady«, platzte der Mann aus Darain sofort heraus und vollführte eine ungelenke Verbeugung. »Mein Name ist Golert. Es lag nicht in meiner Absicht, den Mut deiner Freun231
de zu schmälern, aber für eine Frau wie dich ist es gefährlich, gen Norden zu reisen.« »Du irrst. Ich suche nur ein schnelles Schiff, das mich über das Meer des Blutes zur Düsterzone trägt.« »Zur Wiege des Bösen willst du? Man sagt, daß vom Ende der Welt alles Unheil über uns kommt.« Buruna tat den Einwand mit einer einzigen Handbewegung ab. »Ich sehe«, ließ sie nach einer Weile des Schweigens vernehmen, »unsere Wege werden sich wieder trennen. Auf jeden Fall danken wir euch für euer Eingreifen.« »Ihr segelt nach Parcon?« »Und von dort aus weiter, denn die Winde stehen günstig.« »Macht es wie wir. Sucht euch in Rukor oder den Heymalländern eine neue Heimat. Das ist weit genug von allen Schlachtfeldern entfernt.« »Für wie lange? Für ein Jahr, vielleicht auch zwei?« Buruna erhielt keine Antwort auf ihre Frage. Allerdings war ihr nicht entgangen, daß Golert heftig zusammenzuckte. »Ihr haltet euch länger an diesem Fluß auf?« wollte Morkem wissen. »Wir sahen drei Sonnenuntergänge von jenem Ufer.« »Dann wißt ihr sicher zu sagen, ob weitere Spinnenungeheuer den Sarro unsicher machen.« »Andere scheinen den Weg flußaufwärts noch nicht gefunden zu haben.« »Also ist es besser, wenn wir bald das Segel setzen und Kurs aufs offene Meer nehmen.« »Wir werden euch helfen, das Schiff vom Grund zu ziehen«, bot Golert an. »Nur wenn alle Völker zusammenhalten, können wir gegen die gemeinsame Gefahr bestehen.« »Ich wollte, sie hätten dies früher erkannt«, ließ sich jetzt Lamir vernehmen. »Dann wären die Caer schon vor Elvinon zurückgeschlagen worden und das Hochmoor von Dhuannin 232
wäre für immer vom Klang der Waffen verschont geblieben.« Zwei Handbreit wanderte der Mond am Himmel weiter, bis die Drache von Leone wieder Wasser unter dem Kiel hatte und ihr Ruder neu vertäut war. Golert und seine Männer ließen sich mit ihren Pferden ans andere Ufer übersetzen – ein Wunsch, den Buruna ihnen gern erfüllte. »Werden wir uns wiedersehen?« rief der Darainer zum Abschied. »Ich glaube nicht. Es sei denn Quyls Wille.« Der Wind bauschte das notdürftig geflickte Segel und trieb das Schiff immer schneller vor sich her. Allmählich wurde der Fluß breiter – ein deutliches Zeichen, daß man sich seiner Mündung näherte. Ein fahles, kaltes Licht lag über dem Land. Hin und wieder waren in einiger Entfernung von den Ufern vereinzelte Pueblos der Sarronen, der Ureinwohner von Salamos, zu erkennen. Aber kein lebendes Wesen zeigte sich. Dann verblaßte der Mond am Ende seines Laufes, lange Zeit bevor die Sonne jenseits der Karsh-Berge neu geboren wurde. Nur noch der funkelnde Schein einiger Sterne lag auf dem Wasser. Der Sarro vereinte sich mit den Fluten des Ozeans. Schräg zu den auflaufenden Wellenkämmen schnitt die Drache von Leone durch die aufspritzende Gischt. Die Küste war felsig und von gefährlichen Untiefen durchzogen, die schon manchem Schiff zum Verhängnis geworden waren, das sich zu nahe unter Land gewagt hatte. »Wir müssen weiter hinaus auf offene See«, drängte Morkem und ließ vor dem Wind kreuzen. Lamir lag ausgestreckt auf dem Rücken, einen Stoffballen unter dem Kopf, und starrte hoch hinauf, wo Segel und Mast mit dem Schwarz des Himmels verschmolzen. »Schäumende Wogen, sie tragen geschwind – von Schiffen durchzogen…« 233
»Still!« zischte der Ausguck am Bug. Als Lamir nicht sofort schwieg, wirbelte er herum. In seinen Augen blitzte es auf, daß der Barde überrascht das Instrument absetzte. Morkem kam mit eiligen Schritten heran. »Was ist?« wollte er wissen. Der Ausguck deutete nach vorn. Da tanzten Lichter auf den Wellen – hoben und senkten sich mit der gleichmäßigen Dünung. »Schiffe?« Die Entfernung war nur schwer abzuschätzen. Es mochten zweitausend Mannslängen sein, vielleicht auch weniger. Lamir erhob sich. Er zählte sechs, nein, sieben Lichtpunkte, die wie Sirenen aus dem Meer stiegen. »Caer?« Das Ächzen des Rumpfes, das leise Knattern des Segels im Wind – diese Geräusche schienen plötzlich weithin über das Wasser zu hallen. »Löscht die Lampen bis auf eine!« befahl Morkem. »Und die schirmt ab, daß ihr Schein nicht auf die See fällt.« Wenn es wirklich Caer waren, so besaßen diese zweifellos die schnelleren Schiffe. Aber wer sonst sollte mit einer kleinen Flotte vor den Küsten Tainnias und Nord-Salamos kreuzen? Die Leoniter refften das Segel halb und legten die Drache schräg vor den Wind. Sie verlor dadurch zwar an Fahrt, glitt aber weitaus ruhiger dahin. Nur im Schutze der Nacht konnten sie dem Feind entkommen. Bange blickte Buruna gen Osten, wo bereits ein winziger Silberstreif den heraufziehenden Morgen ankündigte. Immer mehr Lichter tauchten auf. Der Sand war noch nicht einmal zu einem Achtel durch das Stundenglas geronnen, da zählten die Leoniter zwei Dutzend. Und einige davon kamen bedrohlich nahe. Dann zog eine Flammenspur über den Himmel. Ein Brandpfeil stieg steil in die Höhe und überschüttete das Meer mit flackerndem Schein. 234
»Sie haben uns entdeckt«, rief Morkem aus. »Nun gilt es!« Eine auffrischende Brise blähte die Segel. Düster und drohend schob sich das Caer-Schiff schnell näher. Schon war der Zeitpunkt abzusehen, da die Verfolger heran sein mußten. »Möglichst viele von ihnen werde ich ins Jenseits befördern, bevor ich sterbe«, stellte jemand fest. »Vielleicht brauchst du nicht zu sterben«, sagte Morkem. »Keiner von uns.« »Weder Weib noch Kind bleiben verschont.« »Unser Schiff ist flach gebaut und hat nur geringen Tiefgang. Wenn wir so dicht wie möglich unter Land segeln, können die Caer uns nicht folgen.« »Wenn die Flut kommt, drückt sie uns gegen die Felsen oder auf den Strand.« »Weiß jemand einen besseren Vorschlag? – Keiner?« Höchstens noch dreihundert Schritte Vorsprung hatte die Drache von Leone, als sie hart aus dem Kurs genommen wurde. Sie glitt an einer hell schimmernden Sandbank vorbei auf die ersten Klippen zu; Morkem ließ die Tiefe ausloten. Die Caer blieben zurück, behielten aber dieselbe Höhe bei. Noch zwei Fußbreit Wasser unter dem Kiel! Eine angespannte Stimmung machte sich breit. Jeder schien darauf zu warten, daß etwas geschah. Und mancher Krieger griff verstohlen nach seinem Schwert. Morgenröte huschte über den Himmel. Gegen den allmählich heller werdenden Horizont zeichneten sich unzählige schwarze Segel ab. Nur ein Fußbreit Wasser… Zur Rechten Felsen, linker Hand Korallen und Sandbänke. Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff – es war aufgelaufen. Buruna hörte noch das Splittern des Rumpfes, als die Drache sich schon zur Seite neigte. Messerscharfe Korallen hatten das Holz zerfetzt. Diesmal würde es unmöglich sein, wieder freizukommen. Die Erkenntnis, an Land zu müssen, war 235
bedrückend. Die Caer ankerten mittlerweile weiter draußen. Sie schienen nach einem Weg zu suchen, wie sie der Verfolgten habhaft werden konnten. Die ersten Sonnenstrahlen geisterten über das Firmament, als die Leoniter, Buruna und Lamir von Bord gingen. Sie schleppten die Kiste mit den Geschenken von König Lerreigen mit sich. Morkem zerschlug eine Öllampe und steckte das Schiff in Brand. Gierig züngelten die Flammen auf. Sie wateten durch hüfthohes Wasser. Als sie den Strand erreichten, brannte die Drache von Leone bereits lichterloh. Dunkler Qualm wälzte sich in dichten Schwaden über das Wasser und versperrte den Blick auf das offene Meer. »Wir müssen dort hinüber.« Morkem deutete auf einen ausgedehnten Wald, der sich im Dunst des beginnenden Tages verlor. »Zwischen den Bäumen werden die Caer unsere Spuren nicht finden«, fuhr der Leoniter fort. »Und Parcon ist nahe, höchstens eine halbe Tagesreise entfernt.«
Endlich wußten wir, wo unser Ziel lag – es war einer der befestigten Häfen zwischen den Städten Caer und Fordmore, am Ende eines natürlichen Fjords gelegen, eingebettet zwischen üppig bewaldeten Hängen und gegen den Ozean durch ein breites Riff abgeschirmt, das nur auf dem höchsten Stand der Tide zu passieren war. Auf der ganzen Insel gab es kaum einen geschützteren Ankerplatz als diesen. Zwei schwarze Segler schaukelten sanft in der leichten Dünung. An Bord schien keine Menschenseele, aber ich wußte, daß der Schein trog. Wir wurden erwartet, denn niemand würde es wagen, Drudin und der Hälfte seiner Priesterschaft nicht den Respekt zu zollen, der ihnen gebührte. Gleichzeitig wurde mir klar, daß wir Tainnia auf dem Seewege verlassen 236
würden. Das konnte nur bedeuten, daß unser wirkliches Ziel weit entfernt lag. Irgendwo südlich vielleicht. Das Gelände fiel zur Bucht hin ab. Immer schneller werdend, polterte der von den Mammuts gezogene Wagen über das lockere Geröll. Die Tiere würden das Gewicht nicht mehr lange ertragen und zusammenbrechen. Drudins laute Befehle hießen uns absitzen. Lange Seile wurden um die hintere Achse des Gefährts geschlungen, und wir stemmten uns mit aller Kraft dagegen. Tatsächlich verlangsamte sich die Abwärtsbewegung. Der Schweiß rann mir in Strömen über den Körper, brannte wie Feuer in meinen Augen und ließ alles um mich her verschwimmen. Mit beiden Händen umklammerte ich das Seil. Ich wagte nicht, es loszulassen, um mit dem Ärmel über mein Gesicht zu wischen. Nur undeutlich erkannte ich eine Bewegung bei den Schiffen. Ich vernahm leise Stimmen, die der Wind zu uns herauftrug und die in meinem eigenen hastigen Atmen untergingen. In unmittelbarer Nähe polterten Steine einen Abhang hinunter und lösten dabei eine regelrechte Lawine aus. Stück für Stück ließ ich Seil nach. Einer von uns stimmte einen monotonen Gesang an, der rhythmisch war wie das Aufeinanderprallen zweier hart geführter Schwerter. Von nichts anderem handelte er auch. Allmählich gingen mir die gleichmäßigen Bewegungen in Fleisch und Blut über. Ich ließ mich anstecken von der Melodie, vergaß meine Erschöpfung und lebte nur noch für den Augenblick. Das Ächzen des Wagens, das Knarren seiner Räder und das Stampfen der Mammuts wurden leiser. Das Lied verhallte. Ich konnte erkennen, daß das Fuhrwerk inzwischen fast am Ende des Abhangs angelangt war. In diesem Augenblick schien das Seil lebendig zu werden, bäumte sich auf wie eine 237
Schlange und glitt so schnell durch meine Hände, daß ich es nicht mehr halten konnte. Der Hanf riß mir das Fleisch von den Knochen und verursachte ein höllisches Brennen. Feucht und klebrig spürte ich Blut zwischen den Fingern. Schaurig hallte das Trompeten der Mammuts durch den Fjord, dann war da nur noch das Wimmern einiger Verletzter. »Worauf wartet ihr?« Drudin trieb uns unnachgiebig weiter. »Der Wagen muß an Bord gebracht werden.« Ich hastete den Hang hinunter, stolperte über Steine, fiel, raffte mich auf und eilte weiter. Neben mir Hunderte namenloser Krieger, die wie ich dem Willen der Priester gehorchten. Ich hörte ihr Keuchen, das Geräusch ihrer Schritte, roch die Ausdünstungen ihrer Körper, aber auch den Geruch von Salzwasser und Tang, den eine frische Brise mit sich brachte. Doch all das nahm ich nur flüchtig wahr. Der Schwarzstein beschäftigte meine Gedanken. Welches Geheimnis barg er? Der Drang, das bestickte Tuch zu lüften, wurde erneut stärker. Selbst das Wissen um die Gefahr, die mir dabei drohte, vermochte mich nicht zu schrecken. Die Caer, die bei den Schiffen gewesen waren, hatten inzwischen eine Rampe aus dicken Planken errichtet. Sie spannten die zotteligen Mammuts aus und führten sie zur Seite. Den Tieren haftete nichts Großartiges mehr an; ihre Bewegungen waren langsam geworden, wie von einer tiefen Müdigkeit erfüllt. Abermals griffen wir nach den Seilen. Ich hätte schreien können vor Schmerz, als meine offenen Hände den faserigen Hanf berührten. Aber wir schafften es und vertäuten das Fuhrwerk am Mast. Foghard, einer der Priester, ließ uns dabei nicht aus den Augen. Die Pferde blieben zurück, als wir ebenfalls eingeschifft wurden. Ich hielt Ausschau nach Tramin, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Dafür sah ich etwas anderes. Drudin 238
schritt auf die Mammuts zu, gleich darauf knickte das erste der Tiere ein und stürzte. Während es mit vergeblicher Anstrengung versuchte, wieder hochzukommen, fiel auch das zweite. Für eine Weile peitschten ihre Rüssel noch das Gras. Ich suchte mir einen Platz in der Nähe des Wagens. Niemand hinderte mich daran, und obwohl mehr als dreihundert Krieger an Bord des Dreimasters gekommen waren, konnte man sich auf Deck frei bewegen. Drudin näherte sich. Er schien zu schweben, als er über den Laufsteg kam. Das Heck des Schiffes wurde beherrscht von einem schwarzen Altar, der aus einem einzigen Stein gehauen schien. Eine Aura des Bösen umgab ihn, und instinktiv mied jeder Krieger dessen Nähe. Drudin achtete nicht auf uns. Er trug wieder die silberrote Maske. Sein langer Mantel wischte über die Planken. Der Priester wandte seinen Blick gen Süden. Obwohl es kalt war, begann ich zu schwitzen. Etwas Unheimliches, Drohendes lag in der Luft, etwas, das nicht mit der Waffe zu bekämpfen war. Deutlich glaubte ich zu spüren, daß es seinen Ursprung in dem verhüllten Schwarzstein hatte. Wie erstarrt stand Drudin – jegliches Leben schien von ihm gewichen zu sein. Ich hörte Männer in meiner Nähe leise miteinander flüstern. Ihre Stimmen zitterten. Nur zu gut verstand ich, daß sie sich fürchteten. Unsere Welt war nicht die des Geheimnisvollen, der Magie – sie war der Kampf, für den wir lebten. Ein lauter werdendes Plätschern ließ mich aufmerken. Die Flut kam. Das bedeutete, daß wir bald in See stechen würden. Wohin? – Ich wußte die Antwort nicht. »Besetzt die Ruderbänke!« Drudin gab seine Befehle, ohne sich vom Altar abzuwenden. Die Arme reckte er in die Höhe, als wolle er nach dem Himmel greifen. Dann knarrten die Riemen, die Ruderblätter tauchten ein. 239
Langsam glitt unser Schiff dahin, drehte und nahm Kurs auf die schmale Fahrrinne zwischen den Felsen. Eine Strömung trug uns aufs Meer hinaus. Wir setzten die Segel, die sich knatternd im Wind blähten. Danach gab es nichts mehr zu tun, was die Erschöpfung und die bleierne Müdigkeit vergessen ließ, die uns in allen Knochen steckte. Die meisten schliefen auf der Stelle ein. Nur ich kämpfte mühsam dagegen an. Fünf Schritte… Allein diese kurze Entfernung trennte mich von dem Schwarzstein. Noch zögerte ich, aber schließlich siegte meine Neugierde. Ich sah mich um. Von den Kriegern in meiner Nähe war keiner mehr wach. Und Drudin schien regungslos nach Tainnia zu starren, das irgendwo im Dunst des sinkenden Tages verborgen lag. Vorsichtig erhob ich mich. Sollte ich…? Nein – ich ließ mein Schwert in der Scheide stecken. Irgendwie ahnte ich, daß es mir nicht würde helfen können. War es Angst, die mir die Kehle zuschnürte? Inzwischen war ich so weit gegangen, daß ich mich für immer der Feigheit bezichtigen mußte, würde ich jetzt umkehren. Mit jedem Schritt wurde das Böse stärker, das mich wie ein unsichtbarer Schleier umfing. Als meine Fingerspitzen das Tuch berührten, war ich auf das Schlimmste gefaßt. Doch nichts geschah. Keine erneute Vision drohte mich um den Verstand zu bringen. Endlich lag der Schwarzstein vor mir, nackt und bloß. Ich sah sein Geheimnis und wollte schreien, die Stimme versagte mir ihren Dienst. Ich wollte die Hände vors Gesicht schlagen, mich abwenden – Schwarze Magie bannte mich. Bevor auch nur irgend etwas geschah, starb ich bereits tausend qualvolle Tode.
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Die Sonne schwamm in einem trüben Ozean schnell dahinziehender Wolken; sie hatte ihren höchsten Stand längst überschritten. Buruna, Lamir und die Leoniter waren unbehelligt nach Parcon gelangt. Keiner fragte sie, woher oder wohin. Dieser Tage kamen viele aus dem Norden – Männer, Frauen und Kinder. Ungezählte von ihnen mit leeren Händen, mit nichts als dem, was sie auf dem Leib trugen, aber manche schleppten Hab und Gut mit sich, Dinge, die ihnen helfen sollten, in der Fremde ein neues Leben zu beginnen, und die doch nichts waren als unnützer Tand, der lediglich die Erinnerung wachhielt an die Entbehrungen einer langen Flucht, die, wenn es nach dem Willen der Caer ging, nie ihr Ende finden würde. Um zum Hafen zu gelangen, mußten sie nur dem Geruch nach faulendem Fisch nachgehen, der wie eine unsichtbare Wolke über den Gassen und Plätzen hing. Hier begegneten ihnen kaum noch Menschen, und die wenigen waren, ihrer Kleidung nach zu urteilen, in Parcon eingesessen. Fremde schienen diese Gegend zu meiden. Den Grund dafür erkannten sie, als ihr Ziel endlich vor ihnen lag. Zwischen Fischerbooten und Handelsschiffen ragten düster und drohend schwarze Masten in den Himmel. »Caer!« stieß Buruna erschrocken hervor. Nach den unzähligen Lichtern, die sie während der Nacht auf See gesehen hatten, hätte sie eigentlich damit rechnen müssen. Vier der schwarzen Dreimaster mit den hohen Deckaufbauten ankerten zu beiden Seiten der Hafeneinfahrt, vier weitere zwischen den anderen Schiffen. Die Segel waren gerefft, aber auch so wirkten sie mächtig mit ihren doppelten Ruderbänken. »Was nun?« wollte Lamir wissen. »An denen kommen wir nicht einmal vorbei, wenn wir schwimmen. Und ich bin überzeugt, daß es in Salmacae nicht einen Deut besser aussieht. Die Caer beherrschen den gesamten Golf.« 241
Morkem nickte zögernd. »Das war vorauszusehen«, sagte er. »Salmacae und Parcon sind Stadtstaaten, die zu Rukor tendieren. Und Rukor wiederum, so wird berichtet, scheint mit den Caer zu paktieren. Die Bewohner dieses Landes sind seit je ein Kriegervolk und eine starke Seemacht, gegen die selbst die Horden von der Insel einen schweren Stand hätten. Offenbar hat Drudin mit König Eloard von Mardios, ihrem Herrscher, ein Stillhalteabkommen getroffen, um ungehindert das Festland erobern zu können. Vielleicht wurde den Rukorern Land versprochen und Macht.« »Wie können Menschen tatenlos zusehen und dulden, daß Tausende elend umkommen oder ihre Heimat verlieren?« brauste Buruna auf. »Wissen sie nicht, was sie erwartet, wenn die Lichtwelt fällt? Dieser Eloard glaubt doch wohl nicht im Ernst, daß die Caer ihn unbehelligt lassen. Sobald sie ihre Macht genügend gefestigt haben, werden sie brandschatzend auch in Rukor einfallen. Vielleicht ist ihre Seeblockade bereits der erste Schritt, um von Westen her vorzudringen und dem Gegner die Lebensader abzuschneiden.« »Niemand wird es verhindern können. Die Geschichte kennt viele Beispiele, aus denen…« Einer der Leoniter stieß einen unterdrückten Schrei aus. Seine Rechte fuhr ans Schwert, riß es förmlich aus der Scheide. Caer marschierten auf den Hafen zu; drei Dutzend gut ausgerüsteter Krieger, die unter dem Befehl eines Dämonenpriesters standen. Er trug einen langen, silberverzierten Mantel, dessen Kragen er sich weit ins Gesicht geschlagen hatte und der fast bis an den hohen, mit bleichen Knochen verzierten Helm reichte. Die Caer, deren Ziel eines der Schiffe zu sein schien, schwenkten herum. Für Buruna und ihre Begleiter war es zu spät, sich in den nahen Häusern zu verbergen. »Verhaltet euch ruhig!« zischte Morkem. »Und du, Bratford, laß dein Schwert stecken. Vielleicht halten sie uns für Flücht242
linge und lassen uns ungeschoren.« »Dein Wort in Quyls Ohr«, murmelte Lamir. Die Marschordnung der Caer fächerte sich auf, während sie näher kamen. Erst jetzt war zu erkennen, daß der Priester eine Maske trug. »Was sucht ihr hier?« herrschte er die Leoniter an. »Schutz und eine Bleibe«, sagte Morkem. »Unsere Anwesen wurden von umherstreifenden Nordländern angesteckt; sie töteten unser Vieh und verwüsteten die Felder.« »Ausgerechnet nach Parcon kommt ihr?« »Weil wir hörten, daß Caer in der Stadt sind. Ihr werdet die plündernden Söldner zur Rechenschaft ziehen. Am eigenen Leib haben wir erfahren müssen, daß die, welche unter dem Banner des Lichts kämpfen, das Land verbrennen und die Frauen schänden.« Hoffentlich hatte er nicht zu dick aufgetragen. »Ihr seht nicht aus wie Bauern«, kam da auch schon die Feststellung des Priesters. »Wir haben die Waffen angelegt, um uns unserer Haut zu wehren.« »Und in der Kiste schleppt ihr eure letzte Habe?« Die Stimme des Priesters klang kalt und klirrend wie Eis. »Öffnet sie!« Buruna zuckte zusammen. Sie wußte, daß der Schwindel jeden Moment aufkommen konnte. Die Caer nahmen eine drohende Haltung ein. »Tut, was von uns verlangt wird«, wandte Morkem sich an zwei seiner Begleiter. Zusammen ließen sie die schweren Verschlüsse aufschnappen. Kostbare Gewänder aus hauchdünnen Stoffen, nahtlos gewebt und mit ausgewählten Mustern versehen, quollen ihnen entgegen. Kleider, die mehr offenbarten als verhüllten. Erstauntes Murmeln wurde laut. »Ihr wollt Bauern sein?« kreischte der Priester. »Lüge, alles 243
Lüge! Ergreift sie!« Bevor die Caer Zeit fanden, ihre Schwerter zu ziehen, drangen Morkem und seine Mannen bereits auf sie ein. Auch Buruna und Lamir schwangen ihre kostbaren Klingen. Die Krieger aus dem Norden Tainnias schienen nicht mit einem derart heftigen Angriff gerechnet zu haben. Etliche von ihnen fielen, bevor die anderen begriffen, daß die angeblichen Landleute sehr wohl mit den Waffen umzugehen verstanden. Buruna sah den Knochenhelm im Gewühl verschwinden. »Er flieht«, rief sie. »Haltet ihn, ehe er seine Magie anwenden kann.« Mit beiden Händen das Schwert führend, schlug Mor-kem sich den Weg frei. Seine Männer sprangen in die Bresche, als sie die Absicht ihres Hauptmanns erkannten. Zwei Caer bedrängten die einstige Sklavin, die sich wie eine Wildkatze verteidigte. Jeden Hieb, den die Gegner parierten, begleitete sie mit einem wütenden Fauchen. Die Krieger lachten. Sie machten sich einen Spaß daraus, Buruna mit immer neuen, aber harmlosen Attacken auf das Hafenbecken zuzutreiben. Mittlerweile hatte Morkem den Priester eingeholt und schlug zu, als dieser abwehrend beide Arme ausstreckte. Im letzten Moment, wie von unsichtbarer Hand geführt, glitt die tödliche Klinge zur Seite. Enttäuscht schrie der Leoniter auf. Von blinder Wut erfüllt, riß er abermals das Schwert hoch. »Stirb, du Ungeheuer!« Ein düsteres Wallen schien den Priester zu umfließen. Gelassen wartete er auf den tödlichen Stoß. Morkem bemerkte es zu spät. Als seine Klinge die Schwärze berührte, war ihm, als wüte ein Feuersturm in seinen Eingeweiden. Das Heft wurde plötzlich glühend heiß, brannte sich zischend in seine Hände und ließ ihn vor Schmerzen fast wahnsinnig werden. Er schrie, wie er nie zuvor in seinem Le244
ben geschrien hatte. Ein Blitz zuckte aus den Fingern des Priesters und löschte schlagartig alle seine Empfindungen. Morkem blieb keine Zeit mehr zu begreifen, daß er starb. Mit ihm verbluteten seine Mannen, ließen ihr Leben in dem Bewußtsein, daß die Welt verloren war und den Mächten der Finsternis gehörte. Nur Buruna und Lamir verschonte der Tod. Noch…
Ein Dämon manifestierte sich in dem Schwarzstein. Tausend fremde Gesichter starrten mich an; sie schienen zu grinsen, mich zu verhöhnen, zu spotten… Mir stockte der Atem. Jeden Augenblick erwartete ich, daß der Dämon in mich einschlagen und auch mir das Gesicht rauben würde. Übelkeit schüttelte mich. Ich würgte. Ich hatte mein Leben verwirkt. Niemals vor mir hatte ein einfacher Krieger diesen Dämon geschaut – und wenn, so war der Nachwelt zum Glück die Schilderung aller Schrecken erspart geblieben. Oder leider? Vielleicht hätten die Priester dann nie ihre Macht festigen können. Ich sank in die Knie. Meine Hände fuhren ziellos über den Stein, dessen Oberfläche von winzigen Poren übersät war. Warum lebte ich noch? Weshalb wurde ich nicht für meinen Frevel bestraft? Die Angst ließ mich fast wahnsinnig werden. Vergingen nur wenige Augenblicke, oder verstrich die halbe Nacht? Jeglicher Sinn für die Zeit ging mir verloren. Irgendwann begriff ich, daß es Cherzoon sein mußte, der Meister Drudins, dem ich gegenüberstand. Da war etwas in meinen Gedanken, was mich aufschreckte, etwas absolut Fremdes und Unheimliches. Ich könnte dich verderben, klang es in mir auf. Aber du bist keine Gefahr – trotz deiner Zweifel. Deshalb will ich dir sagen, Malver, wonach du bislang vergeblich forschst. Das Ziel unserer Reise ist Logghard. 245
»Die ewige Stadt, die seit Jahrhunderten den Mächten der Finsternis zu trotzen vermag?« Ich weiß nicht, ob ich diese Worte laut aussprach oder ob sie nur in meinen Gedanken entstanden. Wir alle und weitere Tausende Krieger werden auf der Scholle nach Süden reisen, um der Entscheidung beizuwohnen. »Die Scholle?« fragte ich. »Was ist das? Ein Schiff, größer als dieses?« Aber Cherzoon antwortete nicht. Was der Dämon gesagt hatte, bedeutete Kampf. Auf einmal wußte ich, daß ich für ihn sogar mein Leben hingeben würde, aber diese Erkenntnis schreckte mich nicht. Die Eroberung von Elvinon, bei der du dabei warst, Malver, auch die Schlacht im Hochmoor von Dhuannin waren harmlose Geplänkel gegen das, was dich in der Düsterzone erwartet. Ich erwachte wie aus einem Traum. Schweißgebadet und zitternd griff ich nach dem Schwert. Hatte Cherzoon wirklich zu mir gesprochen? Hinter den nächsten Wellenkämmen tauchten schwarze Segel auf. Es waren Kriegsschiffe wie unsere. Dadurch, daß ihre Kapitäne die Ruder bemannt hatten, kamen sie schnell näher. Sie steuerten denselben Kurs wie wir, dem höchsten Stand der Sonne entgegen – nach Süden. Mit der Zeit wurden es immer mehr Schiffe. Als dreimal die Finger meiner Hände nicht mehr ausreichten, um ihre Anzahl aufzuzeigen, gab ich es auf, sie zählen zu wollen. Die See war nur leicht bewegt, der Himmel fast wolkenlos. Einmal glaubte ich Land zu sehen. Das mußte auf der Höhe von Ambor gewesen sein.
Ein mit aller Wucht geführter Hieb prellte Buruna die Waffe aus der Hand. Aus den Augen der Caer sprach unverhohlene Gier. Die Frau wich weiter zurück. Sie schauderte bei dem Ge246
danken an das, was sie erwartete. Nur Lamir schwang noch das Schwert. Es bereitete seinen Gegnern offensichtlich Vergnügen, ihn immer wieder ins Leere laufen zu lassen. Sie spielten mit ihm, und er bemerkte es nicht einmal, bis sie dessen schließlich überdrüssig wurden und ihn ein einziger Schlag mit der flachen Klinge niederstreckte. Buruna schrie auf, achtete für einen Moment nicht darauf, wohin sie trat, und stolperte über eine niedrige Mauer. Rücklings stürzte sie ins Wasser, das aufspritzend über ihr zusammenschlug. Sie schluckte, fürchtete, ertrinken zu müssen, und begann wie besessen um sich zu schlagen. Augenblicke später kam sie wieder hoch, rang krampfhaft nach Luft, und Übelkeit umfing sie. Kräftige Hände zerrten Buruna an Land. Sie hörte Lachen und laute Stimmen, ohne jedoch zu verstehen, was diese redeten. Es sind Caer… Der Gedanke ließ sie sich aufbäumen. »Haltet ein!« Entsetzt fuhr Buruna zurück, als der Priester sich über sie beugte. Hinter seiner Maske brannten unbarmherzige Augen. »Wer bist du?« wollte er wissen. Die Liebessklavin von Burg Anbur schwieg. »Rede!« zischte der Priester. »Oder du wirst erfahren, was es heißt, sich meinem Willen zu widersetzen.« »Ich bin nur eine Bauernmaid aus Ugalien«, brachte Buruna stockend hervor. »Du lügst! Selbst eine Dirne könnte nicht die Gewänder und kostbaren Waffen verdienen, die deine Begleiter mit sich schleppten. Wer also bist du wirklich?« Ein verwegener Gedanke kam ihr. Sie war selbst dermaßen überrascht, daß sie ihn unbewußt aussprach: »Ich, Buruna, bin eine Tochter des großen Shallad Hadamur.« »Eine Prinzessin also.« 247
»Ja, eine Prinzessin.« Sie nickte eifrig. »Und der da?« »Lamir von der Lerchenkehle ist mein Leibbarde. Wer es wagt, uns anzurühren, wird den Zorn des Shallad zu spüren bekommen.« Während ihres Aufenthalts in Leone hatte Buruna viel über den Süden in Erfahrung gebracht. Dieses Wissen kam ihr nun zugute. So war ihr bekannt, daß Hadamurs Reich weite Ländereien umfaßte und der Shallad eine Vielzahl von leichtern gezeugt hatte. »Wisse, Buruna, daß du ab sofort meinen Schutz genießt.« Es war nicht zu erkennen, ob der Priester über sie spottete oder es wirklich ernst meinte. »Kein anderer als der König von Rukor darf dich anfassen.« »Eloard von Mardios? Mit ihm habe ich nichts zu schaffen.« »Ich sehe, Politik ist dir nicht fremd. Eine Tochter des Shallad nenne ich ein wahrhaft würdiges Geschenk für Eloard.« »Niemals«, begehrte Buruna auf. »Lieber sterbe ich. Die Rache meines Vaters werden alle zu spüren bekommen. Seine Macht reicht bis in die Düsterzone.« Der Priester lachte hart. »So wahr ich Tilgran bin, einer aus Drudins Zwölferrat. Du wirst dein Leben behalten und gehorchen lernen. Die Macht des Shallad ruht auf tönernen Füßen. Wenn ich es will, sinkt sein Reich in Schutt und Asche.« »Du, du Bestie!« Tilgran zuckte zusammen. »Hüte deine Zunge! Nicht immer bin ich so nachsichtig.« Buruna mußte einsehen, daß es besser war, zu schweigen. Während die Caer sie und Lamir aufmerksam bewachten, begab der Priester sich an Bord eines der Schiffe. Erst nach einer ganzen Weile kehrte er zurück. »Es wird dich freuen«, wandte er sich an die Frau, »daß du deinem künftigen Herrn und Gebieter bald gegenüberstehen 248
darfst. Mich hält nun nichts mehr in Parcon. Wir werden entlang der Küste nach Rukor reiten.« Während der kleine Trupp den Hafen verließ, setzten vier der schwarzen Dreimaster die Segel und wurden klargemacht zum Auslaufen.
Obwohl die Frühlingssonne ihre wärmenden Strahlen aussandte, zog Nebel auf. Immer dichter wurden die Schwaden, die aus dem Meer emporstiegen. Dräuend und unheilverkündend ballten sie sich zusammen. Die Brise, die eben noch die Segel gebläht hatte, verlor schlagartig an Kraft. Schlaff hing das Tuch an den Masten. Nirgendwo fiel mehr ein lautes Wort. Ich spürte die Erregung, die von allen Besitz ergriffen hatte – auch ich blieb nicht verschont. Vor uns mußte etwas Unheimliches lauern. Das Meer war von einer bleiernen Schwärze und fast bewegungslos. Die Zeit schien stillzustehen. Gleich einem Leichentuch senkte sich die Stille herab. Selbst das stete Knarren der Planken unter meinen Füßen verstummte. Die Schiffe machten keine Fahrt mehr, wurden nacheinander vom Nebel verschluckt. Für eine Weile sah ich noch ihre Schatten; dann waren sie verschwunden. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu dem verhüllten Schwarzstein. Dort hatte sich nichts verändert. Ich fröstelte. Näherten wir uns dem Schiff, das uns nach Logghard bringen sollte? Der Nebel griff nun auch nach dem Dreimaster, der uns am nächsten war. Seine Segel schienen zu zerfließen, der Rumpf schien sich aufzulösen. Graue Dunstfinger tasteten über das Wasser. Wie mit eisigen Nadeln stach die Kälte selbst durch meine Fellkleidung. Meine Bewegungen erlahmten. Verkrampft preßte ich die Arme auf den Leib, um sie vor dem Erfrieren zu 249
schützen. Längst war die Sonne verschwunden. Die ersten Nebelschwaden streiften mich, brachten einen Hauch des Todes. Das Meer um uns her schien zu erstarren, zu Eis zu werden. Das Geräusch splitternden Holzes drang an mein Ohr. Wurde der Rumpf unseres Schiffes bereits von dem sich ausdehnenden Eis zerquetscht? Seltsamerweise berührte mich diese Vorstellung überhaupt nicht, obwohl ich den Tod im nassen Element mehr fürchtete als alles andere. Plötzlich ein Knirschen, ein Ruck, der mich fast von den Beinen riß. Wir waren aufgelaufen! »Kommt!« hallte es über Deck, bevor ich mich fragen konnte, was es war, das uns aus dem Wasser hob. Cherzoon duldete keinen Widerspruch. Mit mir kletterten Dutzende Krieger von Bord. Ohne zu fragen, was uns erwartete, ließen wir uns an Tauen hinuntergleiten. Meine Füße berührten festen Boden. Ich sah, daß unser Segler leckgeschlagen auf Kiel lag. Die Galionsfigur war verschwunden. Weiter! Ein unheimlicher Zwang, einen Fuß vor den anderen zu setzen, beherrschte mich. Meine Glieder waren steif. Das Blut in meinen Adern schien zu gefrieren – ein Gefühl, das sich von meinen Beinen ausgehend langsam über den ganzen Körper erstreckte. Etwas Eisiges griff nach meinem Herzen. Ich glaubte, ersticken zu müssen, als sein Schlag plötzlich aussetzte. »Nein!« wollte ich schreien, aber mein Mund blieb stumm. Vor, hinter und neben mir waren Tausende anderer Krieger, leblose Statuen mit Gesichtern, so bleich wie Wachs. Noch einmal schlug mein Herz, stieg in mir die bange Hoffnung auf, das Leben wiederzufinden. Dann war endgültig alles vorbei. Würde es wirklich nur ein kalter, todesähnlicher Schlaf sein? Ich wußte, daß wir uns auf der Scholle befanden und auf ihr 250
gen Süden fuhren, der Entscheidung von Logghard entgegen.
Sie sahen viele schwarze Segel am Horizont, aber nie kam eines dieser Schiffe bis auf Rufweite heran. Die Caer folgten dem Verlauf der Küste, die allem Anschein nach von Flüchtlingen gemieden wurde. Als die Dämmerung hereinbrach, befanden sie sich etwa auf halbem Weg zwischen Parcon und Salmacae, dort, wo die Küste einen Knick beschrieb und steile Klippen weit ins Meer hinausragten. Die Caer entfachten ein Feuer und brieten mitgebrachte Fleischstücke. Auch Buruna und Lamir erhielten davon. Es schmeckte sogar ausgezeichnet. Die Königstochter und ihr Leibbarde genossen das Vorrecht, sich innerhalb gewisser Grenzen frei bewegen zu dürfen. Allerdings war beiden bewußt, was geschehen würde, sobald sie versuchten, sich vom Lager zu entfernen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als das Spiel, das Buruna begonnen, fortzuführen – notfalls bis zum bitteren Ende. »Seltsam«, murmelte die Frau, als gegen Mitternacht bis auf zwei Wachtposten alle Krieger schliefen. »Ich hätte erwartet, in dieser Region Flüchtlinge anzutreffen, deren Absicht es ist, sich einzuschiffen. Wenn ich da an Leone denke und den Ansturm, dessen König Lerreigen Herr werden muß.« Neben ihr wälzte Lamir sich unruhig von einer Seite auf die andere. »Laß mich schlafen«, murmelte er. »Du hegst Probleme, die nicht deine sind. Vielleicht ist das Land verhext oder… Ach, was weiß ich.« Bald darauf verkündete lautes Schnarchen, daß er im Reich der Träume weilte. Völlig unerwartet preßte sich eine starke Hand auf Burunas Mund, daß sie kaum noch Luft bekam. »Still!« zischte es unmittelbar neben ihr. »Wenn du einen Laut von dir gibst, wird mein Dolch sein Ziel finden. Du hast vorhin deinen Begleiter 251
etwas gefragt, was auch er nicht wußte. Ich will dir die Antwort geben, aber nur, damit du erkennst, woran du bist, falls du die Absicht hättest, dich zu widersetzen. Parcon und Salmacae verjagen alle Flüchtlinge, die ihnen schwach erscheinen und ungeeignet, die anderen versklaven sie oder liefern sie an uns aus, damit die Priester neue Kräfte gewinnen können.« Warum? fragte Burunas Blick. Warum erzählst du mir das? »Du bist schön – viel zu schade für einen König, der ohnehin jedes Weib haben kann, das ihm gefällt.« Buruna wollte sich aufbäumen, aber der Krieger zog sie fest an sich. Von irgendwoher kam ein leises, kaum wahrnehmbares Rascheln. Silberne Ornamente funkelten im Schein der fernen Sterne. Im nächsten Moment sank der Caer haltlos in sich zusammen. Buruna schrie gellend auf. Die anderen schreckten hoch und zogen ihre Waffen. Sie wußten nicht, was geschehen war. Tilgrans Augen glühten in verzehrendem Feuer. »So ergeht es jedem, der sich gegen meinen Befehl stellt«, sagte er mit leiser, zitternder Stimme. »Wehe dem, der es wagt, meine Gefangenen auch nur anzutasten.« An Burunas Seite lag ein verschrumpeltes Häufchen Elend, das mit einem Menschen nichts mehr gemein hatte. Erschüttert wandte sie sich ab.
Der nächste Tag verlief ohne besondere Zwischenfälle. Man erreichte Salmacae in den frühen Abendstunden, ließ die Stadt jedoch rechter Hand liegen und schlug in einiger Entfernung das Nachtlager auf. Buruna träumte von Mythor, glaubte ihn neben sich, fühlte seine starken Arme in ihrem Nacken. Er hieß sie zu verhindern, daß Rukor dem Einfluß der Dämonen anheimfiel. Im 252
Morgengrauen erwachte sie schweißgebadet. »Ich fürchtete, du würdest uns verraten«, raunte Lamir ihr bei der erstbesten Gelegenheit zu. »Du hast im Schlaf geredet und warst nicht wach zu kriegen.« »Aber es war herrlich«, flüsterte sie zurück. »Mythor kam zu mir und…« »Ein hysterisches Weib hat mir gerade noch gefehlt«, erklärte der Barde. »Wenn es erneut über dich kommt, versuche bitte, wach zu bleiben.« In der folgenden Nacht träumte Buruna wieder – aber es waren Alpträume, aus denen sie schreiend aufschreckte. Anschließend konnte sie sich an nichts mehr erinnern, außer, daß die Welt in Finsternis, in einem Meer von Blut und Leiden vergangen war. Je weiter man sich von Salmacae entfernte, desto mehr Flüchtlingen begegnete man, die mit der aufgehenden Sonne kamen. Erstaunt bemerkte Buruna, daß der Dämonenpriester Tilgran inzwischen seinen Knochenhelm abgelegt und den weiten Umhang gegen einen anliegenden, mit Fell besetzten Mantel vertauscht hatte. Auch trug er die verräterische Maske nicht mehr. Sein Gesicht indes schien unbeweglich und wie aus trübem Glas geschliffen. Selbst die Krieger konnte niemand mehr als Caer erkennen. Schließlich erreichten sie die Grenze von Rukor. Schon aus der Ferne waren hohe Walle zu sehen, zum Teil aus aufeinandergetürmten, mächtigen Felsblöcken errichtet, zum Teil aus aufgeschütteter Erde bestehend, deren Damm hölzerne Wehren und zugespitzte tief eingegrabene Pfähle bildeten. »Die Rukorer scheinen etwas gegen Fremde zu haben«, stellte Lamir sarkastisch fest. »Nur glaube ich nicht, daß diese Methode ihnen wirklich den erhofften Erfolg beschert«, entgegnete Buruna. »Sieh hin, an manchen Stellen führen regelrechte Schneisen die steilen Hän253
ge hinauf, und oben wurden die Palisaden umgestürzt oder gar verbrannt. Es müssen Hunderte Menschen hier eingedrungen sein.« Die Caer folgten einem der deutlich erkennbaren Pfade. Etwa in der Mitte des Walls stießen sie auf die ersten Leichen, die von herabstürzenden Felsen erschlagen worden waren. Sie ritten achtlos daran vorüber, nur Buruna konnte sich eines Schauders nicht erwehren. Sie lauschte dem Gespräch zweier Caer, die unmittelbar vor ihr ritten. »Dieser Eloard hofft, daß Tilgran ihn von der Plage befreit?« »Er wandte sich mit der Bitte um magische Unterstützung an den Priester. Wahrscheinlich hat er gehört, daß Lockwergen durch Magie entvölkert wurde, auf jeden Fall weiß er, daß im Hochmoor von Dhuannin ungezählte Kämpfer der Lichtwelt den Spiegeltod starben und zu Geisterreitern wurden.« »Und nun erwartet der König, daß Tilgran sämtlichen Flüchtlingen ein ähnliches Schicksal an gedeihen läßt?« »So wird es wohl sein. Der Priester kommt natürlich seinen Wünschen nach. Zum einen kann er damit Drudins Heer beträchtlich vergrößern, zum anderen…« Beide lachten. Buruna war entsetzt. Sie ahnte, was das letzten Endes für Rukor bedeutete, denn der Machthunger der Caer war unersättlich. Eloard von Mardios erwies sich einen schlechten Dienst, indem er den Priester zu Hilfe rief. Was für ein Ungeheuer muß er sein, dachte die Frau, daß er unschuldige Menschen dem Verderben ausliefert. Menschen, die in seinem Reich Schutz und Frieden suchen. Burunas Absicht war zwar gewesen, auf dem schnellsten Weg nach Logghard zu reisen, zu Mythor, aber von solch schändlichem Treiben, diesem Verrat an der Menschlichkeit, zu wissen und nicht zu versuchen, dem Einhalt zu gebieten, brachte sie nicht über das Herz. Sie vergaß dabei ganz, daß ihr, 254
als Gefangene Tilgrans, ein baldiges Weiterkommen ohnehin nicht möglich war. Vielleicht, wenn dieser sie dem rukorischen Herrscher zum Geschenk machte… Nach einiger Zeit erreichten sie das erste Flüchtlingslager – aus roh zugehauenen Baumstämmen errichtete Blockhütten am Rand eines kleinen Wäldchens. Jede erschien groß genug, um mindestens fünfzig Menschen ein Dach über dem Kopf und damit Schutz vor den Unbilden der Witterung zu bieten. Zehn Hütten waren es bereits, drei weitere befanden sich im Bau. Einige der hier arbeitenden Männer kamen interessiert näher, als die Reiter ihre Pferde zügelten. »Von wo kommt ihr?« riefen sie. »Bringt ihr gute oder schlechte Kunde?« Buruna bemerkte, daß Tilgran sich zurückhielt, während einer seiner Krieger antwortete. »Aus Tainnia«, sagte dieser. »Ein kleines Dorf zwei Tagesreisen östlich von Akinlay war unsere Heimat, bis die Caer es anzündeten und uns vertrieben.« »Ja.« Der andere nickte. »Uns verbindet viel miteinander. Wer hätte gedacht, daß unsere Heere geschlagen werden und die Flucht ergreifen. Dennoch sollten wir uns wie ein Mann erheben und gemeinsam gegen die Eroberer antreten. Wenn alle Nordländer sich zusammentun, sind wir ihnen an Zahl um ein Vielfaches überlegen. Selbst die Magie ihrer Priester müßte dann wirkungslos bleiben.« Mann, dachte Buruna, du redest dich um Kopf und Kragen. Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, ihm ein Zeichen zu geben, aber entweder tat sie dies aus Furcht zu zaghaft, oder aber er verstand nicht, daß sie ihn warnen wollte. »Werdet ihr euch bei uns niederlassen?« Der Caer schüttelte den Kopf. »Unser Ziel liegt fern von hier«, sagte er. »Vergeßt eure Absicht, weiterzuziehen. Fremde sind König 255
Eloard von Mardios ein Dorn im Auge. Er wollte uns längst von seinem Land vertreiben, hätten wir nicht mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft. Viele seiner Söldner weigerten sich außerdem, wehrlose Frauen und Kinder niederzumetzeln, und zogen unverrichteter Dinge von dannen.« »Das ehrt sie«, platzte Buruna ungewollt heraus. »Ja«, stimmte der Mann ihr zu. »Auch wenn es in dieser Zeit danach aussieht, es sind längst nicht alle Menschen schlecht.« »Nicht alle!« wiederholte Buruna mit ihrer Meinung nach unmißverständlicher Betonung. Aber ihr Gegenüber schien nicht darauf zu achten, und sie selbst wurde plötzlich von dem scheuenden Pferd eines Caer bedrängt. Des Kriegers grimmiges Gesicht bedeutete ihr, daß es besser, sei, fürderhin zu schweigen. »König Eloard mußte uns dieses Land gezwungenermaßen überlassen. Die Scholle ist fruchtbar, und wenn wir hart arbeiten, können wir uns innerhalb weniger Sommer ein neues Leben aufbauen.« »Gibt es mehrere Siedlungen wie eure?« Schlagartig begriff Buruna, welche Absichten die Caer unter Tilgran verfolgten. Sie suchten die Gegebenheiten diesseits der Grenzwälle herauszufinden, über die ihnen wohl niemand sonst Auskunft geben konnte. Deshalb hatten sie den Landweg gewählt. Es stellte sich heraus, daß fünf weitere Gruppen sich rings um den Wald niedergelassen hatten. Unter den Flüchtlingen bestand ein eherner Zusammenhalt. Dies wurde allein schon darin offenbar, daß sie mit den Neuankömmlingen, ohne zu zögern, ihre Speisen und Getränke teilten, von denen sie selbst keineswegs reichlich hatten. Ihr Anführer, Trettan Delem, der Mann übrigens, mit dem die Caer sprachen, gab sich überaus aufgeschlossen. Plötzlich schrak Buruna zusammen und wandte sich abrupt 256
um. Sie verbarg ihr Gesicht in den Armen, die sie über den Knien verschränkte. »Was ist los mit dir?« wollte Lamir wissen. Besorgnis schwang in seiner Stimme mit. »Hast du ihn nicht gesehen?« »Wen?« »Golert!« Lamir schwieg überrascht. Nur sein heftiges Atmen verriet, daß er sich der Gefahr bewußt war, in der sie schwebten. Sobald Tilgran die Wahrheit herausfand, war ihrer beider Leben nicht einen Pfifferling mehr wert. »Bist du wirklich sicher?« fragte er nach einer Weile. »Möglicherweise hast du dich getäuscht.« »Es war Golert«, beharrte Buruna. »Außerdem wollte er nach Süden. Er kann durchaus vor uns hier angelangt sein, denn wir wurden durch unseren Schiffbruch und den folgenden Fußmarsch unnötig lange aufgehalten.« Gleichzeitig reifte ein Entschluß in ihr heran, den auszuführen sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich sein würde. Aber sie mußte die Flüchtlinge warnen. Falls sie recht vermutete, stand ihnen sonst ein grausames Schicksal bevor. Immerhin fiel es ihr leicht, sich in der Nähe des Lagers zu bewegen. Die Caer durften nicht offenbar werden lassen, daß Lamir und sie Gefangene waren. »Du hast etwas vor?« flüsterte der Barde ihr bei der nächstbesten Gelegenheit zu. »Ich sehe es dir an, daß du irgend etwas ausbrütest.« Sie konnte ihm nicht antworten, weil Tilgran kam. Aber ihre Blicke verhießen Lamir, den Abend abzuwarten. Die Dämmerung brach schnell herein. Der Himmel überzog sich mit düsteren Wolken, die Sturm und Regen ankündigten. Ein kaum wahrnehmbarer Geruch von Schwefel lag in der Luft. Trettan Delem saß mit einigen Caer am Feuer, ohne auch 257
nur zu ahnen, wem seine Gastfreundschaft galt. Buruna und Lamir hatten ihre Pferdedecken neben einem dornenbewehrten Gebüsch ausgebreitet, das sie vor allzu neugierigen Blicken abschirmte. Allmählich kam von See her ein Sturm auf, der zwar keinen Regen mit sich brachte, aber doch die Luft mit einer unangenehmen Feuchtigkeit erfüllte. Die Stimmen am Feuer wurden leiser. Schließlich erhob sich der Anführer der Flüchtlinge und kehrte zu den Seinen zurück. Bangen Herzens wartete Buruna, bis die Wachen kamen, um nach ihr und Lamir zu schauen. Sie stellte sich schlafend. »Jetzt!« hauchte sie, als die Caer weitergegangen waren. Es bedurfte nur weniger Augenblicke, um genügend Erde, Gras und Steine zusammenzuraffen, daß diese, unter den Decken angehäuft, bei flüchtigem Hinsehen den Eindruck zweier ruhig schlafender Menschen erweckten. Bemüht, kein verräterisches Geräusch zu verursachen, krochen Buruna und Lamir dicht an den Boden gepreßt unter den weit ausladenden Zweigen des Gebüschs hindurch. Erst nach etlichen Mannslängen wagten sie, sich zu gebückter Haltung aufzurichten. Ihnen war, als fühlten sie eine eisige Faust im Nacken, die jeden ihrer Schritte zur Qual werden ließ. Sie hatten noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt, als Lamir erschöpft zusammenbrach. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte er. »Meine Glieder sind schwer wie Blei.« Buruna fühlte sich ebenfalls immer schwächer werden. »Magie!« flüsterte sie. »Tilgran muß unsere Umgebung mit einem Bann belegt haben, um uns an der Flucht zu hindern.« Gleichzeitig wuchs in ihr der Wille, die unsichtbare Sperre zu überwinden. In Gedanken sah sie den Kometensohn wieder vor sich stehen. Er rief nach ihr, sagte, daß sie es schaffen könne, wenn sie nur wolle. Und Buruna wollte. Der heftiger werdende Sturm zerrte an 258
ihr. Um jede Handbreit, die sie vorwärts kam, mußte sie kämpfen. Bald war sie schweißgebadet. Lamir jammerte in einem fort, schien aber schließlich selbst dazu zu schwach. »Kehr um!« war das letzte, was verständlich über seine Lippen kam. »Nein!« Niemals hätte Buruna jetzt aufgegeben. Völlig unerwartet fiel dann alle Schwere von ihr ab. Heftig atmend blieb die Frau noch eine Weile liegen. Ihr Herz pochte bis zum Hals, sie hatte das Gefühl, in einem rasenden Wirbel zu stehen, der sich erst allmählich beruhigte. Wieviel Zeit verstrichen war, bis Lamir und sie auf die nächste Blockhütte zuhasteten, wußte Buruna nicht. Sie konnte nur hoffen, daß ihr Verschwinden inzwischen nicht schon entdeckt worden war. Das einzige Fenster, das die Hütte besaß, war mit dicken Tüchern verhängt. Dahinter zeichnete sich der flackernde Schein einer brennenden Fackel ab. Buruna stieß die Tür auf, die keinen Riegel besaß. Männer sprangen erschrocken hoch und griffen zu ihren Waffen, hielten aber inne, als sie die Frau erkannten. »Ich will euch warnen«, brachte Buruna noch hervor, ehe die Welt um sie herum in Schweigen versank. Sie glaubte, in eine endlose Finsternis zu stürzen.
Die Liebessklavin schreckte auf, als ihr jemand mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Nur der Schein einer blakenden Fackel vertrieb die Finsternis. Das Antlitz eines Mannes beugte sich über sie. »Delem!« Buruna wollte hochfahren, doch starke Arme drückten sie zurück. »Du bist viel zu schwach, um hastig aufzuspringen«, sagte er. »Deine Haut hat noch immer die Farbe eines Leichentuchs.« 259
»Aber ich muß euch…« »… warnen?« vollendete Trettan Delem und lachte. »Wovor?« Buruna zitterte. Abwechselnd heiß und kalt überlief es sie. »Die Caer werden euch vernichten!« »Sie sind weit.« »Nein«, stammelte Buruna. »Du selbst hast in ihrer Mitte gesessen, draußen, am Feuer.« Delem sah aus, als wolle er jeden Moment lauthals herausplatzen. Aber dann blieb ihm das Lachen unvermittelt im Hals stecken. »Das«, kam es tonlos über seine Lippen, »ist kein Scherz mehr. Du bezichtigst die Bauern, mit denen du gekommen bist? Ja, ich habe vorhin mit ihnen getrunken, aber sie sind alles, bloß keine Caer. Wieso lügst du? Haben sie dich betrogen, dir vielleicht deine Ehre geraubt?« In hilfloser Geste schüttelte Buruna den Kopf. »Ich sage die Wahrheit. Ihr müßt mir glauben, wollt ihr nicht blindlings in euer Verderben rennen.« »Was immer du auch bezweckst«, Delem packte sie an der Schulter und schüttelte sie, »ich rieche einen Caer schon fünfzig Pferdelängen gegen den Wind.« »Das ist richtig«, stimmte einer der Umstehenden zu. »Trettan haßt alles, was mit Magie zu tun hat, wie die Pest. Deshalb wurde er unser Anführer.« »Wenigstens dieses eine Mal solltet ihr nicht auf ihn hören. Mein Begleiter kann euch bestätigen, daß…« Unvermittelt hielt sie inne. Lamir war hinter ihr gewesen, das fiel ihr erst jetzt wieder ein. Vor Aufregung hatte sie ihn völlig vergessen. Als sie sich nach dem Barden umwandte, war er soeben im Begriff, sich aufzurichten. Er hatte den Kopf in beide Hände vergraben und stöhnte leise. »Lamir, he, Lamir, ausschlafen kannst du dich später.« Buruna stieß ihn recht unsanft an. Zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner Hände hindurch 260
blinzelte er die Frau verwirrt an. »Sage ihnen, wer uns hierhergebracht hat!« »Es sind Caer«, stammelte der Barde. »Caer und einer ihrer Priester.« Seht ihr! triumphierte Burunas Blick. Ihr wolltet mir nicht glauben. Nur mit einem hatte sie nicht gerechnet: »Dann macht ihr mit ihnen gemeinsame Sache und habt den Tod verdient.« Einige der Flüchtlinge nahmen eine drohende Haltung ein. »Ihr irrt«, beeilte Buruna sich zu versichern. »Wir sind ihre Gefangenen.« »Gefangene, die sich frei bewegen können«, höhnte Delem. »Es gibt eine einfache Möglichkeit, um die Wahrheit herauszufinden: Wir machen dich und deinen Freund einen Kopf kürzer.« »Ihr seid von Sinnen«, protestierte Buruna. »Die Caer wollen unerkannt bleiben. Würden sie das, wenn sie uns in Fesseln mitschleppen?« »Das ist wahr«, gab jemand zu bedenken. »Kein Wort davon!« behauptete Delem. »Und wenn doch? Hieß es nicht, wir sollten die alten Fehler vergessen und jede Uneinigkeit vermeiden? Wir sind gezwungen, zusammenzuhalten.« »Es bleibt ohnehin keine Wahl«, sagte ein anderer. »Egal, ob unsere Heimat nun Ugalos ist, ob sie Nugamor, Akinlay oder Darain heißt, niemand kann dorthin zurückkehren. Wir müssen jedes Wagnis eingehen, um uns in diesem Land eine neue Bleibe zu schaffen.« »Ihr glaubt mir noch immer nicht?« fragte Buruna. »Du bist uns den Beweis schuldig.« »Dann holt Golert her. Er wird euch bestätigen, was ich sage.« »Was sollte der Mann aus Darain mit dir zu schaffen haben?« 261
Trettan Delem setzte ein höhnisches Grinsen auf. »Zufällig ist er seit langen Jahren mein Freund.« »Aber… wir sind ihm vor etlichen Tagen auf dem Sarro begegnet. Er kennt unsere wirklichen Begleiter.« »Golert kam erst vorgestern an«, sagte einer der Flüchtlinge. »Trettan machte ihn sofort zu seinem Stellvertreter.« »Holt ihn her!« Delem mußte sich dem Wunsch beugen. Eilenden Schrittes verließen zwei Männer die Hütte. Es dauerte nicht lange, da kehrten sie in Begleitung zurück. »Buruna… Was ist geschehen?« Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich ihrer Brust. Golert würde ihr glauben. Zuerst stockend, dann immer flüssiger begann sie zu erzählen, was seit jener Nacht geschehen war, da sie die Krieger aus Darain am linken Ufer des Sarro abgesetzt hatten. Lamir unterstützte ihre Rede, indem er hin und wieder heftig nickte. »Die Männer, die draußen lagern, kenne ich nicht«, sagte Golert, als sie geendet hatte. Buruna entging weder das heftige Aufflackern in Delems Augen noch, daß er wütend die Zähne zusammenbiß. »Dann müssen wir sie töten!« rief jemand und riß sein Schwert aus der Scheide. »Wir sind genug, um selbst im offenen Kampf zu siegen.« Bevor Buruna irgend etwas erwidern konnte, hatten sie schon die Tür aufgerissen und stürmten hinaus. »Dort hinüber!« Golert streckte den Arm mit der Klinge aus. »Wir müssen sie einkreisen.« Buruna und Lamir liefen keuchend hinter ihm drein. Plötzlich packte die Frau ihn am Wams und zwang ihn, stehenzubleiben. »Drüben, zwischen den ersten Bäumen«, raunte sie, »das muß Tilgran sein.« 262
Eine hagere Gestalt, die sich kaum vom Hintergrund abhob… Buruna wußte selbst nicht, wieso sie den Priester bemerkt hatte. Lautlos näherte Golert sich dem Mann, der den Kragen seines Umhangs hochgeschlagen hatte. Der Darainer hob das Schwert. Nur wenige Schritte trennten ihn von Tilgran, der das Geschehen hinter seinem Rücken noch immer nicht wahrzunehmen schien. Der Priester wirkte steif, als sei jegliches Leben von ihm gewichen. Golert schlug zu, aber sein Schwertarm blieb, wie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt, in der Luft hängen. Nur mit Mühe konnte Buruna einen entsetzten Aufschrei unterdrücken. Sie sah, daß Tilgran sich umwandte. Scharf abgegrenzt waren Licht und Schatten auf dem Gesicht des Priesters, verliehen ihm etwas Unwirkliches, Unmenschliches. Seine Augen schienen zu glühen wie die eines nächtlichen Raubtiers. Verzweifelt suchte Golert sich herumzuwerfen und zu fliehen. Es gelang ihm nicht. Schwarze Magie fesselte ihn an den Boden. Plötzlich waren Caer-Krieger überall. Sie sprangen aus Büschen und hinter Bäumen hervor, ihre Schwerter fällten die wie erstarrt dastehenden Flüchtlinge, von denen kaum einer den Versuch machte, sich seiner Haut zu wehren. Bevor Buruna Zeit fand, zu begreifen, war alles vorbei. Die Caer schleppten sie und Lamir zu den Pferden und hoben sie in die Sättel. Wütendes Geheul wurde hinter ihnen laut, aber niemand verfolgte sie. Die Männer und Frauen sahen sich einer neuen, alles verzehrenden Gefahr gegenüber. Flammen züngelten auf, die selbst in den nassen Ästen und dem feuchten Gras genügend Nahrung fanden. Ein magisches Feuer. Lange Zeit färbte der lodernde Widerschein die tiefhängenden Wolken hell. Als dann die Sonne im Osten über den Horizont heraufstieg, schloß Tilgran zu Buruna auf und ritt eine Strecke Weges neben ihr her. »Nun weißt du, Prinzes263
sin«, verkündete der Priester, »daß jede Flucht sinnlos ist. Niemand kann sich meinem Zugriff entziehen, dem ich es nicht gestatte.« Buruna sagte nichts. Auch Lamir schwieg. »In Delem habe ich einen willigen Helfer gefunden…« Tilgran ließ seine Worte wirken. Deshalb also! Der Priester mußte den Anführer der Flüchtlinge in seinem Sinn beeinflußt haben. Eine Demonstration der Macht, dachte Buruna. Und wir waren dumm genug, darauf hereinzufallen. Tilgran schien ihre Gedanken zu erraten. Er sagte: »Natürlich werdet ihr nun streng bewacht. Gelegenheit zu einem zweiten Fluchtversuch erhaltet ihr nicht.« Als dann ein anderer Mann seine Stelle einnahm, schrie Buruna gellend auf. Obwohl er sein Gesicht verloren hatte, erkannte sie Golert sofort wieder. Ein Dämon beherrschte ihn – er war für immer verloren.
Mardios lag vor ihnen, die einzige größere Stadt in Rukor und gleichzeitig der Sitz von König Eloard, wie ein funkelndes Juwel eingebettet zwischen fruchtbaren Weinbergen am Ufer eines Flusses. Weiße Mauern drängten sich eng aneinander, von winkligen Gassen und kleinen Plätzen durchzogen, auf denen sich das Leben der Bewohner in buntem Treiben abspielte. Marktfrauen boten ihre Waren feil, überwiegend Früchte und Gemüse von den fruchtbaren Hängen der erloschenen Vulkane, die wolkenumkränzt in der Ferne aufragten; Bettler heischten den Vorbeikommenden um Almosen an, Straßenmusikanten spielten auf schrecklich verstimmten Instrumenten ihre Weisen, die Lamir eisige Schauer über den Rücken jagten. Nirgendwo sah man Flüchtlinge. Die Städter warfen den Rei264
tern zwar manchen mißtrauischen Blick zu, gingen dann aber schnell wieder ihrem Handel nach. Der Hafen, an dem man schließlich vorbeikam, war um vieles größer, als Buruna ihn sich vorgestellt hatte. Mindestens siebzig Kriegsschiffe lagen vor Anker, und keines von ihnen war ein Dreimaster der Caer. Eine wuchtige Befestigungsmauer mit Wehrgängen, Wachtürmen und Steinschleudern erhob sich entlang der Küste und zog sich zu beiden Seiten bis unmittelbar an die Hafeneinfahrt hin. Ein Angreifer mußte es schwer haben, wenn es nicht gar unmöglich war, hier zu landen. Nicht umsonst galt Rukor neben Caer als die größte Seemacht des Nordens. Aber all das war Buruna nur einer flüchtigen Beachtung wert. Wenn sie an den Mann dachte, der fast auf Tuchfühlung neben ihr ritt, dann schauderte sie. Das hatte sie nicht gewollt, sondern hatte gehofft, den Caer entkommen zu können und gleichzeitig die Flüchtlinge vor der unheilvollen Macht Tilgrans zu bewahren. Zum Glück schien der Priester nicht zu wissen, in welcher Beziehung sie zu Golert stand, sonst hätte er sie und Lamir längst ebenfalls zu seinen willenlosen Sklaven gemacht. Allmählich wurden die Bürgerhäuser weniger. Der Weg führte durch einen riesigen, gepflegt wirkenden Park, an kleinen Teichen vorbei, auf denen sich Schwäne tummelten. Inmitten uralter knorriger Bäume erhob sich ein mächtiges Bauwerk, das seinesgleichen suchte. Unzählige Turmchen, Erker und Zinnen verliehen ihm eine heimelige Ausstrahlung. Das Schloß König Eloards, von einem breiten Wassergraben umgeben, auf dem in üppiger Fülle Seerosen wucherten. Nach allem, was Buruna bisher über den rukorischen Herrscher erfahren hatte, hätte sie nicht eine solche Schönheit erwartet. Sie rechnete damit, ein altes, verhärmtes Männlein anzutreffen, das mit sich und der Welt unzufrieden war und keinen Sinn 265
besaß für die wahren Dinge des Lebens. Die Zugbrücke war heruntergelassen. Zu beiden Seiten flatterten Banner im Wind, die auf gelbem Grund ein gesegeltes Horn zeigten. Buruna wußte, daß dieses Wappen auf die Nase von Rukor hinweisen sollte, die im Süden die Verlängerung der Grenze darstellte, fast nur aus nacktem Fels bestand und mit unzähligen Inseln bis weit in den Ozean hineinreichte. Starke Festungsanlagen waren dort errichtet worden, und zwischen den Schären lauerten Dutzende von Kriegsschiffen, bereit, jeden Feind vernichtend zu schlagen. Schildwachen stellten sich ihnen in den Weg, als sie über die Zugbrücke ritten. »Wer seid ihr?« »Eloard erwartet uns!« »Deine Antwort mißfällt mir, Fremder.« Eine blitzende Hellebarde zuckte hoch, wurde von dem Caer, der in vorderster Reihe ritt, jedoch mit einem schnellen Schwertstreich abgewehrt. »Wachen!« brüllte der Rukorer. Irgendwo begannen Ketten zu rasseln; ein schweres, eisernes Fallgitter verschloß das Tor. Aber bevor es zum Kampf kommen konnte, gebot eine befehlsgewohnte Stimme Einhalt. Buruna folgte ihrem Klang und gewahrte auf den Zinnen einen prunkvoll gekleideten Mann, der eine schwere Armbrust nach unten gerichtet hielt. Er war nicht sonderlich groß, schätzungsweise fünfeinhalb Fuß, dafür aber massig gebaut und unglaublich muskulös und kräftig wirkend. Unter einem in die Stirn gedrückten Barett quoll dunkles, in Wellen bis auf die Schultern fallendes Haar hervor, das sich an den Schläfen bereits lichtete. »Bist du Eloard?« fragte Tilgran mit lauter Stimme. »König Eloard von Mardios!« »Du hast mich rufen lassen, und ich bin gekommen, dir beizustehen.« Schwang Hohn in diesen Worten mit? Buruna war fast ge266
willt, dies zu glauben. »Laßt sie passieren!« Die Hellebardenträger gehorchten sofort. Langsam glitt das Fallgitter wieder in die Höhe. Als die Caer in den großen Burghof einritten, kam ihnen der König entgegen. Er wartete, bis Tilgran abgesessen war, eilte dann auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Ohne zu zögern, schlug der Priester ein. Einige belanglose Begrüßungsfloskeln wurden ausgetauscht, als wolle jeder erst die wirkliche Stärke des anderen herausfinden. Allerdings war nicht daran zu zweifeln, daß letztlich der Priester die Oberhand gewinnen würde. Wer einen Pakt mit den dämonischen Mächten der Finsternis schloß, konnte dabei nur verlieren. Nach einer Weile kamen beide auf die vermeintliche Prinzessin und ihren Leibbarden zu. »Dies ist mein Gastgeschenk an dich«, erklärte Tilgran großspurig. »Buruna ist eine Tochter des Shallad Hadamur und deiner sicherlich würdig.« Eloard musterte sie mit einem Blick, der auf ihrer Haut brannte. So hatten die Männer auf Burg Anbur sie angesehen, als sie noch die Liebessklavin Graf Corians gewesen war. Schließlich nickte der König anerkennend und winkte einige Diener zu sich heran. »Den Mann sperrt in den Turm, sie aber führt in mein Schlafgemach. Gebt ihr Kleider, die für diese Gelegenheit passend sind.« An Tilgran gewandt, fuhr er fort: »Komm, wir werden ungestört miteinander reden. Für deine Krieger wird derweil gesorgt.« Ein pechschwarzer Diener zerrte Buruna mit sich. Sie wehrte sich nicht. Das Schlafgemach des Königs spiegelte ungeheuren Reichtum wider. Schwere Stoffe zierten die Wände, den Boden bedeckten dicke, flauschige Tierfelle. Das Bett selbst verschwand 267
fast unter einem Berg von Kissen, und wunderschön gedrechselte Säulen trugen einen Baldachin, auf dem das Wappen von Rukor prangte. Buruna schüttelte sich ab wie ein nasser Hund. Mit Widerwillen entkleidete sie sich und legte das Gewand an, das ihr gereicht wurde. Es bestand aus hauchdünner rosa Seide. »Wie ist dein Herr?« wollte sie wissen. Der Diener schien nicht zu verstehen. »Ich meine, ist er hart und unbarmherzig?« »Verzeih, Prinzessin, aber darauf kann ich dir nicht antworten.« »Du hast Angst? Wie lange stehst du schon in des Königs Diensten?« »Es ist fünfzehn Sommer her, daß er mich auf seinem Schiff nach Rukor brachte.« Bevor die Frau weiter in ihn dringen konnte, wandte er sich um und verließ den Raum. Buruna begann zu schluchzen, als die Tür zufiel. Ganz anders hatte sie sich den Verlauf ihrer Reise vorgestellt. Vielleicht hätte sie Lerreigens Warnungen doch nicht in den Wind schlagen sollen. Wütend auf sich selbst, warf sie sich auf das Bett; ihre Finger krallten sich in die Kissen, schleuderten sie nach allen Seiten. Buruna empfand Haß. Wenn sie sich vorstellte, daß dieser Mann, der im Begriff stand, sein eigenes Volk zu verraten… Niemals würde sie ihm zu Willen sein. Ein Zittern durchlief ihren Körper, dann sprang sie auf und hastete zur Tür, riß sie mit einem einzigen Ruck auf und – erstarrte. Zwei funkelnde Klingen überkreuzten sich vor ihr; sie spürte sogar den eisigen Luftzug, den sie verursachten. Die hämisch grinsenden Visagen der Wächter gaben Buruna den Rest. Mit den Tränen ringend, warf sie sich herum. Sie würde Eloard mit ihren Nägeln zeichnen, wenn er zu ihr kam.
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Buruna mußte eingeschlafen sein, jedenfalls erwachte sie davon, daß der blendende Schein einer Öllampe auf sie fiel. Im ersten Schreck richtete sie sich halb auf und schirmte ihre Augen mit den Händen ab. Dennoch konnte sie nicht erkennen, wer zu ihr gekommen war. Sie sah nur die Umrisse weit fallender Gewänder. »Wer bist du?« Ein leises, wohlklingendes Lachen antwortete ihr. »Ein Freund?« »Du kannst es so sehen.« Das war König Eloards Stimme. Buruna zuckte zusammen. Er stellte die Lampe auf ein Tischchen neben dem Bett. Der Lichtschein lag jetzt auf seinem Gesicht, das zernarbt war und von Wind und Wetter gegerbt. Seine Haut war die eines Seefahrers – Sonne und Salzwasser hatten sie in vielen Jahren gebräunt. Burunas Abneigung fand neue Nahrung, als sie in die Augen sah, die klein waren und tief in den Höhlen lagen. Eloards stechendem, beinahe grausam zu nennendem Blick schien nichts entgehen zu können. Mit unverhohlenem Interesse starrte er sie an. »Die Verhandlungen mit Tilgran haben länger gedauert, als ich annahm, aber du wirst mir die Entspannung geben, die ich nun brauche. Du bist wirklich schön, Prinzessin.« Im ersten Aufwallen der Gefühle wollte Buruna ihm an die Kehle springen, lediglich ein Rest von Vernunft ließ sie einhalten. Was wäre damit erreicht gewesen, wenn sie den König gegen sich aufbrachte und gleich Lamir im Verlies landete? »Ich bin eine Tochter des Shallad Hadamur«, begehrte sie auf. »Mich behandelt man nicht wie eine gemeine Dirne.« Eloard setzte sich zu ihr aufs Bett. Seine Hand strich langsam über ihre Waden. Sie ließ es geschehen. »Niemand tut das«, flüsterte der König mit vor Erregung zitternder Stimme. 269
»Ich habe Durst.« Wohlig räkelte Buruna sich auf den Kissen, genau wissend, wie weit sie gehen konnte, ohne ihre ohnehin nur dürftig verhüllten Blößen vollends den bewundernden Blicken preiszugeben. Eloard klatschte in die Hände. »Bring Wein!« befahl er dem Diener, der darauf eintrat und sich unterwürfig nach seinem Begehren erkundigte. »Aber vom besten.« Buruna schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln dafür, das mehr versprach, als sie schließlich zu halten gewillt war. Seine Hand wanderte höher, verharrte einige Augenblicke auf ihrem Knie. »Dein Gespräch mit dem Priester war anstrengend?« fragte Buruna wie beiläufig. »Ich nehme an, Tilgran hat sich bereit erklärt, das Flüchtlingsproblem mit Hilfe Schwarzer Magie zu lösen.« »Woher weißt du?« »Der Priester kann deine Bitte nicht ablehnen, immerhin bist du der König von Rukor, einer bedeutenden Seemacht. Allerdings wird er eine Gegenleistung verlangt haben.« Buruna griff nach der Hand, die mittlerweile ihren Oberschenkel streichelte, und drückte sie fest an sich. »Das stimmt«, sagte Eloard. »Drudin verlangt eine festere Bindung an die Caer, dafür wird er unser Land verschonen. Es sollen lediglich einige Hundertschaften Caer-Krieger in Rukor stationiert werden. Außerdem will er, daß seine Priester ihre Lehren in Rukor verbreiten dürfen.« Mit anderen Worten, dachte Buruna, dein Reich soll endgültig zu einem Dämonenstaat werden. Der Diener trat ein und brachte den Wein. »Trink!« sagte Eloard und hielt der Frau einen goldenen Becher hin. »Das Blut dieser Reben liegt verführerisch auf der Zunge.« Er hatte nicht übertrieben. Buruna konnte sich nicht entsin270
nen, jemals etwas Köstlicheres getrunken zu haben. »Der Wein erinnert mich an meine Heimat.« Sie schmiegte sich eng an Eloard. »Es ist ein herrliches, ein reiches Land, über das mein Vater herrscht. Leider kenne ich von Rukor nicht viel mehr als das, was ich auf dem Ritt hierher sah.« »Du wirst es kennenlernen. Etwa ein Drittel aller Rukorer sind Krieger; die Arbeit fällt in der Hauptsache den Frauen zu, die geschickte Handwerker sind und auch die Felder bestellen. Vielleicht besitzt du entsprechende Fähigkeiten.« »Ich glaube nicht«, meinte Buruna. »Mein Vater duldet es nicht, daß ich niedere Tätigkeiten verrichte.« »Er würde es nie erfahren. Außerdem, das muß ich eingestehen, bist du dafür wirklich zu schade.« Eloard fuhr ihr mit der Rechten durchs Haar, umfaßte dann ihren Nacken und hob sie hoch zu sich. Buruna hielt die Augen geschlossen, ein Umstand, der sie nur noch reizvoller erscheinen ließ. Als seine Lippen die ihren berührten, zuckte sie unverhofft zurück. »Ich kann mich dir nicht hingeben«, sagte sie, »ohne mehr von dir zu wissen. Du vergißt meine hohe Geburt.« »Was willst du hören? Daß ich ohne Mühe ein Pferd hochheben und auf den Schultern tragen kann? Auf diese Weise habe ich vor einigen Sommern die Mähre eines in Ungnade gefallenen Heerführers über die Klippen ins Meer hinabgestürzt. Ihn selbst ereilte allerdings ein anderes Schicksal. Oder daß Frauen mich faszinieren, ich jedoch nur eine Zweckheirat eingehen würde, die mir und meinem Land Vorteile brächte? Man erzählt sich sogar, daß Herzog Krude mir seine Tochter angeboten hat, als er erkannte, in welchem Ausmaß Elvinon von den Caer bedroht war. Du befindest dich also in angenehmer Gesellschaft.« »Und? Ich nehme an, die Caer werden dich vor einem solchen Bündnis gewarnt haben.« Buruna bemerkte die wachsende Ungeduld Eloards und zog ihn sanft auf die Kissen. Ihre 271
Hände strichen über seine muskelbepackten Oberarme, glitten über seine behaarte Brust abwärts. »Aber nun bist du nahe daran, dein Land kampflos den Dämonen zu überlassen.« »Habe ich eine andere Wahl, als Tilgrans Forderung zuzustimmen? Schließlich kann ich nicht zulassen, daß Scharen von Flüchtlingen Rukor überfluten. Früher oder später würden sie sich mit meinem Volk vermischen und uns ihre verweichlichte Art zu leben aufzwingen.« Buruna gab seinem Drängen nach; ihre Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen Kuß, der von ihr jedoch nur zaghaft erwidert wurde. Eloard schien es nicht zu bemerken. »Was für eine Forderung stellte Tilgran?« Abrupt fuhr der König hoch. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er Buruna schlagen, doch besann er sich dann eines Besseren. »Dein Wissen wird dir ohnehin nichts nützen«, sagte er. »Für jeden Fremden, der aus Rukor verschwindet, soll ich einen Krieger unter Drudins Befehl stellen, der mit einer großen Streitmacht unterwegs nach Süden ist.« Die Auskunft war erschreckend, bedeutete sie möglicherweise große Gefahr für Mythor. Trotzdem zwang Buruna sich zu einem herablassenden Lächeln. »Es tut mir leid um die Männer deines Volkes, die mit den Caer zusammen sterben werden. Aber mein Vater wird keinen Unterschied machen, wenn er ihnen mit den Streitmächten des Shalladads entgegentritt.« »Er wird untergehen wie die Rukorer, die im Jahre fünf von König Arwyns Regentschaft gegen den Inselteil Tainnias zogen und geschlagen wurden.« »Wenn Hadamur erfährt, daß man mich in diesem Land gefangenhält, wird er angreifen.« Eloard lachte. »Niemand kann verhindern, daß du mir gefügig sein mußt. Wir hatten uns schon immer gegen die Südvölker zu wehren, die vor allem von See her kamen. Aber stets 272
scheiterten ihre Flotten am stark befestigten Hörn von Rukor. Gegen die Heymalländer hin sind wir durch die Große Mauer geschützt, die bisher ebenfalls kein Heer überwunden hat.« »Wenn du so viel von deinem Reich hältst, König Eloard von Mardios«, sagte Buruna in spöttischem Tonfall, »weshalb versuchst du nicht, es zu retten, sondern verschacherst es an die Dämonen, die alles mit Finsternis und Verderben überziehen werden?« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich habe keine andere Wahl«, erklärte er. »Und nun komm!« Buruna spürte seinen heißen, hastigen Atem an ihrer Wange, sah den fiebrigen Glanz seiner Augen. Eloards Wesen stieß sie ab, doch um das Leben der Tausende von Flüchtlingen zu retten, würde sie ihm sogar zu Willen sein. »Ich versichere dich der Hilfe meines Vaters«, versprach die Prinzessin. »Zusammen wärt ihr wohl stark genug, um die Caer zurückzuschlagen, und du könntest den Ruhm erlangen, die Niederlage zu Zeiten Arwyns getilgt zu haben.« Eloards Reaktion ließ deutlich erkennen, daß er sich der Gefahr bewußt war, immer tiefer in die Abhängigkeit der Priester zu geraten. Nur schien ihm Rukors Untergang unvermeidlich, sobald er den Caer den Kampf ansagte. Wenn er auch das Schlachtfeld fürchtete – zumindest in seinen Gemächern war er gewohnt, sich zu nehmen, was er besitzen wollte. Buruna konnte und durfte sich ihm nicht verschließen. Mit den Instinkten einer erfahrenen Frau fühlte sie, daß Eloard ihrem Vorschlag nicht so ablehnend gegenüberstand, wie er sich gab. Er benötigte Zeit, um zu einem Entschluß zu kommen, und sie durfte ihn währenddessen nicht gegen sich aufbringen.
Die Tafel war reich gedeckt; es gab Wild, am Spieß gebratene 273
Frischlinge, alle Sorten von Fisch,, Muscheln und erlesene Getränke. Der König von Rukor nahm dieses üppige Mahl zum Anlaß, um mit seinen Beratern erneut über die Haltung zu sprechen, die man den Caer gegenüber einzunehmen gedachte – Burunas Worte hatten ihre Wirkung demnach nicht verfehlt und ihn zumindest nachdenklich werden lassen. »Wir waren uns einig, daß wir Rukor von allen Schlachten fernhalten«, erregte Gembord sich, ein alter, in Ehren ergrauter Mann, der schon Eloards Vater beraten hatte. »Ich verstehe nicht, was dieses erneute Gespräch bedeuten soll.« »Der König fürchtet, daß, wenn die Dämonenpriester ihre Lehren unter dem Volk verbreiten dürfen, bald Unruhen um sich greifen und der innere Zusammenhalt unseres Landes auseinanderbricht.« »Humbug!« fauchte Gembord. »Hat es nicht schon immer Reibereien in Rukor gegeben, die uns daran hinderten, Eroberungsfeldzüge vorzubereiten? Vielleicht haben wir gerade hier ein Mittel in der Hand, um alle Auseinandersetzungen endlich beenden zu können.« »Aber um welchen Preis?« wollte Eloard wissen. »Anfangs glaubten wir nicht, daß Drudin Forderungen stellen würde.« »Wir sollten sie erfüllen, wollen wir verhindern, daß Rukor eines Tages von den Caer überrannt wird.« »Ich pflichte Gembord bei«, sagte Erdigan, der Jüngste in der Runde. »Schon die Flüchtlinge geben uns Probleme auf, die wir selbst nicht lösen können. In wenigen Jahren würde unser Volk nicht mehr das sein, was es einmal war.« »Und wenn wir alle bald Vasallen der Caer sind und ihre Dämonen über uns bestimmen?« Gembord schnitt sich ein Schulterstück von einem Frischling ab. »Ich glaube, was man aus dem Norden hört, entbehrt größtenteils der Wahrheit. Die Tainnianer und Ugaliener suchen nur ihre eigenen Frevel zu verharmlosen, indem sie den Caer 274
alle Verwüstungen zuschieben. In Wirklichkeit sind diese hehre Krieger, deren Herrschaft endlich alle Länder eint.« Eloard schüttelte den Kopf. »Es kann nicht nur Lüge sein«, meinte er, »was über Lockwergen berichtet wird und über die Schlacht von Dhuannin. Wir verraten unser Land, wenn wir die Dämonenpriester gewähren lassen.« Dabei dachte er an Buruna, ihren aufreizenden Körper mit den festen Brüsten, ihr verlockendes Lächeln… »Du zweifelst an meinen Worten«, brauste Gembord auf. »Ausgerechnet du, der du wissen solltest, daß mein Rat stets Rukor zum Vorteil gereichte.« »Ich will deine Verdienste nicht schmälern…« »Aber du tust es. Weshalb batest du uns an deinen Tisch, wenn letzten Endes du allein entscheidest?« »Ich suchte euren Rat, eure Hilfe.« »Du hast gehört, was wir zu sagen haben. Es ist das gleiche, was wir schon vor einem halben Mond erklärten. Verbünde dich mit Caer, und das Schwert wird blutlos an Rukor vorüberziehen.« König Eloard von Mardios erhob sich ruckartig. »Ich muß darüber nachdenken«, bekannte er. »Meine Zweifel konntet ihr nicht vertreiben.« Damit wandte er sich ab und ging. »Zögere deine Entscheidung nicht zu lange hinaus«, rief Gembord ihm hinterher. »Es könnte sonst sein, daß Drudin ungeduldig wird und vergißt, daß er Rukor schonen wollte.«
Seit zwei Tagen wurde Buruna in des Königs Schlafgemach gefangengehalten. Noch einmal hatte sie in dieser Zeit versucht, den Raum zu verlassen, war aber von Wachen erneut daran gehindert worden. Eigentlich fehlte es ihr an nichts – sie war trotzdem unzufrieden. Sooft Eloard zu ihr kam, versuchte sie, ihn in ihrem 275
Sinne zu beeinflussen. Ihrem weiblichen Gespür blieb nicht verborgen, daß der König mit jedem Mal nachdenklicher wurde, irgendwie in sich gekehrt. Und sie setzte die Reize ihres makellos geformten Körpers ein, um ihn vollends für sich zu gewinnen. Nur eines schmerzte sie, daß sie nicht wußte, was aus Lamir geworden war. Wahrscheinlich schmachtete er in einem stickigen, von Ratten überfüllten Verlies und trauerte den schönen Stunden in Leone nach, die er mit Viliala verbracht hatte. Obwohl ihr nicht danach zumute war, mußte Buruna unwillkürlich lächeln. Sie konnte überzeugt sein, daß Lamir das Beste aus seiner mißlichen Lage machen würde. »Heute so wohlgelaunt, Prinzessin?« Plötzlich stand Eloard von Mardios vor ihr. Sie erschrak, denn sie hatte ihn nicht kommen hören. »Ich habe nur an meinen Vater gedacht«, log sie, »und daran, daß er bald wissen wird, wo ich zu finden bin.« Der König blickte sie nachdenklich und, wie es schien, wohlwollend an. »Du hast mir zu denken gegeben«, sagte er. »Tilgran hat inzwischen mit den Vorbereitungen begonnen, Rukor von allen Flüchtlingen zu befreien. In Mardios treffen außerdem laufend Hundertschaften gut ausgerüsteter Krieger aus allen Teilen des Landes ein, vorwiegend aus den östlichen Regionen.« »Du fürchtest, dein Reich damit zu entblößen und einem überraschenden Angriff preiszugeben«, sagte Bu-runa. »Diese Einsicht kommt reichlich spät.« Eloard nickte und setzte sich zu ihr aufs Bett. »Ich weiß nicht mehr, wem ich glauben soll«, gestand er, und Buruna wußte dieses offene Bekenntnis sehr wohl zu schätzen, bedeutete es doch nicht mehr, aber auch nicht weniger, als daß der König zu ihr Vertrauen gefaßt hatte. »Meine treuesten Berater drängen mich, das Bündnis mit den Caer zu schließen.« 276
»Überlege es dir gut! Drudin wird nicht eher ruhen, bis Rukor ihm hörig ist. Der Schutz, den Tilgran dir in seinem Namen verspricht, ist ein zweischneidiges Schwert und wird deinem Volk hohe Blutopfer abverlangen.« Kein Wort von den Söldnerheeren des Südens, von den gewaltigen Kriegsflotten, von denen Buruna immer wieder gesprochen hatte. Bewußt verzichtete sie darauf. Eloard schwieg lange, nachdem sie geendet hatte. Er sah sie nur an, ließ seinen Blick über ihren Körper wandern, ohne jedoch verlangend oder gar fordernd zu wirken. Als er endlich das Schweigen brach, war ihm anzumerken, wie schwer es ihm fiel. »Buruna«, sagte er, »du bist so anders als die vielen Mädchen, die ich vor dir gekannt habe. Vielleicht liegt es daran, daß du eine Tochter des Shallad Hadamur bist. Ich möchte dich besitzen, aber nicht mehr aus dem Bewußtsein meiner Macht heraus, sondern weil du meine Gefühle erwiderst.« Langsam fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich muß mir über meine Empfindungen zu dir erst noch klarwerden.« »Du bist frei, Prinzessin, kannst tun und lassen, was du willst. Auch dein Leibbarde darf das Verlies verlassen. Welchen Beweis verlangst du noch von mir?« »Rüste eine kleine Flotte aus – fünf oder sechs Schiffe, die mich, ohne daß Tilgran oder die Caer davon erfahren, nach Süden bringen. Ich werde mit einer riesigen Streitmacht zurückkehren.« »Die Bitte ist dir gewährt, Buruna.« Eloard nickte spontan. »Aber ich begleite dich, denn wisse, daß ich ein leidenschaftlicher Seefahrer bin und schon viele Expeditionen ausgerüstet habe, um das Westmeer zu erforschen. Leider kehrte nie eines dieser Schiffe zurück; sie sind wohl über den Rand der Welt gestürzt.« »Hoffentlich ergeht es uns dann nicht ebenso«, sagte Buruna 277
lachend. »Dein Angebot ehrt mich, allerdings glaube ich, daß dein Platz in dieser schweren Zeit hier ist, in Rukor. Du solltest dein Volk jetzt nicht allein lassen. Deine Mannschaften werden ihre Schiffe auch ohne dich zu steuern wissen.« »In der Tat«, begann Eloard, wurde aber unverhofft unterbrochen, weil jemand von außen die Tür zu seinem Gemach aufstieß. Bevor er wütend auffahren konnte, stürmten Gembord und Erdigan herein. Ihnen auf dem Fuß folgte Tilgran in Begleitung zweier Caer und eines Mannes, der ihm fremd war, der, seiner Kleidung nach zu schließen, aber weit aus dem Süden stammte. »Euch schickt wirklich der König?« Unglaube spiegelte sich in den Gesichtern der Männer, welche die beiden Reiter umzingelt hatten und mit ihren Waffen bedrohten. »Weshalb sollten wir sonst zu euch kommen?« »Das ist wahr. Eloard von Mardios weiß, daß wir nichts zu verlieren haben und lieber bis zum letzten Atemzug kämpfen, als uns jemals aus diesem Land vertreiben zu lassen.« »Dann hört des Königs Botschaft. Er versichert euch, daß alle, die aus dem Norden kommen, sich in diesem Gebiet niederlassen dürfen. Ihr allein werdet in Zukunft…« Was er noch sagen wollte, ging im Jubel der Menge unter. Selbst die Männer umarmten und küßten sich, waren ausgelassen und fröhlich. All die Mühsal und Strapazen, die hinter ihnen lagen, verschwanden aus ihren Gesichtern, wichen einem Ausdruck unbeschreiblicher Freude. »Sitzt ab und trinkt mit uns!« riefen sie. Die beiden Reiter konnten sich des Ansturms nicht erwehren, wurden förmlich von ihren Rössern herabgezerrt. Es gab nur wenig Wein und Bier, und die meisten mußten sich mit klarem Quellwasser begnügen, aber das tat der Freude keinen Abbruch. Lange wurde gefeiert, bis die beiden Boten schließlich erklärten, aufbrechen zu müssen, um bis zum nächsten 278
Morgen wieder in Mardios zu sein. »Überbringt König Eloard unseren Dank«, sagte Delem. »Er hat in uns treue, ergebene Untertanen gefunden und kann auf unsere Schwerter zählen, wenn es gilt, die Grenzen Rukors gegen Feinde zu verteidigen.« Hochrufe wurden laut und Beifall. »Noch etwas«, ließen die Rukorer wissen. »Das Land, das ihr fürderhin beansprucht, müßt ihr selbst abstecken. Errichtet um euer Lager und die Felder, die ihr bearbeiten wollt, einen Zingel aus Langsteinen. Solches soll euch vor den Ansprüchen ansässiger Bauern schützen, die diese ebenfalls auf die fruchtbare Krume erheben könnten.« »Die Steine werden wir vom Grenzwall holen und hier in der Ebene aufrichten«, verkündete Delem. Frohe, glückliche Menschen blickten den Reitern hinterher, bis diese zwischen den Bäumen des nahen Waldes verschwunden waren. Dann gingen sie mit einem Feuereifer daran, sich eine neue Heimat aufzubauen. Viele der Flüchtlinge besaßen Pferde, die nun angeschirrt wurden, um mächtije Felsblöcke heranzuschleifen. Während die Männer arbeiteten, bis sie vor Schwäche zusammenbrachen, erzählten die Frauen ihren Kindern von der Großherzigkeit des Königs. Ihr Flehen war bei den Göttern nicht ungehört verhallt. Endlich hatte man eine Bleibe gefunden, ein Land, das von allen kriegerischen Wirren verschont geblieben war. Hier würde man eine neue Zukunft finden und im Laufe vieler Sommer das Geschehene vielleicht vergessen können…
»Das Weib hat ihn verhext«, schimpfte Gembord. »Niemand sonst kann einen solchen Einfluß auf Eloard haben.« »Du meinst…?« 279
Der Alte nickte. »Sie ist eine Tochter Hadamurs. Weiß ich, was sie ihm versprochen hat, wenn er das Bündnis verweigert?« Fackeln erhellten den Gang, durch den sie kamen. Gembord und Erdigan befanden sich in einem Seitenflügel des Schlosses, zu dem seit Tagen niemand mehr Zutritt hatte. Vor einer schweren hölzernen lür blieben sie schließlich stehen. »Kommt herein!« schien eine unhörbare Stimme zu flüstern. Sie gehorchten. Tilgran empfing sie in der Tracht der Priester. »Ihr bringt schlechte Nachrichten?« wollte er wissen. Des Königs Berater traten ihm unterwürfig entgegen. »Eloard beginnt zu zweifeln«, sagten sie. »Nur dieses Weib kann schuld daran sein, das du ihm zum Geschenk machtest.« »Ist das alles? Setzt ihr euch deshalb der Gefahr aus, auf dem Weg zu mir gesehen zu werden?« »Der König will das Bündnis mit Caer nicht eingehen«, platzte Gembord ungehalten heraus. »Eloard wird Buruna verdammen und ihren Worten nicht länger Glauben schenken«, meinte der Priester. »Sorgt euch nicht um die Güter und die Macht, die euch versprochen wurden.« »Wir…«, begann Erdigan, schwieg aber entsetzt, als Tilgran ihn zornig anfunkelte. »Die Prinzessin hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf Eloard bekommen«, stellte Gembord fest. »Sie ist keine Prinzessin!« Die beiden Rukorer wagten nicht, nach dem Grund dieser Erkenntnis zu fragen. Tilgran weidete sich an ihren erstaunten Gesichtern. »Der Vogelreiter«, ließ er sie dann wissen, »stammt aus dem tiefsten Süden und kennt die Verhältnisse am Hof des Shallad.« Sie erinnerten sich. Während des letzten Vollmonds war es 280
an der offenen Grenze zu Südsalamos, etwa einen Tagesritt von der Großen Mauer entfernt, wiederholt zu Zwischenfällen gekommen, bei denen Rukorer mehrere Angreifer gefangengenommen und nach Mardios gebracht hatten. Die Caer erkannten sofort, daß einer der Gefangenen nicht aus den Heymalländern stammte, sondern von weiter her gekommen sein mußte. Tilgran forderte daraufhin dessen Auslieferung, um von ihm die Lage im Süden in Erfahrung zu bringen. Mit Erfolg, wie es schien.
Je länger Buruna den Fremden anstarrte, desto größer wurde das Gefühl drohenden Unheils, das sie empfand. Der Mann hielt ihrem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Kennst du sie?« fragte Tilgran nach einer Weile. »Nein!« »Was soll das?« brauste Eloard auf. »Nicht einmal ein Abgesandter Drudins darf es wagen, unangemeldet meine Gemächer zu betreten.« »Dadjar ist ein Südländer, der früher der Leibgarde in Hadam angehörte.« »Und?« »Deine Krieger brachten ihn als Gefangenen nach Mar-dios. Er kennt die Tochter des Shallad und sagte mir, daß keine unter ihnen ist, die Buruna heißt.« »Aber du selbst…« »Vergiß es, Eloard. Hadamur hat viele Töchter gezeugt – sogar ein Caer kann sich einmal irren.« »Was hast du darauf zu erwidern?« fuhr der König Buruna an, die merklich blaß geworden war, sich aber alle Mühe gab, ihr Erschrecken zu verbergen. »Erlügt!« »Bei der Ehre meiner Mutter«, rief Dadjar aus. »Sie ist kein 281
Kind des Shallad Hadamur.« Für einen Augenblick zeichnete sich so etwas wie Bedauern in Eloards Miene ab, dann verzerrten sich seine Züge in jäh aufflammendem Zorn. »Du hast mich betrogen und zum Narren gehalten«, brauste er auf. »Deine Rede war nur Schall und Rauch, sinnloses Geschwätz, mit dem du dir die Freiheit erkaufen wolltest.« »Du täuschst dich, Eloard. In meiner Absicht lag es, dir und deinem Volk zu helfen…« »Schweig! Du bist nichts anderes als eine niederträchtige kleine Dirne. Der Priester soll entscheiden, was mit dir zu geschehen hat.« Tilgran vollführte eine unwirsche Bewegung. »Laß sie zu dem Barden in den Turm werfen – und den Vogelreiter auch. Drudin wird über ihr Schicksal bestimmen.«
Dunkelheit umfing sie und ein abscheulicher Verwesungsgestank. Von irgendwoher kam das leise Scharren unzähliger winziger Füße, begleitet von schrillem Quietschen. Ratten! Buruna würgte, als sie eine flüchtige Berührung an ihren Beinen spürte. Dröhnend klang ihr noch immer das Geräusch in den Ohren, mit dem die lür hinter ihr zugefallen war. Die Frau machte sich keine Hoffnungen, was sie erwartete. Neben ihr, zum Greifen nahe, mußte der Südländer sein. Sie konnte ihn nicht sehen, hörte nur sein hastiges Atmen. Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang, die feucht war und glitschig. Wasser drang durch das poröse Mauerwerk. Zwischen schleimigen Flechten huschten Asseln und allerlei anderes Getier umher. Bei jedem Schritt raschelte faulendes Stroh, stieg eine Wolke beißender Gerüche auf. 282
»Lamir«, flüsterte Buruna nach einer Weile des Schweigens, als fürchte sie den Klang ihrer eigenen Stimme. Regungslos verharrte sie, zitternd auf eine Antwort hoffend, die vielleicht nie kommen würde. Aus einer Ecke des Raumes ein Seufzen – erleichtert und bedrückt zugleich: »Prinzessin, bist du es wirklich?« »Glaubst du, mein Geist sei gekommen, dich zu erlösen?« platzte Buruna heraus. »Ich wußte nicht, wer, hörte nur die Stimmen der Wachen, konnte aber nichts erkennen. Nach Tagen in völliger Finsternis blendete mich der Schein ihrer Fackeln wie die Glut der Mittagssonne. Wer ist bei dir?« »Ein Mann, der aus Unwissenheit seinem Herrscher einen schlechten Dienst erwiesen hat«, sagte sie. Daraufhin ließ Dadjar sich wütend vernehmen: »Ich habe eine Betrügerin ihrer gerechten Strafe zugeführt. Wenn ich nun sterben muß, so in der Gewißheit, deinen Frevel gesühnt zu haben.« »Du spielst damit dem Dämonenpriester in die Hände.« Der Südländer lachte, aber es klang bedrückt und fragend. »Wisse«, fuhr Buruna fort, »daß Drudin für seinen Feldzug gegen den Süden jetzt zusätzlich einige tausend Rukor-Krieger erhalten wird, die seinem Befehl gehorchen. Tilgran hat dieses Abkommen mit König Eloard getroffen. Und du Narr mußt alles zerstören. Solange Eloard glaubte, daß ich eine Tochter Hadamurs sei, vertraute er mir und schenkte meinen Versprechungen Glauben, daß der Shallad ihm mit einer gewaltigen Flotte beistehen würde, wenn er sich von den Caer lossagt. Nun war alles umsonst. Rukorische Schiffe hätten Lamir und mich sogar nach Logghard gebracht.« Dadjar schwieg. Er schien über das Gesagte nachzudenken. Mit den Füßen stieß Buruna allzu vorwitzige Ratten von sich. »Elende Biester!« schimpfte sie. 283
»Fange schon an, dich an ihre Gesellschaft zu gewöhnen«, riet ihr der Barde. »Du wirst nicht schlafen können, denn dann fallen sie über dich her. Erst fressen sie deine Kleidung an, dann, wenn du dich ihrer nicht erwehrst, deine Arme und Beine.« »Hör auf!« »Es ist schwer zu ertragen. Ein einziges Mal schloß ich die Augen – wenn ich daran denke, schaudere ich noch immer –, von da an hielt ich mich ständig wach, sang meine schönsten Lieder und Verse, von der Liebe und ihren Wonnen.« »Wie kannst du nur, angesichts solchen Ekels.« »Gibt es etwas Schöneres als die Liebe? Ist es nicht besser, glücklich zu sterben als mit Hader im Herzen?« »Fürwahr!« Buruna stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du denkst an Mythor, verfluchst den Tag, an dem du den Entschluß faßtest, ihm zu folgen?« »Ja, ich denke an ihn. Gerade deshalb finde ich mich nicht damit ab, gefangen zu sein.« »Glaubst du, ich hätte das getan?« »Aber es muß einen Weg geben, der aus diesen Mauern hinausführt.« »Vergiß es.« »Das Alleinsein scheint dich verwirrt zu haben, edler Bänkelsänger«, spottete Buruna. »Dadjar hat mich hier hereingebracht – er wird dafür sorgen, daß wir auch wieder hinauskommen. Alle drei.« Ein überraschtes Brummen antwortete ihr. Der Vogelreiter schien sich endlich zu einem Entschluß durchgerungen zu haben. »Ich denke«, sagte er, »daß du so unrecht nicht hast. Allerdings kann ich deine Lüge trotz dieser Kenntnis nicht gutheißen – was soll ich also tun?« »Tilgran muß glauben, daß ich wirklich eine Tochter Hadamurs bin.« 284
»Wie willst du das bewerkstelligen?« »Irgend etwas wird mir schon einfallen.« »Vielleicht fragt ihr mich«, ließ Lamir sich vernehmen. »Ein Barde weiß manchmal Rat, wo Muskeln und Waffen kläglich versagen.« »Sprich schon!« drängte Buruna. »Hin und wieder kommen Wachen und bringen Essen – so einen schimmligen, knochentrockenen Fraß. Caer begleiten sie, wohl um sicherzugehen, daß ich nicht fliehe. Wenn wir sie davon überzeugen könnten, daß dein Vater tatsächlich der Shallad ist…« »… käme Tilgran nicht umhin, uns freizulassen. Und Eloard dürfte dann endgültig auf meiner Seite stehen, weil er glauben muß, der Priester hätte alles nur aus dem Grund in die Wege geleitet, um ihn zum Bündnis zu zwingen.« »Still!« zischte Lamir plötzlich. »Was…?« Leise Schritte näherten sich. Dann war nichts mehr. »Es tut mir leid, Buruna«, begann Dadjar unerwartet. »Aber ich mußte dich verleugnen, weil ich hoffte, dich dadurch vor Ungemach bewahren zu können.« Die Frau begriff sofort. »Du hast mich dem Verderben anheimgegeben – mich, eine der Lieblingstöchter Hadamurs.« »Wie konnte ich Unseliger auch ahnen, daß meine Lüge dich in dieses Verlies bringt!« rief Dadjar weinerlich aus. »Ich würde mein Augenlicht opfern, um dir die Freiheit wiederzugeben.« »Wenn mein Vater davon erfährt«, brauste Buruna auf, »wird er dich vierteilen lassen.« Ein entsetzter Schrei des Südländers antwortete ihr. »Du bist ein Tölpel, Dadjar«, pflichtete Lamir lauthals bei. »Wenn wir durch deine Schuld sterben, soll deine Seele verflucht sein, daß du uns solches angetan hast.« 285
Seine letzten Worte verhallten im Waffengeklirr, das von draußen hereindrang, aber schon nach wenigen Augenblicken wieder verstummte. Die schweren Riegel wurden aufgestoßen. Als die Tür zurückschwang, fiel blendender Lichtschein in das Verlies. »Heymals!« rief Buruna freudig erregt aus. »Ihr müßt gekommen sein, mich zu befreien.« Doch mitten im Schritt erstarrte sie. Ihre Augen schienen sich an die unverhoffte Helligkeit gewöhnt zu haben. »Caer?« stieß sie ungläubig hervor. »Was… was bedeutet das?« »Nicht mehr und nicht weniger, als daß wir Mardios verlassen werden, Prinzessin.« »Tilgran!« stöhnte sie in jähem Erkennen. »Enttäuscht? Eigentlich bin ich gekommen, um den Barden zu holen. Statt dessen mußte ich Dinge hören, die keiner erfahren darf.« »Was geschieht mit uns?« »Du bist ein wertvolles Pfand, Buruna, das Drudin gerne sehen wird.« Die Caer stießen sie auf den Gang hinaus, wo die leblosen Körper zweier Rukorer lehnten und die Vorüberkommenden aus gebrochenen, weit aufgerissenen Augen anstarrten. »Es war ihr Pech, daß sie Dadjars Entschuldigung mit anhörten«, erklärte der Priester. »Eloard darf nie erfahren, wer du wirklich bist. Deshalb bringen meine Krieger euch auf eines der Schiffe, die Rukor bald verlassen werden.« Buruna ahnte, was das zu bedeuten hatte. »Du wirst mit den geforderten Hundertschaften nach Süden ziehen?« fragte sie. »Demnach hat deine Magie die Flüchtlinge bereits getötet.« Ihr stockte der Atem. »Was du fürchtest, tritt erst in wenigen Tagen ein«, entgegnete Tilgran. »Noch sind Männer und Frauen damit be286
schäftigt, einen magischen Zingel aufzurichten, der ihnen zum Verhängnis werden soll. Sie gehen mit Freude und Eifer ans Werk.«
Der Hafen von Mardios hallte wider von unzähligen Kommandos. Dutzende Schiffe, überwiegend Dreimaster, lagen vor Anker. Mancher der Krieger, die sich an Bord drängten, wäre wohl lieber in der Stadt geblieben, aber die Caer duldeten keinen Widerspruch. »Sie alle werden gegen Logghard ziehen und das Shalladad verwüsten«, ließ Tilgran wissen. Der Priester und seine drei Gefangenen standen an Deck des einzigen schwarzen Seglers. Sämtliche anderen Schiffe gehörten zu Eloards Flotte. »Mit ihnen wirst du keinen Sieg erringen«, spottete Buruna. Nun, da sie wußte, daß die Fahrt nach Süden gehen würde, blühte sie förmlich wieder auf. »Du gibst dich falschen Hoffnungen hin«, sagte Tilgran. »Abertausende Krieger warten schon auf der Scholle, die wir in Kürze anlaufen. Und auch sie sind nur ein kleiner Teil von Drudins Streitmacht.« Das erste Schiff legte ab. Von der Kraft seiner Ruder getrieben, strebte es, immer schneller werdend, der Hafeneinfahrt zu. Erst nachdem es diese passiert hatte, wurden die Segel gesetzt. Die nächsten Schiffe folgten in Rufweite, und als letztes lichtete der Caer den Anker. Die See ging hoch an diesem Tag. Eine frische Brise peitschte die Gischt über Deck. Innerhalb kürzester Zeit war Buruna bis auf die Haut durchnäßt. Eng legten sich die nassen Kleider an ihren Körper und zogen manchen bewundernden Blick an. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Ihr war, als eile der Hauch des Todes der Flotte voraus. Ein Schiff, das so riesig sein sollte wie von Tilgran beschrieben, vermochte sie sich 287
nicht vorzustellen. Buruna blieb allein mit ihren Gedanken, ihren ureigensten Ängsten und Befürchtungen. Sie hatte versucht, was in ihrer Macht stand, hatte sich nichts vorzuwerfen, und doch konnte sie sich dem drohenden Unheil nicht verschließen. Sehenden Auges liefen die Menschen ins Verderben. Lamir spielte die Laute. Die Melodie, die er dem Instrument entlockte, klang bitter und schwermütig. Sie verwehte mit dem auffrischenden Wind. »Schwarze Segel verdunkeln die Sonne, verwandeln den Tag in finstere Nacht…« Der Himmel hatte sich bewölkt. Ein leichter Nieselregen fiel und machte die See zu einem dampfenden Pfuhl. Schlaff hingen die Segel von den Masten. Nur das gleichmäßige Plätschern, das die eintauchenden Ruder hervorriefen, hallte über das Wasser. Doch auch sie konnten das Schiff bald nicht mehr bewegen. Wie geschmolzenes Blei lag das Meer des Blutes ruhig da. Keine Welle trübte seine spiegelnde Oberfläche. Es war geradezu gespenstisch ruhig. Die Pforten der Unterwelt schienen sich zu öffnen, denen düsterer Brodem entströmte. Eine gewaltige, himmelan dräuende Nebelwand verschlang die Flotte. Furcht griff nach den Herzen der Seefahrer und Krieger und lähmte ihren Schlag. Allein Buruna und Lamir blieben auf seltsame Weise davon verschont. Als der Nebel sich dann – nach einer Zeitspanne, die keiner zu ermessen vermochte – lichtete, sahen sie einen riesigen Eisberg vor sich. Gigantisch in seinen Ausmaßen, drohend und verlockend zugleich, von überwältigender Schönheit, doch von Bösem beseelt, dessen Ursprung einzig und allein in der Schattenzone liegen konnte. 288
Unendlich langsam trieben die Schiffe darauf zu. Jeden Moment erwartete Buruna den vernichtenden Aufprall, wenn die unter der Meeresoberfläche verborgenen Schroffen den hölzernen Rumpf aufschlitzten. Aber nichts dergleichen geschah. Lediglich einige Ruder zersplitterten. Ein Glitzern lag auf der See, wie von einem unüberschaubaren Schwarm winziger Leuchtfische. In immer neuen Bildern spiegelten sich die Grate und Zinnen des Eisbergs gleich einer unausgesprochenen, unwiderstehlichen Aufforderung. Rauhreif begann sich auf den Tauen und in der Takelage niederzuschlagen, Schnee wehte über das Deck, zauberte den Kriegern weiße Barte und ließ ihren Atem gefrieren. Es wurde bitter kalt. Nur im Heck des Schiffes gab es eine Zone, in der die Elemente jegliche Kraft verloren. Dort stand Tilgran und blickte auf das Schauspiel der vorüberziehenden Scholle. Was da schwarz und nur undeutlich erkennbar inmitten der funkelnden Pracht ruhte, das waren… »… Menschen!« stammelte Buruna ergriffen. Krieger, die ihre Schwerter in den Händen hielten, Äxte, Speere und Armbrüste – regungslos, zu Eis erstarrt. Eine Kraft schien von ihnen auszugehen, die vielfachen Tod verhieß, als läge dieses Heer nur in tiefem, traumlosem Schlaf, darauf wartend, daß eine unheimliche Macht jeden einzelnen weckte und in den Kampf schickte. »Sie sind nicht tot«, kam es Lamir schwerfällig über die Lippen. »Eiskrieger!« sagte Buruna. »Sieh, die ersten Rukorer gehen von Bord.« Die Männer, auf die ihr zitternder Arm wies, verließen mit eckigen, ungelenk wirkenden Bewegungen das Schiff. Wo immer sie ihren Fuß auf den Eisberg setzten, erstarrten sie zu völliger Bewegungslosigkeit und wurden innerhalb eines ein289
zigen erschreckten Herzschlags von schnell aufwachsenden Kristallen eingeschlossen. Sie erstickten – erfroren, die Münder zum Schrei weit aufgerissen, einen Ausdruck unsagbaren Entsetzens in den Augen. »Das also ist die Scholle«, murmelte Lamir tonlos. »Ein gigantisches, von den Mächten der Finsternis geborenes Schiff. Eis, das selbst in den warmen Strömungen des Ozeans nicht schmilzt, sondern turmhoch anwächst. Wie groß muß die Zahl der Krieger sein, die es in seinem Innern birgt?« »Die Macht der Schwarzen Magie scheint unüberwindlich.« Immer stärker wurde das Verlangen, ebenfalls den Dreimaster zu verlassen. Buruna tat einen Schritt, einen kleinen, wie sie meinte, um den auf ihr lastenden Drang abzuschütteln. Als sie stehenblieb, zogen Wellen des Unwohlseins durch ihren Körper. Dadjar lief an ihr vorbei, ohne sie bewußt wahrzunehmen. Sein Blick war unverwandt geradeaus gerichtet; im Schwarz seiner Augen zeigte sich nur das Abbild des Eisbergs. Er hörte nicht, daß Buruna ihn rief, schwang sich von Bord wie all die anderen vor ihm. Selbst Lamir war nicht mehr zurückzuhalten. Ihn schreckte nicht das Rot des Meeres, das wie das Blut der Männer war, die ihr Leben für das Böse gaben, ohne sich dagegen zur Wehr zu setzen. Unwirklich verzerrt glotzte ihm sein Antlitz aus dem Eis entgegen – Spiegelbild seiner und Ausdruck der Macht, die die Dämonen über ihn gewannen. Auch Buruna verließ das Schiff. Sie spürte die Kälte, die in jede Faser ihres Körpers eindrang, aber sie wurde nicht von den noch immer wachsenden Eiskristallen eingeschlossen. Der Barde blieb ebenfalls verschont. Ohne es eigentlich zu wollen, schlug Lamir die Laute. Eine Saite splitterte wie Glas – ihr Klang verhallte ungehört in der Weite des Ozeans.
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Der Gipfel des Eises ward ihm zum Thron, von hier aus erstrahlte seine Magie bis weit in den Norden. Der Schwarzstein ruhte inmitten funkelnder Kristalle; an seiner Seite stand Drudin und gebot den Nebeln, die die Scholle einhüllten und vor manchem Schiff verbargen, das in der Ferne vorüberzog. Tausend Gesichter zeigte der Opferstein von stong-nil-lumen, Gesichter, die Cherzoon geraubt hatte. »Die Krieger von Rukor haben ihre Schiffe verlassen«, verkündete der Dämon. »Nun vermag ich meinen Brüdern im Süden Beistand zu leisten. Gemeinsam wollen wir es schaffen, die ewige Stadt zu stürzen.« »Aber es werden viele Monde vergehen, bevor wir zurückkehren«, wandte Drudin ein. »Die Gefahr besteht, daß die Völker deines Reiches unsere Abwesenheit nutzen und sich gegen Caer erheben.« »Schweig!« donnerte Cherzoon. »Die Länder, über die ich Herr bin, sind zwar kleiner als die des Südens, doch deshalb halte mich nicht für schwach. Solche Reden stehen dir nicht zu, Drudin. Vergiß nie, daß du nur mein Werkzeug bist und ich dich jederzeit töten kann, wenn ich deiner nicht mehr bedarf.« »Verzeih meine Unverfrorenheit«, stammelte der Priester sogleich. Das unbegreifliche Wesen im Schwarzstein strafte ihn mit Nichtachtung. Erst nach einer kleinen Ewigkeit brach Cherzoon das Schweigen. »Die Welt gehört den Dunklen Mächten aus der Schattenzone. Wenn wir siegen, wird die Sonne ihren Glanz verlieren, und die Sterne werden verblassen, dann überzieht Finsternis die Welt, und Haß schleicht sich in die Herzen ihrer Bewohner. Dann, nur dann, Drudin, wirst du vielleicht ein wenig von der Macht erhalten, nach der du dich sehnst.« ENDE 291
Der nächste MYTHOR-Band Nachdem Mythor und seine Gefährten aus der Gefangenschaft der Piraten der Wüste entkommen sind, setzen sie ihren Vorstoß nach Logghard fort. Im Schutz einer Karawane von Vogelreitern hoffen sie, unbehelligt in die Ewige Stadt zu gelangen – denn die Mächte der Düsterzone gewinnen mit jedem Tag neue Macht, und die drei Gefährten wissen, daß sie nur dann eine Chance haben, sie aufzuhalten, wenn sie ihr Ziel erreichen. Da begegnen sie Odam, dem Prinzen der Düsternis – und erfahren sein tragisches Schicksal… Doch Mythor ist nicht der einzige, der sich auf den Weg nach Logghard gemacht hat. Luxon, der Mann, der My-thors magische Waffen an sich gerissen hat, ist ebenfalls auf dem Weg in die Stadt. Er will den Thron erobern, von dem er glaubt, daß er ihm zusteht… Mehr darüber erfahren Sie im nächsten spannenden Band der MYTHOR-Serie:
PRINZ DER DÜSTERNIS
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