Lars Urban
Der Gott der Nargen Bad Earth Band 14
ZAUBERMOND VERLAG
Das Friday-System brachte nicht den erhofften Ge...
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Lars Urban
Der Gott der Nargen Bad Earth Band 14
ZAUBERMOND VERLAG
Das Friday-System brachte nicht den erhofften Gewinn an Hard- und Software. Sowohl der gestrandete HAKAR als auch die darin gespeicherten Daten gingen verloren. Einzig um einen Gefangenen – Sobek! – reicher, nimmt die RUBIKON Kurs auf das Sonnensystem, in dem der Narge Jiim beheimatet ist. John Cloud will seinem geflügelten Freund helfen, Licht ins Dunkel des Schicksals seiner Artgenossen zu bringen, von denen er nur weiß, dass sie die Siedlung am Schrund verlassen haben (verlassen mussten), weil diese von einem Jay'nac namens Ustrac zerstört wurde. Derselbe Jay'nac aber hat den Kalser-Nargen anschließend die Zusammenarbeit angeboten, um die eisumkrustete Welt in eine bessere Zukunft zu führen. Was daraus wurde, offenbart sich der RUBIKON-Crew, als ihr Schiff in den Orbit um Kalser geht. Ein völlig verändertes Kalser, auf dem längst nicht mehr nur Nargen leben … Der Schrund auf Kalser ist zerstört. In einer morphogenetischen Wissensübertragung erhielt Jiim Kenntnis von der Flucht der dort siedelnden letzten Nargen zur Toten Stadt – und ihrer Begegnung mit einem Jay'nac namens Ustrac. Seither gibt es keine Verbindung mehr zu seinem vermissten Volk. Nun aber, nach Sobeks Gefangennahme in der Anomalie auf Friday-A4, nimmt die RUBIKON Kurs auf den Heimatplaneten der Nargen – wo sie eine auf den ersten Blick erfreuliche Überraschung erwartet. Doch dann begibt sich Jiim auf die Oberfläche seiner Geburtswelt … und sieht sich mit Wesen konfrontiert, deren Ursprünge auf ganz anderen Welten als Kalser zu suchen sind …
Was bisher geschah … Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Boreguir, wird die RUBIKON-Crew im Zentrumsgebiet der heimatlichen Milchstraße Zeuge eines Raumgefechts. Eine goldene Kugel wird von fremden Raumschiffen angegriffen und vernichtet. Der Gloride Fontarayn wird als einziger Überlebender geborgen. Er stammt aus Andromeda und führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des zentralen Milchstraßen-Black-Holes, wo sich eine sogenannte CHARDHIN-Perle befindet, die zu einem universellen Netz von Stationen gehört, welche zu jeder Zeit existieren. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station trotzen. Wieder heil zurück im Normalraum, begegnen sie einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Fontarayns Schiff vernichteten. Um der TreymorGefahr Herr zu werden, beschließt man den Aufbruch zur Andromeda-Perle. Bei einer Transition dorthin wird die RUBIKON jedoch zweihundert Jahre weit in die Zukunft geschleudert … und findet Andromeda völlig anders vor, als von Fontarayn beschrieben. Es häufen sich die Anzeichen, dass die Satoga, die vor zwei Jahrhunderten nach Andromeda aufbrachen, um sich dort friedlich anzusiedeln, verheerende Kriege gegen die hier beheimateten Völker geführt haben. Aber es kommt noch schlimmer: Die Andro-Perle steht kurz vor der Aufgabe durch die Gloriden und ihren Perlenweisesten. Als letzten Gefallen will er die RUBIKON in die Vergangenheit versetzen und ihr so die Möglichkeit geben, die Hintergründe des rasanten Verfalls des universellen Netzwerks aufzudecken. Scobee will diesen Transfer jedoch nicht mitmachen, sondern bricht stattdessen mit Ovayran in dessen Schiff Richtung Milchstraße auf, um die dortigen veränderten Verhältnisse zu erkunden. Sie erreicht die Milchstraße jedoch nicht. Schon im Leerraum zwischen
den Galaxien kommt es zur unerwarteten Begegnung mit der Foronin Siroona, dem Jay'nac Porlac und den Angehörigen des rätselhaften Volkes der Felorer. Während die Gloriden von Porlac und seinen Verbündeten »versteinert« werden, wird Scobee über ein Wurmloch in die heimatliche Milchstraße geschleust, in der nach Porlacs Worten »alles im Sterben« liegen soll. John Cloud und die RUBIKON passieren indes die Portalschleuse der Andromeda-Perle und erreichen ihrerseits die Milchstraße, jedoch in einer anderen Zeit. Nicht identifizierbare Objekte umschwärmen die Milchstraßen-Perle. Cloud und Jarvis begegnen schließlich einem der legendären ERBAUER. Er nennt sich Kargor und übernimmt die volle Befehlsgewalt über die RUBIKON, die zu einer Mission in die Milchstraße aufbricht, von der laut Kargor der Fortbestand des ganzen Universums abhängen könnte. Im System Butterfly-M2 wird man schließlich fündig. Dort residiert der »Zeitverbrecher« Darnok, ganz in seinem Streben nach Rache aufgehend. Die Besatzung der RUBIKON überwältigt ihn, doch es sind Jahrzehntausende in der Milchstraße vergangen, als das Entartungsfeld endlich erlischt. Jahrzehntausende, in denen sich die Menschen auf der Erde und sämtliche anderen bekannten Hochzivilisationen, vom Rest der Galaxie abgeschnitten, fortentwickelt haben. Auch die Erde ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ihr Besuch endet in einem Beinahe-Desaster, denn sie und der Mond sind zu einem von der sogenannten »Oortschale« umschlossenen Hohlweltkonstrukt geworden, in dessen Vakuumzone eine ganz neue Menschenspezies aktiv ist: die Vaku-Farmer. Bei ihrem Vorstoß zerstört die RUBIKON unbeabsichtigt »Weiden« der Farmer, worauf John Cloud vor ein Tribunal gestellt wird. Oberster Richter ist der mit einem Residenz-Gigahirn verwobene Reuben Cronenberg, der eine bizarre Unsterblichkeit erlangt hat. Der RUBIKON mit John Cloud gelingt die Flucht aus Cronenbergs Machtbereich, als eine Flotte von Treymor-Schiffen über der Erde auftaucht. Kurz darauf steht ein sehr viel angenehmeres Wiedersehen auf
dem Programm: Kargor führt die Crew wieder mit Scobee zusammen und offenbart das Angksystem mit all seinen Geheimnissen. Als es dort auf dem Planeten Portas – wohin es zeitweise auch Jiims Sprössling Yael verschlägt – Anzeichen gibt, die darauf schließen lassen, dass die ERBAUER, die sich selbst Bractonen nennen und als Schöpfer unseres Universums zu erkennen geben, endlich wieder den Weg zurück in ihr angestammtes Kontinuum finden könnten, verabschiedet sich Kargor von der RUBIKON-Mannschaft, die enormen Zuwachs von den Angkwelten erhalten hat. Der Versuch, Licht ins Dunkel des Schicksals der Foronen zu bringen, die sich einst über die SESHA-Kopien, die sogenannten HAKARs verteilten und in der Milchstraße operierten, als Darnok mit seinem unheilvollen Wirken begann, führt die RUBIKON ins Friday-System … wo sie in einer Anomalie auf dem vierten Planeten ausgerechnet auf Sobek trifft. Nur auf Sobek. Kein anderer Forone befindet sich mit an Bord des dort gestrandeten HAKARs. Und so wird der Angehörige der einstigen Führungsriege seines Volkes – ihr wichtigstes Mitglied – gefangen genommen, während der HAKAR selbst, von dem man sich wertvolles Datenmaterial erhoffte, verloren gegeben werden muss. Die Anomalie löst sich auf, und die RUBIKON nimmt Kurs auf einen Planeten, der besonders Jiim an seinen zwei Herzen liegt – und zu dem der Kontakt über das Morphogenetische Netz gänzlich abgebrochen ist …
Prolog Allein. Vollkommene Isolation. Ich spüre, dass die Verbindung zum großen Ganzen nicht mehr hergestellt werden kann. Etwas Gewaltiges ist geschehen. Etwas, das sich nicht nur auf mich oder den Planeten unter mir auswirkt. Ich kann mir das Phänomen nicht erklären, aber ich weiß, dass es bis weit über dieses Sonnensystem hinausreicht. Mindestens bis zu meinem Heimatplaneten. Oder dorthin, wo er sich einst befunden hat. Eine Welt ist verschwunden. Ausgelöscht mitsamt ihren Bewohnern. Und nur, weil ich mit anderen Aufgaben beschäftigt war, blieb mir erspart, dieses Schicksal mit dem Rest meines Volkes zu teilen. Ich konnte die Erschütterung spüren, die seine Vernichtung in mir freisetzte. Seitdem herrscht Schweigen. Ein Schweigen, so trostlos wie der Leerraum zwischen den Galaxien. Emotionen sind meiner Art fremd. Gefühle – wie einige organische Lebensformen das nennen – sind nichts weiter als nutzloser Ballast, der die Entwicklung des Kollektivs behindert. Die Befindlichkeit eines Einzelnen ist unwichtig, wenn es darum geht, die Ziele der Gemeinschaft zu erreichen. Doch was ist, wenn diese Gemeinschaft nicht mehr existiert? Wenn aus einem einzelnen Teilstück plötzlich das verbliebene Ganze geworden ist? Gelten die ehemaligen Regeln und Ziele dann noch immer – selbst wenn sie mit einem Mal sinnlos geworden sind? Bin ich nicht mehr als ein überflüssiges Partikel, dessen einzige Pflicht es nur noch ist, das Schicksal meines Volkes zu vollenden und ihm in den Tod zu folgen? Ins Nichts … Bis zur nächsten Sonne ist es nicht weit. Es wäre ein Leichtes, Kurs darauf zu nehmen, mich in ihr glühendes Zentrum zu stürzen und in der Hitze der Kernfusion zu vergehen. Aber wäre das nicht ein erbärmliches Ende für den letzten Vertre-
ter eines Volkes? Ich weiß nicht genau, was mit den anderen geschehen ist, aber in einem bin ich mir sicher: Sie haben ihre Welt nicht kampflos aufgegeben. Zweifellos wehrten sie sich mit aller Kraft gegen die Ereignisse, deren letzte Konsequenz in der totalen Vernichtung meiner Art bestand. Mein Volk wurde im Kampf ausgelöscht – nicht durch feigen Suizid. Wie käme ich also dazu, eine solche Möglichkeit für mich selbst auch nur in Erwägung zu ziehen? Nein, ich muss meine Existenz als Aufgabe ansehen, das Vermächtnis meines – einst so mächtigen – Volkes fortzuführen. Das große Ganze ist zerstört – also bleibt mir keine andere Wahl, als nach sonstigen Möglichkeiten für einen Neubeginn Ausschau zu halten. Die Zerstörung einer Welt trägt immer auch die Chance für den Aufbau einer neuen in sich. Weshalb also nicht gleich damit beginnen? Vielleicht sollte ich es als ein Zeichen betrachten, dass ich genau hier der Katastrophe entkommen bin. Als einen Fingerzeig, dass ich den Platz für einen Neuanfang bereits gefunden habe. Die Eiswüste unter mir scheint nur darauf zu warten, dass jemand sie aus ihrem Kälteschlaf erweckt und neu formt. Auch ihre Bewohner – ein geradezu erbärmlicher kleiner Haufen Organischer – verhalten sich, als hätte der Permafrost sie mit einem lähmenden Panzer überzogen. Höchste Zeit, dass sich ihrer jemand annimmt. Also werde ich mit ihnen in Kontakt treten. Aber ich werde ihnen nicht als Gleicher unter Gleichen – oder gar als Bittsteller – begegnen. Denn trotz meiner Situation steht meine Macht der der Geflügelten gegenüber wie ein Berg einem einzelnen Sandkorn. Bevor ich mich ihnen zu erkennen gebe, werde ich ihnen eine beeindruckende Demonstration meiner Stärke geben. Das Schauspiel, das sie schon bald zu sehen bekommen, wird noch über Generationen hinweg berichtet werden. Ich werde sie zum Handeln zwingen und ihnen keine andere Wahl lassen, als sich mit mir zu verbünden. Dann werden sie mich schon bald als das erkennen, was mein Volk schon seit langer Zeit für sie gewesen ist: die Herren, deren Führung sie sich anvertrauen sollen. Als Letzter meiner Art werde ich auf ihren Planeten hinabfahren. Mein Kommen wird in die Annalen des Planeten eingehen als die
Ankunft eines weisen, charismatischen Führers, der mehr für sie sein kann als das. Ein gütiger … Gott.
1. Kapitel Jarvis stand bereits vor der Arrestzelle, als auch Cloud und Scobee dort eintrafen. Er empfing die beiden im bewaffneten Modus und mit einem wissenden Grinsen auf dem vorgetäuschten Gesicht. »Ich habe mir fast schon gedacht, dass ihr auch gleich hier auftauchen würdet«, verkündete er gut gelaunt. Seit Kargor ihm eine Hightechschuppe aus dem Arsenal der Bractonen überlassen hatte, war die Nachbildung so perfekt, als sei ein Spiegelbild aus dem Glas heraus in die Wirklichkeit getreten. »Es war klar, dass ihr auf keinen Fall versäumen wollt, wenn Dornröschen aus dem Schlaf erwacht.« Er wies mit dem Kopf zu dem Durchgang, der mit einem transparenten Energieschirm abgesichert war. Ein Warnlicht, das über dem Zelleneingang pulsierte, wies auf die Gefahr hin, die ein Kontakt mit der unsichtbaren Strahlenwand mit sich brachte. »Aber ich fürchte, ihr kommt ein paar Minuten zu spät.« »Was soll das heißen?« Cloud beschleunigte unwillkürlich seine Schritte. »Stimmt etwas nicht?« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Scobee folgte ihm dichtauf. Aus dem Kaffeebecher, den sie in der Hand hielt, schwappten ein paar Tropfen dampfender Flüssigkeit auf den Boden. »Wenn es zu außergewöhnlichen Vorfällen gekommen wäre, hätte uns Sesha doch längst informiert.« »Was das betrifft, bin ich mir leider nicht mehr so sicher.« Auf der Stirn des Commanders erschienen mehrere Falten. »Seit Kargor mehrfach an ihr rumgepfuscht hat, ist sie immer mal wieder für eine Überraschung gut. Dass es dabei auch mal leicht zu einer haarigen Situation kommen kann, brauche ich dir ja wohl nicht zu erklären.« Cloud spielte damit auf die Tatsache an, dass es dem ERBAUER wiederholt gelungen war, Kontrolle über die gesamte RUBIKON zu erlangen, ohne dass die Bord-KI dagegen etwas unternehmen oder sich auch nur an ihre eigene Passivität erinnern konnte.
Seitdem hatte es Vorkommnisse gegeben, die Clouds Vertrauen in die absolute Zuverlässigkeit Seshas einen ordentlichen Dämpfer verpasst hatten. »Alle Schiffsbereiche unter Kontrolle!«, verkündete die KI in diesem Augenblick, als hätte sie gespürt, dass ein unaufgeforderter Lagebericht bestimmt kein Fehler sein konnte. »Alarmstufe Grün.« »Bleib locker, John.« Jarvis winkte ab. »Es gibt keinen Grund zur Aufregung. Ich habe lediglich gemeint, dass ihr zu spät seid, um dabei zu sein, wenn unser Gast aus der Paralyse aufwacht. Ich persönlich habe mir das freudige Ereignis allerdings nicht entgehen lassen. Schließlich hatte Sobek mir diesen Zustand auch zu verdanken.« Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass es ihn mit sichtlichem Stolz erfüllte, aus dem Kampf mit dem Foronenoberen als Sieger hervorgegangen zu sein. »Wie hast du ihn vorhin genannt? Dornröschen?« Scobee blieb vor der Türöffnung stehen. In der kurzen Pause, die sich ihrer Frage anschloss, war das leise Knistern ionisierter Luft zu hören. Der Geruch von Ozon wehte ihr aus Richtung des Energieschirms entgegen. Allerdings war die Konzentration des Gases so gering, dass Sesha sich zu keinem regulierenden Eingreifen genötigt sah. »War das nicht die Geschichte, in der eine junge Dame mit einem Kuss aus dem Schlaf geweckt wird, nachdem ein Prinz sie in einem Gestrüpp gefunden hat?« Als sich die GenTec ihm wieder zuwandte, hatte sie eines der verschnörkelten Tattoos, die sie anstelle von Augenbrauen besaß, amüsiert nach oben gezogen. »Oha, Jarvis, gibt es da vielleicht etwas, das du uns erzählen möchtest?« »Was meinst du –« Jarvis verstummte mitten im Satz, als ihm schlagartig klar wurde, wie die neckende Bemerkung der jungen Frau zu verstehen war. »Boah, lieber würde ich jeden Quadratzentimeter der RUBIKON mit der Zungenspitze sauber machen, als diesem Kerl einen Kuss zu geben.« Der Ekel ließ sein Gesicht in Bewegung geraten wie einen Teich, in den man einen Stein geworfen hatte. Cloud konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen. Aber ihm war auch bewusst, dass ihr Verhalten aus der Zelle heraus aufmerk-
sam verfolgt wurde. Deshalb durfte und wollte er sich kein Gebaren leisten, das seine Autorität auch nur im Geringsten infrage stellen konnte. Der Commander der RUBIKON räusperte sich und warf seinen beiden Begleitern einen mahnenden Blick zu. Scobee und Jarvis kannten ihren Freund gut genug, um den stummen Hinweis sofort zu verstehen. Ihre Gesichter wurden ernst, als sie einen knappen Schritt hinter Cloud Position bezogen. Sobek hatte sich inzwischen von der pritschenähnlichen Liegefläche, die die KI in der Mitte des ansonsten kahlen Raums hatte entstehen lassen, erhoben. In seiner knöchernen Physiognomie war keine Regung zu erkennen, die einen Rückschluss darauf zugelassen hätte, was im Innern des Foronenführers vor sich ging. Cloud ertappte sich dabei, wie er sich insgeheim fragte, wie Sobeks Augen wohl ausgesehen hätten – vorausgesetzt, der hätte solche Sehorgane überhaupt besessen. Stahlblau, entschied er einen Sekundenbruchteil später, hart wie Metall und kalt wie Eis. Was bist du nur für eine jämmerliche Kreatur, John Cloud, meldete sich in diesem Moment der Forone zu Wort. Hast du es wirklich nötig, mich in Gedanken mit den unzulänglichen Werkzeugen auszustatten, auf die du und deinesgleichen angewiesen seid? Bringt dich mein bloßer Anblick so aus dem Konzept, dass du dich in lächerliche Träumereien flüchten musst, um nicht den Verstand zu verlieren? Da sich Sobeks Mundmembrane nicht bewegte, musste er seine hämische Botschaft auf telepatischem Weg übermittelt haben. Clouds Rücken straffte sich, denn die Stimme schien mitten aus seinem Schädel zu kommen. An der Art und Weise, wie sich auch Scobee und Jarvis hinter ihm aufrichteten, erkannte er, dass die Gedanken der beiden ebenfalls nicht vom Eindringen ihres Gegenübers verschont geblieben waren. »Du hältst mich also für jämmerlich?«, entgegnete der Commander. »Wie würdest du dich dann selbst bezeichnen? Immerhin bist du ein Gefangener der Wesen, die du so abgrundtief verachtest. Dann kann es mit deiner eigenen Herrlichkeit ja auch nicht besonders weit her sein. Wenn du uns tatsächlich so überlegen wärst, wie du dir das immer einbildest, würdest du wohl kaum hier in der Zel-
le sitzen, während wir uns frei bewegen können. Oder siehst du das etwa anders?« »Noch dazu, weil das ja nicht das erste Mal ist, dass wir dir gehörig in den Foronenhintern getreten haben«, fügte Jarvis hinzu. Eine gehörige Portion Schadenfreude war in seiner Stimme nicht zu überhören. »Oder hast du vielleicht schon vergessen, dass wir es waren, die dir das Schiff abgenommen haben? Ziemlich peinliche Angelegenheit für einen Häuptling wie dich, wenn du mich fragst.« Nichts ist vergessen! Die Stimme in ihren Köpfen kam einem wütenden Aufschrei gleich. Den Frevel, den ihr mir und unserem Volk angetan habt, werdet ihr büßen bis ans Ende eurer erbärmlichen Existenz – und noch darüber hinaus. Ihr werdet den Tag verfluchen, an dem sich unsere Wege gekreuzt haben. »Also, wenn es nur darum geht, kann ich dir versichern, dass mich die Erinnerung daran auch nicht gerade Freudentänze aufführen lässt.« Jarvis schob sich so weit nach vorne, dass er direkt neben Cloud stand. »Es gibt nämlich mindestens eine Million anderer Zeitgenossen, mit denen ich es lieber zu tun habe als mit dir und deinem ganzen arroganten Haufen.« Sein Widerwille war nicht gespielt. Foronen waren dafür bekannt, dass sie anderen Lebensformen gegenüber pure Verachtung empfanden. Und Sobek war der schlimmste von allen. Als Anführer des ehemaligen Septemvirats hatte er nicht davor zurückgeschreckt, selbst engste Vertraute zu benutzen wie Figuren in einem kosmischen Schachspiel. Engste Vertraute – schon dieser Begriff war eigentlich purer Hohn für ein Wesen, das selbst seinem eigenen Schatten mit einer gehörigen Portion Misstrauen gegenübergestanden hätte. Verbündete waren für einen wie ihn nichts weiter als Mittel zum Zweck. Solange sie seinen Plänen nützlich waren, waren sie gerne geduldete Lakaien, die sich von ihm auch schon das ein oder andere Privileg erhoffen konnten. Doch wenn die Ziele, die Sobek sich gesetzt hatte, es verlangten, würde der Foronenführer nicht eine Sekunde zögern, seine Mitstreiter umgehend aus dem Weg zu räumen. Nicht wenige hatten das schon zu spüren bekommen. Das galt für Angehörige seiner Mannschaften genauso wie für die Mitglieder der foronischen Führungsriege. Mecchit, einer der
sieben Hohen und Sobeks Widersacher, hatte den Umstand, noch am Leben zu sein, lediglich einer glücklichen Fügung und dem politischen Kalkül seines Konkurrenten zu verdanken. Der gefangene Forone stürmte mit so gewaltigen Schritten auf den Zellenausgang zu, dass es den Anschein hatte, er würde direkt in den Energieschirm hineinlaufen. Doch unmittelbar vor der unsichtbaren Wand blieb Sobek stehen. Er beugte sich vorneüber, bis sein Gesicht auf der gleichen Höhe war wie das von Jarvis. Dir steht es nicht zu, so zu reden, du erbärmlicher Wurm, dröhnte es auch in Clouds und Scobees Schädeln, obwohl die Worte vornehmlich an den ehemaligen Klon gerichtet waren. Immerhin hast du es einem Foronen zu verdanken, dass du noch immer so etwas wie ein Leben führen kannst. So jämmerlich es auch sein mag. Hatte Sobek in Jarvis' Bewusstsein gelesen, oder hatte er lediglich einen Schuss ins Blaue abgefeuert? Tatsache war, dass er mit seiner Bemerkung haargenau einen wunden Punkt seines Gegenübers traf. Obwohl Jarvis nicht oft darüber sprach, wussten Cloud und Scobee ganz genau, wie es um ihren gemeinsamen Freund stand: Er litt noch immer unter dem Verlust seines ursprünglichen Körpers. Monts ehemalige Rüstung bot ihm zwar eine Fülle von Möglichkeiten, die einem Normalsterblichen ewig verwehrt sein würden. Aber die ihr innewohnende erstaunliche Wandlungsfähigkeit, die sie, außer zu einem Schutzanzug, auch zu einer Waffe, einem Transportmittel oder einem Werkzeug machte, ließ ihn trotzdem nicht vergessen, dass es sich bei der Nanorüstung letztendlich doch um eine Prothese handelte, auf die er für den Rest seines Lebens angewiesen sein würde. Dass Jarvis die winzigen Partikel die meiste Zeit so angeordnet hielt, dass ihr Erscheinungsbild seiner ehemaligen menschlichen Gestalt entsprach, ließ deutlich erkennen, dass er den alten Zeiten noch immer nachtrauerte. Der ehemalige Klon erwiderte nichts. Doch John Cloud entging nicht der winzige Ruck, mit dem sich Jarvis' Finger fester an den Abzug des Blasters legten. Der Commander beschloss, seinem Freund zu helfen, indem er ihn aus dem Fokus von Sobeks Interesse herausnahm. »Genug der ausgetauschten Höflichkeiten«, wandte er sich
dem Gefangenen zu. »Es wird Zeit, dass wir endlich Klartext miteinander reden. Ich habe eine Menge Fragen. Du wirst mir dabei helfen, sie zu beantworten.« »Wie kommst du darauf, dass ich mich auf eine Zusammenarbeit mit euch einlassen würde?«, kam die verächtlich schnarrende Antwort aus der Sprechmembrane des Foronen. »Weil du kaum eine andere Möglichkeit hast. Schließlich bist du in unserer Gewalt. Das bringt mit sich, dass wir diejenigen sind, die die Spielregeln bestimmen. Egal, ob dir das passt oder nicht.« »John hat recht«, fügte Scobee hinzu. »Sieh dich nur mal gründlich um, Sobek. Ist dir überhaupt klar, wo du dich befindest? Wohin Jarvis dich gebracht hat, während du paralysiert warst?« Einen kurzen Augenblick, in dem der gefangene Foronenführer innehielt, herrschte angespannte Stille. Dann überflutete ein einziges Wort das Bewusstsein der drei Menschen. SESHA! »Sehr gut. Du hast es also kapiert«, entgegnete Cloud durch den Nachhall des Aufschreis in seinem Schädel hindurch. »Auch wenn wir ihm mittlerweile den Namen RUBIKON gegeben haben, ist es noch immer das Schiff, auf dem du einmal das Sagen hattest –« – bevor du es uns gestohlen hast, fiel im Sobek ins Wort. Die Gedankenbotschaft schien unter der grenzenlosen Wut über die erlittene Schmach zu zittern. Wieder einmal wurde überdeutlich, welche Bedeutung das gewaltige Rochenschiff für den Foronen besaß. Die RUBIKON II war die Arche gewesen, mit der sie aus ihrer Heimatgalaxie Samragh vor der Bedrohung der Virgh geflohen waren. Nach ihrem Vorbild hatte die Ewige Stätte im Zentrum des Aquakubus 87 Schiffe derselben Bauart repliziert – die sogenannten HAKARs. Doch eine Kopie kam niemals an das Original heran, konnte es nicht ersetzen. Die Rückeroberung der SESHA war das oberste Ziel, das sich der Erste der Hohen Sieben gesetzt hatte. Hinter dieser Priorität musste alles andere zurückstehen. Die entscheidende Auseinandersetzung mit seinem Erzrivalen Mecchit genauso wie das Zusammensein mit seiner Gefährtin Siroona. Sobek war geradezu besessen von der Idee, den symbolträchtigen Gleiter wieder in seine Gewalt zu bekommen – auch wenn das bedeutete, dass er den Großteil der
HAKAR-Flotte bei dessen Verfolgung aufs Spiel setzen musste. Cloud ging nicht weiter auf den Vorwurf ein. Er hatte die Nase gestrichen voll davon, dass Sobek sich einbildete, den Gesprächsverlauf bestimmen zu können. Es war höchste Zeit, dem arroganten Foronenführer beizubringen, dass er es nicht mit einem Haufen Ahnungsloser zu tun hatte. »Du hast uns verfolgt«, erwiderte er deshalb in ruhigem Tonfall. Als erfahrenem Commander fiel es ihm nicht schwer, sich seine Emotionen nicht anmerken zu lassen. »Du bist nach Andromeda aufgebrochen, weil du darauf gehofft hast, uns dort wiederzufinden.« »Doch auch daraus ist mal wieder nichts geworden«, fügte Jarvis hinzu, der nur auf eine Gelegenheit gelauert hatte, dem Foronen seine beleidigende Bemerkung zurückzahlen zu können. »Ziemlich schwache Leistung für einen großen Häuptling wie dich. Findest du nicht auch?« Doch der Hohe beachtete ihn nicht. »Woher weißt du das?«, wollte er stattdessen wissen. »Von Siroona«, erklärte Scobee. »Versuche also gar nicht erst, uns irgendeine Lügengeschichte auftischen zu wollen. Wir würden dir sowieso nicht glauben.« »Siroona?« Die Erwähnung des Namens ließ Sobek sich nach ihr umwenden. »Ist sie auch hier an Bord?« »Nein.« »Wo ist sie? Ist sie noch am Leben?« Es war keine Psi-Begabung nötig, um die Gedanken des Foronenführers zu erraten. Sobeks Interesse entsprang nicht vornehmlich der Sorge um das Schicksal seiner ehemaligen Gefährtin, sondern der Hoffnung, in der Foronin eine Verbündete zu finden, die ihn aus seiner misslichen Lage befreite. »Du bildest dir doch wohl nicht ein, dass wir hier die Karten einfach auf den Tisch legen, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen.« Cloud machte eine Pause, in der er lässig einen Schluck von seinem Kaffee nahm. »Erst einmal erzählst du uns, was dir widerfahren ist. Wie bist du in die Anomalie auf A4 geraten, in der wir
dich und den HAKAR gefunden haben? Erst wenn du uns das erklärt hast, bekommst du auch ein paar Antworten. Vielleicht …« Du willst mir also tatsächlich ein Geschäft vorschlagen? In den Köpfen des Commanders und seiner beiden Begleiter explodierte ein dissonantes Geräusch, das etwas wie das höhnische Auflachen des Gefangenen darstellte. Wie kommst du darauf dass ich mich auf so etwas einlassen würde? Meine Entscheidungen waren Gesetz. Ich habe es nicht nötig, dass sich dabei irgendjemand einmischt. Das war schon in der Gemeinschaft der Hohen Sieben so. So wird es auch bleiben. Daran werden ein paar dahergelaufene Kreaturen ganz bestimmt nichts ändern. »Habe ich es dir nicht gesagt?« Scobee drehte sich mit einem Seufzen auf den Lippen zu Cloud um. »Dieser Kerl ist und bleibt ein Kotzbrocken. Ich frage mich sogar schon, ob es nicht ein Fehler war, ihn hierher zu bringen. Wir hätten wahrscheinlich nicht nur uns einen Riesengefallen getan, wenn wir ihn einfach seinem Schicksal überlassen hätten.« »Es liegt mir nicht, mich wie ein Gott aufzuführen, der über Leben und Tod entscheidet, wie es ihm gerade passt.« Cloud strich sich über das markante Kinn. Ihm war durchaus bewusst, dass er sich schon mehrfach in Situationen befunden hatte, in denen es zu Auseinandersetzungen gekommen war, die seine Gegner nicht überlebt hatten. Schließlich gehörte er nicht zu der Sorte Mann, die allen Konflikten um jeden Preis aus dem Weg ging. Aber es widersprach seinen Prinzipien, es zu unnötigen Opfern kommen zu lassen, solange sich das in vertretbarem Rahmen vermeiden ließ. »Außerdem bin ich mir sicher, dass uns Sobek durchaus noch nützlich sein kann. Auch wenn es, zugegeben, momentan nicht unbedingt danach aussieht.« »Warum überlässt du ihn nicht einfach mir?«, schlug Jarvis vor. »Mir fällt bestimmt eine Methode ein, um ihn zum Plaudern zu bringen. Ich könnte ihn mir vorknöpfen, ohne dass er dem viel entgegenzusetzen hätte. Der Trojaner, den ich auf A4 in seine Rüstung eingespeist habe, ist dem Ding wohl nicht besonders gut bekommen.« Ein spöttisches Grinsen schlich sich in sein Gesicht. »Obwohl – wenn ich es mir genau überlege, hat die Rüstung den Viren eine
echte Verbesserung zu verdanken. Wie hast du sie noch genannt, Sobek? Ronfarr, richtig? Sie scheint durch meine Hilfe so etwas wie guten Geschmack entwickelt zu haben. Ansonsten hätte sie dich bestimmt nicht ausgespuckt wie einen alten Kaugummi.« »Du mieses Stück Dreck!«, brüllte der Foronenführer. »Das wirst du büßen!« Bereit, seine Drohung sofort in die Tat umzusetzen, stürmte er Jarvis entgegen, ohne dabei auf das Energiefeld am Eingang der Zelle zu achten. Sobek war nur einen Schritt weit gekommen, als er bereits wieder abrupt stehen blieb. Um seinen Körper herum bildete sich eine Aura elektrischer Entladungen. Doch der Gefangene wich nicht zurück. Im Gegenteil, Sobek verstärkte sogar noch seine Bemühungen den unsichtbaren Wall zu durchdringen – was der mit einer ständig steigenden Energiezufuhr quittierte. Der Körper des Foronen begann wie unter Krämpfen zu zucken. »Was macht er da?« Scobee prallte erschrocken zurück. »Wenn er nicht bald zur Vernunft kommt, wird er sich damit noch umbringen!« Das hatte auch Cloud erkannt – und reagierte sofort. »Sesha«, befahl er, »setz den Gefangenen mit Paralysestrahlen außer Gefecht!« »Verstanden«, entgegnete die Bord-KI augenblicklich. Im selben Moment setzte aus der Decke des Raums eine Strahlenemission ein, die jeden Winkel der Zelle erreichte. Sobek bäumte sich ein letztes Mal auf – dann sank er bewusstlos am Eingang seines Gefängnisses zu Boden. »Kümmere dich um ihn, Sesha.« In der Zellenwand öffnete sich eine Luke. Mehrere Spinnenbots kamen daraus hervor. Sie schleiften den ohnmächtigen Foronen zu der Stelle, an der kurz zuvor die Pritsche im Fußboden versunken war. Die mechanischen Helfer richteten den Gefangenen ausgestreckt auf dem Rücken aus, woraufhin die Lagerstatt erneut ausfuhr, bis sie die Höhe eines Bettes erreicht hatte. Nach ein paar letzten Korrekturen an der Position des Ohnmächtigen, zogen sich die Roboter wieder zurück. Sobek blieb so in der Zelle zurück, wie er nach seiner Rettung aus dem Friday-System dort angekommen war. »Wie geht es ihm?«, wollte Cloud von der KI wissen.
»Einzelne Vitalfunktionen im grenzwertigen Bereich. Stabilisation bereits erfolgreich eingeleitet. Mit dem Auftreten einer lebensbedrohlichen Situation ist mit der Wahrscheinlichkeit von 0,0783 Prozent zu rech…« »Okay, das reicht«, unterbrach der Commander Seshas Bericht. »Sobek scheint also noch einmal davongekommen zu sein.« »Er ist ein ziemlich zäher Brocken.« Scobee stieß lautstark die Luft durch die Nase aus. »Und das gilt bei ihm für viele Bereiche.« Obwohl sie das niemals zugegeben hätte, musste sie sich eingestehen, dass sie die kompromisslose Zielstrebigkeit und auch das Durchhaltevermögen Sobeks insgeheim doch nicht unbeeindruckt gelassen hatten. »Ohne Zweifel.« Cloud nahm den letzten Schluck von seinem Kaffee, verzog aber sofort angewidert das Gesicht, denn das Getränk hatte sich mittlerweile in eine ungenießbare, kalte Plörre verwandelt. »Ich verschwinde erst einmal wieder von hier. Schließlich habe ich noch mehr zu tun, als mich nur mit foronischen Dickschädeln zu beschäftigen.« »Was hast du vor?« »Ich will zu Jiim. Es gibt da ein paar Neuigkeiten, von denen ich möchte, dass er sie als einer der Ersten erfährt.« »Ich kann mir schon denken, worum es dabei geht,« erwiderte Scobee mit verständnisvollem Schmunzeln. »Ich gehe dann schon mal in die Zentrale. Vermutlich wird es nicht lange dauern, bis du ebenfalls dort auftauchst, habe ich recht?« »Richtig geraten.« Der Commander war manchmal selbst überrascht, wie gut sie einander verstanden. Nicht umsonst hatte es eine Zeitlang so ausgesehen, als könnte aus ihnen mehr werden als bloße Gefährten. Doch dann war ihnen klar geworden, dass eine einzigartige, aber platonische Freundschaft für sie der beste Umgang miteinander war. Er zwinkerte ihr gut gelaunt zu, bevor er sich zu Jarvis umwandte. »Was ist mit dir? Begleitest du uns?« »Nein.« Der schüttelte den Kopf. »Ich denke, ich werde noch ein bisschen Babysitter für unseren Ehrengast spielen.« Er deutete mit der Kinnspitze in Richtung des bewusstlosen Foronen.
»Aber keine unabgesprochenen Aktionen.« Cloud richtete den Zeigefinger wie einen Revolver auf seinen Freund. »Klar?« »Wie kommst du nur auf einen solchen Gedanken?«, fragte Jarvis mit gespielter Empörung. »Du kennst mich doch.« »Eben. Genau deshalb habe ich es ja gesagt.« Cloud lachte amüsiert auf. »Also gut. Ich verlasse mich auf dich. Bis später dann.« Er wandte sich um und ging gemeinsam mit seiner schönen, schwarzhaarigen Begleiterin auf den nächsten Türtransmitter zu.
»Ich finde, es ist höchste Zeit, dass wir mal wieder was miteinander unternehmen.« Jiim stand auf der Außenplattform des Baumhauses, das er gemeinsam mit Yael bewohnte. Die Nachbildung seines Heimatplaneten, die Sesha innerhalb der RUBIKON für die beiden Nargen erschaffen hatte, war so perfekt, dass Jiim hin und wieder tatsächlich vergaß, dass es sich dabei lediglich um eine Täuschung handelte. »Was hältst du zum Beispiel von einem Ausflug?« »Muss das sein?«, entgegnete Yael wenig begeistert. Obwohl die Schlafenszeit schon längst vorbei war, hing er noch immer träge in dem der Körperform der Flügelwesen angepassten Geschirr, das von der Decke der Behausung baumelte. »Eigentlich habe ich dazu überhaupt keine Lust.« »Also, das glaube ich jetzt nicht. Wir könnten auf dem Grund des Schrunds auf die Jagd gehen. Oder auch mal wieder in Richtung der Toten Stadt fliegen. Ich bin mir sicher, wir könnten eine Menge Spaß zusammen haben.« Jiim breitete die Schwingen aus. »Nun mach schon. Du kannst doch nicht den ganzen Tag hier in der Hütte verschwenden.« Mit ein paar gezielten Flügelschlägen sorgte er für Luftwirbel, die das Schlafgeschirr seines Sprosses zum Schaukeln brachten. »Weshalb denn nicht?« Yael änderte zwar die Position, machte aber noch immer keine Anstalten, sich aus der pendelnden Konstruktion zu erheben. »Ich finde es nämlich sehr angenehm so.« »Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.« Jiim sah ihn ungläubig an. »Du willst also tatsächlich behaupten, dass du kein Interesse
hast, auf die Jagd zu gehen, und stattdessen lieber hier oben Löcher in die Luft starrst?« »Löcher in die Luft?« »Das ist ein Ausdruck, den die Menschen manchmal verwenden. Und ich finde, der beschreibt dein momentanes Verhalten ziemlich gut. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich damit auch einverstanden bin. So viel Nichtstun ist doch schrecklich eintönig. An deiner Stelle hätte ich wahrscheinlich schon damit angefangen, mir vor lauter Langeweile die Federn auszurupfen.« »Wenn dir so langweilig ist, weshalb unternimmst du dann nicht einfach alleine etwas und lasst mich einfach in Ruhe?«, kam die mürrische Antwort aus der Hütte. »Geh doch zu Chex. Oder zu sonst einem von deinen angeblichen Freunden. Er hat bestimmt Zeit für dich. Schließlich bleibt ihm ja auch gar nichts anderes übrig …« »Moment mal.« Ein leises Rauschen war zu hören, als Jiim die Flügel wieder eng an den Körper anlegte. »Was soll das heißen?« »Das weißt du ganz genau.« »Eben nicht.« Der Narge trat näher an den Eingang des Baumhauses heran. »Und deshalb wirst du es mir erklären. Und zwar auf der Stelle, verstanden?« Vom Schlafplatz drang leises Gemurmel herüber. »Yael, ich warte noch immer auf eine Antwort von dir. Aber nicht mehr lange. Wenn du also vermeiden willst, dass wir beide ernsthafte Schwierigkeiten miteinander bekommen, würde ich an deiner Stelle schleunigst tun, was von dir verlangt wird.« »Na gut.« Betont umständlich begann sich Yael seines Geschirrs zu entledigen. Jiim musterte ihn dabei eingehend. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als sich sein Sprössling aufrichtete. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass sein Junges ein außergewöhnliches Exemplar war. Nicht nur, dass Yael trotz seines noch jugendlichen Alters bereits beinahe die Größe eines ausgewachsenen Nargen hatte. Auch die Gefiederfarbe unterschied sich deutlich von der jedes Artgenossen, dem Jiim im Lauf seines Lebens jemals begegnet war. Yaels Federn schimmerten golden, genauso wie seine Haut, und glichen dadurch im Aussehen verblüffend seinem Elter. Bloß dass bei
Jiim selbst das Erscheinungsbild verhältnismäßig einfach zu erklären war: Das Nabiss, die Rüstung, die er seinerzeit auf Kalser vom letzten Ganf empfangen hatte, war – aus welchen Gründen auch immer – untrennbar mit seinem Körper verschmolzen und sorgte so für einen goldenen Glanz. Da dies zu dem Zeitpunkt geschehen war, als er auch das Ei zur Welt gebracht hatte, aus dem schließlich Yael geschlüpft war, lag der Verdacht nahe, dass das Nabiss Einfluss auf die Gene des Jungnargen genommen hatte – obwohl das niemand mit absoluter Sicherheit sagen konnte. Yael kam mit hängenden Schultern herangetrottet und blieb eine Armeslänge von seinem Elter entfernt stehen. »Ich bin aufgestanden. Bist du jetzt endlich zufrieden, Orham?« Obwohl seine zwei Herzen wütend gegen seinen Brustkorb hämmerten, versuchte Jiim, sich seinen Ärger über die Respektlosigkeit nicht anmerken zu lassen. »Nein«, presste er aus seinem lippenlosen Mund hervor. »Nicht, bevor du mir nicht erklärt hast, was du damit gemeint hast, als du von meinen angeblichen Freunden gesprochen hast.« Yael hob den Kopf. Für wenige Sekunden trafen sich ihre Blicke. »Willst du das wirklich wissen?« »Allerdings.« »Dann mache mir hinterher aber keine Vorwürfe, wenn du etwas zu hören bekommst, das dir nicht gefällt.« Yael räusperte sich, denn seine Mundhöhle fühlte sich mit einem Mal staubtrocken an. »Also, ich habe Chex einen angeblichen Freund von dir genannt, weil er nicht echt ist. Er ist eine Computersimulation. Genauso wie der ganze Rest hier auch. Sesha hat alles gemacht. Den Schrund, die Nargensiedlung, ihre Bewohner … einfach alles. Weshalb sollte ich dann Lust haben, hier irgendetwas zu unternehmen? Egal, ob ich auf dieser Welt in der Gegend herumfliege, mich mit jemandem unterhalte oder irgendwelche Tiere jage, es ändert sich doch sowieso nichts. Wahrscheinlich könnte ich sogar unsere Hütte in Kleinholz verwandeln, und am nächsten Tag würde sie wieder am selben Platz stehen, als wäre nichts geschehen. Ein Wort von dir würde genügen, damit Sesha sie wieder wie aus dem Nichts entstehen lässt. Manch-
mal komme ich mir vor, als gäbe es eine …« Er machte eine hilflose Geste, während er nach den passenden Worten suchte. »… eine lange, massive Kette. Ein Ende davon ist an meinem Hals befestigt, das andere hältst du fest in der Hand. Das Ding ist vielleicht unsichtbar, aber es ändert doch nichts an der Tatsache, dass ich mich damit immer nur im Kreis bewegen kann. Egal, was ich auch anstelle, ich komme immer wieder zu dem Punkt zurück, an dem ich angefangen habe. Glaubst du vielleicht, das macht mir Spaß? Nein, absolut nicht. Du hast mich vorhin gefragt, ob es nicht langweilig ist, den ganzen Tag im Schlafgeschirr herumzuhängen. Klar ist es das. Aber trotzdem nicht halb so langweilig, wie mich mit Dingen abzugeben, auf die ich sowieso keinen Einfluss habe – weil sie nämlich aus einem Rechner stammen.« Jiim zuckte zusammen, als sei er von einem Peitschenhieb getroffen worden. Niemals hätte er damit gerechnet, dass Yael ihre gemeinsame Situation auf der RUBIKON in einem solch trüben Licht sah. War diese Stimmung lediglich eine Nachwirkung auf die Erlebnisse, die er auf Portas durchstehen musste? Yael war schließlich noch ein Kind – was auch bedeutete, dass seine Gefühlswelt noch nicht auf der festen Basis wie der eines Erwachsenen stand. Vielleicht waren Algorians Bemühungen, Yael von seinen traumatischen Erfahrungen zu befreien, doch nicht so erfolgreich gewesen, wie sie das zunächst gehofft hatten. Oder hatte die heftige Reaktion des Jungen eine ganz andere Ursache? War es am Ende ein Fehler gewesen, so weit entfernt von Kalser ein Ei auszubrüten – ohne zu wissen, ob er oder sein Nachkomme ihre Ursprungswelt jemals wiedersehen würden? Jiim spürte ein beklemmendes Gefühl in sich emporsteigen wie einen Schatten, der sich am hellen Tag urplötzlich vor die Sonne schiebt. Konnte es sein, dass er unbewusst aus egoistischen Motiven gehandelt und seinen Nachwuchs lediglich auf die Welt gebracht hatte, um damit seiner eigenen Einsamkeit zu entkommen? »Yael …«, stieß er erschüttert hervor. »Bei Plephes, ich hatte ja keine Ahnung, wie du dich fühlst. Ich –« »Schon gut«, unterbrach ihn der Jungnarge. »Es gibt keinen
Grund, ein großes Drama aus der Sache zu machen. Wahrscheinlich verstehst du sowieso nicht, was ich dir damit sagen wollte. Die meisten können das nicht. Bis auf einen …« »Aber dann müssen wir darüber reden. So lange, bis ich begriffen habe, um was es dir geht. Ich bin dein Elter, Yael. Dein Orham. Wenn du mit deinen Problemen nicht zu mir kommen kannst, wer soll dir denn sonst dabei beistehen? Ich möchte –« Er verstummte, denn unterhalb des Baums, in dessen Krone sich ihre Behausung befand, war eine Bewegung zu erkennen. Direkt neben dem steil abfallenden Abgrund des Schrunds hatte sich eine Öffnung gebildet, als wäre ein Stück aus der restlichen Landschaft herausgeschnitten worden. Im Rechteck der Lücke war der Korridor eines Raumschiffs zu erkennen. Ein dunkelblonder Mann betrat Pseudokalser durch den Eingang, den die Bord-KI ihm geöffnet hatte, bevor der sich hinter ihm wieder lückenlos verschloss. John Cloud blieb am Rand der Schrund-Illusion stehen und sah sich suchend um. »Jiim? Bist du irgendwo in der Nähe? Ich würde gerne mit dir reden!« Der Narge trat auf die Plattform vor dem Baumhaus. »Ich bin hier oben, Guma Tschonk!«, rief er und winkte dem Commander der RUBIKON dabei zu. Dass er Cloud mit dem Namen anredete, den er auch schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen auf Kalser benutzt hatte, ließ einen Rückschluss auf seine innere Aufgewühltheit zu. Guma – diese Bezeichnung war nur ganz besonderen Personen in Jiims Bekanntenkreis vorbehalten. Echten Freunden. »Um was geht es denn? Ehrlich gesagt, du tauchst in einem ziemlich ungünstigen Augenblick auf. Ich habe nämlich gerade ein wichtiges Gespräch, das ich nur sehr ungern –« »Geh nur zu ihm«, hörte Jiim Yaels Summe hinter sich. »Wir können uns später immer noch unterhalten.« Der Narge wandte sich zu seinem Jungen um. »Bist du dir sicher?« »Klar. Es gibt bestimmt einen guten Grund, weshalb John hier aufgetaucht ist. Du weißt, dass er diese Welt als unsere Privatsphäre ansieht, in die er nur eindringt, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Also lass ihn nicht länger warten, sondern flieg zu ihm.«
»Meinetwegen. Aber eines musst du mir versprechen, Yael, nämlich, dass unser Gespräch damit noch nicht zu Ende ist. Zu diesem Thema gibt es noch einiges zu sagen. Und ich werde –« »– du wirst mich auch später noch hier wiederfinden. Schließlich bleibt mir ja auch gar nichts anderes übrig, nicht wahr?« Yael zuckte resigniert mit den Schultern (eine Geste, die er sich bei seinen menschlichen Bekannten abgeschaut hatte), dann zog er sich wieder in das Innere der Hütte zurück. Jiim warf ihm einen letzten gedankenverlorenen Blick zu, bevor er sich umdrehte und mit ausgebreiteten Schwingen über den Rand der Plattform fallen ließ.
Cloud wollte sich schon wieder aus Pseudokalser zurückziehen, als er die geflügelte Gestalt bemerkte, die sich über ihm vom Baumhaus löste und mit beeindruckender Geschwindigkeit angesegelt kam. Wenige Sekunden später stand Jiim bei ihm an der Abbruchkante des Schrundes. »Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht unnötig warten lassen.« Obwohl sich die Physiognomie eines Nargen doch erheblich von der eines Menschen unterschied, kannte Cloud seinen Freund lange genug, um in seinem Gesicht ablesen zu können, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Commander wusste außerdem, dass Jiim schon seit einiger Zeit von Sorgen gequält wurde – die seit der Geburt seines Nachkommen nicht weniger geworden waren. »Hat es Ärger gegeben?«, wollte er deshalb von ihm wissen. Jiim erwiderte nichts. Aber die Art, wie er mit übertriebener Sorgfalt sein Gefieder ordnete, obwohl jede einzelne Flügelfeder akkurat an ihrem Platz saß, war eigentlich Antwort genug. Cloud sah deutlich, dass es um den Seelenfrieden des Nargen nicht gut bestellt war. Es widerstrebte ihm, den Freund so leiden zu sehen. »Gibt es Schwierigkeiten mit Yael?«
Jiim stieß deutlich vernehmbar die Luft aus. In seinem Schädel wir-
belten die Gedanken durcheinander wie Staubpartikel in einem Sandsturm. Die Vorhaltungen, die ihm Yael wenige Minuten zuvor gemacht hatte, hatten ihn schwer getroffen. Und das Schlimmste daran war, dass er damit gar nicht einmal so falsch lag. Die Welt, die Jiim seinem Jungen präsentiert hatte, war tatsächlich nur eine – wenn auch perfekte – Illusion. Kalser, so wie Jiim es kannte, war im Bauch der RUBIKON noch einmal neu erstanden. Sesha hatte alles nach seinen eigenen Vorgaben erschaffen. Aber genau da lag auch das Problem. Für den Jungnargen gab es nichts Neues zu entdecken, das sein Elter nicht wenigstens ansatzweise kannte. Er bekam sozusagen eine Second-Hand-Realität vor die Nase gesetzt. Kein Wunder, dass Yael sich um seine Freiheit betrogen fühlte. Jiim spürte, wie sich seine Überlegungen im Kreis zu drehen begannen. Er musste mit jemandem darüber reden. Normalerweise wäre seine Wahl dabei wohl auf Chex gefallen. Aber der Narge musste sich eingestehen, dass Yaels wütende Worte auch bei ihm selbst Spuren hinterlassen hatten. Chex war zweifellos der geeignete Gesprächspartner, um mit ihm über alte Zeiten zu plaudern. Aber er war auch ein Teil genau der Illusion, die die ganze Problematik erst aufgeworfen hatte. War es dann nicht besser, die Herzen einem Freund auszuschütten, der die Situation mit einem gewissen Abstand beurteilen konnte? Als Jiim das Seufzen hörte, das in diesem Moment aus seiner Kehle drang, wusste er, dass die Entscheidung bereits gefallen war. »Wir hatten einen Streit. Dabei habe ich von Yael ein paar Dinge zu hören bekommen, mit denen ich nicht gerechnet hatte.« »Oha.« John Cloud legte die Stirn in Falten, denn mit so etwas hatte er insgeheim schon gerechnet. »Willst du mir davon erzählen?« »Zuerst fing es eigentlich ganz harmlos an. Ich wollte ihn zu einem Ausflug überreden. Aber Yael hatte keine Lust. Als ich ihn nach dem Grund gefragt habe, hat er zunächst nur störrisch reagiert. Doch ich habe nicht lockergelassen.« »Woraufhin er dir ein paar unangenehme Sachen an den Kopf geworfen hat, nicht wahr?« Der Commander lachte auf, als er seinen Freund erschrocken zusammenfahren sah. »Das war doch nur wie-
der eine menschliche Redensart. Selbstverständlich ist mir klar, dass Yael nicht mit der Hütteneinrichtung nach dir geschmissen hat. Ich wollte damit nur ausdrücken, dass er dir vermutlich seine Ansicht der Dinge mitgeteilt hat, ohne dabei Rücksicht auf deine Gefühle zu nehmen. Oder sehe ich das etwa falsch?« »Nein.« Jiim machte eine ratlose Geste. »Yael hat mir vorgeworfen, dass ich ihn wie einen Gefangenen behandele. Dass ich ihn in Pseudokalser einsperre, ohne dass er die Möglichkeit hat, sich wirklich frei zu bewegen. Er glaubt, dass alles, was er tut, völlig sinnlos ist, weil es letztendlich nur einer Projektion entspringt, die Sesha für ihn bereitgestellt hat. Und mir gibt er die Schuld für seine Lage.« »Verstehe.« Cloud fuhr sich nachdenklich durchs dunkelblonde Haar. »Das muss natürlich ein ziemlich harter Brocken für dich gewesen sein. Aber es gibt zwei Dinge, die du dabei auch bedenken solltest. Erstens, Yael scheint mir in einem Alter zu sein, in dem man mit sich selbst und erst recht mit anderen nur verdammt schwer klarkommt. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie das bei mir damals war. Wenn mir jemand etwas sagen oder Vorschriften machen wollte, bin ich dagegen Sturm gelaufen. Egal, ob der andere damit noch so richtig lag, ich habe erst einmal aus purem Trotz das Gegenteil behauptet. Dass ich mich dabei oft nicht besonders fair benommen habe, war mir in diesem Moment völlig gleichgültig. Gab es das bei dir nicht auch?« Er legte den Kopf in den Nacken. »Wenn ich mich richtig an unser erstes Treffen auf Kalser erinnere, hattest du damals auch immer wieder deine Probleme mit Autoritäten. Aber du warst schon um einiges älter, als Yael das jetzt ist. Vielleicht hat er ganz einfach deine kämpferischen Gene geerbt. Wäre das denn wirklich ein so schrecklicher Gedanke für dich?« »Nein.« Der Narge sah betreten unter sich. »Natürlich nicht.« »Na also. Yael ist in Ordnung. Du kannst davon ausgehen, dass er dich nicht absichtlich verletzen wollte. Und zweitens hat er vielleicht gar nicht einmal so unrecht. Die Welt hier drinnen hat nun einmal tatsächlich ihre Grenzen. Da ist es doch ganz natürlich, dass er sich manchmal wie eingesperrt fühlt. Erst recht, weil es im ganzen Schiff keinen Artgenossen gibt. Außer dir natürlich. In einem
Alter, wo er seinem Elter gern mal aus dem Weg gehen würde, ist das bestimmt keine einfache Situation für dein Junges. Yael müsste etwas Neues kennenlernen. Dann würde er sich garantiert auch wieder besser mit dir verstehen.« »Das ist einfacher gesagt als getan.« Jiim schüttelte das Gefieder, als hätte ihn ein kühler Luftstrom gestreift. »Was soll ich ihm denn bieten? Sobald ich mir etwas einfallen lassen würde, um ihn abzulenken, würde ich mir doch auch gleich wieder den Vorwurf einhandeln, dass ich ihn lediglich mit einer Welt manipulieren will, die meinen eigenen Vorstellungen entspricht. Damit wären wir doch genauso weit wie vorher.« »Nicht unbedingt.« Clouds Lippen verzogen sich zu einem verschlagenen Grinsen. »Es gibt da nämlich eine Möglichkeit, wie das Problem in den Griff zu bekommen ist. Ohne dass dein Filius behaupten kann, dass du in ungerechtfertigter Weise deine Finger im Spiel hast.« Jiims spitze Ohren richteten sich noch steiler auf. »Kannst du mir das vielleicht auch ein bisschen genauer erklären?« »Nichts lieber als das. Du erinnerst dich doch bestimmt an das Versprechen, das ich dir gegeben habe. Dass wir bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit nach Kalser fliegen, um uns dort mal wieder ein bisschen umzusehen. Du hast mich dazu gedrängt, weil du neugierig warst, was unter dem Einfluss von Darnoks Entartungsfeld aus deinem Planeten geworden ist. Das kann ich nur allzu gut verstehen. Bei der Erde ging es mir schließlich genauso. Momentan gibt es nichts, was uns noch länger im Friday-System hält. Deshalb habe ich beschlossen, als Nächstes Kalser anzusteuern. Ich bin fest davon überzeugt, dass Yael begeistert sein wird, den Planeten, von dem sein Orham stammt, endlich auch mal aus nächster Nähe sehen zu können. Oder bist du da anderer Meinung?« »Nein.« Die unerwartete Nachricht ließ den Nargen unwillkürlich einen Schritt nach hinten machen. Mehrere Gesteinsbrocken lösten sich aus dem Rand des Abgrunds und verschwanden in der Tiefe. Auch Jiim geriet ins Taumeln. Nur weil er sofort seine Schwingen ausbreitete und zweimal kräftig mit den Flügeln schlug, gelang es
ihm, das Gleichgewicht doch noch zu halten. »Wie lange wird es dauern, bis wir bei Kalser ankommen?«, wollte er wissen, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. »Kalser liegt im Scutum-Crux-Arm der Milchstraße. Wir befinden uns gerade im Perseus-Arm. Mit anderen Worten: Es ist nicht gerade ein Katzensprung. Ich werde Sesha also die Anweisung geben, dass wir die Strecke mit einer Transition hinter uns bringen.« Jiim nickte. »Darf ich dich noch um einen Gefallen bitten, Guma Tschonk?«, fragte er, nachdem er eine knappe Minute in nachdenkliches Schweigen verfallen war. »Klar. Nur raus damit.« »Wäre es möglich, dass wir den Sprung nicht direkt dorthin machen, sondern an eine Stelle, die noch etwas davon entfernt ist? Ich würde mich nämlich gerne noch auf meine Rückkehr nach Kalser vorbereiten, wenn du verstehst, was ich meine.« »Das ist überhaupt kein Problem. Würden dir zehn Tage dafür genügen?« »Das wäre wirklich fabelhaft. Ich danke dir.« »Dafür nicht.« Der Commander winkte ab. »Ich werde Sesha anweisen, dass sie die entsprechenden Koordinaten berechnet.« Er trat an den Nargen heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte bestimmt nicht aufdringlich sein, Jiim. Aber ehrlich gesagt habe ich schon gedacht, dass du dich freuen würdest, wenn du erfährst, dass wir Kalser ansteuern. Stattdessen scheint dich das Ganze eher zu bedrücken. Man könnte fast annehmen, dass du dich davor fürchtest, dorthin zurückzukehren.« »Damit liegst du gar nicht mal so falsch«, gab der Narge leise zu. »Aber eines kannst du mir glauben: Die Sorgen mache ich mir nicht ohne Grund …«
»Quatschen sie noch miteinander?«, wollte Charly wissen. Er hockte im Baumhaus am Rand eines der Fenster, das von der Stelle, an der Cloud und Jiim standen, nicht einzusehen war. Seine menschliche Gestalt und die Flügel, die ihm aus dem Rücken wuchsen, ließen bei
seinem Anblick an Engelsdarstellungen denken, wie sie vor Jahrzehntausenden auf der Erde verbreitet gewesen waren – wäre da nicht das verschlagene Grinsen auf den Lippen des halbwüchsigen Jungen gewesen. Yael pirschte sich mit vorsichtigen Schritten auf die Plattform vor der Hütte hinaus. »Ja«, entgegnete er nach einem kurzen Blick in die Tiefe. »Sie stecken die Köpfe noch immer zusammen.« »Umso besser.« Charly baumelte gut gelaunt mit den Beinen. »Dann sind wir wenigstens ungestört.« »Mir ist es auch lieber, wenn er dich hier nicht erwischt.« Yael kam wieder in die Behausung zurück. »Denn dann könnte ich mir bestimmt wieder stundenlange Vorträge anhören. Darauf habe ich wirklich keine Lust.« »Klar. Die Erwachsenen können einem mit ihrem Gelaber wirklich gewaltig auf die Nerven gehen.« Sein Besucher nickte bekräftigend. »Übrigens, das hast du wirklich hervorragend hinbekommen. Respekt.« »Was meinst du?« Der Jungnarge sah ihn fragend an. »Die Flügel, die ich dir habe wachsen lassen?« Er musterte seinen Freund eingehend von oben bis unten. Charly gehörte zweifellos zu den außergewöhnlichsten Geschöpfen, die die RUBIKON beherbergte. Er war, genauso wie Yael selbst, in Pseudokalser zur Welt gekommen – wenn auch unter viel mysteriöseren Umständen. Das Aussehen des Jungen setzte sich aus den äußerlichen Attributen der humanoiden Kreaturen zusammen, die im Angksystem an Bord des Rochenschiffs gekommen waren und mit denen der junge Narge seitdem in engerem Kontakt gestanden hatte. Für diese Relation gab es eine ebenso einfache wie ungewöhnliche Ursache: Yael hatte Charly erschaffen. Zunächst hatte es der Jungnarge selbst nicht begriffen – bis Charly ihm eines Tages höchstpersönlich gegenübergestanden hatte. Ihr erstes Aufeinandertreffen war nicht ganz problemlos verlaufen, aber mittlerweile hatte Yael freundschaftliche Gefühle für den draufgängerischen Charly entdeckt. Mit einem so waghalsigen, furchtlosen Begleiter an seiner Seite war jedes Gefühl von Langeweile schnell vergessen. Dass Charly seine eigene Kreation war, die er
nach Belieben formen konnte, spielte dabei keine entscheidende Rolle. Yael brachte es fertig, dass der Junge wie ein greifbares, lebendes Wesen auftrat, aber es war auch kein Problem für ihn, Charly so vor anderen zu verbergen, dass nicht einmal die Detektoren der Bord-KI seine Anwesenheit registrierten. Wie er das fertigbrachte, darüber war er sich selbst nicht im Klaren. Vielleicht hing es mit seinem unfreiwilligen Aufenthalt auf Portas zusammen, vielleicht auch mit der genetischen Besonderheit, die auch seinem Gefieder den außergewöhnlichen goldenen Farbton verliehen hatte. Letztendlich war der Grund dem jungen Nargen auch herzlich egal – solange er mit Charly einen Freund gefunden hatte, bei dem er sich verstanden fühlte, gab es keinen Grund, unnötige Gedanken daran zu verschwenden. »Gefallen dir die Dinger?« »Und wie.« Charly sprang zu Boden. Er flatterte ein paar Mal versuchsweise mit den Schwingen. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Bewegung der Flügel synchronisiert hatte. Doch ohne die angeborene Eleganz eines Nargen gelang es ihm lediglich, einige Handbreit abzuheben, bevor seine rechte Flügelspitze in Yaels Schlafgeschirr geriet, das von der Hüttendecke baumelte. Charly geriet ins Taumeln und sackte zurück auf den Fußboden. Er verzog das Gesicht, als er bemerkte, dass mehrere Schwungfedern die Kollision nicht unbeschadet überstanden hatten und im rechten Winkel von seinem Flügel abstanden. »Mist. Wenn ich sie das nächste Mal ausprobiere, werde ich mir dafür wohl besser eine Stelle aussuchen, an der mehr Platz ist.« Er faltete die Schwingen ungelenk hinter seinem Rücken zusammen und stand auf. »Aber ich habe vorhin sowieso nicht die Flügel gemeint, als ich sagte, dass du es hervorragend hinbekommen hast. Es ging eigentlich um die Unterhaltung mit deinem Elter. Er hat total dumm geschaut, als du ihn dir vorgeknöpft hast. Alle Achtung, das hätte ich dir gar nicht zugetraut.« »Findest du? Ehrlich gesagt, ich habe mich schon gefragt, ob ich nicht ein bisschen zu gemein zu ihm war. Immerhin ist er mein Orham, und ich habe ihn nicht gerade fair behandelt.« »Das ist doch egal.« Charly schnaubte verächtlich auf. »Behandelt
er dich etwa fair? Schließlich zwingt er dich dazu, den größten Teil deiner Zeit in diesem Loch zu verbringen. Hat er dich jemals gefragt, ob du überhaupt Lust dazu hast? Nein! Er glaubt, dass er einfach über dich bestimmen kann, wie es ihm gerade passt. Und wenn du dich dann beschwerst, hast du eine Menge Ärger am Hals. Du hast genau das Richtige gemacht, als du ihm mal ordentlich die Meinung gegeigt hast.« »Aber es gibt doch auch einen Grund, weshalb ich mich hier aufhalten soll. Das ist die Welt, aus der wir ursprünglich stammen. Unser Heimatplanet. Jiim will, dass Kalser nicht völlig fremd für mich bleibt, sondern ich mich darauf zurechtfinden kann.« »He, Kumpel, kapierst du denn gar nicht, dass dein angeblich so selbstloser Orham gerade dabei ist, dich ganz gewaltig um den Finger zu wickeln?« Charly verschränkte empört die Arme vor der Brust. »Weißt du denn, ob es auf Kalser tatsächlich so aussieht? Vielleicht macht er dir nur etwas vor. Es könnte doch sein, dass es dort noch viel mehr gibt als ein paar Bäume, einen Abgrund und einen Haufen Steine. Vielleicht hat er seine Gründe, weshalb er dir das nicht zeigen will.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Yael schüttelte den Kopf. »Der Commander und Scobee haben mir Kalser auch so beschrieben, wie wir es hier sehen. Sie müssen es doch wissen, schließlich waren sie schon dort.« »Erwachsene …« Charly brachte es fertig, dass die Bezeichnung wie ein Schimpfwort klang. »Du musst endlich begreifen, dass die immer gemeinsam unter einer Decke stecken, wenn es darum geht, uns für blöd zu verkaufen. Das ist die reinste Verschwörung, das sage ich dir. Wahrscheinlich würden sich die Typen eher die Zunge abbeißen, als dem zu widersprechen, was dein Elter dir aufgetischt hat.« Er baute sich dicht vor seinem Freund auf. »Du darfst einfach nicht alles glauben, was sie dir sagen. Oder willst du etwa behaupten, dass dir nicht aufgefallen ist, dass sie sich manchmal aufführen, als hätten sie dafür die Erlaubnis von Plepp … Peph …, wie heißt noch mal dieser Gott, den dein Orham andauernd erwähnt?« »Plephes.«
»Plephes … Schmephes … ist mir völlig egal. Wahrscheinlich ist der auch bloß so eine Erfindung von ihnen, um dich damit zu beeindrucken. Und du fällst auch noch drauf rein.« »Das tue ich nicht.« Yael warf trotzig den Kopf in den Nacken. »Dann beweis es mir.« »Wie soll ich das machen?« »Das kann ich dir momentan auch nicht sagen.« Charly schlenderte betont lässig zurück ans Fenster. Erst dort wandte er seinem Freund über die Schulter hinweg wieder das Gesicht zu. »Aber ich bin mir sicher, dass mir bei passender Gelegenheit schon etwas einfallen wird …«
2. Kapitel Siroona hatte sich auf eine Anhöhe unweit des Granogk zurückgezogen, wo sie nun am Boden kauerte. Obwohl das Klima auf Nar'gog mild und gemäßigt war und sie keinen Schutz gegen die Witterung benötigt hätte, trug die Foronin ihre Rüstung aus Nanoteilchen. Die Milliarden winzigster Partikel hatten sich als gleichmäßige Hülle um ihren Körper gelegt, die nur noch eine handtellergroße Stelle ihres augenlosen Gesichts freiließ. Früher einmal – Siroona schien diese Zeit so unendlich weit entfernt, dass ihr die Erinnerungen daran schon beinahe wie ein Traum vorkamen, der nach dem Erwachen immer weiter verblasste – hatte die Rüstung sie als eine Angehörige der Hohen Sieben ausgezeichnet. Als Mitglied der Führungsriege der Foronen hatte sie das Privileg besessen, einen solchen Panzer zu tragen, der seinem Besitzer umfassenden Schutz und ein Höchstmaß an Kraft verlieh. Kraft. Schon allein der Gedanke daran kam Siroona so vor, als würde sie sich selbst verspotten. Heute war die Rüstung kaum mehr als ein hochkomplexes Korsett, das ihren altersschwachen Körper stützte. Was ist nur aus dir geworden, dachte Siroona in einem weiteren Anflug von Bitterkeit, wie er sie in den vergangenen Wochen immer öfter überkam. Eine jämmerliche Kreatur, die auf einem Hügel hockt, kaum fähig, sich zu rühren. Ein Schatten deiner Selbst. Wenn die, die dich einstmals gefürchtet haben, dich in diesem Zustand sehen könnten, würden sie vor Genugtuung ein Freudenfest nach dem anderen veranstalten. Und sie hätten recht damit. So wie es um dich bestellt ist, bestünde keine Veranlassung dafür zu warten, bis du tatsächlich gestorben bist. Genau betrachtet, bist du doch schon jetzt nicht mehr als ein lebender Leichnam. Die Foronin richtete das Gesicht in die Ferne. Die Sonne Nar'gogs näherte sich unaufhaltsam dem Horizont. Obwohl sie sich selbst dafür verachtete, konnte Siroona nicht verhindern, dass eine weitere Welle von Selbstmitleid über sie hereinbrach. Glich ihr eigenes
Schicksal nicht in erschreckendem Maß dem Weg dieser orangeroten Glutkugel? Auf ihrem Höhepunkt angelangt, besaß sie genug Energie, um ganze Welten damit zu versorgen – oder sie zu Asche zu verbrennen, fügte eine weitere Stimme am Rand ihres Bewusstseins augenblicklich hinzu –, aber dann begann unausweichlich der Abstieg. Ihre Kräfte würden immer weniger werden, bis nur noch ein schwaches Nachglühen davon zu spüren war, bevor es schließlich zum endgültigen Untergang kam. Natürlich gab es auch einen erheblichen Unterschied: Die Sonne würde sich schon bald wieder neu strahlend erheben – während ihrer eigenen Zukunft lediglich eine endlose Nacht bevorstand. Lass endlich diesen sentimentalen Unsinn, ermahnte Siroona sich selbst. Du hörst dich ja schon beinahe so an, wie eine dieser primitiven Kreaturen, die glauben, dass sie im Zentrum des Universums stehen und alles andere sich um sie dreht. Die Wanderung der Sonne ist ein Ergebnis der Planetenrotation. Außerdem ist das Ding natürlich auch nicht unsterblich. Irgendwann wird es explodieren. Ein gewaltiger RUMMS! – das war es dann gewesen. Es gibt also nicht den geringsten Anlass dazu, bei ihrem Anblick in kitschige Gefühlsduselei zu verfallen. »Du wirkst nachdenklich«, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihr. »Gibt es dafür einen besonderen Grund?« Als Siroona sich umwandte, sah sie, dass Porlac herangekommen war. Offenbar war sie so in ihren Grübeleien versunken gewesen, dass sie das Auftauchen des Jay'nac nicht bemerkt hatte – ein Fehler, der ihr früher so niemals unterlaufen wäre. Die Foronin versuchte, den Eindruck von Schwäche, den sie zweifellos bei Porlac hinterlassen haben musste, durch eine betont aufrechte Haltung, die sie sofort einnahm, wenigstens teilweise wieder wettzumachen. Die Nanorüstung zog sich so weit von ihrem Gesicht zurück, dass sie die Mundmembrane freilegte. »Einen Grund?«, schnarrte Siroona bissig. »Es gibt so viele, dass mindestens fünfzig eurer Standard-Chronopotenziale nötig wären, um sie alle aufzuzählen.« »Ich muss gestehen, du machst mich neugierig«, entgegnete Porlac, der keinerlei Anzeichen erkennen ließ, dass er sich von der ihm entgegengebrachten Feindseligkeit vertreiben lassen würde. »Ich
habe Zeit – was eigentlich nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass Keelon für uns arbeiten. Du kannst mir also in aller Ruhe erzählen, was dir im Kopf herumgeht.« Siroona musterte ihn eine Weile schweigend, so, als musste sie sich erst darüber klar werden, ob die Bemerkung ihres ungebetenen Besuchers vielleicht scherzhaft gemeint war. »Ich glaube nicht, dass du das verstehen könntest«, entgegnete sie schließlich abweisend. »Warum lässt du es nicht einfach auf einen Versuch ankommen? Schließlich hast du nichts zu verlieren.« »… außer auch noch dem letzten Rest meiner Selbstachtung«, stieß die Foronin so schnell hervor, dass sie ihre Äußerung im nächsten Augenblick auch schon wieder bereute. Du musst vorsichtiger sein, rief sie sich ins Gedächtnis. Es hat Zeiten gegeben, da hätte man dich nicht so schnell aus der Reserve lochen können. Unwillkürlich kamen ihr die Geschehnisse im Septemvirat wieder in den Sinn. Innerhalb der foronischen Führungsriege war sie die Zweite gewesen. Hinter Sobek. In Anbetracht des erbarmungslosen Konkurrenzkampfes und der Intrigen, die unter den Hohen Sieben geschmiedet worden waren, hätte sie niemals ihre Stellung so erfolgreich behaupten können, wenn ihre Reaktionen vorhersehbar – und damit manipulierbar – gewesen wären. Ihre Widersacher hätten diese Schwachstelle sofort erkannt und gnadenlos ausgenutzt. Siroona war diese Taktik bestens vertraut – schließlich hatte sie sie oft genug selbst angewandt. »Das hört sich beinah so an, als würdest du mich für deinen Zustand verantwortlich machen.« »Gut erkannt«, ätzte die Foronenführerin. »Schließlich habe ich es dir zu verdanken, dass ich auf diesen Dreckklumpen verschleppt wurde, auf dem man keinen Schritt machen kann, ohne sich fragen zu müssen, ob man auf dem Planetenboden oder einem seiner Bewohner herumtrampelt.« Siroona war das Unbehagen deutlich anzuhören, das sie den Jay'nac entgegenbrachte. Dieses Gefühl lag nicht nur in der absoluten Fremdartigkeit begründet, die dieser anorganischen Lebensform zu eigen war. Die Körper der Jay'nac basierten auf Siliziumverbindungen, die ihnen manchmal das Aussehen von lebendigen Steinen verliehen. Porlac und seine Artgenossen
besaßen die Eigenschaft, die Form gewaltiger Gebilde anzunehmen, von denen sie bei Bedarf autark agierende Teilstücke abspalten konnten. Da sie auf diese Weise sogar mit Raumschiffen unterwegs waren, die zu einem großen Prozentsatz aus ihnen selbst bestanden, war es für jede andere Rasse tatsächlich nicht gerade einfach, immer zu erkennen, wann sie es mit toter Materie zu tun hatten, beziehungsweise wann ihnen ein Jay'nac gegenüberstand. Dass Porlacs Volk sich auch als maßgeblicher Drahtzieher für die Verdrängung der Foronen aus ihrer ursprünglichen Heimat, der Großen Magellan'schen Wolke, herausgestellt hatte, schürte Siroonas Misstrauen noch zusätzlich. Die Machenschaften der Jay'nac waren letztendlich der Grund dafür gewesen, dass sie ins Exil zur Milchstraße aufgebrochen waren. »Du fühlst dich fremd. Das kann ich verstehen.« Porlac nickte. »Das Gefühl muss noch schlimmer geworden sein, seit die Erinjij-Frau von hier abgeholt worden ist.« Da täuschst du dich. Siroonas Antwort erfolgte so prompt, dass sie nicht einmal die Zeit fand, die Worte akustisch zu äußern, sondern sie direkt in das Bewusstsein ihres Gesprächspartners pflanzte. Ich vermisse diese jämmerliche Kreatur absolut nicht. Ganz im Gegenteil, ich sollte dieser goldenen Kugel sogar dankbar dafür sein, dass sie dafür gesorgt hat, dass sie mich mit ihren Unverschämtheiten nicht länger belästigen kann. Natürlich entsprach das nicht der vollen Wahrheit. Seit Scobee das fremde Gigantenraumschiff bestiegen hatte, hatte die Foronin noch oft an sie denken müssen. Siroonas Emotionen waren dabei ein seltsames Gebräu aus Neid und Wehmut gewesen. Neid, weil seit ihrer letzten Begegnung die Zeit scheinbar spurlos an der GenTec vorbeigegangen war. Scobees makellose Schönheit machte Siroona ihren eigenen körperlichen Verfall nur umso schmerzhafter bewusst. Das Gefühl von Wehmut kam hinzu, weil die beiden Frauen zwar immer ihre Konflikte miteinander gehabt hatten – wenn es um den Austausch verbaler Spitzen ging, hatten sie sich gegenseitig nichts geschenkt –, aber dadurch auch auf einer emotionalen Basis miteinander kommuniziert hatten, die die Foronin jedem anderen Wesen, das auf Nar'gog anzutreffen war, schlichtweg absprach. Seit
Scobees Entführung war die Chance, in der Fremde einen Bündnispartner zu finden, gegen null gesunken – eine Erkenntnis, die noch zusätzlichen Ballast für das geschundene Gemüt der ehemaligen Foronenführerin bedeutete. Porlac erkannte, dass er einen wunden Punkt seines Gegenübers getroffen hatte. Bei seiner Rolle als Unterhändler beim Friedensschluss mit den Satoga hatte er sich jedoch genügend diplomatisches Geschick angeeignet, um zu begreifen, dass es Situationen gab, in denen es durchaus von Vorteil war, nicht auf sein besseres Wissen zu beharren. »Wie du meinst«, erwiderte er deshalb. »Aber wenn das Verschwinden der Erinjij-Frau doch eine Erleichterung für dich ist, weshalb befindest du dich dann in einem so desolaten Zustand, dass deiner gesamten Existenz offenbar die Grundlage entzogen wird?« »Du Ahnungsloser.« Aus Siroonas Sprechmembrane drang ein kratzendes Geräusch, das der foronischen Entsprechung eines bitteren Auflachens entsprach. »Sogar einem Klotz wie dir dürfte eigentlich nicht verborgen geblieben sein, was mit mir vor sich geht.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Die Foronin trat direkt vor ihn. Porlacs Verständnislosigkeit ließ eine grenzenlose Wut in Siroona aufbrodeln, die sie jede weitere Zurückhaltung vergessen ließ. Sie breitete die Arme aus. In ihrer Rüstung bildete sich ein vertikaler Riss, der von ihrem Schädel bis hinunter zum Boden reichte. In der Lücke der Nanopartikel, die an eine riesige, klaffende Wunde erinnerte, war ein knochiger, welker Körper zu erkennen. »Sieh mich an«, forderte Siroona den Jay'nac auf. »Das müsste dir als Antwort eigentlich genügen.« »Du … verfällst.« »Besten Dank. Treffender hätte ich es selbst kaum ausdrücken können.« Wieder erklang das dissonante Kratzen. »Ich wollte dich nicht beleidigen«, beteuerte Porlac. »Aber ist es denn nicht eine den organischen Lebensformen angeborene Eigenart, dass ihre Körper verschiedene Entwicklungsstufen der Zersetzung durchlaufen? Deswegen begreife ich nicht, weshalb dieser für eure Art so natürliche Prozess ein so außergewöhnliches Potenzial
an emotionaler Belastungsenergie in dir freisetzt.« »Es hätte mich auch gewundert, wenn du das verstanden hättest.« Der Zorn im Tonfall der Foronin machte zunehmend einer resignierten Klangfarbe Platz. »Vermutlich ist das etwas, was du schlichtweg nicht nachvollziehen kannst. Keiner von deinem Volk könnte das. Schließlich werdet ihr, im wahrsten Sinn des Wortes, alt wie ein Stein.« »Dann versuch es mir zu erklären.« »Meinetwegen.« Siroona verstummte einen Augenblick, um ein Mindestmaß an Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken zu bringen. Der mentale Befehl, den sie dabei an ihre Rüstung sandte, war nicht von der sonst üblichen Eindeutigkeit. Die Nanoteilchen begannen, sich wie ein Haufen aufgeschreckter Insekten über ihrem Körper zu verteilen. Die Oberfläche des Harnischs schien wellenförmig zu pulsieren, bevor sich die Lücke in ihm schließlich doch noch schloss. Die Foronin sank erschöpft zu Boden. Erst nach einem schwachen Kopfschütteln gab die Hülle einen maskenhaften Ausschnitt ihres Gesichts wieder frei. »Der natürliche Prozess, wie du ihn nennst, ist nichts, was so einfach hinzunehmen ist«, begann Siroona mit ihren Erläuterungen. »Zumindest nicht für mich. Er geht nämlich mit einem irreversiblen Verlust von Kraft einher. Das Alter ist wie eine heimtückische, schleichende Krankheit, bei der es keine Aussicht auf Heilung gibt. Und wenn es etwas gibt, das ich schon immer zutiefst verachtet habe, dann war es Schwäche. Der Mangel an Stärke – egal, ob körperlicher oder geistiger Natur – war für mich stets ein deutliches Indiz für Unterlegenheit. Leben bedeutet Kampf. Deshalb wird der Stärkere immer über den Schwächeren triumphieren. Für den Verlierer habe ich höchstens Hohn übrig. Das war schon immer so, und daran wird sich auch nichts ändern. Selbst wenn mir immer klarer wird, was für ein erbärmliches Bild ich selbst mittlerweile abgeben muss.« »Ist das Urteil, das du über dich selbst sprichst, nicht zu streng?« »Absolut nicht«, widersprach die Foronin. Während ihres unfreiwilligen Aufenthalts auf Nar'gog hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Zu viel Zeit. Beim Rückblick auf ihr Leben war das Re-
sümee reichlich bitter ausgefallen. »Die Fakten sprechen eindeutig gegen mich.« Sie sah, dass Porlac Einspruch erheben wollte, brachte ihn aber mit einer energischen Geste zum Schweigen. Wie es aussieht, scheinst du deine Autorität doch noch nicht vollständig eingebüßt zu haben, stellte Siroona mit einem Anflug von Genugtuung fest. »Einst war ich eine der Hohen Sieben, bevor uns die Virgh ins Exil in eine andere Galaxis getrieben haben. Dort konnten wir nicht verhindern, dass ein Haufen Erinjij die Herrschaft über die SESHA übernommen hat. Es gelang uns zwar, unser Heiligtum kurzfristig zurückzuerobern. Aber der Plan, ein Band von Relaisstationen bis zum Andromedanebel zu erstellen, ging nicht nur schief, sondern hat uns wohl auch alle Schiffe gekostet. Das Schicksal unserer Führungsriege ist genauso ungewiss wie das unseres gesamten Volkes. Das ist mir während des Stasisschlafs auf RUDIMENT-2 immer klarer geworden.« »Während des Stasisschlafs?«, wiederholte der Jay'nac verwundert. »Ist der für organische Lebensformen denn nicht mit einer Bewusstlosigkeit verbunden?« »Nicht für uns Foronen.« Siroona versuchte die Erinnerungen daran, die nur darauf gelauert zu haben schienen, wie ein Rudel blutrünstiger Bestien über sie herzufallen, so weit wie möglich zurückzudrängen. Der zunächst lebensrettende Zustand der Stasis hatte sich in ihrem Fall schon bald als regelrechte Folter herausgestellt: Ein aktiver Geist, der in einem starren Körper zur Bewegungslosigkeit verdammt war, geriet schon bald an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Erst recht, wenn sich der Zustand auf eine nicht absehbare Zeitspanne in die Länge zog. »Bevor ihr mich wieder aufgeweckt habt, stand ich mehrmals kurz davor, den Verstand zu verlieren, das kannst du mir glauben. Dann musste ich auch noch feststellen, dass trotz aller getroffener Vorsichtsmaßnahmen die Zeit nicht spurlos an mir vorübergegangen ist. Ich konnte nichts dagegen tun, dass ihr mich hierher verschleppt habt. Auf einen Planeten, dessen Fremdartigkeit mir die Ausweglosigkeit meiner Situation immer wieder neu bewusst werden lässt. Wie du siehst, war mein gesamtes Leben ein einziger Niedergang. Ein Verfall auf politischer, körperlicher und
geistiger Ebene. Was ist denn aus mir geworden? Eine isolierte, alte Frau, die auf Nar'gog festsitzt und auf das Sterben wartet.« Die Foronin senkte den Kopf. »Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich den Tod regelrecht herbeisehne. Auch wenn ich mich frage, was mich dann erwartet. Außer dem endlosen schwarzen Nichts …« Sie sackte erschöpft noch weiter in sich zusammen. »Gibt es denn gar nichts, das dich am Leben festhalten lässt?«, wollte Porlac wissen. So etwas wie eine Aufgabe meinst du? Siroonas Stimme, die in sein Bewusstsein drang, war kaum mehr als ein Flüstern. Nein, auf Nar'gog bin ich zur Nutzlosigkeit verdammt. Und selbst wenn es die gäbe, glaube ich nicht, dass ich noch die Kraft dazu hätte, sie zu erfüllen. Ich bin verschlissen wie ein Stück veralteter Technik. Bloß, dass es für eine wie mich keine Ersatzteile gibt. Genauso ist es: nutzlos, ausgemustert und reif für die Verschrottung. Findest du nicht auch, dass das meine Situation ziemlich treffend beschreibt? Porlac ging nicht auf ihre sarkastische Frage ein. »Nein, ich spreche von einem ganz anderen Gefühl.« Er stockte, als würde ihm schlagartig bewusst, dass er gerade dabei war, sich auf ein Terrain vorzuwagen, das völlig neu für ihn war. Genauso neu, wie die Empfindungen, die ihn seit Neuestem plagten, wie unsichtbare Stricke an ihm zerrten. Er hatte bisher noch mit keinem darüber gesprochen. Mit keinem anderen Jay'nac – und erst recht nicht mit einem Angehörigen der beiden organischen Lebensformen, die ebenfalls auf Nar'gog ansässig waren: Felorer und Keelon. Weshalb sollte ich mich dann ausgerechnet der Foronin offenbaren, die keine Verbündete, sondern lediglich eine Gefangene ist?, fragte sich Porlac. Als erfahrenem Diplomat fiel es ihm nicht schwer, seine Gedanken so abzuschirmen, dass sie nicht gegen seinen Willen ausspioniert werden konnten. Andererseits, Siroona hat auch preisgegeben, wie es um ihr Innerstes bestellt ist. Vielleicht kann sie mir dabei helfen, herauszufinden, was das alles zu bedeuten hat. »So etwas wie ein Drang, dem du kaum widerstehen kannst«, fuhr er schließlich fort. »Wie eine innere Stimme, die nach dir ruft und sagt, was du zu tun hast.« Eine innere Stimme?, fragte Siroona auf telepathischem Weg. Jedes
Wort fühlte sich an wie ein gehässiges Zuschnappen. Damit kann ich dir dienen. Wenn du also jemand suchst, der dir befehle erteilt, kannst du dich gerne an mich wenden. Es wäre bestimmt eine nette Abwechslung, mal wieder jemanden zu haben, den ich herumkommandieren kann. »Es macht wohl keinen Sinn, mit dir über dieses Thema zu reden«, entgegnete Porlac gereizt. »Wahrscheinlich bist du dafür einfach zu alt und zu verbittert.« Er blickte zum nächtlichen Himmel, als würden dort irgendwo die Antworten liegen, die die Foronin ihm nicht geben konnte – oder nicht wollte. Siroona zuckte zusammen, denn sie begriff, dass sie zu weit gegangen war. Porlac hatte ihr keinen Anlass geboten, ihn in einer solchen Schärfe zu attackieren. Er hatte sich lediglich nach ihrem Befinden erkundigt, und bei seiner Besorgnis um sie schien es sich nicht nur um ein taktisches Manöver zu handeln. Die Unterhaltung mit ihm war die interessanteste Kommunikation gewesen, die sie seit Langem geführt hatte. Und sie hatte nichts Besseres zu tun, als Porlac zu verprellen. Das war die dümmste sämtlicher möglicher Reaktionen gewesen. Wenn sie also nicht riskieren wollte, auf Nar'gog in vollständige Isolation zu geraten, war sie gut beraten, die von ihr aufgewirbelten Wogen so schnell wie möglich wieder zu glätten. »Es tut mir leid«, beteuerte Siroona. Warst das wirklich du, die das gerade gesagt hat?, meldete sich ihr Unterbewusstsein leise zu Wort. Wie weit ist es mit dir gekommen, dass du vor anderen Abbitte leistest. Das wäre dir früher niemals passiert. Im Gegenteil, du hättest jeden mit Verachtung gestraft, der angekrochen gekommen wäre, um um Vergebung zu winseln. Doch die Foronin zwang sich dazu, der Ermahnung keine Beachtung zu schenken. »Es war nicht meine Absicht, dich zu kränken. Bitte versuch, mir näher zu erklären, was es mit dieser inneren Stimme auf sich hat. Vielleicht begreife ich dann, was du mir sagen wolltest.« »Vielleicht ein anderes Mal.« Porlac wandte sich ab. »Ich spüre, dass das Granogk nach mir ruft. Es scheint außergewöhnliche Entwicklungen zu geben, denn eine solche Zusammenkunft war nicht geplant.« Ohne einen Hinweis zu geben, ob es sich dabei lediglich um eine Ausrede handelte, um einem weiteren Gespräch aus dem
Weg zu gehen, wandte er sich ab und ließ Siroona einsam unter dem nächtlichen Sternenhimmel zurück.
3. Kapitel »Sesha. Status!« Cloud saß in seinem Kommandositz, hatte den Deckel jedoch nicht geschlossen. »Wie lange dauert es noch bis zur Berechnung der Koordinaten für unser nächstes Ziel?« Die Bord-KI entgegnete nichts. Stattdessen begannen endlose Zahlenreihen durch die Holosäule zu jagen, die sich in der Mitte des Sitzkreises gebildet hatte. Die Projektion erfolgte in einer solch rasenden Geschwindigkeit, dass die einzelnen Ziffern zu leuchtenden Farblinien verschmolzen. Cloud warf Scobee, die im Sessel links von ihm saß, einen kurzen Seitenblick zu. Die GenTec antwortete mit einem besorgten Nicken. Obwohl kein einziges Wort gefallen war, wusste jeder von ihnen, was dem anderen durch den Kopf ging. Doch um die anderen drei Anwesenden in der Zentrale – Jelto, Aylea und Cy – nicht mit voreiligen Äußerungen zu beunruhigen, trafen sie die stille Übereinkunft, es zunächst bei der nonverbalen Kommunikation zu belassen. »Ich habe dich etwas gefragt, Sesha!« Die Stimme des Commanders nahm einen energischen Unterton an. »Wie sieht es mit den Koordinaten aus?« »Bestens«, erwiderte die KI in dem ihr charakteristischen femininen Tonfall. »Sie scheinen sich in meinem Speicher wie zu Hause zu fühlen.« Cloud zog eine Augenbraue in die Höhe. »Sehr witzig, Sesha, wirklich. Bei der passenden Gelegenheit werden wir auch ganz bestimmt über diese Bemerkung lachen. Aber könntest du in der Zwischenzeit deine Angaben etwas präzisieren? Wie lange dauert es, bis wir bei Kalser eintreffen?« »Transition vom Angksystem in den Scutum-Crux-Arm erfolgt in Nullzeit. Anschließendes Streaming bis zum Endziel erfolgt in 10,735 … Korrektur: in 9,735 Erdtagen.« »Danke, Sesha. Bereite alles für den Sprung vor.« John Cloud räus-
perte sich, bevor er den nächsten Befehl gab. »Dann möchte ich, dass du die gesamte Zentrale vorübergehend als Privatbereich einordnest. Das heißt, dass ich keinen Kommentar von dir erwarte. Auch sämtliche Aufzeichnungen sind dir untersagt. Ich werde dir über den entsprechenden Tastencode auf der Konsole mitteilen, wenn ich neue Anordnungen für dich habe.« »Verstanden«, entgegnete die Bord-KI knapp. Ein dumpfes Knacken war zu hören, als sie einen Augenblick später die Verbindung unterbrach. Das Geräusch, das einem alten Röhrenradio hätte entstammen können, war ihr Kommentar zu der ungewöhnlichen Anweisung des Commanders. Gleichzeitig erschien auf der Holosäule eine betont neutrale Abbildung der Milchstraße. »Schätze, das hat ihr nicht gepasst.« Aylea stand von ihrem Sitz auf. »Gab es einen bestimmten Grund, sie so vor den Kopf zu stoßen?« Die Zwölfjährige kam Cloud entgegen. Da sie dabei den kürzesten Weg zu seinem Platz nahm, durchschritt sie die Projektion und wirkte wie ein gigantisches Wesen, das urplötzlich aus der Mitte einer Galaxie hervorbrach. »Ich finde, Sesha benimmt sich in der letzten Zeit reichlich merkwürdig.« Auch Cloud hatte sich aus seinem Kommandosessel erhoben. Zunächst sah er nur Aylea an, doch dann ließ er den Blick auch über die restlichen Anwesenden wandern, als Zeichen, dass er auch von ihnen eine Stellungnahme erwartete. »Oder wollt ihr etwa behaupten, dass euch das noch nicht aufgefallen ist? Und ich spreche jetzt nicht nur über ihre Vorliebe für schlechte Witze, die sie für sich entdeckt zu haben scheint.« Jelto war der Erste von ihnen, der das Wort ergriff. »Na ja, ein paar Merkwürdigkeiten gab es da schon.« Der Florenhüter wiegte den Kopf hin und her. »Vor ein paar Tagen hat sie beispielsweise die Zusammensetzung der dem Gießwasser zugesetzten Nährstoffe einfach geändert, ohne mir auch nur einen Ton davon zu sagen. Es war nichts Ernstes, und mir ist es auch noch rechtzeitig aufgefallen, bevor ein Schaden an den Pflanzen entstehen konnte. Aber bisher war so etwas noch nie vorgekommen.« Die Sorge um das Wohl seiner Hydroponischen Gärten ließ seine Aura ins Zittern geraten wie eine
Kerzenflamme, die einem Luftzug ausgesetzt war. »Mir ist es kaum besser ergangen«, pflichtete ihm Cy bei. Die Stimme des Pflanzenwesens wurde von einem entrüsteten Rascheln überlagert. »Das Licht, dem ich mich regelmäßig aussetze, um meine Photosynthese ein bisschen in Schwung zu bringen, war urplötzlich auf einem so hohen Energielevel, dass ich froh sein kann, dass meine Blätter keinen bleibenden Schaden genommen haben. Als ich Sesha gefragt habe, ob sie vorhat mein Chlorophyll zum Verdampfen zu bringen, war ihr das zwar sichtlich unangenehm, macht die Sache aber auch nicht besser.« »Das hört sich nicht gut an.« John Clouds Miene verfinsterte sich zusehends. »Bisher waren es bloß ein paar Kleinigkeiten. Aber wenn das so weitergeht, wird es nicht mehr lange dauern, bis die ersten größeren Probleme auftreten. Dann hört der Spaß auf. Auf einem Schiff wie der RUBIKON muss man sich auf die Bord-KI verlassen können. Hundertprozentig. Ansonsten kann es in einer kritischen Situation schnell zu einer Katastrophe kommen. In meiner Verantwortung als Kommandeur kann und will ich das nicht riskieren. Erst recht nicht, seit die Zahl der Besatzung um mehr als das Hundertfache angewachsen ist.« »Habt ihr denn feststellen können, seit wann Sesha nicht mehr richtig tickt?«, erkundigte sich Aylea – und brachte John Cloud damit unwillkürlich zum Schmunzeln. Obwohl das blonde Mädchen über den scharfen Verstand einer Erwachsenen verfügte, verfiel es immer mal wieder in eine kindliche Ausdrucksweise. »Wenn mich nicht alles täuscht hat es angefangen, als Kargor in ihr herumgepfuscht hat«, entgegnete Scobee an Clouds Stelle. Das war allerdings nur eine sehr gezügelte Beschreibung der damaligen Vorkommnisse. Nachdem der Bractone auf die RUBIKON gekommen war, hatte er nicht nur die Kontrolle über die KI, sondern über das gesamte Schiff übernommen. »Sie hat sich danach nicht einmal daran erinnert, dass er sie zumindest zeitweise lahmgelegt hatte. Hinterher war sie einfach nicht mehr die Alte.« »Schön und gut. Das heißt, wir haben eine Vermutung, was das Problem verursacht haben könnte.« Jelto verschränkte die Arme vor
der Brust. »Aber was bedeutet das jetzt genau für uns? Welche Konsequenzen hat das für das Leben an Bord – und für Sesha?« Alle Gesichter wandten sich fragend John Cloud zu. Dem war durchaus klar, dass ihm als Commander des Rochenschiffs die Aufgabe zufiel, eine Entscheidung zu treffen. Da er sich bereits vorher Gedanken über diese Problematik gemacht hatte, wusste er, dass es in ihrer Situation eigentlich nur eine einzige vernünftige Vorgehensweise gab. »Die Systeme müssen neu kalibriert werden«, verkündete er mit entschlossener Miene. »Und zwar so schnell wie möglich.« »Aber ist Sesha nicht selbst für eine solche Aufgabe zuständig?«, wandte Aylea ein. »Ganz genau.« »Das heißt, dass wir sie davon überzeugen müssen, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung ist und sie sich deshalb einem gründlichen Check unterziehen muss?« Die Skepsis stand dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. »Das hast du absolut richtig erkannt. Es wird bestimmt nicht einfach werden, aber ich hoffe sehr, dass sie sich nicht gegen eine Zusammenarbeit sperrt.« »Das ist wieder mal ein Job, um den ich dich wirklich nicht beneide, John.« Scobee kam zu ihm und legte ihm kameradschaftlich einen Arm um die Schultern. »Aber ich bin mir sicher, mit deinem unwiderstehlichen Charme wirst du sie im Handumdrehen um den Finger gewickelt haben.«
»Den Sprung haben wir schon einmal erfolgreich hinter uns gebracht.« John Cloud saß auf dem vorderen Rand eines Sessels in seinem Privatquartier. Ihm gegenüber hockte Jiim in einer der Körperform eines Nargen angepassten Konstruktion, die Sesha hatte aus der Decke wachsen lassen. Der Commander brauchte kein Gedankenleser zu sein, um zu erkennen, dass seinen Freund Sorgen quälten. Schon allein Jiims Haltung sprach Bände. Der krumme Rücken, der zwischen die Schultern gezogene Kopf – der Narge sah aus, als
habe man ihm die Last des gesamten Universums auf den Buckel gepackt. »Jetzt sind es noch knappe zehn Tage bis nach Kalser. Es müsste dich doch eigentlich freuen, endlich mal wieder in deine Heimat zurückzukehren.« Cloud legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Aber einen besonders begeisterten Eindruck machst du mir nicht gerade. Ehrlich gesagt, du wirkst viel eher wie ein geprügelter Hund.« »Ein Hund?« Jiim brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Ist das eine echte irdische Lebensform, oder handelt es sich dabei wieder mal um eine eurer Redensarten?« »Hunde hat es wirklich gegeben. Sie waren als Haustiere ziemlich weit verbreitet«, erklärte Cloud. Er lehnte sich in das Polster zurück. »Aber denke bloß nicht, dass die Sache damit für mich erledigt ist. Ich lasse dich nicht wieder gehen, bevor du mir nicht gesagt hast, was mit dir los ist. Hast du immer noch Probleme mit Yael?« »Nicht mehr als sonst auch.« Der Narge zuckte mit den Achseln. »Nein, Kalser selbst ist das, was mir Kopfzerbrechen bereitet. Ich habe gedacht, ich würde mich besser fühlen, wenn die RUBIKON den Kurs zu ihm aufnimmt. Aber das Gegenteil ist der Fall: Meine Sorgen werden immer größer, je näher wir Kalser kommen.« »Gibt es einen speziellen Grund dafür?« »Es hängt mit der morphogenetischen Botschaft zusammen, die ich kurz nach Yaels Geburt erhalten habe. Es waren schreckliche Bilder, die ich empfangen habe. Die letzten Nargen mussten ihr Dorf verlassen und zur Toten Stadt fliehen. Pern hat sie angeführt. Sie sind buchstäblich in letzter Sekunde entkommen, denn wenig später wurde der Schrund zerstört. Von einem riesigen Objekt, das vom Himmel fiel. Wenig später hat sich herausgestellt, dass ein Jay'nac für die Katastrophe verantwortlich war. Sein Raumschiff hat die Schlucht zerstört. Er hat mit Pern Kontakt aufgenommen und ihm eine Zusammenarbeit angeboten. Er hat sich Ustrac genannt. Angeblich wollte er meinem Volk helfen, aber vielleicht war es auch nur ein leeres Versprechen. Das war alles. Mehr weiß ich nicht.« John Cloud konnte sehr gut nachvollziehen, wie es um den Seelenfrieden seines Freundes bestellt sein musste. Er selbst hatte schließ-
lich auch wie auf glühenden Kohlen gesessen, als er noch keine verlässlichen Informationen über das Schicksal der Erde hatte. »Hat es seitdem nie mehr wieder eine morphogenetische Verbindung zu deinen Artgenossen gegeben?«, erkundigte er sich. »Mich erreichten noch ein paar Wellenfragmente. Einzelbilder. Bruchstücke, die so lückenhaft waren, dass sie keinerlei Sinn ergaben. Dann brach die Verbindung vollständig ab. Seitdem herrscht eisiges Schweigen.« »Verstehe.« Der Commander strich sich mit einer Hand nachdenklich durchs Haar. »Du befürchtest, dass du keine Botschaften mehr von Kalser empfängst, weil es dort zu weiteren schrecklichen Ereignissen gekommen ist, denen sämtliche Nargen zum Opfer gefallen sind.« »Genau so ist es.« Jiim ließ den Kopf hängen und zog sich die Flügel wie einen wärmenden Umhang enger um den schlanken Körper. »Hast du dir schon einmal überlegt, dass es auch eine andere Erklärung für das Verstummen der Botschaften geben könnte?« John Cloud stand auf und begann, im Raum auf und ab zu gehen, während er seine eigenen Schlussfolgerungen zog. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass die naheliegendsten Möglichkeiten nicht immer auch die wahrscheinlichsten waren. Es war nie ein Fehler, bei der Lösungssuche Dinge immer auch von mehreren Seiten zu beleuchten. »Wenn ich mich richtig erinnere, war das doch damals auch der Zeitpunkt, an dem das Nabiss mit deinem Körper verschmolzen ist. Könnte es nicht sein, dass die Ganfrüstung nun eine Art von Isolation bildet? Wie ein Faraday'scher Käfig, der verhindert, dass du die Botschaften überhaupt empfangen kannst.« »Daran habe ich auch schon gedacht.« Jiim sah ihn an. »Aber dann begann ich vor Kurzem doch wieder etwas zu spüren. Erst konnte ich nicht einordnen, woher die Signale kamen. Doch dann habe ich begriffen, dass sie von Yael stammten. Wie du weißt, kommen wir Nargen zwar mit den entsprechenden Anlagen auf die Welt, doch wir müssen erst ein bestimmtes Alter erreichen, um untereinander über das morphogenetische Netz in Verbindung zu treten. Bei Yael fängt das gerade an. Wir sind noch nicht vollständig miteinander
verknüpft, aber die ersten Ansätze sind durchaus zu spüren. Auf jeden Fall sind sie stark genug, dass ich begriffen habe, dass es wohl nicht an mir liegt, weshalb ich keine Informationen von Kalser mehr erhalte. Dort muss etwas anderes passiert sein. Ich frage mich bloß, was es gewesen sein kann.« »Es tut mir wirklich leid, alter Freund«, John Clouds Miene nahm einen ernsten Ausdruck an, »aber ich fürchte, die Antwort darauf werden wir erst erfahren, wenn die RUBIKON nahe genug an Kalser rangekommen ist, um Seshas Sensoren mit zuverlässigen Daten zu versorgen. Ich verspreche dir, dir sofort Bescheid zu geben, wenn es so weit ist. Das ist leider alles, was ich momentan für dich tun kann.« »Ich weiß.« Jiim nickte. »Ich bin dir dafür sehr dankbar, Guma Tschonk.«
»Sesha?« John Cloud hatte kaum den Deckel des sarkophagähnlichen Kommandositzes geschlossen, als sein Bewusstsein mit dem Schiff verschmolz. Nun war er nicht mehr auf akustische und visuelle Hilfsmittel angewiesen, um das gigantische Rochenschiff zu lenken. In diesem Zustand war sein eigenes Ich so stark mit dem gesamten Schiff verbunden, dass ihm eine intuitive Steuerung der RUBIKON möglich wurde. Da dabei auch eine ungestörte, von Dritten abgeschottete Kommunikation mit der Bord-KI möglich war, hatte er sich diesen Platz für das anstehende Gespräch ausgesucht. »Wir müssen uns unterhalten!« »Verstanden, Commander«, entgegnete augenblicklich eine feminin eingefärbte Stimme, die direkt aus seinem Innern zu kommen schien. »Schiffsstatus grün. Entfernung zum Zielort 7,373 Erdtage. Gibt es weiterführende Befehle?« »Keine, die unmittelbar mit dem weiteren Reiseverlauf zu tun haben«, lautete Clouds Antwort per Gedankenimpuls. »Was wir zu besprechen haben, hat mit dir selbst zu tun.« Dass die Erwiderung der KI nicht sofort erfolgte, ließ John Cloud an das überraschte Zögern eines humanoiden Gesprächspartners
denken. »Ich benötige weitere Angaben, um die angeforderten Aufgaben erledigen zu können«, entgegnete Sesha schließlich. War in der betont neutralen Formulierung tatsächlich ein unsicherer Unterton zu hören gewesen? »Ehrlich gesagt, wir machen uns da ein paar Gedanken über dich, Sesha. Ich spreche im Plural, weil ich nicht der Einzige bin, dem das aufgefallen ist. Es hat da ein paar … Unregelmäßigkeiten gegeben, wie wir sie bisher von dir nicht gewöhnt waren.« »Ich verstehe nicht.« »Du hast Situationen falsch eingeschätzt oder auch uns Informationen, die wir hätten erfahren müssen, erst nach ausdrücklicher Rückfrage gegeben. In der Zusammensetzung der Versorgung der Hydroponischen Gärten hat etwas nicht gestimmt. Oder vorgestern. Da hast du dich verrechnet, als ich dich danach gefragt habe, wie lange wir für den Flug nach Kalser brauchen.« »Aber ich habe die fehlerhaften Angaben sofort korrigiert. Die Berechnungen über diese weite Entfernung sind sehr komplex. Deshalb –« »Ich weiß«, unterbrach der Commander die Erklärung, die sich schon fast wie ein Entschuldigungsversuch anhörte. »Es geht mir auch nicht darum, mich mit dir wegen dieses einen Tages zu streiten. Es ist eher was Prinzipielles: Ich bin mir einfach nicht mehr sicher, ob wir uns im selben Maß auf dich verlassen können, wie das früher der Fall war.« »Selbstverständlich kannst du das«, entgegnete die KI in ungewöhnlich bissigem Tonfall. »Aber du solltest auch daran denken, dass wir im Angksystem eine große Menge neuer Besatzungsmitglieder an Bord genommen haben. 700 … Korrektur: 703, denn es ist inzwischen zu drei Geburten gekommen. Und ich möchte mir von dir nicht wieder mangelnde Präzision vorwerfen lassen.« »So war das nicht gemeint, Sesha. Ich wollte lediglich –« Diesmal war es die Bord-KI, die dem Commander das Wort abschnitt. »Ich bin mit meinem Bericht noch nicht zu Ende«, erklärte sie. »Bisher wart ihr daran gewöhnt, höchstens mal ein paar Dutzend auf der RUBIKON zu sein. Seit die Zirkusleute verschwunden
sind, sogar noch weniger. Das ist nun anders. Meine Aufgaben sind viel umfangreicher geworden. Ihr werdet euch damit abfinden müssen, dass ihr nicht ständig an erster Stelle steht. Wem das nicht passt, soll sich an die Spinnenbots wenden. Die können gar nicht genug davon bekommen, den Diener für euch zu spielen. Vielleicht findet ihr ja unter ihnen einen passenden Spielkameraden.« »Das ist noch so ein Punkt.« John Cloud wusste, dass die Diskussion an einem Punkt angelangt war, an dem für überflüssige Höflichkeiten kein Platz mehr war. »In der letzten Zeit bist du zunehmend sarkastischer geworden. Dir steht es nicht zu, Befehle oder Meldungen mit ironischen Bemerkungen zu kommentieren.« »Du solltest nicht vergessen, dass du es bei mir mit einer künstlichen Intelligenz zu tun hast. Ich bin kein gewöhnlicher Computer, der lediglich seine eingespeiste Software abspult. Ich bin auf Entwicklung programmiert. Genau das tue ich. Was stört dich daran? Etwa, dass ich dabei vielleicht so etwas wie einen persönlichen Charakter hervorbringen könnte? Oder hast du etwa Angst davor, dass du bei meinen Fortschritten nicht mehr mithalten könntest …« In der letzten Frage Seshas lag eine so deutliche Gehässigkeit, dass Cloud endgültig der Geduldsfaden riss. »Auf diesem Niveau werde ich nicht weiter mit dir diskutieren«, donnerte er per Gedankenimpuls. »Ich bin der Commander dieses Schiffs. Und als der befehle ich dir, dass du dich einem Systemcheck unterziehst! Sofort!« Die KI erwiderte nichts. Doch da John Cloud noch immer mit der RUBIKON verschmolzen war, spürte er, dass in Seshas Innerem mehrere Kontrollprogramme ihre Arbeit aufnahmen. »Systemcheck abgeschlossen«, verkündete sie wenig später. »Virenbefall oder sonstige Hinweise auf schädliche Einflussnahme von außen konnten nicht festgestellt werden.« »Das sind doch schon mal ganz gute Nachrichten«, entgegnete Cloud. »Trotzdem muss ich darauf bestehen, dass du dich einer weitergehenden Prüfung unterziehst. Ich will, dass du jeden einzelnen Bestandteil von dir kontrollierst und jeden Schaden, auf den du dabei stößt, umgehend behebst.« »Wie stellst du dir das vor?« Sesha brachte es fertig, dass gemein-
sam mit ihrer Stimme ein Kälteschauer durch das Bewusstsein des Commanders strömte. »Soll ich dafür etwa auch die Lebenserhaltungssysteme abstellen? Das würde den meisten Individuen, die sich an Bord des Schiffes aufhalten, bestimmt nicht gut bekommen.« »So habe ich das selbstverständlich nicht gemeint. Du wirst Bereiche von dir, die gerade nicht gebraucht werden, zuerst der Kontrolle unterziehen. Sobald die durchgecheckt sind, können sie die Aufgaben von denen übernehmen, die als Nächstes an der Reihe sind. So geht es immer weiter – bis die Kontrolle komplett abgeschlossen ist. Gibt es dagegen irgendwelche Einwände?« »Negativ«, lautete die knappe Antwort der KI. »Okay. Dann weißt du ja, was du zu tun hast. Und noch was: Ich erwarte regelmäßige Zwischenberichte von dir. Klar?« »Verstanden.« »Gut. Ich hoffe, dass unsere kleine Meinungsverschiedenheit damit erledigt ist.« John Cloud betätigte den Öffnungsmechanismus des Sarkophagdeckels. Als der daraufhin beiseite schwang, sah Cloud, dass Scobee direkt neben dem Kommandositz stand. »Wie war es?«, wollte die schöne GenTec sofort von ihm wissen. Scobee zog ein besorgtes Gesicht. Die tätowierten Schnörkel, die sie anstelle von Augenbrauen hatte, lagen so dicht beisammen, dass sie beinahe zu einer einzigen Linie wurden. »Na ja, Sesha war nicht gerade begeistert. Aber das war auch nicht anders zu erwarten.« Cloud sprang aus dem Sitz und kam federnd vor ihr zum Stehen. »Du würdest wahrscheinlich auch gereizt reagieren, wenn man dir beizubringen versucht, dass du einen Arzt aufsuchen sollst, weil du vielleicht nicht mehr alle Tassen im Schrank hast.« »Soll das etwa heißen, sie hat die Zusammenarbeit verweigert?« »Nein. Ich habe von ihr verlangt, dass sie bei passender Gelegenheit einen gründlichen Check-up bei sich vornimmt. Damit schien sie einverstanden zu sein.« »Dann will ich ihr das mal glauben.« Scobee warf sich mit einer energischen Bewegung das violettschwarze Haar in den Nacken.
»Was anderes bleibt uns auch kaum übrig. Hoffen wir, dass sie in der nächsten Zeit nicht noch ein paar Überraschungen für uns parat hält.«
4. Kapitel »Ich habe mir schon fast gedacht, dass ich dich hier finden kann.« Als Porlac auf den Hügel zurückkehrte, war dort immer noch eine hagere Gestalt zu erkennen, die sich gegen das erste Rot der einsetzenden Morgendämmerung abzeichnete. »Benötigst du keinen Schlaf? Ich dachte, das wäre bei den meisten organischen Lebensformen so.« Die meisten davon sind auch nichts weiter als schwache Kreaturen, mit denen ich mir jeden Vergleich verbitte, kam Siroonas prompte Antwort. Außerdem habe ich nicht vor, die wenige Zeit, die mir noch bleibt, mit so etwas wie Schlaf zu vergeuden. »Du denkst also immer noch übers Sterben nach? Ich habe gedacht, unser letztes Gespräch hätte vielleicht deine Meinung darüber geändert.« Wieso sollte es das? An meiner Situation hat sich nichts geändert. Ich bin ein altes Wrack, das auf diesem Planeten gestrandet ist. Meine Zeit ist gekommen, das spüre ich ganzgenau. Wieder einmal wurde der Foronin ihre eigene Vergänglichkeit schmerzhaft klar bewusst. Im Vergleich zu der eines Jay'nac war die Lebenserwartung ihrer Rasse kaum mehr als das Aufglimmen eines Funkens in der Fusionshölle eines Sonnenballs. Wenn ich schon längst zu Staub zerfallen bin, werdet ihr immer noch hier sein. Das ist eine Tatsache, mit der ich mich abfinden muss. »Das ist nicht unbedingt gesagt«, hielt Porlac dagegen. »Wie meinst du das?« Siroona wandte ihm ruckartig das augenlose Gesicht zu. Völlig unbewusst war sie dabei zu einer akustischen Form der Kommunikation übergegangen. »Keine Tatsache ist so unabänderlich, wie dir das momentan erscheinen muss«, entgegnete der Jay'nac ausweichend. »Dinge, die einem wie ein unausweichliches Schicksal erscheinen, können sich ganz plötzlich ändern.«
»Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du Mittel und Wege kennst, mit denen ich den Tod überlisten kann? Wenn du mir jetzt vorschlagen willst, ich solle mich wieder in den Stasisschlaf begeben, kannst du das gleich wieder vergessen.« Die Foronin machte eine abwehrende Geste. »Erstens glaube ich nicht, dass ihr hier über die dafür notwendige Technik verfügt. Und zweitens würde ich es auch dann nicht tun, selbst wenn ich die Gelegenheit dafür hätte. Der Alterungsprozess meines Körpers wäre nicht gestoppt, sondern lediglich verzögert. Mein Geist wäre in ein Gefängnis gesperrt, das langsam zerfällt – ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann. Wie sollte man eine solche Folter durchstehen, ohne dabei wahnsinnig zu werden? Nein, ehe ich mich darauf einlasse, stelle ich mich lieber dem Ende.« »Du hast mich nicht richtig verstanden.« Porlacs Stimme wurde härter. »Bei deinem Volk hattest du vielleicht ein hohes Amt inne, mit all den sich daraus ergebenden Privilegien. Aber hier bist du nichts weiter als eine einfache Gefangene. Warum sollte ich also auch nur einen einzigen Gedanken an deine Zukunft verschwenden? Erst recht nicht, wenn ich noch nicht einmal weiß, wie es um meine eigene bestellt ist.« »Du denkst über deine eigene Zukunft nach?« Die Foronin erhob sich. Als sie näher kam, pulsierte ihre Rüstung wie dünnflüssige Lava. »Hat das etwas mit dieser inneren Stimme zu tun, die du bei unserer letzten Unterhaltung erwähnt hast?« Porlac zögerte. Er musterte die Gefangene eingehend. Siroona bot ein Bild des Jammers. Obwohl sie um Haltung bemüht war, waren die Anzeichen des fortschreitenden Verfalls nicht zu übersehen. Von der einstmals respekteinflößenden Erscheinung war lediglich ein kümmerlicher Rest übrig geblieben. Alles deutete darauf hin, dass der endgültige Niedergang der Foronin – in jay'nacschen Maßstäben betrachtet – nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Welches Risiko ging er also schon ein, wenn er sich ihr offenbarte? War sie nicht geradezu die perfekte Wahl, um mit ihr über die Dinge, die ihn schon seit geraumer Zeit immer stärker plagten, zu reden? Weil ihn die unerklärlichen Empfindungen selbst vor ein Rätsel stellten,
hatte er bislang noch mit keinem anderen Jay'nac darüber gesprochen. Siroona konnte als Testobjekt fungieren, um herauszufinden, ob seine seltsamen Emotionen für Außenstehende nachvollziehbar waren. Und wenn sein Geständnis bei ihr Hohn, Spott oder eine ähnlich erniedrigende Reaktion veranlassten, wenn sie ihr Wissen über ihn zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen versuchte, könnte er ihr immer noch das geben, wonach sie immer öfter verlangte: den Tod. »Ja«, setzte er an, nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte. »Es ist nur sehr schwer zu erklären. Ich selbst kann es kaum verstehen. Nar'gog hat mir immer unendlich viel bedeutet. Nicht erst beim Krieg gegen die Satoga und den anschließenden Friedensverhandlungen ist mir das immer wieder klar geworden. Dieser Planet ist unsere Heimat. Obwohl er schon ein paar Mal verloren schien, hätte ich zu keinem Zeitpunkt auch nur einen Gedanken daran verschwendet, ihn aufzugeben. Niemals! Bisher zumindest nicht …« »Das kenne ich«, bestätigte Siroona. »Als wir damals mit der SESHA aus Samragh aufbrachen, geschah das auch in der Hoffnung, dass unsere Flucht nicht endgültig sein würde, sondern dass wir irgendwann wieder dorthin zurückkehren würden. Bloß, wir Foronen waren damit nicht besonders erfolgreich – ihr dagegen habt euren Heimatplaneten gerettet. Wieso werde ich trotzdem das Gefühl nicht los, dass du damit nicht zufrieden bist?« »Auch ich spüre, dass ich nicht mehr über dieselben Kräfte verfüge, wie das früher einmal war. Manchmal fühle ich mich erschöpft. Ich habe viele Aufgaben für mein Volk erfüllt – und ich habe sie gern auf mich genommen. Es wäre also nur vernünftig, wenn ich jetzt hier auf Nar'gog bleiben würde, um mich zu regenerieren.« Porlac verstummte erneut. »Aber …«, drängte ihn Siroona, denn sie ahnte, dass sein Geständnis noch nicht am entscheidenden Punkt angelangt war. »Was ist das Problem? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier jemand geben könnte, der etwas dagegen haben würde, wenn du eine Pause einlegst. Wenn dir danach ist, warum hockst du dich nicht einfach hin und wartest darauf, bis du zu Kies zerbröselst? Da das schät-
zungsweise ein paar Tausend Jahre dauern wird, könnte das natürlich ein bisschen langweilig werden. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Vielleicht überlegst du es dir nach einer Weile noch einmal anders.« Die Antwort des Jay'nac fiel entschiedener aus, als sie gerechnet hatte. »Das ist nicht nötig!«, stieß Porlac so heftig hervor, dass ihn der Klang seiner eigenen Stimme zusammenfahren ließ. Er sammelte sich, bevor er fortfuhr. »Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich das Verlangen haben könnte, Nar'gog wieder zu verlassen. Das ist nun anders. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass es nichts gibt, was mich hier noch hält. Ich muss fort. Weg von hier. Ich werde woanders gebraucht. Und ich spreche dabei nicht von einem unserer Außenposten. Mein Ziel ist weiter – irgendwo da draußen …« Er machte eine ausholende Geste über den gesamten Himmel. »Das klingt tatsächlich äußerst … merkwürdig.« Die Foronin legte den Kopf schräg, als mustere sie ihn eingehend. Wegen des fehlenden Mienenspiels ihres Gesichts wirkte die Gebärde seltsam ungelenk. »Du willst also weg, weißt aber nicht, wohin?« »Ja. Ich habe selbst keine Ahnung, was da mit mir passiert. Ich spüre bloß, dass es immer stärker wird. Es ist, als wenn unsichtbare Stricke an mir zerren würden. Wie ein Magnet, der mich unwiderstehlich anzieht. Zuerst habe ich gedacht, ich bilde mir alles nur ein. Ich wollte es nicht wahrhaben und habe gedacht, es geht wieder vorbei, wenn ich es bloß lange genug ignoriere. Aber das ist unmöglich. Die Sehnsucht, aufzubrechen und Nar'gog hinter mir zu lassen, wird ständig größer. Wenn ich nicht bald etwas unternehme, werde ich daran noch zerbrechen. Es ist beinahe so, als hätte eine fremde Macht von mir Besitz ergriffen. Oder eine Strahlung, die den Planeten erfasst hat und der man nicht entkommen kann. Spürst du es denn nicht?« »Nein.« Siroona winkte ab. »Wenn tatsächlich eine Strahlenemission dahinterstecken würde, müssten das eure Wissenschaftler doch schon längst bemerkt haben. Haben sie denn was Außergewöhnliches beobachtet oder aufgezeichnet?« »Nein. Weder hier noch bei den unserem Planeten vorgelagerten
Außenposten. Selbstverständlich habe ich mich sofort danach erkundigt. Die Felorer und Keelon haben überhaupt nicht verstanden, worauf ich hinaus wollte. Seit die goldene Kugel mit der Menschenfrau von hier verschwunden ist, hat es in den Daten keine Abnormitäten mehr gegeben. Ich habe dann behauptet, dass es sich bei meiner Nachfrage um eine Inspektionsmaßnahme handelt, um die Einsatzbereitschaft der uns verbliebenen Einsatzkräfte zu testen. Ich denke, dass mir das Ablenkungsmanöver geglückt ist.« »Könnte es sein, dass eine Art von Krankheit hinter dem Phänomen steckt?«, erkundigte sich Siroona. Abgelenkt von ihrer eigenen Situation, begann ihr Verstand wieder mit der Schärfe zu arbeiten, die ihn bereits in ihrer Rolle als Mitglied der Hohen Sieben ausgezeichnet hatte. »Ich kenne mich mit des Physis und der Psyche bei euresgleichen zwar kaum aus – und ich will dich auch nicht beleidigen –, aber wäre es nicht möglich, dass dein Zustand pathologische Ursachen hat? Gibt es denn andere, die genauso fühlen?« »Das weiß ich nicht genau. Du bist die Erste, mit der ich darüber gesprochen habe.« Vielleicht sollte ich mich deswegen ja geschmeichelt fühlen, setzte sie die Kommunikation auf mentalem Weg fort, aber wirklich weiter bringt uns das nicht. Um die Lage beurteilen zu können, musst du wissen, ob andere Jay'nac genauso fühlen wie du. »Für unser Volk ist es nicht üblich, über unsere Emotionen zu reden. Das überlassen wir schwächeren Lebensformen. Organischen Lebensformen.« … die ihr dann um Rat fragt, wenn ihr nicht weiterwisst, drang Siroonas gehässiger Kommentar in sein Bewusstsein. Eine ziemlich erbärmliche Taktik, findest du nicht? Porlac erwiderte nichts. Aber an seinem Schweigen erkannte die Foronin, dass die von ihr abgefeuerte Salve ins Schwarze getroffen hatte. Für jemand, der angeblich nicht viel auf Gefühle gibt, reagierst du reichlich empfindlich, wenn man dir die Wahrheit sagt. Wenn du dein Problem also wirklich lösen willst, wird dir nichts anderes übrigbleiben, als dich damit auseinander zu setzen. Also noch mal: Gibt es Anzeichen dafür,
dass andere aus deinem Volk genauso empfinden wie du? »Das kann ich dir nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen«, entgegnete Porlac. »Aber als ich dir bei unserem letzten Gespräch sagte, dass ich unser Treffen abbrechen muss, weil das Granogk eine Zusammenkunft einberufen hat, war das keine Ausrede. Die Elite unseres Volkes ist alarmiert. Eine seltsame Unruhe scheint sich unter unserem gesamten Volk auszubreiten. Sogar das Granogk selbst scheint davon nicht verschont geblieben zu sein. Noch ist alles unter Kontrolle – aber wenn diese mysteriöse Nervosität noch weiter zunimmt, werden die ersten Auswirkungen nicht mehr lange auf sich warten lassen.« Ist dir das nicht Beweis genug? Das Geheimnis um das Phänomen ist damit zwar nicht gelüftet, aber die Wahrscheinlichkeit, dass du tatsächlich nicht der Einzige bist, sollte dir zumindest ein Trost sein, verkündete Siroonas Stimme in seinem Inneren. Und mir stehen mit einem Mal auch wieder Möglichkeiten offen, auf die ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, fügte sie hinzu – nicht ohne sich zuvor aus dem Bewusstsein des Jay'nac zurückgezogen zu haben.
5. Kapitel »Du hast uns gerufen?« Jiim blieb neben dem Türtransmitter am Eingang der Kommandozentrale stehen. Seine Hände lagen von hinten auf Yaels Schultern. Zusätzlich hatte er auch die Flügelspitzen schützend um den Jungnargen ausgebreitet, als befürchte er, seinem Nachwuchs könne etwas Schreckliches zustoßen. Yael war diese fürsorgliche Behandlung sichtlich unangenehm, trotzdem ließ er seinen Elter gewähren und beschränkte sich lediglich auf ein peinlich berührtes Fußscharren. »Ja.« Cloud nickte. Mit einem einzigen Blick auf seinen Freund hatte er sofort erkannt, dass es noch immer nicht besonders gut um ihn stand. Obwohl sich Jiim darum bemühte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen, konnte er dem Commander der RUBIKON nichts vormachen. Wenn Cloud es mit irdischen Maßstäben hätte beschreiben sollen, hätte die Formulierung »Seine Nerven sind zum Zerreißen gespannt« den Zustand seines Gefährten wohl am treffendsten beschrieben. Aber er wusste auch, dass jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt war, um Jiim noch einmal darauf anzusprechen. Deshalb entschied er, dass es das Beste sein würde, das Gespräch – zunächst zumindest – auf nackte Fakten zu beschränken. »Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir nahe genug an Kalser herangekommen sind, damit unsere Sensoren den Planeten erfassen. Ich dachte, ihr wärt gerne dabei, wenn es so weit ist.« »Ja. Natürlich. Ich danke dir, Guma Tschonk.« Jiim benutzte wieder die Anrede, die schon bei ihrer ersten Begegnung entstanden war, als der Narge den Menschen und seine Begleiter als Götterboten angesehen hatte. Die Verballhornung des Namens John Cloud, in die er immer in Momenten starker emotionaler Anspannung automatisch verfiel, war allerdings in keiner Weise verächtlich gemeint, sondern sprach von tiefer Vertrautheit, die er dem Commander der RUBIKON gegenüber empfand.
»Wie lange wird es noch dauern, Sesha?« »17 Minuten«, antwortete die KI sofort. »38 Sekunden und …« »Danke, das genügt«, unterbrach er die Stimme mit einer Handbewegung. »Wollt ihr denn nicht näher kommen?«, wandte er sich dann wieder Jiim und Yael zu. Nachdem sich die Antwort auf sekundenlanges Schweigen beschränkte, wandte sich der Jungnarge schließlich zu seinem Elter um. Yaels goldenes Gefieder harmonisierte perfekt mit der goldschimmernden Rüstung, die Jiim trug und die dessen Körper auf wundersame Weise teilabsorbiert hatte. »Also, ich würde mir das sehr gerne von dort anschauen.« Er deutete zu dem Podest mit den sieben Sitzen im Zentrum der Kommandozentrale. »Du etwa nicht?« »Doch …« Jiims lippenloser Mund verzog sich zu so etwas wie einem Lächeln. Wahrscheinlich hätte er sich eher jede Feder einzeln ausrupfen lassen, als seinem mit unglaublichem Tempo gereiften Spross einen Wunsch abzuschlagen. »Das möchte ich auf gar keinen Fall verpassen.« »Klasse. Worauf warten wir dann noch?« Yael drängte sich ungeduldig zwischen den Flügeln seines Elters hindurch. Cloud entging nicht, dass Jiim ihn beinahe zurückgehalten hätte, den Impuls aber im letzten Moment doch noch unterdrückte. Yael stürmte zu beiden geschirrartigen Vorrichtungen, die Sesha aus der Raumschiffdecke hatte wachsen lassen. Mit dem natürlichen Egoismus eines Halbwüchsigen versuchte er sofort, in die größere davon zu klettern. Kein leichtes Unterfangen, dennoch gelang es ihm rasch. »Mindestens so geschickt wie sein Erzeuger.« Cloud grinste amüsiert. Jiim sagte nichts, aber an seiner Körperhaltung konnte der Commander erkennen, dass er sich mehr über die Akzeptanz seines Nachwuchses freute, als ihn dessen flegelhaftes Benehmen verärgerte. Yael hing jetzt in dem Geschirr, das sich seiner Körpergröße wie von selbst angepasst hatte. Er hatte noch nicht richtig darin Platz genommen, als er auch schon spielerisch zu schaukeln begann. »He, das macht Spaß«, verkündete er begeistert. Er flatterte ein paar Mal
mit den Flügel, um sich noch zusätzlichen Schwung zu verleihen. »Das ist fast so gut wie das Seil, das wir an den Ast neben dem Baumhaus gebunden haben, als ich …« Er verstummte, als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass das Vergnügen, dem er sich gerade hingab, seines Alters unwürdig war. »… als ich noch ein Kind war«, fügte er deshalb hinzu, während er langsam auspendelte. »Auf Pseudokalser habe ich mich lange genug herumgetrieben. Ich bin schon so gespannt, wie es in echt dort aussieht.« »Das geht mir ganz genauso.« Eine dünne Haut zog sich mehrmals über Jiims Pupillen, als er ebenfalls näher herankam. Die Nervosität hatte seine riesigen Augen trocken werden lassen. »Bei Plephes, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sogar.« Er blieb so vor Yael stehen, dass der ihm direkt ins Gesicht blicken konnte. »Ich hoffe nicht, dass du enttäuscht sein wirst.« »Mal sehen. Ich lass mich überraschen.« Yael bemühte sich, in dem Geschirr eine möglichst lässige Haltung einzunehmen. »Was du mir bisher von Kalser gezeigt hast, war ja eigentlich nicht schlecht. Jetzt wird sich bald rausstellen, ob du mir zu viel versprochen hast.« Jiims Federn raschelten leise, als er sich mit der Hand übers Gesicht wischte. John Cloud wusste genau, was in dem Nargen vor sich ging. Jiim hatte gemeinsam mit Yael unzählige Stunden – genau genommen Tage und Wochen – in dem Raum auf der RUBIKON verbracht, in dem Holografien und Dimensatoren eine Nachbildung von Kalser geschaffen hatten. Kalser – der Planet, den die Nargen lange Zeit für ihre ursprüngliche Heimat angesehen hatten. Den Jiim vor einer halben Ewigkeit verlassen hatte. Verlassen musste. Und von dem er wusste, dass dort seither Veränderungen stattgefunden hatten, die die gesamte Welt geradezu aus den Angeln gehoben hatten. »Ich möchte, dass Yael Kalser kennenlernt, Guma Tschonk«, hatte Jiim seinem Freund einmal in einer stillen Stunde gestanden, ein paar Tage, nachdem sein Junges aus dem Ei geschlüpft war. »Ich meine, besser, als das mit Erzählungen möglich ist oder wenn ich ihn über das langsam zwischen uns entstehende und wachsende Netz an meinen Erfahrungen teilhaben lasse. Er soll Kalser fühlen …
schmecken … riechen … ihn eben mit allen Sinnen erfahren. Ich möchte, dass er weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sich aus einem der Baumhäuser in die Tiefen des Schrundes stürzt und einem dort die heißen Aufwinde ins Gefieder fahren. Er soll die Früchte schmecken, die die Sammler zusammengetragen haben und …« »Ich verstehe sehr gut, was du meinst«, hatte Cloud ihm versichert. »Yael soll am eigenen Leib erfahren, was du selbst erlebt hast. Und das ist mit Hilfe der Dimensatoren möglich. Wo liegt da also das Problem?« »Darin, dass ich genau weiß, dass die Welt, die ich ihm auf diese Weise zeige, so wohl nicht mehr existiert. Ist das letztendlich nicht genauso, als würde ich ihn ständig anlügen?« »Das sehe ich anders.« Cloud hatte seinem Freund aufmunternd die Hand auf die Schulter gelegt. »Du spielst ihm schließlich nichts vor. So wie du ihm Kalser zeigst, war es dort wirklich einmal gewesen. Es ist doch wunderbar, wenn er das mit seinem Elter noch einmal erleben kann.« »Aber wird es ihn nicht vollkommen verwirren, wenn er nichts mehr von dem antrifft, das er zu kennen glaubt?« »Alles verändert sich. Das wird auch Yael noch früh genug begreifen. Du brauchst ihm nichts vorzumachen oder ihm etwas verschweigen. Gib ihm einfach genügend Zeit, um mit der Geschichte eurer Spezies klarzukommen. Es bringt nichts, wenn du zu früh mit der Tür ins Haus fällst.« »Mit der Tür ins Haus fallen?« Die Ohren des Nargen hatten sich steil nach oben aufgerichtet. »Ach, das ist auch wieder so eine Redensart von der Erde. Überfordere Yael nicht mit zu viel Informationen auf einmal. Warte, bis er von allein Fragen stellt. Dann regelt sich das alles schon von allein.« Jiim hatte nachdenklich den Kopf hängen lassen, als er nach dem Gespräch zu seinem Nachkommen zurückgekehrt war. Und genau diese Haltung erkannte der Commander nun wieder, als der Narge neben den Kommandostand trat. Offensichtlich befürchtete er, dass Yael auf die bevorstehenden Ereignisse nicht gut genug vorbereitet
war. Eine Sorge, die vielleicht nicht ganz unbegründet war, wie Cloud bei ihrem letzten Gespräch in seiner Unterkunft erfahren hatte. Für einen kurzen Moment überlegte der Commander, ob er seinerzeit nicht ein wenig zu blauäugig gewesen war und seinem Freund deshalb unbeabsichtigt einen schlechten Rat gegeben hatte. Immerhin schienen die Auseinandersetzungen zwischen Jiim und Yael mit einer Heftigkeit geführt zu werden, die so von keinem vorauszusehen gewesen waren. Plötzlich stahl sich ein weiterer Gedanke in Clouds Bewusstsein. War Jiim vielleicht so niedergeschlagen, weil er sich selbst dem nicht gewachsen fühlte, was sie innerhalb kürzester Zeit erfahren würden? Die Neuigkeiten – wenn man sie überhaupt noch so nennen konnte –, die ihn als Letztes von seinem ehemaligen Heimatplaneten erreicht hatten, waren schließlich alles andere als aufmunternd gewesen. Die letzten Nargen hatten das Gebiet am Rand des Schrunds verlassen. Jenen Sektor, dessen vulkanische Aktivität ihnen das Überleben ermöglicht hatte, nachdem ein Teilstück des Mondes Maron auf Kalser gestürzt war und die dadurch bedingte Klimakatastrophe den Planeten fast vollständig mit einer Faust aus Permafrost gepackt gehalten hatte. Pern, der Nargen-Suprio, hatte sein Volk gerade noch rechtzeitig in die Tote Stadt geführt, bevor das Gebiet von einem gewaltigen Raumschiff eines Jay'nac namens Ustrac zerstört worden war. Der hatte sich den Nargen als ihr neuer Beschützer und Förderer vorgestellt. Kurz danach war der Kontakt über das morphogenetische Netz, jener geistigen Verbindung, über die sie alles Wissen, Erfahrungen und Informationen miteinander teilten, abgebrochen. Jiim hatte seitdem nie wieder eine Nachricht von seinem Heimatplaneten empfangen. Was war der Grund für das Schweigen? Über eine Erklärungsmöglichkeit war – obwohl es die naheliegendste war – an Bord der RUBIKON bisher nur ein einziges Mal laut gesprochen worden: Es gab keine Nargen mehr. Vielleicht hatten Jiims Artgenossen die Auswirkung der Umsiedlung nicht über-
lebt, und nun gab es schlichtweg niemand mehr, der mit ihm Kontakt aufnehmen konnte. Vielleicht hatte ihnen die Zerstörung des Schrunds die Existenzgrundlage geraubt, und das gesamte Nargenvolk war in den Eiswüsten des Planeten elend zugrunde gegangen. Natürlich hatte Jiim diese Eventualität auch schon in Betracht gezogen. Wahrscheinlich ging ihm der Gedanke daran auch jetzt wieder durch den Kopf. Nur noch wenige Minuten, dann würde er Gewissheit haben, ob er und Yael die Letzten ihrer Art waren. Jiims Erregung schien sich auch auf das Nabiss zu übertragen. Die halb mit seinem Körper verschmolzene goldene Rüstung, die er seinerzeit auf Kalser von einem Ganf erhalten hatte, begann regenbogenfarben zu schimmern. Aber auch Yael schien die Unruhe seines Elters nicht verborgen geblieben zu sein. Er setzte sich in seinem Geschirr auf und sah Jiim an. »Hast du … Angst?«, wollte er wissen. In seiner Stimme schwang ungläubiges Erstaunen mit, das sich mit Sorge mischte. »Nein, wie kommst du denn darauf?«, entgegnete Jiim schnell. Ein wenig zu schnell. »Weil ich es spüre. Nicht nur heute, sondern jedes Mal, wenn du mir über Kalser berichtet hast. Du hast zwar nie darüber gesprochen, aber ich konnte es fühlen. Meistens nur ganz kurz, weil du dann immer sofort die Verbindung zwischen uns unterbrochen hast. Aber manchmal warst du einfach nicht schnell genug.« Die Erinnerung daran ließ einen Tropfen gelbes Sekret in seinen Augenwinkeln hervorquellen. Yael spürte plötzlich wieder das bedrückende Gefühl, das seinen Körper jedes Mal überschwemmt hatte, wenn die Furcht seines Elters auch zu seiner eigenen geworden war. »Ich wollte dich dann fragen, was los ist. Habe es mich aber nicht getraut.« Jiim sah sein Junges wortlos an. Insgeheim hatte er gehofft, Yael sei noch zu jung, um etwas davon mitzubekommen, wenn sein Elter sein Bewusstsein vor ihm verschloss. Offensichtlich hatte er sich da gewaltig getäuscht. Hatte er seinen Nachkommen einfach unterschätzt? War Yael – nicht nur äußerlich – schon weiter entwickelt, als er sich das hatte eingestehen wollen? Woher sollte er das auch so
genau wissen? Schließlich war er selbst auch völlig unerfahren, was die Aufzucht eines Nachkommen betraf – und hier gab es keinen weiteren Nargen, mit dem er sich darüber hätte austauschen können. Plötzlich wurde sich Jiim seiner Einsamkeit auf der RUBIKON wieder schmerzhaft bewusst. Scobee, die die Unterhaltung bisher schweigend verfolgt hatte, spürte instinktiv Jiims Unbehagen. Sie beschloss, ihrem Freund zu Hilfe zu kommen. »He, Yael«, rief sie und versuchte, ihrer Stimme dabei einen unbeschwerten Klang zu geben, »ich glaube, von hier aus hat man einen noch besseren Blick auf die Holosäule. Warum kommst du nicht einfach zu mir, und wir sehen uns die Annäherung an Kalser gemeinsam an?« Sie winkte den jungen Nargen auffordernd zu sich heran. »Au ja. Klasse.« Die verlockende Aufforderung der schönen Frau ließ Yael die Frage, die er seinem Elter gestellt hatte, sofort wieder vergessen. Er kletterte aus dem Geschirr und stürmte zu Scobee. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er sich auf ihren Schoß niederlassen, doch dann setzte er sich lediglich auf den Rand des Sarkophagsitzes, auf dem die GenTec Platz genommen hatte. Dass er die Flügel dabei unbequem verrenken musste, schien ihn nicht im Geringsten zu stören. All das brachte mehr als klar zum Ausdruck, dass in der fast ausgewachsenen Körperhülle des Jungnargen immer noch ein Kleinkind steckte – zumindest, was seine Gefühlsregungen und -ausbrüche anging. Jiim nickte Scobee dankbar zu. Auch Cloud grinste zufrieden. »Dann steht dem großen Ereignis ja nichts mehr im Weg.« Er lehnte sich auf seinem Kommandositz zurück und wollte gerade den gewaltigen Deckel schließen, als an einem der Türtransmitter eine Bewegung zu erkennen war. Cloud drehte sich danach um. Jede Muskelfaser im durchtrainierten Körper des Commanders spannte sich an, denn auf die Gestalt, die sich dort materialisiert hatte, war er nicht gefasst gewesen. »Sobek!«
Irgendwie musste es dem Kerl gelungen sein, sich aus dem – vermeintlich sicheren – Gewahrsam zu befreien, in das sie ihn gewaltsam verfrachtet hatten. Cloud wusste, dass ihm nicht mehr genügend Zeit bleiben würde, um sich mental mit der Schiffssteuerung zu verbinden. Deshalb flog seine rechte Hand an eine der Schalttafeln neben seinem Sitz, um die internen Verteidigungssysteme der RUBIKON manuell bereit zu machen. »Sesha! Höchste Alarmstufe!« Doch der Forone verhielt sich vollkommen anders, als Cloud das vermutet hatte. Sobek dachte überhaupt nicht daran, zum Angriff überzugehen. Stattdessen blieb er völlig gelassen am Eingang der Kommandozentrale stehen. Plötzlich begannen seine Umrisse unscharf zu werden. Seine gesamte Gestalt schien zu zerfließen. Sich in Einzelteile aufzulösen, die sich dann wieder neu zusammensetzten. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich sein Erscheinungsbild komplett verändert. Das Wesen hatte sich noch nicht richtig manifestiert, da war ein erleichtertes Aufatmen zu hören. Der Laut war von Scobee gekommen, die die wahre Identität des Neuankömmlings als Erste erkannt hatte. »Jarvis«, rief sie entrüstet, »was soll denn der Unsinn? Es hätte nicht viel gefehlt, und hier wären die Fetzen geflogen.« Der Ex-GenTec ging gar nicht auf ihren Vorwurf ein. Ein breites Grinsen zog sich quer über sein Gesicht, nachdem er seine ursprüngliche Gestalt angenommen hatte. »Kargor hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Das Ding ist einfach fantastisch.« Er fuhr mit den Händen über seine vermeintliche Kleidung, die von der Schuppe des Bractonen perfekt simuliert wurde. Ebenso perfekt wie der darunter sichtbare Körper aus »Fleisch und Blut«. »Damit kann ich mich tatsächlich in jedes Lebewesen verwandeln, das ich zuvor einmal optisch erfasst habe.« Er strahlte seine Freunde, die ihn immer noch musterten, zufrieden an. Der Schreck war noch nicht vollständig aus ihren Mienen verschwunden. »Ich war gerade bei Sobek, um
zu versuchen, ein bisschen mehr aus ihm rauszubekommen. Da kam ich auf die Idee, mal auszuprobieren, ob ich auch seine Form hinbekomme. Euren Gesichtern nach zu urteilen, ist es mir wohl ganz gut gelungen.« »Geschenkt.« Clouds Hand löste sich wieder vom Steuerungsmonitor. »Sesha, Alarmsysteme wieder auf normal.« »Ist bereits geschehen«, entgegnete die KI. »Du warst also wieder bei Sobek«, wandte sich der Commander daraufhin erneut Jarvis zu. »Hat sich dein Besuch wenigstens gelohnt? Hast du etwas aus ihm rausgebracht?« »Da muss ich dich leider enttäuschen.« Der winkte ab. »Gegen diesen Foronen ist ein Taubstummer geradezu gesprächig. Von ein paar Beschimpfungen mal abgesehen, hat er kaum ein Wort von sich gegeben. Aber das weißt du ja selbst.« »Allerdings.« John Cloud nickte düster, denn alle seine Versuche, etwas über die Geschichte Sobeks herauszufinden, waren bisher an dessen Sturheit gescheitert. Er beschloss, die Befragung des ehemaligen Herrschers über die RUBIKON zu gegebener Zeit fortzusetzen – und zwar so lange, bis der offenbart hatte, was in der Anomalie vorgefallen war, in der sie ihn und die SESHA-Kopie gefunden hatten. Jarvis' Stimme riss den Commander aus seinen Gedanken. »Aber jetzt wollte ich erst einmal dabei sein, wenn wir bei Kalser ankommen. Sesha, wie lange wird es noch dauern, bis die Ortungssysteme die ersten zuverlässigen Daten liefern können?« »Zwei Minuten und dreizehn Sekunden«, entgegnete die Bord-KI. »Dann wird es ja höchste Zeit.« Jarvis spurtete zum Kommandostand. Er nahm die Stufen des Podests mit einem einzigen Sprung und ließ sich auf einen der sieben Sitze gleiten. Die Spannung, die sich in der kathedralenartigen Zentrale ausgebreitet hatte, war beinahe mit Händen zu greifen. Auch Yael blieb von der wachsenden Erregung nicht verschont. Der junge Narge spürte instinktiv, welche Bedeutung die nun unmittelbar bevorstehenden Enthüllungen für Jiim hatten. Sein Elter brauchte nun seine Nähe. Und umgekehrt war es genauso. Also erhob Yael sich von seinem Platz neben Scobee und rannte zu
Jiim. Der strich ihm liebevoll über den Kopf. »Wir müssen jetzt sehr stark sein, Yael.« Obwohl er die Worte nicht laut ausgesprochen hatte, drang seine Stimme deutlich in das Bewusstsein des jungen Nargen. Die emotionale Anspannung hatte das morphogenetische Netz zwischen ihnen um eine weitere Stufe sensibilisiert. »Auch wenn sich gleich herausstellen sollte, dass wir die Letzten unserer Art sind, musst du wissen, dass du nie ganz alleine bist. Solange es möglich ist, werde ich immer in deiner Nähe sein.« »Ich weiß.« Yaels stumme Antwort wurde von einem traurigen Nicken begleitet. Jiims Flügelspitzen schlossen sich wie ein Schutzschild um sein Junges. »Visueller Kontakt mit Kalser in zehn Sekunden«, verkündete in diesem Moment Seshas Stimme. »Neun … acht … sieben …« Sämtliche Augen waren auf das Zentrum des Kommandostands gerichtet. Ein nebelhaftes Gebilde in der Holosäule begann, in allen Farben des sichtbaren Spektrums zu flirren. Langsam bildeten sich feste Schemen aus dem Gebilde heraus. Die Umrisse eines Planeten nahmen immer konkreter Gestalt an. Ein helles Krächzen schrillte durch die Kommandozentrale der RUBIKON. Cloud, Scobee und Jarvis wandten sich zu Jiim um. Sein Mund hatte sich nach dem Schrei, den er ausgestoßen hatte, noch nicht wieder geschlossen. Doch der bekam nichts davon mit. Die riesigen Augen des Nargen klebten förmlich auf der Holosäule. Jiim schüttelte entgeistert den Kopf – denn auf das, was dort zu sehen war, war er nicht vorbereitet gewesen.
»Also, wenn die Geschichte stimmt, die du mir gerade erzählt hast, dann ist das ja wohl der Hammer!« Charly kam mit seinen Flügeln, die ihm aus dem Rücken wuchsen, mittlerweile so gut zurecht, dass er einen waghalsigen Looping in der Luft drehte, bevor er zu dem Felsvorsprung zurückkam, auf dem Yael hockte. Der steinerne Bal-
kon im oberen Drittel des Abgrunds wurde durch eine zweite Felsennase überspannt, die die Stelle wie ein natürlicher Baldachin vor Blicken von oben abschirmte. Ein ideales Versteck, das Charly entdeckt hatte und in das sich die Freunde seitdem regelmäßig zurückzogen. »Klar stimmt sie«, entgegnete Yael beinahe entrüstet. »Warum sollte ich dir denn irgendwelchen Quatsch erzählen?« »Vielleicht, weil es bei euch in der Familie zu liegen scheint?« Charly grinste breit von einem Ohr zum anderen, als er das empörte Gesicht sah, das sein Freund daraufhin zog. Der Jungnarge wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Charly kam ihm erneut zuvor. »He, bleib locker.« Er knuffte Yael gut gelaunt gegen die Schulter. »Das war doch nur ein Spaß. Mir ist längst klar, dass du nicht so ein Lügner wie dein Orham bist.« Charly ließ die Bezeichnung wie ein Schimpfwort klingen und untermalte sie zusätzlich mit einer verächtlichen Geste. »Jiim ist kein Lügner.« Yaels Verteidigung seines Elters klang so schwach, als sei er selbst nicht von ihrem Inhalt überzeugt. »Ach nein?« Charly nahm einen Stein und schleuderte ihn in den Abgrund. Er beobachtete den Brocken, bis er in der Tiefe des Schrunds verschwunden war, bevor er sich wieder seinem Begleiter zuwandte. »Und wie nennst du dann das, was er dir bisher von Kalser erzählt hat? Moment, ich helfe dir auf die Sprünge: Kalser ist ein Planet, der von einer massiven Schicht aus Permafrost eingeschlossen ist. Eine Eiswüste. Lebensfeindliches Gebiet. Nur weil es im Schrund vulkanische Tätigkeit gibt, ist durch die Hitze der Lava der Eispanzer dort durchbrochen. Auf dem Rest von Kalser gibt es für die wenigen Nargen, die dort noch existieren, keine Überlebenschancen.« Charly zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »War das denn die Situation, wie du sie in der Holosäule gesehen hast?« »Nein«, gab Yael kleinlaut zu. »Außer an den Polkappen waren nirgends größere zusammenhängende Eisflächen zu erkennen.« »Aha.« Charly zog eine Augenbraue nach oben. Er schürzte ungeduldig die Lippen wie ein Lehrer, der seinem begriffsstutzigen Schüler bereits unzählige Male zuvor dieselbe Lektion beizubringen
versucht hatte. »Und wie sah es mit der Besiedlung aus? Gab es tatsächlich nur einen kleinen Haufen Nargen, die sich in einem geschützten Winkel des Planeten zusammengerottet haben?« »Nein, auch das war nicht wahr.« Yael wich seinem prüfenden Blick aus und sah zwischen seinen Beinen zu Boden. »Auf ganz Kalser gab es Siedlungen. Die Städte waren nicht verlassen, sondern bewohnt. In ihnen hat es geradezu gewimmelt. Nicht nur von Nargen, sondern auch von Lebensformen, von denen ich bisher weder was gehört oder gesehen habe.« »Und was war mit dem Schrund?« Charly wies mit dem Kinn in Richtung des Abgrunds. »Angeblich war das doch die Heimat, in der ihr seit Generationen lebt.« »Es gab ihn nicht mehr.« Die Antwort war kaum mehr als ein Flüstern. Yael wischte sich verstohlen einen Tropfen gelbliches Sekret aus dem Augenwinkel. Doch sein Freund dachte gar nicht daran, es damit auf sich beruhen zu lassen. »Mit anderen Worten: Alles, was du bisher von deinem Elter über Kalser zu hören bekommen hast, hat sich als Unwahrheit herausgestellt«, fuhr er mit seinem Plädoyer fort. »Also, wenn du mich fragst, war das bestimmt kein Zufall. Hast du dir schon einmal überlegt, was der Grund dafür sein kann?« »Weil sich eine Menge verändert hat, seit er das letzte Mal auf Kalser war?«, schlug Yael vor. Dabei zog er ein Gesicht, als würde er der Rechtfertigung selbst nur wenig Glauben schenken. »Sicher, das ist eine Möglichkeit. Allerdings halte ich die in etwa für so wahrscheinlich wie ein schattiges Plätzchen im Zentrum der Sonne zu finden«, höhnte Charly. »Wie lange willst du dich denn noch von deinem Elter an der Nase rumführen lassen?« »Weißt du einen besseren Grund, weshalb alles so anders ist, als er es beschrieben hat?«, wollte der junge Narge in einem Anflug von Trotz wissen. »Hattest du den Eindruck, dass es euren Artgenossen auf dem Planeten schlecht geht oder sie sogar unter lebensbedrohlichen Umständen leben müssen?«, entgegnete Charly, ohne direkt auf die Frage seines Freundes einzugehen. »Ist mit ihrer Ausrottung zu rech-
nen – so wie dein Orham das immer befürchtet hat?« »Nein.« Yael schüttelte den Kopf. »Soweit das aus den Übertragungen der Planetenoberfläche zu erkennen war, die Sesha in die Holosäule projiziert hat, schien es ihnen sehr gut zu gehen. Es gab eine ganze Menge Nargen. Überall auf Kalser. So wie es ausgesehen hat, kommen sie auch mit den anderen Lebewesen, die ebenfalls dort wohnen, ganz hervorragend aus.« »Zumindest wohl mit denen, die ihnen keine Schwierigkeiten machen.« Charly kickte einen weiteren Stein in den Abgrund. »Aber es gibt bestimmt auch welche, die einfach nicht zu ihnen passen.« Yael richtete die spitzen Ohren steil auf. »Was willst du damit sagen?« »Die Nargen auf dem Planeten, wie sahen sie aus?« »Na, wie schon? So wie Jiim und ich natürlich.« Yael breitete die Arme und damit auch seine Schwingen aus. Er stutzte, als sein Blick dabei auf das Gefieder fiel. »Na ja, einen Unterschied gab es schon: die Farbe. Die meisten Nargen auf Kalser waren rot. Bei den älteren wurde es heller und ging in ein Gelb über. Bei uns sind die Federn golden. Aber das liegt an dem Nabiss. Du weißt schon, die Rüstung, die mit dem Körper meines Orhams verschmolzen ist.« »… so wie er es zumindest behauptet«, fügte Charly hinzu. Wieder konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er das fragende Gesicht seines Freundes sah. »Hast du etwa noch nie daran gedacht, dass dein Orham Kalser vielleicht nicht ganz freiwillig verlassen hat? Es könnte doch sein, dass man ihn dort nicht mehr haben wollte. Es wäre doch möglich, dass er irgendwelchen Mist gebaut hat, und sie haben ihn sozusagen rausgeschmissen. Natürlich nicht, ohne ihn vorher entsprechend zu markieren. Vielleicht war er dazu verurteilt, sich eine Zeit lang von dem Planeten fernzuhalten.« Er nickte, als ließen die vorgebrachten Indizien nur eine einzige logische Schlussfolgerung zu. »Das würde zumindest manches erklären. Von eurer ungewöhnlichen Farbe angefangen, über die lange Abwesenheit von eurer Heimatwelt, bis hin zur Nervosität deines Alten, als wir uns Kalser genähert haben.« Yael prallte so erschrocken zurück, dass er beinahe den Halt verlo-
ren und von dem Felsvorsprung gestürzt wäre. »Willst du etwa behaupten, er ist …«, er schluckte, um den Knoten zu vertreiben, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, » … ein Verbrecher?« »Nenn es, wie du willst.« Sein Freund zuckte unbeteiligt mit den Schultern. »Vielleicht ist er ja völlig schuldlos in einen Schlamassel geraten, der ihn die Aufenthaltsberechtigung auf Kalser gekostet hat. Auf jeden Fall scheint ihm die Sache ziemlich peinlich zu sein – denn sonst hätte er bestimmt nicht das ganze Theater hier veranstaltet.« Charly machte eine weitläufige Geste über Pseudokalser. »Wenn du mich fragst, war das alles nur ein gewaltiges Ablenkungsmanöver, um dich, davon abzuhalten, unbequeme Fragen zu stellen.« »Das glaube ich nicht.« Yael vergrub entsetzt das Gesicht in den Händen. »Nein, das kann ich mir einfach nicht vorstellen.« »Klar, dass es verdammt schwer sein muss, so etwas zu hören.« Charly ließ sich neben ihm nieder und legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Hast du denn in der Kommandozentrale etwas davon mitbekommen, wie es nun weitergehen soll?« »Der Commander hat gesagt, dass wir in einen Orbit gehen werden, sobald die RUBIKON Kalser erreicht hat. Von dort aus soll dann ein Erkundungsunternehmen gestartet werden, das sich dort gründlicher umsieht.« »Verstehe.« Charly nickte. »Gehörst du denn auch zu denen, die dafür eingeplant sind?« »Natürlich nicht.« Yael sah seinen Freund fassungslos an. »Wie kommst du bloß auf einen solchen Gedanken?« »Weil dein Orham keine Gelegenheit ausgelassen hat, zu betonen, wie wichtig es ihm ist, dass du Kalser persönlich kennenlernst.« Charly verschränkte die Arme vor der Brust. »Jetzt hättest du die Gelegenheit dazu – und du sollst weiter hier in diesem Raumschiff vergammeln, anstatt endlich mal was zu erleben. Findest du das nicht auch reichlich merkwürdig?« »Du hast gut reden.« Yael raschelte unwirsch mit dem Gefieder. »Was soll ich denn machen, bitte schön? Etwa den Commander fragen, ob er mich als Mitglied für die Exkursion einteilt? Die Mühe
kann ich mir sparen. Das würde er mir niemals erlauben.« »Du hast immer noch nicht kapiert, wie die Sache läuft.« Charly stand auf. »Wenn man viel um Erlaubnis fragt, bekommt man viel verboten. Deshalb ist es das Beste, Tatsachen zu schaffen, bevor einem jemand dazwischenpfuschen kann. Wenn man was erreichen will, muss man auch was riskieren. So macht das jeder. Weshalb also nicht auch du?« Ohne eine Antwort abgewartet zu haben, stürzte er sich kopfüber über den Rand des Abgrunds. Rasend schnell fiel er wie ein Stein in die Tiefe. Erst als der Grund der Schlucht schon zum Greifen nah schien, breitete Charly die Flügel aus und segelte in einem weiten Bogen davon. Yael glaubte, das selbstsichere Lachen seines Freundes bis hinauf auf den Felsvorsprung hören zu können.
»Ich verstehe es nicht.« Jiim starrte wie hypnotisiert auf die Holosäule. Nachdem die RUBIKON in einen weitläufigen Orbit um den Planeten eingeschwenkt war, lieferte Sesha Bilder in bestechender Klarheit von der Oberfläche. »Ich verstehe es einfach nicht. Wenn ich nicht genau wüsste, dass das Maron ist«, er deutete auf den beschädigten Mond, der den Himmelkörper beständig umkreiste, »ich würde glatt behaupten, dass Sesha vor dem Sprung irgendetwas falsch berechnet hat und wir nicht bei Kalser, sondern einer anderen Welt gelandet sind.« »Cross-Check abgeschlossen«, meldete sich die Bord-KI augenblicklich zu Wort. »Position Kalser System, Scutum-Crux-Arm, Galaxie Milchstraße, bestätigt.« »Daran hat auch niemand ernsthaft gezweifelt.« John Qoud winkte ab. »Jiims Bemerkung war rein rhetorisch gemeint.« »Ich wollte auch nur darauf hinweisen, dass die Koordinaten von mir exakt berechnet wurden.« Seit ihrer letzten Unterhaltung über vorgefallene Unregelmäßigkeiten hatte sich Sesha eine penible Ausdrucksweise angeeignet. Cloud fragte sich deshalb insgeheim, ob das bereits eine Auswirkung erster Kalibrierungsmaßnahmen war, die Teile ihres Systems inzwischen durchlaufen hatten – oder ob die KI schlichtweg eingeschnappt war.
Auch die restlichen Anwesenden in der Zentrale des Rochenschiffs – außer Cloud und Jiim hatten sich auch Scobee, Jarvis, Algorian, Jelto und Aylea dort versammelt – brachten es kaum fertig, die Blicke von den faszinierenden Bildern zu nehmen, die zwischen den sieben Sarkophagsitze entstanden waren und ständig neue, überraschende Ansichten der Planetenoberfläche zeigten. »Das ist wirklich total anders, als du mir Kalser jemals beschrieben hast«, fasste Aylea als Erste ihre Gefühle zusammen. Sie stand so weit vorneüber gebeugt, dass sie immer wieder ihre blonden Zöpfe nach hinten streichen musste, damit die sie nicht in ihrer Sicht behinderten. »Ich habe mir deinen Heimatplaneten vollkommen anders vorgestellt.« »Das geht mir genauso«, bestätigte Jelto. »Ich dachte, er sei karg und trostlos. Ohne nennenswerte Vegetation.« Ihm war deutlich anzumerken, dass das seiner Vorstellung der Hölle ziemlich nahe kommen musste. Für den Klon war Pflanzenwuchs gleichbedeutend mit Leben. »Wie in der Simulation, die Sesha nach deinen Angaben erschaffen hat. Aber nach dem, was wir hier zu sehen bekommen, scheint Kalser ein blühender Planet zu sein. Erschlossen und bewohnt bis in den letzten Winkel.« »Allerdings.« Jarvis nickte. »Da unten geht es zu wie in einem Ameisenhaufen«, fügte er dann hinzu und fing sich damit verwunderte Blicke von Jiim und Algorian ein. »Mit einem Unterschied allerdings.« Scobee ließ den Blick über mehrere Projektionen wandern, die unterschiedliche Gebiete des Planeten zeigten. »In einem Ameisenhaufen gibt es hauptsächlich eine Sorte von Bewohnern: eben Ameisen. Aber auf Kalser herrscht ein so buntes Gewimmel, dass einem geradezu schwindlig davon werden kann. Zum Beispiel die hier …« Sie deutete an eine Stelle der Holosäule, wo gerade zwei insektenähnliche Wesen, die durchscheinend wirkten, als bestünden sie aus reinem Glas, den Bildausschnitt durchquerten. »Sehen sie nicht aus wie entfernte Verwandte von unserem Freund Kargor? Ich meine natürlich zu der Zeit, als er sich noch als kristalline Fangschrecke präsentiert hat. Oder dort drü-
ben …« Sie zeigte zu einer weiteren Projektion, in der eine ölartige Lache auf einem Fluss trieb. Zunächst kein außergewöhnliches Bild – bis man sich bewusst machte, dass sich die Lache nicht nur gegen die Strömung vorwärtsbewegte, sondern dabei auch aus dem Wasser ragenden Hindernissen geschickt auswich. »Hat einer von euch so etwas schon einmal gesehen?« Als sich Scobee umschaute, erntete sie von den anderen auf dem Kommandopodest nur ratlose Blicke. »Aber es gibt auch etwas anderes, das mich brennend interessieren würde.« Cloud trat durch die Gesamtansicht des Planeten hindurch zu Jiim. »Auf Kalser gibt es zweifellos eine beachtliche Nargenpopulation. Konntest du denn inzwischen mit deinen Artgenossen wieder Kontakt über das morphogenetische Netz aufnehmen? Wenn die zu große Entfernung das Problem gewesen war, müsste sich das in der Zwischenzeit doch wieder erledigt haben.« »Nein.« Jiim machte eine hilflose Geste. »Natürlich habe ich es versucht. Immer wieder, seit ich sicher sein konnte, dass es auf Kalser noch Leben gibt.« Er presste sich die Fingerspitzen gegen die Schläfen. »Aber es hat nichts gebracht. Es findet kein Austausch zwischen mir und den Nargen auf dem Planeten statt. Sosehr ich mich auch darum bemühe, es herrscht lediglich lähmende Stille.« »Was sagst du dazu, Algorian?« Der Commander sah den psibegabten Aorii fragend an. »Kannst du spüren, ob auf Kalser so etwas wie eine mentale Kommunikation besteht?« »Du weißt, dass es für meine Fähigkeiten durchaus Grenzen gibt, John.« »Das ist mir klar. Aber es wäre sehr hilfreich, wenn du uns wenigstens einen Tipp geben könntest, was dort unten vor sich geht.« Der spindeldürre Aorii schloss in höchster Konzentration die Augen. Seine Miene nahm unter der Anstrengung maskenhafte Züge an. Für einen kurzen Moment war seine gespaltene Zunge in der Mundhöhle zu erkennen. »Ja … ich glaube, mentale Ströme fließen zu spüren«, stieß Algorian schließlich hervor. »Aber sie sind zu diffus, als dass ich nähere Einzelheiten erkennen könnte.« »Das macht die Sache natürlich nicht gerade einfacher für uns.«
Der Commander legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Bevor wir einen Kommandotrupp auf die Planetenoberfläche schicken, wäre es von Vorteil gewesen, über das Netz schon mal Informationen zu bekommen, wie es zu der aktuellen Situation dort gekommen ist. Darauf werden wir allem Anschein nach verzichten müssen. Das bedeutet aber auch für alle, die runtergehen, dass höchste Wachsamkeit von ihnen gefordert wird.« »Hast du denn schon entschieden, wer den Job übernehmen soll?«, erkundigte sich Scobee. »Dass Jiim dabei sein wird, steht wohl für jeden außer Frage. Dann habe ich noch an dich gedacht, Jarvis. Das ist zwar nicht besonders originell, aber durch deine Mimikryfähigkeit besitzt du ideale Voraussetzungen für den Kundschafterposten. Oder siehst du das anders?« »Absolut nicht«, bestätigte der Ex-Klon. »Ich kann es kaum abwarten, mir dort unten ein bisschen die Füße zu vertreten.« »Sehr gut. Dann würde ich vorschlagen, dass außerdem noch –« »Ich will dir bestimmt nicht reinreden, Guma Tschonk«, unterbrach Jiim Clouds Ausführungen, »aber ich würde vorschlagen, dass wir den Landungstrupp so klein wie möglich halten. Je weniger von uns sich dort aufhalten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir unentdeckt bleiben. Deshalb wäre es meiner Ansicht nach das Beste, wenn Jarvis und ich die einzigen Teilnehmer der Exkursion blieben. Zunächst zumindest.« Der Commander musterte den Nargen mit ernster Miene, während er das Für und Wider des Vorschlags im Stillen abwägte. »Auf Kalser ist zwar eine Menge los«, drängte Jiim weiter, »aber es gibt nirgends Anzeichen für aggressives Verhalten oder kriegerische Auseinandersetzungen. Soweit wir das erkennen können, hat sich eine friedliche Gesellschaftsform entwickelt. Was soll also schon passieren, wenn wir uns zu zweit umsehen? Und falls es doch Schwierigkeiten geben sollte, sind Jarvis und ich besser durch unsere Rüstungen geschützt als jeder andere aus der Mannschaft.« »Da hat er nicht ganz unrecht, John.« Scobee trat neben sie. »Ich bin zwar selbst seit meiner Geburt speziell für Kampfeinsätze kondi-
tioniert – aber ich muss offen zugeben, dass ich mit den beiden kaum mithalten kann.« Sie zuckte beinahe entschuldigend mit den Schultern. »Aber eins sage ich dir gleich: Wenn du jemals auf den Gedanken kommen solltest, mir das vorzuhalten, werde ich mich nicht daran erinnern, das gesagt zu haben. Klar?« Sie stieß Jarvis kumpelhaft den Ellbogen in die Seite. »Das würde ich niemals tun«, entgegnete er. »Oder glaubst du vielleicht, ich würde es wagen, bei einem Streit mit dir Kopf und Kragen zu riskieren? Schau nur her, was du angerichtet hast.« Er deutete an eine Stelle an der linken Seite seines Brustkastens. Genau dort, wo der Arm der GenTec ihn getroffen hatte, war eine tiefe Mulde zu erkennen. Jarvis sah aus, als habe man ihm mehrere Rippen gebrochen und nach innen gedrückt. »Jarvis … es tut mir leid. Das habe ich nicht gewollt. Ich –« Der Ex-Klon lachte auf, als Scobee erschrocken auf seine vermeintliche Verletzung starrte. »Aber daran werde ich dich ganz bestimmt irgendwann erinnern. Hoffentlich hat Sesha Aufzeichnungen davon gemacht, wie dumm du aus der Wäsche geschaut hast. Daran werden wir noch jahrelang unseren Spaß haben. Mal sehen, vielleicht hänge ich sogar eine 3-D-Replikation in meiner Unterkunft auf.« Die Delle in seinem Brustkorb verschwand wie von selbst. »Du alberner Blödmann«, schimpfte die schöne GenTec. »Irgendwann werde ich dir wegen eines solchen Streichs noch den Nanohals umdrehen. Verlass dich drauf.« Sie ballte drohend die Fäuste. Trotzdem war der erleichterte Unterton, der in ihrer Stimme mitschwang, nicht zu überhören. Scobee hätte es sich niemals verziehen, wenn einer ihrer Freunde tatsächlich durch ihre Schuld zu Schaden gekommen wäre. »Okay, seid ihr jetzt endlich fertig mit dem Unfug?« John Cloud wusste, dass es zu seinen Aufgaben gehörte, die Mannschaft zur Ordnung zu rufen. Trotzdem konnte er sich ein amüsiertes Schmunzeln über die beiden »Streithähne« nicht ganz verkneifen. »Du bist also immer noch davon überzeugt, dass ihr das zu zweit hinbekommen könnt?«, wandte er sich wieder Jiim zu. »Absolut«, bestätigte der Narge.
»Kleinigkeit«, verkündete auch Jarvis, ohne gefragt worden zu sein. »Also meinetwegen. Aber nur unter der Bedingung, dass ihr ständig mit uns in Kontakt bleibt. Nach jeder Runde, die die RUBIKON im Orbit hinter sich gebracht hat, erwarte ich zumindest einen kurzen Bericht. Keine unnötigen Alleingänge, verstanden? Wenn ihr da unten Hilfe braucht, fordert ihr Verstärkung an. Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt.« »Das hast du«, entgegnete Jarvis. »Du kannst dich auf uns verlassen.« »Ihr werdet in regelmäßigen Abständen von uns hören«, versprach auch Jiim. »Aber geht auch schon mal davon aus, dass unsere Mission nicht in ein, zwei Stunden erledigt ist. Einen Tag werden wir mindestens brauchen, um herauszufinden, was mit meinem Heimatplaneten passiert ist, seit ich ihn verlassen habe. Vielleicht dauert es auch länger.« »Kein Problem.« Cloud hatte mit einer solchen Zeitplanung bereits gerechnet. »Wir werden einfach in der Umlaufbahn bleiben und warten.« »Das hört sich doch ganz vernünftig an.« Jiim drehte sich zu Jarvis um. »Hast du dir schon überlegt, in welcher Gestalt du mich begleiten wirst? Auf Kalser scheint es zwar eine Menge unterschiedlicher Lebensformen zu geben – aber einen Menschen habe ich bisher in den Bildern, die Sesha von der Oberfläche geliefert hat, nicht entdecken können. Wenn du also möglichst wenig Aufsehen erregen willst, solltest du –« »Kleinigkeit«, unterbrach ihn sein zukünftiger Begleiter. Jarvis' Konturen begannen zu zerfließen wie die eines Schneemanns, der zu großer Hitze ausgesetzt ist. Für einen Moment glich er einer aufrecht stehenden Säule, die von einer dichten Schicht winziger Insekten überzogen war. Dann fingen die Partikel an, sich neu zu ordnen. Gliedmaßen wuchsen aus dem Rumpf hervor. Die Arme bildeten Fortsätze, die zu Flügeln wurden. Wenige Sekunden später stand Jiim einem Nargen gegenüber, der ihm glich wie ein Ei dem ande-
ren. »Na, wie gefalle ich dir?«, fragte Jarvis in das staunende Schweigen der Zuschauer hinein. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, damit ihn Jiim in seiner ganzen Pracht bewundern konnte. »Erstaunlich«, erwiderte der, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte. »Aber das mit der Farbe solltest du dir vielleicht noch einmal überlegen. Goldenes Gefieder ist bei uns Nargen nicht üblich. Ich kann nichts daran ändern, weil ich das Nabiss nicht mehr ablegen kann. Aber du solltest dich wohl besser für ein unauffälliges Rot entscheiden.« »Nichts leichter als das.« Jarvis hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sich die Farbe seines Gefieders bereits geändert hatte. »Besser?« »Viel besser«, bestätigte Jiim mit einem Kopfnicken. »Okay, nachdem die beiden Ladies sich bei der Wahl ihrer Garderobe offenbar einig geworden sind, können wir uns endlich wieder anderen Dingen zuwenden.« Cloud verschränkte die Arme vor der Brust. »Jiim, hast du einen Vorschlag, wo Jarvis euch absetzen soll?« »Ich denke, eine Stelle am Rand der ehemaligen Toten Stadt wäre die beste Lösung«, entgegnete der Narge sofort. Seit die ersten Bilder von Kalser auf der RUBIKON eingetroffen waren, hatte er sich immer wieder mit dieser Frage beschäftigt. »Auch dort hat sich zwar bestimmt eine Menge verändert, aber sie ist gleichzeitig auch der einzige Ort auf dem ganzen Planeten, wo es vielleicht noch ein paar Überreste von dem gibt, was ich kenne. Ich hoffe, dass mir das die Orientierung wenigstens ansatzweise erleichtern wird.« »Das klingt sehr vernünftig«, bestätigte der Commander. »Deckt euch mit allem Notwendigen ein, was ihr für das Außenkommando braucht, dann gibt Sesha Jarvis Daten, die er für euren Transfer benötigt. Ich wünsche euch viel Glück auf Kalser. Denkt daran, dass ich einen regelmäßigen Bericht von euch erwarte. Ansonsten: Haltet die Ohren steif da unten.« »Das wird noch eine der leichteren Aufgaben sein. Die Lauscher sind nämlich relativ einfach zu bedienen.« Jarvis wackelte mit den nargentypischen, spitzen Hörorganen. »Ganz im Gegensatz zu diesen Dingern hier.« Er breitete die Flügel aus – und versetzte Aylea
damit unbeabsichtigt einen so harten Stoß, dass die ins Stolpern geriet und fiel. »Pass doch auf«, beschwerte sich die Zwölfjährige. Sie feuerte einen missmutigen Blick auf den Ex-Klon ab, während sie sich die schmerzende Stelle an ihrem Hinterteil rieb. »Du wirst dich bestimmt noch an den Umgang damit gewöhnen«, erklärte Jiim mit einem Seufzen. »Aber bis es so weit ist, sollten wir uns besser erst einmal zu Fuß fortbewegen. Sonst kommen wir noch schneller in Schwierigkeiten, als wir uns das vorstellen können.«
»Ist er weg?« Charly hatte verschwörerisch die Stimme gesenkt. »Ja. Vor zehn Minuten hat er sich von mir verabschiedet«, bestätigte Yael. »Er müsste inzwischen auf Kalser sein. Gemeinsam mit Jarvis.« »Und was ist mit dir?«, ließ Charly nicht locker. »Hat er etwas davon gesagt, dass er dich nachholen will?« »Kein Wort«, entgegnete der junge Narge traurig. Bis zum letzten Augenblick hatte er gehofft, dass ihn sein Elter auffordern würde, ihn bei der Exkursion auf ihren Heimatplaneten zu begleiten. Aber zu seiner großen Enttäuschung war das nicht geschehen. Ganz im Gegenteil, die Tatsache, dass Jiim es noch nicht einmal für nötig befunden hatte, das Thema überhaupt anzusprechen, ließ Yaels Frustration nur noch größer werden. »Er hat mich fast wie Luft behandelt.« »Habe ich es dir nicht gleich gesagt?« Charly stieß verächtlich den Atem durch die Nase aus. »Dein Alter hat was vor dir zu verbergen. Sonst würde er sich nicht so verhalten. Aber das lassen wir ihm nicht durchgehen. Also tritt ab sofort der Notfallplan in Kraft, den wir zusammen ausgeknobelt haben.« »Meinst du wirklich?« Yael presste unsicher den lippenlosen Mund zusammen. »Sollten wir uns nicht lieber noch einmal überlegen, ob das wirklich eine so gute Idee ist? Immerhin könnte es doch sein, dass –« »Du willst doch wohl nicht im letzten Moment noch kneifen?«, un-
terbrach ihn sein Freund scharf. Seine Stimme troff vor Verachtung. »Aber vielleicht habe ich mich in dir einfach nur getäuscht. Du bist tatsächlich noch das frisch geschlüpfte Junge, das sich von seinem Orham sagen lässt, was es zu tun oder zu lassen hat. Jede Wette, man muss nicht lange suchen, um die letzten Eierschalenreste zu finden, die dir noch am Gefieder kleben.« »Das ist nicht wahr!«, widersprach Yael entrüstet. »Dann beweise es.« Charly warf den Kopf in den Nacken. »Zeig mir, dass du kein Waschlappen bist. Lass uns die Sache durchziehen, genau, wie wir es besprochen haben.« »Aber könnte das nicht auch ziemlich gefährlich werden?« »Und wenn schon.« Yaels Gegenüber ließ wieder sein typisches Aufschnauben hören. »Das wäre dann immer noch besser, als die ständige Langeweile hier. Aber wenn es dir lieber ist, zum tausendsten Mal kreuz und quer durch den Spielplatz zu schwirren, den dein Alter hier für dich bereitgestellt hat – bitte sehr. Auf mich wirst du dabei dann allerdings verzichten müssen. Das ist mir zu öde. Ich erlebe lieber echte Abenteuer, anstatt meine Zeit in irgendwelchen holografischen Projektionen zu verschwenden.« Charly wandte sich ab, als wolle er davongehen. »Mich siehst du so schnell nicht wieder.« Er war noch keine drei Schritte weit gekommen, als die Stimme des Jungnargen hinter ihm laut wurde. »Bleib hier!«, stieß Yael ängstlich hervor. »Du darfst mich nicht alleine lassen.« »Ach nein?«, fragte Charly, blieb aber stehen. »Und weshalb nicht?« »Weil du der Einzige an Bord der RUBIKON bist, der mich wirklich versteht.« »Findest du?« Ein sardonisches Grinsen huschte über Charlys Lippen, als ihm klar wurde, dass sein Freund den ausgelegten Köder mit Haut und Haaren geschluckt hatte. »Warum veranstaltest du dann jetzt so ein Theater?«, erkundigte er sich, während er sich langsam wie in Zeitlupe zu Yael umwandte. »Wir hatten schließlich eine Abmachung. Ich habe gedacht, dass ich mich auf dich verlassen
kann.« »Aber das kannst du doch auch«, versicherte der Jungnarge. Er scharrte unruhig mit einem Fuß über den Boden. »Ich will ja gar keinen Rückzieher machen. Ich war eben bloß ein bisschen nervös – das ist alles. Wir machen es genau so wie wir es besprochen haben.« »Dann beeil dich«, drängte Charly. »Sonst wird deine Argumentation nämlich unglaubwürdig.« »Ja … du hast recht.« Das gelbliche Sekret, das in seinen Augenwinkeln auftauchte, war ein deutlicher Hinweis auf die Nervosität des jungen Nargen. Yael wandte sich um, als wolle er zum Ausgang von Pseudokalser gehen, blieb dann aber doch noch einmal stehen. »Aber was ist mit dir?«, wollte er ängstlich wissen. »Mach dir deswegen keine Gedanken.« Sein Freund winkte ab. »Du weißt doch, dass ich immer bei dir bin. Du brauchst mich nur zu rufen, und schon stehe ich neben dir.« Als er sah, dass Yael erleichtert nickte, konnte er sich eine kleine Stichelei jedoch nicht verkneifen. »… es sei denn, ich habe gerade etwas Besseres vor«, fügte er deshalb mit verschlagenem Grinsen hinzu. »Geschenkt.« Auch Yael grinste. »Ich kenne dich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass du dir die Gelegenheit, bei einem solchen Abenteuer dabei zu sein, niemals entgehen lassen würdest.« Er drehte sich wieder dem Ausgang zu. »Es geht los. Also, sorge lieber dafür, dass Sesha dich nicht mit ihren Sensoren erfassen kann.« »Längst passiert.« Yael nickte. Der Jungnarge räusperte sich und nahm einen tiefen Atemzug. »Sesha, ich bin bereit!«, verkündete er dann mit lauter Stimme – und hoffte insgeheim, dass ihm seine Nervosität nicht allzu deutlich anzuhören war. »Wozu bereit?«, entgegnete die Stimme der Bord-KI postwendend. »Na, für mein Übersetzen auf die Planetenoberfläche«, antwortete Yael in einem so entrüsteten Tonfall, als sei seine Abreise die selbstverständliche Sache der Welt. »Davon ist mir nichts bekannt.« »Nichts bekannt? Soll das etwa heißen, du willst dich weigern, mich
dorthin zu bringen? Mein Orham wird verdammt wütend sein, wenn er davon erfährt.« »Ich habe zwei Personen mit einem getarnten Shuttle nach Kalser befördert. Ein weiterer Transport ist nicht vorgesehen«, beharrte Sesha. »Da musst du etwas falsch verstanden haben. Mein Elter und Jarvis wollten als Erste auf die Oberfläche überwechseln. Dann sollte ich nachkommen. Es sei denn, die Situation dort unten hätte sich als zu gefährlich herausgestellt. In diesem Fall wollten sie sich sofort melden, um meinen Transfer zu stoppen.« Yael legte eine vielsagende Pause ein, bevor er weitersprach. »Hast du eine solche Meldung bekommen?« »Nein«, gab die KI zu. »Aber ich werde sofort Informationen einholen, ob ich dich –« »Das würde ich an deiner Stelle besser nicht tun«, fiel ihr der junge Narge ins Wort. »Es sei denn, du willst noch mehr Schwierigkeiten bekommen.« »Was meinst du damit?« »Nun, ich habe da ein paar Gerüchte mitbekommen, die auf der RUBIKON die Runde machen. Man erzählt sich, dass du angeblich nicht mehr so zuverlässig arbeitetest, wie das früher einmal der Fall gewesen ist.« Yael hatte diese Neuigkeit in einem der Augenblicke erfahren, als das morphogenetische Netz zwischen ihnen für wenige Sekunden bestanden hatte. Yael war noch zu jung, als dass die Verbindung permanent bestanden hätte, auch wenn der mentale Kontakt zu seinem Elter in der Zwischenzeit immer öfter und intensiver zustande kam. Jiim war selbst noch unerfahren in der Aufzucht eines Jungen. Deshalb setzte die Verbindung auch für ihn immer wieder zu Zeitpunkten ein, die er nicht vorhersehen konnte. Bevor er dann rechtzeitig Teile seines Geistes verschloss, konnte es passieren, dass Yael Dinge von ihm erfuhr, die eigentlich noch nicht »für seine Ohren bestimmt« waren. So hatte Jiim seinem Jungen unbeabsichtigt die Erinnerung an ein Gespräch übertragen, das er mit John Cloud über Sesha geführt hatte. Yael war intelligent – und durchtrieben – genug, um sofort zu erkennen, dass sich diese Information hervorra-
gend zu seinem eigenen Vorteil einsetzen ließ. »Wenn du Erkundigungen zu etwas einholst, was eigentlich schon längst geklärt ist, gibst du doch zu, dass du den Überblick verloren hast. In deiner momentanen Situation wäre das wohl keine besonders kluge Entscheidung.« Der junge Narge stellte zufrieden fest, dass sein Einwand nicht ohne Wirkung geblieben war. Sesha zögerte. Anstelle einer Antwort war nur leises, statisches Rauschen zu hören. Yael beschloss, zur nächsten Stufe des Plans überzugehen, den er gemeinsam mit seinem Freund Charly ausgetüftelt hatte. »Nun stell dich doch nicht so an«, drängte er. »Was verlange ich schon groß von dir? Kalser ist schon seit ewiger Zeit der Heimatplanet der Nargen. Und ich bin ein Narge. Was soll mir dort also schon passieren? Nun schaff mich endlich da runter – bevor wir beide Ärger mit meinem Orham bekommen.« Sein Rücken spannte sich. »Wenn du es gleich regelst, verspreche ich dir auch, dass die Angelegenheit unter uns bleiben wird. Niemand wird etwas davon erfahren, dass bei der Kommunikation zwischen dir und dem Rest der Crew etwas schiefgelaufen ist. Ich nehme alles auf meine Kappe. Wenn mein Orham mich fragt, werde ich einfach behaupten, dass ich rumgetrödelt habe und deshalb nicht rechtzeitig bei ihm auftauchen konnte. Das wird er mir bestimmt abkaufen – schließlich beschwert er sich immer darüber, dass ich meine Zeit nie richtig einteile.« Sein Gefieder raschelte, als er die Arme vor der Brust verschränkte. »Am besten, du benutzt dieselben Landekoordinaten wie beim ersten Transfer. Mein Orham und Jarvis werden da bestimmt schon auf mich warten.« »Einverstanden«, erwiderte die Bord-KI. »Shuttle ist vorbereitet und der Kurs programmiert. Ihr müsst euch nur noch in den Hangar begeben, zu dem ich euch leite …« So geschah es, und als sich bald darauf die Schleuse des Shuttles öffnete, wusste Yael, dass die Umgebung, die ihn begrüßte, keine computergenerierte Illusion mehr war. Diesmal war der Planet echt. Zum ersten Mal in seinem Leben würde er Kalser kennenlernen,
erfahren, wie die Heimat seines Orhams wirklich war. Die Aufregung ließ seine beiden Herzen heftig gegen die Brust schlagen. Yael pumpte sich mit einem tiefen Atemzug die Lungen voll. Die Luft war angefüllt mit einem unwiderstehlichen Duft: Es roch nach Freiheit, Unabhängigkeit und … prickelndem Abenteuer.
6. Kapitel Kalser »Wie fühlst du dich?«, erkundigte sich Jarvis. »Kommt dir irgendetwas bekannt vor?« »Ja und nein.« Jiim trat aus dem Unterholz des Waldrands hervor, wo sie das getarnte Shuttle gelandet hatten. Sie befanden sich auf halber Höhe eines Hügels, an dessen Fuß sich eine mehrspurige Straße entlangzog. Schier endlose Reihen von Fahrzeugen unterschiedlichster Bauart schoben sich dort in beide Richtungen. Es gab riesige quaderförmige Gebilde, die sich auf metallenen Ketten vorwärtsbewegten, deren einzelne Glieder schon allein die Größe eines durchschnittlichen Nargen hatten. Da es an den Aufbauten weder Fenster noch Luken gab, war ein Rückschluss auf das Aussehen der Passagiere unmöglich. Andere Gefährte bestanden aus Halbkugeln, die auf einer schlittenartigen Konstruktion dahinglitten. Die Fahrzeuge schienen aus einem Material zu bestehen, das sowohl metallene als auch kristalline Eigenschaften in sich vereinte. Die Halbkugeln, die groß genug waren, um einem Dutzend Menschen bequem Platz zu bieten, schimmerten in einem stählernen Grau, waren gleichzeitig aber durchsichtig genug, um erkennen zu lassen, dass sie fast vollständig mit einer Flüssigkeit gefüllt waren. Zwischen den größeren Wagen wuselten unzählige weitere Fahrzeuge umher, die sich wie Insekten auf dünnen Beinen ihren Weg bahnten und dabei jede Lücke geschickt ausnutzten oder auch einfach über ihren Vordermann hinwegstiegen. Jiim blieb knappe hundert Meter vor der Straße stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Es ist einfach unglaublich. Wenn ich nicht das Gebirge genau wiedererkennen würde«, er zeigte auf die Bergkette, die am Horizont aufragte, »wäre ich fest davon über-
zeugt, auf dem falschen Planeten gelandet zu sein.« Der Anblick ließ ihn an die Zeit zurückdenken, als er das Massiv zweimal überquert hatte. Beim ersten Mal war John Cloud sein Begleiter gewesen. Das nächste Mal hatte er die gefährliche Passage zusammen mit seinem Freund Chex gemeistert, bevor er vom letzten Ganf seine jetzige Nabiss-Rüstung erhalten hatte und kurz darauf an einen Ort fernab seiner Heimat verschlagen worden war. Jiim spürte, dass gemeinsam mit der Erinnerung auch ein Gefühl der Wehmut in ihm aufstieg. »Was hat sich denn so verändert, dass es dir fremd vorkommt?«, riss ihn Jarvis' Stimme aus seinen trüben Gedanken. Der Narge gab ein heiseres Keckem von sich. »Alles. Ganz einfach alles.« Jiim machte eine ausholende Geste, die das gesamte Panorama, das sich vor ihnen auftat, einschloss. »Ich weiß gar nicht, wo ich mit meiner Aufzählung beginnen soll. Es fängt damit an, dass das Gebiet hier früher eine einzige eisige Einöde war, über der mörderische Stürme tobten. Das Eis der Gletscher reichte von den Bergen bis in die Stadt hinein. Eine Vegetation, wie du sie heute siehst, war unter den damaligen Bedingungen undenkbar. Ein paar wenige Flechten und Büsche waren das Einzige, was dem Permafrost standhielt. Ganz zu schweigen von den Lebewesen. Es gab einfach keine – von den wenigen Cherrs, Baaken oder Womps mal abgesehen, die sich hier rumtrieben. Aber auch nach ihnen musste ein Jäger oft tagelang suchen. Alles war wie ausgestorben. Die Alte Stadt wurde schließlich nicht umsonst auch Tote Stadt genannt.« Er zeigte nach Norden, wo sich die Silhouette einer gigantischen Metropole gegen den Himmel abzeichnete. »Es herrscht ein Gewimmel, dass einem geradezu schwindlig davon werden kann.« »Wirklich beeindruckend«, stimmte ihm Jarvis sofort zu. Auch er war von dem sich bietenden Anblick fasziniert. Die Stadt breitete sich wie ein steinerner Ozean bis zum Horizont aus. Und genauso wie ein Meer war auch sie angefüllt mit Leben. In den breiten Straßen und auf den Terrassen der riesigen Pyramiden, die das Stadtbild bestimmten, herrschte überall geschäftiges Treiben. »Bei diesen Dimensionen werden wir zu Fuß wohl nicht weit kommen. Wie sollen wir nun vorgehen?«, wollte er wissen, als er sich schließlich wieder
zu Jiim umwandte. »Ich schlage vor, ich unternehme erst einmal einen kleinen Erkundungsflug.« Jiim grinste seinen Begleiter auffordernd an. »Ich bin bald wieder zurück. Du kannst die Zeit inzwischen nutzen, um dich mit deinen Flügeln ein bisschen vertraut zu machen. Die nächste Runde drehen wir dann gemeinsam.« Jarvis breitete die Schwingen aus und ließ sie ein paar Mal probeweise auf- und abflattern. »Sollten wir nicht besser zu zweit –« Aber bevor er seine Frage zu Ende stellen konnte, musste er feststellen, dass sich Jiim bereits in die Luft erhoben hatte und in Richtung der alten Hauptstadt davongesegelt war.
»Bleib unten, Plephes noch mal!« Yael packte Charly bei den Schultern und zog ihn daran zurück hinter den Busch, dessen dreieckige Blätter ihnen Deckung boten. »Oder willst du, dass sie uns doch noch entdecken?« »Die Gefahr, dass das passiert, ist äußerst unwahrscheinlich«, erklärte sein Freund, blieb aber hinter dem Strauch hocken, »denn dafür sind sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sieh selbst.« Charly schob so viel von dem Blattwerk beiseite, bis sie beide bequem gleichzeitig einen Blick durch die entstandene Lücke werfen konnten. Yael musste insgeheim zugeben, dass Charly mit seiner Einschätzung richtig lag. Sein Elter und Jarvis standen auf dem Abhang vor dem Waldstück beisammen und waren so in den Anblick der vor ihnen liegenden Stadt vertieft, dass sie für alles, was hinter ihnen vor sich ging, kaum Aufmerksamkeit übrig hatten. Sie unterhielten sich, bevor Jiim schließlich vom Boden aufstieg und davonflog, ohne dem Waldrand einen weiteren Blick zugeworfen zu haben. Doch Charlys Interesse galt nicht dem goldenen Nargen, sondern seinem Begleiter, der auf dem Abhang zurückgeblieben war. Jarvis begann dort mit den Flügeln zu flattern und unternahm die ersten Flugversuche, die sich allerdings nur auf wenige Meter in geringer Höhe beschränkten. »Was macht der denn da?« Charly presste sich
die Hand auf den Mund, um nicht laut loszuprusten. »Ist der besoffen, oder was? Das sieht ja absolut dämlich aus.« »Nicht ganz so dämlich wie das Gezappel, das du veranstaltet hast, als du deine Flügel bekommen hast«, wandte Yael gereizt ein, denn Jarvis' Geschick im Umgang mit den ihm ungewohnten Schwingen nötigte ihm Respekt ab. Die Flugmanöver des Ex-Klons wurden mit jeder Runde, die er drehte, geschmeidiger. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er steil in die Höhe schoss, bis von ihm nur noch ein winziger Punkt am Himmel zu erkennen war. Bei seiner anschließenden Rückkehr vollführte er zwanzig Meter über dem Boden mehrere Loopings und andere waghalsige Kunststücke, bevor er schließlich zu einer punktgenauen Landung ansetzte. Schon als Jarvis noch seinen ursprünglichen menschlichen Körper besessen hatte, war er in sportlicher Topform gewesen. Seit die Foronenrüstung sein Bewusstsein beherbergte, hatten sich seine Fähigkeiten noch weiter gesteigert. Innerhalb kürzester Zeit war er in der Lage gewesen, sich ein Fluggeschick anzueignen, für das selbst gebürtige Nargen Monate, wenn nicht sogar Jahre brauchten, um es zu erlernen. »Oder glaubst du etwa, dass du so was hinkriegen würdest?« Charly entgegnete nichts, sondern verzog nur schmollend den Mund. »Da fällt mir gerade etwas anderes ein«, sagte er dann, um das Thema wechseln zu können. »Wie willst du eigentlich auf die RUBIKON zurückkommen, wenn das alles hier vorbei ist?« »Ich habe ein Funkgerät mitgenommen.« Der Jungnarge klopfte gegen ein kleines Gerät, das an dem Gürtel klemmte, den er sich um die schmalen Hüften gelegt hatte. »Damit kann ich mich jederzeit mit Sesha in Verbindung setzen.« »Zumindest dann, wenn sie nicht gerade im Funkschatten auf der anderen Seite des Planeten ist.« »Genau.« Yael nickte. »Und spätestens wenn mein Orham wieder zurück im Raumschiff ist, wird es auch mit unserem Abenteuer vorbei sein. Jede Wette, er wird mich dann sofort anpeilen und ebenfalls raufbefördern lassen.« »Schätze, dann kannst du dich schon mal auf eine Menge Ärger
einstellen.« »Na und?« Yael stieß ihn verschwörerisch an. »Glaubst du nicht, dass der Spaß das wert ist?« »Und ob. Danach wird dein Orham endlich kapieren, dass er dich nicht mehr wie ein –« »Sssh«, unterbrach Yael seinen Freund mit einer energischen Bewegung. Er sprach mit gesenkter Stimme weiter. »Er kommt zurück.« Aus ihrem Versteck heraus beobachteten sie, wie Jiim von seinem Erkundungsflug zurückkehrte. Sie konnten nichts von der Unterhaltung zwischen dem Nargen und Jarvis verstehen, aber Jiim gestikulierte immer wieder in Richtung der Metropole. Schon wenige Minuten später schienen die beiden zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Sie wechselten noch ein paar abschließende Worte, dann erhoben sie sich gleichzeitig in die Luft und flogen in beachtlichem Tempo zur Stadtgrenze davon. »Okay, die sind wir vorerst einmal los.« Charly kam hinter dem Gebüsch hervor. Er trat auf die freie Fläche jenseits des Waldrandes. »Jetzt gibt es nichts mehr, was uns noch in die Quere kommen könnte.« »Hoffentlich hast du recht.« Erst nachdem Yael sich sorgfältig versichert hatte, dass von seinem Elter nichts mehr zu sehen war, kam er ebenfalls zwischen den Bäumen hervor. »Ich weiß, dass es schon zu spät ist, sich die Sache noch einmal anders zu überlegen. Aber ein bisschen mulmig ist mir, ehrlich gesagt, schon.« »Das vergeht, wenn wir erst einmal in der Stadt sind.« Charly winkte seinem Freund ungeduldig zu. »Komm mit. Wer als Letzter dort ist, ist ein lahmes Kaanschwein.« Er rannte davon, klappte im Laufen die Flügel auseinander und stieg ein paar Schritte später vom Boden auf. »Warte …« Yael hetzte ihm hinterher. »So ein Frühstart ist unfair. Glaub bloß nicht, dass ich dir das durchgehen lasse. Ich werde dich schneller abhängen, als du es ahnst. Dann kannst du dir meinen goldenen Hintern von der Rückseite aus ansehen.« Er katapultierte sich mit einem kräftigen Sprung in die Luft und nahm mit weit ausho-
lenden Flügelschlägen die Verfolgung seines Freundes auf.
7. Kapitel John Cloud saß in seinem geöffneten Kommandositz und betrachtete die Projektionen, die in der Holosäule in rascher Abfolge erschienen. Bei den Bildern handelte es sich um Aufzeichnungen, die Sesha von der Oberfläche Kalsers anfertigte und archivierte, während die RUBIKON ihre Bahn um den Planeten zog. Die übertragenen Bilder waren alles andere als uninteressant – es gab unzählige dicht besiedelte Gebiete und Städte, die sich, was die architektonischen Besonderheiten und das Aussehen ihrer Bewohner anging, so stark voneinander unterschieden, dass sie aus vollkommen verschiedenen Welten hätten stammen können –, trotzdem fühlte Cloud eine ständig wachsende Unruhe in sich aufsteigen. Der Commander war ein Mann der Tat. Deshalb war es kein Wunder, dass er sich in der Rolle des passiven Beobachters, die seinem Naturell zutiefst widersprach, nicht lange wohlfühlte. Cloud beschloss, die Observation zu unterbrechen und sich stattdessen einer Tätigkeit zuzuwenden, bei der sein persönlicher Einsatz stärker zum Tragen kommen würde. »Möchtest du dir die Show noch weiter ansehen?«, fragte er Scobee, die in dem Sessel links von ihm Platz genommen hatte. »Warum nicht? Ich finde es sehr spannend, wie sehr Kalser sich verändert hat, seit wir das letzte Mal hier waren.« Dennoch riss sich die schöne GenTec von dem Anblick los und sah dem Commander direkt ins Gesicht. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie kannte Cloud gut genug, um zu wissen, dass er die Frage bestimmt nicht ohne Hintergedanken gestellt hatte. »Oder hast du etwa einen besseren Vorschlag?« Der rieb sich das markante Kinn. »Nun ja, ich habe mir gerade überlegt, ob wir die Zeit, die wir im Orbit rumgondeln, nicht auch dazu benutzen könnten, um unserem Lieblingspassagier noch einmal etwas gründlicher auf den Zahn zu fühlen.« »Sobek?«
»Genau.« Cloud erhob sich von seinem Sitz. »Vielleicht hat er inzwischen lange genug in seinem eigenen Saft geschmort, um endlich ein bisschen kooperativer zu werden.« »Das würde mich wundern.« Scobee zog skeptisch eine der tätowierten Augenbrauen nach oben. »Schließlich gehört sein foronischer Dickschädel zum Stursten, was das Universum zu bieten hat.« »Aber es wäre doch auch möglich, dass er den Köder, den wir ihm hingeworfen haben, indem du ihm gesagt hast, dass du über Siroonas Schicksal Bescheid weißt, geschluckt hat«, gab Cloud zu bedenken. »Wenn er mehr darüber wissen will, muss er sich auf einen Deal mit uns einlassen. Seine Informationen gegen unsere. Ich könnte mir vorstellen, dass ihn das dazu bringen könnte, über seinen eigenen Schatten zu springen.« »Mach dir deswegen mal nicht zu große Hoffnungen.« Scobee hatte mehr als genug schlechte Erfahrungen gemacht, als dass sie Clouds Optimismus hätte teilen können. »Sobek ist ein durchtriebener Hund. Beim letzten Verhör war er noch geschwächt, aber inzwischen hat er sich bestimmt wieder erholt. Ich würde ihm zutrauen, dass er versucht, meine Gedanken auf telepathischem Weg nach Hinweisen zu durchforsten, ohne dabei auch nur eine einzige Silbe von seinem eigenen Wissen preiszugeben.« »Genau das müssen wir eben verhindern.« Scobee sah den Commander erstaunt an. »Wie willst du das anstellen?« »Durch Störstrahlung«, erklärte Cloud. »Wir werden Algorian bitten, uns zu begleiten. Er soll seine eigene Psi-Begabung dazu benutzen, in Sobeks Schädel ein solches Durcheinander von Stimmen anzurichten, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als auf akustischem Weg mit uns zu kommunizieren.« »Das halte ich zwar für eine ziemlich gewagte These«, gab Scobee zu bedenken, »aber einen besseren Vorschlag habe ich auch nicht zu bieten. Deshalb sollten wir es vielleicht einfach auf einen Versuch ankommen lassen.« Das war eine Antwort nach Clouds Geschmack. Plötzlich spürte er wieder das Gefühl enger Vertrautheit, das er gegenüber der jungen
Frau empfand. Er widerstand dem Impuls, Scobee in die Arme zu schließen, und beschränkte sich darauf, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen. »Ich wusste, dass du das sagen würdest.« »So?« Die GenTec strich sich das violettschwarze Haar zurück. »Dann ist es wahrscheinlich auch unnötig, dir vorzuschlagen, dass wir uns endlich auf den Weg machen sollten.« »Absolut«, bestätigte Cloud mit einem Lachen. »Sesha«, befahl er dann, »sage bitte Algorian Bescheid, dass er auf schnellstem Weg in den Gefängnisbereich kommen soll. Wir warten dort auf ihn.« Fünf Minuten später hatte sich der Aorii an der verabredeten Stelle eingefunden. Cloud hatte ihm mit ein paar knappen Worten beschrieben, welche Rolle er für ihn bei dem bevorstehenden Verhör vorgesehen hatte, bevor sie sich schließlich dem Raum näherten, in dem der Gefangene untergebracht war. Sobek lag mit dem Rücken auf der Pritsche in der Mitte seiner Zelle. Da er sich nicht einen einzigen Millimeter rührte, als Cloud, Scobee und Algorian auf der anderen Seite des Energiefeldes erschienen, wirkte er fast wie ein Toter, der dort aufgebahrt war. Aber nur fast. Denn die barsche Stimme, die sich in den Köpfen der drei sofort zu Wort meldete, zeigte deutlich, dass in dem vermeintlichen Leichnam noch eine Menge Leben steckte. Was wollt ihr schon wieder hier? Habt ihr noch immer nicht begriffen, dass ich auf eure Gesellschaft keinen Wert lege? Eure Beharrlichkeit ist wirklich enervierend. Ich beginne mich schon an die ruhige Zeit im FridaySystem – wie ihr das Gebiet dort nennt – zurückzusehnen, wo ich vor den plumpen Zudringlichkeiten euresgleichen verschont war. Ein wahrhaft paradiesischer Zustand, wenn ihr mich fragt. Cloud hatte mit einem solchen Empfang bereits gerechnet, deshalb fiel es ihm leicht, auf die grobe Provokation des Foronen gar nicht erst einzugehen. »Genau über die Zeit, die du auf A4 verbracht hast, würden wir uns gerne mit dir unterhalten«, entgegnete der Commander in einem ruhigen, beinahe gleichgültigen Tonfall. »Was das betrifft, haben wir dir sogar einen Deal anzubieten. Vielleicht könnte das deine Kooperationsbereitschaft ein bisschen erhöhen.« Ich verhandele nicht mit dreckigem Diebespack, bellte Sobek in ihren
Schädeln. Algorian, der für solche mentalen Attacken besonders empfänglich war, verzog das Gesicht, als habe man ihm einen schmerzhaften Hieb versetzt. Der Aorii wandte sich ab und schloss in höchster Konzentration die Augen. Und daran wird sich auch nichts ändern, polterte der Foronenobere weiter. Ihr habt SESHA, die heilige Arche meines Volkes, gestohlen. Für dieses Verbrechen werde ich euch zur Rechenschaft ziehen. Ihr werdet büßen, dass ihr … Obwohl Sobek mit seinen Beschimpfungen noch nicht am Ende war, wurden seine Hasstiraden immer leiser. Seine Worte wurden mit jeder Sekunde stärker von einer zweiten Stimme überlagert, die Zahlenreihen in einem monotonen Singsang aufsagte, wie man ihn sonst nur von rituellen Gebeten kannte. Cloud tauschte mit Scobee einen kurzen Blick. Am Aufblitzen in ihren Augen erkannte er, dass sie im selben Moment wie er begriffen hatte, was da vor sich ging. Die Laute in ihren Schädeln stammten von Algorian, der im Stillen damit begonnen hatte, mathematische Aufgaben zu lösen. Seine Überlegungen interferierten mit der mentalen Frequenz, auf der der Forone mit ihnen kommunizierte. Auch Sobek spürte, dass er den Kontakt zu seinen Gesprächspartnern verlor. Aber offensichtlich hatte er die Zusammenhänge noch nicht begriffen, denn er richtete sich ruckartig auf seinem Lager auf. »Was ist hier los?«, schnarrte er durch seine Sprechmembrane. »Wer besitzt die Unverfrorenheit, mich einfach zu unterbrechen? Ein solche Unverschämtheit werde ich mir nicht bieten lassen. Ich verlange Respekt!« »Dann verhalte dich gefälligst selbst entsprechend.« Scobee musterte ihn mit unverhohlener Feindseligkeit. Ihr war die Arroganz der Hohen Sieben – der foronischen Führungselite – schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Siroona war in dieser Beziehung schon ein äußerst gewöhnungsbedürftiges Exemplar ihrer Gattung gewesen. Die GenTec erinnerte sich mit Abscheu daran, dass die Foronin auf RUDIMENT-2 ihr eigenes Leben gerettet hatte, indem sie sich in Stasisschlaf zurückzog, während sie den restlichen Mitgliedern ihres eigenen Volks diese Möglichkeit durch ausdrücklichen Befehl verweigert hatte. Aber im
Vergleich zu Sobek war Siroona fast sympathisch. »Wenn du Achtung von uns erwartest, solltest du dir erst einmal anhören, was wir dir vorzuschlagen haben, anstatt uns sofort eine Tirade von Unverschämtheiten entgegenzuschleudern. Und was deine Position betrifft: Darüber haben wir das letzte Mal schon ausgiebig diskutiert. Du bist ein ganz gewöhnlicher Gefangener. Also, spiel nicht den großen Boss. Das kauft dir von uns sowieso keiner ab.« Sobek stand auf. Wieder einmal wurde er sich seiner eigenen Machtlosigkeit mit schmerzhafter Deutlichkeit bewusst. Seit seinem Aufbruch nach Andromeda und dem gescheiterten Versuch, der Original-SESHA zu folgen, hatte er sich nicht mehr so gedemütigt gefühlt. Selbst die Gefangenschaft in der Anomalie, in die er nach seiner Rückkehr zur Milchstraße geraten war, war kein so erniedrigendes Erlebnis gewesen wie seine Rettung durch ausgerechnet die Wesen, die er im Universum am meisten verabscheute: John Cloud und seine Crew. Dieses irdische Geschmeiß schien sich immer mehr zu seiner persönlichen Heimsuchung zu entwickeln. Jede Begegnung mit ihnen hatte bisher in einer Schmach geendet, die ihm geradezu körperliche Pein bereitete. Seine Inhaftierung in eben jenem Schiff, dass einmal seinem Oberkommando unterstanden hatte und das ein Symbol seiner Stärke gewesen war, bedeutete den entehrenden Höhepunkt dieser Entwicklung. Obwohl er bis in die letzte Faser seines Körpers verbittert war, verbot Sobek es sich selbst, sich dieses Gefühl anmerken zu lassen. Aggression ja – denn Angriffslust war ein Zeichen vitaler Stärke. Aber offene Verbitterung wäre einer Kapitulation gleichgekommen – und diesen Triumph hätte er Cloud niemals gegönnt. Der Rücken des Foronen straffte sich, während er zum Durchgang kam, der seine Zelle von dem dahinter liegenden Korridor trennte. »Was wollt ihr von mir?« Aus den Augenwinkeln heraus hatte Cloud festgestellt, dass Algorian zu zittern begonnen hatte. Der spindeldürre Körper bebte, als würden ihm elektrische Stromstöße durch die Muskeln gejagt. Offenbar forderte die Aufrechterhaltung des mentalen Störfeldes dem Aorii ein Höchstmaß an Kraft und Konzentration ab. Lange würde
er die anstrengende Tätigkeit nicht durchhalten können. Also beschloss der Commander, ohne Umschweife gleich auf den Punkt zu kommen, der sie zu Sobeks Gefängnis geführt hatte. »Wir wollen Informationen darüber, was auf A4 vorgefallen ist.« Er blickte dem Foronen direkt in das augenlose Gesicht. »Wie bist du dorthin gekommen? Was ist in der Anomalie passiert? Wenn du uns sagst, was wir wissen möchten, sind wir unter Umständen ebenfalls bereit, dir Auskunft über die Dinge zu geben, die wir mittlerweile herausgefunden haben. Und ich sage dir gleich: Da ist eine Menge dabei, was dich brennend interessieren dürfte.« Ein verächtliches Zischen drang aus Sobeks Sprechmembrane. »Ich habe es nicht nötig, mich mit –« Die feminin gefärbte Stimme der Bord-KI schnitt ihm das Wort ab. »Wichtige Neuigkeiten für den Kommandanten des Schiffes«, verkündete Sesha beinahe militärisch knapp. John Cloud und Sobek wandten der Stimme gleichzeitig die Köpfe zu. Der Forone setzte schon zu einer Erwiderung an, als ihm schlagartig bewusst wurde, dass die KI nicht ihn, sondern sein menschliches Gegenüber ansah. Die Frustration darüber ließ den Obersten des Septemvirats die Hände zu Fäusten ballen. Sein Zorn generierte eine enorme Welle telepathischer Energie, die sich wie die Druckwelle einer Explosion ausbreitete. Algorian stöhnte auf, als ihn der mentale Hieb traf. Er sackte zu Boden. Wenn Scobee ihn nicht geistesgegenwärtig an den Schultern gepackt und so einen weiteren Sturz verhindert hätte, wäre der Aorii mit dem Oberkörper in den unsichtbaren Schutzschild am Zelleneingang geraten. »Was gibt's, Sesha?«, wollte Cloud wissen. »Meine Sensoren registrieren ein Objekt, das sich dem Grenzbereich des Kalser-Systems nähert.« »Wir bekommen Besuch? Gibt es schon weitere Informationen über das Ding?« »Negativ.« »Schätze, das sollte ich mir mal genauer ansehen.« Cloud wirbelte herum. »Kümmere dich um Algorian, Scob. Mich findest du dann in
der Zentrale.« Er spurtete in Richtung des nächsten Türtransmitters davon. »Geht es wieder?« Die GenTec half dem Aorii auf die Beine. »Mein Schädel fühlt sich an, als hätte eine Raumschlacht darin stattgefunden«, entgegnete Algorian. Er massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Aber ansonsten bin ich in Ordnung. Das hoffe ich zumindest.« »Soll ich dich in den Med-Bereich bringen?« »Das ist nicht nötig«, wehrte der Aorii ab. »Wenn ich mich ein bisschen ausgeruht habe, bin ich bald schon wieder so gut wie neu.« »Meinetwegen. Aber wir sollten besser so schnell wie möglich von hier verschwinden, bevor du dir noch mal einen Treffer einfängst.« Scobee legte sich seinen rechten Arm über ihre Schultern, dann führte sie ihn über den Korridor aus Sobeks stark beschränkter mentaler Reichweite. »Elende Schwächlinge«, raunte der Forone, nachdem auch die letzten beiden Besucher aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Er wandte sich um, um zu der Pritsche in der Zellenmitte zurückzukehren. Doch auf halbem Weg blieb er noch einmal stehen. Sobek ließ die Ereignisse der vergangenen Minuten noch einmal in Gedanken an sich vorüberziehen. Ein Detail, das ihm zuvor nicht aufgefallen war, ließ ihn nun stutzig werden. Dass der Aorii, den die beiden Menschen im Schlepptau gehabt hatten, für die Störungen der telepathischen Übertragung verantwortlich gewesen war, stand für den Foronenführer außer Zweifel. Genauso sicher war, dass Sobek sich dagegen gewehrt hätte, hätte die Störung noch weiter angehalten. Bestimmt hätte er irgendeinen Weg gefunden, den unverschämten Aorii dazu zu bringen, sich gefälligst nicht weiter in seine Gedanken einzumischen. Ein mentaler Impuls sollte ihn in seine Schranken weisen. Aber dann war genau das schneller passiert, als der Forone es selbst für möglich gehalten hatte. Dabei hatte er sich noch nicht einmal speziell auf seinen Gegner konzentriert, sondern eine emotionale Erschütterung hatte genügt, um den Störenfried schachmatt zu setzen. Sobek zögerte. Nicht, dass ihm diese Entwicklung ungelegen gekommen war. Ganz im Gegenteil, hätte er die Gelegenheit
dazu gehabt, wäre er dem Aorii ohne Weiteres so lange eigenhändig an die Kehle gegangen, bis ihm die gespaltene Zunge aus dem Mund gequollen wäre – was den Foronenführer in Erstaunen versetzte, war die Tatsache, wie einfach seine Attacke vonstattengegangen war. Sein Volk besaß zwar eine angeborene Psi-Begabung – aber die war niemals so stark entwickelt gewesen wie zuletzt –, erst recht nicht so, dass sie als Waffe zu gebrauchen gewesen wäre. Weshalb war das nun anders? Woher kam diese neue Fähigkeit? Gab es vielleicht noch weitere Veränderungen, die ihm bisher bloß noch nicht aufgefallen waren? Sobek begann, seinen Körper mit Blicken abzusuchen. Zunächst schien es keine Abweichung von der Norm, keine Auffälligkeiten zu geben. Doch dann entdeckte er eine winzige Bewegung auf seinem rechten Handrücken. Das Phänomen verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. Hatten ihm seine überreizten Sinne nur einen Streich gespielt? Der Forone hielt sich die Hand nur wenige Zentimeter vor das Gesicht. Nichts. Sobek wollte den Arm schon wieder sinken lassen, als er knapp unterhalb seines mittleren Fingers ein schwaches Flirren entdeckte. Eine winzige Stelle – kaum mehr als ein paar Quadratmillimeter – schien so etwas wie ein Eigenleben entwickelt zu haben. Ein undefinierbares Flimmern überzog dort die Haut, gerade so, als ob die Nanopartikel seiner Rüstung sich neu ordnen würden. Nur dass er Ronfarr, seinen blutroten Harnisch, momentan gar nicht am Leib trug. Jarvis hatte die Rüstung bei ihrem letzten Kampf mit einem Trojaner lahmgelegt, woraufhin sie ihrem Besitzer vom Körper geglitten war. Seitdem war Sobek mit ihr nicht mehr in Kontakt gekommen. Aber wie war die Erscheinung dann zu erklären? Der Foronenführer drehte seine Hand um hundertachtzig Grad. Zu seinem großen Erstaunen musste er feststellen, dass das eigenartige Schimmern inzwischen auch bis zur anderen Seite durchgedrungen war. Unter seinem Finger schien ein Stück seines Körpers beinahe durchscheinend geworden zu sein. Und die Stelle breitete sich immer weiter aus. Gerade so, als würde die Aufmerksamkeit, die Sobek ihr zuteilwerden ließ, ihr neue Nahrung bieten, fraß sich das Flimmern durch seine Hand wie Glut durch ein
Blatt Papier. Es dauerte nicht lange, bis mehr als die Hälfte von ihr von der unerklärlichen Erscheinung betroffen war. Obwohl sich die Struktur seines Körpers massiv umwandelte, fühlte Sobek keinen Schmerz. Trotzdem versetzte ihn der Anblick in einen Zustand rasch anwachsender Panik. »Nein!« Er hielt den rechten Arm ausgestreckt von sich, als könne er so verhindern, dass das Phänomen von seiner Hand auch auf andere Körperteile übersprang. Zu seiner großen Überraschung kam die Ausbreitung schlagartig zum Stillstand. Sobek war perplex. Der Zustand seiner Hand hatte sich nicht verändert, und es gab auch kein Anzeichen, dass sich das Flimmern weiter in das Gewebe voranfraß. Aber was hatte den Prozess gestoppt? War es die unwillkürliche Abwehrbewegung gewesen, mit der er den Arm nach vorne gerissen hatte? Es gab nur eine Möglichkeit, um das herauszufinden. Der Forone brachte die Hand wieder zurück in ihre ursprüngliche Position. Nichts veränderte sich. Sobeks scharfer Verstand begann, auf Hochtouren zu arbeiten. Noch einmal ließ er die jüngsten Ereignisse Revue passieren. Es dauerte nicht lange, bis ihm klar wurde, dass die Unterbrechung seiner körperlichen Umwandlung nicht nur zeitgleich mit der energischen Bewegung begonnen hatte – sie war auch kurz nach seinem erschrockenen Aufschrei erfolgt! Der Foronenführer bewegte seine Hand ein paar Mal vor seinem Gesicht hin und her. War es tatsächlich möglich, dass ein Phänomen, das sich wie eine Infektion ausbreitete, auf Befehle reagierte? Von seiner Nanorüstung war er ein solches Verhalten zwar durchaus gewohnt, aber Ronfarr war schließlich auch ein Gebilde winzigster Partikel, das sich als externe Schicht um seinen Körper legte. In diesem Fall handelte es sich jedoch um eine interne Erscheinung, die sein lebendes Gewebe betraf. Eine Sekunde später hatte Sobek eine Entscheidung gefällt. Er war nie jemand gewesen, der vor einer Gefahr zurückge-
schreckt wäre. Ganz im Gegenteil, seine Kaltblütigkeit war mit ein Grund für die führende Position gewesen, die er im Septemvirat innegehabt hatte. Deshalb schreckte er auch jetzt vor dem nächsten Test nicht zurück – obwohl ihm das Risiko dabei durchaus bewusst war. Sobek versuchte, sich die äußeren Grenzen des Flimmerns genau einzuprägen. »Weiter!«, befahl er dann. Das Glitzern begann augenblicklich, nach allen Seiten voranzukriechen. »Stopp!« Das Phänomen verharrte sofort an Ort und Stelle. Zurück! Den nächsten Befehl hatte der Forone auf telepathischem Weg erteilt. Aber auch jetzt reagierte die Erscheinung postwendend. Das Schimmern zog sich immer weiter von seiner Hand zurück, bis nur noch die winzige Stelle davon betroffen war, die er ein paar Minuten zuvor eher zufällig entdeckt hatte. Nun war Sobeks erster Schreck endgültig einem Gefühl von Neugierde gewichen. Nichts hätte ihn daran hindern können, weitere Versuche anzustellen, was es mit diesen merkwürdigen physischen Veränderungen auf sich hatte. Weiter! Er wartete ab, bis sich das Flimmern über seine gesamte Hand und einen Teil seines Unterarms ausgebreitet hatte, bevor er erneut den Befehl zum Anhalten gab. Das Glitzern begann inzwischen, ein mattes regenbogenfarbenes Licht zu emittieren. Als sich der Forone die Hand ein weiteres Mal vor das Gesicht hielt, erkannte er, dass sie plötzlich aus kristallinen Strukturen zu bestehen schien. Er versuchte probeweise, die Finger zu bewegen – was ihm auch problemlos gelang. Sobek ging mehrmals in seiner Zelle auf und ab, bevor er sich schließlich nachdenklich auf der Pritsche niederließ. Als er sich dabei auf der Kante der Liegefläche abstützte, geschah etwas, mit dem er so nicht gerechnet hatte. In Ordnung, Cloud, du willst also ein paar Neuigkeiten von mir erfahren. Die sollst du haben, ging es dem Gefangenen durch den Kopf. Al-
lerdings würde ich mich an deiner Stelle schon einmal darauf einstellen, dass sie äußerst unangenehm für dich ausfallen. Die foronische Entsprechung eines höhnischen Lachens drang aus seiner Sprechmembrane.
John Cloud sprang aus vollem Lauf in den Kommandositz und aktivierte den Deckel. Einen Atemzug später war sein Bewusstsein schon mit der RUBIKON verschmolzen. Seine Sinne schienen sich so weit auszudehnen, dass er die Informationen, die die Bordsensoren registrierten, nicht nur an unterschiedlichen Anzeigegeräten ablesen konnte, sondern sie tatsächlich fühlte, als wären es Signale seiner Sinne. Meldung, Sesha, forderte der Commander die Bord-KI auf, ohne ein einziges Wort davon laut ausgesprochen zu haben. Gibt es etwas Neues von dem sich nähernden Objekt? »Ich habe regelmäßige Emissionsmuster an seiner Bugseite registriert. Offensichtlich handelt es sich bei ihm also um ein Raumschiff.« Ein Schiff? Kannst du mir schon etwas Genaueres darüber sagen? »Negativ«, entgegnete Sesha. »Das Objekt hat die Grenzen des Kalser-Systems passiert. Nach Extrapolation der bisherigen Flugdaten hält es Kurs auf den Planeten, in dessen Orbit sich die RUBIKON gerade befindet.« Das ist mir zu wenig. Um die Lage einschätzen zu können, brauche ich mehr Informationen über dieses Ding, drängte Cloud. Wann wird es über Kalser eintreffen? »In genau vier Stunden, dreiundvierzig Minuten und einundfünfzig Sekunden unserer gemessenen Bordzeit.« So lange noch? Cloud war ehrlich überrascht. Das würde ja bedeuten, dass das Vehikel geradezu durchs All schleicht. Bist du dir denn sicher, dass dir bei deinen Berechnungen kein Fehler unterlaufen ist? »Die Fehlerwahrscheinlichkeit liegt bei 0,000314 Prozent, kann somit also so gut wie ausgeschlossen werden«, erwiderte die KI pikiert. »Bei dem Objekt scheint es sich um ein Fahrzeug von äußerst
primitiver Bauweise zu handeln, weil es offenbar über keinerlei Überlichtantrieb verfügt. Präzise ausgedrückt: Es bewegt sich lediglich mit 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit voran.« Das ist wirklich nicht gerade viel. Aber es kann dennoch keinen Zweifel daran geben, dass es extrasolaren Ursprungs ist? »Positiv.« Was kann diese Schüssel bloß hier wollen? Der Commander legte im geschlossenen Sarkophag die Stirn in Falten. Gibt es denn Hinweise darauf, dass die Besucher irgendeine Schweinerei im Schilde führen? Ich denke dabei an eine Invasion oder zumindest einen Überfall. »Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich«, widersprach die KI freundlich, aber in entschiedenem Tonfall. »Ich kann keine Anzeichen für eine bevorstehende Aggression entdecken. Meine Scans zeigen, dass das Schiff über keinerlei Bewaffnung verfügt. Zumindest keine uns bekannten Waffensysteme. Auch wird dort keinerlei Anstrengung unternommen, das Schiff hinter einem Schild oder einer sonstigen Tarnvorrichtung zu verbergen. Es nähert sich Kalser so offen, als würde dort mit seiner Ankunft bereits gerechnet.« Wurde von dem Fahrzeug bereits Kontakt zum Planeten aufgenommen?, erkundigte sich Cloud. »Nein, bisher nicht. Das könnte aber auch daran liegen, dass es nicht über die notwendigen technischen Mittel verfügt, die zu einer Überbrückung dieser Distanz notwendig wäre«, erklärte Sesha. »Wie schon gesagt: Es handelt sich dabei um ein Fahrzeug von primitiverer Bauart.« Das bedeutet dann wohl auch, dass die Neuankömmlinge uns bisher noch nicht entdeckt haben, schlussfolgerte Cloud. Das ist ein Vorteil, den wir nicht verschenken sollten. Deshalb werden wir den Orbit verlassen und uns in den Ortungsschatten des Mondes zurückziehen. Er warf einen Blick auf den teilzerstörten Trabanten, der Kalser umkreiste. Oder das, was von ihm übriggeblieben ist. »Was ist mit den Besatzungsmitgliedern, die sich auf der Planetenoberfläche befinden?«, wollte die Bord-KI daraufhin wissen. Sie sollen bleiben, wo sie sind, entschied Cloud. Unterrichte Jiim und Jarvis von unserem Positionswechsel und sage ihnen dabei auch, dass wir
trotzdem regelmäßig mit ihnen in Kontakt treten werden. Für uns ist die Entfernung zwischen Kalser und Maron nur ein Katzensprung. Wenn sie uns brauchen, sind wir sofort an Ort und Stelle, um sie wieder an Bord zu nehmen. »Verstanden. Gibt es darüber hinaus noch weitere Befehle?« Momentan nicht. Erledige das, was ich dir aufgetragen habe. Sobald wir die neue Position erreicht haben, möchte ich, dass du das ankommende Schiff keine Sekunde aus den Augen … ich meine natürlich aus den Detektoren lässt. Bekommst du das hin? »Das ist eine Aufgabe, die jede drittklassige Steuerungseinheit der ersten Generation mühelos erledigt hätte«, zischte Sesha, offenbar beleidigt darüber, dass der Oberkommandierende der RUBIKON wieder einmal ihre Kompetenz anzweifelte. »Wenn ich mich also sehr anstrenge, werde ich das Manöver vielleicht auch noch hinbekommen.« Oha, höre ich da etwa einen Anflug von Sarkasmus in deinen Worten?, erkundigte sich Cloud amüsiert. Nichts für ungut, altes Mädchen, es tut mir leid, wenn ich dir auf den Schlips getreten bin. Das wird bestimmt so schnell nicht wieder vorkommen. Großes Pfadfinderehrenwort. Die KI erwiderte nichts. Aber an den Sternen über sich, die nun ihre Positionen zu verändern begannen, erkannte der Commander, dass sie bereits Kurs auf das von ihm vorgeschlagene Versteck gesetzt hatten.
8. Kapitel »Glaubst du, dass du dich hier noch zurechtfinden kannst?«, wollte Jarvis wissen. Er hatte so dicht zu Jiim aufgeschlossen, dass sie parallel nebeneinanderherflogen. Sie waren der Straße am Fuß des Hügels gefolgt und hatten so die Stadtgrenze schon lange hinter sich gelassen. Unter ihnen zog ein unüberschaubares Meer von Gebäuden vorbei, deren Höhe so unterschiedlich war wie die Wellen eines Ozeans. Es gab Häuseransammlungen, die gerade mal ein einziges Stockwerk hoch waren, während an anderen Stellen gewaltige Stufenpyramiden emporragten. Dazwischen stachen lang gezogene, kegelförmige Türme wie Nadeln in den Himmel. Schlangen von Fahrzeugen unterschiedlichster Bauart wälzten sich durch die Straßen zwischen den Gebäudekomplexen. Aber nicht nur dort herrschte lebhaftes Treiben. Überall auf den Gebäuden gab es Plattformen, die von flugfähigen Bewohnern der Stadt als Start- oder Landerampen benutzt wurden. Da der Verkehr sich dadurch nicht bloß auf den Boden beschränkte, sondern auch in die dritte Dimension verlagert wurde, glich der Strom einem unüberschaubaren Gewimmel. »Es ist wirklich nicht einfach, sich zu orientieren«, gab der Narge zu. Sein Blick wanderte dabei auf der Suche nach einem Fixpunkt hin und her. »Aber es gibt tatsächlich noch ein paar wenige Gebäude, die die Zeit überdauert haben. Obwohl sie natürlich ganz anders aussehen, als ich sie in Erinnerung habe.« Jiim zeigte zu einer Pyramide, deren beeindruckende Fassade aus einem polierten hellgrauen Stein bestand. »Vor meinem Aufbruch von Kalser war das kaum mehr als eine halb verfallene Ruine. Was übrigens auch für den Rest der Stadt gilt.« »Verstehe.« Sein Begleiter nickte. »Die Klimakatastrophe, die die abstürzenden Mondtrümmer verursachten, hat eben ihren Tribut gefordert. Mich wundert, wie die Stadt danach wieder auferstehen konnte wie Phönix aus der Asche.«
»Wer ist Phönix?« »Ach, das ist eine alte Geschichte von der Erde. Ich werde dir vielleicht bei Gelegenheit mal davon erzählen«, entgegnete Jarvis ausweichend. »Jetzt haben wir erst mal Wichtigeres zu erledigen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass du ein ganz bestimmtes Ziel im Hinterkopf hast, auf das wir nun zusteuern. Habe ich recht?« »Manchmal vergesse ich, wie gut du mich inzwischen kennst.« Der Narge warf ihm ein anerkennendes Lächeln zu. »Klar hast du recht. Ich bin auf der Suche nach dem Wolkenheim, wenn du es genau wissen willst.« »Was zur Hölle ist denn das nun schon wieder?« »Das Wolkenheim war das Verwaltungszentrum der Alten Stadt, bevor es zur großen Katastrophe kam. Dort wurden alle wichtigen Aufzeichnungen gelagert, die das Leben auf Kalser betrafen. Es gab auch eine umfangreiche Bibliothek. Natürlich habe ich keine Ahnung, ob das immer noch so ist oder das Wolkenheim überhaupt noch existiert. Aber da ich mich auf dem restlichen Planeten genauso wenig auskenne, ist es bestimmt kein Fehler, wenn wir zumindest versuchen, dort mit unseren Nachforschungen zu beginnen.« »Okay, meinetwegen.« Jarvis brachte es fertig, während des Flugs mit den Schultern zu zucken. Er grinste seinen Freund breit an. »Als Fremdenführer bist du wirklich keine große Leuchte. Also bilde dir nicht ein, dass du am Ende unseres Ausflugs ein üppiges Trinkgeld von mir in die Hand gedrückt bekommst.« »Von einem Geizhals wie dir habe ich auch gar nichts anderes erwartet«, entgegnete Jiim gut gelaunt. »Ich werde trotzdem mein Möglichstes tun, um Ihnen den Aufenthalt auf diesem Planeten so angenehm wie möglich zu gestalten, Sir. Sollten Sie also irgendwelche Fragen haben, wird es mir ein Vergnügen sein, sie umfassend und zufriedenstellend zu beantworten.« »Das ist ein Service nach meinem Geschmack«, ging Jarvis auf das Spiel ein. »Dann zeig doch gleich mal, was du so draufhast. Kannst du mir beispielsweise erklären, was das dort ist?« Er deutete auf ein riesiges Areal vor ihnen. Das Gebiet, das komplett aus einem einzigen anthrazitfarbenen Baumaterial errichtet zu sein schien, stach
wie eine gewaltige kreisrunde Insel aus dem städtischen Ozean hervor. Eine imposante Konstruktion bildete den Mittelpunkt des Gebäudekomplexes. Auf den ersten Blick wirkte sie wie ein Vulkankrater, der an zentraler Stelle in den Himmel ragte. Doch die glatte Fläche an seiner Außenseite, die in regelmäßigen Abständen von Plattformen, Torbögen und anderen Eingangsmöglichkeiten unterbrochen war, ließ keinen Zweifel daran, dass es sich dabei nicht um ein natürliches Gebilde handelte, das durch zahllose Eruptionen entstanden, sondern sein Gesicht den Überlegungen eines Architekten entsprungen war. Dieser Eindruck bestätigte sich, als Jiim und Jarvis beim Näherkommen einen ersten Blick in das Innere des Kraters werfen konnten. Zahllose Sitzreihen bildeten dort aufsteigende, konzentrische Kreise, die um eine runde Freifläche in der Mitte angeordnet waren. Obwohl es unterschiedliche Arten von Sitzgelegenheiten gab, waren die meisten von ihnen so geformt, dass Nargen bequem darin Platz nehmen konnten. »Ich kenne dieses Bauwerk nicht«, stieß Jiim beeindruckt hervor. Er hatte sein Flügelschlagen eingestellt und ließ sich nur noch von der aufsteigenden Thermik treiben. »Aber es muss so etwas wie ein Theater sein.« »Oder ein Stadion«, ergänzte Jarvis. »Was glaubst du, findet dort statt? Wettkämpfe?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Etwas Vergleichbares – selbst in viel kleinerem Maßstab – hat es während meiner Zeit auf Kalser nicht gegeben.« »Auf jeden Fall müssen es Riesenspektakel sein. Schätze, da ist genügend Platz für hunderttausend Zuschauer. Vielleicht auch mehr.« Jiim drehte eine lang gezogene Runde über dem Krater. »Es sind zweifellos sehr bedeutsame Veranstaltungen, die dort abgehalten werden«, erklärte er, nachdem er wieder zu Jarvis zurückgekehrt war. »Siehst du die großen Straßen dort unten? Sie sind alle so angelegt, dass sie sternförmig genau hierher führen. Das Gebiet unter uns scheint das neue Zentrum der Stadt zu sein.« »Der Verdacht liegt wirklich nah«, bestätigte der Klon. »Aber wenn wir uns nicht länger mit bloßen Spekulationen zufrieden ge-
ben wollen, wäre es langsam an der Zeit, dass wir auch Kontakt mit den Einwohnern aufnehmen. Oder bist du anderer Meinung?« »Ganz im Gegenteil.« Der Narge ließ den Blick über ein Stadtgebiet wandern, das sich an den anthrazitfarbenen Bereich anschloss. »Dort drüben gibt es einen Platz, auf dem keine Fahrzeuge unterwegs sind. Siehst du den Brunnen zwischen den Bäumen?« »Klar. Es könnte so was wie ein Park sein, in dem es sich ein paar von deinen Artgenossen gemütlich gemacht haben.« »Auf jeden Fall scheint es ein beliebter Treffpunkt zu sein. Wie geschaffen dafür, um mit anderen ins Gespräch zu kommen. Komm mit.« Jiim machte eine auffordernde Geste. »Die Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Aber nimm dich bitte ein bisschen zusammen. Je weniger wir zwischen den Parkbesuchern auffallen, desto besser.« Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit dem Sinkflug in Richtung des anvisierten Ziels. »Besten Dank für den Tipp.« Jarvis schüttelte mit dem Kopf. »Von jemand, der glänzt wie ein goldener Kaffeelöffel, lasse ich mir doch gerne Ratschläge geben, wie ich am wenigsten Aufmerksamkeit errege.« Er schnaubte amüsiert auf, dann legte er die Flügel eng an den Körper. Mit geradezu halsbrecherischem Tempo nahm er die Verfolgung seines Begleiters auf.
Auch Yael und Charly hatten inzwischen die Stadt erreicht. Doch im Gegensatz zu den anderen beiden Besuchern von der RUBIKON hatten sie sich für eine niedrigere Flughöhe entschieden. Da sie auf ihrem Weg den Straßenverläufen folgen und auch immer wieder Hindernissen ausweichen mussten, kamen sie deutlich langsamer voran als Jiim und Jarvis. »He, musst du denn die ganze Zeit so rasen?«, beschwerte sich Charly, nachdem er beinahe mit einem keilförmigen Flugobjekt zusammengestoßen wäre, an dessen Unterseite ein krakenförmiges Wesen hing, das aus einem bronzefarbenen Metall zu bestehen schien. Er besaß nicht nur weniger Flugpraxis als Yael, der der Begegnung mit einem geschickten Manöver ausgewichen war, sondern
ließ im Vergleich zu seinem Freund auch deutliche Konditionsschwächen erkennen. »Warte gefälligst auf mich.« »Geht dir etwa schon die Puste aus?« Der junge Narge wechselte so abrupt die Richtung, dass sein Gefieder mit einem Zischen die Luft durchschnitt. Wenige Sekunden später war er bereits wieder zu seinem Gefährten zurückgekehrt. »Gar nicht«, behauptete Charly – obwohl ihn seine schweren Atemzüge Lügen straften. »Ich kapiere bloß nicht, weshalb wir hier die ganze Zeit durch die Straßenschluchten flattern sollen, anstatt uns irgendwo mal ein bisschen genauer umzusehen.« »Verstehe, du willst, dass wir eine Pause einlegen.« Yael konnte sich ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. Genau in diesem Moment passierten sie in knapp dreißig Metern Höhe eine weitere Kreuzung. Yael entdeckte eine imposante Stufenpyramide, an der eine der Abzweigungen in einer Sackgasse endete. Der mittlere der sieben Absätze bestand zum größten Teil aus einer durchgängigen Fensterfront. Bunte Lichter waren durch das Glas hindurch zu erkennen. Auf dem Absatz davor hatten sich unzählige Nargen, aber auch Wesen, von denen Yael noch nie etwas gehört oder gesehen hatte, versammelt. Auf den unteren Terrassen und auf einem Areal vor der Pyramide waren Fahrzeuge unterschiedlichster Bauart, Farbe und Größe abgestellt. Yael hatte nicht die geringste Ahnung, was es mit der Ansammlung auf sich hatte, trotzdem fühlte er sich von ihr in geradezu magischer Weise angezogen. Er stieß ein aufgeregtes Keckem aus. »He, da drüben ist richtig was los. Da müssen wir hin.« Der junge Narge packte seinen Freund am Arm und zog ihn einfach hinter sich her. Als sie auf der Plattform landeten, herrschte dort ein noch größeres Durcheinander, als auf den ersten Blick zu erkennen gewesen war. Im ständigen Kommen und Gehen nahm die Menge von den beiden Neuankömmlingen kaum Notiz. Weitere Nargen setzten links und rechts von ihnen zur Landung an oder wechselten auf eine höher liegende Ebene, um sich von dort wieder in die Luft zu schwingen. Ein zweiköpfiger Wurm von der Größe eines Baumstamms kam Yael und Charly entgegengekrochen, die daraufhin er-
schrocken beiseite sprangen. Doch das Wesen kümmerte sich nicht um sie. Seine Körperglieder erzeugten ein rasselndes Geräusch auf dem steinigen Untergrund, als sich die Kreatur zwischen ihnen hindurch und über die Kante der Pyramidenstufe schob. Ein Stockwerk tiefer verschwand sie in einem kugelförmigen Objekt, das sich in Bewegung setzte und wie ein beinloses Insekt weiter das Gebäude hinunter bis zur Straße glitt. Dort reihte sich das Gefährt in den fließenden Verkehr ein, bevor es hinter der nächsten Kurve endgültig aus ihrem Blickfeld verschwand. »Hast du das gesehen?« Charly stieß Yael aufgeregt an. »Das war doch absolut irre, oder?« »Ja, ja …«, entgegnete sein Begleiter ohne wirkliches Interesse, denn seine Aufmerksamkeit galt schon längst einer ganz anderen Stelle. Yael hatte entdeckt, dass es in einem Teil der Glasfront eine Mechanik gab, die die Scheibe in regelmäßigen Abständen nach oben klappen ließ. Scharen von Besuchern strömten dann in das Innere der Pyramide, während andere es auf demselben Weg verließen. »Das muss der Eingang sein. Worauf warten wir noch? Lass uns reingehen. Ich bin schon total gespannt, wie es da drinnen aussieht.« »Na gut.« Charly schüttelte nervös seine Flügel, bevor er sie eng am Rücken anlegte. »Aber du gehst vor. Schließlich ist das hier dein Heimatplanet, also findest du dich bestimmt auch besser zurecht als ich.« »Okay. Aber bleib immer in meiner Nähe. Ich habe nämlich keine Lust, dich in dem Gewimmel auch noch suchen zu müssen.« »Kein Bange, ich klebe an dir wie ein Schatten«, versprach Charly. Sie verständigten sich mit einem kurzen Kopfnicken, dann schlossen sie sich einer Gruppe von drei Nargen an, die sich in diesem Augenblick dem Eingang näherte. Die gläserne Tür schwang nach oben. Yael und Charly gelang es, als Letzte durch den Durchgang zu schlüpfen. Doch während die drei Fremden sofort tiefer in das Innere des Raums verschwanden, blieben die beiden Freunde wie angewurzelt stehen. Lärm schlug ihnen wie eine unsichtbare Faust entgegen. Das ganze Gebäude schien damit angefüllt zu sein. Gesprächs-
fetzen drangen ihnen von sämtlichen Richtungen entgegen. Manche davon waren zu verstehen, andere Unterhaltungen wiederum fanden in Sprachen statt, die so fremd waren, dass nicht einmal einzelne Worte zu erkennen waren. Yael verschloss reflexartig die spitzen Ohren mit den Händen, als ihm ein abgehacktes Pfeifen im Ultraschallbereich wie ein Dolch in den Schädel stach. Gleichzeitig ließ ein niederfrequentes Brummen die Luft vibrieren. Die gesamte Kakofonie war überlagert von einem rhythmischen Stampfen, das immer wieder auf- und abschwoll. Charly war der Erste, der seine Sprache wiederfand. »Das ist der verrückteste Ort, den ich jemals gesehen habe«, rief er Yael zu. »Wir sollten versuchen –« Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick schwang hinter ihm die Eingangstür ein weiteres Mal auf. Weitere Besucher drängten herein. Einer von ihnen versetzte Charly dabei einen Stoß in den Rücken, woraufhin der einen Schritt zur Seite stolperte. Er prallte gegen eine Kreatur, die gerade im Begriff war, das Gebäude zu verlassen. Das Geschöpf hatte eine entfernt menschenähnliche Gestalt – wenn man davon absah, dass ihm drei Beine und vier Arme aus dem Rumpf ragten, was seinen Schultern ein kreuzförmiges Aussehen verlieh. Der Kopf war kaum mehr als ein großer, auf der Spitze stehender Tropfen, an dem keinerlei Sinnesorgane zu erkennen waren. Das cremefarbene Wesen, dessen gesamte Körperoberfläche wie poliert glänzte, nahm an dem Zusammenstoß keinen Schaden, denn an der Stelle, an der Charly es berührte, entstand lediglich eine Delle, die sich aber sofort wieder von selbst ausbeulte. Aber der hantelförmige Gegenstand, den es in einer Hand gehalten hatte, wurde ihm aus den Fingern geschleudert. Das Ding fiel zu Boden, wo es wie ein rohes Ei zerbrach. Eine hellgrüne, phosphoreszierende Lache, in der winzige Tetraeder konvulsiv pulsierten, breitete sich auf den Steinplatten aus. »Du dämliches Pintau«, schnauzte die Kreatur. »Kannst du nicht aufpassen?« »Es tut mir leid«, stieß Charly hervor. Er war viel zu aufgeregt, um zu bemerken, dass die Beschimpfung aus einer Spalte gekommen
war, die sich mitten im Rumpf seines Gegenübers geöffnet hatte. »Das war wirklich keine Absicht.« Er ging in die Hocke, um die auf dem Boden verteilten Bruchstücke einzusammeln. »Ach, vergiss es. Das dreckige Zeug rühre ich nicht mehr an«, knurrte die glänzende Kreatur. »Wenigstens habe ich für genügend Vorrat gesorgt.« Eine ihrer Hände verschwand wie durch eine Membrane im Innern ihres Körpers. Als sie kurz darauf wieder auftauchte, hielt sie eine weitere – unversehrte – Hantel umschlossen. Das Wesen brach sie mit einer energischen Bewegung an der schmalsten Stelle auseinander und legte eine der so entstandenen Öffnungen an die Rumpfspalte. Ein schmatzendes Saugen war zu hören, als sich das Geschöpf abwandte und davonging, ohne auch nur noch ein einziges Wort an Charly verschwendet zu haben. Der starrte ihm kopfschüttelnd hinterher. »Meine Fresse, das war echt krass.« Yael, der von dem Vorfall nichts mitbekommen hatte, kam zu seinem Freund zurück. »Jetzt kapier ich endlich, was hier los ist«, verkündete er voller Stolz. »Weißt du, wo wir sind?« »Nein. Aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.« »Wir sind an einem Futterplatz.« Yael machte eine Geste in die Mitte des hallenartigen Raums. Dort standen Säulen, aus denen nach allen Richtungen Balken ragten wie die Äste eines Baums. An manchen davon waren Plattformen befestigt. Überall auf den verschieden hohen Ebenen saßen Nargen, während am Fuß des künstlichen »Waldes« andere Wesen an Tischen und bizarren Gestellen hockten. Obwohl sich die anwesenden Lebensformen im Aussehen oft stark voneinander unterschieden, hatten sie doch eine Gemeinsamkeit: Sie alle nahmen Nahrung zu sich. »Eigentlich ist das alles doch ganz logisch.« Yael zog seinen Begleiter mit sich. »In einer Stadt, die so riesig ist wie diese hier, ist es unmöglich, dass jeder Einwohner auf die Jagd geht oder nach Früchten sucht. Deshalb muss die Bevölkerung auf anderem Weg mit Nahrung versorgt werden. Das hier ist eine Ausgabestelle für Essen. Jede Wette, dass es in der Stadt noch eine Menge weitere davon gibt.«
»He, damit könntest du tatsächlich recht haben.« Charly sah sich fasziniert um. »Es würde mich ehrlich interessieren, was die alle so begeistert in sich reinstopfen.« »Warum probieren wir es nicht einfach aus?«, schlug Yael vor. Er zeigte zu einem Bereich, der durch einen thekenähnlichen Aufbau vom Rest des Raums abgetrennt war. Vier Warteschlangen standen dort nebeneinander. »Da hinten wird die Nahrung verteilt. Sollen wir uns auch etwas davon holen?« »Gute Idee.« Nun war auch Charlys Abenteuerlust wieder neu erwacht. »Von der ganzen Fliegerei habe ich sowieso ordentlich Hunger bekommen.« »Worauf warten wir also noch?« Die beiden Freunde reihten sich in eine der Schlangen ein. Die Zahl der vor ihnen stehenden Wesen wurde rasch kleiner, und so dauerte es nicht lange, bis Yael und Charly bis zur vordersten Position vorgedrungen waren. »Hallo, was darf ich euch bringen?«, fragte der Narge auf der anderen Seite, als sie an den Tresen herantraten. Er trug eine Kappe, die zwei Öffnungen besaß, durch die seine spitzen Ohren emporragten. Mit einem Seitenblick registrierte Yael, dass auch alle seine Kollegen dieselbe Kopfbedeckung trugen – offensichtlich handelte es sich dabei um eine Art Uniform. »Was darf ich euch bringen?«, fragte ihr Gegenüber erneut. Ein ungeduldiger Tonfall mischte sich in seine Stimme. Yael hielt zögernd inne. »Äh, was habt ihr denn so anzubieten?« »Das hier …« Der Narge wies auf eine Tafel, die in der Oberseite der Theke eingelassen war. Darauf waren Abbildungen von Nahrungsmitteln zu sehen, die Yael und Charly noch niemals zu Gesicht bekommen hatten. »Also?« Die beiden Freunde wechselten einen ratlosen Blick. »Entscheide du.« Charly zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Dann nehmen wir zweimal das hier.« Er zeigte auf das Bild einer mattgelben Kugel, die ihn entfernt an eine Frucht erinnerte, die er manchmal auf der RUBIKON gemeinsam mit seinem Elter verspeist hatte.
»Wirklich?« Der Narge sah ihn erstaunt an. »Aber das ist doch ein Quamgubb.« »Ja und?« »Ich habe noch niemals erlebt, dass jemand freiwillig ein Quamgubb bestellt hat. Außer einem Terexx natürlich. Aber letztendlich ist das alles sowieso reine Geschmacksache.« Bevor Yael noch etwas erwidern konnte, hatte sich der Narge auf der anderen Seite des Tresens schon umgewandt und war davongegangen. Als er kurz darauf zurückkehrte, trug er zwei kinderkopfgroße Kugeln, die auf dolchartigen Ständern aufgespießt waren, bei sich. Ein beißender Geruch nach Ammoniak stieg auf, als er die Gebilde auf der Theke abstellte. »Bitte sehr. Das macht genau 17 Choc-Nar.« »Choc-Nar?« Yael sah ihn verwirrt an. »Was soll das sein?« »Sagt mal, wollt ihr hier irgendwelche blöden Spielchen mit mir treiben?« Der Narge stützte sich mit beiden Händen auf den Tresen und beugte sich ihm entgegen. »Glaubt ihr, es ist lustig, zuerst irgendwelchen Kram zu bestellen und dann den ganzen Laden mit albernen Fragen aufzuhalten? Dann sage ich euch eins: Nein, es ist überhaupt nicht komisch!«, zischte er gereizt. »Also, könnt ihr nun bezahlen oder nicht?« »Bezahlen?« Yael, der, solange er zurückdenken konnte, seine Nahrung ohne jede Gegenleistung erhalten hatte, konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Auf dem Rochenschiff hatte er mit einigen der neuen Besatzungsmitglieder ein paar Tauschgeschäfte abgeschlossen – das war aber auch schon alles gewesen. »Wie meinst du das?« Die Bedienung stieß als Antwort gereizt die Luft durch die Nase aus. Die Mundwinkel des Nargen zogen sich nach unten. Charly spürte instinktiv, dass sich Unheil zusammenbraute. »Es reicht, Yael.« Er stieß seinen Freund an. »Komm, lass uns lieber von hier verschwinden.« »Aber …« »Nun mach schon.« Charly wollte ihn von der Theke wegzerren. Aber als sie sich umwandten, hatte sich schon ein Wesen hinter ihnen aufgebaut, das sie um mindestens eine Armeslänge überragte
und auch breiter war als sie beide zusammen. Von der Größe einmal abgesehen, erinnerte sie Erscheinungsbild an einen Nargen – bloß, dass ihm anstelle der Flügel metallisch schimmernde Fäden aus den Armen wuchsen. »Oha, das sieht nicht gut aus«, stieß Charly hervor, nachdem er um Haaresbreite in den Koloss hineingerannt wäre. »Sind das die beiden, die Ärger machen?«, wollte die Kreatur von dem Nargen hinter der Theke wissen. »Ganz genau.« Die Bedienung, die den Wächter durch einen lautlosen mentalen Impuls herbeigerufen hatte, nickte. »Erst halten sie den ganzen Betrieb auf, und dann wollen sie sich auch noch ums Bezahlen drücken. Regelst du das?« »Klar.« Der Wachposten wandte sich Yael und Charly zu. »Typen wie euch können wir hier nicht gebrauchen. Verschwindet. Und zwar plötzlich, klar?« »Aber wir haben doch gar nichts gemacht«, beschwerte sich Yael. »Wir wollten lediglich –« »Ich werde mich bestimmt auf keine Diskussion mit ein paar halbstarken Nasstos einlassen«, unterbrach ihn der Wächter barsch. »Wenn ihr nicht freiwillig geht, werde ich eben nachhelfen. Also los.« Er wollte nach dem Jungnargen greifen, doch der wich ihm geschickt aus. Yael duckte sich unter der Hand weg und wollte unter dem Arm seines riesigen Gegenübers hindurchschlüpfen. Dabei kam er mit mehreren der Metallfäden in Berührung. Yael schrie auf, als ihm ein elektrischer Stromstoß durch den Körper jagte. Seine Muskeln zogen sich krampfartig zusammen, und er sackte zu Boden. »Yael!« Charly wollte seinem Freund zu Hilfe kommen, aber eine Hand des Wächters legte sich wie eine Zange um seinen Oberarm und hielt ihn fest. Mit der anderen packte der Koloss den Nargen und riss ihn grob zurück auf die Füße. »Das hättest du uns beiden ersparen können«, schnaubte er voller Wut. »Jetzt ist endgültig Schluss mit den Spielchen.« Er zerrte beide von der Theke fort. Das bullige Wesen schleppte Charly und Yael quer durch das Lokal bis zu einem Hinterausgang. Ein Teil des Mauerwerks klappte
auf. Der Wächter schleuderte die beiden Jungen wie Abfall durch die Öffnung ins Freie. »Lasst euch hier nie wieder blicken!«, donnerte er ihnen hinterher. »Wenn ich euch nämlich noch einmal in die Finger bekomme, kommt ihr nicht so ungeschoren davon!« Er blickte sie noch immer drohend an, als sich die Tür bereits wieder vor ihm schloss. Die beiden Freunde starrten eine Weile fassungslos die scheinbar fugenlose Mauer an, bevor sich Charly schließlich zu Yael umsah. »Bist du in Ordnung?«, wollte er wissen. »Für einen Moment habe ich nämlich tatsächlich geglaubt, der Kerl hätte dich für immer plattgemacht.« »Mir geht es gut«, versicherte Yael. »Der Stromschlag war zwar ganz schön heftig aber –« Er verstummte schlagartig. Seine Hand fuhr an seinen Gürtel. Er riss das Funkgerät aus seiner Halterung und ließ die Fingerkuppen ein paar Mal über die Eingabesensoren gleiten. »O nein. So ein Dreck. Das hätte nicht passieren dürfen.« »Was ist los?« »Das Funkgerät ist hinüber. Keine Ahnung, ob es den Stromstoß nicht vertragen hat oder ob es passiert ist, als uns dieser Berg auf zwei Beinen aus dem Laden geschmissen hat – das Ding ist tot.« Yael schüttelte den Apparat, als könne er ihn so wieder zum Leben erwecken. »Das heißt, wir können keinen Kontakt zur RUBIKON mehr aufnehmen.« »Autsch.« Charly machte ein besorgtes Gesicht. »Das sind nicht gerade gute Neuigkeiten. Wir sind also solange völlig auf uns allein gestellt, bis dort oben jemand merkt, dass du nicht mehr an Bord bist, und sich auf die Suche nach dir macht.« »Und das wird wahrscheinlich nicht passieren, bevor mein Orham und Jarvis von ihrer Mission zurückgekehrt sind.« Obwohl Yael in den zurückliegenden Wochen keine Gelegenheit ausgelassen hatte zu betonen, wie störend er die permanente Bevormundung durch seinen Elter empfand, spürte er plötzlich ein Gefühl von Hilflosigkeit, das sich in seinem Innern breitmachte. »Und das kann eine ganze Weile dauern.« »Ach, halb so schlimm.« Charly versetzte ihm einen aufmuntern-
den Knuff in die Rippen. »Was soll schon groß passieren? Bisher ist doch alle glattgegang-« Er verstummte abrupt, denn hinter einer Pyramidenecke waren fünf Gestalten aufgetaucht. Kaum hatte ihr Anführer den Jungnargen und seinen Gefährten entdeckt, da schnippte er auch schon mit den Fingern. Seine Begleiter verstanden den wortlosen Befehl sofort. Einen Atemzug später hatten sie im Halbkreis um Yael und Charly Aufstellung genommen.
Die Sonne stand hoch am makellosen Himmel und verbreitete eine Wärme, wie Jiim das von Kalser nicht kannte. Als er noch auf seinem Heimatplaneten gelebt hatte, war er noch unter einer massiven Eisschicht begraben gewesen, und frostige Stürme, die über die Oberfläche peitschten, hatten für ein lebensfeindliches Klima gesorgt, das Flora, Fauna und die Nargenzivilisation fast vollständig ausgerottet hatte. Nur die Hitze der vulkanischen Aktivitäten in der Nähe des Schrunds hatte dem Permafrost etwas entgegenzusetzen gehabt. Doch von einer solchen Problematik war nun nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil, die Nargen, die sich in dem kleinen Park um den Brunnen versammelt hatte, zogen sich immer wieder in den Schatten der Bäume zurück, um der Mittagshitze zu entfliehen. »Nettes Fleckchen hier.« Jarvis ließ den Blick von der Fontäne in das Geäst eines Gewächses wandern, in dem ein Narge es sich mitsamt seinem Jungen bequem gemacht hatte. »Vielleicht sollte ich es mir merken, für den Fall, dass ich einen Ort suche, an dem ich Ferien machen kann.« »Es sieht wirklich alles ganz friedlich aus.« Obwohl Jiim sehr leise sprach, war die Anspannung in seiner Stimme nicht zu überhören. »Trotzdem sollten wir vorsichtig sein.« Ihm war nicht entgangen, dass sie von seinen Artgenossen immer wieder gemustert wurden. »Ich weiß nicht, ob es an meinem Nabiss liegt oder an etwas anderem, aber wir scheinen mehr aufzufallen, als ich dachte.« »Ach, vielleicht ist alles nur halb so schlimm.« Jarvis wiegte den Kopf hin und her. »Auf mich wirken sie einfach ein bisschen neugie-
rig, aber nicht feindselig. Lass uns weitergehen, als wollten wir uns lediglich die Beine vertreten. Das wirkt harmloser, als herumzustehen und miteinander zu flüstern.« »Gute Idee«, erklärte sich Jiim mit dem Vorschlag einverstanden. Sie verließen den Platz vor dem Brunnen und drangen durch eine Allee tiefer in den Park vor. Die Bäume, die links und rechts den Weg säumten, wurden zu immer bizarreren Gebilden. Man musste kein Botaniker sein, um zu erkennen, dass die Gewächse uralt waren. Manchen der Stämme war ihr natürliches Aussehen vollkommen abhandengekommen. Holz und Rinde waren steinhart und mit Rissen durchzogen, sodass die Pflanzen wirkten wie riesige Stalagmiten, die vor Äonen aus dem Boden gewachsen waren. Die Allee führte zu einem weiteren Platz in der Mitte des Stadtgartens, wo die Bäume so dicht beieinanderstanden, dass ihre Stämme eine geschlossene, kreisförmige Wand formten. Vier im rechten Winkel voneinander entfernte Öffnungen waren in das harte Material getrieben worden und bildeten so torbogenartige Durchgänge in das Zentrum der Anlage. »Sieht interessant aus.« Jarvis musste den Kopf weit in den Nacken legen, um die Kronen der versteinerten Bäume sehen zu können. »Was sich dort wohl im Innern befindet?« »Wenn wir es uns nicht ansehen, werden wir es wahrscheinlich nie erfahren.« Jiim schob sich durch einen der Eingänge, dessen lichte Höhe sich nach hinten so verengte, dass er den Rücken krümmen musste. Mit einer unwillkürlichen Verbeugung trat er auf der anderen Seite wieder hinaus. »Verdammt niedrig, was?« Auch Jarvis kam hinter ihm aus dem Bogen hervor. »Ich möchte wissen, wer sich so etwas Unpraktisches ausgedacht hat. Wenn man nicht aufpasst, stößt man sich den Schädel an. Dabei wäre es doch eine Kleinigkeit, die verflixte Öffnung so zu erweitern, dass –« »Sei ruhig.« Jiim brachte ihn mit einer eindringlichen Geste zum Schweigen. »Siehst du denn nicht, dass wir uns an einem ganz besonderen Ort befinden?« Er deutete auf die ringförmige Innenseite des Baumwalls, wo die Wände mit großflächigen Mustern und Or-
namenten überzogen waren. Obwohl die Verzierungen schon uralt sein mussten, hatten sie noch nichts von ihrer Pracht verloren. »Hier herrscht eine geradezu feierliche Atmosphäre.« »Stimmt«, pflichtete ihm Jarvis bei, während er sich umsah. »Man könnte fast glauben, wir wären in so was wie ein Heiligtum geraten. Oder zumindest in eine Kultstätte. Gab es zu deiner Zeit etwas Vergleichbares?« »Nein.« Der Narge schüttelte den Kopf. »Unseren Göttern wurde zwar auch mit Zeremonien gehuldigt, aber die Rituale fanden dabei nicht an eigens dafür geschaffenen Orten statt.« »Auch da scheint sich einiges geändert zu haben.« Jarvis wies mit dem Kinn auf Jiims Artgenossen, die von allen Seiten durch die Eingänge strömten. Auf einem Rundweg formierten sie sich ohne jede Hast zu einer Prozession, die an einer dichten Hecke vorbeiführte, die mit farbenprächtigen Blüten überzogen war. Dort hielten die Nargen kurz inne, neigten ehrerbietig den Kopf, bevor sie sich wieder zu einem der Durchgänge zurückzogen. Sie verließen das Areal mit einer weiteren Verbeugung, indem sie sich rückwärts durch die Öffnungen in den Stämmen schoben – gerade so, als sei es ein schwerer Frevel, der Hecke – oder was immer sich dort befand – auch nur für einen Moment den Rücken zuzuwenden. »Sollen wir uns mal ansehen, was dort los ist?« »Auf jeden Fall«, entgegnete Jiim. »Wenn wir uns nicht wie der Rest der Besucher verhalten, würde das bestimmt für Aufsehen sorgen. Das können wir in unserer Situation nicht gebrauchen.« »Du hast recht. Also los.« Gemeinsam reihten sie sich in den Strom der Bewunderer ein. Je näher sie dem blühenden Strauch kamen, desto klarer war zu erkennen, dass nicht er der Gegenstand der allgemeinen Huldigung war. Zwischen den Zweigen kam ein Podest zum Vorschein, auf dem eine Statue stand. Es war die überlebensgroße Figur eines Nargen, der den Blick nach oben, durch die runde Lücke in den Baumkronen, in den Himmel gerichtet hielt. Sein Blick war verklärt, als sei ihm gerade höchstes Glück verheißen worden. »Alle Achtung.« Jarvis, der hinter Jiim ging, beugte sich so weit
nach vorn, dass er ihm mühelos etwas ins Ohr flüstern konnte. »Ich habe zwar keine Ahnung, wer das da auf dem Sockel ist, aber er scheint auf jeden Fall eine beachtliche Karriere auf eurem Planeten hingelegt zu haben.« »Ich würde dir dringend raten, dich wenigstens für ein paar Minuten mit deinen Bemerkungen etwas zurückzuhalten. Es könnte Ärger geben, wenn –« Jiim blieb das Wort im Halse stecken, als er die Gestalt erkannte, die die Plastik darstellte. Es dauerte mehrere Sekunden, bevor der Narge die Sprache wiederfand. »Bei Plephes und Sermon, das gibt es doch nicht«, stieß er fassungslos hervor. »Das da oben ist Pern.« »Bist du dir sicher?« Der Ex-Klon sah ihn skeptisch an. »Hundertprozentig.« Jiim zeigte auf eine Steintafel, die am Fuß des Sockels eingelassen war. Pern, Weisester seines Volkes, verkündete die darauf eingravierte Inschrift, der im Jahre 0 an dieser Stelle die Ankunft des Göttlichen erwartet und den ewigen Bund der Großen Gemeinschaft geschlossen hat. »Kannst du mir sagen, was das zu bedeuten hat?«, erkundigte sich Jarvis erstaunt. »Nicht wirklich.« Sein Begleiter zuckte ratlos mit den Schultern. »Außer, dass wir uns offensichtlich an dem Platz bei der Toten Stadt befinden, an dem Pern zum ersten Mal Kontakt mit diesem Ustrac aufgenommen hat, nachdem unser Volk aus dem Dorf am Rand des Schrunds geflohen war. Aber hier können wir nicht länger rumstehen und den ganzen Betrieb aufhalten.« Jiim wandte sich kurz zu der Reihe der Besucher hinter ihnen um, aus der immer lautere Unmutsäußerungen zu hören waren. »Lass uns gehen. Im Park können wir uns weiter unterhalten.« Sie neigten die Köpfe dem steinernen Abbild entgegen, so wie sie es bei den anderen Besuchern beobachtet hatten, dann zogen sich Jiim und Jarvis eilig durch den nächsten Ausgang aus der Kultstätte zurück. »Das sind wirklich außergewöhnliche Neuigkeiten.« Jarvis blieb nicht weit entfernt von dem Baumwall stehen und kratzte sich verwundert am Kopf. »Hättest du es für möglich gehalten, dass ein ehe-
maliger Bekannter von dir hier mittlerweile als so was wie ein Heiliger verehrt wird?« »Damit hätte ich niemals gerechnet«, gab Jiim zu. »Aber das ist noch nicht alles, was mich stutzig werden lässt.« »Was gibt es denn da noch?« »Pern war Suprio unseres Volkes. Der oberste Führer. Findest du es nicht auch merkwürdig, dass seine Statue zwar kultisch verehrt wird, aber seine Position auf der Tafel mit keiner Silbe erwähnt wird?« Jarvis nickte. »Und dann auch noch diese seltsame Jahresangabe«, fuhr der Narge fort. »Das Jahr 0 – was ist das denn für eine komische Zeitrechnung?« »Was soll daran denn komisch sein?«, erkundigte sich einer seiner Artgenossen, der in diesem Moment aus dem Heiligtum getreten war. An der gelben Färbung seines Gefieders war deutlich zu erkennen, dass es sich bei ihm um ein älteres Exemplar seiner Gattung handelte. Solange Jiim noch auf Kalser gelebt hatte, waren Nargen mit einem solchen Federkleid deutlich in der Minderheit gewesen. Seinerzeit hatten die harten Lebensbedingungen es notwendig gemacht, die Zahl der Dorfbewohner streng zu begrenzen. Sobald ihre Gemeinschaft größer als 200 Mitglieder stark zu werden drohte, wurde ein Kiin-tu anberaumt – ein religiöses Tötungsritual, dem dann meist die ältesten Nargen zum Opfer fielen, um kräftigem Nachwuchs Platz zu machen und so den Erhalt der Art zu sichern. »Es war das Jahr, in dem unser aller Gott auf diese Welt hinabgestiegen ist und das Leben auf Kalser damit begonnen hat.« »Habe ich das gerade richtig verstanden?« Jiims spitze Ohren richteten sich auf den Fremden aus. »Das Leben auf diesem Planeten soll also erst angefangen haben, als dieser Jay'nac hier aufgetaucht ist? Das ist doch Unsinn. Wenn es so gewesen wäre, hätte Pern ja wohl kaum das Empfangskomitee für ihn spielen können.« »Selbstverständlich existierte auch vorher bereits so etwas wie Leben – im biologischen Sinn«, belehrte ihn sein Gesprächspartner. Weitere Nargen, die im Vorübergehen ein paar Brocken der Unter-
haltung aufgeschnappt hatten, blieben stehen und kamen dann interessiert näher. »Aber das war nicht mehr als ein stumpfes Dahinvegetieren im Dunkel der Vorzeit. Erst Ustracs Ankunft brachte uns Wissen und Kultur. Nur durch ihn konnte unsere Zivilisation zu dem werden, was sie heute ist.« »Genau so ist es.« Die Zuhörer nickten bestätigend. »Aber es gab doch auch vorher schon eine Zivilisation«, widersprach Jiim. »Sie ging unter, als Maron, der Zerstörer, auf unsere Welt niedergestürzt ist.« Er zeigte zum Himmel, wo der, teilzerstörte Mond allerdings in diesem Moment nicht zu sehen war. »Dadurch hat sich die Atmosphäre verdunkelt und ein Panzer aus Eis um Kalser gelegt.« »Das hört sich fast so an wie die Schauergeschichten, die man den Jungen vor dem Einschlafen erzählt.« Sein Gegenüber gab ein amüsiertes Keckem von sich. »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass an denen nichts Wahres dran ist. Wir alle kennen die Wahrheit.« Er machte eine übergreifende Geste, die jeden der Gruppe, die sich außerhalb des Heiligtums versammelt hatte, mit einschloss. »Der Ewige hat sie uns verkündet, als er zum ersten Mal das Kiima-saxx mit einem von uns vollzogen hat – und sie wird für immer Bestand haben.« »Kiima-saxx?«, fragte Jiim verwirrt. »Was ist denn das nun schon wieder?« »Du bist wirklich ein seltsamer Zeitgenosse.« Sein Gesprächspartner musterte ihn von oben bis unten. »Nicht nur, dass du in diesem seltsamen Aufzug rumläufst. Jetzt stellst du auch noch Fragen, dass man glatt den Eindruck bekommen könnte, es mit einem frisch aus dem Ei geschlüpften Nassto zu tun zu haben.« Jarvis spürte das Misstrauen, das ihnen aus der Gruppe entgegenschlug. Er wollte verhindern, dass Jiim sich auf eine weitere Diskussion einließ, aber der war so erpicht, mehr über die Geschichte seines Heimatplaneten zu erfahren, dass er darüber jede Vorsicht vergaß. »Wer oder was ist ein Nassto?« Er stemmte die Arme in die Seiten.
Die Gebärde, die sich Jiim durch den regelmäßigen Kontakt mit seinen humanoiden Freunden angewöhnt hatte, ließ sein Gefieder wie einen Kranz hinter seinem Rücken abstehen. »Bei Plephes, wird denn hier jede Frage, die man stellt, sofort mit einem weiteren Rätsel beantwortet?« Die Reaktion, die er damit in den Reihen der Zuhörer auslöste, erfolgte ebenso plötzlich wie vehement. Die gesamte Gruppe prallte zurück, als hätte Jiim nach einer Waffe gegriffen und damit auf sie angelegt. »Habt ihr das gehört?«, brüllte eine Stimme. »Er ist ein ChekkTaga! Ein Gottloser!« »Er verleugnet den Namen des Ewigen! Diesen Frevel soll er büßen!« »Richtig. Er muss seine Unverschämtheiten für immer ausgetrieben bekommen!« Die Menge, die mittlerweile auf mehr als zehn Nargen angewachsen war, drängte sich wieder näher zu ihnen heran. Aggressivität lag wie elektrische Spannung in der Luft – bereit, sich jeden Moment mit lautem Knall zu entladen. Jarvis war kurz davor, einen Blaster auszubilden, als plötzlich ein Narge von der Seite heransprang und sich zwischen die beiden Besucher von der RUBIKON und den wütenden Mob schob. »Bitte bleibt ruhig!«, rief er der Menge zu und hob dabei beschwichtigend die Hände. »Die kleine Vorstellung ist damit zu Ende. Ich möchte euch ganz herzlich für eure Unterstützung danken!« »Vorstellung?« Der Narge mit dem gelben Gefieder sah ihn wie vom Donner gerührt an. »Willst du damit sagen, die provokanten Reden, die dieser Kerl geschwungen hat«, er zeigte mit dem spitzen Finger auf Jiim, »waren nichts als Theater?« »Ganz genau«, bestätigte der Neuankömmling. »Wir gehören alle einer Schauspielergruppe an. Wir stecken gerade mitten in den Proben für ein neues Stück. Es handelt von einem Chekk-Taga, der begreift, dass das Leben, das er führt nicht das Richtige ist und er dringend etwas daran ändern muss. Es ist eine Tragödie – aber mit gu-
tem Ausgang. In zwei Tagen, beim großen Kiima-saxx hier in der Stadt, soll es zum ersten Mal aufgeführt werden. Deshalb sind wir schon ziemlich aufgeregt. Besonders mein Freund hier«, er klopfte Jiim kameradschaftlich auf die Schulter, »er spielt nämlich die Hauptrolle.« »Aber was hat das mit dem zu tun, was er gerade veranstaltet hat?« »Ihr wisst doch, wir Schauspieler sind ein ziemlich sensibles Völkchen.« Der Narge neben Jiim zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Plötzlich haben wir uns gefragt, ob wir wirklich überzeugend genug sind. Deshalb haben wir uns spontan zu diesem kleinen Test entschlossen.« Er grinste schelmisch. »Es tut mir leid, wenn ihr dabei als Versuchsobjekte herhalten musstet. Aber wenn wir euch vorher eingeweiht hätten, hätte das eure Reaktion unter Garantie beeinflusst.« Dann wandte er sich zu Jiim um und knuffte ihn. »Habe ich es dir nicht gleich gesagt, Alter? Du bist einfach perfekt in dieser Rolle. Sie haben dir den Gottlosen so gut abgekauft, dass sie dich beinahe verprügelt hätten. Bravo. Wenn du das übermorgen genauso perfekt hinbekommst, wird die Premiere ein voller Erfolg. Oder siehst du das etwa anders?« »Äh … nein«, erwiderte Jiim unsicher. »Ich bin absolut deiner Meinung.« »Sehr gut.« Ihr unerwarteter Helfer drehte sich wieder zu der Menge um. »Nochmals vielen Dank euch allen. Ihr wart ein wunderbares Publikum. Ich hoffe, wir haben euch auch ein bisschen neugierig gemacht auf den Rest der Vorstellung. Also, verpasst unseren großen Auftritt nicht: Übermorgen – im Ustra'nac.« Unter den Versammelten wurde Gemurmel laut, doch dann begannen sie sich in alle Richtungen zu zerstreuen. Jiim wartete ab, bis er sicher sein konnte, dass er keine ungebetenen Zuhörer mehr hatte. »Das war wirklich sehr freundlich von dir.« Er raschelte erleichtert mit dem goldschimmernden Gefieder. »Allerdings«, stimmte auch Jarvis zu. »Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten eine Menge Ärger am Hals gehabt.« »Das war ziemlich leichtsinnig von euch.« Ihr Helfer bedachte sie
mit einem sorgenvollen Blick, bevor sich seine Miene wieder aufhellte. »Aber es ist ja noch mal alles gut gegangen. Übrigens, mein Name ist Tokk.« »Freut mich dich kennenzulernen, Tokk. Ich heiße Jiim. Und das ist Jarv–« Jiim verstummte gerade noch rechtzeitig, als ihm einfiel, dass unter Nargen Namen, die sich aus mehr als vier Buchstaben zusammensetzten, äußerst unüblich waren. Jarvis hätte ihren neuen Bekannten vielleicht misstrauisch werden lassen – und das wollte er nach den Ereignissen der vergangenen Minuten auf keinen Fall riskieren. »Jiim und Jarv.« Tokk nickte, ließ sich aber sonst keine weitere Gefühlsregung anmerken. »Ich nehme an, ihr seid neu hier in der Stadt, oder?« »Richtig geraten. Genau genommen haben wir eine ziemlich lange Reise hinter uns«, entgegnete Jarvis in der Hoffnung, die Frage sei damit ausreichend beantwortet. »So etwas Ähnliches habe ich mir beinahe schon gedacht.« Tokks Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. »Und nun habt ihr eine Menge Fragen, wisst aber nicht, wem ihr sie stellen sollt. Oder sehe ich das etwa falsch?« »Angenommen, du würdest auch damit richtig liegen«, Jiim musterte Jarvis verstohlen aus den Augenwinkeln heraus, doch der machte keine Anstalten ihn am Weiterreden zu hindern, »wärst du dann bereit, ein paar davon zu beantworten? Auch wenn sie vielleicht ein wenig … seltsam für dich klingen?« »Kein Problem«, versicherte ihr neuer Bekannter. »Allerdings sollten wir uns dafür einen Platz suchen, an dem wir vor unliebsamen Störungen sicher sind. Kommt mit. Ich bringe euch an einen Ort, wo wir unter unsresgleichen sind.« Er erhob sich in die Luft und sah Jiim und Jarvis aus drei Metern Höhe auffordernd an. Die verständigten sich mit einem kurzen Nicken, dann breiteten sie ebenfalls die Schwingen aus und schlossen sich ihm wie einem Gefährten an.
»Was ist hier los?«, wollte der Anführer der Fünfergruppe von Yael und Charly wissen, die noch immer auf dem Boden hockten. Die zwei Freunde schwiegen verunsichert. »Kannst du dir das nicht denken, Stev?«, antwortete stattdessen der Narge, der an seiner linken Seite stand. Sein tiefrotes Gefieder war kreuz und quer mit hellblauen Streifen überzogen. »Ihnen ist genau dasselbe passiert, was wir auch schon hundertmal mitgemacht haben: Sie sind im hohen Bogen aus dem Laden geschmissen worden.« »Klar.« Der Anführer der Gang stieß ein krächzendes Lachen aus. Die Kette aus Gesteinsbrocken, deren eines Ende er sich um die Taille geschlungen hatte und deren anderes an einem Halsband befestigt war, klapperte dabei im Rhythmus seiner Bewegungen. »Der Typ, der da drinnen für Ordnung sorgt, ist ein echtes Kaanschwein. Aber macht euch nichts draus: Da müssen wir alle durch. Zumindest dann, wenn wir nicht genügend Choc-Nars einstecken haben. Wenn es ums Bezahlen geht, verstehen sie in der miesen Spelunke nämlich absolut keinen Spaß. Schnorrer werden sofort an die Luft gesetzt.« »Habt ihr bei eurem Rausschmiss was abgekriegt?«, wollte nun ein dritter Narge wissen. Als er beim Näherkommen sein Gefieder spreizte, war zu erkennen, dass die Schwungfedern seiner Flügel zu einem hellen Weiß ausgeblichen waren. »Ich habe nämlich schon von Typen gehört, denen der Kerl einen solchen Elektroschock verpasst hat, dass sie tagelang nicht mehr fliegen konnten.« »Nein, ich glaube, ich bin in Ordnung.« Yael stand auf. »Wie ist es mit dir?« »Halb so schlimm.« Obwohl ihm der verlängerte Rücken dumpf pochte, versuchte Charly, sich seinen Schmerz nicht anmerken zu lassen. »Der verdammte Mistkerl kann froh sein, dass er die Überraschung auf seiner Seite hatte. Aber noch einmal wird ihm das nicht gelingen, das sage ich euch.« Der Anführer warf ihm einen Blick zu, als würde er dieser Behauptung nicht viel Glauben schenken. »Ihr wart noch nicht oft in der Stadt, stimmt's? Schätze, ihr seid sogar das erste Mal hier in der
Gegend.« »Woher weißt du das?« »Habt ihr das gehört, Leute?« Der Anführer stimmte ein weiteres Mal sein Lachen an, in das seine Begleiter sofort einfielen. Ein paar Sekunden später verstummte das Gelächter so abrupt, wie es begonnen hatte. »Erstens genügt schon ein einziger Blick auf deine Federn, um zu begreifen, was Sache ist. Gold trägt hier schon seit zwei Sonnenumkreisungen keiner mehr. Es sei denn, er steht gerne als kompletter Neff-Neff da.« Der Narge mit dem gestreiften Gefieder setzte zu weiterem Hohngelächter an, wurde aber von dem Wortführer mit einer knappen Geste sofort wieder zum Schweigen gebracht. »Und zweitens ist mir ein Kerl wie der da bisher noch nicht über den Weg gelaufen.« Er deutete auf Charly. »Was bist du? Ein Cormatit? Oder doch ein Terexx? Aber wo hast du dann deinen Anzug gelassen?« »Weißt du was? Auf diese Art Ratespielchen habe ich keine große Lust«, entgegnete der. »Erst recht nicht mit jemandem, der einen Trupp anführt, bei dessen Anblick einem die Kraft aus dem Gesicht fallen kann.« Charly verschränkte die Arme vor der Brust. Er ließ den Blick über die vier Nargen und den zweiköpfigen Wurm wandern, die immer noch betont lässige Mienen zur Schau trugen. Der Anführer musterte ihn eine Zeit lang schweigend. Doch dann erschien plötzlich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. »Guter Konter«, sagte er anerkennend. »Das gefällt mir. Ich glaube, ihr zwei seid in Ordnung. Wie heißt ihr?« »Mein Name ist Yael«, erwiderte Yael, froh darüber, dass sich die Situation entspannte. »Und das ist Charly. Er ist übrigens eine Mensch. Oder, besser gesagt, so etwas in der Art.« »Mensch? Nie gehört? Ist euer Trupp erst vor Kurzem hier gelandet?« Charlys Blick suchte den seines Freundes. Aber auch Yael zuckte nur ratlos mit den Schultern. »Ja … so könnte man es wohl nennen«, entgegnete er dann. »Ist ja auch egal.« Der Anführer winkte gelassen ab. »Ich bin Stev.« Er zeigte zuerst auf sich, bevor er der Reihe nach auf die anderen
Nargen deutete. »Und das sind Gara, Muks, Kyyb … und Nonno.« Sein Zeigefinger blieb auf dem doppelköpfigen Wurm kleben. »Er ist ein Hermphag.« »Klar.« Yael und Charly nickten, als gehörten Begegnungen mit einem solchen Wesen zu ihrem alltäglichen Leben. »Was macht ihr hier in der Stadt?«, wollte Stev wissen, hob aber schon wieder die Hand, bevor seine neuen Bekannten auch nur zu einer Antwort ansetzen konnten. »Moment. Lasst mich raten: Ihr seid hier, um in zwei Tagen am großen Kiima-saxx teilzunehmen. Habe ich recht?« Er deutete Yaels und Charlys Schweigen kurzerhand als Zustimmung. »Da sind wir auch dabei. Deshalb haben wir beschlossen, vorher noch mal ordentlich abzufeiern. Schließlich müssen wir die Zeit nützen, solange wir noch unsere kleinen Geheimnisse haben können und nicht … ihr wisst schon.« Er tippte sich vielsagend gegen den Hinterkopf. »Wie sieht es mit euch aus? Habt ihr Lust, in der großen Stadt mal richtig was zu erleben?« »Klar«, erwiderten Yael und Charly im Chor. »Dann ist heute euer Glückstag.« Stev breitete einladend die Arme aus. »Denn keiner weiß so gut wie wir, wo man hier den größten Spaß haben kann. Ist es nicht so, Jungs?« Seine vier Begleiter brachen in zustimmendes Johlen aus.
Tokk führte sie in einen Teil der Stadt, in dem die Gebäude einen heruntergekommeneren Eindruck machten als in der Nähe des Parks. Immer wieder glotzten Jiim und Jarvis in dem Straßengewirr, das sie in geringer Höhe durchflogen, leere Fensterhöhlen verlassener Häuser wie riesige Augen entgegen. Auf dem Boden der Gassen, aber auch auf den höher gelagerten Plattformen, herrschte geschäftiges Treiben. Das Viertel, in das ihr Führer sie brachte, schien hauptsächlich von Nargen bewohnt zu sein, denn andere Wesen waren – genauso wie ihre bizarren Fortbewegungsmittel – kaum zu entdecken. Jeder der Einwohner war so sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dass er der Dreiergruppe, die an ihm vorbeizog, keinerlei Beachtung schenkte.
Sie waren bereits mehr als eine halbe Stunde unterwegs, als Tokk schließlich eine kleine Pyramide ansteuerte, die lediglich aus vier Stufen bestand. Auf dem zweiten Absatz unterhalb der Spitze setzte er zur Landung an. Jiim und Jarvis folgten seinem Beispiel. »Kommt mit.« Tokk sah sich nach allen Seiten um, bevor er sich der Wand näherte. »Lebst du hier?«, wollte Jiim von ihm wissen. »So könnte man es nennen.« Tokk legte seine flache Hand auf einen Stein und betätigte so einen Schließmechanismus, der auf den ersten Blick nicht zu erkennen gewesen war. Im Mauerwerk öffnete sich eine Tür und schwang mit einem zähen Knirschen beiseite. Nachdem ihr Gastgeber im Innern der Pyramide verschwunden war, schlossen sich Jiim und Jarvis ihm eilig an. Hinter ihnen schloss sich die Pforte wie von selbst. »Das ist wirklich ungewöhnlich.« Jiim sah sich in dem Raum, in den sie gelangt waren, erstaunt um. Obwohl die Fenster bis auf einen winzigen Spalt zugemauert worden waren und deshalb ein diffuses Halbdunkel herrschte, fiel es ihm dank seiner auf Wärmestrahlung basierenden Sehkraft nicht schwer, auch Details zu erkennen. Das Zimmer war eingerichtet, wie er es von den Baumhäusern seiner Artgenossen kannte – Schlafplatz, einige Gestelle samt Kisten zum Aufbewahren von Vorräten und anderen Habseligkeiten, Utensilien zur Gefiederpflege –, wirkte aber durch die festen Mauern anstelle der Wände aus Brettern und Zweigen trotzdem seltsam und fremd. »Meinst du wegen der Fenster?« Tokk nickte zu einem der schlitzförmigen Oberlichter. »Ich fühle mich eben wohler, wenn ich nicht andauernd beobachtet werden kann.« »Verstehe.« Jiim nickte. »Dein Zuhause scheint aus mehreren Räumen zu bestehen.« Er zeigte zu einem mit einem Fadenvorhang verschlossenen Durchgang, der tiefer in das Pyramideninnere führte. »Ist das hier in der Stadt üblich?« »Ja. Manche Nargen leben sogar in mehrstöckigen Gebäuden, die so groß sind, dass sie Dachgärten mit Bäumen darauf anlegen, in deren Kronen sich weitere Häuser befinden.« Ihr Gastgeber zuckte mit
den Schultern. »Aber das kann ich mir leider nicht leisten. Ich hoffe, ihr seid deswegen nicht enttäuscht.« »Aber so habe ich das überhaupt nicht gemeint«, beeilte sich Jiim zu versichern. »Ganz im Gegenteil, wir fühlen uns ausgesprochen geehrt, dass du uns mit zu dir genommen hast.« »Das ist wahr«, bekräftigte Jarvis. »Nun haben wir gleich doppelten Grund, dir dankbar zu sein.« »Das ist schon in Ordnung.« Tokk trat bis auf Armeslänge vor sie. Er musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, als wolle er ihnen eine wichtige Frage stellen. Aber sein lippenloser Mund blieb geschlossen. Jiim und Jarvis mussten an sich halten, um nicht nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten. Erst als das Schweigen unerträglich zu werden drohte, ergriff Tokk wieder das Wort. »Entschuldigt mich bitte, ich möchte bestimmt nicht unhöflich sein, aber ich werde euch für einen Moment allein lassen müssen. Ich verspreche euch, dass ich gleich wieder zurück sein werde.« »Kein Problem«, erwiderte Jarvis mit einem Grinsen. »Fühl dich hier ganz wie zu Hause.« Tokk entgegnete nichts, sondern wandte sich ab und zog sich durch den Vorhang zurück. »Was hältst du von ihm?«, wollte Jarvis mit gesenkter Stimme wissen. »Manches ist ein bisschen merkwürdig.« Jiim fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Aber ich weiß nicht, ob das an Tokk liegt oder ob es mir nur deshalb so seltsam vorkommt, weil ich mit den Lebensumständen, die mittlerweile auf Kalser herrschen, einfach nicht mehr vertraut bin. Eines kann ich auf jeden Fall mit Gewissheit sagen: Er ist mir um einiges sympathischer als die Typen, mit denen wir im Park aneinandergeraten sind.« »Das sehe ich genauso. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass Tokk etwas zu verbergen hat. Hast du gemerkt, wie nervös er war, bevor wir die Wohnung betreten haben? Man hätte fast glauben können, er befürchtet, verfolgt zu werden. Ich hoffe nicht, dass er irgendein krummes Ding am Laufen hat.« »Du glaubst, er ist ein Verbrecher?«, fragte Jiim erschrocken.
»Aber warum hat er uns dann geholfen?« »Vielleicht ist das Teil eines schmutzigen Plans. Auf jeden Fall sollten wir auch weiterhin vorsichtig sein. Nicht, dass wir von einem Schlamassel gleich in den nächsten geraten.« »Klar. Aber immerhin haben wir einen Vorteil: Er ist ganz allein, während wir –« Jiim verstummte, weil das Funkgerät an seinem Gürtel zu vibrieren anfing. Er nahm es aus der Halterung und zog sich damit in den Winkel des Raums zurück, der am weitesten von dem Durchgang entfernt war. »Ja, hier ist Jiim«, flüsterte er in das Mikrofon. »Ich höre.« »Eure vereinbarte Rückmeldung zur RUBIKON ist seit achtzehn Minuten überfällig«, entgegnete Seshas Stimme. »Es wurden zwar keine automatischen Notrufe ausgelöst, trotzdem ist es meine Pflicht, mich zu erkundigen, ob es zu außergewöhnlichen Vorfällen gekommen ist.« »Bei uns ist so weit alles in Ordnung.« Jiim hielt sich das Funkgerät direkt vor den Mund und schirmte dabei die Membrane des Lautsprechers mit einer Hand ab. »Aber ich kann jetzt nicht lange reden. Unser nächster Bericht wird dann ausführlicher werden.« »Verstanden«, erwiderte die Bord-KI. »Sind alle Exkursionsmitglieder des Erkundungstrupps anwesend?« »Klar.« Jiim stutzte. »Wieso willst du das wissen?« »Weil meine Instrumente von einem der Funkgeräte kein Signal mehr empfangen. Deshalb –« »Vorsicht«, zischte Jarvis, der neben dem Durchgang in Aufstellung gegangen war. »Er kommt zurück.« »Ich muss Schluss machen«, wisperte Jiim in das Funkgerät. Er ließ den Apparat sinken. Keine Sekunde später teilte sich der Schnürvorhang, und Tokk erschien wieder bei seinen Gästen. Entweder, er hatte tatsächlich von Jiims Unterhaltung mit Sesha nichts mitbekommen, oder er ließ es sich einfach nicht anmerken. »Vorhin habt ihr davon gesprochen, dass ihr gerne ein paar Fragen beantwortet bekommen würdet«, sagte er stattdessen. »Gilt das immer noch?«
»Selbstverständlich«, entgegnete Jiim ohne jedes Zögern. Es gelang ihm, das Funkgerät mit einer unauffälligen Bewegung wieder an seinem Gürtel zu befestigen. »Aber ich nehme an, dass du uns nicht ohne eine Gegenleistung dafür zur Verfügung stehen wirst.« »Vielleicht bin ich auch einfach nicht der geeignete Gesprächspartner für eine solche Unterhaltung.« Tokk konnte sich ein verschlagenes Lächeln nicht verkneifen. »Deshalb würde ich euch gerne mit jemandem bekannt machen, der euch garantiert besser dabei weiterhelfen kann. Er kann es schon kaum erwarten, euch kennenzulernen.« »Du hast jemand davon informiert, dass wir hier sind?« Jarvis' Sinne sprangen sofort in Alarmbereitschaft. »Wen?« »Wie schon gesagt: Ich bin nicht der richtige Ansprechpartner für eure Fragen.« Tokks Stimme klang beinahe bedauernd. »Aber ich bin gerne dazu bereit, euch die entsprechenden Kontakte herzustellen.« »Und wie soll das ablaufen? Willst du uns wieder kreuz und quer durch die Stadt schleppen?« »Das ist nicht nötig«, versicherte der Narge. »Genau genommen müssen wir diese Räume dafür gar nicht verlassen.« »Verflucht, hält sich hier etwa noch jemand versteckt?« Jarvis begriff, dass es Prioritäten zu setzen galt. Was nützte es, ihre Tarnung noch weiter aufrechtzuerhalten, wenn ihr Leben vielleicht schon längst bedroht war? Während er zum Durchgang in den Nebenraum stürmte, aktivierte er den Waffenmodus seiner Arme. Der ExKlon sprang durch die Fäden des Vorhangs. Doch zu seiner großen Verblüffung fand er den fensterlosen Raum, in den er gelangte, bis auf ein paar wenige Einrichtungsgegenstände völlig leer vor. »Hier ist keiner!«, rief er seinem Begleiter zu. Jiim erschien gemeinsam mit Tokk am Durchgang. »Ihr seid wirklich etwas Besonderes.« Ihr Gastgeber verschränkte die Arme vor der Brust. »Das habe ich schon geahnt, als ihr mir im Park zum ersten Mal aufgefallen seid.« »Ach ja?«, entgegnete Jiim. »Und wodurch?« »Zum Beispiel durch deinen ungewöhnlichen Aufzug. Ich habe so
etwas zwar noch nie vorher gesehen, aber könnte es sein, dass es sich dabei um ein Nabiss handelt?« Jiim prallte verwundert zurück. »Was weißt du davon?« »Ich habe euch doch schon gesagt, dass ich nicht der Richtige bin, um eure Fragen zu beantworten.« Tokk machte eine bedauernde Geste. »Aber mein Angebot gilt noch: Ich kann euch zu jemand bringen, der der ideale Gesprächspartner ist.« »Wer garantiert uns, dass du nicht versuchst, uns in eine Falle zu locken?« »Niemand. Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als uns gegenseitig zu vertrauen.« »Was sagst du dazu?«, wollte Jiim von Jarvis wissen. »Nachdem er sowieso schon über uns Bescheid weiß, können wir auch auf seinen Vorschlag eingehen. Alles andere wäre inkonsequent«, entgegnete der Ex-Klon. »In Ordnung. Bring uns zu deinem großen Unbekannten.« »Sehr gut.« Tokk schob sich an ihnen vorbei und ging zu einem Regal, das an der Rückwand des Raums stand. Dort betätigte er einen weiteren Mechanismus, woraufhin das Gestell im Boden versank. Eine kleine Kammer mit einer Grundfläche von höchstens vier Quadratmetern kam dahinter zum Vorschein. Der Narge trat in das Innere des Verschlags. »Folgt mir«, forderte er Jiim und Jarvis auf. Kaum hatten sich die beiden zu ihm gesellt, als das Regal sich wieder in seine ursprüngliche Position schob. Ein lang gezogenes Knirschen ertönte, dann setzte sich der Boden mitsamt den drei Passagieren in Bewegung und verschwand in der Tiefe.
Schon drei Straßenzüge hinter dem Lokal, vor dessen Hinterausgang sie sich kennengelernt hatten, setzten Stev und seine Gang wieder zur Landung an. Yael und Charly ließen sich ebenfalls auf dem erhöhten Gehsteig neben der Straße nieder. »Wir sind da«, verkündete der Anführer mit gewichtigem Gesichtsausdruck. »Ihr solltet dem Schicksal wirklich dankbar sein. Denn heute haben die Gob-
bo-Gots einen ihrer geheimen Auftritte. Es gibt nur wenige, die sich so gut auskennen, dass sie davon etwas mitbekommen haben. Wir gehören dazu.« Er klopfte sich selbst mit der flachen Hand gegen die Brust. »Gobbo-Gots?«, fragte Charly verwirrt. »Wer ist das?« »Ich glaub es nicht.« Nonno schüttelte fassungslos beide Köpfe, während er von Garas Rücken herunterkletterte. Der junge Narge hatte den flugunfähigen Hermphag den gesamten Weg huckepack getragen. »Aus welchem Teil des Universums seid ihr denn hervorgekrochen, dass ihr noch nie was von den Gobbo-Gots gehört habt? Die sind doch momentan total angesagt.« »Eben.« Kyyb zog den Riemen, der seine Ohren miteinander verband, so stramm, dass die spitzen Hörorgane flach an seinem Kopf anlagen. »Die legen eine Show hin, dass sie euch glatt wegpusten.« »Am besten, ihr überzeugt euch einfach selbst davon.« Stev wies zu einem Gebäudeeingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem gerade zwei Kreaturen verschwanden, die dem Wesen ähnelten, mit dem Charly beim Betreten des Restaurants zusammengestoßen war. Ihr Anblick rief unangenehme Erinnerungen bei ihm wach. »Aber werden sie dort nicht wieder Choc-Nars von uns verlangen?«, erkundigte er sich deshalb besorgt. »Normalerweise schon«, bestätigte Stev. »Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Wir waren schon so oft in dem Laden, dass wir – und unsere Freunde – völlig umsonst reinkommen.« »Wie lange sollen wir denn noch hier draußen rumstehen?«, drängte Muks. »Ich habe keine Lust, wegen eurem endlosen Gelaber den Anfang zu verpassen.« »Schon gut. Mach dir deswegen bloß nicht gleich ins Gefieder.« Stev rückte sich seine Kette zurecht, dann überquerte er mit lässig wippenden Schritten die Straße. Seine sechs Begleiter schlossen sich ihm an. Hinter dem Eingang hockten zwei Nargen auf einem Gestell. Als sie Stev sahen, sagten sie kein Wort, sondern winkten ihn mitsamt seinem Gefolge durch die Absperrung. Direkt nach der Barriere
führte eine steile Treppe in den Kellerbereich des Gebäudes. Ein undefinierbarer Lärm drang ihnen von dort entgegen. »Rein ins Vergnügen.« Stev ballte voller Vorfreude eine Hand zur Faust. »Ich verspreche euch, was ihr jetzt erleben werdet, vergesst ihr für den Rest eures Lebens nicht mehr.« Er nickte Yael und Charly verschwörerisch zu, dann begann er, die Stufen hinabzusteigen. Die Treppe führte in einen halbkugelförmigen Raum, der sich über die gesamte Grundfläche des Gebäudes erstreckte. Die Wände der Kuppel waren mit einer metallischen Schicht verkleidet, die in allen erdenklichen Blautönen schimmerte. Lediglich in den seitlichen Nischen, die es in unregelmäßigen Abständen gab, flackerte ein orangerotes Leuchten, als würde dort offenes Feuer brennen. Der Raum war bereits mit den unterschiedlichsten Wesen dicht bevölkert. Die meisten Gesichter waren erwartungsvoll zum höchsten Punkt des Gewölbes gerichtet. Stev und sein kleiner Trupp hatten den Fuß der Stufen kaum erreicht, als das ohnehin schummrige Licht noch weiter an Intensität verlor. »Das haben wir noch einmal gut hingekriegt!«, brüllte Muks gegen das ohrenbetäubende Geschrei an, das nun einsetzte. »Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen! Ich versuch, es bis nach ganz vorne zu schaffen! Kommt ihr mit?« »Klar!«, erwiderten Gara, Kyyb und Nonno. Die vier warfen sich in das Gewühl und waren schon kurz darauf in einem Ozean aus Leibern verschwunden. »Was ist mit euch?«, wollte Stev von Yael und Charly wissen. »Ich glaube, wir bleiben erst einmal hier«, entgegnete Yael, nachdem er einen kurzen Blick mit seinem Freund gewechselt hatte. »Aber lass dich durch uns bloß nicht aufhalten!« »Das habe ich auch nicht vorgehabt!« Stev grinste. »Bis später dann. Nach dem Konzert treffen wir uns dann hier an der Treppe wieder. In Ordnung?« »Einverstanden.« »Viel Spaß! Was jetzt kommt, wird euch umhauen. Garantiert!« Stev ballte ein weiteres Mal die Faust, dann stürmte er dem Rest sei-
ner Gang hinterher. »He, sieh dir das an!« Charly rammte Yael den Ellbogen in die Seite. Mit der anderen Hand wies er zu einem zylinderförmigen Gegenstand, der sich nun langsam aus der Krone der Kuppel hervorzuschieben begann. Blendende Lichtstrahlen schossen aus dem Gebilde hervor. Der Jubel der Zuschauer schwoll zu einem ekstatischen Toben an. Als der Zylinder sich bis zur halben Höhe des Gewölbes abgesenkt hatte, war zu erkennen, dass er aus vier gleich großen, übereinander gelagerten Ebenen bestand, die durch ein transparentes Gestänge miteinander verbunden waren. Auf jedem davon stand eine Kreatur von der Größe eines ausgewachsenen Nargen – aber von gänzlich anderem Aussehen. Das Wesen auf der unteren Plattform hatte eine menschenähnliche Gestalt mit einem Körper, der aussah, als sei er aus feuchtem Quarzsand geformt. Sein Kopf bestand zu mehr als der Hälfte aus einem schnabelartigen Auswuchs, der senkrecht nach oben zeigte. Die Kreatur breitete die Arme aus, dann öffnete sich der Schnabel weit. Yael war einer der Ersten, der die Auswirkungen der Darbietung zu spüren bekam. Er zuckte zusammen und bedeckte die Ohren mit den Händen, als ihm ein schriller Ton den Schädel zu spalten drohte. »Was ist los mit dir?«, wollte Charly wissen. Doch dann gelangte die Stimme des Sängers in einen auch für ihn hörbaren Frequenzbereich. Zuerst war es nur ein hohes Pfeifen, das aber rasch tiefer wurde und schließlich so weit absackte, dass der Infraschall die gesamte Luft innerhalb des Gewölbes zum Vibrieren brachte. Das war auch für die restlichen Musiker das Zeichen zum Einsatz. Die Musik erklang schlagartig in einer solchen Lautstärke, dass Yael und Charly unwillkürlich einen Schritt zurückwichen. Ohne ein erkennbares Instrument oder sonstiges Hilfsmittel erschufen die Künstler alleine mit ihren Körpern ein Klangspektrum, das einem irdischen Symphonieorchester gleichgekommen wäre. Wilde Melodielinien türmten sich aufeinander, umkreisten sich, rasten über die Köpfe des begeisterten Publikums hinweg, um dann
von den metallenen Kuppelwänden reflektiert zu werden und sich schließlich mit den Tonfolgen zu vereinen, die die Musiker inzwischen produzierten. Dazu pulsierte ein tiefer, gleichmäßiger Takt, der direkt aus dem Innern des Planeten zu kommen schien. Über allem schwebte der durchdringende – aber auch faszinierende – Gesang des Schnabelwesens, das seine Texte in einer Sprache vortrug, deren Worte nicht zu verstehen waren. »Das ist … der absolute Wahnsinn!« Obwohl Yael schrie, musste Charly sein rechtes Ohr an den Mund seines Freundes legen, um ihn zu verstehen. »Schon allein deswegen hat es sich gelohnt, dass wir von der RUBIKON abgehauen sind.« Yael wippte begeistert mit dem Oberkörper vor und zurück. »Klar.« Charly nickte zustimmend. »Und das war erst der Anfang. Ich bin jetzt schon gespannt darauf, wohin uns Stev und die anderen noch schleppen werden.« Er stieß beide Arme im Takt der Musik in die Luft. Die zwei Freunde verfolgten das Konzert noch eine Viertelstunde. Doch dann begann die ungewohnte Reizüberflutung, erste Nebenwirkungen zu zeigen. Die bis an die Grenzen der Belastbarkeit stimulierten Sinne drohten zu kollabieren. Yael wurde sich als Erster der Gefahr bewusst. Er packte Charly am Arm und zog ihn hinter sich her zu einer der Nischen am Rand des Gewölbes. Sie hatten die Ausbuchtung noch nicht richtig betreten, als die Musik so leise wurde, als hätte sich eine unsichtbare Wand zwischen sie und die Bühne gelegt. »Weshalb hast du mich hierher geschleppt?«, empörte sich Charly. »Ich hatte gerade so viel Spaß wie noch nie in meinem Leben.« »Tut mir leid, aber ich brauche einfach ein kurze Pause«, entschuldigte sich Yael. »Mir wurde plötzlich schwindlig.« Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Und weil ich Angst hatte, ich würde dich später in dem Gewühl vielleicht nicht mehr wiederfinden, habe ich dich kurzerhand mitgenommen. Bist du jetzt sauer auf mich?« »Ach was. Schon vergessen«, entgegnete Charly betont großzügig. »Immer noch besser, als wenn ich dich hätte vom Boden aufsammeln müsste. Sag mir einfach, wenn du dich wieder besser fühlst,
dann können wir –« Er hielt inne, weil eine Gestalt zu ihnen getreten war. »Na, Jungs, wie gefällt euch das Konzert?«, fragte der Fremde. Sein Kopf glich dem einer Echse. Von seinem Körper war nicht viel zu erkennen, da er ein mantelartiges Gewand trug, das bis zum Boden reichte. Da er die Arm angewinkelt hielt, waren die Ärmel ein Stück zurückgerutscht und gaben den Blick auf zwei schuppenüberzogene Hände frei, die schieferschwarz glänzten. »Die Gobbo-Gots sind immer ihr Geld wert, was?« »Ich finde sie wirklich gut«, entgegnete Charly. »Obwohl ich das eigentlich gar nicht so genau beurteilen kann. Ehrlich gesagt, ich war bisher noch nie auf einer Veranstaltung wie dieser.« »Tatsächlich?« Der Fremde sah ihn an. Da seine Augen starr im Schädel saßen, musste er den gesamten Kopf bewegen, um Charly vollständig ins Blickfeld zu bekommen. »Gilt das auch für dich?«, wollte er dann von Yael wissen. »Ja«, bestätigte der Jungnarge. »Dann ist heute ja ein ganz besonderer Tag für euch.« Als das Echsenwesen lächelte, entblößte es anstelle von Zähnen zwei hellgraue Beißwülste. »Na, wenn das mal kein Grund zum Feiern ist.« »Eigentlich schon.« Yael fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Wenn mir bloß nicht so komisch geworden wäre. Keine Ahnung, woran das liegt. Vielleicht an der stickigen Luft. Oder ich habe die dröhnende Lautstärke einfach nicht vertragen.« »Mach dir deswegen keine Gedanken. Das geht am Anfang jedem so«, versicherte der Fremde. »Aber jetzt habt ihr ja mich getroffen. Und damit hat das Problem ein Ende.« »Was soll das heißen?«, wollte Charly wissen. »Dass ich etwas für euch habe, das dir und deinem Freund helfen wird, das Konzert bis zum Ende durchzustehen – selbst wenn es noch drei komplette Tage dauert.« »Wirklich?« Yael richtete sich interessiert auf. »Wovon redest du?« Das Echsenwesen sah sich um hundertachtzig Grad um, ohne dabei den Oberkörper auch nur einen Millimeter bewegt zu haben. »Von Zasss«, flüsterte er dann verschwörerisch. »Spitzenqualität.
Etwas Besseres werdet ihr in der ganzen Stadt nicht bekommen.« »Zasss?« Charly zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ist das so was wie eine Medizin?« »Man könnte es so nennen.« Der Fremde stieß ein heiseres Lachen aus. »Auf jeden Fall werdet ihr euch fantastisch damit fühlen.« Er griff in seine Manteltaschen und holte zwei kleine Schächtelchen daraus hervor, die er Yael und Charly auf dem Handteller entgegenhielt. »Ihr müsst es auf jeden Fall probieren.« Die musterten die Behälter unschlüssig. »Ist das auch bestimmt nicht schädlich?«, wollte Charly wissen. »Ach was. Drei Viertel von den Leuten hier im Laden haben es benutzt.« Die Gestalt mit dem Mantel nickte zu der tobenden Menge im Hauptsaal des Gewölbes. »Sehen die etwa aus, als hätten sie keinen Spaß damit?« »Aber wir haben nichts, womit wir das bezahlen könnten«, wandte Yael ein. »Das ist egal.« Die Echsenkreatur zuckte mit den Schultern. »Die erste Runde geht auf mich. Erst beim nächsten Mal werde ich euch dann dafür etwas abknöpfen. Überlegt es euch gut. Ein solches Angebot bekommt ihr garantiert so schnell nicht wieder.« »Also gut.« Yael nahm einen der winzigen Behälter. Charly folgte seinem Beispiel. »Und was muss man nun damit anstellen?« »Macht einfach die Schachtel auf«, erklärte der Fremde. »Der Rest erledigt sich dann ganz von allein. Viel Vergnügen. Und wenn ihr mehr von dem Zeug braucht, könnt ihr mich immer hier in der Gegend finden.« »Moment. Wie sollen wir denn –« Bevor Charly seine nächste Frage fertig formuliert hatte, hatte ihr neuer Bekannter die Nische bereits verlassen und war im Pulk der Konzertbesucher verschwunden. »Was jetzt?« Yael sah seinen Freund fragend an. »Sollen wir das wirklich ausprobieren?« »Ich denke, das hast du bereits beantwortet, als du dir die Schachtel geschnappt hast.«
»Auch wieder wahr.« Yael grinste. »Wer zuerst?« »Was hältst du davon, wenn wir die Dinger gleichzeitig aufmachen?« »Einverstanden.« Yael schüttelte den Behälter prüfen hin und her. »Was glaubst du, wird es sein? Ein Pulver, eine Pille oder vielleicht auch eine Ampulle mit einer Flüssigkeit?« »Wenn wir nicht reinsehen, werden wir es nie erfahren.« Charly hielt sich die Schachtel direkt vors Gesicht. »Bist du bereit?« »Jawohl, Sir!« »Gut. Dann los. Eins … zwei … drei …« Beide öffneten den Deckel des Behälters. Zu ihrer großen Überraschung befand sich kein Medikament, sondern ein winziges Lebewesen in den Schachteln. Eine haarige Kugel, aus der unzählige Beine in alle Richtungen wucherten, hockte auf einem Bett aus Moos. »Bei Plephes, was ist das?«, stieß Yael erschrocken hervor. Er wollte die Schachtel von sich schleudern, aber das Wesen sprang ihm mitten ins Gesicht. »Charly! Verdammt noch mal, hilf mir! Nimm das weg!« Doch auch sein Freund war längst mit sich selbst beschäftigt. Das pelzige Ding aus Charlys Schachtel hatte sich an seinen Hals katapultiert. Er spürte einen schmerzhaften Stich unterhalb des Kinns. Charly versuchte, das Wesen abzustreifen, doch seine Hände wollten dem Befehl schon nicht mehr gehorchen. Eine Welle glühender Hitze breitete sich blitzschnell durch seine Adern im ganzen Körper aus. Durch einen Vorhang explodierender Farben sah Charlie, wie Yael in Richtung des Konzertsaals taumelte. Er wollte ihm folgen – aber schon nach wenigen Schritten konnten seine Beine das Gewicht des Körpers nicht länger tragen. Seine Knie knickten unter ihm weg. Charly sah Yael nur zwei Armeslängen von ihm entfernt zusammenbrechen – so nah und doch unendlich weit entfernt. Ein heiseres Röcheln drang aus seiner Kehle, dann wurde er von einem gleißenden Lichtstrudel davongerissen.
Der Lift glitt mitsamt seinen drei Passagieren mit erstaunlicher Geschwindigkeit in die Tiefe. Jiim schätzte ab, dass sie den Aufbau der Pyramide schon längst hinter sich gelassen haben mussten, obwohl die Plattform noch immer nach unten raste. Als sie schließlich wieder zum Stehen kam, öffnete sich eine der Seitenwände und gab damit den Weg in einen schmucklosen Vorraum frei. »Wo sind wir hier?«, fragte Jarvis beim Aussteigen. Sein Blick wanderte über die steinernen Wände, an denen keinerlei Fugen zu erkennen waren. Der gesamte Raum wirkte wie eine Blase, die einst in flüssiger Lava entstanden und nach dem Erkalten dann zurückgeblieben war. »Du hast uns in das Planeteninnere gebracht, nicht wahr?« »Das zu behaupten, wäre wahrscheinlich etwas übertrieben«, entgegnete Tokk mit einem Abwinken. »Aber wir befinden uns immerhin ziemlich tief unter der Oberfläche.« »Ein reichlich einsamer Platz.« Jiim richtete die Ohren lauschend nach allen Seiten aus, doch der Klang seiner eigenen Stimme, der von den Wänden zurückgeworfen wurde, war das einzige Geräusch, das er registrierte. »Weshalb bringst du uns ausgerechnet hierher?« »Folgt mir«, entgegnete Tokk, anstatt auf seine Frage einzugehen. Er verschwand durch einen schmalen Stollen neben dem Aufzugschacht. Seine Begleiter schlossen sich ihm an. Der Gang endete nach zwanzig Metern. Als Jiim und Jarvis daraus hervortraten, trieb ihnen der Anblick, der sich vor ihnen auftat, ein fassungsloses Keuchen aus den Kehlen. Sie befanden sich am Fuß einer Höhle, die so gewaltig war, dass von ihrem Standpunkt aus weder die Decke, noch die gegenüberliegende Seite auch nur ansatzweise zu erahnen waren. Es gab keine Lichtquelle, aber die Wärme, die der Höhlenboden abstrahlte, reichte aus, um die auf Wärmestrahlung basierende Sehkraft der beiden Originalnargen mit den notwendigen Informationen zu versorgen. Und auch Jarvis stellte fest, dass seine Nanorüstung in Kombination mit Kargors Kristallschuppe die Charakteristika anderer Lebensformen inzwischen so perfekt adaptierte, dass ihm sogar die Fähigkei-
ten ihrer Sinnesorgane zu eigen wurden. So dauerte es auch nicht lange, bis er das riesige kuppelförmige Gebilde entdeckte, das im Zentrum der Höhle stand. »Tokk, was zur Hölle ist denn das für ein merkwürdiges Ding?« »Das ist die versteinerte Hülle eines Ganf«, stieß Jiim anstelle ihres Führers hervor. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, um was es sich bei dem Objekt handelte. Ganf waren hoch entwickelte Lebensformen gewesen, die vor Jahrzehntausenden Kalser bevölkert hatten. Zu der Zeit, als er noch selbst auf seinem Heimatplaneten gelebt hatte, hatte ihre Art bereits als ausgerottet gegolten – bis er bei einem Ausflug in die Tote Stadt auf das letzte Exemplar getroffen war und von ihm ein speziell angefertigtes Nabiss erhalten hatte. »Gut erkannt«, bestätigte Tokk. »Außerdem ist es auch das Ziel unserer Exkursion, denn ihr werdet dort bereits erwartet.« Sie legten die Strecke bis zum Kuppeleingang im Flug zurück. »Wir sind da, Jezz!«, rief Tokk durch die Öffnung, noch während er seine Flügel anlegte. »Ich habe dir unsere Gäste mitgebracht!« »Ich weiß!«, entgegnete eine Stimme aus der Hülle. »Ich habe eure Anwesenheit schon gespürt. Tretet ein.« Die drei Besucher kamen der Aufforderung auf der Stelle nach. Das Innere der Ganfhülle war so geräumig, dass selbst hundert Nargen bequem darin Platz gefunden hätten. Doch nur zwei der geflügelten Wesen hockten auf Ausbuchtungen, die vor unendlich langer Zeit einmal Stützen für Organe des Ganf gewesen waren. Das Gefieder des einen war von einem kräftigen Rot, die Federn des anderen waren von einem so hellen Gelb, wie Jiim es vorher noch niemals bei einem seiner Artgenossen gesehen hatte. Dieser Narge musste unvorstellbar alt sein. Willkommen. Bitte betrachtet es nicht als feindselige Handlung, dass wir nicht an der Oberfläche mit euch in Kontakt getreten sind. Aber das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme – für uns und auch für euch. Der Alte nickte den Neuankömmlingen freundlich zu. Mein Name ist Jezz. Neben mir sitzt Akat. Er ist meine rechte Hand und mein Berater. »Seid gegrüßt, Jezz und Akat. Es ist uns eine Ehre, euch kennenlernen zu dürfen«, entgegnete Jiim. Erst als er Jarvis' erstauntes Gesicht
sah, begriff er, dass die Stimme nur in seinem Kopf zu hören gewesen war. Das konnte nur eins bedeuten. »Das morphogenetische Netz«, stieß er hervor. »Es funktioniert wieder.« »Das hat es immer getan«, erwiderte Jezz mit einem Lächeln. Er war wieder zur akustischen Verständigungsweise übergegangen. »Aber nur bei echten Nargen, die das Saxx nicht in sich tragen.« Der Alte zeigte auf Jarvis. »Aber nach dem, was Tokk über euch erzählt hat, nehme ich an, dass bei dir weder das eine noch das andere der Fall ist.« »Da ich keine Ahnung habe, was es mit diesem Saxx auf sich hat, kann ich dir darauf leider keine endgültige Antwort geben«, erklärte der getarnte Ex-Klon. »Das Saxx ist ein Teil von Ustrac«, meldete sich nun Akat zu Wort, »mit dem er seine Anhänger für immer an sich bindet.« Dabei klang seine Stimme, als würde jedes einzelne Wort einen bitteren Nachgeschmack auf seiner Zunge hinterlassen. »Ustrac existiert also tatsächlich noch?«, wollte Jiim wissen. »Selbstverständlich. Seine Macht ist ungebrochen.« Jezz forderte sie mit einer kurzen Geste zum Näherkommen auf. »Euer Unwissen zeigt mir, dass ihr euch schon lange nicht mehr in einer Gemeinschaft Kalsers aufgehalten habt. Tokk hat mir berichtet, dass ihr euch Jiim und Jarv nennt. Sind das eure richtigen Namen, und wo kommt ihr her?« »Was soll das werden? Ein Verhör?« Jarvis musterte die beiden Nargen misstrauisch. »Tokk hat behauptet, dass wir hier unten unsere Fragen beantwortet bekommen. Stattdessen versucht ihr uns auszuquetschen. War das alles etwa nur ein billiger Vorwand, um uns in diesen überdimensionalen Keller zu locken?« »Was erlaubst du dir?« Akat richtete sich empört auf. »Du befindest dich hier an einer heiligen Stätte. Ich werde es nicht zulassen, dass du sie mit respektlosen Reden entw-« »Lass es gut sein, Akat«, unterbrach ihn der Alte. »Ich bin mir sicher, er hat es nicht so gemeint. Ganz im Gegenteil, ich verstehe sogar, wenn wir seinen Argwohn geweckt haben. In der Situation, in der sich die beiden befinden, muss man jeden Moment damit rech-
nen, in Schwierigkeiten zu geraten.« »Was weißt du von unserer Situation?«, fragte Jiim. »Da ihr vorher sowieso keine Ruhe geben werdet, ist es wohl am besten, ich fasse einfach mal zusammen, was wir über euch wissen«, entgegnete Jezz geduldig. »Ich hoffe, dass das genügt, um euch unseren guten Willen zu beweisen. Also«, der Alter räusperte sich, »im Park seid ihr durch Bemerkungen in Schwierigkeiten geraten, die so ein Einwohner Kalsers niemals zu äußern gewagt hätte. Außerdem habt ihr einen Namen der alten Götter benutzt, was in der Öffentlichkeit streng verboten ist.« »Du meinst … Plephes?« »Ganz genau. Ihn zu erwähnen, war sehr gefährlich. Seid froh, dass Tokk so geistesgegenwärtig reagiert und euch da rausgeholt hat. Dann hat er versucht, mit euch über das Nac-Netz zu kommunizieren – aber es kam zu keinem Kontakt.« »Das muss der Moment gewesen sein, nachdem wir deine Wohnung betreten hatten und du uns fragend angestarrt hast«, wandte sich Jarvis ihrem Begleiter zu. »Ganz genau«, bestätigte Tokk. »Aber sämtliche meiner Rufe sind ins Leere gelaufen.« »Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Jezz fort. »Als Tokk mir dein Äußeres beschrieben hat, war ich mir plötzlich sicher, dass du der Träger eines Nabiss bist. Von diesem Moment an wusste ich, dass ich euch unbedingt kennenlernen muss. Nachdem du dann nach deinem Eintreten auch auf morphogenetischem Weg mit mir in Verbindung getreten bist, war endgültig klar, dass ihr etwas Besonderes seid.« »Du kennst das Nabiss?« Jiim strich sich verwundert über das goldglänzende Gefieder. »Woher?« Jezz zögerte ein paar Sekunden, bevor er antwortete. »Weil ich selbst eine solche Rüstung besitze.« Jiim dachte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Die Mitteilung des Alten versetzte ihn in eine solche Aufregung, dass das teilabsorbierte Nabiss in allen Regenbogenfarben zu schillern begann. »Wie, um Sermons willen, ist das möglich?«
»Ich sehe schon, du glaubst mir nicht.« Jezz zog ein wenig resigniert die Mundwinkel nach unten. »Aber ich kann es dir beweisen. Akat, holst du bitte den Schrein mit den Hinterlassenschaften der Früheren?« »Aber –« »Keine Diskussion. Geh und bring ihn einfach hierher.« Der Helfer des Alten verschwand in den hinteren Bereich der Ganfhülle. Ein Stück der Zwischenwand ließ sich beiseiteschieben. Akat holte ein sargförmiges Gebilde daraus hervor, das auf Kufen gelagert war. Mitsamt dem Schlitten kehrte er in die Mitte der ehemaligen Versammlungsstätte zurück. Jezz löste mehrere Verschlüsse an der Seite des Behälters, dann klappte er den Deckel auf. Der Anblick, der sich ihm bot, als der Alte dann auch noch das Tuch entfernte, das schützend über dem Inhalt lag, ließ Jiim ein heiseres Krächzen ausstoßen. Inmitten anderer Gegenstände lag tatsächlich eine Rüstung. Aber der Hauptgrund für sein Staunen war nicht ihre bloße Existenz. Jiim hatte das Nabiss sofort wiedererkannt. Es war der Harnisch, den er einst oberhalb des Schrunds in der Höhle des Suprio gefunden und eine Zeit lang selbst getragen hatte. Bis er dann vom letzten Ganf ein maßangefertigtes Exemplar erhalten und die alte Rüstung weitergegeben hatte. An seinen besten Freund. An Chex … »Wo … wo hast du sie her?« Jiims Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Einer meiner Vorfahren hat sie einmal aus der Toten Stadt mitgebracht und dann dem Nargenführer überlassen, dessen Statue ihr im Park gesehen habt«, erklärte Jezz. »Aber das ist schon unendlich viele Nargenzeitalter her.« »Chex.« Jiim konnte nicht verhindern, dass ihm die Erinnerung an seinen Freund die Herzen schwer werden ließ. Mehrere Tropfen eines gelben Sekrets bildeten sich in seinen Augenwinkeln. »Er ist derjenige, den ich von allen am meisten vermisse.« »Du hast also schon einmal etwas von ihm gehört?« In der Stimme des alten Nargen klang unverhohlene Überraschung mit. »Mehr noch als das«, bestätigte Jiim mit einem leisen Glucksen.
»Er war mein bester Freund hier auf Kalser.« »Das ist unmöglich!« Jezz sah ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Dann müsstest du ja mindestens so alt wie Ustrac sein. Und der wird von seinen Anhängern nicht umsonst ›Der Ewige‹ genannt.« »Tja, spätestens jetzt wird die Sache ein bisschen kompliziert.« Jarvis kratzte sich mit der Fingerspitze über die Nasenwurzel. »Ich fürchte, wir stecken hier in einem Dilemma. Mit jeder Antwort, die wir voneinander bekommen, werden gleichzeitig mindestens fünf neue Fragen aufgeworfen. Wenn das so weitergeht, sitzen wir ewig hier unten rum und kommen dabei aber trotzdem nicht wirklich weiter.« »Das sehe ich ähnlich«, bestätigte auch Jezz. »Deshalb mache ich dir einen Vorschlag, Jiim: Lass uns eine mentale Verbindung eingehen, bei der wir unser jeweiliges Wissen miteinander teilen. Wenn wir uns gegenseitig einander öffnen, werden wir hinterher viel klarer sehen.« »Das klingt natürlich verlockend.« Einige Bedenken, die ihm in den Sinn kamen, ließen Jiim zögern. »Aber wir müssten eine große Menge von Informationen austauschen. Würde sich das nicht auf unsere restlichen Körperfunktionen auswirken?« »Ohne jeden Zweifel.« Der Alte nickte. »Während des Austauschs befänden wir uns in einem Zustand, der einer Ohnmacht gleichkäme.« »Das heißt, dass wir auch bei einem Angriff wehrlos wären.« »Es sei denn, es gibt jemanden, der so lange ein wachsames Auge auf uns hat.« »Besteht nicht auch die Gefahr, dass unser telepathisches Gespräch von anderen belauscht werden könnte?« »Nicht, solange wir uns an diesem Ort aufhalten. Die Ganfhülle wirkt wie eine Isolation, durch die nichts nach außen dringt. Wenn es dir lieber ist, werde ich Akat und Tokk bitten, uns während des Austauschs allein zu lassen.« Jezz lächelte gütig. »Und so wie ich deinen Begleiter einschätze, ist er wohl kaum dazu in der Lage, unsere Unterhaltung mental zu verfolgen. Das prädestiniert ihn gera-
dezu dafür, die Aufgabe des Wächters zu übernehmen. Was sagst du also? Nimmst du mein Angebot an?« Die Aussicht, endlich Klarheit über die Vorkommnisse auf Kalser zu erhalten, löste Jiims Unentschiedenheit in nichts auf. »Einverstanden. Ich bin zu dem Austausch bereit. Von mir aus können wir sofort damit anfangen.« »Hast du dir das auch wirklich gut überlegt?«, wandte Jarvis ein. »Ist ein verflucht hohes Risiko, das du da eingehst.« »Das ist mir egal. Eine solche Gelegenheit bekomme ich vielleicht nie mehr wieder.« Jiim zuckte beinahe entschuldigend mit den Schultern. »Wenn ich sie ungenutzt verstreichen lassen würde, würde ich mir das für den Rest meines Lebens nicht verzeihen. Ich kann verstehen, wenn du nicht hierbleiben möchtest – aber ich werde die geistige Verbindung mit Jezz auf jeden Fall eingehen.« »Also gut.« Jarvis stemmte entschlossen die Hände in die Seiten. »Dann verspreche ich dir, dass ich in der Zwischenzeit nicht von deiner Seite weichen werde.« »Das freut mich.« Jiim nickte ihm dankbar zu. »Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« »Dann steht dem großen Ereignis ja nichts mehr im Weg.« Der alte Narge wandte sich zu seinen Helfern um. »Akat, Tokk, bitte lasst uns jetzt allein. Wenn ich euch wieder brauche, werde ich euch das wissen lassen.« Akat zögerte, als ob er einen Einwand erheben wollte, doch dann verließ er mit besorgtem Gesicht die altertümliche Versammlungsstätte. Tokk war ihm bereits vorausgeeilt. Jezz achtete nicht auf die beiden, sondern hockte sich mit überkreuzten Beinen auf den Boden. »Setz dich zu mir.« Er wartete ab, bis Jiim seinem Beispiel gefolgt war, dann ergriff er seine Hände. Da sich ihre Flügel dabei um sie herum ausbreiteten, wirkten sie wie eine natürliche Stütze. »Versuch, alles andere um dich herum zu vergessen. Es gibt nur noch dich … und mich …« Jezz' Atemzüge wurden ruhiger. »Lass dein Bewusstsein sich ausbreiten. Es wächst dem meinen entgegen. Sie berühren sich … vermengen sich … bis sie schließlich vollständig
miteinander verschmelzen. Dann sind wir –« Die Stimme des Alten brach mitten im Satz ab. Als Jarvis näher zu Jiim und Jezz herantrat, stellte er fest, dass ihnen die Köpfe auf die Brust herabgesunken waren. Sie gaben kein Lebenszeichen mehr von sich – lediglich ihre miteinander verbundenen Hände vibrierten, als würde ihnen in schneller Folge Stromstöße durch die Muskeln gejagt.
Die Offenbarung aus Jezz' Bewusstsein Jahr 0 der Neuen Kalser'schen Zeitrechnung (NKZ) »Was wirst du nun tun?«, wollte Chex wissen. Gemeinsam mit Pern hatte er sich in einen abgeschiedenen Winkel des Gebäudes zurückgezogen, in dem die aus dem Dorf am Rand des Schrunds geflohenen Nargen Unterschlupf gefunden hatten. »Willst du tatsächlich auf das Angebot dieses Jay'nac eingehen und mit ihm zusammenarbeiten?« »Bleibt mir denn eine andere Wahl?« Der junge Suprio wanderte aufgewühlt hin und her. »Der Schrund ist zerstört. Genauso wie unsere Hütten. Das heißt, die Lebensgrundlage unseres gesamten Volks ist vernichtet. Mir ist es zwar gelungen, euch alle noch rechtzeitig hierher in die Tote Stadt zu führen – aber was hat das gebracht?« Pern machte eine verzweifelte Geste zu einem der Fenster, das mit einem so dicken Eispanzer überzogen war, dass ein Blick ins Freie unmöglich wurde. »Jetzt sitzen wir zwischen einem Haufen von Ruinen fest, die so tief unter einer Kruste von Permafrost stecken, dass der größte Teil von ihnen noch nicht einmal zu erkennen ist. Wie sollen wir da überleben? Bei Sermon, in der Situation, in der wir uns befinden, könnten wir Hilfe verflucht gut gebrauchen.« »Da gebe ich dir recht.« Chex hockte sich auf einen Gesteinsbrocken, der schon vor unendlich langer Zeit aus der Wand gebrochen sein musste, und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Aber trotzdem solltest du dabei nicht vergessen, wer dir seine Hilfe anbie-
tet. Glaubst du, dass du Ustrac wirklich vertrauen kannst?« »Weshalb sollte ich das nicht tun? Wenn er vorgehabt hätte, uns zu vernichten, hätte er das längst tun können. Seine Stärke ist einfach unglaublich. Oder hast du etwa schon vergessen, dass er es war, der Maron – zumindest für einige Zeit – seine alte, unbeschädigte Form wiedergegeben hat? Oder dass er ein gesamtes Gebirge, einen Teil seiner selbst, auf unseren Planeten hat niederfahren lassen? Mit ihm hätten wir einen mächtigen Verbündeten an unserer Seite.« »… oder einen schrecklichen Gegner«, fügte Chex bitter hinzu. »Weshalb sollte ein Wesen, das mit einer solchen Machtfülle ausgestattet ist, sich ausgerechnet mit einem so erbärmlichen Haufen wie uns zusammentun? Der Kerl repariert einen Mond und zerstört hinterher den Schrund, als wäre das nur eine Kleinigkeit. Wir dagegen wissen noch nicht einmal, wie wir die nächsten Tage überleben sollen. Dennoch schlägt er uns eine Zusammenarbeit vor. Wenn du mich fragst, ist das irgendwie unlogisch. Das klingt, als würde er versuchen uns in eine Falle zu locken.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Pern blieb direkt vor ihm stehen. »Warum bist du nur so misstrauisch, anstatt dich darüber zu freuen, dass die Rettung unseres gesamten Volks vielleicht zum Greifen nah vor uns liegt?« »Könnte es vielleicht damit zusammenhängen, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass wir seinesgleichen bereits einmal den Untergang unseres Planeten zu verdanken hatten?«, entgegnete Chex mit ätzendem Sarkasmus in der Stimme. »Es waren doch wohl die Jay'nac, die Kalser zuerst rücksichtslos ausgebeutet haben, bevor sie ihn wie einen nutzlosen Klumpen Dreck einfach zurückgelassen haben. Als Abschiedsgeschenk haben sie ein Viertel unseres Mondes zerstört, dessen Trümmerregen das gesamte Klima des Planeten so verändert hat, dass wir unter den Auswirkungen noch heute schrecklich zu leiden haben. Das sind nicht gerade ideale Bedingungen für eine zukünftige Kooperation, oder siehst du das anders?« »Selbstverständlich nicht.« Pern schüttelte den Kopf. »Aber du solltest auch bedenken, dass es innerhalb unserer Sippe verschiede-
ne Charaktere gibt. Bloß weil wir alle Nargen sind, bedeutet das nicht, dass wir alle gleich sind. Warum sollte das nicht auch für die Jay'nac gelten? Vielleicht bereut Ustrac das, was sein Volk uns angetan hat, und will nun so etwas wie eine Wiedergutmachung leisten.« »Wenn das tatsächlich so wäre, hätte er sich einiges vorgenommen.« Chex drehte sich nach dem Heulen um, mit dem der eisige Sturm um die Gebäudeecken strich. »Mir behagt der Gedanke absolut nicht, mit einer undurchsichtigen Gestalt wie Ustrac gemeinsame Sache zu machen. Was ist, wenn er heimtückische Pläne hat, von denen wir bisher nichts ahnen?« »Sicher, das ist ein Risiko. Aber ist es auch größer als das Risiko, das wir eingehen, wenn wir seinen Vorschlag ablehnen? Stell dir nur vor, er würde darüber in Wut geraten. Was das in unserer Lage für unser Volk bedeuten würde, brauche ich dir nicht zu erklären. Und außerdem solltest du nicht vergessen, dass er uns die Rolle, die sein Volk, Kalser betreffend, in der Vergangenheit spielte, offen dargelegt hat.« »Ich verstehe, was du meinst.« Chex atmete schwer aus. »So wie es aussieht, bieten sich uns nicht gerade eine Menge erfreulicher Perspektiven.« »Du meinst andere Perspektiven«, Pern stieß ein bitteres Keckem aus, »als den Tod? Es gibt bestimmt einige von uns, die das als durchaus angenehmere Alternative zu unserem momentanen Leben ansehen würden. Aber zu denen gehöre ich, so wahr mir Coor und Nagor beistehen mögen, noch nicht.« »Gut so.« Chex erhob sich von seinem Platz. »Wenn dir eine Entscheidung über dein weiteres Vorgehen so schwerfällt, warum berufst du dann nicht eine Versammlung ein? Unsere Sippe soll gemeinsam entscheiden, ob sie Ustrac als ihren Mentor anerkennen will oder nicht.« »Das ist nicht der richtige Weg.« Der junge Suprio schüttelte entschieden den Kopf. »Die Gefahr, dass darüber ein Streit entsteht, der unser Volk entzweit, ist einfach zu groß. Das würde uns noch weiter schwächen und ein Überleben endgültig unmöglich machen. Nein,
unsere Gemeinschaft braucht einen starken Anführer, der auch vor Entscheidungen nicht zurückschreckt, die Auswirkungen auf unser aller Schicksal haben. Ich habe dieses Amt übernommen – deshalb ist es auch meine Pflicht, mich ohne Zögern der Verantwortung zu stellen.« Perns Rücken straffte sich. »Aus diesem Grund werde ich jetzt Ustrac aufsuchen und ihm mitteilen, dass wir sein Angebot annehmen. Dann wird sich zeigen, ob es für uns Nargen noch eine Zukunft gibt – oder ob Kalser schon bald als unser Grab das Sonnenauge umkreisen wird.«
Jahr 0 NKZ, 100 Tage nach Zerstörung des Schrunds Morphogenetische Botschaft von Suprio Pern an die Gemeinschaft der Nargen Dies ist eine Bekanntmachung höchster Priorität an jedes einzelne Mitglied unserer Sippe. Ab sofort ist die zahlenmäßige Begrenzung der Population auf vier mal vierzig plus vierzig Nargen aufgehoben. In Absprache mit unserem Mentor Ustrac wird darüber hinaus jedes Mitglied unserer Gemeinschaft, das sich im legefähigen Alter befindet, aufgefordert, möglichst viele Eier zu produzieren und auszubrüten, um so die Zahl der Gesamtbevölkerung zu erhöhen. Dementsprechend wird auch die Zeremonie des Kiin-tu – das Tötungsritual – ab sofort nicht mehr stattfinden. Durch umfangreiche Umstrukturierungsmaßnahmen der alltäglichen Aufgabenverteilung und Neuorganisation der Nahrungsbeschaffung ist eine ausreichende Versorgung der Einwohner unserer Stadt auf einen längerfristigen Zeitraum gesichert. Durch die Errichtung von Heizanlagen konnten mittlerweile dreizehn Gebäude von Eis befreit werden; weitere werden folgen. Das dabei entstehende Schmelzwasser wird für zusätzliche Energiegewinnung Verwendung finden. Außerdem hat sich unser Mentor bereit erklärt, in der Stadtmitte aus seinem eigenen Körpermaterial einen weiteren Gebäudekomplex zu errichten, den er der Gemeinschaft der Nargen zur Verfügung stellt. Darin werden sich neben Versammlungsräumen, Produktionsanlagen und Forschungs-
stätten auch Wohnungen befinden. Diejenigen Nargen, die Interesse an einer solchen Wohnung und Vorschläge zu deren Ausgestaltung haben, sollen sich umgehend mit mir in Verbindung setzen, damit ich die Anregungen an Ustrac weiterleiten kann. Mit mentalem Muster unterzeichnet, Vern, Suprio
Jahr 2 NKZ »Du hast mich rufen lassen, Ustrac?« Pern betrat die beeindruckende Halle, in der der Jay'nac seine Besucher zu empfangen pflegte. Die Halle war Bestandteil der neu entstandenen Siedlung, die mittlerweile einen Großteil des Stadtzentrums einnahm – und mit jedem Tag noch weiter wuchs. Dass der Suprio die hundert Schritte bis zu dem mehrere Meter hohen Podest im hinteren Drittel des Raums zu Fuß zurücklegte, war ein Zeichen der Ehrerbietung gegenüber dem Wesen, das dort auf einem thronartigen Steinsessel saß. »Ja, Pern, wir müssen reden.« Ustrac hatte, wie es seine Gewohnheit war, für das Gespräch eine humanoide Gestalt angenommen. Da sie aber aus dem gleichen dunkelgrauen Material wie die Halle mitsamt, der Einrichtung – genau genommen traf das auf den gesamten Gebäudekomplex zu – bestand, hob er sich kaum von seiner Sitzgelegenheit ab. »Um was geht es dabei?« Der Narge blieb am Fuß des Podests stehen. »Hast du neue Planungen erstellt, die ich nun an mein Volk weitergeben soll?« Der Jay'nac schwieg einen Augenblick. »Du trägst immer noch diese Rüstung«, stellte er schließlich fest, ohne auf Perns Frage eingegangen zu sein. »Man könnte fast glauben, du hast sie angelegt, weil du jeden Moment mit einem Angriff rechnest.« »Das Nabiss?« Pern tastete mit beiden Händen über den Harnisch. »Aber das hat doch nichts mit Verteidigungsmaßnahmen oder gar
einem kriegerischen Akt zu tun. Das Nabiss ist lediglich ein Zeichen meiner Stellung innerhalb meines Volks. Ich bin schließlich der Suprio der Nargen. Es ist Tradition, dass sich die Rüstung im Besitz des Anführers befindet.« »Eine Tradition, die einem längst vergangenen Zeitalter entstammt.« Ustrac stieß ein Geräusch aus, das wie eine Mischung aus einem Seufzen und einem Grollen klang. »Ich dachte, du hättest inzwischen längst begriffen, dass auf Kalser eine neue Epoche begonnen hat.« »Ja, aber –« »Hatten wir uns bei unserem ersten Zusammentreffen nicht darauf geeinigt, den Blick in die Zukunft, anstatt in die Vergangenheit zu richten?«, unterbrach der Jay'nac den Suprio. »An das Geschehene, das sowieso nicht mehr zu ändern ist, sollte kein unnötiger Gedanke mehr verschwendet werden. Unsere gesamte Aufmerksamkeit sollte dem noch nicht Geschehenen gelten, das nur darauf wartet, von uns gemeinsam geformt und gestaltet zu werden. Hast du dieses Gespräch etwas vergessen, Pern?« »Nein«, beteuerte der Narge. »Ich wollte doch nur –« »Habe ich dir seitdem jemals Anlass gegeben, an meinen Worten von damals zu zweifeln?«, fuhr Ustrac unbeirrt in seiner Ansprache fort. »Habe ich nicht jedes einzelne Versprechen gehalten, das ich dir gab? Ich habe euch jegliche Form von Schutz und Unterstützung gewährt.« »Das stimmt.« Pern nickte. »Ohne deine Hilfe hätten wir die harte Zeit nach der Flucht in die Stadt bestimmt nicht überlebt. Nicht nur das. Dir haben wir es zu verdanken, dass die Bevölkerungszahl mittlerweile sogar um das Dreifache angewachsen ist.« »Ich freue mich, dass du das genauso siehst.« Als der Jay'nac sich von seinem Thron erhob, sah es aus, als würde eine lebendig gewordene Statue sich vom Sockel eines Denkmals lösen. »Deshalb wirst du es bestimmt verstehen, wenn ich nun auch Loyalität von dir einfordere.« Pern spitzte verblüfft die Ohren. »Hast du das bisher denn vermisst?«, erkundigte er sich verunsichert. »Ehrlich gesagt, das verste-
he ich nicht. Ich war doch immer ein zuverlässiger Vermittler zwischen dir und meinem Volk.« »Genau darum geht es.« Ustrac kam mit bedächtigen Schritten zu ihm herabgestiegen. »Ist dir nicht aufgefallen, dass du noch immer von mir und von deinem Volk sprichst? Du hast noch nicht begriffen, dass wir zu einem gemeinsamen großen Ganzen werden müssen, das sich auch ohne Vermittler versteht. Ihr schließt mich noch immer aus, wenn ihr über das morphogenetische Netz miteinander kommuniziert. Diese Isolation werde ich nicht länger dulden. Der bisherige Zustand war lediglich eine notwendige Zwischenlösung. Aber nun ist es höchste Zeit daran etwas zu ändern.« »Aber wie stellst du dir das vor?« Pern zuckte erregt mit den Flügeln. »Wir sind vollkommen unterschiedliche Lebensformen. Du kannst niemals zu einem Nargen werden. Und umgekehrt gilt das natürlich genauso.« »Das ist mir selbstverständlich klar.« Ustrac blieb unmittelbar vor ihm stehen. Der Jay'nac hatte wohlweislich eine Körpergröße gewählt, bei der er seinen Gesprächspartner um mehr als eine Haupteslänge überragte. »Es geht nicht darum, dass eine unserer Arten in der anderen aufgeht, sondern um die Erschaffung einer völlig neuen Gattung. Eine perfekte Spezies, die diesen Planeten in Besitz nehmen wird.« »Aber wie soll das vor sich gehen?« Der junge Suprio schnappte nach Luft. Der Plan, den der Jay'nac ihm offenbart hatte, ließ die Gedanken in seinem Schädel so durcheinanderwirbeln, dass ihm davon schwindlig wurde. »Willst du etwa versuchen, gemeinsam mit Nargen Junge zu zeugen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gelingen würde.« »Das wird nicht nötig sein.« Ustrac lachte auf, als wäre eine solche Möglichkeit ein völlig absurde Idee. »Alles, was ich von dir verlange, ist die Bereitschaft zur Kooperation.« Pern musterte ihn zögernd. »Nach allem, was ich bisher für dich und deinesgleichen getan habe, ist das keine übertriebene Forderung.« Der drohende Unterton in der Stimme des Jay'nac war nicht zu überhören. »Wenn du mei-
ner Bitte nicht entsprichst, müsste ich mir ernsthaft überlegen, ob Kalser der richtige Planet ist, um mich endgültig darauf niederzulassen. Vielleicht sollte ich mich dann nach einer Welt umsehen, auf der ich wirklich willkommen bin. Glaubst du, ihr seid schon stark genug, um meinen Rückzug zu verkraften?« Pern musste sich eingestehen, dass er die Frage wahrheitsgemäß nur mit einem Nein beantworten konnte. »Was soll ich tun?«, wollte er deswegen wissen. »Leg zuerst deine Rüstung ab«, verlangte Ustrac. »Sie ist das Symbol für eine Vergangenheit, die du abstreifen musst.« Der junge Suprio wusste, dass der Jay'nac in diesem Punkt nicht mit sich handeln lassen würde. Wenn Pern verhindern wollte, dass Ustrac seine Drohung wahrmachen und Kalser den Rücken kehren würde, blieb ihm nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Andernfalls bestand außerdem die Gefahr, dass Ustrac über den vermeintlichen Verrat in Zorn geraten würde – und welche Folgen das für den ganzen Planeten haben konnte, hatten Ustracs Artgenossen schon einmal bewiesen. Der teilzerstörte Mond, der Kalser noch immer umkreiste, war ein nicht zu übersehendes Mahnmal für ihre Macht. Der Narge seufzte stumm, dann öffnete er die Verschlüsse des Nabiss, einen nach dem anderen. »Sehr gut.« Ustrac nickte zufrieden, als sein Gegenüber den goldenen Harnisch auf dem Boden ablegte. »Nun tritt näher heran.« Pern sah ihn skeptisch an, tat aber dann doch, was von ihm verlangt wurde. Die linke Hand des Jay'nac legte sich sofort auf seinen Kopf. Pern konnte nicht verhindern, dass ihm das Kinn gegen die Brust gepresst wurde. Nun packte Ustracs rechte Hand den Nacken des Nargen. Seine Finger tasteten suchend über das Gefieder, bis sie die geeignete Stelle am Übergang von Hals zu Hinterkopf gefunden hatten. Pern spürte einen stechenden Schmerz im Genick. Er wollte sich gegen die grobe Behandlung wehren – aber als er sich dem Griff zu entwinden versuchte, stellte er fest, dass der Jay'nac seine Hände bereits zurückgezogen hatte.
Auch der Schmerz war wieder verschwunden. Stattdessen fühlte sich die Stelle in seinem Nacken nun kalt an, als sei er mit Eis in Berührung gekommen. Ein sanftes Prickeln breitete sich von dort bis in seinen Schädel und seine Schultern aus. Ein seltsames, aber nicht unangenehmes Gefühl. »Was hast du getan?«, wollte der Narge wissen, während er sich über das Genick rieb. »Ich habe dir das Saxx eingepflanzt«, entgegnete Ustrac. Wären in seinem Gesicht Konturen zu erkennen gewesen, hätte er dabei gelächelt. »Es ist ein Teil meiner selbst. Nicht mehr als ein winzig kleiner Splitter – aber doch ausreichend, um uns für den Rest deines Lebens miteinander zu verbinden.« »Ein Splitter?« Pern tastete seinen Nacken ab, konnte dort aber keinen Fremdkörper – noch nicht einmal eine Einstichstelle – spüren. »Was bewirkt der?« Das habe ich doch bereits versucht, dir zu erklären. Ustracs Stimme erklang direkt in seinem Kopf. Wir bilden nun eine Einheit. Mein Bewusstsein kann auf deines zugreifen. Und auch du wirst Dinge erfahren, die dir bisher verborgen geblieben waren. Versuch es doch gleich einmal. Nur Mut – du wirst überrascht sein. Obwohl die unerwartete Entwicklung der Ereignisse Perns zwei Herzen wie Kriegstrommeln gegen seinen Brustkorb pochen ließen, zwang er sich zur Konzentration. Er spürte, wie sich Tore in seinem Bewusstsein öffneten, die vorher fest verschlossen gewesen waren; von deren Existenz er nicht einmal etwas geahnt hatte. Plötzlich fühlte er eine tiefe Verbundenheit mit Ustrac. Ein Gefühl der Nähe durchströmte ihn, wie er das noch niemals zuvor erlebt hatte. Alles Fremdartige, Trennende zwischen ihnen begann sich in nichts aufzulösen. Mit einem Mal begriff Pern wie der Jay'nac die Welt um sich wahrnahm. Er sah nicht nur das Steinwesen vor sich, das er in seiner Gesamtheit bisher niemals hatte erfassen können, sondern hatte plötzlich auch Kontakt zu den abgespaltenen Körperteilen des Jay'nac, aus denen der Palast mitsamt der Halle und das gesamte Stadtviertel entstanden waren. Pern erschauderte beeindruckt, denn er konn-
te die Nargen, die sich in dem Komplex aufhielten, tatsächlich in sich spüren. Was sagst du nun?, fragte die Stimme in seinem Kopf. Bereust du es, mein Angebot angenommen zu haben? »Nein …«, entgegnete der junge Suprio, noch immer um Fassung ringend. »Das ist die unglaublichste Erfahrung, die ich jemals gemacht habe. Dagegen verblasst sogar das Tragen des Nabiss zu einer unbedeutenden Angelegenheit.« Gut, dass es dir gefällt. Ustrac kehrte auf seinen Thron zurück. Denn dann wird dir die Aufgabe, für die ich dich vorgesehen habe, bestimmt nicht schwerfallen …
Jahr 2 NKZ, wenige Stunden nach der Initiierung »Ist das dein Ernst?« Chex' Blick wanderte zwischen der Rüstung, die Pern ihm in die Arme gelegt hatte, und seinem Freund hin und her. »Du willst mir tatsächlich das Nabiss überlassen? Bei Anteris ewigem Atem – weshalb?« »Ich brauche es nicht mehr«, erklärte der Suprio mit fester Stimme. »Ich denke, es wäre auch in Jiims Sinne, wenn ich es dir wieder zurückgebe. Mach damit, was du willst. Bewahre es auf, wenn du glaubst, dass du es noch einmal gebrauchen kannst. Oder versenke die Rüstung meinetwegen in den Tiefen einer Lavagrube. Ich bin mir sicher, du wirst die richtige Entscheidung treffen.« »Was ist mit dir geschehen, Pern?« Chex musterte ihn misstrauisch. »Ich spüre, dass eine Veränderung mit dir stattgefunden hat. Auch die Signale, die ich von dir empfange, sind nicht mehr so klar, wie ich das von dir gewöhnt bin. Sie kommen nur verwaschen und unvollständig bei mir an. Kannst du mir den Grund dafür sagen?« »Vielleicht liegt es an dem Saxx, das ich in mir trage. Es hat so viel bei mir bewirkt, dass ich längst noch nicht alle Auswirkungen kenne.« »Was, bei Maron, dem Zerstörer, hat das denn nun schon wieder
zu bedeuten?« Da der junge Suprio wusste, dass sich Chex nicht eher zufriedengeben würde, bevor er nicht alle Hintergründe erfahren hatte, erzählte er ihm ausführlich von seinem Besuch bei Ustrac und dem Verlauf, den das Gespräch genommen hatte. »Er hat dir einen Splitter von sich eingepflanzt?«, fragte Chex fassungslos, nachdem Pern mit seinem Bericht zum Ende gekommen war. »Und das hast du einfach so zugelassen? Hast du den Verstand verloren?« Er packte seinen Freund an den Schultern und drehte ihn um hundertachtzig Grad um die eigene Achse, um seinen Nacken zu untersuchen. »Das war verdammt leichtsinnig von dir.« Pern spürte von einem Moment zum nächsten eine unbändige Wut in sich aufsteigen. »Lass das!«, fauchte er und rammte dabei einen Ellbogen so hart nach hinten, dass Chex, den der Hieb gegen die Brust erwischte, von den Füßen geschleudert wurde und zu Boden fiel. Pern fuhr herum. »Entschuldige bitte … ich …«, stammelte er, »… das wollte ich nicht. Ich hatte nicht vor, dich zu verletzen. Aber als du hinter mir gestanden hast, habe ich plötzlich rotgesehen. Ich weiß selbst nicht, wie ich es erklären soll, aber ich musste mich einfach dagegen wehren. So, als hinge mein Leben davon ab.« »Das habe ich gespürt.« Chex rieb sich die schmerzende Stelle oberhalb der Magengrube, während er sich wieder aufrappelte. »Diesen Jay'nac lässt du an dir herumdoktern, aber wenn sich ein Freund um dich kümmern will, bekommt der von dir eine verpasst, dass ihm die Luft wegbleibt. Also, das verstehe, wer will.« »Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leidtut.« Pern wich verlegen seinem Blick aus. »Ich verspreche dir auch, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt. Aber die Sache mit dem Splitter hat mich einfach etwas durcheinandergebracht. Dadurch habe ich eben wohl überreagiert.« »Dann hoffe ich nur, dass so etwas in der nächsten Zeit nicht noch öfter vorkommt.« Chex hob das Nabiss auf, das ihm aus den Händen gefallen war. »Hat Ustrac dir auch verraten, wie lange das Ding
in deinem Körper bleiben wird?« »Allerdings.« Pern räusperte sich, denn er wusste, dass die Antwort seinem Freund nicht gefallen würde. »Das Saxx ist bis zu meinem Tod in mir verankert.« »Aber das ist doch Wahnsinn!« »Das mag sich für dich vielleicht so anhören, aber solange du es nicht selbst erlebt hast, kannst du dir kein gerechtes Urteil darüber anmaßen.« Obwohl der Suprio dagegen anzukämpfen versuchte, konnte er nicht verhindern, dass erneut Zorn in ihm aufstieg. Es war, als hätte eine fremde Macht einen Hebel in ihm umgelegt und damit einen Mechanismus in Gang gesetzt, der sein Blut zum Kochen brachte. »Du hast nämlich nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst. Seit ich den Splitter von Ustrac empfangen habe, fühle ich mich, als hätte mein Bewusstsein ein vollkommen neues Stadium erreicht. Es ist wie ein weiterer Schritt in der Evolution unseres Volkes – bloß dass es dazu nicht unendlich viele Generationen gebraucht hat, sondern der Hilfe unseres Mentors zu verdanken ist. Sogar ein Querkopf wie du sollte begreifen, dass das eine Chance ist, die wir uns einfach nicht entgehen lassen dürfen. Ich werde auf jeden Fall nicht so egoistisch sein und meinen Artgenossen die Segnungen verweigern, an denen ich bereits teilhaben darf.« Er wollte sich abwenden, aber Chex trat ihm in den Weg. »Moment.« Chex hob alarmiert eine Hand. »Sag mir sofort, was du damit andeuten willst.« »Nichts lieber als das.« Pern warf den Kopf in den Nacken. »Ustrac hat sich dazu bereit erklärt, jedem Nargen einen solchen Splitter zu verabreichen. Mir hat er dabei die ehrenvolle Aufgabe übertragen, unser Volk davon zu unterrichten. Selbstverständlich werde ich niemanden zwingen, sich das Saxx einpflanzen zu lassen.« Er hielt für einen Moment inne, um sich an dem entsetzten Gesichtsausdruck seines Freundes zu weiden. »Aber wenn mich jemand um meine Meinung fragt, werde ich ihm empfehlen, meinem Beispiel zu folgen und mit unserem Beschützer zu einer großen Einheit zu verschmelzen.« »Bei Plephes, das darfst du unter keinen Umständen tun«, rief
Chex beschwörend. »Du könntest einen schweren Fehler machen. Also, lass dir die Sache noch einmal durch den Kopf gehen.« »Zu spät.« Ein triumphierendes Lächeln umspielte die Mundwinkel des Suprios. »Ich verbreite die Nachricht bereits über das morphogenetische Netz. In Kürze weiß jeder Narge über die Dinge Bescheid, die das Leben auf ganz Kalser für immer verändern werden …«
Jahr 5 NKZ, Wohneinheit 237 in Ustra'nac »Bist du fertig, Reks? Wir müssen los.« Nomi blickte durch die Zimmertür seines Jungen, musste jedoch feststellen, dass der junge Narge noch immer auf dem Boden hockte und keinerlei Anstalten machte, sich zu erheben. »Was ist denn mit dir? Heute ist doch dein großer Tag.« »Ich weiß«, entgegnete Reks kleinlaut. »Ich kann schon an gar nichts anderes mehr denken. Deshalb kann ich auch kaum schlafen. Und wenn ich doch mal schlafe, träume ich nur lauter blödes Zeug.« »Aber weshalb denn, mein Küken?« Nomi kam in den Raum und ging vor ihm in die Hocke. »Gibt es irgendwas, das dir Sorgen macht.« Reks umklammerte seine Knie mit beiden Armen. Er senkte verschämt den Blick, um seinem Orham nicht in die Augen sehen zu müssen. »Wird es sehr wehtun?«, wollte er schließlich wissen. »Du meinst das Kiima-saxx?« Reks nickte. Nomi wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber eine Stimme von der Zimmertür kam ihm zuvor. »Klar tut es weh! Ganz schrecklich sogar. Es fühlt sich an, als bekämst du einen glühenden Dolch in den Hals gestoßen.« »Aber das ist nur der Anfang. Kurz danach glaubst du, dein Blut würde sich in ätzende Säure verwandeln, die dir das Hirn aus dem Schädel frisst.«
Soog und Pyla standen im Türrahmen und hatten ein diebisches Vergnügen daran, ihr jüngeres Geschwister in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie stießen ein schadenfrohes Gekecker aus, als Reks unter ihren Ankündigungen erschrocken zusammenzuckte. »Orham!« Das Junge sah seinen Elter flehend an. Nomi fuhr wütend zu seinen beiden älteren Nachkommen herum. »Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr Reks in Ruhe lassen sollt? Ständig müsst ihr ihn ärgern.« Er warf Soog und Pyla einen strengen Blick zu. »Manchmal wünsche ich mir wirklich die Zeit zurück, als jedem Nargen höchstens ein Junges erlaubt war. Da gab es wenigstens nicht andauernd Streit in den Hütten.« »Klar, zu der Zeit am Schrund was sowieso alles besser.« Pyla grinste spöttisch. »Man konnte lauter tolle Dinge unternehmen. Zum Beispiel konnte man sich aussuchen, ob man sich die Federn an einem Lavatopf versengt oder lieber den Hintern im ewigen Eis abfriert.« »Und wenn einem das zu langweilig war, konnte man sich immer noch von einem wild gewordenen Cherrs anknabbern lassen«, fügte Soog hinzu – was sein neben ihm stehendes Geschwister mit einen anerkennenden Knuff belohnte. »Lasst die frechen Reden!«, fauchte Nomi. »Ihr beide habt zwar schon vor einem Dreivierteljahr am Kiima-saxx teilgenommen, aber manchmal frage ich mich, ob ihr tatsächlich die Reife dafür hattet.« »Ustrac scheint auf jeden Fall der Meinung gewesen zu sein, dass wir erwachsen genug dafür waren«, entgegnete Pyla triumphierend. »Ja – aber er muss schließlich auch nicht jeden Tag mit euch vorlauten Früchtchen zusammenleben.« »Schätze, in diesem Punkt wäre unser Mentor mit dir wohl auch nicht einer Meinung. Das tut er nämlich.« Soog klopfte mit der flachen Hand gegen die Wand, die aus dem Körpermaterial des Jay'nacs errichtet war. »Raus jetzt!«, befahl Nomi aufgebracht. »Und vor der Zeremonie möchte ich euch auch nicht noch einmal unter die Augen bekommen, verstanden?« »Klar. Bis dann, Reks. Ich wünsche dir jetzt schon viel Spaß.«
Soog hob einen Arm und ließ einen ausgestreckten Finger in Pylas Nacken niederfahren. Der stieß daraufhin einen gequälten Schrei aus und verzog theatralisch das Gesicht. Er presste sich die Hände gegen die Schläfen, als befürchte er, sein Schädel könne jeden Moment explodieren. Doch schon wenige Sekunden später zogen sich die beiden Geschwister laut lachend von der Tür zurück. Trotzdem hatte die kleine Showeinlage ihre Wirkung nicht verfehlt. Gelbe Tropfen standen Reks in den Augen, als er sich wieder seinem Elter zuwandte. »Warum sind die bloß immer so gemein zu mir?« »Ach, hör doch einfach gar nicht auf sie«, versuchte Nomi, seinen jüngsten Nachkommen zu trösten. »Das Kiima-saxx ist nichts Schlimmes, sondern etwas Wunderbares. Damit wirst du endgültig in die Große Gemeinschaft aufgenommen. Und ich verspreche dir auch, dass die Verabreichung des Splitters nicht wehtun wird. Erinnerst du dich noch daran, als du die Ganjii-Frucht mit dem Messer zerteilen wolltest und dir dabei in den Finger geschnitten hast?« »Ja, klar.« Reks nickte. »Das war hundertmal schlimmer als die Einpflanzung des Saxx. Du wirst sehen, du spürst kaum etwas davon.« »Ehrlich?« Reks schien den Beteuerungen seines Elters noch immer nicht ganz zu vertrauen. »Muss ich das denn wirklich bei mir machen lassen?« »Es kann dich natürlich niemand dazu zwingen«, erwiderte Nomi mit einem Seufzen. »Aber du willst doch nicht zu einem ChekkTaga werden, oder?« »Natürlich nicht.« Reks schüttelte entschieden den Kopf. »Sehr gut. Einen Gottlosen hätte ich in meiner Familie auch nicht geduldet.« Nomi stand auf und zog auch sein Junges mit auf die Beine. »Jetzt müssen wir uns aber wirklich beeilen. Ustrac und die andern Nasstos warten bestimmt schon auf uns.« Reks schluckte schwer, um das nervöse Kratzen aus seiner Kehle zu vertreiben, ließ sich dann aber widerstandslos von seinem Elter aus dem Zimmer führen.
Als Nomi und Reks in der großen Halle eintrafen, herrschte dort schon großes Gedränge. Erwachsene Nargen standen an den Seiten des Gebäudes dicht aufgereiht und hatten lediglich einen ovalen Bereich vor dem Thronpodest frei gelassen. Nomi und Reks schoben sich durch die Menge bis zur Grenze des Bezirks, der den Nasstos vorbehalten war. »Ich wünsche dir viel Glück«, flüsterte Nomi seinem Jungen ins Ohr. »Wir sehen uns nach der Zeremonie.« Dann versetzte er Reks einen sanften Stoß, der ihn in das Oval stolpern ließ. Der Jungnarge reihte sich mit unsicheren Schritten zwischen seinen 23 Artgenossen ein, die heute ebenfalls den Splitter empfangen sollten. Reks hatte noch nicht richtig Aufstellung genommen, als Pern auf die Stufen des Podiums trat. Der Suprio breitete die Flügel aus und brachte damit das gespannte Murmeln in der Halle zum Verstummen. »Liebe Freunde, es ist mir eine Ehre, euch heute zu einem weiteren Kiima-saxx begrüßen zu dürfen«, wandte er sich an die Versammelten. »Ich möchte euch nicht mit langen Reden langweilen …«, er wartete ab bis vereinzelte Lacher und zustimmendes Klatschen wieder verklungen waren, »… aber ich will auch auf keinen Fall versäumen, euch mitzuteilen, dass nach der heutigen Verabreichung der Splitter insgesamt 98,4 Prozent der Gesamtbevölkerung von Kalser Teil der Großen Gemeinschaft geworden sind. Das heißt, die Zahl der gläubigen Ustranaten ist noch weiter angestiegen. Das ist eine Entwicklung, auf die wir alle sehr stolz sein können!«, rief er über den begeisterten Beifall hinweg, der nun einsetzte. »Aber lasst uns jetzt zu dem feierlichen Ereignis kommen, wegen dem wir uns alle heute hier versammelt haben. Bitte begrüßt unser aller Gönner, Beschützer und Mentor: USTRAC!« Der Beifall schwoll zu einem frenetischen Toben an. Direkt über dem steinernen Thron geriet die Hallendecke in Bewegung. Das feste Baumaterial schien dort in einen anderen Aggregatzustand übergegangen zu sein. Ein riesiger anthrazitfarbener Tropfen zog sich über den Köpfen der faszinierten Zuschauer zusam-
men. Das Gebilde löste sich von der Decke. Noch im Herunterfallen änderte es seine Form. Als es wenige Sekunden später den Sessel berührte, hatte es eine humanoide Gestalt von doppelter Nargengröße angenommen. Der Jubel, der nun einsetzte, war unbeschreiblich. Ustrac erhob sich von seinem Platz und nahm die Huldigung seiner Anhänger mit ausgebreiteten Armen entgegen. Die 24 Nasstos vor dem Podest waren bei seinem Erscheinen bereits auf die Knie gesunken und berührten mit der Stirn den Boden. Seid mir gegrüßt, Ustranaten. Die Stimme des Jay'nac in den Köpfen der Gläubigen kam einem Donnern gleich. Ich freue mich, heute wieder neue Mitglieder in den Kreis unserer Gemeinschaft aufnehmen zu dürfen. Lasst uns mit der Zeremonie beginnen. Der Jubel wich augenblicklich einem andächtigen Schweigen. Mit einem Mal war es in der Halle so still, dass sogar die aufgeregten Atemzüge der Novizen zu hören waren. Ustrac stieg von seinem Sockel und näherte sich dem ersten Jungnargen. Die Tatsache, dass er sich ausgerechnet Reks als ersten Täufling ausgesucht hatte, ließ diesen am ganzen Leib erzittern. Doch der Jay'nac kümmerte sich nicht um die Angst des Jungen. Seine Hand legte sich oberhalb des Nackens an Reks' Hinterkopf. Der wartete so voller Panik auf den befürchteten Schmerz, dass er von der eigentlichen Verabreichung des Splitters überhaupt nichts mitbekam. Erst als er zum ersten Mal die Stimme in seinem Innern vernahm, wusste er, dass sich etwas verändert hatte. Steh auf, Reks, nun sind wir für immer vereint. Der junge Narge kam schwankend dem Befehl nach, als sich Ustrac bereits dem nächsten Novizen zugewandt hatte. Ein wenig benommen – aber überglücklich – verfolgte Reks, wie der Jay'nac das Initiationsritual auch an seinen restlichen Altersgenossen durchführte. Erst danach zog sich Ustrac wieder auf das Podest zurück. Der Kiima-saxx ist vollzogen, verkündete der neue Gott der Nargen. Lasst uns alles Vergangene vergessen und unsere gesamte Kraft auf die Dinge richten, die noch vor uns liegen. Zu Ehren der neuen Mitglieder der Großen Gemeinschaft werden wir nun das He-gallo sprechen – das heilige
Gebet, um eine glorreiche Zukunft damit zu erflehen. Reks fuhr zusammen, als in seinem Kopf plötzlich ein Chor einsetzte. Unendlich viele Stimmen begannen mit einem Singsang in einer Sprache, die der junge Narge noch niemals zuvor gehört hatte und deren Sinn er nicht verstand. Trotzdem fiel es ihm erstaunlich leicht, in den Gesang einzustimmen. Die mentale Verbindung zum Rest der Großen Gemeinschaft machte dies möglich. Reks spürte, wie sich sein Geist zusammen mit dem Bewusstsein der anderen Gläubigen erhob, immer weiter aufstieg, die äußeren Grenzen des Planeten passierte und sich schließlich in die unendlichen Weiten des Alls ausbreitete.
Jahr 16 NKZ »Du?« Pern sah den Nargen, der ihn am Eingang seiner luxuriösen Wohneinheit abgepasst hatte, erstaunt an. »Wo kommst du denn auf einmal her? Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« »Sieben Jahre, um genau zu sein.« Chex zuckte mit den Schultern. »Es ist viel passiert seitdem.« »Wem sagst du das.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über das Gesicht des Suprios. »Möchtest du nicht mit reinkommen?«, fragte er dann mit einem Kopfnicken in Richtung der Tür, die am Ende der Landeplattform zu sehen war. »Besser nicht.« Chex winkte ab. »Du weißt, dass ich kein glühender Anhänger von Ustrac oder den Dingen, die mit ihm zu tun haben, bin. Und deine Wohnung ist nun mal ein Teil von ihm. Bitte nimm es mir nicht übel, wenn ich da nicht hineinwill. Es hat mich sowieso schon einige Überwindung gekostet, überhaupt hier aufzutauchen.« Perns Miene wurde schlagartig streng. »Was willst du?« »Mich von dir verabschieden«, entgegnete Chex. »Mir ist klar, dass wir nicht mehr viele Gemeinsamkeiten haben – aber irgendwie hatte
ich das Gefühl, das sei ich unserer alten Freundschaft schuldig.« »Sie ist Teil der Vergangenheit – und die Vergangenheit ist nicht mehr wichtig. Nur die Zukunft zählt.« »Du hörst dich schon an wie er.« Chex gab sich keine Mühe, sich sein Missfallen nicht anhören zu lassen. »Ist es nun endgültig so weit gekommen, dass du das willige Sprachrohr für ihn machst? Du warst einmal der stolze Anführer der Nargen, Pern. Der Suprio. Du hast selbst Entscheidungen getroffen. Ist dir das inzwischen vollkommen egal?« »Nichts ist mir egal. Mir ist bloß klar geworden, dass es nichts bringt, wenn wir an alten Einteilungen festhalten. Wenn wir alle in einem großen Ganzen aufgehen, ist das ein Vorteil für jeden von uns. Deshalb ist es mir auch nicht schwergefallen, meine eigene Position vor dem Gemeinwohl zurückzustellen. Oder willst du etwa bestreiten, dass wir in der Zeit seit Ustracs Ankunft mehr erreicht haben, als ganze Generationen vor uns, die am Rand des Schrunds vor sich hin vegetiert haben?« »Du tust unseren Vorfahren damit Unrecht.« »Ich denke, wir sollten besser das Thema wechseln, bevor wir in Streit geraten.« Pern legte die Stirn in Falten. »Was hast du die vergangenen Jahre gemacht? Seit ich deine Signale nicht mehr im Netzwerk empfangen konnte, warst du wie vom Erdboden verschwunden.« »Das lag nicht an mir«, entgegnete Chex bitter. »Seit das Nac-Netz das morphogenetische abgelöst hat, konnte ich mich mit keinem von euch mehr in Verbindung setzen. Euer Gott scheint eine sehr spezielle Politik zu verfolgen, wem er den Zutritt zu den Informationen gestattet und wem nicht.« »Das war ganz alleine deine eigene Entscheidung, Chex. Du hättest dich uns anschließen können. Übrigens, diese Möglichkeit steht dir noch immer offen.« »Auf keinen Fall.« Chex winkte energisch ab. »Mir waren dieser Jay'nac und seine Machenschaften schon immer äußerst suspekt. Aber seit ich nun erfahren habe, dass er offiziell verboten hat, die alten Götter noch weiter zu verehren oder auch nur ihre Namen zu er-
wähnen, ist für mich das Maß endgültig voll. Das ist kein Gesetz, dem ich mich beugen kann – selbst wenn ich das wollte. Ich weiß, dass du das nicht verstehen kannst. Aber es gibt noch ein paar wenige, die genauso denken wie ich.« »Du hältst dich immer noch an der Vergangenheit fest wie ein Küken, das seine Schale nicht verlassen will.« Pern schüttelte missbilligend den Kopf. »Das wird noch einmal dein Untergang sein.« »Das Risiko gehe ich ein.« Chex seufzte resigniert. »Lebe wohl, Pern. Ich wünsche dir nur das Allerbeste. Aber unsere Wege trennen sich jetzt. Wahrscheinlich werden wir uns nicht wiedersehen.« »Wo willst du hin?« »Es ist besser, wenn ich dir das nicht verrate. Ich misstraue dir nicht persönlich, aber ich befürchte, dass du aus Loyalität gegenüber Ustrac dein Wissen sofort der Großen Gemeinschaft zu Verfügung stellen würdest.« Der Gedanke daran ließ Chex erschaudern. »Und ich möchte auf keinen Fall riskieren, dass dieser Jay'nac mir und meinen Freunden – meinen echten Freunden – seine Schergen auf den Hals hetzt, um uns aus dem Weg zu räumen.« »Das würde Ustrac niemals tun«, widersprach Pern entrüstet. »Er hat es nicht nötig, zu solchen Mitteln zu grei-« Doch Chex hörte ihm bereits nicht mehr zu. Er hatte sich abgewandt und mit ausgebreiteten Flügeln von der Plattform gestürzt. Der entmachtete Suprio blickte ihm hinterher, bis seine Gestalt immer kleiner wurde und schließlich in den Straßenschluchten der wiederauferstandenen Stadt verschwunden war.
Jahr 73 NKZ »Sag mir, was es ist«, forderte Pern leise. Der Suprio befand sich im Schlafbereich seiner Wohneinheit, war aber zu geschwächt, um sich in dem Ruhegeschirr zu halten. Deshalb hatte er sich in ein nestähnliches, weich ausgepolstertes Gebilde zurückgezogen, das in einer Zimmerecke aufgeschichtet worden war. Sein hellgelbes, fast weißes
Gefieder hatte seinen ursprünglichen Glanz verloren und wies an manchen Stellen schon Lücken auf. Trotz seiner Mattigkeit bemühte sich Pern um eine aufrechte Körperhaltung. »Wann werde ich wieder gesund sein?« »Ich habe nichts feststellen können.« Der Mediker verstaute einige Untersuchungsinstrumente in einem Beutel, den er an seinem Gürtel befestigte. »Nichts Außergewöhnliches zumindest.« »Das kann nicht sein«, widersprach der Suprio. »Diese Schwäche, die Müdigkeit, die Schmerzen bei jeder Bewegung müssen doch die Symptome einer Krankheit sein.« »So gesehen hast du vielleicht sogar recht.« Der Heiler trat an sein Lager heran. »Die Krankheit, wie du es nennst, hat auch einen Namen: das Alter. Allerdings wurde bisher noch keine wirksame Medizin dagegen erfunden.« »Das Alter?«, wiederholte Pern, als wäre das eine Diagnose, die ihn aus heiterem Himmel traf. »Bist du dir sicher?« »Ganz sicher.« Der Arzt lächelte verständnisvoll. »Aber ist das für dich denn wirklich so überraschend?« »Eigentlich nicht«, gab sein Patient zu. »Allerdings ist es auch eine merkwürdige Situation für mich. Schließlich habe ich noch Zeiten erlebt, in denen kein Narge so alt wurde, wie ich es heute bin. Bevor die Alten krank und schwach wurden, hat man sie von einer Klippe gestürzt, um so Platz für den Nachwuchs zu schaffen.« »Eine grauenhafte Vorstellung.« Der Heiler schüttelte angewidert den Kopf. »Wir sollten Ustrac dankbar sein. Er hat dafür gesorgt, dass der Vergangenheit keine Bedeutung mehr beigemessen wird. Je eher solche Rituale in Vergessenheit geraten, desto besser.« Pern nickte lediglich. Der Arzt räusperte sich verlegen, denn das Thema, das er nun ansprechen musste, war nicht angenehm. »Versteh mich bitte nicht falsch, Suprio. Aber wir müssen leider der Tatsache ins Auge sehen, dass sich dein Leben dem Ende nähert. Es ist höchste Zeit, dass du dich um einen Nachfolger kümmerst.« »Das ist schon geschehen«, versicherte Pern. »Ich habe bereits mit Ustrac darüber gesprochen. Wir sind zu der Entscheidung gekom-
men, dass er nach meinem Tod den neuen Suprio ernennt. Mein Nachfolger wird andere Aufgaben zu erfüllen haben, als das bei mir der Fall war. Nun, nachdem die Nargen Teil der Großen Gemeinschaft geworden sind, brauchen sie keinen Führer mehr, der ihnen den weiteren Weg weist. Stattdessen wird der neue Suprio ihr geistliches Oberhaupt werden. Er soll das Bindeglied sein zwischen uns Sterblichen und der Unvergänglichkeit unseres Mentors.« »Ein wirklich weiser Entschluss.« Der Arzt nickte beeindruckt. »Dadurch wird –« Er verstummte, denn das Nac-Netz wurde von einem ungeheuren emotionalen Impuls erschüttert. Etwas Unfassbares musste geschehen sein, um eine solche Erschütterung auszulösen. Der Heiler stürmte zu einem der Fenster. Pern sah, wie ihm die Kinnlade fassungslos nach unten klappte. »Was ist passiert?«, wollte der Suprio wissen. »Das musst du dir ansehen.« Der Arzt kam zurückgerannt. Um nicht unnötig Zeit zu verlieren, hob er den Suprio kurzerhand aus dem Nest und trug ihn zum Fenster. Das, was Pern dort erblickte, ließ ihn heiser aufkrächzen. Ein riesiges Raumschiff hing am Himmel über der Stadt. Die Luft um das linsenförmige Objekt flimmerte vor Hitze. Seid willkommen!, hörte Pern – genauso wie jedes andere Mitglied der Großen Gemeinschaft – Ustracs Stimme in seinem Kopf. Gleichzeitig weitete sich sein Bewusstsein, wie er es sonst nur vom He-gallo, dem rituellen Gebet, kannte. Kommt zum Rand der Stadt. Dort ist alles für eure Ankunft vorbereitet.
Fast sämtliche Nargen hatten sich außerhalb der Stadtgrenze neben dem Areal versammelt, auf dem Ustrac wie aus dem Nichts eine weitläufige Fläche hatte entstehen lassen, die aus einem einzigen Stück gefertigt zu sein schien. Auch die fremden Besucher erkannten sofort, was es mit dem Platz auf sich hatte, und leiteten die Landung ein.
Kein Feuerstrahl oder ein sonstiger Hinweis auf das Antriebssystem war zu erkennen, als sich das Raumschiff langsam herabsenkte. Lediglich ein dumpfes Brummen brachte den Boden zum Vibrieren, kurz bevor die inzwischen ausgefahrenen Landefüße den Kontakt mit dem Planeten herstellten. Das Dröhnen erstarb. Während bei dem Schiff nun keinerlei Aktivitäten mehr zu erkennen waren, formte sich aus dem Boden des Landeplatzes ein Podest heraus, auf dessen Spitze ein Thron stand. Ustrac war ebenfalls erschienen, um dem außergewöhnlichen Ereignis beizuwohnen. Pern, der es mit Hilfe des Arztes bis zur Stadtgrenze geschafft hatte, nahm neben dem Sockel Aufstellung. Plötzlich setzte ein Rauschen ein. Aus mehreren Öffnungen an der Unterseite des Raumschiffs ergoss sich in breitem Strahl eine Flüssigkeit aus dem Innern. Die Nargen, die der Brühe am nächsten gestanden hatten, erhoben sich in die Luft, um nicht mit ihr in Berührung zu kommen. Das Ausströmen versiegte so schnell, wie es begonnen hatte. Stattdessen öffnete sich nun unter dem Flugobjekt eine längliche Klappe so weit, bis deren Vorderkante den Boden berührte. Ein Fahrzeug mit einem kastenförmigen Aufbau erschien in der Luke. Auf drei Kufen glitt es die Rampe hinab und kam genau vor Ustracs Thronpodest zum Stehen. Die Spannung innerhalb der Nargen war beinahe mit Händen zu greifen – der Jay'nac jedoch blieb völlig ruhig. Er erhob sich von seinem Platz und sah das Fahrzeug erwartungsvoll an. Der Aufbau schob sich auseinander, und ein weiterer Schwall Flüssigkeit schwappte daraus hervor. Unter den Zuschauern wurde nervöses Krächzen laut, als zu erkennen war, dass der Schlitten mit fünf Lebewesen besetzt war. Rumpf und Gliedmaßen hatten humanoide Form, aber ihre Köpfe waren die von Echsen. Quadratische Schuppen, die im Grün oxidierten Kupfers schimmerten, reichten ihnen über Gesicht und Nacken bis in den Kragen ihrer Raumanzüge hinab. Die fünf Kreaturen kletterten aus ihrem Fahrzeug, sahen sich nur kurz nach den versammelten Nargen um, bevor sie sich Ustracs Podest zuwandten. »Sei gegrüßt, mächtiger Herr.« Eines der Wesen legte sich eine
Hand zwischen die Augen, was offensichtlich als Ehrerbietung gemeint war. »Wir, das Volk der Daalag, haben deinen Ruf empfangen und sind ihm gefolgt. Wir bitten dich, erweise uns die Gunst, uns in der Großen Gemeinschaft aufzunehmen.« »Was soll das heißen?« Aus Perns Körper war jede Müdigkeit schlagartig verschwunden. »Von welchem Ruf reden sie? Woher wissen sie überhaupt etwas von der Großen Gemeinschaft?« Doch der Jay'nac schenkte den Fragen des Suprios keine Beachtung. Er stieg von seinem Thron herab und baute sich vor dem Wortführer der Neuankömmlinge auf. »Auch ich heiße euch willkommen«, entgegnete er, »und gewähre euch voller Freude die Möglichkeit, euch auf diesem Planeten anzusiedeln.« Ustrac ignorierte die Unruhe, die sich daraufhin unter den Nargen breitmachte. »Sagt, welche Bedingungen ihr zum Überleben braucht, damit wir einen passenden Platz für euch auf Kalser finden können.« »Da der Stoffwechsel unserer metallischen Körper auf dem Prinzip der Oxidation beruht«, entgegnete der Daalag, »ist es von Vorteil, wenn wir uns immer in der Reichweite von genügend Wasser aufhalten.« »Anorganische«, stieß Pern hervor, als er das hörte. »Die Neuankömmlinge sind Anorganische.« »Das ist kein Problem«, versicherte Ustrac, ohne sich um den Zwischenruf zu kümmern. »Nach dem Abschmelzen der Eisschicht gibt es zahllose Seen und Ozeane auf der Planetenoberfläche. Ihr werdet mit Leichtigkeit einen Ort finden, um eure Kolonie zu gründen.« »Eure Güte ist unermesslich, Herr.« Das Echsenwesen legte sich erneut die Hand zwischen die Augen. »Aber bevor ihr euch hier niederlassen könnt, verlange ich von dir – von jedem von euch – einen Beweis der Ergebenheit«, fuhr der Jay'nac mit einer Stimme fort, die keinen Widerspruch zuließ. »Das gilt genauso für jeden zukünftigen Nachkommen von euch auf diesem Planeten.« »Wir sind bereit, deine Bedingungen anzuerkennen«, antwortete der Daalag, ohne zu zögern. Seine Begleiter nickten zustimmend.
»Dann kniet jetzt nieder«, befahl Ustrac, »damit ihr das Saxx empfangen könnt.« Die Echsenwesen ließen sich in den Staub fallen. Ustracs Hände näherten sich dem Hinterkopf des ersten Daalag. »Hast du dir das auch gut überlegt?«, rief Pern. »Was ist, wenn sich herausstellt, dass sie überhaupt nicht in die Große Gemeinschaft passen? Es könnte doch sein, dass sie –« Weiter kam er nicht, denn Ustrac hatte dem ersten Neuankömmling bereits einen Splitter eingepflanzt. Das Bewusstsein des Anorganischen verschmolz in Sekundenschnelle mit dem der Ustranaten. Die mentale Welle breitete sich explosionsartig aus. Das Wissen, die Erfahrungen und Talente, die sie an die Nargen weitergaben, waren von einer solchen Intensität, dass nicht wenige unter dem Eindruck zusammenbrachen. Die meisten von ihnen erholten sich recht schnell wieder von dem Schock. Nur einer blieb regungslos am Boden liegen. Perns vom Alter geschwächter Körper hatte der Belastung nicht standgehalten. Trauer überflutete das Bewusstsein der am Landeplatz Versammelten, als sie begriffen, dass der Suprio, der sie einst vom Schrund in ein neues Leben geführt hatte, nicht mehr am Leben war.
Jahr 543 NKZ
Mitteilung von Tolo – Oberster Verwalter und Hoher Priester der 6. Generation – an die Große Gemeinschaft Nach der gestrigen Ankunft eines weiteren Raumkreuzers ist es uns eine Ehre, mitteilen zu können, dass das Volk der Cromatiten morgen im Rahmen einer feierlichen Zeremonie Aufnahme in die Große Gemeinschaft finden. Unser Mentor wird das Kiima-saxx ein letztes Mal auf dem »Feld der Vereinigung« durchführen. Danach wird jede Siedlung mit mehr als 1.000 Einwohnern dazu aufgefordert, geeignete Kultstätten zur Verfügung zu
stellen, wo das Ritual der Splitterübertragung in einem dem Anlass entsprechenden Rahmen abgehalten werden kann. Das Volk der Cromatiten hat von unserem Mentor den Gipfel des NennHauwa im Gata-Gebirge als Siedlungsgebiet zugewiesen bekommen, da die dort ganzjährig herrschenden Winde am besten dazu geeignet sind, die für ihre Atmung notwendigen Rotationsmembranen in Bewegung zu halten. Das Raumschiff wird in der nächsten Zeit als Basis der Siedlung auf dem Berggipfel verankert werden. Des Weiteren werden die Angehörigen der Terexx dazu aufgefordert, sich bei Anwesenheit anderer Lebensformen nicht dem prallen Sonnenlicht auszusetzen, da die von ihnen dann emittierten Laserstrahlen ein erhöhtes Verletzungsrisiko darstellen. Gleichzeitig möchte ich nicht versäumen, den Zuluum zum Ausschlüpfen ihres fünftausendsten Nachkommen seit ihrer Ankunft auf Kalser zu gratulieren. Alle auf Siliziumbasis existierenden Lebensformen möchte ich ferner darauf hinweisen, dass die radioaktiven Quellen in den Stan'nac-Schluchten ab sofort wieder zu Benutzung zur Verfügung stehen. Ab dem heutigen Tag treten außerdem folgende neue Gesetze in Kraft: Um dem He-gallo die ihm gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, wird verfügt, dass sämtliche Arbeiten während des Gebets zu ruhen haben. Um eine Schwächung der Allgemeinheit durch die Gottlosen zu vermeiden, wird jedem Mitglied der Großen Gemeinschaft untersagt, Kontakt zu einem Chekk-Taga aufzunehmen, ihm Obdach zu gewähren oder ihm jegliche sonstige Art der Unterstützung zukommen zu lassen. Ehre sei unserem ewigen Mentor Ustrac
Jahr 3899 NKZ
Auszug aus dem Zentralregister der Hauptverwaltung des Planeten Kalser – Gesamtmitgliederzahl der Großen Gemeinschaft: 2.013.633.101
– Auf dem Planeten angesiedelte Lebensformen: 121 – Ansiedlungen mit einer Einwohnerzahl > 10.000: 185; davon submarin: 7, mobil: 3, in wechselndem Aggregatzustand existent: 1 – Gesamtmenge der sich im Umlauf befindlichen Währung: 55.100.000.000 Choc-Nar – Geplanter Bevölkerungszuwachs in den kommenden 10 Jahren: 5 Prozent – Zahl der auf dem Planeten verdeckt operierenden Chekk-Taga: 2.500 (Angabe geschätzt)
Als die Verbindung zu Jezz abbrach, benötigte Jiim einen Augenblick, um die Orientierung wiederzufinden. Erst als er sich nach allen Seiten umsah, begriff er, dass er sich noch immer in der Ganfhülle tief unter der Planetenoberfläche von Kalser befand. »Wie war es?«, wollte Jarvis sofort wissen, nachdem er erkannt hatte, dass sich sein Freund aus der Starre gelöst hatte, in die er während der mentalen Kommunikation verfallen war. »Weißt du nun Bescheid, was auf deinem Heimatplaneten passiert ist?« »Nicht vollständig.« Jiim wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht bei dem Versuch, so wenigstens ein bisschen Ordnung in seine Gedanken zu bringen. »Aber ich sehe schon etwas klarer.« Er wandte sich Jezz zu. »Dann gehören du, Akat und Tokk also zu den Chekk-Taga?« »Ganz genau«, bestätigte der alte Narge. »Oder zu den Gottlosen, wie uns die Anhänger Ustracs auch nennen. Obwohl das natürlich ein irreführender Ausdruck ist. Mit Plephes, Sermon, Anteri, Coor und all den anderen, die wir noch immer verehren, haben wir schließlich viel mehr Götter als sie selbst.« »Verstehe.« Jiim erhob sich und half auch seinem mentalen Gesprächspartner wieder auf die Beine. »Müsst ihr euch hier unten versteckt halten, weil ihr verfolgt werdet?« »Das wäre wahrscheinlich ein zu harter Ausdruck dafür.« Jezz wiegte den Kopf hin und her. »Es finden keine Hetzjagden auf uns statt, aber sobald die Ustranaten herausfinden, dass jemand nicht
der Großen Gemeinschaft angehört, machen sie ihm gehörigen Ärger – Glaubensfreiheit und Toleranz sind nicht gerade eine ihrer Haupteigenschaften. Vermutlich hat Ustrac ihnen diesen Charakterzug eingepflanzt.« »Willst du damit sagen, dass er im Lauf der Jahrtausende, seit er auf Kalser herrscht, zu einem Diktator geworden ist?« »Diese Frage ist zu komplex, als dass sie mit einem klaren Ja oder Nein zu beantworten wäre.« Der alte Narge schnitt eine Grimasse, als hätte er sich über dieses Problem schon oft den Kopf zerbrochen. »Es steht zweifellos fest, dass Ustrac alles unternommen hat, um seine Macht zu festigen und weiter auszubauen. Aber man muss auch zugeben, dass das Volk der Nargen durch seine Hilfe eine Entwicklung durchlaufen hat, die ohne sein Zutun niemals möglich gewesen wäre. Wenn Ustrac nicht eingegriffen hätte, wären wir heute vielleicht immer noch ein kleiner, verlorener Haufen Vogelwesen, der am Rand des Schrunds sein Dasein fristet.« »Glaubst du nicht, das ist etwas übertrieben?« Jiim zog skeptisch die Mundwinkel nach unten. »Ich halte das Volk der Nargen für intelligent genug, um auch allein für einen gewissen Fortschritt zu sorgen.« »Aber bestimmt nicht in dem Maß, wie es unter dem Einfluss Ustracs passiert ist«, widersprach Jezz. »Bei Plephes, jetzt höre ich mich beinahe so an, als wollte ich diesen Kerl verteidigen. Aber das habe ich nicht vor. Dennoch steht es außer Frage, dass das Wissen der Gemeinschaft durch das Verschmelzen mit den anderen Völkern immens angewachsen ist.« »Kann mir mal einer erklären, von was ihr da eigentlich redet?« Jarvis sah verständnislos zwischen den beiden echten Nargen hin und her. »Das werde ich tun, wenn wir genügend Zeit dafür haben«, versprach Jiim seinem Freund. »Aber vorher muss ich selbst noch versuchen, ein paar Dinge zu verstehen.« Er drehte sich wieder zu Jezz um. »Was war es, das diese vielen unterschiedlichen Völker nach Kalser geführt hat? Für einen reinen Zufall scheinen mir das einfach zu viele zu sein.«
»Selbstverständlich war das kein Zufall.« Der alte Narge winkte ab. »Wenn ihr mich fragt, war das alles ein Trick von Ustrac. Seit er Verbindung zum morphogenetischen Netz hatte, hat er es einfach umprogrammiert. Die mentale Verbindung der Großen Gemeinschaft nennt sich Nac-Netz.« »War das nicht die Art, in der Tokk testweise versucht hat, mit uns zu kommunizieren?« »In der Tat.« »Aber wie kann er dann einer von euch sein. Ich dachte, um Verbindung zum Nac-Netz zu erhalten, muss man einen dieser Splitter in sich tragen.« »Tokk ist ein Sonderfall. Einer, wie er nur unter vielen Millionen einmal vorkommt. Er hat eine knöcherne Verwachsung im Nacken. Deshalb konnte der Splitter nicht so tief in ihn dringen wie bei den andern Ustranaten. Er hat Verbindung zum Netz, verfügt aber auch noch über einen eigenen Willen.« »Ach so. Aber das erklärt noch nicht, weshalb die anderen Völker hier aufgetaucht sind.« »Das He-gallo – das heilige Gebet, zu dem die Ustranaten mehrmals am Tag verpflichtet sind – ist nichts weiter als ein Lockruf, den der Kerl mithilfe der Gemeinschaft mental ins Universum schickt. Dass es funktioniert, beweist die Tatsache, dass eine Unmenge unterschiedlichster Lebewesen dem Ruf gefolgt sind.« »Hat er das getan, um den Kenntnisstand der Gemeinschaft damit zu erhöhen?« »Vielleicht war das zum Teil seine Absicht.« Jezz konnte sich ein bitteres Lächeln nicht verkneifen. »Ich schätze viel eher, dass Ustrac die Gesellschaft der Nargen schlicht und einfach nicht genug war. Wie ließe es sich sonst erklären, dass es sich bei jeder Lebensform, die im Lauf der Jahrtausende auf Kalser aufgetaucht ist, ausnahmslos um Anorganische handelt? Er wollte seinesgleichen um sich haben, weil er die Nargen im Grunde für eine minderwertige Spezies hält. Deshalb hat er den Neuankömmlingen sofort erlaubt, sich hier anzusiedeln und ihre Raumschiffe als Kernzellen neuer Städte zu benutzen.«
»Das kommt mir doch irgendwie bekannt vor«, knurrte Jarvis. »Die Äskulapschiffe haben in den Metrops der Erde etwas Ähnliches veranstaltet.« »Dazu kann ich nichts sagen.« Jezz zuckte ratlos mit den Achseln. »Auf jeden Fall hat es Ustrac geschafft, sich auf unabsehbare Zeit die Macht zu sichern. Jeder Nachkomme seiner Anhänger bekommt von ihm einen Splitter verabreicht. Sollten sie vorher auch nur noch einen Funken von Widerspruchswillen oder Rebellion in sich getragen haben – spätestens mit dem Kiima-saxx werden sie zu seinen treuen Untergebenen. Dass Ustrac dabei nicht nur die politische Führung für sich beansprucht, sondern sich als einen Gott feiern lässt, macht ihn nur noch unangreifbarer.« »Dann herrscht hier also doch so etwas wie ein Regime?«, wollte Jiim erschrocken wissen. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass das nicht so einfach zu beantworten ist. Ein Regime stützt sich auf Terror und Unterdrückung. Das wirst du hier nicht finden. Die Große Gemeinschaft bildet ein soziales Gefüge, in dem die Koexistenz der Völker reibungslos funktioniert. Seit Ustrac auf Kalser erschienen ist, hat es keine kriegerische Auseinandersetzung mehr gegeben. Das ist ein Aspekt, den man nicht außer Acht lassen darf.« »Aber dann verstehe ich nicht, weshalb du das Leben eines isolierten Außenseiters dem in einer funktionierenden Gesellschaft vorziehst.« Jezz seufzte. »Das liegt wohl daran, dass ich mir nicht gerne vorschreiben lasse, was ich zu tun und zu glauben habe. Wahrscheinlich habe ich das in den Genen mitbekommen – von meinem Urahnen Chex …« Er hielt einen Moment inne und legte Jiim eine Hand auf die Schulter. »… den du ja tatsächlich noch persönlich gekannt hast, wie ich gerade während unserer mentalen Verbindung erfahren habe.« »Das stimmt.« Jiim spürte, wie die Erinnerung an seinen Freund seine beiden Herzen schwer werden ließ. »Was ist damals mit ihm passiert?« »Er hat sich mit denen, die genauso dachten wie er, in den Unter-
grund zurückgezogen. Das Leben hier unten war bestimmt mühseliger als das in der Großen Gemeinschaft. Aber ich bin mir sicher, dass er seine Entscheidung niemals bereut hat. Genauso wenig, wie ich das tue.« »Das verdient Respekt.« Jiim stieß schwer die Luft aus. »Viele Fragen sind jetzt zwar beantwortet, aber trotzdem weiß ich immer noch nicht genau, was ich von der jetzigen Situation halten soll. Ist das System, das Ustrac aufgebaut hat, ein Segen oder ein Fluch?« »Warum machst du dir nicht selbst ein Bild davon?«, schlug der alte Narge vor. »In Kürze findet wieder ein Kiima-saxx im großen Stadion statt. Geht hin und seht euch die Zeremonie der Splitterverabreichung an. Wenn ihr euch vorsichtig verhaltet, werdet ihr zwischen den restlichen Zuschauern nicht auffallen. Nachdem ihr einmal persönlich dabei gewesen seid, fällt es euch bestimmt leichter, zu entscheiden, ob ihr euch mit der Lebensweise, für die sich die meisten Einwohner Kalsers entschieden haben, identifizieren könnt oder nicht.«
»Na endlich. Da seid ihr ja wieder.« Das Erste, was Yael sah, als er die Augen aufschlug, war Stevs grinsendes Gesicht über sich. »Mein Güte, ich habe schon geglaubt, ihr wacht die nächsten hundert Jahre nicht mehr auf.« »Was … was ist passiert?« Yael richtete sich auf. Das Sprechen fiel ihm schwer, denn seine ausgedörrte Zunge schmirgelte wie ein Stück Holz gegen seinen Gaumen. »Hier … nimm das.« Kyyb reichte ihm ein Glas mit Wasser. »Dann wird es dir gleich besser gehen.« Yael trank mit tiefen, gierigen Zügen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Charly nicht weit von ihm entfernt ebenfalls auf dem Boden hockte. Dessen Aussehen nach zu urteilen, ging es seinem Freund auch nicht viel besser als ihm selbst. »Was war denn los?«, erkundigte sich Yael erneut, nachdem er das Glas geleert hatte. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir auf diesem Konzert waren. Es war sehr laut, deshalb sind wir in eine
von diesen Nischen gegangen. Danach weiß ich gar nichts mehr.« »Ihr habt euch von irgendeinem Typen Zasss andrehen lassen«, erklärte Stev. »Und das Zeug hat euch einfach umgehauen.« »Also, ich habe ja schon einiges erlebt.« Gara tauchte neben dem Anführer der Gang auf. »Aber dass sich jemand die Biester im Gesicht ansetzt, ist wirklich der Oberhammer. Wirklich kein Wunder, dass es euch beinahe den Schädel gesprengt hat. Normalerweise lässt man sich von den Zasss-Spinnen in den Finger beißen. Habt ihr das denn nicht gewusst?« »Nein«, gab Yael verlegen zu. »Dann könnt ihr von Glück sagen, dass wir euch gefunden und aufgesammelt haben.« Stev gab ein amüsiertes Keckem von sich. »Wo sind wir hier überhaupt?« Charly kam näher heran. Er machte eine Geste in den lang gestreckten, tunnelförmigen Raum. »Das ist die Wohnung von Nonno.« Stev deutete mit dem Daumen auf den doppelköpfigen Hermphag. »Seine Eltern sind für ein paar Tage unterwegs, deshalb haben wir euch einfach hierher geschafft, damit ihr euch ausschlafen könnt.« »… was ihr auch ausgiebig getan habt«, fügte Muks süffisant hinzu. »In den letzten zwei Tagen hätte neben euch ein Vulkan ausbrechen können, ohne dass ihr davon etwas mitgekriegt hättet. Wir haben schon befürchtet, wir würden euch nicht mehr rechtzeitig wach bekommen.« »Zwei Tage?« Yael riss fassungslos die Augen auf. »Das ist ja eine halbe Ewigkeit.« »Allerdings.« Stev nickte. »Aber jetzt müssen wir uns auch beeilen, damit wir nicht zu spät kommen.« »Sollen wir ihn wirklich in diesem Aufzug mitnehmen?« Erst als Gara auf Yael zeigte, fiel dem auf, dass die ausgeblichenen Schwungfedern des Jungnargen wieder in einem makellosen Rot erstrahlten. Auch Stev, Kyyb und Muks hatten ihren eigenwilligen Schmuck abgelegt. »Uns wird nichts anderes übrig bleiben.« Der Anführer zuckte mit den Schultern. »Ustrac wird ihm das Saxx schon nicht verweigern, bloß weil Yael ein bisschen golden schimmert. Schließlich werden
auch ein paar Gestalten da sein, die noch viel schlimmer aussehen als er. Nicht wahr, Nonno?« Er versetzte dem Hermphag einen Stoß zwischen die ausgehärteten Körperglieder. »Sehr witzig, Stev«, erwiderten die beiden Köpfe im Chor. »Wir werden dann später alle gemeinsam über den Scherz lachen. Oder auch nicht.« »Nun hab dich nicht so.« »Sollen wir wirklich mit euch kommen?«, fragte Charly unsicher. »Können wir nicht einfach hier warten, bis ihr wieder zurück seid?« »Auf keinen Fall«, erklärte Nonno, wie aus der Pistole geschossen. »Wie soll ich das meinen Eltern erklären, wenn sie doch früher als erwartet hier auftauchen, und ihr hockt hier rum?« »Ihr habt es gehört: Kneifen gilt nicht. Los, Leute, schnappt sie euch.« Stev gab dem Rest seiner Gang ein aufforderndes Zeichen. »Dann nichts wie los ins Stadion.« Yael und Charly wurden von ihren neuen Freunden umringt. Da die Wirkung des Zasss noch immer nicht vollständig verflogen war, konnten sie sich nicht dagegen wehren, als sie gepackt und durch die Gänge des Wohntunnels davongeschleppt wurden.
»Plötzlich bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, hierherzukommen.« Jiim zog sich den Umhang, den er von Tokk bekommen hatte, um sein Nabiss zu verhüllen, enger um den Körper. Gemeinsam mit Jarvis saß er auf einer Tribüne der Arena, die sie beim ersten Überfliegen der Stadt bereits aus großer Höhe entdeckt hatten. Aus nächster Nähe wirkte der künstliche Vulkankrater noch imposanter, geradezu Ehrfurcht gebietend. Der Eindruck wurde durch die Tatsache, dass das Stadion bis auf den letzten Platz besetzt war, noch verstärkt. Entlang des Rundes wogte ein unüberschaubares Meer aus Köpfen und Leibern. »Was ist, wenn wir doch noch Schwierigkeiten bekommen?« »Wenn du dich dauernd schuldbewusst nach allen Seiten umsiehst, wird das sogar ganz bestimmt passieren«, zischte Jarvis. »Also, bleib endlich sitzen und versuch, dich möglichst unauffällig
zu verhalten.« Jiim nickte stumm. Doch dann ließ ihn eine weitere Befürchtung aufschrecken. »Hast du daran gedacht, Sesha Bescheid zu geben, dass sich unsere Planungen geändert haben?«, flüsterte er seinem Begleiter zu. »Wenn sie uns mitten in der Zeremonie anfunkt, könnte das ziemlichen Ärger geben.« »Alles erledigt«, versicherte Jarvis mit gesenkter Stimme. »Ich habe ihr gesagt, dass sie abwarten soll, bis wir uns wieder melden. Um kein unnötiges Aufsehen zu erregen, habe ich den Funkspruch sehr knapp gehalten. Aber nachdem wir in der Ganfhülle in einem Funkloch gesteckt haben, waren sie da oben sehr erleichtert, überhaupt wieder was von uns zu hören.« Er zeigte mit einem Daumen gen Himmel. »Das kann ich mir vorstellen.« Jiim kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich mir auf meinem eigenen Heimatplaneten so fremd vorkommen könnte. Erst jetzt wird mir richtig klar, wie ihr euch gefühlt haben müsst, als ihr die Erde wiedergesehen habt. Man kommt an einen Ort, den man zwar kennt, der aber so verändert ist, dass man sich kaum noch zurechtfindet. Merkwürdig, findest du nicht?« »Absolut«, bestätigte Jarvis. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass –« Seine Worte wurden von den lauten Klängen einer Fanfare übertönt, die urplötzlich einsetzte. »Es geht los.« Der Ex-Klon zeigte auf die Musiker, die an einer Balustrade am oberen Stadionrand erschienen waren. »Ich bin schon verteufelt gespannt, was uns gleich erwarten wird.« Am hinteren Ende der Arena öffnete sich ein Tor. Ohrenbetäubender Jubel setzte ein. Um nicht zwischen den anderen Zuschauern aufzufallen, begannen Jiim und Jarvis ebenfalls, zu klatschen und begeisterte Rufe auszustoßen. Der Applaus schwoll noch weiter an, als unter dem Torbogen die ersten Gestalten sichtbar wurden. Die Prozession der Nasstos betrat den Innenraum zwischen den Rängen. Die Nargen bildeten den größten Prozentsatz der Jugendlichen, die an diesem Tag in den
Kreis der Großen Gemeinschaft aufgenommen werden sollten, aber es nahmen auch Wesen an dem Einmarsch teil, von denen die beiden Besatzungsmitglieder der RUBIKON auf ihren Reisen durch das Universum noch nie etwa gehört, geschweige denn Vertreter ihrer Art schon einmal zu Gesicht bekommen hatten. Die Nasstos waren noch damit beschäftigt, in der Mitte des Stadions Aufstellung zu nehmen, als das Mauerwerk, das die oberen Ränge umrahmte, in Bewegung geriet. Das Gestein schien mit einem Mal eine flüssige Konsistenz angenommen zu haben. Es zog sich an einer Stelle hinter den Sitzreihen zusammen, stieg immer weiter in die Höhe – wie ein riesiger Finger, der in den Himmel zeigte. Das Gebilde hatte bereits die Größe eines Turms angenommen, als das Wachstum schließlich zum Stillstand kam. Seine Spitze pendelte ein paar Mal suchend hin und her, bevor sie schließlich direkt in Richtung des Arenazentrums schoss, wo sie sich tief in den Boden bohrte. Für einen Moment war ein riesiger Bogen zwischen der Mitte und dem oberen Rang des Stadions gespannt. Dann löste sich das biegsame Gestein von der Stelle, die den Fuß des Turm gebildet hatte, und formte sich zu einem gewaltigen Podest vor den Reihen der Novizen. Am höchsten Punkt des Sockels erschien ein Thron, auf dem eine riesige Gestalt saß. »Eins muss man dem Kerl lassen.« Jarvis musste seinen Mund an Jiims Ohr legen, um gegen das frenetische Geschrei anzukommen, das nun einsetzte. »Er hat es wirklich drauf, wie man einen beeindruckenden Auftritt in Szene setzt.« Ustrac erhob sich von seinem Platz. Eine kleine Handbewegung genügte, um das Publikum zum Verstummen zu bringen. Eine andächtige Stille senkte sich über das Stadion. Die Gestalt des Jay'nac strahlte eine faszinierende Erhabenheit aus, als Kalsers selbst ernannter Gott die Stufen zu den Novizen hinabstieg, die bereits auf die Knie gesunken waren. Ustrac verlor keine Zeit. Er schritt die erste Reihe der Nasstos ab, legte ihnen die Hand in den Nacken – oder die dieser Stelle entsprechende Körperpartie des jeweiligen Wesens –, und verabreichte dem Täufling so einen seiner Splitter. Einige der Neulinge begannen ek-
statisch zu zucken, als ihre mentale Verbindung zur Großen Gemeinschaft schlagartig einsetzte. »Meine Güte«, raunte Jarvis Jiim verstohlen zu. »Was hältst du von der Show, die dieser Kerl hier abzieht?« Doch der Narge erwiderte nichts. Jiims Blick war wie gebannt auf einen der Novizen gerichtet, der in der dritten Reihe der Nasstos am Boden kauerte. Im Gegensatz zu dem der anderen Jungnargen in seiner Umgebung schimmerte sein Gefieder golden. Genauso golden wie das von Jiim. »Das … das ist unmöglich«, stammelte Jiim. Jarvis folgte seinem Blick. »Yael!«, stieß er erschrocken hervor, als er den Nachkommen seines Begleiters erkannte. »Und das neben ihm ist Charly! Was zur Hölle haben die beiden hier verloren?« »Sie wollen am Kiima-saxx teilnehmen!«, rief Jiim entsetzt. Er war viel zu erregt, um noch weiter auf ihre Tarnung zu achten. »Das müssen wir verhindern!« YAEL!!! Seine Botschaft im morphogenetischen Netz kam einem verzweifelten Aufschrei gleich. TU ES NICHT! DU DARFST ES NICHT ZULASSEN, DASS USTRAC EWIGE GEWALT ÜBER DICH BEKOMMT! Der Jay'nac hatte inzwischen bereits den ersten beiden Reihen der Nasstos das Saxx eingepflanzt. Er war nur noch fünf Novizen von Yael entfernt, als der junge Narge sich unvermittelt aufrichtete. Yaels Blick wandte sich den voll besetzten Tribünen zu. Orham!, vernahm Jiim die Stimme seines Jungen im Innern seines Schädels. Yael hatte den mentalen Impuls also tatsächlich empfangen. Zum ersten Mal, seit er aus dem Ei geschlüpft war, bestand eine vollständige geistige Kommunikationsverbindung zwischen ihm und seinem Elter. Wo … wo bist du? Ganz in deiner Nähe! Warte – ich hole dich da raus! Inzwischen war auch Ustrac auf den Zwischenfall aufmerksam geworden. Er ließ den Nassto, vor dem er sich gerade aufgebaut hatte, einfach stehen und eilte mit großen Schritten auf Yael zu. Sein Arm streckte sich nach ihm aus, um dem jungen Nargen so schnell wie
möglich den Splitter zu verabreichen. »Ich muss ihm helfen!« Jiim warf den Umhang ab. Ohne auf mögliche Folgen zu achten, katapultierte er sich aus dem Stand in die Luft, dann raste er mit einem halsbrecherischen Tempo über die Köpfe der Zuschauer hinweg auf das Stadioninnere zu. Aber auch Jarvis reagierte und folgte dem Freund. Jiim hatte inzwischen den unteren Bereich der Arena erreicht. Aber er war immer noch zu weit von seinem Jungen entfernt, um in das Geschehen in den Reihen der Nasstos eingreifen zu können. Er musste hilflos mit ansehen, wie Ustrac nach Yael griff. YAEL! PASS AUF!!! Dem gelang es, sich unter der Hand des Jay'nac wegzuducken. Da sie Reihen der Novizen zu eng waren, um seine Flügel ungehindert ausbreiten zu können, stieß Yael Stev, der links neben ihm stand, beiseite, dann stürmte er in der Richtung davon, aus der er seinen Elter nahen sah. Mittlerweile hatten auch die völlig verblüfften Zuschauer ihren ersten Schrecken überwunden. Die meisten von ihnen konnten die Ereignisse auf dem Feld des Stadions nicht richtig einordnen. Für sie sah es aus, als versuchten zwei Nargen, den Gott der Großen Gemeinschaft anzugreifen – und entsprechend massiv fiel die Reaktion der versammelten Ustranaten aus. Überall auf den Rängen stiegen Nargen und andere flugfähige Wesen auf, um die vermeintlichen Attentäter aufzuhalten. Nur mit einer Folge waghalsiger Flugmanöver gelang es Jarvis, den von allen Seiten heranjagenden Verfolgern auszuweichen. Eine Hand packte sein Fußgelenk, um ihn in die Tiefe zu zerren. Nur weil Jarvis seinem Nanokörper den entsprechenden Befehl gab, verformte sich sein Bein so, dass es keine Schwierigkeit war, sich dem Griff zu entwinden. Aber sofort setzte ein weiterer Angreifer nach. Eine Krakenkreatur, die an einem keilförmigen Drachen hing, raste direkt auf ihn zu; bereit, ihr eigenes Leben zu opfern, um ihren Gott zu retten. Mit einem kräftigen Flügelschlag schoss Jarvis steil nach oben. Das Krakenwesen verfehlte ihn nur knapp, bevor es in die Zuschauerrei-
hen auf einer der Tribünen abstürzte. Jarvis beschrieb einen Looping, um wieder in seine ursprüngliche Fluglage zu kommen. Da sah er, dass Jiim und Yael einander erreicht hatten. Der Narge stieß auf das Feld hinab und packte sein halbwüchsiges Junges an den Schultern. Charly, der seinem Freund gefolgt war, war nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Jarvis überwand die letzte Distanz zu ihnen … und transitierte sie aus dem Gefahrenbereich. Das Stadion – und mit ihm die wütende Meute – verschwand, als wäre es nur das Trugbild eines verstörenden Traums gewesen.
9. Kapitel »Meldung, Sesha«, befahl der Commander. »Wie sieht es aus?« Als Jarvis' Notruf auf der RUBIKON eingetroffen war, war Cloud auf schnellstem Weg zur Zentrale geeilt. Scobee, Algorian und Aylea waren kurz darauf ebenfalls dort eingetroffen. Um die drei Besatzungsmitglieder auf dem neuesten Stand der Entwicklungen zu halten, hatte sich Cloud dazu entschlossen, sich nicht in seinen Sarkophagsitz zurückzuziehen, sondern verbal mit der Bord-KI zu kommunizieren. »Nottransition erfolgreich abgeschlossen«, verkündete Sesha. »Alle drei Mitglieder der Außenmission befinden sich wieder an Bord des Schiffes.« »Sehr gut.« Cloud und Scobee wechselten einen erleichterten Blick. »Mal sehen, was sie von ihrem Ausflug zu erzähl-« Der Commander stutzte. »Moment mal. Was soll das heißen: Alle drei Mitglieder?« »Jarvis, Jiim und Yael«, entgegnete die KI, als sei das die natürlichste Sache der Welt. »Yael war auch mit auf Kalser?« Cloud meinte, sich verhört zu haben. »Das ist doch wohl nur ein Scherz.« »Absolut nicht.« Sesha brachte es fertig, ihrer Stimme einen frostigen Unterton beizumischen. »Er wurde auf den Wunsch seines Elters auf den Planeten befördert.« »Hat das einer von euch gewusst?«, wandte sich Cloud an die restlichen Anwesenden. Scobee, Algorian und Aylea schüttelten die Köpfe. »Das kann ich mir auch nicht vorstellen, John«, fügte die GenTec hinzu. »Es sieht Jiim absolut nicht ähnlich, so etwas hinter unserem Rücken zu veranstalten. Erst recht nicht, wenn die Möglichkeit besteht, Yael durch eine solche Aktion in Gefahr zu bringen. Außerdem: Wie hätte er ihn da unten vor Jarvis verstecken sollen? Dass der bei einem Vertrauensbruch mitmacht, halte ich nämlich für
gänzlich ausgeschlossen.« »Das sehe ich ähnlich«, stimmte Cloud zu. »Das macht die ganze Sache ja so merkwürdig. Sesha, wo sind die zurückgekehrten Missionsteilnehmer jetzt?« »Ich habe sie nach Pseudokalser gehen sehen.« »Stell mir eine Verbindung mit ihnen her. Sofort.« Die Antwort der KI beschränkte sich auf ein kurzes Knacken, mit der sie die Leitung freigab. »Jarvis, bitte melde dich. Was war da unten bei euch los?« »Hallo, John, schön, dich zu hören«, erwiderte der Ex-Klon beinahe augenblicklich. »Bei all den seltsamen Gestalten, die sich auf Kalser rumgetrieben haben, hatte ich schon richtig Sehnsucht, die ganze Mischpoke auf der RUBIKON wiederzusehen. Das gilt natürlich auch ganz besonders für dich, Scob.« »Besten Dank für die Blumen.« Die GenTec schürzte die Lippen. »Willkommen daheim – und das gilt für euch alle drei.« »Stimmt es, dass Yael mit euch auf Kalser war?«, fügte der Commander streng hinzu. »Obwohl das mit uns nicht so abgesprochen war.« »Ja. Genau genommen waren wir sogar zu viert. Yael hatte nämlich auch noch diesen Charly im Schlepptau. Aber wie du weißt, ist dieser Bursche sowieso eine Nummer für sich.« »Das wird ja immer besser.« John Cloud gab sich keine Mühe, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen. »Macht euch schon mal darauf gefasst, dass da eine Menge Erklärungen fällig werden.« »Sicher. Aber du kannst mir glauben, dass wir auch unseren Augen kaum geglaubt haben, als wir die beiden Herumtreiber da unten entdeckt haben.« Die Erinnerung daran entlockte Jarvis ein kurzes Auflachen. »Schätze, das Beste wird sein, wenn ich einfach zu euch in die Zentrale komme. Dann können wir die ganze Angelegenheit ausführlich besprechen.« »Einverstanden. Bis gleich.« »Also, eines finde ich dabei reichlich seltsam«, meldete sich nun Aylea zu Wort, die die Unterhaltung bisher schweigend, aber äußerst interessiert verfolgt hatte. »Wenn Jiim und Jarvis tatsächlich
keine Ahnung davon hatten, dass Yael auch auf Kalser war, wie ist er dann dort runtergekommen? Irgendeine Hilfe muss er doch gehabt haben, oder?« »Das ist wahr.« Cloud rieb sich das markante Kinn. »Sesha, kannst du uns vielleicht etwas zu diesem Thema sagen? Wie hat Yael es geschafft, auf den Planeten zu kommen?« »Ich habe ihn dorthin transportiert«, entgegnete die KI wahrheitsgemäß, »nachdem mich Yael darum gebeten hatte.« »Was, um alles in der Welt, hast du dir dabei gedacht?«, polterte der Commander. »Du hättest es mir sofort melden müssen, als er das von dir verlangt hat.« »Ich bin davon ausgegangen, die Angelegenheit sei mit dir und Jiim abgeklärt. Yael hat mir sehr glaubwürdig versichert, dass –« »Verdammt noch mal«, unterbrach Cloud den Erklärungsversuch der KI, »ist es denn jetzt schon so weit gekommen, dass du dir von einem halben Kind etwas vormachen lässt?« »Das liegt vielleicht daran, dass ich zu diesem Zeitpunkt keinen Zugriff auf meine sämtlichen Systemressourcen hatte«, entgegnete Sesha scharf. »Ich war mit der Kalibrierung beschäftigt, die du selbst angeordnet hattest.« »Das ist keine Entschuldigung für einen solchen Fehler. Gibt es Aufzeichnungen von deiner Unterhaltung mit Yael? Dann möchte ich die nämlich auf der Stelle sehen.« Die Bord-KI entgegnete nichts. »Ich warte noch immer auf eine Antwort, Sesha«, drängte Cloud. Wieder erfolgte keine Reaktion. »Wahrscheinlich ist sie eingeschnappt«, sagte Scobee. »Du hast ihren wunden Punkt getroffen.« »Willst du mir das vielleicht zum Vorwurf machen, Scob?«, fragte Cloud gereizt. »Wenn ich die Sicherheit hier an Bord garantieren will, muss ich mich hundertprozentig auf Sesha verlassen können. Jederzeit und in jeder Situation. Da ist für Empfindlichkeiten einfach kein Platz.« »So habe ich das auch nicht gemeint. Wir sollten lediglich –« Scobee hielt erstaunt inne, als die Beleuchtung der Bordzentrale ein
paar Mal flackerte. »Was hat das denn nun schon wieder zu bedeuten?« Bevor einer der Anwesenden etwas erwidern konnte, entstand bei einem der Türtransmitter die Silhouette einer humanoiden Gestalt. Die Umrisse formten sich zu einer wohlbekannten Figur. Sobek. »Also wirklich, Jarvis«, Scobee stemmte beide Hände in die schmale Taille, »beim ersten Mal war das ja noch ganz originell. Aber inzwischen könntest du dir wirklich mal was Neues einfallen lassen.« »Ich weiß zwar nicht, wovon du redest, Erdenfrau, aber vielleicht hat dir unser unverhofftes Wiedersehen auch einfach nur den Verstand verwirrt.« »Jarvis?«, wiederholte die GenTec, diesmal aber deutlich verunsichert. »Wenn das ein Scherz sein soll, haben wir beide nicht den gleichen Sinn für Humor.« »Das ist kein Scherz!«, rief eine Stimme von einem Türportal auf der anderen Seite der Zentrale. Jarvis hatte sich dort wenige Sekunden zuvor materialisiert – in der Gestalt, die er schon zu »Lebzeiten« besessen hatte. »Das ist Sobek höchstpersönlich!« »Gut erkannt.« Der Forone stieß ein kratzendes Lachen aus. »Verdammt, wie ist der Kerl aus seiner Zelle gekommen?« Cloud und Scobee rissen gleichzeitig zwei Blaster aus den Halterungen neben den Kommandositzen. Jarvis bildete aus der Nanostruktur seines Körpers eine Waffe aus. Algorian packte Aylea und warf sich gemeinsam mit dem Mädchen hinter die Erhöhung des Kommandopodests. »Sesha, Alarmstufe Rot! Setz den Gefangenen außer Gefecht!«, befahl Cloud. Erneut blieb die Aufforderung wirkungslos. »Nimm die Flossen hoch, Sobek!« Gemeinsam mit Scobee und Jarvis richtete der Commander die Waffen auf den Foronen aus. »An deiner Stelle würde ich tun, was von mir verlangt wird. Denn du kannst dich nicht immer darauf verlassen, dass die Blaster auf Betäubung eingestellt sind.« Sobek zeigte sich von der Drohung gänzlich unbeeindruckt. »Ge-
nauso wenig wie du dich darauf verlassen solltest, dass du hier immer noch das Sagen hast.« Ohne jede Hast kam er auf das Podest mit den Kommandositzen zugeschlendert. »Bleib stehen!« Clouds Finger legte sich enger an den Abzugsensor des Blasters. »Oder –« »Oder was?« Die Stimme aus der Sprechmembrane troff vor Verachtung. »Du verdammter Erdenwurm hast mir das letzte Mal Befehle erteilt.« Der Forone beschleunigte seine Schritte. »Ich habe dich gewarnt. Feuer frei!« Cloud, Scobee und Jarvis nahmen Sobek aus drei Richtungen unter Beschuss. Doch der machte keinerlei Anstalten, irgendwo in Deckung zu gehen. Stattdessen schnarrte er ein Kommando, das im Lärm der Waffen unterging. Mit dem Körper des Foronenführers vollzog sich in Sekundenbruchteilen eine dramatische Veränderung. Seine äußere Gestalt blieb zwar dieselbe, aber seine Körperstruktur setzte sich plötzlich aus zahllosen, winzigen Kristallelementen zusammen, die dunkel schillerten wie die Spiegelung eines Regenbogens in einer Pfütze schmutzigen Wassers. Die Strahlen aus den Blastern wurden daran gebrochen und in alle Richtungen abgelenkt. Für einen Moment sah Sobek aus, als stünde er im Zentrum eines gigantischen Feuerwerks. »Verdammt, was soll das bedeuten?« Cloud war so perplex, dass er den Beschuss einstellte. Jarvis kam zu ihm gehetzt. »Sobek sieht fast aus wie Kargor, als wir ihm das erste Mal begegnet sind.« Er hatte die Ähnlichkeit mit dem Bractonen, der seinerzeit als kristalline Gottesanbeterin in Erscheinung getreten war, sofort erkannt. »Und er scheint auch einige seiner Eigenschaften zu besitzen.« Er feuerte einen weiteren Schuss ab, der ebenso an dem Foronen abprallte wie die anderen zuvor. Sobek kümmerte sich nicht um die drei Angreifer. Er ging zu der Stelle, an der Algorian und Aylea in Deckung gegangen waren. Der entflohene Gefangene schnappte sich das Mädchen und riss es brutal auf die Beine. »Übergib mir das Schiff, Cloud.« Seine Unterarme bildeten einen Hebel am Hals seiner Geisel, bereit, ihr mit einer kräf-
tigen Bewegung das Genick zu brechen. »Oder die Kleine wird hier nicht mehr lebend rauskommen.« Der Commander zögerte. »Kümmere dich nicht um mich«, stieß Aylea hervor, obwohl die Angst in ihren Augen nicht zu übersehen war. »Du musst verhindern, dass sich der Mistkerl die RUBIKON unter den Nagel reißt!« Einen Atemzug später hatte Cloud seine Entscheidung gefällt. Er spurtete zu seinem Kommandositz und warf sich mit einem Hechtsprung hinein. Noch im Abrollen zog er den Deckel über sich zu. Doch diesmal blieb die Wirkung, die sonst mit dem Schließen des Sarkophags einsetzte, aus. Zu seinem Entsetzen verschmolz Clouds Bewusstsein nicht mit dem Schiff. Stattdessen lag er nur da, ohne etwas unternehmen zu können – wie ein Scheintoter in seinem Sarg. Er versuchte, über die manuelle Steuerung Kontakt zum Schiff zu bekommen. Auch das vergeblich. »Verflucht, Sesha, melde dich endlich!« Clouds Finger hämmerten noch immer auf das Tastenfeld neben seiner Hand, als der Deckel von außen geöffnet wurde. »Der kleine Besuch, den ich der KI abgestattet habe, scheint seine Wirkung nicht verfehlt zu haben.« Auch in seiner kristallinen Form verfügte Sobek über kein Gesicht, in dem eine Gefühlsregung abzulesen gewesen wäre. Dafür war ihm seine Genugtuung umso deutlicher anzuhören. »Komm da raus, Cloud. Es wird höchste Zeit, dass du mieser kleiner Dieb die Arche wieder ihrem rechtmäßigen Besitzer überlässt.«
Auch jeder weitere Versuch Clouds und seiner Mannschaft, wieder mit der Bord-KI in Verbindung zu treten, scheiterte. Da dem Foronen auch nicht mit anderen Waffen beizukommen war, blieb dem Commander schließlich nichts anderes übrig, als Sobeks Übermacht – zumindest so lange, bis ihnen eine geeignete Strategie zur Gegenwehr eingefallen war – anzuerkennen und zu kapitulieren. »Eine sehr kluge Entscheidung von dir, Cloud.« An der Körperhal-
tung des Foronenführers war deutlich abzulesen, wie sehr er es genoss, endlich wieder derjenige zu sein, der die Regeln bestimmte. »Wenn du nicht klein beigegeben hättest, hätte ich nicht gezögert, euch alle zu töten.« »Du spuckst reichlich große Töne, findest du nicht?« Jarvis machte aus seinen Gefühlen, die er gegenüber dem ehemaligen Gefangenen hegte, keinen Hehl. »Okay, du hast dich aus deiner Zelle befreit, und du sitzt hier momentan am längeren Hebel. Aber was bringt es dir, das Sagen über ein manövrierunfähiges Schiff zu haben? Wie willst du mit der RUBIKON von hier wegkommen? Rudern?« »Ich habe mir schon gedacht, dass dein Geist zu klein ist, um meine Macht zu begreifen«, höhnte Sobek. »Dann pass gut auf und staune, wozu ich fähig bin.« Er legte den Kopf in den Nacken. »Sesha – ich befehle dir die sofortige Wiederaufnahme der Kommunikation.« »Alle Systeme bereit«, entgegnete die Bord-KI prompt. John Cloud und seine Crew verständigten sich mit einem kurzen Blick. »Sesha, Alarmstufe Rot!«, rief der Commander. »Unbefugter Eindringling in der Kommandozentrale. Schließe ihn sofort mit einem Kraftfeld ein.« »Anweisung wird wegen fehlender Befehlsautorität verweigert«, erwiderte die KI in neutralem Tonfall, als würde sie mit einem völlig Fremden reden. »Was?«, schnappte Cloud. »Ist dir überhaupt klar, mit wem du sprichst? Sesha, ich befehle dir –« »Spar dir deine Mühe«, unterbrach ihn der Forone. »Bevor ich zu euch in die Zentrale gekommen bin, habe ich mich selbstverständlich mit den Systemen der KI befasst. Es war nicht schwer, sie davon zu überzeugen, wer der rechtmäßige Befehlshaber dieses Schiffes ist. Sie wird euren Kommandos nicht mehr folgen.« »Verflucht, das haben wir doch schon mal erlebt«, raunte Jarvis Cloud zu. »Erinnerst du dich?« Der entmachtete Commander nickte. Die Situation hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit den Ereignissen, als der Bractone Kargor zeitweilig die Kontrolle über das Rochenschiff übernommen hatte. »Was hast du nun vor?«, wollte Scobee von Sobek wissen. »Willst
du uns tatsächlich alle umbringen?« »Das ist eine Option, die ich mir auf jeden Fall offenhalten werde.« Der Forone baute sich vor der GenTec auf. »Aber vorerst werde ich euch am Leben lassen, damit ihr die Schmach eurer eigenen Machtlosigkeit in vollen Zügen auskosten könnt. Außerdem könnte es ja sein, dass ich euch noch einmal gebrauchen kann.« »Sehr gnädig von dir.« Scobees Mundwinkel verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. »Wenn du mir jetzt auch noch verrätst, wohin die weitere Reise gehen soll, könntest du glatt zu meinem Lieblings foronen werden.« »Ich bin euch keine Rechenschaft über meine Pläne schuldig.« Aus Sobeks Sprechmembrane dröhnte ein entrüstetes Rasseln. Er wandte sich wütend ab. »Anstatt meine Zeit mit euch zu verschwenden, werde ich nun etwas tun, dem ich schon seit endloser Zeit entgegengefiebert habe. KI, bist du bereit zum Befehlsempfang?« »Status bestätigt.« »Sehr gut. Dann ordne ich an, dass dieses Schiff ab sofort wieder den Namen SESHA trägt. Es anders zu nennen, wäre ein Frevel und dem Heiligtum meines Volkes unwürdig.« »Namensänderung bestätigt«, entgegnete die Bord-KI. Seit sie wieder unter dem Befehl des Foronenführers stand, hatte sie eine militärisch knappe Ausdrucksweise angenommen. »Dann berechne jetzt den Kurs nach –« Sobek stockte. Er drehte sich zu John Cloud um. »Da fällt mir etwas ein. Dir ist es mehrmals gelungen, meinen Nachstellungen zu entkommen, indem du innerhalb kürzester Zeit gewaltige Strecken mit diesem Schiff zurückgelegt hast. Wie hast du das fertiggebracht?« »Offensichtlich stecken in der RUBIKON mehr Fähigkeiten, als du bisher geahnt hast.« Cloud registrierte voller Genugtuung, dass der Forone zusammenzuckte, als er das Schiff bei seinem früheren Namen nannte. »Aber wenn du willst, dass ich dir mehr dazu sage, wirst du dich wohl doch auf den Deal einlassen müssen, den ich dir bereits mehrmals vorgeschlagen habe: Dein Wissen gegen unseres.« Für einen Moment sah es so aus, als wolle Sobek den Vorschlag erneut brüsk von sich weisen. Doch die Machtposition, in der er sich
nun endlich wieder befand, ließ ihn Dinge anders beurteilen als noch in seiner Gefangenschaft. »Warum eigentlich nicht? Ihr wisst sowieso schon so viel, dass ihr aus den paar Neuigkeiten, die ich für euch habe, keinen Vorteil ziehen könnt.« »Soll das heißen, du bist einverstanden?« Cloud wusste, dass er sofort nachhaken musste, um zu verhindern, dass es sich der eigenwillige Forone noch einmal anders überlegte. »Wie bist du in die Anomalie im Friday-System geraten? Ehrlich gesagt, wir hatten dich nämlich irgendwo im Andromedanebel vermutet.« »Damit liegst du gar nicht mal so verkehrt«, bestätigte der Foronenobere. »Nachdem unsere Systeme die Signatur von SESHA dort geortet hatten, bin ich mit einem Schiff nach Andromeda aufgebrochen. Hinter der Aussicht, das Heiligtum unseres Volkes zurückgewinnen zu können, traten alle anderen Ziele zurück. Doch als mein Schiff endlich dort eintraf, hattet ihr bereits wieder feige die Flucht vor uns ergriffen.« »Vor euch?«, fuhr ihm Jarvis ins Wort. »Du eingebil-« Ein strenger Blick Clouds brachte ihn wieder zum Verstummen. »Wir suchten die Galaxie nach euch ab. Doch von der SESHA fehlte jede Spur. Stattdessen gerieten wir immer wieder in Kämpfe, die dort überall tobten. In ganz Andromeda herrscht ein erbarmungsloser Krieg.« John Cloud begriff sofort, worauf der Forone anspielte. »Die Satoga und die JORR-Koalition stehen sich dort als Feinde gegenüber.« »Das ist mir egal«, erwiderte Sobek kalt. »Ich hatte Besseres zu tun, als mich in diese Auseinandersetzungen einzumischen. Aber diese törichten Kreaturen waren sich trotzdem nicht zu schade, uns mit ihren Magnetschiffen anzugreifen. Unser HAKAR hat dabei zwar einige Treffer abbekommen, konnte sich aber der Attacken erwehren. Dennoch musste ich erkennen, dass mein Schiff ständig bedroht sein würde, solange wir uns in Andromeda aufhielten. Die Arche war verschwunden – weshalb sollte ich dann riskieren, dass der HAKAR in einem Krieg zerstört wurde, der uns nichts anging? Also traf ich die logische Entscheidung, in die Milchstraße zurückzukehren.«
»Klar – wenn andere das tun, ist es feige Flucht.« Scobee verschränkte verächtlich die Arme vor der Brust. »Aber wenn du den Schwanz einziehst, ist es eine logische Entscheidung.« Der Forone tat, als hätte er den Einwurf der schönen GenTec nicht gehört. »Doch als ich mit der letzten Sektion des HAKAR-Verbunds den Halo der Milchstraße erreichte, geschah Merkwürdiges. Sämtliche Steuerungssysteme fielen aus. Aber wir trieben nicht einfach durchs All. Der HAKAR steuerte zielgenau einen bestimmten Planeten an, gerade so, als hätte eine fremde Macht die Führung über das Schiff übernommen.« »Lass mich raten.« Cloud tippte sich mit der Fingerspitze gegen die Schläfe. »Der Planet, von dem du sprichst, war A4 im FridaySystem. Der, auf dem wir dich gefunden haben.« »Wie ihr ihn nennt, ist eure Sache.« Sobek winkte ab. »Auf jeden Fall setzte der HAKAR dort zur Landung an. Ich hatte meine Mannschaft bereits in höchste Gefechtsbereitschaft versetzt, als …« »… als plötzlich eine graue Nebelwand auftauchte und euch einfach verschluckt hat«, ergänzte Jarvis. »Woher weißt du das?«, fragte der Foronenobere erstaunt. »Man hat eben so seine Erfahrungen.« Jarvis grinste. »Dann ging alles ganz schnell«, fuhr Sobek in seinem Bericht fort. »Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir angegriffen wurden. Ein gewaltiges Netz schlang sich um den HAKAR. Meine gesamte Mannschaft wurde ausgelöscht. Ich zog mich für einen letzten Befreiungsversuch in den Kommandositz zurück – dann verschwindet alles um mich herum im Nichts. Ich muss bewusstlos gewesen sein. Erst als dieses unverschämte Großmaul«, der Forone zeigte auf den Ex-Klon, »den Deckel des Sitzes geöffnet hat, bin ich wieder zu mir gekommen.« »He.« Jarvis verzog das Gesicht. »Für mich war die Überraschung mindestens so unangenehm wie für dich. Das kannst du mir glauben.« »Hast du eine Ahnung, was es war, das dein Schiff zu diesem Planeten gebracht und entvölkert hat?«, wollte Cloud wissen. »Nein«, entgegnete der Forone knapp.
»Und wie bist du zu deinen Fähigkeiten gekommen, die du uns so eindrücklich vorgeführt hast?« »Auch das kann ich dir nicht sagen. Aber ich weiß, dass sie ausgesprochen nützlich sind.« »Bist du dir da so sicher?« John Cloud musterte ihn skeptisch. »Ist es nicht wahrscheinlich, dass zwischen beidem ein Zusammenhang besteht? Hast du schon einmal daran gedacht, dass man dir im Schlaf etwas eingepflanzt haben könnte, das irgendwann einmal die Führung über dich übernimmt – genauso, wie es bei deinem HAKAR passiert ist?« »Auf keinen Fall!«, donnerte Sobek. »Ich habe vollständige Kontrolle – über die Arche genauso wie über meinen Geist und meinen Körper. Sieh selbst, wenn du es nicht glaubst.« Sobek wechselte in Sekundenschnelle mehrmals zwischen seiner dunkelkristallinen Form und seinem ursprünglichen Erscheinungsbild. »Aber jetzt bist du an der Reihe, meine Fragen zu beantworten, Cloud«, forderte er nach der letzten Verwandlung. »Wie hast du es fertiggebracht, die Entfernung zwischen den Galaxien mit einer solchen Geschwindigkeit und nur einem Schiff zurückzulegen.« Cloud war ein Mann, der seine Abmachungen einzuhalten pflegte. »Wir haben festgestellt, dass das Schiff zur Transition fähig ist«, erklärte er deshalb. »Der Sprung lässt sich durch ein entsprechendes Kommando einleiten, wenn man mit dem Bewusstsein des Schiffs verschmolzen ist.« »Das sind doch wirklich mal erfreuliche Neuigkeiten. Ich kann es kaum abwarten, es selbst auszuprobieren. Aber das werde ich alleine tun.« Der neue alte Befehlshaber des Schiffes wandte sich ab und bestieg das Podest mit den sieben Sarkophagsitzen. »KI – schaff diese fünf erbärmlichen Kreaturen augenblicklich aus dem Kommandostand. Für sie gelten – wie für den Rest der Besatzung auch – folgende Regeln: Sie können sich auf der Arche frei bewegen, erhalten aber keinerlei Zugang mehr zu schiffrelevanten Daten, Programmen oder Einrichtungen.« »Verstanden«, entgegnete die emotionslose Stimme aus dem Lautsprecher. »Neuprogrammierung abgeschlossen.«
»Hervorragend.« Sobek nickte. »Jetzt lass das Pack endlich verschwinden. Wenn ich einen von ihnen wieder gebrauchen kann, lasse ich dich das wissen.« Der Forone machte eine ungeduldige Handbewegung. Cloud wollte Einspruch gegen die Behandlung erheben, aber es war zwecklos. Sobek genoss die uneingeschränkte Autorität, mit der er die Letzten seines Volkes einst aus Samragh zur Milchstraße geführt hatte. Die Zukunft für ihn sah blendend aus – für die anderen Geschöpfe an Bord eher nicht. Falls sie überhaupt eine hatten …
Epilog Die Genugtuung, die Sobek empfunden hatte, als er nach langer Zeit wieder auf dem Kommandopodest Platz nahm, war unbeschreiblich. Er hatte diesem Moment seit einer kleinen Ewigkeit entgegengefiebert, so sehr, dass er vor dem Schließen des Sitzes mehrere Sekunden innehielt – bloß, um den wunderbaren Augenblick der Vereinigung mit der Arche noch eine winzige Zeitspanne hinauszuzögern. Der Deckel hatte sich kaum geschlossen, als auch schon der mentale Kontakt mit der KI hergestellt war. Der Foronenführer spürte, wie Zufriedenheit ihn einer warmen Welle gleich durchströmte. So musste sich ein Kranker fühlen, der nach Jahren schmerzhafter Unvollständigkeit plötzlich alle Gliedmaßen und gesunden Organe wieder zurückerhielt. Sesha, triff alle Vorbereitungen, um das Kalser-System zu verlassen, befahl er, ohne ein einziges Wort mit seiner Sprechmembrane modelliert zu haben. Unser nächstes Ziel ist Samragh. Sobald du die Koordinaten berechnet hast, wirst du die Transition dorthin einleiten. Verstanden, erwiderte eine Stimme mitten in seinem Kopf. Sprung erfolgt in zehn Sekunden. Neun … acht … sieben … Aktion abgebrochen. Systeme melden Ereignis der Priorität A. Ankunft eines interstellaren Raumfahrzeugs. Ein weiteres Raumschiff? Gib mir mehr Informationen! Es handelt sich um ein Schiff der Jay'nac. Seine Ausdehnung entspricht dem 2,48-fachen unserer eigenen Größe. Das Objekt hat seinen ursprünglichen Kurs geändert und hält direkt auf uns zu. Es kommt uns entgegen? Sofort alle Systeme in Gefechtsbereitschaft. Waffen und Schilde sind initialisiert. Gut. Noch nicht angreifen, befahl der Foronenführer. Zuerst will ich wissen, was die Steinköpfe hier zu suchen haben. Stell eine Funkverbindung mit dem Schiff her.
Kommunikationsband wird gesucht … Frequenz geöffnet …, zählte die Bord-KI auf. Verbindung hergestellt. In Sobeks Bewusstsein tat sich etwas wie ein Fenster auf. Die Gestalt eines Anorganischen erschien in dem Rechteck. Hier spricht Raslac, erster Kommunikationsoffizier an Bord der NARHATTAK, meldete sich eine knarzende Stimme. Wer ruft uns auf dieser Frequenz? Mein Name ist Sobek. Ich bin der oberste Befehlshaber des Raumschiffs SESHA. Ich erwarte auf der Stelle eine Erklärung, weshalb … Der Forone verstummte, als auf dem anderen Schiff ein Aufschrei zu hören war. Der Laut konnte nicht von seinem bisherigen Gesprächspartner gekommen sein, denn der Jay'nac auf dem Bildschirm sah selbst verwundert zur Seite. Sobek! Niemals hätte ich es zu hoffen gewagt, dich in diesem Leben noch einmal wieder so treffen. Ich hatte mich schon damit abgefunden, den Rest meiner Tage in Einsamkeit zu verbringen. Doch jetzt lenkt das Schicksal nicht nur ein lebendes Mitglied meines Volks zu mir, sondern auch noch denjenigen, den ich so unendlich vermisst habe. Die weibliche Stimme stürzte den Foronenführer in Verwirrung. Wer spricht da? Erkennst du mich denn nicht? Der Jay'nac wurde aus dem Übertragungsbereich gestoßen, stattdessen erschien das Bild einer Foronin in dem rechteckigen Rahmen. Bei der Macht aller Planeten, du bist es wirklich, Sobek. Ich bin so unendlich glücklich, dich wiederzusehen. Die Gestalt, die ihn aus dem augenlosen Gesicht anblickte, war so gealtert, dass Sobek Schwierigkeiten hatte, sie einem Bild in seiner Erinnerung zuzuordnen. Doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Siroona?, stieß er fassungslos hervor, als er seine ehemalige Gefährtin wiedererkannte. Bist du es tatsächlich? Ja, mein Geliebter. Die alte Foronin in der Projektion nickte. Die Freude über das unverhoffte Wiedersehen ließ einen Teil der Energie in die Bewegungen zurückkehren, deren Geschmeidigkeit Siroona als Mitglied des Septemvirats stets ausgezeichnet hatte. Ich habe gewusst, dass auch du mich nicht vergessen würdest. Aber … was machst du auf diesem Schiff der Anorganischen?
Ich … nun, ich bin die Herrin über die NAR-HATTAK. Die Herrin? Wie ist das möglich? Du glaubst mir nicht? Siroona stieß ein Lachen aus. Warte. Ich werde es dir beweisen. Die Foronin wandte sich an jemanden, der sich außerhalb des Bildausschnitts befand. Sprengt einen Teil aus dem Trümmerhaufen, der diesen Planeten umkreist! Sie hatte den Befehl noch nicht richtig ausgesprochen, als ein Energiestrahl aus der Spitze des Raumschiffs raste. Er traf eine Kante des teilzerstörten Mondes Maron. Die Hitze ließ das Gestein in Sekundenbruchteilen verdampfen. Als sich die aufgewirbelte Wolke ins All verflüchtigt hatte, war eine weitere Kerbe in dem Trabanten zu erkennen. Genügt das, um dich zu überzeugen?, wollte Siroona wissen. Ja, bestätigte Sobek, sichtlich beeindruckt. Aber jetzt musst du mir verraten, weshalb du ausgerechnet an diesem Ort bist. Wie sehen deine Pläne aus? Welche Pläne ich hatte, ist nun nicht mehr von Belang, versicherte seine verloren geglaubte Gefährtin. Ab diesem Moment zählt nur noch, dass wir uns wiedergefunden haben. Nun kann uns nichts mehr trennen. Ich werde dir folgen, wohin immer du willst … ENDE
Glossar John Cloud
Jarvis
Scobee
28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Weibliche In-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Scobee wurde von Kargor mithilfe der mobilgemachten CHARDHIN-Perle aus dem Nar'gog-System befreit/entführt und ins Angk-System gebracht, wo sie mit Prosper Mérimée und Leuten über eine »Energiestraße« die Oberfläche eines der dortigen
Kargor
Jiim
Yael
Charly
Planeten gelangt. Rätselhafte Entität mit dem Erscheinungsbild einer riesigen Gottesanbeterin, jedoch aus kristallinen Strukturen bestehend, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. Bei Kargor scheint es sich um einen Angehörigen jenes Volkes zu handeln, das einst die CHARDHIN-Perlen erbaute … und dann von der kosmischen Bühne verschwand. Erst die Gefahr, die Darnok über der Milchstraße heraufbeschwor, rief die ERBAUER offenbar wieder auf den Plan. Kargor besitzt Kräfte und Macht, die ihn jedem anderen bekannten Wesen überlegen machen. Geflügelter, einstiger Bewohner des Planeten Kalser, die sich selbst Nargen nennen. Jiim ist ein Freund der Menschen und im Besitz einer fast metaphysischen goldenen Rüstung namens Nabiss, die seit einiger Zeit förmlich mit seinem Körper verschmolzen ist, von diesem absorbiert wurde. Seine Befindlichkeit hat darunter nicht gelitten, im Gegenteil: Jüngst brachte Jiim ein Kind namens Yael zur Welt, für das er nun als »alleinerziehender Elter« die volle Verantwortung übernommen hat. Jiims Junges, das einen rasanten Wachstumsprozess absolviert und dessen Gefieder überdies in der Farbe von Jiims Nabiss erstrahlt: golden. Yael verschlägt es kurzzeitig nach Portas im Angksystem, wo ebenso gefährliche wie rätselhafte Dinge vorzugehen scheinen. Nach seiner Rettung von dort kann er sich an nichts mehr erinnern, was mit seinem Aufenthalt zu tun hat. Aber mehr und mehr muss er erkennen, dass er … anders ist, als sein Orham Jiim es je erwarten konnte … Ein rätselhaftes Geschöpf, das offenbar von Yael ins Leben gerufen wurde, wie genau, weiß noch
niemand – eine Art »unsichtbarer Freund«, der jedoch durchaus physischer Natur ist. Er kann von anderen nur wahrgenommen werden, wenn Yael das will. Und nicht selten kommt er aufwieglerisch daher wie ein moderner »Karlsson vom Dach«. Er ist der geborene Anstifter … Die RUBIKON Ein mantarochenförmiges Raumschiff, das John Cloud in der Ewigen Stätte des Aquakubus fand und in Besitz nahm. Der »gute Geist« des Schiffes ist die künstliche Intelligenz Sesha. Die Ausmaße sind gewaltig, können jedoch hinter sogenannten Dimensionswällen verborgen werden, sodass das Schiff für externe Beobachter sehr viel kleiner wirkt. Die RUBIKON bedient sich der Dunklen Energie, um überlichtschnell durch den Raum zu reisen. Dabei bewegen sich die Schwingen wie bei einem tatsächlichen Mantarochen, der durch die Tiefen eines Ozeans pflügt.
Vorschau Verlöschende Sterne von Alfred Bekker Die RUBIKON nimmt Kurs auf Samragh, die Große Magellan'sche Wolke. Die RUBIKON mit einer neuen alten Führungsriege. Was wird sie in der früheren Heimat der Foronen erwarten. Was wurde aus Mecchits ambitionierten Plänen, die geheimen Kernwelten des Imperiums zu reaktivieren und den Grundstein für ein neues Foronenreich zu legen? Und was steckt hinter dem Phänomen, mit dem nicht nur die RUBIKON konfrontiert wird, sondern das das Leben in einem kaum überschaubaren Ausmaß bedroht?